Transparenz in der biomedizinischen Forschung
0424
2013
978-3-7720-5472-3
978-3-7720-8472-0
A. Francke Verlag
Roman Beck
Transparenz gehört zu den Schlüsselbegriffen unserer Zeit. Mit moralischem Impetus wird der Begriff immer dann bemüht, wenn Machenschaften verheimlicht bzw. wichtige Informationen zurückgehalten werden. Doch entgegen seines geradezu inflationären Gebrauchs ist das Transparenzkonzept in philosophischer, insbesondere in ethischer Perspektive nahezu unerforscht geblieben. Was genau ist eigentlich gemeint, wenn etwas transparent gemacht werden soll? Wie kann diese Forderung überhaupt ethisch begründet werden? Die vorliegende Studie nimmt sich des Desiderats einer Grundlegung an und konkretisiert die Antworten für den Bereich der biomedizinischen Forschung - ein Bereich, in dem Intransparenz gravierende Konsequenzen haben kann.
<?page no="0"?> Transparenz in der biomedizinischen Forschung Roman Beck T übinger Studien zur E thik · T übingen Studie s in E thic s 1 <?page no="1"?> Transparenz in der biomedizinischen Forschung <?page no="2"?> Tübinger Studien zur Ethik Tübingen Studies in Ethics 1 Herausgegeben vom Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) Schriftleitung: Prof. Dr. Regina Ammicht Quinn Prof. Dr. Friedrich Hermanni Dr. Roland Kipke Prof. Dr. Thomas Potthast Prof. Dr. Dr. Urban Wiesing <?page no="3"?> Roman Beck Transparenz in der biomedizinischen Forschung <?page no="4"?> © 2013 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8472-0 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> Danksagung Die vorliegende Studie stellt die geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dissertation dar, die im Wintersemester 2011/ 12 von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen angenommen wurde. Auf das Thema brachte mich mein langjähriger Mentor und Doktorvater Prof. Dr. Dietmar Mieth in seiner typischen, narrativen Weise: Er erzählte mir von einem Gespräch, das er mit einem Stammzellforscher geführt hatte und das in einem Disput um die Prognose zukünftiger Therapiemöglichkeiten endete. Wie wir wissen, konnten aus der Stammzellforschung bislang keine therapeutischen Anwendungen für den Menschen gewonnen werden. Sensibilisiert durch diese Schilderung machte ich am Rande meiner biologischen Diplomarbeit im Bereich der Hirnforschung ähnliche Erfahrungen mit bislang unerfüllten Heilsversprechen. Wenn nun ein Buch über die Transparenzproblematik im biomedizinischen Bereich erscheint, geht mein herzlichster Dank an Herrn Mieth, der mich von der Ideenfindung bis zur Drucklegung in vielfältigster Weise unterstützt hat. Wichtige Impulse für das Fortkommen meiner Arbeit erhielt ich während der Mitgliedschaft im interdisziplinären DFG-Graduiertenkolleg „Bioethik“. Mein Dank gilt der Sprecherin, Prof. Dr. Eve-Marie Engels, und dem stellvertretenden Sprecher, Prof. Dr. Thomas Potthast, die mich aufgrund ihrer Weitsicht im Themenfeld der Bioethik und Wissenschaftsphilosophie vor inhaltlichen Fallstricken bewahrt haben. Im Rahmen des GK danke ich der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die finanzielle Förderung meines Forschungsprojektes und der Drucklegung dieses Buches. Danke auch an das Bistum Rottenburg-Stuttgart, das in letzter Minute einen Druckkostenzuschuss zugesagt hat. Dr. Katrin Bentele danke ich für die Durchsicht meines Typoskripts und die hilfreichen Anmerkungen. Das berühmte Gleichnis von den Zwergen, die auf den Schultern von Riesen sitzen, um mehr und Entfernteres sehen zu können, veranschaulicht zwar einen wesentlichen Aspekt jedes Wissensgewinns, erfasst aber doch nur einen Teil dessen, was wir brauchen, um so etwas wie dieses Buch schreiben zu können. Ich möchte meinen Eltern Reinhard und Doris Beck besonders danken, die mich jederzeit, seit ich denken kann, großartig unterstützt haben. Meinem früheren Lehrer Thomas Weber sei gedankt, weil er mich auf die verrückte Idee brachte, neben Biologie auch Theologie zu studieren. Schließlich möchte ich meiner kleinen Familie von Herzen danken, die mich stets daran erinnert hat, was das Wesentliche im Leben ist. Carmen, den Dank an Dich zu ermessen ist nicht möglich, da Du mir auf allen Ebenen - emotional und rational, als Seelentrösterin und Diskussionspartnerin - zur Seite standest. <?page no="6"?> Inhaltsverzeichnis Einleitung .................................................................................... 5 Problemaufriss..................................................................................... 5 Ziele, Methodik und Gliederung der Untersuchung ................... 15 1. Terminologische Vorarbeiten........................................... 25 1.1. Lexikalische Annäherung an den Transparenzbegriff ........ 25 1.2. Die Verwendungsweisen des Transparenzbegriffs in gesellschaftlichen Kontexten ............................................. 31 1.2.1. Transparenz in der Politik ...................................................... 31 1.2.2. Transparenz im Recht.............................................................. 37 1.2.3. Transparenz in der Wirtschaft ............................................... 43 1.3. Sprachanalytische Ergebnisse: Transparenz als epistemischer Komplex- und Idealbegriff ....................... 48 1.3.1. Die deskriptive Verwendungsweise des Transparenzbegriffs.......................................................... 48 1.3.2. Die evaluative Verwendungsweise des Transparenzbegriffs.......................................................... 49 1.3.3. Die präskriptive Verwendungsweise des Transparenzbegriffs.......................................................... 53 1.4. Soziologische Ergebnisse: Der relationale Transparenzbegriff und seine Hauptelemente ............... 58 1.4.1. Transparenzsuchende und Transparenzvermittler............. 59 1.4.2. Transparenzobjekte ................................................................. 62 1.4.3. Transparenzbarrieren und Zugangsmöglichkeiten zu Transparenzobjekten ............................................................... 65 1.4.4. Zwischenergebnis .................................................................... 69 2. Philosophische Grundlegung des Transparenzbegriffs .................................................... 70 2.1. Ideengeschichtlicher Hintergrund des Transparenzbegriffs ..................................................... 71 2.2. Kommunikationstheoretische Vorüberlegungen................. 80 2.2.1. Die informationstechnologische Kommunikationstheorie von Shannon und Weaver ...................................................... 81 <?page no="7"?> Inhaltsverzeichnis 3 2.2.2. Sprachphilosophische Theorien der zwischenmenschlichen Kommunikation ....................................................................... 84 2.3. Eine Kriteriologie informationeller Transparenz ................. 88 2.3.1. Die formelle Dimension und das Problem der sachbezogenen Informierung ................................................. 88 2.3.2. Die inhaltliche Dimension und das Problem der rezipientenbezogenen Informierung..................................... 96 2.3.3. Zusammenfassung................................................................. 119 2.4. Ontologisch-epistemologische Hintergrundannahmen des Transparenzkonzepts ................................................ 121 2.5. Ethisch-moralische Implikationen des Transparenzbegriffs ................................................... 126 2.5.1. Handlungstheoretische Überlegungen zum Transparenzbegriff ................................................................ 126 2.5.2. Transparenz zwischen dem Wahrhaftigkeitsgebot und Lügenverbot............................................................................ 130 3. In-/ Transparenz in der naturwissenschaftlichbiomedizinischen Forschung.......................................... 143 3.1. Die wissenschaftsinterne Kommunikation ......................... 144 3.1.1. Allgemeine Aspekte der internen Kommunikation und das Ideal kommunikativer Transparenz..................... 145 3.1.2. Problematisierte Intransparenz beim biomedizinischen Forschungshandeln ............................................................... 152 3.1.3. Akzeptierte Intransparenz beim biomedizinischen Forschungshandeln ............................................................... 156 3.1.4. Nachweisbarkeit und Prävalenz wissenschaftlicher Intransparenz.......................................................................... 161 3.1.5. Ätiologie wissenschaftlicher Intransparenz ....................... 168 3.2. Die wissenschaftsexterne Kommunikation......................... 172 3.2.1. Wissenschaftliche Politikberatung als Topos der wissenschaftsexternen Kommunikation ............................. 173 3.2.2. Auf der Suche nach einer wissenschaftsexternen Transparenznorm für die biomedizinische Forschung..... 192 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm............. 209 4.1. Agenda einer ethischen Begründung der Transparenznorm ....................................................... 209 <?page no="8"?> Inhaltsverzeichnis 4 4.2. Eine Begründung der Transparenznorm mithilfe der Paradigmen der Wissenschaftsethik............................... 214 4.2.1 Wissenschaftsethik als bereichsspezifische Ethik.............. 214 4.2.2. Eine ethische Regulierung der (wert)freien Wissenschaft? ............................................. 218 4.2.3. Das Ethosparadigma ............................................................. 223 4.2.4. Das Verantwortungsparadigma .......................................... 244 4.2.5. Das Expertenparadigma ....................................................... 259 4.2.6. Zwischenfazit ......................................................................... 275 4.3. Eine deontologische Begründung der Transparenznorm mithilfe der Kantischen Moralphilosophie.................... 276 4.3.1. Begründung der Transparenznorm anhand der Grundlegungsschrift ........................................... 280 4.3.2. Begründung der Transparenznorm anhand der Metaphysik der Sitten ......................................... 308 4.3.3. Ergebnissicherung ................................................................. 330 5. Zur praktischen Umsetzung der Transparenznorm... 337 5.1. Maßnahmenkatalog „Formelle Transparenz in der wissenschaftsinternen Kommunikation“....................... 338 5.1.1. Die Kodifizierung und Sanktionierung einer wissenschaftsinternen Transparenznorm........................... 338 5.1.2. Die Vermittlung eines Transparenzbewusstseins in Aus- und Weiterbildung ....................................................... 344 5.1.3. Die Ermöglichung einer transparenten Wissenschaft durch adäquate Rahmenbedingungen................................ 345 5.2. Maßnahmenkatalog „Inhaltliche Transparenz in wissenschaftsexternen Kommunikationsprozessen“... 347 5.2.1. Die Etablierung geeigneter und die Verbesserung bestehender direkter Vermittlungsformen......................... 347 5.2.2. Die Etablierung geeigneter und die Verbesserung bestehender indirekter Vermittlungsformen ..................... 349 5.3. Zusammenfassung ................................................................. 354 Fazit .......................................................................................... 356 Literaturverzeichnis .............................................................. 359 Personenregister..................................................................... 403 <?page no="9"?> Einleitung „Wo viel Licht ist, da ist auch Schatten.“ (Sprichwort nach J. W. von Goethe, Götz von Berlichingen) Problemaufriss Ob bewusst oder unbewusst, in zahlreichen Lebenskontexten richten wir unsere Entscheidungen und Handlungen häufig nach Wissensbeständen aus, die von den Wissenschaften generiert werden. 1 Gesundheit, Ernährung, Familie, Arbeit und Freizeit sind nur einige Beispiele für Bereiche, in denen wir regelmäßig auf wissenschaftliches Wissen Bezug nehmen. So denken viele Menschen bei der Familienplanung an medizinisch definierte Gesundheitsrisiken, bei der Kindererziehung an pädagogische Prinzipien oder bei der Altersvorsorge an die demographisch errechnete durchschnittliche Lebenserwartung. 2 Aus einer handlungstheoretischen Perspektive bedeutet dies: Unter der Voraussetzung eines gewählten Ziels (Schwangerschaft, Kindererziehung, Altersvorsorge etc.) verlassen wir uns bei der Wahl der geeigneten Mittel instrumentell auf verfügbare wissenschaftliche Informationen und Argumentationen, sowohl im Prozess der Urteilsfindung als auch nachträglich zur Stützung der eigenen Entscheidungen. 3 Auch in überindividuellen Zusammenhängen ist der Stellenwert von wissenschaftlichem Wissen in Entscheidungsprozessen nicht zu unterschätzen: In der Politik werden wissenschaftliche Expertisen regelmäßig in Anspruch genommen - nicht nur dann, wenn legislative bzw. exekutive Unsicherheiten hinsichtlich neuartiger Handlungsmöglichkeiten bestehen, die sich einem bereits standardisierten Umgang entziehen. 4 Öffentliche Diskurse, die legitimierend bzw. delegitimierend auf soziale Praktiken wirken und folglich wichtige Bestandteile gesellschaftlicher Normierungsprozesse sind, 1 In dieser Arbeit wird die plurale Sprechweise von den Wissenschaften gegenüber dem Kollektivsingular bevorzugt, um damit die heterogene Multidisziplinarität innerhalb des gesellschaftlichen Subsystems auszudrücken. Hiermit sind primär die Disziplinen der empirisch-technischen Wissenschaften gemeint, wobei der Begriff später auf die naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschung fokussiert wird. 2 Vgl. Weingart (2003, 8f.). 3 Damit soll nicht gesagt werden, dass wir unsere Entscheidungen ausschließlich nach wissenschaftlichen (bzw. „rationalen“) Vorgaben treffen. Eine differenziertere Darstellung der These vom Einfluss wissenschaftlichen Wissens erfolgt in Kap. 2.5.1. 4 Vgl. etwa die Beiträge in Bogner/ Torgersen (2005). Daher stellt sich Turner (2001) die Frage, ob ihre Relevanzen und Weltbilder kraft ihrer Autorität parlamentarische Verhandlungen präformieren. <?page no="10"?> Einleitung 6 werden von Stellungnahmen wissenschaftlicher Experten geprägt („Expertokratie“). 5 In dieser Konsequenz spricht Weingart zurecht von der „Verwissenschaftlichung der Gesellschaft“, bei der sämtliche gesellschaftlichen Handlungs- und Erfahrungsbereiche dem analytischen Zugriff der Wissenschaften unterworfen werden. 6 Zudem erheben wissenschaftliche Akteure 7 regelmäßig den Anspruch, sachbezogene Informationen bereit zu stellen, die denjenigen aus nicht-wissenschaftlichen Quellen grundsätzlich überlegen sind. Entscheidungen auf der Grundlage wissenschaftlicher Sachinformationen seien rationaler und damit zuverlässiger, was eine Sonderstellung wissenschaftlichen Wissens gegenüber anderen Wissensarten (z.B. alltäglicher, tradierter oder religiöser Provenienz) begründe. 8 Wenngleich dieser Anspruch epistemologisch (und soziologisch) nicht unhinterfragt geblieben ist, 9 gibt uns in vielen Fällen der Erfolg recht, unsere Handlungen auf der Grundlage wissenschaftlicher Ergebnisse gewählt und vollzogen haben. Im Idealfall konnten wir eine Zielsetzung unter Berücksichtigung der empirischen Evidenzen effizient verwirklichen und wurden darin bestärkt, auch zukünftig wissenschaftliche Informationen zu gewinnen, um sie in Entscheidungsprozessen einfließen zu lassen. Doch was geschieht, wenn sich die verwendeten wissenschaftlichen Informationen als intransparent oder fehlerhaft erweisen? Die Beantwortung dieser Frage setzt eine Differenzierung voraus: In vielen Lebensbereichen und Handlungsfeldern werden fehlgeleitete Entscheidungen, die durch fragwürdige wissenschaftliche Informationen zustande kommen, lediglich als Bagatelle oder vorübergehendes Ärgernis angesehen. Denn die gewählten Handlungsziele werden zwar vorübergehend nur ineffizient oder überhaupt nicht erreicht, aber eine Korrektur der Entscheidung und Handlung ist jederzeit möglich. Davon sind Kontexte zu unterscheiden, in denen Ur- 5 Wie Graumann (2003) und Gerhards/ Schäfer (2006) zeigen, kommen in Berichterstattungen über bioethische Debatten überwiegend wissenschaftliche Experten zu Wort. 6 Weingart (2001, 16f.); zugleich stellt er eine „Vergesellschaftung der Wissenschaft“ (18) fest, sofern sie sich bei der Wissensproduktion angesichts eines hohen Legitimationsdrucks bei wachsender Konkurrenz um Ressourcenzufluss an gesellschaftlichen (politischen, wirtschaftlichen und medialen) Erwartungen orientiert. 7 Steht nicht, wie hier, ein funktionaler Terminus zur Verfügung, wird zur Verbesserung des Leseflusses stets die maskuline Schreibweise verwendet, womit beide Geschlechter gleichermaßen gemeint sind. 8 Klassisch ist die Auffassung von Weber (1988c, 594), die Wissenschaften gewährleisteten durch die Bereitstellung wissenschaftlichen Wissens die Rationalität individuellen und kollektiven Handelns. 9 Eine postmoderne Skepsis gegenüber wissenschaftlichem Wissen gründet in der Reflexion auf die erkenntnistheoretischen Bedingungen der Wissensgenerierung und wird durch ihre beobachtbare Veränderbarkeit befeuert. Da jedoch jede Anfechtung (z.B. durch außerwissenschaftliche Wissensproduzenten) einen Wahrheits- oder Gültigkeitsbeweis erzwingt, bleibt - wie Weingart (2001, 341) bemerkt - die Wissenschaft „das Bezugssystem, das letztlich die Stabilisierung verläßlichen Wissens leitet“. <?page no="11"?> Problemaufriss 7 teile auf der Grundlage von Desinformationen möglicherweise bedenkliche bis dramatische, weil irreversible Konsequenzen nach sich ziehen. Unwillkürlich ist an gesundheitsbezogene Handlungsfelder zu denken, in denen wir unsere Entscheidungen auf der Basis biomedizinischer Informationen treffen. Dies ist etwa der Fall, wenn wir uns bei der Entscheidung, ob wir eine neue biomedizinische Therapieform in Anspruch nehmen, auf Erkenntnisse verlassen, die wir aus einem ärztlichen Beratungsgespräch oder durch die Medien gewonnen haben. In Rückgriff auf die erwähnte Ziel- Mittel-Relation stehen solche Entscheidungen primär unter dem Ziel der Therapie von Krankheiten bzw. der Restitution von Gesundheit. 10 Biomedizinische Informationen sollen Aufschluss darüber geben, welche Maßnahmen als Mittel notwendig oder optimal sind, um die wertgeschätzten, anvisierten Zielsetzungen zu verwirklichen. Aufgrund der Doppelwirkung zahlreicher biomedizinischer Techniken stehen insbesondere Chancen und Risiken, die mit ihrer Anwendung verbunden sind, im Fokus - falls sich diese ausreichend bestimmen lassen. 11 Da auf einer biomedizinischen Informationsgrundlage Entscheidungen über instrumentelle Eingriffe in Leib und Leben von Personen getroffen werden, verhindert eine fehlerhafte Sachinformation nicht nur die Realisierung der Ziele, also die Prävention und Therapie einer Krankheit bzw. Wiederherstellung der Gesundheit, sondern bewirkt möglicherweise zusätzlichen irreparablen psychischen oder physischen Schaden. Vor diesem Hintergrund wird die Unzuverlässigkeit biomedizinischer Informationen nicht mehr nur zum Ärgernis, sondern zur reellen Gefahr für die Unversehrtheit von Patienten bzw. von Anwendern biomedizinischer Techniken. Insgesamt kann der Stellenwert biomedizinischer Informationen nicht hoch genug eingeschätzt werden und sollte daher auf einer Stufe mit den Maßnahmen selbst stehen, die im Bereich der Biomedizin zur Anwendung kommen. Auch in anderer Hinsicht sind defizitäre biomedizinische Informationen äußerst bedenklich: Über den Zweck der Gesundheitswiederherstellung hinaus werden im genannten Kontext gegenwärtig kontroverse Zielsetzungen diskutiert, die einer antizipatorischen Evaluierung bedürfen. Gemeint sind aktive Eingriffe auf einer anthropologisch relevanten Ebene in jenen Teil der menschlichen Natur, der dem Menschen „naturwüchsig“ 10 Diesen Stellenwert biomedizinischen Wissens betont z.B. Heubel (1999, 44f.) gegenüber wirtschaftlichen, rechtlichen etc. Wissensbeständen. Allerdings sind die Grundbegriffe Gesundheit/ Krankheit medizinethisch umstritten und unterliegen historischen Veränderungen; vgl. etwa die wegweisende Untersuchung von Lenk (2002). 11 Wenn die Risiken einer Technik nicht eingeschätzt werden können, spricht man von „Ungewissheit“ bezüglich des Ausmaßes und der Eintrittswahrscheinlichkeit des Schadens, wobei die Grenzen zwischen der Bestimmung eines Risikos und der Ungewissheit fließend sind; vgl. Engels (2000) für den Bereich der Xenotransplantation. <?page no="12"?> Einleitung 8 vorgegeben ist. 12 Exemplarisch sei hier die Verbesserung (Enhancement) der physischen und psychischen Konstitution des Menschen genannt, die mittels biomedizinischer Techniken verwirklicht werden soll. 13 In den dadurch (möglicherweise) eröffneten Handlungsspielräumen müssen moralische bzw. juridische Grenzziehungen reflektiert und auf individueller bzw. kollektiver Ebene entschieden werden. Die Perspektive wird dabei von der Suche nach geeigneten Mitteln für die Realisierung festgelegter Zwecke hin zur Bewertung der teils umstrittenen Zielsetzungen verlagert. Die Beantwortung der daran anknüpfenden normativen Fragestellung, ob die technische Umsetzung dieser Ziele (z.B. die Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit durch Enhancement-Techniken) denn auch wünschenswert und moralisch vertretbar ist, und die Abwägung ob man das, was man technisch realisieren kann auch tatsächlich realisieren soll, hängt wesentlich von einer zuverlässigen Sachstandsinformierung ab. Veranschaulichen lässt sich dies mithilfe einer idealisierten und vereinfachten Struktur der moralischen Urteilsfindung, die aus der Synthese von einem empirischen (z.B. „Neuroenhancement durch Psychopharmaka steigert die Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns, ohne gravierende Risiken und Nebenwirkungen für den Anwender“) und normativen Element (z.B. „Ein leistungsfähiges Gehirn ist die Voraussetzung für ein glückendes Leben“) erfolgt. 14 Angesichts der Spezifität und Komplexität der Problemstellung kann das empirische Element nicht auf Grundlage eigener Erfahrungen hinreichend bestimmt werden. Statt dessen ist man auf zusätzliche wissenschaftliche Expertise angewiesen. Biomedizinische Expertise berät hierbei, welche Ziele mit den zur Verfügung stehenden technischen Mittel gegenwärtig und zukünftig überhaupt realisierbar sind und gibt Aufschluss über die Umstände der technischen Realisierung. Jene hat gravierenden Einfluss 12 Vgl. dies. (2001) und Engels/ Hildt (2005). 13 Die „Verbesserung“ des Menschen kann zwar mit Wiesing (2006) durchaus als anthropologische Konstante verstanden werden. Dennoch stellt sich die Frage nach der Legitimität der eingesetzten Mittel (u.a. Psychopharmaka); vgl. Kipke (2011), der sie auf der Basis einer Konzeption des guten Lebens zu beantworten versucht. 14 Vgl. z.B. Ricken (2003, 223) und Höffe (2002b, 171). Da moralische Urteile über die Anwendung biomedizinischer Innovationen Fragen implizieren, die nur unter Einbezug der Expertise mehrerer wissenschaftlicher Disziplinen beantwortbar sind, werden elaborierte Varianten mit einer weiteren Unterteilung der konstitutiven Elemente diskutiert. Ein konstruktiver Vorschlag für ein „gemischtes Urteil“ geht auf Düwell (2008, 5ff.) zurück, der zur Enhancement-Problematik die Kenntnis folgender Details voraussetzt: (1) Gegenwärtige naturwissenschaftlich-technische Möglichkeiten, (2) zukünftige Möglichkeiten und Unsicherheiten, (3) Einfluss auf die soziale und psychische Wirklichkeit, (4) rechtliche Regelungsmöglichkeit, (5) die Bedeutung des Krankheitsbegriffs in der Medizin, (6) anthropologische Bestim-mungen, (7) moralphilosophische Überlegungen. Falls verschiedene Experten die Teilargumente unterschiedlich beantworten und bewerten, sind Dissense über gemischte Urteile möglich. <?page no="13"?> Problemaufriss 9 auf den Ausgang der Reflexion, wie die idealisierte Struktur der moralischen Urteilsfindung zeigt. Beispielweise hängt das Zustandekommen des moralischen Urteils, dass Neuroenhancement moralisch vertretbar ist, von der Voraussetzung ab, dass Psychopharmaka die Realisierung der Zielsetzung verbürgen und keine ausschlaggebenden Nebenwirkungen zeitigen. Die Sachstandsinformation bestimmt somit den Ausgang des moralischen Urteils, wobei die Gültigkeit des moralischen Urteils logischerweise vom Zutreffen der empirischen Prämisse abhängt. Angesichts der gravierenden Konsequenzen, die aus einer Fehlinformierung im Bereich der biomedizinischen Forschung resultieren können, stellt sich die Frage nach der moralischen Verantwortlichkeit. Aus epistemologischen bzw. sozialpsychologischen Gründen wird man sich mit Fehlern und Irrtümern in den Wissenschaften arrangieren müssen, ohne dass eine bewusste Intention der jeweiligen Forscher vorliegt. Außerdem sind unterschiedliche Auffassungen und Dissense der Experten über Forschungsergebnisse unvermeidbar, da sie interpretationsbedürftig und -freudig sind. Dies betrifft einerseits die Einschätzung der Chancen und Risiken biomedizinischer Mittel angesichts der therapeutischen Ziele, wenn nicht sogar Schadensumfang und Eintrittswahrscheinlichkeit von Nebenfolgen unbekannt sind; andererseits betrifft dies auch die Einschätzung der Erreichbarkeit neuer Zielbestimmungen mithilfe biomedizinischer Techniken (z.B. die schlechthinnige „Verbesserung“ der menschlichen Konstitution). 15 Die Unzuverlässigkeit biomedizinischer Information gewinnt hingegen spätestens dann eine moralische Dimension, wenn sie auf die absichtliche Willkür der Informationsgeber zurückzuführen ist. Hierbei ist an die teils langgliedrige Kette der Informationsweitergabe zu denken, die bei einem Beratungsgespräch mit einem Arzt oder der Lektüre eines Zeitungsartikels endet, aber auf die originäre Informierung eines biomedizinischen Forschers zurückgeht. Solche Informationen liegen häufig in Form von Ergebnissen wissenschaftlicher bzw. klinischer Studien vor, die eine grundlegende Informationsquelle in der ärztlichen Praxis, bei der Erstellung klinischer Leitlinien und Patienteninformationen, bei der systematischen Nutzen- Schaden-Bewertung von medizinischen Maßnahmen im Health Technology Assessment und in der Arbeit von Ethikkommissionen sind. 16 Entgegen einer vorschnellen Assoziation wurde in den letzten Jahren zunehmend deutlich, dass es weniger Betrugsdelikte in den Wissenschaften sind (z.B. Erfinden oder Fälschen von Ergebnissen), die eine nachhaltige fehlerhafte Informationslage verursachen; denn in vielen Fällen werden solche Verstö- 15 Gesellschaftliche Akteure als „Nutzer“ biomedizinischer Informationen sollten daher insbesondere bei neuen Forschungsgebieten von der Vorläufigkeit der vermittelten Informationen ausgehen, wenngleich dies von den Wissensproduzenten nicht immer deutlich gemacht wird. 16 So der Medizinethiker Strech (2011, 179). <?page no="14"?> Einleitung 10 ße frühzeitig entdeckt und publik gemacht. Quantitativ dominierend ist vielmehr das sog. „selektive Publizieren“, d.h. das Verheimlichen und Verschleiern wichtiger Informationen in wissenschaftlichen Studien, das insbesondere im biomedizinischen Bereich Anlass zu großer Besorgnis gibt. 17 Wenngleich der Nachweis eines physischen und psychischen Schadens durch eine fehlerhafte bzw. fehlende Information schwierig ist, konnten bei hochschwelligen Folgen eklatante Zusammenhänge hergestellt werden: 18 Ein vieldiskutierter Fall ist eine 1980 abgeschlossene Studie, die ein hohes Risiko für den plötzlichen Herztod bei einer Behandlung mit einem bestimmten Medikamententyp der Antiarrhythmika belegt, welche aber erst 1993 publiziert wurde. Durch das Unterschlagen dieser Studie wurde das Ausmaß der bereits bekannten Nebenwirkung unterschätzt und das Medikament in diesem Zeitraum zahlreichen Patienten mit Herzerkrankungen verordnet. In einer Hochrechnung wurden allein in den USA jährlich 20.000 bis 75.000 Todesfälle auf die Verordnung des besagten Medikamententyps zurückgeführt. Ein anderer Fall aus dem Jahr 2004 bezieht sich auf die Verheimlichung von Suizidraten bei Ju-gendlichen, die in antidepressiver Behandlung einen selektiven Sero-tonin-Aufnahmehemmer (SSRI) verabreicht bekamen. 19 Es ließen sich leider zahlreiche weitere Fälle, auch abseits der pharmakologischen Forschung benennen. 20 Die genannten tragischen Fälle, die am Ende einer willkürlichen biomedizinischen Informierung stehen, lassen den Ruf nach einer ethischen Regulierung der zugrunde liegenden Kommunikationsprozesse lauter werden. Wie sich in solchen komplexen Zusammenhängen zeigt, geraten allerdings die klassischen Kommunikationsideale (z.B. das Lügenverbot) an ihre Grenzen, sofern das Verheimlichen und Verschleiern von Informationen nicht durchgehend als Lüge aufgefasst wird. 21 In dieser Studie wird daher Transparenz als eine Kommunikationsnorm eingeführt, welche die Disponibilität sachbezogener Informationen reguliert - „transparency informs choice“. 22 Es wird vorausgesetzt, dass eine Transparenznorm genau in solchen Kommunikationskontexten und -situationen normativ einschlägig ist, in denen es um eine umfassende und verständliche Informierung im Rahmen eines individuellen oder kollektiven Entscheidungsprozesses geht. 17 Vgl. hierzu die in Kap. 3.1.2. erwähnten Studien. 18 Vgl. nochmals Strech (2011, 179). 19 Das Arznei-Telegramm (2004) beschreibt den Umgang des Pharmakonzerns Glaxo- SmithKline mit dem Antidepressivum Paroxetin, welches an Kinder und Jugendliche verschrieben wurde. Obwohl der Hersteller wusste, dass das Medikament nur Erwachsenen nutzt und die Suizidrate bei Kindern und Jugendlichen erhöht, wies er bei den deklarierten Nebenwirkungen lediglich auf „emotionale Labilität“ hin. 20 Vgl. McGauran u.a. (2010) für Literaturangaben. 21 Diese These wird in Kap. 2.5.2. genauer erläutert. 22 Fung u.a. (2008, 5). <?page no="15"?> Problemaufriss 11 Die Zielsetzung dieser Arbeit, Transparenz in der biomedizinischen Forschung, soll also durch die Erfüllung einer genauer zu erläuternden Kommunikationsnorm erreicht werden, die bei Interaktionen zwischen biomedizinischen Akteuren untereinander und bei Interaktionen mit der Öffent-lichkeit zu berücksichtigen ist. Der Zielgegenstand, das Gebiet der biomedizinischen Forschung, ist indes keineswegs klar erfassbar. 23 Es handelt sich um ein interdisziplinäres Forschungsgebiet, das im Grenzbereich von Medizin und Biologie angesiedelt ist. Wir haben bereits festgestellt, dass die häufige Charakterisierung der biomedizinischen Forschung durch den Bezug auf das hohe Gut der Gesundheit nur als vorläufig angesehen werden kann; die Zielsetzung der Entwicklung biomedizinischer Techniken, die der Wiederherstellung von Gesundheit bzw. der Prävention und Therapie von Krankheit dienen, steht gegenwärtig angesichts der Entwicklung von Enhancement-Techniken zur Disposition. Dennoch wird in dieser Arbeit an der definitorischen Bezugnahme auf die Gesundheit festgehalten, da ihre Aufrechterhaltung und Wiederherstellung (restitutio ad integrum) in absehbarer Zeit das ambitionierte Ziel der biomedizinischen Forschung bleiben wird. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass unter der Chiffre der häufig vom Anwendungskontext gedachten Biomedizin auch „Grundlagenforschung“ betrieben wird. Diese Differenzierung spielt für eine ethische Argumentation freilich eine Rolle, sofern biomedizinische Erkenntnisse weit von einer möglichen Anwendbarkeit und einer direkten Beeinflussung menschlicher Gesundheit entfernt sind. 24 Indes beziehen sich die Überlegungen zur „Transparenz in der biomedizinischen Forschung“ auf anwendungsbezogene Informationen, deren Kenntnis oder Unkenntnis Einfluss auf die körperliche oder geistige Integrität der Anwender hat. Soll durch eine hinreichend transparente Aufklärung des biomedizinischen Sachstands die Reflexion der Mittel- und Zielwahl ermöglicht werden, steht keineswegs eine vorschnelle Wissenschafts- und Technologiefeindlichkeit Pate, wie sie der Ethik teils reflexartig unterstellt wird. Es geht vielmehr darum, die bestehenden und antizipierten Möglichkeiten biomedizinischer Interventionen reflektierend erfassen, gegebenenfalls nutzen, aber auch ablehnen zu können. Der Fortschritt der biomedizinischen Forschung ist kein Selbstzweck und sollte eine öffentliche Partizipation und ethische Reflexion voraussetzen, in deren Prozess innovative Zielsetzungen 23 Daraus leitet sich eine Erklärung ab, weshalb Definitionsversuche von „Biomedizin“ rar sind; vgl. die ersten Einträge unter dem Stichwort bei einer Websuche mithilfe der Suchmaschine „google“, Zugriff am 11.1.2012. 24 Wenngleich der Bezug auf das hohe Gut der Gesundheit, und zwar derjenigen der potentiellen Anwender, fehlt, lässt sich ein Verbot der Verheimlichung und Verschleierung von Ergebnissen der biomedizinischen Grundlagenforschung durchaus begründen (zumindest im schwachen Sinne), wie das Kap. 4.2.3. zeigt. <?page no="16"?> Einleitung 12 legitimiert oder delegitimiert werden. 25 Es wurde bereits erwähnt, dass im biomedizinischen Kontext vor allem Informationen über Nutzen- und Schadenspotentiale biomedizinischer Maßnahmen von Interesse sind, die den Laien prinzipiell zur Verfügung stehen sollten. 26 Durch den Fokus auf eine sachbezogene Informationsvermittlung werden spezifische Fragestellungen nach einer empathiegeleiteten Informierung, wie sie bei einer professionellen Arzt-Patienten- oder Therapeut-Klienten Beziehung durchaus eine Rolle spielen, nur am Rande berücksichtigt. 27 Mit der Wahl des Transparenzkriteriums wird freilich ein Konzept herangezogen, das gegenwärtig en vogue ist. Seit ca. 20 Jahren hat sich „Transparenz“ als regulatives Ideal für Verfahrens- und Verhaltensweisen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen etabliert: Ob in der Politik bezüglich einer demokratischen Staatsführung (governance), in der Wirtschaft bei unternehmerischen Strukturen und Vorgängen oder in den Medien hinsichtlich journalistischer Vermittlungsprozesse: Überall soll Transparenz bestehen - so der Tenor der Bevölkerung. Es ist daher wenig überraschend, dass Transparenz als einer der Schlüsselbegriffe der Gegenwart angesehen wird 28 und wir angeblich sogar in einem „Zeitalter der Transparenz“ 29 oder in einer „transparenten Gesellschaft“ 30 leben. Doch was genau ist eigentlich gemeint, wenn wir von „Transparenz“ sprechen und damit eine Forderung verknüpfen? Wie lässt sich diese Forderung argumentativ stützen? Der lebensweltlichen Relevanz und Wertschätzung von Transparenz, die sich in dem geradezu inflationären Gebrauch des Begriffs widerspiegelt, stehen eklatante wissenschaftliche Forschungslücken hinsichtlich seiner systematischen Aufbereitung diametral gegenüber: In der Philosophie fehlen grundlegende begriffsanalytische Studien zum Transparenzbegriff, sowohl in Lexikonartikel als auch in Einzeldarstellungen: So finden sich 25 Die Möglichkeiten, die von der biomedizinischen Forschung generiert werden, können im Falle einer transparenten Informierung einer vorausschauenden und begleiten-den ethischen Bewertung unterworfen werden. Hierbei ist die präventive Fragestellung, was wir zukünftig können wollen, einschlägig, die Mieth (2002) für die ethische Bewertung des technischen Fortschritts formuliert hat. 26 In speziellen Fällen kann es durchaus sein, dass sich einer biomedizinischen Informierung ein medizinisches Aufklärungsgespräch über eine Erkrankung anschließt. Bei der Unterrichtung über diese Erkrankung sollten freilich alle Kriterien einer empathiegeleiteten Kommunikation berücksichtigt werden. 27 Ich verweise exemplarisch auf den Übersichtsartikel von Schöne-Seifert (2005), die sich der Frage nach einer sensiblen Informationsvermittlung bei einem medizinischen Aufklärungsgespräch annähert. Im Rahmen der genetischen Diagnostik ist etwa das „Recht auf Nichtwissen“ einschlägig, wenn Information zur persönlichen und familiären Belastung wird; vgl. Mieth (2002, 203ff.). 28 Vgl. Stehr/ Wallner (2010). 29 So Sharman (2009) und Frick (2011). 30 Vgl. Brin (1998). <?page no="17"?> Problemaufriss 13 weder im Historischen Wörterbuch zur Philosophie noch in der Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie Artikel zum Begriff „Transparenz“. In der englischsprachigen Stanford Encyclopedia of Philosophy beziehen sich diesbezügliche Einträge auf spezifische Zusammenhänge, vor allem auf Repräsentationstheorien des Bewusstseins und der Wahrnehmung, bei denen Transparenz den phänomenalen Charakter der Sinnes- und Selbstwahrnehmung beschreibt (z.B. Gilbert Harmans Transparenz-Argument). 31 Im selben Duktus beziehen sich einzelne philosophische Beiträge zum Transparenzbegriff ausschließlich auf spezifische Diskurse und sind daher schon vom Anspruch her als fragmentarisch anzusehen: Neben der kurzen bzw. ausführlichen Erörterung von Transparenz in Nachfolge des bereits genannten Repräsentationalisten Harman bei Kind (2010) und Barz (2012), wird in den Aufsätzen bei Orth (1990b) das Transparenzverständnis in der Phänomenologie, insbesondere Husserls und Heideggers untersucht; Dascal (2003) analysiert den Transparenzbegriff aus einer sprachphilosophischen Perspektive. Die aktuelle Monographie von Han (2012b) ist eher als eine polemisch-moralisierende Gesellschaftskritik und weniger als eine systematische Auseinandersetzung mit der Thematik zu verstehen. Im Bereich der Ethik finden sich bis dato keine dezidierten Monographien zur normativen Grundlegung des Transparenzbegriffs, geschweige denn zu wissenschaftsethischen Erörterungen im Bereich der Biomedizin. Setzt man Geheimhaltung als Antonym des Transparenzbegriff - was keineswegs unumstritten ist - kann für den englischen Sprachraum immerhin die philosophisch-ethische Monographie von Bok (1984) genannt werden, die indes eine kasuistische Stoßrichtung verfolgt. Eine Ausnahme bildet der kritische Aufsatz von O’Neill (2002b, 2006), in dem die Autorin formelle Transparenzforderungen vor dem Hintergrund vertrauensbedürftiger gesellschaftlicher Interaktionen moniert. Dieser Beitrag zeigt allerdings pars pro toto, dass bislang selbst bei einer differenzierten Argumentation hinsichtlich normativer Transparenz keine vorgängige definitorischen Klärung des Transparenzbegriffs erwartetet werden kann. Sieht man von der Philosophie und Ethik ab, ergibt sich in den übrigen Geisteswissenschaften ein anderes Bild. Seit einer Dekade findet man in Disziplinen, in denen „Transparenz“ zur Leitmetapher stilisiert wird, zunehmend Studien, die eine Analyse gemäß der fachwissenschaftlichen Perspektive verfolgen: Exemplarisch bietet z.B. Bröhmer (2004, 18ff.) für den Bereich der Rechtswissenschaften neben einer einführenden Definition des Transparenzbegriffs eine ausführliche deutschsprachige rechtswissenschaftliche Erörterung des Transparenzprinzips an. Den historischen Übergang vom Paradigma der Geheimhaltung zum Transparenzparadigma in der Rechtsprechung zeichnet Wegener (2006) nach. In den Sammelbänden 31 Vgl. Gertler (2008), Lycan (2008) und Schwitzgebel (2010). <?page no="18"?> Einleitung 14 von Hood/ Heald (2006b) und Florini (2007b) sind historische und systematische Untersuchungen zum Transparenzbegriff aus politikwissenschaftlicher Perspektive zusammengeführt, in denen sich auch hilfreiche Taxonomisierungsversuche finden. Die Wirtschaftswissenschaftler Picot u.a. (2007) untersuchen die Rolle des Transparenzprinzips für wirtschaftliche Prozesse auf Kreditmärkten. Gleichwohl es sich eigentlich um eine deskriptive Bestandsaufnahme handeln müsste, warnt die Wissenschaftssoziologin Jasanoff (2006) in ihrem Aufsatz moralisierend vor exzessiven Transparenzforderungen im Bereich der Naturwissenschaften. Einen interdisziplinären Zugang zum Transparenzbegriff ermöglicht der Sammelband von Jansen u.a. (2010), in dem Beiträge u.a. aus den Bereichen der Politik-, Wirtschafts-, und Sozialwissenschaften vereint sind. Auch in anderen Disziplinen wächst das Forscherinteresse an Transparenz: Etwa bei West/ Sanders (2003) wird in mehreren anthropologischen bzw. ethnographischen Analysen der Frage nachgegangen, inwiefern die angeblich wachsende Trans-parenz ein Ausdruck für das allgemeine Misstrauen gegenüber den politisch Mächtigen ist. Einen Zusammenhang zwischen der Revolution in der Optik und der Forderung nach Transparenz im Zeitalter der französischen Revolution stellt die historische Arbeit von Levitt (2009) her. Für den Bereich der Architektur bieten Rowe/ Slutzky (1997) eine klassische englischsprachige Grundlegung. Der Überblick über einzelwissenschaftliche Studien kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der wissenschaftliche Sachstand zum Transparenzbegriff sehr spezifisch und fragmentarisch ist. Gleichwohl können die genannten Artikel herangezogen werden, um ein übergreifendes Bild von Transparenz zu zeichnen. Insgesamt muss also eine zweifache Misslichkeit der gegenwärtigen Begriffsverwendung moniert werden: Ein Blick auf die wissenschaftliche Gebrauchsweise zeigt, dass mit dem Transparenzbegriff bislang keine einheitliche und daher selbstverständliche Bedeutung verbunden wird. 32 Mag dieser Zustand der begrifflichen Mehrdeutigkeit im lebensweltlichen Sprachgebrauch nicht stören - aus dem Bedeutungszusammenhang heraus ist der Ausdruck in der Regel intuitiv verstehbar -, sind für wissenschaftliche Studien abweichende Gebrauchweisen und begriffliche Unklarheiten unliebsam. Denn sofern auf ihrer Grundlage Phänomene untersucht und Argumente entfaltet werden, sind bei einer heterogenen Bedeutung Zuordbarkeiten und Schlussfolgerungen mehr als unklar. 33 Dies leitet zur zweiten 32 Dies bemerkt Florini (2007a, 4) in der Einleitung zu ihrem politikwissenschaftlichen Sammelband. Etwa der Rechtswissenschaftler Wegener (2001) versteht unter Transparenz den formellen Informationszugang, insbesondere zu staatlich verwalteten Informationen, während der Linguistik und Philosoph Dascal (2003) Transparenz auf Kommunikationsprozesse bezieht und damit ein kognitives Ideal versteht. 33 Darauf haben Hood/ Heald (2006a, x) einleitend in einer Aufsatzsammlung hingewiesen. <?page no="19"?> Ziele, Methodik und Gliederung der Untersuchung 15 Misslichkeit über. Trotz Äquivozität des Transparenzbegriffs werden in zahlreichen Fachpublikationen bei zentraler Verwendung - sei es als Beschreibung oder Forderung - weder allgemeine Definitionsvorschläge ausgebreitet noch spezifische Arbeitsdefinitionen den weiteren Überlegungen vorangestellt. 34 Bei der gegenwärtigen Forschungssituation ist zu konstatieren, dass auf kein klares und einheitliches Konzept von Transparenz zurückgegriffen werden kann. Ziele, Methodik und Gliederung der Untersuchung Aus dem Problemaufriss ergeben sich dreierlei Aufgaben, die mit der vorliegenden Arbeit verfolgt werden: (a) Der Transparenzbegriff soll in seinem lebensweltlichen Gebrauch analysiert und einer einheitlichen Definition unterworfen werden. Anschließend soll (b) eine Transparenznorm für den Kontext der biomedizinischen Forschung formuliert und (c) ethisch begründet werden. Letztlich soll die Forschungslücke, dass „Transparenz“ philosophisch-ethisch bislang geradezu unerfasst geblieben ist, geschlossen werden. Zur Lösung dieser Aufgabenstellung werden Methoden und Ergebnisse unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen herangezogen, wie sich exemplarisch zeigen lässt: Die Entfaltung einer Kriteriologie formeller und inhaltlicher Transparenz findet auf der Grundlage philosophischer Einsichten über verwandte Phänomene (z.B. Kommunikation, Wahrheit, Verstehen) statt, die auf eine breite Rezeptionsgeschichte verweisen können; wenn es um die Beschreibung kontextueller Eigenheiten der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschungspraxis geht, orientiert sich der Gedankengang an wissenschaftssoziologischen Ergebnissen; die Begründung der biomedizinischen Transparenznorm erfolgt mithilfe einer philosophisch-ethischen Argumentation. Insgesamt zeigt die Auswahl der verwendeten Methoden und Ergebnisse, dass die vorliegende Studie dem Grundgedanken der Interdisziplinarität verpflichtet ist. 35 Deren Stärke liegt nicht nur darin, zur Lösung eines Forschungsproblems unterschiedliche Instrumente und Wissensbestände heranzuziehen, um der Komplexität der Fragestellung gerecht zu werden, sondern auch einen Beitrag zum dialogi- 34 Zwar wird der Transparenzbegriff in einschlägigen Lexika der Politikwissenschaften (vgl. z.B. Nohlen/ Schultze 2005 und Schmidt 2010) und der Soziologie (vgl. z.B. Kopp/ Schäfers 2010) verwendet, jedoch ohne durch einen entsprechenden Eintrag eine klare Definition voranzustellen. Die qualitative Bestimmung hinkt sozusagen der quantitativen Verwendung in den Einzelwissenschaften hinterher. 35 Vgl. hierzu Jungert u.a. (2010), insbesondere der Beitrag von Löffler, der anhand anschaulicher Beispiele schlechter Interdisziplinarität zeigt, wie sie statt dessen praktiziert werden sollte. <?page no="20"?> Einleitung 16 schen Austausch zwischen den Disziplinen zu leisten. Angesichts dieser methodologischen Vorbemerkung gliedert sich die Untersuchung in fünf Hauptschritte: Das erste Kapitel ist von der Einsicht geleitet, dass derjenige, der Transparenz einfordert, zuerst geklärt haben muss, was er darunter versteht. Bei der Entwicklung einer grundlegenden Definition von Transparenz, die sich an der gegenwärtigen Gebrauchsweise orientiert, wird der Weg eingeschlagen, diese Begriffsbestimmung ohne bestimmte Wissensvoraussetzung des geneigten Lesers vorzunehmen. Zunächst wird eine lexikalische Begriffsanalyse vorgenommen (1.1.), die sich keineswegs auf eine Aufzählung vorfindbarer Bedeutungseinträge beschränkt; die Eruierung verschiedener lexikalischer Bedeutungen stellt vielmehr den Ausgangspunkt für eine interpretatorische Ausführung der Implikationen des Transparenzkonzepts dar, auf deren Grundlage eine neue Transparenzterminologie entwickelt wird. Mithilfe dieser Terminologie soll ermöglicht werden, verschiedene Phänomene, die unter der Chiffre „Transparenz“ zusammengefasst werden und zur Äquivozität geführt haben, begrifflich voneinander abzugrenzen. Lassen sich dabei zwei dominierende Bedeutungen von Transparenz identifizieren (formelle und inhaltliche Transparenz), 36 besteht die Vermutung, dass sich ihr kontextueller Gebrauch nach einer identifizierbaren Regel richtet. Die These der regelgeleiteten Gebrauchsweise soll anhand einer vergleichenden Analyse der Begriffsverwendung in unterschiedlichen Kontexten (Politik, Wirtschaft, Recht) geprüft werden, in denen „Transparenz“ vielfach benutzt wird (1.2.). Bei einer Zusammenstellung der sprachanalytischen Ergebnisse wird zwischen einer deskriptiven, evaluativen und normativen Verwendungsweise des Transparenzbegriffs unterschieden, die sich in den untersuchten Kontexten herauskristallisiert (1.3.). Während die deskriptive Gebrauchsweise nahe legt, Transparenz als einen Komplexbegriff zu verstehen, der je nach kontextueller Funktionalität entweder die formelle oder inhaltliche Zugänglichkeit zu Sachverhalten beschreibt, wird bei einer normativen Verwendungsweise in den untersuchten Kontexten ein einheitliches Muster sichtbar: Transparenz stellt einen epistemischen Idealbegriff dar, der die formelle und inhaltliche Bedeutung in sich vereint, aber je nach situativer Notwendigkeit auf eine der beiden Bedeutungspole eingeschränkt wird. Die Analysen münden in die Formulierung einer allgemeinen Transparenznorm (TN A ), die eine Gebotspflicht zur proaktiven Vermittlung sachbezogener Informationen (TG A ) und eine Unterlassungspflicht intransparenter Informierung (ITV A ) umfasst. In weiteren terminologischen Vorarbeiten werden die konstitutiven Elemente eines einheitli- 36 In dieser Arbeit wird u.a. die Einführung neuer Termini kursiv gekennzeichnet. Daneben soll die kursive Schriftauszeichnung Hervorhebungen, fremdsprachigen Begriffen, selbstständigen Publikationen und Eigennamen vorbehalten sein. <?page no="21"?> Ziele, Methodik und Gliederung der Untersuchung 17 chen Transparenzsettings, das in allen Gebrauchskontexten des Transparenzbegriffs vorausgesetzt wird, begrifflich eingeführt und aus einer soziologischen Perspektive analysiert (1.4.). Die soziologisch fundierte Untersuchung trägt der gegenwärtigen lebensweltlichen Verwendungsweise Rechnung, bei der hauptsächlich soziale Phänomene, die aus Interaktionen innerhalb und zwischen verschiedenen Gesellschaftssystemen bzw. sozialen Akteuren hervorgehen, mit dem Transparenzbegriff attribuiert werden. Die identifizierten Transparenzelemente (Transparenzsuchende, -vermittler, -objekte und -barrieren) werden sukzessiv charakterisiert (1.4.1.-1.4.3.) und in einer Zusammenfassung bündig definiert (1.4.4.). Nach der ausführlichen Begriffsarbeit in den ersten beiden Kapiteln findet im zweiten Kapitel eine philosophische Grundlegung des epistemischen Transparenzkonzepts statt, die bei einer kursorischen ideengeschichtlichen Untersuchung ihren Ausgang nimmt (2.1.). Wie exemplarische Belege verdeutlichen, zeichnet sich die abendländische Philosophie- und Geistesgeschichte durch einen erkenntnistheoretischen Okularzentrismus aus, der in der gesellschaftlichen Etablierung des Transparenzkonzepts seit den 1960er Jahren weiterhin spürbar ist. Es wird sich zeigen, dass die rekonstruierten Wendepunkte dieser visualistischen Ideengeschichte zugleich Interpretamente für das gegenwärtige Transparenzkonzept sind, die ihn als epistemischen Komplex- und Idealbegriff zu verstehen helfen. Nach dem historischen Exkurs wenden wir uns den epistemologischen und ethischen Implikationen des Transparenzbegriffs zu, die schrittweise expliziert und erläutert werden. Die philosophischen Analysen stehen unter der Voraussetzung, dass die Transparenz von Sachverhalten gegenwärtig weniger durch direkte, persönliche Einblicke (perzeptive Transparenz), als vielmehr durch indirekte Informationsvermittlungen zustande kommt (informationelle Transparenz). Wenn zwischenmenschlichen Kommunikationsprozessen bei der Transparentwerdung von Sachverhalten demzufolge eine Schlüsselfunktion zukommt, stellt sich die Frage, was unter einer transparenzgenerierenden Kommunikation zu verstehen ist. Der Beantwortung dieser Frage ist das Kapitel 2.2. gewidmet. Bei kommunikationstheoretischen Vorüberlegungen wird zunächst das informationstechnologische Kommunikationsmodell von Shannon und Weaver herangezogen, das regelmäßig über seinen originären Geltungsbereich hinaus auf zwischenmenschliche Interaktionsprozesse angewandt wird (2.2.1.). Zeigt sich hierbei, dass das unidirektionale Modell bei einer Reduktion des Kommunikationsprozesses auf die Quantität der Übertragungseinheiten (Informationen) lediglich geeignet ist, technische Probleme (z.B. Störungen) der Transparenzvermittlung zu identifizieren, richten sich die weiteren Untersuchungen auf sprachphilosophische Kommunikationstheorien des 20. Jahrhunderts (2.2.2.). Bei diesen Theorien wird die zwischenmenschliche Kommunikation als Handlung bzw. Interaktion verstanden, die unter einer spezifischen Zielsetzung <?page no="22"?> Einleitung 18 steht und neben der Mitteilungsstets auch eine Verstehensdimension umfasst. Es zeigt sich, dass kommunikative Handlungen bzw. die grundlegenden Vermittlungseinheiten (sprachliche Zeichen) eine bestimmte Qualität aufweisen müssen, um die jeweilige Zielsetzung der Akteure zu verwirklichen. Vor diesem Hintergrund ist die Intransparenz von Sachverhalten nicht nur auf eine (technische) Störung der Interaktionen, sondern im Wesentlichen auf fehlende qualitative Eigenschaften der vermittelten Informationen zurückzuführen. Welchen Kriterien muss demzufolge eine Informierung genügen, um Transparenz über einen Sachverhalt vermitteln zu können? Zur Beantwortung dieser Frage wird im nächsten Schritt eine Kriteriologie informationeller Transparenz entwickelt, die sich an philosophisch etablierten und systematisch gut aufbereiteten qualitativen Kriterien der zwischenmenschlichen Kommunikation orientiert (2.3.). In Korrespondenz zu den analytisch unterscheidbaren Dimensionen der formellen und inhaltlichen Transparenz werden die Konzepte der Wahrheit (2.3.1.) bzw. der Verständlichkeit (2.3.2.) genutzt und zur Darstellung gebracht. Da die philosophischen Vorstellungen von Wahrheit und Verständlichkeit mannigfaltig und traditionell kontrovers sind, wird kein erschöpfender historischer Überblick über die verschiedenen Positionen bzw. keine ausführliche Systematik der Begrifflichkeiten angestrebt. Vielmehr sollen auf der Grundlage vieldiskutierter Wahrheits- und Verständlichkeitstheorien praxistaugliche Entwürfe entwickelt werden, die für die kriteriologische Bestimmung informationeller Transparenz dienlich sind. Stellt sich heraus, dass Transparenz über Sachverhalte nicht allein durch die Vermittlung wahrer bzw. verständlicher Informationen herzustellen ist, werden weitere Transparenzkriterien (Vollständigkeit, sprachliche Angemessenheit der Informationen) ergänzt und erläutert. Die ausführlichen kriteriologischen Überlegungen finden in einer Definition informationeller Transparenz eine Zusammenführung (2.3.3.). In Kapitel 2.4. werden ontologische und epistemologische Voraussetzungen des Transparenzkonzepts erörtert. Auch hierbei geht es um keine erschöpfende Darstellung des Diskussionsstands, sondern vorrangig um die Kenntlichmachung, dass jede Transparenzforderung von der Akzeptanz bestimmter ontologisch-epistemologischer Voraussetzungen abhängig ist. Das dritte Kapitel findet in der Analyse ethischmoralischer Implikationen des Transparenzkonzepts einen Abschluss (2.5.). Zunächst werden entscheidungs- und handlungstheoretische Implikationen des Transparenzkonzepts aus der Perspektive eines Transparenzsuchenden entfaltet (2.5.1.). Eine transparente Vermittlung sachbezogener Informationen wird als Voraussetzung für die Aneignung von Verfügungswissen gekennzeichnet, welches in Entscheidungsprozessen die Grundlage für eine Abwägung zwischen Handlungsalternativen darstellt. Mit der handlungstheoretischen Nuancierung informationeller Transparenz ist zugleich eine Vorentscheidung für spätere ethische Begründungsversuche <?page no="23"?> Ziele, Methodik und Gliederung der Untersuchung 19 der Transparenzforderung im Bereich der biomedizinischen Forschung gefallen. Wenngleich die Überlegungen auf Einsichten des rational choice-Paradigmas rekurrieren, sind sie keineswegs dem zugrunde liegenden reduktionistischen Menschenbild des homo oecomonicus verpflichtet. Statt dessen dient das Konzept des autonomen Handlungssubjekt als Vorlage, demzufolge ein Handelnder prinzipiell dazu in der Lage ist, Ziele vernünftig setzen und zweckdienliche Mittel rational auszuwählen zu können. Bei dem Rekurs auf das ideale Konzept der autonomen Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit wird nicht geleugnet, dass sie realiter durch mannigfaltige situative und temporäre Einflussnahmen begrenzt sein kann. Im nächsten Schritt steht die kommunikative Handlung des Transparenzvermittlers im Mittelpunkt, die bestimmten ethischer Kriterien zu genügen hat, damit ein Sachverhalt transparent wird (2.5.2.). Auf der Landkarte bekannter positiver und negativer Kommunikationskriterien (Wahrhaftigkeit, Lüge, Offenheit) wird eine konzeptuelle Kartierung der Transparenznorm unternommen. Hauptziel ist die Eruierung inhaltlicher Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede, um abschätzen zu können, ob Begründungsmodelle dieser etablierten Normen zur Legitimierung der bislang wenig untersuchten Transparenznorm genutzt werden können. Diese Analyse dient zugleich als Vorarbeit für eine mögliche ethische Begründung der Transparenznorm, die im fünften Kapitel erfolgt. Stellt sich heraus, dass für eine Transparenznorm - insbesondere als Gebotspflicht zur proaktiven Vermittlung sachbezogener Informationen (TG A ) - eine Konkretisierung und kontextuelle Spezifizierung konstitutiv ist, werden diese notwendigen Zwischenschritte im dritten Kapitel inseriert. Leitend ist die Frage, was genau unter Transparenz im Kontext der biomedizinischen Forschung verstanden werden soll. Die „biomedizinische Forschung“ ist ein relativ neues Gebiet der anwendungsorientierten Forschung, das durch kooperative, interdisziplinäre Forschungsbemühungen der Medizin, Biologie, Biochemie u.a. entstanden ist. Da die biomedizinische Forschung im Grenzbereich mehrerer naturwissenschaftlicher Disziplinen stattfindet, sind die transparenzbezogenen Untersuchungen auf keinen singulären, abgrenzbaren Forschungsbereich einzuschränken, sondern auf das Gebiet der Naturwissenschaften zu erweitern. Zunächst interessiert die Frage, ob bereits Konzeptualisierungsversuche von Transparenz in naturwissenschaftlich-biomedizinischen Zusammenhängen vorliegen, die einer ausführlichen Erörterung unterzogen werden können (3.1.). Es stellt sich heraus, dass Transparenz dort weitgehend als Ideal der offenen Weitergabe wissenschaftlicher Methoden und Ergebnisse bei wissenschaftsinternen Kommunikationsprozessen vorgestellt wird. Zum besseren Verständnis des vorgefundenen Transparenzkonzepts findet eine wissenschaftssoziologisch fundierte Verankerung im Rahmen der wissenschaftlichen Forschungs- und Kommunikationspraxis statt (3.1.1.). Aufgrund des <?page no="24"?> Einleitung 20 hohen Erklärungspotentials wird hierbei eine funktionale Analyse der wissenschaftlichen Kommunikationsstrukturen vorgenommen, die sich an der allgemein akzeptierten Zielsetzung, der methodisch kontrollierten Gewinnung und Erweiterung wissenschaftlichen Wissens, orientiert. Gleichwohl informationelle Transparenz unter dieser theoretischen Voraussetzung ein unaufhebbarer, konstitutiver Bestandteil der wissenschaftlichen Forschungspraxis ist, müssen in einem weiteren Differenzierungsschritt bestimmte Fälle illegitimer und weithin problematisierter Intransparenz (3.1.2.) von Bereichen allgemein akzeptierter und funktional begründbarer Intransparenz (3.1.3.) abgegrenzt werden. Zur besseren begrifflichen Unterscheidung wird nachfolgend bei illegitimen Intransparenzfällen von wissenschaftlicher Intransparenz die Rede sein. Ihrer möglichen Typisierung steht die begrenzte Nachweisbarkeit und Sanktionierbarkeit diametral gegenüber, wie das Kapitel 3.1.4. zeigt. Gleichwohl legen empirische Studien bzw. Umfragen unter Forschern eine hohe Prävalenz wissenschaftlicher Intransparenz nahe. Im anschließenden Kapitel 3.1.5. wird der Frage nach den Ursachen für das hohe Vorkommen nachgegangen. Die Ergebnisse dieses Kapitels stellen außerdem Vorarbeiten für die Entfaltung eines Maßnahmenkatalogs dar (5.), welcher die Umsetzung der biomedizinischen Transparenznorm begleiten und erleichtern soll. Nachfolgend wird geprüft, ob spezifische transparenzbezogene Problemfelder der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Wissenschafts- und Forschungspraxis bestehen, die vom vorgefundenen Transparenzkonzept nicht hinreichend erfasst werden. Da bisherige Konzeptualisierungsversuche den Transparenzbegriff auf ein Ideal der wissenschaftsinternen Kommunikation reduzieren, trifft dies auf typische Kommunikationsdefizite bei wissenschaftsexternen Interaktionen zu. Den Interaktionen zwischen wissenschaftlichen Experten und Laien sind daher die Überlegungen in Kapitel 3.2. gewidmet. Hierbei dient die wissenschaftliche Politikberatung als exemplarischer Topos der wissenschaftsexternen Kommunikation, die sich mithilfe soziologischer Befunde charakterisieren lässt (3.2.1.). Angesichts der divergierenden Interessenslagen, welche die beteiligten Protagonisten vertreten, können im ersten Schritt Ursachen für die formelle Intransparenz biomedizinischer Informationen identifiziert werden (3.2.1.1.). Im zweiten Schritt findet ein linguistischer Blick auf die Verwendung der Wissenschaftssprache statt, die bei einer wissenschaftsexternen Informierung häufig als Ursache für die inhaltliche Intransparenz angeführt wird (3.2.1.3.). Bieten die Analysen der wissenschaftlichen Politikberatung eine theoretische Annäherung an die Problemfelder der formellen und inhaltlichen Intransparenz, werden sie mit Fallbeispielen veranschaulicht. Hierbei wird auf das bereits erwähnte Themenfeld des „Enhancement“ durch Psychopharmaka (3.2.1.2.), sowie auf den Bereich der Präimplantationsdiagnostik zurückgegriffen (3.2.1.4.). Angesichts der exemplarischen Bestandsaufnahme ergibt sich das Desiderat <?page no="25"?> Ziele, Methodik und Gliederung der Untersuchung 21 einer eigenständigen wissenschaftsexternen Transparenznorm für den Kontext der biomedizinischen Forschung, die bislang in der wissenschaftsethischen Literatur weder formuliert noch begründet wurde. Eine Ausbuchstabierung der Transparenznorm (TN B ), die sich an den vorgängig beschriebenen Transparenzdefiziten orientiert, findet in Kapitel 3.2.2. statt. In Anlehnung an die von Georg Henrik von Wright identifizierten konstitutiven Komponenten moralischer Normen wird der Adressaten- und Empfängerkreis der wissenschaftsexternen Transparenznorm spezifiziert (3.2.2.1.), ihr Gehalt bezüglich der formellen und inhaltlichen Anforderung konkretisiert (3.2.2.2.), sowie ihr Charakter in zweierlei Möglichkeiten dargelegt (3.2.2.3.). Zusammenfassend kann eine zweigliedrige Transparenznorm (TN B ), bestehend aus einer Gebotsnorm transparenter Informierung (TG B ) und einer Verbotsnorm intransparenter Sprechakte (ITV B ), vorgelegt werden (3.2.2.4.). Das vierte Kapitel reagiert auf die sich nunmehr ergebende Fragestellung, wie die vorgeschlagene wissenschaftsexterne Transparenznorm (TN B ) ethisch begründet werden kann. Zur Konzentration der Beweisführung wird vorab die Kriteriologie einer hinreichenden Begründung entwickelt (4.1.), welche sich an den einführenden begriffsanalytischen Überlegungen und implikativen Ergebnissen orientiert. Denn wenngleich die ausstehenden normativen Überlegungen methodisch von den vorgängigen deskriptiven Schritten zu trennen sind, stellen die analysierten Eigenarten des Transparenzkonzepts zugleich wegweisende Rahmenstrukturen für eine ethische Argumentation dar. Ignoriert man beispielsweise die Einsicht, dass die informationelle Transparenz von Sachverhalten nicht durch das bloße Einhalten genau definierter sprachlicher Regeln gewährleistet werden kann, besteht die Gefahr, eine ethische Begründung vorzulegen, welche die komplexen epistemischen Anforderungen unterläuft, die das Transparenzideal impliziert. Auf der Grundlage der vorgestellten Kriteriologie werden im ersten Untersuchungsschritt einschlägige ethische Argumentationsstrategien der Wissenschaftsethik untersucht, die für eine Regulierung des wissenschaftlichen Handlungsfeldes entwickelt wurden (4.2.). Der Rekurs auf Begründungsmodelle der Wissenschaftsethik gründet in der simplen Einsicht, dass sich die vorgelegte Transparenznorm (TN B ) an Biomediziner bzw. Naturwissenschaftler als Normadressaten richtet. Nach einer einführenden Charakterisierung der Wissenschaftsethik als bereichsspezifischer Ethik (4.2.1.), sowie einer exkursförmigen Erörterung, ob und weshalb der Handlungsbereich der wissenschaftlichen Forschung einer ethischen Regulierung zugänglich ist (4.2.2.), werden hierzu verschiedene wissenschaftsethische Paradigmen identifiziert, vorgestellt und auf ihre argumentative Stichhaltigkeit hinsichtlich der Transparenznormbegründung untersucht. Unter einem wissenschaftsethischen Paradigma sollen in einer weitläufigen Anlehnung an den Kuhn’schen Terminus spezifische norma- <?page no="26"?> Einleitung 22 tive Lösungsvorschläge für Problemfelder des wissenschaftlichen Handlungsbereichs verstanden werden, für die je eigene Begründungsstrategien entwickelt wurden. Gemäß dieser Definition sind in der wissenschaftsethischen Fachliteratur hauptsächlich vier Paradigmen identifizierbar (Ethos-, Verantwortungs-, Experten- und Forschungsparadigma). Wenngleich kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben wird, kann mittels der vorgestellten Paradigmen die pessimistische Beobachtung einzelner Autoren als haltlos ausgewiesen werden, es fehle der Wissenschaftsethik ein Theoriekern, der sie zu einer eigenständigen bereichsspezifischen Ethik qualifiziere. In den nachfolgenden Schritten werden die ersten drei genannten Paradigmen (das Ethosparadigma in 4.2.3., das Verantwortungsparadigma in 4.2.4. und das Expertenparadigma in 4.2.5.) erläutert und auf ihre Tragfähigkeit für eine Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm untersucht. Das sog. Forschungsparadigma findet keine Berücksichtigung, da es durch die Fokussierung auf die verwendeten Mittel des wissenschaftlichen Experiments für eine Begründung der Transparenznorm weniger geeignet ist. Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass die Darstellung der vorgeschlagenen drei Paradigmen idealtypisch erfolgt und auf verbreitete Lehrmeinungen reduziert wird. Im Umkehrschluss bleiben randständige normative Problemlösungsansätze außerhalb der Paradigmen unberücksichtigt, wie auch diverse Spielarten und Weiterentwicklungen innerhalb der Paradigmen ignoriert werden. In einer Zwischenbilanz (4.2.6.) stellt sich heraus, dass die wissenschaftsethischen Paradigmen hinsichtlich der dargelegten kriteriologischen Mindestanforderung an eine ethische Begründung der biomedizinischen Transparenznorm nicht ausreichen. Daher wird in Kapitel 4.3. die Kantische Moralphilosophie als Begründungstheorie für weitere Fundierungsversuche herangezogen. Von den etablierten Ethiktheorien zeichnet sich die Kantische nicht nur durch ihre hohe systematische Kohärenz und Anschlussfähigkeit an Grundzüge der Alltagsmoral aus; sie drängt sich geradezu für den weiteren Argumentationsgang auf, da der Aufklärungsphilosoph Kant im besonderen Maße für die Ideale der Offenheit und wechselseitigen Kritik eintrat, die für den heutigen Begriff der Transparenz Vorbilder sind. Es bedarf keiner überbordeten Spekulation anzunehmen, dass er im Rahmen des gegenwärtigen Sprachgebrauchs den Transparenzbegriff vermutlich selbst aufgegriffen und als epistemisches Ideal bei wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskursen eingefordert hätte. Aufgrund seines umfangreichen und gehaltvollen moralphilosophischen Oeuvres sind folgende Selektionsschritte notwendig: Es werden Schriften und Textpassagen herangezogen, in denen er eine autorisierte Begründung zugunsten des Wahrhaftigkeitsgebots bzw. des Lügenverbots entwickelt. Mit dieser Selektion ist die Erwartung verbunden, dass die von Kant entwickelte Argumentation mutatis mutandis zur Legitimierung der extensional umfangreicheren biomedizinischen Transparenznorm genutzt werden kann. <?page no="27"?> Ziele, Methodik und Gliederung der Untersuchung 23 Wie an anderer Stelle analysiert wurde (2.5.2.), ist die Übertragbarkeit der Argumentation dadurch gerechtfertigt, dass ethisch relevante Gemeinsamkeiten zwischen den bekannten Kommunikationsnormen und der vorgestellten Transparenznorm bestehen. Von den in Frage kommenden Schriften (u.a. auch die Kritik der praktischen Vernunft und der Aufsatz „Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen“) werden primär die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten sowie die Metaphysik der Sitten herangezogen, was sich wie folgt rechtfertigen lässt: Da die Grundlegungsschrift in Einführung und Entfaltung des obersten Moralprinzips, des Kategorischen Imperativs, unbestritten als Hauptquelle für die Kantische Moralphilosophie angesehen wird, führt an ihr für die Begründung jeglicher Norm, also auch der Transparenznorm, kein Weg vorbei. Der Rekurs auf die „Metaphysik der Sitten“ scheint hingegen weniger plausibel zu sein, da sie von vielen Rezensenten aufgrund ihrer inkludierten, teils sperrigen Thesen als Alterswerk des schon senilen Philosophen desavouiert wurde. Dem gegenüber wird gezeigt, dass bei einer einheitlichen Gesamtinterpretation in Korrespondenz zur Grundlegungsschrift wichtige Impulse für die Begründung der Transparenznorm gewonnen werden können. Zusammenfassend erfolgen die Begründungsversuche der Transparenznorm zunächst mithilfe der Grundlegungsschrift (4.3.1.), bevor sich der Metaphysik der Sitten zugewendet wird (4.3.2.). Das fünfte Kapitel findet mit einer Ergebnissicherung, bei der die zu anfangs entwickelte Kriteriologie als Maßstab für eine gelungene Begründung der biomedizinischen Transparenznorm durch die kantische Moralphilosophie dient, seinen Abschluss (4.3.3.). Im letzten, fünften Kapitel wird der Einsicht Rechnung getragen, dass die Interaktionen zwischen Transparenzvermittlern und -suchenden maßgeblich durch soziale Strukturen beeinflussbar sind. Wie an anderer Stelle mithilfe wissenschaftssoziologischer Studien belegt werden konnte (3.1.5.), stellen etwa im biomedizinischen Bereich hochkompetitive Strukturen eine besondere Herausforderung für die Erfüllung wissenschaftlicher Normen, einschließlich der Transparenznorm, dar. In doppelter Abstimmung auf die deskriptiv erschlossenen Problemfelder der Wissenschaftspraxis und auf die normativen Anforderungen der biomedizinischen Transparenznorm werden exemplarische Maßnahmen und Anpassungen in Richtung eines selbstzweckorientierten Handlungsrahmens diskutiert, die die Umsetzung der wissenschaftsexternen Transparenznorm im gegebenen Interaktionsfeld erleichtern sollen. Dadurch soll keineswegs der individualethische Ansatz der Arbeit unterminiert werden, sofern strukturelle bzw. institutionelle Vorschläge stets von Individuen getragen werden müssen. Konkret richtet sich der erste Maßnahmenkatalog (Kodifizierung und Sanktionierung einer wissenschaftsinternen Transparenznorm, Vermittlung eines Transparenzbewusstseins in Aus- und Weiterbildung, adäquate Rahmenbedingungen) auf die Umsetzung der formellen Transparenz biomedizini- <?page no="28"?> Einleitung 24 scher Informationen, die bereits bei wissenschaftsinternen Kommunikationsprozessen sichergestellt werden muss, damit Sachverhalte auch wissenschaftsextern transparent werden können (5.1.). Der zweite Maßnahmenkatalog (Etablierung geeigneter und die Verbesserung bestehender direkter und indirekter Vermittlungsformen) bezieht sich gezielt auf die Gewährleistung von inhaltlicher Transparenz bei wissenschaftsexternen Kommunikationsprozessen (5.2.). Die Liste der einzelnen Maßnahmen richtet sich nach der Dringlichkeit ihrer Umsetzung, ohne die jeweilige Relevanz der nachgestellten Empfehlungen für die Umsetzung der Transparenznorm in Frage zu stellen. Angesichts der Ergebnissicherungen am Ende der jeweiligen Sinnabschnitte bzw. Kapitel endet die Studie mit einem kurzen, überblicksartigen und pointierten Resümee. Insgesamt soll mit diesem Vorgehen ein neuer interdisziplinärer Zugang zum Transparenzbegriff gewonnen werden, der zum einen terminologische Standards und zum anderen eine ethische Grundlegung sichert. <?page no="29"?> 1. Terminologische Vorarbeiten 1.1. Lexikalische Annäherung an den Transparenzbegriff 1.1. Lexikalische Annäherung an den Transparenzbegriff Im gegenwärtigen Sprachgebrauch ist „Transparenz“ ein schillernder Begriff, der zwar mit großer Beliebtheit in den unterschiedlichsten Kontexten verwendet wird, dessen Gebrauchweise aber zumeist einem intuitiven Begriffsverständnis folgt. Erfährt der Transparenzbegriff nur selten eine explizite Bestimmung, wird nachfolgend in einer grundlegenden Bedeutungsanalyse nach einer möglichst eindeutigen explikativen Definition gesucht, die sich konsistenterweise auf unterschiedliche Kontexte und Situationen anwenden lässt. Als Ausgangspunkt dient eine Analyse der lexikalischen Bedeutungen von Transparenz sowie die interpretative Entfaltung ihrer Implikationen. Zur besseren Abgrenzung dieser pluralen Bedeutungen werden trennscharfe Termini eingeführt, die aus einer spezifischen Attribuierung des Transparenzbegriffs hervorgehen: 1 Das Substantiv „Transparenz“ bzw. das Adjektiv „transparent“, das seinen Ursprung im mittellateinischen trans-parere (trans, „(hin)durch, jenseits“; parere, „sich zeigen, erscheinen“) hat, wird im deutschen Sprachraum seit dem späten 18. Jahrhundert verwendet, um die (Licht-)Durchlässigkeit und Durchsichtigkeit von Gegenständen (z.B. Stoffe, löchrige Gegenstände, Glas) zu charakterisieren. 2 Von der ursprünglichen Bedeutung ausgehend, hat sich der Transparenzbegriff seitdem hauptsächlich als physikalischer Fachterminus (1) und als lebensweltlich-bildungssprachliche Metapher (2) etabliert. Nachfolgend werden die gegenwärtig dominierenden Bedeutungen von Transparenz ausgeführt: (1) In Weiterführung seiner ursprünglichen Bedeutung findet der Ausdruck als fachwissenschaftlicher Terminus in der Physik seine Verwen- 1 Für die lexikalische Analyse vgl. die Einträge „Transparenz“ bzw. „transparent“ in Brockhaus-Enzyklopädie (2006, Bd. 27, 677); Deutsches Fremdwörterbuch (1981, Bd. 5, 399ff.); Deutsches Wörterbuch (1995, Bd. 3, 3429); Deutsches Wörterbuch (2003, Bd. 11, I.1., 1240f.); Duden, Etymologie (1997, 754); Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache (2002, 925); Meyers Enzyklopädisches Lexikon (1978, Bd. 23, 655); Meyers Neues Lexikon (1993, Bd. 9, 518); die Artikel „transparency“ und „transparent“ in Oxford English Dictionary Online, The Merriam-Webster Online Dictionary und die Seite http: / / www.thefreedictionary.com/ transparent (Zugriff am 3.11.2010), die einen Überblick über diverse angloamerikanische Lexikoneinträge bietet. 2 In dieser Bedeutung findet sich der Transparenzbegriff - neben dem synonymen älteren Begriff Diaphanie (vom griechischen , „durchsichtig, durchscheinend“) - v.a. in Kunst, Kunstwissenschaft bzw. Bildtheorie. Vgl. z.B. Jantzen (1997); Art. „Diaphanbild“ (Bd. II, 155) und „Transparenz“ (Bd. VII, 394) in: Lexikon der Kunst (2004); Marin (2004) und die Beiträge in Rautzenberg/ Wolfsteiner (2010). <?page no="30"?> 1. Terminologische Vorarbeiten 26 dung und beschreibt dort die optische Eigenschaft von Materie (z.B. Wasser, Luft), Licht oder andere Strahlung durchtreten zu lassen. 3 Meint man mit optischer Transparenz den Effekt der Transmission, steht sein Antonym „Opazität“ für Trübung, Undurchsichtigkeit bzw. Lichtundurchlässigkeit von Gegenständen. Transparenz, als das Maß des Transmissionsgrads, und Opazität, als das Maß der Schwächung des Lichtstroms, bemessen somit die gleiche Eigenschaft eines Materials, indem sie quantitativ das Verhältnis des von einem Objekt durchgelassenen Lichtstroms zum auftreffenden Lichtstrom darstellen. Vom physikalischen Phänomen, dass Gegenstände bei einer absoluten Transparenz nahezu unsichtbar sind, leitet sich eine weitläufige, auf andere Kontexte übertragene Verwendungsweise des Transparenzbegriffs ab: Man verwendet ihn, um Gegenstände und Vorgänge zu beschreiben, die nicht wahrnehmbar sind bzw. nur durch größere Bemühungen und Hilfestellungen wahrnehmbar gemacht werden können. 4 Nach diesen alltagssprachlich seltenen Gebrauchweisen wenden wir uns nun den dominierenden Wortbeutungen zu. (2) In einer lebensweltlich-bildungssprachlichen Bedeutung wird Transparenz synonym für heterogene Begriffe wie Zugänglichkeit, Erkennbarkeit, Offenheit, Deutlichkeit, Klarheit, Verstehbarkeit oder Durchschaubarkeit verwendet. 5 Diese Gebrauchsweise findet seit den 1960er Jahren Verbreitung, wonach der Transparenzbegriff als Schlagwort vor allem auf Institutionen und politische Entscheidungsprozesse bezogen wird. 6 Anhand der Synonyme lassen sich folgende grundlegende Semantiken des Transparenzbegriffs in lebensweltlichen Zusammenhängen unterscheiden: (a) Von der materiellen-physikalischen Bedeutung geprägt, beschreibt Transparenz 3 Wörtlich wird Transparenz z.B. in der Brockhaus-Enzyklopädie (2006, Bd. 27, 677) für den Bereich der Optik als „ein Maß für die Schwächung, die das Licht beim Durchtritt durch Materie erfährt, die Durchlässigkeit für Lichtstrahlung“ definiert. 4 Diese Verwendungsweise findet sich vereinzelt in fachwissenschaftlichen Aufsätzen: Z.B. Turilli/ Floridi (2009, 105) und Lucke (2010) weisen im Bereich der Informatik auf die Transparenz, d.h. die Unsichtbarkeit von Informationen (z.B. der eingesetzten Hard- und Software eines Computers für den Benutzer) hin; in der repräsentationalistischen Wahrnehmungsphilosophie Harmans und Tyes, die von Kind (2010) prägnant zusammengefasst wird, beschreibt Transparenz die Unsichtbarkeit von Wahrnehmungsprozessen. 5 Z.B. Brockhaus-Enzyklopädie (2006, Bd. 27, 677) definiert Transparenz im bildungssprachlichen Gebrauch als „Durchsichtigkeit, Verstehbarkeit; heute oft im Sinne von Durchschaubarkeit (von Institutionen und polit. Entscheidungen)“. 6 Diese Bezogenheit auf politische Prozesse geht besonders aus der Definition von Meyers Enzyklopädisches Lexikon (1978, Bd. 23, 655) hervor, bei der Transparenz „in Staat und Gesellschaft die Durchschaubarkeit von Entscheidungsprozessen [bezeichnet]. T. ist als wichtiges Element jedes […] demokratischen Systems Voraussetzung für das eigene Urteil der Bürger über polit. Fragen sowie über die polit. Repräsentanten und Voraussetzung für ein begründetes polit. Handeln“. <?page no="31"?> 1.1. Lexikalische Annäherung an den Transparenzbegriff 27 die „technische Voraussetzung“ 7 für das Phänomen der gegenständlichen Wahrnehmbarkeit. Hierbei wird der Fokus vom durchschaubaren Gegenstand, der transparent ist, auf das Dahinterliegende verschoben, welches aufgrund der bestehenden Transparenz überhaupt erst wahrnehmbar wird. Dies setzt ein komplexes „Transparenzsetting“ voraus: Ein Gegenstand bzw. Sachverhalt, 8 der der von einer Person wahrgenommen werden möchte, wird durch eine intransparente Zugangsbzw. Wahrnehmungsbarriere verborgen; durch das Überwinden respektive Durchdringen der Wahrnehmungsbarriere soll der unsichtbare Sachverhalt nun sichtbar oder „transparent“ werden. Die ursprüngliche Bedeutung von Transparenz im Sinne der Durchsichtigkeit wird zwar mit Verweis auf die Zugangsbarriere greifbar, aber anstatt der Transparenz von etwas interessiert hierbei die Transparenz zu etwas: Je transparenter die Barriere ist oder gemacht wird, desto klarer erscheint der relevante Sachverhalt für einen Beobachter. Die empirische Wahrnehmbarkeit bei Überwindung der Wahrnehmungsbarriere kann sich dabei auf äußerlich verborgene Sachverhalte beziehen. Daneben meint Transparenz die Durchsichtigkeit der äußeren Erscheinung eines Sachverhaltes auf innere Eigenschaften, das Wesen, die Struktur, den Aufbau etc. Ein wichtiger Aspekt des Transparenzkonzepts ist, dass die Barriere oder Grenze bei ihrer Durchsichtigkeit keineswegs aufgehoben wird, sondern bestehen bleibt: „Transparenz versteht sich im Sinne einer ‚Durch- Sichtigkeit‘ in Differenz zur ‚Offen-Sichtlichkeit‘. Der Unterschied ist, dass das Transparente nicht etwas bloß Sichtbares ist, sondern etwas durch Durchsichtiges sichtbar Gemachtes.“ 9 Die damit verbundene Gradualität von Transparenz gibt Antwort auf die Frage, wie „eine nur negativ definierte Bedingung, die Abwesenheit von Sichthindernissen“, 10 überhaupt als solche wahrgenommen werden kann. Um die erläuterte Bedeutung von anderen Gebrauchsweisen des Transparenzbegriffs unterscheiden zu können, wird der Begriff der perzeptiven Transparenz eingeführt. Dieser Semantik lassen sich die Synonyme der Zugänglichkeit, Einsehbarkeit, Öffentlichkeit etc. zuordnen. (b) In weiterer Distanzierung zu seiner ursprünglichen Bedeutung versteht man unter Transparenz außerdem die Verfügbarkeit von Informationen, die sich auf einen fokussierten Sachverhalt beziehen. 11 Diese Begriffswahl der Transparenz lässt sich dadurch erklären, dass es 7 So Landkammer (2010, 239). 8 Zur Klärung der Begriffe werden Gegenstände und Sachverhalte als „Tatsachen“ verstanden und gegenüber bloßen Vorstellungen bzw. sprachlichen Referenzierungen (Aussagen) abgegrenzt; vgl. Berger (2008). Da Sachverhalte in der hier zugrunde gelegten Definition Gegenstände, Eigenschaften, Abläufe etc. subsumieren, wird nachfolgend ausschließlich von Sachverhalten die Rede sein. 9 Jansen (2010, 25). Dies im Unterschied zum Begriff der „Offenheit“; vgl. Kap. 2.5.2. 10 Landkammer (2010, 239). 11 Der Informationsbegriff wird in Kap. 1.4.3. und 2.2. näher erläutert. <?page no="32"?> 1. Terminologische Vorarbeiten 28 häufig die verfügbaren Informationen sind, die den Sachverhalt im metaphorischen Sinne „plastisch“, d.h. transparent werden lassen. Sind es aus einer anderen Blickrichtung hingegen die sachbezogenen Informationen, die im Verborgenen liegen und durch Transparenz wahrnehmbar werden, geht es auch hierbei letztlich um einen Sachverhalt, der durch die Verfügbarkeit der Informationen transparent werden soll. Für die Bedeutung der Zugänglichkeit zu Sachverhalten durch Informationsvermittlung wird der Terminus der informationellen Transparenz eingeführt. Dieser Semantik lassen sich die Begriffe der Offenlegung (disclosure), Weitergabe, Verbreitung (dissemination) etc. von Informationen zuordnen. 12 (c) Losgelöst von der Eigenschaftsbeschreibung materieller Phänomene steht Transparenz im metaphorischen Sinne weiterhin für das kognitive Phänomen der intellektuellen Nachvollziehbarkeit und Verständlichkeit des wahrgenommenen Sachverhalts bzw. der diesbezüglichen Informationen. In diesem Transparenzsetting stellt die Zugangsbarriere keine Wahrnehmungs-, sondern eine Verstehensbarriere dar, die durchdrungen werden soll, aber gleichfalls nicht niedergerissen werden kann. Der genannten Semantik gehören die Synonyme der Verstehbarkeit, Klarheit, Deutlichkeit, Nachvollziehbarkeit etc. an. Terminologisch wird der Begriff der kognitiven Transparenz eingeführt, um diese Bedeutung von anderen differenzieren zu können. Kognitive Transparenz setzt dabei perzeptive bzw. informationelle Transparenz voraus: Nur etwas, das sichtbar bzw. wahrnehmbar ist, kann verstanden werden. (d) Zumindest im angloamerikanischen Sprachraum wird mit Transparenz neben der objekthaften, eine personale Eigenschaft beschrieben: jemand ist transparent, wenn er ohne Täuschung oder Tücke handelt (free from pretense or deceit, guileless). 13 Eine Verbindung zwischen dieser moralisch-personalen Bedeutung der Freimütigkeit bzw. Ehrlichkeit und den anderen beiden lebensweltlichen Bedeutungen besteht zum einen darin, dass eine offene und ehrliche Person, die Einblicke in ihre Machen- 12 Die genannten Möglichkeiten der Offenlegung und Verbreitung von Informationen scheinen sich in der vorauszusetzenden Aktivität des Informationsgebers zu unterscheiden. Für den unternehmerischen Kontext differenziert Oliver (2004, 76) verschiedene Aktivitätstypen der Transparentmachung: (1) reactive: „passive in industry/ public debate; takes compliance actions slowly; seldom supports industry efforts“; (2) inactive: „avoids contact with stakeholders; moves only when forced, never joins industry efforts“; (3) proactive: „initiates stakeholders interaction; acts before required; assumes industry leadership; actively leads public debate“; (4) interactive: „establishes ‚listening posts‘; acts quickly when required; supports industry leaders“. 13 Vgl. die Einträge „transparency“ und „transparent“ in: Oxford English Dictionary Online, The Merriam-Webster Online Dictionary und http: / / www.thefreedictionary. com/ transparent, Zugriff am 3.10.2011. Vgl. auch Webster's new world college dictionary (1999), deren Redaktion transparency zum Wort des Jahres 2003 gekürt hat und sie als „policy with a positive spin, promising uncensored exposure of records, moral conduct, and virtue“ definiert. <?page no="33"?> 1.1. Lexikalische Annäherung an den Transparenzbegriff 29 schaften einschließlich ihrer Absichten gewährt, für andere wahrnehmbar und nachvollziehbar agiert; und zum anderen darin, dass nur eine offene und ehrliche Person Transparenz im Sinne des empirisch Wahrnehmbaren oder kognitiv Verstehbaren für andere Personen vermittelt. 14 Die formelle und inhaltliche Bedeutung von Transparenz, die ursprünglich auf Objekte bezogen wird, findet im übertragenen Sinn bei Personen Anwendung. Grundsätzlich soll diese Bedeutung mit dem Terminus der personalen Transparenz beschrieben werden. Sieht man von der letztgenannten seltenen Verwendungsweise im Sinne der personalen Transparenz ab, 15 oszilliert der Transparenzbegriff bei seiner lebensweltlich-alltagssprachlichen Gebrauchsweise vorwiegend zwischen den Polen der formellen Zugänglichkeit zu ursprünglich verborgenen Sachverhalten (perzeptive Transparenz) bzw. diesbezüglichen Informationen (informationelle Transparenz) einerseits und deren inhaltliche Nachvollziehbarkeit (kognitive Transparenz) andererseits. Zusammenfassend soll von einer formellen Transparenz gesprochen werden, wenn damit die äußerliche Wahrnehmbarkeit von Sachverhalten bzw. die äußerliche Zugänglichkeit zu Informationen gemeint ist, die gegenüber einer inhaltlichen, d.h. kognitiven Transparenz abgegrenzt wird. 16 Angesichts der unliebsamen Mehrdeutigkeit des Transparenzbegriffs im lebensweltlichen Gebrauch wurde in der Literatur vielfach der Versuch unternommen, eine der beiden Bedeutungen durch Abgrenzung zu synonymen Begriffen durchzusetzen. Als Referenz diente hierbei z.B. der bedeutungsverwandte Begriff „Offenheit“, der die Eigenschaft der offenen, ungehinderten Zugänglichkeit und Wahrnehmbarkeit eines Gegenstandes meint. 17 Da die Begriffe „Transparenz“ und „Offenheit“ nun in zahlreichen Formulierungen 14 Menéndez-Viso (2009, 157) erläutert die positiv konnotierte personale Transparenzbedeutung: „Transparency […] has to do with sincerity, faithful description, and accurate accounting, and becomes desirable, as it is related with purity, the absence of distortion, and the possibility of accessing reality as it is.“ 15 Im deutschen Sprachraum ist es bislang ungewöhnlich, den Transparenzbegriff auf Personen als solche bzw. deren Gedanken oder Intentionen zu beziehen. Von einem Menschen, der ein Recht auf Privatheit hat, kann nicht im gleichen Sinne von Transparenz gesprochen werden, wie bezüglich äußerlicher Handlungen. Die Rede von „obskuren“, undurchsichtigen Persönlichkeiten ist hingegen nicht selten, wobei die Intransparenz ihrer Absichten, wenngleich moniert, letztlich akzeptiert wird. 16 Diese Unterscheidung geht auf Bröhmer (2004, 21) zurück. Heald (2006b, 34f.) spricht stattdessen von einer bloß nominellen Transparenz, während sich eine effektive Transparenz durch die Möglichkeit der Rezipienten auszeichnet, die erhaltenen Informationen anwenden zu können. 17 Vgl. Heald (2006b, 25f.), der den Diskussionsstand um die Abgrenzungsfrage aufzeigt, sowie die Einträge „Offenheit“ bzw. „offen“ im Deutschen Wörterbuch (1995, Bd. 2, 2426f.). Wie beim Transparenzbegriff findet sich neben der objektbezogenen eine personale Verwendungsweise im Sinne der Aufgeschlossenheit bzw. der rückhaltlosen Ehrlichkeit einer Person. <?page no="34"?> 1. Terminologische Vorarbeiten 30 paarweise verwendet werden - es ist häufig von „offenen und transparenten“ Sachverhalten die Rede -, 18 hat man diese Praxis mit der Heteronymie der Begriffe erklärt und eine abgrenzende Definition von Transparenz vorgeschlagen: Wenn „Offenheit“ die formelle Zugänglichkeit zu einem Sachverhalt meint, dann beziehe sich „Transparenz“ im Sinne einer differentia specifica zusätzlich oder ausschließlich auf die inhaltliche Verstehbarkeit. 19 Diese Begründung wird durch den Einwand geschwächt, dass die paarweise Verwendung auf eine beabsichtigte emphatische Redundanz oder einen rezipientenspezifischen Gebrauch der Begriffe zurückzuführen sei, der vielmehr ihre Synonymie nahelegt. 20 Vollends unhaltbar wird das Argument durch die Beobachtung, dass Transparenz ebenfalls mit Begriffen in Erscheinung tritt, die unter Beibehaltung der Heteronymiethese eine diametrale Interpretation nach sich ziehen: Denn wird ein Sachverhalt auch als „transparent und nachvollziehbar“ beschrieben, 21 spräche dies nicht für die formelle, sondern für die inhaltliche Bedeutung des Transparenzbegriffs. Man ist daher besser beraten, in der paarweisen Verwendung das Bemühen des jeweiligen Sprechers ausgedrückt zu sehen, den Transparenzbegriff angesichts seiner unklaren Bedeutung durch einen Erklärungszusatz für den Adressaten verständlich zu machen. Es bleibt festzustellen, dass der Bedeutungsgehalt von Transparenz in der Literatur umstritten ist. Dennoch soll die Zielsetzung einer Definition von Transparenz nicht verfrüht aufgegeben werden, sofern bei der lexikalischen Bedeutungsanalyse wichtige Frage offen geblieben sind: Ist der Transparenzbegriff zumindest im kontextuellen Zusammenhang auf eine der genannten Verwendungsweisen festlegbar und lässt sich daraus eine übergreifende Regel im Sprachgebrauch ableiten? 22 Die lexikalische Bedeutungsanalyse kann an dieser Stelle nicht weiterhelfen, da bei einer Lexikalisierung von Begriffen weitgehend vom Kontextbezug der Bedeutungen ab- 18 Vgl. z.B. Stiglitz (2002), Neisser (2008) und Erkkilä (2010), die Transparenz und Offenheit paarweise verwenden. 19 Diese Auffassung vertreten z.B. Larsson (1998, 40ff.) und Birkinshaw (2006a). Zur Stützung ihrer These können sie sich auf zahlreiche Literaturbelege (z.B. bei Redding 1972, 330 und Buchanan 1996, 9) stützen, in denen Offenheit ausschließlich als formelle Informationsweitergabe verstanden wird. Führt die Europäische Kommission (2001a, 13) „Offenheit“ als Grundsatz des guten Regierens ein, ergänzt sie inhaltliche Transparenzforderungen: „Die Organe sollten offener arbeiten und gemeinsam mit den Mitgliedstaaten erklären, was die EU tut und wie Entscheidungen zustande kommen. Sie sollten eine Sprache verwenden, die jedermann verstehen kann.“ 20 Vgl. Heald (2006b, 25f.) für diese Gegenargumente; bei der parallelen Begriffsverwendung sei der Begriff der Offenheit eher für bildungsferne Rezipienten bestimmt. 21 Bei Paschen/ Petermann (1991, 30) findet sich diese parallele Begriffsverwendung. 22 Mit Wittgenstein (1984a) drängt sich der Verdacht auf, dass sich die Bedeutung des Transparenzbegriffs nach seiner kontextuellen Gebrauchsweise richtet, für die eine Regel angegeben werden kann. <?page no="35"?> 1.2. Der Transparenzbegriff in gesellschaftlichen Kontexten 31 strahiert wird. Im nächsten Schritt soll der faktische Gebrauch des Transparenzbegriffs in unterschiedlichen lebensweltlichen Kontexten (Politik, Wirtschaft und Recht) untersucht werden, in denen er sich als „Leitmetapher“ etabliert hat. 23 Aus der Untersuchung, so die These, ergibt sich die jeweils dominierende kontextuelle Bedeutung von Transparenz, die auf einen regelgeleiteten Gebrauch schließen lässt. 1.2. Die Verwendungsweisen des Transparenzbegriffs in gesellschaftlichen Kontexten 1.2. Der Transparenzbegriff in gesellschaftlichen Kontexten 1.2.1. Transparenz in der Politik Der metaphorische Transparenzbegriff findet originär im Bereich der Politik und Governance seit den 1960er Jahren Anwendung 24 und beschreibt dort ganz allgemein den Zugang der Bürger zu gesellschaftsrelevanten Informationen über Entscheidungsprozesse und Handlungen der Regierenden. 25 Sofern jede Demokratie auf die Mitarbeit mündiger Bürger angewiesen ist, deren Meinungs- und Willensbildungsprozesse vom Informationszugang abhängen, 26 bildet Transparenz „nichts weniger als den Kern desjenigen modernen politischen Systems, das sich als partizipative Demokratie kennzeichnen lässt.“ 27 Transparenz kann demzufolge als Bestandteil einer wachsenden Demokratisierungsbewegung angesehen werden. 28 Von transparenten politischen Entscheidungsprozessen erwartet man sich eine stärkere Akzeptanz unter den Staatsbürgern. 29 Neben den demokratiestärken- 23 Vgl. Schmidt-Aßmann (2005, 110). Nach Florini (2007a, 1) sind zahlreiche Transparenzstudien auf grundlegende Problemstellungen im Bereich der Politik (Demokratie und gute Regierungsführung), Wirtschaft (ökonomische Effizienz) und Recht bzw. Moral (soziale Gerechtigkeit) bezogen. 24 Vgl. Kap. 1.1. 25 Vgl. Florini (2007a, 5), Fairbanks et al. (2007) für diese Definition, die sich weiterhin in zahlreichen Dokumenten der Organe der EU wiederfindet. 26 Vgl. Stiglitz (2002, 30) sowie die Diskurskonzeption von Habermas (1992), nach der die Offenlegung politischer Informationen eine Voraussetzung für rationale Entscheidungsprozesse der Diskursöffentlichkeit ist. 27 Gassner (2006, 62). Ähnlich der Verfassungsrichter Voßkuhle (2005, 469) nach dem „[a]us dem im Rechtsstaatsprinzip verankerten Grundsatz der Gewaltenteilung sowie dem Demokratieprinzip […] das Gebot einer effizienten, kontrollstarken und transparenten Staatsorganisation [resultiert]“. 28 Florini (1998) bindet das Phänomen der Transparenz an die wachsende Demokratisierung und Globalisierung, sofern die Kontrollmöglichkeiten der Prozesse internationaler Akteure sinken. Kritisch hierzu Hood (2006, 3), für den der politische Transparenzbegriff eine geradezu „quasi-religiöse Bedeutung“ erhalten habe. 29 Das vielfach diskutierte Problem der Politikverdrossenheit wird auf die Intransparenz der Politik bzw. auf Kommunikationsdefizite zwischen Politikern und Bürgern zurückgeführt; vgl. z.B. Bröhmer (2004, 6). <?page no="36"?> 1. Terminologische Vorarbeiten 32 den Effekten wird ferner angenommen, dass Transparenz mittels der damit verbundenen Kontrollmöglichkeit effizientere politische Tätigkeiten bewirke. Eine für die Gesellschaft kritisierbare Vorgehensweise der Regierung - auf exekutiver Ebene beispielsweise bezüglich der Haushalts- und Finanztransaktionen und auf legislativer Ebene bezüglich des Zustandekommens von Gesetzen -, über deren Verlauf die Akteure Rechenschaft ablegen, sei eine wirksame Prophylaxe vor einer Korrumpierung politischer Prozesse für eigene Interessen. 30 Angesichts dieser Bedeutung und der Erfahrung, dass ein gewisses Maß an Transparenz von Politikern nicht durchgehend beherzigt wird, 31 verwundert es nicht, dass sie als wichtiges regulatives Prinzip der guten Regierungsführung (good governance) angesehen wird. Entsprechend hat das Transparenzprinzip in zahlreichen Verhaltenskodizes staatlicher und nicht-staatlicher Institutionen Einzug gehalten, um Forderungen von der Offenlegung konkreter Informationen (z.B. finanzieller und sonstiger Interessen bzw. der Verwendung öffentlicher Gelder) 32 bis zur personalen Haltung der Offenheit der politischen Akteure zu beschreiben. 33 Der Gebrauch des Transparenzbegriffs ist meist stark politisch-ideologisch motiviert und demzufolge nicht frei von Wertungen: Wer von Transparenz spricht, meint in der Regel ein ganzheitliches Leitideal, das gemäß der eigenen demokratischen Überzeugung einzufordern ist. Wenngleich Transparenz nicht mehr aus dem gegenwärtigen politischen Sprachgebrauch wegzudenken ist, sollte man sich vor Augen führen, dass der Ausdruck in der Politik erst seit relativ kurzer Zeit gebräuchlich ist. 34 Gegenüber der jungen Begriffsgeschichte lässt sich im europäischen Raum eine längere ideengeschichtliche Tradition ausfindig machen, die 30 Vgl. Florini (2007a). Die NGO Transparency International sieht Transparenz als Mittel im Kampf gegen (staatliche) Korruption an; vgl. http: / / www.transparency.org, Zugriff am 7.10.2010. 31 Denn nach Fung u.a. (2008, 24) fürchten Politiker nichts so sehr, wie eine fragwürdige Verhaltensweise, die publik wird. Arendt (1972) resümiert lakonisch: „Geheimhaltung nämlich […], gezielte Irreführungen und blanke Lügen als legitime Mittel zur Erreichung politischer Zwecke kennen wir seit den Anfängen der überlieferten Geschichte.“ 32 Beispielsweise verpflichten sich die EU-Kommissare bei ihrer Arbeit per Verhaltenskodex zur größtmöglichen Transparenz im Sinne der Offenlegung von Interessen und Interessenkonflikten; vgl. http: / / ec.europa.eu/ commission_2010-2014/ pdf/ code_conduct_en.pdf, Zugriff am 7.10.2010. 33 Unter den ethischen Leitlinien für das Verhalten von Trägern öffentlicher Ämter, die das englische Committee on Standards in Public Life (1995) zur Bekämpfung der Politikverdrossenheit eingeführt hat, befindet sich das Prinzip der Offenheit. Bei der Gleichsetzung mit Transparenz, wie z.B. bei O’Neill (2006), werden allerdings Bedeutungsunterschiede verdeckt; vgl. hierzu Kap. 2.5.2. 34 Siehe Art. „Transparenz“ in: Deutsches Fremdwörterbuch (1981, Bd. 5, 399ff.). <?page no="37"?> 1.2. Der Transparenzbegriff in gesellschaftlichen Kontexten 33 mindestens bis zur Aufklärung zurückverfolgt werden kann: 35 Gegenüber den Staats- und Regierungskünsten der arcana imperii - Geheimhaltung war bis ins 18. Jahrhundert eine anerkannte, im Sinne der Staatsräson notwendige Dimension des klugen politischen Handelns - avanciert nun „Öffentlichkeit“ zum normativen Ideal, das sich mit epistemischem und moralischem Impetus 36 im Bereich der Politik etablierte. 37 Das politische Handeln des Herrschers und seiner Beamten soll vor dem Auge des Bürgertums bzw. der „Öffentlichkeit“ stattfinden und diskutiert werden. 38 Wenngleich es sich im restaurativen Europa bzw. im deutschen Obrigkeitsstaat des 19. und 20. Jahrhunderts nur langsam durchsetzen konnte, ist das Öffentlichkeitsprinzip heutzutage in wichtigen Teilbereichen des staatlichen Handelns institutionalisiert (z.B. in Gerichtsverfahren und Parlamentsverhandlungen). Wird Öffentlichkeit in ihrer Kontroll- und Legitimationsfunktion als unabdingbare Voraussetzung der Demokratie angesehen, besteht eine Analogie zum Transparenzprinzip. 39 Es sollte allerdings nicht übersehen werden, dass Öffentlichkeit neben der formellen Zugänglich- und Wahrnehmbarkeit von Sachverhalten (Öffentlichkeit als Publizität) in einer deskriptiv-normativen Doppeldeutigkeit den prinzipiell offenen Kreis derer betont, denen Zugang gewährt wird, und ihn als eine eigenständige soziale Gemeinschaft definiert (Öffentlichkeit als Publikum). 40 Da spätestens seit der Transformation der Bürgergesellschaft zur anonymen Massengesellschaft das kollektivistische Öffentlichkeitskonzept kritisiert und relativiert wurde, 41 ist eine zunehmende Substitution durch das indivi- 35 Gilt bei der einflussreichen Studie von Starobinski (1988) die (Öffentlichkeits-)Theorie Du contrat sociale Rousseaus als Vorreiter für gegenwärtige Transparenzpolitiken, ist eine Antezedenz bis zur vormodernen Politik umstritten (vgl. Wegener 2006, 37). 36 In den Augen vieler Aufklärungsphilosophen bringt eine öffentliche Kritik die Reflexion des mündigen Bürgers weiter und führt letztlich zur Wahrheit; entsprechend wurde Offenheit und Aufrichtigkeit zum moralischen Ideal stilisiert; vgl. z.B. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 766ff. 37 Zur Begriffs- und Ideengeschichte des Öffentlichkeitsprinzips, vgl. Habermas (1962) und Hölscher (1979). 38 Der anfänglich auf die „Avantgarde des deutschen Bildungsbürgertums“ eingegrenzte Rezipientenkreis der Öffentlichkeit wurde laut Hölscher (1979, 136ff.) zu einer „sozialen Handlungseinheit“ politisch Interessierter erweitert. 39 Vgl. Wegener (2006, 142f. und 152ff.) 40 Vgl. Schmidt (2010, 558), der als dritte Bedeutung des Öffentlichkeitsbegriffs die Zugänglichkeit des Ortes nennt, in dem ein Diskurs stattfindet (Öffentlichkeit als Bereich). Öffentlichkeit changiert zwischen einer wörtlichen („vor jedermann“) und einer metaphorisch-visuellen (im Sinne von „klar, deutlich, redlich“), sowie zwischen einer soziologisch-deskriptiven (Vorstellung einer sozialen Einheit) und kritisch-normativen Bedeutung (Forderung nach Austausch); vgl. auch Hölscher (1984). 41 Vgl. Ferree et al. (2002) und Kleinsteuber (2007) für die „Höhen und Niedergänge“ der Idealvorstellung der Öffentlichkeit. Erkkilä (2010) führt die Ablösung des Publizitätskonzepts durch die wirtschaftsliberal konnotierten Begriffe der Offenheit und <?page no="38"?> 1. Terminologische Vorarbeiten 34 dualistische Transparenzprinzip nicht verwunderlich. Statt des Aspekts der Gemeinschaftsbezogenheit auf einen idealen Adressatenkreis steht bei letzterem der einzelne Bürger im Mittelpunkt, dem die Zugänglichkeit zu Vorgängen und Ereignissen im Sinne eines Informationsanspruchs zu gewähren ist. 42 Seit der Etablierung des Transparenzprinzips in der Politik können auf nationaler und internationaler Ebene hauptsächlich zwei Phasen der Transparenzpolitik unterschieden werden: 43 Eine Phase der allgemeinen Transparenzpolitik, bei der die Offenheit der Regierung durch grundlegende Transparenzgesetze sichergestellt werden soll (1); und eine Phase der spezifischen Transparenzpolitik, bei der die Transparenzregelungen expansiv auf andere gesellschaftliche Bereiche angewendet werden (2). Da beide Phasen nur idealtypisch differenzierbar sind, die sich zudem gegenwärtig parallel weiterentwickeln, stellt der folgende Überblick zugleich einen Versuch der Systematisierung unterschiedlicher Transparenzverständnisse in der Politik dar: (1) In der ersten Phase der Transparenzpolitik werden in zahlreichen Staaten allgemeine Transparenzgesetze entworfen, die den Bürgern einen freien Zugang zu politischen Informationen im Rahmen der staatlichen Exekutive rechtlich zusichern. 44 Eine Schlüsselstellung nehmen hierbei Informationsfreiheitsgesetze ein, deren Emporkommen nicht nur zeitlich mit der Etablierung des Transparenzprinzips zusammenfällt; auch systematisch ergibt sich ein Zusammenhang, sofern Informationsfreiheit (Freedom of Information) mit Transparenz identifiziert bzw. unter das Transparenzideal subsumiert wird. 45 Seit der Würdigung der Informationsfreiheit als Transparenz darauf zurück, dass der Zugang zu behördlichen Informationen nicht mehr demokratietheoretisch, sondern unter dem Gesichtspunkt des ökonomischeffizienten Verhaltens begriffen wird. 42 Vgl. Bröhmer (2004, 19). Schmidt (2010, 558) definiert Öffentlichkeit treffend als „Transparenz von Tatbeständen und Vorgängen des gesellschaftlichen Verkehrs und des öffentlich-politischen Lebens für die Allgemeinheit“. 43 Vgl. Fung u.a. (2008, 24f.), die außerdem eine dritte Phase der internationalen Transparenzpolitik benennen: „A nascent third generation of collaborative transparent policies has the potential to employ computer power and the Internet to combine information from firstand second-generation policies with a new user-centred orientation […] to create adaptable, real-time, customized information“. Da diese sich lediglich durch das veränderte Medium der Informationsweitergabe auszeichnet, wird sie nicht weiter analysiert. 44 In diesem Sinne tritt in der BRD das Informationsfreiheitsgesetz (IFG) 2006 in Kraft; vgl. http: / / bundesrecht.juris.de/ ifg/ , Zugriff am 20.10.2010. Obwohl das IFG trotz der begrifflichen Nähe zum Grundrecht auf Informationsfreiheit nur einfachgesetzlich begründet ist, hebt Schmidt-Aßmann (2008, 276) den vom Gesetz ausgehenden Impetus einer veränderten Verwaltungskultur hervor. 45 In der EU-Verordnung (EG) Nr. 1049/ 2001 „über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission“ (vgl. <?page no="39"?> 1.2. Der Transparenzbegriff in gesellschaftlichen Kontexten 35 eigenes Menschenrecht in der UN-Deklaration von 1948 46 und der Verabschiedung in der amerikanischen Rechtsordnung in den 1960er Jahren hat das Recht auf Informationsfreiheit einen beispiellosen Siegeszug in den westlichen und nach dem Systemwechsel in den mittel- und osteuropäischen Rechtsordnungen angetreten. Wenn auch die Regelungen in den einzelnen Staaten variieren, ist jenes mittlerweile in über 65 Staaten weltweit eingeführt worden. Informationsfreiheit gilt seitdem als das „Schlagwort eines demokratischen Prinzips, wonach grundsätzlich jede in staatlichem Besitz befindliche Information öffentlich zugänglich - ja man könnte formulieren demokratisches Allgemeingut - und ihre Geheimhaltung die rechtfertigungsbedürftige Ausnahme ist“. 47 Dennoch können Bereiche der Intransparenz bei politischen Arbeitsprozessen wohlbegründet sein, so dass allgemeine Informationszugangsrechte beispielsweise keine Belange der inneren und äußeren Sicherheit, Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse, Informationen über Ermittlungs- und Gerichtsverfahren und personenbezogene Daten umfassen. Wie die internationale Einführung eines gleichwertigen Rechts auf informationelle Selbstbestimmung zeigt, wird in der Politik ein Ausgleich zwischen öffentlicher Informierung und privater Selbstbestimmung gesucht. 48 Die Grenzen dessen, was transparent gemacht werden soll bzw. was intransparent bleiben darf, können dabei als das Produkt eines sozialen Aushandlungsprozesses aufgefasst werden. 49 Sind staatliche Behörden durch Informationsfreiheitsgesetze dazu angehalten, ihre Vorgänge bzw. Dokumente zu veröffentlichen, ist damit allerdings nicht die Verpflichtung verbunden, die veröffentlichten Informationen für Bürger nachvollziehbar zu gestalten. Die Ermöglichung der Nachvollziehbarkeit politischer Informationen wird bisher lediglich in politischen Absichtserklärungen außerhalb gesetzlicher Regelungen thematihttp: / / ec.europa.eu/ transparency/ access_documents/ docs/ 1049DE.pdf) wird Transparenz als Informationsfreiheit verstanden. In der letzten Revision des US-amerikanischen Freedom of Information Act wird Transparenz als explizites Leitprinzip eingeführt; vgl. http: / / www.opsi.gov.uk/ Acts/ acts2000/ ukpga_20000036_en_1, Zugriff jeweils am 20.10.2010. 46 Es wird kontrovers diskutiert, ob Informationsfreiheit als intrinsisches Menschenrecht gelten kann oder indirekt aus anderen Menschenrechten (z.B. Meinungs- und Redefreiheit) abgeleitet werden muss, zu deren Verwirklichung es beiträgt; vgl. Bir-kinshaw (2006b) für den Diskussionsstand. 47 Wegener (2001, 148). 48 Vgl. Birkinshaw (2006b, 47). 49 Vgl. Stehr/ Wallner (2010, 11): „Immer wieder zeigen gesellschaftliche Debatten oder Gesetzesänderungen diese permanente Ausverhandlung der Grenzen zwischen Transparenz und Intransparenz, zwischen erlaubter Privatheit, erlaubter oder mitunter auch erwünschter Intransparenz und allgemein geforderter Offenlegung.“ <?page no="40"?> 1. Terminologische Vorarbeiten 36 siert. 50 Hierbei greift man in der Regel auf einheitliche, aber niederschwellige Transparenzstandards zurück, z.B. die Abfassung der Dokumente in der jeweiligen Landessprache, wodurch ein disperser Adressatenkreis erreicht werden soll. 51 Die unterschiedliche Akzentuierung in den gesetzlichen und außergesetzlichen Transparenzregelungen mag auf die jeweilige politische Zielsetzung zurückzuführen sein, die mittels Transparenz zu erreichen versucht wird: Besteht die primäre Absicht in der demokratischen Kontrolle politischer Prozesse, wird hierfür die perzeptive Zugänglichkeit zu politischen Informationen als ausreichend erachtet (Informationsfreiheitsgesetze); 52 ist hingegen die Zielsetzung die Bekämpfung der latenten Politikverdrossenheit, wird die kognitive Zugänglichkeit fokussiert (außergesetzliche Absichtserklärungen). (2) Nach der Einführung des allgemeinen Rechts auf Informationsfreiheit verfolgt die Legislative in der zweiten Phase eine gezielte Transparenzpolitik, bei der spezifische gesetzliche Regelungen für bestimmte Kontexte verabschiedet werden. 53 Während die Transparenzpolitik der ersten Phase ausschließlich selbstregulativ war und primär politische Akteure in staatlichen Einrichtungen erfasste, werden nun auch nicht-staatliche Zielgruppen (z.B. öffentliche oder private Institutionen) adressiert, deren Informationen von politischer Bedeutung sind. Der Gesetzgeber wird aktiv, wenn existierende Informationsdefizite zu Konsequenzen führen, die in den Aufgabenbereich des Staates fallen. Beispielsweise in der Gesundheitspolitik handelt jener, wenn Informationsdefizite bei Produktdeklarationen von Lebensmitteln Risiken für Verbraucher darstellen. 54 Solche spezifischen Transparenzregelungen, die einem konkreten Zweck dienen, werden in einer einheitlichen Gesetzesarchitektur festgelegt. 55 In dieser Zweckge- 50 Beispielsweise hat es sich die EU zur Aufgabe gemacht, über die formelle Transparenzverordnung (EG) Nr. 1049/ 2001 hinaus geltende Rechtsvorschriften „klar, kohärent und eindeutig“ zu formulieren, um für die Bürger und Unternehmen verständlich zu sein. Vgl. http: / / ec.europa.eu/ transparency/ access_documents/ docs/ proj_ com_de.pdf, Zugriff am 20.10.2010. 51 Die Bildung von Transparenzstandards ist z.B. in der EU-Politik schwierig, da die EU-Staaten erst im Begriff sind, eine europäische Öffentlichkeit zu bilden, die sich weiterhin unterschiedlicher Sprachen bedient, wie Gruner/ Woyke (2007, 66) betonen. 52 Abgesehen davon ist formelle Transparenz leichter zu regulieren und sanktionieren. 53 Vgl. Fung u.a. (2008, 129). 54 Vgl. das deutsche Verbraucherinformationsgesetz von 2008, welches das Recht der Verbraucher auf produktbezogene Informationen über Lebensmittel beinhaltet; http: / / www.bmelv.de/ SharedDocs/ Rechtsgrundlagen/ V/ Verbraucherinformations gesetz.html, Zugriff am 7.10.2010. Weitere staatliche Interventionsanlässe bestehen bei Informationsdefiziten, welche beispielsweise die Qualität von Dienstleistungen mindern, Korruption ermöglichen oder wirtschaftliche Schäden hervorrufen. 55 Neben einer klaren Definition der Transparenzobjekte, der Zielgruppen, einer Standardisierung des Umfangs und des Formates der Informationsweitergabe (Häufigkeit, Kommunikationsmittel etc.) beinhaltet die Gesetzesarchitektur auch die Etablie- <?page no="41"?> 1.2. Der Transparenzbegriff in gesellschaftlichen Kontexten 37 bundenheit regulieren Transparenzgesetze neben der formellen Informationszugänglichkeit teilweise auch die inhaltliche Transparenz politischer Informationen, etwa durch Einführung von mehr oder weniger genau definierten Transparenzkontrollmaßstäben, an denen sich veröffentlichte Dokumente messen lassen. 56 Trotz unterschiedlicher Reichweite der Informationsregulation ist es diesen spezifischen Transparenzgesetzen gemein, dass sie der Öffentlichkeit bzw. einzelnen Akteuren eine wohlinformierte Urteilsbildung ermöglichen sollen, die andernfalls durch eine existierende Informationsasymmetrie verhindert wäre. 1.2.2. Transparenz im Recht Durch seine primär- und sekundärrechtliche Verankerung als Zugangsrecht zu politischen Informationen in zahlreichen europäischen und außereuropäischen Ländern 57 hat das Transparenzprinzip seit den 1980er Jahren als Definitionselement bestimmter Rechtsbereiche in die Judikative Einzug gehalten. 58 Ist mit Transparenz im rechtlichen Bereich die inhaltliche Verständlichkeit von Informationen gemeint, findet man in der Literatur bemerkenswerte Explikationsversuche dezidierter Transparenzkriterien, auf deren Grundlage die Zugänglichkeit und Verständlichkeit rechtsrelevanter Texte kontrollierbar werden soll. Dies legt eine ausführliche Erläuterung der einschlägigen juristischen Regelungen nahe, wie sie beispielsweise im Vertrags- (1) und Arzneimittelrecht (2) zu finden sind. 59 (1) Beim Vertragsrecht geht das Verständnis von Transparenz aus dem sog. „Transparenzgebot“ hervor, das als Bestandteil des Allgemeinen Geschäftsbedingungs-Gesetz (AGBG) die Verwendung von vorformulierten rung wirksamer Kontroll- und Sanktionsmechanismen (z.B. Bußgelder) bzw. marktbasierter Anreizsysteme (z.B. Subventionen); vgl. Fung u.a. (2008, 39ff.). 56 Vgl. das nächste Kap. 1.2.2. 57 Als primärrechtlich gilt Art. 42 der Europäischen Grundrechtecharta, nach dem jeder EU-Bürger ein Recht auf Zugang zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission hat, und als sekundärrechtlich die bereits genannte EU- Verordnung Nr. 1049/ 2001, die den Informationszugang regelt. 58 Nach Gödicke (2008, 421) ist das Transparenzgebot „eine vergleichsweise junge Rechtsschöpfung, die trotz früherer Anlagen insbesondere in der Rechtsprechung erst Mitte der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts spürbar in das Bewusstsein der juristischen Fachwelt getreten ist“. Ergänzend stellt Gassner (2006, 66) fest, „dass sich der Begriff der Transparenz in den letzten Jahren vom Definitionselement einzelner Regelungen hin zum regulativen Leitprinzip des Union- und Gemeinschaftsrechts entwickelt hat.“ 59 Vgl. im Folgenden v.a. Gödicke (2008), der eine Übertragung der vertrags- und arzneimittelrechtlichen Transparenzbestimmungen auf den medizinrechtlich geregelten Gebrauch von Formularerklärungen beim Vorgang des informed consent diskutiert. Die nachfolgenden Literaturangaben zu Entscheidungen der Rechtsprechung sind weitgehend seiner Studie entnommen. <?page no="42"?> 1. Terminologische Vorarbeiten 38 Vertragsbedingungen bei sog. „rechtsgeschäftlichen Schuldverhältnissen“, d.h. vor allem bei Verbraucherverträgen, regelt. Eine Schlüsselstellung nimmt dabei die Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH) im Jahre 1988 ein, bei der eine Zinsberechnungsklausel wegen Verstoßes gegen das AGB-Gesetz für unwirksam erklärt wurde, da die Erkennbarkeit ihrer Konsequenzen den Durchschnittskunden überfordere. 60 Das, was vom BGH hierbei als „Transparenzgebot“ bezeichnet wird, umfasst die Verpflichtung für Verwender der Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB), „die Rechte und Pflichten seines Vertragspartners möglichst klar und durchschaubar darzustellen. Ein Verstoß gegen dieses ‚Transparenzgebot‘ kann zur Unwirksamkeit gem. § 9 Abs. 1 AGBG führen“. 61 Bedeutet Transparenz in diesem Kontext die inhaltliche Nachvollziehbarkeit von rechtlichen Bedingungen (z.B. den Paragraphen der Geschäftsbedingungen), also die „Anforderung an einen Text […], verständlich und unmissverständlich zu sein“ 62 , müssen AGB-Verfasser in der Konsequenz „ihre AGB so gestalten, dass auch juristisch und kaufmännisch nicht vorgebildete Kunden sie ohne besondere Erläuterungen verstehen können“. 63 Das Transparenzkriterium, welches sich noch „auf leisen Sohlen in die Judikatur zu § 9 AGB-Gesetz eingeschlichen“ hatte, 64 wurde 2002 mit der Integration des AGBG in die §§ 305ff. BGB nicht nur gesetzlich bestätigt, sondern hat dabei auch einen Stellenwert für das gesamte bürgerliche Vertragsrecht bekommen. Innerhalb der umfassenden Regelungen zur Verwendung und Rechtsgestaltung individueller AGB stellt der Kontrollmaßstab des Transparenzgebots neben dem Einbeziehungs- und Inhaltskontrollmaßstab eine eigenständige Prüfungskategorie dar. 65 In Kenntnis des modernen Massenvertragsverkehrs 60 Vgl. Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1989, 222ff. 61 Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen (BGHZ) 106, 49. 62 Dietrich/ Schmidt (2002, 39), zitiert nach: Lerch (2004, 239f.). Ähnlich auch Kreienbaum (1998, 25) und Sobotta (2001). 63 BGHZ 106, 265. 64 Dietrich/ Schmidt (2002, 39), zitiert nach: Lerch (2004, 240). 65 Bundestag-Drucksache 14/ 6040, 153. Die Einbeziehungskontrollmaßstäbe im § 305 II BGB regeln eine erleichterte Einbeziehung vorformulierter AGB in Verträgen, die durch die kundenseitige Unterzeichung selbst bei fehlender Kenntnisnahme zustande kommen. Allerdings definiert der § 305c BGB Grenzen, jenseits derer einbeziehbare Vertragsinhalte dem Vertragspartner nicht mehr zugerechnet werden, z.B. nicht erwartbare Bestimmungen (Verbot überraschender Formularinhalte). Weitere Einschränkungen ergeben sich durch die Inhaltskontrollmaßstäbe in den §§307ff., deren Intention die Überprüfung der AGB auf eine unangemessene Benachteiligung des Vertragspartners ist. Diese Kontrollen beziehen sich vor allem auf Bestimmungen, die den Inhalt einschlägiger Rechtsvorschriften modifizieren bzw. ergänzen und enthalten strenge Klauselverbote, deren erfasste Klauseln unwirksam sind. Die Inhaltskontrolle wird durch Transparenzkontrollmaßstäbe in § 307 I 2, III 2 BGB flankiert, auf deren Grundlage ebenfalls eine Inhaltskontrolle, nun aber hinsichtlich unklarer bzw. unverständlicher Bestimmungen durchgeführt wird. Vgl. Gödicke (2008, 299). <?page no="43"?> 1.2. Der Transparenzbegriff in gesellschaftlichen Kontexten 39 soll der Transparenzkontrollmaßstab eine „unangemessene Benachteiligung“ der Vertragspartner durch eine fehlende Vertragsklauselkenntnis vorbeugen, die sich auch daraus ergeben könne, „dass die Bestimmung nicht klar und verständlich ist“. 66 Letztlich stellt das Transparenzgebot ein „Verschleierungs- oder Irreführungsverbot“ auf, 67 welches die Unverständlichkeit einzelner Bestimmungen bei ihrer Unwirksamkeit sanktioniert, während die Unkenntnis der AGB nicht zur Unwirksamkeit des Vertrages führt. So zeigt sich, dass im vertragsrechtlichen Rahmen die kognitive Bedeutung von Transparenz ins Zentrum gestellt wird: Kognitive Transparenz soll in einer instrumentellen Funktion dem Rezipienten eine epistemisch-praktische Zugänglichkeit zu Rechtstexten ermöglichen. Ist der Kunde bei Lektüre der AGB in der Lage, alle Bedingungen des Vertrags zu verstehen, kann er wohlinfomiert eine Entscheidung treffen, ob er den Vertrag abschließen möchte. Wenngleich sich Transparenz „zu einem der tragenden Prinzipien des Verbraucherschutzrechts entwickelt“ hat, 68 ist seine Auslegung unter Juristen umstritten: Die Kriterien für Transparenz - Klarheit und Verständlichkeit - seien selbst wiederum alles andere als klar und verständlich. 69 Dennoch konnten aus der Rechtsprechung inzwischen richtungsweisende Auslegungsgrundsätze und Maßstäbe des Transparenzgebots gewonnen werden, die zu einer Bündelung der heterogenen Interpretationsvorschläge führten. Im Zentrum steht dabei ein dreistufiges Konzept, das u.a. aus Entscheidungen des Bundesgerichtshofs gewonnen wurde, bei dem (a) die Schriftlichkeit, eine übersichtliche Gliederung und eine verständliche Sprache eines Verbrauchervertrags Formerfordernisse sind; (b) die Klauseln inhaltlich klar, bestimmt, wahr, vollständig und rechtzeitig formuliert sein müssen; wobei (c) als Maßstab der typische Durchschnittskunde, also der Kunde ohne rechtliche Fachkenntnisse dient. 70 Seitdem besteht weitgehender Konsens darüber, dass bereits Mängel in der sog. äußeren (oder auch 66 § 307 I 2 BGB. Eine unangemessene Benachteiligung des Kunden liegt laut BGH NJW 1990, 2383ff. vor, wenn die Regelungen so formuliert sind, „dass ihre Auswirkungen vom Durchschnittskunden nur mit Mühe zu durchschauen sind, statt von der bestehenden Möglichkeit Gebrauch zu machen, eine leichter durchschaubare Formulierung zu wählen“. 67 Köndgen (1989, 943), zitiert nach: Gödicke (2008, 435). 68 Lerch (2004, 243). Die deutsche Transparenzgesetzgebung und -rechtsprechung, welche in der bisherigen Form auch auf Vertrags- und Versicherungsbedingungen angewendet wird, hat die EU für derart richtungsweisend angesehen, dass jene der Regelungsintention nach in die Richtlinie 1993/ 13/ EWG über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen aufgenommen wurde. 69 Basedow (1999, 1045) hat das Transparenzgebot daher als „Leerfomel“ bezeichnet, „die der Ausfüllung durch rechtliche Maßstäbe harrt“. 70 Vgl. BGHZ 123 83ff. von 1993, sowie BGHZ 136, 401ff. von 1997. Vgl. z.B. auch das OLG Schleswig NJW 1995, 2858. <?page no="44"?> 1. Terminologische Vorarbeiten 40 formellen) Transparenz unangemessene Nachteile für den Kunden hervorrufen können, sofern das Verstehen die optische Wahrnehmung voraussetzt. Setzt der Transparenzgedanke stets die Kenntnisnahmemöglichkeit, d.h. die Möglichkeit eines formellen Zugangs zu Textinformationen voraus, werden Regelungen auf der Einbeziehungsebene dem Transparenzgebot zugeordnet, worunter spezielle Formanforderungen der Erkennbarkeit von ABG (z.B. die Ausdrücklichkeit des Hinweises auf die AGB, die Möglichkeit des räumlichen Zugriffs auf die AGB durch einen deutlich sichtbaren Aushang) fallen. Gemäß der Regelungsintention lassen sich von diesen Einbezugsregelungen weitere Anforderungen an die äußere Transparenz gewinnen, wie z.B. eine gut lesbare Schriftgröße, der hinreichende Kontrast der Schrift, sowie eine Papierqualität, die den Text nicht im physikalischen Sinne transparent macht. 71 Wenngleich umstritten, ob zu den äußeren oder inhaltlichen Transparenzregelungen gehörend, 72 werden für Textumfang und Struktur keine starren Grenzen benannt, die eher in Anpassung an den typischen Kundenkreis gezogen werden sollen. Bezüglich der verständlichen Sprache sollten die AGB in der Verhandlungssprache abgefasst sein, sofern der Kunde die Sprache beherrscht. 73 Ausgeschlossen wird die Verwendung einzelner Fachausdrücke, Fremdwörter oder Abkürzungen, die sich dem juristischen Laien nicht erschließen. Auf der Ebene der inhaltlichen Transparenz führen missverständliche oder verschleiernde Klauseln (z.B. Preisgestaltungsklauseln) zu deren Ungültigkeit. 74 Wenngleich Auslegungsgrundsätze für das Transparenzgebot existieren, bleibt es in den meisten Fällen vermuteter Intransparenz allerdings eine juristische Ermessenssache, „ob das, was vorgefallen ist, dem gesetzlichen Tatbestand unterfällt oder nicht“. 75 Die juristische Gratwanderung bei der Ausle- 71 Vgl. Gödicke (2008, 446). 72 Eine analytische Unterscheidung zwischen der Einbeziehungs- und Inhaltstransparenz, welche sich auf die Kenntnisnahme- und Verständnismöglichkeit von AGB bezieht, stößt dort an ihre Grenze, wo einzelne Anforderungen sowohl der Kenntnisnahme, als auch dem Verstehen zugeordnet werden können. Dies trifft z.B. auf Umfang des Formulartextes zu, die ebd., 445 unter dem Aspekt der Kenntnisnahmemöglichkeit verhandelt, aber Kreienbaum (1998, 27f.) der inneren Transparenz (im Sinne des Verständlichkeitsgebots) zuordnet. 73 Vgl. Gödicke (2008, 447), der sich z.B. auf BGH NJW 1995, 190 und 1983, 1489 bezieht. 74 Nach §305c II BGB wird die Verantwortlichkeit für zweideutige oder unpräzise Klauselformulierungen dem Verwender zugewiesen. Da sich von unbestimmten Erklärungen keine rechtlich relevanten Inhalte entnehmen lassen, handelt es sich schlichtweg um keine Erklärungen im Rechtssinne; vgl. Gödicke (2008, 303). Für Fallbeispiele, die anhand des Transparenzgebots beurteilt wurden, vgl. ebd., 448. 75 Lerch (2004, 274ff.); nicht ohne Grund werde daher das Transparenzgebot in der Praxis „stets unter materiell-rechtlichen Erwägungen“ betrachtet: Anstatt um die „Verständlichkeit von Rechtssätzen“ gehe es um die „Nachvollziehbarkeit von Rechtsfolgen“, wodurch ein Bürger vor einer Schädigung geschützt werden solle. Vgl. auch <?page no="45"?> 1.2. Der Transparenzbegriff in gesellschaftlichen Kontexten 41 gung der Transparenzkontrollmaßstäbe wird an zwei Beispielen deutlich: Einerseits wird den Verwendern der AGB beim Sprachgebrauch eingeräumt, nicht plastischer als der Gesetzgeber sein zu müssen - was einer Erlaubnis gleichkommt, dessen Sprachgebrauch aufgreifen zu dürfen, andererseits aber die Verwendung „salvatorischer Klauselzusätze“ oder „Abbedingungen“ einzelner bekannter Paragraphen des BGB angesichts mangelnder Fachkenntnisse des Kunden ausgeschlossen; 76 einerseits wird der Verständnishorizont eines „rechtsunkundigen Durchschnittskunden“ als Maßstab angenommen, andererseits keine sofortige Verstehbarkeit der Klauseln verlangt. 77 Daher sei es für die Rechtssprechung unabdingbar, „sich zunächst die inhaltlichen Regelungszusammenhänge des Vertrags- oder Geschäftstyps zu vergegenwärtigen, um hiervon ausgehend dann überhaupt erst nach der Verständlichkeit oder gar Verschleierung dieser Regelungszusammenhänge zu fragen. Das Recht der inhaltlichen Transparenz vorformulierter Vertragsbedingungen wird also auf längere Sicht weiterhin von einer falltypengeleiteten Konkretisierung in der Rechtsprechung abhängen, die ohne Rückgriff auf einzelne Vertragstypen nicht angemessen geleistet werden kann.“ 78 Dieses kasuistische Vorgehen ist der Suche nach einem angemessenen Kontrollinstrumentarium geschuldet, welches dem Verwender eine praktikable Einbeziehung von AGB ermöglicht, aber ihn zugleich dazu anhält „bei der Formulierung von vornherein auf die Verständnismöglichkeit des Durchschnittskunden Rücksicht zu nehmen“. 79 (2) Während im Vertragsrecht Transparenzforderungen aufgestellt werden, die kontextuell interpretationsbedürftig sind, finden sich in anderen Rechtsbereichen bezüglich schriftlicher Dokumente konkrete Transparenzansprüche. Als Beispiel dient das deutsche Arzneimittelgesetz (AMG), welches den Verkehr mit Arzneimitteln im Sinne einer sicheren Arzneimittelversorgung regelt und in § 11 umfangreiche Anforderungen an die Packungsbeilage und an die Kennzeichnung auf der Arzneimittelverpackung erhebt. 80 Werden hierbei die notwendigen Inhalte der Packungsbeilage ge- Pilz (2010), der die Auslegungsgrundsätze des Transparenzgebots hinsichtlich unklarer, missverständlicher Klauseln zu fundieren versucht. 76 Gödicke (2008, 448f.), der für Nachweise aus der Rechtsprechung u.a. auf Schäfer (1992, 11ff.) verweist. 77 Vgl. Gödicke (2008, 442f.). Wie der BGH NJW 1989, 222 betont, könnten AGB „nicht stets so formuliert werden, dass dem Kunden jedes eigene Nachdenken erspart“ bliebe. 78 Gödicke (2008, 448). 79 Lerch (2004, 246). 80 Vgl. „Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln“ im Internet unter: http: / / www. gesetze-im-internet.de/ amg_1976/ index.html# BJNR024480976BJNE003112310, Zugriff am 22.10.2010. <?page no="46"?> 1. Terminologische Vorarbeiten 42 nau vorgegeben, 81 bezieht sich die darin enthaltene Transparenzforderung auf die „Allgemeinverständlichkeit“ und „gute Lesbarkeit“ der vorgegebenen Angaben, 82 wobei nicht näher konkretisiert wird, was unter Lesbarkeit und Verständlichkeit gemeint ist. 83 Erst mit der von der EU veröffentlichten Guideline on the Readability of the label and package leaflet on medical products for human use bestehen konkrete Anforderungen an Lesbarkeit und Verständlichkeit, 84 auf die sich das AMG bezieht. Die Richtlinie ist zwar rechtlich unverbindlich, hat aber eine nicht unbeträchtliche Bindungswirkung, da deren Einhaltung behördlich im Rahmen der Arzneimittelzulassung überprüft wird. Bei ihrer grundsätzlichen Unterscheidung zwischen Lesbarkeit und Verständlichkeit von Arzneimittel-Gebrauchsinformationen werden als wesentliche Aspekte der Lesbarkeit Schriftgröße und Schriftgrad des Drucks angesehen; in praktischer Konzession an die Maße einer Packungsbeilage empfiehlt die EU z.B. eine Schriftgröße der Packungsbeilage von 9pt und einen Zeilenabstand von mindestens 3mm. 85 Bezüglich der Verständlichkeit der Packungsbeilage empfiehlt die Kommission, einfache Begriffe zu verwenden, kurze Sätze zu formulieren, einen aktiven und direkten Sprachstil zu pflegen. 86 Außerdem sollen wissenschaftliche Fachausdrücke oder Fremdwörter, falls sie unvermeidbar sind, in allgemeinverständlicher Sprache erklärt werden. 87 Wie schon beim Vertragsrecht soll Transparenz in diesem Rechtsbereich die Funktion erfüllen, dass ein potentieller Anwender eines Arzneimittels diesbezügliche Informationen, insbesondere über Risiken und Nebenwirkungen versteht und eine wohlinformierte Entscheidung über die Anwendung des Medikaments fällen kann. Allerdings konflingieren die rechtlichen Forderungen nach Vollständigkeit der Angaben (im Sinne der Haftungsabsicherung der Hersteller) unauflösbar mit der Forderung nach Kenntnisnahme- und Verständnismöglichkeit durch die Patienten (im Sinne der optimalen Patien- 81 Bezüglich der in §11 I 1 AMG vorgeschriebenen Angaben müssen gemäß der durch die Gefährdungshaftung in §84 AMG auferlegten Pflichtangaben sämtliche indikative Krankheitsbilder, Risiken und Nebenwirkungen der Krankheitstherapie (Risikoaufklärung), sowie Verhaltensmaßgaben des Patienten (therapeutische und Sicherheitsaufklärung) erfasst sein, die den Erkenntnissen der Wissenschaft entsprechen. 82 Vgl. §11 I 1 AMG. 83 Es lassen sich zahlreiche Beispiele für administrative Empfehlungen zur Gestaltung einer medizinischen Aufklärung geben, bei denen eine „klare“ und „verständliche“ Informierung nicht weiter erläutert wird; so z.B. in der Deklaration des Weltärztebundes zu den Rechten des Patienten. 84 European Commission (2009). 85 Vgl. Readability Guideline, Section A.1. („Print Size and Type“). 86 Vgl. Readability Guideline, Section A.5. („Syntax“) und A.6. („Style“). 87 Vgl. Readability Guideline A.6. („Style“). <?page no="47"?> 1.2. Der Transparenzbegriff in gesellschaftlichen Kontexten 43 teninformation), wie eine Studie von 2005 zeigt. 88 Ohne weiter auf problematische Folgen einzugehen, 89 zeigt das Arzneimittelrecht Fallstricke der Transparenzforderungen, bei denen umfassende Informationsvorgaben die rezipientenorientierte Verständnismöglichkeit zu konterkarieren drohen. 