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Leistungssteigerung um jeden Preis?

Biologie und Ethik des pharmakologischen Cognition Enhancement

0313
2013
978-3-7720-5482-2
978-3-7720-8482-9
A. Francke Verlag 
Elfriede Walcher-Andris

Mit Leichtigkeit ein exzellentes Examen zu schaffen oder einen Schreibtisch voller Arbeit zu erledigen, das wünscht sich mancher! Schüler, Studenten und Berufstätige greifen zu Tabletten, um ihre kognitive Leistungsfähigkeit zu steigern. Trotz prominenter Befürworter lehnen das viele intuitiv ab. Dieses Buch liefert die wissenschaftliche Basis für diese Diskussion: es hinterfragt Wirkungen von Präparaten, stellt Risiken für Gesundheit, Fairness, Autonomie und Verantwortungsfähigkeit dar, es diskutiert Folgen für Kinder und Heranwachsende und verdeutlicht die Verzahnung dieser Thematik mit ADHS. Dabei werden ethische, wissenschaftstheoretische und anthropologische Aspekte mit biologischen Aspekten vernetzt.

<?page no="0"?> Leistungssteigerung um jeden Preis? Biologie und Ethik des pharmakologischen Cognition Enhancement Elfriede Walcher-Andris T übinger Studien zur E thik · T übingen Studie s in E thic s 3 <?page no="1"?> Leistungssteigerung um jeden Preis? <?page no="2"?> Tübinger Studien zur Ethik Tübingen Studies in Ethics 3 Herausgegeben vom Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) Schriftleitung: Prof. Dr. Regina Ammicht Quinn Prof. Dr. Friedrich Hermanni Dr. Roland Kipke Prof. Dr. Thomas Potthast Prof. Dr. Dr. Urban Wiesing <?page no="3"?> Elfriede Walcher-Andris Leistungssteigerung um jeden Preis? Biologie und Ethik des pharmakologischen Cognition Enhancement <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8482-9 Dissertation an der Universität Tübingen, 2011. <?page no="5"?> Danksagung Die Anfertigung dieser Dissertation wurde von vielen Menschen unterstützt. Mein besonderer Dank gilt Frau Prof. Dr. Eve-Marie Engels, die meine Arbeit von Beginn an gefördert hat und sie engagiert betreut und durch wertvolle Anregungen vorangebracht hat. Durch ihre Anerkennung hat sie mich immer wieder ermutigt. In Erinnerung an Herrn Prof. Dr. Werner Jürgen Schmidt bin ich von Dankbarkeit erfüllt. Dabei denke ich an intensive Gespräche, die meiner Arbeit wesentliche Impulse gaben. Er begleitete mein Vorhaben bis zu seinem viel zu frühen Tod. Herrn Prof. Dr. Michael Günter danke ich für seine Bereitschaft, die Zweitbetreuung der Arbeit fortzuführen. Er hat sie durch wichtige Hinweise und Anregungen bereichert. Für ihre technische Unterstützung danke ich Frau Sigrun Heinze. Diese Arbeit wurde als Promotionsprojekt im Graduiertenkolleg Bioethik am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) von der Deutschen Forschungsgemeinschaft drei Jahre lang durch ein Stipendium gefördert. Den Kolleginnen und Kollegen im Graduiertenkolleg danke ich für die vielen, offenen, „grenzüberschreitenden“ Diskussionen und die produktive gemeinsame Zeit. Danken möchte ich auch Prof. Dr. Thomas Potthast, der für die verschiedensten praktischen und inhaltlichen Fragen Rat wusste. Ganz besonders danke ich Frau PD Dr. Elisabeth Hildt, ohne deren Ermutigung dieses Projekt nie entstanden wäre. Ich danke meinem Mann, Martin Andris und meinen Söhnen Sebastian, Benjamin und Wolfgang für die Unterstützung meiner Arbeit. <?page no="7"?> Inhaltsverzeichnis Danksagung.............................................................................................. 5 Teil I Einführung in die Thematik und Vorüberlegungen 1 Einleitung ..........................................................................................17 1.1 Steigende Verbrauchszahlen für Stimulanzien ..........................18 1.2 Methylphenidat in der Therapie bei ADHS................................19 1.3 Indizien für eine Verwendung von Stimulanzien zu Enhancementzwecken ...................................................................20 1.3.1 Hinweise auf pharmakologisches Cognition Enhancement bei Schülern .............................................................................. 22 1.3.2 Hinweise auf pharmakologisches Cognition Enhancement bei Studenten ............................................................................ 22 1.3.3 Hinweise auf pharmakologisches Cognition Enhancement am Arbeitsplatz ........................................................................ 23 2 Ziele, Fragestellung und Aufbau der Arbeit .............................. 24 3 Ethische, wissenschaftstheoretische und anthropologische Vorüberlegungen ........................................................................... 30 3.1 Ethik in den Biowissenschaften ....................................................30 3.2 Nicht-spekulative Ethik und Vorsorgeprinzip...........................31 3.3 Stellenwert und Limitierungen empirischer Ergebnisse im ethischen Urteil ...............................................................................36 3.3.1 Tests und die Ganzheit des Menschen...................................36 3.3.2 Studien - Evidenz mit Hilfe von Statistik ..............................37 3.4 Implizite Vorannahmen und erkenntnisleitende Interessen ....38 3.5 Normative Prämissen ....................................................................40 3.6 Ziele, Mittel und Folgen ................................................................41 3.7 Anthropologische Vorüberlegungen ...........................................42 Teil II Begriffliche Klärungen: Enhancement - Aufmerksamkeitsstörung - Autonomie 4 Krankheit und Gesundheit - Therapie und Enhancement .......49 4.1 Krankheitsbegriffe und Klassifikationssysteme .........................50 4.1.1 Naturalistische Position ...........................................................51 <?page no="8"?> Inhaltsverzeichnis 8 4.1.2 Normative Position...................................................................52 4.1.3 Ansätze mit relationalem Aspekt ...........................................52 4.1.4 Subjektivistische Positionen ....................................................55 4.1.5 Kombinierte, pragmatische Positionen ..................................55 4.1.6 Die Schwierigkeit der Klassifikation psychischer Krankheiten ...............................................................................57 4.1.7 Ein genetischer Krankheitsbegriff? .........................................58 4.2 Therapie, Enhancement und die Grauzone ................................59 4.3 Gesundheitsbegriffe und ihre Konsequenzen für den Enhancementbegriff .......................................................................60 4.4 Bezug von Enhancement zu Prävention, Doping und Medikalisierung..............................................................................61 4.4.1 Prävention..................................................................................62 4.4.2 Doping im Sport - eine Spezialform des Enhancement? .......62 4.4.3 Medikalisierung ........................................................................63 4.4.4 Medikalisierung und Enhancement und Fragen der Kostenübernahme .....................................................................65 4.5 Enhancement-Definition und ihre Implikationen......................66 5 Aufmerksamkeitsdefizit/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und die Problematik der Grauzone ...............................................68 5.1 ADHS-Erscheinungsbild ...............................................................68 5.2 Diagnose der ADHS .......................................................................69 5.2.1 Die Rolle der Bewertenden ......................................................70 5.2.2 Möglichkeiten der Objektivierung der ADHS-Diagnose ....71 5.2.3 Forderung nach kombinierter Diagnostik und Differentialdiagnose .................................................................73 5.3 Entstehungsfaktoren für ADHS ...................................................74 5.3.1 Zu den neurobiologischen Grundlagen der ADHS .............75 5.3.2 Genetische Ausstattung als Vulnerabilitätsfaktor ................76 5.3.3 Lebensbedingungen und Risikofaktoren...............................78 5.3.4 Bedeutung der Entstehungsbedingungen .............................90 5.4 Therapie ...........................................................................................90 5.4.1 Ausschluss von vermeidbaren Ursachen ..............................91 5.4.2 Medikamentöse Behandlung...................................................92 5.4.3 Personengebundene Therapien ..............................................94 5.4.4 Multimodale Behandlung ........................................................95 5.4.5 Innovative Therapien ...............................................................97 5.4.6 Therapiewahl.............................................................................97 5.4.7 Therapie als verdecktes Cognition Enhancement ....................98 <?page no="9"?> Inhaltsverzeichnis 9 5.5 Prävention .......................................................................................99 6 Der Begriff der Autonomie ...........................................................101 6.1 Autonomie als Fähigkeit von Individuen .................................102 6.1.1 Handlung versus Verhalten ..................................................102 6.1.2 Handlungsfähigkeit................................................................103 6.1.3 Rationalität...............................................................................104 6.1.4 Unabhängigkeit.......................................................................104 6.1.5 Kognitive Voraussetzungen der Autonomie ......................107 6.2 Autonomiefähigkeit als Lernprozess .........................................107 6.3 Autonomie als Eigenschaft von Handlungen...........................108 6.4 Determiniertheit und Selbstdetermination ...............................109 6.5 Autonomie und Manipulation....................................................113 6.6 Autonomie und Verantwortung.................................................114 6.7 Voraussetzungen zur Erhaltung von Autonomie und Verantwortung über die Zeit hinweg ........................................116 Teil III Medizinische, psychologische und pharmakologische Grundlagen und die Folgen des pharmakologischen Cognition Enhancement 7 Der Begriff von Kognition und die Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit .......................................................125 7.1 Kognition als Verbindung zwischen Wahrnehmung und Handlung und eine Idee von Vollkommenheit .......................126 7.2 Soziale Kognition..........................................................................128 7.3 Aufmerksamkeit und Kontrolle .................................................130 7.3.1 Tonische Aktivierung und phasische Aufmerksamkeit ....130 7.3.2 Bottom-up- und top-down-Vorgänge ..................................131 7.3.3 Die Bedeutung von Zeit für Denkprozesse und Kreativität ................................................................................133 7.3.4 Aufmerksamkeit und Bewusstsein - bewusste und unbewusste Voraussetzungen der Autonomie...................134 7.3.5 Aufmerksamkeit als Selektionsmechanismus und höhere kognitive Funktionen .............................................................135 7.3.6 Aufmerksamkeit als Konzentrationsfähigkeit und Selbstkontrolle ...................................................................................137 7.4 Kognitive Leistungsfähigkeit als Entwicklungsgeschehen und Lernaufgabe ..........................................................................137 <?page no="10"?> Inhaltsverzeichnis 10 7.4.1 Bedeutung kognitiver Strategien für die kognitive Leistungsfähigkeit...................................................................138 7.4.2 Die Bedeutung von Störungen und Hindernissen für die kognitive Entwicklung ...........................................................140 7.4.3 Interaktion als Entwicklungsfaktor sozialer Kognition .....142 7.4.4 Entwicklung exekutiver Funktionen ....................................14 7.5 Kognition und die Möglichkeit der Selbstvervollkommnung .............................................................147 8 Dopaminsystem, Lernen und Autonomie....................................149 8.1 Aufbau des Dopaminsystems: Kerne, Bahnen, Rezeptoren und Transporter............................................................................149 8.2 Vergleich der medikamentösen mit der natürlichen Stimulation des Dopaminsystems..............................................150 8.2.1 Natürliche Stimuli und nicht-natürliche Stimuli ................150 8.2.2 Primäre Motivationsprozesse, Lernprozesse und Stimulationsprozesse durch Stimulanzien. .........................151 8.3 Dopaminsystem, Lernen und Motivation .................................152 8.3.1 Welche Rolle spielt Dopamin in Lernprozessen? ...............152 8.3.2 Die Bedeutung der zeitlichen Dynamik der Dopamin- Verfügbarkeit für Lernprozesse und zukünftige Motivation................................................................................153 8.4 Das Dopaminsystem als Basis autonomen Handelns .............155 8.4.1 Bewertungssystem auf der Grundlage somatischer Marker ......................................................................................156 8.4.2 Verhaltensselektion durch Vergleich und Antizipation ....157 8.4.3 Die Rolle von Dopamin bei der Verhaltensselektion .........158 8.4.4 Dopamin-Neurone und die Wirkungsweise zukünftiger Ziele ..........................................................................................159 9 Pharmakologie kognitiver Stimulanzien .....................................160 9.1 Basisinformationen zur Amphetaminwirkung ........................161 9.1.1 Die Applikationsmethode ist entscheidend für die Wirkung ...................................................................................162 9.1.2 Pharmakodynamik der Amphetamine ................................162 9.1.3 Vergleich der Amphetamineffekte in der Therapie, als Rauschmittel und beim Doping ............................................164 9.1.4 Wie kann eine stimulierende Substanz Aktivität reduzieren? - Die Frequenzabhängigkeit der Amphetaminwirkung.............................................................165 5 <?page no="11"?> Inhaltsverzeichnis 11 9.2 Wird die kognitive Leistung durch Amphetamine verbessert? .....................................................................................166 9.2.1 Amphetamineffekte auf das Arbeitsgedächtnis .................167 9.2.2 Amphetamineffekte auf das Gedächtnis .............................169 9.2.3 Amphetamineffekte auf die selektive Aufmerksamkeit....169 9.2.4 Wie beeinflussen Amphetamine den Lernvorgang? ..........170 9.3 Auswirkungen von Amphetamin auf die Arbeitshaltung - Arbeitsverdichtung durch Amphetamine? ...............................171 9.3.1 Schnelleres Arbeiten mit Hilfe von Amphetaminen? - Verkürzte Reaktionszeit und erhöhte Fehlerzahl ...............171 9.3.2 Längeres Arbeiten mit Hilfe von Amphetaminen? - Verbesserung der Daueraufmerksamkeit............................171 9.3.3 Arbeitsverdichtung durch Medikamente - eine letztlich nicht testbare Amphetaminwirkung im Alltag...................172 9.4 Können Amphetamine Auswirkungen für Autonomie- und Verantwortungsfähigkeit haben? ...............................................172 9.4.1 Verbessern Amphetamine die Impulskontrolle? ................173 9.4.2 Kurzfristige Motivation oder Manipulation? ......................173 9.4.3 Amphetaminwirkung auf anstrengungsbezogene Entscheidungsfindung ...........................................................174 9.5 Amphetaminwirkung im Alltag und die Übertragbarkeit von Testergebnissen .....................................................................176 9.6 Unerwünschte Wirkungen und Intoxikationen sowie unklare Langzeitwirkungen von Amphetaminen..................................178 9.6.1 Unmittelbare unerwünschte Wirkungen.............................178 9.6.2 Amphetaminwirkung auf das Sozialverhalten...................180 9.6.3 Langzeitfolgen.........................................................................182 9.6.4 Unklare Bewertung Amphetamin-induzierter morphologischer Veränderungen im Gehirn......................183 9.6.5 Amphetamine und Sucht .......................................................185 9.7 Zusammenfassung der Amphetamineffekte ............................189 9.8 Die „Kaffeefrage“: Warum ist Coffein anders zu beurteilen als Amphetamine? ........................................................................191 9.8.1 Pharmakodynamik des Coffeins...........................................191 9.8.2 Unerwünschte Wirkungen des Coffeins..............................192 9.8.3 Vergleich von Coffein mit Amphetaminen .........................193 9.9 Modafinil .......................................................................................193 9.9.1 Pharmakodynamik des Modafinil ........................................194 9.9.2 Unerwünschte Wirkungen und Suchtgefahr des Modafinil..................................................................................196 <?page no="12"?> Inhaltsverzeichnis 12 10 Folgen des pharmakologischen Cognition Enhancement .........199 10.1 Mögliche Einschränkung der Autonomie der Betroffenen.....199 10.1.1 Manipulation zur Einnahme von Stimulanzien .................199 10.1.2 Einschränkung der Autonomiefähigkeit .............................200 10.1.3 Fragen nach der Verantwortungsfähigkeit .........................202 10.2 Folgen des Cognition Enhancement durch Stimulanzien auf interpersoneller und gesellschaftlicher Ebene..........................203 10.2.1 Einschränkung von Interaktionen ........................................203 10.2.2 Änderung der Kommunikationsstruktur ............................204 10.2.3 Verstärkung der affirmativen Aspekte der Sozialisation ..204 10.2.4 Verschiebung von Standards und Nachahmungseffekte ..205 10.3 Beeinträchtigung von Lern- und Entwicklungsaufgaben.......206 10.3.1 Störung von Selektivität im Lernprozess.............................206 10.3.2 Beeinträchtigung der nachhaltigen Strategiebildung ........206 10.3.3 Verlust von Lerngelegenheiten für soziale Kognition .......207 10.3.4 Amphetaminwirkung auf Motivation und Selbstvertrauen 207 Teil IV Ethische Bewertung des pharmakologischen Cognition Enhancement 11 Theoretische Grundlagen der ethischen Bewertung.................213 11.1 Ethische Theorien auf der Basis der Handlungsfähigkeit.......214 11.2 Kommunikatives Handeln - die Realisierung des Respekts vor dem Recht auf Wohlergehen und Freiheit .........................218 11.3 Die besondere Situation von Kindern und Heranwachsenden ...................................................................................222 11.3.1 Affirmative und autonome Aspekte der Sozialisation ......222 11.3.2 Die Rechte der Kinder ............................................................223 12 Ethische Aspekte der Stimulanzienanwendung im Kontext der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ...226 12.1 Ethische Aspekte bezüglich der Diagnose von ADHS ............226 12.1.1 ADHS-Diagnose und die Grauzonenproblematik .............226 12.1.2 Ethische Aspekte von Medikalisierungen und verdecktem Enhancement........................................................227 12.1.3 Forderung einer angemessenen Diagnosestellung für ADHS .................................................................................230 12.2 Ethische Aspekte bezüglich der Entstehungsfaktoren der ADHS und der Prävention ..........................................................231 12.3 Ethische Aspekte bezüglich der Therapie der ADHS..............232 <?page no="13"?> Inhaltsverzeichnis 13 13 Ethische Bewertung der Ziele, Mittel und Folgen des Stimulanziengebrauchs im Kontext von pharmakologischem Cognition Enhancement .................................................................... 234 13.1 Diskussion der ethischen Vertretbarkeit der Ziele des pharmakologischen Cognition Enhancement ..............................234 13.1.1 Kompensation von Schlafentzug und Erhöhung der Arbeitssicherheit .....................................................................235 13.1.2 Erzielen eines Konkurrenzvorteils .......................................236 13.1.3 Mehrarbeit und Zeitsparen durch Arbeitsverdichtung .....237 13.1.4 Verbesserung der sozialen Fähigkeiten? .............................238 13.1.5 Lernziele und Standards erreichen durch Stimulanzien? ..............................................................239 13.1.6 Selbstvervollkommnung ........................................................243 13.2 Diskussion der ethischen Vertretbarkeit von Stimulanzien als Mittel für pharmakologisches Cognition Enhancement .......244 13.2.1 Diskussion der unerwünschten Wirkungen .......................245 13.2.2 Wird das Ziel der Verbesserung kognitiver Leistungsfähigkeit mit Hilfe von Stimulanzien erreicht? Gibt es Alternativen? ...........................................................................245 13.2.3 Pharmakologisches Cognition Enhancement im Vergleich mit traditionellen Mitteln der Erziehung.............................247 13.2.4 Motivation und Manipulation durch Stimulanzien? .........249 13.3 Diskussion der ethischen Vertretbarkeit der Folgen des pharmakologischen Cognition Enhancement durch Stimulanzien..................................................................................251 13.3.1 Diskussion der verkürzten Reaktionszeit und der Verkürzung von Abwägungsprozessen ..............................251 13.3.2 Diskussion der gesundheitlichen Gefährdung durch verlängerte Arbeitszeit, Arbeitsverdichtung und Abhängigkeit ...........................................................................252 13.3.3 Diskussion der Beeinträchtigung von Lern- und Entwicklungsaufgaben...........................................................254 13.3.4 Diskussion der Folgen für die Autonomie- und Verantwortungsfähigkeit.......................................................255 13.3.5 Diskussion der Veränderung der Handlungsstruktur durch pharmakologisches Cognition Enhancement in Erziehungs- und Bildungssituationen sowie in der Selbstbehandlung....................................................................256 13.4 Chancen auf eine autonome Entscheidung für pharmakologisches Cognition Enhancement? .............................260 13.4.1 Sozialer Druck und advokatorische Entscheidungen ........260 <?page no="14"?> Inhaltsverzeichnis 14 13.4.2 Fehlinformation als Einschränkung der Autonomie? ........262 13.4.3 Fehleinschätzung der Ausgangssituation? ..........................263 14 Fazit .......................................................................................................265 14.1 Zusammenfassung .......................................................................265 14.2 Ausblick - Bessere Enhancementpräparate in der Zukunft? ..271 14.3 Schlussfolgerung ..........................................................................271 Literaturverzeichnis ................................................................................273 Abkürzungen und Glossar ....................................................................301 <?page no="15"?> Teil I Einführung in die Thematik und Vorüberlegungen <?page no="17"?> 1 Einleitung Mit Leichtigkeit ein exzellentes Examensergebnis zu erreichen oder einen Schreibtisch voller Arbeit zu erledigen, wer würde sich das nicht wünschen? Tatsächlich greift eine langsam steigende Zahl von Studenten und Berufstätigen zu Tabletten, um ihre kognitive Leistungsfähigkeit zu steigern. Werden dafür verschreibungspflichtige Medikamente verwendet, wird dieses Phänomen hier als „pharmakologisches Cognition Enhancement“ (PCE) bezeichnet. Es gibt Autoren, die PCE befürworten oder zumindest eher positiv sehen (z.B. Greely et al., 2008; Galert et al., 2009) und solche, bei denen die kritischen Gesichtspunkte überwiegen (President’s Council on Bioethics, 2003; Lieb, 2010). Was sollte gegen PCE einzuwenden sein? Menschen haben immer versucht, sich zu verbessern, warum sollten sie nicht andere oder neue Methoden nutzen? Dieser allgemein gestellten Frage ist kaum zu widersprechen. Doch der Gebrauch von Medikamenten für Cognition Enhancement (CE) wirft Fragen auf bezüglich Risiken für die Gesundheit, Fairness, Manipulation und Autonomie oder Gerechtigkeit. In der vorliegenden Arbeit werden ethische Implikationen des PCE durch Stimulanzien untersucht, denn dieser Medikamententyp wird nachweislich in einer messbaren Größenordnung mit der Intention der Verbesserung kognitiver Leistungsfähigkeit von Gesunden eingenommen. Um ethisch relevante Fragen zu formulieren und zu beantworten, sind Informationen über biologische Grundlagen des PCE unerlässlich. Gleichzeitig mit dem Interesse an PCE sind die Verordnungszahlen von Methylphenidat (MPH), der wirksamen Substanz z.B. von Ritalin ® , explosionsartig angestiegen. Dieses Medikament wird zur Behandlung der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS) 1 eingesetzt und für den Anstieg der Verordnungszahlen werden unterschiedliche Erklärungen gegeben. Besteht möglicherweise auch ein Zusammenhang mit PCE? Wo liegt die Grenze zwischen Therapie und Enhancement? Bevor diese Fragen präzisiert und ergänzt werden, sollen Vorinformationen über die Entwicklung der Verbrauchszahlen von Stimulanzien, die Verwendung von Stimulanzien in der ADHS-Therapie und das Vorkommen von PCE hierzulande und in USA den Einstieg in die Thematik erleichtern. 1 Auf eine Differenzierung in ADHS und ADS (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom) oder weitere Unterformen wird in dieser Arbeit verzichtet. <?page no="18"?> Einleitung 18 1.1 Steigende Verbrauchszahlen für Stimulanzien MPH, dessen Synthese in den 1940igern gelang, wurde seit 1960 unter dem Markennamen Ritalin® verbreitet und zunehmend für die Behandlung von unruhigem Verhalten bei Kindern verwendet. Als Leitsymptome für ADHS werden heute „Unaufmerksamkeit, Überaktivität und Impulsivität“ angegeben (Günter, 2008; 5.1). MPH kommt inzwischen außer in in weiteren Präparaten (z.B. Medikinet®, Concerta®, Methylpheni TAD®, Methylphenidat HEXAL®) auf den Markt, die sich z.B. in ihren Freisetzungseigenschaften unterscheiden. Abb.1: Verordnungen von Methylphenidat von 1996 bis 2009 in Deutschland; Gesamtverordnungen nach definierten Tagesdosen; Zahlenwerte aus: Lohse et al., (2008) und Lohse und Müller-Oehrlinghausen (2010) Ein dramatischer Anstieg der Verordnungszahlen von MPH begann in Deutschland Mitte der 90iger Jahre (Lohse et al., 2007) und stagnierte in den Jahren 2001/ 2002 vorübergehend. In der Folgezeit verstärkte sich jedoch die Dynamik abermals und trieb die Verordnungszahlen um fast 140% in nur 3 Jahren nach oben (Lohse et al., 2008; Abb.1). Der Anstieg ging bis 2008 genauso steil weiter, von 2008 auf 2009 verlangsamte er sich etwas. Eine wachsende Verschreibungshäufigkeit ist nicht nur in Deutsch- <?page no="19"?> Methylphenidat in der Therapie bei ADHS 19 land, sondern auch in anderen europäischen Ländern festzustellen, in USA sogar schon früher (Rose, 2005: 261ff). Dort wird ein Anstieg der Verordnungszahlen von MPH für die Behandlung von ADHS von 250% zwischen 1990 und 1995 berichtet (Safer and Zito, 1996). Ein neueres Stimulanz, Modafinil, ist seit Ende der Neunziger Jahre für die Behandlung der seltenen Schlafstörung Narkolepsie zugelassen. Dieser liegt eine Störung der Schlafrhythmik zu Grunde, die sich in verstärktem Schlafdrang, manchmal sogar Schlafzwang, äußert. Die Verschreibungsrate von Modafinil liegt mit 0,4 Millionen verordneter Tagesdosen im Jahr 2006 in Deutschland (Lohse et al., 2008; Abb.1) auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau. Die Steigerungsrate von 23,5% im Vergleich zum Vorjahr liegt aber sogar über der von MPH, die bei 19,1% im selben Zeitraum liegt. Da Modafinil seit Februar 2008 in Deutschland nicht mehr dem Betäubungsmittelgesetz unterliegt, ist mit wachsenden Verordnungszahlen zu rechnen. Für die USA liegen keine konkreten Zahlen für Modafinil vor, es scheint jedoch gering verbreitet zu sein. Das liegt zumindest teilweise an den Verbreitungswegen: Da Modafinil relativ selten verordnet wird, steht nur wenig davon zur Verteilung über Freunde und Gleichaltrige zur Verfügung. Das häufig verordnete MPH wird dagegen auf diesem Wege stark verbreitet (s.1.3.2). 1.2 Methylphenidat in der Therapie bei ADHS Der Anstieg der an eine Diagnose gebundenen MPH-Verordnungszahlen zieht immer noch Diskussionen über die Ursachen nach sich. Da MPH und entsprechende Medikamente auch bei nicht ADHS-diagnostizierten Menschen eine konzentrationsfördernde Wirkung entfalten sollen, wäre eine Verwendung von MPH außerhalb der Therapien, für die es zugelassen wurde, als Erklärung für die steigenden Verordnungszahlen denkbar. So findet offenbar in USA eine Weiterverbreitung der Medikamente von behandelten Personen an Freunde und Bekannte statt (President’s Council on Bioethics, 2003: 77), in Deutschland scheint dies eher nicht der Fall zu sein. Daneben stehen jedoch weitere Erklärungen zur Verfügung, die jeweils sehr plausibel sind. So ist von einer Erhöhung der Indikationsstellung nach vorheriger Unterversorgung durch Unkenntnis der Krankheit die Rede (Skrodzki, 2000: 32). Skrodzki ging damals von mindestens 100.000 dringend behandlungsbedürftigen Kindern und Jugendlichen in Deutschland aus. Rothenberger und Banaschewski argumentieren ähnlich: „Die scheinbare statistische Zunahme an ADHS-Fällen lässt sich leicht mit dem inzwischen hohen Bekanntheitsgrad und der verbesserten Diagnostik erklären“ (2005: 78). Dem widerspricht z.B. Hartmut Amft (2004: 100) und stellt der <?page no="20"?> Einleitung 20 Schätzung von 1 pro 100 Behandlungsbedürftigen bei Skrodzki die Angaben von Nissen gegenüber, der 1989 von einer Behandlungsrate von 1 pro 10.000 berichtet, offenbar ohne eine Mangelversorgung festzustellen. Im Bericht des President’s Council wird von der Tendenz zur Ausweitung der Diagnose gesprochen (President’s Council on Bioethics, 2003: 79). Diese Diskussion könnte auf eine allgemein veränderte Bewertung von Verhalten deuten, durch die Verhalten, das früher als kindheitstypisch oder bei Erwachsenen als „zupackend“ galt, heute bereits als unerträglich empfunden wird. Aus der geänderten Verhaltensbewertung würde eine Änderung der Verschreibungspraxis resultieren, dahingehend, dass schon in leichteren Fällen eine Verordnung von MPH erfolgt. In diesem Sinne ist die Annahme von Amft zu verstehen, „dass bei 90 bis 95 Prozent der Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizit-Symptomatik keine medizinische Indikation für eine Ritalin®-Behandlung besteht.“ (Amft, 2006: 80) Er geht in seiner Rechnung von der hypothetischen Annahme einer extremen Unterversorgung mit MPH Anfang der neunziger Jahre aus und von einer indizierten Erhöhung der Behandlung um den Faktor 5-10. Damit kommt er zu dem Ergebnis, „dass bei einer tatsächlichen Steigerung der Verordnungsmenge um den Faktor 100 nur bei fünf bis zehn Prozent der Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizit-Symptomatik die Medikation medizinisch indiziert ist“ (ebd.). Andere Autoren fragten vorsichtiger, ob die „richtigen“ Kinder die Medikation erhalten (Ferber et al., 2003: 45). Eine weitere Erklärungsmöglichkeit für vermehrte Verschreibungen ist die tatsächliche Erhöhung der Gesamtzahl der Personen, die ADHS-Symptome zeigen. Sie ist im Zusammenhang mit der Zunahme von Risikofaktoren in der Lebenswelt von Kindern (Amft, 2006: 82-85; s.5.3.3) zu sehen, die auch im Bericht des President’s Council erwähnt wird (President’s Council on Bioethics, 2003: 79). Um die Frage zu klären, ob möglicherweise ein Zusammenhang zwischen dem Interesse an PCE und der Erhöhung der MPH- Verordnungszahlen besteht, muss zunächst die Berechtigung der unterschiedlichen Erklärungen für die steigenden MPH-Verordnungen geprüft werden. Dazu ist eine eingehende Beschäftigung mit den Grundlagen der ADHS notwendig (Kapitel 5). Außerdem ergeben sich daraus einige ethische Fragen, die für den ADHS-Kontext spezifisch sind. 1.3 Indizien für eine Verwendung von Stimulanzien zu Enhancementzwecken Stimulanzien sind verschreibungspflichtig und die Verordnung von Amphetaminen unterliegt in Deutschland dem Betäubungsmittelgesetz. Bei Modafinil ist das seit Februar 2008 nicht mehr der Fall, doch jede Verwendung jenseits von Therapie ist illegal. Eine Ausnahme bildet der Einsatz <?page no="21"?> Indizien für eine Verwendung von Stimulanzien zu Enhancementzwecken 21 von Amphetaminen als so genannte „Go-Pills“ z.B. beim amerikanischen Militär, doch dieser Nutzungsbereich wird nicht zum Thema dieser Arbeit gemacht. Gegenstand dieser Arbeit ist vielmehr die Art PCE, deren Ziel die Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit im alltäglichen Leben ist. Es sind Menschen, die in Schule, Studium und Beruf kognitiv besonders beansprucht sind, die Interesse an PCE zeigen. Dabei geht es oft vor allem darum, die Wachphase zu verlängern, z.B. wenn die Zeit in der Prüfungsvorbereitung knapp wird und die Lernzeit auf die Nacht ausgeweitet werden soll, oder wenn die Arbeit tatsächlich oder vermeintlich eine ununterbrochene Präsenz erfordert, wie z.B. an den internationalen Börsen märkten. Ein reger Erfahrungsaustausch im Internet zeugt von dem lebhaften Interesse an Substanzen, die „wach“ machen und eine Verlängerung der Lern- oder Arbeitszeit ermöglichen. Diese Quellen sind nicht nachprüfbar und werden daher nicht genutzt, doch sie zeigen, dass die Verwendungshäufigkeit hoch genug ist, um sich darüber auszutauschen und dass die Beschaffung offenbar kein großes Problem darstellt. Bei eigenen Recherchen zu den Medikamenten im weltweiten Netz entstanden offenbar Spuren, die einen potentiellen Kunden kennzeichneten und so war alsbald eine e-Mail im Postfach mit der Absenderangabe „Von: Pharmacy with the best prices“ und im „Betreff: No prescription. Any drug“. Eine Zugangshürde für Stimulanzien scheint es nicht zu geben. Angaben zur Verbreitung des off label use (Verwendung außerhalb der zugelassenen Indikation) bleiben oft vage: „And high school kids who have no obvious learning disabilities are swallowing Ritalin and other psychoactive drugs to get an edge when they take classroom exams or SATs 2 ” (Caplan, 2003). Konkrete Zahlen sind immer noch rar, vor allem in Deutschland, eben weil die Verwendung von Stimulanzien außerhalb des Therapierahmens illegal ist und somit im Dunkeln bleibt. Eine zusätzliche Schwierigkeit besteht darin, dass off label use von Stimulanzien häufig das Ziel hat, auf einer Party besser in Schwung zu kommen und länger durchzuhalten, oder, nach einer Drogennacht schneller „hoch zu kommen“ (Hammersley, 2002). Nicht jede Verwendung von Stimulanzien außerhalb einer Therapie hat also PCE zum Ziel. Die intranasale Anwendung deutet z.B. eher auf eine Verwendung als Rauschmittel hin (s.u.), ohne die Intention einer Verbesserung der geistigen Leistungsfähigkeit im Lern- und Arbeitsbereich. Aber auch das trifft nicht zwangsläufig zu. Den verschiedenen Anwendungsbereichen ihren Anteil am Schwarzmarkt zu zuschreiben, 2 SAT Reasoning Test: früher: Scholastic Aptitude Test oder Scholastic Assessment Test. Es handelt sich hierbei um einen standardisierten Test für die Zulassung zum College in den USA. - <?page no="22"?> Einleitung 22 ist folglich äußerst schwierig. Einige nachdenkliche Anmerkungen zur Interpretation der Zahlen finden sich unter 13.4.3. 1.3.1 Hinweise auf pharmakologisches Cognition Enhancement bei Schülern Es ist einige Zeit her, dass in einer Studie in North Carolina die Fälle der Kinder untersucht wurden, denen Stimulanzien verschrieben worden waren. Das Erstaunen und die Sorge waren groß, als in der Mehrzahl der Fälle die klinischen Kriterien für ADHS nicht erfüllt wurden (Angold et al., 2000). Eine Untersuchung unter Zwölftklässlern ermittelte einen Anteil von 8.6%, die in einem Jahr illegal Amphetamine benützt hatten, bzw. 4.4%, die MPH illegal genommen hatten (University of Michigan, 2005; zitiert nach: Volkow, 2006). Heute wird die Zahl der Oberstufenschüler in den USA, die illegal MPH nützen, entsprechend dem Durchschnitt aus verschiedenen Studien mit unter 5% angegeben (Bogle, 2009). Der Autor geht davon aus, dass in dieser Gruppe die Zahlen für illegalen Gebrauch gleich bleibend oder rückläufig sind. Nach vorläufigen Studienergebnissen aus Deutschland haben 1 bis 2 Prozent der 18 bis 21 Jahre alten Schüler zumindest einmal in ihrem Leben Stimulanzien wie Amphetamine oder Modafinil zur Verbesserung ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit verwendet (Lieb, 2010: 54). 1.3.2 Hinweise auf pharmakologisches Cognition Enhancement bei Studenten US-Studenten einer Kunsthochschule gaben in einer Umfrage zu über 16% an, MPH gelegentlich als Droge benützt zu haben, 12% hatten es intranasal angewendet (Babcock, 2000), was wie bereits erwähnt eine Verwendung als Rauschmittel nahe legt. In einer 2003 durchgeführten Internetumfrage (McCabe, 2006) gaben 8,1% der befragten Studenten an, in ihrem Leben schon illegal Stimulanzien benützt zu haben; bei 5,4% war das im letzten Jahr vor der Umfrage der Fall, d.h. die Anwendung lag hauptsächlich in der Studienzeit. Dabei gaben fast 68% der Befragten an, die Stimulanzien über Freunde und Gleichaltrige zu beziehen, die es selbst verschrieben bekamen. Dagegen wurde das Internet von keinem als Bezugsquelle genannt. In dieser Studie wurde außerdem explizit abgefragt, mit welchem Ziel die Studenten die Präparate einnahmen: Die Verbesserung der Konzentration lag an erster Stelle (62,2%), an zweiter die Hilfe im Studium allgemein (59,8%), dann die Erhöhung der Wachheit (47,5%) und schließlich das „high“ werden (31,0%) und das Ausprobieren (29,9%) (Teter, 2006). <?page no="23"?> Indizien für eine Verwendung von Stimulanzien zu Enhancementzwecken 23 In einem neueren Review über verschiedene Studien zum illegalen Gebrauch von MPH unter Collegestudenten lagen die Zahlen zwischen 1,5% und 31% (Bogle, 2009). Eine nach Meinung des Autors sehr verlässliche Studie gibt 4% an. Man kann also davon ausgehen, dass zwischen 4% und 6% der amerikanischen Studenten PCE betreiben. Die Zahlen bei den Studierenden in Deutschland sind, soweit die vorläufigen Studienergebnisse eine Aussage zulassen, etwa denen bei Schülern vergleichbar, liegen also bei 1 bis 2 Prozent (Lieb, 2010: 54). 1.3.3 Hinweise auf pharmakologisches Cognition Enhancement am Arbeitsplatz In Deutschland gibt eine DAK 3 -Bevölkerungsbefragung unter 3000 Erwerbstätigen im Alter von 20-30 Jahren Auskunft über den Arzneimittelkonsum am Arbeitsplatz (Kordt, 2009). Demnach nehmen rund 5% aller Befragten Medikamente zur Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit oder der psychischen Befindlichkeit ohne medizinische Notwendigkeit, oder haben solche schon eingenommen. Bei dieser Gruppe liegen laut der Studie sehr unterschiedliche Interessen hinsichtlich der gewünschten Wirkungen vor: 13% möchten Aufmerksamkeit und Konzentration verbessern, 18% versuchen Gedächtniseinbußen zu kompensieren und weitere knapp 18% wollen Schläfrigkeit und Müdigkeit überwinden. Die Übrigen nehmen Medikamente ein um depressive Verstimmung oder Angst, Nervosität und Unruhe loszuwerden. Die ersten drei Wirkungswünsche entsprechen den Hoffnungen, die mit PCE verbunden sind, daher werden diese Zahlen hier zusammengefasst. Auf die Gesamtzahl aller Befragten bezogen ergibt sich damit ein Wert von 2,5% der Erwerbstätigen, die Medikamente mit der Intention von PCE einnehmen. In einer Umfrage der Fachzeitschrift Nature gaben 20% derer, die antworteten, an, schon Medikamente mit dem Ziel der Verbesserung geistiger Leistungsfähigkeit eingenommen zu haben (Maher, 2008). Sowohl die DAK-Studie als auch die Nature-Umfrage werden kritisiert, weil sie für die untersuchten Bevölkerungsgruppen nicht repräsentativ seien (Lieb, 2010: 51). Dennoch kann insgesamt eine zumindest messbare Verbreitung von PCE belegt werden; außerdem ist von einer hohen Bereitschaft für PCE auszugehen (ebd.: 57). Eine Untersuchung der ethischen Aspekte von PCE ist daher gerechtfertigt. 3 Deutsche Angestellten Krankenkasse (Ersatzkasse): Deutscher Krankenversicherungsträger <?page no="24"?> 2 Ziele, Fragestellung und Aufbau der Arbeit Wesentliche Fragen zu Enhancement wurden in einem großen Bericht des President’s Council on Bioethics mit Kapiteln zur Verbesserung von Kindern und zur Verbesserung der Leistung bei Erwachsenen thematisiert (President’s Council on Bioethics, 2003). Die dort ausgeführten Überlegungen berühren sehr viele Aspekte und geben einen Überblick. An verschiedenen Stellen scheinen Ergänzungen und Vertiefungen möglich und sinnvoll. Bedenken und Einschätzungen werden in dem Bericht auf der Basis von nach Ansicht der Autoren allgemein geteilten Werten und Prinzipien entwickelt, die dort jedoch nicht explizit gemacht werden, wie in der folgenden Aussage: „And yet, we all recognize certain limits to the degree to which they [choices] may be coerced or restricted.“ (ebd.: 87). Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, eine ethische Bewertung der Verwendung von Stimulanzien als Enhancer auf der Grundlage einer ethischen Theorie durchzuführen und in der Diskussion um Chancen und Risiken des PCE zu einer breiten Diskussionsgrundlage beizutragen. Um die Tragweite eines möglichen erleichterten Zugangs zu Stimulanzien und die möglichen Auswirkungen ihres verbreiteten Konsums zu ermessen und ethisch zu bewerten ist es erforderlich, Diskussionslinien zusammenzuführen, die in scheinbar getrennten Handlungs- und Forschungsfeldern von Medizin und Biologie, Psychologie, Pädagogik und Soziologie sowie Politik entspringen. Sie führen von den Anforderungen der Bildungseinrichtungen zu Symptomen bei Kindern und Heranwachsenden, vom Dopaminsystem zur Autonomie oder vom privaten Interesse an PCE zur Arbeitswelt und zu Reformen der Bildungssysteme. Es ist also eine gründliche Sachstandsanalyse nötig und die erste zentrale Frage lautet: Ruft pharmakologisches Cognition Enhancement (PCE) durch Stimulanzien an den betroffenen Personen oder für die betroffenen Personen Veränderungen hervor, die im Vergleich mit herkömmlichen Methoden der Verbesserung für die Personen selbst und/ oder für die Gesellschaft aus ethischer Sicht als relevant bzw. problematisch einzustufen sind? Weiter soll in dieser Arbeit verdeutlicht werden, dass das Phänomen der ADHS enger mit der PCE-Thematik verzahnt ist als gemeinhin eingestanden wird, obwohl es ja in der Literatur immer wieder in Erwägung gezogen wird (ebd.: 69-98). Die Brücke zwischen beiden ergibt sich aus der schwierigen Grenzziehung zwischen der Therapie von Hirnleistungsstörungen und PCE und den daraus folgenden möglichen Überschneidungen. Daher lautet die zweite zentrale Frage: <?page no="25"?> Ziele, Fragestellung und Aufbau der Arbeit 25 Besteht ein Zusammenhang zwischen dem wachsenden Interesse an PCE und dem Anstieg der Verordnungszahlen von MPH und wie wäre dies gegebenenfalls ethisch zu bewerten? Aus den Zielen und Hauptfragen ergeben sich verschiedene einzelwissenschaftliche Fragen. Sie werden zusammen mit dem Aufbau der Arbeit im Folgenden kurz erläutert, um die Auswahl der Grundlageninformationen verständlich zu machen und es dem Leser zu ermöglichen, in den Grundlagenkapiteln den Bezug zum Rahmenthema immer wieder herzustellen. Die Arbeit gliedert sich in vier große Teile. Der erste Teil, zu dem dieses Kapitel gehört, umfasst außerdem die Einführung sowie ethische, wissenschaftstheoretische und anthropologische Vorüberlegungen. Der zweite Teil befasst sich mit dem „Enhancement“- Verständnis und seinen Implikationen (4). Außerdem wird klar, was in diesem Zusammenhang der Begriff „Grauzone“ bedeutet. Es folgt die Beschreibung des Aufmerksamkeitsdefizit/ Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) (5), eine Voraussetzung für die Auseinandersetzung mit den Fragen zum Anstieg der Verordnungszahlen von Methylphenidat (MPH). ADHS zeigt eine ausgeprägte Grauzonenproblematik, die sich aus der Abgrenzungsschwierigkeit zwischen Therapie und Enhancement ergibt. Da bei dieser Störung Stimulanzien in der Therapie eingesetzt werden, steht das Beispiel auch für eine legitimierte Verwendung von Stimulanzien, insbesondere von MPH. Es wird deutlich, wie nahe die Verwendungen eines Präparates als Medikament und als Enhancer beieinander liegen können. Darüber hinaus ergeben sich ethisch relevante Fragen bezüglich Diagnose, Therapie und Prävention der ADHS. Sie spielen wegen der engen Verflechtung der Bereiche von Therapie und Enhancement eine Rolle und leiten über zu der Frage, inwieweit es gerade im Bereich der Grauzone zu Medikalisierungen 4 sozialer und pädagogischer Probleme sowie zu verdecktem Enhancement 5 kommt. Hinsichtlich der Bewertung des PCE besteht ein Anfangsverdacht, dass die Autonomie und die Autonomiefähigkeit PCE eingeschränkt werden könnten (3.5). Ein Indiz dafür ist z.B. der Hinweis in einem Lehrbuch, dass Kritiklosigkeit eine Folge des Stimulanziengebrauchs sei (Starke, 2010: 197). Daraus ergibt sich eine herausragende Bedeutung von Autonomie für diese Arbeit, weshalb im letzten Kapitel des zweiten Teils das Autonomiekonzept ausgearbeitet wird (6), welches allen weiteren Überlegungen zugrun- 4 Der Begriff „Medikalisierung“ besagt, dass versucht wird, nicht krankheitsbedingte Probleme mithilfe medizinischer Methoden zu lösen, häufig durch Medikamente (s.4.4.3). 5 Mit dem Begriff „verdecktes Enhancement“ werden Fälle beschrieben, bei denen wegen der speziellen Konstellation eine medikamentöse Behandlung dem Wesen nach dem PCE entspricht (s.5.4.7). <?page no="26"?> Ziele, Fragestellung und Aufbau der Arbeit 26 de liegt. Dieses Konzept bedingt den Aufbau der Grundlagenfragen, und um dies nachvollziehbar zu machen, war es notwendig, das Autonomiekonzept bereits vor der Darstellung der fachwissenschaftlichen Grundlagen (7-10) darzulegen und nicht erst mit der ethischen Theorie (11). So ist es z.B. im Hinblick auf die Frage, ob die Autonomiefähigkeit durch PCE eingeschränkt werden könnte, notwendig, die zugrunde liegenden personalen Fähigkeiten zu spezifizieren (6.1.5), um danach die Medikamentenwirkung auf diese Fähigkeiten zu untersuchen (9). Im Zusammenhang mit Autonomie sind also folgende Fragen zu formulieren: Wird die Autonomie von Individuen durch die Beschränkung der Nutzung bestimmter Substanzen auf medizinisch indizierte Fälle in nicht zu rechtfertigender Weise eingeschränkt? Kann sich eine Person autonom für PCE entscheiden bzw. unter welchen Bedingungen ist eine autonome Entscheidung beeinträchtigt? Beeinträchtigt PCE die Autonomiefähigkeit selbst? mit zwei Unterfragen: o Auf welchen Fähigkeiten basiert Autonomiefähigkeit? o Wie wirken Stimulanzien auf diese Basisfähigkeiten? Die Bearbeitung der zentralen Fragen erfordert eine umfassende psychologische, neurobiologische und pharmakologische Grundlageninformation, aus denen weiterreichende Folgen abgeleitet werden können. Sie werden im dritten Teil dargestellt (7-10). Beispielsweise hängen die Beurteilung der Stimulanzienwirkungen und die Überprüfung der Frage, ob Stimulanzien das Ziel der Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit tatsächlich erreichen, mit davon ab, was man unter kognitiver Leistung versteht. Das macht eine Auseinandersetzung mit dem Begriff „Kognition“ notwendig (7.1), und dabei spielen die Fragen, welcher Rang der sozialen Kognition zukommt und ob soziale Fähigkeiten als kognitive Fähigkeiten zu verstehen sind, eine besondere Rolle (7.2). Auch Aufmerksamkeit, dieses häufig genannte Ziel des pharmakologischen Cognition Enhancement (PCE), ist eine kognitive Leistung, die jedoch keineswegs so eindeutig bestimmbar ist wie der kompakte Begriff vermuten lässt. Vielmehr tritt sie in unterschiedlichen Facetten auf und setzt sich aus unterschiedlichen Teilleistungen zusammen. Für die Beurteilung der Stimulanzienwirkung muss daher zunächst geklärt werden, wie der Begriff „Aufmerksamkeit“ zu verstehen und einzuordnen ist (7.3). Weiter ist zu bedenken, dass die Bewertung von PCE nur im Vergleich mit der Situation ohne pharmakologische Einflüsse vorgenommen werden kann. Daher muss der Entwicklungsaspekt kognitiver Leistung mit einbezogen werden (7.4), also die Fragen, wie plastisch <?page no="27"?> Ziele, Fragestellung und Aufbau der Arbeit 27 diese oder jene Fähigkeit ohne pharmakologische Einflüsse ist und welche Faktoren die kognitive Leistung und ihre Entwicklung beeinflussen. Damit können Störungen kognitiver Leistungen und ihre Ursachen wie z.B. bei ADHS besser eingeordnet werden, und wenn man weiß, ob die Fähigkeit zur Aufmerksamkeit erlernt wird und auch durch Übung verbessert werden kann, dann können Alternativen der Förderung aufgezeigt werden. Schließlich finden im Zusammenhang mit dem Ziel der Selbstvervollkommnung einige Gedanken zur Vollkommenheit in diesem Kapitel ihren Platz (7.5). In Kapitel 8 wird dann Bezug genommen auf die Frage, ob Stimulanzien die Basisfähigkeiten der Autonomiefähigkeit verändern. Da klinische Studien, die die Wirksamkeit eines Medikamentes testen, nicht unbedingt untersuchen, ob bzw. wie gerade diese Basisfähigkeiten durch Stimulanzien beeinflusst werden, muss noch ein anderer Weg eingeschlagen werden: Es soll verständlich gemacht werden, wie der Wirkort der besprochenen Medikamente im menschlichen Gehirn mit dem resultierenden Verhalten verbunden ist und wie solche Verhaltensweisen und Fähigkeiten eine übergeordnete Fähigkeit wie die Autonomie bedingen. Dazu bedarf es der Analyse und Veranschaulichung der Wechselbeziehungen zwischen der Ebene, auf der das Medikament ansetzt, dem Gehirn mit seinen Transmittern, und der Ebene, auf der sich die Wirkungen manifestieren, dem Individuum mit seinen Fähigkeiten und seinem Verhalten. Ein Scharnier zwischen Medikament und Verhalten ist im Falle der Stimulanzien das Dopamin (DA)-System 6 . Obwohl man dieses System in seiner ganzen Komplexität noch nicht vollkommen durchschaut, können die Theorien zu seinen Funktionen Hinweise darauf geben, auf welche Vorgänge Stimulanzien Einfluss nehmen. Nach der kurzen Beschreibung des Aufbaus des DA- Systems (8.1) wird daher gefragt, für welche Fähigkeiten und Verhaltensweisen das DA-System eine wichtige Rolle spielt (8.3) und ob diese Fähigkeiten für die Autonomiefähigkeit von Bedeutung sind (8.4). Eingedenk der Aufgabe, den Unterschied zwischen personenbasierten Maßnahmen und medikamentösen Eingriffen herauszuarbeiten (2), ist in diesem Kapitel der Platz, ganz elementar zu fragen, ob natürliche Stimuli des DA-Systems gleichwertig durch nicht-natürliche Stimuli zu ersetzen sind (8.2). Da häufig unklar bleibt, welche Verbesserungen mit Stimulanzien erhofft und welche tatsächlich erreicht werden, kann nicht zuletzt die genaue Beschreibung ihrer Pharmakologie (9) zur Vertiefung der Diskussion um PCE beitragen. Nur mit diesem Wissen ist festzustellen, ob das angestrebte Ziel erreicht werden kann. Außerdem ist zu klären, ob Stimulanzien lang- 6 Stimulanzien wirken auch über Noradrenalin, doch für die Fragestellung der Arbeit ist vor allem der DA-Weg von Bedeutung. <?page no="28"?> Ziele, Fragestellung und Aufbau der Arbeit 28 fristig schaden, auch wenn sie unmittelbar „sicher“ scheinen. Die Frage, wann ein Medikament als sicher gelten kann, wird in dieser Arbeit neu gestellt. Dahinter steht die Überzeugung, dass es der Komplexität des menschlichen Gehirns nicht angemessen ist, unerwünschte Folgen auf der Ebene von „Nebenwirkungen“ zu diskutieren. Daher schließt Teil III mit einer Analyse der möglichen weiterreichenden Folgen für Heranwachsende und Erwachsene (10). Im vierten Teil dieser Arbeit wird zunächst die theoretische Basis geschaffen, die zur Grundlage der ethischen Beurteilung der Stimulanzienanwendung gemacht wird (11). Das Recht auf Schutz und Respektierung der Autonomie wird in 11.1 gerechtfertigt. Da Menschen in einem sozialen Kontext stehen, bedeutet die Berücksichtigung erweiterter Folgen, stets die Auswirkungen auf sozialer Ebene zu bedenken und zu bewerten. Ein Bewertungsversuch von PCE, bei dem Enhancement aus jeglichem Kontext herausgeschält wurde, erscheint wertlos. Die Gedankenlinie ist folgendermaßen: Stimulanzien wirken auf Persönlichkeitsmerkmale, die zu verändertem Verhalten führen, das wiederum in der Kommunikation mit den Mitmenschen wirksam wird. Veränderte Kommunikationsstrukturen ziehen veränderte Sozialisationsbedingungen nach sich. Es wird deshalb die Theorie des kommunikativen Handelns (Habermas, 1981) in aller Kürze eingeführt und eine Weiterentwicklung von Eckensberger und Plath (2006) vorgestellt, die qualitative Aussagen über Kommunikationsstrukturen erlaubt (11.2). Eine besondere Berücksichtigung erfordern die Belange der Kinder und Heranwachsenden, weshalb der Sozialisation (11.3.1) und den Rechten der Kinder (11.3.2) eigene Abschnitte gewidmet werden. Während der Auseinandersetzung mit der ADHS-Thematik ergaben sich ethische Aspekte, die zunächst für diesen medizinischen Kontext spezifisch erscheinen, z.B. hinsichtlich der Risikofaktoren für diese Störung. Es ist jedoch offensichtlich, dass diese Aspekte häufig auch für „normale“ Kinder relevant sind. Daher werden ethische Aspekte der Diagnose (12.1), der Entstehungsfaktoren (12.2) und der Therapie (12.3) besprochen. Bei der ethischen Beurteilung der Verwendung von Stimulanzien im Kontext von Cognition Enhancement (CE) werden die Ziele (13.1), die Mittel (13.2) und die Folgen (13.3) gesondert diskutiert, wobei die Diskussion der Mittel und Folgen nicht durchgängig zu trennen ist. Zusätzliche Fragen, die mit PCE verbunden sind und mit ihrer Bedeutung in die gesellschaftliche Ebene hineinreichen, betreffen das Konkurrenzprinzip. Dieses ist nicht spezifisch für PCE und wird daher nicht als eigenständiges Kapitel ausgearbeitet. Es ist jedoch ein bedeutender Kontextfaktor, der die Zielbestimmung des PCE prägt und findet daher seinen Platz unter der Zieldiskussion (13.1.2). Weiteres Problempotential liegt im Falle der Freigabe der Mittel für PCE darin, dass die Chancen auf Zugang zu PCE möglicherweise ungleich verteilt wären. Der Aspekt der Vertei- <?page no="29"?> Ziele, Fragestellung und Aufbau der Arbeit 29 lungsgerechtigkeit ist jedoch nicht spezifisch für PCE, weshalb auf seine Erörterung in dieser Arbeit verzichtet wird. <?page no="30"?