Unterwegs zum Anderen?
Literarische Er-Fahrungen der kriegerischen Auflösung Jugoslawiens aus deutschsprachiger Perspektive
0619
2013
978-3-7720-5475-4
978-3-7720-8475-1
A. Francke Verlag
Daniela Finzi
Im Zentrum der vorliegenden Studie stehen die Repräsentationen des kriegerischen Zerfalls Jugoslawiens in der deutschsprachigen erzählenden Literatur unter besonderer Berücksichtigung der Dynamik von Selbst- und Fremdbildlichkeit. Welche Rolle spielen jene hegemonialen Formatierungen narrativer und diskursiver Art, die Maria Todorova als ,Balkanismus' beschrieben hat, in den Texten von Peter Handke, Juli Zeh, Norbert Gstrein, Sasa Stanisic und Anna Kim? Und wie kann die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem vermeintlich ,Anderen' erfolgen, ohne bestimmte binäre, auf kultureller Asymmetrie beruhende Ordnungen fortzuschreiben? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, verbindet die Autorin unterschiedliche literatur- und kulturwissenschaftliche Zugänge und widmet den gesellschaftspolitischen und diskursiven Kontexten in Österreich und Deutschland in den 1990er Jahren besonderes Augenmerk.
<?page no="0"?> K U L T U R - H E R R S C H A F T - D I F F E R E N Z 1 7 Daniela Finzi Unterwegs zum Anderen? Literarische Er-Fahrungen der kriegerischen Auflösung Jugoslawiens aus deutschsprachiger Perspektive <?page no="1"?> KULTUR - HERRSCHAFT - DIFFERENZ Herausgegeben von Moritz Csáky, Wolfgang Müller-Funk und Klaus R. Scherpe Band 17 · 2013 <?page no="3"?> Unterwegs zum Anderen? Literarische Er-Fahrungen der kriegerischen Auflösung Jugoslawiens aus deutschsprachiger Perspektive von Daniela Finzi <?page no="4"?> Ursprüngl. Diss. Univ. Wien 2012 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany ISSN 1862-2518 ISBN 978-3-7720-8475-1 Umschlagabbildung: Mladen Bizumic: "Hotel Jugoslavija: In a Vacuum", 2012, Photocollage, 76 x 76 cm, © Courtesy of the Artist and Georg Kargl Fine Arts, Vienna Gedruckt mit Unterstützung der Österreichischen Forschungsgemeinschaft. <?page no="5"?> Inhalt Einleitung ……………………………………………………….. 13 In medias res ………………………………………………… 13 Forschungsfragen I ………………………………………….. 14 Untersuchungsgegenstand Literatur ……………………….. 18 Identitätsvokabel ……………………………………………. 21 Eigene Verortung ……………………………………………. 23 Kontext ………………………………………………………. 26 Forschungsfragen II …………………………………………. 29 Methode: Close und Wide Reading ………………………… 31 Aufbau der Arbeit …………………………………………… 32 Stand der Forschung ………………………………………… 37 1 Forschungsproblematik ………………………………… 43 1.1 Krieg (und Erzählung) ……………………………………… 43 1.1.1 Jugoslawien-Kriege und ihre Lesarten …………………… 46 1.2 Identität und Alterität ……………………………………… 55 1.3 Multiple Kontextualisierung ……………………………….. 65 1.3.1 An- und Beziehungen auf diachron-historischer Ebene ….. 65 1.3.2 Synchrone Ebene: ,Bezugsfelder der Auslegung‘…………. .. 72 1.3.3 Balkanismus, Orientalismus, Stereotype …………………… 91 1.4 Jenseits der dichotomischen Ordnung ……………………. . 103 2 Literaturwissenschaftliche Prolegomena ……………. 109 2.1 Mimesis …………………………………………………… 109 2.2 Leseakt, Erwartungshorizont, kulturelles Wissen …………. . 115 2.3 Genrefragen: Reiseliteratur und Kriegsliteratur ………….... 119 3 Textarbeit ……………………………………………….. 129 3.1 Vor den Kriegen, mit den Kriegen ………………………… 135 3.1.1 Peter Handke I ……………………………………………… 135 3.1.1.1 Die Wiederholung ………………………………………………. 139 3.1.1.2 Abschied des Träumers vom Neunten Land …………………. 150 3.1.1.3 Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien ……………………. . 157 3.1.1.4 Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise ………… 181 . <?page no="6"?> 3.2 Nach den Kriegen ………………………………………….. 187 3.2.1 Bosnien-Herzegowina, Kroatien - zweite literarische Produktionsphase ………………………………………….. 187 3.2.1.1 Juli Zeh ……………………………………………………… 187 3.2.1.1.1 Adler und Engel ……………………………………………….... 189 3.2.1.1.2 Die Stille ist ein Geräusch ……………………………………... 194 3.2.1.2 Norbert Gstrein …………………………………………….. 207 3.2.1.2.1 Das Handwerk des Tötens ……………………………………... 209 3.2.1.2.2 Die Winter im Süden …………………………………………… 223 3.2.1.3 Saša Stanišić: Wie der Soldat das Grammofon repariert …… 235 3.2.2 Kosovo, Kosova - dritte literarische Produktionsphase ….. 252 3.2.2.1 Peter Handke II: Die morawische Nacht …………………… 252 3.2.2.2 Anna Kim: Die gefrorene Zeit …………………………………. 268 Conclusio …………………………………………………………….. 283 Bibliographie …………………………………………………………… 293 .. <?page no="7"?> für Judith und für Vera <?page no="8"?> Siglenverzeichnis Norbert Gstrein: Das Handwerk des Tötens (2004) = HT Wem gehört eine Geschichte? Fakten, Fiktionen und ein Beweismittel gegen alle Wahrscheinlichkeit des wirklichen Lebens (2004) = WGG Die Winter im Süden (2008) = WS Peter Handke: Die Wiederholung (1986) = WH Abschied des Träumers vom Neunten Land (1991) = AT Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994) = JN Noch einmal für Thukydides (1995) = NT Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien (1996) = WR Unter Tränen fragend (2000) = UTF Die Morawische Nacht (2008) = MN Die Kuckucke von Velika Hoča = KVH Anna Kim: Die gefrorene Zeit (2008) = GZ Saša Stanišić: Wie der Soldat das Grammofon repariert (2008) = WSG Juli Zeh: Adler und Engel (2001) = AE Die Stille ist ein Geräusch. Eine Fahrt durch Bosnien (2002) = SG <?page no="9"?> Eine Stadt besteht aus unterschiedlichen Arten von Menschen; ähnliche Menschen bringen keine Stadt zuwege. (Aristoteles) Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte, machte eine böse Entdeckung. (Georg Christoph Lichtenberg) Jeder Morgen unterrichtet uns über Neuigkeiten des Erdkreises. Und doch sind wir an merkwürdigen Geschichten arm. Das kommt, weil uns keine Begebenheit mehr erreicht, die nicht mit Erklärungen schon durchsetzt wäre. Mit andern Worten: beinah nichts mehr, was geschieht, kommt der Erzählung, beinah alles der Information zugute. Es ist nämlich schon die halbe Kunst des Erzählens, eine Geschichte, indem man sie wiedergibt, von Erklärungen freizuhalten. […] Es ist [dem Leser/ der Leserin] freigestellt, sich die Sache zurechtzulegen, wie er sie versteht, und damit erreicht das Erzählte eine Schwingungsbreite, die der Information fehlt. (Walter Benjamin) <?page no="11"?> Danksagung Angenehme Notwendigkeit des Dankens: Ohne meinen Doktorvater Wolfgang Müller-Funk wäre die vorliegende Arbeit nicht zustande gekommen. Spekulationen à la „Was wäre wenn gewesen ...“ sind eine müßige Angelegenheit - dass ich ohne seinen Vertrauensvorschuss zum damaligen Zeitpunkt meiner Schwangerschaft das Projekt Promotion gar nicht erst in Angriff genommen hätte, kann indes als gesichert gelten. Ihm verdanke ich somit nicht nur konstruktive Kritik, ausdauernden Ansporn und unzählige Anregungen theoretischer und methodologischer Art, sondern gleichsam zwei in lebensweltlicher Hinsicht folgenschwere Einschnitte: den räumlichen Wechsel von Berlin nach Wien und den beruflichen vom Theater zurück an die Universität. Von Jänner 2007 bis September 2009 konnte ich als eine von dreizehn Doktorand/ innen am Initiativkolleg „Kulturen der Differenz. Transformationen im zentraleuropäischen Raum“ in einem interdisziplinären Umfeld forschen. Wenngleich sich mitunter die Verständigung zwischen den unterschiedlichen Disziplinen, nicht zuletzt aufgrund der unterschiedlichen „Horizontgebundenheit“ mancher zentraler Termini, als schwierig herausstellte, habe ich die Arbeitsbedingungen dieser ersten Jahre als ungemein produktiv und privilegiert empfunden. Für die vielen spannenden Diskussionen danke ich allen Lehrenden, insbesondere Pál Deréky, der als mein Zweitbetreuer die Entwicklung der Arbeit mit großem Interesse verfolgt hat. Von den Kollegiat/ inn/ en, denen allen ich den fachlichen Austausch und den herzlichen Zusammenhalt hoch anrechne, möchte ich namentlich Anna Hausmaninger für die bereichernden Gespräche über Bosnien-Herzegowina und ihren unermüdlichen und vorbildhaften Einsatz, Mutterschaft und Wissenschaft zu balancieren, meinen Dank aussprechen. Gerald Lind, der mich als IK-Kollege noch vor meiner Ankunft in Wien unterstützte, trug zum Gelingen dieser Arbeit in einem außerordentlichen Maße bei: der rege, auch elektronische Austausch, die vielen Diskussionen und Lektürehinweise begleiteten den gesamten Werdegang dieser Arbeit. Stellvertretend für den Diplomand/ innen- und Doktorand/ innenkreis von Wolfgang Müller-Funk möchte ich mich bei Gottfried Schnödl für die anregenden und spannenden Gespräche bedanken. Nicole Kandioler, die das Lektorat einer früheren Fassung übernommen hat, danke ich für die sorgfältige Lektüre und die vielen Anregungen, aber auch ihren ansteckenden Enthusiasmus. Alexander Sprung hat sich bereit erklärt, das Manuskript zu setzen - herzlichen Dank! Für die freundschaftliche Zusammenarbeit und die gemeinsamen wissenschaftlichen Projekte jenseits unserer Doktorarbeiten danke ich außerdem Ingo Lauggas von der AG Kulturwissenschaften / Cultural Studies der Universität Wien. <?page no="12"?> Milka Car und Svjetlan Lacko Vidulić vom Institut für Germanistik der Universität Zagreb sowie Boris Previsic von der Universität Basel danke ich für den kollegialen Austausch und die gute Kommunikation. Ingvild Birkhan möchte ich meinen Dank für ihre genaue Lektüre und die differenzierten Anmerkungen aussprechen. Während der letzten beiden Promotionsjahre habe ich bereits im Sigmund Freud Museum gearbeitet. Allen Mitarbeiter/ innen und insbesondere dem externen wissenschaftlichen Leiter Moshe Zuckermann sei an dieser Stelle für ihr Verständnis herzlich gedankt. Meinen Eltern Helmut und Hannelore Deinhammer danke ich für ihren vorauseilenden Stolz, ihre Geduld sowie ihre in jeder Hinsicht großzügige Hilfestellung, und meiner Schwester Tina Steck für ihren Zuspruch und Glauben an mich. Herzlicher Dank gebührt auch meiner Großmutter Yella Schanzhofer, die mir mit ihrer kritischen Urteilskraft und wachem Scharfblick noch lange zur Seite stehen möge. Schließlich, vor allem und allen: Ohne Pierre-Emmanuel Finzi wäre vieles nicht so, wie es ist. Er hat die Arbeit mitgetragen wie kein anderer. Seine Teilnahme, seine Rücksicht und Flexibilität haben, ob am Abend, am Wochenende oder im Urlaub, den kontinuierlichen Arbeitsprozess und mithin den erfolgreichen Abschluss ermöglicht. Seine Parallel-Lektüren theoretischer und literarischer Texte haben mich ungemein beflügelt. Mit Pascal gesprochen, warst du, Pierre, von Anfang an „embarqué“. <?page no="13"?> Einleitung In medias res In Peter Handkes 1994 erschienenem Buch Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein Märchen aus den neuen Zeiten berichtet im ersten Drittel der Erzähler Gregor Keuschnig von einem Zeitgenossen, einem „junge[n] Journalistenfreund, der noch im letzten Sommer über die Tour de France schrieb und inzwischen Kriegsreporter ist“ (JN 149f.). Eine solche Figur - ein ehemaliger Sportjournalist und sodann Kriegsberichterstatter - begegnet dem Handke- Leser/ der-Leserin in seinem kontrovers diskutierten Reisetext Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien (1996) wieder, 1 wird doch darin der ständige „Bosnien-Spezialentsandte“ der französischen Tageszeitung Libération folgendermaßen eingeführt: „vor dem Krieg alles andere als ein Jugoslawienkenner, vielmehr ein quicker, stellenweise vergnüglich zu lesender Sportjournalist“ (WR, 150f.). In Mein Jahr in der Niemandsbucht wiederum wird nach der ersten Nennung dieses „Journalistenfreund[es]“ erst knapp 300 Seiten später noch einmal auf den, wie er mittlerweile bezeichnet wird, „Fastfreund“ Bezug genommen, durch Angabe seines Ablebens: „umgekommen im deutschen Bürgerkrieg“ (JN 443). Jenseits des Rheins, in der Pfarre des Erzählers unweit von Paris, suchen die Flüchtlinge dieses Krieges Unterschlupf, wodurch die gewohnten geographischen Ordnungen des Krieges durcheinandergebracht werden: sie kommen „aus dem Norden oder Westen statt wie sonst aus dem Süden oder Osten, großstädtische Bayern oder Hessen, verjagt von den Sachsen oder Friesen oder Saarländern“ (JN 535). Dabei ist es nicht der Kampf um Freiheit und Gleichheit, der Kampf gegen Unterdrückung, der die Kampfparteien zu den Waffen greifen lässt, um dem, wie es im Roman verbittert heißt, „Naturzustand“ der Welt zu seinem Recht zu verhelfen. Nein, die Ursachen der „diesjährigen Kriege auf der Welt“, zu denen unter anderen eben besagter „Bürger- oder Vetternkrieg“ (JN 463) in Deutschland zählt, sind, so der Erzähler, selbst den Beteiligten kaum einsichtig. Auch handelt es sich dabei nicht länger um auszumachende Konfliktparteien, und auch und gerade nicht um Ost gegen West; vielmehr kämpft „fast jeder gegen fast jeden, immer häufiger schließlich massenhaft gegen sich selbst, bedrohlich für die Wirtschaft und bekämpft vom Berufsheer.“ (JN 463f.) Befindet sich Deutschland im Krieg, so scheint in Jugoslawien wenn auch nicht länger der Kommunismus, so doch immer noch Frieden zu herrschen, die unter Tito zur Entfaltung 1 Dass in Peter Handkes Texten eine Figur aus einem früheren Werk auftritt, stellt keine Besonderheit, sondern vielmehr ein charakteristisches Merkmal seiner intertextuellen Poetik dar. <?page no="14"?> Einleitung 14 gebrachte Devise, oder, besser, die Erzählung der ‚Brüderlichkeit und Einheit‘ [„bratstvo i jedinstvo“] immer noch Sinn, Frieden und supraethnische Verständigung zu stiften. 2 Umso beständiger und glänzender erscheint dieser Frieden, als in Deutschland, und mehr noch, weltweit, Krieg ausgebrochen ist. Forschungsfragen I Wir haben es hier mit einer Setzung von Kriegs- und Friedensszenarien zu tun, die insofern beachtenswert ist, als sie in Bezug auf den zeitgenössischen außertextuellen Kontext wie auch auf traditionelle Zuschreibungen einer ,symbolischen Geographie‘ mit umgekehrten Vorzeichen operiert. Die Asymmetrie, welche die epistemologischen und ontologischen Unterscheidungen zwischen (Nord-)Westen und (Süd-)Osten von ,mentalen Landkarten‘ oftmals kennzeichnet, ist hier vertauscht. 3 Nicht länger der ,Balkan‘, sondern Deutschland fungiert, als Pars pro Toto für den ,Westen‘, als ,Pulverfass‘; nahezu beiläufig werden in Handkes „Märchen“, so der Untertitel des Buches, kollektive Phantasien bzw. sozial geprägte Wahrnehmungsformen aus den Angeln gehoben. Lassen wir es an dieser Stelle noch dahingestellt sein, womit wir es hier zu tun haben - mit der Schaffung einer literarisch-symbolischen Alternativordnung und also mit dem gesellschaftlichen Funktionspotential von Literatur, oder aber - da die Kategorie Autor/ Autorin, daran hat das in methodologischer Hinsicht unbestrittenermaßen fruchtbare Diktum vom „Tod des Autors“ 4 nichts geändert, in vielen Rezeptionsprozessen nach wie vor eine maßgebliche Rolle spielt - mit der partikularen Position des Autors Peter Handke zum ,Komplex Jugoslawien‘? Gleichviel: Die von Mein Jahr in der Niemandsbucht kursorisch unternommene Inversion von kulturell ,Eigenem‘ und ,Anderem‘ verweist im Kontext der vorliegenden Studie auf 2 Diesen in Mein Jahr in der Niemandsbucht präfigurierten Gedanken greift Peter Handke auch in Unter Tränen fragend, seiner Reiseerzählung über das im März und April 1999 bereiste Serbien, auf: „in Jugoslawien ist (war) Frieden, und der Krieg, der finsterste, der haßvollste, der verlogenste ist hier, in Frankreich, in Deutschland, in Großbritannien, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten […].“ (UTF 74) 3 Vgl. dazu Bakić-Hayden, Milica/ Hayden M. Robert: Orientalist Variations on the Theme „Balkans“: Symbolic Geography in Recent Yugoslav Cultural Politics, in: Slavic Review 51 (1992), H. 1, 1-15. 4 Vg. dazu Roland Barthes' Text „Der Tod des Autors“, der unter dem Titel „La mort de l'auteur“ 1968 in der Zeitschrift Manteia (H. 5) erschien; sowie Michel Foucaults Text „Was ist ein Autor“, der unter dem Titel „Qu'est-ce qu'un auteur“ im Bulletin der la Société française (Juli-September 1969) veröffentlichte wurde und auf einen 1968 am Collège de France gehaltenen Vortrag zurückgeht. Beide Texte sind u.a. auf Deutsch nachgedruckt in: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hg. u. komm. v. Fotis Jannidis u.a., Stuttgart: Philipp Reclam junior 2000, 185-193 (Barthes) und 198-229 (Foucault). <?page no="15"?> Forschungsfragen I 15 das zentrale Moment meines initialen Forschungsinteresses: die Frage nach identitär-alteritären Dynamiken und dem Verhältnis von Selbst- und Fremdbildlichkeit in literarischen Texten über den kriegerischen Zerfall Jugoslawiens 5 aus der Feder deutschsprachiger Schriftsteller/ innen. 6 Wie schließlich Maria Todorova festgestellt hat, kamen im Zuge der kriegerischen Auflösung Jugoslawiens insbesondere in den Erzählungen von Massenmedien und Politik die gleichfalls von der bulgarisch-amerikanischen Historikerin als ,Balkanismen‘ apostrophierten hegemonialen Formatierungsvorlagen diskursiver und narrativer Art verstärkt zur Anwendung. In ihnen steht der Balkan als Symbol für barbarisch, aggressiv, halbzivilisiert, halborientalisch, halbentwickelt und intolerant. Der „,mediopolitische Diskurs ‘ “ 7 (Jürgen Link), auf den Todorova anspielt, bildete gleichsam das vorgängige Material zu den literarischen Texten dieser Arbeit. Wenn nun davon ausgegangen wird, dass Literatur die Diskurse und das kulturelle Wissen ihrer Entstehungszeit verarbeitet, scheint die Frage, welchen Niederschlag Balkanismen und Balkanstereotype in der deutschsprachigen Prosa über den Jugoslawien-Krieg fanden, nur legitim. Als Muster, den/ die Andere/ n zu erfassen und solcherart das eigene Selbstbild zu solidieren, verweisen auch Balkanismen auf die Dynamik von Identität und Alterität, die individuellen und auch kollektiven Identitätsprozessen inhärent ist. Bereits in seinem programmatischen Vorwort zu Wahnsinn und Gesellschaft hatte Michel Foucault 1961 ein Modell entworfen, wonach sich eine Kultur dadurch definiere, dass sie „etwas zurückweist, was für sie außerhalb liegt [...]. Sie vollzieht darin die Abgrenzung, die ihr den Ausdruck ihrer Positivität verleiht.“ 8 Kulturelle Identität stützt sich diesem Modell zufolge auf den Akt der Grenzziehung und die kontrastive Gegenüberstellung eines ‚Anderen‘. Darüber erst erhält sie den „Ausdruck ihrer 5 Die Begriffe ‚Jugoslawien-Kriege‘ und ‚postjugoslawische Kriege‘ werden in vorliegender Arbeit synonym verwendet, wie auch ‚Ex-Jugoslawien‘ und ‚ehemaliges Jugoslawien‘ sowie, mitunter, ,Jugoslawien‘. 6 Ich halte an der Bezeichnung des Schriftstellers und der Schriftstellerin anstelle jener des Autors/ der Autorin fest, um damit auf die Autorschaft literarischer Texte anzuspielen. 7 Link, Jürgen: Luftkrieg und Normalismus, in: Wende, Waltraud ‚Wara‘ (Hg.): Krieg und Gedächtnis. Ein Ausnahmezustand im Spannungsfeld kultureller Sinnkonstruktionen, Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, 388-401, 392. Link schreibt vom „integrierten ‚mediopolitischen Diskurs‘“: jegliche Beschäftigung der Politik mit Krieg müsse in Übereinstimmung mit den Massenmedien erfolgen. Bereits die Verwendung des Singulars stellt freilich eine Abstraktion dar; dass im Versuch, die westliche politische Wahrnehmung und mediale Berichterstattung des kriegerischen Zerfalls Jugoslawiens zu skizzieren, sämtliche Differenzen über denselben mediopolitischen Leisten geschlagen werden, dessen bin ich mir bewusst. 8 Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. A. d. Franz. v. Ulrich Köppen, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1995 11 (stw 39), 9. <?page no="16"?> Einleitung 16 Positivität“ 9 . Dass sich Identität über Alterität konstituiert, stellt mittlerweile einen semiotischen Gemeinplatz dar. Er fundiert gleichfalls jenes Syntagma vom ,konstitutiven Außen‘ bzw. auch, je nach Übersetzung, ‚konstitutiven Äußeren‘, auf das man in kulturwissenschaftlichen Texten jüngeren Datums mit losem Verweis auf Jacques Derrida, Judith Butler, Homi K. Bhabha und Ernesto Laclau stößt. Darunter ist die Erkenntnis zu subsumieren, dass sich jeglicher Diskurs oder Kontext von einem Außen abgrenzt, welches für die Herstellung des Diskurses gerade notwendig ist bzw. dass sich Subjekt- und Identitätskonstitutionen immer einem Ausschluss verdanken - dem Ausschluss von etwas, das eigentlich innerhalb des Subjektes liegt . 10 Mit anderen Worten verbirgt sich hinter der Frage nach dem Anderen stets die Frage nach dem Eigenen. 11 Heruntergebrochen auf die Problematik der vorliegenden Studie, muss am Interesse für Jugoslawien und seine Kriege die dahinter stehende Frage nach dem Eigenen, die das Prisma der Wahrnehmung der kriegerischen Ereignisse bildet, aufgedeckt werden. Als ein konkretes Beispiel möge die im Zuge der deutsch-deutschen Vereinigung stark gemachte Vorstellung vom Selbstbestimmungsrecht der Völker dienen: „Deutschland wird sich nicht übertreffen lassen“, so der damalige Außenminster Hans-Dietrich Genscher im Juli 1991, „wenn es darum geht, die Menschenrechte, das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die Minderheitenrechte zu wahren.“ 12 Während nun Sozialdemokrat/ innen das Insistieren Deutschlands innerhalb der EG auf eine rasche Anerkennung von Slowenien und Kroatien als Bemühung um den Schutz vermeintlich bedrohter Minderheiten auslegten, wiesen - französische - Beobachter/ innen auch da- 9 Ebenda, 9. 10 Vgl. dazu Laclau, Ernesto/ Mouffe, Chantal: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, hg. u. übers. v. Michael Hintz u. Gerd Vorwallner, Wien: Passagen 2001 (Passagen Politik); Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. A. d. Amerikan. v. Karin Wördemann, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1997 (edition suhrkamp 1737), 23; sowie Moebius, Stephan: Die soziale Konstituierung des Anderen. Grundrisse einer poststrukturalistischen Sozialwissenschaft nach Lévinas und Derrida, Frankfurt/ Main u.a.: Campus 2003 (Campus Forschung 834). Eine konzise Zusammenfassung findet sich auch bei: Marchart, Oliver: Kunst, Raum und Öffentlichkeit(en): Einige grundsätzliche Anmerkungen zum schwierigen Verhältnis von Public Art, Urbanismus und politischer Theorie, in: eipcp (europäisches institut für progressive kulturpolitik), abrufbar unter: http: / / eipcp.net/ transversal/ 0102/ marchart/ de, 31.1.2013. 11 Vgl. dazu Homi K. Bhabhas Aufsatz/ Kapitel „Die Frage des Anderen“, in: ders: Die Verortung der Kultur. M. e. Vorw. v. Elisabeth Bronfen. Dt. Übersetzung v. Michael Schiffmann u. Jürgen Freundl, Tübingen: Stauffenburg 2000 (Stauffenburg discussion 5), 97-124. 12 Hans-Dieter Genscher in Die Welt, 5.7.1991, zit. n. Heinrich, Arthur: Danke, Amerika! Dayton und die Deutschen, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 41 (1996), H. 1, 35-44, 36, Fn. 6. <?page no="17"?> Forschungsfragen I 17 rauf hin, dass die Krise eine opportune Gelegenheit für das wiedervereinigte Land darstellte, um auf das internationale Parkett zurückzukehren. 13 In ihrer zugespitztesten Formulierung zielt mithin die Frage, die sich aus dem identitär-alteritären Verhältnis zwischen Jugoslawien und Österreich bzw. Deutschland ableiten ließe, auf die Funktionen, die den kriegerischen Konflikten für die Verhandlung eigener Debatten und Werte, für die Konstitution der eigenen Identität zukamen. Und tatsächlich: Ob Boris Buden, Rada Iveković oder Slavoj Žižek - aus der Region kommende Stimmen wurden nicht müde, auf die besondere Funktion, die Jugoslawien für Westeuropa bzw. Österreich und Deutschland in diesem besonderen geschichtlichen Moment, da Europa sich selbst mittels der Neuziehung der Grenzen im Osten neu konstituierte, hinzuweisen: „Ex-Jugoslawien war die Leinwand, auf die Europa sein eigenes, verdrängtes Umkehrbild projizierte“, schrieb Žižek mit Bezug auf Emir Kusturicas Film Underground: „Heute fungiert ‚der Balkan‘ weiterhin als Symptom Europas, als Leinwand, auf die Europa seine phantasmagorischen Schreckgespenster projiziert, damit die Inkonsistenzen und Widersprüche des eigenen ideologisch-politischen Gebäudes unsichtbar bleiben.“ 14 Die Kriege Ex-Jugoslawiens haben dem Westen ermöglicht, um Žižek zu paraphrasieren, diese verstörenden Erinnerungsreste an die ‚dunklen Seiten des Kontinents via Projizierung auf das ‚Abschlachten am Balkan‘ zu externalisieren. Ein maßgeblicher Mechanismus, der hierbei am Werk ist, ist jener der Projektion. Dass nun die literarischen Texte keine direkten und eindeutigen Antworten auf die Frage, was aus dem österreichischen, deutschen oder europäischen Selbstbild ausgelagert und auf ein Anderes projiziert werden sollte, 13 Vgl. Requate, Jörg/ Vollert, Matthias: „Die Lieben und die Bösen - Zur Diskussion um den Jugoslawienkonflikt in Deutschland und Frankreich (1990 bis 1996), in: Requate, Jörg/ Schulze Wessel, Martin (Hgg.): Europäische Öffentlichkeit. Transnationale Kommunikation seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt/ Main u.a.: Campus 2002, 295- 325, 308. 14 Žižek, Slavoj: Zynismus als Form postmoderner Ideologie, in: Frankfurter Rundschau, 17.8.1995. Zu einer längeren Besprechung des Filmes vgl. außerdem: Slavjoj, Žižek: Underground oder: Die Poesie der ethnischen Säuberung, in: ÖZG 8 (1997), H. 4, 587- 593. Auch Karl Otto Hondrich, Mark Terkessidis und Wolfgang Müller-Funk haben als Beobachter/ innen aus dem deutschsprachigen Raum diese besondere Funktion des Fremdbildes der Kriege in Jugoslawien für das Selbstbild anderer, in diesem Falle das westliche Europa, erkannt, vgl. dazu exemplarisch den Aufsatz „Die Zukunft des Krieges“ des Soziologen Karl Otto Hondrich, in: ders: Wieder Krieg, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2002 (edition suhrkamp 2297), 7-31. Vgl. für eine Überführung in Literaturwissenschaft: Müller-Funk, Wolfgang: Vom Habsburgischen zum Jugoslawischen Mythos: Peter Handkes Die Wiederholung (1986) - und jene Volten, die sich daran anschließen sollten“, in: ders: Komplex Österreich. Fragmente zu einer Geschichte der modernen österreichischen Literatur, Wien: Sonderzahl 2009, 341-354, 348. Die Arbeiten von Buden, Iveković, Žižek und Terkessidis sind im Literaturverzeichnis angeführt. <?page no="18"?> Einleitung 18 liefern würden, war klar. Um die Überführung in ein literarisches und literaturwissenschaftliches Terrain überhaupt unternehmen zu können, ist ein Aufdröseln in ihre verschiedenen Bestandteile - sprich Identität, Alterität, Selbstbildlichkeit, Fremdbildlichkeit, Balkanismus, Stereotype … - Voraussetzung. Untersuchungsgegenstand Literatur Weltweit wurde den kriegerischen Entwicklungen in Kroatien und Bosnien- Herzegowina eine breit angelegte Berichterstattung und erhöhte Aufmerksamkeit zuteil. Die emotionale Anteilnahme der Österreicher/ innen und Deutschen speiste sich nicht allein aus der intensiven Medienpräsenz sowie den gemeinsamen Momenten der Verbundenheit mit einer als Urlaubsziel relativ bekannten Region und der Welle der Kriegsflüchtlinge, die die beiden Länder erreichte. Darüber hinaus auch können, wie später gezeigt wird, unterschiedliche - und komplexe - Naheverhältnisse geographischer, geschichtlicher und ideologischer Art in Anschlag gebracht werden: allesamt Parameter, die sich in das supponierte identitär-alteritäre Verhältnis zwischen den deutschsprachigen Ländern und Jugoslawien bzw. seinen Nachfolgestaaten einschreiben lassen. Der Kosovo-Krieg wiederum führte, nicht zuletzt aufgrund des militärischen Engagements der Bundeswehr, des ersten Kampfeinsatzes für deutsche Soldaten seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, insbesondere in Deutschland zu hitzigen Diskussionen. In Anbetracht dieser Faktoren nimmt der Umstand, dass der deutschsprachigen Literatur im literarischen Vergegenwärtigen der kriegerischen Auflösung Jugoslawiens eine bedeutsamere Rolle als beispielsweise den angloamerikanischen, italienischen oder französischen Belles Lettres zuzuschreiben ist, nicht weiter wunder. Freilich stießen im deutschsprachigen Raum mit Ausbruch der Kriegshandlungen auch die aus dem ehemaligen Jugoslawien kommenden Literaturen auf gesteigertes Interesse: Erzählungen, Briefe, Gedichte, Tagebücher und Zeugnisse der (ex-)jugoslawischen Autor/ innen fanden ihren Absatz, was auch zur Rede von den Schriftsteller/ innen als ‚Kriegsgewinnlern‘ führte. 15 Indem sie zu Lesungen, Podiumsdiskussionen u.ä. einluden, boten die deutschsprachigen Länder zahlreichen (ex-)jugoslawischen Schriftsteller/ innen, Künstler/ innen und Intellektuellen eine Plattform; der Prozess des Austausches und der kritischen Perspektivierung vermeintlicher 15 Vgl. Wittmann, Mirjana: Zurück zu den Wurzeln. Der Balkankrieg und die Rezeption der serbischen Literatur, in: Frankfurter Rundschau v. 16.12.2004, 19. <?page no="19"?> Untersuchungsgegenstand Literatur 19 Auto- und Heterostereotypen wurde so in Gang gesetzt. 16 Manche Autor/ innen - wie Bogdan Bogdanović, Bora Ćosić, Ivan Ivanji, Dževad Karahasan, Dragan Velikić - verließen (Ex-)Jugoslawien und ließen sich, kurz- oder langfristig, in Österreich, Deutschland oder der Schweiz nieder. Dessen ungeachtet hält Boris Previsic mit Blick auf den ‚Turkish Turn‘ in der deutschtürkischen Literatur dezidiert an folgendem frappierenden Umstand fest: „Das Schreiben über Ex-Jugoslawien erscheint im deutschsprachigen Raum noch heute viel gewichtiger als das Schreiben von Immigrierten aus diesem Gebiet. Das Paradox besteht nun darin, dass man über etwas, das näher liegt als die Türkei, mehr als zweiter denn aus erster Hand erfährt.“ 17 Diese - erzählende - Literatur ,aus zweiter Hand‘ über den kriegerischen Zerfall Jugoslawiens ist es denn auch, die im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht, während lyrische und dramatische Werke ausgeklammert wurden: eine Entscheidung, die gewiss auch forschungsökonomischen Gründen geschuldet war, ihre primäre Begründung jedoch meinem Verständnis vom Narrativen als „kultureller Kraft“ 18 verdankt. Mit Paul Ricœur ist festzuhalten, dass die narrative Dimension die adäquate Form schlechthin ist, um (historische) Wirklichkeit zu erfassen und die Zeitlichkeit selbst zu thematisieren; mittels der Erzählinstanz geht in narrativen Texten die Stiftung von Sinn(zusammenhängen) und Identität vonstatten. Eine Schlüsselrolle in dieser deutschsprachigen Prosa nimmt zweifelsohne Peter Handkes im Jänner 1996 erstveröffentlichte Reiseerzählung Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien ein: nicht nur hat Handke selbst sechs Monate später befunden, es sei „vielleicht ein Nachtrag nötig“ (SN 167), der in Buchform als Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise veröffentlicht wurde; nicht nur kommt nahezu jede/ r weitere deutschsprachige Autor/ in, der/ die über den kriegerischen Zerfall Jugoslawiens erzählt, explizit oder implizit auf diesen Text zu sprechen; nicht nur reagierten - ob in Form eines Essays oder aber einer Reiseerzählung - mit Drago Jančar (Kurzer Bericht über eine lange belagerte Stadt oder Gerechtigkeit für Sarajevo, 1996) und Bora Ćosić (Reise nach 16 Vgl. Stančić, Mirjana: Der Balkankrieg in den deutschen Medien. Seine Wahrnehmung in der Süddeutschen Zeitung, bei Peter Handke und in den Übersetzungen der exjugoslawischen Frauenliteratur, in: Preußer, Karl Heinz (Hg.): Krieg in den Medien, Amsterdam: Rodopi 2005 (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 57), 189- 211, 204. 17 Previsic, Boris: Poetik der Marginalität: Balkan Turn gefällig? , in: Schmitz, Helmut (Hg.): Von der nationalen zur internationalen Literatur. Transkulturelle deutschsprachige Literatur und Kultur im Zeitalter globaler Migration, Amsterdam u.a.: Rodopi 2009 (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 69), 189-203, 191f. 18 Bal, Mieke: Wandernde Begriffe, sich kreuzende Theorien. Von den cultural studies zur Kulturanalyse, in: dies.: Kulturanalyse. A. d. Engl. v. Joachim Schulte. Hg. u. m. e. Nachw. vers. v. Thomas Fechner-Smarsly u. Sonja Neef, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2006 [2001] (stw 1801), 7-27, 9. <?page no="20"?> Einleitung 20 Alaska, 2007) auch Autoren aus der Region auf diesen Text. Mit Boris Previsic kann man sogar so weit gehen zu behaupten, dass die besondere Form von Handkes textuellem Eingriff - die Reiseerzählung - sich auf sämtliche deutschsprachige Autor/ innen, die sich in der Folge mit dem Gegenstand beschäftigt haben, ausgewirkt hat: Handke hat „einem Modus der Introspektion und der Fixierung auf einen Ich-Erzähler den Weg gebahnt, auf den sich die deutsche Literatur, die sich mit dem Balkan beschäftigt, weiterhin bezieht.“ 19 Betrachtet man im Rückblick die Gesamtproduktion deutschsprachiger Autor/ innen zum kriegerischen Zerfall Jugoslawiens, so kommt man weiters nicht umhin, die Vermutung zu äußern, dass mit Peter Handkes 1996 kontrovers diskutierter Reiseerzählung eine Monopolisierung des (literarischen) Redens und gleichzeitige Lähmung etwaiger weiterer literarischer Interventionen stattgefunden hat. Erst nach Beendigung des Kosovo-Krieges im Juni 1999 haben sich mit Juli Zeh, Norbert Gstrein, Saša Stanišić und Anna Kim weitere Autor/ innen zu Wort gemeldet und eine literarische Auseinandersetzung initiiert, die die von Handke eröffnete erweitert und diversifiziert, im Unterschied zu letzterem aber eine politische Positionierung hintangestellt oder vermieden hat. Den gemeinsamen Nenner der Texte der genannten Autor/ innen bildet neben einer - wie man angesichts der diskursiven medialen Formatierung der ,realen‘ Kriegsgeschehnisse sagen könnte - ‚Nachträglichkeit zweiter Ordnung‘ eine weitere Entfernung, und zwar räumlicher Art. In der Tat zeigte sich im Laufe der zu Beginn noch unfokussierten Recherche- und Lektürearbeit folgender Befund: Die Protagonist/ innen nehmen im überwiegenden Teil der gesichteten Texte einen Blick von außen ein, und weite Strecken der jeweiligen Handlung spielen in der Kriegsregion, welche in Form von Reisen aufgesucht wird. Nähe (im Sinne von räumlicher Anwesenheit) und Distanz (im Sinne von kultureller Zugehörigkeit) treffen hier aufeinander. Das Reise- Moment geht dabei mit dem Einsatz von Augenzeugenschaft, einem in kulturgeschichtlicher Hinsicht traditionellen Topos innerhalb der Kriegsschilderung, einher. 20 Das Genre der literarischen Reisebeschreibung wiederum, dem manche der Texte meines Korpus zugeschrieben werden können, weist aus literaturwissenschaftlicher Perspektive seit dem Spätmittelalter, spätestens jedoch seit der Renaissance Fremd- und Selbsterfahrung und deren Zusammenspiel als die beiden zentralen Pole der Darstellung und Erforschung auf. 19 Previsic, Boris: Eine Frage der Perspektive. Der Balkankrieg in der deutschen Literatur, in: Zemanek, Evi/ Krones, Susanne (Hgg.): Literatur der Jahrtausendwende. Themen, Schreibverfahren und Buchmarkt um 2000, Bielefeld: transcript 2008, 95-106, 99. 20 Vgl. Daniel, Ute: Bücher vom Kriegsschauplatz. Kriegsberichterstattung als Genre des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in: Hardtwig, Wolfgang/ Schütz, Erhard (Hgg.): Geschichte für Leser. Populäre Geschichtsschreibung in Deutschland im 20. Jahrhundert, Stuttgart: Franz Steiner 2005 (Wissenschaftliche Reihe / Stiftung Bundespräsident- Theodor-Heuss-Haus 7), 93-121, 100, Fn. 22. <?page no="21"?> Identitätsvokabel 21 Eine kulturwissenschaftliche Betrachtungsweise erkennt in dieser Fremd- und Selbsterfahrung jene Konstruktionsprozesse, auf denen Identität beruht, womit auch ein Teil des Textkorpus gleichsam vorauseilend auf den Identitätsbegriff - bzw. die Auseinandersetzung damit - verwies. Die bereits durch meine Frage nach dem Niederschlag von Balkanismen ausgelöste Entscheidung, die literarischen Texte auf dieses Wechselspiel von Eigenem und Anderem zu befragen, wurde so ein weiteres Mal motiviert. Doch damit nicht genug: In den 1990er Jahren wurde die Identitätsvokabel immer häufiger in den Studien kriegerischer Konflikte und den Analysen der Internationalen Beziehungen herangezogen, auch und gerade im Hinblick auf den kriegerischen Zerfall Jugoslawiens. Und obgleich als monokausale These haltlos, hat die Auffassung, die Unterschiede in den ethnischen Identitäten unter den Jugoslawen habe die Bildung neuer Nationalstaaten unumgänglich gemacht, in den letzten 15-20 Jahren in der Politik und den Medien doch eine „fast unwidersprochene Deutungshoheit gewonnen.“ 21 - It's all about identity …, so war ich zwischenzeitlich bereits versucht, meinen Untersuchungsgegenstand zu fassen - um unmittelbar darauf zu stutzen: Hatte es sich bei ,Identität‘ - man denke an die konstruktivistische Konzeptualisierung - nicht bereits um eine tragfähige Analysekategorie gehandelt? Identitätsvokabel Tatsächlich vermag die Omnipräsenz des Identitätsbegriffs auch in dieser Studie dazu verleiten, den simplen Sachverhalt zu übersehen, dass in ihren unterschiedlichen Problemfeldern und Fragestellungen unterschiedliche Auffassungen des Begriffes zentral und mithin deren unterschiedliche Funktionalisierungen am Werk sind. Denn der Signifikant ,Identität‘ besetzt unterschiedliche Signifikate, und unterschiedliche erkenntnistheoretische Prämissen können ihm unterlegt werden. Seinen Ursprung hat ,Identität‘ im lateinischen idem - der-, dasselbe -, was soviel wie vollkommene Gleichheit oder Übereinstimmung in Bezug auf Dinge oder Personen bedeutet; der Rekurs auf die Etymologie des Begriffes führt gleichermaßen seine Unrealisierbarkeit im praktischen Sinne als auch die an ihn (land- und weitläufig) gerichtete Erwartungshaltung vor. „Wollte man den Begriff“, so akzentuiert Ruth Wodak, „mit dieser Explikation auf reale Objekte, einzelne Personen oder Gruppen von Personen beziehen, so würde man sich auf der Stelle mehrere Einsprüche einhandeln. Die Hinfälligkeit eines solchen absoluten Gleichheitskriteriums in bezug auf die Mitglieder einer Gruppe springt sofort ins Auge. Aber auch das absolute Sich-gleich-Bleiben eines einzelnen Indivi- 21 Riedel, Sabine: Kriegsgeschichte(n). Interpretationen zum Jugoslawienkrieg, in: Wenninger, Florian/ Dvorak, Paul/ Kuffner, Katharina (Hgg.): Geschichte macht Herrschaft. Zur Politik mit dem Vergangenen, Wien: Braumüller 2007, 21-32, 21. <?page no="22"?> Einleitung 22 duums und selbst eines leblosen Objektes wäre eine unhaltbare Vorstellung.“ 22 Außerhalb des abgehobenen formalwissenschaftlichen Bereichs von Logik und Mathematik kann der Begriff der Identität nie etwas Statisches, Unveränderliches und Substanzielles (im Sinne von wesenhaft) bedeuten, sondern zielt vielmehr auf die prozessuale und veränderliche Dimension jeglicher Identitätskonstruktion: Diese früh in die Sozialphilosophie Eingang findende Erkenntnis und Prämisse eines konstruktivistischen Identitätsbegriffes hat sich zumindest im Alltagswissen noch nicht durchsetzen können. Hier zirkulieren immer noch (Wunsch-)Vorstellungen von substanzieller Identität - einem wesenhaften Kern - , die einem essentialistischen Identitätsverständnis entsprechen. Und wie bereits angeführt: Diese essentialistische Auffassung von Identität hat die Wahrnehmung und Behandlung der Jugoslawien-Kriege im westlichen mediopolitischen, mitunter im sozialwissenschaftlichen Diskurs maßgeblich geprägt; auch dank ihrer Deutungshoheit konnten - im Westen, doch auch in der Region selbst - unvereinbare ethnische und kulturelle Konflikte postuliert, und konstruiert werden. Samuel Huntingtons 1993 in Form eines Essays und 1996 in Buchform vorgelegter Entwurf vom Kampf der Kulturen ist paradigmatisch für dieses Vorgehen. 23 Die zentrale Aussage dieser programmatischen Schrift lautete, dass nach dem Ende des Kalten Krieges die Auseinandersetzung zwischen Kapitalismus und Sozialismus durch die letztlich ebenso unvereinbaren Gegensätze von Kulturen [Civilizations] abgelöst worden sei. Huntingtons Thesen waren in einem nicht unwesentlichen Ausmaß dafür verantwortlich, dass - neben der Bezugsfolie des Faschismus und des Zweiten Weltkriegs - insbesondere in der Wahrnehmung der Bosnien- und Kosovo-Kriege die islamische Welt als implizite Referenzregion und -religion sowie als neues Feindbild fungierte. Mario Varga Llosas anlässlich des Kosovo-Krieges aufgeworfene Frage kann wohl als eine rhetorische aufgefasst werden: „Hat die Verspätung, mit der die internationale Gemeinschaft gegen Milosević vorgeht, etwas damit zu tun, daß seine Opfer Muslime sind? “ 24 Denn so unglaublich es auch erscheinen mag: Selbst Demokrat/ innen seien der Argumentation, dass der Präsident Serbiens bzw. der Bundesrepublik Jugoslawiens und „die Serben […] gegen den barbarischen und fanatischen ,Halbmond‘, den immerwährenden Feind des christlichen und zivilisierten Europas“ 25 in den Kampf ziehen, zugänglich gewesen. Realpolitisch gesprochen hat EG-Europa die Ordnungsmacht Serbien gegen 22 Wodak, Ruth u.a. (Hgg.): Zur diskursiven Konstruktion nationaler Identität, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1998 (stw 1349), 48. 23 Vgl. Huntington, Samuel P.: Kampf der Kulturen. The Clash of Civilizations. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. A. d. Amerikan. v. Holger Fliessbach, Berlin: Siedler 1998 7 . 24 Vargas Llosa, Mario: Angst des Westens vor dem Halbmond, in: Schirrmacher, Frank (Hg.): Der westliche Kreuzzug. 41 Positionen zum Kosovo-Krieg, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1999, 74-79, 78. 25 Ebenda, 79. <?page no="23"?> Eigene Verortung 23 den zunehmenden islamischen Einfluss in Südosteuropa unter Führung der erstarkenden Großmacht Türkei gebraucht. 26 Eigene Verortung Das essentialistische Verständnis von Identität berücksichtigt die Einsicht, dass diese immer auf der Instanz von Alterität beruht, mitnichten. Im Gegensatz dazu ist es das erklärte Anliegen der vorliegenden Arbeit, einen konstruktivistischen Identitätsbegriff zur Anwendung zu bringen, Identität und Alterität in ihrer Interdependenz zu handhaben. Edith Saurers und Birgit Wagners Bild von Identität und Alterität als ungelöstem Knoten veranschaulicht bestens diese Auffassung. 27 Als Sprachbild ruft es geradezu zwangsläufig das Freudsche Verständnis von „Knotenpunkte[n]“ auf. Darunter verstand Sigmund Freud in Hinblick auf die Traumdeutung jene Elemente, „in denen sehr viele der Traumgedanken zusammentreffen, weil sie […] vieldeutig sind“: kurzum „überdeterminiert“. 28 Diese Ahnung um die mögliche Überdeterminierung, um die Unmöglichkeit, das Spiel der Differenzen auf eine zentrale Bedeutungsinstanz zurückzuführen, stellt eine zentrale Prämisse dieser Arbeit dar. Auf Denkfiguren der nunmehr ins Spiel gebrachten Psychoanalyse greife ich im Laufe der vorliegenden Studie immer wieder zurück, können diese doch für die Einsicht in identitär-alteritäre Prozesse wie auch für ein psychodynamisches Verständnis all dessen, was ,Krieg‘ bei uns auslöst, fruchtbar gemacht werden. Die Psychoanalyse legt offen, was in jedem Krieg manifest, von jeder Gesellschaft, jedem Individuum jedoch verdrängt wird: auch die vermeintlich normalen Menschen werden von unsozialen Lusttrieben bestimmt. Wie sonst ließe sich die Faszination, der Kitzel erklären, mit der wir tagaus tagein via Bildschirm das Kriegsspektakel verfolgt haben? Und wie sehr beruhte die Viktimisierung Sarajevos, Opfer-Stadt par excellence, auf einer libidinösen Ökonomie? Gespalten zwischen dem Abgestoßensein und der 26 Vgl. Mätzler, Karl: Der Krieg am Balkan als Inszenierung unbewältigter und europäischer Vergangenheit, in: Werkblatt. Zeitschrift für Psychoanalyse und Gesellschaftskritik 31 (1993), H. 2, 29-44, 34. 27 Saurer, Edith/ Wagner, Birgit: Einleitung der Bandherausgeberinnen, in: dies. (Hgg.): K/ Eine Mauer im Mittelmeer. Debatten um den Status des Fremden von der Antike bis zur Gegenwart, Wien: Wiener Universitätsverlag 2003 (Wiener Vorlesungen. Konversatorien und Studien 16), 17-22, 17. 28 Freud, Sigmund: Die Traumdeutung, in: ders.: Gesammelte Werke. Unter Mitwirkung v. Marie Bonaparte, hg. v. Anna Freud, Edward Bibring, Willi Hoffer, Ernst Kris, Otto Isakower. Band II und III. Die Traumdeutung / Über den Traum, Frankfurt/ Main: S. Fischer 1992 6 , 1-642, 289. Bei den bibliographischen Angaben zur Ausgabe der Gesammelten Werke Sigmund Freuds werden in der Folge die Namen der Herausgeber/ innen nicht mehr angegeben. <?page no="24"?> Einleitung 24 Faszination am Genießen, verharrten die Zuseher/ innen und Beobachter/ innen in einer Position des „ohnmächtigen Blickes“. 29 Die Konzepte Freuds sensibilisieren aber auch für den Umstand, dass das Verdrängte fortdauert und zu Wiederholungszwängen führt: ein Einsehen, das umso wichtiger ist, als, wie bereits erwähnt, eine bedeutungskonstitutive Bezugsfolie (der Wahrnehmung) des kriegerischen Jugoslawiens der Zweite Weltkrieg und der Faschismus sind: in Freudscher Terminologie Deutschlands und Österreichs „innere[s] Ausland“. 30 Österreich als „,Verdrängungsgesellschaft‘“ - darauf hat bereits Erwin Ringel in seiner Untersuchung über Die österreichische Seele abgehoben. 31 Denn kann Gesellschaft auch nicht auf eine individuelle Ebene reduziert werden, lassen sich gleichwohl Verdrängungsleistungen auch auf kollektiver Ebene (wieder)finden. Während also eine psychoanalytische Betrachtungsweise eine Reihe von Anregungen für das Verständnis der Forschungsproblematik liefert, 32 stellt die konstruktivistische Einsicht, dass die Abbildung - die Repräsentation - einer Außenwelt stets von der eigenen Wahrnehmung, von Begriffssystemen und Konventionen abhängt, den folgereichen Ausgangspunkt der gesamten Forschungsarbeit dieser Studie dar. Wenn nämlich jene eigenen kulturellen Erfahrungen, welche als formatierende Ordnungsmuster für die Wahrnehmung eines Wissensobjektes so belangvoll werden, ihrerseits in eine bestimmte historische Erfahrungswirklichkeit und das soziokulturelle Wissen ihrer Zeit eingebettet sind, muss konsequenterweise die Frage nach den Voraussetzungen, Gründen und Einschätzungen von Wahrnehmungen, Aussagen, Beurteilungen in den Mittelpunkt rücken. Unter dieser Optik ist es nur selbstverständlich, die eigene intellektuelle Verortung aufzuzeigen, das eigene Tun im 29 Žižek, Slavoj: Genieße dein Opfer! Symbolische Gewalt und die Universalisierung des Opferbegriffs, in: Lettre international 24 (Herbst '94), 22-27, 22. Vgl. außerdem Žižek, Slavoj: Die Schuld des Blickes, in: ders.: Die Metastasen des Genießens. Sechs erotischpolitische Versuche, Wien: Passagen 1996 (Passagen Philosophie), 191-213. 30 „Das Symptom stammt vom Verdrängten ab, ist gleichsam der Vertreter desselben vor dem Ich, das Verdrängte ist aber für das Ich Ausland, inneres Ausland, so wie die Realität - gestatten Sie den ungewohnten Ausdruck - äußeres Ausland ist.“ (Freud, Sigmund: XXXI. Vorlesung. Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit, in: Gesammelte Werke. Band XV. Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Frankfurt/ Main: S. Fischer 1996 9 , 62-86, 62. ) 31 Ringel, Erwin: Die österreichische Seele. Zehn Reden über Medizin, Politik, Kunst und Religion, Wien u.a.: Böhlau 1984 (Dokumente zu Alltag, Politik und Zeitgeschichte 5), 13. 32 Mag mitunter auch ein gewisses Naheverhältnis zu den Ansätzen der Psychohistorie bestehen, verschreibt sich mein Rekurs auf psychoanalytische Absichten doch nicht der, so die Kürzestdefinition von Lloyd DeMause, „Lehre von den geschichtlichen Motivationen“. (DeMause, Lloyd: Was ist Psychohistorie? Eine Grundlegung. Hg. v. Artur R. Boelderl u. Ludwig Janus. A. d. Amerikan. v. Artur R. Boelderl, Gießen: Psychosozial-Verlag 2000, 9.) <?page no="25"?> Eigene Verortung 25 Laufe der Arbeit immer wieder zu reflektieren und artikulieren, der eigenen Verantwortung bewusst zu sein - eine für den Forscher/ die Forscherin von S. J. Schmidt als „Verpflichtung zur Selbstbeobachtung, also zur Beobachtung zweiter Ordnung“ apostrophierte Auflage. 33 Eine metawissenschaftliche Position wird sodann als nicht haltbar entlarvt. Wissenschaftliche Darstellungen sind niemals kognitiv oder ideologisch wertfrei; die Darstellung ist vielmehr die Konstruktion eines Wissensobjekts - dies gilt gleichfalls für diese Arbeit. Meine eigene Anwesenheit im zu erforschenden Feld als Angelpunkt nehmend, hieß es folglich, auch den besonderen Zeitpunkt sowie meine Position der Außenperspektive mitbedenken. Während seines Prozesses vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien ist Slobodan Milošević im März 2006 verstorben; sowohl Radovan Karadžić (Juli 2008) als auch Ratko Mladić (Mai 2011) wurden festgenommen und vor das Den Haager Gericht gestellt. Die Feierlichkeiten zum zwanzigjährigen Jubiläum des Mauerfalls längst abgeschlossen, hat sich mittlerweile auch der Kriegsausbruch in Slowenien zum zwanzigsten Mal gejährt. Kurzum, der kriegerische Zerfall Jugoslawiens ist mittlerweile selbst ‚Vergangenheit‘ und mithin Objekt von Vergangenheits- und Erinnerungspolitik geworden, welchem ich mich aus einer wissenschaftlichen Perspektive von außen nähere. Wie Maria Todorova mit Bezug auf den maßgeblichen Beitrag westlicher Wissenschaft zu den Balkanstudien geschrieben hat, „ist die Ansicht eines Außenseiters nicht unbedingt derjenigen des Insiders untergeordnet, und der Insider hat nicht schon wegen existentieller Nähe zum Objekt seiner Studien die Wahrheit gepachtet.“ 34 Die Außenperspektive erscheint indes nicht länger ungebrochen, bedenkt man, dass es sich bei den analysierten Texten großteils um Autor/ innen aus demselben deutschsprachigen kulturellen Kontext handelt; möglicherweise also sie wie auch ich bezüglich der Genese und Dynamik der Kriege manchen (selben? ) blinden Flecken aufsitzen. Angesichts der konstruktivistischen Prämisse empfahl es sich nun in methodologischer Hinsicht, diesem besagten Kontext besondere Beachtung zu schenken: eine Auflage, die mit meinem kulturwissenschaftlich geprägten Verständnis von Literatur als Symbol- und Sozialsystem d'accord ging: Literatur als ein kulturell präformatiertes Repräsentationssystem, das an den historisch-kulturellen Wissensordnungen teilhat und dank seiner Gestaltungsmöglichkeiten und -spielräume diese nicht einfach ,abbildet‘, sondern vielmehr in einem subversiven, affirmativen oder aber reflexiven Modus zum Ausdruck bringen und auf diese Weise in den öffentlichen Diskussions- und Memorati- 33 Vgl. Schmidt, Siegfried J.: Kalte Faszination. Medien, Kultur, Wissenschaft in der Mediengesellschaft, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2000, 63. 34 Todorova, Maria: Die Erfindung des Balkans. Europas bequemes Vorurteil. A. d. Engl. übers. v. Uli Twelker, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1999, 12. <?page no="26"?> Einleitung 26 onshaushalt einspeisen kann. Was aber kann unter dem ,Kontext‘ eines literarischen Textes subsumiert werden? Kontext Eine schnörkellose Definition von ‚Kontext ‘ , die aber gerade in ihrer Schlichtheit der Vieldeutigkeit und Unterschiedlichkeit von Literatur gerecht wird, ist folgende, dem Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft entnommene: „Die Menge der für die Erklärung eines Textes relevanten Bezüge.“ 35 Als solche lassen diese sich mit Lutz Danneberg in weitere Kontexte aufteilen: in einen intratextuellen (Beziehung eines Teiles eines Textes zu anderen Teilen desselben Textes), einen infratextuellen (Beziehung eines Textabschnittes zum Textganzen), einen intertextuellen (Beziehung eines Textes zu bestimmten Textklassen oder anderen Texten) und einen extratextuellen Kontext als „Beziehung eines Textes zu nichttextuellen Gegebenheiten“ 36 . Dannebergs Definition ist für meine Studie insofern hilfreich, als sie den Umstand berücksichtigt, dass Kultur bzw. Welt nicht völlig in Text aufgeht, 37 sondern, in Lacanscher Terminologie, ein Ausgeschlossenes bleibt, auf dem der nicht-diskursive Kern des Genießens aufbaut. 38 Mitunter handelt es sich bei dem, was nicht in der symbolischen Ordnung Eingang findet, um Geschehnisse, die schließlich mit Attributen wie ,verdrängt‘ oder auch ,latent‘ umrissen werden können - und nicht zuletzt für ihre Erhellung hat der Rückgriff auf die psychoanalytische Begrifflichkeit eine heuristische Funktion. „Die 35 Danneberg, Lutz: Kontext, in: Fricke, Harald (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. 2. Band, H - O. 3., neubearb. Aufl., Berlin u.a.: de Gruyter 2000, 333- 336, 333. 36 Ebenda, 334. 37 Vgl. dazu Bachmann-Medick, Doris: Einleitung, in: dies. (Hg.): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. 2., aktual. Auflage, Tübingen u.a.: A. Francke 2004, 7-63, 40: „Kultur geht nicht in Text auf und Text nicht in Kultur, sonst könnte nicht davon gesprochen werden, dass Texte auf kulturell Ausgeschlossenes verweisen, das dennoch in ihnen enthalten ist.“ 38 Vgl. dazu Žižek, Slavoj: Genieße Deine Nation wie Dich selbst! Der Andere und das Böse - Vom Begehren des ethnischen ,Dings‘, in: Vogl, Joseph (Hg.): Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1994 (edition suhrkamp 1881), 133-164, 137. Jacques Lacans Verständnis vom ,Realen ‘ erfuhr im Verlauf seines Werkes zahlreiche Bedeutungsverschiebungen; die Verwendung des Begriffs reicht bis in seine frühen Arbeiten zurück. Ab 1953 stellt das ,Reale ‘ neben dem ,Symbolischen ‘ und dem ,Imaginären ‘ eine der drei (und dabei die am wenigsten fassbare) Ordnungen des Lacanschen Dreierschemas dar: Während das Imaginäre den Bereich des Bildes, der Vorstellung, der Täuschung und Enttäuschung umfasst und das Symbolische jener der Sprache, der Kultur und des Gesetzes ist, widersteht das Reale der Symbolisierung. Vgl. dazu Evans, Dylan: Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse. A. d. Engl. v. Gabriella Burkhart, Wien: Turia + Kant 2002. <?page no="27"?> Kontext 27 wirksamsten Erzählungen sind nicht die manifesten sondern die latenten, die selbstverständlich geworden sind“, 39 schreibt Wolfgang Müller-Funk. In Anbetracht der Existenz und Wirkmächtigkeit dieses Realen habe ich davon abgesehen, ,Kontext‘ genuin semiotisch zu konzeptualisieren, und, wenngleich die dahinter stehenden Theorien keine unwesentliche Rolle für die vorliegende Arbeit gespielt haben, von einer Operationalisierung (poststrukturalistischer) Basistheoreme und -kategorien wie ,Intertextualität‘, „texte général“ (Julia Kristeva) oder auch ,Kultur als Text‘ Abstand genommen. Der/ Die aufmerksame Leser/ Leserin mag an diese Stelle womöglich einwenden, wie sich denn das Insistieren auf ein (verdrängtes oder nicht verdrängtes) reales ,Dahinter‘ des Diskurses mit der Einsicht der konstruktivistischen Medientheorie wie auch der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung, 40 dass immer erst durch mediale Konstruktionen (ob literarischer, wissenschaftlicher, technischer Art oder aber durch Massenmedien) so etwas wie ‚Realität‘ zugänglich gemacht würde, vereinbaren ließe? Um Missverständnissen vorzubeugen: Geht es mir hier tatsächlich auch darum, das historische ,Geschehen‘, das dem Zugriff der Wissenschaftler/ innen, der Schriftsteller/ innen oder Journalist/ innen immer schon voraus liegt, wie auch das aus Leerstellen bestehende Lacansche Reale in Evidenz zu halten, so weiß ich doch, dass uns einzig diese diskursiven respektive narrativen, auf der Darstellungsebene angesiedelten und dabei durch Nachträglichkeit bestimmten Formationen zugänglich sind. Sie sind es, die benannt, analysiert oder interpretiert werden können. Freilich wurde die Frage, wie der Kontext - das Allgemeine der sozialen Strukturen - mit dem je Besonderen eines literarischen Textes zu verbinden sei, nicht erst von einer kulturwissenschaftlich informierten Literaturwissenschaft aufgeworfen, sondern zählt zu ihren „‚ewigen Debatten‘“. 41 Stets gehen schließlich der Textinterpretation Hypothesen über die Bestimmung jener sozialen Interaktion, auf die der Text und seine Elemente sich beziehen, voraus; stets wird Bedeutung erzeugt, indem die Zeichen eines Textes mit bereits existierendem Wissen über Welt und ‚Wirklichkeit‘ zusammengeführt werden. „Notgedrungen“, so hat Endre Hárs den hermeneutischen Zirkel auf den Punkt gebracht, „wird also von der Literatur ausgehend auch der kulturelle 39 Müller-Funk, Wolfgang: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung. 2., überarb. u. erweit. Ausg., Wien u.a.: Springer 2008, 14. 40 Ich denke hierzu an die medientheoretischen Arbeiten von Siegfried J. Schmidt sowie die verschiedenen Sammelbände und Monographien, die von den Gießener Anglist/ innen und Kulturwissenschaftler/ innen Ansgar Nünning, Astrid Erll, Birgit Neumann u.a. veröffentlicht worden sind. 41 Vgl. Barner, Wilfried: Kommt der Literaturwissenschaft ihr Gegenstand abhanden? Vorüberlegungen zu einer Diskussion, in: Jahrbuch der Deutschen Schiller- Gesellschaft 41 (1997), 1-8, 4. <?page no="28"?> Einleitung 28 und der gesellschaftliche Zusammenhang mitinterpretiert.“ 42 Die offensiv unternommene Offenlegung des Kontextes verspricht somit nicht nur, Aufschluss über die dialogische Beziehung von Literatur und ihrem kulturellen Außen zu geben, sondern darüber hinaus wenigstens einen Großteil jener Faktoren und Parameter, die andernfalls als ,Mitinterpretiertes‘ eine unberechenbare Größe blieben, lesbar zu machen. Aus diesem Grund fanden auch die gesellschaftlichen, politischen und diskursiven Entwicklungen im deutschsprachigen Raum, welche als „Bezugsfeld[er] der Auslegung“ 43 die Folie sowohl der Rezeption des kriegerischen Zerfall Jugoslawiens, als auch der Produktion sowie Rezeption der literarischen Texte über das ehemalige Jugoslawien während und nach den Kriegen darstellen, besondere Berücksichtigung. 44 Im Zuge der Auseinandersetzung mit den kulturellen Kontexten, den für das Verständnis der Texte unterschiedlichen ,relevanten Bezügen‘, wurde bald deutlich, dass für ein Verstehen der postjugoslawischen Kriege bzw. ihrer Wahrnehmung eine Fokussierung der identitär-alteritären Dynamik fruchtbar sein konnte: Was dann in Folge einsetzte, war zugegebenermaßen auch die Übertragung der - einen - Untersuchungskategorie der literarischen Texte auf den - anderen - gesellschaftlichen Kontext. Doch dieses Ausloten der identitär-alteritären Dynamik, der Selbst- und Fremdbildlichkeit, war umso befriedigender, als sich als Ergebnis der ersten Lektüregänge der deutschsprachigen literarischen Texte über den kriegerischen Zerfall Jugoslawiens 45 ein vergleichsweise irrelevanter Niederschlag der besagten Problematik, gleichsam eine Un-Gewichtung ebendieser herausgestellt hatte. Dieser Befund korrelierte mit dem aus der Perspektive einer begeisterten Leserin entwickelten 42 Hárs, Endre: Die Literatur als Medium kultureller Erfahrung, in: kakanien revisited, abrufbar unter: www.kakanien.ac.at/ beitr/ theorie/ EHars2.pdf v. 20.2.2002, 1-6, 3, 31.1.2013. 43 Diesen Begriff entlehne ich Birgit Neumann, die ihn (im Singular) einsetzt, um auf das Moment der Einschreibung des rezipientenseitigen Kontextes und die damit einhergehende Konstitution von Bedeutung abzuheben, in: Neumann, Birgit: Performanz und Literatur. Vorschläge zur Neuperspektivierung der Text-Kontext-Relation, in: Gymnich, Marion/ Neumann, Birgit/ Nünning, Ansgar (Hgg.). Kulturelles Wissen und Intertextualität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien zu Kontextualisierung von Literatur, Trier: WVT 2006 (ELCH 22), 87-106, 95. 44 Letztere betrifft freilich nicht mit der gleichen Intensität alle hier behandelten Texte, sind doch erstaunlich viele Texte erst in den letzten Jahren veröffentlicht worden. Nichtsdestotrotz baut auch ein Verständnis der jüngeren Texte auf jenem der soziopolitschen und diskursiven Entwicklungen der 1990er Jahre auf. 45 Die betrifft sowohl die Werke des engeren Textkorpus als auch jene zu Beginn des dritten Kapitels genannten Texte. <?page no="29"?> Forschungsfragen II 29 Ansatz, dem literarischen Text die Möglichkeit zu „,Widerworte[n]‘“ 46 zu geben. Nur dann, erkannte Mieke Bal, könne die Gefahr der Reduktion vermieden werden: eine Reduktion, die im Falle der besagten Problematik mehr dem eigenen Forschungsbegehren als eben den enjeux des Textes geschuldet wäre. Tatsächlich: Wird Literatur als Bastion der Mannigfaltigkeit, Mehrstimmigkeit und Vieldeutigkeit erst einmal erkannt und ernst genommen, so stellt, wie es Gerald Lind formuliert hat, eine „aufgrund vorgängiger theoretischer Prämissen vorgenommene Scharfstellung der analytischen Linse“ 47 ein Verfahren dar, dessen Schlagkraft aufgrund seiner Unvereinbarkeit mit dem Untersuchungsgegenstand enden wollend ist. In anderen Worten haben mich die aus der Forschungsproblematik extrahierten Leitkategorien und Fragestellungen nicht davon abhalten können, auch anderen Motiven und Momenten eines Textes nachzugehen: dies entspricht einem Verfahren, das ich als um eine Dezentrierung ergänzte Zentrierung umreißen möchte. Aber auch das Wissen um die bereits aufgezeigte Brisanz und Wirkmächtigkeit der Identitätsvokabel tat sein Übriges am Unbehagen an der Fokussierung auf Fragen der Identität und Alterität. Ja, aus gleich mehreren Gründen hat es sich also für die Auseinandersetzung mit den literarischen Texten als ratsam herausgestellt, den Forschungsfokus zu erweitern und die literarischen Texte nicht allein oder vorrangig auf identitär-alteritäre Dynamiken hin zu untersuchen, sondern sie in eine breitere - literaturwissenschaftliche - Forschungsfrage zu überführen. Forschungsfragen II Welchen Niederschlag findet der kriegerische Zerfall Jugoslawiens in der deutschsprachigen Literatur: welche erzähltechnischen Verfahren und literarischen Strategien kommen zum Einsatz, um den Krieg als vermeintlich Nicht-Darstellbares - Stichwort ,Krieg und Repräsentation‘ - zu erzählen? Antworten auf diese Fragen können nicht unternommen werden, ohne das je besondere Verhältnis von Fiktion und Fakten zu beleuchten - eine Auseinandersetzung, die mit dem Aufzeigen meines jeweiligen bzw. möglicher Leseverfahren(s) einhergeht: handelt es sich um fiktionale oder faktionale Bezugnahmen? Im Falle der Reiseerzählungen treten zum literaturwissenschaftlichen Fragenkomplex auch genrebedingte Fragen nach dem Umgang mit den Traditionen und Fallstricken hinzu. Wie, so galt es außerdem zu fragen, ge- 46 Bal (2006a: 18). Auf diese Kurzform für die bibliographischen Angaben - Name des Autors/ der Autorin oder Herausgebers/ Herausgeberin, sowie Jahr und Seitenanzahlangabe in Klammern - wird zurückgegriffen, wenn die vollständige Nennung bereits einmal erfolgt ist. 47 Lind, Gerald: Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“. Gerhard Roths Landläufiger Tod und Die Archive des Schweigens, Tübingen: Francke 2011 (Kultur - Herrschaft - Differenz 13), 70. <?page no="30"?> Einleitung 30 hen die Reiseerzählungen mit der (vom Genre) auferlegten Außenperspektive um: handelt es sich im jeweiligen Text um die Produktion eines hegemonialen Außenbildes des bereisten Landes, oder aber wird dieses problematisiert, womöglich unterminiert? Wenn der und die Andere/ n niemals einfach aufgefunden, angetroffen werden, welche Strategien des Othering lassen sich dann beobachten? 48 Indem die erzählökonomische Funktion der Begegnung mit dem/ der/ den Anderen fokussiert wird, gelingt unter dem Oberbegriff ,Repräsentation und Alterität‘ gar eine Integration der Fragen des ersten Fragenkomplexes im narratologischen Gewand. Den Fragen nach den eher auf individueller Ebene anzusiedelnden Praktiken der Begegnung mit dem/ der/ den Anderen entsprechen gleichsam auf kollektiver Ebene jene nach dem Umgang mit Balkanismen und seinen drei Merkmalen der Polarisierung zwischen dem Eigenen und dem/ der/ den Angst einflößenden Anderen: Dichotomisierung, Homogenisierung, Essentialisierung. 49 Indes: Auf keinen Fall soll hier der Eindruck entstehen, unterschiedliche Fragenkomplexe bzw. Wissensdisziplinen - Literaturwissenschaft versus Kulturwissenschaft - gegeneinander ins Feld zu führen. Ganz im Gegenteil ist es mein Anliegen, die beiden Zugänge, die, wie wir im zweiten Kapitel sehen werden, mit unterschiedlicher Terminologie zuweilen auf dieselben Phänomene abheben, zusammenzuführen. Nur dann können die unterschiedlichen Schichten eines Textes aufgespürt und seine potentiellen Lesarten anschaulich gemacht werden. Selbst die Gemeinsamkeiten von hermeneutischen und konstruktivistischen Zugängen lassen sich in Anschlag bringen, wenn das für letztere so zentrale Moment des Selbstbezugs im Konzept des hermeneutischen Zirkels (wieder)gefunden wird. 50 Denn so unumgänglich eine kulturwissenschaftliche Perspektivierung der Literaturwissenschaft ist, so unzureichend erscheint andererseits - um an so früher Stelle ein Ergebnis der vorliegenden Studie hervorzuheben - eine Behandlung des literarischen Textes mit genuin kulturwissenschaftlichem Instrumentarium. 48 Vgl. zu diesem Verständnis von Othering: Fabian, Johannes: Präsenz und Repräsentation. Die Anderen und das anthropologische Schreiben, in: Berg, Eberhard/ Fuchs, Martin (Hgg.): Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1993 (stw 1051), 335-364, 337. 49 Vgl. Gramshammer-Hohl, Dagmar: Einleitung, in: dies./ Kaser, Karl/ Pichler, Robert (Hgg.): Europa und die Grenzen im Kopf. Klagenfurt u.a., Wieser 2003 (Wieser Enzyklopädie des europäischen Ostens 11), 7-20, 11. 50 Vgl. Murath, Clemens: Intertextualität und Selbstbezug. Literarische Fremderfahrung im Lichte der konstruktivistischen Systemtheorie, in: Fuchs, Anne/ Harden, Theo (Hgg.): Reisen im Diskurs. Modelle der literarischen Fremderfahrung von den Pilgerberichten bis zur Postmoderne. Tagungsakten des Internationalen Symposions zur Reiseliteratur, University College Dublin vom 10.-12. März 2001, Heidelberg: Winter 1995 (Neue Bremer Beiträge 8), 3-18, 15f. <?page no="31"?> Methode: Close und Wide Reading 31 Methode: Close und Wide Reading Sollte mein Vorgehen in Verbindung mit einer entsprechenden kultur-/ literaturwissenschaftlichen ‚Schule‘ gebracht werden, so wäre die „,postklassische‘ Erzähltheorie“, wie sie von Ansgar Nünning und Vera Nünning konzeptualisiert wurde, anzuführen: als interdisziplinäres Projekt unter besonderer Berücksichtigung des kulturellen Kontextes, der „Dynamik des Rezeptionsprozesses“ und „der Wechselwirkung zwischen textuellen Signalen und interpretatorischen Entscheidungen von RezipientInnen“. 51 Gerade die Auslegung der ,Haltung‘ eines Textes - ob affirmativ-stabilisierend oder aber ironisch-subversiv - ist weniger von inhaltlich-formalen Aspekten bestimmt, sondern vom eigenen Wissen, der eigenen Perspektivität. Von der Behandlung des literarischen Textes unterscheidet sich meine Handhabung des kulturellen Kontextes deutlich: Wenngleich die diesbezüglichen Ausführungen des ersten Kapitels gewiss nicht improvisiert sind, handelt es sich dabei doch nicht um vertiefte Studien oder Analysen. Vielmehr basieren sie auf einem Zusammentragen von historischen Ereignissen einerseits, Ergebnissen und Einsichten anderer Wissenschaftler/ innen andererseits, auf einem Kumulieren verschiedener Momente, die (gegebenenfalls) bedeutungskonstititv für die Lektüre der zeitnahen literarischen Texte wurden. Mit dem Gießener Anglisten Wolfgang Hallet gesprochen, handelt es sich um ein „wide reading im Sinne eines co-reading […] des kulturellen Kontextes“ 52 . Den literarischen Texten hingegen nähere ich mich in Form von Close Readings. Diese Bezeichnung mag, versteht man darunter eine werkzentrierte, von der Autonomie des Kunstwerkes ausgehende Lektüre, irreführend erscheinen - eine definitorische Bestimmung der hier vertretenen Auffassung von Close Reading ist daher erforderlich: Um das Attribut ,vollständig‘ ergänzt, fällt bereits die Übersetzung aus dem Englischen - genaues, textnahes Lesen - mit meiner Auffassung zusammen. Noch vor jeder Fokussierung eines partikularen Forschungsinteresses gilt es, dem Text in seiner Eigenschaft als kompositorische Einheit zu begegnen. Doch während die Vertreter/ innen des New Criticism, dem in literaturgeschichtlicher Hinsicht das Verdienst der ,Entdeckung‘ dieser Interpretationspraxis gebührt, den Kontext - oder, besser: die Kontexte - eines Textes ausblendeten, kommt bekanntlich in der vorliegenden Arbeit der Ausei- 51 Für die Kennzeichnung der „,postklassischen‘ Erzähltherorie“ führen Ansgar Nünning und Vera Nünning drittens die neohistorische und diachronische Ausrichtung an, womit der Fokus auf die historische und kulturelle Variabilität von Erzählformen verschoben wird. Vgl. Nünning, Ansgar/ Nünning, Vera: Von der strukturalistischen Narratologie zur ‚postklassischen‘ Erzähltheorie: Ein Überblick über neue Ansätze und Entwicklungstendenzen, in: dies. (Hgg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie, Trier: WVT 2002 (WVT-Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium 4), 1-33, 24f. 52 Hallet, Wolfgang: Intertextualität als methodisches Konzept einer kulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft, in: Gymnich/ Neuman/ Nünning (2006: 53-70, 64). <?page no="32"?> Einleitung 32 nandersetzung mit den Verflechtungen eines Textes und seiner kontextuellen Einbettung eine maßgebliche Rolle zu. Jene Texte, die wichtig für ein Verständnis ihres Autors/ ihrer Autorin sind, doch nicht unbedingt den Kriterien des Textkorpus entsprechen, untersuche ich auf bestimmte Fragestellungen hin in Form von Grobanalysen. Dies betrifft Handkes Essay Abschied des Träumers vom Neunten Land, seine Reiseerzählung Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise und Juli Zehs ersten Roman Adler und Engel. Die Frage, ob die Auswahl der ‚dicht gelesenen‘ bzw. detailliert analysierten Texte nun ‚repräsentativ‘ für die Diskurse einer Zeit ist, möchte ich indes unbeantwortet lassen, und folgendes zu bedenken geben „Die Annahme der Repräsentativität ist […] insofern zirkulär, als ein guter Teil der wissenschaftlichen Arbeit dem Nachweis eben dieser Repräsentativität gilt.“ 53 Aufbau der Arbeit Auf der Suche nach einem Ansatz, mithilfe dessen diese Kontexte, diese unterschiedlichen ,relevanten Bezüge‘ systematisiert werden können, bin ich auf Hallets Modell der ,multiplen Kontextualisierung‘ gestoßen. Anhand des Beispiels des Romans Jazz von Toni Morrison führt er als unterschiedliche Kontext-Ebenen eine historisch-synchrone, eine transhistorische und eine synchrone Gegenwartsachse ein; dazu kämen weitere historische Kontexte. Umgelegt auf meine Studie, bildet die „zentrale zeithistorische Bezugsfolie“ der darin analysierten Werke der kriegerische Zerfall Jugoslawiens. Diese müsste allerdings auf der synchronen Achse um die ,eigenen‘ Diskurse des österreichischen bzw. deutschen Umfeldes ergänzt werden; schließlich ist davon auszugehen, dass auch diese für die rezipientenseitige Funktionalisierung der literarischen Texte zum Einsatz kamen. Was Hallet „transhistorische Achse“ nennt - im Falle des Morrison-Romans „,transhistorical discourses on mainstream and on African American history, culture, and literature‘“, 54 umfasst in der vorliegenden Arbeit den von Todorova als Balkanismus bezeichneten Komplex an (stereotypen) Vorstellungen, Diskursen und Narrativen über den Balkan. Die Vorsilbe von ,transhistorisch‘, so zumindest möchte ich in der vorliegenden Arbeit das Attribut auffassen, bezeichnet weniger ein ,jenseits‘ der Geschichte, sondern verweist auf den Umstand, dass diese Diskurse ,quer durch‘ bestimmte Zeiträume operieren. Auf diachron-historischer Ebene wiederum müssen ausgewählte Naheverhältnisse zwischen den deutschsprachigen und südslawischen Ländern beleuchtet werden: als grobe Schlagworte fungieren hier die k. und k. Monarchie, der Erste und der Zweite Weltkrieg, das blockfreie Jugoslawien und der Titoismus. 53 Ebenda, 63. 54 Ebenda, 68. <?page no="33"?> Aufbau der Arbeit 33 Erst dieser Aufsatz von Hallet hat mir den Balkanismus-Komplex als Kontext, und beispielsweise nicht länger als Untersuchungsgegenstand - oder aber, wie Todorova es anstrebt, 55 als Analysekategorie - vergegenwärtigt. Aber auch die Jugoslawien-Kriege bzw. deren Lesarten schienen mir bis dahin vielmehr bei den Untersuchungsgegenständen angesiedelt. Dass auch im Falle von ,Identität‘ Unsicherheit bezüglich des Status herrschte - analytische Kategorie oder Untersuchungsgegenstand -, habe ich bereits angeführt. Wenngleich nun die Ambivalenz im Falle des letzten Beispiels auch aus den unterschiedlichen Identitätskonzepten, die gegeneinander ins Feld geführt werden können, resultierte, wird hier bereits deutlich, wie sehr die wissenschaftstheoretische Identifizierung einer ,Kategorie‘ mitunter eine kontingente Entscheidung, eine Auswahl zwischen mehreren Möglichkeiten darstellt, wohingegen eine strikte Trennung nicht der Realität des Forschungsvorhabens entspricht. Angesichts dieser Überlegungen betreffend die ,multiple Identität‘ so mancher Untersuchungsgegenstände, Begriffe bzw. Analysekategorien und Kontexte habe ich mich schlussendlich dafür entschieden, alle ,Spezies‘ in einem Kapitel zusammenzuführen und auf diese Weise eine gewisse Durchlässigkeit in-between (Homi K. Bhabha) zu suggerieren bzw. zu favorisieren. Noch vor den oben genannten kontextbezogenen Ausführungen deutet das erste, nun folgende Kapitel den Umfang des Forschungsvorhabens an, in dem es Einführungen in die Problematik und die damit einhergehenden Parameter leistet: Unter dem Titel „Krieg - und Erzählung“ handelt es sich im ersten Abschnitt um ein allgemein gehaltenes Vorspiel; in einem weiteren, als „Jugoslawien-Kriege und ihre Lesarten“ betitelten Unterkapitel um eine Vorstellung der besonderen Kriegsproblematik. Außerdem erfolgt, im zweiten Unterkapitel, eine eingehende Auseinandersetzung mit den Begriffen „Identität und Alterität“. Wie Mieke Bal ausgeführt hat, können Begriffe sowohl als „Theorien en miniature“ 56 als auch als Metaphern fungieren: Diese zeichnen sich durch die von ihnen geleistete Ersetzung, die Ähnlichkeit zwischen zwei Sachen generiert, aus, sowie durch die Verdrängung und Umleitung von Bedeutungen. Erhellung oder Vernebelung - beides können Metaphern bewirken. Um bei der Handhabung von Begriffen zu ersterem Resultat zu gelangen, ist die von Bal eingeforderte „Aufarbeitung“ 57 der verwendeten Begriffe von Nöten: deren theoriegeschichtliche Offenlegung und definitorische Bestimmung - und sei es im Aufzeigen der Polysemie. Nicht zuletzt der inflationäre Gebrauch der Identitätsvokabel macht diese ‚Aufarbeitung‘ erforderlich. Unter dem Titel „Jugoslawien, ,ein flottierender Signifikant‘: Multiple Kontextualisierung“ erfolgt anschließend die Zusammenführung der 55 Todorova, Maria: Der Balkan als Analysekategorie: Grenzen, Raum, Zeit, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), H. 3, 470-493. 56 Bal, Mieke: Zu Tode erschrocken, in: dies. (2006: 44-71, 58). 57 Bal (2006a: 12). <?page no="34"?> Einleitung 34 identitär-alteritären Problematik mit Jugoslawien und seinem kriegerischen Zerfall. Doch damit ist die Funktion dieses dritten Unterkapitels nicht erschöpft. Tatsächlich stellen die darin enthaltenen Anführungen zu „An- und Beziehungen auf diachron-historischer Ebene“, die Ausführungen über die „Synchron-historische Ebene: ,Bezugsfelder der Auslegung‘“ sowie über die transhistorischen Diskursvorlagen von Balkanismus und Orientalismus gleichsam eine ,Rampe‘ für die Behandlung der literarischen Texten dar. Und wie bereits erwähnt: Als Wide Readings angelegt, handelt es sich bei diesen Relationierungen und Kontextualisierungen um kursorische und schematische Skizzen, mitunter um die bloße Auflistung von geschichtlichen Ereignissen und Entwicklungen, die für zukünftige Analysen der identitär-alteritären Dynamik eine erste Vorarbeit leistet. Angesichts des Umstandes, dass (mir) kein einziger literarischer Text über den Zerfall Jugoslawiens von einem/ einer helvetischen Autor/ Autorin vorliegt, werden geschichtliche und diskursive Entwicklungen der Schweiz gänzlich ausgeklammert. Dieses frappierende Fehlen literarischer Beiträge zum kriegerischen Zerfall Jugoslawiens aus Schweizer Perspektive, so viel nur am Rande, kann auch auf die besondere Erfahrung der Schweiz im Zweiten Weltkrieg zurückgeführt werden, gelang es ihr doch, einen Grad von Unabhängigkeit zu bewahren. Was den inneren Aufbau des ersten Kapitels angeht, so wird darin all das, was in der Einleitung bereits in verdichteter Form Eingang gefunden hat, entfaltet und - nachträglich - in eine lineare Ordnung gebracht. Es schließt mit einem vierten Unterkapitel, einer kritischen Zwischenbilanz hinsichtlich des theoretischen Instrumentariums und wegweisenden weiteren methodologischen Überlegungen bezüglich der sodann notwendig erscheinenden Weitung der Forschungsfragen: „Jenseits der dichotomischen Ordnung, jenseits eines totalisierenden Gestus“. Das zweite Kapitel steckt die literaturwissenschaftlichen Prolegomena ab. Wieder gehe ich im Sinne der Balschen ,Aufarbeitung‘ vor, dieses Mal mit Blick auf zentrale Kategorien und Fragen, die den literarischen Texten entnommen wurden - und in anderer Begrifflichkeit durchaus mit den konstruktivistischen Prämissen der Studie korrespondieren. Im dritten und umfangreichsten Kapitel erfolgt schließlich - in zwei zeitliche Blöcke bzw. drei Phasen (,Zeiträume‘) untergliedert, der Anwendungsteil - die Textarbeit: Auf den Erkenntnissen des ersten Kapitels aufbauend und von der Begriffsarbeit des zweiten fundiert, werden die ausgewählten Texte Peter Handkes, Juli Zehs, Norbert Gstreins, Saša Stanišićs und Anna Kims in Form von textnahen Close Readings analysiert. Als autobiographische oder auch fiktionale kreisen sie allesamt um Jugoslawien (oder aber Teile davon) und die (post)jugoslawischen Kriege. Um die jeweils zeitaktuelle Wirkung und Brisanz der Texte abschätzen zu können, hat es sich als sinnvoll erwiesen, weitgehend chronologisch vorzugehen. Trotz der rezeptionsästhetischen Einsichten, die in meinen Analysen zum Tragen kommen, entspricht der Aufbau <?page no="35"?> Aufbau der Arbeit 35 dieses Anwendungsteils einer produktionsästhetischen Perspektive: die Titel der beiden Blöcke „Vor den Kriegen, mit den Kriegen“ sowie „Nach den Kriegen“ zielen auf den Entstehungszeitraum bzw. Veröffentlichungszeitpunkt der jeweiligen Texte. Diese Titel sind nachträgliche und elliptische Formulierungen, die um ihr Partizip Perfekt ergänzt wie folgt lauten: „Vor den Kriegen, mit den Kriegen geschrieben“ sowie „Nach den Kriegen geschrieben“. Die Aufnahme in das Textkorpus eines vor dem Ausbruch der kriegerischen Handlungen im ehemaligen Jugoslawien verfassten und veröffentlichten Werkes - Peter Handkes Die Wiederholung - ist insofern zielführend, als die Auseinandersetzung mit diesem Erzählwerk erlaubt vorzuführen, in welchem Ausmaß Erwartungshaltung und Disposition der Leserschaft bedeutungskonstitutiv für die Auslegung fiktionaler Welten werden können. Bei seinem Erscheinen im Jahr 1986 positiv bis enthusiastisch aufgenommen, wurde das im jugoslawischen Slowenien spielende Erzählwerk Die Wiederholung mit dem Wissen um das später einsetzende Engagement des Autors für Serbien und Milosević als, wie Karl Wagner es auf den Punkt bringt, „politisches Pfand“ genommen. 58 Auf meine Ausführungen über Die Wiederholung folgt eine Grobanalyse des Essays Abschied des Träumers vom Neunten Land - erneut ein Text von Peter Handke, der angesichts des fehlenden Reise- Moments die Parameter meines Textkorpus nicht erfüllt. Mit meinem Close Reading von Handkes Reiseerzählung Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien begebe ich mich auf eine minutiöse Spurensuche, um einen Horizont auszumessen, der sich von den politisch gefärbten Vorurteilen und Beurteilungen, die dem im Jänner 1996 in der Süddeutschen Zeitung erstveröffentlichten Text vornehmlich zuteilwurden, unterscheidet: differenzierte Analyse anstatt vorauseilender Verurteilung. Daran anschließend wird die wenige Monate später verfasste Reiseerzählung Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise umrissen. Handkes weiterer Reisetext Unter Tränen fragend hingegen, Aufzeichnungen zu zwei Serbien-Durchquerungen im März und April 1999, wird nicht in Form einer eigenständigen Analyse untersucht, doch finden Handkes Überlegungen zu dieser „Kriegsschadenreise“ (UTF 115), so sie seine aus den ersten beiden Serbien-Reisetexten hinlänglich bekannten Positionen über das „fremdvertraute“ (UTF 108) Land um neue Gedankengänge ergänzen, oder die bisherigen korrigieren oder unterminieren, verstreut über sämtliche Handke-Unterkapitel dieser Arbeit Eingang. Mit der Analyse der Texte von Juli Zeh (Adler und Engel sowie Die Stille ist ein Geräusch), Norbert Gstrein (Das Handwerk des Tötens und Die Winter im 58 Wagner, Karl: Ins Leere gehen. Handkes „Epos eines Heimatlosen“: „Die Wiederholung“, in: Zur Geschichte der österreichisch-slowenischen Literaturbeziehungen. Hg. v. Andreas Brandtner u. Werner Michler, Wien: Turia + Kant 1998, 389-400, 390. <?page no="36"?> Einleitung 36 Süden) sowie Saša Stanišić (Wie der Soldat das Grammofon repariert) wende ich mich literarischen Beiträgen zu, die nach sämtlichen Friedensschlüssen, nach Beendigung eines fast ein ganzes Jahrzehnt währenden Krieges - sowie, das sollte nicht unerwähnt bleiben, nach den Anschlägen vom 11. September 2001 - entstanden sind: zu einem Zeitpunkt, da die Region der vormaligen Kriegsschauplätze bereits deutlich an medialem Interesse verloren hatte. Mit den Kriegen in Afghanistan und im Irak zogen neue Autor/ innen aus den Regionen der betreffenden Krisenherde das Interesse des deutschsprachigen Buchmarktes auf sich. Während Peter Handke Kroatien gänzlich aussparte und erst im Sommerlichen Nachtrag bosnischen Boden (der Republika Srpska) betrat, von Serbien nach Višegrad „der Brücke dort über die Drina und Ivo Andrić' wegen, und einfach nur so“ (SN 167) überfuhr, rücken die Texte von Gstrein, Zeh und Stanišić Kroatien sowie Bosnien-Herzegowina in das Blickfeld. In thematischer Hinsicht sticht eine markante Differenz zum westlichen mediopolitischen Diskurs über den Bosnien-Krieg ins Auge: Jene besondere Rolle nämlich, die die belagerte bosnische Hauptstadt darin einnahm, kommt Sarajevo in der deutschsprachigen Literatur nicht zu. An der Konstruktion eines „Belagerungstextes Sarajevos“ partizipieren die deutschsprachigen Autor/ innen, auch im Unterschied zu ihren bosnischen Kolleg/ innen, nicht. 59 Schauplätze, die im Kosovo liegen, weisen die beiden analysierten Werke des letzten Unterkapitels auf: Peter Handkes romanlange Erzählung Die morawische Nacht und Anna Kims Die gefrorene Zeit, die im Winter bzw. Sommer 2008 erschienen. Nach Slowenien, Serbien, Bosnien-Herzegowina und Kroatien fand somit auch dieses Toponym seinen Niederschlag in der deutschsprachigen Literatur. Handkes 2009 erschienener Text Die Kuckucke von Velika Hoča spielt ebenfalls dort, in einer serbischen Enklave, und fokussiert die Folgen des Kosovo-Krieges für die Zivilbevölkerung. Für eine Auseinandersetzung mit Fragen des Balkanismus, der identitär-alteritären Dynamik oder der Darstellbarkeit des Krieges liefert Handkes Die Kuckucke von Velika Hoca kaum Neues oder Bemerkenswertes, weshalb auch auf diese jüngste Reiseerzählung seines ,Jugoslawien-Zyklus‘ nur punktuell verwiesen wird. Anders als in den textnahen und detailreichen, den jeweiligen Text in seiner Partikularität wahrnehmenden Analysen des vierten Kapitels stehen in der 59 Darunter versteht Riccardo Nicolosi den durch die literarischen Texte von u.a. Miljenko Jergović, Semezdin Mehmedinović, Aleksandar Hemon, Nenad Veličković, Dževad Karahasan und Alma Lazarevska modellierten „Stadtraum, in dem der zum Alltag gewordene Ausnahmezustand eine eigene ,unwirkliche‘ Wirklichkeit schafft. [Nicolosi, Riccardo: Die Belagerung Sarajevos in der neueren bosnischen Literatur, in: Beganović, Davor/ Braun, Peter (Hgg.): Krieg sichten. Zur medialen Darstellung der Kriege in Jugoslawien, München: Wilhelm Fink 2007, 129-150, 130.] <?page no="37"?> Stand der Forschung 37 Conclusio die ,großen Linien‘ und die Gemeinsamkeiten der verschiedenen Werke im Vordergrund. Stand der Forschung Die Anführung der unterschiedlichen Forschungsfragen hat das zweifache Ziel und Verfahren der vorliegenden Arbeit bereits verdeutlicht. Zum einen wird mit kulturwissenschaftlichem Zugriff auf die besondere Dynamik von Identität und Alterität, von Selbst- und Fremdbildlichkeit sowie auf die Funktionen fokussiert, welche die Kriege in (Ex-)Jugoslawien gleichsam als ,Stellvertreter-Kriege‘ für Deutschland, Österreich, EU-Europa, den ,Westen‘ eingenommen haben. Zum anderen wird aus einer literaturwissenschaftlichen Perspektive auf die Repräsentationen des kriegerischen Zerfalls Jugoslawiens in ausgewählten, allesamt mit dem Genre der Reiseerzählung oder dem Motiv der Reise spielenden Texten der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur abgehoben. Eine fundierte und umfassende Darlegung dieses Niederschlags des kriegerischen Zerfalls Jugoslawiens in der deutschsprachigen Prosa unter besonderer Berücksichtigung des kulturellen Kontextes sowie der identitäralteritären Dynamik inklusive der damit einhergehenden Aporien stellt ein Forschungsdesiderat dar, welches diese Monographie beheben möchte. Lediglich eine Reihe von kürzeren Aufsätzen aus literaturwissenschaftlicher Perspektive zu einzelnen wenigen Autor/ innen streifen Themen und Fragen der vorliegenden Arbeit; seit Mitte der 1990er Jahre haben insbesondere Peter Handkes Reisetexte sowie sein Jugoslawien-Bezug Eingang in literaturwissenschaftliche Arbeiten gefunden und sind auch die verschiedenen Polemiken in verschiedenen Abhandlungen untersucht worden.60 An dieser Stelle seien ausschließlich Autor/ innen genannt, die mehr als einen Aufsatz zum Themenkomplex verfasst haben; im Anwendungsteil freilich werden weitere Arbeiten angeführt. So hat Christoph Parry in seinen Beiträgen zu Peter Handke auf Komplexe wie das „Umkehrverhältnis zwischen Deutschland und Österreich auf der 60 Vgl. dazu insbesondere Gritsch, Kurt: Peter Handke und „Gerechtigkeit für Serbien“. Eine Rezeptionsgeschichte. Innsbruck u.a.: StudienVerlag 2009. <?page no="38"?> Einleitung 38 einen und Jugoslawien auf der anderen Seite“ 61 hingewiesen; Karoline von Oppen wiederum kommt das Verdienst zu, als Erste Autor/ innen wie Peter Handke, Peter Schneider, Hans Christoph Buch, aber auch Ingrid Bachér mit Konzepten des Balkanismus und „nesting orientalism“ 62 (Milica Bakić- Hayden) zusammengeführt sowie die Frage nach der Funktion der Kriege für die bundesdeutschen Diskussionen im Bemühen um (außenpolitische) ‚Normalisierung‘ aufgeworfen zu haben. 63 Susanne Düwell hat in zwei kürzeren Aufsätzen die kulturkritischen Deutungsmuster der Handkeschen Reisetexte aufgezeigt, mit besonderer Berücksichtigung der im Jahr 2000 veröffentlichten, in vorliegender Arbeit indes nur peripher behandelten Reiseerzählung Unter Tränen fragend. 64 Bereits 2003 reichte Bruno Batinić an der Universität Wien seine Diplomarbeit „Der Jugoslawien-Krieg in der Fiktion. Die Rezeption des Jugoslawien- Krieges in den fiktionalen Werken deutschsprachiger SchriftstellerInnen“ ein, die eine erste Überblicksdarstellung zur frühen literarischen Rezeption in 61 Parry: Christoph: Zeitgeschichte und Roman. Der Schriftsteller und die Zeitgeschichte. Peter Handke und Jugoslawien, in: Platen, Edgar (Hg.): Erinnerte und erfundene Erfahrung, München: Iudicium 2000 (Zur Darstellung von Zeitgeschichte in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur 1), 116-129, 120. Vgl. außerdem folgende Aufsätze von Parry: Europa im Kopf. Zur Entstehung mythischer Räume vom Habsburger Mythos bis Celan und Handke, in: Der Ginkgo-Baum. Germanistisches Jahrbuch für Nordeuropa 14 (1996), 138-149; Peter Handke, Jugoslawien und Europa, in: Segebrecht, Wulf/ Conter, Claude D./ Jahraus, Oliver/ Simon, Ulrich (Hgg.): Europa in den europäischen Literaturen der Gegenwart, Frankfurt/ Main: Lang 2003 (Helicon 29), 329-342; sowie Kapitel 7 („Landscape in a Conflict of Discourse“) seiner Monographie: Peter Handke’s Landscapes of Discourse. An Exploration of Narrative and Cultural Space, Riverside CA: Ariadne Press 2003 (Studies in Austrian Literature, Culture, and Thought), 191-222. 62 Vgl. Bakić-Hayden, Milica: Nesting Orientalisms: The Case of Former Yugoslavia, in: Slavic Rewiew 54 (1995), H. 4, 917-931. 63 Vgl. dazu Oppen, Karoline von: Imagining the Balkans, Imagining Germany: Intellectual Journeys to Former Yugoslavia in the 1990s, in: The German Quarterly 79.2 (Spring 2006), 192-210; dies: „(un)sägliche Vergleiche“: What Germans Remembered (and Forgot) in Former Yugoslavia in the 1990s, in: Taberner, Stuart/ Cooke, Paul (Hgg.): German Culture, Politics, and Literature into the Twenty-First Century. Beyond Normalization, Rochester, NY: Camden House 2006, 167-180; dies.: „Moi, je ne suis pas allé en Bosnie“ - Le cas Handke. Une controverse entre intellectuels autour de la Yougoslavie dans le contexte de la normalisation de l'Allemagne, in: Robert, Valérie: Intellectuels et polémiques dans l'espace germanophone, Asnières: PIA 2003 (Publications de l'Institut d'Allemand d'Asnières 34), 209-220. 64 Vgl. Düwell, Susanne: „Ein Toter macht noch keinen Roman“. Repräsentationen des Jugoslawienkrieges bei Peter Handke und Norbert Gstrein, in: Jaeger, Stephan/ Petersen, Christer (Hgg.): Zeichen des Krieges in Literatur, Film und den Medien. Band 2. Ideologisierung und Entideologisierung, Kiel: Verlag Ludwig 2006, 92-117; dies.: Peter Handkes Kriegs-Reise-Berichte aus Jugoslawien, in: Koch, Lars/ Vogel, Marianne (Hgg.): Imaginäre Welten im Widerstreit. Krieg und Geschichte in der deutschsprachigen Literatur seit 1990, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, 235-278. <?page no="39"?> Stand der Forschung 39 Prosa und auch Drama liefert. 65 Einer kulturwissenschaftlichen Germanistik ist der Zagreber Literaturwissenschaftler Svjetlan Lacko Vidulić zuzuzählen, der im Rahmen seines Forschungsprojektes zum deutsch-kroatischen Literaturtransfer insbesondere die Aufnahme der Reisetexte Handkes in der Region erforscht hat; 66 in Basel hat der bereits mehrfach angeführte Boris Previsic im Rahmen seines Habilitationsprojektes die „Poetik der Grenzen - ‚Balkan‘ als Reflexion europäischer Identität“ untersucht. Previsics Untersuchungsgegenstand ist in zeitlicher Hinsicht deutlich ausgeweitet; da er seine Untersuchung auf raumtheoretische Zugänge stützt, ergänzen sich unsere Arbeiten mehr, als sich sich überschneiden. 67 Mit der 2009 am Innsbrucker Germanistik-Institut eingereichten Doktorarbeit von Jean Betrand Migoué zu „Peter Handke und das zerfallende Jugoslawien. Ästhetische und diskursive Dimensionen einer Literarisierung der Wirklichkeit“ habe ich zu einem relativ späten Zeitpunkt eine bisweilen analytisch und theoretisch auf höchstem Niveau ansetzende (Einzel-)Studie entdeckt. 68 Abgesehen von der partiellen Deckung des Untersuchungsgegenstands gibt es in methodischer und theoretischer Hinsicht einige Übereinstimmungen. Insgesamt fokussiert die aus außereuropäischer Perspektive verfasste Arbeit jedoch viel stärker die ästhetischen Strategien Handkes als es in meiner der Fall ist. Auch die Forschungen des Innsbrucker Literaturwissenschaftlers Martin Sexl und des Fotografen Arno Gisinger zu Krieg im Allgemeinen (Imagined War. Mediale Rekonstruktionen des Krieges 69 ) und dem kriegerischen Zerfall Jugoslawiens im Besonderen (Hotel Jugoslavija) nehmen Teile meiner eigenen Ansätze und Ergebnisse vorweg. Letzteres, 2008 erschienen, eröffnet auf multiperspektivische und selbstreflexive Weise eine Art kulturwissenschaftlichen Reisetext und „Werkzeugkis- 65 Batinić, Bruno: Der Jugoslawien-Krieg in der Fiktion. Die Rezeption des Jugoslawien- Krieges in den fiktionalen Werken deutschsprachiger SchriftstellerInnen, Diplomarbeit: Universität Wien 2003. An deutschen Universitäten verfasste Diplomarbeiten zu Themenbereichen der vorliegenden Studie wurden nicht systematisch berücksichtigt. 66 Vgl. Vidulić, Svjetlan Lacko: Vergangenheitsfalle und Erinnerungsort. Zur Handke- Kontroverse in Serbien seit 1991, in: Müller-Funk, Wolfgang/ Bobinac, Marijan (Hgg.): Gedächtnis, Identität, Differenz. Zur kulturellen Konstruktion des südosteuropäischen Raums und ihrem deutschsprachigen Kontext. In Zusammenarb. m. Gerald Lind u. Rikard Puh, Tübingen u.a.: A. Francke 2008 (Kultur - Herrschaft - Differenz 12), 205- 215; ders: Imaginierte Gemeinschaft. Peter Handkes jugoslawische „Befriedungsschriften“ und ihre Rezeption in Kroatien, in: kakanien revisited, abrufbar unter: www.kakanien.ac.at/ beitr/ fallstudie/ SVidulic2.pdf v. 05.07.2007, 1-12, 31.1.2013. 67 Vgl. Previsic (2008), Previsic (2009a) sowie ders.: Poetologie und Politik: Peter Handkes Winterliche Reise, in: Iljassova-Morger, Olga/ Reinhardt-Becker, Elke (Hgg.): Literatur - Kultur - Verstehen. Neue Perspektiven in der interkulturellen Literaturwissenschaft, Duisburg: Universitätsverlag Rhein-Ruhr 2009, 107-122. 68 Migoué, Jean-Bertrand: Peter Handke und das zerfallende Jugoslawien. Ästhetische und diskursive Dimensionen einer Literarisierung der Wirklichkeit (Handkes Jugoslawienwerke 1991-2000), Dissertation: Universität Innsbruck 2009. 69 Sexl, Martin/ Gisinger, Arno: Imagined Wars. Mediale Rekonstruktionen des Krieges, Innsbruck: innsbruck university press 2010. <?page no="40"?> Einleitung 40 te“, 70 welche(r) zweierlei in Dialog bringt: eine von der ‚Reise in das Land der Kriege‘ 71 erzählende und eine über diese Reise, doch auch über Komplexe wie ‚Identität‘, ‚Mitteleuropa‘, Zeichentheorie wissenschaftlich reflektierende. Unvermittelt, erst im Anhang erläutert, treten die ganzflächigen Fotos von Gisinger dem Leser/ der Leserin entgegen. Eindrucksvoll gelingt es den Autoren, eine Zusammenführung von medialer, kulturwissenschaftlicher und literarische Wahrnehmung zu bewerkstelligen und gleichzeitig die Singularität jeglicher Wahrnehmung zu veranschaulichen, diese mithin zu relativieren oder dekonstruieren. Über das wissenschaftliche Fachpublikum hinaus richtet sich der Foto-Text-Band an eine breite Leserschaft. * * * Nietzsches Warnung aus Jenseits von Gut und Böse im Ohr, empfand ich von Beginn der Niederschrift an die Frage bzw. Entscheidung über die ,zeitliche‘ bzw. ,innere‘ Ordnung meiner Studie als besondere Herausforderung.: „[...] man soll sich der ,Ursache‘, der ,Wirkung‘ eben nur als reiner Begriffe bedienen, das heißt als konventioneller Fiktionen zum Zwecke der Bezeichnung, der Verständigung, nicht der Erklärung“, so heißt es da, und weiter: „[...] Wir sind es, die allein die Ursachen, das Nacheinander, das Für-einander, die Relativität, den Zwang, die Zahl, das Gesetz, die Freiheit, den Grund, den Zweck erdichtet haben; und wenn wir diese Zeichen-Welt als ,an sich‘ in die Dinge hineindichten, hineinmischen, so treiben wir es noch einmal, wie wir es immer getrieben haben, nämlich mythologisch.“ 72 Nun, dass im Zuge der Redaktion und Überarbeitung einer wissenschaftlichen Studie der Wunsch nach der beststrukturierten Anordnung der Endergebnisse den Ausschlag gibt, ist nicht weiter verwunderlich - und damit auch noch lange nicht als ,mythologisch‘ zu verwerfen. Tatsächlich erreichte auch die vorliegende Studie einen Punkt, an dem es notwendig wurde, die Verfahren des bisherigen Arbeitsprozesses, also vorsätzliches Abschweifen, 73 ‚freies Assoziieren‘ sowie buchstäbliches Sich-im-Kreis-Drehen, zu reduzieren. Zu meinem Sprachgebrauch ist anzumerken, dass ich auf einfache Anführungszeichen zurückgreife, um entweder die soziale Konstruiertheit eines 70 Sexl, Martin/ Gisinger, Arno: Hotel Jugoslavija. Die literarische und mediale Wahrnehmung der Balkankonflikte, Innsbruck: StudienVerlag 2008, 13. 71 Damit spiele ich auf den Titel von Kurt Koprüner an: Reisen in das Land der Kriege. Erlebnisse eines Fremden in Jugoslawien. M. e. Vorw. v. Peter Glotz, Berlin: Espresso 2001. 72 Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse, in: ders. Werke 2. Werke in drei Bänden. Hg. v. Karl Schlechta, München: Hanser 1999, 563-759, 585. 73 Vgl. zur Methode des ‚Loslassens‘ [„déprise“]: Barthes, Roland: Leçon, in: ders: Œuvres complètes. Tome III. 1974-1980. Édition établie et présentée par Éric Marty, Paris: Éditions du Seuil 1995, 799-814, 813. <?page no="41"?> Stand der Forschung 41 Begriffes oder eine Abweichung von seinem Normalgebrauch zu signalisieren. Um eine geschlechterneutrale Formulierung zu realisieren und Personen beiderlei Geschlechts zu berücksichtigen, verwende ich Doppelformen. Dass diese den Lesefluss gegebenenfalls behindern, soll nicht als Störung empfunden werden, sondern immer wieder daran erinnern, dass Gleichberechtigung, geht sie auch weit darüber hinaus, bei der Sprache beginnt. Auch gibt es Textstellen, in denen gleichermaßen auf den Singular wie auf den Plural angespielt wird, was sich im Schriftbild beispielsweise als ,der/ die/ das Andere/ n‘ oder ,der/ die/ das Fremde/ n‘ manifestiert. Da ich mit dem ersten Teilsatz des Titels meiner Studie („Unterwegs zum Anderen? “) auf ,das Andere‘ im Neutrum anspiele, hat eine solche Schreibweise gerade nicht Eingang in das Titelblatt gefunden. Das Fragezeichen wiederum, auch soviel sei noch verraten, fehlte ursprünglich im Titel und wurde erst am Ende des Forschungs- und Schreibprozesses eingefügt. Mit der von der Typographie gewährten Marge spiele ich mitunter, um etwaige oft nur im Schriftbild sichtbare begriffliche Doppelsinne herauszustellen. Klammersetzungen, Trennzeichen und Kursivdruck innerhalb eines Wortes entspringen also diesem Vorhaben; wird hingegen durchgestrichen, dann weil ich die textinhärente Dynamik verlassen oder es nicht bei Gemeinplätzen belassen will. Für das Gesamtschriftbild freilich wird der unruhige Eindruck, den dieses offensive Ausschöpfen des typographischen Gestaltungsspielraums bisweilen erzeugt, von den unzähligen Klammern und Anführungszeichen, welche wiederum der textnahe Zugriff mit sich bringt, noch potenziert. <?page no="43"?> 1 Forschungsproblematik Nach einer Einleitung, die in kondensierter Form auf die Forschungsproblematik und die damit einhergehenden methodologischen Überlegungen einstimmen wollte, ist es nun die Aufgabe des ersten Kapitels, gleichsam einen Schritt zurückzutreten und die verschiedenen Parameter dieses Forschungsvorhabens aufzurollen. Dass es meine Absicht war, in diesem Kapitel so Unterschiedliches wie Ausführungen zu Krieg im Allgemeinen und Besonderen, die theoriegeschichtliche Aufarbeitung der Termini ,Identität‘ und ,Alterität‘ sowie eine Vorstellung der kontextuellen Faktoren zusammenzuführen, darauf wurde bereits hingewiesen. Tatsächlich handelt es sich bei jedem der ersten drei Unterkapitel um Vorstöße, die besser in ihrer Simultaneität gedacht werden sollten: gleichsam der Versuch, sich der Frage nach dem Niederschlag der kriegerischen Auflösung Jugoslawiens in der deutschsprachigen Literatur unter besonderer Berücksichtigung identitär-alteritärer Dynamiken aus mehreren Richtungen zuzuwenden. Im letzten Unterkapitel hingegen bündele ich die Einsichten zu Handlungsansweisungen für die spätere Textarbeit. 1.1 Krieg (und Erzählung) Die zentrale Rolle, die Kriege in der öffentlichen Erinnerungskultur spielen, steht außer Frage, und lässt sich bis in die ältesten Überlieferungen der Menschheit zurückverfolgen. Neben der Liebe stellt der Krieg, von Heraklit bekanntlich als Vater aller Dinge geadelt, das älteste Thema der Literatur dar. Wohl kein anderes Realereignis unterzieht das Denken, Reden und Schreiben darüber so sehr einer Polarisierung, kein anderes verlangt im gleichen Ausmaß den betroffenen Individuen eine dermaßen eindeutige und folgenschwere Positionierung ab. Der Krieg (im ehemaligen Jugoslawien) schaffe, so hat es der Zagreber Verleger Nenad Popović mit Hinblick auf (ethnische) Identitätsausformulierungen treffend bezeichnet, ein „neues Reich der Eindeutigkeit“. 74 An dieser auferlegten Dynamik haben stets auch literarische Erzählungen partizipiert, können sie als Kommunikationsmittel doch kollektive und individuelle Erinnerungen und Erfahrungen intersubjektiv erfahrbar machen und vermitteln. Im Dienste der Legitimierung oder Delegitimierung von Herrschermacht kamen ihnen maßgebliche Bedeutung für die Begründung kollektiver Identität und die Abgrenzung vom kulturell und/ oder religi- 74 Popović, Nenad: Identität als Ambiguität. Ein Nachruf, in: Rigler, Christine (Hg.): Das jugoslawische Labyrinth. Symposien im „Forum Stadtpark“ 1988, 1995, 1999. Innsbruck u.a.: StudienVerlag 2001 (Paradigma: Zentraleuropa 2), 29-46, 29. <?page no="44"?> 1. Forschungsproblematik 44 ös ‚Anderen‘ zu. 75 Dieses identitätsstiftende Potential weisen literarische Texte auch heute noch auf; jedoch werden mittlerweile, da wir am Ende der Gutenberg-Galaxis angelangt sind, sinn-, identitäts- und wirklichkeitsgenerierende Aufgaben in einem beträchtlichen Ausmaß von den Massenmedien ausgeübt. Zeitungen und Zeitschriften als Printmedien, Hörfunk, Film, Fernsehen und insbesondere das Internet als elektronische Medien sind es, die heute die Ökonomien der Aufmerksamkeit steuern. Umgelegt auf die Wahrnehmung und Vermittlung kriegerischer Konflikte bedeutet dies, dass sie es sind, die das öffentliche Gedächtnis in Sachen (gegenwärtiger) Krieg verwalten, 76 sowie, mittels der Verfahren eines „binären Reduktionismus“, 77 vermeintliche Eindeutigkeiten und Abgrenzungen zwischen eigener ,Wir‘- und fremder ,Sie‘-Gruppe etablieren. Dass solche Unterscheidungen vorgenommen werden - und damit zwangsläufig Komplexität, Widersprüchlichkeit und Differenzen ausgetilgt werden -, stellt kein genuin spezifisches Merkmal eines Krieges dar, erfährt jedoch in Zeiten gewaltsamer Konflikte extreme Zuspitzung: Wir haben es hierbei mit Prozeduren der Inklusion und Exklusion zu tun, die nicht nur die Dynamik zwischen den Kriegsparteien, sondern gleichfalls die Wahrnehmung des Krieges vonseiten ausländischer Dritter betrifft. In der Kriegsberichterstattung geht die binäre Abgrenzung vom/ von den Fremden bzw. Anderen signifikant häufig mit einer bipolaren Gegenüberstellung von den gewissermaßen klassischen Antagonismen wie „Recht und Unrecht, Ordnung und Chaos, Moral und Unmoral, Freiheit und Tyrannei, Gut und Böse, Hell und Dunkel, Himmel und Hölle“ 78 einher. Der jeweils zweite Part der gegensätzlichen Begriffspaare modulierte ab Anfang der 1990er Jahre denn auch das Reden und Schreiben der westlichen politischen Elite und Medien über die Kriege in Kroatien und Bosnien-Herzegowina. Auch die im medialen Diskurs über Kriege so virulente Unterscheidung in Opfer und Täter/ innen ist einer binären Ordnung geschuldet; die von Tom Holert und Mark Terkessidis erkannte kommunikationsstratgische Zurechtstutzung auf „Hollywood-Formeln“79 entspricht letztendlich jenem Schwarz-Weiß- Denken, welches auch konstitutiv für Märchen ist. Die narrative Interpretation von kriegerischen Ereignissen spielt zweifelsohne eine gewichtige Rolle. Als Erzählungen können die von den Massenmedien 75 Vgl. Frank, Susi K.: Kriegsnarrative. Einleitung, in: Borissova, Natalia/ dies./ Kraft, Andreas (Hgg.): Zwischen Apokalypse und Alltag. Kriegsnarrative des 20. und 21. Jahrhunderts, Bielefeld: transcript 2009 (Kultur- und Medientheorie), 7-39, 11. 76 Knobloch, Clemens: Krieg und Gedächtnisverlust. Über den rasanten Umbau kriegslegitimierender Motive in der deutschen Öffentlichkeit, in: Wende (2005: 402-420, 404). 77 Link (2005: 394). 78 Wende, Waltraud ‚Wara‘: Krieg ist immer. Die Medien und der Krieg, in: Wende (2005: 1 0-24, 20). 79 Holert, Tom/ Terkessidis, Mark: Entsichert. Krieg als Massenkultur im 21. Jahrhundert, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2002 (KuWi 714), 13. <?page no="45"?> 1.1 Krieg (und Erzählung) 45 unternommenen Repräsentationen eines Konfliktes insofern bezeichnet werden, als sie Formatierungsvorlagen für weitere Wahrnehmungen und Handlungen dienen, und dabei bestimmten Konstruktionsprinzipien, wie wir sie aus der Aristotelischen Poetik kennen, unterliegen: Ganzheit, Einheit, Anfang und Ende sowie, dazwischen, Momente der Entwicklung und der Bewährung. Bei literarischen Erzählungen handelt es sich, wie Wolfgang Müller-Funk ausführt, um den „Sonderfall einer generellen Praxis […], die sich ubiquitär in allen Bereichen des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens wiederfindet“. 80 Auf Müller-Funks narrative Theorie der Kulturwissenschaften (Die Kultur und ihre Narrative) verweisend, verwende auch ich den breiter gefassten Begriff der ‚Erzählung‘, der im deutschen Sprachgebrauch beide - die prozessuale Narration als auch das auf das Muster abzielende Narrativ - einschließt. Narrative spielen nicht nur eine wichtige Rolle für das Verständnis von Wirklichkeit, sondern strukturieren diese auch. Als vermittelnde Instanz zwischen Individuum und Gesellschaft haben sie teil an der Etablierung von Wertsystemen, teil an der Konstitution von Kultur. Unter Diskurs wiederum verstehe ich in Anlehnung an Foucault ein mit Macht verschränktes Ensemble von Aussagen und Wissensformationen. 81 Dass Krieg nun, wie eingangs angeführt, als solch präsentes und wirkmächtiges Thema in der okzidentalen Kulturgeschichte gilt, hat weniger mit einer Unzahl kongenialer Lösungen und Strategien, dieses in symbolische Form zu bringen, zu tun, sondern ist einem anderen Umstand geschuldet: In narratologischer Hinsicht stellt Krieg oft ein Initialmoment dar, das zahlreiche andere Geschichten wie auch Genres (Katastrophen-, Initiations-, Abenteuer-, Eroberungserzählungen etc.) freisetzt. Krieg in der Narration, so lässt sich feststellen, tritt oft im Verbund mit anderen Narrativen (des Kampfes, des Leidens, der Verrats etc.) auf. Wird der Gegenstand weiter gefasst - beispielsweise als Zweikampf -, so können ihm mit Susi K. Frank narratologische Funktions- und Aktantenmodelle unterlegt werden, wie sie zunächst in der Beschäftigung mit Gattungen wie Heldensage und Märchen, deren narrativer Kern stets eine kämpferische Auseinandersetzung bildet, ausgearbeitet wurden. 82 Darüber hinaus sticht auch bei Erzählungen vom Kriege im engeren Sinne dieser Rekurs auf die Differenzen bestimmter Figuren - zweier ‚einfacher Helden‘ aus den beiden verfeindeten Ländern, Völkern etc., oder aber auch der politischen oder militärischen Schlüsselakteure - ins Auge, statt Konflikte über ökonomische und politische Entwicklungen zu generieren. All das, was komplex und abstrakt am Kriege ist, muss - auch und gerade in den Massenmedien - konkret und in Handlung überführt werden. 80 Müller-Funk (2008: 14). 81 Vgl. Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. A. d. Franz. v. Walter Seitter. M. e. Essay v. Ralf Konersmann, Frankfurt/ Main: Fischer 200710. Vgl. zu einer Unterscheidung der beiden auch Müller-Funk (2008: 66f.). 82 Vgl. Frank (2009: 7). <?page no="46"?> 1. Forschungsproblematik 46 1.1.1 Jugoslawien-Kriege und ihre Lesarten Wenngleich in der Folge vom kriegerischen Zerfall Jugoslawiens als von den Jugoslawien-Kriegen oder postjugoslawischen Kriegen im Plural geschrieben wird, verstehe ich die vier kriegerischen Konflikte, die fast ein ganzes Jahrzehnt lang die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zogen, doch als einen, mehrere Etappen durchlaufenden Krieg. 83 Durch den Plural soll auf die jeweiligen Besonderheiten in Entwicklung, Verlauf und Dynamik der vier verschiedenen Kriege hingewiesen werden: des Krieges in Slowenien, der als „10- Tage-Krieg“ (vom 26. Juni bis 7. Juli 1991) Eingang in den gängigen Sprachgebrauch fand; des Krieges in Kroatien (Frühjahr 1991 bis November 1995) 84 sowie des Krieges in Bosnien-Herzegowina (April 1992 bis Dezember 1995) mit dem bosniakisch-kroatischen ‚Krieg im Kriege‘. Diese Bezeichnung verweist auf die kriegerischen Konfrontationen zwischen der kroatischen oder bosniakischen Bevölkerung in Bosnien-Herzegowina 1993, nachdem diese zunächst, wie auch Zagreb und Sarajevo, eine Allianz gegen die serbische Aggression gebildet hatten. Ihr ist die Annahme unterlegt, „dass es zu diesen kriegerischen Auseinandersetzungen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gekommen wäre, wenn die Lösung der Krise in Jugoslawien einen anderen als kriegerischen Verlauf genommen hätte.