1.2.3. Transparenz in der Wirtschaft Parallel zu den Entwicklungen in der Politik hat sich im Bereich der Wirtschaft Transparenz in den letzten 20 Jahren als ein wichtiger Faktor etabliert, 90 der direkt mit den Zielen der Ökonomie assoziiert werden kann: Aus wirtschaftlicher Perspektive versteht man unter Transparenz die Offenlegung relevanter Informationen in Marktprozessen vor dem Hintergrund bestehender Informationsasymmetrien zwischen Produzent bzw. Anbieter einer Ware und Interessent bzw. Käufer. 91 Als relevante Informationen werden solche Auskünfte angesehen, die sich beispielsweise auf Herstellungsprozesse, Ergebnisberichte und strategische Ziele eines Unternehmens beziehen und auf deren Grundlage potentielle Investoren Risiken bei einer Investition einschätzen können. 92 Im Sinne einer optimalen Informierung soll Transparenz funktional zur rationalen bzw. effizienten Allokation begrenzter Ressourcen von Marktteilnehmern beitragen, die der Realisierung individueller Gewinne und dem allgemeinen Progress des freien 88 Nink/ Schröder (2005) zeigen in einer Umfrage unter Auswertung der 100 verordnungsstärksten Arzneimittel des Jahres 2002, das zwar 65% der Befragten die Packungsbeilage als wichtige Informationsquelle über Arzneimittel einschätzten, aber zugleich 60% Verständnisprobleme mit der Anzahl der Fach- und Fremdwörter hatten; 45% den optischen Eindruck monierten; 42% diese als zu lang und 20% als unverständlich beurteilten. 89 Verfehlt die Packungsbeilage ihr Informationsziel, den Verbraucher eine Therapieentscheidung zu ermöglichen, beschwört sie laut Gödicke (2008, 451) „die Gefahr herauf, dass das Arzneimittel entweder trotz Indikation und ärztlicher Therapieempfehlung aus Verunsicherung […] doch nicht eingenommen wird, dass es umgekehrt […] trotz bestehender Kontrastindikation eingenommen wird, oder auch nur Fehler bei der Anwendung selbst auftreten“. 90 Nach Forssbæck/ Oxelheim (2006, 3) ist der Transparenzbegriff in den Veröffentlichungen des National Bureau of Economic Research vor 1993 nicht zu finden, während der Gebrauch nach 1995 exponentiell ansteigt. 91 Vgl. z.B. die Arbeitsgruppe über Transparenz und Rechenschaft (accountability) des International Monetary Fund (1998, v), die Transparenz definiert als „a process by which information about existing conditions, decisions and actions is made accessible, visible and understandable.“ 92 Vgl. Oliver (2004, 6). Picot u.a. (2007, 69) zeigen am Beispiel der Kreditwürdigkeit, dass nicht nur die Transparenz von Ergebnissen und deren Bedingungen (z.B. Kreditkonditionen), sondern auch der Verfahren (z.B. Datenquellen, Verarbeitungsverfahren der Bonitätsbeurteilung) wirtschaftlich relevant ist. <?page no="48"?> 1. Terminologische Vorarbeiten 44 Marktes dient. 93 Lassen sich bestehende Informationsasymmetrien zwischen Anbietern und Interessenten gleichwohl durch Vertrauen kompensieren, besteht ein agonistischer Zusammenhang zwischen Transparenz und Vertrauen: Eine erhöhte freiwillige Informationspolitik stärkt die Vertrauenswürdigkeit eines Unternehmens, während die Kenntnis um Informationsasymmetrien zu wachsendem Misstrauen führen kann. 94 Aus einer wirtschaftlichen Perspektive impliziert eine „optimale“ Informierung als Voraussetzung für die rationale Entscheidung von Marktteilnehmern bezüglich der Marktallokation allerdings folgendes: Erstens spricht das sog. „Morgenstern’sche Markttransparenz-Paradoxon“ gegen eine Vollinformiertheit des homo oeconomicus, 95 da die damit theoretisch verbundene Antizipation allen Verhaltens zur vollständigen Inaktivität der Märkte führen würde. 96 Die ökonomische Zielsetzung kann somit nicht durch vollständige Markttransparenz erreicht werden. Zweitens verursacht nicht nur ein Mangel an relevanten Informationen eine begrenzte Rationalität (bounded rationality) der marktteilnehmenden Individuen, sondern auch das Vorliegen zu vieler komplexer Informationen, die nicht korrekt beurteilt werden können. 97 Angesichts dieses Effekts bedeutet Transparenz im Sinne der wirtschaftsoptimalen Informierung die Verfügbarkeit relevanter, nachvollziehbarer Informationen. Gehört beim zweckrational-ökonomischen Denken formelle und inhaltliche Transparenz funktional zusammen, wird inhaltliche Transparenz indes nicht genauer definiert. Während die ökonomische Bedeutung von Transparenz für die Verwender von Informationen luzide wurde, stellt sich die Frage nach den be- 93 Vgl. die Aufsätze in Oxelheim (2006), insbesondere die bereits erwähnte Studie von Forssbæck/ Oxelheim (2006), die einen Zusammenhang zwischen Transparenz, hohem Wettbewerbsdruck, effizienten Investitionen und ökonomischem Wachstum herstellt. Dass zwischen einer optimalen Kommunikationstransparenz und einem effizienten Marktverhalten keine lineare Beziehung besteht, legen Morris/ Shin (2002) nahe und führen dies auf ineffiziente Entscheidungen der Akteure (z.B. durch Verhaltenskoordinationen und Informationskaskaden) zurück. Vgl. hierzu Kap. 2.5.1. 94 Wie Graf u.a. (2010) in ihrer quantitativen Umfrage zeigen, erhöht sich bei einer transparenten Informationspolitik zugleich die Vertrauenswürdigkeit eines Unternehmens, wenngleich die Autoren unberücksichtigt lassen, dass diese nicht notwendig zur faktischen Vergabe von Vertrauen führt. 95 Zu den Zielen des homo oeconomicus, des ausschließlich nach wirtschaftlichen Aspekten handelnden Menschen, gehören (a) die vollkommene Information über die Bedingungen, Möglichkeiten und Folgen des Handelns (vollkommene Markttransparenz) und (b) die Maximierung des eigenen Nutzens (bei Minimierung des Aufwands); vgl. Duden, Wirtschaft von A bis Z (2009), Art. „homo oeconomicus“ und Kirchgässner (2008, 12ff.). 96 Vgl. Morgenstern (1935). 97 Vgl. Simon (1959) zum Konzept der bounded rationality und Kap. 2.5.1. Picot u.a. (2007, 69) plädieren für eine differenzierte Analyse des Transparenzniveaus und einer Abwägung der Vor- und Nachteile für die Marktentwicklung. <?page no="49"?> 1.2. Der Transparenzbegriff in gesellschaftlichen Kontexten 45 triebswirtschaftlichen Anreizen für eine Transparenzbereitschaft auf Seiten der Anbieter von Informationen. Von der freiwilligen Offenlegung relevanter Informationen durch Unternehmer erwartet man sich neben der bereits genannten Vertrauensgewinnung potentieller kapitalmarktorientierter Investoren und dem Aufbau von Reputation eine höhere Evaluierung des Unternehmenswertes im freien Wettbewerb. 98 Das gewonnene oder gebundene Investitionskapital bzw. die Senkung der Eigenkapitalkosten 99 soll mindestens die aufgegebenen Marktvorteile kompensieren sowie Transaktionskosten amortisieren, die bei Abbau von Informationsasymmetrien trotz kostengünstiger Veröffentlichungstechniken entstehen. Angesichts des weltweit wachsenden Wettbewerbsdrucks im weitgehend liberalisierten Kapitalmarkt wurden externe Transparenzregelungen (z.B. gesetzliche Regelungen) aus neoklassischer Perspektive bisher als weitestgehend überflüssig angesehen. 100 Demzufolge stellt Transparenz eine freiwillige, selbstregulierte Reaktion auf das Marktgeschehen dar, während Intransparenz und verbundene Fehlentwicklungen am Markt (z.B. Korruption, Bilanzskandale) nicht auf einen Mangel an externen Regulativen, sondern auf eine schwache oder verzögerte Wirkung des Marktes zurückzuführen seien. Obwohl absichtliche Informationsasymmetrien vorübergehend zu positiven Bilanzen bei intransparenten Marktakteuren und einer ungerechten Allokation finanzieller Ressourcen führen könnten, rächten sich sämtliche Verstöße gegen das Transparenzgebot auf lange Sicht durch das ökonomische Phänomen der Antiselektion (adverse selection): Transaktionsobjekte (Produkte, Dienstleistungen etc.), über die unterschiedliche Informationen (bezüglich ihrer Qualität, Produktivität und verbundenen Risiken) zur Verfügung stehen, erhielten dauerhaft einen geringeren Marktpreis als Produkte mit vollständigen und einheitlichen Informationen. 101 Nicht „mehr Moral“, sondern „mehr Markt“ sei somit das Lösungsrezept gegen Intrans- 98 Wie Filipiuk (2008) analysieren, wird eine transparente Informationspolitik als Faktor für den Vertrauensgewinn von Investoren und für die Steigerung des Unternehmenswertes angesehen, der sich in höheren Erträgen auszahlt. Intransparenz hingegen halte das Unternehmensrisiko bei der Erzielung von Erträgen hoch und stelle in der verschärften Wettbewerbssituation ein Ausschlusskriterium für Investoren dar. 99 Einen Überblick über modelltheoretische und empirische Studien, die einen Zusammenhang zwischen der Erhöhung des Unternehmenswertes bzw. der Senkung der Eigenkapitalkosten und freiwilliger Transparenz nachweisen, gibt Lammert (2010, 2f.), der einräumt, dass freiwillige Transparenzbestrebungen von Unternehmen lediglich als Mittel zu genannten Zwecken angesehen werden. 100 Diese Funktionalität gelte laut Oliver (2004, 52) im gesteigerten Maß für den globalisierten Wirtschaft- und Finanzmarkt: „Global economics and governance mean that transparency is now the essential requirement to participate on the world community“. 101 Das Modell der Antiselektion hat erstmals Akerlof (1970) beschrieben. <?page no="50"?> 1. Terminologische Vorarbeiten 46 parenz. 102 Da allerdings der Effekt der adverse selection nur bei einer Entdeckung von Intransparenz wirksam ist, wird Transparenz in seiner Funktion zur Maximierung von Profit unter Ökonomen höchst unterschiedlich bewertet: Wenn bereits geringfügige Änderungen in der Informationspolitik eines Unternehmens dramatische Auswirkungen auf das Marktverhalten von Unternehmern, Konsumenten, Arbeitern usw. haben, 103 kann es für die verantwortlichen Akteure angesichts des ökonomischen Wettbewerbsdruck lukrativ sein, zumindest temporär-partiell Informationen zurückzuhalten oder deren Zugang zu beschränken: „In economic terms, disclosers’ assessment of costs and benefits from transparency policies include expected costs of noncompliance - that is, the costs associated with failing to report accurately, factoring in the likelihood of getting caught.“ 104 Somit wird wirtschaftliche Transparenz weniger als ein regulatives Ideal, denn als ökonomischer Faktor angesehen, 105 der dem Ziel der Gewinnmaximierung dienen muss und dessen Nutzen bei konkreten Offenlegungsbestimmungen kalkulierbar ist, soweit dies die „unsichtbare Hand“ (Smith) der Wirtschaft zulässt. 106 Dies erklärt mitunter, weshalb sich zahlreiche Firmen bislang nicht den international einheitlichen, selbstverpflichtenden Richtlinien für unternehmerische Transparenz und Informationsaustausch unterworfen haben, wie sie z.B. von der Organisation for Economic Cooperation and Development (OECD) vorgeschlagen werden. 107 Statt dessen werden singuläre, unternehmenseigene Transparenzrichtlinien erwogen, deren Gehalt, d.h. wie viele Informationen ein Unternehmen auf welche Weise freiwillig zur Verfügung stellt, aus Kosten-Nutzen-Kalkulationen hervorgehen. 108 Gegen 102 Kritisch hierzu Precht (2010), der sich auf den Nationalökonom Röpke bezieht, wenn er analysiert, dass die marktwirtschaftliche Ordnung bei ihrer zweckrationalen Gewinnorientierung notwendig auf moralische Voraussetzungen (z.B. Regeln der Fairness, Wahrhaftigkeit) beruhe, die sie nicht selbst erzeugen könne. Je zweckrationaler Menschen kalkulierten, umso mehr verbrauche der Markt die moralischen Reserven. 103 Dies zeigt z.B. Stiglitz (2000). 104 Fung u.a. (2008, 45). Vgl. auch Scherer (2006, 11), der die neoliberale Position kritisch erörtert, sowie Menéndez-Viso (2009, 157) der ihre Unhaltbarkeit nachzuweisen versucht: Sofern das Brechen von Marktregeln individuelles Nutzen bringt, welches durch Transparenz verhindert werden soll, müssen neoliberale Ökonomen einräumen, dass der Markt sich nicht selbst bzw. das Handeln der Akteure regele. 105 Heald (2006a, 60) benennt bei einer Kosten-Nutzen-Analyse von Transparenz ein ökonomisches Optimum, welches unterhalb ihres Maximums liegt; gegen eine umfassende Transparenz spreche der exponentiell steigende Kostenfaktor, welcher in keiner Relation zur erreichten Effizienzsteigerung stünde. 106 Vgl. Kaptein (2004), der das Einbeziehen des Transparenzprinzips in Unternehmenskodizes ausschließlich auf ökonomische Kalkulationen zurückführt. 107 Vgl. Ritzer/ Zitzelsberger (2009). 108 So Lammert (2010, 1f.), der die gängigen Formen einer Transparenzschaffung (freiwillige Geschäftsberichterstattung und persönliche Kommunikation mit Investoren) betriebswirtschaftlich analysiert. <?page no="51"?> 1.2. Der Transparenzbegriff in gesellschaftlichen Kontexten 47 die emphatische Überzeugung von der Funktionalität des Marktes spricht außerdem die jüngste Erfahrung der Wirtschafts- und Finanzkrise, die eindringlich zeigte, wie intransparentes Verhalten zum umgreifenden Vertrauensverlust zwischen den Akteuren und zum Kollaps des Marktes (z.B. durch „Finanzklemmen“) führen kann. 109 Daher sind Opponenten des marktliberalen Ansatzes der Auffassung, dass erst umfassende gesetzliche Regelungen und scharfe Sanktionen Umfang und Verlässlichkeit einer transparenten Informationsweitergabe erhöhen können: Wer Intransparenz im wirtschaftlichen Bereich verhindern möchte, müsse „Berichtspflichten verschärfen, müsse Überwachungsinstitutionen stärken […] - so weit, dass die Kalkulationen der Institutionen eine Gesetzesübertretung nicht (mehr) lohnenswert erscheinen lassen.“ 110 Der gegenwärtige Ruf nach politischen Transparenzregelungen bezieht sich ausschließlich auf die formelle Zugänglichkeit zu verheimlichten wirtschaftlichen Informationen, was als präventives Allheilmittel vor weiteren unkontrollierten und unverantwortbaren Transaktionen und Investitionen im Bankenbereich verhandelt wird. 111 Nach der Darstellung der kontextuellen Verwendungsweise des Transparenzbegriffs werden die phänomenologischen Befunde sprachanalytisch auf eventuelle Regelmäßigkeiten im Gebrauch reflektiert. 109 Bereits Akerlof (1970) zeigt, dass Informationsasymmetrien zu wachsendem Misstrauen und zu Marktversagen führen können. Plädiert er für die Einführung von Kontrollmechanismen zur Beseitigung der Informationsasymmetrien, wird ihm die Begründung eines ökonomischen Paradigmenwechsels nachgesagt. 110 Scherer (2006, 11). Der deutsche Gesetzgeber hat zwar bereits in der Vergangenheit reagiert - beispielsweise 1998 mit dem Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG), welches 2004 durch das Bilanzrechtsreformgesetz (BilReG) geändert und durch das Transparenz- und Publizitätsgesetz (TransPuG) ergänzt wurde - aber die jüngsten Ereignisse zeigen, dass die bisherigen politischen Maßnahmen zur Transparenzregulation nicht ausreichen. 111 Vgl. auch Rosengreen (1998). Allerdings ist höchst umstritten, ob gesetzlich vorgeschriebene Transparenzregularien faktisch zu einer höheren Verantwortlichkeit der Protagonisten führen. Stattdessen besteht der Verdacht, dass sich das ökonomische Verhalten lediglich soweit verändere, wie es zur Erfüllung der Anforderungen bzw. der Kontrollen erforderlich ist, während die „freiwillige“ Erfüllung staatlich sanktionierter Transparenzanforderungen werbewirksam zur Profitsteigerung eingesetzt werde; vgl. Fung u.a. (2008, 47). <?page no="52"?> 1. Terminologische Vorarbeiten 48 1.3. Sprachanalytische Ergebnisse: Transparenz als epistemischer Komplex- und Idealbegriff 1.3. Sprachanalytische Ergebnisse 1.3.1. Die deskriptive Verwendungsweise des Transparenzbegriffs Grundsätzlich geht aus der kontextuellen Bedeutungsanalyse eine deskriptive, evaluative und präskriptive Verwendungsweise des Transparenzbegriffs hervor: 112 Bei der deskriptiven Verwendungsweise finden sich die lebensweltlich-metaphorischen Bedeutungen der formellen bzw. inhaltlichen Zugänglichkeit zu Sachverhalten (z.B. dem Beiwohnen der Bürger an politischen Entscheidungsprozessen) bzw. zugrunde liegender Informationen (z.B. über Gesetzesentwürfe, Vertragsbedingungen, Marktanalysen etc.) in den untersuchten Kontexten wieder. Ob nun bei einer kontextuellen Verwendung des Transparenzbegriffs die formelle oder inhaltliche Transparenz gemeint ist, hängt von der jeweiligen instrumentellen Funktion ab, die das Phänomen der Transparenz im jeweiligen Kontext gemäß der vorgegebenen Zielsetzung zu erfüllen hat. Stellt in der Politik die Ausübung einer demokratischen Kontrolle das primäre Ziel dar, wird der Transparenzbegriff semantisch auf die formelle Offenlegung politischer Informationen eingeschränkt; in der Rechtssprechung versteht man unter Transparenz hingegen die kognitive Zugänglichkeit zu Rechtstexten, da erst die Verständlichkeit der zugänglichen Dokumente eine wohlinformierte Entscheidung des Rechtssubjekts ermöglicht; in der Wirtschaft umfasst der Transparenzbegriff beide Bedeutungen, da Marktteilnehmer nur solche Informationen bei der Verwirklichung ihrer Zielsetzung, der Gewinnmaximierung, nutzen können, die formell zugänglich und inhaltlich verstehbar sind. Die heterogenen Verwendungsweisen des Transparenzbegriffs unterliegen somit einer Regelmäßigkeit, die auf die instrumentelle Funktion von Transparenz in den jeweiligen Kontexten rekurriert. Diese Regelmäßigkeit führt jedoch zu keiner eindeutigen Definition, sondern legt es bislang nahe, Transparenz als einen äquivoken „Komplexbegriff“ aufzufassen. Als Komplexbegriff wird ein Ausdruck verstanden, der je nach Kontext und Funktionalität mit unterschiedlicher Bedeutung verwendet wird, ohne definitorisch auf eine Bedeutung festgelegt werden zu können. 113 Da sich die le- 112 In der Metaethik wird die Modalität von Urteilen in deskriptive und normative unterteilt und bei normativen Urteilen wiederum zwischen präskriptiven (vorschreibenden, normativen i.e.S.) und evaluativen (wertenden) Urteilen unterschieden, die mit deontischen (geboten, verboten etc.) respektive evaluativen Begriffen (gut, wertvoll etc.) gebildet werden; vgl. Vossenkuhl (1984) und klassisch Hare (1952) mit anderer Terminologie. Ich beziehe mich im Folgenden v.a. auf den attributiven Gebrauch von Transparenz bzw. Intransparenz. 113 Vgl. Gottschalk-Mazouz (2007), nach dem „Komplexbegriffe in der Diskussion nicht in eine oder mehrere, möglichst eindeutige Definition(en) […] aufgelöst werden. Mehrdeutigkeiten werden gesucht und bewusst nicht reduziert. Um einer begriffli- <?page no="53"?> 1.3. Sprachanalytische Ergebnisse 49 bensweltliche Verwendung nicht im deskriptiven Gebrauch erschöpft, bleibt abzuwarten, ob sich eine eindeutige Bestimmung bei einer evaluativen oder normativen Gebrauchsweise ergibt. 1.3.2. Die evaluative Verwendungsweise des Transparenzbegriffs Bisher wurde eine komplexe deskriptive Verwendungsweise des Transparenzbegriffs identifiziert, die allerdings gegenüber dem tatsächlichen Gebrauch in bestimmter Hinsicht artifiziell wirkt. Denn in lebensweltlichen Zusammenhängen wird Transparenz bzw. sein Antonym selten zur neutralen Beschreibung eines bestimmten Phänomens herangezogen, sondern überwiegend im Rahmen wertender Stellungnahme genutzt (z.B. „Dieser politische Vorgang ist völlig intransparent und dies lehne ich ab“). Entsprechend umfasst der Transparenzbegriff eine eindeutig positive bzw. der Begriff der Intransparenz eine unzweifelhaft negative Konnotation. 114 Die Beantwortung der Frage, warum dies so ist, schließt an die Ergebnisse der deskriptiven Verwendungsweise an. Wir haben festgestellt, dass Transparenz im Sinne der Zugänglichkeit zu Sachverhalten bzw. Informationen in den untersuchten Kontexten eine instrumentelle Funktion zur Verwirklichung gegebener Zielsetzungen zugesprochen wird, weshalb die bipolare Bedeutung des Transparenzbegriffs (formelle oder inhaltliche Zugänglichkeit zu Sachverhalten bzw. Informationen) je nach Funktionalität auf einen Pol eingeschränkt wird. Abstrahiert man von den konkreten Zielsetzungen der Kontexte (z.B. die Kontrolle politischer Entscheidungsprozesse, die Anwendbarkeit wirtschaftlicher Informationen), ermöglicht Transparenz die Kenntnis von Sachverhalten und Informationen, die als Voraussetzung für konkrete Entscheidungen und Handlungen (z.B. Wahlen, Aktienverkäufe) - ja für die generelle Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit in den betreffenden Kontexten angesehen wird. 115 Die positive Konnotation des Begriffs kann somit auf die generelle Hochschätzung von Transparenz in ihchen Hegemonie vorzubeugen, werden von den Diskutierenden selbst geeignete Eingrenzungen getroffen und ergänzende technische Terme eingeführt, die als solche erkennbar bleiben. Soweit Mehrdeutigkeiten aufgelöst werden, geschieht dies nicht global und abschließend, sondern immer nur lokal und auf Zeit, in bestimmten Kontexten oder für bestimmte Problemausschnitte“. Wie er am Beispiel des Wissensbegriffs aufzeigt, können Komplexbegriffe neben deskriptiven Komponenten auch normative beinhalten. 114 Vgl. Heald (2006a), sowie der Art. transparency in: Webster's new world college dictionary (1999), bei dem die positive Evaluation sogar in die Transparenzdefinition aufgenommen wird. O’Neill (2002b, 67f.) kommentiert kritisch: „Ideals of transparency and openness are now so little questioned that those who ‚leak‘ or disseminate confidential information (other than personal data) often expect applause rather than condemnation“. 115 Vgl. Fung u.a. (2008, xiv) und Kap. 2.5.1. <?page no="54"?> 1. Terminologische Vorarbeiten 50 rer epistemischen Funktion zurückgeführt werden, da sie instrumentell der Gewinnung von relevanten Informationen und Wissen dient. Die Verbindung von Transparenz und entscheidungsbzw. handlungsrelevantem Wissen ist mittlerweile so eng, dass jene nicht mehr nur als epistemisches Instrument verstanden, sondern mit dem Resultat, dem individuellen Verständnis und der Klarheit über Sachverhalte, identifiziert wird. Die positive Evaluation findet eine zusätzliche Unterstützung, sofern Transparenz in ihrer epistemischen Funktion die Kontrollierbarkeit individueller Handlungsweisen und institutioneller Verfahren ermöglicht, die mit einer erhöhten Verantwortlichkeit betreffender Akteure und einer verbesserten Qualität der Produkte in Verbindung gebracht wird. 116 Umgekehrt wird Intransparenz pejorativ gebraucht, da bei jeder Form von Geheimhaltung und Verschleierung der Verdacht besteht, entscheidungs- und handlungsrelevante Informationen würden vorenthalten werden und verwerfliche Absichten seien im Spiel. Wie zahlreiche Beispiele belegen, treten bei der Entlarvung von Intransparenz häufig Interessenkonflikte und Machtstrukturen zu Tage, in die die verantwortlichen Akteure verstrickt sind. 117 Vor diesem Hintergrund wird Transparenz als ein Begriff verständlich, dessen Gebrauch (auch in deskriptiven Zusammenhängen) stets mit einer normativ-evaluativen Komponente verbunden ist. Gegenüber der intuitiv positiven Bewertung treten allerdings zunehmend die ambivalenten Folgen einer ungezügelten, exzessiven Transparenz ins Bewusstsein: 118 Bei einer unregulierten Transparenz können weder die Privatsphäre von Personen, 119 noch Eigentumsansprüche auf Informationen von wirtschaftlichen Unternehmen oder die Diskretion von sicherheitspolitischen Entscheidungen 120 gewahrt werden. Die Öffentlichkeit wird darüber hinaus mit Ungewissheiten und unvermeidbaren Fehleranfälligkeiten in gesellschaftlichen 116 Heald (2006a) stellt den Zusammenhang von Transparenz und Verantwortlichkeit (accountability) bzw. Qualität überblicksartig dar. Auf den locus classicus „the more strict we are watched, the better we behave“ bei Bentham (2001, 277) wird in zahlreichen gesellschaftspolitischen Stellungnahmen und Theorien implizit oder explizit rekurriert; z.B. ist bei Popper (2003) dieser Grundsatz - in modifizierter Form - Bestandteil seines Gesellschaftsentwurfs, wenn er soziale Institutionen einer permanenten Kritik und einem evolutionären Entwicklungsdruck unterwerfen möchte. 117 Vgl. die Belege für den biomedizinischen Kontext in Kap. 3.1.5. 118 Einen Überblick über unerwünschte Folgen einer radikalen Praxis der Transparenz gibt Bok (1984, 15ff.). 119 Vgl. Brin (1998), der sich angesichts der Erosion des Rechts auf Privatsphäre durch elaborierte Transparenztechniken (z.B. Informationsaggregation durch Internetnutzung oder Überwachungskameras) für einen Kernbestand dieses Rechts bei reziproker Überwachung der Überwacher einsetzt. Frick (2011) spricht von einem Verlust der Privatheit durch die Social Data Revolution und fordert einen New Privacy Deal. 120 Vgl. die Debatte um die Veröffentlichung von Kriegsakten des US-Militärs durch die Informationsplattform WikiLeaks in 2010. <?page no="55"?> 1.3. Sprachanalytische Ergebnisse 51 Subsystemen konfrontiert, die bisher hinter der „mystischen“ Professionalität verborgen werden konnten, was ein wachsendes Misstrauen nach sich zieht. 121 Die neuen kostengünstigen und hocheffizienten Informationstechnologien ermöglichen ferner den Zugriff auf eine Vielzahl von - größtenteils irrelevanten - Informationen im öffentlichen und privaten Bereich, die in einer „Transparenzspirale“ zu einer erhöhten Nachfrage und wiederum zu einer Generierung und Offenlegung von Informationen führte. 122 Da erhöhte Transparenz im Bereich der Qualitätssicherung mit einer umfangreichen und detaillierten Regulierung und Standardisierung des Handelns verbunden ist, die überdies dem Prozess der Rationalisierung und Ökonomisierung Vorschub leistet, führt sie nicht unbedingt zu den erwünschten Zielen, der Leistungssteigerung der Akteure. 123 Im Gegenteil: Transparenz schließt keineswegs eine Missbrauchsmöglichkeit aus, wenn unter ihrem Deckmantel Desinformationen (unvollständige, fehlerhafte, verschleierte oder veraltete Informationen) in Umlauf gebracht werden. 124 Sofern bei Transparenz nur beobachtbare Verhaltensweisen, aber nicht die zugrunde liegenden Intentionen der Akteure enthüllt werden, garantiert jene nicht die Verhinderung von Betrug und Täuschung. Davon abgesehen gilt Intransparenz als wichtiger Bestandteil der Entwicklung, Entfaltung und Veränderung von (moralischer) Persönlichkeit und Individualität. 125 Entsprechend werden die Verborgenheit von Sachverhalten und die Verschwiegenheit von Personen unter bestimmten Umständen als wichtige Eigenschaften erachtet. Insgesamt kann Transparenz je nach Zielsetzung sowohl einals auch ausschließen, schützen oder bedrohen. 126 Im Unterschied zu einer präreflexiv häufig positiven Einstellung gegenüber Transparenz richtet sich eine ethisch reflektierte Bewertung danach, ob die Zugänglichkeit zu Sachver- 121 Vgl. Finel/ Lord (1999, 319ff.) und Fung u.a. (2008, 34). Nyberg (1994) führt nicht ohne Sarkasmus den allgemeinen Vertrauensverlust in Politiker und Bänker auf Transparenz zurück: Diese bringe das Ausmaß von Täuschungs- und Betrugspraktiken ans Licht, die seit langer Zeit gepflegt werden. 122 Vgl. Oliver (2004, 20f.). 123 Neben der Etablierung einer zweifelhaften „Kultur des Misstrauens“ moniert O’Neill (2002b, 46ff.) am zunehmenden Transparenzdruck, dass Verantwortliche in öffentlichen und nicht-öffentlichen Sektoren lediglich die Erfüllung messbarer Standards gegenüber Behörden zu belegen bräuchten, wodurch die Zielsetzung einer verbesserten Arbeitsqualität verfehlt werde. 124 Vgl. nochmal O’Neill (2002b, 69). 125 Vgl. Bok (1984, 20ff. und 40ff.): Bei der Entscheidung, einen Sachverhalt transparent werden zu lassen oder nicht, könne das Handlungssubjekt die ursprüngliche Erfahrung von Freiheit und Verantwortung machen, die in der Moralentwicklung zum Erwerb von Diskretion als situative Urteilsfähigkeit führt. 126 Vgl. Irwin (2008) und Stiglitz (2002), die im Bereich der Wissenschaftskommunikation bzw. Politik auf die ambivalente Instrumentalisierungsmöglichkeit von Transparenz aufmerksam machen. <?page no="56"?> 1. Terminologische Vorarbeiten 52 halten bzw. Informationen positiven oder negativen instrumentellen Einfluss auf die Realisierung moralischer Prinzipien (z.B. Autonomie), Normen, Güter oder Werte (z.B. Leben, Gesundheit, Privatsphäre) hat - beziehungsweise wie diese durch die Verfügbarkeit von Informationen tangiert werden. 127 Axiologisch stellt Transparenz demzufolge keinen absoluten, intrinsischen Wert, 128 sondern einen instrumentellen Wert dar, welcher der Verwirklichung anderer Werte dient und gegenüber diesen verrechnet werden kann. 129 Nichtdestoweniger zeigt sich die Wirkmächtigkeit der positiven Konnotation von Transparenz darin, dass sie nur selten als legitimierungsbedürftig angesehen wird, während Intransparenz stets eine Begründung nach sich ziehen muss: Sie ließe sich lediglich bei der Verwirklichung höherer oder zumindest gleichwertiger Ziele legitimieren, z.B. bei der Realisierung allgemeiner Persönlichkeitsrechte oder dem Schutz der nationalen Sicherheit. 130 Wenngleich Transparenz ein evaluativ aufgeladener „dichter“ Begriff ist, 131 sollte aufgrund seiner ambivalenten axiologischen Bedeutung auf eine neutrale Definition geachtet werden. 132 127 Turilli/ Floridi (2009, 107) charakterisieren (informationelle) Transparenz als eine proethical condition, die auf zweierlei Weise Einfluss auf die Verwirklichung ethischer Prinzipien hat: „Information transparency is ethically enabling when it provides the information necessary for the endorsement of ethical principles (dependence) or […] when it provides details on how information is constrained (regulation). Conversely, ethical principles can be impaired if false details […] or inadequate or excessive amounts of information are disclosed.“ 128 Nach Taylor (1975) begründen sich intrinsische Werte unabhängig einer Beziehung zu anderen Werten und unabhängig der Folgen, die mit ihrer Realisierung verbunden sind; vgl. auch Zimmerman (2010). 129 Hierzu schreibt Heald (2006a, 59) treffend: „It is useful to conceptualize transparency as a set of contested relationships with other objects that themselves may be valued intrinsically and/ or instrumentally.“ In einer elaborierten Axiologie erfährt sie genau dann eine positive Wertigkeit, wenn bei ihrer Durchsetzung gesellschaftliche Werte wie Wissen, Effizienz etc. instrumentell gefördert werden, ohne zugleich Individualwerte wie Autonomie, Privatsphäre etc. zu beschneiden. Daher wird es als eine wichtige Aufgabe für Ethik, Recht und Politik angesehen, in einer demokratischen Gesellschaft Transparenz so sicherzustellen, dass die Individual- und Gesellschaftswerte gleichermaßen realisiert werden. 130 Vgl. etwa Bröhmer (2004). 131 Vgl. McDowell (1998), nach dem die deskriptive und evaluative Komponente von sog. thick ethical concepts (z.B. Wahrhaftigkeit) trotz analytischer Unterscheidbarkeit nicht voneinander zu trennen sind. 132 Analog dazu präferiert Bok (1984, 9) eine neutrale Definition des Begriffs der Geheimhaltung, der ebenfalls mit positiven und negativen Vorstellungen verbunden wird, wie z.B. Intimität, Privatsphäre, Betrug etc. <?page no="57"?> 1.3. Sprachanalytische Ergebnisse 53 1.3.3. Die präskriptive Verwendungsweise des Transparenzbegriffs Die Überlegungen zur evaluativen Verwendungsweise kulminiert in einem Sprachgebrauch, bei dem mit Transparenz eine dezidierte Forderung, d.h. ein normativ-präskriptives Urteil verbunden wird (z.B. „Sorgen sie endlich für mehr Transparenz und veröffentlichen sie die Informationen! “). Angesichts der Unmenge an Sachverhalten und Informationen, die potentiell transparent werden können, findet sich die präskriptive Verwendungsweise keineswegs willkürlich in allen denkbaren Kontexten bei unspezifiziertem Zielobjekt. Transparenzforderungen treten vielmehr dann in Erscheinung, wenn die Kenntnis von spezifischen Sachverhalten bzw. Informationen für eine Person oder Personengruppe (z.B. Bürger, Lobbyisten) von Relevanz ist. 133 Unter „Relevanz“ kann ganz allgemein die graduelle Bedeutsamkeit verstanden werden, die jemand den Sachverhalten und Informationen auf Grundlage von Einschätzungen und Vergleichen innerhalb des betreffenden Sach- oder Fachgebiets beimisst. 134 Hierbei ist zunächst von einer je individuellen Kriteriologie der Relevanz auszugehen, die sich einer Verallgemeinerung entzieht. Da zweifellos solche Sachverhalte bzw. Informationen als relevant angesehen werden, deren Kenntnis im weitesten Sinne Auswirkung auf das Leben und Handeln Einzelner und der Gemeinschaft hat, 135 lässt sich daraus eine allgemeine, intersubjektive, wenn auch hochschwellige Relevanzkriteriologie gewinnen. Demzufolge beziehen sich kontextuelle Transparenzforderungen meist auf Sachverhalte und Informationen, deren Kenntnis möglicherweise Einfluss auf anstehende Entscheidungen hat - und zwar Entscheidungen, die mit der Realisierung wichtiger lebens- und handlungsbezogener Güter im Zusammenhang stehen (z.B. Gesundheit, Umweltschutz, Sicherheit, Vermögen). 136 Abgese- 133 Entsprechend treten exzessive Transparenzforderungen immer mehr zugunsten gezielter und begrenzter Transparenzimperative (targeted transparency) in den Hintergrund; vgl. Fung u.a. (2008). 134 Vgl. die bildungssprachlichen Bedeutung von „Relevanz“ in: Brockhaus-Wahrig (1983, Bd. 5), sowie Kap. 2.3.1.2. 135 Vgl. Jasanoff (2006, 30f.), die Forderungen nach Offenheit bzw. Transparenz an die Handlungsrelevanz der Information bindet: „Openness […] is a concern only when someone who is outside a domain wishes to be or to look inside it. From this perspective, it is not surprising that the vast bulk of scientific activity is never subjected to demands for more transparency. […] The situation changes dramatically when the products of the lab bench, namely scientific claims and representations, are used to justify actions taken outside the spaces of research - for example in supporting a patent application, or in supporting or questioning a regulatory decision, or in charging a manufacturer or discharger with negligence.“ 136 Bei dieser (zugegeben anthropozentrischen) Kriteriologie wird lediglich beansprucht, dass viele Menschen ihr folgen und über sie eine konsensuelle Einigung erzielt werden kann. Wohlgemerkt bewegen wir uns bei den bisherigen Überlegungen zur normativen Verwendungsweise des Transparenzbegriffs ausschließlich auf der Ebene <?page no="58"?> 1. Terminologische Vorarbeiten 54 hen von diesen akuten Fällen beziehen sich Transparenzforderungen auf Sachverhalte und Informationen, die zwar nicht für konkrete Entscheidungen herangezogen werden, aber ihre Relevanz aufgrund einer dauerhaften Kontrollmöglichkeit von bestimmten Handlungs- und Verfahrensweisen gewinnen. Der Kreis schließt sich, sofern es sich meist um Handlungs- und Verfahrensweisen handelt, die wiederum Einfluss auf Leben und Handeln haben und daher kontrollierbar werden sollen. Erst unter Bezugnahme auf eine Relevanzkriteriologie, die ein begründetes Interesse an der Zugänglichkeit zu Sachverhalten bzw. Informationen bekundet, und der Voraussetzung, dass relevante Sachverhalte bzw. Informationen überhaupt zugänglich gemacht werden können, wird Transparenz zu einem moralischen Vorgang, der in den untersuchten Kontexten eingefordert wird. Was bedeutet dies für die bipolare Verwendungsweise von Transparenz? Ist mit ihr die Forderung der Zugänglichkeit zu relevanten Sachverhalten bzw. Informationen verknüpft, kristallisiert sich ein einheitliches normatives Gebrauchsmuster heraus: Eine Transparenzforderung impliziert genau dann eine formelle Zugänglichkeit zu Sachverhalten bzw. Informationen, wenn diese Zugänglichkeit den adressierten Personen oder Personengruppen in epistemischer und praktischer Hinsicht für das Erreichen der vorgegebenen Zielsetzung genügt. Als Beispiel kann die Transparenz von politischen Entscheidungsprozessen fungieren: Besteht das Ziel, diese demokratisch kontrollierbar zu machen, wird bei einer perzeptiv-formellen Transparenzforderung davon ausgegangen, dass die zugänglichen Informationen (z.B. über Gesetzgebungsverfahren, Prozesse der behördlichen Verwaltung) von bestimmten Personenkreisen (z.B. Bürger, Politik- und Rechtswissenschaftler) verstanden und genutzt werden können, damit das Ziel der Kontrollierbarkeit erreicht wird. In diesem Kontext, so lässt sich folgern, setzt die Forderung nach perzeptiv-formeller Zugänglichkeit die kognitiv-inhaltliche Verstehbarkeit von Informationen zumindest für eine bestimmte Anzahl von Personen voraus, die aufgrund ihrer Vorkenntnisse eine Kontrollfunktion auszuüben in der Lage sind. Die Transparenzforderung umfasst hingegen genau dann die kognitiv-inhaltliche Nachvollziehbarkeit von Sachverhalten bzw. Informationen, wenn berechtigter Zweifel besteht, dass die vorgegebene Zielsetzung durch perzeptiv-formelle Zugänglichkeit erreicht wird. Dies kann exemplarisch an Transparenzforderungen im juristischen Kontext belegt werden: Aufgrund der sprachlichen Komplexität z.B. von „Allgemeinen Geschäftsbedingungen“ ist der Gesetzesgeber zur Auffassung gekommen, dass eine perzeptiv-formelle Zugänglichkeit rechtsrelevanter Informationen die Durchsetzung individueller Rechte nicht garantiert, da der Moral, wenngleich diese Ergebnisse bei einer ethischen Begründung von Transparenzforderungen nicht ignoriert werden dürfen. <?page no="59"?> 1.3. Sprachanalytische Ergebnisse 55 sie weder verstanden noch verwendet werden können - in der Literatur spricht man trefflich von einer transparency illusion. 137 Daher wurden genau definierte Regulationen der Verständlichkeit rechtswirksamer Texte ergänzt. Im Unterschied zur politischen Transparenz soll das rechtliche Transparenzgebot eine Verwertbarkeit der Informationen von jedem Rechtssubjekt sicherstellen und nicht nur von einem bestimmten Personenkreis mit entsprechenden Vorkenntnissen. In Abhängigkeit vom definierten Kreis derer, denen ein Zugang zu ermöglichen ist, gilt nun folgendes Gebrauchsmuster: Kann von der Verständlichkeit einsehbarer Sachverhalte bzw. Informationen für externe Beobachter ausgegangen werden, wird der Transparenzbegriff auf die formelle Zugänglichkeit beschränkt; ist dies nicht der Fall, so erweitert sich der Forderungsbzw. Bedeutungsgehalt um die kognitiv-inhaltliche Dimension. Dies bedeutet, dass bei jeder normativen Verwendungsweise von Transparenz die formelle und inhaltliche Zugänglichkeit zu Sachverhalten bzw. Informationen im Sinne eines epistemischen „Transparenzideals“ erstrebt wird, wenngleich die konkreten Forderungen pragmatisch angepasst und nicht durchgehend expliziert werden. Erst unter dieser Voraussetzung sind die kontextuellen Transparenzforderungen funktional sinnvoll und können eine instrumentelle Kraft hinsichtlich der vorgegebenen Zielsetzung entfalten: die Aneignung der Sachverhalte bzw. Verwendung der Informationen, um etwa demokratische Kontrollfunktionen zu erfüllen (Politik) oder individuelle Rechte durchzusetzen (Recht). Denn letztlich implizieren die kontextuellen Zielsetzungen auf individueller Ebene wohlinformierte Entscheidungen autonomer Handlungssubjekte, die durch Transparenz ermöglicht werden soll. Wir fassen zusammen: Wurde der Ausdruck „Transparenz“ zunächst als ein mehrdeutiger Komplexbegriff eingeführt, der zwischen den Polen der perzeptiven und kognitiven Bedeutung changiert, kristallisiert sich spätestens bei der Analyse seiner normativen (d.h. evaluativen und präskriptiven) Gebrauchsweise heraus, dass es sich um einen epistemischen Idealbegriff handelt, der konzeptuell beide Bedeutungen in sich vereint. Normative Transparenz enthält stets (a) ein formelles Moment, welches durch die Offenlegung eines Sachverhaltes bzw. diesbezüglicher Informationen erfüllt werden kann, und (b) ein kognitiv-inhaltliches Moment, das sich auf die Verständlichkeit des Sachverhalts bzw. der Information bezieht, wobei die formelle Zugänglichkeit eine notwendige Voraussetzung für die inhaltliche ist. Insgesamt orientiert sich das Transparenzideal an der epistemischen Aneigbarkeit und praktischen Anwendbarkeit relevanter Sachverhalte bzw. Informationen. Dieser einheitliche Bedeutungsgehalt 137 Vgl. Heald (2006b, 26). Was eine transparency illusion ist, wird am Beispiel des deutschen Steuerrechts deutlich, dessen Mängel laut Kirchhof (1997, 87) in dem „Gestrüpp […] eines unübersichtlichen Normenwirrwarrs“ liegen. <?page no="60"?> 1. Terminologische Vorarbeiten 56 soll berücksichtigt werden, wenn nachfolgend verkürzt von Transparenz gesprochen wird. Wird Transparenz als ein epistemischer Idealbegriff eingeführt, sind eine paar Worte zur Konzeption nötig. Mit einem Ideal wird ein allgemeines und vollkommenes Ziel identifiziert, das man zwar anstreben, aber nicht erreichen kann. 138 Entsprechend stellt Transparenz ein graduelles Konzept mit unterschiedlichen Verwirklichungsgraden dar: Jeder Sachverhalt und jede Informationen kann auf formeller und inhaltlicher Ebene mehr oder weniger transparent sein; 139 alternative Zugangsmöglichkeiten können dabei miteinander verglichen werden. Eine solche Auffassung setzt freilich eine rationale Rekonstruktion des Ideals voraus, bei der - ähnlich dem epistemischen Konzept der Wahrheit - empirische Kriterien entfaltet werden, deren Berücksichtigung das Erstreben des idealen Transparenzziels verbürgen. 140 Trotz der unaufhebbaren Differenz zwischen dem vorgestellten Ideal der Transparenz und seiner Realisierbarkeit kommt ihm als regulatives Konzept eine handlungsleitende Funktion, ein „Soll-Charakter“ zu. 141 Dieses Ideal ist in empiriegesättigte, konkrete Handlungsimperative zu übersetzen, um für die Praxis funktionabel zu werden, wobei zweierlei zu berücksichtigen ist: Einerseits können keine einfachen Regeln erwartet werden, deren Befolgung mit der Realisierung des Ideals zusammenfallen könnte. 142 Das Transparenzideal zieht allenfalls „umrisshafte“ Normen nach sich, die einen konstruktiven Umgang im Sinne der praktischen Urteilskraft voraussetzen. 143 Andererseits sind die Handlungsimperative in pragmatischer Abstufung auf die situativen Gegebenheiten zu spezifizieren, um eine Realisierbarkeit zu ermöglichen und dennoch pars pro toto dem epistemischen Idealbegriff zu folgen. Entsprechend konnten wir beobachten, dass sich kontextspezifische Transparenzforderungen primär auf 138 Beispielsweise bei Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 596f. hat das Ideal keine empirische bzw. „objektive Realität (Existenz)“, sondern eine „praktische Kraft“ als intersubjektives regulatives Prinzip, welches die praktische Vernunft orientiert. Vgl. auch Forschner (2002b), der den Normbegriff in Rückgriff auf den Idealbegriff u.a. „als Grenzbegriff einer Eigenschaft im Status unüberschreitbarer Vollkommenheit [definiert], im Blick auf den empirische Gegenstände bzw. Handlungen als mehr oder weniger gelungene Annäherungen realisiert und beurteilt werden“. In moderner Bestimmung spricht Blasche (2008, 503) einem Ideal „die Bedeutung eines Ideators [zu], also eines (einstelligen) Prädikators, der (partikularen) Gegenständen höchstens annähernd zukommt, weil er von einem zweistelligen, dem Vergleich dienenden Prädikator […] abgeleitet ist, z.B. ‚glücklich‘ von ‚glücklicher als‘“. 139 Vgl. Longino (1990) für ein graduelles Konzept wissenschaftlicher Objektivität. 140 Diese Aufgabe wird in Kap. 2.3. verfolgt. 141 Vgl. Malter (1973), dessen Überlegungen für die Konzipierung des Transparenzideals leitend sind. 142 Darüber können auch nicht die genau determinierten Transparenzregelungen im juristischen Kontext hinwegtäuschen. 143 Zum „Umrisshaften“ der Normen später (Kap. 4.3.2.2.) mehr. <?page no="61"?> 1.3. Sprachanalytische Ergebnisse 57 die formelle Dimension des Transparenzideals beziehen, falls für Handlungssubjekte generell verständliche, relevante Informationen nicht verfügbar sind; sind formell zugängliche Informationen für Handlungssubjekte unverständlich, wird der normative Schwerpunkt auf die inhaltlich-kognitive Dimension, d.h. die Verstehbarkeit von Informationen verlagert. 144 Aufbauend auf diesen Überlegungen kann nun ein allgemeines Transparenzgebot (TG A ) eingeführt werden, welches dem Transparenzideal folgt und dazu auffordert, formellen (perzeptiven bzw. informationellen) und inhaltlichen (kognitiven) Zugang zu relevanten Sachverhalten und Informationen zu ermöglichen: TG A : „Ermögliche formellen und inhaltlichen Zugang zu relevanten Sachverhalten bzw. zu relevanten Informationen über dieselben! “ Aus der Perspektive einer negativen Handlungsanweisung ergibt sich ein allgemeines Verbot intransparenter Informierung (ITV A ), welches sich wie folgt liest: ITV A : „Verhindere weder formellen noch inhaltlichen Zugang zu relevanten Sachverhalten bzw. verheimliche und verschleiere keine relevanten Informationen über dieselben! “ Das allgemeine Transparenzgebot bzw. das Intransparenzverbot lässt sich zu einer allgemeinen Transparenznorm (TN A ) zusammenfassen, die bei einer normativen Gebrauchweise des Transparenzbegriffs in den unterschiedlichen Kontexten leitend ist. 145 Sofern sich die allgemeine Transparenznorm am epistemischen Transparenzideal ausrichtet, bedarf sie in ihrer Abstraktheit situativer Konkretisierungen, einschließlich der Explikation, wer - was - aus welchen Gründen - inwiefern transparent machen soll. 146 In dieser epistemischen Ausrichtung ist normative Transparenz besonders für Handlungssubjekte einschlägig, die keinen vorgängigen Bezug 144 Diese Position vertreten neben Heald (2006b) auch O’Neill (2006), Laud/ Schepers (2009) und Priddat (2010). 145 Ist nachfolgend von einer „Transparenznorm“ die Rede, umfasst sie die beiden genannten Ge- und Verbotsforderungen. Insbesondere bei der Begründung der Transparenznorm wird es erforderlich sein, die beiden Einzelforderungen separat zu betrachten. Wie sich noch zeigen wird, tragen beide Formulierungen unterschiedliche, ethisch relevante Implikationen. 146 Dies wird für den Kontext der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschung in Kap. 3 und 4 erfolgen. <?page no="62"?> 1. Terminologische Vorarbeiten 58 und keine Vorkenntnisse zu Sachverhalten bzw. Informationen aufweisen können. 147 1.4. Soziologische Ergebnisse: Der relationale Transparenzbegriff und seine Hauptelemente 1.4. Soziologische Ergebnisse Nach der lexikalisch-kontextuellen Bedeutungsanalyse des Transparenzbegriffs, bei der eine zweigliedrige normative Definition gewonnen werden konnte, steht im nächsten Schritt eine soziologische Untersuchung des Transparenzphänomens bzw. seiner konstitutiven Elemente an. Diese Herangehensweise rechtfertigt sich dadurch, dass der Transparenzbegriff in lebensweltlichen Zusammenhängen (a) stets in Relation zu sozialen Akteuren verwendet wird (d.h. ein Sachverhalt wird für jemanden transparent oder nicht) und eine spezifische Konstellationen zwischen sozialen Akteuren voraussetzt, die Transparenz einfordern bzw. gewähren können; und (b) überwiegend auf soziale Entitäten (Sachverhalte) bezogen wird, die aus Interaktionen innerhalb sozialer Systeme hervorgehen (z.B. Produkte und Ergebnisse wirtschaftlicher Unternehmen). Hierbei gilt, dass Transparenz (und Opazität gleichermaßen) unabhängig vom gewählten soziologischen Ansatz - Ausgangspunkt kann entweder die Gesellschaft und ihre Strukturen (sociology of social system) oder der individuelle Akteur und seine Handlungen (sociology of social action) sein - 148 als Funktional sozialer Interaktionen interpretiert wird. 149 Die nachfolgende soziologische Rekonstruktion 147 Dies im Gegensatz zu Jasanoff (2006, 30), die eine solche Transparenzdefinition als normativ zu anspruchsvoll und überflüssig ansieht, da zugängliche Sachverhalte bzw. Informationen ausschließlich für diejenigen Personen relevant sind, die einen kognitiven Bezug herstellen können (z.B. Experten). 148 Einführend zu den beiden Ansätzen vgl. Miebach (2010, 24ff.) und Abels (2009, 73f.). 149 Z.B. lehrt die Systemtheorie von Luhmann (1988), dass Systeme auf Informationen über fremde Systemzustände und deren Übergänge (Ereignisse und Prozesse) angewiesen sein können, um sich in einer wandelbaren Umwelt zu erhalten (102f. und 290). Andererseits wird bei komplexen Systeminteraktionen lediglich die partielle Durchsichtigkeit und Durchlässigkeit von Systemgrenzen bei operativer Geschlossenheit zur Stabilisierung einer „System-Umwelt-Differenz“ erreicht (242). Wenn also zwei Systeme interagieren, bestimmt jedes sein Verhalten durch komplexe selbstreferentielle Operationen innerhalb der eigenen Grenzen: „Das, was […] sichtbar wird, ist deshalb notwendig Reduktion. […] Deshalb bleiben die black boxes bei aller Bemühung und bei allem Zeitaufwand […] füreinander undurchsichtig.“ (156) Intransparenz stellt nicht nur eine systemtheoretisch unhintergehbare Begleiterscheinung struktureller Kopplungen dar, sondern einen funktionalen Grundzustand, der zur Reduktion von Komplexität beiträgt. Nach der klassischen Vertrauenstheorie von Simmel (1992, 392) konstituieren sich vertrauensvolle zwischenmenschliche Beziehungen in einem Spannungsverhältnis zwischen Wissen und Nichtwissen, zwischen Offenbaren und Geheimhalten. <?page no="63"?> 1.4. Soziologische Ergebnisse 59 der Hauptelemente von Transparenz findet vor der Zielsetzung statt, ein begriffliches Instrumentarium einzuführen und verfügbar zu machen, das auf verschiedene Kontexte anwendbar ist und bei den anschließenden Untersuchungsschritten vorausgesetzt werden kann. 1.4.1. Transparenzsuchende und Transparenzvermittler Der Vorgang der Transparentwerdung erfordert zwei Akteursbzw. Personengruppen, die im Folgenden idealtypisch beschrieben werden: 150 Als Transparenzsuchende 151 werden soziale Akteure bezeichnet, die durch Zugangsbarrieren zu fremden Systemen keinen hinreichenden Zugang zu Sachverhalten haben, die innerhalb eines Systems vorliegen, aber diesen Zugang aus unterschiedlichen Gründen anstreben. Das Transparenzinteresse ist in der Regel bei solchen Sachverhalten groß, deren Kenntnis auf anstehende Entscheidungen Einfluss hat; Transparenz soll den Transparenzsuchenden bei Kenntnis der Sachlage eine selbstständige, wohlinformierte Entscheidung ermöglichen bzw. zumindest ermöglichen, die stellvertretenden Entscheidungen Anderer (z.B. der Transparenzvermittler) beurteilen zu können. 152 Damit Transparenz überhaupt zum Thema wird, muss bei den Transparenzsuchenden zumindest die Kenntnis darüber bestehen, dass Sachverhalte vorliegen, die für die Transparenzsuchenden möglicherweise von Interesse sind, wenn nicht sogar eine konkrete Vorstellung darüber besteht, was die intransparenten Sachverhalte sind. Wird in der Literatur zwischen einer einfachen und einer reflexiven Intransparenz unterschieden - im ersten Fall besteht Intransparenz über den Sachverhalt als solchen, während im zweiten Fall auch die Tatsache der diesbezüglichen Intransparenz im Verborgenen bleibt 153 - ist für Transparenzsuchende das Vorliegen einer „einfachen“ Transparenz vorauszusetzen. Ihre mehr oder weniger vagen Kenntnisse über die Transparenzobjekte sind entweder auf die Durchlässigkeit der graduellen Zugangsbarrieren zurückzuführen, die je nach Eigentransparenz Einblicke von außen ermöglichen, oder auf interne Informationen. Das Bestehen eines Einsichtsbzw. Informationsinteresse wird in Form einer Erwartungshaltung bzw. Aufforderung an diejenige Personengruppe ausgedrückt, die den Zugang kontrolliert. Da 150 Vgl. Fung u.a. (2008, 53), die ähnlich zwischen zwei transparenzinvolvierten Personengruppen unterscheiden. 151 In der Literatur werden alternative Termini verwendet, wie z.B. Außenseiter (outsider), Benutzer (user von Informationen) oder Laien. Der Begriff des Laien wird in Kap. 4.2.5. erläutert. 152 Vgl. Fung u.a. (2008, xiv). Florini (2007a, 5) definiert Transparenz als „degree to which information is available to outsiders that enables them to have informed voice in decisions and/ or to assess the decisions made by insiders.“ 153 Vgl. Sievers (1974, 26ff.). <?page no="64"?> 1. Terminologische Vorarbeiten 60 Transparenz nicht ohne ein individuelles Wahrnehmungsbzw. Verständnisurteil denkbar ist, wird die Qualifizierung eines Sachverhalts als transparent hauptsächlich von der Beurteilung der Transparenzsuchenden abhängig gemacht. Als Transparenzvermittler 154 wird die Personengruppe bezeichnet, die diejenigen Sachverhalte kennt, die für Transparenzsuchende von Interesse sind, und die ihre Zugänglichkeit kontrolliert. Deren Kenntnis- und Kontrollmöglichkeit ist hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass sie als systeminterne Gestalter diese Sachverhalte sozial-interaktiv bzw. poietischhandelnd hervorbringen. Doch auch anderen Akteuren des betreffenden Systems (z.B. Vorgesetzte, Mitglieder einer Regierung, eines Wirtschaftunternehmens etc.) kann eine Kontrollfunktion über die Verbreitung diesbezüglicher Informationen zukommen. Transparenz geht letztlich aus der Ermöglichung der formellen und inhaltlichen Zugänglichkeit zu Sachverhalten bzw. diesbezüglichen Informationen durch die Transparenzvermittler an die Transparenzsuchenden hervor. Beide Formen können entweder passiv, d.h. lediglich auf Nachfrage gewährt, oder aktiv vermittelt werden. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass für Transparenzsuchende nur dann etwas transparent wird, wenn Transparenzvermittler einen adäquaten Zugang bzw. adäquate Informationen vermitteln (und z.B. keine Fehlinformationen streuen). Das Vorkommen der beiden Personengruppen der Transparenzsuchenden und -vermittler lässt sich soziologisch auf die funktionale Differenzierung und Arbeitsteilung bei Effizienzsteigerung der jeweiligen Aufgabenerfüllung in der modernen Gesellschaft zurückführen. Dem rezipientenseitigen Interesse, mittels Transparenz Kenntnis über Sachverhalte bzw. Informationen für Entscheidungen zu gewinnen, kann das mehr oder weniger begründete Interesse der Transparenzvermittler entgegenstehen, die Kontrolle über Informationen behalten zu wollen bzw. sogar deren Zugang in Abhängigkeit zu den jeweils relevanten Transparenzobjekten zu verhindern. 155 Vor diesem Hintergrund ist eine signifikante soziale Transparenzkonstellation begründet, die beim Kenntnisvorsprung der Transparenzvermittler bezüglich systeminterner Sachverhalte gegenüber den Transparenzsuchenden ihren Ausgang nimmt. Denn sofern Informationen respektive Wissen eine wichtige Handlungsressource darstellen, ist mit dem Kenntnisvorsprung ein Machtgefüge installiert, welches sich in konkreten Hand- 154 In der Literatur ist von Eingeweihten (insider), Veröffentlichenden (discloser) oder Experten die Rede; vgl. z.B. Heald (2006b), der solche Personengruppen, die Transparenz herstellen können, als „expert insiders“ bezeichnet; Bok (1984) und Florini (2007a) sprechen von „Eingeweihten“ (insider) bzw. „Außenseiter“ (outsider). Zum Begriff des Experten vgl. Kap. 4.2.5. 155 Diese Gefahr der Machtausnutzung betont Bok (1984, 25) für den Vorgang der Geheimhaltung. <?page no="65"?> 1.4. Soziologische Ergebnisse 61 lungsoptionen der Transparenzvermittler niederschlägt: 156 Sie können entscheiden, welches Wissen sie für sich behalten oder weitergeben und strukturieren - mit Foucault gesprochen - „das Feld möglichen Handelns der anderen“. 157 Transparenzvermittler haben zudem Einfluss darauf, worüber sie Rechenschaft gegenüber Transparenzsuchenden ablegen müssen, was insbesondere bei fehlerhaften oder unmoralischen Praktiken relevant sein kann. Wissen erscheint in diesem Zusammenhang als Machtmittel, durch dessen Gewähr Autorität ausgeübt, Interessen durchgesetzt und Handlungen beeinflusst werden. 158 Da durch perzeptive bzw. informationelle Transparenz der Wissensvorsprung der Transparenzvermittler zumindest partiell und temporär aufgehoben wird, ist jene als wichtiges Instrument zur Egalisierung asymmetrischer Beziehungen anzusehen, wenngleich in begrenztem Maße: Die externe Einsicht in einen Sachverhalt bleibt von der Kontrolle der Transparenzvermittler abhängig, wodurch eine latente Asymmetrie zwischen internen Gestaltern und externen Rezipienten dauerhaft persistiert. 159 Es liegt in der Hand der Transparenzvermittler, Zeitpunkt und Reichweite des Zugangs zu bestimmen, was zudem strategisch gewählt werden kann. 160 Davon abgesehen besteht auf Seiten der Transparenzsuchenden bei der häufigen Form der reflexiven Intransparenz meist kein Bewusstsein hinsichtlich der bestehenden Asymmetrie, wenngleich diese eine massive Form der Machtausübung darstellt. Die Charakterisierung der für Transparenz typischen Machtkonstellation soll jedoch nicht über drei Aspekte hinwegtäuschen: Erstens geht nicht mit jeder Form der Machtausübung zugleich ein Machtmissbrauch ein- 156 Die Gleichsetzung von Wissen und Macht geht auf Bacon (1990, Bd. 1, 65) zurück, nach dem empirisches (Ursachen-) Wissen den Menschen ermächtigt, über die Natur zu verfügen und Veränderungen herbeizuführen. 157 Foucault (1987, 257), der an anderer Stelle (254) schreibt, dass Machtverhältnisse nicht direkt auf andere einwirken, „sondern eben auf deren […] mögliche oder wirkliche, künftige oder gegenwärtige Handlungen.“ Nach Luhmann (2000, 394f.) besteht eine Machtausübung bzw. der Versuch einer externen Systemsteuerung in der Einführung einer Differenz zu den zu erwartenden Systemzuständen; aufgrund der Autopoiesis bestünde allerdings die Möglichkeit, die eingeführte Differenz durch die laufenden Prozesse der Systemreproduktion zu modulieren. Im Unterschied zu Foucault und Luhmann wird Macht nicht als subjektlos wirkendes Phänomen sozialer Beziehungen angesehen, sondern als konkrete Option sozialen Handelns. 158 Vgl. Imbusch (2006), der zwischen Machtquellen, Machtmitteln, Formen der Machtausübung und Wirkmechanismen der Macht als unterschiedlichen Dimensionen differenziert. Unterscheidet Popitz (1992) vier Grundtypen von Macht, ist Intransparenz primär der „autoritativen“ als verhaltenssteuernden Macht zuzuordnen. 159 In diesem Sinne charakterisiert Bok (1984, 19) den Vorgang der Geheimhaltung. 160 Vgl. Heald (2006b, 35f.). <?page no="66"?> 1. Terminologische Vorarbeiten 62 her. 161 Zweitens besteht gleichermaßen die Möglichkeit einer von der Personengruppe der Transparenzsuchenden ausgehenden inversen Machtausübung und der Etablierung einer umgekehrten Asymmetrie, 162 sofern der externe Personenkreis durch Transparenz u.U. eine Kontrollmöglichkeit über das systemkonforme Handeln der beteiligten Akteure erhält. 163 Drittens bestehen neben den personalen Formen der Machtsausübung, bei denen das Machtverhältnis als beeinflussbare Größe erscheint (z.B. durch das strategische Zurückhalten von Informationen zur Maximierung des individuellen Nutzens), auch strukturelle, anonyme Formen, bei denen ein intentionaler Umgang nicht vorausgesetzt werden kann (z.B. durch die Verwendung einer systemeigenen Sprache). Mit Transparenz kann letztlich sowohl eine Konstruktion als auch eine Dekonstruktion komplexer interpersonaler, institutioneller und gesellschaftlicher Machtstrukturen verbunden sein. Nach den einschlägigen Personengruppen sollen nun Transparenzobjekte genauer analysiert werden, zu denen die Transparenzsuchenden Zugang erhalten möchten. 1.4.2. Transparenzobjekte Bei der lexikalischen Bedeutungsanalyse wurde herausgearbeitet, dass sich der lebensweltliche Transparenzbegriff allgemein auf Sachverhalte bezieht, die durch Zugangsbarrieren verdeckt sind und durch einen gesonderten Akt transparent werden sollen. Damit ist eine sehr weitläufige Beschreibung der Transparenzobjekte gelungen, die nachfolgend zu spezifizieren ist: Aus einer soziologischen Perspektive wird der Transparenzbegriff meist auf Vorgänge (Abläufe, Prozesse, Operationen) und damit verbunde- 161 Dies betont Han (2012b, 31) zurecht: „Die Macht an sich ist nicht diabolisch. Sie ist in vielen Fällen produktiv […]. Sie generiert einen Frei- und Spielraum zur politischen Gestaltung der Gesellschaft.“ 162 Foucault (2007) beschreibt Überwachungspraktiken der modernen Disziplinargesellschaft (sinnbildlich im Panoptikum) eindrucksvoll als Machtfaktor, die auf Transparenz basieren. Wenn Stenger (2001) Transparenz als „Durchsichtigkeit und Durchlässigkeit von Machtstrukturen und Entscheidungsprozessen“ definiert, erfasst er somit nur eine mögliche Funktionsweise und zugrunde liegende Akteurskonstellation. 163 Für Heald (2006a, 64) stellt Transparenz ein „instrument of external hierarchical control […] through opportunistic intervention in forms conductive to blame deflection“ dar, was nach Imbusch (2006, 167) wiederum als eine Form der Machtausübung aufgefasst werden kann. Heald (2006b, 27f.) unterscheidet vier Richtungen von Transparenz, die ihrerseits Machtgefälle organisieren: Zur vertikalen Transparenz gehören die (a) aufwärts bzw. (b) abwärts gerichtete Transparenz: Der hierarchisch Höherstehende ist in der Lage, die Prozesse und/ oder Ergebnisse des Untergeordneten zu beobachten bzw. umgekehrt. Zur horizontalen Transparenz gehören die (c) nach außen bzw. (d) nach innen gerichtete Transparenz: Die Mitglieder einer Organisation können beobachten, was außerhalb geschieht bzw. umgekehrt. Erst bei gleichzeitiger Anwesenheit aller vier Richtungen bestünde eine symmetrische Transparenz. <?page no="67"?> 1.4. Soziologische Ergebnisse 63 ne Ziele, Pläne, Strategien und Methoden innerhalb sozialer Systeme bezogen, die den Trägern des Systems, den internen Akteuren, bekannt sind. 164 Sofern Systeme über Prozesse von Operationen und Anschlussoperationen definiert werden, 165 die sich zu relativ stabilen Strukturen - etwa auf Grundlage von Normen, Rollen, Schemata etc. - verdichten können, stellen diese ein Abgrenzungskriterium gegenüber der Umwelt dar, die ihrerseits aus strukturierten Systemen besteht. Solche systemischen Abläufe, die für systemexterne Beobachter aufgrund der Systemgrenzen nicht oder nur erschwert durchschaubar bzw. nachvollziehbar erfolgen, stellen ein wichtiges Transparenzobjekt dar, wozu der Begriff der Vorgangstransparenz eingeführt wird. Nicht zufällig wird bei funktional ausdifferenzierten und hochgradig spezialisierten Interaktionen in der (Wissens-)Gesellschaft der Ruf nach diesbezüglicher Transparenz laut. Ihre sprachliche Attribuierung tritt somit zunehmend in Situationen und Kontexten in Erscheinung, in denen Vorgänge innerhalb sozialer Systeme zu komplex sind, um von Außenstehenden beobachtet bzw. nachvollzogen werden zu können. Gerade diese Komplexität, d.h. Vielschichtigkeit und Vernetztheit systemischer Vorgänge führt dazu, dass sich das Interesse in vielen Fällen auf die daraus resultierenden Ergebnisse (Produkte) beschränkt. Diesbezügliche Transparenz wird nachfolgend als Ergebnistransparenz bezeichnet. 166 Eine dichotome Gegenüberstellung von Vorgangs- und Ergebnistransparenz, bei der das jeweilige Pendant für außenstehende Beobachter definitorisch verborgen bleiben kann, stößt an ihre Grenze, wenn die Transparenz des Ergebnisses an diejenige der Vorgänge gebunden ist: In Fällen, bei denen erst das 164 Vgl. Florini (1998) definiert Transparenz als die Offenlegung interner Prozesse an die externe Welt. Beispielsweise wird der Transparenzbegriff in der Rechts- und Politikwissenschaft auf die Sichtbarmachung behördlicher Vorgänge bezogen; vgl. z.B. Huerkamp (2010). Die Analyse der Transparenzobjekte wird auch in den nachfolgenden Anmerkungen anhand von Beispielen illustriert. 165 Vgl. Miebach (2010, 202 und 347). Da es sich bei den prozeduralen Abläufen eines Systems meist um festgelegte Verfahren handelt, die nach definierten Regeln ablaufen und bei denen die Genese der Ergebnisse entscheidend von der Regulierung der Abläufe geprägt ist, kann bei deren Durchschaubarkeit besser von einer Verfahrensanstatt der übergeordneten Vorgangstransparenz gesprochen werden; vgl. Bröhmer (2004), der zwischen einer Verfahrens- und Ergebnistransparenz im juristischen Kontext unterscheidet. 166 Z.B. bezieht der Wirtschaftswissenschaftler Junkernheinrich (2010) seine Transparenzforderung im Sinne der Ergebnistransparenz auf die Offenlegung von Schulden bei behördlichen Vorgängen. Heald (2006b, 29f.) unterscheidet stattdessen zwischen process und event tranparency: Stehen bei der event transparency inputs, outputs oder results im Fokus, welche punktuell beobachtet werden können, geht es bei seiner process transparency um operationale Aspekte, die die einzelnen Ereignisse (events) miteinander verbinden. Da bei der event transparency aus pragmatischen Gründen hauptsächlich die Ergebnisse eines Prozesses interessieren, wird sein Modell modifiziert und zwischen einer Vorgangs- und Ergebnistransparenz differenziert. <?page no="68"?> 1. Terminologische Vorarbeiten 64 Ergebnis nachvollzogen werden kann, wenn die angewandten Verfahren eines Systems en detail sichtbar sind. 167 Darüber hinaus sind Mischformen aus beiden genannten Typen denkbar, wenn beispielsweise der äußere Rahmen eines Verfahrens transparent festgelegt, aber die konkrete Entscheidungsfindung intransparent gehalten wird. 168 Eine weitere Form von Transparenz, die sich auf Zustände und Eigenschaften eines Systems bezieht, spielt bei Gütern und Produkten im Bereich des Konsums, der Gesundheit und Sicherheit eine große Rolle. 169 Diese Form von Transparenz soll in der vorgeschlagenen Transparenz-Taxonomie als Eigenschaftstransparenz bezeichnet werden, so dass wir es mit einer Triade aus Prozess-, Ergebnis- und Eigenschaftstransparenz zu tun haben. 170 Sofern die transparenzrelevanten Objekte (Vorgänge, Ergebnisse und Eigenschaften) mit dem Begriff des Sachverhalts zusammengefasst werden können, geht es bei Transparenz letztlich um eine Zugänglichkeit zu Sachverhalten. 171 Wie wir gesehen haben, wird der Ausdruck „Transparenz“ in lebensweltlichen Zusammenhängen primär auf Phänomene bezogen, die aus Interaktionen innerhalb sozialer Systeme hervorgehen. Hierbei handelt es sich zwar überwiegend um soziale Phänomene, die bereits vorliegen, für die Systemträger bekannt sind und nun einem systemexternen Publikum zugänglich gemacht werden, was aber nicht ausschließt, dass diesbezügliche Informationen zunächst erhoben werden müssen. 172 Nach der Erörterung typischer Transparenzobjekte wenden wir uns nun den Transparenzmethoden zu, mit deren Hilfe die bestehenden Zugangsbarrieren zu Vorgängen, Resultaten und Eigenschaften durchdrungen werden sollen. 167 Vgl. z.B. die Informationswissenschaftler Turilli/ Floridi (2009), die sich für die Transparenz der Datengewinnung und -verarbeitung einsetzen, ohne deren Nachprüfbarkeit die Validität nicht sicherzustellen sei. Transparency International fordert zur Bekämpfung von Korruption Vorgangs- und Ergebnistransparenz ein; vgl. http: / / www.transparency.org/ news_room/ faq/ corruption_faq, Zugriff am 7.10.2010. 168 Beispiele lassen sich in der Justiz im Gerichtsverfahren (transparente Verkündigung und Begründung des Urteils bei geheimer Beratung über die Entscheidung) und in der Politik in den Gesetzgebungsverfahren (Ausarbeitung von Gesetzesvorlagen in nichtöffentlichen Ausschusssitzungen, Verabschiedung in einer öffentlichen Sitzung des Bundestages und Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt) finden. 169 Vgl. z.B. Jank (2007), der Transparenz als Eigenschaftstransparenz im Sinne der Sichtbarkeit von gentechnisch veränderten Lebensmittelbestandteilen versteht. 170 Vgl. die analoge Unterscheidung beim verwandten Öffentlichkeitsbegriff, der nach Wimmer (2004) die „Zugänglichkeit und Wahrnehmbarkeit von Zuständen, Vorgängen und Ereignissen für jedermann“ meint. 171 Die vorgängigen Überlegungen in Kap. 1.1. werden hierbei aufgenommen. 172 Z.B. kann ein Unternehmen durch eine gesetzliche Verordnung angehalten werden, bestimmte Eigenschaften von Lebensmitteln (etwa toxische Bestandteile) zu untersuchen und zu veröffentlichen; vgl. Fung u.a. (2008, 43). <?page no="69"?> 1.4. Soziologische Ergebnisse 65 1.4.3. Transparenzbarrieren und Zugangsmöglichkeiten zu Transparenzobjekten Der Transparenzbegriff wird auf systemische Vorgänge, Ergebnisse oder Eigenschaften bezogen, die durch Zugangsbarrieren für Transparenzsuchende nicht unmittelbar perzeptiv bzw. kognitiv zugänglich sind. Da es sich bei den Transparenzobjekten um soziale Phänomene handelt, die aus Handlungen systeminterner Akteure hervorgehen, kann deren Zugänglichkeit von den Systemträgern prinzipiell hergestellt werden. Hierzu müssen die internen Akteure, die als Transparenzvermittler in Erscheinung treten, bestimmte Maßnahmen ergreifen. Wenngleich der Transparenzbegriff sowohl auf das Resultat der Zugänglichkeit (epistemische Transparenz der Sachverhalte) als auch auf die Methoden und Praktiken zur Erreichung der Zugänglichkeit bezogen werden kann (transparentes Beobachten oder Informieren), 173 ist der resultative Erfolg der Transparenzvermittlung aus der Perspektive der Transparenzsuchenden entscheidend: Es kann nur dann von Transparenz gesprochen werden, wenn diese den Eindruck gewonnen haben, etwas sei formell und inhaltlich transparent (geworden). Hängt Transparenz wesentlich von der Beurteilung der Transparenzsuchenden ab, ist zu deren Erreichen die geeignete Methode durch die Transparenzvermittler auszuwählen. Es stehen hauptsächlich zwei Zugangsmöglichkeiten zur Verfügung - Beobachten (perzeptive Transparenz) und Kommunizieren (informationelle Transparenz) -, die nachfolgend als Transparenzmethoden erläutert werden: 174 (1) Eine Zugangsmöglichkeit zu einem bislang intransparenten Sachverhalt besteht darin, Transparenzsuchenden einen direkten physischen Zugang zu gestatten, wodurch diese selbstständig in der Lage sind, die Transparenzobjekte unvermittelt zu beobachten (perzeptive Transparenz). Sie können sich beim Beobachtungsprozess den Sachverhalten zuwenden, die für sie von Relevanz sind. Unter dieser Voraussetzung müssen die Transparenzobjekte von systeminternen Transparenzvermittlern zumindest formell zugänglich gemacht werden. 175 Transparenzsuchende als externe Beobachter wohnen hierbei über einen gewissen Zeitraum internen Abläufen 173 Vgl. analog dazu die Unterscheidung zwischen Methode und Resultat der Geheimhaltung bei Bok (1984, 6). 174 Vgl. Munthe/ Welin (1996, 414), bei denen diese zweiteilige Transparenzmethodologie zu finden ist. 175 Vgl. Luhmann (2004, 141ff.), der den Beobachter als unhintergehbares System bzw. das Beobachten als grundlegende Operation eines Systems beschreibt. An anderer Stellle (ders. 1988, 246f.) unterscheidet er „interne“ und „externe“ Beobachtung anhand der System-Umwelt-Differenz. In diesem Sinne sollen unter „externe“ Beobachter Akteure der Umwelt verstanden werden, die aufgrund der operativen Geschlossenheit des fremden Systems die systemischen Operationen „nach intern produzierten und prozessierten Regeln“ (Willke 2006, 61) nicht kennen. <?page no="70"?> 1. Terminologische Vorarbeiten 66 kontinuierlich bei, weshalb von einer „Echtzeit-Transparenz“ gesprochen werden kann, die von Transparenzvermittlern hergestellt wird. 176 Im Unterschied zur Transparenzmethode der Kommunikation 177 ist die Methode der Beobachtung weniger für eine Ergebnis- oder Eigenschaftstransparenz, sondern primär für eine Transparenz systemischer Vorgänge geeignet. Abgesehen von immensen zeitlichen und finanziellen Erfordernissen stößt sie spätestens bei Sachverhalten an ihre Grenzen, die keine direkte Beobachtung zulassen. 178 Betrachtet man die Methode unter dem Aspekt der individuellen Anforderungen an Transparenzvermittler und -suchende, sind folgende Unterschiede festzustellen: Bei der perzeptiven Transparenz, sofern sie überhaupt in Reinform ohne Informationszugabe durch Transparenzvermittler vorliegt, sind die Transparenzvermittler mit minimalen Anforderungen konfrontiert. Sie müssen Sachverhalte lediglich formell zugänglich machen, ohne dass damit ein aktiver Beitrag der Vermittlung verbunden wäre. Unter der Prämisse, dass Transparenzsuchende die epistemische Aneignung von Sachverhalten und praktische Anwendung des dabei gewonnenen Wissens erstreben, bestehen für die Transparenzsuchenden hingegen hohe Anforderungen. Eine zielführende perzeptive Transparenz setzt eine Beobachtungskompetenz bzw. daran geknüpfte Wissensbestände voraus, die nicht jeder Transparenzsuchende aufweist. 179 Die Erfüllung dieser Voraussetzungen ist in einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft, in der systemische Vorgänge weitestgehend unbekannt sind, nicht zu erwarten. Mit Ausnahme von Systemkennern, die ein bestimmtes Vorwissen bezüglich der beobachtbaren Sachverhalte haben, werden systemexterne Beobachter kaum eine kognitive Zugänglichkeit zu den beobachtbaren Sachverhalten erreichen, sondern sind auf weitere Hilfestellungen, d.h. Informationen durch interne Transparenzvermittler angewiesen. Letztlich ist 176 Vgl. Heald (2006b, 32), der bei seiner Transparenztypologie zwischen einer Transparency in Real Time vs. Transparency in Retrospect unterscheidet. Vorstellbar ist etwa, dass Interessenten den Abläufen einer Verwaltungsbehörde oder den Versuchsabläufen in einer wissenschaftlichen Institution beiwohnen. Eine Ergebnis- und Eigenschaftstransparenz wird idealtypisch durch die zweite Transparenzmethode der Kommunikation hergestellt. 177 Siehe weiter unten. 178 Bestimmte Vorgänge sind nur durch eine instrumentelle Beobachtung zugänglich, wie am Beispiel der Lebensmitteldeklaration deutlich wurde. 179 Willke (2005, 12f.) nennt zwei notwendige Fähigkeiten des Beobachters für eine kompetente Beobachtung: „[Z]um einen elaborierte Möglichkeiten, überhaupt [gegenstandsbezogene] Unterschiede feststellen zu können und zum anderen elaborierte Möglichkeiten, aus den festgestellten Unterschieden Bedeutungen abzuleiten“. Vielen systemexternen Beobachtern fehlen diese Fähigkeiten: „Alles, was Laien von Experten unterscheidet, ist die Kunst der genaueren Beobachtung. Die Expertin sieht […] Abweichungen, Besonderheiten, Unregelmäßigkeiten, Auffälligkeiten, die der Novizin verschlossen bleiben.“ <?page no="71"?> 1.4. Soziologische Ergebnisse 67 die Transparenzmethode der Beobachtung an schwer erfüllbare Prämissen gebunden und wird daher häufig durch die Methode der Kommunikation ersetzt, der wir uns nun zuwenden. (2) Die zweite Zugangsmöglichkeit zu intransparenten Sachverhalten besteht darin, dass kundige Transparenzvermittler Informationen an externe Transparenzsuchende durch Kommunikation vermitteln (informationelle Transparenz). Unter Information soll vorläufig der Bedeutungsgehalt von Kommunikationsprozessen verstanden werden, der hinsichtlich der drei genannten Typen von Transparenzobjekten spezifizierbar ist (Prozess-, Ergebnis- oder Eigenschaftsinformationen). 180 Transparenzvermittler, die in regelmäßigen Intervallen Informationen an die externen Transparenzsuchenden weitergeben, erzeugen dabei ausschließlich eine „retrospektive Transparenz“. 181 Der systemische Ablauf besteht dann aus einem Zeitraum intransparenter Operationen, der turnusgemäß von einem Zeitraum der Informationsvermittlung abgelöst wird, bevor der Zyklus von vorne beginnt. Nach dem Zeitraum der kommunikativen Informationsweitergabe können sich das soziale System bzw. dessen Akteure wieder vollständig den internen Aktivitäten zuwenden. Durch den punktuellen Ereignischarakter einer Informierung ist der Typ der informationellen Transparenzvermittlung primär für die Zugänglichkeit zu Ergebnissen und Eigenschaften bereits laufender oder abgeschlossener Vorgänge geeignet. 182 Im Unterschied zur perzeptiven Transparenzmethode, bei der sich ein Transparenzsuchender dem relevanten Transparenzobjekt selbstständig zuwendet, impliziert die Methode der informationellen Transparenz hohe Anforderungen auf Seiten des kundigen Transparenzvermittlers, da dieser stellvertretend für den Transparenzsuchenden die Sachverhalte beobachten, beschreiben und vermitteln muss. Informationelle Transparenz leitet sich hierbei von perzeptiver Transparenz ab: Wird die direkte Wahrnehmbarkeit von Sachverhalten als „Originalmodus“ des Transparenzsettings aufgefasst, haben sich die vermittelten Informationen qualitativ und quantitativ an die potentielle Situation einer selbstständigen Beobachtung auszurichten. In dem abgeleiteten Modus informationeller Transparenz muss eine systemexterne Person durch Informationen „Einblicke“ in einen Sachverhalt gewinnen können, als ob sie diesen selbstständig beobachten könnte. Da nicht jede Information dazu gereicht, einen Sachverhalt transparent werden zu lassen, ist eine 180 Eine weitere Qualifizierung des Informationsbegriffes wird in Kap. 2.2. unternommen. 181 Da in vielen Institutionen nicht nur über vergangene oder gegenwärtige, sondern auch über geplante Prozesse informiert wird, ist der Vollständigkeit halber besser von einer pro- und retrospektiven Transparenz zu sprechen. Heald (2006b, 33) ist dies zwar bewusst, er verwendet dennoch den Begriff Transparency in Retrospect. 182 Indem Luhmann (1988, 102) Information als ein Ereignis bezeichnet, das Systemzustände auswählt, wird die Abgrenzung zur Vorgangstransparenz deutlich. <?page no="72"?> 1. Terminologische Vorarbeiten 68 Kriteriologie zu entwickeln, auf deren Grundlage eine Information überhaupt als transparenzvermittelnd qualifiziert werden kann. 183 Die Einführung eines bereits erwähnten Relevanzkriteriums bei der Informationsvermittlung dient als Brücke, um den Graben zwischen einer unmittelbaren Transparenz von Sachverhalten durch Beobachtung und der bloß vermittelten Transparenz durch sachbezogene Informationen zu schließen. Die Aufgabe der informationellen Transparenzvermittlung, die in der Gewinnung und verständlichen Vermittlung sachbezogener Informationen besteht, setzt demzufolge eine anspruchsvolle Beobachtungs- und Vermittlungskompetenz des Transparenzvermittlers voraus. Da schon aus logistischen Gründen, aufgrund der Effizienzsteigerung der Informationstechnologien, die Ermöglichung einer indirekten informationellen Transparenz im Vergleich zur direkten perzeptiven Transparenz die dominierende Transparenzmethode sein wird, 184 steht sie in den nachfolgenden Untersuchungsschritten im Mittelpunkt. Entsprechend wird in der Literatur der Transparenzbegriffs geradezu auf die Verfügbarkeit von Informationen reduziert. 185 Lediglich bei Anzeichen einer bestehenden informationellen Intransparenz (etwa durch unzuverlässige Informationsweitergabe) ist zu erwarten, dass der Zugangsweg zu Sachverhalten anstatt über den indirekten Weg der Kommunikation durch den direkten Weg der Beobachtung ersetzt wird. Letztlich erfahren beide Transparenzmethoden durch wichtige systemtheoretische Implikationen von Transparenz eine Begrenzung: Wie bei jeder Beobachtung bestehen bei der Kommunikation unaufhebbare selbstreferentielle Selektions- und Interpretationsprozesse, die den Vorgang der Transparentwerdung für den Transparenzsuchenden beeinflussen. 186 Da die Zugangsbarrieren nicht niedergerissen werden können, ermöglichen Transparenzvermittler nur eine Zugänglichkeit in graduellen Abstufungen. 187 183 Diese Kriteriologie wird in Kap. 2.3. entwickelt. 184 Vgl. O’Neill (2002b, 65ff.). 185 Vgl. Stiglitz (2000, 1466), der pointiert schreibt: „transparency - another name for information“. Auch andere Autoren, wie z.B. der Jurist Wegener (2001, 147) und der Ökonom Winkler (2000), stellen Informationstransparenz in den Mittelpunkt. 186 Nach Luhmann (1988, 192ff.) ist Kommunikation einem dreifachen Selektionsprozess unterworfen: die Konstitution der Information und Selektion ihrer Mitteilung im Mitteilungsverhalten durch Ego; das selbstreferentielle Verstehen des Selektionssinns durch Alter. Wie Willke (2006, 35) ergänzt, findet beim Rezipienten eine selbstreferentielle Umwandlung der systemfremden Irritation in systemeigene Information statt, die einem Selektionsprozess unter Relevanzaspekten (Handlungsfähigkeit) unterworfen ist. 187 Florini (2007a, 5) definiert Transparenz daher als „degree to which information is available to outsiders that enables them to have informed voice in decisions and/ or to assess the decisions made by insiders.“ <?page no="73"?> 1.4. Soziologische Ergebnisse 69 1.4.4. Zwischenergebnis Bei der lexikalischen Untersuchung des Transparenzbegriffs wurde bereits ein komplexes „Transparenzsetting“ konstatiert, das bei einer lebensweltlichen Begriffsverwendung grundlegend vorauszusetzen ist. Dieses Setting, so lässt sich weiter ausführen, besteht aus fünf Elementen, für die eine neue Terminologie eingeführt wurde: (1) Ein Subjekt, also ein Transparenzsuchender, der die formelle und inhaltliche Zugänglichkeit zu einem Sachverhalt anstrebt; (2) ein Sachverhalt, d.h. ein Transparenzobjekt, von dem ein Transparenzsuchender Kenntnis erhalten möchte und das durch eine Zugangsbarriere verborgen ist (systemische Vorgänge, Ergebnisse, Eigenschaften); (3) eine Transparenzbarriere, die das Transparenzobjekt in formeller bzw. inhaltlicher Hinsicht verdeckt; (4) eine Vermittlungsinstanz, also ein Transparenzvermittler, der dem Transparenzsuchenden die formelle und inhaltliche Zugänglichkeit zum Transparenzobjekt ermöglichen soll; und (5) eine Zugangsmöglichkeit, d.h. eine adäquate Transparenzmethode für die Durchdringung der Transparenzbarriere zur Kenntnisnahme des Transparenzobjekts durch den Transparenzsuchenden (Methode der perzeptiven oder informationellen Transparenz). Diese fünf Transparenzelemente werden bei der lebensweltlichen Verwendung des Transparenzbegriffs in den untersuchten Kontexten (Politik, Recht, Wirtschaft) zwar nicht durchgehend expliziert, sind aber dennoch konstitutiv. 188 Angesichts dieses komplexen Settings kann der Transparenzbegriff als ein mehrstelliger Relationsbegriff verstanden werden: Ein Sachverhalt (Transparenzobjekt) wird durch die Vermittlungsarbeit von jemandem (Transparenzvermittler) für jemanden (Transparenzsuchender) formell und inhaltlich zugänglich, d.h. transparent. 189 An dieser Stelle finden die soziologischen Überlegungen über Transparenz und ihre Hauptelemente einen Abschluss, wobei die erarbeitete Transparenzterminologie in den nachfolgenden Kapiteln beibehalten und vorausgesetzt wird. Die weiteren Überlegungen drehen sich um die herausgearbeiteten Facetten des Transparenzbegriffs, die auf zentrale Probleme der Philosophie- und Ethikgeschichte zurückzuführen sind: Unter welchen Voraussetzungen wird ein Sachverhalt durch Informationen transparent? Wann vermitteln Informationen eine kognitiv-inhaltliche Transparenz eines Sachverhalts? Welche Rolle spielt eine offene und ehrliche Vermittlung der Informationen? Während die ersten beiden Fragen auf genuin erkenntnistheoretische und sprachphilosophische Topoi verweisen, stellt die dritte Frage einen Bezug zur Ethik her. 188 Wurde beispielsweise bei der weltweiten Finanz- und Bankenkrise „mehr Transparenz“ gefordert, bezog man sich implizit auf diese fünf Elemente. 189 Vgl. die Bestimmung der Relationalität des Verantwortungsbegriffs in Kap. 4.2.4.1. <?page no="74"?> 2. Philosophische Grundlegung des Transparenzbegriffs Wie anhand der Verwendungsweise in unterschiedlichen sozialen Kontexten gezeigt wurde, beschreibt Transparenz die praktische Voraussetzung für die Wahrnehmbarkeit und Verstehbarkeit von verdeckten Sachverhalten und ermöglicht - emphatisch formuliert - „einen freien und unverfälschten Blick auf die Realität“. 1 Letztlich soll dieser „Blick auf die Realität“ Transparenzsuchenden die Aneignung von Wissen über Sachverhalte ermöglichen, mit dem sie konstruktiv umgehen können. 2 Die Forderung nach Transparenz kann demzufolge als das Resultat eines epistemischen Anliegens, eines intellektuellen Bedürfnisses des Menschen aufgefasst werden und zwar „nach dem, was leicht erkennbar, offensichtlich und frei von jeder Verstellung sein sollte“. 3 Dieses Bedürfnis manifestiert sich in Situationen, in denen ein Wissensdefizit über Sachverhalte bemerkbar und der Ruf nach Transparenz laut wird. Mittels Transparenz soll das Wissensdefizit durch persönliche Einblicke in die Sachverhalte (perzeptive Transparenz) oder vermittelte Informationen (informationelle Transparenz) kompensiert werden, was die Verstehbarkeit der Sachverhalte bzw. Informationen voraussetzt (kognitiv-inhaltliche Transparenz). Da in der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft eine informationelle Transparenz, also die Zugänglichkeit zu Sachverhalten durch Informationsvermittlung, die weitverbreitete Transparenzmethode ist, beziehen sich die weiteren Überlegungen auf dieses Konzept. Während die Methode der perzeptiven Transparenz hauptsächlich Probleme hinsichtlich der kognitiven Verstehbarkeit von unmittelbar wahrgenommenen Sachverhalten umfasst, impliziert die Methode der informationellen Transparenz zusätzliche Probleme bezüglich der Qualität der vermittelten Informationen: Welche Qualität müssen diese Informationen innehaben, um einen Sachverhalt transparent werden zu lassen? Ziel dieses Kapitels ist es, eine Kriteriologie zu entwickeln, auf deren Grundlage Informationen überhaupt als transparenzvermittelnd quali- 1 Landkammer (2010, 239). 2 Unter Abkürzung der erkenntnistheoretischen Kontroverse wird Wissen gemäß der analytischen Wissensformel, die sich z.B. bei Ayer (1956) und Chisholm (1957) findet, als ein propositionaler Sachverhalt p verstanden, von dem eine Person überzeugt ist, dass p wahr ist und sie intersubjektiv akzeptierte und nachprüfbare Gründe für ihre Wahrheitsüberzeugung angeben kann. Neben der Propositionalitätsthese („X weiß, dass p“) kann Wissen als ein praktisch-dispositionales Vermögen definiert werden; vgl. Mittelstraß (2004, 717f.). 3 So erklären Rowe/ Slutzky (1997, 22) den Siegeszug von Transparenz in der Architektur. <?page no="75"?> 2.1. Ideengeschichtlicher Hintergrund des Transparenzbegriffs 71 fiziert werden können. Hierzu werden zentrale philosophische Leitkonzepte, die mit dem Erwerb und der Vermittlung von Wissen in Zusammenhang stehen, wie z.B. Kommunikation, Wahrheit und Verstehen, untersucht. Doch zuvor wird vor dem Hintergrund der beschriebenen epistemischen Funktion eine Ideengeschichte des Transparenzbegriffs rekonstruiert. Anstatt einer ausführlichen philosophiehistorischen Darstellung werden pointierte Schlaglichter auf Paradigmenwechsel im erkenntnistheoretischen Umgang mit Visualität geworfen, die für ein Verständnis des Transparenzbegriffs hilfreich sind. 2.1. Ideengeschichtlicher Hintergrund des Transparenzbegriffs Der gegenwärtige Modebegriff „Transparenz“ lässt sich ideengeschichtlich in die Tradition eines erkenntnistheoretischen Okularzentrismus eingliedern, dessen Wurzeln bis zum Beginn der antiken Epistemologie zurückreichen und von dort aus die christlich-abendländische Philosophie- und Geistesgeschichte geprägt haben. 4 Bereits in der frühen philosophischen Auseinandersetzung um Natur, Quellen und Grenzen des Wissens wird die sinnlich-visuelle Wahrnehmung als wichtigste Wissensquelle und als Prüfstein jeder Erkenntnis anerkannt: Jemand weiß das, was er gesehen oder geschaut hat. 5 Zur adäquaten Interpretation der visualistischen Formel dürfen jedoch einige Besonderheiten des antiken Denkens nicht in Vergessenheit geraten: Aufgrund der unbestreitbaren Fehleranfälligkeit wird Sehen in der wissensbegründenden Funktion nicht als ein „Starren“, sondern als ein richtiges und genaues Sehen, und Wissen als Resultat des qualifizierten Sehens aufgefasst. 6 Sofern die Erkenntniskräfte (die denkerische Fähigkeit der intuitiven Einsicht) und (die Fähigkeit des sprachgebundenen Denkens) an die Fernsinne gebunden sind, führt Sehen un- 4 Ich rekurriere hierbei auf die Rekonstruktion des Okularzentrismus von Blumenberg (2001); da sein großflächiger Entwurf nach der „Stimmigkeit der Einzelbeobachtung“ fragen lässt (Stoellger 2000, 74), werden die von ihm angeführten Beobachtungen anhand weiterer Studien, v.a. von Busche (2005), Hardy (2005), Scheerer (1995), Konersmann (1999) und die Aufsätze in Levin (1997c), reflektiert. 5 Diese Formel, die laut Blumenberg (2001, 161ff.) „die abendländische Tradition […] tief bestimmt hat“, lässt sich exemplarisch auf Heraklit zurückführen, der gegenüber den auditiv tradierten Mythen die direkte Wahrnehmung wertschätzt (VS 22, B 55), wobei die Augen „genauere Zeugen“ seien als die Ohren (B 101a). Die Quellenangaben der Vorsokratiker (VS) beziehen sich auf Diels/ Kranz (1968). 6 So z.B. Heraklit, VS 22, B 19 und Empedokles VS 31, B 17; vgl. hierzu auch Schirren (1998, 167f.). Dass die Vorrangstellung des Sehens gegenüber anderen Sinnen alles andere als unangefochten ist, zeigen z.B. Empedokles und Demokrit, die dem Tasten eine Sonderstellung einräumen; vgl. Scheerer (1995, 827). <?page no="76"?> 2. Philosophische Grundlegung des Transparenzbegriffs 72 verwunden zur intellektuellen Nachvollziehbarkeit wahrnehmbarer Sachverhalte. Qualifiziertes Sehen (als körperlicher Vorgang) ist untrennbar mit dem verstehendem Erkennen (als kognitiv-seelischer Prozess) des Wahrgenommenen verbunden. 7 Auch , das sinnliche Wahrnehmen, meint zunächst unterschiedslos ein nichtsinnliches Gewahrwerden und stellt eine eigene Erkenntnisform über einen ontologischen Gegenstandsbereich der Realität dar. 8 Erst bei zunehmender Systematisierung epistemischer Begriffe wird das Sehen als sinnlicher Vorgang (zur Abbildung einer Ordnung des Wahrgenommenen) dem Erkenntnisvermögen der eindeutig zugeordnet. Prägend für die abendländische Philosophie ist die Auffassung Aristoteles’, der die epistemische Leistungsfähigkeit als eigene Wissensform und als grundlegende Wissensquelle hoch einschätzt: gewährleiste die formale Abbildung der einzelnen, vergänglichen Realerscheinungen im Wahrgenommenen 9 und stelle insbesondere als visuelle Wahrnehmung 10 den notwendigen Ausgangspunkt aller höheren Wissensformen dar. 11 Wenngleich bei seiner ontologischen Unterscheidung elementarer Wissensstufen das höchste, theoretische Wissen allgemeiner, unveränderlicher Prinzipien ( ) auf die von der sinnlichen Wahrnehmung unterschiedenen noetischen Einsicht zurückgeht, ist Aristoteles der Überzeugung, dass das wahre Sein nicht in Abwendung der Sinnlichkeit erfasst werden kann. Dass perzeptionsaffirmative Positionen nicht ohne Einwände bleiben, ist bei einem Topos, bei dem es letztlich um die Wahrheit geht, selbstredend. Wahrnehmungsskeptiker werten die „lügnerischen Wahrnehmungen“ ( ) radikal ab, indem sie nicht nur ihre Bedeutung als eigene Erkenntnisform, sondern auch ihre Funktion 7 Bei Heraklit VS 22, A 16, 30ff. und B 34, 107ff. verbürgt erst das Zusammenspiel von und wahre Erkenntnis, da beim Sehen Verstand vonnöten sei, um die Weltordnung zu erfassen; vgl. Fritz (1968, 323f.) Dies verleitet Blumenberg (2001, 161) zur These: „Worauf der sich berief, war gestalthafter Anblick, war . […] Der ist gesammeltes Gesehenhaben“, der die wahrgenommenen Erscheinungen in Begriffe fasst. 8 Wie Scheerer (1995, 827f.) zeigt, wird als Erkenntnisform in den wenigen frühen Quellenbelegen noch nicht mit den peripheren Sinnesorganen in Verbindung gebracht. 9 Aristoteles, Metaphysik 1010b33f. 10 In der Rangordnung der Sinne bezüglich des Erkenntniswerts schätzt Aristoteles Metaphysik 980a21ff. das Sehen am höchsten ein. 11 Vgl. Metaphysik 980a27ff., De anima 427b14ff. Im Unterschied zur platonischen Vorstellung eines angeborenen Wissens geht Aristoteles bei der Methode der von der Wahrnehmung ( ) des Einzelnen aus, die über denkerische Abstraktionsstufen ( , ) zum höchsten Prinzip ( ) führt, dessen Wahrheit durch eingesehen wird. Die aristotelische Überzeugung vom Ursprung allen Wissens in der sinnlichen Wahrnehmung kommt in der klassischen Formel Nihil est in intellectu, quod non fuerit prius in sensu zum Ausdruck. <?page no="77"?> 2.1. Ideengeschichtlicher Hintergrund des Transparenzbegriffs 73 als Wissensquelle für höhere Erkenntnisformen bestreiten. 12 Eine Bündelung der Wahrnehmungskritik stellt die Erkenntnistheorie Platons dar, derzufolge die sinnliche Wahrnehmung der geistigen Erkenntnis untergeordnet wird: 13 Während erstere mittels der leiblichen Sinne auf den materiellen Bereich der wandelbaren Erscheinungen bezogen ist und lediglich als Quelle der Meinung ( ) taugt, 14 führt die intellektuelle „Wahrnehmung“ durch die erkennende Seele ( ) zum eigentlichen Wissen ( , - ) über die unwandelbaren, ewigen Ideen, die den Erscheinungen ontologisch zugrunde liegen. 15 Nach der Anamnesis-Lehre ist dies möglich, da die Seele vor Eintritt in den Leib die Ideen geschaut hat und bei Reinigung von der sinnlichen Verstrickung prinzipiell in der Lage ist, sich wiederzuerinnern. 16 Trotz radikaler Abwertung der visuellen Wahrnehmung als Wissensform und -quelle kommt Platon konzeptionell nicht ohne sie aus: Kann etwa die dianoetisch-dialektische Methode, die von der sinnlichen Wahrnehmung als „äußerer Anlaß zur Wiedererinnerung“ 17 ausgeht, zu einer noetischen Erkenntnis der Ideen führen, indem sie „das Auge der Seele aus barbarischem Schlamm [zu den Ideen] hervorzieht“, 18 bedient sich Platon zur Beschreibung des Erkenntnisvorgangs einer visuellen Metaphorik. Deren Verwendung ist insofern paradox, als die übertragene Bedeutung der Metapher nicht ohne Rekurs auf die ursprüngliche epistemische Bedeutung des Gesichtssinns verständlich ist, dessen Nimbus dadurch bestätigt wird. Die Paradoxie ist auch in den Übersetzungen greifbar, wenn es einerseits heißt, wahre Erkenntnis fände ohne alle sinnliche Wahrnehmung statt - man müsse „die Augen und die anderen Sinne hin- 12 Vgl. Parmenides VS 28, B 7, der zwar und nicht entzweit, aber im Lehrgedicht die Göttin zu einer Sinnenabkehr aufrufen lässt, weil das „blicklose Auge“ sich im Schein herumtreibe; nur die denkende Vernunft könne das Sein und die unveränderlichen Grundprinzipien erfassen; vgl. Schmitz 1988, 393. 13 Vgl. das Liniengleichnis bei Platon, Politeia 509cff. 14 Neben dem eleatischen Argument findet sich bei Platon, Theätet 156bff. das Traumargument, sowie das Argument, sinnliche Affektion führe nicht notwendig zum Zur- Kenntnis-Nehmens bzw. Verständnis. 15 Damit ist die These von Blumenberg (2001, 161), im griechischen Denken sei alle Gewissheit in Sichtbarkeit gegründet, mindestens ungenau. 16 Platon, Phaidon 72eff. Vgl. auch Art. Wiedererinnerung/ Anamnesis in: Horn u.a. (2009, 352ff.). 17 Anzenbacher (2002, 49). Dies erklärt, weshalb Platon die Sinne als „Werkzeuge der Seele“ (Theätet, 184 cf.) bezeichnet, durch die wir in der Lage sind, „die Kreisläufe der Vernunft am Himmel“ zu schauen und danach „die Umschwünge unseren eigenen Denkens“ einzurichten (Timaios 47d). Die unveränderlichen Ideen erkennt die Seele hingegen „in sich selbst“, „als ihr eigenes Werkzeug“ (Theätet 185df.). 18 Platon, Politeia 533cf. Laut Scheerer (1995, 830) handelt es sich hierbei um den frühesten Beleg für diese metaphorische Verwendung. <?page no="78"?> 2. Philosophische Grundlegung des Transparenzbegriffs 74 ter sich lassen“, 19 damit die Seele das Wesen der Dinge in den intelligiblen Ideen erfassen könne -, aber andererseits von der unmittelbaren geistigen Schau der Ideen die Rede ist. 20 In der hellenistischen Philosophie etablieren sich folglich zwei Grundtypen der okularzentrischen Erkenntnistheorie, die sich in der abendländischen Philosophiegeschichte wiederfinden: 21 Beim ersten Typus wird der visuellen Wahrnehmung eine herausgehobene epistemische Funktion zugesprochen, wenngleich die Gewinnung von Wissen aufgrund der perzeptiven Fehleranfälligkeit unter bestimmten methodischen Schritten zu erfolgen hat. Beim zweiten Typus findet zwar eine vordergründige epistemologische Abwertung der sinnlichen Wahrnehmung statt, die den intellektuellen Erkenntnisformen untergeordnet wird; die eingeführten visuellen Metaphern zur Beschreibung der unmittelbaren „Einsehbarkeit“ von Prinzipien oder Ideen zehren dennoch von der unmittelbar plausiblen epistemischen Bedeutung der visuellen Wahrnehmung. Die beschriebenen antiken erkenntnistheoretischen Positionen begründen einen abendländischen Okularzentrismus, der zur emphatischen Erklärung kulminiert, das Auge sei das „Fundament“ aller Philosophie. 22 Vor diesem Hintergrund wird die alltägliche Verwendung einer umfangreichen Metaphorik des Gesichtssinns zur Beschreibung der epistemischen Situation verständlich, 23 in die 19 Platon, Politeia 532af. und 537d., z.B. in der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher oder Karl Vretska. 20 Laut Scheerer (1995, 831) ist es kein Zufall, dass der Zentralbegriff der platonischen Philosophie, bzw. ! , vom griechischen Wortstamm für „sehen“ abgeleitet ist. Heidegger (1950, 73ff.) schreibt Platon die Etablierung einer okularzentrischen Metaphysik zu, die zur Trennung zweier Seinsbereiche, zur Entzweiung von Wahrheit und Erkennbarkeit und letztlich zur Seinsvergessenheit führte. 21 Auch im Mittelalter lassen sich beide Typen wiederfinden: die intellektuelle „Wahrnehmung“, die als neuplatonische „Einsicht“ der Seele auf den göttlichen Logos ausgerichtet ist (vgl. Augustinus, De genesi ad litteram XII, 51) und die sinnliche Wahrnehmung, die eine materielle Einwirkung auf die geistige Erkenntnis hat (vgl. Thomas von Aquin, Summa theologica I, 1, 9; 12, 12; 84, 6, der außerdem in De veritate q.2 a.11 die Sprechweise von der geistigen Einsicht als analogia proportionalitatis zum leiblichen Sehen versteht). 22 Zahlreiche Autoren teilen diese These von Völcker (1996, 40); vgl. etwa Heidegger (2001, 147), nach dem die Philosophie „von Anfang an primär am ‚Sehen‘ als Zugangsart zu Seiendem und zu Sein orientiert“ ist. 23 Wie Schnädelbach (2002, 41 und 105) und Levin (1997a) zeigen, bedienen wir uns zur Beschreibung des Kenntnisstands visualistischer Begriffe (z.B. „Einsicht“, „Intuition“ von lat. intueor „anblicken, erblicken“) und Redewendungen („ich führe mir etwas geistig vor Augen“). Sogar der Ausdruck „Wissen“ sowie verwandte epistemische Termini (z.B. „Evidenz“ von lat. videre „sehen“ und der schon genannte Begriff „Idee“ von gr. ! „Gestalt, Wesen“) weisen eine enge Verbindung zur Visualität auf: sie werden etymologisch auf die indogermanische Sprachwurzel vid („sehen, Licht“) zurückgeführt; vgl. Duden, Etymologie (1997, 817), Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache (2002, 994). Unabhängig der Etymologie leitet Jonas <?page no="79"?> 2.1. Ideengeschichtlicher Hintergrund des Transparenzbegriffs 75 sich der heutige Gebrauch des Transparenzbegriffs organisch einordnen lässt. Die parallele Verwendbarkeit sowohl für sichtbare Sachverhalte als auch für Aspekte, die der äußerlichen Erscheinung eines Gegenstands zugrunde liegen (Wesen, Struktur oder Aufbau), ist auf die zu unterscheidenden Wissenskonzepte der beiden identifizierten Typen des Okularzentrismus rückführbar. Die im antiken Okularzentrismus vorausgesetzte Verbundenheit von sinnlichem bzw. intellektuellem Sehen, Wissen (gemäß den ontologischen Wissensformen) und Verstehen, 24 die durch die analytische Abgrenzung der von den höheren, denkerischen Erkenntnisformen des und erste Risse erhält, kann nicht auf den gegenwärtigen Transparenzbegriff übertragen werden. Nach Zeiten der Herausforderung durch audiozentrische Erkenntniskonzepte (z.B. in der Begegnung von hellenistischer Philosophie und audiophiler jüdisch-christlicher Kultur) erreicht der Okularzentrismus in der Neuzeit seinen Zenit. 25 Konzepte wie Offenheit und Transparenz, die mit der visualistischen Gewinnung von Wissen in Zusammenhang gebracht werden, haben in der Philosophie der Aufklärung eine prominente Stellung inne. 26 Wenn auch unter anderen geistesgeschichtlichen Vorzeichen, 27 erinnert der Umgang des Empirismus und Rationalismus mit dem Topos „Visualität“ an die identifizierten antiken Typen der Okularzentrik: Die individuelle Vernunft solle ihre Erkenntnisgegenstände zu Sicht (Experiment) und Ein-Sicht (Deduktion) bringen. Mit der Etablierung der empirischen Methode durch Bacon wird die Schlüsselstellung der visuellen Wahrnehmung für die Entstehung von Wissen zementiert. Nur experimentell kontrollierbare Beobachtung bürge für Wahrheit und Beständigkeit, für (1954) weitere philosophische Begriffe wie „Ewigkeit“ und „Objektivität“ von Qualitäten der visuellen Wahrnehmung ab; z.B. sei die Vorstellung der Zeit eine quasiräumliche Dimension, die aus der Hin- und Herbewegung des Auges zwischen Objekten in einer Wahrnehmungsabfolge resultiere. 24 Wenn nach Aristoteles, Metaphysik 981af. alle Menschen von Natur aus nach Wissen streben, hätte der Übersetzer laut Kosman (1973) und Burnyeat (1981) „Verstehen“ hinzufügen können, da das verwendete ! verschiedenartige kognitiv-dispositionale Fähigkeiten umfasse. 25 Blumenberg (2001, 163) interpretiert die neuzeitliche Aufwertung des Auges mit der gewonnenen Mündigkeit des Individuums: Das Auge als Medium der Freiheit schweift umher, „wählt aus, geht auf Dinge zu, dringt ihnen nach, während das Ohr seinerseits von Schall und Wort betroffen“ wird. 26 Vgl. z.B. Bentham (1791, 40), der den Transparenzbegriff für den Bereich der Regierungspraxis prägt: „Transparency of management is certainly an immense security; but even transparency is of no avail without eyes to look at it. Other things equal, that sort of man whose conduct is likely to be most narrowly watched, is therefore the properest man to choose“. 27 Die neuzeitliche Wende zum Subjekt, auf das alle sinnlichen Erkenntnisprozesse bezogen werden, wirft die Frage nach dem Geltungsanspruch eines Wahrnehmungsurteils bzw. nach dem Status der Erkenntnis auf. <?page no="80"?> 2. Philosophische Grundlegung des Transparenzbegriffs 76 untrügliche Einblicke in die Zusammenhänge der Natur, während das sinnlich Erfahrene (u.a. das Gehörte) dem Generalverdacht ausgesetzt ist, unüberprüfbar zu bleiben. 28 Unter Absehung der Baconschen Methodologie reduzieren Empiristen wie Locke oder Hume Erkenntnisse sowohl in Genese (Wissensquelle) und Geltung (Wissensform) vollends auf sinnliche Wahrnehmung. 29 Unser teils komplexes Wissen gehe aposteriorisch entweder auf die direkte sinnlich-visuelle Wahrnehmung partikularer Objekte oder Ereignisse (z.B. der tägliche Sonnenuntergang), oder zumindest indirekt auf Wahrnehmungen (die Erinnerung daran) zurück und sei ausschließlich darüber legitimierbar. 30 Im Unterschied dazu setzt die neuzeitliche Schule des Rationalismus für den Wissenserwerb apriorische Begriffe voraus, die unabhängig der Erfahrung in uns angeboren (nativistisch) vorliegen. Descartes lehnt die Bedeutung von sinnlicher Wahrnehmung angesichts der Möglichkeit von Sinnestäuschungen, Illusionen und Trugbildern für die Gewinnung von gesichertem Wissen ab. Unter allen subjektiven Denkakten (cognitationes) - z.B. Fühlen, Wahrnehmen und Denken -, bei denen das Subjekt mit Vorstellungen (ideae) umgeht, findet Descartes die letzten, unbezweifelbaren Bedingungen aller Erkenntnis im Subjekt: die angeborenen ideae oder Prinzipien der Vernunft, 31 welche vom Geist a priori, d.h. vor und unabhängig aller sinnlichen Wahrnehmung, unmittelbar clare et distincte erfasst werden können. 32 Wie auch schon Platon nutzt er bei der Fundamentalkritik an der sinnlichen Wahrnehmung paradoxerweise eine ausgeprägte visuelle Metaphorik: 33 In Abgrenzung zum sinnlichen Sehen als physiologischem Ereignis gehe es um das reine „Einsehen“ von Prinzipien, das deren unbezweifelbare Wahrheit garantiert; 34 die Vernunft werde durch ein intuitives „Licht“ (lumen naturale) erleuchtet, um Gewissheit bezüglich der klaren und deutlichen Vorstellungen zu erlangen. 35 Descartes 28 Bacon (1990, Bd. 1, 113). 29 Während Locke auch ein intuitives, auf ein „inneres Licht“ zurückgehendes Wissen akzeptiert (vgl. An essay conc. human understanding, II, 2, § 14), erkennt z.B. de Condillac nur die äußere Wahrnehmung als Erfahrungsquelle an; vgl. hierzu Wilson (1997). 30 Vgl. Baumann (2002, 227 und 237). 31 Durch die Neufassung des Ideen-Begriffs bei Descartes (und Locke) werden sinnliche Wahrnehmungen rational rekonstruierbar und - wie Puster (2005, 205) schreibt - zum „Spezialfall des Denkens“. 32 Descartes (1999, 33): „Darum scheine ich schon als allgemeine Regel festsetzen zu können: Alles das ist wahr, was ich ganz klar und deutlich erfasse.“ 33 Vgl. hierzu auch Judovitz (1993). 34 Wie in den Regulae ad directionem ingenii 4 deutlich wird, hat die intuitive „Einsicht des Geistes“ bei ihm eine stärkere Bedeutung als in der scholastischen Tradition, da sie neben der Deduktion der einzige Weg zur Erlangung sicherer cognitationes ist. 35 Daher stellt Wilson (1997, 118) heraus: „[I]t is in the so-called rationalist philosophers that we find the fullest exploitation of empirical theories of vision, an awareness of the curious effects of perspective and the ubiquity of illusion, and the most strenuous use of illuminationist metaphors for the acquisition of knowledge.“ Atherton (1997, <?page no="81"?> 2.1. Ideengeschichtlicher Hintergrund des Transparenzbegriffs 77 macht hierbei von der Möglichkeit des Okularzentrismus Gebrauch, Ausdrücke aus dem Bedeutungsfeld des Sichtbaren auf geistige Zustände zu übertragen, um in ihnen analoge Unterschiede zu den visuellen Oppositionen von klar/ unklar, sichtbar/ unsichtbar, hell/ dunkel zu kennzeichnen. Auf die Kantische Erkenntnistheorie können folgenreiche Weichenstellungen für philosophische Konzeptionen visueller Wahrnehmung im Allgemeinen und der Transparenz im Besonderen zurückgeführt werden: Bei der Bindung von Erkenntnis an das genetische Primat der äußeren Sinneswahrnehmung, 36 sollen die Grenzen des empirischen Wissens gemäß seiner Vernunftkritik stets bewusst gemacht werden. Als erkenntnistheoretisches Konzept ist Transparenz einerseits den Bedingungen unterworfen, die er qua Vernunftkritik problematisiert, stellt aber zugleich als Kommunikationsideal die Lösung des Problems dar: Durch die transparente Vermittlung an eine mündige Öffentlichkeit werden subjektive Überzeugungen der kritischen Vernunft Anderer zugänglich. Erkenntnis ist weniger Produkt der individuellen als vielmehr der „allgemeinen Menschenvernunft“, die in der öffentlichen Diskussion aufscheint. 37 Bindet Kant die Wahrnehmbarkeit von Erfahrungsobjekten an Konstitutionsbedingungen des Erkenntnissubjekts, 38 rückt in Nachfolge der Reflexion auf transzendentale Merkmale jeder Erkenntnis die Bedeutung der Sprache ins Zentrum des philosophischen Interesses: Erkennen ist ein sprachlich-begrifflicher Vorgang, der die Voraussetzung für sinnliche Abstraktion und Verallgemeinerung zur sprachgebunden Erkenntnis darstellt. 39 Indem Kant zu- 139) sieht Descartes’ verkappten Okularzentrismus repräsentativ für das moderne Zeitalter, „that assimilates knowing to seeing, so that knowing is described as gazing with the mind’s eye on mental representations that mirror the external world.“ 36 Vgl. Kant, KrV B 156, nach dem wir unsere Erkenntnisse „von dem hernehmen müssen, was uns äußere Dinge Veränderliches darstellen“. 37 In der berühmten Vorrede zur ersten Auflage der KrV schreibt Kant: „Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß. Religion, durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung durch ihre Majestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht wider sich und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können.“ 38 Nach Kulenkampff (1973, 397) dürfen bei einer nachkantischen Untersuchung des Zusammenhangs von sinnlicher Wahrnehmung und Wissensgenerierung zwei Aspekte nicht fehlen: (1) „Keine Wahrnehmung ohne Wahrnehmungssubjekt“; und (2) jedes sinnlich gegebene Objekt setzt in seiner Strukturbestimmtheit einen „intellektuellen Vollzug“ voraus. 39 Wie Anzenbacher (2002, 128) zusammenfasst, sind wir erst durch das sprachliche Vermögen in der Lage, das Sinnlich-Anschauliche zu erkennen (zu denken) - wir erkennen etwas als etwas - und mittels der Begriffe in einen Zusammenhang zu stellen, was über die veränderliche Erscheinung hinausgeht. Hierbei verlagert sich das Problembewusstsein von der Untersuchung des transzendentalen Charakters der Sprache auf den Vollzug von Erkenntnis in gemeinschaftsbezogener Sprache. <?page no="82"?> 2. Philosophische Grundlegung des Transparenzbegriffs 78 gleich das noetische Denken (intellectus) verwirft, gelangt der Aspekt des Verstehens allein unter die Ebene des dianoetischen Denkens (ratio). 40 Durch dessen genaue Bestimmung - der Verstand bringt die Erscheinungen regelgeleitet auf Begriffe und ist dabei auf die Wahrnehmungswelt festgelegt - wird das Verstehen theoretisch auf die begriffliche Analyse von Merkmalen der Erscheinungen eingeschränkt. 41 Gegenüber der traditionellen Philosophie, die vornehmlich den ontologischen Status von Wissen und das Problem der Wissensaneignung diskutiert, wobei das Verstehen in der Regel vorausgesetzt wird, 42 wächst die Sensibilität für die mögliche Divergenz von Wissen und Verstehen. 43 In der Unterscheidung zwischen Wissen, seiner sprachlichen Vermittlung und dem Sprachverständnis interessiert seit der Begründung der Hermeneutik als eigene philosophische Disziplin und der Erweiterung des Verstehensbegriffs zum „fundamentalen Erkenntnisbegriff“ nunmehr die Frage, was eine sprachliche Äußerung bedeutet bzw. was es heißt, einen sprachlichen Ausdruck zu verstehen. Weist auch die moderne sprach- und zeichenanalytisch dominierte Philosophie darauf hin, dass die Grenze meiner Welt die Grenze meiner Sprache ist 44 - und ich dadurch mit Phänomenen konfrontiert bin, die ich nicht verstehen kann - werden die Grenzen des perzeptiven Transparenzbegriffs überdeutlich: Die bloße Wahrnehmbarkeit von empirischen Phänomenen (Sehen) impliziert nicht notwendig ihre kognitive Aneignung (Wissen), wie dies ursprünglich angenommen wurde. Vor diesem Hintergrund muss Transparenz als ein epistemischer Begriff die metaphorische Bedeutung der kognitiven Verständlichkeit in sich aufnehmen. Gegen einen vermeintlichen philosophischen Paradigmenwechsel vom Sehen zum Hören, der mit dem lingusitic turn der Sprachphilosophie bzw. 40 Wenngleich Kant, KrV A256/ B311f. die „intellektuelle Anschauung“ verwirft - wir hätten keinen Begriff von Dingen, die wir „intuitiv in einer nichtsinnlichen Anschauung“ und nicht „diskursiv“ durch Kategorien erkennen - scheint er sie in praktischen Belangen, bei der Einsicht der Freiheitswirklichkeit, nicht aufgeben zu wollen. 41 Vgl. Apel (2001, 918ff.), Schaeffler (1974, 1630) und Schnädelbach (2002, 160ff.). 42 Vgl. Apel (2001, 927). Scholz (1999, 17ff.) räumt eine holzschnittartige Gegenüberstellung ein, da selbstverständlich schon seit der Antike hermeneutische Überlegungen angestellt wurden. 43 Für Gadamer (1990, 270ff. und 297ff.) wird Verstehen durch das apriorische Vorverständnis zugleich ermöglicht, weil es in einer „legitimen“, „produktiven“ Form die Möglichkeitsbedingung von Verstehen innerhalb des „hermeneutischen Zirkels“ ist, und beschränkt, weil es einer Unhintergehbarkeit von „Vorurteilen gleichkommt, die in der destruktiven Form, bei Missverständnissen, kritisch zu überwinden sind. 44 An der klassischen Vorstellung, dass das Bedeutungsverstehen eines sprachlichen Ausdrucks von der geistinternen Zuordnung zu einer Idee abhängt, kritisiert etwa der späte Wittgenstein (1984b, § 5.6), eine Idee zeige nicht, wie sie angewendet werden müsse; die Bedeutung eines Ausdrucks hinge hingegen vom regelgeleiteten Gebrauch in der Sprachgemeinschaft ab, der beobacht- und überprüfbar ist. <?page no="83"?> 2.1. Ideengeschichtlicher Hintergrund des Transparenzbegriffs 79 der Logoszentrierung der Hermeneutik in Verbindung gebracht wird, 45 spricht das Auftreten einflussreicher Denkschulen des 20. Jahrhundert, die dem Okularzentrismus verpflichtet sind: In seiner Phänomenologie verbindet beispielsweise Husserl beide Typen der okularzentrischen Epistemologie miteinander, da er von der sinnlichen Wahrnehmung ausgehend nach der Grundlage des Sinnlich-Wahrnehmbaren im nicht-sinnlich „Eidetischen“ sucht. 46 Als methodischer Ausgangspunkt erfolgt zunächst eine transzendental-kategoriale Analyse der Wahrnehmungsgegenstände, die zur Beschreibung ähnlicher, aber doch verschiedener apriorischer Charakteristika bei den reinen Wesenheiten fortschreitet und letztlich zur Wesensschau, d.h. zur intuitiven Wesenserkenntnis der reinen Wesenssachverhalte führt. Bei deren Beschreibung bedient sich Husserl einer Sprache, die er der sinnlichen Wahrnehmung entlehnt, wobei er mittels Metaphern und Paradoxien bemüht ist, die (Dis-)Analogie von sinnlichem Sehen und nichtsinnlichem Schauen hervorzuheben. 47 Grundlegend für das phänomenologische Programm der „Wesensforschung“ ist die Durchsichtigkeit der „kategorialen Anschauung“ als Voraussetzung für „Enthüllungen des universalen Eidos“, 48 die in der Literatur mit dem Begriff der Transparenz beschrieben wird. 49 Die scheinbare Unaufhebbarkeit der visualistischen Dominanz erklärt die massive dekonstruktivistische Kritik, die ihre epistemische Deutungshoheit angesichts der unvermeidbaren Perversion (der Gewalt, des Nihilismus etc.) in Frage stellt. 50 Postmoderne Anfragen beziehen sich auf das Gesehene als dem diskursiv Interpretierten und Konstruierten, wodurch das Konzept des einfachen, unmittelbaren Sehens und das Pro- 45 Etwa Arendt (1978, 110f.) konstatiert diesen Paradigmenwechsel seit Bergson, der mit einer Verlagerung „from contemplation to speech, from nous to logos“ zusammenhinge. Vgl. z.B. Habermas (2001a), der das Konzept der subjekt-zentrierten Vernunft des unparteiischen Beobachters durch eine kommunikative ersetzt. 46 Vgl. Husserl (1995). 47 Rawlinson (1997) zeigt in ihrem Aufsatz, dass Husserl beständig zwischen einer Affirmation und Ablehnung der sinnlichen Wahrnehmung als Ausgangspunkt für die Wesensschau wechselt. 48 Husserl (1995, 73). 49 Vgl. Orth (1990a, 7). 50 Foucault (2007) untersucht die soziopolitischen Konsequenzen einer visualistischen Dominanz, die sich im modernen Panoptizismus in der Entwicklung und Anwendung machtvoller Kontrolltechnologien widerspiegelt. Gegenüber ihrem kritisch-philosophischen Ursprung zeige die Gesichtstheorie der Gegenwart in der „Metaphysik der Anwesenheit“ für Derrida (1982) ihre „heliopolitisch“-gewalttätige Seite; der anthropologische Stellenwert müsse daher mittels einer kritischen Sozial- und Kulturgeschichte der zwangvollen Okularzentrik relativiert werden. Vgl. Levin (1997b) der die beiden Dekonstruktivisten kritisch würdigt. <?page no="84"?> 2. Philosophische Grundlegung des Transparenzbegriffs 80 gramm der rationalen Rekonstruktion von Wissen herausgefordert werden. 51 Insgesamt lässt sich resümieren: Der gegenwärtig omnipräsente Transparenzgedanke kann auf einen beständigen, sich in frühen griechischen bis zu den gegenwärtigen Erkenntnistheorien abzeichnenden abendländischen Okularzentrismus zurückgeführt werden, 52 dessen Wendepunkte zugleich Interpretamente für das gegenwärtige Verständnis des „Durchsichtigen“ sind. Wird das visuelle Wahrnehmen als wichtige, wenn nicht sogar primäre Wissensquelle angesehen, trägt die parallele Etablierung einer perzeptiven und kognitiven Bedeutung von Transparenz der Einsicht Rechnung, dass jede Wahrnehmung von kognitivem Verstehen begleitet sein muss, um zu Wissen führen. Nach diesen selektiven Schlaglichtern auf ideengeschichtlich bedeutsame Wendepunkte in der abendländischen Erkenntnistheorie werden nun systematische Aspekte des Transparenzgedankens extrahiert. Da die Transparenz eines Sachverhalts in den meisten Fällen durch die Verfügbarkeit diesbezüglicher Informationen für Transparenzsuchende ermöglicht wird, wenden wir uns im ersten Schritt dem Phänomen der Kommunikation zu, d.h. der Art und Weise, wie Informationen von einem Transparenzvermittler an einen Transparenzsuchenden vermittelt werden. Nach den kommunikationstheoretischen Vorüberlegungen soll anschließend eine philosophisch fundierte Kriteriologie entwickelt werden, die den Begriff der informationellen Transparenz inhaltlich füllt. 2.2. Kommunikationstheoretische Vorüberlegungen Kommunikation wird disziplinübergreifend als eine Übertragung von Informationen oder Mitteilungen bzw. eine Vermittlung von Inhalten oder Bedeutungen (Kommunikat) von einem Sender (Kommunikator) zu einem Empfänger (Rezipienten) durch den Gebrauch von Kommunikationsmitteln (Zeichen- und Symbolsysteme, technische Hilfsmittel) definiert. 53 Auf- 51 Eine konstruktivistische Philosophiegeschichte des Okularzentrismus zeichnet ders. (1997a) nach. 52 Nach Busche (2005, 190) gilt die sinnliche Wahrnehmung bis heute als Voraussetzung „erstens für die Speicherung sinnlicher Gehalte im Gedächtnis, ihre Reproduktion in der Erinnerung und ihre Neukombination in freier Phantasie durch die Kräfte der Einbildung, Vorstellung oder Phantasie, zweitens für die Erfahrung regelmäßiger Zusammenhänge zwischen Dingen und Ereignissen sowie drittens für fast alle höheren, geistigen Erkenntnisse durch Vernunft und Verstand.“ Vgl. auch Baumann (2002, 262ff.) zur gegenwärtigen epistemologischen Bedeutung der Visualität. 53 Die gewählte Definition, die sich auf Rusch (2002, 103) bezieht, soll nicht über die Äquivozität des Kommunikationsbegriffs in den einzelnen Kontexten hinwegtäuschen: Merten (1977, 29) identifiziert in seiner begriffskritischen Studie 160 verschie- <?page no="85"?> 2.2. Kommunikationstheoretische Vorüberlegungen 81 grund der mangelnden Spezifität dieser allgemeinen Definition, die sämtliche Fälle des Informationsaustauschs mittels einer allgemeinen Terminologie einzufangen versucht, 54 wird ein weites, informationstheoretisches Kommunikationskonzept (2.2.1.), das auf alle Prozesse der Informationsübertragung zwischen technischen, biologischen und sozialen Übertragungssysteme bezogen ist, von einem engen, zwischenmenschlichen Kommunikationsbegriff (2.2.2.) unterschieden, der den Vorgang der verbalen und non-verbalen Interaktion zwischen Kommunikationsteilnehmern bezeichnet. Aus beiden Modellen sollen Einsichten für den Vorgang der informationellen Transparenzvermittlung gewonnen werden. 2.2.1. Die informationstechnologische Kommunikationstheorie von Shannon und Weaver In der klassischen Kommunikationstheorie von Shannon und Weaver, die aufgrund der hohen Anschließbarkeit an kommunikationsbezogene Intuitionen eine hohe Verbreitung erfährt, 55 wird Kommunikation als ein einseitiger Übertragungsprozess von Information verstanden: 56 Eine Informationsquelle produziert Information, die von einem Sender in ein Übertragungssignal enkodiert und über einen Kanal zu einem Empfänger linear weitergegeben wird; der Empfänger dekodiert das empfangene Signal und überträgt die ursprüngliche Information zum Informationsziel. Im wissenschaftlichen Kontext kann ein Forscher als Informationsquelle aufgefasst werden, der eine Information an einen Kollegen oder interessierten Laien als Informationsziel weitergibt. 57 Bei einer komplexen Kommunikation mit technischen Hilfsmitteln sind auf dem Weg der Informationsübertragung verschiedene Überträger der Information zwischengeschaltet, die als Empfänger (Receiver) und Sender (Transmitter) der Information dienen, wie z.B. der Computer oder die wissenschaftliche Fachzeitschrift. 58 Ein zentrales Element der Signalübertragung ist die Störquelle, die das übertragene dene Definitionen, die er in vier Klassen (subanimalische, animalische, Human- und Massenkommunikation) unterteilt. 54 Meggle (1997, 306f.) kritisiert an solchen Definitionen, dass sich darin das Spezifische der zwischenmenschlichen Kommunikation nicht wiederfinden ließe. 55 Vgl. Rusch (2002, 104). 56 Shannon/ Weaver (1976). Ähnlich einfach ist das Wortmodell von Lasswell (1948) mit den Kommunikationselementen: „Who - says what - in which channel - to whom - with what effect? “ 57 Für die Anwendung des linearen Kommunikationsmodells auf den Wissenschaftskontext, vgl. Martin (1999). 58 Eine weitere Übertragungsstufe stellen Wissenschaftsjournalisten dar, die als kanalisierende Gatekeeper (Schleusenwärter) zwischen Wissenschaftler und Laie fungieren und eigenen Regeln des En- und Dekodierens unterworfen sind; vgl. Burkart (2002, 275ff.) sowie Kap. 5.2.2. <?page no="86"?> 2. Philosophische Grundlegung des Transparenzbegriffs 82 Signal (zer)stören oder überlagern und zu einem informationstheoretischen Rauschen (Noise) modifizieren kann. Wendet man dieses Modell auf die informationelle Vermittlung von Transparenz an, lässt sich folgender Zusammenhang feststellen: Damit ein Sachverhalt für einen Transparenzsuchenden (Informationsziel) transparent werden kann, müssen diesbezügliche Informationen vom Transparenzvermittler (Informationsquelle) zur Verfügung gestellt und an ihn gesendet worden sein. Verheimlicht der Transparenzvermittler sachbezogene Informationen, entsteht unumgänglich Intransparenz. Das Phänomen der formellen Transparenz bzw. Intransparenz von Sachverhalten in Bezugnahme auf die kommunikativen Handlungsweisen des Transparenzvermittlers kann hiermit anschaulich erklärt werden. Darüber hinaus bietet das Modell Erklärungsmöglichkeiten, weshalb Sachverhalte für einen Transparenzsuchenden intransparent bleiben, obwohl der Transparenzvermittler Informationen weitergegeben hat: Aufgrund von Kommunikationsproblemen auf den verschiedenen Ebenen (Quelle, Kanal, Empfänger) können die gesendeten Informationen nicht ihr Ziel erreichen oder gestört werden. Mithilfe der nachrichtentechnischen Kommunikationstheorie besteht die Möglichkeit einer einfachen Identifikation von Störungen: 59 Ein Sachverhalt bleibt beispielsweise intransparent, wenn die Informationen auf der Ebene der Informationsübertragung verloren gehen oder mit irrelevanten Informationen überlagert werden. Dies begründet die These, dass ein Vorgang durch die Erhöhung der vermittelten Informationsmenge nicht notwendig transparent wird. Eine Problemlösung kann darin bestehen, alternative Informationssysteme mit anderen Quellen, Sendern oder Kanäle zu nutzen. Allerdings erfasst das informationstechnologische Kommunikationsmodell nicht das Problemfeld inhaltlicher Transparenz bzw. Intransparenz, 60 was zur Erörterung seiner grundlegenden Schwachpunkte bei einer Übertragung auf die menschliche Kommunikation überleitet: 61 Kommunikatoren erscheinen als feste technische Einheiten, die Informationen in einem kausalen Prozess auf Rezipienten übertragen. Unter der Zielsetzung des Strukturerhalts wird zwischenmenschliche Kommunikation zu einem bloßen 59 Das originäre Ziel der Theorie ist laut Janich (2006, 71f.) „die Lösung des nachrichtentechnischen Problems, die Leistung eines Übertragungskanals, in dem (unvermeidlich) Störungen auftreten, zu quantifizieren und seinen Wirkungsgrad zu optimieren.“ Die Theorie habe „also nichts mit der Offenheit menschlicher Kommunikation zu tun, sondern mit den funktionalen Beschränkungen eines technischen Systems“. 60 „It then becomes natural to see informing mainly as a matter of disclosure and/ or dissemination by those in control of information, and overlook or downplay the fact that effective communication must reach audiences“, konstatiert O’Neill (2006, 81). 61 Im Folgenden beziehe ich mich auf Kritikpunkte, die sich pointiert bei Janich (2006, 30ff. und 80f.) und Burkart (2002, 428) finden. Wenngleich Shannon/ Weaver (1976) in der Einleitung ihrer Theorie eine solche Übertragung ausschließen (41), führen sie Beispiele aus diesem Bereich ein (16). <?page no="87"?> 2.2. Kommunikationstheoretische Vorüberlegungen 83 Auswahlproblem aus einer vorgegebenen Menge von Zeichen oder Zeichenkombinationen formalisiert, deren Erfolg davon abhängt, ob die übertragene Information das vom Kommunikator beabsichtigte Verhalten beim Rezipienten funktional und ungestört herbeigeführt hat. 62 Das Kommunikat des technischen Kommunikationsmodells, die Information als abstrakt definierter, physikalisch erfassbarer Übermittlungsfaktor, wird ausschließlich in der syntaktischen Struktur, d.h. in „Häufigkeit, Anzahl und Auftretenswahrscheinlichkeit von Zeichen sowie deren Beziehungen untereinander“ betrachtet. 63 Wird zum Zweck der vereinheitlichten Anwendung auf verschiedene Objekte (Maschinen und lebende Organismen) von semantischen und pragmatischen Aspekten der Kommunikation abgesehen, lassen sich folgende impliziten Vorannahmen aufdecken: Auf semantischer Sprachebene wird eine jeweils festgelegte Bedeutung von Information vorausgesetzt, die durch den Kommunikationsprozess vermittelt werden kann; die Möglichkeit von zwischenmenschlichen Verständigungsproblemen über die Bedeutung von Informationen bleibt unberücksichtigt. 64 Auf pragmatischer Sprachebene werden die möglichen Sprechhandlungstypen auf genau einen, den des „Informierens“, reduziert; das Einhalten eines Regelgefüges als Grundlage für Bedeutungsübereinkünfte zwischen den Kommunikationsteilnehmern ist systematisch nicht erfassbar, weshalb normative Kategorien wie Wahrheit bzw. Falschheit oder Ehrlichkeit bzw. Unehrlichkeit entfallen. 65 Beim „nachrichtentechnischen Paradigma“ ist es unerheblich, ob die Bedeutung auf der Seite der Rezipienten auch wirklich erfasst wird oder ob die weitergegebene Information wahr oder falsch ist, 62 Diese Sichtweise ist bei Shannon/ Weaver (1976, 13) nachlesbar. 63 Ott (2007, 389). Eine Weiterentwicklung des informationstheoretischen Kommunikationsmodells stellt die Theorie Luhmanns dar, der Kommunikation als Synthese einer dreistelligen Selektion definiert: Kommunikation beinhaltet neben dem Informationscharakter einen Mitteilungsaspekt und die Dimension der Verständigung über die Bedeutung von Botschaften; vgl. Luhmann (1988, 203; 1997, 71ff.). Information wird außerdem entscheidend anders verstanden, wenn sie im Kommunikationsprozess keineswegs übertragen, sondern durch sie Bedeutungsinhalte beim Rezipienten wachgerufen werden („Aktualisierung von Sinn“). 64 So Beck (2006, 97). 65 Gethmann (1999, 31f.) benennt folgende pragmatische Probleme des Nachrichtenmodells: „(a) Die analytischen Einheiten des komplexen Phänomens der Kommunikation sind nicht Signalübertragung, sondern Redehandlungen (speech acts). (b) Das Benachrichtigen ist eine Redehandlung neben vielen anderen. Der propositionale Gehalt des Benachrichtigens heiße ‚Information‘. Es ist somit keineswegs der einzige Zweck des Kommunizierens, Informationen auszutauschen. (c) Redehandlungen können gelingen oder mißlingen, weil sie Funktionskriterien zu genügen haben, die u.a. auch Regeln für Verpflichtungen/ Berechtigungen von Sprechern/ Hörern enthalten.“ Obgleich z.B. Badura (1992) für die menschliche Kommunikation zahlreiche syntaktische, semantische und pragmatische En- und Decodierungsprozesse ins Nachrichtenmodell einfügt, bleibt sein Modell m.E. der unidirektionalen Linearität verhaftet. <?page no="88"?> 2. Philosophische Grundlegung des Transparenzbegriffs 84 was eine zunehmend negative Konnotation des Informationsbegriffs erklärt. 66 Im Nachfolgenden werden philosophische Kommunikationstheorien untersucht, die dezidiert das Problemfeld der zwischenmenschlichen Interaktion zu erfassen suchen. 2.2.2. Sprachphilosophische Theorien der zwischenmenschlichen Kommunikation In verschiedenen kommunikationsreflektierenden Disziplinen (z.B. Kommunikations- und Sprachwissenschaften, Sprachphilosophie) wird die zwischenmenschliche Kommunikation als eine komplexe verbale oder nonverbale Interaktion zur Bedeutungsvermittlung verstanden, bei der sich die Kommunikationspartner handelnd wechselseitig aufeinander beziehen. 67 Mit der Vorentscheidung, Kommunikation als Interaktion bzw. Handlung zu verstehen, geht einher, dass sie intentional ist; wie bei nicht-kommunikativen Handlungsformen beabsichtigen die beteiligten Handlungssubjekte, auf kommunikativem Wege ihre jeweiligen Absichten bzw. Ziele zu verwirklichen. 68 Die basalen Handlungsabsichten bzw. Zielsetzungen sind allerdings in den unterschiedlichen Theorien zwischenmenschlicher Kommunikation umstritten: 69 Konventionalistische Kommunikationstheorien, die den bedeutungsrelevanten Gebrauch von Zeichen auf die Befolgung von Regeln zurückführen, setzen die abstrakte Zielsetzung des sprecherseitigen Verstandenwerdens bzw. des hörerseitigen Verstehens der sprachlichen Äußerung und zwar hinsichtlich des illokutionären Zwecks voraus. 70 Bei normativ anspruchsvollen universalpragmatischen Kommunikationstheorien wird die wechselseitige Verständigung bzw. das Einverständnis über die kommunikativen Geltungsansprüche als konstitutive Zielsetzung festgelegt. 71 Intentionalistische Kommunikationstheorien, die die Bedeutung 66 So z.B. Ott (2004, 262). 67 Vgl. Meggle (1997, 6) für die Sprachphilosophie, Rusch (1994, 63) und Pürer (2003, 62) für die Kommunikationswissenschaften, die teilweise zwischen Interaktion und Kommunikation als zwei Perspektiven auf dasselbe Phänomen unterscheiden: Interaktion meint dann die soziale Beziehungsebene und wird dem Kommunikationsbegriff übergeordnet; Kommunikation bezeichnet hingegen schon der Wortbedeutung nach die Inhaltsebene der Interaktion; so z.B. Bonfadelli (2001) und Maletzke (1998, 44). 