> 3 Ethische, wissenschaftstheoretische und anthropologische Vorüberlegungen 3.1 Ethik in den Biowissenschaften Der Gegenstand dieser Arbeit ist der Bioethik zuzurechnen, die im Sinne von Engels als interdisziplinäre, anwendungsbezogene Ethik aufgefasst wird. Diese ist weder eine rein moralphilosophische Disziplin, noch erschöpft sie sich „in der Anwendung von ‚Rezepten’ zur Lösung kniffeliger Probleme“ (Engels, 2005a: 163). Der differenzierte Begriff soll demnach ausdrücken, dass zunächst festzustellen ist, wie der Fall liegt und welche Entitäten betroffen sind, bevor geklärt werden kann, ob bestimmte Prinzipien und Normen zur Anwendung kommen können. Darüber hinaus soll der Ausdruck die Möglichkeit der Rückwirkung der einzelwissenschaftlichen Reflexionen auf die Wert- und Normensysteme, die ihrerseits nicht unveränderlich sind, betonen. Noch spezifischer ausgedrückt fällt das Thema in die Ethik in den Biowissenschaften, die besonders „die ethisch relevante Dimension von Biologie und Medizin“ und deren technische Anwendungen fokussiert (Engels, 2005a: 136). ‚Ethik in den Biowissenschaften’ steht für einen Ansatz, bei dem „ethische Fragestellungen, die der biowissenschaftlichen und medizinischen Arbeit und Tätigkeit in Theorie und Praxis erwachsen, in einer interdisziplinären Kooperation von Biowissenschaftlern und Medizinern mit ihren Kollegen aus der Ethik und anderen Wissenschaftsbereichen gemeinsam benannt, analysiert, diskutiert und bewertet werden“ (Engels, 2005a: 146). Damit ist die Interdisziplinarität als spezifische Arbeitsweise dieses Konzeptes mit all ihren Vorzügen gekennzeichnet. Die zur Diskussion gestellte Technik kann außerdem aufgrund ihres Eingriffsortes in den Bereich der Ethik in den Neurowissenschaften eingeordnet werden. Da der Kontext der Anwendung teilweise aus dem medizinischen Rahmen hinaus verschoben ist, was ja gerade die Problematik darstellt, streift diese Arbeit auch Bereiche der Pädagogik und der Soziologie. Es ist dabei nicht unerheblich, in welchem Bereich die Thematik betrachtet wird, da die verschiedenen Disziplinen, also die Medizin oder die Pädagogik, unterschiedliche Perspektiven auf Menschen haben und unterschiedliche Auffassungen, wie diese zu behandeln sind bzw. was von ihnen zu erwarten ist. Ohne diese Betrachtung auszuführen, ist zu bedenken, dass pädagogische Konzepte in der Regel höhere Mitwirkungspflichten der Betroffenen beinhalten, während in der Medizin eher davon ausgegangen wird, dass ein Patient nicht in dem Maße mitwirken kann. Die <?page no="31"?> Nicht spekulative Ethik und Vorsorgeprinzip 31 unterschiedliche Haltung in der Praxis schlägt sich in der ethischen Bewertung nieder. Eine wesentliche Voraussetzung sowohl für die Identifikation und Formulierung bioethischer Problemstellungen als auch für die ethische Urteilsbildung, ist „die Erhebung, Kenntnis und Klärung des einzelwissenschaftlichen und technischen Sachstandes“ (Engels, 2005a: 147). Auch wenn es in einem ethischen Urteil stets nur um die Billigung oder Missbilligung von menschlichen Handlungen gehen kann und nicht um die Beurteilung z.B. eines Medikamentes an sich, sind es doch die empirischen Zustände und Sachverhalte, die durch menschliches Handeln mit Hilfe einer Technik herbeigeführt werden und die über die Folgen des menschlichen Handelns in Form von Technikfolgen Auskunft geben. Im Falle von PCE treten unterschiedliche Personengruppen als Akteure auf. Es sind dies die Personen, die Stimulanzien einnehmen und ggf. beschaffen, es sind Ärzte, die Stimulanzien verschreiben und Eltern, die die Verschreibung von Stimulanzien veranlassen. Als Handelnde kommen außerdem Forscher und Vertreter der Pharmaindustrie in Frage, insofern sie in den Prozess des Gebrauchs von Stimulanzien eingreifen. Bevor an diese Handelnden ein Apell gerichtet werden kann, sind zunächst die Folgen der Stimulanzienverwendung zu ermitteln (Kap. 10). 3.2 Nicht spekulative Ethik und Vorsorgeprinzip In Diskussionen über Enhancement beginnen befürwortende Argumente häufig mit Bedingungssätzen wie, „wenn die Technik sicher ist“ oder “wenn die Technik soweit entwickelt ist, dass sie sicher ist“… Die Funktionsweise dieser Diskussionsstrategie stellt Nordmann (2007) in einer Kritik dar: zunächst wird die Möglichkeit einer sicheren Technik angesprochen, dann wird so argumentiert, als wäre die neue Technik schon da oder würde unaufhaltsam kommen und die Fähigkeiten sowie den Wohlstand der Menschen fördern. Im weiteren Verlauf wird demnach die Notwendigkeit der Erforschung der genannten Technik abgeleitet. Diese Art spekulative Ethik wird also dazu benützt, einen Handlungsauftrag zu konstruieren und Skeptiker werden in der Argumentation der Befürworter als Verhinderer von Wohltaten dargestellt (ebd.). …”it is very likely that advances in the ability to ‘read’ the brain will be exploited”…”for such purposes as screening job applicants, diagnosing and treating disease, determining who qualifies for disability benefits and, ultimately, enhancing the brain” (Caplan, 2003). Dieser Autor lässt hier keinen Zweifel zu, dass gute, sichere Techniken für CE zur Verfügung stehen werden, wenn nur intensiv geforscht wird. Man erkennt, dass derjenige, der CE kritisch hinterfragt, leicht als rückständig und fortschrittsfeindlich dargestellt wird. Bisweilen <?page no="32"?> Ethische, wissenschaftstheoretische und anthropologische Vorüberlegungen 32 wird einem Kritiker auch unterstellt, dass er die Urteilsfähigkeit der Menschen unterschätzt (Galert et al., 2009). Da diese Argumentationsweise den Blick auf bestehende Probleme verstellt (Nordmann, 2007) und begründete Diskussionen leicht abgewehrt werden, wird hier eine nichtspekulative Ethik im Sinne von Alfred Nordmann bevorzugt. Im Bericht des President’s Council wird von einer großen Zahl zukünftiger, sicherer Verbesserungsmöglichkeiten ausgegangen und dafür plädiert, alle Bedenken, die bei den unterschiedlichen Techniken auftreten, zusammen zu verhandeln, da die wichtigsten ähnlich seien (President’s Council on Bioethics, 2003: 274). Eine solche Vorgehensweise mag den Überblick erleichtern und schnell erste Aussagen ermöglichen. Die Neigung, pauschal von sicheren, guten Verbesserungsmöglichkeiten auszugehen fördert jedoch möglicherweise gerade die Forderung danach, wie oben beschrieben. Außerdem entsteht leicht der Anschein allgemeiner Technikfeindlichkeit, so dass berechtigte kritische Anmerkungen nicht anerkannt werden. Konsequenter Weise wurde die vorliegende Untersuchung beschränkt, und zwar auf Stoffe, die bereits zur Verfügung stehen und in der Praxis Verwendung finden: Stimulanzien wie Methylphenidat oder Modafinil. Dagegen scheint z.B. die Möglichkeit, sich per Chip die Fähigkeit „einzuverleiben“, eine fremde Sprache im Handumdrehen zu beherrschen, nicht realistisch genug, um Mittel und Folgen fundiert diskutieren zu können. Allein aus einer Zieldiskussion ist meines Erachtens kein tragfähiges ethisches Urteil zu gewinnen. Dabei müssen die diskutierten Fragen nicht unbedingt spezifisch für den Stimulanziengebrauch sein. So ist z.B. die Frage, ob sich ein Individuum autonom für Stimulanzien entscheiden kann, auch für andere Techniken relevant. Außerdem besteht immer die Möglichkeit, anschließend die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf andere Techniken zu prüfen und gegebenenfalls bestimmte Aussagen zu verallgemeinern. Ein anderes Problem tut sich auf, wenn die Datenlage zu einer bestimmten Fragestellung ungenügend ist, um belastbare Aussagen abzuleiten, beispielsweise zu den unerwünschten Wirkungen eines Medikamentes. Das kommt nicht selten vor, da sich Studien zur Arzneimittelwirksamkeit auf die Zielsymptome, die bekämpft werden sollen, konzentrieren und unerwünschte Wirkungen, zumal schwer zu fassende, nicht systematisch untersuchen. In einer Arbeit zu ethischen Aspekten einer Technik kann jedoch mangelnde Datenbasis allein kein Grund sein, über mögliche Wirkungen zu schweigen. Anhaltspunkte, wie mit möglichen, jedoch seltenen oder noch nicht bewiesenen Wirkungen und Folgen umzugehen ist, finden sich in Arbeiten zum Handeln unter Unsicherheit wie z.B. bei Michael Kloepfer (1993: 55ff). Seine Untersuchung gilt in erster Linie juristischen Fragen und bezieht sich auf Umweltrisiken; daher scheint sie auf den ersten Blick von der Frage- <?page no="33"?> Nicht spekulative Ethik und Vorsorgeprinzip 33 stellung der vorliegenden Arbeit zu weit entfernt zu sein um eine Entscheidungshilfe zu liefern. Es geht jedoch in beiden Fällen um das Problem, wie der Staat mit Fragen von öffentlichem Interesse umgeht und zu Entscheidungen findet, wenn nicht alle Faktoren empirisch abgesichert sind: es geht um Handeln unter Unsicherheit und daher lassen sich viele Gesichtspunkte auf den medizinischen Kontext übertragen. Kloepfer führt aus wie eine Entscheidung unter Unsicherheit auf der Grundlage des Vorsorgeprinzips getroffen werden kann. Die folgende Formulierung stellt einen Minimalkonsens aus den unterschiedlichen Auffassungen dieses Prinzips dar: „Das Vorsorgeprinzip besagt danach im wesentlichen, daß Gefahren und Schäden so weit als möglich vermieden werden bzw. gar nicht erst zum Entstehen kommen sollen. Damit bewirkt es eine bedeutende Erweiterung des Schutzes weg von der bloß reaktiven, repressiven Schadensbeseitigung hin zu einer präventiven (‚vorbeugenden‘ bzw. ‚vorsorgenden‘) Politik.“ (Kloepfer, 1993: 71). Die Anwendung des Vorsorgeprinzips bei der Beurteilung von Risiken im Zusammenhang mit PCE erscheint angemessen (s.12.1.2). Um dies zu erklären, ist es notwendig, kurz auf den bei Kloepfer ausgeführten Risikobegriff einzugehen. Er umfasst die Erkennbarkeit, Bestimmung und Bewertung eines Risikos. Am Beginn jeder Problembehandlung gilt es jeweils zu klären, ob und ggf. welche Schäden bzw. Beeinträchtigungen durch ein Ereignis oder eine beabsichtigte Handlung auftreten können (Risikowahrnehmung, ebd.: 56f.). Dies entspricht der Problemwahrnehmung (3.1). Zu Abwägungszwecken (s.u.) ist auch ein möglicher Nutzen zu ermitteln. Bevor nun ein Risiko bewertet werden kann, muss es hinsichtlich Schädlichkeit, Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensausmaß bestimmt werden (ebd.: 57-65); außerdem sind zeitliche Aspekte zu berücksichtigen. Nach Kloepfer genügt ein hinreichend begründeter Verdacht, dass etwas geeignet sein könnte, Schaden herbeizuführen. Demnach ist ein Ereignis „bereits dann als schädlich anzusehen, wenn lediglich eine hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, daß es einen Schaden hervorrufen wird.“. (ebd.: 57). Gleiches gilt für ein Handlungsergebnis. Übersteigt ein Risiko eine bestimmte Schwelle und wird dann nicht mehr als hinnehmbar akzeptiert, wird es als ein Unterfall des Risikos betrachtet, der als Gefahr bezeichnet wird (ebd.: 65). Die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Schaden eintreten wird, lässt sich in den meisten Fällen auch nach umfangreicher Ermittlung des Sachstandes nicht genau angeben, doch entscheidend ist die Entstehungsmöglichkeit von Schaden. Sie „besteht solange, wie ein Schadenseintritt nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden kann.“ (ebd.: 58) 7 . 7 Die Bedeutung der Eintrittswahrscheinlichkeit bei der Bestimmung und Bewertung von Risiken hat sich nach den Ereignissen von Fukushima wohl dahingehend geän- <?page no="34"?> Ethische, wissenschaftstheoretische und anthropologische Vorüberlegungen 34 Bei der Bestimmung des Schadensausmaßes sind qualitative und quantitative Aspekte zu beachten. Quantitative Aspekte betreffen die Anzahl der betroffenen Güter oder der betroffenen Individuen. Ein qualitativer Aspekt ist die Schadensgewichtung: Bei ihr „kommt der Wertigkeit des beeinträchtigten Rechtsguts eine wesentliche Bedeutung zu.“ (ebd.: 59). Es kommt also darauf an zu zeigen, welches Gut durch PCE betroffen ist und welche Bedeutung es hat. Deshalb wird hier das Konzept der Autonomie erläutert (6), die neurobiologischen Grundlagen der Autonomiefähigkeit dargestellt (8.) und nach Ansatzpunkten zur Begründung der Bedeutung und Schutzwürdigkeit von Autonomie bzw. Handlungs- und Autonomiefähigkeit gefragt (11). Die zeitliche Dimension umfasst z.B. die Langzeiteffekte von Stimulanzien (9.6.3; 9.6.4), die Frage nach der Bedeutung kurzzeitig wechselnder Zustände durch die sporadische Einnahme von Stimulanzien (10.1.3), aber auch die Entwicklungsaspekte vieler Fähigkeiten, z.B. der Autonomiefähigkeit, und ihre Beeinträchtigung durch PCE (6.2; 10.3). Die Bestimmung von Schädlichkeit, Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensausmaß basiert auf einer fundierten Kenntnis der Sachlage. Zu dem Fall, dass die Datenlage, wie oben erwähnt, keine abgesicherten Aussagen erlaubt, äußert sich Kloepfer folgendermaßen: Im Falle von ungeklärten Faktoren „kann auch eine Hypothese über die Schädlichkeit, also ein hinreichend fundierter Anhaltspunkt (Verdacht) für die abstrakte Möglichkeit einer fraglichen Ursache-Wirkung-Beziehung, eine Risikobestimmung tragen.“ (ebd.: 60 8 ). Von einem „Entstehungs- oder Wirkungsverdacht“ spricht der Autor, „wenn tatsächliche Anhaltspunkte für einen (noch nicht bewiesenen) Entstehungs- oder Wirkungszusammenhang sprechen“. Unter Berufung auf diese abgeschwächten Anforderungen bei der Risikobestimmung können in der vorliegenden Arbeit z.B. Hinweise auf ungünstige Medikamentenwirkungen aus Tierversuchen und indirekte Hinweise berücksichtigt werden. Indirekte Hinweise erhält man, wenn man prüft, welche Funktion(en) durch den Bereich oder die Strukturen im Körper erfüllt werden, auf die ein bestimmtes Medikament wirkt. Interessant ist dabei nicht nur die unmittelbare Organfunktion, sondern eben auch deren Einfluss auf Verhaltensebene, die Bedeutung für den Organismus und seine sozialen Bezüge. Für das Gehirn bedeutet das, über die Wirkung auf Transmitterebene hinaus und über einzelne, testbare, kognitive Fähigkeiten hinaus zu fragen, ob hier bestimmte Verhaltensweisen und personale Fähigkeiten betroffen sind, die z.B. für ein übergeordnetes Konzept wie die Autonomiefähigkeit Bedeutung haben. So kann man auf indidert, dass angesichts gravierender Folgen auch ein Schadensereignis mit sehr geringer Eintrittswahrscheinlichkeit zu vermeiden ist. 8 Kloepfer beruft sich auf Murswiek (1985), S. 388f. <?page no="35"?> Nicht spekulative Ethik und Vorsorgeprinzip 35 rektem Wege Hinweise darauf erhalten, inwieweit die Autonomiefähigkeit durch ein bestimmtes Medikament beeinflusst wird. Nach der Bestimmung des Risikos erfolgt seine Bewertung. Für eine Bewertung unter Unsicherheit wie die oben geschilderte führt Kloepfer verschiedene Prinzipien als Grundlage für eine Entscheidungsfindung auf (ebd.: 62ff), von denen hier nur die für diese Arbeit in Frage kommende Regel beschrieben wird. Es ist das Maximinprinzip: „Bei diesem Prinzip rechnet der Entscheidungsträger stets mit dem Eintritt des ungünstigsten Ergebnisses. Es ist also die Handlungsalternative zu wählen, die in diesem Fall zu dem am wenigsten schlechten Ergebnis (also dem maximalen Minimum) führt.“ (ebd.: 62f.). Diese Regel, in der juristischen Sprache ‚Vorsichtsprinzip‘ (ebd.: 63) genannt, führt dazu, dass „eine potentiell schädliche Verhaltensweise schon dann unterbunden werden soll, wenn ihre Unschädlichkeit nicht erwiesen ist.“ (ebd.: 75). Obwohl der Autor dieses Prinzip als Entscheidungsregel für geeignet hält, erscheint sie ihm doch als zu weitgehend, da mit ihr das Übermaßverbot verletzt werden könnte. Dieses Verbot trägt der Notwendigkeit Rechnung, auch die Rechte eines Risikoverursachers zu schützen, in die durch eine Vorsorgemaßnahme möglicherweise eingegriffen wird (ebd.: 77-79). Es werden daher vom Autor zusätzliche Bewertungskriterien erörtert, von denen die Risiko-Nutzen- Analyse im medizinischen Bereich häufig zur Anwendung kommt. Bei ihr werden z.B. das Risiko einer Behandlung und der Nutzen der erwünschten Folgen gegeneinander abgewogen. An dieser Stelle wird das oben beschriebene Problem bei der Bestimmung und Bewertung von Risiken nochmals aufgegriffen: Die Unsicherheiten, die nach einer naturwissenschaftlichen Analyse von Wirkungs- und Funktionszusammenhängen bleiben und die bei der Bildung von Hypothesen zu weiterreichenden Folgen auftreten. Kloepfer kommt zu dem Schluss, dass „staatliche Vorsorge möglich und ggf. verfassungsrechtlich geboten“ ist, „selbst wenn wegen der Unsicherheiten […] ein Schadenseintritt nur als möglich zu bezeichnen ist“ (ebd.: 74). Der Autor stellt hier eine Annäherung des Vorsorgeprinzips an das Vorsichtsprinzip fest, die jedoch durch das Übermaßverbot begrenzt wird. Nun zurück zu der Frage warum die Anwendung des Vorsorgeprinzips bei der Beurteilung von Risiken im Zusammenhang mit PCE angemessen erscheint. Kloepfer nennt drei Fälle, auf die das Vorsorgeprinzip anzuwenden ist, von denen die beiden folgenden auf PCE zutreffen: „-zeitlich entfernte Gefahren, wenn ihr späterer Eintritt nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist; “ „-Fälle geringerer Eintrittswahrscheinlichkeit, vom Gefahrenverdacht bis zur bloßen Risikovorsorge.“ (ebd.: 73). Besteht nun eine Diskrepanz zwischen der Forderung nach einer nicht spekulativen Ethik und der Anwendung des Vorsorgeprinzips, bei dem <?page no="36"?> Ethische, wissenschaftstheoretische und anthropologische Vorüberlegungen 36 Ungewissheiten berücksichtigt werden? Das ist insofern nicht der Fall, als es auch für die Formulierung eines begründeten Anfangsverdachts nötig ist, sich mit konkreten, existierenden Techniken auseinanderzusetzen, denkbare, aber noch unbewiesene Nachteile anzusprechen und ihre möglichen weiterreichenden Folgen zu diskutieren. In den von Nordmann (2007) angesprochenen spekulativen Diskussionen geht es dagegen um Techniken, die noch gar nicht zur Verfügung stehen, und von denen meist bei genauerer Betrachtung gesagt werden muss, dass sie nicht in einem relevanten Zeitrahmen zur Verfügung stehen werden. 3.3 Stellenwert und Limitierungen empirischer Ergebnisse im ethischen Urteil In einer Arbeit, die sich einer interdisziplinären, anwendungsbezogenen, nicht spekulativen Ethik verpflichtet weiß, besteht der Anspruch, Aussagen durch Ergebnisse aus wissenschaftlichen Experimenten und Tests, aus medizinischen oder anderen Studien zu belegen. Empirische Befunde sind unverzichtbar für die Problemwahrnehmung, die Beschreibung der Sachlage und das Aufzeigen aktueller und möglicher zukünftiger Folgen. Darin liegen der Stellenwert und die Funktion empirischer Befunde innerhalb einer ethischen Urteilsfindung, doch mögliche Limitierungen müssen bewusst bleiben. 3.3.1 Tests und die Ganzheit des Menschen Die Bezugnahme auf Ergebnisse der Einzelwissenschaften in einer ethischen Beurteilung ist indes nicht ohne Schwierigkeit, da stets die Aussagekraft eines Einzelergebnisses in Bezug auf das „große Ganze“ zu hinterfragen ist. So ist vor dem Hintergrund eines umfassenden Kognitionsverständnisses (Kapitel 7) zu fragen, inwieweit gängige Testmethoden das Phänomen der Kognition angemessen abbilden und wie aussagekräftig die Messung von Einzelaspekten ist. Der Versuch, eine Verbesserung der Kognition durch die Testung einzelner kognitiver Fähigkeiten nachzuweisen, birgt die Gefahr, den Menschen als technisches System zu sehen, wie es Nordmann (2007) beschreibt, das sich aus einzelnen Eigenschaften zusammensetzt, die nacheinander und unabhängig voneinander verbessert werden könnten. Nordmann verweist auf die Schwierigkeit, zu beschreiben, was es konkret bedeuten würde, die menschliche Kognition als Ganzes zu verbessern oder gar menschliche Wesen als mehr oder weniger integrierte Ganzheiten in einem sozialen Kontext zu verbessern. Solange dies jedoch nicht gelingt, ist die Suche nach anderen Methoden eine solche Verbesserung nachzuweisen zwecklos. Daher ist es notwendig, um die Wirksamkeit <?page no="37"?> Stellenwert und Limitierungen empirischer Ergebnisse im ethischen Urteil 37 von Stimulanzien und ihre Brauchbarkeit als Enhancementpräparate darzustellen, zunächst auf Untersuchungen zurückzugreifen, die Einzelfunktionen testen. Danach werden die erweiterten Folgen auf individueller und gesellschaftlicher Ebene angesprochen, um einen Zusammenhang zwischen den Testergebnissen und der Ganzheit des Menschen herzustellen. Auf die Schwierigkeit, ausgehend von Tests Aussagen für die Medikamentenwirkung im Alltag zu machen, wurde an anderer Stelle hingewiesen (Turner and Sahakian, 2006). 3.3.2 Studien - Evidenz mit Hilfe von Statistik Um Evidenz für die Wirksamkeit medizinischer Verfahren herzustellen, werden medizinische Studien durchgeführt, deren Auswertung auf statistischen Verfahren beruht. Gute Studien sind randomisiert, doppelt blind, placebo-kontrolliert mit signifikanter Zahl der Versuchsteilnehmer. Danach hat es keinen Sinn davon zu sprechen, dass insgesamt acht Versuchsteilnehmer auf vier Dosis-Gruppen plus Placebogruppe „randomisiert“ werden (z.B. Wong YN et al. 1999 a). Man könnte solche Studien als nicht aussagekräftig bezeichnen, doch sie haben den Stellenwert von Vorversuchen, die vorläufige Informationen bringen und für die Orientierung der weiteren Beforschung wichtig sind. Außerdem sind Untersuchungen an gesunden Probanden zu Recht aus ethischen Gründen eingeschränkt. Diese schwach besetzten Untersuchungen werden z.B. zu Modafinil veröffentlicht, zu dem anfangs noch nicht so viele Daten vorhanden waren. Daher werden bei Bedarf auch die Ergebnisse von Studien, die strenge Anforderungen nicht erfüllen, herangezogen, z.B. wenn die Ergebnisse die einzigen zur Verfügung stehenden sind oder wenn die Entwicklung der Erkenntnislage dargestellt werden soll. Die erforderliche große Teilnehmerzahl macht Studien sehr teuer, so dass eine Durchführung häufig auch von wirtschaftlichen Überlegungen abhängt. Evidenz wird dadurch vor allem für die Sachverhalte geschaffen, für die Evidenz gewünscht wird. Das ist in großen Staaten wie den USA leichter, denn es ist leichter, die kritische Zahl an Probanden sicher zu stellen, die genau ein Symptom zeigen, z.B. nur Hyperaktivität. Insgesamt tritt dieses Symptom jedoch sehr selten allein auf, so dass es in Deutschland schwieriger ist, bestimmte Studien durchzuführen und damit amerikanische Studien zu überprüfen. Zusätzlich ist die Vergleichbarkeit oft problematisch, da z.B. ADHS in Deutschland und USA nach unterschiedlichen Kriterienkatalogen diagnostiziert wird (5.2.2). Auf jeden Fall ist das Problem der Repräsentativität für Studien immer ein Thema, worauf auch an anderer Stelle hingewiesen wird (siehe: Lieb, 2010: 51). Im Rahmen der ethischen Aspekte von ADHS und den daraus folgenden Forderungen <?page no="38"?> Ethische, wissenschaftstheoretische und anthropologische Vorüberlegungen 38 spielt auch die Frage nach der Verlässlichkeit von Studienergebnissen eine Rolle (12.1.3). 3.4 Implizite Vorannahmen und erkenntnisleitende Interessen Das Bemühen, Aussagen durch empirische Daten zu stützen, birgt die Gefahr, dass eine Fülle von empirischen Ergebnissen den Blick auf den normativen Rahmen verstellt. Eine empirische Aussage allein kann jedoch kein ethisches Argument sein. Eve-Marie Engels erklärt, dass erst auf Grund von Einstellungen und Werten, ethischen Theorien und Prinzipien eine Sachlage als Problem erkannt wird und infolgedessen bestimmt, warum diese oder jene Frage gestellt wird, warum auf dieses oder jenes Ergebnis zurückgegriffen wird und ob ein Ergebnis als positiv oder negativ bewertet wird (Engels, 2005a: 150ff). Häufig wirken demnach die Einstellungen und Werte als implizite normative Prämissen und es ist eine wesentliche Aufgabe der ethisch orientierten Arbeit, die impliziten Vorannahmen, die den normativen Rahmen bilden, zu explizieren und dadurch auch diese der Diskussion zugänglich zu machen. In einer Arbeit über die Frage der Möglichkeit der Werturteilsfreiheit wissenschaftlicher Methoden forderte schon Habermas (1969; hier 2009: 146ff), die Verbindung der theoretischen Aussagen zu dem Bezugssystem, in dem sie gewonnen werden und durch das sie ihren Sinn erhalten, bewusst zu machen (ebd.: 155). Daraufhin legt er die Interessen offen, die am Ursprung jeden Strebens nach Erkenntnis und jeder in dem jeweiligen Interesse vollzogenen Handlung stehen. Er identifiziert drei erkenntnisleitende Interessen: das technische, das praktische und das emanzipatorische. Das technische Erkenntnisinteresse liegt demnach dem Ansatz der empirisch-analytischen Wissenschaften zugrunde. Ihr Bezugssystem umfasst Regeln zur Bildung und Überprüfung von Theorien und Gesetzen, die sich auf die Sachwelt beziehen. Gesetzeshypothesen „erlauben bei gegebenen Anfangsbedingungen Prognosen.“ Sind die Hypothesen und die daraus abgeleiteten Prognosen korrekt, lässt sich folglich ein bestimmtes Ergebnis durch die Schaffung bestimmter Ausgangsbedingungen mit relativ großer Sicherheit herbeiführen, vorausgesetzt die Kontrolle der Rahmenbedingungen ist möglich. Nach Habermas ist es das leitende Interesse der Erfahrungswissenschaften erfolgskontrolliertes Handeln zu sichern und zu erweitern. „Dies ist das Erkenntnisinteresse an der technischen Verfügung über vergegenständlichte Prozesse“ (Habermas, 1969; hier 2009: 157). Im Kapitel 11.2 wird diese Erkenntnishaltung wieder aufgegriffen und ihre <?page no="39"?> Implizite Vorannahmen und erkenntnisleitende Interessen 39 Sachweltbezogenheit der Bezogenheit auf andere Subjekte gegenübergestellt. An die Stelle der kontrollierten Beobachtung tritt nach Habermas bei den historisch-hermeneutischen Wissenschaften das Sinnverstehen als Weg, die Tatsachen zu erschließen. Ihre Methode ist die Auslegung von Texten. Dahinter sieht er das leitende „Interesse an der Erhaltung und der Erweiterung der Intersubjektivität möglicher handlungsorientierender Verständigung[…]. Sinnverstehen richtet sich seiner Struktur nach auf möglichen Konsensus von Handelnden im Rahmen eines tradierten Selbstverständnisses.“ (ebd.: 158). Dies nennt Habermas das praktische Erkenntnisinteresse. Das emanzipatorische Erkenntnisinteresse schließlich schreibt Habermas den kritischen Sozialwissenschaften zu und ebenso der kritisch ausgerichteten Philosophie. Die kritische Wissenschaft rechnet damit, „dass die Information über Gesetzeszusammenhänge im Bewusstsein des Betroffenen selber einen Vorgang der Reflexion auslöst; dadurch kann die Stufe unreflektierten Bewußtseins, die zu den Ausgangsbedingungen solcher Gesetze gehört, verändert werden.“ (ebd.: 158). Das geschieht, wenn Gesetzeswissen kritisch vermittelt wird und damit Selbstreflexion angestoßen wird. Ein Individuum erkennt dadurch die Möglichkeit, dass Gesetzmäßigkeiten des sozialen Handelns festgefahrene, jedoch grundsätzlich veränderbare Abhängigkeitsverhältnisse sein können und kann sich aus dieser Abhängigkeit lösen. „Selbstreflexion ist von einem emanzipatorischen Erkenntnisinteresse bestimmt“ (ebd.: 159). Habermas betont außerdem als spezifischen Gesichtspunkt „die Emanzipation von naturwüchsigem Zwang“ (ebd.: 160). Hier wird die Brücke zur Autonomiefähigkeit, wie sie unten ausgeführt wird, sichtbar (6). Weiter umreißt Habermas schon hier, dass autonomierelevante Fähigkeiten erlernt werden müssen: „So haften die erkenntnisleitenden Interessen an den Funktionen eines Ich, das sich in Lernprozessen an seine externen Lebensbedingungen anpaßt; das sich durch Bildungsprozesse in den Kommunikationszusammenhang einer sozialen Lebenswelt einübt; und das im Konflikt zwischen Triebansprüchen und gesellschaftlichen Zwängen eine Identität aufbaut.“ (ebd.: 162). Damit stellt Habermas klar, dass seine Überlegungen nicht auf das wissenschaftliche Arbeiten beschränkt bleiben können, weil die Haltung, die sich in einem emanzipatorischen Erkenntnisinteresse ausdrückt, über lange Zeiträume wachsen muss. Der Entwicklungsgedanke wird in verschiedenen Kapiteln dieser Arbeit aufgegriffen, da zu fragen ist, ob die entsprechenden Lern-, Übungs- und Aushandlungsprozesse durch Medikamentengebrauch beeinträchtigt werden (9.2.4; 9.4; 10.3; 10.1.2; 10.2.3). Die Frage, wie ein mögliches Zurückdrängen des emanzipatorischen Erkenntnisinteresses zu Gunsten einer verstärkten technischen Verfügung aus ethischer Sicht zu bewerten wäre, wird unter 13.3.5 diskutiert. <?page no="40"?> Ethische, wissenschaftstheoretische und anthropologische Vorüberlegungen 40 3.5 Normative Prämissen Um relevante Fragen entwickeln und die richtigen Untersuchungsschwerpunkte setzen zu können ist es nötig, sich über die leitenden normativen Prämissen klar zu werden. Dieser Arbeit liegt das Bild des handlungsfähigen bzw. autonomiefähigen Menschen zugrunde (s.3.5). Es lehnt sich an den Vorschlag einer Minimalanthropologie an, die keiner weiteren Merkmale bedarf als der für den Menschen typischen Handlungsfähigkeit (Höffe, 1999: 56) 9 . Damit verbunden ist eine Theorie der Anfangsbedingungen des Menschseins, die die unverzichtbaren Bedingungen der Handlungsfähigkeit einschließt, wobei Handlungsfähigkeit hier im Sinne von Autonomiefähigkeit verstanden wird (s.6). Der Anspruch auf die Sicherstellung und Nichtbeeinträchtigung dieser Bedingungen und seine Respektierung durch die Gesellschaftsmitglieder stellt in verschiedenen ethischen Theorien ein wesentliches Begründungselement dar. Dies ist ein Leitgedanke bei den ethischen Überlegungen in dieser Arbeit (11.1), denn der Autonomiegedanke tritt in der Enhancementdebatte in verschiedenen Hinsichten in Erscheinung. So ist eine autonome Entscheidung des betroffenen Individuums für das jeweilige Enhancement als erste Bedingung anzusehen, unter der Enhancement befürwortet werden könnte, noch bevor über weitere Aspekte des Enhancement diskutiert wird. Damit ist angedeutet, dass sich, wie es Elisabeth Hildt ausdrückt, in jeder neuen Situation zeigen muss, ob eine Person aufgrund der konkreten Umstände die Möglichkeit hat, autonom zu handeln (Hildt, 2006: 63). Es wird also zu prüfen sein, inwieweit in der Enhancementsituation eine autonome Entscheidung für die betroffenen bzw. handelnden Individuen möglich ist. Weiter stellt die Autonomie des Individuums in der Diskussion darüber, ob Enhancement verboten, erlaubt oder gar geboten ist, ein wesentliches Argument gegen die Einschränkung des Rechts auf Enhancement dar. Das Argument, Menschen hätten auf Grund ihrer Autonomie ein Recht auf Enhancement, basiert auf einem Autonomieverständnis, bei dem die individuelle Selbstverwirklichung im Mittelpunkt steht. Welches Autonomieverständnis dieser Arbeit zu Grunde liegt, wird in Kapitel 6 ausgeführt. Autonomie kann jedoch noch in einer anderen Hinsicht zum Kriterium gerade für pharmakologisches Cognition Enhancement (PCE) gemacht werden: Unter der Annahme, dass psychoaktive Substanzen wesentliche persönliche Fähigkeiten und Eigenschaften verändern können, ist zu fragen, ob PCE nicht die Autonomiefähigkeit selbst beeinträchtigt. Dieser Frage liegt die Unterscheidung zugrunde zwischen Autonomie als Eigenschaft 9 Die Möglichkeit zielgerichteten Handelns und Planens wird in jüngster Zeit auch für Tiere diskutiert. <?page no="41"?> Ziele, Mittel und Folgen 41 von Handlungen und Entscheidungen einerseits und als Vermögen und Fähigkeit einer Person andererseits (Miller, 1995; s.6). Als weitere Kriterien im Zusammenhang mit der Bewertung von PCE sind z.B. Wohltun und Nichtschaden denkbar. Elisabeth Hildt weist darauf hin, dass „das Benefizienz- und das Nonmalefizienz-Prinzip […] unter dem Aspekt, dass physische und psychische Integrität die Voraussetzung für eine effiziente Autonomiewahrnehmung darstellt, zumindest zum Teil als zu einer umfassenden Autonomiekonzeption gehörend betrachtet werden.“ (Hildt, 2006: 43). Dieser Bezug wird unter 11 wieder aufgegriffen, wo es um den Schutz der Bedingungen der Handlungs- und Autonomiefähigkeit geht. Die Bedeutung des Autonomiegedankens führt weiter zu der Annahme, dass Individuen für ihre Handlungs- und Autonomiefähigkeit auch selbst Verantwortung tragen und daher verpflichtet sind, ihre Handlungs- und Autonomiefähigkeit selbst nicht einzuschränken, sondern zu erhalten. Möglicherweise sind ihrer Veränderungsfreiheit dadurch Grenzen gesetzt (11.1). Schließlich wird von der Gleichheit aller Menschen als weiterer Prämisse ausgegangen und daraus folgt, dass sich Menschen gegenseitig auf eine Weise begegnen sollen, die ihre Würde respektiert und ihre Autonomie nicht beeinträchtigt, auch wenn ein Machtgefälle vorliegt. 3.6 Ziele, Mittel und Folgen Die Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit und weitere Ziele, die mit pharmakologischem Cognition Enhancement (PCE) verfolgt werden können, erscheinen tatsächlich prima facie ethisch unbedenklich. Mancher denkt an das Streben nach Erkenntnis, das mit allen Mitteln verfolgt werden sollte und damit ist es immer möglich, PCE in positivem Lichte darzustellen. Ohne eine Abwägung zwischen alternativen Mitteln und ohne die Berücksichtigung der tatsächlichen Folgen werden dann die guten Ziele zur Legitimierung der vertretenen Mittel herangezogen. So wurde bezüglich PCE vorgeschlagen, „dass nicht die Art der Manipulation, sondern die damit verfolgten Ziele Gegenstand der ethischen Bewertung und unserer Diskussion sein sollten“ (Quante, 2006: 112). Obwohl den Handlungszielen zu Recht außerordentliche Bedeutung beigemessen wird, erscheint es problematisch, die eingesetzten Mittel und die eintretenden Folgen allein vom Ziel her zu legitimieren. Daher wird PCE in der vorliegenden Arbeit als vollständige Handlung mit ihren Zielen, Mitteln und Folgen bewertet (Herms, 1991). Die Einnahme von Medikamenten gehört zwar nicht zu den Mitteln, die per se nicht vertretbar wären, doch die Vertretbarkeit der Mittel ist abhängig von ihren gesundheitlichen und anderen Risiken und kann letztlich nur über ihre Folgen ermittelt werden. Deshalb ist es notwendig, jede der verschiedenen Enhancementtechniken für sich auf ihre Brauchbar- <?page no="42"?> Ethische, wissenschaftstheoretische und anthropologische Vorüberlegungen 42 keit und ihre ethischen Aspekte hin zu überprüfen. Eine Frage hier ist also, welche Unterschiede zwischen dem herkömmlichen Streben nach der Verbesserung kognitiver Leistungsfähigkeit und der Verwendung pharmakologischer Hilfsmittel bestehen. Bei der Betrachtung der Folgen wird der Blick meist zuerst auf offensichtliche gesundheitliche Beeinträchtigungen wie, z.B. Übelkeit oder Erbrechen, gelenkt. Diese sind vergleichsweise leicht festzustellen und die Vor- und Nachteile lassen sich dann meist unschwer abwägen. Es reicht jedoch nicht aus, nur die unmittelbaren gesundheitlichen Folgen zu berücksichtigen, sondern es muss auf andere direkte Folgen sowie auf indirekte Folgen geachtet werden. Die Identifizierung indirekter Folgen, die einem erweiterten Verständnis von Handlungsfolgen (s.6.1.1) genügen, gelingt mitunter erst auf den zweiten Blick. Ein wesentlicher Teil der Arbeit besteht daher in der gründlichen Betrachtung erweiterter Folgenzusammenhänge des Stimulanziengebrauchs (10). 3.7 Anthropologische Vorüberlegungen Ist Enhancement nicht wider die menschliche Natur? Möglicherweise steht hinter dieser Frage die Intuition, Enhancement verstoße gegen die menschliche Natur und sei daher abzulehnen. Die folgenden Überlegungen zu dieser Frage unterstützen die ethische Bewertung der Ziele des Enhancement (13.1). Im Bericht des President’s Council ist die Rede von „Respect for ‚the Given‘“. Es wird betont, dass die gegebene menschliche Natur nur dann Orientierung geben kann, wenn etwas Wertvolles darin liegt, wenn die Art und Weise wie Menschen in der Welt sind, an sich gut ist. Ob dies so ist, bleibt in dem Beitrag offen (President’s Council on Bioethics, 2003: 285-288). Es wird jedoch die besondere Situation des Enhancement deutlich, in der der Mensch nicht nur das technisch handelnde Subjekt ist, sondern zugleich das Objekt, an dem gehandelt wird bzw. in das eingegriffen wird. Die Voraussetzung dafür ist die besondere Verfasstheit des Menschen, die Helmut Plessner in seinem Werk Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928; hier 1975) analysiert und im ersten der drei anthropologischen Grundgesetze, dem Gesetz der natürlichen Künstlichkeit, zusammenfasst. Nach Plessner haben Tiere und der Mensch im Gegensatz zu Pflanzen eine geschlossene Organisationsform 10 und damit ein Zentrum. „Dieses Zentrum setzt das Lebewesen in ein Verhältnis zu sich selbst und zur Umgebung“ (Hildt, 2009: 117) und damit kann es eine Position in Zeit und Raum einnehmen: es besitzt Positionalität. Die Vorstellung für den Men- 10 Zur begrenzten Angemessenheit dieser Terminologie siehe Hildt, 2009: 117. <?page no="43"?> Anthropologische Vorüberlegungen 43 schen ist bei Plessner so, dass sich das Individuum der Zentralität seiner Existenz bewusst wird: „es weiß um sich, es ist sich selber bemerkbar und darin ist es Ich…“ (Plessner, 1928; hier 1975: 290). Dadurch, dass das Individuum um die Mitte seiner Existenz weiß und diese erlebt, reicht es über sie hinaus. Diese Figur lässt die Fähigkeit des Menschen, sich zu sich selbst zurück zu wenden, also seine Reflexionsfähigkeit, bildlich erscheinen und hebt „die Spaltung in Außenfeld, Innenfeld und Bewusstsein“ (ebd.: 291), welche die Entstehung des Selbstbewusstseins mit sich bringt, hervor 11 . Diese Verbildlichung verdeutlicht das Besondere der menschlichen Reflexionsfähigkeit als spezifisches Merkmal des Menschen, das ihm Handlungs- und Autonomiefähigkeit ermöglicht. Nach Plessner ist das Leben des Menschen exzentrisch zu verstehen, ohne dass er die Zentrierung, die ihm genauso wie den Tieren eigen ist, durchbrechen könnte. Demnach manifestiert sich der unaufhebbare Doppelaspekt der menschlichen Existenz in dem möglichen „Umschlag vom Sein innerhalb des eigenen Leibes zum Sein außerhalb des Leibes“ (Plessner, 1928 hier 1975: 292). Der Mensch hat daher einerseits die Erlebnismöglichkeit einen Körper zu haben, „der als Werkzeug eingesetzt werden kann, um bestimmte Ziele zu erreichen“, was dem Außensein entspricht. Andererseits hat er die Erlebnismöglichkeit ein Körper zu sein und seine Limitierungen wahrzunehmen, ihn als „Leib“ wahrzunehmen, was dem Insein im Körper entspricht (Hildt, 2009: 117). Plessner beschreibt auch die Schwierigkeiten, welche die Existenzweise der erlebten Exzentrizität mit sich bringt: Da der Mensch nicht mehr in seinem Zentrum ruht, kann er nicht mehr mit sicherem Instinkt durch sein Leben gehen, denn er hat die Sicherheit des Instinktes und der Unwissenheit zu Gunsten seiner „Freiheit und Voraussicht“ (Plessner, 1928 hier 1975: 310) verloren. Dafür braucht der Mensch nach Plessner einen Ausgleich, er ist ergänzungsbedürftig geworden. Er ist durch die Möglichkeit, bildlich außerhalb seiner selbst zu sein und sich so seiner selbst bewusst zu sein, aus dem Gleichgewicht gebracht und muss fortan nach diesem Gleichgewicht suchen. Man könnte das so weiterführen, dass es Menschen aus diesem Grunde erschwert ist, sich als Ganzes zu verstehen und zu erleben und sie zeitlebens um die Integration verschiedener Aspekte ihrer selbst bemüht sind. Nach Plessner ist der Mensch nun gezwungen, die verlorene Sicherheit und das verlorene Gleichgewicht zu kompensieren und das gelingt nach ihm nur durch eigenes Tun, welches eine spezifisch menschliche, „.mit künstlichen Mitteln arbeitende Tätigkeit…“ (ebd.: 311) 11 Zum Vergleich: Die Positionalität des Tieres ist bei Plessner so gedacht, dass es als Individuum im Hier-Jetzt aufgeht. Um sein Zentrum herum steht konzentrisch der eigene Körper und das Außenfeld (Plessner, 1928; hier 1975: 239), das Tier ist der positionale Mittelpunkt. <?page no="44"?> Ethische, wissenschaftstheoretische und anthropologische Vorüberlegungen 44 ist: Mit diesen künstlichen Mitteln muss der Mensch Dinge schaffen, die so gewichtig sind, dass sie seiner Existenz das Gleichgewicht halten können, womit das gesamte Kulturschaffen angesprochen ist, einschließlich Wissenschaft und Technik. Diese Überlegungen fasst Plessner im Gesetz der natürlichen Künstlichkeit zusammen. Nach Engels ist also auf Grund der existentiellen Besonderheit des Menschen zu erwarten, dass er „sich über die Frage seiner Selbstdeutung und damit über sein Menschen- und Naturbild Gedanken macht…“ (Engels, 2001: 105). Da der Mensch aber in Plessners Vorstellung auf Grund seiner besonderen Existenzweise nicht nur einfach das zu Ende lebt, leben kann, was er ist, sondern sich erst zu dem machen muss, was er schon ist (Plessner, 1928, hier: 1975: 309 f.), weil er eben ergänzungsbedürftig ist, muss der Mensch mit den erwähnten künstlichen Mitteln in sein Leben eingreifen, es formen und damit sich selbst formen. Wenn man nun Enhancement als Weg sieht, sich selbst zu formen, um sein Leben zu führen, dann bedeutet das, dass das Wesen von Enhancement, also Enhancement von der Idee her, zur Natur des Menschen gehört. Damit ist zunächst nichts darüber ausgesagt, auf welche Weise und mit welchen Mitteln diese Selbstformung erfolgen kann oder soll 12 ; das ist Thema dieser Arbeit. Ein Argument, Enhancement verstoße prinzipiell gegen die menschliche Natur und wäre aus diesem Grund abzulehnen, ist nach diesen Überlegungen jedenfalls hinfällig. Nach Engels mag das klingen wie ein „anthropologischer Freibrief“ (Engels, 2009: 140), jede Möglichkeit zur Gestaltung des Menschen zu nützen. Doch einer solchen Fehlinterpretation ist klar zu widersprechen: Engels verweist auf nichthintergehbare organische Grundlagen, „die es uns ermöglichen, neben unserem Selbstbild ein Bild von den Dingen, ein Weltbild, aufzubauen, das uns als verlässliche Handlungsgrundlage dient“ (ebd.). Sie führt aus, dass z.B. bei einer Erweiterung des menschlichen Wahrnehmungsvermögens über die menschliche Art und Weise und das menschliche Maß hinaus wahrscheinlich die Einheit der Sinne, also ihr sinnvolles Zusammenspiel, so gestört würde, dass eine einheitliche, sinnliche Wahrnehmung nicht mehr gegeben wäre (ebd.: 141). Entsprechend wäre es vorstellbar, dass eine vergleichbare Erweiterung oder Verstärkung des menschlichen Kognitionsvermögens, die Einheit des Denkens und Handelns stören würde. Was man sich unter Einheit des Denkens und des Handelns vorstellen kann, wird im Kapitel 7.5 ausgeführt. Außerdem wird aus den hier dargestellten Überlegungen zur exzentrischen Positionalität des Menschen eine Ganzheitsvorstellung entwickelt, die in der ethischen Diskussion des Ziels der Selbstvervollkommnung ausgeführt wird (13.1.6). 12 Roland Kipke (2010) beschränkt dagegen den Begriff von Selbstformung auf die absichtliche, verbessernde „Veränderung von Persönlichkeitsmerkmalen durch mentale Aktivität der jeweiligen Person“. <?page no="45"?> Anthropologische Vorüberlegungen 45 Aus der Differenzierung von Innen und Außen ergibt sich darüber hinaus eine erste Unterscheidung verschiedener Mittel des Enhancement: so sind Mittel wie ein Fernrohr, das Automobil oder andere Instrumente, die die Leistung des Menschen verbessern können, jedoch äußerlich bleiben, solchen Mitteln gegenüberzustellen, die im Menschen angreifen. Dazu gehören sowohl Medikamente als auch Verhaltenstraining. Plessner hat die große Bedeutung einer Grenze, die das Innen vom Außen scheidet, gerade für lebendige Systeme beschrieben (1928; hier 1975: 99-105) und daraus könnte die ethische Relevanz ihrer Verletzung bzw. Überschreitung abgeleitet werden. Diese Überlegung kann jedoch nur als Ansatzpunkt dienen und muss weiter differenziert werden, um den Unterschied zwischen der Wirkung von Medikamenten und von Verhaltenstraining bzw. gesunder Entwicklung aufzuzeigen und ihr Verhältnis zur Manipulation zu klären (6.2; 7.4; 8; 9.4: 10.3; 10.2.2; 10.2.3). Festzuhalten ist die wichtige Frage, wie und wo ein Mittel für Enhancement am bzw. im Menschen eingreift. <?page no="47"?> Dieser Arbeit ist eine Definition von Enhancement zu Grunde gelegt, die auf der Unterscheidung von Krankheit und Gesundheit basiert. Die sich daraus ergebenden Vorteile und Schwierigkeiten werden im Folgenden dargestellt (4). Eine Schwierigkeit ist die Grauzone, die zwischen Therapie und Enhancement bleibt. Als Beispiel für eine ausgeprägte Grauzonenproblematik wird in Kapitel 5 das Aufmerksamkeitsdefizit/ Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) beschrieben. Es ist ein Beispiel für einen legitimierten Anwendungsbereich für Stimulanzien und reicht gleichzeitig durch die Möglichkeit des verdeckten Enhancement (5.4.7) in den Themenbereich des Cognition Enhancement hinein, weshalb es auch aus dieser Perspektive betrachtet und diskutiert werden muss. Dadurch wird die Bedeutung der ethisch relevanten Fragen der ADHS-Thematik verstärkt (12). Schließlich wird das Konzept der Autonomie, welches dieser Arbeit zugrunde gelegt wird, vorgestellt und die dafür essentiellen persönlichen Fähigkeiten umrissen (6). Die Vorstellung von Autonomie bestimmt mit die Auswahl der Grundlageninformationen, weshalb es notwendig ist, sie vor diesen auszuführen und nicht erst in Kapitel 11 mit der ethischen Theorie. Die Verbindung der Vorstellung von Autonomie mit einer biologischen Basis, dem Dopaminsystem, erfolgt unter 8.4. Teil II Begriffliche Klärungen: Enhancement - Aufmerksamkeitsstörung - Autonomie <?page no="49"?> 4 Krankheit und Gesundheit - Therapie und Enhancement Eine Definition von Cognition Enhancement (CE) wird nicht randscharf gelingen und dies ist weder das Ziel der Arbeit noch eine Voraussetzung. Gerade die Verdeutlichung der Überschneidungen und Schwierigkeiten ist ein wichtiger Ansatzpunkt in dieser Arbeit. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Definitionsproblem bei Enhancement ist bei Christian Lenk (2002) zu finden. Enhancement bedeutet Steigerung, Verbesserung, Erhöhung, Erweiterung und so fort. Es gibt zwar Autoren, die die Bedeutung von „Enhancement“ auf die Vermehrung reduzieren möchten, doch die Bedeutung einer Verbesserung, die mit der Vermehrung einhergeht, haftet dem Wort offensichtlich so stark an, dass die Übersetzung sowohl im Sinne von Verstärkung, Erhöhung als auch im Sinne von Verbesserung, Erhöhung eines Wertes angegeben wird (Deutsch-Englisches Wörterbuch: http: / / dict. leo.org/ ). Beim Menschen kann sich Enhancement auf eine günstige Veränderung des äußeren Erscheinungsbildes oder eine Steigerung der geistigen oder körperlichen Leistungsfähigkeit beziehen. Das Spezifische an der Verbesserung durch Enhancement ist wohl, dass nicht traditionelle Methoden wie Lernen, Üben, Trainieren oder Pflegen angewandt werden. Mit Hilfe dieser bekannten Techniken haben Menschen schon immer versucht, sich gut zu entwickeln und voranzukommen, auf verschiedensten Gebieten immer besser zu werden oder sich selbst zu gestalten. Unter Enhancement werden biomedizinische Techniken zusammengefasst, die meist primär als Therapie verwendet werden. Enhancementeingriffe haben mit der Verbesserung physischer und/ oder psychischer Eigenschaften und Fähigkeiten einen Zustand zum Ziel, der über das hinausgeht, was man mit Therapie erreichen will. Diese Gegenüberstellung von Enhancement und Therapie findet sich bei Anderson, der den Begriff im Kontext der Gentherapie einführte (1985). Heute werden unterschiedliche Methoden der modernen Bio- und Medizintechnik, zu denen kosmetische Chirurgie, Gentechnik, Behandlung mit psychoaktiven Substanzen oder Hormonen gehören, im Zusammenhang mit Enhancement diskutiert. Erst die Anwendung bei gesunden Menschen macht aus ihnen im Sinne von Anderson Enhancementtechniken. Peter Sloterdijk (1999) hat für sie den Begriff „Anthropotechniken“ eingeführt. Damit stellt er diese „Bio-Methoden“ auf eine Stufe mit Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben, was diskussionswürdig erscheint. In der <?page no="50"?> Krankheit und Gesundheit - Therapie und Enhancement 50 vorliegenden Arbeit wird für psychoaktive Substanzen ausgeführt, wie sie sich von herkömmlichen Lern- und Motivationsmethoden unterscheiden. Konzepte, die Enhancement gegenüber Therapie abgrenzen, diskutieren Enhancement meist im Kontext ärztlichen Handelns. McGee mahnt jedoch, die Fragen, die die soziale und politische Natur der Verbesserung von Menschen oder der Menschheit betreffen, nicht zu vernachlässigen (McGee, 2000: 300). Um Enhancement mit der normalen Tätigkeit eines Arztes zu vergleichen, wurde von McGee vorgeschlagen, einen objektiven Standard festzulegen, der unnötige Behandlungen identifiziert. Therapie impliziert eine Idee von medizinischer Notwendigkeit (Sabin and Daniels, 1995), die dem Enhancement fehlt. Nach allgemeiner Vorstellung ist es vor allem das Konzept von Krankheit, das medizinische Notwendigkeit begründet. Wenn jedoch Krankheit die Bedingung für Therapie ist, hängt diese von der zu Grunde gelegten Vorstellung von Krankheit ab, und wenn die Enhancementdefinition auf der Abgrenzung zur Therapie basiert, hängt auch sie vom Krankheitsbegriff ab. Daher werden im Folgenden zunächst grundlegende Auffassungen von Krankheit und deren Klassifikation dargestellt (4.1), die auch im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit ADHS (5), erforderlich sind. Anschließend wird die Grauzonenproblematik (4.2) thematisiert und die Konsequenzen skizziert, die sich aus unterschiedlichen Krankheitsbzw. Gesundheitsbegriffen für die Abgrenzung zwischen Therapie und Enhancement ergeben (4.3). Schließlich wird das Verhältnis von Enhancement zu Prävention, Doping im Sport und Medikalisierung erörtert (4.4). 4.1 Krankheitsbegriffe und Klassifikationssysteme Die große Zahl von Beiträgen, die sich mit der Definition von Krankheit und Gesundheit befassen, dokumentiert das wissenschaftliche und praktische Interesse und die Bedeutung für die Gesellschaft, aber auch die Schwierigkeit dieses Unterfangens. Letztere erklärt sich aus dem mehrdimensionalen Kontext der Begriffe Gesundheit und Krankheit, der sich aus dem physischen, psychischen und sozialen Bereich zusammensetzt und zusätzlich verknüpft ist mit Fragen der Lebensqualität. Darüber hinaus besteht eine Abhängigkeit der Krankheitszuschreibung von gesellschaftlichen Normen. Die unterschiedlichen Beurteilungen über die Behandlungsbedürftigkeit von Zuständen spiegeln sich auch in der Definitionsgeschichte des Krankheitsbegriffs wider. Die Hauptpositionen werden im Folgenden kurz dargestellt <?page no="51"?> Krankheitsbegriffe und Klassifikationssysteme 51 4.1.1 Naturalistische Position George Khushf fasst die Krankheitsdefinition des Christopher Boorse (1975; 1977) fogendermaßen zusammen: „disease as a species atypical diminishment of species typical functional ability“ (Khushf, 1995). Boorse formuliert demnach eine wertfreie Vorstellung von Krankheit, die einer Auffassung von Wissenschaft entspricht, die auf empirischen Beobachtungen und Fakten basiert, Werte dagegen als Ausdruck subjektiver Vorlieben oder Emotionen ansieht. Diese Denkrichtung wird daher als Neutralismus oder Naturalismus bezeichnet. Nach Khushf war es Boorses Ziel, zu einer klaren Definition zu kommen, die konkrete Richtlinien für Medizin und Gesellschaft liefert und ein theoretisches Konzept mit großem praktischem Nutzen ermöglicht (ebd.). Das Denkschema im naturalistischen System stellt auch Wieland (1975, 107f.) so dar, dass die Abweichung von einem Normalzustand den „Krankheitswert“ eines Befundes oder eines Zustandes ausmacht. Er gibt jedoch zu bedenken, dass die Festsetzung der Norm, die den Normalzustand bestimmt, in vielen Fällen eine Ermessensentscheidung bleibt, gleichgültig ob ein Idealtypus gesetzt wird oder statistische Verfahren angewandt werden. Er weist darauf hin, dass die Gefahr bei statistischen Verfahren die ist, faktische Zustände zur Norm zu erheben. Gleichzeitig solle nicht übersehen werden, dass gerade Quantifizierungen auch gezeigt hätten, dass in vielen Bereichen von einem fließenden Übergang zwischen pathologischen und normalen Befunden auszugehen sei. Die Orientierung an einem natürlichen Idealtypus, der z.B. optimal in seiner Umwelt bestehen könne, sei ebenfalls problematisch, weil sich die Anforderungen der Umwelt stetig ändern. Nach Wieland lässt sich also auf naturwissenschaftlicher Basis allein auch deshalb kein praktikabler Krankheitsbegriff gewinnen, da auch naturwissenschaftlich erhebbare Fakten einer normativen Wertung bedürfen. Hucklenbroich weist nun auf die Notwendigkeit hin, die naturalistische Position gegen reduktionistische Auffassungen abzugrenzen, „weil die gängigen philosophischen Diskussionen den Naturalismus meist mit dem Physikalismus identifizieren.“ (Hucklenbroich, 2010: 137). Der Satz, „dass nur physikalische bzw. naturwissenschaftlich beschreibbare Gegenstände existieren“, ist „der Grundsatz einer bestimmten (‚physikalistischen‘) Metaphysik oder Ideologie. Der Naturalismus der Medizin schließt dagegen die psychosomatischen, psychosozialen und kognitiven Dimensionen des Menschen ausdrücklich in die medizinische Theorie und Praxis ein, womit beim gegenwärtigen Wissensstand historisch-soziokulturelle und narrativbiographische Faktoren und Erklärungsweisen berücksichtigt werden müssen.“ (ebd.). Damit könnte dieses Verständnis den kombinierten Positionen (s.u.) zugerechnet werden. <?page no="52"?> Krankheit und Gesundheit - Therapie und Enhancement 52 Zusammenfassend kann gesagt werden, dass das naturalistische Krankheitskonzept zweifellos zur Objektivierung der Diagnosepraxis beigetragen und zu einer nützlichen Verbreiterung der Urteilsbasis geführt hat. Dies sollte jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass sowohl die persönliche, auf Erfahrung basierende Urteilsfähigkeit des Einzelnen als auch die Kraft gesellschaftlich kultureller Normen ihre Bedeutung für die Beurteilung von Zuständen nicht verloren haben. 4.1.2 Normative Position George Khushf (1995) berichtet von der Theorierichtung, welche die soziale Komponente von Wissen zunehmend anerkannte und die Rolle kultureller Werte und sozialer Konstrukte für die Bildung empirischer „Fakten“ explizit machte. Er erwähnt den Mediziner und Mikrobiologen Ludwik Fleck, der 1935 am Beispiel der Syphilis die Untrennbarkeit von Fakten und Werten darstellte (hier Fleck, 1980). Indem dieser den Einfluss von gesellschaftlichen Normen auf die Vorstellung von Krankheit zeigte, beförderte er nach Khushf die Idee eines normativen Krankheitsbegriffs. Dieser berücksichtigt, dass die persönliche Haltung und die Werte der Gemeinschaft in eine Beurteilung und Normfestsetzung einfließen. Im medizinischen Kontext fließen diese Faktoren in die Beurteilung sowohl eines Zustands als auch von erhobenen Daten ein. Wolfgang Wieland spricht gar von einem „Missverständnis hinsichtlich der naturwissenschaftlichen Grundlagen der Medizin.“ (1975: 111) Er betont, dass der Begriff Krankheit selbst kein eindeutig naturwissenschaftlicher Begriff sei, sondern ein pragmatischer Begriff, da er „nur solche Zustände im körperlichen Bereich des Menschen betrifft, die einer Veränderung bedürfen“ (Wieland, 1975: 12). Die Festlegung darauf, welche Zustände das sind, sei abhängig von Ansprüchen und Bedürfnissen, die wiederum vom jeweiligen historischen und kulturellen Kontext geprägt seien und sich mit ihm veränderten. Hier klingen relationale und subjektivistische Aspekte an (s.u.). 4.1.3 Ansätze mit relationalem Aspekt Als Ansätze mit relationalem Aspekt stellt Christian Lenk den adaptionistischen und den handlungstheoretischen Ansatz vor (2002: 39). Danach liegt beiden ein Verständnis von Gesundheit und Krankheit zugrunde, das diese „als Verhältnis von internen Ressourcen und Fähigkeiten zu selbst gesetzten Zielen und/ oder externen Anforderungen oder Bedingungen der natürlichen oder sozialen Umwelt“ definiert (ebd.). Der handlungstheoretische Ansatz in diesem Bereich setzt demnach den Zustand einer Person in Beziehung zu ihrer Aktivität und zu den Zielen, die sie zu erreichen sucht und damit auch zu den Anforderungen, denen eine Person gerecht zu <?page no="53"?