“ 85 83 Aus dieser Überzeugung - dass es sich bei den Kriegen tatsächlich um den einen Krieg Slobodan Miloševićs handelte - betitelte die Herausgeberin Dunja Melčić ihr 1999 im Opladener Westdeutschen Verlag und unter Begutachtung eines wissenschaftlichen Beirates erstveröffentlichtes „Handbuch“, so der Untertitel, „zu Vorgeschichte, Verlauf und Konsequenzen“ mit „Der Jugoslawien-Krieg“. Die zweite, aktualisierte und erweiterte Auflage erschien unter demselben Titel im Wiesbadener Verlag für Sozialwissenschaften. Nicht zuletzt aufgrund der eindeutigen, gleichwohl die komplexen Faktoren und Eigendynamik des Konfliktes berücksichtigenden Position der Herausgeberin Melčić - dazu zählt die dezidierte Wahrnehmung der Kriege als eines Krieges des Regimes von Milošević, ohne den, wenngleich kein Feldherr, es diesen Krieg so nicht gegeben hätte; oder die Auffassung, dass die Verselbständigung der Republiken nicht das Problem, sondern die Lösung für Jugoslawien Anfang der 1990er Jahre gewesen wäre - hat dieses Werk auch Kritiker/ innen auf den Plan gerufen. Ich beziehe mich hauptsächlich auf die zweite Auflage: Melčić, Dunja (Hg.): Der Jugoslawien-Krieg. Handbuch zu Vorgeschichte, Verlauf und Konsequenzen, 2., aktual. u. erw. Aufl., Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2007. Vgl. weiter zu den unterschiedlichen Wahrnehmungen und Benennungen der Kriege (ob Aggressionsbzw. Verteidigungskrieg, oder aber Bürgerbzw. Sezessionskrieg) den Aufsatz von: Bremer, Alida: Kurze Analyse der Kriege auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien, in: dies. (Hg.): Jugoslawische (Sch)Erben. Probleme und Perpektiven, Münster: fibre 1993, 37-48, 37f. 84 Mit dem im kroatischen Erdut am 12. November 1995 abgeschlossenen Abkommen über Ostslawonien wurde der Krieg in Kroatien, mit Unterzeichnung des Vertrags von Dayton am 21. November 1995 der Krieg in Bosnien-Herzegowina beendet. 85 Ivanković, Željko/ Melčić, Dunja: Der bosniakisch-kroatische „Krieg im Kriege“, in: Melčić (2007: 415-438, 415). <?page no="47"?> 1.1 Krieg (und Erzählung) 47 Die Ereignisse im und um den Kosovo dagegen können als ,Doppelkrieg‘ bezeichnet werden: „Miloševićs letzter Krieg“ 86 im Kosovo (ab Jänner 1998) wie auch die von den USA angeführte, aufgrund des fehlenden Mandats des UN-Sicherheitsrates - aber auch aufgrund des Verzichts auf Bodentruppen zugunsten von Luftangriffen - vielumstrittene Intervention der NATO vom 24. März 1999 bis zum 10. Juni 1999 auf dem Territorium der damaligen Bundesrepublik Jugoslawien. Die sich daran entzündende Polemik ob der fehlenden völkerrechtlichen Legitimation verdeckte die dahinter liegenden Mächteinteressen und politischen Probleme (die Verbindung Russlands mit dem in Serbien-Jugoslawien herrschenden Regime); deren Kern schließlich bildete „nicht die Verletzung der jugoslawischen Souveränität durch die NATO, sondern der Gebrauch, den das serbische Regime zehn Jahre lang von der Souveränität Jugoslawiens machte, ohne von der UNO rechtzeitig und entschieden daran gehindert zu werden.“ 87 Terminologische Spitzfindigkeiten, ob das kriegerische Geschehen im Singular oder Plural zu bennenen sei, waren nicht das Anliegen jener zahlreichen Akteur/ innen aus Medien, Politik und Wissenschaft, die vom ,dritten Balkankrieg‘ 88 kundtaten. Nicht selten korrelierte damit der Argumentationstopos vom ‚Pulverfass Balkan‘, der auf die aufwachenden nationalistischen Strebungen in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurückgeht und die Wiederkehr ‚uralter Feindschaften‘ auf den Plan gerufen sah. In ineinander verketteter Form liefert die Pulverfass-Metapher sämtliche Topoi des Nicht-Zivilisierten, wie „Unübersichtlichkeit, ethnisches Durcheinander, patriarchale bzw. tribale Strukturen, archaische Vormoderne, Armut und Gewalt, mangelnde demokratische Traditionen, und dergleichen mehr“, 89 und hat erheblichen Anteil 86 Schmierer, Joschka: Der Kosovo-Krieg 1999, in: Melčić (2007: 475-482, 475). 87 Ebenda, 480. 88 Die Balkankriege beendeten die osmanische Herrschaft auf dem Balkan. Unter dem Ersten Balkankrieg (1912/ 13) wird der Krieg von Serbien, Bulgarien, Griechenland und Montenegro gegen die Türkei subsumiert, unter dem Zweiten Balkankrieg (1913) der Krieg Serbiens, Griechenlands und Rumäniens gegen Bulgarien. Vgl. dazu den Eintrag „Balkankriege“ in: dtv Lexikon in 24 Bänden. Band 2. Apit - Beal, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2006, 267. Als Balkankrise oder Orientalische Krise wird die von der Balkanhalbinsel ausgehende Krise in den Jahren 1875-1878, die zum Russisch- Osmanischen Krieg führte und mit dem Berliner Kongress endete, bezeichnet. Vgl. Schmidt, Rainer F.: Die Balkankrise von 1875 bis 1878. Strategien der großen Mächte, in: ders. (Hg.): Deutschland und Europa. Außenpolitische Grundlinien zwischen Reichsgründung und Erstem Weltkrieg. Festgabe für Harm-Hinrich Brandt zum siebzigsten Geburtstag, Stuttgart: Steiner 2004 (Historische Mitteilungen: Beihefte 58), 36- 96. 89 Veichtlbauer, Judith: Das innere Ausland - der Balkan als Hinterhof Europas, in: Angelova, Penka/ dies. (Hgg.): Pulverfass Balkan: Mythos oder Realität. Internationales Symposium Rousse Oktober 1998, St. Ingbert: Röhrig 2001 (Schriftenreihe der Elias- Canetti-Gesellschaft 3), 125 - 149, 129. <?page no="48"?> 1. Forschungsproblematik 48 an einer Wahrnehmung der Region als einer gewissermaßen intrinsisch gewalttätigen: ein Charakteristikum, das sie vom westlichen Europa unterscheide. Dass beispielsweise infolge der Einigungsbestrebungen von Italien und Deutschland 1848-1871 mehr politische Unruhen als auf dem Balkan 1875- 1914 zu verbuchen sind, ist dabei den wenigsten, die die Region als gewaltvolle naturalisieren wollen, bekannt. 90 Vielmehr muss folgendem Faktor Beachtung gezollt werden: Sämtliche Länder, die zum Balkan gezählt werden, lagen im österreichisch-russisch-türkischen Spannungsfeld und erlebten mit den osmanischen Eroberungen ab dem Ende des 14. Jahrhunderts sowie den habsburgerischen zum Ausgang des 17. und Beginn des 18. Jahrhunderts jahrhundertelange Fremdherrschaft, die mit Umsiedlungen bzw. Vertreibungen und Gebietsveränderungen einherging. Die eigentliche Brisanz - oder aber, um die Pulverfass-Metaphorik aufzunehmen, ‚Sprengkraft‘ - erhielten die politischen Krisen der Region im ausgehenden 19. Jahrhundert gerade erst durch den Umstand, dass sich im balkanischen Raum die konträren Interessenlagen der europäischen Großmächte verdichteten und als Antriebsmoment für jenes Phänomen dienten, welches in der geschichtswissenschaftlichen Forschung als ‚Sozialimperialismus‘ bezeichnet wird: „Damit ist die Ablenkung innerer Spannungen nach außen gemeint, die Umgehung des Reformstaus nach Innen und die Zementierung des politisch-sozialen Status quo, indem man sich in außenpolitische Abenteuer stürzte, Krieg suchte und Erfolge einheimste, um die reformwilligen Kräfte unter Integrationszwang zu setzen.“ 91 An der Frage, ob der Balkan als eigener „historischer Raum“ oder als Teil des gesamteuropäischen zu konzeptualisieren sei, der sogenannten ‚Todorova- Sundhaussen-Debatte‘, scheiden sich die geschichtswissenschaftlichen Geister. 92 Während Todorova dafür votiert, die Bevölkerungsverschiebungen, die auf dem Balkan ausgehend durch den Zerfall des Osmanischen Reiches stattfanden, in einen gemeinsamen - europäischen - und länger andauernden Prozess zu integrieren, moniert Holm Sundhaussen, dass der balkanische Raum aufgrund seiner „Instabilität der Siedungsverhältnisse und ethnische[n] Gemengelagen auf kleinstem Raum“ sowie der daraus resultierenden „vier 90 Vgl. Misev, Radoslav: Der Balkan - Pulverfass oder Schuld und Sühne der europäischen Diplomatie? , in: Angelova/ Veichtlbauer (2001: 223-232, 229). 91 Vgl. ebenda, 37. 92 Holm Sundhaussen, Professor emeritus für Südosteuropäische Geschichte am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin, reagierte mit seinem Aufsatz „Europa balcanica. Der Balkan als historischer Raum Europas“ [in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), H. 4, 627-653] auf das 1997 veröffentlichte Buch Imagining the Balkans von Maria Todorova. Todorova wiederum reagierte in ihrem Aufsatz „Der Balkan als Analysekategorie: Grenzen, Raum, Zeit“ [in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), H. 3, 470-493] auf Sundhaussens Argumentation. Vgl. zu Balkanismus Kapitel 1.3.3. <?page no="49"?> 1.1 Krieg (und Erzählung) 49 große[n] ‚Säuberungswellen‘ seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts“ 93 als eigenständiger geographischer und historischer Raum zu untersuchen sei. Von „unter dem Gesichtspunkt ethnischer Entwicklung bedeutende[n] Konstanten“ auf dem Balkan schreibt auch Sima Ćirković und beschreibt diese wie folgt: „das überkommene bunte Durcheinander der ethnischen Landkarte, die Durchmischung verschiedener Elemente auf ein und demselben Territorium, die mit einer unvollkommenen Integration von Völkern mit langer Vergangenheit einhergeht, die Fixierung auf Geschichte und ‚historische Rechte‘, die selektiv aus der für die betreffende Nation günstigsten Periode abgeleitet werden“. 94 Und weiter, in meiner Hervorhebung: „konstant war schließlich die Diskrepanz zwischen der Realität gesellschaftlicher und ethnischer Prozesse einerseits und der Sicht dieser Prozesse durch die Optik europäischer und einheimischer Mythen andererseits.“ 95 Es kann an dieser Stelle nicht meine Aufgabe sein, die Komplexität, die Entwicklung und etwaige Gegenläufigkeiten der westlichen Interpretationen der verschiedenen Kriege en détail aufzuzeigen; vielmehr sollen unter Rückgriff auf bereits bestehende Gesamt- und Einzeldarstellungen einige gravierende Gemeinsamkeiten und Besonderheiten sowie die verschiedenen, in abweichenden historischen Perspektiven und Erfahrungen wurzelnden Weisen, den Krieg zu benennen, deuten und zu erzählen, zusammenfassend konturiert werden: Einen konzisen Überblick über die beiden insbesondere in der ersten Hälfte der 1990er Jahre dominanten Interpretationen (über den Kroatien- und den Bosnien-Krieg) liefert Jacques Rupnik in seinem treffend betitelten Aufsatz „Die Welt im Balkanspiegel: das Agieren der Großmächte“ 96 , und behält dabei die Gleichzeitigkeit und auch Hierarchie der epochenmachenden Ereignisse und Entwicklungen in Europa im Auge: Wiedervereinigung Deutschlands, Auseinanderbrechen der Sowjetunion. „Die Sorge um die Bestätigung der Oder-Neiße-Grenze hatte Vorrang vor dem Status der Grenzen der jugoslawischen Teilrepubliken.“ 97 93 Sundhaussen (1999: 638 u. 640). Diese Säuberungswellen führt Sundhaussen wie folgt auf S. 640 an: „Die erste war unmittelbar mit der postosmanischen Staatsgründung verbunden. Die zweite umfaßte die Zeit vom Beginn der Balkankriege 1912 bis zum griechisch-türkischen Friedensvertrag von 1923; die dritte wurde durch Hitlers Balkankrieg angestoßen und zog sich bis zum Ende der 40er Jahre hin, und die vierte (vorläufig letzte) umfaßt die Kriegszeit im auseinandergebrochenen Jugoslawien von 1991 bis 1999.“ 94 Ćirković, Sima: Zur Ethnogenese auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien, in: Melcić (2007: 21-33, 31). 95 Ebenda. Zur einheimischen Mythenbildung im Falle Serbiens vgl.: Buden, Boris: Mythos und Logos des serbischen Schicksals, in: Serbien nach den Kriegen. Hg. v. Jens Becker u. Achim Engelberg, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2008 (edition suhrkamp 2482), 308-331. 96 Rupnik, Jacques: Die Welt im Balkanspiegel: Das Agieren der Großmächte, in: Melčić (2007: 461-474, 464). 97 Ebenda, 463. <?page no="50"?> 1. Forschungsproblematik 50 In Westeuropa wie auch in den Vereinigten Staaten dominierten zu Beginn des Jugoslawien-Konfliktes zwei Interpretationen, die wichtige Implikationen für die Politik, für das Agieren der Großmächte, hatten, und sich bei genauerer Betrachtung als gegensätzliche Projektionen westeuropäischer Erfahrungen entpuppen. Die erste sah den Konflikt als archaisch und anachronistisch, als Wiederkehr uralter Feindschaften - ich verweise auf das ‚Pulverfass‘. Im mediopolitischen Diskurs zirkulierten, so Rupnik, neben dem Pulverfass auch weniger brachiale Metaphern, die des Gefrierschrankes und des Druckkessels. Der Kommunismus habe die nationalistischen Konflikte eingefroren, so dass sie nach seinem Zusammenbruch bestens konserviert aufzufinden waren. Oder aber, mit dem Druckkessel: Ohne sowjetischen Deckel könnten die alten Feindschaften und lange unterdrückte Ambitionen und ethnische Leidenschaften ungehindert entweichen. Mit der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo (17. Februar 2008), die als neue Lunte des Pulverfasses bezeichnet wurde, hat diese Etikettierung erneut Eingang in die deutschsprachigen Medien gefunden. Die von Rupnik angeführten Stellungsnahmen von damals amtierenden Politikern wie Bill Clinton, John Major oder François Mitterand belegen Wahrnehmungen des Konfliktes, die ihn sowohl historisch (Anachronismus) als auch geographisch („Stammeskriege“, somit „Dritte Welt“) aus Europa wegerklären konnten. Es wurde so eine Lesart begünstigt, die den Westen von einer Interventionsverpflichtung entband; Isolierung und humanitäre Hilfe sollten ausreichend sein. 98 Und wirklich: erst der am 5. Februar 1994 erfolgte Granatenangriff auf dem Marktplatz Markale von Sarajevo führte zu einem Ultimatum der NATO an die serbischen Truppen; am 28. Februar 1994 flog die NATO den ersten Kampfeinsatz in der Geschichte ihres Bündnisses. 99 Das anachronistische Moment wurde noch im Zuge des Kosovo-Konfliktes, da Hans Magnus Enzensberger die Lektüre Grimmelshausens empfahl, um sich der Untaten der „serbischen Soldateska“ zu vergegenwärtigen, in Anschlag gebracht. 100 Die zweite These entstammt den Sozialwissenschaften und sieht die Kriege um die Auflösung Jugoslawiens als eine Phase der 98 Rupnik (2007: 464). Vgl. zu der Verwendung der ‚Stämme‘-Begrifflichkeit auch: Melčić, Dunja: Aufstieg und Fall Jugoslawiens: Stationen einer europäischen Tragödie, in: Bremer (1993: 149-162, 152f.). 99 Vgl. über die Reaktionen der internationalen und europäischen Politiker den Bericht des britischen Politikers David Owen, der von 1992-1995 gemeinsam mit Cyrus Vance den Vorsitz der Internationalen Konferenz über das ehemaligen Jugoslawien übernommen hatte: Balkan-Odyssee. A. d. Engl. v. Karlheinz Dürr u.a., München u.a.: Hanser 1995, 341-349; und über die Bedeutung des Markale-Massakers für das weitere Vorgehen der internationalen Gemeinschaft: Sobel, Richard: The impact of public opinion on U.S. Foreign policy since Vietnam. Constraining the colossus, New York: Oxford University Press 2001, 188ff.; sowie Binder, David: Anatomy of a Massacre, in: Foreign Policy 97 (Winter 1994-1995), 70-78, 74. 100 Enzensberger, Hans Magnus: Ein seltsamer Krieg, in: Schirrmacher (1999: 28-30, 29). <?page no="51"?> 1.1 Krieg (und Erzählung) 51 Nationenbildung auf dem Weg in die Moderne. Jener Prozess, der mit dem Zusammenbruch des Osmanen- und des Habsburgerreiches eingeleitet wurde, würde nun, mit dem Ende des Kommunismus, weiter bzw. zu Ende geführt werden. Dahinter steht der Gedanke, ethnisch homogene politische Einheiten seien der politischen Stabilität besonders förderlich - eine Vorstellung, die im Falle der multinationalen Strukturen Jugoslawiens problematisch ist -, sowie das Wissen um die damit einhergehenden zu erbringenden Opfer: „Nationalstaaten sind“, so schrieb Norbert Elias wenige Jahre vor dem Auseinanderbrechen Jugoslawiens, „[...] in Kriegen und für Kriege geboren.“101 Eine ethnische Definition von Nation (d.i. ein ‚deutscher‘ Nationsbegriff: Nation als Kulturnation), so moniert Rupnik, sollte doch zumindest durch einen dezentralisierten oder föderalistischen Staatsbegriff kompensiert werden, auf keinen Fall jedoch mit einem zentralisierten (d.i. ein ‚französischer‘) Staatsbegriff zusammengebracht werden. Beiden ,Basis‘-Interpretationen - von den uralten Feindschaften zum einen, der ethnischen Homogenisierung als Etappe auf dem Weg zur Nationalstaatlichkeit zum anderen - verleiht ein ethnisch definierter Basso continuo die Basis, und macht sie anschlussfähig für kulturalistische Paradigmen, deren Identitätsbegriff ein monolithischer, holistischer und unveränderlicher, kurzum ein essentialistischer ist. Lange Phasen friedlicher Koexistenz können mit der Auffassung eines initialis nationalistisch bzw. ethnisch motivierten Konfliktes nicht erklärt werden; über sämtliche politischen und insbesondere ökonomischen Momente, die im Kontext der Reformen im Jugoslawien nach dem Tode Titos im Jahr 1980 zu beurteilen sind, sieht sie vollends hinweg. Dass dieser Auffassung ein solcher Erfolg beschieden war, ist beileibe kein Zufall, sondern hat mit dem durch die politischen Ereignisse und den Systemwechsel von 1989 beeinflussten Wandel in der vorherrschenden Konfliktsemantik zu tun. Nicht zuletzt die große Beliebtheit, der sich Samuel Huntington Thesen, die den sprichwörtlichen Nerv der Zeit getroffen zu haben schienen, bei westlichen Politiker/ innen aber auch in der breiten Öffentlichkeit erfreuten, belegt diesen Wandel. Ethnische und kulturelle Faktoren haben bei kriegerischen Konflikten, davon ist auszugehen, auch in der Vergangenheit oft eine Rolle gespielt, doch wurde noch während des Kalten Krieges die ethnische Dimension eines Krieges fast immer unterbetont, der machtpolitische und ideologische Ost-West-Gegensatz hingegen in den Vordergrund gestellt. Beide Wahrnehmungsschablonen übersehen indes folgenden signifikanten Umstand: Gewaltsamen Konflikte und deren Dynamiken, mögen sie auch noch so unterschiedlich sein, geht stets eine Phase länger andauernden sozialen ‚Stresses‘ voraus: „Wenn Staat und Ökonomie leistungsfähig sind - in dem Sinne, daß sie die Bedürfnisse und Erwartungen der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung erfüllen und zugleich ein gewisses Maß an Gerech- 101 Elias, Norbert: Wandlungen der Wir-Ich-Balance (1987), in: ders.: Die Gesellschaft der Individuen. Hg. v. Michael Schröter, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1987, 207-316, 277. <?page no="52"?> 1. Forschungsproblematik 52 tigkeit und Rechtssicherheit besteht -“, so der Politikwissenschaftler Jochen Hippler, „dann werden auch größere Unterschiede an Hautfarbe, Sprache oder Religion kaum zu sonderlichen Auseinandersetzungen führen.“ 102 Die Erklärung der Kriege in Kroatien und Bosnien-Herzegowina als von nationalistischen bzw. ethnischen 103 Leidenschaften entfachten und letzten Endes unverständlichen Orgien der Gewalt bringt nun, so ist hier einzuwerfen, nicht nur nichts anderes zum Ausdruck als „eine vorzeitige Kapitulation der analytischen Urteilskraft“, 104 sondern zudem die eigene Rolle und eigenen Interessen in Wirtschaft und Politik zum Verschwinden. 102 Hippler, Jochen: Gewaltsame Konflikte, Ethnizität und Möglichkeiten von Solidarität und Hilfe, in: Freise, Josef/ Fricke, Eckehard (Hgg.): Die Wahrheit einer Absicht ist die Tat. Friedensfachdienste für den Süden und den Norden, Idstein: Komzi 1997, 27-43, 33f. 103 Der Begriff ‚Ethnizität‘ wurde zunächst in den 1970er Jahren in den USA ‚erfunden‘, breit diskutiert und als wissenschaftliche Reflexionsform in die Sozialwissenschaften eingeführt; in den 1980er Jahren erfolgte der Durchbruch auch im deutschsprachigen Raum [vgl. Stener, Wolfram: Ethnische Erweckungen. Zum Funktionswandel von Ethnizität in modernen Gesellschaften - ein Literaturbericht, in: Mittelweg 36 (2000), H. 4, 65-82, Fn. 8]. Die beiden Attribute ,ethnisch‘ und ,nationalistisch‘ sind in den Interpretationen des kriegerischen Zerfalls Jugoslawiens oft deckungsgleich verwendet worden und lassen sich beide dem semantischen Feld der ‚kollektiven Identität‘ subsumieren; und zweifelsohne stellt das Denken in ethnischen Kategorien eine Begleiterscheiterscheinung von Nationalisierungsprozessen dar. Während sich ‚nationalistisch‘ auf das Substantiv ‚Nationalismus‘ und dieser sich wiederum auf den komplexen Begriff der ‚Nation‘ sowie das Postulat eines Nationalstaats bezieht, verweist ‚ethnisch‘ auf die Begriffe der ‚Ethnie‘ oder der ‚Ethnizität‘, welche für Bourdieu nichts anderes als einen Euphemismus der Bildungssprache für den in der Praxis noch immer präsenten Begriff der Rasse darstellen (vgl. Bourdieu, Pierre: Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches. Übers. a. d. Franz. v. Hella Beister, Wien: Braumüller 1990, 94). Was die Jugoslawien-Kriege angeht, so erweist sich eine aus der Außenperspektive vorgenommene Zuordnung, ob es sich um ‚ethnische‘ oder aber ‚nationalistische‘ Ambitionen handelte, als komplexes und von Machtfragen durchsetztes Unterfangen. Die Wortwahl gab mitunter darüber Auskunft, ob man den Anspruch der jeweiligen Bevölkerungsteile auf den eigenen (Nachfolge-)Staat als politisch legitim erkannte oder aber nicht. Vgl. dazu Ruthner, Clemens: Identitäre Gemeinsamkeit als Identitätskonstruktion. Eine kritisch ‚kakanische‘ Re-Lektüre von Benedict Andersons „Imagined Communities“, in: kakanien revisited, abrufbar unter: www.kakanien.ac.at/ beitr/ theorie/ CRuthner2.pdf v. 27.5.2002, 1-6, 1, 31.1.2013. 104 Stobbe, Heinz-Günther: „Realpolitik“ und dritter Balkankrieg. Thesen zum Versagen der europäischen Politik auf dem Balkan, in: Bremer (1993: 113-127, 118). <?page no="53"?> 1.1 Krieg (und Erzählung) 53 Ungeachtet der Konjunktur von Ethnizität als „Herrensignifikant[]“ 105 in der Konfliktsemantik im Allgemeinen, den Erklärungen oder, besser, Erzählungen vom kriegerischen Zerfall im Besonderen wurden sehr wohl und bereits in einer frühen Phase der kriegerischen Entwicklung auch andere Momente berücksichtigt: die Kriege erscheinen sodann als weltanschauliche zwischen der Verteidigung des Sozialismus auf der einen Seite und dem Streben nach Marktwirtschaft auf der anderen; oder als eine Auseinandersetzung zwischen der demokratischen und der totalitären Option. In unterschiedlichem Ausmaß wurden überdies das Überdauern patriarchaler Strukturen (Stichwort ‚patriarchaler Nationalismus‘), das Vorhandensein offener Rechnungen aus dem Zweiten Weltkrieg als Folge unbewältigter Vergangenheit 106 sowie das Versagen der internationalen Staatengemeinschaft, die die neuen Staaten als multiethnische Gebilde und nicht als Nationalstaaten hätte anerkennen müssen, genannt. 107 In linksaktivistischen Online-Foren findet sich außerdem der Hinweis auf die wachsende Abhängigkeit Jugoslawiens von ausländischen Kreditgebern in den 1980er Jahren; ‚der Westen‘ gerät dabei oft zum ‚Sündenbock‘ für den kriegerischen Zerfall Jugoslawiens. Um nun die Rolle des westlichen Auslandes - ob im Vorfeld der 1980er Jahre, ob im Kontext der Anerkennungspolitik (Kroatien und Slowenien wurden durch die EG am 15. Jänner 1992 anerkannt), ob als unbeteiligt Beteiligter im Kriegsverlauf - einschätzen zu können, ist eine differenzierte Betrachtung - die hier nicht geleistet werden kann - unabdingbar. Nicht unerwähnt sollte schließlich noch bleiben, dass, wie auch Henriette Riegler festhält, der „mißlungene jugoslawische Transformationsprozeß Mitte der 80er Jahre“ 108 eine zentrale Rolle spielte. Das Scheitern des multinationalen Konzeptes konnte er nur beschleunigen. Unbestritten bleibt weiters, dass die besondere Position Jugoslawiens zwischen kapitalistischem Westen auf der einen, sozialistischem Osten auf der anderen Seite, aber auch das wirtschaftliche Gefälle zwischen den nördlichen 105 Albrecht Koschorke, dem ich diesen Begriff entlehne, spricht von den Kategorien ‚Kultur‘ und ‚Religion‘ als den neuen „Herrensignifikanten von Konfliktsemantiken“, in: Wie werden aus Spannungen Differenzen? Feldtheoretische Überlegungen zur Konfliktsemantik, in: Fassmann, Heinz/ Müller-Funk, Wolfgang/ Uhl, Heidemarie (Hgg.): Kulturen der Differenz - Transformationsprozesse in Zentraleuropa nach 1989. Transdisziplinäre Perspektiven, Göttingen: V&R unipress 2009, 271-285, 275. 106 Vgl. dazu für Kroatien: Radonic, Ljiljana: Krieg um die Erinnerung. Kroatische Vergangenheitspolitik zwischen Revisionismus und europäischen Standards. M. e. Vorw. v. Aleida Assmann, Frankfurt/ Main: Campus 2010. 107 Vgl. zu den verschiedenen Ansätzen den frühen Band von: Gaisbacher, Johann (Hg.): Krieg in Europa. Analysen aus dem ehemaligen Jugoslawien, Linz: Edition Sandkorn 1992 (Ost-West-Gegeninformationen 1). 108 Riegler, Henriette: Die Kriege im ehemaligen Jugoslawien - (k)ein Konflikt der Zivilisationen, in: Mokre, Monika (Hg.): Imaginierte Kulturen - reale Kämpfe. Annotationen zu Huntingtons „Kampf der Kulturen“, Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2000, 123-133, 124. <?page no="54"?> 1. Forschungsproblematik 54 und den südlichen Teilrepubliken das Land besonders abhängig von den internationalen Rahmenbedingungen machten. 109 In den sozialwissenschaftlichen Diskurs hat in den letzten Jahren der Ausdruck ,new wars‘ bzw. ,neue Kriege‘ Eingang gefunden. Von Mary Kaldor 110 eingeführt (und sodann von Herfried Münkler aufgegriffen 111 ), bezeichnet der Begriff einen bestimmten Typus organisierter Gewalt, der sich im Zuge der 1980er und 1990er Jahre herausgebildet - als seine ,Produktionsbedingungen‘ können Prozess und Praktiken der Globalisierung angeführt werden - und die ,alten‘, mit der Entwicklung des europäischen Nationalstaates verknüpften Kriege abgelöst habe. Diese im Sinne von Clausewitz geführten Kriege haben sich in Europa zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert herauszubilden begonnen; darunter reiht Kaldor auch den „imaginären“ Kalten Krieg. 112 Nicht länger territoriale oder ideologische Gräben, sondern eine „neue politische Frontstellung“ macht Kaldor aus: diese oszilliere „zwischen einer [...] auf kosmopolitischen, also auf Werten der Einbeziehung, des Universalismus und Multikulturalismus basierenden Politik und einer Politik partikularer Identitäten“. 113 Der „neue Krieg“, deren Aufkommen auch im Verbund mit dem Durchbruch der neuen Medien und Technologien zu analysieren ist, zeichnet sich für Kaldor neben der Dezentralisierung der Gewalt und globalisierter Kriegswirtschaft gleichfalls durch eine „Politik der Identität“ 114 aus. Den Identitätsbegriff möchte Kaldor dabei als eine „Form des Etikettierens“ 115 , die in den Dienst für politische Ansprüche genommen wird, verstanden wissen. Dies legt es nahe, ihren Ansatz als Gegenentwurf zur kulturalistischen Anschauung von Krieg zu verstehen, welcher auf dessen strukturelle Bedingungen abzielt. Kulturalistische Dimensionen, die Dynamik einer auf Ausschluss angelegte Identitätspolitik werden so nicht geleugnet, vielmehr tritt zutage, wie sehr diese instrumentalisierbar sind. So konzentriert sich Kaldor bei ihrer Analyse des Bosnien-Krieges, den sie als Fallstudie für die Illustration der Hauptcharakteristika der ,neuen Kriege‘ heranzieht, 116 sowie bei ihren Ausführungen zum Aufstieg von Nationalismen auf die ökonomische, politische 109 Vgl. dazu Weißenbacher, Rudy: Jugoslawien. Politische Ökonomie einer Desintegration, Wien: Promedia 2005, 18 ff. 110 Kaldor, Mary: Neue und alte Kriege. Organisierte Gewalt im Zeitalter der Globalisierung. A. d. Engl. v. Michael Adrian, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2000 (edition zweite moderne). 111 Auch für Herfried Münklers Buch Die neuen Kriege (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2002) hatten die Kriege der 1990er Jahre das Anschauungsmaterial geliefert. 112 Vgl. Kaldor (2000: 26). 113 Ebenda, 15. 114 Ebenda, 14. 115 Ebenda, 122. 116 Vgl. Kaldors drittes Kapitel („Bosnien-Herzegowina: Fallstudie eines neuen Krieges“; ebd., 53-109) sowie das Unterkapitel des Nachwortes zur deutschen Ausgabe: „Der ‚neue‘ Krieg im Kosovo“ (ebd., 243-249). <?page no="55"?> 1.2 Identität und Alterität 55 und soziale Krise im ehemaligen Jugoslawien der 1980er Jahre als deren Hauptfaktoren. Abschließend möchte ich festhalten, dass es in konflikttheoretischer Hinsicht sehr wohl einen Unterschied darstellt, ob Ethnizität bzw. ein ethnischer Identitätsbegriff den ursächlichen oder wichtigsten Faktor in einem Konflikt darstellt, oder - anfänglich - als einer neben anderen auftritt. Für die Beteiligten eines Krieges hingegen wird dieser Unterschied, so auch im konkreten Beispiel der Jugoslawien-Kriege, eher früher denn später irrelevant. Die ethnonationalistische Mobilisierung im ehemaligen Jugoslawien ist unbestritten, sie herunterzuspielen käme einer Verkennung ihrer Realität, Performativität und Effekte gleich. Feindschaften und Kriege fungieren jedoch nicht nur auf Seiten der verfeindeten Akteur/ innen als Katalysatoren für die Konstituierung eines essentialistischen Identitätsbegriffes sowie die (Re-)Aktivierung von Stereotypen. Auch für die Beobachter/ innen aus der Außenperspektive bleiben kriegerische Szenarien nicht ohne Folgen für den ,kollektiven Identitätshaushalt‘, bilden diese doch den geeigneten Nährboden für projektive Mechanismen, oder, mit Petra Dietsche, für „projektive Verkennung“ 117 . 1.2 Identität und Alterität Der nahezu inflationäre Gebrauch des Begriffes ‚Identität‘ in gesellschaftlichen und politischen Belangen - dessen Erwähnung jeglicher definitorischen Annäherung an ebendiesen nahezu zwangsläufig vorauseilt - belegt nichts anderes als die erhöhte und ungebrochene lebensweltliche Relevanz identitärer Fragen. Was den wissenschaftlichen Gebrauch angeht, so zählt ‚Identität’ seit dem Cultural Turn zweifelsohne zu den Grundbegriffen der als Kulturwissenschaften gefassten Sozial- und Geisteswissenschaften. 118 Dass angesichts dieser - mit Lutz Niethammer „unheimlichen“ 119 - Konjunktur des Begriffes dessen heuristischer Wert prekär geworden ist, vermag nicht weiter zu verwundern. Welche gesellschaftspolitischen Entwicklungen haben diese Begriffskonjunktur ins Rollen gebracht? In den USA begannen in den 1960er Jahren verschiedene gesellschaftliche, bisher marginalisierte Gruppen auf soziale Kategorien wie Rasse, Ethnizität, 117 Dietsche, Petra: Das Erstaunen über das Fremde. Vier literaturwissenschaftliche Studien zum Problem des Verstehens und der Darstellung fremder Kulturen, Frankfurt/ Main u.a.: Lang 1984 (Deutsche Sprache und Literatur 748), 5. 118 Tatsächlich handelt es sich dabei um verschiedene ,Wenden‘ in ihrer Vielzahl - um Cultural Turns im Plural. Vgl. dazu Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierung in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag (rowohlts enzyklopädie) 2007 2 . 119 Niethammer, Lutz: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2000 (Rowohlts Enzyklopädie 55549). <?page no="56"?> 1. Forschungsproblematik 56 Geschlecht - mithin auf Konzepte, die identitär hoch aufgeladen sind bzw. aufladbar sind - zurückzugreifen, womit die ‚klassischen‘ Formen radikaler Politik - jene Formen, die sich mit Klasse, Staat, Ideologie, Revolution oder den materiellen Produktionsverhältnissen auseinandersetzen - um neue Artikulationen und Interventionen ergänzt bzw., mitunter, in den Hintergrund gedrängt wurden. Auf dem europäischen Kontinent haben der Systemwechsel von 1989 sowie der Prozess der Globalisierung eine gewichtige Rolle für den Durchbruch der Identitätsvokabel gespielt. Auch Wolfgang Müller-Funk schreibt hierzu vom „Identitäts- und Heimatverlust“, der gemeinsam mit dem Verlust von politischer Freiheit und Gestaltungsspielräume zu einem neuen Unbehagen geführt habe. 120 Oder, anders ausgedrückt: Der gegenwärtig zu beobachtende Rückgriff auf Identitätsformeln zeugt von Wurzellosigkeit und aufbrechenden Unsicherheiten: ideale Voraussetzungen für jene Mechanismen der Übertragung und Projektion, die aus der Freudschen Psychoanalyse bekannt sind: All das, was einen selbst überfordert und was man bei sich selbst nicht wahrnehmen möchte, wird nach außen geworfen, auf einen Anderen, eine oder aber mehrere Andere übertragen. Im Selbstschutz gegen das Unbekannte kommt es zur Identifizierung dieses oder dieser Anderen bzw. Fremden als Feind/ e/ innen, wie es uns die Beispiele wachsender Xenophobie immer wieder zeigen. Dessen oder deren Ausgrenzung dient dazu, das eigene Selbstbewusstsein bzw. das der eigenen Gruppe zu stärken, die eigenen Konturen zu schärfen: Dies aber setzt seine/ ihre Wahrnehmung, oder, besser: Erfindung als Fremde/ r voraus. Das enge Zusammenspiel, das zwischen Selbst und Anderem am Werk ist, lässt sich gleichfalls mit Blick auf das Verhältnis von persönlicher und kollektiver Identität beobachten: nicht allein, dass kollektive Strukturen und Selbstbilder dann verstärkt zum Zuge kommen, wenn der eigene identitäre Halt prekär geworden ist; jegliche Vorstellung vom Individuum ist notwendig eine Vorstellung des ihm konsubstantiellen sozialen Bandes. 121 In der konstruktivistischen Identitätsforschung wird kollektive Identität denn auch in struktureller Analogie zur persönlichen konzeptualisiert. Letztere verweist, in ihrer breitesten Fassung, auf den Umstand, dass ein Einzelner von allen Anderen unterschieden werden kann. Diese Leistung beruht im konstruktivistischen Verständnis von Identität auf einem permanenten und komplexen Prozess der Integration unterschiedlicher Selbst- und Welterfahrungen, Selbst- und Fremdentwürfe, Erwartungen und kultureller Rollenvorgaben in die Instanz 120 Müller-Funk, Wolfgang: Niemand zu Hause. Essays zu Kultur, Globalisierung und neuer Ökonomie, Wien: Czernin 2005; Keupp, Heiner u.a. (Hgg.): Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1999 (rowohlts enzyklopädie 55634), 9. 121 Vgl. Augé, Marc: Nicht-Orte. A. d. Franz. v. Michael Bischoff, München: C.H. Beck 2010 (Beck'sche Reihe 1960), 29. <?page no="57"?> 1.2 Identität und Alterität 57 des ‚Ichs‘; diese Integration wiederum erfolgt durch Identifikation, 122 worunter ebenso die Annäherung an Merkmale und Eigenschaften bestimmter Anderer und Autoritätsinstanzen wie eben auch die Abgrenzung zu verstehen ist. Weniger die definitorische Bestimmung des Gegenstandes, als vielmehr die Fokussierung von Prozessen der Herstellung und Auflösung: das von Mona Singer als diskursiv gefasste „doing identity“ 123 steht folglich im Zentrum der konstruktivistischen Auseinandersetzung mit Identität, ob nun zu persönlicher oder kollektiver Identität geforscht wird. ,Kollektive Identität‘ zielt neben der Ableitung wesentlicher Bestandteile einer individuellen Selbstinterpretation aus der Mitgliedschaft zum einen, der Definierung von Sozialeinheiten, zu denen man zählt oder als deren Opfer man gegebenenfalls Forderungen stellen möchte, zum anderen, auf folgenden, in kulturwissenschaftlicher Perspektivierung im Vordergrund stehenden Umstand: Identitäten werden stets innerhalb von Repräsentationen konstituiert und speisen sich nicht allein aus Traditionen, sondern auch aus der Vorstellung und Erfindung von Traditionen. Auf die Bedeutung dieses Sets von imaginären Bedeutungen als Grundlage der kulturellen Codes einer Gesellschaft hat Benedict Anderson - nicht ohne diese Imaginationen an materielle Bedingungen, sprich den Kapitalismus rückzubinden - in seiner für die Kulturwissenschaften wirkmächtigen Auseinandersetzung mit ‚Nation‘ und ‚Nationalismus‘ aufmerksam gemacht. Mit seiner Definition ersterer als einer „vorgestellte[n] politische[n] Gemeinschaft“ ließ sich eine Lanze für Lektüren, die auf die Momente des Konstruktivistischen, des Fiktiven und Fantasmatischen abheben, brechen. 124 In den letzten Jahren war im wissenschaftlichen und öffentlichen Sprachgebrauch außerdem vermehrt die Rede von ,kultureller Identität‘: Kulturelle Identität impliziert immer auch kollektive Identität; nicht jede Form von kollektiver Identität hingegen ist kulturell. Freilich hängt es stets vom jeweiligen Kulturbegriff, der unterlegt wird, ab, worauf sich das Adjektiv ‚kulturell‘ bezieht; oft auch werden bestimmte Bedeutungen vermischt: so zum Beispiel ‚Kultur‘ im Sinne von ‚Zivilisation‘ oder aber Kultur als Kulturkreis oder Religion. 122 In manchen Ansätzen wird der heuristisch prekär gewordene Begriff der ‚Identität‘ bereits von jenem der ‚Identifikation‘ ersetzt, vgl. z. B. Hall, Stuart: Wer braucht ‚Identität‘? , in: ders.: Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4, Hamburg: Argument Verlag 2004, 167-187, 168ff.). Vgl. dazu auch den Einwand von Judith Butler, Ernesto Laclau und Slavoj Žižek in ihrem Gemeinschaftsband Contingency, Hegemony, Universality. Contemporary Dialogues on the Left (London u.a.: Verso 2000, 3f.) gegen eine synonyme Verwendung der beiden Begriffe. 123 Singer, Mona: Fremd. Bestimmung. Zur kulturellen Verortung von Identität, Tübingen: edition diskord 1997 (Reihe Perspektiven 6), 153. 124 Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. M. e. Nachw. v. Thomas Mergel, Frankfurt u.a.: Campus 2005 2 , 15. . <?page no="58"?> 1. Forschungsproblematik 58 Wird der auf Freud zurückgehenden Einsicht, dass das Ich „nicht einmal Herr im eigenen Haus ist, sondern auf kärgliche Nachrichten angewiesen bleibt von dem, was unbewußt in seinem Seelenleben vorgeht“, 125 Tribut gezollt, muss eine Auffassung von Identität als einem ‚selbstreflexiven Prozess‘ 126 die hermeneutische Dimension ins Visier nehmen. Mit Andreas Reckwitz lässt sich dazu festhalten: „,Identität‘ bezeichnet die Problematik der Kontingenz des Selbstverstehens in der Hochmoderne, welches dann in zweiter Linie auch ein Problem der Konstanz dieses Selbstverstehens ist.“ 127 Stuart Hall benennt die „,Krise der Identität‘“ als „Verlust einer stabilen Selbstwahrnehmung“: eine „Zerstreuung (dislocation) oder De-Zentrierung des Subjekts“, welches als ein ‚postmodernes‘ apostrophiert wird und das Resultat eines sowohl gesellschaftlichen als auch ideengeschichtlichen Wandels darstellt. Begriffe wie Fragmentiertheit, Zerstreuung, Brüche, Diskontinuität kennzeichnen dieses postmoderne Subjekt, im Unterschied zum ‚Subjekt der Aufklärung‘, einem „vollkommen zentrierte[n] und vereinheitlichte[n]“, 128 das mit Zuschreibungen wie Ganzheit, Einheit und Bewusstsein versehen wurde. René Descartes bekannte Formel aus dem Jahr 1641 „Cogito, ergo sum“ [„Ich denke, also bin ich“ 129 ] markierte den Durchbruch des rationalen, reflektierenden und bewussten (und dabei männlichen) Subjekts: Subjekt der Aufklärung, welches angesichts seiner suggerierten Essenz, seines wesenhaften Kernes, welcher die 125 Freud, Sigmund: Die Fixierung an das Trauma, das Unbewußte. 18. Vorlesung, in: ders.: Gesammelte Werke XI. Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Frankfurt/ Main: S. Fischer 1998 9 , 282-295, 295. In diesem Zusammenhang ist auch das Konzept des Spiegelstadiums von Jacques Lacan zu erwähnen: jene psychologische Entwicklungsphase des Kleinkindes um den sechsten bis 18. Lebensmonat, in der es sich mittels der Wahrnehmung im Spiegel als eine Ganzheit, als Ich identifiziert: Wenn diese Identifizierung erst über das Bild erfolgt, Repräsentation erst über das Abzubildende, das Repräsentierte gebildet wird, kann eine Auffassung vom Subjekt als eines autonomen Wesens nicht länger aufrecht gehalten werden. Das Erkennen des Kindes ist immer schon ein Verkennen. Vgl. Lacan, Jacques: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint, in: ders.: Schriften I. 3., korr. Aufl, ausgew. u. hg. v. Norbert Haas. Übers. v. Rodolphe Gasché u.a., Weinheim u.a.: Quadriga 1991, 61-70. 126 Vgl. Frey, Hans-Peter/ Haußer, Karl Haußer: Entwicklungslinien sozialwissenschaftlicher Identitätsforschung, in: dies. (Hgg.): Identität. Entwicklungen psychologischer und soziologischer Forschung, Stuttgart: Enke 1987 (Der Mensch als soziales und personales Wesen 7), 3-26, 4. 127 Reckwitz, Andreas: Der Identitätsdiskurs. Zum Bedeutungswandel einer sozialwissenschaftlichen Semantik, in: Rammert, Werner (Hg.): Kollektive Identitäten und kulturelle Innovationen. Ethnologische, soziologisch und historische Studien, Leipzig: Leipziger Universitäts-Verlag 2001, 21-38, 22. 128 Hall, Stuart: Die Frage der kulturellen Identität, in: ders: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Hamburg: Argument 1994, 180-222, 181. 129 Descartes, René: Meditationen. Dreisprachige Parallelausgabe Latein - Französisch - Deutsch. Hg., eingel., übers. u. erläut. v. Andreas Schmidt, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004 (Sammlung Philosophie 5). <?page no="59"?> 1.2 Identität und Alterität 59 Basis für Gemeinsamkeit und das Gefühl für Zusammengehörigkeit bilde, denn auch mit einem essentialistischen Identitätsbegriff zusammengebracht werden kann. Im Unterschied dazu erkennt Hall die Auffassung vom ‚soziologischen Subjekt‘, die im ausgehenden 19. Jahrhundert mit der sich formierenden neuen Disziplin der Soziologie einher geht, und die für diese Arbeit zentrale Kategorie des/ der ‚Anderen‘ ins Zentrum rückt. Identität bildet sich in der klassischen soziologischen Konzeption (wie von George Herbert Mead 130 ) als interaktive Beziehung zwischen dem Ich und der Gesellschaft. Im Akt des sozialen Handelns übernimmt das Individuum die Erwartungen seiner Interaktionspartner/ innen und lernt, sich selbst aus deren Perspektive wahrzunehmen, womit jeglicher Substantialismus von Identität in einer antiessentialistischen und interaktionalen Analyse aufgehoben wird. Was Identität dabei leistet, ist das Vermitteln, Verklammern, Vernähen zwischen Subjekt und Gesellschaft. Diese Stabilität suggerierende Auffassung von Identität ist spätestens mit der Postmoderne hinfällig geworden; als offen, variabel, widersprüchlich wird seither der Identifikationsprozess und das ‚postmoderne Subjekt‘ nicht als biologisch, sondern historisch definiert und einem steten Wandel unterworfen vorgestellt. Dass wir nun als Vertreter/ innen dieser postmodernen Subjekte nicht ständig dem Gefühl erliegen, aufgesplittet oder aber jemand anderer zu sein, verdanken wir unseren fortwährenden Unternehmungen, eine kohärente Erzählung unseres Ichs zu konstituieren. Paul Ricœur spricht in diesem Zusammenhang von der „narrativen Identität“; 131 mit Rückgriff auf die Einsichten des französischen Philosophen schreibt Hall denn auch: „Wenn wir meinen, eine einheitliche Identität von der Geburt bis zum Tod zu haben, dann bloß, weil wir eine tröstliche Geschichte oder ‚Erzählung unseres Ich‘ über uns selbst konstruieren.“ 132 Die narrativen Operationen ermöglichen es, „die Verschiedenheit, die Veränderlichkeit, die Diskontinuität, die Unbeständigkeit“ 133 in einen Zusammenhang zu bringen, Heterogenes zu einer Handlung, einem Ereignis zu verknüpfen - schließlich soll die erzählte Geschichte (des eigenen Lebens, des eigenen Ich) vor Zuhörer/ innen wie auch vor sich selbst verständlich und nachvollziehbar sein. Mit Wolfgang Müller-Funk lässt sich überspitzt formuliert sagen, dass das Erzählen, als generelle kulturelle Praxis verstanden, gerade aus der Kontingenz und Diskontinuität, denen der 130 Vgl. Mead, George Herbert: Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. M. e. Einl. hg. v. Charles W. Morris. A. d. Amerikan. v. Ulf Pacher, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1968. 131 Ricœur, Paul: Das Selbst als ein Anderer. A. d. Franz. von Jean Greisch, München: Fink 1996 (Übergänge 26), insbes. 141-171 (Fünfte Abhandlung: Personale und narrative Identität) sowie 173-206 (Sechste Abhandlung: Das Selbst und die narrative Identität). Vgl. zu ‚narrativer Identität‘ auch Müller-Funk (2008: 275ff.). 132 Hall (1994: 183). 133 Ricœur (1996: 173). <?page no="60"?> 1. Forschungsproblematik 60 Mensch unterworfen ist, resultiert. 134 Insofern, als sich ein Individuum im Fluss der Zeit immer ändert und im Erzählen die Teile eines anderen, vergangenen Ich zusammenführt, ist auch hierbei die Instanz des Anderen gegeben. Gewiss lassen sich lange vor der Postmoderne Wegbereiter für diese Subjektkonzeption festmachen; neben dem bereits angeführten Sigmund Freud nennt Stuart Hall u.a. auch Karl Marx mit seinem Interesse für die gesellschaftlichen Verhältnisse sowie Ferdinand de Saussure mit seiner Auffassung von Sprache als einem gesellschaftlichen, nicht individuellen, System. Den außerdem von Hall angeführten, in den 1960er Jahren aufkommenden ‚neuen sozialen Bewegungen‘ kann im Unterschied zu den bisherigen Ausführungen ein kollektiver Identitätsbegriff unterlegt werden: definitorische Versuche, Zugehörigkeitsgefühle dingfest zu machen. Im Rückblick betrachtet identifiziert Hall diese aktivistischen Bewegungen als Geburtsstunde der später so genannten Identitätspolitik, appelierte doch jede Bewegung (ob Feminismus, Schwulen- und Lesbenbewegung, Civil Rights Movement et cetera 135 ) an eine bestimmte soziale Identität ihrer Zielgruppe: „eine Identität pro Bewegung.“ 136 Einen weiteren gemeinsamen Nenner bildet ihr wissenschaftstheoretischer Kontext: die ,feministische Philosophie‘, die eine prinzipielle Infragestellung bisheriger - und eben als männlich gefasster - Subjektkonzeptionen unternommen hatte. 137 Halls Darstellung mag heute sehr schematisch anmuten, nichtsdestotrotz bringt sie die fundamentale Bedeutung des Identitätsthemas, ob im politischen oder wissenschaftlichen Feld, auf nachdrückliche Weise zum Ausdruck. Zwischen den Zeilen, so zumindest habe ich Hall gelesen, wird auf jenes Problem verwiesen, das gewissermaßen die Kehrseite jeglicher aktivistischen identitären Bewegung bildet. Mit Blick auf die politische feministische Bewegung hat Judith Butler diese, wie es im österreichischen Idiom heißt, ‚Maschekseite‘ benannt: „Identitätskategorien haben niemals nur einen deskriptiven, sondern immer auch einen normativen und damit ausschließenden Charakter.“ 138 Wie aber, so drängt sich nun die Frage 134 Müller-Funk (2008: 278). 135 Vgl. dazu Butler (1991: 210) sowie zum „et cetera“ Fußnote 299 der vorliegenden Arbeit. - Dass es sich bei meiner Anführung dieser verschiedenen sozialen Bewegungen - denen wir bahnbrechende gesellschaftliche Durchbrüche verdanken - um nicht mehr als eine Auflistung handelt, dabei aber sämtliche Brüche und Widersprüchlichkeiten ausgespart werden, möchte ich ausdrücklich festhalten. 136 Hall (1994: 199). 137 Vgl. für eine erhellende Zwischenbilanz und kritische Perspektivierung einer Kritik des ,binären Denkens‘: Nagl-Docekal, Herta: Feministische Philosophie. Ergebnisse, Probleme, Perspektiven, Frankfurt/ Main: Fischer Taschenbuch 2000 (Forum Wissenschaft 13855). 138 Butler, Judith: Kontingente Grundlagen: Der Feminismus und die Frage der „Postmoderne“, in: Benhabib, Seyla/ dies./ Cornell, Drucilla/ Fraser, Nancy: Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart, Frankfurt/ Main: Fischer 1993, 31-58, 49. <?page no="61"?> 1.2 Identität und Alterität 61 auf, kann dieser gebannt werden? Und wie kann jenem totalisierenden Gestus, der die aktivistische Auseinandersetzung mit identitären enjeux so brisant macht, in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Identitätsbegriff Einhalt geboten werden: was braucht es, in anderen Worten, um ,Identität‘ als leistungsstarke Analysekategorie zu halten? An dieser Stelle kommt nun, nachdem wir der Instanz des/ der Anderen bereits in der klassischen soziologischen Subjektkonzeption begegnet waren, die Alterität ins Spiel, wie sie innerhalb diskursanalystischer, psychoanalytischer, semiotischer und poststrukturalistischer Theorien operationalisiert wird. Die Bildung von Identität als Identifikations- oder Zuschreibungsprozess mittels des Bezugs zu einer Andersheit [Alterität] zu denken, schafft Kontrastierung und Relativierung: substantialistische bzw. essentialistische Annahmen über das Ich werden so unterhöhlt. Wiewohl sich der Begriff der Alterität vom lateinischen alter ableiten lässt und, im Unterschied zu alius (ein Anderer von mehreren), keinen beliebigen Anderen, sondern den zweiten von zwei einander zugeordneten Identitäten bezeichnet, darf dieses Verhältnis zwischen dem Einen und seinem Anderen, zwischen Identität und Alterität, nicht als vorauseilendes Oppositionsverhältnis oder als Dichotomie hypostasiert werden. Dann nämlich, ob auf der persönlichen oder kollektiven Ebene, schwindet die epistemologische Produktivität der Vorstellung von untrennbar verknoteter Identität und Alterität. Was bliebe, ist eine auf Gegenbildlichkeit verengte Selbst- und Fremdwahrnehmung: ein Resultat, das insofern nicht zu überraschen vermag, als sich diese Gegenbildlichkeit in die westliche Tradition des Denkens einschreibt, Begriffe von ihren Gegensätzen aus zu bestimmen, und nicht in der ihr eigenen Bedeutung zu konzeptualisieren. 139 „[D]ie diskursive Vernunft“, so führt Dieter Mersch in seinem erhellenden Aufsatz „Vom Anderen reden“ aus, „[führt] überall das Unbekannte auf Bekanntes, das Unverständliche auf Verstehbares und das Unerklärliche in den Horizont der Erklärungen zurück.“ 140 Einer „Reduktion des Anderen auf das Selbe“ 141 würden, so der französische Alteritätsdenker Emmanuel Lévinas, sämtliche Denkfiguren der abendländischen Philosophie unterstehen. Konsequenzen zeitigt das dichotomische Denken freilich auch jenseits der philosophischen Begriffsarbeit, gerade im Hinblick auf kollektive und kulturelle Identitäten respektive, um auf den bereits erwähnten Anderson-Titel anzu- 139 Vgl. dazu auch Kimmerle, Heinz: Philosophien der Differenz. Eine Einführung, Würzburg: Königshausen & Neumann 2000 (Schriften zur Philosophie der Differenz 9), 13. 140 Vgl. Mersch, Dieter: Vom Anderen reden. Das Paradox der Alterität, in: Brocker, Manred/ Nau, Heino Heinrich (Hgg.): Ethnozentrismus. Möglichkeiten und Grenzen des interkulturellen Dialogs, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1997, 27- 45, 28. 141 Lévinas, Emmanuel: Die Philosophie und die Idee des Unendlichen, in: ders.: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie. Übers., hg. u. eingeleit. v. Wolfgang Nikolaus Krewani, Freiburg u.a.: Alber 1983, 85-208, 186f. <?page no="62"?> 1. Forschungsproblematik 62 spielen, ,vorgestellte Gemeinschaften‘. Die abendländische Kultur- und Geistesgeschichte lehrt auf beredte Art und Weise Prozesse und Programme einer, wie Doris Bachmann-Medick deren Ziel auf den Punkt bringt, „Selbstfindung im Licht des Anderen“ 142 - man denke hierfür an die von den westlichen Gesellschaften unternommene Konstruktion eines imaginären Orients. Selbstfindung im dichotomischen Lichte des Anderen, so kann angesichts der von Edward Said erkannten Orientalismen 143 bilanziert werden, geht immer auch mit dessen Aneignung sowie der bereits angeführten projektiven Verkennung einher. Erst ein Verständnis der besonderen Beziehung von Identität und Alterität als eines der Angewiesenheit und Kontaminierung kann hierbei Abhilfe schaffen. In ihrem Online-Glossareintrag zu „Alterität“ hält Anna Babka unmissverständlich fest: „Soll Andersheit gedacht werden, dann bedeutet der Begriff nicht, dem Selbstidentischen dessen komplementäres Gegenteil entgegenzusetzen, sondern das angeblich Mit-sich-selbst-Identische in seiner Angewiesenheit auf und Kontaminierung durch sein vermeintlich Anderes zu lesen.“ 144 Andersheit beinhaltet immer schon Differenzen und Mannigfaltigkeit within. Diese Anleitung Babkas zu beherzigen, tut umso mehr not, wenn man bedenkt, dass selbst Studien mit dezidiert anti-essentialistischem Impetus wie jene von Said der Dynamik von Dichotomisierung erliegen können. Dem ,Gründungsvater‘ der Postcolonial Studies, soviel kann hier schon vorweggenommen werden, ist in seinem 1978 erschienenen Werk Orientalism die Gratwanderung zwischen einer radikalen Kritik an orientalischen Essentialismen und einem eigenen essentialistischen Diskurs nicht (immer) gelungen. Seine zentrale These, dass der Orient dem Abendland ex negativo zu seiner Identität verholfen hätte, kann Said nur auf Kosten von Heterogenität, Diskontinuität und Diskordanz und unter Zuhilfenahme ahistorischer Pauschalurteile formulieren. 145 Das Bild des Orients erscheint so über die Jahrhunderte hinweg doch als sehr konstant und monolithisch. Trotz alledem kann Saids Arbeit als bahnbrechend bezeichnet werden; für die Etablierung der postkolonialen Kritik als akademische Richtung innerhalb der Kultur- und Litera- 142 Bachmann-Medick, Doris: Multikultur oder kulturelle Differenzen? Neue Konzepte von Weltliteratur und Übersetzung in postkolonialer Perspektive, in: dies. (2004: 262- 296, 266). 143 Vgl. Said, Edward W.: Orientalismus. A. d. Engl. v. Hans Günter Holl, Frankfurt/ Main: S. Fischer 2010. Die amerikanische Originalausgabe erschien 1978 unter dem Titel Orientalism im New Yorker Verlag Pantheon Books. 144 http: / / differenzen.univie.ac.at/ glossar.php? sp=7, 31.1.2013. 145 Eine kompakte Zusammenfassung der verschiedenen Kritiken, die Said entgegen gebracht wurden, liefert John McLeod („Orientalism is ahistorical“; „Said ignores resistance by the colonised“; „Said ignores resistance within the West“; „Said ignores gender difference“), in: ders.: Beginning postcolonialism, Manchester et.al.: Manchester Univ. Press 2000, 46ff.; sowie Osterhammel, Jürgen: Edward W. Said und die „Orientalismus“-Debatte. Ein Rückblick, in: asien afrika lateinamerika 25 (1997), 597-607, 604. <?page no="63"?> 1.2 Identität und Alterität 63 turtheorie übte sie maßgeblichen Einfluss aus. Die Wirkung von Orientalism ging schließlich weit über das akademische und intellektuelle Feld hinaus. Auf Said komme ich in Kapitel 1.3.3 noch zu sprechen; kehren wir nun zurück zu den philosophischen Denkfiguren der Identität und der Alterität. Während der Ausgangspunkt philosophischer Identitätstheorien bereits bei John Locke, 146 der auch als Pionier der Gedächtnistheorie gilt, angesetzt wird, geht die Auffassung von Identitäten als Konstruktionen, die der wechselseitigen sozialen Anerkennung, der Instanz der Alterität bedürfen, auf Hegel zurück. Hegels berühmtes Diktum, dass der Mensch nur dadurch Selbsterkenntnis erlange, indem er den jeweils ‚Anderen‘ (an)erkennt, eröffnet zweierlei: die Frage nach der Bedeutung des/ der Anderen geht mit der Auseinandersetzung mit Herrschaft als einer asymmetrischen Relation zwischen Herr und Knecht einher. 147 „Das Selbstbewusstsein“, so bringt sich Hegel selbst in der Eingangspassage seiner philosophischen ‚Meistererzählung‘ in Die Phänomenologie des Geistes zwar nicht auf die Füße, doch auf den Punkt, „ist an und für sich, indem und dadurch, daß es für ein Anderes an und für sich ist; d.h. es ist nur als ein Anerkanntes.“ 148 Nur dann ist für Hegel der Mensch in der Vollendungsgestalt seines Wesens, wenn er sich genauso zum Anderen verhält, wie er sich auch selbst wahrnimmt. Sieht er sich selbst als ein freies, sich selbst bestimmendes Wesen an, so müsste er, um ‚wirklich‘ frei zu sein, auch den Anderen so sehen. Freie Wesen, so Hegel, „anerkennen sich als gegenseitig sich anerkennend.“ 149 Bereits für den historischen Materialismus von Marx und Engels war das Herr-Knecht-Kapitel aus der Phänomenologie des Geistes zentral geworden; herausragende Bedeutung hat es zudem in der jüngeren postkolonialen Theoriedebatte gewonnen. In der Literaturkritik wird auf das Hegelsche Herr- Knecht-Verhältnis, das aufgrund des „einseitige[n] und ungleiche[n] Anerkennen[s]“ 150 ein eindimensionales darstellt, zurückgegriffen, um in kanonischen Texten wie Shakespeares Sturm oder Daniel Defoes Robinson Crusoe, 146 In seinem 1690 erstveröffentlichten Text An Essay Concerning Human Understanding geht Locke der Frage nach, ob das Selbst vom Körper oder aber vom Bewusstsein ausgemacht würde, und kommt zu dem Schluss, dass die körperliche Identität zwar ein epistemologisches Kriterium, nicht aber ontologisch konstitutiv für die Identität eines Menschen sei. Konstitutiv sei vielmehr - und darin besteht seine anti-essentialistische Sichtweise - das Selbstbewusstsein. 147 Vgl. dazu den luziden Aufsatz von: Müller-Funk, Wolfgang: Das Eigene und das Andere / Der, die, das Fremde. Zur Begriffserklärung nach Hegel, Levinas, Kristeva, Waldenfels, in: kakanien revisited, abrufbar unter: http: / / www.kakanien.ac.at/ beitr/ theorie/ WMueller-Funk2, v. 15.9.2002, 31.1.2013. 148 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewußtseins; Herrschaft und Knechtschaft, in: ders.: Phänomenologie des Geistes. Werke in 20 Bänden, Band 3. Hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1970, 145-177, 145. 149 Ebenda, 147. 150 Vgl. ebenda, 152. <?page no="64"?> 1. Forschungsproblematik 64 die von interkulturellen Begegnungen und Machtdiskursen erzählen, das Verhältnis zwischen westlichem und kolonisiertem Subjekt zu fassen. 151 Diese Nachhaltigkeit verdankt die Hegelsche Erzählung über Herr und Knecht - die sich ihrerseits auf Denis Diderots Roman Jacques le Fataliste bezieht - wohl ihrer Anschaulichkeit, den anthropologischen Anleihen und dem geschichtlichen Prozess, der ins Spiel kommt. Aus den abstrakten Denkfiguren des ‚Selben‘ und des ‚Anderen‘, die, so moniert Wolfgang Müller-Funk, angesichts des Umstandes, dass wir uns stets schon in einer Welt mit kulturell ausgeprägten Herrschaftsstukturen befinden, reine Fiktion seien, werden konkrete Figuren. Soll nun für die kulturwissenschaftliche Argumentation die von Hegels Modell angebotene Verklammerung von Herrschafts- und Alteritätsfrage fruchtbar gemacht werden, soll nun also in einer gewissermaßen dialektischen Bewegung dem Hegelschen philosophischen Ansatz ein sozialwissenschaftlicher entgegengesetzt und kulturwissenschaftlich aufgehoben werden, so „wird [man, D.F.] nicht um eine Phänomenologie der Differenzen von Differenzen herumkommen, und sie könnte zeigen, dass die andere nicht identisch mit dem anderen ist, weder mit dem personalen, noch mit dem ‚neutralen’, dass ‚der (kulturelle) Fremde‘ und ‚der Anderere ‘ nicht notwendig zusammenfallen.“ 152 In einem anderen Aufsatz schlägt Müller-Funk nun unter Rückgriff auf Freud, Lévinas und Waldenfels folgende Differenzierung von ‚Anderem‘ und ‚Fremdem‘ - freilich mit fließenden Grenzen - vor: Im Unterschied zum/ zur Anderen, der/ die mir die eigene Vertrautheit und gleichzeitige Rätselhaftigkeit vorführt bzw. zurückwirft, ist der/ die Fremde kulturell markiert: „[…] sie gehört nicht in mein symbolisches Territorium, er ist anders, weil er/ sie anders isst, fühlt, denkt, liebt, spricht, weil er/ sie aus einer anderen Kultur oder Subkultur stammt. Oder weil er ein Mann bzw. sie eine Frau ist. Er/ sie spricht nicht meine Sprache“ 153 Kurzum: all das, was nicht in den eigenen symbolischen Haushalt eingegliedert werden kann, wird als fremd und mitunter auch Angst einflößend erfahren. Diese Unterscheidung soll als eine idealtypische im Blick gehalten werden: dass nämlich der/ die Fremde und der/ die Andere in einer symbolischen Ordnung doch auch zusammenfallen können, davon zeugen meine Ausführungen im literatufinzi endfarwissenschaftlichen Anwendungsteil, in denen mögliche terminologische Differenzierungen nicht immer konsequent getroffen werden konnten. 154 151 Hestermann, Sandra: Meeting the other - encountering oneself. Paradigmen der Selbst- und Fremddarstellung in ausgewählten anglo-indischen und indisch-englischen Kurzgeschichten, Frankfurt/ Main u.a.: Lang 2003 (Neue Studien zur Anglistik und Amerikanistik 88), 24f. 152 Müller-Funk (2002: 2). 153 Müller-Funk, Wolfgang: Globalisierung und Kultur, in: ders. (2005: 37-56, 47). 154 Müller-Funks (ebd.) im Fließtext angeführter Teilsatz „Oder weil er ein Mann bzw. sie eine Frau ist.“ mag in der Auflistung überraschen und bestätigt außerdem die These vom Zusammenfallen von dem/ der Fremden und dem/ der Anderen in der symbolischen Ordnung. <?page no="65"?> 1.3 Multiple Kontextualisierung 65 1.3 Multiple Kontextualisierung 1.3.1 An- und Beziehungen auf diachron-historischer Ebene In ihrem 1993 veröffentlichten Aufsatz über die „Phantasmen des Krieges“ konzeptualisierte Renata Salecl die besondere Leistungsfähigkeit von ,Jugoslawien‘ als „flottierende[m] Signifikant[en]“ im Hinblick auf die jugoslawischen Nationen: jede hätte ,Jugoslawien‘ „in unterschiedlichen Weisen in ihren eigenen politischen Diskurs ein[geschlossen]“. 155 Es scheint aber legitim, diese Figur gleichfalls für andere europäische Länder, nicht zuletzt die deutschsprachigen, zu übernehmen. In die Begrifflichkeit der Rhetorik übersetzt, verweist auch Nenad Popović auf diese besondere ,Qualität‘ von Jugoslawien, doch akzentuiert dabei die relationale Dimension bzw. die Funktion der Stellvertretung, die diesem darin zukam: Jugoslawien löst sich so leicht in abstrakten Diskursen auf, da es siebzig Jahre auch aus seiner Rolle als konkrete Metapher der internationalen Verhältnisse heraus überlebte. Seine Gründung war eine Metapher für das Verhältnis Großbritanniens und Frankreichs zu den germanischen Mächten 1918 bzw. für die Neuerung ihrer Einflußzonen in Zentral- und Südosteuropa. Im Zweiten Weltkrieg wurde es als Metapher unklarer Verhältnisse der sowjetischwestlichen Anti-Hitler-Koalition in Jalta nochmals ins Leben gerufen. Von 1945 bis Gorbatschow funktionierte es nicht mehr als Metapher innereuropäischer - Europa tritt in der Zeit nur in Form deutscher Touristen in Dalmatien auf - sondern globaler, amerikanisch-sowjetischer Verhältnisse. Die gegenwärtige (1994, D.F.) Tragödie ist die einer doppelten Metapher. Die ausgebliebene Intervention, die Zulassung des Völkermordes, ist eine komplexe Megabotschaft des Nordatlantischen Bündnisses an Rußland und im europäischen Maßstab eine Metapher für das Kräftemessen Großbritanniens und Frankreichs mit dem wiedervereinigten Deutschland. 156 Bereits die wörtliche Übersetzung des Toponyms gibt Aufschluss über jenes Surplus, das ,Jugoslawien‘ enthielt: ,Südslawien‘. Der ,Süden‘ [jug] nämlich war niemals genuin geographisch zu denken, vielmehr handelte es sich mit Rada Iveković um einen „Süden, der in der Moderne ein Anderswo bezeichnet im Hinblick auf die tödliche Langeweile der Politik, die Lebensmiseren, den Alltag und die Routine. Er ist ein Produkt des Imaginären.“ 157 Heruntergebrochen auf die Frage, welche unterschiedlichen Erzählungen Österreich und Deutschland von Jugoslawien in der Vergangenheit entwickelten - Erzählungen, deren latente Narrative mitunter im Zuge der Kriege 155 Salecl, Renata: Phantasmen des Krieges. Patriarchat und Mutterland - Heimat und Rassismus, in: Lettre international 21 (Sommer '93), 8-11, 8. 156 Popović (2001: 40). 157 Iveković, Rada: Autopsie des Balkans. Ein psychopolitischer Essay, Graz: Droschl 2001 (Essay 44), 135. <?page no="66"?> 1. Forschungsproblematik 66 der 1990er Jahre reaktiviert wurden -, haben wir es mit geschichtlichen Naheverhältnissen und Knotenpunkten zu tun. Mira Csarmann und Hans- Georg Heinrich haben dieses Konglomerat mit Blick auf das österreichischjugoslawische Verhältnis bereits 1988 auf den Punkt gebracht: eine „,historische Belastung‘ als eine Art von historischer Erfahrung, Vorurteilen und Stereotypen, aus dem nach Bedarf Argumente entnommen werden, die die eigene Vorsicht, Empfindsamkeit oder Feindseligkeit legitimieren sollten […] - hier entsteht das ,Problem‘ erst durch das Hinzutreten konkreter Konflikte.“ 158 Auf die kürzeste Formel gebracht, lauten die zentralen Koordinaten dieser ,historischen Belastung‘: 1) Habsburgermonarchie und Erster Weltkrieg; 2) Zweiter Weltkrieg und 3) das ,zweite Jugolawien‘ 159 . Sie stehen im Zentrum der nun folgenden Ausführungen: Dabei handelt es sich um nicht mehr als die bloße Auflistung mancher zentraler Ereignisse und Daten, und eine Ansammlung vorgängiger Forschungen, nicht aber um ein systematisches und vollständiges Ausloten der aufgerufenen Problematik. Der Fokus liegt dabei eindeutig auf Österreich. Für die Donaumonarchie können unterschiedliche Beziehungen mit den einzelnen slawischen Ländern festgehalten werden: auf der einen Seite das besondere Naheverhältnis zwischen Österreich-Ungarn und dem Herzogtum Krain, dem Königreich Dalmatien, dem Königreich Kroatien und Slawonien sowie dem 1908 annektierten Gebiet Bosnien und Herzegowinas, sowie, umgelegt auf die psychodynamische Ebene, vorbewusste und unbewusste Präferenzen für die ,mitteleuropäischen‘ Kroat/ innen und Slowen/ innen einerseits, paternalistisches, wenn nicht kolonialistisches Auftreten gegenüber den Bosnier/ innen andererseits. Demgegenüber steht auf der anderen Seite das konfliktuelle Verhältnis mit dem Königreich Serbien, und die daraus resultierenden Ressentiments gegenüber den Serb/ innen, die sich nicht von der Habsburgermonarchie unterdrücken lassen wollten. Der Schlachtruf von 1914 hatte ,Serbien muss sterbien! ‘ gelautet, mit Begeisterung und Siegesbewusstsein waren die Soldaten der k.u.k. Armee in die Schlacht gezogen. „Nach dem verlorenen Krieg“, präzisiert der Historiker Walter Manoschek, „wurde das Feindbild Serbien modifiziert: nunmer als ,Totengräber der Monarchie‘ etikettiert, rangierte Serbien in der Ersten Republik auch weiterhin an obers- 158 Csarmann, Mira/ Heinrich, Hans-Georg: Österreich - Jugoslawien: Konflikt und Kooperation in den bilateralen Beziehungen, in: Höll, Ottmar (Hg.): Österreich - Jugoslawien: Determinanten und Perspektiven ihrer Beziehung, Wien: Braumüller 1988 (Forschungsberichte / Österreichisches Institut für Internationale Politik 10), 33-70, 38. 159 Unter dem ‚ersten Jugoslawien‘ wird das Königreich Jugoslawien, 1918 als Königreich der Serb/ innen, Kroat/ innen und Slowen/ innen gegründet und 1929 offiziell umbenannt in ,Königreich Jugoslawien‘, verstanden; unter dem ‚zweiten Jugoslawien‘ ist die Föderative Volksrepublik Jugoslawien (1945-1963) bzw., ab der Umbenennung 1963, die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien (bis 1992) gemeint. <?page no="67"?> 1.3 Multiple Kontextualisierung 67 ter Stelle österreichischer Feindbild-Projektionen - genügend geschichtliches Spielmaterial für nationalistische Ressentiments und irredentistische Gelüste, die allerdings im politischen Handeln des Kleinstaats Österreich vorerst nicht umgesetzt werden konnten.“ 160 Als Erbe der österreichisch-ungarischen Monarchie ist außerdem, auf einer unterschwelligeren Ebene, eine Art „,Oben- Unten-Schema‘“ anzusetzen, ein „hinlänglich verbreitetes, aber völlig unbegründetes Überlegenheitsdenken, das einer Phase des österreichischungarischen ,Binnenimperialismus‘ entstammt, […] bis in die Gegenwart der Zweiten Republik wirksam [ist].“ 161 Um diese diffuse Kategorie wissenschaftlich fassen zu können, wird sie von Csarmann und Heinrich, denen ich diese Ausführungen entnehme, als „Asymmetrie der Beziehungen“ 162 bezeichnet: deren negative Implikationen beruhen schließlich (in der Zeit des Kalten Krieges) auch auf realen Differenzen, wie beispielsweise in der wirtschaftlichen Entwicklung. Am 12. November 1918 wurde mit der Proklamation der Provisorischen Nationalversammlung, damals der ,Republik Deutsch-Österreich‘, Österreich in seiner in etwa heutigen Form errichtet; nur kurze Zeit später, am 1. Dezember 1918, wurde das ,Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen‘ ausgerufen. Im September 1919 erfolgte im Friedensvertrag von St. Germain die Umänderung des Namens ,Republik Deutsch-Österreich‘ in ,Republik Österreich‘. Erst am 10. Oktober 1920 wurde durch eine Volksabstimmung im südlichen Teil Kärntens der genaue Grenzverlauf zwischen den beiden Staaten festgelegt. Und erst als Teil des Großdeutschen Reichs ergab sich also für Österreich die Möglichkeit, alte Rechnungen zu begleichen. Mit der Einschätzung, dass die rasseideologischen Zielsetzungen des Nationalsozialismus auf den traditionell anti-serbischen Stereotypen aufbauten konnten, geht man gewiss nicht fehl. Stichwort Nationalsozialismus: Der Überfall Jugoslawiens erfolgte ohne Kriegserklärung am 6. April 1941; die durch keinerlei Luftabwehr geschützte Hauptstadt Belgrad wurde unter dem österreichischen Oberbefehlshaber General Alexander Löhr von 611 Kampf- und Jagdflugzeugen angegriffen. 440 Tonnen Brand- und Splitterbomben verwüsteten weite Teile der Stadt.163 Speziell wegen seiner Erzvorkommen und Agrarprodukte war Serbien für die deutsche Rüstungsproduktion und Lebensmittelversorgung von 160 Manoschek, Walter: Partisanenkrieg und Genozid, in: ders. (Hg.): Die Wehrmacht im Rassenkrieg. Der Vernichtungskrieg hinter der Front, Wien: Picus 1996, 142-167, 144. 161 Csarmann/ Heinrich (1988: 24). 162 Ebenda, 25. 163 Manoschek, Walter: „Serbien ist judenfrei“. Militärische Besatzungspolitik und Judenvernichtung in Serbien 1941/ 1942. 2. Aufl., München: R. Oldenbourg 1995 (Beiträge zur Militärgeschichte 38), 18f. <?page no="68"?> 1. Forschungsproblematik 68 Bedeutung, die Zerschlagung Jugoslawiens diente außerdem der Freilegung von Transportwegen (z. B. für rumänisches Erdöl auf der Donau). 164 Im Zuge der sodann erfolgten militärischen Besetzung und der politischen Verwaltung der eroberten Gebiete kam ein überproportional hoher Anteil von Österreichern zum Einsatz, hatten doch viele von ihnen bereits im Ersten Weltkrieg einschlägige Erfahrungen auf dem Balkan gesammelt. Ausdrücklich verweist Manoschek darauf, dass Hitler ausschließlich den Österreichern ,Balkan-Kompetenz‘ zugetraut hätte. 165 Doch nicht nur in der Wehrmacht waren diese deutlich überrepräsentiert; auch die anderen Spitzenpositionen (SS, Polizei) waren vorwiegend an Österreicher vergeben. Ein ehemaliger NS- Akteur, Hermann Neubacher, vermutet, dass der altösterreichische antiserbische Komplex auch die Entscheidung Hitlers, Jugoslawien zu zerstören und eine deutsche Militärverwaltung einzurichten, mitbestimmt habe. 166 Wie Manoschek in seiner Pionierarbeit über Serbien aufgezeigt hat, ging die Militärbesatzung mit Judenvernichtung und Kriegsverbrechen der Wehrmacht einher: ein ideologischer Vernichtungskrieg. Unter dem Vorwand von Sühnemaßnahmen für Partisanenüberfälle wurden in Serbien alleine im Herbst 1941 zwischen 25.000 und 30.000 Zivilist/ innen ermordet, darunter mehr als 6.000 erwachsene männliche Juden und Roma. 167 Schon im Oktober 1940, so Barbara Wiesinger in ihrer Studie über Partisaninnen, 168 hatte die Kommunistische Partei Jugoslawiens (KPJ), seit Beginn der 1920er Jahre illegal, den Parteiapparat im Untergrund aufzubauen begonnen. Im Aprilkrieg 1941 meldeten sich weibliche KPJ-Mitglieder zur Sanität, männliche zum Dienst an der Waffe. Angesichts der Kapitulation Jugoslawiens beschloss das Zentralkomitee der KJP, die revolutionäre Stimmung der Bevölkerung in eine Widerstandsbewegung zu überführen. „Ihre Ziele gab die Volksbewegungsbefreiung im August 1941 bekannt: Vereinigung aller patriotischen Kräfte im Kampf gegen Okkupanten und Kollaborateure, Durchführung von Sabotageakten und Attentaten sowie Aufstellen von Kampfverbänden, Schutz der Bevölkerung und deren Eigentums vor dem Zugriff der Besatzer und Kollaborateure.“ 169 164 Ebenda, 28. 165 Ebenda, 21. 166 Neubacher, Hermann: Sonderauftrag Südost 1940-1945. Bericht eines fliegenden Diplomaten. 2., durchges. Aufl., Göttingen u.a. 1957, 147, zit. n. Manoschek (1995: 27). Neubacher war von August 1943 bis Kriegsende ,Sonderbevollmächtigter des Auswärtigen Amtes für den Südosten‘. 167 Manoschek (1995: 12). 168 Ihre Ausführungen übernehme ich in der Folge, vgl. Wiesinger, Barbara N.: Partisaninnen. Widerstand in Jugoslawien 1941-1945, Wien u.a.: Böhlau 2008 (L'Homme 17), 28 ff. 169 Ebenda, 29. Wiesinger beruft sich auf ein Bulletin-Dokument der Volksbefreiungsbewegung vom 10.8.1941. <?page no="69"?> 1.3 Multiple Kontextualisierung 69 Die kommunistischen Partisan/ innen unter der Führung von Josip Broz Tito bildeten die erste bewaffnete Widerstandsorganisation in den vom Dritten Reich überfallenen Ländern in Europa. Zu einem Zeitpunkt, als sie noch unbesiegbar schien, versetzte ihr Widerstand der Militärmaschinerie Nazideutschlands einen Schlag; schlussendlich gelang den Partisan/ innen selbst die Entmachtung des Okkupations- und Kollaborationsregimes in Jugoslawien: Mittlerweile in Jugoslawische Armee umbenannt, befreiten die Widerstandskämpfer/ innen gemeinsam mit der Roten Armee Belgrad (20. Oktober 1944), Sarajevo (6. April 1945) und Zagreb (8. Mai 1945). Die letzten Truppenreste der österreichischen und deutschen Besatzer ergaben sich am 15. Mai 1945. Dass dieser erfolgreiche Kampf gegen die Wehrmacht das Potential für ein ganzes Meer von Mythen und identitätsstiftenden Narrativen birgt und ein eigenes Genre (Partisanenfilme und -romane ) ins Leben gerufen hat, nimmt nicht weiter wunder. Für eine eingehendere Betrachtung zu den jugoslawischen (Groß-)Erzählungen verweise ich auf die Dissertation von Emilija Mančić; 170 und belasse es hier bei dem Gedanken, dass das Narrativ vom jugoslawischen Befreiungskampf dem Kampf gegen die deutsch-österreichischen Truppen so einiges verdankte. Allein, so sehr es auch legitim erscheint, auf dieses Moment eines ,nachträglichen‘ Interdependenz-Verhältnis zu verweisen, so sehr sticht doch vor allem die folgende frappierende Differenz ins Auge: Mit den Österreicher/ innen und Deutschen konnten die Bürger/ innen des Zweiten Jugoslawien ihre Erfahrungen von Widerstand und der Revolution ganz gewiss nicht teilen. Sozialer Wandel wurde in den deutschsprachigen Ländern meist von oben verordnet. Schauplatz Zweites Jugoslawien: Mit dem antifaschistischen Krieg ging in Jugoslawien also eine soziale Revolution einher, die eine neue Ordnung, ein neues Herrschaftsmodell inthronisierte: den Sozialismus. Nach dem Wahlsieg von Titos kommunistischer Volksfront erfolgte im November 1945 die Proklamation der Föderativen Volksrepublik Jugoslawien. Ihre nach dem Vorbild der UdSSR gestaltete Verfassung erhielt sie im Jänner 1946. Im Juni 1948 jedoch erfolgte der Bruch mit Stalin - dann erst wurden auch die jugoslawischen Gebietsforderungen gegenüber Österreich hinfällig. Tatsächlich hatte die jugoslawische Führung, nicht zuletzt unter Berufung auf Österreichs aktive Rolle im Dritten Reich, die Abtretung eines 2.600 km² großen Gebiets, auf dem ca. 200.000 Menschen in Kärnten und der Steiermark lebten, gefordert. 171 Mit dem Bruch von Stalin positionierte Tito sein Land zwischen dem östlichen und westlichen Bündnis. Die fortdauernde Lebendigkeit des Partisa- 170 Vgl. Mančić, Emilija: Die Macht der Kultur und der Narrative. Zu (post-)jugoslawischen Identitätskonzepten und ihrem europäischen Kontext, Doktorarbeit: Universität Wien 2010. Die Arbeit erschien 2012 bei Francke, Tübingen: Umbruch und Identitätszerfall. Narrative Jugoslawiens im europäischen Kontext (Kultur - Herrschaft - Differenz 15). 171 Vgl. Csarmann/ Heinrich (1988: 40). <?page no="70"?> 1. Forschungsproblematik 70 nenkults, so Csarmann und Heinrich, speiste sich auch aus dieser Positionierung: „aus eigener Kraft im Widerstand gegen die UdSSR“. Nicht zuletzt das Modell der jugoslawischen Selbstverwaltung würde „die im siegreichen Partisanenkampf gewonne Stärke, einen gemeinsam gegen übermächtige Gegner errungenen Erfolg“ symbolisieren. 172 Mit dem Moment der ,Blockfreiheit‘ ist eine Gemeinsamkeit mit der Zweiten Republik aufgerufen: Sowohl Jugoslawien als auch Österreich bildeten gleichsam eine Pufferzone zwischen den beiden großen Verteidungsbündnissen NATO und Warschauer Pakt. Mit seiner besonderen Entwicklung, seinem so genannten dritten Weg zwischen kapitalistischer Marktwirtschaft und sozialistischer Planwirtschaft, übte Tito-Jugoslawien eine starke Anziehung auf das westliche Europa aus. Die politische Idealisierung Jugoslawiens als eines multikulturellen und nichtentfremdeten Landes, seines Sozialismus als eines - weil selbstverwalteten - ‚guten‘ spielte innerhalb der westdeutschen linken und linksliberalen Szene eine prominente Rolle. „Noch bis in die 80er Jahre“, so die Politikwissenschaftlerin Ulrike Ackermann, „dienten die DDR ebenso wie andere Staaten des Warschauer Paktes und besonders Jugoslawien als Projektionsfläche eines prophezeiten ‚Dritten Weges‘.“ 173 Diese Faszination, wie sie bereits in den 1960er Jahren auftrat und keineswegs lediglich ein Phänomen des deutschsprachigen Raumes darstellte, potenzierte sich in der linksintellektuellen Szene mit der Wirkungskraft der jugoslawischen Philosophengruppe PRAXIS, die einen undogmatischen, humanen Marxismus lebte und die binäre Trennung zwischen Theorie und Praxis ablehnte. Bei ihren jährlich zwischen 1964 und 1974 stattfindenden ‚Sommerschulen‘ auf der Insel Korčula waren u.a. auch Ernst Bloch, Ernst Fromm, Jürgen Habermas, Georg Lukács, Herbert Marcuse und Oscar Negt vertreten. 174 Die österreichische Verklärung des jugoslawischen Nachbarlandes hat Wolfgang Müller-Funk als „linke Variante der habsburgischen Nostalgie“ 175 erkannt. Müller-Funk spielt damit auf eine strukturelle Analogie zu jener „märchenhaften und sehnsüchtigen Verklärung der Welt der Donaumonarchie“ an, die bereits 1963 vom Germanisten Claudio Magris als „habsburgischer 172 Ebenda, 62. 173 Ackermann, Ulrike: Sündenfall der Intellektuellen. Ein deutsch-französischer Streit von 1945 bis heute, Stuttgart: Klett-Cotta 2000, 41. Vgl. außerdem: Ragossnig, Gudrun Elisabeth: „La guerre de Sarajevo a vraiment eu lieu.“ Die Reaktion der intellektuellen und moralischen Elite Frankreichs auf die Kriege in Jugoslawien zwischen 1991 und 1995, Diplomarbeit: Universität Graz 2006, sowie Requate/ Vollert (2002). 174 Vgl. Rütten, Ursula: Am Ende der Philosophie? Das gescheiterte „Modell Jugoslawien“ - Fragen an Intellektuelle im Umkreis der PRAXIS-Gruppe, Klagenfurt: Drava 1993 (Slowenisches Intitut zur Alpen-Adria-Forschung 31), 174. 175 Müller-Funk, Wolfgang: Perspektivische Blindheit, in: Der Standard v. 10./ 11.2.1996, 23. <?page no="71"?> 1.3 Multiple Kontextualisierung 71 Mythos“ 176 beschrieben - und zu einem gewissen Teil auch mitkonstituiert wurde. Das Moment der positiven Sinnstiftung kann für beide, den habsburgischen wie den jugoslawischen Mythos, in Anschlag gebracht werden. Letzterer, so Müller-Funk, enthalte ein narratives Material, das insbesondere von der österreichischen Linken nach 1968 aufgerufen würde: „[...] die grundsätzlich positive Sichtweise des Partisanenmythos, die Idee des neutralen ‚großen Jugoslawiens‘, der antifaschistische Gründungsmythos als volonté générale, damit verbunden die Analogie zwischen Tito und Kaiser Franz Josef als autoritären, aber doch versöhnlich gestimmten Renegaten eines multikulturellen Reiches, Jugoslawien als österreichischer Zwilling, als das andere Land, das märchenhafte-poetische Gegenüber, das ein Unbehagen am eigenen Österreichischen stillt.“ 177 Hier tritt eine projektive Dimension zutage; das Unbehagen am Eigenen wiederum, aber auch die durch den Anderen, durch die Jugoslawien-Krieg schonungslos herbeigeführte Enttäuschung gilt es für die Lektüre der literarischen Texte im Auge zu behalten. Als solche wäre sie die Erfahrung einer ganz bestimmten Generation - jener Autor/ innen nämlich, die im Nachkriegsösterreich bzw. -deutschland sozialisiert wurden: einer Generation, die das Faszinosum Jugoslawiens noch selbst erlebt, an ihrer Propagierung womöglich aktiv beteiligt war. Und wenngleich eine autobiographischpositivistische Lesart nicht das Anliegen der vorliegenden Arbeit darstellt, bildet doch ein Notat eines Vertreters der besagten Autor/ innen-Generation den Abschluss dieses Unterkapitels: der von Karl-Markus Gauß' 1997 vorgenommene ,Alphabet-Eintrag‘ zu ,Jugoslawien‘: Und es zeigte sich, daß die westliche Sehnsucht nach Jugoslawien wenig mit Jugoslawien, viel mit einer Sehnsucht zu tun hatte, die marodierend unterwegs ist, irgendwo eine Weltreligion zu finden, die nicht von der Religion des Geldes missioniert wurde und in der das Leben noch anderen Idealen als jenen des Profits zustrebt; ein Land, in der jene für ihre gekränkte Seele linke Heilung erfahren, die an den Segnungen des Kapitalismus leiden und den sie daher anderen gerne erspart wissen möchten. Ein solches Gemütsdepot für zivilisationsmüde Westeuropäer, die Urlaub von den Verhältnissen suchen, die sie bei sich zu Hause selber erschaffen, ist Jugoslawien, ist die Halluzination eines Jugoslawiens gewesen, das sich der kommunistischen Vormacht ebensowenig beugt wie der kapitalistischen Internationale. Geliebt und verklärt 176 Magris, Claudio: Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur, Wien: Zsolnay 2000, 22. 177 Müller-Funk (2009a: 348). Vgl. zu den Ähnlichkeiten des habsburgischen Vielvölkerreiches und des jugoslawischen Vielvölkerstaates außerdem: Magris, Claudio: Donau. Biographie eines Flusses. A. d. Ital. v. Heinz-Georg Held, München: dtv 2007, 392. Auch Bruno Kreisky kommt im zweiten Teil seiner Memoiren auf S. 205 auf die Verbindungslinie der beiden zu sprechen: „Jugoslawien ist ein Erbgut der österreichischungarischen Monarchie im doppelten Sinn“ (Kreisky, Bruno: Im Strom der Politik. Der Memoiren zweiter Teil, Wien: Kremayr & Scheriau 1988). <?page no="72"?> 1. Forschungsproblematik 72 wurde dieses Jugoslawien, dessen Reich nicht ganz von unserer Welt war, inbrünstig von denen, die im Westen über der Kälte des eigenen Wohlstands, über der Banalität der von ihnen eifrig in Betrieb gehaltenen Profitwirtschaft schier verzweifeln mochten. 178 1.3.2 Synchrone Ebene: ,Bezugsfelder der Auslegung‘ Die Auflösung Jugoslawiens setzte zu einem Zeitpunkt ein, als sich mit dem Systemwechsel von 1989 auch das restliche Europa in einer Phase des Umbruches befand: Betrachtet man die Ereignisse des Kontinents ab 1989 unter synchroner gesamteuropäischer Perspektive, so eröffnen sich verschiedene Momente der Wechselwirkung und Rückkoppelung: Nicht nur für das föderale sozialistische Jugoslawien, das mit der Auflösung des Kommunismus bzw. der Sowjetunion den letzten wichtigen (äußeren) politischen Grund für die Weiterexistenz verloren hatte, 179 nicht nur für sämtliche osteuropäischen Länder hieß es, sich neu zu definieren, eine neue Perspektive zu gewinnen. Der Verlust der Systemkonkurrenz zwang auch das westliche Europa zu einer Neu-Positionierung. So kann die im Februar 1992 in Maastricht erfolgte und im Jahr zuvor - im Jahr des Kriegsausbruchs im ehemaligen Jugoslawien - intensiv und medienwirksam vorbereitete Unterzeichnung des Vertrags über die Europäische Union, der seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft bisher größte Schritt Richtung europäische Integration, als Reaktion auf den Fall des Eisernen Vorhangs und die Wiedervereinigung Deutschland betrachtet werden. Für Osteuropa musste er, so die Einschätzung Norbert Mappes-Niedieks, wie ein Magnet wirken - jedoch: „Über die möglichen Rückwirkungen des historischen Gipfeltreffens machte sich 1991 im Westen des Kontinents niemand Gedanken.“ 180 Wie sehr die Geschichte Jugoslawiens bzw. seiner Teilrepubliken auch eine ,ganz andere‘ Entwicklung hätte nehmen können, wird beim Lesen eines Beginn 1990 veröffentlichten Aufsatzes von Tony Judt auf verstörende Weise deutlich, wenn er da wie folgt fragt: „When the European Community expands still further, as it surely must, whom will it include? Austria and Yugoslavia? “ 181 178 Gauß, Karl-Markus: Jugoslawien, in: Das europäische Alphabet. Wien: Zsolnay 1997, 87-98, 93. 179 Vgl. Melčić, Dunja: Rückblick auf den Krieg im Lichte neuerer Veröffentlichungen und manche offene Fragen, in: dies. (2007: 517-549, 519). 180 Mappes-Niediek, Norbert: Die Ethno-Falle. Der Balkan-Konflikt und was Europa daraus lernen kann, Berlin: Ch. Links 2005, 20. Mappes-Niediek macht dabei auf S. 22 klar, dass die Einigung Europas als ‚äußerer Faktor‘ nicht für den Zerfall Jugoslawiens als entscheidender Hauptfaktor verantwortlich war, sondern bezeichnet diesen vielmehr als „Sog, der bewirkte, dass die Föderation an einer Sollbruchstelle zerriss“. 181 Judt, Tony: The Rediscovery of Central Europe, in: Daedalus 119 (1990), H. 1, 23-54, 40. <?page no="73"?> 1.3 Multiple Kontextualisierung 73 Insbesondere im wiedervereinigten Deutschland, aber auch in Österreich, mit dem Verschwinden des Eisernen Vorhanges seiner besonderen Zwischenlage verlustig geworden, lassen sich seit Beginn der 1990er Jahre intensive Phasen der identitären Neukonstituierung und Prozeduren der Inklusion und Exklusion beobachten. 182 Den (quantitativen) Fokus der nun folgenen Ausführungen bildet meine Auseinandersetzung mit Deutschland; doch wenden wir uns zunächst Österreich zu. Vermutlich wäre, so Christoph Reinprecht, die Zweite Republik ohne die externen Faktoren der bipolaren Konstellation der Supermächte gar nicht denkbar gewesen. 183 Dass Österreich ein Land ist, in dem das Nationalgefühl und die allgemeine Akzeptanz des Begriffes ‚österreichische Nation‘ sehr spät und auch sehr forciert durchgesetzt wurden, darüber herrscht weitgehend Einigung. Lange Jahrzehnte war die selbstkritische und öffentliche Auseinandersetzung mit der Verfasstheit Österreichs nur ungern gesehen; tunlichst wurde, in einem rundum „antiintellektuellen Klima“, 184 die Aufarbeitung der braunen Vergangenheit umgangen. Jene Intellektuelle und Künstler/ innen, die sich nicht davon abhalten ließen, mussten, so moniert Robert Menasse, mit gerichtlicher Verfolgung oder Aufforderung zur Einweisung in die Psychiatrie rechnen. 185 Breitere Unternehmungen, die Identität Österreichs und seine Vergangenheit zu problematisieren, zeichnen sich erst ab der sogenannten Waldheim-Affäre, die ab März 1986 einsetzte, ab. Erstmals wurde eine bis dahin in Österreich kaum geführte offene und öffentliche Diskussion und Aufarbeitung der Rolle Österreichs in der Zeit des Nationalsozialismus und seines Opfermythos - Österreich als erstes Opfer des Nationalsozialismus - möglich gemacht. 186 Der 1985 als Bundespräsidentkandidat nominierte, von 1986-1982 auch amtierende Waldheim war just als Oberleutnant für Feind- 182 Obwohl ein Teil der hier behandelten deutschsprachigen literarischen Texte nach Beendigung des letzten ‚Jugoslawien-Krieges‘ verfasst wurde, finden die 00er Jahre des 21. Jahrhunderts nicht mehr systematisch, sondern nur punktuell Eingang in meine kontextuellen Ausführungen. Die Fokussierung auf den deutschsprachigen Kontext im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts lässt sich mit dem zeitgleichen kriegerischen Zerfall Jugoslawiens argumentieren. 183 Vgl. Reinprecht, Christoph: Österreich und der Umbruch in Osteuropa, in: Sieder, Reinhard/ Steinert, Heinz/ Tálos, Emmerich (Hgg.): Österreich 1945-1995. Gesellschaft, Politik, Kultur, Wien: Verlag für Gesellschaftskritik 1995 (Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik 60), 341-353, 341. 184 Haslinger, Josef: Politik der Gefühle. Ein Essay über Österreich, Darmstadt: Luchterhand 1987, 138. 185 Vgl. Menasse, Robert: Das Land ohne Eigenschaften. Essay zur österreichischen Identität, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1995 (st 2487), 13. 186 Vgl. dazu Uhl, Heidemarie: Vom Opfermythos zur Mitverantwortungsthese. NS- Herrschaft, Krieg und Holocaust im „österreichischen Gedächtnis“, in: Gerbel, Christian (Hg.): Transformationen gesellschaftlicher Erinnerung. Studien zur „Gedächtnisgeschichte“ der Zweiten Republik, Wien: Turia + Kant 2005, 50-85, 73ff. <?page no="74"?> 1. Forschungsproblematik 74 aufklärung in Jugoslawien stationiert gewesen. Hatte bislang der Krieg gegen die Sowjetunion das Zentrum der Erinnerungen besetzt, so wurde mit Beginn der Causa Waldheim - und vor Ausbruch der kriegerischen Handlungen in Jugoslawien - die Region sowie erstmals die Rolle der Wehrmacht im Südosten Europas ins Blicklicht einer breiteren Öffentlichkeit gerückt. 187 Dass schrittweise ausgerechnet in diesen Jahren ab 1986 gleichfalls das langjährige Tabu einer österreichischen Mitgliedschaft beseitigt wurde, ist kein Zufall. Das Beitrittsansuchen vom Juli 1989 stellt das Resultat einer Entwicklung dar, die schließlich eine Neuinterpretation der österreichischen Identität mit sich brachte. Ohne den Begriff der ‚Identitätskrise‘ übermäßig strapazieren zu wollen, war angesichts der sodann vehement einsetzenden weltpolitischen Umwälzungen eine Diskussion über besagte Identität, über Österreichs Positionierung zwischen ‚Mitteleuropa‘, deutscher Wiedervereinigung und Europäischer Gemeinschaft virulent geworden. 188 Die im Februar 1993 eröffneten Verhandlungen über den EG-Beitritt mit intensiven öffentlichen Debatten um die österreichische Neutralität - Debatten, die durch den kriegerischen Zerfall Jugoslawiens ab 1991 bereits innenpolitisch heftige Kontroversen ausgelöst hatten 189 -, die Volksabstimmung vom 12. Juni 1994 und der Beitritt am 1.Jänner 1995 190 bilden nun jene Folie, vor deren Hintergrund die Rezeption der Kriege sowie der ersten literarischen Werke darüber einsetzte. Umgekehrt kann ebenso der kriegerische Zerfall Jugoslawiens als Folie bzw., besser, als jenes Bedrohungsszenario herangezogen werden, welches den österreichischen Bürger/ innen bei der Entscheidung ,helfen‘ sollte. Verschiedene empirische Erhebungen von Ruth Wodak, Karin Liebhart, Maria Kargl u.a. haben denn auch auf die Rolle verwiesen, die dem Kriegsszenario in den Medien und Werbekampagnen für den EU-Beitritt zukam: bei der gewünschten Abgrenzung gegen einen ,wilden Osten‘. 191 Als besonders ergiebig für die im Rahmen eines groß angelegten 187 Vgl. dazu Manoschek (1996: 142). 188 Vgl. dazu als aufschlussreiches Zeitzeugnis über die verschiedenen identitären Angebote, die sich für Österreich nach der politischen Wende von 1989 ergeben haben: Pelinka, Anton: Zur österreichischen Identität zwischen deutscher Vereinigung und Mitteleuropa, Wien: Ueberreuter 1990. 189 Vgl. Rathkolb, Oliver: Die paradoxe Republik. Österreich 1945 bis 2010. Gekürzte u. aktual. Taschenbuchausg., Wien u.a.: Haymon 2011, 226. 190 Vgl. dazu: Falkner, Gerda: Österreich und die Europäische Einigung, in: Sieder/ Steinert/ Tálos (1995: 331-339). Vgl. außerdem zu einer Chronologie der Ereignisse: Gehler, Michael: Der lange Weg nach Europa. Dokumente. Österreich von Paneuropa bis zum EU-Beitritt, Innsbruck u.a.: StudienVerlag 2002. 191 Vgl. dazu die Analyse einer Werbeinitiative der Gruppierung „Kärntner für Europa“ im Vorfeld des EU-Beitritts: Hofstätter, Klaus/ Liebhart, Karin/ Kargl, Maria: Das Selbstbild Österreichs im Kontext der europäischen Integration und der EU- Osterweiterung, in: Medien Impulse (Juni 98), 12-18. Vgl. außerdem Kapitel 5 („,Wo gehören wir dazu? ‘ - Österreichische Identifikationen im Umfeld des EU-Beitritts“), in: Wodak (1998: 258-281). <?page no="75"?> 1.3 Multiple Kontextualisierung 75 Forschunsprojektes realisierte Untersuchung Zur diskursiven Konstruktion der österreichischen Identität stellte sich für das Team um Ruth Wodak die Analyse der argumentativen Vermittlung zwischen EU-Beitritt und Neutralität - damals neben dem Staatsvertrag noch integrativer und identitätsbildender Bezugspunkt schlechthin - heraus. 192 Während Ende der 1980er Jahre in der offiziellen Argumentation Österreich für einen EU-Beitritt wirtschaftliche Argumente angeführt wurden, das Thema Neutralität dagegen ausgespart blieb, wurden in den 1990er Jahren - „insbesondere seit Beginn des Krieges in Ex-Jugoslawien“ 193 - sicherheitspolitische Erwägungen favorisiert. Europaweit führte der Kriegsausbruch im ehemaligen Jugoslawien zu einer Ernüchterung. Nicht nur von der deutschen Friedensbewegung gehegte Hoffnungen allgemeinen Friedens und einer dauerhaften europäischen Einheit platzten; ein Gefühl der Instabilität und die Angst vor ‚Überfremdung‘ löste bald die euphorische Stimmung des Jahres 1989 ab. Die Zweite Republik hatte sich als neutrales Asylland definiert; die Bereitschaft, große Flüchtlingswellen 1956 aus Ungarn und 1968 aus der Tschechoslowakei aufzunehmen, war von Westeuropa und den USA positiv registriert und als Signal für die ideologische Positionierung auf Seiten des Westens verstanden worden. 194 Mit Ende des Kalten Krieges begann das vormals noch identätsstiftende Selbstverständnis vom ‚Asylland Österreich‘ zu bröckeln. Die bereits mit der Ostöffnung geschürte Angst vor Flüchtlingsmassen, die angesichts des Krieges im ‚Nachbarland‘ zunahm, führte zu einem Anstieg fremdenfeindlicher Phänomene, welcher insbesondere von der FPÖ unter Jörg Haider aufgegriffen werden konnte - man denke an das im Oktober 1992 von der FPÖ initiierte Ausländer-Volksbegehren, das dieser zu enormer Aufmerksamkeit und Medienpräsenz verhalf. Dass schließlich 150.000 Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten aufgenommen wurden, kann als gelungene Revitalisierung der Rede vom ‚Asylland Österreich‘ verstanden werden. Um diese Aufnahmebereitschaft, wie Rathkolb es tut, tatsächlich auf den medialen und politischen Grundkonsens gegen das serbische Regime Miloševićs zurückführen zu können, bedürfte es meines Erachtens tieferer Analysen. Fest steht hingegen, dass es in der ersten Hälfte der 1990er Jahre lediglich unter Österreichs Linken nicht zur Verurteilung Serbiens, dafür vielmehr, wie auch in Deutschland, zu einer 192 Vgl. Bruckmüller, Ernst: Österreichbewußtsein im Wandel. Identität und Selbstverständnis in den 90er Jahren, Wien: Signum 1994 (Schriftenreihe des Zentrums für Angewandte Politikforschung 4), 18. 193 Wodak (1998: 286). 194 Vgl. Rathkolb (2011: 41), der auch konkrete Zahlen anführt: 200.000 Ungar/ innen, von denen knapp 30.000 in Österreich blieben; 160.000 Tschechoslowak/ innen, von denen bis 1970 nur 600 eingebürgert wurden. <?page no="76"?> 1. Forschungsproblematik 76 „reflexartig“ 195 anmutenden Assoziation Kroatiens mit der faschistischen Ustascha-Bewegung kam. Žižek dagegen stellt die supponierte Aufnahmebereitschaft der Österreicher/ innen in Abrede, wenn er die groß angelegte österreichische Spendenaktion „Nachbar in Not“, die 1992 ins Leben gerufen wurde, auf die dahinter stehende, wohl unbewusste Motivierung abklopft: „die dem Motto zugrundeliegende Logik war jedem klar: wir müssen zahlen, damit unser Nachbar ein Nachbar bleiben kann, in gehöriger Distanz, und nicht zu uns kommt.“ 196 Dass die Kriege im ehemaligen Jugoslawien und die Flüchtlingsthematik zu einer für das an konkordanzdemokratisches Denken gewöhnte Österreich ungewöhnlichen Polarisierung der politischen Öffentlichkeit und des politischen Diskurses: zum ,Ereignis‘ des besagten ‚anderen Österreichs‘ führte, ist dessen ungeachtet unbestritten. So nahmen 200.000 Menschen im Jänner 1993 an der Großdemonstration auf dem Wiener Heldenplatz teil: dem von der neu gegründeten, überparteilichen Plattform SOS-Mitmensch initiierten ‚Lichtermeer‘. Bereits 1988 schrieb der Historiker Gerhard Botz mit Blick auf die von der Waldheim-Affäre bewirkte Spaltung des Landes von diesem ‚anderen Österreich‘, und stellte es in eine geistige Tradition mit dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus. 197 Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch fand das Syntagma eines ‚anderen Österreichs‘ auch verstärkt im Zuge der breiten Widerstandsbewegung gegen die im Februar 2000 angelobte ÖVP-FPÖ-Regierung unter Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP). Nebenbei gesagt belegt auch der von Isolde Charim anlässlich ihrer Diagnose Österreichs bzw. „Quarantaniens“ unternommene Rekurs auf das serbische Pendant - „Haiders ,echtes Ö‘ zerstört das real existierende, indem es dieses zum ,anderen Österreich‘ macht - so wie es etwa das ,andere Serbien‘ gibt“ 198 - die Präsenz des jugoslawischen bzw., je nach Bedarf und Kontext, serbischen, kroatischen, slowenischen etc. Anderen als implizite Vergleichsfolie. Eine bereits angeführte diskursive Bezugsgröße für die gesellschaftspolitischen und diskursiven Entwicklungen im Österreich der 1990er Jahre stellt außerdem die Rede von ‚Mitteleuropa‘ dar, oder, mit Peter Handke, „die altväterische, aber mit der Zeit neu gewendete Sage von ‚Mitteleuropa‘“ (AT 14). Tatsächlich war in den 1980er Jahren, noch vor dem politischen Systemwechsel, die Diskussion um den Begriff ‚Mitteleuropa‘ von osteuropäischen Intel- 195 Fischer, Erica: Mein Kroatien, in: Bremer, Alida/ Hinzmann, Silvija/ Schruf, Dagmar (Hgg.): Mein Kroatien. 20 Liebeserklärungen an Kroatien, Berlin: List Taschenbuch Verlag, 35-47, 41. 196 Vgl. Žižek (1994a: 26). 197 Vgl. Breuss, Susanne/ Liebhart, Karin/ Pribersky, Andreas: Inszenierungen. Stichwörter zu Österreich. 2., durchges. Auflage, Wien: Edition Sonderzahl 1995, 55. 198 Charim, Isolde: Splitter der österreichischen Realität, in: dies./ Rabinovici, Doron (Hgg.): Österreich. Berichte aus Quarantanien, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2000 (edition suhrkamp 2184), 89-99, 98f. <?page no="77"?> 1.3 Multiple Kontextualisierung 77 lektuellen wie u.a. György Konrad und Milan Kundera auf kulturalistischer Grundlage erneut erweckt und die Zugehörigkeit der mitteleuropäischen Staaten zu Europa moniert worden. Obgleich als Zukunftsstrategie angelegt, baute ihr Verständnis vom Mitteleuropakonzept doch auf vergangenen Traditionen auf. Die, wie Andreas Pribersky ausführt, ab den 1970er Jahren einsetzende und mit der Erosion der Sowjetunion, der kriegerischen Auflösung Jugoslawiens und der Trennung von Tschechischer Republik und Slowakei verstärkt an Aktualität und utopischer Kraft gewinnende positive (Wieder-)Entdeckung der Donaumonarchie in Kultur- und Ideengeschichte wird gerade in der Mitteleuropa-Debatte manifest. 199 Unbehagen daran weckt nicht nur der dahinter zu vermutende Missionierungsgeist österreichischer Provenienz, sondern vielmehr die Beschwörung einer gemeinsamen Wertebasis, die in diesem Ausmaß gar nie existiert hat. Dass gerade in Jugoslawien eine der Trennlinien innerhalb der ‚mentalen Landkarte‘ Mitteleuropas verläuft, sollte an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben: Slowenien und Kroatien werden Mitteleuropa noch zugeschrieben, nicht aber Serbien, der Kosovo, Montenegro, Bosnien- Herzegowina, Mazedonien. Als Verweis auf die Gemeinsamkeiten in der kulturellen, zivilisatorischen und politischen Tradition verstanden, ermöglichte diese ,Wieder-holung‘ der Habsburger-Monarchie Österreich, sich der nicht ungelegenen Vorstellung hinzugeben, eine bedeutende strategische Position sowie Vorreiterrolle im ,neuen‘ ,alten Kontinent‘ einzunehmen. 200 Ganz gezielt wurde diese utopische Kraft der k.u.k. Doppelmonarchie aber auch in der diskursiven Auseinandersetzung um die Mitgliedschaft bei der Europäischen Union eingesetzt, hob Österreich unter Bezugnahme auf die habsburgische Geschichte doch seine Mittler-Rolle im neuen Europa hervor: ,Wir sind Europa‘, so lautete die Eigenwerbung der österreichischen Regierung in ihrer Kampagne vor der Volksabstimmung über die Mitgliedschaft bei der europäischen Union. „Interessanterweise“, so weiter Pribersky, „ging die Europäische Kommission in ihrer positiven Stellungnahme (dem sog. Avis) zum österreichischen Beitrittsansuchen der europäischen Identität des (damaligen) Beitrittswerbers ebenfalls nach und fand sie - in der kulturhistorischen und geopolitischen Bedeutung des Raumes der ehemaligen Habsburger-Monarchie“. 201 Wird nun aber die Donaumonarchie als Referenzrahmen für eine etwaige ,europäische Dimension‘ Österreichs ins Feld geführt, fällt die kommunisti- 199 Vgl. Pribersky, Andreas: Politische Mythen der k.u.k. Monarchie, in: Müller-Funk, Wolfgang/ Plener, Peter/ Ruthner, Clemens (Hgg.): Kakanien revisited. Das Eigene und das Fremde (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie, Tübingen: Francke 2002 (Kultur -Herrschaft - Differenz 1), 322-330. Vgl. zum Mitteleuropa-Begriff, seiner historischen Belastung und der bedeutsamen Rolle von Literatur bei der nationalen Orientierung John Neubauers Beitrag „Ist Mitteleuropa noch zu retten? Zur Geschichte und Aktualität des Begriffes“ im gleichen Sammelband auf S. 309-321. 200 Vgl. dazu auch Mätzler (1993: 34f.). 201 Vgl. Pribersky (2002: 327). <?page no="78"?> 1. Forschungsproblematik 78 sche Ära der österreichischen Nachbarländer, aber auch der österreichischen Antikommunismus schlichtweg der Vergessenheit anheim. Identitätsbildende Kraft hatte dieser Antikommunismus nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges insofern, als mit der Abgrenzung vom kommunistischen System der, wie Rathkolb schreibt, „Glauben an die Kleinstaatlichkeit“ 202 gestärkt werden konnte. Als er nach 1991 seines ersten Feindbildes, Moskau, verlustig gegangen war, konzentrierten sich die in Österreich vorherrschenden antikommunistischen Regungen und Bestrebungen auf Belgrad - einem gleichsam historisch gewachsenen Lieblingsfeind: „Was immer Erwin Ringel über die österreichische Seele befinden mochte“, so der Bühnenbildner Max Carmesini, Reflektorfigur in Paul Blahas zwischen Sommer 1990 und Winter 1991, zwischen Wien und Ljubljana spielendem Roman Die Hinterbliebenen, „blieb unvollkommen ohne den Befund, daß ihr die Serben gründlich zuwider waren.“ 203 Wenden wir uns nun dem wiedervereinigten Deutschland zu: In einem noch intensiveren Ausmaß als Österreich befand sich Deutschland in den 1990er Jahren in einem Prozess der (identitären) Transformation, welcher den Blick auf das Andere - das auseinanderbrechende Jugoslawien - strukturierte. Anders aber als das Nicht-NATO-Mitglied Österreich beteiligte sich die deutsche Bundeswehr 1999 an den Luftangriffen auf Ziele in Serbien: eine Absage an ein Basisnarrativ Nachkriegsdeutschlands, die den Transformationsprozess der ,Berliner Republik‘ als einer ,Nation mit Selbstbewusstsein‘ belegt. Gerade die Debatten um den kriegerischen Zerfall Jugoslawiens machen diesen gesellschaftspolitischen und diskursiven Wandel im ersten Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung deutlich. In der deutschen Nachkriegsgesellschaft hatte die Auseinandersetzung mit dem Thema der Nation im öffentlichen politischen Diskurs noch kaum eine Rolle gespielt, sondern war angesichts der nationalsozialistischen Vergangenheit vielmehr mit einem Tabu belegt. Deren institutionell verankerte Aufarbeitung konstituierte das Selbstverständnis von Linken wie Rechten; 204 die Frage, wie mit dem Impuls, aus der Geschichte zu lernen, umzugehen sei, beschäftigte die ‚alte‘ Bundesrepublik seit den 1970er Jahren. Diese Beschäftigung mit der eigenen Geschichte ist mittlerweile selbst Geschichte geworden: seit 1989, so monierte Jürgen Habermas schon 1994, würde sie zunehmend als Fluch empfunden werden, seit 1989 bringe sie „den Elitennationalismus 202 Rathkolb (2011: 25). 203 Blaha, Paul: Die Hinterbliebenen. Roman, Innsbruck: Haymon 1994, 144. 204 Vgl. Jarausch, Konrad H.: Normalisierung oder Re-Nationalisierung? Zur Umdeutung der deutschen Vergangenheit, in: Geschichte und Gesellschaft 21 (1995), H. 4, 571- 584, 571. <?page no="79"?> 1.3 Multiple Kontextualisierung 79 des neuen Deutschlands […] erst recht in Schwung.“ 205 In politikwissenschaftlichen Untersuchungen werden die Entwicklungen, die die Bundesrepublik mit der Wiedervereinigung durchlaufen hat, als ‚Normalisierung‘ oder ‚normalization‘ bezeichnet. 206 Als Analysekategorie scheint mir ‚Normalisierung‘ nur bedingt tauglich, handelt es sich dabei doch auch um ein Staatsziel aus der Eigenperspektive. Der Begriff, der nicht frei von wertenden Konnotationen ist, hat sowohl in außenals auch in erinnerungspolitischer Hinsicht Anwendung gefunden. Im außenpolitischen Diskurs verweist insbesondere die Vokabel ‚Normalität‘ auf eine lange Tradition. Die Exzesse des Nationalsozialismus und die deutsche Teilung stellten seit Kriegsende die ‚anormalen‘ Parameter der außenpolitischen Identität dar, der über Parteigrenzen hinaus folgenden Konsens schaffte: „Die Bundesrepublik müsse sich militärisch zurückhalten, ein verlässlicher Bündnispartner sein und die deutsche Einheit als oberstes Ziel verfolgen.“ 207 Insbesondere die besondere außenpolitische Zurückhaltungspflicht, die öffentliche Ächtung kriegerischer Interventionen als Mittel der Politik können mithin, für die BRD wie auch für die DDR, als konstitutiv und identitätsstiftend für die Basiserzählung der deutschen Geschichte nach 1945 begriffen werden. 208 Nachdem bereits mit dem Zweiten Golfkrieg im Jänner 1991 erste Risse im antimilitaristischen Konsens auftauchten und die CDU/ CSU im Juni 1991 eine Änderung des Grundgesetzes anstrebte, um zukünftige out of area- 205 Habermas, Jürgen: Aus der Geschichte lernen? , in: ders.: Die Normalität einer Berliner Republik. Kleine Politische Schriften VIII, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1995 (edition suhrkamp 1967), 9-18, 9. 206 Vgl. dazu z. B.: Baumann, Rainer/ Hellmann, Günther: Germany and the use of military force: ‚total war‘, the ‚culture of restraint‘ and the quest for normality, in: German Politics 10 (2001), H. 1, 61-82; Taberner, Stuart/ Cooke, Paul (Hgg.): German Culture, Politics, and Literature into the Twenty-First Century. Beyound Normalization, Rochester, NY, u.a.: Camden House 2006 (Studies in German literature, linguistics, and culture). 207 So Sebastian Keller, Johann Schewe und Christian Weber in ihrem Eintrag zu ‚Normalität‘, in: Hellmann, Guntner/ Weber, Christian/ Sauer, Frank (Hgg.): Die Semantik der neuen deutschen Außenpolitik. Eine Analyse des außenpolitischen Vokabulars seit Mitte der 1980er Jahre, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2008, 126-134, 126f. Vgl. außerdem Hellmann, Gunther/ Weber, Christian/ Sauer, Frank/ Schirmbeck, Sonja: „Selbstbewusst“ und „stolz“. Das außenpolitische Vokabular der Berliner Republik als Fährte einer Neuorientierung, in: Politische Vierteljahresschrift 48 (2007), H. 4, 650-679; sowie kritisch zum Normalitätsparadigma Hawel, Marcel: Die normalisierte Nation? Verdinglichte Vergangenheitspolitik und interventionistische Außenpolitik, in: UTOPIE kreativ 216 (Oktober 2008), 905-914. 208 Vgl. Knobloch (2005: 402), dessen Argumentation ich über weite Strecken übernehme. <?page no="80"?> 1. Forschungsproblematik 80 Einsätze der deutschen Bundeswehl zu erlauben, 209 markierten die Bundestagsdiskussionen im Juni 1995 über einen Einsatz deutscher Tornado- Kampfflugzeuge in Jugoslawien eine wichtige Station im Umbau dieser deutschen Basiserzählung. SPD und Grüne verwiesen hierbei noch auf die Eskalationsgefahr, die mit dem Eingreifen deutscher Kampfflugzeuge in Jugoslawien nach den Untaten von SS und Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg gegeben sei. Deutlich wurde aber schon erkennbar, dass die Nicht-Teilnahme Deutschlands moralisch begründungspflichtig geworden war - nicht länger die Teilnahme. 210 Bereits damals wurde von manchem Akteur oder mancher Beobachterin erkannt, dass der geschichtspolitische Diskurs auch als Fassade fungierte und die Debatten um eine militärische Intervention im Bosnien- Krieg innenpolitischen Prämissen unterlag. Gregor Gysi, damaliger Vorsitzender der Bundestagsgruppe der PDS, beanstandete in der Bundestagsdiskussion vom 30. Juni 1995: „[I]n der heutigen Debatte geht es in Wirklichkeit gar nicht um das ehemalige Jugoslawien, sondern es geht um Deutschland. Es geht um Deutschlands Außen- und Militärpolitik, und es geht um eine veränderte Rolle Deutschland. Es geht um eine Zäsur in der Geschichte dieses Landes.