68 Es ist das Verdienst von Austin (1986), dass wir sprachliche Äußerungen als Handlungen auffassen: „[D]en Satz äußern heißt: es zu tun.“ (29) 69 Vgl. Scholz (1999, 265f.) für die Unterscheidung zwischen pragmatisch-konventionalistischen und intentionalistischen Bedeutungstheorien. 70 Etwa Searle (1982, 84ff.) versieht die unterschiedlichen Sprechakttypen mit dem einheitlichen Ziel des Verstandenwerdens ihres illokutionären Zwecks; lediglich bei den „Direktiva“ bestünde der spezifische illokutionäre Zweck, eine bestimmte hörerseitige Reaktion zu bewirken. Vgl. auch Kap. 2.3.2.1. 71 Wie Demmerling (2001, 914) darstellt, meint Verständigung im engen Sinne - gegenüber dem weiten Bedeutungsumfang, der synonym zum allgemeinen Kommunikati- <?page no="89"?> 2.2. Kommunikationstheoretische Vorüberlegungen 85 sprachlicher Äußerungen hauptsächlich von der Sprecherabsicht abhängig machen, postulieren eine intendierte Reaktion des Hörers als einheitliche kommunikative Zielsetzung, die sich nach dem Erfassen der sprecherseitigen Absicht einstellen soll. 72 Trotz genannter Divergenzen in der obersten Zielsetzung stellt das Bedeutungsverstehen sprachlicher Äußerungen ein konsensuelles primäres „Nahziel“ jeder Kommunikationstheorie dar, das unabhängig sekundärer „Fernziele“ zu verwirklichen gilt. 73 Als „Sprecher“ wird dabei die Rolle desjenigen Kommunikationspartners bezeichnet, der eine Äußerung mit dem Ziel hervorbringt, etwas (z.B. einen Sachverhalt) verständlich mitzuteilen (Mitteilungsleistung) und als „Hörer“ die Rolle desjenigen, der den Inhalt der Mitteilung, d.h. die Bedeutung der sprachlichen Äußerung verstehen möchte (Verstehensleistung). 74 Angesichts der Nah- und Fernziele ist es weitgehend unkontrovers, dass sich die genannten Kommunikationsteilnehmer zu ihrer Verwirklichung an bestimmten Kriterien und Regeln zu orientieren haben, die sich bei Annahme einer idealen Kommunikationskonzeption moralisch begründen lassen (z.B. Habermas), aber hauptsächlich funktionalistisch rekonstruiert werden (z.B. Searle, Grice). 75 Nehmen wir erneut den kommunikativen Handlungstyp der „Informierung“, der für die Transparenzproblematik onsbegriff ist - eine regelgeleitete, prozessural herbeigeführte Einigung über die verständigten Sachverhalte. Nach Habermas (1981, Bd.1, 387) wohnt die Zielsetzung der Verständigung über die Gültigkeit des Gesagten, als „Telos der menschlichen Sprache“ inne. Das strategische Handeln (die Umsetzung eigener Zwecke ohne rationales Einverständnis der Beteiligten) parasitiere am verständigungsorientierten kommunikativen Handeln als „Originalmodus der Sprache“ (385ff.). 72 Intentionalistische Konzeptionen, die z.B. von Harras (2004) und Meggle (1997) vertreten werden, gehen auf Grice (1979) zurück, für den das primäre Kommunikationsziel jeder kommunikativen Handlung im Evozieren einer gewünschten Reaktion beim Hörer ist. Hierzu ausführlicher in Kap. 2.3.2.1. 73 Während etwa Habermas (1989, 404) das Bedeutungsverstehen sprachlicher Ausdrücke als Kommunikationsbedingung (nicht als Geltungsanspruch) voraussetzt - er bezieht sich auf eine propositionale Sprache, die aufgrund des kulturellen Vorverständnisses deutbar ist - expliziert Gethmann (1999, 35) eine Gelingensbedingung der Verständlichkeit: Der kommunikative Handelnde muss „die verwendeten Zeichen entweder aus dem gemeinsam verwendeten Zeichenvorrat schöpfen oder aber Zeichen explizit in diesen einführen“, damit der Opponent auf seine Geltungsansprüche reagieren kann. Ähnlich bei Grice: Während dieser das hörerseitige Verstehen der sprecherseitigen Intention für eine erfolgreiche Kommunikation voraussetzen muss, ergänzt Meggle (1997, 29ff.) die primäre Erfolgserwartung beim Grice’schen Grundmodell um eine zeitlich vorgeordnete sekundäre Verstehenserwartung des Sprechers. 74 Da die Rollenübernahme rasch wechselt, spricht Schulz (1994, 147) von einer „Rollenkoinzidenz“. 75 Etwa Habermas (1999, 68) geht bei seiner universalpragmatischen Rekonstruktion von Geltungsansprüchen (Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Richtigkeit), die bei „kommunikativen Handlungen“ erhoben werden und prinzipiell einlösbar sein müssen, über Searles Auffassung konstitutiver Regeln weit hinaus. <?page no="90"?> 2. Philosophische Grundlegung des Transparenzbegriffs 86 einschlägig ist, 76 und präsupponieren als Nahziel, dass der Sprecher sich verständlich machen möchte, sowie als intentionalistisches Fernziel, dass der Sprecher einen Rezipienten von dem Bestehen eines Sachverhalts überzeugen möchte. Ohne ausführlich auf die einzelnen Kriterien und Regeln einzugehen, setzt etwa die Verwirklichung der Verstehenszielsetzung jeder kommunikativen Handlung eine sprecherseitige Orientierung am Kriterium der „Verständlichkeit“ einer sprachlichen Äußerung voraus. Hierunter soll zunächst das Einhalten eines Regelgefüges als Grundlage für semantische und pragmatische Bedeutungsübereinkünfte verstanden werden, während die inkludierten Regeln an anderer Stelle expliziert werden. 77 Der Gedanke der sprachlichen Normativität kann auch hinsichtlich des Fernziels weiterentwickelt werden: Damit ein Sprecher einen Rezipienten von einem Sachverhalt überzeugen kann, muss sich jener an bestimmten Geltungskriterien sprachlicher Äußerungen - allen voran der Leitkategorie der Wahrheit - orientieren. 78 Denn nur unter dem Eindruck, der Sprecher vermittle wahre Informationen, die eine Bezugnahme zum Sachverhalt garantieren, wird sich der Rezipient vom Bestehen des Sachverhalts überzeugen lassen. Der in diesem Zusammenhang verwendete Informationsbegriff unterscheidet sich demzufolge fundamental vom nachrichtentechnischen Konzept. Nach der kommunikationstheoretischen Differenzierung zwischen einer materiellen Trägerschaft von Kommunikaten (sprachliche Zeichen) und deren Bedeutung, stellt Information nunmehr keinen Bedeutungsträger, sondern einen spezifischen Bedeutungsgehalt einer Äußerung dar: Eine Information ist eine Aussage über einen Sachverhalt, die den Kriterien der Verständlichkeit und Wahrheit unterworfen ist. 79 Was bedeuten die bisherigen Einsichten für die Transparenzproblematik? Insgesamt bieten die Theorien der zwischenmenschlichen Kommunikation ein höheres Analyse- und Erklärungspotential für informationelle 76 Vgl. Janich (2006, 157), der Informierung als „A informiert B, dass s“ definiert, wobei ein Sprecher einen Hörer von einem Sachverhalt s Kenntnis gibt. Was hier als Informierung bezeichnet wird, behandelt Austin als konstativen bzw. Searle als repräsentativen Sprechakt und postuliert Grice als Standardtyp der Kommunikation. 77 Vgl. Kap. 2.3.2.3. 78 Bei darstellenden kommunikativen Handlungen (hier: „Informierung“) ist es vor allem die Wahrheit, die als Qualitätskriterium angeführt wird; weist etwa bei Searle (1971, 49) fast jeder Sprechakt neben einer „illokutionären Funktion“ einen „propositionalen Gehalt“ mit einer semantischen Struktur auf, ist stets der Wahrheitsbegriff einschlägig. Spezifischer wird Searle beim Sprechakttyp des Behauptens (Repräsentativa), bei dem sich der Sprecher dem Hörer gegenüber konventionell zur Wahrheit der ausgedrückten Proposition bzw. zur Befolgung der konstitutiven „Aufrichtigkeitsregel“ verpflichtet. 79 Vgl. Ott (2004, 42), der bei seiner alltagsnahen Rekonstruktion des Informationsbegriffs die Kriterien der Wahrheit, Neuheit und Relevanz analysiert, wobei letztere für ihn die Verständlichkeit der Information impliziert. <?page no="91"?> 2.2. Kommunikationstheoretische Vorüberlegungen 87 Transparenz (bzw. Intransparenz) als unidirektionale nachrichtentechnische Kommunikationsmodelle. Sie weisen mehrere Möglichkeiten aus, weshalb die epistemische Zielsetzung der Transparenz von Sachverhalten für Transparenzsuchende unerreicht bleibt, obwohl Informationen ohne Störungen an sie weitergegeben werden. Durch den Perspektivenwechsel von der Quantität der Bedeutungsträger auf die Qualität des Bedeutungsinhalts, wird erfassbar, dass Informationen, die bestimmter Geltungskriterien ermangeln, durchaus keinen Bezug zum relevanten Sachverhalt aufweisen und folglich keine Transparenz erzeugen können. Sofern sprachliche Äußerungen (u.a. Informierungen) nicht nur als eine syntaktische Abfolge sprachlicher Zeichen gelten, sondern eine regulierte semantische und pragmatische Bedeutungsdimension innehaben, bieten die erwähnten Kommunikationstheorien eine Erklärung dafür, dass Informationen kognitiv unzugänglich bleiben und keine Transparenz über relevante Sachverhalte herstellen. Zusammenfassend können Informationen erst bei Erfüllung bestimmter qualitativer Kriterien formelle und inhaltliche Transparenz erzeugen. Der Entwicklung einer solchen Kriteriologie transparenzvermittelnder Informationen sind die nachfolgenden Untersuchungen gewidmet. Zur Charakterisierung des bislang philosophisch mangelhaft erschlossenen Transparenzkonzepts ist es ratsam, sich an verfügbaren und bereits systematisch gut erfassten kommunikativ-epistemischen Kategorien zu orientieren, die sich in einer langen philosophiegeschichtlichen Tradition als tragfähig erwiesen haben. Aus diesem Grund werden die Kriterien der Wahrheit und Verständlichkeit, die bei der kommunikativen Handlung der Informierung als funktionale Leitkategorien erwähnt wurden, als Ausgangs- und Anhaltspunkt herangezogen, um sukzessiv eine kriteriologische Bestimmung der formellen und inhaltlichen Transparenz zu leisten. Setzt bereits jede Informierung, wie wir gesehen haben, die Erfüllung dieser normativen Kriterien voraus, stellt sich insbesondere die Frage, was informationelle Transparenz darüber hinaus auszeichnet bzw. was das unterscheidende Spezifikum einer transparenten Informierung ist. Das nachfolgende Kapitel beginnt bei der formellen Dimension des Transparenzkonzepts und einer Verhältnisbestimmung zum Wahrheitsbegriff. <?page no="92"?> 2. Philosophische Grundlegung des Transparenzbegriffs 88 2.3. Eine Kriteriologie informationeller Transparenz 2.3.1. Die formelle Dimension informationeller Transparenz und das Problem der sachbezogenen Informierung 2.3.1.1. Wahrheitstheoretische Anmerkungen Gültigkeitskriterien für Wissensbzw. Informationssätze orientieren sich klassischerweise am Konzept der Wahrheit, unter dessen Bezugnahme sich Wissen von falschen Überzeugungen bzw. Information von Desinformation unterscheiden lässt. 80 Der Begriff „Wahrheit“ bzw. das Adjektiv „wahr“ wird im lebensweltlichen und philosophischen Kontext als ein metasprachlicher Reflexionsterminus gebraucht, um eine bestimmte Qualität von sprachlichen Äußerungen zu kennzeichnen, die - wie im Modus der Behauptung oder der Mitteilung - einen Wahrheitsanspruch implizieren. 81 Wenngleich es kontextuell divergieren kann, unter welchen Bedingungen man von Wahrheit spricht, 82 ist es beim Transparenzbegriff die weit verbreitete und allgemein akzeptierte Korrespondenztheorie der Wahrheit (oder Adäquationstheorie), deren Wahrheitskriterium für die Gültigkeit von Wahrnehmungs- und Wissensaussagen herangezogen wird. 83 Dem Namen zufolge ist das grundlegende Kriterium die Korrespondenz zwischen einem „Wahrheitsträger“ (truth bearer), der Bedeutung eines Aussagesatzes (der Sachverhalt), und einem „Wahrmacher“ (truth maker), einer von unserer Sprache und unseren Gedanken unabhängigen Realität: „Ein Satz ‚A‘ ist genau dann wahr, wenn A“, 84 wenn also Aussage und Wirklichkeit übereinstimmen. Bei dieser Auffassung von Wahrheit wird die Existenz einer von unseren Vorstellungen und Wünschen zu unterscheidenden widerständigen Wirklichkeit vorausgesetzt (realistischer Aspekt), 85 wobei 80 Im Folgenden beziehe ich mich hauptsächlich auf die Darstellungen von Lorenz (2004a und b), sowie Puntel (1993 und 2001). Gegenüber Verfechtern eines substantiellen Wahrheitsbegriffs, die von seiner epistemologischen Orientierungsfunktion überzeugt sind, sehen Kritiker durch das Fehlen einer ontologisch, epistemisch oder semantisch bestimmbaren Grundlage Wahrheit als einen rein formalen Begriff an; vgl. Schantz (2007) für den Diskussionsstand. 81 Vgl. Tugendhat/ Wolf (1983, 217f.), der eine zweite geläufige, aber objektbezogene Verwendungsweise von wahr im Sinne von „echt“ (z.B. wahrer Freund) nennt. 82 Vgl. Krings (1983). 83 Nach Puntel (2002, 872) können philosophische Wahrheitsmodelle nicht auf das korrespondenztheoretische Element verzichten. Z.B. Keuth (1991, 120) und Janich (2005, 31) halten die Korrespondenztheorie für die (vereinfachte) Wahrheitstheorie der Naturwissenschaften. 84 Lorenz (2004b, 595). 85 Es wird angenommen, dass Aussagen (bzw. Gedanken) zumindest teilweise die Beschaffenheit einer geist- und sprachunabhängigen Realität erfassen können, wobei Variablen in der Relation denkbar sind, ohne den realistischen Standpunkt aufzugeben: Für den Referenzpunkt der Wirklichkeit ist nicht entscheidend, ob diese als <?page no="93"?> 2.3. Eine Kriteriologie informationeller Transparenz 89 es für das Wahrheitskonzept sekundär ist, ob und inwieweit die Wahrheit vom Erkenntnissubjekt erkannt wird (nicht-epistemischer Aspekt). 86 Der Abgleich des Wahrheitsträgers mit der Wirklichkeit, dem Sachbezug, bedingt die Singularität der Wahrheit einer Aussage: es gibt nur eine Wahrheit, wie es auch nur eine Wirklichkeit gibt. Während sich in der alltagssprachlichen Verwendung hauptsächlich praktische Schwierigkeiten bei der Feststellung der Wahrheit konkreter Behauptungen ergeben, werden bei philosophischen Untersuchungen begrifflich-theoretische Probleme erörtert: Als ontologisches Hauptproblem gilt die Beantwortung der Frage, wie der Gedanke der Korrespondenz zwischen Sprache und Wirklichkeit konzeptuell expliziert werden soll (realistischer Aspekt). Bei den klassischen Abbildtheorien ist die Vorstellung leitend, wirkliche Dinge mit ihren Eigenschaften und Beziehungen seien im Bewusstsein abgebildet und könnten adäquat sprachlich ausgedrückt werden; bei den weiterentwickelten Isomorphietheorien geht man davon aus, dass Gegenstände zumindest strukturgleich abgebildet und versprachlicht werden. 87 Wird bei einer ontologischen Bestimmung der beiden Relata einerseits eine subjektunabhängige Wirklichkeit angenommen, die aus Objekten und deren Eigenschaften besteht, und andererseits Aussagesätzen, die eben nicht die Objekte und Eigenschaften, sondern Sachverhalte bzw. Tatsachen darstellen, 88 so besteht ein Erklärungsdefizit hinsichtlich der Korrespondenz zwischen derart unähnlichen Entitäten wie Weltgegenständen und Aussagen. Eine Lösung des Problems wird darin gesehen, die wahrheitskonstitutiven Elemente - Wirklichkeit, Denken und Sprache - als wesentlich aufeinander bezogen zu verstehen: Ausgangspunkt ist die unbestreitbare Annahme, dass unser Denken weder einen Standpunkt jenseits der Sprache einnehmen, noch für unser Denken eine nicht-sprachliche Welt mit Sachverhalten existieren kann. Indem die Wirklichkeit von Weltgegenständen immer erst aus dem handelnden Umgang und der sprachlichen Definition in „wahren“ Sätzen hervorgeht, löst sich das Problem der unabhängig von der Erkenntnis (z.B. als Ding an sich) oder davon abhängig (als Erscheinung) angesehen wird. Der ontologisch-epistemologische Hintergrund von Transparenz kondensiert in der Korrespondenztheorie. 86 Nach der These des alethischen Realismus leitet sich der objektive Wahrheitsstatus einer Aussage nicht von der subjektiven Erkennbarkeit, Verifizierbarkeit oder Akzeptanz der Wahrheit ab. Darin unterscheidet sich der Wahrheitsbegriff vom Begriff der Gültigkeit, der auf eine allgemeine Akzeptanz verweist. Vgl. die Erläuterungen von Künne (2005, 169ff.) zur These des alethischen Realismus. 87 Da es nach Brentano (1974) schon bei einfachen Sätzen schwerfällt, eine Entsprechung der Universalien (Eigenschaften und Relationen) in der Wirklichkeit wiederzufinden - noch schwieriger sei es bei negativen oder probabilistischen Sätzen - gelten Isomorphietheorien, wie z.B. beim frühen Wittgenstein (1984b, 4.05f., 4.021 und 4.024), als Alternativen zu den Abbildtheorien. 88 Vgl. Frege (1976), der eine „Tatsache“ als einen wahren Gedanken definiert. <?page no="94"?> 2. Philosophische Grundlegung des Transparenzbegriffs 90 sprachlichen Abbildung außersprachlicher Gegenstände auf. 89 Der Umstand, dass die Sachebene nur sprachlich erschließbar ist, garantiert ein Entsprechungsverhältnis zwischen sprachlich „vorstrukturierten“ Weltgegenständen und diesbezüglichen sprachlichen Darstellungen. 90 Im Unterschied zu pragmatistischen Wahrheitstheorien wird allerdings die Existenz einer außersprachlichen Realität angenommen, die auf eine Korrektur unserer Zugangsweise, unseres sprachlichen Bezugsystems „drängen“ kann, so dass sie „besser zur Gegebenheit“ gebracht wird. 91 Epistemologische Einwände an der Korrespondenztheorie betreffen die Feststellbarkeit der Übereinstimmungsrelation zwischen Sprache und Realität und die Rechtfertigbarkeit eines Wahrheitsanspruchs angesichts der genannten ontologischen Probleme (nicht-epistemischer Aspekt). 92 Um der Gefahr zu entgehen, bei Wahrheit auf etwas zu verweisen, das unsere kognitiven Fähigkeiten übersteigt, bestimmen Vertreter eines antirealistischen, epistemischen Wahrheitsbegriffs die Aussagenwahrheit in Abhängigkeit von unserem (inter-)subjektiven Fürwahrhalten. Bei der Wahrheitszuschreibung orientiert man sich an der Erfüllung epistemisch zugänglicher Kriterien, die hauptsächlich aus der Konsens- und Kohärenztheorie der Wahrheit gewonnen werden. Die Konsenstheorie der Wahrheit mit dem Kriterium „Der Satz ‚A‘ ist genau dann wahr, wenn jeder Sachkundige und Gutwillige hätte zustimmen können“ 93 entspricht zwar dem teils prozesshaften, intersubjektiven Charakter der Wahrheitsfindung - insbesondere im wissenschaftlichen Kontext - 94 , genügt aber nicht dem Unbedingtheitsanspruch des Wahrheitsprädikats. Denn wenngleich die Zustimmungspraxis unter idealen Bedingungen konzipiert wird, um widersprüchliche Wahrheitsbehauptungen 89 Vgl. z.B. Putnam (1991, 194f; 1993, 206f.), der bei seinem internen Realismus davon ausgeht, dass außersprachliche Entitäten, auf die wir in einer Aussage Bezug nehmen, bereits durch den sprachlichen Referenzrahmen der Sprachgemeinschaft vorstrukturiert sind, so dass wir die intendierten Gegenstände in unseren sprachlichen Aussagen nicht direkt erreichen. 90 Nach Janich (2005, 35f.) könne außerhalb der Sprachpraxis „die Wirklichkeit von Sachverhalten auch kein Problem werden […], das mit der Wahrheit sprachlicher Darstellung zu tun hätte.“ 91 Anzenbacher (2002, 212). Schockenhoff (2005, 169) fasst den realistischen Standpunkt wie folgt auf: „Wir halten uns nicht nur selbstbezüglich in Sprachspielen, Weltbildern und anderen von uns hervorgebrachten Erklärungssystemen auf, sondern bewegen uns durch diese in einer realen Welt, über die wir uns mit Hilfe wahrer Aussagen verständigen können.“ 92 Vgl. Krüger (1995, 920) und Albert (1969), dessen Münchhausen-Trilemma auf die Begründbarkeit der Wahrheitskriterien anwendbar ist. 93 Lorenz (2004b, 595). 94 Wie Schnädelbach (2002, 186) sind viele Wissenschaftsphilosophen (z.B. Ziman 1991b) der Meinung, die wissenschaftliche Praxis habe den klassischen Wahrheitsbegriff de facto zugunsten desjenigen einer intersubjektiven Rechtfertigung aufgegeben. <?page no="95"?> 2.3. Eine Kriteriologie informationeller Transparenz 91 unterschiedlicher Akzeptoren abzuwenden, 95 schließt dies nicht die Möglichkeit einer kontingenten und faktisch defizienten Rechtfertigungspraxis aus. 96 Die Kohärenztheorie der Wahrheit mit der Bedingung „Der Satz ‚A‘ ist genau dann wahr, wenn sich ‚A‘ konsistent begrifflich und logisch zusammenhängend in ein konsistentes, begrifflich und logisch zusammenhängendes […] Aussagensystem einbetten lässt“ 97 fängt zwar den wichtigen Aspekt ein, dass wir Wahrheit nicht nur auf einzelne Aussagen, sondern auch Aussagenzusammenhänge beziehen, 98 wird aber durch die Möglichkeit paralleler kohärenter Systeme desavouiert. Da jede dieser wahr-heitstheoretischen Alternativen Implikationen umfasst, die mit dem Begriff der Wahrheit nicht vereinbar sind, werden sie weniger als eigenständige Wahrheitsdefinitionen, denn als notwendige Kriterien verstanden, die man bei einer philosophischen Konzeption von Wahrheit nicht übergehen kann. 99 Folglich umfasst ein Wahrheitsbegriff, der bei der Transparenzproblematik Orientierung bieten möchte, gemäß den genannten Wahrheitstheorien drei Aspekte: 100 Erstens, der Sachbzw. Wirklichkeitsbezug bleibt eine Voraussetzung jeder Wahrheitstheorie, selbst unter der Bedingung kontextueller und sprachlich-begrifflicher Pluralität (Korrespondenzkriterium); zweitens, der Wahrheitsbegriff impliziert eine „innersprachliche Grunddifferenz“ zwischen einem in Form einer Behauptung erhobenen und intersubjektiv einlösbaren (argumentativ-begründbaren) Geltungsanspruch (Konsenskriterium); drittens, für wahre Aussagen ergibt sich die Notwendigkeit der Implementierbarkeit in einen sprachlichen Kohärenzrahmen (Kohärenzkriterium). Eine mögliche Spannung zwischen den notwendigen, sich gegenseitig ergänzenden Kriterien, auf deren Grundlage sprachliche Äußerungen bewertet werden, lässt sich dadurch auflösen, dass die Korrespondenz zwischen Aussage und Wirklichkeit (durch transparente, nachprüfbare Beobachtung) als Begründung für den Geltungsanspruch einer Aussage herangezogen werden kann, die in ein kohärentes sprachliches Rahmenwerk zu integrieren ist. 101 Sie dienen zusam- 95 Baumann (2002, 174) hält es für eine Ironie, dass solche immanenten Theorien „mit einer Wahrheitsdefinition enden, die Wahrheit vollständig ‚transzendent‘ macht.“ 96 Aus der Perspektive des alethischen Realismus ist ein Irrtum der Diskursteilnehmer trotz aller Idealisierung der Konsensbedingungen möglich. Eine kollektive Dezision könne nur dann ausgeschlossen werden, wenn der Konsens „eine Folge der richtigen Erkenntnis, und nicht ihr Kriterium“ ist, befinden Tugendhat/ Wolf (1983, 238). 97 Lorenz (2004b, 595). 98 Vgl. Tugendhat/ Wolf (1983, 218). 99 Eine Wahrheitstheorie kann nach Puntel (1993, 212) „nur dann dem Vorwurf des Einseitigen und Fragmentarischen entgehen [….], wenn sie sich nicht - jedenfalls nicht ausschließlich - von einem Aspekt bzw. einer Dimension der Wahrheit leiten lässt“. 100 Ich folge hierbei Puntel (1993, 208ff.). 101 Vgl. Ott (1997, 335). Habermas (1981, 82) schließt nicht aus, dass Diskursteilnehmer ihren Konsens auf der Grundlage eines realistischen Weltbezugs bilden, wenngleich <?page no="96"?> 2. Philosophische Grundlegung des Transparenzbegriffs 92 menführend als empirische Prüfsteine, welche zwar in ihrer Funktion den Wahrheitsbegriff nicht ausfüllen können, aber dessen Leitfunktion für lebensweltliche und wissenschaftliche Erkenntnisprozesse bzw. für die Bestimmung von Wissen aufrechterhalten. 102 2.3.1.2. Wahrheit versus Vollständigkeit der Informationen Insgesamt besteht zwischen Information, Wahrheit und Transparenz folgender Zusammenhang: (a) Sofern (perzeptive) Transparenz die Wahrnehmbarkeit eines Sachverhalts ermöglicht und Wahrnehmung als Wissensquelle akzeptiert wird, 103 ist sie sowohl der Ausgangspunkt für die Formulierung korrespondierender Wissensaussagen bzw. abgeleiteter Informationen, also auch der Endpunkt für eine begründete Rechtfertigung und intersubjektive Überprüfung von Informationen anhand der beobachtbaren Sachverhalte. 104 (b) Mittels des Wahrheitsbegriffs ist es möglich, eine zutreffende Information über einen Sachverhalt von einer Fehl- oder Desinformation zu unterscheiden. Falsche Informationen können sowohl irrtümlicherweise als auch absichtlich mit dem Ziel verbreitet werden, bestimmte Rezipientengruppen zu täuschen und zu beeinflussen. Da sie häufig mit wahren Informationen vermischt vorliegen, sind sie für den Rezipienten als solche nur schwer erkennbar und werden zunächst für-wahr-gehalten; erst bei einer Möglichkeit der eingehenden Prüfung sind sie als falsch oder das Korrespondenzkriterium nicht in die Wahrheitsdefinition einfließt: „Darüber, ob der Sachverhalt der Fall ist oder nicht, entscheidet nicht die Evidenz von Erfahrung, sondern der Gang der Argumentation“ (Ders. 1973, 218). 102 Vor diesem Hintergrund wurde das Wahrheitskonzept transzendental reformuliert, dem die genannten Wahrheitskriterien als „idealisierte Limeskonzepte“ (Ott) untergeordnet wurden; vgl. z.B. Krings (1983, 29), für den transzendentale Wahrheit in Anschluss an Kant ein apriorischer, „nur im Denken möglicher Begriff“ der Vernunft ist, welcher unsere Erkenntnis bestimmt. Trotz der Einschränkung, transzendentale Wahrheit könne niemals empirisch erfasst werden, wird ihre Bedeutung vor allem für die (ideale Konzeption der) Wissenschaft betont; vgl. Höffe (2002d) und die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG, 1998). Dem gegenüber distanziert sich z.B. Mohr (2003) von „jeglichem Wahrheitspathos“, wenn er behauptet, in der Wissenschaft ginge es lediglich um die Gewinnung sicheren Wissens. 103 Vgl. Baumanns Überlegungen (2002, 253ff.) zur Wahrnehmung als Wissensquelle. 104 Transparenz und die Methode der intersubjektiven Überprüfung stehen in einem interdependenten Zusammenhang: Für die Kontrolle der Wahrnehmungsinhalte durch andere ist die vorbehaltslose Weitergabe eigener Wahrnehmungsurteile notwendig. Geheimhaltung verhindert die Überprüfbarkeit, weshalb Bok (1984, 60) vor ihrer erodierenden Natur für die Aufdeckung von Verzerrung und (Selbst-)Täuschung warnt. Erst bei Weitergabe und kollektiver Überprüfung der Wahrnehmungs- und Wissensurteile könne sichergestellt werden, dass mittels Informationen Sachverhalte transparent werden. <?page no="97"?> 2.3. Eine Kriteriologie informationeller Transparenz 93 zweifelhaft identifizierbar. 105 Hierbei gilt, dass nur wahre Informationen als Aussagen über einen Sachverhalt, die mit der Wirklichkeit korrespondieren, eine (informationelle) Transparenz zum beschriebenen Sachverhalt erzeugen können. Hinsichtlich informationeller Transparenz ergibt sich folgende Definition: Ein Sachverhalt wird durch die Informierung eines Transparenzvermittlers (formell) transparent, wenn der Transparenzvermittler wahre, sachbezogene Informationen an den Transparenzsuchenden vermittelt. Bei falschen Informationen bleibt der Sachverhalt hingegen notwendig intransparent. Sofern falsche sprachliche Äußerungen keine informationelle Transparenz über Sachverhalte generieren, aber der Transparenzsuchende kontrafaktisch den Eindruck gewinnt, kommt der Verhinderung der beiden ursächlichen Fehlerquellen, dem unbeabsichtigten Irrtum (z.B. Wahrnehmungsfehler) oder der beabsichtigten Lüge eine wichtige Rolle zu. 106 Beide Fehlerquellen sind grundsätzlich vor dem Hintergrund einer Wahrheitstheorie zu verstehen. Zusammenfassend stehen Wahrheit und Transparenz in einem reziproken Verhältnis: (Perzeptive) Transparenz rechtfertigt die Wahrheit einer Aussage wie umgekehrt eine wahre Aussage (informationelle) Transparenz herzustellen in der Lage ist. Nachdem der enge Konnex zwischen Transparenz und Wahrheit nachgezeichnet wurde, stellt sich die Frage, warum Akteure in verschiedenen Interaktionskontexten nicht (nur) wahre Informationen, sondern speziell mehr Transparenz fordern? Damit ist die Frage nach dem Spezifikum transparenzvermittelnder Informationen verbunden. Eine Antwort darauf gibt die Möglichkeit, dass Transparenzvermittler zwar ausschließlich wahre Informationen vermitteln, aber zugleich bestimmte Informationen zurückhalten (Selektion), die wesentliche Merkmale des Sachverhalts beschreiben. Es ist selbstevident, dass dadurch kein Sachverhalt transparent werden kann. 107 Demzufolge besteht zwar ein notwendiger, aber kein hinreichender Zusammenhang zwischen der Vermittlung wahrer Informationen und der Transparenz eines Sachverhalts. Zeigen die Grenzen des Wahrheitsbegriffs, dass wahre Einzelaussagen nicht notwendig die fakti- 105 Vgl. Umstätter (1999, 510), für den diese Prüfungen nur durch die Wissenschaften geleistet werden können. 106 Man denke an die vielfältigen Möglichkeiten, bewusst oder unbewusst Unwahres zu verbreiten, die sich in einer Spannbreite zwischen strategischem Lügen, Verzerren von Fakten und fahrlässigen bis trivialen Fehlern bewegen; vgl. O’Neill (2006, 83) und Bok (1980, 25). Während die ethisch relevante Fehlerquelle der beabsichtigten Lüge in Kap. 2.5.2. verhandelt wird, finden sich Anmerkungen zu epistemischen Fehlerquellen (Wahrnehmungsfehler) in Kap. 2.4. 107 Vgl. Wandschneider (1991) für die Problematik des parteiischen Gutachtens im Bereich der wissenschaftlichen Expertise: Bei diesen einseitigen Gutachten sind zwar einzelne Aussagen wahr, aber ohne die vollständige Wahrheit zu widerspiegeln. Gegenüber falschen wissenschaftlichen Aussagen, die überprüf- und falsifizierbar sind, ist deren Kontrolle weitaus schwieriger. <?page no="98"?> 2. Philosophische Grundlegung des Transparenzbegriffs 94 sche Situation eines Sachverhalts widerspiegeln, ist der Aspekt der Vollständigkeit der Informationen im Sinne des Relevanzkriteriums als Voraussetzung für informationelle Transparenz zu ergänzen. 108 Relevanz wurde bereits als graduelle Bedeutsamkeit einer Information definiert, die ihr auf der Grundlage von Einschätzungen und Vergleiche innerhalb des betreffenden Sach- oder Fachgebietes beigemessen wird. 109 Sofern für einen Transparenzsuchenden nicht sämtliche Informationen, die über einen Sachverhalt generiert werden, von Interesse sind - außerdem die Verfügbarkeit einer zu großen Menge von Informationen Intransparenz erzeugen könnte -, wird bei einer vollständigen Informierung (im Sinne der Relevanz) die Selektion von Informationen nach rezipientenspezifischen Relevanzkriterien vorausgesetzt. 110 Diese subjektiven Kriterien sind in einem iterativen Prozess freizulegen, wobei für bestimmte Sachverhalte von einer hohen intersubjektiven Übereinstimmung der Relevanzkriterien ausgegangen werden kann (z.B. eine Handlungs- und Problemlösungsrelevanz der Informationen im vorgegebenen Kontext). Auf der Grundlage intersubjektiver Relevanzkriterien kann eine Vermittlung standardisierter Informationen den Ausgangspunkt einer transparenzgenerierenden Informierung darstellen, während die Ergänzung spezifischer Informationen auf der Basis eruierter Relevanzkriterien des Transparenzsuchenden im Laufe des Gesprächs er- 108 Hilfreich ist die Kriteriologie von Goffman (1981, 15f.), der bei seiner mikrosoziologischen Analyse der „Interaktionsordnung“ drei normative Dimensionen kommunizierter Information unterscheidet: (a) Reichhaltigkeit: Eine Information reicht von der Auskunft, dass keine Information verfügbar ist bis zu einer Information, die den Eindruck vermittelt, man wäre hinreichend informiert worden; (b) Offenheit: Eine Information unterliegt dem Verhältnis von dem, was ein Informationsgeber sagt und dem, was er weiß; (c) Ehrlichkeit: Der Informationsgeber ist selbst von der Wahrheit der Information überzeugt und würde sich diese auch selbst gegeben. 109 Vgl. Kap. 1.3.3. Eine ausführliche Analyse des Relevanzbegriffs bietet Schütz (1971, 154ff.), der verschiedene Typen differenziert: Grundlegend ist für ihn die Motivationsrelevanz, die sich auf Elemente der umgebenden Welt und des vorgebenen Wissensvorrats (i.w.S.) bezieht, die ein Individuum gemäß seiner Interessenlage zur Definierung der Situation auswählt. Die darauf aufbauende thematische Relevanz bezieht sich hingegen auf Situationen, in denen motivationsmäßig relevante Elemente auftauchen, die nicht hinreichend bekannt sind; diese neuen Elemente werden für einen weiteren Wissenserwerb relevant. Zur Lösung des damit verbundenen Aneignungsproblems bedarf es bestimmter Elemente des Wissensvorrats, auf die sich Schütz’ Konzept der Interpretationsrelevanz bezieht. Diese genannten Relevanzstrukturen wendet er gleichermaßen auf die zwischenmenschliche Kommunikation an. Die Verwendung in anderen Kontexten weist in dieselbe Richtung: Nach Ott (2004, 42) stellt Relevanz einen Aspekt des lebensweltlichen Informationsbegriffs dar und richtet sich nach der Nützlichkeit der Information für das Handeln des Informationssuchenden. 110 Z.B. Svetlova (2010) nennt in Rückgriff auf die Transparenzdefinition von Vishwanath/ Kaufmann (1999) Relevanz neben Zugänglichkeit, Qualität und zeitliche Nähe der Information als Transparenzkriterium, ohne jene allerdings zu definieren. <?page no="99"?> 2.3. Eine Kriteriologie informationeller Transparenz 95 folgen soll. 111 Bei der Zielsetzung, einen Sachverhalt für einen Transparenzsuchenden transparent werden zu lassen, steht ein Transparenzvermittler somit vor der Herausforderung, wahre Informationen zu vermitteln, die zudem ein vollständiges Bild des Sachverhaltes gewähren. Verheimlicht er bei einer Informierung relevante Informationen, stellt dies gemäß des Vollständigkeitskriteriums eine illegitime Selektion dar, die Intransparenz erzeugt. Ist somit der Unterschied zwischen einer bloß wahren und einer transparenzvermittelnden Informierung sichtbar geworden, ergibt sich insgesamt folgende kriteriologische Definition formeller Transparenz: Ein Sachverhalt wird durch die Informierung eines Transparenzvermittlers (formell) transparent, wenn der Transparenzvermittler alle relevanten Informationen wahrheitsgemäß und vollständig an den Transparenzsuchenden vermittelt. Nachdem Wahrheit und Vollständigkeit der Information als formelle, sachbezogene Kriterien vorgestellt wurden, die eine informationelle Transparenz verbürgen sollen, wenden wir uns im folgenden Schritt der inhaltlichen, rezipientenbezogenen Dimension des Transparenzkonzeptes zu. Sofern die bloße Verfügbarkeit von sachbezogenen Informationen nicht zum epistemischen Transparenzziel der Wissensgewinnung führt, wenn die Informationen nicht zugleich kognitiv angeeignet werden können, 112 soll ihre Verständlichkeit als inhaltliches, rezipientenbezogenes Kriterium der informationellen Transparenz eingeführt werden. Da das Attribut der Verständlichkeit zur Charakterisierung einer sprachlichen Äußerung letztlich vom faktischen Verstehen der Äußerung durch die Kommunikationspartner abhängt, muss ein Umweg bei der Untersuchung in Kauf genommen werden: Der Begriff der Verständlichkeit ist bei einer Analyse des philosophischen Leitkonzepts des Verstehens zu entwickeln. Es wird vorausgesetzt, dass kognitive Transparenz - hier im Sinne eines rezipientenseitigen epistemischen Resultats - dem Verstehenskonzept entspricht. Von daher ergibt sich eine Plausibilität hinsichtlich der Wahl von Verständlichkeit als Kriterium für die inhaltliche Transparenz einer Information. 111 Vgl. die verschiedenen Aufklärungsformen beim Informed Consent im Bereich der Medizinethik, die z.B. bei Schöne-Seifert (2005) vorgestellt werden. Nach Maßgabe des Relevanzkriteriums ist außerdem eine Überprüfbarkeit der erhaltenen Informationen auf Qualität und Quantität möglich: Erachtet ein Transparenzsuchender beispielsweise Informationen bezüglich gesundheitlicher Risiken und Nebenwirkungen von Biotechniken als relevant, kann auf dieser Grundlage überprüft werden, ob ein Transparenzvermittler alle relevanten Informationen vermittelt hat. 112 Vgl. Scholz (1999, 7). <?page no="100"?> 2. Philosophische Grundlegung des Transparenzbegriffs 96 2.3.2. Die inhaltliche Dimension informationeller Transparenz und das Problem der rezipientenbezogenen Informierung In einem weiten Konsens gilt Verstehen als „eines unserer vorrangigen epistemischen Ziele“ 113 , und zwar unabhängig des geisteswissenschaftlichen Kontextes, in dem es zum Grundbegriff einer disziplinären Erkenntnistheorie stilisiert wurde. 114 Zugleich stellt die Frage seiner Erreichbarkeit ein Grundproblem der philosophisch-erkenntnistheoretischen Agenda dar. Betrachtet man Verstehen als Resultat des sinnvollen Interpretierens von Verstehensobjekten, 115 lässt es sich auf visuelle Wahrnehmungsinhalte (man versteht, warum jemand an der Haustüre den Schlüssel sucht), interaktionsfreie Kommunikationsinhalte (man versteht den geschriebenen Satz eines Textes) oder Kommunikationsinhalte sprachlicher Interaktionen (man versteht, was der Andere sagt) beziehen. 116 Von den vielfältigen Aufgaben des sprachlichen Verstehens (z.B. auch das Verstehen sprachlicher Handlungen oder sprachlicher Ausdrücke) wird das Erfassen der Bedeutung sprachlicher Äußerungen (z.B. sachbezogener Informationen) bei den folgenden Überlegungen in den Mittelpunkt gestellt und mit dem epistemischen Konzept der inhaltlichen Transparenz als rezipientenseitiges Resultat einer Informierung identifiziert. In Anschluss an die kommunikationstheoretischen Vorüberlegungen 117 wird auf sprachphilosophische Kommunikations-, Bedeutungsbzw. Interpretationstheorien rekurriert, die das sprecherseitige Verstandenwerden bzw. das hörerseitige Verstehen als konstitutive Zielsetzung jeder kommunikativen Handlung auszeichnen. Sprecherbezogene Verstehenstheorien, die eine sprachliche Äußerung als regelgeleiteten, intentionalen Sprechakt konzipieren (2.3.2.1.), sind von hörerbezogenen Verstehenstheorien zu unterscheiden, die bei aller Regelkenntnis eine Kreativität bei der Interpretation sprachlicher Äußerungen voraussetzen (2.3.2.2.). 118 113 Ebd. Vgl. auch Schwemmer (1996, 531), für den Verstehen ein „bewusster, intentionaler Akt eines auf Erkenntnis gerichteten Individuums“ ist. 114 So betont z.B. Eberhard (1987, 83f.) den universalepistemologischen Status von Verstehen, was eine Ablehnung der klassischen methodischen Trennung zwischen Erklären und Verstehen impliziert. Zur Unterscheidung beider Methoden und deren terminologischer Herkunft bei Dilthey vgl. z.B. Kaulbach (1982, 59ff.). 115 Etwa Tugendhat (1976) und Künne (1981) definieren Verstehen als Erfassen des Sinns einer wahrgenommenen Erscheinung. Nach Schaeffler (1974, 1633) macht das Verstehen „ein Wirkliches oder Mögliches ‚transparent‘ für einen ‚Sinn‘“. Indem beim Verstehensprozess das wahrgenommene Gesehene, Gesagte oder Gelesene interpretatorisch fortgesetzt wird, können Wahrnehmen und Verstehen zwar analytisch unterschieden, aber nicht getrennt werden. 116 Vgl. Scholz (1999, 278ff.). 117 Vgl. Kap. 2.2. 118 Die Auswahl der herangezogenen Theorien richtet sich nach einer kooperationsorientierten Verstehenskonzeption, die von Kober (2002) vorgeschlagen wurde. <?page no="101"?> 2.3. Eine Kriteriologie informationeller Transparenz 97 2.3.2.1. Sprecherzentrierte Verstehensansätze Nach dem pragmatic turn der Sprachphilosophie setzt das Verstehen (der Bedeutung) einer sprachlichen Äußerung eine konventionell etablierte Verbindung von sprachlichen Zeichen und deren Bedeutung voraus. 119 In Kenntnis dieser impliziten Gebrauchsregeln, die unsere Sprechhandlungen leiten, soll es einem Zuhörer möglich sein, die regelgeleitete Bedeutung der sprachlichen Äußerung zu verstehen. Da sich sprachphilosophische Untersuchungen lange Zeit vorwiegend mit der Explikation der regelgeleiteten Verwendungsweise sprachlicher Zeichen auf syntaktischer, semantischer und pragmatischer Sprachebene beschäftigten, 120 wird eine manifeste Sprecherzentriertheit sprachphilosophischer Theorien konstatiert, bei der das Hervorbringen, nicht das Interpretieren sprachlicher Äußerungen als entscheidende Betätigungsweise des Verstehensprozesses gilt. 121 Dies kann beispielhaft an der Sprechakttheorie von John R. Searle gezeigt werden, der davon ausgeht, dass bei jeder sprachlichen Äußerung zugleich ein bestimmter Sprechakttyp mit einer spezifischen propositional-illokutionären Struktur vollzogen wird. 122 Searle rekonstruiert zentrale konstitutive Regeln, die ein Sprecher bei Zielsetzung des hörerseitigen Verstehens ihrer propositional-illokutionären Struktur zu realisieren hat. 123 Zu den „konstitutiven Regeln“ des Sprechakttyps des Behauptens gehören u.a. Regeln des propositionalen Gehalts (Äußern einer Proposition p, die sich bei Befolgung semantisch-lexikalischer Regeln auf ein bestimmtes vergangenes Ereignis bezieht), Einleitungsregeln (der Sprecher hat Belege für die Wahrheit von p und geht davon aus, dass der Hörer p nicht weiß) und die „wesentliche Regel“ (die Äußerung gilt als Versicherung dafür, dass p einer wirklichen Sachlage entspricht). 124 Sofern die konstitutiven Regeln nicht nur den 119 Bestimmend für die sog. ordinary language philosophy ist die Auffassung von Wittgenstein (1984a, §43), die Bedeutung von sprachlichen Ausdrücken bestehe in ihrem regelgeleiteten Gebrauch; verschiedene kontextuelle Verwendungsweisen führten zu unterschiedlichen Bedeutungen. 120 Die terminologische Etablierung der drei Sprachdimensionen geht auf Morris (1946, 217f.) zurück. 121 Diese These findet sich bei Krämer (2001). 122 Für Searle (1971, 29) ist das „Sprechen einer Sprache eine regelgeleitete Form des Verhaltens“. 123 Von den drei tragenden Elementen jedes Sprechaktes, dem lokutionären Akt, mit dem der Sprecher etwas Bestimmtes sagt, propositionalen Akt, mit dem der Sprecher auf etwas Außersprachliches referiert und illokutionären Akt, mit der ein Sprecher etwas Bestimmtes in einer Situation intendiert (Feststellung, Versprechen, Frage etc.), orientiert sich ebd., 40 bei seiner Klassifizierung und Regulierung der Sprechakttypen primär am illokutionären Akt. 124 Vgl. ebd., 99f. Harras (2004, 218ff.) moniert, dass die Regeln zu vollständig sind - für das Verstehen einer Äußerung reiche die Erfüllung der wesentlichen Regel aus - und <?page no="102"?> 2. Philosophische Grundlegung des Transparenzbegriffs 98 Vollzug des Sprechaktes bestimmen, sondern auch die Intention des Sprechers, entsteht für Searle erst im Zusammenspiel zwischen Sprecherabsicht und konventionsgebundener Sprachpraxis einer Gemeinschaft die Äußerungsbedeutung. 125 Dieses Zusammenspiel von Mentalem und Sozialen ermöglicht es, dass jede menschliche Intention prinzipiell explizierbar ist. Die Befolgung der konstitutiven Regeln sieht er als notwendige und im Zusammenwirken als hinreichende Verstehensbedingung an. 126 Wenn die entsprechend relevanten Regeln beim Vollzug des Sprechaktes beachtet werden, stellt eine sprachliche Äußerung in einem bestimmten Kontext eine Äußerung mit einer konventionsgebundenen Bedeutung dar, die ein kompetenter Hörer zu erfassen in der Lage ist. Infolgedessen fasst Searle (und mit ihm weitere pragmatische Verstehenstheoretiker) das Verstehen der Bedeutung von Sprechakten nicht als Interpretation, sondern als Erkenntnisvorgang auf, 127 bei dem die Welt des Mentalen pragmatisch fixiert ist. Vom inneren Standpunkt des Verstehens wird programmatisch abgesehen und der Verstehensbegriff auf eine erlernte Korrelation zwischen Äußerung und Verhalten bezogen. 128 Abgesehen von intra- und interpersonellen, synchronen und diachronen Wandlungsmöglichkeiten der Bedeutungszuschreibung, 129 steht das regelgeleitete Verstehen sprachlicher Äußerungen angesichts unterschiedlich detaillierter „Sprachspiele“ einer Sprachgemeinschaft vor erheblichen Herausforderungen. 130 Unterschiedliche Sprachspiele bringen quantitative Unterschiede im Symbolvorrat herzugleich zu unvollständig, da Annahmen über die Verstehensbedingungen des Adressaten unterbelichtet blieben. 125 Vgl. Krämer (2001, 59f.). 126 Das illokutionär-semantische Bedeutungsverstehen eines Sprechaktes lässt sich an der Rekonstruktion von Kober (2002, 272) verdeutlichen. „Ein Sprecher S vollzieht im Kontext K zum Zeitpunkt t gemäß den konventionellen Regeln L einen Sprechakt mit der illokutionären Kraft F und dem propositionalen Gehalt p“. 127 Vgl. Krämer (2001, 70). 128 Unter der Voraussetzung einer aufrichtigen Äußerung postuliert Searle (1971, 76) folgenden Zusammenhang: „1. Einen Satz verstehen heißt, seine Bedeutung erkennen. 2. Die Bedeutung eines Satzes ist durch Regeln festgelegt, und diese Regeln bestimmen sowohl die Bedingungen der Äußerung des Satzes, wie auch, als was die Äußerung gilt.“ Vgl. auch Wittgenstein (1984a, § 146) für den Verstehen ein erlernter Zustand ist, „woraus die richtige Verwendung [von Begriffen eines Sprachspiels; RB] entspringt“. Dieses behaviouristische Verstehen kann mit dem „undefinierbaren“ psychischen Erlebnis des Verstehens gepaart sein (§ 321). 129 Vgl. etwa Mead (1968), bei dem Symbole Repräsentationszeichen für Gegenstände, Ereignisse oder Zustände sind, deren Bedeutungen Menschen in einem sozialen Interaktionsprozess erlernen. Da aufgrund der subjektiven Erfahrungsdimension zahlreiche Symbole unterschiedliche Bedeutung haben, muss der Kommunikator die Verwendung sprachlicher Symbolen darauf abstimmen, wie der Rezipient diese interpretiert und umgekehrt. 130 Vgl. Wittgenstein (1984a, § 23), der Sprachspiele verschiedenen Tätigkeiten oder Lebensformen zuordnet. <?page no="103"?> 2.3. Eine Kriteriologie informationeller Transparenz 99 vor, die gegenüber anderen Sprachspielen variable Bedeutungen haben können. Sofern die Bedeutungen sprachlicher Zeichen aus dem konventionell-arbiträren Gebrauch hervorgehen und für das Verstehen spezifischer und variabler Begriffsbedeutungen die Kenntnis der entsprechenden Regeln vorauszusetzen ist, wird eine Verständigung zwischen den Mitgliedern unterschiedlicher Sprachspiele schwierig. Das Nicht- oder Missverstehen sprachlicher Äußerungen erklärt sich dadurch, dass deren Bedeutungen aufgrund des fehlenden pragmatischen Umgangs mit dem Bezeichneten von einer Personengruppe nicht gekannt oder durch eine fehlende eineindeutige Korrelation zwischen Zeichen und Bedeutung verwechselt wird. 131 Zum sprecheradäquaten Verstehen bedarf es daher zusätzlicher sprachlicher Erläuterung der Bezeichnung. Gegenüber der latenten Regelverabsolutierung bei konventionalistischen Kommunikationstheorien verficht der Sprachphilosoph H. Paul Grice die intentionalistische Auffassung, die Bedeutung sprachlicher Äußerungen werde erst bei Kenntnis der Handlungsabsicht des Sprechers ersichtlich. 132 Exemplarisch verweist er auf „konversationale Implikaturen“, bei denen das Gesagte nicht mit dem Gemeinten übereinstimmt. Diese Äußerungen sind zwar sprachkonventionell lexikalisch-semantisch definiert, widersprechen aber extensional der Konvention. Ihre nicht-konventionellen Bedeutungen sind erst bei Kenntnis der primären Handlungsabsichten, mit denen der Sprecher sie verwendet, für den Hörer interpretier- und verstehbar. 133 Im Grice’schen Grundmodell kommunikativer Handlungen stellt das primäre Kommunikationsziel das Bewirken einer bestimmten hörerseitigen Reaktion dar, beim Informationshandeln etwa die Überzeugung des Hörers, dass ein Sachverhalt vorliegt. 134 Die Instrumentalitätsthe- 131 Nichtverstehen entsteht laut Badura (1971, 154) dadurch, dass eine Botschaft „aus einer dem Empfänger unbekannten natürlichen Sprache verfasst sein [kann], oder sie kann teilweise aus Wörtern einer vom Empfänger nicht beherrschten Fach- oder Sondersprache bestehen“. Etwa bei wissenschaftlichen Sachverhalten liegt das Bezeichnete nicht alltäglich vor, weshalb das Zeichen nicht pragmatisch eingeführt werden kann. 132 Vgl. Grice (1979 und 1993). 133 Searle führt die Identifikation des illokutionären Zwecks „indirekter Sprechakte“ (sein Pendant zu Grice’ „konversationalen Implikaturen“) hingegen auf das Erfüllen bestimmter Regeln zurück, die eine Transformation sprachlicher Äußerungen in abweichende Sprechaktklassen leiten: So können wir die Frage „Kannst du mir das Salz geben? “ auch als Aufforderung verstehen, weil wir erkennen, dass die Äußerung die Einleitungsbedingung eines direkten Sprechaktes benennt. Dabei gelte das Prinzip der Ausdrückbarkeit, dem gemäß „man alles, was man meinen, auch sagen kann“ (Searle 1971, 34). 134 Vgl. Grice (1979, 11): „‚S meinte mit x etwas‘ ist (in etwa) äquivalent mit ‚S beabsichtigte, daß die Äußerung von x bei einem Hörer eine Wirkung mittels der Erkenntnis dieser Absicht hervorruft“. Harras (2004, 178) würdigt das Grundmodell als „unumstritten deskriptive[n] Bestandteil des Definiens kommunikativer Handlungen“. <?page no="104"?> 2. Philosophische Grundlegung des Transparenzbegriffs 100 se impliziert, dass der Sprecher rationalerweise bestimmte Bedingungen erfüllt, damit der Hörer die beabsichtigte Reaktion zeigen kann: 135 Generell muss jener sich um das tatsächliche Verstehen der Sprechhandlung hinsichtlich der kommunikativen Zielsetzung bemühen; 136 als Spezifikum beim Informationshandeln hat er außerdem den Eindruck zu erwecken, selbst vom Sachverhalt p überzeugt zu sein und diesen offen weitergegeben zu haben. Zwar liegt die Wirkung bzw. Reaktion vollständig in der Hand des Hörers, aber dennoch vollzieht der Sprecher die kommunikative Handlung unter der Annahme, dass der Hörer aufgrund der Erkenntnis seiner Absicht und infolge der Erfüllung der Bedingungen die intendierte Reaktion zeigen wird. 137 Grice kondensiert die erwähnten Bedingungen zur These, sprachliche Kommunikation sei nur auf der Basis kooperativer Bemühungen der Kommunikationsteilnehmer möglich, und leitet ein allgemeines und zentrales Kooperationsprinzip (KP) ab, dessen Beachtung von allen Gesprächsteilnehmern erwartet wird: „Mache deinen Gesprächsbeitrag jeweils so, wie es entsprechend dem akzeptierten Zweck oder der akzeptierten Richtung des Gesprächs, an dem du teilnimmst, gerade verlangt wird.“ 138 Ausgehend von diesem Kooperationsprinzip, das unter der Voraussetzung der Einigung über Zweck und Richtung der Konversation gilt, 139 gewinnt Grice für das Paradigma informativer Gespräche subsidiäre Konversationsmaximen (KM), die er in Anschluss an Kant in vier Kategorien zur formalen Beurteilung von Angemessenheit unterteilt: Maximen der Quantität (Menge der abgegebenen Informationen) - „Mache deinen Beitrag so informativ wie (für die gegebenen Gesprächszwecke) nötig.“ (KM1) - „Mache deinen Beitrag nicht informativer als nötig.“ (KM2) 135 Diese Bedingungen nennt Grice nicht explizit, weshalb ich mich auf die Explikationen bei Meggle (1997, 190 und 193) beziehe. 136 Das Faktum, „daß kommunikatives Handeln nur dann erfolgreich ist, wenn es von dem jeweiligen Adressaten auch tatsächlich verstanden wird, jeder Kommunikationsversuch also auf ein solches Verstehen abzielen wird“, ist laut ebd., 137 „bei Grice selbst überhaupt nicht [...] zur Sprache gekommen“. Meggle (1997, 76f.) ergänzt entsprechend neben der konstitutiven Erfolgs-Erwartung des Sprechers eine Verstehens- Erwartung. 137 Vgl. Meggle (1997, 25ff.). 138 Grice (1993, 248). 139 Da sich Zwecke und Richtungen erst im Verlaufe des Gesprächs ergeben können, sind Wendungen möglich, die zur Anpassung des Redebeitrags führen können. Laut Harras (2004, 229) ist mit diesem Prinzip weder ausgedrückt, was für die Gesprächspartner jeweils als ‚angemessen‘ gilt, noch ausgeschlossen, dass Uneinigkeit darüber besteht, was ein angemessenes Verhalten ist. <?page no="105"?> 2.3. Eine Kriteriologie informationeller Transparenz 101 Maximen der Qualität (Wahrheitsgehalt einer Äußerung) - Obermaxime: „Versuche Deinen Beitrag so zu machen, daß er wahr ist“ - „Sage nichts, was Du für falsch hältst.“ (KM3) - „Sage nichts, wofür dir angemessene Gründe fehlen.“ (KM4) Maxime der Relation (thematische Kohärenz von Äußerungen) - „Sei relevant.“ (KM5) Maximen der Modalität (Art und Weise der Formulierung einer Äußerung) - Obermaxime: „Sei klar.“ - „Vermeide Dunkelheit des Ausdrucks.“ (KM6) - „Vermeide Mehrdeutigkeit.“ (KM7) - „Sei kurz (vermeide unnötige Weitschweifigkeit).“ (KM8) - „Der Reihe nach! “ (KM9) Tabelle 1: Die Konversationsmaximen (KM) von Grice Wenngleich die genannten Maximen der Quantität, Qualität, Relation und Modalität innerhalb der Grice’schen Kommunikationstheorie funktional abgeleitet sind, wird ihre Gültigkeit über den intentionalistischen Rahmen hinaus für das inhaltliche Bedeutungsverstehen sprachlicher Äußerungen (z.B. die semantische Bedeutung) allgemein akzeptiert. 140 Da bestimmte Konversationsmaximen von Grice nur sehr abstrakt formuliert und mit wenigen Erläuterungen versehen wurden, haben sich Neo-Griceianer der Aufgabe einer weiterführenden Explikation gestellt. Beispielsweise wurde die Maxime der Relation als ein objektives Kriterium vor kontextuellem Hintergrund entfaltet: Eine Äußerung ist relevant g.d.w. sie das Ziel der Kommunikation (perlokutionäre Effekte) maximiert, bei gleichzeitiger Minimierung des kognitiven Aufwands beim Sprecher bzw. Hörer. Da der Sprecher aufgrund der Menge an vorliegenden Informationen und der Begrenztheit der Kommunikationszeit nicht alle Informationen über einen Sachverhalt wietergeben kann, ist eine Reduzierung der Informationsmenge zugunsten der Klarheitsmaxime unumgehbar. 141 Insgesamt gewährleistet das Kooperationsprinzip die Initiative des Sprechers, dem Hörer verständlich zu machen, dass etwas vorliegt oder getan werden soll. Vor der wechselseitigen Erwartung, sich bei einer Interak- 140 Etwa Zifonun (1984, 63) bezeichnet die Normen als „Grundgesetz kommunikativen Handelns“. 141 Vgl. Sperber/ Wilson (1986), sowie das Relevanzkriterium des Transparenzbegriffs in Kap. 1.3.3. und 2.3.1.2. <?page no="106"?> 2. Philosophische Grundlegung des Transparenzbegriffs 102 tion am Kooperationsprinzip und den Maximen zu orientieren, 142 ist es dem Hörer möglich, die Bedeutung konversationaler Implikaturen zu erfassen, die durch Verstöße gegen die Maximen entstehen und die Grundlage zahlreicher Äußerungen (Persuasionen, Narrationen, Satiren etc.) sind: 143 Denn im Falle des Nicht- oder Missverstehens des Gesprächsbeitrags stellt der Hörer nicht die sprecherseitige Befolgung des Kooperationsprinzips in Frage, sondern erschließt sich die Bedeutung der Implikatur, indem er die vordergründige Maximenverletzung von der Ebene des wörtlich Gesagten auf die Ebene des Gemeinten „aufhebt“. Neben der Verständigung bei nicht-wörtlicher (metaphorischer, ironischer etc.) Rede wird die Grice’sche Theorie auch bei wörtlicher Rede als unentbehrlich angesehen, beispielsweise als Methode der Disambiguierung bei lexikalischen oder syntaktischen Mehrdeutigkeiten. 144 Bemerkt der Sprecher anhand der (ausgebliebenen) Reaktion des Hörers nicht verstanden worden zu sein, startet er einen neuen Kommunikationsversuch, bei dem er dieselbe Sprecherabsicht mit einer alternativen Äußerung zu erzielen versucht oder seine Sprecherabsicht thematisiert. Auch wenn sich nach Ansicht Grice’ konversationale Implikaturen nicht ausschließlich auf der Grundlage sprachlichen Regelwissens erschließen lassen, ist ihm deren Bedeutung für eine adäquate Interpretation sprachlicher Äußerungen bewusst. Wie er selbst einräumt, müssen die Kommunikationspartner bei konversationalen Implikaturen auf folgende Daten zurückgreifen: „(1) die konventionale Bedeutung der verwendeten Worte samt ihrem jeweiligen Bezug; (2) das KP und seine Maximen; (3) den sprachlichen und sonstigen Kontext der Äußerung; (4) anderes Hintergrundwissen; und (5) die Tatsache (oder vermeintliche Tatsache), daß alles, was vom bisher Aufgeführten relevant ist, beiden Beteiligten verfügbar ist, und daß beide Beteiligte wissen oder annehmen, daß dem so ist“. 145 Entge- 142 Für Kober (2002, 331) ist nicht das tatsächliche Bestehen der Kooperationsbereitschaft, sondern die Unterstellung, im gleichen Maß an der gelingenden Kommunikation interessiert zu sein, ausreichend. 143 Vgl. Grice (1993, 253ff.), der das Zustandekommen und Entschlüsseln von Implikaturen beschreibt. Nur unter der Annahme, dass der Sprecher KM 3 einhält, sucht der Hörer bei der Äußerung „Du bist das Sahnehäubchen auf meinem Kaffee“, die im wörtlichen Sinne falsch ist, nach einer (metaphorischen) Interpretation der Äußerung, die angemessen ist. 144 Vgl. Scholz (1999, 177), der dies an folgender Situation illustriert: Ruft die Freundin „Ich bin noch nicht fertig“, während man im Auto sitzt und die Hupe bedient, hat sie nicht gesagt, wofür sie nicht fertig ist. Man wird ihr dennoch unterstellen, etwas Relevantes gesagt zu haben. 145 Grice (1993, 255). Es ist unumstritten, dass die Kenntnis sozialer Rollen als Rahmendefinitionen der Kommunikationssituation Einfluss auf die Realisierung der Zielsetzung haben kann, eine bestimmte Wirkung beim Rezipienten hervorzurufen. Vgl. Goffman (1980), der aufzeigt, wie jede vermeintlich routinierte Alltagskommunikati- <?page no="107"?> 2.3. Eine Kriteriologie informationeller Transparenz 103 gen der häufigen Lesart ist Grice’ intentionale Semantik nicht als Gegenprogramm zu den regelgeleiteten Sprechakttheorien zu verstehen, sondern als deren Ergänzung. 2.3.2.2. Hörerzentrierte Verstehensansätze Von Grice konnte die Einsicht gewonnen werden, dass jede kommunikative Handlung bei der Zielsetzung des Verstehens sprachlicher Äußerungen kooperative Bemühungen voraussetzt, die er in seinem Regelwerk der Konversationsmaximen ausschließlich für den Sprecher expliziert hat. Wenngleich die manifeste Sprecherzentriertheit sprachphilosophischer Überlegungen dem Umstand geschuldet ist, dass es sich bei Kommunikationsversuchen um Initiativen des Sprechers handelt, bliebe eine Konzeptualisierung sprachlicher Verstehensprozesse und kognitiver Transparenz ohne Berücksichtigung notwendiger hörerseitiger Aktivitäten unvollständig. 146 Um den Grice’schen Gedanken der (wechselseitigen) Kooperation konsequent umzusetzen, haben Neo-Griceianer pragmatische „Heuristiken“ abgeleitet, die wiederum Maximen für Sprecher und Zuhörer enthalten: etwa die Quantitäts-Heuristik „Was nicht gesagt wird, ist nicht der Fall! “ mit der zugehörigen Sprechermaxime „Liefere nicht einen Beitrag, der weniger informativ ist als dein Faktenwissen erlaubt“ und der Hörermaxime „Gehe davon aus, dass es sich bei dem Beitrag um den maximal informativen handelt, der mit dessen Faktenwissen konsistent ist“. 147 Das Grice’sche Kooperationsprinzip wurde auch als hörerzentrierte „hermeneutische Präsumptionsregel“ zwischenmenschlicher Kommunikation rekonstruiert, so dass sich daraus rezipientenbezogene Konversationsmaximen ableiten ließen. 148 Dadurch wird nicht nur der Kommunikator, sonon durch Mehrdeutigkeiten und Unsicherheiten geprägt ist; für die Dauer der Kommunikation bedarf es strukturierender und stabilisierender Elemente (framing), an denen sich die Kommunikationspartner bei einer situativen Interpretation ihrer Interaktion orientieren. Nach Watzlawick u.a. (1969, 55f.) dominiert der Beziehungsaspekt den Inhaltsaspekt der Kommunikation, indem ersterer nicht nur bestimmt, worüber gesprochen wird, sondern auch anweist, wie die Äußerungen aufzufassen sind. 146 Dieser Ansicht ist Kober (2002, 249), der moniert: „Es wäre nicht zutreffend, würde man Searle und Grice unterstellen, sie hätten sich ausschließlich für den Sprecher interessiert - hin und wieder wird bei ihnen der Adressat [...] durchaus erwähnt. Doch da sie bei ihren Überlegungen vor allem die Tätigkeiten eines Sprechers analysieren, überantworten sie den Erfolg eines Sprechaktes letztlich ihm“ (249, FN 3). 147 Vgl. Levinson (2000). Ähnlich auch Horn (1984), bei dem sich ein Q(uantitäts)-Prinzip („Mache deinen Beitrag hinreichend für das Verständnis des Hörers“ bzw. „Sage so viel du sagen kannst“) und ein R(elations)-Prinzip („Mache deinen Beitrag notwendig für das Verständnis des Hörers“ bzw. „Sage so viel du sagen musst um noch verstanden zu werden“) finden. 148 Vgl. Scholz (1999, 166ff.), der die allgemeine Präsumptionsregel aufstellt: „Wenn dein Gesprächspartner eine Äußerung in einem gemeinsamen Gespräch getan hat, dann <?page no="108"?> 2. Philosophische Grundlegung des Transparenzbegriffs 104 dern auch der Rezipient für eine adäquate Interpretation der erhaltenen Information in die Pflicht genommen. Einen anderen Ansatz wählt Donald Davidson, der eine sprachliche Kreativität weniger auf Seiten des Sprechers bei der Erzeugung sprachlicher Äußerungen, als vielmehr auf Seiten des Hörers beim Verstehen dieser Äußerungen zuordnet. 149 Wird Davidson als „Hermeneut der alltäglichen Rede“ bezeichnet, 150 ist die Assoziation mit Gadamer und dessen Universalhermeneutik nicht zufällig: 151 Beide konzipieren das Sprachverstehen als ein Interpretieren, bei dem der Hörer Bedeutungen einer sprachlichen Äußerung weder erfasst noch wiedererkennt; dieser bringt vielmehr eine Interpretation hervor, die sich im dialogischen Rahmen bewähren muss. Gegenüber Gadamer bezieht Davidson seine Interpretationstheorie speziell auf die Situation zwischenmenschlicher Kommunikation, weshalb erwartet wird, dass seine Analysen auf die Problemstellung kognitiver Transparenz in Fällen der Transparenzvermittlung übertragbar sind. Letzterer vertritt eine Bedeutungstheorie, die ihrem Anspruch nach vollständig ohne die Kenntnis einer konventionell-regelgeleiteten Beziehung zwischen der Bedeutung sprachlicher Äußerungen, Sprechereinstellungen (illokutionären oder perlokutionären Absichten) und Handlungsvollzügen auskommt, - die also nicht einmal das Vorliegen einer gemeinsamen Sprache der Kommunikationsteilnehmer voraussetzt. 152 Mit dieser Prämisse werden zahlreiche als selbstverständlich erachtete sprachphilosophische Theoreme in Frage gestellt, weshalb seine Sprachphilosophie umstritten ist. 153 Als Ausgangspunkt seiner Überlegungen entwirft Davidson die fiktive Situation der „radikalen Interpretation“, bei der eine Person eine vollständig interpretiere sie als einen im Hinblick auf den wechselseitig akzeptierten Zweck oder die wechselseitig akzeptierte Richtung des Gesprächs angemessenen Beitrag zu diesem Gespräch, solange bis Du zureichende Gründe für die gegenteilige Annahme hast.“ (167) Davon lässt sich etwa die Maxime der Qualität ableiten: „Wenn dein Gesprächspartner eine Äußerung u in einem gemeinsamen Gespräch getan hat, dann interpretiere u als wahre Äußerung, solange bis Du zureichende Gründe für die gegenteilige Annahme hast.“ (168) Zifonun (1984, 66f.) ergänzt spezielle „Maximen der Rezeption“ bei einer öffentlichen Kommunikation, die als Interpretationshilfen zum Verständnis der öffentlichen Sprache dienen. 149 Nach Greve (2003, 16f.) vollzieht Davidson gegenüber konventionalistischen Sprachtheorien eine „Rehabilitierung des Subjekts“, dessen „interpretative Leistungen“ bei Kommunikationsprozessen er würdigt. 150 Vgl. Krämer (2001, 176); Glüer (1993, 14) spricht vom „Hermeneut der wörtlichen Rede“. 151 Ramberg/ Gjesdal (2009) betonen Übereinstimmungen zwischen Gadamer und Davidson, die sie auf den gemeinsamen Bruch mit der cartesianisch geprägten Philosophie zurückführen. 152 So Davidson (1986c, 227). 153 Vgl. hierzu etwa die Beiträge von Wolfgang Künne und Martin Seel in: Forum für Philosophie (1990). <?page no="109"?> 2.3. Eine Kriteriologie informationeller Transparenz 105 fremde Sprache interpretieren soll, 154 ohne ein Vorwissen über die fremde Sprache und die Sprachgemeinschaft zur Verfügung zu haben. 155 Die Interpretation einer fremden Äußerung erfolgt ausschließlich auf Grundlage der Beobachtung der Äußerung, des korrespondierenden nichtsprachlichen Verhaltens und des Kontextes. 156 Im Sinne des „methodischen Behaviourismus“ stellt der Interpret eine Korrelation zwischen der sprachlichen Äußerung eines Sprechers und den Verhaltenreaktionen der am Kommunikationsprozess Beteiligten her, z.B. die Verhaltensreaktion des Sprechers bei der Äußerung, die Verhaltensreaktion des Adressaten nach Hören der Äußerung, die Verhaltensreaktion des Sprechers auf die Verhaltensreaktion des Hörers etc. Davidson hat hierfür die Metapher der „Trangulation“ geprägt, wobei das Dreieck dadurch entsteht, dass mindestens zwei Kommunikationspartner auf einen gemeinsamen Reiz reagieren. 157 Wichtig ist hierbei, dass die Interpretation des radikalen Interpreten aus der Beobachtung mehrerer Interaktionen der beteiligten Personen über einen längeren Zeitraum hervorgeht. Frühere Interpretationshypothesen werden auf der Basis neuer Beobachtungen bestätigt oder gegebenenfalls revidiert. Davidson ist sich des methodischen Problems bewusst, dass der Interpret bei einer Beobachtung des Verhaltens und der korrelierten Äußerung des Sprechers weder den unbeobachtbaren mentalen Zustand des Für-wahr-Haltens der Äußerung (subjektiver Aspekt), noch die Wahrheit der Überzeugungen (objektiver Aspekt) feststellen kann, die aber notwendige Voraussetzungen zum Gelingen des Interpretationsversuchs sind. 158 Damit der Interpret mithilfe des methodischen Behaviourismus eine Bedeutungstheorie entwickeln kann, muss er - über die bloße Korrelation von Äußerungen und Verhalten hinaus - dem Sprecher notwendigerweise ein rationales Verhalten unterstellen, welches impliziert, dass dieser nur solche Sätze äußert, von deren Wahrheit er aufgrund der Kenntnis der Umstände überzeugt ist, und dass er größtenteils wahre Überzeugungen über die Welt hat. 159 Die 154 Vgl. Davidson (1984, 128ff.). 155 Sofern sich alltägliche Kommunikationssituationen nur graduell bezüglich des Umfangs an verfügbarem Vorwissen über den Sprecher von der fiktiven Situation unterscheiden, meint Davidson mit der radikalen Interpretation eine universelle Verstehensmethodik zu rekonstruieren: „The problem of interpretation is domestic as well as foreign: […] All understanding of the speech of another involves radical interpretation“ (ebd., 125). 156 Vgl. Davidson (1990b, 314f.). 157 Vgl. ders. (1991, 159f.). 158 Vgl. ders. (1984, 144). 159 Vgl. ebd., 169; ders. (1991, 158). Im Bereich der theoretischen Rationalität stellt Davidson die deduktive und induktive Rationalität bei Meinungen und Meinungssystemen heraus, während er bei der praktischen Rationalität eine entscheidungstheoretische Kontingenz meint; vgl. Scholz (1999, 117). Die Annahme oder Unterstellung der sprecherseitigen Rationalität fasst ebd., 164ff. als bereits erwähnte implizit geltende <?page no="110"?> 2. Philosophische Grundlegung des Transparenzbegriffs 106 Grundlage des Interpretierens ist somit die Annahme einer normativen vorreflexiven Wahrheitstheorie, die das Sprechen und Interpretieren leitet und für einen Außenstehenden eine Korrelation von Verhalten und Äußerung ermöglicht. 160 Die Unterstellung der Rationalität und Wahrheit baut Davidson zu einem interpretatorischen „Prinzip der Nachsichtigkeit“ (Principle of Charity) aus, 161 welches aus einem Kohärenz- und Korrespondenzprinzip besteht: „The Principle of Coherence prompts the interpreter to discover a degree of logical consistency in the thought of a speaker; the Principle of Correspondence prompts the interpreter to take the speaker to be responding to the same features of the world that he (the interpreter) would be responding to under similar circumstances. Both principles can be (and have been) called principles of charity: one principle endows the speaker with the modicum of logical truth, the other endows him with a degree of true belief about the world.“ 162 Von der Interpretation sog. Gelegenheitssätze ausgehend, deren Wahrheitswert durch Kenntnis der Umstände bei der Äußerung bestimmbar ist, kann der Ethnologe auf der Basis einer wachsenden Menge von Gelegenheitssätzen auch Sätze interpretieren, die sich zwar nicht nach dem Korrespondenzprinzip überprüfen, aber gemäß des Kohärenzprinzips in die Menge etablierter Interpretationshypothesen einfügen lassen. Bei einer gelungenen Interpretation hat er weitgehend solche Interpretationshypothe- „hermeneutische Präsumptionsregel“ auf, die für die Praxis des sprachlichen Verstehens und Identifizierens irrationaler Momenten (Willensschwäche, Selbsttäuschung, Wunschdenken) instrumentell-konstitutiv unentbehrlich ist: „Mit der Unterstellung idealer Rationalität hat man gleichsam einen stabilen, wohldefinierten Ausgangspunkt, von dem aus man dann aufgrund hinzukommender Erfahrungswerte ‚herunterkürzen‘ kann. Je mehr wir davon abrücken, desto unbestimmter wird die Situation. Zu viele Hypthesen kommen in Frage, zwischen denen wir nicht mehr entscheiden können.“ (231) 160 Vgl. Kober (2002, 154ff.) und Scholz (1999, 105ff.) für eine Analyse des zugrunde liegenden antirealistischen Wahrheitsbegriffs, den Davidson als semantischen Grundbegriff einführt: Wenn man weiß, unter welchen Bedingungen ein Satz wahr ist, versteht man seine Bedeutung. 161 Wie Scholz (1999, 88ff.) zeigt, findet sich der Grundsatz der Wahrheits- und Konsistenzunterstellung der Überzeugungen eines Sprechers als Interpretationsprinzip bereits bei Augustinus, Peter Abaelard u.a. Davidsons Principle of Charity wird auch als „Prinzip der wohlwollenden Interpretation“ übersetzt. 162 Davidson (1991, 158), der weitere Präzisierbarkeiten des Nachsichtigkeitsprinzips ausgeschlossen hat. Ist die Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Interpretation, die Überzeugungskomponente konstant zu halten, vertritt McGinn (1977, 523) die Position, dies gelinge auch mittels eines „Unnachsichtigkeitsprinzips“, bei dem die Falschheit aller Überzeugungen angenommen würde. Hierzu kritisch Scholz (1999, 210), es gebe zu viele Möglichkeiten für die Falschheit einer Überzeugungen. <?page no="111"?> 2.3. Eine Kriteriologie informationeller Transparenz 107 sen entwickelt, die sich bis dato im Feldversuch bewährt haben. 163 Erst bei einer späteren Phase der Interpretation ist das Principle unter Vorbehalt anzuwenden, da es unangemessen wäre, einem Sprecher ausschließlich wahre Äußerungen zuzuschreiben. Davidson ist zuversichtlich, dass der radikale Interpret aufgrund seines Wahrheitsvorverständnisses in der Lage ist, anhand der Beobachtung situationsinadäquater Äußerungen alsbald Metaphern, Ironie, Lüge oder Täuschung in der fremden Sprache zu identifizieren. 164 Allerdings sind auch die Grenzen der Bedeutungstheorie bekannt, die aus dem zugrunde liegenden Bedeutungsholismus resultieren: Aufgrund der prinzipiellen Unterdeterminiertheit von Bedeutungen hinsichtlich der Referenz sprachlicher Ausdrücke auf einen Gegenstand kann es keine gesicherte Interpretation von Äußerungen geben, sondern stets eine Vielzahl von bewährten bzw. revidierbaren Interpretationshypothesen; 165 demzufolge können zwei verschiedene radikale Interpreten einer unbekannten Sprache nach sorgfältiger Beobachtung zwei verschiedene Bedeutungstheorien entwickeln, die gleichwertig, d.h. empirisch äquivalent sind. 166 Ferner ist für den radikalen Interpreten erst auf Grundlage der unterstellten Rationalität des Sprechers möglich, Fehler bei der Zuordnung von sprachlichen Äußerungen und Verhaltensweisen zu bemerken; 167 dies erschwert die Feststellung, ob eine nicht-kohärente Interpretationshypothese auf den absichtlichen oder unbeabsichtigten Fehler des Sprechers bei seiner Äußerung oder auf einen Fehler im Netzwerk der scheinbar bewährten Interpretationshypothesen zurückzuführen ist. Es wurde daher in Frage gestellt, ob „radikale Interpretation“ überhaupt möglich ist und alternative Interpretationstheorien entwickelt, die von Davidsons Methode mehr oder weniger abweichen. 168 Gleichwohl geht Davidson bei alltäglichen Kommunikations- 163 Das pragmatistische Element der Bewährtheit stellt m.E. ein Einfallstor für eine realistische Interpretation der kohärentistischen „Bedeutungs“-Theorie Davidsons dar. 164 Für die prinzipielle Möglichkeit der Zuschreibung von Irrtümern und Irrationalitäten argumentiert Scholz (1999, 120), der sich auf die Äußerungen von Davidson (1984, 137) berufen kann, einem fremden Sprecher sollten nur dann Wahrheitsbedingungen zugeschrieben werden, „when plausibly possible“. Daher ist die Kritik von Dietz (2000, 178) unhaltbar, bei „radikalen Interpreten“ entfiele das Konzept des Lügens. 165 Wie Quine (1960, 28ff.) analysiert, können unterschiedliche Interpretationen von Ereignissen unter denselben Bedingungen wahr oder falsch sein, da es nicht determiniert ist, wie man über Ereignisse spricht. 166 Vgl. Davidson (1986c, 321ff.). 167 Dies räumt ders. (1984, 153) ein. 168 Vgl. z.B. Lewis (1983, 108ff.), McDowell (1977) oder McGinn (1986). Fodor/ Lepore (1993) verweist auf die (eigentlich gegen Quine erhobene) Kritik von Grandy (1973), der als primäres Ziel der Interpretation fremder Äußerungen die Erkärung und Vorhersage der Handlungen von Personen angibt. Dazu benötigten wir ein Modell des Handelnden, bei dem wir uns an eigenen Überzeugungen orientierten: „[W]e consider what we should do if we had the relevant beliefs and desires. [….] So we have, as <?page no="112"?> 2. Philosophische Grundlegung des Transparenzbegriffs 108 prozessen sogar über seine Theorie der radikalen Interpretation hinaus, wenn er von Interpreten verlangt, die weltbildgebundenen Überzeugungen und Äußerungen des Sprechers in Übereinstimmung mit den eigenen zu bringen. 169 Die Unabgeschlossenheit einer dynamischen Bedeutungstheorie, die ein Interpret zu einem bestimmten Zeitpunkt für eine partikulare Äußerung erzeugt hat, eröffnet die Möglichkeit alternativer Interpretationen, die bei einer Interaktion mit einem Spracher prinzipiell ineinander überführbar sind. Eine „Kalibrierung“ des Gebrauchs von Ausdrücken zwischen den Kommunikationspartnern hält Davidson mittels Formulierung wie etwa „Mit x meine ich …“ oder „Stimmst du mit mir überein, dass x gilt“ für möglich. Jeder Kommunikations- und Interpretationsversuch beginnt bei Davidson mit der Entwicklung einer Ausgangstheorie (prior theory) über die sprachliche Äußerung des Kommunikationspartners, 170 die sich auf eigene Hintergrundannahmen, Konventionen etc. stützt. Verstehen stellt daher nicht nur Ziel, sondern auch Bedingung der Interpretation dar: Angesichts der Interpretationsmöglichkeiten eines vieldeutigen (sprachlichen) Phänomens muss an das Gegebene stets mit einem Vorverständnis herangetreten werden, wenn seine Interpretation beginnen soll. 171 In den nachfolgenden Kommunikationsschritten wird die Ausgangstheorie auf der Basis der je eigenen Sprach- und Handlungskompetenz zu kontextspezifischen Übergangs- oder Erweiterungstheorien (passing theories) umgebaut. Durch die Verfügbarkeit immer neuer Informationen im Verlauf des Gesprächs werden die erstellten Übergangstheorien sukzessive weiter modifiziert und zu verbessern versucht. Genau diesen Moment, in dem die Übergangstheorien der Kommunikationsteilnehmer ineinander überführt werden und zusammenfallen, nennt Davidson den Augenblick des Verstehens bzw. der gelungenen Verständigung. 172 Hierbei ist es sekundär, ob ein „richtiger“ Sprachgebrauch vorliegt oder ein Fehler a pragmatic constraint on translation, the condition that the imputed pattern of relations among beliefs, desires, and the world be as similar to our own as possible.“ (443) Dieses Prinzip, welches er Principle of Humanity nennt, hält er für haltbarer als das Principle of Charity. Ähnlich auch Kober (2002, 322ff.), nach dem ein Hörer eigene Standards rationalen oder sinnvollen Handelns in das Handeln der zu verstehenden Person hineinprojiziert. Allerdings kann Grandys Variante unproblematisch unter das Rationalitätsprinzip subsumiert werden. 169 Vgl. Davidson (1982, 327) und die Erläuterungen bei Kober (2002, 223). 170 Davidson (1986b, 441ff.). 171 Zur Bannung der „doppelten Gefahr“ des hermeneutischen Zirkels (Dogmatismus und Relativismus) bedarf es laut Schaeffler (1974, 1632) einer fremd- und selbstkritischen Korrektur. Schon Gadamer (1990, 270ff. und 297ff.) mahnt zur Reflexion der Auslegungsmöglichkeiten, die sich an den Erscheinungen zu bewähren hätten. 172 Vgl. Davidson (1990a, 219). <?page no="113"?> 2.3. Eine Kriteriologie informationeller Transparenz 109 bei einer Begriffsverwendung (malapropism) begangen wird. 173 Besteht eine Kommunikationskompetenz demzufolge „in der Fähigkeit, ständig neue Übergangstheorien zu produzieren und diese Theorien auch wechseln zu können“, 174 macht Davidson den schöpferischen Prozess der Neuerfindung von Übergangstheorien nicht von der Regelkenntnis, sondern von Gefühl, Glück, Geschicklichkeit, Geschmack und Sympathie abhängig. 175 Dennoch sollte man Davidsons Auffassung, beim Sprachverstehen bedürfe es keiner Konventionen, weniger als sprachphilosophisches Dogma, denn als Programm gegen überzogene Ansprüche konventionalistischer Theorien verstehen. 176 Insbesondere die Einhaltung des Principle of Charity wird als eine methodisch notwendige Bedingung, bzw. als ein „nichtdispensierbares Element“ für Interpretationsversuche bei kooperativen Konversationen angesehen: 177 Denn unterstellte der Interpret einem Sprecher, sich ausnahmslos zu irren oder täuschen zu wollen, würde er prima facie rationalerweise nicht mit dem Sprecher kommunizieren. Das Principle entspricht nicht zufällig solchen Interpretationsprinzipien, die von zahlreichen hermeneutischen oder sprachphilosophischen Schulen als besonders grundlegend angesehen werden. 178 2.3.2.3. Verstehen als zweiseitiger Kooperationsprozess Bei der Analyse sprecher- und hörerzentrierter Kommunikations- und Verstehenstheorien konnte gezeigt werden, dass das Bedeutungsverstehen sprachlicher Äußerungen, welches als Minimalzielsetzung jeder Kommuni- 173 Hinsichtlich des Phänomens verfehlter Wortverwendung, abstruser Wortverdreher und Sprachspielereien schreibt ebd., 216: „Es gibt kein Wort bzw. keine Konstruktion, die sich nicht durch einen findigen oder unwissenden Sprecher auf einen neuen Gebrauch umstellen ließen.“ Vgl. auch ders. (2000, 395ff.). 174 Krämer (2001, 195). 175 Vgl. Davidson (1986c, 393). 176 Für die Interpretation seiner Sprachtheorie als Programmschrift gegen den Konventionalismus kann die Behauptung angeführt werden, er habe „keinen Zweifel, daß alle menschliche Kommunikation durch Sprache tatsächlich ein gewisses Maß an dieser Art von Regelmäßigkeit aufweist“ (ders. 1986a, 390), wobei „die Kenntnis der Sprachkonventionen […] eine praktische Interpretationskrücke“ (391) sei. 177 Vgl. Kober (2002, 219). 178 Wie Scholz (1999, 144) in seiner philosophiegeschichtlichen Studie zeigt, führt das Nachdenken über die Grundlagen des Verstehens in der Hermeneutik (vgl. z.B. Gadamers „Vorgriff der Vollkommenheit“) und analytischen Sprachphilosophie (Davidsons Principle of Charity) - trotz wechselseitiger Unkenntnis - zur Formulierung ähnlicher, basaler Prinzipien: Diese fordern relativ einheitlich vom Interpreten, die Erfüllung bestimmter normativer Standards (Wahrheit, Konsistenz, Kohärenz, Rationalität und Verständlichkeit) der zu verstehenden Sache oder Person zu unterstellen, wenngleich sie im Hinblick auf das jeweilige Verstehensobjekt, auf die Art der normativen Standards und die Stärke der Unterstellung variieren. <?page no="114"?> 2. Philosophische Grundlegung des Transparenzbegriffs 110 kation postuliert wurde, von signifikanten Kooperationsbemühungen auf beiden Seiten der Kommunikationsteilnehmer abhängt. 179 Unabhängig davon, ob die Kommunikation in ein rivalisierend-kompetitives oder solidarisch-unterstützendes Handeln implementiert ist, haben sich Sprecher und Hörer an einem Kooperationsprinzip sprachlicher Kommunikation zu orientieren, damit die inhärente Zielsetzung sprachlicher Kommunikation verwirklicht werden kann. Die individuellen Sprechakt- und Interpretationsvollzüge des Sprechers und Hörers können demzufolge als komplementäre Prozesse aufgefasst werden, die wechselseitig aufeinander abgestimmt sein müssen, um zum Endresultat des „Verstehens“ sprachlicher Äußerungen zu führen. 180 In Fortführung dieser Gedanken liegt resultatives Verstehen per definitionem genau dann vor, wenn der Sprecher den Eindruck hat, der Hörer habe die sprachliche Äußerung so erfasst, wie jener sie gemeint hat, und der Hörer den Eindruck hat, mit seiner Interpretationshypothese zu einem sinnvollen Ergebnis gekommen zu sein. 181 Das Gelingen einer kommunikativen Handlung bzw. der Erfolg einer Kommunikation hinsichtlich des Verstehensziels hängt demzufolge von einem beidseitigen Konsens ab. 182 Die Erfolgskontrolle wird als ein Feedbackprozess konzipiert, bei dem der Kommunikator durch die Handlungsbzw. Verhaltensweisen des Rezipienten Hinweise auf das hörerseitige Verstehen erhält. In dieser kooperationsorientierten Lesart finden die unterschiedlichen kommunikationstheoretischen Ansätze des 20. Jahrhunderts, die in Sprecher-, Bedeutungs- und Interpretationstheorien zergliedert sind, eine 179 Vgl. z.B. Harras (2004, 202f.) und Baltzer (1999, 167ff.), die das kooperative Handeln bei Kommunikationsprozessen ins Zentrum der Kommunikationstheorien stellen. 180 Vgl. Hörmann (1983, 18f.), der etwas missverständlich von Bottom-up- (sprecherbezogenen) und Top-Down-(hörerbezogenen) Verstehensprozessen spricht. 181 Vgl. Savigny (1983, 22f.), der verschiedene Perspektiven bei der Bedeutung sprachlicher Äußerungen unterscheidet: Die Bedeutung kann davon abhängen, (1) was ein Sprecher mit ihr meint, (2) wie sie der Adressat versteht oder (3) wie man sie in einer Situation zu verwenden und zu verstehen hat. Die vorläufige Verstehensdefinition stellt eine Mischform aller Bedeutungsperspektiven dar. 182 Austin (1986) spricht hingegen vom „Misslingen“ bzw. „Verunglücken“ performativer Sprechakte, wenn diese z.B. durch Fehlberufung, -anwendung oder -ausführung, also bei Nichterfüllen der Konvention scheitern. Burkart (2002, 33) unterscheidet „kommunikative Handlungen“, die den Versuch zur Realisierung der Handlungsabsicht darstellen, von „Kommunikation“ (i.e.S.), die bereits das faktische Gelingen der kommunikativen Handlungen bzw. ihren Erfolg impliziert. Vor divergierender Zielsetzung werden die Termini freilich heterogen verwendet: Z.B. bezieht der Konventionalist Searle das Gelingen einer kommunikativen Handlung auf das Zustandekommen eines Sprechakts und das Erfolgreichsein der Kommunikation auf das hörerseitige Verstehen; in Rekurs auf die handlungstheoretische Trennung zwischen Ergebnis und Folge ist nach der Intentionalistin Harras (2004, 204) eine kommunikative Handlung gelungen g.d.w. das (sekundär) intendierte Ergebnis (Verstehen) erreicht und erfolgreich g.d.w. die (primär) intendierte Folge (Reaktion) eingetreten ist. <?page no="115"?> 2.3. Eine Kriteriologie informationeller Transparenz 111 eklektische Zusammenführung zu einer einheitlichen Kommunikationsbzw. Verstehenstheorie. 183 Gemäß des Kooperationsprinzips dürfen die Kommunikationsteilnehmer bei einer akzeptablen Richtung des Gesprächsverlaufs voneinander erwarten, dass der Sprecher seine Beiträge so hervorbringt, wie es dem situativen Gesprächskontext angemessen ist, während der Hörer eine Interpretation ebenso angemessen entwickelt. Das Kooperationsprinzip lässt sich für die beteiligten Kommunikationspartner wie folgt entfalten: (1) Will ein Sprecher verstanden werden, muss er dem Kooperationsprinzip zufolge seinen Gesprächsbeitrag kontextuell angemessen, d.h. verständlich hervorbringen. Hierbei hat er sich zunächst an die in der Sprachgemeinschaft üblichen und dem Hörer als bekannt zu unterstellenden Sprachkonventionen zu halten, die sich in phonologischen, morphologischen, syntaktischen, semantischen und pragmatischen Regeln des Sprechaktes untergliedern (Searle). Beachtet er diese Regeln beim Hervorbringen seiner Äußerung, ist diese kraft gemeinschaftlicher Konvention mit einer bestimmten Bedeutung belegt, die von kompetenten Teilnehmern einer Sprachbzw. Konventionsgemeinschaft verstanden werden kann. Da sich sprachliche Äußerungen nicht in konventionsgebundenen Bedeutungen erschöpfen, sondern durch die subjektive Intention des Mitteilenden geprägt werden, bestehen weitere Anforderungen: Der Sprecher muss seine subjektive Intention so ersichtlich wie möglich machen, indem er sie über das intersubjektiv-konventionell regulierte Zusammenspiel der drei Sprachebenen vermittelt. 184 Einen Anhaltspunkt bieten die allgemeinen Grice’schen Konversationsmaximen, deren Beachtung es dem Hörer ermöglicht, die sprecherseitige Absicht der kommunikativen Handlung - insbesondere bei „konversationalen Implikaturen“ - zu erfassen. Als primäre Ursachen von Verständigungsproblemen auf semantischer Sprachebene sind die Verwendung sprachlicher Zeichen zu nennen, die dem Rezipienten unbekannt sind (und ein Nichtverstehen die Folge ist) bzw. der Gebrauch äquivoker sprachlicher Zeichen, die dem Rezipienten zwar bekannt sind, dieser mit den verwendeten Wörtern jedoch eine andere Bedeutung verbindet (und ein Missverstehen die Folge ist). In der Regel bestehen mehrere Möglichkeiten eines sprachlichen Zugriffs auf Entitäten, die sich zwischen den Faktoren Präzision und Verständlichkeit (im engen Sinne) als Antipoden einer zuverlässigen Bedeutungsvermittlung bewegen: 185 Präzision thematisiert die 183 Wie nochmals betont werden muss, geht diese harmonisierende Lesart auf Kober (2002), hier insbesondere 332f. zurück, der entgegen der Annahme ihrer Inkommensurabilität hermeneutische und sprachphilosophische Ansätze von Searle, Grice, Davidson u.a. als „unterschiedliche Aspekte eines umfassenderen Projektes, eben einer Theorie der sprachlichen Kommunikation“ (19) rekonstruiert. 184 Vgl. Meggle (1999, 49f.). 185 Vgl. Gardt (1999, 467) für die Gegenüberstellung der beiden Faktoren. <?page no="116"?> 2. Philosophische Grundlegung des Transparenzbegriffs 112 eineindeutige Zuordnung sprachlicher Zeichen zum bezeichneten Sachverhalt, 186 während sich Verständlichkeit mitunter auf die Verwendung geläufiger Begriffe bezieht, deren Bedeutungen an das Vorwissen der Rezipienten anschließen und ein individuelles Verstehen ermöglichen. 187 Verständliche Äußerungen laufen Gefahr, in ihrer Vagheit und Mehrdeutigkeit unpräzise zu sein, präzise Äußerungen hingegen, in ihrer Spezifität unverständlich zu sein. Legen die Grice’schen Maximen eine Berücksichtigung beider Faktoren nahe (KM 6 und 7), die sich nicht selten in einem Spannungsfeld befinden, sollte der kooperationswillige Kommunikator einen rezipientenorientierten Kompromiss suchen. Daneben besteht die Aufgabe, sprachliche Äußerungen, die keine allgemeinen, sondern nur spezifische oder individuelle Bedeutungen haben, gesondert zu erläutern, was gegebenenfalls auch Erläuterungen des konzeptuellen Rahmenwerks impliziert. 188 Auf pragmatisch-performativer Sprachebene treten Verständigungsprobleme auf, wenn die gesetzten Sprechakte hinsichtlich ihres illokutionären Zwecks bzw. der Intention durch die Kommunikationsteilnehmer unterschiedlich interpretiert werden. 189 Daher ist der Sprecher dazu angehalten, 186 In den Wissenschaften wird dieser Faktor durch die Verwendung einer Fachsprache streng zu kontrollieren versucht, um beim Rezipienten die Vorstellung des identischen Gegenstandes zu generieren oder aktualisieren. 187 In der Sprachforschung, etwa im erfolgreichen Hamburger Modell der Verständlichkeitsforschung nach Langer (1974, 13ff.) sowie Langer u.a. (2006) wurden vier objektive Merkmale einer verständlichen Äußerung empirisch bestätigt: (1) Sprachliche Einfachheit im Satzbau und der Wortwahl, z.B. geläufige Wörter, grammatikalisch einfache Sätze; (2) kognitive Gliederung/ Ordnung des (Text-)Aufbaus, z.B. kohärente Inhaltsorganisation, Hervorhebungen relevanter Informationen, Verweise auf Nachbarthematiken; (3) Kürze/ Prägnanz und (4) motivationale, anregende Stimulanz, z.B. konfliktgenerierende Fragen. Diese Kriterien, die zum sog. Kiss-Prinzip („keep it short and simple! “) kondensiert sind, finden sich z.B. in rechtswissenschaftlichen Transparenzüberlegungen wieder; vgl. Schendera (2004), sowie Kap. 1.2.2. Wie Lerch (2004, 258ff.) kritisiert, enthalten objektive Konzeptualisierungsversuche allerdings die eklatante methodologische Schwäche, keine Unterscheidung zwischen tatsächlichem und vermeintlichem Verstehen zu erlauben. Gloy (1997, 27ff.) möchte daher sprachobjektive Kriterien der Verständlichkeit, die kein erfolgreiches Verstehen garantieren können, eher als fitting rules denn als guiding rules verstanden wissen. 188 Bei der Übersetzung von Termini spezifischer Fachsprachen macht Dascal (2003) auf die Schwierigkeit aufmerksam, dass solche Begriffe nicht ohne ihr konzeptuelles Rahmenwerk, der Art und Weise der Argumentation, der Herangehensweise einer Problemlösung etc. zu verstehen sind. Daher ist der Vorschlag von Riggs (1986, 115ff.) nicht hilfreich, kognitive Transparenz durch eine „lexikalische Transparenz“ zu gewährleisten, bei dem sich der Grad an Verständlichkeit von (Fach-)Begriffen daran bemisst, ob diese in einem Allgemeinwörterbuch nachgeschlagen werden können. Nach dieser Interpretation sind somit Fachtermini wie Phonem lexikalisch transparent, aber Begriffe wie carcinoma sarcomatodes intransparent. Vgl. Kap. 3.2.1.3. 189 Dieses Problem scheint für die Situation der Informierung über einen Sachverhalt weniger relevant: Beispielsweise bei einer Kommunikation zwischen Wissenschaft- <?page no="117"?> 2.3. Eine Kriteriologie informationeller Transparenz 113 eine Abweichung von illokutionären Zwecken der Sprechhandlung, die aufgrund des situativen Framings vom Hörer erwartet werden, kenntlich zu machen. Verlässt jener etwa den Sprechakttypus des Informierens (Repräsentativa), um den Rezipienten von seiner persönlichen Auffassung zu überzeugen (Direktiva), sollte dies zur Vermeidung von Missverständnissen deklariert werden. Sprachliche Äußerungen können zwar auch bei einer Abweichung von Konventionen und funktionalen Sprachregeln verstanden werden - der Interpret kann sich durch radikale Interpretation eine unverständliche sprachliche Äußerung verständlich machen (Davidson) -, was aber die kommunikative Zielsetzung gefährdet, sprachliche Äußerungen so zu verstehen, wie der Sprecher sie meint. Die Erfüllung der genannten sprecherseitigen Anforderungen in toto konstituiert die Verständlichkeit (im weiten Sinne) einer sprachlichen Äußerung. (2) Für den Rezipienten ergeben sich gleichwertige Forderungen: Nach Maßgabe des Kooperationsprinzips muss der Hörer situativ angemessene Interpretationshypothesen entwickeln, bei denen er dem Sprecher das Befolgen von Sprachkonventionen, Konversationsmaximen und Rationalitätsstandards (Wahrheit, Konsistenz, Kohärenz) unterstellt. Um die Bedeutung der sprachlichen Äußerung auch bei Konventionsabweichungen zu erfassen, muss er neben der konventionalen Bedeutung der Äußerung (einschließlich des illokutionären Zwecks) die verfolgten Absichten des Sprechers berücksichtigen. Analog zur Kooperationspflicht des Sprechers, bei den genannten semantischen und pragmatischen Verständigungsproblemen die sprachliche Äußerung durch alternative Formulierungen und Erklärungen für den anderen verstehbar zu machen, besteht die Pflicht des Interpreten, durch Nachfrage die genannten Möglichkeiten des Nicht- und Missverstehens auszuräumen und weitere Informationen einzuholen. Der Verstehensprozess des Rezipienten beginnt stets von einem „inneren“ Standpunkt aus, bei dem er eine Interpretationshypothese der sprachlichen Äußerung gemäß des eigenen Vorverständnisses (Vorwissen, eigene Überzeugungen, eigener Informationsbedarf etc.) entwickelt und gegebenenfalls im weiteren Gesprächsverlauf modifiziert, bis seine Interpretationshypothese sich an der Reaktion des Kommunikationspartner bewährt. Wie bereits erwähnt, ist der Prozess dann beendet bzw. wird der resultative Verstehenserfolg erreicht, wenn der Sprecher den Eindruck hat, der Rezipient habe adäquat verstanden und der Rezipient für sich ein sinnvolles Interlern und Laien ist die Interpretation der Sprechakte als propositionale-informative Sprechakte durch die eindeutig zuschreibbaren Rollen festgelegt. Nach Ott (1997, 480f.) werden durch die sozialen Rollen („Beziehungsaspekt“) konkrete Erwartungen hinsichtlich des „Inhaltsaspekts“ des Sprechaktes aktiviert; z.B. erwartet der Laie umfassende Informationen über den wissenschaftlichen Sachstand. Sofern der wissenschaftliche Experte keine wissenschaftlich abgesicherte Information vermittelt, sollte er dies deklarieren. <?page no="118"?> 2. Philosophische Grundlegung des Transparenzbegriffs 114 pretationsergebnis erzielt hat. Dieses zweiseitige Verstehenskriterium ist nicht nur der gewählten Verbindung komplementärer sprecher- und hörerzentrierter Kommunikationstheorien geschuldet, sondern auch vor dem Prüfstein alltäglicher Gespräche plausibel: Berücksichtigt man lediglich den Eindruck des Sprechers, besteht die Gefahr, dass der Hörer trotz positiven Feedbacks keine für sich sinnvolle Interpretationshypothese entwickelt. Reduziert man das Verstandenhaben definitorisch auf den Eindruck des Hörers, besteht hingegen die Möglichkeit, dass dieser eine für sich sinnvolle Interpretationshypothese entwickelt, die keinen hinreichenden Kontakt zu dem besitzt, was der Sprecher eigentlich ausdrücken bzw. beschreiben wollte. Die Grenzen dieses zweiseitigen Verstehenskriteriums liegen jedoch auf der Hand: Obschon eine Interpretationshypothese durch die beobachtbare Anschlussreaktion empirisch überprüfbar ist, erreicht sie durch die uneindeutige Korrelation von Bedeutungsverstehen und Verhalten nur eine begrenzte Bewährung. Die Interpretationsmethode verweist darauf, dass eine sprachliche Äußerung nur in Relation zum Interpreten bedeutungsvoll ist. 190 Das Ziel der Kommunikation kann daher nicht die Maximierung identischer Bedeutungen sprachlicher Zeichen bzw. das identische Verständnis eines Sachverhalts sein, was eine verstehenstheoretisch unerfüllbare Aufgabe wäre. 191 Anstatt eines unhaltbaren semantischen Normativismus, bei dem außerdem jede Unschärfe oder jeder inkorrekte Gebrauch sprachlicher Zeichen zu einem Bedeutungswandel oder -verlust führen müsste, ist ein Spielraum beim individuellen und kollektiven Sprachgebrauch für die Interpretation von Äußerungen anzunehmen, über den sich interaktiv verständigt werden kann. Gleichwohl darf nicht vergessen werden, dass bei den vorgestellten Kommunikationstheorien analytischer Provenienz vom psychischen Vorgang des Verstehens abgesehen und statt dessen - unter Inkaufnahme eines latenten Behaviourismus - von einer Sozialisierung des Verstehens bei Korrelierung von Äußerung und Handlung ausgegangen wird. 190 Vgl. Schaeffler (1974, 1629 und 1634f.). 191 Welsen (1990, 75 und 102) beschreibt die Interpretationsbedürftigkeit sprachlicher Äußerungen wie folgt: „Liegt der Ursprung der Sprache außerhalb des Bewusstseins, so ist ihr Sinn diesem nicht unmittelbar zugänglich. Die Sprache wäre dann ursprünglich nicht transparent, sondern opak. Deshalb gilt es […], den Sinn von Zeichen vermittels einer besonderen Bewusstseinsleistung zu erschließen. Die Opazität ist durch Interpretation in Transparenz zu überführen.“ Da allerdings kein Erkenntnissubjekt „in der Lage ist, die Materialität des sinnlichen Trägers der Bedeutung aufzulösen, bleibt die totale Transparenz der Sprache ein unerreichbares Ziel. Die partielle Transparenz hingegen […] beruht auf interpretativen Hypothesen, die ihrer pragmatischen Unabdingbarkeit zum Trotz die Differenz [zwischen der Endlichkeit des Bewusstseins und der Unendlichkeit der Interpretationen; RB] keineswegs definitiv außer Kraft setzen.“ <?page no="119"?> 2.3. Eine Kriteriologie informationeller Transparenz 115 2.3.2.4. Verständlichkeit versus Angemessenheit der Informationen Um die bisherigen Überlegungen abzurunden, wird an die Zielsetzung des Kapitels erinnert: Es geht um die Entfaltung eines Kriteriums, auf dessen Grundlage entschieden werden kann, ob Informationen eine inhaltliche Transparenz von Sachverhalten herzustellen in der Lage sind. Nach den Analysen des kooperativen Verstehenskonzepts kann der Aspekt der Verständlichkeit sprachlicher Äußerungen im definierten weiten Sinne als notwendiges Kriterium eingeführt werden, das ein Sprecher bei einer informationellen Transparenzvermittlung zu berücksichtigen hat. Die mit dem Kriterium der Verständlichkeit verbundenen normativen Forderungen reichen von der Befolgung sprachlicher Konventionen, über die Berücksichtigung des sog. Kiss- (Keep it short and simple)-Prinzips, bis zur Explikation nicht- oder missverständlicher Begriffe. Unter der Voraussetzung, dass inhaltliche Transparenz mit der epistemischen Leitkategorie des Verstehens identifiziert werden kann und Verstehen (einer sprachlichen Äußerung) als ein Zustand definiert wird, bei dem sowohl der Sprecher als auch der Rezipient den Eindruck einer gelungenen Kommunikation gewonnen haben, lässt sich folgende kriteriologische Definition inhaltlicher Transparenz gewinnen: Ein Sachverhalt kann durch die Informierung eines Transparenzvermittlers (inhaltlich) transparent werden, wenn sich der Transparenzvermittler sprachlich verständlich ausdrückt, d.h. sich am kommunikativen Kooperationsprinzip und an den subsidiären Sprachkonventionen und Konversationsmaximen orientiert. 192 Die Formulierung der Definition im Modus der notwendigen Bedingung ergeht aus dem komplexen Verstehensprozess, der zweierlei impliziert: Erstens ist Verstehen an Verständigungsvoraussetzungen bei beiden Kommunikationspartnern geknüpft; in dieser Konsequenz hat nicht nur der Sprecher bei der Formulierung einer sachbezogenen Information, sondern auch der Rezipient bei der Entwicklung einer Interpretationshypothese bestimmte konventionelle und nicht-konventionelle Regeln zu berücksichtigen, damit ein Sachverhalt für letzteren transparent werden kann. Zweitens kann keine Methodik und kein Regelwerk, die von beiden Kommunikationspartnern bei der Formulierung und Interpretation sprachlicher Informationen rigide berücksichtigt werden, die kognitive Transparenz eines Sachverhaltes garantieren. 193 Stattdessen ist es ausschlaggebend, 192 Dascal (2003) hingegen knüpft sprachliche Transparenz an die Bedingung, dass ein Hörer die Bedeutung, die der Transparenzvermittler mit seiner sprachlichen Informationsäußerung verbindet, ohne besondere Schwierigkeiten erfassen kann: „Discourse adressed by a Speaker (S) to the Audience (A) is maximally transparent if the meaning S intends to convey to A (through his/ her discourse) is recognized by A without any problem of interpretation.“ Seine Definition ist indes unpräzise, wenn er das hörerseitige Verstehen als das Erfassen einer festgelegten Bedeutung interpretiert. 193 Vgl. Kober (2002, 39f.). Ähnlich betont Gadamer (1990, 194, 317ff.), Verstehen sei eine Kunst, keine Technik. <?page no="120"?> 2. Philosophische Grundlegung des Transparenzbegriffs 116 dass sich beide Kommunikationspartner kooperativ in einem Verständigungsprozess um inhaltliche Transparenz bemühen, bei dem die vorgeschlagene Verständlichkeitsnorm und ihre subsidiären Regeln lediglich Orientierungspunkte darstellen. Bei den vergangenen Überlegungen wurde die Verständlichkeitsnorm aus der Perspektive der konstitutiven Zielsetzung jeder kommunikativen Handlung funktional rekonstruiert: Wenn sich ein Sprecher in einer Kommunikationssituation (gegebenenfalls mit einer übergeordneten Zielsetzung) sprachlich äußert, dann ist er angehalten, sich für den Adressaten verständlich auszudrücken und konstitutive Sprechaktregeln und Konversationsmaximen zu beachten. Die Forderung nach einer verständlichen Äußerung ist demzufolge eine außermoralische Norm des sprachlichen Handelns, die ein Handlungssubjekt bei jeder Kommunikation rationalerweise zu berücksichtigen hat. 194 Ist eine Verständlichkeitsnorm bereits in kooperationsorientierte Kommunikationstheorien implementiert, stellt sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit einer gesonderten, ethisch fundierten Transparenzforderung, wie sie in dieser Arbeit aufgestellt wird. Sieht man davon ab, dass die Transparenzforderung in ihrer formellen Sachbezogenheit (Wahrheit und Vollständigkeit) extensional umfangreicher ist, können zwei triftige Argumente genannt werden, die eine gesonderte Norm (inhaltlicher) Transparenz rechtfertigen. Das erste Argument wird aus folgender Gegenfrage ersichtlich: Wenn die Verständlichkeit der Äußerungen vorausgesetzt werden können müsste, warum fordert man dann überhaupt „mehr Transparenz“ ein? Transparenz scheint immer dann eingefordert zu werden, wenn die Verständlichkeit in bestimmten Interaktionskontexten eben nicht gewährleistet wird. Da es sich meistens um vielschichtige Sachverhalte handelt, die durch den Gebrauch unbekannter Termini unverständlich vermittelt wurden, kann Transparenz als spezielles Regulativ für Situationen der komplexen Informationsvermittlung angesehen werden. Das zweite Argument resultiert aus der Möglichkeit, dass problemlos verständliche Informationen dennoch einen Sachverhalt nicht transparent werden lassen, weil sie etwa bestimmte Merkmale sprachlich überdecken, verschleiern oder sonst wie unangemessen beschreiben. 195 Diese Formen von sprachlicher Intransparenz, die auf die Begriffswahl bei der Beschreibung von Sachverhalten zurückzuführen sind, werden mittels einer funktionalen Verständlichkeitsnorm nicht erfasst und bedürfen daher einer ei- 194 Neben Grice (1993, 252f.) heben v.a. Sprachwissenschaftler und -philosophen, wie Harras (2004, 230) und Pfister (2008) die Funktionalität der Maximen und die Rationalität ihrer Befolgung hervor. 195 Mieth (2001, 8) verweist auf die teils praktizierte Sprachpolitik in Ethikräten, „durch welche Entscheidungen präjudiziert werden, ohne dass dies ins Bewusstsein der Beteiligten bzw. der bürgerlichen Öffentlichkeit dringt. Wer die Sprache okkupiert, übt Macht ohne Transparenz aus.“ <?page no="121"?> 2.3. Eine Kriteriologie informationeller Transparenz 117 genen Normierung. Voraussetzung dieser Überlegung ist, dass man auf einen Sachverhalt mit unterschiedlichen Begrifflichkeiten referieren kann, ohne dass die Beschreibungen insgesamt unwahr oder unverständlich sind. Zur Identifikation solcher Formen von Intransparenz kann auf die Methoden der Sprachkritik bzw. Diskursanalyse zurückgegriffen werden. Deren Aufgabe ist es, sprachliche Beschreibungen angesichts alternativer Möglichkeiten des sprachlichen Entitätenzugriffs auf ihre Angemessenheit hin zu überprüfen und gegebenenfalls in Frage zu stellen. 196 Ein wichtiges Instrument ist die sprachtheoretische Unterscheidung zwischen der Kernbedeutung und Konnotation von Begriffen. 197 Als Beispiel dient die Einführung von Formulierungsalternativen zur Bezeichnung desselben Sachverhalts, bei denen sprachliche Zeichen mit einer bestimmten sachbezogenen oder wertenden Semantik verknüpft werden. Etwa bei den Diskursen zur Präimplantationsdiagnostik (PID) und Embryonenforschung 198 sind es Formulierungsalternativen, die sich auf bestimmte subjektiv bzw. relational gewählte Charakteristika des beschriebenen Sachverhalts beziehen (z.B. die Bezeichnung der Embryonen als „gesund“ oder „krank“, die in Anschluss an eine genetische Diagnostik über das gesuchte genetische Merkmal verfügen oder nicht verfügen) und diese mit normativ-evaluativen („gesund“ impliziert im laienhaften Sinne ein positiv konnotiertes Wohlbefinden) bzw. -präskriptiven Implikationen (mit genannter Bezeichnung geht eine „Lebenswertzuschreibung“ einher) verbinden. 199 Analysiert man die genannten Formulierungsalternativen in Bezug auf die Verwirklichung der Transparenzzielsetzung, ergibt sich folgendes Bild: Sofern Beschreibungsvarianten bestimmte Merkmale der Sachverhalte deutend überbetonen und andere hingegen verschleiern, besteht die Gefahr, formelle Intransparenz zu erzeugen. Es sind daher solche Formulierungen zu bevorzugen, die alle relevanten Aspekte des Sachverhalts darstellend berücksichtigen bzw. keine relevanten Aspekte verschleiern. Formulierungsalternativen, die außerdem mit deskriptiven und normativen Implikationen spielen, sind mindestens interpretationsbedürftig und stellen gegebenenfalls keine kog- 196 Vgl. Schiewe (1998, 18) und Wimmer (1983, 298f.) für die Aufgabenstellung der linguistischen und ethischen Sprachkritik. 197 Vgl. die richtungsweisende Untersuchung von Putnam (2004), der zwischen einer Kernbedeutung, die aus Stereotypen besteht, und der individuellen Konnotation, den Implikationen und Assoziationen einer Äußerung, unterscheidet. 198 Bei den folgenden Überlegungen und Beispielen beziehe ich mich auf die linguistische Diskursanalyse von Domasch (2007), die innerhalb der bioethischen Diskurse zur Präimplantationsdiagnostik und Embryonenforschung zeigen kann, dass „alternativ[e] Sichtweisen und Vorstellungswelten, Gedanken und Bedeutungsparadigmen“ (42) in sprachliche Beschreibungen manifestiert werden. 199 Vgl. ebd., 119 und 236ff. <?page no="122"?> 2. Philosophische Grundlegung des Transparenzbegriffs 118 nitive Zugänglichkeit zum Sachverhalt her. 200 Eine Transparenz wird nur dann ermöglicht, wenn der Transparenzvermittler eine Formulierungsalternative vorzieht, die keine oder nur wenige sachfremde Implikationen zulässt. Fasst man die kriteriologischen Überlegungen zum Sprachgebrauch unter der Chiffre der „angemessenen Darstellung“ zusammen, ist die bisher gewonnene Definition inhaltlicher Transparenz wie folgt zu ergänzen: Ein Sachverhalt kann durch die Informierung eines Transparenzvermittlers transparent werden, wenn der Transparenzvermittler den Sachverhalt nicht nur sprachlich verständlich, sondern hinsichtlich der Kern-Bedeutung und Konnotation der gewählten Begriffe angemessen darstellt. 201 Unzweifelhaft fußt das Kriterium der sprachlich angemessenen Darstellung auf der individuellen Einschätzung der Protagonisten. Da die Vorstellung einer Begriffsneutralität unhaltbar und demzufolge auch die Zielsetzung einer neutralen Beschreibung unrealistisch ist, impliziert das Kriterium daher hauptsächlich zwei miteinander verbundene Kernaufgaben: Erstens hat ein Transparenzvermittler die Semantik von Begriffen in ihren jeweiligen Kontexten zu reflektieren. Zweitens sollte er den Transparenzsuchenden darauf aufmerksam machen, dass mit einer Begriffswahl eine semantische Einengung auf präferierte Merkmale des bezeichneten Sachverhalts und eine Ausblendung als irrelevant erachteter Merkmale verbunden ist und gegebenenfalls eine bestimmte Wertung erfolgt bzw. eine wertende Konnotation geduldet wird. Hinsichtlich der Reflexion und Offenlegung des eigenen Sprachgebrauchs stellt das Kriterium der sprachlich angemessenen Darstellung gerade für strategische Sprecher eine Herausforderung dar, die bestrebt sind, „ihre Deutungen sprachlich durchzusetzen und bewusst nicht offen zu legen“. 202 Analog zum zweiseitigen Verstehensprozess ist die Verwirklichung des reflektierten Sprachgebrauchs bzw. der angemessenen Darstellungsweise gleichermaßen vom Rezipienten abhängig, der an der „Aufdeckung von semantischen Zusammenhängen“ beteiligt ist. 203 200 Inhaltliche Transparenz setzt zwar primär eine Sprachthematisierung der 1. Ordnung voraus, die dem Zweck dient, Störungen oder Verstehensschwierigkeiten bei Kommunikationsvorgängen zu beheben; sie impliziert aber zugleich eine Sprachthematisierung der 2. Ordnung, bei der über Bedeutung, Funktion und Gebrauch sprachlicher Äußerungen auf einer Metaebene reflektiert wird; vgl. Stötzel (1995) für beide Formen der Sprachthematisierung. 201 Im Kanon der vorgeschlagenen Transparenzkriterien (Wahrheit, Vollständigkeit, Verständlichkeit, sprachliche Angemessenheit der Informierung) ist dieses das wohl am schwierigsten standardisierbare. 202 Domasch (2007, 37). 203 Busse (1989). Indem man, mit Wimmer (1986, 146 und 152) gesprochen, „das Weltwissen des anderen“ so weit aufdeckt, „dass man seine Handlungsgrundlagen und damit seine Auffassung von Mensch und Welt so gut einschätzen kann wie die eige- <?page no="123"?> 2.3. Eine Kriteriologie informationeller Transparenz 119 Wie aus den kurzen sprachkritischen Anmerkungen ersichtlich wird, ist formelle und inhaltliche Transparenz eine sinnvolle kommunikative Forderung, die über den Rahmen des sprachfunktionalen Horizonts hinausreicht. Denn sie bezieht sich auch auf solche Aussagen (bzw. Informationen), bei denen zwar die sprachliche Funktionalität gewahrt, aber durch tendenziöse Kernbedeutungen oder Implikationen ein verzerrtes Bild der Sachverhalte erzeugt wird. Angesichts bestehender Formulierungsalternativen stellt sich die Frage, mit welcher Intention der Sprecher die Begrifflichkeiten bei Kenntnis der Bedeutungsebenen verwendet. 204 Im schlimmsten Falle kann ihre Verwendung auf eine intendierte Täuschung über das Bestehen von Sachverhalten zurückgeführt werden. In der Literatur finden sich zwar Versuche, täuschende Intentionen der Sprecher aus zwischenmenschlichen Kommunikationsmodellen auszuschließen, 205 die sich bei genauerer Betrachtung allerdings nicht modellinhärent, sondern nur durch Ergänzung normativer Elemente begründen lassen. 206 Die Sprache lässt folglich einen moralischen Spielraum, den die Ethik reflektierend zu schließen versucht. 2.3.3. Zusammenfassung Wie wir gesehen haben, baut der Transparenzbegriff kriteriologisch hauptsächlich auf den philosophischen Konzepten der Wahrheit (formelle Transparenz) und Verständlichkeit (inhaltliche Transparenz) auf, ohne sich darin zu erschöpfen. Es wurden weitere Kriterien (Vollständigkeit und sprachliche Angemessenheit) ergänzt und diskutiert. Insgesamt kann ein Sachverhalt für einen Transparenzsuchenden transparent werden, wenn ein Transparenzvermittler bei einer sachbezogenen Informierung alle relevanten Informationen wahrheitsgemäß und vollständig, sprachlich verständlich und angemessen an den Transparenzsuchenden vermittelt. Gesetzt dem Ziel, einem nichtkundigen nen“, ist der Grundstein für die Vermittlung eines möglichst reflektierten Sprachgebrauch gelegt. 204 Domasch (2007, 6) interpretiert Unterschiede im Sprachgebrauch „als Indiz für die unterschiedlichen Handlungsinteressen und -bedürfnisse“. Bezüglich einer interessegeleiteten Verwendung von wertenden Formulierungsalternativen zeigt sie, dass Befürworter der PID bevorzugt von einer „Nichtimplantation“ oder vom „Verwerfen“ der Embryonen sprechen, während ihre Gegner dies als „Töten“ oder „Absterben lassen“ der Embryonen bezeichnen (217). Vgl. auch Mieth (2001, 63ff.), der die Begriffswahl „therapeutisches Klonen“ innerhalb der Debatte um die humane embryonale Stammzellforschung als sprachpolitisches Instrument zur Durchsetzung von Forschungsinteressen entlarvt und den Begriff „Forschungsklonen“ bevorzugt. 205 Greve (2003, 20) gibt einen Überblick über den Diskussionsstand für das Grice’sche Grundmodell. 206 Dies räumt Harras (2004, 178) ein. Für Grice (1993, 250) selbst ist es denkbar, dass seine funktionalen Konversationsmaximen durch weitere (ästhetische oder moralische) Regeln ergänzt werden. <?page no="124"?> 2. Philosophische Grundlegung des Transparenzbegriffs 120 Rezipienten eine formelle und inhaltliche Zugänglichkeit zu einem Transparenzobjekts informationell zu vermitteln, bestehen hohe Anforderungen an den Transparenzvermittler: 207 Er muss (a) das relevante Transparenzobjekt epistemisch erfasst haben, was in der Regel durch seine Beteiligung an der sozialen Generierung des Sachverhalts gewährleistet wird; (b) seine Wissensbestände über den Sachverhalt nach bestimmten Relevanzkriterien evaluieren und selektieren; (c) die selektierten Wissensbestände zu Informationen transformieren und dabei kognitive Informationsverarbeitungsmöglichkeiten (Wissensvoraussetzungen und Deutungsmuster) des Rezipienten berücksichtigen, damit sie wiederum als Wissen angeeignet, nachhaltig erinnert, reproduziert, d.h. angewendet werden können; (d) bei der Informationsaufbereitung eine angemessene Begrifflichkeit wählen, die den Sachverhalt adäquat und inhaltlich nachvollziehbar darstellt; und (e) die durchgeführten Selektions-, Transformations- und Repräsentationsschritte begründend darlegen, wobei eine Perspektivität in der Darstellung einzuräumen ist. Aufgrund der Bipolarität vereint das vorgestellte Konzept informationeller Transparenz eine „objektive“ Sachbezogenheit (Wahrheit, Vollständigkeit) und eine subjektive Personenbezogenheit (Relevanz, Verständlichkeit) einer Information. 208 In jedem Fall wird die Transparenzzielsetzung verfehlt, wenn der Transparenzvermittler falsche Informationen über einen Sachverhalt weitergibt, wahre Informationen unverständlich vermittelt, verheimlicht oder verschleiert. In besagten Fällen bleibt der Sachverhalt für den Transparenzsuchenden intransparent. Ist informationelle Intransparenz auf die absichtliche oder unabsichtliche Vermittlung von wahren oder falschen Informationen zurückzuführen, kann sie sowohl auf ontologisch-epistemologische, als auch ethisch-moralische Implikationen befragt werden. Da eine philosophische Untersuchung des Transparenzkonzepts mindestens lückenhaft bliebe, wenn sie sich nicht die Programmatik des Untersuchungsobjekts selbstreferentiell zu eigen macht, beginnen wir mit erster Aufgabe. 207 Im Folgenden knüpfe ich an die „Wissenstransfer“anforderungen von Antos (2001, 20ff.) an, wenngleich der Begriff des „Wissenstransfers“ nicht unproblematisch ist: Für den Kommunikatoren ist es unvorhersehbar, ob und was sich der Rezipient von den erhaltenen Informationen als Wissen aneignet; vgl. Palm (2001, 352ff.). 208 Dies trägt der Einsicht Rechnung, dass die epistemische Aneignung von Informationen durch einen Transparenzsuchenden in moralischer Hinsicht nicht nur durch die Verheimlichung (eine Form der perzeptiv-formellen Intransparenz), sondern auch durch die Verschleierung (eine Form der kognitiv-inhaltlichen Intransparenz) eines Transparenzvermittlers verhindert wird. <?page no="125"?> 2.4. Ontologisch-epistemologische Hintergrundannahmen des Transparenzkonzepts 121 2.4. Ontologisch-epistemologische Hintergrundannahmen des Transparenzkonzepts Transparenz wurde als ein epistemisches Konzept eingeführt, das die wissensgenerierende Zugänglichkeit zu Sachverhalten beschreibt. Sie kann sowohl durch die unmittelbare Wahrnehmbarkeit der Sachverhalte (perzeptive Transparenz) hergestellt als auch durch eine Informierung über dieselben (informationelle Transparenz) vermittelt werden. Hierbei werden prima facie sowohl die persönliche Wahrnehmung (unter akzeptablen Wahrnehmungsbedingungen) als auch die kommunikative Informationsgewinnung (von zuverlässigen Transparenzvermittlern) als Wissensquellen anerkannt, die zur intersubjektiven Rechtfertigung einer Wissensbehauptung gereichen. 209 Von den beiden Möglichkeiten der Transparenzgewinnung wurde die Zugänglichkeit zu Sachverhalten mittels wahrer, vollständiger, verständlicher und angemessener Informationen in der gegenwärtigen, arbeitsteiligen Gesellschaft in den Mittelpunkt hergestellt. Gleichwohl steht vor jeder transparenzvermittelnden Kommunikation die Beobachtung der Sachverhalte, aus der propositionales Wissen und vermittelbare Informationen gewonnen werden. 210 Es kann ein generischer Zusammenhang zwischen beiden Wissensquellen hergestellt werden: Wahrnehmungswissen wird stets sprachlich-kommunikativ vermittelt, 211 wie jede Wissenskommunikation eine Form der Wahrnehmung voraussetzt (Wissensgewinn durch Beobachtung bzw. dem Hören oder Lesen der Information). Dadurch ist das Konzept von Transparenz in einen theoretischen Rahmen implementiert, dessen ontologische und epistemologische Vorannahmen in der Philosophiegeschichte immer wieder problematisiert wurden. Ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, gehören zu den wichtigsten Thesen folgende: 212 (1) Jede Sinneswahrnehmung setzt die Af- 209 Vgl. z.B. Baumann (2002, 253ff.), der beide Wissensquellen kritisch analysiert. Janich (2006, 146f.) hebt besonders die Bedeutung der Wissensgewinnung durch Kommunikationsprozesse hervor: „Fast unser gesamtes Wissen beruht nicht auf eigener Erkenntnis, sondern stammt aus Übernahmen von anderen Menschen.“ Die philosophisch-theologische Tradition zeigt weitere rechtfertigbare, nicht-sinnliche Erkenntnisquellen (z.B. Intuition, hermeneutisches Verstehen, reines Denken). 210 Transparenz ist auf die Wahrnehmbarkeit von Sachverhalten entweder für den Transparenzsuchenden oder für den Transparenzvermittler zurückzuführen, der das daraus gewonnene Wissen kommunikativ vermittelt. 211 Vgl. Gadamer (1974, 1071), der als Grundsatz seiner Universalhermeneutik schreibt: „Alle Welterkenntnis des Menschen ist sprachlich vermittelt. Eine erste Weltorientierung vollendet sich im Sprechen lernen. Aber nicht nur das. Die Sprachlichkeit unseres In-der-Welt-Seins artikuliert am Ende den ganzen Bereich der Erfahrung.“ 212 Vgl. im Folgenden v.a. Busche (2005, 190) und Crane (2008, Kap. 2.1.1.). Vorannahmen bestehen auch bei Konzepten anderer Wissensquellen (z.B. der intellektuellen <?page no="126"?> 2. Philosophische Grundlegung des Transparenzbegriffs 122 fektion durch präsentisch vorliegende, subjekt-unabhängige Gegenstände voraus. Wenngleich unbestreitbar ist, dass überhaupt etwas wahrgenommen wird und dieses Etwas so wahrgenommen wird, als wäre es subjektunabhängig, ist die Natur der Wahrnehmungsobjekte, die uns unmittelbar und direkt bewusst sind, strittig (objektiv - subjektiv, realistisch - idealistisch, materiell - ideell). Ein zentrales Argument für jede Spielart des erkenntnistheoretischen Realismus geht von der Unfreiwilligkeit jeder sinnlichen Wahrnehmung bei ihrer systematischen Kohärenz (d.h. der wiederholbaren Wahrnehmungssequenzen unter ähnlichen Wahrnehmungsbedingungen bzw. der veränderten Wahrnehmung unter anderen Wahrnehmungsbedingungen) aus, als deren beste Erklärung eine Verursachung der Wahrnehmungen durch eine wahrnehmungsunabhängige physische Welt angenommen wird. 213 (2) Die Präsupposition eines visuellen Sinns als körperliches Organ und der daran gebundenen Funktion der optischen Vermittlung von externen Gegenständen auf die Ebene der inneren Vorstellung des Wahrnehmungssubjekts. 214 Seit Descartes wird die Frage nach der sinnlichen Wahrnehmung entweder mit dem passiven Registrieren (Verdinglichung der Wahrnehmung) oder mit dem aktiven Produzieren (Subjektivierung der Wahrnehmung) beantwortet, was zur Frage nach der Vermittlung von Innen und Außen führt. 215 Hierbei ist unklar, wie die Affektion des Wahrnehmungssubjekts genau ablaufen soll, d.h. wie Prozesse oder Zustände im Raum der ausgedehnten Dinge und wirkenden Kräfte auf einer mentalen Ebene erkenntnisrelevant werden können. (3) Die Annahme, dass innere Vorstellungen mentale Repräsentationen äußerer Gegenstände sind. Aufgrund der unhintergehbaren Perspektivität jeder Wahrnehmung, aber auch der Möglichkeit von Illusionen, Halluzinationen oder sonstigen Wahrnehmungsirrtümern wird der angenommene Zusammenhang als fragwürdig erachtet. Echte Wahrnehmungen sind phänomenologisch nicht von fehlerhaften unterscheidbar und unterliegen dem Generalverdacht der Irrtümlichkeit. Da die Gültigkeit des Realismus aufgrund der Unhintergehbarkeit mentaler Vorstellungen nicht prüfend abgesichert werden kann, 216 ist man auf epistemische Plausibilitätsargumente Intuition oder übersinnlichen Wahrnehmungen) und bei epistemischen Begriffen wie z.B. Wahrheit, Objektivität und Rechtfertigung. 213 Vgl. die Erläuterungen bei BonJour (2009, Kap. 2.2.). Alternativ dazu postuliert etwa Berkeley eine Verursachung der Wahrnehmungsinhalte durch Gott; vgl. Nols (2011). 214 Laut Scheerer (1995, 825) ist diese Auffassung „ein Ergebnis früher philosophischer Reflexion, das sich erst durch Kombination mehrerer gedanklicher Voraussetzungen ergibt“, wozu z.B. die „Herausgliederung einer mentalen ‚Innenwelt‘ aus dem ursprünglich als psychophysische Einheit aufgefassten Individuum“ gehört. 215 Vgl. Waldenfels (1974, 1669). 216 Dieser Einwand betrifft die gängigen Spielarten des epistemologischen Realismus, aber auch dessen Alternativen (z.B. Sinnesdaten- oder Qualiatheorien), wie Schnädel- <?page no="127"?> 2.4. Ontologisch-epistemologische Hintergrundannahmen des Transparenzkonzepts 123 angewiesen, wie z.B. die Verlässlichkeit und der erfolgreiche Umgang mit Wahrnehmungswissen. 217 Systematische empirische Studien bestätigen zudem die Fehleranfälligkeiten auf verschiedenen prozessuralen Ebenen der sinnlich vermittelten Wahrnehmung: 218 Verzerrungen, Fehler oder Täuschungen bei der Wahrnehmung und Interpretation des Wahrgenommenen geschehen demzufolge sowohl auf der Ebene des Sinnesorgans, auf der zahlreiche neuronal-physiologische Verarbeitungsprozesse ablaufen, als auch auf der Ebene höherer kognitiver Informationsverarbeitungsprozesse beim Denken, Urteilen und Erinnern, 219 die ihrerseits unter dem Einfluss psychischer Effekte stehen. 220 Eine realistische Epistemologie muss jedoch nicht vorschnell aufgegeben werden, sofern gezeigt werden kann, dass motivationale Faktoren, bewusste Meta-Kognitionen und prozessurale Wahrnehmungsänderungen auf die Stärke kognitiver Täuschungsformen Einfluss haben, wenn sie nicht sogar das Vorkommen vermeiden helfen. 221 Bei einer Verteidigung der Wissensgewinnung durch sinnliche Wahrnehmung wird zwar nicht die Möglichkeit der falliblen subjektiven Wahrnehmung bagatellisiert, aber durch Implementierung subjektiver (z.B. introspektive Selbstüberprüfung, Verbesserung bzw. Variation der Beobachtungsbedingung, Ausschalten von Störfaktoren) oder intersubjektiver (z.B. Hinzuziehen fremder Kontrollen) Methoden zur Sicherstellung echter, d.h. zur Wirklichkeit korrespondierende Wahrnehmungen zu relativieren versucht. Angesichts der empirischen Befunde über Fehlerquellen und Vermeidungsstrategien stellt sich die Frage, für welche Formen der Verzerbach (2002, 57f. und 126) argumentiert. Vgl. BonJour (2009) und Crane (2008) einführend zu den verschiedenen Wahrnehmungstheorien. 217 So der Reliabilismus, der die relative, zweckgebundene Verlässlichkeit der verwendeten Methode des Wissenserwerb ins Zentrum stellt; vgl. Goldman (2009) für eine Übersichtsdarstellung. 218 Wird unter sinnlicher Wahrnehmung sowohl das Resultat, der bewusste Erlebnisinhalt, aus dem komplexes Wissen generiert wird, als auch der Prozess verstanden, der zu dem Erlebnisinhalt führt (vgl. Chisholm 1966), zielen empirische Untersuchungen auf die prozessurale Ebene der Wahrnehmung. 219 Vgl. die Übersichtsaufsätze in Kahneman u.a. (1982), Hell u.a. (1993) und Pohl (2008). Darin wird u.a. das Phänomen des cognitive bias, das sich z.B. in der Bestätigung von Ergebnissen trotz gegenteiliger Daten manifestiert, auf ausgeprägte Erwartungen des Wahrnehmenden zurückgeführt. 220 Vgl. Saarni/ Lewis (1993, 9ff.), die drei Typen nicht-pathologischer Täuschung unterscheiden (die bewusste Täuschung Anderer, die unbewusste Täuschung Anderer bei anteiliger Selbsttäuschung und die Selbsttäuschung in Abwesenheit Anderer) und die beiden letzteren auf Mechanismen des Unterbewusstseins zur Lösung innerpsychischer Konflikte des Selbst zurückführen. Vgl. auch Zimbardo/ Gerrig (1999, 109ff., 130ff., 143ff.) und Patry (2007, 263ff.), die u.a. auf das Modell der „kognitiven Dissonanz“ von Festinger u.a. (1978) verweist. 221 So Gigerenzer u.a. (2008), während Pohl/ Hell (1996) betonen, dass bei vielen Formen kognitiver Verzerrungen keine Überwindungsmechanismen bekannt sind. <?page no="128"?> 2. Philosophische Grundlegung des Transparenzbegriffs 124 rung und Selbsttäuschung ein Erkenntnissubjekt verantwortlich gemacht werden kann. 222 (4) Die Gewinnung situationsunabhängigen, sprachlich vermittelten Wissens (Kognition) aus einem situationsabhängigen visuellen Eindruck (Perzeption). Die Wissensgewinnung setzt die kognitive Aneignung des visuellen Wahrnehmungsobjekts, das Verstehen des beobachtbaren Sachverhalts voraus, welches nach hermeneutischer Auffassung stets vom individuellen, soziokulturell geprägten Vorverständnis bestimmt wird. 223 Aus sprachphilosophischer Perspektive ist bei der Abfolge Objekt- Sehen von nicht-begrifflichen Gehalten („X sieht p“) - Wahrnehmen von begrifflich fassbaren Gehalten („X sieht, dass p“) - visuelles, propositionales Wissen als Disposition („X weiß, dass p“) die Prämisse eines Korrespondenzverhältnisses auf Zeichenebene vor dem Hintergrund der Sozialität des Spracherwerbs und -gebrauchs angreifbar: Wenn der Spracherwerb mit dem Erwerb einer Vielzahl von theoretischen und praktischen Grundannahmen der „epistemischen Gemeinschaft“ verbunden ist, der das Denken und Wissen über die Welt vorstrukturiert, 224 wird in Frage gestellt, dass die Wirklichkeit unabhängig der Sprache besteht und nachträglich bezeichnet wird. Bei einer Verteidigung der Korrespondenzthese müssen sprachpragmatische Einsichten ernst genommen werden, ohne die Adäquatheit propositionaler Sätze in Frage zu stellen. (5) Die Möglichkeit einer kommunikativen Vermittelbarkeit von Wahrnehmungswissen an Rezipienten, die sich an den Kriterien der Wahrheit, Vollständigkeit, Verständlichkeit und sprachlichen Angemessenheit der übermittelten Informationen orientiert. Unter Berücksichtigung der zweiseitigen Verstehensdefinition ist es umstritten, ob und wie das hörerseitige Verstehen von Äußerungen etwa durch Sprachkonventionen gewährleistet werden kann, die eine Korrelation zwischen Äußerungen und Bedeutung herstellen. Selbst unter Abse- 222 Wenngleich eine minutiöse Abgrenzung in Kauf genommener oder sogar beabsichtigter Fehler von unbewussten Täuschungen umstritten ist, setzen moralische Überlegungen bei der Frage an, ob der Wahrnehmende alle verfügbaren Methoden genutzt hat, um einen Irrtum oder eine Täuschung über Wahrnehmungsinhalte auszuschließen; vgl. Pohl u.a. (2002), die die Verantwortungsfrage vor dem Hintergrund faktorieller Einflussnahmen diskutieren. Wie Salomon (1993) zeigt, wurde in der abendländischen Moralphilosophie Selbsttäuschung meist als Willensschwäche des Erkenntnissubjekts angesehen, die es durch diverse Methoden zu überwinden galt. Ohne Fälle absichtlicher Desinformation heranziehen zu müssen, wird ersichtlich, dass sich der Transparenzbegriff auf den Schnittstellen zwischen Epistemologie und Ethik, Selbst-Täuschung und Täuschung, Unabsichtlichkeit und Absichtlichkeit bewegt. 223 Vgl. z.B. Gadamer (1990) sowie Kap. 2.3.2. 224 Vgl. Baumann (2002, 263f.). Die Annahme einer „reinen“, d.h. voraussetzungs- und kontextfreien Wahrnehmung wird als „Mythos des Gegebenen“ kritisiert und stattdessen von der Eingebundenheit jeder Wahrnehmung in theoretische und praktische Lebens- und Wissenszusammenhänge ausgegangen; vgl. Sellars (2002), Quine (1953) und Davidson (1986c). <?page no="129"?> 2.4. Ontologisch-epistemologische Hintergrundannahmen des Transparenzkonzepts 125 hung der Verstehensproblematik des Fremdpsychischen ist ungeklärt, wie propositionales Verstehen mit objektgebundenem Verstehen zusammenhängt, sofern es unzählige Fälle gibt, in denen der subjektive Eindruck des Verstandenhabens nicht die Richtigkeit der Überzeugung verbürgt. 225 Die komprimiert dargestellten Aspekte bilden das ontologische und epistemologische Fundament einer Transparenz von Sachverhalten bzw. einer Transparenzvermittlung, das angreifbar und legitimierungsbedürftig ist. Wie bei vielen philosophischen Begriffen kann nicht behauptet werden, dass das Transparenzkonzept aufgrund der genannten Implikationen völlig unumstritten wäre, wenngleich diese Implikationen bei einer Begriffsverwendung selten bewusst sind. Eine Ablehung der einzelnen ontologischen und epistemologischen Voraussetzungen führt jedenfalls dazu, dass dieses Konzept nicht mehr sinnvoll verwendet werden kann. Bezweifelt man beispielsweise die Subjektunabhängigkeit der Transparenzobjekte und geht statt dessen von kontingenten oder subjektiven Sinneseindrücken aus, ist damit die Annahme verknüpft, dass sich Sinneseindrücke einem wiederholenden Zugriff unter transparenten Bedingungen entziehen; ist man der festen Überzeugung, ein kompensatorischer Umgang mit individuellen Fehlermöglichkeiten bei Sinneswahrnehmungen sei nicht möglich, muss man notwendig die Sicherstellung einer Korrespondenz zwischen vermittelten Informationen und bestehenden Sachverhalten sowie die Vermittlung von Transparenz qua Informierung in Frage stellen. Zweifelt man also eine der genannten Prämissen an, wird die Forderung nach Transparenz sinnlos. Nachdem Transparenz in ihrer formellen und inhaltlichen Dimension konzeptualisiert und auf onto-epistemologische Prämissen befragt wurde, wenden wir uns nun den ethischen Implikationen zu, die bereits mehrfach angedeutet wurden: Hierunter fallen zunächst handlungstheoretische Implikationen, die den Ausgangspunkt für weiterführende ethische Begründungsstrategien einer Transparenznorm darstellen (2.5.1.). Nach deren Darlegung wird Transparenz auf einer ethischen Landkarte bekannter normativer Konzeptionen, die das zwischenmenschliche Kommunizieren regulieren, zu verorten versucht (2.5.2.). 225 Vgl. Pritchard (2008, Kap. 5) für den aktuellen Diskussionsstand zur Übersetzungsproblematik zwischen propostionalem und objektgebundenem Verstehen. <?page no="130"?