> Krankheitsbegriffe und Klassifikationssysteme 53 werden hat (ebd.: 200ff). Aus dieser Perspektive wird deutlich, dass eine Gesellschaft auf die Bestimmung von Krankheit nicht nur direkt Einfluss nimmt, indem sie bestimmte Zustände als veränderungsbedürftig erklärt, sondern auch indirekt, indem sie Anforderungen festlegt, anhand derer normgerechte Verhaltensfunktionen überprüft werden. Adaptionistische Ansätze (ebd.: 183ff) befassen sich mit der Frage der Anpassung der Individuen an ihre Umwelt bzw. für ihre Aufgaben. Unangepasstheit ist ein änderungsbedürftiger Zustand, wobei diskutiert wird, ob ein Individuum der Umwelt anzupassen ist oder umgekehrt (ebd.: 196). In diesem Sinne kann der Ansatz der „integrierten Medizin“ verstanden werden, die auf zeichentheoretischen Positionen basiert (v.Uexküll und Wesiack, 2011). Eine Darstellung des zeichentheoretischen Ansatzes in seiner Tiefe ist hier nicht möglich, es werden jedoch einige zentrale Gesichtspunkte, die hier von Interesse sind, skizziert. Ausgangspunkt für das Verständnis der integrierten Medizin ist die Ablehnung eines mechanistischen Menschenbildes, gemäß dem ein Mensch wie eine Maschine funktioniert und bei Bedarf vom Arzt repariert wird (ebd.: 4). Weiter geht dieser Ansatz davon aus, dass Lebewesen ihre Umwelt „konstruieren“ müssen. Damit ist gemeint, dass Lebewesen ihre Umwelt bzw. deren Teile in Abhängigkeit von der Bedeutung wahrnehmen, die die Teile der Umwelt jeweils für die Lebewesen haben (ebd.: 7). Da die Umwelt zu den Bedürfnissen eines lebenden Körpers passen muss, bilden Organismus und Umwelt 13 eine „Einheit des Überlebens“ (Bateson, 1985; zitiert nach v.Uexküll und Wesiack, 2011: 7). Das gilt auch für das soziale Umfeld und so wird eine bio-psycho-soziale Medizin als Lehre der Beziehungen entwickelt (ebd.: 36). Für Gesundheit und Krankheit werden in dem Ansatz die Begriffe „Passung und Passungsverlust“ (ebd.: 8) eingeführt, womit ausgedrückt wird, dass die Bedürfnisse der Person und die Umwelt durch Veränderungen in den Menschen oder in der Umgebung immer wieder nicht zusammen passen (ebd.: 24). Dadurch wird der relationale Aspekt betont. „Die Frage nach der Beziehung zwischen Organismus und Umgebung formuliert das eigentliche Grundproblem der Biologie und der Medizin.“ (ebd.: 36). Beziehungen zur Umwelt können demnach auf verschiedenen Ebenen (Zellen, Organen, Organismen) beschrieben werden. „‘Beziehung‘ erwies sich als Begriff für den fundamental wichtigen Sachverhalt, dass sich Leben zwar auf jeder Integrationsebene in verschiedenartiger Erscheinung, im Prinzip aber in der gleichen systemischen Weise darstellt. Die 13 Die Autoren berichten, dass Jakob von Uexküll (1936) „Umwelt“ definiert „als die ‚subjektive Welt, die ein Lebewesen aufgrund seiner artspezifischen Organisation, seiner biologischen Bedürfnisse und Verhaltensdispositionen aus Zeichen ‚konstruiert‘, die seine Rezeptoren oder Sinnesorgane empfangen.“ (v.Uexküll und Wesiack, 2011: 8). <?page no="54"?> Krankheit und Gesundheit - Therapie und Enhancement 54 Medizin gewinnt damit die Möglichkeit, Gesundheit als intaktes und Krankheit als gestörtes Beziehungsgefüge zu definieren.“ (ebd.: 36). Von Uexküll und Wesiak führen aus, dass „viele Beschwerden, mit denen Patienten zu uns kommen, […] Reaktionen auf Defekte ihrer Beziehungshaut durch ‚zerrissene‘ oder ‚verknotete‘ Beziehungen zu ihrer Mit- Welt [sind]“ (v.Uexküll und Wesiak, 2011: 37). Zu einer Diagnose gehört es daher, die Zeichen 14 , die der Patient auf den verschiedenen Ebenen sendet, zu entziffern (ebd.). Therapie heißt entsprechend „nicht lediglich Verschreibung einer Tablette, die Gabe einer Injektion oder die Überweisung an einen somatischen oder psychotherapeutischen Spezialisten. Therapie heißt Antworten geben, die dem Patienten zeigen, dass die Zeichen, die er auf einer körperlichen, psychischen oder sozialen Ebene sendet, verstanden werden und ihn in die Lage versetzen, seine Wirklichkeit in zunehmendem Maße salutogenetisch 15 zu gestalten“ (ebd.). Gemäß dieser Auffassung ist Gesundheit kein Zustand, „sondern ein Prozess, der ständig erzeugt werden muss“ (ebd.), womit sich die Autoren ebenfalls auf Antonovsky (1979) beziehen. Dieser Anspruch wirkt Medikalisierungen entgegen (s. dazu 4.4.3). Schließlich nehmen v. Uexküll und Wesiack eine Differenzierung vor zwischen „Diagnose im engeren Sinn“, worunter sie die „Zuordnung eines konkreten Krankheitsgeschehens zum Klassifikationssystem unserer Nosologie“ verstehen und „der Diagnose im Sinne der Summe der Erkenntnis über diese Patientin“ bzw. einen konkreten Patenten. Diese Differenzierung zeigt, dass nicht der völlige Verzicht auf die Bestimmung einer Krankheit angestrebt wird, sondern eher eine Kombination der verschiedenen Zugänge (s.u.). Im Gegensatz zu McGee (2000; s.4.1.4) sehen die Autoren in der Berücksichtigung der subjektiven Komponente und der Bedeutung der Beziehungen nicht vor allem eine Missbrauchsgefahr, sondern eine große Chance, den Hilfesuchenden umfassender zu helfen. Obwohl relationale und subjektivistische Ansätze gewisse Überschneidungen aufweisen, wird im Folgenden die Position beschrieben, bei der subjektive Aspekte im Vordergrund stehen. 14 Mit Zeichen sind in diesem Zusammenhang nicht allein physiologische Zeichen wie Fieber oder ein Pulswert gemeint, sondern sie stehen allgemein für alles, was die Sinnesorgane aufnehmen (v. Uexküll und Wesiack, 2011: 11) und müssen von der Person, für die es Zeichen sind, interpretiert werden. Aus dem Text geht hervor, dass sie auch im medizinischen Kontext auf körperlicher, psychischer und/ oder soziale Ebene liegen bzw. gesendet werden können. 15 Salutogenetisch bedeutet: Auf eine der Gesundheit zuträglichen Weise. Der Begriff geht zurück auf Antonovsky (1979). <?page no="55"?> Krankheitsbegriffe und Klassifikationssysteme 55 4.1.4 Subjektivistische Positionen Die Festsetzung einer Norm kann dazu führen, dass ein Mensch, wenn er ihr nicht entspricht, möglicherweise als krank gilt, obwohl er sich nicht krank fühlt. Umgekehrt gibt es Fälle, in denen sich ein Mensch krank fühlt, aber kein objektiver Anhaltspunkt dafür festzustellen ist. Um diesem Problem zu begegnen, fordern manche Autoren die subjektive Selbsteinschätzung als Maß für die Notwendigkeit von Behandlung zu setzen. Für diesen Ansatz plädierte z.B. Urban Wiesing (1998), der in einem Beitrag eine allgemeine Definition von Krankheit für gänzlich verzichtbar hält. Behandlungsentscheidungen sieht er als moralische Entscheidungen und rät, die moralischen Prinzipien zu nutzen, „die ärztliches Handeln legitimieren und limitieren“. Besonders wichtig scheint mir dabei die Begründung: „Moralische Entscheidungen sollten mit moralischen Argumenten begründet werden und nicht über den Umweg eines präskriptiven Begriffes, der seine vermeintliche Definition in einer wissenschaftlich-deskriptiven Beschreibung sucht“ (Wiesing, 1998: 95). Dahinter steht die Forderung, dass die Frage der Allokation von Ressourcen nicht über die normative Festlegung dessen, was als krank gelten soll, geklärt werden sollte, sondern offen und direkt. Diesem Punkt kann zwar zugestimmt werden, dennoch scheint ein völliger Verzicht auf den Krankheitsbegriff in der Praxis nicht hilfreich zu sein, wie gegen Ende des Textes von Wiesing anklingt, wo er einem Alltagsgebrauch von „Krankheit“ weiterhin Bedeutung zuspricht. Der Verzicht auf einen Krankheitsbegriff bedeutet, dass alles, was ein Mensch für sich tut und jede Behandlung als Enhancement einzustufen wäre (s.: 4.3). Auf Probleme, die entstehen, wenn subjektives Leiden als Indiz für medizinische Notwendigkeit hinzugerechnet wird, verweist McGee (2000: 301). Er nimmt an, dass eine Praxis, die Selbsteinschätzung als Legitimation für ärztliche Leistungen akzeptieren würde, Menschen dazu veranlassen könnte, Leistungen der Krankenversicherung in Anspruch nehmen, derer sie nach objektiven Maßstäben nicht bedürfen und dadurch die Solidargemeinschaft zu schädigen. McGee fordert daher, dass der, der ein Recht auf medizinische Versorgung aufstellt, seine Grenze nennen muss und daher legen er und andere so viel Wert auf eine Definition von Krankheit als Bedingung unter der ärztliches Handeln normalerweise gerechtfertigt ist. Während diese theoretische Debatte noch andauert, stellt sich die praktische Frage, warum sich Menschen immer häufiger mit einer breiter werdenden Palette von Problemen an Ärzte wenden (s. 4.4.4). 4.1.5 Kombinierte, pragmatische Positionen In seiner Diskussion der Grenzen und Ambivalenzen des Krankheitsbegriffs stellt Hucklenbroich fest, „dass Naturalismus und Normativismus beide jeweils nur einen Aspekt einer komplexen Entwicklung gesehen und <?page no="56"?> Krankheit und Gesundheit - Therapie und Enhancement 56 einseitig verabsolutiert haben, während diese doch gerade darin besteht, dass ein naturalistischer Krankheitsbegriff historisch-soziokulturell konstituiert wird“ (Hucklenbroich, 2010: 139). Tatsächlich versuchten manche Autoren im Laufe der Weiterentwicklung des Krankheitsbegriffs eine Verbindung zwischen der Position des Naturalismus und der des Normativismus herzustellen (Khushf, 1995: 465). Die Überlegungen Wolfgang Wielands zeigen Bezüge zwischen Naturalismus und relationalen Ansätzen, wenn er schreibt, dass sich das System der substantiellen Krankheitseinheiten z.B. mit den Vorstellungen über individuelle Reaktionsweisen oder Konstitutionen kombinieren ließe. Außerdem könnten darin modifizierende Umweltbedingungen berücksichtigt werden (Wieland, 1975: 109f.). Christian Lenk hat einen kombinierten Krankheitsbegriff ausgearbeitet (2002), dem er drei konstituierende Aspekte von Krankheit zugrundelegt, die sich letztlich in den drei hier vorgestellten Positionen zum Krankheitsbegriff spiegeln: Ein objektiver, ein subjektiver und ein relationaler Aspekt; ein normatives Element fehlt. Jeder der Aspekte kann auf Krankheit weisen. Dieses Modell sieht vor, dass von Krankheit gesprochen werden kann, wenn mindestens zwei Aspekte auf Krankheit weisen, mit der Vorgabe, dass der objektive Aspekt auf jeden Fall dabei sein muss. Die Bedeutung einer „empirischen Kausalanalyse“ betont auch Hucklenbroich (2010: 140), da sie den Sinn von Diagnosen und damit die Ziele der Medizin befördern, die letztlich darin bestehen, zur „Gewinnung von ärztlichem Interventionswissen zur Beseitigung und Verhütung krankhafter Zustände von Körper und Seele“ (ebd.) beizutragen. Er nennt Kriterien, „die den ursprünglichen Sinn von Krankheit ausmachen“ und die es erlauben „zwischen Erkrankungen, im Sinn der naturalistischen Medizin, und Schäden oder Verfehlungen anderer, nichtmedizinischer Art“ zu unterscheiden. (Hucklenbroich, 2010: 142). Er fasst zusammen, dass ein Lebensprozess pathologisch ist, „ wenn er lebensbedrohlich ist, wenn er mit Schmerz oder Leiden verbunden ist, wenn er eine körperlich-seelische Behinderung darstellt, wenn er mit Unfruchtbarkeit einhergeht, - oder wenn er das soziale Zusammenleben beeinträchtigt.“ (ebd.: 143 16 ). Als Lebensprozesse beschreibt Hucklenbroich „willensunabhängige Prozesse am oder im Organismus individueller Menschen“ (ebd.). Außerdem muss es reale, nicht krankhafte Alternativen geben, die nicht „vollständig künstlich herbeigeführte Verläufe sind.“ (ebd.: 143f.). Anhand dieser umfassend definierten Krankheitskriterien kann eine systematische Krankheitslehre ausgearbeitet werden. Zu diesem Zweck nimmt der Autor 16 Die ausführliche Version findet sich ebenfalls dort Seite 142f. <?page no="57"?> Krankheitsbegriffe und Klassifikationssysteme 57 zwei weitere mögliche Kriterium für Krankheit hinzu: Er lässt „klinisch bekannte Zeichen und Symptome krankhafter Prozesse in einem sekundären, abgeleiteten Sinn zusätzlich als krankhaft gelten.“ Schließlich nimmt er einen weiteren „Begriff der Abnormalität“ auf, der mit Hilfe der Statistik gewonnen wird und „in einem tertiären, wahrscheinlichkeitstheoretischen Sinn Krankhaftigkeit bedeutet.“ (ebd.: 145) Mit dieser umfassenden Definition von Krankheit, kann Therapie relativ sicher bestimmt und damit von Enhancement unterschieden werden. Das letzte Kriterien für einen pathologischen Lebensprozess erscheint jedoch problematisch: Ein Lebensprozess ist pathologisch, „wenn er das soziale Zusammenleben beeinträchtigt.“ (ebd.: 143). Damit wird ein weites Feld eröffnet, in dem Verhaltensweisen als pathologisch definiert werden können. Was der Autor in Bezug auf die Schutz-Indikation anmerkt, nämlich dass „sicher eine weitere, nicht nur rein medizinische Diskussion erforderlich [ist]“, trifft sicher auch für das erwähnte Kriterium zu. Mit der besonderen Schwierigkeit der Klassifikation psychischer Krankheiten befasst sich der folgende Abschnitt. 4.1.6 Die Schwierigkeit der Klassifikation psychischer Krankheiten Nosologische, d.h. nach Syndromen hierarchisch geordnete Krankheitssysteme tragen dazu bei, Krankheitszustände unterscheidbar und identifizierbar zu machen. Wieland führt aus, dass die einzelnen Gruppen von Krankheitsbildern unterschiedliche Randschärfe aufweisen und daher konkrete Diagnosen ganz unterschiedliche Gewissheitsgrade haben (1975: 110). Die Schwierigkeit ist, dass nur ein Teil der Krankheitszustände kategorial festgestellt werden kann, d.h. durch die Feststellung des Vorhandenseins oder nicht Vorhandenseins eines Krankheitsmerkmals. Viele behandlungswürdige Zustände sind dimensional, d.h. die Störungen sind als Extrem einer natürlichen Verteilung zu sehen, so dass es zu kontinuierlichen Übergängen zwischen „voll funktionsfähig“ und „mehr oder weniger eingeschränkter Funktionsfähigkeit“ kommt. Bei psychischen Störungen ist diese Art von Übergängen besonders häufig und deshalb ist es besonders schwierig, klare Kriterien aufzustellen. Ihre Definition ist deskriptiv und so sehen sich psychiatrische Klassifikationssysteme häufiger Kritik ausgesetzt. Da die Gefahr von Missbrauch offensichtlich ist, wurde versucht, auch in diesem Bereich objektive Beurteilungskriterien zu gewinnen. Die bekanntesten Systeme für den psychiatrischen Bereich sind das System der International Classification of Diseases (ICD) der Weltgesundheitsorganisation und das System des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) der American Psychiatric Association mit ihren aktuellen Ausgaben ICD 10 bzw. DSM IV. Die Probleme dieser Systeme in der Anwendung zeigen sich bei der Diagnose der ADHS (5.2.2). <?page no="58"?> Krankheit und Gesundheit - Therapie und Enhancement 58 4.1.7 Ein genetischer Krankheitsbegriff? Seit einigen Jahren wurde in der medizinischen Forschung eine Arbeitsrichtung dominant, die versucht, jeder Krankheit eine spezifische genetische Grundlage zuzuordnen. Man könnte von „Genetisierung“ der Medizin sprechen. Unter anderem wird dabei auch die Hoffnung genährt, die genetische Ausstattung gerade für psychische Störungen als zuverlässigen biologischen Marker einzusetzen. Ein Problem dabei ist jedoch, dass im Unterschied zu klassisch genetischen Erkrankungen die genetische Komponente von psychiatrischen Erkrankungen nicht monogenetisch, sondern multigenetisch ist, was die Zuordnung erschwert oder unmöglich macht. Außerdem zeigt die zunehmend differenziertere empirische Beschreibung des Zusammenhangs zwischen Genotyp und Phänotyp die enorme Komplexität der dazugehörigen Prozesse. Immer offensichtlicher wird die Bedeutung der epigenetischen Vererbungssysteme (Jablonka und Lamb, 2005, hier: 2006: 113-127). Dazu gehört die Steuerung über die Genaktivität, aber z.B. auch an Membranen und Proteine gebundene Weitergabe von Information (ebd.). Häufig werden Umwelteinflüsse über diese Systeme vermittelt und dann von Zelle zu Zelle weitergegeben. So könnten Lebensbedingungen und Risikofaktoren (5.3.3) über diesen Weg ihre Wirkung z.B. für das Aufmerksamkeitsdefizit/ Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) entfalten. Weitere Systeme für die Transmission von Information über Generationen hinweg sehen die Autorinnen im Verhalten und in Symbolen (ebd.). Hier soll noch auf zwei Probleme auf einer anderen Ebene hingewiesen werden, ohne sie in ihrem ganzen Umfang auszuführen. So scheint die Bedeutung von Umweltfaktoren durch die vorherrschende Präsenz der Debatten über genetische Determiniertheit von Krankheiten an den Rand gedrängt zu werden. Gerade diese „Umwelt“-Seite ist es jedoch, auf der durch menschliches Handeln, bewusst und unbewusst, auf jeden Fall Einfluss genommen wird, auf der also große Chancen und große Verantwortung liegen. Durch die Betonung der genetischen Einflüsse werden nicht nur Chancen vergeben, sondern auch Verantwortung abgegeben, weil eine Einstellung gefördert wird, nach der eine Krankheit ohnehin weder durch äußere Einflüsse verhindert werden kann, noch ihr Verlauf durch Verhalten zu beeinflussen ist. Es ist zu hoffen, dass die Verbreitung solcher Einstellungen zurückgeht, je mehr sich die Erkenntnisse über die Bedeutung der epigenetischen Vererbungssysteme durchsetzen. Weiterhin besteht die Gefahr, dass die allgegenwärtige Variabilität in den Erbanlagen in ihrer positiven Bedeutung nicht ausreichend gewürdigt wird und sie stattdessen eine abwertende Konnotation im Sinne von Abweichung, Aberration oder Abart annimmt, die der Vielfalt menschlicher Daseinsformen und deren Berechtigung und Vorteilen nicht angemessen ist. Für das Beispiel der <?page no="59"?> Therapie, Enhancement und die Grauzone 59 ADHS sind diese Anmerkungen außerordentlich aktuell und werden unter 5.3.2 wieder aufgegriffen. 4.2 Therapie, Enhancement und die Grauzone Angesichts der Schwierigkeit, Krankheitseinheiten scharf voneinander abzugrenzen und sie hierarchisch zu ordnen, machte schon A. Feinstein (1967; zitiert nach Wieland, 1975: 126) den Vorschlag, gerade die Überschneidungen zu klassifizieren. Überschneidungen sollten keine Unvollkommenheiten darstellen, sondern dazugehören, so dass z.B. eine Grauzone zwischen Therapie und Enhancement kein Makel ist, sondern dieses Konzept zur Beschreibung der Realität tauglicher macht. So spricht McGee (2000: 300) von „klarem Enhancement“ („plane enhancement“) und Grenzfällen („borderline cases“). Die Grauzone als eigenen Bereich wahrzunehmen schafft Bewusstheit für schwierige Entscheidungen, jedoch auch für die Freiheitsgrade von Entscheidungen. Da sich die Klassifikation psychischer Krankheiten aufgrund der Offenheit menschlichen Verhaltens besonders schwierig darstellt (4.1.6), und biologische Marker meist nicht zur Verfügung stehen, ergibt sich eine besonders breite Grauzone zwischen der Therapie von Hirnleistungsstörungen und Cognition Enhancement (CE). Gerade in dieser Zone der Ungewissheit zwischen Therapie und Enhancement kommen normative und subjektive Bewertungselemente zum Tragen, in denen sich gesellschaftliche, historische und kulturelle Normen widerspiegeln (s.5.2.1). Sie lässt Raum für Medikalisierungen (4.4.3) sowie für verdecktes Enhancement (5.4.7). <?page no="60"?> Krankheit und Gesundheit - Therapie und Enhancement 60 Abbildung: Die Grauzone zwischen Therapie und Enhancement. 4.3 Gesundheitsbegriffe und ihre Konsequenzen für den Enhancementbegriff Das Vorhandensein und die Breite einer Grauzone hängen vom Krankheitsbegriff und zugleich vom jeweils zugrunde gelegten Gesundheitsverständnis ab. Die Enhancementdefinition nach Anderson (1985, 4), die Enhancement gegenüber Therapie abgrenzt, basiert auf einem negativen Gesundheitsbegriff, bei dem Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit aufgefasst wird. Die Alternative wäre ein Gesundheitsbegriff, wie ihn z.B. <?page no="61"?> Bezug von Enhancement zu Prävention, Doping und Medikalisierung 61 die WHO 17 gewählt hat: Gesundheit ist danach ein Zustand vollkommenen physischen, mentalen und sozialen Wohlbefindens. Christian Lenk merkt an, dass diese maximalistische Vorstellung ein Ideal ist, das unter realen Bedingungen wohl kaum anzutreffen ist. „Nach einer solchen Definition sind die wenigsten Menschen gesund.“ (Lenk, 2002: 145). Unter dieser Prämisse müsste jedem Wunsch nach Veränderung entsprochen werden, und es sind sicher Zweifel angebracht, ob sich aus einem Wunsch eine berechtigte Forderung oder gar ein Recht auf Veränderung ableiten lässt. Jedenfalls gäbe es in diesem Rahmen kein Enhancement im beschriebenen Sinne, jede Behandlung wäre eine Therapie mit der Tendenz, Probleme aus anderen Lebensbereichen, in den Aufgabenbereich der Medizin hinein zu verschieben. Dafür wurde der Begriff Medikalisierung geprägt (4.4.3). Umgekehrt gibt es Autoren, die alles, was ein Mensch für sich tut, als Enhancement beschreiben, z.B. auch die ausreichende Versorgung mit vollwertiger Nahrung (Greely et al., 2008). Diese Definitionsstrategien machen jede Diskussion über Wünschbarkeit oder Ablehnung von Enhancement überflüssig, denn ohne Zweifel könnten alle zustimmen, dass jeder Mensch das Recht auf eine ausreichende Versorgung mit vollwertiger Nahrung hat. Wenn aber Medikamente der Nahrung gleichgestellt werden, kann niemand etwas gegen ihre freie Verwendung einwenden; es würde ja auch niemand auf die Idee kommen, die tägliche Essensration vom Arzt verschreiben zu lassen. Mehr noch: Jedem Menschen müsste das Recht auf medizinisch nicht indizierte Medikamente eingeräumt werden, entsprechend dem Recht auf Nahrung, Kleidung usw. (vgl. 11). Die interessanten Fragen, wie mit speziellen Techniken, die bei indizierten Fällen als Therapie in Frage kommen, umzugehen ist, wenn sie für Gesunde gefordert werden, wären damit aber nur verdeckt, nicht beantwortet. Deshalb wird hier an der oben dargestellten Enhancementdefinition festgehalten. Es ist offensichtlich, dass mit dieser Definition gewisse Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen Enhancement und Ernährung stehen bleiben und dass dazwischen ebenfalls eine Grauzone liegt. Es gilt, auch diese Grauzone nicht zu ignorieren, sondern zu bearbeiten. Hier werden Fragen des Wohlbefindens in seiner Voraussetzung für Handlungsfähigkeit tangiert (11.1). 4.4 Bezug von Enhancement zu Prävention, Doping und Medikalisierung Die Handlungsfelder der Ärzte waren noch nie vollkommen auf die Heilung von Krankheiten und die Versorgung von Verletzten beschränkt, obwohl darauf sicherlich das Hauptaugenmerk lag und immer noch liegt. 17 WHO: World Health Organization <?page no="62"?> Krankheit und Gesundheit - Therapie und Enhancement 62 Medizinisches Enhancement gehört nicht zu den Kernaufgaben ärztlichen Handelns, da es nur für Gesunde in Frage kommt und daher soll es zunächst mit Doping im Sport und mit Prävention verglichen werden, die sich ebenfalls beide an Gesunde richten. 4.4.1 Prävention Prävention gehört ausdrücklich zu den Kernaufgaben eines Arztes, obwohl diese ärztlichen Bemühungen explizit gesunde Menschen erreichen sollen. Konkret geht es um Schutzmaßnahmen, wie z.B. Impfen, oder diagnostische Abklärungen und Vorsorgeuntersuchungen. Insofern die Ausgangslage kein Krankheitszustand und keine Notsituation ist, wäre Prävention dem Enhancement sehr nahe. Der Unterschied liegt hier im Ziel, da mit der Prävention „die Verhinderung von Krankheiten“ (Lenk, 2002: 130) angestrebt wird, also die Verhinderung antizipierter Notlagen. Auch hier wirkt die Grauzonenproblematik herein, da geklärt werden muss, welche Zustände verhindert werden sollen. Die Nutzenabwägungen in diesem Bereich können hier nicht diskutiert werden. 4.4.2 Doping im Sport - eine Spezialform des Enhancement ? Unter Doping versteht man gemeinhin die Anwendung medizinischer Techniken, häufig eine Verwendung von Medikamenten, ohne medizinische Indikation mit dem Ziel der Verbesserung der sportlichen Leistung. In diesem Sinne ist die Ausgangssituation des Sportlers keine Notlage und der Sinn der Applikationen ergibt sich allein aus der Konkurrenzsituation, wenn man vom Wettkampfsport spricht. Da im Wettkampfsport mit Doping schon in größerem Umfang experimentiert wurde bevor es in anderen Lebensbereichen eine nennenswerte Rolle spielte, könnte in dieser Hinsicht von „Wegbereiter“ gesprochen werden 18 . Claudia Pawlenka sieht im Sport „eine artifizielle, künstlich erzeugte Welt“ (2004: 304). Doping im Sport könne daher als eine Spezialform von Enhancement betrachtet werden, bei der sich die Spezialisierung nicht nur auf eine bestimmte Fähigkeit bezieht, sondern auch auf einen spezifischen Lebensbereich. Auf den ersten Blick scheint der Sport zwar ein „Abbild der Gesellschaft“ zu sein, da er ihre Prinzipien „Leistung, Konkurrenz und Gleichheit“ übernommen hat (Pawlenka, 2010: 19). Die Autorin macht jedoch klar, dass es die Regeln des Sports sind, die zu einer „‘Entweltlichung‘ des Sports“ führen: „Die Spielregeln erzeugen also den sportlichen Sonderweltcharakter.“ (ebd.). Auf der Basis des Sonderweltcharakters baut 18 Inzwischen bleiben geeignete Praktiken nicht auf den Spitzensport beschränkt, sondern auch im Breitensport wird gedopt, häufig ohne ärztliche Betreuung; das ist hier jedoch kein Thema. <?page no="63"?> Bezug von Enhancement zu Prävention, Doping und Medikalisierung 63 Pawlenka eine Argumentation auf, in deren Verlauf die Leistungsverbesserung mit künstlichen Mitteln im Sport völlig anders beurteilt wird, nämlich negativ, als in anderen Lebensbereichen z.B. im Studium oder in Musikberufen (ebd.: 221-229). Pawlenka bezieht sich dabei auch auf Birnbacher (2006: 124f.). Der Vorstellung von der Sonderwelt des Sports kann man zustimmen, eine Einschränkung wäre nur dahingehend zu machen, dass für Millionen Profisportler der Sport einen Arbeitsplatz bedeutet, an dem die Spielregeln des „normalen“ Wirtschaftslebens gelten. Umgekehrt könnte man fragen, ob nicht andere Lebensbereiche wie der Bildungssektor mit Schule und Universität und die verschiedenen Berufswelten z.B. des Medizinbetriebs oder eines Firmenimperiums auch Sonderwelten mit ihren eigenen Regeln bilden. Diese Frage kann hier nicht zu Ende diskutiert werden, wichtig ist vielmehr, dass auch in diesen Lebensbereichen Enhancement erst im Kontext der Prinzipien Zielorientierung, Leistung und Konkurrenz seine Bedeutung erhält. Ob daher der Sonderweltcharakter des Sports so einzigartig ist, dass er eine völlig andere Einschätzung der Leistungsverbesserung mit künstlichen Mitteln in den verschiedenen Lebensbereichen rechtfertigt, erscheint fraglich und bleibt zu untersuchen. Die Arbeit von Pawlenka macht im Grunde deutlich, dass die Bewertung von Enhancement nicht nur für die unterschiedlichen Mittel gesondert vorgenommen werden muss, sondern auch für die verschiedenen Lebensbereiche. Bevor man z.B. Enhancement für einen Examenskandidaten als unproblematisch einstufen kann, wäre zu klären, was den Sinn des Examens ausmacht, der ja vermutlich über den Tag des Examens hinausreicht. Erst dann kann gesagt werden, ob der Sinn durch die Verwendung künstlicher Mittel unangefochten bleibt oder zunichte gemacht wird (siehe dazu 13.1.5). 4.4.3 Medikalisierung Unter Medikalisierung versteht man zunächst die Expansion des Medizinischen in alle Bereiche des Lebens und der Kultur (Illich, 1974). Diese Möglichkeit hat auch ethische Aspekte, die unter 12.1.2 angesprochen werden und gerade im Zusammenhang mit ADHS-Diagnosen bedacht werden sollen (12.1.3). Häufig verbindet sich mit dem Begriff Medikalisierung die weiterreichende Annahme, dass versucht wird, nicht krankheitsbedingte Probleme mithilfe medizinischer Methoden zu lösen, häufig durch Medikamente. Dabei wird nicht übersehen, dass jedes allgemeine Problem das Potential hat, sich zu einem medizinischen Problem auszuwachsen, auch hier ist von einer Grauzone auszugehen, die von klaren Polen eingerahmt wird. Umgekehrt besteht die Gefahr, durch eine medizinisch-technische Problemlösung zugrunde liegende Ursachen zu verdecken und eine langfristige Verbesserung der Situation zu versäumen. Damit ist nicht gesagt, <?page no="64"?> Krankheit und Gesundheit - Therapie und Enhancement 64 dass nicht innerhalb der Medizin allgemein und besonders in bestimmten Arbeitsrichtungen, z.B. der integrierten Medizin, durchaus die Bedeutung der Gesamtsituation eines Ratsuchenden gesehen wird und der Anspruch besteht, nicht nur einzelne Aspekte isoliert zu behandeln, sondern eine umfassende Lösung zumindest im Auge zu haben. Aus strukturellen bzw. zeitlichen (v. Uexküll und Wesiack, 2011: 13) Gründen ist dies jedoch von ärztlicher Seite oft nicht zu leisten. Die Überdeckung zugrunde liegender Ursachen wird nun häufig dadurch begünstigt, dass medizinischtechnische Lösungen, wie auch medikamentöse Eingriffe, oft schnell Wirkung zeigen und die Lösung des Problems vortäuschen. In vielen Fällen wird erst durch das erneute Auftreten der Schwierigkeiten offenbar, dass das eigentliche Problem nach wie vor nicht gelöst ist. Damit sind ausdrücklich nicht die Fälle gemeint, in denen eine ursächliche Problemlösung nicht (mehr) möglich ist, wie das bei vielen Krankheiten der Fall ist, und in denen dann alle Möglichkeiten der Linderung durch die Medizin ausgeschöpft werden sollten. Das Phänomen der Medikalisierung ist gewiss nicht neu, und sein Ausmaß und seine Ursachen können hier nicht bis in Detail ergründet werden. Ein Aspekt scheint jedoch noch bedenkenswert: Der Weg, über Medikalisierung mit Schwierigkeiten umzugehen, bietet die Möglichkeit, Verantwortung abzugeben. Ein Arzt übernimmt in Ausübung seines Berufes ständig Verantwortung für andere, und so ist der Schritt für Patienten nicht groß, ihm noch mehr Verantwortung zu übertragen, auch für Probleme, die nicht sein Berufsfeld betreffen. Wenn dieser Weg vermehrt begangen wird, kann dies ein Indiz dafür sein, dass Menschen weniger bereit sind, Verantwortung auf sich zu nehmen. Es kann aber auch bedeuten, dass die Verantwortung gewachsen ist oder dass die Unterstützung aus anderen Ressourcen, z.B. Familie, Freunde, Nachbarschaft oder Dorfgemeinschaft, nicht ausreicht oder wegfällt. Sind einzelne Individuen in einer Situation überfordert, wenden sie sich an ihren Arzt, obwohl ihr Problem ein gesellschaftliches bzw. soziales und kein medizinisches ist. Es kommt zur „Medikalisierung sozialer Probleme“, ein Thema, das in Bezug auf ADHS intensiv diskutiert wird (Leuzinger-Bohleber et. al., 2006a). Analog könnte auch von einer Medikalisierung pädagogischer Probleme gesprochen werden, wenn z.B. pädagogische und erzieherische Probleme durch eine Therapie gelöst werden (s.5.4.7). Es bestehen gewisse Überschneidungsbereiche zwischen Enhancement und Medikalisierung. Im Unterschied zu Enhancement entsteht eine Medikalisierung jedoch meist aus einer Situation, in der Hilfe benötigt wird, oft aus einer richtigen Notlage heraus. Die adäquate Hilfe ist jedoch nicht notwendiger Weise von medizinischem Personal zu leisten, unter Umständen sind andere Berufsgruppen besser dazu qualifiziert. Hier kommt häufig ein Problem der Kostenübernahme hinzu (s.u.). <?page no="65"?> Bezug von Enhancement zu Prävention, Doping und Medikalisierung 65 Der bio-psycho-soziale Ansatz der integrierten Medizin (4.1.3) scheint auf den ersten Blick Medikalisierungen zu begünstigen, weil so viele Aspekte berücksichtigt werden. Mit dem Anspruch, den Hilfesuchenden dabei zu unterstützen, „seine Wirklichkeit in zunehmendem Maße salutogenetisch zu gestalten“ (v.Uexküll und Wesiack, 2011: 37) wird jedoch dem „Patienten“ wieder ein Stück Verantwortung für sein Befinden zurückgegeben und so genau in eine der Medikalisierung entgegengesetzte Richtung gearbeitet. Obwohl es natürlich auf die Art des Leidens ankommt, hat eine überraschend große Zahl von Beschwerden mit der Lebensgestaltung zu tun. 4.4.4 Medikalisierung und Enhancement und Fragen der Kostenübernahme Die Verortung von Enhancement im medizinischen Kontext wirft die Frage der Finanzierung auf, da in einem staatlichen Gesundheitssystem ärztliche Leistungen in der Regel von der Solidargemeinschaft der Versicherten zu tragen sind. Entsprechend der Vorstellung von Mc.Gee begründet medizinische Notwendigkeit ein Recht auf Behandlung, das ohne sie eingeschränkt ist (McGee, 2000: 300; Sabin und Daniels, 1995) und im Großen und Ganzen ist medizinische Notwendigkeit die Voraussetzung für die Übernahme der Kosten durch die Solidargemeinschaft 19 . So funktioniert die Legitimationskette Diagnose - Therapie - Kostenerstattung für die meisten Diagnosen. Nun können Menschen in Lebenssituationen kommen, zu deren Bewältigung sie professionelle Hilfe brauchen, z.B. in einer schweren Trauerphase oder in einer Schulkrise, in denen sie jedoch nicht in dem Maße mit finanzieller Unterstützung rechnen können, es sei denn ihr Zustand in der Situation lässt sich einem Krankheitsbild zuordnen, aufgrund dessen eine Diagnose erstellt werden kann, die eine Therapie und deren Kostenerstattung legitimiert. So ist die Chance auf Kostenübernahme oft Grund genug eine Diagnose anzustreben. Wie die Ausführungen zum Krankheitsbegriff gezeigt haben, ist es ja auch bis zu einem gewissen Grad ein gesellschaftlicher Prozess, in dem ein Zustand zu einem Zustand wird, der als krank gilt, und ebenso ist es eine gesellschaftliche Entscheidung, für welche Behandlung innerhalb dieses Systems bezahlt wird. Es ist anzunehmen, dass diese Zusammenhänge der Tendenz zu Medikalisierungen Vorschub leis- 19 Bekanntermaßen gibt es gewisse Ausnahmen von dieser Regel; so werden nicht alle Leistungen, die ein Arzt aufgrund einer Krankheitsdiagnose erbringt, von den Krankenkassen erstattet, wie z.B. bei der Allergikertherapie, und umgekehrt werden Leistungen erbracht, die mit Krankheit nichts zu tun haben, wie bei einem Schwangerschaftsabbruch. Hier kommen noch weitere gesellschaftlich relevante Entscheidungs kriterien hinzu. - <?page no="66"?> Krankheit und Gesundheit - Therapie und Enhancement 66 ten. So wird im Bericht des President’s Council von finanziellen Anreizen für die Betroffenen bzw. ihre Eltern und ihre Schulen im Falle einer ADHS- Diagnose berichtet (President’s Council on Bioethics, 2003: 82). Auch wenn möglicherweise ein Zusammenhang zwischen der Kostenübernahme und Medikalisierungen besteht, wird Enhancement in der vorliegenden Arbeit unabhängig von der Frage der Kostenübernahme untersucht und bewertet. 4.5 Enhancement-Definition und ihre Implikationen Aufgrund der Schwierigkeiten bei der Therapie - Enhancement Abgrenzung ziehen es manche Autoren vor, auf diese Unterscheidung zu verzichten; so z.B. John Harris, der die Ansicht vertritt, dass Behandlungen nur als Enhancement zu bezeichnen sind, wenn sie dem Anwender gut tun, dann aber immer (2007). Indem er versucht, die Differenz zwischen Enhancement und Therapie auszuschalten, verschiebt er die nötigen Überprüfungen, z.B. ob eine Technik eine Verbesserung bringt, welches Risiko sie bringt, für welche Individuen sie sinnvoll ist aus dem medizinischen Kontext hinaus in einen bisher nicht klar beschriebenen Bereich mit unklaren professionellen Zuständigkeiten. Für die Bewertung einer Technik bzw. ihres Risikos und für die Frage nach der Wünschbarkeit ihrer Anwendung ist jedoch der Zustand der Betroffenen vor der Behandlung mit entscheidend. Ist ein Mensch krank oder von einer Krankheit bedroht, lassen sich die Risiken einer Behandlung eher rechtfertigen, als wenn er gesund ist. So kann es sein, dass z.B. ein und dasselbe Medikament für eine Therapie akzeptabel ist, für pharmakologisches Cognition Enhancement (PCE) jedoch nicht. Damit rückt die Frage nach dem medizinisch Notwendigen wieder in den Blick. Vielleicht möchte das mancher eine Nutzen-Risiko-Analyse nennen, aber es ist doch nichts anderes als die Feststellung, in welchem Zustand sich die betreffende Person vor der Behandlung befindet, und die Begriffe gesund und krank sind eine Zusammenfassung dieser Feststellung. Daher wird in dieser Arbeit an der Therapie - Enhancement Unterscheidung festgehalten und folgende Definition zugrunde gelegt: Enhancement ist eine Behandlung mit Mitteln der Medizin ohne medizinische Indikation, die auf die Verbesserung menschlicher Fähigkeiten und Eigenschaften zielt. Und entsprechend: Pharmakologisches Cognition Enhancement ist eine medikamentöse Behandlung ohne medizinische Indikation mit dem Ziel der Verbesserung der kognitiven Leistung. Mit dieser Definition ist keine zwangsläufige Bewertung von Enhancement verbunden, etwa in der Art, dass jede Behandlung, die nicht als The- <?page no="67"?> Enhancement-Definition und ihre Implikationen 67 rapie gelten kann, verboten sein sollte. Auf der Suche nach Kriterien ist medizinische Notwendigkeit eine erste große Scheidelinie. Dabei sollte das Bewusstsein um die normativen und subjektiven Aspekte, die jedem Begriff von Krankheit innewohnen und die vor allem in der Grauzone zwischen Krankheit und Gesundheit entscheidend sind, stets wach gehalten werden. Wenn es so gelingt, die Ausgangssituation und die Randbedingungen zu klären, kann eine differenzierte Prüfung für einzelne Techniken und verschiedene Anwendergruppen durchgeführt werden. Mit dieser Aufgabe befasst sich diese Arbeit an dem konkreten Beispiel der Psychostimulanzien. <?page no="68"?> 5 Aufmerksamkeitsdefizit/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und die Problematik der Grauzone Die ADHS ist ein eindrückliches Beispiel für das Vorhandensein einer Grauzone zwischen Krankheit und Gesundheit, wie sie im letzten Kapitel dargestellt wurde. So lässt sich die anhaltende Uneinigkeit über die Einordnung des Erscheinungsbildes als Krankheit erklären, die verschärft wird durch unterschiedliche Standpunkte bezüglich Ätiologie und Therapie. Einzig die Beschreibung der Symptome hat sich im Laufe der Zeit relativ wenig geändert (Günter, 2008). Außerdem ist ADHS ein Beispiel für die therapeutische Verwendung von Stimulanzien. Eine erschöpfende Darstellung der ADHS-Thematik ist im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich. Das Anliegen des folgenden Abschnittes ist es vielmehr, einen Einblick in die Komplexität der Problematik zu geben, um einige kritische Aspekte des Grauzonenbereichs anzusprechen und damit die Diskussion von Fragen aus ethischer Perspektive vorzubereiten. 5.1 ADHS-Erscheinungsbild Unter der Bezeichnung ADHS wird eine Vielzahl von unerwünschten Verhaltensweisen zusammengefasst. Klagen von Eltern und Lehrern über unruhige und/ oder unaufmerksame Kinder lauten so oder ähnlich: Er „passt im Unterricht nie auf, ist ständig abgelenkt, redet ohne Aufforderung, […]macht was er will, zappelt die ganze Stunde auf seinem Stuhl herum, hat viel Streit mit anderen Kindern“ oder …sie „ist immer so verträumt. Sie bekommt nichts mit und vergisst alles, was man ihr sagt.“ […] er „verliert ständig alles, er ist unser Träumer.“ (Lautenbacher/ Gauggel, 2004). Viele dieser Kinder sind immer „on Tour“, immer auf der Suche nach einer neuer Ablenkung, einem neuen Anreiz, einem neuen Stimulus; unter ihnen gibt es viele so genannte „Novelty seekers“. Die Leitsymptome (s.u.) sind im Vergleich zu nicht diagnostizierten gleichaltrigen Kindern jeweils extrem ausgeprägt. Mangelnde Aufmerksamkeit kommt mit und ohne Hyperaktivität vor, doch im Folgenden wird nur die Abkürzung ADHS benützt. Hyperaktivitätssymptomatik ohne eine andere Störung ist sehr selten, meist tritt sie in Kombination mit unterschiedlichen anderen Störungen auf (komorbide Störungen siehe Günter, 2008). Dabei verschlechtert eine zusätzliche Störung des Sozialverhaltens die Prognose besonders, weil diese Kombination sehr häufig dissoziale Entwicklungen und Substanzmissbrauch nach sich zieht (ebd.). Ähnliches gilt für aggressive Störungen. <?page no="69"?> Diagnose der ADHS 69 Günter weist darauf hin, dass das resultierende Verhalten der Betroffenen nicht selten zu einer anhaltenden, enormen Belastung der inner- und außerfamiliären Beziehungen führt, wodurch ein „Circulus vitiosus von Ablehnung, Sanktionen, Schulversagen, oppositionellem Verhalten oder Sichnegativ-in-Szene-Setzen und erneuten Sanktionen und sozialer Ausgrenzung“ in Gang kommen kann (ebd.: 9). Diese sekundären Symptome sind nach Ansicht des Autors für alle Beteiligten oft noch belastender als die Primärsymptome, indem sie die soziale Integration erschweren und das familiäre Beziehungsgefüge belasten. Dadurch sind sie von entscheidender prognostischer Bedeutung (ebd.). Günter (2008) präzisiert die Leitsymptome der ADHS wie folgt: „Unaufmerksamkeit (Aufmerksamkeitsstörung, Ablenkbarkeit): Mangel an Ausdauer und Konzentration, Abbruch bei Beschäftigungen; häufiger Wechsel von einer Tätigkeit zur anderen, Ablenkbarkeit (durch externe Stimuli); Unfähigkeit, die Aufmerksamkeit zu teilen; mangelnde Aufmerksamkeit für Details; hört oft nicht zu; verliert oft Dinge; ist vergesslich. Überaktivität (Hyperaktivität, motorische Unruhe): Zappelphilipp; desorganisierte, überschießende Aktivität; kann nicht still sitzen, steht oft auf; exzessives Rennen oder herumklettern; ausgeprägte Redseligkeit, Lärmen, Schwierigkeiten still zu sein. Impulsivität: Mangel an normaler Vorsicht und Zurückhaltung; Unfallneigung; Regelverletzung aus Impulsivität; Distanzlosigkeit gegenüber Erwachsenen; platzt mit der Antwort heraus, bevor die Frage beendet ist; geht nicht auf andere ein; kann nicht warten, bis er/ sie an der Reihe ist (im Spiel, in Gruppen)“ 5.2 Diagnose der ADHS Für die Diagnose dieser häufigen psychiatrischen Störung im Kindes- und Jugendalter stehen keine biologischen Marker zur Verfügung und so hängt es, wie unter 4.2 beschrieben, zunächst von der persönlichen Verhaltenswahrnehmung ab, ob ein Zustand als behandlungsbedürftig eingestuft wird. Es stehen jedoch umfangreiche diagnostische Möglichkeiten, die von Fachleuten für ADHS ausgearbeitet wurden, zur Verfügung (Günter, 2008). Werden sie vollständig durchgeführt und die entsprechende Differentialdiagnose erarbeitet, kann der Facharzt zu einem begründeten Urteil kommen. (Zur normativen Komponente von Diagnosen s.4.1.2, von Diagnosen psychischer Krankheiten s.4.1.6 und zu deren ethischer Bedeutung s.12.1). <?page no="70"?> Aufmerksamkeitsdefizit/ Hyperaktivitätsstörung - Problematik der Grauzone 70 5.2.1 Die Rolle der Bewertenden Kinder mit ADHS bitten in der Regel nicht selbst motiviert um Hilfe, sondern werden wegen häuslicher oder schulischer Probleme einem Arzt vorgestellt (Trott, 2004). Eltern, Erzieher und Lehrer haben einen entscheidenden Einfluss auf die Diagnose, denn bei Diagnostik und Therapie von Kindern und Jugendlichen sind Ärzte auf deren Information und Mitarbeit angewiesen. Nissen und Kollegen (2004) schreiben dazu: „Auch nach mehreren Gesprächen übersieht er [der Arzt] nur den Teil der Problematik, der ihm von den Eltern mitgeteilt wurde. Oft genug bleibt er über weite Strecken auf Vermutungen und Hypothesen angewiesen, die ihm bei der Beratung helfen können, aber allein keine zureichende Basis für Entscheidungen darstellen“ (Nissen et al. 2004: 60). Steven Rose betont ebenfalls die Rolle bewertungsbeeinflussender Normen: „That is, there needs to be a definition of normality against which the child is to be judged abnormal - and the narrower that range, the more children fall outside it.“ (Rose, 2005). Daher müssen der Exploration der Familie und den Informationen von Kindergarten oder Schule ausreichend Zeit zur Prüfung gewidmet werden, bevor sie in die Beurteilung integriert werden, um z.B. etwaige psychosoziale und emotionale Belastungsfaktoren zu erkennen. Dabei kann auch die Situation der Beobachtenden bzw. Wertenden selbst von Bedeutung sein, denn Eltern geben ihre ganz persönliche Wahrnehmung wieder, die zum Ausdruck bringt, was das Verhalten des Kindes für die Eltern bedeutet, also ihr subjektives Befinden mit ihrem Kind. Ein Verhalten kann dabei für Person A unruhig und vielleicht auch lästig sein und sie zum unterstützenden Eingreifen veranlassen, während es für Person B unerträglich nervig und nicht normal ist und sie zu einem Gang zum Arzt veranlasst. Ein Beispiel verdeutlicht die Situations- und Wahrnehmungsabhängigkeit von Verhalten. Eine Mutter empfand das Verhalten ihres Sohnes, der Wochentags von acht bis sechzehn Uhr in einer Tagesklinik einer Kinder- und Jungendpsychiatrie untergebracht war, derart unerträglich und das Wochenende mit ihm „so schlimm“, dass sie vom Oberarzt der Einrichtung vehement die Erhöhung der Dosis des Methylphenidat-Medikamentes ihres Kindes forderte. Das Kind war jedoch in der Klinik exakt medikamentös eingestellt worden und kam während der Zeit in der Klinik gut zurecht. Das Empfinden und die Aussagen von Eltern hängen von verschiedenen Faktoren ab. So ist die Toleranz gegenüber kindheitstypischem Verhalten allgemein sehr unterschiedlich. Zusätzlich sind manche Eltern anstrengenden Mehrfachbelastungen ausgesetzt oder sie fühlen sich auf verschiedene Weise allein gelassen mit der Erziehung ihrer Kinder, was ebenfalls sehr belastend werden kann. Das kann ihre Toleranz gegenüber der Lebhaftigkeit von Kindern herabsetzen. Außerdem ist es für Eltern, die vor ihrem eigenen Kind noch nie mit kleinen Kindern zu tun hatten, oft <?page no="71"?> Diagnose der ADHS 71 schwierig, kindheitstypisches Verhalten und seine Variationen zu erkennen, zu tolerieren bzw. zu akzeptieren und ggf. adäquat darauf zu reagieren. Bei Erziehern und Lehrern wird die Wahrnehmung durch die persönliche Erfahrung, aber z.B. auch durch die Gruppenbzw. Klassengröße, beeinflusst. Sie haben jedoch durch den Umgang mit so vielen Kindern gute Vergleichsmöglichkeiten. Bei Erwachsenen mit einer hyperkinetischen Störung ist es eher vorstellbar, dass sie sich selbst mit ihren Problemen um ärztliche Hilfe bemühen, oft ist es jedoch der Partner oder der Arbeitgeber, der die Betroffenen zu einer Therapie anregt oder gar drängt. Für die Diagnostik gilt das gleiche wie bei Kindern. 5.2.2 Möglichkeiten der Objektivierung der ADHS-Diagnose Kriterienkataloge Um die persönliche Beobachtung zu objektivieren, werden Kriterienkataloge verwendet: Entweder „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“, Version IV (DSM IV; American Psychiatric Association, 1994) oder "International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems", Edition 10 (ICD-10). Letzterer wurde 1990 von der WHO 20 gebilligt und wird seit 1994 in den Mitgliedstaaten verwendet. Die Kriterien erscheinen nicht besonders charakteristisch (5.1), d.h. viele der beschriebenen Symptome können auch auf ganz „normale“ Kinder und Erwachsene zutreffen. Ausschlaggebend dafür, ob ein Zustand als behandlungsbedürftig bewertet wird, ist das Ausmaß, in dem die Verhaltensweisen auftreten. Da jedoch für dieses „Ausmaß“ keine allgemeingültige Maßeinheit existiert, unterliegt die Bewertung des Verhaltens den Besonderheiten des Erkennens und Bewertens, die immer eine subjektive Komponente enthalten. Die Nutzung von Kriterienkatalogen kann die Subjektivität der Bewertung nicht aufheben (Riedesser, 2006: 114). Sie erhält vielmehr durch die Prozedur und die Verschriftlichung ein objektives Erscheinungsbild. Die Subjektivität der Verhaltensbewertung zeigt sich auch darin, dass der Aktivitätsgrad von diagnostizierten 21 und nicht diagnostizierten Kindern bisweilen ähnlich hoch ist. „Hyperactive children do not in general form a population with discrete psychopathology, but differ along a normal continuum of activity.[…] The failure to find overall significant increases in activity for the normal population might also result from several of the 20 WHO: World Health Organization. Die WHO hat bei ihrer Gründung 1948 die Verantwortung für ICD übernommen, dessen Ursprünge in die 1850iger Jahre reichen (http: / / www.who.int/ classifications/ icd/ en/ ). 21 „Diagnostiziert“ wird hier bewusst anstelle des Begriffes „erkrankt“ verwendet, um zum Ausdruck zu bringen, dass die Diagnosestellung teilweise umstritten ist. <?page no="72"?> Aufmerksamkeitsdefizit/ Hyperaktivitätsstörung - Problematik der Grauzone 72 subjects exhibiting relatively high levels of activity” (Robbins and Sahakian, 1979: 941). Hinzu kommt, dass die Diagnosehäufigkeit vom angewandten Kriterienkatalog abhängt. So liegt die Diagnosehäufigkeit von ADHS nach ICD 10 niedriger als bei der Diagnosestellung nach DSM IV. Die Anwendung von DSM IV führt also eher zu einer Ausweitung der Diagnose (Günter, 2008; s.1.3). Günter führt aus, dass ICD 10 im Vergleich zu DSM IV zusätzliche einschränkende Bedingungen enthält, die eine Ausweitung der Diagnose verhindern sollen. So wird z.B. das frühe Auftreten der Störung vor dem 6. Lebensjahr im ICD 10 als wichtiges, zusätzliches Kriterium für ADHS geführt. Ebenso das Vorliegen der fraglichen Verhaltensweisen in mindestens zwei Lebensbereichen, also z.B. zu Hause und in der Schule. Darüber hinaus müssen wesentliche emotionale Belastungen ausgeschlossen werden, bevor eine ADHS diagnostiziert werden kann. Ein weiterer Grund für unterschiedliche Diagnoseergebnisse ist, dass im DSM IV der unaufmerksame Subtyp noch hinzugenommen wurde, wodurch die Häufigkeit der Diagnose noch steigt. Diese Unterschiede führen dazu, dass mit der Wahl eines Kriterienkataloges bereits eine Vorentscheidung getroffen wird, die bei ein und demselben Verhalten zu unterschiedlichen Ergebnissen führen kann. Psychologische Tests Eine weitere Möglichkeit, die Diagnose der ADHS zu objektivieren ist die Verwendung psychologischer Tests. Man testet z.B. kognitive Einzelfunktionen, von denen man annimmt, dass sie den problematischen Verhaltensweisen zugrunde liegen, also in erster Linie exekutive Funktionen (7.4.4). Es wird auch versucht, mit Hilfe dieser Instrumente Subgruppen („Endophänotypes“) zu identifizieren und dadurch Hinweise für eine individuell zugeschnittene Therapie abzuleiten. Da z.B. Kinder mit ADHS in einem bestimmten Entscheidungsfindungs-Test bestimmte Defizite gegenüber der Kontrollgruppe aufweisen, wurde vorgeschlagen, das Abschneiden bei diesem Test als neuropsychologischen Marker zu verwenden (Devito et al., 2008). Viele Testverfahren haben jedoch schwache Spezifität. Eine Metastudie von Nigg (2005) bestätigt zwar, dass die ADHS-Kinder als Gruppe in den Tests erwartungsgemäß schlechter abschneiden als die Normalgruppe, doch die Korrelation zwischen Testergebnis und bestehender ADHS-Diagnose im Einzelfall ist gering. Es wird in diesem Beitrag von einer substantiellen Überschneidung in der Verteilung von Defiziten zwischen Kontrollindividuen und ADHS-Kindern in einem Einzeltest und einer Testbatterie berichtet. Daraus könnte man schließen, dass eine Diagnose auch durch psychologische Tests noch nicht ausreichend abgesichert werden kann. <?page no="73"?> Diagnose der ADHS 73 5.2.3 Forderung nach kombinierter Diagnostik und Differentialdiagnose Eine hinreichend zuverlässige Diagnose kann aus den genannten Gründen nur erreicht werden, wenn neben psychologischen Tests folgende Schritte durchgeführt werden, die Michael Günter ausführt: Intelligenz-, Entwicklungs- und Leistungstests, somatische Diagnostik, Exploration der Familie und der Fallgeschichte und nicht zuletzt die Einbeziehung der Informationen aus Kindergarten oder Schule 22 . Die Tatsache, dass die sekundären Symptome oft von entscheidender prognostischer Bedeutung sind, „unterstreicht die Notwendigkeit einer umfassenden und kompetenten diagnostischen Abklärung. Nur so kann verhindert werden, dass eine ADHS diagnostiziert wird und die erwähnten komorbiden Störungen unerkannt und damit unbehandelt bleiben oder gar fälschlicherweise deren Symptome einer reinen Aufmerksamkeitsstörung zugeschrieben werden, was leider immer wieder zu desaströsen Verläufen führt“ (Günter, 2008: 9). Es ist evident, dass eine solche Diagnostik höchst anspruchsvoll im Hinblick auf die spezielle Fachkompetenz und den Zeitaufwand ist und damit letztendlich hohe Kosten verursacht. Im Gegensatz zu medizinischen Laien trifft ein Arzt ganz bewusste Vorentscheidungen, von denen es letztendlich abhängen kann, ob ein Kind oder Erwachsener eine ADHS-Diagnose erhält oder nicht. Entschließt sich ein Arzt, sich „ausschließlich phänomenologisch an der zu beobachtenden Symptomatik zu orientieren“, (ebd.) und sich nach DSM IV zu richten, ist eine ADHS-Diagnose wahrscheinlicher als wenn er die Einschränkungen der ICD 10 berücksichtigt. In vielen Fällen verzichten Ärzte offenbar auf die aufwändige Diagnostik oder reduzieren diese und vertrauen überwiegend auf ihre Erfahrung. So wird die Durchführung einer Hochdosistherapie bei Kindern als Indiz dafür gewertet, dass „die Diagnostik meist nicht mit der gebotenen Sorgfalt erfolgte“ (Trott, 2004: 216). Ein weiterer Hinweis darauf, dass die ADHS- Diagnose in der Praxis teilweise schnell gestellt wird und die Verschreibung von Methylphenidat dadurch oft großzügig gehandhabt wird, findet sich im Arzneiverordnungsreport 2006 und 2007, in denen ausdrücklich vor „laxer Indikationsstellung“ gewarnt wird (Lohse et al., 2007: 854 und 2008: 806). Wenn ein Arzt auf die empfohlene Diagnostik verzichtet oder sie reduziert, ist auch das eine bewusste Entscheidung, die zu begründen und zu verantworten ist. Die genannten Vorentscheidungen haben unter Umständen erhebliche Auswirkungen auf die Therapie (s.u.). Aus der Perspektive eines Arztes stellt sich die Beratungssituation bei überaktiven Kindern und ihren Eltern bisweilen als Dilemma dar. So be- 22 Details der Diagnostik und Differentialdiagnose bei ADHS siehe Günter, 2008. <?page no="74"?> Aufmerksamkeitsdefizit/ Hyperaktivitätsstörung - Problematik der Grauzone 74 richtete ein niedergelassener Kinderarzt persönlich, dass er sich häufig angesichts der Forderungen von Eltern nach Methylphenidatverschreibungen erheblichem Druck ausgesetzt sieht. Er sprach ganz offen das Problem an, dass er unmöglich für alle, die nach „Ritalin®-Therapie“ fragen, eine aufwändige Differentialdiagnose durchführen könne, aber natürlich dennoch Hilfe gewähren wolle und müsse. Wie kommt es zu einem derart fordernden Verhalten seitens der Eltern? Direkt und indirekt Betroffene machen sich mit den Symptomen der allseits viel besprochenen ADHS vertraut und fühlen sich dann in der Lage, das Verhalten ihrer Kinder zu beurteilen. Da die Symptome jedoch nicht spezifisch sind (s.o.) und es auf das Ausmaß ihres Auftretens ankommt, kann es leicht zu Fehleinschätzungen kommen. So entsteht unter Umständen eine Situation, in der der Arzt einerseits auf die Mitarbeit und Einsicht der Bezugspersonen angewiesen ist, und sich andererseits gegen falsch begründete Forderungen durchzusetzen hat. In dem oben erwähnten Beispiel, bei dem ein Junge in einer Tagesklinik untergebracht war, hatte der Arzt nicht nur aufgrund der eingehenden Diagnostik, sondern vor allem auch durch die umfassende Betreuung des Jungen in der Klinik ausreichende Kenntnisse über dessen Verhalten und konnte so die beharrlichen Forderungen der Mutter entkräften. Niedergelassene Ärzte können in der Regel nicht auf so umfangreiche Kontakte zu den Betroffenen zurückgreifen. 5.3 Entstehungsfaktoren für ADHS Indizien für eine uneinheitliche Ätiologie von ADHS-typischem Verhalten gibt es seit langem, wie eine Beschreibung von Robbins und Sahakian (1979) nahelegt: Zu Versuchszwecken wurden z.B. auf verschiedenen Wegen Tiermodelle für ADHS erzeugt, in der Regel mit Ratten und Mäusen: Auf pharmakologischem Wege durch Entleerung der Dopaminspeicher im Gehirn, durch Läsionen des Gehirns, Blei-Intoxikation, Induktion von Enzephalitis oder perinatale Verletzung wie z.B. Sauerstoffmangel. Außerdem konnten die entsprechenden Symptome durch soziale Deprivation hervorgerufen werden und manche Forscher wählten aus normalen Populationen von Mäusen oder Hunden solche Tiere aus, welche die entsprechenden Verhaltensweisen „von Natur aus“ zeigten. Die Tatsache, dass Tiere in Versuchen gezielt auf hyperaktives Verhalten trainiert wurden, verdeutlicht den Umgebungseinfluss. In allen genannten Beispielen wirkt Amphetamin bzw. Methylphenidat frequenzreduzierend bzw. beruhigend, d.h. unabhängig vom auslösenden Faktor (Robbins and Sahakian, 1979: 943). Die Entstehungsfaktoren sind sowohl für eine adäquate Therapiewahl als auch für mögliche präventive Maßnahmen von entscheidender <?page no="75"?