“ 211 Ergänzend muss dazu festgehalten werden, dass die PDS bei der Diskussion um einen Einsatz deutscher Kampfflugzeuge in Jugoslawien wie auch 1999 während des Kosovo-Krieges als einzige Partei Deutschlands am Basisnarrativ der militärischen Zurückhaltungspflicht festhielt. Die Argumentation gegen die Militarisierung der deutschen Außenpolitik wird indes dann prekär, wenn, wie häufig im Kontext von Anti-Militarisierungsdiskursen, auf das narrative Repertoire von Verschwörungstheorien zurückgegriffen wird. In der im Juli 1995 - nur kurze Zeit nach der Bundestagsdiskussion - unter der Führung von Ratko Mladić erfolgten Einnahme und dem Massaker in der UN-Schutzzone Srebrenica erkennt der deutsche Sprachwissenschaftler Cle- 209 Auch die SPD sprach sich bereits im Juni 1991 für die Auslandseinsätze der Bundeswehr aus, solange diese im Rahmen der UNO stattfinden würden, und argumentierte bereits mit dem Argument der außerpolitischen Normalität. Vgl. Hellmann/ Weber/ Sauer (2008: 208). Vgl. zur Chronologie der verschiedenen Auslandseinsätzen der Bundeswehr Bastian, Till: Deutsche Truppen in alle Welt? , in: Blätter für deutsche und internationale Politik (1993), H. 4, 416-424. 210 Vgl. dazu Knobloch (2005: 408). Noch wenige Monate zuvor konnte Ulrike Ackermann in ihrem Vergleich über die „Projektionsfläche Bosnien“ des deutschen und französischen Intellektuellenspektrums konstatieren, dass im Gegensatz zu den französischen Intellektuellen „auf deutscher Seite der Bezug auf die Singularität von Auschwitz zumeist der entscheidende Einwand gegen eine Intervention in Bosnien“ sei. [Ackermann, Ulrike: Der Umgang mit dem Totalitären. Projektionsfläche Bosnien: ein deutschfranzösischer Intellektuellenstreit, in: Mittelweg 36 (1995), H. 3, 32-48, 44, Hervorh. D.F.] 211 Gysi, Gregar, Plenarprotokoll v. 30.6.1995, zit. n. Schwab-Trapp, Michael: Kriegsdiskurse. Die politische Kultur des Krieges im Wandel 1991-1999, Opladen: Leske + Budrich 2002, 426. <?page no="81"?> 1.3 Multiple Kontextualisierung 81 mens Knobloch ein „diskursivs Schlüsselereignis“, welches die weitere Wahrnehmung der drei Kriegsparteien im öffentlichen Diskurs maßgeblich festgelegt, die pazifistische Fraktion innerhalb der Grünen in den Hintergrund gedrängt und jenen Topoi, die später von der rot-grünen Regierung während des Kosovo-Krieges eingesetzt wurden, den Weg gebahnt habe. 212 Im Akt der Symbolisierung politischer Entscheidungen griffen die verschiedenen diskursiven Akteur/ innen Deutschlands (,intellektuelle Stichwortgeber/ innen‘, Partei- und Regierungspolitiker/ innen sowie die Leitmedien) bereits während des Krieges in Bosnien-Herzegowina, zunehmend jedoch anlässlich der Krise im Kosovo verstärkt auf Metaphern und Metonymien zurück, welche den Zweiten Weltkrieg und die Shoa aufriefen und die Ereignisse in der damaligen Bundesrepublik Jugoslawien zwangsläufig als Postfiguration des Nationalsozialismus erschienen ließen. 213 Dass von verschiedenen Beobachter/ innen das Bombardieren Rest-Jugoslawiens gleichsam als Bekämpfung der deutschen Wehrmacht von 1941, als Befreiung vom Schatten des Nationalsozialismus gelesen wurde, nimmt so nicht weiter wunder. Mark Terkessidis' Einschätzung lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Der Kosovo-Krieg dient allen Kriegsparteien zur symbolischen Intergration ihrer implodierenden Gesellschaften und zur Definition des besseren Eigenen. […] Man entsorgt den eigenen Nationalismus und Rassismus durch „Externalisierung“ - durch die Projektion auf den Balkan. Dort bekämpft man im Namen der „Zivilisation“ stellvertretend die eigenen Übel - selbst noch die historischen: In Belgrad kulminieren ja angeblich nationale Aggression, Gaskammer und „Feindbild Islam“. 214 Der im Zuge der Kosovo-Krise im deutschsprachigen mediopolitischen Diskurs verstärkt einsetzende Rekurs auf den Signifikanten ‚Auschwitz‘ ist insofern problematisch, als dieser als Teil einer syntagmatischen Verkettung von Holocaust/ Shoah, Konzentrationslager, Endlösung und anderen die vorausei- 212 Ebenda, 410. Tatsächlich hatten die Ereignisse in Bosnien sowie insbesondere Joschka Fischers offener, zur Modifizierung bisheriger friedenspolitischer Motive auffordernder Brief vom 30. Juli 1995 eine innerparteiliche Debatte eröffnet bzw., in den Augen manches Basismitglieds, die Glaubwürdigkeit der Grünen als ursprünglich pazifistischer Partei nachhaltig diskreditiert (vgl. Fischer, Joschka: Die Katasthrophe in Bosnien und die Konsequenzen für unsere Partei Bündnis 90/ Die Grünen. Ein Brief an die Bundestagsfraktion und an die Partei, online abrufbar unter: http: / / www.oekonet.de/ kommune/ briefe/ kom202.htm, 31.1.2013). Der von Fischer initiierte innerparteiliche Positionswandel gewinnt mit dem Wissen um die 1998 einsetzende Regierungsbeteiligung der Grünen besondere Bedeutsamkeit. 213 Vgl. dazu Jakob, Günther: Die Metaphern des Holocaust während des Kosovokriegs, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhundert 14 (2000), H. 1, 160-183. 214 Terkessidis, Mark: Selbstbilder, in: Der Freitag v. 4.6.1999, online abrufbar unter: http: / / www.freitag.de/ politik/ 9923-selbstbilder, 31.1.2013. Vgl. dazu auch Schirrmacher, Frank: Luftkampf, in: ders. (1999: 117-120). <?page no="82"?> 1. Forschungsproblematik 82 lende Schlussfolgerung, dass zur Vermeidung des Krieges alle Mittel erlaubt sind, immer schon mitliefert: eine „politische Pathos-Formel, die alle weiteren Erwägungen aushebelt.“ 215 Einer der meist zitierten Rückgriffe auf ‚Auschwitz‘, der die Ressourcenfunktion von geschichtspolitischen Diskursen vorführt, ist die von Joschka Fischer am 7. April 1999 ausgegebene Begründung der Notwendigkeit einer Intervention, der Bombardierung Serbiens: Im Rahmen einer Pressekonferenz hatte der damalige Außenminister Deutschlands folgenden Ausspruch getätigt: „Ich habe nicht nur ‚Nie wieder Krieg‘ gelernt, sondern auch ‚Nie wieder Auschwitz‘.“ 216 Auch dass der damalige SPD-Verteidigungsminister Rudolf Scharping mit uniformierten Bundeswehrsoldaten kurz vor ihrem Einsatz Auschwitz besuchte, ist hinlänglich bekannt. 217 Dieser Einsatz im Kosovo-Krieg markiert eine historische Zäsur ersten Ranges, auch und gerade, wie später gezeigt wird, im ‚nationalen narrativen Haushalt‘. Nur wenige Jahre zuvor kaum denkbar, nahm schließlich, im Rahmen der ‚Operation Allied Force‘, die Bundeswehr mit der Luftwaffe zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik am völkerrechtlich und verfassungsmäßig umstrittenen Kosovo-Krieg teil, und dies unter einer rotgrünen Regierung. Nicht zuletzt aufgrund des fehlenden UN-Mandats war der NATO-Einsatz weltweit äußerst intensiv und kontrovers diskutiert worden, hatte er doch unterschiedlichste Frontlinien und Schnittmengen von Befürworter/ innen und Gegner/ innen einer Intervention sowie einer deutschen Beteiligung quer durch die politischen Lager geschaffen. Die Intensität, Spannbreite und Internationalität der in Deutschland insbesondere im Feuilleton geführten Debatte um den NATO-Einsatz sowie um dessen Legitimation als ‚Menschenrechtskrieg‘, welche von Ulrich Beck und sodann von Noam Chomsky als ‚neuer militärischer Humanismus‘ gegeißelt wurde, 218 vermag mit dem Wissen um die nachfolgenden weltpolitischen Ereignisse und die monokausalen rhetorischen Ressourcen („Terrorismus! “) späterer Kriegslegi- 215 Schöning, Matthias: Verbohrte Denkanstöße? Peter Handkes Jugoslawienengagement und die Ethik der Intervenion. Ein Ordnungsversuch, in: Beganović/ Braun (2007: 307- 330, 330). 216 Fischer, Joschka: Die rot-grünen Jahre. Deutsche Außenpolitik - vom Kosovo bis zum 11. September, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2007, 185. Vgl. zur „grassierende[n] Instrumentalisierung der Shoa zu fremdbestimmten Zwecken“ den Artikel von Zuckermann, Moshe: „Auschwitz“ im Kosovo? Wie man aus dem eigenen Versagen eine Tugend macht, in: Die Weltwoche v. 29.4.1999, Extra, 50, online abrufbar unter: http: / / www.infopartisan.net/ archive/ kosovo/ ko21699.html, 31.1.2013. 217 Vgl. zu der Komplexität der Ereignisse, die im öffentlichen Reden oft auf eine Entweder-Oder-Logik zurechtgebogen wurde, tatsächlich diese aber aufsprengt: Emcke, Carolin: Kosovo 1 (Juli 1999), in: dies. Von den Kriegen. Briefe an Freunde, Frankfurt/ Main: Fischer 2004, 15-49, 36. 218 Vgl. Chomsky, Noam: Der Neue Militärische Humanismus. Lektionen aus dem Kosovo. A. d. amerikan. Engl. übers. v. Michael Schiffmann, Zürich: edition 8 2001 2 . Auf S. 10 bezieht sich Chomsky auf Ulrich Beck und dessen Wortprägung des „‚neuen militärischen Humanismus‘ der NATO“. <?page no="83"?> 1.3 Multiple Kontextualisierung 83 timationen fast wehmütig zu stimmen. „Die“, so denn auch Knobloch in seinem Fazit, „,Menschensrechtskriege‘ der neunziger Jahre mit ihrer ausufernden Selbstermächtigung durch Hochwertbegriffe sind deutlich transitorisch.“ 219 Was nun den Bereich der Erinnerungskultur in der Berliner Republik angeht, so steht außer Frage, dass wir es gleichfalls mit einem tiefgreifenden Wandel ebendieser sowie der Deutungsstrategien der Vergangenheit zu tun haben. Erneut möchte ich in Zweifel ziehen, ob hierbei der Begriff der ‚Normalisierung‘ angebracht ist. Unbestritten scheint mir, dass die ‚Fixierung‘ der Nachkriegsdeutschen auf Nationalsozialismus, Shoa und ihre Rolle als Täter/ innen, die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit unter dem Vorzeichen der Schuldfrage die einzig angemessene und in diesem Sinne ‚normale‘ Haltung darstellte. Unbestritten erscheint mir weiters, dass die geopolitischen Veränderungen zum einen, der generationelle Abstand und das absehbare Ende des Erfahrungsgedächtnisses von Überlebenden und Zeitzeug/ innen der Shoa zum anderen, ihren Niederschlag in der deutschen Erinnerungskultur finden mussten. Dieser Niederschlag äußert sich in der Einebnung der Differenz zwischen Täter/ innen und Opfer, sowie in einer „Universalisierung bzw. Globalisierung der Erinnerung an den Holocaust“. 220 Die Kopplung an einen offen(siver)en deutschen Nationalismus und das Selbstverständnis einer ‚selbstbewussten Nation‘ muss damit nicht zwangsläufig einhergehen: „eine ‚negative‘ Erinnerung ist keineswegs mit einem ‚negativen Selbstbild‘ gleichzusetzen“, so pointiert Aleida Assmann. „Die negative Erinnerung ist in das Fundament des deutschen Staates eingebrannt. Dieses Stigma ist jedoch in positive und zukunftsweisende Werte konvertierbar“. 221 Die Verschiebung hin zu einer Opferperspektive, hin zu Themen wie Flucht, Vertreibung und Bombenkrieg bei der Generierung kollektiver Vergangenheitspraktiken setzt Assmann, wie auch Harald Welzer, ab Mitte der 1990er Jahre an; von einem „Dammbruch dieser Erinnerungen“ möchte die Gedächtnistheoretikerin jedoch erst sieben bis acht Jahre später sprechen. 222 In ihrem 2003 erschienenen Aufsatz „Persönliche Erinnerung und kollektives Gedächtnis in Deutschland nach 1945“ macht sie drei Phasen deutscher Erinnerungsgeschichte fest; die letzte, seit dem Ende der 1980er anzusetzende, zeichnet sich durch drei Merkmale des Wandels aus: neben der bereits er- 219 Knobloch (2005: 41). 220 Assmann, Aleida: Persönliche Erinnerung und kollektives Gedächtnis in Deutschland nach 1945, in: Erler, Hans (Hg.): Erinnern und Verstehen. Der Völkermord an den Juden im politischen Gedächtnis der Deutschen, Frankfurt/ Main: Campus 2003, 126- 138, 135f. 221 Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München: C. H. Beck 2006, 279. 222 Ebenda, 184; Welzer, Harald: Von der Täterzur Opfergesellschaft. Zum Umbau der deutschen Erinnerungskultur, in: Erler (2003, 100-106). <?page no="84"?> 1. Forschungsproblematik 84 wähnten „Internationalisierung“ findet nun auch eine damit verbundene „Nationalisierung des Gedächtnisses“ sowie angesichts des Aussterbens der Zeitzeug/ innen dessen „Mediatisierung“ statt. Dieser von Assmann als Institutionalisierung in Denkmälern, Jahrestagen und Gedenkstätten gefassten Nationalisierung arbeitete mit Kirsten Prinz auch die neue Außenpolitik des vereinten Deutschlands zu: „Aus den Erfahrungen nationalsozialistischer Vernichtungspolitik wird eine politische Verantwortung für außenpolitische Interventionen, beispielsweise im Kosovo-Konflikt hergeleitet. Der Holocaust wird somit zu einem identitätsbildenden Narrativ für ein nationales Selbstverständnis“. 223 Werden von Aleida Assmann die Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien auch ausgespart, so ist doch insbesondere von angelsächsischen Germanist/ innen und Historiker/ innen wie Stuart Taberner, Paul Niven und Karoline von Oppen in ihren Untersuchungen zu ‚Germans as Victims‘ mehrfach auf die katalysatorische Rolle der Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien für den Durchbruch der viktimisierenden Formen des Erinnerns hingewiesen worden, 224 bzw. auf die möglichen entsprechenden Lesarten. Die Diskussionen rund um den Wandel in der Erinnerungskultur, um den Umgang mit der deutschen Nationalidentität und der Schuldfrage waren zu einem erheblichen Ausmaß von Schriftsteller/ innen lanciert worden: Die verschiedenen Debatten über, um nur eine für die hier behandelten Fragestellungen relevante Auswahl zu nennen, Botho Strauß, Martin Walser, W.G. Sebald und Günther Grass machten wohl deutlich, dass Literatur immer noch eine besondere Rolle im öffentlichen Bewusstseinspegel und im Assmannschen ‚kulturellen Gedächtnis‘ spielt, die insbesondere dann, wenn es um den Zweiten Weltkrieg und sein Vermächtnis geht, virulent wird. 225 Wie Botho Strauß mit seinem kulturkritischen, als rechtslastig und reaktionär 223 Prinz, Kirsten: „Mochte doch keiner was davon hören“. Günter Grass‘ Im Krebsgang und das Feuilleton im Kontext aktueller Erinnerungsverhandlungen, in: Erll, Astrid (Hg.): Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität - Historizität - Kulturspezifität, Berlin u.a.: de Gruyter 2004, 179-194, 179. 224 Vgl. Oppen (2006b); dies./ Wolff, Stefan: From the Margins to the Centre? The Discourse on Expellees and Victimhood in Germany, in: Niven, Bill (Hg.): Germans as Victims. Remembering the Past in Contemporary Germany, Basingstoke u.a.: Palgrave 2006, 194-209, 195; Taberner, Stuart: Memory-Work in Recent German Novel. What (if Any) Limits Remain on Empathy with the „German Experience“ of the Second World War? , in: ders./ Berger, Karina (Hgg.): Germans as Victims in the Literary Fiction of the Berlin Republic, Rochester u.a.: Camden House 2009, 205-238 (Studies in German Literature, Linguistics, and Culture). 225 Vgl. Siebenpfeiffer, Hania/ Wölfel, Ute: Einleitung, in: dies. (Hgg.): Krieg und Nachkrieg. Konfigurationen der deutschsprachigen Literatur (1940-1965), Berlin: Erich Schmidt 2004, 5-11. Einen Einblick über den Verlauf und die Gemeinsamkeiten von zwölf deutschsprachigen Literaturdebatten seit 1945 liefert: Weninger, Robert: Streitbare Literaten. Kontroversen und Eklats in der deutschen Literatur von Adorno bis Walser, München: C.H. Beck 2004 (Beck'sche Reihe 1613). <?page no="85"?> 1.3 Multiple Kontextualisierung 85 aufgenommenen Essay Anschwellender Bocksgesang im Spiegel vom 8. Februar 1992 226 legte auch Martin Walser mit seiner Rede anlässlich der Übernahme des Friedenspreises des deutschen Buchhandels den Finger auf die schwelende Wunde eines negativen Nationalgefühls. Die daraus resultierende Polemik entzündete sich an Walsers Forderung, angesichts der omnipräsenten medialen Vergegenwärtigung der deutschen Vergangenheit auch wegschauen zu dürfen, sowie an seiner Benennung ebendieser Repräsentation als Instrumentalisierung. Wenn man bedenkt, wie sehr er für diese Argumentation attackiert worden ist, erscheint der Umstand, dass nur wenige Monate später ‚Auschwitz‘ die Teilnahme Deutschlands am NATO-Krieg legitimierte, umso gravierender. Kein ernstzunehmender Mensch leugnet Auschwitz; kein noch zurechnungsfähiger Mensch deutelt an der Grauenhaftigkeit von Auschwitz herum; wenn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergangenheit vorgehalten wird, merke ich, daß sich in mir etwas gegen diese Dauerrepräsentation unserer Schande wehrt. Anstatt dankbar zu sein für die unaufhörliche Präsentation unserer Schande, fange ich an wegzuschauen. Ich möchte verstehen, warum in diesem Jahrzehnt die Vergangenheit präsentiert wird wie nie zuvor. Wenn ich merke, daß sich in mir etwas dagegen wehrt, versuche ich, die Vorhaltung unserer Schande auf Motive hin abzuhören, und bin fast froh, wenn ich glaube, entdecken zu können, daß öfter nicht mehr das Gedenken, das Nichtvergessendürfen das Motiv ist, sondern die Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken. Immer guten Zwecken, ehrenwerten. Aber doch Instrumentalisierung. 227 Die Beiträge von W.G. Sebald und Günther Grass hingegen zielten auf die deutschen Leidenserfahrungen als gesellschaftliches No-Go-Thema. Sebalds provozierende These seiner im Herbst 1997 in Zürich gehaltenen Vorlesungsreihe zum Thema Luftkrieg und Literatur lautete, die deutsche Literatur habe, umstellt von Tabus, vor dem Grauen des Luftkrieges versagt. Dass die traumatische Erfahrung des Bombenkrieges keinen Eingang in ebendiese gefunden hätte, hat sich in dieser pauschalen Kritik als unrichtig erwiesen, Sebalds 226 „Von ihrem Ursprung (in Hitler) an hat sich die deutsche Nachkriegs-Intelligenz darauf versteift, daß man sich nur der Schlechtigkeit der herrschenden Verhältnisse bewußt sein kann [...].“ Strauß' in einer hermetisch-dunklen Sprache verfasster Essay lässt sich freilich nicht auf diese Argumentation verkürzen, sondern greift, als Votum für eine Rehabilitierung rechten Denkens, unterschiedliche kulturpessimistische Topoi auf. Eine erweiterte Fassung wurde im bei Matthes & Seitz verlegten Jahrbuch Der Pfahl veröffentlicht; diese Fassung fand auch Eingang in den von Heimo Schwilk und Ulricht Schacht herausgegebenen und hier zitierten Sammelband: Die selbstbewusste Nation. „Anschwellender Bocksgesang“ und weitere Beiträge zu einer deutschen Debatte, Frankfurt/ Main u.a.: Ullstein 1994, 19-40, 22f. 227 Walser, Martin: Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1998. M. d. Laudatio v. Frank Schirrmacher, Frankfurt/ Main; Suhrkamp 1998 (edition suhrkamp Sonderdruck), 18. <?page no="86"?> 1. Forschungsproblematik 86 Suche, auch das wissen wir inzwischen, sich als unvollständig herausgestellt. Angesichts der psychoanalytischen und kulturwissenschaftlichen Erkenntnisse zu Traumata und der damit einhergehenden Latenzzeit mag Sebalds Überraschung selbst überraschen, sein Beitrag stellt jedoch, so Assmann, einen wichtigen Indikator für das Auflösungsdatum dieser Latenzphase dar. 228 Mit Grass schließlich wagte sich 2002 eine weitere ‚unverdächtige‘ intellektuelle Größe an das lange Zeit tabuisierte Thema der Flucht bzw. Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus Ostpreußen: Im Krebsgang. Die Novelle von Grass fokussiert auf unterschiedlichen Erzählebenen den historischen Untergang der ‚Wilhelm Gustloff‘ am 30. Jänner 1945, der mehr als 9.000 Menschen in den Tod riss, darunter vornehmlich Zivilist/ innen, die aus Ostpreußen evakuiert werden sollten, sowie das Erinnern daran und dessen mediale Bedingungen. 229 Der Text ist insofern von Interesse, als er als illustratives Beispiel für das enge Wechselspiel von Literatur und Massenmedien herherangezogen werden kann: eine wechselseitige Bezogenheit, die ihrerseits ein starkes Potential für die Generierung und Dynamisierung ‚neuer‘ alter Erinnerungen birgt. Zum Zeitpunkt seines Erscheinens waren den Deutschen die medialen Bilder - mit Dieter Forte „Parallelbilder“ 230 - der flüchtenden Kosovoalbaner/ innen noch frisch im Gedächtnis: gewiss keine inopportune Ausgangslage, um der Geschiche der Opfer des Passagierschiffs Gehör zu verschaffen respektive eine breitenwirksame Diskussion in Deutschland anzustoßen. Und tatsächlich betitelte im Frühjahr 2002 die Zeitschrift Der Spiegel anlässlich der Veröffentlichung von Im Krebsgang ihre Ausgabe mit „Die Deutschen als Opfer“: Auftakt einer vierteiligen Serie, die auch in einem Spiegel special (2/ 2002) zusammengefasst wurde. Darin finden sich zahlreiche Verweise auf die Bedeutung der Kosovo-Flüchtlinge bzw. der medialen Bilder 228 Zu diesem Schluss kommt Aleida Assmann (2006: 185). Sie listet auch jene literarischen Beiträge auf, die Sebald entgangen wären: Der 1956 ersterschienene Roman Die Vergeltung von Gert Ledig sowie die Trilogie Das Haus auf meinen Schultern von Dieter Forte (1992). 229 Grass, Günther: Im Krebsgang. Eine Novelle, München: dtv 2007 3 . Der Chronist der Geschichte, der in der Nacht des Unterganges geborene Paul Pokriefke, verweist auf S. 101f., als er die rechtsradikalen, online ersichtlichen Beiträge seines Sohnes Konrad kommentiert, auf die Ereignisse im Kosovo, solcherart Implizites explizit machend: „Unter der Chiffre ‚www.blutzeuge.de‘ klagte mein nur mir kenntlicher Sohn in der Sprache der damals offiziellen Verlautbarungen: ‚Das taten russische Untermenschen wehrlosen deutschen Frauen an...‘ - ‚So wütete die russische Soldateska...‘ - ‚Dieser Terror droht immer noch ganz Europa, falls gegen die asiatische Flut kein Damm errichtet wird...‘ [...] Im Netz verbreitet und von weiß nicht wie vielen Usern runtergeladen, lasen sich diese Sätze und bebilderten Satzfolgen wie auf gegenwärtiges Geschehen gemünzt, wenngleich das ohnmächtig zerfallende Rußland oder die Greuel auf dem Balkan und im afrikanischen Ruanda nicht benannt wurden.“ 230 Forte, Dieter: Schweigen oder sprechen, in: ders.: Schweigen oder sprechen. Hg. u. m. e. Vorwort vers. v. Volker Hage, Frankfurt/ Main: Fischer 2002, 69-71, 71. <?page no="87"?> 1.3 Multiple Kontextualisierung 87 darüber für eine Intensivierung der Debatte, womit einer Perpetuieurung dieser Bedeutungszuschreibung Vorschub geleistet wurde: Aber dann kamen ja die Kriege auf dem Balkan, die politisch engagierte Zeitgenossen mit einer bestürzenden Realität konfrontierten. Flucht und Vertreibung - und ärger: die ‚ethnische Säuberung‘ als erklärtes militärisches Ziel - gehörten, wie man nun erlebte, keineswegs der Vergangenheit an. […] Im Angesicht der im Kosovo fliehenden und gejagten Menschen setzte bei der lange unwilligen deutschen Linken ein allmähliches Umdenken ein. Waren das nicht die gleichen Bilder wie vor mehr als einem halben Jahrhundert auf der Kurischen Nehrung oder im Stettiner Haff? 231 „Literatur“, so das Fazit von Kirsten Prinz in ihrem Aufsatz über die Grass- Novelle, „kann unter den Bedingungen einer relativen Unverbindlichkeit und Wirklichkeitsentlastung Vergangenheitsdarstellungen erproben, deren gesellschaftliche und politische Relevanz im journalistischen Bereich benannt wird.“ 232 Eine weitere Debatte, welche die deutsche Öffentlichkeit und das Feuilleton (auch) in den 1990er Jahren bestimmt hat, ist jene um Deutschland als Einwanderungsland, und daran gekoppelt die Auseinandersetzung mit Fremdenfeindlichkeit und Multikulturalismus. Auch Deutschland zählt zu den späten Nationalstaaten; die verschiedenen Versäumnisse und Defizite beim Prozess der inneren Nationsbildung wurden schon früh durch eine aggressive Abgrenzung von dem/ der/ den Anderen, Fremden, Ausländischen kompensiert. Zu Beginn der 1990er Jahre setzte eine Reihe von Brandanschlägen und Gewalttaten an Ausländer/ innen und Asylbewerber/ innen in ostdeutschen Städten ein, der nach der deutschen Wiedervereinigung einsetzende Anstieg von Rechtsradikalismus und Fremdenfeindlichkeit ließ erstarkte nationalistische Strebungen vermuten. 233 Dass Sarajevo auch in Deutschland zum Fetisch der medialen Berichterstattung avancierte, hat nicht allein mit den leidvollen Erfahrungen der eingeschlossenen Sarajelije respektive mit der im Krieg sichtbar gewordenen Brüchigkeit zivilisatorischer Normen zu tun, sondern erzählt einmal mehr auch von eigenen Hoffnungen, Wünschen und Idealisie- 231 Noack, Hans-Joachim: Die Deutschen als Opfer, in: Der Spiegel 13/ 2002, 36-39, 36f. Das Titelthema erstreckt sich insgesamt von S. 36-64. ‚Flucht und Vertreibung‘ sind in der Historiographie bereits seit 1989 kein Tabu mehr, vgl. dazu: Danyel, Jürgen: Deutscher Opferdiskurs und europäische Erinnerung. Die Debatte um das „Zentrum gegen Vertreibunben“, online abrufbar unter http: / / www.zeitgeschichte-online.de/ thema/ deutscher-opferdiskurs-und-europaeische-erinnerung, 31.1.2013. 232 Prinz (2004: 193). Prinz geht dabei von einem speziellen Rezeptionsmodus literarischer Texte aus, der diese Erinnerungen als „vorgängig“ auffasst, und kann mithin diesen, im Unterschied zu journalistischen Texten, eine entlastende Funktion zuschreiben. 233 Vgl. Heßler, Manfred: Einleitung, in: ders. (Hg.): Zwischen Nationalstaat und multikultureller Gesellschaft. Einwanderung und Fremdenfeindlichkeit in der Bundesrepublik, Berlin: Hitit 1993 (Völkervielfalt und Minderheitenrechte in Europa 3), 7-20. <?page no="88"?> 1. Forschungsproblematik 88 rungen: das Projekt einer so genannten multikulturellen Gesellschaft, welches man in Sarajevo zu erkennen und zu verteidigen glaubte, hatte sich in den westlichen Metropolen, auch und gerade in der Bundesrepublik, als gescheitert herausgestellt. Stichpunkt Rechtsextremismus: Die Welle der ausländerfeindlichen Ausschreitungen im wiedervereinigten Deutschland erfasste mit Hoyerswerda im September 1991 und Rostock-Lichtenhagen im August 1992 zunächst die neuen Bundesländer, um mit dem Brandanschlag in Mölln (November 1992) und jenem in Solingen (Mai 1993) auf das Gebiet der ,alten‘ Bundesrepublik überzugehen. Die rassistisch motivierten Übergriffe verliefen zeitgleich mit den kriegerischen Konflikten in Kroatien und Bosnien. Auch wenn die nun folgende Hypothese nicht im klassischen Sinne verifiziert werden kann, scheint sie angesichts der bisher skizzierten Erkenntnisse doch plausibel: Die Verurteilung des Nationalismus des/ der balkanischen Anderen ermöglichte die Unterlassung einer offensiven und breitenwirksamen Auseinandersetzung mit dem eigenen. 234 Eine Kopplung von Fremdenfeindlichkeit und prekärem deutschen Selbstverständnis unternahm schließlich auch Hans Magnus Enzensberger in seinem 1992 erschienenen Essay Die Große Wanderung. „Wer sich selber nicht mag, dürfte sich aber mit der Fernstenliebe noch etwas schwerer tun als andere.“ 235 1993 brachte Enzensberger den unter dem Eindruck der kriegerischen Ereignisse in Kroatien und Bosnien verfassten Essay Aussichten auf den Bürgerkrieg heraus, und setzt diese denn auch als drastische Negativfolie ein, um die Deutschen aufzurütteln: „[...] bevor wir den verfeindeten Bosniern in den Arm fallen, müssen wir den Bürgerkrieg im eigenen Land austrocknen. Für die Deutschen muß es heißen: Nicht Somalia ist unsere Priorität, sondern Hoyerswerda und Rostock, Mölln und Solingen. […] Überall brennt es vor der eigenen Haustür.“ 236 234 Vgl. dazu auch den Regisseur Zoran Solomun im Gespräch mit Marina Achenbach („Welche Dummheit war es, Jugoslawien nicht zu retten“), in: Freitag 49 v. 26.11.2001. Vgl. über den ‚Import‘ des europäischen Nationalismus nach Jugoslawien: Blagojević, Marina: Krieg in Jugoslawien. Ever Better Than The Real Thing? , in: Wespennest 103 (1997), 40-45. 235 Enzensberger, Hans Magnus: Die Große Wanderung. 33 Markierungen. Mit einer Fußnote ‚Über einigen Besonderheiten bei der Menschenjagd‘, Frankfurt/ Main: Suhrkamp1993 6 , 52. 236 Enzensberger, Hans Magnus: Aussichten auf den Bürgerkrieg, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1993 (st 2524), 90f. Vgl. zu den verschiedenen Lesarten dieses sowie des Essays Die große Wanderung (1992) den Sammelband von: Fischer, Gerhard (Hg.): Debating Enzensberger. Great Migration and Civil War, Tübingen: Stauffenburg 1996 (Studien zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 5), und insbesondere den Beitrag von Tom Morton auf S. 93-101: The ‚Balkanised‘ Subject: Enzensberger, Zizek and the Ecstacy of Violence. <?page no="89"?> 1.3 Multiple Kontextualisierung 89 Wurde Anfang der 1990er Jahren ein ,neues‘ Nationalgefühl noch vermisst, dessen Wirkmächtigkeit als ein tabuisiertes oder verdrängtes indes schon erkannt, ist seit den letzten Jahren immer wieder von einem unbefangeneren Verhältnis der Deutschen zum eigenen Land, einem ,aufgeklärten‘ Patriotismus zu hören. Nicht zuletzt die in Deutschland 2006 ausgetragene Fußballweltmeisterschaft wird für diese Entwicklung gern ins Feld geführt. Für den Berliner Politologen Klaus Schroeder hat sich mittlerweile ein Gefühl des Stolzes für die BRD durchgesetzt: Die Mehrheit der Deutschen werte ihr Land als „Erfolgsgeschichte“, wohlgemerkt „[o]hne den Nationalsozialismus und seine Verbrechen zu relativieren“. Was indes nicht gelungen sei, hält Schroeder gleichfalls unmissverständlich fest: Gescheitert sei „der Versuch westdeutscher Intellektueller [..], einen allein auf einen Normenkatalog bezogenen Verfassungspatriotismus“ 237 zu verankern - vielmehr habe sich das Konzept der Kulturnation behaupten können. Umgelegt auf unsere Forschungsproblematik und die Frage, was das Eigene (die identitären Verhandlungen in Deutschland sowie in Österreich) mit dem Anderen (hier nun die allesamt auf den Konzepten der Kulturnation beruhenden Identitätsverhandlungen der jugoslawischen Nachfolgeländer, vornehmlich Serbien) zu tun hat, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich die zeitgeschichtlichen Erfahrungen des ehemaligen Jugoslawiens und seiner Nachfolgeländer gleichsam in einer unerträglichen Nähe zu den eigenen historischen Entwicklungen befinden und mithin deren traumatischen Kern zum Vorschein bringen. Der Unterschied ist kein qualitativer, sondern lediglich ein gradueller . 238 In der Tat lassen sich in beiden Ländern, Deutschland und Österreich, der Zweite Weltkrieg und der spezifische Umgang mit der eigenen Verantwortung als ‚großer Anderer‘ der diskursiven Bezugsfelder - der kriegerischen Auflösung Jugoslawiens - ausmachen; die verdrängten und traumatischen Ereignisse des Nationalsozialismus stellen auch das Scharnier zwischen historisch-diachroner und zeitgeschichtlich-synchroner Ebene dar. Der konträren kollektiven diskursiven Handhabung des Nationalsozialismus und der eigenen Rolle als Täter/ innen (Deutschland) bzw. vermeintliches Opfer (Österreich) entsprechend, zeichnen sich zwei konträre Schlüsse ab. Während man also für Deutschland behaupten könnte, dass die ethnischen Vertreibungen der Kosovo-Albaner/ innen im Zuge des Kosovo-Krieges nach über 50 Jahren ‚Vergangenheitsarbeit‘ Anteil daran hatte, latenten Narrativen und Tabuthemen wie der Diskussion um ‚Deutsche als Opfer‘ zu einer breiteren gesell- 237 Schroeder, Klaus: Neues Nationalgefühl? Was sich seit der Wiedervereinigung geändert hat, in: Wissenschaftsmagazin fundiert 1 (2008), online abrufbar unter: http: / / www.fu-berlin.de/ presse/ publikationen/ fundiert/ 2008_01/ 08_01_schroeder/ index.html, 31.1.2013. 238 Vgl. dazu Buden (2008: 314). <?page no="90"?> 1. Forschungsproblematik 90 schaftlichen Diskussion zu verhelfen, wurde angesichts der erfolgten Kriegsgräuel im ehemaligen Jugoslawien in Österreich, zweifellos auch vor dem Hintergrund der Debatte um die Beteiligung des (kandidierenden) Bundespräsidenten Kurt Waldheim an NS-Kriegsverbrechen, die aktive Täter-Rolle diskutiert. Es stellt meiner Meinung nach keinen Zufall dar, dass eine der ersten offiziellen Erklärungen Österreichs zur Mitverantwortung seiner Bürger/ innen im Dritten Reich anlässlich des Ausbruchs der Kämpfe in Jugoslawien erfolgte. Tatsächlich liest sich Franz Vranitzkys im Rahmen einer Erklärung vor dem Nationalrat am 8. Juli 1991 unternommene Rekurs auf den Wandel in Südosteuropa bzw. die versucht optimistische Benennung der neuen Maßstäbe Europas - „[e]s sind die Maßstäbe der Freiheit und der Menschenrechte und der Demokratie“ 239 - als rhetorisches Sprungbrett, um zur zentralen Botschaft zu gelangen: das Eingeständnis von moralischer Mitverantwortung der Österreicher/ innen und die Entschuldigung „bei den Überlebenden und bei den Nachkommen der Toten.“ 240 Um ein umfassendes Verständnis der Rezeption der Jugoslawien-Kriege respektive ihrer latenten und manifesten Narrative in Österreich zu erlangen, ist es jedoch erforderlich, über die Bezugsfolie des Zweiten Weltkrieges hinausgehend die verschiedenen aufgezeigten Parameter zu berücksichtigen. Wie von Walter Manoschek auf den Punkt gebracht, handelt es sich für Österreich um eine „[v]erlängerte Geschichte“. 241 Indes: Jener Gefahr, die Judith Veichtlbauer mit Blick auf die vermeintlich „übermächtige Geschichte“ des Balkans angeführt hat, gilt es auch für die Inanspruchnahme der geschichtlichen Beziehungen zwischen Österreich und den südosteuropäischen Ländern bewusst zu sein: nämlich „trotz permanent konstatierter Komplexität der Problemlage wieder eine einfache Antwort zu basteln, auf gegenwärtige Konfliktlinien, Machtverhältnisse und Interessen im Prinzip die Antworten aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg [zu geben] und mit dieser Form der histo- 239 „Aus der Erklärung des österreichischen Bundeskanzlers Franz Vranitzky vor dem Nationalrat am 8. Juli 1991“, in: Botz, Gerhard/ Sprengnagel, Gerald (Hgg.): Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte. Verdrängte Vergangenheit, Österreich-Identität, Waldheim und die Historiker, Frankfurt u.a.: Campus 1994 (Studien zur historischen Sozialwissenschaft 13), 574-576, 574. 240 Ebenda, 576. Diese Rede von Vranitzky stellte die zweite offizielle Erklärung der Republik Österreich für die von Österreicher/ innen begangenen Verbrechen des Nationalsozialismus dar; im März 1988 war anlässlich des „Anschluss“-Gedenkens die erste offizielle Entschuldigung erfolgt: vom damaligen Bundespräsidenten Kurt Waldheim in einer Fernsehansprache. Vgl. dazu Uhl, Heidemarie: Das „erste Opfer“. Der österreichische Opfermythos und seine Transformationen in der Zweiten Republik, in: ÖZP 2001/ 1, 19-34, 28. 241 Manoschek (1996: 143). <?page no="91"?> 1.3 Multiple Kontextualisierung 91 rischen Deutung gleichsam eine Trägerkonstruktion [zu bilden], auf deren Basis orientalistische Ideologeme erst wirksam werden können.“ 242 Zum anderen erklären sich Differenzen zwischen der österreichischen und deutschen Wahrnehmung des kriegerischen Zerfall Jugoslawiens mit dem unterschiedlichen Ausmaß an außenpolitischer Stärke, sprich militärischer Beteiligung. So wird auch ersichtlich, warum in Deutschland im Zuge des Kosovo-Krieges der Rückgriff auf die Rede von den Menschenrechten viel intensiver als in Österreich erfolgte - wurde der Krieg doch von den kriegsführenden Parteien als Verteidigung dieser Menschenrechte inszeniert und legitimiert. 1.3.3 Balkanismus, Orientalismus, Stereotype Da der Balkan sich schon geographisch Europa nicht entziehen kann, kulturell jedoch als ,das Andere‘ konstruiert wird, hat er eine Reihe von politischen, ideologischen und kulturellen Spannungen und Widersprüchen aus den Regionen und Gesellschaften außerhalb des Balkans absorbiert. Im Laufe der Zeit entwickelte sich der Balkanismus zu einem bequemen Ersatz für die emotionale Entlastung, die früher der Orientalismus geboten hatte, wobei er den Westen von Vorwürfen des Rassismus, des Kolonialismus, des Eurozentrismus und der christlichen Intoleranz gegenüber dem Islam ausnahm. Immerhin gehört der Balkan zu Europa, die Menschen dort sind weiß und überwiegend Christen; deshalb kann die Projektion von Frustrationen auf sie die üblichen Vorwürfe rassischer oder religiöser Voreingenommenheit umgehen. Wie der Orient, so hat auch der Balkan als Auffangbecken für negative Eigenschaften gedient, das für die Konstruktion des positiven und selbstzufriedenen Bildes Europas und des ,Westens‘ notwendig war. Mit dem Wiedererstehen des Ostens und des ,Orientalismus‘ als eigenständige semantische Werte blieb der Balkan Europas unterdrücktes, anti-zivilisatorisches Alter ego, die ,dunkle Seite‘. Um eine aktuelle Metapher aus dem Bereich des Films zu zitieren: Der Balkan ist Emir Kusturicas ,Underground‘, in dem der Krieg niemals aufhört. 243 Todorova dixit. Ausgehend von der im Zuge der kriegerischen Auflösung Jugoslawiens revitalisierten pejorativen Verwendung des Balkanbegriffes untersuchte Maria Todorova in ihrer 1997 erschienenen Studie Imagining the Balkans die im Westen produzierten Stereotype und Negativbewertungen des besagten Balkans. Zwei Jahre später, kurz nach dem Kosovo-Krieg und der NATO-Intervention gegen Serbien-Jugoslawien im Frühjahr und Beginn des 242 Veichtlbauer (1998: 132). Vgl. als Bestandsaufnahme der österreichischen Publizistik zu Beginn des Krieges: Szyszkowitz, Tessa: „Serbien muß sterbien“ oder: Wie die Österreicher ihre Westentasche wiederfanden, in: Bittermann, Klaus (Hg.): Serbien muß sterbien. Wahrheit und Lüge im jugoslawischen Bürgerkrieg, Berlin: Edition Tiamat 20005 (Critica Diabolis 45), 134-144. 243 Todorova (2002: 473). <?page no="92"?> 1. Forschungsproblematik 92 Stabilitätspaktes im Sommer 1999, lag die materialreiche, streckenweise kursorische Ausgabe in deutscher Übersetzung vor: Die Erfindung des Balkans. Europas bequemes Vorurteil. Auch in verschiedenen kürzeren Aufsätzen analysierte Todorova die Funktion dieser Stereotype und stellte die „,multiple Identität‘“ 244 des Balkans vor: als Name, als Metapher, als Region und als historisches Vermächtnis. Ihre Arbeiten stellen die bekanntesten und wirkmächtigsten zum Balkan dar, und ihre Auffassung von Balkanismus ist mithin auch für die vorliegende Studie grundlegend. Gleichwohl ist es unumgänglich, die Arbeiten der in den USA lehrenden Kulturwissenschaftlerin und Historikerin mit weiteren Ansätzen zu ergänzen und relationieren. Ein Beispiel: Während Todorova Balkanismus als vornehmlich westlichen Diskurs konzeptualisiert, wird in den Beiträgen anderer, auch in der Region lebender Autor/ innen der Fokus auf die mit dem Transformationsprozess nach 1989 einsetzende Wirkmächtigkeit von Balkanismen auf dem Balkan selbst gelegt. Bei Todorova hingegen bleibt unklar, in welchem Ausmaß die Generierung von Balkanismen in der Region selbst zu verorten ist, womöglich auch einer immanenten Logik der Selbstkonstituierung entspringt. 245 Das Wort ‚Balkan‘ kommt aus dem Türkischen: ,Gebirge‘. 246 Was die geographische Region angeht, so gibt es durchaus unterschiedliche Einschätzungen darüber, was zum Balkan gehört und was nicht. Weitgehender Konsens herrscht über die durch fünf Meere (Adria, Ionisches Meer, Ägäis, Marmarameer und Schwarzes Meer) gegebene West-, Süd- und Ostgrenze, nicht jedoch über jene im Norden, wo allseits geographische oder auch historische oder ethnographische Kriterien fehlen. Fest steht außerdem, dass er noch zur Zeit des Kalten Krieges der Kategorie ,Zentraleuropa‘ nicht explizit entgegengestellt wurde. 247 Wie aber verhalten sich ,Balkan‘ und ,Südosteuropa‘ zueinander? Holm Sundhaussen differenziert einen enger gefassten Balkan- und einen weiter gefassten Südosteuropabegriff. Zu letzterem zählen neben Bosnien und Herzegowina, Serbien (ohne die Wojwodina), Kosovo, Montenegro, Vardar-Makedonien (der nördlichste Teil der historischen Region Makedonien), Bulgarien, das rumänisch-bulgarische Grenzgebiet Dobruschka, die eu- 244 Todorova, Maria: Historische Vermächtnisse als Analysekategorie. Der Fall Südosteuropa, in: Gramshammer-Hohl/ Kaser, Karl/ Pichler, Robert (2003: 227-252, 232). Für einen früheren Aufsatz zur ‚Vermächtnis‘-Idee vgl. Todorova, Maria: The Ottoman Legacy in the Balkans, in: Brown, Leon Carl (Hg.): Imperial Legacy. The Ottoman imprint on the Balkans and the Middle East. New York: Columbia University Press 1996, 45-77. 245 Vgl. dazu Močnik, Rasto: The Balkans as an Element in Ideological Mechanism, in: Bjelić Dušan I./ Savić, Obrad (Hgg.): Balkan as Metaphor. Between Globalization and Fragmentation, Cambridge, Massachusetts u.a.: The MIT Press 2002, 79-115, 95. 246 2003 zeigte das Essl Museum in Klosterneuburg die von Harald Szeemann kuratierte Ausstellung Blut & Honig - Zukunft ist am Balkan, deren Titel auf die beiden türkischen Silben ,bal‘ [Honig] und ,kan‘ [Blut] anspielte. 247 Vgl. Mančić (2010: 217). <?page no="93"?> 1.3 Multiple Kontextualisierung 93 ropäische Türkei, Griechenland und Albanien - das wären die Balkanländer - auch der Karpatenraum bzw. das frühere Königreich der Stefanskrone (mit seinen Nebenländern): die Slowakei, das heutige Ungarn, Kroatien, das rumänische Banat und Siebenbürgen sowie die früheren rumänischen Fürstentümer Walachei und Moldau (einschließlich Bessarabiens). 248 Den Balkan bestimmt Sundhaussen als historischen Raum mit bestimmten charakteristischen Faktoren: Diese sind 1. Die Instabilität der Siedlungsverhältnisse und ethnische Gemengelagen auf kleinstem Raum; 2. Verlust und späte Rezeption des antiken Erbes; 3. Das byzantinisch-orthodoxe Erbe; 4. Das osmanischislamische Erbe; 5. Gesellschaftliche und ökonomische ‚Rückständigkeit‘ in der Neuzeit; 6. Nationalstaats- und Nationsbildung; 7. Mentalitäten und Mythen; 8. Der Balkan als Objekt der Großmächte. 249 Maria Todorova hingegen moniert, dass - abgesehen von wenigen deutschsprachigen wissenschaftlichen Arbeiten - die beiden geographischen Bezeichnungen in der Regel heute meist synonym verwendet werden. Der von ihr als nominalistisch kritisierten Verwendung des vermeintlich neutraleren Begriffs ‚Südosteuropa‘ zieht sie einen offensiven Gebrauch des Balkanbegriffs vor: zum einen sei der Ersatzbegriff aufgrund seiner eigenen nationalsozialistischen Geschichte gleichfalls ideologisch belastet; zum anderen aber gäbe es „keinen Grund zur Annahme, dass sich, wenn man ihn (den ‚Balkan‘ als pejorativen Begriff; D.F.) abschafft, das Signifikat von den Negativstereotypen befreien wird.“ 250 Dass in der politischen Rhetorik der Südosteuropa-Begriff mittlerweile von der kuriosen Wortschöpfung des ,Westbalkans‘ [Western Balkans 251 ] ersetzt, wenn nicht verdrängt wurde, darauf geht Todorova in ihren Ausführungen nicht ein. Ihr explizites Anliegen ist die Trivialisierung des ‚Balkans‘, seine Konzeptualisierung „als Teil eines sich entwickelnden gemeinsamen (europäischen oder globalen) Raumes“ 252 . Im Konzept des ,Westbalkans‘ jedoch ist die Dimension der ,Globalität‘ auf eine wirtschaftliche Komponente reduziert. Western Balkans umfasst nunmehr all jene südosteuropäischen Länder, die - noch - nicht EU-Mitglieder sind; weitere räumliche Entsprechungen - ob „Eastern, Southern, or Northern“ - ,Verwandte‘ 253 kennt er nicht. In dieser Hinsicht signalisiert der aus zwei 248 Vgl. Sundhaussen (1999: 634f.). 249 Vgl. Sundhaussen (1999: 626-653). Diesen Aufsatz hat Sundhaussen als Replik auf Todorovas Studie Imagining the Balkans verfasst. 250 Todorova (2003: 231). 251 Weist ,Western Balkans‘ auch eine Begriffsgeschichte auf, die sich bis in das 19. Jahrhundert zurückverfolgen lässt, kann mit dem EU-Gipfel in Wien im Dezember 1998 doch ein konkretes Datum für seine ,Wiederentdeckung‘ angeführt werden. Vgl. dazu Petrović, Tanja: The Idea of Europe or Europe Without Ideas? - Discourses on the „Western Balkans“ as a Mirror of Modern European Identity, in: Fassmann/ Müller- Funk/ Uhl (2009: 137-147, 139). 252 Todorova (2002: 481). 253 Vgl. Petrović (2009: 139). <?page no="94"?> 1. Forschungsproblematik 94 Komposita zusammengesetzte Begriff gleichsam Herkunft(sort) und Ziel(ort) in einem - mit der Perspektive, eines Tages Teil dieses Westens zu sein, scheint auch der pejorativ konnotierte Balkan-Begriff erträglich zu sein. Vom erhofften Ergebnis der Trivialisierung keine Spur. Die negative Konnotierung der Metapher ,Balkan‘ zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist für Todorova das Resultat eines stufenweise erfolgenden Prozesses ab dem 18. Jahrhundert, der in Verbindung mit dem schleichenden Niedergang des Osmanischen Reiches sowie mit der Schaffung kleiner, wirtschaftlich schwacher und Modernisierung anstrebender Nationalstaaten zu sehen ist: „Die Schwierigkeiten dieses Modernisierungsprozesses und die nationalistischen Exzesse, von denen er begleitet war“, so führt Todorova an, „schufen eine Situation, in der der Balkan als Synonym für ‚aggressiv‘, ‚intolerant‘, ‚barbarisch‘, ‚halbzivilisiert‘ und ‚halborientalisch‘ zu stehen begann.“ 254 Die dann etwa zur Zeit der Balkankriege und des Ersten Weltkrieges erfolgte Kristallisierung dieser bestimmten Wahrnehmungsmuster zu einem bestimmten Diskurs oder einer bestimmten Mental Map 255 ist es, was Todorova als ‚Balkanismus‘ bezeichnet. Als ‚kognitive Landkarte‘ strukturiert dieser von vornherein schematisch die Sinneswahrnehmung und wirkt sich so auf die Artikulation und Weitergabe des Wahrgenommenen aus: Anlass für Todorova, dazu aufzurufen, bei der Beschäftigung mit den Inhalten von Mental Maps den hinter dem Vorgang des Erzeugens und Rezipierens liegenden Köpfen ebenso Aufmerksamkeit zu schenken. Gleich in der Einführung ihrer Monographie wirft Todorova die ins Auge springende Frage auf, ob Balkanismus und Orientalismus verschiedene Kategorien seien. Edward Said hatte in seiner Pionierarbeit das Verhältnis des ‚Westens‘ - bzw. der drei Großmächte England, Frankreich (beide seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges) und Vereinigte Staaten von Amerika (seit dem Zweiten Weltkrieg) - zu dem, was uns aus wissenschaftlichen Arbeiten, literarischen Texten und der Reiseliteratur seit dem späten 18. Jahrhundert als ‚der Orient‘ bekannt ist, ins Zentrum gerückt und drei verschiedene Bedeutungsebenen extrahiert. Anzuführen sind hierfür zum einen die Orientalistik 256 als akademische Tradition, die für die Fortdauer der Doktrinen und Thesen des Orientalismus auch nach seiner eigentlichen Hochblüte sorgt. Zum zweiten geht es, in einer allgemeineren 254 Todorova (2003: 233). Wie sie weiters ergänzt, ist in Bulgarien der Balkanbegriff positiv konnotiert. 255 Todorova spielt mit ‚Mental Map‘ auf Begriffe wie ‚Skripte‘, ‚frames‘ oder ‚Schemata‘ an sowie auf den Umstand, dass diese Konzepte allesamt „,nomos-erzeugende Aktivität‘: also ein Kernelement des menschlichen Versuches, der Welt Ordnung und Sinn zu verleihen“, umschreiben. [Todorova (2002: 470).] 256 Die englische Übersetzung von ‚Orientalistik‘ lautet gleichfalls ‚orientalism‘, womit das englische Original eine Doppeldeutigkeit aufweist, die der deutschen Übersetzung fehlt. <?page no="95"?> 1.3 Multiple Kontextualisierung 95 Hinsicht, um den imaginären Aspekt: um jene „Denkweise, die sich auf eine ontologische und epistemologische Unterscheidung zwischen ‚dem Orient‘ und (in den meisten Fällen zumindest) ‚dem Okzident‘ stützt.“ Zum dritten soll Orientalismus explizit als ein ungleiches Machtverhältnis konzeptualisiert werden, als ein westlicher Stil der Herrschaft, Umstrukturierung und des Autoritätsbesitzes über den Orient. 257 Wenngleich es Said bei der Charakterisierung eines sogenannten Orients um die intellektuelle und imaginative Fassung ging, war er darauf bedacht, auf den Wirklichkeitsbezug hinzuweisen und die Schaffung des Orientes - dessen ‚Orientalisierung‘ - nicht in einem macht- und herrschaftsfreien Raum anzusiedeln: Die in Wissenschaft und Literatur eingegangenen Repräsentationen des Orients, deren Übergang von einer textlichen Darstellung hin „zum praktischen Vollzug vor Ort“ 258 unter der Ägide der Orientalistik stattgefunden hat, fungierten als konstitutive Momente von Imperialismus und Kolonialismus; bereits Napoleon wurde auf seinem Ägyptenfeldzug 1798-1801 von Soldaten und Wissenschaftlern begleitet. Archäologen, Ethnologen, Biologen etc. versuchten, sich ein ‚wissenschaftliches Bild‘ von dem eroberten Land und seinen Menschen zu machen - womit diese Objektstatus erhielten. 259 Said greift auf die aus der Psychoanalyse bekannte Unterscheidung in latent und manifest 260 zurück, um die möglichen Spielarten des Orientalismus zu konturieren. Die eine wird aufgrund ihrer „Einmütigkeit, Stabilität und Beständigkeit“ 261 als latent bezeichnet; ihre grundlegenden Inhalte lauten Andersartigkeit, Irrationalität, Weiblichkeit, Rückständigkeit, Sinnlichkeit, Degenerierung, Despotismus und - im Unterschied zum Westen als Stätte der Geschichte und Entwicklung - Zeitlosigkeit. Während dieser latente Orienta- 257 Ebenda. 258 Ebenda, 116. 259 Im Zusammenhang mit diesem dritten Verständnis von ‚Orientalismus‘ wird der Diskursbegriff Foucaults aus Die Archäologie des Wissens und Überwachen und Strafen, stark gemacht: Orientalismus erscheint hierbei als jener Diskurs, der unsere Art und Weise, den Orient wahrzunehmen, normativ formatiert: als „institutioneller Rahmen für den Umgang mit dem Orient […], das heißt für die Legitimation von Ansichten, Aussagen, Lehrmeinungen und Richtlinien zum Thema sowie für ordnende und regulierende Maßnahmen.“ (ebd., 11) Ohne von Said weiter expliziert zu werden, kann der relativ ‚blinde‘ Rückgriff auf Foucaults Diskurskonzept, nicht zuletzt aufgrund dessen Polysemie, nur bedingt als schlüssige Anwendbarmachung gelten. Vgl. dazu Frank, Michael C.: Kolonialismus und Diskurs. Michel Foucaults „Archäologie“ in der postkolonialen Theorie, in: Kollmann, Susanne/ Schödel, Kathrin (Hgg.): PostModerne De/ Konstruktionen. Ethik, Politik und Kultur am Ende einer Epoche, Münster: Lit 2007 (Diskursive Produktionen 7), 139-155, 141. 260 Während Freud (1992: 140f.) in Die Traumdeutung unter den ‚latenten Gedanken‘ eines Traumes die Gesamtheit dessen, was mittels der Analyse des Traums enthüllt und gedeutet wird, versteht, ist der ‚manifeste Inhalt‘, wie er dem Träumer/ der Träumerin erscheint, lückenhaft und trügerisch. 261 Said (2010: 236.). <?page no="96"?> 1. Forschungsproblematik 96 lismus durch seine „diskursive Verhärtung“ (James Clifford 262 ) unantastbar erscheint, räumt Said dem manifesten Orientalismus und dessen offen ausgespielten Ansichten die Möglichkeit zu Wandel und Veränderbarkeit ein. Die Aufteilung in manifest und latent geht somit Hand in Hand mit einer zweiten, jener von Form und Inhalt. An der kritischen Hinterfragung dieser Unterteilung in manifesten und latenten Orientalismus setzen denn auch Homi K. Bhabhas Ausführungen zum Stereotyp an, auf die ich später noch eingehe. In Orientalismus spart Said eine prinzipielle Erörterung der Frage nach der Möglichkeit eines oppositionellen und widerständigen Diskurses, somit einer Diskurskritik als soziopolitischer Intervention aus; der möglichen Rolle der Literatur für die Unterminierung, Dekonstruktion oder Parodierung von Stereotypen im Sinne eines nicht repressiven „Gegendiskurses“ 263 geht er - noch - nicht nach. 264 Diese Vernachlässigung blieb nicht ohne Folgen. Lesarten einer Saidschen Homogenisierung und damit auch Essentialisierung von Orient und Okzident wurden so möglich - damit sind auch die Hauptvorwürfe der Kritiker/ innen Saids in Erinnerung gerufen. Auch dass Said den Orientalismus deutsch(sprachig)er Provenienz in seiner Einführung von Kritik ausdrücklich aussparte, ist bei eingehender Betrachtung der Islam- und Kolonialpolitik Deutschlands sowie Österreich-Ungarns nicht haltbar. 265 Um auf die vorhin mit bzw. von Todorova aufgeworfene Frage der Unterschiede oder Gemeinsamkeiten von Balkanismus und Orientalismus zurückzukehren, so geht ihre Antwort mit klaren Worten bezüglich Saids Studie und 262 Diesen Begriff von James Clifford (i.O.: „discursive hardening“) entnehme ich Maria Todorova (2003: 234), die ihn wiederum seinem 1988 bei Harvard University Press in Cambrigde, Mass. u.a. erschienenen Werk The Predicament of Culture. Twentieth Century Ethnography, Literature and Arts (Kapitel 11: On Orientalism, 255-276, 264) entnommen hat. 263 Vgl. dazu Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. A. d. Franz. v. Ulrich Köhler, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1974 (stw 96), 76. 264 Erst in der späteren Arbeit Kultur und Imperialismus (1993) unternimmt Said eine selbstkritische Revision der eigenen Verfahren, eine Weiterführung und Auffächerung des Benjaminschen Postulats, „die Geschichte gegen den Strich zu bürsten“ [Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, in: ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften 1, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1977 (st 345), 251-261, 254]. Mit der darin entwickelten Methode der ‚kontrapunktischen Lektüre‘ macht sich Said nun auf die Suche nach der Mehrstimmigkeit eines Textes, auf die Suche nach widerständigen Gegenstimmen, der ambivalenten Dimension. Vgl. Said, Edward: Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht. A. d. Amerikan. v. Hans- Horst Henschen, Frankfurt/ Main: Fischer 1994 2 . 265 Ebenda, 29f. - Dieses Desiderats hat sich Andrea Polaschegg angenommen, ihre Studie zeigt die Besonderheiten der Entwicklung der deutschen Orient-Literatur, -Politik und -Wissenschaft auf [vgl. Polaschegg, Andrea: Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert, Berlin u.a.: de Gruyter 2005 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 35)]. <?page no="97"?> 1.3 Multiple Kontextualisierung 97 all ihren Widersprüchlichkeiten einher. 266 Ohne die Verbindungslinien, die Nähe zu Said abzustreiten, unterstreicht Todorovo doch die Unterschiede zwischen den beiden Phänomenen: Im Unterschied zum Orientalismus, der einen vollständigen Anderen und eine inkompatible Gegenwelt konstruiert, hat sich in den Balkanismus eine Zweideutigkeit eingeschrieben. Sie bewirkt, dass der Balkan dem westlichen Rezipient/ innen sowohl ein Gefühl an zivilisierter Überlegenheit, als auch an monotoner Langeweile verschaffen, dass er eine ambivalente Haltung, die Eros und auch Thanatos umfasst, hervorrufen kann. 267 „Der Balkan hat“, so Todorova, „immer das Bild einer Brücke oder einer Übergangszone hervorgerufen: zwischen Ost und West, aber auch zwischen Wachstumsstadien […]. Dieses äußerst hartnäckige Bild einer Brücke, das oft auch von jenem der antemurale christianitatis (‚Bollwerk des Christentums‘) begleitet wird, kann als eine europäische geistige Landkarte sui generis betrachtet werden, die sich in unterschiedlichen Epochen von einer europäischen Region oder Nation zur nächsten verschob: Ungarn, Österreich, Deutschland, Polen, Rumänien, Kroatien, Griechenland, Serbien, Bulgarien, Russland, dem Balkan, dem Slawentum, Zentraleuropa, der Orthodoxie und anderen.“ 268 Aufgrund seiner Zwischenlage kein vollständiger Anderer, ist für Todorova der Balkan indes genauso wenig ein unvollständig Anderer. Die Kategorie der Klasse und Religion lassen ihn vielmehr als ein unvollständiges Selbst erscheinen: 269 Nicht die Differenzen zwischen dem Katholizismus und der Orthodoxie, sondern jene schier unüberbrückbar wirkende Kluft zwischen Christentum und Islam erlangte in der westlichen Wahrnehmung an Wirksamkeit. Unterschiedlich verhielt es sich hingegen mit der Frage der Klasse, war doch die westliche Haltung gegenüber den muslimischen Osmanenherrschern von Solidarität geprägt, die sich deutlich von der Behandlung der armen Emporkömmlinge, wenn auch christlichen Glaubens, unterschied: „Man beschrieb sie (die christlichen Empörlinge, D.F.) in einem Diskurs, der mit jenem, mithilfe dessen man die westlichen unteren Schichten darstellte, beinahe identisch war“. 270 Todorovas Hinweis auf das ,Selbst‘, welches der Balkan mit seinem Außen teile bzw. immer schon vorwegnehme, ist äußerst erhellend. Ob allerdings das Attribut ,unvollständig‘ heute noch das adäquateste ist, wage ich - zumindest, was die Wahrnehmung der jugoslawischen Kriege angeht - zu bezweifeln. In Anbetracht der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, der Erfahrung 266 Saids „transhistorischer, orientalistischer Diskurs“, so Todorova, sei „nicht nur im einfachen Sinne ahistorisch, sondern methodologisch anti-Foucauldistisch“, vgl. Todorova (1999: 25). 267 Vgl. dazu Goldsworthy, Vesna: Der Imperialismus der Imagination: Konstruktionen Europas und des Balkans, in: Gramshammer-Hohl/ Kaser/ Pichler (2003: 253-274). 268 Todorova (2003: 234). Vgl. zum Topos der antemuralis christianitatis: Mančić (2010: 226ff.). 269 Todorova (2003: 234). 270 Ebenda, 234. <?page no="98"?> 1. Forschungsproblematik 98 von Faschismus und lebensvernichtender Selektionsverfahren müsste der im Zuge des kriegerischen Zerfalls Jugoslawiens reaktivierte Balkanbegriff respektive Balkanismus mit der Vorstellung eines westlichen ,verdrängten Selbst‘ in Verbindung gesetzt werden. In einem Aufsatz über Serbien argumentiert Boris Buden mit ähnlicher Stoßrichtung und hebt dabei das Moment des Exzessiven hervor, welches die spiegelbildliche Dimension bis zur (Selbst-)Verkennung entstellt. […] [w]as die Serben heute zum Exzeß macht, ist keinesfalls ihr politisches Projekt als solches, sondern eine Art „Übermaß“ darin, ein ästhetisch und moralisch skandalöser Überschuß, der, obwohl offensichtlich politisch verursacht, nie als etwas an sich Politisches erlebt wird. Es ist dieser Exzeß, der heute das westliche Blickfeld beherrscht und jeden Versuch, den „Fall Serbien“ in die europäische historische Erfahrung einzuschreiben, zunichte macht. So erkennt der westliche Blick im heutigen Serbien keine Ähnlichkeit mit der eigenen politischen Wirklichkeit, sondern sieht statt dessen immer nur eine unerträgliche Differenz. Gerade in diesem Sinne übernimmt der serbische Exzeß eine wichtige Funktion in der Selbstreflexion des modernen Westens. Er ist die Form, in welcher sich der Westen einer Auseinandersetzung mit den eigenen politischen Widersprüchen entzieht und traumatische politische Ereignisse, die er im Rahmen der herrschenden liberaldemokratischen Ideologie nicht konzeptualisieren kann, in eine zeitliche und räumliche, in letzter Konsequenz immer schon kulturelle Differenz hinausschiebt. 271 Den Vorgang der Übertragung einer supponierten Balkanität auf den jeweils Anderen, auf das jeweilige Nachbarland hat die Religionswissenschaftlerin Milika Bakić-Hayden mit ‚nesting Orientalisms‘ umschrieben - wodurch eine Einschätzung des Balkanismus als einer Variante des Orientalismus suggeriert wird. Insbesondere im ehemaligen Jugoslawien und seinen Nachfolgeländern sei das ‚Ineinanderschachteln von Orientalismen‘, so die deutsche Übersetzung, am Werk gewesen, 272 ein „orientalist framework of analysis“ 273 kennzeichnet neben manchen westlichen Beobachter/ innen vornehmlich Jugoslaw/ innen aus den nördlichen und westlichen Teilen. Nicht zuletzt als Reaktion auf den europäischen Einigungsprozess wurden alte dichotomische Grenzziehungen und Momente aus der pre-jugoslawischen Vergangenheit reaktiviert und essentialistische Vorstellungen von Religion und Kultur stark 271 Buden (2008: 315). Dieser Dynamik verwehrt sich Ingvild Birkhan, Julia Kristevas Buchtitel Fremde sind wir uns selbst zitierend: „Die alten, selbsterlebten Szenen und das emotionale Warum waren in den Hintergrund geraten: Fremde sind wir uns selbst.“ (Birkhan, Ingvild: Zum Pathos von Krieg und Tod im problematischen Kontext kollektiver Identität, in: Krieg/ War. Eine philosophische Auseinandersetzung aus feministischer Sicht, hg. v. Wiener Philosophinnen Club, München: Fink 1997, 143-151, 143.) 272 Bakić-Hayden (1995: 922). 273 Bakić-Hayden/ Hayden (1992: 2). <?page no="99"?> 1.3 Multiple Kontextualisierung 99 gemacht. 274 In ihrer Argumentation zieht Bakić-Hayden jenen - vermeintlich - fundamentalen Unterschied zwischen christlich-westlicher Zivilisationen und dem Islam heran, der gleichfalls Huntingtons Thesen vom Kampf der Kulturen fundiert. Während aber Huntington ein affirmativer Gestus unterlegt werden kann, setzt Milica Bakić-Hayden auf einer weitgehend analytischdeskriptiven Ebene an. Symptomatisch für die Prozesse der Balkanisierung im ehemaligen Jugoslawien sind, wie Emilija Mančić aufgezeigt hat, die Verfahren der Exklusion und Inklusion sowie der Bestätigung von Differenzen als Hierarchien: der Einsatz des Balkanbegriffs wird nunmehr zum „Mittel diskursiver Gewalt“. 275 In diesem Lichte betrachtet entspricht die jugoslawische Balkanismus- Dynamik im Kleinen derselben Logik, demselben Bedürfnis nach Andersheit, welche/ s auch in den Kroatien- und Bosnien-Kriegen in einem ungleich gewaltigeren Ausmaß am Werk war. Andersheit nämlich war in der homogenisierenden Perspektive - oder, besser: dem Narrativ - der Brüderlichkeit und Einheit nicht mehr wahrzunehmen. 276 Doch so ergiebig das Studium des Niederschlags von Balkanismus in den einzelnen jugoslawischen Republiken, angefangen mit Slowenien und Kroatien ab den 1980er Jahren, auch sein mag: Wird der Fokus auf die strukturelle Dynamik, die der Polarisierung und Stigmatisierung via Balkan-Stereotypen inhärent ist, gelegt, läuft man unweigerlich Gefahr, das Spezifische von ,Balkanismus‘ und mithin die Auseinandersetzung mit dem als ,unvollständig‘, ,exzessiv‘ oder ,verdrängt‘ zu fassenden ,Selbst‘ aus den Augen zu verlieren. Said siedelte den Orientalismus vorwiegend im akademischen Diskurs an - in welchem Ausmaß hat sich nun der balkanistische Diskurs auf intellektuelle Institutionen und Traditionen ausgewirkt? Der in Belgrad lehrende Soziologe Dušan I. Bjelić verortet Balkanismen als Wissensformationen in der Region selbst: „In this respect, Balkanisms are an intellectual export industry of the Balkans.“ 277 Todorova hingegen entwickelt ihr Verständnis von Balkanismus aus den verschiedenen publizistischen Genres in Fremdperspektive: „Reisebeschreibungen, politischer Essayismus und besonders dieser unglückliche Hybride, der akademische Journalismus.“ 278 Kurzum, der balkanistische Diskurs sei „vorrangig in journalistischen und quasi-journalistischen Literaturformen präsent“, wohingegen der Bereich der Belles Lettres - auch im Unterschied zu Saids Arbeit - von Todorova wohlgemerkt nicht genannt wird. Auf das Genre der fiktionalen Unterhaltungsliteratur wiederum hat Vesna Goldsworthy mit ihrer Untersuchung britischer Autor/ innen und den von ihnen im 19. und 20. Jahrhundert geschaffenen fiktiven Balkan aufmerksam 274 Vgl. Bakić-Hayden (1995). 275 Mančić (2010: 221ff.). 276 Vgl. Blagojev ić (1997: 44). 277 Bjelić, Dušan I.: Introduction: Blowing Up the ‚Bridge’, in: ders./ Savić (2002: 1-22, 7). 278 Todorova (1999: 39). <?page no="100"?> 1. Forschungsproblematik 100 gemacht. 279 Paradigmatisch für all jene Romane, in denen der balkanische Schauplatz für Gewalt, Irrationalität, Chaos steht und Angst, Grauen und Schrecken erregt, ist Bram Stokers 1897 verfasster und im damals zu Österreich-Ungarn, heute zu Rumänien gehörenden Transsilvanien spielender Roman Dracula. 280 Aufgrund ihrer Ungebundenheit von jeglichen Parametern einer wahrheitsgetreuen Repräsentation sei, so Goldsworthy, insbesondere die Unterhaltungsliteratur als Medium für die Verbreitung von bestimmten stereotypen Darstellungen und Motiven besonders geeignet. 281 Der Begriff ‚Stereotyp‘ 282 bezeichnet die schematisierten, weit verbreiteten und feststehenden Vorstellungen einer Gruppe von sich selbst (Autostereotype) oder von einer anderen (Heterostereotype). 283 Stereotypen wird ein beachtliches Maß an Resistenzfähigkeit gegenüber sozialem und historischem Wandel zugeschrieben; nichtsdestotrotz bietet die Geschichte nicht nur Beispiele der politischen Manipulierbarkeit, sondern belegt auch ihre Veränderbarkeit. 284 In den Literatur- und Geisteswissenschaften ist der Begriff eher pejorativ konnotiert. Geringe ästhetische Qualität, Unterminierung von reflexiver und intellektueller Leistung - so lauten die gängigen Vorwürfe. Der bloße Tatbestand, dass auch literarische Texte eine zentrale Rolle für die Verbreitung von Stereotypen spielen 285 - da sie nämlich zentrale Momente in jedem (trans)kulturellen Kontext darstellen und ihre Schaffung ein menschli- 279 Vgl. Goldsworthy (2003), wobei sie auch auf die maßgebliche Teilhabe der französisch- und deutschsprachigen Kultur an der Konstruktion eines Balkanismus-Diskurses verweist. 280 Vgl. Stoker, Bram: Dracula. Ein Vampirroman. Deutsch v. Stasi Kull, München: Hanser 1967. Vgl. dazu auch den Aufsatz von: Longinović, Tomislav Z.: Vampires Like Us. Gothic Imagnary and ‚the serbs’, in: Bjelić/ Savić (2002: 39-59). 281 Vgl. Goldsworthy (2003: 258f.). 282 Vgl. den Eintrag zu ‚Stereotyp‘ in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze - Personen - Grundbegriffe. Hg. v. Ansgar Nünning. 4., aktual. u. erw. Ausg., Stuttgart u.a.: J. B. Metzler 2008, 679. 283 Ausschnitte der nun folgenden Ausführungen finden sich bereits in: Finzi, Daniela: Ambivalenz als Appell. Weiterführende Bemerkungen zu Freud, Bhabha und Ruthner, in: Babka, Anna/ Malle, Julia (Hgg.): Dritte Räume. Homi K. Bhabhas Kulturtheorie. Anwendung. Kritik. Reflexion. U. Mitarb. v. Ursula Knoll u. Matthias Schmidt, Wien u.a.: Turia + Kant 2012, 65-68. 284 Vgl. Trautmann, Günther: Vorurteile, Fremdbilder und interkulturelles Lernen, in: Brütting, Richard/ ders. (Hgg.): Dialog und Divergenz. Interkulturelle Studien zu Selbst- und Fremdbildern in Europa. Länderschwerpunkte: Italien, Rußland, Ex- Jugoslawien, Schweiz und Deutschland. Ergebnisse Internationaler Seminare 1992- 1996, Frankfurt/ Main u.a.: Lang 1997, 23-31. 285 Vgl. Fludernik, Monika: Selbst- und Fremdbestimmung. Literarische Texte und die Thematisierung von Aus- und Abgrenzungsmechanismen, in: Vogel, Elisabeth/ Napp, Antonia/ Lutterer, Wolfram (Hgg.): Zwischen Ausgrenzung und Hybridisierung. Zur Konstruktion von Identitäten aus kulturwissenschaftlicher Perspektive, Würzburg: Ergon 2003 (Identitäten und Alteritäten 14), 123-143, 125. <?page no="101"?> 1.3 Multiple Kontextualisierung 101 ches Grundbedürfnis zu sein scheint -, wird so schlichtweg übergangen. Demgegenüber interessiert sich die Sozialpsychologie für Stereotypen gerade aufgrund ihrer Verringerung von Komplexität, der identitätsstiftenden Verlagerung von Aggressionen nach außen und der damit einhergehenden Reduzierung der Konflikte innerhalb. Hinzu kommt, dass sie zur diskursiven Legitimation von sozialen Handlungen fungieren können. Clemens Ruthner, der mit Homi K. Bhabhas Rückendeckung eine kulturwissenschaftliche Weiterentwicklung der Imagologie sowie Operationalisierung von Sterotypen in Angriff nimmt, versteht diese als Waren - „sie appellieren konsumistisch an die narzisstische Spannung von Angst und Begehren, die sie letztlich auch hervorgebracht hat“ 286 - und als Formen symbolischer Machtausübung im Rahmen internationaler und nationaler Machtkonstellationen. Ihre widersprüchliche Natur und ambivalenten Leistungen stehen im Zentrum von Homi K. Bhabhas Beschäftigung mit Stereotypen. In seinem 1992 verfassten Aufsatz „Die Frage des Anderen. Stereotyp, Diskriminierung und der Diskurs des Kolonialismus“ verortet Bhabha die Kraft der Ambivalenz an unterschiedlichen Instanzen, so auch im Stereotyp als solchen: Der Umstand, dass das Stereotyp stets von widersprüchlichen Bedeutungszuschreibungen markiert ist, die sowohl aus Unvereinbarkeiten als auch aus seiner eigenen Teleologie resultieren, macht seine unaufhörliche Wiederholung notwendig. Diese Ambivalenz betrifft nach Bhabha gleichfalls auch das Subjekt des Kolonialherrn, betrifft auch den Betrachter/ die Betrachterin wie auch den Autor/ die Autorin literarischer und theoretischer Texte über den Kolonialismus, über den/ die Andere/ n. Denn schließlich ist der Prozess der Einbindung (des Zuschauers, der Leserin) und psychischen Identifikation stets ein ambivalenter. Eine vereinfachte Sichtweise auf den Zuschauer/ die Zuschauerin bzw. die Sicht eines einheitlichen Artikulationsortes kommt immer dann zustande, wenn dem Stereotyp ein Verständnis und Vertrauen entgegen gebracht wird, „als böte dieses zu jeder beliebigen Zeit einen sicheren Identifikationspunkt“. 287 Wenn sowohl dem unbewussten Pol des kolonialen Diskurses als auch dem Begriff des Subjektes Geschlossenheit und Kohärenz zugeschrieben werden, so ist es nicht länger möglich, die Ambivalenz der Beziehungen von Wissen und Macht sowie die „Funktion des Stereotyps als Phobie und Fetisch“ 288 zu erkennen. Seinen Ansatz, der die Ambivalenz der Autorität des Betrachters und seiner Identifikationsordnungen anerkennt, nennt Bhabha denn auch stereotype-as-suture. 289 Das immer durch Aufspaltung bedrohte Subjekt findet im Stereotyp seinen Ursprung und Identität, die 286 Ruthner, Clemens: „Stereotype as a Suture“. Zur literatur- und kulturwissenschaftlichen Konzeptualisierung ‚nationaler‘ Bilderwelten, in: Fassmann/ Müller-Funk/ Uhl (2008: 301-322, 322). 287 Bhabha, Homi K.: Die Frage des Anderen. Stereotyp, Diskriminierung und der Diskurs des Kolonialismus, in: ders: (2000: 97-124, 102). 288 Ebenda, 107. 289 Ebenda, 118. <?page no="102"?> 1. Forschungsproblematik 102 auf Ablehnung und Angst, Herrschaft und Lust basiert. In diesem Sinne ist das Stereotyp als Fetisch zu denken: Das von Freud besprochene Problem der Kastration und die Ableugnung der sexuellen Differenz wird bei Bhabha in ein Setting von Phantasie und Abwehr übersetzt, in dem das Verlangen nach einer Ursprünglichkeit durch die Unterschiede von Rasse, Hautfarbe und Kultur bedroht ist. Analog zum Fetisch bei Freud, der von „ganz raffinierten Fällen“ berichtet, in denen es „der Fetisch selbst [ist], in dessen Aufbau sowohl die Verleugnung wie die Behauptung der Kastration Eingang gefunden haben“, 290 kann das Stereotyp zwei widersprüchliche Positionen bzw. Überzeugungen gleichzeitig einnehmen. Mit seiner Übersetzung Freuds zielt Bhabha nun nicht auf das Verständnis eines innerpsychologischen Phänomens, sondern weist auf die Effektivität des stereotypen Bildes als eine Verklammerung von Macht, Herrschaft, Widerstand und Abhängigkeit hin. Ambivalenz in Bhabhascher Prägung stellt sich als eine Instanz dar, die Objekt und Subjekt des kolonialen oder hegemonialen Diskurses verbindet und nicht trennt. Eine Verortung außerhalb des Diskurses ist unmöglich, das Andere immer ein Teil des Selbst - Bhabhas titelgebende Frage nach dem Anderen schlägt für den Leser/ die Leserin im Laufe der Lektüre zu einer Frage nach dem Eigenen um. Wird Bhabhas Konzept des Stereotyps-als-Betrachter/ ineinbindung ernst genommen und in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Analyse zur Anwendung gebracht, so gilt es, das, den, die ‚Andere/ n‘ nicht zu ghettoisieren, sondern differenziert und damit gleichzeitig weniger - um in der Terminologie zu bleiben - fetischisiert zu denken: gleichfalls eine Warnung vor reduktiven Eigendynamiken im Umgang mit dem epistemologischen Werkzeug. Im Lichte des Ansatzes Bhabhas partizipiert Todorova, ungeachtet ihres Insistierens auf der bildlich dominanten Vorstellung des Balkans als einer Brücke und Übergangszone und der so belegten Sensibilisierung für ein ‚sowohl - als auch‘, an der Auffassung respektive Konstruktion eines homogenen ‚balkanistischen‘ Diskurses im westlichen Europa und den USA. Als Abstraktum und Idealtypisierung war dieser in epistemologischer Hinsicht sicherlich notwendig und auch fruchtbar einzusetzen; die möglichen Brechungen dürfen allerdings in der jeweiligen Fall- und Detailanalyse - letztere fehlen freilich bei Todorova - nicht übergangen werden. Und obwohl sie den kriegerischen Zerfall Jugoslawiens als Katalysator für eine neue Hochphase von Balkanismen in Anschlag bringt, bleibt in ihrem historischen Ansatz die Ära des Zweiten Jugoslawien unter Tito doch gänzlich unterbeleuchtet, und jenes bereits aufgezeigte Potential an Verklärung und Idealisierung, das zwar nicht der Balkan, jedoch Jugoslawien unter Tito bereitstellte, unberücksichtigt. Dass ihr Ansatz um weitere Konzepte und Kategorien, die sich homogenisierenden und eben auch dichotomischen Ordnungen widersetzen, kom- 290 Freud, Sigmund: Fetischismus, in: ders.: Gesammelte Werke. Band XIV. Werke aus den Jahren 1925-1931, Frankfurt/ Main: S. Fischer 1991 7 , 309-317. <?page no="103"?> 103 plettiert, wenn nicht konterkariert werden muss, steht also fest. Was aber bedeutet dies für die konkrete Textanalyse? 1.4 Jenseits der dichotomischen Ordnung Bereits im Zuge der begriffs- und theoriegeschichtlichen Aufarbeitung zeichneten sich zwei Schlüsse ab: Um die erwünschte Kontrastierung und Relativierung zu erzielen, wird in der wissenschaftlichen Untersuchung von ,Identität‘ der Rekurs auf ,Alterität‘ erforderlich. Umgekehrt setzt das Fragen nach dem/ der Anderen, so es nicht zu dessen/ deren Aneignung kommen soll, die offensive Auseinandersetzung mit dem Eigenen voraus. Welche Erkenntnisse hingegen, so galt es gleichermaßen zu fragen, liefern induktive, aus der konkreten Textanalyse gewonne Schlüsse? Inspirierende Ausführungen - und Vorsichtsmaßnahmen - zu der Frage, wie in der besagten konkreten Textanalyse die Begriffe der Identität und Alterität sowie die Kategorie des Balkanismus ertragreich eingesetzt werden können, finden sich in Miranda Jakišas und Sylvia Sasses Aufsatz „Logiken der Feindschaft in der Literatur des ‚Balkans‘. Die jugoslawischen Sezessionskriege als Ausbruch kontingenter Hostilität? “ 291 Die Prosa-Texte ex-jugoslawischer Autoren, so zeigen die beiden auf, thematisieren in der Retrospektive häufig die Beliebigkeit von Feindschaft und die Kontingenz der Kriegsereignisse. Jakiša und Sasse beziehen sich in ihrer Detailanalyse hauptsächlich auf eine Kurzerzählung von David Albahari, die 2007 in dem von Richard Swartz herausgegebenen Sammelband Der andere nebenan erschienen ist. Ohne dass auf die „A-Logik“ 292 des Amoklaufs zurückgegriffen würde, tritt darin Kontingenz als eines der bestimmenden Anti-Narrative auf. Dieses Anti-Narrativ kann nun, so die beiden Literaturwissenschaftlerinnen, als Verweigerung einer Antwort auf genau jene Fragen, die Richard Swartz den Autoren im Vorfeld gestellt hatte, gelesen werden - Fragen, die auch als stellvertretend für das westliche voyeuristische Interesse an den Kriegen ausgelegt werden können: „Why this strife and struggle, why conflict, why the neighbour as an adversary and not a partner? What is the relation to the ‚other‘? “ 293 Albaharis Text Warum ist eine Geschichte, die von einer kontingenten Dynamik ge- 291 Vgl. Jakiša, Miranda/ Sasse, Sylvia: Logiken der Feindschaft in der Literatur des ‚Balkans‘. Die jugoslawischen Sezessionskriege als Ausbruch kontingenter Hostilität? , in: Kempgen, Sebastian u.a. (Hgg.): Deutsche Beiträge zum 14. Internationalen Slavistenkongress Ohrid 2008, München: Otto Sagner 2008 (Die Welt der Slaven 32), 449-459. 292 Ebenda, 453. 293 Vgl. Veličković, Nenad: Bedel, in: Swartz, Richard (Hg.): Der andere nebenan. Eine Anthologie aus dem Südosten Europas, Frankfurt/ Main: Fischer 2007, 271-283, 271. 1.4 Jenseits der dichotomischen Ordnung <?page no="104"?> 1. Forschungsproblematik 104 steuert wird und in der Folter einen jungen Frau endet. Für ihr ‚Warum‘ gibt es keine Antwort. Indem Albahari das Warum der Frau und das Warum von Swartz gegeneinanderstellt, wird [...] sichtbar, worauf beide Fragen jeweils zielen. Während die junge Frau tatsächlich nach dem Grund für die an ihr begangene konkrete Gewalttat sucht, will Swartz Antworten hören, deren Metanarrativ er in seiner Frage schon vorgibt. Worauf zielt ein solches Fragen, scheint Albahari ihm zu antworten, ab? Impliziert eine solche Frage eine kulturspezifische Logik von Feindschaft? Impliziert sie gar eine kulturspezifische Determiniertheit von Feindschaft? 294 Bereits von der Hermeneutik ist das hier zum Tragen kommende Grundproblem, dass jegliches Verstehen von einer bestimmten Fragestellung und mithin einem Vorverständnis des Untersuchungsgegenstandes geleitet wird, erkannt worden. Heruntergebrochen auf die konkrete Textarbeit lautet der prekäre Befund, dass der bloße Wunsch zu verstehen, die Frage nach dem ,Warum‘ respektive nach dem Verhältnis mit dem/ der Anderen ausgerechnet jene Machtpositionen, Lesarten und Dynamiken in Gang setzt, welche die wissenschaftliche Analyse doch ‚eigentlich‘ zu dekonstruieren beabsichtigt. Denn der erwünschten Dezentrierung ethnischer Zuschreibung geht deren Zentrierung voraus; der Auseinandersetzung mit den Spuren und Diskursen über den kulturell Anderen eine Setzung kultureller Differenzen, welche, bei einer Ausblendung der Gemeinsamkeiten, nahezu ontologische Dimension annehmen und in Barrieren verwandelt werden, 295 kurzum den von Todorova erkannten Balkanismen Vorschub leisten können. In einem weiteren, philosophischen Sinne haben wir es hier mit jener Aneignungskultur zu tun, die von Derrida als Metaphysik erkannt wurde. 296 Aufgrund des Wissens ob ihrer Wirkmächtigkeit nun das Fragen nach dem Anderen von vornherein zu unterlassen, ist jedoch keine befriedigende Alternative. Nein, auch in der konkreten Textanalyse müsste die Frage nach dem Anderen mit jener nach dem Eigenen, die Suche nach ,Identität‘ mit jener nach ,Alterität‘ verzahnt - doch dabei mit jener Gleichgültigkeit versehen werden, wie sie im doppelten Wortsinn von Jacques Rancière als Paradox des ästhetischen Regimes der Kunst entwickelt wurde. 297 Um einem totalisierenden Gestus zu entgehen, muss, mit anderen Worten, die Zentrierung um 294 Jakiša/ Sasse (2008: 450). 295 Vgl. dazu Iveković (2001). 296 Vgl. Derrida, Jacques: Positionen. Gespräche mit Henri Ronse, Julia Kristeva, Jean- Louis Houdebine, Guy Scarpetta. A. d. Franz. v. Dorothea Schmidt u. Mitarb. v. Astrid Wintersberger, Wien: Passagen 1986 (Edition Passagen 8), 86f. 297 Vgl. dazu auch Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien. Hg. v. Maria Muhle. A. d. Franz. übers. v. ders., Susanne Leeb u. Jürgen Link, 2., durchges. Aufl., Berlin: b_books 2008. <?page no="105"?> 105 eine Dezentrierung ergänzt werden. Unter diese methodologische Empfehlung fällt auch die von Judith Butler eingeforderte Auseinandersetzung mit dem „unbeschränkbare[n] et cetera“, 298 sowie Mieke Bals Regel respektive Rat, den scheinbar themenfremden ,Stoßrichtungen‘ eines Textes nachzugehen: Die Regel, an die ich mich halte, zu der ich meine Studenten anhalte und die sich als die spannendste und fruchtbarste Einschränkung erwiesen hat, die mir je vorgekommen ist, besagt, daß man niemals bloß „theoretisieren“, sondern dem Objekt stets die Möglichkeit geben soll, „Widerworte zu geben“. Objekte werden durch pauschale Aussagen über sie oder durch ihren Gebrauch zu bloßer Exemplifizierung stumm. Eine detaillierte Analyse, bei der ein Zitat nie als Illusion dienen kann, sondern stets eingehend und bei gleichzeitiger Außerkraftsetzung aller Gewißheiten im Detail überprüft wird, widersteht der Reduktion. 299 Dieses ‚Der-Reduktion-Widerstehen‘ macht es gleichfalls unerlässlich, epistemologische Instrumente einzusetzen, die nicht länger dichotomischen Beziehungen verhaftet sind. Eine Denkfigur, die die Überwindung von Antagonismen ankündigt, ist jene der Hybridität, wie sie in unterschiedlichen Ausformungen vornehmlich von Homi K. Bhabha entwickelt wurde. Mit seiner Operationalisierung des Begriffes steht Bhabha in der Tradition von Michail Bachtin, der in seinem Aufsatz „Das Wort im Roman“ (1934/ 1935) den Roman als „Romanhybride“ 300 bezeichnet hat. „Hybridisierung“ als „Vermischung zweier sozialer Sprachen innerhalb einer einzigen Äußerung“ 301 bewirkt für Bachtin die polytonale Gestalt des Romans. Sie eröffnet die Möglichkeit, gegenläufige Stimmungen mittels (un)bewusster Vermischungen und Kontraste als/ in Vielstimmigkeit zu fassen - was durchaus auch als politisches Potential zu begreifen ist. An dieser Stelle setzt Bhabha denn auch an, wenn er die Praktiken des ungleichen Kulturaustausches im 298 „Auch die Theorien feministischer Identität, die eine Reihe von Prädikaten wie Farbe, Sexualität, Ethnie, Klasse und Gesundheit ausarbeiten, setzen stets ein verlegenes ‚usw.‘ an das Ende ihrer Liste. Durch die horizontale Aufzählung der Adjektive bemühen sich diese Positionen, ein situiertes Subjekt zu umfassen; doch gelingt es ihnen niemals, vollständig zu sein. Dieses Scheitern ist aber äußerst lehrreich, denn es stellt sich die Frage, welcher politischer Impetus aus dem ‚usw.‘ abzuleiten ist, das so oft am Ende dieser Zeilen auftaucht. Tatsächlich ist es ebenso ein Zeichen der Erschöpfung wie ein Zeichen für den unbegrenzbaren Bezeichnungsprozeß selbst. Dieses ‚usw.‘ ist das supplément, der Überschuß, der zwangsläufig jeden Versuch, die Identität ein für allemal zu setzen, begleitet. Dennoch bietet sich dieses unbeschränkbare et cetera als neuer Ausgangspunkt für die feministische Theorie an.“ [Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. A. d. Amerikan. v. Katharina Menke, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1991 (edition suhrkamp 1722), 210.] 299 Bal (2006a: 18.). 300 Bachtin, Michail M.: Das Wort im Roman, in: ders.: Die Ästhetik des Wortes. Hg. u. eingel. v. Rainer Grübel. A. d. Russ. übers. v. Rainer Grübel u. Sabine Reese, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1979 (edition suhrkamp 967), 154-300, 246f. 301 Ebenda, 244. 1.4 Jenseits der dichotomischen Ordnung <?page no="106"?> 1. Forschungsproblematik 106 kolonialen Kontext analysiert und unter Rekurs auf die Psychoanalyse Lacans und Derridas différance-Begriff 302 sein Verständnis von Hybridität entwickelt: Hybridität als eine Instanz im Akt der diskriminatorischen Kolonisierung, welche die Verleugnung und gewaltsame Entortung der kolonialen Autorität aufzeigt und umdreht. 303 Die Nähe des Begriffes zur Bhabhaschen Auffassung von ‚Third Space‘ ist eklatant, 304 fasst der postkoloniale Theoretiker darunter doch die Einsicht, dass „[d]er interpretatorische Pakt […] nie einfach in einem Akt der Kommunikation zwischen dem in der Aussage festgelegten Ich und Du [besteht].“ 305 Vielmehr besteht Bewegung zwischen diesen beiden Orten, durchlaufen sie gleichsam den besagten ,Dritten Raum‘. „Dieser Raum repräsentiert sowohl die allgemeinen Bedingungen der Sprache als auch die spezifische Implikation der Äußerung innerhalb einer performativen und institutionellen Strategie, derer sich die Äußerung nicht ‚in sich‘ bewußt sein kann. Durch diese unbewußte Beziehung kommt es zu einer Ambivalenz im Akt der Interpretation.“ 306 In diesem Sinne möchte ich für die nun folgende Textarbeit den ,Third Space‘ als einen Frei- und Ver-Handlungs-Raum zwischen Fragendem/ r und Befragtem/ r verstehen. Die Denkfigur soll helfen, Hierarchisierungen, binäre Ordnungen, Fokussierungen auf Zentrum und Ursprung sowie auf Dynamiken von Ein- und Ausschluss zu vermeiden, möge fortwährend die unterschiedlichen ‚Knotenpunkte‘ der untersuchten Thematik vergegenwärtigen und zu einer offensiven Positionierung anhalten. Hybridität wiederum begreife ich 302 Jacques Derrida führte die ‚différance‘ in einem im Jänner 1968 vor der Société française de philosophie gehaltenen Vortrag erstmals explizit ein. ‚Différence‘ ist die substantivierte Form des Verbs ‚différer‘, das zum einen ‚sich unterscheiden, voneinander abweichen‘ und zum anderen ‚aufschieben, zurückstellen, verschieben‘ bedeutet. Die Aussprache bleibt gleich, wenn das Wort zum partizipalen ‚différent‘ und damit zum Unterscheidenden/ Aufschiebenden wird. Das ‚a‘ (statt eines ‚e‘) im Neologismus ‚différance‘ soll anzeigen, dass weder eine herkömmliche Differenz noch ein Prinzip benannt wird. ‚Différance‘ ist ein Nicht-Begriff, der sozusagen in sich selber differiert und die Differenz von Sprache und Schrift markiert: phonetisch sind ‚différence‘ und ‚différance‘ identisch. Derridas Anliegen war es, unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die Bedeutung einer sprachlichen Äußerung mit jeder neuen Äußerung verschoben wird, Lektüren von (textuellen) Theorie-, Kunst- oder Politikarchitekturen im Hinblick auf ihre uneingeschränkten, nicht hinterfragbaren allgemeinen Begriffe vorzunehmen. 303 Vgl. dazu Bhabha, Homi K.: Zeichen als Wunder. Fragen der Ambivalenz und Autorität unter einem Baum bei Delhi im Mai 1817, in: ders. (2000: 151-180, 169f.). 304 Vgl. dazu Bhabhas im Zuge eines Interviews suggerierte Gleichsetzung der beiden Begriffe, in: Rutherford, Jonathan: The Third Space. Interview with Homi Bhabha, in: Rutherford, Jonathan (Hg.): Identity: Community, Culture, Difference, London: Lawrence and Wisheart 1990, 207-221, 211. 305 Bhabha, Homi K.: Bhabha, Homi K.: Das theoretische Engagement, in: ders.: (2000: 29-58, 55). 306 Ebenda. <?page no="107"?> 107 auf rezeptionsästhetischer Ebene als Einsicht in die wechselseitige Durchdringung und Kontaminierung; auf produktionsästhetischer Ebene meint es möglicherweise jenen von Elfriede Jelinek in ihrem mit „(Heine/ Handke)“ untertiteltem Blogeintrag formulierten Einblick: Also da gibt es im Schreiben immer das Trotzdem. Und das Dazwischen. Und dort hinein haben wir uns zu begeben, auch wenn es dort eng wird . 307 307 Jelinek, Elfriede: Aus gegebenem Anlaß, aber ich habe ihn nicht gegeben, ich habe ja nichts zu geben, und ich habe nichts zuzugeben. (Handke/ Heine), 30.5.2006, abrufbar unter: http: / / www.elfriedejelinek.com/ , 31.1.2013. 1.4 Jenseits der dichotomischen Ordnung <?page no="109"?> 2 Literaturwissenschaftliche Prolegomena In seiner 1980 erschienenen L'invention du quotidien unterzog Michel de Certeau die Leseaktivität als Alltagspraxis einer eingehenden Analyse. Lesen konzeptualisierte er nicht als „Höhepunkt von Passivität“, sondern als „stille[...] Produktion“. 308 Eine solche Auffassung von Literatur fokussiert die als dynamisch begriffenene Aneignung eines Textes, und den Prozess des Lesens als einen politischen, potentiell subversiven. Es sind dies Momente, die auch in der ,wissenschaftlichen Lektüre‘ am Werk sind bzw. berücksichtigt werden müssen. Nachdem im vorigen Kapitel die unterschiedlichen kontextuellen Parameter abgesteckt wurden, werden nun jene Kategorien, die in literaturtheoretischer Rolle zu berücksichtigen sind, vorgestellt: Kategorien wie Mimesis, Leseakt, Erwartungshorizont, kulturelles Wissen. Außerdem wird eine gattungsgeschichtliche Annäherung mit besonderem Fokus auf die Reiseerzählung vorgenommen sowie die Verbindungslinien zwischen Reiseliteratur und Kriegsberichterstattung nachgezogen. 2.1 Mimesis Spätestens seit Hugo von Hofmannsthals Chandos-Brief (1902) setzt sich die Literatur ausdrücklich mit der Frage auseinander, ob und wie sie die Wirklichkeit erreichen kann. Die Auseinandersetzung mit dem Spannungsverhältnis von Literatur und Welt dagegen reicht in die antike Tradition mit ihrer These vom ‚mimetischen‘ Charakter der Dichtung zurück. Vorrangig waren es Platon und Aristoteles, die den Horizont abgesteckt hatten, innerhalb dessen der mimetische Charakter von Dichtung und Kunst im ästhetischen Diskurs erörtert und interpretiert, das Verhältnis zwischen affirmativem und kritischem Kunstverständnis immer neu ausgehandelt wurde. Während Platon, der sie im Kontext seiner Ideenlehre als Abbilder der Abbilder versteht, die Scheinhaftigkeit des künstlerischen Artefakts kritisierte, 309 erkannte Aristoteles Dichtung und Kunst als eigenständige Medien der Welterkenntnis und Wahrheitsvermittlung an - und unterzog sie einer entscheidenden Aufwertung. Im neunten Buch seiner Poetik führte er die Dichtung als Mimesis von Handlungen (pragmata) ein, das Mögliche neben dem Wirklichen als Gegenstand der mimetischen Darstellung begreifend: „Aufgrund des Gesagten ist auch klar, dass nicht dies, die geschichtliche Wirklichkeit (einfach) wiederzu- 308 Certeau, Michel de: Kunst des Handelns. A. d. Franz. v. Ronal Voullié, Berlin: Merve 1988, 26. 309 Platons Verdikt über die künstlerische Darstellung als Mimesis zweiter Ordnung trifft auch und gerade das dichterische Werk, vgl. Platon: Der Staat (Politeia). Übers. u. hg. v. Karl Vretska, Stuttgart: Reclam 2008, 439 (Zehntes Buch, 600 e). <?page no="110"?> 2. Literaturwissenschaftliche Prolegomena 110 geben, die Aufgabe eines Dichter ist, sondern etwas so darzustellen, wie es gemäß (innerer) Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit geschehen würde, d.h., was (als eine Handlung eines bestimmten Charakters) möglich ist. 310 Mit Wolfgang Iser lässt sich zusammenfassend festhalten, dass Mimesis von Beginn an „ein ambivalenter Begriff gewesen [ist], der seine schillernde Doppeltheit bis heute nicht völlig verloren hat.“ 311 Die gängige Übersetzung von ‚Nachahmung‘ wird mithin dem komplexen Bedeutungsspektrum - ‚Vorführung‘, ‚sinnliche Präsentation‘, ‚Darstellung des Wirklichen, Wahrscheinlichen oder Möglichen’ - nicht gerecht. Auch Erich Auerbach hat Mimesis als zentrales Element der europäischen Geistesgeschichte verstanden, dessen künstlerische Ausgestaltung je nach Epoche unterschiedlich ausfällt. In seinem grundlegenden Werk mit dem Titel Mimesis hat er den Bedeutungswandel des Mimesis-Begriffs von der Antike über das Mittelalter bis zur Neuzeit mit ihrem schöpferischen Selbstverständnis und der Emanzipation vom ‚Natürlichen‘ aufgezeigt. Dargelegt wird darin, wie die Geschichte der Auslegungen und Ablehnungen des Mimesis-Programmes von den je unterschiedlichen Vorstellungen von Wirklichkeit kundtut. 312 Wie das Verhältnis von Weltnachahmung und Welterzeugung eines Textes aufgeschlüsselt wird, so ließe sich schlussfolgern, gibt somit nicht Aufschluss über den ‚tatsächlichen‘ oder von seinem Autor/ seiner Autorin beabsichtigten spezifischen Wirklichkeitsbezug, als vielmehr Auskunft über die Erwartungshaltung des Lesers/ der Leserin sowie dessen/ deren Wirklichkeitsbegriff und Auffassung von Literatur. Im Hinblick auf die signifikante Frage nach der Aufschlüsselung des Verhältnisses von literarischem Werk und außerliterarischer Wirklichkeit bringt nun die bedeutsame Rolle des/ der jeweiligen Leser/ in mit sich, dass im konkreten Rezeptionsakt nicht entscheidend ist, ob der Anspruch der Referenzialisierbarkeit eingeklagt werden darf, sondern einzig, ob dieser eingeklagt wird. 313 Wäre es also verkürzt, den Wirklichkeitsbezug von Literatur als mimetisch im Sinne von abbildend zu fassen, so sprechen mit metaphorischem Referenzmodus doch alle literarischen Texte, selbst die lyrischen, von der Welt, wie der Philosoph Paul Ricœur in seinem Werk La métaphore vive (1975) 310 Aristoteles: Poetik. Übers. u. erläutert v. Arbogast Schmitt, Berlin: Akademie Verlag 2008, 13. 311 Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1991 (stw 1101), 481. 312 Vgl. Auerbach, Erich. Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Tübingen u.a.: A. Francke 2001 10 . 313 Vgl. zu dieser konstruktivistischen Auffassung: Prangel, Matthias: Das Geschäft mit der Wahrheit. Zu einer zentralen Kategorie der Rezeption von Kriegsromanen der Weimarer Republik, in: Hoogeveen, Jos/ Würzner, Hans (Hgg.): Ideologie und Literatur(wissenschaft), Amsterdam: Rodopi 1986 (Amsterdamer Publikationen zu Sprache und Literatur 71), 47-78, 59. <?page no="111"?> 2.1 Mimesis 111 festhält. 314 Die zentrale Frage nach der ‚Referenz‘ weiter verfolgend, widmet er sich im ersten Band seines dreibändigen Werkes Zeit und Erzählung, das im französischen Original 1983 erschien, dem „konkreten Prozeß, durch den die Textkonfiguration zwischen der Vorgestaltung (préfiguration) des praktischen Feldes und seiner Neugestaltung (refiguration) in der Rezeption des Werkes vermittelt“, 315 und nennt den Zusammenhang zwischen diesen drei Formen der Mimesis, obgleich als Stufenmodell konzeptualisiert, „Kreis der mimẽsis“. 316 Insbesondere die gedächtnistheoretisch informierte Literaturwissenschaft, wie sie am Gießener Graduiertenzentrum Kulturwissenschaften (GGK) u.a. von Ansgar Nünning und Astrid Erll entwickelt wurde, hat sich an Ricœurs Überlegungen zur Mimesis angelehnt; die Darstellung von Gedächtnis und Erinnerung in literarischen Texten haben Nünning und Erll denn auch als „Mimesis des Gedächtnisses“ konzeptualisiert. 317 Die von Ricœur erkannte Wirkmächtigkeit kultureller Präfiguration (mimẽsis I) lässt sich sowohl auf fiktionale als auch historische Texte umlegen. Schließlich, so Ricœur, beruhe jegliche Fabelkonstruktion auf einem „Vorverständnis vom menschlichen Handeln [...]: von seiner Semantik, seiner Symbolik und seiner Zeitlichkeit“, 318 und folglich das Verständnis einer Geschichte auf dem Verständnis ihrer kulturellen Überlieferung, der Einschreibung in symbolische Ordnungen. In den narrativen, vom Schreibenden wie auch dem/ der Lesenden vorgenommenen Akt des ‚Verwandelns‘ geht somit immer schon ein Setting der pränarrativ strukturierten Lebenswelt ein. Mit Rekurs auf Clifford Geertz verweist Ricœur auf einen semiotischen Kulturbegriff und konzeptualisiert Symbolik als jeglicher Handlung immanente Bedeutung. 319 Von dieser ersten, auf die vorgängige außerliterarische Wirklichkeit mit ihren symbolischen Ordnungen und den darin bereits kursierenden Versionen von Selbst- und Fremdbildern, individuellen und kollektiven Gedächtnisinhalten als Formatierungsgrundlage für Literatur verweisenden Stufe löst 314 Ricœur, Paul: Fünfte Studie. Metapher und Referenz, in: ders: Die lebendige Metapher. A. d. Franz. v. Rainer Rochlitz, München: Wilhelm Fink 1986 (Übergänge 12), 209- 251. 315 Ricœur, Paul: Zeit und Erzählung. Band I: Zeit und historische Erzählung. A. d. Franz. v. Rainer Rochlitz, München: Fink 1988 (Übergänge 18/ I). Die, wie Ricœur selbst darauf hinweist, „fundamentalen Gabelung von historischer und Fiktionserzählung“ (ebd. 87) berücksichtigt dieser erste Band der dreiteiligen Werkes noch nicht. 316 Ebenda, 115. 317 Vgl. Erll, Astrid/ Nünning, Ansgar: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft: Ein Überblick, in: dies./ Gymnich, Marion (Hgg.): Literatur - Erinnerung - Identität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien, Trier: WVT 2003 (ELCH 11), 3-27. 318 Ricœur (1988: 103). 319 Vgl. zum semiotischen Kulturbegriff: Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur, in: ders.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Übers. v. Brigitte Luchesi u. Rolf Bindemann, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1987 (stw 686), 7-43, 21. <?page no="112"?> 2. Literaturwissenschaftliche Prolegomena 112 sich die zweite (mimẽsis II) ab. Hier, an der Schnittstelle zwischen dem Vorher und dem Nachher der Konfiguration, beginnt der Eintritt in die dynamische Welt des „Als ob“, 320 in der die Fabel als Vermittlerin auftritt und ihre hervorragende Funktion eine Syntheseleistung ist: sie vereinigt so heterogene Faktoren wie „Handelnde, Ziele, Mittel, Interaktionen, Umstände, unerwartete Resultate“, 321 vermittelt ihre eigene Zeitlichkeit sowie verbindet die chronologische und nichtchronologische Zeitdimension, um die Nachvollziehbarkeit der sodann ‚Geschichte‘ zu nennenden Anordnung zu gewährleisten. Hier, auf der zweiten Stufe der Mimesis, ist gleichfalls der für Literatur als Symbolsystem so zentrale Prozess des ‚Wie‘ anzusiedeln, die Modellierung und Anwendung ästhetischer Verfahren, hier also könnte eine Theorie des Schreibens ansetzen. Jene des Lesens hingegen bedarf der dritten: mimẽsis III. Nun erst, im Akt der Rekonfiguration, im Leseakt, erfolgt der Eintritt des Werkes in den Bereich der Kommunikation und der Referenz, jener „Erfahrung, die es zur Sprache bringt“ 322 . „Eine Geschichte mitvollziehen heißt“, so pointiert Ricœur, „sie lesend zu aktualisieren.“ 323 Mit Blick auf die Beziehung von Literatur und Welt soll abschließend davor gewarnt werden, diese als eindimensional, als Abbild- oder Ursache- Wirkung-Verhältnis zu hypostasieren. Eine primäre Wirklichkeitsreferenz von literarischen Texten hingegen muss berücksichtigt, die unterschiedlichen Traditionen und Entwicklungen des Mimesis-Begriffes sowie jene der Repräsentation als notwendig mittelbarer Darstellung in Evidenz gehalten werden: „Darstellung [von etwas, D.F.] in etwas anderem und durch etwas anderes, [...] von etwas, das ohne solche Vermittlung weder faßbar noch existent wäre.“ 324 Mithin beruht auch letztere, die Repräsentation (semiotischer und politischer Art), analog zum Ricœurschen Mimesis-Modell auf einer dreigliedrigen Struktur, deren einzelne Pole sich dabei in einem Interdependenz- Verhältnis befinden. Spätestens seit Heisenbergs Unschärferelation, seit seiner Feststellung, dass sich Impuls und Ort eines Elektrons nicht gleichzeitig messbar darstellen lassen, ist davon auszugehen, dass die Darstellung ins Dargestellte eingreift. 325 In der Ethnologie hat diese Einsicht, übersetzt in das Wissen von der Asymmetrie zwischen Forscher/ Forscherin und Erforschtem/ Erforschter, den Anspruch auf eine angemessene Repräsentation des Anderen zum Scheitern verurteilt und ab den späten 1970er Jahren einen als 320 Ricœur (1988: 104). 321 Ebenda, 106. 322 Ebenda, 124. 323 Ebenda, 121. 324 Hart Nibbrig, Christiaan L. (Hg.): Zum Drum und Dran einer Fragestellung. Ein Vorgeschmack, in: ders. (Hg.): Was heißt „Darstellen“? Frankfurt/ Main: Suhrkamp, 1994 (edition suhrkamp 1696), 7-14, 10. 325 Ebenda, 13. <?page no="113"?> 2.1 Mimesis 113 ‚Writing Culture-Debatte‘ 326 bekannt gewordenen Prozess der Selbstreflexion in Gang gesetzt; und auch in den Postcolonial Studies spielt das Wissen von der Unmöglichkeit darstellungsästhetischer Harmlosigkeit eine gewichtige Rolle. 327 Indes: Die Annahme, dass die Literatur eine Widerspiegelung des Lebens sei, stellt nicht nur die vermutlich einfältigste von ihrem ‚Wesen‘ und ihrer Funktion, sondern aber auch die gebräuchlichste dar. Sie als solche in ihrer Naivität kurzerhand abtun zu wollen, würde die Wirkungsmächtigkeit verkennen, die sie sowohl in geschichtlichen Rezeptionsprozessen 328 wie auch in der Diskussion der verschiedenen literarischen Texte über den kriegerischen Zerfall Jugoslawiens immer wieder erlangt hat. Dass gerade bei der Lektüre von Texten, die sich des Gegenstandes eines zeitnahen Krieges annehmen, etwaige Übereinstimmungen - mehr im Sinne von Wahrscheinlichkeit und Plausibilität als von ‚Tatsächlichkeit‘ verstanden - mit der Realität gesucht werden, ist also wenig verwunderlich. Um Missverständnissen vorzubeugen: Nichts liegt mir ferner, als Faktizität, den indexikalischen Wert einer vermeintlich wahrheitsgetreuen Abbildung als erstes Maß von Literatur zu verstehen. Dann nämlich wird Literatur ihr Charakteristikum schlechthin - die ihr intrikate Vieldeutigkeit - abgesprochen. Nichtsdestotrotz soll der Umstand, dass im konkreten Lektüreprozess, und nicht zuletzt bei ‚friktionalen‘ - fiktionale wie nicht-fiktionale Lektüremuster oft unauflöslich verwebenden - Gattungen wie Reiseliteratur manche/ r Leser/ in auf die vermeintliche Realitätsverhaftung des Textes abhebt, nicht von vornherin ausgeschlossen oder verurteilt werden. Neben dieser für die vorliegende Arbeit so gewichtigen Frage, über welchen - ungeraden oder queren - Bezug ein literarischer Text zum Dargestellten verfügt, auf welche Weise darin Geschichte sich nicht im Sinne von Wahrheits- 326 Vgl. dazu auch Fußnote 576. 327 So hat Gayatri Chakravorty Spivak in Can the Subaltern Speak? dargelegt, dass bereits in der sprachlichen Repräsentation zwei Phänomene - die rhetorisch-ästhetische Darstellung wie auch die politische Stellvertretung - ineinander greifen, sich gegenseitig unterlaufen können [Spivak, Gayatri Chakravorty: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. M. e. Einl. v. Hito Steyerl. A. d. Engl. v. Alexander Joskowicz u. Stefan Nowotny, Wien: Turia + Kant 2008 (es kommt darauf an 6), 29]. Vgl. dazu Babka, Anna: ‚In-side-out‘ the Canon. Zur Verortung und Perspektivierung von postkolonialen Theorien & Gendertheorien in der germanistischen Literaturwissenschaft, in: Bidwell-Steiner, Marlen/ Wozonig, Karin S. (Hgg.): A Canon of Our Own. Kanonkritik und Kanonbildung in den Gender Studies, Innsbruck u.a.: StudienVerlag 2006 (Gendered Subjects 3), 117-132, 124. 328 Die übergeordnete Kategorie, der sich diese Auffassung zuordnen lässt, sieht eine Zusammenführung von Ästhetik und Wahrheit vor, die als regulatives Prinzip seit der Aufklärung bis in die ästhetische und literarische Moderne die Kunst bestimmt hat. Vgl. dazu Leschke, Rainer: Kriegerische Opfer: Von den Verlusten der Kriegserzählung, in: Koch/ Vogel (2007: 98-118, 103). <?page no="114"?> 2. Literaturwissenschaftliche Prolegomena 114 findung dekodieren lässt, sondern aber in symbolischer und imaginärer Überformung auftaucht, 329 ist die Frage nach dem Verhältnis von Literatur und sogenanntem Nicht-Darstellbarem aufgerufen: angeregt von Adornos 1951 veröffentlichtem Diktum, „nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch“, 330 wurde in den letzten sechzig Jahren eine intensive Debatte ob der Darstellbarkeit von Auschwitz - Pars pro toto des Undarstellbaren - entfacht, auf deren Sprengkraft auch heute noch Verlass ist. Auch darf nicht übersehen werden, dass 65 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sich die medialen Darstellungen der Shoah für die Nachwelt in solchem Ausmaß form(at)iert haben, dass Darstellungen und (undarstellbar) Dargestelltes einem Prozess der Verschmelzung unterworfen wurden. „[M]it Worten eine Welt [zu] umfassen, die außerhalb der Vorstellung liegt“ 331 - so lautet die Herausforderung, soll der als nicht-darstellbare, nichterzählbar geltende Gegenstand repräsentiert werden. Wir haben es hierbei meiner Meinung nach nicht mit einer diametralen Opposition zwischen Darstellbarem und Nicht-Darstellbarem, sondern vielmehr mit graduellen Unterschieden zu tun. Schließlich: Ist nicht bereits da, wo das Undarstellbare gedacht wird, es mithin nicht mehr undarstellbar? Tatsächlich zeigt sich, hat man im Hinblick auf Literatur erst einmal von einem genuin mimetischen Verständnis von ‚Wirklichkeitsabbildung‘ Abstand genommen, dass es nicht länger um die Frage geht, ob das ‚Reale‘, auch das vermeintlich Nicht- Darstellbare, Eingang in das symbolische Universum finden kann, sondern vielmehr um die Auseinandersetzung, welche Strategien dafür vonnöten sind. Auch das viel zitierte - und fälschlicherweise oft als moralisches Problem (miss)verstandene - Diktum von Adorno verweist letztendlich auf eine erkenntnistheoretische Herausforderung; dabei lässt Adorno durchaus andere Darstellungsformen als die sprachlich-mimetischen, andere Erkenntnisformen als die begrifflich-diskursiven gelten. Doch welche Strategien lassen sich nun, da es um die symbolische Integration von Extremerfahrungen wie Krieg, Traumata, Tod, Sterben, Lager geht, im Bereich der Literatur ausmachen? Eine - von Lyotard ausgerufene - Option ist es, gerade diese Existenz des Undarstellbaren darzustellen, also „das Gefühl 329 Vgl. dazu Scherpe, Klaus R.: Kulturwissenschaftliche Motivation für die Literaturwissenschaft, in: Müller-Funk/ Plener/ Ruthner (2002: 3-13, 13). 330 Adorno, Theodor W.: Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft (1951), in: ders.: Kulturkritik und Gesellschaft I. Gesammelte Schriften. Band 10.1. Hg. v. Rolf Tiedemann, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1977, 9-30, 30. 331 Emig, Rainer: Augen/ Zeugen. Kriegserlebnis, Bild, Metapher, Legende, in: Schneider, Thomas F. (Hg.): Kriegserlebnis und Legendenbildung. Das Bild des „modernen“ Krieges in Literatur, Theater, Photographie und Bild. Band I, Osnabrück: Universitäts- Verlag Rasch 1999 (Krieg und Literatur/ War and Literature III/ 1997-IV/ 1998), 15-24, 19. <?page no="115"?> 2.2 Leseakt, Erwartungshorizont, kulturelles Wissen 115 dafür zu schärfen, daß es ein Undarstellbares gibt.“ 332 Dies impliziert auch für Lyotard neue Darstellungen, womit er die von Anna Kim in ihrem Text „Experiment und Krieg“ einklagte Erfordernis denn auch schon vorwegnimmt: „Es ist gerade für unaussprechbare sowie unausgesprochene Inhalte notwendig, eine eigene Sprache zu finden.“ 333 Was mittels einer Sprache, die gewohnte Formen verfremdet, gewissermaßen entautomatisiert, verhindert werden kann, ist die identitäre Identifikation mit dem Gelesenen: der Leser/ die Leserin kann gar nicht anders, als sich auf neue Arten und Weisen der Wahrnehmung einzulassen, anstelle das Besondere am Gegenstand zu abstrahieren und mit bereits Wahrgenommenen zu vergleichen. 334 2.2 Leseakt, Erwartungshorizont, kulturelles Wissen Sicherlich auch als Gegenreaktion auf strukturalistische und formalistische Ansätze 335 begann Ende der 1960er Jahren die (deutsche) Literaturwissenschaft, die bisherigen Denkräume, die zu einem Fokus auf Darstellungs- und Produktionsästhetik führten, zu hinterfragen und zu erweitern. Auf der Basis eines semiotisch fundierten Kunstbegriffes setzte eine intensive Auseinandersetzung mit der besonderen Rolle des Lesers/ der Leserin und den Wirkungen eines Textes ein, die als ‚Rezeptionsästhetik‘ bzw. ‚Konstanzer Schule‘ in die Literaturgeschichte eingegangen ist. Angesichts des Postulats von „neuen Ansätze[n] und Entwicklungstendenzen“ 336 der postklassischen Erzähltheorie mag es bei der Lektüre von Schlüsseltexten aus den späten 1960ern und frühen 1970er Jahren von Wolfgang Iser und Hans Robert Jauß - den bekanntesten Vertretern der ‚Konstanzer Schule‘ - überraschen, wie sehr der Dialog zwischen Text und Leser/ in bereits vor knapp vierzig Jahren die literaturwissenschaftliche Diskussion beherrscht hat. Bestimmte Schlüsselbegriffe und die ihnen zugrunde liegenden Auffassungen sind bis heute nicht überholt worden, und weisen darüber hinaus eine noch viel längere Begriffsgeschichte auf: so beispielsweise jener der ‚Konkretisation‘, der vom polnischen Philosophen Roman Ingarden bereits 1931 als ein „ergänzende[s] Bestimmen“ eingeführt 332 Lyotard, Jean-François: Beantwortung der Frage: Was ist postmodern? , in: Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. M. e. Einf. hg. v. Peter Engelmann, Stuttgart: Reclam 1990, 33-48, 47. 333 Kim, Anna: Experiment und Krieg. Erfahrungsbericht und Fragen, in: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften (2004), abrufbar unter: http: / / www.inst.at/ trans/ 15Nr/ 11_2/ kim15.htm, 31.1.2013. 334 Vgl. Sexl/ Gisinger (2010: 130f.). 335 Vgl. den Eintrag zu ‚Rezeptionsästhetik‘, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie (2008: 619-621, 620). 336 Vgl. dazu den einführenden Beitrag von: Nünning/ Nünning (2002). <?page no="116"?> 2. Literaturwissenschaftliche Prolegomena 116 wurde. 337 Der/ Die reale historische Leser/ Leserin eines als mehrschichtiges Gebilde zu verstehenden Textes hat immer mit Unbestimmtheitsstellen zu tun, die im Leseakt sowohl unbewusst wie auch bewusst von ihm/ ihr gefüllt werden und darüber entscheiden können, ob der literarische Text als Affirmation, Subversion oder aber Reflexion bestehender Ordnungen und Konventionen gelesen wird. Mögen manche Bedeutungsmuster eines Textes auch naheliegender erscheinen als andere und somit den Leser/ die Leserin in seiner/ ihrer Lesearbeit anleiten und die Grundlage für eine bestimmte Rezeption ausrichten, so ist doch jeder literarische Text bereits durch die Polysemie und Ambiguität seiner Sprache offen für Destabilisierung, für die Erschließung neuer Bedeutungsebenen. In sprachphilosophischer Perspektive handelt es sich somit beim literarischen Text nicht um ‚language of statement‘, sondern stets um ‚language of performance‘. Der literarische Text leistet nicht die bloße Exposition seines Gegenstandes, sondern seine Hervorbringung, mittels eines Rückgriffes auf die in der außerliterarischen Lebenswelt vorfindbaren Elemente und sodann im konkreten Lesevorgang mittels der Interaktion von Text und Leser/ in. Unbestimmtheit wurde von Wolfgang Iser in seinem Text „Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa“ nicht länger als eine Art ‚Durchgangsstation‘ zu den von Ingarden postulierten metaphysischen Qualitäten eines Textes verstanden, sondern gerade als „das wichtigste Umschalteelement zwischen Text und Leser“. 