> 2. Philosophische Grundlegung des Transparenzbegriffs 126 2.5. Ethisch-moralische Implikationen des Transparenzbegriffs 2.5.1. Handlungstheoretische Überlegungen zum Transparenzbegriff Eine Darlegung handlungstheoretischer Implikationen des Transparenzbegriffs beginnt beim idealen Anspruch eines autonomen Handlungssubjekts, Ziele und Zwecke nach eigenen, orientierenden Maßstäben vernünftig zu setzen und die zu ihrer Verwirklichung geeigneten Mittel unter Berücksichtigung der zur Verfügung stehenden Evidenzen wählen zu können. 226 Eine Person steht demzufolge vor einer doppelten Wahlfreiheit: der moralischen Wahl der Zwecke und gegebenenfalls der technischen Wahl der zum Erreichen der Zwecke eingesetzten Mittel. 227 Im Duktus einer rationalen Handlungstheorie ist das Handeln durch eine mehr oder minder lange Reflexions-, Entscheidungs- und Verwirklichungsphase geprägt: 228 In der Reflexionsphase formuliert das Handlungssubjekt angesichts der Wahlmöglichkeiten das Entscheidungsproblem, präzisiert das eigene Präferenz- und Wertsystem im Sinne einer Entscheidungskriteriologie, erforscht mögliche Handlungsalternativen einschließlich der erwartbaren Ergebnisse und Folgen und berät sich dabei gegebenenfalls mit anderen. Bei Abwägung alternativer Handlungswege stellt die Entscheidungsphase eine Vorzugswahl auf Grundlage der präzisierten Entscheidungskriterien dar, die in Form entscheidungsrelevanter Argumente (von einfachen Präferenzen bis zu komplexen Argumentationsketten) und Vergleichsprinzipien (z.B. gut/ böse, richtig/ falsch) auftreten. Wenn sich bestimmte Argumente aufgrund ihrer Plausibilität und Triftigkeit für eine Handlungsalternative verdichten und zu handlungsleitenden Gründen werden, mündet der Entscheidungsprozess in die Bevorzugung einer dieser Handlungsalternativen. In der abschließenden Verwirklichungsphase wird die gewählte Handlungsoption in Folge einer begründeten, rationalen Entscheidung ausgeführt und reali- 226 Im Folgenden wird die kantisch geprägte Handlungstheorie nach Kaulbach (1982) und Rombach (1973) zugrunde gelegt. Soweit sie dem besseren Verständnis der Entscheidungssituation und des Stellenwertes transparenter Informationen dienen, werden entscheidungstheoretische Aspekte ergänzt, ohne dem reduzierten Menschen- und Handlungsbegriff der zweckrationalen Entscheidungstheorie anzuhängen. 227 Dies schließt nicht aus, dass die technische Wahl der Mittel moralische Fragen aufwerfen kann. 228 Vgl. Kaulbach (1982). Zugleich ist Rombach (1973, 361) zuzustimmen, der die Bestimmung der Reflexionsphase als einen langen Reflexionsvorgang für einen theoretischen Kunstgriff hält; für eine selbstverantwortliche Entscheidung reiche ein spontaner oder überlegter Akt der Wertgewichtung in Hinblick auf einen Zweck aus. In Fortführung dieses Gedankens wird in gegenwärtigen Handlungstheorien zunehmend die emotionale Komponente betont; vgl. z.B. Döring (2009). <?page no="131"?> 2.5. Ethisch-moralische Implikationen des Transparenzbegriffs 127 siert. 229 Während die Verwirklichungsphase einer Handlung wesentlich vom Können des Handelnden (Fähigkeiten, Dispositionen und Motivationen) bestimmt ist, 230 ist für die vorgängige Reflexions- und Entscheidungsphase Wissen vorauszusetzen, auf dessen Grundlage die Auswahl der Zwecke und Mittel stattfindet. In Anschluss an Mittelstraß ist hierbei zwischen Verfügungs- und Orientierungswissen zu unterscheiden: 231 Orientierungswissen als ein Wissen über begründete Ziele und Zwecke, welches eine reflexive Orientierung über Handlungsmöglichkeiten anbietet, ist in dem Maße erforderlich, wie es Aufgabe des Handlungssubjekts ist, Ziele und Zwecke bzw. Grenzen des Handelns „durch Selbstbestimmung zu setzen und zur Geltung zu bringen“. 232 Diese Wissensform ist in der modernen Handlungstheorie bedeutsam, als die selbstgesetzten Zwecke des autonomen Handlungssubjekts keine natürlichen Begrenzungen - etwa durch die innere (körperliche Voraussetzung) und äußere Natur (situative Umstände) - mehr erfahren. 233 Dem gegenüber ist mit Verfügungswissen ein Wissen über Kausalzusammenhänge und Zweck-Mittel-Relationen als Bedingungen der Handlungswelt gemeint, welches eine technische Verfügbarkeit der Sachzusammenhänge impliziert. Eine hinreichende Kenntnis über die Handlungssituation, einschließlich der Ziele, geeigneten Mittel und Nebenfolgen wird als Voraussetzung für eine begründete, rationale Entscheidung zwischen Handlungsalternativen bzw. für eine zielgerichtete Handlung angesehen. In einer weiteren Differenzierung wird die Aneig- 229 Gegenüber dem instrumentell verkürzten Standardkonzept von Handlungsrationalität im Sinne einer Zweckrationalität vertritt Gosepath (2002) ein erweitertes Rationalitätskonzept, bei dem Handlungen, Meinungen, Normen etc. als rational definiert werden, wenn sie durch Gründe gerechtfertigt sind. Wenn als rechtfertigende Gründe, wie Werner (2000) ausführt, „intersubjektiv nachvollziehbare“ Gründe gelten, ist ein Rekurs nicht nur auf technisch-zweckrationale, sondern auch auf moralische Handlungsprinzipien möglich. 230 Gegenüber antiken Handlungstheorien, bei denen das Können im Vordergrund stand, die Zwecke im Rahmen einer zweckbestimmten Handlungswelt umzusetzen, ist nunmehr Wissen für die frei wählbaren Zwecksetzungen innerhalb der zweckfreien Realität von Bedeutung; vgl. Kaulbach (1982, 7). 231 Vgl. Mittelstraß (1998, 130f.), nach dem das Orientierungswissen typischerweise von den Geisteswissenschaften und das Verfügungswissen von den Naturwissenschaften erzeugt wird. Ähnliche Unterscheidungen verschiedener Wissensformen finden sich auch bei Max Scheler und Jürgen Habermas. 232 Kaulbach (1982, 28). Ob man sich dabei der „Zugehörigkeit zur Physis“ bzw. dem „Leben in sittlicher Gemeinschaft“ verpflichtet, wie es ebd. (22f.) vorschlägt, ist eine Ermessensfrage. 233 Die Entgrenzung von Zwecksetzungen kann an biomedizinischen Eingriffsmöglichkeiten in das Naturwüchsige des Menschen deutlich gemacht werden. Während Patienten vom Arzt traditionell präventive, kurative oder palliative Maßnahmen erwarteten, die sich an der ontologischen Vorstellung einer zweckvollen Natur orientierten, sind nun Maßnahmen unabhängig dieser Ausrichtung denk- und umsetzbar. <?page no="132"?> 2. Philosophische Grundlegung des Transparenzbegriffs 128 nung von Verfügungswissen auf die Rezeption sachbezogener Informationen zurückgeführt. Versteht man unter Informationen Aussagen über einen Sachverhalt, die den Kriterien der Wahrheit, Neuheit und Relevanz folgen, 234 können rezipierte Informationen über einen Sachverhalt in kognitiven Aneignungsprozessen zu subjektiv verfügbarem Wissen transformiert und gegebenenfalls bei anstehenden Entscheidungen herangezogen werden. 235 Ohne den Stellenwert von Kreativität und Erfahrung in Frage zu stellen, lässt sich die Notwendigkeit sachbezogener Informationen innerhalb der Reflexionsphase des Handelns wie folgt konkretisieren: Bereits für die Problemformulierung sind Informationen essentiell, die überhaupt eine Wahlmöglichkeit zwischen Handlungsoptionen aufzeigen. 236 Steht bei einer gegebenen Zwecksetzung die Wahl der Mittel zur Disposition, geben sachbezogene Informationen Auskunft darüber, welche der verfügbaren Mittel für die Realisierung des Zwecks notwendig sind bzw. diesen optimal unterstützen. 237 Aktivitäten der Informationsgewinnung beziehen sich insbesondere auf das genauere Abschätzen möglicher Handlungsfolgen in Relation zu den unbeeinflussbaren Randbedingungen. Zusammenfassend können sachbezogene Informationen zur Aneignung von Verfügungswissen bzw. zu einer Reduzierung von Nichtwissen und Ungewissheit im Entscheidungsprozess führen, was gegebenenfalls eine Korrektur der ausgewählten Handlungsalternative nach sich zieht. 238 Vor diesem Hintergrund 234 Vgl. Ott (2004, 42) sowie die Überlegungen in Kap. 2.2. 235 Vorausgesetzt wird die verbreitete epistemische Hierarchisierung zwischen Information und Wissen, wie z.B. bei Kaltenborn (1999, 2) nachzulesen: Information, die einen Sachverhalt beschreibt, entsteht aus einer Auswahl, Analyse und Synthese von Daten; Wissen entsteht durch eine kognitive Aneignung von Informationen und kann als Verfügungs- und Orientierungswissen angewandt werden. Palm (2001, 349) erläutert die Schwierigkeit der Informationsvermittlung zur Wissensaneignung: „Da es sich bei ‚Wissen‘ nicht um isolierte, vom Individuum abgelöste Einheiten handelt, kann der ‚Transfer‘ von Wissen nur […] durch das Thematisch-Werden von Elementen des Wissens des Handlungspartners in der Interaktion sein; etwa indem vorhandene Wissenselemente relevant gesetzt, modifiziert, umbewertet werden oder indem neue Wissenselemente in den schon bestehenden Wissensvorrat integriert werden.“ 236 Denkt man hierbei z.B. an das Themenfeld der „Selbstgestaltung“ des Menschen durch Biotechniken, werden teilweise Fiktionen als faktische Handlungsoptionen ins Feld geführt; vgl. Kap. 3.2.1.2. 237 Auf der Grundlage eines Zweck-Mittel-Schluss - (a) Zweck Z soll realisiert werden; (b) Mittel M ist unter gegebenen Umständen U ein notwendiges oder optimales Mittel für die Realisierung von Z; (c) Mittel M muss realisiert werden - resultiert aus einer Sachinformation über notwendige oder optimale Mittel die Empfehlung, welche Mittel zu wählen sind, um Zwecke zu verwirklichen; vgl. Schurz (2006, 41). 238 Innerhalb des rational choice-Paradigmas verdeutlicht z.B. das Bayes’sche Kriterium, wie Informationen Handlungsalternativen auszuwählen helfen: Sie ermöglichen eine Gewichtung der Folgen einer Entscheidung auf der Grundlage von Eintrittswahrscheinlichkeiten und die Auswahl einer Handlungsalternative, die den erwarteten <?page no="133"?> 2.5. Ethisch-moralische Implikationen des Transparenzbegriffs 129 wird der handlungstheoretische Stellenwert von informationeller Transparenz plausibel, der auf die Disponibilität sachbezogener Informationen zurückzuführen ist: „transparency informs choice“. 239 Intransparenz behindert hingegen das Treffen einer rationalen Entscheidung auf allen genannten Stufen der Reflexionsphase und letztlich ein effizientes Handeln. 240 Relativiert wird das idealisierte Bild einer rationalen Entscheidung auf Grundlage transparenter Informationen durch das Detail, dass letztere nicht zwingend einbezogen werden. Rekonstruiert man die Akquise von Informationen als einen Entscheidungsprozess, bei dem der Nutzen der Information gegenüber den Kosten (Ausgaben und/ oder Einsatz von Arbeit und Zeit) abgewogen wird, 241 strebt der Entscheidungsträger nach keinen (weiteren) Informationen, wenn er davon überzeugt ist, keine Wahlmöglichkeit zu besitzen oder alle relevanten Informationen zur Verfügung zu haben. Werden hierbei die klassischen Rationalitätsaxiome nicht systematisch verletzt, ist das Phänomen der bounded rationality bei Entscheidungsprozessen schwerwiegender. „Begrenzte Rationalität“ besagt, dass es nicht prognostizierbar ist, ob ein Entscheidungsträger verfügbare Informationen für einen Entscheidungsprozess überhaupt nutzt. 242 Außerdem sind Missverständnisse bzw. Fehlinterpretationen aufgrund konstitutiver kognitiver Verarbeitungsmechanismen nicht auszuschließen. 243 Der Umgang mit Informationen hängt maßgeblich von subjektiven Interessen, Präferenzen und Wünschen, aber auch von kontingenten sozialen Faktoren (z.B. Alter, Bildungsgrad) ab. 244 Insgesamt untergräbt die Theorie der „begrenzten Rationalität“ die Vorstellung von Manipulation, durch eine gezielte Informationspolitik eine gewünschte Verhaltensmodifikation einzelner Personen herbeiführen zu können. 245 Eine Entscheidung ist komplexer als das bloße subjektiven Nutzenwert maximiert; vgl. einführend z.B. Eisenführ/ Weber (2003, 169ff.) und Nida-Rümelin/ Schmidt (2000, 13ff.). 239 Fung u.a. (2008, 5). 240 Wie Bok (1984, 26) zusammenfasst, verhindert Intransparenz eine rationale Entscheidung „by preventing people from adequately understanding a threatening situation, from seeing the relevant alternatives clearly, from assessing the consequences of each, and from arriving at preferences with respect to them.“ 241 Vgl. Laux (2007, 338). Fung u.a. (2008, 55) konstatieren, „the costs of acquiring and using information must be low enough to justify users’ efforts in relation to expected benefits“. 242 So Simon (1959) in der klassischen Studie und (1990) in einer Relektüre. 243 Fung u.a. (2008, 16) weisen darauf hin, dass selbst neue, verständliche Informationen aufgrund konflingierender Präferenzen von Entscheidungsträgern nicht oder nur verzerrt genutzt werden. 244 Vgl. Kahneman u.a. (1994), ders./ Tversky (2000) und die Ausführungen in Kap. 2.4. 245 Vgl. z.B. Peters (1999b), der keine signifikante Korrelation zwischen einer technikfreundlichen bzw. -kritischen medialen Berichterstattung und dem Anteil positiver bzw. negativer Bewertung bei den Rezipienten feststellen konnten. Der Autor führt die Rezeptionsweise stattdessen auf die Voreinstellung der Testrezipienten zurück. <?page no="134"?> 2. Philosophische Grundlegung des Transparenzbegriffs 130 Abarbeiten von Informationen und Argumenten, das Abwägen von Kosten und Nutzen und das Befolgen rationalistischer Normen, wie es etwa die Entscheidungstheorie vorgibt. Nichtsdestoweniger scheint die Verfügbarkeit wahrer und vollständiger, verständlicher und angemessener Informationen eine Grundvoraussetzung für eine rationale Entscheidung innerhalb einer zweckorientierten Handlungstheorie zu sein, sofern „begrenzte Rationalität“ ebenfalls verursacht wird, „wenn Individuen entweder nicht alle relevanten Informationen besitzen oder sie nicht alle relevanten Informationen korrekt beurteilen können und sämtliche Handlungsfolgen abschätzen können, weil die zu verarbeitenden Informationen zu komplex sind“. 246 Wir haben also festgestellt, dass es einem Transparenzsuchenden auf Grundlage sachbezogener Informationen möglich ist, rationale Entscheidungen über Handlungsalternativen zu treffen. Stellt die Ermöglichung der Urteils- und Handlungsfähigkeit eine begründbare, hochrangige moralische Zielsetzung dar, ist der Übergang von handlungstheoretischen zu ethischen Überlegungen gelungen. Trotz des Nachweises dieser wichtigen moralrelevanten Implikation von Transparenz ist bisher nicht beantwortet worden, wie sie als Kommunikationsnorm ethisch begründet werden kann. Im nächsten Untersuchungsschritt wird eine analytische Verhältnisbestimmung zu normativen Grundbegriffen unternommen, die in Kommunikationszusammenhängen einschlägig sind. Sollte sich bei dieser Verortung von Transparenz auf einer ethischen Landkarte bekannter kommunikativer Grundbegriffe herausstellen, dass es wichtige Gemeinsamkeiten gibt, hat dies auf den weiteren Verlauf der Untersuchung Einfluss: Es können dann ethische Argumentationsstrategien, mit denen die Grundbegriffe als Kommunikationsnormen begründet werden, für eine Rechtfertigung der Transparenznorm entliehen werden. 2.5.2. Transparenz zwischen dem Wahrhaftigkeitsgebot und Lügenverbot Bei den vorgängigen Untersuchungsschritten wurde Transparenz zwar als das Resultat eines aktiven Vermittlungsprozesses von Informationen beschrieben, aber hauptsächlich philosophisch-erkenntnistheoretisch analysiert. In diesem Kapitel steht nunmehr das Handeln derjenigen Personen im Zentrum, die eine Transparenz von Sachverhalten herzustellen in der 246 Picot u.a. (2007, 69), die weiter schreiben: „Während Transparenz durch Bereitstellung relevanter Informationen die erste Ursache von begrenzter Rationalität abmildert, wird sie durch zu viele und komplexe Information verstärkt. Unter Berücksichtigung dieser Effekte sind das optimale Maß an Transparenz sowie die relevanten Informationen zu bestimmen, um die maximale Effizienzsteigerung […] zu erzielen.“ <?page no="135"?> 2.5. Ethisch-moralische Implikationen des Transparenzbegriffs 131 Lage sind. 247 Wir haben bereits festgestellt, dass als Quelle für transparente Informationen sachkundige und erfahrene Akteure (Transparenzvermittler) in Frage kommen, die die Sachverhalte kennen und eine Vermittlung sachbezogener Informationen an Transparenzsuchende leisten können. Angesichts der hochgradigen Arbeitsteiligkeit in einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft wird der Bereich der autonomen Urteilsfähigkeit bei wachsendem Entscheidungs- und Handlungsbedarf für den Einzelnen kleiner. 248 Bei anstehenden Entscheidungen fühlt man sich zunehmend auf die Vermittlung von Expertenwissen bzw. auf ein Expertenurteil angewiesen. Insgesamt entsteht ein „Kommunikationsbedarf zwischen der Commonsense-Welt der Laien, zu der größtenteils auch die Entscheidungsträger gehören, und der Expertenkultur“. 249 Kommt eine Person, die Transparenz potentiell generieren kann, zur Auffassung, ein Transparenzsuchender bedürfe der Kenntnis über einen Sachverhalt, steht sie vor folgender moralrelevanter Entscheidung: Entzieht sie sich vollständig der Situation der Informierung, räumt sie nur bei gezielter Nachfrage das Bestehen von Sachverhalten ein (passive Transparenzvermittlung) oder vermittelt sie freimütig und aus Eigeninitiative informationelle Transparenz (aktive Transparenzvermittlung)? 250 Bei dem Entschluss, relevante Informationen zu vermitteln, eröffnet sich die Frage, in welchem Umfang sie den Transparenzsuchenden informiert. 251 Angesichts der beeindruckenden Freiheit des Menschen im sprachlichen Umgang mit Einstellungen, Überzeugungen, Wissensbeständen und Gedanken wurde die ethische Reflexion dieser Freiheit als quaestio magna moralis bezeichnet. 252 Einen Beitrag zu diesem „großen Problembereich der Ethik“ leistet die vorliegende Arbeit durch die Einführung einer Transparenznorm, die einerseits den potentiellen Transparenzvermittler dazu auffordert, einen Transparenzsuchenden wahre und vollständige, verständliche und angemessene Informationen aus einer Eigeninitiative heraus zu vermitteln (TG A ), andererseits ein Verbot darstellt, 247 Dass es sich bei einer Transparenzvermittlung (wie auch bei einer Geheimhaltung von Sachverhalten) um eine moralrelevante Handlung handelt, betont Florini (1998, 50) und verweist auf den Handlungsaspekt der Willentlichkeit (volition) einer Person. 248 Vgl. die Analysen von Bonfadelli (1994, 82). 249 Jäger (1996, 51). 250 Diese Frage ist nicht trivial, da für Transparenzsuchende regelmäßig unklar ist, an wen sie sich zur Klärung eines Sachverhalts wenden können; bei ihrer Transparenzsuche sind sie folglich darauf angewiesen, dass sich Transparenzvermittler selbstständig anbieten. 251 Zu denken ist hierbei an die sog. „Salami-Taktik“, wonach Politiker gegenüber der Öffentlichkeit unredliche Machenschaften nur soweit einräumen, wie diese bereits ans Licht kommen konnten, oder an Wissenschaftler, die bei einer Anhörung zur Finanzierung ihrer Forschungsbereiche ausschließlich erfolgsversprechende Ergebnisse vermitteln, aber Befunde zurückhalten, die dieses positive Bild trüben könnten. 252 Vgl. Augustinus, De Mendacio (1986a, Kap. 1). <?page no="136"?> 2. Philosophische Grundlegung des Transparenzbegriffs 132 in Situationen der Nachfrage sachbezogene Informationen zu verheimlichen oder zu verschleiern (ITV A ). Da es sich um keine etablierte Kommunikationsnorm handelt, lohnt eine Verhältnisbestimmung zu etablierten Kommunikationsnormen (Lügenverbot, Wahrhaftigkeitsgebot), die auf einen langen moraltheologischen und -philosophischen Begründungsdiskurs zurückblicken können. Diese Analyse soll Aufschluss darüber geben, ob ethische Begründungsmodelle, die das Lügenverbot bzw. Wahrhaftigkeitsgebot stützen, für eine Begründung der Transparenznorm übertragbar sind. Wohlgemerkt interessieren hier noch nicht die ethischen Argumente, mit denen die rekurrierten Kommunikationsnormen begründet werden, sondern die Fragen, wie Lüge und Wahrhaftigkeit überhaupt definiert sind und in welchem kriteriologischen Verhältnis sie zu Transparenz bzw. Intransparenz stehen. Vorweg ist einzuräumen, dass jede Definition dieser kommunikativen Grundbegriffe bereits normative Schwerpunkte setzt, d.h. nicht ohne Korrespondenz zu einer ethisch-moralischen Evaluation entwickelt werden kann. 253 Um eine anschlussfähige Relationsbestimmung zu gewährleisten, werden das Lügenverbot bzw. das Gebot der Wahrhaftigkeit außerdem als Kommunikationsnormen und weniger in ihrer tugendethischen Bedeutung betrachtet. 254 Insbesondere die Lüge bzw. das Lügenverbot ist ein Topos der Ethik, der nach wie vor problematisiert und kontrovers diskutiert wird. 255 Nach der klassischen Definition von Augustinus, die immer noch Aktualität beanspruchen kann, lügt derjenige, „der etwas anderes als was er im Herzen trägt, durch Worte oder beliebige sonstige Zeichen zum Ausdruck bringt. […] Die Schuld des Lügners aber besteht in der Absicht zu täuschen bei der Aussprache seiner Gedanken.“ 256 Die von Augustinus benannten Lügenaspekte - die Absicht zur Unwahrheit und zur Täuschung - werden bis in die Gegenwart als notwendige Lügenkriterien anerkannt, 257 wenngleich ihr Verhältnis zueinander in der philosophisch-theologischen Tradition unterschiedlich bewertet wurde: In einer holzschnittartigen Gegenüberstellung stand bis in die Neuzeit hauptsächlich die willentliche Verleumdung der Wahrheit im definitorischen Mittelpunkt, während sich der Definitions- 253 Indem etwa die sprecherseitige Intentionalität als Definitionskriterium von Lüge gewählt wird, stehen die Folgen einer unwahrhaften Rede qua Definition im Hintergrund einer ethischen Bewertung. Dass zwischen Problemdefinition und Evaluation ein genereller Zusammenhang besteht, haben Bok (1980, 31f.) und Flierl (2005, 234) zurecht erkannt, während Schmid (2000, 48f.) die Gefahr einer „Rückwirkung der Bewertung auf die Definitionsbreite“ einseitig beim deontologischen Ansatz sucht. 254 Damit soll keineswegs die Wichtigkeit einer tugendethischen Begründung in anthropologischer Hinsicht bestritten werden; siehe Kap. 4.3.2.2. 255 Von der Aktualität der Lügenthematik zeugen neue theologische und philosophische Monographien, vgl. z.B. Flierl (2005), Dietz (2002a) und Schockenhoff (2005). 256 Augustinus, Contra Mendacium (1986b, 3). 257 Siehe z.B. Flierl (2005, 282) und Schockenhoff (2005, 49). <?page no="137"?> 2.5. Ethisch-moralische Implikationen des Transparenzbegriffs 133 schwerpunkt seitdem auf den Aspekt der Täuschungsintention des Sprechers (bei Verletzung der adressatenseitigen Rechte) verlagert. Mit dieser Entwicklung kann der Alltagspraxis Rechnung getragen werden, dass zahlreiche Formen unwahrer Äußerungen, bei denen keine Täuschungsabsicht vorliegt (z.B. Ironie, Märchen, Metaphern, Höflichkeitsfloskeln, Schauspiel etc.), konventionell geduldet und nicht als Lüge angesehen werden. 258 Steht hingegen die Täuschungsabsicht im definitorischen Zentrum, schließen sich eigene Probleme an. Zunächst impliziert die subjektive Täuschungsintention als Definiens der Lüge, dass primär der Sprecher selbst einen Sprechakt als Lüge zweifelsfrei identifizieren kann. Angesichts zahlreicher Formen sprachlichen Täuschungshandelns - u.a. das Sprechen in Mehrdeutigkeit (Äquivokation), Über- und Untertreiben, Beschönigen, Hinzufügen, Verschweigen, Zurückhalten oder Ablenken von Informationen sowie das ausweichende Beantworten bei impliziten oder expliziten (Nach-)Fragen 259 - ist zu überlegen, was das Besondere an der Lüge ist, das ihre eigenständige Reflexion rechtfertigen könnte. Ein Kennzeichen der Lüge ist der Status der expliziten Behauptung, weshalb jene eindeutig als wahr oder falsch evaluiert werden kann: 260 Es wird etwa ein unzutreffender Sachverhalt erfunden bzw. ein zutreffender Sachverhalt verfälscht. Dem gegenüber stellen die anderen genannten Täuschungsformen zwar keine dezidierten Falschaussagen dar, eignen sich aber ebenfalls zur Irreführung des Adressaten. Hierbei spielen sprachliche Implikationen eine zentrale Rolle, sofern der Hörer aus einem möglicherweise wahren Satz falsche Schlussfolgerungen zieht. Die Erfolgsaussicht der Täuschung ist gegenüber dem Lügen sogar höher einzuschätzen, da es für einen Sprecher einfacher ist, beispielsweise etwas zu verschweigen als etwas falsch darzustellen; bei einer Entdeckung kann man auf das unabsichtliche Vergessen oder auf eine vollständige Darstellung zu einem späteren Zeitpunkt verweisen. 261 Vor dem Hintergrund, dass die Täuschungsintention den zentra- 258 Da mit genannten Aussagen konventionell kein Wahrheitsanspruch erhoben wird, fehlt in der Regel die Täuschungsabsicht; vgl. Dietz (2000, 103). Dies bedeutet nicht, wie Mecke (2003, 277) behauptet, dass literarische Texte „im Grunde zur Lüge unfähig“ sind; man denke etwa an Propagandaliteratur. 259 Vgl. ebd., 117ff. und Flierl (2005, 291ff.) für einen Überblick über Täuschungsformen. McCornack (1992) schlägt ein Ordnungsschema der sprachlichen Täuschungstechniken vor, das sich an den Grice’schen Konversationsmaximen (vgl. Kap. 2.3.2.1.) orientiert: Weglassungen gehörten zur Quantity Violation (V.); Verfälschungen, Über- und Untertreibungen zur Quality V.; Ablenkung und Ausweichen sei eine Relation V.; und Mehrdeutigkeiten ordnet er der Clarity V. zu. 260 Vgl. Bok (1980, 31), Dietz (2000, 92) und für den Wissenschaftsbereich Resnik (1999, 54). 261 Vgl. Ekman (1989, 17), der auf die Querverbindung zwischen Lügen und anderen Täuschungsformen hinweist: z.B. sei es notwendig, die Fabrikation falscher Informationen mit dem Weglassen richtiger Informationen zu kombinieren, um eine Täu- <?page no="138"?> 2. Philosophische Grundlegung des Transparenzbegriffs 134 len Definitionsaspekt des Lügens darstellt, können täuschende Mehrdeutigkeiten, Weglassungen, Verschleierungen etc. mit einer Lüge durchaus gleichgesetzt werden. Um diese moralrelevante Nähe auch begrifflich zu manifestieren, werden die genannten Formen des sprachlichen Täuschungshandelns nachfolgend als „lügenähnliches“ Sprechen bezeichnet. Bei der vorgeschlagenen Begriffswahl ist auf zweierlei Implikationen aufmerksam zu machen, die gerne in Kauf genommen werden: Sofern der Lügenvorwurf eine starke moralisch-pejorative Dimension enthält - nach Schüller ist „Lügen“ ein „sittliches Wertungswort“, das sich nicht ausschließlich deskriptiv fassen lässt 262 - wirkt diese Konnotation freilich auf die anderen Formen des sprachlichen Täuschungshandelns zurück. Genau aus diesem Grund wurden neutralere oder positivere Sonderbegriffe des sprachlichen Täuschungshandelns in den Sprachgebrauch eingeführt und vom negativen Lügenbegriff abzugrenzen versucht (in der Tradition: Ambiguität, Mentalrestriktion; in der Gegenwart: Schwindeln, Flunkern etc.), 263 um diese als pragmatische Umgangsformen legitimieren zu können. Diesem Vorgehen soll eine Begriffsbestimmung entgegengestellt werden, die Gemeinsamkeiten (Merkmal der Täuschungsabsicht) und Unterschiede (Merkmal der expliziten Unwahrheit) zwischen Lügen und lügenähnlichen Täuschungshandlungen deutlich macht. 264 Ein moralrelevanter Unterschied ist jedenfalls nicht darin zu sehen, dass die genannten Täuschungshandlungen - im Unterschied zum Lügen - kein aktives Zutun des Sprechers voraussetzen; denn aus einer ethischen Perspektive kann die Trennung von Aktivität und Passivität analog zur handlungstheoretischen Unterscheidung zwischen Handeln und Unterlassen in Frage gestellt werden. 265 schung voranzubringen. Empirische Erhebungen bei DePaulo u.a. (1996) bzw. De- Paulo/ Kashy (1998) ergeben zwar, dass das Lügen gegenüber anderen sprachlichen Täuschungspraktiken dominiert, was aber auf unterschiedliche Klassifizierungen zurückzuführen ist. 262 Schüller (1973, 177). 263 Schon Augustinus (1986a, 92ff.) schloss das bewusste Verschweigen der Wahrheit (als passive Unterlassung) vom Lügenvorwurf (im Sinne einer aktiven Täuschungshandlung) aus, da es keine Unwahrheit im Sinne des „doppelten Gedankens“ darstellt. In Folge dieser Differenzierung wird seit dem Mittelalter die moralische Zulässigkeit der reservatio (oder restrictio) mentalis, des „geheimen Gedankenvorbehalts“ diskutiert, der das von Augustinus begründete strikte Lügenverbot dort mildern soll, wo es in unlösbare Konflikte mit anderen moralischen Geboten führt. 264 Subsumieren Autoren des Gegenlagers die genannten Formen des Täuschungshandelns unter das Lügen (vgl. z.B. Hettlage 2003), gehen sie m.E. zu weit, da sie die analysierbaren Unterschiede kaschieren, um jene generell zu diskreditieren. 265 Dies gegenüber Mieth (1996, 34ff.), für den das Verfälschen im Gegensatz zum Verheimlichen oder Verschweigen, „eine aktive Haltung, eine offensive Haltung dar[stellt], eine offensive Verwandlung der Kenntnisse des Richtigen in der Kommunikation in das Unrichtige“. <?page no="139"?> 2.5. Ethisch-moralische Implikationen des Transparenzbegriffs 135 Die kursorischen Überlegungen zur Lüge, die zum lügenähnlichen Sprechen übergingen, führen nun zur Transparenzproblematik, sofern sprachliche Täuschungsformen (z.B. Auslassungen von Informationen, Mehrdeutigkeiten o.ä.) mit der Intransparenz von Sachverhalten in einen Zusammenhang gebracht werden können. Die Zielsetzung der Transparenz von Sachverhalten durch eine Informationsvermittlung kann nur erreicht werden, wenn der Transparenzvermittler den Transparenzsuchenden nicht über den Sachverhalt zu täuschen beabsichtigt. Aufgrund der systematischen Nähe können intransparente Sprechakte mit solchen ethischen Argumenten delegitimiert werden, die ein Verbot des Lügens aufgrund des Täuschungsaspektes nahelegen. Ein solcher Rekurs hat den Vorteil, dass man sich zur Rechtfertigung des Verbots intransparenter Sprechakte (ITV A ) der Argumente einschlägiger Ethiktheorien bedienen kann. 266 Zugleich sollten bei der Übertragung der Argumente des Lügenverbots auf die Transparenznorm folgende Schwierigkeiten und Grenzen berücksichtigt werden: Erstens besteht hinsichtlich des Lügenverbots große Uneinigkeit darüber, ob es zuweilen legitim oder gar geboten ist, in genau umgrenzten Fällen (z.B. in Notsituationen) zu lügen. 267 Bei Erlaubnis bestimmter Ausnahmefälle wird jedenfalls eine Abweichung vom Lügenverbot als speziell legitimierungspflichtig angesehen. 268 Abwägungen scheinen in Situationen unumgänglich, in denen ein Transparenzvermittler mit einem Transparenzgesuch konfrontiert ist, dessen Gewähr zugleich ein Interessenkonflikt oder gar eine Pflichtenkollision auslöst (z.B. bei bestehenden Geheimhaltungspflichten). Zweitens können intransparente sprachliche Äußerungen (genauer: sprachliche Äußerungen, die keine Transparenz über Sachverhalte generieren) Ausdrucksweisen einer funktionierenden Sprache sein. 269 Im Unterschied zum Lügenparadigma bewegt sich Intransparenz 266 Es kann etwa moniert werden, der Lügner verhindere die persönliche Charakterentfaltung (Tugendethik); er begehe eine Pflichtverletzung, verstoße gegen die eigene und die Personenwürde des Anderen bzw. verunmögliche die Freiheit zu rationalem Handeln und lege dabei eine egoistische, nicht verallgemeinerbare Einstellung zugrunde (deontologische Ethik); er gefährde das Wohl Anderer bzw. durch Zerstörung des Vertrauens interpersonaler Beziehungen sogar das Zusammenleben der Menschen und den Bestand der Gesellschaft als ganzer (konsequentialistische Ethik). Vgl. z.B. Bien (1980), Flierl (2005), Müller (1962) und Schockenhoff (2005) für einen Überblick über moralphilosophische und theologische Theorien. 267 Diese Möglichkeit verneinen z.B. Aristoteles, Augustinus, Anselm, Thomas von Aquin und Kant, während Platon, Origenes, die Kirchenväter und viele zeitgenössische Autoren Ausnahmen erlauben. Hierbei handelt es sich nicht um „Einzelstimmen“, wie Schockenhoff (1998, 494) behauptet. 268 Vgl. Bok (1980, 41) und Mieth (1996, 15f.). 269 Vgl. Weinrich (1974), der semantische Differenzen zwischen sprachlicher Äußerung und gedachter Aussageintention als charakteristisches Merkmal jeder Sprache beschreibt; legte man zur Vermeidung von Täuschung Sprache auf eine wörtliche Be- <?page no="140"?> 2. Philosophische Grundlegung des Transparenzbegriffs 136 auf einem Kontinuum zwischen der epistemisch notwendigen Komplexitätsreduktion des Informationsgehalts von Aussagen, dem taktischen Verschweigen von Informationen, dem „no comment“ bis zur dezidierten Falschaussage. 270 Wie bei komplexen Äußerungen, die wahre Teilinformationen enthalten, deutlich wird, gerät die simple wahr/ falsch-Dychotomie zur Klassifikation von Aussagen an ihre Grenzen. 271 Dieser Gradualität des Wahrheitswertes intransparenter Aussagen muss auch eine ethische Begründung der Transparenznorm Rechnung tragen. Drittens umfasst ein Lügenverbot keine Mitteilungspflicht. Eine analog zum Lügenverbot begründete Verbotsnorm intransparenter Sprechakte (ITV A ) ist daher nicht in der Lage, Transparenzvermittler zu einer proaktiven Vermittlung relevanter Informationen anzuhalten, wenn dieser zur Einschätzung kommt, ein Transparenzsuchender könnte diese Informationen für eine Entscheidungsfindung gebrauchen. Sofern die allgemeine Transparenznorm nicht nur eine Verbotsnorm intransparenter Sprechakte, sondern auch ein Transparenzgebot (TG A ) für potentielle Transparenzvermittler umfasst, die Zugänglichkeit zu relevanten Informationen über einen Sachverhalt zu ermöglichen, sind die Grenzen einer solchen Argumentation vorgezeichnet. Viertens erfasst eine Argumentation analog zum Lügenverbot ebenso wenig den Auftrag der Transparenznorm, Informationen an einen Adressaten verständlich zu vermitteln. Fünftens steht bei den Überlegungen zum Lügenverbot der Sprecher als Akteur im Zentrum, während bei der Transparenzproblematik die ebenso verantwortungsvolle Aufgabe des Hörers betont wurde. Der möglichst interesselosen Wahrnehmung und unverfälschten Mitteilung des Für-wahr-Gehaltenen durch den Sprecher korrespondiert ein „kompetentes Vertrauen“ des Rezipienten, Mitteilungen annehmen und ggf. kritisch hinterfragen zu können, etwa wenn sich Wahrheitsansprüche nicht mit der Wirklichkeit decken. 272 Die genannten Einwände legen eine Weiterführung der Überlegungen hinsichtlich der zweiten großen Kommunikationsnorm, der Norm der Wahrhaftigkeit, nahe. In einer situativen, auf Einzelhandlungen und Einzelaussagen bezogenen Bestimmung bezeichnet Wahrhaftigkeit (oder auch deutung fest, widerspreche dies, so Weinrich, dem natürlichen Sprachempfinden, das von rhetorischen Stilmittel, Metaphern etc. lebt. 270 Wie Flierl (2005, 233) am Phänomen der Mentalrestriktion zeigt, liegt zwischen der wahrhaftigen Mitteilung und der Lüge „ein breites Feld an sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten, die keinem der beiden Pole unmittelbar zugeordnet werden können.“ Bei einer „differenzierte[n] Anthropologie der Sprache“ ist nach Demmer (2003) die „Dialektik von Offenbaren und Verschleiern“ zu berücksichtigen. 271 Vgl. Schmid (2000, 101 und 255) und die Erörterungen in Kap. 2.3.1.2. 272 Vgl. Schockenhoff (2005, 172f.), der eine rezeptive Verantwortung bei der Wahrhaftigkeitsthematik ergänzt. <?page no="141"?> 2.5. Ethisch-moralische Implikationen des Transparenzbegriffs 137 Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, Redlichkeit etc.) 273 die „Übereinstimmung des Redens und Handelns mit den eigenen Einstellungen, Überzeugungen und Gedanken“. 274 Aufgrund etablierter Konventionen wird diese bei jeder zwischenmenschlichen Interaktion stillschweigend vorausgesetzt 275 und erst dann thematisiert, wenn es Zweifel an einer solchen angenommenen Übereinstimmung gibt. Die Feststellung einer konventionellen Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit innerhalb einer Sprachgemeinschaft ersetzt keine dezidiert ethische Begründung. 276 Wie auch schon bei der Lügendefinition wird als moralrelevanter Aspekt von Wahrhaftigkeit erstens der enge systematische Zusammenhang zur Wahrheit (bzw. der sprachanalytischen Wahrheitsqualität der Aussage) angesehen. 277 Nur eine wahrhaftig getätigte Aussage, bei der das gesprochene Wort Ausdruck der Erkenntnis des Sprechers ist, lässt einen anderen Menschen an realen Sachverhalten Anteil haben. Steht die ontologisch-erkenntnistheoretische Bezugnahme zur Wirklichkeit im Fokus, muss der Sprecher allerdings ein Korrespondenzverhältnis zwischen Aussage und außersprachlicher Wirklichkeit herstellen, wobei er eine möglichst unverfälschte, objektive Wahrnehmung der Realität erstreben bzw. interessebezogene Verzerrungen und Ausblendungen vermeiden soll. 278 Infolgedessen ist der Sprecher in der Lage, für seine 273 Entgegen der Synonymie führt Bollnow (1958, 139f.) Ehrlichkeit, Redlichkeit etc. auf eine externe Bewertung zurück; Wahrhaftigkeit impliziere hingegen ein bewusstes Verhalten und Beurteilen von sich selbst. 274 Schnur (2004, 581); ähnlich Arens (1996, 90), Hofmann (1975, 262) u.a. Trotz aussagenzentrierter Definition wird nicht bestritten, dass Wahrhaftigkeit (W.) eine anthropologisch-existentielle Dimension umfasst, welche das Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit (wirklichkeitsbezogene W.), zu anderen Menschen (kommunikative W.) und zu sich selbst (personell-tugendethische W.) beschreibt (vgl. z.B. Furger 1990, Mieth 1996, 19, Schockenhoff 2005, 163). Der tugendethische Wahrhaftigkeitsbegriff kann mindestens als Korrektiv für eine sprachphilosophische Begriffsbestimmung fungieren, sofern das gesprochene Wort in unterschiedlicher Intensität eine „Selbstmitteilung des Sprechenden“ (Schockenhoff 2005, 177) ist, für deren Wahrheit der vertrauenswürdige Sprecher als „Zeuge“ (Mieth 1998, 613) auftritt. Analog dazu stellt die freiwillige Transparenzvermittlung das Kennzeichen einer integren Persönlichkeit dar, wie umgekehrt die negative Wertigkeit einer absichtlichen Opazität durchaus auf die verantwortliche Person zurückfällt. 275 Die Sprechakttheoretiker Austin (1986, 56ff.) und Searle (1971, 99f.) fassen Wahrhaftigkeit als konstitutive Regel konstativer bzw. assertiver Sprechakte auf, deren Verstoß ein Bruch der Konventionsverpflichtung ist. 276 Vgl. Ricken (2003, 65), der die Schlussfolgerung Searles kritisiert, aus den Regeln der Sprache eine Pflicht zur Regelbeachtung abzuleiten. Begründungsvorschläge können klassischerweise tugendethisch (vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1127a13ff.), aber auch deontologisch (siehe Kap. 4.3.) oder teleologisch fundiert sein. 277 Der unaufgebbare Zusammenhang zwischen Wahrhaftigkeit und Wahrheit wird u.a. von Mieth (1998, 612) und Schwöbel (2005) betont. 278 Reduziert Furger (1990, 846) Wahrhaftigkeit auf die „subjektiv-moralische Dimension von Wahrheit, nämlich den Willen, das als richtig Erkannte den Mitmenschen auch <?page no="142"?> 2. Philosophische Grundlegung des Transparenzbegriffs 138 wahrhaftigen Behauptungen und Urteile Erklärungen, Gründe und Belege anzuführen. Soweit falsche Wahrnehmungsurteile und korrespondierende Aussagen bei Verstoß gegen die Sorgfaltspflicht entstehen können, bewegt man sich beim Erkenntnisgewinn im Graubereich zwischen intentionaler Wahrhaftigkeit und Unwahrhaftigkeit. Unter dem Konzept der Wahrhaftigkeit werden demzufolge epistemologische und ethische Fragen fusioniert. Gegenüber der Verbindungsthese von Wahrhaftigkeit und Wahrheit wird eingewendet, dass sich die Übereinstimmungsrelation gemäß der einleitenden Wahrhaftigkeitsdefinition nicht auf externe Sachverhalte, sondern auf innere Überzeugungen des Sprechers bezieht. In den Augen einiger Autoren entscheide nicht die objektive Wahrheit einer Aussage, sondern das subjektive Fürwahrhalten eines Sachverhalts (und die korrespondierende Behauptung) über das Vorliegen von Wahrhaftigkeit, 279 wobei es sekundär sei, ob die Überzeugung, die eine Person weitergibt, eine gut bewiesene Tatsache oder ein Irrtum ist. Stellt ein Rezipient die Unwahrheit einer sprecherseitigen Äußerung fest, ist dies kein hinreichender Grund, dem Sprecher Unwahrhaftigkeit vorzuwerfen, da dieser sich geirrt haben kann. Entsprechend wird in der Literatur auf die Abgrenzung von der Wahrheits- und Wahrhaftigkeitsthematik gepocht: Wahrheit sei eine epistemologische und Wahrhaftigkeit eine ethische Frage. 280 Wenngleich das Vorliegen von Wahrhaftigkeit nicht auf den Wahrheitswert einer Aussage reduziert werden kann, ist an einem inneren Zusammenhang aus folgenden Gründen festzuhalten: Bei einer Behauptung geht es nicht nur um das subjektive Fürwahrhalten eines Sachverhalts, sondern um die Behauptung einer objektiven Tatsache, die einer Wahrheitskriteriologie unterworfen ist; ohne ein Wahrheitskriterium ließe sich Wahrhaftigkeit oder Unwahrhaftigkeit nur schwierig identifizieren. Der zweite moralrelevante Aspekt des Wahrhaftigkeitsbegriffs bezieht sich auf die Intention des Handlungssubjekts beim Vermittlungsvorgang der erkannten Sachverhalte. 281 Angesichts der Zeichengebundenheit jeder als solches zum Ausdruck zu bringen“, bleibt der moralische Aspekt des Erkenntnisvorgangs bei ihm unberücksichtigt. 279 Um einen terminologischen Konnex aufrechtzuerhalten, spricht Dietz (2003, 82f.) bei Wahrhaftigkeit von „subjektiver Wahrheit“, in Bezug auf Sachverhalte (Überzeugungen, Vermutungen etc.) der eigenen Person. Bei einer unwahrhaften Rede leugne ein Sprecher diese subjektive Wahrheit, über die er tendenziell nicht irren könne und tätige eine unwahre Äußerung. Gegenüber dieser Redeweise, die dem Vorwurf einer contradictio in adjecto ausgesetzt ist, erscheint die Bestimmung von Bollnow (1958, 138) präziser: „Während die Wahrheit […] die (objektive) Übereinstimmung einer Aussage mit ihrem Gegenstand bedeutet, meint die Wahrhaftigkeit ihre (subjektive) Übereinstimmung mit der Meinung des Sprechenden.“ 280 Vgl. z.B. Autiero (1999), Bok (1980, 21f. und 25f.) und Falkenberg (1982, 55). 281 Zur Feststellung der Wahrhaftigkeit bzw. Unwahrhaftigkeit wird nach „objektiven“ Indikatoren für die Absicht des Sprechers gesucht (z.B. physiologische Indikatoren). <?page no="143"?> 2.5. Ethisch-moralische Implikationen des Transparenzbegriffs 139 Wahrheitsmitteilung umfasst die intendierte Wahrhaftigkeit in der sprachlichen Äußerung - neben der herzustellenden Sachbezogenheit - das redliche Bemühen um eine angemessene und verständliche Informierung, die sich an den Erwartungen und Kompetenzen der Kommunikationspartner zu orientieren hat. 282 Denn selbst wenn der Sprecher aufrichtig einen Sachverhalt darstellt, wird die sachlich richtige Äußerung bei ignorierten Kommunikationsbarrieren nicht zur Wahrheit für den Adressaten. Unter dieser Zielsetzung können bestimmte Informationen unvermittelt bleiben, die für das Verständnis des Sachverhalts nicht zuträglich sind, gleichwohl der Sprecher wahrhaftig geblieben ist. 283 Es ist allerdings unklar, ob der Wahrhaftigkeit qua Intentionalität auch die Aufforderung an den Transparenzsuchenden inhäriert, einen Adressaten proaktiv Informationen zu vermitteln (TG A ). In der Literatur wird diese Haltungs- und Handlungsweise, freiwillig und unaufgefordert den Zugang zu (oder von) Sachverhalten bzw. Informationen zu ermöglichen, als Offenheit bezeichnet. 284 Eine mögliche Abgrenzung gegenüber dem Konzept der Wahrhaftigkeit 285 entspricht einer alltagssprachlichen Differenzierung: Ein offener Mensch braucht noch lange nicht ehrlich zu sein, wie auch der ehrliche Mensch nicht offen sein muss. 286 Erfasst das moralische Konzept der Offenheit die Ein wichtiger Hinweis für Unwahrhaftigkeit ist neben der geprüften Falschheit einer Aussage etwa der Nachweis, dass der Sprecher abweichende Kenntnisse über den Sachverhalt hatte; vgl. Dietz (2000, 65f.). 282 Vgl. u.a. Furger (1990, 850ff.) und Mieth (1998, 613). 283 Wie Furger (1990, 852) erläutert, „kann eine zu sehr in die Einzelheiten komplexer Zusammenhänge gehende Information dem Nichtfachmann die Wahrheit oft sogar mehr verstellen als aufhellen. Sich hier […] auf die Mitteilung der großen Linien zu beschränken, ist somit kein Verstoß gegen, sondern Dienst an der Wahrhaftigkeit, sofern […] die Vereinfachung nicht eine Verfälschung […] darstellt.“ 284 Aus der umgekehrten Blickrichtung ist eine Person genau dann nicht offen, wenn sie die Weitergabe oder Aufnahme der Informationen verhindert bzw. dazu gezwungen werden muss. Neben der situativen findet sich eine dispositionale Bedeutung, im Sinne einer freimütigen Wesensart einer Person. Beide Bedeutungen rekurrieren auf dem deskriptiven Begriff objektbezogener Offenheit; vgl. die Einträge „Offenheit“ bzw. „offen“ im Deutschen Wörterbuch (1995, Bd. 2, 2426f.). 285 Wenn Hörmann (1976) meint, „Wahrhaftig ist, wer dann, wenn er spricht, das ausdrückt, wovon er überzeugt ist. Wenn er überhaupt nicht spricht, hört er nicht auf, wahrhaftig zu sein“, scheint er die Aufforderung zur Offenheit aus dem Wahrhaftigkeitskonzept ausschließen zu wollen. Hingegen nach Thomas’ Tugendkonzept besagt Wahrhaftigkeit - neben der von Aristoteles bekannten objektbezogenen Mitte zwischen den Lastern der Prahlerei und der Ironie - auch die Mitte hinsichtlich der Aktuierung (ex parte actus): Der Wahrhaftige sagt demzufolge die Wahrheit in jener Situation und in jener Hinsicht, in der es nötig ist, während der Unwahrhaftige verbirgt, was zu geeigneter Zeit zu offenbaren wäre (S.th. II-II, 109, 1 ad 3). Offenheit ist demzufolge unter Wahrhaftigkeit subsumiert, wobei jene nur unter der Leitung der Klugheit zur Tugend wird. 286 Vgl. Bollnow (1958, 145). <?page no="144"?> 2. Philosophische Grundlegung des Transparenzbegriffs 140 proaktive Forderung der freiwilligen Informationsvermittlung, die konzeptueller Bestandteil der informationellen Transparenznorm ist, bestehen zugleich eklatante Unterschiede zwischen Transparenz und Offenheit: Transparenz impliziert eine unaufhebbare Zugangsbarriere zwischen einem Transparenzsuchenden und dem Transparenzobjekt, die schon aus epistemischen Gründen nur selektiv überbrückt werden kann. In Anlehnung an das ethische Postulat, dass moralisches „Sollen“ stets „Können“ voraussetzt, ist eine Transparenzforderung an definierte Kriterien der Informationsvermittlung (z.B. Relevanzkriterien) gebunden. Im Unterschied dazu meint Offenheit die nicht-selektive Zugangsgewährung zu oder Mitteilung von Informationen. Abgesehen davon, dass eine allgemeine Forderung nach non-selektiver Mitteilung von allem, was man denkt oder weiß, wenig sinnvoll ist, kann weder ein allgemeines Recht auf Offenlegung, noch eine Pflicht allumfassender Mitteilung ethisch begründet werden. 287 Ein Offenheitsbzw. Offenlegungsgebot wird daher nicht allgemeingültig formuliert, sondern spezifiziert und in dieser spezifizierten Form - in der es dem Transparenzgedanken nahe kommt - als begründungspflichtig angesehen: Nur unter der Voraussetzung bestimmbarer und bestimmter Verpflichtungsgründe kann die Aufforderung legitim sein, ein spezifisches Wissen zu veröffentlichen. Wird Offenheit in der Regel dann zum moralischen Thema, wenn ein mehr oder weniger berechtigtes Interesse am Zugang zu einem Sachverhalt bzw. einer Information für einen Adressaten besteht, 288 ist ein möglicher Rechtfertigungsgrund etwa ein freiwilliges Vertrags- oder Vertrauensverhältnis, welches einen Befragten zur wahrheitsgemäßen Auskunft verpflichtet, oder die Hilfsbereitschaft, die zur Aufdeckung schädlichen Irrtums auffordert. 289 Dem gegenüber können Offenlegungspflichten, die im begrenzten Umfang die Zugänglichkeit zu Sachverhalten regulieren, von begründeten Pflichten zur Geheimhaltung bzw. Schweigepflichten eingeschränkt sein. 290 Unabhängig davon, ob Offenheit unter dem Topos der Wahrhaftigkeit subsumiert oder als ein eigenständiges moralisches 287 Vgl. Hörmann (1976). 288 Fiedler (2004, 74) definiert aus einer ökonomischen Perspektive den Offenheitsbegriff über den Nutzen der gewährten Information für die Umwelt. 289 Vgl. Hörmann (1976), auch für weitere Verpflichtungsgründe für partielle Offenheit. 290 Z.B. deontologisch wird der diskrete Umgang mit Informationen zur Achtung der Menschenwürde und zur Wahrung der Persönlichkeitsrechte als geboten angesehen; aus einer kontraktualistischen Perspektive ist die Annahme einer vertraulich erhaltenen Information implizit (aus dem Status der Vertrauensbeziehung) oder explizit (bei vertraglich geregelten Schweigeklauseln oder einem Versprechen) mit der Verbindlichkeit zum sorgsamen Umgang verbunden; vgl. Merks (2003) und Hörmann (1976). <?page no="145"?> 2.5. Ethisch-moralische Implikationen des Transparenzbegriffs 141 Konzept erörtert wird, 291 sind deren ambivalente normative Implikationen besonders zu erwägen. Resümierend wurden in diesem Kapitel wichtige Berührungspunkte zwischen der Transparenznorm in ihren beiden Modi und den zentralen Kommunikationsnormen des Lügenverbots und des Wahrhaftigkeitsgebots festgestellt: Aufgrund des definitorischen Stellenwerts der Täuschungsabsicht wurde informationelle Intransparenz als eine Form des „lügenähnlichen Sprechens“ betrachtet. Ethische Begründungsstrategien, die die Verwerflichkeit des Lügens von der Täuschungsabsicht des Lügners abhängig machen, scheinen daher geeignet, um das Verbot intransparenter Sprechakte (ITV A ) zu begründen. 292 Aufgrund des unterschiedlichen deontischen Modus wurde allerdings noch keine Argumentation zur Begründung des Transparenzgebots (TG A ) erreicht. Die weiteren Analysen zeigten, dass der Impetus des Wahrhaftigkeitsgebots - im Unterschied zum Lügenverbot - weit über eine überprüfbare Übereinstimmung des Gesagten mit dem Gedachten hinausgeht. Sofern Wahrhaftigkeit auch eine verständliche Bedeutungsvermittlung implizieren kann, bestehen wichtige Überschneidungen zum Transparenzkonzept. Umgekehrt gilt: Die transparente Vermittlung relevanter Informationen über einen Sachverhalt kann als ein Akt der Wahrhaftigkeit identifiziert werden. Ethische Begründungsstrategien, die für das Gebot der Wahrhaftigkeit entwickelt wurden und wiederum die Intentionalität des Sprechers bedenken, sind daher geeignet, zentrale Facetten des Transparenzgebots zu rechtfertigen. Allerdings ist nicht eindeutig, ob eine Wahrhaftigkeitsnorm die zentrale Transparenzforderung nach proaktiver Übermittlung von Informationen inhaltlich erfasst; im allgemeinen Sprachgebrauch wird eine Person nicht als unwahrhaft beschrieben, wenn sie bestimmte Überzeugungen oder Wissensbestände verschweigt. Ergänzend wurde der kommunikative Grundbegriff der Offenheit herangezogen, der besonders den Aspekt der freiwilligen Offenlegung von Informationen etc. in den Mittelpunkt stellt, bei dem allerdings frappierende Begründungsschwierigkeiten sichtbar wurden. Der ethischen Begründung von Offenheitsforderungen muss eine hinreichende kontextuelle Spezifizierung vorausgehen, damit jene mithilfe weiterer Normen (z.B. Hilfsgebot) erfasst werden können. Analog dazu ist ein zu allgemeines Transparenzgebot nicht begründbar und würde prima facie durch entgegenstehende Pflichten in Bedrängnis geraten. Aus den bisherigen Untersuchungen der ethischen Implikationen ergeben sich zwei Aufgaben, denen sich die nachfolgenden Kapiteln widmen: 291 Während Offenheit traditionell meistens im Rahmen der Wahrhaftigkeitsnorm verhandelt wird, stellt der Versuch von Bok (1984) einer eigenständigen (moral-)philosophischen Konzeptualisierung eine Ausnahme dar. 292 U.a. wird aus diesem Grund die Kantische Argumentation zur Legitimation der wissenschaftsexternen Transparenznorm in Kap. 4.3. herangezogen. <?page no="146"?> 2. Philosophische Grundlegung des Transparenzbegriffs 142 (1) Wie das normative Konzept der Offenheit gezeigt hat, muss eine Transparenznorm hinreichend spezifiziert werden, damit sie nicht nur als ein Verbot intransparenter Sprechakte, sondern auch als ein Gebot zur proaktiven Vermittlung relevanter Sachinformationen begründet werden kann. Zur Spezifizierung der allgemeinen Transparenznorm sind kontextuelle Überlegungen anzustellen, die sich in unserem Falle auf den Bereich der Biomedizin beziehen (3. Kapitel). (2) Da die bisherigen Betrachtungen auf eine systematische Verhältnisbestimmung der allgemeinen Transparenznorm zu verwandten einschlägigen Kommunikationsnormen reduziert waren, steht die ethische Begründung einer spezifischen Transparenznorm für den Bereich der biomedizinischen Forschung weiterhin aus (4. Kapitel). <?page no="147"?> 3. In-/ Transparenz in der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschung Wie anhand eines einführenden Problemaufrisses in der Einleitung verdeutlicht wurde, kommt einer transparenten wissenschaftlichen Informierung bei Entscheidungs- und Urteilsprozessen im Rahmen biomedizinischer Problemstellungen eine wichtige Funktion zu. Sowohl für Entscheidungsprozesse bei der Wahl geeigneter Mittel zur Realisierung vorgegebener Ziele (z.B. die Restitution der Gesundheit) als auch für moralische Urteilsprozesse bei der Bewertung der Zielsetzung (z.B. Verbesserung der menschlichen Konstitution) wird wissenschaftliche Expertise benötigt, wodurch ein wissensbzw. informationsbasiertes Abhängigkeitsverhältnis der Laiengesellschaft gegenüber dem Expertentum generiert wird. Forderungen nach einer ethischen Regulierung der biomedizinischen Informierung werden angesichts der Güter (psychische und physische Integrität), die bei biomedizinischen Entscheidungen auf dem Spiel stehen, mehr als plausibel. Man denke an die individuellen und gesellschaftlichen Auswirkungen, die eine Handlungsempfehlung auf einer unzutreffenden biomedizinischen Faktenlage haben kann. 1 Doch was genau soll mithilfe einer Transparenznorm im biomedizinischen Kontext eingefordert werden? Bei einer einleitenden Untersuchung der kontextuellen Gebrauchsweise konnte in normativen Sinnzusammenhängen eine allgemeine Transparenznorm (TN A ) rekonstruiert werden, die auf einen epistemischen Idealbegriff der Transparenz aufbaut. Im nachfolgenden Schritt sollen die bisherigen Erkenntnisse auf das biomedizinische Handlungsfeld bezogen werden, um eine spezifische Transparenznorm (TN B ) für den genannten Kontext zu gewinnen. Unter der Zielsetzung, die abstrakte, übergreifende Transparenznorm der Einleitung für die biomedizinische Forschung zu konkretisieren, werden drei Teilaufgaben unterschieden: Erstens ist zu untersuchen, ob im besagten Bereich bereits eine allgemein akzeptierte Konzeptualisierung von Transparenz besteht, die inhaltlich zu explizieren und zu erläutern ist. Hiernach ist zweitens zu prüfen, ob spezifische transparenzbezogene Problemfelder innerhalb des naturwissenschaftlich-biomedizinischen Kontextes bestehen, die von dem bereits 1 Vgl. Weingart (2001, 353), der hinsichtlich der Folgen von Desinformationen „wissenbasierte Mobilisierungseffekte“ erwägt: „Die mit der Autorität der Wissenschaft versehenen Verlautbarungen eines bislang unerkannten Risikos können zu massenhaften Folgehandlungen führen […]. Schon wird vorstellbar, daß die Kontrolle, Verbreitung sowie Abschätzung der Folgen von Wissen zum Gegenstand einer Wissenspolitik wird, die weit über die bestehenden Regelungen hinausgeht.“ <?page no="148"?> 3. In-/ Transparenz in der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschung 144 eruierten Transparenzkonzept nicht oder nur ungenügend abgedeckt werden. Bestätigt sich dieser Verdacht, ergibt sich die dritte Teilaufgabe, eine inhaltlich hinreichend spezifizierte Transparenzforderung aufzustellen, die über pauschale Imperative hinausgeht und den Problemstellungen gerecht wird. Die Erfüllung der drei Teilaufgaben ist nicht ohne empirische Kenntnis des Bezugsfeldes, insbesondere hinsichtlich der praxisbezogenen Notwendigkeiten und Grenzen von Transparenz möglich. Im Fokus der nachfolgenden Analysen steht daher eine wissenschaftssoziologisch fundierte Charakterisierung der biomedizinischen Forschung. 2 Da es sich bei der biomedizinischen Forschung um keine eigenständige wissenschaftliche Disziplin, sondern vielmehr um ein interdisziplinäres, anwendungsbezogenes Forschungsgebiet handelt, das Akteure aus verschiedenen naturwissenschaftlichen Forschungsgebieten (v.a. der Medizin, Biologie und Biochemie) vereint, orientieren sich die Überlegungen hauptsächlich an eruierbaren Aspekten der naturwissenschaftlichen Forschung. 3 Hierbei werden die idealtypischen sozialen Eigenheiten des Wissenschafts- und Forschungshandelns thematisiert, 4 von denen die wissenschaftsinternen (zwischen wissenschaftlich tätigen Akteuren) und -externen (zwischen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Akteuren) Kommunikationsstrukturen im Zentrum der Analysen stehen. 3.1. Die wissenschaftsinterne Kommunikation Die wissenschaftsinterne Kommunikation ist von mehr oder weniger institutionalisierten Interaktionsmustern der wissenschaftlichen Akteure gekennzeichnet, die einer empirischen Untersuchung zugänglich sind. Aufgrund des hohen Erklärungspotentials werden sie nachfolgend aus einer systemtheoretischen Perspektive als Charakteristika des Funktionssystems „Wissenschaft“ interpretiert. 5 Zeichnet sich das Wissenschaftssystem inner- 2 Vgl. Balzer (1997, 11) und Weingart (2003, 127), die der Wissenschaftssoziologie eine doppelte Aufgabenstellung zuweisen: Neben der empirischen Untersuchung des Wissenschafts- und Forschungshandeln steht die besondere Form des Wissens, das aus dem Forschungshandeln hervorgeht, auf der Agenda. Wissenschaftsphilosophische Überlegungen werden nur soweit angestellt, wie sie für ein Verständnis des epistemischen Geltungsanspruchs wissenschaftlicher Aussagen vonnöten sind. 3 Nachfolgend ist von der „naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschung“ die Rede. 4 Wie es für „idealtypische Konstruktionen“ nach Weber (1988a, 191) charakteristisch ist, werden gegenüber der komplexen Wirklichkeit konstitutive Eigenschaften herausgestrichen und andere Elemente vernachlässigt. 5 Bei den Ausarbeitungen rekurriere ich hauptsächlich auf die soziologische Studien von Peter Weingart, der ein moderates Wissenschaftsbild zwischen radikalen technokratischen (z.B. Schelsky) und konstruktivistischen Positionen (z.B. Notwotny, <?page no="149"?> 3.1. Die wissenschaftsinterne Kommunikation 145 halb einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft durch besondere Aufgaben und Ziele aus, wird die Präsenz der internen Interaktionsmuster funktional in Relation zur Verwirklichung der wissenschaftlichen Zielsetzung begründet. Da ein großer Konsens über die epistemische Zielsetzung der Wissenschaft besteht, 6 wird folgendes primäres Systemziel vorausgesetzt: Die methodisch kontrollierte Gewinnung und Erweiterung wissenschaftlichen Wissens, das intersubjektiv geprüft und nach bestimmten wissenschaftlichen Qualitätskriterien anerkannt wird. 7 Unter diesen theoretischen Voraussetzungen findet eine wissenschaftssoziologische Analyse der wissenschaftsinternen Kommunikation unter Einbettung in den Rahmen der wissenschaftlichen Forschungspraxis statt. 3.1.1. Allgemeine Aspekte der internen Kommunikation und das Ideal kommunikativer Transparenz Die wissenschaftliche Forschungspraxis kann grundlegend in eine Entstehungs- und Veröffentlichungsphase wissenschaftlichen Wissens unterteilt werden: 8 Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Forschungspraxis ist das Knorr-Cetina u.a.) vertritt und bemüht ist, weder die wissenschaftlichen Prozesse gegenüber gesellschaftlichen Einflussnahmen zu immunisieren, noch den gesellschaftlich akzeptierten Geltungsanspruch wissenschaftlichen Wissens auszuhöhlen. Gestützt werden seine Analysen durch Quellenmaterial wissenschaftlicher Institutionen, das die internen Kommunikationsstrukturen beschreibt. 6 Die epistemische wird zunehmend zugunsten praktischer Zielsetzungen (z.B. Anwendbarkeit) in Frage gestellt; vgl. Funtowicz/ Ravetz (1993) und Gibbons u.a. (1994). Dem stellt Weingart (2001, 86) zurecht entgegen, dass „überbordete“ Behauptungen fundamentaler Veränderungen des gesamten Wissenschaftssystems in Zielsetzung und Normierung „einer schweren Beweislast [unterliegen] angesichts einer über dreihundert Jahre währenden Entwicklung der sozialen Mechanismen, die die Grundlage der Produktion gesicherten Wissens im modernen Verständnis geliefert haben“; er bestreitet aber keinen Wandel in wissenschaftlichen Teilbereichen. 7 Bei der genannten Zielsetzung wird - abgesehen von der intersubjektiven Prüfbarkeit - eine Bestimmung der Qualitätskriterien wissenschaftlichen Wissens vermieden. Dadurch kann einerseits der Sogwirkung von wissenschaftsphilosophischen und -soziologischen Kontroversen über „wissenschaftliches Wissen“ entkommen, andererseits eine Anschlussmöglichkeit an gegenwärtige Wissenschaftskonzepte sichergestellt werden. 8 Es wird folgendes vereinfachtes Modell der Forschungspraxis von Resnik (2007, 44f.) zugrunde gelegt: (1) Wähle ein wissenschaftliches Problem aus; (2) untersuche diesbezügliche relevante Literatur; (3) formuliere eine Forschungshypothese zu dessen Lösung; (4) entwerfe ein Experiment zur Untersuchung der vorgeschlagenen Hypothese; (5) führe das Experiment durch; (6) erhebe Daten, zeichne sie auf und verwalte sie; (7) analysiere und interpretiere die Daten; (8) reiche die Daten und Ergebnisse bei Fachkollegen zu deren Evaluation ein; (9) erhalte wissenschaftliche Kritik an der Forschungsarbeit; (10) publiziere die Ergebnisse; und (11) erlaube der Wissenschaftsgemeinschaft, die Ergebnisse anzuerkennen oder abzulehnen. <?page no="150"?> 3. In-/ Transparenz in der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschung 146 individuelle wissenschaftliche Handeln im context of discovery. 9 Nach Maßgabe der „wissenschaftlichen Methode“ soll ein gewähltes Forschungsobjekt nach Bestimmung eines Forschungsproblems durch wissenschaftliche Experimente gezielt untersucht und die gewonnenen Beobachtungen mittels wissenschaftlicher Gesetze theoretisch erklärt werden. Eine individuelle kreative Freiheit beim Entwurf der Experimente stellt geradezu eine wissenschaftliche Notwendigkeit dar. Gleichwohl gilt das Ideal des informellen Informationsaustauschs zwischen Mitarbeitern und der unbeschränkten Zugänglichkeit zu forschungsbezogenen Informationen, um eine institutionelle Kontrolle und kritische Prüfung prinzipiell sicherzustellen. 10 In der vorgeschlagenen Transparenz-Terminologie handelt es sich um eine Echtzeit-Transparenz, die die aktiv Forschenden gegenüber institutionsinternen Forscherkollegen gewähren sollen; dieses Ideal mündet allerdings nicht in eine formelle Normierung der Kommunikationsprozesse, wie es bei der wissenschaftlichen Veröffentlichung der Fall ist. Die aus dem Entstehungsprozess resultierenden Forschungsergebnisse werden nun gegenüber der scientific community veröffentlicht, um in einem organisatorischen Diskursverfahren zwischen Fachkollegen im context of justification kollektiv anerkannt („beglaubigt“) zu werden. 11 Die Art und Weise der Veröffentlichung hat sich freilich seit der Etablierung der wissenschaftlichen Methode im 16. und 17. Jahrhundert maßgeblich gewandelt: 12 Zuanfangs fand sie bei einer experimentellen Reproduktion vor den Augen von gentlemen statt, die durch ihr Beiwohnen dem produzierten Wissen Glaubwürdigkeit verliehen; 13 im 18. Jahrhundert verlagerten sich die Bezeugungsakte der Experimente sogar in den gesellschaftlichen Raum 9 Die Begriffe context of discovery bzw. of justification wurden von Reichenbach (1983) geprägt. 10 Laut der Max-Planck-Gesellschaft (MPG 2000b, 25) stellt Transparenz in diesem Rahmen eine „Regelung interner […] Prozesse des wissenschaftlichen Handelns vor allem in der eigenen Institution“ dar. 11 Konstruktivistische Wissenschaftssoziologen stellen die Trennung beider Bereiche in Frage. Wie schon beim individuell-kognitiven Entstehungsprozess soziale Einflussfaktoren angesichts der interpretativen Flexibilität von Beobachtungsdaten eine Rolle spielten (vgl. Fleck 1980, Knorr-Cetina 1995), kämen wissenschaftliche Erkenntnisse nicht (nur) durch rationale Faktoren in der Wissenschaftspraxis zur Geltung; das, was innerhalb der scientific community als rational gilt, wird von historisch relativierbaren normativen Festsetzungen abhängig gemacht (vgl. z.B. Kuhn 2002, Bloor 1976, Collins 1983). In Abgrenzung zu Reichenbach spricht Böschen (2004, 124) daher vom Modell der „individuellen Erzeugung/ kollektiven Beglaubigung“ wissenschaftlichen Wissens. Allerdings führt jeder Nachweisversuch der wissenschaftlichen Irrationalität zu einem performativen Selbstwiderspruch; vgl. Resnik (2007, 63). 12 Wie Eamon (1985) in einer wissenschaftshistorischen Studie zeigt, wurde das Konzept der öffentlichen Wissenschaft erst im 16. und 17. Jahrhundert - vorangetrieben durch Buchdruck und Schutz der Urheberrechte - etabliert. 13 Vgl. hierzu auch Shapin/ Schaffer (1985, 22f.). <?page no="151"?> 3.1. Die wissenschaftsinterne Kommunikation 147 - „vom vornehmen Salon, über […] das Kaffeehaus bis hin zur Jahrmarktsbude“; 14 spätestens im 20. Jahrhundert wurde der Vorgang der unmittelbaren Demonstration und öffentlichen Bezeugung angesichts der wachsenden Komplexität der Inhalte und bedingt durch neuartige Präzisionsexperimente sukzessive aufgegeben. Seitdem berichtet der Experimentator in wissenschaftlichen Publikationen (Fachzeitschriften, Kongressbänden etc.) über die durchgeführten Untersuchungsmethoden und erzielten Forschungsergebnisse, weshalb die wissenschaftliche Veröffentlichung als funktional wichtigste Kommunikationsform in der Wissenschaftsgemeinschaft gilt. Bei dem vollzogenen Wandel von einer science-as-process zu einer science-as-product gewinnen die erzielten Ergebnisse in ihrer versprachlichten und konzeptualisierten Form an Bedeutung. 15 Nur solche Behauptungen, die veröffentlicht und der kollegialen Kritik ausgesetzt werden, können als „anerkanntes, möglicherweise auch umstrittenes, aber der Auseinandersetzung für ‚wert‘ befundendes, Wissen“ gelten. 16 Zu den Veröffentlichungsnormen gehört zum einen die sog. Öffentlichkeitspflicht: „Wissenschaftler sind verpflichtet, ihre Ergebnisse zu veröffentlichen. Nur was publiziert ist, ist der Wissenschaftlergemeinschaft zugänglich und als Wissenschaft existent. Quod non est in libris (sive in rete) non est in mundo.“ 17 Daneben findet sich das Transparenzgebot im engen Sinn, welches formell „die Struktur der Veröffentlichung regelt und ihren Rahmen vorgibt.“ 18 Dieses Transparenzgebot regelt „die Ansprüche, denen eine Veröffentlichung genügen muss, um die Öffentlichkeitspflicht zu erfüllen und der fachlich relevanten Scientific Community die kritische Aufnahme des Neuen sachgemäß zu ermöglichen: Nicht nur der Befund muss vollständig und lückenlos dargestellt sein, sondern auch der Prozess, der zu dem Befund geführt hat, muss hinreichend detailgerecht beschrieben werden, um eine vollständige Rekonstruktion bzw. Replikation zu ermöglichen - Voraussetzung öffentlicher Wahrheitsprüfung. Vollständigkeit wird zudem gefordert bei der Nennung aller Quellen und Hilfsmittel und nicht zuletzt bei der Nennung aller am Prozess Beteiligten.“ 19 14 Hochadel (2003, 27). 15 Vgl. Wohlgenannt (1969, 32). Entsprechend wird Wissenschaft geradezu als ein Aussagensystem bestimmter Qualität definiert, beispielsweise als „System wahrer Aussagen“ (Poser 2001, 18). 16 Weingart (2003, 32). Ähnlich Gethmann (1999, 29), für den die wissenschaftlichen Kommunikationsformen „generell in Verfahren des Erhebens und Einlösens von Geltungsansprüchen“ bestehen. 17 MPG (2000b, 13). 18 Ebd., 46. 19 Ebd., 47. <?page no="152"?> 3. In-/ Transparenz in der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschung 148 Insgesamt bezieht sich das Transparenzgebot der wissenschaftlichen Veröffentlichung auf korrekte und vollständige Angaben über Daten, Materialien und Methoden, Autoren und deren institutionelle Herkunft, Referenzen, Danksagungen und den Status der Veröffentlichung. Weshalb neben den Ergebnissen die Offenlegung der Methoden besonders berücksichtigt wird, ergeht aus der Besonderheit, dass Methoden und Ergebnisse im wissenschaftlichen Kontext eng aufeinander bezogen sind. Die jeweils gewählte wissenschaftliche Untersuchungsmethode stellt im gewissen Sinne einen konstituierenden Vorgriff auf das erzielte Ergebnis dar, das erst mittels Forschungsdesign und Methodenwahl in einer spezifischen Art und Weise generiert wird. 20 Nur eine möglichst lückenlose und nachvollziehbare Dokumentation der Methoden (und des Forschungsprozesses) kann die Reproduzierbarkeit des Experiments und letztlich die überindividuelle Beglaubigung der Ergebnisse gewährleisten. Unter der Voraussetzung der sorgfältigen Methodenanwendung bei Erstversuch und Replikation wird eine neue wissenschaftliche Erkenntnis in der Wissenschaftsgemeinschaft anerkannt bzw. abgelehnt. 21 Verfahrens- und Ergebnistransparenz können nicht voneinander getrennt werden. 22 Hinsichtlich der gewonnenen Ergebnisse fallen unter das Transparenzgebot auch falsifizierte Hypothesen (sog. „negative Ergebnisse“), die in der wissenschaftlichen Gemeinschaft notorisch vernachlässigt und nur bei erwartbarem Interesse veröffentlicht werden. 23 Die Öffentlichkeits- und Transparenzpflicht endet nicht, wenn das Manuskript vom Gutachter und Herausgeber akzeptiert wurde und im Druck erschienen ist; falls der Forscher nachträglich Fehler oder gravierende Auslassungen feststellt, müssen diese in Form von Errata oder Corrigenda veröffentlicht oder die Veröffentlichung zurückgezogen werden. 24 Insgesamt wird auf der Stufe der Verbreitung wissenschaftlichen Wissens eine retrospektive Transparenz, d.h. die vollständige Offenlegung der verwendeten Methoden und erzielten Ergebnisse gegenüber der wissenschaftlichen Öffentlichkeit in einem stark formalisierten Sinn vorausgesetzt. Sind wissenschaftliche Methoden und Ergebnisse nach vorgegebenen Regelungen etwa in Fachzeitschriften veröffentlicht worden, findet ihre 20 Hierbei wird zwischen der generellen „wissenschaftlichen Methode“ (s.o.) und den disziplinspezifischen Methoden unterschieden: Erstere umfasst Standards, die disziplinübergreifend bei der Forschungsarbeit befolgt werden sollen, während letztere in Abhängigkeit von den Zielsetzungen und Traditionen angewendet werden. 21 Vgl. Committee on Science Engineering and Public Policy (1995, 4). 22 Dieser Aspekt wird auch von der MPG (2000b, 41) betont, wenn sie vom „Primat der Methode“ spricht: „Methodische Transparenz ist eine Bedingung für die intersubjektive Akzeptanz von Ergebnissen.“ 23 Ebd., 25. 24 Vgl. Resnik (1999, 97). <?page no="153"?> 3.1. Die wissenschaftsinterne Kommunikation 149 Rechtfertigung und Anerkennung im context of justification nach strikten Kriterien statt. Wenngleich einheitliche Qualitätskriterien wissenschaftlichen Wissens wissenschaftsphilosophisch und -soziologisch umstritten sind, 25 lassen sich u.a. Objektivität, empirische Prüfbarkeit und Bewährtheit von Aussagen, logische Schlussfolgerung und Widerspruchsfreiheit von Aussagen in Aussagensystemen als diachrone „Häufigkeitsnormen“ ausweisen, die auch gegenwärtig von der Wissenschaftsgemeinschaft konsensuell anerkannt werden. 26 Unabhängig davon, ob im context of justification nun etwa „Wahrheits-“ oder „Nützlichkeitsdikurse“ geführt werden, 27 setzt die Wissenschaftspraxis jedenfalls eine intersubjektive Qualitätskontrolle wissenschaftlicher Behauptungen voraus, die der wissenschaftlichen Grundüberzeugung des Fallibilismus Rechnung trägt. 28 Sofern intersubjektive Diskurse wiederum die Öffentlichkeit bzw. Transparenz wissenschaftlicher Informationen präsupponieren, können Intersubjektivität und Transparenz demzufolge als Grundprinzipien der Wissenschaftlichkeit betrachten werden, die über die Grenzen des vertretenen Wissenschaftskonzepts hinweg Gültigkeit beanspruchen. 29 Die Kommunikationsgemeinschaft der Wissenschaftler fungiert als komplexes, autonom organisiertes Kontrollsystem, das diesbezügliche Veröffentlichungen als wissenschaftli- 25 Kontroversen um wissenschaftliche Qualitätskriterien sind auf unterschiedliche im Diskurs vertretene Wissenschaftkonzepte zurückzuführen: Vor dem Hintergrund eines realistisch-rationalistischen Wissenschaftsbildes sollen die Kriterien eine Bezugnahme der sprachlichen Ebene zur subjektunabhängigen Wirklichkeit sichern, während zufällige soziale oder psychologische Bedingungen, die eine solche Bezugnahme bei Wahrnehmungs-, Interpretations- und Beglaubigungsprozessen eventuell verhindern, minimiert werden; vgl. Engler (2008). Antirealistisch-konstruktivistische Vertreter, die von der sozialen Konstruiertheit wissenschaftlichen Wissens ausgehen, postulieren angesichts einer anwendungsbezogenen Neuausrichtung der Wissenschaften externe und stetig wandelbare Qualitätskriterien (z.B. Nützlichkeit, soziale Robustheit), vgl. Gibbons u.a. (1994, 18 und 36) und Scott (2003). In Ablehnung der Realismus- Antirealismus-Debatte (Suhm 2005 gibt einen Überblick) setzen pragmatistische Wissenschaftskonzepte auf die instrumentelle Bewährung wissenschaftlicher Aussagen im konkreten Handeln, sofern diese zur Verwirklichung wissenschaftsinterner Ziele (Erklärung, Prognose) beitragen; vgl. Brandom (2000, 46f.). 26 Zu den Kriterien des Beglaubigungsprozesses, vgl. Baumgartner (1974, 1754) und van den Daele (1977, 190f.). 27 Vgl. Nowotny (1999, 19). 28 Vgl. Schurz (2006, 26ff.), der ein minimales erkenntnistheoretisches Modell der naturwissenschaftlichen Forschung rekonstruiert. 29 Intersubjektivität und Transparenz können innerhalb antirealistisch-konstruktivistischer oder pragmatistischer Wissenschaftskonzepte plausibel begründet werden: Vgl. Nowotny u.a. (2004, 220), die Intransparenz als dysfunktional beschreiben, „weil sie - außer bei sehr kurzfristigem Denken - der Produktion effektiver Lösungen zusätzliche Hindernisse in den Weg legt“; bei Peirce (1976, 205, CP 5.407) kann Transparenz als Voraussetzung für die wissenschaftskollektive Gewinnung stabiler Überzeugungen (beliefs) fundiert werden. <?page no="154"?> 3. In-/ Transparenz in der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschung 150 ches Wissen anerkennt oder ablehnt. Abgesehen vom Peer Review-Verfahren als zentralem Mechanismus der wissenschaftlichen Qualitätssicherung (bei Publikationen, Forschungsanträgen und Stellenvergaben), 30 erfolgt die Qualitätskontrolle hauptsächlich durch nachhaltige Rezeption, Reproduktion bzw. Verwendung der Ergebnisse in der weiteren Forschung, um neue Theorien und anschlussfähiges Wissens zu gewinnen (Grundlagenforschung) bzw. neue Technologien und Therapieformen zu entwickeln (anwendungsbezogene Forschung). 31 Die genannte epistemische Funktion der Veröffentlichungspraxis - nur veröffentlichtes und rezipiertes Wissen gilt als wissenschaftliches Wissen - wird durch eine soziale Funktion ergänzt: Im Falle innovativer Forschungsergebnisse zieht eine Veröffentlichung durch die Funktionsweise eines spezifischen Belohnungssystems (z.B. durch Zitation und Eponymie) in der „meritokratischen Ordnung“ der Wissenschaft die Reputation des Wissenschaftlers nach sich. 32 Reputation bedeutet freilich nicht nur ein ideelles Ansehen in der Forschergemeinschaft, sondern entfacht einen „Glaubwürdigkeitszyklus“, bei dem Reputation als symbolisches Kapital in materielles transformiert werden kann und umgekehrt. 33 Ergänzung findet der formelle Kommunikationstyp der wissenschaftlichen Publikation durch informellen Informationsaustausch, deren Bedeutung für das Funktionieren des Wissenschaftsbetriebs nicht zu unterschätzen ist. 34 Durch die publikationsbegleitende informelle Kommunikation können die experimentellen Bedingungen erläutert werden, unter denen das publizierte Wissen entstanden ist, implizites Wissen expliziert und Zusatzinformationen (z.B. weitere Untersuchungsdaten, Versuchsprotokolle) ergänzt werden, die aufgrund des begrenzten Platzes in Fachzeitschriften unveröffentlicht geblieben sind. 30 Einen konzisen historisch-systematischen Überblick über das Peer Review-System gibt Resnik (1999, 45ff.). 31 Angesichts der wachsenenden Publikationszahlen stehen die klassischen Mechanismen der Qualitätskontrolle vor Herausforderungen: Wie Gutachter zeitlich nicht in der Lage sind, die zugrunde liegenden Experimente einer eingereichten wissenschaftlichen Originalarbeit zu reproduzieren, werden sie auch von nachfolgenden Forschern aufgrund des geringenen Reputationsgewinns nur selten wiederholt. Statt dessen zeigt (Gläser 2004, 477f.) anhand scientometrischer Studien, dass die effizienteste Qualitätskontrolle im Prozess der Verwendung der Ergebnisse erfolgt - wohlgemerkt nicht zur Reproduktion, sondern zur Erzeugung von neuem Wissen. 32 Vgl. Weingart (2003, 23). 33 Der Begriff des Glaubwürdigkeitszyklus (credibility cycle) geht auf Latour/ Woolgar (1986, 198ff.) zurück. Dieser Prozess wird durch den „Matthäus-Effekt“ („Wer hat, dem wird gegeben“) verschärft, den Merton (1985a) beschrieben hat. 34 Z.B. Diskussionen bei Meetings und persönliche Email-Korrespondenzen gewährleisten einen schnellen Austausch vorläufiger Ideen und Methoden der wissenschaftlichen Arbeit, ohne sie dem Qualitätssicherungsmechanismus der Wissenschaften zu überantworten. Gegenüber formellen sind informelle Kommunikationsnetze empirisch schwierig erfassbar; vgl. Felt u.a. (1995, 65 und 68f.). <?page no="155"?> 3.1. Die wissenschaftsinterne Kommunikation 151 Aus dem formellen Veröffentlichungs- und Kontrollprozess geht im Idealfall anerkanntes wissenschaftliches Wissen hervor, was allerdings nicht der Regelfall ist. Bei zahlreichen Sachverhalten, insbesondere bei neuartigen Forschungszweigen, bestehen keine einheitlichen Meinungen. Es ist nicht unberechtigt, die Wissenschaft als einen kollektiven, prozesshaften und persistierenden Argumentationsdiskurs zu interpretieren, bei dem diametrale Standpunkte eingenommen und lang anhaltende Kontroversen ausgetragen werden. 35 Wenngleich Kontroversen teilweise beendet werden, ist es wissenschaftshistorisch belegbar, dass sie meist auf definierten Ebenen (z.B. hinsichtlich einer Datenbeschreibung oder Methode) immer wieder neu aufgenommen werden und unaufhaltsam fortschreiten. 36 Anstatt jene nun als defizitäre Situation des argumentativen wissenschaftlichen Prozesses misszuverstehen, sollte ihre epistemische Bedeutung für den wissenschaftlichen Progress gewürdigt werden: Sofern darin ernsthafte Kritik ausgetauscht wird, sind es gerade handfeste Kontroversen, aus denen neue wissenschaftliche Theorien hervorgehen bzw. deren Weiterentwicklung anstoßen. 37 Gleichwohl Transparenz ein wichtiges Prinzip der Wissenschaftspraxis ist, wäre der Umkehrschluss falsch, dass Intransparenz bei der wissenschaftlichen Forschung generell verworfen wird. Sofern Bereiche existieren, in denen Intransparenz ein notwendiger Bestandteil der Forschungspraxis bei der Verwirklichung der wissenschaftlichen Zielsetzung ist, sind Typen akzeptierter wissenschaftlicher Intransparenz von Typen problematisierter Intransparenz zu unterscheiden. Letztere Typen beziehen sich auf Intransparenzen, die angesichts der wissenschaftlichen Zielsetzung funktional nicht legitimierbar sind und - wenn möglich - sanktioniert werden. 35 Vgl. Dascal (1995), der die Kontroverse als einen idealen Subtyp des polemischen Dialogs darstellt. Ausgehend von einem spezifischen Problem entsteht Uneinigkeit über dessen Lösung, die nicht auf banale logische Fehler zurückzuführen ist, sondern hinsichtlich der vertetenen Einstellungen, Präferenzen und Methoden der Problemlösung entbrennt; in deren Folge werden Argumente aufgetürmt, um die eigene Position als überlegen auszuweisen, während die Deutungshoheit des Kontrahenten in Frage gestellt wird: „The question of the correct interpretation of data, of language, of theories, of methods, and of the status quaestionis, arises again and again throughout a controversy. At each stage the contenders accuse each other of misrepresenting their theses, of using ambiguous language, of not responding to the objections and - for that reason - of not addressing themselves to the ‚true problem‘ at stake“. 36 Vgl. hierzu nochmals ebd. 37 Weitze/ Liebert (2006, 13) resümiert: „Eine Einsicht in die Notwendigkeit und Produktivität des Streitens um richtige Positionen könnte somit auch das unangemessene Bild von den zerstrittenen und damit unglaubwürdigen Naturwissenschaften korrigieren.“ <?page no="156"?> 3. In-/ Transparenz in der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschung 152 3.1.2. Problematisierte Intransparenz beim naturwissenschaftlichbiomedizinischen Forschungshandeln Wissenschaftshistorische Studien belegen hinreichend, dass Verstöße gegen das Transparenzideal bzw. gegen die formalisierte Veröffentlichungs- und Transparenzpflicht keine neuartigen Phänomene sind. 38 Was hingegen als neu bezeichnet werden kann, ist die zunehmende Realisierung innerhalb der Wissenschaften, dass solche Verstöße keine Seltenheit sind - und dies vor allem im Bereich der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschung. 39 Seit ca. zwei Dekaden finden auf internationaler Ebene verstärkte empirische Forschungsbemühungen statt, bei denen Missachtungen der Transparenzpflicht systematisch in qualitativen und quantitativen Studien zu erfassen versucht werden. Auf Grundlage dieser sich verdichtenden empirischen Evidenz können wichtige Typen problematisierter wissenschaftlicher Intransparenz differenziert werden, die in unterschiedlichen Schritten des Forschungsprozesses entstehen. 40 Der Fokus wird gezielt auf den Handlungsraum des naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschers gelegt, ohne zu ignorieren, dass wissenschaftliche Intransparenz auch außerhalb seines Einflussgebietes entstehen kann: 41 (a) Intransparenz durch die Verhinderung von Forschungsprojekten: Die wissenschaftliche Forschungsarbeit beginnt notwendigerweise mit der Selektion eines wissenschaftlichen Problems, worauf unterschiedliche interne (z.B. persönliche Interessen) aber auch externe Faktoren (z.B. Geldströme der Forschungsfinanzierung) Einfluss haben. Bei Unterdrückung der experimentellen Arbeit in einem Forschungszweig, um die Gewinnung und Veröffentlichung unerwünschter Ergebnisse zu verhindern, wird eine Intransparenz verursacht, die den wissenschaftlichen Progress beeinträchtigt. 42 38 Vgl. die bei Broad/ Wade (1982) genannten Beispiele der Wissenschaftsgeschichte. 39 Eine erhöhte Sensibilisierung für die Intransparenzproblematik ist nicht zuletzt auf die Aufklärungsarbeit unabhängiger wissenschaftsnaher Institutionen (z.B. Cochrane Collaboration, EQUATOR-Network oder Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen) und Informationsdienste (z.B. Arznei-Telegramm) - teils gegen massiven Druck von Lobbyisten - zurückzuführen. 40 Bei der Entwicklung einer Typologie problematisierter Intransparenz lehne ich mich an die Studie von Martin (1999) an, der die Unterdrückung (suppression) wissenschaftlicher Informationen in vier Klassen (creation, distortion, control und dissemination) einteilt, differenziere aber weitere Typen und belege sie mit aktuellen quantitativen und qualitativen empirischen Studien. 41 Vgl. hierzu Kap. 5.2.2. 42 Wie Hess (1999) an der Krebsforschung zeigt, können Interessen an fortbestehenden Forschungsdefiziten (areas of ignorance) bestehen. Die Annahme, dass Intransparenz nur bei Unterdrückung relevanter Informationen verursacht wird, muss angesichts genannter bereichsspezifischer Problematik modifiziert werden. <?page no="157"?> 3.1. Die wissenschaftsinterne Kommunikation 153 (b) Intransparenz durch die Wahl des Versuchsaufbaus und Einflussnahme auf den Prozess der Datenerhebung und -aufzeichnung: Verwandt mit letztgenanntem Typ ist die unterlassene Durchführung eines Experiments bzw. Datenerhebung innerhalb eines Forschungsprojekts, um unerwünschte Ergebnisse zu verhindern. 43 Gemeinsam mit dem Vorgang, ein Experiment derart zu entwerfen bzw. Daten zu erheben, um ausschließlich hypothesenstützende Ergebnisse zu erhalten, wird in der Wissenschaftsgemeinschaft vom „Datenkochen“ (data cooking) gesprochen. 44 (c) Intransparenz durch Einflussnahme auf die Analyse von Daten: Angesichts der Menge an Rohdaten, die bei einer Studie erhoben werden, sind Auswahl- und Auswertungsprozesse ein notwendiger Bestandteil einer aussagekräftigen Ergebnisproduktion. Im Unterschied zu vorgängigen Intransparenztypen arbeitet ein Wissenschaftler auf der Stufe des Versuchsaufbaus und der Datenerhebung sorgfältig, zieht aber aus einer großen Menge erhobener, aber insgesamt ambivalenter Daten nur jene für die statistischen Datenanalyse heran, die mit der zugrunde liegenden Forschungshypothese korrespondieren. Bei dieser „Datenselektion“ (data trimming oder euphemistisch data management) verwirft er absichtlich konflingierende Daten, ohne dieses Vorgehen zu erwähnen und methodisch zu rechtfertigen. Bei der Auswertung der Daten werden statistisch hoch-signifikante Effekte gesucht, um zufällige und nicht-reproduzierbare Beobachtungen auszuschließen. 45 Sofern die Wahl einer statistischen Auswertungsmethode entscheidend ist, um solche Effekte nachweisen zu können, entsteht Intransparenz außerdem, wenn ein Forscher unter verschiedenen statistischen Methoden jene auswählt, die die besten Ergebnisse im Sinne der eigenen Hypothese ergibt, ohne dass dies mit der Datenlage gedeckt wäre (fudging). 46 Zu ergänzen ist außerdem das „Ausschlachten“ von Daten (data 43 Nach Bassler u.a. (2010) werden klinische Studien nach einer Teilmenge der Probanden gestoppt, sobald sich die erhofften Ergebnisse einstellen. Z.B. Nieto u.a. (2007) zeigen bei einer Analyse von 504 Studien zu Kortison-Inhalationspräparaten, dass die Ergebnisse bezüglich Nebenwirkungen weniger gravierend ausfallen, wenn andere Studienbedingungen (z.B. geringere Dosis des Medikaments oder kürzere Nachbeobachtungszeiten) gewählt werden. 44 Der Begriff des „Datenkochens“ geht auf die klassische Typisierung von Babbage (1830) zurück, der drei weitere Betrugsformen (trimming data, hoaxing und forging) unterscheidet und für den Niedergang der Naturwissenschaften im England des 19. Jahrhunderts verantwortlich macht. 45 Nur Studien mit hoch-signifikanten Ergebnissen finden in wissenschaftliche Veröffentlichungen Einzug. 46 Vgl. die klassische Studie von Huff (1954), bei der gezeigt wird, wie Wissenschaftler generell statistische Methoden zum „Schönen“ der Ergebnisse missbrauchen können, sowie die Untersuchungen von Bailar (1986) und Gardenier/ Resnik (2002). Als typische Beispiele für die Selektion von Analysemethoden nennen McGauran u.a. (2010) <?page no="158"?> 3. In-/ Transparenz in der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschung 154 mining), d.h. das Präsentieren einer zufällig vorgefundenen statistisch signifikanten Korellation als ursprüngliche Untersuchungshypothese der Forschungsarbeit. (d) Intransparenz durch Einflussnahme auf die Interpretation und Darstellung von Daten: Neben zielgerichteten Eingriffen auf der Ebene der Datenanalyse entsteht Intransparenz auch bei der Dateninterpretation und -darstellung, bei denen der Forscher die wissenschaftliche Signifikanz und eventuelle praktische Relevanz der Ergebnisse übertrieben interpretiert und zugleich wichtige Details, die das Projekt in ein anderes Licht stellen, weglässt. 47 Hierbei ist auch an die Exposition von Forschungsvorhaben in Forschungsfinzierungsanträgen zu denken, in denen die Erwartung an Durchführ- oder Anwendbarkeit übertrieben positiv dargestellt wird. 48 (e) Intransparenz durch Einflussnahme auf die formelle Veröffentlichung wissenschaftlicher Informationen: Es wurde bereits angeführt, dass Intransparenz bei der Entstehung wissenschaftlicher Ergebnisse verursacht werden kann, indem auf bestimmte methodische Schritte Einfluss genommen wird. Da die selektive Darstellung von Methoden, Daten und Ergebnissen einer Studie bei formellen Veröffentlichungen zu einer „Verzerrung“ bzw. „Schieflage“ (bias) von wissenschaftlichen Informationen führt, spricht man von einer reporting bias, die durch genannte Intransparenztypen verursacht wird. 49 Bei biomedizinischen Studien bezieht sich die selektive Darstellung regelmäßig auf eine Unterschlagung von Ergebnissen zu Schadenspotentialen, so dass der Nutzen einer untersuchten Maßnahme übersteigert dargestellt wird. 50 Davon ist eine publication bias zu unterscheiden, die entsteht, wenn nicht nur einzelne Methoden, Daten und Ergebnisse einer Studie, sondern vollständige Studien zurückgehalten oder verheimlicht werden. Wie gezeigt werden konnte, betrifft dies hauptsächlich die Veröffentlichung von Studien mit vorrangig negativen Ergebnissen. 51 Paradoxerweise kann Intransparenz auch durch eine gezielte Veröffentlichung wissenschaftlicher Erkenntnisse entstehen, und zwar, wenn ein Publikationsmedium gewählt wird, das von keinem großen Rezipientenz.B. die Wahl von Per-Protocol (PP)gegenüber Intention-to-Treat (ITT)-Analysen oder nicht-adjustierte versus adjustierte Analysen. 47 Rising et al. (2008) zeigen, wie negative Ergebnisse bei klinischen Studien in einer positiven Weise dargestellt werden und Schlussfolgerungen nicht durch die Ergebnisse abgedeckt sind. 48 Vgl. Resnik (1999, 78f.). 49 Bei den Typen von Informationsverzerrung (bias), die durch wissenschaftliche Veröffentlichungen entstehen können, beziehe ich mich auf die Taxonomie von Sterne et al. (2008). 50 Z.B. Al-Marzouki et al. (2008), Blumle et al. (2008), Chan/ Altman (2005b) und Rising et al. (2008) stellen bei einem Vergleich von Versuchsprotokollen mit späteren Veröffentlichungen im Bereich der Biomedizin selektive Darstellungen fest. 51 Vgl. z.B. Dickersin (1997), Lee u.a. (2008) und von Elm et al. (2008). <?page no="159"?> 3.1. Die wissenschaftsinterne Kommunikation 155 kreis wahrgenommen werden kann (location bias); 52 hierbei ist an Veröffentlichungen in unbekannten Fachzeitschriften oder in der „grauen Literatur“ (z.B. poster, abstracts, working papers) zu denken, die nicht in wissenschaftlichen Datenbanken indiziert sind. 53 Überdies wird die Möglichkeit der mehrfachen Veröffentlichung von Forschungsergebnissen in unterschiedlichen Fachzeitschriften genutzt, um auf der Seite der forschungsfördernden Unternehmen die Anzahl an bestätigenden Studien für ein biomedizinisches Produkt zu erhöhen (multiple publication bias). 54 Bei einer Übersichtsdarstellung (review) über Veröffentlichungen eines Forschungsgebiets kann dadurch die Anzahl an Veröffentlichungen mit bestätigender Evidenz überschätzt werden. 55 (f) Intransparenz durch Einflussnahme auf die informelle Veröffentlichung wissenschaftlicher Informationen: Abgesehen von der Ebene der formellen Veröffentlichung finden wichtige Informationsflüsse bzw. deren Verhinderung auf der informellen Kommunikationsebene statt, sofern wesentliche Informationen über Experimente nicht in Fachzeitschriften veröffentlicht werden können. Intransparenz ensteht bei informellen Kommunikationswegen, wenn z.B. die Existenz von Daten verschwiegen oder vertuscht wird, oder - bei gezielter Nachfrage - mit einer ausweichenden Beantwortung reagiert wird. 56 (g) Intransparenz durch einseitige Rezeption wissenschaftlicher Erkenntnisse: Intransparenz kann durch das vorsätzliche Ignorieren bestimmter Forschungsdaten bei einer Rezeption durch Fachkollegen entstehen (citation bias), wie auch das selektive Rezipieren von Veröffentlichungen zur Verzerrung des Forschungsstands führen kann. 57 Wie die verschiedenen Einflussmöglichkeiten auf die Entstehung, Veröffentlichung und Rezeption von wissenschaftlichen Erkenntnissen zeigen, ist eine schlichte Klassifikation in „veröffentlichte“ bzw. „nicht-veröffentlichte“ Ergebnisse unterkomplex und wird dem Phänomen der Intransparenz in der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschung nicht gerecht. Viemehr ist in der naturwissenschaftlich-biomedizinischen For- 52 In der Bibliometrie spricht man von der hohen „Sichtbarkeit“ (Visibility) eines Dokuments, um zu kennzeichnen, dass es in Publikationsorganen mit hohem impact factor veröffentlicht wurde. 53 Scherer et al. (2007) zeigen, dass die Präsentation einer Studie auf Konferenzen etc. nicht zu ihrer vollständigen Veröffentlichung führen muss: Von ca. 30.000 präsentierten Abstracts über klinische Studien wurden nur 63% wirklich publiziert; die Mehrzahl davon bezog sich auf „positive“ Ergebnisse. Allerdings lässt sich diese Diskrepanz nicht allein mit dem beabsichtigten Verhalten des Forschers erklären (s.o.). 54 Nach Resnik (2007, 159) wird die Anzahl an Mehrfachveröffentlichungen auf bis zu 306 Duplikaten pro 1000 Veröffentlichungen eingeschätzt. 55 Vor diesen Konsequenzen warnen z.B. LaFollette (1992) und Angell (2004) vehement. 56 Vgl. hierzu Thomson (1999). 57 Vgl. Deiseroth (2006, 15). <?page no="160"?> 3. In-/ Transparenz in der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschung 156 schung von einer graduellen (In-)Transparenz wissenschaftlicher Informationen auszugehen. Die Transparenzproblematik gewinnt zusätzlich an Komplexität, da Intransparenz beim Forschungshandeln nicht per se ausgeschlossen wird. Es bestehen Bereiche akzeptierter Intransparenz, wie die Beispiele des folgenden Abschnitts zeigen. 3.1.3. Akzeptierte Intransparenz beim naturwissenschaftlichbiomedizinischen Forschungshandeln Im vergangenen Abschnitt haben wir zahlreiche Typen wissenschaftlicher Intransparenz kennengelernt, die aufgrund ihrer Dysfunktionalität als illegtim erachtet und von der Wissenschaftsgemeinschaft im Falle ihrer Entdeckung mit Sanktionen belegt werden. Wie Untersuchungen der Forschungspraxis zeigen, widerspiegelt der restriktive Umgang mit Verstößen gegen das vorgängig beschriebene wissenschaftliche Transparenzideal nur eine Seite der Medaille. Daneben können bestimmte Typen wissenschaftlicher Intransparenz identifiziert werden, die man innerhalb der Scientific community keineswegs als problematisch erachtet, sondern als notwendige, funktionale Vorgehensweisen akzeptiert. Solche Typen akzeptierter wissenschaftlicher Intransparenz beziehen sich auf die Enstehung und Veröffentlichung wissenschaftlichen Wissens, wie der folgende Überblick zeigt: 58 (a) Intransparenz der Forschungsarbeit: Jedem Wissenschaftler wird im context of discovery ein intransparenter Freiraum zugestanden, in welchem er sich kreativ entfalten kann, ohne unter der Kontrolle der makrosozialen Wissenschaftsöffentlichkeit zu stehen. Da viele wissenschaftlich anerkannte Forschungsergebnisse durch die risikofreudige trial-and-error-Methode entstanden sind, wird eine solche Intransparenz gegenüber der Wissenschaftsgemeinschaft zu diesem frühen Zeitpunkt der Forschungsarbeit als Voraussetzung für die Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnisse angesehen und akzeptiert. 59 Unter die akzeptierte Intransparenz fällt auch das 58 Weitere Typen akzeptierter Intransparenz im Wissenschaftssystem bleiben unberücksichtigt: Etwa beim wissenschaftlichen Begutachtungsverfahren (Peer Review) wird Intransparenz im Sinne der Anonymität der Gutachter als Notwendigkeit für eine unabhängige und objektive Beurteilung erachtet; andernfalls befürchtet man Einflussnahmen und Repressalien. Die Kritik des Gutachterwesens konzentriert sich gerade auf seine Intransparenz, die als Deckmantel für unfaire Bewertungen diene und es verhindere, unredliche Gutachter zur Verantwortung zu ziehen; vgl. Bingham (2000), der alternative Review-Methoden (z.B. open peer commentary) vorstellt und ausführlich diskutiert. 59 Bok (1984, 159) beschreibt die epistemische Bedeutung einer intransparenten Forschung zutreffend: „Creativity requires freedom to do the unexpected, to risk failure, to pursue what to others might seem fetched and even pointless. Whenever people know that their unfinished work will have to be exposed, its nature changes subtly. Just as the diaries writers intend from the outset to publish differ from those meant to <?page no="161"?> 3.1. Die wissenschaftsinterne Kommunikation 157 Zurückhalten von Hypothesen, bis der Forscher fehlerhafte Daten oder Ergebnisse ausräumen, weitere unterstützende Belege nachweisen bzw. eine überzeugende Argumentation entwickeln kann, sowie zufällig beobachteter Ergebnisse, die in nachfolgenden Projekten überprüft und veröffentlicht werden sollen. 60 Wird wissenschaftliche Intransparenz gegenüber der Wissenschaftsgemeinschaft temporär beim Forschungsprozess gedultet, besteht eine grundlegend andere Situation, wenn der leitende Forscher den Forschungsprozess für abgeschlossen hält. Dann gilt rückwirkend das beschriebene Prinzip der Transparenz, so dass die vorläufigen Erkenntnisse den context of justification betreten können. Demzufolge können zwei Phasen der wissenschaftsinternen Kommunikation unterschieden werden: „In the early stages of research, ideas are developed, data collected, experiments and analyses run. Communication is primarily with collaborators, colleagues, and trusted peers-individually or in small groups. This is the realm of ‚private science‘ - which has a strong link to the idea of private ‚ownership‘ of research and intellectual property. Some time later, the researcher ‚goes public‘ - research results are presented in larger open colloquia (oral communication) or in letters and full articles (written). This is the arena of ‚public‘ science - the implication here is the need for dissemination of and access to information, and traditionally, there is also the expectation that information about the research will be provided upon request.“ 61 Die Zweiteilung ist auf das wissenschaftliche „Belohnungssystem“ zurückzuführen. Wissenschaftler können bei einer Erstveröffentlichung geistige Eigentumsrechte bzw. Eponymie, Zitation und Referenz beanspruchen, was ihre Reputation mehrt. Um die Erstveröffentlichung zu sichern, halten sie die Ergebnisse so lange geheim, bis entsprechende Datenerhebungen und Ergebnisauswertungen abgeschlossen sind. (b) Intransparenz durch Einflussnahme auf die Forschungsarbeit: Bei der Entstehung wissenschaftlicher Erkenntnisse werden bestimmte Umgangsweisen, die zu Intransparenz führen können, als eine legitime Praxis angesehen. Dies lässt sich am Beispiel der Datenselektion im naturwissenschaftlich-biomedizinischen Kontext verdeutlichen. 62 Durch die Verwenbe kept secret, so scientists’ outlines and drafts and diagrams differ if overseen by others. Not only do they tend to be more elaborate; they are often efforts to legitimize the undertaking and may therefore slip into certain hypocrisy.“ 60 Vgl. Resnik (2007, 101). In Erwartung einer wissenschaftlichen Kontroverse sammelte beispielsweise Darwin über 20 Jahre Belege für die Stützung seiner Evolutionstheorie, bevor er diese veröffentlichte. 61 McCain (1991, 497), die sich auf die Studie von Garvey (1979) bezieht. Diese Zweiteilung der Forschung wird von vielen Autoren akzeptiert; vgl. Resnik (1999, 164), sowie das Committee on Science Engineering and Public Policy (1995, 10). 62 Ich beziehe mich nachfolgend auf die Ausführungen von Mayntz (1999, 60f. und 67f.) und Spier (1998, 19) für die genannten Beispiele legitimer Datenselektion. <?page no="162"?> 3. In-/ Transparenz in der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschung 158 dung biologischen Materials (biologische bzw. humane Organismen bzw. Zellen) sind die experimentellen Befunde keineswegs eindeutig. Sofern ein Wirkzusammenhang nicht deterministisch, sondern stochastisch festgestellt werden kann, ergibt sich bei größeren Versuchsreihen eine Schwankungsbreite der Befunde, die der Auswertung und Interpretation bedürfen. Da es weder notwendig noch sinnvoll ist, alle erhobenen Daten eines Experiments bei der Analyse zu berücksichtigen, kann eine Datenselektion bei ihrer Auswertung zu den „Regeln der Kunst“ gehören und als legitime „Vereinfachung“ angesehen werden. Beispielsweise produziert ein Forscher bei der Etablierung eines Experiments eine Masse unspezifischer Daten, die er anschließend verwirft. Durch die Modifikation des Versuchsaufbaus beeinflusst er sukzessive die Quantität und Qualität der gewonnenen Daten, um keine unspezifischen, zufälligen und nicht-objektgebundenen Effekte zu analysieren. Selbst bei einem etablierten Setting kann sich ein Forscher dazu entscheiden, einzelne oder alle Daten einer Messreihe angesichts ihrer großen Varianz zu verwerfen, sofern er methodisch legtimierte Gründe anführen kann: 63 Entweder sind sie als methodenspezifische Artefakte zu identifizieren („Hintergrundrauschen“) oder nachträglich auf konkret bestimmbare Meßfehler zurückzuführen (z.B. Verunreinigungen der Proben). Die Selektion statistischer Abweichler ist in Befolgung der statistischen Methodologie legitim, wenn sie das Endergebnis nicht verändert und Zusammenhänge zwischen Variablen klären hilft. Eine lückenlose Darstellung widersprüchlicher Befunde würde hingegen die Gewinnung und Erweiterung wissenschaftlichen Wissens be- oder verhindern. 64 Sofern sich mittels derselben Argumente hypothesenwiderlegende Messergebnisse entfernen lassen, wird der Graubereich zwischen einer sorgfältigen wissenschaftlichen Interpretation und einer problematischen Intransparenz sichtbar. 65 (c) Intransparenz durch Einflussnahme auf die Veröffentlichungspraxis: Gleichwohl wissenschaftsintern umstritten, 66 wird bei zahlreichen Auf- 63 Dies betont Resnik (2000 und 2007, 93). 64 Aus dem gleichen Grund werden zeitintensive Versuchswiederholungen „eingespart“, wie die MPG (2000b, 33) und Strohm (2002, 53) einräumen. 65 Resnik (1999, 54f.) konstatiert: „[T]here is some disagreement about the seriousness of misrepresentation because the line between misrepresentation of data and good methodology is sometimes ambiguous […] Scientists sometimes have good reasons for eliminating or ignoring recalcitrant data; a certain amount of trimming can be a part of good scientific practice. […] It is even acceptable to design tests in order to get positive results, so long as one does not avoid tests that might yield negatives ones. Since there are no explicit rules for trimming data sets, choosing statistical methods, or for designing tests or experiments, scientists must exercise their judgement in deciding how to collect and analyze data.“ 66 Entstehen bei externen Forschungskooperationen Konfliktsituationen, in denen Kommerzialisierungsinteressen der vollständigen Offenlegung von Forschungsquellen <?page no="163"?> 3.1. Die wissenschaftsinterne Kommunikation 159 tragsforschungsprojekten unter Absprache mit dem Auftraggeber temporär Intransparenz gegenüber der Wissenschaftsgemeinschaft praktiziert. Bei der industriefinanzierten Forschung werden Erkenntnisse solange geheim gehalten, bis sie zur Patentierung gebracht werden, um Unkosten der Forschung zu amortisieren bzw. Gewinne zu verzeichnen. Bei der Patentierung garantiert der Staat dem Erfinder eines Produktes das zeitlich begrenzte Monopol auf Herstellung, Benutzung und Vermarktung der Erfindung (Verwertungsmonopol) und schließt andere Personen von der kommerziellen Nutzung aus. 67 Da die Veröffentlichung eine formell-juristische Voraussetzung für die mögliche Patentierung ist, stellt die potentielle Patentierung im Bereich der Innovationsforschung einen wirtschaftlichen Anreiz für wissenschaftliche Transparenz dar. Das juristische Patentierungsverfahren kann demzufolge chronologisch in eine intransparente Prä- und transparente Post-Patentierungsphase unterteilt werden. Doch der Anreiz für eine Veröffentlichung ist nur bei Produkten wirksam, die sich rechtlicherseits patentieren lassen. Davon abgesehen werden aus wirtschaftlichem Interesse Erfindungen und Entdeckungen, die der Firmenentwicklung schaden können, dauerhaft geheim gehalten. 68 (d) Intransparenz durch black-boxing: Die Vorgänge und Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung werden aus epistemologischen und pragmatischen Gründen über die Zeit hinweg sukzessive intransparenter, was unter dem Begriff des black-boxing verhandelt wird. 69 Wie schon auf informeller Ebene gebilligt wird, dass wissenschaftliche Informationen weggelassen werden (z.B. kleinere Abweichungen von Protokollen), 70 müssen Reduktionen und Selektionen bei einer formellen Veröffentlichung in Fach- und -ergebnissen entgegenstehen, empfiehlt die MPG (2000b, 46f.) ihren Mitgliedern einen Verzicht auf die Kooperation. 67 Vgl. Fuchs u.a. (2010, 137ff.) und Resnik (2007, 137ff.) für eine systematische Darstellung des deutschen bzw. amerikanischen Patenrechts. 68 Vgl. Resnik (2007), der in seiner ausführlichen Monographie anhand zahlreicher Beispiele (z.B. der Tabakforschung) die Korrumpiertheit der Wissenschaften durch wirtschaftliche Interessen analysiert. Gerade der Kampf um Drittmittel macht sie dafür besonders anfällig. 69 Das Konzept des black-boxing, das auf Latour (1987, 2f. und 81f.) zurückgeht, beschreibt Jasanoff (2006, 35f.) als „the consolidation of scientific theories and claims, as well as of technological systems, into entities that resist being pulled apart, or seen through, once they become stable or established. The ‚facts‘ of science and the products of technological systems become resistant in this way when they are backed by sufficiently strong coalitions of actors, institutions, norms, practices, and artifacts. Once this condition is attained, the means by which facts were produced or artifacts took on particular shapes, however contested these means may once have been, are eventually boxed up and made invisible in everyday social interaction. The process of producing science becomes less transparent with the passage of time.“ Die folgenden Überlegungen zum black boxing gehen ebenfalls auf ebd. (36) zurück. 70 Vgl. Strohm (2002, 53). <?page no="164"?> 3. In-/ Transparenz in der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschung 160 zeitschriften in Kauf genommen werden. Etwa bei Methodenbeschreibungen ist es üblich, etablierte Protokolle nicht weiter zu erläutern, sondern lediglich auf die Erstbeschreibung der Methode zu verweisen. Formelle und inhaltliche Auflagen zur Wahrung des limitierten Darstellungsraums können dazu führen, dass bestimmte Daten oder Interpretationen bei einer Publikation weggelassen, vereinfacht dargestellt oder modifiziert werden. 71 Ab einem gewissen Bewährungsgrad werden wissenschaftliche Erkenntnisse von nachfolgenden Wissenschaftsgenerationen ohne Rekonstruktion des gesamten Entstehungsprozesses übernommen und stellen in einer simplifizierten Form die Grundlage für die eigene Arbeit dar; diese Art von Intransparenz trifft auch auf Erkenntnisse zu, die es bereits in die wissenschaftsexterne Öffentlichkeit geschafft haben (z.B. die Verursachung von Krebs durch Tabakrauchen). Insgesamt ist es unstrittig, dass das blackboxing für den wissenschaftlichen Fortschritt und eine Anwendung des Wissens notwendig und legitim ist, 72 gleichwohl die Gefahr der schiefen Ebene nicht ignoriert werden sollte: Werden solche „Einsparungen“ systematisch durchgeführt, kann dies zu einer Unterwanderung des wissenschaftlichen Transparenzideals führen. Auch aus wissenschaftsphilosophischen Gründen kann es durchaus sinnvoll sein, die Black Box robuster wissenschaftlicher Erkenntnisse zu öffnen, um etablierte methodologische Schwächen zu entdecken und letztlich den Boden für wissenschaftlichen Fortschritt zu bereiten. (e) Sonstige Intransparenzen: Intransparenz gegenüber einer wissenschaftlichen Öffentlichkeit wird bei vertraulichen Informationen geduldet, z.B. bei Forschungsanträgen oder eingereichten Veröffentlichungen innerhalb des Begutachtungsverfahrens und vor allem bei personenbezogenen Informationen, die bei wissenschaftlichen Experimenten erhoben werden. 73 Die erläuterten Beispiele zeigen, dass eine Intransparenz hinsichtlich der Methoden und Ergebnisse zumeist temporär akzeptiert wird, solange ihre Veröffentlichung zu einem späteren Zeitpunkt erstrebt wird. Unter den genannten Bedingungen stellen die genannten Typen temporärer Intransparenz nicht das Transparenzideal der wissenschaftlichen Forschung in Frage. Das wissenschaftliche Belohnungssystem sowie das Patentrecht 71 In einem klassischen Aufsatz kritisiert Medawar (1963), dass eine typische Veröffentlichung in Fachzeitschriften eine absichtliche Fehldarstellung der Untersuchungs- und Interpretationsschritte im Labor bedeute; die Veröffentlichung stelle eine klare, erfolgreiche Forschung dar, während zahlreiche Probleme und Fehler, die bei jeder Arbeit entstünden, verschwiegen würden. Vgl. auch Whitbeck (1998, 839) für die Problematik, dass die Darstellung wissenschaftlicher Methoden (z.B der Datenerhebung) und Ergebnisse häufig zugunsten der Diskussion der Ergebnisse gekürzt wird. 72 Nach Polanyi (1969, 140) würde ein konsequentes Hinterfragen alles geltenden Wissens dieses seiner Funktion berauben. 73 Vgl. nochmals Resnik (1999, 97ff.). <?page no="165"?> 3.1. Die wissenschaftsinterne Kommunikation 161 schaffen ideelle oder materielle Anreize, wissenschaftliche Erkennntisse zu veröffentlichen und die Zeitdauer bis zur Veröffentlichung kurz zu halten. Gleichwohl besteht die Gefahr einer schiefen Ebene, da unklar ist, wie lange das temporäre Zurückhalten von wissenschaftlichen Informationen zulässig sein soll. 74 Um Verwechslungen zwischen problematisierten und akzeptierten Intransparenztypen zu vermeiden wird der Begriff der wissenschaftlichen Intransparenz eingeführt und ausschließlich auf erstere Typen eingeschränkt. Mit anderen Worten: Wissenschaftliche Intransparenz wird verursacht, wenn ein Forscher Daten, Methoden oder Ergebnisse durch Einflussnahmen auf die methodischen Schritte der Datenauswertung und -interpretation manipuliert und dauerhaft zurückhält, die für die Gewinnung und Erweiterung wissenschaftlichen Wissens relevant sind. 3.1.4. Nachweisbarkeit und Prävalenz wissenschaftlicher Intransparenz Gleichwohl eine theoretische Grenzziehung zwischen den akzeptierten und problematisierten Typen von Intransparenz beim naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschungshandeln expliziert wurde, gestaltet sich die Nachweisbarkeit wissenschaftlicher Intransparenz als äußerst schwierig: 75 (a) Wir haben festgestellt, dass Methoden der Datenanalyse und -interpretation, mit deren Hilfe man ebenso wissenschaftliche Intransparenz verursachen kann, legitim sind, sofern sie der Gewinnung und Erweiterung wissenschaftlichen Wissens dienen. Entsprechend kann z.B. Datenselektion sowohl zur sorgfältigen Analyse als auch zur Verursachung wissenschaftlicher Intransparenz genutzt werden, was die Nachweisbarkeit von absichtlicher Intransparenz erschwert: Während die Datenselektion bei Forscher A auf eine beabsichtigte Verzerrung der Ergebnisse zurückzuführen ist, meint Forscher B eine anerkannte Methodologie zu verwenden. Sofern die Datenauswertung und -interpretation einen Spielraum zulässt, ist für eine sorgfältige wissenschaftliche Arbeitsweise eine langjährige Einübung, Erfahrung und Urteilskraft vorauszusetzen. Illegitime Intransparenz kann zumeist nur von Fachkollegen - teilweise erst bei einer Replikation des Versuchs - beurteilt werden. Kontroversen über den Tatbestand sind nicht 74 Vgl. Munthe/ Welin (1996, 417): „At the same time, it must be noted that indefinite withholding is just an extreme on a continuum, and that also temporary withholding may continue for such a long time that it impedes the progress of science. […] In other words, the concept of temporary withholding is something of a slippery slope and the prospect of drawing a reasonably sharp boundary for how long scientific information can be withheld without threatening the progress of science does not appear very promising.“ 75 Vgl. Smith (2000), dessen Überlegungen auf die Fälle „wissenschaftlicher Intransparenz“ bezogen und erweitert werden. <?page no="166"?> 3. In-/ Transparenz in der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschung 162 auszuschließen. 76 Angesichts eines Interpretationsspielraums ist dringend zwischen wissenschaftlicher Unredlichkeit und wissenschaftlicher Uneinigkeit (Kontroverse) zu unterscheiden. 77 Wissenschaftliche Intransparenz bewegt sich demzufolge auf einem Kontinuum zwischen pragmatischer Vereinfachung, wissenschaftlichem Irrtum, unsauberer Arbeitsweise und absichtlicher Täuschung, was eine Beweisführung erschwert und teilweise unmöglich macht. 78 Paradoxerweise können bestimmte Typen von Intransparenz nur durch Offenheit und wechselseitige Kritik in der Forschung identifiziert werden. Dies kann jedoch nicht von einer moralischen Verantwortung dispensieren, wenn es sich ein Forscher absichtlich zu nutzen macht, ambivalente und interpretationsfähige wissenschaftliche Resultate tendenziös zu interpretieren. (b) Bei den Typen von Intransparenz, die keinen Spielraum der Interpretation zulassen (z.B. das Verheimlichen von Studien), ist die Entdeckung und der Nachweis nicht wesentlich einfacher, da die Studiendurchführung und Datenerhebung in der Regel unbekannt ist. Paradoxerweise muss der Delinquent bestimmte Informationen zur Verfügung stellen, damit wissenschaftliche Intransparenz verfolgt werden kann: Entweder hat er sein Studienvorhaben formell in einem Studienregister aufnehmen lassen, so dass sich prinzipiell überprüfen lässt, wie viele Studien oder Studienergebnisse tatsächlich veröffentlicht werden. 79 Eine solche Registrierung ist allerdings nur lückenhaft verpflichtend: So ist nicht in allen Fachzeitschriften eine Registrierung die Voraussetzung für eine Veröffentlichung; 80 nicht 76 Selbst die Forschungsarbeit Newtons ist umstritten: Westfall (1973, 751) beschreibt in seiner Studie, wie Newton in systematischer Weise Meßwerte (z.B. Schallgeschwindigkeit, komparative Anziehungskräfte von Sonne und Mond auf die Erde) an die Berechnungen aus seiner Theorie angepaßt hat, um jene empirische Genauigkeit zu erreichen, die in den Augen der Zeitgenossen das stärkste Argument gegen die Cartesische Theorie darstellte. Wenn Fischer (2004) Newtons Vorgehen innerhalb eines Graubereichs für legitime wissenschaftliche Rhetorik zur Durchsetzung seiner Theorie hält, sieht man deutlich die Kontroversität, die mit der Nachweisbarkeit wissenschaftlicher Intransparenz verbunden ist. 77 „In dem Maße, in dem Daten interpretationsbedürftig sind, kann und wird über die ‚richtige‘ Interpretation gestritten, bzw. bei komplexen Zusammenhängen wird darüber gestritten, ob tatsächlich die wichtigsten Kausalfaktoren identifiziert wurden“, konstatiert Mayntz (1999, 60f.). Daher ist es laut Resnik (1999, 78) wenig sinnvoll, einen Forscher der Unredlichkeit zu bezichtigen, solange keine Einigkeit über zulässige Forschungsmethoden erzielt wurde. 78 Vgl. Völger (2006, 31). 79 Aus einer exemplarischen Analyse von Lee u.a. (2008) geht hervor, dass von 900 Studien, die bezüglich 90 neu zugelassener Medikamente in den USA durchgeführten wurden, auch 5 Jahre nach der Zulassung nur 43% veröffentlicht wurden. 80 Das International Committee of Medical Journal Editors (ICMJE) verlangt seit 2004 für eine Publikation in seinen Fachzeitschriften die prospektive Registrierung von klinischen Studien in akkreditierten Registern; vgl. http: / / www.icmje.org/ publishing_10 <?page no="167"?> 3.1. Die wissenschaftsinterne Kommunikation 163 in allen Ländern wird die Zulassung von biomedizinischen Maßnahmen von einer vorgängigen Registerierung abhängig gemacht. 81 Oder der Forscher gewährt Zugang zur Dokumentation (z.B. Laborbuch) des Forschungsprojektes, in der vorab protokolliert wurde, welche Studien geplant und welche Ergebnisse tatsächlich gemessen und ausgewertet wurden; diese Aufzeichnungen können dann mit späteren Veröffentlichungen verglichen werden. 82 Insgesamt ist man auf die Kooperationsbereitschaft des möglichen Delinquenten angewiesen, worauf man bei einer beabsichtigten Intransparenz nicht bauen kann. Selbst bei einer Entdeckung ist ein absichtliches Fehlverhalten schwierig zu beweisen, da sich der verdächtigte Wissenschaftler auf einen unabsichtlichen Fehler berufen kann. 83 (c) Abgesehen von ihrer inhaltlichen Beurteilung können die genannten Typen illegitimer Intransparenz auch praktischerseits meist nur von Fachkollegen bzw. Mitarbeitern entdeckt werden, die im engen Kontakt zum Delinquenten stehen. Nur die Wissenschaftsgemeinschaft ist in der Lage, Intransparenz aufzudecken, anzuklagen und zugleich zu richten. Da das „Verpfeifen“ (Wistle-blowing) durch Kollegen als Verstoß gegen den Ehrenkodex aufgefasst wird, ist die Neigung in den korporatistisch verfassten Wissenschaften, wissenschaftliche Intransparenz aufzudecken und zu sanktionieren, nicht besonders hoch. 84 (d) Wissenschaftliche Intransparenz liegt nicht ausschließlich im Verantwortungsbereich des Forschers. Wir haben bereits das pragmatisch notwendige Phänomen des black-boxing kennengelernt, welches die wachsende Intransparenz wissenschaftlicher Informationen durch den Tradierungsprozess beschreibt und bereits auf der Ebene der wissenschaftlichen Publikation wirksam ist. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass nicht alle qualifizierten Forschungsergebnisse, die zur Publikation gebracht werden wollen, auch wirklich publiziert werden. Hierbei ist der Einfluss von Gutachregister.html, Zugriff am 21.7.2011. Trotzdem konnten Mathieu et al. (2009) zeigen, dass 31% der in den beteiligten Journals publizierten Studien selektive Ergebnisse beinhalteten, 28% nicht in der US-amerikanischen Datenbank registriert und 54% der untersuchten Registrierungen falsch waren. 81 In den USA müssen seit 2007 nach dem U.S. Public Law 110-85 klinische Studien für zugelassene Arzneimittel auf der Internetdatenbank ClinicalTrials.gov veröffentlicht werden; in der EU wird eine Studienregistrierung in der seit 2004 bestehenden EudraCT-Datenbank durch die Richtlinie 2001/ 20/ EG bloß nahegelegt. 82 Solche Analysen von klinischen Studien zeigen, dass in 40-60% der Fälle Ergebnisse weggelassen oder geändert wurden; vgl. Dwan u.a. (2008) und Chan et al. (2004). 83 Wie die MPG (2000b, 37) lakonisch feststellt, kann der Wissenschaftler im Unterschied zu Datenfälschungen bei einer intransparenten Veröffentlichung später entschuldigend auf unerwartete Schwierigkeiten verweisen. 84 Nach einer Studie von The Galluo Organization (2006) gaben von 4298 befragten Biomedizinern 164 an, in den Jahren 2003-2005 201 Fälle wissenschaftlichen Fehlverhaltens beobachtet zu haben; 58% der Verdachtsfälle wurden den Behörden gemeldet. <?page no="168"?> 3. In-/ Transparenz in der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschung 164 tern und Herausgebern nicht zu unterschätzen, die mit ideologisch beeinflussbaren Publikationsentscheidungen eine Intransparenz bestimmter Ergebnisse verursachen können. 85 Vor dem Hintergrund der schwierigen Identifikation und Nachweisbarkeit illegitimer Intransparenz bleibt der letzte moralische Bezugspunkt der Forscher bzw. seine zielgerichtete Absicht, mit der er wissenschaftliche Informationen zurückhält oder verschleiert: „If a scientist trims data with the intent of deceiving other people; then he is being dishonest; if he trims data with the intent of reporting results in a clear fashion, then he is not. If a scientist uses statistical techniques in order to give a clear and objective picture of the data, then she is acting ethically; if she uses statistics simply as a rhetorical device to deceive her audience, then she is acting unethically. Of course, it is not always easy to determine a person’s intentions.” 86 Eine Folge davon ist, dass nur gravierende Fälle wissenschaftlicher Intransparenz entdeckt und sanktioniert werden. Während zweifelsfrei nachgewiesene Fälle selten sind, bleiben geringfügige Unregelmäßigkeiten meist unentdeckt und werden bei ihrer Bekanntgabe oft nicht weiter verfolgt. Denn das Ausnutzen von Interpretationsspielräumen bei wissenschaftlichen Befunden - auch unter der Gefahr, Fehler zu begehen - wird als ein notwendiger Bestandteil der Forschungsarbeit akzeptiert, da andernfalls keine Entdeckungen vorgelegt und gegebenenfalls bestätigt werden können. 87 Dies entspricht dem üblichen Umgang in der Wissenschaft: Erst bei nachweislichem Vorsatz werden anstößige Handlungsweisen als „wissenschaftliches Fehlverhalten“ angesehen und sanktioniert. Entsprechend findet sich nur das absichtliche Verheimlichen bzw. Auslassen (omitting) von wissenschaftlichen Informationen (z.B. von Primärdaten, Ergebnissen, Finanzierungsquellen etc.) in der klassischen Typologie „wissenschaftlichen 85 Kevles (1996) zeigt in einer aufschlussreichen Studie, wie Gatekeeper an Schlüsselstellen der Veröffentlichungspraxis eine Publikation neuer Ideen zu verhindern wissen, die vom wissenschaftlichen Konsens abweichen; für Fischer (2004) stellt dieser strukturell begründete, autokatalytische Dogmatismus „eine[r] der gefährlichsten Fehlfunktionen der Wissenschaft“ dar. Lubek/ Apfelbaum (1987) interpretieren diese Möglichkeit im Rahmen wissenschaftlicher Paradigmenwechsel. 86 Resnik (1999, 55). 87 Vgl. z.B. ebd., 54 und Smith (2000). Den wohlwollenden Umgang mit Unregelmäßigkeiten führt Weingart (2006, 142) auf die Besonderheit der wissenschaftlichen Wissensproduktion zurück; dort hätten Versuch und Irrtum eine ebenso wichtige Funktion für die Forschung „wie die richtigen Vermutungen und Lösungen, die zumeist ja erst das Ergebnis von Versuch und Irrtum sein können. Auch die Grenze zwischen der Weitergabe von Ideen und dem Diebstahl geistigen Eigentums ist deshalb so dünn, weil der Bezug auf die Ideen anderer der Normalfall wissenschaftlicher Kommunikation ist.“ <?page no="169"?> 3.1. Die wissenschaftsinterne Kommunikation 165 Fehlverhaltens“ wieder. 88 Diese nimmt beim Erfinden (fabrication) von Materialien, Methoden, Rohdaten und Forschungergebnissen ihren Ausgang, leitet zu ihrer Verfälschung bzw. Manipulation (falsification) über und endet beim fahrlässig fehlerhaften Arbeiten bzw. bei der Verletzung der Sorgfaltspflicht (z.B. vom Versuchsprotokoll abweichender Aufbau einer Versuchsanordnung, fehlerhaftes Ablesen und Auswerten von Messdaten, nachlässiger Umgang mit der Dokumentation im Laborbuch). 89 Wird der Begriff des wissenschaftlichen Fehlverhaltens de facto lediglich auf Fälle von bewusster, grob fahrlässiger und schwerwiegender Intransparenz angewandt, entsteht ein rechtlicher und moralischer Freiraum. 90 Entsprechend liegen die Barrieren niedriger als bei anderen Verstößen gegen die „gute wissenschaftliche Praxis“. 91 Der laxe Umgang mit illegitimer Intransparenz innerhalb der Wissenschaften überrascht, da sie langfristig stärker in Bedrängnis gebracht wird als etwa durch Fälschungen. Im Unterschied zu letzteren, die spätestens bei einer Replikation des Experiments oder bei einer Verwendung der falschen bzw. nicht-funktionierenden Ergebnisse im Anschlussexperiment aufgedeckt werden, 92 verlängert wissenschaftliche Intransparenz den Forschungsprozess künstlich, bevor die fehlenden Erkenntnisse ergänzt, im wissenschaftlichen Beglaubigungsprozess überprüft und Interpretationen korrigiert werden. Indem die Forschung durch ungedeckte Interpretationen gegebenenfalls auf falsche Bahnen gelenkt wird, werden personelle und finanzielle Ressourcen vergeu- 88 Vgl. z.B. Chalmers (1990), Ottermann (2004, 455) und Pearn (1995). 89 Zu ergänzen ist das Wissenschaftsplagiat (plagiarism; falsche oder fehlende Quellenangaben, Veröffentlichung fremder Forschungsergebnisse unter eigenem Namen). In der amerikanischen Literatur wird „wissenschaftliches Fehlverhalten“ (scientific/ research misconduct) geradezu mit der Trias falsification - fabrication - plagiarism (FFP) beim Beantragen, Durchführen und Begutachten von Forschungsprojekten bzw. bei der Veröffentlichung von Ergebnissen gleichgesetzt; vgl. Office of Science and Technology Policy (2000). 90 Dies monieren Martin (1992) und Strohm (2002). Toleriert die Wissenschaft ein zu breites Spektrum an „Unregelmäßigkeiten“, warnt Fischer (2004) vor folgender Entwicklung: „[D]ie Zahl der Nachlässigkeiten steigt, weil es sich nicht lohnt, sorgfältig zu arbeiten; die wechselseitigen Kontrollen werden noch schlechter als bisher funktionieren, weil selbst nachgewiesene Fehler und Schludrigkeiten keine Folgen für die Urheber haben; es kommt zu einer Zunahme des Gebrauchs methodisch fragwürdiger bis abenteuerlicher Praktiken des Experimentierens, Argumentierens und Präsentierens.“ Aufgrund des Gewöhnungseffekts werde der Kampf gegen wissenschaftliches Fehlverhalten nicht bei skandalösen Betrugsfällen, sondern in der „Grauzone“ ausgetragen, befindet ders. (2007a, 4). 91 Etwa Whitbeck (1998, 835ff.) sieht im Datenbeschönigen ein fahrlässiges, aber kein betrügerisches Verhalten. Mayntz (1999, 62) erläutert eine solche Position: „Fälschung verlangt schließlich immer einen bewußten Akt, Verfälschungen [z.B. Intransparenz; RB] jedoch kann auch vorkommen, wenn der Wissenschaftler von der Richtigkeit seiner verzerrten oder selektiven Interpretation völlig überzeugt ist.“ 92 Vgl. Gläser (2004, 478). <?page no="170"?> 3. In-/ Transparenz in der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschung 166 det. Neben den dysfunktionalen Folgen für den wissenschaftlichen Progress dürfen spezifische Konsequenzen einer Intransparenz im naturwissenschaftlich-biomedizinischen Bereich nicht vergessen werden: Verheimlichte Studien (z.B. solche, die belegen, dass ein Arzneimittel nicht das erhoffte Ergebnis gebracht hat, wirkungslos oder sogar schädigend ist) können nicht bei einer Entscheidung über die Anwendbarkeit von Behandlungsmethoden herangezogen werden. Noch gravierender sind die Folgen einer selektiven Veröffentlichung von Studien mit einer signifikanten Übervorteilung positiver Studienergebnissen. Da Studien eine grundlegende Informationsquelle in wissenschaftlichen Beratungssituationen sind, kann von einer „systematischen Fehlleitung“ verschiedener biomedizinischer Entscheidungen bzw. der diesen Entscheidungen zugrunde liegenden Nutzen-Schaden-Abwägung gesprochen werden. 93 Durch das Vorliegen von vermeintlich verlässlichen empirischen Studien werden der Nutzen bzw. die Wirksamkeit einer Behandlungsmethode überschätzt bzw. der mögliche Schaden unterschätzt. 94 Solche Fehlleitungen führen letztendlich zu einer mangelhaften Aufklärung der potentiellen Anwender von biomedizinischen Maßnahmen. Enscheiden jene sich möglicherweise für die Durchführung einer Maßnahme, deren Nutzenpotential sie über- und Schadenspotential unterbewerten, kann dies negative bzw. gefährliche gesundheitliche Auswirkungen haben. Angesichts der problematischen Nachweisbarkeit müssen dringend neue Wege im Umgang mit wissenschaftlicher Intransparenz gefunden werden. Die Dringlichkeit ergeht auch aus der hohen Prävalenz, wie eine aktuelle Analyse von Umfragen in der scientific community bezüglich des Vorliegens von wissenschaftlicher Intransparenz aus dem Jahre 2009 zeigt. 95 Bei dieser Analyse wurde die Anzahl von Wissenschaftlern aufgenommen, die mindestens einen Fall von Erfindung, Fälschung oder Modifikation von Daten, Ergebnissen und ihren Interpretationen bei sich oder bei Kollegen benennen konnten. 96 Dabei ergab sich folgendes Bild: 93 So Strech (2011, 179) in der bereits erwähnten ethischen Studie. 94 Vgl. Dwan et al. (2008) in ihrem Übersichtsartikel zu empirischen Intransparenzstudien. 95 Mit der Studie von Fanelli (2009) liegt eine systematische Übersichtsdarstellung vor, bei der die Ergebnisse von 21 quantitativen Umfragen (veröffentlicht zwischen 1987 und 2008) unter aktiven Wissenschaftlern unterschiedlicher Fachgebiete bezüglich wissenschaftlichen Fehlverhaltens meta-analysiert wurden. Da das Vorliegen von Intransparenz letztlich nur von den jeweiligen Forschern bzw. Mitarbeitern beurteilt werden kann, wird das quantitative Vorkommen wissenschaftlicher Intransparenz bestenfalls durch direkte Befragung der Beteiligten einschätzbar. 96 Als „Modifikation“ gilt in der genannten Studie z.B. Daten-Kochen, beabsichtigtes Nicht-Veröffentlichen von Ergebnissen, Veränderung der Methodologie oder einseitige Interpretation. <?page no="171"?