> Entstehungsfaktoren für ADHS 75 Bedeutung und sind daher auch aus ethischer Perspektive relevant. (12.1; 12.2). 5.3.1 Zu den neurobiologischen Grundlagen der ADHS Die neurobiologische Grundlage, also die stoffliche Basis des Verhaltens, sagt als solche nichts über die Ursache des Verhaltens aus. Wird eine bestimmte Transmitterkonstellation 23 als die stoffliche Basis eines bestimmten Verhaltens erkannt, muss dennoch klar bleiben, dass die Transmitterkonstellation ihrerseits das Ergebnis des Zusammenwirkens von genetischer Ausstattung und aktuellen sowie vergangenen Umwelteinflüssen ist. Diese Plastizität des Gehirns gewährleistet normalerweise die optimale Anpassung an die Erfordernisse der jeweiligen Lebenszusammenhänge. Der Einsatz von Amphetaminen bzw. Methylphenidat (MPH) zur ADHS-Therapie etablierte sich ohne Kenntnis neurobiologischer Grundlagen allein aufgrund der Erfahrung, dass die unruhigen Kinder ruhiger wurden und besser arbeiten konnten. Von der Wirksamkeit der Stimulanzien wurde dann indirekt über ihren Wirkungsmechanismus (s. 9.1.2) auf einen Mangel an verfügbarem Dopamin (DA) als Ursache der ADHS geschlossen (Shaywitz et al., 1978; Snyder and Meyerhoff, 1973; zitiert nach: Robbins and Sahakian, 1979), denn MPH blockiert den DA-Transporter und bewirkt so einen Anstieg des verfügbaren DA im Gehirn. Viele Autoren schreiben DA die entscheidende Rolle für die Steuerung der Aufmerksamkeit und für die Entstehung der Aufmerksamkeitsstörungen zu (Faraone, 1998; Ahveninen, 2000). Diese Vorstellung könnte zu der Annahme passen, dass die Fokussierung auf einen Stimulus durch die mangelnde Hemmung unbedeutender Stimuli erschwert wird und eine Erhöhung des verfügbaren DA dem relevanten Stimulus mehr Salienz verleiht (Volkow et al., 2004; 7.3.5). Inzwischen wird jedoch immer häufiger die Bedeutung weiterer Transmitter für die ADHS diskutiert. So könnte eine serotoninerge Dysregulation Ursache für eine Aufmerksamkeitsstörung sein (Quist, 2000; Schwenzer, 2004). Auch Noradrenalin wird immer wieder im Zusammenhang mit der Aufmerksamkeitsstörung erwähnt (Günter, 2008). Für eine Rolle von Noradrenalin in dem ADHS-Geschehen spricht, dass auch das Medikament Atomoxetin, das eine Erhöhung des verfügbaren Noradrenalins bewirkt, das Verhalten wunschgemäß verändert und dass die Amphetaminwirkung auch eine Noradrenalinkomponente hat. Dagegen erklärt Gerald Hüther wie es durch Reizüberflutung und andere Störungen in der frühen Kindheit zu einer Überproduktion an Transmitter im Mittelhirn bei gleichzeitiger Unterentwicklung der präfron- 23 Transmitter: Botenstoffe im Gehirn, die für die Signalübertragung auf chemischem Wege sorgen. <?page no="76"?> Aufmerksamkeitsdefizit/ Hyperaktivitätsstörung - Problematik der Grauzone 76 talen Funktionen kommt und diese letztlich zu dem unerwünschten Verhalten führen (Hüther, 2006). Trotz vieler Hinweise sind die Versuche, ein schlüssiges, theoretisches Modell zu erstellen, in dem ADHS als Transmitterstörung konzipiert wird, bisher gescheitert. Die Modelle blieben uneinheitlich und kontrovers (Günter, 2008). Im Übrigen scheint es angezeigt, nicht zu schnell von „Defizit“ zu sprechen. So weisen schon Robbins und Sahakian (1979: 942) nach ihrer Analyse zur Frequenzabhängigkeit der Amphetaminwirkung darauf hin, dass es nicht notwendig sei, ein zugrunde liegendes grundsätzliches neurologisches oder biochemisches Defizit zu postulieren, um die Reaktionsweisen hyperaktiver und nicht diagnostizierter Gruppen zu erklären. Trotz biochemischer Unterschiede zwischen hyperaktiven und normalen Gruppen, erschien es den Autoren völlig plausibel, dass Unterschiede im Basisaktivitätslevel verschiedener Menschen bestehen und dass sich diese in quantitativen Variationen der Neurotransmitterfunktionen widerspiegeln. Man könnte also von einer quantitativen Variation im Transmitterhaushalt anstatt von einem Defizit sprechen. Ohnehin ist davon auszugehen, dass nicht die absolute Menge eines Transmitters entscheidend ist, sondern seine Menge in Relation zu den Mengen der verschiedenen anderen Transmitter. 5.3.2 Genetische Ausstattung als Vulnerabilitätsfaktor Eine mögliche genetische Grundlage für kindliche Hyperaktivität wurde schon seit langem diskutiert (Morrison und Stewart, 1971) Viele Ergebnisse aus Familien-, Adoptions- und Zwillingsstudien werden als Hinweise auf eine starke genetische Komponente von ADHS gewertet (Faraone, 1992; Deutsch, 1990; Stevenson, 1992; zitiert nach Swanson, 2005). Es gibt jedoch Autoren, die die Zuverlässigkeit solcher Untersuchungen in Zweifel ziehen (Rose, 2005: 256). Eine groß angelegte Zwillingsstudie mit nahezu 2000 Familien führte gar zu dem Ergebnis, dass es nur eine begrenzte Erblichkeit für ADHS gibt (Levy et al., 1997). Die Autoren interpretieren ihre Ergebnisse dahingehend, dass ADHS als das Extrem eines Verhaltens angesehen werden kann, das in genetischer Hinsicht in der gesamten Bevölkerung variiert. Dennoch diskutieren z.B. Swanson und Kollegen (2005) ausführlich spezifische Gene, die als mögliche Kandidaten für die Entstehung von ADHS in Frage kommen: Ein Dopamin-Transporter-Gen und ein Dopamin-Rezeptor-Gen. Beide zeigen Polymorphismen, die sich durch eine unterschiedliche Anzahl von Basenpaar-Motiv-Wiederholungen in bestimmten Regionen des Gens ergeben. Die häufigsten Varianten des Transporter-Gens sind die 9R (R=Repeat) und die 10R Variante. Für ADHS- <?page no="77"?> Entstehungsfaktoren für ADHS 77 Gruppen wird z.B. ein erhöhtes Vorkommen des 10R Allels festgestellt (Cook et al., zitiert nach Swanson et al. 2005). Bei dem untersuchten Rezeptor-Gen sind nach Swanson und Kollegen die häufigsten Varianten 2R, 4R und 7R Allele, wobei auch auf ethnische Unterschiede hingewiesen wird. 50% der ADHS-Kinder haben den Autoren zufolge eine erhöhte Häufigkeit des 7R-Allels. D.h. das 7R-Allel wird als ein möglicher Prediktor für ADHS angesehen, es müsse aber noch weitere geben. Aus weiteren Untersuchungen schließen die Autoren, dass das 7R-Allel sowohl Vorteile, z.B. eine verbesserte Informationsverarbeitung, als auch Nachteile wie Impulsivität und „novelty seeking“ für das Verhalten mit sich bringen kann (Swanson et al., 2005) und dass es auf die Anforderungen ankommt, ob ein bestimmter Faktor letztlich zum Problem wird. Andere Autoren weisen darauf hin, dass die genetischen Polymorphismen in der Bevölkerung weit verbreitet sind und das Risiko, eine ADHS zu entwickeln, insgesamt gesehen nur wenig erhöhen (Smith et al., 2009, zitiert nach Günter, 2009). Bei den Überlegungen zu ethischen Aspekten der ADHS wird auf den Umgang mit der genetischen Komponente von ADHS eingegangen (12.2). Evolutionsbiologische Perspektive Eine starke genetische Komponente der ADHS würde konstante Fallzahlen erwarten lassen, da die genetische Ausstattung sehr konservativ ist. Aus einer evolutionsbiologischen Perspektive heraus interpretieren nun z.B. Swanson und Kollegen die ADHS-Form mit erhöhter 7R-Allel-Häufigkeit, die so genannte genetische ADHS-Form, als Fehlanpassung, die aus der Verschiebung der Anforderungen in der modernen Gesellschaft gegenüber denen in der fernen Vergangenheit, entstanden ist. So waren vielleicht Eigenschaften wie innere Unruhe gepaart mit ständiger Wachsamkeit oder eine gewisse Impulsivität und die Fähigkeit schnell zuzupacken in ferner Vergangenheit überlebensnotwendig und gelten heute als unüberlegt und unangebracht. Genau genommen scheint diese „Fehlanpassung“ in erster Linie für die Schulzeit und ihre spezifischen Anforderungen zu gelten. Swanson und Kollegen drücken es so aus: “These [genetic] characteristics may be beneficial in some settings but detrimental in other settings, such as modern school settings that require children to remain still and quiet for extended periods of time.” (Swanson et al., 2005: 304) Die Schulprobleme von Menschen mit ADHS-Symptomatik führen jedoch offenbar nicht zwangsläufig dazu, dass sie in unserer Gesellschaft nicht erfolgreich sein können. Es gibt Beispiele für herausragende, erfolgreiche Charaktere (Hartmann, 2000: 60 bzw. 62f), die durch eine vergleichsweise reduzierte Selbstbeherrschung ein erhöhtes Durchsetzungsvermögen haben oder durch erhöhte Impulsivität offenbar große Energie für das Erreichen ihrer Ziele aufbringen. Weiter gibt es Persönlichkeiten, deren Interesse an Themen, die ihnen unwichtig erscheinen, sehr schnell <?page no="78"?> Aufmerksamkeitsdefizit/ Hyperaktivitätsstörung - Problematik der Grauzone 78 erlahmt, die sich jedoch gegebenenfalls selektiv und mit hoher Motivation auf die Ziele ihres persönlichen Interesses konzentrieren und damit sehr erfolgreich im Sinne unserer Gesellschaftsbzw. Wirtschaftsordnung sind. Ethnische ADHS? Eine gewisse Zurückhaltung, die Ursache der ADHS überwiegend in einer bestimmten genetischen Ausstattung zu suchen, scheint geboten, weil die molekulargenetischen Erkenntnisse bezüglich ADHS noch uneinheitlich und nicht umfassend genug sind. Ein weiterer Grund ist der, dass die Variabilität der genetischen Ausstattung groß ist und es häufig problematisch sein dürfte, die eine oder andere Variante als „gestört“ (Krause und Krause, 2004: 40) zu bezeichnen, wie ein Beispiel verdeutlichen soll. Krause und Krause stellen fest, dass „bei der ADHS mehr Personen homozygot für das DAT 10-R-Allel sind als bei den Kontrollen.“ Zugleich erwähnen sie Befunde, nach denen die Häufigkeit dieses Allels bei Amerikanern afrikanischer Herkunft 54% beträgt, bei europäischer Herkunft 70% und bei Asiaten 90%. Sie merken an: „in Bangkok, Shanghai und Tokio herrscht sicher eine hyperaktivere Grundstimmung als in afrikanischen Städten…“ (Krause und Krause, 2004: 38). Es ist jedoch offensichtlich, dass nicht die ganze Volksgruppe aufgrund ihrer genetischen Ausstattung krank ist, sich als „krank“ empfindet oder als krank empfunden wird. Reichweite genetischer Information Obwohl in zukünftigen Forschungen sicherlich weitere Gene ausgemacht werden, die „eine Rolle für die Ausbildung von ADHS spielen können“, muss man sich doch fragen, wie weit die in den Genen verankerte Information reichen kann. Sind auch manche Merkmale recht streng determiniert, z.B. die Haarfarbe, gilt dies für das Verhalten viel weniger. Das Gehirn ist das Organ, dessen Entwicklung bei der Geburt am wenigsten weit vorangeschritten ist und sie dauert bis mindestens zum 16. Lebensjahr. Eine gewisse Plastizität bleibt zeitlebens erhalten. Während dieser ganzen Zeit ist das Gehirn empfänglich für Umweltbzw. Nutzungseinflüsse, d.h. auch für Risikofaktoren. Zweifellos ist die Offenheit in der frühen Kindheit am größten, so dass sich Risikofaktoren in dieser Zeit am stärksten auswirken. Das klingt trivial, wird aber häufig ignoriert. Die Rolle der Gene für die Ausbildung von ADHS wird wohl mit der Bezeichnung „Vulnerabilitätsfaktor“ am besten umschrieben. Außerdem sei an die Bedeutung epigenetischer Faktoren (4.1.7) erinnert. 5.3.3 Lebensbedingungen und Risikofaktoren In der Einführung wurden unterschiedliche Erklärungen für einen Anstieg der Verschreibungshäufigkeit von Methylphenidat angesprochen, darunter <?page no="79"?> Entstehungsfaktoren für ADHS 79 auch eine tatsächlich steigende Anzahl von Menschen, die das mit ADHS umschriebene Verhalten zeigen. Als Ursache dafür kommen am ehesten veränderte Bedingungen in Frage, denn die genetische Ausstattung ist verhältnismäßig konservativ und das bedeutet, dass sie in dem Zeitraum, in dem sich der Anstieg der Fallzahlen vollzog, mit Sicherheit stabil war. Dahingegend könnte auch Skrodzki’s Feststellung verstanden werden: „Die Zahl der schweren Fälle ist m.E. gleich geblieben. Deutlich hat die Zahl derer zugenommen, die im Grenzbereich liegen, d.h. solche Kinder, die nur eine leichte Form von ADHD zeigen“ (2000: 32). Hier kommt die Bedeutung epigenetischer Faktoren zum Tragen (siehe 4.1.7). Der Berücksichtigung der Entwicklungsbedingungen und der Lebenssituation kommt auch bezüglich der ethischen Aspekte im Zusammenhang mit der Diagnose, Prävention und Therapie von ADHS (12) und der sich daraus ergebenden Forderung nach einer umfassenden Diagnosestellung Bedeutung zu (s.12.1.3.9). Fallbeispiele, die Marianne Leuzinger-Bohleber beschreibt, zeigen, wie unterschiedlich die Hintergründe bei ADHS-Verhalten sein können (2006c: 9-11): Bei einem Kind wurde eine hirnfunktionelle Störung, die vermutlich durch eine Zangengeburt entstanden war, als Ursache für das hyperaktive Verhalten erkannt. Bei einem anderen wurde das ADHS- Verhalten durch die schlechte Qualität der Kindertagesstätte ausgelöst, war jedoch offenbar „Ausdruck einer besonderen Begabung, Vitalität und Kreativität“ (ebd.: 13). Nach einem Wechsel der Einrichtung legten sich die Schwierigkeiten. Bei einem Jungen, dessen alleinstehende Mutter „akut bedroht von Sucht und Verwahrlosung“ war, wurde die ADHS als „Indikator einer Frühverwahrlosung“ (ebd.) identifiziert. Die Eltern eines sehr intelligenten Jungen hatten durch Folter, politische Verfolgung und Emigration schwere Traumatisierungen erlitten, die das Kind wohl über transgenerative Weitergabe schwer belasteten. Sein ADHS-Verhalten war als „kindlicher Bewältigungsversuch erlittener Traumatisierungen“ (ebd.: 14) zu deuten. ADHS als „Manifestation latenter Trauer und Depression“ (ebd.) zeigte ein Mädchen, das seine Mutter verloren hatte. Schließlich war ADHS bei einem Jungen aus Pakistan als „Ausdruck unverstandener kultureller Auseinandersetzungen“ zu verstehen. Im Heimatdorf der Familie mussten sich Jungen auf der Straße aggressiv durchsetzen und behaupten (ebd.). Weitere mögliche Ursachen ließen sich anfügen, die zu dem auffälligen Verhalten führen, das sehr passend als „problemanzeigendes Verhalten“ bezeichnet wurde (Amft, 2004: 79). Diese Interpretation von unruhigem Verhalten wird bei der Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Medikalisierung noch einmal relevant (12.1.2). Skrodzki spricht z.B. Veränderungen in der allgemeinen Haltung in der Gesellschaft an, die Kindern Schwierigkeiten machen kann: „In einer Gesellschaft, die wenig Grenzen setzt, die auf Individualismus und Selbstverantwortung baut und die un- <?page no="80"?> Aufmerksamkeitsdefizit/ Hyperaktivitätsstörung - Problematik der Grauzone 80 ruhig und ungeregelt ist, haben Kinder es schwer, selbst ihre Grenzen und Regeln zu finden, wenn sie ihnen nicht von außen vorgegeben werden.“ (Skrodzki, 2000: 32). Diese „Freiheit“ wird vor allem dann zum Problem, wenn die festen Grenzen und Regeln fallen gelassen werden, ohne sie durch intensive Begleitung (Monitoring 24 ) zu ersetzen (s.5.5). Um einen Überblick zu geben, wird zwischen Risikofaktoren und Lebensbedingungen unterschieden. Obwohl eine scharfe Abgrenzung hier nicht möglich ist, erscheint die Differenzierung hilfreich, wenn es um Therapie und Prävention geht, weil sie eine unterschiedliche Haltung gegenüber den Umweltgesichtspunkten ausdrücken. Mit dem Begriff „Lebensbedingungen“ sind die Bedingungen der Lebenswelt aller Menschen eines bestimmten Kulturkreises gemeint und diese werden von vielen als gegeben, unabänderlich und in mancher Hinsicht auch als angenehm hingenommen. Im Allgemeinen erwartet man von Menschen, dass sie mit ihren Lebensbedingungen zurechtkommen. Im Gegensatz dazu gelten Risikofaktoren eher als etwas zu vermeidendes, ob es nun Faktoren sind, die nicht unmittelbar gesellschaftlich bedingt sind, oder soziale Situationen, die sich als konkrete psychosoziale Risikofaktoren darstellen und von den meisten Menschen als veränderungsbedürftig erachtet werden. Lebensbedingungen können zum Risikofaktor für einzelne Individuen werden und daher müssen Übergänge und Überschneidungen der Begriffe mitgedacht und integriert werden. Stoffliche Umweltrisiken und Krankheiten Verschiedene stoffliche Belastungen wurden schon als Ursache für Hyperaktivität diskutiert. Als Risikofaktor hat sich z.B. die Belastung mit Schwermetallen bestätigt (Günter, 2008), während Nahrungszusatzstoffe dafür nicht mehr in Frage kommen (Nissen et al., 2004: 811). Der mögliche Zusammenhang vom Auftreten einer ADHS mit wenig bekannten Krankheiten wie Kryptopyrrolurie (Irvin et al., 1969), die einen chronischen Mangel von Zink und Vitamin B6 mit sich bringt, wurde nicht weitergehend untersucht und ist wenig bekannt (Weizenegger, 2004). Schwangerschafts- und Geburtsrisiken Mütterliches Rauchen während der Schwangerschaft sowie Alkohol- oder Benzodiazepinkonsum 25 in dieser Zeit erhöhen das Risiko für das Kind eine ADHS auszubilden. Dasselbe gilt für Schwangerschafts- und perinatale Komplikationen (Günter, 2008). 24 Unter Monitoring versteht man Begleiten, Beobachten, Anleiten, Moderieren, auch das Ermuntern zu einer anderen Verhaltensweise (siehe Kerner, 2004). 25 Benzodiazepin: Anxiolytikum. <?page no="81"?> Entstehungsfaktoren für ADHS 81 Psychosoziale Risikofaktoren Schon Robbins und Sahakian (1979) erwähnen eine mögliche „psychological basis“ von Hyperkinese, wie z.B. unbefriedigende Lehrmethoden, unangemessene Bedingungen für das Aufwachsen und soziale Deprivation. Die Gesamtheit der ungünstigen Bedingungen bezeichnet man als psychosoziale Risikobelastung, wobei dieser Begriff in seinem Gebrauch nicht scharf abgegrenzt wird und die Verwendung uneinheitlich ist. Zu den psychosozialen Risiken rechnen Laucht und Kollegen (2000) seitens der Eltern ein „niedriges Bildungsniveau, psychische Störung, anamnestische Belastungen, mangelnde Bewältigungsfähigkeiten.“ Zu den ungünstigen Merkmalen, welche die Partnerschaft bzw. die Familie betreffen, gehören z.B. „Disharmonie, frühe Elternschaft, Ein-Eltern-Familie, unerwünschte Schwangerschaft.“ (ebd.). Als risikobehaftetes elterliches Verhalten in der frühkindlichen Phase (0-3 Jahre) nennen Marga Polowczyk und Kollegen mangelnde Verfügbarkeit, Ablehnung und fehlende Responsivität seitens der Mutter. Diese Verhaltensweisen führen zu einer unsicheren Bindung, die ihrerseits ein Risiko für verschiedene Verhaltensauffälligkeiten darstellt. In der Vorschulphase (3-6 Jahre) und später wirkt sich nach den Angaben der Autoren vor allem „negativ-kontrollierende und inkonsequente Erziehungshaltung“ ungünstig aus (Polowczyk et al., 2000). Besonders belastend wird alles, wenn sich die Schwierigkeiten in Gewalt äußern. Weitere Faktoren betreffen die familiären Lebensbedingungen, die spezifisch für das jeweilige Individuum sind, wie z.B. „beengte Wohnverhältnisse, mangelnde soziale Integration und Unterstützung, chronische Schwierigkeiten.“ (Laucht et. al., 2000). Wenn sich die Lebensbedingungen für immer mehr Menschen so darstellen, ist das der Übergang zu einer Veränderung der Lebensbedingungen in einem allgemeinen Sinne. In einer Langzeitstudie, die Manfred Laucht und Kollegen durchführten, wurden die Auswirkungen unterschiedlicher psychosozialer (und anderer) Risiken auf die Entwicklung von Kindern hinsichtlich der motorischen, kognitiven und sozial-emotionalen Entwicklung untersucht und ihr Effekt nachgewiesen. Die Studie lief über einen Zeitraum von 12 Jahren und begann, als die Teilnehmer 3 Monate alt waren. Bereits in diesem Alter zeigten psychosozial stark belastete Kinder deutliche Defizite bezüglich der kognitiven Entwicklung und vermehrt Auffälligkeiten in der sozialemotionalen Entwicklung, die sich mit dem Heranwachsen verstärkten. Die Rate der insgesamt psychisch auffälligen 8jährigen bei den Kindern mit schwerer psychosozialer Risikobelastung war mit 41,5% signifikant erhöht gegenüber 15,4% bei den Kindern ohne eine solche Belastung (Laucht et al., 2000). Derartige Belastungen haben also eine nachweisbare Wirkung und ADHS-typisches Verhalten ist dabei eine der möglichen auffälligen Verhaltensweisen. Die begrenzte Variabilität der Reaktionsweisen auf psychosoziale Beeinträchtigungen führt dazu, dass die ADHS-Symptomatik zum <?page no="82"?> Aufmerksamkeitsdefizit/ Hyperaktivitätsstörung - Problematik der Grauzone 82 Ausdruck unterschiedlicher Probleme wird. Sie ist insofern „als gemeinsame Endstrecke innerpsychischer Konflikte unterschiedlicher Genese zu verstehen“(Günter, 2009). Bei der Betrachtung dieser Zusammenhänge sollten die Wechselwirkungen nicht übersehen werden. Verschiedene Untersuchungen ergaben, dass die Qualität der Mutter-Kind Interaktion von Kindern mit externalisierenden Auffälligkeiten verändert war (Polowczyk et al., 2000). Da das Verhalten von Mutter und Kind durch Wechselseitigkeit gekennzeichnet ist, wie es für Interaktionen typisch ist, haben mütterliche und kindliche Faktoren Anteil an der Entwicklung der Verhaltensprobleme dieser Kinder und die veränderten Interaktionsmerkmale können sowohl Ursachen als auch Folgen des hyperkinetischen Verhaltens von Kindern widerspiegeln. Das von Barkley (1987) entwickelte Interaktionsmodell für hyperkinetische Störungen, das diese Zusammenhänge dargestellt, wurde durch die Untersuchung von Polowczyk und Kollegen bestätigt (2000): So erfährt ein Kind, das den elterlichen Anforderungen nachkommt und sich damit wunschgemäß verhält, oft keine Beachtung. Auch positive Signale zur Kontaktaufnahme werden bisweilen ignoriert, das Kind erfährt zu wenig Aufmerksamkeit, es hat ein Aufmerksamkeitsdefizit in anderem Wortsinn. Kommt das Kind den Anforderungen der Eltern jedoch nicht nach und lehnt sich gegen sie auf, gehen die Eltern verstärkt auf das Kind ein. Gelingt es dem Kind regelmäßig vor allem durch unangemessenes Verhalten die Aufmerksamkeit der Eltern auf sich zu ziehen, lernt es, „dass es immer dann Aufmerksamkeit erhält, wenn es gegen die Aufforderungen der Eltern protestiert (negative Kontingenz 26 ) oder wenn es diese ignoriert (mangelnde Kontingenz)“ (Polowczik et al., 2000: 302). Man kann sich vorstellen, dass diese unerwünschten Verhaltensweisen verstärkt werden, weil ein Kind die elterliche Reaktion, auch wenn sie nicht so angenehm sein sollte, dem „Ignoriertwerden“ vorzieht. Diese Abläufe können bei allen Kindern beobachtet werden, nur werden die aufmerksamkeitsfordernden Verhaltensweisen bei besonders aktiven Kindern, die in dieser Hinsicht eine Vulnerabilität zeigen, heftiger ausfallen. Dies erfordert eine erhöhte Erziehungskompetenz der Eltern, denn Fehler wirken sich schneller aus, so dass durch diesen Risiko-Interaktionszyklus ADHS-typisches Verhalten ausgelöst und verstärkt wird. 27 Polowczyk und Kollegen berichten weiter, dass Mütter hyperaktiver Vorschul-Kinder (41/ 2 Jahre) sich häufiger restriktiv verhielten; sie „nahmen unangemessen Einfluss auf das Verhalten ihres 26 Kontingenz in der Psychologie: Wenn zwei Vorgänge zugleich bzw. im Zusammenhang miteinander auftreten. 27 Das Gesagte bedeutet nicht, dass ein Kind, dem ausreichend Aufmerksamkeit zu Teil wird, nicht auch lernen könnte, dass es die Aufmerksamkeit der Eltern in bestimmten Situationen nicht beanspruchen kann. <?page no="83"?> Entstehungsfaktoren für ADHS 83 Kindes, reagierten häufiger negativ und zeigten sich vermehrt aggressiv, ungeduldig und hilflos.“ (ebd.). Auch wenn die Autoren anmerken, dass das elterliche Verhalten zumindest teilweise eine Reaktion auf die kindliche Hyperaktivität ist, so liegt hier doch eine Chance. Denn als erwachsene Menschen sind Eltern im Prinzip in der Lage, ihr Verhalten zu reflektieren und zu ändern und dadurch zu verhindern, dass ein schlimmer Kreislauf in Gang kommt bzw. unterhalten wird, in dem sich ständige Anspannung und z.T. Aggression steigern. Da Eltern im Geflecht der alltäglichen Interaktionen im Alltag oft selbst wie gefangen sind, brauchen sie an dieser Stelle Hilfe zu angemessenem Verhalten. Darin liegt die Chance von Elterntraining in Prävention und Therapie. Ein häufiger Einwand ist, dass vor allem solche Eltern, die selbst eine Neigung zu ADHS-Verhalten haben, problematische Interaktionsauffälligkeiten zeigen. Es gibt jedoch einen Elterntyp, der, obwohl unbelastet, dennoch Interaktionsauffälligkeiten zeigt. So wurde bei psychosozial unbelasteten Eltern-Kind-Paaren dann eher hyperkinetisches Verhalten des Kindes beobachtet, wenn das Verhalten der Eltern ironisch, desinteressiert und hilflos war (Polowczyk et al., 2000). Es wäre eine eigene Untersuchung nötig um festzustellen, ob das Vorkommen dieser Elternhaltungen mit den steigenden MPH-Verordnungsraten korreliert. Aus psychodynamischer Perspektive kann eine Konfliktdynamik, die sich etwa aus ungünstigen psychosozialen Voraussetzungen entwickelt, so interpretiert werden, dass sie als Grundlage einer ADHS zu verstehen ist (Günter, 2009). Dieselbe Interpretation passt jedoch demnach auch auf eine dissoziale oder narzisstische Problematik, wie sie bei vielen Kindern mit ADHS zusätzlich auftritt. Das Spezifische einer ADHS sieht der Autor in einer „Störung der Verarbeitung von Wahrnehmungsdaten und Affekten zu denkfähigen Inhalten“ (Günter, 2009). Damit ist gemeint, dass Roherfahrungen, die zunächst sinnlos erscheinen, normalerweise durch mentale Prozesse so verändert werden, dass sie zu benennbaren Erfahrungen werden, mit denen das Individuum mental umgehen kann. Im Falle einer ADHS würden demnach nicht verarbeitbare Affekte „unmittelbar impulsiv in Handlungen umgesetzt.“ (ebd.). Destruktive Verhaltensweisen, wie sie häufig im Zusammenhang mit ADHS-Verhalten auftreten, werden vom Autor in diesem Denkrahmen analysiert „im Hinblick auf ihre Qualität als psychische Pseudoaktivität: als Surrogate für ein lebendiges Konflikt- und Beziehungsgeschehen, als sozusagen industriell vorgefertigte Denk- und Affektschablonen, wie sie nirgends besser als in diesen Computerspielen [‚Schießspiele’, Anm. d. Verfassers] zur Verfügung stehen.“ (ebd.). Diese präzise Sichtweise führt in der Konsequenz zu einer veränderten Schwerpunktsetzung in der Therapie. Einer andere Kategorie sind unmittelbare emotionale Belastungen und traumatische Erfahrungen, wie der Tod eines Elternteils. Hier ist der Zu- <?page no="84"?> Aufmerksamkeitsdefizit/ Hyperaktivitätsstörung - Problematik der Grauzone 84 sammenhang zwischen den erlebten Belastungsfaktoren und ADHS- Verhalten so direkt, dass „die Symptomatik durch diese Belastungsfaktoren unmittelbar erklärbar ist.“ (Günter, 2009). Günter weist darauf hin, dass in der Routinediagnostik derartige Bedingungen, die nach ICD-10 eine klare Einschränkung für die ADHS-Diagnose sind, häufig übersehen werden. Die ausschließliche Orientierung an den Symptomen führt dann zu einer ADHS-Diagnose, obwohl der Autor sich klar äußert: „Streng genommen dürften diese Kinder gar nicht als ADHS-Kinder im engeren Sinne diagnostiziert werden.“ (Günter, 2009). Veränderte Lebensbedingungen Aspekte einer veränderten Kindheit, die zu verändertem Verhalten beitragen können, lassen sich viele auflisten (Amft, 2006: 84f.), so z.B. „die Erhöhung des Volumens der Erwerbsarbeit pro Familie“, „hohe Scheidungsraten und einen hohen Anteil von Alleinerziehenden“, „gesellschaftliche Anpassungszwänge im Sinne der Herstellung eines >flexiblen Menschen<“, „neue Strukturen in der Arbeitswelt“, die „vaterlose Gesellschaft“ oder das „>TINA-Syndrom< (>There is no alternative! <)“, was bedeuten soll „Die Zukunft erscheint für die Menschen als nicht mehr durch Menschen gestaltbar.“ Weiter erwähnt Amft die heterogenen Entwicklungsbedingungen, spricht von der „Medienkindheit“, von „einer Umwelt, in der die Erziehung weitgehend durch Dienstleistungsberufe erfolgt“, auch von „Manipulation“. Er sieht einen Rückzug des Staates aus der sozialen Verantwortung und verweist auf risikoreiche Umwelteinflüsse. Armut und Migration sind Lebensbedingungen, die für viele Menschen zum Risikofaktor geworden sind. Ganz besonders betont er das Schulrisiko (s.u.). Jeder der genannten Aspekte verdient Beachtung und es wird deutlich, wie breit das Spektrum der Wirkungszusammenhänge ist. An dieser Stelle werden zwei Beispiele ausgeführt und eine zusätzliche Überlegung eingefügt. Fernsehkonsum bei Kleinkindern und Jugendlichen Werden Kinder unter drei Jahren dem Fernsehen ausgesetzt, geht das mit späteren Aufmerksamkeitsproblemen einher (Christakis et al., 2004) 28 . Das Ergebnis der Analyse bringt Günter sinngemäß auf die folgende Formel: Mit jeder Stunde, die ein Kind unter 3 Jahren täglich dem Fernsehen ausgesetzt ist, steigt das Risiko, dass es bis zum Schulalter eine Aufmerksamkeitsstörung entwickelt, um 10% (Günter, 2008). 28 Dieser Zusammenhang zeigt sich auch, nachdem irritierende Faktoren wie Substanzmissbrauch vor der Geburt, Alter der Mutter oder einer evtl. bestehenden Psychopathologie, sowie der sozioökonomische Status berücksichtigt wurden. Ebenso wurde das Ergebnis hinsichtlich der familiären Umgebung, mütterlicher Depression, kognitiver Anregung und emotionaler Unterstützung bereinigt. <?page no="85"?> Entstehungsfaktoren für ADHS 85 Dieses Ergebnis wurde in einer späteren Studie weitgehend bestätigt (Miller et al., 2007), doch diese Autoren geben zu bedenken, dass ein kausaler Zusammenhang damit nicht gezeigt sei und der Fernsehkonsum auch eine Folge von ADHS sein könnte. Um diesen Einwand, der auch Christakis und Kollegen bewusst war (2004) abzuschwächen, hatten sich diese Forscher darauf beschränkt, die Fernsehzeiten im Alter von 1 und 3 Jahren in ihrer Wirkung auf die Aufmerksamkeit zu untersuchen. In diesem Alter sind nach Ansicht der meisten Experten die Symptome der ADHS noch nicht manifest. Eine andere Studie (Stevens und Mulsow, 2006) scheint den Zusammenhang von TV-Konsum und Aufmerksamkeitsproblemen zu widerlegen, doch dieser Widerspruch löst sich auf, sobald das Alter der Probanden beachtet wird, denn Steven untersuchte Kindergartenkinder mit ca. 5 Jahren. Fernsehen im Alter von unter 3 Jahren ist natürlich etwas anderes als Fernsehen im Alter von 5 Jahren (Christakis and Zimmerman, 2006a). In einem aktuellen Review kommt Christakis (2009) zu dem Schluss: „No studies to date have demonstrated benefits associated with early infant TV viewing. The preponderance of existing evidence suggests the potential for harm. Parents should exercise due caution in exposing infants to excessive media.” In der Altersgruppe zwischen 14 und 22 wurde die ungünstige Wirkung von Fernsehkonsum eindrucksvoll bestätigt. In einer prospektiven Längsschnittstudie (Johnson et al., 2007), an der 678 Familien teilnahmen, wurden die Kinder im Alter von 14, 16 und 22 Jahren interviewt. Die Ergebnisse wurden hinsichtlich besonderer Merkmale der Familien und vorher bestehender Lernschwierigkeiten der Kinder kontrolliert und bereinigt. Täglicher Fernsehkonsum von einer Stunde und darüber im Alter von 14 Jahren führte bei den Jugendlichen zu einem erhöhten Risiko für schlechte Erledigung und Fertigstellung der Hausaufgaben, negativer Einstellung zur Schule, schlechten Noten und langfristig zu akademischem Versagen. Bei Jugendlichen, die täglich 3 Stunden und mehr vor dem Fernsehgerät verbrachten, waren diese schlechten Ergebnisse am wahrscheinlichsten. Zusätzlich hatte diese Gruppe ein erhöhtes Risiko, Aufmerksamkeitsprobleme zu entwickeln und bei ihnen war es am wenigsten wahrscheinlich, eine höhere Bildung zu erlangen. Es gab kaum einen Hinweis darauf, dass ein Zusammenhang von häufigem Fernsehkonsum und der Entwicklung von Aufmerksamkeitsproblemen in beide Richtungen bestehen könnte. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass regelmäßiger, häufiger Fernsehkonsum während der Adoleszenz das Risiko der Entwicklung von Aufmerksamkeitsproblemen und von Lernschwierigkeiten erhöht sowie langfristig ungünstige Erziehungsergebnisse mit sich bringt. Im Folgenden wird eine Überlegung vorgestellt, wie der Zusammenhang zwischen Fernsehkonsum und ADHS erklärt werden könnte. <?page no="86"?> Aufmerksamkeitsdefizit/ Hyperaktivitätsstörung - Problematik der Grauzone 86 Beruhigung durch Aktivierung und Ablenkung Im Zusammenhang mit Forschungen zur Entwicklung der Aufmerksamkeitsnetzwerke stellen Posner und Raichle die Frage, wie sich die Fähigkeit zur Kontrolle der Aufmerksamkeit auf das Leben des Kleinkinds im Alter von drei bis sechs Monaten auswirkt (1996: 208f.; 7.4.4). Da ein Hauptproblem im Kleinkindalter die Kontrolle von Stress ist, untersuchten sie, wie Eltern die Aufmerksamkeit ihres Babys nutzen, um seinen emotionalen Stress zu regulieren. „Im Allgemeinen beruhigen sie ihr Kind, bevor es drei Monate alt ist, durch Aufnehmen und Schaukeln. Nach etwa drei Monaten beginnen viele Eltern, vor allem in westlichen Kulturen, ihre Babys abzulenken, indem sie ihre Aufmerksamkeit auf andere Stimuli lenken. Während die Kinder die Dinge betrachten, sind sie oft ruhig und ihr Stress scheint nachzulassen.“ (ebd.: 209). Man kann sich denken, dass ein Vorteil dieser Ablenkungsmethode darin liegt, dass auch weniger bedeutende Bezugspersonen damit zumindest vorübergehend Erfolg haben. Eine …„Studie 29 deutet allerdings darauf hin, dass der Verlust offener Stressanzeichen nicht immer von dem tatsächlichen Ende des Stresses begleitet ist. Stattdessen scheint ein internes System den anfänglichen Stresslevel aufrechtzuerhalten, und der offene Stress kehrt zurück, wenn das Kind seine Aufmerksamkeit wieder von dem neuen Ereignis abwendet.“ (ebd.). Es ist nun zu fragen, ob Kinder auf diese Weise lernen, ständig nach neuen Stimuli zu suchen, um sich von ihrem emotionalen Stress, der in diesem Alter z.B. durch Trennung entsteht, abzulenken. Ständig auf der Suche nach neuen Stimuli zu sein ist jedoch ein typisches ADHS-Verhalten. Könnte ein Zusammenhang zwischen häufigem Stress im Säuglings- und Kleinkindalter, der Beruhigungsmethode und einer Neigung zu „Noveltyseeking“ und Überaktivität bestehen? Es müsste geklärt, werden, wo die individuelle Grenze liegt zwischen einer aktivierenden Beruhigung, die die Neugierde und Aktivität in positiver Weise fördert und einer Ablenkungstaktik, die zu Überaktivierung und Reizabhängigkeit führt. Das Fernsehen besteht aus einer fortgesetzten Folge immer neuer Stimuli, ja gerade Kindersendungen haben häufig einen sehr kurzen Sequenztakt. Fernsehen sorgt also perfekt für Beruhigung durch Aktivierung und Ablenkung; reißt der Strom ab, begeben sich die Kinder auf die unruhige Suche nach neuen Stimuli. Außerdem protestieren Kinder, die frühem Fernsehkonsum (vor dem Alter von 4 Jahren) ausgesetzt waren, im Alter von 6 Jahren gegen das Abstellen des Fernsehgerätes (Christakis and Zimmerman, 2006b). 29 Posner und Raichle (1996) erwähnen eine Studie von Cathy Harman, University of Oregon, ohne weitere Angaben. <?page no="87"?> Entstehungsfaktoren für ADHS 87 Schlafmangel Gesunde Kinder zeigen häufig, wenn es Zeit wird ins Bett zu gehen, eine unerträgliche Hyperaktivität. Inzwischen verdichten sich die Hinweise, dass Kinder unter chronischem Schlafmangel permanent dieses Verhalten zeigen und möglicherweise einige ADHS-diagnostizierte Kinder solche Kinder sind, die nicht genug Schlaf bekommen (Paavonen et al., 2009). Thomas Pollmächer wird mit den Worten zitiert: „Die Menschen in westlichen Ländern schlafen im Durchschnitt etwa eine Stunde weniger als vor 20 Jahren“ (Spork, 2010). Für Vollzeitarbeitende in USA ist die Wahrscheinlichkeit, Kurzzeitschläfer 30 zu sein in den letzten 31 Jahren signifikant gestiegen, bei gleichzeitigem Anstieg der Arbeitszeit (Knutson et. al., 2010). Das biologisch begründete Schlafbedürfnis von Menschen der verschiedenen Altersstufen hat sich in diesem Zeitraum nicht geändert, so dass möglicherweise viele Menschen zu wenig schlafen. Ebenso ist zu vermuten, dass parallel die Gesamtschlafzeit bei Kindern reduziert wurde und dadurch Schlafmangel häufig vorkommt. Eine Ursache könnte in der teilweise verbreiteten Ansicht liegen, Kinder würden sich den Schlaf, den sie brauchen, nehmen. Davon kann jedoch bei einer Umgebung, die so reich an Reizen ist, wie die der meisten Kinder, nicht die Rede sein. Weiterhin könnte ein Tagesablauf von Kindern, der sich dem der Erwachsenen anzupassen hat, ungenügende Schlafzeiten mit sich bringen. Diese möglichen Zusammenhänge sollten weiter untersucht werden. Das Problem der adäquaten Anforderungen und die Schulfrage „Ein besonderes Risiko für die kindliche Entwicklung ist die Schule. Die Schule möchte nach wie vor ein ‚schulgerechtes Kind’, anstatt den Kindern eine ‚kindgerechte Schule’ anzubieten“ (Amft, 2006: 85). Worauf bezieht sich dieser Vorwurf genauer? Anforderungen an Kinder spielen auf unterschiedliche Weise eine Rolle im Kontext der ADHS: So weisen viele Autoren darauf hin, dass sowohl Überforderung als auch Unterforderung bei gesunden Kindern ADHS-ähnliche Symptome hervorrufen können (Amft et al., 2004: 79; Döpfner und Schultz, 2005: 89). Andererseits können Anforderungen für Kinder, die bereits ADHS- Verhalten zeigen, unangemessen sein und ihr Verhalten dadurch zu einem großen Problem werden lassen. Überforderungen und falsche Anforderungen können den Schwierigkeitsgrad von kognitiven Aufgaben betreffen. Die Angemessenheit des Schwierigkeitsgrades von kognitiven Aufgaben festzustellen, ist jedoch eine pädagogisch-didaktische Aufgabe. Kommt es durch Über- oder Unterforderung in diesem Bereich zu ADHS-Verhalten, das medikamentös behandelt wird, liegt hier eine Medikalisierung päda- 30 In dieser Studie werden Teilnehmer, die weniger als 6 Stunden pro Nacht schlafen als „short sleeper“ bezeichnet. <?page no="88"?> Aufmerksamkeitsdefizit/ Hyperaktivitätsstörung - Problematik der Grauzone 88 gogischer Probleme vor. Überforderungen und falsche Anforderungen liegen ebenso oder vielleicht noch häufiger auf der Verhaltensebene und im sozialen Bereich. Michael Günter weist darauf hin, dass gerade „die Steuerung von Aufmerksamkeit, Aktivität und Impulsivität […] zu wichtigen Anforderungen im Erziehungs- und Bildungsprozess“ werden. (2009). Im Zusammenhang mit Forschungen zur Genetik der ADHS stellten Swanson und Kollegen fest (2005), dass das stundenlange Stillsitzen in der Schule für Kinder mit ADHS-Konstitution eine schwierige Anforderung darstellt (5.3.2). Diese Anforderung an das Verhalten, die für die meisten Kinder schwierig ist, stellt eine unangemessene Anforderung dar. Stundenlanges Stillsitzen ist zudem schädlich im Hinblick auf andere Bewegungsmangelerkrankungen und wirkt sich allgemein nachteilig auf die kognitive Leistungsfähigkeit aus. Manche Reformkonzepte setzen daher auf Bewegung im Schulunterricht. Mit der Forderung Stillzusitzen ist in der Regel die Forderung verbunden, „aufzupassen“, d.h. seine Aufmerksamkeit im Sinne einer top-down- Aktivierung (7.3.2) auf die geforderte Aufgabe zu lenken. Tests ergaben, dass Kinder die Fähigkeit, irrelevante Informationen zu ignorieren und sich nicht ablenken zu lassen, im Durchschnitt erst mit dem 12. Lebensjahr voll entfalten (Hasselhorn et al., 1989; vergl. 7.4.4). Es scheint daher Vorsicht geboten, einem Kind von fünf, sechs oder sieben Jahren, das gerade in die Schule kommt, grundsätzlich mangelnde Konzentrationsfähigkeit zu bescheinigen. Wenn altersgleiche Kinder hier große Unterschiede zeigen, spiegelt das mindestens teilweise die diskontinuierlichen und vor allem individuell höchst unterschiedlichen Entwicklungsverläufe von Kindern wider. Manche sind den Anforderungen hinsichtlich dieser Art der Aufmerksamkeit in der Schule noch nicht gewachsen. Die Frage ist also, ob bestimmte Anforderungen an die Selbstkontrolle im Sinne von Kontrolle der Aufmerksamkeit und der Bewegungsimpulse zu früh gestellt werden und dadurch eine Überforderung auf Verhaltensebene entsteht. So formuliert liegt die Frage ganz gegen den Trend, denn derzeit verbreitet sich eher die Ansicht, dass schon Säuglinge alles können und die Erwartungen an die so genannte Selbständigkeit von Klein- und Vorschulkindern steigen stetig. Die dadurch entstehenden schwierigen Situationen können zu weiterem Stress führen und ebenfalls nervöse Reaktionen erzeugen. Verfrühte Anforderungen an Selbst- und Impulskontrolle sowie Selbständigkeit könnten also eine mögliche Ursache für ADHS-ähnliches Verhalten sein. Emotionale und intellektuelle Selbstkontrollfähigkeiten stellen sich jedoch nicht nur durch Entwicklung ein, die man einfach abwarten könnte, sondern sie sind auch als Lernaufgabe zu begreifen, bei deren Aneignung Kinder der geduldigen Unterstützung bedürfen. Das legen auch Ergebnisse nahe, aus denen auf die Trainierbarkeit von Impulskontrolle geschlossen werden kann (Houdé, 2000; 7.4.4). Auf die Strategiebildung als wichtigen <?page no="89"?> Entstehungsfaktoren für ADHS 89 Faktor für Impulskontrolle wird hingewiesen (Kuhl und Kraska, 1992; zitiert nach Goschke, 2004; s.7.4.1). Darüber, wie die Unterstützung aussehen soll, herrscht große Unsicherheit, die häufig zur Unterlassung führt und damit ebenfalls ADHS-ähnliches Verhalten fördern kann (s.o.). Da die Phase, in der diese Unterstützung notwendig ist, deutlich vor Schulbeginn liegt, könnte hier ein soziales Problem verborgen sein. Eine Belastung, die häufig unterschätzt wird, ist für manche Kinder der Aufenthalt in großen, altersgleichen Gruppen, vor allem wenn er sich über lange Zeitspannen (5-8 Stunden) erstreckt. Mit der Situation von ADHS-Kindern in der Schule befasst sich auch Skrodzki (2000: 38), der sich auf Goldstein (1998) bezieht, wenn er schreibt: „Es sollte den Eltern immer wieder Mut gemacht werden, dass sich hinter dem engen Tor der Schule, durch das jeder Mensch hindurch muss, ein großer neuer Raum auftut. Hier können Fähigkeiten zum Tragen kommen, die in der Schule überhaupt nicht gefragt waren, die unentdeckt bleiben, aber später besonders wichtig werden.“ Man möchte anfügen, dass dies auch für viele „normale“ Kinder gilt. Wolfgang Droll macht in seinem Appell die Schulsituation und ihre unangemessenen Anforderungen für das Scheitern von Menschen mit ADHS-Verhalten verantwortlich: „Es sollte unserer Gesellschaft nicht gleichgültig sein, dass viele Kinder aus einer neurobiologischen Konstitutionsgruppe, […] die hervorragende Talente haben, […] zu einem hohen Prozentsatz an unserer Art Schule scheitern.“ (Droll, 2004: 87). Beispiele dafür, dass viele Menschen mit ADHS- Verhalten nach ihrer Schulzeit durchaus im Sinne der modernen Gesellschaft erfolgreiche Gesellschaftsmitglieder sind, finden sich bei Hartmann (2000: 60 bzw. 62f.), der beklagt, dass zu wenig über erfolgreiche Menschen mit ADHS-Verhalten geforscht und veröffentlicht wird. Die geeigneten Unterrichtsmethoden für Kinder mit ADHS sind mittlerweile Gegenstand der Forschung in den Erziehungswissenschaften. Die Frage der adäquaten Anforderungen und die Unterstützung bei der Strategieentwicklung ist mehr noch bei zunächst Gesunden eine erzieherische, pädagogische und soziale Aufgabe. Mängel und Versäumnisse in diesem Bereich führen zu Problemen, die durch Medikamente kompensiert, jedoch nicht gelöst werden. Die Medikalisierung erzieherischer, pädagogischer und sozialer Probleme führt vielmehr zu deren Ausweitung, indem die bestehenden Verhältnisse stabilisiert werden und sich dadurch bei immer mehr Kindern ungünstige und sogar problematische Wirkungen der Lebensbedingungen zeigen. Spieldeprivation Basierend auf der Auffassung, dass bestimmte angeborene Neigungen, darunter auch das Bedürfnis zu spielen, Grundlage und Motor der Entwicklung sozialer Kognitionen sind (s.7.4.3), entwirft Panksepp (2007) eine <?page no="90"?> Aufmerksamkeitsdefizit/ Hyperaktivitätsstörung - Problematik der Grauzone 90 Vorstellung für die Entstehung von ADHS-Verhalten, die in andere Bereiche hineinreicht. So sollen Tiere, die als Jungtiere wenig Gelegenheit zum Spiel hatten, als Erwachsene ihre aggressiven Impulse nur mangelhaft regulieren können (Potegal und Einon, 1998, zitiert nach Panksepp, 2007). Bei Tieren und Kindern, bei denen Spiel unterdrückt wurde, die dadurch so zu sagen ausgehungert nach Spiel sind, werden die Spielneigungen exzessiv, „especially in classrooms and other social settings where other kids are readily available but rough-and-tumble activities are not acceptable. Might such play-deprived children be commonly diagnosed with Attention Deficit Hyperactivity Disorders (ADHD), and psychostimulants prescribed, which quell natural playfulness, a well documented effect in animal models? ” (Panksepp, 2007). Das oben erwähnte Problem der Schule, dass die Bewegungseinschränkung Kinder belastet, wird hier mit etwas anderer Betonung formuliert. Eine Studie mit planmäßiger Spielunterdrückung um diese These bei Menschenkindern zu überprüfen wäre zwar ethisch nicht vertretbar, aber die Wirkung von reichlich sozialem Spiel zu testen, wäre in der Art einer Präventionsstudie möglich und wohl den Versuch wert. Kritisiert wird nicht nur die Bewegungseinschränkung durch die Schule, sondern auch die übermäßige, frühzeitige Fokussierung von Fächern wie Lesen, Schreiben und Rechnen auf Kosten von Bewegungs- und Kunsterziehung. Es drängt sich der Verdacht auf, dass es nicht sinnvoll ist, im Kindergarten vermehrt inhaltliches Wissen vermitteln zu wollen, wie das immer wieder gefordert wird. 5.3.4 Bedeutung der Entstehungsbedingungen Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass eine bestimmte genetische Ausstattung einen Vulnerabilitätsfaktor für ADHS-Verhalten darstellen kann. Risikofaktoren können einerseits als Trigger fungieren, andererseits können sie auch bei Individuen ohne spezifische genetische Ausstattung ADHS-Verhalten auslösen. Die Entstehungsgeschichte sagt im Einzelfall nichts über den Grad der Behandlungsbedürftigkeit aus, dennoch ist die Kenntnis der unterschiedlichen Wege zu ADHS-Verhalten unverzichtbar. Nur das Wissen um die Entstehungsgeschichte ermöglicht in jedem Einzelfall die Wahl der adäquaten Therapiemaßnahmen (5.4) und bietet darüber hinaus die Chance vermeidbare Faktoren auszuschalten und Möglichkeiten für die Prävention (5.5) aufzuzeigen. 5.4 Therapie Beim Vergleich der Therapiemöglichkeiten spielen neben der Wirksamkeit auch die zeitlichen Bedingungen eine wichtige Rolle. Ist z.B. die familiäre <?page no="91"?> Therapie 91 Situation eines Betroffenen derart verfahren und explosiv geworden, dass an Gespräche nicht mehr zu denken ist, dann steht eine schnelle Beruhigung an erster Stelle. In Anlehnung an Nissen (2004: 62) ist zu bedenken, dass es unter Umständen sein kann, dass Patienten nicht in der Lage sind, die Voraussetzungen einer psychotherapeutischen oder anderen personengebundenen Behandlung zu erfüllen. In diesen Fällen können „symptomorientiert eingesetzte Medikamente den Patienten eine Bearbeitung der zugrunde liegenden Konflikte ermöglichen.“ (ebd.) Es wird also in diesen Fällen mit Hilfe der Medikamente erst eine Situation geschaffen, in der weitere Behandlungsmethoden möglich werden (Nissen, 2004, 62). Nach der Krisenintervention ist es notwendig, die Hintergründe auszuleuchten und nach den Ursachen zu forschen, um daraus die Planung der längerfristigen Maßnahmen abzuleiten, bei denen es zusätzlich auf eine lang anhaltende Wirkung ankommt. Idealerweise wird ein Zustand erreicht, in dem der Betroffene ohne therapeutische Hilfe leben kann. Das Anliegen des folgenden Abschnittes ist es nicht, detaillierte Informationen zu Therapievarianten zu geben, sondern die Punkte der Diskussion aufzuzeigen. 5.4.1 Ausschluss von vermeidbaren Ursachen Wenn bestimmte Gegebenheiten als Ursachen für eine ADHS- Symptomatik ausgemacht werden, wäre der nahe liegende Umgang mit dem Problem das Ausschalten dieser Ursachen durch Veränderung der Gegebenheiten. Als Beispiel sei der Junge erwähnt, dessen Verhaltensauffälligkeiten sich nach dem Wechsel der Betreuungseinrichtung legten (Leuzinger-Bohleber, 2006; s.5.3.3). Hier wurde mit der Änderung der Lebenssituation des Betroffenen die optimale Lösung des Problems gefunden und sogar eine relativ kurzfristige Wirkung erzielt. Tendenziell sind aber längere Zeiträume anzusetzen, bis eine Wirkung spürbar eintritt. Ungleich schwieriger wird es, wenn es Anzeichen dafür gibt, dass eine schulische Überforderung vorliegt. Maßnahmen zum Nachteilsausgleich, die allmählich Anwendung im schulischen Alltag finden, wie z.B. längere Bearbeitungszeit für Klassenarbeiten, sind eher als therapiebegleitende Erleichterungen einzustufen für Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten, deren Ursachen nicht in einer inhaltlichen Überforderung liegen. Diese Maßnahmen sind jedoch nicht geeignet, eine durch Überforderung entstandene Symptomatik zum Verschwinden zu bringen. Es werden aber offenbar auch Möglichkeiten gesehen, Veränderungen, die wie eine Therapie wirken, innerhalb des Systems Schule durchzuführen. So erwähnen Forscher ausdrücklich die interessantere Gestaltung von Lernstoff als eine Möglichkeit, ADHS zu behandeln (Volkow et al., 2004; s.9.4.2). Ihre Überlegung basiert dabei auf Ergebnissen, die zeigen, dass den Probanden eine Ma- <?page no="92"?> Aufmerksamkeitsdefizit/ Hyperaktivitätsstörung - Problematik der Grauzone 92 thematikaufgabe unter Stimulanzien interessanter und motivierender erschien. Vor allem bei leichteren Formen der Verhaltensauffälligkeit, die ja besonders zugenommen haben, könnte dieser Vorschlag zur Verbesserung des Verhaltens führen oder zumindest beitragen. Eine Anpassung der Anforderungen in inhaltlicher Hinsicht ist in Deutschland noch durch einen Schulartwechsel möglich. Ein solcher Schritt ist jedoch derart gravierend und wird meist als unerträglicher Abstieg und als Bestrafung empfunden, sodass ihn in der Regel alle Beteiligten unter allen Umständen zu vermeiden suchen. Hinzu kommen bei einem Schulwechsel möglicherweise zusätzliche soziale Stressoren, da die Situation als „Neuer/ e“ schwierig sein kann. Da es also insgesamt ungewiss ist, ob ein Schulwechsel Erfolg bringt, wird er von den Betroffenen in den meisten Fällen nicht als gangbarer Weg angesehen. Medikamente sind dann häufig das Mittel der Wahl und das führt in diesen Fällen zum verdeckten Cognition Enhancement (s.u.). Spätestens dort, wo es um Erlebtes geht, hat die Vermeidungsstrategie ihre Grenze (Leuzinger-Bohleber, 2006; s.5.3.3). Die größte Chance der Vermeidung von Ursachen liegt denn auch in der Prävention (s. 5.5), doch dabei gibt es große Hindernisse. 5.4.2 Medikamentöse Behandlung „Eine kausale Behandlung psychischer Störungen und Erkrankungen mit Psychopharmaka ist nicht möglich. […] Es hat sich jedoch gezeigt, dass eine auf Symptome abgestellte Behandlung mit Psychopharmaka oft erfolgreich ist.“ (Nissen et al. 2004: 57). Das gilt auch für die Behandlung von ADHS mit Stimulanzien, mit der viele Beteiligte zufrieden gestellt werden, die jedoch nichts an den zugrunde liegenden Problemen ändert. Die Verwendung von Stimulanzien führte Bradley in die psychiatrische Praxis ein (1937). Er untersuchte die Wirkung von Benzedrin 31 bei 30 Kindern mit unterschiedlichen Verhaltensstörungen und bei etwa der Hälfte ergab sich eine deutliche Verbesserung in den schulischen Leistungen (Robbins and Sahakian, 1979). Bis heute wurden diese Beobachtungen immer wieder bestätigt (9.2). Von Nachteil war zunächst, dass die Wirkung nur kurze Zeit andauerte und z.B. bei Schulkindern nach einer morgendlichen Gabe eine weitere Gabe durch die Schulsekretärin nötig war. Inzwischen ist diese Schwierigkeit durch die Entwicklung von Medikamenten mit stufenweiser Freisetzung des Wirkstoffes weitgehend behoben. Ein Vorteil ist sicher die schnell einsetzende Wirkung dieser Medikamente, die gerade für eine Krisenintervention sehr hilfreich sein kann. Eine medikamentöse Behandlung gilt dann als indiziert, wenn eine strenge Indikationsstellung vorausgeht (5.2) und eine erhebliche psychosoziale Beeinträchtigung durch das 31 Asthmamittel auf Amphetaminbasis <?page no="93"?> Therapie 93 ADHS-Verhalten vorliegt (Günter, 2008). Nach wie vor unbefriedigend ist die mangelhafte positive Langzeitwirkung: eine dauerhafte Hilfe wird nur durch permanente Einnahme der Medikamente erreicht. Eine alleinige medikamentöse Behandlung wird wohl auch deshalb in der Regel nicht als adäquat angesehen, sondern es sollte eine multimodale Behandlung (s.u.) erfolgen (Günter, 2008). Zur Kontrolle der Wirksamkeit werden Auslassversuche einmal pro Jahr empfohlen (ebd.). Mögliche Nebenwirkungen (9.6) werden nicht als so gravierend eingeschätzt, dass dadurch die Therapie prinzipiell in Frage zu stellen wäre (ebd.). Neben den Amphetaminverwandten hat sich inzwischen auch die Behandlung mit Atomoxetin etabliert (Günter, 2008). Modafinil ist in USA für die Behandlung von ADHS zugelassen, in Deutschland (noch) nicht. Ein Suchtproblem besteht bei Stimulanzien unter Therapiebedingungen nicht (siehe dazu 9.6.5). Eine Schwierigkeit ist die korrekte Dosierung. Für die Therapie im Kinder- und Jugendbereich wird eine Dosis nur mit Vorbehalten angegeben. Wegen der Besonderheiten der Pharmakologie in diesem Alter halten Fachleute eine körpergewichtsbezogene Dosisempfehlung für fragwürdig und allenfalls als grobe Orientierung geeignet (Nissen et al., 2004, 214). Empfohlen wird mit möglichst niedrigen Dosen, z.B. 5mg Methylphenidat bzw. 5mg d-Amphetamin, zu beginnen und diese zunächst nur am Morgen zu verabreichen, um mögliche Nebenwirkungen (9) beobachten zu können. Nissen rät dann zu einer allmählichen Steigerung der Dosis in 5-mg-Schritten und einer parallel dazu stattfindenden Beurteilung des therapeutischen Erfolgs, um eine individuelle Dosisfindung zu ermöglichen. Als therapeutischer Erfolg wird meist das erwünschte Aktivitätsniveau gesehen. Die üblichen optimalen Tagesdosen werden für Methylphenidat zwischen 0,5 und 2,0 mg/ kg Körpergewicht angegeben, maximal 60mg. Eine kunstgerechte Anwendung des Medikamentes erfordert also eine Titrierung unter ärztlicher Aufsicht, was z.B. während eines Aufenthaltes in einer Tagesklinik möglich ist. In der Praxis fehlt häufig eine genaue medikamentöse Einstellung der Betroffenen. Die Einstellung auf die passende Dosis wird noch dadurch erschwert, dass verschiedene Aspekte des Verhaltens offenbar durch unterschiedliche Dosierungen gefördert oder beeinträchtigt werden, wie eine Untersuchung ergab. So bewirkte z.B. eine Dosis von 1mg/ kg (Körpergewicht) MPH eine signifikante Reduktion der Aktivität bei ADHS-Kindern (Sprague und Sleator, 1977). Dagegen erzielten die Autoren mit einer Dosis von 0,3 mg/ kg eine signifikante Leistungssteigerung in einem Test für Kurzzeitgedächtnis, die jedoch nicht bei der höheren Dosis erreicht wurde, bei der sich die anderen Verhaltensparameter gebessert hatten. Unter Umständen kann die Wirkung trotz kontinuierlicher Einnahme nachlassen oder verschwinden. So ist von einem Kind zu berichten, dessen Verhalten mit dem Medikament für mehrere Monate verbessert war, das <?page no="94"?