338 Selbst dort, wo ein literarischer Text womöglich Bedeutung und Wahrheit intendiere, sei für deren Einlösung immer der Leser/ die Leserin notwendig und verantwortlich. Wird nun das ,Gelesenwerden‘ als maßgebliches strukturelles Moment von literarischen Texten erkannt, welches es erlaubt, sich immer wieder von neuem mit dem fiktionalen Geschehen auseinanderzusetzen, so können sie als eine Art ‚Wiedergebrauchstexte‘ bezeichnet werden. „[I]ndem ihre Realität in der Einbildungskraft des Lesers liegt,“ so Iser, besitzen literarische Texte „prinzipiell eine größere Chance, sich ihrer Ge- 337 Vgl. Ingarden, Roman: Konkretisation und Rekonstruktion, in: Warning, Rainer (Hg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München: Wilhelm Fink 1975 (Uni- Taschenbücher 303), 42-70, 47. - Ließe sich nun auch die Theorie der Werkerfassung, die Ingarden in seinem Werk Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks entwickelt hat, als Fundament der Rezeptionsästhetik, in welche ihrerseits die ‚Konstanzer Schule‘ einzuordnen ist, erkennen, weist Rainer Warning doch darauf hin, dass Ingarden eine Identifizierung mit dem späteren Verständnis von ‚Konkretisation‘ ablehnen würde. Warning unterstreicht außerdem die Bedeutung der Husserlschen Phänomenologie für die Entwicklung der Theorie Ingardens; sowie jene Qualitäten des Kunstwerkes, die zu enthüllen Ziel der phänomenologischen Wesensschau sei: die metaphysischen. Vgl. Warning, Rainer: Rezeptionsästhetik als literaturwissenschaftliche Pragmatik, in: ders. (1975: 9-41, 10). Zu dem von Ingarden gebrauchten Begriff der ‚Unbestimmtheitsstellen‘ vgl. den Text „Die Appellstruktur der Texte“ von Wolfgang Iser, der in Warnings Sammelband abgedruckt ist (1975: 228-252). 338 Iser (1975: 248). <?page no="117"?> 2.2 Leseakt, Erwartungshorizont, kulturelles Wissen 117 schichtlichkeit zu widersetzen.“ Dafür verantwortlich seien die Leerstellen eines Textes. „Die Leerstellen machen den Text adaptierfähig und ermöglichen es dem Leser, die Fremderfahrung der Texte im Lesen zu einer privaten zu machen.“ 339 Ins Spiel kommt dabei für den Leser/ die Leserin bzw., mit den Worten von H.G. Gadamer, für den/ die ‚Verstehende/ n‘ stets auch die eigenen Position mit jeweiliger geschichtlicher Verwurzelung, kurz die „Geschichtlichkeit des Verstehens“ 340 . Diese Überlegungen zum geschichtlichen Verstehensprozess aufgreifend, hat Hans Robert Jauß 1970 sein Zentralkonzept ‚Erwartungshorizont‘ vorgelegt. Bei Jauß lässt sich dieser in der deutschen Philosophie ab Nietzsche herangezogene Begriff in doppelter Hinsicht verstehen: als Erwartungshorizont eines Textes sowie eines Lesers/ einer Leserin, beide werden von Jauß im ‚transsubjektiven Verstehenshorizont‘ wieder zusammengeführt. Durch das Objektivieren des Erwartungshorizontes soll das Textverständnis vergangener Leser/ innen rekonstruiert, können historische Implikationen und rezeptionsgeschichtliche Prozesse aufgezeigt werden. 341 Für die Interpretation der hier analysierten Texte, die allesamt zur ‚zeitgenössischen Literatur‘, ihre Leser/ innen zu Zeitgenossen und -genössinen zu rechnen sind, ist folglich weniger die Fokussierung der rezeptionsgeschichtlichen Kategorie von Belang, als vielmehr die Fassung des Erwartungshorizontes als „Gesamtheit kultureller Annahmen und Erwartungen, Normen und Erfahrungen, die das Verstehen und die Interpretation eines literarischen Textes durch einen Leser in einem bestimmten Moment leiten. Der Erwartungshorizont ist abhängig von zeitlichen und kulturräumlichen Faktoren einerseits und von individuellen Gegebenheiten in Bezug auf den einzelnen Rezipienten andererseits.“ 342 Im Unterschied zu jener in der kulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft zentralen Kategorie des ‚kulturellen Wissens‘ wird also von einer wie oben angeführten Anschauung vom Erwartungshorizont das individuelle Moment integriert. Maßgebliche Bedeutung erhält dieses dann in der konstruktivistischen Literaturwissenschaft, die das Wahrnehmungssystem des/ der jeweiligen Lesers/ Leserin für das Verständnis eines Textes verantwortlich macht, also beobachter- und nicht rahmenabhängige Prozesse für die Bedeutungszuschreibung (und nicht -entnahme) in Anschlag bringt: 339 Ebenda, 249. 340 Vgl. dazu Warning (1975: 19f.): „Gadamers Formel von der Geschichtlichkeit des Verstehens zielt daher nicht allein [...] auf den Gegenstandsbereich geisteswissenschaftlicher Forschung, sondern vor allem auf die Geschichtlichkeit des Verstehenden selbst, der nicht etwa von seiner Position abstrahiere, sondern sie bewußt ins Spiel bringe und von ihr her den Dialog mit dem zu Verstehenden aufnehme.“ 341 Jauß, Hans Robert: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, in: Warning (1975: 126-162, 131f.). 342 Vgl. den Eintrag zu ‚Erwartungshorizont‘ in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie (2008: 172-173, 172.). <?page no="118"?> 2. Literaturwissenschaftliche Prolegomena 118 Aufgrund der Eigenschaften seines Wahrnehmungssystems versteht jeder Mensch ‚einen Text‘ notwendigerweise anders; die jeweiligen Unterschiede sind alles andere als peripher, eine für alle ähnliche ‚Text-Konstruktion‘ erklärt allenfalls Bruchteile des jeweils produzierten Gesamtresultats einer Lektüre. 343 Eine Schlussfolgerung eines solchen Textverständnisses ist für die konstruktivistische Literaturwissenschaft die Notwendigkeit, mehr Individualität ins Spiel zu bringen. 344 Dieser Aufforderung schließe ich mich gerne an, nicht jedoch einer Unterordnung oder Ausblendung kontextueller Faktoren und des kulturellen Wissens als gleichfalls entscheidender Bezugsgrößen bei der Bedeutungskonstitution und den interpretatorischen Entscheidungen des Lesers/ der Leserin. 345 Unter ,kulturellem Wissen‘ subsumieren Angsgar Nünning und Birgit Neumann keine abgeschlossene Entität, sondern, in ihrer Konstruktivität, Wandelbarkeit und Dynamik, jene bedeutungskonstitutiven „Wissenselemente, Topoi, Stereotype, Wertehierarchien und narrativen Schemata“, 346 die einer Kultur zu einem bestimmten Zeitpunkt enthält. Das Adjektiv ‚kulturell‘ hebt hierbei nicht auf jenes Kultur-Verständnis ab, das dem Konzept des ‚kulturellen Gedächtnisses‘ von Jan und Aleida Assmann unterliegt: Kultur im Sinne von ‚Hochkultur‘, sondern bezeichnet im weitesten Sinne die Gesamtheit menschlicher Selbstauslegung. Im Unterschied zu meinem Verständnis von ‚Kontext‘ ist es auf einer genuin diskursiven Ebene anzusetzen; im Unterschied zu den bereits aufgezeigten, von identifizierbaren Kategorien abgeleiteten nicht-textuellen Kontexten wäre für seine Skizzierung eine viel breiter anzusetzende Stoßrichtung von Nöten. Und damit sind die Grenzen einer auch nur kursorischen Offenlegung auch schon benannt. 343 Scheffer Bernd: Interpretation und Lebensroman. Zu einer konstruktivistischen Literaturtheorie, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1992 (stw 1028), 8. 344 Ebenda, 9. 345 Scheffer möchte Produktion und Rezeption von Literatur als soziale Phänomene verstanden wissen, an deren Beginn und Ende jedoch Formen nicht-schriftlicher autobiographischer Tätigkeiten zum Tragen kämen (ebd., 21). Matthias Prangel wiederum erkennt die konstruktivistische These von der „unhintergehbare[n] Internität und konstruktive[n] Interpretativität“ all unseres Wissens von der Welt als zu kurz gegriffen, „da sie unberücksichtigt läßt, daß auch eine interne, kognitive Welt über ein erhebliches Maß an - zwar nicht absoluter, jedoch konstruktionsbedingter - Realität und Objektivität verfügt.“ [Prangel, Matthias: Kontexte - aber welche? Mit Blick auf einen systemtheoretischen Begriff ‚objektiven‘ Textverstehens, in: Berg, Henri de/ ders. (Hgg.): Differenzen. Systemtheorie zwischen Dekonstruktion und Konstruktivismus, Tübingen u.a.: Francke 1995, 153-169, 155.] 346 Neumann, Birgit/ Nünning, Ansgar: Kulturelles Wissen und Intertextualität: Grundbegriffe und Forschungsansätze zur Kontextualisierung von Literatur, in: Gymnich/ Neumann/ Nünning (2006: 3-28, 6). <?page no="119"?> 2.3 Genrefragen: Reiseliteratur und Kriegsliteratur 119 2.3 Genrefragen: Reiseliteratur und Kriegsliteratur „Wenn jemand eine Reise tut, / So kann er was verzählen“ 347 - seit jeher stand das Reisen in enger Beziehung mit dem Erzählen, was die Geschichte der Reiseliteratur, aber auch bereits die Odyssee von Homer als älteste Literatur und dichterische Einheit von Reise und Abenteuer belegen. 348 Zeitliche Strukturierung, Anfang und Ende, Höhe- und Wendepunkt erlauben es, jede Reise als Erzählung zu dechiffrieren; und jede Erzählung nimmt ihre/ n Leser/ in mit auf eine innere Reise. Gleich vorweg gesagt, möchten die nun folgenden Ausführungen zu ‚Reiseliteratur‘ nicht suggerieren, dass eine Einheit des Gegenstandes vorliegt. Auch in der literaturwissenschaftlichen Forschung sind unterschiedliche ‚Oberbegriffe‘ in Verwendung: 349 ,Reisebericht‘, ‚Reisetext‘ und, von mir favorisiert, ‚Reiseerzählung‘: Unter ,Reiseerzählungen‘ verstehe ich Texte, die eine Reise in ihrem Verlauf schildern und somit Erzählungen darstellen: 350 wohlgemerkt eine „nicht-fiktive Reise[...] mit fiktionalen Mitteln“ 351 . Stets jedoch handelt es sich um Texte, die einem Gebiet eine Außenperspektive auferlegen. Als ihre charakteristischen Merkmale können folgende genannt werden: Begegnung mit Welt, die Wiedergabe von hermeneutischen Prozessen des (Nicht-)Verstehens sowie der informatorische ‚Mehrwert‘ über das reisende Ich. Reiseliteratur respektive die Reisetätigkeit als solche verdankt schließlich ihre Beliebtheit der via der Erfahrung des Anderen unternommenen Auseinandersetzung mit dem Eigenen: Reisen als Mittel der Selbstfindung, so lässt sich auch das folgende Zitat Goethes aus seinen naturwissenschaftlichen Schriften umlegen: „Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf.“ 352 347 C laudius, Matthias: Urians Reise um die Welt, in: ders.: Sämtliche Werke. München: Winkler Verlag 1969, 345-348, 345: „Wenn jemand eine Reise tut, / So kann er was verzählen; / Drum nahm ich meinen Stock und Hut, / Und tät das Reisen wählen.“ 348 Vgl. dazu auch Landfester, Manfred: Der Blick auf das Andere. Herodot und die Anfänge der antiken Berichte über außergriechische Völker und Länder, in: Ertzdorff, Xenia von (Hg.): Beschreibung der Welt. Zur Poetik der Reise und Länderberichte, Amsterdam u.a.: Rodopi 2000 (Chloe 31), 3-35, 35. 349 Vgl. Brunner, Horst/ Moritz, Rainer (Hgg.): Literaturwissenschaftlichen Lexikon. 2., überarb. u. erweit. Aufl., Berlin: Erich Schmidt 1997, 336-338; Wilpert, Gero von: Sachwörterbuch der Literatur. 8., verbess. u. erweit. Aufl., Stuttgart: Alfred Kröner 2001, 676-678. 350 Vgl. Korte, Barbara: Englische Reiseberichte. Von der Pilgerfahrt bis zur Postmoderne, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1996, 9. 351 Vgl. Biernat, Ulla: „Ich bin nicht der erste Fremde hier“. Zur deutschsprachigen Reiseliteratur nach 1945, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004 (Epistemata 500), 22. 352 Goethe, Johann Wolfgang von: Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort, in: ders.: Werke (Hamburger Ausgabe in 14 Bänden), Band 13. Naturwissenschaftliche Schriften. Textkrit. durchges. u. m. Anm. vers. komment. v. Dorothea Kuhn, Hamburg: Christian Wegner Verlag 1966 5 , 37-41, 38. <?page no="120"?> 2. Literaturwissenschaftliche Prolegomena 120 Seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts - somit früher als andere prosaische Zweckgattungen - wird Reiseliteratur auch als ‚Literatur‘ wahrgenommen. 353 Die gleichzeitige - und dominierende - Wahrnehmung der Reiseliteratur als ‚minderwertige‘ Literatur blieb in der (germanistischen) Litera turwissenschaft bis in die 1970er Jahre bestehen, bis es dank des generalisierten Textualitätsbegriffes, wie er zunächst in Paris in den 1960er Jahren aufkam, zu einer Neubewertung von Gebrauchstexten kam. Hat sich auch ein eigener Wissenschaftszweig für die Untersuchung des Reisens, eine „Iterologie“, wie sie Michel Butor in den 1970ern einklagte, nicht durchsetzen können, 354 so ist doch seit einigen Jahren, als Folge der ‚räumlichen Wende‘ der Kulturwissenschaften und des sodann geweckten Interesses an Raumkonzepten eine intensivere Auseinandersetzung der Literaturwissenschaft mit Reiseliteratur zu beobachten. 355 Möglicherweise erweist sich eines Tages die von Ulla Biernat 2004 prononcierte Hoffnung, dass „in der Reiseliteratur das Schlüsselmaterial [liege], mit dem die Geisteswissenschaften zur Kulturwissenschaft umgestaltet werden [könne]“, 356 als Prophetie? Bei einer diachronen Betrachtung der Entwicklung der Gattung nach 1945 fällt auf, dass auch hier jene Themen, Diskurse und Formen, die die literaturhistorischen Entwicklungen im deutschsprachigen Raum nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt haben, in den Vordergrund treten: „selbstreflexive Thematisierung des reiseliterarischen Schreibens und [...] Themen wie das Verhältnis von Fiktion und Realität, die Bedingungen der Wahrnehmung, die Möglichkeiten der Ich-Konstitution und Identitätsbildung, der Text als Konstrukt sowie die Dominanz von Texten und Diskursen. Dies ist insofern nicht weiter überraschend, als das Genre Reiseliteratur an die literaturhistorischen Entwicklungen im deutschsprachigen Raum nach 1945 gebunden ist. Dahinter steht - vereinfachend gesprochen - „die Diskussion um die Ablösung der Moderne durch die Postmoderne“. 357 Angesichts des breiten Spektrums an narrativer Ausgestaltung und Aufnahme narrativer Elemente aus anderen Textsorten wie beispielsweise Brief, Tagebuch, Essay, Erzählung, Anekdote 353 Jäger, Hans-Wolf: Reiseliteratur, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Band III, P - Z. Hg. v. Jan-Dirk Müller, Berlin u.a.: de Gruyter 2003, 258-260, 259. 354 Vgl. Butor, Michel, Repertoire IV, Paris: Éditions de Minuit 1974, 13, zit. n.: Bourquin, Christophe: Schreiben über Reisen. Zur ars itineraria von Urs Widmer im Kontext der europäischen Reiseliteratur, Würzburg: Königshausen & Neumann 2006 (Epistemata 586), 17. 355 Vgl. dazu Nünning, Ansgar: Formen und Funktionen literarischer Raumdarstellung: Grundlagen, Ansätze, narratologische Kategorien und neue Perspektiven, in: Hallet,Wolfgang/ Neumann, Birgit (Hgg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld: transcript 2009, 33-52, 48. 356 Biernat (2004: 29). Diese Umgestaltung hat in Teilbereichen und ansatzweise bereits stattgefunden. 357 Ebenda, 17. - <?page no="121"?> 2.3 Genrefragen: Reiseliteratur und Kriegsliteratur 121 hat Stephan Kohl die Reiseliteratur eine ‚hybride Gattung‘ genannt. 358 Diesen Befund teilt er mit Ottmar Ette, der mit seinem 2001 veröffentlichten Werk Literatur in Bewegung. Raum und Dynamik grenzübergreifenden Schreibens in Europa und Amerika die Entwicklung einer ,transarealen Literaturwissenschaft‘ maßgeblich in Gang gesetzt hat. Angesichts der Vielzahl an Gattungen und Textsorten des Reiseberichts - „Tagebuch und […] Statistik, Bild- und Kartenmaterial, politisches Traktat und literarische Erzählung, philosophischer Essay und wissenschaftliche Erörterung, Legende und Autobiographie, aber auch geographische Abhandlung und ethnographische Feldforschung“ 359 - geht Ette gar so weit, das Bachtinsche Konzept der ‚Redevielfalt‘ auf den Reisebericht umzulegen: „Gerade für diesen (den Reisebericht, D.F.) sollte die Dialogizität als eine Grundbedingung aller Erfahrung und allen Schreibens angesehen werden, wird hier doch das Andere in einen wie auch immer hierarchisierten Bezug zum Eigenen und damit zum Sprechen gebracht.“ 360 Ette versteht Reiseliteratur (und, synonym verwendet, Reiseberichte) als ‚friktionale‘ Literatur: den Reisebericht kennzeichne „ein eigentümliches Oszillieren zwischen Fiktion und Diktion, ein Hin- und Herspringen, das es weder auf der Produktionsnoch auf der Rezeptionsseite ermöglicht, eine stabile Zuordnung zu treffen. Zwischen den Polen von Fiktion und Diktion führt der Reisebericht vielmehr zu einer Friktion, insoweit klare Grenzziehungen ebenso vermieden werden wie Versuche, stabile Amalgame und Mischformen herzustellen.“ 361 Ich stimme Ette zu: um sich des besonderen Ausgangspunktes der Erzählung - der nicht-fiktiven Reise - nicht von vornherein zu entledigen, erscheint das Attribut ,friktional‘ in heuristischer Hinsicht geeignet. Umgelegt auf die konkrete Textanalyse bedeutet dieses von Ette vorgenommene Akzentuieren der vom Reisebericht zur Disposition gestellten Lektüremodi, dass der Leser/ die Leserin einer Reiseerzählung entscheidet, in welche Richtung - Realitätsabgleichung oder Fiktion - die Lektüre ausschlägt und somit die Dynamik und Unbestimmtheit des Textes fixiert und einschränkt. Diese Überlagerung der beiden Lektüremodi - einmal mit faktualem, ein ander Mal mit fiktionalem Geltungsanspruch - gilt es bei den 358 Kohl, Stephan: Reiseromane/ Travelogues. Möglichkeiten einer ‚hybriden‘ Gattung, in: Maack, Annegret/ Imhof, Rüdiger (Hgg.): Radikalität und Mäßigung. Der englische Roman seit 1960, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1993, 149-168. Kohl bezieht sich vorrangig auf den ‚travelogue‘, subsumiert darunter allerdings die Gattungen Reisebericht, Autobiographie und Roman. 359 Ette, Ottmar: Literatur in Bewegung. Raum und Dynamik grenzüberschreitenden Schreibens in Europa und Amerika, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2001, 38. 360 Ebenda, 38f. Unter ‚Redevielfalt‘ versteht Bachtin (1979: 183) die „personifizierte Koexistenz sozioideologischer Widersprüche zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit, zwischen verschiedenen Epochen der Vergangenheit, zwischen verschiedenen sozioideologischen Gruppen der Gegenwart, zwischen Richtungen, Schulen, Zirkeln usw. Diese ,Sprachen‘ der Redevielfalt kreuzen sich auf vielfältige Weise miteinander und bilden dadurch neue sozialtypische ,Sprachen‘.“ 361 Ette (2001: 48). <?page no="122"?> 2. Literaturwissenschaftliche Prolegomena 122 Untersuchungen zur möglichen und tatsächlichen Rezeption der verschiedenen Reisetexte im Blick zu behalten. Der Umstand, dass sich auch dokumentarische Textgenres angesichts ihrer selektiven, konstruierten und spezifisch medialen Repräsentationen ‚wirklicher‘ Erfahrung einer fiktionalen Verfasstheit doch wieder annähern, 362 dass mithin „das Dokument selbst ein Produkt in der Ordnung der Diskurse ist“, 363 verdient überdies Berücksichtigung. Darüber hinaus leistet auch die rein formale Definition des „autobiographischen Paktes“, wie sie von Philippe Lejeune vorgelegt wurde, eine Sensibilisierung für die aufgeworfene Frage nach den von einer Reiseerzählung in Gang gesetzten Lektüremodi. 364 Der „autobiographische Pakt“ markiert die Situation einer Namensgleichheit und Identität zwischen Autor/ in, Erzähler/ in und Figur, die im Lektüreprozess - oder aber auch auf implizite Weise über den Paratext - bestätigt wird und eine referentialisierende Lektüre auslöst. 365 Dass auch der von einem/ einer Autor/ in signalisierte Pakt keine Garantie für das konkrete Leseverhalten geben kann, braucht den Rekurs auf Lejeunes Instrumentarium nicht zu unterbinden. Narratologisch gesehen sind die Repräsentation des/ der Anderen oder Fremden im Reisebericht Plot-Elemente; bei der besonderen Verbindung von loci (etwa die Stationene der Reise) und imagines (etwa von kultureller und nationaler Identität) spielt neben dem kulturellen Wissen auch das kulturelle Gedächtnis eine wichtige Rolle. 366 Da es sich bei Reisetexten nicht immer um Reisetagebücher, sondern um retrospektiv, mitunter bereits ‚zu Hause‘ verfasste Schriften handelt, ist die erzähltheoretische Unterscheidung zwischen 362 Sicks, Kai Marcel: Gattungstheorie nach dem spatial turn: Überlegungen am Fall des Reiseromans, in: Hallet, Wolfgang/ Neumann, Birgit (Hgg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld: transcript 2009, 337-334, 346. 363 Car, Milka: Dokument und Roman - Dokumentarroman? Grenzen und Möglichkeiten des Dokumentarischen, in: Finzi, Daniela u.a. (Hgg.): Kulturanalyse im zentraleuropäischen Kontext, Tübingen u.a.: A. Francke 2011 (Kultur - Herrschaft - Differenz 14), 142-154. 364 Vgl. Lejeune, Philippe: Der autobiographische Pakt. A. d. Franz. v. Wolfram Bayer u. Dieter Hornig, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1994 (edition suhrkamp 1896). Auffallender Weise behandelt Lejeune, auch bei seiner Nennung der benachbarten Gattungen der Autobiographie, nicht die Reiseerzählung. 365 Für Lejeune schließt die Übereinstimmung des Namens der Figur mit jenem des Autors die Möglichkeit der Fiktion aus: „Auch wenn der Bericht historisch gesehen völlig falsch ist, wird er in die Kategorie der Lüge (die eine ‚autobiographische‘ Kategorie ist) und nicht in die der Fiktion gehören.“ [Lejeune, Philippe: Der autobiographische Pakt, in: Niggl, Günter (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. 2., um e. Nachw. z. Neuausg. u. e. bibliogr. Nachtr. erg. Aufl., Darmstatt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, 214-257, 236.] Dieser kategorischen Einschätzung kann ich mich, nicht zuletzt aufgrund der Konstruktionsmechanismen, denen sämtliche Texte unterliegen, nicht anschließen. 366 Vgl. dazu Erll/ Nünning (2003: 17). <?page no="123"?> 2.3 Genrefragen: Reiseliteratur und Kriegsliteratur 123 dem erlebenden und dem erzählenden Ich oder, mit Blick auf Lejeunes autobiographischen Pakt, zwischen Figur und Erzähler/ in, geltend zu machen. Diese Unterscheidung beruht ihrerseits „auf einem (zumeist unausgesprochenen) Gedächtniskonzept: auf der Vorstellung von einer Differenz zwischen pränarrativer Erfahrung einerseits, die Vergangenheit narrativ überformender und retrospektiv sinnstiftender Erinnerung andererseits. Die Beschäftigung mit Ich-Erzählinstanzen ist daher immer auch eine Beschäftigung mit der literarischen Inszenierung von Erinnerung.“ 367 Eine Fokussierung der von den Postcolonial Studies aufgezeigten Verbindung von Macht und Kultur hat sich bei Reiseliteratur und Romanen über fremde Weltregionen als besonders ertragreich erwiesen. Mit Edward Said ist dem Roman als Genre eine „hohe Bedeutung bei der Herausbildung imperialer Einstellungen, Referenzen und Erfahrungen“ 368 beizumessen; vom „Imperialisismus der Imaginaton“ als „Einnahme einer hegemonialen Position bei der Schaffung des Außenbildes einer Region“ 369 schreibt Vesna Goldsworthy in ihrem Aufsatz über die von britischen Autoren geschaffenen Balkanwelten. Mary Louise Pratt schließlich hat in ihrer Imperial eyes. Travel writing and transculturation (1992) betitelten Studie eine paradigmatische Autorenperspektive ausgemacht, die sich in die europäischen Ideologiekonstruktionen, mit denen der/ die/ das kulturell Andere - Afrika und Südamerika - als unterlegen wahrgenommen und domestiziert wurde, einschreibt: Autorenperspektive, die es erlaubt, gleichsam olympisch alles zu überblicken, alles zu wissen, alles zu bewerten und einzuordnen. 370 Diesem kolonialen Blick des Reisenden und Autors wiederum entsprachen die Herrenattitüde eines ‚Königs in seinem Reich‘ [„Monarch of All I Survey“ 371 ] und die Strategie gezielter Eroberung und Beherrschung. Aber auch das das dialektische Moment, das Revidieren und Modifizieren der Alteritätskonstruktionen und die Verschränkung der Selbst- und Fremdbildlichkeit zeigt Pratt auf, sowie weiters das Moment des ‚anti-conquest‘: „the strategies of representation whereby European bourgeois subjects seek to secure their innoncence in the same moment as they assert European hegemony.“ 372 Insbesondere bei männlichen zeitgenössischen Schriftstellern beobachtet sie diese, wie Paul Michael Lützeler paraphrasiert, „eurozentristische Pose des Alles-Verstehens und des intel- 367 Ebenda, 17f.; vgl. dazu auch Ette (2001: 45). 368 Said (1994: 14). 369 Vgl. Goldsworthy (2003: 253). 370 Pratt, Mary L.: Imperial eyes. Travel writing and transculturation, London u.a.: Routledge 1992. 371 Ebenda, 101-108. 372 Ebenda, 7. <?page no="124"?> 2. Literaturwissenschaftliche Prolegomena 124 lektuellen Vereinnahmens“, 373 welche auf der Wahrnehmung, Beurteilung und Erzeugung des/ der Fremden nach eigenkulturellen bzw. europäischen Wertvorstellungen basiert. Diese ‚vorauseilende‘ Unterscheidung von Eigenem und Fremdem hat auch in der Reiseliteratur(geschichtsschreibung) zu der Vorherrschaft von binären Darstellungsweisen geführt, auf Kosten von Individualität, Komplexität und différance - Differenzen innerhalb der Differenz - des/ der Fremden. In kulturgeschichtlicher Perspektive weist das Reisen eine enge Beziehung zu kriegerischen Konflikten auf - die Bedrohung des Individuums oder der Gemeinschaft erscheint umso existentieller, die sodann erreichte Bewährung umso verdienstvoller, je fremder (und somit ‚bedrohlicher‘) der Schauplatz ist. 374 Auch etymologisch lässt sich diese Beziehung belegen, verweist doch das althochdeutsche ‚reisa‘, auf welches die neuhochdeutsche ‚Reise‘ zurückgeht, auf Bedeutungen wie ‚Aufbruch (zu einem Kriegszug)‘ und ‚(Heer)Fahrt‘. 375 Mit dem Ersten Weltkrieg erfuhr das Naheverhältnis zwischen ‚Krieg‘ und ‚Reisebericht‘ eine markante Konjunktur. Der Beginn der Kriegsberichterstattung wiederum ist mit dem Aufkommen der ersten Zeitungen anzusetzen. Bis zum Krimkrieg 1853-1856 war die Kriegsberichterstattung jedoch hauptsächlich von offiziellen Bulletins und Berichten von Offizieren geprägt, dann erst konnte sich die journalistische Frontberichterstattung etablieren. 376 Über die zahlreichen Kolonialkriege bis hin zu den Balkankriegen 1912/ 13 bildete sich schrittweise ein bestimmtes journalistisches Selbstbild heraus: eine Entwicklung, die immer im Verbund mit dem technologischen Fortschritt und dem Wandel in der Kriegsführung zu betrachten ist. 373 Lützeler, Paul Michael: Postkolonialer Diskurs und deutsche Literatur, in: ders. (Hg.): Schriftsteller und „Dritte Welt“. Studien zum postkolonialen Blick, Tübingen: Stauffenburg 1998 (Studien zum postkolonialen Blick 8), 7-30, 21. 374 Vgl. Köppen, Manuel: Im Krieg mit dem Fremden. Barbarentum und Kulturkampf, in: Honold, Alexander/ Simons, Oliver (Hgg.): Kolonialismus als Kultur. Literatur, Medien, Wissenschaft in der deutschen Gründerzeit des Fremden, Tübingen u.a.: Francke 2002 (Kultur - Herrschaft - Differenz 2), 263-287, 263f. 375 Vgl. Wahrig. Herkunftswörterbuch. Hg. v. d. Wahrig-Redaktion, Gütersloh u.a.: Bertelsmann 2009, 702. 376 Vgl. Daniel, Ute: Einleitung, in: dies. (Hg.): Augenzeugen. Kriegsberichterstattung vom 18. zum 21. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, 7-23. <?page no="125"?> 2.3 Genrefragen: Reiseliteratur und Kriegsliteratur 125 Die Kriegsberichterstatter 377 des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts, so die Historikerin Ute Daniel, deren einschlägigen Aufsätzen ich hier folge, 378 verstanden sich als Augenzeugen - doch nicht nur das: „ihre Geschichten gaben den welthistorisch bedeutsamen Ereignissen auf den Schlachtfeldern diejenige narrative Form, die es den lesenden Zeitgenossen möglich machte, sie nachzuvollziehen und mitzuerleben, die dabei zugrunde gehenden Menschen zu betrauern und die tapferen Sieger zu bejubeln.“ 379 Darüber hinaus verkörperten die Reporter auf dem Schlachtfeld sämtliche romantischen Sehnsüchte des imperialen Zeitalters: Abenteuertum, Maskulinität, Exotik und Weltläufigkeit. Als dramaturgische Höhepunkte der narrativen Sinngebung kommen all jene Momente, die mit Tod, Verwundung und Verlust die existentielle Seite von Krieg aufrufen, zum Einsatz, sie durften in keiner Kriegsberichterstattung des 19. Jahrhunderts fehlen. Eine kriegslegitimierende Absicht weist der erzählerische Duktus ihrer Texte im Regelfall jedoch nicht auf, herrschte doch breiter Konsens über die Notwendigkeit von Krieg. Als Kriegskritik freilich können die im 19. Jahrhundert von Kriegsberichterstattern verfassten Texte genauso wenig gelesen werden. Mit Ute Daniel ist hierzu eine weitere aufschlussreiche Beobachtung zu notieren: „Gerade weil die Brutalität des Kriegs akzeptiert wird, wird sie darstellbar.“ 380 Im Zuge des Ersten Weltkrieges begann sich die öffentliche Wahrnehmung und das Selbstbild des Kriegsberichterstatters zu wandeln. Aus der Figur der ,Stimme der Weltgeschichte‘ wurde der Aufklärer - ein Mythos, der im Zuge des Vietnam-Krieges zur vollen Entfaltung kam. Augenzeugenschaft indes stellt weiterhin eine wesentliche, weil authentifizierende Komponente in der Narratio des Genres Kriegsberichterstattung dar. Diese frappierende Bedeutung von Augenzeugenschaft lässt sich auch kulturgeschichtlich erklären, hat sie im Kontext der christlichen Religion doch stets eine hervorragende Rolle gespielt. Für das frühe Christentum stellte die Tradierung des Geschehens durch die Jünger, welche alles ‚mit eigenen Augen gesehen haben‘, den 377 Wenngleich die Tradition weiblicher Kriegsberichterstattung in den USA bis in das 19. Jahrhundert zurückreicht, formuliere ich an dieser Stelle ganz vorsätzlich im männlichen Singular. Vgl. zum späten Auftreten weiblicher Kriegsberichterstattung in Deutschland - nämlich im Zuge der jugoslawischen Kriege - den Beitrag von: Fröhlich, Romy: Die mediale Wahrnehmung von Frauen im Krieg: Kriegsberichterstatterinnen und Kriegsberichterstattung aus Sicht der Kommunikationswissenschaft, in: Albrecht, Ulrich/ Becker, Jörg (Hgg.): Medien zwischen Krieg und Frieden, Baden- Baden: Nomos 2002 (Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung 29), 182-193. 378 Vgl. neben der oben angeführten Einleitung von Daniel (2006) außerdem Daniel (2005) sowie: Daniel, Ute: Der Gallipoli-Effekt oder: Zum Wandel des Kriegsberichterstatters vom Augenzeugen zum Aufklärer, in: Münkel, Daniela/ Schwarzkopf, Jutta (Hgg.): Geschichte als Experiment. Studien zu Politik, Kultur und Alltag im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Adelheid von Saldern, Bielefeld: Campus 2004, 181-193. 379 Daniel (2004: 188). 380 Daniel (2005: 115). <?page no="126"?> 2. Literaturwissenschaftliche Prolegomena 126 fundamentalen Ausgangspunkt der Rezeption dar. 381 Die Versicherung, etwas mit besagten ‚eigenen Augen‘ gesehen zu haben, gilt in den unterschiedlichsten kommunikativen Situationen als Garant für Evidenz und Unverfälschtheit. Das Unmittelbare ist aber nicht zugleich näher an der Wirklichkeit oder Wahrheit, das belegen allein die oft haarsträubenden Aussagen von Augenzeug/ innen in Gerichtsprozessen. „Der seltsame Gewinn, den die Nähe verschafft“, so Peter Schneider über seine Zeit im belagerten Sarajevo, „ist Orientierungslosigkeit.“ 382 Das mit den eigenen Augen Gesehene kann niemals mehr als einen immer nur nicht-repräsentativen Ausschnitt darstellen, und jegliche Wahrnehmung - und jegliche Text- und Wissensproduktion - unterliegt bekanntlich den Verfahren der Fokussierung und der Selektion. Handke hingegen scheint diese Einsicht nicht zu teilen, sondern macht - so in seiner jüngsten Publikation, die dem Komplex Serbien zugeteilt werden kann: Die Geschichte des Dragoljub Milanović (2011) - die vermeintlich beglaubigende Funktion von Augenzeugenschaft selbst an ,live‘ geschauten Fernsehbildern (! ) fest: Ich […] war im Frühjahr 1999, während der drei Monate des vollkommen unilateralen Bombenkrieges (jedwede Gegenwehr undenkbar) zweimal für jeweils eine Woche im unablässig bombardierten Land, habe dort regelmäßig das staatliche Fernsehen „geschaut“ und bezeuge, daß nicht ein einziges der damals gezeigten Bilder und/ oder Tonbilder, auf eine beinah unfaßbare Weise bei allen den zentralen Zerstörungen und tangentialen Menschenzerfetzungen, etwas wie Tendenz oder Propaganda, geschweige denn Haß oder Rachsucht ausstrahlte; es sei denn, Kummer, Trauer und insbesondere Fassungslosigkeit […]. 383 Nach den Ausführungen zur kriegsberichterstattenden Gebrauchsliteratur des 19. Jahrhunderts soll abschließend nur kurz skizziert werden, was in der Literaturwissenschaft gemeinhin unter ,Kriegsliteratur‘ verstanden wird. Tatsächlich werden dem Begriff je nach Kontext unterschiedliche Definitionen zugrunde gelegt: Zuweilen fasst ,Kriegsliteratur‘ in einem temporalen Verständnis all jene Werke, die während der Kriegszeit verfasst wurden, zumeist jedoch ist, doch ohne weitere Differenzierung, der thematische und 381 Vgl. Andree, Martin: Archäologie der Medienwirkung. Faszinationstypen von der Antike bis heute, München: Wilhelm Fink 2005, 437. In seinem Kapitel „Auge, Ohr und Ort des Schreibens“ datiert Ottmar Ette (2001: 119-192) das Aufkommen der Augenzeugen-Funktion im Reisebericht des 19. Jahrhunderts, womit die bislang dominante Stellung des Ohres abgelöst wird. 382 Schneider, Peter: Sarajevo oder Der kurze Weg in die Barbarei, in: ders.: Vom Ende der Gewißheit, Berlin: Rowohlt 1994, 65-79, 66. 383 Handke, Peter: Die Geschichte des Dragoljub Milanović, Salzburg u.a.: Jung und Jung 2011, 13. <?page no="127"?> 2.3 Genrefragen: Reiseliteratur und Kriegsliteratur 127 darstellungsästhetische Bezug gemeint. 384 Einstimmigkeit herrscht dagegen darin, dass im Genre des ,Kriegsromans‘, wie er im Zuge des Ersten Weltkrieges entstand, die soldatische Erfahrung der Front den zentralen Referenzrahmen konstituiert. Der ,Kriegsdichtung‘ wiederum „eignet die ganze Skala der vom bevorstehenden, währenden oder vollendeten Kampf hervorgerufenen Empfindungen, von Haß, Mut, Kampfeslust, Vaterlandsliebe und Gefolgschaftstreue bis zur religiösen Erhebung einerseits, Trauer über Zerstörung und Tod, Sehnsucht nach Heimat und Frieden, Verdammung und Ablehnung des Mordens andererseits.“ 385 Auf den ersten Blick nun hat das Textkorpus der vorliegenden Arbeit mit den Parametern eines engeren Verständnisses von Kriegsliteratur, -roman oder dichtung nichts gemein, genauso wenig wie mit einer wie auch immer geratenen Ästhetik des Schreckens. Und auch die Momente der Erhabenheit, Grausamkeit und Todesbereitschaft - konstitutive Merkmale der Kriegsthematik, welche Karl Heinz Bohrer in seinem Aufsatz „Kriegsgewinnler Literatur“ als entscheidenden Impulsgeber für die europäische Höhenkammliteratur aufzählt 386 - verfehlen die Texte von Handke, Zeh, Gstrein, Stanišić und Kim. Die zu untersuchenden Texte mit dem Genre der ,Antikriegsliteratur‘ oder ,pazifistischen Literatur‘, wie diese sich vornehmlich als Reakton auf den Ersten Weltkrieg herausbildete, zu bezeichnen, schlägt ebenso fehl. 387 Ein Faktor hingegen, der als äußerst belangvoll gleichfalls für die Texte der vorliegenden Arbeit in Anschlag gebracht werden könnte, ist das Verhältnis zu den Modalitäten der (literarischen) Repräsentation. Der Erste Weltkrieg als bedeutende Zäsur in der Moderne veränderte auch die literarischen Dar- 384 Vgl. dazu den Eintrag zu ‚Kriegsliteratur‘, in: Metzler Literatur Lexikon. Begriffe und Definitionen. Begründet v. Günther u. Irmgard Schweikle. Hg. v. Dieter Burdorf, Christoph Fasbender u. Burkhard Moennighoff. 3., völlig neu bearb. Aufl., Stuttgart u.a.: J.B. Metzler 2007, 402-404, 402. 385 Wilpert (2001: 435). 386 Bohrer, Karl-Heinz: Kriegsgewinnler Literatur. Homer, Shakespeaere, Kleist, in: Merkur 58 (2004), H. 657, 1-16, 2. Dass Kriegsliteratur zuweilen eine ,Ästhetik des Erhabenen ‘ zugeschrieben wird, geht auf Kant zurück [Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Werkausgabe in 12 Bänden. Band 10. Hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1990 11 (stw 57), 187]. Vgl. zur ,Inkompatibilität‘ der Ästhetik des Erhabenens mit Narrationslogik: Leschke, Rainer: Von den Schwierigkeiten vom Krieg zu erzählen - Zur medialen Choreographie eines gesellschaftlichen Ereignisses, in: Wende (2005: 306-325). 387 Vgl. zu einer Typologie von pazifistischer Literatur oder Antikriegsliteratur zum Ersten Weltkrieg: Schneider, Thomas F.: Pazifistische Kriegsutopien in der deutschen Literatur vor und nach dem Ersten Weltkrieg, in: Esselborn, Hans (Hg.): Utopie, Antiutopie und Science Fiction im deutschsprachigen Roman des 20. Jahrhunderts. Vorträge des deutsch-französischen Kolloquiums, Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, 12- 28. <?page no="128"?> 2. Literaturwissenschaftliche Prolegomena 128 stellungsformen; im Zentrum der modernistischen Kriegs- und Antikriegsliteratur steht nunmehr das Subjekt als Wahrnehmungs- und Kognitionsinstanz. 388 Die Modelle der Abbildbarkeit sind fragwürdig geworden - aufzuzeigen, welche mimetischen Modelle den deutschsprachigen Texten über den kriegerischen Zerfall Jugoslawiens unterlegt werden können bzw. welche Lektüremodi sie auslösen, ist Aufgabe der nun folgenden Close Readings. 388 Vgl. Kobolt, Katja: Frauen schreiben Geschichte(n). Krieg, Geschlecht und Erinnern im ehemaligen Jugoslawien, Klagenfurt/ Celovec: Drava 2009, 63f. <?page no="129"?> 3 Textarbeit In der rückblickenden Betrachtung treten für eine Grobeinteilung des deutschsprachigen literarischen Korpus zum kriegerischen Zerfall Jugoslawiens zwei größere Blöcke respektive - da der zweite eine weitere Unterteilung zulässt - drei literarische Produktionsphasen hervor: eine Einteilung, die denn auch die Gliederung des Kapitels bestimmt. Der erste Block bzw. die erste Phase umfasst Texte, die während der kriegerischen Ereignisse in (Ex-)Jugoslawien veröffentlicht bzw. verfasst wurden, zwischen dem 10-Tage-Krieg in Slowenien und dem Kosovo-Krieg, und wird von Peter Handke und seinen Texten über Slowenien und insbesondere von jenen über Serbien dominiert. Nach der Heranziehung des Textes Die Wiederholung aus dem Jahr 1986, der von der Wiederholung einer Reise nach Slowenien erzählt, werden im ersten Unterkapitel „Vor den Kriegen, mit den Kriegen“ drei weitere Texte von Handke untersucht: Abschied des Träumers vom Neunten Land (1991), Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien (1996), Sommerlicher Nachtrag zu einer Winterlichen Reise (1996). Im Zentrum meiner Aufmerksamkeit steht dabei die Winterliche Reise. Auch Handkes Theaterstück Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg (1999) sowie die weitere Reiseerzählung Handkes Unter Tränen fragend (2000), die allesamt nicht in Form von Close Readings Eingang in diese Studie fanden, ließen sich dieser ersten Produktionsphase zuordnen. Außerdem sind zwei Texte von Peter Waterhouse und Robert Riedl anzuführen, die betreffend Entstehungszeitraum bzw. Erscheinungsdatum dieser ersten Phase entsprechen und zudem das Reise-Motiv enthalten. Während Riedl in seinem Erstlingswerk, dem Reise- und Kriegstagebuch Zum Abschied vom Vater 389 (1999), sein Alter Ego Robert Zivkovic 1991 nach Dubrovnik reisen lässt und diesem vor dem Hintergrund des Krieges in Kroatien und des 5. August 1995 390 die Annäherung an den Vater sowie der symbolische ‚Vater-Mord‘ gelingt, während bei Riedl die Stimmen von Sohn, Vater und Autor zu einem penetranten Sprachteppich verschmelzen, operiert Peter Waterhouse gewissermaßen als ‚Ohrenzeuge‘, der eine ‚Zuhörsprache‘ zur Verfügung stellt. Es handelt sich bei dem schmalen, nach der Europastraße E 71 benannten Bändchen um eine, so der paratextuelle Untertitel, „Mitschrift aus Bihać 389 Riedl, Robert: Zum Abschied vom Vater. Die gefälschten Tagebücher des Robert Zivkovic, Graz: Steirische Verlagsgesellschaft 1999 (Edition Literatur). 390 Am 5. August 1995 erfolgte die erfolgreiche Militäroperation „Oluja“ [‚Sturm‘], die zu einer Rückeroberung der serbisch kontrollierten Gebiete in Banija, Kordun und Lika im Westen und im weiteren Sinne zu einem Ende des Krieges in Kroatien führte [vgl. Vetter, Matthias: Chronik der Ereignisse 1986-2002, in: Melčić (1997: 550-577, 565)]. Der 5. August wird in Kroatien als offizieller Feiertag (Tag des Sieges und der heimatlichen Dankbarkeit) gefeiert. <?page no="130"?> 3. Textarbeit 130 und Krajina“, welche er auf seiner gemeinsam mit Dolmetscher im August 1995 unternommenen Reise ins belagerte bosnische Bihać angefertigt hat, und die ohne erzählerische Vermittlung auskommt. Zweibis dreizeilige Texte finden zu Beginn und am Ende jeder Seite Eingang, dazwischen tut sich weißes Nichts auf: keine narrative Entwicklung, sondern in einzelne Sätze komprimierte Zeugnisse der Angst, der Hoffnungslosigkeit, des Verlustes. So finden sich beispielsweise auf einer Doppelseite folgende Einträge: Samstag nacht / ist die gefährlichste Nacht der Woche‘ (links oben, D.F.); Welche Gedichte werden geschrieben / jetzt in Bosnien? / Die Kinder schreiben sie (links unten, D.F.); ‚Während des Bombardements / habe ich die Namen vergessen / meiner drei Töchter‘ (rechts oben, D.F.); ‚Der Übersetzer sagt: / Die Nuancen der Sprache - / zu fein‘ (rechts unten, D.F.). 391 Ab der zweiten, spätestens aber der dritten und vorerst ‚letzten‘ Produktionsphase können die Kriege im ehemaligen Jugoslawien nicht länger dem Bereich aktueller politischer Themen zugeschlagen werden - die Beschäftigung damit hat sich in den Bereich der Erinnerungspolitik verlagert. Die sodann ansetzende literarische Auseinandersetzung im deutschsprachigen Raum wird nicht länger von der von Handke in der Winterlichen Reise angeklagten Nachkriegsgeneration im Allgemeinen und 68er-Generation im Besonderen dominiert, sondern von jüngeren Autor/ innen wie Juli Zeh, Saša Stanišić und Anna Kim, die zu Beginn des kriegerischen Zerfalls Jugoslawiens 1991 allesamt noch in die Schule gehen: Stanišić in Bosnien-Herzegowina, Zeh und Kim in Deutschland. Eine von Birgit Neumann als Forschungsdesiderat erkannte, aus der enormen Mediatisierung der Kriege resultierende „Transnationalität von Erinnerung“ 392 schlägt hier zu Buche. Zum zweiten Block zählen all jene Texte, die nach Beendigung der kriegerischen Konflikte, ab dem Beginn des neuen Jahrtausends entstanden und erschienen sind - geopolitisch gesprochen Texte, die ihr Publikum nach dem 11. September 2001 fanden, zeitgleich zu den Krisen und Kriegen in Afghanistan und im Irak, mit und nach der großen EU-Erweiterung von 2004, in zeitlicher Nähe zur Unabhängigkeitserklärung des Kosovo im Jahr 2008: Auf eine erste Publikationsphase zu Beginn der 00er Jahre - Texte von Ingrid Bachér (Sarajevo 96, 2001), Juli Zeh (Adler und Engel, 2001; Die Stille ist ein Geräusch, 2002) und Norbert Gstrein (Das Handwerk des Tötens, 2003) - folgte mit den Büchern von Peter Handke (Die Morawische Nacht, 2008, und Die Kuckucke von Velika Hoča, 2009), Norbert Gstrein (Die Winter im Süden, 2008) und Anna Kim (Die gefrorene Zeit, 2008) eine weitere ab 2008. Diese 391 Waterhouse, Peter: E 71. Mitschrift aus Bihać und Krajina, Salzburg u.a.: Residenz 1996, o. S. 392 Neumann, Birgit: Literatur, Erinnerung, Identität, in: Erll, Astrid/ Nünning, Ansgar (Hgg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlagen und Anwendungsperspektiven, Berlin u.a.: de Gruyter 2005 (Media and cultural memory 2), 149-177, 173. <?page no="131"?> 3. Textarbeit 131 grobe zeitliche Einteilung kann mit einer räumlichen in Korrespondenz gebracht werden, einer Bewegung in drei Schritten, die ausgehend von Slowenien und Serbien (Peter Handke; Phase I) überleitet zu Bosnien-Herzegowina und Kroatien (Juli Zeh, Norbert Gstrein; Phase II), um sich schließlich dem Kosovo (Peter Handke, Anna Kim; Phase III) zuzuwenden. Dieser Bewegung folgt die Einteilung des zweiten Unterkapitels, das den Titel „Nach den Kriegen“ trägt. Selbstredend handelt es sich bei der von mir vorgenommenen Einteilung in drei Produktionsphasen sowie der räumlichen Entsprechung um eine von außen umgestülpte Taxinomie, die manchen Vorwegnahmen oder Kontinuitäten nicht gerecht wird. Eingeleitet wurde die dritte Phase (über den Kosovo) denn auch von dem bereits 2006 veröffentlichten Debütroman von Saša Stanišić, Wie der Soldat das Grammofon repariert, in dem der (mit der zweiten Phase korrespondierende) Krieg in Bosnien-Herzegowina im Zentrum steht. Aus zweierlei Gründen nimmt der Roman eine Sonderposition ein: Dieses Buch kann als einziges der genannten als ‚Bestseller‘ gelten, und war auch auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2006 gesetzt. Darüber hinaus stellt der Roman eine der wenigen auf Deutsch verfassten und einem größeren Publikum zugänglichen literarischen Arbeiten eines aus der Region kommenden Autors dar. Freilich sind nach Beendigung der Kriege auch weitere Texte deutschsprachiger Schriftsteller/ innen erschienen, in denen die Kriege im ehemaligen Jugoslawien im Hintergrund des Plots stehen, den Rahmen oder den Auslöser der Handlung bilden - jedoch nicht dort, oder nur punktuell, spielen: So wird in Dirk Kurbjuweits Roman Schussangst (1998) der deutsche Zivildiener Lukas von der idée fixe beherrscht, Radovan Karadžić umzubringen, um seiner unerwiderten Liebe zu imponieren. Gerhard Roths unternimmt in Form seines in Griechenland und der Türkei angesiedelten Reisethrillers Der Berg (2000) eine literarische Reflexion über die mediale Repräsentierbarkeit der Jugoslawien-Kriege sowie das Verhältnis von Fakten und Fiktion. Walter Gronds Roman Old Danube House (2000), im deutschsprachigen Raum eine der ersten literarischen Auseinandersetzungen mit dem ,weltweiten Netz‘ als sozialem Phänomen, weist als Schauplätze die drei Städte Wien, Moskau und Sarajevo auf. Letztere sucht der Hauptprotagonist Johan Nichol auf, um dort die Beweggründe des Selbstmordes eines bosnischen Wissenschaftlers und Mystikers zu recherchieren. Tatsächlich aber wird der Wiener Quantenphysiker in Sarajevo mit den Folgen des Krieges konfrontiert sowie zunehmend von einer Reise in die eigene Vergangenheit, von einer Selbstsuche erfasst. 393 393 Die Motive der Reise und der Selbstsuche hätten es durchaus erlaubt, Gronds Roman in das engere Textkorpus aufzunehmen. Dagegen sprach die relativ periphere Position, die dem Krieg und seiner Repräsentation in Old Danube House zukommt. <?page no="132"?> 3. Textarbeit 132 Anzuführen sind außerdem der Roman Elsas Großväter (2003) von Susanne Scholl, in welchem die mittels Briefdokumenten erzählte Geschichte der jüdischen assimilationswilligen Großeltern mit der Berichterstattung über den Kosovo parallelisiert wird, sowie die Novelle Ein Stück gebrannter Erde (2003) von Viktorija Kocman über ein in Wien lebendes, aus Belgrad und dem Kosovo kommendes Paar. Wie Stanišić zählt auch Kocman zu den Vertreter/ innen einer ‚interkulturellen Literatur‘; im Unterschied zu dem Bestseller- Autor erreichte Kocmans Titel eine zahlenmäßig eingeschränkte Leserschaft. Das Scheitern der amourösen Beziehung von Arnim und Marina gestaltet Kocman als Parabel auf die politischen Ereignisse, womit eine Lesart nahe gelegt wird, welche die Momente der Determiniertheit und gleichzeitigen Unerklärlichkeit stark macht. Zu nennen wären weiters Doron Rabinovicis Ohnehin aus dem Jahre 2004, ein mit Birgit Neumann „soziobiographischer Erinnerungsroman“, 394 der vor der Kulisse der politischen Ereignisse und diskursiven Verhandlungen im Wien des Sommers und Herbstes 1995 Fragen nach der Funktion und der Beziehung von Erinnern und Vergessen nachgeht. 395 Und dann gibt es freilich noch all jene Texte, in denen der Krieg ganz bewusst ausgespart wird, jedoch die Folgen - Entwurzelung, Heimatlosigkeit, Desorientierung -, versetzt in die Fremde, erzählt werden: Terézia Moras viel gelobter Debütroman Alle Tage (2004) wäre hier an erster Stelle zu verzeichnen. Meine von Beginn an unternommene Eingrenzung auf ‚literarische‘ Texte resultiert aus dem Bemühen um Abgrenzung des Forschungsgegenstandes und - materials. Texte aus der Feder von Journalist/ innen wie Marina Achenbach, Sabine Riedel oder Carolin Emcke oder aber anderen Reisenden, die sich aus privaten oder beruflichen Gründen im ehemaligen Jugoslawien bewegten, aber auch Essays mit vorwiegend historischer Ausrichtung von Schriftsteller/ innen wie beispielsweise Richard Wagners Der leere Himmel (2003) werden somit keiner 394 Vgl. für eine Definition: Neumann, Birgit: Erinnerung - Identität - Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer „Fictions of Memory“, Berlin: de Gruyter 2005, 229f. 395 Ostensibel mittels der Bezugnahme auf die NS-Vergangenheit eines Österreichers bzw. Österreichs motiviert, wird die Auseinandersetzung mit Zivilcourage und persönlicher Verantwortung auf einer zweiten Ebene durchdekliniert: der Hauptprotagonist und Neurologe Stefan Sandtner wird als unfähig gezeichnet, die Situation seiner neuen, aus dem Kosovo stammenden und vermeintlich illegal in Wien weilenden Freundin Flora und den sich daraus ergebenden Handlungsbedarf zu erkennen. [Rabinovici, Doron: Ohnehin. Roman, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2004 (st 3736).] <?page no="133"?> 3. Textarbeit 133 eingehenden Analyse unterzogen. 396 Auch werden, um den Forschungsgegenstand überschaubar zu halten, Gegenproben aus der anderen Blickrichtung - erzählende Texte über den kriegerischen Verfall aus (ex-)jugoslawischer Perspektive oder über die deutschsprachigen Länder und ihre Bewohner/ innen - nicht systematisch und mit der ihnen gebührenden Ausführlichkeit herangezogen. Dass diese Unterlassung als erster Schritt zu einer Privilegierung jenes Balkandiskurses, dessen Ursprung im Westen liegt, verstanden oder, vielmehr: missverstanden werden kann, ist mir bewusst. Gegen eine solche Lesart möchte ich mit aller Nachdrücklichkeit behaupten, dass es mir nicht um eine Unterstützung eines solchen oder Unterminierung eines anderen Diskurses geht, sondern um die Auseinandersetzung und Analyse jener diskursiven Momente, die in literarischen Texten deutschsprachiger zeitgenössischer Autor/ innen über das ehemalige Jugoslawien am Werk sind, sowie um ihre mögliche (Nicht-)Einschreibung in die jeweiligen Kontexte. Es ist bereits deutlich geworden: Die vorliegende Arbeit fragt nach der Wirkung - und nicht nach der Bedeutung - eines Textes, fragt nach der rezipientenseitigen Aktualisierung, wenn nicht auch Funktionalisierung eines Textes. Dass nunmehr nicht textimmanente Merkmale im Vordergrund der literaturwissenschaftlichen Analyse stehen können, versteht sich gleichsam von selbst. Anstatt die Lektüre eines literarischen Textes auf einen in ihm zu suchenden Sinn festlegen zu wollen, wird in den nun folgenden ,Anwendungen‘ die Bandbreite an „Spielräumen der Potenzialisierung“, 397 die dieser - zu einem bestimmten Zeitpunkt, an einem bestimmten Ort - seinen Leser/ innen bietet, aufgezeigt. Die Frage, welche Bedeutung den ‚Leseanleitungen‘ eines Autors/ einer Autorin zuzumessen sei, drängte sich, in unterschiedlicher Intensität, bei jeder Lektüre aufs Neue auf. So hat Norbert Gstrein seinem ersten ‚Kroatien‘- Roman Das Handwerk des Tötens den Essay Wem gehört eine Geschichte? Fakten, Fiktionen und ein Beweismittel gegen alle Wahrscheinlichkeit des wirklichen Lebens (2004) nachgeschickt; auch von Juli Zeh gibt es Essays und ein längeres Werkstatt-Gespräch über ihre poetologischen Prämissen, deren Eng- 396 Vgl. zu den Texten von Journalist/ innen: Achenbach, Marina: Auf dem Weg nach Sarajevo, Berlin: Elefanten-Press 1994; Riedel, Sabine: Ende der Ausgangssperre. Sarajevo nach dem Krieg, Frankfurt/ Main: Schöffling 1997; Emcke (2004). Zu jenen Texten, die nicht von Journalist/ innen und Schriftsteller/ innen verfasst worden sind, vgl. den Erlebnis- und Reisebericht von Koprüner (2001). Richard Wagners, so der Paratext, „Balkan-Buch“, hebt ausgehend von der kriegerischen Auflösung Jugoslawiens auf die Geschichte der gesamten Region ab. [Wagner, Richard: Der leere Himmel. Reise in das Innere des Balkan, Berlin: Aufbau-Verlag 2003.] 397 Turk, Horst: Philologische Grenzgänge. Zum Cultural Turn in der Literatur, Würzburg: Königshausen & Neumann, 154, zit. n. Bachmann-Medick, Doris: Textualität in den Kultur- und Literaturwissenschaften: Grenzen und Herausforderungen, in: dies. (2004: 298-338, 314). <?page no="134"?> 3. Textarbeit 134 führung mit den literarischen Texten aufschlussreich ist. Im Falle Peter Handkes zählen hierzu jene Texte, die der Autor in seiner Essay-Sammlung Meine Ortstafeln. Meine Zeittafeln 398 2007 wieder veröffentlicht hat, hierzu zählen aber auch paratextuelle Beiträge wie Interviews, in denen er angesichts der verschiedenen Polemiken seine Intentionen und Beweggründe darlegt. 399 Die in den Close Readings zum Teil unternommenen Rückgriffe auf Erklärungen und Explizitmachungen des Autors dienen nun nicht seiner Entlastung, sondern mögen vielmehr die Bandbreite möglicher Deutungen demonstrieren. Wenngleich ich also die Frage, was ein Autor/ eine Autorin uns mit seinem/ ihrem Text ‚sagen‘ möchte, angesichts der rezeptionstheoretischen und konstruktivistischen Erkenntnisse als wenig zielführend halte, komme ich in meinem Analyseteil, und freilich nicht nur bei Handke, doch nicht umhin, manches Mal nach dem „,Anspruch‘“ 400 oder auch jenem seines/ seiner Autors/ Autorin zu fragen. 398 Handke, Peter: Meine Ortstafeln. Meine Zeittafeln. 1967-2007, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2007. 399 Vgl. dazu beispielsweise Handkes Text „Am Ende ist fast nichts mehr zu verstehen. Die Debatte um den Heinrich-Heine-Preis“, in: ebd., 508-512. Hierbei handelt es sich um eine von Handke vorgenommene Bearbeitung und Ergänzung zweier Artikel, die in der französischen Tageszeitung Libération erschienen waren. 400 Jauß, Hans Robert: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1991, 397. <?page no="135"?> 3.1 Vor den Kriegen, mit den Kriegen 135 3.1 Vor den Kriegen, mit den Kriegen 3.1.1 Peter Handke I Peter Handkes Œuvre zählt nicht allein zu den umfassendsten der zeitgenössischen deutschsprachigen Schriftsteller/ innen, sondern ebenso zu den am meist erforschten. So sind auch der Jugoslawien-, Slowenien und Serbien- Bezug bereits in verschiedenen, zum Teil mittlerweile schon älteren, literaturwissenschaftlichen Arbeiten aufgezeigt worden, 401 und wurden gleichfalls die ab 1996 von Handkes Publikationen und Parteinahme für Jugoslawien bzw. Serbien ausgelösten überhitzten Polemiken bereits analysiert. 402 Zweierlei kann mit Wendelin Schmidt-Dengler festgestellt werden: dass sich im Falle Handke „ - hierin Thomas Bernhard nicht unähnlich - die Wirkung allmählich vom Werk emanzipiert [hat]“, 403 und dass es im Falle Handke „unmöglich geworden ist, von der Person des Autors zu abstrahieren.“ 404 In der Tat lässt sich in Rezensionen, aber auch in literaturwissenschaftlichen Aufsätzen über Texte Handkes - zumindest jenen, die um den ‚Komplex Jugoslawien‘ kreisen - immer wieder dieser Rückgriff auf seine Biographie feststellen. Und tatsächlich bewegen sich Handkes Essays und Romane zu Jugoslawien in auffallender Nähe zueinander, lässt sich bei beiden Genres ein durchgehender autobiographischer Bezug, der auch eine Verflüssigung von Gattungsgrenzen bewirkt, feststellen. Eine kontroverse Besprechung und Behandlung von Seiten der Literaturkritik und Literaturwissenschaft setzt dabei nicht erst mit Handkes umstrittenen Schriften zum Jugoslawien-Komplex ein, sondern begleitet ihn seit den allerersten Anfängen. Damit ist eine für Handke bezeichnende Bündelung unterschiedlicher Fremd- und Selbst-Zuschreibungen in Zusammenhang zu bringen: Seit den 1960er Jahren wird Handke sowohl als Dichter als auch als Rebell, sowohl als Reaktionär als auch Revolutionär wahrgenommen. Bereits seine frühen Texte weisen jene grundlegenden Merkmale auf, die Handkes weiteres Werk bestimmen: Widerstand, Protest, offensive Ablehnung des vormals für gültig Erklärten. 405 „Ich erwarte von der Literatur ein Zerbrechen 401 Vgl. dazu meine diesbezüglichen Angaben in der Einleitung 402 Vgl. Gritsch, Kurt: Eine Frage des Blickpunkts? Peter Handkes „Gerechtigkeit für Serbien“ in der Rezeption deutschsprachiger Printmedien, in: zeitgeschichte 30 (Jänner/ Februar 2003), H. 1, 3-18; Gritsch (2009); und Jamin, Peter H.: Der Handke- Skandal. Wie die Debatte um den Heinrich-Heine-Preis unsere Kultur-Gesellschaft entblößte, Remscheid: Gardez! -Verlag 2006. 403 Schmidt-Dengler, Wendelin: Bruchlinien. Vorlesungen zur österreichischen Literatur 1945 bis 1990. 3, korr. Aufl., Salzburg u.a.: Residenz 2010, 485. 404 Ebenda, 259. 405 Vgl. Meyer-Gosau, Frauke: Kinderland ist abgebrannt. Vom Krieg der Bilder in Peter Handkes Schriften zum jugoslawischen Krieg, in: Literatur und Kritik 24 (Peter Handke), 6. Aufl.: Neufassung. Juni 1999, 3-20, 6; sowie auch Schmidt-Dengler (1995: 492): „der Autor sucht den Streit und bekennt sich auch dazu.“ <?page no="136"?> 3. Textarbeit 136 aller endgültig scheinender Weltbilder“, 406 hatte er 1967 in seinem Aufsatz „Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms“ proklamiert. Auch die Angriffe auf sämtliche Systeme, im Besonderen auf das System der Wissenschaft, ziehen sich durch Handkes gesamtes Werk, das doch, noch lange vor seine Parteinahme für Serbien, eine solch radikale Veränderung erfährt, dass von einem ersten und einem zweiten Handke gesprochen werden kann: Mit seinem „Journal“ Das Gewicht der Welt aus dem Jahr 1977 weicht die radikale Sprachskepsis des frühen Handke einer zunehmenden Auseinandersetzung mit sprachontologischen Problemen und Zusammenhängen, einer Überzeugung vom intrinsischen Zusammenhang von Wort und Sein. 407 Nicht länger der ‚erste‘ Wittgenstein, sondern Martin Heidegger, dessen Ding-Begriff bzw. Ding-Mystik, wird von nun an sein philosophischer Weggefährte 408 - eine Entwicklung, die von der Literaturwissenschaft als ‚Epiphanie‘, ‚holistische Wende‘ oder ‚apolitisch-eskapistisch‘ umrissen wurde, und Handkes Selbstverständnis als Dichter als das nunmehrige eines ‚Sehers‘. Für die poetologischen Prämissen des ‚zweiten‘ Handke lassen sich mit Ulrich Dronske folgende grundlegende Momente auflisten: „eine extreme Entsubstantialisierung als Ausgangspunkt oder Produktivkraft des Schreibens [...], eine Präferenz für Randlagen, Passagen, Schwellen, Zwischenräume, Übergänge, schließlich eine deutliche Tendenz zur Enthistorisierung bzw. zur Ersetzung historischer Muster durch mythische […].“ 409 Aber auch gemeinsame thematische Nenner seiner Texte ließen sich durchaus aufzeigen: Reisen, Verlust und Suche von Identität, 410 das Spannungsfeld von Gemeinschaft und Landschaft. 411 Welchen Stellenwert aber nimmt der ‚Komplex Jugoslawien‘, oder Slowenien, oder Serbien, im Gesamtkontext des Werkes ein? Dass jene Literaturwissenschaftler/ innen, die Handkes Werk mit dem kriegerischen Zerfall Jugoslawiens zusammenführen, die besondere Bedeutung Sloweniens, später Jugoslawiens, noch später Serbiens akzentuieren, ist schließlich zu einem nicht unwesentlichen Ausmaß dem eigenen Forschungsinteresse ge- 406 Handke, Peter: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, in: ders. (2007: 37-46). 407 Vgl. dazu Todtenhaupt, Martin: Unterwegs in der Sprache mit Heidegger und Handke, in: Pankow, Christiane (Hg.): Österreich. Beiträge über Sprache und Literatur, Umeå: Univ. i Umeå 1992, 119-129 (Umeå studies in the humanities 111); Laemmle, Peter: Gelassenheit zu den Dingen. Peter Handke auf den Spuren Martin Heideggers, in: Merkur 35 (1981) H. 395, 426-428. 408 Vgl. Schmidt-Dengler (1995: 492). 409 Dronske, Ulrich: Erzählen aus einem - mythischen - Guss. Zu den zeit- und sprachtheoretischen Implikationen (nicht nur) einer Erzählung Peter Handkes, in: Zagreber Germanistische Beträge 2 (1993), 123-131, 125. 410 Vgl. Hafner, Fabjan: Peter Handke. Unterwegs ins neunte Land, Wien: Zsolnay 2008, 58: 411 Vgl. Honold, Alexander: Landschaft des Krieges, Gemeinschaft des Erzählens. Peter Handkes Mein Jahr in der Niemandsbucht, in: Fountoulakis, Evi/ Previsic, Boris (Hgg.): Der Gast als Fremder. Narrative Alterität in der Literatur, Bielefeld: transcript 2011, 247-264, 251. <?page no="137"?> 3.1 Vor den Kriegen, mit den Kriegen 137 schuldet. Eine Analyse seines Œuvres, die sich nicht auf den besagten Themenkomplex konzertrierte, brächte sicherlich nicht Resultate zu Tage wie beispielsweise jene von Frauke Meyer-Gosau, die Slowenien auf der inhaltlichen Ebene zunehmend „die Rolle eines basso continuo im äußeren Gewoge der Genres, Formen und Schreibweisen“ zuspricht. 412 Oder aber Fabjan Hafner, der Sloweniens Rolle für Handke, Sohn einer Kärntner Slowenin, als „ein bukolisches Traumland, die Nation der mythischen Vorfahren, eine Projektionsfläche für das ersehnte Land einer zweiten Kindheit“ 413 sieht und, so zumindest der Klappentext seiner Handke-Biographie, das Slowenische als „ein Lebensthema Peter Handkes“ 414 fasst. Mit Vertretern der „French Theory“ gerüstet, hält Hafner außerdem fest: „Für Handke ist das Slowenische viel eher das, was Jacques Derrida als ‚vorerste Sprache‘ bezeichnet, und das Slowenentum das, was bei Lacan ‚Objekt klein a‘ heißt: Ersatz und Stellvertreter, das Denkmal für etwas Abwesendes, Gegenstand einer unerfüllbaren Sehnsucht.“ 415 Wird seine tatsächlich nicht von der Hand zu weisende konstante Faszination für Österreichs Nachbarland ausschließlich auf die persönliche Biographie und insbesondere auf die Familiengeschichte des Autors bezogen, 416 so übersieht man, dass sich dieses Interesse von Handke als einem österreichischen Schriftsteller in jenen größeren, von Müller-Funk erkannten Kontext eines ,jugoslawischen Mythos‘ einschreiben lässt. In diesem Sinne ließe sich Handkes kurzer Prosa-Text „Noch einmal für Jugoslawien“, eine Aufzählung unterschiedlichster Kopfbedeckungen, die der Erzähler - mutmaßlich der Autor - im Dezember 1987 im Zentrum Skopjes gesichtet haben will, schwerlich anders als eine politische und poetische Verklärung des jugoslawischen Vielvölkerstaates lesen: „der Vielfältigkeit war nicht mehr nachzukom men. [...] Undsoweiter. All das schöne Undsoweiter. All das schöne 412 Meyer-Gosau (1995: 6). 413 Hafner (2008: 33). 414 So im Statement von Fabjan Hafner (2008) auf dem hinteren Klappentext seiner Monographie. 415 Hafner (2008: 28). 416 Hafner (2008) schreibt Slowenien eine zentrale Rolle in Handkes Werk ab dessen Erstlingsroman Die Hornissen (1966), zu großen Teilen auf der Insel Krk verfasst, zu. Was die frühe autobiographisch gefärbte Erzählung Wunschloses Unglück (1972) angeht, in welcher Handke über das Leben und Sterben seiner Mutter schreibt, fällt jedoch auf, dass die slowenische Herkunft der Mutter bzw. des Großvaters mütterlicherseits nur am Rande erwähnt wird, vgl. Handke, Peter: Wunschloses Unglück. Erzählung, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1974 (st 146), 13. Die slowenische Sprache wird ein einziges Mal angeführt: beim illegalen Verlassen des Berliner Ostsektors 1948 diente es Handkes Mutter gleichsam als Schibboleth (ebd., 48f.). - <?page no="138"?> 3. Textarbeit 138 Undsoweiter.“ 417 Ins Unendliche möge da das (ethnisch) bunte Treiben verlängert werden, so kann der zentrale Wunschgedanke des Textes erkannt werden. Eine etwaige Verklärung Jugoslawiens bleibt indes in den ab Ende der 1970er Jahre verfassten Texten Handkes noch implizit - sie bedarf der besonderen Aktualisierung des Lesers/ der Leserin. In den 1980er Jahren noch sah er sich mit dem Vorwurf des Ausblendens zeitgeschichtlicher Ereignisse konfrontiert. 418 Während mit dem Systemwechsel 1989 und dem Beginn der kriegerischen Konflikte die politische Debatte, die noch in den 1960er und 1970er Jahren zwischen jugoslawischer und westlicher Linke geführt wurde, abriss, 419 tritt Handke erst um das Jahr 1990, erst mit dem Verlust der realpolitischen Projektionsfläche, in die ‚Geschichte‘ ein. Eine Untersuchung der Texte Peter Handkes, die den Marker ‚Jugoslawien‘ lediglich im Kontext der besonderen Anziehung, welche die Region unzweifelhaft für den Autor ausübte, verortet, verkennt meiner Meinung nach den Umstand, dass die literarische Repräsentation von Reisen an sich - und eben durchaus auch in andere Länder als die vormals jugoslawischen - eines jener Merkmale darstellt, die als konstitutiv zumindest für sein späteres Œuvre betrachtet werden können. Spanien, Südfrankreich, Nordamerika, aber auch Japan oder das schottische Hochland - das sind die vom Autor oder seiner Protagonisten meist per pedes aufgesuchten Reiseziele, die außerhalb des Balkans liegen. Reisen als Relais des Schreibens? Als ein Erzählen begreife Handke, so dazu Fritz Wefelmeyer im Umkehrschluss, die Reiseerfahrung selbst, was den Literaturwissenschaftler dazu veranlasst hat, von Handkes Entwurf einer „Naturschrift der Reise“ zu schreiben: von einem Schreiben und einer 417 Die Prosa-Skizze wurde unter unterschiedlichen Titeln publiziert: Als „Noch einmal für Jugoslawien“ wurde der Text 1992 im Suhrkamp-Aufsatzband Langsam im Schatten. Gesammelte Verzettelungen 1980-1992 gedruckt, in der taz sowie in der bei Suhrkamp in Buchform erschienenen taz-Serie Europa in Krieg. Die Debatte über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Auch in der zweiten Ausgabe von Noch einmal für Thukydides (Salzburg: Residenz 1995, 35-39, 39) wurde der Text aufgenommen, hier verweist Handke im Paratext auch darauf, dass er unter dem Titel „Noch einmal für Jugoslawien“ bereits im erwähnten Aufsatzband Langsam im Schatten stand und nun aber „wie ursprünglich (Hervorh. D.F.) „Geschichte der Kopfbedeckungen in Skopje“ heißt. 418 Vgl. Gottwald, Herwig: Moderne, Spätmoderne oder Postmoderne? Überlegungen zu literaturwissenschaftlicher Methodik am Beispiel Peter Handke, in: Goltschnigg, Dietmar/ Höfler, Günther A./ Rabelhofer, Bettina (Hgg.): „Moderne“, „Spätmoderne“ und „Postmoderne“ in der österreichischen Literatur. Beiträge des 12. Österreichischen- Polnischen Germanistiksymposiums Graz 1996, Wien: Dokumentationsstelle für Neuere Österr. Literatur 1998, 181-203, 195. 419 Vgl. dazu das Kapitel „00381. Jugoslawien als dark continent der BRD-Linken“, in: Diefenbach, Katja/ Eydel, Katja: Belgrad Interviews, Jugoslawien nach Nato-Angriff und 15 Jahren nationalistischem Populismus, Berlin: b_books 2000, 24-27. <?page no="139"?> 3.1 Vor den Kriegen, mit den Kriegen 139 Reiseerfahrung, die von Anfang an immer schon „Erzählen, Form oder Zusammenhang“ 420 sei. Diese besondere Beziehung steht denn auch im Zentrum von Handkes Werk Die Wiederholung, dem ich mich im nun folgenden Unterkapitel zuwende. 3.1.1.1 Die Wiederholung Mit Kevin Vennemanns Roman Mara Kogoj (2007), Peter Handkes zwischen dem erzählenden und dramatischen Genre flottierenden Text Immer noch Sturm (2010) und dem Romandebüt Engel des Vergessens (2011) der Bachmann-Preisträgerin 2011, Maja Haderlap, sind in den letzten Jahren gleich mehrere Werke zu Geschichte und Gegenwart einer österreichischen Bevölkerungsgruppe erschienen, 421 deren Existenz, Bedürfnisse und Probleme in der Zweiten Republik lange vernachlässigt und marginalisiert wurde, vornehmlich über den ,Ortstafel-Streit 422 wahrgenommen und mittlerweile in starkem Rückgang begriffen ist: die Kärntner Slowen/ innen. 12.554 Kärntner/ innen gaben bei der Volkszählung 2001 als Umgangssprache ‚slowenisch‘ an, 66.463 waren es im Jahr 1910 gewesen. 423 Diese Texten verweisen auf ein gleichsam ,latentes Narrativ‘, welches Wolfgang Müller-Funk auch in Handkes Werk Die Wiederholung ausmacht: die mangelnde bzw. mangelhafte Integration des Widerstands der Kärtner Slowen/ innen in das Selbstverständnis der Zweiten Republik. 424 Als solches ist es symptomatisch für eine Unter- 420 Wefelmeyer, Fritz: Die Naturschrift der Reise. Zu Peter Handke, in: Fuchs/ Harden (1995: 660-679, 666f.). 421 Vgl. Haderlap, Maja: Engel des Vergessens. Roman, Göttingen: Wallstein 2011; Vennemann, Kevin: Mara Kogoj. Roman, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2007; sowie Handke, Peter: Immer noch Sturm, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2010. 422 Obwohl das Aufstellen zweisprachiger Ortstafeln (mit topographischer Angabe in deutscher und in slowenischer Sprache) im österreichischen Staatsvertrag verankert ist, kam Kärnten unter Berufung auf den vermeintlichen Mehrheitswillen diesem nicht im vollen Ausmaß nach. Im Juli 2011 wurde unter Staatssekretär Josef Ostermayer eine Kompromiss-Lösung zwischen dem Kärntner Landeshauptmann Gerhard Dörfler und Vertreter/ innen der slowenischen Minderheit ausgehandelt. Erst ab einem Slowen/ innenanteil von 17,5-Prozent müssen zweisprachige Ortstafeln aufgestellt werden. 423 Die Zahlen wurden dem anlässlich der Kompromisslösung erschienenen (Interview-)Beitrag von Armin Thurnherr und Barbara Tóth („‚Eigentlich war es Traumabearbeitung‘. Josef Ostermayer erzählt, wie er in akribischer Verhandlungsarbeit die Ortstafellösung herbeiführte“) entnommen, in: Falter 28 v. 13.7.2011, 16-17, 17. 424 So in einem Gespräch mir gegenüber im November 2011. - Der Historiker Valentin Sima weist darauf hin, dass der Widerstand der Kärntner Slowen/ innen eine maßgebliche Bedeutung für ihre rechtliche Stellung in der Zweiten Republik errungen hätte (vgl. Sima, Valentin: Kärntner Slowenen unter nationalsozialistischer Herrschaft: Verfolgung, Widerstand und Repression, in: Tálos, Emmerich u.a. (Hgg.): NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch. 2. Aufl., Wien: öbv & Hpt 2003, 744-766). <?page no="140"?> 3. Textarbeit 140 lassung respektive Verdrängung noch größeren Ausmaßes: erst im Zuge des so genannten Gedenkjahres 2005, so Ludwig Steiner vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, erfolgte ein „klare[s] und gemeinsame[s] Bekenntnis der höchsten gewählten Repräsentanten unserer Republik zum Widerstand gegen das nationalsozialistische Diktatursystem“. Im Zentrum des 1986 ohne Gattungsbezeichnung veröffentlichten, im Paratext als „Peter Handkes literarische Reise nach Slowenien“ angekündigten Textes Die Wiederholung stehen die Geschichten von Gregor und Filip, zwei Brüder aus einer Kärntner Familie mit slowenischen Wurzeln. 425 Das Buch vorrangig als politische Stellungnahme, zumindest aber literarische Auseinandersetzung mit dem Schicksal der slowenischen Minderheit Kärntens zu lesen, fällt mir schwer. Sehr wohl geht es um Identitätssuche - und auch Identitätsfindung -, nicht jedoch in politischer Hinsicht, nicht jedoch auf einer kollektiven Ebene. Erst im letzten Drittel des Textes begreift Filip, der im Elternhaus das Slowenische kaum gelernt hat, dass die Erfahrung seiner Familie keine singuläre ist: „und es ging mir auf, daß nicht nur wir, die Kobals, Vertriebene waren, sondern die Gesamtheit der Dorfkleinhäusler; das ganze Dorf Rinkenberg ein Exildorf“ (WH 249f.). Im Jahr 2000 führte Christoph Parry Die Wiederholung als das „nach wie vor wichtigste [...] literarische Zeugnis für Handkes Auseinandersetzung mit Jugoslawien“ 426 an. Einmal mehr ist diese Einschätzung vom nachträglichen Wissen um Handkes (politisches) Engagement beeinflusst, wohingegen meine Lektüre auf die Zäsur, die 1989 und seine Folgen für Handkes Jugoslawien- Bild bedeutet, abheben möchte und dessen bis zum Systemwechsel 1989 sowie Beginn des kriegerischen Zerfalls Jugoslawiens unpolitische Dimensionen fokussiert. Diese Lesart wird vom Text selbst bestätigt, wenn es an zentraler Stelle heißt: Und diese Landschaft vor mir, diese Horizontale, mit ihren, ob sie lagen, standen oder lehnten, daraus aufragenden Gegenständen, diese beschreibliche Erde, die begriff ich jetzt als ‚die Welt‘; und diese Landschaft, ohne daß ich damit das Tal der Save oder Jugoslawien meinte, konnte ich anreden als ‚Mein Land‘; und solches Erscheinen der Welt war zugleich die einzige Vorstellung von einem Gott, welche mir über die Jahre geglückt ist. (WH 114, Hervorh. D.F.) 425 Auch in Handkes Immer noch Sturm stellt ein verschollener älterer Bruder namens Gregor die Dreh- und Angelfigur dar. Während der Leser/ die Leserin des früheren Textes Die Wiederholung Handkes Familienhintergrund kennen muss, um die etwaige autobiographische Grundierung erahnen zu können, wirbt der Klappentext von Immer noch Sturm im Fragemodus: „Oder wendet er [Peter Handke, D.F.] sich, erzählenddramatisch, zurück zur eigenen Biographie, deren Voraussetzungen und Folgen? “ 426 Parry (2000: 121). <?page no="141"?> 3.1 Vor den Kriegen, mit den Kriegen 141 Gleich in zweifacher Hinsicht kommt es in Handkes dreigeteilter Wiederholung zu einer solchen, die notwendigerweise mit Differenz(en) einhergeht. So wiederholt zum einen der Ich-Erzähler Felix Kobal im Akt des Erzählens jene Reise, die er als Maturant unternommen hatte: Diese Reise von Kärnten über die Grenze nach Slowenien, damaliges Jugoslawien, hat vor 25 Jahren stattgefunden, womit sowohl der räumliche (mittels der Reise) als auch der zeitliche Vektor (mittels des Rückblickes) zum Chronotopos Bachtinscher Prägung verschmelzen. 427 Obgleich als Erinnerung narrativiert, bewerkstelligt diese immer wieder den Anschluss an „vollkommene Gegenwart“ (WH 13): „[e]in Vierteljahrhundert oder ein Tag ist vergangen“ (WH 9), lautet denn auch das Incipit. Demgemäß mag der Leser/ die Leserin die doch beträchtliche zeitliche Distanz zwischen dem die Reise erlebenden und ebendiese erzählenden Ich immer wieder vergessen, würde sie nicht durch verstreute Markierungen wie „der Sohn“, „der Zwanzigjährige“ (WH 19), oder, für die noch weiter zurückreichenden Rückblenden, „das Kind“ (WH 54), ins Gedächtnis gerufen. Dem Umstand, dass der junge Filip Kobal damals auf den Spuren seines älteren Bruders Gregor - ehemaliger Schüler der Mariborer Landwirtschaftsschule sowie, so erneut der Paratext, als Partisan im Zweiten Weltkrieg verschollen - wandelte, verdankt sich die Wiederholung der Wiederholung. Dieses Unterfangen war bei der Verabschiedung vom ältlichen Vater, der die Geschichte des Bruders als Ausgangspunkt für das Geschick der gesamten Familie setzt, nahezu mit einem Fluch belegt worden: „,Geh doch zugrunde, wie dein Bruder zugrunde gegangen ist, und wie alle in unserer Familie zugrunde gehen! ‘“ (WH 13) In Filips retrospektiver Erinnerung dagegen erscheint der vermeintliche Fluch „als Segen“ (WH 14), womit dem Leser/ der Leserin die Modellierung und Konstruktion von Erinnerung vorgeführt wird. „Erinnerungen“, unterstreicht Birgit Neumann, „sind keine objektiven Abbilder vergangener Realität, sondern eminent selektive und standortgebundene Vergangenheitsversionen, die - verschränkt mit ihrer Abrufsituation - die ‚Spuren der Zwecke’ ihrer Rekonstruktion tragen.“ 428 Doch so wenig der Leser/ die Leserin über die besonderen Umstände dieser Abrufsituation erfährt, so wenig verrät der Text explizit über jene geschichtlichen Ereignisse, welche doch allein durch die topologische Verortung des Ausgangspunktes der Reise des jüngeren Bruders, durch die Angabe der Kleinstadt Bleiburg, zu der das Dorf Rinkenberg in administrativer Hinsicht gehört, aufgerufen werden. Das 427 Darunter verstand Michail M. Bachtin die grundlegende Beziehung von Raum und Zeit als Formen der Wahrnehmung, Erkenntnis und Repräsentation; als kulturtheoretische Kategorie erfuhr der Chronotopos im Zuge des spatial turn eine späte, doch intensive Rezeption. Vgl. Bachtin, Michail M.: Chronotopos. A. d. Russ. v. Michael Dewey, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2008 (stw 1879). 428 Neumann, Birgit: Literatur als Medium (der Inszenierung) von kollektiven Erinnerungen und Identitäten, in: Erll/ Gymnich/ Nünning (2003: 49-77, 50). <?page no="142"?> 3. Textarbeit 142 in Jugoslawien tabuisierte Syntagma ‚Bleiburg-Križni put‘ bleibt auch in Handkes Text ein blinder Fleck. 429 Die vereinzelt gestreuten Realitätsmarker, die auf das Slowenien und Jugoslawien der 1960er Jahre zielen, können schlussendlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei diesem Buch über Filips Reise in erster Linie um eine, so bringt es seine Freundin auf den Punkt, „Sagenheimat“ (WH 108), um die Errichtung einer auf Erzähl(ung)en basierenden Kunstbzw. Märchenwelt handelt. Wie Wendelin Schmidt-Dengler und Wolfgang Müller- Funk erkannt haben, ist die Wiederholung zuallererst ein „Werk über das Erzählen“, 430 über autotelisches Erzählen: „Ich sah mich an einem Ziel“, so denn auch der Erzähler auf den letzten Seiten: „Nicht den Bruder zu finden hatte ich doch im Sinn gehabt, sondern von ihm zu erzählen.“ (WH 317) Handkes Form des Erzählens, führt weiter Schmidt-Dengler aus, verzichte auf jegliche Evidenz und erzeuge so „ - mythische - Evidenz, und Handkes Prosa will von solchen Evidenzphänomenen, von solchen Epiphanien leben, die auf eine ganz andere Seinserfahrung hinweist, als sie jener Diskurs herstellt, der sich rational gibt.“ 431 Trotz ihrer Verweise auf einzelne, historisch konkrete oder geographisch festmachbare Namen erhält diese Erfahrung keine faktuale Bestimmung, sondern rekurriert vielmehr auf etwas, was mit Begriffen wie ‚Mythos‘ oder ‚Märchenwirklichkeit‘ umschrieben werden kann und metaphysischen Anstrich trägt. 432 Dass es dem Protagonisten nicht um die konkreten Gegebenheiten Sloweniens, nicht um Referentialisierbarkeit, sondern um eine mythisch-utopische Fassung des Landes geht, tritt deutlich auch gegen Ende des Buches zutage: „Nachfahr, wenn ich nicht mehr hier bin, du erreichst mich im Land der Erzählung, im neunten Land.“ (WH 333) Ausgelöst von Reiseerlebnissen kommt es im ersten Teil („Das blinde Fenster“) zu langen Strecken der Rückblicke in die Kindheit in Rinkenberg, die Schulzeit im Klagenfurter Internat („Heimweh, Unterdrückung, Kälte, Gemeinschaftshaft“; WH 33) und später im weltlichen Gymnasium ebendort. Mit diesem erneut von der herrischen und herrscherlichen Mutter entschiedenen Schulwechsel gerät für Filip - nunmehr täglich zu Fuß unterwegs nach Bleiburg und ab dort Pendler nach Klagenfurt - das Verhältnis von Nähe und Ferne, von Vertrautheit und Fremdheit aus den Fugen. Denn während „[d]as Internat [...] so sehr die Fremde gewesen [war], daß es von dort weg, ob nach Süden, Westen, Norden, Osten, nur eine Richtung gab: nachhause“ (WH 43), muss Filip mit dem Verlust dieser Fremde anerkennen, dass er das Dorf nicht länger als Heimat wahrnehmen, sich nicht mehr heimisch fühlen kann. Durch die Erfahrungen in der Fremde ist er für heimische Verhältnisse ein Anderer 429 Nicht aber in Norbert Gstreins Die Winter im Süden, vgl. dazu Kapitel 3.2.1.2.2. 430 Schmidt-Dengler (2010: 499). 431 Ebenda, 504. 432 Vgl. dazu Müller-Funk (2009a: 347). <?page no="143"?> 3.1 Vor den Kriegen, mit den Kriegen 143 geworden: „Der Ungefüge, der aus dem Zusammenhang Geratene, das war ich.“ (WH 45) Im Unterschied zur restlichen, mittlerweile (oft am eigenen Hof) arbeitenden Dorfjugend besucht er noch eine höhere Schule, und gibt sich noch nicht den Vergnügungen der Erwachsenen hin. Doch anstatt nun in der Stadt, in Klagenfurt, heimisch zu werden, findet der Schüler seine „Heimstatt“ (WH 63) im Fahren von einem Ort zum Anderen, im Warten an Bahnhöfen, an Haltestellen. Was Marc Augé 1992 als Non-Lieux 433 bezeichnet hat: durch das Fehlen jeglicher Geschichte, Identität und Relation gekennzeichnete ‚Nicht-Orte‘, empfindet Filip als eine glückselige Unaufgeregtheit, die weder die Distinktion der Klasse noch der Nationalitäten kennt. Dank der schummrigen Lichtverhältnisse verwandeln sich ihm während der Busfahrten selbst die Dorfbekannten zu Unbestimmbaren; die Fahrten werden ihm, der sich hierbei „im Zentrum des Geschehens“ (WH 66) wähnt, zum Zuhause. Dieses Geschehen wird von akustischen, visuellen und olfaktorischen Eindrücken bestimmt, nicht von Menschen. Die tägliche Anreise und Abreise zu oder von der Schule bilden einen identitätsstiftenden Rahmen für Filip, der sich wieder als Außenseiter erlebt bzw., nicht ohne Genugtuung, erleben will: „Ich war keiner von ihnen, ich hatte im Innersten nichts mit ihnen gemein, sie waren nicht meine Welt. Sie hatten Umgangsformen, ich hatte gar keine. Ihre Geselligkeiten, zu denen sie mich anfangs noch einluden, waren mir nicht nur fremd, sondern widerwärtig.“ (WH 59) Das Erzählen von der Kindheit ist immer wieder ein Erzählen der Familiengeschichte: Da ist auf der einen Seite der alte, slowenischstämmige Vater, der - darin die Familiengeschichte der Kobals („Exil, Knechtschaft, Sprachverbot“; WH 71) fortschreibend - sich selbst eine sprachliche Verbannung auferlegt hat und das Slowenische im eigenen, eigenhändig gebauten Haus abzuschaffen sucht. Anstatt die Abstammung vom lokalen Volkshelden Gregor Kobal, vor einem Vierteljahrtausend als Führer des Großen Tolminer Bauernaufstandes exekutiert, als Aufgabe zur unerschrockenen und aufrührerischen Freiheitsliebe aufzufassen, sind für den Vater die Momente der Hinrichtung und der Vertreibung dominant: „Wir waren seitdem eine Sippe von Knechten geworden, von Wanderarbeitern, die nirgends ihren Wohnsitz hatten, und waren verurteilt, es zu bleiben.“ (WH 70) Da ist zum anderen die deutschstämmige Mutter, die als Findelkind, Flüchtling, Ausländerin, Deutsche, Angeheiratete oder Zugereiste apostrophiert und von Filip als fremd wahrgenommen und „nicht selten buchstäblich verleugnet“ (WH 32) wird. Ganz anders als der Vater interpretiert sie die „Stammestradition“ (WH 72) der Kobals als Heil und Verheißung, mit deren Einlösung sie ihre Kinder - vornehmlich Filip - beauftragt. Ihm, der doch vor seiner Reise nach Slowenien 433 Die französische Erstauflage von Marc Augés Text Nicht-Orte erschien 1992 unter dem Titel Non-Lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité bei Éditions du Seuil, Paris. <?page no="144"?> 3. Textarbeit 144 kein einziges Mal die jugoslawische Grenze überschritten hat und des Slowenischen nicht mächtig ist, wird ihre auf slowenisch erfolgte und falsch betonte Aufzählung der Orte dies- und jenseits der Grenze zur Anrufung, verwandeln sich die Orte zu einem sonoren, und einem friedlichen, märchenhaften Land. Da ist aber auch die um zwei Jahrzehnte ältere und verwirrte Schwester, die Filip weniger für schwachsinnig hält, sondern, einmal mehr, für eine „Fremde im Haus, für einen unheimlichen Eindringling [...], der einmal aus seinem Haarknoten eine Nadel ziehen und zustechen würde.“ (WH 54) Der übermächtige ältere Bruder wiederum wird erst im zweiten Teil („Die leeren Viehsteige“) erzählt. Für den Leser/ die Leserin gewinnt er über Filips Studium seines slowenisch-deutschen Wörterbuches und des Werkheftes an Konturen: als selbstbewusster und gleichzeitig sanftmütiger junger Mann mit Hang zur Ironie. Seine vermeintliche, die bisherige Lektüre des Buches beeinflussende Partisan/ innen-Zugehörigkeit hingegen wird demontiert, der Bruder als imaginäre Projektionsfläche kenntlich: So war es denn eher eine Legende, wenn die Mutter wollte, daß ihr Sohn, nach einem sogenannten ‚Anbauurlaub‘, sich den Partisanen angeschlossen habe und zum Kämpfer geworden sei. In meiner Vorstellung ist er bloß so verschwunden, und niemand kann wissen, wohin. Undenkbar, er habe jemals aus der vollen Kehle die martialischen Partisanenlieder mitgebrüllt - umso denkbarer dafür, wie er sich, mit ein paar anderen, durchgeschlagen hat in eine verborgene Lichtung, zu einer geheimen Anbaufläche, und von dort aus, über die Schulter blickend, den Kriegsherrn die folgende Anrede widmet: ‚Ich sage euch jetzt das Wort, welches zuhause auf der Kegelbahn oft fällt, wenn die Kugel, statt den Kegel, das Loch trifft! ‘ - was in einem seiner Frontbriefe die Umschreibung des Wortes ‚Scheiße‘ ist. (WH 183) Nicht einmal zu den Mahlzeiten finden die Familienmitglieder zusammen. Erst durch eine für den Leser/ die Leserin recht unvermittelt einsetzende Krankheit der Mutter, die zu einem längeren Krankenhausaufenthalt führt, kommt in den letzten Schulwochen Bewegung in diese Atmosphäre des Unbehagens. Nunmehr verwandeln sich für Filip die Schwester und der Vater in andere Zeitgenossen, „menschenähnliche“ (WH 84), findet die bettlägrige Mutter zu einem unauffälligen und gleichermaßen würdevollen Dasein, und erweist das Haus sich endlich als wohnlich. Was nun Einzug gehalten hat, ist die lange fehlende „Selbstverständlichkeit“ (WH 85); was Filip nun träumt - dass nämlich die Kobals eine Familie sind - scheint auch im Wachzustand immer wieder aufzublitzen. Nun erst, nach dieser eine ganze Kindheit und Jugendzeit währenden Erfahrung der Fremdheit und des Unvertrautseins und der sodann möglich gewordenen Erfahrung von Familie und Zuhause, macht sich der Maturant auf die einsame Reise, die - damit einen klassischen Topos der Reiseerzählung aufnehmend - der eigenen Selbsterkenntnis dient. 434 434 Vgl. dazu angesichts des Bildnisses Titos: „Ich hörte ihn geradezu sagen: ‚Dich kenne ich! ‘, und wollte antworten: Aber ich kenne mich nicht.‘“ (WH 18) <?page no="145"?> 3.1 Vor den Kriegen, mit den Kriegen 145 Sämtliche nun erzählten Erlebnisse und Empfindungen in der geographischen Fremde müssen nun, so mein Ansatz, vor dem Hintergrund dieser im ersten Teil ausführlich geschilderten Kindheitsgeschichte und ‚Familienaufstellung‘ gedeutet werden. Sie bildet die Folie für sämtliche weitere Augenscheine und Abenteuer. Das Anliegen nun, die Reiseroute des älteren Bruders zu wiederholen, stellt nur einen von mehreren Gründen dar. Für Filip, der in einem lokalen Blatt einen Text veröffentlicht hatte, wird schließlich die Wunschvorstellung, mittels einer längeren Abwesenheit dieses „In-die-Öffentlichkeit- Treten, ob eingebildet oder nicht, [s]ein [S]ich-verraten-Haben, vergessen zu machen“ (WH 145), ausschlaggebend. Allein und unbekannt zu sein, danach strebt Filip junior, der, in einem permanenten Changieren zwischen Größenwahn und Minderwertigkeitskomplex gefangen, das Angebot seiner namenlos bleibenden Freundin, ihm auf der Reise Weggefährtin zu sein, ausgeschlagen hat. Weder mag es verwundern, dass die erste Nacht im Ausland mit intensiven Schuldgefühlen - Schuld ob des mutwilligen Alleinseins - einhergeht; noch wird der Leser/ die Leserin von der unverzüglich auf slowenischem Gebiet, in Jesenice, einsetzenden ‚verkehrten‘ Wahrnehmung überrascht. Die Versatzstücke der eigenen Herkunft und Heimat muten spielzeughaft, demnach unwirklich, und fremd, an, und das nun in Slowenien geltende Raum- und Zeitmaß wohltuend (anders). 435 Mühelos scheint die erlösende Erfahrung von Selbstverständlichkeit auf der anderen Seite der Grenze möglich; und das Baudelairesche Dreigestirn von luxe, calme et volupté seines Gedichtes „L'invitation au voyage“ 436 weicht hier der Trias der Wärme, Wohnlichkeit und Geborgenheit (WH 118). Die Erfahrung von Menge und Masse, bislang dem jungen Filip ein Gräuel, wird positiv besetzt, findet er nun doch in dieser - „mit einem Gefühl stiller Frechheit“ (WH 131) - zu einem Gang voller Anmut. Im Unterschied zu der gängigen Auffassung befindet sich für Filip Kobal die sogenannte freie Welt nicht „‚hinaus‘“ (in Deutschland oder Wien), sondern eben „‚unten‘“ (WH 119), in Jugoslawien. Dass er dabei einer „Täuschung“ (WH 120) aufsitzt, sei, so der reflektierende, gealterte Erzähler, bereits seinem jungen Alter Ego bewusst gewesen - einer vitalen Täuschung indes, die ihm notwendigen Antrieb verschafft und an der Schwelle zum anderen Land glauben lässt, endlich das ihm genehme, sämtliche Widersprüchlichkeiten aufhebende Verhältnis von Nähe und Distanz gefunden zu haben. Es war mehr als bloß die Vorstellung oder Empfindung - es war die Gewißheit, endlich nach fast zwanzig Lebensjahren in einem ortlosen Staat, einem frostigen, unfreundschaftlichen, menschenfresserischen Gebilde, auf der Schwelle zu einem Land zu stehen, welches, anders als das sogenannte Ge- 435 Vgl dazu WH 17. 436 Vgl. Baudelaire, Charles. Les Fleurs du Mal. Die Blumen des Bösen. Französisch/ Deutsch. Übers. v. Monika Fahrenbach-Wachendorff, Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1980, 106-110. <?page no="146"?> 3. Textarbeit 146 burtsland, mich nicht beanspruchte als einen Schulpflichtigen, als Wehr-, Ersatz- oder überhaupt ‚Präsenz‘-Diener, sondern, im Gegenteil, sich von mir beanspruchen ließ, indem es das Land meiner Vorfahren, und so mit all seiner Fremde, auch mein eigenes Land war, endlich! Endlich war ich staatenlos, endlich konnte ich, statt dauerpräsent sein zu müssen, sorgenlos abwesend sein, endlich fühlte ich mich, obwohl niemand sich blicken ließ, unter meinesgleichen. (WH 119) Eine Interpretation, die das im Text verhandelte, immer wieder neu auszutarierende Verhältnis von Identität und Alterität als eine strukturell seitenverkehrte Operation begreift, übersieht dabei eine weitere wichtige Bewegung: Scheinen nämlich die Worte ‚Slowenien‘ bzw. ‚Jugoslawien‘, ‚Österreich‘, ‚fremd‘ und ‚heimisch‘ an mancher Stelle auch spiegelverkehrt eingesetzt, 437 so findet an anderer Stelle doch auch eine elementare Weitung dessen, was Filip als ‚Welt‘ begreift, statt. Über räumlich geographische und politisch symbolische Grenzen setzt sich diese radikale Seinserfahrung, dieses „Sich- Öffnen der Landschaft“ (WH 135) hinweg - um den jungen Protagonisten dann doch auf die Nase fallen zu lassen. Doch schlussendlich stellt der Sturz Filip auf die Füße und überführt ihn in einen Zustand der absoluten Abgeklärtheit: Hatte ich mit meinem ‚Weltreich‘ nicht zu viel gewollt? Wer war ich denn? Angesichts des Asphalts erkannte ich, ein für alle Male, wer ich war: ein Auswärtiger, ein Ausländer, einer, der hier vielleicht einiges zu suchen, aber nichts zu sagen hatte. Ich hatte keinen Anspruch auf eine sogenannte Menschenwürdigkeit, wie zuhause, im Inland. Und mit dieser Erkenntnis kam über mich, was mehr war als bloße Beruhigung - der Zustand der Gelassenheit. (WH 141) Auch Filips Wahrnehmung der slowenischen Sprache ist einem Prozess des Wandels unterworfen. Nicht zuletzt aufgrund der immer wieder durchbrechenden deutschsprachigen Wörter hatte er in seinem Dorf in Kärnten das Slowenische als abstoßendes Kauderwelsch empfunden. Nun entwickelt Filip im Akt des Übersetzens der Aufzeichnungen des Bruders eine besondere Hellhörigkeit für die andere Sprache. Nicht die Fremdheit der slowenischen Sprache, geschweige denn die „Fremdheit der Sprachen“, 438 die Walter Benjamin in seinem Aufsatz „Die Aufgabe des Übersetzers“ auf ihren wesenhaft nicht übersetzbaren Kern zurückführt, tut sich ihm dabei auf. Das ihm unverständliche, doch gleichzeitig vertraute Slowenische übersetzt sich ihm aus einer Ahnung „ohne Umweg ins Bild: in den Obstgarten, eine Aststütze, ein Stück Draht? “ (WH 164f.). In der Erfahrung der anderen Sprache findet Filips 437 Vgl. zum Aspekt der Spiegelung des Eigenen im Fremden und der diesbezüglichen Funktion Sloweniens in Handkes Texten: Šlibar, Neva: Das Eigene in der Erfindung des Fremden. Spiegelgeschichten, Rezeptionsgeschichten, in: Brandtner/ Michler (1998: 367-387). 438 Benjamin, Walter: Die Aufgabe des Übersetzers, in: ders. (2007: 50-62, 55). <?page no="147"?> 3.1 Vor den Kriegen, mit den Kriegen 147 Unterwegssein ein vorläufiges Ende, und Filip Einkehr im Heideggerschen „Haus des Seins“ 439 . Wenn Christoph Parry also über die slowenische Sprache schreibt, dass sie „dem Autor die Möglichkeit [biete], mit einer bewußten Alterität zu spielen“, 440 lässt er außer Acht, dass die Auseinandersetzung des Protagonisten mit dem Slowenischen über diese durchaus präsente alteritäre Dimension hinausgehend den sprachontologischen Auffassungen des Autors geschuldet ist. Das mit einer ursprünglichen Dinglichkeit gesättigte Wort, die ersehnte Klarheit und Unmittelbarkeit in der Darstellung, Erhellung, die zu Erkenntnis führt 441 - dies sind die für Handke entscheidenden Trümpfe der slowenischen Sprache. Beide Erlebnisse - des Wortes und des slowenischen Volkes - sind somit eng verknüpft sind; welche Lesart schlussendlich dominant wird, bleibt dem Leser/ der Leserin überlassen. Selbst nie eine eigene Regierung stellend, habe das slowenische Volk für sämtliche Begriffe des öffentlichen und staatlichen Bereiches Übersetzungen aus den „Herrschersprachen, dem Deutschen und dem Lateinischen“ (WH 200) heranziehen müssen, was eine gewisse ,Unschuld‘ des Slowenischen bewirkt und den Erzähler für die slowenisch Sprechenden einnimmt. Doch auch hier wird eine einseitig auf Slowenien-Bezüge abhebende Lektüre umstandslos vereitelt, wenn es auf der nächsten Seite heißt: Und dabei war es doch, recht bedacht, gar nicht das besondere slowenische Volk, oder das Volk der Jahrhundertwende, welches ich, kraft der Wörter, wahrnahm, vielmehr ein unbestimmtes, zeitloses, außergeschichtliches - oder, besser, eins, das in einer immerwährenden, nur von den Jahreszeiten geregelten Gegenwart lebte, in einem den Gesetzen von Wetter, Ernte und Viehkrankheiten gehorchenden Diesseits, und zugleich jenseits oder vor oder nach oder abseits jeder Historie - wobei ich mir bewußt bin, daß zu solch stehendem Bild auch die Ankreuzungen des Bruders beitrugen. Wie sich nicht jenem unbekannten Volk zuzählen wollen, das für Krieg, Obrigkeit und Triumphzüge sozusagen nur Lehnwörter hat, aber einen Namen schafft für das Unscheinbarste, ob, im Haus, den Raum unter der Fensterbank oder, draußen auf dem Feldweg, die vom gebremsten Wagenrad glänzende Stelle am Stein, und das am schöpferischsten ist im Benennen der Zufluchts-, Verborgenheits- und Überlebensstätten, wie sie sich nur die Kinder erträumen können: der Nester im Unterholz, der Höhle hinter der Höhle, der fruchtbaren Ackerlichtung in der Tiefe des Waldes - und das sich zugleich nie, gegen ‚die Völker‘, als das eine, das auserwählte, abgrenzen muß (denn es bewohnt und bebaut ja, in jedem Wort sichtbar, sein Land)? (WH 201f.) 439 Vgl. Heidegger, Martin: Über den Humanismus, Frankfurt/ Main: Vittorio Klostermann 2000 10 , 5: „Die Sprache ist das Haus des Seins. In ihrer Behausung wohnt der Mensch.“ 440 Parry (2000: 119). 441 Vgl. dazu WH 198f. <?page no="148"?> 3. Textarbeit 148 Eine Lesart, die das Begehren des Erzählers oder aber des Autors am faktualen Land Slowenien festmacht, verkennt, dass dieses zwar exemplarisch jene als ideal imaginierten Eigenschaften verkörpert, jedoch im zumindest gleichen Ausmaß auch auf ein zeit- und ortloses, im Grunde genommen auf ein märchenhaftes Land abgezielt wird: in der Welt, doch außerhalb der Geschichte. Deutlich tritt dies auch im dritten Teil („Die Savanne der Freiheit und das neunte Land“) zutage. Im Karst, am Ende des Buches gar als weiterer „Beweggrund dieser Erzählung“ (WH 266) bezeichnet, erlebt der Protagonist prägende Momente: initiierende wie die Taufe durch den Karstwind, erbauende dank der nun erlangten besonderen Gangart. „[A]ls das Modell für eine mögliche Zukunft“ (WH 285) erscheint dem Erzähler gar der Landstrich, ohne dabei diesen auch nur im Geringsten auf Slowenien oder Jugoslawien beziehen zu wollen. Von Schmidt-Dengler als „Musterbeispiel einer übernationalen Region“ 442 erkannt, nimmt im Karst das erlebende Ich, nimmt der, so vom erzählenden apostrophiert, „Dörfler“ (WH 282) auch die dort ansässige „Einwohnerschaft“ (WH 271) auf beglückende, jeglicher ethnischen Zugehörigkeit entbundene Art und Weise wahr, die ihn ein „eigenes Volk“ (WH 217) nicht länger entbehren lässt. Bereits Christoph Parry hat darauf hingewiesen, dass die Auffassung des Autors Handkes von ,Volk‘ von vornherein eine abstrakte gewesen wäre, ohne nationale Konnotation, und nicht an nationale Konfigurationen gebunden. 443 Handkes Rückgriff auf den Begriff des Volkes erweist sich allerdings aufgrund der belastenden Begriffsgeschichte und der starken ideologischen Aufladung als nicht unproblematisch. Nicht aus Zufall stellt das Unterwegssein im Karst das letzte Kapitel der Reise dar. Wird Die Wiederholung nicht nur als Reise-, sondern auch als Entwicklungsroman gelesen, so finden hier das ersehnte Ankommen im Selbst, das Ankommen im „Abenteuer Dasein“ (WH 238) statt. Aufgenommen von einer „Karst-Indianerin“ (WH 301), der er bei der täglichen Arbeit hilft, kann Filip endlich den eigenen Körper annehmen und befreiende Momente der körperlichen Be(s)tätigung erleben. Überwunden ist die Arbeitsscheu, überwunden - da erkannt und eben entzaubert - die Angst vor dem Versagen, vor Missgeschick. Der Text endet mit einer Apotheose der Erzählung, 444 womit die Lesart der Suche Filips als einer Suche nach der Schrift gestützt wird. Gleichwohl wird auf den vorletzten Seiten von seiner glücklichen Ankunft erzählt: Ausgesöhnt mit sich selbst, findet Filip nun versöhnliche Worte sowohl für das 442 Schmidt-Dengler (1995: 498). 443 Vgl. Parry (2003b: 332). Vgl. zu Handkes Annäherung an den Begriff sowie zu Filips Wahrnehmung der Karstbewohner/ innen als „,Umkehrvolk ‘“ außerdem Wallas, Armin A.: Spiegelvölker. Das Bild der Juden, Indianer und Slowenen als utopische Chiffre im Werk Peter Handkes, in: Acta Neophilologica XXVI (1993), 63-78. 444 Vgl. WH 333. <?page no="149"?> 3.1 Vor den Kriegen, mit den Kriegen 149 Elternhaus als auch sein Vaterland: „Das Wiedersehen mit Österreich machte mich froh.“ 445 (WH 323) Mit dem Wissen um Handkes spätere ,Slowenien-Publikation‘ erscheint es in der retrospektiven Betrachtung durchaus plausibel, Filips auf den vorvorletzten Seiten erfolgte Anführung des „sagenhafte[n] Land[es], das in der Sprache unserer slowenischen Vorfahren ‚das neunte Land‘ heißt“ (WH 317), als Ankündigung des Essays Abschied des Träumers vom Neunten Land zu lesen. Dieses Wissen um das weitere Schaffen des Autors und seine Stellung- und Parteinahme für Jugoslawien lässt schließlich den 1986 verfassten Text in seiner Gesamtheit in einem anderen Licht als zum Zeitpunkt seiner Entstehung erscheinen. Im Nachhinein können so Vorwegnahmen festgemacht werden, die zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung in produktionswie rezeptionsästhetischer Hinsicht nahezu irrelevant waren. Es ist anzunehmen, dass seinerzeit Momente, die in der hier unternommenen, auf Fragen der Identität und Alterität abhebenden Interpretation ausgespart blieben, stärker in den Mittelpunkt der Lektüre rückten: Angesichts des großen Angstbildes der 1980er Jahre - Atomkrieg und atomarer Zwischenfall - gerieten den damaligen Leser/ innen sicherlich sämtliche Verweise des Textes auf eine gedachte Katastrophe in den Blick. Die in Die Wiederholung eingegangenen Stereotypen zivilisationskritischer Rede ließen sich gleichfalls als - durchaus nicht unproblematischer - Versuch, Kultur und Geschichte in Natur(geschichte) zu verwandeln, auslegen. Jedoch: Durch die unbestrittene Bedeutung, die der Schrift in diesem Text zukommt, verweist Handke (implizit) immer wieder darauf, dass Zugänge zur Natur stets auf kulturellen Konstruktionsformen beruhen. Wird nun aber, wie in vorliegendem Fall, das Verhältnis von Eigenem und Fremdem fokussiert - und defokussiert -, so rückt die persönliche Sinn- und Identitätssuche des Protagonisten solcherart in den Vordergrund, dass es abschließend durchaus legitim erscheint, den Text als Reiseerzählung mit Anleihen eines Entwicklungsromans zu fassen. Nicht die Städte, sondern die menschenleeren Landstriche stehen dabei im Vordergrund; und spärlich sind die Begegnungen mit dem, der oder den ‚Anderen‘. Dass es zu einer ‚wirklichen‘ Begegnung mit einer als „Indianerin“ apostrophierten älteren Frau - „erste[r] Mensch, von dem [er, D.F.] [s]ich sowohl gemeint als auch erkannt fühlte“ (WH 300)“ - kommt, ist angesichts Handkes rekurrentem, oder: nahezu leitmotivischem Einsatz dieser Figur mehr als bezeichnend. Tatsächlich steht der Indianer/ die Indianerin wie keine andere Figur als Garant für Alterität in Handkes Texten, wie keine andere ermöglicht sie dem Autor ein Denken in Analogien. Je nach Bedarf werden die verschiedenen Eigenschaften, Erfahrungen und Tugenden, die die Indianer-Vokabel auslöst, stark gemacht: 445 Freilich währt Filips versöhnliche Haltung nur kurze Zeit, nimmt er sich doch nach der Ankunft in seiner Kleinstadt als Opfer, als Feind wahr, was ihm indes nun nichts mehr anhaben kann. <?page no="150"?> 3. Textarbeit 150 ungerechtfertigte Unterdrückung und gerechtfertigter Freiheitskampf; Loyalität und Glaubwürdigkeit; Naturwissen und mystische Welterfahrung, Unabhängigkeit und Nomadentum. Gewiss ist es nicht zuletzt mit Kenntnis der späteren Handke-Texte zulässig, die Karst-Indianerin als gleichsam personifizierten Widerstand und Gegen-Kultur auszulegen: eine Lesart, die allerdings der entsprechenden Absicht des Lesers/ der Leserin bedarf. In meinen Ausführungen zur Morawischen Nacht komme ich auf die Figur zurück, wenden wir uns nun Handkes vom kriegerischen Zerfall Jugoslawiens ausgelösten Texten über Slowenien und Serbien zu. 3.1.1.2 Abschied des Träumers vom Neunten Land Sieht man von jenen Kurztexten ab, die in Handkes Band Noch einmal für Thukydides (1990/ 1995) veröffentlicht wurden, und punktuelle Reiseeindrücke Handkes bzw. einer Figur namens „der Reisende“ (NT 25) 446 oder aber „er“ (NT 25) 447 von unterschiedlichen Plätzen des ehemaligen Jugoslawiens wiedergeben, so stellt Handkes Winterliche Reise über eine im November 1995 unternommene Reise nach Serbien seine erste Reiseerzählung über das ehemalige Jugoslawien mit Lejeuneschem autobiographischen Pakt dar. Eine nicht unwesentliche Rolle für die von ihr ausgelöste Polemik spielte das Medium der Erstveröffentlichung: eine überregionale Tageszeitung. Unter dem von der Redaktion gewählten Titel „Gerechtigkeit für Serbien. Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina“ war in den Wochenendausgaben der Süddeutschen Zeitung (SZ) vom 5./ 6. Jänner und 13./ 14. Jänner 1996 eine gekürzte Fassung des später in Buchform erhältlichen Textes erschienen. In der Süddeutschen Zeitung war bereits am 27./ 28. Juli 1991 Handkes Text „Abschied des Träumers vom Neunten Land. Eine Wirklichkeit, die vergangen ist: Erinnerung an Slowenien“, ebenfalls in einer im Vergleich zur späteren Buchausgabe gekürzten Fassung, erstveröffentlicht worden. Es lohnt sich für mein Unterfangen, diesen verhältnismäßig wenig beachteten Essay zu berücksichtigen, 448 nimmt er doch bereits einiges der Winterlichen Reise und der darin enthaltenen, kontrovers aufgenommenen Thesen zu Jugoslawien vorweg. 449 Die Erzählskizzen über die im Jahre 1987 bereisten jugoslawischen 446 Handke, Peter: Der Schuhputzer von Split, in: ders: Noch einmal für Thukydides, Salzburg u.a.: Residenz 1995, 23-28, 25. 447 Handke, Peter: Epopöe vom Beladen eines Schiffes, in: Handke (1995: 29-33). 448 Bluhm, Lothar: „Schon lange ... hatte ich vorgehabt, nach Serbien zu fahren“. Peter Handkes Reisebücher oder: Möglichkeiten und Grenzen künstlerischer „Augenzeugenschaft“, in: Wirkendes Wort 48 (1998), H. I, 68-90, 75. 449 Vgl. Wagner, Karl: Die Geschichte der Verwandlung als Verwandlung der Geschichte. Handkes ‚Niemandsbucht‘, in: Goltschnigg/ Höfler/ Rabelhofer (1996: 205-217, 205). <?page no="151"?> 3.1 Vor den Kriegen, mit den Kriegen 151 Schauplätze wiederum führen auf engstem Raum jene Mystifikationen vor, deren Verständnis als zentrale und sinnstiftende imaginäre Momente der Handkeschen Ästhetik für die Auseinandersetzung mit seinen Texten (zu Serbien) unumgänglich ist. Diese Mystifikationen fasst Ulrich Dronske anhand der paradigmatischen Beschreibung des Beladens eines Schiffes in einem erhellenden Aufsatz folgendermaßen zusammen: […] ein scheinbar unscheinbarer Vorgang am Rande von Dubrovnik, der bedeutsam wird, ein Zeitpunkt, der in die Tiefe hinein sich dehnt, ein Fremder, der in der Ferne momenthaft hätte Heimat empfinden können, ein Einzelner, der in eine Gemeinschaft sich gleichwohl fremdbleibend hätte eintragen können, ein Gegenbild, das in einem zwischen Literatur und Realität oszillierenden Text nicht erfunden, sondern aufgefunden wird, ein weitgehend noch handwerklicher Vorgang - das Beladen eines Schiffes -, der wie eine ästhetische Opposition gegen die moderne technisierte Welt sich aufbewahrt sieht, der fünfzackige Partisanenstern schließlich, der als Zeichen des erfolgreichen Widerstandes gegen den Faschismus und zugleich als Vorzeichen einer rebellischen Fahrt in die Zukunft, in die Freiheit hinein dient. 450 Während die geographische Verortung der „Epopöe vom Beladen eines Schiffes“, deren Szenerie Handke selbst als einem „Hamsun-Roman, am Pier eines norwegischen Fjords, mit der Handelsstelle, in der Zeit der Jahrhundertwende“ (NT 33) entlehnt vergleicht, lediglich vom „fünfzackige[n] Partisanenstern am Schornstein“ (NT 33) in politischer und auch symbolischer Hinsicht aufgeladen wird, sind die ‚Mystifikationen‘ des Träumer-Textes durchwegs an die im jugoslawischen Slowenien - und nur dort - erlebte Wirklichkeit gekoppelt: „wenn ich mich heute in so etwas wie in einem Volk sehe, dann in jenem der Niemande […]. Und trotzdem habe ich mich in meinem Leben nirgends auf der Welt als Fremder so zu Hause gefühlt wie in dem Land Slowenien. […] Zu Hause in Slowenien, Jugoslawien? “ (AT 9) Obgleich damit ein klassischer Reiseliteratur-Topos aufgegriffen wird, ist dieser Text doch nicht dieser Gattung zuzuordnen. Vielmehr handelt es sich um einen Essay, der ausgehend von vorgeblich persönlichen Gründen und Erfahrungen dem jungen Staat Slowenien sein Recht auf Unabhängigkeit absprechen möchte. Schließlich sei ihm diese „von außen“ (AT 25), sprich Österreich und Deutschland, eingeredet worden - eine Argumentation, die auf Verschwörungsnarrativen sowie, mit Blick auf das ‚überrumpelte‘ Rest-Jugoslawien, Opfergeschichten fußt. 451 Mit unterschiedlichem Maß misst Handke, wenn er die auf Betreiben von Milošević vom serbischen Parlament 1989 beschlossene Zurücknahme des Autonomiestatus des Kosovo aus dem Jahr 1974 als „eine 450 Dronske, Ulrich: Das Jugoslawienbild in den Texten Peter Handkes. Politische und ästhetische Dimensionen einer Mystifikation, in: Zagreber Germanistische Beiträge 6 (1997), 69-81, 76. 451 Vgl. dazu auch Müller-Funk (2009a: 348). <?page no="152"?> 3. Textarbeit 152 (1) Völkerrechtswidrigkeit“ (AT 22) bagatellisiert, Slowenien dagegen den „Völkerrechtsbruch“ (AT 23) vorwirft. Der subjektive Gestus, mit dem der Text spielt, wird bereits im Titel manifest, wenn Handke dem Leser/ der Leserin als ‚Träumer‘ entgegentritt. Die Bedeutung des zweiten Bestandteils des Titels - des Traums als des ‚Neunten Landes‘ - erschließt sich hingegen all jenen deutschsprachigen Leser/ innen, die weder Handkes Wiederholung, noch die slowenische Sprache oder die slowenische Volksdichtung kennen, nicht (auf Anhieb). „Das ‚neunte Land‘ bzw. ‚deveta dežela‘“, so erklärt die slowenische Literaturwissenschaftlerin Irena Samide, „wird im slowenisch-deutschen Wörterbuch aus dem Ende des 19. Jahrhunderts als ‚fernes, mythisches‘ Land umschrieben und ist eine Bezeichnung für ein Land, das es nicht gibt und nie geben wird, in welchem aber alles, was in der realen Welt nicht vorkommt, verwirklicht werden kann.“ 452 Die Irritation, welche der Essay-Titel mit der Angabe des Traum-Titels erzeugt, schafft gleichermaßen eine Erwartungshaltung ob der vom Text intendierten Dekodierung: Was ‚ist‘ das ‚Neunte Land‘, wo liegt es? Trotz der gleich zu Beginn des Basistextes mit der Anführung der „‚Republik Slowenien‘“ (AT 7) vorgenommenen geopolitischen Verortung wird doch deutlich, dass es nicht diese sein kann, die den ,eigentlichen‘ Traumgedanken, das ‚Neunte Land‘, meint. Nein, vielmehr erscheint sie in ihrer Nicht- Einsichtigkeit dem Träumer als Alptraum. „Und ich sehe keinen Grund“, klagt Handke, „keinen einzigen - nicht einmal den sogenannten ‚großserbischen Panzerkommunismus‘ - für den Staat Slowenien; nichts als eine vollendete Tatsache.“ (AT 7) Interesse verdient diese Zusammenführung von ‚Grund‘ und ‚sehen‘ insofern, als sie Aufschluss gibt über Handkes erkenntnistheoretische Prämissen sowie über seine Auffassung von Wirklichkeitserkenntnis, wie sie uns auch in den späteren Texten begegnen wird. Für Handke ist einerseits Erkenntnis an eine unmittelbare äußere Seherfahrung, an die sinnliche Wahrnehmung gekoppelt, andererseits ist er einem essentialistischen Paradigma verhaftet. Diese auf den ersten Blick [sic! ] unversöhnlich anmutende Zweigleisigkeit begreift Fritz Wefelmeyer als ein „nur scheinbar paradoxe[s] Programm eines Essentialismus, der sowohl die Möglichkeit einer objektiven Welterkenntnis behauptet, wie auch die unerschütterliche Überzeugung vertritt, daß es ohne den wahrnehmenden und denkend erzählenden Menschen die Welt überhaupt nicht gibt.“ 453 452 Samide, Irena: „Spieglein, Spieglein an der Wand: Wo liegt das holde Neunte Land? “ Der habsburgische Mythos aus slowenischer Sicht, in: Müller-Funk/ Plener/ Ruthner (2002: 201-210, 201). 453 Wefelmeyer (1995: 677). <?page no="153"?> 3.1 Vor den Kriegen, mit den Kriegen 153 Jene Passagen des Textes, die nicht als rein subjektive gelesen werden möchten, sondern einen Anspruch auf Faktizität und Allgemeingültigkeit stellen, verstören angesichts ihres vermessenen, gar despektierlichen Anstrichs nachhaltig: „Denn nichts, gar nichts“, so moniert Handke beispielsweise, „drängte bis dahin in der Geschichte des slowenischen Landes zu einem Staat-Werden. Nie, niemals hatte das slowenische Volk so etwas wie einen Staatentraum, jedenfalls bis zur Gewalt der Armeepanzer, hatte, aus sich selbst, nicht das Licht einer Idee (Jugoslawien hatte es).