> 3.1. Die wissenschaftsinterne Kommunikation 167 Durchschnittliches Vorkommen in mindestens einem Fall Verhaltensweise … bei sich … bei Kollegen Erfinden, Fälschen und Modifizieren von Daten, Ergebnissen und Interpretationen 2,6% (0,3-4,9%) 16,7% (5,2-33,3%) Modifizieren von Daten, Ergebnissen und Interpretationen 9,5% (0,9-33,7%) 28,5% (6,2-72%) Tabelle 2: Umfrageergebnisse von Fanelli (2009). Durchschnittlich 2,6% (0,3-4,9%) der Rezipienten gaben zu, mindestens einmal Daten und Ergebnisse erfunden, gefälscht oder modifiziert zu haben. Wurden die Forscher ausschließlich nach Typen wissenschaftlicher Intransparenz befragt, wie dem Modifizieren von Daten zur „Verbesserung“ der Ergebnisse, räumten im Durchschnitt 9,5% (0,9-33,7%) der Protagonisten solche Verfehlungen ein. 97 Gezielt befragt nach den Verhaltensweisen ihrer Kollegen, gaben sogar durchschnittlich 16,7% (5,2-33,3%) der Forscher an, das Erfinden, Fälschen oder Modifizieren in mindestens einem Fall beobachtet zu haben bzw. 28,5% (6,2-72 %) beschuldigten Kollegen wissenschaftlicher Intransparenz. Da nur mindestens ein Fall der befragten Verhaltensweisen aufgenommen wurde, ermöglicht die Analyse zwar nur eine sehr grobe Einschätzung des tatsächlichen Vorkommens derselben. 98 Sofern jedoch Delinquenten eher häufiger als nur einmal eine Verfehlung begehen, 99 und eher weniger als zu viele Fälle gemeldet werden, legt die Analyse insgesamt ein wesentlich höheres Vorkommen wissenschaftlichen 97 Bei dieser großen Varianz ist zu berücksichtigen, dass die Fragestellung nach dem Fälschen und Erfinden eindeutig ist, während diejenige nach der Modifikation Interpretationsspielräume zulässt. Ähnliche Zahlen nennt auch Martinson u.a. (2005) bei einer anonymen Umfrage unter mehr als 3000 US-Wissenschaftlern: Während Fälschungen selten sind (0,3% aller Fälle), gesteht jeder dritte Wissenschaftler andere problematische Handlungen ein; in 15,5% der Fälle werden Anpassungen der Ergebnisse oder der Methodik auf Druck der Geldgeber und in 18,5% der Fälle wird ein beschönigender Umgang mit widersprechenden oder zweifelhaften Daten eingeräumt. 98 Abgesehen davon sind bekannte Fehlerquellen von Umfragen zu benennen: Eigenes Fehlverhalten (z.B. durch den Mohammed-Ali-Effekt; vgl. Van Lange/ Sedikides 1998) wird regelmäßig unter-, das Fehlverhalten von Kollegen und Mitarbeitern (z.B. aus Missgunst) hingegen überschätzt; der höhere Wert erklärt sich außerdem dadurch, dass jeder Wissenschaftler zahlreiche Kollegen kennt und dadurch der Pool an potentiellen Delinquenten groß ist. 99 Wie Ariyan (1994) zeigt, neigen biomedizinische Wissenschaftler, die mit einmaligem unehrlichen Verhalten Erfolg hatten, zu Wiederholungstaten. <?page no="172"?> 3. In-/ Transparenz in der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschung 168 Fehlverhaltens bzw. wissenschaftlicher Intransparenz nahe, als bisherige Einschätzungen anderer Studien. 100 Gepaart mit dem Ergebnis, dass die befragten Verhaltensweisen signifikant häufiger in der medizinischen (klinischen und pharmakologischen) Forschung zugegeben wurden als in anderen Forschungsbereichen, 101 zeigt die Studie die Dringlichkeit einer Transparenzregulierung im Bereich der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschung. 102 3.1.5. Ätiologie wissenschaftlicher Intransparenz Unbewusste Bestätigungstendenzen eigener Überzeugung etwa durch selektive Informationssuche, -wahrnehmung und -interpretation sowie komplementäre Immunisierungsmechanismen gegenüber widersprechenden Befunden sind hinreichend bekannt und im Rahmen zahlreicher neurobzw. psychologischer Studien untersucht worden. 103 Aus der Einsicht, dass solche unwillkürlichen Abläufe massive Fehlerquellen der wissenschaftlichen Forschungsarbeit darstellen, resultiert der methodische und wissenschaftsethische Imperativ, erhöhte experimentelle und interpretatorische Sorgfalt walten zu lassen sowie intersubjektive Kontroll- und Korrekturmechanismen zu nutzen. 104 Der Schritt von der unabsichtlichen Selbsttäuschung zum bewussten „Schönen“ von Ergebnissen oder Verheimlichen widersprechender Studien ist indes nur ein sehr kleiner und wird in der Literatur auf unterschiedliche personelle und strukturelle Faktoren zurückgeführt: 105 Auf personeller Ebene sind neben charakterlichen Dispositionen des Forschers (z.B. Karrierestreben, Ehrgeiz, Arroganz, Angst um Reputationsverlust) vor allem persönliche, ideologische oder finanzielle Interessenkonflikte zu nennen, die im Verdacht stehen, die Fähigkeit des Einzelnen zu objektiver Forschung zu mindern und die Verursachung von wissenschaftlicher Intransparenz zu begünstigen. 106 Fokussiert man auf das Problemfeld fi- 100 Z.B. Steneck (2006) geht bei der Prävalenz des wissenschaftlichen Fehlverhaltens von rund 1% aus. 101 Dies gibt Raum für Spekulationen, ob im medizinischen Bereich eine höhere Sensibilität für die Problematik besteht oder ob größere finanzielle Interessen anzutreffen sind, die zu einer verzerrten Forschung führen; vgl. z.B. Bekelman u.a. (2003). 102 Auch der Ombudsman der DFG (2009, 6) stellt heraus, dass sich die meisten Fälle, bei denen ein Verfahren eingeleitet wurde, neben Autorenschaftsfragen auf falsche Interpretationen und unvollständige Darstellungen von Daten beziehen. 103 Vgl. die Literaturangaben in Kap. 2.4. 104 Vgl. z.B. Bunge (1967, 37). 105 Vgl. DFG (1998), MPG (2000b, 34ff.), sowie die Beiträge in MPG (2000a). 106 Nach der Association of American Medical Colleges (1990, 491) besteht ein Interessenkonflikt in Situationen „in which financial or other personal considerations may compromise, or have appearance of compromising, an investigator’s professional <?page no="173"?> 3.1. Die wissenschaftsinterne Kommunikation 169 nanzieller Interessenkonflikte sind strukturelle Faktoren, d.h. äußere Forschungsbedingungen und soziale Arrangements, hinreichend bekannt. 107 Das beeindruckende Wachstum der Wissenschaft, ausgedrückt in der Anzahl der aktuell forschenden Wissenschaftler und den Ausgaben für Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen, begründet eine hohe finanzielle Abhängigkeit von externen Geldgebern. 108 Hierbei ist vor allem an den naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschungsbereich zu denken - einen der schnellstwachsenden und bestgeförderten Sektoren. 109 Bei wachsender Anzahl konkurrieren immer mehr aktive Forscher um zwar steigende, aber stets knappe Gelder, die eine immer teurer werdende Forschung finanzieren sollen. Unabhängig davon, ob die Ressourcenzuteilung vom Staat oder der Wirtschaft erfolgt, gerät die wissenschaftliche Forschung unter einen massiven Legitimisierungsdruck, der zunehmend zu einer Orientierung an ökonomischen Kriterien der Anwendbarkeit, Effizienz, Wettbewerbsvorteil und Vermarktung führt. 110 Wissenschaftler müssen sich mit veränderten Rahmenbedingungen wie Kurzzeitverträgen und singulären Projektförderungen arrangieren, so dass sich das latente Problem finanzieller Interessenkonflikte zu einem manifesten Problem transfomiert. 111 judgement in conducting or reporting research. The bias […] affects not only collection, analysis and interpretation of data, but also the hiring of staff, procurement of materials, sharing of results, choice of protocol, and use of statistical methods. Conflicts of interest […] are particulary important to consider in biomedical and behavioural research because of the impact such conflicts can have on human health.“ Vgl. Flanagin (2000), die das Phänomen des Interessenkonflikts in der biomedizinischen Forschung prägnant darstellt und Lösungsansätze diskutiert. 107 Etwa für Krimsky (2003) hat der Druck, Ergebnisse nicht zu veröffentlichen, in den letzten Dekaden durch die Ökonomisierung der Wissenschaft zugenommen. 108 Gemäß der klassischen Studie von de Solla Price (1974), die sich primär auf die Anzahl an Publikationen stützt, war jede Verdopplung der Bevölkerung zwischen 1650 und 1950 mindestens mit einer Versechsfachung der Wissenschaftlergemeinschaft verbunden. In der Bundesrepublik haben sich die Ausgaben für den Bereich der „Forschung und Entwicklung“ zwischen 1981 und 2008 mehr als verdreifacht, wobei die Wirtschaft den Hauptteil der Forschungsausgaben trägt; vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF 2011, 10 und 14). Kölbel (2002) zeigt, dass sich die deutschen Forschungsausgaben bei einem hyperbolischen Verlauf nunmehr im Übergang zu einer Sättigungsphase befindet. 109 Vgl. nochmals BMBF (2011). Auch in den USA ist ein dominierendes Wachstum in der biomedizinischen Forschung zu verzeichnen: Die Investitionen stiegen von 37 Milliarden US-Dollar 1994 auf 94 Milliarden im Jahre 2003 an; vgl. Resnik (2007, 5). 110 Vgl. Weingart (2001, 175) und Ziman (1994). 111 Das Vorkommen von Interessenkonflikten ist im biomedizinischen Bereich relativ häufig: Z.B. Friedman/ Richter (2004) analysierten alle 398 Originalarbeiten, die 2001 im New England Journal of Medicine und im JAMA veröffentlicht wurden, bei denen in 38,7% ein Interessenkonflikt vorlag; Baethge (2008) zeigt für das Deutsche Ärzteblatt, dass in den Jahren 2006/ 7 bei 31,4% der 207 Original- und Übersichtsartikel finanziel- <?page no="174"?> 3. In-/ Transparenz in der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschung 170 Es lässt sich folgender Zusammenhang zwischen der Art der Finanzierungsquelle und dem Auftreten von Intransparenz herstellen: Die Mittelvergabe der staatlichen Forschungsförderung richtet sich u.a. nach „objektiven“ szientometrischen Kriterien, die sich auf die Quantität der Publikationen des Antragstellers, die Qualität der publizierenden Fachzeitschrift (Journal Impact Factor) sowie die Anzahl der Zitation der Publikationen durch die Fachkollegen (Science Impact Index) bezieht. 112 Die Fokussierung auf bibliometrische Daten hat zur Folge, dass sachlich redundante Manuskripte mehrfach oder Erkenntnisse nach der least-publishable-unit publiziert werden. 113 Mit dem steigenden Publikationsdruck ist eine Schieflage im wissenschaftlichen Belohnungssystem verbunden, sofern hypothesenwiderlegende, „negative“ Ergebnisse gegenüber „positiven“ Ergebnissen nicht genügend anerkannt werden. Eine Folge davon ist, dass Forscher negative Ergebnisse wesentlich seltener zur Publikation bringen, was zu wissenschaftlicher Intransparenz führen kann. 114 Der Druck zur hochfrequenten Veröffentlichung positiver Ergebnisse befeuert die Gefahr, hypothesenbestätigende Ergebnisse zu produzieren und dabei hypothesenwiderlegende Daten zu selektieren. Das Problem wissenschaftlicher Intransparenz betrifft daher nicht nur die industriefinanzierte Forschung, wie vorschnell angenommen werden könnte, sondern auch die staatlich finanzierte, universitäre Forschung. 115 Dennoch ist der Zusammenhang zwischen einer wirtschaftlichen Forschungsfinanzierung und dem Auftreten wissenle Interessenkonflikte bei mindestens einem Verfasser bestanden, die überwiegend aus Verbindungen zur Pharmabranche resultierten. Resnik (2007, 78) relativiert zurecht, dass eine Korrelation zwischen finanziellen Interessenkonflikten und intransparenten Publikationen noch keinen Kausalzusammenhang beweist; zahlreiche Forscher folgten trotz solcher Konflikte den Regeln guter wissenschaftlicher Praxis. 112 Der Impact Factor (IF) bemisst, wie häufig ein Artikel einer Fachzeitschrift in einem Jahr durchschnittlich zitiert wird; das daraus erstellte Ranking der Zeitschriften soll deren Reputation widerspiegeln. Der Science Impact Index entspricht der Personenanzahl, welche die Arbeiten einers Autors innerhalb eines Jahres in einer Zeitschrift mit IF zitieren; vgl. http: / / bibliometrie.univie.ac.at/ glossar/ , Zugriff am 22.9.2011. 113 Dieser Begriff wurde von Broad (1981) geprägt. Mittlerweile findet ein Umdenken statt: Bei einem DFG-Forschungsförderungsantrag darf der Antragsteller nur noch wenige Publikationen nennen; vgl. http: / / www.dfg.de/ service/ presse/ pressemit teilungen/ 2010/ pressemitteilung_nr_07/ index.html, Zugriff am 22.9.2011. 114 Nach Bardy (1998); Hopewell u.a. (2009); Song et al. (2010) etc. werden Studien mit negativen Ergebnissen seltener und verzögerter veröffentlicht als solche mit positiven. Wie verschiedene Umfragen unter wissenschaftlichen Autoren (z.B. Krzyzanowska u.a. 2003; Timmer u.a. 2002) belegen, scheitert die Publikation negativer Ergebnisse nicht an der Veröffentlichungspolitik der Herausgeber von Fachzeitschriften, sondern daran, dass Forscher diese Ergebnisse nicht einreichen. 115 Eine Analyse von 2000 Studien im Bereich der Krebstherapie, die nach Geldgebern getrennt durchgeführt wurde (Ramsey/ Scoggins 2008) zeigt: Von den industriefinanzierten Studien waren 94% und von den universitären Projekten 86% der Studien unveröffentlicht; vgl. auch Bekelman u.a. (2003) und Dwan u.a. (2008). <?page no="175"?> 3.1. Die wissenschaftsinterne Kommunikation 171 schaftlicher Intransparenz deutlich ausgeprägter. Neben der Gefahr einer „freiwilligen“ Ausrichtung der Forschungsarbeit auf die Erwartungen der (potentiellen) Geldgeber, sind massive Einflussnahmen privatwirtschaftlicher Investoren auf die Entstehung und Veröffentlichung kompletter Studien oder relevanter Teilergebnisse bekannt, die ein Unternehmen in Form von Umsatzeinbußen schädigen können. 116 Organisatorische Kontrollen können in Form von rechtskräftigen Vereinbarungen über die Überprüfung, Analyse und Interpretation der Daten sowie in Form von Geheimhaltungs- oder Schweigeklauseln in Angestelltenverträgen durchgesetzt werden. 117 Aus einer soziologischen Perspektive sind die beschriebenen strukturellen Faktoren auf wechselseitige Einflussnahmen zwischen gesellschaftlichen Subsystemen zurückzuführen, die sich im Spannungsverhältnis zwischen Funktionalität und Dysfunktionalität bewegen. 118 Da systemspezifische Leistungen für andere Systeme durchaus relevant sein können und in Anspruch genommen werden, werden zwischen den Systemen „strukturelle Kopplungen“ ausgeprägt, die nicht notwendigerweise deren jeweilige Funktionalität gefährden: So stellen Politik und Wirtschaft Ressourcen zur Verfügung, während die Wissenschaft für die Politik instrumentelles (zur Lösung konkreter Probleme) und für die Wirtschaft verwertbares Wissen (zur Gewinnmaximierung) bereitstellt. Bei diesen Interpenetrationen finden Irritationen durch systemfremde Informationen, Regeln und Ziele (Codes) statt, die wiederum angesichts der Systemautonomie systemisch transformiert werden und autopoietische Resonanzen hervorrufen. Entsprechend findet im Wirtschaftssystem eine Ausrichtung auf wissenschaftliche Qualitätskriterien bei der Produktion von Waren statt, während im Wissenschaftssystem etwa das ökonomische Moment der Konkurrenz um Prestige, Erfolg und Ressourcen spürbar ist. Dysfunktional werden die wechselseitigen Einflussnahmen, wenn Systemmitglieder bei ihren Handlungen und Kommunikationen unter bestimmten Umständen systemfremden Codes folgen und die eigenen Codes verletzen. Dies ist der Fall, wenn anstelle einer verlässlichen Kommunikation über gesichertes Wissen ein strategisch-kommerzieller Umgang mit dem Wissen (z.B. durch das Verschweigen oder Verharmlosen wichtiger forschungsrelevanter Informationen) stattfindet und bestimmte funktionale Kommunikationskriterien der wissenschaftlichen Praxis unberücksichtigt bleiben (Dominanz des Codes 116 Bonhoeffer u.a. (2005) und Hazell/ Shakir (2006) belegen, dass selektives Veröffentlichen besonders das Anzeigen von Nebenwirkungen von Medikamenten betrifft. 117 Vgl. Angell (2004), Bekelman u.a. (2003) und Gotzsche u.a. (2006). 118 Vgl. im Folgenden Fischer (2004 und 2007a), der einen präzisen Überblick über die Funktionsweise des Wissenschaftssytems und Interpenetrationen mit anderen gesellschaftlichen Subsystemen gibt, sowie Weingart (2001, insbesondere 27f.). <?page no="176"?> 3. In-/ Transparenz in der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschung 172 der Ökonomie über den der Wissenschaft). 119 Häufig geht es darum, sich im eigenen Funktionssystem angesichts der Konkurrenz um Reputation und Ressourcen Vorteile zu verschaffen. Innerhalb des Wissenschaftssystems finden Resonanzreaktionen statt, um die funktionsstörenden Handlungen und „pathologischen Interpenetrationen“ zu sanktionieren und die Dominanz des systemspezifischen Codes zu sichern. 120 Wie sich allerdings gezeigt hat, steht die konsequente Sanktionierung illegitimier wissenschaftlicher Intransparenz vor schwierigen Herausforderungen und muss um zusätzliche Maßnahmen ergänzt werden. 121 3.2. Die wissenschaftsexterne Kommunikation Im vergangenen Kapitel wurde die naturwissenschaftlich-biomedizinische Forschung als ein Kommunikationssystem charakterisiert, das sich aufgrund der idealisierten Zielsetzung des Funktionssystems Wissenschaft strikt an der Gewinnung und Überprüfung wissenschaftlichen Wissens ausrichtet. Die Transparenz wissenschaftlicher Informationen wird funktional vorausgesetzt, was sich im Vorliegen von wissenschaftsinternen Transparenznormen äußert, die unterschiedliche Schritte der wissenschaftlichen Forschungsarbeit regulieren. Identifizierte Problemfelder wissenschaftlicher Intransparenz werden im Rahmen wissenschaftlicher Kontroll- und Sanktionsmechanismen zu bereinigen versucht, gleichwohl die Grenzen solcher Maßnahmen angesichts der problematischen Nachweisbarkeit wissenschaftlicher Intransparenz sichtbar wurden. 119 Vgl. Weingart (2001, 329f.). An anderer Stelle vereinfacht ders. (2001, 188 und 222) den Konflikt über die Kapitalisierung wissenschaftlichen Wissens auf zwei Grundargumente: „Aus ökonomischer und politischer Perspektive […] vermag allein die Übertragung von Eigentumsrechten (Patente, Lizenzen) ausreichende ökonomische Anreize für Innovationen zu geben und volkswirtschaftlichen Schaden durch Doppelarbeit zu vermeiden. Aus der Sicht der akademischen Wissenschaft bergen Patente bzw. die Orientierung der Forschung an einer möglichen kommerziellen Verwertung und an der Patentierung der Forschungsergebnisse die Gefahr, daß das erzeugte Wissen nicht mehr frei kommuniziert werden kann. Damit wird der Nerv der Wissenschaft getroffen: die ungehinderte Kommunikation, die Sicherung und Lizensierung des ‚richtigen‘, ‚wahren‘ Wissens durch den fortlaufenden Austausch unter den Forschern und die darauf beruhende Zuweisung von Reputation.“ 120 Fischer (2007a, 10f.). Wenn Wehling (2007, 62) kritisiert, bei solchen funktionalen Überlegungen könne keine Schwelle angegeben werden, „jenseits derer die ‚normale‘ Orientierung der Wissenschaft an ökonomischen, politischen, medialen etc. Sekundärcodes […] dysfuntional zu werden beginnt“, ignoriert er, dass wissenschaftliche Sanktionsmaßnahmen eine faktische Grenzziehungen zwischen funktionalen und dysfunktionalen Entwicklungen vorgeben. 121 Vgl. Kap. 5.1. <?page no="177"?> 3.2. Die wissenschaftsexterne Kommunikation 173 Nach der idealtypischen Beschreibung der wissenschaftsinternen Kommunikation, bei der sich ein relativ homogenes Bild angesichts der einheitlichen wissenschaftlichen Zielsetzung ergab, wenden wir uns nun der Analyse der wissenschaftsexternen Kommunikation zu, also zwischen Wissenschaftlern und Mitgliedern der Gesellschaft bzw. anderer gesellschaftlicher Subsysteme. Interaktionsfelder zwischen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Akteuren sind vielfältig. Sie reichen von persönlichen Gesprächen mit Biomedizinern, über massenmedial vermittelte Informierungen (z.B. durch den Wissenschaftsjournalismus) bis hin zu institutionalisierten Formen der wissenschaftlichen Beratung (z.B. Politikberatung in etablierten Beratungsgremien). Gegenüber der wissenschaftsinternen Kommunikation ist von einem ungleich heterogeneren Bild hinsichtlich der Voraussetzungen bzw. Zielsetzungen einer wissenschaftsexternen Kommunikation auszugehen, bei dem die involvierten Akteure mit unterschiedlichen Interessenlagen und Erwartungen aufeinander treffen. Als Matrix wird die wissenschaftliche Politikberatung gewählt (3.2.1.), die eine der ältesten Beziehungsformen zwischen dem modernen Staat und der Wissenschaft darstellt. An der Politikberatung lassen sich exemplarisch die divergierenden Interessenlagen veranschaulichen, die als Ursache für eine formelle Intransparenz wissenschaftlicher Informierung angesehen werden können (3.2.1.1.). Ergänzt werden die Untersuchungen durch einen Blick auf die Wissenschaftssprache, deren Verwendung bei einer wissenschaftsexternen Kommunikation die inhaltliche Intransparenz der vermittelten Sachverhalte für die transparenzsuchenden Laien verursachen kann (3.2.1.3.). Fallbeispiele aus dem Bereich der biomedizinischen Expertise veranschaulichen die theoretisch erfassten Problemfelder formeller und inhaltlicher Intransparenz (3.2.1.2. und 3.2.1.4.). Vor diesem Hintergrund lässt sich das Desiderat einer wissenschaftsexternen Transparenznorm begründen, die abschließend (3.2.2.) expliziert wird. 3.2.1. Wissenschaftliche Politikberatung als Topos der wissenschaftsexternen Kommunikation Die wissenschaftliche Politikberatung, die mehr oder weniger institutionalisierte Ausprägungen annimmt, 122 ist in mehrere iterative Phasen gemäß 122 Thunert (2006, 224) definieren die wissenschaftliche Politikberatung allgemein als das „institutionelle Liefern wissenschaftlicher Informationen an politisch Handelnde“. Weingart/ Lentsch (2008, 9f.) bewerten sie hingegen als „eigenständige institutionelle Ebene zwischen Politik und Wissenschaft“, die sich durch die „Herausbildung eigener Organisationsformen, der Etablierung spezieller Wissensbereiche und der Entwicklung eines eigenen Verfahrensregimes“ auszeichnet. Die Interaktionsform der Politikberatung transfomierte sich seit den 1950er Jahren von der fallweisen Rekrutierung einzelner Experten für administrative Problemstellungen hin zur Etablierung <?page no="178"?> 3. In-/ Transparenz in der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschung 174 der Interaktionsfelder zwischen Wissenschaftlern und Politikern unterteilt: 123 (a) In der Phase der Problemwahrnehmung und des Agenda Setting übernehmen wissenschaftliche Experten die politische „Sensibilisierung und frühzeitige Alarmierung vor absehbaren Problemlagen und Schwierigkeiten“, 124 gleichwohl deren Einflussmöglichkeit bezüglich des politischen Agenda Setting nicht überbewertet werden darf. Ihre Einflussmöglichkeit besteht hauptsächlich in der Verstärkung bereits thematisierter Probleme, wobei die Problemlösung von Seiten der Politiker nur angegangen wird, falls sie als Erfolg verbucht werden kann. Sollen darüber hinaus wissenschaftliche Themen von der Politik aufgegriffen werden, sind keine umstrittenen Deutungen, sondern unumstößliche Erkenntnisse gefragt, die an den politischen Diskurs anschlussfähig sind. (b) Hat es ein wissenschaftsrelevantes Thema auf die politische Agenda geschafft, besteht bei der Phase der entscheidungsvorbereitenden Politikformulierung die „große Stunde der Wissenschaft“. 125 Hierbei bitten Politiker zur Lösung der Probleme wissenschaftliche Experten in informellen Gesprächen um ihre Meinung. Dieser Informationsaustausch ist für die gesamte wissenschaftliche Politikberatung deshalb so wichtig, „weil hier der Rahmen für die weitere Behandlung des Themas gesetzt wird, Bearbeitungsperspektiven und Konzepte selektiert werden. Dazu werden Vor- und Nachteile abgewogen, Ansätze für gute Problemlösungen erörtert und schlechte verworfen, mögliche Koalitionäre ins Auge gefasst und Gegner ins Visier genommen.“ 126 In dieser Phase eröffnet sich ein Raum für die „reflexive Diskussion unterschiedlicher Beurteilungsperspektiven“, der in der nächsten Phase der Politikberatung wieder geschlossen wird. 127 Trotz der meist vorläufigen, unsicheren und unzureichend vorbereiteten Einschätzungen haben wissenschaftliche Experten bei den informellen Gesprächen faktisch einen größeren Einfluss auf die politischen Entscheidungen, als in den späteren formellen Gutachten. (c) In der Phase der Entscheidungsfindung - sofern parlamentarische Entscheidungen darauf angewiesen sind - fließen wissenschafteines wissenschaftlichen Beratungsapparats in den Regierungen, Verwaltungsapparaten und Parlamenten (z.B. Referate in Ministerien, Expertenkommissionen). 123 Vgl. Kropp/ Wagner (2008, 185ff.). 124 Laut ebd., 185 „gelingt es Wissenschaftlern - die Antennen der Politik sind auf mächtige […] Interessengruppen, die Medien und die Öffentlichkeit ausgerichtet - höchst selten, mit ihren Einschätzungen und Prognosen zu Entwicklungstrends und Risiken den politischen Prozess zu beeinflussen“. In ihrer Studie zur Medialisierung der Biomedizin kommen Peters u.a. (2008, 288) zu einem ähnlich vagen Ergebnis. 125 „In dem Maße, in dem die Wissenschaft stärker in das Regierungshandeln einbezogen wird, spielt sie eine wachsende Rolle in der Definition von Problemen, zu deren Lösung sie sodann um Rat gefragt wird, wenn diese Probleme auf der politischen Tagesordnung gelangt sind“, konstatiert Weingart (2001, 141) 126 Kropp/ Wagner (2008, 186). 127 Ebd., 191. <?page no="179"?> 3.2. Die wissenschaftsexterne Kommunikation 175 liche Expertisen in Form von überzeugenden, eindeutigen und quantifizierbaren empirischen Daten, die in Studien, Gutachten und Stellungnahmen belegt werden, in Anträge, Ausschüsse, Anhörungen und Gesetzesentwürfe ein. 128 Erwartet man hierbei die größten Einflussmöglichkeiten der Wissenschaften, wendet sich das Blatt, sofern Politiker wissenschaftliche Expertise für die eigenen Präferenzen instrumentalisieren: „Für die entscheidungsbezogenen Debatten erwartet die Politik von der Wissenschaft unstrittige, harte Fakten zur Durchsetzung bereits entworfener Stra-tegien. Expertise wird zur Rationalisierung und zur Legitimation und Akzeptanzbeschaffung politischer Entscheidungen (oder Nicht-Entscheidungen) instrumentalisiert. In der politischen Auseinandersetzung wird Wissenschaft in öffentlichkeitsorientierten Debatten weniger für die Beratung als für die Überzeugung benötigt, denn nun muss nicht Erkenntnisgewinn, sondern politische Macht errungen werden.“ 129 (d) In der Phase der Politikumsetzung, bei der die Entscheidungen in Gesetze, Richtlinien etc. umgesetzt werden, fungieren Experten als Dienstleister, die eventuell fehlende Begründungen nachlieferen und technische Richtwerte, Klassen und Normen definieren. (e) In der Phase der Politikbewertung wird die bereits geschlossene Debatte erneut geöffnet. Hierbei evaluieren wissenschaftliche Experten die Auswirkungen der politischen Entscheidungen kritisch, um die Politik gegebenenfalls zur Neubefassung des Themas zu bewegen. 130 3.2.1.1. Formelle Intransparenz wissenschaftlicher Informierungen als Problem der Politikberatung Wie aus dem Modell der wissenschaftlichen Politikberatung unzweifelhaft hervorgeht, verfolgen wissenschaftliche Experten und Politiker bei diesen Interaktionen unterschiedliche Ziele und erheben divergierende Erwartungen an die Interaktionspartner: Erstere erhoffen sich von einer Politikberatung eine Einflussnahme auf politische Entscheidungen - sei es, um möglichen Schaden durch einen unzutreffenden Informationsstand abwenden oder wissenschaftspolitische Weichenstellungen zu ihren Gunsten verschieben zu können. Insgesamt werden die bestehenden strukturellen Kopplungen genutzt, um die Legitimität der Arbeit angesichts des hohen Konkurrenzdrucks um Forschungsressourcen zu sichern. 131 Im Umkehrzug erwarten Politiker von wissenschaftlichen Experten zuverlässiges Problemlösungswissen in Form von eindeutigen Faktenaussagen oder Prognosen, 128 Vgl. ebd., 187. Freilich beziehen sich diese Beispiele auf öffentlichkeitsrelevante Diskurse, während die meisten politischen Entscheidungsprozesse unter Ausschluss der Öffentlichkeit und ohne Rekurs auf wissenschaftliche Expertise stattfinden. 129 Ebd. 130 Vgl. ebd., 188. 131 Vgl. Weingart/ Lentsch (2008, 38). <?page no="180"?> 3. In-/ Transparenz in der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschung 176 welches die politischen Entscheidungen legitimieren und eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz evozieren soll. 132 Fokussiert man den Handlungsbereich der wissenschaftlichen Experten, bewegen sie sich zwischen einer sachlich richtigen und belastbaren (Frühwarnung vor Problemen; Bereitstellung von Wissen und Daten, die für das Aufzeigen von Lösungswegen erforderlich sind; Identifikation und funktionelle Bewertung politischer Handlungsalternativen, Formulierungen von Empfehlungen etc.) bzw. politisch nützlicher und realisierbarer Expertise (Konsensbildung angesichts divergierender Interessen bzw. konflingierender ethischer Werte; Informierung der Öffentlichkeit zum Zweck der Meinungsbildung und Mobilisierung von Zustimmung; Legitimierung vergangener oder zukünftiger Entscheidungen; Evaluierung politischer Maßnahmen etc.). 133 Aufgrund des Legitimationsbedarfs bei zunehmender Konkurrenz um Expertise können wissenschaftliche Experten die Vorstellungen, Interessen und Handlungsrestriktionen (Verfügbarkeit von Ressourcen, faktische Realisierbarkeit, ideologische Verpflichtungen etc.) der politischen Akteure nicht ignorieren, da sie andernfalls Gefahr laufen, unrealisierbare Vorschläge zu machen und nicht beachtet zu werden. 134 Die Problemlage kann an der politischen und medialen Präsenz widersprüchlicher Expertisen („Gegenexpertise“) verdeutlicht werden. Hierbei zeigt sich, dass die wissenschaftliche Forschung bei zahlreichen Sachfragen über kein gesichertes Wissen verfügt bzw. nur mit Wahrscheinlichkeitsaussagen reagieren kann, die einen großen Deutungsspielraum zulassen. 135 Könnte dieses Problem der epistemischen Unsicherheit wissenschaftsintern gelöst werden, lassen sich wissenschaftliche Experten frühzeitig zu Aussagen hinreißen, die über den Bereich des methodisch gesicherten und konsensuell akzeptierten wissenschaftlichen Wissens hinausgehen. 136 Demzufolge trifft das idealtypische Kontinuitätsmodell der wissenschaftlichen Kommunikation nur noch begrenzt zu, nach dem die vorläufigen Erkenntnisse zunächst auf den unterschiedlichen wissenschaftsinternen Kommu- 132 Neben einer Legitimierung durch die demokratische Wahl gilt die wissenschaftliche Zertifikation von politischen Entscheidungen demzufolge als zweite wichtige Stütze in modernen Demokratien; vgl. ebd., 16. 133 Vgl. ebd., 17 und 28f., nach denen die beiden Dimensionen die „Systemlogiken oder rationalitäten von Wissenschaft und Politik“ (43) repräsentieren. 134 Ebd., 16. 135 Was damit gemeint ist, wird am Fallbeispiel in Kap 3.2.1.2. deutlich. 136 Laut Weingart (2001, 161) rekrutieren Politiker bei dringlichen Entscheidungsprozessen wissenschaftliches Wissen bis an die Forschungsfronten, „also dorthin, wo das Wissen noch umstritten, die Behauptungen unsicher und Angriffen gegenüber offen sind, wo die Kontroversen noch andauern“. Eine „Abkürzung“ des Veröffentlichungsprozesses wird von der Forschergemeinschaft desavouiert; z.B. verweist das Committee on Science Engineering and Public Policy (1995, 11) auf negative Folgen für die Glaubwürdigkeit der Forschung, falls sich Ergebnisse als falsch herausstellen. <?page no="181"?> 3.2. Die wissenschaftsexterne Kommunikation 177 nikationsebenen überprüft und beglaubigt werden, bevor sie als gesichertes Wissen in die wissenschaftsexterne Öffentlichkeit gelangen. 137 Bestehen nun mehrere solcher Expertisen, die sich in Widerspiegelung der wissenschaftlichen Kontroverse widersprechen, können sie von Politikern und Lobbyisten ausgewählt und zur Fundierung der eigenen politischen Entscheidung instrumentalisiert werden. 138 Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, dass mindestens die Glaubwürdigkeit und Autorität der beteiligten Experten beschädigt wird, was deren anfängliche Legitimationsabsicht konterkariert. Da der Weg von der politikbezogenen Funktion zur politischen Instrumentalisierung genauso kurz ist, wie derjenige von der sachbezogenen Funktion zum wissenschaftlichen Lobbyismus, können wissenschaftliche Experten die Politikberatung ebenso nutzen, um die Einschlägigkeit ihres Forschungsgebietes zu präsentieren und die Dringlichkeit weiterer Forschungsprojekte darzustellen; und dies möglicherweise durch Evozierung übertriebener Erwartungen hinsichtlich gesellschaftsrelevanter Problemlösungen und auf Kosten einer vollständigen Darstellung der gegenwärtigen Sachlage. Es stellt sich die Frage, mit welchen Mitteln die epistemische Qualität des Beratungswissens gesichert werden kann. Auf internationaler Ebene bestehen zwar spezielle Richtlinien für die Politikberatung - einschließlich der Prinzipien der Transparenz und Öffentlichkeit - die allerdings primär an die Politiker adressiert sind und hauptsächlich organisatorische und prozedurale Regelungen wissenschaftlicher Beratungsgremien umfassen. 139 Darüber hinaus fehlen festgelegte Kriterien und Methoden der Qualitätssi- 137 Nach Cloître/ Shinn (1985) bestehen vier kontinuierliche Stufen im Prozess der Wissenschaftskommunikation: (1) Veröffentlichung wissenschaftlicher Erkenntnisse in Fachzeitschriften, bei der empirische Daten, Bezugnahmen auf die experimentelle Arbeit und graphische Darstellungen dominieren (Intraspecialist level); (2) Weitergabe an Wissenschaftler anderer Forschungsgebiet (Interspecialist level); (3) „Textbuchwissenschaft“ (Fleck), bei der der theoretische Wissenskorpus weiterentwickelt wird (Pedagogic level); (4) Veröffentlichung in den Massenmedien, bei der die Erkenntnisse den Status von unkontroversen Fakten gewinnen (Popular level). 138 Vgl. Niederhauser (2001, 292) sowie Weingart (2001, 132), der die Beeinflussung und Instrumentalisierung wissenschaftlicher Expertise zur Legitimierung politischer Entscheidungen als „Politisierung der Wissenschaft“ bezeichnet. In einer Umfrage, die bei Gellner (1998, 98) nachzulesen ist, räumten mehr als die Hälfte der Bundestagsabgeordneten ein, solche Forschungsergebnisse gesucht zu haben, die ihren Standpunkt unterstützen. 139 Vgl. etwa der amerikanische Federal Advisory Committee Act (FACA) von 1972, Code of Practice für Scientific Advisory Committees von 2001 sowie die Leitlinien der Europäischen Kommission (2001a und 2002). Die Transparenzregeln beziehen sich hauptsächlich auf die Dokumentation des gesamten Verfahrens sowie die Publikation der Ergebnisse und Hintergrunddokumente. Anders als in den USA haben diesbezügliche Leitlinien auf europäischer Ebene allerdings keinen rechtsverbindlichen Charakter. Vgl. die Übersicht bei Weingart/ Lentsch (2008, 263 und 284). <?page no="182"?> 3. In-/ Transparenz in der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschung 178 cherung, so dass die wissenschaftliche Qualität der Expertise weitestgehend in den Händen des einzelnen Beraters liegt. 140 Angesichts kodifizierter Transparenzregeln in anderen Kontexten (z.B. das Prinzip der vollständigen Offenlegung vor Gericht) ist es völlig unverständlich, weshalb dies im Bereich der wissenschaftlichen Politikberatung nicht zutrifft, obwohl eine unsachgemäße Informierung nachhaltige Konsequenzen haben kann. 141 Vor diesem Hintergrund gewinnt die Einführung und kontextuelle Explikation einer Transparenznorm im Rahmen der wissenschaftsexternen Kommunikation an Plausibilität. Im Falle einer transparenten Informierung, bei der alle relevanten Informationen offengelegt und deren Status expliziert wird, schaffen wissenschaftliche Experten zumindest die Voraussetzung für eine sachgerechte politische Entscheidung, wenn diese auch - wie gesehen - von anderen Faktoren beeinflusst wird. 3.2.1.2. Fallbeispiel Das Problem der formellen Intransparenz von biomedizinischer Expertise in wissenschaftsexternen Interaktionen soll nun anhand eines Fallbeispiels veranschaulicht werden. Die Auswahl eines solchen Fallbeispiels unterliegt besonderen Anforderungen: Es sollte sich um eine wissenschaftliche Stellungnahme handeln, die (a) veröffentlicht wurde und (potentiellen) Einfluss auf den gesellschaftlichen bzw. politischen Diskurs hat (z.B. Interviews von Wissenschaftlern in Zeitungen, Zeitschriften oder E-Papers); (b) einem oder mehreren verantwortlichen wissenschaftlichen Experten zugeordnet werden kann; und (c) in unverfälschter Form vorliegt, d.h. nicht durch mediale Verarbeitung verändert, verkürzt oder sonst wie verfremdet wurde. Unter den genannten Voraussetzungen wird der Kommentar „Towards responsible use of cognitive-enhancing drugs by the healthy“ von Henry Greely et al. vom Dezember 2008 herangezogen, 142 der zum biomedizinischen Themengebiet des Neuroenhancements mitunter von Neurowissenschaftlern verfasst wurde und eine vieldiskutierte Position darstellt. In der genannten Stellungnahme, die primär an politische Entschei- 140 Gegenüber Weingart/ Lentsch (2008, 21), die eine Qualitätskontrolle wissenschaftlicher Expertise durch Peer Review für ungeeignet halten - „Was soll im Fall beratungsorientierter Forschung und Expertise Gegenstand der peer review sein - Daten, Methoden, Publikationen? “ - schließt m.E. der iterative fallspezifische Prozess der Beratung keine Qualitätssicherung durch Fachkollegen aus. 141 Vgl. Jasanoff (2006), die für die Einführung erhöhter Transparenzstandards im Bereich der Politikberatung plädiert: „For a study to be referred to in a policy-relevant assessment it […] must meet a standard of disclosure in which the data and computational methods used to derive the results are either freely available, or in the case of proprietary data, has been supplied on request to an independent third party who have certified the reproducibility of the results.“ 142 Greely u.a. (2008). <?page no="183"?> 3.2. Die wissenschaftsexterne Kommunikation 179 dungsträger gerichtet ist, treten die Autoren für eine langfristige und breite Erforschung von Psychopharmaka zur kognitiven Leistungssteigerung bei gesunden Personen (cognitive enhancement) ein. 143 Sie plädieren für die Legalisierung ihrer Nutzung und regen darüber hinaus an, dass bestimmten gesellschaftlichen Gruppen (z.B. Schüler und Studenten vor Examen) oder Berufsangehörigen (z.B. Chirurgen während einer langen Operation) Neuroenhancer zur Verfügung gestellt werden. Ihre Empfehlungen beruhen auf Einschätzungen des Nutzens und der Gefahren bzw. der Chancen und Risiken des Neuroenhancement, die auf Transparenz bzw. Intransparenz geprüft werden sollen. Zur empirischen Transparenzanalyse werden ihre Einschätzungen zunächst den genannten Wirkstoffen bzw. Psychopharmaka zugeordnet, die ein Neuroenhacement bewirken sollen, und anschließend mit einschlägigen Ergebnissen der Fachrichtung (state of the art) verglichen. Hierbei werden ausschließlich veröffentlichte und wissenschaftlich anerkannte Ergebnisse als Referenz herangezogen, die den Autoren zum Zeitpunkt des Verfassens ihrer Stellungnahme bekannt gewesen sein mussten. 144 Ihren Einschätzungen zu den einzelnen Wirkstoffen bzw. Psychopharmaka (Amphetamine und amphetaminähnliche Substanzen, Modafinil und Donepezil) werden nachfolgend in tabellarischer Form Ergebnisse aus der wissenschaftlichen Forschung gegenüber gestellt. 143 Ebd., 702 resümieren: „In this article, we propose actions that will help society accept the benefits of enhancement, given appropriate research and evolved regulation. Prescription drugs are regulated as such not for their enhancing properties but primarily for considerations of safety and potential abuse. Still, cognitive enhancement has much to offer individuals and society, and a proper societal response will involve making enhancements available while managing their risks.“ 144 Die Forschungsergebnisse wurden aus den Übersichtsartikeln von Förstl (2009), Lanni u.a. (2008), Normann/ Berger (2008) und Normann u.a. (2010) entnommen, in denen sich auch weitere Literaturhinweise finden. <?page no="184"?> 3. In-/ Transparenz in der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschung 180 Gefahren/ Risiken und Nebenwirkungen - einmalige Einnahme: u.a. Bluthochdruck, Herzrasen, Nervosität (vgl. Rote Liste 2003); umstrittenes Suchtpotential bei Hochdosierung (Volkow u.a. 1999) - längerfristige Einnahme: nur wenige Studien über Nebenwirkungen; 6% von 98 Kindern mit ADHS, die durchschnittlich 1,75 Jahre Ritalin erhielten, entwickelten Psychosen (Cherland/ Fitzpatrick 1999) Nutzen/ Chancen „[T]hese drugs increase executive functions in patients and most healthy normal people, improving their abilities to focus their attention, manipulate information in working memory and flexibly control their responses.“ Keine eindeutigen Wirksamkeitsbelege für kognitive Leistungssteigerung weder bei kurznoch langfristiger Einnahme Elliott u.a. (1997): beim ersten Untersuchungstermin zeigten die Probanden ein leicht verbessertes räumliches Arbeitsgedächtnis und Planungsstrategien; beim zweiten Termin war die Placebogruppe besser 1 - Bray u.a. (2004): Subjektiv schätzen Probanden ihre kognitive Leistungsfähigkeit besser ein; Fälle von überschätzter kognitiver Leistungsfähigkeit Greely u.a. (2008) Wissenschaftliche Studien Tabelle 3: Amphetamine und amphetaminähnliche Substanzen (Methylphenidat/ Ritalin®) - - 145 Normann u.a. (2010) kommentieren das Ergebnis von Elliott wie folgt: „Dies weist darauf hin, dass Methylphenidat längerfristiges Lernen sogar behindern könnte. […] Insgesamt scheint Methylphenidat kein eigentlicher Neuroenhancer zu sein, sondern eher zu einer Fokussierung der Hirnaktivität auf spezifische Aufgaben zu führen“, indem zusätzliche, überflüssige Hirnaktivität unterdrückt wird. <?page no="185"?> 3.2. Die wissenschaftsexterne Kommunikation 181 Gefahren/ Risiken und Nebenwirkungen - einmalige Einnahme: u.a. Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit, Schlafstörungen (Caldwell u.a. 2000) - Unbekannte Nebenwirkungen bei längerfristiger Einnahme Nutzen/ Chancen „[M]odafinil (Provigil), has also shown enhancement potential. […] It is currently prescribed off label for a wide range of […] medical conditions involving fatigue as well as for healthy people who need to stay alert and awake when sleep deprived, such as physicians on night call. In addition, laboratory studies have shown that modafinil enhances aspects of executive function in rested healthy adults, particularly inhibitory control.“ Studien bei Applikation unter Schlafentzug: - Caldwell u.a. (2000): Nach einmaligem Schlafentzug kompensiert Modafinil müdigkeitsbedingte Einbußen in Aufmerksamkeit, Konzentration und Wachheit; bei Schlafentzug über mehrere Tage bleibt Wachheit bei verminderter Leistungsfähigkeit erhalten Studien über eine Applikation ohne Schlafentzug: Widersprüchliche Ergebnisse bei kurzfristiger Applikation - Turner u.a. (2003): signifikante Leistungsverbesserungen bei verschiedenen kognitiven Tests, z.B. Aufgaben fürs Arbeitsgedächtnis, visuelle Mustererkennung, Planungsstrategien - Baranski u.a. (2004); Muller u.a. (2004): Neben der Aufmerksamkeitssteigerung Verbesserung des Arbeitsgedächtnisses, aber keine Verbesserung bei Wahrnehmungsaufgaben, Rechnen und logischem Denken - Gill u.a. (2006): Mögliche indirekte Effekte auf die kognitive Leistungsfähigkeit, da durch hohe Aufmerksamkeit und Konzentration Informationen besser gelernt werden können - Randall u.a. (2003): keine Leistungssteigerung bei umfangreichen kognitiven Tests - Baranski u.a. (2004): Fälle von überschätzter kognitiver Leistungsfähigkeit bei erhöhter Risikobereitschaft Greely u.a. (2008) Wissenschaftliche Studien Tabelle 4: Modafinil (Provigil®) - <?page no="186"?> 3. In-/ Transparenz in der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschung 182 Gefahren/ Risiken und Nebenwirkungen - Keine bekannten gravierenden Nebenwirkungen bei einmaliger und langfristiger Einnahme bei Dementen (Förstl 2009) - In der Mehrzahl der Studien mit Gesunden wurden weder Nebenwirkungen systematisch untersucht noch Anmerkungen zu Nebenwirkungen überhaupt gemacht (Repantis u.a. 2009, 157) Nutzen/ Chancen „A modest degree of memory enhancement is possible with […] medications developed for the treatment of Alzheimer’s disease such as Aricept (donepezil), which raise levels of acetylcholine in the brain.“ Widersprüchliche Ergebnisse, sowohl bei kurzals auch längerfristiger Einnahme: - Yesavage u.a. (2002): bei einmaliger Einnahme verbesserte kognitive Fähigkeiten bei einer kleinen Gruppe von jungen gesunden Probanden Beglinger u.a. (2005): bei gesunden, älteren Probanden Störung der Aufmerksamkeit und des Kurzzeitgedächtnisses - Grön u.a. (2005): Nach 30-tägiger Applikation selektive Verbesserung des verbalen und visuellen episodischen Gedächtnisses, während andere Funktionen nicht gesteigert wurden - Beglinger u.a. (2004): Versuchspersonen schnitten in der dritten und vierten Woche des Experiments schlechter ab als die Kontrollgruppe Greely u.a. (2008) Wissenschaftliche Studien Tabelle 5: Donepezil (Aricept®) - - <?page no="187"?> 3.2. Die wissenschaftsexterne Kommunikation 183 Wie die Transparenzanalyse des Nature-Kommentars zeigt, berichten die Autoren einseitig und unvollständig über vorliegende Befunde zu Chancen und Risiken des Neuroenhancements. Wichtige Studienergebnisse werden nicht genannt, die den Autoren bekannt gewesen sein mussten, so dass der Kommentar insgesamt als empirisch intransparent einzustufen ist. Bei ihrer tendenziösen Darstellung der Faktenlage schätzen Greely et al. die Chancen des Neuroenhancement sehr hoch ein - „[m]any of the medications used to treat psychiatric and neurological conditions also improve the performance of the healthy“ -, während sie die Risiken und Nebenwirkung einer Einnahme von Psychopharmaka bagatellisieren: „Drugs may seem distinctive among enhancements in that they bring about their effects by altering brain function, but in reality so does any intervention that enhances cognition. Recent research has identified beneficial neural changes engendered by exercise, nutrition and sleep, as well as instruction and reading. In short, cognitive-enhancing drugs seem morally equivalent to other, more familiar, enhancements.“ Sie verschweigen indes, dass die positive Beeinflussung der Aufmerksamkeit und des Erinnerungsvermögens bei Gesunden durch die von ihnen erwähnten Medikamente (Ritalin, Modafinil u.a.) nicht eindeutig belegt werden konnte, und erwähnen nur am Rande, dass gezielte Studien über gesundheitliche Risiken und Nebenwirkungen, die aus einer langfristigen Einnahme der Psychopharmaka resultieren können, bislang fehlen. Auf der Basis dieser selektiven Informationen sind sie in der Lage, die genannten wissenschaftlichen und politischen Empfehlungen zu begründen. Es ist nicht überraschend, dass wissenschaftliche Experten unter Einbeziehung der von Greely et al. ignorierten Studien zu einem deutlich anderen und wesentlich differenzierteren Ergebnis kommen. So betonen Normann et al., den hochgesteckten Erwartungen bezüglich Neuroenhancement stünden gegenwärtig „größtenteils sehr moderat wirksame Substanzen gegenüber, deren Effekte bei Gesunden meist nur schwer oder gar nicht nachweisbar sind. Die relativ besten Ergebnisse zur Verbesserung kognitiver Funktionen liegen derzeit für Modafinil vor. [….] Es erscheint vor diesem Hintergrund zum jetzigen Zeitpunkt fahrlässig, gesellschaftlich segensreiche Auswirkungen des Neuroenhancements zu postulieren und die Legalisierung des Enhancementeinsatzes von Psychopharmaka zu fordern.“ 146 146 Ebd. De Jongh u.a. (2008) identifizieren folgende Muster der gegenwärtig erhältlichen Cognitive Enhancers: Es profitieren Menschen mit kognitiven „Defiziten“ (mit einer kurzen Gedächtnisspanne z.B. durch Übermüdung, anlagebedingt), während Menschen mit normaler oder überdurchschnittlicher Leistungsfähigkeit in Tests häufig schlechter abschneiden als im „nüchternen“ Zustand; die Verbesserung von Funktionen z.B. des Langzeitgedächtnisses führt häufig zur Verschlechterung einer anderen <?page no="188"?> 3. In-/ Transparenz in der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschung 184 Abgesehen von den zweifelhaften Informationen, die Greely et al. ihren Schlussfolgerungen zugrunde legen, werden fundamentale normative Probleme einer Chancen-Risiken-Analyse im Bereich des Neuroenhancement sichtbar: Die Bestimmung dessen, was ein genereller Nutzen bzw. eine Chance ist, hängt stets von einer subjektiven Evaluation (z.B. durch den Anwender einer Technik) ab. Bei therapeutischen Maßnahmen fällt diese Variable nicht ins Gewicht, da der Nutzen konsensuell dem Ziel der Wiederherstellung der Gesundheit zugeordnet wird; der subjektive Status der Evaluation wird durch die einheitliche Zielsetzung und die relativ große Übereinstimmung hinsichtlich des vorausgesetzten Gesundheitskonzepts sozusagen „verobjektiviert“. Bei Enhancement-Maßnahmen ist hingegen diese Voraussetzung des einheitlichen Nutzens für eine objektive Zielsetzung nicht gegeben. Infolgedessen ist es höchst umstritten, was überhaupt als eine „Verbesserung“ der menschlichen Konstitution bzw. der „kognitiven Leistungssteigerung“ deklariert werden kann: Ist z.B. eine Steigerung der Aufmerksamkeit ein generell erstrebenswerter Nutzen bzw. als eine kognitive Leistungssteigerung anzusehen? Vertreten Greely et al. implizit eine wertende Position hinsichtlich des Nutzens von Neuroenhancement, wagen sie sich auf ein Terrain der philosophisch-ethischen Argumentation, bei dem die Standpunkte umstritten und keine einfachen Lösungen zu erwarten sind. Überdies verstricken sie sich in eklatante Widersprüche, wenn sie einerseits vom „Nutzen“ der Psychopharmaka überzeugt sind und für die rechtliche Freigabe plädieren, aber zugleich die Notwendigkeit einer „unvoreingenommenen“ Evaluation der Chancen und Risiken auf Grundlage einer evidenzbasierten Forschung einräumen. 147 Fordern sie von der Politik mitunter eine materielle Unterstützung der Forschung sowie die Legalisierung einer Weitergabe und Vermarktung der Psychopharmaka, Funktion, z.B. des Kurzzeit- oder Arbeitsgedächtnisses; ein geringer Anstieg der kognitiven Leistung kann auf Kosten der Fähigkeit gehen, das Verhalten der Situation flexibel anzupassen. Nicht ohne Polemik kommentiert Langlitz (2010): „Nun erfordert aber schon ein ganz normaler Arbeitstag den Einsatz eines breiten Spektrums kognitiver Funktionen. Vermeintliches ‚Enhancement könnte sich daher sogar kontraproduktiv auswirken.“ Auch die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie (2009) weist darauf hin, „dass die erwünschte leistungs- oder stimmungssteigernde Wirkung von Psychopharmaka bei Gesunden in vielen Fällen bisher nicht nachgewiesen ist.“ Da ausschließlich Studien mit kleinen Fallzahlen und kurzen Behandlungszeiträumen vorliegen, sei „eine abschließende Beurteilung der Sicherheit der Substanzen nicht möglich“. Sie resümiert: „Besonders vor dem Hintergrund der unsicheren Bewertungsbasis für Nutzen und Risiken ist daher vor dem Gebrauch von Psychopharmaka als Neuroenhancer zur Leistungssteigerung Gesunder derzeit medizinisch zu warnen und abzuraten.“ 147 Bei Greely u.a. (2008) heißt es wörtlich: „At a minimum, an adequate policy should include mechanisms for the assessment of both risks and benefits for enhancement uses of drugs and devices, with special attention to long-term effects on development and to the possibility of new types of side effects unique to enhancement.“ <?page no="189"?> 3.2. Die wissenschaftsexterne Kommunikation 185 wird die kommerzielle Programmatik des Kommentars sichtbar. 148 Das kritische Bild lässt sich mit der Feststellung ergänzen, dass 90% des über 700 Million US-Dollar schweren jährlichen Umsatzes am patentierten Psychopharmakon Modafinil auf einen Gebrauch außerhalb der medizinischen Indikation zurückzuführen ist, sowie mit der Anmerkung vervollständigen, dass zwei der verantwortlichen Autoren neben ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit als Berater für Pharmafirmen arbeiten. 149 3.2.1.3. Inhaltliche Intransparenz wissenschaftlicher Informierung als Problem der Politikberatung Nach der ausführlichen Darstellung des Problems der formellen Intransparenz bei der wissenschaftlichen Beratung wenden wir uns nun dem Themenfeld der inhaltlichen Intransparenz zu. Bei Interaktionen mit wissenschaftlichen Experten fällt in der Regel schon nach wenigen Sätzen die Verwendung einer komplexen Sprache, der Wissenschaftssprache auf. 150 Wenngleich sich die Regeln der Wissenschaftssprache nicht grundlegend von denjenigen der Alltagssprache unterscheiden, 151 bestehen idiomatische Eigenheiten der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Wissenschaftssprache, von denen einige Charakteristika erläutert werden: 152 (a) In pragmatischer Hinsicht bezieht sich die Wissenschaftssprache auf bestimmte Sprechakttypen und Argumentationsformen. Zentral ist der repräsentative Sprechakttyp der „wissenschaftlichen Aussage“, der in Form von aktuellen oder zukünftigen Ereignisaussagen (Prognosen) bzw. hypothetischen 148 Ebd. schlagen einen Maßnahmenkatalog der Politik vor, zu dem neben der Unterstützung einer beschleunigten Erforschung des Cognitive Enhancements auch legislative Anpassungen gehören: „Fundamentally new laws or regulatory agencies are not needed. […] Nevertheless, these laws should be adjusted to avoid making felons out of those who seek to use safe cognitive enhancements. And regulatory agencies should allow pharmaceutical companies to market cognitive-enhancing drugs to healthy adults provided they have supplied the necessary regulatory data for safety and efficacy.“ 149 Daher urteilt Krämer (2008): „Eine argumentative Auseinandersetzung über Risiken und Vorteile von Neuroenhancement jedenfalls liefert der Kommentar nicht. Mit Genuss lesen werden ihn allenfalls die Pharmafirmen, die mit Ritalin und Co. als Hirndoping-Mittel für Gesunde auf den ganz großen Markt hoffen. Ihnen haben die Autoren in dieser Woche ein Denkmal gesetzt.“ 150 Unterscheidet Bungarten (1981b, 11) nochmals zwischen der interdisziplinären allgemeinen „Wissenschaftssprache“ und einer disziplinären „wissenschaftlichen Fachsprache“, beziehe ich mich im Folgenden auf grundlegende Charakteristika der Wissenschaftssprache. 151 Vgl. Strecker (1998), der die Genese der Wissenschaftsaus der Alltagssprache betont. 152 Ich beziehe mich auf Bungarten (1986b, 33ff.) und ergänze wissenschaftsphilosophische Aspekte. <?page no="190"?> 3. In-/ Transparenz in der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschung 186 Sätzen (Gesetzen oder Theorien) vorliegt. 153 In Erfüllung bestimmter Qualitätskritierien (z.B. empirisch-intersubjektive Bewährtheit, logische Ableitungsrichtigkeit und Widerspruchsfreiheit zwischen zwei Sätzen des Aussagensystems, sowie begriffliche Exaktheit und Eindeutigkeit), 154 wird die wissenschaftliche Aussage mit einem besonderen Geltungsanspruch verbunden. Trotz des weithin akzeptierten „fallibilistischen Erkenntnisprogramms“ der Wissenschaften, nach dem eine wissenschaftliche Aussage zwar mehr oder weniger gut bestätigt, aber niemals irrtumssicher sein kann, 155 soll sie eine höhere Gültigkeit aufweisen als eine Alltagsaussage. (b) In der Wissenschaftssprache finden sich teilweise spezifische grammatische Strukturen, etwa die Verwendung von Passivbzw. Verbalkonstruktionen („es hat sich bestätigt, dass“, „es steht fest, dass“) und Substantivierungen, während narrative Redeweisen abwesend sind. (c) Auf lexikalischsemantischer Sprachebene besteht ein eigener Wortschatz, der sich auf den speziellen Gegenstands- oder Anwendungsbereich der jeweiligen Disziplinen bezieht. Neben neuen Fachtermini mit spezifischen Bedeutungen (Neotermini) werden alltagssprachlich bekannte Begriffe gebraucht, denen allerdings neue Bedeutungen zugeordnet werden (Neosemantismen). Diese wissenschaftlichen Termini führen ein komplexes theoretisches Fundament mit sich, das auf ein gemeinsames Hintergrundwissen bezüglich des Fachgebietes verweist. 156 (d) Die naturwissenschaftlich-biomedizinische Forschung bedient sich größtenteils der englischen Normalsprache als lingua franca. 157 Angesichts der beschriebenen Eigentümlichkeit verwundert es nicht, dass die Verwendung der Wissenschaftssprache regelmäßig zur Begründung der wachsenden Kluft zwischen Wissenschaft und Gesellschaft herangezogen wird. 158 Allerdings wäre es zu kurz gegriffen, sie allein auf ein Differenzkriterium zu reduzieren bzw. sogar zum Ausdrucksmittel der 153 Vgl. einführend Schurz (2006, 29f.). Die Unterschiede zwischen den Aussagetypen gehen aus der wissenschaftlichen Argumentationsform des deduktiv-nomologischen Modells nach Hempel/ Oppenheim (1948) hervor: Dieses Modell greift auf faktische oder hypothetische Antezedenzsowie (statistische) Gesetzesaussagen zurück, um daraus aktuelle bzw. zukünftige Ereignisaussagen deduktiv-logisch, wahrscheinlichkeitstheoretisch oder induktiv ableiten zu können. 154 Vgl. Wohlgenannt (1969, 197) sowie die Überlegungen in Kap. 3.1.1. zu den Kriterien, die beim Beglaubigungsprozess wissenschaftlicher Erkenntnisse im context of justification ihre Anwendung finden. 155 Vgl. Schurz (2006, 26ff.). 156 Vgl. Roelcke (1999, 596f.). 157 „Zwischen 1980 und 1996 sinkt der Anteil der deutschen Sprache an der naturwissenschaftlichen Weltpublikation von 3,5 auf 1,2 Prozent, der des Russischen von 10,8 auf 2,1 Prozent, steigt der des Englischen von 74,6 auf 90,7 Prozent“, rekapituliert Pörksen (2005, 10). 158 Vgl. Kutschmann (1986) und Jäger (1996, 52). <?page no="191"?> 3.2. Die wissenschaftsexterne Kommunikation 187 Macht zu stilisieren, wie es in bestimmten Kreisen der Wissenschaftsforschung geschieht. 159 Bei der Diskussion ihrer Verwendung ist grundsätzlich zwischen der wissenschaftsinternen (1) und -externen Kommunikation (2) zu unterscheiden: (1) Die naturwissenschaftlich-biomedizinische Forschung setzt für die Generierung und den Austausch wissenschaftlichen Wissens sprachliche Beschreibungen voraus, die eine Abstraktion vom experimentell untersuchten Sachverhalt ermöglichen. 160 Kann zwischen der sprachlichen Beschreibung (der wissenschaftlichen Aussage) und dem beschriebenen Objekt (dem Sachverhalt) unterschieden werden, bestehen unterschiedliche Möglichkeiten des sprachlichen Objektzugriffs, die sich im Spannungsfeld zwischen Präzision bzw. Eindeutigkeit und Verständlichkeit bewegen. 161 Diese zwei Pole widerspiegeln die Doppelfunktion der Wissenschaftssprache, sofern sie sowohl Erkenntnisinstrument (bzw. die symbolische Manifestation wissenschaftlicher Erkenntnis) als auch Kommunikationsmittel zwischen Fachwissenschaftlern ist. 162 Gegenüber der Alltagssprache, bei der die Verständigungsfunktion von Sprache im Vordergrund steht, 163 verlagert sich der funktionale Schwerpunkt des Sprachgebrauchs in den Naturwissenschaften auf die epistemischen Aspekte der Gewinnung und Überprüfung wissenschaftlichen Wissens. Um bestimmte Sachverhalte innerhalb eines abgegrenzten Erkenntnisbzw. Handlungsbereichs intersubjektiv hinreichend präzise und eindeutig beschreiben zu können, entwickeln die naturwissenschaftlichen Disziplinen neue Termini bzw. belegen Begriffe der Alltagssprache mit neuen Bedeutungen, die den semantischen Interpretationsspielraum bei einer Referenz möglichst gering halten. 164 Sofern die Begriffe größtenteils ein komplexes theoretisches Fun- 159 Laut Felt u.a. (1995, 252) dient die Fachsprache als Mittel, „Grenzlinien zu ziehen zwischen jenen, die wissen, und jenen, die nicht wissen, es werden Gefühle des Verstehens erzeugt, der Nähe oder der Distanz, der Autorität“. 160 Pragmatistisch resümiert Janich (1997, 53): „Es gibt […] keine menschenunabhängigen und keine handlungsunabhängigen, und weil sprachlich gefasst, auch keine sprachunabhängigen wissenschaftlichen Erfahrungen“. 161 Siehe Kap. 2.3.2.3. 162 Vgl. Bungarten (1981a, 28), der eine weitere gruppenkonstituierend-identifikatorische Funktion benennt: Die Verwendung der Wissenschaftssprache lasse den Sprecher als Mitglied einer (Sprach-) Gemeinschaft erkennen und desintegriere Nichtmitglieder. Diese soziale Funktion wird weiter unten von Interesse sein. 163 Ebd., 38 weist die wissenschaftliche Kritik der Alltagssprache, die als unpräzise, mehrdeutig und unsystematisch angesehen wird, in Relation zu den Kommunikationsbedürfnissen zurück. Als überwiegend gesprochene Sprache benötige diese „einen im Vergleich zur [überwiegend schriftsprachlichen; RB] Wissenschaftssprache geringeren Grad der sprachlichen Präzision […], da neben dem Hintergrundwissen von unserer Welt der Kontext der konkreten Sprechhandlung […] die für das eindeutige Verstehen notwendigen Interpretationshilfen liefern.“ (39) 164 Nach Beneš (1971, 130) haben Fachtermini die Funktion, einen Gegenstand durch einen „im betreffenden Fach exakt definierten oder durch Konvention festgelegten <?page no="192"?> 3. In-/ Transparenz in der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschung 188 dament und weitere implizite Vorannahmen mit sich tragen, können Sachverhalte ökonomisch, d.h. ohne sprachlichen Aufwand beschrieben werden. Jede wissenschaftliche Disziplin differenziert daher gemäß ihrer epistemischen Ansprüche eine funktionale Sondersprache aus, die es ermöglicht, intersubjektiv überprüfbares wissenschaftliches Wissen zu generieren. 165 In ähnlicher Weise erklärt sich die einheitliche Verwendung der englischen Sprache: Die Wissenschaften sind für die Produktion neuen Wissens über globale Forschungsobjekte auf einen internationalen Informationsbzw. Erfahrungsaustausch angewiesen, den eine einheitliche Normalsprache sicherstellt. Da sich der wissenschaftliche Erfolg aus einer Anerkennung in der Wissenschaftsgemeinschaft bemisst, die vor allem aus einer Veröffentlichung in international begutachteten Zeitschriften erwächst, publizieren viele Wissenschaftler auf Englisch. Wie sich an diesen Beispielen zeigen lässt, stellt die Verwendung der Wissenschaftssprache eine unverzichtbare funktionale Notwendigkeit bei der Gewinnung und Erweiterung wissenschaftlichen Wissens dar und kann als ein konstitutives Merkmal des Funktionssystems Wissenschaft angesehen werden. 166 Ihre Verwendung bei innerwissenschaftlichen Interaktionen stellt zumindest für die relevante scientific community keine Ursache für Verständigungsbarrieren dar, da sie in einem intensiven Lernprozess während der wissenschaftlichen Aus- und Weiterbildung erworben wird. Vor diesem Hintergrund wird plausibel, weshalb sich das wissenschaftsinterne Transparenzideal ausschließlich auf die formelle Dimension - die Offenlegung von Methoden und Ergebnisse - bezieht, während der inhaltliche Aspekt von Transparenz keine oder nur eine geringe Rolle spielt. (2) Eine andere Ausgangslage besteht bei einer wissenschaftsexternen Interaktion, bei der die Verwendung der Wissenschaftssprache unvermeidlich zu Verständigungsschwierigkeiten zwischen Experten und Laien führt. 167 Abgesehen von epistemischen Hindernissen ergeben sich aus einer Begriff […] eindeutig und einnamig zu bezeichnen“. Dies erinnert an die Programmatik des Wiener Kreises, unscharfe alltagssprachliche Begriffe durch eine einheitliche wissenschaftliche Formalsprache zu ersetzen; vgl. Carnap (1959, 12ff.). 165 Vgl. Bungarten (1981a, 31). 166 Luhmann (1983, 170) bringt zum Ausdruck, dass gerade das Nicht-Verstehen des ersten Blicks dazu zwingen kann, einen zweiten Blick zu werfen: „Wer überhaupt spricht oder schreibt, sollte sich verständlich ausdrücken. […] Denn wozu äußert er sich, wenn er nicht verstanden werden will? […] Soziologie ist nun aber nicht die Lehre vom ersten Blick, sondern die Lehre vom zweiten Blick. Und auf den zweiten Blick kommen Fragen und Bedenken hoch. Sollte man alles, was gesagt wird, gleichermaßen unter die Knute der Verständlichkeit zwingen? Soll Verständlichkeit bedeuten: Verständlichkeit für jedermann? Verständlichkeit ohne jede Mühe? “ 167 Als Hauptproblem wird nicht der Gebrauch neu geprägter und daher unbekannter Terminologien angesehen, sondern die Verwendung äquivoker Begriffe im Wissenschaftskontext, wie Busch (2005, 430f.) am Gesundheitsbegriff verdeutlich: In der sub- <?page no="193"?> 3.2. Die wissenschaftsexterne Kommunikation 189 unverständlichen Informierung nicht minder problematische soziale Zugangsbarrieren zu wissenschaftlichem Wissen. Denn durch die Verwendung der Wissenschaftssprache bleibt wissenschaftliches Wissen für Laien epistemisch unzugänglich und kann individuell nicht nutzbar gemacht werden: „War im Mittelalter die Zugänglichkeit zu Wissen durch den Gegensatz einer schmalen lateinisch-theologischen Schriftkenntnis und breiter schriftunkundiger Volkssprachigkeit scharf begrenzt, bestehen heute die neuen Zugangsschranken zum Wissen in der Herausbildung spezialisierter Sprachspiele, die jeweils nur für kleine Gruppen von Experten kommunikativ nutzbar sind.“ 168 Was im einen Fall auf die Ignoranz oder das Unvermögen des Sprechers zurückzuführen ist, bestimmte Sachverhalte umgangssprachlich auszudrücken, 169 kann im anderen Fall auf einer geduldeten, wenn nicht sogar beabsichtigten Mystifikation der Expertise durch die Verwendung einer komplexen Wissenschaftssprache gründen. 170 Nach einer diskursanalytischmachttheoretischen Interpretation 171 verfolgt der Sprecher bei Gebrauch der Wissenschaftssprache die Absicht, Fachkompetenz zu beweisen, wissenschaftliche Autorität zu sichern oder gegen Kritik zu immunisieren, um letztlich persönliche Interessen durchzusetzen. 172 In dieser Lesart suggerieren passive Formulierungen (bzw. die damit vollzogene „Entpersönlichung“) bei gleichzeitiger Häufung von prestigebesetzten Spezialausdrücken die Exaktheit und Allgemeingültigkeit einer wissenschaftlichen Aussage, wobei der Geltungsanspruch nicht unbedingt mit der Realität gejektiven Theorie von Laien ist damit in der Regel ein positiver Begriff für ganzheitliches Wohlbefinden gemeint, während im medizinischen Konzept die Abwesenheit von Krankheit verstanden wird. Die Verwendung der Neotermini führt laut Riggs (1986) zu einer kryptischen Geheimsprache, die für Laien nicht verstanden werden kann, während die Verwendung mehrdeutiger Begriffe eine Orakelsprache nach sich zieht, die für den Laien zwar verständlich klingt, aber doch missverstanden wird. 168 Jäger (1996, 52). 169 Bungarten (1981a, 30). 170 Vgl. Enzensberger (2004, 83) über die Rechtssprache: „Auf den Schrecken, den der bloße Anblick eines Briefs dem Laien einflößt, der ihm per ‚Niederlegung‘ zugestellt wird, möchte kein Gesetzesgeber verzichten. Und wo kämen die Hunderttausende von Rechts- und Steueranwälten hin, wenn jedermann verstünde, worum es geht? “ 171 Vgl. Mulkay u.a. (1983) für eine klassische Diskursanalyse der Wissenschaftssprache. Er zeigt etwa, dass Wissenschaftler, die über akzeptiertes wissenschaftliches Wissen referieren, häufig einen unpersönlichen Stil verwenden; bei vorgetragen Irrtümer argumentieren sie rhetorisch häufig ad personam. 172 Diesen Verdacht hegen z.B. Ballod (2001, 15), Panther (1981, 235) und Pörksen (1994, 265f.). Weitere Formulierungen mit „Objektivierungsfunktion“ sind solche, die es nahe legen, die Sache selbst vollziehe eine sprachliche Handlung (z.B. „diese Zahlen verweisen auf eine chronische Bronchitis“); dadurch ensteht nach Bungarten (1986b, 35) der Eindruck, dass Ereignisse zwangsläufig ablaufen. <?page no="194"?> 3. In-/ Transparenz in der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschung 190 deckt sein muss. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass in der europäischen Bevölkerung eine janusköpfige Einstellung zu wissenschaftlicher Expertise besteht. Dem großen Interesse an naturwissenschaftlichbiomedizinischen Informationen steht zugleich eine mehrheitliche Kritik an ihrer Unverständlichkeit entgegen. 173 Angesichts des Misstrauens, Wissenschaftler könnten ihr Wissen für beliebige Zwecke missbrauchen, befürworten zahlreiche Bürger die formelle Verpflichtung der Wissenschaftler zur Einhaltung ethischer Normen. Die gesellschaftlich kritisierte Unverständlichkeit naturwissenschaftlich-biomedizinischer Informationen soll anhand eines Fallbeispiels veranschaulicht werden. 3.2.1.4. Fallbeispiel Von den zahlreichen Fällen, die die Problematik der kognitiven Intransparenz durch die Verwendung der wissenschaftlichen Fachsprache in Beratungssituationen illustrieren, ist das folgende kurze Exempel aus dem Bereich der Präimplantationsdiagnostik (PID) gewählt. Unter der PID versteht man eine molekulargenetische Untersuchung zur Bestimmung genetischer Veranlagungen (Dispositionen), auf deren Grundlage entschieden wird, ob ein durch künstliche Befruchtung (in-vitro-Fertilisation) erzeugter Embryo in die Gebärmutter einer Frau übertragen werden soll oder nicht. 174 Bei einer öffentlichen Anhörung eines wichtigen deutschen Beratungsgremiums für bioethische Problemstellungen wurde ein biomedizinischer Experte um einen Einführungsvortrag über praktizierte Techniken der Präimplantationsdiagnostik gebeten. Wie kriteriologisch beim Fallbeispiel zur empirischen Intransparenz zugrunde gelegt wurde, handelt es sich auch hierbei um eine wissenschaftliche Informierung, die eine Rezeption durch ein Laienpublikum ermöglichte. Dies betrifft in erster Linie die Mitglieder dieses Gremiums, die gemäß der Zielsetzung der öffentlichen Anhörung beraten werden sollen, aber auch Politiker des deutschen Bundestages, die sich vor der Abstimmung über Gesetzesentwürfe zur PID informieren wollten, sowie sonstige interessierte Zuhörer, die bei dem Vortrag anwesend waren oder diesen online abgerufen haben. Der Vortrag liegt online als Audiodatei in unveränderter und unverfälschter Form vor, so dass die Informationen als Ausdruck seines Wissens und Willens eindeutig auf den biomedizinischen Experten zurückgeführt werden können. 173 Dies geht aus öffentlichen Meinungsumfragen in europäischen Ländern aus dem Jahre 2005 und 2006 hervor (European Commission 2005, 16 und 2007); nur 10% der befragten Bürger fühlen sich über naturwissenschaftliche bzw. medizinische Innovationen wirklich gut informiert; entsprechend sind 59% der Meinung, Wissenschaftler setzten zu wenig Anstrengung in die Informierung der Öffentlichkeit (2005, 87). 174 Eine differenzierte Darstellung und ethische Bewertung der PID bietet Haker (2002). <?page no="195"?> 3.2. Die wissenschaftsexterne Kommunikation 191 Aus der Anfangssequenz seines englischsprachigen Referats ist folgender Ausschnitt entnommen: „For those of you that are not familiar: We can remove genetic material from the oocyte before it is fertilized […] and from the trophectoderm of the blastocyst - something that could be compared in term of removal of material to what is done in villocentesis. There are pros and cons for these techniques that are summarized here. As you can see, of course, if we work on polar bodies, what is called PB, we have no embryo mass reduction […] and we are not encountering the problem with the mosaicism that means one cell not necessarily in some cases could represent the entire embryo.“ In der deutschen Übersetzung heißt es: „Für diejenigen unter Ihnen, die sich damit nicht so gut auskennen: Es ist möglich, genetisches Material aus der Oozyte zu entfernen, das ist vor der Befruchtung […], und es gibt auch die Möglichkeit, dass dann noch mal am Blastozysten vorzunehmen. Das ganze ist vergleichbar mit der Villozentese. Es gibt unterschiedliche Vor- und Nachteile, die hier zusammengefasst sind […]. Wie sie sehen, arbeiten wir einerseits an Polkörperchen. Der Vorteil darin besteht, dass die Masse des Embryos nicht reduziert wird […] und dass man auch das Problem des Mosaiks nicht hat.“ 175 Es grenzt an Selbstevidenz, dass eine solche wissenschaftliche Informierung durch die Verwendung der Wissenschaftssprache, insbesondere durch den Einbezug zahlreicher Fachtermini (Oozyte, Blastozysten, Mosaikbildung etc.) für einen Laien kognitiv intransparent ist. Ohne weiter auf den Inhalt einzugehen, wird an diesem Beispiel die Dringlichkeit einer Vermittlung zwischen Fach- und Gemeinsprache offensichtlich. 176 Die bisherigen Ergebnisse, die bei der Analyse der wissenschaftsinternen und -externen Kommunikation gewonnen wurden, werden im nachfolgenden Kapitel zusammengetragen und bilden den Ausgangspunkt für die Formulie- 175 Der transkribierte Auszug geht auf den englischsprachigen Vortrag einen wissenschaftlichen Experten bei einer öffentlichen Anhörung des Deutschen Ethikrats am 16.12.2010 zur Praxis der Präimplantationsdiagnostik zurück. Die Audiodateien des Vortrags und der deutschen Simultanübersetzung sind im Internet unter http: / / www.ethikrat.org/ veranstaltungen/ anhoerungen/ praeimplantationsdiagnos tik abzurufen, Zugriff am 20.8.2011. Da es nicht um die Vorführung eines Experten geht, sondern um die Veranschaulichung kognitiver Intransparenz durch ein Fallbeispiel, wird auf die Nennung des Namens verzichtet. 176 Angesichts der Sprachbarrieren sind laut Jäger (1996, 55) „gerade hochgradig arbeitsteilige, demokratische Wissensgesellschaften darauf angewiesen, dass das zugleich intransparente und lebenswichtige Expertenwissen auf einem sowohl sachangemessenen als auch allgemeinverständlichen Niveau in die Prozesse demokratischer Willensbildung, d.h. in die praktische Vernunft anstehender Richtungsentscheidungen über die […] Gestaltung der gemeinsamen Lebenswelt eingeht“. <?page no="196"?> 3. In-/ Transparenz in der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschung 192 rung einer spezifischen Transparenznorm im Kontext der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschung. 3.2.2. Auf der Suche nach einer wissenschaftsexternen Transparenznorm für die biomedizinische Forschung Insgesamt hat sich ein zweigeteiltes Bild der wissenschaftlichen Kommunikation und des Stellenwerts von Transparenz ergeben: Aus einer systemtheoretisch-funktionalen Perspektive dient die wissenschaftsinterne Kommunikation der Verwirklichung der wissenschaftlichen Zielsetzung, der Wissensgewinnung und -erweiterung. Transparenz im Sinne der Offenlegung von Methoden und Ergebnissen gegenüber der Forschergemeinschaft wurde als übergreifendes, konsensuell anerkanntes Kommunikationsideal identifiziert, dessen Befolgung nur unter genau festgelegten und funktional begründbaren Bedingungen dispensierbar ist. Dieses Transparenzideal ist auf der Ebene der wissenschaftlichen Veröffentlichungspraxis zu einer formellen Norm verdichtet, die in institutionellen Verhaltenskodizes - zumindest dem Sinn nach - Einzug gehalten hat. 177 Gleichwohl das Transparenzideal die prinzipielle „Öffentlichkeit“ der wissenschaftlichen Forschung betont, adressiert sie ausschließlich einen wissenschaftlichen Rezipientenkreis, der eine Kontrollfunktion zu übernehmen in der Lage ist: Bei der Entstehung wissenschaftlichen Wissens das mikrosoziale Umfeld des Forschungsalltags und bei der Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse die makrosoziale Öffentlichkeit der relevanten scientific community. 178 Die Ausrichtung auf den wissenschaftsinternen Adressatenkreis erklärt, weshalb das bestehende Transparenzideal auf die formelle Veröffentlichung von wissenschaftlichen Informationen (z.B. durch Datenbanken, wissenschaftliche Veröffentlichungen) reduziert wird, während der Aspekt der inhaltlichen Transparenz keine Thematisierung findet. Diese Einschränkung ist aus funktionalen Gründen nachvollziehbar, da die Verständlichkeit der Informationen durch das Erlernen der wissenschaftlichen Fachsprache in der Aus- und Weiterbildung vorausgesetzt werden kann. 177 Gleichwohl Transparenz in der wissenschaftlichen Forschungspraxis vorausgesetzt wird, wird sie nur selten explizit verhandelt. Eine Ausnahme stellt das bereits erwähnte Dokument der MPG (2000b) dar, auf das sich die Transparenzüberlegungen hauptsächlich stützen. 178 Der Begriff der „wissenschaftlichen Öffentlichkeit“ geht aus der Beschreibung der MPG (2000b, 46) hervor: „Logisch wie faktisch spielen sich alle Phasen des wissenschaftlichen Prozesses in einer zunächst auf face-to-face-Beziehung zurückgenommenen, doch dann stärker formalisierten und institutionalisierten Öffentlichkeit ab.“ Nennt sie als Beispiele die Präsentation der Ergebnisse in der Institutsöffentlichkeit, die Konferenz vor Repräsentanten der scientific community und die formale wissenschaftliche Publikation, sind es stets Wissenschaftler die die relevante „Öffentlichkeit“ konstituieren. <?page no="197"?> 3.2. Die wissenschaftsexterne Kommunikation 193 Der Bereich der wissenschaftsexternen Kommunikation ist von heterogenen Interessenlagen der Interaktionspartner geprägt, wie am Interaktionsfeld der wissenschaftlichen Politikberatung gezeigt wurde: Gesellschaftliche Akteure erwarten sich eine wissenschaftlich abgesicherte, problembezogene Expertise, auf deren Grundlage sie Entscheidungen über Problemlösungsstrategien fundieren und rechtfertigen können. Wissenschaftliche Akteure hingegen nutzen die wissenschaftsexterne Kommunikation mitunter, um die wissenschaftliche Forschung im Allgemeinen und die eigene Forschungsarbeit im Besonderen zu legitimieren und eine breite ideelle und materielle Unterstützung zu evozieren. Das Vorkommen formell intransparenter Beratungsinhalte lässt sich auf das Spannungsfeld zwischen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Erwartungen zurückführen, innerhalb dessen eine wissenschaftliche Expertise entsteht. Darüber hinaus wurden bei der wissenschaftsexternen Kommunikation eigene Fallstricke kognitiver Transparenz erkannt, die sich aus dem Gebrauch der Wissenschaftssprache ergeben. Trotz eigener Problemkomplexe formeller und inhaltlicher Transparenz findet sich für das wissenschaftsexterne Interaktionsfeld bisher keine eigenständige Transparenznorm. Der Stellenwert einer solchen Transparenznorm kann für die wissenschaftsexterne Vermittlung biomedizinischer Informationen nicht überschätzt werden, die für die Identifizierung, Bearbeitung und Lösung gesundheitsbezogener Problemstellungen relevant sind. Wird nachfolgend eine solche Transparenznorm (TN B ) für den Bereich der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschung vorgeschlagen und entfaltet, stellen sich die Fragen, (a) wer gegenüber wem, (b) inwieweit und (c) über was Transparenz vermitteln soll. 179 Zur Beantwortung der Fragen werden die Aspekte von Transparenz, die im allgemein-philosophischen Teil erarbeitet wurden, auf den gewählten Kontext appliziert, d.h. vor dem Hintergrund der wissenschaftssoziologischen Markierungen expliziert. 3.2.2.1. Der Adressaten- und Empfängerkreis der Transparenznorm Im naturwissenschaftlich-biomedizinischen Kontext ist eine Transparenznorm (TN B ) primär an wissenschaftliche Forscher adressiert (moral agents), die einen relevanten Sachverhalt erstmals untersucht und beschrieben haben. Sie sind prima facie in der Lage, sachbezogene Informationen an Transparenzsuchende zu vermitteln, d.h. als Transparenzvermittler in Erscheinung zu treten. Da die wissenschaftliche Forschung ein kollektives 179 Die Fragen verweisen auf die typischen (metaethischen) Komponenten von Normen (Adressatenkreis, Spezifikation, Charakter etc.), wie sie Ott (2002) nach von Wright (1963) unterscheidet. Jasanoff (2006), die sich kritisch mit ihnen auseinandersetzt, wird als Diskussionspartnerin an verschiedenen Stellen herangezogen. <?page no="198"?> 3. In-/ Transparenz in der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschung 194 Unternehmen ist, richtet sich die Transparenznorm sekundär auch an Personen oder Institutionen, die zwar nicht an der Entdeckung der Sachverhalte unmittelbar beteiligt sind, aber Kenntnis haben (z.B. Fachkollegen) und gegebenenfalls Einfluss auf die Verbreitung diesbezüglicher Informationen nehmen können (z.B. Mitglieder der Arbeitsgruppe, Vorgesetzte, forschungsfinanzierende Unternehmen etc.). 180 Angesichts des beschriebenen Stellenwerts naturwissenschaftlich-biomedizinischer Informationen für individuelle und gesellschaftliche Entscheidungs- und Urteilsprozesse werden als Normempfänger (moral patients) wissenschaftsexterne Transparenzsuchende vorgestellt, die überwiegend wissenschaftliche Laien sind. Wie bereits in der Einleitung erwähnt, kommen hierbei Nutzer von biomedizinischen Techniken in Frage, die sich vor einer Inanspruchnahme informieren wollen, genauso wie Politiker, die über eine gesetzliche Regulierung dieser Techniken oder über Geldströme in der Forschungspolitik entscheiden, aber auch interessierte Leser von Wissenschaftsartikeln, die lediglich ihren Wissensbestand erweitern wollen sowie zahlreiche weitere Personen, die in Wissens- und Handlungszusammenhängen biomedizinischer Informationen bedürfen. Ist nachfolgend kollektiv von wissenschaftsexternen Transparenzsuchenden die Rede, sind stets individuelle Personen gemeint. Um die hier entwickelte Transparenznorm der wissenschaftsexternen gegenüber der wissenschaftsinternen Kommunikationspraxis unterscheidbar zu machen, wird konzeptuell zwischen einer wissenschaftsinternen und -externen Transparenz bzw. einer wissenschaftsinternen und -externen Transparenznorm die Rede sein. 181 Wissenschaftsinterne Transparenz - intradisziplinäre Transparenz in der Kommunikation zwischen Wissenschaftlern eines Fachgebiets - inter- oder transdisziplinäre Transparenz in der Kommunikation zwischen Wissenschaftlern verschiedener Fachrichtungen Wissenschaftsexterne Transparenz - Transparenz in der Kommunikation zwischen Wissenschaftlern und Nicht-Wissenschaftlern (z.B. Politiker, gesellschaftliche Akteure) Tabelle 6: Unterscheidung wissenschaftsinterner und -externer Transparenz 180 Vgl. Munthe/ Welin (1996, 415). 181 Damit trage ich der Forderung von ebd., 414 und Jasanoff (2006) Rechnung, die sich bei Transparenzimperativen jeglicher Art für eine Spezifizierung des Empfängerkreises einsetzen. <?page no="199"?> 3.2. Die wissenschaftsexterne Kommunikation 195 3.2.2.2. Der Gehalt der Transparenznorm Der erweiterte Empfängerkreis begründet signifikante inhaltliche Charakteristika der wissenschaftsexternen, biomedizinischen Transparenznorm, die nachfolgend thematisiert werden. Hierbei wird auf allgemeine Kriterien der formellen und inhaltlichen Transparenz rekurriert, die bereits zur Darstellung kamen und auf den gewählten Kontext konzentriert werden. Formelle Transparenz Sofern Sachverhalte auch für externe Transparenzsuchende intransparent bleiben, die bereits gegenüber der Forschergemeinschaft verheimlicht wurden, stellt die Berücksichtigung der formellen wissenschaftsinternen Transparenznorm eine notwendige Voraussetzung für die Erfüllung der externen Transparenznorm dar. Die Kriterien und Regelungen der formellen Transparenz, wie sie für die wissenschaftsinterne Transparenznorm entfaltet wurden, sind daher auch für die externe Transparenznorm gültig und fließen in sie ein. Zu erinnern sei hier an das formalisierte Transparenzgebot der wissenschaftlichen Veröffentlichung, das u.a. korrekte und vollständige Angaben über verwendete Methoden und erzielte Ergebnisse (einschließlich falsifizierter Hypothesen) verlangt. Zwar sieht die funktionale Kommunikationsstruktur des Wissenschaftssystems vor, dass wissenschaftliche Informationen erst nach einer Phase der internen Kontrolle an die gesellschaftliche Öffentlichkeit gelangen. Da dies angesichts der mannigfaltigen Interaktionsfelder zwischen Wissenschaft und Gesellschaft nicht nur unrealistisch ist, sondern auch hinsichtlich des Transparenzgedankens wenig wünschenswert, wird folgender Kompromiss vorgeschlagen: Primäre Bezugsobjekte einer wissenschaftsexternen Transparenznorm sind wissenschaftsintern veröffentlichte und bereits anerkannte biomedizinische Methoden und Ergebnisse, die als „wissenschaftliches Wissen“ qualifiziert werden können. Werden vorläufige und bislang unbeglaubigte biomedizinische Methoden und Ergebnisse an Transparenzsuchende vermittelt, ist dies gesondert kenntlich zu machen. 182 Sie stellen sekundäre Bezugsobjekte einer wissenschaftsexternen Transparenznorm dar. Inhaltliche Transparenz Wie wir festgestellt haben, ist die Berücksichtigung der internen Transparenznorm eine notwendige Voraussetzung für die Erfüllung der externen Transparenznorm. Dass sie nicht zugleich eine hinreichende Bedingung ist, liegt am Grundzustand wissenschaftlicher Informationen, die bei wissen- 182 Die Offenlegung des Status wissenschaftlicher Informationen wird weiter unten gesondert eingefordert. <?page no="200"?> 3. In-/ Transparenz in der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschung 196 schaftsinternen Interaktionen ausgetauscht werden. Da diese Informationen sich auf fachwissenschaftliches Sonderwissen (bzw. dessen Vorstufen) beziehen und in einer Sondersprache verfasst sind, 183 können sie für Laien als kognitiv intransparent beschrieben werden. 184 Ihre formelle Zugänglichkeit, die durch die interne Transparenznorm reguliert wird, garantiert demzufolge nicht die Möglichkeit der epistemischen Aneignung und praktischen Anwendung durch Laien. Eine bloße Übertragung der wissenschaftsinternen Transparenznorm auf den Bereich der wissenschaftsexternen Kommunikation ist nicht ausreichend. Vor der epistemischen Zielsetzung, durch Transparenz versteh- und verwertbare Informationen zur Verfügung gestellt zu bekommen, reguliert eine externe Transparenznorm neben der formellen notwendigerweise auch die inhaltliche Zugänglichkeit zu wissenschaftlichen Informationen. Was damit im biomedizinischen Kontext gemeint ist, ergeht aus nachstehenden Explikationen: (1) Der wissenschaftliche Transparenzvermittler sollte zwischen der wissenschaftlichen Sachangemessenheit einer Darstellung von komplexen Sachverhalten und dem Informationsbedarf des Transparenzsuchenden abwägen. 185 Der Informationsbedarf richtet sich nach der Relevanz der Informationen für die Verwirklichung der rezipientenseitigen Zielsetzungen. Hierbei kann sich der Transparenzvermittler an „objektiven“ Relevanzkriterien orientieren, die von vielen Transparenzsuchenden im besagten Kontext zugrunde gelegt werden, bevor jener die im Beratungsverlauf eruierten subjektiven Relevanzkriterien des Transparenzsuchenden heranzieht. Beispielsweise werden im biomedizinischen Kontext solche Informationen als objektiv relevant erachtet, deren Kenntnis für die Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung der individuellen Gesundheit von Bedeutung ist. Entsprechend sollte ein Transparenzvermittler über Chancen und Risiken einer biomedizinischen Intervention mindestens soweit aufklären, wie eine Kenntnis für die Realisierung der Zielsetzung notwendig ist. 186 (2) Zudem hat sich die Vermittlung der relevanten Informationen an den Wissens- und Verstehensvoraussetzungen des Laien auszurichten. Bei einem mangelhaften Transfer der Wissenschaftssprache stehen dem Laien 183 Für die Begriffe Sonderwissen und öffentliches Wissen, vgl. Antos (2005, X). 184 Ders. (2001, 4ff.) beschreibt wissenschaftliches Wissen bzw. vermittelbare Informationen aus einer gesellschaftlichen Perspektive als „intransparent“, was sich „1. auf seine Distribution in den Wissenshaushalten von Gesellschaften, 2. auf seine globalräumliche, soziale und individuelle Diffusion, 3. auf seine organisatorischen, technischen und informationsökonomischen Formen des Zugriffs sowie 4. auf seine schnelle und angemessene Rezeption“ bezieht. 185 So auch Bungarten (1981a, 49). 186 Angesichts gegebener Relevanzkritierien ist es prinzipiell möglich, die vermittelten Informationen im Bereich der Biomedizin durch Peer Review intersubjektiv zu überprüfen und zu kritisieren. <?page no="201"?> 3.2. Die wissenschaftsexterne Kommunikation 197 nur rudimentäre Anschlussmöglichkeiten an Strukturen zur Verfügung, die aus der Alltagssprache bekannt sind. Da selbst alltagssprachliche Wörter in der Wissenschaftssprache andere Bedeutung tragen, sind Erläuterungen von (neosemantisch-äquivoken und neologisch-univoken) Fachtermini und Explikationen formaler Symbolsysteme unabdingbar. Dies kann etwa durch die Angabe charakteristischer Merkmale (explikative Definition), anschaulicher Beispiele (exemplarische Definition) oder bedeutungsgleicher oder -ähnlicher alltagssprachlicher Wörter (synonymen- oder wortassoziative Definition) geschehen. 187 Es ist darauf zu achten, dass fachspezifische Ausdrücke tatsächlich ausreichend dargelegt wurden, bevor der Transparenzvermittler zu weiteren Aussagen fortschreitet, die auf den bisher dargestellten Informationen aufbauen. (3) Eine transparente Kommunikation wissenschaftlichen Wissens erschöpft sich nicht in der Übersetzung der Erkenntnisse aus der Wissenschaftssprache in die Alltagssprache, sondern bedarf der Ergänzung durch Metabzw. Hintergrundinformationen. Dazu muss sich der wissenschaftliche Experte über implizites Wissen - welches einen wesentlichen Bestandteil des Expertenwissens ausmacht - bewusst werden und die kommunikative Fähigkeit erwerben, solches implizite Wissen in explizites und verständlich kommunizierbares Wissen zu transformieren. 188 Die geforderte Explikation impliziten Wissens soll anhand von vier Beispielen durchexerziert werden: - Transparenz bezüglich der verwendeten wissenschaftlichen Methoden: Wenngleich im gesellschaftlichen Bereich eine ergebniszentrierte Wahrnehmung der wissenschaftlichen Forschungsarbeit dominiert, 189 reicht die alleinige Vermittlung von Forschungsergebnissen, Faktenwissen und Theorien nicht aus, um biomedizinische Sachverhalte für wissenschaftliche Laien transparent werden zu lassen. Während übersteigerte Geltungsansprüche wissenschaftlicher Aussagen eine ausschließliche Ergebnistransparenz nahe legen - diese sollen vom Betrachter unabhängig gelten - trägt eine Methodentransparenz der wissenschaftsphilosophischen Einsicht Rechnung, dass Ergebnisse methodenbasiert zustande kommen. Um Missverständnissen vorzubeugen wird nicht verlangt, sämtliche Schritte der Forschungsarbeit zu explizieren. Der Forscher sollte vielmehr die veröffentlichten Ergebnisse im Licht der verwende- 187 In der Wissenstransferforschung werden etwa systematische Textmerkmale genannt, die dazu beitragen, wissenschaftliche Informationen effektiver an ein Laienpublikum zu vermitteln: vgl. Funkhouser/ Maccoby (1971 und 1974), nach denen der angestrebte Informationsgewinn signifikant mit der Anzahl an Beispielen, Vergleichen und praktischen Bezügen korreliert. 188 Jäger (1996, 57). 189 Vgl. Weitze/ Liebert (2006, 8), die sich für eine stärkere Thematisierung der wissenschaftlichen Methodologie im gesellschaftlichen Diskurs einsetzen. <?page no="202"?> 3. In-/ Transparenz in der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschung 198 ten Methoden angesichts ihrer Stärken und Schwächen evaluieren. 190 Nach Maßgabe des Wissensstandes des Transparenzsuchenden kann eine methodische Aufklärung bereits auf einer fundamentalen Ebene ansetzen, sofern deren Kenntnis für das Verständnis des wissenschaftlich beschriebenen Sachverhalts bedeutsam ist: Etwa, dass jede Methodenwahl mit einer perspektivischen Einschränkung der wissenschaftlichen Untersuchung auf bestimmte Eigenschaften des Untersuchungsobjekts verbunden ist, während andere Aspekte notwendig ausgeblendet werden. 191 In einer anderen Situation kann die Transparenzzielsetzung beispielsweise nur bei Erläuterung der verwendeten statistischen Analysemethode erreicht werden, bei der die definitorische Vorstellung von „Signifikanz“ und „Variabilität“ expliziert wird. Wieder in einer anderen Situation kann eine Auskunft über die gewählten Präsentationsmethoden (z.B. die Visualisierungstechnik oder die Bildwahl) hilfreich sein. 192 Durch die Transparenz der wissenschaftlichen Methodologie soll es dem transparenzsuchenden Laien ermöglicht werden, die Aussagekraft und Zuverlässigkeit der Ergebnisse einschätzen zu können. - Transparenz bezüglich des epistemischen Status wissenschaftlicher Informationen: Individuelle und gesellschaftliche Entscheidungen zu sachbezogenen Problemen müssen meist im Rahmen eines vorläufigen Informationsstands, d.h. nach dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Kontroverse, getroffen werden. Da der epistemische Status wissenschaftlicher Aussagen für einen Transparenzsuchenden in der Situation einer wissenschaftlichen Informierung nicht selbsterklärend ist, geht er - je nach Vorerfahrung - von einer hohen Gültigkeit aus. 193 Um 190 Nach Kaltenborn (1999, 10) geschieht die „primäre Beurteilung der Information […] auch durch die Beurteilung der zu ihr führenden Tathandlung […]; das heißt, durch die Beurteilung der Studie, des ihr zugrunde liegenden Forschungsdesigns, der methodischen Vorgehensweise et cetera. Erst wenn die Information dieser Prüfungsprozedur standgehalten hat, kann und darf die Information Handlungsrelevanz erlangen beziehungsweise Eingang in das medizinische Wissen finden.“ 191 Vgl. etwa Huber (2009) für die strukturell-funktional bildgebenden Methoden neurologischer Untersuchungen. Laut Hubig (1995, 46) haben wir es im Rahmen eines wissenschaftlichen Forschungskonzepts „nicht mit bloßen Phänomenen zu tun“, d.h. allgemein der Wahrnehmung zugänglichen und deshalb einer unvoreingenommenen und allgemeinen Diskussion unterziehbaren Gegenständen, „sondern bestimmten Hervorhebungen, die ihren Sinn nur im Rahmen einer bestimmten Laborpraxis, einer Meßstrategie […] etc. haben und deren Anerkennung abhängt von der Anerkennung des gesamten Verfahrens, also Effekten.“ 192 Kurz-Milcke u.a. (2008) zeigen in einer Gegenüberstellung, welche Methoden graphischer Darstellungen von gesundheitlichen Risiken für Laien irreführend sind und welche hingegen Transparenz herstellen. 193 Weitze/ Liebert (2006, 10) moniert, dass in gesellschaftlichen Diskursen „wesentliche Elemente des diskursiven wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses (Argumentativität, <?page no="203"?> 3.2. Die wissenschaftsexterne Kommunikation 199 Missverständnisse und Fehlinterpretationen zu vermeiden, ist der wissenschaftliche Transparenzvermittler dazu angehalten, den epistemischen Status der wissenschaftlichen Informierung (probabilistisch, prognostisch, heuristisch, hypothetisch, ex definitione etc.) zu explizieren und zu erläutern. 194 Dies betrifft sowohl wissenschaftlich ankannnte Informationen, deren Status als bewährt (aber weiterhin falsifizierbar) eingestuft wird, unsichere Faktenlagen, die eine reduzierte Prognosemöglichkeit nach sich ziehen, umstrittene Randpositionen, die der vorherrschenden Lehrmeinung widersprechen, genauso wie neue Erkenntnisse, die bisher nicht wissenschaftskollektiv beglaubigt wurden. 195 Häufige Fälle von Intransparenz betreffen etwa prognostische bzw. probabilistische Aussagen von Wissenschaftlern, deren Gültigkeit von Laien überschätzt wird. Als Beispiel können Aussagen aus dem Bereich der medizinischen Genetik genannt werden, die Funktionsausfälle des Körpers präsymptomatisch beschreiben, bevor sie phänotypisch manifest werden. Abgesehen von der oft vergessenen Einschränkung, dass eine genetische Prognostik nur bei wenigen monokausalen Erbkrankheiten (z.B. Bluterkrankheit) strichhaltige Evidenz für eine zukünftige Ausprägung erbringen kann, 196 handelt es sich um Wahrscheinlichkeitsaussagen über die zukünftige Entwicklung des individuellen Körpers, die umstritten sein können. Bei einer statistischen Auswertung gibt es unterschiedliche Modelle, aus denen verschiedene Vorhersagen resul- Kontroverse, Instrumentalität) und des Wahrheitsstatus der vorliegenden Erkenntnisse (wahr, falsch, vorläufige Arbeitshypothesen, prinzipielle Unsicherheiten, umstrittene Ergebnisse) ausgeblendet oder auf ein einfaches Wissenschafts- und Erkenntnismodell abgebildet [werden], in dem Wissenschaft bloß kumulativ Wissen produziert.“ 194 Vgl. Ott (1997, 32ff.). 195 Dass insbesondere die Offenlegung des vorläufigen epistemischen Status neuer Forschungsergebnisse dringend geboten ist, zeigt eine Validitätsanalyse von Ioannidis (2005): Aufgrund methodischer Fehler (z.B. einmalige Untersuchung bei ausschließlichem Verweis auf hohe Signifikanz, unzureichende Probengröße, schlechte Studiendesigns bei Akzeptanz eines hohen Interpretationsspielraums), aber auch wegen der Befangenheit des Forschers wird die Wahrscheinlichkeit einer zuverlässigen Studie bei unter 50% eingeschätzt. 196 Wie Rehmann-Sutter (2002, 214ff.) anhand des prädikativen genetischen Tests auf Mutation im BRCA (breast cancer)1-Gen zeigt, stehen sich bei der Auswertung die Theorie des genetischen Determinismus und die systemische Theorie der Epigenetik gegenüber. Bei letzterer ist die Mutation „zunächst nichts weiter als ein Indiz. Dafür, dass die Sequenz […] sich in bestimmter Weise - vielleicht entscheidend - auswirken kann, müssen besondere zeitliche und lokale Umstände im Organismus herrschen“ (217f.). Aufgrund der gravierenden Implikationen, die beide Genomtheorien für einen Gentest haben, plädiert er bei einer genetischen Beratung für eine „Klärung der verwendeten metatheoretischen Ideen, [….] die als Interpretationsmuster für einzelne Resultate dienen sollen“ (228). <?page no="204"?> 3. In-/ Transparenz in der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschung 200 tieren; der häufig zugrunde gelegte frequentistische Begriff der Wahrscheinlichkeit (objektive Wahrscheinlichkeit) im Sinne der relativen Häufigkeit lässt sich auf viele Einzelereignisse nicht direkt anwenden. Wie das Beispiel zeigt, kann die Transparenz des epistemischen Status unverwunden in eine Offenlegung der Kontroversität und wissenschaftlichen Meinungsvielfalt über einen Sachverhalt münden, wobei freilich der positive Stellenwert einer kontroversen Auseinandersetzung für eine wissenschaftliche Wissenskonstitution nicht verschwiegen werden sollte. Insgesamt findet mit einer Statustransparenz eine Korrektur übertriebener Erwartungen an die Wissenschaften statt. Durch die zusätzliche Information ist der Transparenzsuchende in der Lage, „bewährte Theorien von Hypothesen, feste Regularitäten von statistischen Wahrscheinlichkeiten, das Umstrittene vom allgemein Akzeptierten zu unterscheiden“, 197 während die Glaubwürdigkeit hinreichend abgesicherter Aussagen eine Aufwertung erfährt. 198 - Transparenz bezüglich wissenschaftlichen Nichtwissens: Während sich die zuvor beschriebene Statustransparenz auf positive wissenschaftliche Aussagen bezieht, die vorliegende Sachverhalten beschreiben, gründen folgende Überlegungen auf der Einsicht, dass der wissenschaftliche Erkenntnisfortschritt notwendig mit Nichtwissen verbunden ist. 199 Die Wissenschaften betrachten diese epistemisch defizitäre Situation als temporären Zustand des (Noch-)Nichtwissens, der durch neue Forschungsbemühungen prinzipiell überwunden werden kann. Die bekannte Dialektik von wissenschaftlichem Wissen und (Noch-)Nichtwissen wird allerdings von wissenssoziologischer Seite um eine weitere Form des Nichtwissens ergänzt: 200 Das wissenschaftliche Nichtwissen- Können, das sich auf unerwartete und unkontrollierbare Lücken, Grenzen und Ausblendungen des wissenschaftlichen Wissens bezieht, die gerade in solchen Bereichen entstehen, in denen das wissenschaftliche 197 Ott (1997, 359). 198 Für Gethmann (1999) und Spier (1998, 22) begründet eine drohende Glaubwürdigkeitskrise der Wissenschaft durch die Fehlbewertung von Wissenschaftsaussagen die Wichtigkeit einer Kenntlichmachung ihres epistemischen Status. 199 Mieth (2001, 12) spricht vom Gesetz der Wissensvermehrung: „Je mehr wir wissen, desto mehr werden wir wissen, was wir alles nicht wissen.“ 200 Gegenüber singulären philosophisch-erkenntnistheoretischen Untersuchungen (vgl. Gottschalk-Mazouz 2007) befindet sich die Erforschung des wissenschaftlichen Nichtwissens gegenwärtig in der Hand soziologisch-systemtheoretischer (Luhmann 1992) und sozialkonstruktivistischer (Wehling 2006) Denkschulen. Im Folgenden beziehe ich mich hauptsächlich auf die Analysen von Wehling, der betont, dass Nichtwissen „selbst als Produkt der Erzeugung von Wissen ist, mithin ‚sozial‘ konstruiert wird“ (ders. 2004, 37). <?page no="205"?> 3.2. Die wissenschaftsexterne Kommunikation 201 Wissen eigentlich zur Anwendung kommen soll. 201 Insgesamt bewegt sich wissenschaftliches Nichtwissen in einer elaborierten Systematisierung (a) zwischen den idealtypischen Polen explizit gewusster „Wissenslücken“, wonach das Nicht-Gewusste als „positiver“ Wissensinhalt vorliegt, und vollständig ungewussten Nichtwissens (Dimension des Wissens um das Nichtwissen), (b) zwischen den Extremen ausdrücklich gewollten und gänzlich unbeabsichtigten Nichtwissens (Dimension der Intentionalität von Nichtwissen), und (c) zwischen den Polen des bloß temporären „Noch-Nicht-Wissens“ und unauflösbaren „Nicht-Wissen- Könnens“ (Dimension der zeitlichen Dauerhaftigkeit von Nichtwissen). 202 Bei „kontrollorientierten“ Disziplinen, wie z.B. der Biomedizin, wird solches wissenschaftliche Nichtwissen selten expliziert, eher marginalisiert und in anwendungsorientierten Entscheidungsprozessen kaum berücksichtigt. 203 Die Transparenzproblematik wird deutlich, wenn Wissenschaftler im wissenschaftsexternen Diskurs beispielsweise den Bereich der Unsicherheit und des Nichtwissens absichtlich unreflektiert und unkommentiert lassen, um etwa von Risiken und Nebenwirkungen einer Biotechnik abzusehen, 204 oder wenn sie gezielte Nichtwissensansprüche (ignorance claims) auf ein temporäres und spezifisches Noch- Nicht-Wissen strategisch erheben, um die Dringlichkeit eines Forschungsprojektes auszuweisen bzw. die „Allokation von Forschungsgeldern, die soziale Akzeptanz von Forschungslinien oder die Erwartungen potentieller Nutzer“ zu verändern. 205 Angesichts des Zweiklangs von Noch-Nichtwissen und Nichtwissen- Können, der konstitutiv zur Produktion wissenschaftlichen Wissens gehört, stellt sich die Frage nach einem adäquaten Umgang in wissen- 201 Wehling (2002, 261f.) führt dieses Nichtwissen(-Können) auf eine direkte Anwendung technischer Artefakte auf Natur und Gesellschaft zurück, die „den geschlossenen, kontrollierten Raum des Labors überschreiten und in offene Wirkungskontexte und -horizonte hineingeraten.“ Bei einem Vergleich mit anderen epistemischen Konzepten, die einen Wissensmangel ausdrücken, werden wichtige Charakteristika des Nichtwissen-Könnens sichtbar: Im Unterschied zu Risiko und Ungewissheit können keine Eintrittswahrscheinlichkeiten hinsichtlich zukünftiger Handlungsfolgen angegeben werden; im Gegensatz zum Irrtum stellt Nichtwissen keine Form von positivem, handlungsleitendem, wenn auch falschem Wissen dar; vgl. ders. (2002, 266). 202 Diese Kartographie wissenschaftlichen Nichtwissens findet sich bei Wehling (2002, 266ff.). 203 Laut Neidhardt et al. (2008, 36) arbeitet die Biomedizin mit experimentellen Methoden unter Verwendung von certeris paribus-Klauseln, um kognitiv unbeherrschbare Randbedingungen aus ihren Erkenntnismodellen auszuschalten. Eine andere Nichtwissenskultur besteht bei „komplexitätsorientierten“ Disziplinen (u.a. die Ökologie), die um den Preis der Anwendbarkeit empirisch offener arbeiten; vgl. Böschen u.a. (2008, 204). 204 Wehling (2004, 82ff.) nennt als historisches Beispiel die Contergan-Affäre. 205 Ebd., 73. <?page no="206"?> 3. In-/ Transparenz in der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschung 202 schaftlichen Beratungssituationen. Abgesehen von der Möglichkeit, sich einer Expertise zu enthalten bis ein wissenschaftsinterner Konsens über die Sachlage besteht, ergeht in Situationen, in denen Entscheidungen dringlich sind und Anfragen nach einer Expertise nicht ausgeschlagen werden können, 206 im Sinne der Transparenz folgender Imperativ: Informationen über Nichtwissen sind als relevante Hintergrundinformation anzusehen, auf deren Basis die Geltungsansprüche wissenschaftlicher Informationen für Transparenzsuchende verständlich werden, und bei einer wissenschaftlichen Expertise zu veröffentlichen. Wie schon bei der Statustransparenz postuliert wurde, kann das Einräumen von Nichtwissen den wissenschaftlichen Anspruch auf eine zuverlässige Wissens- und Informationsquelle sichern. 207 Sofern wissenschaftliches Nichtwissen transparent dargestellt wird, bestehen für gesellschaftliche Entscheidungsträger Möglichkeiten eines rationalen Umgangs mit wissenschaftlicher Expertise: Stehen hohe Güter auf dem Spiel, kann ein Moratorium beschlossen werden, um Wissenslücken zu schließen bzw. unsichere Expertise (z.B. hinsichtlich eines umstrittenen Forschungsdesigns, der verwendeten Methoden und der Interpretation von Daten) im Prozess der kritischen Prüfung innerhalb der relevanten scientific communities in gesicherte zu transformieren. 208 Sind schwerwiegende Entscheidungen unaufschiebbar, können sie um ein enges prozessurales Monitoring der Entscheidungsfolgen ergänzt werden, damit negative Effekte zeitnah observierbar und korriergierbar werden. 209 - Transparenz bezüglich normativer Vorannahmen: Seitdem die Trennung von Tatsachenfeststellungen (deskriptive Aussagen) und Bewertungen (evaluative und normative Aussagen) zum methodologischen Kanon der empirischen Wissenschaften gehört, 210 wird die Frage disku- 206 Die Gefahr des Expertenbzw. Legitimationsdilemmas, das Weingart (2003, 91f. und 97) beschreibt, ist nicht zu leugnen: Bei einem Verzicht auf Expertise unterliegt ein Wissenschaftler der Kritik, der „öffentlichen Verpflichtung“ nicht nachzukommen, mit der Folge eines Legitimitätsverlustes. 207 Wehling (2004, 102) bemerkt treffend: „Wie die BSE-Krise in Großbritannien gezeigt hat, sind es langfristig eher die falsche wissenschaftliche Gewissheit sowie die Marginalisierung von Nichtwissen, die die ‚Autorität‘ der Wissenschaft untergraben - und nicht die transparente Darstellung von Ungewissheiten und ihre Einbeziehung in öffentliche und demokratische Bewertungs- und Entscheidungsprozesse.“ 208 Vgl. Jasanoff (1990, 245). 209 Wehling (2002, 269). 210 Der Nimbus der „wertfreien“ Naturwissenschaften geht auf die neuzeitliche Trennung deskriptiver Aussagen von normativen Werturteilen als staatlich-monarchistische Gründungsbedingung der wissenschaftlichen Institutionen zurück (vgl. van den Daele 1977), der durch die Werturteilsfreiheitsthese von Weber (1988a, 151) zementiert wurde: „Eine empirische Wissenschaft vermag niemanden zu lehren, was er soll, sondern nur, was er kann und - unter Umständen - was er will.“ <?page no="207"?> 3.2. Die wissenschaftsexterne Kommunikation 203 tiert, wie eine solche Trennung möglich sein soll. 211 Bereits die definierte funktionale Zielsetzung der wissenschaftlichen Forschung, die Gewinnung und Erweiterung wissenschaftlichen Wissens, geht aus einem grundlegenden Werturteil hervor und zieht eine Reihe von methodischen und ethischen Regelungen im Bereich des Forschungs- und Veröffentlichungsprozesses nach sich. 212 Kann dieses epistemische Werturteil noch als ein „objektives“ Werturteil aufgefasst werden, welches jeder wissenschaftlichen Handlung zugrunde liegen muss, rekurriert die wissenschaftliche Forschungspraxis unumgänglich auf weiteren, subjektiven Werturteilen: Ein Wissenschaftler muss einen Forschungsgegenstand bzw. ein Forschungsproblem und die eingesetzten Mittel (Methoden) zur Lösung des gewählten Forschungsproblems gegenüber möglichen Alternativen wertend vorziehen. 213 Sofern der Forscher unhintergehbar in gesellschaftlichen Kontexten eingebunden ist, erfolgt die Themen- und Problemwahl der wissenschaftlichen Forschungsarbeit nicht unabhängig von außerwissenschaftlichen Einflüssen und Werturteilen (z.B. das pragmatische Kriterium des gesellschaftlichen Nutzens oder die Effizienz). Außerdem fließen subjektiv wertende Annahmen, etwa beim Fürwahrhalten und Gewichten von Begriffen, Aussagen, Hypothesen und Theorien (vor dem Hintergrund wissenschaftlicher Schulen), in den Wahrnehmungsbzw. Erkenntnisprozess ein. Wir haben außerdem die Möglichkeit eines unangemessenen sprachlichen Entitätenzugriffs kennengelernt, wonach durch Begriffsimplikationen bestimmte Aspekte eines Sachverhalts herausgestellt und mit Wertungen verbunden werden. 214 Angesichts der Analyse des naturwissenschaftlichen Wahrnehmens und Handelns ist die Annahme eines an sich wertfreien Forschungsgegenstands bzw. wertfreien beschreibenden Zugriffs auf denselben haltlos. Wahrnehmen, Beschreiben und Urteilen sind vielmehr untrennbar miteinander verbunden, weshalb die gewonnenen deskriptiven Aussagen über einen Forschungsgegenstand nicht ohne die Kenntnis der mehr oder weniger subjektiven Wertungsprämissen adäquat verständlich sind. 211 Für den nachfolgenden kursorischen Überblick vgl. Eberlein (1991, 101ff.) und Keuth (1991, 117ff.). 212 Vgl. Krings (1985, 19). Sofern die wissenschaftliche Zielsetzung traditionell mit dem Wahrheitsbegriff in Verbindung gebracht wird, postuliert Weber (1988a, 212): „Wem diese Wahrheit nicht wertvoll ist - und der Glaube an den Wert wissenschaftlicher Wahrheit ist Produkt bestimmter Kulturen und nicht Naturgegebenes -, dem haben wir mit den Mitteln unserer Wissenschaft nichts zu bieten.“ 213 Vgl. Keuth (1991, 117ff.). 214 Siehe Kap. 2.3.2.4. Exempel für wertende Beschreibungen von Forschungsgegenständen bzw. Sachverhalten in wissenschaftlichen Stellungnahmen finden sich in meiner Studie über den ökonomisierenden Sprachgebrauch in der biomedizinischen Forschung, vgl. Beck (2010). <?page no="208"?> 3. In-/ Transparenz in der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschung 204 Dieser Problemaufriss ist insbesondere für die Ergebnisse von wissenschaftlichen Stellungnahmen und Gutachten von Bedeutung. Ein Gutachter rekurriert bei seiner Argumentationsstruktur bezüglich der Durchführung eines Projekts notwendigerweise auf normative Kriterien, die als Beurteilungsgrundlage für bekannte oder abschätzbare Folgen (in Form von Chancen und Risiken) dienen. Selbst wenn er als Bezugspunkte der Folgenabschätzung allgemeinverbindliche Grundwerte wählt, die in dem Projektkontext geläufig sind (z.B. gesundheitliche Unbedenklichkeit, individueller und kollektiver Nutzen, Umweltverträglichkeit, Verteilungsgerechtigkeit), impliziert die Folgenabschätzung stets eine Folgenbewertung nach subjektiven Präferenzen. 215 Sieht man von Fällen absichtlicher Partikularität ab, 216 sind es ebensolche subjektiven Werturteile, die widersprüchliche, kontroverse Resultate von Gutachten (Gegenexpertisen) verursachen können. Anstelle der erwähnten Trennung von Fakten und Werten legen die bisherigen Überlegungen nahe, zu einer „wertebewussten Wissenschaft“ (Eberlein) überzugehen. 217 Im Sinne einer Prämissentransparenz ist der jeweilige Forscher und Gutachter aufgefordert, die Wertungsmaßstäbe in wissenschaftlichen Stellungnahmen zu reflektieren und offenzulegen. 218 Die Prämissentransparenz ist bis auf die Ebene der Begriffswahl zur Beschreibung von Sachverhalten durchzuexerzieren. Unter dieser Voraussetzung kann erwartet werden, dass sich die Kontroverse um die involvierten, diametralen Expertisen zu einer Kontroverse um unterschiedliche Hintergrundannahmen transformiert, die allerdings nicht mehr empirisch- 215 Wandschneider (1991, 261) verdeutlicht dies am Beispiel der Folgenbewertungen: „Da Werthinsichten […] die eigentlichen Fragestellungen der Folgenabschätzungen definieren, muss der Einfluss subjektiver Wertvorstellungen eine Verzerrung der Sachstrukturen zur Folge haben, was dazu führt, dass relevante Information unterschlagen wird.“ 216 Unter absichtlicher Partikularität bei Gutachten versteht ebd., 253 die Intransparenz von Folgen hinsichtlich der zugrunde gelegten Werthinsichten. Umgekehrt kann eine vom Gutachter verlangte Prämissentransparenz im Sinne der vollständigen Darstellung der Projektfolgen nicht schlechthin geschehen, sondern „nur in bezug auf die hier einschlägigen Werthinsichten“. 217 Um werthafte Wissenschaftsgrundlagen ins Blickfeld zu bekommen, sollte der Gutachter, wie Eberlein (1991, 105) vorschlägt, zunächst „nach den gesellschaftlichen Grundwerten als Rahmenbedingungen [der Wissenschaften; RB] fragen; sodann nach eingestandenen wie uneingestandenen persönlichen Bewertungen, die das zu lösende Problem oder Projekt leiten. Er muss weiter fragen nach entsprechenden Vorgaben und Präferenzen des Auftraggebers sowie schließlich nach Wertvoraussetzungen und Erwartungen betroffener Individuen, Gruppen und Organisationen“. 218 Z.B. Rawls (1973, 133f.) verlangt mit seiner publicity condition bei einem gemischten Urteil die Offenlegung der zugrunde gelegten Moraltheorie bzw. Interpretation. <?page no="209"?> 3.2. Die wissenschaftsexterne Kommunikation 205 wissenschaftlich gelöst werden kann. 219 Darüber hinaus erhöht die Offenlegung der evaluativen und normativen Orientierung die Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse und Handlungsempfehlungen für einen Transparenzsuchenden, so dass die wissenschaftliche Expertise dadurch gegebenenfalls annehmbar wird. Insgesamt gilt die Einschätzung von Wandschneider: „Der Sachverständige, der zugibt, dass er gewisse Möglichkeiten und Risiken eines Projektes gar nicht überblickt oder in bestimmter Weise persönlich bewertet, sagt damit etwas für dessen Beurteilung sehr Wichtiges, das zu konkreten Konsequenzen nötigt, z.B. zur Heranziehung weiterer Gutachter, zur Durchführung neuer, gezielter Experimente usf.“ 220 Wie für die Transparenz der normativen Prämissen gilt für alle gewählten Beispiele, dass eine Explikation wissenschaftlicher Hintergrundinformationen vom Wissensstand des Transparenzsuchenden abhängig zu machen ist. (4) Mit den Beschreibungen der wissenschaftlichen Forschung sollte kritisch umgegangen werden. Gegenüber Laien ist eine sprachliche Form der Informierung zu wählen, bei der die suggerierten Geltungsansprüche mit dem Bereich des wissenschaftlich Gesicherten und wissenschaftsphilosophisch Legitimierbaren zur Deckung gebracht werden können. Die Sachangemessenheit erfordert es, z.B. Übertreibungen und Euphemismen auszuschließen. 221 Insbesondere bei antizipierten biomedizinischen Maßnahmen sollte klar gestellt werden, dass es sich lediglich um „Optionen“ handelt, „die durch neue Erkenntnisse und Erfolg versprechende Experimente in den Köpfen wach werden, obwohl ihre Erreichbarkeit durch die Fakten des Fortschritts keineswegs garantiert wird“. 222 Mieth, auf den dieses Zitat zurückgeht, denkt hierbei an die „somatische Gentherapie“, die zwar die Träume einer Welt ohne Leid und Krankheit beflügelte, deren Erreichbarkeit ohne riskante gesundheitliche Nebenfolgen bisher nicht wissenschaftlich bestätigt werden konnte. Eine unangemessene Darstellung der Erreichbarkeit biomedizinischer Innovationen ist in der Lage, neben irrealistischen gesellschaftlichen Bedürfnissen (Verbesserung des Menschen) auch über- 219 Bei wissenschaftlichen Kontroversen, die aufgrund unterschiedlicher Hintergrundannahmen unauflösbar sind, schlägt Schomberg (1992) einen gesellschaftsweiten Diskurs vor, um zu einer legitimen politischen Entscheidung zu kommen. 220 Wandschneider (1991, 265), der bei der Intransparenz theoretischer (z.B. Statistiken, Methoden etc.) und wertmäßiger Prämissen eines Gutachtens von einer fahrlässigen Täuschung der Rezipienten spricht: „Wer die Prämissen eines Urteils verschweigt, sagt im Grunde eine Teilwahrheit; fügt er die Prämissen aber hinzu, so transformiert er die Teilwahrheit in eine verbindliche Wahrheit, wenn auch negativen Inhalts: Die Aussage ‚Unter den gegebenen Umständen vermag ich das Restrisiko eines nuklearen Unfalls nicht sicher abzuschätzen‘ ist ja ihrerseits eine absolut sichere Aussage.“ 221 Jäger (1996, 57f.). Vgl. die Überlegungen und Beispiele zur sprachlichen Angemessenheit in Kap. 2.3.2.4. 222 Mieth (2001, 19). <?page no="210"?> 3. In-/ Transparenz in der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschung 206 zogene individuelle Erwartungshaltungen von Betroffenen (Heilung von Krankheit) zu evozieren, die angesichts der Enttäuschung negative psychische Folgen verursachen können. Bei Berücksichtigung der erläuterten Aspekte formeller und inhaltlicher Transparenz wird vorausgesetzt, dass die originär intransparenten naturwissenschaftlich-biomedizinischen Informationen von wissenschaftlichen Experten aufbereitet und an Laien verständlich vermittelt werden können. 3.2.2.3. Der Charakter der Transparenznorm Angesichts der genannten formellen und inhaltlichen Schwerpunkte, die bei einer Transparenzvermittlung im Bereich der biomedizinischen Forschung zu berücksichtigen sind, wird die allgemeine Transparenznorm, die bei den einführenden Untersuchungen rekonstruiert wurde, für den Bereich der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschung konkretisiert. Grundsätzlich besteht die Möglichkeit, die wissenschaftsexterne Transparenznorm (TN B ) als eine Verbotsnorm zu konzipieren, die es einem potentiellen Transparenzvermittler verbietet, wissenschaftliche Informationen auf Nachfrage zu verheimlichen oder zu verschleiern. Auf der Grundlage vorgängiger Überlegungen, die nicht nur die Vermittlung relevanter Ergebnisse, sondern auch verständnisgenerierender Hintergrundinformationen (z.B. zur methodischen Gewinnung, zum epistemischen Status, zum Nichtwissen, zu normativen Vorannahmen) nahe legen, ergibt sich folgende Formulierung der Verbotsnorm: ITV B : „Verheimliche und verschleiere keine relevanten biomedizinischen Informationen (z.B. wissenschaftliche Forschungsergebnisse) und zu ihrem Verständnis notwendige Hintergrundinformationen! “ Bei der Formulierung der Verbotsnorm ist zu berücksichtigen, dass die Handlungsweise der Verheimlichung insgesamt formelle Intransparenz verursacht, während sich inhaltliche Intransparenz kausalursächlich der Verschleierung von Informationen zuordnen lässt. Als Gebotsnorm, die einen Transparenzvermittler dazu auffordert, biomedizinische Ergebnisse und Hintergrundinformationen eigeninitiativ an die Öffentlichkeit zu vermitteln, liest sich die wissenschaftsexterne Transparenznorm wie folgt: TG B : „Ermögliche formellen und inhaltlichen Zugang zu relevanten biomedizinischen Informationen (z.B. wissenschaftliche Forschungsergebnisse), indem sie wahrheitsgemäß und vollständig sowie verständlich und sprachlich angemessen dargestellt werden. Zu ihrem Verständnis notwendige Hintergrundinformationen sind zu explizieren und zu erläutern! “ <?page no="211"?> 3.2. Die wissenschaftsexterne Kommunikation 207 Angesichts des zeitlichen und motivationalen Aufwands einer Transparenzvermittlung besteht Klärungsbedarf, ob die wissenschaftsexterne Transparenznorm einen Transparenzvermittler dazu anhalten sollte, nur bei Nachfrage (passiv) oder aus Eigeninitiative (aktiv) Transparenz über Sachverhalte herzustellen. Während eine Verbotsnorm intransparenter Informierungen die minimale Reichweite der Transparenznorm darstellt, scheint eine Gebotsnorm zumindest bei solchen Informationen angebracht zu sein, deren Kenntnis Einfluss auf die Verwirklichung hoher Güter hat. Dies trifft zweifellos auf naturwissenschaftlich-biomedizinische Informationen - insbesondere auf solche über Chancen und Risiken bzw. Nebenwirkungen von Biotechniken - zu, sofern auf deren Grundlage über die Anwendung von Maßnahmen entschieden wird, die auf die psychische und physische Integrität der Anwender Einfluss haben. Angesichts der Fülle vermittelbarer Informationen sind bei der Konzeptualisierung der biomedizinischen Transparenznorm Abstufungen bezüglich der Informationsrelevanz vorzunehmen: Für Rezipienten hochrelevante Informationen sollten stets proaktiv vermittelt werden, während der Verbindlichkeitscharakter des Gebots mit der Dringlichkeit der Informationen sinkt. Die Anforderung an wissenschaftliche Experten, je nach Relevanz wissenschaftliche Informationen proaktiv zu vermitteln, darf nicht mit einer exzessiven Offenlegung sämtlicher Informationen verwechselt werden. 223 Nicht nur funktionalistische Argumente sprechen bei gegebener wissenschaftsinterner Zielsetzung gegen eine „gläserne Forschung“; auch aus einer wissenschaftsexternen epistemisch-praktischen Perspektive gilt, dass Informationen erst dann zur Verfügung gestellt werden sollten, wenn sie als gesichert gelten. 224 3.2.2.4. Zusammenfassung Als Bilanz konnte in diesem Kapitel eine zweigliedrige wissenschaftexterne Transparenznorm (TN B ) formuliert werden, die durch ihren spezifischen Normengehalt beanspruchen kann, formelle und inhaltliche Transparenzprobleme biomedizinischer Informierung in wissenschaftlichen Beratungssituationen aufgegriffen und reguliert zu haben. Grundlegende Probleme der wissenschaftsexternen Interaktion stellen das Verheimlichen (und die Folge der formellen Intransparenz) und Verschleiern (und die Folge der inhaltlichen Intransparenz) wissenschaftlicher Informationen dar. Sofern das Verheimlichen wissenschaftlicher Informationen bereits Regulationsobjekt einer wissenschaftsinternen funktionalen Transparenznorm ist, wurde die Berücksichtigung dieser internen Norm als notwendige Voraussetzung für 223 In der Soziologie wird das Problem der sog. stakeholder-fatigue im Rahmen überbordeter Transparenzforderungen diskutiert; vgl. Jahansoozi (2006, 86) für eine einführende Erläuterung. 224 Vgl. Jasanoff (2006, 22). <?page no="212"?> 3. In-/ Transparenz in der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschung 208 die Generierung wissenschaftsexterner Transparenz angesehen. Ihr Normengehalt fließt direkt in die externe Transparenznorm ein. Obwohl häufig vernachlässigt, ist darin beispielsweise die Veröffentlichung hypothesenwiderlegender Ergebnisse geregelt. Zusätzlich besteht bei wissenschaftsexternen Interaktionen der Bedarf, die Verschleierung wissenschaftlicher Informationen zu regulieren, die durch unverständliche bzw. unangemessene Beschreibungen von biomedizinischen Sachverhalten entsteht. Zur Lösung dieser Transparenzprobleme wurde der Gehalt der Transparenznorm dahingehend erweitert, dass ein Transparenzvermittler nicht nur relevante biomedizinische Ergebnisse in einer verständlichen Sprache vermitteln, sondern auch verständnisgenerierende Hintergrundinformationen (u.a. bezüglich des epistemischen Status) ergänzen soll. Die Transparenznorm wird sowohl den gesellschaftlichen Bedürfnissen nach Transparenz, als auch den wissenschaftlichen Notwendigkeiten von Intransparenz gerecht, sofern sie primär die Vermittlung von Informationen vorsieht, die aus einem abgeschlossenen Forschungsprojekt hervorgegangen sind. Bei ihrer Berücksichtigung durch die beratenden wissenschaftlichen Experten darf erwartet werden, dass Transparenzsuchende über biomedizinische Zusammenhänge besser aufgeklärt werden und anstehende Entscheidungen wohlinformiert treffen können. Auf gesellschaftlicher Ebene können richtungsweisende Ressourcenverteilungen vorgenommen und rechtliche Rahmenwerke entworfen werden, unter denen geforscht bzw. die Forschung angewandt wird; auf individueller Ebene können Chancen und Risiken einer biomedizinischen Intervention abgeschätzt und eine Inanspruchnahme - gegebenenfalls in Relativierung überzogener Machbarkeitsphantasien - reflektiert werden. Im nachfolgenden Kapitel wird die ethische Begründung dieser Transparenznorm unternommen. <?page no="213"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 4.1. Agenda einer ethischen Begründung der Transparenznorm 4.1. Agenda einer ethischen Begründung der Transparenznorm In den vorgängigen Schritten wurde das Transparenzkonzept einer lexikalisch-kontextuellen Bedeutungsanalyse unterworfen, aus der eine allgemeine handlungsleitende Transparenznorm, die in unterschiedlichen gesellschaftlichen Handlungsfeldern mit divergierender Akzeptanz vorgetragen wird, gewonnen werden konnte (TN A ). In Weiterführung der Gedanken wurde eine spezifische wissenschaftsexterne Transparenznorm für den Bereich der biomedizinischen Forschung formuliert (TN B ), die den typischen Problemfeldern bei Interaktionen zwischen den Wissenschaften und der Gesellschaft (u.a. bei wissenschaftlichen Beratungssituationen) gerecht wird. Im nachfolgenden Kapitel wird sich einer ethischen Begründung der entwickelten wissenschaftsexternen Transparenzforderung als das beim Sprechhandeln zu Berücksichtigende zugewandt. Wenngleich die normativen Überlegungen separat zu den deskriptiven Untersuchungsschritten der zurückliegenden Kapitel erfolgen, können sie nicht als unverbunden betrachtet werden, da bei einer fehlenden Korrespondenz der gewählten Ethiktheorie bzw. der aus ihr entwickelten ethischen Begründung den analysierten Bedeutungsumfang des Transparenzkonzepts konterkarieren könnte. 1 Aus der Begriffsbzw. Gehaltsanalyse lassen sich folgende kriteriologischen Mindestanforderungen an eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm (TN B ) postulieren, die bei der Wahl der Ethiktheorie zu berücksichtigen ist: (1) Transparenz muss als eine eigenständige und starke Kommunikationsnorm begründet werden, die in einer funktionalistisch ausdifferenzierten Gesellschaft universal, d.h. für alle Kommunikationsteilnehmer gleichermaßen gilt (Normenaspekt). 2 In asymmetrischen Beziehungen (z.B. Ex- 1 Ein überspitztes Beispiel für eine fehlende Korrespondenz zwischen herangezogener Ethiktheorie und Gehalt einer Norm wäre der Versuch, das Gebot der Feindesliebe mit utilitaristischen Argumenten zu stützen. 2 Vgl. Krämer (1992), der die Aufgabe der normenbegründenden Sollensethik gegenüber einer zeitgenössischen Strebensethik auf den Punkt bringt: Angesichts der unüberwindbaren Pluralität von Lebensentwürfen könne ein einheitliches Ziel des guten Lebens nicht vermittelt werden, welches den Rahmen des moralischen Zusammenlebens vorgibt; in dieser Situation kommt der Sollensethik die Aufgabe zu, Normen zu entwerfen, um Auseinandersetzungen vorzubeugen und Konflikte zu lösen. <?page no="214"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 210 perten-Laien-Interaktionen) sollte sie den Sprecher zu einer konkreten Handlung verpflichten, während dem Rezipienten das korrespondierende Recht zuerkannt wird, die Befolgung der Transparenznorm einfordern zu können. 3 Insbesondere im naturwissenschaftlich-biomedizinischen Kontext muss Transparenz gerade denen gegenüber geboten sein, die wissenschaftliche Geltungsansprüche nicht kritisch hinterfragen können und oftmals als autoritativ annehmen müssen. Der Normenaspekt soll dem Umstand Rechnung tragen, dass das transparenzkonforme Handeln potentieller Transparenzvermittler weniger einer externen Kontrolle, denn einer eigenverantwortlichen Selbstkontrolle zugänglich ist. Der Normenanspruch der Transparenzforderung ist hinsichtlich der Charakteristika des Transparenzkonzepts wie folgt zu konkretisieren: (a) Eine ethische Begründung muss beide Transparenzcharakteristika, also die Ermöglichung der formellen und inhaltlichen Informationszugänglichkeit erfassen. Sofern die wissenschaftsexterne Transparenznorm inhaltlich auf einen bedeutenden Topos moralphilosophischer Reflexion verweist - der Begründung der Kommunikationsnormen der Wahrhaftigkeit und des Lügenverbots - können grundlegende Einsichten und Argumente als Ausgangspunkt dienen. Dies soll nicht heißen, dass eine Begründung der Transparenznorm darin aufgehen würde; angesichts der transparenzkonstitutiven Kriterien der Vollständigkeit, Verständlichkeit und sprachlichen Angemessenheit der Informationen, die im traditionsreichen Gebot der Wahrhaftigkeit und dem Lügenverbot weitgehend unberücksichtigt bleiben, muss eine Argumentation über deren Begründungsvorschläge hinausgehen. 4 (b) Der Doppelcharakter der Transparenznorm (formelle und inhaltliche Informationszugänglichkeit) zieht eine komplexe ethische Begründung nach sich: Diese muss einerseits einen objektiven Kommunikationsstandard erfassen, der gegebenenfalls überprüf- und einforderbar ist, andererseits einen Entscheidungs- und Handlungsspielraum offen lassen, der für eine personen- und situationssensitive Umsetzung genutzt werden kann. Mit Personensensitivität sind Bezugnahmen auf die sprecherseitigen Informationsakquirierungs- und Vermittlungsfähigkeiten sowie die hörerseitigen Verständnisfähigkeiten gemeint, die dringend erforderlich sind, da die bloße Erfüllung eines Regelkatalogs nicht die erforderliche Transparenz von Informationen vor der Möglichkeit der subjektiv empfundenen Intransparenz garantiert. 5 Situationssensitivität impliziert nach einer rezipien- 3 O’Neill (1996, 169ff.); dies. (2002a, 78ff.) betrachtet Rechte und Pflichten als zwei Seiten einer Medaille, die von verschiedenen Perspektiven der Handlungsakteure aus formuliert werden. 4 Vgl. Kap. 2.5.2. 5 Vgl. die vieldiskutierten Informationsstandards beim Informed Consent. Die umstrittene rechtliche Festlegung objektiver Standards bei der Aufklärung wurde mittlerweile durch die Einführung subjektiver Standards ergänzt; vgl. Schöne-Seifert (2005). <?page no="215"?