> Aufmerksamkeitsdefizit/ Hyperaktivitätsstörung - Problematik der Grauzone 94 dann aber trotz Medikament zu alten Verhaltensweisen zurückkehrte. Schließlich wurde die Therapie abgebrochen und nach weiteren erfolglosen Maßnahmen wurde es in einer Tagesklinik der Kinder- und Jugendpsychiatrie behandelt. Dort wurde die medikamentöse Therapie mit anderen Therapieformen kombiniert, was zu einer stetigen Verbesserung des Verhaltens führte. Dieser Verlauf ist offenbar häufig dann zu beobachten, wenn zur medikamentösen Behandlung keine begleitenden Maßnahmen wie z.B. Elterninformation und -instruktion durchgeführt werden. Ähnliches berichtet Steven Hyman (2002: 139): „Lots of kids get methylphenidate, but they don’t have good outcomes presumably because health care providers do not educate families adequately, poor dosage titration, or inadequate attention to side effects. “ Dies spricht dafür, die Eltern in die Therapie einzubeziehen und sie zu instruieren, wie dies in vielen Fachzentren gemacht wird. 5.4.3 Personengebundene Therapien Unter dem Begriff „personengebundene“ Therapien werden hier alle Therapieformen zusammengefasst, die über einen Therapeuten/ in vermittelt werden. Typisch für die verhaltenstherapeutische Herangehensweise sind „Selbstinstruktions- und Selbstmanagementtrainings“ bei meist gleichzeitiger „Intervention in der Familie und in der Schule.“ (Günter, 2008). Auf die Trainierbarkeit von Impulskontrolle wird hingewiesen (Mischel et al., 1989; Houdé et al., 2000; Schneider und Lockl, 2006; s.7.3.6; 7.4.1 und 7.4.4). In solchen Programmen lernen z.B. Vorschulkinder Strategien, Impulse besser zu kontrollieren und Belohnung aufzuschieben. Familientherapie zielt in erster Linie auf „die familiäre Interaktion und die Funktion des auffälligen Verhaltens im familiären oder weiteren sozialen System.“ (Günter, 2008). Demgegenüber setzen psychoanalytisch orientierte Therapien „vor allem an der inneren Konfliktdynamik des Kindes an und arbeiten mit dem Kind und der Familie an einer Stabilisierung ‚väterlich‘ grenzsetzender Strukturen, die einen sicheren Rahmen für die Entwicklung des Kindes bieten.[…] Sie eignen sich besonders für die Bearbeitung der häufig mit einer ADHS einhergehenden Selbstwertproblematik, die unter Umständen mit Hilfe narzisstischer Größenfantasien abgewehrt wird, und bei der Behandlung komorbider emotionaler Störungen.“ (Günter, 2008). Der Zeithorizont dieser Therapieformen ist mittelbis langfristig anzusetzen, und ihr Anspruch ist es, langfristig und anhaltend zu helfen, auch dort, wo die Ursachen nicht zu beseitigen sind, z.B. weil sie im Erlebten liegen. <?page no="95"?> Therapie 95 5.4.4 Multimodale Behandlung „Verbis, herbis, lapidibus,“ lautet bezogen auf die Therapie seit den Anfängen der Medizin die Empfehlung (Nissen, 2004: 64), d.h. die bei der multimodalen Behandlung praktizierte Kombination von medikamentösen und im weitesten Sinne psychotherapeutischen Therapierichtungen ist keineswegs neu. Die verschiedenen Einzeltherapieverfahren müssen in jedem Einzelfall auf den Patienten und seine Familie abgestimmt werden. Gelegentlich kann „zunächst eine Förderung und Stabilisierung“ im Bereich von Teilleistungsstörungen, etwa im motorischen oder sprachlichen Bereich, „eine gewisse Entlastung mit sich bringen.“ (Günter, 2008). Der Autor warnt ausdrücklich davor, multimodale Therapien misszuverstehen als Vollzeitbeschäftigung, bei der sich die Betroffenen an jedem Tag der Woche einer anderen Therapieform unterziehen. Michael Günter betont, dass ein integraler Bestandteil dieser Therapie die Beratung und Unterstützung der Eltern ist, insbesondere hinsichtlich der speziellen Erziehungsanforderungen (2008). Häufig geht es darum, Eltern und Kinder aus dem oben erwähnten circulus vitiosus herauszuführen (s.5.1) und Eltern zu helfen, „wieder anders mit ihrem Kind umzugehen. Dabei steht die Unterstützung strukturierender und Halt gebender Funktionen, wie auch einer fördernden und zugewandten Beziehung im Vordergrund. Dies kann sowohl in der Einzeltherapie als auch über mittlerweile entwickelte Gruppenprogramme für Eltern umgesetzt werden“ (Günter, 2008). Bisweilen wird die Wirksamkeit von Therapien, die über eine pure medikamentöse Therapie hinausgehen, in Frage gestellt und diese Position wird scheinbar durch eine empirische Studie belegt: Die große MTA-Studie (1999). Dabei ist einzuwenden, dass die Probanden für solche Studien durch strenge Selektion ausgewählt werden, z.B. in der Weise, dass die Kinder ausschließlich eine Aufmerksamkeitsstörung hatten, vielleicht noch mit Hyperaktivität, aber kein einziges der in der klinischen Praxis regelmäßig auftretenden Begleitsymptome (Klein et al., 2004). Des Weiteren sind diese Studien zu kritisieren, wenn, wie in der MTA-Studie, „die psychotherapeutischen Effekte einer kompetenten und individuellen Betreuung überhaupt nicht kontrolliert wurden“ (Green und Ablon, 2001; zitiert nach Günter, 2008). So zeigte die Reanalyse der MTA Studie (Conners et al. 2001), dass die umfassende medikamentöse Therapie mit genauer Titrierung einschließlich der Beratung der Betroffenen gegenüber der Verhaltenstherapie ausschließlich in den Symptomen Aufmerksamkeitsstörung und Hyperaktivität überlegen war. Dies war bei den anderen 16 Erfolgsparametern nicht der Fall. Auf einem umfassenden Erfolgsmaß ist demnach eine kombinierte Behandlung aus medikamentöser Therapie mit Titrierung und Verhaltenstherapie wirkungsvoller als jede der beiden allein. Die Co- <?page no="96"?> Aufmerksamkeitsdefizit/ Hyperaktivitätsstörung - Problematik der Grauzone 96 logne Multimodal Interventions Study (Döpfner et al., 2004) startete mit zwei ADHS-Gruppen, von denen die eine zu Beginn allein medikamentös behandelt wurde, die andere allein mit Verhaltenstherapie. Von denjenigen, bei denen mit Verhaltenstherapie begonnen wurde, erhielten 28% aufgrund klinischer Kriterien ergänzend eine Stimulanzientherapie, weil die Verhaltenstherapie nicht ausreichend war. Bei den restlichen 72% war eine zusätzliche medikamentöse Therapie nicht nötig. Umgekehrt mussten 82% der Kinder, die mit medikamentöser Therapie starteten, aufgrund klinischer Kriterien ergänzend Verhaltenstherapie erhalten. Diese Ergebnisse legen nahe, dass es offenbar stark vom Studiendesign abhängt, mit welcher Wirksamkeit sich eine Therapieform darstellt. Abschließende Aussagen über die Wirksamkeit der einzelnen Therapieformen sind derzeit nicht zu machen, ja für bestimmte personengebundene Therapiemethoden ist die Wirksamkeit nicht zweifelsfrei belegt (Günter, 2009). Die Ergebnisse der letzten MTA Untersuchung im Jahr 8, (Molina et al., 2009) legen nahe, dass die Art und die Intensität einer 14-monatigen ADHS-Behandlung keine Vorhersagen über das Befinden und den Zustand von Betroffenen nach 6 bis 8 Jahren erlaubt. Danach erlaubt der frühe ADHS- Symptomverlauf eine Prognose und zwar unabhängig von der Therapie. Kinder mit den besten Voraussetzungen hinsichtlich des Verhaltens und der Soziodemographie, mit dem besten Ergebnis nach irgendeiner Therapie, haben die besten Langzeitaussichten. Da Kinder mit einem kombinierten ADHS-Typ, also mit komorbiden Störungen, am häufigsten noch unter Beeinträchtigungen im Jugendalter leiden, fordern die Autoren „innovative“ Behandlungswege speziell für Jugendliche. Es ist fraglich, ob sie dabei an die Therapieformen denken, die unten vorgestellt werden. In derselben großen Studie (MTA) erkennen andere Autoren (Reeves und Anthony, 2009) erste Hinweise auf spezielle Vorteile der multimodalen Behandlung gegenüber einer alleinigen medikamentösen Behandlung. Genannt werden die Besserung der Symptome als auch das bessere Funktionieren der Familie. In einer Langzeitstudie wurde die Effektivität von Elterntraining sehr deutlich (Hautmann et al., 2009). Es führte in jeder Hinsicht zu besseren Behandlungserfolgen während der Trainingsphase. Ein Jahr später hielten die positiven Effekte auf das Verhalten der Kinder an und die Erziehungskompetenz der Eltern verbesserte sich sogar noch weiter. Neben dem Problem, dass einseitige Studien möglicherweise Fehlbehandlungen zur Folge haben, scheint ein weiteres zu bestehen: Von denen, die der Ansicht sind, dass eine Therapieform, und zwar die medikamentöse, für ADHS ausreicht, wird eine umfangreiche Diagnostik häufig als überflüssig erachtet. Auf dieses Problem wird unter 12.1.3 nochmals eingegangen. <?page no="97"?> Therapie 97 5.4.5 Innovative Therapien Neurofeedback Die Wirksamkeit von Neurofeedback bei ADHS-Verhalten wurde gezeigt (Petermann et al., 2004). In Studien zeigte die Feedbackbehandlung eine umfassendere und länger anhaltende Wirkung als MPH (Holtmann et al., 2004). Trotz vielversprechender Ergebnisse sind noch viele Fragen zu klären z.B. für welche Patientengruppen eine Feedbackbehandlung besonders effektiv ist, wie diese Behandlung in eine multimodale Behandlung zu integrieren ist und wie sich eine Kosten-Nutzen-Rechnung darstellt. Kognitiv affektiv orientierte Therapie Ausgehend von einer Interpretation der ADHS als einer „Störung der Verarbeitung von Wahrnehmungsdaten und Affekten zu denkfähigen Inhalten“ (Günter, 2009; s.5.3.3) müsste sich eine Therapie zunächst mit den grundlegenden Defiziten im Denken und in der Affektwahrnehmung und verarbeitung befassen. Das Ziel wäre dementsprechend zunächst die Funktionsfähigkeit des mentalen Apparates zu entwickeln, insbesondere die „Fähigkeit, Affekte symbolisierend zu verarbeiten“ und die „Fähigkeit, Verbindungen zu Objekten einzugehen.“ (ebd.). Diese Therapieform befindet sich noch in der Entwicklung. Spieltherapie Ausgehend von einer kontrollierten Analyse des sozialen Spiels bei Menschen (Scott und Panksepp, 2002) formulierte und implementierte Panksepp eine prosoziale Erziehungsstrategie, die halbstündliche Spieleinheiten für die Vor-Kindergartenkinder des öffentlichen Systems vorsah, während derer die Kindergartenlehrer bzw. Lehrerinnen versuchten, auf einfühlsame Weise den Kindern die sozialen Erwartungen der Erwachsenenwelt nahe zu bringen. Die Regeln erlernten die Kinder sehr schnell (Panksepp, 2007). Der Autor unterlegt diese Studie durch ein Experiment an Ratten mit ADHS-Verhalten, bei denen eine Spieltherapie einige Impulskontrollprobleme im späteren Leben effektiv reduzieren konnte (Panksepp et al., 2003). 5.4.6 Therapiewahl „Eine rasche und alleinige Verordnung von Methylphenidat, gar auf der Grundlage der Angaben der Eltern, dass das Kind hypermotorisch sei und sich nicht konzentrieren könne, sozusagen ex juvantibus, ist heutzutage als obsolet anzusehen“ (Günter,2008). Obgleich darüber weitgehend Konsens besteht, orientieren sich die Handelnden in der Realität noch nicht überall an dieser Einsicht, denn aus Einzelberichten von Betroffenen und Therapeuten geht hervor, dass sich viele niedergelassen Ärzte vor einer Ver- <?page no="98"?> Aufmerksamkeitsdefizit/ Hyperaktivitätsstörung - Problematik der Grauzone 98 schreibung von MPH nur an den Angaben der Eltern orientieren. Auch das Missverhältnis zwischen der Zahl der Verordnungen und der Zahl der Stellen, die eine umfangreiche Diagnostik durchführen können, lässt vermuten, dass eine große Zahl der Diagnosen nicht ausreichend abgesichert ist. In den Vereinigten Staaten kann eine ADHS-Diagnose von Allgemeinmedizinern, Schwestern, Kinderärzten, Psychiatern und Neurologen gestellt werden (Singh, 2008). Daraus ist zu schließen, dass viele Kinder nicht die für sie optimale Therapie erhalten. Eine Studie aus Virginia hat ergeben, dass 18-20% der weißen Jungen ADHS-Medikamente in der Schule einnahmen 32 . Schüler, die Minderheiten angehörten erhielten nur halb so oft eine ADHS-Medikation (LeFever et al., 1999). Die Autoren berichten von anderen rasseabhängigen Unterschieden in der Verschreibungshäufigkeit und vermuten, dass diese die Folge elterlicher Entscheidungen sind; die Eltern wollten ihren Kindern den Zugang zu den verschriebenen Medikamenten in der Schule ermöglichen. 5.4.7 Therapie als verdecktes Cognition Enhancement Nach dem Gesagten wäre es denkbar, dass bei einem Kind auf Grund von Überforderung der Schulerfolg ausbleibt und sich ADHS-ähnliches Verhalten einstellt. Es wäre weiter vorstellbar, dass in diesem Fall eine ADHS- Diagnose ausgesprochen und eine medikamentöse Therapie eingeleitet wird, obwohl es ausreichen würde, die Anforderungen an die Fähigkeiten des Kindes anzupassen. Für adäquate Anforderungen zu sorgen ist jedoch ein pädagogisches Problem und daher wäre diese Behandlung als Medikalisierung pädagogischer Probleme anzusehen. Möglicherweise liegt auch die Medikalisierung eines leistungsspezifischen sozialen Problems 33 dahinter, wenn die Personen, die für die oder den Betroffenen Verantwortung übernehmen, das Erreichen des gesteckten Ziel um jeden Preis einfordern und ein angemessenes Ziel nicht in der Kommunikation ausgehandelt werden kann. Hans Jonas äußert sich sehr konkret über „Seelenkontrolle mittels chemischer Agenzien“ (1979; hier 2003: 51). Er sieht klar, dass von der Hilfe für Patienten „ein unauffälliger Übergang zu der Erleichterung der Gesellschaft von der Lästigkeit schwierigen individuellen Benehmens unter ihren Mitgliedern [führt]: das heißt der Übergang von ärztlicher zu sozialer Anwendung; “ (ebd.). In den beschriebenen Fällen, wenn also das Interesse besonders auf Leistung liegt, kann eine medikamentöse Behandlung als Cognition Enhancement bezeichnet werden, dessen sich jedoch im Grunde niemand bewusst ist und das von niemandem direkt intendiert 32 Kinder, die nur zuhause ADHS-Medikamente einnahmen, wurden in der Studie nicht gewertet. 33 Auf die Medikalisierungsgefahr sozialer Probleme wurde unter „Entstehungsfaktoren für ADHS“ (5.3.3) hingewiesen. <?page no="99"?> Prävention 99 wird. Dies soll der hier verwendete Begriff „verdecktes Enhancement“ ausdrücken (Walcher-Andris, 2006). 5.5 Prävention Von einer Position aus, die in der genetischen Ausstattung den entscheidenden oder gar alleinigen Faktor für eine ADHS sieht, wird es keine Präventionsmöglichkeit geben, wenn man genetische Eingriffe ausschließt, und damit auch keine Präventionsverpflichtung. Inzwischen besteht jedoch weitgehend Konsens, dass ADHS-Verhalten durch das Zusammenwirken unterschiedlicher Faktoren entsteht (s.o.). Die Chance für Prävention liegt auf der Seite vermeidbarer Risikofaktoren und der Gestaltung der Lebensbedingungen. Auch wenn nicht alle Bedingungen der Umgebung beeinflussbar sind und immer auch unvorhersehbare Ereignisse dazukommen, gibt es Verbesserungsmöglichkeiten. Die Information und Begleitung junger Eltern sollte ausgeweitet werden, so dass sie sich sicherer fühlen bezüglich wichtiger Bedürfnisse ihrer Kinder, auch im psychosozialen Bereich. Mit besseren Kenntnissen über die Gefahren des Medienkonsums könnten sie, wenn schon die allgemeinen Lebensbedingungen sich nicht ohne weiteres verändern lassen, zumindest im familiären Rahmen während der ersten, entscheidenden Jahre für verbesserte Lebensbedingungen für ihr Kind sorgen indem sie den Fernsehkonsum für ihre Kinder unterbinden. Die Erhöhung des Risikos für ADHS durch Fernsehen bei sehr jungen Kindern wurde nachgewiesen (Christakis et al., 2004; 5.3.3). Entgegen der verbreiteten Ansicht, Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren wären vollkommen selbständig und bedürften im Wesentlichen noch der Versorgung mit Nahrung und Kleidung, zeigen die Ergebnisse zur Wirkung des Fernsehens bei Jugendlichen (Johnson et al., 2007) wie sehr sie noch der Begleitung bedürfen. Beständiges „Monitoring“ (Kerner, 2004) kann auch in diesem Alter als vorbeugende Maßnahme noch effektiv sein. Selbständigkeit zulassen und fördern bedeutet auf keinen Fall allein lassen. Eine weitere Präventionsmöglichkeit könnte im Training von Impulskontrolle liegen. Da die Steuerung von Aufmerksamkeit, Aktivität und Impulsivität, wie Michael Günter feststellt (2009), eine wesentliche Anforderung in der Schulausbildung und Ausbildung insgesamt ist, führt eine mangelhafte Ausbildung dieser Fähigkeiten zu Schwierigkeiten im schulischen Umfeld, die eine ADHS-Diagnose nach sich ziehen können. Nachdem die Trainierbarkeit von Strategien zur Impulskontrolle gezeigt wurde (Houdé et al., 2000), wäre es denkbar, in den Institutionen das Unterdrücken vorschneller Impulse und Automatismen als Lernziel zu formulieren und entsprechende Übungsmethoden zu entwickeln und zu erproben. Für <?page no="100"?> Aufmerksamkeitsdefizit/ Hyperaktivitätsstörung - Problematik der Grauzone 100 Eltern könnten entsprechende Informationen bereitgestellt und Fortbildungsmöglichkeiten angeboten werden. Dagegen ist die Ausweitung des inhaltlichen Lernens im Kleinkind- und Kindergartenalten sicherlich ein Schritt in die falsche Richtung, vor allem wenn es auf Kosten der Möglichkeiten zum freien Spiel geschieht (s.o.). Eine richtige Entscheidung wäre es, für das freie, körperliche Spiel unter Aufsicht (7.4.3) mehr Raum zu geben, auch in der Grundschule. Ein konkretes, groß angelegtes Präventionsprojekt stellt die Frankfurter Präventions- und Interventionsstudie dar, in der versucht wird, in Vorschuleinrichtungen durch spezielle Zuwendung und eine Reihe pädagogischer Maßnahmen Medikamente zu ersetzen bzw. ihre Notwendigkeit zu verhindern (Leuzinger-Bohleber et al., 2006b). Ethische Aspekte zur Prävention von ADHS werden unter 12.2 und 12.3 angesprochen. <?page no="101"?> 6 Der Begriff der Autonomie Das Prinzip des Respekts vor der Autonomie wird allgemein verstanden als ein Prinzip, das den Menschen das Recht und die Fähigkeit zur Selbstbestimmung zuschreibt (siehe dazu Hildt, 2006: 45-110). Wie Elisabeth Hildt bemerkt wird besonders in den liberalen, demokratischen, westlichen Ländern der individuellen Freiheit große Bedeutung beigemessen. Das gilt sowohl für die persönliche Entwicklung als auch für das politische Leben und folglich wird in vielen Argumentationen auf Autonomie rekurriert. Nach Hildt wurde das Autonomiekonzept zum Bestandteil von Theorien, die menschliches Verhalten und Handeln nicht als vollkommen determiniert betrachten (ebd.: 49; s.6.4). ‚Autonomie’ ist in den Theorien kein einheitlicher Begriff, sondern ist, wie es Gerald Dworkin (1988) ausdrückt, ein künstlich erzeugter „Begriff, der dazu dient, ein komplexes Netz von Intuitionen, begrifflichen und empirischen Gesichtspunkten sowie normativen Forderungen zu umschreiben.“ (Hildt, 2006: 50). So ist es nicht überraschend, dass sich unterschiedliche Autonomiekonzeptionen herausgebildet haben: Manche sehen Autonomie vor allem als Fähigkeit und Möglichkeit zur selbstbestimmten Lebensgestaltung (Singer, 1999: 73). Im Gegensatz dazu wird in dieser Arbeit eine weite Auffassung von Autonomie zu Grunde gelegt, die den Aspekt der Selbstgesetzgebung und damit die einschränkende Seite der Autonomie integriert. Sie geht letztlich zurück auf die Arbeit von Kant, die jedoch hier nicht bearbeitet werden kann. Bielefeldt (2006) stellt den zentralen Punkt, von dem aus der Autonomiebegriff bei Kant entwickelt wird, knapp dar. Demnach gibt es in Fragen der Moral „keine dem Willen bloß äußerlich vorgegebenen Güter, Werte oder Tugenden: vielmehr werden diese in ihrer moralischen Verbindlichkeit überhaupt erst durch den sittlichen Willen des Menschen aktiv (>autonom<) konstituiert. Sie sind dem Willen nicht vorgegeben, sondern seiner Autonomie aufgegeben“ (Bielefeldt, 2006: 312 34 ). Das bedeutet, dass Güter, Werte oder Tugenden sowie die Regeln zu ihrem Schutz von Menschen selbst aufgestellt werden und darin besteht ihre Selbstbestimmung. Weiter gehört zu dieser Art Selbstbestimmung, dass sich die Mitglieder der Gesellschaft an die selbst aufgestellten Normen gebunden fühlen und diese in ihrem Leben praktisch vollziehen (ebd.). (Zur weiteren Rechtfertigung siehe 11.1.) Im Folgenden wird nun das weite Autonomieverständnis genauer ausgeführt. Wichtig und hilfreich ist die Unterscheidung von zwei Aspekten der Autonomie: Autonomie als Eigenschaft von Handlungen und Ent- 34 Bezug: Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785, bei Bielefeldt Ausgabe 1911. <?page no="102"?> Der Begriff der Autonomie 102 scheidungen einerseits und als Vermögen und Fähigkeit einer Person andererseits (Miller 35 , 1995). Diese Differenzierung drückt aus, dass Menschen möglicherweise zu autonomen Entscheidungen fähig sind, auch wenn sie diese Fähigkeit aktuell, also in einer bestimmten Situation, gerade nicht realisieren können. In den folgenden Kapiteln wird Autonomie als Fähigkeit und als Eigenschaft von Handlungen näher erläutert. Um sich mit der Frage nach möglichen Beeinträchtigungen der Autonomiefähigkeit durch pharmakologisches Cognition Enhancement (PCE) auseinandersetzen zu können, werden deren kognitive Voraussetzungen beschrieben. Des Weiteren erhebt sich die Frage, ob die Ausbildung dieser Fähigkeiten durch PCE beeinträchtigt werden kann. Daher werden relevante Entwicklungsbedingungen kurz dargestellt. 6.1 Autonomie als Fähigkeit von Individuen Miller (1995) nennt drei psychische Fähigkeiten, die der Autonomie zu Grunde liegen: Handlungsfähigkeit, Rationalität und Unabhängigkeit. Um Handlungsfähigkeit zu erklären, wird zunächst erläutert, wodurch sich Handeln von Verhalten unterscheidet. Nach der Darstellung der psychischen Fähigkeiten werden die eigentlichen Autonomiefähigkeiten erklärt und abgegrenzt; ein Ansatz, die neuronale Basis bestimmter Teilfähigkeiten der Autonomiefähigkeit zu verstehen, wird unter 8.4 gegeben. 6.1.1 Handlung versus Verhalten Um die Handlungen eines Individuums von Aktivitäten allgemein und von Verhalten zu unterscheiden, werden sie von Eckensberger und Plath als intentionale, zielgerichtete und zukunftsorientierte Aktivitäten eines Individuums beschrieben, auf deren Auswahl und Kontrolle zusätzlich ein Netz von sozialen Regeln und Normen Einfluss nimmt. Handlungen sind „potentiell reflexive Aktivitäten, d.h. der Handelnde ist sich seiner Tätigkeit potentiell (nicht in jedem konkreten Handlungsvollzug) bewusst“ (Eckensberger und Plath, 2006: 426; siehe dazu auch 7.3.4 und 7.3.5). Als charakteristisch nennen sie weiter das Moment einer (zumindest subjektiv) willentlichen Entscheidung, „etwas zu tun oder zu lassen“, doch dieser Punkt wird unten weiter ausgeführt. Zu diskutieren wäre, ob nicht von einem fließenden Übergang zwischen Handlung und Verhalten auszugehen ist, anstatt von einer strengen Trennung. Die unterschiedlichen Hal- 35 Miller gibt einen sehr hilfreichen Überblick zum Begriff der Autonomie, der als Basis für die Darstellung der zugrunde liegenden Fähigkeiten und die Beeinflussbarkeit durch Stimulanzien herangezogen wird. <?page no="103"?> Autonomie als Fähigkeit von Individuen 103 tungen, die ein Agierender gegenüber den Dingen und Individuen um ihn herum einnehmen kann, kommen in der Beschreibung verschiedener Handlungsbegriffe zum Ausdruck (Habermas, 1981: 126 ff; s.11.2). Als Voraussetzung für eine Handlung erwähnen Eckensberger und Plath das Vorhandensein von Handlungsalternativen (2006: 427), wodurch die inhaltliche Nähe zur Autonomie deutlich wird. Sie weisen außerdem darauf hin, dass Handlungen immer in Wechselwirkung mit Kontext und Kultur stehen, die im Laufe der Individualentwicklung Handlungsmöglichkeiten eröffnen, verbieten oder tabuisieren (Eckensberger und Plath, 2006: 427). Handlungsfolgen sind meist „Veränderungen der inneren und äußeren Situation“ (ebd.). Dieses umfassende Verständnis von Handlungsfolgen, das sich keineswegs auf unmittelbare Wirkungen beschränkt, sondern die Situation, also auch das komplexe Umfeld, sowie die handelnde Person selbst integriert, erscheint für diese Arbeit angemessen. 6.1.2 Handlungsfähigkeit Ein Mensch wird dann als handlungsfähig bezeichnet, wenn er sich selbst erkennt als einen, der Wünsche und Ziele hat (Miller, 1995; bezieht sich auf Benn, 1988 und Haworth, 1986). Dabei werden ihm zunächst seine Wünsche bewusst und er kann sie sich zum Ziel setzen, indem er Intentionen bildet, so zu handeln, dass er sein Ziel erreicht. Ein handlungsfähiger Mensch will und kann sein Tun an seinen Zielen orientieren (Hildt, 2006: 64; bezieht sich auf Benn, 1988). Voraussetzung hierfür ist demnach die Fähigkeit, sich selbst wahrzunehmen und sich zu sich selbst und seinen Intentionen zu verhalten. Die Tatsache, dass ein Individuum zu zielgerichtetem Handeln in der Lage ist, bedeutet, so Miller (1995), nicht automatisch, dass dieses Individuum niemals durch äußere Faktoren beeinflusst wird und niemals impulsiv handelt. In einem Ansatz, in dem es um die Sicherstellung der Bedingungen der Handlungsfähigkeit geht (Steigleder, 1999; 11.1), wird diese so ausgelegt, dass sie Rationalität und Unabhängigkeit bzw. Freiheit mit umfasst. Dadurch ergibt sich ein sehr umfassendes Verständnis von Handlungsfähigkeit, das dem Verständnis von Autonomiefähigkeit sehr nahe kommt. Es zeigt sich hier wohl ein gewisses Problem der Sprache, da das englische „agency“ nicht genau dem deutschen „Handlungsfähigkeit“ entspricht. Dennoch wird hier, wie in anderen deutschsprachigen Arbeiten zur Autonomie (Hildt, 2006), an der Autonomie als übergreifendem Konzept festgehalten, da die Elemente der Selbstbegrenzung darin stärker zum Ausdruck kommen. Handlungsfähigkeit wird als Element der Autonomie angesehen, das dem vorgestellten Verständnis von Autonomiefähigkeit sehr nahe kommt. In den Fällen, in denen hier ein Text herangezogen wird, der sich <?page no="104"?> Der Begriff der Autonomie 104 ausdrücklich auf Handlungsfähigkeit bezieht (11.1), bleibt der Begriff so stehen. 6.1.3 Rationalität Als weiterer Aspekt von Autonomie als Fähigkeit wird bei Miller (1995; siehe auch Dworkin, 1976; Childress, 1990) Rationalität im Sinne von rationaler Entscheidungsfindung genannt. Er nennt als Voraussetzung, dass eine Person Vorstellungen hat, die sich mit Standards von Wahrheit und Evidenz vertragen, und dass sie zugleich Neigungen erkennen und auf sie einwirken kann. Dazu gehört, dass sie ihre Vorstellungen und Werte, z.B. auf Grund geänderter Faktenlage, ändern kann. Sie muss, so Miller, außerdem in der Lage sein, alternative Entscheidungsmöglichkeiten zu bilden und zu bewerten, man könnte präzisieren, antizipierend zu bewerten und ihre Entscheidungen und Handlungen entsprechend danach zu richten. Auf dieser Grundlage sind Menschen in der Lage, sich selbst Regeln zu setzen und ihnen zu folgen, d.h. diese in ihren Entscheidungsprozess mit einzubeziehen. Ebenso sind sie in der Lage, mit anderen Menschen Verträge einzugehen, und diese zu halten, weil sie diese Vorgaben in eine Entscheidung integrieren können. Miller gilt außerdem als Teil von Rationalität, dass eine Person ihre Entscheidungen und Aktionen ändert, wenn sich ihre Werte und Einstellungen ändern, und dass sich aus ihren Werten und Einstellungen Prioritäten für geplante Tätigkeiten ergeben (Miller, 1995: 247). Diese Darstellung betont die Bedeutung der analytischen und reflexiven Elemente der Rationalität für die Autonomie. Sie soll jedoch nicht das Missverständnis nähren, Rationalität beschränke sich auf bewusste Entscheidungen. Es wird hier vielmehr ein Verständnis der menschlichen Rationalität angenommen, wie es z.B. in der Einführung zu dem Buch, „Der Mensch ein ‚animal rationale’? “ (Sedmak, 2004) beschrieben wird. Demnach spielen scheinbar irrationale bzw. kreative Momente eine entscheidende Rolle in der Bestimmung des Begriffs menschlicher Rationalität, und es wird ein Trend ausgemacht, „den Prozess des Erkennens nicht allein in Begrifflichkeiten von Rationalität zu beschreiben, sondern auch Aspekte wie Leiblichkeit und Emotionalität zu berücksichtigen und damit das Nichtrationale als wesentliches Moment menschlicher Rationalität aufzufassen“ (Sedmak, 2004: 14). 6.1.4 Unabhängigkeit Die dritte Voraussetzung der Autonomiefähigkeit wird in der Unabhängigkeit gesehen (Miller, 1995). Diese kann von zwei Seiten gefährdet werden: zum einen von innen, von der Seite des Subjektes her, und zum ande- <?page no="105"?> Autonomie als Fähigkeit von Individuen 105 ren durch äußere Einflüsse. Letzteres geschieht entweder durch äußere Kontrolle des Handlungsantriebs eines Individuums oder durch die Lebensumstände. Bei diesem Begriff wird ein Bezug gesehen zum Begriff von positiver Freiheit wie er bei Hildt (2006: 54) beschrieben ist (nach Isajah Berlin, 1969). Mit positiver Freiheit ist dort die innere Kontrolle des Handlungsantriebs durch die handelnde Person beschrieben. Diese Kontrolle hat sie demnach nur, wenn nicht andere Faktoren die Kontrolle über ihre Handlungsentscheidungen übernehmen. Solche Faktoren sind in diesem Fall nicht als handfester äußerer Zwang anzusehen. Nein, „Beeinträchtigungen der positiven Freiheit liegen demzufolge vor, wenn einer Person gegenüber auf mehr oder weniger subtile Weise Zwang ausgeübt wird…“ (Hildt, 2006: 55). Es geht hier gleichsam um mentalen Zwang, und dazu gehört auch sozialer Druck. Äußere Einflüsse wie Zwang und Manipulation, die auch in bestimmten Kommunikationsformen zum Ausdruck kommen (11.2), verhindern also Unabhängigkeit, da sie das Handeln einer Person in einer Weise kontrollieren, dass dieses Handeln nicht mehr dem Willen der Person entspricht. Zwang und Manipulation führen auch zu einer Einschränkung von Wahlmöglichkeiten (Miller, 1995). Danach gehören reale Optionen, die für die betreffende Person Bedeutung haben, ebenfalls zu den Voraussetzungen von Autonomie und ein Mangel an wirklichen Optionen wird als Einschränkung der Autonomie aufgefasst. Hierzu merkt Hildt an, dass eine Erhöhung der Zahl der Handlungsoptionen „nicht automatisch auch die Freiheit erhöht.“ (Hildt, 2006: 56). Miller wirft noch die Frage auf, ob die Abwesenheit von Zwang und Manipulation nicht eher eine Bedingung für eine autonome Handlung in einer konkreten Situation ist. Er begründet seine Zuordnung von Unabhängigkeit zur Autonomiefähigkeit mit dem Hinweis auf den Entwicklungsaspekt der Unabhängigkeit. In einer Lebenssituation, in der Menschen permanent dem unerbittlichen Druck von außen z.B. durch ein totalitäres Regime ausgesetzt sind, könne sich Autonomiefähigkeit nicht entwickeln (Miller, 195: 246). In diesem Argument zeigt sich deutlich die wechselseitige Bedingtheit von persönlichkeitsbezogenen Fähigkeiten und gesellschaftlichen Bedingungen. Miller weist dabei auf den Unterschied hin zwischen äußeren Einflüssen in Form von Zwang und Manipulation, die Autonomie verhindern, und äußeren Einflüssen in Form von Überzeugungsversuchen und normalen Limitierungen durch die physische und soziale Umwelt, die mit der Vorstellung von Autonomie konsistent sind, obwohl auch sie die Wahlmöglichkeiten einschränken. (ebd.: 247). Um der Bedrohung der Unabhängigkeit von der Seite des Subjektes her zu begegnen, bedarf es der inneren Autonomie, die in zwei Facetten in Erscheinung tritt; eine wirkt nach innen, die andere nach außen. <?page no="106"?> Der Begriff der Autonomie 106 Innere Autonomie gegenüber äußeren Reizen und inneren Impulsen Innere Autonomie in diesem Sinne ist nach innen gerichtet und meint die partielle Unabhängigkeit sowohl „von der unmittelbaren äußeren Reizsituation“ als auch „von ansonsten dominanten inneren Determinanten wie aktuellen Bedürfnissen, emotionalen Impulsen und starken Gewohnheiten“ (Goschke, 2004: 191). Mit der Formulierung der inneren Autonomie als wesentlichem Bestandteil der Autonomie wird dem Missverständnis vorgebeugt, bei Autonomie handele es sich in erster Linie um die Erfüllung persönlicher Wünsche. Vielmehr ist Autonomie untrennbar mit der selbst auferlegten Einschränkung von Impulsen und Bedürfnissen verbunden und so ist als eine Voraussetzung der inneren Autonomie der „Erwerb von Selbstkontrollstrategien“ zu nennen (ebd.). Für ihre Entfaltung muss ein Individuum eine gewisse Eigenleistung erbringen und eine gewisse Eigenverantwortung übernehmen. (Zu den neuronalen Grundlagen der inneren Autonomie siehe 8.4; Gründe für die Entstehung der einschränkenden Seite der Autonomie werden unter 11.1 angesprochen). Innere Autonomie gegenüber Ansprüchen von außen Autonomie als Haltung gegenüber Ansprüchen von außen, damit sind vor allem mentale äußere Einflüsse gemeint, beschreibt also die Fähigkeit, auf Grund derer ein Individuum den Versuchen von Zwang und Manipulation durch andere Individuen bis zu einem gewissen Grad Widerstand leisten kann; seine Widerständigkeit gegenüber äußeren Einflüssen. Auf Seiten der Person ist also eine gewisse Stärke notwendig, die eigene Position gegenüber Mitmenschen zu behaupten (Ichstärke). Auf Seiten des Umfeldes ist eine Art des gesellschaftlichen Miteinanders gefragt, in dem es einem einzelnen Individuum möglich ist, einen gewissen Grad an innerer Unabhängigkeit gegenüber Haltungen und Einstellungen, die von außen herangetragen werden, zu bewahren und in eine nach außen wirkende Autonomie umzusetzen. So ist der Handlungstyp, der in einem Lebensbereich praktiziert wird (11.2), mit dafür Ausschlag gebend, ob die innere Unabhängigkeit nach außen gewahrt werden kann. Das bedeutet wiederum nicht, dass eine Person nicht ihre Haltung nach einer rationalen Prüfung an die Haltung eines anderen anpassen könnte. Es bedeutet ebenso wenig, dass auf jedwede gesellschaftlich gewünschte Orientierung verzichtet werden muss, sondern es geht um die schwierige Aufgabe, in einem immerwährenden Balanceakt zwischen gemeinschaftlichen Anliegen und persönlicher Freiheit einen Ausgleich zu schaffen. Der Ausdruck Balance deutet an, dass bei einer Verringerung der äußeren Orientierung und einem zunehmenden Verzicht auf äußere Kontrolle in Form von sozialer Kontrolle im gleichen Zuge innere Kontrollmechanismen gestärkt werden müssen, <?page no="107"?> Autonomiefähigkeit als Lernprozess 107 was nicht unbedingt automatisch der Fall ist und eben auch seine Grenzen hat. (Zur ethischen Diskussion s. 13.3.5) 6.1.5 Kognitive Voraussetzungen der Autonomie Wie diese Beschreibungen vermuten lassen, hat Autonomie als Fähigkeit gewisse kognitive und emotionale Voraussetzungen. Dazu gehören z.B. eine klare Ich-Identität und ein stabiles Selbstwertgefühl als Basis der inneren Autonomie gegenüber Ansprüchen von außen (6.1.4). Um jedoch langfristige Ziele gegen den Widerstand emotionaler oder gewohnheitsmäßiger Reaktionen durchsetzen zu können, ist es nötig, Selbstkontrollstrategien zu entwickeln, die die Basis volitionaler Strategien bilden (Goschke, 2004). Diese zeigen sich z.B. in der Fähigkeit, die innere Trägheit vor einer Handlung zu überwinden oder gerade in der Entschlossenheit bei der Verfolgung langfristiger Ziele. „Volition“ bezieht sich auf die Kontrolle von Handlungen (Bennett und Hacker 2003), mit Hilfe von Volitionen wird Handlungsantrieb generiert. Sie werden unterstützt durch metakognitives 36 Wissen (Goschke, 2004) und es ist offensichtlich, dass verschiedene Personen unterschiedliche Grade von Autonomiefähigkeit entwickeln. (Zur Entwicklung maßgeblicher kognitiver Fähigkeiten siehe 7.4; besonders 7.4.4). Auf der Grundlage der so verstandenen Autonomiefähigkeit sind Menschen in der Lage, sich selbst Regeln zu setzen und ihnen zu folgen und mit anderen Menschen Verträge einzugehen, und sie zu halten. 6.2 Autonomiefähigkeit als Lernprozess Wenn die Autonomiefähigkeit auf kognitiven Funktionen beruht, ist zu bedenken, dass das Gehirn bei Geburt unfertig ist. Zu einem gewissen Grad unterliegt seine nachgeburtliche Entwicklung einem Programm, doch wesentliche Fähigkeiten entwickeln sich im Verlauf der Ontogenese durch adäquate Erfahrungen und Interaktionen mit der Umwelt. Das gilt besonders für alle höheren kognitiven Fähigkeiten des Menschen, wie z.B. Sprache, Reflexionsfähigkeit, Selbstkontrolle, Verantwortungsfähigkeit usw. Die Notwendigkeit, höhere kognitive Fähigkeiten zu erlernen, wird unterstrichen durch die Feststellung, dass die hohe kognitive Leistungsfähigkeit der Menschen im Wesentlichen nicht durch genetische Veränderungen allein entstehen konnte, sondern durch die Art und Weise, wie Menschen das Gehirn nützen und diese Nutzungsweise weiterentwickelt haben (Hüther, 2005: 539f.). Besonders „die Vorteile einer an langfristigen Zielen 36 Kognitive Strategien und Selbstkontrolle werden im Abschnitt III näher erläutert, ebenfalls dort wird der Zusammenhang zum Dopaminsystem hergestellt. <?page no="108"?> Der Begriff der Autonomie 108 orientierten Verhaltensselektion“ sind eng an die „der Entwicklung der Kultur und der damit verbundenen sozialen Praktiken wie Versprechen, Verträge oder kooperative Unternehmungen gebunden“ (Goschke, 2004). Diese kognitiven Fertigkeiten, die durch metakognitives Wissen unterstützt werden, sowie die darauf basierende Autonomiefähigkeit wären folglich als Kulturtechnik anzusprechen, die durch Tradition weitergegeben und weiterentwickelt werden. Folglich liegt es in der Verantwortung jedes Einzelnen bzw. in Kindheit und Jugend v.a. seiner Mitmenschen, sich seine Autonomiefähigkeit zu erarbeiten bzw. sie/ ihn darin zu unterstützen. Diese Konsequenz klingt in verschiedenen Ansätzen zum Autonomiebegriff an, die bei Hildt (2006: 53) aufgeführt sind. So beschreibt z.B. Dworkin Autonomie als Fähigkeit zweiter Ordnung, durch die Personen 37 auf ihre Wünsche erster Ordnung reflektieren können und diese ggf. im Lichte von Werten und Einstellungen höherer Ordnung ändern können. Indem sie diese Fähigkeit praktizieren, nehmen sie ihr Leben in die Hand und „take responsibility for the kind of person they are“ (Dworkin, 1988: 20; zitiert nach Hildt, 2006: 53). Wie in allen Dingen, die erlernt werden müssen, gibt es auch hier große Variabilität, d.h. verschiedene Menschen realisieren unterschiedliche Grade der Autonomiefähigkeit, die im Laufe des Lebens typischen Änderungen unterliegen. Für die Schutzansprüche der Menschen bezüglich der Autonomiefähigkeit ist der graduelle Charakter dieser Fähigkeit jedoch ohne Bedeutung (siehe 11.1). 6.3 Autonomie als Eigenschaft von Handlungen Ob eine konkrete Handlung oder Entscheidung autonom ist, prüft Miller (1995) anhand der Voraussetzungen für Autonomiefähigkeit. Je nachdem, in welchem Maße Handlungsfähigkeit, Rationalität und Unabhängigkeit in einer konkreten Handlungsentscheidung realisiert sind und zum Tragen kommen, ist diese Handlung mehr oder weniger autonom, d.h. auch Autonomie in konkreten Situationen ist eine graduelle Eigenschaft. Miller nimmt eine weitere Differenzierung vor und betrachtet vier Facetten der Autonomie von Handlungen und Entscheidungen. Erstens Handlungsautonomie als Handlungsfreiheit, die sich aus dem Zusammenwirken von Handlungsfähigkeit und Unabhängigkeit ergibt; zweitens als Authentizität, die die Konsistenz einer Entscheidung mit den Werten, Vorlieben und Plänen einer Person beschreibt; drittens als wirksames Nachdenken, das er mit Rationalität gleichsetzt; und viertens als moralische Reflexion, die er als ein Nachdenken über die eigenen Werte, Vorlieben und Pläne erklärt. Eine Entscheidung kann entsprechend dieser Darstellung in einer Hinsicht au- 37 Zur Bedeutung von Autonomie für den Personenbegriff siehe Hildt 2006: 58-62. <?page no="109"?> Determiniertheit und Selbstdetermination 109 tonom sein und in anderen nicht. Miller fügt folgendes Beispiel an: ein Patienten, der eine empfohlene Behandlung ohne viel zu überlegen akzeptiert, handelt vielleicht autonom in Bezug auf Handlungsfreiheit und Authentizität, nicht jedoch in Bezug auf Rationalität und moralische Reflexion. Miller weist darauf hin, dass die tatsächliche Autonomie der Entscheidung eines Patienten, eine Behandlung abzubrechen oder fortzuführen, nicht nur von dessen Äußerungen zu Entscheidungsvorgängen und Gründen abhängt. Hat ein Patient z.B. eine Depression entwickelt, die durch andere Lebensumstände, also nicht durch seine Krankheit, induziert wurde, sieht Miller Autonomie nicht gegeben. Er zitiert Jay Katz (1984) mit dem Hinweis, dass bei der Frage, ob eine Handlung autonom ist oder nicht, den unbewussten und irrationalen Motivationen von Verhalten mehr Beachtung geschenkt werden sollte. Sicher gibt es hier noch Diskussionsbedarf und es ist schwer festzustellen, ob der innere Zustand eines konkreten Menschen in einer konkreten Situation so ist bzw. war, dass seine Handlung als autonom bezeichnet werden darf. Es kann jedoch gesagt werden, dass Unabhängigkeit als Abwesenheit von Zwang und Manipulation eine wesentliche Bedingung für autonome Handlungen ist. Unabhängigkeit setzt jedoch neben dem oben Gesagten ein soziales Klima voraus, in dem der Aufforderungscharakter gesellschaftlicher Praktiken zur Nachahmung nicht einen unausweichlichen sozialen Druck entfaltet, sondern in einem Rahmen bleibt, in dem sich Menschen noch frei „fühlen“ können. 6.4 Determiniertheit und Selbstdetermination Wie zu Beginn des Kapitels (6) erwähnt, basiert das Konzept von Autonomie als Fähigkeit und als Eigenschaft von Handlungen auf der Vorstellung, dass menschliches Handeln nicht völlig determiniert ist. Daraus ergibt sich ein Problem, denn wenn Handlungen indeterminiert gedacht werden, ist Autonomie und damit Verantwortungsfähigkeit ebenfalls nicht möglich. Das Autonomiekonzept ist nur denkbar unter der Annahme, dass Handlungen nicht völlig indeterminiert, sondern auf rationale Beweggründe zurückführbar sind, und dass die Handlungsfolgen in einem kausalen Zusammenhang mit den Handlungen stehen. Wie kann man jedoch annehmen, dass die Welt determiniert ist, menschliches Handeln dagegen nicht ganz? Die Frage nach der Vereinbarkeit von Determiniertheit und Autonomie ist in dieser Arbeit deswegen von Interesse, weil darin dem Prinzip der Autonomie große Bedeutung zugeschrieben wird. Das philosophische Problem der Willensfreiheit kann jedoch hier nicht eingehend behandelt werden, und das ist für die Zwecke dieser Arbeit auch nicht notwendig. Hier steht die Frage im Mittelpunkt, ob und wie pharmakolo- <?page no="110"?> Der Begriff der Autonomie 110 gisches Cognition Enhancement (PCE) auf die Autonomiefähigkeit wirkt, und daher ist zu fragen ob sich PCE auf das auswirkt, was Menschen in ihrer Selbsterfahrung als Freiheit, Handlungsfähigkeit und auch Begrenztheit wahrnehmen. Um sich einer Antwort zu nähern, ist es notwendig, diese erlebte Freiheit zu beschreiben und die Fähigkeiten, die diese Freiheit bedingen, zu identifizieren. Eine zentrale Frage dabei ist, wie Intentionen wirksam werden können, also wie selbst gesetzte Ziele wirksam werden können. Thomas Goschke und Henrik Walter (2005) beschreiben diese Freiheit anhand von drei Komponenten. Die erste ist das „Prinzip der alternativen Möglichkeiten“, in dem sich ausdrückt, „dass es, im Augenblick der Entscheidung, Handlungsalternativen gibt[…]“ (ebd.84f.). Die zweite ist das „Intelligibilitätsprinzip“, nach dem „als freie Handlungen vor allem solche angesehen werden, die durch überlegte, abgewogene, und reflektierte Entscheidungen gekennzeichnet sind.“ (ebd.) Mit anderen Worten: freie Handlungen zeichnen sich durch Rationalität aus, die schon als Voraussetzung für Autonomiefähigkeit genannt wurde (6.1.3). Die dritte Komponente ist das Prinzip der Urheberschaft, das besagt, „dass die Erklärung einer freien Handlung oder Entscheidung bei der handelnden Person selbst liegt.“ (ebd.) Das bedeutet, dass im Falle einer freien Handlung die spezifischen Fähigkeiten und Präferenzen des Handelnden zur Erklärung der Handlung beitragen. Nun zu der Frage der Vereinbarkeit von Determiniertheit und Autonomiefähigkeit. Um dem Widerspruch von Willensfreiheit und einer determinierten Welt zu begegnen, wurde der Begriff der Willensfreiheit von einigen Autoren so ausgelegt, „dass er vereinbar mit einem kausalen Determinismus wird“ (Goschke, 2004: 187; bezogen auf: Walter, 1998). Dieser Ansatz wird daher als „Kompatibilismus“ bezeichnet (Pauen und Roth, 2008), der in unterschiedlichen Theorien umgesetzt wurde. Goschke und Walter kommen zu dem Ergebnis, dass sie alle auf eine „Kompetenztheorie“ hinauslaufen: „Eine Handlung wird dann als frei bezeichnet, wenn sie Resultat bestimmter Fähigkeiten des Handelnden ist (Beckermann 2004).“ (Goschke und Walter, 2005: 92). Darin zeigt sich besonders die Nähe zu dem hier verwendeten Autonomiekonzept (6.1). Was bleibt aber in einer kompatibilistischen Theorie der Willensfreiheit von den drei oben beschriebenen Komponenten der Willensfreiheit? Die kompatibilistische Form der Willensfreiheit, die Walter und Goschke vertreten und die hier akzeptiert wird, beinhaltet eine „schwächere Form von Urheberschaft als libertarische Freiheit 38 , die Urheberschaft als Erstverursa- 38 Libertarier vertreten die Existenz von Willensfreiheit in einem unbedingten Sinne, einschließlich der Indeterminiertheit der Welt an entscheidender Stelle und der „Fä- <?page no="111"?> Determiniertheit und Selbstdetermination 111 chung ansieht.“ Sie ist dann gegeben, „wenn jemand in Übereinstimmung mit seinen Überzeugungen und Werten handelt“ (ebd.). Intelligibilität ist erfüllt, wenn jemand rational 39 handelt. Die hierzu notwendigen Fähigkeiten liegen nicht in einem „der Naturkausalität enthobenen Reich der Vernunft“, sondern sie sind empirischen Untersuchungen zugänglich und nach diesem Ansatz gilt es, „eine naturalistische Theorie des Handelns zu entwerfen, die Absichten, Motive und Gründe als natürliche Phänomene erklärt.“ (ebd.) 40 Das Vorgehen in der vorliegenden Arbeit entspricht dieser Forderung, indem z.B. ein Zusammenhang von Dopaminsystem, anstrengungsbezogener Entscheidungsfindung und Autonomiefähigkeit hergestellt wird (8.4). In dem vorgestellten Ansatz kann z.B. auch untersucht werden, wieweit die einzelnen Individuen die für Willensfreiheit notwendigen Fähigkeiten (s.o.) entwickelt haben. Da diese Fähigkeiten graduell sind, ist auch eine kompatibilistisch verstandene Willensfreiheit graduell (ebd.: 93), so wie dies schon für die Autonomiefähigkeit angenommen wurde (6.2). Die nächste Frage, wie denn Intentionen wirksam werden können, ist bisher noch offen geblieben. Thomas Goschke erklärt sie aus einer psychologischen Perspektive mit der Fähigkeit der Selbstdetermination: Zunächst stellt er fest, dass es im Verlauf der Evolution „zu einer zunehmenden Abkoppelung der Reaktionsselektion von der unmittelbaren Reizsituation und Bedürfnislage gekommen“ ist (Goschke, 2004: 188). Die entscheidende Fähigkeit dabei ist, „das Verhalten an inneren Repräsentationen zukünftiger Zustände auszurichten“ (ebd.). Dieser Fähigkeit liegen zwei weitere antizipative Fähigkeiten zu Grunde: „(1) die Fähigkeit, mehr oder weniger weit in der Zukunft liegende Effekte des eigenen Verhaltens zu antizipieren und zu bewerten und Verhalten an solchen mental repräsentierten Zielzuständen auszurichten (Effektantizipation und Zielgerichtetheit); (2) die Fähigkeit, zukünftige Veränderungen der eigenen Bedürfnislage zu antizipieren und bei der Ausrichtung des Verhaltens an solchen antizipierten Bedürfnissen wenn nötig [sic] aktuelle Bedürfnisse oder emotionale Impulse zu unterdrücken (Bedürfnisantizipation und Selbstkontrolle).“ (ebd.). Goschke (2004) weist zudem darauf hin, dass selbstbestimmtes Handeln auf determinierten Abläufen aufbaut, und damit ist der Bezug zu der oben aufgestellten Forderung nach einer naturalistischen Handlungstheorie hergestellt: „Effektantizipation und Zielrepräsentationen sind keine spontanen Schöpfungen eines ‚unbewegten Bewegers’, sondern sind wie higkeit, eine Kausalkette neu in Gang zu setzen (Erstverursachung).“ (Goschke und Walter, 2005: 86). 39 Zum Verständnis von Rationalität siehe 6.1.3. 40 Goschke und Walter zitieren an dieser Stelle: En , 2003; Goschke, 2004; Walter, 1999. <?page no="112"?> Der Begriff der Autonomie 112 alle anderen kognitiven Prozesse durch Reizinformationen, motivationale Zustände und Lernerfahrungen determiniert“ (Goschke, 2004: 189). Diese Art der Determiniertheit menschlicher Handlungen stellt eine notwendige Bedingung der Möglichkeit dar, „uns als verantwortliche Urheber unserer Handlungen zu betrachten“ (ebd.). In dieser Äußerung wird der Zusammenhang von Autonomie und Verantwortung deutlich, der unter 6.6 weiter ausgeführt wird. Für die genannten Antizipationsleistungen muss auf Erfahrungen zurückgegriffen werden; es kann also gesagt werden, dass diese Leistungen im Grunde auf einem internen Bewertungssystem basieren (8.4.1). Eventuell zur Verfügung stehende neue Informationen können mit den Erfahrungen kombiniert werden. Nun wäre einzuwenden, dass nicht vor jeder Handlung eine vollständige Analyse aller relevanten Aspekte durchgeführt werden kann und im Übrigen muss man eingestehen, dass Handlungsentscheidungen in einem konkreten Augenblick ganz wesentlich das Ergebnis unbewusster, emotionaler und motivationaler Abläufe sind. Die Frage ist also, wie bewusst gewählte Ziele unbewusste „Entscheidungen“ beeinflussen können. Goschke schlägt vor, dass Intentionen anstatt als direkte Auslöser „besser als innere Randbedingungen interpretiert werden, die über längere Zeit hinweg (und auf oftmals unbewusstem Weg) die Reaktionsselektion modulieren.“ (2004: 192). So könnten bewusste Intentionen „das kognitive System in bestimmter Weise konfigurieren“ (ebd). Diese mentale Voreinstellung des Systems nennt Goschke „Selbstdetermination“. Sie ist eine Grundlage für innere Autonomie (s.6.1.4) und funktioniert unter Beteiligung des Dopamin-Systems (8.4). „Die Grundlage dieser Antizipationsfähigkeit sind Lernprozesse[…]“ (Goschke und Walter, 2005: 94), (6.2). Gerade diese Feststellung ist für Fragen dieser Arbeit entscheidend: Wenn die Autoren ausführen, dass selbstkontrolliertes Verhalten auf kognitiven Kontrollprozessen beruht (ebd.; 6.1.5) und gezeigt werden kann, dass diese erlernbar sind (7.4.4), ist zu fragen, ob es sinnvoll ist, mangelnde Selbstkontrollfähigkeit medikamentös zu beheben. Es ist jedoch auch zu fragen, ob bzw. unter welchen Umständen eine Beseitigung dieses Mangels unterbleiben kann. Die Autoren führen weiter aus: „Komplexere Formen kognitiver Kontrolle hängen dabei eng mit der Fähigkeit zur Selbstreflexion zusammen[…]. (ebd.: 95). Wenn dem so ist, muss gefragt werden, wie sich eine medikamentöse Beeinflussung von Verhalten langfristig auf die Reflexionsfähigkeit und den Erwerb metakognitiver Strategien (7.4.1; 7.4.3; 10.3.2) auswirkt. <?page no="113"?> Autonomie und Manipulation 113 6.5 Autonomie und Manipulation Eine unmittelbare Gefahr für Autonomie besteht in der Manipulation. Sie wird hier kurz definiert, um in der theoretischen Begründung der Schutzwürdigkeit von Autonomie- und Handlungsfähigkeit darauf zurückgreifen zu können (11.1). Außerdem ist ihre Nähe zu strategischem Handeln von Interesse, wenn unterschiedliche Kommunikationsweisen dargestellt werden (11.2), die als Kriterium für den Respekt vor der Autonomie anderer herangezogen werden können. Inwieweit bei Stimulanziengebrauch von Manipulation zu sprechen ist und er unter diesem Aspekt ethisch vertretbar ist, wird unter 13.2.4 diskutiert. Ziele von Manipulationen sind nach Höffe Änderungen der Erwartungen, der Motivation oder der Bedürfnisse der Betroffenen, die häufig selbst keine Kenntnis von den Maßnahmen bzw. deren Wirkungen haben (Höffe, 2002). Demnach verhindert Manipulation selbständige Entscheidungen und dient meist den Interessen der Manipulierenden, die ihrerseits die Mittel zur Manipulation bewusst und gezielt einsetzen. Gerade deshalb wird der Begriff Manipulation heute negativ aufgefasst im Gegensatz zu früher, als damit noch die Handhabung von Werkzeug oder dergleichen gemeint war. Höffe weist darauf hin, dass inzwischen die Erkenntnisse der Naturwissenschaften und die Bereitstellung reproduzierbarer Verfahren des Machens und Herstellens „die Freisetzung einer nahezu unbegrenzten Verfügungsmöglichkeit über menschliches Verhalten“ ermöglichen (Höffe, 2002: 154). Dagegen hält Willard Gaylin chirurgische, elektrophysiologische oder pharmakologische Interventionsmethoden für weniger gefährlich als Worte. Er ist der Ansicht, dass Menschen, die über Definitionsmacht verfügen, mehr Macht haben, Verhalten zu ändern als die genannten Techniken: „Those glib con men who manipulate the minds oft the innocents are the most dangerous destroyers of will and autonomy“ (Gaylin, 2009: 16). Meiner Ansicht nach liegt es jedoch nicht in erster Linie an der Methode, ob es zur Manipulation kommt. Die Gefahr der Manipulation besteht bei verschiedenen Methoden, mit denen versucht wird, Verhalten zu beeinflussen. Der Unterschied liegt im Gewissheitsgrad, mit dem sie ihr Ziel erreichen, wobei von fließenden Übergängen auszugehen ist. So drückt z.B. der positiv belegte Begriff ‚überzeugen‘ aus, dass sich ein Subjekt mit einem Anliegen durch Worte an ein Gegenüber wendet, ihm seine Sicht der Dinge mitteilt und versucht, die eigenen Gründe plausibel darzulegen um dadurch das Gegenüber dazu zu bewegen, diese Sichtweise zu teilen und entsprechend zu handeln. Das Gegenüber kann sich dann mit dem Ansinnen auseinandersetzen und eine Position beziehen, so dass die Interaktion offen ist. Von diesen „Einflussnahmeversuchen“ lässt sich eine Manipulation durch Worte sicherlich abgrenzen, bei der die Wahrscheinlichkeit das <?page no="114"?> Der Begriff der Autonomie 114 gewünschte Ergebnis beim Gegenüber zu erreichen z.B. durch psychologischen Druck wie bei Gehirnwäsche erhöht wird. 6.6 Autonomie und Verantwortung Im letzten Teil der Arbeit wird die Forderung erhoben und begründet, dass Individuen ihre Verantwortungsfähigkeit nicht selbst beeinträchtigen sollen (11.1; 13.3.4). Daher wird in diesem Abschnitt Verantwortung definiert und der Zusammenhang zu Autonomie dargestellt. „In der Kernbedeutung des Begriffs heißt‚ ’sich (für X gegenüber Y unter Berufung auf Z) verantworten’ soviel wie ‚sich (für X gegenüber Y unter Berufung auf Z) rechtfertigen’“ (Werner, 2006: 542) 41 . Verantwortung wird im Sinne eines Zuschreibungsbegriffs aufgefasst, der zwei zeitliche Perspektiven hat, die Hans Jonas beschreibt (1979; hier 2003: 172ff.). Verantwortung im retrospektiven Sinne drückt demnach aus, dass sich Personen für ihre Handlungen, die in der Vergangenheit liegen, sowie deren Ergebnisse und mittelbare Folgen, verantworten müssen. Das bedeutet, dass ihnen diese Handlungen zugeschrieben werden, sie dafür Rechenschaft ablegen und ggf. dafür einstehen müssen. Von „Verantwortung als kausale Zurechnung begangener Taten“ spricht Hans Jonas (ebd.: 172). Im prospektiven Sinne geht es um die Zukunftsverantwortung. Die Verantwortlichkeit einer Person für andere Personen, Dinge oder Zustände fasst Werner als allgemeine Zuständigkeit zusammen (Werner, 2006: 542). Dazu gehören auch Rollenverpflichtungen, die in unserer komplexen Gesellschaft z.B. in rechtlicher, politischer oder beruflicher Hinsicht zahlreich sind und eine entsprechende Zahl von Verantwortlichkeiten mit sich bringen. „Die Verantwortung für Zu-Tuendes: Die Pflicht der Macht“ heißt es bei Jonas (ebd.: 174) und er unterscheidet zwischen der Verantwortlichkeit eines Steuerbeamten für die Korrektheit seiner Arbeit und der Verantwortung eines Subjektes A für ein anderes Subjekt B. Jonas sieht dabei Verantwortung primär als ein nicht reziprokes Verhältnis an, in dem derjenige, der die Macht hat, die Verantwortung hat: „Das Wohlergehen, das Interesse, das Schicksal anderer ist, durch Umstände oder Vereinbarung, in meine Hut gekommen, was heißt, dass meine Kontrolle darüber zugleich meine Verpflichtung dafür einschließt“ (ebd.: 176). Die beiden Aspekte von Verantwortung stehen in einer Korrespondenzbeziehung, denn nur, wenn Personen zuvor prospektive Verantwortlichkeiten zugeschrieben wurden, können sie retrospektiv für deren Verletzung verantwortlich gemacht werden (Werner, 2006: 543). Man könnte 41 Die Rechtfertigung von Handlungen ist zu unterscheiden von der Rechtfertigung von Handlungsnormen, um die es an dieser Stelle nicht geht. <?page no="115"?