“ (AT 24f.) 454 Dieses ‚Jugoslawien‘ - darin wird die Winterlichen Reise vorweggenommen - konnotiert Handke über die geographische Dimension hinausgehend als historische, auf gleichberechtigten Unterschiedlichkeiten basierende Einheit (vgl. AT 12f.). Und um diese Geschichte - die „ganz ander[e]“ Geschichte des „großen widerständischen Jugoslawien“ (AT 14) - hat Handke, das gibt er unumwunden zu, ‚Südslawien‘ beneidet. Mit dem Untergang des Realsozialismus wurde Handkes Verklärung des Nachbarlandes gleichsam der Boden entzogen; als Abwehrreaktion, so lässt sich sein Träumer-Text auslegen, tritt er die Flucht in die Erinnerung, in eine Traumwelt an. Als alles noch gut - mit Salecl das Stadium des „,happy before‘“ 455 - und die dichotomische Aufteilung in ,gutjugoslawisch‘ und ,böse-westlich‘ noch in Gang war, stellte Slowenien eine Stätte der „Wirklichkeit“ (AT 10) dar. Unter Rückgriff auf Hugo von Hofmannsthals Briefe des Zurückgekehrten avanciert das jugoslawische Slowenien mit seiner dort anzutreffenden Leibhaftigkeit und Gegenständlichkeit gar zum exemplarischen Gegenbeispiel jener Unwirklichkeit und ‚Unfassbarkeit‘, die der Briefeschreiber bereits im Jahre 1907 an den Menschen und Gegenständen in Deutschland beklagte: eine Diagnose, so wird in Handkes Text insinuiert, die mittlerweile für die gesamte ‚Westwelt‘ zu übernehmen sei. 456 Doch vor dem Befund der besagten „Unwirklichkeit“ bleibt bekanntlich auch Slowenien nicht gefeit. Der „Unwirklichkeit, Ungreifbarkeit, Ungegenwärtigkeit“ (AT 15) des jungen Slowenien stellt Handke die als Gegenstand seines Traums identifizierbare ‚Wirklichkeit‘ der jugoslawischen Teilrepublik gegenüber. In einer weiteren Bewegung fasst der Text diese - vergangene - Wirklichkeit als ‚Märchenwirklichkeit‘, 457 um schließlich in der 454 Vgl. dazu auch AT 26. 455 Salecl, Renata: (Per)Versions of Love and Hate. London u.a.: Verso 1998, 85. 456 Vgl. von Hofmannsthal, Hugo: Die Briefe des Zurückgekehrten, in: ders.: Sämtliche Werke XXXI. Erfundene Gespräche und Briefe. Hg. v. Ellen Ritter, Frankfurt/ Main: S. Fischer Verlag 1991, 151-174. Handkes Verdammung dieser Westwelt trägt starke anti-amerikanische Anleihen, vgl. dazu Brokoff, Jürgen: „Srebrenica - was für ein klangvolles Wort“, in: Gamsel, Carsten/ Kaulen, Heinrich (Hgg.): Kriegsdiskurse in Literatur und Medien nach 1989, Göttingen: V&R unipress 2011 (Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien 8), 61-88, 68. 457 Ausgehend von „Wirklichkeit“ (AT 9) schreitet die semantische Kette über „Allerwelthaftigkeit“ (AT 10f.) und „Zuhause-Gefühl“ (AT 11) hin zu besagtem „Märchenwirkliche[n]“ (AT 17). <?page no="154"?> 3. Textarbeit 154 emphatischen Anrufung von „Slowenien, meine Geh-Heimat - greifbares Eigendasein, so wunderbar wirklich auch“ (AT 18) - zu kulminieren. Psychoanalytisch gewendet, misslingt die Ablösung vom Beziehungsobjekt, findet eine erfolgreiche ‚Trauerarbeit‘ nicht statt. 458 Passagen wie die oberen, welche eine Lesart des Textes als eines radikal subjektiven Zeugnisses über des Autors ,Märchengegenstand‘ Slowenien begünstigten, würden es erlauben, den Text als solchen als hybriden ‚Märchen- Essay‘ zu qualifizieren, wäre da nicht Handkes stetiger Rückgriff auf die konkreten Ereignisse. Tatsächlich flottiert der kurze Text kontinuierlich zwischen der Idealvorstellung des ‚Neunten Landes‘ sowie Bezugnahmen auf die gerade proklamierte ‚Republik Slowenien‘ und das konkret erlebte ‚jugoslawische Land Slowenien‘, was zu einer Überlagerung unterschiedlicher Lektüremodi mit autobiographischem, faktualem und fiktional-märchenhaftem Geltungsanspruch führt. 459 Wenngleich die Berichterstattung über den persönlichen Bezug zu Slowenien und Jugoslawien, über die persönliche Enttäuschung über das slowenischen „Staat-Werden“ (AT 24) allein in quantitativer Hinsicht überwiegen, können die dahinter stehenden zeitnahen politischen Entwicklungen als ‚eigentlicher‘ Fluchtpunkt des Textes, als seine mimẽsis I ausgemacht werden: die slowenische Selbständigkeitserklärung vom 25. Juni 1991, die zehn Tage währende militärische Auseinandersetzung zwischen slowenischer Territorialverteidigung und Bevölkerung auf der einen, Einheiten der jugoslawischen Armee auf der anderen Seite, welche, trotz technischer Übermacht, eine klare Niederlage erlitt. Der slowenische Historiker Peter Vodopivec fasst die weiteren Ereignisse und Entwicklungen wie folgt zusammen: „Nach mehrtägigen Bemühungen der Europäischen Gemeinschaft erreichte man am 4. Juli einen Waffenstillstand. Am 7. Juli 1991 wurde der vor den Zusammenstößen geltende Zustand wiederhergestellt und ein dreimonatiges Moratorium für die slowenischen (und kroatischen) Selbständigkeitsforderungen festgesetzt. Dessen ungeachtet beschloss das Präsidium Jugoslawiens schon Mitte Juli 1991 - wahrscheinlich unter dem Eindruck der Ausweitung des Krieges in Kroatien - den Rückzug der Jugoslawischen Volksarmee (JVA) aus Slowenien innerhalb von drei Monaten.“ 460 Die Publikation von Handkes Essay fällt somit in die ersten Tage und Wochen nach dem Waffenstillstand und der Aussetzung der Implementierung der Unabhängigkeitserklärungen Kroatiens und Sloweniens. Stand Handke mit seinen Auffassungen auch quer zu der im deutschsprachigen (Medien-)Raum vorherrschenden Übereinkunft, Slowenien möge sich am 458 Vgl. Freud, Sigmund: Trauer und Melancholie, in: ders.: Gesammelte Werke X. Werke aus den Jahren 1913-1917, Frankfurt/ Main: S. Fischer 1991 8 , 457-468. 459 Diese Überlagerung interpretiere ich als vom Autor gewollt. Vgl. dazu auch: Handke, Peter: Noch einmal vom Neunten Land. Peter Handke im Gespräch mit Jože Horvat, Klagenfurt u.a.: Wieser 1993, 100. 460 Vodopivec, Peter: Slowenien, in: Melčić 2007a (34-45, 42). <?page no="155"?> 3.1 Vor den Kriegen, mit den Kriegen 155 besten so schnell wie möglich von Jugoslawien lösen, 461 kam es in Österreich und Deutschland dennoch nicht bereits 1991 zu einer intensiveren und auch kontroversiellen Diskussion. Freilich war Handke weder der einzige, noch der erste deutschsprachige Kritiker der Unabhängigkeit Slowenien. 462 Die Entwicklungen im Vorfeld der Unabhängigkeitserklärung Sloweniens vom 25. Juni 1991 standen zunächst im Schatten eines anderen zentralen Kommunikationsereignisses: die Anfangsphase der Beitrittsverhandlungen zur EG. Gefärbt wurde die Berichterstattung vom Koalitionsstreit zwischen SPÖ und ÖVP, der in unterschiedlichen Positionen zur Anerkennungspolitik gründete. 463 Mit Kriegsausbruch am 26. Juni 1991 und dem im Grenzschutz involvierten österreichischen Bundesheer rückten jedoch, das belegt eine Überprüfung der Berichterstattung der österreichischen Wochenzeitschrift profil, die Ereignisse in Slowenien und Jugoslawien ins Zentrum des medialen Interesses. In diesem Zusammenhang muss auch auf Rudolf Burgers Beitrag „Kriegsgeiler Kiebitz oder der Geist von 1914“ hingewiesen werden, der im August 1992 eine starke Polemik entfachte. In seinem profil-Artikel kritisierte Burger das österreichische Außenministerium für seine Bemühungen um eine rasche Anerkennung Sloweniens und Kroatiens und beschuldigte es der Kriegshetzerei. 464 Zurück zu Handkes Text: Im Unterschied zu den eher verhaltenen Reaktionen in Österreich und Deutschland wurde in Slowenien die Debatte um den Träumer-Text höchst rege geführt, der Essay löste heftige bis entrüstete Reak- 461 Vgl. den kurzen Artikel „Neuntes Land“ (Verfasserkürzel: vhg), in: Die Zeit 47 (15.11.1991), 85, online abrufbar unter: http: / / www.zeit.de/ 1991/ 47/ neuntes-land, 31.1.2013. 462 Vgl. beispielsweise: Die Stunde der großen Vereinfacher. Anton Pelinka über die jugoslawische Tragödie und österreichische Besserwisserei. Gastkommentar, in: profil 28, 8. Juli 1991, 48-49, 49. 463 Vgl. Roselstorfer, Angelika: Medien als Akteur im Krieg. Österreichische Printmedien im jugoslawischen Krieg, Diplomarbeit: Universität Wien 2010, 47. 464 Vgl. Burger, Rudolf: Kriegsgeiler Kiebitz oder der Geist von 1914, in: profil 33 v. 10.8.1992, 16-17. - Österreich erkannte Slowenien zeitgleich mit den EG-Ländern an. Bezüglich der Frage, welche Bedeutung den Interventionen Alois Mocks bzw. Österreichs zukamen, fasst Sonja Dejanović zusammen: „Festzustellen ist, daß die außenpolitische Linie von Außenminister Mock eindeutig die Unabhängigkeitsbestrebungen der beiden Republiken (Slowenien und Kroatien, D.F.) unterstützte, noch bevor die EG und auch Deutschland diese Meinung vertraten, dennoch kann Österreich die Vorreiterrolle nicht zugesprochen werden, da es sich als Nicht-EG-Mitglied in die Politik der Gemeinschaft nicht einmischen konnte. Außerdem war die Stellung als Kleinstaat und neutrales Land gegenüber der EG nicht gewichtig genug, um die Politik gegenüber Jugoslawien in einem starken Ausmaß zu beeinflussen.“ [Dejanović, Sonja: Hintergründe und Motive der österreichischen Anerkennung von Slowenien und Kroatien (1989 bis 1992), Diplomarbeit: Universität Wien 2000, 141.] <?page no="156"?> 3. Textarbeit 156 tionen aus: „Konsterniertheit, Verwunderung, Empörung“. 465 Neva Šlibar bringt die Gründe dafür auf den Punkt: „Es sind zwei verschiedene Wirklichkeiten und Träume, von denen Handke und seine Kritiker sprechen. Auf Handkes unannehmbaren Hang zur Verklärung Sloweniens als etwas ‚Märchenwirkliches‘ antworten slowenische Kritiker mit ihrem Traum von der Eigenstaatlichkeit.“ 466 Dass das kleine Land Slowenien als Projektionsfläche utopischer Vorstellungen fungiert, stellt dabei kein Novum in der österreichischen Literatur dar, man denke nur an Joseph Roths Romane Radetzkymarsch und Die Kapuzinergruft oder Ingeborg Bachmanns Erzählung Drei Wege zum See. 467 Vorgeworfen wurde Handke von slowenischen Intellektuellen sowohl seine Position als Außenstehender, als auch seine Nicht-Berücksichtigung historischer Umstände und ökonomischer Gegebenheiten. So zielt Drago Jančar in seiner Replik darauf ab, die von Handke nicht erkannte slowenische Wirklichkeit in ihrer Differenz zum Handkeschen „Trugbild“ 468 zu schildern und ihm bzw. dem Text „Hochmut“ 469 zu unterstellen. Der Vorwurf, den Slavoj Žižek gegen Handke erhebt, wiegt noch schwerer: „Was Handke nun stört, ist“, so führt der Philosoph (im Zuge eines Interviews) aus, „daß das tatsächliche Slowenien sich nicht so benehmen will, wie es sein Privatmythos vorschreibt, und deshalb die Balance seines Kunstentwurfs stört. Die extremste Form des Rassismus ist der Wunsch, das ‚Andere‘, das Unverstandene in seiner spezifischen, begrenzten Form von ‚Authentizität‘ festzuschreiben. Einer Authentizität, die nur durch den Blick des Fremden definiert wird.“ 470 Ohne selbst mit Ideologemen wie ‚Rassismus‘ aufwarten zu wollen, soll doch für die folgenden Close Readings die aufgeworfene Frage in Evidenz gehalten werden, was Handkes, wie sich zeigen wird, ‚Balkanismus mit umgekehrten Vorzeichen‘ bewirkt. 465 Šlibar, Neva: Auf das neunte Land ist kein Verlaß. Zur Kontroverse um Peter Handkes Slowenienbuch, in: Literatur und Kritik 261/ 262 (1992), 35-40, 36. 466 Ebenda, 38. 467 Vgl. Roth, Joseph: Die Kapuzinergruft. Roman, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2010; ders.: Radetzkymarsch. Roman, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2010; Bachmann, Ingeborg: Drei Wege zum See, in: dies.: Werke 2. Erzählungen. Hg. v. Christine Koschel, Inge von Weidenbaum, Clemens Münster, München u.a.: Piper 1993 4 , 394-486. Auf die Verklärung Sloweniens in den besagten Texten von Roth und Bachmann haben auch Neva Šlibar (2001) und Irena Samide (2002: 203f.) hingewiesen. Vgl. dazu außerdem den Aufsatz von: Suppan, Arnold: Nationale Geschichtsbilder und Stereotypen zwischen (Deutsch-)Österreichern und Slowenen, in: Brandtner/ Michel (2001: 29-39). 468 Jan čar, Drago: Träumen von Slowenien, in: Falter 4/ 92, 18-20, 19. 469 Ebenda, 18. 470 Vgl. Slavoj Žižek im mit „Die Flitterwochen sind vorbei“ betitelten Interview mit Thomas Mießgang, in: profil 4 v. 20.1.1992, 68-69, 69 . <?page no="157"?> 3.1 Vor den Kriegen, mit den Kriegen 157 Zunächst wenden wir uns Handkes Reiseerzählung über seine erste Serbien- Reise zu: jenen Aufzeichnungen, in welchen er übrigens Slowenien als „einst „‚meine Gehheimat‘“ (WR 134, Herv. D.F.) bezeichnet. Die besondere Beziehung der Verbundenheit, die er mit dem Land seiner Vorfahren gepflegt hatte, gehört mittlerweile der Vergangenheit an. Die libidinöse Energie, mit der Handke Slowenien besetzt hatte, wurde abgezogen, und kann nunmehr auf neue (reale oder abstrakte) Objekte gerichtet werden. 3.1.1.3 Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien Ende Oktober 1995, noch vor Beginn der Friedensverhandlungen in Dayton, bricht Peter Handke in Begleitung seiner Lebensgefährtin S. vom Pariser Vorort Chaville Richtung Serbien auf. In Belgrad stoßen seine beiden Freunde und Reisebegleiter dazu: der in Köln lebende Übersetzer Žarko Radaković (in Folge in Handkes Text als „Žarko R.“ bezeichnet) sowie Zlatko B., den Handke in Salzburg als Handlanger, Bote, Berufsspieler und Maler kennen gelernt hatte. Der Lejeunesche autobiographische Pakt, die Identität von Autor/ in, Erzähler/ in und Figur, ist in diesem Text, der als SZ-Artikel mit ‚Peter Handke‘ gezeichnet wurde, eindeutig gegeben: Dies erkläre meine gehäufte Verwendung des Autorennamens ansteller eine konsequenten interpretatorischen Trennung in Autor, erzählendes und erlebendes Ich. Die bereits im Vorfeld erkannte Notwendigkeit eines „ortskundigen Lotsen, Gefährten und vielleicht Dolmetsch“ (WR 40) schafft ein für Handke ungewöhnliches Reisesetting, welches in verschiedener Hinsicht von Bedeutung ist. Nicht allein, dass es angesichts der verschiedenen Verabredungen der beiden Reisebegleiter mit ihren Familienmitgliedern und Freund/ innen den konkreten Reiseverlauf beeinflusst, dass weiters die in der Wiederholung so eklatant werdende Dynamik von Fremd- und Selbsterfahrung in einem neuen Beziehungsgefüge zu verorten, kurzum zu pluralisieren ist. Auch auf narratologischer Ebene schlägt sich der - von der Literaturkritik im Regelfall zwar benannte, nicht aber mit weiterer Beachtung versehene - Umstand, die gesamte Reise fast ständig in Gesellschaft zu bleiben, nieder: Während die Funktion der beiden Mitreisenden Žarko R. und Zlatko B. - Orientierungs- und Kommunikationshilfe - ausdrücklich benannt wird, lässt sich insbesondere die (indes nur im ersten Teil der Reise gegebene) Anwesenheit von S., lassen sich ihre Wahrnehmungen und Ansichten als wohl dosierte Zeugnisse von ‚Gegen-Stimmen‘ interpretieren. Hierbei ein „multiperspektivisches Er- <?page no="158"?> 3. Textarbeit 158 zählen“ im Sinne Ansgar und Vera Nünnings aufzuspüren, 471 ist sicherlich zu hoch gegriffen; vielmehr handelt es sich dabei um Ansätze der Perspektivierung. Immerhin werden auf diese Weise manche von Handkes Sichtweisen und Schlüsse in Frage gestellt, kritisiert, konterkariert. Darüber hinaus fließen die Aussagen und Einschätzungen einheimischer Bekannter und Bewohner/ innen, in referierender, aber auch direkter Rede ein. Im Lektüreprozess vermag dies - als Signale der Offenheit und Toleranz verstanden - durchaus Sympathie für das erzählende Ich zu bewirken; dieses Vorgehen bzw. auch diese Wirkung als kalkulierte Strategie des Autors zu interpretieren, bleibt jedem Leser/ jeder Leserin selbst überlassen. Für die Steuerung des Leseverhaltens nicht unwesentlich ist außerdem das Wissen über Handkes Einschätzung seines Werkes als eines versöhnenden sowie über seine Intention mit diesem Text - „Mein Text ist Wort für Wort ein Friedenstext.“ 472 -, die angesichts der ersten feindseligen Reaktionen auch zu seinem Entschluss einer Lesereise führte. Ein Zusammenspiel verschiedener Perspektiven ergibt sich zudem in der offensiven Bündelung unterschiedlicher Rollen(zuschreibungen): als „irgendein Fremder, nicht einmal [...] Ausländer oder Reisender“ (WH 40) möchte er sich in Serbien bewegen; tatsächlich erlebt er sich als ein „Reisender, ja ein Tourist, wenn auch jener neuen Art, welche seit kurzem die Reiseforscher oder -wissenschaftler dem ‚Urlauber‘ als ‚nachhaltiges Reisen‘ vorschlagen“, niemals jedoch als ein „Fremder, im Sinn eines Unzugehörigen oder gar vor den Kopf Gestoßenen.“ (WH 140) Dass ihn die resolute Zurückweisung einer solchen Etikettierung nicht daran hindert, an verschiedenen Stellen seine, wie er verrät, Lieblingsredensart „‚Was weiß ein Fremder? ‘“ (WR 85 u. 155) einzuflechten, sei nur am Rande bemerkt. Das vorwiegende grammatikalische Tempus des in vier Abschnitten gegliederten Textes ist das Präteritum: Während der zweite („Der Reise erster Teil: Zu den Flüssen Donau, Save und Morava“) und dritte Abschnitt („Der Reise zweiter Teil“) die Reise in ihrem chronologischen Verlauf, von der Landung 471 Darunter subsumieren die beiden auf der Ebene der erzählten Welt das Vorhandensein „mehrere[r] Versionen desselben Geschehens“, vgl. Nünning, Ansgar/ Nünning, Vera: Von ‚der‘ Erzählperspektive zur Perspektivenstruktur narrativer Texte. Überlegungen zur Definition, Konzeptualisierung und Untersuchbarkeit von Multiperspektivität, in: dies. (Hgg.): Multiperspektivisches Erzählen. Zur Theorie und Geschichte der Perspektivenstruktur im englischen Roman des 18. bis 20. Jahrhunderts, Trier: WVT 2000, 3- 38, 18. 472 Auf diesen Satz folgt indes die arrogante Aussage, die angesichts der aktiven Rolle des Lesers/ der Leserin für das jeweilige Textverständnis von einem völligen Verkennen des tatsächlichen Leseprozesses und seiner Parameter zeugt: „Wer das nicht sieht, kann nicht lesen.“ So Peter Handke im mit „Ich bin nicht hingegangen, um mitzuhassen“ betitelten Gespräch, in: Die Zeit 6 (1996), online abrufbar unter: http: / / www.zeit.de/ 1996/ 06/ Ich_bin_nicht_hingegangen_um_mitzuhassen, 31.1.2013. <?page no="159"?> 3.1 Vor den Kriegen, mit den Kriegen 159 des Flugzeuges in Belgrad bis zur Autorückfahrt über die ungarische Grenze bei Subotica, bis zum Wunsch, die Reise ganz alleine und zu Fuß zu wiederholen (vgl. WR 142), schildern, bilden Abschnitt 1 („Vor der Reise“) und der Epilog eine Klammer des Vor- und Nachhers. Handkes radikale Kritik an der französischen und deutschen medialen Kriegsberichterstattung und ihrer festgeschriebenen Verteilung „der reinen Opfer und der nackten Bösewichte“ (WR 64) - der zentrale Auslöser für die heftige Kontroverse rund um Handkes Text - ist gleichfalls in diesen beiden Teilen platziert, womit Abschnitt 1 und Epilog über die zeitlich-chronologische Dimension hinausgehend als inhaltlicher Rahmen fungieren. Dieser gibt für die Lektüre der beiden eingebetteten Teile eine ganz bestimmte Perspektive vor: die mittleren Teile, die Reiseerzählung als solche, mögen als - dabei jedoch nicht als ein vorsätzliches (vgl. WH 77) - ‚Gegenprogramm‘ zur gängigen Schwarz-Weiß-Malerei der Kroatien- und Bosnien-Kriegsberichterstattung und der Schuld der ‚Serben‘ gelesen werden. Auch aus diesem Grunde, könnte man hier spekulieren, wurde der Text nicht gleich in Buchform, sondern - wiewohl in seiner Ästhetik, trotz einer anteilsmäßigen Übernahme des Essayistischen, als poetischliterarisches Zeugnis charakterisierbar - in einer Tageszeitung erstveröffentlicht. Die von Handke vorgenommene Kritik und fallweise auch Schelte der Medien ist dabei vor dem Hintergrund eines nach dem Fall der Mauer wachsenden Bedeutungs- und Autoritätszuwachses ebendieser zu verorten bzw. als Kritik des neuen Sprach-, Bild- und Denkmonopols der Medien. 473 Insbesondere in dem von Handke als ‚Gegenland‘ gezeichneten Serbien scheinen erlebendes und erinnerndes/ erzählendes Ich streckenweise ineinander zu fallen; phasenweise dominiert gar die Fokalisierung des erlebenden Ichs, was mit Basseler und Birke als „inszenierte Felderinnerung“ erkannt werden kann. 474 Dass während der gesamten Reise außer einem serbischen Fluch und, als Schlusszitat, einem Ausschnitt aus einem Abschiedsbrief nichts weiter notiert wurde, dass der Text im Nachhinein, von 27. November bis 19. Dezember 1995 geschrieben wurde, ist jedoch den letzten Seiten zu entnehmen. Dem vierteiligen Text wiederum vorangestellt sind drei Zitate aus Miloš Crnjanskis Tagebuch über Čarnojević: ein, so Ilma Rakusa, „Poem in Prosa“ in Form eines wohlgemerkt fiktiven Tagebuchs. 475 Unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkrieges verfasst, verarbeitete Crnjanski, der als Infanterist des 29. k.u.k.-Regiments an der galizischen Front eingesetzt war, darin seine Kriegserfahrungen: im Unterschied zu sämtlichen hier behandelten Texten ein Stück ‚Kriegsliteratur‘. 473 Vgl. Deichmann, Thomas: Einleitung, in: Noch einmal für Jugoslawien: Peter Handke, hg. v. dems., Frankfurt/ Main, Suhrkamp 1999 (st 2906), 9-16, 11. 474 Basseler, Michael/ Birke, Dorothee: Mimesis des Erinnerns, in: Erll/ Nünning 2005 (123-147). 475 Rakusa, Ilma: Nachwort, in: Crnjanski, Miloš: Tagebuch über Čarnojević. Übers. a. d. Serb. v. Hans Volk. M. e. Nachwort v. Ilma Rakusa, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1993 (NF 1867), 126-137, 131. <?page no="160"?> 3. Textarbeit 160 Mit dem gebotenen zeitlichen Abstand und den mittlerweile in Form von empirischen Untersuchungen vorliegenden Analysen der Berichterstattung in Österreich und Deutschland über den kriegerischen Zerfall Jugoslawiens kann festgehalten werden, dass zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Handke-Textes in der Süddeutschen Zeitung der dominante mediopolitische Diskurs im deutschsprachigen Raum in der Tat ein, wie denn auch Handke moniert, einseitiger und voreingenommener war. Spätestens mit dem Bosnien-Krieg hatte sich das Bild von den Serb/ innen als einem nationalistischen und gewalttätigen ‚Tätervolk‘ verfestigt. 476 Mit der Rolle der leidenden Opfer waren die Bosnier/ innen besetzt worden, für Žižek gleichsam den „phantasmatischen Rahmen“ dieses Krieges für den Western sichernd: „Die Bosnier mußten Opfer bleiben. Im Augenblick, in dem sie nicht mehr länger verloren, verschob sich die Wahrnehmung in Richtung fanatische muslimische Fundamentalisten.“ 477 Die von Anja Liedtje und Gabriele Vollmer im Rahmen ihrer noch vor dem Dayton-Vertrag abgeschlossenen Doktorarbeiten über die Berichterstattung deutscher Medien sowie die von Ana Sikima und Angelika Roselstorfer verfassten Arbeiten über die österreichische Presse zeigen allesamt die aktive Rolle der Medien für die Konstruktion gesellschaftlicher Realitäten auf und bestätigen folgende Hypothesen: Dominanz eines serbischen Feindbildes; Einsatz serbischer Stereotype; Einsatz historischer Analogien vorwiegend für die serbische Seite; bevorzugte Darstellung von kroatischen und bosnischen Opfern; Bevorzugung slowenischer, kroatischer und bosnischer Augenzeug/ innen vor serbischen; Überhang von wertenden vor sachlichen Darstellungsformen. 478 Mit dem 1994 von Klaus Bittermann herausgegebenen und verlegten Sammelband Serbien muß sterbien. Wahrheit und Lüge im jugoslawischen Bürgerkrieg, der Aufsätze u.a. von Mira Beham, Jacques Merlino, Peter Brock enthält, lag im Jänner 1996 eine kritische Zusammenstellung der einseitigen Berichterstattung bereits vor. Wenngleich diese Publikation in ihrem Insgesamt sicherlich nicht sämtlichen wissenschaftlichen Gütekriterien wie Objektivität, Zuverlässigkeit und Transparenz entspricht, so vermittelt sie doch 476 So die Einschätzung von: Beham, Mira: Die Medien als Brandstifter, in: Bittermann 2005 (118-133, 129). 477 Žižek (1997: 590). 478 Vgl. Liedtke, Anja: Zur Sprache der Berichterstattung in den Kriegen am Golf und in Jugoslawien, Frankfurt/ Main u.a.: Peter Lang 1994 (Deutsche Sprache und Literatur 1461); Vollmer, Gabriele C.: Polarisierung in der Kriegsberichterstattung. Inhaltsanalytische Untersuchung bundesdeutscher Tageszeitungen am Beispiel des Jugoslawienkrieges, Dissertation: Westfälische Wilhelms-Universität zu Münster 1994; Sikima, Ana: Der Balkankrieg im Spiegel der österreichischen Presse, Diplomarbeit: Universität Wien 2009; Roselstorfer Angelika: Medien als Akteur im Krieg. Österreichische Printmedien im jugoslawischen Krieg, Diplomarbeit: Universität Wien 2010. Sikimas und Roselstorfers Untersuchungsmaterial inkludieren November 1995. <?page no="161"?> 3.1 Vor den Kriegen, mit den Kriegen 161 einen Einblick in die verschiedenen internationalen Debatten rund um das Ungleichgewicht, die Einseitigkeit, die Tendenziösität und auch die Oberflächlichkeit der Berichterstattung. Angesichts der oben genannten Untersuchungen und Publikationen drängt sich der Schluss auf, dass Handke weder der erste Kritiker der einseitigen Berichterstattung wie auch der vorherrschenden Bildästhetik war, noch, dass seine Wahrnehmungen und Beschuldigungen gänzlich aus den Luft gegriffen waren. Der Kriege wegen und der einseitigen, auf Kosten von Serbien gehenden Berichterstattung, überführt Handke seinen bereits mit dem Ausbruch des Krieges in Bosnien-Herzegowina geweckten Wunsch, „das Land der allgemein so genannten ‚Aggressoren‘“ (WR 38f.) kennen zu lernen, in ‚Wirklichkeit‘. Einzig Belgrad hatte er bereits „als Autor eines stummen Stücks“ (WR 37) im Rahmen eines Theaterfestivals besucht: Wer in der europäischen Landschaft von Theaterfestivals und Handke-Theaterstücken bewandert ist, kann in diesen Angaben das 1967 gegründete Belgrader International Theatre Festival (BITEF) sowie das auf den Verzicht jeglicher Symbolik abzielende Stück Das Mündel will Vormund sein (1969) identifizieren. 479 Die Mental Map, auf die Handke während dieses ersten Belgrad-Besuchs zurückgriff, lässt sich in das Repertoire des Balkanismus einschreiben, das Adverb „natürlich“ unterstreicht die essentialistischen Anleihen seiner Vorurteile: Von jenen vielleicht eineinhalb Tagen habe ich nur behalten meinen jugendlichen oder eben autorhaften Unwillen wegen einer unaufhörlichen Unruhe, angesichts der wortlosen Aufführung, in dem serbischen Publikum, welches, so mein damaliger Gedanke, südländisch oder balkanesisch, wie es war, natürlich nicht reif sein konnte für ein so langandauerndes Schweigen auf der Bühne. (WR 37, Hervorh. D.F.) Mit der Kennzeichnung des Publikums als eines ,serbischen‘ rekurriert Handke auf das in der medialen Berichterstattung über die Jugoslawien- Kriege gebräuchliche Vokabular bzw. Kollektivierungskalkül, welches andere Kategorien - wie Geschlecht, Klasse, Alter etc. - ausblendet und einer ethnischen Homogenisierung Vorschub leistet. Tatsächlich stellt es ein Charakteristikum nicht nur dieses Textes Handkes über die Region dar, Menschengruppen in nationalen Kollektiven zu vereinheitlichen sowie ethnopsychologische Stilisierungen, die sich durchaus als Indizien für einen ‚Balkanismus mit umgekehrten Vorzeichen‘ lesen ließen, vorzunehmen. Dass, wie Svetlan Lacko Vidulić argumentiert, diese Begriffe ambivalent benutzt werden, kon- 479 Mit dieser Entschlüsselung soll nicht der Eindruck entstehen, dass mein Anliegen die faktuale Abgleichung des literarischen Textes ist. Vielmehr sollte damit gezeigt werden, dass diese Angaben dem Lejeuneschen autobiographischen Pakt, der in förmlicher Hinsicht allein durch die Unterzeichnung des Zeitungsartikels gegeben ist, zuarbeiten, und dass der Text Winterliche Reise einen faktualen Lektüremodus zulässt. <?page no="162"?> 3. Textarbeit 162 vergiert mit der auch hier vertretenen Lesart; dass dies indes von anderen Leser/ innen nicht geteilt bzw. die dahinter stehende Intention gegebenenfalls nicht erkannt wird, soll ausdrücklich festgehalten werden. 480 So haben denn auch Handkes Kollektivierungsversuche der Serb/ innen heftige Kritik hervorgerufen. Handkes Methode, Opfer wie Täter/ innen in Kollektiven zu vereinheitlichen, erfülle nichts anderes, so Carolin Emcke, als Miloševićs letzten Traum. 481 Im Sinne eines ‚exemplarischen Zitierens möchte ich an dieser Stelle den Eindruck und Einwand von Dževad Karahasan wiedergeben: Handkes Kollektivierung moralischer Begriffe wie Schuld, Verantwortung, Gerechtigkeit verwirren und ängstigen mich und ekeln mich gleichzeitig an. Aber Handkes Versuch, die Verantwortung für Verbrechen, die ganz konkrete Leute mit Vor- und Nachnamen begangen haben, auf „die Serben“ zu übertragen, um sie dann vor dieser Schuld und Verantwortung sozusagen in Schutz zu nehmen, ist mindestens monströs. Welcher normale Mensch würde glauben, daß „die Serben“ für einen einzigen Mord verantwortlich seien? (Serben als solche? Serben an sich? ) Seien wir ernsthaft, Millionenkollektive kann man nicht als ein in sich homogenes Phänomen betrachten, so viel sollte auch ein Literat wissen. 482 Doch kehren wir zurück zur ersten Seite von Handkes Text. Das implizite Eingeständnis von auf Balkanismen gründenden Vorannahmen, das dem Leser/ der Leserin auch an weiteren Stellen des Textes preisgegeben wird, lässt sich als eine weitere Strategie des Autors entziffern, Sympathie zu erzeugen und gleichzeitig auch die eigene Lern- und Entwicklungsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Das erzählende Ich geriert sich als eines, dem bestimmte, zum Teil stereotype Erwartungen durchaus nicht fremd sind. Bestimmte Klischeevorstellungen werden gar von seinen beiden ortskundigen, doch nicht länger vor Ort lebenden Lotsen geteilt: So zögerte Zlatko B., „mit dem eigenen Auto zu kommen, weil das, so hatte er gehört, in seiner serbischen Heimat sofort gestohlen würde.“ (WR 46) - Beispiel einer Überlagerung des Selbstbildes vom Fremdbild. Mit dem im Text festgehaltenen Wunsch, „hinter den Spiegel“ (WR 39) zu gelangen, korreliert von Beginn an eine bestimmte Stellungnahme, wenn nicht Parteinahme in Sachen ‚Ökonomie der Aufmerksamkeit‘: Die von 480 Vgl. Vidulić (2007: 2). Auf eine ambivalente Verwendung wird von Handke selbst hingewiesen, wenn er, wie ausgerechnet bei dem unverfänglichen Begriff aus der Gastronomie, Anführungszeichen setzt: „Zu essen gab es unter anderm die Hühnersuppe, ein Spanferkel und den ‚serbischen Krautsalat‘“ (WR 101). 481 Vgl. Emcke, Carolin: Versuch über das geglückte Kriegsverbrechen, in: Spiegel online v. 4.6.2006, online abrufbar unter: http: / / www.spiegel.de/ kultur/ literatur/ 0,1518,419661,00.html, 31.1.2013. 482 Karahasan, Dževad: Bürger Handke, Serbenvolk, in: Die Zeit v. 16.2.1996, 44, außerdem gekürzt nachgedruckt in: Zülch, Tilman (Hg.): Die Angst des Dichters vor der Wirklichkeit. 16 Antworten auf Peter Handkes Winterreise nach Serbien, Göttingen: Steidl 1996 (Steidl-Taschenbuch 72), 41-53, 44. <?page no="163"?> 3.1 Vor den Kriegen, mit den Kriegen 163 Handke als „Verspiegelungen“ (WR 39) kritisierten medialen Formatierungen beziehen sich ausgerechnet auf jenes Land, das zum damaligen Zeitpunkt von den kriegerischen Ausschreitungen verschont geblieben war. Dass die Ruhe, Freundlichkeit und Gesittetheit, die er in Serbien wahrnimmt, nicht Garant dafür sein können, dass nur wenige Kilometer weiter, auf der anderen Flussseite nicht grauenhafte Verbrechen begangen worden sind, sollte sich von selbst verstehen, wird aber von Handke nicht mit einer einzigen Silbe erwähnt. Gewiss gab es, wie bereits angeführt, ein Ungleichgewicht in der medialen Berichterstattung über jene Menschen, die den so genannten Bösewichten zugeschlagen werden, gewiss fehlte eine differenzierte Zeichnung ebendieser. Doch warum sich Handke beispielsweise nicht dafür entschied, die (serbischen) Menschen in der Krajina oder aber auch in Slawonien aufzusuchen, diese Erklärung bleibt er seinen Leser/ innen schuldig. Schließlich werden im weiteren Verlauf des Textes auch mediale Bildbeispiele aus den Kriegsregionen angeführt: dass er, mit seinem Drängen nach „Augenzeugenschaft“ (WR 39), das dortige ‚Dahinter‘ der medialen Repräsentationen nicht aufsucht, stellt meines Erachten eine ‚Reiseverfehlung‘ dar, die mitverantwortlich für die erbitterten Reaktionen war. Wenngleich auch im ersten Abschnitt „Vor der Reise“ der sprachliche Gestus des Erzählens unverkennbar ist und das Eingangskapitel als Erzählung über die beiden aus Serbien stammenden Reisebegleiter ansetzt, findet die Überleitung zu seinem, wie sich herausstellen wird, Leitmotiv der Medienschelte doch sehr früh statt. Auf den ersten Blick einem Erzählen der Reisevorbereitungen verhaftet, gibt Handke Auskunft über den Abend vor der Abreise: seinen Kinobesuch von Emir Kusturicas Film Underground, der bei ihm, Eingeständnis tiefster Bewunderung, ein „Fastergriffensein“ (WR 48) ausgelöst habe. 483 Doch nicht der Film bildet das Ostinato von Handkes Argumentation, sondern die von den nouveaux philosophes Alain Finkielkraut und André Glucksmann in Le Monde und Libération veröffentlichten Kritiken: im Falle ersterer schrieb Finkielkraut, so moniert Handke, „ohne ihn gesehen zu haben“ (WR 49). Mit Glucksmann und Finkielkraut bringt Handke jenen Teil der intellektuellen Szene Frankreichs ins Spiel, der, in Opposition zur französischen Außenpolitik und unter Rekurs auf die Strömung und Tradition des antitotalitären Denkens, vehement und medienwirksam für die Anerkennung von Slowenien und Kroatien votiert und interveniert hatte. 484 Etwaige konvergierende Positionen zu Krieg und Nationalismus innerhalb dieser Gruppe 483 Vgl. als konträre Positionen dazu Iveković (2001: 117-122) und Žiž ek (1997) . 484 1992 wurde das ‚Comité Vukovar-Sarajevo‘ gegründet, das sich für militärische Interventionen im Bosnien-Krieg und die Universalität der Menschenrechte einsetzte; ein weiterer Mitbegründer der nouveaux philosophes, Bernard-Henri Lévy, wirkte als Regisseur am 1994 veröffentlichten Film Bosna! mit und initiierte mit Michel Polac u.a. die Wahlliste ‚L' Europe commence à Sarajevo‘ für die Europawahl im Juni 1994. <?page no="164"?> 3. Textarbeit 164 der antitotalitären Intellektuellen waren mit der gemeinsamen Verurteilung der serbischen Aggression überwunden worden. 485 Dass Handke nun seinen Verriss der Zeitung Le Monde 486 mit einem Rekurs auf die Positionen der französischen Intellektuellen- und nicht Journalist/ innen-Szene eröffnet, stellt meiner Einschätzung nach einen gewichtigen Faktor für die (Selbst-)Positionierung des Textes sowie die Dynamik seiner Rezeption dar: implizit wird mit dem Verweis auf Finkielkraut und Glucksmann ein diskursives Spannungsfeld aufgerufen, das auf Fragen nach der Verantwortung des/ der Intellektuellen sowie auf Kritik an spektakulärer Mediatisierung und Inszenierung ebendieser und der damit einhergehenden Verwandlung von Krieg in Kriegsspiel abhebt. 487 Wenngleich die medienerzürnten Passagen Handkes auf der Darstellungsebene ansetzen, kommt er - hierbei nicht länger einen ästhetischen, sondern quantifizierenden Blick zur Geltung bringend - nicht umhin, auf das außertextuelle Geschehen abzuheben. „Etwa siebzig Menschen sind bei jenem Initialkrieg umgekommen“, so referiert er den Zehntagekrieg in Slowenien, „sozusagen wenig im Vergleich zu den Vielzehntausenden in den Folgekriegen. Jedoch wie kam es, daß beinah alle der siebzig Opfer Angehörige der jugoslawischen Volksarmee waren, die schon damals als der große Aggressor galt und, in jedem Sinn weit in der Übermacht, mit den wenigen slowenischen Unabhängigkeitsstreitern ein gar leichtes Spiel (Spiel? ) gehabt hätte? [...] Wer hat da auf wen geballert? “ (WR 57) Anstelle auf verbürgte Quellen zu rekurrieren, sät Handke mittels des Fragemodus Zweifel. Strategische Beweggründe für das zurückhaltende Vorgehen der serbischen Führung in Slowenien bzw. für die Aufgabe der nördlichsten Teilrepublik werden von Handke nicht berücksichtigt. 488 In seiner Verklammerung mit konstruktivistischen Einsichten - „Wo war der die Realitäten verschiebende, oder sie wie bloße Kulissen schiebende, Parasit: in den Nachrichten selber oder im Bewußtsein des Adressaten? “ (WR 58) - wird der dominante Fragegestus als vorgeblich zweiseitige Argumentation inszeniert: So lässt sich mit der kommunikationswissenschaftlichen Persuasionsforschung die Einbeziehung von Gegenargumenten und -ansichten, 485 Vgl. Ragossnig (2006: 187f.). 486 „Die Zeitung beschreibt ihre Sujets nicht mehr, geschweige denn, was noch besser, auch nobler, wäre, evoziert sie, sondern begrapscht sie - macht sie zu Objekten.“ (WR 51) 487 Vgl. dazu den Kurztext „Bernard Henri Lévy“ von Semezdin Mehmedinović, in: ders.: Sarajevo Blues. A. d. Bosn. übers. u. m. e. Nachw. vers. v. Harris Džajić, Göttingen: Hainholz 1999, 55. Mit ‚Inszenierung spiele ich auf Susan Sontag an, die zwischen 1993 und 1995 in Sarajevo Samuel Beckets Stück Warten auf Godot inszeniert hat. Vgl. dazu Richards Schuberths „Tragikomödie“ Freitag in Sarajevo, das 2003 bei Drava in Klagenfurt erschienen ist; sowie Weber, Ralf: Zynisches Handeln. Prolegomena zu einer Pathologie der Moderne, Frankfurt/ Main u.a.: Lang 1998 (Soziologie 311), 57-61. 488 Vgl. zu diesen strategischen Gründen: Gow, James; Strategien und Kriegsziele, in: Melčić (2007: 362-376, 364). <?page no="165"?> 3.1 Vor den Kriegen, mit den Kriegen 165 wie sie in der Winterlichen Reise erfolgt, als für die Vermittlung der intendierten Botschaft insofern erfolgsversprechende Strategie ausmachen, als damit besagte Gegenargumente vorweggenommen und, im Idealfall, immunisiert werden. 489 Offensiv die Möglichkeit der eigenen Täuschung und Fehleinschätzung thematisierend, gerät das Ich des Textes in diesen ersten auf die außertextuelle Wirklichkeit rekurrierenden Passagen ebenso empathiefähig (vgl. WR 59) und gespalten (vgl. WR 62); tunlichst wird vermieden, einer monokausalen und monolithischen Auffassung des Konfliktes sowie seiner Repräsentationsformen Vorschub zu leisten. Indes: Das offensive Spiel mit unterschiedlichen Ansichten und Identitäten kulminiert schließlich - und ausgerechnet in jener Textstelle, welche die prekäre Frage nach dem Anfang des Krieges bzw., mit Christa Wolf, dem „Vorkrieg“ 490 in Kroatien aufwirft -, in der Identifikation mit einem Serben in Kroatien (vgl. WR 61), sodann „dort in Bosnien“ (WR 65). In ihrer Aneinanderreihung legen die folgenden Fragen sicherlich Zeugnis von der Sprachgewalt des Autors ab; der von ihnen erzeugte Sog freilich speist sich nicht allein aus Sprachfertigkeit und Rhythmus, sondern auch den darin transportierten Vokabeln und Argumenten: Wer war der erste Aggressor? Was hieß es, einen Staat zu begründen, dazu einen seine Völker vor- und zurückreihenden, auf einem Gebiet, wo doch seit Menschengedenken eine unabsehbare Zahl von Leuten hauste, welcher solcher Staat höchstens passen konnte wie die Faust aufs Auge, d.h. ein Greuel sein mußte, in Erinnerung an die nicht zu vergessenden Verfolgungen durch das hitlerisch-kroatische Ustacharegime? Wer also war der Aggressor? War derjenige, der einen Krieg provozierte, derselbe wie der, der ihn anfing? Und was hieß „anfangen“? Konnte auch schon solch ein Provozieren ein Anfangen sein? („Du hast angefangen! “ - „Nein, du hast angefangen! “). Und wie hätte ich, Serbe nun in Kroatien, mich zu solch einem gegen mich und mein Volk beschlossenen Staat verhalten? [...] (WR 60f.) An diesem Ausschnitt, der an einer frühen Stelle im Text auf eine mögliche Intention Handkes - die Frage nach der Kriegsschuld neu zu verhandeln - verweist, kann exemplarisch ein Hauptdilemma der Winterlichen Reise aufgezeigt werden. Der sprachliche Gestus des Fragens kann bei einem Lektüremodus mit faktualem Geltungsanspruch als nicht anders als ein rein rhetorisches Mittel interpretiert werden, die Fragen mithin als Behauptungen. Mit solchen jedoch, so monierte auch Peter Schneider, einer der heftigsten Kritiker/ innen in der Debatte um den Text, lädt sich Handke eine „Beweislast“ 491 auf. Die Nichteinbringung von Fakten und verbürgten Quellen bestimmt das Lektüre- 489 Dies betrifft insbesondere Rezipient/ innen mit höherem Bildungsniveau, vgl. Kunczik, Michael/ Zipfel, Astrid: Publizistik. Ein Studienhandbuch. 2., durchges. u. aktual. Aufl., Köln u.a.: Böhlau 2005, 294-302. 490 Vgl. Wolf, Christa: Kassandra. Erzählung, München: Luchterhand Literaturverlag 2000, 80. 491 Schneider, Peter: Der Ritt über den Balkan, in: Der Spiegel 3 (1996), 163-165, 163. <?page no="166"?> 3. Textarbeit 166 verhalten entscheidender als die Auseinandersetzung mit der Mittelbarkeit der Kriege: Anstelle nachhaltig vorzuführen, wie in kriegerischen und Macht- Konflikten Polarisierung und Propagierung greifen, wie sich das Aussprechen und Aushandeln der geschichtsträchtigen Gegenwart ereignet, wird vom Text phasenweise gezielte Widerlegung von Medienberichten und politischen Einschätzungen suggeriert - ohne diese indes einzulösen. Mit der Hinwendung zum Krieg in Bosnien verlässt der Text die sachliche Ebene vollends. Die undifferenzierte Wahrnehmung der „reinen Opfer und der nackte Bösewichte“ (WR 64), die Handke an der Kriegsberichterstattung kritisiert, wird insofern perpetuiert, als der Text eine differenzierte Auseinandersetzung - mit beiden Seiten, aus Selbst- und Fremdperspektive - ausspart. Eine Analyse jener symbolischen Strategien und semantischen Formeln, die zu einer Vereinheitlichung der Kommunikation insbesondere in und über Sarajevo führten, bleibt auch Handke seinen Leser/ innen schuldig. 492 Zwischen enerviertem, despektierlichem und besserwisserischem Gestus schwankend, hält Handke mit Bezug auf das am 29. Februar 1992 unter serbischem Boykott begonnene Referendum in Bosnien-Herzegowina über die Unabhängigkeit lediglich fest: Wie sollte, war gleich mein Gedanke gewesen, das nur wieder gut ausgehen, wieder so eine eigenmächtige Staatserhebung durch ein einzelnes Volk - wenn die serbokroatisch sprechenden, serbischstämmigen Muselmanen Bosniens denn nun ein Volk sein sollten - auf einem Gebiet, wo noch zwei andere Völker ihr Recht, und das gleiche Recht! , hatten, und die sämtlichen drei Völkerschaften dazu kunterbunt, nicht bloß in der meinetwegen multikulturellen Hauptstadt, sondern von Dorf zu Dorf, und in den Dörfern selber von Haus zu Hütte, neben- und durcheinanderlebten? (WR 64f.) Während im Französischen - schließlich ist für die Produktionsbedingungen des Textes ein frankophoner Kontext zu veranschlagen - der Begriff ‚musulman‘ einen Moslem und der großgeschriebene ‚Musulman‘ zwischen 1974 und 1995 einen Vertreter des bosnischen Volkes bezeichnet (hat), ruft ‚Muselman‘ im Deutschen die veraltete und verballhornende Bezeichnung ,Muselmann‘ auf. Mit zwei ,n‘ geschrieben, verweist ‚Muselmann‘ auch auf den Lagerjargon: auf „den sich aufgebenden und von den Kameraden aufgegebenen Häftling [...]. Er war ein wankender Leichnam, ein Bündel physischer 492 Vgl. dazu die instruktiven Ausführungen von: Kebo, Ozren: Das Paradoxon von Sarajevo, in: Melčić (2007: 294-304). <?page no="167"?> 3.1 Vor den Kriegen, mit den Kriegen 167 Funktionen in den letzten Zuckungen.“ 493 Einmal mehr hängt es von der Entscheidung und Bedeutungszuschreibung des Lesers/ der Leserin ab, wie der, wie ich finde, an dieser Stelle vollkommen deplatzierte Ausdruck verstanden wird. Die unmittelbar darauf erfolgende Beschreibung eines ‚kunterbunten Durcheinanderlebens‘ sowie die Lokalisierung in ‚Hütten‘ - nicht allein unter dem Diktat einer Verdachtshermeneutik bald als Balkanismus-Indizien auslegbar - lässt auf eine schlichtweg pejorative Besetzung des Terminus schließen. Diese (ab)wertenden Einschübe Peter Handkes sind es, die seinen Rezensent/ innen ins Auge gestochen und gegen den Text in Anschlag gebracht worden sind, kurzum zu seiner Ablehnung beigetragen haben. Eine sachliche Auseinandersetzung mit Handkes Beobachtungen bezüglich der einseitigen medialen Dominanz kroatischer und bosniakischer Opfer wurde so bereits im Vorhinein vereitelt. Mit Passagen wie jener, in denen das Leiden der „Kummer- und Trauergenossen aus den beiden übrigen Kriegsvölkern“ als „wohl wirklich leidend“ (WR 67) gebilligt bzw. diffamiert wird, fällt es dem Leser/ der Leserin nicht leicht, dem ‚eigentlichen‘ Argument Handkes - der medialen Instrumentalisierung des Leidens - nachzusinnen, und den Vorwurf des Leiden-Spielens nicht hineinzulesen. Gewichtige Einsichten werden so vom emotionalen Gebaren dieser Textstelle überlagert: dass nämlich ein Großteil unseres Wissens auf visueller Wahrnehmung basiert, die Wahrnehmung von jemandem oder etwas immer auf seiner/ ihrer oder dessen Sichtbarkeit beruht und mithin dieser Denkfigur immer schon die Frage nach Hegemonie eingeschrieben ist. Schlussendlich unterscheidet sich diese Wirkung nicht von jener, welche die von Handke kritisierte Kriegsberichterstattung auslöst. Anstelle also eine Diskussion über jene Dynamik, die von der Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch mit „[d]ie Einstellung ist die Einstellung“ auf den Punkt gebracht wurde, 494 zu eröffnen, anstelle die vorhandenen Bilder auf ihre Bildpolitik und die jeweiligen (Kamera-)Einstellungen der Bildproduzent/ innen hin zu untersuchen, drehte sich die losgetretene Debatte um Handkes Parteinahme für Serbien (im Kreise). Für dieses Versäumnis sind nicht allein seine Kritiker/ innen, sondern bereits Handke verantwortlich. 493 Améry, Jean: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten [1966], Stuttgart: Klett-Cotta 1977, 28f., zit. n. Agamben, Giorgio: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge. (Homo sacer III) A. d. Ital. v. Stefan Monhardt, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2003 (edition suhrkamp 2300), 36. Vgl. dazu auch: Kerschbaumer, Marie-Thérèse: Der weibliche Name des Widerstands. Sieben Berichte, Berlin: Aufbau-Verlag 1986, 123-166, 155. 494 Koch, Gertrud: Die Einstellung ist die Einstellung. Visuelle Konstruktionen des Judentums, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1992 (edition suhrkamp 1674), 9. <?page no="168"?> 3. Textarbeit 168 Als Eröffnung des zweiten, als Reiseerzählung 495 initiierten und signifizierten Kapitels der Winterlichen Reise macht Handke gleich zu Beginn die philosophische Fassung seiner Reiseeindrücke fest: die „‚Lebenswelt‘“ (WH 77), wie sie von Edmund Husserl als anschauliche und konkrete Welt der Praxis konzipiert wurde. Postuliert wird damit, das Voraussetzungslose und Selbstverständliche, mithin auch das Unmittelbare, erfahren zu haben. Vorgeblich beiläufig erfolgt nun auch die Erwähnung der ersten deutschsprachigen Zeitschrift - die FAZ -, hatte diese doch den Autor seines am Flughafen Zürich erstandenen SerboKroatisch-Wörterbuchs im Taschenformat für einen Artikel gewonnen. 496 Dass Handke das Schweigen der anderen Fluggäste, mehrheitlich Serb/ innen, als deren Reaktion auf das angeflogene „Ziel, das ihnen nicht recht geheuer war“ (WH 79), auslegt, lässt sich einmal mehr als rhetorische Strategie lesen: in einem ersten Schritt werden mögliche Vor- Einstellungen des Lesers/ der Leserin gestützt, um sie in einem zweiten umso nachdrücklicher zu dekonstruieren. In gleicher Weise kann der unmittelbar daran anschließende Anblick vom Spanferkelbraten unweit des Rollfeldes, der in die Schilderung eines Textausschnittes von Milorad Pavić und in weitere (balkanistische) Topoi der Ruralität, Leiblichkeit und Gewalt eingebettet ist, auf seine Funktion hin befragt werden. Wenngleich der am Flughafenausgang wartende Žarko die erhoffte Alteritätserfahrung vereitelt, stellt sich diese für Handke doch kurze Zeit später, auf dem Hotelbalkon neben seiner Partnerin, als eine ansteckende ein: „[ich] spürte [...] ihr französisches ‚dépaysement‘ auf mich übergehen, ihr Befremden, ihr hier Fremdsein, oder, wörtlich übersetzt, ihr ‚Außer-Landes- Geratenseins‘, ihr ‚Außer-Landes-Sein‘ (wie Außer-sich-Sein)“. Wird hier mit dem Verweis auf „den Ausblick von der hohen Balkontür hinab“ (WR 81) auch eine topologische Verortung aufgerufen, die mit jener kolonialen Autorenperspektive, wie sie von Mary Louise Pratt extrahiert wurde, korrespondiert, handelt es sich bei der geschilderten Szene im Hotel Moskwa doch gerade nicht um die damit oft einhergehende Herrenattitüde eines ‚Königs in seinem Reich’ [„Monarch-of-All-I-Survey“]. Überblicken, bewerten, einordnen, so kennzeichnet Pratt den kolonialen Gestus, der nach Eroberung und Beherrschung strebt. 497 Auch die weiteren Schilderungen von Hotelzimmern und ihren Ausblicken unterlaufen, aus meteologischen Gründen, die olympische Autoren-Perspektive: so erweist sich, angesichts einer „vollständigen 495 Vgl. WR 77: „Was ich von unserer Reise durch Serbien zu erzählen habe [...].“ 496 Es handelt sich dabei um einen Artikel von Reinhard Lauer, der am 6.3.1993 unter dem Titel „Aus Mördern werden Helden“ in der Beilage „Bilder und Zeiten“ der FAZ erschien, als Teilabdruck des Aufsatzes „Das Wüten der Mythen. Kritische Anmerkungen zur serbischen heroischen Dichtung“, in: Lauer, Reinhard/ Lehfeldt, Werner (Hgg.): Das jugoslawische Desaster. Historische, sprachliche und ideologische Hintergründe, Wiesbaden: Harrassowitz 1995, 107-148. 497 Die Monarch-of-All-I-Survey-Szene lässt sich insbesondere bei den britischen Nil- Erforschern um die 1860er Jahre festmachen, vgl. Pratt (1992: 201-227). <?page no="169"?> 3.1 Vor den Kriegen, mit den Kriegen 169 Einnebelung“ (WR 92), der Ausblick vom Belgrader Hotelzimmer als ein blinder, so unterbindet ein heftigen Schneetreiben im zweiten Teil der Reise, im Hotel Drina in Bajina Bašta, die visuelle Wahrnemung der Stadt (vgl. WR 123). Gerade in der deutschsprachigen Literatur verweist das polyvalente Schneemotiv auf eine lange Tradition, die über das Barock bis in die mittelhochdeutsche Dichtung zurückreicht. Vergänglichkeit, Bereinigung, Vertuschung, Verschmelzung, Leere, Kälte, Inversion, Tabula rasa - die reiche Bedeutungspalette wurde, um nur einige Namen zu nennen, von Adalbert Stifter, Franz Kafka, Robert Walser, Gerhard Roth, Durs Grünbein narrativ operationalisiert. Während Handke ersteren in Die Lehre der Sainte-Victoire zitiert, 498 lässt sich die kurze Passage in der Winterlichen Reise als implizite Bezugnahme auf Stifters Erzählung Aus dem Bairischen Walde lesen. 499 Vergegenwärtigt wird hier ein Schneesturm, der eine Kraft der Inversion entwickelt, die zu einer totalen Aufhebung der Kräfteverhältnisse der Natur führt: Ich konnte nichts tun, als immer in das Wirrsal schauen. Das war kein Schneien wie sonst, kein Flockenwerfen, nicht eine einzige Flocke war zu sehen, sondern wie wenn Mehl von dem Himmel geleert würde, strömte ein weißer Fall nieder, er strömte aber auch wieder gerade empor, er strömte von links gegen rechts, von rechts gegen links, von allen Seiten gegen alle Seiten, und dieses Flimmern und Flirren und Wirbeln dauerte fort und fort und fort, wie Stunde an Stunde verrann. 500 Dass Handkes Beschreibungen seiner ersten Beobachtungen in Belgrad (vgl. WR 82ff.) richtiggehend von einem Eingeständnis seiner „Vorausbild[der]“ (WR 84) trotzen, kann erneut als strategisches Verfahren des Autors gelesen werden, das darauf zielt, den später folgenden Passagen über seinen ersten Eindruck von den Belgrader/ innen umso größere Glaubwürdigkeit und Nachhaltigkeit zu verleihen: Während seine Partnerin S. die Bevölkerung als bedrückt, ernst wahrnimmt, erscheint sie Handke, damit auf der axiologischen Ebene der Todorov'schen Typologie ansetzend, als „eigentümlich belebt […] und zugleich, ja, gesittet. Aus allgemeinem Schuldbewußtsein? Nein, aus etwas wie einer großen Nachdenklichkeit, einer übergroßen Bewußtheit, und - fühlte ich dort, denke ich jetzt hier - einer geradezu würdevollen kollektiven Vereinzelung; und vielleicht auch aus Stolz, eines freilich, welcher nicht auftrumpfte.“ (WH 84f.) Die nicht zuletzt in Hinblick auf die Traditionen der Reiseliteraturschreibung aufschlussreiche erste Begegnung mit der einheimischen Bevölkerung, sieht man von seinem Freund und Lotsen Žarko ab, findet mit der Masse 498 Vgl. Handke, Peter: Die Lehre der Sainte-Victoire, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1984 (st 1070), 59. 499 Vgl. Hafner (2008: 83) zum Motiv des Schneefeldes in Handkes Werk. 500 Stifter, Adalbert: Aus dem bairischen Walde, in: Sonnenfinsternis und Schneesturm. Adalbert Stifter erzählt die Natur. Ein Lesebuch von Wolfgang Frühwald, Köln: Du- Mont 2005, 337-371, 357f. <?page no="170"?> 3. Textarbeit 170 statt: mit den kollektiv Vereinzelten des früheren Landes der Kollektive. Diese ,kollektive Vereinzelung‘ - Soziolog/ innen mögen hierbei an Ulrich Becks 1983 erstveröffentlichten Aufsatz „Jenseits von Klasse und Stand“ denken 501 - begreift Handke als anthropologische Kategorie, die, so kann die Passage ausgelegt werden, von einem (selbst)bewussten Umgang mit der oktroyierten Täterrolle erzählt und fürwahr weder mit Unterwürfigkeit und Opportunismus, noch mit jener ihm aus Österreich vertrauten Mitmach- und Verdrängungsmentalität zu tun hat. Die Vermutung, dass ein Aktivieren dieser Vergleichsfolie ex negativo intendiert ist, wird insofern bestätigt, als Handke von der Beschreibung der amorphen - geschlechts- und alterslosen - Belgrader Bevölkerung direkt auf das Pendant der eigenen Vätergeneration übergeht: die „vielen alten Männer“, die er mit Standesbewusstsein, Präsenz und Gefasstheit versieht. Der Umgang mit Stereotypen wirkt dabei halbherzig, unentschlossen, wenn nicht kontraproduktiv: Wie kann die dezidierte Verweigerung jedwelcher geographischer Mental Map - „Und zudem wirkten diese alten, dabei nie greisen Männer weder europäisch noch freilich auch orientalisch“ (WR 86) - gedeutet werden, wenn die besagten Männer eben noch als „glattrasiert für balkanische Verhältnisse“ (WH 85) festgehalten wurden? Für den Leser/ die Leserin, der/ die sich auf die Suche nach identitären Brandmarkungen macht, stechen Passagen wie diese gerade als Belegstelle für Handkes immanenten Rückgriff auf Stereotypen, hier kultureller Provenienz, ins Auge. Erst mit den Erlebnissen in der Stadt Smederevo, die Handke und seine Begleiter/ innen nach ein paar weiteren Tagen in Belgrad aufsuchen, beginnt die Winterliche Reise das Terrain der nicht und dann doch wieder eingestandenen ‚Vorausbilder‘ zu verlassen und sich der programmatisch angekündigten ‚Lebenswelt‘ an den einzelnen Orten zuzuwenden. Als Parameter der nun folgenden Stationen lassen sich folgende ausmachen: keine im Vorfeld geplante Reiseroute, 502 sondern Spontaneität, keine Privilegierung bestimmter geschichtlich ereignisreicher und in diesem Sinne bedeutsamer Reiseziele, sondern die Hinwendung zum scheinbar Randständischen, Nebensächlichen. So ist Zlatkos Erzählung von einer ihm vom Hörensagen als vollkommen still bekannten Stelle an der Donau Auslöser, den Weg Richtung Smederevo ein- 501 Vgl. Beck, Ulrich: Jenseits von Stand und Rasse? , in: ders./ Beck-Gernsheim, Elisabeth (Hgg.): Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1994 (edition suhrkamp 1816), 43-60. Beck analysiert in dem Aufsatz den seit den 1950er Jahren festzumachenden Individualisierungsschub innerhalb der deutschen Gesellschaft und die damit einhergehende Auflösung ihrer Sozialformen - Klasse(nsolidarität), Schicht, Familie, Beruf, Ehe - als Strukturwandel. Sein Aufsatz löste eine kontroversielle Debatte in der Sozialstrukturanalyse und der soziologischen Ungleichheitsforschung aus. 502 Die Bewegungen der Reisegesellschaft können dank der abgedruckten Serbien-Karte (WR 45) verfolgt werden. Vgl. zu ihren Besonderheiten (u.a. fehlende diakritische Zeichen; Darstellung von Serbien als einer Einheit; Fehlen der Bezeichnung für den Kosovo) die Ausführungen von: Previsic (2009b: 115f.). <?page no="171"?> 3.1 Vor den Kriegen, mit den Kriegen 171 zuschlagen. Wollte man diese Koordinaten des Reiseverlaufs auf geschichtswissenschaftliche Kategorien umlegen, so kämen sie einem Votum für Oral history und Alltagsgeschichte, nicht für Ereignisgeschichte gleich; was das Verhältnis von Zentrum und Peripherie - kulturwissenschaftliche Denkfiguren für narrative und symbolische Dynamiken - angeht, haben wir es mit einer eindeutigen Aufwertung letzterer zu tun. 503 Mit dem Wissen um Juli Zehs Bosnienreise und daraus hervorgehender Publikation sowie die darin vorgenommene Privilegierung der akustischen Dimension kann Handkes Beschreibung des geräuschlosen Fluss-Szenarios als Vorwegnahme bzw. Motivierung des späteren Textes gelesen werden: Die Stille ist ein Geräusch - auch in Serbien. Doch während bei Zeh das akustische Wahrnehmen ihren Text leitmotivisch durchzieht und sie die Stille in ihrer metaphysischen und psychodynamischen Bedeutung ausloten möchte, sind Handkes Passagen zu den besonderen meteologischen oder eben akustischen Rahmenbedingungen nicht mehr als genrebedingte Zugeständnisse. Was Handke fesselt, wem er ein literarisches Denkmal setzen will, sind weder die Natur noch die Menschen, sondern die in Serbien erfahrene ‚Dingwelt‘: Eigenschaften, Konstitutionen und Konstellationen von Dingen. 504 Jener Leser/ jene Leserin, der/ die den Träumer-Text kennt, macht in Handkes Schilderung des „Hauptstadtmarkt[es]“ (WR 96) eine (Wieder-)Entdeckung jener Wirklichkeit aus, die er so lange Zeit im jugoslawischen Slowenien verortet, gehortet hatte. Diese Wirklichkeit wird be-griffen - so ereignet sich sein „‚re-paysement‘, das ‚Zurück-ins-Land-Geraten‘“ (WR 82) beim Niederdrücken der alten Eisenklinke eines Ladens; diese Wirklichkeit wird bezeugt und darüber für den Leser/ die Leserin gegenwärtig: Von den nur auf den ersten Blick einförmigen oder eintönigen jugoslawischen Broten dort auf dem Markt, den walddunklen massigen Honigtöpfen, den truthahngroßen Suppenhühnern, den andersgelben Nudelnestern oder kronen, den oft raubtierspitzmäuligen, oft märchendicken Flußfischen weiß ich den Geschmack. (WR 97) Geben Kaufen und Verkaufen an einem indifferenzierten „[A]nderswo“ (WR 97) einen pompösen, misstrauischen oder verächtlichen Vorgang bzw. den Homo oeconomicus ab, liest Handke den Austausch am Markt in Smederevo als gesellschaftliche Tätigkeit voller Grazie. Dass die nun folgende Schlusspas- 503 Vgl. Hárs, Endre/ Müller-Funk, Wolfgang/ Reber, Ursula/ Ruthner, Clemens (Hgg.): Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten in Österreich-Ungarn, Tübingen u.a.: Francke 2006 (Kultur - Herrschaft - Differenz 9). 504 Diese stehen auch im Zentrum der von Husserl im Sommersemester 1907 gehaltenen Vorlesung, dem so genannten ‚Dingkolleg‘, vgl. dazu: Sowa, Rochus: Einleitung des Herausgebers, in: Husserl, Edmund: Die Lebenswelt. Auslegung der vorgegebenen Welt und ihrer Konstitution. Texte aus dem Nachlass (1916-1937). Gesammelte Werke, Band XXXIX. Veröffentl. v. Husserl-Archiv (Leuven) u. Leitung v. Rudolf Bernet u. Ullrich Melle, Dordrecht: Springer 2008 (Husserliana 39), XXV-LXXXI, XXVIII. <?page no="172"?> 3. Textarbeit 172 sage der Markt-Episode für kulturpessismistische Lesarten in Anschlag gebracht, das Serbien Handkes „als Gegenbild zu einer hochtechnisiserten, hochabstrakten, von medial inszenierten Wirklichkeiten und kapitalistischen Wirtschaftsinteressen dominierten Welt“ 505 interpretiert wird, ist da meines Erachtens nicht abwegig: „Und ich erwischte mich dann sogar bei dem Wunsch, die Abgeschnittenheit des Landes - nein, nicht der Krieg - möge andauern; möge andauern die Unzugänglichkeit der westlichen oder sonstwelchen Waren- und Monopolwelt.“ 506 (WR 98) Serbien fungiert hier, wie bereits Karl-Markus Gauß eine Funktion Jugoslawiens erkannte, als „Gemütsdepot für zivilisationsmüde Westeuropäer“, 507 kurzum als eine Gegenwelt. Im weitesten Sinne handelt es sich hierbei um eine Neuauflage der Dichotomisierung von tiefgehender ,Kultur‘ und oberflächlicher ,Zivilisation‘. 508 Die später, im dritten Teil der Reiseerzählung bzw. in „Der Reise zweiter Teil“ erfolgende Tirade über „‚[d]ie Welt als Maschine [...]'“ legt Handke bezeichnenderweise seinem Freund Žarko, oder, wie er ihn beschreibt, „dem serbischen Deutschbrotesser“ (WR 128) in den Mund: eine verbitterte Zustandsbeschreibung eines Lebens in Deutschlands, nichts Anderes als technisch durchwirkte und entfremdete Zivilisation. Als Wechsel von Rede und Gegenrede aufgebaut, bleibt es Handke überlassen, dieser (im doppelten Sinne) ‚Fremd-Erfahrung‘ das eigene Empfinden in Serbien dagegenzuhalten: „daß ich mich kaum so stetig und beständig in die Welt, oder das Weltgeschehen, einbezogen? eingespannt? - eingemeindet gefunden habe wie in der Folge während der ereignisreichen Schnee- und Nebeltage dort in der Gegend von Bajina Bašta. (WR 129) Zwei unterschiedliche Erfahrungen werden so in eine Opposition gebracht, durchaus auch in ihrer jeweiligen geographischen Verortung bzw. Gegenüberstellung: Während in dem von Žarko geschilderten Deutschland jegliche vermeintlich ‚natürliche‘ Beziehung und jedes Ding sich als in ihrem/ seinem Sein entstelltes Anderes entzieht, während die damit einhergehende ‚kollektive Vereinzelung‘ flächendeckend bzw. pauschal im ganzen Land ‚Deutschland‘ diagnostiziert wird, ereignet sich für Handke, eingeschneit in der serbischen Peripherie, eine ‚Eingemeindung ins Weltgeschehen‘. Passagen wie diese geben Aufschluss darüber, welchem Verständnis 505 Dronske (1997: 79). Vgl. zur leitmotivischen Antithese Serbien versus Westen auch Düwell (1997: 241f.). 506 Dieser Wunsch wird außerdem leitmotivisch am in Kanistern und Flaschen am Straßenrand angeboten Benzin - „etwas ziemlich Seltenes, eine Kostbarkeit, ein Bodenschatz“ (WR 114) - festgemacht. 507 Gauß, Karl-Markus: Jugoslawien, in: ders.: Das europäische Alphabet. Wien: Zsolnay 1997, 87-98, 93. Vgl. dazu auch Kapitel 1.3.1. 508 Vgl. dazu Brokoff (2011: 68, Fn. 27): „Für dieses anti-westliche Diskursmuster ist es strukturell gesehen zweitrangig, ob das von der Zivilisation bedrohte Land Deutschland, Slowenien oder Serbien und der entsprechende Träger der verhängnisvollen Zivilisation Frankreich oder USA heißt.“ <?page no="173"?> 3.1 Vor den Kriegen, mit den Kriegen 173 Handkes Erfahrung des Fremden zugrunde liegt: einem Ordnungsschema des Gegenbildes, welches via Negation der Eigenheit dem Aufbau einer ‚neuen‘ Identität dient. 509 Wenden wir uns wieder der Reise(erzählung) in ihrem Verlauf zu: Die nächste Station nach Smederevo und seinem Marktleben ist das Dorf Porodin südlich von Belgrad, wo der Hof von Zlatos Eltern liegt. Mit dem Wissen um Handkes spätere Texte erkennt man darin jenes Toponym, das auch in seiner romanlangen Erzählung Die morawische Nacht den Ausgang- und Zielpunkt der Reise und der Erzählung bildet, und mit seinen symbolischen und geographischen Markern später noch besondere Beachtung verdient. In der Winterlichen Reise wird Porodin als „Straßendorf“, angesichts seiner verschiedenen kleinen Zentren als „Dorfstaat“ (WR 99), angesichts des Rumänischen als „Unterhaltungs- oder Vertraulichkeitssprache“ als „Sprachinsel“ (WR 101) beschrieben. Mit der Beschreibung des Interieurs seiner Gastgeber/ innen wird dem Leser/ der Leserin zum ersten Mal in diesem Text ein Einblick in konkrete ‚serbische‘ Wohn- und Lebensverhältnisse geboten. Die Schilderung der mit „Salzburgische[r] Eleganz“ versehenen Wohnräume entbehrt nicht einer gewissen Komik, wenn einerseits die völlig überdimensioniert erscheinenden Einrichtungsgegenständen manchem Raum der „Zusatzbauten“ eine Bestimmung verschaffen, deren Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit fraglich bleiben, so im Falle des „ganz und gar undörflichen Konferenzsaal[s]“ (WR 100), andererseits aber Vater und Mutter zwar verstreute Schlafgelegenheiten, nicht aber ein gemeinsames Elternschlafzimmer besitzen. Möglich waren diese sukzessive verlaufenden Eingriffe, welche die von der ‚Natur‘ bereitgestellte, tatsächlich aber der Agrikultur zu verdankende Kulisse bzw. Idylle - Blumenhain, Felder, Weinberge - in ein in baulicher und funktioneller Hinsicht Durcheinander verwandelten, durch das im Ausland verdiente Geld Zlatkos. Im Prolog als Berufsspieler und Gelegenheitsarbeiter beschrieben, wird auch in dieser Passage eine explizite Anführung des Begriffes ‚Gastarbeiter‘ verwehrt, was den Leser/ die Leserin nicht an einer solchen Aktualisierung hindert. Es sind Textsegmente wie diese, in denen etwaige Überlagerungen und unauflösliche Verknotungen von Selbst- und Fremdbildlichkeit, aber auch deren materielle Effektivität oder ontologische Konsistenz aufblitzen. Eine „Reise innerhalb, oder außerhalb? der Reise“ führt die Reisenden außerdem nach Studenica, einem, wie es ohne weitere Ausschweifung kurz und bündig heißt, „Nationalheiligtum“. Begleitet wird Handke von Milorad Pavić, einem serbischen Intellektuellen, der bereits zum Zeitpunkt der Reise offen 509 Vgl. Schäffter, Ortfried: Modi des Fremderlebens. Deutungsmuster im Umgang mit Fremdheit, in: ders.: Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung, Opladen: Westdeutscher Verlag 1991, 11-42, 15. <?page no="174"?> 3. Textarbeit 174 für Milošević und ein neues Groß-Serbien eingetreten ist. 510 Handke hingegen führt Pavić als „feinwürdigen älteren Herr[n]“ (WR 102) ein, würdigt ihn für seine doppelten Verdienste als Schriftsteller und als Literaturprofessor. Der bloße Umstand dieser Reisebegleitung wurde Handke vom Literaturkritiker und Poeten Predrag Dojcinović im Suhrkamp-Band zu den Debatten rund um die Winterliche Reise nicht allein zum Vorwurf gereicht, sondern auch als Indiz für seine Fehleinschätzung und mithin Unglaubwürdigkeit ausgelegt. Pavić entspräche gerade jener Kategorie von Menschen, welche Handke, wie er im Epilog ausdrücklich festhält, nicht getroffen haben will (vgl. WR 154f.): jenen der paranoiden Nationalist/ innen. 511 Ob die beiden Schriftsteller das Thema das Krieges angeschnitten haben, geht aus den Aufzeichnungen nicht hervor. Dafür wird ein im weitesten Sinne an die Praktiken der Aborigines erinnerndes Spiel geschildert, mit dem sich die beiden während einer Autofahrt die Zeit vertreiben. 512 Nicht ohne Erfolg versucht Handke, das entsprechende Genre zu Pavićs Überführung der jeweiligen Landschaftsform oder Örtlichkeit in Literatur zu erraten. Handke, so lässt sich dieses Spiel und diese Passage auslegen, nimmt Pavić vorrangig als Schriftsteller und Kollegen wahr, wie auch Dragan Velikić, den er später in Belgrad trifft. Mit ihm und einer größeren Runde „aus dem Milieu“ findet denn auch die erste diskursive Auseinandersetzung, ein erstes Rundgespräch „über die Verhältnisse, über den bosnischen Krieg, über die serbischserbische Rolle darin“ (WR 109) statt bzw. Eingang in die Aufzeichnungen. Als einer seiner Enttäuschung und Wut ob der serbischen Schuld „an dem heutigen Elend ihres Volkes […], von der Unterdrückung der Albaner im Kosovo bis zu der leichtfertigen Zulassung der Krajina-Republik“ in einem eruptiven Ausbruch freien Lauf lässt, moniert Handke, dass „dieser Serbe“ (WR 111) nur die Untaten der eigenen Seite angeführt, jene der anderen aber ausgespart hätte. 513 Wird nun die aus diesem Vorwurf ableitbare Anweisung zum Gradmesser des von Handke angestrebten Umgangs mit den kriegerischen Konflikten und ihren Vorgeschichten genommen - keine einseitige 510 Vgl. Weithmann, Michael W.: Renaissance der Religion auf dem Balkan, in: GMH 12 (1995), 753-769, 765. 511 Vgl. dazu: Ein Philosoph aus Sarajevo und ein Dichter aus Belgrad. Nenad Fišer und Predrag Dojcinović im Gespräch mit Nicole Lucas und Peter Henk Steenhuis, in: Noch einmal für Jugoslawien: Peter Handke. Hg. v. Thomas Deichmann, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1999 (st 2906), 81-95, 88. 512 Die australischen Ureinwohner/ innen markierten ihre Reisewege (u.a. in Form von Abdrücken) und überführten ihr Wissen um die beste Navigation in Gesänge - Songlines -, womit der Kontinent einem umfassenden Prozess der Kartographierung, die eben zu keiner herkömmlichen Landkarte, sondern einem Konvolut an Liedern und Tänzen führte, unterzogen wurde. Vgl. dazu Chatwin, Bruce: The songlines, London u.a.: Vintage 2005. 513 Handke verabsäumt aber nicht, die vermeintliche Teil-Schuld des westlichen Auslandes anzuführen: „ein[] Krieg, der mit ausgelöst und zuletzt wohl auch entschieden worden war auch noch durch fremde, ganz andere Mächte.“ (WR 112) <?page no="175"?> 3.1 Vor den Kriegen, mit den Kriegen 175 Perspektivierung, sondern die Berücksichtigung der unterschiedlichen Wahrnehmungen und Lesarten -, kann festgehalten werden, dass er diesem Anspruch einer (in ethnischer Hinsicht) Mehrdimensionalität nicht gerecht wird: Weder in der Winterlichen Reise noch im Sommerlichen Nachtrag zu einer winterlichen Reise verleiht er anderen als ‚serbischen‘ Stimmen Gehör. Diese jedoch äußern sich durchaus auch kritisch zum Kriegsgeschehen. Mit dem Besuch von Žarkos früherer Ehefrau Olga in Bajina Bašta wird eine Kleinstadt aufgesucht, die direkt an der Drina, dem Grenzfluss zu Bosnien- Herzegowina und zu Kriegszeit ein Totenbett, nicht weit von Srebrenica, liegt. „Immer wieder sollen scharenweise Kadaver die Drina abwärts getrieben haben“, so wird sie wiedergegeben, doch „kannte [sie] niemanden, der das mit eigenen Augen gesehen hatte.“ (WR 120) Im Sommerlichen Nachtrag wird die Existenz dieser Augenzeugen nicht (mehr) in Frage gestellt, gar deren räumliche Positionierung angegeben (vgl. SN 196). Ein gutes Jahrzehnt später rekurriert auch Saša Stanišić in Wie der Soldat das Grammofon repariert auf die Kadaver der Drina und überlässt einem ‚Augenzeugen ‘ das Wort. Vom eingeschneiten Bajina Bašta aus starten Handke und seine Begleiter zur Grenzbrücke: „Vielleicht würden wir wider Erwarten doch hinüber nach Bosnien gelassen“ (WR 124). Doch nein, die Vorannahme erweist sich dieses Mal als richtig, lediglich eine Weile beim Grenzhaus „stehen, schauen, hören“ (WR 126) darf die Reisegesellschaft. Ausgerechnet jetzt, wenn Handke die vor ihm liegenden Häuser und Höfe in ein gesamtjugoslawisches Erscheinungsbild einreiht, ihnen die Spuren des Krieges und der Zerstörung abspricht bzw. uminterpretiert, setzt er den bislang verwehrten Gastarbeiterbegriff ein. Aus den meisten Anwesen aber rauchte gar nichts, und oft fehlte nicht nur bloß der Rauchfang, sondern das ganze Dach, auch die Türen und Fenster darunter. Dabei seltsamerweise kaum Brandspuren, so daß diese Gehöfte dann wieder den ewig nicht fertigen, typischen Gastarbeiterhäusern Jugoslawiens glichen, und das nicht nur auf den zweiten Blick, sondern auch den dritten. Waren sie im Bau oder zerstört? Und wenn zerstört, so jedenfalls geradezu sorgfältig abmontiert, abgetragen, die Teile weitergeschleppt. (WR 127) Im Epilog kommt Handke, der in einem Alleingang noch einmal das Ufer der Drina aufsucht, erneut auf diese visuellen Eindrücke und Interpretationen zu sprechen. Hier erst lässt er, schlussendlich, die Ruinen Ruinen sein: „Ob ich vom anderen Ufer betrachtet wurde? Nichts rührte sich dort in den Ruinen, oder doch unvollendeten Neubauten? , nein Ruinen, und diesseits und jenseits wieder die haushohen, schwärzlichen, wie schon jahrealten Heukegel.“ (WR 145) Hier nun kommt er, auf die Frage seiner Lebensgefährtin S. rekurrierend - „‚Du willst doch nicht auch noch das Massaker von Srebrenica in Frage stellen? ‘ “ -, auf die mittlerweile als Völkermord anerkannten Tötungen bis zu 8.000 bosniakischer Jungen und Männer zu sprechen. Nein, das wolle er nicht, so die Antwort gleichfalls in direkter Rede, sondern nach dem „Warum“, dem „Beweggrund“, dem „Wozu“ (WR 147) fragen. Diese auf den Wolfschen <?page no="176"?> 3. Textarbeit 176 ‚Vorkrieg‘ abzielenden Fragen, so moniert Handke, würden von den Medien („nackte[r], geile[r] marktbestimmender[r] Fakten- und Scheinfakten- Verkauf“, WR 147) nicht geleistet. Mit dieser Überleitung auf den (insbesondere deutschen) Journalismus, auf die Medialisierung der Kriegsgräuel wird indes, wie Boris Previsic zusammenfasst, „das Massaker als Fakt so weit auf[gelöst], als ob es dieses gar nicht gegeben hätte.“ 514 Diese Strategie einer ‚sekundären Fokussierung‘, die mittels der Ablenkung vom jeweiligen konkreten Kriegsereignis hin zu seiner medialen ‚Ausschlachtung‘ das jeweilige Kriegsverbrechen an sich in den Hintergrund drängt, lässt sich in der Winterlichen Reise und im Sommerlichen Nachtrag bei sämtlichen Bezugnahmen Handkes auf die außertextuelle Wirklichkeit festmachen . Handkes Forderung einer Berücksichtigung der Beweggründe, die im Juli 1995 zu dem Massaker geführt hätten, kann aber auch dahingehend gelesen werden, dass dieses, ob als Rache oder Notwehr, auch nachvollziehbar, wenn nicht in einem bestimmten Ausmaß gar gerechtfertigt gewesen sei. Damit betreten wir freilich den Bereich der Spekulation - doch gewissermaßen gezwungenermaßen, spart Handke doch in der Winterlichen Reise eine Darlegung der ,Vorgeschichte‘ Srebrenicas aus, was, so zumindest meine Meinung, angesichts der darin enthaltenen, streckenweise politischen Argumentation einer mehr als fahrlässigen Unterschlagung gleichkommt. Diese ,Vorgeschichte‘ Srebrencias kann auch nicht, wie später im Sommerlichen Nachtrag, 515 als einseitiger, sprich ‚muslimischer‘ Angriffsterror auf die serbischen Dörfer und serbischen Stellungen rund um Srebrenica insinuiert werden. Tatsächlich waren auch nach April 1993, als der Enklave der mit einer offiziellen Demilitarisierung einhergehende Status ,UN-Schutzzone‘ verliehen wurde, unter dem Befehl des Kommandeurs Naser Orić muslimische Einheiten in der Stadt verblieben, welche die männliche bosniakische Zivilbevölkerung zwangsrekrutierte. 516 Tatsächlich standen ihre Angriffe auf serbische Stellungen und Plünderungen serbischer Dörfer rund um Srebrenica jenen der serbischen militärischen Einheiten an Gewaltbereitschaft, Grausamkeiten und Rücklichtslosigkeit in nichts nach. 517 Zur von Handke reklamierten ,Vorgeschichte‘ zählt aber weiters der Umstand, dass die Kleinstadt Srebrenica gerade aufgrund ihres aktiven Widerstandes ab Mai 1992 von zehntausen- 514 Previsic (2009b: 120). 515 Vgl. SN 240. 516 Vgl. dazu Suljagić, Emir: Srebrenica - Notizen aus der Hölle. A. d. Bosn. v. Katharina Wolf-Grießhaber, Wien: Zsolnay 2009, 70. Suljagić flüchtete als 17-Jähriger mit seiner Familie nach Srebrenica und überlebte dank seines Status als UN-Dolmetscher das Massaker vom Juli 1995. 517 Zwischen Dezember 1992 und Februar 1993 konnte die Enklave zunehmend Gebietsgewinne verzeichnen. Suljagić (2009: 110) erkennt die Entwicklungen - die verschiedenen Taktiken im Kampfeinsatz wie auch die Berichterstattung darüber in den eigenen Kreisen - als Angleichung der Opfer an die Täter. <?page no="177"?> 3.1 Vor den Kriegen, mit den Kriegen 177 den Menschen, die vor den serbischen militärischen Blitzaktionen aus dem Drinatal geflüchtet waren, 518 aufgesucht wurde, diesen dabei jedoch weder ausreichend Lebensmittelversorgung, noch Sicherheit vor Angriffen der bosnischen Serben in Form von Fliegerbomben, Granaten und Maschinengewehren bieten konnte. Auch nach der Errichtung der Schutzzone, so der Srebrenica-Überlebende Emir Suljagić, „ging der Krieg weiter, allerdings mit viel schwächerer Intensität. Die serbischen Kräfte fielen in regelmäßigen Abständen in die Enklave ein, verschleppten Menschen von den Feldern, Heckenschützen erschossen Bauern bei der Feldarbeit“. 519 Dazu die zusammengebrochene Trinkwasser- und Stromversorgung, der Mangel an Medikamenten, die Existenz eines Schwarzmarktes und die Übermacht eines Rechts des Stärkeren: ein täglicher Kampf ums Überleben, welcher die Bewohner/ innen Srebrenicas, so erneut Suljagić, „auf die Stufe einer Urgesellschaft zurück[warf], Gesetze gab es nicht, und die Obrigkeit basierte auf Machtbeziehungen.“ 520 Zurück zu Handkes Winterlichen Reise. Die Zielscheibe der abschließenden Seiten sind neuerlich die Journalist/ innen, sind, in seinen Worten, „die Rotten der Fernfurchtler, welche ihren Schreiberberuf mit der eines Richters oder gar mit der Rolle eines Demagogen verwechseln“ (WR 148f.) würden. Nicht allein, dass damit, auch im Vergleich zum Prolog, eine entschieden schärfere Tonart angeschlagen wird - Handke lässt sich außerdem zu einer Gleichsetzung der journalistischen Verbrechen mit jenen auf dem Kampffeld hinreißen. Dass der Realitäts- oder aber Fiktionalitätsgrad textueller Äußerungen völlig unerheblich für die Generierung weiterer Handlungen sein kann, mithin fiktive Erlebnisse reale Konsequenzen herbeiführen, ist unbestritten. Die von Handke unternommene Gleichstellung von Journalist/ innen und „Kriegshunde[n]“ (WR 149) jedoch liefert keinerlei Erkenntnisgewinn, ist auch nicht länger als literarische Übertreibung zu entschuldigen, 521 sondern verweigert jene Differenziertheit, die er für die Behandlung der Problematik doch selber einfordert - und die ihm punktuell durchaus gelingt. So zum Beispiel am Ende des Textes, wenn Handke die zentrale Frage bzw. Sorge, 522 die bereits im Prolog gestellt bzw. dem Leser/ der Leserin für die restliche 518 Außer Srebrenica leisteten auch Goražde und Žepa der serbischen Aggression Widerstand. Vgl. dazu Ćatić, Esmir: Seven Eleven. Der Genozid von Srebrenica. Ein Verbrechen der UNO? Universität Wien: Dissertation 2008, 153. 519 Suljagić (2009: 94). 520 Ebenda, 34. 521 Vgl. Decloedt, Leopold R. G.: Krieg um Peter Handke. Handke und seine Haltung zu Serbien, in: Studia austriaca VIII (2000), 189-208, 207. 522 „Was, willst du etwa die serbischen Untaten, in Bosnien, in der Krajina, in Slawonien, entwirklichen helfen durch eine von der ersten Realität absehende Medienkritik? - Gemach. Geduld. Gerechtigkeit.“ (WR 55) Als Strategie, das Wahrgenommene und Geschriebene einem Prozess der Selbstreflexion zu unterziehen, lassen sich außerdem die über den gesamten Text gestreuten Einschübe in Klammern lesen. <?page no="178"?> 3. Textarbeit 178 Lektüre mitgegeben wird, erneut aufwirft, und gleichfalls zu beantworten sucht: Aber ist es, zuletzt, nicht unverantwortlich, dachte ich dort an der Drina und denke es hier weiter, mit den kleinen Leiden in Serbien daherzukommen, dem bißchen Frieren dort, dem bißchen Einsamkeit, mit Nebensächlichkeiten wie Schneeflocken, Mützen, Butterrahmkäse, während jenseits der Grenze das große Leid herrscht, das von Sarajevo, von Tuzla, von Srerbrenica, von Bihać, an dem gemessen die serbischen Wehwehchen nichts sind? Ja, so habe ich auch ich mich oft Satz für Satz gefragt, ob ein derartiges Aufschreiben nicht obszön ist, sogar verpönt, verboten gehört - wodurch die Schreibweise eine noch anders abenteuerliche, gefährliche, oft sehr bedrückende (glaubt mir) wurde […]. Half, der vom kleinen Mangel erzählte (Zahnlücken), nicht, den großen zu verwässern, zu vertuschen, zu vernebeln? Zuletzt freilich dachte ich jedesmal: Aber darum geht es nicht. Meine Arbeit ist eine andere. Die bösen Fakten festhalten, schon recht. Für einen Frieden jedoch braucht es noch anderes, was nicht weniger ist als die Fakten. Kommst du jetzt mit dem Poetischen? Ja, wenn dieses als das gerade Gegenteil verstanden wird vom Nebulösen. Oder sag statt ‚das Poetische‘ besser das Verbindende, das Umfassende - den Anstoß zum gemeinsamen Erinnern, als der einzigen Versöhnungsmöglichkeit, für die zweite, die gemeinsame Kindheit. (WR 158f.) Dieses Votum für das Poetische und mithin Versöhnende, welches dem Leser/ der Leserin auf den letzten Seiten mitgegeben wird, mag manche Lektüre (rückwirkend) dahingehend bestimmen, dass die im mittleren Teil erzählten Reiseerlebnisse- und -begegnungen, allesamt literarische Denkmäler der Menschlichkeit, für den Gesamteindruck einer Reiseerzählung überwiegen. Leser/ innen wiederum, die Handkes Indizien des Fiktionalisierens einerseits, des Einschreibens in literarische Bezuggrößen andererseits als solche erkennen, mögen das geschilderte Land als ein vom Autor erfundenes begreifen. 523 Der Rekurs auf tatsächliche Geschehnisse und die Nähe zu den Kriegsschauplätzen, vor allem aber die Rahmung von Prolog und Epilog erschweren allerdings einen Rezeptionsmodus, der von einer faktionalen Bezugnahme Abstand nähme. Handkes Passagen nicht als politische Positionen, sondern als ästhetische auszulegen, wird gleichsam unmöglich. Die Lektüre schlägt - so zumindest meine Erfahrung, die sicherlich keine singuläre darstellt - in Richtung Realitätsabgleichung, und nicht Fiktion, aus; der dominant werdende Lektüremodus weist einen faktualen Geltungsanspruch auf, keinen fiktionalen. Freilich möchte ich damit nicht suggerieren, dass für den gesamten Leseprozess eine einzige Zuordnung getroffen würde: vielmehr oszilliert der Leser/ die Leserin des Handke-Textes, für Ottmar Ette ein für das Genre der Reiseliteratur typischer Umstand, während des gesamten Lesevorgangs zwi- 523 Vgl. dazu das Kapitel „The invention of Yugoslavia as a literary construct“ von Parry (2003a: 207-216) . <?page no="179"?> 3.1 Vor den Kriegen, mit den Kriegen 179 schen Realitätsabgleichung und Ungebundenheit von wahrheitsgetreuer Repräsentation: ein Prozess, der mittels Erwartungshaltung sicherlich beeinflusst, nicht aber durchgehend gesteuert werden kann. Als einen Schwellen- Text im Zwischenbereich von Realem und Fiktionalem erkennt denn auch Ulrich Dronske die Winterliche Reise und verweist in einem luziden Resümee über diese, den Sommerlichen Nachtrag und den Träumer-Text auf jenes Moment der Handkeschen Schreibverfahren, welches zu Verschleierung, Täuschung, Irreführung führen kann: […] daß der Kärntner Autor das mythische und auch als Mythos transparente Slowenienbzw. Jugoslawienbild seiner literarischen Texte distanzlos mit der vergangenen gesellschaftlichen Realität Sloweniens und der gegenwärtigen gesellschaftlichen Realität Serbiens identifiziert und dabei die während der Reisen wahrgenommenen Alltagsszenen aus Serbien und Bosnien dergestalt arrangiert, daß sie sich in der gleichen Weise wie in seinen anderen literarischen Texten symbolisch überhöhen lassen. Handkes Texte zu Jugoslawien organisieren folglich mit literarischen Mitteln eine als wahr deklarierte politische Meinung. Anders ausgedrückt: Die bei Handkes literarischen Texten wirksamen Mechanismen zur Simulation einer sinndurchfluteten fiktionalen Welt dienen dazu, die Beweise für Aussagen über real existierende Konflikte herbeizuschaffen. 524 Zwei Fragen sind unbeantwortet geblieben: Während für die Beantwortung der einen, auf das Spannungsfeld von ‚Krieg und Repräsentation‘ abzielenden die Heranziehung des Textes Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise notwendig wird, soll hier die andere aufgegriffen werden: die Frage nach der identitär-alteritären Dynamik zwischen Serbien und den deutschsprachigen Ländern, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der zeitgleichen diskursiven Entwicklungen in ebendiesen. Kann dem Befund von Karoline von Oppen, dass Handke mit seinem vordergründigen Rekurs auf französische und auch, wie sie meint, österreichische Kommentator/ innen und Intellektuelle eigentlich den Fokus auf Deutschland lege, zugestimmt werden? 525 Setzt man das Forschungsinteresse an der identitär-alteritären Nahtstelle an, so rücken in Handkes erstem Serbien-Reisetext der Zweite Weltkrieg und die deutsche bzw. österreichische Erinnerungskultur in den Mittelpunkt: diese bilden auch die Folie des öffentlichen Redens über den kriegerischen Zerfall Jugoslawiens im westlichen Ausland. Das Wissen um die unterschiedlichen Rollen der einzelnen Gebiete des ehemaligen Königreiches Jugoslawien strukturiert Handkes Wahrnehmung der kriegerischen Auflösung ein halbes Jahrhundert später: Kroatien als deutscher Vasallenstaat fungiert in seiner 524 Dronske (1997: 80). 525 Vgl. Oppen, von (2006a: 200): „While he makes reference to French and Austrian commentators and intellectuals, his focus is on Germany.“ Tatsächlich beruft sich Handke nicht auf Wort- und Textmeldungen von Österreicher/ innen. <?page no="180"?> 3. Textarbeit 180 Frage nach dem ersten Aggressor als „hitlerisch-kroatische[s] Ustacharegime“ (WR 60). 526 Dem geläufigen Topos von ‚Groß-Serbien‘, für Handke nichts weiter als ein illusionäres Konstrukt ohne jegliche Konsistenz, das seine ontologische Existenz den ausländischen Bedürfnissen und Bemühungen verdanke, hält er jenen von „‚Groß-Kroatien‘“ als etwas „ungleich Wirklicheres, oder Wirksames, oder Massiveres, Ent- und Beschlosseneres“ (WR 75) entgegen. Dem von ihm doch kritisierten Verfahren der Medien nicht unähnlich, bestimmte Signalwörter ohne jegliche Vertiefung und Differenzierung als Pars pro toto zu setzen, nimmt er sich an dieser Stelle selbst die Möglichkeit, den durchaus problematischen Umgang von Politik und Publizistik des Staates Kroatien nach der Unabhängigkeitserklärung mit seiner jüngeren Geschichte, kurzum den kroatischen Geschichtsrevisionismus zu entfalten. 527 Nicht ohne den Verweis auf 1914 und 1941, nicht ohne den Verweis auf Deutschland und „vor allem[]“ Österreich, erfolgt seine den Prolog schließende Aufforderung an die Geschichtsschreibung, keine ‚vorauseilenden‘ Gewissheiten walten zu lassen: „diese Geschichte einmal anders [zu] schreiben, und sei es auch bloß in den Nuancen - die freilich viel dazutun könnten, die Völker aus ihrer gegenseitigen Bilderstarre zu erlösen? “ (WH 76) Man mag nun angesichts der oben zitierten Textstellen fragend einwenden, wie sehr dieser Wunsch nicht in struktureller Hinsicht die gleichen, von Handke doch kritisierten ‚Starrstellungen‘, freilich mit umgekehrten Vorzeichen, enthält. Möglicherweise braucht es die Rancièresche ‚Gleichgültigkeit‘, um ein ‚Ausscheren‘ aus einer einseitigen Geschichtsschreibung bewerkstelligen zu können. 528 Eine utopische Vorstellung, wie Bogdan Bogdanović sie bereits artikuliert hatte: Ich werde mich nostalgisch auf eine vor langer Zeit gemachte Aussage berufen, an der mir auch heute liegt: „Eines glücklichen Tages wird vielleicht eine neue (wahre) jugoslawische Verfassung mit den Worten beginnen: ‚In unserem Land sind alle Erinnerungen vor dem Gesetz gleich.‘“ Dieses Prinzip würde der Einteilung der Nationalgeschichte in gute und progressive, in weniger gute und in kaum gute entgegengestellt werden. Jetzt gibt es kein gemeinsames Land mehr, und der Krieg um den Supremat der Erinnerungen ist ausgebrochen, roh und schmutzig. 529 526 Auf die vermeintliche Rolle der Bosniak/ innen im Zweiten Weltkrieg kommt Handke erst wie folgt im Sommerlichen Nachtrag zu sprechen: „Und mit ‚Vorgeschichte‘ meint das Gedächtnis nicht allein die Unterdrückung durch die Türken vor Jahrhunderten und die mörderische Verfolgung durch die muslimischen Nazi-Verbündeten vor Jahrzehnten.“ (SN 240) 527 Auf den kroatischen Geschichtsrevisionismus komme ich in Kapitel 3.2.1.2.2 zurück. 528 Vgl. Rancière (2008) sowie Kapitel 1.4. 529 Bogdanović, Bogdan: Umfehdete Erinnerungen, in: ders.: Die Stadt und der Tod. Essays. A. d. Serb. v. Klaus Detlef Olof, Klagenfurt: Wieser 1993, 41-48, 41. <?page no="181"?> 3.1 Vor den Kriegen, mit den Kriegen 181 Nicht die gegenwärtigen Ereignisse und identitären Verhandlungen in Deutschland und Österreich, 530 sondern die in den beiden Ländern betriebene bzw. unterlassene Aufarbeitung der eigenen Verantwortung für all das, „was es (das deutsche und österreichische Volk, D.F.) im Zweiten Weltkrieg auf dem Balkan noch und noch angerichtet hat und anrichten hat lassen“ (WR 154), verleiht mithin dem, in kollektiver Fassung, identitär-alteritären Gefüge seine Basis. Umgelegt auf das Generationenverhältnis erweist sich die Auseinandersetzung mit den Reaktionen zum Krieg der eigenen Generation, den sogenannten 68ern 531 - Reaktionen der, im Hinblick auf das Dritte Reich, Generation der Söhne - als zentraler Zusammenhang: Das Unverständnis der Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien sowie die Ratlosigkeit der 68er korrespondieren mit ihrem Unverständnis gegenüber den Handlungen der Elterngeneration unter Hitler zum einen, der Ratlosigkeit im Umgang mit dem aufkommenden Rechtsradikalismus in Deutschland und Österreich zum anderen. 532 Explizit gibt Handke am Ende des Textes denn auch eine Frage mit, die allerdings angesichts der lautstarken Entrüstung ob manch anderer Argumente untergegangen ist: Hat es meine Generation bei den Kriegen in Jugoslawien nicht verpaßt, erwachsen zu werden? (WR 156) 3.1.1.4 Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise Mit der Veröffentlichung der Winterlichen Reise in der Süddeutschen Zeitung im Jänner 1996 hatte Handke eine Kontroverse eröffnet, die weniger als ‚Literatur-Skandal‘, sondern als Politstreit geführt wurde. Angesichts späterer Interventionen Handkes wie insbesondere seiner Anwesenheit als Grabredner auf der Beerdigung von Slobodan Milošević im März 2006, die auch zur Absetzung des Theaterstücks Spiel vom Fragen oder die Reise ins sonore Land - ein Stück aus dem Jahre 1989 - vom Spielplan der Pariser Comédie Française sowie zur 530 Eine einzige Anspielung verweist auf die Waldheim-Affäre, auf „die auf einmal heißen, brandaktuellen, nachrichtendienlichen Balkanverwicklungen eines österreichischen Präsidentschaftskandidaten“ (WR 155). 531 Vgl. dazu auch UTF 47. 532 Vgl. Mätzler (1993: 42). <?page no="182"?> 3. Textarbeit 182 Aberkennung des Düsseldorfer Heinrich-Heine-Preises führte, 533 stellt sich im Rückblick die Aufregung um Winterliche Reise als erste Etappe von mehreren dar. Eine Lesereise führte Peter Handke ab März 1996 quer durch Deutschland und Österreich, auch zwei Lesungen in den Hauptstädten Sloweniens und Spaniens waren vorgesehen. Wie Thomas Deichmann in dem vorsichtig mit Handkes Positionen sympathisierenden Sammelband zur Debatte um die Winterliche Reise schildert, stieß der Autor auf seiner Lesereise bei seinen Zuhörenden auf großes Interesse und Verständnis, 534 manche Lesungen hingegen führten zu weiteren Eklats: Legendär ist sein Auftritt im Wiener Akademietheater, wo Handke einen Diskussionsteilnehmer aus dem Publikum aufforderte, er möge sich „seine Betroffenheit in den Arsch stecken“. 535 Mit dem von Deichmann bei Suhrkamp herausgegebenen Band Noch einmal für Jugoslawien: Peter Handke sowie Tilman Zülchs Herausgeberschaft Die Angst des Dichters vor der Wirklichkeit, die Positionen und Antworten seiner Kontrahent/ innen zusammenführt, liegt ein Großteil der deutschsprachigen und auch internationalen Beiträge in gesammelter Form vor. 536 Zusammenfassend kann mit dem Historiker Kurt Gritsch, der die Rezeption der Winterlichen 533 Nach der am 23. Mai 2006 erfolgten Verlautbarung der Stadt Düsseldorf, dass Peter Handke der Preisträger des Jahres 2006 sei, und Handkes Erklärung, dass er die Auszeichnung mit Freude annehmen werde, versammelt die Rheinische Post am 25. Mai 2006 kritische Entgegnungen u.a. aus Berlin, Brüssel und Paris. In der Folge melden sich weitere Kritiker/ innen in Printmedien und Radio zu Wort, die die Entscheidung der Jury als Missbrauch, Verhöhnung oder Beleidigung Heinrich Heines brandmarken. Der ‚literarische‘ Handke könne nicht vom ‚politischen‘ getrennt werden. Der Rat der Stadt Düsseldorf will die Entscheidung mehrheitlich nicht mehr mittragen; noch vor der entscheidenden Ratssitzung verfasst Handke einen Brief an den Düsseldorfer Oberbürgermeister Joachim Erwin, der als Verzicht auf den mit 50.000 Euro dotierten Preis interpretiert wird. Die Preissumme des daraufhin von den Schauspieler/ innen Käthe Reichel und Rolf Becker und dem Journalisten Eckart Spoo initiierten alternativen Berliner Heinrich-Heine-Preises lässt Handke serbischen Enklaven im Kosovo übermitteln. Im Frühjahr 2007 übergibt Handke, gemeinsam mit Reichel, Becker, Spoo und Claus Peymann, die Preissumme den ungefähr 700 Einwohner/ innen des serbischen Weindorfes Velika Hoča. Über diese Reise erzählt Handkes 2009 bei seinem Hausverlag Suhrkamp veröffentlichter Text Die Kuckucke von Velika Hoča. Vgl. dazu auch den in der Zeit vom 12.4.2007 erschienenen Artikel von Wolfgang Büscher („Ich wollte Zeuge sein“), der Handke auf dieser Reise begleitet hat, online abrufbar unter: http: / / www.zeit.de/ 2007/ 16/ Kosovo, 31.1.2013. 534 Deichmann, Thomas: Einleitung, in: ders. (1999: 9-16, 9). Vgl. zu seinen Eindrücken als Besucher zweier Lesungen in Frankfurt und München auch den Beitrag von Wolfgang Reiter: Der poetische Aggressor. Peter Handkes winterliche Lesereise, in: ebd., 118-121. 535 Vgl. dazu Peter Handke im Ö1-Beitrag „Begegnung in Chaville. Peter Handke, Schriftsteller“ mit Michael Kerbler am 28.8.2008, online abrufbar unter: http: / / oe1.orf.at/ artikel/ 210177, 31.1.2013. 536 Vgl. Zülch (1996). <?page no="183"?> 3.1 Vor den Kriegen, mit den Kriegen 183 Reise in den deutschsprachigen Printmedien analysiert hat, festgehalten werden, dass Handkes Text als „Verstoß gegen die political correctness“ 537 aufgefasst, und als Hauptvorwurf ein moralischer angeführt wurde: Handkes Solidarität mit der Täter-, und nicht der Opferseite. Dass Handke sich über die Berichterstatter/ innen, und nicht über die politischen Verantwortlichen der Kriegsverbrechen, echauffierte, war ein weiterer Punkt, der in Anschlag gebracht wurde. Ohne mich an dieser Stelle weiter mit der Polemik an sich aufhalten zu wollen, soll doch noch die folgende Beobachtung von Gritsch, dessen Arbeiten einen guten Überblick über die Aufnahme von Handkes Text in den verschiedenen Printmedien liefern, festgehalten werden: der Umstand, dass die breite Ablehnung des Textes Printmedien unterschiedlichster politischer oder ideologischer Gesinnung vereinte, nämlich „die FAZ mit Spiegel, Weltwoche, Presse und tageszeitung. Dieses Phänomen läßt sich zeitungsintern mit einer durchgängigen Blattlinie erklären, durch welche das Feuilleton sich dem Blickpunkt der politischen Berichterstattung verpflichtet fühlte. Bei manchen Zeitungen wäre eine zustimmende Interpretation des Serbien- Essays hinsichtlich der tagesgeschichtlichen Linie geradezu eine journalistische Bankrotterklärung gewesen.“ 538 Die im Herbst 1996 in Buchform erschienene zweite Serbien-Reisererzählung, die Aufzeichungen von Juni-Juli 1996 zu einer im „späten Frühling“ desselben Jahres als „eine[...] Art Wiederholung“ versuchten Reise nach Serbien sowie auch in die Republika Srpska enthält, charakterisiert Handke im paratextuellen Titel sowie auf der ersten Seite als einen „Nachtrag“ (SN 167): Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise. Die genaue Lektüre des Titels - der schließlich die zweite Reise als solche mitnichten erwähnt - verrät bereits die Stoßrichtung des Textes: während die Winterliche Reise aufgrund ihres Mediums der Erstveröffentlichung zum einen, der medienkritischen und der auf außerliterarische Ereignisse abhebenden Passagen zum anderen Rezeptionsmodi mit faktualer Bezugnahme begünstigte, schlägt das Selbstverständnis des Sommerlichen Nachtrags, obgleich auch hier die außertextuelle Referentialität höchst präsent ist, eindeutig nach einem literarischen aus. 539 Eine Entscheidung für eine bestimmte Entwicklung in einer Geschichte, das führt der Sommerliche Nachtrag offensiv vor und aus, ist immer nur eine Option unter mehreren. Mit Ricœur gesprochen, ist es die Welt der mimẽsis II, 537 Gritsch (2003: 3). 538 Ebenda, 7. Als offene Frage bleibt somit „die oft fast deckungsgleiche Interpretation des Tagesgeschehens weltanschaulich unterschiedlichster Printmedien“ (ebd.). 539 Dass Peter Handke den Sommerlichen Nachtrag mit einem Ivo Andrić entlehnten Zitat über den „‚Beginn aller Stege und Wege [...]“ (SN 250) schließt, bestätigt diese Lesart als eines sich als literarisch verstehenden Textes, dessen Parameter nicht alleine Weltbezug, sondern auch Intertextualität und Fiktionalität ausmachen. <?page no="184"?> 3. Textarbeit 184 des ‚Als ob‘, und die mit ihr einhergehenden Privilegien und Entscheidungen, die nun viel deutlicher hervortreten. 540 Die folgende Textpassage führt diese Verschiebung augenscheinlich vor, ist jedoch darüber hinaus aus einem weiteren Grund von Interesse: Sie belegt Handkes, wie es scheint, einzige Strategie der Repräsentation der bosniakischen Bevölkerung - deren Exotisierung. Freilich markieren die von Handke gesetzten Anführungszeichen die Konstruiertheit der Begriffe bzw. Kategorien, was eine Distanzierung von diesem Vokabular und dem dahinter stehenden Denken nicht ausschließt und vermutlich auch der Fall ist. Diese entlastende Lesart aufrechtzuerhalten, wird jedoch insofern erschwert, als - im Sommerlichen Nachtrag wie schon in der Winterlichen Reise - der bosniakischen Bevölkerung der von Handke bereisten Republika Srpska lediglich Objektstatus zukommt. Visuell wahrgenommen und auf bestimmte äußerliche Marker reduziert, wird über sie geredet und gerätselt; doch kein einziger Vertreter/ keine einzige Vertreterin erhält als unverwechselbares Individuum und aussagefähiges Subjekt Eingang in die Reiseerzählung. In anderen Worten wendet sich (auch) dieser Text von den Opfern ab. An einem der steilen Hügelhänge die weißen, pfahlförmigen Grabsteine eines muslimischen Friedhofs, und dann der Eindruck, dort bewege sich eine Frauengestalt bergauf, ein Tschadortuch um den Kopf gewickelt. War das ein Tagtraum? Aber gab es nicht tatsächlich noch einige „Mohammedanerinnen“ in Višegrad, verheiratet in „Mischehe“ mit einem „Orthodoxen“? Und in der Folge gesellte sich unversehens ein früherer Ortsbesucher zu dem Publikum auf die Betonränge, einen Fez auf dem Scheitel, begrüßt allseits mit Hallo! Nein, das war jetzt eindeutig eine Luftspiegelung ... (SN 217) Neben dem Fehlen einer leitmotivischen Medienkritik und dem offensiveren Spiel mit Fiktionalitätsindikatoren unterscheidet sich der Sommerliche Nachtrag von der Winterlichen Reise in einem weiteren Punkt, der den zweiten Text doch wieder dem Regelwerk nicht-literarischer Werke annähert: dem Anliegen, bestimmte Ambiguitäten zu bestimmten Fragen (und möglichen Unterstellungen) einzudämmen. Dominierte mit Bezug auf die außerliterarischen kriegerischen Ereignisse in der Winterlichen Reise noch ein Modus des (Be)Zweifelns, bringt Handke das Votum des Sommerlichen Nachtrags für die Berücksichtigung einer „für Bosnien und Jugoslawien besonders bezeichnende[n] Vor-Geschichte, Vorgeschichte um Vorgeschichte“ (WR 199) doch nicht davon ab, bestimmte grundlegende Auffassungen unmissverständlich festzuhalten: „Doch wieder Achtung“, heißt es nach dem neuerlichen Rekurs auf die Notwendigkeit einer Miteinbeziehung der Vorgeschichte(n) bezüglich Srebrenica: „Wie solch ein Klarstellen der Vorgeschichten nichts mit Aufrechnung zu schaffen hat, so selbstredend auch gar nichts mit einer Relativierung oder Abschwächung. Für die Rache gilt kein Milderungsgrund.“ (SN 242) Andererseits versieht Handke den Genozid vom Juli 1995 mit dem At- 540 Vgl. dazu auch (SN 226). <?page no="185"?> 3.1 Vor den Kriegen, mit den Kriegen 185 tribut „mutmaßlich“ (vgl. SN 240 u. 251), doch schickt er in Klammer die folgende, relativierende Erklärung nach: „(im Augenblick, Mitte Juli 1996, immer noch das richtige und rechtliche Beiwort)“ (SN 241). Erst knapp elf Jahre - und Myriaden von Augenblicken - später, im Februar 2007 wurde das Massaker vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag als ein solches eingestuft. 541 Wenden wir uns nun der offen gebliebenen Frage zu, welche Strategien Handke für die Repräsentation des vermeintlich Nicht-Darstellbaren zur Anwendung bringt. Angesichts der oben vertretenen These, dass das Selbstverständnis des Sommerlichen Nachtrags offensiver und eindeutiger, als es bei seinem Vorgänger der Fall war, auf das Genre der Reiseerzählung zielt, und folglich die Möglichkeiten und Privilegien fiktionaler Literatur eingesetzt bzw. beansprucht werden, erscheint es nur schlüssig, dass Handke für die Vergegenwärtigung von Srebrenica und den Genozid im Juli 1995 auf einen auf die Bildende Kunst zurückverweisenden und von Friedrich Schlegel in die Literaturtheorie eingeführten Begriff rekurriert. Als Sinnbild und Mittel, um das Undarstellbare darstellbar, das Abwesende anwesend zu machen, operationalisiert Handke die „vielleicht doch das eine und das andere besagende[...] ‚Arabeske‘. Ja, Arabeske.“ (SN 224) Die Arabeske, gängige Bezeichnung für das in sämtlichen Gattungen der islamischen Kunst als Dekorationselement vorherrschende Rankenornament, diente in der romantischen Literaturtheorie als Sinnbild für die absolute Dichtung, welche auf „die unendliche Fülle in der unendlichen Einheit gerichtet ist und den im menschlichen Bereich noch zu erahnenden Ausdruck dafür verkörpert“. 542 Für Handkes Semantisierung des Begriffes erscheint mir im betreffenden Textzitat dessen Attribut mit der Konjunktion ‚und‘ (‚das eine und das andere besagend‘) aufschlussreich; dass Handke all jenen Modi und Momenten, die ausgehend von ‚(er)ahnen‘ eine semantische Kette fundieren, Bedeutung zuspricht, darauf wird ausdrücklich am Ende des Buches verwiesen, wenn er sein „Wissen“ als „immer ungewisser“, die „Ahnung“ indes als „immer gewisser“ (SN 243) anführt. Es sind die Bauten und baulichen Überreste, die Handke in ‚S.‘ - wie er, einmal vor Ort, Srebrenica anführt, um so das Toponym von all seinen medienevozierten Zuschreibungen zu befreien - als stumme Zeugen aufruft: als Zeugen für jenes Kräfteverhältnis, das im Juli 1995 neue Tatsachen schuf und den 541 Vgl. Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Bosnia and Herzegovina v. Serbia and Montenegro), Judgment, I.C.J. Reports 2007. 542 Polheim, Karl Konrad: Die Arabeske. Ansichten und Ideen aus Friedrich Schlegels Poetik, München u.a.: Ferdinand Schöningh 1966, 24. <?page no="186"?> 3. Textarbeit 186 männlichen Teil der Bevölkerung komplett auslöschte. 543 Stellvertretend für die Auslöschung einer ganzen Bevölkerungsgruppe ist es die Zerstörung der Stadt, ist es die Auslöschung des Gedächtnisses der Kultur und ihres zivilen Zusammen-Lebens, an die Handke, darin Bogdan Bogdanović folgend, 544 gemahnt. Wie kann, so spielt die anfänglich auf das ‚Wie‘ des Erzählens abzielende Frage auch auf das Erinnern an, dieser zerstörten, der Gegenwart und der Zukunft beraubten Stadt erinnert werden? 545 Während sich doch allerorts nichts anderes als „Zerschossenheit und Ausgeräuchertheit“ (SN 226) aufzutun scheint, so lässt sich schließlich auch eine „serbisch-orthodoxe Kirche unversehrt auf einer Steilhangterrasse, mit einem nagelneuen, freilich sehr dünnen Holztor“ erblicken. Im gleichen Satz noch erfolgt das ‚und andere‘: „und unterhalb, tief zu ihren Füßen, die Reste der Moschee“ (SN 226). Kein endlicher Schrecken ist es, dessen er da gewahr wird, so lässt sich die ‚und‘-Anapher, die Handke knapp dreißig Mal in diesen Passagen über Srebrenica bis hin zur Rückfahrt nach Belgrad, und dann auch auf den allerletzten Seiten, einsetzt, auslegen. Wie diesen repräsentieren, wie anfangen, wo anfangen? Handke selbst liefert am Ende seines Textes mit dem bereits erwähnten Andrić- Zizat eine mögliche ,Antwort‘: „Zum Beispiel so: ‚Am Beginn aller Stege und Wege, am Ursprung des Bildes, das ich mir davon mache, stehen unauslöschlich eingeprägt die Pfade, wo ich frei die ersten Schritte tat. Das war in Višegrad, und die Wege waren hart, ungleichmäßig, wie ausgenagt ...‘“ (SN 250) Mit dem Wissen um die faktualen Geschehnisse in den Monaten und Jahren vor Juli 1995 - man denke an Emir Suljagićs 2009 ins Deutsche übersetzte Zeugenschaft 546 - erscheint diese, nunmehr in seinem Selbstverständnis als Schriftsteller gezeichnete Schlusspassage bzw. -perspektive als literarischer Eskapismus. Die jäh aufblitzende Ergriffenheit, von der Handkes Beschreibung seines geradezu reflexartigen Handgriffes unweit der serbisch-orthodoxen Kirche Srebrenicas erzählte („Und mit der Hand voll in die Brennesseln bei der Kirche gegriffen, die gerade blühenden und da besonders brennenden, und noch einmal.“, SN 227), bleibt, so kann abschließend bilanziert werden, eine Momentaufnahme. Zu einer Erhellung sämtlicher ,Vorgeschichten‘ trägt Handkes Sommerlicher Nachtrag, wiewohl in seinem Grundton differenzierter als die Winterliche Reise, erst recht nicht bei. 543 Jene Flüchtlinge, die Handke im Frühjahr 1996 antrifft, sind Serb/ innen: „die Namen an den verwaisten Briefkästen unten im Eingangsflur mehrheitlich ‚türkisch‘, vereinzelt die Überklebungen mit einem ‚rein serbischen‘ (izbeglice, Flüchtlinge, Eingewiesene).“ (SN 229) 544 Vgl. Bogdanović (1993: 33-39). 545 Vgl. SN 237. Mit der Frage nach der „Gedächtnisspur“ (ebd.) schlägt Handke die Brücke zu dem bereits aufgerufenen Komplex der „Vorgeschichte“ (SN 239) bzw. „Vor- Geschichte“ (SN 241). 546 Vgl. den bereits erwähnten Titel: Suljagić, Emir: Srebrenica - Notizen aus der Hölle. A. d. Bosn. v. Katharina Wolf-Grießhaber, Wien: Zsolnay 2009. <?page no="187"?> 3.2 Nach den Kriegen 187 3.2 Nach den Kriegen 3.2.1 Bosnien-Herzegowina, Kroatien - zweite literarische Produktionsphase 3.2.1.1 Juli Zeh Previsics These einer von Handke initiierten und für die weitere literarische Auseinandersetzung mit dem ehemaligen Jugoslawien formatierenden Fixierung auf eine/ n Ich-Erzähler/ in findet Bestätigung und Entsprechung in Juli Zehs Die Stille ist ein Geräusch: einem Prosatext, der mit seinem mit Herbst 2002 datierten Erscheinungsdatum immerhin sechs Jahre Abstand zum Sommerlichen Nachtrag aufweist. Bereits im Jahr zuvor war im Düsseldorfer Kleinverlag Eremiten-Presse die Erzählung Sarajevo 96 von Ingrid Bachér erschienen. Ein „alter Mann“ aus Deutschland, so wird aus heterodiegetischer Perspektive erzählt, besucht darin kurz nach der Unterzeichnung des Dayton- Abkommens und im Rahmen einer Übergabe von Bücherspenden Sarajevo, 547 und durchlebt angesichts der dort allgegenwärtigen Folgen des Krieges seine eigene, jahrzehntelang verdrängte Vergangenheit als junger Soldat und „niemals verlorener Sohn des eisigen Vaters: Krieg“. 548 Bachérs Erzählung ist aus kulturwissenschaftlicher Perspektive insofern von Interesse, als damit exemplifiziert werden kann, dass der bloße Umstand der ‚Anschlussfähigkeit‘ eines literarischen Textes an bestimmte Deutungsmuster und Narrative kein Garant dafür ist, um von einer breiteren Leserschaft gelesen zu werden, geschweige denn, sich als ‚Gedächtnismedium‘ etablieren zu können. Vorzüglich ließe sich der Text in die Debatten seiner Zeit einschreiben: ein literarischer Beitrag, der anhand der Leidensgeschichte Sarajevos die eigene ‚ungeteilte‘ Vergangenheit erzählbar und (mit)teilbar macht - und doch sind vorschnelle Aussagen über Relevanz und Wirkung des Textes unangebracht. Sarajevo 96 ist heute allenfalls antiquarisch aufzutreiben, und hat auch zum 547 Eine solche Bücherspende fand nach Kriegsende, im April 1996, statt; der vierköpfigen Delegation des Darmstädter PEN-Zentrums gehörten außer Ingrid Bachér auch Eva Demski, Peter Schneider und Hans Christoph Buch an. Vgl. Buch, Hans Christoph: Gerechtigkeit für Bosnien. Ohne Medien: Eine spätwinterliche Reise nach Mostar und Sarajevo, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 25.4.1996, 31. 548 Bachér, Ingrid: Sarajevo 96. Erzählung. Mit Bildzeichen von Günther Uecker, Düsseldorf: Eremiten-Presse 2001, o.S., hier letzte Seite. <?page no="188"?> 3. Textarbeit 188 Zeitpunkt seiner Erstveröffentlichung eine verschwindend geringe Anzahl Leser/ innen erreicht. 