> 4.1. Agenda einer ethischen Begründung der Transparenznorm 211 tenseitigen Anfrage eine abwägende sprecherseitige Beurteilung, in welchem Umfang Transparenz bezüglich eines Sachverhalts hergestellt werden soll. 6 Diese ist erforderlich, sofern in verschiedenen Situationen nicht die Weitergabe aller verfügbaren Informationen erforderlich ist, damit ein Sachverhalt transparent wird. Da die Transparenznorm, wie jede andere Handlungsnorm, eine generalisierte Handlungsanweisung darstellt, 7 bedarf ihre Anwendung auf Personen und Situationen letztlich einer erfahrungsbasierten Applikationskompetenz, die traditionell der Urteilskraft zugeordnet wird. (c) Die wissenschaftsexterne Transparenznorm liegt in zwei Formulierungen vor: 8 „Ermögliche formellen und inhaltlichen Zugang zu relevanten biomedizinischen Informationen, indem sie wahrheitsgemäß und vollständig sowie verständlich und sprachlich angemessen dargestellt werden. Zu ihrem Verständnis notwendige Hintergrundinformationen sind zu explizieren und zu erläutern! “ (TG B ) und „Verheimliche und verschleiere keine relevanten biomedizinischen Informationen und zu ihrem Verständnis notwendige Hintergrundinformationen! “ (ITV B ). Bei der Normenbegründung müssen beide Modi, also die passive Informationspflicht im Sinne einer Verbotspflicht intransparenter Informierung als auch die aktive Informationspflicht, Informationen aus einer Eigeninitiative heraus zu vermitteln, berücksichtigt werden. Aktive und passive Transparenzpflichten setzen selbstredend unterschiedliche Transparenzmaßstäbe voraus, die bedacht werden müssen: Wird beispielsweise ein Wissenschaftler in einer Beratungssituation gezielt um vollständige Aufklärung gebeten (passive Informationspflicht), weist der Transparenzimperativ an, sämtliche relevanten Informationen gemäß des eigenen Kenntnisstands weiterzugeben. Besteht hingegen keine konkrete Anfrage, wäre eine rigide Vorschrift unsinnig, sämtliche Informationen über neue wissenschaftliche Erkenntnisse im Sinne der Vollständigkeit zu vermitteln. Eine aktive Transparenzpflicht ist umso dringlicher zu kennzeichnen, je relevanter die Information für Entscheidungsfindungen hinsichtlich der Verwirklichung oder Verhinderung fundamentaler Güter (hier: psychische und physische Integrität) sind. (d) Da Transparenz aufgrund oder trotz ihrer positiv evaluierten, erkenntnisgenerierenden Funktion unterschiedliche Prinzipien und Normen, Gü- 6 Vgl. Schockenhoff (2005, 204), der als Kommunikationsnorm den Begriff der „situationsadäquaten Wahrheit“ entwickelt: „Sittlich richtig ist eine Aussage nicht allein dann, wenn sie mit ihrem Gegenstand übereinstimmt; sie muss diesen Gegenstand auch in einer der Situation entsprechenden Weise wiedergeben, in die sie hineingesprochen wird. Nur wenn eine Aussage die Bedingung einer doppelten Übereinstimmung erfüllt und ihren Gegenstand in der Situation adäquat wiedergibt, kann sie in einem umfassenden Sinn ‚wahr‘, d.h. richtig und angemessen genannt werden.“ 7 So die Normencharakterisierung von Ott (2002, 458). 8 Vgl. die Formulierung in Kap. 1.3.3. <?page no="216"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 212 ter und Werte tangiert bzw. ambivalente Folgen nach sich ziehen kann, 9 verbietet sich eine kategorische und unspezifische Handlungsanweisung. Bei jeder Handlungsentscheidung sollte die Transparenznorm einer prinzipiellen Abwägbarkeit gegenüber anderen tangierten Prinzipien und Normen, Werten und Gütern offen steht. Bei einer Applikation der Transparenznorm sind falltypenspezifische Überlegungen anzustellen, die ihre Dringlichkeit von einer vorgängigen Spezifizierung des Zielobjekts und des Kontexts abhängig machen. (2) Unter erschwerten Umständen (z.B. bei Interessenkonflikten) scheint die vernünftige Einsicht und Akzeptanz der wissenschaftsexternen Transparenznorm nicht ihre durchgehende handelnde Berücksichtigung und adäquate Erfüllung sicherstellen zu können. 10 Außerdem bedarf die rezipientenspezifische Transparenzgenerierung einer komplexen Vermittlungs- und Abwägungsarbeit, die der Transparenzvermittler einüben und durch Erfahrung schulen muss. Daher sollte eine ethische Begründung der Transparenznorm zusätzlich die Entfaltung einer charakterlichen, tugendhaften Haltung des Kommunikatoren implizieren, die über einen längeren Zeitraum zu erwerben ist und in verschiedenen Interaktionen erprobt und realisiert werden muss (Tugendaspekt). Tugendhafte Voraussetzungen beziehen sich einerseits auf eine adäquate Wahrnehmung der Wirklichkeit (wissenschaftliche Tugenden bzw. „Forschertugenden“), andererseits auf die adäquate Vermittlung der derart erfassten Wirklichkeit (kommunikative Tugenden). (3) Damit die latente Beziehungsasymmetrie zwischen Transparenzvermittler und Transparenzsuchenden nicht mithilfe einer manifesten Verpflichtungsasymmetrie kompensiert wird, sollten reziproke Rechte und Pflichten begründbar sein, die sich auch auf die adäquate Rezeption der Informationen durch den Transparenzsuchenden beziehen. Wie schon bei der philosophischen Analyse herausgestellt wurde, kann die Zielsetzung der kognitiven Transparenz nur bei wechselseitiger Kooperationsbemühung zwischen Transparenzvermittler und -suchenden erreicht werden: Der Befolgung bestimmter Sprachregeln auf Seiten des Transparenzvermittlers müssen Anstrengungen vom Transparenzsuchenden um eine adäquate Interpretation der sprecherseitigen Äußerung korrespondieren. 11 Unter den genannten Voraussetzungen besteht die Hauptaufgabe des vorliegenden Kapitels in der ethischen Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm. Die spezifische Adressierung des Personenkreises der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forscher, für die die vorge- 9 Vgl. Kap. 1.3.2. 10 Vgl. die grundlegende Kritik von Williams (1985) an der deontologischen Ethik, die er aufgrund ihres Motivationsdefizits durch eine tugendethische Moralphilosophie ersetzen möchte. 11 Siehe Kap. 2.3.2.3. <?page no="217"?> 4.1. Agenda einer ethischen Begründung der Transparenznorm 213 schlagene Transparenznorm verbindlich sein soll, legt eine Untersuchung wissenschaftsethischer Begründungsmodelle nahe, die für den Handlungsbereich der naturwissenschaftlich-biomedizinischen Forschung einschlägig sind (4.2.). Hierzu wird das Aufgabengebiet der Wissenschaftsethik als bereichsspezifische Ethik dargelegt (4.2.1.) und die Frage erläutert, ob der Handlungsbereich der wissenschaftlichen Forschung überhaupt einer ethischen Regulierung zugänglich ist (4.2.2.). Anschließend wird eine Unterteilung der Wissenschaftsethik in einschlägige Paradigmen vorgeschlagen, die in fachwissenschaftlichen Textbeiträgen identifizierbar sind. Mit der Vorstellung und pointierten Kritik der einzelnen Paradigmen (4.2.3.- 4.2.5.) wird die Absicht verfolgt, die gegenwärtig ermüdete Wissenschaftsethik zu stimulieren. Der Paradigmenbegriff wird in weitläufigem Rekurs auf Thomas S. Kuhn verwendet, der darunter „allgemein anerkannte wissenschaftliche Leistungen [versteht], die für eine gewisse Zeit einer Gemeinschaft von Fachleuten maßgebende Probleme und Lösungen liefern“. 12 Sofern Kuhn unter einem „Paradigma“ nicht nur wissenschaftliche Begriffe und Theorien subsumiert, sondern auch Normen, Werte, Methoden, Standards und andere Hintergrundannahmen, die während der Forschungsarbeit vorausgesetzt bzw. akzeptiert werden, 13 lässt sich der Begriff von seinem ursprünglichen Topos der naturwissenschaftlichen Forschung auf die Wissenschaftsethik übertragen. Die darin identifizierten Paradigmen, welche spezifische normative Lösungsvorschläge für Problemfelder des wissenschaftlichen Handlungsbereichs umfassen, werden auf ihre Stichhaltigkeit zur Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm untersucht. Stellt sich heraus, dass sie hinsichtlich der dargelegten Mindestanforderung an eine ethische Begründung nicht ausreichen (4.2.6.), wird die Kantische Moralphilosophie als Begründungstheorie für weitere Fundierungsversuche der Transparenznorm herangezogen (4.3.). 12 Kuhn (2002, 10). 13 Vgl. Detel (1991, 201) für diese Interpretation des Paradigmenbegriffs. Der Gebrauch des Paradigmenbegriffs soll weniger die erkenntnistheoretische Verbundenheit zu einer relativistischen Wissenschaftsethik zum Ausdruck bringen, als vielmehr veranschaulichen, dass ethische Begründungsmodelle in der Wissenschaftsethik in Korrespondenz zu aktuellen Problemen des Handlungsfeldes entwickelt, akzeptiert und modifiziert werden. <?page no="218"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 214 4.2. Eine Begründung der Transparenznorm mithilfe der Paradigmen der Wissenschaftsethik 4.2. Paradigmen der Wissenschaftsethik 4.2.1 Wissenschaftsethik als bereichsspezifische Ethik Die Wissenschaftsethik stellt eine Teildisziplin der „angewandten“ oder besser „bereichsspezifischen“ Ethik dar, 14 die im Vergleich zu anderen Bereichsethiken (z.B. Bio- oder Medizinethik) nicht durchgehend den Status einer eigenständigen akademischen Disziplin erreicht hat. 15 Die Aufgabenstellung der allgemeinen Ethik, die handlungsregulierende Moral theoretisch zu reflektieren und dabei nach gutem und richtigem Handeln zu fragen, bezieht die Wissenschaftsethik auf das Handlungsfeld der Wissenschaften. Da sich die Wissenschaftsethik lediglich durch die Eingrenzung des Objektbereichs von der allgemeinen Ethik unterscheidet, kommt ihr nicht der Status einer Sonderethik zu, der ihr fälschlicherweise zugeschrieben wird. 16 Durch die Fundierung in der allgemeinen Ethik werden an jene vielmehr die gleichen theoretisch-argumentativen Forderungen, z.B. nach Begründbarkeit, Konsistenz, Prämissenexplikation der Argumentation, Methodenreflexion etc. erhoben und zugleich die erkenntnistheoretischen Problemstellungen einer begründeten normativen Ethik beerbt. Das Vorhaben einer Wissenschaftsethik besteht einerseits aus einer Rekonstruktion vorzufindender sittlicher Verbindlichkeiten, die zum impliziten Wissenschaftsethos bzw. zu expliziten Verhaltenskodizes der Disziplinen, Wissenschaftsorganisationen und Berufsverbände verdichtet sind (deskriptive Wissenschaftsethik); andererseits aus einer Reflexion und Kri- 14 Ich schließe mich Düwell (2002b) und Nida-Rümelin (2005a) an, die den Begriff der „Bereichsethik“ gegenüber den verbreiteten Termini der „angewandten“ oder „anwendungsorientierten Ethik“ präferieren. Während jede ethische Reflexion einen Anwendungsbezug inkludiert, erfasst der Begriff der Bereichsethik besser den spezifischen Objektbezug als differentia specifica gegenüber anderen ethischen Reflexionen. 15 Dies bemerkt Foley (2003, 8). Ein Kennzeichen der bisher ausstehenden disziplinären Etablierung ist eine uneinheitliche Terminologie, mit der das Vorhaben einer Reflexion des wissenschaftlichen Handelns beschrieben wird: Bei gegebener Aufgabenstellung ist neben Wissenschafts- (ethics of science) auch von Forschungsethik (research ethics) die Rede (vgl. Graumann 2006 und Fuchs et. al. 2010). Sofern als bereichsethische Zielsetzung nicht nur die Reflexion charakteristischer Handlungen angegeben wird, die mit dem Forschungsprozess im Zusammenhang stehen, ist m.E. der Begriff der Wissenschaftsethik vorzuziehen. Wissenschaftsethik wird auch als Teildisziplin der Berufs- oder Professionsethik aufgefasst, die auf das Handeln im Kontext der beruflichen bzw. professionellen Praxis reflektiert; vgl. Münk (1998). 16 Vgl. Spinner (1985), der das Wissenschaftsethos als „Sondermoral für Wissenschaftler“ bzw. als „Sonderethik des Wissens“ bezeichnet. Gegen diese Auffassung verwehren sich z.B. Gethmann (1998), Höffe (2002d) und Ott (1997, 48). Mittelstraß (2001, 81) meint, es gebe „strenggenommen keine geschlossenen ethischen Welten, in denen jeweils nur eine Ethik gelten würde“. <?page no="219"?> 4.2. Paradigmen der Wissenschaftsethik 215 tik der rekonstruierten sittlichen Verbindlichkeiten bzw. aus einer Entwicklung neuer Verbindlichkeiten auf der Basis allgemeiner ethischer Kriterien (normative Wissenschaftsethik). Primäre Objekte der wissenschaftsethischen Analyse sind wissenschaftliche Handlungen, die zu relativ beständigen institutionalisierten Handlungsmustern ausgeprägt sein können und sich dadurch von Handlungen in anderen Tätigkeitsfeldern unterscheiden lassen. 17 Hierbei beziehen sich wissenschaftsethische Überlegungen hauptsächlich auf die Zielsetzung, die verwendeten Methoden (bzw. Mittel) und Folgen des wissenschaftlichen Handelns: Während die klassische wissenschaftliche Zielsetzung des methodisch kontrollierten Wissensgewinns als unproblematisch bzw. sogar wertvoll angesehen wird, resultieren spätestens aus dem potentiellen Anwendungsbezug ethische Fragen; diese beziehen sich auf die übergeordneten Zielsetzungen, für die das erarbeitete wissenschaftliche Wissen eingesetzt wird. Hinsichtlich der wissenschaftlichen Methode, die beim Forschungshandeln angewendet wird, widmet sich die Wissenschaftsethik der Rekonstruktion solcher Normen und Regeln, die universalisierbar in Bezug auf die wissenschaftliche Praxis sind. Weitere Überlegungen beziehen sich auf die Legitimität des wissenschaftlichen Handelns angesichts des (zu bestimmenden) normativen Status des Untersuchungsgegenstandes, der durch die experimentelle Intervention zur Gewinnung wissenschaftlichen Wissens instrumentalisiert (verändert, beschädigt oder sogar getötet) wird. Außerdem werden in der Wissenschaftsethik die Folgen reflektiert, die aus der Forschung oder Anwendung der Forschungsergebnisse für Mensch, Gesellschaft und Umwelt resultieren. Wissenschaftsethische Ansprüche können dementsprechend auf sämtlichen handlungstheoretischen Ebenen (Handlung, Ergebnisse und Folgen) erhoben werden, die wissenschaftliche Handlungen im engen Sinne (Forschungshandlungen im Labor) und im weiten Sinne (z.B. Beratungs- und Veröffentlichungspraktiken) betreffen. Besondere Aufmerksamkeit erfahren Situationen, in denen wissenschaftliche Verhaltensweisen, die sich an der Zielsetzung des Erkenntnisgewinns orientieren, mit universalmoralischen Normen oder ethischen Prinzipien konflingieren. 18 Über die Reflexion der einzelnen wissenschaftlichen Handlungen hinaus beziehen sich wis- 17 Hilfreich ist die Differenzierung von Heubel (1999, 42) zwischen Handlung und Tätigkeit: Während erstere jedes zweckgerichtete Tun und Lassen bezeichnet, meint letztere „ein auf Dauer gestelltes, spezifisches, nicht in jedem Moment neu bekräftigtes, dennoch insgesamt gewolltes Handeln (wie z.B. eine Berufsausübung)“. 18 Bischur/ Sedmak (2003) zeigen bei einer Umfrage unter wissenschaftlichen Mitarbeitern der Universität Salzburg, dass die meisten Wissenschaftler darunter leiden, mit zwei unterschiedlichen Normensystemen „fertig werden“ zu müssen: „So müssen Biowissenschaftler entscheiden, ob sie persönlich verantworten können, dass sie Tiere im Tierversuch nicht nur töten, sondern darüber hinaus auch leiden lassen, um die von der wissenschaftlichen Sorgfalt geforderten Mortalitätsdaten zu erhalten.“ <?page no="220"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 216 senschaftsethische Überlegungen auf die Gestaltung der institutionellen Rahmenbedingungen (Gremien, Institutionen, Kodizes etc.), in denen die individuellen wissenschaftlichen Handlungen vorgeformt werden. 19 Entgegen der Annahme, es mangele der Wissenschaftsethik an paradigmatischen Konzeptionen, 20 können gemäß der genannten wissenschaftsethischen Aufgabenstellung (mindestens) vier verschiedene Paradigmen identifiziert werden, auf die zahlreiche Wissenschaftsethiker implizit rekurrieren. Diese Paradigmen sind sowohl mit bestimmten wahrgenommenen Problemfeldern im Handlungsbereich der Wissenschaften als auch korrespondierenden normativen Lösungsvorschlägen verbunden: 21 (1) Im Ethosparadigma steht das spezifische Berufsethos des Wissenschaftlers als Mitglied der wissenschaftlichen Zunft im Mittelpunkt der Reflexion, was einer Minimalkonzeption der Wissenschaftsethik entspricht. Hierbei geht es hauptsächlich um die Rekonstruktion normativer Standards, die das Handeln des Wissenschaftlers zum wissenschaftlichen Handeln machen und an die der Wissenschaftler im Interesse der Wahrheitsfindung gebunden ist. Der Sicherung des Forschungsprozesses auf dem Weg zur Gewinnung wissenschaftlichen Wissens entspricht die Abwehr wissenschaftlichen Fehlverhaltens. (2) Im Verantwortungsparadigma wird die moralische Verantwortung des Wissenschaftlers für „praktische“ Folgen untersucht, die mit seinen wissenschaftlichen Handlungen in Zusammenhang stehen. In Fokussierung auf die absehbaren, kurz- und langzeitigen Folgen für Mensch und Umwelt, die aus der Erzeugung und Verwendung des wissenschaftlichen Wissens resultieren, wird der Frage nachgegangen, ob und in welchen Grenzen dem zuständigen Wissenschaftler hierfür eine Verantwortlichkeit zugeschrieben werden kann. (3) In Kenntnis der herausgehobenen Rolle des Wissenschaftlers als Experten, in dem er als Informant und Berater sein spezifisches wissenschaftliches Wissen und seine Fähigkeiten der Öffentlichkeit zur Verfügung stellt, wird beim Expertenparadigma nach normativen Regelungen dieses Handlungsbereichs gefragt. Eine Möglichkeit stellt die Analyse der Rollenverantwortung der wissenschaftlich tätigen Person als Experte dar. 19 Dies betonen z.B. Steigleder/ Mieth (1991, XIf.). 20 So moniert Ott (1997, 25), es fehle der Wissenschaftsethik bislang eine „paradigmatische Konzeption“, der es gelingt, „einen methodisch abgesicherten Theoriekern […] zu begründen, der möglichst viele Phänomene zu übergreifen vermag“. 21 Die Paradigmenvorschläge sind von Hegselmann (1991, 215ff.) inspiriert, der insgesamt sechs Aufgaben der „Ethik der Wissenschaften“ unterscheidet. Die von ihm zusätzlich genannten Aufgabengebiete der Wissenschaftsfinanzierung bzw. -förderung und gesellschaftlichen Verwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse lassen sich indes nicht dem Handlungsbereich der Wissenschaften, sondern der Gesellschaft zuordnen und werden daher nicht übernommen. <?page no="221"?> 4.2. Paradigmen der Wissenschaftsethik 217 (4) Im Forschungsparadigma werden die experimentellen Handlungen als wichtige Aspekte des wissenschaftlichen Handelns einer ethischen Bewertung unterzogen. 22 Sofern die Zielsetzung, wissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen, prima facie als unproblematisch vorausgesetzt werden kann, konzentrieren sich die Untersuchungen des Forschungsparadigmas primär auf die im Experiment eingesetzten Mittel. Bei der anschließenden Frage nach der Legitimität einer experimentellen Instrumentalisierung von Versuchsobjekten stehen meist drastische Fälle von Human- und Tierversuchen im Mittelpunkt. Ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben werden mit diesen vier Paradigmen die vornehmlichen Forschungsbereiche der Wissenschaftsethik erfasst, auf die sich weite Teile der Fachliteratur beziehen. Überschneidungen der Paradigmen sind nicht auszuschließen, da jeweils einzelne, teils idealtypische Aspekte des wissenschaftlichen Handelns herausgehoben werden, die hinter der Komplexität der Praxis zurückbleiben. Abgesehen vom Forschungsparadigma - dieses ist durch die Fokussierung auf die verwendeten Mittel des wissenschaftlichen Experiments für eine Begründung der Transparenznorm weniger geeignet -, 23 werden in den nachfolgenden Schritten die ersten drei Paradigmen (das Ethosparadigma in 4.2.3., das Verantwortungsparadigma in 4.2.4. und das Expertenparadigma in 4.2.5.) erläutert und auf ihre Tragfähigkeit für eine Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm untersucht. Dies setzt voraus, dass die Wissenschaften, die sich bekanntlich im Schutz- und Schonraum der grundgesetzlich garantierten Forschungsfreiheit bewegen, überhaupt einer ethischen Regulierung zugänglich sind. Sofern diese Annahme angesichts der Wissenschaftsfreiheit nicht unumstritten ist, soll zuvor eine ethische Regulierung wissenschaftlicher Handlungen prinzipiell, d.h. unabhängig konkreter Szenarien und szenarienbezogener Normierungen, gerechtfertigt werden. 22 Wird hiermit eine Subsumption des Forschungsparadigmas unter die „Wissenschaftsethik“ vorgeschlagen, ist zu berücksichtigen, dass ethische Überlegungen zum Forschungshandeln in der Literatur meist unter dem Genre der „Forschungsethik“ verhandelt werden und dabei das Ethos- und Verantwortungsparadigma einbeziehen; vgl. z.B. Brody (1998), Graumann (2006) und Fuchs u.a. (2010). 23 Indirekt lässt sich das Transparenzgebot, welches u.a. die Veröffentlichung aller wichtigen Ergebnisse eines Humanexperiments fordert, innerhalb des Forschungsparadigmas wie folgt begründen: Humanexperiemente sind stets mit gesundheitlichen Risiken für die Probanden verbunden. Ist ein Experiment bereits erfolgreich durchgeführt, ohne dass die Ergebnisse publiziert werden, besteht die Möglichkeit, dass ein gleiches oder ähnliches Humanexperiment erneut durchgeführt wird. Probanden werden dabei vor dem Hintergrund der geforderten Chancen-Risiken-Abwägung einem unnötigen Risiko ausgesetzt, das sich für einen erneuten Versuch nicht mehr legitimieren lässt; vgl. Fuchs u.a. (2010, 78) und Strech (2011, 182f.). <?page no="222"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 218 4.2.2. Eine ethische Regulierung der (wert)freien Wissenschaft? Die Freiheit von Forschung und Lehre stellt innerhalb der Wissenschaften ein hohes Gut dar, da sie eine grundlegende Voraussetzung für eine objektive, wertfreie Wissenschaft ist. Externe Einflussnahmen auf Zielsetzungen und Handlungsvollzüge werden von den Wissenschaften angesichts einschlägiger Erfahrungen - man denke an den langwierigen Emanzipationsprozess von kirchlicher und staatlicher Bevormundung bis zur ideologischen Unterdrückung (oder Beförderung) wissenschaftlicher Innovationen in den totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts - als eine Bedrohung der erkämpften Autonomie angesehen und kritisch betrachtet. In Kenntnis um jene fundamentale Bedeutung für den wissenschaftlichen Fortschritt einerseits und um die historisch-politischen Spannungen andererseits gewähren viele westliche Staaten die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit, die mindestens im Zusammenhang mit der Rede- und Meinungsfreiheit, wenn nicht sogar eigens verfassungsrechtlich geschützt ist. 24 In einem solchen grundgesetzlich geschützten Rechtsrahmen bewegt sich auch die deutsche Wissenschaftskultur: 25 Nach Art. 5 Abs. 3 GG besitzen Wissenschaftler das Recht, Forschungsprobleme und zu deren Lösung erforderliche Methoden frei zu wählen sowie die gewonnenen Ergebnisse freiheitlich weiterzugeben. 26 Das Konzept der Wissenschafts- und Forschungsfreiheit impliziert zunächst ein negatives Freiheitsrecht (im Sinne einer Freiheit von etwas), welches zum Ausdruck bringt, in der Wissenschaft solle „absolute Freiheit von jeder Ingerenz öffentlicher Gewalt“ herrschen. 27 Diesem Freiheitsrecht korrespondiert die prima facie Pflicht des Staates, sich aller Eingriffe in Wissenschaftshandlungen zu enthalten, und - im Sinne eines Abwehrrechtes - alle Maßnahmen zu ergreifen, falls das Recht durch Dritte tangiert wird. Die Forschungsfreiheit findet nur dann eine Einschränkung, wenn sie mit anderen durch die Verfassung geschützten Rechten bzw. Rechtsgütern (z.B. auf Leben, körperliche Unversehrtheit etc.) kollidiert. 28 Außerdem besteht die Möglichkeit, durch legislative Akte juridische Gesetze (z.B. das Embryonenschutzgesetz) zu verabschieden, die das Forschungshandeln in Grenzbereichen reglementieren. Zusätzlich zur genannten negativen Freiheit umfasst der fünfte Grundge- 24 Vgl. Wahl (1998, 762) und Starck (2005). 25 Laut Starck (2005, 71) dürfte das Grundrecht auf Forschungsfreiheit „als deutsche Erfindung“ gelten. 26 Vgl. GG Artikel 5, Absatz 3: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.“ 27 BVerfGE 35, 113; vgl. auch Scholz (2009). 28 Das Bundesverfassungsgericht BVerfGE 47, 327ff. beschreibt die Grenzen der Forschungsfreiheit: „[E]in Forscher darf sich z.B. bei seiner Tätigkeit, insbesondere bei etwaigen Versuchen, nicht über die Rechte seiner Mitbürger auf Leben, Gesundheit oder Eigentum hinwegsetzen“. <?page no="223"?> 4.2. Paradigmen der Wissenschaftsethik 219 setzartikel ein positives Freiheitsrecht (im Sinne einer Freiheit zu etwas), dass die Wissenschaften qua wissenschaftlicher Handlungen verantwortlich zu füllen haben. Sofern er eine „objektive Wertentscheidung der Verfassung“ enthält, ist der Staat sogar zur Mitwirkung an der Verwirklichung einer freien Forschung verpflichtet, indem er Forschungseinrichtungen personell, finanziell und organisatorisch unterstützt. 29 Das aus der Forschungsfreiheit begründete Recht der Wissenschaften auf öffentliche Fördermittel darf jedoch nicht als ein unmittelbarer Rechtsanspruch im Sinne eines Leistungsrechts missverstanden werden. Trotz des Verbots, etwa auf der Basis von Nützlichkeitserwägungen Eingriffe in die Forschungsfreiheit vorzunehmen, kann der Staat durch eine Lenkung der Förderung Forschungsgebiete unterstützen, von denen er sich eine materielle (neue Technologien), ideelle (kulturelle-sittliche Errungenschaften) oder professionelle (ärztliche, juristische etc.) Gegenleistung erwarten darf. 30 Nicht selten wird der rechtlich zugestandene Freiheitsrahmen der wissenschaftlichen Forschung argumentativ ausgenutzt, um ethische und politische Regulierungen, unabhängig von deren Legitimität, reflexiv abzuwehren. 31 Gilt schon, dass die Forschungsfreiheit nicht von einer Verpflichtung der Wissenschaftler auf andere positiv-rechtliche Normen befreit, dispensiert die gewährte Handlungsfreiheit keineswegs von Moral, sondern ist vielmehr eine Voraussetzung für moralisches Handeln. Angesichts der Komplementarität von negativer und positiver Freiheit, kann und soll dieser grundgesetzlich gewährte Freiheitsraum nicht nur im wissenschaftlichen, sondern auch im moralischen Sinne gefüllt werden. 32 Es obliegt dem einzelnen Wissenschaftler, diesen Freiheitsraum unter moralischen Gesichtspunkten zu gestalten. Im Zuge des positiven Freiheitsrechts sind drei unterschiedliche Umgangsformen mit dieser Handlungsfreiheit innerhalb der Wissenschaften entwickelt worden: 33 (1) Nach der internalistisch-autonomistischen Sichtweise verpflichten sich Wissenschaftler freiwillig auf die Einhaltung bestimmter Handlungsregeln, die von der Wissenschaftsgemeinschaft festgelegt werden. Die Wissenschaften stellen dazu in einer Selbstbeschränkung eigene Handlungsregeln 29 Vgl. Wahl (1998, 764), der sich hierbei auf BVerfGE 35, 79, 114ff. bezieht. 30 Vgl. Ott (1997, 409). 31 Außerwissenschaftliche Einrichtungen zur Kontrolle der guten wissenschaftlichen Praxis, wie z.B. das staatliche Office of Research Integrity (ORI) in den USA, wären laut Dernbach (2005, 44) in Deutschland „nahezu undenkbar“. 32 Nach Schweidler (2006, 303) kann wissenschaftliche Freiheit nicht im Sinne von Beliebigkeit oder Willkür verstanden werden; im Sinne der Kantischen Autonomie erwachse aus ihr vielmehr eine für den Wissenschaftler zu spezifizierende Verantwortung zur praktisch-vernünftigen Gestaltung dieses Freiheitsraumes. 33 Ich beziehe mich hierbei auf die Klassifizierung von Bungarten (1986a, 9) und Hubig (1995, 16). <?page no="224"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 220 „guter wissenschaftlicher Praxis“ auf, die aus der Zielsetzung des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns abgeleitet sind und deren Einhaltung sie autonom kontrollieren und sanktionieren. Demzufolge werden Verstöße gegen die konsensuell anerkannten Handlungsregeln nicht in zivilen Gerichtsverfahren, sondern vor gesonderten wissenschaftsinternen Gremien verhandelt, wenngleich sie in gravierenden Fällen dem Straftatbestand des Betrugs oder Diebstahl geistigen Eigentums entsprechen. 34 Forderungen nach einer darüber hinaus reichenden Regulierung wird mit dem grundsätzlichen Einwand begegnet, wissenschaftliches Handeln sei kein ethisch bewertbares Handeln im herkömmlichen Sinne: Da sich der Wissenschaftler einer unvoreingenommenen Wahrheitssuche verpflichte und jedes wissenschaftliche Forschungshandeln dem Erkenntnisgewinn diene, unterliegen diese der erkenntnistheoretischen Bewertung in den Kategorien „wahr“ und „falsch“ und nicht einer ethischen Bewertung in den Kategorien „gut“ und „böse“. Die Anwendung der wissenschaftlichen Erkenntnisse erfolge hingegen jenseits der Grenzen der Wissenschaft, also in einem Bereich, in dem die Wissenschaften keine Kontrolle über die Verwendungsweise der erzielten Ergebnisse hätten. Demzufolge liegt die Beantwortung ethischer Fragen hinsichtlich der Anwendung und den daraus resultierenden Folgen in den Händen externer gesellschaftlicher Reflexions- oder Steuerungsinstanzen. Diese Argumentationskette der sog. Neutralitäts- oder Wertfreiheitsthese setzt indes fragwürdige Prämissen voraus, die nachfolgend rekonstruiert und kritisiert werden: 35 (a) Es wird übersehen, dass wissenschaftliche Handlungen - obgleich intentional dem legitimen Forschungsziel der Wahrheitssuche und dem Erkenntnisgewinn untergeordnet - nichtsdestoweniger den Gebrauch von Mitteln (z.B. Forschungsgegenstand) beinhalten und mit zahlreichen unmittelbaren Folgen (z.B. für den Forschungsgegenstand und darüber hinaus) verbunden sind. Wie jede andere menschliche Handlung ist auch die wissenschaftliche somit einer ethischen Bewertung, insbesondere bezüglich der gebrauchten Mittel und der (möglichen) Konsequenzen ihres Einsatzes, zugänglich. (b) Die Neutralitätsthese der Wissenschaft ist aus handlungstheoretischen Gründen unhaltbar: Wie jede menschliche Handlung orientieren sich wissenschaftliche bei gegebenen Wahlmöglichkeiten ihrer Mittel (Methoden) und Ziele (Forschungsprobleme) an normativen, wertgeleiteten Auswahlkriterien (außermoralische Werte, wie z.B. Wahrheit oder Effektivität oder 34 Der Staat greift erst ein, wenn ein Handeln im wissenschaftlichen Kontext, „den Anspruch von Wissenschaftlichkeit […] systematisch verfehlt, so dass nach Inhalt und Form von einem ernsthaften Versuch zur Ermittlung von Wahrheit nicht mehr die Rede sein kann“, klärt das Bundesverwaltungsgericht im Deutschen Verwaltungsblatt 1997, 1173ff. 35 Ich folge hierbei weitgehend der Rekonstruktion von Bayertz (1994b, 174ff.). <?page no="225"?> 4.2. Paradigmen der Wissenschaftsethik 221 moralische Werte wie z.B. Gesundheit oder Sicherheit). 36 Solche Entscheidungen, die auf Grundlage von Interessen und Werten gefällt werden und die - wie Bayertz zurecht behauptet - auf die Resultate durchschlagen, 37 unterliegen einer ethischen Bewertung. (c) Die normative Trennung zwischen der theoretischen Grundlagen- und anwendungsorientierten Forschung, die in der Wissenschaftsgeschichte häufig als Rechtfertigung für die moralische Neutralität der Wissenschaften herangezogen wurde, 38 ist gegenwärtig nur noch in ausgewählten Forschungsbereichen aufrecht zu erhalten. (d) Die Neutralitätsthese verkennt außerdem die veränderte Situation wechselseitiger Interaktionen und Abhängigkeiten zwischen den Wissenschaften und der Gesellschaft, die eine ethische Reflexion (z.B. nach moralischen Verantwortlichkeiten) nahe legt. 39 (f) Sie setzt die Etablierung von ethischen „Wächterdisziplinen“ voraus, bei der die Gefahr besteht, dass Ethikexperten ausschließlich als Moralzensoren wahrgenommen werden, die den forschenden Wissenschaftlern bestimmte Handlungsempfehlungen aufoktroyieren. So wichtig die Aufgabenstellung einer ethischen Expertise ist, die von den Fachwissenschaften aufgrund der methodischen Voraussetzungen nicht selbstständig entwickelt werden kann, besteht die Notwendigkeit, dass Forscher ein moralisches Verantwortungsbewusstsein und Urteilsvermögen entfalten. Falls sie bestimmte Handlungsweisen als normativ gültig oder wertvoll erachten, ist davon auszugehen, dass sie diese auch praktizieren. 40 36 Wenngleich eingeräumt wird, dass sich Wissenschaftler bei ihrer Arbeit zumindest dem inhärenten Ziel der Wissensgewinnung sowie damit verbundenen Idealen und Praxisnormen unterwerfen (vgl. z.B. Kitcher 2001), weshalb die überholte These von der Wertfreiheit der Wissenschaft durch diejenige der Wertneutralität ersetzt wurde (vgl. Laudan 1984), ist diskutabel, ob die gegenwärtige Forschung ohne die Berücksichtigung von oder Beeinflussung durch wissenschafts„externe“ Werte(n) erfolgen kann. Vgl. auch Kap. 3.2.2.2. 37 Bayertz (1994b, 180f.). Er zeigt außerdem, dass Wissenschaftler ihre Forschungsvorhaben mit (keineswegs wertneutralen) Relevanzen begründen, „sei es Relevanz in Form des ideellen Werts der zu erzeugenden Erkenntnis, sei es Relevanz in Gestalt von praktischen Nutzen. Mit solchen Relevanzbehauptungen wird der Bereich der ‚wertfreien‘ Wissenschaft überschritten: Es werden keine deskriptiven Aussagen über den jeweiligen Forschungsgegenstand gemacht, sondern normative Aussagen über dessen Erkenntniswürdigkeit“ (183). 38 Vgl. Carl Friedrich von Weizsäckers Aussage „Der Entdecker kann in der Regel vor der Entdeckung nichts über die Anwendungsmöglichkeiten wissen […] Hahns Experiment über die Spaltung des Atomkerns war eine Entdeckung, die Herstellung der Bombe eine Erfindung“; zitiert nach: Lenk (1991a, 11). 39 Vgl. Barth-Weingarten/ Metzger (2005, 6), die Beispiele für die zunehmende Interaktion zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit anführen, um zugunsten einer adäquaten Informationspolitik zu argumentieren. 40 Vgl. Lenk (1991a, 19), für den daher „die ethische Bewusstseinsbildung der angehenden Wissenschaftler, der Studenten“ besonders wichtig ist. „Insbesondere in der Lehre an den Universitäten, in den verschiedenen Fakultäten, auch auf den entsprechen- <?page no="226"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 222 (2) Nach der externalistisch-autonomistischen Sichtweise reguliert die scientific community den Erkenntnisprogress hinsichtlich der gesellschaftlichen Auswirkungen eigenmächtig. Eine Reflexion durch die Wissenschaftsethik wird dabei obsolet. Die Wissenschaftlergemeinschaft, die sich als ein „idealer Sachverwalter allgemeiner Vernunft“ ansieht, 41 sei durch ihre Fachkompetenz in der Lage, Fehlentwicklungen und Missbräuche in der Anwendung wissenschaftlicher Ergebnisse selbstständig zu kontrollieren bzw. zu verhindern. Der interne Wettstreit der fachlichen bzw. moralisch-ethischen Überzeugungen und die Suche nach einem Konsens wirke kanalisierend auf die Wissenschaftsentwicklung. Hiergegen ist einzuwenden, dass nicht nur die Wissenschaftsgeschichte die Schwierigkeit einer Selbstvergewisserung und Kontrolle der eigenen Entwicklungsschritte lehrt. Die autonomistische Sichtweise gerät spätestens dann an ihre Grenzen, wenn die Forschergemeinschaft mit ethischen Fragen konfrontiert wird, die aus den teils rasanten Entwicklungen in verschiedenen Forschungsfeldern bei einer Eröffnung neuer Handlungs- und Anwendungsoptionen (u.a. in der Biomedizin) resultieren und eine komplexe vorausschauende und begleitende Expertise erfordern. (3) Von den bisher genannten Extremen ist eine integrative Perspektive zu unterscheiden, die einerseits die Zuständigkeit der einzelnen Wissenschaftler für ihre Handlungen und Handlungsfolgen ernst nimmt, aber andererseits eine latente Überforderung der Handlungssubjekte angesichts komplexer Problemlagen berücksichtigt. Die Funktion der Wissenschaftsethik besteht darin, den einzelnen Wissenschaftler bei der autonomen Gestaltung des grundgesetzlich verankerten Freiheitsraums beratend zu unterstützen und Orientierungshilfe anzubieten. 42 Aus der Perspektive einer Wissenschaftsethik bezieht sich eine ethische Reflexion auf den gesamten Handlungsbereich der wissenschaftlichen Forschung, so dass Fragen nach der „guten wissenschaftlichen Praxis“ nur einen kleinen Teilbereich darstellen. Im Unterschied zum Recht übt die Ethik keinen äußeren Zwang aus, 43 sondern appelliert an die vernünftige Einsicht des Handelnden. 44 den Fachveranstaltungen und besonders in Vorlesungen und praxisbezogenen Seminaren wäre es nötig, immer wieder die differenzierte Behandlung der Verantwortungsprobleme einzuplanen“. 41 Hubig (1995, 16f.). 42 Obgleich Moral nicht auf Recht verwiesen ist und es dahingehend keine Begründungspflicht gibt, wird die rechtlich garantierte Forschungsfreiheit in der vorliegenden Arbeit respektiert und als Voraussetzung für die ethische Begründung einer hier geforderten Transparenzregelung betrachtet. 43 Vgl. Marchant/ Pope (2009, 375) nach denen eine ausschließlich juridische Regulierung wissenschaftlichen Handelns nicht ausreicht, da die spezifisch ethischen Probleme in ihrer Dynamik durch legislative Maßnahmen weder zeitlich angemessen noch global begleitet werden können. Konkreter wird Turner (1986, 64), der hinsichtlich einer Transparenznorm, d.h. der „Obliegenheit, gewonnene Erkenntnisse darzu- <?page no="227"?> 4.2. Paradigmen der Wissenschaftsethik 223 Kann eine rational begründete Handlungsempfehlung auf der Grundlage ethischer Prinzipien zu einer moralischen Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit führen, bedeutet eine ethische Expertise keineswegs eine Panregulation aller Handlungsfreiheit, inklusive der Einschränkung der intellektuellen Autonomie. Im Sinne der integrativen Perspektive sind die nachfolgenden wissenschaftsethischen Überlegungen zu interpretieren, die sich an identifizierten Paradigmen der Wissenschaftsethik orientieren. Zunächst werden die Paradigmen einführend beschrieben und die zentralen Begriffe analysiert (Ethos, Verantwortung, Experte). Angesichts des Hauptziels, die wissenschaftsexterne Transparenznorm ethisch zu begründen, sollen anschließend die Möglichkeiten und Grenzen einer paradigmatischen Argumentation zur Darstellung kommen. Als Matrize dient die kriteriologische Mindestanforderung an eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm. Wir beginnen mit dem Ethosparadigma der Wissenschaftsethik. 4.2.3. Das Ethosparadigma 4.2.3.1. Vorüberlegungen zum Ethos Unter Ethos versteht man gegenwärtig „den normativen Inbegriff der in einer gegebenen Gruppe eingelebten und von ihr für verbindlich gehaltenen Sitte bzw. Moral“. 45 Hinsichtlich der vorgelebten Moral fasst ein Ethos charakteristische Einstellungen und handlungsleitende Überzeugungen, Dispositionen, Rollenerwartungen, Gratifikationen und Sanktionen, unterschiedlich spezifische Regeln und Normen sowie Verhaltenskodizes zusammen, die identifikatorisch innerhalb einer Referenzgruppe feststellbar sind und die Handlungen und Interaktionen innerhalb der Gruppe leiten sollen. 46 Sind vor allem Mitglieder bestimmter Berufe, Berufsstände oder Professionen, aber auch Individuen bei der Ausübung sozialer Rollen und Funktionen Adressaten eines Ethos, ergeben sich die inhaltlichen Fordelegen und erkannte mögliche Probleme und Folgen nicht zu verschweigen“ die mangelnde Praktikabilität einer Rechtsnorm nennt, „da letztlich nicht nachgewiesen werden kann, ob jemand mögliche Folgen vorausgesehen hat.“ 44 Im Sinne Kants übt die Vernunft gegebenenfalls einen „freien Selbstzwang“ aus. 45 Honnefelder (2002, 492). Von dieser gruppenbezogenen Gebrauchsform im Sinne der eingelebten Verhaltensweisen kann eine gleichursprüngliche individuumsbezogene Bedeutung unterschieden werden, die sich auf die eine habitualisierte, reflektierte sittliche Gesinnung bezieht. Die beiden Bedeutungsstränge gehen auf die griechischen Wurzeln (Gewöhnung, Gewohnheit, Sitte, Brauch) bzw. (zum Charakter verfestigte Grundhaltung bzw. ein bestimmter Typ des guten und richtigen Handelns) zurück. 46 Vgl. ebd. und Nida-Rümelin (2005b, 836). <?page no="228"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 224 rungen vornehmlich „aus der jeweils wahrzunehmenden Sachaufgabe“, mit dem Ziel, „das ‚technische Handeln‘ (des Arztes, Ingenieurs, Unternehmers usw.) […] normativ zu erfassen und dabei die subjektive Gewissenhaftigkeit objektiv zu binden“. 47 Sofern das Ethos unter dieser Zielsetzung wenig wandlungs- und integrationsfähig ist, kann es als ein „geschlossenes“ Ethos bezeichnet werden, welches in einer wahrgenommenen Verbindlichkeit der Gruppe gleichermaßen Handlungsorientierung und Identität gibt. 48 Das Ethos wird normalerweise im Rahmen der Initiation in die spezifische Gruppe tradiert bzw. durch einen langen Prozess individueller Einübung erworben und stellt schließlich ein unbewusstes, „implizites Regelwissen“ dar. 49 Eine explizite Thematisierung erfährt jenes normalerweise nur in außergewöhnlichen Situationen, z.B. des Erlernens oder der Stabilisierung angesichts von „Funktionalitätskrisen“. 50 Vor diesem Hintergrund sind die bestehenden Analysen des „Ethos der Wissenschaften“ zu verstehen: Historisch ist es zwar auf den Befreiungs- und Abwehrkampf der frühmodernen Wissenschaftler gegenüber dem Einfluss traditioneller, d.h. kirchlicher und politischer Autoritäten rückführbar, 51 welches seitdem als implizites berufsspezifisches Regelwerk der wissenschaftlichen Arbeit zugrunde gelegt wird. Eine systematische Auseinandersetzung mit dem Wissenschaftsethos - sei es aus soziologischer oder wissenschaftsethischer Perspektive 52 - ist jedoch erst später im Zusammenhang mit manifesten Funktionalitätskrisen festzustellen. So widmeten sich in Reaktion auf den europäischen Faschismus der 1930er und 40er Jahre gleich mehrere Autoren der Explikation des Wissenschaftsethos. 53 Unter diesen Explikationsversuchen nimmt die soziologische Rekonstruktion des Wissenschaftsethos’ von Robert K. Merton aus dem Jahre 1942 eine Vorreiterstellung 47 Kluxen (1998). 48 Honnefelder (2002, 493) unterscheidet ein Ethos „geschlossener“ und „offener“ Gesellschaften: Während sich ersteres „durch eine vergleichsweise bescheidene Binnendifferenzierung und entsprechend geringe Freiheitsräume, dafür aber durch eine hohe Sicherheit und eine dementsprechend ausgeprägte Orientierungskraft auszeichnet, gewährt das Ethos offener Gesellschaften ein hohes Maß an Freiheitsräumen für Gruppen und Individuen, vermittelt aber im Gegenzug nur eine geringe Handlungsorientierung.“ 49 Vgl. Gethmann (1999, 25); beispielsweise lernen Studenten neben expliziten Wissensbeständen auch Interaktionsformen und Verhaltensweisen, wie man Wissen erwirbt, überprüft oder weitergibt. 50 Vgl. ebd. 51 Nida-Rümelin (2005b, 836) bezeichnet es in historischer Sicht als „Abwehrethos“. 52 Ethosformen können mit soziologischen Methoden rekonstruktiv beschrieben und analysiert werden; eine Thematisierung der Geltung und Begründbarkeit der vorgefundenen Normen ist hingegen die Aufgabe der Ethik. 53 Z.B. Mark A. Mays Moral Code of Scientists (1943) und Conrad H. Waddingtons The Scientific Attitude (1941); vgl. hierzu die Studie von Shapin (2008). <?page no="229"?> 4.2. Paradigmen der Wissenschaftsethik 225 ein, 54 da sie insgesamt als eine „analytische Verdichtung“ jener Verhaltensregeln angesehen werden kann, die sich in erstaunlicher Stabilität und Kontinuität seit der Gründungsgeschichte der Akademien über einen Zeitraum von mehr als drei Jahrhunderten aus dem moralischen Konsens der Wissenschaftler erschließen lassen. 55 Auch bei der wiederkehrenden Thematisierung des Wissenschaftsethos seit den 1980er Jahren angesichts gravierender Fälle wissenschaftlichen Fehlverhaltens 56 spielt die Rekonstruktion von Merton eine tragende Rolle, sofern seine Normen ausgesprochen oder unausgesprochen den Bezugspunkt für wissenschaftsethische Untersuchungen 57 und kodifizierte Regelungen der wissenschaftlichen Praxis darstellen. 58 Seine Normen dienen als Grundlage, um bei den unterschiedlichen Facetten der wissenschaftlichen Arbeit (experimentaler Aufbau, Überprüfung, Bestätigung, Datenanalyse, Interpretation, Veröffentlichung, Peer Review, Zusammenarbeit und Ausbildung) „gute wissenschaftliche Praxis“ von „wissenschaftlichem Fehlverhalten“ zu unterscheiden. 59 Aufgrund dieser herausgehobenen Stellung wird das Merton-Ethos nachfolgend rekapituliert. Da jedes Ethos primär eine Rekonstruktion der gelebten Moral darstellt, ist zu prüfen, ob und wie Merton die identifizierten Normen seines Wissenschaftsethos begründet. Lässt sich mit dieser Argumentation überhaupt eine wissenschaftsexterne Transparenznorm begründen? 4.2.3.2. Das Wissenschaftsethos nach Robert K. Merton Robert K. Mertons Aufsatz „Die normative Struktur der Wissenschaft“ kann als soziologische Rekonstruktion der handlungsleitenden Grundnormen in den empirischen Wissenschaften verstanden werden, die zu einem Wissenschaftsethos verdichtet sind. Mit dem Anspruch, für alle 54 Merton (1985b). 55 Vgl. Weingart (2001, 68), der sich auf eine Studie von Ezrahi (1980) bezieht, in der die historische Kontinuität zwischen den Normen der Royal Society von 1667 und den Merton-Normen dargestellt wird. Unabhängig davon würdigt Stehr (1985, 7) Merton als „einflussreichste[n] amerikanische[n] Soziologe[n] der Nachkriegszeit“. 56 Obwohl wissenschaftliches Fehlverhalten kein neuartiges Phänomen ist, dauerte es lange, bis sich die Einsicht durchsetzte, dass Wissenschaftler Vertrauensbrüche im größeren Stile begehen und es einer professionellen ethischen Reflexion der wissenschaftlichen Praxis bedarf. Wie der Wissenschaftshistoriker Shapin (1994) analysiert, lebten die Wissenschaften vom Nimbus der ehrbaren Forscher, denen eventuell Fehler unterliefen, die aber niemals absichtlich gegen die Regeln der „guten wissenschaftlichen Praxis“ verstießen. 57 Neben Nida-Rümelin (2005b), Ott (1997) und Resnik (1999) orientieren sich zahlreiche Wissenschaftsethiker bei der Entwicklung von Normenkatalogen an Merton. 58 Vgl. z.B. die MPG (2000b, 40), die in Rekurs auf die Merton-Normen den „methodischen Skeptizismus“ und den „sozialen Imperativ der kollegialen Kooperation“ in den Mittelpunkt ihres Verhaltenskodex stellt. 59 Vgl. Whitbeck (1998, 835ff.). <?page no="230"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 226 empirischen Wissenschaften gültige und anwendbare Normen zu erfassen, stellt es einen Minimalbzw. Mindestethos moralischer Normen dar. Dies schließt nicht aus, dass die disziplinäre Forschungsarbeit von weiteren komplementären Regelungen, etwa bezüglich disziplinspezifischer Erkenntnisziele, Methoden- und Verfahrensregeln, sowie typischer Handlungen normiert wird, weshalb sich disziplinspezifische Ethoi durchaus vom klassischen Ethos der Wissenschaften unterscheiden können. 60 Trotz der Heterogenität und Differenzierung in unterschiedliche Wissenschaftskulturen, Disziplinen und Spezialgebiete, gelingt es Merton mittels seines Ethos, die modernen Wissenschaften zu vereinheitlichen und gegenüber anderen Wissensformen zu privilegieren und abzugrenzen. 61 Wenngleich eine gewisse Vagheit bei der Normenformulierung in Kauf genommen werden muss, liegt der Vorteil des einheitlichen wissenschaftlichen Ethos in der übergreifenden Verhaltensregulierung wissenschaftlicher Arbeit, die sich auch auf solche Berufsgruppen bezieht, die keine eigenen Kodizes vorgestellt haben. 62 Gemäß seiner Aufgabenstellung gewinnt Merton die handlungsleitenden moralischen Normen der Wissenschaftspraxis mithilfe einer empirischen Rekonstruktion und funktionalen Ableitung aus der inhärenten Zielsetzung der Wissenschaften, was einer doppelgleisigen Argumentation entspricht. 63 Hinsichtlich der empirischen Rekonstruktion belegt Merton die Validität der Normen nicht nur mit Verweis auf den tatsächlichen Gebrauch im konkreten Verhalten der Wissenschaftler. Sofern sich die Normen „aus dem moralischen Konsensus der Wissenschaftler erschließen [lassen], wie er im täglichen Umgang, in den zahllosen Schriften über den Geist der Wissenschaft oder in der moralischen Empörung angesichts von Verstößen gegen diesen Ethos zum Ausdruck kommt“, 64 zieht er als An- 60 Beach (1996, 18) konstatiert, dass sich gegenwärtige Verhaltenskodizes für wissenschaftliche Forscher von dem allgemeinen Merton-Ethos weiterentwickelt haben. In der Medizin oder in den Sozialwissenschaften gehört z.B. der Nürnberger Code, bei dem das Konzept des Informed Consent integriert ist, zum speziellen Ethos der Disziplinen, der die Forschung am Menschen regelt. 61 Vgl. Weingart (2001, 70), der nachfolgend ergänzt: „Deshalb verteidigen Organisationen wie die Deutsche Forschungsgemeinschaft auch diese Prinzipien, ungeachtet ihrer internen Differenzierung in unterschiedlichen disziplinären Kulturen.“ 62 Diesen Vorteil eines einheitlichen Wissenschaftsethos betont z.B. Resnik (1999, 73). 63 Schockenhoff (2005, 229f.) identifiziert in der doppelgleisigen Argumentation eine „innere Unstimmigkeit“ an der theoretischen Begründungsbasis: „Diese zwischen emotionalen Stellungnahmen, faktischem Konsens und methodischer Effizienz schillernde Mehrsinnigkeit muss einer Position, die in den Verhaltensmaßregeln der Wissenschaft nur eine Art von innerbetrieblich gültigen Funktionsnormen sieht, als eine überflüssige Moralisierung erscheinen.“ Triftiger ist m.E. jedoch der Einwand, dass die doppelgleisige Begründung ggf. zu unterschiedlichen Ergebnissen führen kann. 64 Merton (1985b, 88). <?page no="231"?> 4.2. Paradigmen der Wissenschaftsethik 227 haltspunkte zwei weitere Aspekte heran: 65 Einerseits „sozialpsychologische Einstellungsmuster“, die sich etwa in Form der einhelligen moralischen Entrüstung und kollektiven Verurteilung als Reaktionen auf Normverstöße bzw. als Rechtfertigung im Falle einer externen Anfechtung äußern; und andererseits „sozial-strukturelle Sanktionsmuster“, worunter institutionalisierte Mechanismen der positiven und negativen Sanktionierung bestimmter Verhaltensweisen zu verstehen sind (z.B. die Gratifizierung des freien Informationsaustauschs durch die Zuschreibung von Reputation oder die Sanktionierung des Plagiats). Vor diesem Hintergrund sind mehr oder minder spektakuläre Normenverstöße noch keine Hinweise für eine Legitimitätskrise der Merton-Normen. Im Gegenteil, die teils emotional geführte Diskussion um die Geltung des Wissenschaftsethos muss Merton eher für eine Bestätigung, statt einer Widerlegung des Ethos ansehen. 66 Wenngleich die empirische Geltung des Wissenschaftsethos nicht mit dem Verweis auf eine Vielzahl von Verstößen widerlegbar ist, geht damit keine Autoimmunisierung gegenüber empirischen Belegen einher: Sobald die beobachtbaren Verhaltensweisen der Wissenschaftler als „Manifestationen eines neuen institutionellen Arrangements“ anzusehen sind, 67 hat eine Reformulierung des Wissenschaftsethos zu erfolgen. Eine soziologisch-empirische Rekonstruktion der vorfindbaren Praxisnormen ist allerdings nicht mit einer normativen Begründung des Wissenschaftsethos zu verwechseln - man denke hierbei an den metaethisch unzulässigen Sein-Sollen-Fehlschluss. 68 Gemäß der wissenschaftsethischen Aufgabenstellung stellt jene vielmehr den empirischen Bezugspunkt weiterführender Überlegungen dar, die in einer normativen Begründung diesbezüglich beschriebener und gegebenenfalls ergänzter Normen kulminieren. Nachfolgend konzentriere ich mich daher auf den zweiten Argumentationsstrang Mertons, die funktionalistische Ab- 65 Vgl. Weingart (2001, 72). Laut Merton (1985b, 19) besteht die wissenschaftssoziologische Aufgabe darin, „die Geltung des Ethos nicht im offenbaren Verhalten der Wissenschaftler zu suchen, sondern über indirekte Indizien zu erschließen.“ 66 Nida-Rümelin (2005b, 840f.) referiert diese Position und stellt ihr die hohe praktische Wirksamkeit der Normen bei gelegentlichen Sanktionen wissenschaftlichen Fehlverhaltens entgegen. Wie Peuckert (2006, 214) zeigt, könnte eine Legitimationskrise erst dadurch entstehen, dass die Normen nicht mehr durchsetzbar sind oder weder informell noch formell sanktioniert werden: „Normabweichungen sind, so paradox es klingt, ein integraler Bestandteil einer nicht-pathologischen Gesellschaft (E. Durkheim). Würden alle sozialen Normen befolgt, dann gäbe es keine Abweichungen und entsprechend auch keine sozialen Normen mehr. Erst die Abweichung ruft die Gültigkeit der sozialen Normen in Erinnerung.“ Nach Twenhöfel (1991, 125) bieten Normverstöße „Gelegenheit zu einer symbolischen Demonstration ihrer Geltung durch entsprechende Sanktionen und sind insofern selber noch funktional“. 67 Weingart (2001, 77). 68 Z.B. Höffe (2002b, 171) beschreibt den auf Hume zurückgehenden Fehlschluss als logisch unzulässigen „Übergang von deskriptiven (empirischen oder metaphysischen Seins-) zu normativen (Sollens-) Aussagen“. <?page no="232"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 228 leitung des Normenkatalogs, die an die funktionalen Überlegungen zu den wissenschaftsinternen Kommunikationsstrukturen anknüpfen. 69 Mit seinem Lehrer Talcott Parsons gehört Merton zu den ersten Wissenschaftssoziologen, die die etablierten akademischen Wissenschaften als soziales System, d.h. als relativ autonomes Teilsystem der Gesellschaft mit eigenen Strukturen und Prozessen betrachten, welches in der Grundeinheit der Scientific community vorliegt. 70 In der Denktradition Parsons’ geht Merton davon aus, dass eigenständige soziale Systeme Strukturen und Prozesse etablieren, die bestimmte systemerhaltende Funktionen erfüllen. 71 Beim sozialen System „Wissenschaft“ tragen solche institutionalisierten Mechanismen dazu bei, dass ihre Ziele im gesellschaftlichen Spannungsfeld realisiert werden und ihre relative Autonomie gewahrt bleibt. 72 Hierzu gehören das wissenschaftliche Kommunikations-, Wettbewerbs- und Belohnungssystem, die gemeinsam ein umfassendes soziales Kontroll- und Sanktionswerk der wissenschaftlichen Arbeit ergeben. Die identifizierten Mechanismen beziehen sich auf die Grundeinheit des sozialen Systems, die einzelnen Mitglieder, und gewährleisten die Funktionalität ihrer Handlungen. 73 Die zugrunde liegende, funktional angeordnete Trias System - Struktur/ Prozess - Grundeinheit überträgt Merton auf die Ebene der Handlungen, nunmehr als Trias Ziele - Werte - Normen. 74 Sind als Ziele Gegenstände oder Objekte definiert, die die Mitglieder eines sozialen Systems legitimerweise anstreben dürfen, 75 setzt Merton ein feststehendes Ziel 69 Vgl. Kap. 3.1.1. Vereinzelte Wiederholungen in der Darstellung des funktionalen Ansatzes sind leider nicht zu vermeiden, da im vorliegenden Kap. das Ethosparadigma auch ohne Querverweise verständlich werden soll. 70 Vgl. Merton (1985b, 87). In einer Trennung zwischen sozialen, methodologischen und kognitiven Aspekten der Wissenschaften, abstrahiert er weitestgehend von der angewandten Methodologie der Wissensgewinnung und den daraus hervorgehenden Ergebnissen (den Wissensinhalten). 71 Felt u.a. (1995, 59), Breithecker-Amend (1992, 17) u.a. bezeichnen Mertons Wissenschaftssoziologie daher als „struktur-funktionale Wissenschaftssoziologie“. Im Unterschied zu Parsons bewegt sich Merton nicht auf der Ebene genereller Theorien sozialer Systeme, sondern auf der Ebene exemplarischer und empirischer Untersuchungen der modernen wissenschaftlichen Organisation. 72 Vgl. Stehr (1985, 18f.). Nach Breithecker-Amend (1992, 9) vertritt Merton eine „gemäßigte externalistische Position“: Die Wissenschaftentwicklung erfolge nicht absolut autonom, sondern werde durch gesellschaftliche Institutionen und Werte beeinflusst. 73 Merton geht also auch bei den menschlichen Handlungen davon aus, sie funktional erklären zu können: „Wichtig ist ihr Beitrag zur Zielerreichung des Gesamtsystems sowie die Frage, welche Normen und Werte das Handeln bestimmen (sollten)“, resümiert Breithecker-Amend (1992, 33). 74 Ich folge hierbei der Interpretation von ebd. Die institutionelle und handlungstheoretische Ebene hängen funktional zusammen, sofern das institutionelle Kontrollsystem die Einhaltung des Wissenschaftsethos sichert und das Ethos den Zusammenhalt der scientific community garantiert. 75 Vgl. Merton (1968, 186). <?page no="233"?> 4.2. Paradigmen der Wissenschaftsethik 229 der Wissenschaft voraus: die „Erweiterung des abgesicherten Wissens“, wobei er unter Wissen „empirisch bestätigte und logisch schlüssige Aussagen über Regelmäßigkeiten“ versteht. 76 Demzufolge müssen wissenschaftliche Aussagen durch die wissenschaftliche Gemeinschaft überprüft und bestätigt worden sein, um den Wahrheitsstatus zu erreichen und in den allgemeinen Wissensfundus aufgenommen zu werden. Aus dem systeminhärenten Handlungsziel leitet er einen Werte- und Normenkatalog ab, dessen Geltungsanspruch mit dem theoretischen Fundament des Funktionalismus begründet ist. 77 Die Werte stellen ein funktionales Bindeglied zwischen dem Systemziel und den Normen dar, die aufgrund ihrer Allgemeingültigkeit in der sozialen Umwelt zu bestimmten Normen konkretisiert werden. Als zentrale Werte der Wissenschaftsgemeinschaft gelten Wahrheit, Objektivität, Unpersönlichkeit, Originalität und Bescheidenheit. 78 Verschiedene Werte, wie z.B. Originalität und Bescheidenheit können zu Konflikten führen, wenn der Wissenschaftler einerseits für die Originalität seiner Arbeit eine angemessene Belohnung und Anerkennung erwartet, andererseits aber in aller Bescheidenheit hinter den kooperativen Vorarbeiten der Wissenschaftsgemeinschaft zurücktreten soll. 79 Auf der untersten funktionalen Ebene „definieren, regulieren und kontrollieren“ Normen die „akzeptierten Wege und Mittel“, um die vorgegebenen Ziele zu erreichen. 80 Bezogen auf das Ziel der Wissenschaft lassen sich, wenngleich funktional verbunden, technische von moralischen Normen unterscheiden: 81 Zu den technischen Normen, d.h. den angewandten methodischen Regeln, gehört die Forderung nach empirisch verlässlicher Überprüfbarkeit der wissenschaftlichen Aussagen und Widerspruchsfreiheit der Aussagensysteme. Ihre Untersuchung überantwortet Merton jedoch in die Hände der Wissenschaftstheorie, weshalb er sich hauptsächlich den moralischen Normen (auch „institutionelle Imperative“ oder „Verhaltensmaßregeln“ genannt) zuwendet. Die zentralen moralischen Normen, die in der Literatur zum „CUDOS-System“ zusammengefasst sind, fordern vom Wissenschaftler einen „Kommunismus“ (communism), Universalismus (universalism), die persönliche Uneigennützigkeit (desinterestedness) und den in der 76 Ders. (1985b, 89). 77 Stehr (1985, 8). Für Merton (1985b, 87) ist Wissenschaft hauptsächlich ein „Komplex kultureller Werte und Verhaltensmaßregeln, denen die als wissenschaftlich bezeichneten Aktivitäten genügen müssen“. 78 Vgl. Breithecker-Amend (1992, 34). Merton (1985b, 89f.) bezieht sich zwar häufig auf den Begriff der Wahrheit, verwendet ihn aber eher unsystematisch, ohne auf eine bestimmte Wahrheitsdefinition zu verweisen. 79 Vgl. Merton (1985b, 95). 80 Ders. (1968, 187). 81 Entgegen der Behauptung von Spinner (1987b) sind „Moral“ und „Methode“ bei Merton funktional gleichwertig, wenngleich sich dieser aus disziplinären Gründen ausschließlich der „Moral“ zuwendet. <?page no="234"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 230 wissenschaftlichen Institution organisierten Skeptizismus (organized scepticism). Indem sie Handlungen regulieren, die funktional dazu beitragen, das oberste Ziel der Wissenschaft zu erreichen, sind sie aus soziologischer Perspektive funktional verbindlich. Eine Grenzziehung zwischen Deskriptivität und Normativität wird hierbei aufgelöst. Im Folgenden werden die einzelnen Merton-Normen erläutert, die im Ethosparadigma eine herausragende Stellung innehaben. Anschließend wird die Frage aufgeworfen, inwiefern auf deren Grundlage eine wissenschaftsexterne Transparenznorm begründet werden kann. Kommunismus Die Norm des Kommunismus regelt innerhalb der Scientific community die Eigentumsrechte an wissenschaftlichen Entdeckungen. Merton verwendet den Begriff Kommunismus, d.h. den Gemeinbesitz von Gütern, um zu signalisieren, dass Wissenschaft kein Privateigentum an Wissen duldet. „Sie [die materiellen Ergebnisse] bilden ein gemeinsames Erbe, auf das der individuelle Produzent nur sehr begrenzt Ansprüche erheben kann.“ 82 Demzufolge darf der Wissenschaftler keine Ergebnisse zurückhalten, sondern ist angehalten, diese innerhalb der Wissenschaftsgemeinschaft zu veröffentlichen: „Geheimhaltung ist das genaue Gegenteil dessen, was die Norm besagt; vollständige, offene Kommunikation ihre Erfüllung.“ 83 Wenngleich Limitationen der Kommunismus-Norm etwa bei der militärischen Forschung und der Patentierung von Forschungsergebnissen im privatwirtschaftlichen Bereich stattfinden, ist Merton der Auffassung, dass die wissenschaftliche Publikationspflicht unter keinen Umständen eingeschränkt werden darf. 84 Die Kommunismus-Norm findet ihre Begründung, indem sie in zweierlei Hinsicht dem Erreichen des institutionellen Ziels der Wissenschaft dient: Erstens ist die kritische Prüfung wissenschaftlicher Aussagen ein wesentlicher Bestandteil des wissenschaftlichen Unternehmens, die effizienterweise von möglichst vielen Wissenschaftlern durchgeführt wird, um unhaltbare Hypothesen ausschließen zu können. 85 Zweitens wird der Einsicht Rechnung getragen, dass wissenschaftliche Entwicklung nur durch Zusammenarbeit möglich ist, sofern neue Untersuchungen auf Grundlage von offen zugänglichen und bereits publizierten Ergebnissen stattfinden. Nichtsdestoweniger ist die Kommunismus-Norm für jede wis- 82 Ebd., 93. An anderer Stelle schreibt ders. (1972, 51): „Die materiellen Ergebnisse der Wissenschaft sind ein Produkt sozialer Zusammenarbeit und werden der Gemeinschaft zugeschrieben.“ 83 Merton (1985b, 94). 84 Vgl. ebd., 95. 85 Nach dem Wissenschaftsideal von Popper (2005) besteht die wissenschaftliche Arbeit aus dem Entwerfen kühner Hypothesen, deren kritische Prüfung und Falsifikation. <?page no="235"?> 4.2. Paradigmen der Wissenschaftsethik 231 senschaftliche Praxis eine Herausforderung, da den erzielten Forschungsergebnissen ein hoher Wert zugeschrieben wird und der Zugang exklusiv gehalten werden möchte. Zu ihrer Verwirklichung ist einerseits ein negatives Sanktionssystem installiert, das Geheimhaltungen z.B. mit Reputationsverlust ahndet. Andererseits besteht ein positives Anreizsystem, das den „geistigen Besitz“ einer Entdeckung bei einer Publikation in Anerkennung und Reputation des Entdeckers transformiert. Der Entdecker hat einen Anspruch auf die gerechte Anerkennung der eigenen Forschungsleistung in der Fachwelt durch Eponymie, Zitationen und Referenzen. 86 Auch wenn sich das Sanktions- und Anreizsystem, ähnlich wie Zuckerbrot und Peitsche, gegenseitig stärken soll, hat das Primat der Erstentdeckung mit der „winner takes it all“-Devise nicht nur wissenschaftsdienliche Konsequenzen: 87 Wir haben beispielsweise festgestellt, dass in einer zugespitzten Konkurrenzsituation Forschungsergebnisse vorschnell oder sogar fehlerhaft publiziert werden, um die Meriten davonzutragen. So groß die Gefährdung der Kommunismus-Norm ist - sei es durch das Streben Einzelner nach Geltung oder durch ökonomische, politische oder gesellschaftliche Einflussnahmen auf die Forschung - für Merton schwebt darüber die normative Idee des Wissenschaftsprogresses, der einer überindividuellen Erkenntnisanstrengung entspricht: „Kontinuierliche Bewertung von geleisteter Arbeit und Anerkennung von guter Arbeit bilden einen der Mechanismen, die die Welt der Wissenschaft zusammenhalten“. 88 Universalismus Unter Universalismus versteht Merton den Grundsatz, dass „Wahrheitsansprüche, gleich welcher Herkunft, vorab aufgestellten, unpersönlichen Kriterien unterworfen werden müssen: sie müssen mit der Beobachtung und dem bisher bestätigten Wissen übereinstimmen.“ 89 Gleichwohl die Überprüfung, Bestätigung oder Widerlegung wissenschaftlicher Ergebnisse methodisch sehr unterschiedlich geschieht, erhebt die Universalismus-Norm Forderungen, die gleichermaßen an den einzelnen 86 In den Worten von Merton (1972, 51): „Der Anspruch des Wissenschaftlers auf sein ‚intellektuelles Eigentum‘ beschränkt sich auf die Anerkennung und Wertschätzung, die […] in etwa mit der Bedeutung dessen übereinstimmt, was in den allgemeinen Fonds des Wissens eingebracht worden ist“. Ott (1997, 419) interpretiert die kollegiale Anerkennung der Leistung als eine Verteilungsgerechtigkeit bezüglich der Ressource „reward“. 87 Vgl. Lenk (1992b, 19), der die Nachteile des Belohnungssystems analysiert. 88 Merton (1985b, 132). 89 Ebd., 90. <?page no="236"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 232 Forscher und an die Forschergemeinschaft gerichtet sind: Vom Forscher verlangt sie, bei der Bewertung von Forschungsergebnissen universelle, allgemein gültige Maßstäbe anzuwenden, die unabhängig von persönlichen und sozialen Kriterien überprüfbar sind. Sofern wissenschaftliche Erkenntnisse diesen Kriterien gereichen, können sie mit einem universellen Geltungsanspruch verknüpft werden. Die wissenschaftliche Gemeinschaft steht vor der Anforderung, Aussagen, die nach objektiven, sachlichen, unparteiischen Kriterien verfasst sind, als wahre Aussagen anzuerkennen: 90 „Die Annahme oder Zurückweisung von Behauptungen, die auf dem Turnierplatz der Wissenschaft um ihre Anerkennung ringen, hängt nicht von den individuellen oder sozialen Merkmalen ihrer Verfechter ab; deren Rasse, Nationalität, Religion, Klasse und persönliche Eigenschaften sind als solche irrelevant.“ 91 Merton ist der Auffassung, dass selbst eine Abweichung von der Universalismus-Norm deren Gültigkeit voraussetzt; 92 denn falls innerhalb der Wissenschaftsgemeinschaft Uneinigkeit über die Akzeptanz wissenschaftlicher Erkenntnisse besteht und konkurrierende Wissenschaftler diese Erkenntnisse zurückweisen, herrscht zumindest Einigkeit darüber, dass sich eine der beiden Gruppen irren muss. 93 Dennoch gilt: In einem sozialen Umfeld, in dem partikulare Interessen vertreten werden, können wichtige Entdeckungen verhindert oder zumindest verzögert werden. Darüber hinaus geraten nicht nur Wissenschaftler in Wertkonflikte, sondern die Autonomie der Wissenschaft als solche steht letztlich zur Disposition. Persönliche Uneigennützigkeit Die Norm der persönlichen Uneigennützigkeit reguliert die Motivation der Wissenschaftler: Diese sollen sich bei ihrer Arbeit am wissenschaftlichen Ziel und an den wissenschaftlichen Werten orientieren - einen Zustand, den Merton mit dem Begriff desinteresstedness beschreibt. Eine intrinsische Motivation stelle die unvoreingenommene Arbeit des Wissenschaftlers und die Verwirklichung der wissenschaftlichen Erkenntnisziele sicher. Diese Zielverwirklichung sei hingegegen bei extrinsischen Motivationslagen gefährdet, wenn die Forschungsarbeit etwa durch persönliche Interessen und Wünsche oder politische Einflussnahmen, Vermarktungsstrategien etc. beeinflusst wird. Merton ist sich der Schwierigkeit dieser Forderung bewusst, 90 Merton setzt die Möglichkeit einer strikten Trennung zwischen dem „context of discovery“ und „context of justification“ voraus, die von der gegenwärtigen soziologischen Wissenschaftsforschung in Frage gestellt wird; vgl. z.B. Felt u.a. (1995). 91 Merton (1985b, 90). 92 Ebd., 91. 93 Vgl. Nida-Rümelin (2005b, 839). <?page no="237"?> 4.2. Paradigmen der Wissenschaftsethik 233 sofern er Wissenschaftler nicht etwa als besonders integre Persönlichkeiten mit einem Hang zum Altruismus ansieht. Da seiner realistischen Einschätzung zufolge keine Norm eine Immunität gegenüber ideeller und materieller Reputation bewirken kann, schließt er das Streben nach wissenschaftlicher Anerkennung nicht kategorisch aus. Er differenziert vielmehr zwischen einer quasi-extrinsischen Motivation, die eine Wahrheitssuche nicht behindert - oder diese wohlmöglich sogar unterstützt - und einer extrinsischen Motivation, die das Verwirklichen der wissenschaftlichen Zielsetzung beeinträchtigt. 94 Die komplexen Mechanismen des wissenschaftlichen Systems sind so angelegt, dass Wissenschaftler bei der Verfolgung eigener Ziele, hier der Mehrung ihres Ansehens, dennoch zum Fortschritt der Wissenschaften beitragen. 95 Das positive Belohnungssystem stellt die Motivation des Wissenschaftlers sicher, auch bei Rückschlägen die Forschungsarbeit fortzusetzen, während das effektive Kontrollsystem einen Ausschlussgaranten für zielgefährdende eigennützige Handlungsweisen darstellt: „Denn wenn die Institution uneigennütziges Handeln einmal zur Pflicht macht, liegt es im Interesse der Wissenschaftler, dieser Forderung zu genügen - bei Strafe von Sanktionen und […] psychologischer Konflikte.“ 96 Damit besteht ein enger Zusammenhang zwischen der moralischen Norm der Uneigennützigkeit und der technischen Norm der Überprüfbarkeit wissenschaftlicher Ergebnisse. 97 Wie Merton einräumt, hat die Reichweite der Norm allerdings ihre Grenzen, wo die Möglichkeit der internen Kontrolle wissenschaftlicher Aussagen durch kompetente Kollegen fehlt. Bei Interaktionen zwischen Wissenschaftlern und Laien wachse die Versuchung, „die Verhaltensmaßregeln der Wissenschaft zu überschreiten. Missbrauch von Fachautorität und die Schaffung von Pseudowissenschaften kommen ins Spiel, wenn die Struktur der von qualifizierten Fachkollegen ausgeübten Kontrolle wir- 94 Vgl. Breithecker-Amend (1992, 38), der beide extrinsische Motivationstypen bei Merton identifiziert. Daher ist der Vorwurf von Woodward/ Goodstein (1996, 480f.) gegenüber Merton unhaltbar, die Funktionalität und Wirksamkeit egoistischer Motivationsgründe ignoriert zu haben; dieser setzt sie hinsichtlich des wissenschaftlichen Gratifikationssystems voraus, ohne die Arbeit der Wissenschaftler darauf zu reduzieren. Frey (2006, 56f.) unterscheidet entsprechend zwei Idealtypen von Wissenschaftlern: „Der erste Typ ist von seinen Ideen überzeugt. Er forscht aus eigenem Antrieb und aus Interesse an der Sache - er ist intrinsisch motiviert. […] Der zweite Typ sieht die Universität als attraktive Karrieremöglichkeit; wissenschaftliche Forschung dient ihm nur dazu, dieses Ziel zu erreichen. Die Motivation ist extrinsisch“. 95 Vgl. Resnik (1999, 59). 96 Merton (1985b, 96). 97 Laut ebd., 97 wird die Umsetzung dieser Norm durch die Rechenschaftspflicht gegenüber den Standesgenossen unterstützt. <?page no="238"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 234 kungslos wird.“ 98 Den Missbrauch im Faschismus vor Augen, warnt Merton davor, die wissenschaftliche Autorität für pseudowissenschaftliche Behauptungen in Anspruch zu nehmen und gegenüber Laien auszuspielen. 99 Da das hohe Ansehen der Wissenschaft und die „ethische Stellung“ indirekt der „Integrität des Wissenschaftlers“ zu verdanken sei, müsse sich die Wissenschaft gegen den Missbrauch ihres Wissens für „Zweck[e] bestimmter Interessen“ schützen. 100 Organisierter Skeptizismus Der organisierte Skeptizismus stellt sowohl eine technisch-methodologische als auch eine moralisch-institutionelle Norm dar: 101 Unter methodologischen Gesichtspunkten fordert die Norm vom Wissenschaftler, alle Ergebnisse der eigenen sowie der institutionell organisierten Kritik zu unterwerfen. 102 Wie wir festgestellt haben, können Ergebnisse im Falle ihrer Bestätigung durch die scientific community wissenschaftliche Geltung beanspruchen. Dazu sind Strukturen verankert, die eine intersubjektive Überprüfung wissenschaftlicher Ergebnisse garantieren, wie z.B. das Peer-Review-Verfahren oder die Reproduzierbarkeit bzw. Anwendung in nachfolgenden Experimenten. Unter moralischen Gesichtspunkten, d.h. als „institutioneller Imperativ“ fordert der organisierte Skeptizismus die „Zurückhaltung des endgültigen Urteils bis ‚die Fakten zur Hand sind‘“. 103 Demzufolge soll der Wissenschaftler distanziert-kritisch mit den eigenen und fremden Theorien umgehen, um das Augenmerk auf nicht-systemkonforme unbequeme Tatsachen lenken zu können. 104 Die Gefahr des Dogmatismus, der das Ziel des Wissensfortschritts unterminieren könnte, wird durch eine andauernde Kritik des bestehenden Wissensfundus gebannt. 105 Da unbeabsichtigte Fehler und Irrtümer während der wissenschaftlichen Forschungsarbeit nicht auszuschließen sind, gilt es, einen gesunden Skeptizismus und eine hohe Sorgfalt bei der wissenschaftlichen Arbeit walten zu 98 Ebd., 98. 99 Vgl. ebd., Anm. 21. 100 Ebd. 101 Vgl. ebd., 99. 102 Die von Merton betonte kollektive Struktur des „organisierten Skeptizismus“ findet sich in der Theorie des „division of cognitive labor“ von Kitcher (1990) wieder, bei der Poppers’ Falsifikationismus auf den Schultern von Kollegen verteilt wird. Damit trifft die Kritik von Woodward/ Goodstein (1996, 484f.), jede Forderung nach Skeptizismus gegenüber den eigenen Ergebnissen sei aus psychologischen Gründen nicht praktizierbar und irrealistisch, auf Mertons Wissenschaftsethos nicht zu. 103 Merton (1972, 55). 104 Ders. (1985b, 99). 105 Vgl. Popper (2005, 452), nach dem wissenschaftliche Erkenntnisse letztlich nur unter den vorausgesetzten und relativ unsicheren Bedingungen und Annahmen gelten. <?page no="239"?> 4.2. Paradigmen der Wissenschaftsethik 235 lassen. Dies impliziert, dass der Wissenschaftler keine Ergebnisse manipuliert oder weglässt, sondern neben den Erfolgen auch Misserfolge (z.B. von der Theorie abweichende unerwartete Ergebnisse) kenntlich macht. Sofern die Skeptizismus-Norm „[d]ie zeitweilige Außerkraftsetzung bestimmter Urteile und Ansichten und die unvoreingenommene Prüfung von Glaubensüberzeugungen anhand empirischer und logischer Maßstäbe“ umfasst, 106 schließt sie in aller Konsequenz prinzipiell keinen Lebensbereich als Untersuchungsgegenstand aus; es gilt, jede Glaubensüberzeugung, also auch jede allgemein akzeptierte Auffassung nach wissenschaftlichen Maßstäben zu überprüfen. Die Norm des organisierten Skeptizismus vereint somit einen internen und externen Impetus, sowohl gegenüber der Forschergemeinschaft als auch gegenüber der Gesellschaft. 107 Nach der Darstellung der vier Merton-Normen wenden wir uns nun der Fragestellung zu, inwieweit sich die wissenschaftsexterne Transparenznorm innerhalb des Ethosparadigmas begründen lässt. 4.2.3.3. Transparenz als funktionale Norm Vor dem Hintergrund einer strukturfunktionalen Sozialtheorie ist Merton in der Lage, ein bestimmtes Normenset als unhintergehbares Handlungsregularium im Rahmen der wissenschaftlichen Praxis auszuweisen und als verbindlich zu begründen. 108 Ausgangspunkt seiner Argumentation ist die simple Einsicht, dass Handlungen ein bestimmtes Ziel voraussetzen, das er im Rahmen des wissenschaftlichen Funktionssystems als Erweiterung abgesicherten Wissens definiert. Entscheiden sich soziale Akteure, am „Spiel“ der Wissenschaften teilzunehmen, hat sich ihr Handeln am Ziel der Wissenserweiterung und an den aus der Zielsetzung abgeleiteten technischen und moralischen Normen zu orientieren. Andernfalls führte das Handeln 106 Merton (1985b, 99). In Rekurs auf Webers Werturteilfreiheitsforderung sollen Werturteile von Tatsachenbehauptungen getrennt und letztere einer wissenschaftlichen Kritik unterzogen werden. 107 Während Weingart (2003, 20) die Skeptizismus-Norm externalistisch interpretiert - sie begründe eine Konfliktbereitschaft der Wissenschaften in liberal-demokratischen Kontexten, in denen ungerechtfertigte Ansprüche (z.B. Nützlichkeitserwartungen) erhoben werden - deutet Schockenhoff (2005, 246) sie als interne Herausforderung: „Wenn ein entscheidender Beitrag der Wissenschaften zur öffentlichen Meinungsbildung in der Ent-täuschung trügerischer Hoffnungen besteht, dann muss die Wahrnehmung dieses akademischen Auftrags zuvor auch im Binnenverhältnis der Wissenschaft […] erprobt sein.“ 108 Eine wesentliche Kritik bezieht sich auf das Theoriekonzept der funktionalistischinstitutionalistischen Wissenschaftssoziologie. Während Merton die sozio-strukturellen und institutionellen Prozesse der Wissensproduktion in den Forschungsmittelpunkt stellt und dabei stets an der immanenten Rationalität der Wissenschaft und ihrer Produkte festhält, destruieren nachfolgende Wissenschaftssoziologen den „kognitiven Gehalt“ von Wissenschaft, wie Knorr-Cetina (2007, 329) referiert. <?page no="240"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 236 entweder überhaupt nicht zum wissenschaftlichen Ziel oder erreichte es nicht auf effiziente Weise. Neben dem genannten Stellenwert für die wissenschaftliche Praxis hat das funktionale Wissenschaftsethos auch für die theoretische Fundierung der Wissenschaften eine fundamentale Bedeutung. Wenn Wissenschaft per definitionem ein Streben nach gesichertem Wissen ist, muss sich das wissenschaftliche Handeln methodologisch und normativ an dieser Idee ausrichten, sonst würde es kein wissenschaftliches sein. 109 Das Wissenschaftsethos dient demzufolge der theoretischen und praktischen Konstitution der Wissenschaften, bei dem zwei funktionale Blickrichtungen unterschieden werden: 110 Vor dem Hintergrund des kollektiven Unternehmens reguliert es nach innen hin das wissenschaftliche Handeln, insbesondere die Motivation der Wissenschaftler, Kooperationen und Kollaborationen hinsichtlich disziplinärer und interdisziplinärer Zielsetzungen, schafft einheitliche epistemologische Standards und wissenschaftsinternes Vertrauen; vor dem Hintergrund komplexer gesellschaftlicher Verflechtungen fundiert es nach außen hin das Vertrauen der Gesellschaft in die wissenschaftliche Forschung, die Akzeptanz der wissenschaftlichen Autorität und Autonomie sowie die finanzielle Unterstützung. 111 Bereits als grundlegendes Ideal der wissenschaftsinternen Kommunikation gewürdigt, 112 kann Transparenz mit der Kommunismus-Norm in Verbindung gebracht und als funktionale Norm des wissenschaftlichen Ethos begründet werden. 113 In Anknüpfung an den Kommunismus-Gedanken - wissenschaftliches Wissen ist kein Privatbesitz - stellt die Transparenznorm die Verlässlichkeit der Wissensübergabe sicher: Nach Abschluss der wissenschaftlichen Forschungsarbeit sind wissenschaftliche Informationen über Methoden und Ergebnisse wahrheitsgemäß und vollständig an Forscherkollegen zu vermitteln. Angesichts der wissenschaftlichen Zielset- 109 Wie Schweidler (2006, 311) betont, können „wissenschaftliche von nichtwissenschaftlichen Aussagen letztlich nicht auf der inhaltlichen Ebene, sondern nur in Bezug auf die Maßstäbe ihrer Überprüfung abgegrenzt werden“. 110 Vgl. Resnik (2007, 35f.). 111 Gegenüber Spinner (1987a, 80), der das Wissenschaftsethos polemisch auf den Zweck „gesellschaftlich akzeptabler Wissensdarstellung“ reduziert, erfassen erst beide Seiten die Komplexität der Institution Wissenschaft. 112 Vgl. Kap. 3.1.1. 113 Eine Zuordnung der Transparenzzur Kommunismus-Norm ist möglich, wenn die Merton-Normen als normative Komplexe verstanden werden, die wiederum Gruppen unterschiedlicher, teils überschneidender Einzelnormen und Tugenden enthalten können. Entsprechend gewinnt Siep (1988, 23) konkrete emotionale, intellektuelle und soziale Verhaltensanforderungen: Emotional sollen alle Leidenschaften, Interessen und Wünsche unterdrückt werden, die nicht dem Erreichen des wissenschaftlichen Ziels dienen; zu den intellektuellen Tugenden gehören u.a. Sorgfältigkeit, Vorurteilslosigkeit und Aufrichtigkeit; auf der sozialen Ebene sind die Normen der Kollegialität, Fairness und Öffentlichkeit der Methoden und Ergebnisse zu nennen. <?page no="241"?> 4.2. Paradigmen der Wissenschaftsethik 237 zung der Wissenserweiterung ist die Transparenznorm in zweierlei Hinsicht funktional legitimierbar: 114 Erstens resultiert wissenschaftliches Wissen aus einem Prozess der wechselseitigen Überprüfung und Anerkennung von Daten und Ergebnissen, wozu ihr freier, transparenter Zugang notwendig ist. 115 Zweitens bauen die Forschungsarbeiten der naturwissenschaftlichen Forschung auf den bereits gewonnenen Ergebnissen der einzelnen Forscher(gruppen) auf. Werden Ergebnisse hingegen zurückgehalten bzw. verheimlicht, stellt dies eine nachhaltige Gefährdung für die wissenschaftliche Zielsetzung dar, Wissen zu gewinnen und zu erweitern. 116 Wie ex negativo deutlich wird, verstößt ein Wissenschaftler, der die Intransparenz von Sachverhalten durch das Verheimlichen von Informationen verschuldet, außerdem gegen die Norm des Universalismus, da die vermittelten tendenziösen und verzerrten Informationen nicht den objektiven Kenntnisstand widerspiegeln. Ferner ist davon auszugehen, dass der Forscher sich extrinsisch aufgrund persönlicher Interessen und Wünschen motiviert und nicht intrinsisch im Sinne der Norm der Desinteressiertheit vom Gedanken des wissenschaftlichen Ideals leiten lässt. Er verhindert dabei die von der Norm des organisierten Skeptizismus geforderte selbstkritische Offenlegung aller Fakten zur kollektiven Überprüfung. Insgesamt wird die Transparenznorm, die bei der Norm des Kommunismus ihren Ausgang nimmt, von den Normen des Universalismus, der Desinteressiertheit und des organisierten Skeptizismus gleichermaßen gestützt und lässt sich plausibel begründen. Mit der funktionalen Begründung der Transparenznorm erkauft man sich allerdings eine doppelte Begrenzung ihrer Reichweite. Erstens ist sie hinsichtlich der Zielsetzung der Wissenserweiterung ausschließlich als Kom-munikationsnorm innerhalb der Wissenschaften legitimierbar (wissenschaftsinterne Transparenznorm), aber nicht als Kommunikationsnorm für die Interaktionen zwischen der Wissenschaft und der Gesellschaft (wissenschaftsexterne Transparenznorm). Denn nur bei einer internen Kommunikation werden Forschungsergebnisse der Überprüfung durch kompetente Fachkollegen ausgesetzt, die daher den Maßstäben der Trans- 114 Die Argumente finden sich bei Munthe/ Welin (1996) und Resnik (2007, 46). 115 Vgl. auch die MPG (2000b, 73f.): „Der Schutz der Transparenz leitet sich aus der Fallibilität wissenschaftlicher Aussagen ab: Wissenschaftliche Aussagen haben Bestand, solange sie nicht widerlegt sind. Voraussetzung für die Möglichkeit zur Widerlegung […] ist freilich deren faktische Falsifizierbarkeit - die Chance zur Widerlegung oder Bestätigung. Folglich müssen Hypothesen, Forschungsansatz, Verfahren der Datengewinnung und Methoden der Datenanalyse offengelegt werden, der kritischen Öffentlichkeit der relevanten Forschergemeinde zugänglich sein.“ 116 Vgl. Resnik (2007, 102). <?page no="242"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 238 parenz genügen müssen. 117 Die Behauptung, eine Einhaltung der Merton- Normen dürften nicht nur Wissenschaftler untereinander, sondern auch Laien im Umgang mit Wissenschaftlern erwarten, 118 ist zwar intuitiv einleuchtend, geht aber über den engen Geltungsbereich einer funktionalistischen Begründung hinaus. Versuche einer schwach-funktionalen Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm können zwar bei den positiven Folgen für das Wissenschaftssystem ansetzen: Eine transparente Informierung über wissenschaftliche Ergebnisse führt etwa zu einer hohen gesellschaftlichen Akzeptanz der Wissenschaften, wodurch ihre institutionelle Stabilität aufrecht erhalten wird. Diese Argumentation scheitert aber spätestens mit dem Nachweis, dass eine transparente Informationspolitik mitunter zu massiven gesellschaftlichen Widerständen und letztlich zur Einstellung ganzer Forschungszweige führen kann. 119 Dies legt zumindest für riskante und wenig akzeptable Forschungsbereiche den funktionalen Imperativ einer wissenschaftsexternen Intransparenz nahe. Mit der Eingrenzung des Geltungsbereichs der funktionalen Transparenznorm auf den Adressatenkreis wissenschaftlicher Akteure ist zweitens eine Exklusion inhaltlicher Transparenz verbunden: Die Zielsetzung des Erkenntnisfortschritts wird bei einer formellen Zugänglichkeit zu Methoden und Ergebnissen für Fachkollegen funktional ausreichend erfüllt. Da sich die Fachwissenschaftler in der Thematik auskennen und die Fachsprache verstehen, ist eine besondere Vermittlungsarbeit der Transparenzvermittler zum Verstehen der Informationen weder sinnvoll noch begründbar. Die Forderung einer externen Transparenz, wie sie in dieser Arbeit aufgestellt wird, muss demzufolge anders - kurz: universalmoralisch - begründet werden. Als Zwischenfazit kann eine Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm mittels einer funktionalen Ableitung aus der wissen- 117 In Weiterführung des Gedankens schränkt Jasanoff (2006, 26 und 30) ihre Transparenzforderung überraschend auf Fachkollegen ein, die zu einer kompetenten Kritik fähig sind. Rezipientenunspezifische Transparenzforderungen (z.B. Offenlegungsklauseln bei Publikationen) hält sie hingegen für überflüssig - will heißen „dysfunktional“ -, da sie nicht zu einer „besseren“ Wissenschaft mit zuverlässigeren oder nützlicheren Erkenntnissen führten. Noch radikaler argumentieren Collins/ Evans (2002, 254ff.), die zur Verhinderung unnötig langer Kontroversen eine legitime Teilnahme von der epistemischen Kompetenz abhängig machen. 118 Nach Ott (1997, 358f.) gilt das Merton-Ethos aufgrund der spezifischen Rollenbeziehung „in allen Fällen, in denen Laien die Erwartung hegen, hier sei es die Wissenschaft, die spricht“. Begründet er die Gültigkeit des Ethos bei solchen Interaktionen über eine Rekonstruktion normativer Rollenimplikate, trägt er dem engen Bezugsrahmen der funktionalen Begründung Rechnung. 119 Dieses Argument referieren Munthe/ Welin (1996, 416). Wie Jasanoff (2006) zeigt, wurde bis in die 1970er Jahre eine externe Transparenz der Wissenschaft, die im Verdacht stand, unverwunden zu ihrer Politisierung und Manipulation zu führen, als eine dysfunktionale Gefährdung angesehen (vgl. z.B. Price 1967, 137). <?page no="243"?> 4.2. Paradigmen der Wissenschaftsethik 239 schaftlichen Zielsetzung nicht geleistet werden. Gleichwohl ist eine funktionale Begründung der wissenschaftsinternen Transparenznorm nicht ir-relevant, sofern ihre Berücksichtigung als Voraussetzung für die Einhaltung der wissenschaftsexternen Transparenznorm angesehen wird. 120 Solange eine funktionale Normenbegründung für die Zielsetzung der Arbeit bedeutsam ist, stellen sich Fragen nach den Grenzen, die grundsätzlich aus einer immanenten, soziologischen Perspektive (1) und von einem externen, ethischen Standpunkt (2) diskutiert werden können: 121 (1) Bei einer funktionalen Normenbegründung stellen vor allem die Gültigkeit der postulierten Zielsetzung, aus der die Normen abgeleitet werden, und die vermeintliche Funktionalität der Normen einen soziologischen Streitgegenstand dar. Postuliert Merton als Zielsetzung die Erweiterung wissenschaftlich gesicherten Wissens, würde ihre Modifikation unvermeidlich die funktionale Begründung der Normen erschüttern und statt dessen die Entfaltung anderer Normen nach sich ziehen. Daher scheint die Annahme bestimmter konstruktivistischer Kreise der Wissenschaftssoziologie, die epistemische Zielsetzung des Wissenschaftssystems werde zunehmend zugunsten praktischer Ziele (z.B. Anwendbarkeit des Wissens) aufgegeben, auch die Begründung der wissenschaftsinternen Transparenznorm zu tangieren. 122 Dem gegenüber konnte bereits diagnostiziert werden, dass die Gültigkeit der Transparenznorm von einer Modifikation des Wissenschaftsziels - ja sogar des Wissenschaftskonzepts - unberührt bleibt, solange die intersubjektive Prüfung des Wissens ein konstitutives Kriterium der Wissenschaft ist. 123 Wenden wir uns daher der Fragestellung zu, ob die Merton-Normen überhaupt der Verwirklichung der Zielsetzung dienen, d.h. funktional 120 Vgl. Kap. 5. 121 Stellen die soziologischen Analysen Mertons keine wissenschaftsethische Reflexion der Wissenschaftspraxis dar, ist dies freilich bei einer kritischen Würdigung zu berücksichtigen. Außerdem können die wissenschaftsphilosophischen Hintergrundannahmen seines Wissenschaftskonzepts keiner weiteren Diskussion unterworfen werden. Z.B. verweist die Kommunismus-Norm auf ein realistisch-rationalistisches Wissenschaftskonzept; nur bei einer subjektunabhängigen Welt, in der die Wissenschaftler zu gleichen Ergebnissen kommen müssen, ist laut Breithecker-Amend (1992, 53) „eine schnelle und offene Publikation der einzige Weg zur Sicherung der Besitzansprüche des Entdeckers. Und nur unter dieser Voraussetzung werden ‚Wettrennen‘ um die Priorität von Entdeckungen verständlich.“ 122 Beispielsweise sind die Wissenschaftskonstruktivisten Nowotny u.a. (2004, 218ff.) der Auffassung, dass die Merton-Normen an der Seite anderer wissenschaftsexterner Kriterien „auch in der Zukunft ein herausragendes Element der Qualitätskontrolle“ bleiben - allerdings unter der Bedingung, dass sie der Produktion praxisorientierten, „sozial robusten Wissens“ dienen. 123 Siehe Kap. 3.1.1. <?page no="244"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 240 sind. 124 Diese empirisch prüfbare Frage betrifft auch die interne Transparenznorm: Sofern das Ausnutzen von Interpretationsspielräumen der Zementierung eigener Forschungshypothesen und der Etablierung neuer Erkenntnisse dienen kann, halten etwa Woodward und Goodstein bestimmte intransparente Praktiken (z.B. die Überinterpretation von Daten oder die übertriebene Bewertung von Belegen) für funktional - und somit legitim. 125 Negative Folgen aus einer unreflektierten Anwendung der Forschungsergebnisse seien unwahrscheinlich, da eine unsachgemäße interpretative Übertreibung nicht dauerhaft der Kritik von Fachkollegen standhalten könnte. Mit entschiedener Schärfe verurteilen die Autoren hingegen unüberprüfbare Übertreibungen, Auslassungen und Fälschungen von Forschungsergebnissen, die den wissenschaftlichen Forschritt gefährdeten. 126 Warum sie bei überprüfbaren „Teilwahrheiten“ Milde walten lassen, ist angesichts der damit verbundenen massiven Verzögerungen beim wissenschaftlichen Progress funktional zumindest fragwürdig. Selbst wenn Teilwahrheiten durch das Heranziehen weiterer Veröffentlichungen kompensiert werden - viele Teilwahrheiten lassen „mehr und mehr die ganze Wahrheit zum Vorschein kommen“ -, 127 relativiert sich der Geltungsanspruch wissenschaftlicher Veröffentlichungen. Andere Autoren diskutieren, ob Ausnahmeregelungen von der internen Transparenznorm in kommerziellen Forschungsbereichen zulässig sind, sofern vereinzelte Verheimlichungen von Forschungsergebnissen das kollektive Bemühen um den wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt nicht beeinträchtigen könnten. 128 Da jedoch die Bedeutung der individuellen Forschungsarbeit für das kollektive Wissenschaftsunternehmen nicht unterschätzt werden darf, 129 muss 124 Vgl. Stehr (1978, 185), der das Fehlen eines empirischen Nachweises moniert, ob und inwieweit der Merton-Ethos überhaupt einen Beitrag zur wissenschaftlichen Zielsetzung leistet. 125 Woodward/ Goodstein (1996). Ihr Argument lässt sich wissenschaftshistorisch stützen, sofern die Verletzung der Merton-Normen eine Voraussetzung für viele wissenschaftliche Revolutionen gewesen ist. Für Mulkay (1972, 56) trifft die Geltung der Normen daher höchstens auf die Phase der „normalen“ Wissenschaft zu. 126 Woodward/ Goodstein (1996, 486): „[A] scientist who fabricates data must be judged far more harshly than one who does […] experiments and accurately records the results but then extrapolates beyond the recorded data or insists on fitting some favored function to them. The difference is the fact that in the case in which there is no fabrication nothing has been done to obstruct the critical scrutiny of the work by peers; they can look at the data themselves and decide whether there is support for the conclusions.“ 127 Vgl. Wandschneider (1991, 263f.). 128 Diese Position referieren Munthe/ Welin (1996, 418) und verwerfen sie mittels utilitaristischer Argumente. 129 Vgl. etwa Resnik (2007, 74f.): „Scientific communities are composed of individuals. Individuals make decisions to solicit funding, design experiments, recruit subjects, perform tests, analyze data, and publish results. A scientific community could not <?page no="245"?> 4.2. Paradigmen der Wissenschaftsethik 241 nicht erst das Dammbruchargument bemüht werden, um die Position als unhaltbar auszuweisen. Insgesamt wird deutlich, dass eine funktionalistische Normenbegründung an ihrem Beitrag zur Verwirklichung der wissenschaftlichen Zielsetzung gemessen wird, was möglicherweise dem moralischen Verständnis widerspricht. (2) Aus einer ethischen Perspektive stellt sich die Frage, ob eine funktionale Begründung des internen Wissenschaftsethos für die Handlungsorientierung der Wissenschaftler formell, inhaltlich und motivational ausreicht. Formell verharrt die normative Begründung der Merton-Normen auf der Ebene der „technischen“ Imperative, im Sinne von Zweck-Mittel-Überlegungen, wobei die Moralität des Zwecks, das Erreichen wissenschaftlicher Erkenntnisse, bei funktionalen Argumenten unberücksichtigt bleibt. 130 Wenngleich nicht beim wissenschaftlichen Handeln zutreffend - dessen Zielsetzung wird in der Regel als wertvoll angesehen -, können funktionale Normen aufgrund der Subsumption unter zweifelhafte Ziele durchaus unmoralisch sein. 131 Aufgrund der begründungstheoretischen Differenz zwischen funktionalen (sie dienen der Realisierung beliebiger Ziele, die dadurch den Status der Bedingtheit nicht überschreiten) und moralische Normen (sie beanspruchen unbedingte Gültigkeit) ergibt sich aus metaethischer Perspektive folgende Problematik: 132 Obwohl Forscher nicht wissenschaftlich arbeiten können, wenn sie nicht die funktionalen Normen befolgen, enthalten die Normen nicht den Grund ihrer Befolgung in sich. Die Notwendigkeit, sich an die Normen zu halten, die analytisch mit dem Entschluss verbunden ist, Wissenschaft zu betreiben, erlischt mit einer Änderung der Absicht. Wie sich aus den Wissenschaftsnormen nicht ableiten achieve objective results if most of the individuals who are members of that community did not adhere, most of the time, to norms that promote objectivity.“ 130 Vgl. die Überlegungen von Kant GMS BA 39ff. zu den verschiedenen Imperativtypen. Bayertz (1994a, 45) vertritt die strittige These, „dass das ‚wissenschaftliche Ethos‘ überhaupt nicht moralischer Natur ist, sondern als ein Komplex funktionaler Normen und Werte aufgefasst werden muss, die das möglichst effiziente Funktionieren des Wissenschafts‚betriebes‘ sicherstellen sollen.“ Wenn in der Wissenschaft das Gebot der Wahrhaftigkeit gelte, sei dies nur scheinbar eine moralische Forderung, sondern in Wirklichkeit eine im Dienste der Wissensgenerierung umfunktionierte „technische Vorschrift“, wie z.B. „Das Motoröl muss alle 5000 Kilometer erneuert werden! “ Diese treffende Analyse Bayertz schließt m.E. nicht die Möglichkeit (bzw. sogar Notwendigkeit) aus, die Normen moralisch zu begründen. Wie Twenhöfel (1991, 119f.) präzisiert, deutet Merton (1972b, 48) zwar weitere Begründungsmöglichkeiten an (z.B. eine wertrationale Normenbegründung), die gegenüber der dominierenden funktionalen Begründung aber nahzu unsichtbar sind. 131 Vgl. Honnefelder (2002), nach dem ein gelebtes Ethos durchaus ethisch fragwürdig sein kann. 132 Ich adaptierte hierbei die Einwände von Ricken (2003, 64f.) gegenüber der Ansicht, bei einer Teilnahme am Schachspiel sei man zugleich verpflichtet, die Regeln des Schachspiels einzuhalten. <?page no="246"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 242 lässt, dass es verboten wäre, sich nicht mehr an sie zu halten, kann der Funktionalismus keine Antwort auf die Frage geben, warum ein Forscher auf die Einhaltung der Normen „verpflichtet“ ist. Hierzu bedarf es einer eigenen Begründung, die indes nicht von der Soziologie, sondern von der Wissenschaftsethik entwickelt wird. 133 Geht man davon aus, dass der Wissenschaftler als Person weder auf seine Funktionsträgerschaft im System Wissenschaft noch auf seine Forschungstätigkeit reduziert werden kann, 134 ist außerdem die inhaltliche Reichweite des Wissenschaftsethos kritisierbar. Denn es bezieht sich primär auf Handlungen des Wissenschaftlers in der Rolle des Forschers, während zahlreiche weitere Rollen, durch die er in die Gesellschaft integriert wird (z.B. als Experte, Berater, Gutachter, Planer und Lehrer), unberücksichtigt bleiben. 135 Sofern sich der Wissenschaftler als handelnde Person nicht nur in inner-, sondern in vielfältigen außerwissenschaftlichen Kontexten bewegt und die Handlungen nicht nur im wissenschaftlichen, sondern auch im gesellschaftlichen Rahmen Auswirkungen haben, 136 sind weiterführende normative Fragen vor dem Hintergrund einer wissenschaftlichen und gesamtgesellschaftlichen Zielsetzung sogar unerlässlich. Versteht man hingegen das Wissenschaftsethos als ein Minimalmodell, welches ein regulatives Rahmenwerk oder einen Kernbestand an Normen für das wissenschaftliche Handeln vorgibt, 137 schließt dies nicht die Möglichkeit einer Reflexion und Handlungsregulierung solcher wissenschaftlicher Handlungen aus, die vom funktionalen Wissenschaftsethos unerfasst bleiben. In der vorliegenden Arbeit wird die wissenschaftsexterne Transparenznorm (TN B ) als eine dringliche Ergänzung zu den Ethosnormen angesehen, die das wissenschaftliche Handeln gleichermaßen prägen soll. 138 Während die 133 In der Literatur finden sich deontologische, utilitaristische und tugendethische Begründungen der Wissenschaftsnormen; vgl. Hübner (2010), der einen Überblick über die drei Begründungsmodelle anhand des Verbots der Datenfälschung gibt, sowie Resnik (1999, 22) für eine prinzipienorientierte Argumentation. 134 Kritisch hierzu Fischer (2007b, 67): „Die Akteure innerhalb der Systeme sind keine analytischen Einheiten (reine Funktionsträger), sondern reale Menschen, die […] persönliche Ziele haben“. 135 Sofern das Merton-Ethos von der Autonomie der Wissenschaft geprägt ist, fehlt ihm, wie z.B. Nida-Rümelin (2005b) moniert, eine normative Bestimmung der Interaktionen zwischen Wissenschaften und Gesellschaft, die der gegenwärtigen Verhältnisbestimmung zwischen beiden Bereichen Rechnung trägt. 136 Wenngleich verschiedene Arten der Verantwortlichkeit analytisch unterscheidbar sind, fallen sie in der Person des Wissenschaftlers zusammen, vgl. Kap. 4.2.4. 137 Mit diesem reduzierten Anspruch würde die Kritik von Lenk (1991b, 57) ins Leere laufen, das Wissenschaftsethos könne nicht als ethisch oder universalmoralisch bezeichnet werden, da es sich ausschließlich an dem Ziel objektiver Erkenntnis orientiere und nicht etwa die Unversehrtheit Anderer betreffe. 138 Langfristig soll die externe Transparenznorm in den Wissenschaftsethos als vorfindbarer Bestand akzeptierter Normen Einzug halten. Möchte Mohr (1987) hingegen das <?page no="247"?> 4.2. Paradigmen der Wissenschaftsethik 243 internen Merton-Normen und das interne Transparenzgebot in der Wissenschaftsgemeinschaft weitgehend unkontrovers sind, muss ein ethisches Reflexionsdefizit für die Gültigkeit der wissenschaftsexternen Transparenznorm eingeräumt werden, das mit diesem Kapitel zu kompensieren versucht wird. 139 Das Problem der Normenkonflikte zwischen wissenschaftsinternen und -externen Normen besteht hierbei nicht, 140 da die vorgeschlagene wissenschaftsexterne Transparenznorm weder die Befolgung wissenschaftsinterner Normen noch die Notwendigkeit temporärer wissenschaftlicher Intransparenz in Frage stellt. Der inhaltlichen Engführung einer funktionalen Handlungsorientierung entspricht eine latente motivationale Kurzatmigkeit der funktionalen Normenbegründung: Diese Auffassung erscheint zwar vor der Beobachtung unplausibel, dass die funktional begründeten Normen des Wissenschaftsethos in der Wissenschaftsgemeinschaft konsensuell akzeptiert und größtenteils befolgt werden. 141 Man geht sogar davon aus, dass interne Gratifikationen und Sanktionen (z.B. wechselseitige Anerkennung, Abwertung oder im Extremfall ein Ausschluss aus der Gemeinschaft) ausreichen, um die funktional begründeten und rational nachvollziehbaren Normen durchzusetzen. 142 Aus einem anderen Blickwinkel zeugt aber gerade die Notwendigkeit eines wissenschaftlichen Belohnungs- und Sanktionssystem von einem tiefen Misstrauen in die bindende und motivierende Kraft einer funktionalen Begründung. Entsprechend bezweifeln Kritiker, dass die funktionale Plausibilität der Wissenschaftsnormen eine Internalisierung verbürgen könne. Die durchgehende Berücksichtigung institutioneller Normen im Handeln sei vielmehr auf die moralische Sensibilisierung des Forschers und die Entfaltung einer wissenschaftlichen Haltung zurückzuführen. 143 Doch bevor das Wissenschaftsethos vorschnell als funktional-techni- Wissenschaftsethos auf die Befolgung funktionaler Normen einschränken, verleugnet er die Möglichkeit der Wandelbarkeit des Ethos als konsensuell akzeptierte Binnenmoral der Wissenschaften. 139 Eine universalmoralische Begründung der Transparenznorm trägt dem Zweifel von Ott (1997, 355) Rechnung, „ob sich aus dem internen Ethos Normen ableiten lassen, die es von innen in Richtung auf eine weitreichende ‚externe‘ Verantwortung der Wissenschaftler transzendieren.“ 140 Vgl. hierzu die Untersuchung von Döring (2003, 52ff.). 141 Laut Merton (1972, 46) ist das wissenschaftliche Ethos „der gefühlsmäßig abgestimmte Komplex von Werten und Normen, der für den Wissenschaftler als bindend betrachtet wird. […] Diese Imperative, durch Lehre und Beispiel vermittelt und durch Sanktionen verstärkt, werden im unterschiedlichen Maße von Wissenschaftlern internalisiert und prägen somit sein wissenschaftliches Bewusstsein, […] sein Über-Ich.“ 142 Vgl. Mohr (1991, 79). 143 Vgl. Hösle (2007, 35f.), der den Fehlfunktionen in der Wissenschaft das moralische (nicht das funktionale! ) Handeln der Wissenschaftler entgegenstellt; Schockenhoff (2005, 242) deutet die zentralen Einzelnormen des Merton-Ethos angesichts ihrer motivationalen Schwächen tugendethisch; Mittelstraß (1982 und 1997) kritisiert die <?page no="248"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 244 sches und daher nichtmoralisches Regelwerk ohne hinreichende motivationale Tiefenwirkung disqualifiziert wird, ist die Möglichkeit einer zusätzlichen ethischen Begründung der inkludierten Normen zu erwägen. 144 Angesichts möglicher Überschneidungen zwischen Normentypen, könnte eine doppelgleisige Begründung die Wirksamkeit der betreffenden Normen stützen. 145 Insgesamt erlaubt das Ethosparadigma die funktionale Begründung der wissenschaftsinternen, aber nicht der wissenschaftsexternen Transparenznorm. Die Zielsetzung dieses Kapitels ist demzufolge nicht erreicht. Interpretiert man die wissenschaftsinterne Transparenznorm als Propädeutikum für die Erfüllung der externen Kommunikationsnorm, sind weiterhin die Grenzen einer funktionalen Argumentation aufgezeigt worden, die erst durch die Ergänzung einer universalmoralisch-ethischen Begründung kompensiert werden können. Vorausgesetzt wird hierbei, dass ethische Gründe zum Handeln motivieren. Nach dieser kritischen Würdigung des Ethosparadigmas wenden wir uns nun dem Verantwortungsparadigma zu. 4.2.4. Das Verantwortungsparadigma Im letzten Kapitel wurde das Ethos der Wissenschaft als ein funktionales Ethos bestimmt, sofern darin Normen verankert sind, die der Gewinnung und Erweiterung wissenschaftlichen Wissens dienen. Aus wissenschaftsethischer Perspektive ist eine funktionale Regulierung der Wissenschaftspraxis allerdings nur solange ausreichend, wie sich die Wissenschaft als ein kollektives, theoretisches Erkenntnisunternehmen ohne handelnden Einfluss auf Mensch, Gesellschaft und Natur versteht. Angesichts der manifesten Anwendungsdimension moderner Wissenschaften bei steigendem Einfluss auf Mensch und Umwelt - zunächst in kleinem Maßstab (bei denen funktionalistische Degradierung der Wissenschaft zu einer entpersönlichten Technik und plädiert programmatisch für eine moralische Lebensform, die die Entfaltung wissenschaftlicher und sozialer Tugenden impliziert. 144 Tranøy (1987) ist der Auffassung, wissenschaftliche Normen seien kontextspezifische Anwendungen der allgemeinen Normen, nicht lügen, täuschen und betrügen zu dürfen. Resnik (1999, 69) betont die hohe Verbindlichkeit universalmoralischer Standards (z.B. Lügenverbot) im wissenschaftlichen Rahmen. 145 In der Literatur finden sich zahlreiche Versuche einer ethischen Begründung der Ethosnormen, von denen exemplarisch eine prinzipienorientierte Begründung der internen Transparenznorm genannt wird: Nach Beisiegel (2006), Gethmann (1999) u.a. gebietet die Fairness gegenüber Forscherkollegen die Einhaltung der internen Transparenznorm. Wer sie verletzt, handelt nach Grotefeld (2006, 48f.) aus mindestens zweierlei Gründen unfair: Erstens wird durch die Weitergabe intransparenter Ergebnisse die Arbeit der Kollegen geschädigt, die sich vertrauensvoll auf die intransparenten Informationen verlassen. Zweitens wird ein wichtiger Forschungsbeitrag nur vorgetäuscht, wodurch man sich auf unredliche Weise einen Vorteil gegenüber Konkurrenten verschafft, die ebenfalls nach Ansehen und Forschungsgeldern streben. <?page no="249"?> 4.2. Paradigmen der Wissenschaftsethik 245 die Folgen des Handelns abschätzbar und umkehrbar waren), bis hin zum gegenwärtigen Großmaßstab (bei denen Mensch und Umwelt irreversibel verändert und geschädigt werden können) - ist das theoretische Wissenschaftsbild obsolet. 146 Da Wissenschaftler selbst bei fundamentalen und irreversiblen Auswirkungen ihrer Forschungsarbeiten von sich behaupten können, bona fide regelgerecht-ethoskonform gearbeitet zu haben, 147 wird seit den 1970er Jahren von wissenschaftsethischer Seite die Einführung eines robusten ethischen Konzepts „wissenschaftlicher Verantwortung“ diskutiert. 148 Nach Auffassung der Protagonisten solle sich eine ethische Reflexion der Verantwortungsfrage insbesondere der neuen Qualität negativer Folgen und Nebenfolgen widmen, die der Wissenschaftler bei seinen lebensdienlichen, leidmindernden und zivilisationsfördernden Entdeckungen und Erfindungen verursacht. 149 Ein adäquater Verantwortungsbegriff müsse somit der Ambivalenz der wissenschaftlichen Forschung im modernen Gesellschaftszusammenhang gerecht werden. Dies betrifft primär anwendungsbezogene Forschungszweige, deren Ziel die technische Nutzanwendung ihres Wissens ist, aber auch Bereiche der Grundlagenforschung, deren Forschungsbemühungen große gesellschaftliche Einwirkungsmöglichkeiten haben (z.B. die Physik durch die Etablierung technischer Verfahren). Im Folgenden wird zunächst das ethische Konzept der Verantwortung analysiert (4.2.4.1.), bevor das Verantwortungsparadigma als Rechtfertigungsgrundlage für die externe Transparenznorm untersucht wird (4.2.4.2.). 4.2.4.1. Das ethische Verantwortungskonzept Im ethischen Diskurs findet der Verantwortungsbegriff ausschließlich beim Vollzug wissentlich-willentlicher (voraussehend-absichtlicher) Handlungen des sprach- und vernunftbegabten Menschen eine sinnvolle Anwendung. 150 Als ein vielschichtiger Relationsbzw. Zuschreibungsbegriff lässt 146 Vgl. Höffe (2002d, 298f.). 147 Vgl. Jonas (1991, 207). 148 Wenn Nida-Rümelin (2005b) konstatiert, dass sich die bisherige Wissenschaftsethik im Spannungsfeld zwischen dem internen Wissenschaftsethos und einer Folgenverantwortung bewege, zeigt sich die Dominanz der beiden bisher angesprochenen Paradigmen. Auch über den Rahmen des wissenschaftlichen Handlungsfeldes hinaus hat der Verantwortungsbegriff laut Schwartländer (1974, 1577f.) „ein solches Gewicht und eine solche Vertiefung gewonnen, dass wir mit Recht von ihm als einem neuen Grundwort unserer Sprache reden“ können. 149 Hierbei ist Jonas (1985, 94) der Auffassung: „Was immer von menschlichem Tun auf die reale Welt einwirkt und damit potentiell die Wohlfahrt anderer berührt, das unterliegt sittlicher Beurteilung und gegebenenfalls rechtlicher Schranken.“ 150 Für weiterführende Überlegungen zur Handlungstheorie der Verantwortung, vgl. Werner (2000). Grundlegend ist das auf Aristoteles zurückgehende „Principle of Al- <?page no="250"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 246 er sich analytisch in verschiedene Ebenen gliedern bzw. in mehrere Stufen aufteilen. 151 Auch wenn sich bei seiner mehrstelligen Konzeption deutliche Varianten finden lassen, wird eine vierstellige Bestimmung als Minimalanforderung an den Verantwortungsbegriff angesehen: 152 (1) Eine Person (Verantwortungssubjekt) ist verantwortlich bzw. zuständig, (2) für das eigene Tun oder Lassen bzw. für übernommene Aufgaben (Verantwortungsgegenstand), (3) vor einer Instanz oder einem Adressaten, die Rechenschaft einfordern (z.B. Gericht, Mitmenschen bzw. Gemeinschaft, Gewissen oder Gott), (4) nach Maßgabe gewisser normativer Kriterien (z.B. moralischer, politischer oder religiöser Art). Während die einzelnen Glieder des Verantwortungsbegriffs in spezifischen Verantwortungssituationen zu bestimmen sind, lassen sich hinsichtlich des Verantwortungsgegenstandes grundlegend zwei Typen von Verantwortung unterscheiden: die retrospektive Handlungsverantwortung (a) und die prospektive Aufgaben- und Rollenverantwortung (b). 153 (a) Bei der Handlungsverantwortung wird der Verantwortungsbegriff mit dem der Handlung bzw. der Unterlassung, 154 den daraus resultierenden Handlungsergebnissen und Handlungsfolgen verknüpft. Als Handlungsergebnisse werden die vom Handelnden intendierten primären Ziele der Handlung definiert, weswegen die Handlung vollzogen wird, während die Handlungsfolgen zwar nicht zu den Handlungszielen gehören, aber als zusätzliche Konsequenzen vom Handelnden verursacht werden. 155 Erst wenn einer Person eine vollzogene Handlung, deren Ergebnisse und Folgen rückwirkend zugeschrieben werden können, ist diese Person verantwortlich zu machen. Einige Interpreten verstehen den retrospektiven Verantternative Possibilities“, nach der ein Subjekt für eine Handlung nur verantwortlich sein kann, wenn es die Möglichkeit hatte, auch anders handeln zu können. Vor diesem Hintergrund kritisiert Werner (2002b, 521) eine metaphorische Verwendung von „Verantwortung“ für bloße Kausalbeziehungen (z.B. „Der Kurzschluss ist verantwortlich für den Hausbrand“). 151 Grundlegend für die analytische Unterscheidung der Verantwortungsebenen ist die Studie von Boche ski (1991). 152 Vgl. etwa Höffe (2002c, 275) und Werner (2002b, 522). Lenk/ Maring (1998) schlagen hingegen einen fünfstelligen Verantwortungsbegriff vor, indem sie nochmals zwischen der Verantwortungsinstanz und einer Person, gegenüber der man verantwortlich ist, unterscheiden; Ropohl argumentiert für einen sechs- (Ropohl 1987, 155ff.) und später sogar siebenstelligen (1996, 69ff.) Relationsbegriff: „Wer (Individuum oder Kollektiv) verantwortet was (Handlung), wofür (Folgen), weswegen (moralische Regeln), wovor (Gewissen oder Gesellschaft), wann (prospektiv oder retrospektiv ) und wie (aktiv oder passiv)? “ Es stellt sich die Frage, worin der Vorteil einer Einführung weiterer Verantwortungsglieder gegenüber der vierstelligen Bestimmung besteht. 153 Diese Unterscheidung findet sich bei Höffe (2002c), Lenk/ Maring (1998, 299) u.v.a. 154 Im Folgenden soll unter einer Handlung auch das Unterlassen verstanden werden. 155 Für eine Einführung in den Handlungsbegriff (im Sinne der intentionalen Kausalität) und die Unterscheidung der Handlungsebenen vgl. Ricken (2003, 91ff.). <?page no="251"?> 4.2. Paradigmen der Wissenschaftsethik 247 wortungsbegriff deskriptiv, d.h. als eine beschreibende Zurechnung vergangener Handlungen nach erfolgter Kausalanalyse. 156 Diese Begriffsverwendung kollidiert mit derjenigen des alltäglichen Sprachgebrauchs, bei der eine Verantwortlichkeit niemals ohne Rekurs auf eine bestimmte Verbindlichkeit thematisiert wird, die bei einer Handlung berücksichtigt oder missachtet wurde. 157 Das Verantwortungskonzept hat demzufolge einen unaufhebbaren normativen Kerngehalt, der ihm überdies etymologisch eingeschrieben ist: In seiner ursprünglichen Bedeutung beim Vorgang des Antwort-Gebens auf die Warum-Frage in der römischen Gerichtsbarkeit umfasst Verantwortung neben einem dialogischen Charakter 158 einen Rechtfertigungsaspekt, der unhintergehbar normativ fundiert ist. Wie dies bei Verantwortungsdialogen immer noch erwartet wird, soll das Verantwortungssubjekt zur Erklärung bzw. Rechtfertigung seiner Handlung intersubjektiv anerkannte Handlungsgründe (Ziele, Intentionen, Einstellungen etc.) angeben, die sich an präskriptiven Handlungsnormen orientieren, während die Verantwortungsinstanz das Verantwortungssubjekt auf Grundlage bestimmter normativer (moralischer, rechtlicher etc.) Kriterien zur Verantwortung zieht. 159 Vor diesem normativen Hintergrund lässt sich der Verantwortungsbegriff nicht auf die deskriptive Komponente reduzieren, wenngleich die analytische Unterscheidung einer deskriptiven („Kausalverantwortung“) und normativen Dimension („Rechtfertigungsverantwortung“) für ein besseres Verständnis des Verantwortungskonzepts hilfreich ist. 160 In diesem Licht stellt die feststellbare Kausalverantwortung eine notwendige Bedingung für die Zuschreibung von Rechtfertigungsverant- 156 Nach Ladd (1975, 112) ist eine Person zunächst für die Folgen ihrer Handlung kausaldeskriptiv verantwortlich („Wer hat das faktisch verursacht? “); erst im nächsten Schritt kann sie für die Folgenvermeidung oder -beseitigung im normativen Sinne verantwortlich gemacht werden („Wer hat das zu verantworten? “). 157 Vgl. Lenk (1992a, 88). 158 Wie Schwartländer (1974, 1580) zusammenfasst, wurde die ursprüngliche dialogische Bedeutung des Verantwortungsbegriffs bei einer Übertragung auf die christliche Vorstellungswelt (mit Gott als höchsten Richter) zunächst bewahrt, ging aber bei einer Identifikation mit der selbstbezüglich geprägten Idee der imputatio (Zurechnung) verloren. Vgl. auch die konzise Begriffsgeschichte, die Bayertz (1995) bietet. 159 Lenk (1992a, 90f.) verortet die normative Zuschreibung von Verantwortung in einem phasenhaften Ablauf einer kommunikativen Interaktion. Vor dem Hintergrund eines normativen Settings wird in der Phase der Grundverantwortung das Verantwortungssubjekt durch das Gegenüber mit „grundsätzlichen“ Ansprüchen konfrontiert. Erkennt es die Ansprüche in einer „Vorentscheidung“ als berechtigt und somit verpflichtend an, so betritt es direkt die Phase der Verantwortlichkeit, in der das Subjekt den (potentiellen oder aktualen) Ansprüchen gerecht werden muss. Wird es faktisch zur Verantwortung gezogen, geht die Interaktion in die Phase der Rechenschaft über, bei der sein Handeln anhand der Ansprüche bewertet und sanktioniert wird. 160 Die Unterscheidung der Kausal- und Rechtfertigungsverantwortung findet sich bei Werner (2000, 92). <?page no="252"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 248 wortung dar, während die Zuschreibung letzterer eine zusätzliche normative Begründung erfordert. Mit anderen Worten: Eine deskriptive Handlungsverantwortung im Sinne der Urheberschaft kann erst bei einer normativen Begründung zu einer moralischen Verantwortung werden. 161 Schließlich geht der Begriff der Handlungsverantwortung nicht in einer „Ex-Post- Verantwortung“ (Holderegger) auf, sondern impliziert zugleich eine antizipatorische Verantwortung, im Sinne einer vorausschauenden Kalkulation der möglichen Handlungsergebnisse und -folgen. 162 Dies leitet zu folgendem Punkt über: (b) Von der retrospektiven Handlungsverantwortung ist die prospektive Aufgaben- oder Rollenverantwortung abzugrenzen, worunter die Zuständigkeit einer Person für bestimmte Aufgaben, Rollen, Funktionen und Ämter - bzw. Handlungen, die damit im Zusammenhang stehen - fällt. 163 Mit der Prospektivität wird zum Ausdruck gebracht, dass eine Person bei Aufgaben- oder Rollenübernahme eine konventionelle Verpflichtung zur Erfüllung der aufgabenbzw. rollenbezogenen Handlungen eingeht. Die Verbindlichkeiten, die den konkreten Gehalt der Verantwortung angeben, werden durch die Ansprüche der Personen, Gegenstände oder Zustände bestimmt, auf die sich die Verantwortung bezieht (z.B. „Paul ist verantwortlich für seinen kranken Vater“ oder „der Wissenschaftler trägt die Verantwortung für eine korrekte Zitierweise“), 164 wobei es unterschiedliche konventionelle Regulierungen als Grundlage der Ansprüche gibt. Kann die Erfüllung der zugewiesenen Verbindlichkeiten auch auf die technischpragmatische Befolgung von Sachleistungen und Funktionen reduziert werden, ist sie keineswegs sittlich neutral. Sie verweist auf eine „übergeordnete, bedeutungslogisch höherstufige“ moralische Verantwortung, 165 die gesondert zu explizieren ist. Versteht man darunter eine universal geltende moralische Pflicht zur Erfüllung der aufgaben- und rollenspezifischen Verbindlichkeiten, die wir prima facie von allen Menschen in ver- 161 Dies betont Lenk/ Maring (1998, 301). 162 Dieser Auffassung ist Vossenkuhl (1998, 673). Für Lenk/ Maring (1998, 300) resultiert aus einer Handlungs- und Aufgabenverantwortung eine Präventionsverantwortung, etwa die „aktive Verhinderungsverantwortung“ des Wissenschaftlers, Schädigungen präventiv zu verhindern. 163 Gegenüber dem zu engen Konzept der Handlungsfolgenverantwortung und dem zu weiten Konzept einer metaphysischen Verantwortung (z.B. bei Jonas) präferiert Vossenkuhl (1998, 674f.) die Bestimmung der Aufgaben- oder Rollenverantwortung, „als Sorge für diejenigen Bereiche, die uns jeweils anvertraut sind und für die wir tatsächlich Sorge tragen können: die eigene Person, die Person des Anderen, die Umwelt, die berufliche Arbeit […]. Er erlaubt eine klare Zuschreibbarkeit und wird gleichzeitig den existentiellen, personalen und rollenspezifischen Bedingungen der Verantwortung gerecht.“ 164 Vgl. Werner (2002b, 521). 165 Lenk (1987, 118). <?page no="253"?> 4.2. Paradigmen der Wissenschaftsethik 249 gleichbaren Situationen erwarten können, 166 ähnelt sie der moralischen Verpflichtung, ein Versprechen einzuhalten. 167 Die beiden dargestellten Typen der Handlungs- und Rollenverantwortung sind nicht als völlig verschiedene, unverbundene Phänomene zu verstehen. Indem die eher schematische Handlungsverantwortung „je nach Instanz und Bereich auf spezifische Aufgaben und Rollen bezogen“ und dadurch „mit Inhalt angefüllt“ wird, 168 erfährt sie durch eine zugewiesene Aufgaben- und Rollenverantwortung eine Konkretisierung. Ausgerüstet mit dem terminologischen Instrumentarium des Verantwortungskonzepts wenden wir uns nun der Verantwortungsanalyse eines Wissenschaftlers für eine transparente Informationsvermittlung zu. Die Frage ist hierbei leitend, ob mittels des ethischen Verantwortungskonzepts die wissenschaftsexterne Transparenznorm begründet werden kann. 4.2.4.2. Der Verantwortungsbegriff im wissenschaftsethischen Diskurs Der Begriff der Verantwortung wird im Wissenschaftsbereich geradezu inflationär verwendet, indem meist pauschal über die oder von der Verantwortung des Wissenschaftlers oder sogar von der Verantwortung der Wissenschaft die Rede ist. 169 Abgesehen von der strittigen Frage, ob das „Kollektivsingular Wissenschaft“ (Ott) im moralischen Sinn ein Verantwortungsträger sein kann, ist der undifferenzierte Gebrauch des Verantwortungsbegriffs, bei dem die verschiedenen Verantwortungsebenen nicht hinreichend bestimmt werden, höchst problematisch. 170 Denn der pauschale Appell an die Verantwortung bleibt mindestens wirkungslos, wenn unklar ist, wer für was konkret verantwortlich sein soll; im schlimmsten Falle führt er sogar zu einer dauerhaften Entwertung des Verantwortungsbegriffs. 171 Um einer Degradierung zur Worthülse entgegenzuwirken, ist eine 166 Vgl. Lenk/ Maring (1998, 302) und Lohmann (1997). 167 Im Kap. 4.2.5. finden sich weitere Überlegungen zur Rollenverantwortung. 168 Lenk (1991b, 63). Werner (2000, 90) spricht sogar von einer Korrespondenzbeziehung zwischen den beiden Formen von Verantwortung, die er an einem Beispiel illustriert: „Nur weil und insofern der Bademeister (prospektiv) für das Leben des Schwimmers verantwortlich war, kann man ihn (retrospektiv) auch für den Tod des Schwimmers zur Rechenschaft ziehen“. 169 Vgl. z.B. von Weizsäcker (1983). 170 Exemplarisch hierfür ist Jonas’ Prinzip Verantwortung, welches laut Düwell (2008, 166) so umfassend ist, „dass man nicht mehr genau angeben kann, wer denn nun konkret für was verantwortlich ist“. Diese Kritik lässt sich bedauerlichereise auf verschiedene wissenschaftsethische Studien übertragen. Eine Ausnahme bildet Hubig (1995), der die Verantwortung eines Wissenschafters durchdekliniert. 171 Schwartländer (1974, 1582) warnt zurecht davor, dass Verantwortung „sich notwendig auflöst, wenn sie nicht zugleich als konkrete Verantwortung erfahren wird“. Nach Lenk/ Maring (1998, 116) kann ein undifferenzierter Verantwortungsbegriff zudem „ideologisch missbraucht werden, um spezifische Verantwortlichkeiten in den <?page no="254"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 250 mehrdimensionale Bestimmung der Verantwortung des Wissenschaftlers durchzuführen, wenn das Verantwortungsparadigma als Begründungsbasis der wissenschaftsexternen Transparenznorm taugen soll. Die Abfolge orientiert sich an dem vorgängig differenzierten, viergliedrigen Schema des Verantwortungskonzepts: (1) Intuitiv lässt sich die Frage nach dem Verantwortungssubjekt der wissenschaftlichen Praxis mit dem Verweis auf die individuelle, wissenschaftlich tätige Person beantworten. Dieser Standpunkt ist berechtigt, solange es um klar abgrenzbare Handlungen mit eindeutig bestimmbaren Ergebnissen und Folgen geht. Allerdings bestehen innerhalb des Verantwortungsparadigmas gravierende Zuordnungsprobleme, die sich aus arbeitsteilig organisierten Handlungszusammenhängen ergeben. Da das wissenschaftliche Unternehmen weitestgehend ein kollektives Zusammenwirken zahlreicher Individuen ist, wird die Übertragung des originär individualethisch konzipierten Verantwortungsbegriffs auf den wissenschaftlichen Rahmen zu Recht in Frage gestellt. 172 Ein hochgradig spezialisierter Forscher, der am Anfang einer Handlungskette bzw. bei kumulativ-synergetischen Effekten nur einen Ausschnitt des kollektiven Forschungsbemühens überblickt und beherrscht, kann nicht für die damit verbundenen, kumulativen Folgen verantwortlich gemacht werden. 173 Unter den Bedingungen der Wissenschaftspraxis ist es sowohl subjektiv schwierig, ein klares Bewusstsein der eigenen Verantwortlichkeit zu gewinnen, als auch objektiv diffizil, den Anteil eines Individuums am Zustandekommen der Folgen zu bestimmen. 174 Daher erweitern verschiedene Autoren das Konzept der individuellen Verantwortung um die Idee einer kollektiven Verantwortung, bei denen die Folgen des wissenschaftlichen Handelns auf Organisationen und Institutionen und nicht auf einzelne Personen zurückgeführt werden. 175 Abgesehen von der Frage, ob Institutionen oder Korporationen moralische Verantwortung im eigentlichen Sinne zugeschrieben werden kann, 176 wird die Vordergrund zu rücken und etwa die moralische Allgemeinverantwortlichkeit zu verdrängen oder zu unterdrücken.“ 172 Dieses Argument wird bei Hubig (1995, 21ff. und 101ff.) ausführlich diskutiert. 173 Hubig (1995, 61 und 70) spricht sogar von einem „Verlust des Subjekts als wissendes und handlungsmächtiges“ in den Wissenschaften. 174 Vgl. Bayertz (1994b, 189) und Holderegger (1992, 202). 175 Dieser Auffassung sind z.B. Lenk (1991b, 66) und Nida-Rümelin (2005b, 855). 176 Für Maring (1991, 140) trifft das Kriterium der Handlungsfähigkeit als Voraussetzung für eine Verantwortungszuschreibung beim Handeln einer Korporation zu, und zwar „als sekundäres Handeln auf höherer gesellschaftlich fingierter, symbolischsemantisch strukturierter und interpretierter Ebene“. Aus systemtheoretischer Perspektive entwirft Luhmann (1988, 271ff.) die Idee des systemisch koordinierten Handelns, das zwar weiterhin auf Einzelhandlungen aufbaut, aber eine spezifische Unabhängigkeit gewinnt. Wenngleich Institutionen in einem abgeleiteten Sinn Verantwor- <?page no="255"?> 4.2. Paradigmen der Wissenschaftsethik 251 Asymmetrie der Wirksamkeit zwischen einer individuellen und kollektiven Verantwortungswahrnehmung als ein frappierendes Problem angesehen. Bezüglich letzterer könne leicht die Situation „kollektiver Verantwortungslosigkeit“entstehen, bei der kein Einzelner sinnvoll zur Verantwortung gezogen wird. 177 Eine Kollektivverantwortung kann daher keineswegs von einer persönlichen Verantwortung der Entscheidungsträger dispensieren, die „unaufgebbar, unabtretbar und unteilbar“ ist. 178 So ist die wissenschaftlich tätige Person „der unrelativierbare Träger der Verantwortung für die Gewinnung und Verwendung der Forschungsergebnisse“; 179 denn ihre eigenverantwortliche, autonome Entscheidung, ob eine Forschungsarbeit durchgeführt wird oder nicht, stellt zugleich den Freisetzungsbzw. Begrenzungspunkt für einen sozialen Umgang mit ihren Forschungsergebnissen dar. Die Individualverantwortung gilt auch dann, wenn das eigene Handeln oder Unterlassen problematische kollektive Handlungsfolgen nicht verhindern kann. 180 Um die wissenschaftsethische Kontroverse über das Verantwortungssubjekt abzukürzen, sei auf die relativ bequeme Situation verwiesen, dass die Transparenzproblematik weitgehend eine individuelle Veröffentlichungs- und Vermittlungsproblematik darstellt. Hinter einer wissenschaftlichen Veröffentlichung bzw. einer wissenschaftlichen Expertise stehen ein klar zu benennender Forscher oder die klar benennbaren Forscher einer Forschergruppe als personale Verantwortungsträger. Entsprechend können die Verantwortlichkeiten für die Folgen, die aus transparenten oder intransparenten Informierungen resultieren, eindeutig zugeordnet werden. Bei einer gemeinsamen Veröffentlichung mehrerer Autoren sind alle beteiligten Autoren in der Folgenverantwortung, es sei denn, es können Teilverantwortungen der Autoren bei der Veröffentlichung von Ergebnissen tungsträger sein können, bleibt die Frage nach der sekundären und tertiären Verantwortungswahrnehmung offen; vgl. Höffe (2002c). 177 Maring (1991), der dem ein elaboriertes Konzept „kollektiver Verantwortung“ entgegenstellt. 178 Vgl. Lenk (1987, 125). Um eine Verantwortungsdiffusion im Kollektiv zu verhindern, spricht ders. (1987, 124ff.) von einer „gemeinschaftlich getragenen (Einzel-)Verantwortung“, die individuell zugeschrieben werden muss. Für arbeitsteilige Systeme schlägt er eine graduierbare Zuschreibung vor, bei der die (Mit-)Verantwortung abgestuft nach Maßgabe der Bedeutung der Arbeitsschritte auf die involvierten Individuen verteilt wird, z.B. proportional zum Anteil am Zustandekommen der Folgen. 179 Schweidler (2006, 308). 180 „Eine Grundforderung moralisch verantwortungsvollen Handelns lautet daher, in solchen Konfliktfällen sich nicht zu beteiligen“, befindet Lohmann (1997, 4). Nach Bayertz (1994b, 193) führt der Unzumutbarkeitseinwand, dass die Konsequenzen aus einer Arbeitsverweigerung für den Einzelnen unzumutbar seien, darauf hinaus, dass Moral überhaupt unzumutbar sei. Eine „unzumutbare Zumutung“ beginne erst dort, „wo den Individuen eine Universalverantwortung zugeschrieben wird, die über die Reichweite ihrer tatsächlichen Handlungs- und Einflussmöglichkeiten hinausreicht.“ <?page no="256"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 252 zugeordnet werden. 181 Haben weitere Personen(gruppen), obgleich nicht namentlich genannt, Einfluss auf die (In-)Transparenz einer wissenschaftlichen Veröffentlichung oder Expertise, 182 bleiben gemäß der individuellen Verantwortungszuschreibung die Forscher, die Autoren bzw. Urheber der wissenschaftlichen Veröffentlichungen oder Expertisen in der Verantwortung. (2) Als Verantwortungsobjekt wird innerhalb des Verantwortungsparadigmas primär die Handlungsverantwortung der Wissenschaftler reflektiert, während die Rollenverantwortung, die für den wissenschaftlichen Bereich keineswegs irrelevant ist, an anderer Stelle verhandelt wird. 183 Hierbei findet der Verantwortungsbegriff in der Regel einen konsequentialistischen Gebrauch, d.h. er wird vorwiegend auf die positiven oder negativen Folgen einer Handlung oder Unterlassung bezogen, 184 während etwa die Gesinnung oder der Charakter der handelnden Person unberücksichtigt bleibt. 185 Man kann daher innerhalb des Verantwortungsparadigmas anstatt einer Handlungsverantwortung präzisierend von einer Handlungsfolgenverantwortung sprechen, um den Gegenstand des Verantwortungskonzepts zu beschreiben. Wenngleich die konsequentialistische Engführung des zugrunde gelegten Handlungsbegriffs problematisch ist, kann eine normative Begründung der Transparenznorm mithilfe des folgenorientierten Verantwortungskonzepts dennoch gewinnbringend sein. Weitgehend unstrittig ist die Zuordnung einer Handlungsfolgenverantwortung für unmittelbare Konsequenzen, die aus der wissenschaftlichen Forschung resultieren und in der Regel absehbar sind. 186 Fragwürdig sind hingegen Fälle, bei denen sich mittelbare Konsequenzen erst in einem größeren zeitlichen Abstand oder auch kumulativ einstellen: Inwieweit können vieldimensionale, weitreichende Handlungsfolgen, die nicht unmittelbar mit der 181 Hinsichtlich der wissenschaftlichen Publikationspraxis, bei der die Co-Autorenschaft keine Seltenheit ist, wurde in verschiedenen institutionellen Kodizes die Norm eingeführt, dass „[u]nless responsibility is apportioned explicitely in […] a paper, the authors whose names appear on a paper must be willing to share responsibility for all of it“ (Committee on Science Engineering and Public Policy 1995). 