> Autonomie und Verantwortung 115 ergänzen, dass in der prospektiven Verantwortungszuschreibung das retrospektive „Zur-Rechenschaft-ziehen“ schon mitgedacht ist. Wie oben erwähnt, setzt Verantwortung Handlungsfähigkeit voraus, ebenso wie Handlungsfähigkeit ein Element der Autonomie (s.o.) ist. Autonomie und Verantwortung wiederum verhalten sich zueinander wie zwei Seiten einer Medaille. Diese Vorstellung bringt einerseits zum Ausdruck, dass Verantwortung zugeschrieben, eingefordert, übernommen und getragen wird vor dem Hintergrund von Normen und Werten, welche nicht automatisch aus der Handlungsfähigkeit entstehen, sondern durch autonome Individuen geschaffen werden. Andererseits beinhaltet das Bild der Medaille die Tatsache, dass Autonomie nicht einfach dem Agieren nach eigenen Wünschen entspricht, sondern als Selbstbestimmung zu verstehen ist, die sich einen Rahmen gibt aus Werten, Einstellungen und Regeln, anhand derer Ziele und Wünsche, sowie die antizipierten Folgen einer Handlung in der Reflexion überprüft werden. In diese Prüfung werden Verpflichtungen gegenüber anderen, z.B. Versprechen, Verträge oder andere Verantwortlichkeiten mit einbezogen. Da Personen in der Lage sind, sich in Abhängigkeit von dieser Prüfung zu verhalten, kann eine Person für ihr Handeln Verantwortung übernehmen und diese kann ihr auch zugemutet werden 42 . In diesem Sinne ist Autonomie eine Bedingung für Verantwortung, doch gleichzeitig ist wirkliche Autonomie nicht ohne Verantwortung zu denken. Personen können, wie es Elisabeth Hildt ausdrückt, dank ihrer Handlungsfähigkeit „so oder auch anders handeln. Aufgrund dieser Freiheit können ihnen ihre Handlungen zugeschrieben werden, aufgrund dieser Freiheit sind sie für ihre Handlungen verantwortlich“ (Hildt, 2006: 60). Die Bedeutung von Verantwortung für eine Gesellschaft und das Zusammenleben der Menschen bringt Hans Jonas besonders deutlich zu Ausdruck. Er möchte die starke Bedeutung des Begriffes Verantwortung mit Hilfe des Begriffs ‚unverantwortlich’ demonstrieren, indem er reserviert wird „für den Verrat an Verantwortungen unabhängiger Gültigkeit, durch den ein wahres Gut gefährdet wird“ (Jonas, 1979; hier 2003: 179). Jonas führt aus, dass der eigentlichen Gegenstand der Verantwortung, der über den unmittelbaren, Einzelfall hinausgeht, „die Wahrung der Treueverhältnisse überhaupt ist, auf denen die Gesellschaft und das Zusammenleben der Menschen beruht: und dieses ist ein substantives, von sich her verpflichtendes Gut. […] Für dieses, in seiner Existenz immer unverbürgte, ganz und gar von uns abhängige Gut ist aber die Verantwortung so unbedingt und unwiderruflich wie nur jede von der Natur gesetzte sein kann - 42 Auf die Einschränkungen, die es in den verschiedensten Nuancen gibt, kann hier nicht eingegangen werden. Das deutsche Strafrecht ist in dieser Beziehung jedoch sehr differenziert. <?page no="116"?> Der Begriff der Autonomie 116 wenn sie nicht selber eine solche ist“ (ebd.). Der Rückgriff auf die Natur des Menschen mag zunächst unverständlich erscheinen. Er erhält jedoch dann eine gewisse Rechtfertigung, wenn man ihn im Zusammenhang sieht, mit der sozialen Natur des Menschen, die ihn von einem gelingenden Zusammenleben mit Menschen abhängig macht, die aber natürlich auch immer sein Vorteil war. Da dieses Angewiesensein für alle Mitglieder einer Gesellschaft gleichermaßen gilt, ist es nur folgerichtig, wenn alle für das Gelingen Verantwortung tragen. Wer mehr Macht hat, trägt mehr Verantwortung; so tragen Erwachsene mehr Verantwortung als Kinder. Dieser Verantwortungsverpflichtung kann ein Mensch nur nachkommen, wenn er verantwortungsfähig ist Das Nachdenken über die Verwendung psychoaktiver Substanzen führt zu der Frage, ob die Verantwortungsfähigkeit einer Person bzw. die kognitiven Fähigkeiten, auf denen Verantwortung basiert, durch PCE eingeschränkt werden könnten. Um eine Antwort vorzubereiten, wird zunächst nach Kriterien der Verantwortungsfähigkeit gefragt. 6.7 Voraussetzungen zur Erhaltung von Autonomie und Verantwortung über die Zeit hinweg Da Enhancement Menschen verändert, liegt die Frage nahe, ob eine solche Veränderung nicht dazu führt, dass die Zuschreibungsmöglichkeit von Verantwortung eingeschränkt wird. Angenommen ein Mensch vollzieht eine Handlung unter Amphetaminen und soll später dafür zur Verantwortung gezogen werden, wenn die Wirkung längst abgeklungen ist. Könnte es sein, dass sich das Individuum zu dem späteren Zeitpunkt so sehr von dem unterscheidet, welches die Handlung vollzogen hat, dass die Verantwortungszuschreibung nicht aufrechterhalten werden kann? Die Voraussetzung dafür, dass eine Person Verantwortung für eine bestimmte Handlung übernehmen kann, ist ja, dass sie wirklich diejenige Person ist, welche gehandelt hat. Wie weit sich ein Mensch verändern kann, ohne sich als ein völlig anderer zu fühlen oder als völlig anderer betrachtet zu werden, wird in der Debatte um die personale bzw. menschliche Identität diskutiert. Theorien zur personalen Identität 43 können hier zwar nicht in ihrer ganzen Breite 43 Der Begriff „Person“ verleiht dem so bezeichneten Wesen einen normativen Status, der mit Rechten und Pflichten einhergeht. Voraussetzung für die Personalität eines Individuums sind „bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten[…]. Zu diesen gehören, Subjekt mentaler Episoden zu sein, auf sich selbst in der erstpersönlichen Weise Bezug nehmen zu können, sowie ein (rudimentäres) Zeitbewusstsein und ein (zumindest rudimentäres) Wissen von der eigenen Existenz über die Zeit hinweg zu haben. Außerdem muss eine Person über logische und instrumentelle Rationalität ver- <?page no="117"?> Voraussetzungen zur Erhaltung von Autonomie und Verantwortung über die Zeit 117 diskutiert werden, doch sie geben Anhaltspunkte für Kriterien der Verantwortungsfähigkeit und ihrer Erhaltung über die Zeit hinweg. Obwohl in der Regel intuitiv gesagt werden kann, ob ein Mensch heute und in drei Monaten als derselbe anzusehen ist, erscheint die Frage danach, was die Identität einer Person ausmacht, berechtigt, wenn man bedenkt, dass die durchschnittliche Lebensdauer vieler Körperzellen eines Menschen 120 Tage nicht übersteigt, der Körper sich folglich nach kurzer Zeit überwiegend aus neuen Zellen zusammensetzt. Zudem können sich auch die intentionalen Zustände einer Person, also ihre Wünsche und Ziele, im Laufe ihres Lebens ändern. Andererseits ist es angesichts der unterschiedlichen Zustände, in denen sich ein Individuum befinden kann, wie schlafen und wachen, jung sein und alt sein, unmittelbar einsichtig, dass mit Identität eines Menschen nicht Identität im strengen Wortsinn gemeint sein kann. Diese ist nur gegeben, wenn zwei Dinge in allen Eigenschaften vollkommen übereinstimmen. Wie kann man aber sagen, dass Individuen als sie selbst über die Zeit hinweg erhalten bleiben? Cordula Brand (2008) gibt einen Einblick worum es in der Debatte um die personale Identität geht. Die obige Frage müsste demnach lauten: Welche Kriterien müssen erfüllt sein, um sagen zu können, dass es sich bei einem Menschen in verschiedenen Lebensaltern oder unterschiedlichen Zuständen um denselben Menschen handelt, also, um ein Beispiel von Brand in abgewandelter Form zu nutzen, dass die zwölfjährige Anna identisch mit der Anna ist, die nach 20 Jahren als 32 jährige Anna lebt oder, dass ein Arbeitnehmer an einem Tag derselbe ist wie tags zuvor. Diese Beispiele sprechen die diachrone Identität an, die ausdrückt, fügen, zur Kommunikation (im weiten Sinne) fähig sein sowie andere Individuen als Personen anerkennen können.“ (Quante, 2002: 19f.). Da einige der genannten Eigenschaften gradualen Charakter haben, stellt Quante klar: „Alle Individuen, welche die geforderten Eigenschaften und Fähigkeiten in hinreichendem Maße aufweisen, [sind] im gleichen Sinne Personen.“ (ebd.: 20). Er diskutiert in seinem Beitrag mögliche Faktoren, die dieses Maß bestimmen und führt aus, dass ein zwei Wochen alter menschlicher Säugling zwar „eine potenzielle Person“ ist … „Dennoch ist dieser Säugling keine Person, da ihm weder die Eigenschaften und Fähigkeiten, noch die erforderlichen Dispositionen zukommen.“ (ebd.). Wie der Autor betont, ist das Potenzial, eine Person zu werden, in ethischer Hinsicht durchaus relevant. Aus praktischer Sicht ist einzuwenden, dass die genannten Eigenschaften von Kindern nicht von einem Tag auf den anderen angeeignet werden, sondern dass die Übergänge auf einem Kontinuum liegen. Die sich daraus ergebenden Fragen können hier nicht diskutiert werden. Der Begriff der personalen Identität wird hier gegenüber dem der menschlichen Identität bevorzugt, da letzterer alle Individuen einschließt, auch solche, die (noch) keine Verantwortungsfähigkeit (mehr) haben, und um die geht es in diesem Kapitel nicht. <?page no="118"?> Der Begriff der Autonomie 118 dass die Identität einer Person über die Zeit hinweg erhalten bleibt 44 , man sagt persistiert (Brand, 2008: 1f.). Die Autorin stellt die Perduranztheorie 45 als akzeptierte Theorie vor, die Persistenz plausibel erklärt und von der es wiederum verschiedene Ausführungen gibt (ebd.: 3). In der Perduranztheorie werden demnach die verschiedenen, nicht ganz identischen Zustände eines Individuums, wie z.B. die Wachphasen einzelner Tage, die durch Schlafphasen unterbrochenen werden, oder der Zustand der zwölfjährigen und der der 32-jährigen Anna als verschiedene Versionen des selben Subjektes aufgefasst, wie sie in einem Fotoalbum, in dem ein Lebensabschnitt zusammengefasst ist, nacheinander anzusehen sind. Diese Versionen folgen zeitlich aufeinander und werden daher als zeitliche Teile des Subjektes interpretiert. Um von Persistenz sprechen zu dürfen, kommt es, wie Brand erklärt, darauf an, dass diese zeitlichen Teile kontinuierlich miteinander verknüpft sind. Die Verknüpfungen werden demnach durch sogenannte Persistenz-Relationen gewährleistet, die sich gerade dadurch auszeichnen, dass ein persistierendes Objekt 46 bzw. ein Subjekt im Laufe der Zeit seine Eigenschaften ändern und dennoch als dasselbe angesprochen werden kann, wenn bestimmte Kriterien erfüllt sind. Hier wird auf eine Theorie der personalen Identität Bezug genommen, die davon ausgeht, dass stets mehrere Kriterien erfüllt sein müssen, damit die Identität einer Person gegeben ist (Northoff, 2001: 417ff); Ansätze, die nur ein Kriterium berücksichtigen, erscheinen nicht plausibel, „da mehrere bzw. verschiedene Eigenschaften […] von notwendiger, aber nicht hinreichender Bedeutung für die personale Identität sind.“ (ebd.: 420). Genannt werden physische Kriterien, die sich auf die kontinuierliche Existenz des Körpers mit dem Gehirn beziehen und notwendig, aber nicht hinreichend für personale Identität sind (ebd.: 419f.). Sie können von einem Menschen selbst, aber auch allein aus der Dritte-Person-Perspektive, das heißt aus der Perspektive eines Betrachters, festgestellt werden. Eine Person erlebt nach Northoff ihre Identität jedoch besonders durch ein spezielles „Ich-Gefühl“. Dieses zeichnet, so Northoff, die Fähigkeit der Menschen aus, die so genannte Erste-Person-Perspektive einzunehmen. Sie entspricht sozusagen der Perspektive der Selbstbetrachtung. Das Selbstgefühl entsteht „möglicherweise durch eine sogenannte ‚Relation der Mei- 44 Davon ist die synchrone Identität zu unterscheiden, die angibt, ob es sich bei einer Person zu einem bestimmten Zeitpunkt wirklich um eine einzelne Person handelt (Brand, 2008). Dieser Themenbereich ist im Zusammenhang mit bestimmten psychischen Erkrankungen und mit philosophischen Gedankenexperimenten von Interesse, nicht jedoch in dieser Arbeit. 45 Andere Theorien wie z.B. die Enduranztheorie, werden hier bewusst ausgeklammert. 46 Von einem Objekt könnte man sprechen, wenn von einem Baum die Rede ist. Für die Persistenz eines Baumes sind vielleicht andere Relationen zu fordern wie für einen Menschen, doch das ist hier nicht das Thema. <?page no="119"?> Voraussetzungen zur Erhaltung von Autonomie und Verantwortung über die Zeit 119 nigkeit‘, durch die mentale und körperliche Zustände in ein ‚Selbstmodell‘ eingebettet werden.“ (Northoff, 2001: 417). „Die Möglichkeit der Auflösung des ‚Ich-Gefühls‘ bei der Schizophrenie (…) zeigt, daß die Fähigkeit zur Einnahme einer Erste-Person-Perspektive als ein notwendiges und direktes (…) Kriterium der Identität von Personen betrachtet werden muß.“ (ebd.: 418). Das gleiche gilt für die Dritte-Person-Perspektive, jedoch kann keines der beiden „als ein hinreichendes Kriterium der personalen Identität angesehen werden.“ (ebd.). Das Selbstmodell wird nach dieser Vorstellung ständig durch die laufend gewonnenen Einsichten der Personen über sich selbst aktualisiert. Ein kontinuierliches Selbstmodell wird bei Brand als narratives Kriterium bezeichnet 47 (2008: 5). Sie erweitert die vorgestellte Theorie (Brand, 2010), doch für die vorliegende Arbeit ist dabei vor allem von Interesse, dass Brand die Kontinuität der Persönlichkeit, womit Charaktereigenschaften und Persönlichkeitszüge gemeint sind, als Hilfskriterium einführt. Da eine Veränderung in der Persönlichkeit ein Hinweis auf eine Veränderung der Identität sein kann, hat dieses Hilfskriterium unter Umständen praktische Bedeutung. Bemerkenswert ist weiterhin der prinzipiell graduelle Charakter der Persistenzrelation, die aus der Summe der Einzelrelationen entsteht (Brand, 2008: 9). Brand weist auf die Schwierigkeit hin, dass bei der allmählichen Abschwächung einer Relation nie ganz genau gesagt werden kann, wann der Punkt erreicht ist, ab dem Persistenz nicht mehr gegeben ist. Man spricht von epistemischer Unbestimmtheit. Dem wäre hinzuzufügen, dass gerade die graduelle Veränderung von Eigenschaften in einer dem Menschen entsprechenden zeitlichen Dynamik als eine Voraussetzung dafür anzusehen ist, dass diese Veränderungen problemlos in das Selbstbild integriert werden können. Die Persistenzrelationen bilden die Wirklichkeit in dieser Hinsicht sehr gut ab, doch was ist eine dem Menschen entsprechende zeitliche Dynamik? Die Vorstellung von einem menschengemäßen Zeitverlauf geht zurück auf die Beschreibung von Engels (2005b), nach welcher der Mensch in seinem Wahrnehmen, Empfinden und Handeln an mittlere Größenverhältnisse angepasst ist, eine Auffassung, die ihre Wurzeln in der Evolutionären Erkenntnistheorie hat. Diese „geht von der Annahme aus, dass sich unser Gehirn mit seinen Funktionen wie andere Organe im Laufe der Evolution unter dem Druck der natürlichen Selektion herausgebildet hat und in Anpassung an die Realität entstanden ist.“ (Engels, 2005b: 231). Engels führt weiter aus, dass „wir uns nicht an die gesamte Realität angepasst [haben], sondern nur an einen Ausschnitt der Welt“. Für diesen Realitätsausschnitt wurde der Begriff „Mesokosmos“ eingeführt (Vollmer, 1985: 77; Engels 1989 und 2005b). Entsprechend werden in der vorliegenden Arbeit mittelschnelle zeitliche Abläufe als menschengemäß betrachtet. So ist ein men- 47 Bezieht sich auf Hartmann und Galert (2007). <?page no="120"?> Der Begriff der Autonomie 120 schengemäßer Zeitverlauf einer Veränderung gegeben, wenn die Veränderung im Augenblick nicht als solche wahrgenommen wird, sondern nur im Rückblick innerhalb eines Zeitrahmens, der wiederum in Beziehung steht zur Lebenszeit eines Individuums. Treten abrupte Veränderungen oder gar schnelle Wechsel der Erscheinungsformen oder Existenzweisen einer Person auf, wird der innere Zusammenhang und das Empfinden von Identität eingeschränkt oder geht verloren. Als Beispiel auf einer anderen Ebene könnte man die Veränderungen der Erdkruste aus der Perspektive des Menschen betrachten: Es gibt Veränderungen, wie z.B. die allmähliche Erosion von Bergen, die für ihn nicht zum Problem werden, weil sie dem Menschen wegen ihres langsamen Verlaufs als solche nicht schaden und von ihm nicht bemerkt werden. Es gibt jedoch Veränderungen, die für Menschen unter Umständen eine Katastrophe bedeuten, wie z.B. ein Erdrutsch oder der Ruck einer tektonischen Platte, die unter Spannung stand. Das Abschmelzen der Polkappen und ihre nicht abschätzbaren Folgen mögen langsam erscheinen, liegen vielleicht dazwischen, doch sie könnten immer wieder abrupte und dadurch gefährliche Ereignisse mit sich bringen. Entscheidend sind offenbar das Ausmaß und der zeitliche Verlauf einer Veränderung; dabei ist der Unterschied zwischen einem Zustand zum Zeitpunkt t und einem neuen Zustand zum Zeitpunkt t’ das Ausmaß. Der Abstand von t zu t’ gestaltet den zeitlichen Verlauf, die Geschwindigkeit, mit der sich die Veränderung vollzieht. Eine Katastrophe ist gekennzeichnet durch eine sehr kurze Zeitspanne zwischen t und t’ mit einer entsprechend hohen Beschleunigung der Vorgänge. Ebenso könnte man sich vorstellen, dass Anna ein gut integrierter Mensch mit 32 Jahren ist, auch wenn sie sich, seit sie 12 Jahre alt war, innerlich und äußerlich sehr verändert hat. Solche Veränderungen können in der Regel gut in das Selbstbild integriert werden, wenn sie sich im Mesotempo ereignen, wie dies im Laufe von Entwicklung und Sozialisation der Fall ist. Würde Anna jedoch innerhalb von nur 1 Tag oder einer Stunde von dem Zustand mit 12 Jahren in einem Zustand sein wie mit 32, erlitte sie wahrscheinlich ein Trauma. Die ständige Veränderung von Menschen ist auch ein Aspekt bei der Überlegung, was Vollkommenheit im Zusammenhang mit der Vervollkommnung von Menschen bedeutet (13.1.6). Hierzu wäre zu ergänzen, dass den grundlegenden Bereichen der Persönlichkeit relative Stabilität zugeschrieben wird. Sie sind durch die so genannten ‚Big Five’ repräsentiert: Extraversion, Neurotizismus, Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit und Offenheit (McCrae und Costa, 1999; siehe auch: Neyer und Lehnart, 2008). Im Gegensatz dazu zeigen die zusätzlichen persönlichen Merkmale, die die Autoren als ‚charakteristische Adaptationen’ zusammenfassen, bisweilen große Variationen über die Zeit (McAdams und Pals, 2006). Zu den charakteristi- <?page no="121"?> Voraussetzungen zur Erhaltung von Autonomie und Verantwortung über die Zeit 121 schen Adaptationen rechnen sie Selbstkonzept, persönliche Ziele, Motive, Werthaltungen und Einstellungen 48 . Wie ist es aber nun mit dem sehr deutlichen Unterschied zwischen Schlaf- und Wachzuständen, bei denen die Übergänge z.T. mit relativ hoher Geschwindigkeit vor sich gehen? Dazu könnte man sagen, dass es sich bei den ständig wiederkehrenden Schlafphasen um einen Zustand handelt, bei dem die identitätsrelevanten Eigenschaften wie Reflexivität oder Ich-Gefühl ohnehin vorübergehend außer Kraft gesetzt sind. Weiter ist zu bedenken, dass Ereignisse im Schlaf nicht und von niemandem in das Selbstkonzept integriert werden. Man könnte die Schlafphasen als integriert betrachten, als der Mensch ein periodisch schlafendes Wesen ist. Außerdem ist der Schlaf ein Zustand, in dem Menschen nicht handeln. Um zu klären, ob die Veränderungen durch psychoaktive Substanzen eine Einschränkung der Verantwortungsfähigkeit nach sich ziehen, fehlt noch die Beschreibung, welche Eigenschaften wie verändert werden (9). Der zeitliche Verlauf, in dem Stimulanzien das Verhalten verändern, soviel kann jetzt schon gesagt werden, ist nicht menschengemäß. 48 Außerdem rechnen sie Identität dazu. Eine gebührende Erörterung, wie Identität bei diesen Autoren konzipiert wird, ist jedoch an dieser Stelle nicht möglich. <?page no="123"?> Für die erweiterte Folgendiskussion reicht eine pharmakologische Grundinformation über erwünschte und unerwünschte Wirkungen von Stimulanzien nicht aus. Erforderlich sind vielmehr umfassende Grundlageninformationen über die Wirkungen in den Verhaltensbereich hinein. Um den Bezug dieser Informationen zum Rahmenthema zu verdeutlichen und den Zusammenhang zu erhalten, wird zunächst ein Überblick über wesentliche Aussagen, Zusammenhänge und Arbeitsfragen gegeben. Zum Begriff von Kognition (7) Mit Cognition Enhancement (CE) sollen höhere kognitive Leistungen verbessert werden, doch die Beurteilung der Wirksamkeit des pharmakologischen Cognition Enhancement (PCE) hängt mit davon ab, wie Kognition aufgefasst wird. So ist das Ergebnis ein anderes, wenn wie hier soziale Kognition als wichtiger Faktor integriert wird als wenn sie getrennt gesehen wird. Aufmerksamkeit und ihre Kontrolle sind die Basis höherer kognitiver Leistung und Ziel von Verbesserungsversuchen. Zum besseren Verständnis von Defiziten und Verbesserungsmöglichkeiten wird dieses komplexe Phänomen kurz dargestellt. Es wird aufgezeigt, dass Störungen der Aufmerksamkeit interne und externe Ursachen haben können, wodurch sich unterschiedliche Umgehensweisen mit Störungen ergeben. Kognitive Leistungen sind als Entwicklungs- und Lernaufgabe zu verstehen. Damit erweitert sich die Sicht auf Verbesserungsmöglichkeiten und der Vergleich von herkömmlichen mit medikamentösen Verbesserungsmethoden wird möglich. Hier werden Strategien als trainierbare Faktoren der kognitiven Leistungsfähigkeit vorgestellt, um Fördermöglichkeiten aufzuzeigen und Beeinträchtigungen zu verstehen. Von großer Bedeutung für die kognitive Entwicklung sind außerdem soziale Interaktionen, und ihre Einschränkung wirkt sich daher ungünstig aus. Schließlich wird erklärt, warum Krisen und Hindernisse als wichtige Lerngelegenheiten gelten und Teil III Medizinische, psychologische und pharmakologische Grundlagen und die Folgen des pharmakologischen Cognition Enhancement <?page no="124"?> 124 daher ihre Vermeidung, auch durch Medikamente, nicht in jedem Fall von Vorteil ist. Zum Dopaminsystem (8) Amphetamine und offenbar auch Modafinil entfalten ihre zentrale Wirkung im Wesentlichen über das Dopaminsystem (DA-System), daher ist es wichtig zu erfahren, welche Aufgaben dieses System hat. DA spielt z.B. eine wesentliche Rolle im Lernvorgang und für die Motivation. Es zeigt sich jedoch, dass natürliche Stimuli des DA-Systems wie positiver Affekt, nicht gleichwertig durch nichtnatürliche Stimuli wie Medikamente, zu ersetzen sind. Dies kann einen Unterschied zwischen herkömmlichem Lernen und Arbeiten und medikamentös unterstütztem Lernen und Arbeiten ausmachen. Prinzipiell sind alle Verhaltensbereiche, für die das DA- System eine Rolle spielt, potentiell durch die Stimulanzienwirkung betroffen, so die meisten exekutiven Funktionen. Da exekutive Funktionen auch Grundlage der Autonomiefähigkeit sind, ist zu fragen, ob und wie Stimulanzien diese beeinflussen. Zur Stimulanzienwirkung (9) Hier geht es um erwünschte und unerwünschte Wirkungen von Stimulanzien und die Frage, ob Stimulanzien tatsächlich kognitive Leistungen verbessern. Eine Vermutung ist, dass PCE die Verlängerung der Arbeitszeit und die Arbeit zu ungünstigen Zeiten ermöglicht und so zur Arbeitsverdichtung führt. Zu den Folgen von PCE (10) Hier werden aus den vorangegangenen Informationen weiterreichende Folgen abgeleitet, die bis dahin noch nicht klar erkennbar wurden. So wird die mögliche Beeinflussung der Autonomie- und Verantwortungsfähigkeit einer Person durch PCE erläutert. Da Stimulanzien als Motivationsverstärker wirken, ist auch nach der Möglichkeit von Manipulation zu fragen. Daran schließen sich Fragen der Beeinträchtigung von Lern- und Entwicklungsaufgaben durch PCE an. Dazu gehören mögliche Auswirkungen auf den Lernprozess durch Störung der Selektivität. Außerdem ist zu fragen, ob schwache kognitive Leistungsfähigkeit teilweise auf mangelnder Strategieentwicklung beruht und damit auch auf Versäumnisse in der sozialen Umwelt zurückzuführen ist. Fragen nach dem Verlust von Lerngelegenheiten für soziale Kognition durch Einschränkung von Interaktionen und Vermeidung von Krisen sowie nach der Veränderung der Kommunikationsstruktur sind ebenso Thema wie die Wirkung von PCE auf Motivation und Selbstvertrauen. <?page no="125"?> 7 Der Begriff von Kognition und die Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit Das Kapitel über Kognition ist als Grundlage für diese Arbeit von Bedeutung, denn ohne Kenntnis der einzelnen Teilbereiche der Kognition sind die Informationen über Medikamentenwirkungen schwer verständlich. Kognition kann als übergeordnetes Konzept aufgefasst werden, das einzelne kognitive Fähigkeiten umfasst. Für einzelne dieser Fähigkeiten wurden psychologische Tests zur Messung der Funktionsfähigkeit entwickelt, und obwohl diese Zergliederung Schwierigkeiten mit sich bringt, wird auf diese Weise das theoretische Gebilde der Kognition empirisch zugänglich. Erst dieser Zugang erlaubt auch zu fragen, wo Stimulanzien mit ihrer Wirkung ansetzen und welche Fähigkeiten konkret mit ihrer Hilfe verändert, verbessert oder beeinträchtigt werden können. Daher werden hier Einzelfähigkeiten, insbesondere exekutive Funktionen, angesprochen, ohne jedoch die Vorstellung aus den Augen zu verlieren, dass die Kombination der Fähigkeiten mehr als ihre schlichte Summe ergibt und dass Kognition daher wahrscheinlich nur mangelhaft durch die Summe der einzelnen Testergebnisse abgebildet wird. Darauf deutet die bleibende Schwierigkeit hin, aus Laborergebnissen Aussagen über Auswirkungen von Medikamenten im Alltag abzuleiten. Es bieten sich nun unterschiedliche Möglichkeiten, die kognitiven Einzelfunktionen zu ordnen. In dieser Arbeit werden vier Schwerpunkte gesetzt. Zunächst wird mit der Vorstellung von Kognition als Verbindung zwischen Wahrnehmung und Handlung eine allgemeine Grundlage gebildet (7.1). Danach wird erläutert, warum in dieser Arbeit sozial-kognitive Fähigkeiten als wesentliches Element menschlicher Kognition gesehen werden (7.2). Auf der Grundlage dieser umfassenden Sichtweise kann dann die Wirkung von Stimulanzien auf Kognition umfassend geprüft werden. Da Stimulanzien zwischen Wahrnehmung und Handlung eingreifen und damit auf Bewertungsvorgänge wirken, verändern sie Interaktionssituationen und daher sind vermutlich auch soziale Kognitionen durch die Stimulanzienwirkung betroffen. Da jedoch ein wesentliches Ziel der Stimulanziennutzung die Verbesserung von Aufmerksamkeit und Konzentration ist, wird im dritten Schwerpunkt geklärt, was diese Leistung genau ausmacht und wie sie entsteht (7.3). Danach wird Kognition als Entwicklungsgeschehen und Lernaufgabe dargestellt, um ihre Gefährdung aufzuzeigen. Falls z.B. schwache kognitive Leistungsfähigkeit teilweise auf mangelnder Strategieentwicklung beruht, könnte das auf Versäumnisse in <?page no="126"?> Der Begriff von Kognition und die Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit 126 der sozialen Umwelt zurückzuführen sein. Daraus können Fördermöglichkeiten aufgezeigt und dann mit PCE verglichen werden (7.4). 7.1 Kognition als Verbindung zwischen Wahrnehmung und Handlung und eine Idee von Vollkommenheit Kognition lässt sich beschreiben als Informationsverarbeitung mit hoher Komplexität. Der Begriff der Information kann dabei nicht als reine Signal- oder Datenmenge verstanden werden, wie sie den Prozessen technischer Informationsverarbeitung zugrunde liegt. Dort werden Symbole und Daten nach bestimmten Regeln manipuliert (siehe dazu: Newell und Simon, 1976) und Information steht für eine Quantität, ohne jede Aussage zur Relevanz für das verarbeitende System. Demgegenüber wurde in der ökologischen Psychologie ein der menschlichen Kognition angemessener Informationsbegriff ausgearbeitet (Gibson, 1950), der eingebunden ist in eine Vorstellung von Relevanz und Bedeutung für den Menschen, die in Bezug zu sinnvollem Verhalten und zu Handeln steht. Kognition wird danach als Fähigkeit betrachtet, bei der Wahrnehmung und Handlung in den zentralen Prozessen auf eine Weise verbunden werden, dass eine Reaktion nicht unmittelbar von einem Reiz ausgelöst wird. Die Vorstellung ist, dass Repräsentationen von Wissen und Erfahrungen sowie von möglichen auf dieser Grundlage antizipierten Handlungsergebnissen den Informationsfluss modulieren und Kombinations- und Bewertungsprozesse zwischen Reiz und Reaktion geschaltet werden. So wird unter Beteiligung der höheren Hirnareale eine Auswahl aus verschiedenen Handlungsmöglichkeiten getroffen. Funktionen, die diese Auswahl ermöglichen, nennt man exekutive Funktionen, zu denen z.B. Problemlösen, Entscheiden oder Impulskontrolle zählen. Beim Problemlösen wird eine Aufgabe durch logisches Denken gelöst, beim Entscheiden sind meist Kosten-Nutzen-Abwägungen nötig und Impulskontrolle wirkt unangemessener Impulsivität entgegen. Bisweilen werden exekutive Fähigkeiten als kognitive Fähigkeiten im eigentlichen Sinn von emotionalen und motivationalen Fähigkeiten abgegrenzt, doch die meisten Wertungsprozesse werden durch emotionale Prozesse vermittelt und sind darüber mit motivationalen Zuständen verbunden (Damasio, 2004: 227ff). Daher ist eine Trennung dieser mentalen Bereiche nicht gerechtfertigt. Wenn es sich nun bei den zwischen Wahrnehmung und Handlung liegenden Prozessen auch um unbewusste Bewertungsprozesse (8.4.1) handelt, ist es wahrscheinlich, dass psychoaktive Substanzen in diese Bewertungsprozesse eingreifen, was sich dann in geändertem Verhalten zeigt. Eingriffe in Bewertungsprozesse einer Person sind ethisch relevant. <?page no="127"?> Kognition als Verbindung zwischen Wahrnehmung und Handlung 127 Die Entwicklungsabhängigkeit und Plastizität von Kongnition wird durch einen Ansatz von Carey und Spelke (1997) gut abgebildet. Darin wird menschliche Kognition so gedacht, dass sie sich aus einer Reihe von bereichsspezifischen Wissenssystemen aufbaut. Diese setzen sich wiederum aus einer unbestimmten Anzahl an Kernkonzepten zusammen. Die Autorinnen schließen aus ihren Studien auf mindestens vier grundlegende konzeptuelle Systeme, hier Kernwissenssysteme genannt. Diese beziehen sich auf das Wissen über Objekte, über aktiv Handelnde, über Zahlen und über Raum. Carey und Spelke vermuten, dass diese Systeme angeboren sind, sich sehr früh entwickeln und dann abgeschlossen und unveränderlich sind. Demnach entstehen sehr früh eine ganze Reihe sehr stabiler Kernkonzepte, die jeweils den vier Bereichen zugeordnet werden können. Bereichsspezifische Störungen der Kernwissenssysteme werden in dem Beitrag als Beleg für deren Existenz interpretiert (Carey und Spelke, 1996: 522) und zugleich als Hinweis darauf, dass diese sich unabhängig voneinander weiterentwickeln. Gemäß diesem Ansatz baut diese Weiterentwicklung darauf auf, dass Kinder vorhandene Kernkonzepte verknüpfen und dies hängt wiederum von der kulturellen Umgebung ab. So entstehen neue Theorien und die damit in Verbindung stehenden Bereiche und Konzepte nach Carey und Spelke häufig durch die von der jeweiligen Kultur bestimmte Kombination von existierenden Kernkonzepten. Z.B. haben kleine Kinder zwei Kernkonzepte für die Erfassung von Zahlen: Sie benennen eins und noch eins, das ist das Kernkonzept des Erfassens exakter Zahlen, das aber höchstens bis drei oder vier reicht. Außerdem erfassen sie eine allgemeine Menge, also viele, in unbegrenzter Höhe (Carey und Spelke, 1996: 527). Durch die kulturelle Methode des Zählens lernen Kinder zwischen zwei und dreieinhalb Jahren diese beiden Kernkonzepte zu verbinden (ebd.). Die Autorinnen nehmen an, dass es genau dieser Prozess ist, in dem verschiedene Wissenssysteme kombiniert werden, durch den sich die kognitiven Strukturen älterer Kinder von denen der Kleinkinder unterscheiden (ebd.: 528). Außerdem differenzieren sie zwischen der Wissensvermehrung einerseits und der Bildung neuer Konzepte durch die Kombination vorhandener Konzepte andererseits. Beides zusammen macht die kognitive Entwicklung aus. Diese Verknüpfungsleistung macht vermutlich einen Teil der kognitiven Strategien aus, auf die im nächsten Kapitel eingegangen wird (7.4.1). Wenn die Aneignung dieser wichtigen Kombinationsleistung kulturabhängig verläuft, ist sie auf eine gewisse Vermittlungsleistung in der Art von Erziehung und günstigen Sozialisationsprozessen angewiesen. Die für diese Arbeit relevante Frage wird sein, wie sich PCE auf die Entwicklung von kognitiven Strategien auswirkt. Die Überzeugung von Carey und Spelke, dass Menschen mit einer Kernausstattung an Wissenssystemen ihr Leben beginnen, und die eigent- <?page no="128"?> Der Begriff von Kognition und die Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit 128 liche Fortentwicklung darin liegt, die Kernkonzepte zu verbinden, führt sie zu einer Vorstellung, die man vielleicht Weisheit nennen könnte: „Although all human thought ultimately is based on domainand task-specific cognitive systems, humans have both the ability and the propensity to map these systems to one another so as to arrive at better and more encompassing ways of understanding what goes on around us. These mappings are a source of conceptual change, both in children and scientists. On this view, the unity of thought is best construed as a goal of human reasoning, always present although never perfectly achieved“(Carey und Spelke, 1996: 529). Offenbar sehen die Wissenschaftler in der gedanklichen Einheit das Ziel, wofür es sich lohnt geistige Arbeit einzusetzen, obwohl es nie ganz erreicht wird. Hinter ihren Äußerungen blitzt eine Ahnung von Vollkommenheit auf, die als Einheit des Denkens durch die Integration unterschiedlicher Wissenssysteme und Fähigkeiten konstruiert wird. Das folgende Kapitel wird zeigen, dass man der Intuition von Vollkommenheit noch näher kommt, wenn man soziale Kognitionen integriert. Um über das Ziel der Selbstvervollkommnung zu diskutieren, wird auch die Idee von Vollkommenheit wieder aufgegriffen (13.1.6). 7.2 Soziale Kognition Wie im folgenden Abschnitt gezeigt wird, handelt es sich bei Kognition nicht vor allem um abstraktes Denken, sondern die soziale Dimension ist sowohl eigene Komponente als auch Bedingung von Kognition. Dabei geht es zwar einerseits um Fähigkeiten des Einzelnen, die ihn in die Lage versetzen, seine sozialen Bezüge zu realisieren. Andererseits muss es beim Thema „soziale Kognition“ aber auch um die Wechselwirkungen und die wechselseitige Bedingtheit individueller Kognitionen und der Umwelt, vor allem der sozialen Umwelt, gehen. Als Grundlage wurde hier die Konzeption von sozialer Kognition von Eckensberger und Plath (2006) gewählt, weil ihr handlungstheoretischer Ansatz gut in den übergeordneten Ansatz dieser Arbeit passt. Soziale Kognitionen werden dort den anderen Kognitionen 49 gegenübergestellt und ihr Inhalt als das "Wissen über die soziale Welt“ beschrieben. Dazu gehören die Interpretation und das Verstehen der eigenen Handlungen und der von anderen, das Denken über sich und andere und die Beziehungen, die Aus- 49 Der Begriff Kognition wird von vielen Autoren nicht im Plural verwendet. Eckensberger und Plath, auf deren Arbeit sich das Kapitel soziale Kognition im Wesentlichen bezieht, setzen jedoch regelmäßig den Plural, weshalb das auch hier so gehandhabt wird. Da sie ausführlich die unterschiedlichen Bereiche und Aspekte sozialer Kognition besprechen, scheint diese grammatikalische Form als kurzer Sammelausdruck auch inhaltlich gerechtfertigt. <?page no="129"?> Soziale Kognition 129 wahl und Verarbeitung sozialer Information, „um Urteile über sich und die soziale Welt zu fällen und Entscheidungen zu treffen.“ (ebd.: 410) Soziale Kognitionen „können quasi als Grundvoraussetzung für die Orientierung in der Welt und somit als fundamentale Bedingung für Entwicklung und Lernen angesehen werden[…]“ (ebd.). Aus dieser Beschreibung ergibt sich eine Vielzahl unterschiedlicher Aspekte, von denen der Bereich Kommunikation unten vertieft wird (11.2), weil ihm in dieser Arbeit besondere Bedeutung zukommt. Ihrer Funktion nach beinhalten soziale Kognitionen solche geistigen Leistungen, „die soziale Erfahrungen überhaupt erst ermöglichen oder die von ihnen geprägt sind.“ (ebd.) Sie basieren darauf, wie sich Menschen vorstellen, dass andere Menschen denken und fühlen, wahrnehmen und handeln. Das Verstehen von Intentionen ist dabei ein wichtiger Schritt (ebd. 410f.). In ihrer Darstellung entscheiden sich Eckensberger und Plath dafür, die Fähigkeit, eine andere Perspektive einzunehmen, als wesentliche Voraussetzung für soziale Kognitionen zu sehen (ebd.: 424f.). Als eigentliches Kriterium sozialer Kognition setzen sie „das Verständnis von Einzelelementen der menschlichen Handlung (Ziele, Mittelwahl, Ergebnisantizipation etc.)“ ein (2006: 425), da erst dann der Gesamtzusammenhang einer menschlichen Handlung durchschaut wird. Fähigkeiten der sozialen Kognition werden inzwischen häufig unter dem Begriff „Theory of Mind“ (TOM) zusammengefasst. Darunter versteht man „subjektive, theorieähnliche Vorstellungen über die Existenz eigener sowie fremder geistiger Zustände (Überzeugungen, Gefühle).“ (Eckensberger und Plath, 2006: 422). TOM bedeutet also, dass jemand sich und anderen Bewusstseinszustände zuschreiben kann. Die Begriffe „Perspektivenübernahme“ (ebd.: 421) und „Rollenübernahme“ beschreiben ebenso wie der Begriff TOM das Wissen über geistige Phänomene und das Verstehen derselben. Sie stammen aus verschiedenen Forschungsrichtungen, die sich durch unterschiedliche Schwerpunkte auszeichnen 50 . Die Vorstellung einer Rollenübernahme liefert nach Eckensberger und Plath eine zusätzliche Erklärung dafür, wie die Koordination der Perspektiven der verschiedenen Menschen gefördert werden kann. Demnach ist das Verständnis der eigenen Rolle und der Rolle des Gegenübers die Voraussetzung für eine koordinierte Umgangsweise der Menschen miteinander. Damit ist „der normative Aspekt sozialer Kognitionen angesprochen“ (Eckensberger und Plath, 2006: 421f.), denn Rollen werden wesentlich definiert durch Zuschreibung von Rechten und Pflichten. 50 Die Unterscheidung der verschiedenen Forschungsrichtungen ist aus einer wissenschaftshistorischen Perspektive zu verstehen. Siehe dazu Flavell, 1999; 2000; zitiert nach Eckensberger und Plath, 2006: 415. <?page no="130"?> Der Begriff von Kognition und die Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit 130 Wichtig ist die Feststellung, dass der Mensch als soziales Wesen in seiner Entwicklung auf angemessene soziale Interaktion angewiesen ist, um die Fähigkeiten, die die sozialkognitiven Funktionen ermöglichen, auszubilden (7.4.3). Überlegungen, die „Sozialität“ von Menschen medikamentös zu verbessern, werden bei den ethischen Betrachtungen angesprochen (13.1.4). 7.3 Aufmerksamkeit und Kontrolle Im Allgemeinen verbindet sich mit dem Begriff „Aufmerksamkeit“ eine Vorstellung von Selektivität einerseits und von begrenzter Kapazität andererseits (Pashler, 1998: 1-5). Selektivität wird nach dieser Beschreibung als Auswahlfähigkeit erfahren, so dass ein Individuum nur die für sich bedeutenden Stimuli 51 wahrnimmt. Weiter wird nur auf einen Teil der Stimuli reagiert, so dass sich die Selektivität auch auf das Verhalten bezieht. Die Begrenzung der Kapazität wird laut Pashler erfahren durch die begrenzte Fähigkeit, verschiedene geistige Tätigkeiten zur gleichen Zeit auszuführen. Selektivität und begrenzte Kapazität sorgen für Prioritäten in Wahrnehmungs- und Entscheidungsprozessen (Allport, 1989; zitiert nach Pashler, 1998). Im Alltagsverständnis von Aufmerksamkeit kann diese von den Menschen selbst aktiv und willentlich auf einen Gegenstand oder eine Tätigkeit gelenkt werden und wird dann auch als „Konzentrationsfähigkeit“ bezeichnet. Durch Ablenkung wird die Aufmerksamkeit „gegen den Willen des jeweiligen Individuums“ umgelenkt, was bis zu einem gewissen Grad durch Anstrengung verhindert werden kann (Pashler 1998: 1-5). Inzwischen wird versucht mit Hilfe bildgebender Verfahren einzelne Aufmerksamkeitsfunktionen spezifischen anatomischen Netzwerken zuzuordnen und diese Erkenntnisse mit den Ergebnissen der Elektrophysiologie zu kombinieren (ebd.: 167ff). 7.3.1 Tonische Aktivierung und phasische Aufmerksamkeit Zunächst muss Aufmerksamkeit abgegrenzt werden gegenüber allgemeinen Aktivierungszuständen bzw. Wachheit, die ebenfalls durch spezifische Netzwerke realisiert werden. Traditionell wurde die Fähigkeit, in lang andauernden Beobachtungssituationen auf kleine Veränderungen in der Umwelt bzw. auf dem Bildschirm zu reagieren, als Vigilanz bezeichnet (Mackworth, 1948). Ein bekannter Vigilanztest war z.B. der von Mackworth 51 Der Begriff Stimulus, der mit Reiz, Anreiz oder Antrieb übersetzbar ist, fasst alle Dinge und Ereignisse zusammen, die Aufmerksamkeit erzeugen und wird häufig im Zusammenhang mit psychologischen Tests benützt. <?page no="131"?> Aufmerksamkeit und Kontrolle 131 entwickelte „Clock-test“ 52 , bei dem das Leistungsverhalten an einem Radarschirm-Arbeitsplatz untersucht wurde. Als „vigilance decrement“ wurde das Nachlassen der Leistung mit der Dauer der Zeit bezeichnet (Pennekamp, 1992). Dies ist ein Beispiel für nachlassende Wachheit durch Eintönigkeit und mangelnde Bedeutung des Stimulus und daraus resultierender Langeweile. Heute verwendet man für allgemeine Wachheit die Begriffe „Arousal“ oder „Aktivierung“. Unter Arousal versteht man einen allgemeinen Zustand diffuser kortikaler Anregung, der auf sensorische Stimulation erfolgt (Dorsch, 1987). Das bedeutet wie bei Aktivierung nicht sichtbare Aktivität, sondern wird realisiert durch „tonische (anhaltende) ungerichtete Wachheit“ (Birbaumer und Schmidt, 2010: 496). Folgende tonische Aktivierungszustände werden genannt: „-bewusster Ruhezustand, -bewusster Bereitschaftszustand […], -verschiedene Schlafstadien […], -Narkosezustände, -epileptische Bewusstseinsänderungen, -vegetativer Zustand, - Koma“ (ebd.: 497). Daran ist zu sehen, dass sich auch die nicht vorhandene Wachheit als ein Aktivierungszustand beschreiben und einordnen lässt, eben als minimale Aktiviertheit, und dass die Wachheitszustände bewusste und unbewusste Zustände einschließen. Von diesen Zuständen unterscheidet man die phasische (kurzfristige) gerichtete Aufmerksamkeit (ebd.). Dieser Begriff bezeichnet demnach die Kombination aus einem Erregungsanstieg, der sich auf einen bestimmten Inhalt oder ein Ziel richtet, und der Hemmung anderer Inhalte und Ziele, die in Konkurrenz zu dem gewählten stehen. Erregungsanstieg und Hemmung laufen parallel. Dabei ist ein bestimmter tonischer Aktivierungszustand notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für phasische Aufmerksamkeit. „Phasische Aufmerksamkeit definiert die Inhalte des Bewusstseins, die tonische nur das Niveau, die Intensität des Bewusstseins“ (Birbaumer und Schmidt, 2010: 497). 7.3.2 Bottom-up- und top-down-Vorgänge Wichtig ist nun zu verstehen, dass der Impuls zur Aufmerksamkeit entweder vermehrt vom Objekt ausgehen kann, dann spricht man von bottom-up- Aktivierung, oder vermehrt vom Subjekt; in dem Fall spricht man von topdown-Aktivierung (Posner und Raichle, 1996: 90f.) Die Aktivierungsrichtung hängt ab von den Stimuluseigenschaften, vom Kontext, in dem ein Stimulus auftritt bzw. vorliegt und vom jeweils unterschiedlichen Anteil an störenden Reizen in der jeweiligen Situation, aber auch von den Wünschen und vom inneren Zustand des Subjektes. Wird z.B. der Blick von einem auf einer einsamen, grauen Straße liegenden roten Ball angezogen, handelt es sich um die Wahrnehmung eines Objekts, das sich in diesem Fall deutlich 52 Kurzbeschreibung und Ergebnisse in Pennekamp, 1992: 20 <?page no="132"?> Der Begriff von Kognition und die Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit 132 von seiner Umgebung abhebt (Salienz: 7.3.5) und dadurch eine bottom-up- Aktivierung hervorruft. Wird dagegen in einem mit Spielsachen angefüllten Zimmer ein roter Ball gesucht, ist das die aktive Suche nach einem Objekt, die das Subjekt durch einen Entschluss initiiert, der dem Vorgang einen großen top-down-Anteil verleiht. Stellt sich jemand die Szene mit dem roten Ball vor, den er einmal geschenkt bekam, ist das die Rekonstruktion eines geistigen Abbilds, z.B. bei geschlossenen Augen, in Abwesenheit eines realen Stimulus. Es handelt sich also um einen reinen top-down- Vorgang 53 . Bottom-up-Vorgänge laufen „infolge einer Stimulation automatisch oder reflexartig“ (ebd.) ab, die „Aktion“ wird sozusagen vom Stimulus initiiert, der die Aufmerksamkeit einer (Versuchs-) Person auf sich zieht. Dagegen werden „top-down-Vorgänge intern von der Versuchsperson erzeugt“ (ebd.), wobei sie aktiv die Richtung der Aufmerksamkeit bestimmt. Dies kann z.B. auch durch die Instruktion des Versuchsleiters initiiert werden (ebd.). Es kommt selten einer der beiden Modi in vollkommener Reinform vor; häufig liegt eine Kombination der Aktivierungsmodi vor. Posner und Raichle weisen darauf hin, dass beide Arten von Aktivierung bewusste und unbewusste Anteile haben können (1996: 167ff). So kann ein Vorgang, der bottom-up beginnt, unter bestimmten Voraussetzungen bewusst werden (Neuheit usw.), während Halluzinationen zu einem großen Teil top-down gesteuert sind, ohne im eigentlichen Sinne bewusst zu werden. Handlungsaktivierung besteht also aus einem Wechselspiel von überwiegend bottom-up und überwiegend top-down gesteuerten Prozessen, welche die neuropsychologische Basis der Interaktion mit der Umwelt widerspiegeln. Es ist offensichtlich, dass bei der bottom-up-Aktivierung die Objekteigenschaften darüber entscheiden, ob einem Objekt Aufmerksamkeit gewidmet wird. Bewusste top-down-Aktivierung ist dagegen involviert in die Vorstellung von Selbstbestimmung, Selbstkontrolle und freiem Willen (s.6; 8.4). Nach dieser Erklärung kann Konzentration als bewusste top-down- Aktivierung beschrieben werden, die mit einer Dämpfung ablenkender Stimuli einhergeht. Von besonderem Interesse für die Diskussion dieser Arbeit ist die Fähigkeit einem Objekt durch eine Suchaufgabe (top-down) besondere Bedeutung zu verleihen, so dass bei Erscheinen dieses bestimmten Stimulus eine geplante Handlung durchgeführt werden kann. So kann sich ein Mensch vornehmen, sobald er rote Schuhe in einem Schaufenster sieht, diese zu kaufen. Menschen sind also in der Lage, Dingen, aber auch bestimmten Aufgaben, durch einen Entschluss (top-down) Bedeutung zu verleihen und dadurch ihre eigene Aufmerksamkeit zu steuern und ihre Konzentration für eine Aufgabe zu stärken. Aufmerksamkeit bzw. Kon- 53 Das Beispiel basiert auf einem Beispiel von Posner und Raichle (1996: 90), das leicht abgewandelt wurde. <?page no="133"?> Aufmerksamkeit und Kontrolle 133 zentration ist also kein Zustand, der nur zufällig kommt und geht, sondern sie kann aktiv beeinflusst werden und Störungen können aktiv bearbeitet werden. Die Fähigkeit eines Individuums, top-down-Vorgänge zu initiieren und aufrechtzuerhalten ist ein wesentliches Element der Fähigkeit zur Selbstkontrolle und damit der Autonomiefähigkeit (8.4.2). Da diese Fähigkeit nicht festgelegt ist, ergeben sich Lern- und Übungsmöglichkeiten (7.4.4) als Alternativen zu PCE. 7.3.3 Die Bedeutung von Zeit für Denkprozesse und Kreativität Bei Untersuchungen zur Verarbeitung von Wörtern mit bildgebenden Verfahren stellten Posner und Raichle (1996: 164) fest, dass auch die zur Verfügung stehende Zeit die Art des Verarbeitungsprozesses beeinflusst. „Demnach beginnt die Analyse der visuellen Merkmale 54 etwa 100 Millisekunden nach Erscheinen des Stimulus und die semantische Analyse 55 nach etwa 200 Millisekunden. Beide Verarbeitungstypen können durch gezielte Aufmerksamkeit verstärkt werden; dieser Effekt beginnt etwa 200- 250 ms nach Erscheinen des Stimulus.“ (ebd.: 156f). Wenn zu einem gegebenen Wort nur ein Wort gefunden werden musste und jeweils nicht mehr als eine Sekunde Zeit zur Verfügung stand, kam es besonders auf schnelle Assoziationen an. In diesem Fall wurde nur eine Region im linken Frontallappen aktiv. Sollten die Versuchspersonen „jedoch mehrere Wörter finden oder wenn sie mindestens 1,5 Sekunden Zeit für die Antworten hatten, war zusätzlich auch das Wernicke-Areal aktiv“ (ebd.: 154), das vor allem am Verstehen von Sprache beteiligt ist. Man könnte also sagen, dass anspruchsvollere kognitive Prozesse mehr Zeit beanspruchen und umgekehrt dass die Verkürzung der zur Verfügung stehenden Zeit zur Beschränkung auf einfache Denkprozesse führt. Dadurch werden in Kapitel 9.2.1 dargestellte Ergebnisse verständlich, nach denen eine medikamentöse Verkürzung der Reaktionszeit zu schlechteren Ergebnissen führt. In der ethischen Diskussion über Lernerleichterung und Handlungsbeschleunigung durch PCE werden diese Ergebnisse aufgegriffen (13.1.5 bzw. 13.3.1). Die Zeit spielt auch für die kreative Bearbeitung von Aufgaben eine Rolle, wie Tests mit Assoziationsaufgaben nach semantischer Prägung 56 zeigten (Posner und Raichle, 1996: 162). Die Autoren erklären, dass beide 54 Ein visuelles Merkmal ist z.B. die fette Druckweise eines Wortes (vgl.: Posner und Raichle, 1996: 143ff.) 55 Eine semantische Verarbeitung ist z.B. die Entscheidung, ob ein Wort einer bestimmten Kategorie wie „Pflanzen“ angehört (ebd.). 56 Darunter versteht man den Einfluss, den ein erstes Wort auf die Effizienz der Verarbeitung eines zweiten Wortes in einer Testaufgabe, z.B. der Angabe von Assoziationen, hat. Dabei wird das erste Wort dem Testwort mit extrem kurzer Darbietungszeit vorgeschaltet, die je nach Aufgabenstellung variiert werden kann. <?page no="134"?> Der Begriff von Kognition und die Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit 134 Hemisphären sich vollkommen in ihren Prägungsmustern unterscheiden. „Die linke Hemisphäre scheint nur die starken, häufigen Assoziationen zu unterstützen; die Prägung zeigt keine Wirkung, wenn das erste Wort nur entfernt mit dem zweiten verwandt ist. Die rechte Hemisphäre scheint dagegen selbst die schwachen Assoziationen aufrechtzuerhalten.“ (ebd.: 164). Unter Zeitdruck und bei hoher Konzentration dominiert die linke Hemisphäre den Vorgang der Assoziation und es wurde mit häufig gebildeten, „starken“, Assoziationen geantwortet. Hatten die Probanden mehr Zeit zur Verfügung und war ihre Aufmerksamkeit zerstreut, „zeigten sich Aktivitäten sowohl im linken als auch im rechten frontalen Cortex,“ (ebd.) d.h. sie antworteten kreativer. Auf eine Reduktion kreativer Fähigkeiten durch die Unterdrückung rechtshemisphärischer Aktivität weist folgende Feststellung hin: „Patienten mit Läsionen im rechten Frontallappen nehmen diese Begriffe sehr wörtlich; sie scheinen nicht in der Lage zu sein, die schwächeren Assoziationen zu bilden, die einer Äußerung eine humorvolle oder metaphorische Bedeutung verleihen, oder die eine Bedeutung erkennen lassen, die nicht direkt in der Aussage enthalten war.“ (ebd.) Es ist anzunehmen, dass diese Fähigkeit, Sinn zwischen den Worten zu erkennen, auch Verstehensprozesse unterstützt. Eine medikamentöse Verkürzung der Bearbeitungszeit von Aufgaben fördert vermutlich eine höchst fokussierte, eindimensionale Denkweise. 7.3.4 Aufmerksamkeit und Bewusstsein bewusste und unbewusste Voraussetzungen der Autonomie Aufmerksamkeit ist nicht identisch mit Bewusstsein. Viele Aufmerksamkeit erfordernde Prozesse wie z.B. „die Reizaufnahme, die Repräsentation des Reizes (Enkodierung),“ oder auch die „Auswahl und Ausführung der auf den Reiz >>passenden<< Reaktion und die Rückmeldung des Reaktionserfolgs aus der Peripherie“ werden nicht bewusst. (Birbaumer und Schmidt, 2010: 498). Die Autoren nennen als Bedingungen für bewusste Informationsverarbeitung auf der Seite der ankommenden Reize deren Neuheit, die Notwendigkeit einen Reiz zu beurteilen wie bei Wahlmöglichkeiten, also konkurrierenden Zielen, und das „Nicht-Eintreffen erwarteter Reize“ (ebd.: 497). Auch auf der Seite der motorischen Reaktionen sind viele Abläufe automatisiert und bleiben unbewusst. Um einen Reiz oder eine Situation z.B. auf Neuheit zu prüfen oder Handlungsalternativen abzuwägen, muss die aktuelle Information mit der gespeicherten verglichen werden. Dies erfordert „ selektive und zeitlich ausreichend lange Kontrolle der Aktivität der mit der Verarbeitung befassten Subsysteme“ (mindestens 100 Millisekunden) und ist eine Leistung des Arbeitsgedächtnisses (ebd.: 503). Diese Vergleichsprozesse beinhalten unbewusste Bewertungsprozesse (8.4.1), die ebenso für die Autonomie von Bedeutung sind wie der <?page no="135"?> Aufmerksamkeit und Kontrolle 135 Teil der Aufmerksamkeit, der die bewusste Kontrolle ausmacht (6). Die medikamentöse Veränderung von unbewussten Bewertungsprozessen bedeutet daher einen Eingriff in die Unabhängigkeit eines Individuums (s.10.1). 7.3.5 Aufmerksamkeit als Selektionsmechanismus und höhere kognitive Funktionen Lange war der Begriff „selektive Aufmerksamkeit“ gebräuchlich um die Auswahlfähigkeit zu bezeichnen, die als Notwendigkeit daraus folgt, dass ein Mensch nicht alle Reize, die auf ihn einströmen, verarbeiten kann. Dem wurde der Ausdruck „geteilte Aufmerksamkeit“ gegenübergestellt, der die Fähigkeit kennzeichnet, in begrenztem Maße Reize parallel zu verarbeiten. Inzwischen scheint die Nutzung dieses Begriffspaares zugunsten präziserer Beschreibungen seltener zu sein und die Reaktionsselektion wird vermehrt mit einbezogen. Selektion relevanter Stimuli „Jeder sensorische Kanal (optisch, akustisch, taktil) besitzt nur eine begrenzte Kapazität [Hervorhebung durch die Autorin gelöscht] der Informationsübertragung.“ (Birbaumer und Schmidt, 2010: 500). Ein großer Teil der ankommenden Informationen wird vor der Selektion relativ vollständig und unbewusst analysiert und beurteilt (ebd.: 500f.). Die Systeme zur Vorselektierung blockieren die überflüssige Information nicht vollständig, sondern schwächen sie ab (Dämpfungstheorie gemäß Treismann, 1964c) 57 , wodurch die bedeutenden Stimuli mehr „hervorragen“, d.h. eine größere Salienz erhalten. Eine ungenügende Salienz der relevanten Stimuli könnte unter anderem auch bei ADHS vorliegen, woraus sich Therapiemöglichkeiten ergeben (Volkow et al., 2004; 9.4.2). Orientierung und Ablenkung: Verschiebung der Aufmerksamkeit Die Orientierungsreaktion der visuellen Aufmerksamkeit lässt drei Teilfunktionen der Aufmerksamkeit erkennen: „Das Loslösen vom bisherigen Ziel der Aufmerksamkeit, das Verschieben der Aufmerksamkeit auf die gebahnte Position [des zuvor erschienenen Signals] und die Verstärkung des Zielobjekts.“ 58 (Posner und Raichle, 1996: 172). In Tests, bei denen Änderungen und Variationen der Aufgabenstellung dazugehören, wird sichtbar, dass das Loslassen des bisherigen Objektes tatsächlich eine Aufmerk- 57 Da auch bei intakter Dämpfung irrelevanter Stimuli mehr Information zentral ankommt als verarbeitet werden kann oder soll, müssen für die weitere Selektion „noch ein[en] oder mehrere zentrale Aufmerksamkeitsmechanismen“ angenommen werden (Birbaumer und Schmidt, 2010: 500). 58 Dabei werden irrelevante Bereiche herausgefiltert. <?page no="136"?