549 Sieht man von Handkes Sommerlichem Nachtrag ab, stellte folglich Juli Zehs Publikation die erste breitenwirksame literarische Auseinandersetzung eines/ einer deutschsprachigen Autors/ Autorin mit Bosnien-Herzegowina nach dem Krieg sowie mit dem kriegerischen Zerfall Jugoslawiens dar. 550 Zwangsläufig mussten zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung Gattung und Region der Zehschen Reiseerzählung die beiden Reiseerzählungen von Peter Handke sowie die damit einhergehende Polemik aufrufen; zwangsläufig trat Zeh damit in den politisch und medial stark aufgeladenen, und in literarischer Hinsicht bislang eben von Handke besetzten Diskurs über den kriegerischen Zerfall des ehemaligen Jugoslawiens ein: ein, so könnte man versucht sein zu meinen, nicht ungeschickter strategischer Coup der jungen Autorin, die nach ihrem erfolgreichen und preisgekrönten Debütroman Adler und Engel (2001) bereits als Vertreterin von Volker Hages Label „Fräuleinwunder“ 551 gehandhabt wurde, um sich als Schriftstellerin und Intellektuelle an der Schnittstelle von Literatur und Politik zu etablieren. Ein Jahrzehnt später kann festgehalten werden, dass Zeh diese Positionierung und ihr Anliegen, dem Leser/ der Leserin „den Zugang zu einem nichtjournalistischen und trotzdem politischen Blick auf die Welt [zu] eröffnen“ 552 - 549 Selbstverständlich müssen für diese Lesart eines ‚Gegen‘-Beispiels andere Faktoren wie die Positionierung des 2010 eingestellten Verlages in der literarischen Landschaft Deutschlands berücksichtigt werden. Dank der Autor/ innendokumentation der Bibliotheken der Stadt Dortmund konnte ich zwei Kurzbeiträge der Neuen Zürcher Zeitung und der Rheinischen Post sowie einen längeren Bericht über eine Buchvorstellung im Düsseldorfer Heine-Haus Anfang Dezember 2001 nachlesen (Kaltwasser, Gerda: Zugeben, dass wir Komplizen sind, in: Rheinische Post 281 v. 4.12.2001). Die Rezensentin schreibt Bachérs Text weniger in die diskursive Folie des Zweiten Weltkrieges ein, sondern liest ihn mit Blick auf die rezenten Ereignisse vom 11. September 2001. 550 Auch bei Walter Gronds u.a. im Nachkriegs-Sarajevo spielenden Roman Old Danube House ist nicht von einer breitenwirksamen Rezeption auszugehen. Aufgrund eines Wechsels in der Geschäftsführung des Haymon Verlags liegen manche Geschäftsdaten - so auch die angefragten zu Grond - nicht (vollständig) vor. 551 Volker Hage fasste in seinem Spiegel-Artikel „Ganz schön abgedreht“ vom 22.3.1999 über die Entwicklungen und Tendenzen in der deutschen Gegenswartsliteratur verschiedene Nachwuchsautorinnen ganz unterschiedlicher Schreibstile, darunter Karen Duve, Judith Herrmann und Zoë Jenny, unter der Bezeichnung des „literarischen Fräuleinwunders“ zusammen. Wenngleich nicht immer in affirmativer Hinsicht rekurrierten in ihren Reaktionen auch andere Literaturkritiker/ innen auf den in die 1950er Jahre zurückverweisenden Begriff, dessen implizite Assoziation sexistische und diffamierende Züge trägt. Vgl. dazu Müller, Heidelinde: Das „literarische Fräuleinwunder“. Inspektion eines Phänomens der deutschen Gegenwartsliteratur in Einzelfallstudien, Frankfurt/ Main u.a.: Peter Lang 2004, insbes. 19-29. 552 Zeh, Juli: Wir trauen uns nicht. Viele Schriftsteller halten Politik für Expertenkram - und vor allem für Privatsache, in: Die Zeit 11 (2004), abrufbar unter: http: / / www.zeit.de/ 2004/ 11/ L-Preisverleihung, 31.1.2013. <?page no="189"?> 3.2 Nach den Kriegen 189 und damit gleichsam die Überwindung der Klassifizierung als ‚literarisches Fräulein‘ - gelungen ist. Ausgezeichnet mit zahlreichen Literaturpreisen, 553 hat die promovierte Juristin mittlerweile ein vielfältiges literarisches Œuvre vorgelegt und als pointierte Kommentatorin zu einer breit gefächerten Palette an Themen Stellung genommen. 554 Überschneidungen mit jenem „deutschen Girlie[]“ (HT 235), auf das Norbert Gstreins Ich-Erzähler in Das Handwerk des Tötens zu sprechen kommt, und das nur schwerlich nicht als Persiflage Juli Zeh bzw. ihrer Figur zu lesen ist - um in einer solchen Lesart freilich dem Autor ausgerechnet jenen „naiven Realismus des Schreibens“ bzw. „naive[n] Realismus des Lesens“ (WGG 44) zu unterstellen, den er, wie in seinem Essay Wem gehört eine Geschichte? dargelegt, dezidiert ablehnt -, ließen sich wohl keine mehr festmachen. 555 Unter Juli Zehs zahlreichen Publikationen findet sich übrigens auch die literarische Anthologie Ein Hund läuft durch die Republik. Geschichten aus Bosnien, die sie gemeinsam mit David Finck und Oskar Terš 2004 herausgegeben hat: Der Band versammelt auf Deutsch verfasste Texte über Bosnien- Herzegowina, von Autor/ innen, die allesamt während des Krieges in Österreich oder Deutschland gelebt haben. Doch wenden wir uns nun Zehs erstem Roman Adler und Engel zu, bevor darauf aufbauend ein Close Reading der Reiseerzählung Die Stille ist ein Geräusch unternommen wird. 3.2.1.1.1 Adler und Engel Wie Zehs später erschienene Reiseerzählung weist auch Adler und Engel eine/ n Ich-Erzähler/ in auf: jene Erzählperspektive, die in der jüngeren deutschsprachigen Literatur insbesondere bei Jungautor/ innen dominiert. In einem 2002 veröffentlichten Aufsatz, in dem die Autorin en passant eine methodologische Prämisse literaturwissenschaftlichen Arbeitens - die Trennung von Autor/ in und Ich-Stimme - aus den Angeln hebt, 556 führt Juli Zeh diesen Umstand auf mehrere Gründe zurück: Neben dem abschreckenden Unvermögen, auktoriales Erzählen originär zu betreiben, biete die „literarische 553 Vgl. http: / / www.julizeh.de/ autorin/ autorin.html, 31.1.2013. 554 Vgl. Herminghouse, Patricia: The Young Author as Public Intellectual: The Case of Juli Zeh, in: Gerstenberger, Katharina/ dies. (Hgg.): German Literature In A New Century, New York u.a.: Berghahn Books 2008, 268-284. 555 Dass Gstrein auf Zeh abhebt, legt folgender Teilsatz nahe, der sich auf in Die Stille ist ein Geräusch angeführte Begebenheiten bezieht: „eine verrannte Romantikerin, die es für das größte Abenteuer hielt, wenn sie unter freiem Himmel auf die Straße pinkelte und mit ihrem Hund in jede Minenabsperrung absichtlich hineintappte, um dann aller Welt per SMS direkt vom Ort des Geschehens mitteilen zu können, in welcher Gefahr sie sich befand.“ (HT 236) 556 Zeh, Juli: Sag nicht ER zu mir, in: dies.: Alles auf dem Rasen. Kein Roman, München: btb 2008, 220-234, 222. <?page no="190"?> 3. Textarbeit 190 Froschperspektive“ 557 eine gewisse Überschaubarkeit: „einen Laufstall [...], in dem sich gerade junge Autoren, die Verfasserin inklusive, wohler fühlen als auf freier Wildbahn.“ 558 Das Fehlen auktorialen Erzählens entspreche in gesellschaftlicher Hinsicht jenem von identitätsstiftenden Autoritäten und Ordnungsprinzipien: diese Fehlen verleihe dem Einsatz allwissender Erzählformen einen unglaubwürdig bis undemokratischen Anstrich. 559 Angesichts letzterer Einsicht lassen sich Zehs Rückgriff auf die Ich-Erzählperspektive, das damit einhergehende Votum für Subjektivität und ihr Bekenntnis eines eingeschränkten Horizontes als konsequente Entscheidung der Autorin lesen: für ein gesellschaftsnahes Schreiben, um Glaubwürdigkeit und Empathie bei den Lesenden zu erwecken. Während in Die Stille ist ein Geräusch bereits die paratextuellen Indikationen des Klappentextes den autobiographischen Pakt insinuieren („Juli Zeh fährt im Sommer 2001 nach Bosnien […]), 560 wird Adler und Engel aus der Perspektive des männlichen Ich-Erzählers Max erzählt. Überschneidungen oder Parallelen zwischen den biographischen Stationen der Autorin und jenen ihrer Figur Max, ein junger Jurist, Völkerrecht-, Balkan- und Osteuropaexperte, ließen sich sicherlich detektieren; diese indes, wie es der damalige FAZ- Südosteuropa-Korrespondent Matthias Rüb unternommen hat, als Unfähigkeit „zur Erfahrung und Darstellung von Fremdem“ zu geißeln und letztere als Indiz für ‚Spießigkeit‘ in Anschlag zu bringen, 561 verlagert meiner Meinung die brisante Nähe zwischen außertextueller Referentialität und fiktionaler Welt, die der Roman aufweist, auf das bloße Feld des Biographischen. Die Fragen, die sich angesichts dieses, wie wir sehen werden, brisanten Verhältnisses von Fiktion und Wirklichkeit eröffenen, werden so verkannt. Der instruktive und konkrete Weltbezug von Adler und Engel, in der Sekundärlite- 557 Ebenda, 233. 558 Ebenda, 231. 559 Ebenda, 228. Mit dem 2004 erschienenen Roman Spieltrieb etabliert Zeh zum ersten Mal einen auktorialen Erzähler. Im Rahmen eines Werkstatt-Gespräches stellt sie ihr nunmehriges Interesse für die auktoriale Erzählstimme folgendermaßen dar: „Das Gefühl, dass eine Perspektive veralten kann, hat mich geärgert und gereizt. Ich wollte nicht akzeptieren, dass ein auktorialer Erzähler nicht mehr zeitgemäß sein kann, weil das einfach nur eine Erzähltechnik ist.“ [Werkstattgespräch mit Juli Zeh. Der Unterschied zwischen Realität und Fiktion ist marginal. Autoren des Gesprächs: Birte Lipinski / Sarah Lüken / Jana Maurer, Oldenburg: Fruehwerk 2008 (Im Atelier. Beiträge zur Poetik der Gegenwartsliteratur), 15.] 560 Vgl. den ersten Satz des Klappentextes, der in vollständiger Form wie folgt lautet: „Juli Zeh fährt im Sommer 2001 nach Bosnien: allein, nur mit ihrem Hund als Begleitung.“ 561 Vgl. Rüb, Matthias: Verkokste Roadshow. Juli Zeh zieht mit ihrer Studentenbude um, in: FAZ v. 9.10.2001. <?page no="191"?> 3.2 Nach den Kriegen 191 ratur bislang ausgeblendet, 562 ist es denn auch, der es für vorliegende Arbeit notwendig macht, den Roman, der mit seinen beiden Schauplätzen Leipzig und Wien die geographischen Parameter des Textkorpus doch nicht erfüllt, einer Grobanalyse zu unterziehen. Er ist es gleichfalls, der folgende Hypothese zu dem danach erschienenen Buch über, so der Untertitel, „[e]ine Fahrt durch Bosnien“ stützt: der paratextuell nahe gelegte autobiographische Pakt, die Gleichsetzung von Autorin, Erzählerin und Figur, ist ein vermeintlicher und der, wie wir sehen werden, dominierende und energische Gestus des Unwissens, der Unverbildetheit und des Staunens eine strategische Entscheidung der Autorin. Ganz anders dazu der Ich-Erzähler Max in Adler und Engel: verzweifelt und desillusioniert, drogenabhängig und des Lebens müde, erzählt er eines Abends der Hörfunkmoderatorin Clara während ihrer Radiosendung vom Selbstmord seiner Freundin Jessie, deren telefonischer ‚Ohrenzeuge‘ er vor wenigen Wochen wurde. Jessie, die Max aus Internatszeiten kannte und 1997 nach 12-jähriger Funkstille wieder den Kontakt zu ihm aufnahm, hat sich aus Angst vor serbischen Paramilitärs erschossen; als Tochter des einflussreichen Drogenbosses Herbert wurde sie als Vermittlerin und Vertrauensperson für bosnische Flüchtlinge eingesetzt, die - so die provokante These des Romans - als Drogenkuriere eingesetzt wurden, und dies nicht ohne Mitwissen von Akteur/ innen juristischer (internationaler) Institutionen. Herbert ist mit Maxens ehemaligem Chef Rufus, der eine renommierte Anwaltskanzlei für Völkerrecht in Wien leitet, befreundet. Ohne es zu ahnen, verdankte Max Jessies Vater seine Stelle in Wien, die er 1996 antrat. Nach dem Tod von Jessies Freund und Kollegen Shershaw nach Leipzig versetzt, avanciert Max dort zum rechtlichen Motor der Osterweiterung, ohne nun zu ahnen, dass die von ihm bearbeiteten Dokumente „in erster Linie der Neuverlegung einer Drogenroute diente[n]“ (AE 410). Dass mit dem Ausbruch des Krieges im ehemaligen Jugoslawien ‚traditionelle‘ Handelswege der Narkomafia zwischen Asien und Westeuropa blockiert waren und der Transformationsprozess in Osteuropa auch dafür genutzt wurde, alternative Routen zu erschließen, ist hinlänglich bekannt, wie auch der Umstand, dass im Laufe der 1990er Jahre 562 So zumindest in den drei mir vorliegenden Aufsätzen, die allerdings nur in Form von Überblicksdarstellungen auf Adler und Engel Bezug nehmen: Herminghouse (2008, 268-284); Fetz, Bernhard: Was ist gegenwärtig an der gegenwärtig neuesten Literatur? Ein Quellenstudium zur Bewusstseinslage am Beispiel von Bettina Galvagni, Zoë Jenny, Juli Zeh, Martin Prinz und Thomas Raab, in: Aspetsberger, Friedbert (Hg.): Neues. Trends und Motive in der (österreichischen) Gegenwartsliteratur, Innsbruck u.a.: StudienVerlag 2003 (Schriftenreihe Literatur des Instituts für Österreichkunde 14), 15-35; sowie Kapitel 15 („Neueste letzte Welten. Nachtrag über Kriege in der Informationsgesellschaft und zu Juli Zeh“), in: Preusser, Heinz-Peter: Letzte Wellen. Deutschsprachige Gegenwartsliteratur diesseits und jenseits der Apokalypse, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2003, 300-307. <?page no="192"?> 3. Textarbeit 192 zunehmend Albaner den, so Norbert Mappes-Niediek, „historischen Schmuggelkorridor“ übernahmen. 563 Auf der Suche nach einem Studienobjekt für ihre Diplomarbeit zur „Pathologie des organisierten Verbrechens“ (AE 270), entwickelt Clara ein vitales Interesse an Max und bringt ihn dazu, seine und Jessies Geschichte auf Tonbändern aufzuzeichnen. Mittels dieses Besprechens der Bänder - für Max, bis vor kurzem noch vielversprechender Karrierejurist, eine Art ‚talking cure‘ 564 - vergegenwärtigt der äußerst durchkomponierte, dichte und insofern auch hermetische Roman 565 in zahlreichen Analepsen die Geschichte der Beziehung von Max, Jessie und Shershaw. Diese wird in einem spannungsaufbauenden Wechselspiel mit der Gegenwartshandlung des Romans im, wie sich dank der verschiedenen Zeitangaben rekonstruieren lässt, Sommer 1999 verflochten. Die Reise in die eigene Vergangenheit führt Max und Clara schließlich nach Wien, dem Schauplatz der eingerahmten Erzählung im Jahre 1997. Café Freud, Erich Fried Denkmal und Strudlhofstiege, Donaukanal und Galerie am Opernring - die im Roman angeführten Plätze und Adressen lassen sich allesamt verifizieren, darin der Logik eines Stadtromans folgend, und scheinen doch nicht mehr als geographische Accessoires zu sein, die im Prinzip auch austauschbar wären. Freilich aber ist Adler und Engel kein Stadtroman und will auch nicht ein solcher sein. Die Benennung der verschiedenen Wiener Schauplätze, die von Max und Jessie in der Binnen- und von Max und Clara in der Rahmenerzählung aufgesucht werden oder auf ihren Wegen liegen, hat eine, in erzählökonomischer Hinsicht, strukturierende Funktion inne. Darüber hinaus arbeitet das - im Wien-Teil stete, im Leipzig-Teil des Romans indes inexistente - topographische Verweisen gerade jenem Anspruch auf Verifizierbarkeit zu, der für fiktionale Texte gemeinhin als suspendiert oder als ‚ungerade‘ erklärt wird. Zehs Roman setzt sowohl auf fiktionaler als auch faktischer Ebene an, und übernimmt im generellen Modus des ‚als ob‘ bestimmte referentialisierbare Realitätsbezüge ganz ungebrochen. So können die zahlreichen Verweise zu den politischen zeitnahen Ereignissen in Albanien (vgl. AE 223) sowie den Akteur/ innen des Bosnien-Krieges und des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag in der außertextuellen Realität verortet werden. Die im Roman nur fragmentarisch angeführten Textpassa- 563 Mappes-Niediek, Norbert: Balkan-Mafia. Staaten in der Hand ds Verbrechens. Eine Gefahr für Europa. 2., aktual. u. erweit. Auflage, Berlin: Ch. Links 2003, 86-92, 86. Vgl. außerdem den Spiegel-Artikel „Depots für die Giftler“ (Spiegel 12/ 1993, 184). Darin wird Peter Hacker, Drogenkoordinator der Stadt Wien, mit folgendem „Verdacht“ bezüglich des kriegerischen Zerfalls Jugoslawiens zitiert: „‚Drogengeld ist Waffengeld.‘“ 564 Der Begriff der ‚talking cure‘, der oft in synekdochischer Verwendung für ‚Psychoanalyse‘ steht, geht auf Bertha Pappenheim zurück, die als Patientin ‚Anna O.‘ von Josef Breuer behandelt wurde. Ihre Fallgeschichte ist in den von Breuer und Freud 1895 erstveröffentlichten Studien über Hysterie nachzulesen. 565 Nicht eine einzige Nebenfigur, nicht eine einzige Situation, die sich nicht als plotstützend erwiese. <?page no="193"?> 3.2 Nach den Kriegen 193 gen aus jenen Unterlagen und Akten internationaler Organisationen, die Max und Clara im Schuppen ihrer Unterkunft im 16. Wiener Gemeindebezirk aufstöbern - u.a. Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen - kann der Leser/ die Leserin im vollständigen Auszug auf den entsprechenden Homepages nachlesen. 566 Und schließlich lassen sich ebenso die im Roman genannten Informationen zu den Drahtziehern dieses „Guns-for-Drugs- Handels“ auf serbischer Seite, lassen sich die Angaben zu Franko („Franki“, AE 308) Simatović und dem als Arkan bekannten, im Zehschen Text aufgrund seiner Belgrader Konditoreien von Jessie stets als ‚Eisverkäufer angeführten Željko Ražnatović, ob zu ihren paramilitärischen Spezialeinheiten, ob zu Arkans Anklage in Den Haag, mit dem mittlerweile als ‚gesichert‘ geltenden Wissen über die kriegerischen Ereignisse abgleichen. Über die Akte Arkans, die im Herbst 1997 - „erst kürzlich“ - über Maxens Schreibtisch gegangen war, heißt es beispielsweise: „Ohne dass die Öffentlichkeit oder auch nur er selbst davon erfuhren, lag beim Kriegsverbrechertribunal für Jugoslawien seit einigen Wochen Anklage gegen ihn vor. Louise Arbour, Chefanklägerin in Den Haag und eine gute Freundin von Rufus, hatte entschieden, den Fall geheim zu halten.“ (AE 253) Tatsächlich war die seit September 1997 wegen „crimes against humanity, grave breaches of the Geneva conventions, and violations of the laws or customs of war“ 567 bestehende Anklage gegen Arkan erst im März 1999 erhoben worden. Zehs Verfahren verschließen sich nicht der symbolischen Überformung, doch legen den Fokus eindeutig auf eine Rückkoppelung an die außertextuellen historischen Realien, die als solche auch erkennbar ist. Dies alles wäre nicht weiter beachtenswert, dies alles entspräche durchaus dem Spannungsfeld von Fiktion und Fakten, das in jedem Text neu zu klären ist. Dass sich aber für den Leser/ die Leserin mit Kenntnissen der im Roman verhandelten Gegenstände - so zumindest meine eigene Lektüreerfahrung - das Bedürfnis einstellt, den literarischen Text auf ‚wahr‘ und ‚falsch‘ hin dekodieren zu wollen, hat nicht allein mit der bloßen Häufung realitätsbehauptender Signale zu tun. Vielmehr sind es ganz bestimmte Angaben, die den Leser/ die Leserin stutzig machen: Namen und Transaktionen, mit den selben realitätsbehauptenden Verfahren erzählt wie jene, die sich verifizieren lassen. Entspricht es also den historischen Vorkommnissen, dass bosnische Folteropfer für den Transport von Drogen eingesetzt wurden? Entspricht es den Tatsachen, dass das Drogen-gegen-Waffen-Geschäft von westlichen Institutionen und Unternehmen toleriert bis gefördert wurde, dass mit Simatović und Arkan kooperiert wur- 566 Vgl. http: / / www.unhcr.org/ refworld/ country"RESOLUTION,ALB"3b00f16e64,0.html, 31.1.2013. 567 Vgl. http: / / www.icty.org/ case/ zeljko_raznjatovic/ 4, 31.1.2013. <?page no="194"?> 3. Textarbeit 194 de? 568 Dass die Verlegung der Drogenroute „unter dem großen Dach der EU- Osterweiterung und der neuen Freihandelszonen“, möglicherweise „von Geldern aus PHARE (das EU-Programm ‚Poland and Hungary: Aid for Restructuring of the Economies‘; D. F.) bezahlt“ (AE 432) wurde? Kurzum: Kann es sein, dass die Autorin und Juristin Zeh über Insider-Einsichten verfügt, die die kriegerischen Konflikte Jugoslawiens und insbesondere die Rolle des Westens in einem neuen Licht erscheinen lassen? Lassen sich die Thesen des Romans, die sicherlich auch ins Geheimdienstmilieu führen und viel Potential für verschwörungstheoretische Narrative enthalten, überhaupt nachprüfen? Oder aber setzt womöglich gerade hier, an diesen offenen Fragen, die Autorin die fiktionale Freiheit an: ist schließlich die Anführung von Arkan als einem von „ Leute[n] in höchsten Positionen [...] protegierten“ ‚Fastpartner‘ nicht gerade ein Hinweis auf die völlige Unwahrscheinlichkeit dieser Handlungsstränge? Was von dem einen Leser dahingehend ausgelegt werden mag, kann von der anderen Rezipientin als Faktenwissen interpretiert werden: als ein von Zeh vorgenommenes und als solches alles andere als unproblematisches Ergänzen verifizierbarer Realitätsbezüge um weitere ‚Fakten‘, ein ,Neu-Schreiben‘ der Geschichte. 569 3.2.1.1.2 Die Stille ist ein Geräusch Über Leipzig, Wien, Maribor und Zagreb, und ohne zielführende Vorbereitungen verläuft in Die Stille ist ein Geräusch die im Sommer 2001 mit Zug, Bus und Mietauto, gemeinsam mit dem Hund Othello und immer wieder ins Blaue unternommene Reise nach und durch Bosnien-Herzegowina. Die Idee einer womöglich hilfreichen Planung war von der Erzählerin, mit einer Mischung aus Ignoranz und Fatalismus, im Vorfeld verworfen worden: „Es gibt eben Dinge im Leben, auf die man sich nicht vorbereiten kann.“ 570 (SG 10) Wird der Text nun als ein autobiographischer gelesen, so fällt es jedoch, auch ohne Adler und Engel gelesen zu haben, nicht ganz leicht, das vom erzählenden Ich immer wieder zur Sprache gebrachte Nicht-Wissen oder auch Nicht- Wissen-Wollen über Bosnien-Herzegowina und den 1992-1995 währenden 568 Dass zumindest mittlerweile Angehörige der ehemaligen, anfänglich von Franko Simatović befehltigten paramilitärischen Einheit Crvene Beretke (Rote Barette) „offenbar bei der Mafia ein neues Tätigkeitsfeld gefunden“ hätten, wurde in der Online- Ausgabe der österreichischen Tageszeitung Standard am 17. Mai 2010 gemeldet, abrufbar unter: http: / / www.derstandard.at/ 1271376863722/ Serbische-Rote-Barette-im- Dienst-der-Mafia, 31.1.2013 569 Freilich könnte dieses ,Neu-Schreiben‘ auch als Genre-Frage diskutiert werden, orientiert sich der Roman doch an Erzählmustern der zeitgenössischen amerikanischen Thrillerliteratur. 570 Sämtliche Satzanfänge eines neuen Absatzes sind bei Zeh in Kursivschrift gedruckt. <?page no="195"?> 3.2 Nach den Kriegen 195 Bosnien-Krieg, welches eine Ausblendung jeglicher Problemdarstellung und jeglicher ‚Vorgeschichte‘ impliziert, zu ‚glauben‘. 571 Um nicht erneut, und vorauseilend, ein Spannungsfeld aufzubauen, dessen Koordinaten da ‚Realität‘, ‚Authentizität‘ und ‚Wahrheit‘ lauten, werden in der nun erfolgenden Analyse das erlebende und erzählende Ich nicht als ‚Juli Zeh‘, sondern auch und vor allem als ‚Reisende‘ bezeichnet: eine Reisende, die, davon ist auszugehen, aus Deutschland kommt. Der Text an sich wird als Reiseerzählung behandelt, die eine (vermutlich) nicht-fiktive Reise mit fiktionalen Mitteln und narrativen Verfahren darstellt. Als durchgehende textspezifische Strategie der in 24 titelversehene Kapitel unterteilten Reiseerzählung Die Stille ist ein Geräusch sticht das Erzählen im Präsens mit Verzicht auf Vor- und Rückblenden ins Auge. Somit kann der Eindruck entstehen, als gäbe es nahezu keine Differenz und keinen zeitlichen Abstand zwischen dem Erleben und dem Erzählen, zwischen Welt und Sprache, als gäbe es die Instanz einer retrospektiven Sinnstiftung nicht. 572 Dieses Hintanstellen der doch durchgängig betriebenen narrativen Überformung der erlebten Erfahrungen signalisiert den Wunsch bzw. Anspruch auf Unmittelbarkeit, der mit der den gesamten Text programmatisch durchziehenden Strategie, sich über das Sein der Welt erstaunen zu lassen, korrespondiert: „Ich bin wieder Kind und wachse heran innerhalb weniger Stunden, staunend darüber, wie die Welt ist“ (SG 46), so notiert die Reisende in Mostar, ihrer zweiten Etappe im Zielland. Ohne die Erzählerin von Die Stille ist ein Geräusch als ‚kindlich‘ bezeichnen zu wollen, gibt es doch Überschneidungen mit jenen Charakteristika, welche die Erzählforschung der kindlichen Erzählfigur gemeinhin zuschreibt: ein eingeschränkter Überlick und ein meist nur 571 Wurde ein autobiographischer Pakt im Sinne Lejeunes - der auffallender Weise, auch bei seiner Nennung der benachbarten Gattungen der Autobiographie, nicht die Reiseerzählungen erwähnt - abgeschlossen? Da lediglich ein einziges Mal Zehs Vorname in englischer Aussprache - „Dschuuli“ (SG 202) - auftaucht, wurde der Pakt, der die Bestätigung der Namensidentität Autor/ in, Erzähler/ in und Hauptfigur bedeutet, nach Lejeunes Kriterien im Text selbst nicht abgeschlossen. Damit kann Die Stille ist ein Geräusch in Lejeunes Tabelle in Form 2b eingeordnet werden: „Nicht nur die Figur hat keinen Namen, der Autor schließt auch keinen Pakt, weder einen autobiographischen noch einen romanesken.“ [Lejeune (1998: 235)] Der Leser/ die Leserin könnte somit die Zuordnung wählen und den Text als Autobiographie oder Roman lesen. Allerdings ist zweiteres angesichts der Angaben im Klappentext eher unwahrscheinlich, lautet der erste Satz des inneren Umschlages doch: „Juli Zeh fährt im Sommer 2001 nach Bosnien: allein, nur mit ihrem Hund als Begleitung.“ 572 Darin erinnert Die Stille ist ein Geräusch an das Genre Tagebuch. Da jedoch eine chronologische Dimension nur ansatzweise zum Tragen kommt, kann Zehs Text nicht als Tagebuch oder Reisetagebuch bezeichnet werden. <?page no="196"?> 3. Textarbeit 196 geringer Abstand vom Geschehen. 573 So wie Zehs Reisende nicht allzu viel über ihr Reiseland wissen will, kann es der/ die kindliche Erzähler/ in über das jeweilige Geschehen meist nicht; gerade aufgrund seiner/ ihrer Naivität und Unbelastetheit wird der Darstellung und Deutung gemeinhin ein großer Erkenntnisgewinn zugeschrieben. Mit Kenntnis der Reiseliteraturforschung einerseits, mit Wissen um die Wahrnehmungstraditionen und -schemata des Orients und des Balkans andererseits, kann das Staunen zudem als der Versuch gelesen werden, aus der Dynamik jener Dichotomisierung, die Selbst- und Fremdbildlichkeit auf Gegenbildlichkeit verengt, auszutreten. Zählt Ingrid Bachérs Sarajevo-Erzählung zu jenen Werken deutschsprachiger Autor/ innen über den kriegerischen Zerfall Jugoslawiens, welche die von Bachmann-Medick apostrophierte „Selbstfindung im Licht des Anderen“ 574 unternehmen, ist im Unterschied dazu Zeh bemüht, Bosnien-Herzegowina und seine jüngere Vergangenheit gerade nicht als Projektionsfläche (für innerdeutsche Diskurse und Werte) fungieren zu lassen. Tatsächlich ließe sich das ‚hinter‘ dem Text stehende (und vermutlich auch ‚vor‘ der Reise liegende) Gebot wie folgt umreißen: stelle das Gemeinsame, nicht das Trennende in den Vordergrund; vermeide tunlichst jegliche Dichotomisierung zwischen Eigenem und Anderem und folglich jegliches othering, jeglichen Balkanismus. Etwaiges Fremdheitspotential von Land und Leuten wird vom erlebenden und erzählenden Ich weitgehend entschärft: so erscheinen fremde Bräuche nicht fremdartig, sondern höchstens ungewohnt, so wird Fremdartigkeit im eigenen (Fehl-)Verhalten - „Schon wieder vergesse ich, die Schuhe auszuziehen“ (SG 34) -, werden Gefühle der Fremdheit im eigenen Körper situiert: Die Augen der Rucksackreisenden sitzen beispielsweise nach ihrer ersten Übernachtung im bosnischen Travnik „wie Fremdkörper im Gesicht“ (SG 35); und in Sarajevo geht sie durch die Straßen, „als hätte jemand [ihren, D.F.] Körper ausgeliehen, um eine Weile damit herumzulaufen.“ (SG 75) Die in Mostar gekaufte und abgeschickte Postkarte oder aber - im Adressfeld wird lediglich „Deutschland“ eingetragen - ‚Flaschenpost‘ weist folgende Zeilen auf: „,Bin in Mostar. Hier ist es auch nicht anders als anderswo.’“ 575 (SG 52) Dieser Versuch der Reisenden, eine Differenzierung zwischen dem Eigenen und dem, der, den Anderen zu unterlaufen, geht jedoch insofern nicht auf, als 573 Vgl. Spielmann, Monika: Aus den Augen des Kindes. Die Kinderperspektive in deutschsprachigen Romanen seit 1945, Innsbruck: Inst. für Dt. Sprache, Literatur u. Literaturkritik an d. Univ. Innsbruck 2002 (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft: Germanistische Reihe 65), 26. 574 Bachmann-Medick (2004b: 266). 575 Diese Zeilen können als Spiel mit dem Wortlaut jener Erfolgsmeldungen, die auf dem in Deutschland ab 1860 aufkommenden neuen Medium Postkarte zu den einzelnen Stationen der angesteuerten Sehenswürdigkeiten notiert wurden: „Ich war hier.“ Vgl. dazu Host, Herbert: Selbst-Verwirklichung und Seelensuche. Zur Bedeutung des Reiseberichts im Zeitalter des Massentourismus, in: Brenner (1989: 490-507). <?page no="197"?> 3.2 Nach den Kriegen 197 sie von den verschiedenen Menschen, die sie trifft, stets als Deutsche und meist als „Aus-Deutschland-wie-schön“ (SG 83) wahrgenommen und immer wieder mit ihrem Fremdbild und schwer von der Hand zu weisenden Übereinstimmungen konfrontiert wird. „Wenn jemand mit Hund ein Restaurant betreten will, sagt Dario, weiß man sofort: Das ist ein Deutscher. Oder wenn jemand davon ausgeht, es habe sich auf dem Balkan um einen Krieg aus Völkerhass gehandelt.“ (SG 31f.) Mit der Ankunft in Sarajevo und der ‚Autopsie‘ der kesselförmigen Anlage der Stadt, mit der Lektüre der erst in Sarajevo erstandenen Titel über den Bosnien-Krieg kommt die Reisende schließlich nicht umhin, jenes Moment, das sie von den Menschen rundherum trennt, anzuerkennen: Ich kenne das Gefühl nicht, durch alles, was man für sich braucht, einem anderen etwas wegnehmen zu müssen, Nahrung, Wasser, Kerzen, Brennholz, Öl. Jede Zigarette, jede Tasse Kaffee wird zu einer, die jemand anderes nicht trinkt oder raucht. Wenn man gemeinsam etwas zu bewachen hat, ist selbst der Schlaf gestohlen aus einem Topf, der allen gehört. (SG 75) Zahlreiche Hinweise des Textes stützen die Vermutung, dass die Haltung des (anfänglichen) Nicht-Wissens über das Reiseland, seine Geschichte und Krieg eine strategische Entscheidung - und Erfindung - der Autorin ist, dass Zeh sich weiters auch ausführlich mit der Tradition und Entwicklung der Reiseliteratur, der Writing Culture-Debatte 576 sowie mit den Kritikpunkten der postkolonialen Literaturtheorie auseinandergesetzt hat. Reiseerzählung über Bosnien-Herzegowina, ist der Text gleichermaßen auch eine Auseinandersetzung mit dem ihm zugrunde liegenden Genre. So spielt gleich die einführende Bezeichnung des Reiselandes als „Herz [...] der Finsternis“ (SG 9) auf Joseph Conrads 1899 erschienene Erzählung Heart of Darkness [Herz der Finsternis] an; so heißt es am Ende des Zehschen Textes wie folgt: „Wer die Hölle überleben will, muss ihre Temperatur annehmen.“ (SG 263) Die Vertrautheit der Autorin mit dem Formen-, Tropen- und Topoiinventar der Abenteuer- und Reiseerzählungen, wie es sich im Zuge der kolonialistischen Expansionsbewegungen herausgebildet und als solches für Zeh auch seine Unschuld verloren hat, wird weiters von der Schilderung der Ankunft der Reisenden in Mostar belegt: „Ich sehe alles zugleich, die ganze Stadt auf einen Blick, als hätte ich rund um den Kopf einen Kranz von Augen, jedes zweite mit Röntgenfunktion.“ (SG 43) Abgewandelt und parodiert wird hier der Prattsche ‚koloniale Blick‘, die olympische Perspektive. Anstelle sich in einer vertikalen Ordnung zu verorten und den totalen Überblick zu suggerieren, setzt sich die Reisende 576 Kulturen werden von der Ethnologie weniger ‚beschrieben‘ als ‚geschrieben‘: Die Writing Culture-Debatte, die in den späten 1970er Jahren innerhalb der Ethnologie ansetzte, problematisierte nicht nur den Anspruch, objektives Wissen zu produzieren, sondern auch die Methode, dieses Wissen zu erheben und ihre Darstellungsform. Ihr Verdienst ist es, einerseits die kulturelle Kodierung des Schreibens und andererseits die Textabhängigkeit von Kulturrepräsentation in den Vordergrund gerückt zu haben. <?page no="198"?> 3. Textarbeit 198 dem visuellen overkill aus, ohne die einzelnen Puzzleteile bzw. Momentaufnahmen in ein Bild fügen zu können. Die Allee des Parkes in Ilidža erweist sich folgerichtig nicht als lineare Route, sondern als kreisförmige: „Schon zwanzig Minuten gehe ich auf der Platanenallee. Es wächst der Verdacht, dass sie kein Ende hat, ich auf ihr die Welt umrunden werde, den Gürtel gefunden habe, der Mutter Erde das Kleid zusammenhält.“ (SG 88) Angesichts der supponierten Kenntnisse der Autorin über die genrebedingten Traditionslinien und auch Fallen ist es nicht weiter verwunderlich, dass auch jenes in narratologischer Hinsicht zentrale Moment von Abenteuer- und Kolonialerzählungen - die von Klaus Scherpe als First-Concact-Szene analysierte „Szene der ersten Berührung mit der fremden Kultur“ 577 - persifliert Eingang findet. Als die Reisende auf der Zugfahrt von Maribor nach Zagreb mit einem Ehepaar in kurzen Kontakt kommt, „[...] verstehen, nicken und lächeln [sie] [ihr, D.F.] jedenfalls zu. Kontaktaufnahme mit den Eingeborenen gelungen, auch wenn es erst mal Kroaten sind.“ (SG 13) Und als sie Dario, den sie kurz nach Jajce begleitet, kennen lernt, heißt es: „Ich starre Dario an wie einen Außerirdischen. Mein erster Bosnier, mein erster echter Bosnier. Er sieht gut aus.“ (SG 22) Es bleibt dem Leser/ der Leserin überlassen, solche Passagen wörtlich und affirmativ zu nehmen, oder vielmehr mit ironischem Hintersinn zu versehen und darüber aufzulösen, somit aber auch die Figur mit jenem Wissen auszustatten, das ihr der Text doch bislang abzusprechen sucht. Einen unverzichtbaren Bestandteil der traditionellen Reiseliteraturschreibung stellen Landschaftsbeschreibungen dar; und wie ungeplant und arbiträr der gesamte Reiseverlauf auch anmutet, ist es wohl kein Zufall, dass die Erzählerin die bosnische Landschaft ausgerechnet in Afrika verortet. 578 Abgegriffene Bilder werden weitgehend vermieden, um mit forschem Sarkasmus und, wie bereits in Adler und Engel, überraschenden Metaphern - „Soll- Bruchstellen“ 579 - das spontan Erblickte in, wie die NZZ-Rezensentin Ilma Rakusa schrieb, „Poesie ohne Pathos“ zu überführen. 580 Der dominanten Form der fragmentarischen Kurzskizze, die in der Beschreibung der geschau- 577 Scherpe, Klaus: Die First-Contact-Scene, in: Neumann Gerhard/ Weigel, Sigrid (Hgg.): Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaft zwischen Kulturtechnik und Ethnographie, München: Wilhelm Fink 2000, 149-164. 578 Vgl. SG 107 u. 112. Der Vergleich ließe sich auch als intertextuelle Anspielung auf Hans-Magnus Enzensbergers Text „Bosnien, Uganda. Eine afrikanische Ansichtskarte“ lesen, der in der 1992 von der taz lancierten, u.a. auch dem Wiener Standard übernommenen Serie „Europa im Krieg“ erstveröffentlicht wurde und im Suhrkamp- Sammelband Europa im Krieg. Die Debatte über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien (1992: 85-90) nachzulesen ist. 579 Vgl. Zeh (2008b: 45): „Wenn man diese Diskrepanz (zwischen Sprache und Wirklichkeit, D.F.) akzeptiert, dann ist eine Metapher, die nicht trifft, sogar das ehrlichere Statement.“ 580 Rakusa, Ilma: Ein Augenschein im versehrten Land. Juli Zeh reist nach Bosnien und schildert ihre Eindrücke, in: Neue Zürcher Zeitung v. 17.9.2002. <?page no="199"?> 3.2 Nach den Kriegen 199 ten Landschaften und Dinge dominiert, entspricht auf visueller Ebene das Verfahren des Schnappschusses, und auf narratologischer die Unmöglichkeit bzw. Inadäquanz geschlossener Bögen. In den Passagen zu Srebrenica wird diese Inadäquanz als erzählerische Verweigerung zugespitzt, und dabei der Fokus vom ‚Wie‘ der Darstellung auf das ‚Was‘ gelenkt, das jedoch lediglich in seiner Negation besteht: „Es gibt nichts zu sehen und davon reichlich. Kaum Autos. Keine Geschäfte, keine Parks, keine Cafés. Keine Häuserfronten.“ (SG 233) Eine Stätte der Leblosen, des Nicht-Mehr, Stätte der wortlosen Geschichten: einzelne Blickkontakte mit den Bewohner/ innen, die doch nicht in Begegnungen überführt werden, einzelne visuelle, akustische oder olfaktorische Wahrnehmungen, die außer der Unmöglichkeit, nicht wahrzunehmen, nichts weiter signifizieren. 581 Die Symbolisierung muss misslingen, aus dem ,Fort‘ wird kein ‚Da‘. 582 Was freilich zu erzählen verweigert wird, dies erschließt sich für den Leser/ die Leserin ohne Kenntnisse des Massakers sowie der ,Lebens‘bedingungen in der ,Enklave‘ - oder, mit Emir Suljagić, „Kessel, Ende der Welt, Blinddarm“ 583 - nicht. Als durchgängiges Verfahren Zehs sticht das Erzählen der Landschaft via akustischer Motivik ins Auge, oder besser: ins Gehör. Der Signifikant ‚Stille‘, der schließlich auch Eingang in den Titel des Buches gefunden hat, durchzieht den Text in ganz unterschiedlichen Bedeutungen: als Herzschlag (SG 119), Wind (SG 147) oder als die eigene Stimme beim Denken (SG 220). Die Reisende erlebt Bosnien-Herzegowina darüber hinaus jedoch auch schmeckend, riechend und tastend: „Ich bin auf Stand-by, ich sehe alles und nichts. Die Geräusche werden zu Dröhnen und Rauschen, und die Gerüche, welche mich anfallen von allen Seiten, vermischen sich zu Gestank.“ (SG 44) Diese gesamtkörperliche Wahrnehmung, die Literatur zu einem „Element im Spiel des Materiell-Leiblichen“ 584 macht, lässt sich als Kritik an der Tradition der westlichen Zivilisation, Wirklichkeit primär visuell zu konstituieren, lesen. Darüber hinaus verweist sie, ein weiteres Mal, auf eine Distanzierung von einer eurozentrischen Pose der Vereinnahmung. Erkenntnis jenseits projektiver Verkennung bedingt, so kann Zeh gedeutet werden, einen mehrdimen- 581 Im Gegensatz dazu schreibt Katja Thomas ‚Srebrenica‘ in Zehs Text eine „poetische Funktion“ zu, vgl. Thomas, Katja: Poetik des Zerstörten. Zum Zusammenspiel von Text und Wahrnehmung bei Peter Handke und Juli Zeh, Saarbrücken: VDM Verlag Dr. Müller 2007, 110. 582 Freud beobachtete ein eineinhalbjähriges Kind, welches, von seiner Mutter stundenweise alleine gelassen, deren Abwesenheit und Anwesenheit mittels eines Spiels mit einer Holzspule symbolisierte und somit den Verzicht auf Triebbefriedigung kompensierte. Das Wegwerfen der Holzspule wurde von einem langgezogenen o-Laut (‚Fort‘), das Wiederfinden mit einem ‚Da‘ begleitet. Vgl. Freud, Sigmund: Jenseits des Lustprinzips, in: ders.: Gesammelte Werke. Band XIII, Frankfurt/ Main: S. Fischer 1976 6 , 1-69, 11ff. 583 Suljagić (3009: 27). 584 Vgl. Neumann, Gerhard/ Weigel, Sigrid: Einleitung, in: dies. (2000: 9-16, 15). <?page no="200"?> 3. Textarbeit 200 sionalen sinnlich-rezeptiven Ansatz von Wahrnehmung. Ein anderer Leser/ eine andere Leserin wiederum mag dies als rein pragmatisches Gebot der Reisenden interpretieren: angesichts ihrer fehlenden Sprachkenntnissen der Landessprache sei sie gezwungen, für die kognitive Informationsverarbeitung auch auf Gerüche, Geräusche etc. zurückzugreifen. Tatsächlich ist die Reisende ohne BKS-Kenntnisse - sollen die Kommunikationsversuche über Smalltalk mit phatischem Feedback hinausgehen - auf Bosnier/ innen, die Deutsch oder Englisch sprechen, angewiesen. 585 Die bosnischen Stimmen, die in Zehs Text meist als Zufallsbekanntschaften eingeführt werden, unterliegen somit einem vorauseilenden Ausschließungsverfahren; fast alle haben schließlich in Deutschland gelebt oder arbeiten für internationale Organisationen. Um über den Krieg und seine Ursachen zu erfahren, ist die Reisende, die jegliche Situation des Ausfragens vermeidet, außerdem auf das Mitteilungsbedürfnis und die Gesprächsbereitschaft des/ der jeweiligen Gesprächpartners/ -partnerin angewiesen. Dass Stimmen unaufgefordert zu Wort kommen, bleibt die Ausnahme. Selbst dazu angehalten, ihre Fragen auszuformulieren, wird sich die Reisende mitunter bestimmter Vorannahmen betreffend des Krieges, seiner Ursachen und seiner Folgen bewusst: 586 „Und die Menschen? “ „Was für Menschen? Ja. Eben, irgendwie. Ich beiße die Zähne zusammen. „Hast du ein Problem mit, sagen wir, zum Beispiel Serben? “ (SG 31) Auf unübersehbare Weise nimmt das Spiel mit Wahrnehmungsmodi und verschiebungen, wie es Katja Thomas überzeugend in ihrer Studie aufzeigt, 587 einen zentralen Platz in Zehs Text ein; auch hierzu lassen sich einmal mehr Fachwissen - nämlich die Prämissen aus den konstruktivistischen und systemtheoretischen Erkenntnistheorien - herausbzw. hineinlesen. Sowohl in Sarajevo als auch in Mostar äußert die Erzählerin ihre Überraschung über die von ihrer beobachtenden Position unabhängige Existenz der jeweiligen Stadt - allesamt Passagen, die in ihrer Überspitztheit immer wieder auf den Prozess der Wahrnehmung als eines Konstruktionsvorganges verweisen. Verdichtet in eine Parabel, in der die Erzählerin fünf Menschen mit verbundenen Augen 585 Dieses Kommunikationsproblem wird mit der für die Autorin typischen Flapsigkeit thematisiert und in Angriff genommen: „Schnell beschließe ich die Entstehung einer neuen Sprache: Das Endepol. Es besteht aus zehn englischen, hundert deutschen und einer Menge polnischer Wörter und kommt fast ohne Grammatik aus. Es gibt nur eine Zeit, die Gegenwart, und keine Personen.“ (SG 19) 586 Vgl. dazu auch ihre Reaktion angesichts des Zagreber Stadtbildes: „[...] und bin verwirrt. Ich hatte mir Zagreb wohl als einen Bombenkrater vorgestellt, an dessen Rand in Lumpen gehüllte Flüchtlinge sitzen“ (SG 13). Oder aber, noch in Deutschland: „Im Badezimmer schneide ich den Pony meiner Topffrisur extra kurz, auf Vorrat. Als ob man sich dort die Haare nicht schneiden könnte.“ (SG 11) Andere Passagen, die bestimmte Vorannahmen aufrufen, werden durch den Einsatz von Ironie aufgelöst. 587 Vgl. Thomas (2007). <?page no="201"?> 3.2 Nach den Kriegen 201 an unterschiedlichen Stellen in Sarajevo als „blinde Kühe“ (SG 221) platziert, wird diese Überzeugung, dass die Interpretation der Wirklichkeit stets dem eigenen selektiven Standpunkt unterworfen ist, am Ende des Buches anschaulich vorgeführt. Vier von den fünfen wähnen sich nach Abnahme der Augenbinde in Istanbul, Budapest, Warschau, der Sächsischen Schweiz. Bloß jener, der an den Rand der Sniper Alley gestellt wurde, erkennt Sarajevo: „Er, der Fünfte, als einziger, er sagt leise: Ach herrje, ich bin in Sarajevo.“ (SG 223) Dem konstruktivistischen Paradigma, das sich dem Text unterlegen lässt, sind schließlich auch die medienkritischen Passagen, die die Auseinandersetzung mit Blickmodi und Wahrnehmungspositionen begleiten, geschuldet: Bereits zu Beginn des Textes wurde dem Hund und Reisebegleiter das Reisevorhaben folgendermaßen dargelegt: „Vor etwa acht Jahren, als du noch klein warst, fragte mein Bruder einmal, wo die Städte Moslemenklavebihac und Belagertessarajevo liegen. [...] Ich will sehen, ob Bosnien-Herzegowina ein Ort ist, an den man fahren kann, oder ob es zusammen mit der Kriegsberichterstattung vom Erdboden verschwunden ist.“ (SG 11) Diese der Reise vorausgeschickte Entschluss macht auf mehrerlei Erklärung aufmerksam: 1) auf den Trugschluss, dass das, was medial nicht präsent ist, gar nicht existiere, und dieser sich auf das Diktat der Aktualität, dem sämtliche politische Ereignisse als mediale Produkte unterworfen sind, zurückführen lässt; 2) auf jene die Wirklichkeit konstituierende Kraft, die Mental Maps zukommt. Die im Falle des Bosnien-Krieges dominante mentale Landkarte, so suggeriert der Text zu Recht, ist eine massenmedial vermittelte, welche die Raumvorstellungen unweigerlich mit Bildern vom Krieg amalgieren lässt, Bildern, die ihrerseits bestimmten binären Opfer-Täter-Narrativen entsprechen - kurzum mit all jenem, was der Text zu unterlassen sucht, der Reisenden indes nicht immer gelingt: Dass dieses ‚Scheitern‘ eben auch eingestanden oder ironisch aufgelöst wird, nimmt den Lesenden/ die Lesende für Zeh ein. Wo jedoch dieses Eingeständnis ausbleibt, bleibt der Text mitunter in seiner Flapsigkeit banal. In Sarajevo, dem „Setzkasten europäischer Erinnerungsstücke“, als „[es] ploppt macht [...], die Wirklichkeit andockt an den Begriffen“, kürzen sich für die Erzählerin sämtliche Gegensätze, die sie mit „Moslems und Christen, Kathedrale und Synagoge, Westen und Osten, Verwahrlosung und Eleganz“ (SG 67) schließlich doch wieder in Gegensatzpaaren etikettiert, weg, so dass für sie - und ihre Lesenden - unter dem Strich nichts übrig bleibt. „Anschauungen ohne Begriffe sind blind“, 588 hat bekanntlich Immanuel Kant festgestellt; was schließlich sind sie, wenn sie, wie im vorliegenden Falle bei Zeh, mit Begriffshülsen versehen werden? 588 Der vollständige Satz lautet: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ [Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Hg. v. Ingeborg Heidemann, Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1998, 120 (B75, A51).] <?page no="202"?> 3. Textarbeit 202 Der unmittelbar darauf erfolgende Entschluss, „System in die Sache [zu] bringen“ (SG 64) und Wahrnehmen und Erleben einem Fragen-Filter zu unterziehen, könnte angesichts der oben geschilderten ‚Banalität der Beobachtung‘ nicht besser motiviert sein. Dabei handelt es sich um Fragen, die einer ‚anderen‘ Taxonomie als einer ‚herkömmlichen‘, intersubjektiv nachvollziehbaren entsprechen mögen, die einmal mehr die Naivität und Unfokussiertheit der Reisenden inszenieren, freilich aber auch als ‚anderer‘ Ordnungsentwurf im Gefolge von Borges und Foucault 589 gedeutet werden können: „Wo wachsen die Melonen. Wie grün ist der Neretva-Fuss. Warum war hier Krieg. Wer hasst wen und wie sehr.“ (SG 67) „Warum gibt es keinen McDonald's? “ (SG 70) Das vorgeblich auf Akzidenz und Äquivalenz beruhende Fragenpaket erlaubt der Reisenden fortan ein gleichermaßen begründetes wie grundloses Fragen. Und wenngleich es am Ende des Buches heißt, dass keine der Fragen beantwortet worden sei, erscheinen in Sachen Frage drei doch manche Gründe weniger abwegig als andere, und hat sich Frage vier als gewissermaßen gegenstandslos erwiesen: Während eines Besuches des außerhalb Sarajevos liegenden Lagers Rajlovac, dem damaligen Hauptquartier der deutschen SFOR-Kontingente, bringt die Reisende in der Diskussion mit dem französischen Presse-Offizier Pescaran, dem deutschen Kompaniechef und seinem Oberleutnant die mit der Rückkehr vertriebener Familien einhergehenden Probleme und Phänomene mit Hass in Verbindung, woraufhin der Kompaniechef diesem als einem Konflikte schürenden Moment eine Absage erteilt: „,Von Hass war nie Rede‘, sagt der Kompaniechef, ‚sondern von Angst.‘“ (SG 105) Dass es diese Angst gäbe, und nicht, ob berechtigter- oder unberechtigterweise, sei entscheidend für das Tun der Soldaten. Im Gespräch mit Caroline, die für die UNO in der Republika Srpska arbeitet, wird der Versuch unternommen, die jugoslawischen Parameter auf deutsche umzulegen, womit der Krieg (im ehemaligen Jugoslawien) in seinem hegemonialen, nicht ethnischen Charakter plastisch aufgezeigt wird. En passant nimmt Zeh außerdem den deutschen Föderalismus aufs Korn, oder spielt auf die im Vergleich mit Frankreich und England verspätete Nationalstaatsbildung der Deutschen und deren Besonderheiten - die integrative Kraft des Reichsmythos zur Kompensation politischer Defizite - an: 590 Besonderheiten, die, wie Buden aufgezeigt hat, unerträgliche Gemeinsamkeiten mit insbesondere Serbien bilden. „Ich bin am Rhein geboren“, sage ich, „und lebe in Sachsen. Meine Eltern sind Schwaben, die Mutter wohnt in Bonn, der Vater in Berlin, während mein 589 Michel Foucault ließ sich für Die Ordnung der Dinge von der erstaunlichen Taximonie einer „‚gewisse[n] chinesische[n] Enzyklooädie“, wie sie in einem Text von Borges zitiert wird, inspirieren. Vgl. Foucault (1974: 17). 590 Vgl. Münkler, Herfried: Reich, Nation, Europa. Modelle politischer Ordnung, Weinheim: Beltz Athenäum 1996, 30f. <?page no="203"?> 3.2 Nach den Kriegen 203 Bruder in München arbeitet und bald nach London zieht.“ […] / „Wenn die Bayern mit Hilfe der Schwaben gegen Sachsen und Berliner um die Grenze zu streiten beginnen, auf welcher Seite soll ich kämpfen? “ […] / „Mein Bruder wird als Rheinländer aus Bayern vertrieben“, sage ich, „und kommt bei mir unter. Wir schließen uns einer Sächsich-Berlinerischen Konföderation an, bis bekannt wird, dass im Hintergrund auf höchster Ebene zwischen Sachsen und Bayern von Beginn an über die Aufteilung Baden-Württembergs verhandelt wurde.“ […] / „So undurchsichtig die Lage“, sage ich, „so wenig verwurzelt der Hass.“ / Sie stellt das Radio an. Jazz. Wir nicken im Takt. / „Du spinnst“, sagt sie, „aber du hast recht.“ (SG 212) Noch in Zagreb, auf Kurzbesuch beim Freund eines Freundes, wird der Reisenden und dem Leser/ der Leserin ein erstes Erklärungsmodell für den Krieg unterbreitet: „Mile hat noch gesagt, dass dieser Krieg, den wir im Westen alle nicht begriffen haben, ein Krieg der Bauern gegen die Städter war.“ (SG 15f.) Beiläufig und unkommentiert angeführt, kommt doch auch die nächste Reisebekanntschaft, Dario, ungefragt darauf zurück (vgl. SG 31). Dario ist jener junge Mann aus Jajce, der die Völkerhass-These als von außen - insbesondere von Deutschen bzw. Deutschland - umgestülpte Fehlinterpretation in Frage stellt. Ganz im Gegensatz dazu die nächste Stimme, die in der Reiseerzählung zu Wort kommt: Amelie, eine deutsche Landsfrau und ehemalige Studienkollegin der Reisenden, die für das OHR (Office of the High Representative) in Sarajevo arbeitet und den als Friedensregelung auf der Basis ethnischer Kategorien insbesondere innerhalb der deutschen Linken abgelehnten Dayton- Vertrag als Beendigung der „Schlachtfeste“ (SG 81) verteidigt. 591 In der Diskussion mit Amelie, die an der Erklärung eines ethnischen Krieges festhält, weder die Vertauschung von Ursache und Wirkung in Erwägung zieht noch die Entwicklungen in der Konfliktsemantik, gibt es am Ende keine Gewinnerin und keine Einigung. Die wortkarge Diskussion zwischen der vermeintlichen Expertin und der vorgeblichen Nicht-Expertin geht in einen unentschiedenen Zwischenstand, schließlich in ein langes Schweigen über. Kein letztes Wort der Erzählerin folgt darauf, mit Unfertigem und Unausgesprochenem wird der Leser/ die Leserin konfrontiert. Auch jener junge Mann, der die Reisende bei ihrem zweiten Aufenthalt in Mostar durch die Stadt führt, glaubt nicht an ethnische Spannungen als Kriegsmotiv, sondern verweist nach Mile und Dario ein weiteres Mal auf die Gegensätze zwischen städtischer und ländlicher Bevölkerung und der daraus entwachsenden Konfliktpotentiale (vgl. SG 152f.). Die aus Deutschland kommende Caroline wiederum betont die Notwendigkeit, die ethnische Brille abzusetzen, um oft ganz banale Beweggründe für Konfliktsituationen ins Blickfeld zu bekommen (vgl. SG 203). Die letzte Stimme, die die Erzählerin sprechen lässt, ist die des Direktors des legendären X-Cafés in Travnik: 591 Vgl. zu den Schnittmengen zwischen Links und Rechts in Bezug auf das Unbehagen am Vertrag von Dayton die Pro-Argumentation von: Heinrich (1996: 40). <?page no="204"?> 3. Textarbeit 204 „,Wenn alle gekifft hätten, anstatt zu saufen‘, sagt der Direktor, ‚hätte es diesen Krieg nicht gegeben.‘“ (SG 243) Die Strategie, die Zeh verfolgt, ist auf zwei verschiedenen Gleisen festzumachen. Zum einen lässt die Erzählerin Vertreter/ innen unterschiedlicher Nationalitäten - Kroaten, Bosnier, Serben (tatsächlich ausschließlich Männer) und Deutsche - zu Wort kommen und das Erklärungsmodell eines jeden einzelnen als partikular geltend stehen. Die Überlegung, dass diese Stimmen einem von der Erzählerin nicht weiter zur Sprache gebrachten Selektionsprozess unterworfen waren, dass weiters die als gefunden vorgestellten durchaus auch erfunden sein können, ist nicht auszuschließen, doch in heuristischer Hinsicht nicht weiter urbar zu machen. Festgehalten werden kann zum einen, dass ein Gestus dominiert, der sich auf die Suche nicht nach der einen Wahrheit, sondern nach den verschiedenen kleinen, lokalen und gegebenenfalls auch miteinander konkurrierenden Erzählungen im Lyotardschen Sinne macht, dominiert. 592 Zum anderen wird in jenen Momenten, da die Erzählerin über das Gehörte und Erfahrene reflektiert, sowie jenen, da die Protagonistin ihre Argumente an einer Gegenspieler-Figur erprobt, deutlich, dass die Widerlegung des ethnischen Kriegerklärungsnarrativs ein besonderes Anliegen des Textes ist. Diese antagonistische Figur (er)findet Juli Zeh in einer amerikanischen Journalistin, die ihre Figur an verschiedenen Plätzen und Städten immer wieder zufällig trifft. Diese Vertreterin der international crowd, der jegliche Kenntnisse der landestypischen Gepflogenheiten abgesprochen werden, fungiert auf markante Weise außerdem als Zielscheibe der Medienkritik. Als sich die beiden ein viertes Mal über den Weg laufen, kommt es zum unvermeidlichen Streitgespräch, in dem die Reisende ihre radikalen Zweifel an der Existenz eines „ethnisches Hass[es] vor dem Krieg“ (SG 143) äußert und diese Erklärung als eine Erfindung der beobachtenden Außenperspektive, als ein für das Sprechen und Handeln der politischen und medialen Akteure notwendiges Konstrukt zurückweist: „Für jede Einmischung in einen Konflikt“, sage ich, „braucht man mindestens zwei identifizierbare Parteien. Egal, ob man verhandeln will oder Bomben werfen. Wenn es keine gibt, definiert man sie eben, zum Beispiel über Figuren, die sich ihre Anführer nennen. Wem wollen Sie sonst ein Ultimatum stellen oder Hilfsgüter liefern? Allen gemeinsam? “ (SG 143) Auf der Kommentarebene zur direkten Rede wiederum wird diese Aussage insofern relativiert, als die Erzählerin ihren in der Rhetorik der Konfliktsemantik geschulten Vorstoß als Reaktion auf die besondere Kommunikationssituation erklärt: „Noch eine halbe Minute Gelächter und ich hätte behauptet, Serben, Moslems und Kroaten seien eine Erfindung Westeuropas.“ Die 592 Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Aus. d. Franz. v. Otto Pfersmann. Hg. v. Peter Engelmann, Graz u.a.: Böhlau 1986 (Edition Passagen 7). <?page no="205"?> 3.2 Nach den Kriegen 205 „Schublade“, in die die Journalistin gesteckt werden soll, ist die des „Balkanhelden“ (SG 143). Später, auf dem Weg nach Tuzla, kommt sie ausführlich auf diesen Balkanhelden zu sprechen, auf dessen Missverhältnis zwischen Erwartung und Erfahrung. Vor seiner Reise war er aufgeregt. Er hat mit Freunden darüber gesprochen, das Wort‚ ,Expedition‘ verwendet und oft ‚Mal sehen! ‘ gesagt. Angekommen, stellt der Balkanheld fest, dass alles, was ihm bei Nacht um die Ohren fliegt, Mücken und Fledermäuse sind, keineswegs aber Kugeln aus Schnellfeuergewehren. Er merkt, dass die Region sich durch eine merkwürdige Kombination aus Gastfreundschaft und Verschlossenheit auszeichnet und die Möglichkeiten zu sterben geringer sind als am Rheinufer in Köln. [...] Der Balkanheld recherchiert eine Reportage über die Kinder von Tuzla. Es geht zu leicht. Deshalb setzt er die Balkanbrille auf, durch die alles größer, ärmer und grusliger erscheint. Später erzählt er Geschichten. [...] Er macht Andeutungen und ergänzt: Das muss man mit eigenen Augen gesehen haben. Mir könnte es egal sein. Wenn der Balkanheld seine Geschichten nicht an die Presse verkaufen würde. (SG 227f.) Im Unterschied zu den beiden Reisetexten Handkes, die allesamt durch eine emphatische Würdigung der Augenzeugenschaft verbunden sind, dabei die Möglichkeit, dass auch Augenzeugen nicht vor dem Irrtum gefeit sind, nicht reflektieren, mischt sich bei Zeh Kritik an der blinden Zusammenführung von Augenzeugenschaft, Wirklichkeit und Wahrheit. „Am Ort des Verbrechens zu stehen“, so die Erkenntnis der Erzählerin, „ändert nichts.“ (SG 158). Einzig einen Berg, der ihren Blick erwidert, lässt sie am Ende ihrer Aufzeichnungen in ironischer Verkehrung der Fetischisierung dieser vermeintlichen Wahrheits-Garantie als Augenzeuge gelten. 593 Mit der Figur der Journalistin - Sprachrohr der Spezies ,Augenzeuge‘ - unterstreicht Zeh einmal mehr, dass jedes Verstehen weniger vom Objekt, sondern vielmehr vom/ von der Verstehenden selbst abhängt. Problematisch wird es dann, so kann Zehs Text paraphrasiert werden, wenn dieses per se subjektive Wahrnehmen, Interpretieren und Bedeutungszuweisen als objektive Berichterstattung auftritt, Anspruch auf Allgemeingültigkeit einklagt - und von einer breiten Öffentlichkeit auch erhält. Ebenso ambivalent ist aber auch Zehs Zeichnung der Figur, die von der Erzählerin stets anhand deren Physiognomie angeführt, als „dick für drei“, „Dicke“ (SG 50) oder „dicke[...] Journalistin“ (SG 76) beschrieben wird. Die Ergänzung, dass die Ursache dieser Fettleibigkeit - einem typischen Stereotyp für die Amerikaner/ innen entsprechend - maßloser Fastfood-Konsum sei, wird dem Leser/ der Leserin überlassen. Auch die Schilderung des feinfühligen und kultivierten Franzosen Monsieur Pescaran, dem in Mostar stationierten Presseoffizier der SFOR, bleibt reichlich eindimensional und dabei 593 „Als ich einen Moment den Kopf hebe, um den höchsten Berg am anderen Ufer anzuschauen, schaut der mit ironischem Ausdruck zurück. Ein Augenzeuge.“ (SG 260) <?page no="206"?> 3. Textarbeit 206 den traditionellen nationalen Stereotypen verhaftet. Die Lebendigkeit der ‚internationalen‘ Figuren leidet darunter; darüber hinaus gibt deren Handhabung Anlass zu der Vermutung, dass der Text nicht nur auf dem Vorsatz des Nicht-Exotisierens, sondern zudem auf einer in literarischen Belangen doch völlig deplatzierten ,positiven Diskriminierung‘ zu basieren scheint. Dagegen wiederum spricht die undifferenzierte Schilderung der männlichen Gäste der Unterkunft in Sarajevo - „viele türkische Männer“ -, welche angesichts der damit einhergehenden Verortung „am Rand des türkischen Viertels“ (SG 65) außerdem die irreführende Vorstellung erweckt, die Altstadt Sarajevos (das so genannte türkische Viertel) werde von Türk/ innen bewohnt. Ausgehend von diesen Beobachtungen lassen sich folgende abschließende Fragen und Überlegungen stellen: Entspricht womöglich Zehs vorsätzliche Vermeidung von Stereotypen insbesondere in ethnischer oder religiöser Hinsicht, die ihre Behandlung der aus der Region des ehemaligen Jugoslawiens kommenden Figuren auszeichnet, nichts anderem als einem Balkanismus mit umgekehrten Vorzeichen, der zwar die Trennungslinien nicht innerhalb des ehemaligen Jugoslawiens zieht, doch auf einer nach wie vor binären Matrix basiert? Der Gestus der Unvoreingenommenheit und der Unwissenheit wiederum kann auf die guten ‚Vorsätze‘ - die Vorsätze, bestimmte Strategien, den oder die Andere/ n zu erzeugen und in einer exotischen Andersheit festzuschreiben, zu vermeiden, sowie problematische Traditionslinien des Genres und bestimmte Balkanbilder zu unterlaufen oder zu überwinden - zurückgeführt werden. Die dahinter stehende Intention wie weiters der Umstand, dass Wahrnehmung und Repräsentation Bosnien-Herzegowinas nicht den innerpolitischen Prämissen Deutschlands unterliegt, verdienen sicherlich würdigende Beachtung. Mit dem Bemühen, keine Opfer-Täter-Narrative voranzutreiben und dem damit einhergehenden Verzicht auf Schuldzuweisungen kann der Text aber auch als Desavouierung der Opfer verstanden und kritisiert werden - womit er nolens volens auch als Etüde über die besondere Herausforderung, ‚politisch korrekte‘ Literatur zu schreiben, lesbar wird. Wie aber kann das vorletzte Kapitel mit dem Titel „Das letzte Negerlein“ über einen streunenden Hundewelpen, den die Reisende in den Straßen Bihacs aufliest und auf der Heimreise auch als das anführt, wofür er symbolisch steht: „Flüchtling“ (SG 263), anders ausgelegt werden, als dass, zu guter Letzt, die Reisende - und auch die Autorin? - nicht doch einer Haltung der Bevormundung und Wohltäterschaft aufsitzt? Ob aus Kalkül oder aus Unbedarftheit - dem Leser/ der Leserin ist es überlassen, dies zu entscheiden. <?page no="207"?> 3.2 Nach den Kriegen 207 3.2.1.2 Norbert Gstrein Innerhalb des Texkorpus meiner long list könnte den über Bosnien- Herzegowina schreibenden, aus Deutschland kommenden oder dort lebenden Autor/ innen Bachér, Zeh und Stanišić auf österreichischer Seite lediglich Walter Grond entgegengesetzt werden: mithin lassen sich die von Clemens Ruthner angeführten „Nachwirkungen des Vorstellungskomplexes vom ‚österreichischen Orient auf dem Balkan‘“, 594 zumindest mit Blick auf den Niederschlag der Jugoslawien-Kriege, nicht länger belegen. Welche Rolle aber nehmen Kroatien und ‚kroatische Figuren‘ in der deutschsprachigen Literatur im 20. und 21. Jahrhundert ein? Mit Ulrich Dronske ist festzuhalten, dass deren Repräsentation an bestimmte historische Konfigurationen und ideologische Muster, ob bei Ernst Jünger, Heimito von Doderer oder Peter Handke, gebunden ist, und eine pejorative Charakterisierung aufweist, die bereits auf Schillers Wallenstein zurückgeht. Plündernd, katholisch und ein wenig beschränkt, so legt Schiller die Kroaten in Wallensteins Truppen an. 595 Im Kontext der literarischen Auseinandersetzung mit dem Jugoslawien-Krieg wurden Kroatien und die kroatische Geschichte erst mit den Werken des 1961 in Tirol geborenen und in Hamburg lebenden Autors Norbert Gstrein zum literarischen Sujet: 2003 erschien sein Roman Das Handwerk des Tötens, der eine Perpetuierung von (ethnischen) Stereotypen ostentativ unterläuft und - wie bereits Handke mit seiner Winterlichen Reise - ein Reflektieren von 594 Ruthner, Clemens: De- & Recoding Konjic(a). Eine herzegowinische Stadt als Modellfall kulturwissenschaftlicher Imagologie, in: Müller-Funk/ Bobinac (2008: 107-124, 108). - Dass Bosnien-Herzegowina erst nach der Okkupation und Annexion (1908) von Österreich-Ungarn in der österreichischen Literatur thematisiert wurde, belegt die bedeutsame Rolle des außerliterarischen Entstehungskontextes. Den geopolitischen Entwicklungen gemäß nimmt in quantitativer Hinsicht bereits nach dem Ende des Ersten Weltkrieges der Niederschlag Bosnien-Herzegwowinas wie insgesamt des südslawischen Raums und der Südslaw/ innen in der österreichischen Literatur ab bzw. verändert sich die Funktion der Region und ihrer Menschen. Aus der Perspektive des „habsburgischen Mythos“ (Claudio Magris) fungieren sie als Spielfelder und -figuren eines Verklärungsprozesses der Donau-Monarchie. Unbestritten bleibt, dass die Aufnahme und die Verarbeitung von bosnischen Orten und Figuren, wie sie Autoren wie Jospeh Roth (Radetzkymarsch, 1932) und Heimito von Doderer (Strudlhofstiege, 1951) auch lange nach dem Ende der k.u.k. Monarchie vornehmen, vor dem Hintergrund der österreichisch-ungarischen Verwaltung und Annexion des Landes zu lesen sind. Vgl. dazu auch: Reichmann, Eva: Die Rolle der Südslawen in der österreichischen Literatur, in: Angelova/ Veichtlbauer (1998: 195-211). 595 Vgl. Dronske, Ulrich: Kroaten in der deutschen Literatur, in: Neohelicon XXXII (2005), H. 2, 425-441, 425. <?page no="208"?> 3. Textarbeit 208 Medien-Differenzen einfordert. 596 Breit und größtenteils sehr positiv besprochen, löste Gstreins Roman eine Kontroverse aufgrund seiner paratextuellen Widmung aus: „zur Erinnerung an / Gabriel Grüner / (1963-1999) / über dessen Leben und dessen Tod / ich zu wenig weiß / als daß ich davon erzählen könnte“ (HT, o.S.). Im Unterschied zu jener rund um Handkes Winterliche Reise ansetzenden Polemik stand nun zweierlei im Vordergrund: die Frage, ob es sich um einen Schlüsselroman handelt, sowie die Anklage, Gstrein habe die Lebensgeschichte des Stern-Reporters Grüners, dem er beim Studium in Innsbruck begegnet war, verfälscht wiedergegeben. Tatsächlich wirft Das Handwerk des Tötens auf offensive Weise die Frage nach der Konstruiertheit jeglicher Wirklichkeit und Erinnerung auf. In der ausgelösten Debatte dagegen wurde die Frage nach der Verarbeitung von Fakten in Fiktion auf biographische Vektoren verkürzt. - Gabriel Grüner, das sei hier noch ergänzt, war jener Reporter, der Zlata Filipovićs Kriegstagebuch Ich bin ein Mädchen aus Sarajevo dokumentiert hatte. 597 1994 erschien die Publikation der damals 14- Jährigen in deutscher Übersetzung: von den Medien als ,Anne Frank von Sarajevo‘ versehen, verkaufte sich ihr Band im deutschsprachigen Raum mit einer bisherigen Gesamtauflage von 250.000 Exemplaren. 598 Was das Tagebuch der Filipović paradigmatisch zeigt: Um im überregionalen kommunikativen Gedächtnis fortbestehen zu können, sind Verfahren, Leiden intersubjektiv nachvollziehbar zu machen, sowie die Anschlussfähigkeit von Narrationen an das ,eigene‘ kulturelle Wissen unbedingte Voraussetzung. Auf die ihm „manchmal abenteuerlich anmutenden ‚Entschlüsselungen‘“ (WGG 9) entgegnete Gstrein mit einer Art ‚Nachtrag‘, dem 2004 erschienenen Essay Wem gehört eine Geschichte? Fakten, Fiktionen und ein Beweismittel gegen alle Wahrscheinlichkeiten des wirklichen Lebens, auf den ich in den nun folgenden Ausführungen zum Roman auch zu sprechen komme. Um die originäre Situation einer zeitversetzten Rezeption, wie sie sich vor dem Erscheinen des nachgeschickten Essays darstellte, bestmöglich zu simulieren, erfolgt die Einbeziehung dieses späteren Textes jedoch erst in einem zweiten Schritt. Das textnahe Leseverfahren, das auch meine Annäherung an Das Handwerk des Tötens kennzeichnet, bringt es mit sich, dass Deskription und 596 Vgl. zur Medien-Differenz zwischen literarischem und journalistischem Schreiben mit Bezug auf Gstreins Roman: Wende, Waltraud ‚Wara‘: Als erstes stirbt immer die Wahrheit: Fakten und Fiktionen im intermedialen Diskurs. Norbert Gstreins Roman Das Handwerk des Tötens, in: Koch/ Vogel (2007: 169-183, 172). 597 Vgl. http: / / www.tagesspiegel.de/ zeitung/ leben-hinter-glas/ 407274.html, 31.1.2013. Ein von Grüner mit Peter Handke geführtes und im Stern vom 1.3.1996 abgedrucktes Interview („‚Vielleicht bin ich ein Gerechtigkeitsidiot.‘ Peter Handke im Gespräch mit dem Kriegsreporter Gabriel Grüner“) ist in Thomas Deichmanns Herausgeberschaft Noch einmal für Jugoslawien: Peter Handke enthalten [Deichmann (1999: 107-113)]. 598 Diese Zahlen entnehme ich der elektronischen Auskunft des Sekretariats der Verlagsleitung des Lübbe Verlags vom 23.11.2007. <?page no="209"?> 3.2 Nach den Kriegen 209 Analyse bisweilen ineinander übergehen. Auf das Close Reading von Das Handwerk des Tötens erfolgen die Ausführungen zu Gstreins im Sommer 2008 erschienenem Roman Die Winter im Süden, in dem erneut Kroatien und der Kroatien-Krieg, aber auch, mit Bezug auf das Textkorpus der vorliegenden Arbeit, neue Motive und Stränge Eingang finden. 3.2.1.2.1 Das Handwerk des Tötens Drei zentrale Ziele einer „radikal narrationskritischen Richtung der Kriegsdarstellung“ 599 lassen sich mit Susi K. Frank seit den 1960er Jahren ausmachen: das Darstellen der Nichtdarstellbarkeit; ein vom Verdacht der Mitschuld befreites Erzählen; die narrative Überführung des dem Krieg immanenten Moments der Zerstörung mittels performativer Verfahren. Gstreins Roman entspreche dabei der zweiten Möglichkeit 600 - eine Lesart, die auf den ersten Blick durch den Freitod der Figur Paul, der einen Roman über seinen im Kosovo umgekommenen Journalistenfreund Allmayer schreiben wollte, bestätigt wird: Paul kann und darf nicht weiter leben, weil seine Herangehensweise an sein eigenes Romanprojekt zunehmend einer Optik der Verwertbarkeit unterliegt. An dieser Nahtstelle ansetzend, soll die Auseinandersetzung mit der, um einen Titel von Houllebeqc zu verballhornen, ‚Ausweitung der Kriegszone‘, 601 die auch vor dem Bereich des Schreibens und der Literatur nicht haltmacht, sowie mit dem zentralen Anliegen des Romans - mit erzählerischen Mitteln die Konstruiertheit jeglicher Wirklichkeit zu vermitteln - im Zentrum meiner Lektüre stehen. 602 599 Frank S. (2009: 20). 600 Ebenda, 20f. 601 Vgl. Houllebecq, Michel: Ausweitung der Kampfzone. Roman. A. d. Franz. v. Leopold Federmair, Berlin: Wagenbach 1999. 602 Nicht alle im Roman verhandelten Themen können hier ausdifferenziert werden: Die im Roman mit Verweis auf eine Ausstellung über die Kriegsberichterstatterin und Reisejournalistin Alice Schalek insinuierte Nähe zu Karls Kraus' Drama Die letzten Tage der Menschheit steht im Fokus von Sigurd Paul Scheichls Aufsatz „Ein Echo der Letzten Tage der Menschheit in Norbert Gstreins Handwerk des Tötens“, in: Glunz, Claudia/ Pelka, Artur/ Schneider, Thomas F. (Hgg.): Information Warfare. Die Rolle der Medien (Literatur, Kunst, Photographie, Film, Fernsehen, Theater, Presse, Korrespondenz) bei der Kriegsdarstellung und -deutung, Göttingen: V & R unipress mit Universitätsverlag Osnabrück 2007 (Schriften des Erich Maria Remarque-Archivs, Krieg und Literatur XII), 467-476, 474. Im selben Sammelband ist auf S. 455-466 auch Joanna Dryndas Aufsatz „Der Schriftsteller als medialer Zaungast einer Kriegskatastrophe. Die Informationsware ‚Balkankrieg‘ in den Prosatexten von Gerhard Roth, Peter Handke und Norbert Gstrein“ enthalten. Daniel Kruzel hat in dem Aufsatz „Die Notwendigkeit des Faktischen. Über die Spuren Gabriels Grüners in Norbert Gstreins Roman Das Handwerk des Tötens“ diese Spurensuche durch den Vergleich betreffender Roman- Passagen mit Grüners Reportagen vorgenommen, um sodann die von Gstrein vorge- <?page no="210"?> 3. Textarbeit 210 Auf der Ebene der Rahmenhandlung lernt im Frühling 1999 und zu Beginn des ersten Kapitels („Das Handwerk des Tötens“) der namenlose Ich- Erzähler, freier Mitarbeiter einer Hamburger Zeitung, seinen Kollegen Paul von der Reiseredaktion kennen. Beide Journalisten verbindet - miteinander, aber auch mit dem Kriegsreporter Allmayer 603 - außer den österreichischen Eltern der „Traum, irgendwann einen Roman zu schreiben“, womit die klischeehafte Vorstellung vom Journalisten als einem „verhinderten Schriftsteller“ (HT, 16) vom Erzähler selbst in Anschlag gebracht wird. Beide Männer scheinen darüber hinaus ausgesprochene Einzelgänger zu sein und an den komplexen Ansprüchen, die sie selbst wie die Gesellschaft an das Schreiben sowie das männliche Geschlecht stellen, zu zerbrechen. Dass Paul den Erzähler zunehmend in seinen Bann ziehen kann, resultiert aus der instruktiven Projektionsfläche, die sich beide gegenseitig bieten. Weniger in den Erfahrungen und Begegnungen der verschiedenen geschilderten Reisen, sondern in dem besonderen Verhältnis der beiden, das im Wechsel von Spiegelbild- und Gegensätzlichkeit vorangetrieben wird, kann in Gstreins Text denn auch der etwaige Niederschlag der Dynamik von Identität und Alterität festgemacht werden. Paul begegnet dem Ich-Erzähler mit einer bestimmten Selbstverständlichkeit (in der auf Handlungsebene passiveren Rolle) als einem Zuhörer und klar abgegrenzten Gegenbild. Dies ändert sich, als Paul seinen Kollegen als möglichen Rivalen um seine Partnerin Helena wahrzunehmen beginnt. Die Beziehung des Ich-Erzählers zu Paul hingegen ist bereits von Anfang an ambivalenter: zur Funktion des Gegenbildes, die dem Gewinn eigener Identität dient, kommt die der spiegelbildlichen Er- und Verkennung. Zudem ist der Beziehung der beiden Männer eine gegenseitige Zweck-Mittel-Relation eingeschrieben. So wie Paul den Erzähler dazu einsetzt, mögliche Romandialoge mit ihm zu erproben und durchzuspielen, kann auch das Verhältnis des Ich-Erzählers zu Paul nicht als uneigennützig gelten. Bereits nach wenigen Treffen gesteht er dem Leser/ der Leserin, „daß ich mich nach unseren Treffen zu Hause oft hinsetzte und aufschrieb, was er erzählt hatte“ (HT 17) - dass Paul ihm dies als „Verrat“ (HT 73) auslegen könnte, stachelt ihn nur an. Mit einer anderen Kollegin - der einzigen Nebenfigur des Romans, die aus dem Umkreis des Ich-Erzählers kommt - hatte der Ich-Erzähler sich angewöhnt, ihre Gespräche in der dritten Person zu kommentieren, als wären sie Figuren nommene Fiktionalisierung darzulegen [in: Bartsch, Kurt/ Fuchs, Gerhard (Hgg.): Nobert Gstrein, Graz: Droschl 2006 (Dossier 26), 134-152]. Auf die verschiedenen Aufsätze von Alma Kalinski, Peter Braun, Goran Lovrić, Wolfgang Müller-Funk und Waltraud ‚Wara‘ Wende komme ich im Laufe des Kapitels zurück. 603 Vgl. HT 52 und HT 143. Bereits Müller-Funk weist in seinem Aufsatz zu Gstreins Roman auf das u.a. auch von Karl Heinz Bohrer (2004) formulierte Schlagwort vom „‚Kriegsgewinnler Literatur‘“ hin. [Müller-Funk, Wolfgang: Die Dummheiten des Erzählens. Anmerkungen zu Norbert Gstreins Roman Das Handwerk des Tötens und zum Kommentar Wem gehört eine Geschichte? , in: ders. (2009: 365-382, 368).] <?page no="211"?> 3.2 Nach den Kriegen 211 in einem selbst entworfenen Stück, und als solche vorhersehbar und lenkbar (vgl. HT 78). Diese verschiedenen Bekenntnisse des Ich-Erzählers, die zu seiner Vielschichtigkeit und auch Gebrochenheit beitragen, lassen sich in erzähltheoretischer Hinsicht gleichsam als Indizien für ein Erzählen verstehen, das nicht länger als ‚zuverlässig‘ oder ‚unzuverlässig‘ 604 den Normen des ‚impliziten Autors‘ 605 entspricht oder aber nicht, sondern diese vielmehr als Ethik des Erzählens transparent und zum Gegenstand der Diskussion macht. Bereits im Zentrum der Romananalyse von Wolfgang Müller-Funk steht die „Ästhetik der Ethik“, 606 die der Roman auf diese Art entfaltet. Sein Verdienst benennt Müller-Funk wie folgt: „die Paradoxie, daß Aufdeckung zugleich die unentrinnbare Abhängigkeit von dem Aufzudeckenden beinhaltet, sichtbar [zu] machen und damit der Literatur in einer multi- und intermedialen Welt eine kritische Funktion zu[zu]weisen.“ 607 Paul war aus persönlichen Gründen nach Hamburg gewechselt, um seiner neuen bzw. alten Freundin Helena nahe zu sein. Der ehemaligen Jugendliebe aus dem Tiroler Heimatdorf begegnete Paul zufällig fünfzehn Jahre später in London, wo sie „die ersten gemeinsamen Erinnerungen zusammen[zu]buchstabieren begannen“ (HT 18). Während diese drei Figuren Paul, Helena und der namenlose Ich-Erzähler im Mittelpunkt der Gegenwartshandlung des Romans stehen, 608 ist es auf Binnenebene der wenige Wochen nach der Bekanntschaft des Ich-Erzählers mit Paul im Kosovo getötete Kriegsberichterstatter Allmayer, den Paul aus seiner Tiroler Kindheit sowie vom Studium in Innsbruck kannte. Mit dieser völlig ,sinnlos‘ anmutenden Ermordung in einer Straßensperre, die, Ironie der Geschichte, nach Beginn des Einmarsches internationaler Truppen und während der Verhandlungen am Friedensvertrag erfolgt, glaubt Paul, sein Romanprojekt gefunden zu haben. Vom Ich-Erzähler, der Pauls Erzählungen wiedergibt, aber auch von Allmayers Witwe Isabella erfährt der Leser/ die Leserin über den tragischen Tod des Korrespondenten in mehreren Anläufen. Selbst hier schlägt das zentrale Motiv der ,narrativen Verwertbarkeit‘ zu Buche, wenn Isabella bei einem Treffen mit den beiden Männern ihre Version des Geschehens der letzten Stunden vor dem tödlichen Übergriff erzählt - und das beileibe nicht zum 604 Bereits der erste Satz des Romans freilich kennzeichnet den Ich-Erzähler als einen unzuverlässigen: „Ich hatte Paul für einen Schwätzer gehalten […].“ (HT 11) 605 Vgl. zu ‚zuverlässigem‘ und ‚unzuverlässsigem Erzählen‘ Kapitel VIII („Erzählen als Darstellen: Auftretende Erzähler - zuverlässsige und unzuverlässsige“), in: Booth, Wayne C.: Die Rhetorik der Erzählkunst 1. Übers. v. Alexander Polzin, Heidelberg: Quelle & Meyer 1974, 214-244. 606 Müller-Funk (2009b: 382). 607 Ebenda, 372. 608 Vgl. dazu auch Lovrić, Goran: Erzählen aus dritter Hand in Norbert Gstreins Das Handwerk des Tötens, in: Bobinac/ Müller-Funk (2008: 217-230, 221). <?page no="212"?> 3. Textarbeit 212 ersten Mal: „als hätte sie es schon oft erzäht und die Situation von Mal zu Mal mit mehr Details ausgeschmückt.“ (HT 225) Während für die Protagonistin Isabella der genaue Hergang des tödlichen Übergriffes und Allmayers letzte Minuten unvollständig und mithin unerzählbar bleiben, arbeitet der Roman mittels der Darlegung einer zur Stelle geeilten Krankenschwester in einem ersten Schritt einer Erzählbarkeit zu. Dass es aber vielmehr um Wahrscheinlichkeit denn Wahrhaftigkeit geht, wird insofern deutlich, als die Erzählung der Augenzeugin [sic! ] je nach Kontext respektive Gesprächspartner/ in variiert. Dass das Sterben des Kriegsberichterstatters von seiner angstvollen Ahnung um den bevorstehenden Tod bestimmt war, stellt schließlich den kleinsten gemeinsamen Nenner dar. Bedenkt man nun, dass noch während des Ersten Weltkrieges die Beschreibung und Sinnstiftung des soldatischen Todes ein charakteristisches Erzählmoment bildete, ließe sich gleichsam ex negativo eine Verbindung zwischen Gstreins Roman und der Gattung der historischen Kriegsberichterstattung ziehen. Jene „beschönigende, vergemütlichende Darstellung“ 609 des Todes und des Toten kann Gstreins Roman - wie freilich jeder andere Text der so genannten Höhenkammliteratur zu Beginn des 21. Jahrhunderts - gar nicht anders als unterlaufen. Pauls unmittelbar nach dem Tod von Allmayer einsetzende Recherchetätigkeit und Lektüre, von den gesammelten Artikeln des Kriegsberichterstatters über Slavenka Drakulić zu Rebecca West 610 (vgl. HT 50) wird zunehmend die Beziehung zwischen ihm und Helena diktieren; mit ihren kroatischen Wurzeln wird sie von Paul zunehmend und je nach Bedarf als Muse, Fetisch oder Übersetzerin, kurzum als „erste[r] Verbindungsoffizier zu seiner Romanwirklichkeit“ (HT 39) wahrgenommen und eingesetzt. Den Gedanken von einer Betrachtung des Todes Allmayers nach Kriterien der narrativen Verwertbarkeit - „Plot“ (HT 37) oder Nicht-Plot -, benennt der Ich-Erzähler indes als erster im Gespräch mit Paul: Ich hatte ihm nach wie vor nichts von den Notizen erzählt, an die ich mich setzte, sobald ich allein war, und hätte ihn am liebsten darauf hingewiesen, wie wenig man in der Hand hatte mit der Behauptung, etwas sei nach einer wahren Geschichte konstruiert, oder noch schlimmer, das Leben selbst habe es geschrieben, was auch immer das bedeuten mochte, aber die Aussage, zu der ich 609 Daniel (2005: 108). 610 Mit Bahn, Schiff und Auto bereiste die britische Journalistin und Schriftstellerin 1936 und im darauffolgenden Jahr die südosteuropäischen Länder. Die Erzählung dieser Reisestationen bildet den Rahmen; anhand der Geschichte der einzelnen Länder der Region bis hin zu ihrem Zusammenschluss im Staat Jugoslawien stellt West Bezüge zur Situation Englands im Kampf gegen Hitler-Deutschland her. (West, Rebecca: Black Lamb and Grey Falcon. A Journey through Yugoslavia. With an Introduction by Geoff Dyer, Edinburgh: Canongate Books 2006). Die deutsche Erstveröffentlichung - eine gekürzte Ausgabe unter dem Titel Schwarzes Lamm und grauer Falke. Eine Reise durch Jugoslawien - erschien erst 2002 bei Edition Tiamat in Berlin. <?page no="213"?> 3.2 Nach den Kriegen 213 mich statt dessen hinreißen ließ, war eine von den Banalitäten, auf die man im ersten Augenblick stolz ist, die einen später dafür so lange verfolgen, bis man den Wunsch hat, sie nie von sich gegeben zu haben. „Ein Toter macht noch keinen Roman.“ (HT 37) Pikanterweise erfährt diese Aussage am Ende von Gstreins Romans ihre Widerlegung, wenn, nach Pauls Freitod, der Ich-Erzähler seinen Entschluss mitteilt, „es an seiner (Pauls, D.F.) Stelle zu versuchen“, aus einem Gefühl der Schuldigkeit gegenüber „ihm und seinem Ende.“ (HT 381). In einer, wie bereits Müller-Funk formuliert hat, „eigentümlichen Illusionsbrechung“ 611 kann es sich bei diesem ‚Versuch‘ doch um kein anderes Ergebnis als jenen Roman, den der Leser/ die Leserin gerade gelesen hat, handeln. Zwischenbemerkungen wie „wenn ich mich richtig erinnere“ (HT 89) oder „wenn ich nichts durcheinanderbringe“ (HT 285) belegen diese These eines Niederschreibens im Nachhinein. Paul hinterlässt keinen Abschiedsbrief, doch ist auf einem einzelnen Blatt Cesare Paveses letzter Tagebuch-Eintrag, sowie der Titel dieses - Das Handwerk des Lebens - notiert: „Ich werde nicht mehr schreiben“ (HT 380). Auch eine Lesart von Gstreins Roman, welche Paul und den Ich-Erzähler als, so Goran Lovrić, „geteilte Erzählerpersönlichkeit“ 612 identifiziert, fände mit diesem Schluss ihre Bestätigung. Mithin läge es nahe, das Freudsche Modell des Kampfes zwischen Eros und Thanatos der Konstellation von Paul und dem Ich-Erzähler zu unterlegen, 613 und wenn dieser Ansatz hier nicht konsequent durchgespielt wird, dann deshalb, weil der enjeu des Romans mit seiner narratologischen Disposition der Verschachtelung die Unterlassung jeglicher Letztbegründung ist. Fest steht auf jeden Fall, dass der Mechanismus der Projektion ein Schlüssel für das Verständnis der Beziehung der männlichen Hauptfiguren des Romans ist, und der gleichfalls von Freud in die Psychoanalyse eingeführte Begriff des Todestriebes, um den seine späteren Arbeiten [j]enseits des Lustprinzips 614 kreisen, der Schlüssel für ein Grundverständnis der menschlichen Spezies als einer kriegsführenden ist. Ob indes, wie Alma 611 Müller-Funk (2009b: 381). 612 Lovrić (2008: 219). 613 Auch dass Paul Helena als seinen „Todesengel“ (HT 12) bezeichnet, der Ich-Erzähler wiederum schon ziemlich zu Beginn des Romanprojektes von Paul davon überzeugt ist, es läge an ihm, „sie am Leben zu halten“ (HT 84), bestätigt diese Lesart. 614 In der Psychoanalyse versteht man unter den ,Todestrieben‘ jene Triebe, die sich zunächst nach innen wenden (Selbstdestruktion) und sekundär nach außen gerichtet werden, wo sie sich als Form des Aggressions- und Destruktionstriebs manifestieren. Vgl. dazu Laplanche/ Pontalis (1973: 494-503, 495f.) Erstmals in seinem 1920 verfassten Werk Jenseits des Lustprinzips konzeptualisiert, ist der Begriff des Todestriebs einer der umstrittensten in Freuds Werk. Bis zu seinem Ende verteidigte Freud die dualistische Theorie vom Lebens- und Todestrieb, von Eros und Thanatos. Letzterer Ausdruck, der dem Tod quasi mythische Bedeutung verleiht, findet sich wohlgemerkt nicht in Freuds Schriften. <?page no="214"?> 3. Textarbeit 214 Kalinski argumentiert, die im Roman vorgenommene Dekonstruktion von Auto- und Heterostereotypen als „Mittel einer umfassenden Kultur- und Zivilisationskritik des Romanautors [zu] verstehen“ 615 sei, möchte ich in Frage stellen. Hier scheint die Zagreber Germanistin zwei verschiedene Anliegen des Romans, die doch in keinem dialektischen Verhältnis stehen, in eine Synthese zu bringen: das ostentative Unterlaufen (ethnischen) Stereotypisierens als Folge einer bei Helena und auch Allmayer erfolgten perspektivischen Ausleuchtung, und die schonungslose Offenlegung von Krieg als strukturellem Ordnungsprinzip, dessen Gesetze nicht allein in kriegerischen Extremsituationen zum Einsatz kommen, sondern in graduell abgeschwächter Form, so suggeriert der Roman, auch unseren Alltag, unser Schreiben, Arbeiten, Lieben bestimmen: Die Frage, ob Allmayer „für eine Geschichte nicht zu allem bereit gewesen wäre“ (HT 66), bestimmt nicht nur leitmotivisch den kriminalistischen Aufbau des Romans und wird weiters nicht nur anhand der Nebenfigur Lilly, der in Wien lebenden Schriftstellerin und Ex-Freundin von Allmayer, durchgespielt, sondern adressiert als aktuelle Frage, welchen Preis man für Erfolg zu zahlen bereit ist, den Leser/ die Leserin. Einblicke in das Kriegsgeschehen, insbesondere Kroatiens, werden dem Leser/ der Leserin mittels unterschiedlicher Verfahrensweisen vermittelt. Da gibt es zum einen die Wiedergabe der Lektüreeindrücke des Ich-Erzählers (vgl. HT 57f.), der, darin Paul gleich, die Berichte und Reportagen Allmayers von den ersten Schießereien in Slowenien bis zu den Massakern im Kosovo „wieder und wieder“ (HT 49) liest. Im Studium der Texte Allmayers über die vergangenen Kriege in Kroatien und Bosnien-Herzegowina sind es nicht die sich schlussendlich gegenseitig auslöschenden Details der einzelnen Kriegs- und Folterberichte, die ihm den Schrecken konkret machen, sondern, darin wiederum dem Ansatz Peter Handkes nicht unähnlich, die minutiösen Beschreibungen der alltäglichen, an sich harmlosen, Epiphänomene, all das, „was in der Wiederholung wie erfunden klingt“ (HT 59): das Geräusch der anlaufenden Panzermotoren, oder das Auftauchen der Schiffe in der Šibeniker Bucht vor dem Beschuss der Stadt.616 Der Kitzel, den Paul in der Nachrekonstruktion der verschiedenen Situationen, denen Allmayer ausgesetzt war, entwickelt, wird irgendwann auch für den Ich-Erzähler verständ- 615 Kalinski (2008: 243). 616 Den Rückgriff auf dieses Verfahren hat Düwell (2006: 113) wie folgt kommentiert: „Die Behauptung, an unscheinbaren Details und Phänomenen der Abwesenheit werde die Gewalt gerade besonders deutlich sichtbar, ist inzwischen selbst ein literarisches Klischee der Literatur nach 1945.“ <?page no="215"?> 3.2 Nach den Kriegen 215 lich: als plaisir 617 des Autors/ der Autorin, über seine/ ihre Geschichte und deren Figuren vollends zu verfügen: Erst jetzt, da ich ahne, daß es gerade das Unvorstellbare war, das ihn nicht aufhören hat lassen, sich noch die letzten Details auszumalen, wird mir allmählich klar, worum es ihm ging, erst seit ich beginne, das Paradoxe daran zu verstehen, verstehe ich auch die Lust, die es ihm offenbar bereitete. Tatsächlich hatte es so wenig mit der Wirklichkeit zu tun, die er kannte, daß er es sofort ins ganz und gar Unwirkliche verschob, und ich nehme an, es sind die Freiheiten beim Erzählen gewesen, die ihn begeistert haben, sein Nichtwissen, das alle Möglichkeiten offen ließ, das Spekulierenkönnen, das Erfinden und Verwerfen von Varianten, das für ihn keinen Anfang und kein Ende hatte. (HT 46) Zum anderen gibt es im zweiten Kapitel („Stories & Shots“) die Rückblicke Pauls auf jene Zeit in Graz, da Allmayer, auf dem Weg in die Kriegsgebiete, ihm und seiner Frau, regelmäßig Besuch erstattet hatte. Erst die Begegnung mit seiner Ex-Frau auf Allmayers Begräbnis in Tirol sowie ihre Erinnerungen bewirken für Paul diese Wiederkehr von Vergessenem, von Verdrängtem. Durchaus kritisch berichtet er dem Ich-Erzähler von diesen ihren Erinnerungen, die er als zweckgebundene Aktualisierungen, Rekonstruktionen und Umdeutungen entlarvt: „‚Wenn es nicht eine Vermischung mit dem gewesen ist, was sie später dazu gelesen hat, müssen wir da schon in verschiedenen Welten gelebt haben.‘“ (HT 104) An der Universitätsassistentin für Meteorologie hatte Paul schon damals ihr brennendes Interesse für militärische Details, das ihre Wiedergabe der Beschreibungen Allmayers in ein evozierendes Sprechen verwandeln konnte, irritiert. Als Rückblicke in die Grazer Zeit motiviert, führen diese in mehrfacher Brechung auf die von Allmayer zu diesem Zeitpunkt erzählten oder publizierten Kriegserlebnisse, oder gar auf Geschichten, die Allmayer erzählt worden waren, zurück. So zum Beispiel von seiner Untermieterin in Zagreb, einer älteren Witwe, die in ihrem Elternhaus noch Deutsch sprach. Das Ausmaß der Verschachtelung umfasst in einem solchen Falle fünf Instanzen des Erzählens, des Zirkulierens: die Zagreber Witwe erzählt Allmayer, Allmayer erzählt Pauls Frau, Pauls Frau erzählt Paul, Paul erzählt dem Ich-Erzähler, der dem Leser/ der Leserin solcherart Vermitteltes erzählt. Diese mehrfach überlagerten Erzählungen, von Paul stets auf ihre Urbarmachung als Plot-Elemente seines zukünftigen Romans geprüft, werden mitunter vom Erzähler einem Vergleich mit den betreffenden medialen Repräsentationen unterzogen, sodass, um nur ein Beispiel zu nennen, die Belagerung von Vukovar gleicher- 617 Vgl. Barthes, Roland: Le plaisir du texte, in: ders.: Œuvres complètes. Tome II. 1966- 1973. Édition établie et présentée par Éric Marty, Paris: Éditions du Seuil 1994, 1493- 1529. Barthes verwendet den Begriff des plaisir/ der Lust im Unterschied zur hier vorgenommenen Ingebrauchnahme nicht auf produktionsästhetischer Ebene, sondern zielt auf den Leseakt. <?page no="216"?> 3. Textarbeit 216 maßen durch das früher Berichtete, das gegenwärtig Erinnerte und das zukünftige Geschriebene angespielt wird (vgl. HT 125f.). In der achronischen Verzahnung der unterschiedlichen zeitlichen Ebenen treten ihre Gemeinsamkeiten hervor: der konstruierte, der fiktive Part. Festgemacht an der Figur des Kriegsberichterstatters Allmayers, doch über den exemplarischen Fall hinausgehend, fokussiert der Roman die Frage, welche Verantwortung der Sprache zukomment, welcher Mitverantwortung und prinzipiellen Schuld sich jede/ r über den Krieg Schreibende aussetzt. Schließlich: Welche strukturell positiven Verfahren bleiben der Sprache? 618 Denn können auch „Totschlagwörter“ (HT 62) sowie der „übliche Jargon“ der ethnischen Unterscheidung und ethnischen Identifizierung vermieden werden, so sei doch eigentlich, so der desillusionierte Ich-Erzähler, mit dem Infragestellen der jeweiligen Bedeutung eines Wortes „noch gar nichts oder jedenfalls nicht viel getan“ (HT 121). Es ist das bereits angeführte Wissen um die eigene Verstrickung, um die Verstrickung von Krieg und Sprache, auch um den bequemen Deckmantel der Fiktion, das diesen Roman auszeichnet und, auf nur nahezu verlorenem Posten, Terrain gewinnen lässt. Auf die Frage nach der konkreten Schuld für den Kriegsausbruch hingegen wird auf der Rahmenebene nur wenige Male angespielt. 619 Isabella, Allmayers Witwe, tut die „ewigen Fragen nach einer Begründung“ als etwas, was der Verstorbene nicht nur längst satt gehabt habe, ab - als etwas, was ihm wie ein Fetisch für all jene, die sich fernab vom Kriegsgeschehen und in gesicherter (Fremd-)Position befanden, vorkommen musste (vgl. HT 238f.). Hiermit wird die hierzulande insbesondere mit Bezug auf das Dritte Reich bekannte, und wahrlich „unselige[] Haltung“ (HT 158) aufgerufen, nur jemand, der etwas selbst erlebt bzw. mitgemacht hätte, dürfe mitreden. Während der späteren gemeinsamen Kroatien-Reise von Paul, Helena und dem Ich-Erzähler kommt schließlich mit Helenas Vater, der doch vor dreißig Jahren wie viele aus der Gegend das Land verlassen hatte, und sich, so seine Frau, „mehr und mehr eine tragische Exilantenbiographie zurechtgeschneidert“ (HT 272) hätte, eine wohl ‚regionale‘ Stimme zu Wort, dennoch aber nicht eine, die den Kroatien-Krieg der 1990er Jahre miterlebt hätte. Als er dem Ich-Erzähler einen „Schnellkurs über die Absurditäten des Ganzen“ (HT 270) gibt, handelt es sich dabei in der Darstellung des ,Schülers‘ - dem Gesamtkonzept des Romans entsprechend, Begebenheiten als erzählte zu erzählen - um „Geschichten“, die dieser wiederum nur mit „Mythen von grausamen Partisanenkommisarinnen“ vergleichen kann, handelt es sich um „Gerüchte[]“ und „Hirngespinste[]“ (HT 271), für Helenas Mutter gar um „Märchen“ (HT 272). Bereits nach dem ersten Gespräch mit Helenas Eltern über den 618 Vgl. dazu auch HT 156 f. 619 Vgl. HT 128f. <?page no="217"?> 3.2 Nach den Kriegen 217 Krieg akzentuiert der Ich-Erzähler die besondere Dynamik, die dem Akt des Erzählens innewohnt: Sie hatten beide über dreißig Jahre in Deutschland gelebt, und wenn sich in ihren Darstellungen die Gründe manchmal nicht unterscheiden ließen, warum sie damals weggegangen waren und warum später die ersten Schüsse fielen, kann ich nicht sagen, was davon stimmte. Mochte es das Lamentieren darüber sein, wie sehr ihre Heimatdörfer im Hinterland über Jahre und Jahrzehnte benachteiligt worden war, wie lange sie auf Strom warten müssen oder auf fließendes Wasser, und weshalb der Asphalt noch immer nicht bis vor ihre Elternhäuser führt, oder die Geschichten, daß die Regierung in Belgrad Leute aus Serbien mit billigen Krediten an der Küste angesiedelt hatte, ich stelle mir vor, sie waren bei jeder Gelegenheit erzählt worden, nicht nur vor ihnen, und bezogen ihre Überzeugungskraft mehr aus ihrer unentwegten Wiederholung als daraus, ob sie sich belegen ließen oder nicht. (HT 267f.) Mit der Erzählung des als Prolepse bereits zu Beginn des zweiten Kapitels angeführten schweren Autounfalls Pauls in Kroatien, ausgerechnet auf „seiner ersten jugoslawischen Reise“ (HT 89), setzt das dritte Kapitel („Traumstraßen in Jugoslawien“ 620 ) an. Nun, da Helena und der Ich-Erzähler sich während der Rekonvaleszenz Pauls besser kennenlernen, kommt das Kräfteverhältnis zwischen Paul und dem Ich-Erzähler in Bewegung. Während für den Ich- Erzähler die Vorstellung, Helena spräche mit ihm, wie sie es mit Paul getan hatte, „etwas Makaberes und Erregendes zugleich“ (HT 169) hat, und aus seiner Position des Dritten noch Genuß ziehen kann, wird Paul, nun in den Augen des Ich-Erzählers die „Parodie auf einen Kriegsheimkehrer ab[gebend]“ (HT 205), zunehmend seinen Phantasien über die beiden ausgesetzt, immer unausgeglichener. „Als er eines Tages halb angetrunken damit herausplatzte, es wäre für ihn noch annehmbar gewesen, wenn ich mit ihr geschlafen hätte, solange ich ihm nur ihre Geschichten ließ, nicht auch noch darin herumpfuschte und sie gegen ihn aufbrachte, bis sie ihn nicht mehr damit versorgte“ (HT 209), schlägt die Doppelfunktion, die er doch selbst Helena als seiner Partnerin und auch Vorlage für eine mögliche Romanfigur zugeteilt hatte, als allumfassendes Bedrohungsszenario zurück. Was von Beginn an für sein Romanprojekt möglich und ertragreich schien, eine Annäherung zwischen Ich-Erzähler und Helena als „Ausgangspunkt“ (HT 84), kann Paul als Realereignis nicht bewältigen. Dieser Annäherung von Helena und dem Ich-Erzähler ist es auch zu verdanken, dass die weibliche Hauptfigur des Romans, nun nicht länger durch die Perspektive Pauls gefiltert, an Konturen gewinnt. Der Leser/ die Leserin 620 Es handelt sich dabei um eine Anspielung auf den von Robert Löb und Ernst Neumayer 1976 im Münchener Molden Verlag mit zahlreichen Illustrationen herausgebrachten Reisebericht Traumstraßen durch Jugoslawien, der als „großformatiges Ding mit dem Titel Traumstraßen in Jugoslawien“ im Verlauf der Handlung auch explizit angesprochen wird (vgl. HT 195). <?page no="218"?> 3. Textarbeit 218 erfährt über die Geschichte ihrer Familie - deren besonderes Verhältnis zum deutschsprachigen Raum sich gerade nicht auf die Habsburgische Monarchie reduzieren lässt, sondern ab dem Großvater einen Hamburg-Bezug aufweist 621 -, über ihre erste, vom Krieg zerstörte Ehe und die vom Krieg ausgelöste Wahrnehmung der „eigenen Eltern als Ausländer“ (HT 182) bis hin zu den Fremdbildern, denen sie sich als Deutsche mit kroatischer Herkunft regelmäßig konfrontiert sieht. So zwingt sie den Ich-Erzähler bei seinem ersten Wohnungsbesuch regelrecht, alles zu durchsuchen: „‚Vielleicht findest du ja eine Schachbrettfahne.‘“ (HT 194) Ein ähnliches, die Monoperspektivik aufbrechendes Verfahren wählt Gstrein für die Zeichnung Allmayers, den der Leser/ die Leserin mit Pauls und des Ich-Erzählers Besuch bei dessen Witwe Isabella in bislang ungeahnten Facetten kennenlernt: als einen verbitterten Zyniker 622 und schwer vom Krieg Traumatisierten, der mit der Normalität eines Hamburger Alltags nicht mehr zurande kam. Isabella erwähnt bei diesem Treffen einen ehemaligen Interview-Partner, dem Allmayer Jahre später auf der Insel Hvar noch einmal über den Weg lief: zufälliges Wiedersehen mit jenem Frontkämpfer namens Slavko, der, nach seiner Lektüre des Zeitungsartikels Allmayers, von Beginn der Rahmenhandlung im Zentrum von Pauls Interesse steht. Zweierlei fesselt Paul an Allmayers Text: seine Frage an den „kroatischen Kriegsherrn“ (HT 64), wie es denn sei, einen Menschen im Visier zu haben, und sein abrupter Schluss. Mit dieser von Isabella erwähnten Begegnung - Begegnung, die Paul zu erfinden sich nicht getraut hätte - tun sich ungeahnte Möglichkeiten für Pauls Plot auf. Aber auch in der Romanhandlung schlägt sich diese Engführung von Vergangenem, Dokumentiertem (Isabella erzählt gar noch von einem Audio- Mitschnitt des Gesprächs) und Zukünftigem, Fiktionalisierbarem nieder: mit der im vierten Kapitel („Miss Slavonski Brod“) erzählten Reise nach Kroatien, deren Aufenthalt bei Helenas Eltern im Hinterland von Zadar hier bereits vorweggenommen wurde. Während Paul mit seiner Recherchetätigkeit im dalmatinischen Hinterland Unverständnis von Seiten seiner Gesprächspartner/ innen, schließlich auch den Unwillen seiner Gastgeber/ innen erfährt, kann der Ich-Erzähler das Vertrauen von Helenas Vater gewinnen. An Handkes Entschluss, es mit der Husserlschen „‚Lebenswelt‘“ (WR 77) zu halten, erinnert folgender Vorschlag von Helenas Vater: „‚Es ist am besten, wenn Sie die Augen offen halten und nicht zu sehr darauf vertrauen, was in den Büchern steht […]. Vielleicht erkennen Sie dann, wie die Dinge wirklich sind.‘“ (HT 268) Doch erst als die drei den am Meer gelegenen Sommerbzw. Alterssitz von Helenas Eltern verlassen, erst als sie mit dem Auto vom Krieg getroffene, betroffene Gegenden durchkreuzen, wird dem Ich-Erzähler eine (durch die 621 Vgl. HT, 199f. 622 Vgl. dazu HT 237. <?page no="219"?> 3.2 Nach den Kriegen 219 Autoglasscheibe gebrochene) Augenschau der Spuren der Zerstörung möglich. Mochte ihn die Lektüre der Artikel Allmayers auch auf manches vorbereitet haben, ist er doch nicht „vorbereitet“ (HT 283) für die sich allerorts bietende Verwüstung. Wie schon aus Passagen von Handke und Zeh bekannt, ist es der Anblick der Gebäude, der die Schrecken des Krieges in Sprache und Bilder überführt: die doch unverkennbaren Spuren des Lebens - frisch gewaschene Wäsche, bestellte Gemüsebeete - der Ruinen scheinen dem Ich- Erzähler den Eindruck der Verlassenheit nur noch zu vergrößern. Der Ich- Erzähler vergleicht das Geschaute mit dem von Allmayer Geschriebenen, womit einmal mehr das Prinzip der narrativen Referenz zur Anwendung kommt. Die Dominanz dieses Prinzips lässt sich auf den programmatischen Vorsatz des Buches zurückführen, das Erzählen über die kriegerischen Ereignisse, nicht den Krieg als solchen, in den Vordergrund zu stellen: Gstreins Roman zielt nicht auf den unmöglichen Anspruch, Wirklichkeit mimetisch abzubilden, sondern inszeniert vielmehr die Vermitteltheit und Konstruiertheit jeglichen Zeugnisses über den Krieg im Besonderen und die Welt im Allgemeinen. Das Verhältnis von Wirklichkeitserlebnis und Wirklichkeitserzählung, aber auch von Rekonstruktion und Konstruktion auszutarieren, wird insbesondere dann dem Leser/ dem Leserin aufgetragen, wenn an der Erzählerstimme - mit grammatischen Verschiebungen und dem Konjunktiv verfahrend - nicht länger erkennbar ist, wo die referierte Personenrede aufhört und die eigene narrative Ausschmückung oder Kommentierung anfängt. Mit einem vom Ich-Erzähler unternommenen Vergleich von Sprache und Wirklichkeit wird zudem deutlich, wie sehr mediale Repräsentationen das Repräsentierte formatieren, Darstellung und Dargestelltes aufeinander einwirken können: „‚Ich weiß noch‘“, so der Ich-Erzähler zu den Fahrten durch die vormaligen Kriegsgebiete, „ daß ich […] lauter Eindrücke im Kopf hatte, die mir unter dem Gewicht ihrer Wirklichkeit unwirklich erschienen.“ (HT 282) Nachdem Paul und der Ich-Erzähler in Slavonski Brod noch den einst von Allmayer interviewten Kriegsmann treffen und daraufhin und ziemlich unvermittelt nach Deutschland zurückfahren, steht das im Anschluss folgende fünfte und letzte Kapitel („Eine schöne Geschichte“) im Zeichen der kriminalistischen (Fast-)Auflösung des Romangeschehens. Mit der Szene des gemeinsamen Abhörens der Audio-Kassette des Interviews werden die verschiedenen über den gesamten bisherigen Erzählverlauf gestreuten Hinweise und Ahnungen, dass es mit dieser Unterredung von Slavko und Allmayer eine besondere Bewandtnis habe, zu einem Höhepunkt zusammengeführt. Das Interview wurde damals im Beisein von Allmayers Dolmetscher geführt: da dieser bestimmte Passagen nicht oder nicht gleich übersetzt zu haben scheint, ist es nun Helenas Aufgabe, das auf Kroatisch Gehörte zu übersetzen. Für den Leser/ die Leserin eröffnet sich so ein neues Modell der narrativen Verschachtelt- und Vermitteltheit, das nun nicht länger auf einer linearen Kette aufbaut, <?page no="220"?> 3. Textarbeit 220 sondern, dabei die evidenten Leerstellen jeder kommunikativen Situation aufzeigend, seine Einprägsamkeit über diese gleichermaßen parallele und versetzte Aktion des Dolmetschens bezieht. Auf die absurde und völlig machtlose Situation des sekundären Übersetzens reagiert Helena phasenweise mit einer Identifikation mit Slavko, dem Aggressor, 623 was wiederum den Ich- Erzähler die bereits vergangene Situation als Live-Erlebnis empfinden lässt: Ich sah, daß sie Paul davon abhielt, das Band wieder zu stoppen, während sie Slavkos kurze Anweisungen simultan übersetzte, als wäre sie selbst in der Situation, den Gefangenen nach ihrem Gutdünken herumzukommandieren. So, wie sie es dabei tat, hätte sie es sein können, die ihn hinausschickte ins Nichts, und ich brauchte eine Zeitlang, daß es ihre Art war, auf die Obszönität zu reagieren, dasitzen und zuhören, aber nicht eingreifen zu können. Dabei war sie so überzeugend, daß ich mich der Illusion hingab, es passierte alles jetzt in diesem Augenblick […]. (HT 348f.) Was genau und wirklich passiert ist - dies zu beantworten verwehrt der Roman. Die Kernfrage des Romans, ob eine/ r unschuldig im Krieg bleiben kann, wird nicht beantwortet. Hat Allmayer sich auf die Mutprobe, in der Praxis auszuprobieren, was er in der Theorie doch niemals wissen, niemals erfahren kann - „‚[w]ie es ist, jemanden umzubringen? ‘“ (HT 346) - eingelassen? Löste er, auf einen der serbischen Gefangenen zielend, einen Schuss aus? Hielt jemand anders die Waffe in der Hand? Traf der Schuss, war er tödlich? - Genauso wenig erhält der Leser/ die Leserin gesicherte Auskunft über die ‚tatsächlichen‘ Motive Allmayers, den gewählten Beruf nach so langen Jahren immer noch auszuüben, genauso wenig erfährt er Gewissheit über seine letzten Minuten, letzten Worte vor dem Eintritt des Todes. Was dagegen am Ende dieses Romans erwiesen scheint, ist die unheilvolle Komplizenschaft von Literatur, Krieg und Sprache. Der Roman beleuchtet die Perspektivität, die am Werk ist, sobald etwas wahrgenommen und sodann repräsentiert wird, entlarvt die Rede von ‚Unmittelbarkeit‘ als Illusion und löst die Unterscheidung von Fakt und Fiktion als am Ende irrelevant auf. Susi K. Franks zu Beginn des Kapitels zitierte Einteilung, und meine vorauseilende Zustimmung müssen rektifiziert werden: nein, was der Roman nicht ,tut‘, ist „zu erzählen und sich trotzdem vom Verdacht der Komplizenschaft des Er- 623 Das Konzept der ,Identifikation mit dem Aggressor‘ geht als ,Identifizierung mit dem Angreifer‘ auf Anna Freud zurück. Sie beschrieb 1936 den zugrundeliegenden psychischen Mechanismus: „Das Kind introjiziert etwas von der Person des Angstobjektes und verarbeitet auf diese Weise ein eben vorgefallenes Angsterlebnis. […] Mit der Darstellung des Angreifers, der Übernahme seiner Attribute oder seiner Aggression verwandelt das Kind sich gleichzeitig aus dem Bedrohten in den Bedroher.“ (Freud, Anna: Das Ich und die Abwehrmechanismen, in: dies.: Die Schriften der Anna Freud. Band I. 1922-1936, Frankfurt/ Main: Fischer Taschenbuch 1987, 191-355, insbes. 293-304.) <?page no="221"?> 3.2 Nach den Kriegen 221 zählens freizuhalten“. 624 Diese Komplizenschaft wird vielmehr ins Zentrum gerückt. An verschiedenen Romanfiguren - an Paul, Lilly, dem Ich-Erzähler - wird die ‚instrumentelle Vernunft‘ des (literarischen) Schreibens variiert, was mir im Kontext meines Untersuchungsmaterials auch der originäre Beitrag Gstreins zu sein scheint. Der Titel des Romans erfährt so eine zusätzliche Interpretationsebene: das Schreiben als ein Handwerk des Tötens. Mit seiner in Kursivdruck gesetzten ersten Widmung - denn auf der nächsten Seite erfolgt eine zweite, deren erhoffte Wirkung Wendelin Schmidt-Dengler als „kryptisch und privat“ 625 bezeichnet hat: „in za Suzanu“ (HT, o.S.) - hat Gstrein die Rückbindung an den konkreten, faktischen Weltbezug offengelegt, und im gleichen Schritt sein Unvermögen, Gabriel Grüners Leben und Sterben in Fiktion zu überführen, zum Ausdruck gebracht. Den Anschuldigungen der üblen Nachrede eines Toten ausgesetzt, sah sich Gstrein dazu angehalten, einen Essay mit dem Titel Wem gehört eine Geschichte? nachzuschicken. Es ist dies ein Dokument der Enttäuschung: Enttäuschung darüber, dass sein zentrales Anliegen, nämlich die Absage an eine platte Abbildung der Wirklichkeit verkannt wurde; Enttäuschung, darüber, dass die Reaktionen und die rund um seine Widmung ansetzende Kontroverse schlussendlich die auch im Roman geschilderte und kritisierte Atmosphäre der insbesondere in Wien anzusiedelnden „Gehässigkeiten“ (WGG 38), der „halbbeamteten und pragmatisierten Parkwächter der Literatur“ (WGG 81) bestätigten. Auf wenigen Seiten berichtet Gstrein von zwei Publikationen, die kurze Zeit nach Das Handwerk des Tötens erschienen. Während die eine von Grüners Lebensgefährtin verfasst wurde und den Prozess des Trauerns schildert, handelt es sich bei der anderen um den Roman einer Schriftstellerin, 626 die manche Kritiker/ innen als Vorlage für Gstreins Romanfigur der Lilly identifiziert hatten. In diesem Roman äußert eine Figur namens Holztaler das Vorhaben, „einen Roman über einen in Jugoslawien ums Leben gekommenen Journalisten zu verfassen, der den Titel - man möge es nur ja nicht übersehen - Die bosnischen Jahre tragen soll […].“ (WGG 41) Es wäre alles andere als 624 Frank, Susi K. (2009: 21). Freilich hängt es davon ab, welches Subjekt dem ‚sich‘ unterlegt wird. Der Roman? Sein Autor? Seine Erzähler, seine Figuren? 625 Schmidt, Dengler, Wendelin: Schluss mit dem Erzählen, Literaturen 11 (2003), 57-59, 58. 626 Es handelt sich um den 2003 im Münchener Beck Verlag erschienenen Roman Die Zumutung von Sabine Gruber. Im letzten Drittel erwähnt die Ich-Erzählerin einen befreundeten Journalisten namens Denzel, der in Sarajevo von serbischen Heckenschützen erschossen wurde. Erst auf den allerletzten Seiten, als er der nierenkranken Ich- Erzählerin nach einem Zusammenbruch zu Hilfe eilt, erzählt ihr Holztaler, eine Nebenfigur, von seinem Vorhaben, über Denzel einen Roman zu verfassen: „Nicht über Denzel, dachte ich, nicht schon wieder über einen gemeinsamen Freund. ,Laß ihn tot sein‘, sagte ich. […] ,Mußt du über diese schreckliche Geschichte schreiben? Du hast wirklich keine Phantasie.‘“ (Gruber, Sabine: Die Zumutung, München: Beck 2003, 212.) <?page no="222"?> 3. Textarbeit 222 kohärent, würde Gstrein, der in den an ihn herangetragenen Vorwürfen „das alte Problem von Schlüsselromanen, die keine sind und erst durch die vermeintliche Entschlüsselung dazu werden“ (WGG 20f.), erkennt, die beiden Autor/ innennamen anführen, und so belässt er es bei seiner für beide Fälle geltenden Beanstandung eines autorzentrierten Blickes, einer Inszenierung des eigenen Leidens, hinter der sich ein „‚Ich als Marke‘“ (WGG 43) verberge. Um auf die Frage nach dem Verhältnis von Eigenem und Anderem, die angesichts der im Roman dominant werdenden Auseinandersetzung mit Erzählverfahren aus dem Zentrum geraten war, zurückzukommen, muss auf die konkrete Autorenperspektive rekurriert werden. Aufschlussreich sind Gstreins Essay-Ausführungen zu den Gemeinsamkeiten zwischen den eigenen vertrauten Strukturen einer katholischen Kindheit in Tirol und den im dalmatinischen Hinterland geschauten patriarchalischen Traditionen. Im Roman ist es Paul, der nach der Veröffentlichung einer Reportage über einer in der Nähe von Split beigewohnten Beisetzung der „sterblichen Überreste von über hundert angeblich von Partisanen im Zweiten Weltkrieg ermordeten kroatischen Soldaten“ (HT 364) dem Ich-Erzähler von einem darin en détail gezeichneten Protagonisten beichtet: „‚Er hat mich an etwas aus meiner Kindheit erinnert.‘“ (HT 366) Auch Gstreins im Essay explizit gemachte Gedanken über seine Motivation, diesen Roman zu schreiben, belegen sehr wohl das zentrale Moment der vorliegenden Arbeit: die grundlegende Kraft des/ der Anderen für die Erkennung bzw. Konstitution des Selbst. In das Narrativ eines ‚jugoslawischen Mythos‘, wie er zu bestimmten Zeiten in bestimmten Zirkeln sicherlich gepflegt wurde, lässt sich diese Motivationsquelle indes nicht einschreiben. Ich hatte die Idee, mit meinem Roman, wie auch immer verzerrt, unter anderem einen Teil meiner Herkunftsgeschichte zu erzählen, und es ist dabei nicht einmal wichtig, wie sehr das bloß eine Projektion war, eine negative Idealisierung, oder inwieweit es den Tatsachen entspricht, Hauptsache, es ist eine Prämisse, die mein Schreiben in Gang gesetzt und vor der Gefahr bewahrt hat, über die Grausamkeit des Krieges so zu schreiben, als wäre dergleichen nur auf dem Balkan möglich. Es ist immer eine Okkupation, eine fremde Geschichte zur eigenen zu machen, selbst wenn man die eigene in der fremden nur spiegelt, und das gilt in diesem Fall wohl um so mehr, als eine österreichische Kindheit in den sechziger Jahren sich wahrscheinlich sehr schwer mit einer jugoslawischen in derselben Zeit vergleichen läßt. Trotzdem ist bei meinen Reisen für mich der Effekt des Wiedererkennens insbesondere in den dalmatinischen Hinterdörfern wesentlich gewesen für mein Zutrauen, etwas sagen zu können, was über die Zeitungsmeldungen und Analysen von Experten und sogenannten Experten hinausgeht […]. (WGG 31f.) <?page no="223"?