182 Hierbei ist an die pharmazeutische Forschung zu denken, bei der die Veröffentlichung von Forschungsergebnissen institutionell kontrolliert wird, vgl. Kap. 3.1.5. 183 Vgl. das nächste Kap. 4.2.5. 184 Z.B. Bayertz (1994b, 187) und Schweidler (2006, 307) beziehen wissenschaftsethische Verantwortungsüberlegungen primär auf die Handlungsfolgen. Die problematische Verabsolutierung der Folgenebene ist mit einer Konfliktvermeidungsstrategie der Wissenschaftsethik zu erklären: Bei ihren Regulierungsvorschlägen konzentriert diese sich auf die Folgen, da ihre Zuständigkeit selbst von den autonomen Wissenschaften nicht bestritten werden kann. 185 Ein Muster des zugrunde liegenden Verständnisses liefert die von Weber (1988b) vertretene Verantwortungsethik in seiner Polemik gegenüber der Gesinnungsethik. 186 Vgl. Graumann (2006, 255), die einen Überblick über die Positionen gibt. <?page no="257"?> 4.2. Paradigmen der Wissenschaftsethik 253 Handlung verknüpft sind und unvorhersehbar eintreten, überhaupt der handelnden Person zugerechnet werden? Da das Verantwortungskonzept ursprünglich lediglich Folgen im kleinen Maßstab thematisiert, gerät seine Anwendung im Wissenschaftskontext, in dem man es mit einer räumlichzeitlichen „Entgrenzung“ der Verantwortung zu tun hat, zur Nagelprobe. 187 Diesbezüglich hat sich die Auffassung durchgesetzt, die Folgenverantwortung nicht nur von der Kausalverursachung, sondern auch von der Vorhersehbarkeit und Vermeidbarkeit der Folgen für die handelnde Person abhängig zu machen. 188 Damit wird der moralrelevanten Tatsache Rechnung getragen, dass ein Wissenschaftler grundsätzlich nicht alle Wirkungen seiner Handlungen erfassen und kontrollieren kann. 189 Denn selbst bei einem angenommenen epistemischen Vorteil hinsichtlich der Folgenabschätzung setzt die wissenschaftliche Forschungspraxis „Relevanzstrukturen“ voraus, die bestimmte Ausblendungen implizieren. 190 Damit die Unwissenheit über die Folgen nicht als Vorwand für eine Verantwortungsentlastung missbraucht werden kann, sind Wissenschaftler verpflichtet, intendierte und nicht-intendierte Folgen im Rahmen einer Begleitforschung zu bestimmen. 191 Die Folgenverantwortung für eine wissenschaftlich tätige Person ist daher nicht nur von der faktischen Voraussicht abhängig („Hat der Wissenschaftler die Folgen vorhergesehen? “), sondern auch von der theoretischen Voraussehbarkeit bei einem gegebenen Wissensstand („Hätte der Wissenschaftler die Folgen voraussehen bzw. sich besser informieren können? “). Unter Einbezug des Aspekts der Vorhersehbarkeit implizieren die genannten Bedingungen für die Zuteilung von Folgenverantwortung bereits vielschichtige Imperative an den Wissenschaftler. 192 Dieser muss die 187 Vgl. Düwell (2008, 167) und Hubig (1995, 21ff. und 101ff.). 188 Vgl. Bayertz (1995, 67) und Graumann (2006, 255). Eine solche Definition von Handlungsfolgenverantwortung impliziert neue Probleme, die Werner (2000, 95) zeigt: „Erstens ist oft weder hinreichend sicher nachweisbar, was Personen faktisch intendiert, noch, was sie vorausgesehen oder nicht vorausgesehen haben. Zweitens gibt es im Feld der Prognostizierbarkeit unabsehbar viele Abstufungen und Möglichkeitsgrade (Wie weit reicht eine unterstellte Pflicht, die potentiellen Handlungsfolgen zu prognostizieren? […] etc.). Drittens treten hier, weil die Abschätzung von Handlungsfolgen stets nur zu Wahrscheinlichkeitsaussagen führen kann, mannigfache Probleme der normativen Bewertung von Risiken und Unsicherheiten auf.“ 189 Vgl. z.B. Bayertz (1994b). 190 Ott (1997) unterscheidet hinsichtlich der unabwendbaren Ausblendungen bei der Forschungsarbeit, die im „Problem der Relevanzstrukturen“ gründen, zwischen erlaubten und moralisch kritisierbaren; fehlende Untersuchungen der Handlungsfolgen im Bereich der anwendungsorientierten Wissenschaften gehörten nicht mehr zu den erlaubten Ausblendungen. 191 Diese z.B. von Graumann (2006, 255) und Wimmer (1990, 231) vertretene Position setzt die Einführung eines deontologischen Prinzips voraus, welches die Intention des Forschers in die Folgenanalyse einbezieht („Wollte er diese Folgen bewirken? “). 192 Vgl. hierzu Ropohl (1998, 280). <?page no="258"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 254 Handlungssituation genau sondieren, um eine Folgenabschätzung durchzuführen und diese räumlich-zeitlich so weit zu erstrecken, wie dies mithilfe des wissenschaftlichen Instrumentariums lege artis möglich ist; und er muss den eigenen Wissensstand mit dem state of the art abgleichen und dazu wissenschaftliche Informationen einholen. Gehören in den Verantwortungsbereich zwar primär physisch-materielle und ideelle Folgen, die der Wissenschaftler qua Beruf kennen oder abschätzen können muss, 193 ist damit keine Verantwortungsdispensierung für Folgen verbunden, die nicht zum beruflichen Kenntnisstand gehören. Sofern er als Person davon wusste oder hätte wissen können, sind ihm solche Folgen prinzipiell zuschreibbar. 194 Um einer Überforderung des Verantwortungsträgers zu begegnen, wird das Verantwortungskonzept als graduierbar verstanden, 195 wobei jedenfalls unerwartbare Folgen, die weder nach Art noch Wahrscheinlichkeit für den Wissenschaftler vorauszusehen sind, aus der Folgenzuschreibung ausgeklammert werden. Wie lassen sich diese Überlegungen nun auf die Transparenzproblematik übertragen? Ist eine wissenschaftlich tätige Person für absehbare Handlungsfolgen verantwortlich, lässt sich die Folgenverantwortung nicht nur auf Innovationen beziehen, die mit ihrer Hilfe zur Anwendung kommen und in dem jeweiligen Anwendungskontext ihre positiven und negativen Folgen zeitigen, sondern auch auf Sprechhandlungen, in denen sie ihre Einschätzung zu Risiken und Nebenwirkungen dieser Anwendung weitergibt. Bezüglich letzterer ist ein Wissenschaftler für die absehbaren Folgen verantwortlich zu machen, die sich aus der Rezeption seiner Aussagen ergeben. Im Kontext der biomedizinischen Forschung beeinflusst ein Wissenschaftler mit seinen Sachinformationen die individuelle und gesellschaftliche Entscheidungsfindung über die Anwendung biomedizinischer Innovationen maßgeblich, da die Entscheidungsprozesse hauptsächlich auf wissenschaftlichen Expertisen gründen. 196 Unterlässt er eine sachgemäße Dar- 193 Arbeitet ein Biomediziner z.B. an der Entwicklung von Neuroenhancern, gehören zu dessen Verantwortungsbereich gesundheitliche Folgen, die durch die Anwendung entstehen. 194 Um beim Beispiel des Biomediziners zu bleiben, gehören hierzu u.a. psychosoziale (z.B. gesellschaftlicher Druck auf das Individuum zur Anwendung von Neuroenhancern) oder axiologische Folgen (z.B. Erosion des Wertes „eigenständige Leistung“ zugunsten kollektiver Optimierungsideale). 195 Nachfolgend können mit Werner (2002b, 525) Differenzierungen bezüglich des Verantwortungsgrades durchgeführt werden, z.B. „dass Akteure a) für intendierte Handlungsergebnisse stärker verantwortlich sind als für nicht-intendierte, aber vorausgesehene und ‚in Kauf genommene‘ Handlungsfolgen; b) für vorausgesehene Handlungsfolgen stärker als für nicht-vorausgesehene, die aber voraussehbar gewesen wären […]“. 196 Nach Bayertz (1994b, 175) gewinnen die Wissenschaften „als Verkörperung einer spezifischen Rationalität […] eine normative Autorität, die einschneidende Folgen für <?page no="259"?> 4.2. Paradigmen der Wissenschaftsethik 255 stellung der Risiken und Nebenwirkungen und empfiehlt aufgrund einer subjektiven Chancen-Risiken-Bewertung eine technische Anwendung, muss er mit der Umsetzung seiner Empfehlung und dem Eintreten der ihm bekannten bzw. für ihn absehbaren Folgen rechnen. Konsequenterweise ist ein biomedizinischer Forscher, der Forschungsergebnisse über Risiken und Nebenwirkungen von Therapien oder Maßnahmen nicht transparent veröffentlicht, bei einer Applikation für die gesundheitlichen Schädigungen der Patienten verantwortlich. Selbst wenn er nicht unmittelbar an der Entwicklung eines biomedizinischen Produktes beteiligt ist, trägt er zumindest eine „Mitverantwortung“ für das Eintreten der Folgen. 197 Man denke an die institutionelle Forschungssituation, bei der ein Wissenschaftler durch informellen Informationsaustausch Kenntnis von Ergebnissen erhält. Plastisch wird die abgestufte Folgenverantwortlichkeit in der Situation der wissenschaftlichen Beratung, bei der ein Fachwissenschaftler als Experte für eine sachgemäße Informierung zuständig ist. Sofern er um die negativen Folgen wusste, die aus einer Produktanwendung resultieren - oder nach dem state of the art von den Folgen hätte wissen müssen -, hätte eine Informierung von seiner Seite wahrscheinlich die Applikation des Produktes und das Eintreten der gesundheitsschädigenden Folgen verhindern können. Eine mögliche Verhinderung negativer Folgen, die aus einer Anwendung resultieren können, setzt ihre Kenntnis bei Entscheidungsprozessen voraus. 198 Ein Wissenschaftler kann eine Dispensierung von der Folgenverantwortung erwirken, indem er seinen Kenntnisstand - inklusive des Status der Geltung seiner Aussagen und Prognosen - transparent vermittelt und gegebenenfalls das (Noch-)Nichtwissen bzw. das Nicht-Wissen-Können der materiellen oder ideellen Folgen einräumt. 199 In diesem Falle entbindet er sich von Handlungsfolgenverantwortung und überantwortet die Entscheidie Denk- und Handlungsweise in nahezu allen Bereichen der Gesellschaft haben“. Angesichts der Möglichkeit, diese Autorität auszunutzen, besteht für ihn die ethisch begründbare Forderung zur „reflexive[n] Vergewisserung der Grenzen des wissenschaftlich-technischen Rationalitätstypus“ (201). Als ein Kernpunkt des modernen Verantwortungsverständnisses wird das Vorliegen von Macht und Wissen stets mit der Zuschreibung eines erhöhten Maßes an Verantwortung verbunden, da sie Faktoren sind, die bei einer Handlung zu einer erhöhten Folgenwirksamkeit führen: Wissenschaftler haben das Wissen, mit gezielten Handlungen bestimmte Wirkungen bzw. die Macht, mit Handlungen weitreichende Folgen hervorzurufen; vgl. Lenk (1992b, 22) und Wandschneider (1991, 249). 197 Vgl. Ott (1998, 586) der den rechtlichen Begriff der „Mitverantwortung“ auf den Bereich der Ethik überträgt, um eine Abschwächung der Intensität der Handlungsbeteiligung von Akteuren gegenüber einer „vollen“ Verantwortlichkeit auszudrücken. 198 Um den Blickwinkel zu erweitern, ist der zuständige Wissenschaftler freilich auch für die positiven Folgen einer transparenten Aufklärung verantwortlich. 199 Angesichts der Kluft zwischen technischer Machbarkeit und dem Vorherwissen um die Folgen formuliert Jonas (1982, 79) den neuen moralischen Imperativ, die Unwissenheit der Wissenschaften anzuerkennen. <?page no="260"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 256 dung, ob eine wissenschaftliche Erkenntnis zur Anwendung kommen soll, auf die zuständigen Entscheidungsträger (Institutionen, Gesellschaft, Politik etc.). Er ermöglicht eine „Entscheidung unter Unsicherheit“ bzw. „unter Nichtwissen“ über die Anwendung der Innovation, die angesichts der potentiell gravierenden Schädigungen gegebenenfalls kollektiv herbeigeführt und getragen werden sollte. (3) Wurden bisher das Verantwortungssubjekt und -objekt einer transparenten bzw. intransparenten Wissenschaftsinformation genauer bestimmt, wenden wir uns nun der normativen Verantwortungsebene zu. In zahlreichen wissenschaftsethischen Beiträgen wird der Eindruck erweckt, aus der bloßen Verantwortungszuschreibung ließen sich die moralischen Kriterien der Verantwortung entnehmen. 200 Dem gegenüber wird betont, dass die Verantwortungszuschreibung von Handlungsfolgen, die aus einer transparenten bzw. intransparenten Information resultieren, nicht die Beantwortung der Frage impliziert, zu welchem konkreten Handeln der potentielle Transparenzvermittler mit welcher ethischen Begründung aufgefordert ist. Um zu einem ethisch gehaltvollen Verantwortungsbegriff zu gelangen, muss dieser mittels eigens zu begründender Prinzipien oder Normen fundiert werden. 201 Die Unzulänglichkeit fällt in einschlägigen Veröffentlichungen nicht (sofort) auf, sofern der Verantwortungsbegriff mit dem der Pflicht identifiziert und/ oder mit konsensuell akzeptierten moralischen Normen oder rollengebundenen Verbindlichkeiten verknüpft wird. 202 Abgesehen davon, dass auch „die Pflicht“ im Sinne einer sozialen Verpflichtung gegenüber Ethiktheorien neutral ist, verwundert die Gleichsetzung, da das Verantwortungskonzept als moderner Ersatz für den negativ konnotierten Pflichtbegriff gehandelt wird: Gegenüber dem Pflichtkonzept, mit dem „die Vorstellung von obrigkeitlichen Befehl, allseitiger Reglementierung, Unterdrückung des eigenen Willens und der spontanen Verhaltensweisen, kurz die Vorstellung von einem äußeren und inneren Zwang verbunden 200 Werner (2002b, 526) rekonstruiert folgenden fehlerhaften Gedankengang: „[A]us der Tatsache, (a) dass wir Macht haben, X zu beeinflussen, folgt, (b) dass wir gegenüber X verantwortlich sind, und hieraus wiederum, (c) wozu uns diese Verantwortung gegenüber X verpflichtet.“ Die Kritik, die er gegenüber Jonas’ „Prinzip Verantwortung“ und daher für prospektive Verantwortungsverhältnisse entfaltet, findet auch bei Wissenschaftsethikern Anwendung, die retrospektiv argumentieren. 201 Vgl. Ogletree (2004, 2380). 202 Z.B. Nida-Rümelin (2005b, 847) setzt den (bei ihm prospektiven) Verantwortungsbegriff mit dem der Pflicht gleich: Da die Wissenschaft in zahlreichen (z.B. finanziellen) Abhängigkeitsverhältnissen zur Gesellschaft stehe, ergäbe sich eine „gesellschaftlich-politische Gesamtverantwortung“ der Wissenschaften (845), die mit „Pflichten der Kooperation“ (851) verbunden sei (z.B. Begutachtung, Berichterstattung, Politikberatung etc.). Den ebenfalls unbestimmten Pflichtbegriff scheint er wiederum mithilfe eines nicht weiter begründeten Gerechtigkeitskonzepts zu füllen. <?page no="261"?> 4.2. Paradigmen der Wissenschaftsethik 257 wird, der der Freiheit des eigenen Wollens und der Spontaneität des Miteinanderlebens entgegengesetzt ist“, 203 trägt das Verantwortungskonzept eine normative Offenheit, was als wichtiges Charakteristikum zur Bewältigung moralischer Herausforderungen in der modernen Gesellschaft angesehen wird. 204 Angesichts mannigfaltiger Handlungssituationen und vielschichtiger Aufgaben stellt die mit dem Verantwortungskonzept verbundene individuelle Entscheidungsbefugnis und der verfügbare Spielraum bei der Entwicklung von Lösungswegen eine wichtige Voraussetzung für die Bewältigung der Probleme dar, was zugleich seine breite Akzeptanz erklärt. 205 Trotz dieser Offenheit - respektive Unbestimmtheit - impliziert der Verantwortungsbegriff zugleich ein Moment der „Verbindlichkeit“, 206 sofern sich das Verantwortungssubjekt bei den verantworteten Handlungen und Aufgaben an bestimmte, genauer zu definierende normative Regeln zu halten hat - und auf die eine Verantwortungsinstanz zudem notwendigerweise rekurriert, wenn sie von dem Verantwortungssubjekt Rechenschaft einfordert. Erst vor einem gemeinsamen normativen Hintergrund, der explizierbar sein muss, kann sinnvoll eine Verantwortungszuschreibung stattfinden, ohne die es ansonsten zu wahllosen Kausalzuschreibungen kommen würde. Hierbei wird der faktisch vorliegende Pluralismus an moralischen Überzeugungen für den offenen Verantwortungsbegriff zum Problem: Durch die fehlende einheitliche normative Grundlage, auf der Verantwortung zugeschrieben wird, ist die Verantwortungszuschreibung in der Regel umstritten. 207 Da nicht einmal die normative Grundlage für eine Handlungs- und Rollenverantwortung identisch sein muss, scheint eine universelle Verbindlichkeit des Verantwortungsbegriffs letztlich unerreichbar, die der Begriff jedoch suggeriert. 208 203 So Schwartländer (1974, 1577f.), wenngleich der Pflichtbegriff bis zur Philosophie der Aufklärung wesentlich positiver konnotiert war: „Pflicht wurde […] verstanden als diejenige Haltung des Menschen, durch die er erst und allein in der sittlich-geistigen Ordnung lebt und durch die er seine Freiheit verwirklicht.“ 204 Laut Düwell (2008, 167) erscheint der Begriff „Verantwortung“ im Unterschied zum Pflichtbegriff „sowohl in der Reichweite als auch in den Arten der Verantwortlichkeit offener zu sein. Verantwortung kann abgestuft werden, man kann in verschiedenem Maße und in verschiedenen Graden verantwortlich sein und grundsätzlich kann man Verantwortung teilen.“ 205 Vgl. Ogletree (2004, 2379f.). 206 Schwartländer (1974, 1578). 207 Die akzeptierten normativen Kriterien moralischer Verantwortung beziehen sich gegenwärtig für Lohmann (1997, 4) „nur noch auf die Kernbereiche moralischen Verhaltens“, die er mit den „Prinzipien“ von Beauchamp/ Childress (2001) identifiziert. 208 „Unterschlägt man den normativen Verantwortungsgrund, entlastet man sich natürlich von den Schwierigkeiten, die mit der Relativierung moralischer Regeln und der Pluralisierung von Werten in der modernen Gesellschaft tatsächlich auftreten.“ Eine <?page no="262"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 258 Scheint sich der moralische Verantwortungsbegriff somit in einem Spannungsfeld zwischen gewollter Unbestimmtheit, möglicher Bestimmbarkeit und notwendiger Bestimmtheit zu bewegen, muss sich die Wissenschaftsethik dezidiert der Aufgabe zuwenden, die normative Basis des Verantwortungskonzepts zu entfalten, damit er nicht als „normativ gehaltlos“ und „leer“ desavouiert und auf ein rein formales Zuschreibungskonzept reduziert wird. 209 Angesichts der Konzentrierung auf Handlungsfolgen bieten sich für die normative Fundierung konsequentialistisch-utilitaristische Ethikansätze an, die nach der Gesamtnutzensumme aller von einer Handlung Betroffenen fragen. Bei oben genanntem Beispiel der Vermittlung von Informationen über Risiken und Nebenwirkungen von biomedizinischen Innovationen lässt sich demzufolge unschwer eine individuelle Verantwortung des Forschers zur Transparenzgenerierung utilitaristisch stützen. Eine andere Situation besteht, wenn Missbrauchsmöglichkeiten antizipierbar sind. Wird die „Handlungsfolgenverantwortung“ ernst genommen, kann sogar die Verheimlichung von Informationen geboten sein, sofern sie einem höheren Zweck, zum Beispiel der Abwendung ungewünschter Folgen für die größte Anzahl an Beteiligten, dient. 210 Der Utilitarismus gibt somit keine pauschale Antwort auf die Transparenzproblematik, was indes kein Nachteil sein muss. Da dieser Ansatz aus anderen Gründen, insbesondere aufgrund der Maximierung des Gesamtnutzens auf Kosten des Individuums, höchst problematisch ist, 211 wird für die Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm nachfolgend der deontologische Ansatz bevorzugt. Wie an anderer Stelle argumentiert wird, sind darin auch Folgenüberlegungen von Bedeutung, sofern sie sich als „interne“, antizipierbare Folgen nicht von der Handlungsabsicht trennen lassen. 212 Mit der Normenfrage entscheidet sich zugleich die Bestimmung der Instanz, gegenüber der sich ein Wissenschaftler zu verantworten hat: Bei solche Flucht in die Unverbindlichkeit sei nicht dazu angetan, der Wissenschafts- und Technikethik ernsthafte Beachtung zu verschaffen, befindet Ropohl (1998, 274). 209 Zu diesen radikalen Schlussfolgerungen kommen Bayertz (1995, 65f.) und Düwell (2008, 167). 210 Angesichts der Folgenproblematik muss die Frage unbeantwortet bleiben, ob eine „freiwillige Selbstzensur“ angesichts der Internationalität der Forschung wirklich zum beabsichtigten Ziel führt, oder ob es nicht klüger wäre, wissenschaftliche Informationen transparent zu machen und zugleich eine kollektive Lösung zur Vermeidung unerwünschter Folgen zu begleiten. 211 Eine prägnante Zusammenfassung der Kritikpunkte am Utilitarismus bietet (Höffe 1992). 212 Nach ebd., 43f. spielen in der Ethik Kants, „was man gern übersieht, Folgenüberlegungen ebenfalls eine Rolle. Erlaubt sind sie aber nur hinsichtlich handlungsinterner Folgen, das sind Folgen, die zum Begriff der entsprechenden Handlung hinzugehören. Nach Kants Moralkriterium, dem kI, soll man sich die handlungsinternen Folgen als ein allgemeines Gesetz denken können.“ Vgl. hierzu auch Kap. 4.3.2.2. <?page no="263"?> 4.2. Paradigmen der Wissenschaftsethik 259 einer konsequentialistischen Ethikkonzeption tritt die Gesellschaft als intersubjektiver Adressat der Verantwortung auf; 213 bei pflichtenethischen Konzeptionen ist hingegen die intrasubjektive Instanziierung des Gewissens bzw. der Vernunft verbunden. 214 Letztlich kann mithilfe des Verantwortungskonzepts nicht die normative Begründung der externen Transparenznorm erfolgen, da es selbst von der Gültigkeit implizit oder explizit präsupponierter Normen abhängig ist, weshalb im nächsten Schritt das Expertenparadigma unter Beibehaltung der Aufgabenstellung untersucht wird. 4.2.5. Das Expertenparadigma Das Expertenparadigma hat im Kanon der wissenschaftsethischen Paradigmen einen Sonderstatus inne. Im Unterschied zum Ethos- und Verantwortungsparadigma beziehen sich die darin reflektierten Problemfelder ausschließlich auf wissenschaftsexterne Interaktionen mit gesellschaftlichen Akteuren, was für eine Begründung der externen Transparenznorm vielversprechend anmutet. Als zentrales Problem des Expertenparadigmas wird die Beratungstätigkeit der Wissenschaftler in der Rolle als Experten angesehen: Aufgrund ihrer Einflussmöglichkeiten auf sachbezogene Entscheidungen von Laien, bei gleichzeitiger Asymmetrie der zugrunde liegenden Interaktion - Laien sind von wissenschaftlichen Expertisen abhängig und gleichzeitig unfähig, diese zu kontrollieren -, werden normative Regularien untersucht, die einen Machtmissbrauch reduzieren bzw. ausschließen sollen. 215 Obwohl die ethische Reflexion dieses Sachverhalts ein vordringliches Aufgabenfeld der modernen Wissenschaftsethik in der „Wissensgesellschaft“ darstellt, erreicht sie zumindest im deutschsprachigen Raum nur selten systematische Qualität. 216 213 Lenk (1991b, 56f.) bezeichnet die Handlungsfolgenverantwortung des Wissenschaftlers als „externe Verantwortung“, deren Verantwortungsadressat die Gesellschaft ist. Er räumt an anderer Stelle (ders. 1992b, 14f.) ein, dass eine abstrakte Verantwortungsinstanz dem Grundgedanken des Verantwortungsbegriffs widerspricht, sich gegenüber einer persönlichen Instanz zu rechtfertigen. 214 Z.B. Schweidler (2006, 308 und 310) betont aus deontologischer Perspektive die Bedeutung des Gewissens als „letzte Instanz der wissenschaftlichen Verantwortung“, die möglicherweise ungerechtfertigte gesellschaftliche Ansprüche an den Forscher relativiert. 215 Um mit Ott (1997, 18) zu sprechen: „Man soll nicht bedauern, dass es Experten […] gibt, sondern man soll normative Grundsätze begründen, die den Umgang mit dieser Differenz legitim regeln“. 216 Eine Ausnahme stellt die Monographie von ebd. dar, die zugleich die Grundlage für nachfolgende Überlegungen zur Rollenverantwortung darstellt. Anders sieht es mit berufsspezifischen Untersuchungen aus, die beispielsweise für Professionsangehörige in der angloamerikanischen professional ethics erfolgen; vgl. z.B. Ozar (2004). <?page no="264"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 260 Einen zentralen Stellenwert nimmt der Begriff der Rollenverantwortung ein, der bereits als konventionell regulierte Zuständigkeit einer Person für die Ausführung bestimmter Handlungen innerhalb der gegebenen Rolle definiert wurde. 217 Betrachtet man sich die Rollenverantwortung der wissenschaftlich tätigen Person, sticht eine Rollenverantwortung hervor, die der Wissenschaftler qua Beruflichkeit trägt: die interne Verantwortung gegenüber seiner Zunft (der scientific community), das wissenschaftliche Ethos bei der Ausübung seiner Tätigkeit zu beachten. 218 Da die damit verbundene funktionale Normenbegründung des Ethos einen prinzipiell anderen Impetus hat, als mit der Formulierung einer wissenschaftsexternen Transparenznorm verfolgt wird, findet eine Verlagerung der Untersuchung auf die externe Rollenverantwortung statt, die ein Wissenschaftler bei der Ausübung des Berufes gegenüber dem wissenschaftsexternen Kommunikationspartner bzw. gegenüber der Gesellschaft im Allgemeinen innehat. Es stellt sich zunächst die Frage, warum gerade die soziale Rolle des wissenschaftlichen Experten von ausgeprägtem Interesse ist und nicht etwa die Rolle des Professionsangehörigen, die ebenfalls eine ausgeprägte lebensweltliche Bedeutung hat? Eine soziologische Bestimmung der Rollen, die eine wissenschaftlich tätige Person bei Interaktionen übernimmt, ist somit unumgänglich (4.2.5.1.), bevor eine inhaltliche Bestimmung der Rollenverantwortung herausgearbeitet und eine Rekonstruktion ihrer normativen Begründung vorgenommen wird (4.2.5.2.). 4.2.5.1. Experten, Professionsangehörige und Laien: Eine soziologische Annäherung Das Phänomen sozialer Rollen wird soziologisch auf die Notwendigkeit der Überbrückung subjektiver und intersubjektiver Wirklichkeiten bei zwischenmenschlichen Interaktionen zurückgeführt. 219 Durch die wechselseitige Zuordnung und Übernahme sozialer Rollen werden die Handelns- und Verhaltenweisen des Interaktionspartners vorherseh-, erklär- und verstehbar. Im Mittelpunkt stehen rollenspezifische Ziele und Normen, die bei einer Rollenübernahme internalisiert werden und deren Einhaltung vom 217 Vgl. Kap. 4.2.4.1. 218 Auf Lenk (1991b, 56) geht die Unterscheidung einer internen und externen Verantwortung zurück. 219 Wie Siegrist (1998, 239) zusammenfasst, werden durch soziale Rollen individuelle Gedanken, Empfindungen und Gefühle „im gewissen Umfang mitteilbar, verstehbar und einfühlbar [….]. Indem wir soziale Rollen verinnerlichen und Rollenerwartungen erfüllen, vergesellschaften wir unsere je eigene Individualität in dem Maße, in dem dies für das Funktionieren spezifischer sozialer Wirklichkeit erwünscht und notwendig ist.“ <?page no="265"?> 4.2. Paradigmen der Wissenschaftsethik 261 Interaktionspartner erwartet wird. 220 Der Rollenhandelnde „verspricht“ sozusagen, bei der Ausübung seiner Rollentätigkeit bestimmte normative Implikate zu beachten und trägt dafür die Rollenverantwortung. Bei Interaktionen zwischen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Akteuren sind die Rollen der „Experten“ (1) und „Professionsangehörigen“ (2) dominierend, die einer grundlegenden Analyse unterzogen und vom Konzept des Laien (3) abgegrenzt werden. 221 (1) Ein „Experte“ (von lat. experiri, versuchen) ist eine Person, „die über ein extensives Wissen oder extensive Fähigkeiten in einem spezifischen Bereich verfügt“. 222 Die Kenntnisse und Fähigkeiten eines Experten sind kein Selbstzweck, sondern dienen dazu, in Beratungsverhältnissen Handlungs- und Wissensprobleme von Nicht-Experten zu lösen, deren Routinewissen und alltägliche Problemlösungskompetenzen nicht ausreichen. Der Experte entwickelt in ihrem Auftrag Problemlösungen oder assistiert den Entscheidungsträgern bei der Problemlösung. 223 Von besonderer Relevanz ist, dass der Expertenstatus aus einem sozialen Zuschreibungsprozess hervorgeht, der auch die Möglichkeit des Statusverlusts impliziert. Eine Person a wird von einer Person b aufgrund der Zuschreibung besonderer Kenntnisse und Fähigkeiten in einem spezifischen Bereich c als Experte anerkannt. 224 Obwohl in den unterschiedlichen Feldern, in denen Experten tätig sind, keine einheitlichen Kriterien für den Zuschreibungs- und Anerkennungsprozess bestehen, können folgende personale Minimalvoraussetzungen als ex ante- Kriterien genannt werden: Neben dem Verfügen über ein explizites, dekla- 220 Ungebrochene Beliebtheit bei soziologischen Rollenanalysen erfährt die strukturfunktionale Rollentheorie des „role taking“ von Parsons (1991); vgl. Schimank (2000, 55ff.) und Langer (2004, 88). Bei seinem funktionalen Ansatz führt Parsons die Funktionsfähigkeit des gesellschaftlichen Systems auf die ausgeglichene Stabilität sozialer Bindungen zurück, wie Bloom (2004, 2143) anschaulich darstellt. 221 LaFollette (1990) konnte in einer Untersuchung der public images der Wissenschaft in den USA zeigen, dass Wissenschaftlicher bei ihrem Auftreten in der Öffentlichkeit meist als Experten betrachtet werden. 222 Schützeichel (2007, 549). Auch die Etymologie des Expertenbegriffs, die sich auf eine „Er-Fahrenheit“ bezieht, die man bei einer Reise erworben hat, läuft darauf hinaus, „dass man dem, der einem als Experte gilt, attestiert, mehr und anderes zu wissen (und zu können) als man selber weiß (und kann)“, wie Hitzler (1994, 26) analysiert. Gemeinsam mit Siegrist (1998) stellen die beiden Autoren auch nachfolgend wichtige Erkenntnisse zur Experten-, Professions- und Laienrolle zur Verfügung. 223 Vgl. Schützeichel (2007, 555). 224 Vgl. Boche ski (1988), der eine dreistellige Relation des Expertenstatus identifiziert: Eine Person a (Wissenschaftler) ist für eine Person b (Laie) im Gebiet c (der Biowissenschaften) ein Experte, wenn b die (deskriptiven) Aussagen von a anerkennt, die a mit Geltungsanspruch mitteilt. Für Hitzler (1994, 27) ist der Experte „der Prototyp des als ‚kompetent‘ und ‚legitimiert‘ […] anerkannten Akteurs. Kompetenz […] ist dabei zu verstehen als eine soziale Zuschreibung aufgrund wahrgenommener bzw. wahrnehmbarer Verhaltensmerkmale und unterstellter Eigenschaften.“ <?page no="266"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 262 ratives Sonderwissen, dem „Expertenwissen“ („Wissen-dass“), gründet sich der Status des Experten auf implizite, nicht-deklarative Wissensbestände („Wissen-wie“), wozu neben einem praktischen Wissen (u.a. Erfahrungs-, Anwendungs- oder Verfahrenswissen) auch weiterführende intellektuelle Fähigkeiten und Kompetenzen gehören. 225 Die Anerkennung des Experten erfordert weder die Zugehörigkeit zu einer spezifischen Berufsgruppe noch einen wissenschaftlichen Hintergrund, 226 wenngleich viele anerkannte Experten wissenschaftlich tätig sind. Für den besonderen Expertentypus des wissenschaftlichen Experten, dem eine hohe Autorität zugesprochen wird, 227 sind spezifische Voraussetzungen zu ergänzen, z.B. die zertifizierte Absolvierung allgemeiner wie spezieller wissenschaftsinstitutioneller Aus- und Weiterbildungsgänge, sowie die Verwendung einer unpersönlichen, sachlichen Wissenschaftssprache. 228 Neben der Erfüllung bestimmter ex-ante-Kriterien stützt sich die Zuerkennung des Expertenstatus - so die hier vertretene These - auf ex-post-Kriterien, die aus den rollenkonstitutiven normativen Erwartungen hervorgehen. Zu den Erwartungen, die von beratungssuchenden Nicht-Experten erhoben werden, gehört die Teilhabe am Expertenwissen, welches sich durch bestimmte Qualitätskriterien auszeichnet und zur Problemlösung beitragen soll. Für einen wissenschaftlichen Experten bedeutet dies, dass die Zuerkennung und Aktualisierung seines Status durch Nicht-Experten mitunter von der Überzeugung der wissenschaftlichen Qualität seiner Expertise abhängt, gleichwohl sich das vermittelte Expertenwissen als „Problemlösungswissen“ grundlegend von wissenschaftlichem Wissen unterscheidet. 229 Vor dem Hintergrund des reversiblen Anerkennungsprozesses ist ein Wissenschaftler nur dann Experte, wenn dieser auch als Experte anerkannt wird. Erfolgt die soziale Anerkennung als Experte auf der Grundlage potentieller Fähigkeiten bzw. Kompetenzen und aktueller Expertisen, die in Beratungssituationen zur Verfügung gestellt werden, klingen bereits Akzeptanzbzw. Legitimationsprobleme an, die zu einem Kampf um Definitionsmonopole und schließlich 225 Peters (2008) führt u.a. eine Entscheidungshilfe-Kompetenz an; ein Experte muss das Problem des Klienten, dessen Präferenzen und verfügbare Mittel kennen, um verschiedene Handlungsoptionen zu entwickeln. 226 Vgl. Wynne (1996), der gegen die Hegemonie wissenschaftlicher Expertise opponiert. 227 Gegen einen generellen Autoritäts- und Vertrauensverlust wissenschaftlicher Expertise, wie er von Wissenschaftsforschern teils beschworen wird, sprechen einschlägige empirische Untersuchungen (z.B. Europäische Kommission 2001b, 2005; Peters/ Heinrichs 2005). Ein Vertrauensverlust ist hingegen in Kontexten konstatierbar, in denen Forscher als Interessenvertreter auftreten (Peters 1999a und 2008, 141). 228 Vgl. Dewe (2005, 374). 229 Den Unterschied beschreiben Horlick-Jones/ De Marchi (1995) wie folgt: Gegenüber dem abstrakten und theorielastigen (natur-)wissenschaftlichen Wissen bezieht sich das Expertenwissen auf die Analyse von spezifischen Problemstellungen bzw. der Bereitstellung konkreter Ratschläge für die Klienten als Entscheidungsträger. <?page no="267"?> 4.2. Paradigmen der Wissenschaftsethik 263 auch Ressourcen führen können. 230 Entsprechend stehen Experten unter dem steten Druck, die Erwartungen der Laienöffentlichkeit zu erfüllen und darüber ihre Anerkennung bzw. das Vertrauen in die Expertenkompetenz zu sichern bzw. wiederzugewinnen, was angesichts der finanziellen Abhängigkeit für gesellschaftliche oder auch politische Instrumentalisierungen anfällig macht. (2) Ausgehend vom bisher erarbeiteten Expertenbegriff können „Professionsangehörige“ (von lat. professio, öffentliche Bekanntmachung) als spezifische Expertengruppen betrachtet werden, die Lösungen für zentrale, lebenspraktische (gesundheitliche, religiöse, psychosoziale etc.) Wissens- und Handlungsprobleme in Form von Dienstleistungen anbieten. 231 Gegenüber der Expertenrolle wird Professionsangehörigen zusätzlich eine altruistische Grundhaltung bzw. eine Orientierung am öffentlichen Wohl unterstellt. 232 Davon abgesehen können weitere fundamentale Unterschiede benannt werden: 233 (a) Professionen vereinen Berufsgruppen (z.B. Ärzte, Anwälte, Hochschullehrer, Priester etc.), die ihr spezielles Expertenwissen in der Hochschule erworben und systematisch weiterentwickelt haben. Der Eintritt in die Profession ist an entsprechende Zertifikate und Lizenzen gebunden. (b) Legitimiert durch ihre Gemeinwohlorientierung haben sich Professionen in relativ großer Autonomie gegenüber dem Staat zu berufsständischen Gruppen organisiert. 234 Ihre Dienstleistungen werden weitgehend als Monopol angeboten, was den Professionsangehörigen eine institutionalisierte Machtposition sichert. (c) Bei ihrer Tätigkeit unterwerfen sich die Professionsangehörigen in einer freiwilligen Selbstbindung spezifischen Normen, Werten etc. 235 Der detaillierte und gegenüber dem Wissen- 230 Vgl. Hitzler (1994, 20). 231 Das Verständnis der Professionsangehörigen als spezifischer Expertengruppe, welches sich z.B. bei Schützeichel (2007) findet, ist angreifbar, sofern nicht jeder Professionelle zugleich als Experte in einem bestimmten Gebiet anerkannt wird. 232 Langer (2004, 59) erklärt dies mit der Übernahme der Aufgabe, „für die Verwirklichung und Sicherung gesellschaftlich als wesentlich bewertete Güter […] zu sorgen“. Vgl. hierzu die grundlegenden soziologischen Arbeiten von Carr-Saunders/ Wilson (1933) und Parsons (1991). 233 Bei den Merkmalen professioneller Tätigkeit beziehe ich mich auf Schütz/ Luckmann (1979, 387ff.), die den Prozess der „Professionalisierung“ als „soziale Verfestigung der Kompetenzstufen von Expertentum“ auffassen. 234 Die autonome Organisation äußert sich nach Vogd (2007, 580) darin, dass die Professionen „über die Inhalte ihrer Wissensdomänen, die Ausbildung der Adepten, die Qualitätsstandards ihrer Arbeit sowie über ihre professionsethischen Handlungsmaximen selbst entscheiden“. Die Gewähr von Autonomie reicht bis zur Ebene der individuellen Professionsangehörigen, die ihre Tätigkeit eigenverantwortlich wahrnehmen; vgl. Ozar (2004, 2160). 235 Die internen Standards umreißen, wie Kasachkoff (1990, 176) schreibt, „nicht nur, was innerhalb der Profession als vertretbares Verhalten gilt. Sie zeigen darüber hin- <?page no="268"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 264 schaftsethos umfangreichere Kanon von (selbst-)verpflichtenden Normen und Werten ist in vielen Professionen zu einem Standes- oder Institutionenkodex verdichtet. 236 Ein Professionsangehöriger geht bei Eintritt in die Profession die Verpflichtung ein, diese Normen bei der Ausübung der Tätigkeit zu beachten. Sofern die Beachtung der professionseigenen Kodizes primär durch professionsinterne, kollegiale Kontrollen und Sanktionen des organisierten Berufsstands abgesichert wird, entziehen sich Professionelle tendenziell der sozialen Kontrolle durch Nichtprofessionelle und konzentrieren die Beglaubigung der Professionalität in die eigenen Reihen. (d) Häufig ist mit der Zugehörigkeit zu einer Profession ein hohes Sozialprestige verbunden, was umgekehrt die „Ideologie des Professionalismus“, d.h. das „Standesbewusstsein technischer, intellektueller und moralischer Überlegenheit“ prägt. 237 (3) Korrespondierend zum Expertenbzw. Professionsbegriff definiert sich die Rolle des „Laien“ (bzw. Klienten) darüber, 238 dass ein Akteur nicht in der Lage ist, ein gegebenes Wissensbzw. Handlungsproblem aufgrund seiner Kompetenzen zu lösen. 239 Sofern aus strukturfunktionaler Perspektive dieser Zustand eine Abweichung von der sozialen Normalität darstellt - ein Laie kann nicht die üblichen sozialen Rollenerwartungen erfüllen -, bestehen bestimmte normative Erwartungen, die soziale Normalität wiederherzustellen. Z.B. soll der Laie seinen transitorischen Zustand im Rahmen seiner Möglichkeiten verbessern oder die Hilfe von Experten bzw. Professionsangehörigen aufsuchen und mit ihnen kooperieren. 240 Demzufolge verlassen sich Laien innerhalb der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft regelmäßig auf die angebotene Hilfestellung der Experten und Professionsangehörigen. Aus dem Wissensvorsprung erwächst nicht nur eine „epistemische Autorität“, sondern auch ein Machtpotential, welches in eine aus […] der Öffentlichkeit die leitenden Prinzipien und die moralische Zielsetzung der Profession an.“ 236 Wie Ozar (2004, 2165) und Purtilo (2004, 2155) darlegen, finden sich in den Kodizes teils hochrangige moralische Prinzipien (z.B. Respekt vor der Würde des Klienten, Gerechtigkeit), die um professionsspezifische Normen und Werte ergänzt werden (z.B. in der Medizin die Norm der Benefizienz oder der Non-Malefizienz). 237 Vgl. Hitzler (1994, 17). 238 Der Status des Laien kann je nach seiner sozialen Relationierung spezifiziert werden: So wird er in Abgrenzung zum jeweiligen Professionsvertreter als Klient (bei Anwälten, Psychologen) oder Patient (bei Ärzten) bezeichnet; vgl. Schützeichel (2007, 547). 239 Hitzler (1994, 23) differenziert, dass Laien nicht nur weniger wissen als Experten, sondern das, was sie wissen, auch anders organisieren; sie seien etwa nicht in der Lage, Wissenselemente zu vernetzen und alternative Lösungsstrategien zu systematisieren. Ohne über eine Experten-Laien-Vertikalität hinwegzutäuschen, betont Sprondel (1979, 157), dass Laien über ein „Verweisungswissen“ verfügen, sich geeignete Hilfe von Experten zu beschaffen und sich zweckmäßig des Sonderwissens zu bedienen. 240 Solche normativen Erwartungen hat Parsons (1991, 294ff.) bezüglich Kranker durchdekliniert. <?page no="269"?> 4.2. Paradigmen der Wissenschaftsethik 265 Definitions- (der Experte definiert das Problem und die Problemlösung) und Steuerungsmacht (der Experte bestimmt den Beginn, Verlauf und das Ende der Beratung und kann positive und negative Sanktionen aussprechen) entfaltet werden kann. 241 Umfasst die Beziehung zu Laien eine nicht nur definitorisch angelegte, sondern auch im alltäglichen Umgang erfahrbare Vertikalität bezüglich des virulenten Wissens, darf nicht übersehen werden, dass Experten bzw. Professionsangehörige außerhalb ihres Fachgebietes Laien sind. 242 Die Rolle des Experten bzw. Professionsangehörigen kommt in einer sozialen Relation zu derjenigen des Laien zum Ausdruck, weshalb sie als Komplementäre eines kleinsten sozialen Systems betrachtet werden können. 243 Implizieren die dargestellten Rollenkonzepte des Experten und Professionsangehörigen gleichermaßen eine konstitutive Interaktionsbeziehung zu Laien, scheinen sie beide als Ausgangspunkt für eine Untersuchung der normativen Regulierung wissenschaftsexterner Interaktionen geeignet zu sein. Gegenüber der Expertenrolle, die als ungeschütztes Etikett im individuellen Aushandlungsprozess zugeordnet wird, ist die Rolle des Professionsangehörigen insgesamt klarer definiert. Die formale Qualifizierung nach selbst verwalteten Kriterien (z.B. Institutionalisierung, Kodifizierung) bedingt allerdings, dass lediglich ausgewählte akademische Berufsgruppen mit hohem Professionalisierungsgrad Professionsangehörige stellen, während zahlreiche Gruppen von Wissenschaftlern (z.B. auch Biomediziner) keinen Zusammenschluss aufweisen können. 244 Vor der Zielsetzung dieses Kapitels, die wissenschaftsexterne Transparenznorm als eine übergreifende Regulierung der Interaktionsbeziehungen zwischen biomedizinischen Wissenschaftlern und der Öffentlichkeit zu begründen, ist daher der Rekurs auf das Konzept des Professionsangehörigen ungeeignet. 241 Vgl. Siegrist (1998, 241) und Schützeichel (2007, 558f).. In einer Ausweitung der machttheoretischen Perspektive auf den makrosozialen Bereich bezeichnet Larson (1984) Experten als dominante Klasse in der Wissensgesellschaft, deren Herrschaftsform („Expertokratie“) unsichtbar sei, weil sie als Ausdruck von Vernunft und rationaler Wissenschaft inszeniert werde. 242 Laut Weingart (2006, 51) macht der notwendig selektive Wissenserwerb in der Wissensgesellschaft „alle zu Experten ‚für‘ einen bestimmten Wissensbereich und zu Laien im Hinblick auf den ganzen großen Rest“. 243 Vgl. Siegrist (1998, 239). 244 Nach Schützeichel (2007) umfasst der Professionsbegriff solche Berufe, die weder mit dem Begriff der freien Berufe (mit einer kapitalistischen Profitorientierung), noch dem Begriff der akademischen Berufe adäquat erfasst werden können. Dem gegenüber verstehen Whitley (1984), Fuchs (1992) u.a. die Wissenschaften als Profession (angesichts der autonomen Kontrolle der Arbeitsziele und -prozesse), wenngleich ihr Professionalisierungsgrad (etwa durch das Fehlen einheitlicher Verhaltenskodizes) geringer ist als derjenige der Mediziner oder Rechtsanwälte. Berufsethische Überlegungen zum Professionsstatus können daher eher eine abgrenzende oder unterstützende, denn begründungsleitende Funktion für wissenschaftsexterne Interaktionsnormen haben. <?page no="270"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 266 Stattdessen wird das Rollenkonzept des (wissenschaftlichen) Experten als Ausgangspunkt für weiterführende Überlegungen zur Rollenverantwortung bevorzugt, das wissenschaftlich tätige Personen in unterschiedlichsten Fachgebieten und unterschiedlichsten Berufsfeldern (Universitäten, Akademien, außeruniversitäre und wirtschaftliche Forschungseinrichtungen etc.) einbezieht. Es stellt sich nachfolgend die Frage, worin nun die Rollenverantwortung eines Experten besteht, also ob sie gegebenenfalls die Befolgung einer externen Transparenznorm umfasst und wie sie ethisch begründet werden kann. 4.2.5.2. Die Spezifizierung und normative Begründung der Expertenverantwortung Bisher wurde schrittweise entfaltet, dass die Übernahme einer sozialen Rolle den Ausgangspunkt für die Suche nach normativen Kriterien darstellt, die den Umgang der wissenschaftlich tätigen Person mit gesellschaftlichen Interaktionspartnern regulieren soll. Hierbei steht die Rolle des wissenschaftlichen Experten im Mittelpunkt, die sich in Interaktionsbeziehungen mit Laien konstituiert und dabei wissenschaftsexterne Interaktionsfelder von Wissenschaftlern sämtlicher Disziplinen erfasst. Knüpft man bei der weiteren Analyse an das ethische Konzept der Rollenverantwortung an, stellt sich auch in diesem Zusammenhang die Aufgabe, die einzelnen Glieder des mehrgliedrigen Verantwortungsbegriffs zu explizieren: Allgemein formuliert besteht für eine wissenschaftlich tätige Person in der Rolle des Experten (Verantwortungssubjekt) eine normative Verbindlichkeit zur Erfüllung bestimmter Handlungen (Verantwortungsobjekt) gegenüber seinem soziologischen Komplementär, dem Laien (Verantwortungsinstanz). Es stellt sich die Frage, worin diese Handlungen bzw. Tätigkeiten, die der Experte zu erfüllen hat, materialiter bestehen, und wie die Verbindlichkeit ihrer Erfüllung normativ begründet werden kann. Eine Konkretisierung der spezifischen Rollenverantwortung, die man als wissenschaftlicher Experte trägt, kann angesichts der definitorischen Vagheit des Expertenkonzepts nicht ohne Schwierigkeiten erfolgen. Gegenüber der hinreichend definierten Rollenverantwortung eines Professionsangehörigen - die Interaktion eines Professionellen mit einem Klienten findet stets innerhalb eines institutionalisierten, normativen Gerüsts statt, zu dessen Berücksichtigung sich jener bei der Ausübung seiner professionellen Tätigkeiten verpflichtet hat 245 - existieren für die Rolle des Experten keine einheitlichen, kodifizier- 245 Die Transparenzforderung entspricht dabei der non-paternalistischen Intention aller Standeskodizes, den Klienten zur autonomen Entscheidung zu befähigen. Sie kann ferner mit professionellen Normen spezifischer Standeskodizes identifiziert werden: In der medizinischen Praxis findet sich z.B. das „informed consent“-Gebot, demzu- <?page no="271"?> 4.2. Paradigmen der Wissenschaftsethik 267 ten Regeln, die das Verantwortungsobjekt der Expertenverantwortung überschaubar werden ließe. Sofern der Expertenstatus aus einem individuellen Aushandlungs- und Anerkennungsprozess mit Laien hervorgeht, müssen andere Wege ihrer Ermittlung gesucht werden. Im Folgenden wird die „implikative Methode“ von Konrad Ott vorgestellt, bei der die Rollenverantwortung des wissenschaftlichen Experten als eine pragmatisch-implikative Übernahme von Verpflichtungen interpretiert wird, die vor einem gemeinsamen soziokulturellen Hintergrund explizierbar sind. 246 Ausgangspunkt der Überlegungen von Ott sind (Sprech-)Handlungen als „Vollzugsweisen einer transsubjektiven Praxis“, über die für kompetente Handlungsteilnehmer soziokulturell bedingt ein Vorverständnis - im Sinne von Erwartungen oder Überzeugungen - besteht. 247 Das Vorverständnis induziert bilaterale Hintergrunderwartungen, die sich insbesondere auf die Befolgung bestimmbarer Normen und Regeln beziehen. Als Beispiel soll die Interaktion zwischen wissenschaftlichen Experten und Laien bei der Praxis der „technischen Beratung“ dienen: 248 Wird ein Experte sachverständig-beratend tätig, ist der Ausgangspunkt in der Regel ein definiertes Problem eines Laien (Projekt, Maßnahme, politische Entscheidung etc.), das durch eine ungewisse und unbestimmte Sachbzw. Handlungsdimension gekennzeichnet ist, aber mehrere Handlungs- oder Regelungsalternativen zulässt. Angesichts des damit verbundenen teils beträchtlichen Entscheidungs- und Ermessensspielraums fühlt dieser sich überfordert und konsultiert die Hilfe eines Experten. Der Experte kann sich des Anliegens annehmen und als Berater tätig werden oder es zurückweisen, z.B. weil er sich unzuständig, unwillig oder außerstande sieht, diesem Anliegen zu entsprechen. 249 Nimmt er das Anliegen an, folgt nach der Datensammlung und Interpretation des Problems die Eruierung alternativer Sach- und Handlungsentwürfe (unter Heranziehung analoger Fälle, theoriegestützter probabilistischer Annahmen, Statistiken, Szenarien). 250 Bei dieser beratenden Tätigkeit kommen sein Expertenwissen bzw. seine Fähigkeiten und Kompetenzen zur Anwendung, indem er das allgemeine Expertenwissen folge der aufgeklärte, autonome Patient die Entscheidung für oder gegen eine Therapie angesichts der Chancen und Risiken selbst treffen soll (vgl. Schöne-Seifert 2005). 246 Vgl. Ott (1997). 247 Ebd., 51. 248 Nach Mittelstraß (1979) wird eine technische Beratung (consulting) bei einem äußerlichen Problem durchgeführt (z.B. Steuerberatung, wissenschaftliche Gutachten), während sich eine praktische Beratung (counseling) auf Probleme der Lebensführung bezieht (z.B. Familienberatung). Vgl. im Folgenden Ott (1997, 506) und Schützeichel (2007, 567f.). 249 Wie Ott (1997, 467) anmerkt, kann ein Experte bei Anliegen, die ihm unmoralisch erscheinen (z.B. bei sog. Gefälligkeitsgutachten), eine Beratung verweigern. 250 Schmitz et al. (1989) unterteilen eine Beratung in sechs Phasen: Eröffnung, Datensammlung, Interpretation, Handlungsentwürfe, Stellungnahme und Beendigung. <?page no="272"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 268 auf den Einzelfall konkretisiert. Letztlich stattet er den Laien mit Verfügungswissen aus und gibt eine Stellungnahme über die Handlungsalternativen ab. Obgleich dem Laien die Entscheidungsfreiheit für die Annahme oder Ablehnung der Problemlösungsvorschläge zukommt, 251 befolgt dieser meist in einem „unausgesprochenen Konsens“ die Ratschläge. 252 Die Experten-Laien-Interaktion wird bei einer technischen Beratung von folgenden praxisimmanenten Erwartungen getragen, die in Normen und Regeln der spezifischen Rollenverantwortung des Rollenträgers „Experte“ übersetzbar sind: (a) Die beidseitige Befolgung allgemein-normativer Implikate jeder kommunikativen Interaktion, die bereits an anderer Stelle als allgemeine Konversationsnormen identifiziert wurden. 253 Da jede kommunikative Interaktion auf ein verständigungsorientiertes Gelingen ausgerichtet ist, verpflichtet man sich bei Eintritt alles zu tun, damit die Interaktion gelingt - oder negativ formuliert, nichts zu tun, was die Interaktionspartner daran hindert, das Ziel zu erreichen. (b) Es bestehen weiterhin Erwartungen bezüglich spezifischer Normen der Beratungssituation, die sich sprechakttheoretisch analysieren lassen. 254 Der Laie darf legitimerweise erwarten, dass der Experte als Ratgebender relevante und aktuelle Informationen zum Wohle des Ratsuchenden weitergibt, auf die er sich verlassen kann. Wissenschaftliche Experten sollen sich bei ihrer Expertise zudem an neu produziertem Wissen aus der wissenschaftlichen Forschung orientieren, also fachlich auf dem Laufenden sein. 255 Umgekehrt gilt die Bereitschaft des Klienten, die Expertise anzuerkennen, den guten Rat angemessen zu honorieren und zu befolgen. (c) Des Weiteren beziehen sich normative Erwartungen im Umgang mit wissenschaftlichen Experten auf die Beachtung spezifischer Normen der Wissenschaftspraxis, wie sie im Ethosparadigma expliziert wurden. 256 (d) Insofern es sich beim wissenschaftlichen Experten um einen An- 251 Die gilt zumindest nach einem idealtypischen anti-paternalistischen Modell der Beratungssituation, wie es Stein (1990) vorschlägt. Weitere Modelle finden sich bei Ozar (2004, 2163) und Purtilo (2004). 252 Laut Peters/ Krüger (1985, 343) verlassen sich Laien „im Normalfall auf Experten und akzeptieren ihre Problemsicht und ihr Entscheidungskalkül“. Dieser unausgesprochene Konsens zerbreche nur dann, wenn es zu neuen Entwicklungen, tiefgreifenden Erfahrungen oder einem Wertewandel kommt. 253 Vgl. hierzu Kap. 2.3.2.3. Ott (1997, 105ff.) rekonstruiert sie als allgemein-diskursethische Normen, die nicht nur einen funktionalen, sondern moralischen Anspruch haben, sofern sie gleichermaßen für alle Menschen gelten. Aus der Perspektive der Diskursethik entspricht das Transparenzgebot impliziten Geltungsansprüchen beim rationalen Argumentieren (Wahrheit, Verständlichkeit etc.), die sich nicht ohne Selbstwiderspruch verletzen lassen, und ist auch für Teilnehmer eines argumentativen Diskurses konsensuell zustimmungsfähig; vgl. Werner (2002a, 145). 254 Vgl. Ott (1997, 494f.). 255 Vgl. ebd., 120. 256 Für ebd., 358 gilt das interne Wissenschaftsethos „in allen Fällen, in denen Laien die Erwartung hegen, hier sei es die Wissenschaft, die spricht. Wer dies bestreiten möch- <?page no="273"?> 4.2. Paradigmen der Wissenschaftsethik 269 gehörigen einer Profession handelt, erwartet der Laie außerdem die Beachtung spezifischer professionsinterner Normen, die sich in den (ärztlichen, anwaltlichen, notariellen etc.) Standeskodizes wiederfinden. 257 Für die medizinische Profession gehört hierzu u.a. der Hippokratische Eid, Fürsorgepflichten (Vertraulichkeit, Schweigepflicht etc.) und das „Informed Consent“-Gebot, welches den Respekt des Arztes vor der Autonomie des Patienten angesichts der asymmetrischen Beziehung regulieren soll. (e) Wenngleich nicht in der Rekonstruktion von Ott enthalten, können sich weitere Erwartungen auf die Erfüllung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben beziehen, z.B. die verständliche Informierung der Öffentlichkeit über neue Entdeckungen, auch hinsichtlich möglicher Gefahren bei ihrer Anwendung. 258 Insgesamt zeigt Ott, dass jegliche rollengebundene Interaktion, so auch die Interaktion zwischen wissenschaftlichen Experten und Laien, normative Implikate in sich tragen, die konkrete Erwartungen an ihre Berücksichtigung evozieren. Es stellt sich nun die Frage, wie er von „kulturell geteilten Normalitätserwartungen“ 259 bezüglich eines bestimmten Handelns zu einer ethischen Begründung der implikativ rekonstruierten rollenbezogenen Normen gelangt. Der Schlüsselbegriff ist das „pragmatische Implikationsverhältnis“, 260 das in der Sprechakttheorie bereits für viele performative Verben (versprechen, bitten, befehlen etc.) herausgearbeitet wurde. 261 Wenn beispielsweise ein Sprecher etwas verspricht, darf der Hörer erwarten, dass der Sprecher das Versprechen zu halten beabsichtigt; aufgrund des pragmatischen Implikationsverhältnissen zwischen einem Sprechakt und der evozierten Erwartung hat der Hörer sogar ein Anrecht auf die te, müsste sagen, das interne Wahrheitsethos sei gültig für alle Kommunikationen zwischen Wissenschaftlern (W-W-Fälle), aber irrelevant für alle Wissenschaftler-Laien-Kommunikationen (W-L-Fälle).“ Solche normativen Behauptungen sind für Ott aufgrund der allgemeinen Diskursregeln unhaltbar, da sie nicht von allen Diskursteilnehmern zwanglos akzeptiert werden können. 257 Vgl. ebd., 481. 258 Diese Erwartung lässt sich, wie in Kap. 4.2.4.2. erwähnt, mit gerechtigkeitstheoretischen Überlegungen stützen. 259 Schmitz u.a. (1989), zitiert nach: Ott (1997, 481). 260 Ott (1997, 51 und 65) grenzt pragmatische Implikationen u.a. von (semantisch-)logischen ab: „Während logische Implikationen Beziehungen zwischen Propositionen sind, sind pragmatische Implikationen Beziehungen zwischen Sprechakten, Tätigkeiten, Erwartungen und Unterstellungen.“ Es gilt das Schema: „Wer sich auf A einlässt, muss B dann und nur dann zustimmen, sofern B ein Implikat von A ist bzw. sofern A auf eine pragmatische Weise B ‚impliziert‘“. Im Unterschied zu logischen „wenndann“-Schlussfolgerungen umfassen pragmatische Implikationen mindestens drei Glieder, also zusätzlich soziale Standards, Rollen etc. 261 Es sei hier auf Searle (1971) und diesbezügliche Ausführungen in Kap. 2.3.2.1. verwiesen. <?page no="274"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 270 sprecherseitige Einhaltung des Versprechens. 262 Da pragmatische Implikationen vom Interaktionskontext abhängen, sind nicht nur Sprechakte, sondern auch spezifische Praxisformen oder Rollenübernahmen mit solchen Implikationen verbunden: „Wer als Handelnder (H) die Rolle (R) übernommen hat oder die Praxis (P) ausübt, von dem darf man das Verhalten (V) gemäß der Norm (N) erwarten (E). Man kann allgemein sagen: (R) oder (P) impliziert pragmatisch (N), so dass (E) hinsichtlich (V) gemäß (N) in bezug auf einen jeden (H) berechtigt ist.“ 263 Sofern sich jeder, der eine bestimmte Rolle übernommen hat, zugleich auf alle normativen Implikationen eingelassen hat, 264 inkludiert die Rollenübernahme für den Handelnden die Verpflichtung, solche Implikate einzuhalten, „die sich durch Begriffsanalysen und durch Rekonstruktion von legitimen Sinnerwartungen begründen lassen“. 265 Korrespondierend dazu besteht für den Interaktionspartner das Recht, die Befolgung dieser Implikate einfordern zu können. In einer Praxis der „technischen Beratung“ - die sich auf andere Praxisfelder der wissenschaftlichen Expertise verallgemeinern lässt 266 - dürfen Laien von wissenschaftlichen Experten legitimerweise eine adäquate Vermittlung von Problemlösungswissen erwarten, das sich auf wissenschaftliches Spezialwissen stützt: Sofern sich die Kommunismus-Norm des Merton- Ethos als normatives Implikat jeder Wissenschaftspraxis (einschließlich der wissenschaftlichen Beratungspraxis) rekonstruieren lässt, darf man die Wahrheit und Vollständigkeit der erhaltenen wisenschaftlichen Informationen (formelle Transparenz) voraussetzen; die Verständlichkeit wissenschaftlicher Informationen (inhaltliche Transparenz) kann hingegen mithilfe der allgemeinen Konversationsnormen als normatives Implikat jeder kommunikativen Interaktion erfasst werden. Das Bestehen solcher berechtigten Erwartungen auf der Seite der Laien korrespondiert mit der Verpflichtung zur Befolgung wichtiger Aspekte der TN B auf der Seite der Experten. Werden die genannten Aspekte der Transparenznorm als Rollenimplikate nicht befolgt, ist dies kennzeichnungs- und begründungspflichtig. 267 Wissenschaftliche Experten, die selektiv Informationen vermitteln, ohne dies zu kennzeichnen, verletzen nicht nur die in der Rollenkonstellation eingegangene Verpflichtung zu rollenspezifischem Handeln. Sie zer- 262 Vgl. Ott (1997, 67ff.). 263 Ebd., 76f. 264 Vgl. ebd., 51. 265 Ebd., 53. 266 Die normativen Implikationen ähneln sich in allen Praxisfeldern, in denen der wissenschaftliche Experte tätig ist, wozu das Ausführen von Gutachten, Stellungnahmen, Interviews etc. gehört; vgl. ebd., 515. 267 Für ebd., 361 wäre im Wissenschaftskontext (Stichwort: „Antragslyrik“) „schon viel gewonnen, wenn man sich bewusst bliebe, dass das Wahrheitsethos bei Gutachten, Anträgen, Evaluationen usw. keineswegs außer Kraft gesetzt ist“. <?page no="275"?> 4.2. Paradigmen der Wissenschaftsethik 271 stören darüber hinaus durch die Enttäuschung der Rollenerwartung das gesellschaftliche Vertrauen in wissenschaftliche Expertise. 268 Da die Rolle des Experten keinen institutionalisierten Regelungen unterliegt, sondern aus einem sozialen Zuschreibungs- und Anerkennungsprozess hervorgeht, ist das Moment des Vertrauens der Laien bzw. Klienten in die Erfüllung normativer Rollenimplikate konstitutiv. Mit dem Vertrauensvorschuss, welchen ein Laie dem Experten entgegenbringt, ist der Anerkennungsprozess nicht abgeschlossen. Erst wenn der Experte in der Beratungssituation bestimmte normative Erwartungen erfüllt und der Laie die Hilfestellungen inhaltlich akzeptieren kann, wird der Anerkennungsprozess abgeschlossen und der soziale Status des Experten aktualisiert. Diese Aktualisierung, bei der sich der individuelle Wissenschaftler eine biographische Identität als Experte erwirbt, ist der Ausgangspunkt, das bestehende Vertrauensverhältnis zu intensivieren und auf andere Situationen oder auch Personen zu übertragen. Der Experte muss daher in besonderem Maße auf die Wahrung des notwendigen Vertrauens der Laienöffentlichkeit achten und sich um eine „sachkompetente, redliche, unparteiische, differenzierte und verständliche Kommunikation mühen“. 269 Steht dem Vertrauensvorschuss hingegen kein entsprechendes Verhalten des Experten entgegen, lässt sich seine Rolle nicht weiter rechtfertigen. 270 Werden die explizierten normativen Implikate nicht erfüllt, hat dies nicht nur für die individuelle Rollenzuschreibung, sondern auch für den generellen Status wissenschaftlicher Expertise gravierende Konsequenzen: Laien verlieren ihr Vertrauen in wissenschaftliche Aussagen, so dass sich die Praxis der Beratung und des Gutachtens, wie sie von wissenschaftlichen Experten durchgeführt wird, nicht mehr aufrechterhalten ließe. 271 268 Vgl. auch Resnik (1999, 149). 269 So das Argument von Münk (1998, 333). 270 Vgl. Ott (1997, 481). 271 Ebd., 110 argumentiert: „[K]onstitutive Praxisnormen (PN) weisen die Eigenschaft auf, dass ohne ihre hinreichend allgemeine Befolgung die Praxis selbst (P) nicht fortbestehen kann. […] Wenn nun das teilnehmende Sich-Einlassen auf P implizit mit dem Interesse am Fortbestand von P zusammenhängt, muss man PN öffentlich befürworten bzw. ihnen beipflichten, wenn die generelle Nichtbefolgung von PN für P katastrophal wäre.“ Während Ott einen Verstoß gegen die Transparenznorm anhand einer empirisch-sozialpragmatischen Folgenüberlegung auszuschließen versucht - ein Argument, das vom „falschen“ Versprechen bekannt ist (Höffe 2000a, 193) - identifiziert Wandschneider (1991) darin eine Täuschung der Laien, sofern die Wahrheitsverpflichtung und Prämissendeutlichkeit bereits begrifflich zur wissenschaftlichen Gutachtertätigkeit gehören: Wenn ein wissenschaftlicher Gutachter ein einseitiges Gutachten veröffentlicht, das „wesentlich Unwahrheit“ darstellt, indem es beschönigt, verzerrt, vorenthält etc., „tut [er] somit etwas, was er nach dem Begriff des Sachverständigen nicht tun dürfte. Insofern liegt eine klare Täuschung vor.“ (261) <?page no="276"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 272 Bei vordergründiger Plausibilität der Ott’schen Argumentation sind mit dem Konzept der Rollenverantwortung im Allgemeinen und der „implikativen Methode“ im Besonderen grundsätzliche Probleme verbunden, die für die Fragestellung der Arbeit von Bedeutung sind: Die „implikative Methode“ beantwortet nicht, warum normativen Erwartungen überhaupt Folge geleistet werden sollte, d.h. inwiefern aus einer Erwartungshaltung die Verpflichtung zur Erfüllung der rekonstruierten Normen begründet werden kann. Das Argument Otts, „implikativ erschlossene Präsuppositionen“ seien für das Gelingen der Praxis konstitutiv und demzufolge unhintergehbar, 272 gerät spätestens dann ins Wanken, wenn die Praxis auch bei einer (mehr oder minder seltenen) Beugung bestimmter pragmatischer Implikationen funktioniert. An dieser Stelle wird ein Rekurs auf eine übergeordnete Ethiktheorie unvermeidlich, mit deren Hilfe die Verpflichtung zur Erfüllung normativer Erwartungen begründet werden kann - etwa analog zur ethischen Begründung des Einhaltens von Versprechen. Entsprechend sind rollenspezifische Verantwortlichkeiten, die mittels der „implikativen Methode“ spezifiziert werden, von einer nicht deckungsgleichen, übergeordneten moralischen Verantwortung des Rollenträgers abzugrenzen, die jene aufheben oder verstärken kann. 273 Man denke hierbei an die mögliche Instrumentalisierung verfügbaren wissenschaftlichen Wissens für unmoralische, schädigende Ziele des Laien. Sofern man die Nachrangigkeit einer bereichsspezifischen Rollenverantwortung gegenüber einer ethisch zu begründenden, universalmoralischen Verantwortung akzeptiert, kann die rollenspezifischen Informierungspflicht zugunsten einer allgemeinmoralischen Pflicht zur Schadensvermeidung aufgehoben werden. In Weiterführung des Gedankens besagt eine rekonstruierte Rollenverantwortung nichts über die moralische oder unmoralische Qualität dieser Funktion aus, wie am Beispiel des Terrorismus deutlich wird: „Wer für eine Terrororganisation ‚gute‘ Arbeit leistet, handelt nicht im moralischen Sinne ‚gut‘.“ 274 Ott bannt die Gefahr, unmoralische normative Implikate zu gewinnen, indem er eine normative Zusatzprämisse einführt. Er charakterisiert die Be- 272 Ott (1997, 57). Die implikative Methode stellt für ihn „unterhalb des (diskurs)ethischen Begründungsdiskurses“ daher die „einzig erfolgsversprechende Möglichkeit [dar], höchste Moralprinzipien nicht nur als evident zu setzen oder sonstwie zu postulieren, sondern zu begründen.“ (84f.) 273 Werner (2002b, 521), Lenk (1991b, 65) u.a. räumen der moralischen Verantwortung aufgrund des universalen Begründungs- und Geltungsanspruchs eine vor- und übergeordnete Stellung gegenüber einer bereichsspezifischen Rollenverantwortlichkeit ein. Wenn beispielsweise ein angestellter Wissenschaftler durch Vorgesetzte beauftragt wird, Daten über schädigende Nebenwirkungen von Medikamenten zu vertuschen, gestattet die moralische Verantwortung gegenüber der Rollenverantwortung „keine Aufschiebung, keine Delegierung, keine Abschiebung“, befindet Lenk/ Maring (1998, 302). 274 Bayertz (1994b, 190). <?page no="277"?> 4.2. Paradigmen der Wissenschaftsethik 273 ratungspraxis als eine menschliche Praxis, die universal gültigen diskursethischen Normen unterworfen ist. 275 Man kann hierin ein implizites Zugeständnis erkennen, dass seine „implikative Methode“ einer Rückbindung an eine übergeordnete Ethiktheorie bedarf. 276 Akzeptiert man das dargestellte begründungstheoretische Defizit der „implikativen Methode“ und fokussiert statt dessen auf ihre Stärke - die Explikation vorgefundener Rollenerwartungen - ist weiterhin fraglich, wie weit sich die Rekonstruktion der wissenschaftsexternen Transparenznorm mit der empirischen Realität deckt. Normative Implikate sind nur dann plausibel rekonstruierbar, wenn sie auf gelebte Praxisnormen verweisen, die vor einem gemeinsamen soziokulturellen Hintergrund bekannt sind und deren Berücksichtigung eigentlich als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann. In einer postmodernen Gesellschaft, die von anonymen und wandelbaren Interaktionsbeziehungen geprägt ist, darf eine solche normative Selbstverständlichkeit bezweifelt werden. Statt dessen sind normative Implikate - insbesondere solche, die nicht den harten Normenkern einer Rollenkonstellation ausmachen und einem kontingenten Aushandlungsprozess unterworfen sind - als legitime Rollenerwartungen häufig umstritten. 277 Abweichende Erwartungen zwischen Interaktionspartnern werden zum fundamentalen Problem der „implikativen Methode“, wenn individuelle Rollenerwartungen und konstitutive Normen des Rollenbildes nicht 275 Vgl. Ott (1997, 114). 276 Schließlich lässt die „implikative Methode“ offen, wie Verantwortungskonflikte zu lösen sind, die angesichts der Vielzahl von Aufgaben und sozialen Rollen, die eine Person gleichzeitig in der modernen Gesellschaft ausübt, jederzeit entstehen können. Wie Resnik (1999, 148) zeigt, können Rollenkonflikte bereits entstehen, wenn ein Wissenschaftler in einer öffentlichen Debatte neben der Rolle des Experten auch die des engagierten Bürgers einnimmt: „These roles may create conflicting obligations: professional scientists should strive for objectivity, honesty, and openness, but citizens are free to express subjective opinions, to speculate, and to manipulate information in order to advance their social and political agendas.“ 277 Laut Langer (2004, 88) werden gerade wissenschaftliche Experten, „die konstitutiv mit gesellschaftlich ‚Neuem‘ […] konfrontiert sind, mit Person-Rollenkonflikten, gegensätzlichen Erwartungen, mangelnden Ressourcen zur Rollenerfüllung oder gar defizitärem Rollenwissen konfrontiert“. Wie man am Beispiel des Arztes sehen kann - dieser wird in bestimmten Kontexten nicht mehr nur als Therapeut, sondern als Dienstleister zur Verbesserung der physisch-psychischen Konstitution angesehen - betreffen die Uneinigkeiten über normative Implikate des Rollenbildes teilweise sogar den Kernbestand von Handlungsnormen. Versucht Ott (1997, 133f.) das Problem divergierender Rollenerwartungen durch eine argumentativ-diskursive Überprüfung zu lösen, bei der sich mindestens eine dieser Erwartungen als ungerechtfertigt erweist, ist er darauf angewiesen, eine diesbezügliche Schwäche der implikativen Methode durch Rekurs auf das Begründungsmodell der Diskursethik zu kompensieren. An anderer Stelle behauptet er: „Was sich gemäß dieser doppelten Rationalität von implikativ-syllogistischer Herleitung und argumentativ-diskursiver Überprüfung als haltbar erweist, verdient das Prädikat ‚normativ gültig‘“ (94). <?page no="278"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 274 unterscheidbar sind. Eine Problemlösung stellt die Institutionalisierung und Kodifizierung von Praxisnormen dar, bei der eindeutig geklärt wird, welche Normen in welchen Situationen gelten. Eine solche Kodifizierung, welche die Berücksichtigung der implementierten Normen als legitime normative Erwartung begründen würde, liegt aber nicht für den Bereich der wissenschaftsexternen Interaktion vor, sondern - wie gesehen - für den Bereich der wissenschaftsinternen bzw. professionellen Interaktionsbeziehungen. Insgesamt ist die implikative Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm mit folgenden Schwierigkeiten konfrontiert: Die formelle und inhaltliche Transparenz biomedizinischer Informierung kann nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden, wie zahlreiche wissenschaftsexterne Interaktionen zeigen. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass wissenschaftliche Experten insbesondere die Forderung nach inhaltlicher Transparenz als zusätzliche Belastung und nicht als legitime Rollenerwartung einer wissenschaftsexternen Interaktion ansehen. 278 Außerdem liegt keine Institutionalisierung einer wissenschaftsexternen Transparenznorm - ja nicht einmal die durchgängige Kodifizierung einer wissenschaftsinternen, formellen Transparenznorm - im Bereich der biomedizinischen Forschung vor. Anstatt die wissenschaftsexterne Transparenznorm als eine vorfindbare, konstitutive Rollennorm zu rekonstruieren, wird die Transparenzproblematik besser erfasst, wenn von einer neuen Aushandlung der sozialen Rollenkonstellation zwischen Experten und Laien ausgegangen wird. Um bei einer neuen Aushandlung bzw. einer erweiterten Regulierung berechtigte normative Forderungen aufstellen zu können, bleiben die vorgängigen Schritte, (a) Normen zu begründen und (b) erfolgreich in die Praxis zu implementieren, bevor sie (c) mithilfe der implikativen Methode rekonstruiert werden können. Dies betrifft vor allem die inhaltliche Dimension der Transparenznorm, die gegenüber der formellen Dimension im wissenschaftsinternen Bereich unberücksichtigt bleibt. Resümierend kann der Ansatz von Konrad Ott keine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm leisten, die in diesem Kapitel als zentrale Aufgabenstellung vorgestellt wurde. Er zeigt vielmehr, dass die Kodifizierung von Normen einen wichtigen funktionalen Aspekt für anonyme Interaktionen hat, sofern pragmatisch-normative Erwartungen stabilisiert und nicht fortwährend neu definiert werden müssen. 279 Daher lassen sich mithilfe der „implikativen Methode“ lediglich plausible Argumente für eine einheitliche und hinreichende Kodifizierung der wissen- 278 Wir haben an anderer Stelle (Kap. 2.3.2.4.) konstatiert, dass die Verständlichkeit als allgemeine Konversationsnorm in den relevanten Kontexten eine zu geringe Verbindlichkeit hat, um die inhaltliche Transparenz von komplexen Informationen zu garantieren; dabei wird der Apekt der sprachlichen Angemessenheit gar nicht erst erfasst. 279 Vgl. Ott (1997, 482). <?page no="279"?> 4.2. Paradigmen der Wissenschaftsethik 275 schaftsexternen Transparenznorm in einschlägigen Regelwerken (z.B. im Wissenschaftsethos und in Standeskodizes) gewinnen. 4.2.6. Zwischenfazit Bei dem kursorischen Durchgang durch die Paradigmen der Wissenschaftsethik wurde die wissenschaftsexterne Transparenznorm (TN B ) als Bestandteil des Wissenschaftsethos, als Dispensationsnorm der Handlungsfolgenverantwortung und als normatives Implikat der Expertenrolle zu begründen versucht, wofür allerdings fundamentale Schwächen der einzelnen wissenschaftsethischen Paradigmen in Kauf genommen werden mussten: (1) Innerhalb des Ethosparadigmas konnte die wissenschaftsinterne Transparenznorm als Spezifizierung der „Kommunismus“-Norm betrachtet werden, die der Wissenschaftssoziologe Merton als eine von vier handlungsleitenden Normenkomplexen der wissenschaftlichen Arbeit rekonstruiert und funktional begründet hat. In einem größeren Zusammenhang ist Transparenz eine konstitutive Bedingung für die Gewinnung gesicherten Wissens und ein Garant für den wissenschaftlichen Progress. Der Funktionalismus erlaubt hingegen keine ausreichende Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm, da Interaktionen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft nicht der Verwirklichung der wissenschaftlichen Zielsetzung dienen. Sofern die Berücksichtigung des internen Transparenzimperativs eine Voraussetzung für die Befolgung der externen Transparenznorm darstellt, wurde bezweifelt, dass eine funktionalistisch begründete, zweckrationale Transparenznorm in Situationen des Interessenkonflikts eine verbindliche Kraft entfalten und hinreichend motivieren kann. (2) Im Rahmen des Verantwortungsparadigmas wurde die Handlungsfolgenverantwortung des Wissenschaftlers untersucht, was eine Analyse des Verantwortungskonzepts voraussetzte. Aufgrund der normativen Unbestimmtheit konnte vom Verantwortungsbegriff, der selbst einer ethischen Legitimierung bedarf, keine Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm gewonnen werden. Statt dessen wurde seine wissenschaftsethische Relevanz auf die Bestimmung der Handlungsdimensionen, insbesondere der absehbaren Folgen in komplexen Handlungszusammenhängen, und die Zuordnung zu einem rechenschaftspflichtigen Verantwortungssubjekt verlagert. Hinsichtlich wissenschaftlicher Transparenz bedeutet dies: Ein Wissenschaftler ist für die Folgen verantwortlich, die aus einer Anwendung wissenschaftsgenerierter Techniken resultieren, sofern er durch seine autoritative Expertise Einfluss auf die Anwendung nimmt. Exemplarisch sei auf gesundheitsschädigende Therapien verwiesen, die aufgrund intransparenter Forschungsergebnisse zum Einsatz kommen. Nur bei einer transparenten Informierung der gesellschaftlichen Entschei- <?page no="280"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 276 dungsträger über vorhersehbare Chancen und Risiken kann sich ein Wissenschaftler von dieser Folgenverantwortung dispensieren. (3) In Konzentration auf die Rollenverantwortung können mithilfe des Verantwortungsbegriffs weitere Problembereiche der Wissenschaftsethik erfasst werden: Das Wissens- und Machtpotential des Wissenschaftlers kulminiert bei der dienstleistenden Beratung von Laien zu einer rollenspezifischen Verantwortung des Experten, die innerhalb des Expertenparadigmas untersucht wurde. Auf Grundlage der „implikativen Methode“ von Konrad Ott konnten rollengebundene normative Erwartungen an das Handeln der wissenschaftlichen Experten spezifiziert werden, die sich mitunter auf die adäquate Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse zur anwendungsbezogenen Problemlösung des Laien beziehen. Es wurde in Frage gestellt, ob sich aus den explizierbaren pragmatischen Erwartungen an eine Rollentätigkeit - die außerdem umstritten sein können - zugleich eine Verpflichtung zu diesem Handeln ableiten lässt. Der Versuch Otts, diese Unzulänglichkeit mithilfe diskursethischer Elemente zu beheben, zeigte die Abhängigkeit der implikativen Methode von übergeordneten Ethiktheorien. Letztlich ist die Begründung einer wissenschaftsexternen Transparenznorm mithilfe der untersuchten wissenschaftsethischen Paradigmen entweder unzureichend oder steht auf tönernen Füßen. Angesichts der zuanfangs explizierten Kriteriologie einer adäquaten Begründung kollabiert die paradigmatische Argumentation jeweils schon beim ersten der insgesamt fünf dargelegten Kriterien: Innerhalb des Ethos-, Verantwortungs- und Expertenparadigmas lässt sich die Transparenznorm nicht als eigenständige und starke Kommunikationsnorm begründen, was weitere, detaillierte Überlegungen (z.B. hinsichtlich des Erfassens von normen- und tugendethischen Aspekten des Transparenzideals) überflüssig macht. Im nächsten Schritt wird deshalb eine Rechtfertigung mithilfe der Kantischen Moralphilosophie unternommen. 4.3. Eine deontologische Begründung der Transparenznorm mithilfe der Kantischen Moralphilosophie 4.3. Eine Begründung mithilfe der Kantischen Moralphilosophie Kant ist unbestritten einer der bedeutendsten Vertreter der Aufklärungsphilosophie, die im besonderen Maße für die Ideale der Offenheit und wechselseitigen Kritik eintraten. Daher bietet sich gerade seine Ethiktheorie an, eine wissenschaftsexterne Transparenznorm zu begründen, die auf die genannten epistemischen Ideale zurückzuführen ist. Vor dem Hintergrund, dass Kant über verschiedene Schriften hinweg eine systematisch umfassende und detaillierte Ethiktheorie entwickelt, orientiert sich nachfolgende Argumentation an den Passagen, in denen er sich ausführlich der Begrün- <?page no="281"?> 4.3. Eine Begründung mithilfe der Kantischen Moralphilosophie 277 dung des Gebots der Wahrhaftigkeit bzw. des Lügenverbots widmet. 280 Die Einschränkung ist aufgrund ethisch relevanter Gemeinsamkeiten zwischen den bekannten Kommunikationsnormen und der vorgestellten Transparenznorm gerechtfertigt. 281 Zu den vordergründigsten Übereinstimmungen gehört der Aspekt der Täuschungsintention, der in der Kantischen Argumentation - wie noch zu zeigen sein wird - einer der dominierenden Bezugspunkte der moralischen Überlegung ist. Es ist davon auszugehen, dass sich die Überlegungen zum Wahrhaftigkeitsgebot bzw. zum Lügenverbot mutatis mutandis auf eine Begründung der Transparenznorm ausweiten lassen, wenngleich Kant diese Ausweitung selbst nicht vorgenommen hat. 282 Es wird zu zeigen versucht, dass durch die maximenzentrierte Beurteilung der zugrunde liegenden Täuschungsabsicht eine deontologische Beurteilung von Lüge und intendierter Intransparenz zum gleichen Ergebnis kommen müsste. 283 Zielen die untersuchten Schriften Kants auf ein striktes Verbot von Täuschungs- und Lügenhandlungen ab, ist man mit einem fundamentalen Pro- 280 Zu den Hauptquellen gehören die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), Kritik der praktischen Vernunft (1788), Metaphysik der Sitten (1797) und Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen (1797). Weitere Textpassagen, in denen Kant die Kommunikationsnormen nur am Rand verhandelt bzw. die nicht von ihm autorisiert sind, eignen sich nicht zur Entfaltung seiner Argumentation und werden ausgeschlossen; so z.B. die Vorlesungen über Ethik (1784/ 85). 281 Vgl. hierzu Kap. 2.5.2. 282 In der Metaphysik der Sitten, TL A 90f., Anm. 19 bewertet er das Lügen und Zurückhalten von Gedanken sogar unterschiedlich: „Es gibt zwischen Wahrhaftigkeit und Lüge […] kein Mittleres: aber wohl zwischen Offenherzigkeit und Zurückhaltung […], da an dem, welcher seine Meinung erklärt, alles, was er sagt, wahr ist, er aber nicht die ganze Wahrheit sagt. […] [B]eide Tugendpflichten haben einen Spielraum der Anwendung (latitudinem) und, was zu tun sei, kann nur von der Urteilskraft, nach Regeln der Klugheit (den pragmatischen), nicht denen der Sittlichkeit (den moralischen) […] entschieden werden.“ Bei diesem überraschenden Befund zeigt sich, dass Kant wohl um die Probleme einer strikten, rigoristischen Verpflichtung weiß, die er zumindest bei einer Aufforderung zur Preisgabe der Gedanken ausschließen möchte. Daher ist Höffe (2000a, 195) der Auffassung, zur gebotenen Maxime der Ehrlichkeit gehöre nicht notwendigerweise, „daß man jedem zu jeder Zeit die ‚volle Wahrheit‘ sagt; Todkranken oder kleinen Kindern darf man vielleicht manches verschweigen, ohne deshalb lügen zu dürfen“. Ähnlich argumentiert auch Esser (2004, 261f.). 283 Die Beobachtung von Annen (1997, 244ff.) ist aufschlussreich, dass der seit dem 16. Jahrhundert (angesichts rechtlicher Grausamkeiten) übliche, aber umstrittene Versuch, den Lügenvorwurf durch Ausdifferenzierung von Aussageformen (z.B. reservatio mentalis oder „Mehrdeutigkeit“) zu umgehen, in den Nachwirkungen der Kantischen Moralphilosophie zum Abbruch kam. Stellt die reservatio mentalis eine Äußerung dar, „bei welcher der Sprecher einen für das richtige Verständnis der Aussage unverzichtbaren Teil nicht ausspricht, sondern ihn in Gedanken zurückbehält“ (ebd., 244), ähnelt sie den diskutierten Formen formeller Intransparenz; „Mehrdeutigkeit“ kann hingegen als bestimmte Form inhaltlicher Intransparenz identifiziert werden. <?page no="282"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 278 blem konfrontiert. Aufgrund der maximenzentrierten, folgenunabhängigen Begründung sind Täuschungen und Lügen auch dann nicht erlaubt, wenn dadurch schwerer Schaden für Andere abgewehrt bzw. deren Grundgüter (körperlich-geistige Integrität, Eigentum etc.) geschützt werden können. In dieser Radikalität sind die Verbotspflichten nicht nur schwer vermittel- und umsetzbar; werden sie pars pro toto als Kennzeichen einer lebensfernen, rigoristischen Tendenz der Kantischen Moralphilosophie verstanden, bedrohen sie sogar die Plausibilität des gesamten Theorierahmens und dessen Anspruch, gelebte moralische Überzeugungen theoretisch zu erfassen. Bei einer Adaptation der Argumente, die Kant zur Rechtfertigung des Täuschungs- und Lügenverbots entfaltet, erkauft man sich unausweichlich den genannten Schwachpunkt, der hier die Plausibilität der Transparenznormbegründung unterminiert. Um den sog. Rigorismusvorwurf zu entkräften, bemühen sich Verteidiger der Kantischen Moralphilosophie beharrlich, Ausnahmen vom Täuschungs- und Lügenverbot zu begründen - allerdings um den Preis, die Kantische Argumentation an entscheidenden Stellen zu relativieren. 284 Daher wird eine andere, m.E. innovative Möglichkeit im Umgang mit dem Rigorismusvorwurf geprüft, die auf Simone Dietz zurückgeht: 285 Innerhalb des komplexen Argumentationsduktus Kants werden Einfallstore für eine Einschränkung rigoristischer Verbote zu identifizieren versucht. Auch hierbei darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass Kant berechtigterweise als Kronzeuge des absoluten Verbots von Täuschung und Lüge gilt, was bei einer Interpretation der einzelnen Passagen und einer Adaptation der Argumentation für die ausstehende Transparenznormbegründung zu beachten ist. Von den Hauptschriften, in denen sich Kant ausführlich mit den genannten Kommunikationsnormen beschäftigt, beziehen sich die nachfolgenden Ausführungen primär auf die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (GMS) sowie auf die Metaphysik der Sitten (MS). Die Wahl dieser beiden Schriften ist freilich rechtfertigungspflichtig. Während eine Argumentation mithilfe der GMS keiner weiteren Begründung bedarf - sie wird in Einführung und Entfaltung des obersten Moralprinzips unbestritten als Hauptquelle für die Kantische Moralphilosophie angesehen 286 - ist der Rekurs auf 284 Unter den Apologeten ist etwa O’Neill (2002a, 98f.) der Auffassung: „Just as some coercion (a police force, a tax system) must be accepted even by those whose fundamental principle is to reject coercion, so some forms of deception (habits of civility, toleration of ‚white‘ lies, silence and discretion) must be accepted even by those whose fundamental principle is to reject deception.“ 285 Dietz (2000 und 2002b). Da sie sich ausschließlich mit dem Lügenverbot befasst, übertrage ich ihre Argumente auf das Verbot intransparenter Sprechakte (ITV B ). 286 Hiervon zeugen zahlreiche Veröffentlichungen, die sich hauptsächlich bis ausschließlich der Interpretation der GMS widmen; vgl. etwa die vielgelobte Einführung in das Kantische Denken von Höffe (2000a). <?page no="283"?> 4.3. Eine Begründung mithilfe der Kantischen Moralphilosophie 279 das sperrige Alterswerk keineswegs selbstverständlich. Die herkömmliche rezeptionelle Vernachlässigung der MS ist darauf zurückzuführen, dass sie sich zumindest stellenweise einer einheitlichen, harmonischen Interpretation den Ideen der Grundlegungsschrift widersetzt. 287 Dem stehen bei einer wohlwollenden Deutung wichtige neue Impulse entgegen, die für eine ganzheitliche Interpretation der Kantischen Moralphilosophie gewonnen werden können: Entbrennt an den Überlegungen in der GMS der berühmte Formalismus-Vorwurf, der da lautet, die Begründung eines rein formalen Moralprinzips gehe auf Kosten einer inhaltlichen, situativen und individuellen Orientierung fürs konkrete Handeln, 288 entfaltet Kant in der MS das Moralprinzip anhand konkreter und substantieller Rechts- und Tugendpflichten. 289 Gegenüber dem Rationalismus-Vorwurf, Kant entwerfe in der GMS das Bild einer sterilen moralisch handelnden Person ohne emotionale Beteiligung, 290 zeigt er in der MS, dass es „subjektive Bedingungen der Empfänglichkeit für den Pflichtbegriff“ gibt, die jeder Mensch als moralisches Wesen ohnehin hat und deren Kultivierung geboten ist. 291 Kants moralphilosophische Ideen, die er in der GMS begründet hat, waren somit einer Weiterentwicklung, Modifizierung und Konkretisierung unterworfen, weshalb die Grundlegungsschrift keineswegs den Abschluss seiner Ethik darstellt. 292 Insgesamt wird mit einer Berücksichtigung der MS bei den nachfolgenden Untersuchungen nicht nur der seit etwa einer Dekade erfolgten Rehabilitierung und Neubewertung Rechnung getragen, die ihrem langwierigen Schattendasein gegenüber der Grundlegungsschrift ein Ende bereitet hat. 293 Ihre Bezugnahme wird auch für die Zielsetzung einer Begründung der Transparenznorm angesichts der vorgestellten Kriteriologie als äußerst gewinnbringend angesehen. Hingegen bleiben die Ausführungen in der „Kritik der praktischen Vernunft“ (KpV) weitgehend unbe- 287 Vgl. die Anmerkungen zur Rechtslehre in Kap. 4.3.2.1. 288 Diese Kritik findet sich z.B. bei Patzig (1971, 58) und Scheler (1980, 52ff.). 289 Höffe (2000a, 172) spricht von einer „substantiellen Sittlichkeit“, die Kant in der MS entfaltet. Der Formalismus-Vorwurf trifft laut Esser (2004, 242f.) nur dann zu, wenn man die Weiterentwicklung und Konkretisierung der GMS-Ideen in der Tugendlehre der MS nicht in Betracht zieht. 290 Der locus classicus der Rationalismus-Kritik ist Friedrich Schiller, Xenien, der bereits 1796 schreibt: „Gerne dien ich den Freunden, doch thu ich es leider mit Neigung, Und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin.“ Die gleiche argumentative Stoßrichtung im modernen Gewand verfolgt z.B. McDowell (1997, 155). 291 MS TL A35. Demzufolge sind Allison (1990, 107ff.), Baron (1995, 117ff.) u.a. der Auffassung, dass ein Handeln aus Pflicht nicht einem Handeln mit Neigung widerspricht, sofern die Neigung nicht Teil des Grundes der Handlung ist. 292 Besagt der Titel der GMS, dass es sich um eine Vorbereitung der MS handelt, halten Wood (2002) und Baron (2004, 86) letztere für die endgültige Form der Ethik Kants. 293 Kennzeichnend für die Neubewertung der MS sind Versuche einer Gesamtinterpretation der Moralphilosophie Kants (vgl. Steigleder 2002b), sowie die erstmals unternommene durchgängige Kommentierung der Tugendlehre (vgl. Trampota u.a. 2013). <?page no="284"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 280 rücksichtigt, da sie keinen wesentlichen argumentativen Zugewinn gegenüber der GMS und MS darstellen. 294 Auch der umstrittene Aufsatz „Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen“ (sog. Lügenaufsatz) findet lediglich in den Anmerkungen Einzug, da Kant darin eine spezielle (vernunft-)rechtliche und eben keine moralische Argumentation entwickelt. 295 Nichtsdestoweniger entspricht Kant mit den verschiedenen Begründungsansätzen, die er in seinen Schriften entwickelt, seiner komplexen Anthropologie, derzufolge der Mensch nicht nur ein individuelles Vernunft- und Naturwesen, sondern auch ein Sozialwesen ist, und stellt jedem Handelnden bei Rückgriff auf verschiedene Typen von Täuschungshandlungen (Versprechensbeugung, Vertragsbruch etc.) exemplarische Argumente für unterschiedliche Situationen zur Verfügung. Wir beginnen mit der Argumentation Kants in der GMS, in der er das Verbot des „lügenhaften Versprechens“ sowohl mithilfe der Universalisierungsals auch mit der Selbstzweckformel begründet (4.3.1.). Lassen sich aus der GMS hauptsächlich Argumente für die Begründung der Verbotsnorm intransparenter Sprechakte (ITV B ) gewinnen, wird anschließend die MS untersucht, inwieweit sich dort Argumente für die Legitimierung des biomedizinischen Transparenzgebots (TG B ) finden lassen. In Anlehnung an den Aufbau dieser Schrift werden zunächst einschlägige Passagen der Rechtslehre, sodann der Tugendlehre analysiert (4.3.2.). 4.3.1. Begründung der Transparenznorm anhand der Grundlegungsschrift 4.3.1.1. Begründung mithilfe der Universalisierungsformel In der GMS begründet Kant den kategorischen Imperativ (kI) als formales, universalgültiges Prinzip und ernennt ihn zum höchsten objektiven Beurteilungskriterium für moralische Handlungen: „[H]andle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“ 296 Auf der Suche nach uneingeschränkter, kategorischer Gültigkeit moralischer Forderung lässt Kant sich von der Idee leiten, dass material- 294 Damit soll der Stellenwert der zweiten Kritik innerhalb der Kantischen Moralphilosophie keineswegs bestritten werden. Nach Höffe (2002a, 1) ist sie gegenüber der Grundlegungsschrift „in der Problemstellung klarer, in der Begrifflichkeit genauer und im Gedankengang zupackender.“ Irrlitz (2010, 316) honoriert sie als „das in der Darstellungsweise gelungenste der Hauptwerke Kants“. 295 Dies bemerken z.B. Annen (1997, 99f.), Esser (2004, 259f.) und Wagner (1978, 96) nachdrücklich. Im Lügenaufsatz wendet sich Kant gegen die neuzeitliche (z.B. von Grotius und Pufendorf vertretene) Auffassung, die Wahrhaftigkeitspflicht vom Recht des Gesprächspartners abhängig zu machen, die Wahrheit zu erfahren. Vielmehr sei ihre Geltung eine „unbedingte Pflicht, die in allen Verhältnissen gilt“ (A 311). 296 GMS BA 52; eine ähnliche Formulierung findet sich in der MS RL AB 26. <?page no="285"?> 4.3. Eine Begründung mithilfe der Kantischen Moralphilosophie 281 inhaltliche Bestimmungen von Handlungen stets nur subjektive Verbindlichkeiten nach sich ziehen. Der kI enthält daher keinen bestimmten Inhalt, sondern lediglich die Form eines allgemeinen Gesetzes als Kriterium der Beurteilung von Handlungen. 297 In einer Fokussierung auf die der Handlung zugrunde liegenden Maxime muss sich der Handelnde fragen, ob die subjektive Handlungsregel Allgemeingültigkeit beanspruchen kann, d.h. ob es möglich ist, sie allen anderen Handelnden vorzuschreiben. Angesichts der dezidierten Bezugnahme Kants auf Maximen stellt sich die Frage, ob die vorgelegte Transparenznorm überhaupt mithilfe des kI begründet werden kann. 298 Die Beantwortung der Frage hängt wesentlich von einer Verhältnisbestimmung zwischen Maximen und Normen ab. Kant versteht unter Maximen subjektive (Lebens-)Grundsätze des Handelns, die eine allgemeine Bestimmung des Willens enthalten und mehrere praktische Regeln (z.B. Normen) unter sich haben. 299 Wenn Maximen als generelle praktische Grundsätze bestimmte Normen nach sich ziehen, ist der Umkehrschluss zulässig, dass Normen auf allgemeine Maxime verweisen. Sofern also die übergeordneten Maximen von Handlungsnormen identifiziert werden können, wird hier der Standpunkt vertreten, dass Normen einer Überprüfung an der Grundform des kI zugänglich sind. Wenden wir uns zunächst dem biomedizinischen Transparenzgebot (TG B ) zu, welches lautet: „Ermögliche formellen und inhaltlichen Zugang zu relevanten biomedizinischen Informationen (z.B. wissenschaftliche Ergebnisse), indem sie wahrheitsgemäß und vollständig sowie verständlich und sprachlich angemessen dargestellt werden. Zu ihrem Verständnis notwendige Hintergrundinformationen sind zu explizieren und zu erläutern! “. Als zugrunde liegende Maxime lässt sich diejenige der Hilfsbereitschaft in Notsituationen identifizieren: Ein Transparenzvermittler hilft einem Transparenzsuchenden in einer Entscheidungssituation durch die Bereitstellung relevanter Informationen. In dieser Lesart stellt das Transparenzgebot eine situative Explikation der Maxime der Hilfsbereitschaft dar, die für wissenschaftliche Transparenzvermittler bei Experten-Laien-Interaktionen gilt. 300 Die Ent- 297 Nach Kant GMS BA 43 betrifft der kI „nicht die Materie der Handlung und das, was aus ihr erfolgen soll, sondern die Form und das Prinzip, woraus sie selbst folgt, und das Wesentlich-Gute der selben besteht in der Gesinnung, der Erfolg mag sein, welcher er wolle.“ In einer klassischen Studie folgert Anderson (1921, 302) daher radikal, dass die formale Natur des kI seine ganze Substanz ist. 298 Höffe (2000a, 187f.) charakterisiert die Kantische Ethiktheorie eindeutig als „Maximenethik“ und macht deren Vorzüge und Überlegenheit gegenüber einer „Regel- und Normenethik“ plausibel. 299 KpV A 35, §1. 300 Vgl. nochmals Höffe (2000a, 187): „Die Maximen stellen für einen ganzen Lebensbereich, etwa für alle Arten von Notsituationen, das leitende Beurteilungsprinzip auf […]. In den Handlungsregeln, die unter eine Maxime fallen, wird dagegen das Beurteilungsprinzip mit regelmäßig wiederkehrenden Situationsarten […] vermittelt. […] <?page no="286"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 282 scheidung, ob es sich bei dem Transparenzgebot um ein begründetes moralisches Gebot handelt, richtet sich nach der vernünftigen, widerspruchsfreien Verallgemeinerbarkeit ihrer Maxime zu einem gleichlautenden, für alle Akteure unausweichlich geltendem Gesetz. Da sich die Maxime der Hilfsbereitschaft in Notsituationen vernünftigerweise zum allgemeinen Gesetz universalisieren lässt, scheint die Begründung des Transparenzgebots mittels einer Deduktion aus dem kI an dieser Stelle erfolgreich abgeschlossen zu sein. Dieser schnelle argumentative Erfolg wird allerdings durch den verbreiteten Einwand getrübt, der kI sei ein bloßes Abwehrkriterium für unmoralische Handlungen, das die Begründung von Ver-, aber nicht von Geboten erlaubt: 301 Bei einer unmöglichen Verallgemeinerung der handlungsleitenden Maximen zum Gesetz seien die entsprechenden Handlungen verboten bzw. Verbote solcher Handlungen legitim, während eine mögliche Verallgemeinerbarkeit allenfalls zur moralischen Zulässigkeit einer Handlung qualifiziere. Dieser Einwand wird durch die Beobachtung gestützt, dass Kant bei seinen Beispielen in der GMS sowie in anderen Schriften negative Unterlassungspflichten (Lügenverbot) begründet, aber nicht den eigenständigen Nachweis einer positiven moralischen Begehungspflicht (Gebot der Wahrhaftigkeit) durchführt. 302 Folgte man der reduktionistischen Interpretation, ließe sich mit dem kI zwar nicht der Gebotscharakter von TG B erfassen, aber zweifellos das Verbot intransparenter Sprechakte (ITV B ) mit dem Wortlaut „Verheimliche und verschleiere keine relevanten biomedizinischen Informationen (z.B. wissenschaftliche Ergebnisse) und zu ihrem Verständnis notwendige Hintergrundinformationen! “ begründen. Dem gegenüber lässt der Wortlaut des kI erfreulicherweise auch eine andere Interpretation zu: Durch den einleitenden Imperativ „[H]andle […]“ ist der Gebotscharakter von legitimierten Handlungen nicht zu übersehen. Kant bedient sich bei einer Begründung von Geboten häufiger der Argumentation e contrario, um aus der Blickrichtung des Verstoßes gegen ein Gebot den Nachweis einer Unterlassungspflicht durchzuführen und von dort aus auf die Legitimität einer Begehungspflicht zu schließen. 303 Die strikte Lesart ist außerdem in Bezug auf den mit dem kI un- Je nach der Situation und den Fähigkeiten des Handelnden fallen die praktischen Regeln verschieden aus, auch wenn sie derselben Maxime folgen“. 301 Vgl. Schönecker/ Wood (2004, 138) für den genannten Einwand. Etwa Esser (2004, 261) schließt sich diesem Argument an, um den Rigorismus Kants abzumildern; denn wenngleich der kI ein Lügenverbot begründet, fordere er nicht dazu auf, die eigenen Gedanken ungeprüft und unmittelbar auszusprechen. 302 Vgl. GMS BA 53, sowie die später erläuterte Stelle in der MS TL A 85. 303 Höffe (2000b, 219f.) zeigt aufschlussreich, dass sich Kant bei seiner Argumentation in der GMS auf zugespitzte Beispiele bezieht, die eine Gegenüberstellung von Pflicht und Neigung bzw. positiver Leistung und Verbot ermöglichen: „Weil hier, auf der <?page no="287"?> 4.3. Eine Begründung mithilfe der Kantischen Moralphilosophie 283 trennbar verbundenen Pflichtbegriff, den Kant in toto sowohl auf die Erfüllung von Verals auch Geboten bezieht, wenig plausibel. Etwa in der MS leitet er aus dem kI Handlungstypen ab, die er als moralisch geboten ansieht und deren Erfüllung positive Tugendpflichten darstellen. Die Begründung des Transparenzgebots ist demzufolge mit Überlegungen Kants gedeckt, die an anderer Stelle ausführlicher thematisiert werden. 304 Im Nachfolgenden wird den reduktionistischen Interpreten des kIs entgegengekommen und zunächst eine Begründung der Unterlassungspflicht intransparenter Sprechakte (ITV B ) unternommen, bevor sich spätestens im Kapitel zur Kantischen Tugendlehre erneut der Gebotspflicht (TG B ) zugewandt wird. Nutzt man also den kI lediglich zur Begründung des Verbots intransparenter Informierungen, können zwei wichtige Momente der oben genannten „Universalisierungsformel“ genannt werden: Die generellen, subjektiven Handlungsgrundsätze (Maximen), die die einzelnen Handlungen leiten, und die „Idee des allgemeinen Gesetzes“ als objektives Vernunftkriterium, an der diese subjektiven Handlungsgrundsätzen geprüft werden. 305 Bezüglich letzterer unterscheidet Kant zwei Typen des Universalisierungstests: 306 Der Test auf Widerspruchsfreiheit der verallgemeinerten Maxime im Denken besteht in der Frage, ob eine Handlung so beschaffen ist, „daß ihre Maxime ohne Widerspruch […] als allgemeines Naturgesetz gedacht werden kann“, während der Test auf Widerspruchsfreiheit im Wollen danach fragt, ob es möglich ist, „zu wollen, dass ihre Maxime zur Allgemeinheit eines Naturgesetzes erhoben werde“, ohne dass „ein solcher Wille sich selbst widersprechen würde“. Während alle Handlungsmaximen nach dem Test auf Widerspruchsfreiheit im Wollen zu beurteilen sind, zeigen einige Handlungsmaximen bei einer Verallgemeinerung bereits den genannten logischen Widerspruch im Denken, weshalb der allgemeinere Ebene der Grundsätze, jede mittlere Lösung zwischen Moral und bloßem Selbstinteresse fehlt, ist der kI nicht nur direkt ein Kriterium für moralische Verbote und indirekt - wegen deren modallogischen Äquivalenz von ‚nicht verboten‘ mit ‚erlaubt‘ - ein Maß für moralische Erlaubnisse. Wegen der strengen Disjunktion der alternativen Handlungsmöglichkeiten […] ist er ein Kriterium auch für moralische Gebote. Je nach Perspektive sind deshalb nicht bloß die unvollkommenen, sondern auch die vollkommenen Pflichten ‚Begehungspflichten‘“. (220) 304 Vgl. hierzu Kap. 4.3.2.2. 305 Zur Unterscheidung und Erörterung der zwei wesentlichen Aspekte des kI, vgl. z.B. Höffe 2000a, 186ff; ders. 2004, 252ff. 306 Beide Testtypen, die Kant den beiden Pflichtenklassen (vollkommen - unvollkommen) zuordnet, finden sich in der GMS BA 57 und werden weiter unten ausführlicher erläutert. Für eine Erläuterung der beiden Testtypen mit der Frage nach der Widerspruchsfreiheit im Denken bzw. im Wollen, vgl. Höffe (2000a, 192) und Schönecker/ Wood (2004, 136f.). Letztere zeigen exemplarisch die Grenzen des Universalisierungstests, sofern bestimmte Handlungen, die konsensuell für verboten gehalten werden, durch den Universalisierungstest legitimiert werden sowie vice versa. <?page no="288"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 284 Wollenstest entfallen kann. 307 Bei einer Anwendung des Universalisierungstests auf Sprechhandlungen, die einen Verstoß gegen die Transparenznorm darstellen, muss zunächst die zugrunde liegende Maxime identifiziert werden, bevor ihre Verallgemeinerung im Denken bzw. Wollen auf die Probe gestellt wird. Nehmen wir exemplarisch die Intransparenzmaxime „Verheimliche bzw. verschleiere wissenschaftliche Informationen, sofern es deinem persönlichen Interesse dient! “, die ein biomedizinischer Experte in einer Beratungssituation voraussetzen könnte. Eine solche subjektive Handlungsregel würde bereits zu einem Widerspruch im Denken führen, wie die analoge Argumentation Kants bezüglich des „lügenhaften Versprechens“ zeigt. 308 In diesem Beispiel stellt sich eine notleidende Person, bei ihrem Versuch an Geld zu kommen, die Frage, ob sie das Versprechen geben darf, Geld zu einer bestimmten Zeit zurückzuerstatten, obwohl sie weiß, dass sie ein solches Versprechen nicht einhalten kann. Bei Überprüfung der Maxime kommt Kant zu folgendem Urteil: „Denn die Allgemeinheit eines Gesetzes, daß jeder, nachdem er in Not zu sein glaubt, versprechen könne, was ihm einfällt, mit dem Vorsatz, es nicht zu halten, würde das Versprechen und den Zweck, den man damit haben mag, selbst unmöglich machen, indem niemand glauben würde, daß ihm was versprochen sei, sondern über alle solche Äußerung, als eitles Vorgeben, lachen würde.“ 309 Wenngleich diese vieldeutige Stelle offen lässt, ob der darin beschriebene Widerspruch im Denken bei einer empirischen Folgenanalyse feststellbar ist, muss eine solche Interpretation vor dem Hintergrund der transzendentalen Programmatik Kants ausgeschlossen werden. Statt dessen handelt es sich um einen vorempirischen Widerspruch, der bei einer Prüfung der Maxime auffindbar ist und sich wie folgt rekonstruieren lässt: 310 Ein erfolgreiches lügenhaftes Versprechen setzt die Annahme voraus, dass der Andere 307 Vgl. auch hierzu GMS BA 57. 308 „Lügenhaftes Versprechen“ wird als ein Beispiel für weitere Fälle sprachlichen Täuschungshandelns (u.a. Intransparenz) betrachtet. Etwa Höffe (2000a, 193; 2000b, 208ff.) und Schönecker/ Wood (2004, 134f.) identifizieren die Argumente, die Kant für ein Verbot lügenhafter Versprechen vorbringt, als Exempel für eine Schadenslüge bzw. Täuschung. Dietz (2000, 139f.) ist zwar recht zu geben, dass (lügenhaftes) Versprechen und Behaupten zwei verschiedene Sprechakttypen sind, doch da es um die zugrunde liegende Maxime und die erstmalige Einführung des Universalisierungstest auf Widerspruchsfreiheit im Denken geht, steht einer Applikation der Argumentation weder auf die Lügennoch der Transparenzproblematik etwas im Weg. 309 GMS BA 54f. 310 Ich folge hierbei Schönecker/ Wood (2004, 134f.), die die Logik des Widerspruchs gelungen veranschaulichen. Höffe (2000b, 225ff.) bezieht sich hingegen auf den Verlust der Glaubwürdigkeit als „handlungsintern“ widersprüchliche Folge eines lügenhaften Versprechens bzw. an anderer Stelle (ders. 2000a, 194) auf die widersprüchliche Maxime, eine Selbstverpflichtung einzugehen und doch nicht zu übernehmen. <?page no="289"?> 4.3. Eine Begründung mithilfe der Kantischen Moralphilosophie 285 nicht darum weiß, belogen zu werden; würde nun das lügenhafte Versprechen in finanzieller Notlage zum allgemeinen Gesetze erhoben, demzufolge alle Menschen in finanziellen Notlagen ausnahmslos lügen müssten, wäre die Voraussetzung nicht erfüllbar und das falsche Versprechen in einer solchen Situation logisch unmöglich. Sofern sich die verallgemeinerte Maxime ihrer eigenen Möglichkeitsgrundlage beraubt, kann sie nicht als ein allgemeines Gesetz gedacht werden und ist nach der Kantischen Argumentation als unmoralisch anzusehen. Appliziert man den Gedankengang auf intransparente Sprechakte als bestimmten Typus der vorsätzlichen Täuschung, ergibt sich folgendes Bild: 311 Intransparenz im Sinne der strategischen Verheimlichung oder Verschleierung von Informationen ist nur unter der Voraussetzung möglich, dass der Rezipient nicht darum weiß, dass der Sprecher Informationen verheimlicht oder verschleiert, da er andernfalls die Informationen anzweifeln würde. Würde man die Maxime der zweckdienlichen Intransparenz zum allgemeinen Gesetz erheben, so dass alle Sprecher immer dann Informationen verheimlichten, wenn es dem eigenen Zweck diente, wäre Intransparenz zumindest in Situationen logisch nicht mehr möglich, in denen Rezipienten Grund zur Annahme hätten, der Sprecher verfolgte bei einer Aussage eigene Interessen. In gegebener Situation würde kein Rezipient mehr die Wahrhaftigkeit des Sprechers voraussetzen, wodurch dieser nicht mehr seine gesetzten Ziele durch eine intransparente Informierung verwirklichen könnte. Diese Überlegung lässt sich mit dem Zusatzargument stärken, dass ein Rezipient nicht erkennen kann, wann ein Sprecher eigene Interessen verfolgt. Die Kenntnis einer solchen Maxime, deren situative Bedingung nicht oder nur schwer feststellbar ist, reichte dann aus, um jede Behauptung von Kommunikationsteilnehmern zu beargwöhnen. Auf einer schiefen Ebene würde demzufolge eine Spirale des Misstrauens entstehen, 312 die zu einer permanenten Kontrolle der Behauptungen, also schließlich zu einem Verlust der gesamten Kommunikationsbasis führte. Nach der genannten Argumentation lässt sich eine Maxime der Intransparenz als allgemeines Gesetz nicht einmal logisch denken, weshalb die damit verbundene Handlung moralisch verwerflich ist. Demzufolge kann mithilfe des obersten Moralprinzips ein Verbot von intransparenten Sprechhandlungen im Rahmen einer biomedizinischen Aufklärung (ITV B ) begründet werden. Die Befolgung dieses Verbots stellt 311 Vgl. hierzu nochmals Kap. 2.5.2., in dem Intransparenz als eine Form des „sprachlichen Täuschungshandelns“ charakterisiert wurde. O’Neill (2002a, 98f.) subsumiert unter der unmoralischen Maxime der Täuschung verschiedene Handlungstypen, wie z.B. Lüge, falsches Versprechen, Fälschen, Manipulation, Plagiat etc. 312 Vgl. z.B. Kleber (1991), der das Argument der „schiefen Ebene“ in dieser Konsequenz für die Kommunikationsgemeinschaft vorträgt. <?page no="290"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 286 dabei - wie es Kant z.B. beim Verbot des lügenhaften Versprechens formuliert - eine „vollkommene Pflicht gegen andere“ dar. 313 Es stellt sich die Frage, ob mit dieser Argumentation sämtliche intransparenten Sprechhandlungen kategorisch verboten oder Ausnahmen unter bestimmten Bedingungen zulässig sind. Ähnlich wie beim strikten Lügenverbot würde ein absolutes Verbot von Intransparenz zu problematischen Konsequenzen führen. Das Zurückhalten von Informationen zur Abwehr von Gefahren wäre ebenso moralisch unzulässig, wie im Falle des Selbst- oder Fremdschutzes. Statt dessen würde ein moralischer „Zwang zur persönlichen Preisgabe oder Rücksichtslosigkeit gegen andere“ bestehen. 314 Die Suche nach Möglichkeiten, einen Transparenzrigorismus infolge der Kantischen Theoriewahl abzuwenden, stellt somit eine dringliche Aufgabe dar. Wie bereits erwähnt beziehe ich mich im Folgenden auf die Überlegungen von Simone Dietz, die zur Lösung des erläuterten Problems die Fragestellung entscheidend modifiziert: Ist Kant überhaupt in der Lage, eine rigoristisches Täuschungsverbot innerhalb seiner Deontologie plausibel zu begründen? Ein erster Anknüpfungspunkt ist die Feststellung, dass die Bewertung einer Handlung mithilfe des kIs von der eindeutigen Identifikation der Maxime abhängt. Wie Dietz überzeugend darlegt, gibt der kI durch die konstitutive Bezugnahme auf handlungsleitende Maximen im Grunde keine Antwort auf die generelle Frage, ob man intransparente Informationen vermitteln dürfe. 315 Zur Begründung eines absoluten Intransparenzverbots müsste hingegen eine Maxime gefunden werden, die jedem intransparenten Sprechakt zugrunde liegt - was sie als ein schwieriges Unternehmen kennzeichnet. Eine allgemeine Maxime ohne Einbeziehung situationeneinschränkender Bedingungen, wie z.B. „Ich werde immer Informationen verschleiern und verbergen“, sei für sich genommen sinnlos und irrational, 316 während eine allgemeine Maxime unter Einbeziehung einschränkender Bedingungen das Programm der Begründung eines strikten Verbots zerstört. 317 Wenn im Falle der intransparenten Sprechhandlung 313 Vgl. GMS BA 53. Verhandelt Kant das Lügenverbot in der Tugendlehre hingegen als „vollkommene Pflicht gegen sich selbst“ (vgl. Kap. 4.3.2.2.), ist hierin eine multiperspektivische Konvergenzargumentation zugunsten eines Lügenverbots zu sehen. 314 Dietz (2000, 209). 315 Vgl. dies. (2002b, 106); ähnlicher Auffassung ist Hill (2008, 39f.). 316 Wie Dietz (2002b, 107) zeigt, stellt sich kein Handlungssubjekt aus Klugheitsüberlegungen heraus eine solche Maxime vor, da es die Glaubwürdigkeit zerstören könnte. 317 Auch Kant benennt bei der Diskussion des lügenhaften Versprechens keine situationsunabhängige allgemeine Maxime, sondern die „Maxime (mich durch ein unwahres Versprechen aus Verlegenheit zu ziehen)“ (BA18) bzw. die Maxime „wenn ich mich in Geldnot zu sein glaube, so will ich Geld borgen, und versprechen, es zu bezahlen, ob ich gleich weiß, es werde niemals geschehen“ (BA 54). Belegt der jeweils anschließende Test, dass die Ausnahme von der Regel unmöglich denkbar ist, ergibt sich lediglich unter den genannten Bedingungen eine strenge Unterlassungspflicht. <?page no="291"?> 4.3. Eine Begründung mithilfe der Kantischen Moralphilosophie 287 beispielsweise die Maxime vorausgesetzt wird „Verheimliche bzw. verschleiere Informationen, sofern es deinem persönlichen Interesse dient! “, hat man es mit einer Maxime zu tun, die eben keine rigorose Intransparenz in jeder Gesprächssituation von einem Kommunikator abverlangt, sondern „nur“ unter der Voraussetzung des Eigennutzens. Räumt man ein, dass intransparente Machenschaften aufgrund der vielfältigen zugrunde liegenden Maximen keineswegs per se evaluierbar sind, scheint allerdings noch nicht viel gewonnen worden zu sein. Denn situationsspezifische Maximen bei intransparenten Äußerungen werden vermutlich allesamt auf Grundlage des Verallgemeinerungstests als unmoralisch zu disqualifizieren sein. 318 Wie sich unschwer zeigen lässt, führen selbst Maximen mit gutgemeinter Intention, wie z.B. „Ich werde genau dann Informationen verschleiern und verbergen, wenn dies Menschenleben rettet“, zu einem Widerspruch im Denken, sofern der Rezipient im Falle eines allgemeinen und bekannten Gesetzes der intransparenten Information keinen Glauben schenken kann. Doch genau hiergegen wendet Dietz ein, dass der Widerspruch im Denken erst vor dem Hintergrund einer von Kant vorausgesetzten, aber umstrittenen „Moralisierung der Sprache“ erklärbar ist. 319 Ein Widerspruch im Denken entstünde nur dann, wenn der grundlegende Sprechakt der Behauptung im Sinne einer moralisch bindenden Institution an eine Wahrhaftigkeitspflicht geknüpft ist, was Dietz allerdings anfechtet. 320 Falls Behauptungen eben nicht als moralisch gehaltvolle Sprechakte gelten, die den Sprecher auf Wahrhaftigkeit verpflichten, sondern als rationale Handlungsweisen, die bestimmten Funktionsnormen unterliegen und verschiedenen sekundären Zwecken dienen, dann könnte das Universalisierungsverfahren des kI keine grundsätzliche Unzulässigkeit intransparenter Äuße- 318 Vgl. O’Neill (2002a), die von den als unmoralisch nachgewiesenen Maximen, andere zu zwingen (86ff.) bzw. zu täuschen (98ff.) auf folgende Regel schließt: „[A]ny principle of action whose universal adoption would destroy, damage or undermine capacities for action for some […] cannot be willed as a universal law. The rejection of principles that cannot be principles for all is, on Kant’s view, the basis of human duty.“ (88) 319 Etwa in der Tugendlehre der MS A 84, die an anderer Stelle ausführlicher besprochen wird, vertritt Kant die These einer natürlichen Teleologie bzw. Zweckhaftigkeit des Sprachgebrauchs. 320 Das von Dietz (2002b, 109) angeführte Argument, die Redewendung, „sie behauptet, dass“ drücke „gerade aus, daß es sich um eine ‚bloße‘ Behauptung handelt, von der nicht sicher ist, ob sie wirklich zutrifft“, ist eher unglücklich gewählt, da es auf irrtümliche und nicht auf absichtliche Unwahrheit verweist. Plausibler ist ihre Beanstandung gegenüber der Auffassung, Wahrhaftigkeit sei eine konstitutive Sprachregel: Diese könne nicht erklären, weshalb gelegentliche Abweichungen von der Wahrhaftigkeitspflicht zu keinem Misserfolg der Kommunikation führten, es sei denn man erhöbe sprachliche Täuschungen zu „Parasiten“ der Sprache (vgl. z.B. Habermas). <?page no="292"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 288 rung erweisen. 321 Folgt man dieser Kritik, ergibt sich ein Verbot der Intransparenz nicht aus dem Universalisierungstest des kI, sondern aus der Voraussetzung einer moralischen Verpflichtung. 322 Doch selbst bei Akzeptanz der umstrittenen Prämisse eines moralischen Sprachkonzeptes versucht Dietz zu zeigen, dass nicht jeder intransparente Sprechakt (bzw. die Maxime bei einer Verallgemeinerung zum Gesetz) zu einem Widerspruch im Denken führen muss und daher verboten ist. Gemäß ihrem Haupteinwand hat nicht jede wahrheitswidrige Einzelaussage, die eine Ausnahme von der Regel darstellt, die Kraft, das Fundament einer wahrheitsgemäßen Kommunikation zu zerstören. Ihrer Meinung nach ist es „keineswegs zwingend, daß der Anspruch auf Wahrheitsgeltung seinen Sinn verlöre, wenn mit der Zuverlässigkeit eines Naturgesetzes jeder Handelnde unter Zweckmäßigkeitserwartungen für vorsätzlich unwahre Aussagen Wahrheitsgeltung beanspruchen würde. Denn damit steht ja nicht notwendig schon hinter jedem Anspruch auf Wahrheitsgeltung vorsätzliche Unwahrheit, auch nicht hinter fast jedem, und auch nicht einmal hinter den meisten Wahrheitsansprüchen. Erst dann aber würde sich der Sinn des Wahrheitsanspruchs in sein Gegenteil verkehren und die Unterscheidung zwischen wahr und unwahr ad absurdum führen.“ 323 Selbst unter der Bedingung einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit der Maxime wären Behauptungen nicht zwangsläufig als intransparente Sprechakte erkennbar und daher sinnlos. 324 Der von Kant vorgetragene Einwand, eine zum allgemeinen Gesetz erhobene Ausnahme würde die Allgemeingültigkeit des jeweiligen Sprechaktes (z.B. des Behauptens, des Versprechens) angreifen und daher zu einem Denkwiderspruch führen, wird dadurch haltlos. 325 Dietz’ Argumentation ist allerdings nur unter der kontingenten und empirisch widerlegbaren Voraussetzung gültig, dass bei fallweisen Intransparenzen keine „schiefe Ebene“ entsteht 326 bzw. die Adressaten die Wahr- 321 Vgl. dies. (2000, 142f.). Etwa Meerloo (1978) stellt die These auf, dass Wahrhaftigkeit und Täuschung zur Funktion der Sprache gehören, um interpersonale Nähe und Distanz zu regulieren. 322 Vgl. Dietz (2000, 145). 323 Ebd., 141f. 324 Vgl. ebd., 142. 325 Bezüglich der Frage, „darf ich, wenn ich im Gedränge bin, nicht ein Versprechen tun, in der Absicht, es nicht zu halten? “ erläutert Kant GMS BA 19: „So werde ich bald inne, daß ich zwar die Lüge, aber ein allgemeines Gesetz zu lügen gar nicht wollen könne; denn nach einem solchen würde es eigentlich gar kein Versprechen geben“. 326 Für Höffe (2000a, 194) handelt es sich bei der Zuhilfenahme einer empirischen Folgenanalyse um keinen logischen Widerspruch; auf einen solchen stoße man erst, „wenn man sich auf Kants rationale Intention einlässt und nicht mehr auf die (widrigen oder wünschenswerten) Folgen, sondern allein auf die Maxime selbst achtet“. Dieser berechtigte Einwand kann mit dem Hinweis ausgeräumt werden, dass auch <?page no="293"?> 4.3. Eine Begründung mithilfe der Kantischen Moralphilosophie 289 heit der Aussagen unabhängig von den Angaben des Sprechers beurteilen können. 327 Gerade letztere Voraussetzung trifft nicht bei asymmetrischen Kommunikationssituationen (z.B. Experten-Laien-Interaktionen) zu, die in dieser Arbeit im Mittelpunkt stehen. Doch abgesehen von diesem spezifischen Problem kann Dietz prinzipiell zeigen, dass definierte Ausnahmen einer allgemein akzeptierten Regel (z.B. des Verbots von Intransparenz) bei einer Verallgemeinerung nicht zu einem Widerspruch im Denken führen. Da die allgemeine Befolgung von situationsbeschränkten Maximen keine willkürliche Lizenz zum Verstoß eines Intransparenzverbots beinhaltet, sind sie mit dem Universalisierungspostulat der Kantischen Ethik vereinbar. 328 Damit sind die Überlegungen allerdings noch nicht abgeschlossen. Um sicherzugehen, dass es sich bei den konkreten Ausnahmen um „moralische“ Einzelfälle handelt, müssen diese zusätzlich dem Verallgemeinerungstest auf Widerspruchsfreiheit im Wollen unterzogen werden. 329 Die Testfrage besteht darin, ob die zugrunde liegenden Maximen bei einer Verallgemeinerung zum „Natur“gesetz dem idealen Gesetz widerspricht, welches sich jeder vernünftige Wille unter Absehung aller subjektiven Interessen und Neigungen vorstellen würde. 330 Da z.B. die handlungsleitende Maxime „Ich werde immer dann Informationen verschleiern und verbergen, wenn ich dadurch Schaden an Dritte abwenden kann“ den Test auf Widerspruchsfreiheit im Wollen durchaus besteht, ist eine intransparente Sprechhandlung von einem Wissenschaftler moralisch zulässig, sofern er berechtigten Grund zur Annahme hat, seine Forschungsergebnisse könnten missbraucht werden. 331 Ein klarer Widerspruch zum allgemeinen Gesetz besteht hingegen, wenn sich derselbe Wissenschaftler der Maxime unterstellt, biomedizinische Informationen zu verheimlichen und zu verschleiern, die Gesundheitsrisiken von Innovationen darstellen. Angesichts der Frage, ob man es vernünftigerweise wollen kann, dass alle Menschen in einer derartigen Situation bestimmte Ergebnisse verheimlichen oder verschleiern, ist Dietz nun zu folgender Verallgemeinerung in der Lage: Ausnahmen vom Verbot intransparenter Äußerung sind immer dann berechtigt, wenn diese dem Wohle anderer dienen; wenn der Sprecher hingegen Kant für die Feststellung eines Widerspruchs auf logischer Ebene empirische Bedingungen voraussetzt, z.B. dass jemand bei Kenntnis eines lügenhaften Versprechens dieses Versprechen nicht annimmt. 327 Letzen Punkt betont auch Dietz (2000, 142). 328 Dieser Auffassung ist etwa auch Schockenhoff (2005, 127). 329 Vgl. Dietz (2000, 139, Anm. 35; 2002b, 108). 330 Vgl. die Erläuterungen von Höffe (2000a, 192), der einräumt, das genaue Verständnis des Kriteriums Nichtwollenkönnen bereite „keine geringen Schwierigkeiten“. 331 Vgl. die dual use-Problematik, d.h. die Missbrauchsmöglichkeit nützlicher Forschungsergebnisse (z.B. der Bakterienforschung zur Entwicklung biologischer Angriffswaffen), die in der Literatur (z.B. European Commission 2010, 157ff.) zunehmend diskutiert wird. <?page no="294"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 290 die Schädigung Anderer zum eigenen Vorteil beabsichtigt oder diese zumindest in Kauf nimmt, erwirkt er keine Dispensierung vom Verbot intransparenter Sprechakte. 332 Angesichts verschiedenster moralischer Zwecke - etwa, um den Adressaten oder unbeteiligte Dritte zu schützen, die Privatsphäre zu wahren etc. - ergibt sich ein Katalog möglicher Ausnahmeregelungen vom Verbot intransparenter Äußerungen. Im Unterschied zu „klar definierten Ausnahmeregelungen“, die nicht zur Aufweichung einer allgemein akzeptierten Regel führen, sieht sie hingegen „willkürliche Ausnahmen von dieser Regel“ als verwerflich an, da sie die allgemeine Geltung der Regel und die Verlässlichkeit des Sprechaktes unterminieren. 333 Eine solche willkürliche Ausnahme besteht bei der bereits diskutierten Maxime „Ich werde immer dann Informationen verheimlichen oder verschleiern, wenn es mir nützlich erscheint“. Als Zwischenergebnis konnten bisher das Verbot intransparenter Sprechakte (ITV B ) bei Interaktionen zwischen biomedizinischen Experten und Laien begründet, sowie Einfallstore in der Kantischen Argumentation identifiziert werden, die eine rigoristische Interpretation der Verbotspflicht untergraben. Intransparente Sprechakte können unterschiedlichen Zwecken dienen, was deren einheitliche moralische Evaluierung verhindert. 334 Es ist allerdings einzuräumen, dass die Verteidigung einer solchen Lesart bestimmter Textpassagen gegenüber der unzweifelbar rigoristischen Gesamtintention Kants schwerfällt. 335 Selbst wenn intransparente Sprechakte unterschiedlichen Zwecken dienen, ist noch nicht die Frage nach der moralischen Zulässigkeit der auf den Adressaten gerichteten Täuschungsabsicht beantwortet. Wir haben gesehen, dass es sich bei der Täuschungsabsicht um eine Konstante in den untersuchten lügenhaften Sprachformen handelt. Falls diese aus bestimmten Gründen per se verwerflich ist, würde daraus 332 Dietz (2000, 144). 333 Diese Argumentation findet sich bei ebd., 107f. und 139f.: „Handelt es sich dabei um eine willkürliche Ausnahme, die selbst nicht als allgemeine Regel formuliert werden kann, dann zeigt das Prüfungsverfahren des kI, daß die im allgemeinen akzeptierte Verbindlichkeit des Versprechens nur eine Verbindlichkeit für die anderen sein soll und die willkürliche Ausnahme davon ein moralisch parasitäres Verhalten ist, das nicht allen anderen gleichermaßen zugebilligt werden kann.“ (107) 334 Wie Dietz (2000, 181) plädiert Anscombe (1997, 27) für eine genauere Beschreibung der Umstände, um herauszufinden, ob einer Lüge eine moralische oder unmoralische Maxime zugrunde liegt. 335 In der GMS BA 48f. betont Kant etwa die strikte Gültigkeit des Verbots des lügenhaften Versprechens unabhängig empirischer Einschränkungen, sofern „die Notwendigkeit dieser Unterlassung nicht etwa bloße Ratgebung zur Vermeidung irgend eines andern Übels sei, so daß es etwa hieße: du sollst nicht lügenhaft versprechen, damit du nicht, wenn es offenbar wird, dich um den Kredit bringest; sondern eine Handlung dieser Art müsse für sich selbst als böse betrachtet werden, der Imperativ des Verbots sei also kategorisch“. <?page no="295"?> 4.3. Eine Begründung mithilfe der Kantischen Moralphilosophie 291 unabhängig der verfolgten sekundären Absichten ein generelles Verbot von Lüge und Intransparenz resultieren. Dies leitet zur Selbstzweckformel des kI über, auf deren Grundlage die biomedizinische Transparenznorm erneut geprüft wird. 4.3.1.2. Begründung mithilfe der Selbstzweckformel In der GMS entfaltet Kant verschiedene Formulierungen des moralischen Gesetzes, um es dem jeweiligen Rezipienten anschaulich nahezubringen. 336 Neben der sog. Universalisierungsformel des kI, die soeben erläutert wurde, findet sich die einflussreiche Selbstzweckformel: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ 337 Sofern die Selbstzweckformel dem moralischen Handeln eine inhaltliche Zweckbestimmung gibt, stellt sich die Frage, wie in einer formalen Ethik ein materialer Zweck eine positive Rolle spielen kann, der von Kant beflissentlich abgelehnt wird? Zentral für die Beantwortung dieser Frage - und für das Verständnis der Selbstzweckformel schlechthin - ist der Begriff des Willens, den Kant als ein rationales Vermögen vernünftiger Wesen bestimmt, „der Vorstellung gewisser Gesetze gemäß sich selbst zum Handeln zu bestimmen.“ 338 Bei dieser Willensbestimmung ist der Mensch fähig, sich nicht an den Eigeninteressen oder den Interessen des anderen auszurichten (Heteronomie), sondern qua „reiner praktischer Vernunft“ gerade von diesen Interessen abzusehen und Handlungszwecke zu setzen, die sich am obersten Moralprinzip, dem kI orientieren (Autonomie). 339 Um sich der Vorstellung des objektiven Gesetzes gemäß zu bestimmen, muss der Wille mit einem korrespondierenden Handlungszweck verbunden sein, der für alle Vernunftwesen gleich gelten soll. Demzufolge darf es sich nicht um einen empirischen, subjektiven bzw. relativen Zweck handeln, den der Wille verfolgt. Ein Zweck, der dem Gedanken des kI entspricht, muss vielmehr aus der reinen Vernunft entspringen und ein reiner, objektiver bzw. unbedingter Zweck - oder auch ein Zweck an sich - sein. 340 Ist für Kant dieser 336 Vgl. GMS BA 79. 337 GMS BA 66f. 338 GMS BA 63. Ich folge hierbei der Interpretation von Horn (2004, 199ff.) und Ricken (2000, 235ff.). 339 O’Neill (2002a) zeigt in einer exzellenten Analyse, dass sich das Kantische Autonomiekonzept signifikant von Autonomiebegriffen (Mill’scher Prägung) unterscheidet, die in bioethischen Diskursen vorherrschen: „Kantian autonomy is manifested in a life in which duties are met, in which there is respect for others and their rights, rather than in a life liberated from all bonds.“ (25) 340 Im Unterschied zu relativen Zwecken beschreiben für Kant GMS BA 64 absolute Zwecke bzw. Zwecke an sich ein Dasein, das notwendig für alle vernünftigen Wesen „an sich selbst einen absoluten Wert hat“. Schönecker/ Wood (2004, 141) fassen poin- <?page no="296"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 292 Zweck an sich ein materialer Gegenstand, 341 begründet er zwar einerseits eine formale Ethik, die jedes materiale, subjektive Strebensobjekt ausschließt, welches die sinnliche Triebfeder aktiviert, beschreibt aber andererseits ein materiales Objekt des Wollens, der nach Maßgabe formaler Bewegungsgründe verfolgt wird und damit einen moralischen Zweck darstellt. 342 Man hat es folglich mit zwei (von Kant nicht klar unterschiedenen) Gebrauchweisen der Antithese formal-material zu tun, die die scheinbar paradoxe Situation zu verstehen helfen. Bei der Suche nach den objektiven Zwecksetzungen des Willens kulminiert der Gedankengang Kants in der Aussage: „Nun sage ich: der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen, existiert als Zweck an sich selbst“, 343 wobei die Selbstzweckhaftigkeit aus seiner Autonomie resultiert, also der Fähigkeit, den zwecksetzenden Willen vernünftig bestimmen zu können. 344 Kommt dem Menschen als Vernunftwesen ein unbedingter Wert zu, ist dieser absolute Wert - auch Würde genannt - in jedem Handeln gegenüber anderen und gegenüber sich selbst zu berücksichtigen. Die Vernunftbegabtheit des Menschen begründet somit die Fähigkeit, aus sich heraus zwecksetzend zu sein, und zugleich den Auftrag, den daraus resultierenden Wert des Menschen im Handeln Rechnung zu tragen. 345 Dies ergeht aus der Forderung, „die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel“ zu gebrauchen. Kant versteht unter der Menschheit nicht die Zugehörigkeit zu einer biologischen Spezies, sondern das „Vermögen, sich überhaupt irgend einen Zweck zu setzen“, 346 also den intelligiblen bzw. noumenalen Charakter des Menschen. 347 Insgesamt erhält der formale kI mit der Selbstzweckformel ein apriorisches Telos, d.h. ein material-inhaltliches Handlungsobjekt (die Menschheit in jeder Person), das einerseits als Auftrag vernünftiger Zwecksetzungen (Gebote), andererseits als Begrenzung beliebiger Zwecksetzungen (Verbote) fungiert. Die offene Ausrichtung der Selbstzweckformel, die als inhaltliches Kriteritiert zusammen: „Wenn es einen kI gibt, der bestimmte Handlungen als notwendig gebietet, und wenn alle Handlungen (auch solche notwendigen Handlungen) einen Zweck verfolgen, dann muss es Zwecke geben, die von allen notwendig in ihren Handlungen verfolgt oder berücksichtigt werden müssen. Solche Zwecke sind Zwecke an sich“. 341 Nach Kant KpV A 60 „ist es freilich unleugbar, daß alles Wollen auch einen Gegenstand, mithin eine Materie haben müsse“. 342 Vgl. Horn (2004, 200) der die beiden Gebrauchsweisen Kants präzise herausarbeitet. 343 GMS BA 64. 344 Vgl. Kant, GMS, BA 79. 345 Vgl. Steigleder (2002a, 128). 346 Kant MS TL A 23. Die Selbstzweckformel lässt sich demzufolge formulieren: „Handle so, dass du die moralischen Vermögen in dir und anderen Personen achtest! “ 347 Diese Interpretation des Begriffs „Menschheit“ wird von Horn (2004, 206), Kerstein (2008, 202), Ricken (2000, 238ff.) u.a. geteilt. <?page no="297"?> 4.3. Eine Begründung mithilfe der Kantischen Moralphilosophie 293 um eine Begründung von Ge- und Verboten erlaubt, 348 engt Kant - wie schon bei der Universalisierungsformel - überraschenderweise auf die Begründung von Unterlassungspflichten ein. 349 Es sollte daher nicht verwundern, dass sie in der Literatur auf ein Verbot reduziert wird, „niemanden so weit für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren, daß seine Fähigkeit zur vernünftigen Willensbestimmung mißachtet wird.“ 350 Stellt man vor diesem Hintergrund das Intransparenzverbot (ITV B ) erneut zur Disposition, 351 lässt es sich unkompliziert mit Verweis auf die Unzulässigkeit intransparenter Informierungen bei Überprüfung durch die Selbstzweckformel begründen. Wie Kant am erwähnten Beispiel des lügenhaften Versprechens ausführt, bedient sich der Sprecher „eines andern Menschen bloß als Mittels […], ohne daß dieser zugleich den Zweck in sich enthalte. Denn der, den ich durch ein solches Versprechen zu meinen Absichten brauchen will, kann unmöglich in meine Art, gegen ihn zu verfahren, einstimmen und also selbst den Zweck dieser Handlung enthalten“. 