> Der Begriff von Kognition und die Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit 136 samkeitsleistung ist. Das Gegenteil ist eine unfreiwillige Verschiebung von Aufmerksamkeit, z.B. bei plötzlich eintretendem (neuem) Stimulus, die auch als „Ablenkung“ erlebt wird. Sie ist nicht vollkommen automatisch in dem Sinne, dass sie nicht unterdrückbar wäre, und Training kann sie reduzieren (Warner et al., 1990; Yantis and Jonides, 1990). Wenn das nicht der Fall wäre, könnten Menschen wahrscheinlich viele Routineaufgaben nicht ausführen z.B. Autofahren. Es wird klar, dass das unbedingte Verharren nicht besser oder wichtiger ist als das schnelle Reagieren auf neue Reize oder umgekehrt. Vielmehr ist die Balance nötig zwischen dem „konzentrierten“ Festhalten an einem Objekt, einer Aufgabe usw. und dem Loslassen im richtigen Augenblick, um sich zu einem in diesem Moment wichtigeren Objekt oder Geschehen hinzuwenden. Eine Aufgabe, die immer nur kontextabhängig gelöst werden kann. Ob sich Menschen einer Aufgabe mit Aufmerksamkeit zuwenden, hängt also von der Umgebungssituation ab, von der Art des Stimulus und der Menge der irrelevanten Stimuli. Soweit die bottom-up-Seite der Aufmerksamkeit. Es liegt aber auch an der Person selbst, einer Aufgabe soviel Bedeutung zu verleihen, dass sie die nötige Salienz erhält (7.3.2). Hier beginnt die Selbstkontrolle (s.u.). Selektion einer adäquaten Reaktion und exekutive Funktionen Die Reaktionsauswahl kann bei übermäßig geübten Aufgaben automatisch, ohne einen bewussten Handlungsentwurf, erfolgen. Dies ist möglich, wenn ein Reiz-Reaktions-Muster zur Verfügung steht, auf das der ankommende Reiz genau passt (Birbaumer und Schmidt, 2010: 501; s.7.3.4), was durch die unbewussten Bewertungsprozesse entschieden werden kann. In Situationen, die rechtzeitig bewusst werden (7.3.4), besteht die Chance bewusst nach einer passenden Reaktion zu suchen, d.h. zu kontrolliertem, intentionalem Handeln (siehe auch 8.4.2). Dies ist die Grundlage für die sogenannten ‚exekutiven Funktionen’, die kognitive Vorgänge wie Planen, Problem- Lösen, Entscheiden oder Impulskontrolle umfassen. Die Überführung der Objekte, um die es geht, ins Bewusstsein wird als „Detektion“ bezeichnet (Posner und Raichle, 1996: 184): „Die Detektion ist mehr als das Wahrnehmen eines Objektes. Sie kann auch das Erkennen der Identität des Objekts einschließen sowie das Realisieren, daß das Objekt eine gewünschte Eigenschaft hat, etwa daß es sich um das einzige Tier in einer Liste von Pflanzen handelt. In diesem Sinne ist die Detektion die bewußte Ausführung einer Instruktion. “ (ebd.) Eine solche Instruktion wäre als einfache Form einer Selbstdetermination anzusehen (vgl.6.4). <?page no="137"?> Kognitive Leistungsfähigkeit als Entwicklungsgeschehen und Lernaufgabe 137 7.3.6 Aufmerksamkeit als Konzentrationsfähigkeit und Selbstkontrolle Mit den oben eingeführten Begriffen, kann auch das, was gemeinhin unter Konzentrationsfähigkeit verstanden wird, beschrieben werden. Dabei hat natürlich ein Objekt, auf das sich die Aufmerksamkeit richten soll, nicht nur visuelle Eigenschaften, sondern es kann alle Sinnesmodalitäten ansprechen oder auch eine ganz abstrakte Aufgabe sein. Das Ziel(objekt) wird vom Individuum festgelegt, entweder aus eigenem Entschluss, aufgrund von übergeordneten Wahlentscheidungen oder auf eine Anweisung oder Instruktion hin, die prinzipiell in einer übergeordneten Entscheidung akzeptiert wurde. Solche Entscheidungen sind bewusste top-down-Vorgänge. Hinzu kommt die Notwendigkeit, den Zustand, in dem das Individuum ausreichend intensiv einem Objekt bzw. einer Aufgabe zugewandt ist, über die notwendige Zeitdauer aufrecht zu erhalten. Es ist also ein Zustand ausreichender allgemeiner Aktivierung und wiederholte top-down-Aktivität erforderlich. Dies wird durch bewusste Selbstinstruktion unterstützt und durch Training gegen Ablenkung verbessert. Letztlich geht es bei der Konzentrationsfähigkeit darum, ein Ziel, z.B. das Festhalten an einer bestimmten Aufgabe, gegen ablenkende Stimuli, die unterschiedlich starke bottom-up-Qualitäten aufweisen, zu verteidigen. Dazu ist es notwendig, die spontanen Impulse, sich den ablenkenden Reizen hinzuwenden, zu unterdrücken, d.h. es geht auch um Impulskontrolle. Man kann es so sehen, dass Selbstdetermination, ähnlich wie bei der Verfolgung von langfristigen Zielen (vgl. Goschke, 2004; 6.4), die Grundlage von Konzentration ist. 7.4 Kognitive Leistungsfähigkeit als Entwicklungsgeschehen und Lernaufgabe Entwicklung verläuft immer über die unaufhebbare und unverzichtbare Wechselwirkung von genetischer Ausstattung und Umwelt. Entscheidend für die Entwicklung des Menschen ist die soziokulturelle Umwelt. In ihrem zeitlichen Verlauf wird die Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten mit durch die Reifung der biologischen Systeme, vor allem des Gehirns, bestimmt. Der Umstand, dass diese angelegte Komponente zum Zeitpunkt der Geburt noch sehr unreif ist, verleiht der erlernten bzw. erlernbaren Komponente eine umso größere Bedeutung. Dabei verläuft die Trennlinie zwischen beiden Komponententypen nicht zwischen der materialen körperlichen Grundlage und einer irgendwie anders gearteten „Softkomponente“. Vielmehr schlägt sich jede Erfahrung und jeder Lernzuwachs, sei es Sachwissen oder strategisches Wissen, in der stofflichen Basis des Gehirns <?page no="138"?> Der Begriff von Kognition und die Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit 138 nieder. Das gilt gleichermaßen für ungünstige Einflüsse. So beeinflussen z.B. Nervosität fördernde Umstände in der frühen Entwicklung die morphologische und physiologische Ausformung des Gehirns, wie es in Kapitel über ADHS (5.3) beschrieben wurde. Die unbestrittenen Unterschiede bezüglich der kognitiven Kompetenz von Kindern und Erwachsenen und zwischen jüngeren und älteren Kindern entstehen unter anderem durch „Unterschiede in der grundlegenden mentalen Kapazität“ (Goswami, 2006: 266). Die Autorin nennt vier allgemeine Faktoren, die für die Entwicklung kognitiver Leistung maßgeblich sind: „Dementsprechend sind Kinder mit zunehmendem Alter dazu in der Lage, mit angemessener Anstrengung, Anleitung, Fähigkeit(en) und Strategie(n) fast alles zu lernen.“ (ebd.). Dabei knüpft Goswami ihre Einschätzung bezüglich der Lernfähigkeit von Kindern an sehr präzise Bedingungen, von denen jede für sich eine ganze Reihe von Voraussetzungen impliziert. So setzt eine angemessene Anstrengung seitens des Kindes eine entsprechende Einstellung und Haltung gegenüber Leistungsanforderungen und Leistungssituationen voraus. Diese können als soziale Kognition aufgefasst werden, auf deren Entwicklung unten eingegangen wird (7.4.3). Eine angemessene Anleitung kann nur von Personen bereitgestellt werden, die dazu Willens und in der Lage sind, wobei sich das „Willens sein“ in der Bereitschaft ausdrückt, die notwendige Zeit aufzubringen. Mit Fähigkeiten ist in diesem Zusammenhang wohl die Veranlagung als eine sich unter dem Einfluss der genetischen Ausstattung entwickelnde mentale Kapazität angesprochen, die hier als ein Faktor unter vieren angegeben wird. Die letzte genannte Voraussetzung, die angemessenen Strategien, müssen ihrerseits unter Anleitung und durch geeignete Lerngelegenheiten angeeignet werden. 7.4.1 Bedeutung kognitiver Strategien für die kognitive Leistungsfähigkeit Es ist hilfreich, kognitive Fähigkeiten von kognitiven bzw. metakognitiven Strategien zu unterscheiden. Als kognitive Fähigkeiten werden z.B. „Wahrnehmen, Erkennen, Vorstellen, Wissen, Denken, Kommunikation, Handlungsplanung“ genannt (Birbaumer und Schmidt, 2010: 3). Diese Fähigkeiten sind sehr komplex und es hat sich gezeigt, dass sie nicht nur auf angeborenen Eigenschaften beruhen, sondern auch auf erlernten Strategien, die dann ‚kognitive Strategien’ genannt werden. Ihr Einfluss könnte so aussehen, dass Kernwissenssysteme auf übergreifenden Grundfähigkeiten basieren, die durch kulturelle Fähigkeiten, und das wären dann kognitive Strategien, zu Kognitionssystemen kombiniert und weiterentwickelt werden (Carey and Spelke, 1996; 7.1). <?page no="139"?> Kognitive Leistungsfähigkeit als Entwicklungsgeschehen und Lernaufgabe 139 Gut untersucht ist die Bedeutung metakognitiven Wissens im Bereich des Gedächtnisses. Von Interesse ist, dass „signifikante und praktisch bedeutsame Zusammenhänge zwischen dem deklarativen Metagedächtnis 59 von Grundschülern und […] ihren Gedächtnisleistungen bei der Verarbeitung von Texten“ nachweisbar sind. (ebd.: 732). Ebenso verhält es sich bei 15-jährigen Schülern bezüglich Lesekompetenz und Textverständnis (ebd.: 733). Die Vergrößerung der Gedächtnisspanne nach dem siebten Lebensjahr ist wahrscheinlich von der Entwicklung von Rehearsal- Strategien 60 abhängig (Henry und Millar, 1993; zitiert nach Goswami, 2001: 256). Schneider und Lockl fassen zusammen, dass sich deklaratives Gedächtniswissen relativ langsam über einen langen Zeitraum entwickelt; obwohl es bei Elf- oder Zwölfjährigen schon gut entwickelt sein kann, ist es selbst im Jugendalter und sogar bei jungen Erwachsenen häufig noch defizitär (2006: 734). Beim prozeduralen Metagedächtnis 61 ist mit steigendem Alter eine zunehmende Verbesserung des „Zusammenspiel[s] zwischen Überwachungs- und Selbstregulationsvorgängen“ festzustellen (ebd.: 745). Verbesserungen in diesem Bereich reichen nach den Autoren wahrscheinlich bis ins frühe Erwachsenenalter hinein (ebd.: 741). Bemerkenswert ist hier, dass Strategien des prozeduralen Metagedächtnisses letztlich auf Selbstkontrollfähigkeiten aufbauen. Impulskontrolle und die darauf basierende Selbstkontrolle gelingen ebenfalls besser, wenn metakognitive Strategien zur Verfügung stehen (Kuhl und Kraska, 1992; zitiert nach Goschke, 2004: 191). Statistische Metaanalysen belegen insgesamt, „dass von einer reliablen und durchaus bedeutsamen statistischen Beziehung zwischen Metagedächtnis und Gedächtnis auszugehen ist“ (Schneider und Lockl, 2006: 746). Dabei ist diese Relation bei jüngeren Kindern nicht so eng wie bei älteren Kindern und Jugendlichen. Diese Zusammenhänge entsprechen der so genannten „Strategie-Emergenz-Theorie“ von Hasselhorn (1992, 1995, 1996), „die davon ausgeht, dass das relevante strategische Wissen zwischen dem achten und zehnten Lebensjahr erworben wird“ (Schneider und Lockl, 2006: 747). Verbesserungen der Gedächtnisleistungen vor dieser Phase sind eher allgemeinen Entwicklungsbzw. Reifungsvorgängen zuzuschreiben. Trainingsstudien zeigten, dass schon bei relativ jungen Kindern eine wirksame Förderung metakognitiven Wissens möglich ist (ebd.: 753). Den praktischen Nutzen dieses Wissens bestätigen Untersuchungen im pädagogischen Kontext, in denen ebenfalls „bedeutsame korrelative Beziehungen zwischen Metagedächtnis und Gedächtnis“ festgestellt wurden (ebd.: 755). 59 „Unter deklarativem Metagedächtnis versteht man das faktisch verfügbare und verbalisierbare Wissen um Gedächtnisvorgänge“ (Schneider und Lockl, 2006: 724). 60 Damit sind die Techniken des Übens und Wiederholens gemeint. 61 „Das prozedurale Metagedächtnis […] betrifft die Fähigkeit zur Überwachung sowie zur Regulation und Kontrolle gedächtnisbezogener Aktivitäten“ (ebd.: 725). <?page no="140"?> Der Begriff von Kognition und die Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit 140 Nicht zuletzt schließen Schneider und Lockl aus den Schulstudien, dass die Möglichkeiten, die kognitiven Leistungen der Schüler über kognitive Strategien zu verbessern, nicht ausgenützt werden und „in dieser Hinsicht noch sehr viel Raum für Verbesserungen“ (ebd.: 755) besteht. Bislang wurde besonders das Metagedächtnis untersucht (ebd.: 722). Man kann jedoch vermuten, dass auch andere kognitive Fähigkeiten auf Strategien aufbauen und durch Strategielernen verbessert werden. Entsprechend gibt es auch Übungsmöglichkeiten für Aufmerksamkeit, deren Ergebnis der Aneignung von Strategien ähnlich ist. So wird die Ablenkung durch abrupt einsetzende Stimuli schon durch geringe Übung deutlich reduziert (Warner et al., 1990; zitiert nach: Pashler, 1998: 244). Auf die Trainierbarkeit von Selbstkontrolle wird unten eingegangen (7.4.4). Nach dem Gesagten ist anzunehmen, dass schwache kognitive Leistungsfähigkeit teilweise auf mangelnder Strategieentwicklung beruht und damit auch auf Versäumnisse in der sozialen Umwelt zurückzuführen ist. Außerdem könnte Strategietraining eine Alternative zu PCE sein. Auf eine mögliche Beeinträchtigung von Strategielernen durch PCE wird in der Diskussion der Folgen der Stimulanzienverwendung zu PCE eingegangen (13.3.3). 7.4.2 Die Bedeutung von Störungen und Hindernissen für die kognitive Entwicklung Eine der Arbeitsfragen war, ob pharmakologisches Cognition Enhancement (PCE) Lern- und Entwicklungsaufgaben beeinträchtigen könne, indem Krisen als Lerngelegenheiten verloren gehen. Aber wie kommt man dazu, von einer Krise als Lerngelegenheit zu sprechen? Wäre es nicht eher zu begrüßen, wenn das Lernen erleichtert werden könnte oder der Umgang mit anderen Menschen in jedem Moment völlig „stressfrei“ verliefe? Im Gegensatz dazu weisen viele Autoren darauf hin, dass Entwicklung nicht kontinuierlich und glatt verläuft, sondern auch Auseinandersetzungen braucht und sogar Brüche und Sprünge hat. Bezüglich der persönlichen Weiterentwicklung zeigten z.B. Thelen und Smith (1994), dass instabile Phasen notwendig sind. Amft, der sich auf Löwnau (1961) bezieht, schreibt: „Menschliche Entwicklung verläuft krisenhaft, ohne Krisen gibt es keine Entwicklung“ (2004: 79). Hüther erkennt in bewältigbaren Stresssituationen bzw. kontrollierbaren Belastungen wichtige Gelegenheiten für die Persönlichkeitsentwicklung (1997: 85-109). Die Bedeutung von Krisen im Handlungskontext wird im Folgenden an der Entwicklung verstärkter Selbstreflexionen verdeutlicht. Dazu ist es notwendig, zunächst ein Konzept vorzustellen, in dem Handlungen verschiedenen Handlungsebenen zugeordnet werden. <?page no="141"?> Kognitive Leistungsfähigkeit als Entwicklungsgeschehen und Lernaufgabe 141 Handlungsebenen und die Bedeutung von Störungen und Hindernissen im Handlungskontext: Eckensberger und Plath unterscheiden drei Handlungsebenen: „Primäre direkte oder ‚weltorientierte’ Handlungen werden mit bestimmten konkreten Zielsetzungen in realen Situationen also Kontexten entweder auf die sachliche Umwelt oder die soziale Mitwelt bezogen ausgeführt.“ (Eckensberger und Plath, 2006: 439). Die daraus folgenden Veränderungen betreffen in diesem Modell die Umwelt, den Körper des Handelnden, die „Wahrnehmung der Situation durch den Handelnden, seines Wissens über die Situation oder ihrer Bewertung.“ Relevante soziale Kognitionen auf dieser Handlungsebene „sind das Verständnis der Intentionen und Emotionen anderer Personen, einschließlich der klassischen Rollenübernahmekompetenzen“[…] (ebd.: 439f.). Gerade bei den primären Handlungen treten „Hindernisse, Widerstände oder Barrieren verschiedenster Art“ auf (ebd.: 440). „Aus handlungstheoretischer Sicht sind diese Störungen jedoch nicht destruktiv, sondern konstruktiv. Sie tragen eine Veränderungspotenz in sich, da ihre Überwindung affektive und/ oder kognitive aber auch soziale Umstrukturierungen zur Folge hat“ (ebd.: 440). Durch diese Störungen “treten Regulationen und Reflexionen auf, die zentral für jede Veränderung/ Entwicklung (s.Piaget, 1970) und deren Verständnis sind.“ (ebd.). In ihrer Gesamtheit werden diese Reaktionen in dem Modell als sekundäre oder „handlungsorientierte“ regulative Handlungen bezeichnet. Sie sind einerseits zielgerichtet, wie die Primärhandlungen, andererseits eben „auf Handlungen bzw. Handlungskoordinationen orientiert“ (ebd.). Ein Individuum muss nach diesem Konzept außerdem eine Vorstellung davon entwickeln, wie Handlungsabläufe sein sollen, um feststellen zu können, wann eine Störung vorliegt. In der Auseinandersetzung mit Schwierigkeiten baut ein Subjekt subjektive (Re-) Konstruktionen von Standards für einen störungsfreien Handlungsablauf auf, es passt übernommene Standards an seine Belange an. Damit schafft es sich „handlungsleitende Bezugssysteme“, die als „normative Regelsysteme für Handlungen“ anzusehen sind (ebd.). Die tertiäre Handlungsebene wird von Eckensberger und Plath folgendermaßen erklärt: „Vor allem aber führen Behinderungen oder Störungen in primären und sekundären (regulativen) Handlungen zu einer verstärkten Selbstreflexion (wie zu einem verbesserten Verständnis anderer) […], also zu tertiären oder akteurorientierten reflexiven Handlungen.“ (ebd.: 441). Abschließend weisen die Autoren darauf hin, dass diese „sozialen Kognitionen der Selbst- und Identitätsstrukturen“ einerseits „die konkreten Handlungen und Handlungsinterpretationen der ersten Ebene“ steuern und andererseits festlegen, welche Relevanz die normativen Bezugssysteme der zweiten Ebene für das Individuum haben (ebd.). Es ist gut vorstellbar, dass diese Regelsysteme durch die Störungen und Hindernisse immer wieder neu hinterfragt und bearbeitet, bestätigt oder verworfen werden. In <?page no="142"?> Der Begriff von Kognition und die Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit 142 solchen Prozessen und durch solche Prozesse läuft die Entwicklung zu einer autonomiefähigen Persönlichkeit. Die Ausführungen dieses Abschnitts zeigen, dass eine positive persönliche Entwicklung die Ausbildung von Fähigkeiten auf allen drei Handlungsebenen einschließen muss und dass Störungen und Hindernisse bis hin zu Krisen ein förderliches Element einer gelingenden Persönlichkeitsentwicklung sind. Falls Störungen und Hindernisse auf der primären Ebene durch die Verwendung von Stimulanzien vermieden oder geglättet werden, kommt es möglicherweise zu einer Einschränkung von Lerngelegenheiten in diesem Bereich. Überlegungen, wann Hindernisse in Form von Misserfolgen zu groß werden können, finden sich im ethischen Teil unter 13.1.5. 7.4.3 Interaktion als Entwicklungsfaktor sozialer Kognition Ein „Nebeneffekt“ der Stimulanzieneinnahme ist die häufig auftretende Reduktion sozialer Kontakte (s.9.6.2). Spontan erscheint diese Einschränkung ungünstig, doch ist diese Sorge berechtigt, da doch auch mehr Ruhe und weniger Streit folgen könnten? Um dies zu klären, ist zunächst die Bedeutung sozialer Interaktionen zu belegen, indem ihre Bedeutung für die Entwicklung und Aufrechterhaltung sozialer Kognitionen kurz umrissen wird. Die Entwicklung der sozialen Kognitionen setzt mit der Geburt ein, wahrscheinlich schon vorher. In den ersten Monaten des Lebens beginnt sich auf der Ebene der primären Handlungen das Verstehen von Intentionen zu entwickeln (s. dazu Eckensberger und Plath, 2006: 442-447), die Basis aller Verstehensprozesse in interaktiven Situationen. Soziale Erfahrungen, die diese Entwicklung fördern, entsprechen Basiserfahrungen, wie sie für die Ausbildung der Empathiefähigkeit notwendig sind: Die Erfahrung bedeutsamer Wechselseitigkeit (Klosinski, 2004: 17). Eine erwachsene, bedeutsame Bezugsperson kann einem Kind diese Erfahrungen ermöglichen, bzw. sie mit ihm teilen, vorausgesetzt, sie bringt die nötige Zeit und Ruhe auf. Auch die Entstehung von Intentionen wird durch Interaktionen beeinflusst und gefördert, wie die Sicht von Gibbs deutlich macht (2001; zitiert nach Eckensberger und Plath, 2006: 453): Danach genügt es nicht, „Intention als private mentale Handlung aufzufassen, die dem menschlichen offenen Tun vorausgeht,“ zu interpretieren. Eckensberger und Plath erklären, dass bei Interaktionspartnern parallel Intentionen als Reaktion auf die andere Person entstehen und dass „beide in ihren Aktivitäten nicht gänzlich unabhängig voneinander sind.“ 62 (ebd.). Im Gegensatz zur frühen Entwick- 62 Damit ist nicht gesagt, dass Intentionen nur im direkten Zusammensein mit anderen Menschen entstehen; Gedanken und Intentionen kommen ebenso häufig in der Ein- <?page no="143"?> Kognitive Leistungsfähigkeit als Entwicklungsgeschehen und Lernaufgabe 143 lung des Intentionsverständnisses, die in den ersten Monaten beginnt, verstreichen Jahre bis sich eine Theory of Mind und die Fähigkeit zur Perspektiven- und schließlich zur Rollenübernahme konstituiert hat (ebd.: 442ff) 63 . „Dunn und Brown (2001) weisen zu Recht darauf hin, dass die zentralen Entwicklungsveränderungen im Verständnis der mentalen Zustände und Gefühle anderer nicht nur durch eine intrapsychische Reorganisation affektiver und kognitiver Prozesse und Strukturen entstehen, sondern in Kommunikationen und interaktiven Kontexten. Folglich ist es irreführend, das kindliche Verständnis geistiger Zustände als rein inneres Merkmal des Kindes zu konzeptualisieren (Dunn, 1995).“ (Eckensberger und Plath, 2006: 452). Die Autoren erläutern, dass nicht zuletzt in sozialen Interaktionen die Einsicht in die „Notwendigkeit der Koordination von Kognitionen und Handlungen“ verschiedener Subjekte entsteht und dass sich daraus wiederum Vorstellungen einer erstrebenswerten sozialen Welt bilden können, die zur Entwicklung von „sozialen Standards und ‚Regelsystemen‘“ (ebd.: 454) und auch zu deren Anerkennung führen. Es bilden sich also auch die Grundlagen des moralischen Handelns in der Interaktion. Entsprechend wurde die Entstehung normativer sozialer Kognitionen als stufenweise Herausbildung interpersonaler Verhandlungsstrategien konzipiert (Brion-Meisels und Selman, 1986; zitiert nach Eckensberger und Plath, 2006: 454), die jedoch nicht einfach so ganz von selbst aufeinander folgen, sondern im Aushandeln erlernt werden müssen. Das Aushandeln der Regeln erfolgt z.T. in der Peergruppe vor allem aber mit den primären Bezugspersonen und zwar ist das „ein deutliches Verhandeln zwischen Positionen und auch eine Auseinandersetzung, ein Streit.“ (Thiersch, 2004: 35). Diese Auseinandersetzungen bieten selbst Bildungs- und Orientierungschancen. Im Handeln werden also subjektive Regelsysteme gebildet, die durch soziale Kognitionen repräsentiert werden und Vorstellungen darüber enthalten, wie soziale Interaktionen ablaufen sollten, damit das friedliche Zusammenleben von Menschen gelingen kann. Dies ist nicht nur die Voraussetzung dafür, angemessen zu handeln, sondern erlaubt übersamkeit zu Tage. Die Frage, inwieweit neue Intentionen und Gedanken spontan und nicht als soziales Produkt entstehen können, ist jedoch dahingehend zu beantworten, dass auch scheinbar völlig neue Ideen aus dem Nährboden der gesammelten Erfahrungen emporsteigen und davon abhängen. Durch Addition und Neukombination der vorhandenen Repräsentationen können zwar durchaus neuartige Gedankengebilde entstehen, aber die vorhandenen Repräsentationen müssen erst durch Erfahrungen gebildet werden. 63 Die Angaben und Ansichten dazu variieren erheblich, je nach der speziellen Konzeption von „Theory of Mind“ und den Untersuchungsmethoden. Der Zeitpunkt oder Zeitraum ist für die Arbeit nicht so entscheidend wie die Feststellung, dass angemessene soziale Erfahrungen die Basis der Entwicklung bilden. <?page no="144"?> Der Begriff von Kognition und die Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit 144 haupt erst, soziale Konflikte als solche zu erkennen (Eckensberger und Plath, 2006: 454). Aus dem Gesagten lässt sich ableiten, dass eine Reduzierung sowohl der fröhlichen als auch der eher konflikthaften sozialen Interaktionen, z.B. durch Stimulanzien, die Weiterentwicklung sozialer Kognitionen behindern kann, indem Verhandlungsstrategien und subjektive Regelsysteme nicht in demselben Maße weiterentwickelt werden wie ohne eine solche Einschränkung. Dies wird in der Diskussion über die erhoffte Verbesserung von sozialen Kognitionen als Ziel von PCE nochmals angesprochen (13.1.4 bzw. 13.2.2), ebenso bei der Diskussion der möglichen Einschränkung von Lerngelegenheiten (13.3.3). Das Gesagte bedeutet nicht etwa, dass sozial-kognitive Fähigkeiten schon im Kleinkindalter durch Trainingsprogramme gezielt eingeübt werden könnten oder sollten. Es geht vielmehr darum, die Gelegenheiten für angemessene soziale Interaktion mit bedeutenden Erwachsenen und mit Peers nicht einzuschränken, sei es pharmakologisch oder institutionell. Was man sich unter angemessenen Interaktionen mit Erwachsenen vorstellen kann, wurde oben (7.4.3) schon kurz angedeutet. Was Interaktionen unter Peers betrifft, gehen Erwachsene meist davon aus, dass die automatisch richtig laufen. Liest man jedoch die Anmerkungen von Panksepp (2007; Barkley, 1997) zur Bedeutung des Spiels, wird man erst gewahr, wie sehr die Begegnungen von jungen Peers institutionalisiert, beaufsichtigt und reglementiert sind und dadurch in ihrer entwicklungsfördernden Wirkung geschwächt werden. Erkenntnisse aus der vorklinischen Forschung legen nahe, dass Spiel die Entwicklung der exekutiven Funktionen des Frontalhirns fördert (Panksepp et al., 2003). Der Autor fordert daher, Spiel auf neue und kreative Weise in der Erziehung der Vorschulkinder vorzusehen und damit die Entwicklung des „sozialen Gehirns“ zu unterstützen. Dabei geht es nicht um Memory oder ein anderes „intelligenzförderndes“ Spiel, sondern um Bewegungsspiele, bei denen der ganze Körper mit allen Sinnen beteiligt ist, bei denen die Kinder sich balgen, übereinander purzeln und es handfest und rau werden kann 64 . Die Spielenden entwickeln dadurch ein Anfangsgefühl für „Selbst - Anderer“. Der Autor erklärt seine Position damit, dass Säuger mit einem genetisch basierten Instrumentarium ausgestattet sind, das den Aufbau der sozialen kognitiven Funktionen sichert. Das sind z.B. der Drang zum Spiel, die Fähigkeit, anderen zugetan zu sein und sich um sie zu kümmern, und die Panik, die sie empfinden, wenn soziale Bindungen getrennt werden (Trennungsstress). Jeder Bereich hat seine Funktion 64 Im Original wird der Begriff „rough-and-tumble“ verwendet, was im Lexikon mit Rauferei übersetzt wird. Diese Übersetzung trifft jedoch m.E. den Kern der Sache nicht, weil in dem deutschen Wort zu viel negative Aggressivität mitschwingt. <?page no="145"?> Kognitive Leistungsfähigkeit als Entwicklungsgeschehen und Lernaufgabe 145 und im jugendlichen Spiel wird eine große Zahl sozial-kognitiver, verhaltensrelevanter Funktionen ausgeformt. Dieses neurobiologisch basierte Bedürfnis zu spielen durchdringt ständig jedes normale Kind, an jedem Tag. „If unfulfilled, there will be consequences, and one of them, may be an increasing incidence of ADHS” (Panksepp, 2007; s.u.). Trifft diese Vermutung zu, wäre umgekehrt die Bereitstellung adäquater Spielmöglichkeiten als ADHS- Prävention anzusehen und die Zahl der notwendigen MPH- Medikationen könnte möglicherweise reduziert werden. 7.4.4 Entwicklung exekutiver Funktionen Was für kognitive Fähigkeiten allgemein gilt, trifft auch für exekutive Funktionen (7.3.5) zu. Sie sind bei der Geburt gering ausgebildet und so besteht eine Entwicklungs- und Lernaufgabe, deren Ergebnis von verschiedenen Faktoren abhängt und bis zu einem gewissen Grad offen ist. So ist Aufmerksamkeit keine Fähigkeit, die jemand hat oder nicht hat. Sie ist nicht nur abhängig von den genetischen Voraussetzungen und vom Reifungszustand des Gehirns, sondern auch von günstigen Umgebungsbedingungen, adäquaten Anforderungen, sowie von angemessenen Lernaufforderungen und Übungsmöglichkeiten. Im Folgenden wird deutlich, dass gerade die Entwicklung der Kontrollfähigkeit früh beginnt, lange andauert und vom Verhalten der primären Bezugspersonen mitbestimmt wird. Exekutive Funktionen werden in unterschiedlichen Phasen entwickelt Die Entfaltung der verschiedenen exekutiven Funktionen (7.3.5) geht nicht einheitlich vor sich, sondern verschiedene Funktionen kommen in unterschiedlichen Altersabschnitten zur Vollendung (Posner und Raichle, 2006: 203ff.). Entsprechende Tests interpretieren Hagen und Hale (1973) so, dass „in der kindlichen Entwicklung zunächst die Fähigkeit zunimmt, die Aufmerksamkeit relevanten Informationen zuzuwenden und erst ab dem 12. Lebensjahr sich zusätzlich die Fähigkeit herausbildet, irrelevante Informationen zu ignorieren bzw. auszublenden.“ (Hasselhorn und Grube, 2006: 303). Hasselhorn und Kollegen konnten bestätigen, „dass die selektive Fokussierung relevanter Informationen bis ins junge Erwachsenenalter an Effizienz gewinnt und dann scheinbar bis ins hohe Erwachsenenalter erhalten bleibt (Hasselhorn, Kamm und Ueffing, 1989).“ (Hasselhorn und Grube, 2006: 303). Natürlich können sich auch jüngere Kinder in eine Sache, die sie gerade interessiert, vertiefen, so dass sie ganz versunken sind, ja hochkonzentriert erscheinen. Es ist aber wichtig, den Unterschied zu erkennen zu der Art von Konzentration, für die sich die Testteilnehmer bewusst entscheiden, in Tests, bei denen von außen vorgegeben wird, welche Information Relevanz hat und welche nicht. Gerade diese Art von gesteuerter Konzentration wird in der Schule erwartet und verlangt. Die Erkenntnisse <?page no="146"?> Der Begriff von Kognition und die Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit 146 dieser Tests bedeuten, dass Kinder die Fähigkeit, sich auf eine vorgegebene Sache zu konzentrieren und sich nicht ablenken zu lassen, im Durchschnitt erst mit dem 12. Lebensjahr so richtig zu entfalten beginnen. Wenn sich jedoch die Fähigkeit, irrelevante Informationen zu ignorieren, erst ab dem 12. Lebensjahr voll entwickelt, ist trotz möglicher inter-individueller Unterschiede Vorsicht geboten, einem Kind von fünf, sechs oder sieben Jahren, das gerade in die Schule kommt, grundsätzlich mangelnde Konzentrationsfähigkeit zu bescheinigen. Wenn altersgleiche Kinder hier große Unterschiede zeigen, spiegelt das mindestens teilweise die diskontinuierlichen und vor allem individuell höchst unterschiedlichen Entwicklungsverläufe von Kindern. Das ist ein weiterer Grund, warum eine ADHS-Diagnose in diesem Alter sehr genau abgesichert werden sollte (12.1.3). Für die zentralexekutiven Arbeitsgedächtnisfunktionen berichten Hasselhorn und Grube eine kontinuierliche Zunahme der Kapazität bis ins junge Erwachsenenalter. Diese Fähigkeiten sind also erst relativ spät voll entwickelt (2006: 302). (Diskussion s. 13.3.3). Entwicklung von Selbstkontrollfähigkeit Ein frühes Maß für spätere Selbstkontrollfähigkeit ist die Fähigkeit zum Belohnungsaufschub. So entwickelten sich Kinder, die im Vorschulalter eine Belohnung länger aufschieben konnten, zu kognitiv und sozial kompetenteren Erwachsenen, die höhere akademische Abschlüsse erreichten und Frustration und Stress besser kompensierten (Mischel et al., 1989). Darüber hinaus lösten Kinder mit höherer Aufschubfähigkeit 10 Jahre später eine Go/ Nogo Aufgabe 65 mit höherer Effektivität, wodurch ein höheres Maß an Selbstkontrolle belegt wird (Eigsti et al., 2006). Die Fähigkeit der Vorschulkinder zum Belohnungsaufschub ist wiederum das Ergebnis eines Entwicklungsprozesses, in dem genetische Veranlagung und Umwelteinflüsse interagieren. So konnte in einer Untersuchung bei Kleinkindern (bis ca. 2 Jahre) die Fähigkeit im Vorschulalter Belohnungen aufzuschieben, vorhergesagt werden und gleichzeitig die Rolle strategischer Aufmerksamkeit für die Selbstbeherrschung gezeigt werden (Sethi et al., 2000). Dieselbe Untersuchung ergab, dass das Erkundungsverhalten des Kleinkindes mit der Aufschubfähigkeit im Alter von 5 Jahren korreliert, und zwar in Abhängigkeit von der mütterlichen Erziehungshaltung. Ein Zusammenhang zwischen der Aufschubfähigkeit von Kindern und dem Erziehungsstil ihrer Mütter wurde bestätigt (Mauro und Harris, 2000). Mütter, deren Kinder nicht warten konnten, pflegten einen permissiven Erziehungsstil. 65 Bei der Go/ No-go-Assoziationsaufgabe (GNAT) von Nosek und Banaji (2001) sollen die Versuchspersonen mittels Tastendruck auf Reize einer bestimmten Kategorie reagieren. Dazu werden am Bildschirm Worte präsentiert, z.B. Tiere und Pflanzen. Auf einen der Reize soll reagiert werden (go), auf den anderen nicht (no-go). Auf diesem Prinzip basieren unterschiedliche Testvariationen. <?page no="147"?> Kognition und die Möglichkeit der Selbstvervollkommnung 147 Das Unterweisungsverhalten der Mütter, deren Kinder warten konnten, ließ auf einen eher autoritativen Erziehungsstil schließen (ebd.). Die Autoren weisen auf die Relevanz ihrer Forschung für Risikogruppen hin, also für Kinder, die zu impulsivem Verhalten neigen und bei denen unter Umständen eine Diagnose externalisierender Verhaltensstörung droht. Es ist bekannt, dass klare Regeln den Alltag mit Kindern, die ADHS-ähnliches Verhalten zeigen oder ADHS-diagnostiziert sind, erleichtern. Für die Praxis wäre es hilfreich, die Zusammenhänge zwischen der Fähigkeit zu Belohnungsaufschub und Selbstbestimmung einerseits und dem Erziehungsstil andererseits weiter aufzuklären, um Möglichkeiten aufzufinden, mit denen die sozialen Unterstützungssysteme einschließlich Eltern, Betreuende und Schulen die Fähigkeiten zur Selbstbeherrschung und Selbstbestimmung fördern können. Der Einfluss Erwachsener auf die Entwicklung von Impulskontrollfähigkeit und Selbstbeherrschung bei Kindern wird mit den ethischen Überlegungen nochmals aufgegriffen (12.1.2; 12.2; 13.3.3). Die Rolle von Regelwissen für die Entwicklung von Kontrollmechanismen Mischel und Kollegen berichten, dass Kinder im Laufe ihrer Entwicklung ein wachsendes Bewusstsein von effektiven Aufschubregeln zeigen und diese Strategie konnten die Kinder im Laufe der Untersuchung erlernen (Mischel et al., 1989). Von ähnlichen Übungserfolgen berichten Houdé und Kollegen bei jungen Männern zwischen 19 und 26 Jahren, die durch ein kognitives Inhibitionstraining eine Strategie lernten, den ersten spontanen Antwortimpuls zu unterdrücken, um dann über einen rationalen Denkvorgang zu einer logischen Antwort zu kommen (Houdé et al., 2000). Diese Ergebnisse deuten auf eine hohe intraindividuelle Variabilität in der Fähigkeit zur Impulskontrolle und unterstreichen die Bedeutung und die Möglichkeit von Training zur Impulskontrolle. Derlei Erkenntnisse sind für die Prävention und Therapie von ADHS von Interesse, aber auch für die Fragen, ob die Entwicklung dieser Fähigkeiten durch PCE eingeschränkt wird (13.3.3) und welche Alternativen es zu PCE gibt (13.2.2). 7.5 Kognition und die Möglichkeit der Selbstvervollkommnung In Anlehnung an Carey und Spelke (1996) sind Kognitionssysteme prozesshaft zu verstehen und erreichen niemals einen Endzustand, da Kernkonzepte zu höherer Kognitionsfähigkeit weiterentwickelt und verknüpft werden müssen. Als Ziel menschlichen Denkens wird die gedankliche Einheit genannt, die durch Erweiterungs- und Integrationsleistungen aus Einzelsystemen gebildet werden kann. So entsteht der Eindruck einer Art <?page no="148"?> Der Begriff von Kognition und die Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit 148 Idealvorstellung von kognitiver Ganzheit, die nach den Autorinnen lebenslang zu erstreben aber nie zu erreichen ist. Wird Selbstvervollkommnung als Ziel von Enhancement formuliert, ist die uneinheitliche bzw. fehlende Vorstellung von Vollkommenheit problematisch. Nach dem Gesagten kann Vollkommenheit als kognitive Ganzheit konzipiert werden, die auch soziale Kognitionen integriert und sich in einem fortwährenden Prozess der Einheit von Denken und Handeln nähert. Die Frage, ob PCE dem Ziel der Selbstvervollkommnung nützt oder schadet, kann dann konkret untersucht werden (13.1.6). Ebenso ergibt sich aus der Vorstellung, die Kognition als Entwicklungsgeschehen begreift, eine elementare Bedeutung der Kultur für die Bildung und Veränderung von Kognitionen und darin zeigt sich eine Verantwortlichkeit für die Bildung und Erhaltung der kognitiven Fähigkeiten nachkommender Generationen. Die Tatsache, dass wesentliche Anteile der kognitiven Fähigkeiten kulturabhängig sind, zeigt sozusagen in umgekehrter Richtung, wie viel Freiheitsgrade die genetische Ausstattung in diesem Bereich lässt. <?page no="149"?> 8 Dopaminsystem, Lernen und Autonomie Welche Verhaltensbereiche sind potentiell durch die Stimulanzienwirkung betroffen? Da Amphetamine und offenbar auch Modafinil ihre zentrale Wirkung wesentlich über das Dopaminsystem (DA-System) entfalten, wird der Zusammenhang zwischen einzelnen, besonders wichtigen Verhaltensbereichen und dem DA-System dargestellt. Es spielt für wichtige Prozesse des Bewertens und Entscheidens, aber auch des Lernens, eine entscheidende Rolle. Die DA-Theorie der Belohnung bildet hier einen Denkrahmen, der jedoch auch Kritik hervorgerufen hat. In den kritischen Beiträgen wird auf wesentliche Unterschiede zwischen natürlichen Anreizen und dem Anreiz durch ein Medikament hingewiesen, die wiederum für den Vergleich von Lernen mit und ohne medikamentösen Enhancer von Bedeutung sind. 8.1 Aufbau des Dopaminsystems: Kerne, Bahnen, Rezeptoren und Transporter Dopamin (DA) wirkt als Transmitter in unterschiedlichen Bereichen des Gehirns und ist an verschiedenen Funktionen beteiligt, weshalb auch von Dopaminsystemen gesprochen wird. Dies spiegelt sich in seiner „verzweigten“ anatomischen Ausbreitung wider. Die Zellen des DA-Systems liegen „an der Grenze von Mittel- und Zwischenhirn“ 66 und sie haben lange Axone, die „in mehrere Vorderhirnstrukturen projizieren“ (Birbaumer und Schmidt, 2010: 699). Die Autoren beschreiben drei Hauptsysteme: Das Nigro-Striatale System, das hauptsächlich mit motorischen Funktionen identifiziert wird, ist hier nicht von Interesse. Weiter werden das mesolimbische und das mesokortikale System genannt, doch diese dopaminergen Zellen des ventralen Tegmentum (VT) sind anatomisch nicht klar nach ihren unterschiedlichen Projektionszielen zu trennen. Vielmehr gibt es Überschneidungen, weshalb diese Systeme häufig zum mesocorticolimbischen DA-System zusammengefasst werden (Wise, 2004). Diesem kommt in erster Linie die motivationale Funktion zu, die hier von Interesse ist. Beispielsweise projiziert eine Gruppe dopaminerger Zellen des VT in den Nucleus accumbens (N.acc), der eine wesentliche Rolle im Suchtgeschehen spielt. Außerdem ist DA aus dem VT „für die Regelung der aufmerksamkeitssteuernden Areale des dorsolateralen Frontalkortex […] essenziell.“ (Birbaumer und Schmidt, 2010: 515). Fehlt es, ist das Arbeitsgedächtnis funktionsunfähig (ebd.; s.u.). 66 DA-Zellen liegen in der Substantia nigra (Sn) und im ventralen Tegmentum (VT). <?page no="150"?> Dopaminsystem, Lernen und Autonomie 150 DA wirkt auf Dopaminrezeptoren, von denen die wichtigsten mit D1 und D2 bezeichnet werden: D1 Rezeptoren wirken aktivierend, d.h. sie lösen ein erregendes postsynaptisches Potential aus, D2 Rezeptoren wirken hemmend. Wichtig ist zudem das Gleichgewicht von DA und Noradrenalin im dorsalen präfrontalen Cortex (ebd.), d.h. die Höhe des DA-Spiegels allein ist im Grunde noch nicht aussagekräftig. 8.2 Vergleich der medikamentösen mit der natürlichen Stimulation des Dopaminsystems Für die Beschreibung der Dopamin(DA)-Funktion im Gesamtzusammenhang eines Organismus ist der Begriff ‚Belohnungssystem’ verbreitet. Er bezieht sich genau genommen auf die Zellen des VT und ihre Projektionen (8.1). Der Begriff findet breite Resonanz, wird jedoch auch kritisiert (Salamone, 2005; Cannon et al., 2004), doch zunächst ist es nötig, ein paar Begriffe und Prozesse zu erläutern. 8.2.1 Natürliche Stimuli und nicht-natürliche Stimuli Das Konzept eines natürlichen Belohnungssystems entstand aufgrund der Feststellung, dass Tiere, z.B. Ratten, mit geschädigtem oder pharmakologisch unterdrücktem Dopaminsystem nicht mehr lernen, einen Hebel zu drücken, um Nahrung, Wasser oder sexuellen bzw. sozialen Kontakt zu erhalten (Wise und Schwartz, 1981), was bei gesunden Tieren regelmäßig der Fall ist. Daher werden diese Stimuli 67 , also Nahrung, Wasser und sozialer Kontakt, als primäre Stimuli des DA-Systems bezeichnet. Dabei erhöhen nicht nur positive soziale Stimuli, wie z.B. Kontakt zu Artgenossen, den DA-Level, sondern auch negative bzw. aversive (Fuchs et al., 2005). Auch Salomone (2005) weist darauf hin, dass die Rolle von DA nicht streng auf Situationen positiver Verstärkung beschränkt ist (s.u.). Bei Menschen vermittelt eine DA-Level Erhöhung v.a. im Präfrontalen Cortex (PFC) offenbar auch die Wirkungen, die positiver Affekt auf kognitive Kontrolle ausübt (Ashby et al., 1999). Dies deckt sich mit Untersuchungen von Schultz (1992) die zeigen, dass Stimuli, die gewöhnlich positiven Affekt bei Menschen auslösen, bei Tieren zu erhöhter DA- Ausschüttung führen. Außerdem verursachen Substanzen wie Kokain oder Amphetamine, welche die dopaminerge Aktivität erhöhen, gesteigerten Affekt (Beatty, 1995). Ein wichtiger Auslöser für die Erhöhung der DAausschüttung ist Novelty, also überraschend Neues oder ein plötzlich ein- 67 Der Begriff Stimulus, der mit Reiz, Anreiz oder Antrieb übersetzbar ist, fasst alle Dinge und Ereignisse zusammen, die Aufmerksamkeit erzeugen und wird häufig im Zusammenhang mit psychologischen Tests benützt. <?page no="151"?> Vergleich der medikamentösen mit der natürlichen Stimulation des Dopaminsystems 151 tretendes Ereignis, unabhängig davon ob das Ereignis appetitiv oder aversiv ist (Horvitz, 2000). Bestimmte nicht natürliche Reize oder Behandlungen wie psychoaktive Substanzen oder elektrische Stimulation können ebenfalls als Belohnungsstimuli fungieren. Viele Experimente mit solchen nicht-natürlichen Stimuli wurden unter Fragestellungen zur Suchtentwicklung als Selbstreizungsversuche (Selbststimulation) durchgeführt. Das ist zum einen die Selbstverabreichung von Kokain oder Stimulanzien wie Amphetamin direkt in den Nucleus accumbens (N.acc.) (z.B. Roberts, 1977; Chevrette, 2002), zum anderen die elektrische Stimulation des N.acc. oder anderer Bereiche (z.B. Gallistel, 1974; Wishart und Walls, 1974). Die selbst gesteuerte Applikation von Stimulanzien hat eine Erhöhung des verfügbaren DA zur Folge und liefert damit einen Hinweis auf die verstärkende Wirkung von DA. Die Unterscheidung zwischen natürlichen Motivationsverstärkern und nicht-natürlichen Stimuli ist wichtig für den Vergleich von Medikamenten mit herkömmlichen Mitteln der Erziehung (12.2.1). 8.2.2 Primäre Motivationsprozesse, Lernprozesse und Stimulationsprozesse durch Stimulanzien. Die Vorgänge bei der Selbststimulation waren mit ein Grund dafür, auf ein Belohnungssystem zu schließen und die Annahme, dass für den Effekt nicht natürlicher Stimuli die gleichen Prozesse ablaufen wie für den Effekt natürlicher Belohnungsreize, schien gerechtfertigt. Salamone (2005) formuliert eine grundsätzliche Kritik dieses Konzeptes, weil zahlreiche Unterschiede für die verhaltenscharakteristischen und physiologischen Wirkungen von DA bei natürlicher Verstärkung einerseits und bei Selbstverabreichung von Substanzen andererseits nachgewiesen wurden (Cardinal und Everitt, 2004; Deadwyler, 2004). N.acc-DA moduliert zwar verschiedene Funktionen, die mit motiviertem Verhalten zu tun haben, wie z.B. Verhaltensaktivierung und Anstrengung, anstrengungsabhängige Entscheidungen, Geschwindigkeit und Intensität sowie Aufrechterhaltung von instrumentellem Verhalten über die Zeit, Reaktion auf konditionierte Reize oder Lernvorgänge (Salamone, 2005). Aus diesen Funktionen lässt sich jedoch nach Salamone nicht zwangsläufig darauf schließen, dass N.acc-DA direkt als Motivation für Nahrungsaufnahme wirkt, denn es wurde gezeigt, dass die Hemmung von DA zwar Lernen beeinträchtigt, nicht jedoch die primäre Nahrungsmotivation (Kelley, 2004; zitiert nach Salamone, 2005). Des Weiteren ist seine Rolle nicht streng auf Situationen positiver Verstärkung beschränkt (8.2.1). Deshalb plädiert Salamone dafür, die primären Motivationsprozesse sowohl von den plastischen Funktionen, die z.B. Lernen ermöglichen, zu unterscheiden als auch von den Prozessen, die nichtnatürliche Stimuli wie Amphetamin oder Elektrostimulation vermitteln. <?page no="152"?> Dopaminsystem, Lernen und Autonomie 152 Wise schlägt vor, nur von einer losen Korrelation zwischen dem Anstieg des Dopaminlevels im Gehirn und subjektiv empfundenem Vergnügen auszugehen (Wise, 2004). Falls es zutrifft, dass die Wirkungen natürlicher Belohnungs- und Lernreize im Gehirn nicht in identischer Weise vermittelt werden wie die Effekte elektrischer Stimulationen und psychoaktiver Substanzen, sind auch unterschiedliche Langzeitwirkungen zu erwarten. Die hier relevante Feststellung lautet also: Natürliche Stimuli sind nicht gleichwertig durch nichtnatürliche Stimuli zu ersetzen und folglich ist Lernen mit und in Interaktionen nicht gleichwertig durch Medikamente zu ersetzen (zur ethischen Relevanz siehe 13.2.3). Unklar ist, ob und wie die Wirkung natürlicher Stimuli durch die parallele Wirkung nicht-natürlicher Stimuli verändert wird. 8.3 Dopaminsystem, Lernen und Motivation Wird die Bewältigung von Lern- und Entwicklungsaufgaben durch PCE beeinträchtigt oder ist es genau umgekehrt? Wenn DA für Lernvorgänge von großer Bedeutung ist (Flood et al., 1980), könnte es sein, dass eine Erhöhung der Verfügbarkeit von DA durch Stimulanzien von Vorteil für die kognitive Entwicklung ist. Bevor darüber Aussagen gemacht werden können, ist es nötig, die Rolle des DA-Systems beim Lernen kurz zu umreißen. 8.3.1 Welche Rolle spielt Dopamin in Lernprozessen? Die größte Bedeutung von Dopamin (DA) sieht Wise (2004) beim Erlernen der Assoziation von Stimulus und Belohnung 68 . Das bedeutet, dass ein Stimulus mental mit einer bestimmten Belohnung verknüpft wird. Bei der Motivation durch Anreize wäre DA demnach also vor allem für die Etablierung konditionierter Belohnungsreize verantwortlich. Wise erklärt die Funktion so, dass ein ansonsten neutraler Stimulus motivationale Bedeutung erlangt indem er zunächst gleichzeitig mit einem primären Belohnungsreiz bei oder nach einer bestimmten Reaktion auftritt. Später kann dieser Stimulus einen Drive-ähnlichen Effekt bewirken, wenn er allein gegeben wird. Eine Assoziation unter Einfluss von DA erfolgt nicht nur zwischen Stimulus und Belohnung; neuere Arbeiten zeigen, dass die spezifischen Handlungen, die zur Belohnung führten, unter Beteiligung von DA verstärkt werden (Arbuthnott und Wickens, 2007). Es bestätigt sich also die 68 Wenn hier der Begriff „Belohnung“ verwendet wird, so ist er nicht im Sinne des Konzeptes eines Belohnungssystems auf biochemischer Ebene zu verstehen, sondern im psychologischen Sinne. <?page no="153"?> Dopaminsystem, Lernen und Motivation 153 Alltagserfahrung, dass die Qualität der Rückmeldung auf eine Handlung die Wahrscheinlichkeit der Wiederholung bestimmt, ja das Ergebnis einer bestimmten Handlung kann selbst zur Belohnung werden und genau die vorangegangene Handlung verstärken. Verschiedene, gespeicherte Rückmeldungen verschmelzen zu dem, was man gemeinhin Erfahrung nennt. Es entsteht im günstigen Fall Motivation und im Laufe des Heranwachsens lernen Menschen, Handlungsergebnisse auch längerfristig mental vorwegzunehmen (s.u.) und sich dadurch sozusagen selbst zu motivieren. Sie erlernen Selbstmotivationsfähigkeit. Entsprechend sind DA-Systeme und der N.acc in verschiedener Hinsicht auch an Vermeidungslernen beteiligt (Salamone, 2005: 35). DA ist also ganz allgemein an der Bildung von Erfahrungswissen beteiligt. Wird nun ein erwünschtes Ergebnis mit medikamentöser Unterstützung erreicht, wird mit höherer Wahrscheinlichkeit wieder auf die Kombination von Medikament und Handlung zurückgegriffen um ein entsprechendes Ergebnis zu erzielen, weil das Ergebnis selbstverständlich auch mit der Medikamenteneinnahme verknüpft wird. 8.3.2 Die Bedeutung der zeitlichen Dynamik der Dopamin- Verfügbarkeit für Lernprozesse und zukünftige Motivation Im letzten Abschnitt wurde erläutert, dass Dopamin (DA) beim Erlernen der Assoziation von Stimulus und Belohnung eine wesentliche Rolle spielt (Wise, 2004). Eine Belohnung, die nach einem Verhalten gegeben wird, bezeichnet man als Verstärkung, weil das betreffende Verhalten durch die Belohnung verstärkt, d.h. eher wiederholt, wird. Verstärkung hat also auf Lernvorgänge einen retroaktiven Effekt, wobei sie auf die noch aktive Erinnerungsspur des Verhaltens, nicht auf das Verhalten selbst, wirkt (ebd). Der Autor führt aus, dass Belohnung und belohnungsassoziierte Stimuli (s.o.) zusätzlich proaktive Effekte haben, die einen Anschub (Drive) für zukünftige Handlungen bringen. Im Tierversuch bewirkt eine Verstärkung im ersten Durchgang eine motivierende Anregung und aktiviert das Tier vor und während des nächsten Hebeldrucks, also bevor die nächste Belohnung ausgegeben wird. Damit in Einklang steht die Erfahrung, dass ein Erfolgserlebnis bei Menschen stark motivierend für zukünftige Handlungen wirkt. Versuchsanordnungen, bei denen eine Belohnung unmittelbar vor einer instrumentellen Handlung gegeben wurde haben gezeigt, dass auch hier eine Assoziation gebildet wird. Der Effekt dieser sogenannten freien Belohnung klingt jedoch in der Regel schnell ab (Wise, 2004). Bei Versuchen mit belohnender elektrischer Stimulation des lateralen Hypothalamus verschwindet der Effekt einer Stimulation, die vor dem Test gegeben wurde, innerhalb von Sekunden (Gallistel, 1974). Der verstärkende DA-vermittelte <?page no="154"?> Dopaminsystem, Lernen und Autonomie 154 Effekt einer Stimulation, die nach einer Reaktion gegeben wird, wirkt dagegen auch auf die darauf folgende Antwort und der Effekt ist lang anhaltend; er kann die Reaktionsstärke noch nach Tagen oder Wochen steigern (Gallistel, 1974). Für die Nachhaltigkeit eines Lerneffektes spielt also der Zeitpunkt des DA-Anstiegs eine entscheidende Rolle. Eine Vorstellung davon, welcher komplexen Dynamik der DA-Spiegel im Verlauf eines Lernprozesses folgt, vermitteln Untersuchungen an Wüstenrennmäusen (Stark et al., 1999; 2004). In ihrem Experiment eigneten sich die Tiere Strategien an, um einem elektrischen Fußschock zu entkommen. Im Ablauf der Versuchsreihe, die mehrere Tage dauerte, erkannten die Forscher drei Phasen: Auf geringe folgte starke Leistungsverbesserung, und schließlich konstant hohe Leistung. In der Phase der geringen Leistungsverbesserung war kein DA-Anstieg zu verzeichnen. Die Autoren interpretieren die Ergebnisse so, dass sich die Tiere in der Phase der starken Leistungsverbesserung die Verhaltensstrategie aneignen, durch die sie die „Bestrafung“ durch den unkonditionierten Stimulus (Elektroschock) verkürzen oder ganz vermeiden konnten. Während der Aneignung der Vermeidungsstrategie, stieg der DA-Spiegel ständig und signifikant an, jedoch nur bis zur Mitte der Trainingszeit. Danach fiel er ab, und vor dem Ende der Trainingszeit erreichte er seinen Ausgangswert. Der relative Anstieg verlief bei den verschiedenen Tieren ziemlich ähnlich. Die Phase konstant hoher Leistung am darauf folgenden Tag sehen die Autoren in erster Linie mit dem Abrufen der erlernten Strategie verbunden. In dieser Phase stiegen die relativen DA-Werte nicht an, der Unterschied zu den Werten der starken Leistungsverbesserung war signifikant. Die Autoren betonen den Unterschied in den extrazellulären DA- Werten im medialen PFC während der Aneignung der Shuttlebox 69 - Vermeidungsstrategie gegenüber ihrer erneuten Anwendung. Die Untersuchung zeigt außerdem, dass im Verlauf der starken Leistungsverbesserung, also während des Lernvorgangs, ein spezifischer Anstieg mit anschließendem Abfall der DA-Konzentration erfolgt. Von besonderer Bedeutung ist, dass eine Verknüpfung, für die DA eine Rolle spielt, nicht nur zwischen dem Signalton und dem darauf folgenden Elektroschock stattfindet, sondern auch zwischen der eigenen Aktion und deren jeweiligem Ergebnis (8.3.1). Nur deshalb kann beim nächsten Signalton wieder genau das Verhalten aktiviert werden, das zum Erfolg geführt hat, und zwar schneller als zuvor. Und so kann sich zukünftiges Verhalten an der Erfahrung orientieren (s.o.). Es ist offenbar aber nicht so, dass DA ansteigt und in der Folge positive Ergebnisse erzielt werden, sondern es ist so, dass schon zu Beginn des Versuchs einzelne, zufällige Vermeidungser- 69 Gehäuse mit 2 Abteilen, die in dem Fall durch eine überwindbare Barriere getrennt waren. <?page no="155"?> Das Dopaminsystem als Basis autonomen Handelns 155 folge auftreten und im Moment der gefundenen Lösung ein DA-Anstieg ausgelöst wird, so dass der Erfolg genau mit diesem Verhalten assoziiert wird, das dadurch wiederum in der Zukunft eingesetzt wird, also verstärkt wird (wie man das hier berechtigter Weise nennen kann). Bemerkenswert ist das Absinken des DA-Spiegels noch während der Trainingszeit. In neuen Arbeiten wird diese Sicht der Dinge bestätigt. So haben sich Arbuthnott und Kollegen (2007) gefragt, wie es erreicht wird, dass die spezifischen Handlungen, die zu einer Belohnung geführt haben, verstärkt werden. Die außerordentliche Divergenz des Outputs einer kleinen Anzahl von dopaminergen Neuronen lässt auf eine räumlich nicht-selektive DA- Wirkung schließen. Die Autoren schlagen vielmehr vor, „that the selectivity of dopamine effects is achieved by the timing of dopamine release in relation to the activity of glutamatergic synapses, rather than by spatial localization of the dopamine signal to specific synaptic contacts“ (Arbuthnott et al., 2007). Im Lichte dieser Erkenntnisse muss bezweifelt werden, dass eine medikamentöse DA-Level Erhöhung vor einer Lernsequenz bzw. die Aufrechterhaltung eines erhöhten DA-Levels über einen längeren Zeitraum hinweg, einen wünschenswerten, nachhaltigen Effekt erzielt. Es ist davon auszugehen, dass nur eine Anhebung der DA-Verfügbarkeit, die genau zum richtigen Zeitpunkt erfolgt, eine über den Augenblick hinausreichende Wirkung sichert. Das ist auf dem Wege der Medikamenteneinnahme vermutlich nicht so präzise möglich, weil der Anstieg und das Absinken des DA- Levels nicht so eng an die Lösung einer Aufgabe gekoppelt werden (s. 8.3.1). 8.4 Das Dopaminsystem als Basis autonomen Handelns Zu Beginn von Teil III wurde die Arbeitsfrage formuliert, ob Autonomie- und Verantwortungsfähigkeit einer Person durch Stimulanziengebrauch eingeschränkt werden. Um sie zu überprüfen, ist zunächst der Zusammenhang von DA-System und Autonomiefähigkeit zu klären, der sich darin zeigt, dass für die innere Autonomie die exekutiven Funktionen, die zur Steuerung von Handlungsentscheidungen beitragen, von besonderer Bedeutung sind (s.6.1). Unabhängig davon ob eine Entscheidung bewusst oder unbewusst zustande kommt, wird sie auf Grund einer Bewertung der Situation und der möglichen Folgen getroffen. Der Begriff „Bewertung“ wird hier in einem weiten Sinn verwendet und kann auch unbewusste Bewertungsprozesse einschließen. Die Kriterien der Bewertung werden aus der Erfahrung gewonnen, die sich meist aus eher unbewussten, „verinnerlichten“ positiven und negativen Erlebnissen bzw. Wertungen zusammen- <?page no="156"?> Dopaminsystem, Lernen und Autonomie 156 setzt. Menschen bilden außerdem bewusste, langfristige Einstellungen und Haltungen, die ebenfalls Teil der Entscheidungskriterien werden. Für diese Bewertungs- und Entscheidungsfunktionen spielt wiederum das DA-System eine wesentliche Rolle. Wenn das so ist, können Stimulanzien über das DA-System unmittelbar in Bewertungsprozesse eingreifen und Handlungsentscheidungen verändern. Zu den Folgen für die Autonomiefähigkeit siehe 10.1.2 und zur ethischen Bewertung siehe 13.3.4. Im Folgenden werden die Vorgänge bei der Bewertung und bei Handlungsentscheidungen skizziert, um dann die Rolle des DA-Systems darin aufzuzeigen. 