> 3.2 Nach den Kriegen 223 3.2.1.2.2 Die Winter im Süden Nach dem in Das Handwerk des Tötens erreichten Ausmaß an narratologischer Metareflexion und Erzählskepsis mochte man gespannt sein, wie diese im darauffolgenden Romanprojekt fortzuführen, gar zu überbieten seien, oder nicht vielmehr zu einer Torpedierung der Erzählung als solchen führen müssten. Tatsächlich kehrt Gstrein mit dem vier Jahre später erschienenen Roman Die Winter des Südens (2008) noch einmal zum kriegerischen Zerfall Jugoslawiens bzw. den Ereignissen in Kroatien zurück, und führt diesen inhaltlichen Strang mit Emigration und Exil, zentrale Motive seines 1999 erschienenen Romans Die englischen Jahre 627, zusammen. Im Unterschied zu diesem und Das Handwerk des Tötens, die beide einen Ich-Erzähler aufweisen, ist die Erzählperspektive in Die Winter im Süden eine im Reflektormodus und streckenweise auktorial gelenkte, womit ein narratologischer Vergleich der beiden ‚Kroatien‘-Romane zwar möglich, jegliche Überlegung betreffend möglicher erzählperspektivischer Steigerungsstrategien hingegen hinfällig wird. Auf jeden Fall erlaubt die auktoriale Perspektive dem Autor, Kritikpunkte, denen er sich mit Das Handwerk des Tötens ausgesetzt sah, aufzunehmen: Wer den Roman aus dem Jahr 2004 als zu metareflexiv, indirekt und handlungsarm beanstandete, wird mit dem zupackenden Gestus, der das Erzählen im späteren Roman Die Winter im Süden kennzeichnet, auf seine Kosten kommen. 628 Auf den ersten Blick womöglich weniger raffiniert anmutend, ist doch auch die Erzähltechnik in Die Winter im Süden eine wohl überlegte und höchst durchkonstruierte, welche, wenn man so möchte, vom Derridaschen Neologismus der différance, dessen buchstäblicher und doppelter Bedeutung inspiriert ist. Sowohl die in qualitativer Hinsicht unterscheidende als auch die in zeitlicher Hinsicht verschobene Dimension, die die Wortschöpfung ausmachen, kommen im Roman zur Anwendung: Das manifest zentrale Ereignis - der Kriegsausbruch in Kroatien im Herbst 1991 - wird aus den Perspektiven der beiden Reflektorfiguren Ludwig und Marija aufgerollt: Perspektiven, die eben nicht nur räumlich unterschiedliche Ausgangskoordinaten aufweisen, ist doch die erzählte Zeit der Gegenwartshandlung des Romans als ein Setting der Versetzung und Verschiebung konfiguriert. Zeit und Raum - der Wechsel der zeitlichen Ebene und Schauplätze tut dem keinen Abbruch - nehmen in Gstreins Roman eine strukturierende Funktion ein. Im Unterschied zu den vier aus der Perspektive Marijas erzählten Kapiteln (Kapitel eins, vier, sieben, zehn), die in der Binnenhandlung des Romans ab Sommer 1991 spielen, beginnen die anderen sechs Kapitel, die Ludwig als Reflektorfigur aufweisen (Kapitel zwei, drei, fünf, sechs, acht, neun) im Win- 627 Vgl. Gstrein, Norbert: Die englischen Jahre. Roman, München: dtv 2008. 628 Vgl. zur Aufnahme von der Literaturkritik Strigl, Daniela: Ein Buch und seine Rezeption. Über Norbert Gstreins „Schule des Tötens“, in: Literatur und Kritik (2004), H. 381/ 382, wiederabgedruckt in: Bartsch/ Fuchs (2006: 197-191). <?page no="224"?> 3. Textarbeit 224 ter 1991 und erstrecken sich über einen längeren Zeitraum von insgesamt ungefähr zehn Monaten. Mit den Worten des Gstreinschen Titels gesprochen, setzt der Roman im Nordsommer und im Südsommer an, um in einer gemeinsamen zeitlichen und räumlichen Ordnung - Zagreb im Herbst 1991, kurzum im Nordherbst - zu gipfeln. Auf diese Weise bringt Gstrein den Kriegsschauplatz mit einer für die Region untypischen geographischen Ordnung, die andere symbolische Konnotierungen als jene des ‚Balkans‘ bzw. ‚Südosteuropas‘ aufweist, zusammen. Auch nach der Zusammenführung ihrer Zeit- und Raumvektoren bleibt diese Doppeltheit bestehen. Zuweilen werden zentrale Vorkommnisse - man denke beispielsweise an den ‚Auftritt‘ des jungen Mädchens im Zagreber Hotel Esplanade - aus zweifacher Perspektive geschildert: Schilderungen, die sich entsprechen und ergänzen, und, indem die Akzente unterschiedlich gesetzt werden, die Situiertheit und Begrenztheit jeglicher Wahrnehmung aufzeigen. Das aus dem Das Handwerk des Tötens bekannte Gstreinsche Verfahren der Verschachtelung ist nun um das der Parallelisierung ergänzt. 629 Während im Handlungsverlauf des Romans auch eine Annäherung der drei Hauptprotagonisten Ludwig, Marija und des Alten im Raum erfolgt (Marija reist aus Wien, der Alte und Ludwig aus Argentinien nach Zagreb), und während weiters mit dem prozessualen Einzoomen in Kroatien und seiner Hauptstadt die Anfangsphase - und nicht der gesamte Verlauf des bis November 1995 währenden Kroatien-Krieges - fokussiert wird, 630 zeichnet sich sein Gesamtarrangement dank der Einbeziehung weiterer historischer Eckdaten und Ereignisse durch eine gegenteilige Bewegung der Weitung aus. In Schlüsseljahren gesprochen, treten zu ‚1991‘ - Kriegsausbruch in Slowenien und Kroatien, aber auch völkerrechtliche Auflösung der Sowjetunion - auch die symbolischen Zäsuren ‚1945‘ sowie ‚1968‘ hinzu: eine ‚Anreicherung‘, welche ihre Fundierung den lebensweltlichen Erfahrungen und den Erinnerungen der beiden Figuren, die Marija und Ludwig zur Seite gestellt sind, verdankt. In Marijas Ehemann findet so die 68er-Bewegung mit ihren Errungenschaften, aber auch Verblendungen und Inkonsequenzen keinen besonders schmeichelhaften Vertreter, wenn er als linksliberaler Stichwortgeber des Landes bzw. Wiens „unter Pseudonym Beiträge auch an das Konkurrenzblatt verkaufte und sich dort in einem strammen Scharfmacher-Ton über die gleichen Dinge erregte, die er unter dem eigenen Namen manchmal so lange 629 Aus diesem Grunde weist Marijan Bobinac in seinem instruktiven Aufsatz über Die Winter im Süden auf die „Kontinuität der Gstrein'schen Poetik“ hin. [Bobinac, Marijan: „Hin- und Herkippen der Zeit“. Zur Inszenierung der neueren kroatischen Geschichte in Norbert Gstreins Roman Die Winter im Süden, in: Zagreber Germanistische Beiträge 18 (2009), 175-195, 176.] 630 Dabei finden in den Roman Vorkommnisse Eingang, die in der Retrospektive als Kriegsbeginn auszumachen sind, zum Zeitpunkt des Geschehens und Erzählens indes als solcher verkannt (Marija) oder, in vorauseilender Vorfreude, bereits ausgerufen werden (der Alte). <?page no="225"?> 3.2 Nach den Kriegen 225 abwog, bis sie sich in Luft aufzulösen drohten“ (WS 19). Albrechts „Marsch durch die Institutionen“ (Rudi Dutschke) scheint primär durch den schnöden Mammon motiviert zu sein. Mit seiner Figur, die durchaus der Handkeschen Kategorie der „Fernfuchtler“ (WR 148) gerecht würde, erfährt die in Das Handwerk des Tötens so zentrale Medienkritik eine, wenngleich deutlich abgeschwächte, dabei um das pekuniäre Moment ergänzte, Fortführung. Stellt die eingehende Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Aufbruch von 1968 - international gesehen zahm und minimal, für Österreich nichtsdestotrotz bedeutungsvoll - auch kein erklärtes Anliegen des Romans dar, so beschränkt sich Gstreins Handhabung der 68er-Generation doch nicht allein auf die diffuse Zeichnung verschiedener aktionistischer Maßnahmen und Flugzettel-Aktionen. 631 Tatsächlich ist es das Verdienst der Figur des Ehemannes Marijas, die von Müller-Funk benannten antifaschistischen, dabei apodiktisch-autoritären Diskursstränge der österreichischen Linken in ihrer Verklärung Jugoslawiens atmosphärisch zu vermitteln. 632 Mit ihren kroatischen Wurzeln erkannte Albert bzw. ‚ihr Mann‘ - sein Vorname wird im Roman nur ein einziges Mal angeführt 633 - Marija als eine Art „Trophäe“ (WS 11), „ein Schmuckstück im doppelten Sinn […], eine mediterrane Schönheit, wie das unter Kennern wohl hieß, und ein politisches Prachtexemplar“ (WS 12). Das Private ist politisch, wie wahr, und welch bittere Verkehrung des Leitspruchs der ‚zweiten‘ Frauenbewegung. Über zwanzig Jahre später hat die Beziehung der beiden das Prädikat ‚auseinandergelebt‘ erreicht. Wie viel Liebe und Leidenschaft zwischen den beiden jemals existiert hat, welchen Lustgewinn Marija die, wie es scheint, sadomasochistischen Praktiken wirklich bereiten, bleibt dahingestellt. Der Zweite Weltkrieg und das Kriegsende wiederum wird von Ludwigs Arbeitsgeber in Argentinien, dem ‚Alten‘, verkörpert, der sich als Mitglied der Fallschirmjäger-Einheit des Ustascha-Staates in der Nähe des kärtnerischen Bleiburgs den Engländern ergeben hatte, sich vor der Überstellung nach Jugoslawien über die österreichische Grenze retten konnte, von dort aus an Sabotageakten gegen Jugoslawien beteiligt, über Rom in den Vatikan und Anfang 1948 nach Argentinien gelangt war. Auf der Liste des jugoslawischen Geheimdienstes stehend, war ihm eine Rückkehr nach Kroatien ein halbes Jahrhundert lang verwehrt. Erst mit dem Systemwechsel 1989, der die bereits seit 631 Vgl. zu einer Auseinandersetzung mit ‚1968‘ und Österreich: Danneberg, Bärbel/ Keller, Fritz/ Machalicky, Aly/ Mende, Julius (Hgg.): Die 68er. Eine Generation und ihr Erbe, Wien: Döcker 1998; Rathkolb, Oliver/ Stadler, Friedrich (Hgg.): Das Jahr 1968. Ereignis, Symbol, Chiffre, Göttingen: V&R unipress 2010, Wien: Vienna University Press 2010 (Zeitgeschichte im Kontext 1). 632 Vgl. Müller-Funk (2009a: 353). 633 Vgl. WS 28. Namenlose Hauptprotagonisten stellen keine Besonderheit in Gstreins Œuvre dar. Auch ,der Alte‘ in Die Winter im Süden und der Ich-Erzähler in Das Handwerk des Tötens bleiben namenlos. <?page no="226"?> 3. Textarbeit 226 den 1980er Jahren zu beobachtenden Desintegrationsprozesse in den damaligen Teilrepubliken Jugoslawiens vorantrieb, rückt ihm ein Besuch seiner „Heimat“ (WS 36) in greifbare Nähe. Um die von der Unabhängigkeitserklärung Kroatiens endgültig motivierte Rückkehr entsprechend vorbereiten zu können, stellt er den österreichischen Polizisten Ludwig ein, der aus Österreich ins fremde Argentinien geflohen war. Anlass dafür war der tragische Tod seiner Freundin und Kollegin Nina, die, eben noch mit mit ihm im Stundenhotel am Wiener Westbahnhof, bei einem Einsatz ums Leben, Ludwig hingegen zu spät kam: Er würde sich das nie verzeihen, diese Bruchteile von Sekunden, ein Aussetzer, und dann war es schon zu spät gewesen, schon nur mehr die Stille nach dem ersten Schuß, weiß und raumgreifend in einem lautlosen Knall, und er war für alle Zeiten dazu verurteilt, in der einen Hand hilflos ihr Höschen zu schwenken, das sie vergessen hatte, und mit der anderen seine Pistole hochzureißen und blindlings abzudrücken. (WS 44) Kein einziger der Umstände, die nach dem österreichischen Waffengebrauchsgesetz einem Organ der Bundespolizei die Gebrauchmachung der Dienstwaffe erlauben, lag vor, als Ludwig den tödlichen Schuss abgab. 634 Es ist daher umso überraschender, dass es zu keiner Anklage wegen Körperverletzung mit tödlichem Ausgang oder Mord kam - zumindest erwähnt der Roman eine solche nicht -, was im Umkehrschluss auf eine justizielle Sonderbehandlung des Falles bzw. der Polizei schließen lässt. 635 Mit der „Begeisterung“ (WS 39) über seinen Beruf, die der Alte und seine Frau Claudia an den Tag legen, erfährt Ludwig im Vergleich zu seinem Heimatland ungewohnte Wertschätzung und einen Vertrauensvorschuss. Sein Alltag im Hause des Alten besteht denn auch nicht in erster Linie in der Unterstützung jedwelcher planender Maßnahmen für den Aufenthalt in Kroatien, oder in seinen Tätigkeiten als Chauffeur und Bodyguard. Nein, neben dem täglichen Kroatisch-Unterricht gemeinsam mit den Zwillingstöchtern von Claudia und dem Alten und neben den regelmäßigen Schießübungen im Keller des Hauses besteht Ludwigs Hauptfunktion im Zuhören und im Beglaubigen dessen narrativer Identitätskonstruktionen (vgl. WS 63). Der Alte 634 Vgl. dazu § 2 des Bundesgesetzes vom 27. März 1969 über den Waffengebrauch von Organen der Bundespolizei und der Gemeindewachkörper (Waffengebrauchsgesetz 1969), online abrufbar unter: https: / / www.ris.bka.gv.at/ GeltendeFassung.wxe? Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10005345, 31.1.2013. 635 Mit der vom Roman suggerierten justiziellen Sonderbehandlung des österreichischen Polizisten Ludwig wird ein Thema aufgerufen, das in Österreich in den letzten Jahren zu heftigen Diskussionen und Kritik von Seiten internationaler Menschenrechtsorganisationen geführt hat, fielen die Urteile gegen Mitarbeiter/ innen der österreichischen polizeilichen Institutionen, die den Tod ausländischer (Seibane Wague) oder minderjähriger (Florian Pirker) Staatsbürger verantwortet hatten, doch sehr mild aus. <?page no="227"?> 3.2 Nach den Kriegen 227 erzählt „seine eigene Geschichte“ (WS 63): Während seine zweite Frau Violetta im Zuge der staatsterroristischen Maßnahmen ihr Leben verlor, 636 sei, so der Alte, „seine erste Frau und ihre gemeinsame Tochter am Ende des Krieges von den Kommunisten umgebracht worden“ (WS 48). Genau genommen hatte der Alte die Kriegswirren genutzt, um Frau und Tochter zu verlassen. Diese Tochter ist niemand anders als Marija, die ihrerseits den Vater jahrzehntelang für tot geglaubt hatte. Kenntnis darüber, dass ihr Vater noch am Leben und auf der Suche nach ihr ist, erlangt Marija während ihres Aufenthaltes in der kroatischen Hauptstadt (und der Leser/ die Leserin mit dem - berühmten - ersten Satz des Romans): „Es war in ihrem zweiten Monat in Zagreb, im Herbst, in dem der Krieg begonnen hatte, als Marija die Nachricht erreichte, die ihr das eigene Leben für immer fremd machte.“ (WS 9) Die emotionale Energie, die die Universitätslektorin für Serbokroatisch [sic! ] bisher investiert hat, um die Abwesenheit des Vaters zu handhaben und schließlich die allzu große Wahrscheinlichkeit seines Ablebens einzugestehen, erweist sich nun als jeglicher Grundlage und jeglichen Sinns entbehrend. Bot der ,tote‘ Vater auch eine ideale Projektionsfläche, um ihn so zu erinnern, wie die Tochter ihn gerne gehabt hätte, vereitelte er als solcher doch ein Zur-Rede-Stellen und die Konfrontation mit seinen politischen Idealen, von denen sich Marija seit jeher nur distanzieren konnte. Während sich die begangene Trauerarbeit als schlussendlich gegenstandslos herausstellt, entpuppt sich der begehrte symbolische Vatermord als nur vermeintlich unmöglicher. Dieses Spannungsfeld zwischen einem ‚doch nicht‘ und ‚eben schon‘ muss Marija auflösen, um zu einem (selbst)bewussten Umgang einerseits mit sich selbst und den verschiedenen lieb gewordenen Abwehrstrategien, 637 andererseits mit ihrer Familiengeschichte, ob als Tochter, ob als Mutter, ob als Ehefrau, zu finden. Ein Indiz dafür, dass Marija diese Herausforderung annimmt, ist der Brief, den sie im Zagreber Hotelzimmer verfasst: „es wurde alles andere als ein Brief an ihn, eher einer, den sie an sich selbst richtete“ (WR 255). Mit der nach Marijas Rückkehr in Wien von Ludwig brieflich übermittelten Nachricht vom Tod des Alten erfährt diese Aufgabe einer Neuinterpretation der eigenen Geschichte eine weitere Wendung: ‚eben doch‘ ist der Vater tot, erschossen. Der - nicht minder berühmte - letzte Satz kündet von der für Marijas nun anstehenden Einlösung jener Überführung von Privatem und Politischem, die vormals von Albert besetzt bzw. verletzt worden war. Zu später Stelle findet zudem Gstreins in Das Handwerk des Tötens so zentrale Auseinandersetzung mit poetologischen Prämissen explizit Eingang: Sie stand da, hielt die beiden Blätter mit der ein wenig kindlichen Schrift in der Hand und fühlte sich befreit, bis ihr klar wurde, es war nicht nur eine von 636 Genauer gesagt auf Initiative des Alten, der Violettas Eifersucht auf Claudia, die er kurz davor kennengelernt hatte, nicht ertrug, vgl. WS 80f. 637 Vgl. dazu WS 261f. <?page no="228"?> 3. Textarbeit 228 den Geschichten, in die sich für ihren Mann alles verwandelte, und es würde einer größeren Anstrengung bedürfen, wenn sie endlich ganz davon loskommen wollte, größer jedenfalls als die kleine Mühe, ein Buch zuzuklappen, das zu Ende war, und nicht mehr daran zu denken. (WS 284) Die Erfahrung des Verlustes von Identitätsstabilität ist nicht alleine Marija vorbehalten, sondern sie teilt sie mit dem Alten und Ludwig, die allesamt Fremdheitserfahrungen sammelten: kultureller Art - so der Alte, der mit seiner Emigration nach Argentinien gezwungenermaßen mit neuen Wirklichkeitsordnungen konfrontiert wurde - und sozialer Art - so Ludwig, der sich angesichts der in Österreich empfundenen Fremde: der Ausschließung, der Nichtzugehörigkeit, ganz bewusst auf das fremde Land Argentinien stürzte. Als „zentrales Motiv“ von Die Winter des Südens hat Milka Car denn auch „[d]ie Figur der Reise, des Fortkommens und des aufschiebbaren, wiederholbaren und nie endenden Ankommens in einem Land, einer Stadt oder sogar in einer geschichtlichen Epoche“ ausgemacht. 638 Das für den Romanverlauf so maßgebliche Moment der Reise schlägt sich indes mitnichten in einer Auseinandersetzung mit und Gestaltung von kulturellen Alteritätserfahrungen nieder. Mit Nachdruck setzt Gstrein vielmehr die immanente und ‚beunruhigende Fremdheit‘ 639 in uns selbst auf die Agenda, setzt mit der Figur der Marija diese in ihren unterschiedlichen Variationen und Komplexitätsstufen in Szene. Selbst die Beziehung von Marija und Albert stellt nichts anderes als die langjährige Geschichte einer Entfremdung dar, und der Aufbruch nach Kroatien das doppelt motivierte Bedürfnis, diesen Entfremdungszustand zu suspendieren und sich auf die lange verdrängte Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft einzulassen. Immerhin war es ihre (Marijas, D.F.) Heimat, und die Nachrichten von den ersten Auseinandersetzungen hatten sie wieder in die alten Gedanken gestürzt, was gewesen wäre, wenn sie als Kind nicht hätte weggehen müssen, damals im Krieg, mit ihrer Mutter in das scheinbar noch sichere Wien, weil die Partisanenkämpfe das ganze Land in Aufruhr versetzten und sie zu Hause an der kroatischen Küste nicht mehr bleiben konnten. Sie hatte sich immer gefragt, ob das Leben sich dann auch so zufällig angefühlt hätte oder ob es notwendiger gewesen wäre, schwerer vielleicht, in dem Paradies, das sie in Erinnerung hatte, aber notwendiger, und das holte sie jetzt wieder ein. (WS 14) 638 Car, Milka: Zu Gast im eigenen Land. Gstreins Die Winter im Süden und Štiks' Die Archive der Nacht, in: Fountoulakis/ Previsic (2011: 55-73, 55). 639 Rückübersetzt ins Deutsche lautet die französische Übersetzung von Sigmund Freuds Das Unheimliche [L'inquiétante étrangeté] „die beunruhigende Fremdheit“. Vgl. dazu die Anmerkung der Übersetzerin Xenia Rajewski, in: Kristeva, Julia: Fremde sind wir uns selbst. A. d. Franz. v. Xenia Rajewsky, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1990 (edition suhrkamp 1604), 199. <?page no="229"?> 3.2 Nach den Kriegen 229 Marijas Aufbruch nach Zagreb führt zu einer Verkehrung konventioneller Rollenverteilungen, und ermöglicht symbolische Grenzüberschreitungen. 640 Nicht weiter verwunderlich ist es schließlich, dass Marija, die unter den wiederholten Seitensprüngen ihres Mannes doch immer noch leidet, ausgerechnet in Zagreb ‚fremdgeht‘. Marija begehrt den jungen Soldaten Angelo, den sie Anfang Oktober im Zagreber Maksimir-Park während seines Genesungsurlaubs nach einem „Zwischenfall“ 641 (WS 103) kennengelernt hat. Angelo, der vom Alter her doch ihr Sohn sein könnte, erinnert Marija an ihren Vater, womit auch die Beziehung von Marija und Angelo auf einen im bisherigen Textkorpus über den kriegerischen Zerfall Jugoslawiens nicht behandelten, in Die Winter des Südens jedoch sehr präsenten Aspekt verweist: die Eltern-Kind-Beziehung bzw. die Auswirkungen des Krieges auf ebendiese. „,Söhne sterben im Krieg‘“, so räsoniert Albert nach der Rückkehr seiner Frau in Wien, worauf Marija entgegnet: „,Töchter müssen nach dem Krieg weiterleben [...]. Vielleicht ist das manchmal nicht unbedingt leichter für sie.‘“ (WR 282) Diese Eltern-Kind-Beziehung wird mit dem Alten und Marija, dem Alten und seinen Zwillingstöchtern, Marija und Albert sowie ihrer in den USA weilenden Tochter wie auch Ludwig und seiner kleinen Tochter, deren Mutter ihm jeglichen „‚außertourlich[en]‘“ Kontakt verwehrt, in verschiedenen Spielarten durchdekliniert und als einseitig aufgekündigter Pakt fokussiert. Mit Angelo und Marija schließlich erfährt das generationelle Verhältnis zwischen Eltern und Kind eine prekäre Zuspitzung, die an eine ‚Störung‘, eine Auflösung der genealogischen Ordnung gemahnt. 642 Mit Angelo kommt zudem eine Figur ins Spiel, die im Unterschied zum Alten und Albert nicht länger dem Status des fernen Beobachters verhaftet ist, sondern in Slawonien die Kämpfe selbst erlebt hat. Marija, die sich dem Rausch mit dem Liebhaber hingibt, empfindet die von Angelo angezettelten Diskussionen und Debatten über den Krieg als „immer [...] dasselbe, die Situation in Slawonien, die Beschießung der Dörfer durch die Armee, die Belagerung von Vukovar und ob sich die Kämpfer an der Front wirklich von der Regierung allein gelassen fühlen mußten“ (WS 106). Ihrem Mann, der die zunehmende Bedrohung Zagrebs von seinem Fernseher aus in Wien mitverfolgt, dabei freilich nicht die geringste Ahnung hat, mit wem und wie 640 Vgl. WS 15. 641 Eine kroatische Frau gerät in Gefangenschaft und wird, mit Sprengstoff bestückt, gezwungen, sich Angelos Stellung zu nähern. „,Sie hat keine Wahl gehabt.‘ […] ‚Sie ist eine von uns gewesen.‘ […] ‚Wir haben den Befehl bekommen, zu schießen, und sind in Deckung gegangen‘, fuhr er fort, nachdem er eine Weile mit geschlossenen Augen in die Stille gelauscht hatte. ‚Da ist schon alles vor uns in die Luft geflogen.‘“ (WS 104) Die Schilderung dieses Vorfalles ist die einzige Passage, die dem Leser/ der Leserin (Angelos) konkrete Kriegserfahrungen vergegenwärtigt. 642 Vgl. dazu: Berkel, Irene (Hg.): Nähe Verbot Ordnung. „Genealogische Nachrichten“, Gießen: Psychosozial-Verlag 2012 (edition psychosozial). <?page no="230"?> 3. Textarbeit 230 Marija ihre Zeit verbringt, ist ihre Uninformiertheit, Unbeeindrucktheit und Unbeteiligtheit unbegreiflich: „‚Lebst du auf dem Mond? ‘“ (WS 112) In der Tat erinnert Marijas Vorgehen, ‚Liebe statt Krieg zu machen‘, durchaus an Praktiken der gegenkulturellen Bewegungen ab Mitte der 1960er Jahre, doch wäre es gleichwohl unzutreffend, ihre Beziehung mit Angelo als gesellschaftspolitischen Protest, als Subversion des Krieges zu interpretieren. Sicherlich ist dabei, wie Marijan Bobinac festgehalten hat, die Beziehung zu Angelo in erster Linie vom Sexus bestimmt, 643 doch greift meines Erachtens diese Erklärung zu kurz. Was Marija in diesen Wochen in Zagreb erlangen bzw. nachholen möchte, ist gerade jenes Setting von Alltag und Normalität, das das Leben eines/ einer Einheimischen bestimmen mag: wohnen - arbeiten - lieben. Was dieses Setting (ob in Zagreb, ob in Wien, ob in Buenos Aires) nun aber ausmacht, ist eine heteronormative Fassung, die ihrerseits auf einem gesellschaftlichen Machtgefälle zwischen den Geschlechtern beruht, die sich in körperlicher Gewalt und seelischer Erniedrigung äußern kann. Am selben Abend, da sie in Anwesenheit des Liebhabers ihren Mann Albert in Zagreb erblickt hat, bittet Marija Angelo, sie zu schlagen. Angelo jedoch durchschaut das komplexe Spiel der Abhängigkeiten und Erniedrigungen zwischen Marija und ihrem Ehemann: „,Den Gefallen werde ich dir nicht tun.‘ [...] ‚Versuchen Sie es einmal mit einem richtigen Barbaren.‘ [...] ‚Wenn es Ihr Mann nicht mehr bringt, gehen Sie in einen Krieg‘[...]. ‚Mit ein bißchen Glück finden Sie dort das Tier, das Sie sich schon immer gewünscht haben.‘“ (WS 114f.) Das Geschehen findet seine Fortsetzung folgenderweise: Dann forderte er sie auf, sich hinzuknien, und sie tat es, obwohl sie auf einmal Angst vor ihm hatte, direkt vor das Bett, wie er es wollte, die Beine weit auseinandergestreckt, den Oberkörper hingestreckt, die Hände über dem Kopf. Sie bat ihn, ihr nicht weh zu tun, aber sie fühlte sich wie gepfählt, in zwei Hälften gespalten, jeder Stoß direkt am Steißbein vorbei die Wirbelsäule entlang bis ins Gehirn, als er über sie kam. Dabei hörte sie nicht, was er sagte, wollte nicht hören, wie er sie nannte, eine richtige Kaskade von Schimpfwörtern, die er hervorstieß, als traue er der Gewalt seines Körpers allein nicht und versuchte, sie damit nur um so mehr festzunageln. Es hatte weder etwas mit der Frau zu tun, die sie davor gewesen war, noch mit der, die sie danach wäre, und sie hielt sich an der Vorstellung fest, genau die leblose Puppe zu sein, die er aus ihr machte, bemühte sich, keinen Laut von sich zu geben, als wäre sie nicht da, verbiß sich nur in ihren Unterarm, daß die Male von ihren Zähnen noch nach Tagen blutunterlaufen, und schloß die Augen. (WS 115) Der Roman vereitelt mit dieser Szene und ihrem Vorspiel eine vorauseilende Verurteilung des Mannes als einzigem Verantwortlichen für die Funktionsmechanismen männlicher - eben auch auf der unseligen Tradition weiblicher Komplizinnenschaft mit patriarchalen Strukturen beruhender - Gewalt, und schlägt mit dem am Ende des Romans bestätigten Coming Out von Marijas 643 Vgl. Bobinac (2009: 191). <?page no="231"?> 3.2 Nach den Kriegen 231 und Alberts Tochter einen Ausweg aus der heteronormativen Ordnung ein bzw. vor. Hier klingt womöglich an, was der Elterngeneration, den 68ern, doch misslungen zu sein scheint: die sogenannte sexuelle Revolution bzw. Befreiung. Dem Roman einen dekonstruktiven, nicht affirmativen, Gestus in Sachen Sexualität und Geschlechterordnung zu unterlegen, fällt jedoch insofern schwer, als sämtliche weibliche Figuren - Marija, Claudia, Violetta, selbst die erschossene Polizistin Nina - über ihre Beziehung zu männlichen Bezugsfiguren (Marija) respektive ihre Rolle als weibliche Verführerin (Claudia), somit über ihren Körper definiert, oder aber lediglich als Tote repräsentiert werden (Violetta und Nina). 644 Dem durchgängigen Verfahren des Romans entsprechend, Handlungsstränge und Figurenkonstellationen in ihrer jeweiligen Entsprechung oder auch Kontrastierung zu parallelisieren, wird Angelo, dem Soldaten, mit dem Alten eine Figur gegenübergestellt, die den Kriegsausbruch in Kroatien aus der Distanz verfolgt. Das als besonderes Spannungsfeld der Reiseerzählung erkannte Verhältnis von Nähe und Distanz erfährt in dieser Ankopplung der beiden Kategorien an bestimmte Romanfiguren auch Eingang in Gstreins Roman; implizit wird außerdem die Frage aufgeworfen, welchen - vermeintlichen - Vorteil dabei die Nähe zu den Kriegsschauplätzen bringt, um davon erzählen zu können. Es sticht ins Auge, dass die ‚Marija-Kapitel‘ wohl einen Einblick in die Anstrengungen ihrer Zagreber Zeitgenoss/ innen vermitteln, den Alltag in seiner Normalität aufrecht zu erhalten, Angelos Ausführungen zu seinen Einsätzen „irgendwo in den umkämpften Gebieten in Slawonien“ (WS 103) jedoch nur knappen Raum gewähren. Dieser Umstand kann auch damit erklärt werden, dass das Erzählen der „kroatischen Verhältnisse“ 645 Ludwig übertragen wird. Sein Wissensstand über Jugoslawien, Kroatien und den Zweiten Weltkrieg entspricht jenem eines/ einer deutschsprachigen Durchschnittslesers/ -leserin, was ihn zur geeigneten Mittlerfigur macht. Die Quelle für Ludwigs ,Vermittlungen‘ stellen vornehmlich jene Gespräche dar, die der Alte mit seinem Freund Don Filip, einem rechtsextremen Franziskanerpater aus der herzegowinischen Kleinstadt Široki Brijeg, führt. Ihrer beider Wahrnehmung der Geschehnisse in Kroatien in den Wochen und Monaten vor der Unabhängigkeitserklärung vom 25. Juni 1991 erfolgt vor der Folie ihrer Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg. Aus einer Entfernung von über 11.000 Kilometern unternehmen somit die beiden Exilkroaten dieselbe Hinwendung zu vergangenheitspolitischen Debatten, wie sie ab dem Jahr 1990 auch ,vor Ort‘, in Kroatien, verstärkt einsetzte. Dieser diskursive Wandel und die politische Entwicklung Kroatiens als geschichtsrevisionistische war 644 Vgl. zur Thematik der Auslöschung der Frau in der abendländischen Literatur und Kunst seit 1750 Bronfen, Elisabeth: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik. Dt. v. Thomas Lindquist, München: dtv 1996. 645 Bobinac (2009: 178). <?page no="232"?> 3. Textarbeit 232 auch von westlichen Beobachter/ innen erkannt und ausgelegt worden: als, so wird es Alberts Mann unterlegt, „‚Wiederkehr des Faschismus‘“ (WS 109). Wie es Bobinac pointiert darlegt, besteht nun die Pointe des Romans "darin, dass sich „in der These von einer Kontinuität zwischen 1945 und 1991 […] paradoxerweise die Ansichten des Wiener-Alt-Achtundsechzigers mit jenen des Ustascha-Nostalgikers aus Buenos Aires [berühren], obwohl beide bei ihrer Argumentation selbstverständlich völlig entgegengesetzte Ausgangspositionen vertreten.“ 646 Könne man die Kriege im ehemaligen Jugoslawien auch „nicht simpel als eine Art Wiederaufleben des Bürgerkrieges im Zweiten Weltkrieg begreifen“, so fasst Ljiljana Radonic in ihrer Dissertation über den Wandel der kroatischen Vergangenheitspolitik zwischen 1990 und 2003 zusammen, so sei es für ein Verständnis der politischen Entwicklung Kroatiens ab 1990 doch unumgänglich, die Deutungskonflikte um den Zweiten Weltkrieg nachzuvollziehen. 647 Zentraler Topos dieses ‚Kampfes um die Erinnerung‘, der das autoritäre Tuđman-Regime dabei unterstützte, seine nationalen Politik mit einem einseitigen nationalen Opfer-Narrativ zu untermauern, 648 ist Bleiburg - vormals in Jugoslawien Tabu-Thema. 649 Ausgerechnet bei einem Besuch des Viehmarktes von Buenos Aires und wohl nicht zufällig erzählt der Alte dem österreichischen (Ex-)Polizisten von dem Massenmord im Mai 1945: Noch vor der drohenden Niederlage und Eroberung Zagrebs durch die Jugoslawische Volksbefreiungsarmee hatte sich, wie Radonic verschiedene historiographische Quellen zusammenfasst, ein Zug aus „rund 150.000 Ustascha, Domobranen, zivilen Verwaltungskräften der NDH (Nezavisna Država Hrvatska, der kroatischen Ustascha-Staat, D.F.) und Zivilpersonen dem in eine Flucht übergehenden Rückzug der rund 300.00 Wehrmachtssoldaten Richtung Österreich angeschlossen. Hinzu kamen rund 17.000 slowenische Domobranen (Weißgardisten), serbische Techetnik und rund 10.000 slowenische Zivilisten.“ 650 Die in eine Flucht übergehende Rückzugsbewegung wird in Die Winter im Süden folgenderweise dargestellt: Soviel Ludwig verstand, hatten sich dort (in Bleiburg, D.F.) nach dem Abzug der Deutschen aus Zagreb große Teile des mit ihnen verbündeten kroatischen Heeres, gefolgt von Zehntausenden Zivilisten, vor der Rache der nachdrän- 646 Ebenda, 193. 647 Radonic (2010: 15f.). Den Wandel der Vergangenheitspolitik untersucht Radonic anhand der folgenden politischen Wenden Kroatiens: 1990 (erste demokratische Wahlen Kroatiens, Beginn des ‚Tuđman-Regimes ); 2000 (sozialdemokratische Ära nach Tuđmans Tod im Dezember 1999); 2003 (neuerlicher Wahlsieg der u.a. von Tudmann gegründeten Partei HDZ). 648 Vgl. Assmann, Aleida: Vorwort, in: Radonic (2010: 9-11, 9). 649 Vgl. Radonic (2010: 103). 650 Ebenda, 98. <?page no="233"?> 3.2 Nach den Kriegen 233 genden Partisanen in Sicherheit zu bringen versucht, indem sie über die österreichische Grenze geflohen waren, und er wußte, was es bedeutete, wußte, worauf der Alte hinauswollte, wenn er stets von neuem betonte, gut die Hälfte von ihnen seien Frauen und Kinder gewesen. (WS 70) Obwohl die Engländer „gewußt [hätten], was passieren würde“ (WS 71), wurden die Soldaten und Zivilist/ innen nach Jugoslawien zurückverlegt: „Dabei mußten Tausende zu Tode gekommen sein, und noch mehr, mit denen, die dann durch das halbe Land getrieben wurden, richtige Spießrutenläufe oft in den Dörfern […].“ (WS 70) Für diese Märsche habe sich, so der an der Universität Zagreb lehrende Historiker Ivo Goldstein, in den 1990er Jahren der Begriff ‚Kreuzweg‘ durchgesetzt. Wie viele Soldaten und Zivilist/ innen ums Leben kamen, kann mit gesicherten Zahlen nicht belegt werden, 651 dementsprechend vage bleibt die Angabe im Roman: „Tausende“. Gstreins Verfahren, der außertextuellen Referentialität und dem historiographischen Wissen über Bleiburg gerecht zu werden, lässt sich also als ein äußerst achtsames ausmachen. Das Geschehene wird, in Ludwigs Fokalisierung und im Modus des Konjunktivs, als ein erzähltes, als ein indirektes vorgeführt. Im Grunde handelt es sich dabei um den Konjunktiv der indirekten Rede, da jedoch die umgewandelte Äußerungen auch ohne Rückverweise auf ihr Subjekt als Hauptsätze in konjunktivischer Form auftreten, werden die Momente der Potentialität und Irrealität verstärkt. Jene Einsprengsel des Alten in direkter Rede, die als Wechselrede aufgebaut werden, umreißen persönliche Einschätzungen, nicht faktualen Weltbezug. Sobald auf konkrete historische Daten angespielt wird, versieht der Alte diese bzw. die offizielle Geschichtsschreibung mit einem Fragezeichen, so wenn er über den Ausbruch aus der Marschkolonne berichtet: „‚Wenn man glauben will, was in den Schulbüchern steht, ist der Krieg da schon seit einer Woche vorbei gewesen, und ich habe Glück gehabt wie ein Teufel‘, sagte er.“ (WS 70) Diese Strategien der Wiedergabe von direkter Rede, von Weltbezug und Wissen schreiben sich in Gstreins Poetik der Fiktionalisierung von Historischem ein, deren grundsätzliches Anliegen es ist, ausgehend von umfassender Recherchearbeit die Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Repräsentation, die Momente des Lückenhaften, des Konstruktiven und Imaginären, mit denen sich schließlich auch die Historiographie konfrontiert sieht, als solche in Anschlag zu bringen. Dessen ungeachtet kann ihm eines gewiss nicht zum Vorwurf gereicht werden: ein ‚Neu-Schreiben‘ der Geschichte, das auf ungesicherter Tatsachengrundlage oder einem ‚Verdrehen‘ der Wirklichkeit beruhen würde. 651 Vgl. ebd.: „Die Zahl der Personen, die rund um die österreichisch-jugoslawische Grenze den Partisan/ innen übergeben wurde oder sich ihnen ergaben, ist bis heute umstritten.“ <?page no="234"?> 3. Textarbeit 234 ,Bleiburg‘ verfolgt den Alten zunehmend nach seiner Ankunft in Zagreb, nach dem endlich erfolgten Ankommen ,am Ort des Geschehens‘ - ein klassischer Kompensationsakt: „Die Wahrheit war, daß er sich von diesem Krieg längst verabschiedet hatte, seit ihm aufgegangen war, daß er nicht selbst mitmischen konnte, und er suchte sein Heil mehr und mehr in der Vergangenheit.“ (WS 215) Mit einer an Besessenheit gemahnenden Akribie versucht der Alte, der nach den alleine verbrachten Sommermonaten voller „Alibihandlungen“ (WS 197) wieder den aus Wien eingetroffenen Ludwig an seiner Seite hat, „bis ins kleinste Detail zu rekonstruieren, was am 15. Mai 1945 in Bleiburg geschehen war.“ (WS 214) Für den Leser/ die Leserin handelt es sich dabei um die erste - und einzige - Datumsangabe des Romans: selbst die Jahreszahlen ‚1968‘ und ‚1991‘ werden nicht angeführt, sondern als Leerstellen im konkreten Leseakt gefüllt. Auch „‚Signalwörter‘“ 652 oder, in der Diktion Handkes, „Wort- Geschosse[...]“ 653 wie Hitler oder Tuđjman finden keinen Eingang in den Drucktext. Ludwig, der den Alten auf dem gemeinsamen Rückflug nach Zagreb wenige Monate zuvor auf dem Frankfurter Flughafen verlassen hatte, war mit dem telefonisch erhaltenen Auftrag, die Tochter des Alten zu beschatten, überredet worden, doch wieder in seine Dienste zu treten. In Zagreb spielen nun die letzten vier Romankapitel, mit einem um eine weitere Eltern-Kind- Konstellation erweiterten Figurenarsenal. Der Alte hat eine kroatische arbeitslose Historikerin - und überzeugte Kommunistin - für das Ordnen seiner Bleiburg-Dokumente, für die wissenschaftliche Untermauerung seines ‚Geschichte-Umschreibens‘ engagiert (vgl. WS 231). Mit ihrer Tochter - das von Marija im Hotelfoyer gesichtete ‚Mädchen‘ - tanzt der Alte Tango und trinkt Champagner; auf Bitte des Alten flicht sie ihr Haar in zwei Zöpfe, den Frisuren der in Buenos Aires zurückgebliebenen Zwillingstöchtern gleich. Sie ist es schließlich auch, die den Alten mit einer Pistole erschießt, womit nach Marijas Tochter Lorena auch die Tochter der Historikerin aus der ihr zugewiesenen Ordnung und Opferbzw. Objekt-Rolle ,aussteigt‘. In diesem Erzählstrang, in Gstreins Auseinandersetzung mit der Ordnung der Geschlechter verbirgt sich, so scheint mir, das nachhaltigste Vermächtnis dieses Romans, der, auch das dürfte offensichtlich geworden sein, für das Erzählen des kriegerischen Zerfalls Jugoslawiens neue, hinsichtlich des bisherigen Textkorpus ,unverbrauchte‘ Narrative integriert. 652 Vgl. dazu, mit Bezug auf Das Handwerk des Tötens, auch Kruzel (2006: 139) sowie Bobinac (2009: 180). 653 Handke, Peter: Am Ende ist fast nichts mehr zu verstehen. Die Debatte um den Heinrich-Heine-Preis, in: ders: (2007: 508-512, 508). <?page no="235"?> 3.2 Nach den Kriegen 235 3.2.1.3 Saša Stanišić: Wie der Soldat das Grammofon repariert 654 In seinem Essay Was von Auschwitz bleibt, Weiterführung des Homo sacer-Projektes und Auseinandersetzung mit dem Unsagbarkeitstopos des Lagers anhand der Instanz der Zeugenschaft, schreibt Giorgio Agamben mit Rückgriff auf Primo Levis letztes Buch Die Untergegangenen und die Geretteten (1986) auch von einem Fußballspiel, das in Auschwitz zwischen der SS und dem Sonderkommando stattgefunden haben soll. Dem einen, so Agamben, würde dieses Spiel als „kurze Pause der Menschlichkeit inmitten des unendlichen Grauens“, der anderen jedoch - und das ist auch die Ansicht Agambens - als „das eigentliche Grauen des Lagers“ erscheinen. 655 Von einem Fußballspiel inmitten des Grauens des Krieges erzählt auch Saša Stanišić in seinem 2006 erschienenen Debütroman Wie der Soldat das Grammofon repariert. In einem in sich geschlossenen Kapitel treten Serben und Territorialverteidiger während eines Waffenstillstandes auf den Bergen um Sarajevo gegeneinander an. Agambens Verweis auf die möglichen unterschiedlichen Ansichtsweisen ein und desselben Geschehens nimmt schließlich auch einen Grundzug des Textes, der bereits im Romantitel anklingt, von Stanišić vorweg: In diesem spürt sein (im ersten Teil) kindlicher Protagonist Aleks selbst noch innerhalb der grauenvollsten Umstände Menschlichkeit auf. Breit besprochen und vom Gros der Literaturkritiker/ innen äußerst wohlwollend aufgenommen, 656 wurde Stanišić für seine Entscheidung, den Bosnien-Krieg mitunter aus einer kindlichen Erzählperspektive zu repräsentieren, doch auch viel Unverständnis entgegen gebracht, diese als eine verharmlosende kritisiert: „Der Krieg trägt Kittelschürze“. 657 Die Hardcover-Ausgabe des noch vor seiner Erscheinung auf die Shortlist zum Deutschen Buchpreis gesetzten Romans ist laut Auskunft der Presseabteilung des Literaturverlags Luchterhand mittlerweile in der vierten Auflage erhältlich; außerdem gibt es eine Taschenbuchausgabe und ein Hörbuch. Drei 654 Vgl. für eine frühere und kürzere Version dieses Kapitels: Finzi, Daniela: Wie der Krieg erzählt wird, wie der Krieg gelesen wird. Wie der Soldat das Grammofon repariert von Saša Stanišić, in: Müller-Funk/ Bobinac (2008: 245-254). 655 Agamben (2003: 23). 656 Die erhöhte Aufmerksamkeit, die dem Roman von der Literaturkritik zuteil wurde, ist mit ein Grund, weshalb in meinen Ausführungen in einem größeren Ausmaß als in den anderen Kapiteln die Beiträge der Literaturkritik berücksichtigt werden. Zu literaturwissenschaftlichen Arbeiten zu Stanišićs Roman vgl. Weidenholzer, Anna: Aspekte und Möglichkeiten einer interkulturellen Literatur aus Bosnien-Herzegowina am Beispiel von Saša Stanišić, Alma Hadzibeganovic und Aleksandar Hemon. Diplomarbeit: Universität Wien 2008, sowie Schütte, Andrea: Grenzverhältnisse in Saša Stanišićs „Wie der Soldat das Grammofon repariert“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 129 (2010), Sonderheft Grenzen im Raum - Grenzen in der Literatur, 221-235. 657 Radisch, Iris: Der Krieg trägt Kittelschürze. Saša Stanišić schreibt seinen ersten Roman über den Bosnien-Krieg und stolpert über die Poesie des Kindlichen, in: Die Zeit v. 6.10.2006. Vgl. zur Aufnahme in der Literaturkritik und ihren Erwartungen auch Weidenholzer (2008: 111-133). <?page no="236"?> 3. Textarbeit 236 unterschiedliche Verlage haben die Rechte für Bosnien (Buybook), Serbien (Cigoja Stampa) und Kroatien (Fraktura) erworben; insgesamt ist der Roman, so der Stand im August 2011, in 31 nicht-deutschsprachigen Ländern erschienen. 658 Diese erfolgreiche Zwischenbilanz des „literarischen Aufsteiger[s] des Jahres“ und „Popstar[s] unter den jungen Erzählern“, 659 der als Vierzehnjähriger mit seiner Familie nach Deutschland flüchtete, mag insofern überraschen, als zum Zeitpunkt der Veröffentlichung die Kriege des ehemaligen Jugoslawien bereits von anderen internationalen Krisenherden abgelöst worden, andere Länder und Literaturen in das Blickfeld der deutschsprachigen Verlage und Leser/ innen gerückt waren. Stanišić erzähle die Geschichte „eines Krieges, der fast vergessen scheint“, 660 resümiert denn auch ein Rezensent mit Anspielung auf diese deutschsprachige Leserschaft, die doch - insbesondere in Österreich und der Schweiz - allein aufgrund demographischer Entwicklungen nahezu gezwungen sein sollte, den Raum des ehemaligen Jugoslawiens als kulturellen Faktor wahrzunehmen. Dem von Heinz Fassmann herausgegebenen 2. Österreichischen Migrations- und Integrationsbericht ist beispielsweise zu entnehmen, dass im Jahr 2007 Serb/ innen und Montenegriner/ innen (137.289) die zahlenmäßig stärkste Gruppe der in Österreich lebenden Bürger/ innen ,fremder Nationalität‘ stellten, gefolgt von Türk/ innen (108.808), Deutschen (113.668), Bosnier/ innen (86.427) und Kroat/ innen (57.103). 661 Gleichzeitig liefern diese Zahlen auch eine Teilerklärung 662 bezüglich der vorhin aufgeworfenen Verwunderung ob Stanišićs Erfolg. Mit Müller-Funk gesprochen, hat Wie der Soldat das Grammofon repariert bestimmte „Erzählgemeinschaften“ 663 angesprochen bzw. versorgt. Die Vermutung, dass demgegenüber das Interesse der ,inländischen Staatsangehörigen‘ an der Geschichte und den Kriegen des ehemaligen Jugoslawien im Schwinden begriffen ist, kann mit einer Prüfung der österreichischen Schulbücher belegt werden. Als ‚Unterrichtsstoff‘ der Fächer Geschichte und Sozialkunde/ Politische Bildung stehen in österreichischen Schulen die Kriege der 1990er Jahre - immerhin die ersten auf dem europäischen Kontinent seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, immerhin in einem vormaligen 658 So wurde mir per Mail am 19.8.2011 vom Literaturverlag Luchterhand mitgeteilt. 659 Wilton, Jennifer: Das Lächeln des Landes, in: Die Welt v. 25.11.2006. 660 Weidermann, Volker: Ich bin Jugoslawien, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 1.10.2006. 661 Vgl. Fassmann, Heinz (Hg.): 2. Österreichischer Migrations- und Integrationsbericht 2001-2006. Rechtliche Rahmenbedingungen, demographische Entwicklungen, sozioökonomische Strukturen, Klagenfurt: Drava 2007, 169. 662 Dagegen spricht der Umstand, dass Stanišićs Roman auch in Sprachen von Ländern, die eine geringere Migrationsbewegung aus dem ehemaligen Jugoslawien zu verzeichnen haben, übersetzt wurde, bzw. müsste eine solche Untersuchung mit einer gründlichen Prüfung der Auflagezahlen bzw. der tatsächlich verkauften Bücher einhergehen. 663 Müller-Funk (2008: 14). <?page no="237"?> 3.2 Nach den Kriegen 237 ‚Nachbarland‘ Österreichs - gar nicht auf dem Lehrplan. 664 Via persönlicher Erzählungen - die Stütze des Familiengedächnisses - erfahren von Jugoslawien und seinen Kriegen wohl nur wenige österreichische Kinder ‚ohne Migrationshintergrund‘, ob im Jahr 2006 oder 2012: Kinder mit Freund/ innen, deren Familien im Zuge der Kriege ihre Heimat verlassen mussten und nach Österreich flüchteten; Kinder, deren (Groß)Eltern den kriegerischen Zerfall als politische Zeitgenossen miterlebten und möglicherweise an der Ohnmacht der eigenen Generation noch nagen. Ähnlich dürfte die Prognose für Deutschland oder die Schweiz ausfallen. Wir haben es hier mit einem Phänomen zu tun, das über den ,Fall Jugoslawien‘ und seine kriegerischen, migratorischen und demographischen Entwicklungen hinausgehend auf die Frage nach dem Erinnen des Kommunismus verweist. Nach Buden scheint kein Begriff des kulturellen Gedächtnisses heute in der Lage zu sein, „den Kommunismus als das zu evozieren, was er - trotz des Terrors, der ihn begleitet hat - seinem Wesen nach war: das Konzept einer universalen Emanzipation […]: daß sein erstes Ziel eine bessere Welt ist, erst danach die Prosperität seiner lokalen Gemeinschaft oder das Interesse seiner partikularen - ethnischen, religiösen oder gender - Identität.“ 665 Diese Unmöglichkeit, die kommunistische Erfahrung des politischen Engagements als solche - in anderer Form als im verklärenden Blick der Nostalgie - zu erinnern, betrifft sowohl Ostals auch Westeuropa; nach Buden resultiert daraus für die expandierende westliche Moderne gleichsam ein Zwang, „die Erfahrung des Kommunismus auch in der Figur einer jenseits ihres Universalanspruchs partikularen und deshalb auch ,fremden‘ Kultur auszuschließen, etwa als ,asiatisch‘, ,byzantinisch‘, ,nicht-, prä-, oder antimodern‘, ,verspätet‘ oder ,nachholbedürftig‘.“ 666 In kultureller Übersetzung - und als Machtverhältnis - erfährt das bereits tot geglaubte Ost-West-Paradigma seine Wiederauferstehung; Gemeinsamkeiten zwischen Ost und West - vornehmlich der auf beiden Seiten vonstattengehende Abbau des Wohlfahrtsstaates - konnten so aus der Wahrnehmung der Beteiligten ausgeklammert werden. 667 664 Der betreffende Band der Zeitbilder-Reihe (Zeitbilder 7&8. Geschichte und Sozialkunde. Politische Bildung. Vom Ende des Ersten Weltkrieges bis in die Gegenwart), der in der ersten Auflage 2006 bei dem in Wien angesiedelten Österreichischen Bundesverlag Schulbuch erschien, weist kein Kapitel oder Unterkapitel zum kriegerischen Zerfall Jugoslawiens auf. Lediglich im vierten Kapitel („Migration und Integration“) heißt es auf S. 284: „Aufgrund der Kriege und ethnischen Säuberungen im zerfallenden Jugoslawien (Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo) kam es zu einer Massenflucht aus diesen Balkanländeren nach Westeuropa, darunter auch nach Österreich.“ 665 Buden, Boris: Zone des Übergangs. Vom Ende des Postkommunismus, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2009 (edition suhrkamp 2601), 62. 666 Ebenda, 63. Mit Blick auf unseren Untersuchungsgegenstand könnte die Liste um das Attribut ,balkanisch‘ ergänzt werden. 667 Ebenda, 72. <?page no="238"?> 3. Textarbeit 238 Zurück zum Erinnern der Kriege: Die Frage nun, in welchem Ausmaß in den einzelnen Nachfolgeländern Jugoslawiens die Auseinandersetzung mit dem kriegerischen Zerfall Jugoslawiens, seinen Ursachen und der, vermeintlich, unaufhaltsamen Dynamik unternommen oder unterlassen, ob, wie und von wem die Deutungshoheit darüber beansprucht und für die Rekonstruktion des kollektiven Gedächtnisses und dessen Renationalisierung, für die Remodellierung der je eigenen nationalen Kultur eingesetzt wird, kann gewiss nicht anhand pauschaler Annahmen abgehandelt werden - empirisch abgesicherte Studien tun hier not. Festgehalten werden kann jedoch zumindest, dass es den erinnerungskulturellen und erinnerungspolitischen Bereichen und Aktivitäten, denen mittlerweile die Beschäftigung mit den kriegerischen Konflikten des ehemaligen Jugoslawiens zuzurechnen sind, nicht an Komplexität und Intensität fehlt. Festgehalten werden kann mit Katja Kobolt aber auch, dass „[d]as Erinnern an die postjugoslawischen Kriege […]“ - und auch das Nicht-Erinnern, so muss hier wohl ergänzt werden - „die Zukunft des südosteuropäischen Raums folgenschwer bestimmen [wird]“. 668 Die zeitgenössischen kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorien finden hier in weites und weitgehend unerschlossenes Feld vor. Seit den 1980er Jahren stellen Denkfiguren wie ‚Gedächtnis‘ und ‚Erinnerung‘ Lieblingsobjekte der kulturwissenschaftlichen Forschung - aber auch anderer gesellschaftlicher Praxisfelder wie Politik und Kultur - dar. Unter diesen Voraussetzungen muss überraschen, dass die narrative Unterlegung von Gedächtnis und Erinnerung bzw. die Zusammenführung einer Theorie des kulturellen Gedächtnisses mit jener des Narrativen erst relativ spät entdeckt wurde. 669 Erinnern und Erzählen sind als „zwei Aspekte des gleichen kulturellen Komplexes und der sie bedingenden Komplexität von Kultur“ 670 miteinander verwoben: ein Nexus, der gleichermaßen Stanišićs Roman fundiert. Stanišićs Erzählen löst ein poetologischen Paradigma ein, das Wiederfinden und Erfinden zur Deckung bringt. Wie der Soldat das Grammofon repariert als eine ,fiction of memory‘ zu bezeichnen - unter diesem Schlagwort fassen Nünning und Neumann „Romane, die das „Zusammenspiel von Erinnerung und Identität in ihrer individuellen oder kollektiven Dimension inszenieren“ 671 -, scheint mir, während andere ‚professionelle‘ Leser/ innen ihn als Kindheits-, Entwicklungs- oder Familienroman katalogisiert haben, 672 668 Kobolt (2009: 11). 669 Weder Maurice Halbwachs noch die Vertreter/ innen der Assmann-Schule rücken „die narrativen Strukturen des Erinnerns und Gedenkens ins Blickfeld“ [vgl. Müller-Funk (2008: 260)]. 670 Müller-Funk, Wolfgang: Erzählen und Erinnern. Zur Narratologie des kulturellen und kollektiven Gedächtnisses, in: Borsò, Vittoria/ Kamm, Ulf (Hgg.): Geschichtsdarstellungen. Medien - Methoden - Strategien, Köln u.a.: Böhlau 2004, 145-165, 146. 671 Neumann B. (2005b: 164). 672 Vgl. zur gattungsspezifischen Verortung, wie sie von der Literaturkritik vorgenommen wurde, Weidenholzer (2008: 117-120). <?page no="239"?> 3.2 Nach den Kriegen 239 denn auch zielführend. - Lassen sich die hohen Auflagezahlen womöglich auch darauf zurückführen, dass der Roman mit gleich mehreren Gattungen korrespondiert und ganz unterschiedlichen (Genre-)Erwartungen gerecht wird? Wohl eher kaum. Neben dem bereits angeführten Moment der ,Erzählgemeinschaft‘ spielte auch „der Autor als wirkliches Individuum“ 673 eine Rolle für Stanišićs Erfolg - was erneut die Rede vom „Tod des Autors“ 674 als gegenstandslos entlarvt, sobald es um Rezeptionspraktiken von ‚durchschnittlichen‘ Leser/ innen sowie auch Literaturkritiker/ innen geht. Dass kaum eine Besprechung auf die biografischen Stationen des äußert sympathisch und smart wirkenden Autors verzichtet, entspricht der langjährigen Tradition der (deutschsprachigen) Literaturkritik und Literaturwissenschaft, Texte von Autor/ innen mit Migrationshintergrund an ihrer Biographie festzumachen. Ob aus Unsicherheit und Unbehagen angesichts der neuen Terrains, die von den ‚fremden‘ Autor/ innen erschlossen werden könnten, ob aus dem Bestreben, einer vermeintlichen Minderheitenliteratur ethnischer Differenz durch Verweis auf die Biografie des Autors/ der Autorin kulturellen Mehrwert zu verleihen - sobald soziopolitische und biographische Faktoren als Gradmesser der Deutung und Beurteilung eines künstlerischen Werkes fungieren, wird ein ästhetischer Diskurs verhindert, zumindest behindert. In seiner Dankrede zur Preisverleihung des Bremer Literaturpreises 2007 kommt Stanišić als ‚Betroffener‘ dieser Rückanbindung seiner Romans auf die eigene Biographie zu sprechen: Ich ging vermutlich - als Literaturwissenschaftler umso mehr - zu blauäugig davon aus, es sei eine Selbstverständlichkeit, den Autor nicht mit seiner Figur gleichzusetzen. Ich hatte aber nicht gerechnet, dass sich die Leser (und die Journalisten) die Sensation der biografischen Identität des Autors mit dem Erzählten so sehr wünschen, und daran sogar Qualitäten ansetzen. 675 Dass es andererseits mit dem „Vorkrieg, d[em] Erleben mancher Dinge dort, Krieg, Flucht und Weiterflucht der Eltern und d[er] versuchte[n] Rückkehr“ 676 deutliche Parallelen zwischen der Geschichte des Romanhelden Aleksandar Krsmanović und seiner eigenen gibt, räumt selbst Stanišić ein. Der Roman zehrt von einer Art ,geliehenen Authentizität‘, und das Wissen um diese (mögliche) autobiographische Untermauerung beeinflusst den Lektürevorgang nachhaltiger als eine durch die Gattungsandeutung ,Roman‘ signalisierte Realitätsentlastung des Fiktionalen. Auch meine eigene Analyse bleibt nicht unbetroffen, freilich weniger von einer etwaigen autobiographischen 673 Agamben, Giorgio: Der Autor als Geste, in: ders.: Profanierungen. A. d. Ital. v. Marianne Schneider, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2005 (edition suhrkamp 2407), 57-69, 58. 674 Vgl. dazu meine Ausführungen in der Einleitung, Fn. 4. 675 Vgl. http: / / www.rathaus.bremen.de/ detail.php? gsid=bremen02.c.1630.de#2007, 31.1.2013 676 So Saša Stanišić im Interview mit Tobias Hierl, in: Buchwelt 109 (Februar/ März 2007). <?page no="240"?> 3. Textarbeit 240 Deckung als im Gegenteil von den unterschiedlichen Ausgangskoordinaten, die der Text aufweist: Hat Stanišić den Roman auch in Deutschland verfasst, lebt sein Protagonist schließlich auch dort, ist es doch nicht der Blick aus der Außenperspektive auf den kriegerischen Zerfall Jugoslawiens als das Fremde, sondern die Auseinandersetzung mit der Geschichte des eigenen Landes, die den Roman konstituiert. Eine Fokussierung auf Motive wie Identitäts-, Alteritäts- und Fremdheitserfahrung würde ganz neue Parameter ins Spiel bringen, weshalb ich mit Absicht von einer solchen hier Abstand nehme. Eine autobiographische Grundierung des Textes verstärkt, so sie zugesprochen wird, die faszinierende Sogkraft, die sich aus den Komponenten des (vermeintlich) Echten und Erlebten speist. 677 Unbewusste und ambivalente, zwischen Mitleid, Ekel, Neid und Begehren changierende Erwartungen eines Lesers/ einer Leserin in Bezug auf Gewalt und Leiden, auf Fremdheit, Exotik und Ursprünglichkeit werden im Leseprozess geweckt und womöglich erfüllt: ein Vorgang der ,Re-Ereignung‘ von Kommunikation in der Lektüre. 678 Ob damit bereits einer Lesart, die den Balkan als mythischen Kriegsschauplatz restauriert, das Terrain bereitet ist, hängt von der konkreten Erwartungshaltung des jeweiligen Lesers/ der Leserin ab. Weniger als affirmative Ausreizung und Perpetuierung eines „Kusturica-Aromas“, 679 sondern als augenzwinkerndes Spiel mit romantisierenden Balkanbildern sind meiner Meinung nach die burlesken und opulent erzählten Tableaus der bosnischen Kindheit zu verstehen. „[I]m Durchschnitt circa hundertfünfzig Jahre“ (WDSR 13) sind (in Aleks Kinderaugen) die Urgroßeltern alt. Auf das Festefeiern verstehen sie sich trotz des bestens, womit das aufgerufene Stereotyp der Geselligkeit wohl nicht ohne Zufall an jenen Figuren festgemacht wird, die wie keine anderen im Roman für das Unwahrscheinliche, das Unmögliche stehen. Dieses wird insofern zum Gegenstand mimetischer Darstellung, als doch der Leser/ die Leserin diesem unglaublich gewitzten und charmanten Aleks zu ‚glauben‘ versucht ist. Sein genaues Alter hingegen wird ihm/ ihr verwehrt und von Aleks wie folgt umschrieben: „zwischen acht und vierzehn, je nach Bedarf, aber auf jeden Fall zu alt, um gekniffen zu werden“ (WSGR 93). Die Unruhe, die Spannung, die angesichts dieses mutmaßenden Gestus sowie der phantastischen Zügen einerseits, der, wie wir sehen werden, verifizierbaren außertextuellen Gegebenheiten andererseits, erwächst, trägt zur literarischen Qualität des Romans entscheidend bei. „Eine gute Geschichte“, 677 Vgl. dazu Andree, Martin: Archäologie der Medienwirkung. Faszinationstypen von der Antike bis heute, München: Fink 2005. 678 Vgl. zum Vorgang der ,Re-Ereignung‘ von Kommunikation in der Lektüre auch: Baßler (2006: 126); sowie zur Befriedigung von aggressiven Bedürfnissen via Literatur oder Film: Anz, Thomas: Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen, München: dtv 2002, 139-131. 679 Schuster, Katrin: Was wiegt ein Spinnenleben? Nominiert für den Buchpreis: der Newcomer Saša Stanišić mit seinem Kriegsroman, in: Berliner Zeitung v. 28.9.2006. <?page no="241"?> 3.2 Nach den Kriegen 241 so wird zu Romanende der geliebte Großvater zitiert, „ist wie unsere Drina: nie stilles Rinnsal, sie sickert nicht, sie ist ungestüm und breit, Zuflüsse kommen hinzu, reichern sie an, sie tritt über die Ufer, brodelt und braust, wird hier und da seichter, dann sind das aber Stromschnellen, Ouvertüren zur Tiefe und kein Plätschern.“ (WSGR 313) Wie der Soldat das Grammofon repariert ist die Geschichte des auch Aleks genannten Jungen Aleksandar Krsmanović, der kurz nach dem Ausbruch des Krieges in Višegrad an der Drina im April 1992 mit seinem serbischen Vater, seiner muslimischen Mutter - „ich bin die Waffe, die sie suchen“ (WSGR 133) - und seiner Großmutter mütterlicherseits nach Deutschland flüchtet. Vor allem aufgrund ihrer Lage an der Verbindungsstraße von Belgrad nach Sarajevo und des in der Nähe gelegenen Wasserkraftwerkes war die Stadt Višegrad in strategischer Hinsicht bedeutend. Der Beschuss Višegrads durch serbische Milizen begann am 6. April 1992, eine Woche später nahm das Užice-Korps der Jugoslawischen Volksarmee (JVA) die Stadt ein, was Aleks folgendermaßen kommentiert: Bräutigame mit Bart, oben Tarnjacke, unten Trainingshose, fuhren vorbei. Geländewagen hupten, Lastwagen hupten. Eine Armee von bärtigen Bräutigamen fuhr vorbei, sie schossen den Himmel an und feierten, die Stadt zur Braut genommen zu haben. Auf den Wagendächern und den Motorhauben schaukelten Bräutigame im Takt der Straßenlöcher, die sie selbst ausgeschachtet hatten, morgens ab neun Uhr dreißig, nun Tage lang, jeden Tag. Die Hände hielten sie flach über die Augen, schielten darunter hervor, mieden die untergehende Sonne. Hinten hingen aus den Anhängern Beine in Grün und Braun, baumelten wie Zierde. (WSGR 110) Mit dem Ziel der ethnischen Säuberung ergriffen nach dem Abzug des JVA- Korps Mitte Mai paramilitärische Milizen, die örtliche Polizei und Teile der serbischen Bewohner/ innen, die die Amtsgewalt in der Gemeinde übernommen hatten, die Macht. 680 Aleks gelingt mit seiner Familie noch im April die Flucht. Seinem Freund Zoran kommt im Roman die Aufgabe zu, das zu dokumentieren, was Aleks zu erleben erspart bleibt: die Stadt ist voller Flüchtlinge, die Drina wird zum Totenbett. Keine von Peter Handke in seiner Winterlichen Reise angeprangerte „(Fern-)Sehbeteiligung“ (WR 56), sondern die telefonische Auskunft eines Augenzeugen - als Augenzeugenschaft gerade in ihrer Unzulänglichkeit hervorgehoben - vermittelt Aleks die Herrschaft des Hasses, die nach all den „Jahren der Nachbarschaft und der Brüderlichkeit und der Einheit“ (WSGR 147) in Višegrad nun das Sagen habe. Dieser Telefonmonolog, den der Andrić-Leser/ die Andrić-Leserin möglicherweise als, 680 Vgl. Punkt 5 der „Background“-Informationen des ICTY-Case Sheets zur Anklage gegen Mitar Vasiljević, online abrufbar unter: www.icty.org/ x/ cases/ vasiljevic/ ind/ en/ vas-ii000125e.pdf, 31.1.2013. <?page no="242"?> 3. Textarbeit 242 wie Stephen Greenblatt sagen würde, 681 ‚Verhandlung‘ mit dessen Novelle Brief aus dem Jahre 1920 liest, 682 suggeriert, dass es sich bei Zorans Hass um eine Konsequenz und nicht eine Voraussetzung des Krieges handelt. Ich hasse die Soldaten. Ich hasse die Volksarmee. Ich hasse die Weißen Adler. Ich hasse die Grünen Barette. [...] und ich hasse meine Augen, weil sie nicht genau erkennen können, wer die Leute sind, die in die Tiefe gestoßen werden und im Wasser erschossen werden, vielleicht sogar schon im Flug. Andere werden gleich auf der Brücke getötet, und am nächsten Morgen knien die Frauen dort und schrubben das Blut ab.[...] und dass es so kalt ist, hasse ich am allermeisten. Weil der scheiß Schnee nichts, nichts, nichts verdeckt, wir aber unsere Augen so gekonnt verdecken, als hätten wir nur das gelernt in all den Jahren der Nachbarschaft und der Brüderlichkeit und der Einheit. [...] Du hast mir einmal erzählt, dass du mit der Drina gesprochen hast. Spinner. Ich frage mich, was sie jetzt erzählen würde, wenn sie es wirklich könnte. Was würde sie schmecken, wenn sie einen Geschmack hätte? Wie schmeckt so eine Leiche? Kann auch ein Fluss hassen, was meinst du? Mein Hass ist endlos, Aleksandar. Auch wenn ich die Augen schließe, ist alles da. (WSGR, 147) Stanišićs Roman setzt im August 1991 kurz vor dem Ableben von Aleks' Großvaters ein. Mit dem Tod von Opa Slavko verliert Aleks die Instanz, die in seiner Familie für ein gleichermaßen leidenschaftliches wie kritisches Tito- Kommunistentum steht. Großvater und Enkelsohn hatten sich gegenseitig ein Versprechen abgenommen: „niemals aufhören zu erzählen“ (WSGR 32). Passagen des vollständigen Ineinanderübergehens von Erzähler-Ich und Figuren- Ich, die die Illusion eines gleichzeitigen Erlebens und Erzählens erzeugen, charakterisieren den ersten, in Bosnien angesiedelten Teil, der, mitunter in Rückblenden, eine Kindheit in Višegrad Anfang der 1990er Jahre dokumentiert bzw. in Szene setzt: der Alltag der Kernfamilie, die Feste der Großfamilie, Fußballspiele der jugoslawischen Liga, der Schulunterricht. Mit der Flucht nach Deutschland verliert das Erzählen seine Unmittelbarkeit; an die Stelle der lebendigen Anekdoten treten datierte Briefe über die Ankunft in Deutsch- 681 Hiermit spiele ich auf Stephen Greenblatts 1988 erschienene Schrift Shakespearean Negotiations: The Circulation of Social Energy in Renaissance England an, die in der Übersetzung von Robin Cackett unter dem Titel Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance 1990 bei Wagenbach, Berlin, erschien. Greenblatt zählt zu den führenden Theoretiker/ innen des New Historicism. 682 In Andrićs Erzählung Brief aus dem Jahre 1920 erhält der Ich-Erzähler einen Brief von einem Freund aus der gemeinsamen Schulzeit in Sarajevo, Max Löwenfeld, in dem dieser seine Auffassung von Bosnien als dem „Land des Hasses“ darlegt, eines „eingeborenen, unbewußten, endemischen Ha[sses]“ - eine literarische Passage, die als ‚Beweis‘ für den besagten ‚eingeborenen, unbewussten, endemischen Hass‘ auch in journalistischen und politischen Diskursen und Kontexten zum Einsatz kam. Vgl. Andrić, Ivo: Brief aus dem Jahre 1920, in: ders.: Die verschlossene Tür. Erzählungen. Hg. u. mit e. Nachw. v. Karl-Markus Gauß, Wien: Zsolnay 2003, 161-178, 172 u. 174. <?page no="243"?> 3.2 Nach den Kriegen 243 land an das Mädchen Asija, das Aleks im Hochhauskeller während des Beschusses von Višegrad kennen gelernt, deren Spur jedoch verloren hatte. Nach dem Friedensabkommen von Dayton im Dezember 1995 - „Mein Vater sagte: Witze über Dayton braucht man nicht zu machen, Dayton ist der größte Witz. Ein Friedensabkommen, das die ethnische Säuberung politisch akkreditiert“ (WSGR 149f.) - verschwindet Aleks für über drei Jahre von der Bildfläche, bis er einen weiterer Brief oder, besser, eine Flaschenpost an Asijas unbekannte Adresse schickt. Opa Slavko ist der dann folgende ‚Roman im Roman‘ „Als alles gut war“ gewidmet, der erneut aus Aleks' kindlicher Perspektive verfasste Kurztexte über wiederkehrende und einmalige Erlebnisse seiner Kindheit sowie Reflexionen über das politische Weltgeschehen international - „Im besseren Deutschland ist eine Wand umgefallen und ab jetzt gibt es nur noch das schlechtere Deutschland“ (WSGR 176) - und national - „Heute hat man Tito aus den Klassenzimmern abgehängt“ (WSGR 179) enthält. Die längeren Kapitel von „Als alles gut war“ erinnern in ihrem Schreibstil und mit den vorausgestellten Inhaltsangaben an die Kapitel des ersten Teils des Romans. Dieser zweite Teil endet mit der leeren Seite 212, wo laut Inhaltsverzeichnis das Kapitel „Wie lange ein Herzstillstand für hundert Meter braucht, wie schwer ein Spinnenleben wiegt, warum mein Trauriger an den grausamen Fluss schreibt und was der Chefgenosse des Unfertigen als Zauberer draufhat“ beginnen sollte: jenes Kapitel, das gleichfalls im Inhaltsverzeichnis des ‚eigentlichen‘ Romans als erstes angekündigt wird (und Wie der Soldat das Grammofon repariert denn auch eröffnet). Der dritte Teil des Romans spielt im Jahre 2002 und setzt mit den Versuchen des inzwischen erwachsen gewordenen Aleksandars an, die „Stille [s]einer letzten zehn Jahre“ (WSGR 298) aufzubrechen. Der nun einsetzende Aufarbeitungsprozess der Vergangenheit ist, so die von Struktur und Inhalt des Textes begünstigte Lesart, Aleksandars latent schlechtem Gewissen geschuldet: die rechtzeitige Flucht und sein ‚richtiger‘ serbischer Name im Allgemeinen, der überstürzte Aufbruch aus Višegrad und das versäumte Abschied- oder gar Mitnehmen von Asija im Besonderen. Asija, deren Eltern von „den dummen Soldaten“ (WSGR 114) mitgenommen wurden, gehört zu jenen Kindern, die sich mit Aleks im Keller des Hochhauses seiner Oma Katarina während der Belagerung durch die JVA aufhalten. Damals im Keller war es Aleks gelungen, Asija zu schützen: Während Asija noch hoffte, mittels der Nennung ihres Namens ihre Eltern wiederzufinden - „Vielleicht ist es jetzt für mich gut, falsch zu heißen, hörst du? “ (WSGR 115), folgte Aleks seiner Intuition und gab Asija den Soldaten gegenüber als seine Schwester ‚Katarina‘ aus: „Omas haben niemals falsche Namen.“ (WSGR 115) Die Suche nach Asija, die vordergründig Aleksandar zu motivieren scheint, erlaubt ihm nicht nur, sich endlich und ohne Einschrän- <?page no="244"?> 3. Textarbeit 244 kung auf die Auseinandersetzung mit der Geschichte seines Landes einzulassen, sondern auch auf die eigene Geschichte und Identität. Dass diese Suche - zumindest jene nach der eigenen Verortung in diesem Land, dessen Vergangenheit und Gegenwart - ein positives Ende nimmt, kurzum dass Aleks angekommen ist, darauf verweist der allerletzte Satz des Romans. Angesichts all der im Sand verlaufenen anderen Wege der Recherche hatte Aleksandar, noch von Deutschland aus, 33 nach dem Zufallsprinzip eruierte Telefonnummern in Sarajevo angerufen und seine Suche nach Asija bekundet. Als Aleksandar zu Romanende auf der von ihm durchgegebenen Nummer zurückgerufen wird, eine weibliche Stimme und viel Rauschen ertönt, da kann er sagen: „ich bin ja hier.“ (WSGR 315) Dem vorgeblich naiven Erzählblick stehen eine komplexe Konstruktion subtil verknüpfter Binnengeschichten, wechselnde Erzählperspektiven und Formenvielfalt gegenüber: die mit dem Ausbruch des Krieges und der Ankunft in Deutschland ansetzende Aneinanderreihung von Brief, Gedicht, Aufsatz, Vorwort, Protokoll und Miniatur ist sowohl Signum eines postmodernen Erzählens als auch Veranschaulichung des Auseinanderbrechens von Aleks' Heimatland auf formaler Ebene. Dass Aleks die Position der dominanten Wahrnehmungsinstanz des Romans einnimmt, bedeutet nicht, dass der Leser/ die Leserin die geschilderte Welt nicht auch aus anderen Augen betrachten könnte: so hält Aleksandars Mutter einen längeren Monolog, so erzählt sein Višegrader Freund Zoran als Kind und als junger Erwachsener in der Ich-Perspektive. In direkter autonomer Figurenrede treten Zorans Vater und ein jüdischer Rabbi, der sich an den Winter 1941 erinnert, in einem gemeinsamen Kapitel auf. Pervers zärtlich - das brutale Setting sieht Zusammentreibung und Ermordung von Nichtserb/ innen vor - erinnert sich in einem kurzen Kapitel ein serbischer Soldat an seine geliebte „schönste Zigeunerin“ (WSGR 131) namens Emina. Die auf einen Zettel notierten Wünsche der stummen Großmutter Fatima finden Eingang in den Roman; Radovan Bunda, früher gern gesehener Gast bei den Festen von Aleksandars Urgroßeltern in Veletovo und mittlerweile der Kategorie ‚Kriegsgewinnler‘ zugehörig, erzählt bei Aleks’ Besuch in Višegrad von der Auslöschung seines serbischen Dorfes und seinem Rachezug. Der Gestus, unterschiedlichen Wirklichkeits- und Vergangenheitsversionen Raum zu geben, bewirkt auf formaler Ebene eine mosaikartige Form und innerhalb der Synthesis des Heterogenen eine Perspektivierung des Geschehens. Jener Leser/ jene Leserin, der/ die sich von Stanišićs Roman verbindliche Aussagen über die Urheberschaft des Krieges und Schuldzuweisungen erwartet, mag mit der an den Tag gelegten Unparteilichkeit schwer zu Rande kommen. Aleksandars Kinderaugen nehmen die Individualität eines jeden auch noch so sehr im Namen eines Kollektivs oder Prinzips handelnden Menschen wahr, statten einen jeden mit einem grundlegenden Vertrauensvorschuss aus. <?page no="245"?> 3.2 Nach den Kriegen 245 Als Kind muss Aleks die Erfahrungen und Erlebnisse, die im Nachhinein vom ‚Vorkrieg‘ zeugen, gerade nicht als solche begreifen und deuten. Dabei ist dieser Vorkrieg in Aleks’ Višegrad durchaus präsent und geht als Detail am Rande, das doch immer weiter ins Zentrum rückt, in die bilderreichen Schilderungen seiner bosnischen Kindheit ein: als merkwürdiges Lied, als Gespräch auf dem Schulhof, als eine erste Beschimpfung: „Dann brach der Krieg aus, und niemand nannte ihn Krieg. Das, sagte man. Oder Scheiße. Oder Gleichvorbei.“ (WSGR 258). Die Annäherung an den Bosnien-Krieg, die der erwachsene Erzähler im letzten Teil des Romans unternimmt, ist eine persönliche, und ihr Orientierungsystem in Raum und Zeit die Reise. Weder wird auf die verschiedenen politik- und populärwissenschaftlichen Erklärungsmodelle über die Kriege des ehemaligen Jugoslawiens rekurriert, noch in das Geschehen nachträglich interveniert, indem ihm ein Deutungsschema - beispielsweise ein ethnisch dominiertes Narrativ oder dessen Widerlegung - aufgeprägt würde. Ethnische Zugehörigkeit wird jedoch nicht völlig ausgeblendet, sondern über Namen oder über die Kategorisierung in ‚Richtig-‘ bzw. ‚Falsch-Heißen‘, man denke an die Passage der im Keller kurzerhand ‚Katarina‘ genannten Asija, signalisiert. Verfahren wie diese als Verniedlichung oder Naivität abzutun, verkennt ein zentrales Anliegen des Textes, in welches sich auch die Entscheidung des Autors, die einzelnen Romanfiguren mit menschlichen Zügen zu versehen, einschreiben lässt. Selbst die Soldaten, deren Akte der Gewalt und Vergewaltigung der Leser/ die Leserin doch nachlesen kann, werden von Stanišić auch als tragisch Liebende, auch als Grammofon Reparierende gezeigt. Was diese auf diegetischer Ebene gestaltete Entscheidungen für die Tiefenstruktur des Textes bewirken, ist außerordentlich: ein Außer-Kraft- Setzen von Freund-Feind-Schemata, eine Unterminierung dichotomischer Ordnungen. Der/ die Andere erscheint als Gleich(wertig)e/ r, nicht gemäß seinen/ ihren ethnischen, geschlechtlichen, ideologischen Markierungen. Der/ die Andere erscheint in seiner/ ihrer Menschlichkeit, ebenso wie in seiner/ ihrer Monstrosität. Im besagten Keller spielen die Kinder Krieg: es handelt sich hier um eine von Stanišić für das erste Kriegskapitel eingebaute „ Parallelaktion“ 683 (Robert Musil), die, indem sie den Fokus vom Draußen der belagerten Stadt auf das Drinnen des Hochhauskellers verlagert, das eigentlich Abwesende anwesend macht - oder auch, mit Hinblick auf das im Anschluss an das Kriegsspiel 683 Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman. Erstes und Zweites Buch. Hg. v. Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1998. Vgl. zu einem ersten textinternen Hinweis auf die österreichische Parallelaktion (d.i. das 70-jährige Jubiläum von Kaiser Franz-Josef I. im Jahr 1918, währenddessen in Deutschland das 30-jährige Regierungsjubiläum von Kaiser Wilhelm II gefeiert wird) den Brief, den Ulrich von seinem Vater am Ende des ersten Teils erhält, S. 77-79. <?page no="246"?> 3. Textarbeit 246 fragmentarisch geschilderte Kriegsgeschehen im Hochhaus und in der Stadt um ein in erzähltechnischer Hinsicht gekonnt platziertes und antizipierendes ‚Vorspiel‘. Die Spielvorbereitung umfasst das Bilden von Mannschaften und die Einigung auf Folter-Methoden („Gefangene dürfen gekitzelt werden“, WSGR 106); der Spielablauf besteht aus dem Sich-Verstecken, dem lauernden Warten, dem Simulieren von Explosionen, dem Nachahmen von Einschlägen und der Entscheidung, welches Kind einer Gruppe als erstes zum Angriff stürzt. Die Regeln und Abkommen des Spiels werden nicht gebrochen, in den Spiel-Verstecken kann man sich ‚wirklich‘ in Sicherheit wähnen. Der Krieg, der sich draußen ‚real‘ abspielt, wird anfänglich noch als bloßes Hirngespinst abgetan: „Soldaten haben den Männern in den Bauch geschossen. Vornüber sind die zusammengesackt. [...] Das habe ich, fantasierte Edin, als er zurückkam, oben aus dem Fenster gesehen.“ Erst als die Stimme aus dem Radiokanister die eigene Stadt beim Namen nennt, hält für Aleks das Wissen, dass es sich doch nicht um „Märchensoldaten“ (WSGR 108) handelt, Einzug: „Dieses Wissen war es, das in der Stille seine Zähne fletschte.“ (WSGR 109) Mit den aus dem Treppenhaus ertönenden Schüssen, den ins Kellergeschoss eingedrungenen Soldat/ innen wird aus dem via Radio vermittelten Wissen unmittelbare Erfahrung. Ungewollt werden die Kinder zu Augenzeug/ innen gräuelhafter Kriegsszenen, die, nicht zu Ende erzählt, vom Leser/ der Leserin ergänzt werden: Eci-peci-pec …, reimzählt der Soldat mit dem Stirnband und zielt zum Schluss mit dem Finger auf Cika Sead, nimmt ihm die Brille ab und haucht gegen die Gläser. Einer mit Strumpfmaske bindet Cika Seads Hände mit Draht hinter den Rücken. Ich bitte Sie, fleht Cika Hasan die Soldaten an, ich bitte Sie, nicht …, aber das Stirnband setzt sich die Brille auf. (WSDR 113) Auch die Ohrenzeugenschaft bleibt Aleks, mittlerweile auf der Suche nach Asija, nicht erspart: „Ich zähle die Stufen auf dem Weg zum Speicher so laut ich kann und höre trotzdem alles.“ (WSGR 114) Wenige Tage später, als der Unterricht im völlig verwüsteten Klassenraum wieder beginnt und die Stadt von Soldat/ innen wimmelt, befindet sich Aleks mit seinen Eltern bereits auf der Flucht. Es sind Tage, in denen vor lauter Handeln keine Zeit zum Reflektieren, zum Durcharbeiten des Erlebten und Erfahrenen bleibt, die Antworten und Erklärungen der Eltern rätselhaft anmuten, und ihm schließlich gar das Versprechen abgenommen wird, „in den nächsten zehn Jahren keine Fragen mehr zu stellen.“ (WSGR 133) Angesichts der vom Autofenster aus geschauten Szenarien entschließt sich Aleks, selbst das Erinnern für die nächsten zehn Jahre einzustellen. Wohlgemerkt handelt es sich dabei um eine Auszeit mit Ablaufdatum, nicht um ein Vergessen. 684 684 Vgl. zu den positiven Aspekten des Vergessens: Lämmert, Eberhard: Vom Nutzen des Vergessens, in: Smith, Gary/ Emrich, Hinderk M. (Hgg.): Vom Nutzen des Vergessens, Berlin: Akademie-Verlag 1996 (Einstein-Bücher), 9-14, 14. <?page no="247"?> 3.2 Nach den Kriegen 247 Kurz vor Ablauf dieser zehnjährigen Frist will Aleks sich im dritten Teil des Romans dem Vergangenen, Versäumten und Verdrängten stellen - „ALEKSANDAR KRSMANOVIC WO WARST DU? “ (WSGR 219) -, und versucht sich im Wiederfinden von Erinnerungsfragmenten: „Ich stelle das Datum um zehn Jahre zurück. […] Gleich blitzt es, und ich werde 1,53 m groß sein.“ (WSGR 214) Die vergangenen Ereignisse, die zum Teil bereits im ersten Teil aus der Perspektive des Kindes erzählt wurden, werden um verdrängte Erinnerungen ergänzt und mit dem Wissen um das, was passieren wird, nacherzählt, nachgelebt: „,7: 43 Montag, 6. April 1992‘ [...] Wir fahren zur Oma, das Hochhaus hat einen großen Keller. Die erste Granate dröhnt im großen Keller eng und poliert. Ich werde denken: eng und poliert.“ (WSGR 216) Erinnerungssplitter durchkreuzen die Passagen aus der Erzählgegenwart des Textes: die Verteidigung des Hochhauses, die Belagerung durch die Soldat/ innen, die Drina, die zum Totenbett der Hingerichteten wurde, die in den Keller und das Treppenhaus eingezogenen Flüchtlinge, darunter Asija mit ihrem bald von einem Granatsplitter tödlich getroffenen Onkel Ibrahim: Wir sind die Letzten aus unserem Dorf [ ... ] . Unsere Häuser gibt es nicht mehr. Ich erzähle euch alles, damit ihr wisst, mit wem wir es zu tun haben, aber erst will ich schlafen. Und dann [ ... ] will ich mich rasieren, der Bart ist mir voll Erinnerung an die schlimmste Nacht. [ ... ] Wie schwer wiegen Erinnerungen in einem Bart? “ (WSGR 220f.) Aleksandars Oszillieren zwischen dem Jetzt des Erinnerungsabrufes und dem Damals des Erlebens veranschaulicht, dass Erinnerungen - darauf haben Sigmund Freud und Maurice Halbwachs hingewiesen - stets gegenwartsgebundene Rekonstruktionen des Vergangenen sind. 685 Neben ihrem identitätsstiftenden Potential enthält Erinnerung ebenso identitätszersetzendes: wahrlich erweist sich für Aleksandar die unternommene Anbindung seiner Vergangenheit an die gegenwärtige Situation des Erinnerungsabrufs bzw. Lebenssituation als zentrale Herausforderung. Die Gegenstände, Personen, Ortsangaben etc., an die er sich erinnert, systematisiert er in Listen, nachts recherchiert er stundenlang im Internet. Der Rückgriff auf das elektronische Gedächtnis der Netzwelt liefert freilich nicht mehr als Kürzel von Kürzeln und führt ihm das Fehlen selbst erfahrenen Wissens umso augenscheinlicher vor. Als Aleksandar den Computer, nachdem dieser abgestürzt ist, wieder 685 Vgl. beispielsweise Freud, Sigmund: Über Deckerinnerungen, in: ders.: Gesammelte Werke. Band I. Werke aus den Jahren 1892-1899, Frankurt/ Main: S. Fischer 19775 , 529-554; Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis. A. d. Franz. v. Holde Lhoest-Offermann, Stuttgart: Ferdinand Enke 1967, 55f. Im Unterschied zu Freud versteht Halbwachs Erinnerung nicht als individuelles Phänomen, sondern insistiert auf der sozialen Komponente von Erinnerung, vgl. Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. A. d. Franz. v. Lutz Geldsetzer, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1985 (stw 538). Auf diese zentrale These von Maurice Halbwachs komme ich in Kapitel 3.2.2.2 noch zurück. <?page no="248"?> 3. Textarbeit 248 hochfährt, erscheint das Hintergrund-Foto von der Brücke in Višegrad: „aber nicht einmal das Foto habe ich selbst geschossen“ (WSGR 217). Das Wissen um die Fehlbarkeit von Erinnerung und die Gewissensbisse ob der überstürzten Flucht lassen ihn folgenden Beschluss fassen: „Ich will die Vergangenheitsschablonen nachzeichnen. Im Schlafzimmer meiner Großmutter liegt ein Karton mit neunundneunzig unfertigen Bildern. Ich fahre nach Hause und male jedes einzelne zu Ende.“ (WSGR 221). Die Repräsentation des Krieges - des ‚Gleichvorbei‘, das doch so lange andauern wird - beruht auf unterschiedlichen Strategien. Da gibt es zum einen erfundene Geschichte und Spiele, die eine mögliche Realität des Krieges zur Sprache bringen, ohne den Krieg als solchen mimetisch zu schildern. Auf diese Weise begegnet Stanišić der Herausforderung der Kriegsdarstellung: mit Worten eine Welt zu umfassen, die außerhalb der Vorstellung liegt. „Wofür wir Worte haben, darüber sind wir auch schon hinaus.“ 686 Das eingangs erwähnte Fußballspiel, das territoriale gegen serbische Truppenteile während eines Waffenstillstands auf einer Lichtung auf dem Igman auf Leben und Tod austragen, ist eine nicht unmögliche, doch entschieden erfundene Geschichte, die sämtliche Parameter aufweist, die dem bellizistischen Narrativ als Quelle seiner Intensität zugestanden werden: Grausamkeit, Todesbereitschaft und auch Erhabenheit. 687 Auktorial erzählt, steht das Kapitel mit dem Titel bzw. der Zusammenfassung „Was hinter Gottes Füßen gespielt wird, wofür sich Kiko die Zigarette aufhebt, wo Hollywood liegt und wie Mikimaus zu antworten lernt“ (WSGR 234) als eigenständiges für sich, lässt sich jedoch im Nachhinein in die erzählte Welt integrieren, wenn Aleksandar in Sarajevo den auf Seite der Territorialverteidiger spielenden Kiko, mittlerweile Vater geworden, aufsucht: „Mein Milan trägt wegen ihm (den Mikimaus genannten Spieler Milan, D.F.) einen serbischen Namen.“ (WSGR 259) Beweggründe für den Eintritt in den Krieg - nicht eines Landes, sondern eines jungen Mannes als Individuum - werden im Zuge der Vorstellung der serbischen Spieler Gavro, Dino und Milan angeführt: ob der Wunsch, den im Kroatien-Krieg gefallenen Bruder zu rächen, dem abgelegenen Elternhaus zu entkommen oder aber mit dem Trinken aufzuhören - der Text legt durchwegs persönliche Entscheidungen nahe, die aus den individuellen Lebensgeschichten der jungen Männer und nicht aus politischen und ökonomischen 686 Nietzsche, Friedrich: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert, in: ders.: Das Hauptwerk. Band 4. Zur Genealogie der Moral. Der Fall Wagner. Nietzsche contra Wagner. Götzen-Dämmerung. Der Antichrist. Ecce homo. Dionysos- Dithyramben. Hg. sowie m. e. Nachw., e. Zeittafel u. Komment. vers. v. Jost Perfahl, München: nymphenburger 1990, 253-359, 324. 687 Vgl. Bohrer (2004: 2). <?page no="249"?> 3.2 Nach den Kriegen 249 Entwicklungen resultieren. 688 Kontingenz und Beliebigkeit, von Jakiša und Sasse in ihren auf die Repräsentation der Kriege abzielenden Untersuchungen von Texten postjugoslawischer Autor/ innen als wesentliche Momente ausgemacht, 689 sind auch Stanišićs Roman nicht fremd, sondern können als methodologische Prämissen sowohl mit Bezug auf das umfassende Figurenarsenal als auch, ex negativo, auf die Verweigerung der dominanten Kriegsnarrative bezogen werden. Dass Kriegsmotive, die einer Ordnung der Kontingenz entspringen, nicht eine ebenso - im doppelten Wortsinn - gewaltige Dynamik wie ‚alteingesessenen‘ Hass entfalten können, ist damit freilich nicht gesagt. Auch für dieses Spiel, in dem Spieler, die in die gleiche Schulklasse gingen oder für die gleiche jugoslawische Fußballmannschaft fieberten, sich als Vertreter zweier Kriegsparteien gegenüber stehen, gelten, zunächst, Regeln. Selbst in der Extremsituation kommt, zunächst, ein gewisses Prinzip von Gerechtigkeit zur Anwendung: „Zweimal vierzig Minuten, erste Halbzeit ein Schiedsrichter von den Territorialen, zweite ein Serbe - wenn schon beschissen wurde, dann gleichmäßig verteilt beschissen.“ (WSGR 237) Solidarität wiederum, wenn nicht der mit historischer und symbolischer Bedeutsamkeit aufgeladene Grundwert der Brüderlichkeit [bratstvo], werden ausgerechnet in der irrwitzigen Situation, die den ersten, gewissermaßen extradiegetischen Höhepunkt des Spielgeschehens darstellt, möglich: als der Territorialverteidiger Meho den Ball aus dem Spielfeld und der Lichtung in den Wald drischt, in das minenverseuchte Gebiet geschickt wird und ihn sein Gegenspieler Marko mit einer kugelsicheren Weste ausstattet. Das Paradigma des „Schiffbruchs mit Zuschauer“ 690 (Hans Blumenberg), die lange die Position des Westens als teilnehmenden Beobachters des Bosnien-Krieges, von gesicherter Warte aus, charakterisiert hat, trifft nunmehr - und verbindet, mit gesteigertem Adrenalinspiegel - die Akteure des Kriegsgeschehens beider Couleurs. Verwandelt sich mit dem Ende des Waffenstillstandes die ‚Auszeit‘ des Fußballspiels augenblicklich in den gewohnten Kriegswahnsinn zurück, der selbst das Abknallen von Unbewaffneten - „wir ergeben uns doch“ (WSGR 246) - vorsieht, so scheint schließlich so etwas wie ein Spielethos, die abgebrochene Partie zu Ende zu spielen, zu überwiegen. Doch von der oben geschilderten Gerechtigkeit und Solidarität ist angesichts der veränderten Rahmenbedingungen - die wieder aufgenommenen Kampfhandlungen - wenig übrig geblieben. Schonungslosigkeit heißt nun das alles bestimmende, insbesondere von den Serben bestrittene Prinzip. Unter ihrem Schiedsrichter Ge- 688 Diese Aussparung favorisiert indes keine Lesart einer balkanspezifischen Psychologie. Vgl. weiterführend Bašić, Natalija: Kampfsoldaten im ehemaligen Jugoslawien. Legitimationen des Kämpfens und des Tötens, in: Seifert, Ruth (Hg): Gender, Identität und kriegerischer Konflikt. Das Beispiel des ehemaligen Jugoslawien. Münster: LIT 2004 (Soziologie: Forschung und Wissenschaft 9), 89-111. 689 Vgl. Jakiša/ Sasse (2008) und Kapitel 1.4 der vorliegenden Arbeit. 690 Vgl. Blumenberg, Hans: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1979 (stw 289). <?page no="250"?> 3. Textarbeit 250 neral Mikado gibt es für Reklamationen nicht die Gelbe Karte, sondern „ne Kugel“ (WSGR 247), und zum körperlichen Einsatz kommt der Gebrauch von Gewehrkolben hinzu. Als die Territorialverteidiger trotz parteiischem Schiedsrichter den Anschlusstreffer erzielen und schließlich die Führung übernehmen, eskaliert ein weiteres Mal die Situation. Treffer kann der serbische Torwart nicht verhindern, wohl aber mittels Schießgewehr rächen: Er streckt den Roter Stern Belgrad-Anhänger Meho nieder. General Mikado wiederum will das letzte Tor der Territorialen nicht gelten lassen: „Kein Tor! Kein Tor! “ (WSGR 252) Damit ist das Maß für große Teile der serbischen Mannschaft voll: Gavro, im Zivilberuf Klarinettist, setzt in Mikados schrillen Pfiff ein, setzt diesen aus und lässt einen Csárdás, bald einen Flamenco erklingen. Mikimaus sichert sich den Ballbesitz und marschiert über das Feld. Marko schlägt den eigenen Tormann nieder. Andere Spieler boykottieren das Spielgeschehen, indem sie sich auf dem Spielfeld niederlassen. Das vor dem Hintergrund der Waffenpause, sodann der Beendigung dieser Waffenpause ausgetragene Fußballspiel schlägt um in eine Situation zwischen Putsch und Guerillakrieg. Erst, als der Spielstand „Vier-drei für die“ (WSGR 254) als solcher anerkannt ist und der Schiedrichter ausgewechselt, wird die Partie wieder aufgenommen, die Nachspielzeit absolviert. Kein Klatschen, kein Jubeln erfolgt auf den Pfiff, der diesem Spiel, das intensiver und gleichermaßen aussichtsloser nicht sein könnte, ein Ende setzt. Der Krieg im Tal unten, er geht weiter. Zum anderen wird der Krieg mittels referentialisierbarer Angaben wie Višegrader Straßen, Orts- und Hotelnamen aufgerufen. Die Figur des Polizisten Pokor, den Aleks bei seinem Besuch der Heimatstadt auf der Straße trifft und der, so das Gerücht, „vom gemütlichen Polizisten zum Anführer gewalttätiger Freischärler“ aufgestiegen war -„Man gab Pokor den Spitznamen Herr Pokolj und Herr Gemetzel soll seinen Männern mehrfach den Befehl erteilt haben, seinem Namen alle Ehre zu machen. (WSGR 282) -, kann von jenen Leser/ innen, die über hinreichende Kenntnisse der UN-Anklageschrift gegen die drei Hauptverantwortlichen der Verbrechen in Višegrad verfügen, als Polizist Sredoje Lukić entschlüsselt werden. Das Wissen, dass die Figur des Polizisten einer Prüfung auf Realitätsgehalt standhielte, braucht es indes nicht im Geringsten, um ihn in seiner Ungeheuerlichkeit wahrzunehmen. Aus Angst vor ihm verleugnet Aleks die eigene Mutter, was ihn mit einem Gefühl der Scham und Hilflosigkeit erfüllt. „Ich habe Listen gemacht“ - so lautet der Titel dieses Višegrad-Kapitels, und so lautet die zu Beginn jeder neuen Episode nahezu litaneiartig beschworene Anrufung eines ‚Abschließenwollens‘. Aber auch Miki, sein Onkel väterlicherseits, der zu Beginn des Buches von der Jugoslawischen Volksarmee eingezogen wird, hat „Listen gemacht“ (WSGR 307), und nimmt Aleks bei ihrem Zusammentreffen „zu einem Haus in der Pionirska Straße“ mit, „zum Hotel Bikavac, das kein Hotel mehr ist“, zum „Hotel Vilina Vlas“ (WSGR 306), das <?page no="251"?> 3.2 Nach den Kriegen 251 heute wieder als Spa-Hotel Tourist/ innen aus aller Welt empfängt. Auf halbem Weg machen sie Halt in der Siedlung Kosovo Polje, 691 bei einer Brandruine. Stanišić bzw. der Narrator Aleks erklärt nicht, wofür diese Straßen-, Orts- und Hotelangaben stehen. 692 Nichtsdestotrotz - oder vielleicht auch gerade deshalb - wird vermutlich auch dem Leser/ der Leserin, dem/ der die verschiedenen Anspielungen nicht geläufig sind, bewusst, dass die erratischen Eigennamen auf konkrete Geschehnisse des Krieges in Bosnien verweisen, auf „Tatsachen, die so wirklich sind, dass verglichen damit nichts mehr wahr ist“. 693 Der an Stanišić gerichtete Vorwurf der „Verzauberung des Schreckens mit den Mitteln der Sprache“ 694 und der „Entrücktheit des Krieges“ 695 sagt meiner Ansicht nach weniger über den Roman aus als über seine Rezensent/ innen: über die Erwartungshaltung, was den kriegerischen Zerfall Jugoslawiens und seine Repräsentation in fiktionaler Literatur angeht; über eine mangelnde Bereitschaft, sich auf den Text und dessen Verfahren einzulassen und den unhintergehbaren Kontext hinter der mit Fantasie und Liebe zum Detail erzählten Geschichte des Aleksandar Krsmanović aufzurufen. Es genügt schließlich, die verschiedenen Eigennamen in die gängigen Internetsuchmaschinen einzugeben, die Seiten des Internationalen Gerichtshofes für das ehemalige Jugoslawien (International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia) zu öffnen, um sich über die Den Haager Anklageschrift gegen Sredoje Lukić alias Pokor, Milan Lukić und Mitar Vasiljevic u. a. wegen Mord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu informieren. Wurden die beiden Hotels zu Gefangenen- und Vergewaltigungslagern während des Frühlings und Sommers 1992 umfunktioniert, steht die Pionirska Straße für ein Mitte Juni 1992 verübtes Massaker, bei dem etwa 65 muslimische Frauen, Kinder und alte Männer in ein Haus ebendieser Straße eingeschlossen und verbrannt wurden. Die Namen von 58 Opfern sind im Annex A der Anklageschrift mit Case No. IT-98-32- I aufgelistet: „Among those killed in the house burning on Pioneer Street, referred to in Counts 3-6, were“: in alphabetischer Reihenfolge werden 58 Namen und Altersangaben verzeichnet, von „1. Ajanović, Mula, about 75 years old“ bis „58. Vila, Jasmina, about 20 years old“. 696 691 Das Toponym ‚Kosovo Polje‘ evoziert die Schlacht auf dem Amselfeld 1389 und den Amselfeld-Mythos. Auf meine diesbezügliche Nachfrage meinte Saša Stanišić per Mail am 10.9.2007: „Auch Kosovo Polje kommt geographisch wirklich vor, ein Verweis auf das Amselfeld war nicht von mir beabsichtigt.“ 692 Vgl. die kurze Anspielung auf das Hotel Bikavac (WSGR 149) sowie zum Haus in der Pionirska-Straße Aleks‘ Bemerkung im Zuge des Telefonat mit der Großmutter (WSGR 218). 693 Agamben (2003: 8). 694 Thuswaldner, Anton: Die neuen Namen, in: Volltext 28 (6/ 2006), 5-7, 5. 695 Radisch (2006). 696 Vgl. www.icty.org/ x/ cases/ vasiljevic/ ind/ en/ vas-ii000125e.pdf, 31.1.2013. <?page no="252"?> 3. Textarbeit 252 Im Laufe des Romans von Stanišić ist man an unterschiedlichen Stellen der Aufzählung als Stilmittel begegnet: in den Aneinanderreihungen, so könnte man meinen, sucht Aleksandar Zuflucht, wenn zu viel auf ihn einstürmt, in Momenten der Erfahrung von Überforderung. Diese ihre tröstliche Wirkung hat die Auflistung nach Lektüre der Namen von 58 verbrannten Menschen der Pionirska Straße unwiederbringlich verloren. 3.2.2 Kosovo, Kosova - dritte literarische Produktionsphase 3.2.2.1 Peter Handke II: Die morawische Nacht „Und es war“, so schrieb Peter Handke 1996 im Sommerlichen Nachtrag über die im Anschluss an seine Serbien- und Bosnien-Reise verbrachten Tage im Kosovo, „als träten wir da noch einmal in eine andere Geschichte ein - eine, in der wir nichts mehr zu sagen hätten, weder ich, der Ausländer, noch aber auch die zwei serbischen Gefährten.“ (SN 245) Erst knapp zwölf respektive dreizehn Jahre später ergreift Peter Handke das Wort und veröffentlicht seine romanlange Erzählung Die morawische Nacht (2008), Dokumentation der „Rund- und Zickzackreise“ (MN 316) eines so genannten Ex-Autors durch halb Europa. 697 Mit Blick auf die darin erzählte Region handelt es sich um Handkes erstes fiktionales Prosa-Werk seit dem Auseinanderbrechen Jugoslawiens. 2009 bringt Handke die Reiseerzählung Die Kuckucke von Velika Hoča heraus, „Nachschrift“, so der Untertitel, über eine Reise in den südlichen Kosovo: erneut ein Text, dessen ,Ich‘ eindeutig auf Peter Handke in der Rolle des literarischen Journalisten, der die Erzählungen der Bewohner/ innen des kleinen Weinortes vor dem Vergessen bewahren möchte, referiert. Mit Anna Kims ebenfalls 2008 veröffentlichtem Roman Die gefrorene Zeit nähern sich gleich drei Werke einem in der deutschsprachigen Literatur bislang nur marginal vertretenen bis inexistenten Land und dessen jüngerer Geschichte. Zwischen den Erscheinungsdaten der beiden Handke-Texte (Jänner 2008 und März 2009) erfolgte am 17. Februar 2008 die Unabhängigkeitserklärung der Republik Kosovo; 96 Staaten haben bislang die Republik anerkannt. 698 Zwischen Handkes Notat im Sommerlichen Nachtrag und der von Jänner bis November 2007 währenden Niederschrift der Morawischen Nacht (vgl. MN 561) wiederum erfolgte von 24. März bis 10. Juni 1999 die Intervention der NATO gegen die serbisch-jugoslawische Infrastruktur auf dem Territorium 697 Wird auch in diesem Text von Handke das Reisen idealisiert, stellt die ars itineraria als solche doch nicht das primäre Movens für den Aufbruch und die Weiterfahrt des ehemaligen Autors dar: als Flucht(bewegung) wird die Reise bezeichnet, als Flucht vor einer Frau. (vgl. MN 37). 698 So die Auskunft auf der Homepage des Außenministeriums der Republik Kosovo, online abrufbar unter: http: / / www.mfa-ks.net/ ? page=2,33, 31.1.2013. <?page no="253"?> 3.2 Nach den Kriegen 253 der damaligen Bundesrepublik Jugoslawien, während gleichzeitig der serbische Krieg am Boden gegen die albanische Bevölkerung des Kosovo fortdauerte: 699 Dem Eingreifen der NATO war, um in nur stichwortartiger Aufzählung einige Schlüsseldaten zu nennen, die innerstaatliche bewaffnete Auseinandersetzung zwischen der UÇK (‚Befreiungsarmee des Kosovo‘) und serbischen Einheiten ab Jänner 1998 vorausgegangen. Nach dem Dayton-Vertrag war die Unzufriedenheit der albanischen Bevölkerung angesichts der gewaltfreien Politik Ibrahim Rugovas, unter dessen Führung in den 1990er Jahren ein albanischer Schattenstaat im Kosovo errichtet worden war, gewachsen: der Aufbau eines parallelen Verwaltungs-, Bildungs- und Gesundheitssystems wiederum stellte eine Antwort auf die unter Milošević 1989 betriebene Zurückstufung des Autonomiestatus des Kosovo dar. 700 „Unstrittig sind“, so akzentuiert Eli Barnawi mit Bezug auf die historiographische als eine hermeneutische Disziplin, „nur die bewiesenen Fakten, ihre Bedeutung ist eine Frage der Interpretation.“ 701 Was aber, wenn nicht alle Fakten bewiesen sind? 702 - Fürwahr: Jenen Fragen, auf die Stanišić mit seinem multidimensionalen Wahrnehmen und Erzählen nahezu wie nebenher so souveräne Antworten fand - Fragen nach Standortgebundenheit, Perspektivität und Selektivität - begegnen wir mit Handkes und Kims Texten erneut. Auch der Akt des geschichts- oder literaturwissenschaftlichen Interpretierens kann von diesen Momenten nur schwerlich abstrahieren, doch zumindest, das gebietet das wissenschaftliche Ethos, Reflexionen ob ihrer 699 Vgl. zur weiteren Entwicklung des Kosovo vor der Proklamation der Autonomie auch Oeter, Stefan: Völkerrechtliche Rahmenbedingungen und die Staatengemeinschaft, in: Melčić (2007: 485-502, 498): „Mit der Sicherheitsratsresolution 1244 vom 10. Juni 1999 wurde die Lösung gebilligt, das Kosovo in eine selbstverwaltete Region mit nahezu umfassender Autonomie verwandelt und die Nato mit der militärischen, die UNO mit der zivilen Umsetzung des Friedenspaketes betraut. Was in der Folge entstand, war eine Art internationales Protektorat unter Kontrolle der Nato und der UNO.“ 700 Um noch weitere Schichten der Geschichte der Region freizulegen: 1913 wurden der Kosovo und die südserbisch-makedonischen Gebiete in das Königreich Serbien eingegliedert (sowie das Fürstentum Albanien gegründet); 1948 war das zur jugoslawischen Teilrepublik Serbien gehörende autonome Gebiet ‚Kosovo und Metochien‘ errichtet worden; 1963 wurde aus dem autonomen Gebiet eine autonome Provinz. Mit der Verfassung von 1974 wurde der Autonomiestatus der Provinz, innerhalb Jugoslawiens die ärmste Region, mit zusätzlichen Rechten erheblich erweitert, unter Milošević im Zuge der ‚antibürokratischen Revolution‘ 1989 jedoch auf den Status aus dem Jahr 1963 dezimiert. Vgl. dazu Petritsch, Wolfgang/ Kaser, Karl/ Pichler, Robert: Kosovo Kosova. Mythen, Daten, Fakten, Klagenfurt u.a.: Wieser 1999, 209-351. 701 Barnawi, Eli: Vorwort, in: ders. (Hg.): Universalgeschichte der Juden. Von den Ursprüngen bis zur Gegenwart. Ein historischer Atlas. Dt. Ausg., Neuaufl., Hg. d. dt. Ausg.: Frank Stern, Wien: Christian Brandstätter 2003, IV-V, V. 702 Im folgenden Propos über die Geschehnisse im Kosovo gebe ich Daniela Dahn Recht: „Es ist bitter genug, auch zehn Jahre nach dem Krieg noch auf Vermutungen angewiesen zu sein.“ (Vgl. Dahn, Daniela: Wehe dem Sieger! Ohne Osten kein Westen, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch 2011 2 .) <?page no="254"?> 3. Textarbeit 254 Wirkkraft artikulieren. Wie standortgebunden, perspektivisch und selektiv darf/ kann/ soll/ muss ein literarischer Text unter dem Deckmantel der Fiktion sein (und welches Modalverb ist hier eigentlich das ‚richtige‘)? Jener Komplex hingegen, der in Stanišićs Text, aber auch den beiden Romanen Gstreins, in den Hintergrund gerückt war, beansprucht in der Morawischen Nacht wieder Gehör: die ,Balkanismen‘ bzw. der Balkanbegriff. Indem Handke auf offensive Art und Weise in seiner Erzählung mit der Vokabel, ihren Komposita und Konnotationen spielt, dekonstruiert er sie bzw. deren affirmative Handhabung. Von den „altbewährten Balkansitten“ (MN 15) sowie andererseits „sonst fast verschwundenen balkanischen Sitten“ (MN 27) und der „verdammte[n] neubalkanesische[n] Unzugänglichkeit, Verschlossenheit, Unansehnlichkeit“ (MN 73), von „,balkanisch[er]‘“ Kleidung (MN 25) bis hin zum „balkankarierte[n] Taschentuch“ (MN 95), der „balkanischen Gusla“ (MN 101) und dem „Gesang aus dem tiefen Balkan. Gab es den überhaupt? “ (MN 112), ist im ersten, in der besagten Region spielenden Kapitel die Rede. Aber auch von einer „Transbalkanautobahn“ (MN 30), von „Sudoku (sogar auf dem Balkan)“ (MN 66f.), von „Balkan und Ruckhaftigkeit, auch das gehörte für ihn zusammen“ (MN 65). Im elften Kapitel schließlich, als der Ex-Autor wieder am Ausgangspunkt seiner Reise, dem Hausboot auf der Morawa namens „MORAWISCHE NACHT“ (MN 8) angelangt ist, wird erneut auf den Begriff und seine Begriffsgeschichte angespielt, dieser mit einer explizit positiven Bedeutung versehen sowie von den bisherigen Zuschreibungen der symbolischen Geographie befreit. Es handelt sich dabei weniger um eine, wie Todorova gefordert hatte, ,Trivialisierung‘ des Balkans, 703 als eine Inszenierung jener Ewigkeit enthaltenden Momentaufnahmen, die Dronske bereits als Handkesche „Mystifikationen“ apostrophiert hat. 704 Ungekürzt soll die emphatische Passage hier wiedergegeben werden: Endlich dann zurück auf dem Balkan, der diesen Namen verdient. Mochte er auch für die große Mehrheit ein Schimpfwort sein: für ihn, und ebenfalls für uns, seine Zuhörer in der Morawischen Nacht, war er etwas anderes. Wo hat er begonnen, sein und unser Balkan? Schon lange vor der geographischen und morphologischen Grenzlinie. Balkan, das war zum Beispiel augenblicksweise die Steppe um das verschwundene Numancia in Altkastilien gewesen, als dort ein zerrissener blauweißer Plastiksack an einer Blaudistel hing und im Wind knisterte. Balkan: die getigerte Falkenfeder neben dem toten Rehbock, der sich bei dem Sturz von einem Kalkfelsen das Genick gebrochen hatte, im deutschen Harz. Die Pfahlhäuser an der Donau östlich von Wien, mit den im Leeren aufgehängten Reusen und dem Gerümpel unter den Häusern in dem Geviert der Pfähle, die ausgedienten Kühlschränke, Gasflaschen, Autoreifen: Balkan. Der Holz- und Kohlenrauch aus dem Rauchfang des Maultrommler- 703 Vgl. Kapitel 1.3.3. 704 Vgl. Dronske (1997: 76) bzw. Kapitel 3.1.1.2. <?page no="255"?> 3.2 Nach den Kriegen 255 wirtshauses und die Äpfel dort zwischen den doppelt bodennahen Fenstern. Der Sägebock neben dem Großvater- und Bruderhaus, umgekippt, halbbegraben zwischen Getränkekisten, Steinhaufen, Teerpappe, Kohlstrünken, vertrockneten und neu austreibenden Zwiebeln. Das Tuten eines Zuges, von sehr weitem voraushallend in einer Karstschlucht. Die Schmetterlingspaare in der Sonne, wie sie einander wo auch immer auf der Reise durch Europa auf engstem Raum umtanzten, kaum mehr als daumennagelgroß, rotbraun, mit dem Muster eines orientalischen Teppichs aus Kreisen und Dreiecken auf den Flügeln, und die jeweils als drei, wenn nicht mehr erschienen: all das war schon im voraus der Balkan. (MN 523f.) Können sich Handkes ,Mystifikationen‘ und sein ,Balkan‘ irgendwo und überall ereignen, so zielen im Unterschied dazu die im slowenischen Karst spielenden ,Mitteleuropa‘-Passagen des Romans auf ein Signifikat, das sehr wohl und konkret verortbar, dabei einem für den/ die Erzähler des Romans höchst bedenklichen Prozess der Ausdehnung unterworfen ist: Wo Balkan war, soll Mitteleuropa werden - es scheint gar, als habe sich diese für den Ex- Autor unbehagliche Devise bereits erfüllt: „So viel ,Mitte‘ war in der Gegend noch nie gewesen.“ (MN 512) Angesichts der Ablösung des „Balkanische[n]“ durch die „Mitteleuroparegelung“ (MN 513) ist den betreffenden Passagen eine gewisse Verstimmung durchaus abzulesen, doch diese gewinnt nicht die Oberhand. Tatsächlich zeichnet die Morawische Nacht ein im bisherigen Textkorpus Handkes zum ,Komplex Jugoslawien‘ fehlender ironischer Gestus aus, Ironie ist schließlich auch dem Hauptprotagonisten - dem Ex-Autor - nicht fremd: Dieser ist darüber hinaus, auch das erscheint mir neu für eine von Handke geschaffene Figur, selbstkritisch sowie entwicklungs- und empathiefähig. So erkennt der Ex-Autor beispielsweise im Laufe der Romanhandlung nicht nur, dass seine Vorstellung, „alle die Male vorher mit einer Frau seien gescheitert wegen seines Berufs, der Ausschließlichkeit verlangte, […] falsch gewesen [war]“ (MN 446). Entwicklungsfähig erscheinen ihm außerdem, im „neugeordneten Europa“, Österreich und seine Bewohner/ innen: „Weltoffenheit“ (MN 318), „Selbstverständlichkeit“, „Ruhe“, „Souveränität“ (MN 319) strahlen ihm nicht nur jüngere Österreicher/ innen während des Fluges und bei seiner Ankunft in Wien aus. Um wie viel mehr ist überdies bemerkenswert, dass in den Text auch die Begegnung des Hauptprotagonisten mit einem bosnischen Flüchtling, der seit fast zwanzig Jahren auf der Suche nach seinem verschollenen Sohn ist, Eingang findet. „Wenigstens einen Knochen von seinem Sohn wollte er mit nachhause nehmen.“ (MN 531) Eine Seite ist ausreichend, um diesen verwaisten Vater als unverwechselbares Individuum - das dabei doch exemplarisch für zehntausende andere steht - zu zeichnen; eine Seite, um das noch jahrzehntelang nach Kriegsende fortwährende Leiden eines - und in diesem Falle eben bosnischen - überlebenden Kriegsopfers zu entfalten. Was auf über 550 Seiten rein zahlenmäßig gesehen nicht weiter ins Gewicht fällt, erweist sich im <?page no="256"?> 3. Textarbeit 256 Gesamtkontext von Handkes Jugoslawien-Texten als Novum. In den Kuckucken von Velika Hoča schließlich gesteht Handke den Wunsch ein, „endlich einem der albanischen Dörfler zu begegnen. Man hätte ihm in seiner Sprache einen guten Tag gewünscht, ,Mirëdita! ‘, und wäre dann gleich aufs Englische übergegangen.“ (KVH 56) 705 In dreizehn Kapitel ist Die morawische Nacht unterteilt, jedes der dreizehn ist einem Land bzw. Ort zugeordnet. Die in den einzelnen Kapiteln zurückgelegten Wege werden immer kürzer, je näher das Ziel rückt. Schienen sich die vorderen Kapitel über längere Zeiträume zu erstrecken, so umfassen gegen Ende des Textes die erzählten Zeitspannen nur mehr Stunden, gar Minuten, bis es streckenweise nahezu zu einer Deckung von erzählter Zeit und Erzählzeit kommt. Die Chronotopie, die mit Bachtin diesem räumlichen und zeitlichen Verschränken als strukturierendes Prinzip unterlegt werden kann, schlägt sich auch auf paratextueller und auf Erzählebene nieder: Die morawische Nacht verweist in Kursivdruck auf den Namen der romanlangen Erzählung Handkes, in Großbuchstaben dagegen auf den Namen des „,Hotels‘, der weithin durch die Finsternis der Flußauen leuchtete: MORAWISCHE NACHT.“ (MN 8) Eine Nacht währt weiters die Rahmenhandlung - vom Text selbst als „,Morawische[] Nacht‘“ (MN 114) apostrophiert -, als deren Einheit des Ortes man das Boot am Ufer der Morawa wähnt. Dass Zeit hingegen nicht mit ,Einheit‘ zu tun haben muss bzw. kann, halten zahlreiche Textstellen fest. Immer wieder kommt in der Morawischen Nacht ein äußerst dynamisches Verständnis von Zeit(maß) zur Anschauung; mehrmals wird explizit die Relativität der Zeitwahrnehmung angesprochen. „Für die einen von uns“, so wird mit Bezug auf die Reisedauer des Ex-Autors erzählt, „hatte dann seine Abwesenheit beunruhigend lange gedauert. Für andere dagegen war zwischen seinem Aufbruch und seiner Rückkehr kaum ein Monat, ja nicht viel mehr als eine Woche vergangen. Mir zum Beispiel schien sogar, als habe beides, Abfahrt wie Wiederkehr, gestern stattgefunden. Mir andererseits kam vor, der Ex-Autor habe mich den ganzen Winter alleingelassen, und mir, dem Dritten: ein ganzes liebes Jahr.“ (MN 44) Im späteren Kuckucks-Text dagegen gibt es erneut eine übergreifende Instanz, welche die „andere Zeitrechnung“ (KVH 38) verkörpert und auch vorgibt: die titelgebenden - und symbolisch aufgeladenen! - Vögel mit ihren Rufen. Vergeblich hatte Handke den ganzen Frühling und „quer durch Europa“ (KVH 39) auf das Kuckucksrufen gewartet. Erst in Velika Hoča erklingt es endlich. Dass die Rufe in „unseren Breiten“ (KVH 89) kaum mehr zu hören sind, liegt, so erfährt Handke, an der Klimaerwärmung. Die Vögel, denen die Kuckucke 705 Eine albanische Ortsansässige sichtet er schließlich auch: eine Greisin, die Handke in die Rolle des „Wildfremden“ versetzt. Bei seinem Anblick tritt ihr „lautloses Grauen […] akut in die Augen“ (KVH 59). <?page no="257"?> 3.2 Nach den Kriegen 257 die eigenen Eier ins Nest legen, brüten mittlerweile früher aus, was jedoch die Kuckucke noch nicht begriffen hätten, die daher regelmäßig leere Nester vorfänden und weiterflögen - in den Kosovo: „es war so im nachhinein, als hätten sämtliche Kuckucke aus Mittel-, aus Nord- und aus Westeuropa sich dort unten im Kosovo zusammengefunden.“ (KVH 89) So wie die Kuckucke die Nester der anderen Vögel nicht mehr nutzen können, wurden gleichfalls, das insinuiert der Text, auch die serbischen Enklavenbewohner/ innen von ihrem gewohnten bewohnten Raum getrennt, ihrer Möglichkeiten beschnitten. 706 Eine weitere Besonderheit des Textes - und, mit Blick auf die deutschsprachige Literatur, auch eine Rarität - nimmt die obige Passage der Morawischen Nacht gleich vorweg: die Erzählinstanz als Kollektiv. Als „wir, des früheren Autors Freunde, Gefährten, ferne Nachbarn, Mitspieler“ (MN 9) auch benannt, kommt es als Personalpronomen in der ersten Person Plural jedoch nur punktuell zum Einsatz. Vielmehr wird die, wenn man so möchte, Fackel der Erzählstimme, von Ort zu Ort weitergegeben: jede/ r einzelne all jener, die dieses ,wir‘ konstituieren, fungiert als Reisebegleitung „für jeweils eine Etappe, sein (des Ex-Autors, D.F.) Reisebegleiter“ (MN 9) und kann als solche die Bewegungen und mitunter auch Beweggründe des Ex-Autors bezeugen und erzählen. Eine einzige, „fremde[] Frau“ (MN 22) findet Eingang in die Männergesellschaft, als welche die Versammlung auf dem Hausboot unschwer zu erkennen ist. Sie tritt sowohl als Protagonistin während der Reise als auch als Erzählerin auf dem Boot in Erscheinung, vornehmlich als korrigierende oder ergänzende Stimme. Dieser gewichtigen Funktion ist es zu verdanken, dass eine Lesart, die zu Recht die machistische Dimension dieser Männerwelt hervorhebt, 707 zumindest in Zügen konterkariert wird. Denn wenn beispielsweise, wie gleich zu Beginn der Erzählung, die „Schönheit“ der Frau von ihrer Hüfte abgeleitet und in dieser sodann „der Sitz der Güte“ verortet wird (vgl. MN 22), kommen - so der Passage nicht ein ironischer Gestus unterlegt wird - erst recht wieder Positionen zu Wort, die sich in ein patriarchalisch geprägtes Weltbild einschreiben lassen. In den Geschichten über den Anderen, den ehemaligen Autor, treten die verschiedenen Erzähler (zumeist) nicht auf. Mit Blick auf das erzähltheoretische Schemata Gérard Genette 708 bietet es sich an, von einer Dominanz des intradiegetisch-heterodiegetischen Erzähltypus zu sprechen. Handkes Text kann außerdem in Rahmenerzählung (die Zusammenkunft der Gruppe auf dem Hausboot des Ex-Autors) und Binnenerzählungen (über die einzelnen Stationen der Reise des Ex-Autors) unterteilt werden. Diese Konfiguration 706 Eine solche Lesart würde folglich auch den besagten Menschen ein immanent parasitäres Moment anhängen. 