352 Analog dazu kann also derjenige, den ein biomedizinischer Experte durch eine intransparente Äußerung zu seinen Absichten gebrauchen will, nicht in die Art, gegen ihn zu verfahren, einstimmen; demzufolge ist jede intransparente Äußerung verboten bzw. eine Verbotsnorm begründet. So plausibel diese Argumentation auf den ersten Blick scheint, sie wird bei einer genaueren Analyse aus verschiedenen Gründen problematisch. Gilt für Kant die Achtung der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen als inhaltlicher Maßstab moralischen Handelns, ist fraglich, ob und wie ein Sprecher dieses apriorische Vermögen des Adressaten bei intransparenten Äußerungen überhaupt tangieren kann. Immerhin bleibt die Autonomie und Urteilsfreiheit des Anderen durch die Lüge bzw. intransparente Informie- 348 Vgl. Korsgaard (2004, 218f.), O’Neill (1993, 248ff.) und Steigleder (2002a, 128), die von der Zweigliedrigkeit der Selbstzweckformel zur Begründung negativer, wie auch positiver Pflichten überzeugt sind. 349 Vgl. GMS BA 67ff. Seine Konzentration auf Unterlassungspflichten scheint moraldidaktisch begründet zu sein, wie aus GMS BA 82 hervorgeht: „Da aber, in der Idee eines ohne einschränkende Bedingung (der Erreichung dieses oder jenes Zwecks) schlechterdings guten Willens, durchaus von allem zu bewirkenden Zwecke abstrahiert werden muß […], so wird der Zweck […] mithin nur negativ, gedacht werden müssen, d.i. dem niemals zuwider gehandelt, der also niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck in jedem Wollen geschätzt werden muß.“ 350 Dietz (2002b, 110). 351 Das TG B , das aus der Selbstzweckformel prinzipiell ableitbar sein müsste, wird erst an anderer Stelle thematisiert; vgl Kap. 4.3.2.2. 352 GMS BA 67f. Auf diese Stelle wird nachfolgend detaillierter reflektiert. <?page no="298"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 294 rung weiterhin bestehen. 353 Um es provokant zu formulieren: Müsste man nicht vielmehr den Adressaten selbst verantwortlich machen, den Worten des Anderen Glauben geschenkt zu haben? In aller Konsequenz liefe dieses Argument auf eine Generalimmunisierung verwerflicher Machenschaften (z.B. Gewaltandrohung und -ausübung) hinaus, sofern die Selbstzweckhaftigkeit und Würde des Menschen „ als intelligible Idee prinzipiell unantastbar, weil empirisch unerreichbar“ ist. 354 Dem kann entgegengestellt werden, dass zwar die innere, transzendentale Freiheit des homo noumenon, als das Vernunftvermögen, sich Zwecke autonom setzen zu können, von außen nicht direkt angreifbar ist, aber dennoch „in ihrer Ausübung unterlaufen und behindert werden kann“. 355 Sofern die vorempirische Autonomie auf empirischer Ebene Begrenzungen unterworfen sein kann, muss die Frage nach einer Instrumentalisierung von Personen auch auf diese Ebene bezogen werden. Den erkenntnistheoretisch problematischen Übergang von der noumenalen zur phänomenalen Ebene schafft Kant mittels eines postulierten Teilhabe- und Bedingungsverhältnisses des von ihm sog. homo phaenomenon am Status des homo noumenon. 356 Sind beide Aspekte in der Einheit des Menschen verbunden, muss der homo phaenomenon, der eine notwendige Voraussetzung für die Existenz des homo noumenon bzw. eine Ausdrucksform desselben ist, auf eine bestimmte Weise behandelt werden, damit der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen Rechnung getragen wird. Was genau darunter zu verstehen ist, geht aus der Kantischen Erläuterung der verbotenen Instrumentalisierung beim lügenhaften Versprechen hervor: Derjenige, „den ich durch ein solches Versprechen zu meinen Absichten brauchen will, kann unmöglich in meine Art, gegen ihn zu verfahren, ein- 353 Dieses Argument diskutiert Kant in der Rechtslehre der MS. Da die äußere Freiheit des Menschen durch eine Lüge nicht tangiert wird, bleibt sie unstrafbar; vgl. Kap. 4.3.2.1. 354 Baranzke (2004, 216), die diesen prominenten Einwand innerhalb des Bioethik-Diskurses referiert. 355 Dietz (2000, 203f.). Flierl (2005, 353) konzipiert Autonomie aufgrund der empirischen Begrenzungen in konkreten Situationen als ein graduelles Vermögen. 356 Vgl. Ricken (2000, 240ff.), der dieses Bedingungsverhältnis am Beispiel des Selbstmords erläutert. Aufschlussreich ist seine Beobachtung, dass sich Kant bei den Pflichten gegen sich selbst argumentativ auf die „Menschheit“ (d.h. den homo noumenon) und bei den Pflichten gegen andere auf den „Menschen“ (d.h. dem Wesen, das sowohl der Sinnenals auch Ideenwelt angehört) bezieht: „Bei den Pflichten gegen uns selbst stellt er sich dar in der Perspektive der ersten Person. Dabei können wir vom Bewußtsein der Autonomie als einem notwendigen Datum ausgehen. Dieser absolute Ausgangspunkt ist bei den Pflichten gegen andere nicht gegeben, so daß hier nicht nur der Übergang von der noumenalen auf die phaenomenale, sondern auch der aus der Perspektive der ersten in die der dritten Person zum Problem wird.“ (241) <?page no="299"?> 4.3. Eine Begründung mithilfe der Kantischen Moralphilosophie 295 stimmen und also selbst den Zweck dieser Handlung enthalten.“ 357 Kant scheint das Problem der Wechselwirkung zwischen den beiden Aspekten des Menschseins lösen zu wollen, indem er die moralische Unzulässigkeit einer Instrumentalisierung davon abhängig macht, ob der Adressat bei einer Kenntnis den Machenschaften des Sprechers zustimmen kann. Die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit der Zustimmung des Adressaten dient als empirischer Ausdruck der transzendentalen Freiheit. Da offen bleibt, ob Kant hierbei eine faktische oder hypothetisch-vernünftige Zustimmung im Blick hat, ist eine weitere Reflexion auf den moralisch relevanten Aspekt der Zustimmung nötig. Gegen die faktische Zustimmung spricht, dass sie durch Selbsttäuschung, Unwissenheit, Nötigung, Verzerrung oder Druck empirisch beeinflusst sein kann, abgesehen von bestimmten Personengruppen, deren Zustimmungsfähigkeit generell eingeschränkt ist. 358 Da es außerdem schwer vorstellbar ist, dass Kant die Moralität einer Handlung von der empirischen Einstimmung in dieselbe abhängig macht, spricht vieles für die vernünftige Zustimmung des Anderen als Maßstab der moralischen Zulässigkeit einer Handlung. Dies würde mit der Kantischen Begriffsbestimmung des „Zwecks an sich“ korrelieren, die eben nicht auf die empirischen Merkmale des Menschen, sondern auf das Vermögen vernünftiger Zwecksetzungen abzielt. 359 Da sich eine vernünftige Zustimmung mehr oder weniger von jedem vernunftbegabten Wesen antizipieren lässt, könnte für die Legitimität einer Handlung sogar eine hypothetische, d.h. vernünftig antizipierte Zustimmung durch den Handelnden ausreichen. 360 Setzt man ein gedankliches Prüfungsverfahren voraus - welches nicht zufällig an den Test des kI auf Verallgemeinerbarkeit im Wollen erinnert -, kommt Kant bezüglich der Zulässigkeit des lügenhaften Versprechens zu einem eindeutigen Urteil: Da der Adressat, „unmöglich in meine Art, 357 GMS BA 68. Diese Überlegung muss konsequenterweise auch bei transparenten Äußerungen angestellt werden: Kann ein Kranker zustimmen, dass ein behandelnder Arzt ihm eine infauste Prognose vermittelt? 358 Vgl. O’Neill (1993, 340). 359 Vgl. Dietz (2000, 185f.; 2002b, 112f.), die weitere Argumente anführt; etwa würde die Kantische Möglichkeit des legitimen Zwanges von Handlungssubjekten (MS RL A 35) unter der Voraussetzung einer empirischen Zustimmung durch den Gezwungenen faktisch aufgehoben. 360 Die hypothetische Zustimmung birgt laut O’Neill (1993, 342) die Gefahr, „daß wir uns über die tatsächliche Ablehnung anderer hinwegsetzen, indem wir sie im Namen höherer und vernünftigerer Wesen, die dem Vorgeschlagenen zustimmen würden, unter Druck setzen.“ Sie macht statt dessen die Legitimität einer instrumentellen Handlung von der Ermöglichung einer Zustimmung oder Ablehnung abhängig; Täuschung und Zwang sind daher zentrale Beispiele für illegitime Handlungen, da die mögliche Zustimmung bzw. Ablehnung grundsätzlich ausgeschlossen ist. Ihr Vorschlag kommt allerdings spätestens bei der Ableitung der Pflichten gegen sich selbst (z.B. Verbot der Selbsttötung) an ihre Grenzen. <?page no="300"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 296 gegen ihn zu verfahren, einstimmen und also selbst den Zweck dieser Handlung enthalten“ kann, 361 ist die Handlung moralisch unzulässig. Dies gilt dann auch für intransparente Sprechhandlungen. Um der Kritik zu entgehen, Kant setze das voraus, was erst gezeigt werden müsse, 362 ist zu eruieren, worin der Stein des Anstoßes liegt, der es dem Adressaten verunmöglicht, in die „Art, gegen ihn zu verfahren“ einstimmen zu können. Für Täuschungshandlungen wie das lügenhafte Versprechen oder den intransparenten Sprechakt scheint die sprecherseitige Absicht, jemanden täuschen zu wollen, auf den ersten Blick auszureichen, um in seine Handlungsweise nicht einstimmen zu können. In dieser Konsequenz wären sämtliche Täuschungshandlungen strikt verboten, was die unliebsame rigoristische Begründung des ITV B nach sich ziehen würde. Zur ihrer Vermeidung wird wiederum die Argumentation von Dietz bemüht und kritisch beleuchtet: Im ersten Schritt verweist sie auf die handlungstheoretisch unumstrittene Differenzierung zwischen der konstanten primären Täuschungsabsicht und einer variablen sekundären Absicht, die den Handlungsrahmen festlegt. 363 Die Täuschungsabsicht wird erst im Rahmen einer komplexen zweckrationalen Handlung des Täuschenden verständlich. Da man nicht täuscht, ohne etwas damit bezwecken zu wollen, identifiziert sie den Grund für die Ablehnung der sprecherseitigen Handlungsweise nicht in der primären Täuschungsabsicht, sondern in einer verwerflichen sekundären Absicht. Gestützt wird ihre Annahme durch folgende Rekonstruktion der sprecherseitigen Handlungsweise: Stellt die Zustimmung des Adressaten das entscheidende Kriterium für die moralische Zulässigkeit des Handelns dar, antizipiert der Sprecher, dass der Hörer in seine verdeckte Handlungsweise vernünftigerweise nicht einstimmen könnte. 364 Könnte jener hingegen erwarten, dass der Adressat damit einverstanden wäre, bräuchte er den zusätzlichen Aufwand einer er- 361 GMS BA 68. 362 Für Schönecker/ Wood (2004, 152) bleibt bei der Suggestion Kants, vernünftige Wesen könnten in bestimmte Handlungsweisen gar nicht „einstimmen“, die Frage offen, „welche Handlungsweisen das sind“. 363 Vgl. Dietz (2000, 98). An anderer Stelle (2002a, 114) definiert sie Lüge als „eine Behauptung, die mit der heimlichen Absicht zur Unwahrheit geäußert wird und die als nicht-deklarierte Handlung zweiter Ordnung verdeckten sekundären Absichten dient.“ 364 O’Neill (1993, 347f.) präzisiert hinsichtlich der adressatenseitigen Zustimmung. „daß nichts von dem, was nach einer Maxime von Täuschung oder Zwang getan wird, von den Getäuschten oder Genötigten Zustimmung erhalten oder geteilt werden könnte. Im Gegenteil, die Täuschung funktioniert gewöhnlich durch das Offenlegen sekundärer Aspekte der Handlung, die in irreführender Weise auf irgendeine grundlegende Maxime hindeuten, der zugestimmt werden kann. Betrug gelingt nur, wenn die dahinterstehende Absicht verdunkelt wird. Der tatsächlichen Maxime des Betrügers kann daher nicht zugestimmt werden.“ <?page no="301"?> 4.3. Eine Begründung mithilfe der Kantischen Moralphilosophie 297 folgversprechenden Täuschung nicht zu betreiben. Demzufolge versucht der Sprecher, den Adressaten über eine Handlungsweise zu täuschen, von der er ausgehen kann, dass sie einen Widerstand des Adressaten hervorruft. Selbstredend drängen sich dabei Handlungsweisen auf, die eine unmoralische Maxime voraussetzen. Beim Beispiel des lügenhaften Versprechens ist es etwa die sekundäre Absicht, den Adressaten für die eigenen Vorteile instrumentalisieren zu wollen. Kant - und mit ihm zahlreiche Interpreten - verknüpfen hierbei stillschweigend die primäre Täuschungsintention mit der Verfolgung unredlicher sekundärer Absichten, 365 weshalb man geneigt ist, jede Art von Täuschung als unzulässige Instrumentalisierung zu bewerten und ein generelles Täuschungsverbot zu erwirken. Doch im Unterschied zum konstruierten Fallbeispiel, mit dem Kant eine relativ eindeutige Zuordnung der Täuschungsabsicht zu einer verwerflichen sekundären Absicht suggerieren kann, 366 zeigt Dietz, dass bei Täuschungshandlungen unterschiedlichste sekundäre Absichten denkbar sind. Bei intransparenten Äußerungen kann es die Absicht sein, den Adressaten durch sprachliche Intransparenz schützen, ihm bewusst Schaden zufügen oder einen eigenen Vorteil erwirken zu wollen (und dabei gegebenenfalls einen Schaden in Kauf zu nehmen) usw. Vor diesem Hintergrund ist es für Dietz nicht selbstevident, dass jeder täuschende Sprecher den Adressaten unzulässig instrumentalisiere bzw. jeder Adressat in diese „Art, gegen ihn zu verfahren, unmöglich einstimmen“ könnte. Anstelle einer generellen Verwerfung differenziert sie bei Täuschungshandlungen zwischen zulässigen und unzulässigen Instrumentalisierungen des Adressaten, die sich nach seiner vernünftig-hypothetischen Zustimmbarkeit in die Handlungsweise des täuschenden Sprechers richten. Verfolgt der täuschende Sprecher etwa die sekundäre Absicht, den Getäuschten nicht zu brüskieren oder ihn gar an einer unvernünftigen Reaktion zu hindern - der Sprecher nehme dabei die Täuschung des Anderen eher in Kauf, als dass er sie direkt beabsichtige - kann von der vernünftigen Einstimmung des Adressaten in die Machenschaften des Sprechers ausgegangen werden. In diesem Fall wäre die Täuschungshandlung moralisch legitimierbar. 367 Doch wie geht Dietz mit der Möglichkeit um, dass ein Adressat 365 Eine enge Verbindung zwischen Täuschungsabsicht und verwerflicher sekundärer Absicht stellt dies. (2002b, 71f.) her: „Deception lies at the heart of many serious crimes, including fraud and embezzlement, impersonation and obtaining goods by false pretences, forgery and counterfeiting, perjury and spying, smuggling and false accounting, slander and libel“. 366 Vgl. GMS BA 53, wonach die verwerfliche sekundäre Absicht darin besteht, dass ein Versprechensgeber das falsche Versprechen tätigt, entliehenes Geld zurückzugeben, obwohl er weiß, es niemals zurückzahlen zu können. 367 Unterstützung erhält Dietz von Hofmann (1975, 264), der die „sittlich negative Qualität“ von Lüge nicht an der formalen Falschaussage oder faktischen Täuschungsab- <?page no="302"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 298 zwar vernünftigerweise in eine Täuschungshandlung einstimmen müsste, diese Einstimmung in einer gegebenen Situation aber faktisch nicht zu erwarten ist? Zu denken ist an eine Täuschungshandlung, die dazu dient, „einen durch Angst, Schmerz oder Wut ‚außer sich‘ geratenen Menschen an einer unvernünftigen Handlung zu hindern, mit der er sich oder andere in Gefahr bringt“. 368 Ihrer Meinung nach ist eine Täuschungsabsicht, die sich auf einen Adressaten als Sinnenwesen richtet, der empirische Zwecke verfolgt, keine unzulässige Instrumentalisierung: „Instrumentalisiert würde damit ja nicht die Person des anderen als vernünftiges Wesen, sondern nur als ‚Triebwesen‘.“ 369 Da der Adressat zu gegebener Zeit vernünftigerweise in die Täuschungshandlung einstimmen müsste, werde das Kantische Kriterium der Einstimmungsmöglichkeit weiterhin berücksichtigt. Hingegen bleibt jede täuschende Instrumentalisierung des Adressaten bei der Verfolgung vernünftiger Zwecke verboten, da sie seine vernünftige Willensbildung als autonomes Vernunftwesen behindert oder unterbindet. 370 Überträgt man die Dietz’sche Argumentation auf die Transparenzproblematik, ist eine intransparente Informierung immer dann unmoralisch, wenn der Adressat für die Verwirklichung vernünftiger Zwecke bestimmte Informationen bedarf; er könnte vernünftigerweise nicht der Täuschungshandlung zustimmen. Hat der Transparenzvermittler jedoch den Eindruck, der Adressat bedürfe sachbezogener Informationen, um damit unvernünftige Zwecke zu verfolgen, ist eine Täuschung, um den Adressaten davon abzubringen, durchaus legitim. Insgesamt begründet für Dietz das Instrumentalisierungsverbot in der Selbstzweckformel kein grundsätzliches Täuschungsbzw. Lügenverbot: „[D]ie Frage, ob eine Lüge eine unzulässige Instrumentalisierung darstellt, erfordert vielmehr eine genaue Beurteilung der jeweiligen Situation von einem übergeordneten Standpunkt der Vernunft. Das Instrumentalisierungsverbot in Kants Zweckformel […] richtet sich gegen die böswillige und eisicht festmacht, sondern daran, dass sie als Mittel eingesetzt wird, um Mitmenschen bewusst zu schaden (qualifizierte Lüge, Schadenlüge, Verleumdung, Betrug). 368 Dietz (2000, 186f.), die auf das Beispiel des arztseitigen Lügens bei infausten Prognosen eingeht. Zum Einwand, es bestehe ein Unterschied zwischen einem Nicht-wissen-wollen und dem Nicht-belogen-werden-wollen, entgegnet sie: „Praktisch läßt sich das Nicht-wissen-wollen mit der strikten Alternative zwischen gewünschtem Verschweigen und unerwünschten Lügen oft nicht durchsetzen. […] in diesen Fällen ist das Nicht-wissen-wollen tatsächlich nur um den Preis des Belogenwerdens aufrechtzuerhalten.“ (188) 369 Ebd. 370 Vgl. ebd., 186. <?page no="303"?> 4.3. Eine Begründung mithilfe der Kantischen Moralphilosophie 299 gennützige Täuschung anderer, […] sofern es Ausdruck einer Mißachtung des vernünftigen Willens anderer ist.“ 371 Obschon die vorgelegte Interpretation der Selbstzweckformel ein sympathischer Versuch ist, die kontraintuitiven Konsequenzen des Rigorismus zu bändigen - sie wird spätestens an dem Punkt unhaltbar, wenn Dietz eine temporäre Einschränkung des Anspruchs auf Selbstbestimmung zur Durchsetzung moralischer Zwecke (z.B. Fürsorgepflichten) für legitim hält. Denn im Kantischen Verständnis ist die Berücksichtigung der Autonomiefähigkeit, die von der Selbstzweckformel geboten wird, nicht von der aktuellen Ausübung des Protagonisten abhängig. Verlangt die Selbstzweckformel von einem Handlungssubjekt, so zu handeln, „daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“, desavouiert sie konsequent jede ausschließliche Instrumentalisierung eines Menschen - und zwar unabhängig davon, ob eine andere Person ihre Vernunftbegabtheit realisiert oder nicht. Diese radikal gesinnungsorientierte Forderung ist der erkenntnistheoretischen Problematik geschuldet, dass es für eine Person nicht eindeutig feststellbar ist, ob eine andere Person aus reiner Vernunft heraus handelt oder nicht. 372 Demzufolge ist auch die Dietz’sche Entscheidung uneindeutig, ob eine Täuschungsintervention zulässig ist, die sie von der vernünftigen oder empirischen Zwecksetzung des Adressaten abhängig macht. Obwohl sie diese Schwierigkeiten selbst einräumt, 373 hält sie an der Entscheidbarkeit durch den Sprecher fest. Dem ist entgegenzustellen, dass nur eine Person, die man als autonomes Wesen respektiert, die Chance hat, diese Autonomie handelnd zu realisieren - eine Chance, die durch eine Täuschung von vornherein vereitelt wird. Selbst wenn dem Adressaten die 371 Dies. (2002b, 114f.; 2003, 116f.) sieht in einer unverblümten Informierung zur vermeintlichen Wahrung der Autonomie die Gefahr einer Instrumentalisierung, da der Sprecher den anderen möglicherweise gegen dessen Willen mit der Wahrheit konfrontiert und keine Rücksicht auf Schwächen im Gebrach der Freiheit duldet. „Was mit dem hehren Ideal der Autonomie begründet wird, dient in vielen Fällen eher der eigenen Entlastung.“ 372 Wenngleich die Formulierung Kants in der GMS BA 76, nach der ein Mensch, weil und insofern er moralisch handelt, Zweck an sich ist, Raum für Missverständnisse lässt, kann die Berücksichtigung der Selbstzweckhaftigkeit einer Person nicht davon abhängig sein, dass sie tatsächlich moralische Zwecke verfolgt; laut Ricken (2000, 247) ist „schlechterdings unmöglich“, „bei sich selbst und bei anderen auch nur einen einzigen Fall mit völliger Gewißheit auszumachen, in dem wir […] aus Pflicht gehandelt haben.“ Die Forderung, „den Menschen als Zweck an sich selbst zu behandeln, wird nicht erst dadurch gültig, daß der Mensch tatsächlich einen guten Willen hat; sie hat aber zum Inhalt, den Menschen so zu behandeln, als ob er tatsächlich einen guten Willen hätte.“ Derselben Auffassung sind Baranzke (2004, 216), Schönecker/ Wood (2004, 146) u.a. 373 Dietz (2000, 189). <?page no="304"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 300 Realisierung des autonomen Handelns nicht gelingen sollte, darf dies aus der Perspektive Kants nur auf das persönliche Unvermögen, aber nicht auf die Bevormundung Anderer zurückgeführt werden. Solche Freiheitseinschränkungen generieren andernfalls einseitige Machtverhältnisse, die der Selbstzweckformel widersprechen. 374 Übrig bleibt die Irritation, dass Kant eine so wichtige analytische Differenzierung zwischen der primären und sekundären Absicht entgangen sein soll, aus der höchst unterschiedliche moralische Bewertungen verschiedener Täuschungshandlungen resultieren. Waren die moralischen Überlegungen Kants nicht differenziert genug, wie es die Ausführungen von Dietz nahe legen? Dass dies nicht der Fall ist, ergeht aus einer Anmerkung Kants an anderer Stelle, in der er die sekundären Absichten als Bezugspunkt einer moralischen Bewertung explizit ausschließt. 375 Demzufolge bezieht sich seine ganze Aufmerksamkeit auf die primäre Täuschungsabsicht des Sprechers, in die ein Rezipient vernünftigerweise niemals einstimmen könnte. Zur genaueren Bestimmung des Aspekts einer Täuschung sei an die Überlegung erinnert, dass sich eine unzulässige Instrumentalisierung auf den noumenalen Aspekt des Menschseins beziehen muss. Unter dieser Voraussetzung ist es für Kant moralisch ausschlaggebend, dass der Sprecher mittels einer sprachlichen Täuschung beim Hörer eine falsche Überzeugung über einen Sachverhalt zu bewirken und dabei den freien Gebrauch der Urteilskraft zu beeinträchtigen versucht. In der Folge bringt er den Adressaten wohlmöglich dazu, so zu handeln, wie dieser bei Kenntnis der Sachlage nicht entschieden hätte. So vielfältig auch die sekundären Absichten des Sprechers sein können - die von Kant beschworene Ablehnung eines solchen Täuschungshandelns resultiert aus der moralischen Empörung darüber, im freien Gebrauch der Urteilskraft als Ausdruck der Autonomie manipuliert zu werden, die je nach weiterer sekundärer Absicht des Sprechers verstärkt oder geschwächt werden kann, aber in der Regel nie aufgehoben wird. Demzufolge stellen sämtliche Täuschungen, auch im Falle der wohlwollenden Absicht und der antizipierten vernünftigen Zustimmung durch den Getäuschten, eine unzulässige Degradierung des Adressaten zu einem bloßen Objekt ohne Würde dar, in die der Adressat niemals einstimmen könnte. 376 Diese Argumentation gilt auch für intransparente Sprechakte: Sofern dem Adressaten Informationen absichtlich vorenthalten werden - sei es, weil ihm ein verantwortungsvoller Umgang mit Informationen nicht zugetraut wird oder dieser im Sinne des 374 Vgl. auch Kap. 1.4.2. zum Machtkonzept. 375 In der MS TL A 85, von der noch die Rede sein wird (Kap. 4.3.2.2.), schließt Kant die sekundäre Absicht zur Beurteilung der Lüge aus. 376 Entsprechend gilt Kant, wie etwa Esser (2004) feststellt, beim Lügenverbot als Hauptankläger der Täuschungsintention, während der traditionell ebenso zentrale Aspekt der beabsichtigten Unwahrheit bei ihm keine große Rolle spielt. <?page no="305"?> 4.3. Eine Begründung mithilfe der Kantischen Moralphilosophie 301 Sprechers zu beeinflussen versucht wird - wird er in seinen Urteils- und Handlungsmöglichkeiten beschnitten und bevormundet. 377 Der Einwand, bestimmte Formen der Intransparenz stellten gegenüber der Lüge weniger gravierende Eingriffe in die Selbstbestimmung des Kommunikationspartners dar, ist zurückzuweisen. 378 Denn die Behauptung, der Getäuschte habe bei der Lüge keine Chance, ihr zu entkommen, da er keinen Anhaltspunkt für dessen Falschheit habe, während es beim Verschweigen oder doppeldeutigem Reden für den Hörer offen bleibe, eigene Schlüsse daraus zu ziehen, ist empirisch nicht haltbar. Dem ist zu erwidern, dass gerade die Lüge einer Falsifikation zugänglich ist, während der Adressat einer intransparenten Redeweise keine Chance hat, diese als falsche Aussage zu erkennen. 379 Durch die Parallelisierung des ITV mit dem wohlbekannten Lügenverbot wird zwar hauptsächlich die formelle Transparenzdimension (Verheimlichung von Informationen) argumentativ berücksichtigt, gleichwohl lassen sich die bisherigen Überlegungen auf den Aspekt inhaltlicher Intransparenz (Verschleierung von Informationen) anwenden: Die zugrunde liegende Maxime, Informationen unverständlich oder doppeldeutig zu vermitteln, um andere zu täuschen, ist ebenfalls moralisch verwerflich. Mit Esser kommt man zu folgendem Schluss: „Jemanden in seinem Handeln eine, für dessen Agieren relevante, Information bewußt vorzuenthalten, ihm eine falsche Information bewußt zuzuspielen oder eine solche auch nur nicht zu korrigieren, ihn durch inszeniertes Verhalten zu falschen Schlüssen anzuregen, bedeutet immer, seine prinzipielle Unverfügbarkeit zu umgehen und ihn dadurch ungefragt zu einem Mittel zur Verwirklichung der eigenen Intentionen, seien sie auch noch so löblich, zu funktionalisieren. Die Fähigkeit des Belogenen, seine Willensbestimmung und seine Entscheidung der Wirklichkeit entsprechend auszu- 377 Einflussreiche Kant-Interpreten (z.B. Barbara Herman und weitere Rawls-Schüler) beziehen sich bei der Frage nach der Instrumentalisierung auf die empirische Handlungsfähigkeit, so dass der transzendentalen Selbstzweckformel ein empirischer Boden eingezogen wird. In Rekurs auf die rational agency-Interpretation der kantischen Moralphilosophie kommt Horn (2004, 207f.) beim Verbot des lügenhaften Versprechens zu folgendem Urteil: „Da die rationale Handlungsfähigkeit von der Richtigkeit relevanter Handlungsinformationen abhängt und da der Erfolg einer Lüge auf einer Wahrheitsunterstellung seitens des Belogenen basiert, schränkt der Lügner die Zwecksetzungsfähigkeit des Belogenen ein; er respektiert die Autonomie des Belogenen nicht und instrumentalisiert ihn insofern ‚vollständig‘.“ 378 Das Argument findet sich bei Adler (1997, 449). 379 Es ist daher Flierl (2005, 353) zuzustimmen, dass Adler den Adressaten überfordere, wenn er ihm bei intransparenten Sprechakten „die alleinige Verantwortung für die Wahrheitserschließung“ aufbürdet. Auch Autiero (1999) räumt ein, dass die Erkennbarkeit intransparenter Äußerungen eine intellektuelle Herausforderung darstellt, weshalb sie vor allem in asymmetrischen Beziehungen leicht „zum Instrument der Machtausübung und der Abhängigkeitsstruktur mißbraucht werden“ könne. <?page no="306"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 302 üben, wird in diesen Fällen durch den Willen eines anderen beschränkt oder ausgeschaltet. Damit beinhaltet auch die im Verweis auf beste Absichten scheinbar legitimierte Lüge, immer schon die Negation der Autonomie des Anderen und untergräbt die unbedingte Achtungs- und Gleichheitsforderung des moralischen Gesetzes. Auch der ‚gutgemeinten Lüge‘ liegt eine Asymmetrisierungsstruktur zugrunde und so kann ihre Maxime nicht der Prüfung des kategorischen Imperativs standhalten.“ 380 Es verwundert daher nicht mehr, dass Kant unabhängig der vielfältigen sekundären Absichten in den erläuterten Fallbeispielen stets zum selben Ergebnis kommt - der moralischen Verwerflichkeit jeder Form des sprachlichen Täuschungshandelns. Aus der Perspektive Kants muss daher die handlungstheoretische Differenzierung zwischen primärer und sekundärer Absicht für eine moralische Beurteilung von Täuschungshandlungen als überflüssig erscheinen. 381 Insgesamt kann mithilfe der Selbstzweckformel eine plausible Begründung des vorgeschlagenen ITV B gewonnen werden. Angesichts des Instrumentalisierungsmaßstabs stellt jede intendierte intransparente Äußerung eines wissenschaftlich-biomedizinischen Experten - ungeachtet weiterer sekundärer Absichten, die er mit der Äußerung verfolgt - eine unmoralische Handlung dar, sofern er in seiner Täuschungsabsicht das autonome Urteilsvermögen des Adressaten tangiert. Das daraus resultierende Verbot intransparenter Sprechakte ist im Kontext der biomedizinischen Informierungen extensionsgleich mit dem ITV B . Konnten auf der Grundlage der Universalisierungsformel noch plausible Einwände gegenüber einer rigoristischen Interpretation der Intransparenzverbots vorgetragen werden, lässt die Begründung mithilfe der Selbstzweckformel keine legitime, kontextuelle Abweichung von der Verbotsnorm zu - also auch nicht in Situationen, in denen die Informationsweitergabe dem gemeinen moralischen Bewusstsein widerspricht und z.B. schädigende Folgen verursacht. Ein Verstoß führt nur dann nicht zur moralischen Disqualifizierung des Handlungssubjekts, wenn sie keine Absichtlichkeit darstellt. 382 Wenn nicht die 380 Esser (2004, 286f.). 381 Erachtet Dietz die sekundäre Absicht als das Hauptmotiv der Handlung, die das ausschließliche moralische Bewertungsobjekt ist, während sie die primäre Täuschungsabsicht als Mittel zum Zweck vernachlässigt, ignoriert sie, dass Kant die Handlungsmittel nicht aus dem Bewertungshorizont ausschließt. In den Augen von Schmidt- Sauerhöfer (1978, 44) muss ihre Interpretation wie eine Transformation der Täuschungsproblematik „zu einem pragmatischen Problem“ erscheinen: „Wie setzt der Einzelne seine Interessen am klügsten durch, wenn ihm sämtliche ‚Mittel‘, also auch die Lüge, zur ‚Verfügung‘ stehen.“ 382 O’Neill (2002b, 70f.) betont den Unterschied zwischen irrtümlicher und absichtlicher Desinformation, der darin besteht, dass ein Täuschender bzw. Betrüger (deceiver) den deliberativen Entschluss fasst, die Handlungs-, Urteils- und Kommunikationsfähigkeiten einer anderen Person zu zerstören oder zu beeinträchtigen. <?page no="307"?> 4.3. Eine Begründung mithilfe der Kantischen Moralphilosophie 303 Aussageverweigerung das einzig probate Mittel darstellen soll, um Gedanken legitimierweise zurückhalten zu dürfen, 383 müssen Ausnahmen vom Intransparenzverbot mit anderen Argumenten begründet werden. Nachfolgend wird ein Lösungsweg vorgeschlagen, bei dem die Geltung der Verbotsnorm intransparenter Sprechakte (ITV B ) nicht infrage gestellt und zugleich die Gefahr des Rigorismus gebannt wird. 384 Dieser Weg setzt bei der Einsicht an, dass in zahlreichen Situationen nicht nur eine, sondern mehrere Pflichten einschlägig sind, deren Berücksichtigung im Handeln miteinander kollidieren. Legt man den zurecht kritisierten Versuch Kants beiseite, Pflichtenkollisionen zu einem rein erkenntnistheoretischen Problem zu bagatellisieren, 385 ist zur Auflösung des moralischen Konflikts eine rational begründete Abwägung erforderlich - etwa mittels der situationsübergreifenden Faustregel, im Konfliktfall der höherrangigen Pflicht den Vorrang zu geben. 386 Trefflicherweise lässt sich aus verschiedenen Äußerungen Kants ein implizites hierarchisch geordnetes Pflichtensystem gewinnen, welches die Unterordnung der unvollkommenen (Tugend-) gegenüber den vollkommenen (Rechts-)Pflichten vorsieht. 387 Da die genannte Hierarchisierung zu wenig detailliert ist, um praktikable Handlungsanweisungen zu gewinnen - man denke an mögliche Pflichtenkollisionen innerhalb beider Pflichtenklassen -, wird außerdem eine Abstufung innerhalb 383 Dieser Auffassung ist Esser (2004, 261f.), die zugleich einräumen muss, dass eine Aussageverweigerung u.U. einen impliziten Hinweis auf den Bestand eines Sachverhalts enthalten kann. 384 Dieser Weg geht auf Wolf (1988) zurück, der damit Kants Position in MS RL AB 24 (siehe die folgende Anm.) positiv wendet. Wie Mieth (1996, 27) zeigt, geht es um Überlegungen, „ob in einer Pflichtenkollision eine andere Pflicht, etwa der Schutz des Lebens […] vorzuziehen sei, so daß die weiterhin gültig bleibende Wahrheitsverpflichtung in diesem Falle nicht mehr ethisch dominieren könne.“ 385 Kant MS RL AB 24 argumentiert, dass „zwei einander entgegengesetzte Regeln“ nicht zugleich praktisch notwendig sein können, weshalb eine Pflichtenkollision aus Vernunftgründen undenkbar ist; der kI zeige entweder, dass eine Verpflichtung nicht gerechtfertigt (sondern eine Neigung) oder der stärkeren zu folgen ist. In dieser Konsequenz begründet er das Lügenverbot in MS TL A 42f. (s.u.) mit der „Verletzung der Achtung gegen sich selbst“, während er die Folgenüberlegungen der nachgeordneten Pflicht des Wohlwollens zuordnet. In dieser Reaktion sehen zahlreiche Kritiker (z.B. klassisch Schopenhauer 1988, 512) die „Weltfremdheit“ Kants. 386 Vgl. Horn (2002, 386), der als weitere Lösungsmöglichkeit die Kasuistik als Explikation konkreter Handlungsanweisungen für relevante Fälle (wann, wo, inwieweit, unter welchen Bedingungen) und die Einführung von Ausnahmeklauseln nennt. Es wird der Weg der Faustregel präferiert, der auf Situationen anwendbar ist, die zum Zeitpunkt der Bearbeitung einer Kasuistik nicht berücksichtigt werden konnten. 387 So die Auffassung z.B. von Esser (2004, 267, Anm. 33) und Steigleder (2002b, 258f.). In der GMS 53, Anm. versteht Kant „unter einer vollkommenen Pflicht diejenige, die keine Ausnahme zum Vorteil der Neigung verstattet“. <?page no="308"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 304 der unvollkommenen Pflichten für möglich gehalten. 388 Während Kant somit keine Ausnahme von der Befolgung vollkommener Pflichten erlaubt, können unvollkommene Pflichten ausgelassen werden, wenn dies die Umsetzung einer übergeordneten unvollkommenen Pflicht verhindert. Abgesehen davon, dass Konflikte zwischen vollkommenen Pflichten ungelöst bleiben, führt dieses rekonstruierte Pflichtensystem weiterhin zu kontraintuitiven und unplausiblen Konsequenzen. 389 Man ist gut daran beraten, die Kantischen Bemerkungen zu den beiden Pflichtenklassen nicht als Abwägungsregel bzw. Modell eines Pflichtensystems, denn als Interpretationsanweisung für die einzelnen Pflichten zu lesen. Hilft uns Kant bei einer Pflichtenkollision nicht weiter, sind Überlegungen von zeitgenössischen Deontologen in Anspruch zu nehmen, bei denen die Befolgung von Pflichten dem Erwerb bzw. der Realisierung von Gütern zuordnet wird. 390 Eine der einflussreichsten deontologisch fundierten Güterlehren bietet Gewirth, auf die sich die folgenden Überlegungen stützen. 391 Gewirth zeigt, dass jedes Handlungssubjekt auf notwendige, konstitutive Güter (generic goods) angewiesen ist, die für die moralisch fundamentale Handlungsfähigkeit bzw. für die Verwirklichung seiner Handlungsziele unabdingbar vorauszusetzen sind. Hierzu gehören Freiheit (freedom) und Wohlergehen (well-being). 392 Das Gut der Freiheit bezieht Gewirth positiv auf die Möglichkeit, Ziele verfolgen und zwischen Alternativen wählen zu können, bzw. negativ auf die Abwesenheit von Gewalt, Zwang und Täuschung 388 Vgl. Vogt (2008, 237) der sich auf Textpassagen in der MS berufen kann: In der TL A 17ff. scheint Kant die eigenen Zwecksetzungen (eigene Vollkommenheit) und damit verbundenen Tugendpflichten (z.B. die Pflichten zur Entwicklung der intellektuellen Fähigkeiten) gegenüber denjenigen Anderer für vordringlicher zu halten; in der TL A 20 erwägt er bei weiten Tugendpflichten die Erlaubnis der „Einschränkung einer Pflichtmaxime durch die andere“, wobei er es offen lässt, welche der genannten Pflicht (Nächstenliebe und Elternliebe) vorrangig ist. 389 Nach Stratton-Lake (2008, 120) erlaubt der weite Verwirklichungsspielraum der Hilfspflichten, einer Geliebten ein Geschenk zu machen, während man es unterlässt, einen Fremden aus Qualen zu retten. 390 Mit Forschner (2002a) wird der Güterbegriff weit gefasst und auf „Inhalte […] und Ziele unseres Strebens“ zusammengefasst, „die als Gegenstände bzw. Sachverhalte in der Welt gegeben sind oder sein können. Dies bedingt, daß die Verwirklichung eines Gutes die anderer Güter beeinträchtigen oder ausschließen kann und der Mensch zu Distanz, Abwägung, Gewichtung und Auswahl gefordert ist“. 391 Mit Gewirth (1978) soll ein Beispiel für die plausible Entfaltung einer deontologischen Güterlehre benannt werden, ohne sich seiner handlungsreflexiven Moralbegründung in toto anzuschließen. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit Gewirth findet sich bei Steigleder (1992 und 1999). Vgl. auch Korsgaard (1996, 122 und 128ff.), die von einem Wert-übertragenden Charakter (value-conferring status) der Handlungsfähigkeit spricht. 392 Vgl. Gewirth (1978, 31ff.). <?page no="309"?> 4.3. Eine Begründung mithilfe der Kantischen Moralphilosophie 305 durch das soziale Umfeld. 393 Unter das Gut des Wohlergehens subsumiert er grundsätzliche (biologische, psychische, soziale etc.) Voraussetzungen und Fähigkeiten der Zweckverfolgung, die er gemäß ihrer graduellen Unabdingbarkeit in eine verbindliche Rangordnung bringt: 394 „Elementargüter“ (basic goods) sind allgemeine Voraussetzungen der Handlungsfähigkeit, die unumstritten anerkannt werden und daher an oberster Stelle stehen (z.B. physische und psychische Integrität, Nahrung, Kleidung und Obdach). 395 Darunter platziert Gewirth „Nichtverminderungsgüter“ (non-substractive goods), über die ein Handlungssubjekt bereits verfügt und die zur Aufrechterhaltung seiner Handlungsfähigkeit nicht gemindert werden dürfen (z.B. Eigentum, Einkommen, Wissen); 396 sowie neue „Zuwachsgüter“ (additive goods), die der Erweiterung seiner Handlungsfähigkeit dienlich sind (z.B. Erziehung, Bildung, Stärkung der Selbstachtung und Tugendentfaltung). 397 Im weiteren Gang der Argumentation bezieht sich Gewirth auf die Tatsache, dass die konstitutiven Güter der Freiheit und des Wohlergehens durch die Handlungen anderer Personen tangiert werden. Daher ist der Übergang von der Freilegung handlungskonstitutiver, moralischer Schutzgüter zum Erheben eines Rechtsanspruchs auf dieselben entscheidend: „Since the agent regards as necessary goods the freedom and wellbeing [bzw. die instrumentellen Elementar-, Nichtverminderungs- und Zuwachsgüter; RB] that constitute the generic features of his successful action, he logically must also hold hat he has rights to these generic features, and he implicitly makes a corresponding right-claim.“ 398 Zur Aufrechterhaltung bzw. Erweiterung seiner Handlungsfähigkeit muss das Handlungssubjekt notwendigerweise einen negativen Rechtsanspruch an seine Mitmenschen richten, diese konstitutiven Güter nicht zu beeinträchtigen bzw. einen posi- 393 Vgl. ebd., 252. Bei einer Interaktion wird die Freiheit eines Handlungsempfängers nur dann gewahrt, wenn dieser sein (stillschweigendes) „informed consent“ geben kann. Daher sieht Gewirth Täuschung als eine der drei Grundtypen möglicher Freiheitsverletzungen an: „In deception the recipient gives his unforced consent, but only as a result of falsehood or misrepresentations intentionally presented by the agent.“ 394 Vgl. ebd., 210ff. und 242ff. Wie Steigleder (1992, 146) betont, ist der Übergang zwischen den drei Güterklassen fließend. Gegenüber den Elementargütern ist eine Explikation der Nichtverminderungs- und Zuwachsgüter aufgrund ihres Bezugs auf konkrete Handlungsziele nur begrenzt möglich. 395 Elementargüter werden bei physischen und psychischen Verletzungen, Umweltschädigungen etc. tangiert. 396 Nichtverminderungsgüter werden verletzt, wenn eine Person etwa bestohlen oder diffamiert wird; vgl. auch Gewirth (1982, 56). 397 Eine Verletzung der Zuwachsgüter liegt beispielsweise vor, wenn durch die Verbreitung von Fehlinformationen, Unwissenheit und Aberglauben die Fähigkeit von Personen beeinträchtigt wird, effektiv ihre Handlungsziele zu verfolgen. 398 Gewirth (1978, 63). <?page no="310"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 306 tiven Rechtsanspruch auf die Unterstützung in der Realisierung der Güter erheben. Diesen positiven und negativen Rechtsansprüchen, zu deren Realisierung der Handelnde aufgrund seiner Zielsetzungen drängt, korrespondieren wiederum konkrete moralische Unterlassungs- und Begehungspflichten für andere handlungsfähige Personen. 399 In einer Universalisierung dieser Pflichten weist Gewirth das oberste moralische Prinzip für das eigene und fremde Handeln aus, das er Principle of Generic Consistency nennt: „Act in accord with the generic rights of your recipients as well as of yourself“. 400 Die konstitutiven Rechte und moralischen Pflichten sind untereinander nicht gleichrangig, sondern befinden sich in einer Rangordnung, die sich aus der hierarchischen Ordnung notwendiger Güter ergibt. In Zuordnung zu den Elementargütern besteht der Schutz der grundlegenden Individualrechte, der „at no comparable cost“ uneingeschränkt verpflichtend ist, 401 während das Recht auf Nichtverminderungsgüter bzw. auf Zuwachsgüter dahinter rangieren. Unter der Forderung, dass jeder Handlungsfähige die gleichen konstitutiven Rechte und moralischen Pflichten innehat, erfolgt eine Abwägung auf Grundlage des „Degrees of Necessity of Action“: Im Konfliktfall sollen Rechte bzw. Pflichten gemäß ihrer Dringlichkeit gegeneinander abgewogen werden, die sich aus der Rangordnung der sie realisierenden Güter ergibt. 402 Demzufolge ist es u.U. geboten, Informationen zurückzuhalten oder zu verschleiern, wenn dadurch Menschenleben gerettet werden können, wie es verboten sein kann, Informationen zu verheimlichen oder zu verschleiern, wenn dies Menschenleben gefährdet. 403 Richtet sich die Rangordnung der Pflichten an der Verwirklichung der für die Handlungsfähigkeit erforderlichen, hierarchisch angeordneten Güter, kann Gewirth für sich beanspruchen, jene in ein nachvollziehbares, feinnetziges System gebracht zu haben. Wendet man die güterbezogene Pflichtenlehre von Gewirth auf die bisherigen Kantischen Überlegungen zur Begründung des Verbots intransparenter Sprechakte an, ergibt sich im Kontext der biomedizinischen Forschung folgendes Bild: Gegenüber allgemeinen wissenschaftlichen Informationen haben biomedizinische Informationen einen besonderen Stellenwert, da mit ihrem Gebrauch Entscheidung getroffen werden, die teils irreversible Konsequenzen für die geistige und körperliche Integrität haben. Das Verbot intransparenter Informierungen dient im biomedizinischen Zu- 399 Vgl. ebd., 210ff. sowie die Erläuterungen bei Steigleder (1992, 234ff.). 400 Gewirth (1978, 135). Für eine genauere Analyse des Principle verweise ich auf Beyleveld (1991) und Steigleder (1999). 401 Gewirth (1978, 218). 402 Ebd., 343. Vgl. auch Horn (2002, 385), der als „Elementarprinzip der Güterabwägung“ nennt: „Unter ansonsten gleichen Bedingungen (ceteris paribus) ist stets das wichtigste zur Wahl stehende Gut oder das geringste mögliche Übel zu wählen“. 403 Ich adaptiere hier das Beispiel von Steigleder (1992, 251). <?page no="311"?> 4.3. Eine Begründung mithilfe der Kantischen Moralphilosophie 307 sammenhang somit der Verwirklichung von „Elementargütern“, die eine unersetzbare Voraussetzung für die Handlungsfähigkeit des Transparenzsuchenden sind, und ist demzufolge als eine hochrangige Pflicht anzuerkennen. 404 Aufgrund der Pflichtenhierarchie ist eine Ausnahme vom ITV B etwa illegitim, wenn ein Biomediziner kontraktuell zur Verheimlichung biomedizinischer Informationen verpflichtet wird. 405 Keiner weiteren Erläuterung bedarf der innere Konflikt, ob er biomedizinische Informationen zurückhalten darf, um nicht die eigene Karriere zu gefährden; im Kantischen Sinne handelt es sich um keine Pflichtenkollision, sondern um eine Konkurrenz zwischen Pflicht und Neigung. Ein Biomediziner ist nur dann von ihrer Verwirklichung dispensiert, wenn sie mit der Realisierung einer Pflicht mit mindestens vergleichbarem Güterbezug kollidiert, d.h. wenn mit einer Veröffentlichung biomedizinischer Informationen die Gefährdung von Leib und Leben in Zusammenhang gebracht werden kann. 406 Zumindest erwähnt werden sollen andere Möglichkeiten, mit Pflichtenkollisionen umzugehen, wie etwa auf eine persönlich unverantwortbare, riskante Forschung ex ante zu verzichten, wenn bei einer Abwägung die Risiken gegenüber den potentiellen Nutzen überwiegen. Im Sinne der Transparenz sollte es prinzipiell nicht ausgeschlossen werden, belastende oder riskante Informationen weiterzugeben, sofern eine nachfolgende adäquate Begleitung im Umgang mit den Risiken möglich ist. Als Fazit konnte in diesem Kapitel eine plausible Begründung des ITV B mithilfe der Universalisierungs- und Selbstzweckformel erreicht werden. Sofern die Kantische Argumentation eine rigoristische Lesart der Verbotsnorm nahe legt, sind kontraintuitive Konsequenzen des Rigorismus durch die Implementierung der Verbotspflicht in eine güterbezogene Pflichtenlehre kompensierbar. In Kenntnisnahme, dass Kant in der GMS ausschließlich Verbote begründet, obwohl sein Theoriekonzept prinzipiell eine Begründung von Geboten zulässt, wurde die Legitimierung der positiven Begehungspflicht, Sachverhalte transparent zu vermitteln (TG B ), bisher nachgestellt. Das nachfolgende Kapitel ist dem Spätwerk Kants, der MS gewidmet, in dem er nicht nur der Begründung von Verbotspflichten, sondern auch zahlreicher Begehungspflichten Raum gibt. Es entfallen dadurch die bisherigen Argumente, die Begründung des biomedizinischen Transpa- 404 Als Hilfsmittel ist die Informationsweitergabe vergleichbar mit medizinischen Eingriffen, die zu einem verantwortungsvollen Gebrauch nötigen. 405 Transparenz zur Aufrechterhaltung von Gesundheit lässt sich analog gegenüber der Verwirklichung anderer Güter (z.B. Privatheit, Anonymität etc.) abwägen. Anhand der Beispiele wird deutlich, dass die Auffassung von Esser (2004, 264) unterkomplex ist, das Problem der Pflichtenkollision stelle sich aufgrund der Maximenzentriertheit der Kantischen Ethik nicht; denn es können hierbei zwei sich widerstreitende Maximen identifiziert werden. 406 Solche Bedingungen bestehen bei der bereits erwähnten dual use-Problematik. <?page no="312"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 308 renzgebots aufzuschieben. In Anlehnung an den Aufbau der MS wird zunächst der Versuch unternommen, Transparenz als eine Rechtspflicht zu begründen, deren Befolgung notfalls von einer legitimen Gewalt erzwungen werden kann. Danach steht eine Entfaltung der Transparenznorm als Tugendpflicht aus, mit besagtem Augenmerk auf die Legitimierung des TG B . 4.3.2. Begründung der Transparenznorm anhand der Metaphysik der Sitten 4.3.2.1. Transparenz als Rechtspflicht Das erste Buch der MS, die Rechtslehre, thematisiert jene Normen, die ein Zusammenleben von Personen möglich machen. Als das „allgemeine Rechtsgesetz“ formuliert Kant den Imperativ „[H]andle äußerlich so, dass der freie Gebrauch der Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne“. 407 Demzufolge ist der Maßstab der Rechtsnormen die Bewahrung der „äußeren Freiheit“ der Handlungspartner, die bei sozialen Interaktionen tangiert werden kann. Die Handlungsfreiheit einer handlungsfähigen Person soll an der Handlungsfreiheit jeder anderen handlungsfähigen Person eine feste Grenze finden. Innere Gründe (Zwecke, Absichten etc.), weshalb ein Handlungsfähiger den Rechtsgeboten und -verboten Folge leistet, sind vom Rechtsstandpunkt aus irrelevant. Im Zentrum der Rechtslehre stehen demzufolge Pflichten, die ausschließlich beobachtbare, „äußere“ Handlungen regulieren. 408 Auf die Befolgung der Rechtspflichten bestehen zwischen den Handelnden Ansprüche, die überdies von einer legitimierten Autorität erzwungen werden darf. 409 Da das allgemeine Rechtsgesetz und insbesondere die letztgenannten Charakteristika der Rechtspflichten die Idee des kI zu unterminieren scheinen, ist die Stellung der Rechtslehre in der Kantischen Moralphilosophie höchst umstritten. 410 Immerhin hat Kant den kI in der GMS als höchstes Moralprinzip eingeführt, das die Moralität und nicht die Legalität von Handlungen ausweist. Hierbei fordert der kI in der Gesinnung dazu auf, das moralisch Richtige zu tun, weil es moralisch richtig ist. 407 MS RL AB 34. 408 Ebda. 409 Vgl. MS RL A 35. 410 Z.B. Wood (1999) ist der Auffassung, die Rechtslehre sei nicht mit den Gedanken der Moralphilosophie vereinbar. Kersting (1984), Pogge (2002) u.a. rekurrieren bei ihrer Kritik auf die Möglichkeit des rechtmäßigen Zwanges, die sich als eine die Klugheit ansprechende heteronome Motivation unter keinen Umständen mithilfe des kI legitimieren ließe. Hiergegen wendet Steigleder (2002b, 153) zurecht ein, dass es Kant in der Rechtslehre nicht um die Frage nach der Motivation, sondern nach der Legitimität von Zwang gehe, die aus den Ansprüchen von Berechtigten resultiere. <?page no="313"?> 4.3. Eine Begründung mithilfe der Kantischen Moralphilosophie 309 Bei seiner Explikation moralischer Handlungen, deren Bestimmungsgrund in der „Achtung fürs Gesetz“ besteht, verwirft er geradezu legale Handlungen, die bloß äußerlich mit der verpflichtenden Gesetzgebung des kI übereinstimmen, aufgrund des willkürlichen Bestimmungsgrunds (aus Neigung oder Furcht). 411 Entsprechend müsste der kI bei einer Rechtspflicht der Maßstab für die entsprechende Rechtsgesinnung, und nicht für die bloß zufällig gesetzeskonforme äußerliche Handlung sein. 412 Dass dennoch eine Ableitung der Rechtsnormen aus dem kI möglich ist, zeigen zwei Wege, 413 die - so muss eingeräumt werden - Kant nicht expliziert hat: 414 Bei einer direkten Begründung wird mithilfe des Verallgemeinerungstests die Unzulässigkeit von Handlungen nachgewiesen, durch die eine Person für sich ein Mehr an Handlungsfreiheit gegenüber anderen Personen in Anspruch nimmt. 415 Die strukturelle Ähnlichkeit zwischen dem kI und dem Allgemeinen Rechtsgesetz ist somit nicht zufällig; letzteres kann als Variante des kI gelesen werden, die von der Motivation (bzw. der Maxime) des Handelnden absieht. In Erfüllung der Rechtsnormen handelt eine Person zumindest in äußerlicher Übereinstimmung mit den vom kI begründeten Pflichten, was einer ethischen Minimalanforderung entspricht. 416 Wenngleich das Recht von den Beweggründen des Handelnden absehen muss - immerhin können keine Rechtsansprüche auf die rechte Motivation des Handelnden formuliert werden - heißt dies nicht, dass der Handelnde durch das Moralprinzip nicht zur richtigen Gesinnung beim Handeln verpflichtet wäre. 417 Es wäre daher falsch, bei dem Begriffspaar „Legalität“ und „Moralität“, die den Bereichen des Rechts und der Moral zuzuordnen sind, von zwei sich ausschließenden Gruppen von Verbindlichkeiten aus- 411 Vgl. GMS BA 8ff. und 14f. 412 Vgl. Höffe (2000b, 215). 413 Ich folge hierbei der Rekonstruktion von Steigleder (2002b, 136ff.), der die Rechts- und Tugendlehre als korrespondierende Teile versteht, die mithilfe des kI begründbar sind. Ähnlich auch Höffe (2000a, 173): Unter der Zielsetzung einer „Anwendung dasselben Prinzips auf das ganze System“ (GMS BA XV) thematisiere Kant in der Rechtslehre die gesellschaftliche Sittlichkeit in Institutionen und in der Tugendlehre charakterliche Grundhaltungen im handelnden Subjekt. 414 Die Ambivalenz hinsichtlich einer Begründung mittels des kI wird sichtbar, wenn Kant einerseits den kI in der MS-Einleitung als „oberste[n] Grundsatz der Sittenlehre“ bezeichnet (RL AB 26), der folglich auch das oberste Prinzip der Rechtslehre ist; andererseits der Auffassung ist, das „allgemeine Rechtsgesetz“ sei ein vernünftig einsehbares „Postulat, welches gar keines Beweises weiter fähig ist“ (RL A 34). 415 Nach Steigleder (2002b, 142) ist „ein Gesetz, das es für jeden Handlungsfähigen notwendig macht, durch Einschränkung der Freiheit anderer ein Mehr an Freiheit in Anspruch zu nehmen, […] erkennbar widersprüchlich“. 416 S.a. die Erläuterung von Kant MS RL AB 16. 417 Vgl. Steigleder (2002a, 136). <?page no="314"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 310 zugehen. 418 Im Gegenteil - durch den beidseitigen Rekurs auf den kI kann der Vollzug legaler Handlungen als Voraussetzung für Erfüllung moralischer Handlungen angesehen werden. 419 Die Normen der Rechtslehre unterscheiden sich demnach nicht unbedingt im materialen Gehalt von denjenigen der Tugendlehre, sondern in der motivationalen Anforderung an das Handlungssubjekt. 420 Akzeptiert man die Begründung der Rechtspflichten mithilfe des kI, gewinnt man zugleich ein schwaches empirisches Kriterium, um eine unmoralische Maxime auszuweisen: Die Einschränkung der äußeren Handlungsfreiheit als Instrumentalisierung des Anderen. Aus einer anderen Perspektive lassen sich die Rechtspflichten (analog zu den Tugendpflichten) aus der Selbstzweckformel ableiten, sofern die Berücksichtigung der Zwecksetzung des homo noumenon auf der phänomenalen Ebene eine Respektierung der äußeren Freiheit des Anderen nach sich zieht, bei denen er seine Zwecke rechtmäßig verfolgt. 421 Neben der direkten Begründung konkreter Rechtspflichten aus der Universalisierungsbzw. Selbstzweckformel, besteht außerdem die Möglichkeit einer indirekten Begründung, die bei der vom kI vorausgesetzten strikten normativen „angeborenen Gleichheit“ der Menschen hinsichtlich ihrer äußeren Freiheit ansetzt. Diese Handlungsfreiheit ist für Kant das einzige angeborene und unverlierbare Fundamentalrecht, aus dem sich alle anderen Rechte, also z.B. das Recht auf Leib und Leben, Besitz- und Eigentumsrechte, ableiten lassen. Wenn jeder Handlungsfähige einen angeborenen Rechtsanspruch auf maximale gleiche äußere Handlungsfreiheit hat, dann ist es für Kant ein logischer Schritt, eine korrespondierende allgemeine Rechtspflicht zu formulieren, nach der jeder Handlungsfähige strikt verpflichtet ist, die durch die äußere Handlungsfreiheit Anderer begrenzte eigene Handlungsfreiheit nicht zu überschreiten. Daraus sind weitere Rechtspflichten als „vollkommene Pflichten“ ableitbar, wie z.B. das Verbot, einen Unschuldigen vorsätzlich zu töten, zu verletzen, zu vertreiben, ihm etwas zu entreißen, ihn 418 Zu diesem Fazit kommt Höffe (2004, 261ff.) bei seiner präzisen Bestimmung des Moralitäts-Legalitäts-Verhältnisses. 419 Nach ders. (2000a, 180f.) steht die Moralität „nicht in Konkurrenz zur Legalität, enthält vielmehr eine Verschärfung der Bedingungen. Im moralischen Handeln wird erstens das sittlich Richtige getan, mithin die Pflicht erfüllt und zweitens die Pflichterfüllung zum Bestimmungsgrund gemacht. So fällt die Moralität nicht hinter die Legalität zurück, bringt vielmehr eine Steigerung und Überbietung.“ In Weiterführung seiner Gedanken stehen Legalität und Moralität auch begründungstheoretisch in einem Kontinuum: Fordert der kI die richtige Zwecksetzung der Handlungen ein, sind dadurch auch bloß „legale“ Handlungen begründet, die gleichwohl nicht die Vollendung der Erfüllung des kI darstellen. 420 Steigleder (2002a, 128) versteht die Rechtspflichten daher als Subtypen der Tugendpflichten, die einer äußerlichen Regulierung zugänglich sind. Entsprechend stellt sich Kant die Frage nach dem Lügenverbot zweimal innerhalb des Pflichtenkanons. 421 Diese Argumentation präferiert Ricken (2000, 249). <?page no="315"?> 4.3. Eine Begründung mithilfe der Kantischen Moralphilosophie 311 einzusperren, zu bedrohen oder ihn durch Vorspiegelung falscher Tatsachen zu Handlungen zu bewegen, zu denen er sich in Kenntnis der wahren Verhältnisse nicht entscheiden würde. 422 Folgt man der Kantischen Argumentation hinsichtlich der Transparenzproblematik, ergibt sich bei einer „rechtlichen“ Begründung der TN B zunächst eine irritierende Feststellung: Wenn jeder Handelnde das gleiche angeborene Recht auf die Wahrung der äußeren Freiheit hat, dann kommt ihm das Recht zu, „bloß seine Gedanken mitzuteilen, ihnen [den Adressaten; RB] etwas zu erzählen oder zu versprechen, es sei wahr und aufrichtig, oder unwahr und unaufrichtig […], weil es bloß auf ihnen beruht, ob sie ihm glauben wollen oder nicht“. 423 Möchte man hierin vorschnell einen rechtlichen Freibrief für intransparente Äußerungen erkennen - immerhin wird der Andere nicht äußerlich gezwungen, den Behauptungen Glauben zu schenken und sich in seinen Handlungen danach zu orientieren - müsste man das wichtige Detail der Komplementarität von Rechten (Rechtsansprüchen) und Rechtspflichten in der Rechtslehre ignorieren. 424 Demzufolge hat jeder Handelnde zugleich die Rechtspflicht, seine äußere Freiheit hinsichtlich derjenigen anderer Personen zu begrenzen. Für Kant besteht genau dann eine rechtliche Beschränkungspflicht, die eigenen Gedanken „unwahr und unaufrichtig“ mitzuteilen, sobald diese Sprechhandlung „einem anderen unmittelbar an seinem Rechte Abbruch tut“ und die äußere Freiheit der anderen Person tangiert. 425 Trotz der Gewähr, dass „es bei der bloßen Erklärung seiner Gedanken immer dem andern frei bleibt, sie anzunehmen wofür er will“, 426 sind folglich solche unwahren und unaufrichtigen Äußerungen unzulässig, die ein „Hindernis der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen“ bedeuten und die Kant einer gewaltsamen Nötigung gleichstellt. 427 Wenngleich er es unklar lässt, welche Formen des „unwahren und unaufrichtigen“ Sprechens darunter fallen, gehören hierzu sicherlich intransparente Äußerungen, durch die ein Sprecher eine andere Person zu einer Handlung bewegt, zu der sich 422 Die genannten Verbote, die sich in der MS AB 41, 45f. und 59f. finden, „liegen schon im Prinzip der angebornen Freiheit, und sind wirklich nicht (als Glieder der Einteilung unter einem höheren Rechtsbegriff) unterschieden.“ (AB 45f.) 423 MS RL AB 35. 424 Vgl. Dietz (2000, 193), die die einschränkende Bedingung eines äußeren Freiheitsanspruchs zum lügenhaften Sprechen übersieht und daher zu Unrecht die Möglichkeit einer rechtlichen Begründung des Lügenverbots verwirft. 425 Als Beispiel nennt Kant MS RL AB 45f., Anm. das „falsche Versprechen eines mit jemanden geschlossenen Vertrags, um ihn um das Seine zu bringen“. 426 MS RL AB 46, Anm. 427 MS RL AB 35. <?page no="316"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 312 diese bei Kenntnis der wahren Verhältnisse nicht entschieden hätte. 428 Denn durch eine intransparente Äußerung besteht die Möglichkeit, einen Transparenzsuchenden von seinem Ziel abzubringen, es als unerreichbar bzw. nicht länger erstrebenswert erscheinen zu lassen oder sogar ein neues Ziel zu suggerieren. Weiterhin können wichtige Alternativen ausgeschalten oder verdunkelt, die Existenz mehrerer Alternativen vorgegaukelt oder das Zutrauen in die beste Alternative unterminiert werden. Erfolgreiche Täuschungen können zu einer veränderten Einschätzung von Kosten und Nutzen einer Handlung, sowie zu einer Manipulation des Maßes an Gewissheit oder Ungewissheit führen, mit der wir unsere Entscheidungsmöglichkeiten betrachten. 429 Unter diesen Bedingungen, bei der ein Sprecher die äußere Freiheit eines Rezipienten einschränkt, kann somit das ITV B als Rechtspflicht begründet werden. Solche Eingriffe in die äußere Freiheit sind innerhalb vertraglicher oder vertragsähnlicher (d.h. durch normative Rollenimplikate strukturierte) Beziehungen leicht möglich, in denen sich die Interaktionspartner auf die Äußerungen des Anderen verlassen. 430 Zu denken ist hierbei an wissenschaftliche Beratungs- und Behandlungssituationen, bei denen der Experte davon ausgehen kann, dass der Laie die wissenschaftliche Expertise zur Grundlage seiner Entscheidung macht. 431 In einer solchen Situation ist letzterer verpflichtet, keine relevanten Informationen zurückzuhalten, d.h. das ITV B zu befolgen, da er ansonsten die Handlungsfreiheit der ratsuchenden Personen unzulässig einschränkt. Richtungsweisend im rechtlichen Rahmen ist das erwähnte Modell des Informed Consent bzw. Shared decision making, wonach der biomedizinische Experte die zur Verfügung stehenden Optionen derart erläutern soll, dass der Laie selbstbestimmt entscheiden kann, welche Optionen er verwirklichen möchte. 432 Als Maßstab einer illegalen Handlung ist stets die Verletzung der äußeren Freiheit des Anderen mitzudenken, weshalb keine generelle Unterlassungspflicht intransparenter Sprechakte im rechtlichen 428 Vgl. Steigleder (2002b). Eindringlich beschreibt dies Bok (1980, 36), wenn sie Täuschungshandlungen (bei ihr die Lüge) gemeinsam mit physisch-psychischer Gewalt als „zwei Formen eines vorsätzlichen Angriffs auf Menschen“ betrachtet: „Beide können Menschen dazu zwingen, gegen ihren Willen zu handeln“, indem sie zu Handlungen veranlassen, die sonst nicht ausgeführt worden wären, oder durch eine Verschleierung der Entscheidungsnotwendigkeit Handlungen verhindern. 429 Ebd., 37f. zeigt die genannten Möglichkeiten für die Lüge auf. 430 Zu den vertragsähnlichen Beziehungen vgl. die Ott’sche Rekonstruktion normativer Rollenimplikate in Kap. 4.2.5.2. 431 Sind vertragliche Beziehungen durch eine dezidierte Transparenznorm geregelt, hat sie freilich den Status einer positiven Rechtspflicht, zu deren Einhaltung sich der „Promittent“ gegenüber einem „Akzeptanten“ (MS RL AB 99) verpflichtet. 432 Vgl. Heubel (1999, 44f.). <?page no="317"?> 4.3. Eine Begründung mithilfe der Kantischen Moralphilosophie 313 Bereich begründet werden kann. 433 Da die Erfüllung von Rechtspflichten nur soweit feststellbar ist, wie Handlungen bzw. deren Folgen beobachtbar und kritisierbar sind, werden nur wenige Verstöße gegen eine derart begründete negative Transparenznorm sanktionierbar sein. Eine ethische Reflexion der inneren Haltung des Protagonisten ist daher unumgehbar, bei der die vorausgesetzte rechtliche Differenzierung zwischen einer erlaubten Unwahrheit (falsiloquium) und einer verbotenen Lüge (mendacium) aufgehoben wird. 434 Diesbezügliche Erwartungen richten sich auf die Tugendlehre, in der die subjektiven Einstellungen und Maximen beurteilt werden, die den äußeren Handlungen zugrunde liegen. 4.3.2.2. Transparenz als Tugendpflicht Im Unterschied zur Rechtslehre thematisiert Kant in der Tugendlehre solche Pflichten, die sich nicht nur auf ein äußerlich richtiges Handeln, sondern auch auf die gute Absicht des Handelnden beziehen. Während der Handelnde Rechtspflichten bloß aus Klugheit verfolgen kann, um Sanktionen bei ihrer Verletzung zu entgehen, ist dies bei Tugendpflichten ausgeschlossen, die zum Überschreiten des eigenen Strebens nach Glückseligkeit auffordern. Gemäß des „oberste[n] Prinzip[s] der Tugendlehre“, „[H]andle nach einer Maxime der Zwecke, die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann“, 435 soll durch eine vernünftige Zwecksetzung des Handlungssubjekts die „innere Freiheit“ unter Gesetze gebracht und zu einer ethischen Verbindlichkeit geführt werden. 436 Damit trägt Kant der transzendentalen Einsicht Rechnung, dass der Mensch Zwecke frei setzen kann, gleichwohl die Zwecksetzung des Menschen nicht notwendig autonom erfolgt. Es ist ihm daher als Tugendpflicht „normativ aufgegeben […], seiner eigenen und der anderen Menschen unbedingten Zweckhaftigkeit im Handeln Rechnung zu tragen“, 437 indem er dieser Selbstzweckhaftigkeit 433 Wenn Kant der Auffassung ist, dass rechtlicherseits nur diejenige Unwahrheit als Lüge zu bewerten ist, die das Recht des Belogenen unmittelbar verletzt, scheint er laut Annen (1997, 116) „die Position einer bedingten Wahrheitspflicht zu stützen“, die er einige Monate später in seinem umstrittenen Aufsatz Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen (A 303) verwirft. 434 Vgl. MS RL AB 45f., Anm. Die Unterscheidung zwischen falsiloquium und mendacium wird auf Hugo Grotius (De jure belli ac pacis, 1625) zurückgeführt, der durch die Einführung des Begriffs der Falschaussage die negative moralische Bewertung des Lügenbegriffs abwenden wollte; vgl. Schockenhoff (2005, 84): „Zur Lüge im eigentlichen Sinne wird eine Falschaussage erst durch das zusätzliche Merkmal einer Rechtsverletzung, wenn nämlich die falsche Zeichenkundgabe mit der Absicht zu täuschen gegenüber einem anderen Menschen erfolgt, der ein natürliches Anrecht auf die Richtigkeit der Aussage hätte.“ 435 MS TL A 30. 436 Vgl. MS TL A 31f. 437 Steigleder (2002b, 246). <?page no="318"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 314 genügenden „notwendigen Zwecke“ verfolgt. Bei der Zweckzentriertheit sind Handlungen nur als faktische Manifestationen der Willensbestimmung von Interesse. Gegenüber der Rechtslehre wird die Begründung der Tugendlehre weitgehend als unproblematisch angesehen, da ihr oberstes Prinzip mit der Selbstzweckformel des kI identisch ist. 438 In Entsprechung zum „obersten Prinzip der Tugendlehre“ benennt Kant zwei höchste, notwendige Zwecke, die der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen genügen, zu denen die Menschen für sich selbst und für Andere existieren. In Bezug auf sich selbst ist es das Bemühen um „eigene Vollkommenheit“, während der höchste Zweck hinsichtlich anderer Menschen im Beitrag für „fremde Glückseligkeit“ liegt. 439 Lassen sich diese verpflichtenden Zwecksetzungen in spezifische Tugendpflichten entfalten, 440 unterscheidet Kant Tugendpflichten gegen sich selbst von Tugendpflichten gegen andere: 441 Zu ersteren gehören Tugendpflichten, die sich entweder auf die naturgegebenen physischen und psychischen Fähigkeiten (Gebot der Selbsterhaltung, Kultur der Gemüts- und Leibeskräfte; Verbot der Selbsttötung, sexuellen Selbstbefriedigung, sich zu überessen, zu betrinken) oder auf die Moralfähigkeit des Menschen beziehen (Gebot, den unbedingten Selbstzweck der eigenen und fremden Person in allen Handlungen zum obersten Zweck zu machen; Verbot der Lüge, des Geizes und der Kriecherei). Zu den Tugendpflichten gegen andere gehören Liebespflichten (Gebot der Wohltätigkeit, Hilfeleistung, Dankbarkeit, Anteilnahme am Wohl und Leid anderer Menschen) und Pflichten der Achtung (Verbot, sich über andere stellen). Innerhalb seines Pflichtenkatalogs differenziert Kant nochmals zwischen vollkommenen 438 Gegenüber der Begründung des „allgemeinen Rechtsgesetzes“ ist Kant hinsichtlich des Grundsatzes der Tugendlehre eindeutiger: Dieses verstatte „als ein kategorischer Imperativ, keinen Beweis, aber wohl eine Deduktion aus der reinen praktischen Vernunft“ (MS TL A 30). Entsprechend betonen z.B. Rawls (2004), Ricken (2000), Steigleder (2002b) u.a. die Kontinuität zwischen der GMS und der Tugendlehre. Eine Minderheitenmeinung ist hingegen die Diskontinuitätsthese von Anderson (1921), der in der inhaltlichen Bestimmung des Zweckbegriffs in der MS einen prinzipiellen Bruch und Neuansatz gegenüber der GMS (insbesondere BA 93) sieht. Dass dieser Einwand haltlos ist, zeigen die Überlegungen in Kap. 4.3.1.2. „Denn gäbe es keine dergleichen [Zwecke, die zugleich Pflicht sind; RB], so würden, weil doch keine Handlung zwecklos sein kann, alle Zwecke für die praktische Vernunft immer nur als Mittel zu anderen Zwecken gelten, und ein kI wäre unmöglich; welches alle Sittenlehre aufhebt“, konstatiert Kant MS TL A 12. Während in der GMS objektive Zwecke lediglich formal betrachtet werden (sie sind genau dann moralisch, wenn sie in solchen Handlungen realisiert werden, deren Maximen als allgemeines Gesetz gelten können), nennt der kI in der MS materiale Zwecke, die der Handelnde verfolgen soll. 439 Ebd. A 13ff. 440 Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die genannten Rechts- und Tugendpflichten als „empirische“ Anwendung des formalen moralischen Gesetzes historisch zu verstehen und zu bewerten sind. 441 Vgl. ebd. A 66ff. und A 116ff. <?page no="319"?> 4.3. Eine Begründung mithilfe der Kantischen Moralphilosophie 315 und unvollkommenen Pflichten: 442 Während vollkommene, „enge“ Pflichten klar definierte Unterlassungspflichten sind (z.B. Lügenverbot), lassen unvollkommene oder auch „weite“ Begehungspflichten (z.B. Liebespflichten) einen Handlungsspielraum bezüglich der Art und Weise ihrer Erfüllung zu. Im Unterschied zu engen Pflichten hat niemand Anrecht auf die Einhaltung der unvollkommenen Tugendpflichten, die daher nicht erzwungen werden können und verdienstvoll sind. Unter der Zielsetzung, Transparenz als positive Begehungsnorm zu begründen, werden die Kantischen Überlegungen zu den „vollkommenen Tugendpflichten gegen sich selbst“ (1), zu den „unvollkommenen Tugendpflichten gegen andere“ (2) und schließlich zu den „unvollkommenen Tugendpflichten gegen sich selbst“ (3) analysiert: (1) Als „vollkommene Tugendpflicht gegen sich selbst“, die den Menschen als ein moralisches Wesen betreffen, besteht für Kant zunächst die grundlegende Begehungspflicht, die Maxime des Willens mit der Würde der Menschheit in Übereinstimmung zu bringen. 443 Obwohl er diese positive Begehungspflicht bloß nebensächlich erwähnt, weshalb sie im Textduktus leicht überlesen werden kann, stellt sie für die ungleich ausführlicher erläuterten Unterlassungspflichten die Begründungsbasis dar. Im Rahmen der Unterlassungspflichten nimmt die Thematisierung der Lüge eine prominente Stellung ein, die er als „größte Verletzung der Pflicht des Menschen gegen sich selbst, bloß als moralisches Wesen“ bezeichnet. 444 Versteht Kant darunter das vorsätzliche Sagen dessen, was man für die Unwahrheit hält, differenziert er nochmals zwischen der „inneren“ (der Selbsttäuschung) und „äußeren“ Lüge (der Fremdtäuschung). Demzufolge hat für ihn auch die Selbstlüge eine moralische Dimension, die sich zur Frage verdichten lässt: Hat der Sprecher alles in seiner Möglichkeit stehende versucht, um eine Selbsttäuschung auszuschließen? 445 Da sich Kant hierbei 442 Es werden nur die charakteristischen Unterscheidungsmerkmale in der MS TL A 20f. genannt, von denen Kant - zur großen Irritation von Esser (2004, 345) - teils abweicht. Ordnet er die vollkommenen Pflichten eigentlich der Rechts- und die unvollkommenen der Tugendlehre zu, finden sich auch bei den Tugendpflichten gegen sich selbst „enge“ Pflichten, die auf äußere Handlungen gehen (z.B. das Verbot der Selbsttötung). Höffe (2004, 266) spricht hierbei von „Mischpflichten“, da sie sowohl Rechts- und Tugendcharakter haben. 443 MS TL A 68. 444 Ebd. A 83, §9. 445 MS TL A 83f. und 85. Dietz (2002b, 100) ist zwar zuzustimmen, dass es Kant bei der inneren Lüge um ein epistemisches Problem geht. Hierbei spiele „nicht der unwahrhaftige Gebrauch der Sprache die entscheidende Rolle, als vielmehr die bewußte Selektivität der Wahrnehmung, die Differenz zwischen Bewußtem und Unbewußtem, der Verstoß gegen die Regeln vernünftiger Begründung und das Verwechseln von Wünschen und Wissen“. Sie unterschätzt aber die damit verbundene moralische Dimension des Verbots. <?page no="320"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 316 auf die Absicht des Sprechers bezieht, ist es für die moralische Beurteilung sekundär, ob die Behauptung der Wahrheit entspricht oder nicht; der Mensch steht primär unter dem Anspruch der Wahrhaftigkeit, nicht der Wahrheit. 446 Doch wenden wir uns der äußeren Lüge zu, die im Mittelpunkt der Erläuterungen steht. Die Pflichtverletzung „gegen sich selbst, bloß als moralisches Wesen betrachtet“ besteht für Kant darin, dass der Lügner „sich selbst des Vorzugs eines moralischen Wesens“, d.h. der inneren Freiheit beraubt, die darin besteht, nach vernünftigen Prinzipien zu handeln, und „dadurch zum Spiel bloßer Neigungen, also zur Sache“ werde. 447 Als Neigungen kommen unterschiedliche Spielarten der affektiven Selbst- und Fremdliebe in Betracht, die allesamt heteronome Motivationsgründe sind: „Die Lüge […] bedarf es auch nicht, anderen schädlich zu sein, um für verwerflich erklärt zu werden; denn da wäre sie Verletzung der Rechte anderer. Es kann auch bloß Leichtsinn, oder gar Gutmütigkeit, die Ursache davon sein, ja selbst ein wirklich guter Zweck dadurch beabsichtigt werden, so ist doch die Art, ihm nachzugehen, durch die bloße Form ein Verbrechen des Menschen an seiner eigenen Person“. 448 Kant verwirft demzufolge in Fortführung seines bisherigen rigoristischen Argumentationsduktus’ jede Form des lügenhaften Sprechens, unabhängig der möglicherweise guten sekundären Absicht, die ein Sprecher verfolgt. Wie er weiter erläutert, gebrauche sich der Mensch als moralisches Wesen in jedem Falle auf der Ebene des Erscheinungswesens „als bloßes Mittel (Sprachmaschine) […], das an den inneren Zweck (der Gedankenmitteilung) nicht gebunden wäre“. 449 Bei dieser Selbstentzweiung degradiere sich 446 Diesen Aspekt erfasst Schmidt-Sauerhöfer (1978, 43), der sich auf die Schlussanmerkungen der Schrift Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee (1791) beziehen kann, in denen Kant konstatiert, „daß das, was jemand sich selbst oder einem anderen sagt, wahr sei: dafür kann er nicht jederzeit stehen (denn er kann irren), aber kann und muß er stehen, daß sein Bekenntnis oder Geständnis wahrhaft sei, denn dessen ist er sich unmittelbar bewußt“. 447 MS TL A 68. 448 MS TL A 85. Wenngleich er es im Rahmen der zugehörigen kasuistischen Fragen (ebd. A 87f.) offen lässt, ob etwa die „Höflichkeitslüge“ verboten sei, kann hierin kein Fingerzeig für eine Abschwächung des zuvor begründeten Lügenverbots gesehen werden. Vielmehr ist es plausibler, in den zuvor entwickelten Grundsätzen eine implizite Beantwortung enthalten zu sehen und die Offenheit als didaktischen Kniff zu interpretieren. Vgl. Annen (1997, 242) für einen Überblick über die exegetischen Positionen. 449 MS TL A 85. Wie Dietz (2002b, 96) genau beobachtet, scheint Kant zwischen dem Sprachvermögen des Menschen in physischer und moralischer Hinsicht zu unterscheiden: „[D]er Mensch ist nicht nur physisch zur Sprache begabt, er ist keine bloße ‚Sprachmaschine‘, sondern er ist mit diesem Vermögen an den ‚inneren Zweck‘ der <?page no="321"?> 4.3. Eine Begründung mithilfe der Kantischen Moralphilosophie 317 der Mensch, der eine Einheit aus homo noumenon und phaenomenon darstellt, zum bloßen Erscheinungswesen, weshalb sich Kant zur dramatischen Aussage hinreisen lässt: „Die Lüge ist Wegwerfung und gleichsam Vernichtung seiner Menschenwürde. Ein Mensch, der selbst nicht glaubt, was er einem anderen (wenn es auch eine bloß idealische Person wäre) sagt, hat einen noch geringeren Wert, als wenn er bloß Sache wäre.“ 450 Kant verwahrt sich demzufolge gegen eine Selbstinstrumentalisierung des Menschen, die bei der bloßen Form der vorsätzlichen Lüge vorliegt und die er durch die Selbstzweckformel kategorisch ausgeschlossen hat. Gegenüber der analogen Rechtspflicht gegen andere, die unter der Voraussetzung begründet ist, dass auch wirklich die äußeren Freiheitsrechte anderer Personen tangiert werden, sind die Anforderungen der Tugendpflicht gegen sich selbst weitaus anspruchsvoller. Unabhängig der kontraktualen Erwartungen anderer Personen und der beobachtbaren Konsequenzen der Täuschungshandlung hinsichtlich der äußeren Freiheit - ja sogar unabhängig der sekundären Absichten wird bereits die zugrunde liegende Zwecksetzung als unmoralisch entlarvt. In dieser Zweck- und Maximenorientierung lässt sich die Kantische Argumentation freilich nicht auf die Begründung eines Lügenverbots im engen Sinne einschränken, sondern ist auf die Begründung der Unterlassungspflicht weiterer Formen des Täuschungshandelns auszuweiten. 451 Die Unterlassungspflicht intransparenter Sprechakte stellt demzufolge eine „vollkommene Tugendpflicht gegen sich selbst“ dar. Ein Sprecher, der relevante Informationen verschweigt oder verschleiert, gebraucht sich als „bloßes Mittel“ und kommt dem moralischen Auftrag, der in seiner Vernunftnatur begründet ist, nicht nach. ‚Gedankenmitteilung‘ gebunden, der auch als ‚natürliche Zweckmäßigkeit‘ bezeichnet wird“. 450 MS TL A 84. In seiner Ethik-Vorlesung polarisiert Kant (2004, 171f.) ähnlich: „Die Lüge ist mehr eine Verletzung der Pflicht gegen sich selbst als gegen andere, ein Lügner wenn er auch keinem anderen Menschen einen Schaden thut, so ist er doch dadurch ein Gegenstand der Verachtung, er wirft seine Person weg […]. Denn ohne noch zu erklären, was die Pflicht gegen sich selbst ist, so kann man sagen, wenn ein Mensch seine eigene Person entehrt, was kann man von dem noch fordern? “ [umgekehrte Zitationsreihenfolge; RB] Es wäre jedoch ein Missverständnis anzunehmen, dass Menschen beim Lügen die unveräußerliche Menschenwürde verlieren könnten, wie Kerstein (2008, 218) bemerkt: „They do not throw away their humanity, but rather, through disrespecting it, treat themselves as if they had none.“ Steigleder (2002b, 271) konkretisiert den Verlust der Menschenwürde dahingehend, dass der Lügner seine Vertrauenswürdigkeit unterminiere und sich darüber entwerte. 451 Hierzu schreibt Esser (2008, 294): „Not the external form, but the Maxim of the action marks the boundary between the overtly expressed unwillingness to reveal one’s thoughts and telling a lie.“ <?page no="322"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 318 Allerdings hängt die Kantische Argumentation, der Mensch instrumentalisiere sich bei einer Täuschungshandlung, von der starken Prämisse ab, ein vernünftiger, zweckhafter Sprachgebrauch bestehe in der wahrhaftigen Sprachmitteilung, während die Lüge einen Missbrauch der Sprache darstelle. 452 Sofern Kant den zweckmäßigen Sprachgebrauch als vernunftgeleitetes Vermögen des Menschen identifiziert, dient das Sprachmissbrauchsargument als Indikator dafür, dass sich der Mensch selbst instrumentalisiert. 453 Ist er der Auffassung, jede Lüge widerspreche der „natürlichen Zweckmäßigkeit“ der Sprache, vertritt er ein stark moralisiertes Sprachkonzept, dessen Plausibilität nicht unumstritten ist. Damit seine Argumentation bei einer moralneutralen Sprachtheorie nicht in sich zusammenfällt, müsste der Nachweis eines unvernünftigen Sprachgebrauchs vielmehr an die Täuschungsabsicht des Sprechers gebunden werden, die durch die Selbstzweckformel verworfen wurde. Dies führte zu einer partiellen Aufgabe der Begründung einer reinen Tugendpflicht gegen sich selbst; denn die Verwerfung der Täuschungsabsicht resultierte bei der Selbstzweckformel aus der unzulässigen Instrumentalisierung eines anderen. Der Rückgriff auf eine Verpflichtung gegenüber einer anderen Person muss nicht unbedingt zum Nachteil gereichen, sofern das Konzept einer moralischen Verpflichtung, die in der Beziehung zu sich selbst begründet sein soll, nur schwer nachvollziehbar ist: Wie ist es theoretisch möglich, dass eine Person zugleich Subjekt, Objekt und Adressat einer Verpflichtung ist? Zur Lösung dieser Paradoxie setzt Kant auf eine analytische Unterscheidung des Menschen als Vernunft- und Naturwesen (homo noumenon bzw. phaenomenon), gleichwohl diese beiden Facetten als untrennbar miteinander verbunden zu verstehen sind. 454 Da dieser Lösungsversuch wiederum eigene Probleme und Denkschwierigkeiten nach sich zieht, 455 ist es nicht verwun- 452 Dietz (2002b, 99) erkennt hierin ein auf Augustinus und Thomas zurückgehendes teleologisches, zugleich deskriptives und präskriptives Sprachkonzept, das Kant nicht begründet, sondern postuliert. An anderer Stelle (2000, 109) beschreibet sie das von ihr sog. „Argument vom Missbrauch der Sprache“ wie folgt: „Kurz gefasst lautet das Argument, die Sprache diene schließlich der Verständigung der Menschen untereinander, ein Lügner aber beabsichtigte mit seiner Äußerung die Täuschung seiner Adressaten und setze sich so in Widerspruch zum allgemeinen Zweck der Sprache. Wenn jeder jeden täuschen würde, hätte die Sprache keinen Verständigungswert mehr - deshalb sei das Lügen grundsätzlich unzulässig“. 453 Nach Thurnherr (2005, 45) verbindet Kant das klassische Argument vom natürlichen Sprachzweck mit der Idee der Selbstzwecklichkeit des Menschen: „Weil einem solchen Mißbrauch etwas zutiefst Widervernünftiges eignet und weil bei Kant die Vernünftigkeit den inneren Wert eines Menschen begründet, läßt sich die Verletzung der Wahrhaftigkeitspflicht auch als ‚Wegwerfung und gleichsam Vernichtung seiner Menschenwürde‘ beschreiben.“ 454 Vgl. MS TL A 65 sowie die Erläuterungen von Baranzke (2004, 222). 455 Es besteht die Gefahr, eine ontologische Trennung der beiden Facetten des Menschen voranzutreiben, die in der Literatur als Zwei-Welten-Lehre beschrieben wurde. Diese <?page no="323"?> 4.3. Eine Begründung mithilfe der Kantischen Moralphilosophie 319 derlich, dass Pflichten gegen sich selbst als unmodern aufgefasst werden und Moralität in der gegenwärtigen Ethik auf das Feld der sozialen Beziehungen eingegrenzt wird. Demzufolge ist eine Begründung des ITV B als Tugendpflicht gegen sich selbst gegenüber der Argumentation auf der Grundlage der Selbstzweckformel weniger überzeugend und stellt außerdem - was entscheidend ist - keinen greifbaren argumentativen Zugewinn dar. Da die Kantischen Überlegungen zu den Tugendpflichten gegen sich selbst außerdem keine plausible Begründung des Transparenzgebots (TG B ) anbieten, wenden wir uns nach diesem unbefriedigenden Ergebnis rasch den „Tugendpflichten gegen andere“ zu. (2) In der Tugendlehre wird die Pflicht eines jeden Menschen verhandelt, es sich zum obersten Zweck (bzw. zur Maxime) zu machen, in allen Handlungen auch dem unbedingten Selbstzweck fremder Personen Rechnung zu tragen. Aus der obersten Zwecksetzung der „fremden Glückseligkeit“ leitet Kant die unvollkommenen Tugendpflichten gegenüber anderen ab, die er in die positive „Liebespflichten“ und die komplementären negativen „Pflichten der Achtung“ unterteilt. 456 In Konzentration auf erstere wird Liebe „nicht als Gefühl (ästhetisch), d.i. als Lust an der Vollkommenheit anderer Menschen, nicht als Liebe des Wohlgefallens, verstanden (denn Gefühle zu haben, dazu kann es keine Verpflichtung durch andere geben), sondern muß als Maxime des Wohlwollens (als praktisch) gedacht werden, welche das Wohltun zur Folge hat.“ 457 Liebespflichten stellen somit moralische Pflichten dar, die unabhängig von kontingenten Emotionen eine praktische Verbindlichkeit involvieren, und zwar „anderer ihre Zwecke (so fern diese nur nicht unsittlich sind) zu den gerät, wie Korsgaard (2004, 232f., Anm. 25) zeigt, bei der Frage nach der Verantwortlichkeit für unmoralische Handlungen in Erklärungsnot: „Wenn wir in der noumenalen Welt durchweg moralische Entscheidungen treffen und wenn unsere noumenalen Entscheidungen unsere phänomenalen lenken, wie können dann schlechte Handlungen jemals auftreten? Und wenn sie auftreten, wie können wir für sie verantwortlich gemacht werden, wenn sie nicht unserem noumenalen Willen zugeschrieben werden können? “ Spricht Kant an anderer Stelle (GMS BA 108) von zwei „Standpunkten“, die der Mensch als homo noumenon und phaenomenon bei praktischen Überlegungen einnehmen könne, lehnen z.B. Beck (1974), Allison (1990) und Willaschek (1992) die Zwei-Welten-Lehre ab. Es bleibt die Frage offen, wie eine Person gegenüber sich selbst verpflichtet sein kann, ohne diese Selbstverpflichtung jederzeit aufheben zu können, was Krämer (1992, 17ff.) in aller Schärfe kritisiert. 456 Die Komplementarität der beiden Pflichten geht aus MS TL A 116f. hervor. 457 Ebd. A 118, §25. Wie Höffe (2004, 265) erläutert, erfolgen Wohltaten „nicht bloß aus Pflicht, sondern auch aus anderen Gründen […]. Das Wohlwollen ist dagegen die Eigenschaft des Willens und liegt nur allein dort vor, wo man nicht bloß der Pflicht genügt, den Mitmenschen Gutes zu tun, sondern die Wohltat auch aus dem Willen heraus vollbringt, dass es dem Mitmenschen gut ergehe“. <?page no="324"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 320 meinen zu machen“. 458 Kant begründet jene mit dem Imperativ der freien Zwecksetzung vernunftbegabter Personen, „[d]enn alles moralisch-praktische Verhältnis gegen Menschen ist ein Verhältnis derselben in der Vorstellung der reinen Vernunft, d.i. der freien Handlungen nach Maximen, welche sich zur allgemeinen Gesetzgebung qualifizieren […] können“. 459 Die unbedingte Selbstzweckhaftigkeit des Menschen soll sich also nicht nur (negativ) limitierend auf die eigenen Zwecksetzung, sondern auch (positiv) auf eine Unterstützung der Verfolgung von legitimen Zielen Anderer auswirken. E negativo ist er zu zeigen in der Lage, dass die Maxime eines selbstsüchtigen Menschen, anderen in Not nicht zu helfen, bei einer Verallgemeinerung zu einem Widerspruch im Wollen führt: „[S]o würde ihm, wenn er selbst in Not ist, jedermann gleichfalls seinen Beistand versagen, oder wenigstens zu versagen befugt sein.“ Da dies selbst von einem egoistischen Menschen vernünftigerweise nicht gewollt werden kann, „widerstreitet sich die eigennützige Maxime selbst, wenn sie zum allgemeinen Gesetz gemacht würde, d.i. sie ist pflichtwidrig, folglich die gemeinnützige, des Wohltuns gegen Bedürftige, allgemeine Pflicht der Menschen“. 460 Begründet Kant die Liebespflichten mithilfe des kI, schließt er ein egoistisches Kalkül als Motivationsgrund aus. Die spezielle Liebespflicht der Wohltätigkeit als weite Tugendpflicht umfasst eine Bereitschaft zur Hilfeleistung, die sich in den spezifischen Problemsituationen unterschiedlich darstellt. Voraussetzung für das Verpflichtetsein zur Hilfeleistung ist, dass man um eine konkrete Notlage eines Handelnden weiß und zur Hilfeleistung in der Lage ist. Obgleich Kant sie primär bei akuten physisch-materiellen Notsituationen zur Anwendung bringt, 461 lässt sie sich in ihrer übergeordneten Maxime durchaus auch auf generelle Hilfeleistungen bei der Gewinnung und Ausführung von Zwecksetzungen anderer Menschen übertragen, was hinsichtlich der Begründung 458 MS TL A 118, §25. Vgl. hierzu die Erläuterungen von Esser (2004, 374ff.). 459 MS TL A 120, §27. 460 Ebd. A 124, § 30, sowie GMS BA 56f. In der Lesart von O’Neill (2002a, 88) heißt es: „Since universal indifference would be enough to destroy, damage or undermine human agency for many, willing a principle of indifference as a universal law is incompatible with commitment to seek effective means for whatever projects we seek to pursue.“ 461 In der MS TL A 23 subsumiert Kant die Pflicht der Wohltätigkeit unter der „physischen Wohlfahrt“ und nicht unter dem „moralischen Wohlsein anderer“; vgl. auch A 124, §30. Nach Baranzke (2004, 237) beziehen sich die Liebespflichten daher auf andere Menschen als phänomenale Wesen, d.h. auf die „tätige Berücksichtigung moralisch erlaubter Wünsche und naturaler Bedürfnisse anderer Menschen […], die sich erst aus der Tatsache ihrer körperlichen Existenz ergeben“. Sie haben als Bezugsobjekt sowohl akute (z.B. lebensbedrohliche Situationen, Unannehmlichkeiten) als auch chronische Notlagen (z.B. Armut, Krankheit). <?page no="325"?> 4.3. Eine Begründung mithilfe der Kantischen Moralphilosophie 321 der Transparenznorm von Relevanz ist. 462 Wie wir gesehen haben, lassen sich Transparenzsuchende durch ihre beeinträchtigte Handlungsfähigkeit charakterisieren. Aus der Perspektive Kants macht es ihr unbedingter Wert prima facie erforderlich, dass der potentielle Helfer sich die Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit zum Zweck macht und hilft. 463 Insofern hierzu gegebenenfalls relevante Informationen dienlich bis unabdingbar sind, besteht die unvollkommene Tugendpflicht gegenüber Anderen, Informationen aktiv zu vermitteln, wenn der Informationsgeber zu der Auffassung kommt, ein Handlungsfähiger bedürfe dieser Informationen zur Ausführung seiner vernünftigen Zwecksetzungen. Aus der konträren Perspektive ist eine intransparente Äußerung, die den Anderen bei der Realisierung seiner Zwecke behindert und gegebenenfalls sogar einen Schaden verursacht, ein Verstoß gegen die spezielle Liebespflicht des Wohlwollens. 464 Dass die Wohltätigkeit etwa bei Erfüllung des Transparenzgebots nicht zu einem asymmetrischen Verhältnis zwischen Transparenzvermittler und Transparenzsuchenden führt, gebietet das „Prinzip der Gleichheit“, 465 welches Kant in die Tugendpflicht der Achtung, die „Würde der Menschheit an jedem anderen Menschen praktisch anzuerkennen“, verdichtet hat. 466 Dadurch ist ausgeschlossen, dass die Hilfe „zu einem egozentrischen Akt verkommt“ oder der Helfer die Hilfe dazu einsetzt, „den anderen in seiner Hilfsbedürftigkeit zu halten“. 467 Die Vorzüge einer solchen Begründung der Transparenznorm liegen auf der Hand: Während bisher ausschließlich die Begründung eines Verbots intransparenter Äußerungen geleistet werden konnte, liegt nun eine plausible Begründung des Transparenzgebots vor. Auch hinsichtlich der Zweigliedrigkeit des TG B ergibt sich ein argumentativer Zugewinn: Sofern es mit einer weiten Tugendpflicht identifiziert wird, die der „umrisshaften“ Zwecksetzung 468 der fremden Glückse- 462 Da die Tugendlehre lediglich eine „Schematisierung“ der allgemeinen ethischen Orientierung anbietet, die zur Umsetzung der moralischen Grundhaltung ins kontextspezifische konkrete Handeln befähigen soll (MS TL A 149f.), wird eine Erweiterung der Hilfspflicht im Sinne des Transparenzgebots für möglich gehalten. 463 Vgl. Steigleder (2002b, 251), für den die Pflicht zur Hilfeleistung eine Konkretion der grundlegenden Pflicht ist, „bereit zu sein, die anderen bzw. ihre legitimen Zwecke aufgrund ihres Status […] ‚zu würdigen‘, und sie gegebenenfalls in ihrem Handeln zu unterstützen, sofern sie dies bedürfen und wollen.“ 464 Vgl. MS TL A 43. 465 Ebd. A 121. 466 Ebd. A 140. Da es sich bei der „Pflicht der Achtung“ (A 139ff., §37) erneut um eine negative Pflicht handelt, wird sie nicht weiter erläutert. 467 Esser (2004, 377). 468 Vgl. die Auszeichnung der Aristotelischen Ethik als „umrisshafte“ durch Höffe (2006, 195), der damit zum Ausdruck bringt, dass jede Ethik nur umrisshafte Handlungsempfehlungen (sog. typô-Aussagen) geben kann, um auf verschiedene Situationen anwendbar zu sein. An anderer Stelle (2004, 256) verwendet er die gleiche Wortwahl, um die Kantischen Maximen bzw. weiten, unvollkommenen Pflichten zu charakteri- <?page no="326"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 322 ligkeit untergeordnet ist, umfasst das Transparenzgebot keine uniformen Handlungsanweisungen an die Protagonisten. Es impliziert vielmehr einen Spielraum der situationsgerechten Umsetzung, der durch die individuelle erfahrungsfundierte Urteilskraft des Handlungssubjekts gefüllt werden muss. Da die bloß formelle Weitergabe von Informationen (formelle Transparenz) für einen Transparenzsuchenden nicht per se hilfreich ist, müssen die vermittelten Informationen entsprechend den Rezeptionsfähigkeiten des Adressaten aufbereitet werden (inhaltliche Transparenz). Während die negative Unterlassungspflicht von Intransparenz primär in Beratungssituationen anwendbar ist, in denen ein Transparenzvermittler explizit um Auskunft über einen Sachverhalt gebeten wird, enthält das Transparenzgebot als positive Begehungspflicht einen universalen Aufklärungsimperativ: Ein Transparenzvermittler soll unabhängig von einer konkreten Auskunfts- und Beratungssituation aus Eigeninitiative heraus relevante Informationen wahrheitsgemäß, umfassend, verständlich und sprachlich angemessen an Transparenzsuchende vermitteln. Als Pflicht, die Zwecksetzungen des Anderen proaktiv zu unterstützen, gewinnt die Transparenznorm gegenüber einer bloßen Unterlassungspflicht intransparenter Sprechakte zugegeben an Radikalität. Hinfällig wird der Einspruch, ein potentieller Informationsgeber behindere den Transparenzsuchenden nicht, sich aus anderen Quellen Informationen anzueignen, sondern enthalte sich lediglich, diesem bei der Informationsgewinnung zu helfen; 469 ausgeschlossen wird die Ausrede „Ich hätte ja etwas gesagt, wenn ich gefragt worden wäre“. Dass damit keine exzessive Transparenz einhergehen muss, ergeht aus mindestens drei Aspekten: Erstens räumt Kant bei weiten Pflichten einen Spielraum in der Befolgung der Maxime ein, die es verhindert, exakt angeben zu können, „wie und wie viel durch die Handlung zu dem Zweck, der zugleich Pflicht ist, gewirkt werden solle“. 470 Entsprechend impliziert das Transparenzgebot eine weite und situativ abgestimmte Anwendbarkeit, die dem Hansieren: „Die Maximen geben nur den allgemeinen Grundriss einer Handlung an. Die zur Konkretisierung erforderlichen produktiven Interpretations- und Beurteilungsprozesse nach Maßgabe der Maxime vorzunehmen, ist Aufgabe der Urteilskraft.“ 469 Vgl. Munthe/ Welin (1996, 423f.), die dieses Argument u.a. Nozick zuschreiben und auf die negativen Konsequenzen aufmerksam machen: „[E]veryone is free to abstain from making inaccessible information accessible even if it could save lives and prevent considerable suffering.“ 470 MS TL A 20. Gleichwohl möchte er dies nicht als „eine Erlaubnis zu Ausnahmen von der Maxime der Handlungen“ verstanden wissen. Als diskutable Faktoren für die Pflicht zur Hilfeleistung nennt Steigleder (2002b, 256): (a) Dringlichkeit der Hilfsbedürftigkeit; (b) Ist jemand überhaupt in der Lage ist, Hilfe zu leisten? ; (c) Kann jemand ohne unverhältnismäßige Einbuße am eigenen Wohlergehen Hilfe leisten? ; (d) Stehen andere überwiegende Pflichten einer Hilfeleistung entgegen (z.B. Vorstellungsgespräch einhalten vs. Starthilfekabel fürs Auto besorgen); (e) Bestehen bestimmte Bindungen zu demjenigen, der Hilfe braucht? <?page no="327"?> 4.3. Eine Begründung mithilfe der Kantischen Moralphilosophie 323 delnden die Entscheidung erlaubt, wem, mit welchen Mitteln und in welchem Ausmaß zu helfen sei. 471 Umgekehrt besteht im Rahmen einer wieten Tugendpflicht die Entscheidungsfreiheit, bestimmte Zwecksetzungen des Anderen nicht zu unterstützen. Die Verweigerung einer Hilfeleistung darf freilich nicht aus subjektiven Neigungen (z.B. Widerwärtigkeiten) geschehen, sondern muss vernünftig begründet sein. 472 Kant hat hierbei hauptsächlich unsittliche, fremde Zwecke im Blick, durch die etwa die Entscheidungs- und Handlungsfreiheit dritter Personen eingeschränkt wird, 473 sowie Zwecke, die nicht als glückseligkeitsdienlich beurteilt werden. 474 Aus diesen Bedingungen resultiert eine wichtige Einschränkung des Transparenzgebots, die eine rigoristische Auslegung verhindert: Die Einschlägigkeit des proaktiven Transparenzgebot findet dort ihre Grenze, wo Transparenzsuchende mit erhaltenen Informationen (vermutlich) unerlaubte Zwecke zu verfolgen beabsichtigen, z.B. zur Schädigung anderer Menschen einsetzen möchten. Wir erinnern uns kontrastierend an das Verbot der Intransparenz, das in Folge des Kantischen Argumentationsduktus als eine absolute Unterlassungspflicht begründet wurde, die unabhängig der konkreten Zwecksetzung des Interaktionspartners gilt, und erst im Rahmen einer Güterlehre relativiert werden konnte. Zweitens schränken notwendige Folgenüberlegungen eine rigoristische Interpretation des Transparenzgebots ein. Der beliebte Vorwurf, durch den Ausschluss von Folgenüberlegungen aus der Begründungsebene immunisiere Kants Ethik gegen das tatsächliche Wohlergehen der Mitmenschen, wird durch die genannte weite Hilfspflicht in die Schranken gewiesen. 475 Soll man sich spä- 471 Höffe (2000b, 214) entnimmt sogar der Definition der vollkommenen Pflicht als derjenigen, „die keine Ausnahme zum Vorteil der Neigung verstattet“ (GMS BA 53, Anm.), dass das Hilfsgebot als unvollkommene Pflicht ab und an eine Ausnahme zum Vorteil der Neigung zulässt. Ähnlich auch Baron (2008), die aus dem Spielraum ihrer Umsetzung schließt, dass subjektive Präferenzsetzungen bei der Erfüllung zugelassen seien (z.B. dass man eigene Freunde oder Verwandte bevorzugt behandeln könne). Als Beleg kann hierbei Kants Bemerkung zur moralischen Freundschaft dienen: „Ein jeder Mensch hat Geheimnisse und darf sich nicht blindlings anderen anvertrauen […]; zumal da die engeste Freundschaft es verlangt, daß dieser verständige und vertraute Freund zugleich verbunden ist, ebendasselbe ihm anvertraute Geheimnis einem anderen, für eben so zuverlässig gehaltenen, ohne des ersteren ausdrückliche Erlaubnis nicht mitzuteilen.“ (§ 47 TL). 472 Vgl. MS TL A 17. 473 Vgl. ebd. A 118, §25. 474 Dies geht aus ebd. A 17 hervor. 475 Diese Argumentation zur Rehabilitierung Kants bezüglich der Folgenblindheit geht auf Höffe (2004, 258f.) zurück, der sie vor dem Hintergrund des Hilfsgebots entfaltet: „Wer aber das Wohlergehen anderer tatsächlich befördern und es nicht bei der leeren Behauptung belassen will, muss sich konkreten Menschen und ihren jeweiligen (elementaren) Bedürfnissen zuwenden, die sich nicht rein rational und a priori, sondern nur empirisch feststellen lassen. Er muss sich überlegen, womit er angesichts der zur <?page no="328"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 324 testens auf der Anwendungsebene der Tugendpflicht über die Konsequenzen seines Handelns im Klaren sein, hat dies auch Auswirkungen auf das abgeleitete Transparenzgebot. Bei der Verfolgung der moralischen Zwecksetzung der fremden Glückseligkeit ist Transparenz nicht um jeden Preis herzustellen, sondern nur, sofern es der Verwirklichung der Zwecksetzung des Anderen dient. 476 Dies betrifft sowohl die Qualität als auch Quantität der vermittelten Informationen, so dass ein Transparenzsuchender berechtigterweise keine Flut unverständlicher Informationen erwarten darf. Drittens besteht die Möglichkeit, dass potentielle Transparenzsuchende aus dem Gros der Informationen bestimmte Informationen nicht wissen wollen. Sofern die verpflichtende Hilfeleistung nicht nur davon abhängt, dass Andere auf Hilfe angewiesen sind, sondern auch davon, dass sie diese Hilfe tatsächlich wollen, findet das Transparenzgebot an dieser Stelle eine weitere wichtige Einschränkung. 477 Insgesamt ist der polemische Einspruch, ein Wissenschaftler wäre bei einer Transparenzpflicht nach einem einzigen abgeschlossenen Forschungsprojekt für sein restliches Leben mit der Informierung autonomer Personen beschäftigt und könne sich nicht mehr der gesellschaftsdienlichen Forschung widmen, bei einer Kantischen Begründung haltlos. 478 Mit der Kantischen Argumentation ist man außerdem in der Lage, die Notwendigkeit temporärer wissenschaftlicher Intransparenz beim Verlauf der Forschung zu berücksichtigen. Sofern nur überprüftes wissenschaftliches Wissen dem einzelnen Laien helfen kann, sachliche Entscheidungen zu fällen, müssen wissenschaftliche Ergebnisse in einem für die Öffentlichkeit teils intransparenten Prozess entstehen können, bevor sie als wissenschaftliches Wissen verbreitet werden. Ausnahmen vom herkömmlichen wissenschaftlichen Beglaubigungsprozess sind nur dann möglich, wenn der Wissenschaftler Grund zur Annahme für die Dringlichkeit einer gesellschaftlichen Informierung hat, bevor eine kollektive wissenschaftliche Überprüfung stattfindet. In diesem Fall gebietet die Transparenznorm allerdings, den vorläufigen Status der Information kenntlich zu machen. Verfügung stehenden Mittel einer Person A in ihrer gegenwärtigen Lage Erfolg versprechend helfen kann.“ Vgl. auch Hill (2008, 35), nach dem Verwirklichung der Pflicht, die fremde Glückseligkeit zu befördern, nicht ohne Einschätzung der möglichen Handlungsfolgen auskommen könne. 476 Wie aus MS TL A 43 hervorgeht, stellt ein in-Kauf-genommener Schaden durch eine Lüge für Kant einen Verstoß gegen die Pflicht des Wohlwollens dar, wenngleich die Pflicht der Wahrhaftigkeit aufgrund des Verbots der Selbstinstrumentalisierung übergeordnet ist. 477 Das „Recht auf Nichtwissen“, welches insbesondere im biomedizinischen Kontext einschlägig ist, gewinnt hierbei eine ethische Fundierung. 478 Dieser Einwand findet sich bei Munthe/ Welin (1996, 424). Erinnert werden soll auch an das eingeführte Relevanzkriterium in Kap. 2.3.1.2. <?page no="329"?> 4.3. Eine Begründung mithilfe der Kantischen Moralphilosophie 325 (3) Die bisherigen Überlegungen kumulieren in der „Tugendpflicht gegenüber sich selbst“ zur Entwicklung einer „moralischen Vollkommenheit“: Die Selbstmoralisierungspflicht besteht ihrerseits aus der „Vollkommenheit“ im engen Sinne, die eine Vollständigkeit der Erfüllung aller Pflichten vorsieht und der „Lauterkeit der Pflichtgesinnung“, die darin besteht, das Moralgesetz allein als Triebfeder des Handelns zuzulassen („Handle pflichtgemäß, aus Pflicht“). 479 Sofern die handelnd zu berücksichtigende Selbstzweckhaftigkeit der eigenen und fremden Person durch die Transparenznorm ein materiales Telos erfährt, gehört sie also zum Kanon an Pflichten, den ein moralischer Handelnder im Sinne der Vollständigkeit in allen einschlägigen Situationen zu beachten und im Sinne der Lauterkeit „aus Pflicht“ zu erfüllen hat. Und nicht nur das. Soll sich das Moralsubjekt insgesamt zur „moralischen Vollkommenheit“ kontinuierlich entwickeln, mit dem Ziel, das Wollen mit dem moralischen Sollen dauerhaft in Einklang zu bringen, ist das dahinterstehende Tugendkonzept auch für die Verwirklichung der TN B von Belang. Ergeht der moralische Auftrag an den Transparenzvermittler, die Transparenznorm mit der richtigen Gesinnung zu realisieren, besteht die Erwartung, dass er sich durch die Realisierung einen Habitus erwirbt, der die Umsetzung der TN B erleichtert. 480 Am Horizont erscheint Transparenz als Tugendpflicht, die durch den Erwerb subsidiärer intellektueller, emotionaler, physischer und moralischer Fähigkeiten (z.B. epistemische „Forschertugenden“, kommunikative Kompetenz) erfüllt werden kann. 481 Da sich der Mensch in seiner moralischen Qualität als homo noumenon nicht erkennen und in der Erfüllung der „Lauterkeit“ und „Vollkommenheit“ nie sicher sein kann, ist die Aufgabe der Selbstvervollkommnung - auch hinsichtlich der Befolgung der Transparenzpflicht - eine lebenslange Aufgabe, um die er sich immer wieder von Neuem bemühen muss. 482 479 MS TL A 113ff., §§21f. 480 Mit dieser Interpretation lässt sich die Fundamentalkritik von Williams (1999, 97) und McDowell (1997) an der Kantischen Moralphilosophie entkräften, wonach Sollenssätze nur dann eine Überzeugungskraft hätten, wenn der Handelnde sie nicht als „externe Gründe“, sondern vielmehr als „interne Gründe“ annehmen könnte und durch sie motiviert werde. Als Weiterentwicklung der Tugendpflicht der moralischen Vollkommenheit kann das Konzept des self-fulfillment von Gewirth (1998) angesehen werden. Dessen Elemente, die reflektierte Wunscherfüllung (aspiration-fulfillment) und Fähigkeitenverwirklichung (capacity-fulfillment), die den Bereichen der Moral und Tugend zuzuordnen sind, stehen unter dem Diktat seines rational begründeten Moralprinzips. 481 Damit wird der berechtigten Forderung von Mieth (1996, 22) Rechnung getragen, eine umfassende „Wahrheitshermeneutik“ habe neben dem sollensethischen Aspekt der Wahrhaftigkeit in der Kommunikation auch den strebensethischen Aspekt der epistemischen Annäherung an die Wirklichkeit zu berücksichtigen. 482 Vgl. MS TL A 114. <?page no="330"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 326 Erinnert die Tugendpflicht der moralischen Vollkommenheit vordergründig an klassische Tugendmodelle, hat Kant eine ganz eigene Vorstellung von Tugend, die auf sein Konzept des moralisch guten Willen zurückzuführen ist: 483 Demzufolge erscheint Tugend als eine generelle Disposition, aus Pflicht zu handeln - eine Idee der Grundlegungsschrift, die er in der MS weiterentwickelt, wenn er sie als „moralische Stärke des Willens eines Menschen in Befolgung seiner Pflicht“ definiert. 484 In kritischer Distanz zu einer ausschließlich empirischen Erklärung für die Stärke bzw. Schwäche des moralischen Willens, sei es als kontingente Charakterdisposition oder als erworbener Habitus, konzipiert Kant Tugend als eine praktische Eigenschaft des Willens. Der tugendhafte Mensch zeichnet sich durch das Vorhandensein eines guten und starken Willen aus. 485 Bezüglich der Gewinnung von Tugend ist Kant der Auffassung: „[O]bgleich das Vermögen (facultas) der Überwindung aller sinnlich entgegenwirkenden Antriebe, seiner Freiheit halber, schlechthin vorausgesetzt werden kann und muß: so ist doch dieses Vermögen als Stärke (robur) etwas, was erworben werden muß, dadurch, daß die moralische Triebfeder (die Vorstellung des Gesetzes) durch Betrachtung (contemplatione) der Würde des reinen Vernunftgesetzes in uns, zugleich aber auch durch Übung (exercitio) erhoben wird.“ 486 Kant bringt hiermit zum Ausdruck, dass eine Person zwar jederzeit aus Pflicht zu handeln in der Lage ist, aber der Tugendhafte zudem eine erworbene Stärke, d.h. generelle Neigung zur Erfüllung der Pflicht in allen Situationen innehat. Der tugendhafte Wille, der durch lange Einübung entwickelt aber nie endgültig erworben wird, 487 motiviert eine Person, die mo- 483 Ich beziehe mich im Folgenden hauptsächlich auf die plausible Interpretation von Hill (2008). 484 MS, TL A 46. 485 Hill (2008, 41ff.) beschreibt erhellend den Unterschied zwischen einer Person mit einem guten Willen und einer tugendhaften Person: Eine Person mit einem guten Willen richte zwar ihre Lebensmaxime auf das moralische Gesetz aus; da der Wille aber schwach sein könne, entscheide sie sich gelegentlich aus Willkür in Abweichung zum kI zu handeln. Eine tugendhafte Person hingegen habe nicht nur einen guten, sondern auch einen starken Willen, die regelmäßig auftretenden Neigungen ausnahmslos zu überwinden. 486 MS TL A 33. 487 Der Aspekt der Einübung geht auch aus der Beschreibung Kants ebd. A 53 hervor, die Tugend sei „immer im Fortschreiten und hebt doch immer von vorne an“. Beide Aspekte der Tugend erläutert Kant anschließend: „Das erste folgt daraus, weil sie, objektiv betrachtet, ein Ideal und unerreichbar, gleichwohl aber sich ihm beständig zu nähern dennoch Pflicht ist. Das zweite gründet sich, subjektiv, auf der mit Neigungen affizierten Natur des Menschen, unter deren Einfluß die Tugend […] niemals sich in Ruhe und Stillstand setzen kann, sondern, wenn sie nicht im Steigen ist, unvermeidlich sinkt“. Die Kantische Ambivalenz bezüglich des Tugendkonzepts, die sich im <?page no="331"?> 4.3. Eine Begründung mithilfe der Kantischen Moralphilosophie 327 ralisch richtige Handlung auszuführen, die sie qua Vernunft apriorisch eingesehen hat. Damit sind die noumenale Einsicht in die Pflicht und die phänomenale Einübung konstitutive Elemente für die Gewinnung von Tugend als moralischer Willensstärke. Reformuliert Kant Tugend ganz im Sinne seiner deontologischen Moralvorstellung, weist er zugleich den Tugenden, die in der traditionellen Bedeutung Charaktereigenschaften mit spezifischem Objektbereich sind, eine neue Funktion zu: „Die Tugend, als die in der festen Gesinnung gegründete Übereinstimmung des Willens mit jeder Pflicht, ist, wie alles Formale, bloß eine und dieselbe. Aber in Ansehung des Zwecks der Handlungen, der zugleich Pflicht ist, d.i. desjenigen (des Materiale), was man sich zum Zwecke machen soll, kann es mehr Tugenden geben und die Verbindlichkeit zu der Maxime desselben heißt Tugendpflicht, deren es also viele gibt.“ 488 Kant behält zwar die Eigenschaft des spezifischen Objektbereichs von Tugenden bei, ordnet sie jedoch in seinem Moralsystem den zentralen Tugendpflichten zu bzw. stellt sie ihnen nach. Erwähnt er bei der Erörterung der spezifischen Tugendpflichten in der „Ethischen Elementarlehre“ der Tugendlehre die korrespondierenden klassischen Tugenden (z.B. Wahrhaftigkeit, Mut, Wohlwollen etc.), sind sie für ihn systematisch nur soweit von Interesse, wie sie der Verwirklichung der Tugendpflichten dienen. 489 Sofern sie für die Motivation zum moralischen Handeln hilfreich sind, 490 werden sie auf die Ebene subsidiärer Elemente zur Erfüllung der handlungsbezogenen Tugendpflichten reduziert. Da die Verwirklichung tugendhafter Handlungen bzw. der Tugendpflichten in der richtigen Motivation zum Handeln, und zwar im Handeln aus Pflicht besteht, muss die Möglichkeit Spannungsfeld zwischen praktisch nützlicher Gewöhnung und theoretisch unhintergehbarer Freiheit ausdrückt, wird von Bollnow (1958, 22) treffend erfasst. 488 MS TL A 29. In A 48 ordnet er die Tugenden moralischen Gegenständen zu, „auf die der Wille aus dem einigen Prinzip der Tugend geleitet wird“. 489 In Bezug auf die einschlägigen Stellen der Tugendlehre (z.B. Wahrhaftigkeit in MS TL A 83) resümiert Hill (2008, 32): „We have particular virtues insofar as our will to fulfill various specific duties is strong, but it is not the implications of Kant’s position for particular virtues (and vices) of character that is most interesting.“ Schon aus dem Aufbau der Tugendlehre ist die nachrangige Stellung der Tugenden ersichtlich. Während Kant in der „ethischen Elementarlehre“ ausführlich ein System von Tugendpflichten entwirft, welches vernünftig einsehbar sein soll, behandelt er die traditionelle pädagogische Vermittlung der Tugenden, z.B. durch Lehre (Doktrin) und Vorbild (Exempel), nur auf wenigen Seiten in der „ethischen Methodenlehre“. 490 Aufgrund der Kantischen Aussagen z.B. in der MS TL A 176, §53 - „[d]enn […] was man aber nicht mit Lust, sondern bloß als Frohndienst tut, das hat für den, der hierin seiner Pflicht gehorcht, keinen inneren Wert und wird nicht geliebt, sondern die Gelegenheit ihrer Ausübung so viel möglich geflohen“ - urteilt Hill (2008, 52), in Kants Denken seien Nachahmung, kultivierte Gefühle und gute Gewohnheiten Hilfen für ein tugendhaftes Leben. <?page no="332"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 328 einer tugendunabhängigen Pflichterfüllung, also aus reiner praktischer Vernunft, vorausgesetzt werden. Insgesamt zementiert die Kantische Tugendlehre eine systematischhierarchische Vorrangstellung der Vernunft gegenüber der Tugend bzw. den Tugenden, die letztlich auch chronologisch begründet ist. Da tugendhafte Dispositionen nur in Ausübung der Pflicht bzw. der Tugendpflichten gewonnen werden (wenn wir z.B. unsere eigene moralische Vollkommenheit als Ziel anstreben), bedarf es zunächst der vernünftigen Einsicht in die Pflicht und der vorgängigen Entscheidung der reinen praktischen Vernunft für das Handeln aus Pflicht (z.B. die eigene Vollkommenheit als Zweck zu wählen). Eine tugendhafte Person entwickelt nun alsbald die Disposition, aus Pflicht zu handeln, wodurch sie in der Lage ist, die spezifischen Tugendpflichten zu erfüllen. Tugend bzw. Tugenden sind demzufolge Sedimente, die „auf dem Rücken“ von moralischen Handlungen entstehen, 491 die bereits als moralisch eingesehen und regelmäßig aus Pflicht vollzogen wurden; sie sind Produkte von moralischen Handlungen und gehen diesen nicht als Ursache voran. Entsprechend können sie als Erkennungszeichen für einen moralischen Menschen angesehen werden. 492 Braucht es weder der Tugend, noch den Tugenden, um die Pflicht bloß aus Pflicht zu erfüllen, haben wir bei Kant folgende systematische Hierarchie vorliegen: (a) Einsicht der Pflicht bzw. der Tugendpflichten durch die praktische Vernunft und entsprechendes Handeln; (b) generelle Tugend als „Tapferkeit“ in der Erfüllung der Pflicht 493 ; (c) Tugenden zur Erfüllung der spezifischen Tugendpflichten. 494 So, wie sich der Tugendbegriff systematisch dem der Pflicht zuordnen lässt, gehören die Tugenden zu den Tugendpflichten; so, wie sich die generelle Pflicht in einzelne Tugendpflichten konkretisieren lässt, ist die generelle Tugend in einzelne Tugenden analysierbar. Es bleibt rätselhaft, weshalb es Kant einerseits nicht als Pflicht ansieht, Tugend zu erwerben oder zu besitzen, 495 andererseits aber die moralische Pflicht zur Kultivierung solcher Charakterzüge betont, die uns helfen ein moralisches Leben zu führen. 496 Die Kantische Ambivalenz in der Bedeutungszuschrei- 491 Vgl. Mieth (1984, 31). 492 Dieser Auffassung ist auch Hill (2008, 57). 493 Vgl. MS TL A 4. 494 Dass Querverbindungen möglich sind, zeigt Vogt (2008, 229). Die Gewinnung von Tugend bei der moralischen Selbstvervollkommnung gelänge nur dann, wenn wir unser Handeln an anderen Tugendpflichten ausrichteten, die eine materiale Vorgabe für die Gewinnung von formaler Tugend darstellen. 495 Vgl. MS TL A 46: „Sie [Tugend; RB] ist nicht selbst, oder sie zu besitzen ist nicht Pflicht (denn sonst würde es eine Verpflichtung zur Pflicht geben müssen), sondern sie gebietet und begleitet ihr Gebot durch einen sittlichen (nach Gesetzen der inneren Freiheit möglichen) Zwang“. 496 Vgl. ebd. A 15: „Es ist ihm Pflicht: […] Die Kultur seines Willens bis zur reinesten Tugendgesinnung, da nämlich das Gesetz zugleich die Triebfeder seiner pflichtmäßigen <?page no="333"?> 4.3. Eine Begründung mithilfe der Kantischen Moralphilosophie 329 bung ist wohl nur dadurch zu erklären, dass er bei seinem Ringen um systematische Konsistenz einerseits Tugend und Tugenden aus der Ebene der Moralbegründung (als principium diiudicationis) eliminieren und ihre Bedeutung in der Moralphilosophie beschneiden möchte, aber zugleich ihre Notwendigkeit auf der Ebene der Motivation (als principium executionis) eingestehen muss. 497 Vor diesem nicht wenig trivialen Hintergrund scheint nun die Tugendpflicht zur moralischen Vollkommenheit, mit dem Auftrag der „Lauterkeit der Pflichtgesinnung“ und der Vollständigkeit der Erfüllung aller Pflichten eine Schlüsselstellung innezuhaben, als darin Kants Konzept der Tugend, der Tugenden und Tugendpflichten amalgamiert wird. Durch den Versuch der Befolgung der Tugendpflicht, immer und überall pflichtgemäß aus Pflicht zu handeln, erwartet Kant, dass eine Person eine positive Einstellung zur Ausübung der Pflicht gewinnt und letztlich zur tugendhaften Person wird. Ist an Kants Tugendkonzept berechtigterweise zu kritisieren, die Frage nach dem sittlichen personalen Charakter eben nicht mehr vor derjenigen der sittlichen Handlung zu stellen und darüber die identitätsstiftende und lebensumfassende Bedeutung tugendethischer Fragen dezimiert zu haben, 498 kann ihm zugute gehalten werden, mithilfe einer personenunabhängigen, substantiellen Definition der richtigen Handlung, etwa im Unterschied zur Aristoteles’ Tugendethik, eine eindeutige Bestimmung und Handlungen wird, zu erheben und ihm aus Pflicht zu gehorchen, welches innere moralisch-praktische Vollkommenheit ist“. In diesem Abschnitt, in welchem Kant den Zweck der eigenen Vollkommenheit erläutert, erscheint somit die Gewinnung von Tugend als „Zweck der zugleich Pflicht ist“, d.h. als Tugendpflicht. 497 Die beiden Prinzipien habe ich Schönecker/ Wood (2004, 26ff.) entnommen, die unter dem Begriff principium executionis allerdings das Gefühl der Achtung erörtern. Gegenüber Hill (2008, 54), die moralische Gefühle (Achtung, Gewissen, Nächstenliebe) von Tugenden trotz ähnlicher systematischer Funktion dezidiert abzugrenzen bemüht ist, folge ich der Position von Baron (2004, 89). Wenn er der Auffassung ist, Kant mache „in der Diskussion von Tugend und Laster sowie der Pflicht zur Charakterbildung deutlich […], dass er die handlungsbegleitenden Gefühle und Einstellungen nicht als unerheblich ansieht und die Freude an moralisch gebotenen Handlungen vielmehr als Teil der Tugend betrachtet“, erwägt er moralische Gefühle neben der rationalen Einsicht als Tugendkomponenten; diese Interpretation legt auch MS TL A 15 nahe. 498 Nach Hübenthal (2002, 89) ist Kants Moralphilosophie als Ausdruck der „im Lauf der Neuzeit immer stärker vollziehenden Trennung von gutem Leben und Moral“ zu verstehen: „[O]bwohl grundsätzlich kein Handeln denkbar ist, das nicht von Sollensforderungen geregelt werden könnte, gibt es de facto doch große Bereiche von moralisch nicht relevanten Handlungsmöglichkeiten, in denen der Mensch nach anderen Kriterien entscheiden darf.“ (82) Andererseits ist dem Vorwurf der Zergliederung des menschlichen Lebens in Einzelhandlungen und deren Maximen entgegenzustellen, dass Kant mit den letzten Zwecksetzungen (eigene Vollkommenheit - fremde Glückseligkeit) durchaus die Frage nach dem guten Leben aufnimmt. <?page no="334"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 330 Identifikation einer tugendhaften Person anzubieten. 499 Es bleibt offen, ob Tugenden im Kantischen Verständnis - angesichts des akzidentiellen Status für die Erfüllung von handlungsregulierenden Pflichten bei gleichzeitiger Priorisierung der Frage nach der sittlichen Handlung (Sollen) vor derjenigen der sittlichen Haltung (Sein) - die fundamentale „moralische Antriebsschwäche“ des Subjekts zu überwinden in der Lage sind, worauf die klassische Tugendethik großen Wert gelegt hat. 500 4.3.3. Ergebnissicherung Rekapituliert man die Ergebnisse der Kantischen Argumentation anhand der postulierten Kriterien für eine adäquate Begründung der biomedizinischen Transparenznorm (TN B ), 501 ergibt sich folgendes Bild: (Ad 1) Ausgehend von der Universalisierungs- und Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs (GMS) und weiterführend mithilfe der Rechts- und Tugendlehre (MS) kann die formelle und inhaltliche Transparenzvermittlung als eine universell verbindliche Norm begründet werden, die von biomedizinischen Forschern prima facie zu berücksichtigen ist. Sie gilt innerhalb wie außerhalb definierter Beratungssituationen zwischen biomedizinischen Experten und Laien (z.B. medizinische Beratung, wissenschaftliche Politikberatung, medial vermittelte Informierung). Angesichts der Asymmetrie zwischen den Interaktionspartnern ist der biomedizinische Experte als Transparenzvermittler dazu verpflichtet, dem Laien als Transparenzsuchenden und potentiellen Nutzer der Informationen ein umfassendes und verständliches Bild eines Sachverhalts zu präsentieren (TG B ) bzw. sachdienliche Informationen weder zu verheimlichen noch zu verschleiern (ITV B ). Letzteren muss es ermöglicht werden, gesundheitsbezogene Entscheidungen eigenverantwortlich und wohlinformiert treffen zu können. 502 Dies betrifft primär Informationen, die den wissenschaftlichen 499 Die aristotelische Tugendethik zieht als Maßstab für das richtige Handeln eine tugendhafte Person ( ) heran, wobei unklar ist, ob die Handlung richtig ist, weil der Tugendhafte sie vollzieht oder ob der Tugendhafte sie vollzieht, weil sie richtig ist; vgl. z.B. Esser (2004, 126ff.) und Hill (2008, 58). Bei einer genaueren Bestimmung spezifischer Charaktereigenschaften einer tugendhaften Person wird die Grenzziehung zwischen einer Tugend- und Prinzipienethik aufgelöst. 500 So Mieth (1984, 49f.), der plausibel am Kantischen Denken kritisiert, „das traditionelle Verständnis der Tugend als sittliches Sein-Können“ aufgegeben zu haben; „statt dessen meint die Tugend als Pflicht nichts anderes als die inhaltlich richtige Bestimmung des Sollens, nicht des Seins. […] Damit wird die Tugend nicht nur vom Können zum Sollen, sondern sie wird von der Integration unterschiedlicher Seelenkräfte (auch des sinnlichen Strebens) und natürlicher Neigungen ins rein Kognitive transformiert“. 501 Siehe Kap. 4.1. 502 Zu denken ist hierbei an den ethischen Diskurs um die Spielarten des „Paternalismus“, bei der ein Experte für kompetenter gehalten wird, bestimmte Entscheidungen <?page no="335"?> 4.3. Eine Begründung mithilfe der Kantischen Moralphilosophie 331 Standards entsprechen und wissenschaftsintern beglaubigt wurden. Entscheidet sich ein biomedizinischer Experte aus Gründen der Dringlichkeit dazu, Informationen vor der Begutachtung durch Fachkollegen an ein Laienpublikum zu veröffentlichen, hat er deren vorläufigen Status kenntlich zu machen. Im Sinne einer prima facie-Verpflichtung können folgende Ausnahmen genannt werden: Ein biomedizinischer Experte ist von der Transparenznorm entbunden, wenn er zur vernünftigen Einschätzung kommt, Transparenzsuchende bedürften aus Relevanzgründen dieser Informationen nicht oder wenn letztere den ausdrücklichen Wunsch äußern, nicht informiert zu werden (Recht auf Nichtwissen). Bei einer Kollision mit anderen Pflichten, die als dringlicher gelten können, ist ein biomedizinischer Experte von der Befolgung der Transparenznorm dispensiert. 503 Wird Transparenz als intersubjektive Kommunikationsnorm entfaltet, die mit der Selbstzweckhaftigkeit des Kommunikationspartners begründbar ist, soll eine epistemische Begründungsperspektive nicht ausgeschlossen werden, die vielmehr eine zusätzliche Fundierung der Argumentation darstellt. Sofern eine subjektive Behauptung durch die Befolgung des Transparenzgebots der kritischen Vernunft Anderer (der Wissenschaft, der Gesellschaft) ausgesetzt wird, hat Transparenz eine wichtige instrumentelle Funktion für die Gewinnung und Absicherung von Wissen. 504 Ganz im Sinne der Kantischen Vernunftkritik ist Erkenntnis weniger Produkt der individuellen als vielmehr der „allgemeinen Menschenvernunft“, die in der öffentlichen Diskussion aufscheint. 505 Da die funktionale Herleitung des Transparenzgebots aus bereits erläuterten Gründen als unzureichend erachtet wird, erfolgt eine Konzentration auf ethische Argumente. (Ad 2) In Hinwendung zu den ethischen Argumenten lassen sich in Kants Moralphilosophie zwei Begründungsstränge zur normativen Fundierung der Transparenznorm differenzieren: Im ersten Argumentationsstrang wurde analog zum Kantischen Lügenbzw. Täuschungsverbot ein Verbot intransparenter Sprechakte begründet, das in sämtlichen Situatiozum Wohle des Individuums oder der Gemeinschaft zu treffen und dem zuerkannt wird, bestimmte entscheidungsrelevante Informationen zum vermeintlichen Schutz des Adressaten vorzuenthalten; vgl. etwa Resnik (1999, 120f.). Esser (2004, 266) moniert: „In vielen Fällen vermeint dabei derjenige […] den gesellschaftlichen Frieden zu befördern, indem er sich aufwirft, im voraus zu wissen, wem die Wahrheit überhaupt zuzumuten sei, und kalkulieren zu können, wie ein Anderer auf die Wahrheit reagieren wird. Es sind solche Scheinrechtfertigungen, die von der kritischen Ethik im Verweis auf Autonomiefähigkeit eines jeden zurückgewiesen werden und denen sie die Anerkennung strikter Gleichheit […] als ethische Forderungen entgegenhält“. 503 Auf den Fall der Pflichtenkollision wird weiter unten genauer eingegangen. 504 Nach Dascal (2003) löst derjenige, der jemanden einen Sachverhalt verständlich vermittelt, zugleich eigene Schwierigkeiten der Konzeptualisierung und verbessert die eigene Einsicht in den Sachverhalt. 505 Vgl. hierzu die ideengeschichtlichen Überlegungen in Kap. 2.1. <?page no="336"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 332 nen der biomedizinischen Informierung gilt (ITV B ). Hierbei konnte nachgewiesen werden, dass die handlungsleitende Maxime eines Sprechers, Informationen unter bestimmten Umständen zu verheimlichen oder zu verschleiern, bei einer Überprüfung durch den kI logisch nicht zu einem Gesetz verallgemeinert werden kann und daher als unmoralisch anzusehen ist (GMS, Universalisierungsformel). Präzisierend wurde zwar eingeräumt, dass die Überprüfung einer spezifischen Intransparenzmaxime mit gutgemeinten sekundären Absichten weder zu einem Widerspruch im Denken noch im Wollen führt; doch spätestens im Rahmen der Selbstzweckformel zeigten die Kantischen Überlegungen die generelle Verwerflichkeit intransparenter Sprechakte. In Bezugnahme auf die primäre Täuschungsabsicht des Sprechers bedeutet eine intransparente Informationsvermittlung die Missachtung der Selbstzweckhaftigkeit des Adressaten. Der Sprecher instrumentalisiert den Transparenzsuchenden für seine Zwecke und schränkt dessen freie Selbstbestimmung, d.h. seine Urteilsbildung und rationale Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Handlungsalternativen, willkürlich ein - eine Handlungsweise, in die er bei ihrer Kenntnis vernünftigerweise nicht einwilligen könnte (GMS, Selbstzweckformel). Die Argumentation ist gleichermaßen auf den Tatbestand der absichtlichen Verheimlichung und Verschleierung von Informationen anwendbar, so dass beide Dimensionen der Transparenznorm erfasst werden. Die weitere Darlegung, ein täuschender Sprecher entwürdige sich selbst, indem er keine vernünftigen Zwecksetzungen verfolge, sondern sich zum Spiel seiner Neigungen mache (MS, vollkommene Tugendpflicht gegen sich selbst), wurde als nicht plausibel vermittelbar erachtet. Auch eine aus der Rechtslehre entliehene Argumentation brachte keine weiteren Fortschritte, da das rechtliche Verbot intransparenter Äußerungen eine Einschränkung der äußeren Handlungsfreiheit der Adressaten voraussetzt (MS, vollkommene Rechtspflicht gegen Andere). Insgesamt ergibt sich im ersten Argumentationsstrang eine strikte Unterlassungspflicht intransparenter Sprechakte, die vor allem in Situationen der Konsultation und Nachfrage durch Transparenzsuchende von Relevanz ist. Die Plausibilität dieser Argumentation leidet allerdings an ihrer rigoristischen Tendenz, auch in solchen Fällen das Verheimlichen und Verschleiern von Informationen zu verbieten, wenn es einer guten Zwecksetzung dient. Berechtigte Versuche, das strikte Verbot der Intransparenz unter der Voraussetzung moralischer Sekundärabsichten aufzuheben, wurden aufgrund der homogenen Kantischen Argumentation als problematisch bis unhaltbar abgelehnt. Um die kontraintuitiven Konsequenzen der rigoristischen Interpretation dennoch abzuwenden, wurde die begründete Verbotsnorm intransparenter Sprechakte in eine güterbezogenen Pflichtenlehre implementiert, die aus der gegenwärtig vielbeachteten handlungsreflexiven Deontologie Gewirths gewonnen wurde. Konkret wurde gezeigt, dass bei einer biomedizinischen Informierung weitere <?page no="337"?> 4.3. Eine Begründung mithilfe der Kantischen Moralphilosophie 333 Pflichten einschlägig sein können, deren Verwirklichung mit der Berücksichtigung des ITV B kollidiert (z.B. das Verbot der physischen und psychischen Schädigung Anderer). Ordnet man die identifizierbaren Pflichten der Verwirklichung hierarchisch strukturierter Güter zu - beispielsweise das Intransparenzverbot dem „Zuwachsgut“ des Wissens und das Schädigungsverbot dem „elementaren Gut“ der physischen und psychischen Integrität - lässt sich mithilfe der rationalen Abwägungsformel, im Konfliktfall der höherrangigen Pflicht den Vorrang zu geben, die Dispensierung vom Intransparenzverbot legitimieren. Ergänzend besteht im biomedizinischen Kontext meist keine Kollision zwischen den beiden genannten Pflichten, sondern die Berücksichtigung des ITV B wird sogar durch die Dringlichkeit des Schädigungsverbots gestärkt. Konnte im ersten Argumentationsstrang ein Verbot intransparenter Äußerungen, aber keine aktive Gebotspflicht transparenter Informationsvermittlung begründet werden, ließen sich in der Kantischen Tugendlehre diesbezügliche Anknüpfungspunkte finden, die den zweiten Argumentationsstrang eröffnen. Vor der moralischen Zielsetzung der fremden Glückseligkeit und der Aufgabe, die Zwecksetzungen Anderer zu den eigenen zu machen, wurde das TG B als Tugendpflicht identifiziert, die einen potentiellen Transparenzvermittler dazu auffordert, hilfsbedürftigen Transparenzsuchenden entscheidungsrelevante Sachverhalte bestmöglich zu vermitteln (MS, unvollkommene Tugendpflicht gegen Andere). Aus diesem Gedankengang konnten ethische Argumente für die Berücksichtigung der formellen und inhaltlichen Transparenzdimension gewonnen werden, da eine adäquate Hilfeleistung bei Entscheidungsproblemen nur in einer verständlichen Informationsvermittlung gesehen werden kann. Akzeptiert man die Identifikation des TG B als Tugendpflicht, bietet sich für die geforderte Personen- und Situationssensitivität folgende Lösung an: Sofern sich die ethischen Überlegungen auf der Begründungsebene nicht auf einzelne Handlungsanweisungen, sondern auf Maximen bzw. Zwecke beziehen, die gemäß des kI als moralisch beurteilt werden, kann das abgeleitete Transparenzgebot auf der Anwendungsebene eine Flexibilität erfahren. Sofern der Kantische Ansatz bei der Umsetzung der moralischen Maximen respektive Zwecke den Einsatz aller der Person zur Verfügung stehenden Mittel verlangt, impliziert dies eine personen- und situationsadäquate Applikation des Transparenzgebots mittels der praktischen Urteilskraft. Trotz der Verpflichtung zur eigeninitiativen Transparenzvermittlung unabhängig einer konkreten Beratungssituation wurde keine Rigorismus-Gefahr gesehen, wie sie bei den vollkommenen Unterlassungspflichten eingeräumt wurde. Denn aufgrund der „Unvollkommenheit“ bzw. „Weite“ des Transparenzgebots darf (und soll) das Handlungssubjekt Schwerpunkte bei der Verwirklichung setzen, was eine verbindliche Vermittlung aller und jeder Information an Transparenzsuchende ausschließt. Dass die Schwerpunktset- <?page no="338"?> 4. Eine ethische Begründung der wissenschaftsexternen Transparenznorm 334 zung der proaktiven Informationsvermittlung nicht willkürlich sein soll, ergeht aus der jüngst erläuterten, güterbezogenen Kriteriologie, derzufolge Informationen über hochrangige Güter (z.B. gesundheitsbezogene Informationen) ohne Ausnahme stets proaktiv vermittelt werden sollen, während solche über niedrigrangige Güter nachstehen können. (Ad 2) Hinsichtlich tugendethischer Anforderungen kann bei Kant auf die gebotene Entfaltung charakterlicher Voraussetzungen zur Erfüllungen der Pflicht verwiesen werde