707 Vgl. Müller-Funk (2009a: 359). 708 Vgl. Genette, Gérard: Die Erzählung. A. d. Franz. v. Andreas Knop, München: Fink 1994. <?page no="258"?> 3. Textarbeit 258 erfährt im Schlusskapitel, in dem das Ankommen des (nunmehr nicht länger mit dem Präfix ,Ex‘ versehenen) Autors auf dem Hausboot erzählt wird, eine besondere Volte. Nun, da die Erzählung im Hier und Jetzt angekommen ist und die Geschichte die Narration eingeholt hat, entpuppt sich die Rahmenhandlung als eine imaginäre, und nicht nur das: Die Nacht war zuende. […] Und wo waren wir anderen, die nachtlangen Zuhörer auf dem Schiff […]? Auch von uns keine Spur; von einem „wir“ keine Rede; der Autor war allein im Salon, nicht einmal der Busnachlaufhund zu seinen Füßen; der Blick nach „uns“ in die Runde: abermals in die Leere. Dabei war es gedacht gewesen, daß die Geschichte endete mit uns allen an Bord, unter dem Sonnensegel, und zwar nicht mehr an der Morawa, sondern nach deren Einmündung weiter nordwärts, mitten auf der zehnmal so breiten Donau, Richtung Schwarzes Meer, wohin wir im Morgengrauen getuckert wären, wieder einmal auf der Flucht. Nichts da. Ah, sein Schmerz, der große: das ewige Getrenntsein. Nicht einmal ein Fluß, nicht einmal die Morawa vor den Fenstern, die ganz und gar keine Bullaugen waren. […] Keine Spur von einem Schiff, von der MORAWISCHEN NACHT? Was gerade noch ein Schiff gewesen war, schrumpfte zum Einbaum, und der Einbaum sank. Und der Fluß, die Morawa? Die Morawa versiegte. Und Porodin war doch keine Enklave, nie gewesen. Die balkanischen Enklaven lagen woanders. (MN 555f.) Oder aber, das zumindest legen die weiteren Passagen nahe, hat womöglich der Autor dies alles - das Erzählen und das Erzählte - ,nur‘ geträumt? 709 Gingen bereits in den fortwährenden Textverlauf die Träume des Ex-Autors mit ihren unterschiedlichen Inhalten und beschützenden, bewahrenden oder lotsenden Funktionen ein, so erweist sich am Ende der Lektüre die Instanz des Traumes gar als jene tragende Basis, die den erzählerischen Überbauschuss erst fundiert hat: Eine Reise aus der Nacht erzählt - so könnte Die morawische Nacht in Anspielung auf Handkes 2010 erschienene ,Nachtbuch‘ Ein Jahr aus der Nacht gesprochen 710 betitelt werden. Zu Beginn des Buches wiederum war programmatisch die „sagenhaft[e]“ Dimension dessen, was sich in Folge für den Leser/ die Leserin eröffnet, akzentuiert worden: „Jedes Land hat sein Samarkand und sein Sumancia“, so hebt der Buchbeginn an: „In jener Nacht lagen die beiden Stätten hier bei uns, hier an der Morawa. Numancia, im iberischen Hochland, war einst die letzte Flucht- und Trutzburg gegen das Römerreich gewesen; Samarkand, was auch immer der Ort in der Historie darstellte, wurde und ist sagenhaft; wird, jenseits der Geschichte, sagenhaft sein. Die Stelle der Fluchtburg nahm an der Morawa ein Boot ein 709 Vgl. dazu MN 557f. 710 Die meist kurzen Sequenzen, die Handke zwischen April und November 2006 unmittelbar nach dem Aufwachen notierte, erschienen zuerst im März 2007 in der Zeitschrift Manuskripte (H. 175) unter dem Titel „Selbstportrait aus Unwillkürlichen Selbstgesprächen“ und 2010 beim Salzburger Jung und Jung Verlag: Ein Jahr aus der Nacht gesprochen. <?page no="259"?> 3.2 Nach den Kriegen 259 […].“ (MN 7) Wohlgemerkt handelt es sich bei diesem Boot um einen Rückzugsort bar jeglichen wehrhaften oder widerständischen Charakters: eine Flucht-, nicht Trutzburg. Immer wieder ergreift auf dem Hausboot auch der Ex-Autor das Wort, um selbst über das, im doppelten Wortsinn, Er-fahrene zu erzählen. Diese Übergaben an den ,Gastgeber‘ werden in der Regel angekündigt, die dann folgenden Passagen indes aus der dritten Person singular erzählt. Es handelt sich dabei weniger um Versuche der Implementierung einer bestimmten Version der Geschichte, sondern immer wieder um ein ,Erzählen des Erzählens‘ bzw., da es um den Akt in seiner Prozessualität geht, ein ,Erzählen der Narration‘. 711 Für den Leser/ die Leserin bewirken die zahlreichen Wechsel der Erzählinstanz, dass diese, in ihrer Austauschbarkeit vorgeführt, an Bedeutung verliert und das Erzählen als prozessuale Praktik sowie das Erzählte als solches in den Vordergrund rücken. In meiner Lesart zeichnet sich mit diesem besonderen Erzählsetting ein demokratischer und gleich gültiger Ansatz ab, der Ein- und Widerspruch - man denke an den „ewigen Zwischenfrager[]“ (MN 158) bzw. „Zwischenrufer“ (MN 417) - ostentativ inszeniert. Wolfgang Müller-Funk hingegen assoziiert damit einen bewussten Rückgriff auf „eine vormoderne Form des Erzählens […], eines Erzählens, das sich selbst als ein mündliches Erzählen von Angesicht zu Angesicht inszeniert, um die mythische Dimension einer Erzählgemeinschaft vorzuführen, die das Vergangene in der Erzählung noch einmal festhält, die aber zugleich unwiederbringlich verloren ist.“ 712 - Nach den beiden hier vorgestellten Texten Die Wiederholung und Mein Jahr in der Niemandsbucht 713 hat Handke, soviel steht fest, mit der Morawischen Nacht erneut ein Werk über das Erzählen vorgelegt. 711 Vgl. dazu MN 55 und MN 75. 712 Müller-Funk (2009a: 350). 713 Bereits im 1994 erschienenen Werk Mein Jahr in der Niemandsbucht griff Handke auf ein Erzählkollektiv von sieben Figuren zurück; vgl. dazu Honold (2011: 254f.). <?page no="260"?> 3. Textarbeit 260 Während in den bislang analysierten Texten die Region des ehemaligen Jugoslawiens aus den westlichen (Nachbar)Ländern aufgesucht wurde, kommt es in der Morawischen Nacht zu einer umgekehrten Bewegung. Ausgehend vom Ufer der Morawa tritt der Ex-Autor seine Rundreise an: zuerst „kreuz und quer durch den Balkan“ (MN 121), dann auf die Insel „Cordura, auch wenn sie in Wirklichkeit anders hieß“ (MN 123f.), weiter in die spanische Steppe unweit des früheren Numancia, nach Deutschland in eine kleine Harzstadt, seine „Vaterstadt“ (MN 287). Von dort aus geht es in sein „Geburtsland“ (MN 306), ins „tiefe[] Österreich“ 714 (MN 207): von Wien über Graz nach Kärnten, nach „Stara Vas“ 715 (MN 462). Wohl nicht ohne Zufall - bekanntlich hat bereits Metternich den Beginn des Balkans auf den Rennweg in Wien- Landstraße gelegt - wächst ausgerechnet auf der Anreise nach Österreich die Sehnsucht des Ex-Autors nach seiner Wahlheimat: „nachhause, ja, nachhause auf den Balkan“ (MN 306). Nach einem letzten Zwischenstopp im slowenischen Karst gelangt er erneut via Bus nach Porodin. „Aufgebrochen war er südwestwärts, zurückkehrte er aus dem Nordwesten. Der Kreis schloß sich. Schloß er sich? “ (MN 534) In der Tat handelt es sich bei sämtlichen Etappenzielen des Ex-Autors um Stationen seines vergangenen Lebens, was einmal mehr die chronotopische Fassung des Textes akzentuiert: die Reise im Raum als Reise in der Zeit. Im Unterschied zu jenem südlich von Belgrad und „hinter sieben lange Kurven“ (WR 100) gelegenen Straßendorf, das Handke mit seinen Reisebegleiter/ innen im November 1995 besuchte, wird in der Morawischen Nacht Porodin auch - und zu späterer Stelle - als „Enklave“ (MN 542) umschrieben. In der Realität mache dies, so Previsic, schlichtweg keinen Sinn, wir hätten es mit einer „geschickte[n] Aufmischung von faktualen mit fiktionalen Markern im geographischen Raum“, 716 die denn auch eine Vernachlässigung des Realitätsbezuges bewirke, zu tun. 714 Dies läss sich als Verweis auf Gerhard Roths Foto-Text-Band Im tiefen Österreich (1990), erster Teil seines siebenbändigen Zyklus Die Archive des Schweigens lesen. Vgl. zum Zyklus sowie insbesondere dessen dritten Teil Landläufiger Tod (1984) die Monographie von Lind (2011). 715 Dieses Toponym ist dem Leser/ der Leserin aus dem Träumer-Text bekannt. Auf die dort gelieferten Informationen über das „alte[] Slowenendorf, das selbst die Bewohner endlich nur noch zum Spaß ,Stara Vas‘ hießen“ (AT 8), verzichtet Die morawische Nacht. 716 Previsic, Boris: Kontinuität einer serbisch-balkanischen Topologie in Handkes „Erzählung“ Die morawische Nacht, in: Kabić, Slavija/ Lovrić, Goran (Hgg.): Mobilität und Kontakt. Deutsche Sprache, Literatur und Kultur in ihrer Beziehung zum südosteuropäischen Raum. Beiträge der gleichnamigen Jahreskonferenz des Südosteuropäischen Germanistenverbands (SOEGV) in Zadar/ Kroatien, 20.-22. November 2008, Sveučilište u Zadru: Zadar 2009, 311-318, 315. Previsic erkennt zu Recht Handkes ambivalente und strategische Handhabung geographischer Koordinaten. Nichtsdestotrotz möchte ich ergänzen, dass sowohl im Klappentext wie auch zu Beginn des Basistextes mit ,Enklave‘ nicht auf die Ortschaft, sondern - inklusive Fragezeichen! - auf das <?page no="261"?> 3.2 Nach den Kriegen 261 Eine offensive Begünstigung eines fiktionalisierenden Lektüremodus leistet der Text indes erst nach dem Verlassen des ,Balkans‘, der im Laufe des ersten Kapitels als eine vom Krieg gezeichnete Region Konturen gewinnt. Jene phantastischen Momente der Verwandlung und der Verkehrung wiederum, welche die weiteren Binnenerzählungen charakterisieren, sind ab der Ankunft auf der Insel Condura Legion. Augenscheinlichstes Symptom des nun einsetzenden Regimes des Wundersamen ist die Anwesenheit eines Hundes, der nicht alleine sein Körpergröße zu verändern, sondern auch Zeichen vergangener Schriftsysteme zu übersetzen und mit weiblicher Stimme zu sprechen vermag (vgl. MN 74f.). Spätestens ab diesem Zeitpunkt geht jegliche Rückkopplung an außertextuelle Referentialität mit Zeichen und Wundern einher; dass dann besagter Hund, ob als löwenhafter Wildhund (vg. MN 255), ob als riesiger Rabe (vgl. MN 325) immer wieder in Reichweite des ehemaligen Autors auftaucht, erscheint aus textinterner Perspektive nicht weiter kurios. Was letzterer dagegen später in seinem Kindheitsdorf erlebt: krähende Katzen, bei Tag flatternde Fledermäuse und trotz nahenden Gewitters hoch fliegende Schwalben, als Metallstifte anmutende Regenwürmer, kamel- und löwenhafte visuelle und akustische Wahrnehmungen, beschreibt nicht länger die fabelhafte Welt des Ex- Autors, sondern bildet vielmehr den Auftakt für eine längere Allegorie über das Un-Verhältnis zu seinem einstigen ,Zuhause‘: „An einem fremderen Ort, unter fremderen Menschen, Tieren, Dingen als jetzt hier in seiner Stammgegend hatte er sich nicht bewegt.“ Niemand, nicht einmal jener Hund, der nun in Erscheinung tritt - „der von Porodin? der seines Bruders? “ (MN 461) -, erkennt ihn, und auch der besagte Bruder nicht auf Anhieb. Hausboot angespielt wird. Vgl. dazu folgende Passage: „Als ,Enklave‘ wollte er sein Bootshaus sehen, als autoproklamierte Exterritorialität? Wollte er nicht wahrhaben, daß es zu jener Zeit längst keine Enklaven mehr geben durfte? Daß etwas Derartiges, und mit ihm jedes ,Enklavendenken‘, ,verpönt‘ war? “ (MN 35) Im inneren linken Klappentext heißt es: „Ein Autor, ein ehemaliger, ruft seine Freunde, sieben an der Zahl, auf das Hausboot, seine Enklave, wohin er sich ein Jahrzehnt zuvor zurückgezogen hat.“ Im weiteren Verlauf des ersten Kapitels wird hingegen sehr wohl deutlich, dass es sich bei der ,Enklave Porodin‘ nicht allein um das Hausboot handelt. Im zwölften und vorletzten Kapitel wiederum wird auf die „Enklave Porodin“ in Form einer Todesanzeige rekurriert: „Die Enklave Porodin gab es nicht mehr. Mit ihr war die letzte Enklave auf dem Balkan, und überhaupt in Europa, verschwunden, oder ,desenklavisiert‘. Nur er, der Heimkehrer, hatte das nicht gewußt - wir anderen waren längst an die veränderte Lage gewöhnt. Es war der Lauf der Dinge, und der war, was Porodin anging, im großen und ganzen sogar friedlich, und die Änderungen waren nicht mit einem Schlag eingetreten, sondern ganz allmählich, beinahe unmerklich.“ (MN 542) <?page no="262"?> 3. Textarbeit 262 Insignien des globalen Zeitalters und Indizien für islamische Glaubensrituale, Obdachlose im einstigen Obstgarten, dem „Urwald“ (MN 478), und ein als „Muldenheiliger“ (480) wahrgenommener Mongole dürfen in dieser Beschreibung seines Weges zum „Großvater-, jetzt Bruderhaus“ (MN 481) nicht fehlen. Was Handke damit bezweckt, erschließt sich (mir) nicht ganz, doch kann festgehalten werden, dass die vom Ex-Autor gesichteten Erscheinungsformen des Lebens gleichermaßen kontingent und notwendig anmuten. Auch ihre Schilderung kommt ohne Verbitterung und Zorn aus. Vieles hat sich verändert in den Jahren seiner Abwesenheit, und nicht alles zum Schlechten: der Bruder hat das Bauernhaus in einen Gasthof umgewandelt, der ehemalige Apfelkeller ist einer unterirdischen Kirche gewichen: „Und es kam auch mehr und mehr vor, daß alle die drei Gruppen, die Fernfahrer, die Einheimischen und die Zugezogenen, so wie oben in der Schenke sich unten in der Katakombe zusammenfanden. Und? Nichts sonst.“ (MN 495) Von der phantastischen Fundierung der Reiseetappen ab Condura hebt sich die Schilderung des Aufbruchs aus Porodin und die im Bus - „ein ausgedienter Postomnibus aus Österreich“ (MN 69) - zurückgelegte Fahrt, die durch „grundanderes“ (MN 79) Gebiet führt, deutlich ab. Die Nähe zwischen erzählter Welt und außertextueller Referentialität tritt hier als eine untrennbare in Erscheinung. Die Endstation des „Enklavenbus[ses]“ (MN 53) ist Belgrad, ob der Ex-Autor indes jemals dort eintrifft, wird nicht verraten. Bloß den ersten Teil der Etappe hat das erste Kapitel zum Gegenstand: von Porodin bis zu einer „durch den Krieg in zwei Teile zerfallenen Stadt“ (MN 108), „Zweivölkerstadt“, „Grenzstadt […] fern von jeder sonstigen, auf Karten eingezeichneten Grenze“ (MN 109). Zwar wird nicht jeder Leser/ jede Leserin darin, wie Previsic dies tut, Mitrovica 717 entschlüsseln. Dass die im ersten 717 Vgl. Previsic (2009c: 317). - In der vom Fluss Ibar geteilten Stadt im nördlichen Kosovo kam es im März 2004, trotz der dort stationierten KFOR-Truppen, zu pogromartigen Ausschreitungen gegen die nicht-albanischen Minderheiten. Melčić zieht folgende Bilanz: „19 Personen (vorwiegend ethnische Albaner) kamen ums Leben, 900 wurden verletzt, mehr als 700 Häuser von Serben, Roma und Aschkali wurden zerstört. Der Mob zündete 30 serbisch-orthodoxe Kirchen und 2 Klöster an und vertrieb etwa 4500 Nicht-Albaner.“ [Melčić, Dunja: Unter UN-Verwaltung: Chancen und Hürden, in: dies. (2007: 133-138, 135).] Im März 2008 kam es erneut zu einem Ausbruch der Gewalt mit rund 130 Verletzten und dem Tod eines ukrainischen UN-Offiziers, als serbische Demonstrant/ innen das Kreisgericht besetzten (vgl. http: / / news.bbc.co.uk/ 2/ hi/ europe/ 7300015.stm v. 18.3.2008, 31.1.2013). In Die Kuckucke von Velika Hoča streift auch Handke kursorisch die von ihm um einen Monat vordatierten Vorfälle, und zeigt mit den gesetzten Gänsefüßchen auf recht dezente Weise seine Kritik an einer Verkürzung des Konfliktes bzw. seiner Ursachen an: „Die erste Nacht wurde in eben dem nördlichen Teil von Kosovska Mitrovica, diesseits des Flusses Ibar, zugebracht, wo es Mitte Februar 2008, zweieinhalb Monate zuvor, zu den serbischen ,Ausschreitungen‘ gekommen war.“ (KVH 15) Bezüglich der Unruhen vom März 2004 konzentriert sich Handkes Unmut auf die Nicht-Eintragung der zerstörten Baudenkmäler serbischen Kulturerbes auf einer Karte des Kosovo (vgl. KVH 28f.). <?page no="263"?> 3.2 Nach den Kriegen 263 Kapitel geschilderten Reiseeindrücke als Kommentar auf die auch nach dem Kosovo-Krieg bestehenden Konflikte zwischen Kosovo-Serb/ innen und - Albaner/ innen verfasst wurden und - ohne dass Handke ein einziges Mal die Bezeichnungen für die betreffenden Länder oder ihre Bewohner/ innen bemühen müsste - als solche auch dechiffriert werden, davon ist jedoch auszugehen. Auch die für meine Forschung relevante Auseinandersetzung mit dem Thema ,Krieg‘ - im späteren Verlauf wird dieser auch als ,Beziehungskrieg‘ narrativiert - erfolgt auf diesen ersten, gut hundert Seiten, wobei Handke nicht den Krieg selbst darstellt, sondern, wie später im Kuckucks-Text, 718 die Folgen für die (serbische) Zivilbevölkerung beleuchtet. Bislang alltägliche Erledigungen und Wege können nunmehr nur „unter Lebensgefahr“ verrichtet bzw. zurückgelegt werden (MN 49); ,im Raum stehen‘ Phänomene der Grenzziehung, der Ein- und Ausgrenzung: topographischer, sichtbarer Art - wie Checkpoints, Straßensperren und Straßenschilder mit entweder kyrillischen oder lateinischen Buchstaben - wie auch symbolischer, unsichtbarer. Bezeichnenderweise ist das ,Vehikel‘ für die Erkundung dieser Grenz(ver)handlungen ein(e) Bus(fahrt). Der optimistischen Grundierung des Textes entsprechend, sei Grenzziehung nicht losgelöst von Grenzüberschreitung zu denken: „es gab ja Buslinien, die jeden noch so kleinen Balkanort mit ganz Europa verbanden. (MN 108) Die Busepisode beginnt auf dem Schuttplatz in Porodin, wo das Gefährt voll gepackt wird: Auf den ersten Blick evoziert die von einem namenlosen Mit-Erzähler übernommene Schilderung dieser Beladung des Busses Bilder, wie sie im Zuge des Kosovo-Krieges zur Anwendung kam: Bilder von Flüchtenden mit ihren wichtigsten Habseligkeiten beladen. Doch weniger um Taschen oder Koffer, sondern um ganze Möbelstücke handelt es sich bei den Mitreisenden des ehemaligen Autors, und bei ihnen, wie es sich im Verlauf der Reisererzählung herausstellt, um „Emigranten“ (MN 76) und „Ausgesiedelte[]“ (MN 87), um „Auswanderer“ (MN 113) in die serbische Hauptstadt. Nichtsdestotrotz wird damit das Moment der Umkehrung, welches der nichtfiktionalen Sinnkonstitution unterlegt ist, deutlich. Bereits bei der Handhabung der Enklaven-Vokabel war Handkes Rekurs auf bestimmte Begriffe und Bilder, die mit Bezug auf den kriegerischen Zerfall Jugoslawiens ganz konkreten, auf Seite der Opfer verortbaren Orten oder Kriegsparteien zugeschrieben werden, augenfällig geworden. Nun sind es Serben und Serbinnen, so ergänzt der Leser/ die Leserin, 719 die in Enklaven leben oder ausgesiedelt werden. Als sich der Bus endlich in Bewegung setzt, wechselt, da der ehemalige Autor die Fahrt ohne Geleit zurücklegt, die Erzählstimme. Die nun folgenden 718 Vgl. KVH 43. 719 Die Bewohner/ innen werden, nicht ohne die Kontingenz dieser Benennung zu demonstrieren, als „Walachen“ angeführt: „[...] und die im Kreis Hockenden da waren Teil der nach dem Krieg Vertriebenen, der, nennen wir sie hier so, Walachen.“ (MN 86) <?page no="264"?> 3. Textarbeit 264 Begebenheiten werden aus seiner Sicht und in personaler Erzählsituation geschildet; etwaige ,ich‘-Einsprengsel rufen den Akt des Erzählens in Erinnerung. 720 Die anderen Passagiere bleiben (dem ehemaligen Autor) namen- und weitgehend gesichtslos; und ihm wiederum, dem langjährigen Bewohner der Region, bleibt manches unklar und rätselhaft: Die Enklave als Elfenbeinturm? Einzig mit dem Chauffeur des Busses kommt der Reisende ins Gespräch, dieser liefert post festum die Erklärungen für manch Geschautes, „die dazugehörige Geschichte“ (MN 86). Das mit viel Weinen und Wehklagen einhergehende Picknick der Mitreisenden beim ersten Halt in einem „Muldendorf“ (MN 86) findet so nicht länger auf dem Saumstreifen eines Feldes im steppenhaften Nirgendwo statt, sondern wird als Stätte des Friedhofs ihres früheren Heimatortes identifiziert: „Zum ersten Mal seit Kriegsende nun waren welche aus dem einstigen Zweitvolk in ihre Gegend zurückgekehrt, wenn auch nur für den Besuch hier, und das erste Mal würde zugleich das letzte sein.“ (MN 86) Das letzte Mal? Als alle Busreisenden das Fahrzeug wieder erreicht haben, treffen sie dort die ,anderen‘, zahlenmäßig weit überlegenen Dorfbewohner/ innen an: notabene „[k]eine böse oder feindselige Menge“ (MN 90), und mit „vielen Kinder[n]“721 (MN 91). Schweigen und Schauen, viel mehr passiert nicht. Doch bei der Abfahrt des Busses kommt es zu einem denkwürdigen, dem viel zitierten Flügelschlag eines Schmetterlings vergleichbaren Geschehnis: Eine der Businsass/ innen winkt einem Kind in der Masse, und siehe da, dieses winkt zurück. Ein Zittern ist eines, das auf sein Inneres beschränkt bleibt und da aber umso gewaltiger umgeht, ein Tiefenbeben, bei dem eine Eruption unvermeidlich sein wird. Gleich wird sie geschehen. Und jetzt geschieht sie auch. Und diese Eruption, sie ist sein Zurückwinken, an dem so gar nichts Gewaltiges sichtbar wird. (MN 93) Explizit wird hier die versöhnliche Fundierung des Textes an der symbolträchtigen Figur des Kindes festgemacht. Ein friedliches Nebeneinander, wenn schon nicht Miteinander, der nicht länger in Erst- und „Zweitvolk“ (MN 86) zu unterteilenden Bevölkerungsgruppen erscheint an dieser Stelle als gangbare Perspektive in nicht allzu ferner Zukunft. Nur wenige Seiten später wird diese allerdings konterkariert, wenn der Buschauffeur zu einer längeren Hasstirade über die Unabhängigkeitserklärung des, wie im Leseprozess ergänzt wird, Staates Kosovo ansetzt. Rief der Text eben noch den Topos des unschuldigen Kindes auf, ist es in der Wahrnehmung des Chauffeurs ausgerechnet die junge Generation, die für die Fortdauer des von ihm angeführten Hasses sorgen. Seine Argumentation hängt dem als ,Lamarckismus‘ bekann- 720 Vgl. beispielsweise MN 66. 721 Damit spielt Handke auf den demographischen Unterschied zwischen der serbischen und der kosovoalbanischen Bevölkerung im Kosovo an. Vgl. dazu Kapitel 3.2.2.2. <?page no="265"?> 3.2 Nach den Kriegen 265 ten Glauben, dass erworbene Eigenschaften vererbt würden, an: ein Grundtheorem des Rassismus. 722 „Sie haben uns immer gehaßt. Sie haben alles bekommen, was sie wollten, und sie hassen uns weiter. Mehr denn je. Blinder denn je. Sie haben ihren Staat bekommen. Sind jetzt ein Staatsvolk wie die Litauer, wie die Katalanen, wie die Transnistrier, wie die Cisnilianer, wie die Talkalmücken, wie die Bergslowenen, wie die Donau- und Mekongdeltaautonomen. Sie sind ein Staatsvolk und, o endlich wahrgemachter großer Traum, ein Einvolkstaat und hassen uns Überbleibsel vom Zweitvolk, das kein Staatsvolk ist, hassen uns, als seien wir Reste das Staatsvolk, und nicht sie. Und ihren Haß, den brauchen sie ihren Kindern gar nicht erst ausdrücklich beizubringen. Er überträgt sich einfach so, von Generation zu Generation, von Gen zu Gen, längst jenseits der Blutrachen und der Kriege. […] Aber Staat oder Nichtstaat: euer Haß, der höret nimmer auf.“ (MN 103ff..) In keiner Weise mischt sich die Erzählinstanz in diese partikulare Meinung ein, in keiner Weise wird diese kommentiert, affirmiert oder kritisiert. In erzähltheoretischer Hinsicht handelt es sich bei der insgesamt knapp zwei Seiten langen Passage nicht um ein ,telling‘, sondern um ein, gemeinhin mit Neutralität konnotiertes, ,showing‘. Dass diese überhaupt Eingang in Die morawische Nacht fand, ist freilich Peter Handkes Entscheidung und Verantwortung. - Doch worum geht es hier? Tatsächlich nähern wir uns hier der eingangs dieses Kapitels formulierten Fragen: Sind gesinnungsästhetische Momente in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung angebracht (1); werden gesinnungsästhetische Momente in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung angebracht (2)? Theoretisch nicht, so lautet meine Antwort auf die erste Frage, und auf die zweite: praktisch sehr wohl. Eine metawissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem nicht aufgehenden Rest zwischen theoretischem Anspruch und praktischer Handhabung zum einen, und zum anderen die rezeptionsästhetische Frage, welche (lustvollen) Reize ,politische Unkorrektheit‘ in der sogenannten Höhenkammliteratur auszulösen vermag zum anderen 723 - beide Zugänge werden von dieser Passage eröffnet. Beide erscheinen mit einem Mal vielversprechender, als 722 Die genealogische Weitergabe von persönlich Erlebtem war von Freud in Totem und Tabu als „Gefühlserbschaft“ bezeichnet worden. (Vgl. Freud, Sigmund: Gesammelte Werke. Band IX. Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, Frankurt/ Main: S. Fischer 1973 5 , 191.) Vgl. zu psychoanalytische Studien jüngeren Datums z. B. Volkan, Vomik D.: Psychoanalysis and international relationships: Large-group identity, traumas at the hand of the „other“, and transgenerational transmission of trauma, in: Brunning, Halina/ Perini, Mario (Hgg.): Psychoanalytic Perspectives on a Turbulant World, London: Karnac Books 2010, 41-62. 723 Diesbezügliche Untersuchungen müssten auf einer Zusammenführung von Ansätzen aus der Psychoanalyse und der Emotionspsychologie basieren und wären dabei jeweils am konkreten Werk zu unternehmen. Vgl. dazu auch den Ansatz von Anz (2002). <?page no="266"?> 3. Textarbeit 266 danach zu fragen, wie sehr sich hinter der Figurenrede des Busfahrers die Position des Autors, der aus seinem Unverständnis gegenüber (auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien nach 1989 einsetzenden) separatistischen Bestrebungen schließlich keinen Hehl gemacht hat, versteckt. Mit der Verballhornung des Korintherbrief-Zitates 724 hat der Busfahrer das letzte Wort noch nicht gesprochen. Ein ebenfalls in direkter Rede gehaltener Nachtrag, der von einer Haltung der Gleichgültigkeit gezeichnet ist, relativiert auf intratextueller Ebene die Zorntirade: „Doch was soll's. Mögen sie meinetwegen […].“ Als „Apache“ und als „staatenlos“ (MN 105) stilisiert sich der Fahrer - ihn als „offenkundig serbisch[]“ 725 anzuführen, davor hütet sich der Text indes, und überlässt eine solche Konkretisierung bzw., mit Ingarden, das ,ergänzende Bestimmen‘ 726 dem Leser/ der Leserin. Dass die implizite Sinnebene sehr wohl auf eine serbische Herkunft der Figur abzielt, diese Vermutung lässt sich freilich mit der Anspielung auf die Visumspflicht stützen: „Ausland, bleib weg von mir. Visum, für gleich welches andre Land, um deinetwillen kein Frühaufstehen und kein Schlangestehen.“ (MN 106) 727 Wird eine solche Lesart erst einmal in Gang gesetzt, so ist es nur schlüssig, wie Müller-Funk dies tut, dem Text die Intention zu unterlegen, die „Serben zu den letzten Mohikanern, zu einem vom Aussterben bedrohten Volk in Europa“ 728 zu machen. Auch in intertextueller Hinsicht ist die Passage von Interesse, da mit der Anführung des Apachen-Selbstbildes der bereits angesprochene zentrale Topos des Handkeschen Œuvres aufgerufen wird. 729 Indianderfiguren versprechen insofern ein attraktives Identifikationspotential, als ihre Geschichte keine Tätergeschichte ist, ihr Widerstand als Verteidigungskampf legitim erscheint. 724 Vgl.: 1. Korinther 13,8: „Die Liebe hört niemals auf, wo doch das prophetische Reden aufhören wird und das Zungenreden aufhören wird und die Erkenntnis aufhören wird.“ (Lutherbibel Standardausgabe mit Apokryphen, Wien: Österreichische Bibelgesellschaft 1987, 207.) 725 Müller-Funk (2009a: 351). 726 Vgl. Kapitel 2.2. 727 Erst 2010 war zunächst für Serbien, Mazedonien und Montenegro, später auch für Albanien und Bosnien-Herzegowina die Visumspflicht für den Schengenraum gefallen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt (Winter 2012) benötigen lediglich die Bürger/ innen des Kosovo des so genannten Westbalkans ein Visum. Vgl. zu ,Westbalkan‘ bzw. ,Western Balkans‘ Kapitel 1.3.3. 728 Müller-Funk (2009a: 351). 729 Diesem hat die Literaturwissenschaft erst wenig Beachtung geschenkt. Lediglich Wallas' Aufsatz aus dem Jahr 1993 über „Spiegelvölker“ setzt sich auch mit dem Bild der Indianer/ innen in Handkes Werk auseinander. Wallas erkennt angesichts Handkes traumatisch erfahrener NS-Täterschaft der Deutschen und Österreicher/ innen die ,Spiegel-Völker‘ der Juden und Jüdinnen, der Indianer/ innen und der Slowen/ innen als positive Identifikationsquelle und mithin in der versuchten Identifikation eine Bewältigung des eigenen ,Herkunftskomplexes‘, vgl. Wallas (1993: 64f.). <?page no="267"?> 3.2 Nach den Kriegen 267 Im hier behandelten Textkorpus verdankte Filip in der Wiederholung einer „Karst-Indianerin“ (WH 301) die Erfahrung von Körpereinklang; als um ihre Freiheit kämpfende „Indianer“ wurden im Sommerlichen Nachtrag „die Serben von Bosnien“ (SN 250) erkannt. Als Apachen ist dem Chauffeur in der Morawischen Nacht zumindest ein über jegliches Denken in staatlichen Kategorien erhabenener Stolz geblieben: „Stolz sein auf mein Reservat, wo beim Umriß eines Eichelhähers in einer Fichte ich nicht denken muß: Ah, unser Staatsvogel.“ (MN 106) - Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass im Kosovokrieg auch amerikanische Kampfhubschrauber vom Typ ,Apache AH- 64‘ zum Einsatz kamen. So ist in Unter Tränen fragend über die Fernsehnachrichtenmeldungen vom 1. April 1999 denn auch vermerkt: Fragmente: „Kampfhubschrauber APACHE … serbische Panzer jagen ...“ Zlatko dann dazu: „Zuerst haben sie die Apachen ausgerottet, und dann nennen sie ihre Luftkiller nach dem von ihnen ausgerottenen Volk.“ (UTF 27) Welche alteritäre Dynamik ist in der Morawischen Nacht am Werk? Der ironisch-idealisierte Umgang mit einem ,Balkan‘ in seiner diffusen Vielfalt und Vertrautheit kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass - von den aus Porodin und Umgebung kommenden, nachts auf das Boot gerufenen Männern einmal abgesehen - seine Bewohner/ innen und ihre Geschichte(n) dem ehemaligen Autor doch relativ fremd im Sinne von ,unbekannt‘ bleiben. Lernt er im Laufe der Reise auch andere Menschen kennen, mit denen ihn meist die eine oder andere Erfahrung oder Neigung verbindet, kommt es mit ihnen doch nicht zu einer Konstitution von Selbstidentität, wie sie von Ronald D. Laing auf den Punkt gebracht wurde: „Jede Beziehung“, proklamierte der Psychiater 1969, „bedeutet eine Definition des Selbst durch den Anderen und des Anderen durch das Selbst.“ 730 Nein, vielmehr wird mittels der in Spanien erfolgenden mehrmaligen Auftritte eines Doppelgängers jenes Phänomen fokussiert, das identitäre Verhandlungen auch fundiert: der Spiegelungseffekt. Das Moment der Selbsterkenntnis indes wird auf den Dritten in seiner Beobachterrolle verschoben und mithin die duale Konstellation dynamisiert. Wessen wird der „Galizier“ (MN 238) gewahr, was erfährt er? „Sein wahres Gesicht? Sein anderes? Sein drittes? Sein hundertstes? Oder war ich selber es, der mich an meinem eingebildeten Autor da entdeckte, mich, den Dörfler aus dem granitenen Galizien“? (MN 238) 731 730 Laing, Ronald D.: Das Selbst und die Anderen. A. d. Engl. übers. v. Hans Hermann, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1984 2 (rororo 7105), 65. 731 Die Lust, als ein ,Anderer‘ zu erscheinen, erfasst auch den Ex-Autor im Laufe der Erzählung (vgl. MN 233). <?page no="268"?> 3. Textarbeit 268 Bereits auf der Ebene des discours 732 kommt es durch das permanente Wechseln der unterschiedlichen Erzählstimmen und Perspektiven zu Effekten, die auch als fließende Übergänge zwischen der einen und der anderen Subjektposition zu lesen sind: „Der andere, ,ich‘, wanderte die Nacht durch.“ (MN 414) Auf histoire-Ebene wiederum wird im Rahmen eines „Weltmaultrommeltreffen[s]“ (MN343), dem der Ex-Autor zufällig beiwohnt, eine ,Aufhebung‘ eigener Vorgaben und die Öffnung hin zum anderen (Spiel) evident. Im Traum, einmal mehr eine Manifestation des symbolischen Denkens, (er)findet der Ex-Autor denn auch Anschauung und/ als Andersheit. Als vorläufiges Schlusszitat im Kontext der hier unternommenen Auseinandersetzung mit Peter Handke erscheint das nun folgende wie maßgeschneidert: Alles, fast, erscheint einem gleich und hat auch die gleichen Namen wie bei uns, und doch weiß meine innerste Ader, oder wer, oder was, es anders, ab dem ersten Schritt in die Rückseitensphäre. Wie anders? Einfach anders. Grundlegend anders. Umwälzend anders. Nachhaltend anders. Wunderbar anders. Bedenkenswert anders. Erforschenswert anders. Systematisch anders. Systematisch? Ja. (MN 394) 3.2.2.2 Anna Kim: Die gefrorene Zeit Im Jahr 2000 erschien Anna Kims preisgekrönter Prosatext irritationen in der Anthologie fremdLand; 2004 erfolgte mit Die Bilderspur die erste eigenständige Buchpublikation der 1977 in Südkorea geborenen Autorin, die mit ihrer Familie als Zweijährige nach Deutschland kam und in Wien Philosophie und Theaterwissenschaft studierte. Beide Erzählungen handeln - auch - von kulturellen Fremdheitserfahrungen sowie Identitätsfindung im Kontext von Migration. 733 Eine Fokussierung dieser Momente in der literaturwissenschaftlichen Analyse, so würde man meinen, kann gar nicht anders als fruchtbar sein. Wer dafür nun auf Denkfiguren und Theoreme zurückgreift, die jene in Kims Texten gestalteten Erfahrungen der Fremdheit und Identitätskonstitution konzeptualisieren und gleichsam eine binäre Ordnung zu überwinden suchen, wird jedoch - so die Erfahrung des Wiener Germanisten Hannes Schweiger, der Kim mit Bhabha las - nicht umhin können, eine „Verengung des Blickes“ anzuerkennen. „[V]iel Wesentliches“ an Kims Texten bleibe so ausgespart, so Schweiger, und: „Sie sind vielschichtiger, als ich mit einer Lektüre, die sich der Begriffe Bhabhas als Ausgangspunkte bedient, zeigen 732 Unter ,discours‘ verstehe ich das ,Wie‘, unter ,histoire‘ das ,Was‘ einer Erzählung; Genette (1994) ergänzt das Begriffspaar um den Aspekt des ,récit‘. 733 Vgl. Kim, Anna: irritationen, in: Stippinger, Christa (Hg.): FremdLand. Das Buch zum Literaturpreis „schreiben zwischen den kulturen“ 2000, Wien: edition exil 2000, 9-14; dies.: Die Bilderspur, Graz: Droschl 2004. <?page no="269"?> 3.2 Nach den Kriegen 269 kann.“ 734 Benannt wird damit das Grunddilemma - respektive die Meta-Frage - der vorliegenden Studie, wenn es um die Analyse der identitären Dynamik der einzelnen Texte über den kriegerischen Zerfall Jugoslawiens geht. Ganz den methodologischen Prämissen und bisher erfolgten ,Anwendungen‘ entsprechend, soll auch im Falle des nun im Sinne eines Close Readings analysierten Romans Die gefrorene Zeit eine Zentrierung und eben auch Dezentrierung der identitären Problematik erfolgen und dem Text die Möglichkeit zu den Balschen „Widerworten“ zugestanden werden. Mit „Suchen“, „Finden“ und „Verlieren“ sind die drei Kapitel der Bilderspur betitelt, allesamt Erfahrungen, die auch in dem späteren, ungemein kunstvoll komponierten Roman narrativiert werden. Die gefrorene Zeit erzählt auf der Handlungsebene von der Suche des aus dem Kosovo kommenden, in Wien lebenden und arbeitenden Luan nach seiner Ehefrau sowie der Verabschiedung ihres schlussendlich gefundenen Leichnams. Sieben Jahre vorher, am 23. Dezember 1998, war Fahrie aus dem 60 Kilometer nördlich von Prishtina 735 liegenden Dorf B. verschwunden bzw. entführt worden. 736 Die konkrete Datumsnennung mag beim Leser/ der Leserin das Bedürfnis wecken, die realgeschichtlichen Ereignisse des Kosovo zu diesem Zeitpunkt unter die 734 Schweiger, Hannes: Produktive Irritationen: Die Vervielfältigung von Identität in Texten Anna Kims, in: Babka, Anna/ Malle, Julia (Hgg.): Dritte Räume. Homi K. Bhabhas Kulturtheorie. Anwendung. Kritik. Reflexion. U. Mitarb. v. Ursula Knoll u. Matthias Schmidt, Wien u.a.: Turia + Kant 2012, 145-160. Auch Meri Disocki greift in ihrem Respondenz-Beitrag diese „Verengung des Blickes“ auf und widmet sich den „ausgesparten Facetten in den Arbeiten Kims, nämlich deren transbzw. intertextuelle Einbettung sowie dem in der Rezeption ihrer Texte immer wieder anzutreffenden Problem der autobiografischen Deutung“ [vgl. Disocki, Meri: „Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht ...“, in: Babka/ Malle (2012: 161-165, 162).] Der Sammelband beruht auf Beiträgen, die im Rahmen eines in Wien im Frühjahr 2008 - und noch vor dem Erscheinen von Die gefrorene Zeit - veranstalteten Symposiums zu Homi K. Bhabha verfasst wurden. 735 Kim verwendet für Ortsangaben die albanische Schreibweise, bei ,Kosovo‘ und ,Prishtina‘ je nach Perspektive entweder die albanische (Kosova, Prishtinë) oder die „eingedeutschte[] Form (Kosovo, Prishtina)“ (GZ 148). 736 Vgl. dazu die entsprechende Textstelle: „Ein Dutzend maskierter Männer an der Tür, sie hämmern wild, sie sprechen Albanisch, manche sind uniformiert, manche in Zivil, einige tragen schwarze Westen und rote Handschuhe, die meisten maskiert, einer nur unmaskiert, langhaarig und blond.“ (GZ 16) Als Hinweis auf die Herkunft der Täter verweist Luan auf die Bekleidung: grüne Uniformen mit weißem Adler, was die Ich- Erzählerin umgehend als „White Eagles und Arkan's Tiger's, paramilitärische Einheiten“ (GZ 17) deutet. Am nächsten Tag, so erfährt der Leser/ die Leserin später, habe Luan die UÇK im Nachbarsort aufgesucht und „gefragt, ob sie sie entführt hätten. Sie haben dich abgewimmelt, nichts, nichts wüssten sie, nichts.“ Dass Luan Männer aus der UÇK als mögliche Täter nicht ausschließt, vereitelt eine eindeutige Schuldzuweisung auf serbischer Seite. <?page no="270"?> 3. Textarbeit 270 Lupe zu nehmen: 737 im Dezember 1998, noch vor Beginn des Kosovo-Krieges, konnten die unter der Ägide von US-Vermittler Chris Hill und des EU- Sondergesandten Wolfgang Petritsch geführten Verhandlungen zwischen Belgrad und Prishtina als ,festgefahren‘ bezeichnet werden; bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen UÇK-Kämpfern und jugoslawischen Grenzsoldaten mehrten sich in der zweiten Hälfte des Monats. 738 Bereits in den Wochen davor, das ist einem Bericht des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen zu entnehmen, war es zu „arbitrary detentions, killings and kidnappings blamed on both Serbian security forces and the Kosovo Albanian paramilitary units“ gekommen. 739 „[S]ie haben sie endlich gefunden -“ (GZ 9), mit dieser Nachricht von Fahries gefundenem Leichnam setzt der Beginn der Erzählung (discours) an, womit die sodann im Präsens erzählten Ereignisse der histoire-Ebene als Rückblende erkennbar werden. Der Schluss des Romans führt kurz und knapp den von Luan gesetzten Schlusspunkt an („Nur wenige Tage nach dem Begräbnis begehst du Selbstmord. [...]“, GZ 147). Zwischen diesen beiden ,Rändern‘ der Diegese entfaltet Kim eine schonungslose Erforschung der psychodynamischen Prozesse des Erinnerns, des Verdrängens, des Vermissens, des Vergessens, und ergänzt den philosophischen Identitätsdiskurs um die medizinischforensische Perspektive: Was macht einen Menschen unverwechselbar und einzigartig? Und welche Leiche entspricht ihm? Einen toten Menschen zu ,identifizieren‘, scheint in paradoxer Zuspitzung auf den Grundkonsens soziologischer und alteritätsphilosophischer Identitätstheorien - die konstitutive Instanz des/ der Anderen - zu verweisen, wenn es über die „Identität“ einer „Toten“ gleich im ersten Kapitel wie folgt heißt: „sie existiert aus seiner Warte nur für die anderen, nicht für sie selbst.“ (GZ 14) Die Leiche wird zum Individuum - das ist die unvermeidbare ,Nebenwirkung‘ der Arbeit forensischer Mediziner/ innen und Anthropolog/ innen, und gleichzeitig ist das, was womöglich gefunden wird, immer nur der Rest der durch (Vor-)Krieg oder Naturkatastrophe ums Leben gekommenen Person. Für die erfolgreiche Identifizierung eines Leichnams benötigen die Forensiker/ innen Ante Mortem Data (AMD), für deren Erhebung wiederum 737 Je nach Blickwinkel der Quelle kann dieses ,Faktenwissen‘ unterschiedlich ausfallen. So fasst beispielsweise die Publizistin Daniela Dahn unter Berufung auf einen ARD- Beitrag vom Juni 1998, der auf die Aufrüstung der UÇK von Seiten der USA aufmerksam machte, den Beginn der bewaffneten Auseinandersetzung wie folgt zusammen: „Seit April 1998 häuften sich Anschläge der UÇK auf Polizeistationen. Da mancherorts die Polizei floh und auch Verwaltungsämter und Post ihre Arbeit einstellten, konnten die Freischärler die dortige serbische Zivilbevölkerung angreifen und ,befreite Gebiete‘ ausrufen. Erst da begannen die jugoslawische Armee und paramilitärische Einheiten mit exzessiver Gewalt zurückzuschlagen.“ [vgl. Dahn (2011: 203).] 738 Vgl. Petritsch/ Kaser/ Pichler (1999: 251ff.). 739 Vgl. http: / / www.un.org/ peace/ kosovo/ s981147.pdf, 31.1.2013. <?page no="271"?> 3.2 Nach den Kriegen 271 sind die Angaben überlebender Angehöriger unerlässlich. Um Fakten, nicht um Gefühle, hat es dabei in den AMD-Fragebögen des Roten Kreuzes zu gehen, die in Kims Roman in Form von standardisierten Interviews erfragt werden: Nora, die Ich-Erzählerin, sitzt Luan gegenüber, die Wiedergabe ihres Gesprächs erfolgt als direkte (Figuren-)Rede und (-)Wechselrede. Angesichts der asymmetischen Kommunikationssituation, die diesem Interview-Typus der empirischen Sozialforschung eigen ist, der auf Ja-Nein-Antworten abzielenden Fragen kann schwerlich von einem ,Dialog‘ gesprochen werden. Nichtsdestotrotz handelt es sich hierbei in erzähltheoretischer Perspektive um Passagen, in denen Luan als Handlungsträger mit eigener Rede gezeichnet wird. Ab dem zweiten der ingesamt neun unbetitelten Kapitel tritt er als solcher nur mehr punktuell in Erscheinung, sondern fungiert in narratologischer Hinsicht vielmehr als Adressat, als „,Person, der man ihre eigene Geschichte erzählt‘ (Michel Butor)“. 740 Wenngleich nun aufgrund dieser Anwesenheit eines ,Ichs‘ Die gefrorene Zeit nicht der „vertrackte[n] Form“ 741 der Du- Erzählung zugeschlagen werden kann, bewirkt die erzähltheoretische Konfiguration in Kims Roman gleichsam ein Surplus an besagter Vertracktheit. Der Roman verzichtet meist auf die Verben des Sagens und Denkens (wie erzählen, mitteilen, antworten, fragen, meinen, glauben etc.); der Konjunktiv der indirekten Rede, mit dem ein Sprecher/ eine Sprecherin den Anschein der Objektivität und Neutralität erwecken will oder kann, wird kaum verwendet. Wo Luans Erzählung aufhört und gegebenenfalls Noras Interpretation beginnt, ist mithin nicht immer mit Gewissheit auszumachen. Haben wir es hier mit einer im Sinne der Unterminierung binärer Ordnungen konstruktiven Überlagerung von Innen- und Außenperspektive, oder etwa erst recht mit einer reduktiven Identitätslogik bzw., in politischen Termini, mit Bevormundung, wenn nicht Entmündigung zu tun? Denn werden die Wahrnehmungsprismen auch nur minimal verrückt, lässt sich die prekäre Frage, wie Luans Geschichte ohne Noras Vermittlung und Okkupierung erzählt, wie er sie/ sich selbst artikulieren würde, nicht mehr so einfach abschütteln. In einer solchen Optik erschiene so mancher Indikativ in der zweiten Person Singular als ein versteckter Imperativ - „dir bleibt nichts anderes übrig als zu warten.“ (GZ 35) -, und Luan in seinem Status als Opfer respektive Objekt gefangen. 742 740 Butor, Michel: Der Gebrauch der Personalpronomen im Roman, in: ders.: Repertoire 2, München 1965, 100, zit. n. Greber, Erika: Wer erzählt die Du-Erzählung? Latenter Erzähler und implizites gendering (am Beispiel einer Kurzgeschichte von Tschechow), in: Nieberle, Sigrid/ Strowick, Elisabeth (Hgg.): Narration und Geschlecht. Texte - Medien - Episteme, Köln u.a.: Böhlau 2006, 45-72, 47. 741 Greber (2006: 46). Greber zählt zur „genuinen Form“ der Du-Erzählung ausschließlich Texte, in denen neben dem ,Du‘ nicht noch ein ,Ich‘ vorkommt (ebd., Fn. 4). 742 Mit dem Romanschluss könnte man versucht sein, im Nachhinein die Du-Anrede als Anrede an einen Toten zu erkennen - und damit auch die oben angeführten Bedenken als hinfällig auszuräumen. Diese Lesart teile ich insofern nicht, als Luans Selbstmord am Ende sowohl auf der histoireals auch der discours-Ebene stattfindet. <?page no="272"?> 3. Textarbeit 272 Andererseits und gleichzeitig bewirkt die appelative Anrede in der zweiten Person eine Destabilisierung der fiktionalen Welt sowie, wenn sich mitunter der Leser/ die Leserin angesprochen meint, ihre Überschreitung: „Nun beginnt es dich doch zu interessieren, das Mädchen Fahrie […].“ (GZ 70) Auf Figurenebene lassen sich Phänomene der Verschmelzung insofern festmachen, als sich zwischen Nora und Luan in Ansätzen eine Liebesbeziehung entspinnt: die erzählten und erlebten Ströme des Gefühlsverkehrs vermengen sich, die Geschichte des Anderen gerät zunehmend zur eigenen. Was der/ die Andere Nora/ Luan ist, divergiert indes. Luans Gefühle für Nora scheinen nicht frei von dem aus der Psychoanalyse bekannten Phänomen der Übertragung zu sein - und tatsächlich ist dies nur ein Moment unter mehreren, welche es in ihrer Gesamtheit nahelegen, die Beziehung der beiden wie auch die Disposition des Romans mit dem begrifflichen Instrumentarium der Psychoanalyse zu fassen: Ja, dem narratologischen Setting (eine Erzählerin erzählt einer Figur deren eigene Geschichte) kann ohne weiteres das psychoanalytische Minimaldispositiv (ein Patient/ eine Patientin erzählt dem Analytiker/ der Analytikerin als dem Lacanschen „Subjekt, das wissen soll“ 743 ) unterlegt werden: Luan eröffnen die Treffen mit Nora eine talking cure: mag es sich dabei um rekonstruierte Erinnerungen oder um freie Assoziationen handeln - sie wird seine privilegierte Adressatin, während Noras Interesse an Luan Züge einer Gegenübertragung aufweist. 744 Erst einmal im psychoanalytischen Licht betrachtet, tritt aber auch folgendes zutage: Dass Kim nun Nora das Wort erteilt, um Luan die ihr von ihm erzählte Geschichte gleichsam zurückzuerzählen, ist nicht länger als Objekt-Subjekt-Beziehung zu diskutieren bzw. als Entmündigung Luans zu kritisieren, sondern verweist auf eine die bloße Ebene der Romanhandlung transzendierende Einsicht: Jedes Erzählen ist immer schon ein Interpretieren. 745 743 Vgl. zum „Subjekt das wissen soll“ [„le sujet supposé savoir“] Lacan, Jacques: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar. Buch XI (1964). Textherstellung durch Jacques-Alain Miller. Übers. v. Norbert Haas, Weinheim u.a: Quadriga 1996 4 , 242-256, 244. 744 Vgl. zu ,talking cure‘ Fußnote 565. Unter ,Übertragung‘ im psychoanalytischen Sinne wird (in der Behandlungsstituation) das Reaktivieren unbewusster Wünsche und Gefühle an neuen sozialen Beziehungen verstanden; als ,Gegenübertragung‘ die „Gesamtheit der unbewußten Reaktionen des Analytikers auf die Person des Analysanden und ganz besonders auf dessen Übertragung“ (Laplanche, J./ Pontalis, J.-B.: Das Vokabular der Psychoanalyse. Erster Band. A. d. Franz. v. Emma Moersch, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1980 4 , 164). In seinem Aufsatz „Bemerkungen über die Übertragungsliebe“ (1915) beschreibt Freud diese regelmäßig in der Analyse auftretende Liebe als ihr Nebenprodukt, und wie sie gleichsam als Hebel in der Behandlung zu benutzen sei (in: ders.: Gesammelte Werke X. Werke aus den Jahren 1913-1917, Frankfurt/ Main: S. Fischer 1991 8 , 306-321). 745 Nirgendwo wird dies nolens volens deutlicher als in Sigmund Freuds Traumdeutung. Die von Freud erzählten eigenen Träume werden solcherart arrangiert, dass ihnen die Deutungen ihnen wie angezogen passen. <?page no="273"?> 3.2 Nach den Kriegen 273 Fahries Verschwinden, aus Luans Perspektive singuläres Ereignis, bildet gleichermaßen den Motor der Romanhandlung als auch die traumatische ,Ur- Wunde‘ 746 des kosovarischen Gastarbeiters, welche angesichts des unaufgeklärten Tatbestands der Entführung und seines Verdachts ob Fahries Schicksals die Schwierigkeit eines erfolgreichen ,Abreagierens‘ bzw. einer progressiven Ablösung im Sinne von Trauerarbeit noch potenziert. So lange Fahries Tod nicht verifiziert ist, kann Luan gar nicht anders, als sich an die Idee ihres Überlebens zu klammern. In Form von „Fluchtmärchen“ (GZ 45) spielt Luan im zweiten Kapitel unterschiedliche Szenarien mit ein und demselben Happy End durch: „frei und lebendig, was könnte sie anderes sein, denkst du und entschuldigst, dass sie bisher kein Lebenszeichen von sich gab“ (GZ 47). Im achten Kapitel wiederum, das die Rituale der feierlichen Verabschiedung der Toten erzählt, wird das ,Wie es ist‘ um ein „Wie es hätte sein sollen“ ergänzt: Kühle Nacht, Neumond, kahl der Himmel, da fällt eine Sternschnuppe erdwärts. Am nächsten Morgen kräht Amra, das Hühnchen, wie ein Hahn, und Fahrie, alte, alte Fahrie, stirbt im Bett.“ (GZ 138) In erzähltheoretischer Hinsicht unterscheiden sich diese in Noras Erzählstrom eingebetteten „Fantasien“ (GZ 45) bzw. ,Wahrscheinlichkeits(vor)aussagen‘ nicht von der Erzählung über Luans Suche und Geschichte: eine Gleich- Behandlung von außertextuell Wirklichem und systembzw. romanintern Unmöglichem, die Aristoteles' Bestimmung des Gegenstands der mimetischen Darstellung - das Wirkliche und auch das Mögliche - einen zusätzlichen Dreh verleiht. 747 Etwas anders verhält es sich mit den im zweiten Teil des Textes und im Kosovo angesiedelten Geschichten des Familien- und Dorfgedächtnisses, die doch, wenn auch nicht durchgängig, eine auktoriale Erzählperspektive aufweisen. Über die motivische Ebene hinaus, auf die ich später zurückkomme, sind diese wohlgemerkt allesamt zu Friedenszeiten spielenden Passagen insofern von Interesse, als sie als ,Erinnerungsbilder‘ der dominanten individualgeschichtlichen Handlungsebene eine intersubjektive Dimension abringen. Doch auch im Hinblick auf die Repräsentation des Krieges im Kosovo und seiner Folgen für die Zivilbevölkerung verschließt sich Die gefrorene Zeit nicht einer Transzendierung individueller - Luans - traumatischer Ereignisse. Faktische Meldungen über Massengräber, meist im Kursivdruck und dann umso augenscheinlicher, durchziehen die ersten beiden Kapitel. Über die Korrelation mit dem beschriebenen Arbeitsumfeld der Forensiker/ innen hinaus sind diese Einschübe dank Luans Recherchearbeit, die auf dem Durchforsten eines regelrechten „Gebirge[s]“ von Berichten, 746 Hiermit spiele ich auf die ursprüngliche Bedeutung des Begriffes an: Der griechische Ausdruck τραύμα bezeichnete eine durch äußere Krafteinwirkung entstandene Wunde. Im gegenwärtigen Sprachgebrauch werden in psychischer Hinsicht bedeutsame Begebenheiten sehr schnell als ,traumatisch‘ apostrophiert. Im Falle Luans ist es jedoch legitim, von der Entführung Fahries als einem ,traumatischen‘ Ereignis zu sprechen. 747 Vgl. dazu Kapitel 2.1. <?page no="274"?> 3. Textarbeit 274 Reportagen und Analysen, kurzum der „Zeitungsalpen“ (GZ 38) fußt, in der erzählten Welt verankert. Sie erzielen nicht nur eine Rückkoppelung von Fahries mutmaßlichem Ende an Verfahren der organisierten Kriegsgewalt, sondern vergegenwärtigen dieses gleichsam als ein dem kriegerischen Zerfall Jugoslawiens immanentes Massenschicksal. Massenschicksal? Nützen wir das Stolpern über den Begriff, um auf einen größeren Fragenkomplex aufmerksam zu machen, der bislang nur kurz angesprochen wurde: die Narrativierung von (Krieg als) Massenphänomenen. Sinnstiftung erfolgt in den narrativen Medien gemeinhin über eine Repräsentation der Konflikte von Individuen - der Figuren einer Erzählung, eines Romans oder Films. Sobald also literarische oder filmische Erzählungen von Krieg und Krisen handeln, finden diese im individualgeschichtlichen Handlungsrahmen einer Figur ihren Niederschlag. Kriegs- oder Weltgeschichte, so heißt es dann, würde als Geschichte von Individualleben erzählt und sodann intersubjektiv nachvollziehbar werden. Indes: Gerade „die Irrelevanz des einzelnen Falls“ sei, so Rainer Leschke, „im Krieg Programm. Umgekehrt bleiben abstrakte Strukturen und die Unvorstellbarkeit von Massenbewegungen das Andere von Narrationen.“ 748 Dieses ,Andere von Narrationen‘ stellt meines Erachtens ein Forschungsdesiderat in der Erzählforschung dar, die sich mit Bezug auf den Undarstellbarkeitstopos vornehmlich mit dem Status von Dokumentarischem und Literarischem, von Faktischem und Fiktivem auseinandergesetzt hat. Zurück zu Kims Text: Ungeachtet der Montage und Markierung dieser Kriegsmeldungen zum einen, dem Eingang soziokultureller Praktiken der Traditionspflege zum anderen stellt Die gefrorene Zeit, da muss ich Antonia Rahofer widersprechen, 749 keinen ,Gedächtnisroman‘ im Sinne Astrid Erlls dar. Mit Blick auf die Repräsentationen des Ersten Weltkrieges legte die Anglistin dessen Merkmale in der Monographie Gedächtnisromane wie folgt fest: hohe Auflage, intensive Diskussion in der Öffentlichkeit und nachhaltige Wirkung der Kriegsdarstellung. Kurzum, bei Erlls Klassifizierunges handelt es sich um „Medien des kollektiven Gedächtnisses“ 750 . Trotzdem liegt Rahofer mit ihrem Rückgriff auf eine gedächtnistheoretisch informierte Literaturwis- 748 Leschke (2005: 313). 749 Vgl. Rahofer, Antonia: Kriegsinhalt - Textgewalt? Zur Verschränkung von Erinnern und Erzählen in Anna Kims Roman Die gefrorene Zeit, in: Gansel/ Kaulen (2011: 165- 181, 167). In ihrem über weite Strecken sehr instruktiven Aufsatz verweist Rahofer außerdem darauf, dass „Kims Rhetorik der Erinnerung […] zwischen einem antagonistischem und reflexivem Modus des Gedächtnisses [changiert]“ (ebd., 177). Diese Einschätzung ist meiner Meinung insofern fragwürdig, als sie auf Astrid Erlls Einteilung der Funktionalisierung von Vergangenheitsnarrativen, die mit Bezug auf eine Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses erstellt wurde, basiert (vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: Metzler 2005, 167-193). 750 Erll, Astrid: Gedächtnisromane. Literatur über den Ersten Weltkrieg als Medium englischer und deutscher Erinnerungskulturen in den 1920er Jahren, Trier: WVT 2003, 13. <?page no="275"?> 3.2 Nach den Kriegen 275 senschaft durchaus richtig; die Beschäftigung mit „Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses“ stellt schließlich nur eines der insgesamt fünf Gedächtniskonzepte dar, die Erll in Zusammenarbeit mit Ansgar Nünning aufgezeigt hat, dar. „Das Gedächtnis der Literatur“, „Gattungen als Orte des Gedächtnisses“, „Kanon und Literaturgeschichte als institutionalisiertes Gedächtnis von Literaturwissenschaft und Gesellschaft“ sowie „Mimesis des Gedächtnisses“, so lauten die vier anderen Konzepte. 751 Im Falle des Romans von Anna Kim erscheint die Operationalisierung des letzteren, das sich sämtlichen Darstellungsformen der im Medium ,Literatur‘ unternommenen Inszenierung von Erinnerung und Gedächtnis (kollektiver und individueller Art) zuwendet, legitim und heuristisch fruchtbar. Insofern Erll und Nünning ihre Argumentation auf Basis der auch in der vorliegenden Arbeit herangezogenen Prämisse einer Bezugnahme von Literatur auf die außertextuelle Wirklichkeit und unter Rekurs auf den bereits erörterten Ricœurschen ,Kreis der mimẽsis‘ entwickeln, liefern ihre Schlussfolgerungen im Kontext meiner Studie, von der unterschiedlich Schwerpunktsetzung in der Terminologie einmal abgesehen, keine neuen Erkenntnisse: „Literarische Werke sind erstens bezogen auf außerliterarische Gedächtnisse, stellen zweitens deren Inhalte und Funktionsweisen im Medium der Fiktion dar und können drittens individuelle Gedächtnisse und Erinnerungskulturen mitprägen.“ 752 Könne Literatur zum einen „geradezu als eine Darstellungsform des individuellen Gedächtnisses“ begriffen werden, 753 sei sie zum zweiten mit kollektiven Gedächtnisformen engstens verbunden. Beide, individuelles und kollektives Gedächtnis, kommen auch in Kims Roman zur Anschauung, doch liegt der Fokus eindeutig auf ersterem, dem individuellen Gedächtnis. Wenn zu Beginn des Romans Luans mühevolles Erinnern im Zentrum steht, so haben wir es mit nichts anderem als der besagten „Inszenierung von Prozessen und Problemen“ 754 (Hervorh. D.F.), dem Konstruktionscharakter jeglichen Erinnerns, und der nicht steuerbaren Dynamik und der Fehlbarkeit von Erinnerungsarbeit zu tun: Deine Gegenwart flieht ständig vor sich selbst, deine Zukunft ist mangelhaft. Deine Vergangenheit verweigert sich der Gegenwart; als Vergangenheit bleibt sie unter ihresgleichen, jede Verbindung zum Heute und Jetzt verschanzt sich hinter verschwommenen Bildern, endet in deinem Kopfschütteln, Ausweichen, du bist unfähig, das Erinnern zu kontrollieren und zu verstauen, eine im Übergedächtnis verlorene Welt: Aber dein Gedächtnis erlischt allmählich, du hast es schon seit langem beobachtet, die Frage bleibt: Was bist du dann noch? (GZ 33) 751 Vgl. Erll/ Nünning (2003: 4-5). 752 Ebenda, 17. 753 Ebenda. 754 Ebenda, 16. <?page no="276"?> 3. Textarbeit 276 Die ,unerwünschten‘ Erinnerungen - vornehmlich das Erinnerungsbild seiner Ankunft am 23. Dezember 1998 im Kosovo: aufgelöste Familie und Nachbar/ innnen, die ihn auf der Straße abfangen und ihm Fahries Gefangennahme entgegenheulen - kann Luan nur mit großem Kraftaufwand und unter Zuhilfenahme listiger ,Gegenbilder‘, welche für den Leser/ die Leserin die ,realen‘ Bilder nur umso deutlicher hervortreten lassen, abwehren. Den Moment von Fahries Abschied wiederum, der sich ihm wie kein anderer eingeprägt hat, kann er „nicht einmal zu [s]einen eigenen Erlebnissen zählen“ (GZ 34). Luans ,erwünschte‘ Erinnerungen schließlich verblassen allmählich: „es ist die Erinnerung an die Stimme, die als erste verschwindet, sagst du, den Klang des Körpers hast du noch im Ohr“ (GZ 38). Kurzum: Vergessen und Erinnern - mitunter so nahe aneinander liegend -, beidem ist Luan ausgesetzt, beides erlebt er als Qual und Unvermögen. Gefangen in seinen Rest-Erinnerungen und um seine Zukunft beraubt, sei seine Zeit, so resümiert die Ich-Erzählerin, eine „gefrorene Zeit“ (GZ 32) - der von Erinnerungen gestifteten Kontinuität und Identität geht Luan verlustig. Bietet Kims Text eine mit Freud psychoanalytisch informierte Lesart mitunter auch an, geht eine solche an dieser Stelle nicht auf: das Vergessen erschließt sich nicht als Verdrängungs- oder ,Absperrungs‘leistung, sondern als allmähliches Verlöschen. 755 Luans quälende Fragen, was ihm angesichts seines schwindenden Gedächtnisses noch bleibe und er noch sein könne, gehen mit einer anderen, nicht minder peinigenden einher: „Was wissen wir wirklich über den Menschen, den wir lieben? “ (GZ 42). Nur drei Stunden nach der Entführung war der in Wien ansässige ,Gastarbeiter‘, bereits im Weihnachtsurlaub, in seinem kosovarischen Dorf angekommen, womit er Fahrie bzw. ihre Entführung nur knapp ,versäumt‘ hat. Oder aber hat Luan sie, die politische Aktivistin, nicht vielmehr ,überhaupt‘ versäumt? Das schlechte Gewissen ob seiner im Nachhinein als Verspätung erscheinenden Ankunftszeit („Ich hätte vielleicht die Entführung verhindern können.“ GZ, 13) verdeckt in Wahrheit andere, tiefergehende Gewissensbisse sowie die subkutane Spannung zwischen Luan und Fahrie: Nein, ihren Kampf für die Ausweitung des Selbstbestimmungsrechtes und gegen die repressive Kosovo-Politik Serbiens hatte Luan, dessen Ablehnung des kosovoalbanischen Widerstandes ganz unpolitischen, materiellen und egoistischen Gründen geschuldet war, nicht unterstützt, und auch nicht ganz verstanden. Dank dieser Verlagerung des politischen Konfliktes innerhalb der Beziehung des Ehepaars Luan und Fahrie gelingt es Kim, die diskriminatorischen Lebensbedingungen, denen die kosovoalbanische Bevölkerung nach der Verfas- 755 In seinem Aufsatz „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten“ aus dem Jahr 1914 kommt Freud auf das Vergessen als eine „,Absperrung‘‘‘ [in: ders.: Gesammelte Werke X. Werke aus den Jahren 1913-1917, 125-136, 127] im Sinne einer Trennung von Wissen und Denken zu sprechen. <?page no="277"?> 3.2 Nach den Kriegen 277 sungsänderung 1989 ausgesetzt war, zu benennen, ohne zu politisieren oder zu ideologisieren. Paradoxerweise, so könnte weiters gefolgert werden, ist es ausgerechnet Kims Einbettung des Kosovo-Konfliktes in eine individuelle Liebes- und Lebensgeschichte, die eine Art ,Totale‘ ermöglicht und einen selektiven Blickwinkel überwindet. Die Rede von der Erschließung der Geschichte mit ,großem G‘ als Individualgeschichte, soviel noch mit Blick auf den vorhin unternommenen Exkurs, erweist sich im Falle von Kims Roman als stichhaltig. Das betreffende Textzitat soll im Folgenden ungekürzt wiedergegeben werden: Es ist nicht dein Kampf, es war nicht dein Kampf, Flucht wäre möglich, wäre wünschenswert gewesen, das einzig Vernünftige in einem Krieg, der nicht deiner ist, nicht nach deinem Empfinden, und doch wollte Fahrie bleiben, weigerte sich zu gehen, obwohl du sie wiederholt darum batest, regelrecht anflehtest. Sie hörte nicht nur nicht auf dich, sie beschimpfte dich, sie verstand nicht, warum du so unbeteiligt, gleichgültig warst, es ist dein Land, sagte sie, sie haben nicht das Recht, unsere Kultur und unsere Sprache zu verbieten, unsere Zeitung, unser Radio, das Fernsehen und die Universität in Pristinë zu schließen, weißt du denn nicht, sagte sie, dass fast achtzig Prozent der Bevölkerung auswandern müssen, um Arbeit zu finden? Sie wurden entlassen, weil sie Albaner sind. Rugova hat Recht, sagte sie, folgte seinem Aufruf, boykottierte Wahlen, weigerte sich, Steuern zu zahlen, und ging nachts zu geheimen Versammlungen, um Spitäler zu organisieren, Krankenzimmer, in denen man sich nicht weigerte, euch zu behandeln, tagsüber zu geheimen Schulen, um zu lehren, in einem Zimmer mit bis zu sechzig Schülern, immer wieder aufgescheucht von Polizisten, Spionen; schließlich wurden Zeit und Ort für den Unterricht nur für den jeweils nächsten Tag festgelegt und mündlich verbreitet. Sie half mit, Schulen in Flüchtlingslager umzufunktionieren, auf Prishtinas Straßen Studentendemonstrationen, zwei Busse voller Polizisten, bewaffnet mit Knüppeln, Tränengas und scharfer Munition, Fahrie musste flüchten und sich zu Hause verstecken; und doch machte sie weiter, schnürte kleine Pakete für Neujahr und Weihnachten mit Geschenken, Schokolade, Büchern, Bleistiften, Murmeln und Teddybären, um sie in Schulen und orthodoxen Kirchen zu verteilen, die Kinder brauchen nicht verfeindet zu sein, sagte sie und hörte nicht auf für unsere Sache zu kämpfen, gegen deinen Willen, und du begannst wegzusehen, vielleicht bewundertest du sie auch, respektiertest sie; außerdem warst du im Ausland, du hättest nicht eingreifen können, selbst wenn du gewollt hättest, du hattest genug zu tun, um Geld für sie und deine Familie zu verdienen, du hattest genug auf dem Bau zu tun, untertags, nachts in der Imbissstube, genug um die Ohren mit Fremdenpolizei, Aufenthaltsgenehmigung, Visa; du hattest Angst das dreistöckige Haus in B. zu verlieren, deinen Gemüsegarten, die Rosen und wilden Orchideen an der Hausmauer, das Auto in der Garage, die warmen Sommerwinde am Balkon und die Stimmen des Baches im späten Herbst. Du warst glücklich, es gab keinen Grund zu protestieren, nicht für dich. (GZ 42-44) <?page no="278"?> 3. Textarbeit 278 Ab dem vierten Kapitel, welches die telefonische Übermittlung von Fahries Auffinden, mit der Die gefrorene Zeit ansetzt, erneut aufgreift, spielt die Gegenwartshandlung der erzählten Welt nicht länger in Wien, sondern im Kosovo respektive auf dem Weg dorthin, zwischen Wien und Prishtina. Ebenfalls in dieses vierte Kapitel sind die ersten intersubjektiven ,Erinnerungsbilder‘ - Luans und Fahries Hochzeit - montiert; im Kosovo angekommen, wird selbst Familiengeschichten, die Luan der Ich-Erzählerin noch in Wien erzählt hatte, eine Bresche geschlagen (vgl. GZ 82f.). In Anbetracht des gedächtnistheoretischen Paradigmas, welches für den Text vornehmlich mit Hinblick auf eine Inszenierung des individuellen Gedächtnisses festgestellt wurde, ließe sich Kims erzählökonomische Entscheidung, die Hinwendung zu den Geschichten bzw. dem Gedächtnis der Familie und des Dorfes in den auf der Hinreise zum bzw. im Kosovo spielenden Romankapiteln dominant werden zu lassen, mit den Einsichten von Maurice Halbwachs lesen: Die zentrale These seiner in den 1920er Jahren verfassten Werke zum ,kollektiven Gedächtnis‘ [mémoire collective] zielt auf die soziale Bedingtheit - die sozialen Rahmen [cadres sociaux] - von Gedächtnisleistungen kollektiver wie individueller Art. Erst in seinem vertrauten Umfeld im Kosovo trifft Luan jene Bezugrahmen der Gegenwart an, die ein Rekonstruieren der Vergangenheit als Erinnerung ermöglichen, erst einmal ,am Ort des Geschehens‘, erfahren die vormals gehörten Geschichten für Nora eine neue Bedeutsamkeit - finden mithin diese intersubjektiven ,Gedächtnis-Geschichten‘ Eingang. Gleichzeitig findet damit die offensive Hinwendung zum Komplex der Großfamilie statt, der so genannten (oder eben, aufgrund der dem Ausdruck immanenten Deutschtümelei oder Abwertung, nicht so genannten) Sippe: „etwas anderes und mehr als nur die Summe aller Angehörigen, sagst du, unser Zusammengehörigkeitsgefühl ist stärker, du betonst Hörigkeitsgefühl und sagst, jeder trägt die Wünsche der Sippe in sich.“ (GZ 82f.) Karl Kaser hat in seinen historisch-anthropologisch ausgerichteten Balkan-Studien die Unterschiede zu den aus dem westlichen Europa bekannten Familien- und Gesellschaftsmodellen 756 anhand ihrer politischen, ökonomi- 756 In einer 2001 erschienenen Studie unterscheidet Kaser die vor allem im westlichen Europa vorherrschenden „Behördengesellschaften“, die dank der erfolgten Institutionalisierung von Konflikten die Entfaltung von nicht auf verwandtschaftlichen Beziehungen beruhender Freundschaft ermöglichte, von „Verwandtschaftsgesellschaften“. Diese herrschten insbesondere auf dem Balkan vor und tendierten dazu, Freundschaften zu institutionalisieren: Verwandtschaft war dabei die abgesichertste Form. Vgl. Kaser, Karl: Freundschaft und Feindschaft auf dem Balkan. Euro-balkanische Herausforderungen, Klagenfurt u.a.: Wieser 2001, 22-24. In seiner 1995 bei Böhlau in Wien u.a. erschienenen Studie Familie und Vewandtschaft auf dem Balkan. Analyse einer untergehenden Kultur führt Kaser auf S. 10 die Rahmenbedingungen der „patriarchalen Balkankultur“, die „seit geraumer Zeit - das heißt seit etwa zwei bis vier Generationen - kaum mehr von Relevanz“ seien, wie folgt an: „eine mangelnde politische und soziale Integration, eine auf Weidewirtschaft beruhende Ökonomie sowie ein Leben unter den schwierigen ökologischen Bedingungen abgeschlossener Gebirgslandschaften.“ <?page no="279"?> 3.2 Nach den Kriegen 279 schen und ökologischen Rahmenbedingungen erklärt. Das Modell der Kernfamilie konnte sich im westlichen Europa aufgrund des Alleinerbes eines Nachfolgers/ einer Nachfolgerin durchsetzen. Das Modell der „,komplexen Familie‘“ 757 dagegen, das im östlichen Europa unter der slawischen wie der nichtslawischen Bevölkerung bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts weite Verbreitung fand, hatte als Grundlage das gleichberechtigte Männererbe unter Ausschluss der Frau. Dieses gleichberechtigte Männererbe führte bei mehreren Söhnen zu einer Zersplitterung des Besitzes, die umgangen werden konnte, wenn die Brüder zusammen blieben: die Frauen mussten ihre Herkunftsfamilien verlassen 758 und wurden in den Haushalt des Ehemannes eingegliedert; ihre volle Akzeptanz setzte die Geburt eines männlichen Nachfolgers voraus. Auch von der serbischen Bevölkerung wurde dieses Modell geteilt, dabei allerdings nicht so lange wie von der albanischen beibehalten. Die rund 80 bis 100 Jahre dauernde Phase des sogenannten demographischen Übergangs - von hohen zu niedrigen Sterbe- und Geburtenraten - setzte in Serbien wie für die Kosovoserb/ innen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein und fand in den 1960er Jahren ihren Abschluss. Während die serbische Familienstärke bereits zu schrumpfen begann, wuchsen im Kosovo die Familien der albanischen Bevölkerung, deren demographischer Übergang später einsetzte und „daher auch noch nicht zum Abschluß gekommen [ist]“, 759 weiter. Diese Ungleichzeitigkeit in der demographischen Entwicklung bildet schließlich den Hintergrund für jenen irrationalen Diskurs eines ,albanischen Geburtengenozides‘, der unter der serbischen Bevölkerung des Kosovo bereits in den 1970er und 1980er aufkam. Als rhetorisches Stilmittel der serbischen Herrenerzählung fungierte die Übertreibung, und als Hauptstütze die Phantasie vom ,Geschlagenwerden eines Kindes‘: 760 die Serb/ innen als Missbrauchsopfer der Albaner/ innen ... Durch die Linse eines ,west‘europäischen Feminismus betrachtet, wirken die von Kaser beschriebenen Bräuche, Traditionen und Werte mitunter misogyn, untergraben sie doch die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern. Manche davon lassen sich gleichsam in Kims Roman ausmachen, eingebettet beispielsweise in die Geschichten von Emines (Luans Mutter) Empfängnis, Schwangerschaft und der Geburt des Sohnes, in die Begebenheiten rund um die Verheiratung von Nusha, Luans Tante und „Jüngste der Sippe“ (GZ 85), oder Lula, der „Dorfjungfrau“ (GZ 87). Die normative Fassung, die der Le- 757 Kaser, Karl: Im Land der Großfamilien. Die albanische Kultur zwischen Tradition und Moderne, in: Schmid, Thomas (Hg.): Krieg im Kosovo, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch 1999, 102-121, 105. 758 Die Besuche von Luans Mutter Emine in ihrem Elternhaus werden in Kims Roman denn auch als „die weibliche Art des Reisens“ (GZ 90) bezeichnet. 759 Kaser (1999: 103). 760 Vgl. Freud, Sigmund: Ein Kind wird geschlagen, in: ders.: Gesammelte Werke XII. Werke aus den Jahren 1917-1920, Frankfurt/ Main: S. Fischer 2006 7 , 195-226. <?page no="280"?> 3. Textarbeit 280 ser/ die Leserin diesen kulturellen Praktiken zuzuschreiben versucht ist, schimmert in diesen Passagen zwar durch, wird aber jedes Mal auf die eine oder andere, mit mehr oder weniger Erfolg gekrönte Art und Weise überwunden oder überlistet. Mitunter märchenhaftem Anstrich aufweisend, entfalten die von Kim großteils im Präsens erzählten Geschichten vom/ von „,ganz Anderen‘“ 761 über individuellen Handlungsspielraum - so zumindest meine Lektüreerfahrung - nichts anderes als unaufgeregte Selbstverständlichkeit sowie Solidarität: der Leser/ die Leserin geht eine Art Komplizenschaft mit den einzelnen Protagonist/ innen ein. Besonderes Augenmerk gebührt den Geschichten der kosovarischen Traditionspflege (im fünften Kapitel) in ihrer Funktion als intratextueller Kontext. In einem an die Schnitttechnik des Films erinnernden Verfahren wechseln die Geschichten von Emine, Nusha, Lula und Ilir mit den Eindrücken der Reise ab, wobei erstere an Anzahl und Nachdrücklichkeit eindeutig die Oberhand behalten. Letztere, dabei freilich einer sekundären, poetischen Überformung unterzogen, halten wie wahllos Momentaufnahmen des Gesichteten fest: „an der Grenze zum Exotismus“, so moniert mit Nachdruck Rahofer, würden sich diese Landschaftspassagen bewegen. 762 Kims Mimesis-Verständnis als Konstruktion von Welt gekoppelt mit dem Bemühen, abgedroschene und stereotype Bilder zu vermeiden, führt denn auch zu unfreiwillig deplatzierten Sätzen wie „Unterhosen würden flattern, gäbe es Wind.“ (GZ 94) Dass diesen Textstellen des ,Fastexotismus‘ 763 selbst noch in ihrem Scheitern instruktive Qualität zugeschrieben werden kann, ist nun das Verdienst ihres intratextuellen Kontextes, der die gesamten Passagen der ,Reiseerzählung‘ 764 kommentiert und perspektiviert. Auf die kompositorische Anordnung des Romans, die diese Respondenz erst ermöglicht, kann gar nicht oft genug aufmerksam gemacht werden. 761 Damit wirbt auch der innere Klappentext, wobei sich die Rede des „,ganz Anderen‘“ hierbei vermutlich auf den Komplex der Identität eines Leichnams bezieht. 762 Rahofers Beispiel für Kims ,Fastexotismus‘ ist gut gewählt: „Am Standtrand: Blechhütten mit Reifenhaufen und Autowracks, Auto Servis. Blumenkränze aus Plastik für Kriegshelden, extra haltbar. Im Sonnenschein riecht es fälschlicherweise nach Schatten. […].“ (GZ 111) Als Grund dafür führt Rahofer (2011: 18) „mangeln[de] Reflexion der Form, der (Un-)möglichkeit(en) sprachlicher Abbildung und ihrer Konditionen“ ins Feld. Diesem Einwand schließe ich mich nicht an: tatsächlich ist, auch das hat Rahofer erkannt und auf erhellende Weise festgehalten, der gesamte Text von poetologischen Einsichten ob der bedeutungskonstitutiven Kraft der Sprache durchzogen. Bemerkenswert erscheint vielmehr der Umstand, dass dieses Bewusstsein erst recht nicht exotisch anmutende Sprachbilder verhindert. 763 Diese Wortschöpfung spielt auf Handkes Beschreibung seines „Fastergriffensein[s]“ (WR 48), das ihn angesichts Emir Kusturicas Film Underground befiel, an. 764 Vgl. zu einer literarischen Verarbeitung von Reiseerfahrung außerdem Kims Publikation Invasionen des Privaten, die 2011 bei Droschl erschien. <?page no="281"?> 3.2 Nach den Kriegen 281 „Im Sprechen unternehmen wir den Versuch, die verschwundene Person einzukreisen, festzuhalten, festzulegen“ (GZ 14), so hieß es zu Beginn des Romans mit Bezug auf den Ante-Mortem-Fragebogen. Wenn im siebten Kapitel, da Nora und Luan in Begleitung von Sam die Überreste von Fahrie in der Leichenhalle in Rahovec aufsuchen, erneut Reflexionen über die Identität bzw. Individualität eines/ einer Toten angestellt werden, so scheint sich ein Kreis bzw. diskursiver Erzählstrang zu schließen. Indes: Was zu Romanende aus forensisch-medizinischer Warte unter Fahries ,Identität‘ subsumiert wird - Gebeine und Knochenstücke -, muss der Leser/ die Leserin nach erfolgter Lektüre als unzulänglich erkennen und beklagen. Nicht „Menschenähnlichkeit“ (GZ 126) - so paraphrasiert die Ich-Erzählerin Sams mit Bezug auf eine/ n Tote/ n geäußerte Worte - hat der Eigenname, die Leerstelle ,Fahrie‘ im Zuge des Leseprozesses gewonnen, sondern „Menschlichkeit“, kurzum Identität. Erscheint dieses Ergebnis als Leistung der narrativen Form in systeminterner Perspektive auch nicht weiter bemerkenswert, so ist es doch - auch und gerade im Hinblick auf die Fragestellungen der vorliegenden Arbeit und dem allgegenwärtigen Hype um ,kulturelle Identität‘ - ein gewichtiges Verdienst des Romans, auf das erkenntnistheoretische Fundament und Potential des Identitätsbegriffes zu insistieren. Die Rolle der Sprache, auch das macht der Text fassbar, ist dabei stets eine performative: „jeder Satz ist eine Handlung, jedes Wort wird verwendet: Identität sprechend zu stiften, Identität zuzusprechen […].“ (GZ 14f.) Frei nach Hegel mag sich für manche/ n diese Macht der Sprache als Mord an der Sache manifestieren. Für mich, am Ende meiner Ausführungen zu Die gefrorene Zeit sowie gleichsam meines ,Anwendungskapitels‘ angelangt, gibt Anna Kims Roman Anlass zur Hoffnung, dass sich Literatur auch im ,digitalen Zeitalter‘ als konstruktive Weise der Welterschließung innerhalb gesellschaftspolitischer Debatten zu positionieren vermag. Und, mit Blick auf den Niederschlag des kriegerischen Zerfall Jugoslawiens in der deutschsprachigen Prosa, dass Kims Roman nicht der letzte ist, der sich dank eines deskriptiven, wertfreien Umgangs mit dem/ der/ den kulturell Anderen Argumentationsmustern, die auf kulturalistischen Verengungen beruhen, bravourös entzieht. <?page no="283"?> Conclusio „Im Hinblick auf den postjugoslawischen Krieg“, so empfahl Slavoj Žižek im Jahre 1997, „sollte eigentlich eine Art invertierter phänomenologischer Reduktion gelingen, und man sollte die Vielzahl der Bedeutungen in Klammern setzen, den Reichtum der Spektren des Vergangenen, der uns erlaubt, eine Situation zu ‚verstehen‘. Man sollte der Versuchung zu ‚verstehen‘ widerstehen, und es sollte eine Geste gelingen homolog zu jener, den Ton eines Fernsehgeräts abzustellen.“ Für den erwünschten Erkenntnisgewinn sei - im Falle der Jugoslawienkrise - eine „Suspendierung des ‚Verstehens‘“ unumgänglich. Nun, ganz im Gegensatz zu Žižeks Empfehlung war die vorliegende Studie unbestrittenermaßen vom Wunsch des ,Verstehens‘ - der Kriege Jugoslawiens, sowie des im Medium der Literatur geführten Meta-Diskurses darüber - geleitet. Dabei kam eine Auffassung von ,Verstehen‘ zum Einsatz, die durchgehend auf die maßgebliche Rolle hinwies, die dem von Freud erkannten Moment der Überdeterminiertheit zukommt. Nicht auf monolithische oder monokausale Erklärungsversuche hob mein Ansatz von ,Verstehen‘ ab, 1 sondern stets versuchte ich, die unterschiedlichen Bedeutungszuschreibungen, die sich aus den unterschiedlichen Perspektiven und Interessen ergeben, zu berücksichtigen. Gewiss habe ich mich mitunter - so beispielsweise mit der Berücksichtigung des Moments der Kontingenz - dem Žižekschen Schluss, dass einzig die Suspendierung des Verstehens zielführend sei, genähert, gewiss hat mein Ansatz bisweilen zu einem impliziten Eingeständnis des ,Nicht-Verstehens‘ geführt. Um aber dieses ,Nicht-Verstehen‘ schlussendlich ,verstehen‘ zu können, hat sich das ,Verstehen-Wollen‘ als instruktive Entscheidung, wenn nicht Bedingung erwiesen. Freilich war mein primärer Untersuchungsgegenstand nicht der kriegerische Zerfall Jugoslawiens ,an sich‘, sondern dessen Niederschlag in der deutschsprachigen erzählenden Literatur unter besonderer Berücksichtigung identitäralteritärer Dynamiken. Die postjugoslawischen Kriege haben folglich als Kriege ,für sich‘ bzw. ,für uns‘ - die deutschsprachigen Beobachter/ innen, Autor/ innen und Leser/ innen - Eingang in meine Studie gefunden: ,wir‘ als Subjekte sind es, die das/ die Objekt/ e der Wahrnehmung konstituieren, und dies nicht im luftleeren Raum. Welche Lesarten der Jugoslawien-Kriege im westlichen Ausland dominant werden konnten, und welche, mit Žižek, Spektren ideologischer Art damit einhergingen, das zeigte das erste Kapitel auf. Von den verschiedenen Ländern wurden in der Bewertung der Kriege unterschiedliche Maßstäbe angelegt, die weniger mit dem Konflikt in Jugoslawien als mit den jeweils eigenen geschichtlichen sowie aktuellen Erfahrungen zu tun hatten. 1 Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: auch Žižek möchte ich auf keinen Fall mit monolithischen oder monokausalen Erklärungen zusammenbringen. <?page no="284"?> Conclusio 284 Als ,multifunktional‘ kann dieses erste Kapitel insofern bezeichnet werden, als es Unterschiedliches bündelt: erstens die eben angeführte Vorstellung der Lesarten der Jugoslawien-Kriege, aber auch zweitens eine begriffliche und theoriegeschichtliche Aufarbeitung der Begriffe ,Identität‘ und ,Alterität‘. Diese war insofern notwendig, als seit geraumer Zeit die Identitätsvokabel einen inflationären Gebrauch erlebt. Identität und Alterität, so wurde meine Prämisse bestätigt, können nur in Hinblick auf ihre Verknotung, auf ihre gegenseitige Komtaminierung konzeptualisiert werden, um in epistemologischer Hinsicht fruchtbar zu bleiben. Drittens umfasst das erste Kapitel auch Ausführungen, die als ,multiple Kontextualisierung‘ betitelt wurden. Ausgehend von den Ansätzen einer kontextorientierten Literaturwissenschaft interessierte ich mich für die Verflechtungen zwischen literarischem Text und seinem Kontext, wobei ich von einem rein textuellen Kontext-Begriff Abstand nahm. Es zeigte sich, dass dieser Kontext in einem größeren Ausmaß als die literarischen Texte eine Untersuchung auf identitär-alteritäre Dynamiken zuließ; diese wiederum versprach Antworten auf eine der initialen Fragen dieser Studie, welche Funktionen der kriegerische Zerfall des Anderen - Jugoslawien - für das Eigene - Österreich bzw. Deutschland - zeitigte. Schlussendlich empfahl es sich also, das Verhältnis zwischen den deutschsprachigen und südslawischen Ländern ins Visier zu nehmen und es der besagten ,multiplen Kontextualisierung‘ zu unterziehen: Die wichtigsten geschichtlichen Parameter dieses alles andere als unbelasteten Verhältnisses - Habsburgermonarchie, Erster und Zweiter Weltkrieg sowie Tito-Jugoslawien - wurden auf historisch-diachroner Ebene zusammengetragen. Auf der synchronen Ebene legte ich den außerliterarischen Kontext und die öffentliche Diskurse, welche die deutsche und die österreichische Öffentlichkeit in den 1990er Jahren bewegt haben, dar. Mit Blick auf einen quantifizierbaren Niederschlag ebendieser ‚Bezugsfelder der Auslegung‘ in den analysierten literarischen Texten stellte sich das Ergebnis dieser Auseinandersetzung als wenig ertragreich dar, womit auch die Grenzen einer kontextorientierten Literaturwissenschaft deutlich wurden. Dank dieser Beschäftigung mit dem synchronen Kontext im deutschsprachigen Raum konnte das ‚Eigene‘ dingfest gemacht und die Einsicht, dass sich hinter der Frage nach dem Anderen immer die Frage nach dem Selbst verbirgt, berücksichtigt werden. Der Heranziehung des geschichtlichen und zeitgleichen Kontextes der 1990er Jahre ist es schließlich auch zu verdanken, dass die virulente Rolle, die dem Nationalsozialismus und seinen vergangenen - und verdrängten - Ereignissen insbesondere in der Berliner Republik in der Diskussion der Kriege explizit oder implizit zukam, freigelegt, und Antworten auf die Frage nach den (Stellvertreter-)Funktionen der Jugoslawien-Kriege für Österreich und Deutschland gefunden wurden: Im Prozess der öffentlichen Meinungsfindung pro oder kontra EU-Beitritt boten die Kroatien- und Bosnien-Kriege Österreich die Ordnungsfunktion eines Gegenbildes, womit die Hinwendung zum EU-Westen forciert werden konnte. Vom weltpolitischen <?page no="285"?> Conclusio 285 Interesse für die Region profitierte auch Österreich, indem es unter Verweis auf geschichtliche Naheverhältnisse spezielle Kompetenzen und Schlüsselpositionen in Anschlag brachte, nicht zuletzt im Zuge der EU-Beitrittsverhandlungen. In einem noch größeren Ausmaß erlaubte insbesondere der Kosovo- Krieg dem vereinten Deutschland die Demonstration von wiedergewonnener außenpolitischer Stärke, von ,Normalisierung‘. Während damit der sukzessive Abbau der Basiserzählung der außenpolitischen und militärischen Zurückhaltungspflicht Deutschlands einherging, wurde der Integration anderer Narrative in das deutsche Selbstverständnis, wie beispielsweise des jahrzehntelangen Tabuthemas ,Deutsche als Opfer‘, Vorschub geleistet. Aus einem größeren Blickwinkel betrachtet, lässt sich außerdem die Behauptung aufstellen, dass es für den Westen mehr als opportun war, den jugoslawischen Anderen in einem subalternen Status zu behalten, um auf diese Weise eigene Diskurse zu bändigen bzw. eigene Probleme, man denke beispielsweise an das Scheitern des multikulturellen Projektes sowie die Erstarkung rechtsextremer Parteien im westlichen Europa, zu kaschieren. Auf der transhistorischen Ebene wiederum überprüfte ich, immer noch im Rahmen der ,multiplen Kontextualisierung‘, die hegemonialen narrativen und diskursiven Formatierungsvorlagen der europäischen Kultur- und Geistesgeschichte über den Orient und den Balkan. Die Konzepte von Edward Said zu Orientalismus und Maria Todorova zu Balkanismus wurden als unzureichend erkannt und um Konzepte weiterer Wissenschaftler/ innen ergänzt . Tatsächlich nahmen methodologische Überlegungen in meinem Arbeitsprozess einen gewichtigen Platz ein. Als besondere Herausforderung erwies sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Identität und Alterität, ohne vermeintlich binäre Strukturen - die in Wirklichkeit doch nichts anderes als symbolische Asymmetrien verdecken - fortzuschreiben. Wie, so galt es ganz generell zu reflektieren, kann wissenschaftliches Arbeiten erfolgen, ohne einer Blickverengung, einem totalisierenden Gestus zu erliegen? Im letzten Unterkapitel des ersten Kapitels wurden denn auch die zentralen methodologischen Einsichten, die gleichermaßen als Handlungsanweisungen für die Literaturanalysen zu lesen sind, zusammengeführt: die Notwendigkeit, die Zentrierung auf Fragen der Identität und Alterität zu dezentrieren und den Texten mit breiter anzusetzenden Fragestellungen zu begegnen. Dem entspricht in der Analyse der Texte das Verfahren des Close Reading. Da ein Großteil der von deutschsprachigen Autor/ innen verfassten Werke über den kriegerischen Zerfall Jugoslawiens das Genre der Reiseerzählung oder das Motiv der Reise aufweist, lag es nahe, die Erstellung des Textkorpus anhand dieser beiden Parameter, des gattungsspezifischen sowie des motivischen, vorzunehmen. Mit den Reiseerzählungen wurden Texte gefunden, die es angesichts der ihnen immanenten Auseinandersetzung mit Selbst- und Fremdbildlichkeit erlaubten, der kulturwissenschaftlichen Forschungsfrage <?page no="286"?> Conclusio 286 rund um Fragen der Identität auch aus einer literaturwissenschaftlichen, auf die genrespezifischen Traditionen abzielenden Perspektive zu begegnen. Überhaupt stellt die nicht-reduktive Zusammenführung von literaturwissenschaftlichem und kulturwissenschaftlichem Zugang ein erklärtes Anliegen dieser Arbeit dar. Im zweiten Kapitel, das sich der Aufarbeitung der literaturwissenschaftlichen Prolegomena verschreibt, standen mithin neben genrebezogenen Fragen auch Gegenstände und Problematiken, die auch in eine kulturwissenschaftliche bzw. konstruktivistische Terminologie gekleidet werden könnten, im Zentrum: die bedeutungskonstitutive Rolle des Lesers/ der Leserin, sein/ ihr Erwartungshorizont und kulturelles Wissen, das Verhältnis von Fiktion und Fakten, der Mimesis-Begriff. Basierend auf diesen literaturwissenschaftlichen Erhellungen des zweiten Kapitels und auf der Folie des umfassenden ersten Kapitels erfolgte im dritten die Untersuchung der literarischen Texte. Dass die verschiedenen Literaturanalysen in Tonart und Zugriff durchaus differierten, spiegelt in gewisser Hinsicht die Verschiedenheit der literarischen Texte, ungeachtet ihrer gemeinsamen Nenner, wider. Den Aufbau eines Anwendungskapitels nun als mimetische Anlehnung an den jeweiligen literarischen Text zu bezeichnen, ist sicherlich hoch gegriffen. Und doch hatte mitunter die Entscheidung, wie ein Werk und die darin erzählte Reise zu analysieren, wie in der eigenen Textarbeit zu vergegenwärtigen sei, auch mit dessen jeweiliger (linearer, zirkulärer, unabschließbarer etc.) Ordnung zu tun. In Form von äußerst textnahen Close Readings galt es von Fall zu Fall das Verhältnis zwischen folgenden Aktanten auszuhandeln: zwischen dem Anspruch einerseits, die forschungsleitenden Überlegungen am Material zu erproben, und dem Bemühen andererseits, auch dem, was angesichts dieser vorausstrukturierenden Prismen ins Abseits oder in Konflikt geraten könnte, Gehör zu schenken. Besondere Beachtung fanden dabei das Beziehungsgeflecht realhistorischer Phänomene und deren Transformierung auf der Ebene symbolischer Ausdrucksformen. Jedes einzelne Close Reading zeigt also den je besonderen Verflechtungszusammenhang von Literatur und Welt auf; dann und wann war Endre Hárs' Einsicht nichts hinzuzufügen: „Je näher man an Literatur heranrückt, desto weniger ist auf Fakten und auf bereits erworbenes Wissen Verlaß.“ 2 Auch die Darstellung der Kriege verdiente besondere Aufmerksamkeit. Wenn Rainer Leschke etwa über Kriegsnarrationen moniert, dass der Krieg die „Dekoration an den Narrationen“ darstelle und weniger die „Dynamik des Geschehens“ liefere, als „allenfalls bei der Motivation“ entlaste, 3 so wird mit Blick auf das hier vorliegende Textkorpus deutlich, dass dieser Befund, wie- 2 Hárs (2002: 3). 3 Ebenda, 319. <?page no="287"?> Conclusio 287 wohl mitunter durchaus zutreffend, die analysierten Texte in ihrem Insgesamt gleichsam verfehlt. Denn in der Tat handelt es sich bei Peter Handkes, Juli Zehs, Norbert Gstreins, Saša Stanišićs und Anna Kims Werken nicht um Erzählungen über den Krieg als solchen, sondern um literarische Reflexionen über die Erzählbarkeit von Krieg, deren Verdienst - neben dem Insistieren auf der grundsätzlich medialen Vermitteltheit des Wissens um den Krieg - das Darstellen je eigen(ständig)er Momente und Motive ist. Dass die Frage, wie und ob überhaupt dieses medial vermittelten - und inszenierten - Krieges mit ästhetischen Mitteln habhaft zu werden ist, ins erklärte Zentrum von Gstreins Roman Das Handwerk des Tötens rücken konnte, ist daher nicht weiter überraschend. Jegliches Kriegsgeschehen wird darin als ein in mehrfacher Brechung vermitteltes erzählt. Gleichzeitig führt Gstreins Roman die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten von literarischem und journalistischem Schreiben vor: Krieg, Sprache und Literatur als strukturelle Komplizenschaft. Wie dem Krieg kann auch der Sprache, selbst der Literatur, eine Logik der Verwertbarkeit unterlegt werden. Dass alle Texte die Frage nach der Erzählbarkeit des Krieges in der einen oder anderen Form aufwerfen, bedeutet mitnichten, dass dieser nicht auch ,an sich‘ aufblitzen würde. Während der Krieg respektive Srebrenica bei Juli Zeh als Leerstelle nahezu ent-zählt wird, narrativiert ihn Saša Stanišić, dessen Roman Wie der Soldat das Grammofon repariert sicherlich ein Stück weit ,Betroffenheitsliteratur‘ darstellt, mittels einer erfundenen und nahezu unmöglichen Geschichte: als ein Fußballspiel. Ohne diese mimetisch zu schildern, wird eine mögliche Realität des Krieges vergegenwärtigt. Der Umstand, dass Peter Handkes Texten eine in rein quantitativer Hinsicht maßgebliche Position eingeräumt wurde, fällt bereits bei der Sichtung des Inhaltsverzeichnisses auf. Während von Norbert Gstrein und Juli Zeh jeweils zwei Texte, von Saša Stanišić und Anna Kim nur ein einziger Eingang fanden, standen mit Die Wiederholung, Abschied des Träumers vom Neunten Land, Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien, Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise und Die Morawische Nacht gleich fünf Texte von Peter Handke auf dem Programm. Dabei handelte es sich nur um Texte, die das Moment der Reise aufnehmen - und somit noch um Unter Tränen fragend und Die Kuckucke von Velika Hoča, die nicht in Form einer eigenständigen Analyse behandelt wurden, ergänzt werden müssten. Kein anderer deutschsprachiger Autor hat so viel über den ,Komplex Jugoslawien‘ veröffentlicht und so sehr das literarische Schreiben über Jugoslawien und seine Kriege - ob als implizite oder explizite Bezugsfolie, ob als Formatierungsvorlage in gattungsspezifischer Hinsicht - bestimmt. Beides, konservative Poetologie und linke Kulturkritik, fließt in Handkes Texten und Position zusammen. Die Berücksichtigung der in mehreren Etappen verlaufenden Polemiken rund um Handkes Stellungnahmen für Serbien-Jugoslawien, die zu den größten, <?page no="288"?> Conclusio 288 ,Literaturstreits‘ der deutschsprachigen Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur gezählt werden können, erwies sich insofern von Interesse, als so deutlich gemacht werden konnte, wie sehr nicht-konsenspflichtige Deutungsangebote als Provokation - und nicht als Einladung zu einer inhaltlichen, und hoffentlich sodann differenzierten, Auseinandersetzung - gehandhabt werden: Der gesellschaftliche Konsens ist immer schon notwendig, diesen Schluss könnte man angesichts der Handke-Polemiken ziehen, damit eine Einspeisung symbolischen Materials in den Erinnerungs- und Diskussionshaushalt erfolgen kann. Handke, der die vorherrschende Meinung über Täter- und Opferschaft im kriegerischen Zerfall Jugoslawiens nicht bedient hat, ist es nicht gelungen, zumindest in den von ihm zu Recht kritisierten Punkten eine neue Sicht auf die Problematik zu lancieren, geschweige denn durchzusetzen. Nicht nur die Polemiken um Handke, jenseits tagespolitischer Thematiken gelesen, eigneten sich für eine kritische Perspektivierung des komplexen Verhältnisses von Faktizität und Fiktionalität sowie der Verquickung von Ästhetik und Wahrheit als einem normativen Prinzip. Bereits meine eigenen Lektüren zeigten auf, wie schwierig oder abwegig es angesichts der Nähe der erzählten Welt zur außertextuellen Referentialität bisweilen war, den ,eigentlich‘ als ungerade oder quer postulierten Bezug zum Dargestellten nicht doch als einen unmittelbaren zu supponieren, den Text nicht doch zuallererst auf reale und verifizierbare Gegebenheiten zu beziehen. Wird Unbestimmtheit ,normalisiert‘, so steht für Wolfgang Iser das Resultat kategorisch fest: „In der Widerspiegelung verlischt dann seine literarische Qualität.“ 4 Angesichts dieser Erfahrungen möchte ich dagegen einmal mehr die These von der untrennbaren Nähe zwischen außertextueller Referentialität und fiktionaler Welt stark machen, aber auch darauf insistieren, dass Lektüremodi - Realitätsabgleichung oder -entlastung - innerhalb des Leseprozesses alternieren können, weshalb in den Close Readings auch die Wirkung(en) eines Textes, die ,Spielräume der Potenzialisierung‘ im Vordergrund standen. So konnte gezeigt werden, in welchem Ausmaß der Text vom Leser/ der Leserin ,gemacht‘, Leerstellen aufgrund seines/ ihres Wissens und Erwartungshorizontes gefüllt wird. Was indes Handkes Texte angeht, die in der Süddeutschen Zeitung erstveröffentlicht wurden (Abschied des Träumers, Winterliche Reise), so kann folgendes festgehalten werden: War ich als ,professionelle Leserin‘ auch bemüht, die unterschiedlichen Deutungsebenen sowie die Mediendifferenzen zwischen literarischem und journalistischem Schreiben zu berücksichtigen, kam ich doch nicht umhin, den problematischen Gehalt und Gestus insbesondere der Winterlichen Reise zu akzentuieren. Den Anspruch auf eine subjektive, selektive und phantasievolle Anordnung seines Materials, wie er 4 Iser (1975: 233). <?page no="289"?> Conclusio 289 Schriftsteller/ innen gemeinhin zuerkannt wird, hat Handke in diesem Text selbst verwirkt. Für die Frage, welchen Niederschlag Balkanismen in den hier analysierten Werken fanden, haben sich erneut die Texte Peter Handkes als relevant erwiesen. Im Modus der Inversion greifen sie auf bestimmte strukturelle Verfahren dieser narrativen und diskursiven Formatierungsvorlagen zurück: Dichotomisierung, Homogenisierung, Essentialisierung sind die grundlegenden Operationen, um den/ das/ die jugoslawische/ n oder serbische/ n Andere/ n zu erzeugen. Maria Todorova hatte den Balkan als ,unvollständiges Selbst‘ Europas konzeptualisiert und dabei insbesondere die historische Entwicklung ins Auge gefasst, manche wesentlichen Kategorien und Aspekte der jüngeren Geschichte jedoch, auch innerhalb des Balkans, vernachlässigt. Aus diesem Grunde war im ersten Kapitel die bereits erwähnte kritische Perspektivierung der Todorov'schen Ansätze erfolgt, um schließlich unter Rückgriff auf die Arbeiten anderer Forscher/ innen den Balkan als ,exzessives‘ sowie als ,verdrängtes‘ Selbst zu fassen. Handke hingegen, um von der kollektiven wieder auf die individuelle Ebene überzuwechseln, sieht im Balkan bzw. in Jugoslawien und später Serbien ein ,ideales Selbst‘. ,Jugoslawien‘ bzw. ,Serbien‘ dienen in Handkes Texten (mitunter den Protagonisten, meistens aber dem Autor) der Konstruktion und Festigung einer neuen eigenen Identität, der Überwindung der als provinziell und faschistoid empfundenen österreichischen Herkunft. Die von Handke in diesen Texten der 1990er Jahren unternommene ,Selbstfindung im Licht des Anderen‘, so mein Fazit, ist immer schon ,projektive Verkennung‘. In den Texten von Gstrein, Zeh, Stanišić und Kim hingegen sind diese Mechanismen der imaginären Identifikation und Projektion nicht oder nur peripher am Werk. Handkes Veröffentlichung der ,romanlangen Erzählung‘ Die morawische Nacht erlaubt es allerdings, einen ironischen und in seinem Insgesamt gelasseneren Umgang mit den jüngsten Entwicklungen auf dem Balkan zu konstatieren. Anstatt im Modus der Umkehrung weiterhin bestimmten Stereotypisierungen zuzuarbeiten, wird in der Morawischen Nacht versucht, ,Balkan‘ als gleichsam leeren Signifikanten zu handhaben. Die imaginäre Kraft, die dem Begriff inne ist, wird so deutlich. Diese Entwicklung hat gewiss auch mit dem Genrewechsel zu tun: nach den zahlreichen Reiseerzählungen und Essays zu Jugoslawien ab Anfang der 1990er wendet sich Handke mit der Morawischen Nacht der fiktionalen Prosa zu, um einen im weitesten Sinne ,Jugoslawien- Text‘ vorzulegen. Bei allen anderen Autor/ innen lassen sich Versuche festmachen, jene Ordnungen, die den Nährboden von Balkanismen - auch mit umgekehrten Vorzeichen - bilden, zu vermeiden (Zeh), zu unterlaufen (Gstrein), zu überwinden (Stanišić) oder zu neutralisieren (Kim). Damit ist noch nicht gesagt, dass so etwas wie interkulturelle Vermittlung durchgehend gelingt. Insbesondere <?page no="290"?> Conclusio 290 Zeh unterliegt, après tout, auch Stereotypisierungen, Balkanismen und kultureller Vereinnahmung. Womöglich sollte die von Gstrein, Zeh und Kim unternommene Beschäftigung mit Jugoslawien, den Kriegen und Balkanismen mit dem Prädikat ,post ‘ versehen werden: um darauf anzuspielen, dass das Wissen um all jene Fallen, die es zu vermeiden gilt, gleichsam nicht vor blinden Flecken schützt. Dieser Logik folgend, könnten ihre Texte als Post Balkan Writings gefasst werden. Mit Blick auf die identitär-alteritäre Dynamik springt in den Romanen von Gstrein, Stanišić und Kim außerdem die Integration von unverbrauchten Erzählsträngen und neuen geschichtlichen Bezügen ins Auge. Das Thema der kulturellen Fremdheitserfahrung hingegen verliert an Signifikanz - und geht, so in Anna Kims Die gefrorene Zeit, mit einer unaufgeregten Selbstverständlichkeit einher. Während in Kims Roman die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität mit erkenntnistheoretischen und forensischen Diskursen verknüpft wird, korreliert diese in Norbert Gstreins Die Winter im Süden mit der Ahnung von der jedem Menschen immanenten ‚beunruhigenden Fremdheit‘. Zudem verschiebt sich in Gstreins zweitem Kroatien-Roman die Dynamik von Identität und Alterität in neue Verweisungszusammenhänge, in denen Kategorien wie Generation und Gender eine Rolle spielen. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass die von Zeh, Gstrein, Stanišić und Kim lancierte Beschäftigung mit Jugoslawien und seinen Kriegen erheblich von jener differiert, die Peter Handke in Form von Reiseerzählungen unternommen hatte. Für diesen Befund sind mehrere Faktoren in Anschlag zu bringen. Ein erstes wesentliches Moment liegt meines Erachtens im Alter der nun über Jugoslawien und seine Nachfolgeländer schreibenden Autor/ innen. Norbert Gstrein wurde 1961 geboren, gehört mithin nicht der Generation der 68er an; Juli Zeh, Saša Stanišić und Anna Kim wurden alle erst in den 1970er Jahren geboren. Die im ersten Kapitel aufgezeigten Beziehungen zwischen den deutschsprachigen und südslawischen Ländern, die daraus entspringenden Ressentiments und Idealisierungen sind für sie - wie auch für mich - Geschichte, kaum jedoch persönliche Erfahrung. 5 Zweitens fallen auch Genrefragen ins Gewicht: Die Werke von Gstrein, Stanišić und Kim stellen in gattungstheoretischer Hinsicht Romane dar. Wenngleich in meinen Lektüren immer wieder auf die außerliterarische Verankerung geachtet wurde, haben wir es nun in einem viel geringeren Ausmaß mit Authentifizierungsstrategien und jener Defiktionalisierung des narrativen Personals, an der die ,friktionalen‘ Reiseerzählungen laborieren, zu tun. Wir haben es, mit Freud gesprochen, mit „den vielen Freiheiten des Dichters“/ der 5 Letzteres gilt nicht für Saš a Stanišić. <?page no="291"?> Conclusio 291 Dichterin zu tun: „Wir folgen ihm [und ihr, D.F.] in jedem Falle.“ 6 Im Unterschied zu journalistischen Texten sind Romane nicht nur von der Verpflichtung einer ,wahrheitsgemäßen‘ Darstellung suspendiert, sondern ebenso von der Notwendigkeit, Stellung zu beziehen. Zehs, Gstreins, Stanišićs und Kims Auseinandersetzung mit dem kriegerischen Zerfall Jugoslawiens ist eine literarische - und keine politische Stellungnahme - und erfolgt mit den Mitteln der Fiktion. Auch der aufgezeigte Umstand, dass Balkanismen Todorov'scher Prägung als Formatierungsvorlagen keine maßgebliche und insbesondere keine affirmative Rolle in ihren Texten spielen, ist auf das Romangenre zurückzuführen. Hätte das Korpus der vorliegenden Studie aus journalistischen und populärwissenschaftlichen Texten bestanden, wäre das Ergebnis des Niederschlags von Balkanismen gewiss ein anderes. 7 Und schließlich: Jugoslawien und seine Nachfolgeländer fungieren in den Werken dieser jüngeren Autorengeneration nicht länger als „poetische[r] Gegenraum“, 8 sondern als geteilter Erfahrungsraum, dessen Erschließung Aufschluss über anthropologische Grundkonstanten gibt. Der ,jugoslawische Mythos‘ in der österreichischen bzw. deutschsprachigen Literatur - sollte er denn je mehr als das Signum eines partikularen Vertreters, Peter Handkes, gewesen sein - ist nunmehr verbraucht. 6 Freud, Sigmund: Das Unheimliche, in: ders.: Gesammelte Werke XII. Werke aus den Jahren 1917-1920, Frankfurt/ Main: S. Fischer 2006 7 , 227-268, 264. Und, so könnte gleichfalls ergänzt werden: Wir folgen dem Dichter/ der Dichterin in jede Falle. 7 Damit wird nicht die naive Ansicht, dass Fiktionalität vor Dichotomien schütze, vertreten - dies sei an dieser Stelle ausdrücklich betont. 8 Müller-Funk (2009a: 353). <?page no="293"?> Bibliographie Die Reihung der verwendeten Quellen erfolgt alphabetisch und chronologisch, wobei für die chronologische Reihung die Jahreszahl der Erstauflage zählt. Einzelautorschaften stehen vor Co-Autor- oder Herausgeberschaften. Weicht das Datum der Erstveröffentlichung eines Textes von der Jahreszahl der verwendeten Auflage ab, wird im Regelfall in eckiger Klammer auf das Jahr der Erstausgabe hingewiesen. Bei Monographien erfolgt diese Angabe nach dem Jahr, bei unselbständigen Publikationen direkt nach dem Titel. Werden mehrere Aufsätze aus einem Sammelband zitiert, so wird dieser in der Regel bei der Erstanführung mit vollen bibliographischen Angaben zitiert, bei den weiteren Anführungen wird die Kurzform - Name des Herausgebers/ der Herausgeber/ in/ nen sowie Jahr und Seitenzahlen in Klammern - verwendet. Unter dem Namen des Herausgebers/ der Herausgeber/ in/ nen wird der Sammelband, wurde ihm mehr als ein Aufsatz entnommen, nochmals angeführt. Bei mehr als drei Autor/ innen bzw. Herausgeber/ innen wird nur ein Name unter Zugabe des Kürzels ,u.a. ‘ angegeben; gibt es mehr als einen Verlagsort, wird gleichfalls mit ,u.a. ‘ darauf verwiesen. Die Bibliographie ist in folgende Kapitel untergliedert: 1. Primärliteratur; 1.1 Analysierte Texte und weitere Texte der behandelten Autor/ innen; 1.2 Weitere literarische, belletristische und journalistische Texte mit Bezug auf den kriegerischen Zerfall Jugoslawiens; 1.3 Weitere (literarische und nichtliterarische) Reisetexte über die Region; 1.4 Andere Primärwerke; 2. Sekundärliteratur; 2.1 Über die Autor/ innen und den Niederschlag der kriegerischen Auflösung Jugoslawiens im Medium der Literatur (ohne Zeitungsartikel); 2.2 Allgemeine Sekundärliteratur / Theorie; 2.3 Beiträge aus Tages- und Wochenzeitungen; 2.4 Online publizierte Beiträge; 2.5 Nachschlagewerke. <?page no="294"?> 294 1. Primärliteratur 1.1 Analysierte Texte und weitere Texte der behandelten Autor/ innen Gstrein, Norbert: Die englischen Jahre. Roman, München: dtv 2008 [1999]. Gstrein, Norbert: Das Handwerk des Tötens. Roman, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2003. Gstrein, Norbert: Wem gehört eine Geschichte? Fakten, Fiktionen und ein Beweismittel gegen alle Wahrscheinlichkeit des wirklichen Lebens, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2004. Gstrein, Norbert: Die Winter im Süden. Roman, München: Hanser 2008. Handke, Peter: Wunschloses Unglück. Erzählung, Frankfurt: Suhrkamp/ Main 1974 [1972]. Handke, Peter: Die Lehre der Sainte-Victoire, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1984 [1980] (st 1070). Handke, Peter: Die Wiederholung, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1999 [1986] (st 3010). Handke, Peter: Langsam im Schatten. Gesammelte Verzettelungen 1980-1992, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1992. Handke, Peter. Noch einmal vom Neunten Land. Peter Handke im Gespräch mit Jože Horvat, Klagenfurt u.a.: Wieser 1993. Handke, Peter: Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein Märchen aus den neuen Zeiten, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2007 [1994] (st 3887). Handke, Peter: Noch einmal für Thukydides, Salzburg: Residenz 1995. Handke, Peter: Abschied des Träumers vom Neunten Land. Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien. Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1998 (st 2905). Handke, Peter: Unter Tränen fragend. Nachträgliche Aufzeichnungen von zwei Jugoslawien-Durchquerungen im Krieg, März und April 1999, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2000. Handke, Peter: Meine Ortstafeln. Meine Zeittafeln. 1967-2007, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2007. Handke, Peter: Die morawische Nacht. Erzählung, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2008. Handke, Peter: Die Kuckucke von Velika Hoča. Eine Nachschrift, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2009. Handke, Peter. Ein Jahr aus der Nacht gesprochen, Salzburg: Jung und Jung 2010. Handke, Peter: Immer noch Sturm: Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2010. Handke, Peter: Die Geschichte des Dragoljub Milanović, Salzburg u.a.: Jung und Jung 2011. Kim, Anna: irritationen, in: Stippinger, Christa (Hg.): FremdLand. 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Autoren des Gesprächs: Birte Lipinski / Sarah Lüken / Jana Maurer, Oldenburg: Fruehwerk 2008 (Im Atelier. Beiträge zur Poetik der Gegenwartsliteratur), (zit. 2008b). 1.2 Weitere literarische, belletristische und journalistische Texte mit Bezug auf den kriegerischen Zerfall Jugoslawiens Bachér, Ingrid: Sarajevo 96. Erzählung. Mit Bildzeichen von Günther Uecker, Düsseldorf: Eremiten-Presse 2001. Blaha, Paul: Die Hinterbliebenen. Roman, Innsbruck: Haymon 1994. Bogdanović, Bogdan: Die Stadt und der Tod. Essays. A. d. Serb. v. Klaus Detlef Olof, Klagenfurt: Wieser 1993. Crnjanski, Miloš (1993): Tagebuch über Čarnojević. Übers. a. d. Serb. v. Hans Volk. M. e. Nachw. v. Ilma Rakusa, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1993 (edition suhrkamp1867). Enzensberger, Hans Magnus: Bosnien, Uganda. Eine afrikanische Ansichtskarte, in: Europa im Krieg. Die Debatte über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1992 (es 1809), 85-90. 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Mitschrift aus Bihać und Krajina, Salzburg u.a.: Residenz 1996. 1.3 Weitere (literarische und nicht-literarische) Reisetexte über die Region: Achenbach, Marina: Auf dem Weg nach Sarajevo, Berlin: Elefanten-Press 1994. Buch, Hans Christoph: Gerechtigkeit für Bosnien. Ohne Medien: Eine spätwinterliche Reise nach Mostar und Sarajevo, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 25.4.1996, 31. Emcke, Carolin: Kosovo 1 (Juli 1999), in: dies.: Von den Kriegen. Briefe an Freunde, Frankfurt/ Main: Fischer 2004, 15-49. Koprüner, Kurt: Reisen in das Land der Kriege. Erlebnisse eines Fremden in Jugoslawien. M. e. Vorw. v. Peter Glotz, Berlin: Espresso 2001. Riedel, Sabine: Ende der Ausgangssperre. Sarajevo nach dem Krieg, Frankfurt/ Main: Schöffling 1997. Schneider, Peter: Sarajevo oder Der kurze Weg in die Barbarei, in: ders.: Vom Ende der Gewißheit, Berlin: Rowohlt 1994, 65-79. Wagner, Richard: Der leere Himmel. Reise in das Innere des Balkan, Berlin: Aufbau- Verlag 2003. West, Rebecca: Schwarzes Lamm und grauer Falke. Eine Reise durch Jugoslawien. A. d. Engl. v. Hanne Gebhard, Berlin: Edition Tiamat 2002 [1942]. 1.4 Andere Primärwerke Andrić, Ivo: Brief aus dem Jahre 1920, in: ders.: Die verschlossene Tür. Erzählungen. Hg. u. mit e. Nachw. v. Karl-Markus Gauß, Wien: Zsolnay 2003, 161-178. Baudelaire, Charles. Les Fleurs du Mal. Die Blumen des Bösen. Französisch/ Deutsch. Übers. v. Monika Fahrenbach-Wachendorff, Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1980. Chatwin, Bruce: The songlines, London u.a.: Vintage 2005 [1986]. Claudius, Matthias: Urians Reise um die Welt [1787], in: ders.: Sämtliche Werke. München: Winkler Verlag 1969 , 345- 348. Enzensberger, Hans Magnus: Die Große Wanderung. 33 Markierungen. Mit einer Fußnote ,Über einigen Besonderheiten bei der Menschenjagd‘, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 19936 [1992]. Enzensberger, Hans Magnus: Aussichten auf den Bürgerkrieg, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1993 (st 2524). Gauß, Karl-Markus: Das europäische Alphabet. 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Besonderes Augenmerk gilt den gesellschaftspolitischen und diskursiven Kontexten in Österreich und Deutschland in den 1990er Jahren, die für die Wahrnehmung der Kriege wie auch die Produktion und Rezeption der Texte deutschsprachiger Autor/ innen konstitutiv wurden. Darauf aufbauend erfolgt in Form textnaher Close Readings die Auseinandersetzung mit den Texten von Peter Handke, Juli Zeh, Norbert Gstrein, Saša Stanišic ´ und Anna Kim.