8.4.1 Bewertungssystem auf der Grundlage somatischer Marker In Kapitel 8.3 wurde die Rolle von DA im Lernprozess geschildert, in dem Erfahrung durch die DA-vermittelte Assoziation von Handlung und Ergebnis entsteht. Wenn Erfahrung eine Beurteilungsbasis für Entscheidungen bildet, muss sie einerseits eine Bewertung in sich tragen und andererseits muss es möglich sein, im Moment der Entscheidung diese Erfahrung aufzurufen. Die wertende Komponente der Erfahrung kann mit der Hypothese der somatischen Marker plausibel erklärt werden (Damasio, 2004). Neue Inhalte oder Stimuli werden demnach mit dem körperlichen und emotionalen Zustand, den das Eintreffen des Reizes auslöst, assoziiert. Auch die Vorstellungsbilder der Ergebnisse bestimmter Abläufe und Erlebnisse werden gemäß dem von Damasio vorgestellten Konzept durch die gleichzeitige Erfahrung von Körperveränderungen, die angenehm oder unangenehm sein können, qualifiziert. Zwischen diesen Gefühlen und den Ergebnissen dieser Abläufe und Erlebnisse wird also durch Lernen eine Verbindung hergestellt, die eine Wertung beinhaltet: angenehmes Körperempfinden steht für gut und anzustreben bzw. unangenehmes Körperempfinden für schlecht und zu vermeiden. Der qualifizierende Körperzustand wird von Damasio als somatischer Marker bezeichnet, der in Zukunft Teil der Repräsentationen von Erlebnissen usw. ist und jeweils mit ihnen aktiviert wird. Ebenso erhalten Aktionen und Reaktionen durch Rückmeldung ein solches „Assoziationselement“, das sie kennzeichnet und ihnen ihre Bedeutung verleiht, die meist unbewusst bleibt (ebd.). Bei der Antizipation von Handlungsergebnissen (8.4.2) werden entsprechend dieser Theorie bestimmte Vorstellungsbilder, die bereits früher als Erfahrung gespeichert wurden, aktiviert und mit ihnen ihre spezifischen somatischen Marker. Die Bewertung eines Stimulus, einer Situation oder einer Reaktion, die zur Verhaltensselektion führt, erfordert also den fortwährenden Vergleich mit den abgespeicherten Erfahrungen. D.h. die kognitive Information muss zeitlich begrenzt in einer Weise gespeichert werden, durch die sie zu einem weiteren Informationsinput in Beziehung gesetzt werden kann (Stark et al., <?page no="157"?> Das Dopaminsystem als Basis autonomen Handelns 157 1999: 79) 70 . Es kommt dabei zu einer selektiven Erhöhung der Erregung in den informationsverarbeitenden und reaktionsplanenden Systemen, die über ausreichend lange Zeit (>100 ms) erfolgen muss (Birbaumer und Schmidt, 2010: 503). Bei der ethischen Diskussion über die Handlungsbeschleunigung durch Verkürzung der Reaktionszeiten wird die Fähigkeit der unbewussten Bewertung noch einmal aufgegriffen (13.3.1). 8.4.2 Verhaltensselektion durch Vergleich und Antizipation Den Funktionsprinzipien der willentlichen Handlungssteuerung geht Thomas Goschke in einer volitionspsychologischen Analyse auf den Grund (2004). Vor allem die Fähigkeit, die Reaktionsselektion von der unmittelbaren Reizsituation bis zu einem gewissen Grade abzukoppeln, erweitert demnach die Kontrollmöglichkeit des eigenen Verhaltens bei Menschen. Die Realisierung dieser zusätzlichen Freiheitsgrade setzt spezifische kognitive Fähigkeiten voraus, zu denen nach Goschke „Effektantizipation und Zielgerichtetheit“ sowie „Bedürfnisantizipation und Selbstkontrolle“ gehören (Goschke, 2004; s.6.4 und 7.3, besonders 7.3.2 und 7.3.5). Unter Selbstkontrolle wird allgemein die Unterdrückung der Dominanz der unmittelbaren Reize und Bedürfnisse verstanden (Gehlen, 1940; hier 1986). Mit Impulskontrolle wird die Fähigkeit bezeichnet, einen ersten spontanen aktuellen Handlungsimpuls, der durch einen unmittelbar verstärkenden Stimulus ausgelöst werden kann, zu unterdrücken und zugunsten übergeordneter Ziele sowie langfristiger Belohnung aufzuschieben. Es wird nicht nur Zeit zum Nach-denken gewonnen, sondern auch zum „Vor(aus)-denken“ gewonnen und ggf. kann die Handlung nach der geistigen Überprüfung unterlassen werden. Goschkes (2004) Schilderungen lassen sich etwa folgendermaßen wiedergeben: Im Verlauf der Antizipation werden innere Vorstellungen möglicher Handlungsergebnisse gebildet und mit gespeicherten Informationen bzw. deren reaktivierten Repräsentationen abgeglichen. Bei den gespeicherten Informationen handelt es sich z.B. um Erfahrungen aus entsprechenden Handlungsergebnissen, die, wie oben dargestellt, eine Wertung enthalten (8.4.1). Die Informationen können aber auch langfristige Ziele betreffen, die auf der Basis von Bedürfnisantizipationen gebildet werden, die wiederum auf der Grundlage von Repräsentationen zukünftiger Situationen mit Hilfe gegenwärtig zur Verfügung stehender Informationen und Erfahrungen generiert werden. Langfristige Ziele können außerdem durch Reflexion erarbeitete Einstellungen und Haltungen widerspiegeln. Selbstverständlich unterliegt diese Antizipationsleistung den Grenzen der Vorhersagbarkeit von Situationen und Bedürfnissen. Die Antizipation von 70 Stark und Kollegen zitieren dazu: Atkinson und Shiffrin, 1968; Baddeley, 1993. <?page no="158"?> Dopaminsystem, Lernen und Autonomie 158 Handlungskonsequenzen durch innere Repräsentationen und der Abgleich mit Erfahrungen und langfristigen Zielen basiert wiederum auf dem Funktionsprinzip des Arbeitsgedächtnisses, das sich dadurch auszeichnet, dass es Erregungskonstellationen ausreichend lange aktiv halten kann. Dabei ist eine Besonderheit der menschlichen Antizipationsfähigkeit von besonderer Bedeutung: Offenbar können Menschen „Zusammenhänge zwischen Reizbedingungen, Handlungen und Effekten als integrierte Episoden im deklarativen Gedächtnis speichern“ (Goschke, 2004; vgl.8.3). Dadurch können elementare Operationen auf Probe zu neuen Handlungssequenzen zusammengestellt und deren Effekte mental simuliert werden, d.h. es wird möglich zu planen (s. Engels, 1989). Hinzu kommt, dass die Sprache „die menschliche Antizipationsleistung in kaum zu überschätzender Weise“ erweitert (Goschke, 2004). 8.4.3 Die Rolle von Dopamin bei der Verhaltensselektion Ein Beispiel dafür, dass DA bei der Bewertung eines Stimulus eine wesentliche Rolle spielt, ist die Übermittlung der Abweichung einer Belohnung vom Belohnungsvorhersagewert eines Stimulus wie es bei Birbaumer und Schmidt (2010: 638) dargestellt und im Folgenden sehr kurz wiedergegeben wird. Dieser Wert wird demnach in den Neuronen des N.acc. und des anterioren Striatum repräsentiert, wo sich aus den verschiedenen Werten eine Zielhierarchie bildet, die dafür entscheidend ist, welches durch einen Stimulus angezeigte Ziel mit Priorität verfolgt wird. Nach ihr richtet sich die Entscheidung darüber, ob das betreffende Individuum ein bestimmtes Ziel verfolgt oder nicht. Wenn eine tatsächliche Belohnung von ihrem Vorhersagewert abweicht, wird die Abweichung in der Feuerrate der DA- Neurone verschlüsselt: Fällt eine Belohnung größer aus als erwartet, erhöht sich die Feuerrate der DA-Neurone, fällt die Belohnung geringer aus, dann verringert sich auch deren Signaldichte. Die Abweichungen werden dadurch an den Praefrontalen Cortex (PFC) weitergeleitet, wo über Feedback-Schleifen zu den Basalganglien eine Änderung der Zielhierarchie initiiert wird, die so immer wieder aktualisiert wird. Diese Funktion des DA wird von Birbaumer und Schmidt als Selektions- oder Gating-Effekt bezeichnet (ebd.). Wie bereits erwähnt, entspricht diese Vergleichsarbeit der Funktion des Arbeitsgedächtnisses, welches durch die dopaminerge Innervation aktiviert und aktiv gehalten wird. Tatsächlich wird durch DA-Verlust die Funktion des Arbeitsgedächtnisses beeinträchtigt (Stark et al., 1999) 71 . „The 71 Stark und Kollegen zitieren dazu: Brozoski et al., 1979; Sawaguchi and Goldman- Rakic, 1991; Sokolowski et al., 1994. <?page no="159"?> Das Dopaminsystem als Basis autonomen Handelns 159 dopaminergic innervation of the mPFC in primates is strongly involved in cognitive functions tested by working memory tasks“ (Stark et al., 1999 72 ). 8.4.4 Dopamin-Neurone und die Wirkungsweise zukünftiger Ziele Die Untersuchungen von Morris et al. (2006) unterstützen die Vorstellung der Selbstdetermination (6.4) unter Beteiligung des DA-Systems (8.4.2; 8.4.3). Sie schließen aus ihren Ergebnissen, dass DA-Neurone an der Bildung langfristiger Entscheidungsstrategien beteiligt sind, und zwar durch eine dynamische Modulation der Effektivität der Synapsen in den Basalganglien und durch die Organisation von Bewertungs- und Entscheidungsprozessen in präfrontalen Schaltkreisen und ihrer mutmaßlichen, neuronalen und molekularen Basis. Die Hypothesen zur Schlüsselfunktion von DA in Entscheidungsprozessen werden also durch neuere Forschungen gestützt. 72 Stark und Kollegen zitieren dazu: Goldman-Rakic, 1992; Schultz W, 1992; Watanabe M et al., 1997. <?page no="160"?> 9 Pharmakologie kognitiver Stimulanzien „Als Stimulanzien werden Stoffe mit vorwiegend erregender Wirkung auf die Psyche zusammengefasst, die den Antrieb sowie Wahrnehmungs- und Denkleistungen steigern und Müdigkeit verringern“ (Bönisch et al., 2010: 308). Diese Definition ist zwar sehr pauschal, aber ihr Kriterium ist eindeutig: es ist die Wirkung der Stoffe, nicht ihre chemische Struktur, d.h. es handelt sich um eine Effektklassifikation, nicht um eine chemische Klassifikation. Der Begriff ‚Stimulanzien’ umfasst also nicht auf jeden Fall chemisch verwandte Stoffe. Außerdem können Substanzen, die dieses Wirkungsbild aufweisen und daher unter Stimulanzien geführt werden, noch andere Wirkungseigenschaften haben, die sie nicht mit den übrigen zu der Gruppe zählenden Stoffen gemein haben (z.B. Ecstasy). Hier werden drei Stimulanzientypen mit ihrem Wirkmechanismus und ihrer beobachtbaren bzw. testbaren Wirkung auf der Verhaltensebene vorgestellt. Für die vorliegende Arbeit sind die synthetisch hergestellten Amphetamine einschließlich des Amphetaminderivats Methylphenidat (MPH) am wichtigsten. Ihre Erforschung ist aufs Engste mit der Forschung zur Therapie der Aufmerksamkeitsdefizit/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS) verbunden, weshalb viele Ergebnisse aus Untersuchungen mit ADHS- Kindern zur Verfügung stehen 73 . Umfangreiche Erkenntnisse stehen aus Versuchen mit höheren Säugetieren, z.B. Ratten, zur Verfügung; einige Versuche wurden sogar mit Menschenaffen durchgeführt. 74 Um der häufigen Frage nachzugehen, warum im Gegensatz zu Amphetaminen, Kaffee relativ unbeschwert konsumiert werden kann, werden einige Informationen über die Coffeinwirkung gegeben. Coffein gehört zu der Gruppe natürlich vorkommender Stimulanzien, die man Methylxanthine nennt. Weiter wird Modafinil als Beispiel für eine der Neuentwicklungen aufgeführt, die sich z.B. strukturell von Amphetaminen unterscheiden, ihnen jedoch in gewissen Wirkungen ähnlich sind und dadurch auf den ersten Blick für dieselben Anwendungen in Frage kommen. Das Interesse für Modafinil konzentrierte sich lange insbesondere auf dessen Wirkung, das Schlafbedürfnis zu reduzieren. Dabei wurde die Forschung sehr von dem 73 Genehmigungen zu Tests mit „normalen“ Kindern und Erwachsenen wurden korrekterweise nur selten erteilt. 74 Obwohl die Übertragbarkeit von Ergebnissen aus Tierversuchen auf Menschen solange unter Vorbehalt stehen sollte, bis sie bestätigt werden, stoßen die Erkenntnisse aus diesen Forschungen aufschlussreiche Diskussionen an und bereiten wichtige Forschungen vor. Daher werden die bereits vorhandenen Erkenntnisse in die Beschreibung integriert. <?page no="161"?> Basisinformationen zur Amphetaminwirkung 161 Interesse des Militärs vorangetrieben, insbesondere Piloten bei Bedarf über lange Zeit wach zu halten. Der Einsatz von Stimulanzien und anderen psychoaktiven Substanzen durch das Militär hat eine lange Tradition (Moreno, 2006) und viele Untersuchungen wurden mit Amphetaminen und jetzt auch mit Modafinil durchgeführt. Die gewonnenen Erkenntnisse werden hier mit berücksichtigt, auch wenn eine Bearbeitung der mit der militärischen Nutzung verbundenen ethischen Fragestellungen in diesem Rahmen nicht geleistet werden kann. Die Pharmakokinetik, unter der man das Schicksal eines Arzneimittels im Organismus versteht (Absorption, Verteilung, Metabolismus und Ausscheidung), wird nur dort angesprochen, wo sie von Bedeutung ist. Größeres Interesse gilt der Pharmakodynamik der Substanzen: „Pharmakodynamik beschreibt die physiologischen und molekularen Mechanismen, mit denen eine Substanz klinisch beobachtbare Wirkungen, seien sie erwünscht (Wirksamkeit) oder unerwünscht (Begleitwirkungen oder Nebenwirkungen, wie sie z.B. in einem Beipackzettel aufgeführt sind), hervorruft.“ (Nissen et al., 2004: 86). „Insgesamt gesehen ist aber der Wirkungsmechanismus der Psychopharmaka nur in Teilaspekten geklärt; dies gilt auf der Ebene der Biochemie und Biophysik des Gehirns und erst recht auf der Ebene der Beeinflussung der Psyche.“ (Bönisch et al., 2010: 309). Mit diesem Zitat soll die Erwartung zurückgewiesen werden, hier könnte ein abgeschlossenes Wissensgebilde vorgestellt werden, wenn nur die Beschreibung ausreichend detailliert vorgenommen wird. Es soll außerdem der Neigung widersprochen werden, eindimensionale Ursache - Wirkungszusammenhänge anzunehmen und sich eine vereinfachte Vorstellung von Reparaturmöglichkeit für psychische Erkrankungen zu Eigen zu machen. Stattdessen soll ein Verständnis dafür geschaffen werden, dass noch nicht die ganze Vielfalt der Wirkorte und der psychischen Effekte der Stimulanzien erforscht ist und dass die Wirkung auch abhängt von der Modulation durch das Milieu, von der Konstitution und der konkreten Situation des einzelnen, betroffenen Menschen. Letztlich sind Aussagen über die Wirkungen von Psychopharmaka auf der Verhaltensebene nur anhand von Testergebnissen aus Verhaltensbiologie und Psychologie zu machen, obwohl auf die Einschränkungen hinsichtlich der Aussagekraft von Tests für den Alltagsgebrauch hinzuweisen ist (s. auch 3.3.1). 9.1 Basisinformationen zur Amphetaminwirkung Amphetamine rechnet man aufgrund ihres Wirkmechanismus (s.u.) zu den indirekt wirkenden Sympathomimetika (dazu: Böhnisch et al. 2010). Zu dieser Stoffgruppe gehören neben synthetisch hergestellten Stoffen auch <?page no="162"?> Pharmakologie kognitiver Stimulanzien 162 einige Naturstoffe. So z.B. Tyramin, das im Käse vorkommt oder Ephedrin, als Hauptwirkstoff alter chinesischer Heilpflanzen der Gattung Ephedra. Ebenso gehört Cathinon zu dieser Gruppe, das in den frischen Blättern von Catha edulis, einem in Äthiopien heimischen Baum, enthalten ist. Amphetamin und seine Verwandten sind im Gegensatz zu den Catecholaminen 75 lipophil, worauf eine ihrer wichtigsten Eigenschaften basiert: Sie können die Blut-Hirn-Schranke permeieren (Böhnisch et al., 2010). Im Einsatz sind z.B. das d-Amphetamin oder das Met-Amphetamin. Ein wichtiger Abkömmling des Amphetamins ist der Wirkstoff Methylphenidat (MPH), der z.B. in dem Medikament Ritalin® das wirksame Prinzip ist. Weitere Präparate mit diesem Wirkstoff unterscheiden sich vor allem in ihren Freisetzungseigenschaften. 9.1.1 Die Applikationsmethode ist entscheidend für die Wirkung Bei unterschiedlichen Applikationsmethoden kommt es zu spezifischen Anflutungsgeschwindigkeiten, die wiederum spezifische Empfindungen verursachen. Das beschreiben z.B. Swanson und Kollegen (2005). Demnach führt eine intravenöse Injektion von Methylphenidat (MPH) oder eine Applikation über die Nasenschleimhaut (Schnupfen) zu schnellem Anstieg der Serumkonzentrationen und wahrscheinlich zu schnellem Dopamin (DA)-Levelanstieg. Weiter heißt es, dass der schnelle Wechsel der DA- Konzentration einen „flush“, also ein rauschhaftes Gefühl, verursachen kann und die „Reinforcer“-Eigenschaften der Amphetamine bedingt. Deshalb werden diese Applikationsmethoden von Rauschmittelkonsumenten bevorzugt. Im Gegensatz dazu kommt es bei oraler Einnahme, wie sie für die therapeutische Anwendung typisch ist, zu einem langsamen Anstieg der Serumkonzentrationen, der wahrscheinlich mit einem allmählichen Anstieg des DA-Levels einhergeht, bei dem das Rauschgefühl reduziert ist. Dies mag ein Grund dafür sein, dass unter Therapiebedingungen nicht mit Suchtgefahr zu rechnen ist (s.5.4.2). 9.1.2 Pharmakodynamik der Amphetamine Der Sammelbegriff „indirekt wirkende Sympathomimetika“, zu denen Amphetamin gehört, weist auf den Wirkmechanismus der so bezeichneten Stoffe hin, denn sie ahmen den Sympathikus indirekt nach. Das ist so zu verstehen, dass Amphetamin 76 und Methylphenidat 77 (MPH) keine Affinität zu Adrenozeptoren oder Dopaminrezeptoren besitzen, d.h. sie ersetzen 75 Dopamin, Noradrenalin und Adrenalin gehören zu den Catecholaminen. 76 d-Amphetamin und l-Amphetamin (Enantiomere, d.h. Spiegelbildisomere. Die Moleküle haben bei gleicher Summenformel eine andere Struktur). 77 DL-MPH und D-MPH (Enantiomere). <?page no="163"?> Basisinformationen zur Amphetaminwirkung 163 nicht direkt Noradrenalin oder Dopamin. Wie bereits erwähnt können lipophile indirekt wirkende Sympathomimetika die Blut-Hirn-Schranke passieren und haben daher neben ihrer peripheren Wirkung eine zentrale (im Gehirn ansetzende), psychotrope Wirkung, der sie den Namen Psychostimulanzien verdanken, um die es hier geht. Heal und seine Kollegen (2009) zeigten im Tierversuch pharmakodynamische Unterschiede zwischen Amphetamin und dem Derivat MPH. Demnach setzen Amphetamine in vitro Noradrenalin (NA) und Dopamin (DA) frei, führen also zur Entleerung der Speicher. Gleichzeitig reduzieren sie die Wiederaufnahme von NA und DA ins Cytoplasma durch kompetitive Hemmung der DA-Transporter (DAT) und der Noradrenalin- Transporter (NET). So reduzieren Amphetamine den Rücktransport des einmal in den synaptischen Spalt freigesetzten NA bzw. DA in das Axonplasma und verlängern damit ihre Wirkdauer. Weiter wird berichtet, dass Amphetamine zusätzlich die DA-Aufnahme in die Vesikel des Cytoplasmas reduzieren 78 , indem sie auf den VMAT-2 (vesicular monoamine transporter-2) einwirken, MPH dagegen befördert die Aufnahme dieser Monoamine (Riddle et al., 2007). Durch die erhöhte Konzentration von NA und DA im Axonplasma kommt es zu einer Umkehr der Arbeitsrichtung von NETs bzw. DATs mit einem Transport von NA und DA in den synaptischen Spalt. Amphetamin wirkt demnach extra-und intraneuronal. MPH hemmt in erster Linie die Wiederaufnahme von NA und DA (Heal et al., 2009) und verstärkt dadurch eine bestehende Aktivität des Neurons. MPH ist demnach ein Wiederaufnahmehemmer, bei dem der Wirkmechanismus auf eine Abhängigkeit der Wirkung von der Feuerrate des Neurons hindeutet. Dies könnte ein Grund für die Kontextabhängigkeit der MPH-Wirkung sein (9.4.2). Die Freisetzung von DA und NA durch Amphetamine ist hingegen unabhängig von der Feuerrate des Neurons. Heal und Kollegen beschreiben jedoch auch eine enigmatische Wirkung von MPH auf basal-aktive Neurone (2009: 610). Entsprechend konnte in vivo festgestellt werden, dass die Wirkung von dl-MPH und d- Amphetamin sowohl auf den NA-Eflux als auch auf den DA-Eflux sehr ähnlich ist (ebd.: 611) und es scheint den Autoren paradox, dass dl-MPH eine nahezu gleich starke Wirkung wie d-Amphetamin hat (ebd.: 608). Der Unterschied zwischen der Wirkungsweise von MPH und d-Amphetamin scheint daher eher theoretischer Art zu sein und es ist zu vermuten, dass die Theorien im Lichte neuer Erkenntnisse immer wieder modifiziert werden. In Bezug auf die Frage, ob Amphetamine und MPH für PCE geeignet sind, ist festzuhalten, dass ihre Wirkungsweise noch nicht vollkommen verstanden wird. Letztlich gibt nur die praktische Prüfung in Tests Auskunft über die tatsächlichen Wirkungen auf der Verhaltensebene und die 78 im Striatum <?page no="164"?> Pharmakologie kognitiver Stimulanzien 164 haben ihrerseits eingeschränkte Aussagekraft für den Alltagsgebrauch (s.o. und 3.3.1). 9.1.3 Vergleich der Amphetamineffekte in der Therapie, als Rauschmittel und beim Doping Es ist interessant festzustellen, dass die Wirkungsbeschreibungen für Amphetamine mit den Anwendungsbereichen, für die sie gegeben werden, variieren. Der Grund dafür ist vermutlich der, dass eine Variation in der Dosierung enorme Variationen in der Wirkung mit sich bringt und daher die Dosierung als wichtigste Determinante für die Verhaltensreaktionen angesehen wird (Robbins and Sahakian, 1979) 79 . Bönisch und Kollegen beschreiben die zentralen Wirkungen von Amphetamin und anderen Stimulanzien folgendermaßen: „Dopamin wird für die euphorisierende, Noradrenalin für die zentral stimulierende, antriebssteigernde Wirkung verantwortlich gemacht. Vorübergehende Leistungssteigerung, Unterdrückung des Hungergefühls und insbesondere eine Zunahme des Wachzustands durch Unterdrückung von Schlaf und Müdigkeit sind die Folge.“ (Bönisch et al., 2010: 332). Medizinische Indikationen für Amphetamine sind auf Narkolepsie (s.1.1) und Aufmerksamkeitsdefizitsyndrome beschränkt (ebd.: 333). In der Therapie von Kindern mit einer Diagnose der Aufmerksamkeitsdefizit/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS) haben Stimulanzien meist eine aktivitätsmindernde Wirkung und führen zur Verbesserung in verschiedenen kognitiven Tests (s.u.). Die üblichen optimalen Tagesdosen werden für Methylphenidat (MPH) zwischen 0,5 und 2,0 mg/ kg Körpergewicht angegeben, maximal 60mg. Die Festlegung der korrekten Dosis muss jedoch individuell erfolgen und stellt nach wie vor eine besondere Schwierigkeit dar (s.5.4.2). Im Bereich des Amphetaminmissbrauchs ist bemerkenswert, dass in der Einstiegsphase 10-20mg der Substanzen meist oral zweibis dreimal täglich eingenommen werden. Dies entspricht einer therapeutischen Dosis. Starke Toleranzentwicklung führt im weiteren Verlauf unter Umständen zu Einzeldosen von bis zu 150mg und zu Tagesdosen von 2000mg (ebd.: 339). Als Rauschmittel haben Amphetamine eine gewisse Ähnlichkeit zur Cocainwirkung, „sie unterdrücken Müdigkeit, Hunger und Schmerzempfindungen und erhöhen kurzfristig die körperliche Leistungsfähigkeit, indem sie Schutzmechanismen des Körpers außer Kraft setzen und normalerweise nicht verfügbare Reserven mobilisieren.“ (ebd.). Dieser Punkt ist in der ethischen Diskussion um Arbeitszeitverlängerung und Arbeit zu 79 Z.B. übt d-Amphetamin eine stärkere Wirkung aus als MPH. Dadurch ist eine Dosis von 3 mg Amphetamin vergleichbar mit 10mg MPH (Heal, 2009). <?page no="165"?> Basisinformationen zur Amphetaminwirkung 165 ungünstigen Zeiten von Bedeutung (s.13.3.2). Der Anwender verspürt ein „Gefühl der Stärke und der erhöhten Wachheit und Leistungsfähigkeit. Das Mitteilungsbedürfnis und die Kontaktfähigkeit zu anderen werden gesteigert, es besteht eine Euphorie. Die euphorisierende Wirkung ist aber schwächer als die von Cocain.“(ebd.). Der Mechanismus, dass geschützte Reserven verfügbar werden, macht die Substanzen interessant für Spitzensportler und tatsächlich liegen für viele Sportarten Nachweise für eine leistungssteigernde Wirkung von Amphetamin und verwandten Stoffen vor (Starke, 2010: 197). Im Dopingbereich werden neben Euphorie als Wirkungen zusätzlich „Kritiklosigkeit sowie erhöhte[r] Risikobereitschaft und Aggressivität“ genannt (ebd.). Die Eigenschaft, Kritiklosigkeit zu fördern, erscheint besonders bemerkenswert, wenn der Autonomiefähigkeit ein hoher Stellenwert beigemessen wird (11). Bei der Diskussion zur ethischen Bewertung der Verkürzung von Reaktions- und Abwägungszeit wird diese Wirkungsbeschreibung noch einmal angesprochen (13.3.1). 9.1.4 Wie kann eine stimulierende Substanz Aktivität reduzieren? - Die Frequenzabhängigkeit der Amphetaminwirkung Da von Stimulanzien zunächst vor allem die aktivierende Wirkung bekannt war und der aktivitätsmindernde Einfluss bei ADHS-Kindern so nicht der Erwartung entsprach, wurde häufig von der „paradoxen“ Wirkung von Stimulanzien auf ADHS-Kinder gesprochen. Robbins und Sahakian (1979) hielten die Aktivitätsminderung für eine normale Stimulanzienwirkung und die Bezeichnung ‚paradox’ für verfehlt. Dies begründeten sie mit der Dosisabhängigkeit der Stimulanzienwirkung einerseits und mit ihrer Frequenzabhängigkeit andererseits. Entscheidend für die Reaktion eines Organismus auf eine Amphetamingabe ist demnach seine Reaktionsweise im unbehandelten Zustand. Das klingt zunächst trivial, da es sich bei anderen Arzneimitteln ebenso verhält, aber dass diese Tatsache auch zu konträren Reaktionen auf denselben Stoff führen kann, erscheint doch überraschend. Verantwortlich dafür ist die Frequenzabhängigkeit der Amphetaminwirkung, die in Tests mit standardisierten Verhaltensweisen erkannt wurde. Dafür wurden Tauben in einer Trainingsphase darauf trainiert, in bestimmten, unterschiedlichen Frequenzen auf eine Taste zu picken (Dews, 1958; zitiert nach Robbins and Sahakian, 1979). In der Versuchsphase reduzierte eine bestimmte Dosis Metamphetamin die hohen Frequenzen beim Tastenpicken, dieselbe Dosis erhöhte jedoch niedrige Ausgangsraten. Diese Frequenzabhängigkeit der Amphetaminwirkung wurde später sowohl für andere Tiere als auch für Menschen bestätigt, und zwar nicht nur bei antrainierten Frequenzdifferenzen, sondern auch für spontane motorische Aktivität. Beispielhaft sei eine frühe Studie von Milli- <?page no="166"?> Pharmakologie kognitiver Stimulanzien 166 chap und Johnson genannt (1974; zitiert nach Robbins and Sahakian, 1979), die eine umgekehrte Proportionalität zwischen MPH-effekt und Basisaktivität zeigt. Die Reaktion hyperaktiver Kinder auf d-Amphetamin ist also auf der Basis von Frequenzabhängigkeitsüberlegungen quantitativ vorhersagbar. Eine Untersuchung der Amphetaminwirkung auf „normale“ 80 Kinder ergab überraschenderweise Effekte, die denen bei ADHS-Kindern qualitativ ähnlich waren, nämlich deutliche Abnahme der motorischen Aktivität und der Reaktionszeit. Gesunde Erwachsene zeigten überwiegend keine signifikante Reduktion der Aktivität; sie reagieren offenbar anders als Kinder (Rapoport et al., 1978; Rapoport et al., 1980). Die Tatsache, dass die Gruppen der „normalen“ Kinder keinen signifikanten Aktivitätsanstieg nach Amphetamin zeigten, wird mit den relativ hohen Basis-Aktivitätsraten erklärt, die einige „normale Subjekte“ auszeichneten (Robbins and Sahakian, 1979: 941). Mit anderen Worten: Viele „normale“ Kinder haben ähnlich hohe Aktivitätsraten wie die ADHS- Diagnostizierten, was die Schwierigkeit einer korrekten Diagnose unterstreicht (s.5.2). Es ist auch ein Beispiel dafür, dass die Diagnose vor allem bei psychischen Erkrankungen bis zu einem gewissen Grad von der Bewertung abhängt (s.4.1.6). Erwachsene haben anscheinend niedrigere Basisaktivitätsraten als beide Kindergruppen (Rapoport et al., 1980), was auf ein Nachlassen der Aktivität mit den Jahren hinweist. 9.2 Wird die kognitive Leistung durch Amphetamine verbessert? Seit langem gab es auch Hinweise auf zusätzliche leistungsfördernde Effekte im kognitiven Bereich (Weiss and Laties, 1962; zitiert nach Robbins and Sahakian, 1979: 942), denen zunehmend starkes Interesse entgegengebracht wurde. Über positive Effekte von Amphetaminen, insbesondere Methylphenidat (MPH), auf die Aktivität und die kognitive Leistungsfähigkeit hyperaktiver Kinder gibt es umfangreiche Literatur. Einen frühen Überblick gibt Knights (1974), der jedoch die stärksten Verbesserungen in der Bewegungs- Kategorie verzeichnet (40%) und die geringsten in der Sprache (10%) und dem Problemlösen (2%). Für die übrigen getesteten Kategorien (komplexe Bewegung, phasische Aufmerksamkeit und tonische Aktivierung, Lernen, Intelligenz 81 , visuomotorisch-räumliche Aufgaben, räumliche Orientierung und einfache Bewegung) wurde eine ziemlich gleichmäßige Verbesserung 80 „Normal“ wird als Synonym für „nicht ADHS-Diagnostiziert“ verwendet. 81 Auf eine Diskussion des Intelligenzbegriffs wird an dieser Stelle bewusst verzichtet, da es auf den Überblick ankommt. <?page no="167"?> Wird die kognitive Leistung durch Amphetamine verbessert? 167 um ca. 30% festgestellt. MPH und d-Amphetamin hatten ähnliche Verbesserungseffekte. Die Reduktion der Aktivität wurde vielfach bestätigt und ist sicherlich wesentlich verantwortlich für den empfundenen Therapieerfolg. Konkrete Testergebnisse für Gesunde sind noch vergleichsweise rar, doch auf die Ähnlichkeit der Reaktionen von „normalen“ und hyperaktiven Kindern auf Amphetamine wurde schon lange hingewiesen (Rapoport et al., 1978), sei es in Bezug auf reduzierte Aktivität und verkürzte Reaktionszeit oder verbesserte Leistung in kognitiven Tests. Es werden jedoch auch Einschränkungen für Gesunde nachgewiesen. Auf die hier dargestellten Ergebnisse wird in der Diskussion um die Erreichbarkeit der Ziele des PCE durch Stimulanzien zurückgegriffen (13.2.2). 9.2.1 Amphetamineffekte auf das Arbeitsgedächtnis MPH verbesserte das Arbeitsgedächtnis bei ADHS-diagnostizierten Jungen (Mehta et al., 2004). Ebenso verbesserte sich die Leistung des räumlichen Arbeitsgedächtnisses bei Erwachsenen mit einer ADHS-Diagnose (Turner et al., 2005). Auch bei gesunden jungen Männern hatte MPH signifikante Effekte auf die Leistung des räumlichen Arbeitsgedächtnisses und des Planens (Elliott et. al., 1997). Konkret verhielt es sich in dieser Untersuchung so, dass die Probanden, die zwei Durchgänge zu absolvieren hatten, unter MPH signifikant schneller waren, wenn sie es für den zweiten Durchgang nahmen, nachdem sie im ersten Placebo hatten. Diese Beschleunigung ging mit einer deutlichen Erhöhung der Fehlerquote einher, d.h. es ergab sich eine Beschleunigung der Reaktion um den Preis einer höheren Fehlerquote. War die Versuchsfolge umgekehrt, also im ersten Durchgang MPH und im zweiten Placebo, dann verbesserte sich die Leistung in diesem speziellen Test. Die Autoren sehen damit eine Hypothese bestätigt, nach der MPH je nach Neuheitsgrad der Aufgabe konträre Effekte hat: Bei neuen Aufgaben werden demnach exekutive Aspekte räumlicher Funktionen gefördert, jedoch bei bekannten Aufgaben werden diese beeinträchtigt. Da in ihren Tests zur Daueraufmerksamkeit die Korrektheit der Leistung durch MPH nicht gefördert wurde, sind die Autoren der Ansicht, dass die Verbesserungen in räumlichen Aufgaben nicht einfach durch eine allgemeine Aktivierung zustande kommen und dass umgekehrt die relative Verschlechterung der Leistung im zweiten Durchgang nicht nur auf die störenden Effekte einer überhöhten Aktivität zurückgeführt werden können. Vielmehr interpretieren die Autoren ihre Ergebnisse dahingehend, dass MPH in relativ neuen Situationen die kognitive Leistung fördert, dass es jedoch die Ausführung von Aufgaben in bekannten Situationen derart beschleunigt, dass die Personen antworten, bevor sie die Information vollständig verarbeitet haben. Auf die Rolle der Zeit bei der neuronalen Verarbeitung <?page no="168"?> Pharmakologie kognitiver Stimulanzien 168 wurde hingewiesen (7.3.3). Diese Feststellung spricht für eine erhöhte Fehlergefahr unter MPH im Alltag, da die meisten Situationen des Alltags nicht neu, sondern bekannt sein dürften. Diese unterschiedlichen Ergebnisse werden in die Diskussion darüber, ob Stimulanzien geeignete Mittel sind, die mit PCE angestrebten Ziele zu erreichen, einbezogen (13.2.2). Im Gegensatz zu allen anderen Ergebnissen hatte MPH bei älteren, gesunden erwachsenen Männern keinen Effekt auf das Arbeitsgedächtnis (Turner et al., 2003). Auch wenn die einzelnen Testergebnisse uneinheitlich sind, scheinen Verbesserungen für die Nutzung des Arbeitsgedächtnisses denkbar, zumindest bei neuen Aufgaben. Was bedeutet das konkret? Hierzu lassen sich folgende Überlegungen anstellen: Die Leistung des Arbeitsgedächtnisses besteht nach den derzeitigen Vorstellungen darin, für eine ausreichend hohe und ausreichend lange Aktivität verschiedener nervöser Subsysteme, die mit der Verarbeitung von Informationen befasst sind, zu sorgen (Birbaumer und Schmidt, 2010: 497f.). Damit ermöglicht es den Vergleich neu eingehender Information mit gespeicherter Information, und dadurch z.B. die Überprüfung eines Reizes oder einer Situation auf Neuheit (s.7.3.4). Entsprechend dieser Funktionsweise werden bei der Erarbeitung adäquater Verhaltensweisen, die früher angesammelten Erfahrungen mit den fortlaufenden Feedback-Erfahrungen positiver und negativer Lösungsversuche verglichen und kombiniert und führen so zu erfahrungsgeleitetem Verhalten (Goldman-Rakic, 1992; s.8.3.2). Wenn also die Leistung des Arbeitsgedächtnisses verbessert werden könnte, wären möglicherweise Vorteile in Prüfungssituationen zu erwarten, denn für die Lösung einer Aufgabe muss häufig in Windeseile das vorhandene Wissen im Geiste durchgegangen werden, um die Passung zur Frage zu überprüfen. Auf den ersten Blick scheint z.B. in Multiple-Choice Verfahren ein Vorteil durch Amphetamine denkbar. Dagegen spricht jedoch einiges: So bezog sich der Test auf das räumliche Arbeitsgedächtnis und das Ergebnis kann nicht ohne weiteres auf das Arbeitsgedächtnis allgemein angewendet werden (s.u.). Diese Übertragbarkeit einmal angenommen, ist zu bedenken, dass in Prüfungen in der Regel kein neuer, sondern bekannter Stoff zu bearbeiten ist und eine MPH-Einnahme folglich eher zu dem Ergebnis führt, welches von der MPH-Einnahme im zweiten Durchgang berichtet wird: Verkürzung der Reaktionszeit bei erhöhter Fehlerquote (s.o.). Schließlich dürfte sich in Prüfungssituationen bei den meisten Kandidaten ohnehin ein höherer Aktivierungszustand einstellen, so dass eine zusätzliche medikamentöse Aktivierung zu Überaktivierung und Erhöhung der Fehlerquote führen könnte. Diese Überlegungen werden in der ethischen Diskussion über PCE wieder aufgegriffen (13.1.5). <?page no="169"?> Wird die kognitive Leistung durch Amphetamine verbessert? 169 Sprechfluss und nicht-räumliche Aufgaben: In der Untersuchung von Elliott (1997) hatte MPH bei gesunden, jungen Männern keinen Einfluss auf den Sprechfluss oder andere nicht-räumliche Aufgaben, wie den Aufgabenwechsel bei Aufmerksamkeitsaufgaben. 9.2.2 Amphetamineffekte auf das Gedächtnis Normale und hyperaktive Jungen sowie normale Erwachsene verbesserten durch d-Amphetamin ihre Ergebnisse bei Gedächtnisaufgaben (Rapoport et al., 1980). D-Amphetamin förderte bei männlichen bezahlten Freiwilligen das Wortgedächtnis (Zeeuws and Soetens, 2007). In einem systematischen Review kommen Repantis und Kollegen (2010) zu dem Schluss, dass MPH eine Verbesserung des Erinnerungsvermögens mit sich bringt, obwohl sie in ihrer Gesamtwertung zu dem Schluss kommen, dass die Erwartungen zu hoch sind (s.9.7). Dagegen zeigten in einer Untersuchung von Reske und Kollegen Gelegenheitsnutzer von Amphetaminen und MPH leichte Defizite bei Lernen und Gedächtnis, insbesondere bei der verbalen Erinnerung und bei Wiedererkennungsaufgaben. Falls diese Defizite schon vor der Stimulanzienverwendung bestanden, verschlimmerte der wiederholte Gebrauch von verschreibungspflichtigen Amphetaminen und MPH die genannten Defizite trotz günstiger Kurzzeiteffekte (Reske et al., 2010). Demnach wäre insgesamt eher von einer Beeinträchtigung für Lernen und Gedächtnis auszugehen. 9.2.3 Amphetamineffekte auf die selektive Aufmerksamkeit McKetin und seine Kollegen (1999) berichten von einer Verbesserung der selektiven Aufmerksamkeit durch d-Amphetamin bei Gesunden und sehen dies als Folge der Verringerung der Aufmerksamkeit für irrelevante Stimuli. Zu beachten ist, dass die Aufgaben, die hier zur Testung der selektiven Aufmerksamkeit gestellt wurden, eine gewisse Ähnlichkeit mit den Daueraufmerksamkeitstests aufweisen 82 (s.u.). Neuere PET 83 -Studien werden von Volkow und Kollegen (2008) so interpretiert, dass MPH Vorteile für ein neuronales System bringt, dessen Ressourcen zerstreut oder gemindert sind (Müdigkeit, ADHS), jedoch Nachteile, wenn die Hirnaktivität bereits optimal fokussiert ist. Finke und Kollegen unterstützen die frühere Feststellung, dass sich Stimulanzieneffekte entlang einer umgekehrten U-förmigen Dosis-Effekt-Kurve darstellen lassen, in deren Scheitel die optimale Aktivierung liegt. So können förderli- 82 Die Aufgabe war, mit einem Tastendruck auf bestimmte Zieltöne zu reagieren, die zwischen irrelevanten Tönen (Rauschen) erklangen und die sich durch Tonhöhe, Lokalisation und Dauer unterschieden. 83 Positronen-Emissions-Tomographie <?page no="170"?> Pharmakologie kognitiver Stimulanzien 170 che oder beeinträchtigende Wirkungen von Stimulanzien erklärt werden. Auch in dieser Untersuchung waren die Ausgangsfähigkeiten der Testperson von Bedeutung: Getestete mit schwächerer Aufmerksamkeit wurden besser (Finke et al., 2010). Dazu könnte man überlegen, ob nicht ein neuronales System genau dann fokussiert, wenn Interesse vorhanden ist, d.h., wenn die Aufgabe eine entsprechende Bedeutung für den Probanden hat oder es ihm gelingt, der Aufgabe Bedeutung zu verleihen. So gesehen würde das bedeuten, dass MPH vor allem nicht vorhandenes Interesse ersetzt (siehe auch 10.3.4 und 13.2.4). 9.2.4 Wie beeinflussen Amphetamine den Lernvorgang? Wie sich ein Eingriff in die zeitliche Dynamik des Dopamin (DA)-Spiegels auf den Lernvorgang auswirken kann, wird unter 8.3.2 diskutiert. Hier wird vom Einfluss von Amphetaminen auf die Selektivität des Lernens berichtet: Ausgehend von dem ADHS-Modell, in dem die Aufmerksamkeit sehr breit ist, jeder noch so unwichtige Stimulus zu einer Ablenkung führt und MPH die selektive Aufmerksamkeit verbessert, hatten Horsley and Cassaday (2007) die Vermutung, dass MPH bei gesunden Ratten die Selektivität des Lernens erhöhen würde. Entgegen dieser Erwartung führte MPH in unterschiedlichen Konzentrationen dazu, dass alle erreichbaren Stimuli verstärkt gelernt wurden, auch die wenig informativen, und ebenso der Stimulus, der im Versuch als „Hintergrund“-Stimulus eingesetzt wurde. Mit anderen Worten: Die Versuchstiere wurden verstärkt auch auf schwache Reize konditioniert und dies entspricht eher einer reduzierten als einer erhöhten Selektivität beim Lernen. Es ist außerdem genau zu unterscheiden zwischen Testaufgaben zur selektiven Aufmerksamkeit, die eher dem Aufgabentyp zur Daueraufmerksamkeit entsprechen wie bei den Höraufgaben (s.9.2.3) und solchen Lernaufgaben, bei denen ein Stimulus selektiv gelernt werden soll, und es daher auf die Assoziation von Stimulus und Situation ankommt. Die letzteren entsprechen den Anforderungen beim Lernen. Hier ist offenbar die Gefahr nicht auszuschließen, dass die Fähigkeit zur Selektivität durch MPH eingeschränkt wird. Aus dem Zusammenhang, dass Dopamin die Assoziation von Stimulus bzw. Handlung (Aktion)und Ergebnis vermittelt (8.3.1), könnte man geneigt sein zu schließen, dass Lernen durch Amphetamine verbessert wird. Sollte sich jedoch bestätigen, dass jeder beliebige Stimulus verstärkt gelernt wird, wäre das für einen effektiven Lernprozess nicht förderlich. Es ist gut vorstellbar, dass eine medikamentöse Erhöhung des DA-Spiegels, die losgelöst von der Bedeutung des Stimulus oder des Ergebnisses für den Betroffenen erfolgt, bedeutungslose Assoziationen entstehen lässt. <?page no="171"?> Auswirkungen von Amphetamin auf die Arbeitshaltung - Arbeitsverdichtung? 171 9.3 Auswirkungen von Amphetamin auf die Arbeitshaltung - Arbeitsverdichtung durch Amphetamine? Erfahrungsberichte legen nahe, dass mit Hilfe von Amphetaminen der Arbeitsumfang erhöht werden kann. Mit der Frage, ob sich diese subjektive Erfahrung nachweisen lässt, befasst sich dieses Kapitel. Ein Vergleich mit traditionellen Mitteln findet sich unter 13.2.3, ethische Aspekte zu den Veränderungen bezüglich der Arbeit werden unter 13.3.2 erörtert. 9.3.1 Schnelleres Arbeiten mit Hilfe von Amphetaminen? - Verkürzte Reaktionszeit und erhöhte Fehlerzahl Verkürzte Reaktionszeiten durch Amphetamine werden oft berichtet, für Gesunde und ADHS-Diagnostizierte (Rapoport et al., 1980; Halliday et al., 1994; McKetin et al., 1999; Bedard et al., 2003; Turner et al., 2005). Häufig besteht jedoch eine Austauschbeziehung zwischen verkürzter Reaktionszeit und Fehlerquote (Wright und White, 2003; Elliot et al., 1997). Die unterschiedlichen Ergebnisse könne so zusammengefasst werden, dass bei ADHS Diagnostizierten eher eine Verkürzung der Reaktionszeit bei gleichzeitiger Fehlerreduktion auftritt, während bei Gesunden je nach Aufgabe eine Verkürzung der Reaktionszeit mit eher erhöhter Fehlerquote, im günstigsten Fall mit gleichbleibender Fehlerquote, zu verzeichnen ist. Ob über einen längeren Zeitraum tatsächlich schneller und mehr gearbeitet werden kann, ist damit noch nicht gesagt. Ethische Überlegungen darüber, ob PCE für das Erreichen von Standards, z.B bezüglich bestimmter Arbeitsumfänge, eingesetzt werden sollte, werden unter 13.1.5 angestellt. 9.3.2 Längeres Arbeiten mit Hilfe von Amphetaminen? - Verbesserung der Daueraufmerksamkeit Viele Leistungsverbesserungen, die durch Amphetamine erreicht werden können, beruhen auf ihrem Vermögen, temporären Leistungsverlust, der z.B. durch muskuläre Ermüdung, Schlafentzug oder Langeweile verursacht wird (Robbins and Sahakian, 1979), wieder herzustellen. Das spiegelt sich in den vielen Untersuchungen zur Daueraufmerksamkeit, die überwiegend auf tonischer Aufmerksamkeit (7.3.1) basiert. Im direkten Vergleich verbesserten normale und hyperaktive Jungen sowie normale Erwachsene durch d-Amphetamin ihre Ergebnisse in Daueraufmerksamkeitstests (Rapoport et al., 1980). Bei Erwachsenen mit einer ADHS-Diagnose (DSM IV) verbesserte MPH die Daueraufmerksamkeit ebenfalls (Turner et al., 2005). Die Verbesserungen wurden für Gesunde bestätigt (Elliott et al. 1997; Hermens et al., 2007). <?page no="172"?> Pharmakologie kognitiver Stimulanzien 172 Zusätzlich ist zu sagen, dass mit Hilfe von Amphetaminen bei Schlafentzug die Leistungsfähigkeit aufrechterhalten werden kann (Lieb, 2010: 72), so kann man länger arbeiten, auch wenn man schon müde ist. Dies ist jedoch nicht mehrmals hintereinander oder gar über einen längeren Zeitraum ohne Beeinträchtigung der Gesundheit möglich. Für MPH gibt es dazu bislang keine belastbaren Aussagen. Ethische Überlegungen zur Verlängerung von Arbeitszeit und zur Frage nach höherer Arbeitssicherheit finden sich unter (13.1.1). 9.3.3 Arbeitsverdichtung durch Medikamente - eine letztlich nicht testbare Amphetaminwirkung im Alltag Zwei aus Erfahrungsberichten gut belegte Wirkungen der Stimulanzien sind das „Sofort-Anfangen“ und das „Dranbleiben“, doch solche Wirkungen lassen sich im Labor kaum testen. Jeder kennt die Situation, dass er eine Arbeit vor sich hat und sich um das Anfangen drückt. Besonders häufig tritt diese Startverzögerung bei einer ungeliebten oder anstrengenden Arbeit auf oder bei einer, für die noch nicht ganz klar ist, wie sie zu bewältigen ist. Hat man endlich mit der Arbeit begonnen, ist jede Gelegenheit willkommen, sie wieder zu unterbrechen. Stimulanzien heben nach Erfahrungsberichten beide Arbeitshemmnisse auf. In einem Labortest gibt jedoch der Versuchsleiter den Start vor und die Arbeitssitzung ist so angelegt, dass Versuchspersonen die Arbeit nicht unterbrechen, um Kaffee zu trinken. Die übliche Laborsituation scheint also nicht dazu geeignet, Wirkungen von Stimulanzien zu testen, die gerade im Alltag von Bedeutung sind. Der Reporter, der von einem Selbstversuch mit Modafinil berichtet (Plotz, 2003) geht genau auf diese Wirkungen ein: er hat seine überfällige Steuererklärung sofort erledigt und er hat zwei Artikel geschrieben, wobei er nicht sagt, dass er zwei besonders gute Artikel verfasst hätte, sondern dass er sie ohne Unterbrechung erledigt hat, indem er auf liebgewordene Gewohnheiten verzichtete. Zumindest eine Teilerklärung für diese Berichte könnte die Erhöhung der kurzfristigen Motivation (9.4.2) durch Amphetamine liefern. Man kann sich vorstellen, dass gute Motivation das Anfangen und Dranbleiben durchaus fördert und dass dieser Effekt, der zur medikamentösen Arbeitsverdichtung beiträgt, genau der ist, der Stimulanzien für viele Nutzer interessant macht. 9.4 Können Amphetamine Auswirkungen für Autonomie- und Verantwortungsfähigkeit haben? Basisfähigkeiten der Autonomiefähigkeit sind sowohl antizipative Fähigkeiten (8.4.2 und 8.4.3) als auch Unabhängigkeit (6.1.4 und 6.4), zu der <?page no="173"?> Amphetamine - Auswirkungen für Autonomie- und Verantwortungsfähigkeit? 173 Selbstkontrollfähigkeit ebenso wie anstrengungsbezogene Entscheidungsfindung gehören. 9.4.1 Verbessern Amphetamine die Impulskontrolle? Reaktionsunterdrückung, auch als Inhibition bezeichnet, ist eine exekutive Funktion, die der willentlichen Kontrolle, d.h. der Selbstkontrollfähigkeit, bedarf und unangemessener Impulsivität entgegenwirkt. Sie ist bei ADHS- Diagnostizierten schwächer entwickelt als bei „Normalen“. MPH führte bei ADHS-Kindern zur Reduktion der Zahl vorschneller, ungültiger Reaktionen sowie der Variabilität und Ungenauigkeit der Reaktionsausführung (Bedard et al., 2003). Es wird von einer Angleichung der Reaktionsweisen der ADHS-Kinder an die der normalen Kinder berichtet, die in diesem Fall kein MPH erhielten. Dagegen verstärkte MPH nicht die Reaktionsunterdrückung bei gesunden erwachsenen Männern (Turner et. al., 2003). 9.4.2 Kurzfristige Motivation oder Manipulation? Ein Argument, das bisweilen gegen die Stimulanzientherapie hervorgebracht wurde, lautet, dass sie sich nicht in der Verbesserung der Schulleistung niederschlage (Rie et al., 1976). Dies erscheint jedoch widerlegbar, wenn sogar für gesunde Individuen Mathematikaufgaben durch MPH interessanter werden (Volkow et al., 2004). So löst eine mathematische Aufgabe, die mit einem finanziellen Anreiz versehen ist, bei einer Versuchsperson, die MPH erhalten hat, eine signifikante DA-Level-Erhöhung aus, nicht jedoch, wenn die Person unter Placebo arbeitet 84 . Dagegen bewirkte eine neutrale Aufgabe, wie z.B. das passive Anschauen von Karten mit Landschaften ohne Belohnung und ohne jede Aufgabenstellung, bei einer Person unter MPH keine DA-Level-Erhöhung. Diese Kontextabhängigkeit der MPH-Wirkung wurde in der Beschreibung des Wirkmechanismus bereits angedeutet (9.1.2). Eine weitere Feststellung dieser Untersuchung wird von den Autoren beschrieben: Das subjektiv berichtete Interesse an der Mathematikaufgabe 84 Zu fragen wäre hier, welche Bedeutung dem zusätzlichen finanziellen Anreiz zukommt: Die Autoren sind der Ansicht, dass ein finanzieller Anreiz dem Anreiz entspricht, der im täglichen Schulleben von guten Noten ausgeht. Diese Ansicht steht im Widerspruch zu der Erfahrung von Eltern und Lehrern, dass bei vielen Schülern, vor allem während der Pubertät, gute Noten nicht den geringsten Anreiz ausüben. Hingegen zeigen Untersuchungen zur anstrengungsbezogenen Leistung bei Menschen, dass die Aussicht auf Belohnung durch Geld per se einen sehr hohen Anreiz für Leistung darstellt (Galvan et al., 2005). Durch den Kniff mit der Belohnung könnte der Versuch verfälscht worden sein. Da jedoch andere Untersuchungen in dieser Richtung bis jetzt nicht zu Verfügung stehen, wird das Ergebnis so übernommen, wie es die Autoren interpretieren. <?page no="174"?> Pharmakologie kognitiver Stimulanzien 174 und die Motivation, sie zu lösen, ist mit MPH größer als mit Placebo und begleitet von einem DA-Level-Anstieg. Das verstärkte Interesse könnte die Aufmerksamkeit erhöhen und die Leistung verbessern und damit die therapeutische Wirkung von MPH bei ADHS erklären, so die Autoren. Sie stellen fest: „These findings support educational strategies that make schoolwork more interesting as nonpharmacological interventions to treat ADHD.“ (Volkow et al., 2004). Sie erhärten ihre Interpretation (Volkow et al., 2005) und präzisieren: Gleichzeitig mit dem DA-Level-Anstieg durch MPH wird die Wahrnehmung eines Stimulus dahingehend verändert, dass er auffälliger erscheint und verstärkt unter anderen Reizen hervortritt. Sie schließen daraus, dass die therapeutische Wirkung von MPH darin besteht, den DA-Level-Anstieg nach einem Stimulus, der ansonsten nur schwache Reaktionen hervorruft, zu verstärken. Mit anderen Worten: Durch MPH erscheint ein Stimulus auffälliger bzw. interessanter als er für die Versuchsperson ohne MPH ist, und die Aufmerksamkeit und das Interesse, die der Stimulus bei der Versuchsperson hervorruft, werden verstärkt. Die beschriebene chemische Verstärkung von ansonsten schwachem Interesse für eine Aufgabe mag unter der Perspektive einer Therapie willkommen sein. Wie ist es jedoch einzuschätzen, wenn für einen gesunden Menschen die Bedeutung, die ein bestimmter Stimulus bzw. Inhalt für ihn hat, durch MPH verstärkt wird und damit seine persönliche Bewertung, sei sie bewusst oder unbewusst, durch MPH verändert wird? Welche Möglichkeiten und Gefahren birgt die Erhöhung der aktuell wirksamen Motivation unter Stimulanzieneinfluss, durch die sich Menschen mehr anstrengen, auch für Arbeit, die sie nicht gerne tun? Der Schritt zur Manipulation und damit zur Gefährdung der Unabhängigkeit ist klein. (Zur Bedeutung der Unabhängigkeit für die Autonomiefähigkeit siehe 6.1.4). Die Nähe von Motivation und Manipulation wird unter 13.2.4 nochmals angesprochen und die Bedeutung möglicher Änderungen der Handlungsstruktur unter 13.3.5. 9.4.3 Amphetaminwirkung auf anstrengungsbezogene Entscheidungsfindung Die Wirkung von Amphetaminen auf persönliche Entscheidungsmuster wurde im Zusammenhang mit der Therapieforschung bis jetzt wenig untersucht. Es stehen jedoch umfangreiche Ergebnisse aus Tierversuchen zur Verfügung. Die Entscheidung, eine bestimmte Handlung bzw. Aktion zu tun oder zu unterlassen, hängt wesentlich von der zu erwartenden Belohnung, d.h. dem Nutzen, einerseits und der zu erbringenden Anstrengung, d.h. den Kosten, andererseits ab. Bei Menschen wurde dies anhand von Geldrollen als Belohnung gezeigt (Galvan et al., 2005). Im Tierversuch, z.B. mit Ratten, werden diese Zusammenhänge z.B. anhand von „T-Labyrinth-Kosten- <?page no="175"?> Amphetamine - Auswirkungen für Autonomie- und Verantwortungsfähigkeit? 175 Nutzen-Aufgaben“ untersucht, wie sie auch Cousins (1996) und Salamone (1994) mit ihren Kollegen benutzten. Die Arme eines T-Labyrinths werden z.B. mit unterschiedlich großen Belohnungen bestückt und die Versuchstiere haben die Wahl, sich eine davon auszusuchen. Erwartungsgemäß laufen Ratten in den Arm des Labyrinths, mit der größeren Belohnung. Wird vor diese „Hochnutzenalternative“ ein überwindbares Hindernis eingebaut, ziehen die Versuchstiere diese Alternative immer noch vor, d.h. die höheren Kosten werden in Anbetracht des höheren Nutzens in Kauf genommen. Werden diese „Kosten“ jedoch systematisch erhöht indem das Hindernis erschwert wird, verzichten die Tiere ab einem bestimmten Punkt auf den höheren Nutzen zu Gunsten der geringeren Anstrengung für die geringere Belohnung, d.h. sie ziehen niedrige Kosten bei niedrigem Nutzen vor. Für die anstrengungsbezogene Entscheidungsfindung spielt die DA- Neuromodulation im Nucleus accumbens (N.acc.) eine entscheidende Rolle. So wählten Ratten nach einer systemischen Dopaminrezeptorblockade oder einer Dopaminentleerung des N.acc gar nicht mehr die anstrengende Variante mit hoher Belohnung, sondern nur noch die weniger anstrengende, niedrig belohnte Variante (Cousins et al., 1996; Salamone et al., 1994) 85 . Salamone konnte weiter zeigen, dass DA-Speicher-Entleerung die Leistung bei Aufgaben beeinträchtigt, bei denen es auf die Reaktionsrate ankommt, d.h. bei Aufgaben, bei denen z.B. eine Ratte einen Hebel mehrmals drücken muss, bevor sie eine Belohnung bekommt. Dagegen werden einfache Aufgaben, bei denen z.B. einmaliger Hebeldruck für sofortige Belohnung ausreicht, nicht durch DA-Speicher-Entleerung gestört (Salamone, 2007). Salamone konnte jedoch zusätzlich zeigen, dass Ratten mit N.acc-DA- Entleerung weiter die Beschaffung und den Konsum von Nahrung verfolgen, wobei sich jedoch Verschiebungen bei der Einsatzbereitschaft für die Reaktion einzustellen scheinen und die Tiere dazu neigen, Niedrig-Kosten- Alternativen für die Nahrungsbeschaffung zu wählen (Salamone, 2007). Mit anderen Worten: Die Bewertung von Anstrengung als lohnend für einen bestimmten Nutzen ändert sich mit der Verfügbarkeit und Einwirkung von Dopamin. Entsprechend der Verschiebung von Verhalten hin zu geringerer Einsatzbereitschaft bei künstlich herbeigeführtem DA-Mangel ist bei einer künstlichen DA-Levelerhöhung mit einer Verhaltensverschiebung in Richtung erhöhter Anstrengungsbereitschaft zu rechnen. Genau das geschieht im Grunde in dem oben beschriebenen Experiment, bei dem eine Mathematikaufgabe unter MPH mit mehr Interesse und Aufmerksamkeit bearbeitet wird als ohne MPH (Volkow et al., 2004; s. 9.4.2) 85 Im Unterschied dazu führt die systemische Unterdrückung der Serotoninsynthese nicht zur Änderung von Kosten-Nutzen Entscheidungen (Denk et al., 2005). <?page no="176"?> Pharmakologie kognitiver Stimulanzien 176 Auch als Langzeitfolge ist eine Verschiebung von Entscheidungen durch MPH feststellbar. So wurde nach wiederholter Stimulanzienexposition bei Ratten eine Verschiebung der Verhaltenskontrolle beobachtet und zwar von Handlungsfolgen-orientiertem Verhalten hin zu einem Verhalten, das durch Reiz-Reaktions-Mechanismen bestimmt wird (Jedynak et al., 2007). Diese Beobachtung bedeutet, dass die Orientierung an Handlungsfolgen, welche eine vorausgehende Bewertung der Folgen erfordert, reduziert wird und stattdessen tendenziell reflexartige Verhaltensmuster überwiegen. Reflexe zeichnen sich durch kurze Reaktionszeiten aus, in komplexen Situationen können sie jedoch auch zu unangemessenen Reaktionen führen. Bei der Diskussion, inwieweit mit Stimulanzien die Ziele des PCE erreicht werde können, spielen die beschriebenen Erkenntnisse eine Rolle (13.2.2), ebenso bei der Diskussion der Veränderung der Handlungsstruktur durch Stimulanzien (13.3.5). 9.5 Amphetaminwirkung im Alltag und die Übertragbarkeit von Testergebnissen „Denken braucht Zeit“ könnten die Befunde aus 7.3.3 zusammengefasst werden, denn es wurde dargelegt, dass anspruchsvollere kognitive Prozesse mehr Zeit beanspruchen. Es scheint daher verlockend, hier mit Medikamenten für Beschleunigung zu sorgen und tausende Nutzer hoffen offenbar auf Verbesserungen der kognitiven Leistungen durch Stimulanzien. Die Frage ist, ob das ohne Einbußen in der Qualität möglich ist. Belege dafür außerhalb des Labors sind wissenschaftlich nicht ausreichend abgesichert. Bezogen auf die Wirksamkeit entsprechender Medikamente „in der natürlichen Situation des Patienten“ äußert sich Lieb: „Gerade hier versagen aber viele Medikamente.“ (2010: 63). Ein Grund könnte sein, dass Personen unter MPH in bekannten Situationen schneller reagieren (Elliot et al., 1997; s.9.2.1). In einem Test war die Zeit vor der Reaktion deutlich verkürzt, bei gleichzeitig signifikanter Zunahme der Fehler (Elliot et al., 1997). Da die Autoren dies als vorschnelle Reaktion interpretieren, die bereits erfolgt bevor die Information vollständig verarbeitet ist, könnte das bedeuten, dass die Wirkung von MPH und anderen Stimulanzien nicht einfach einer Beschleunigung der Operationen gleich kommt, die normalerweise ablaufen würden, sondern dass es zu einem vorzeitigen Abbruch kognitiver Abläufe kommt und dabei Arbeitsgänge übersprungen bzw. weggelassen werden, d.h. die Personen reagieren schneller, als sie die zur Verfügung stehende Information verarbeiteten können. Von dem Problem einer Austauschbeziehung zwischen verkürzter Reaktionszeit und Fehlerquote wurde berichtet (9.3.1; z.B. Wright and Whi- <?page no="177"?> Amphetaminwirkung im Alltag und die Übertragbarkeit von Testergebnissen 177 te, 2003). Das deutet auf die Vorteile des Trägheitsmomentes hin, das menschliches Handeln bisweilen kennzeichnet: es hilft Fehler zu vermeiden! So erzielten Probanden, die sich eine Strategie aneigneten, den ersten Impuls zu unterdrücken, sich also mehr Zeit zu lassen, bessere Ergebnisse bei Aufgaben zum logischen Denken (Houdé et al., 2000; s.7.4.4). Im Gegensatz zu einer medikamentösen Reaktionsbeschleunigung handelt es sich bei der Zeitersparnis, die sich nach Übung einstellt, tatsächlich um gesteigerte Effektivität neuronaler Prozesse. Trotz allem ist festzustellen, dass Stimulanzien in bestimmten Testsituationen tatsächlich bessere Ergebnisse begünstigen. Das tägliche Leben gesunder Anwender stellt jedoch komplexere Anforderungen als die übliche Laborsituation, in der das Bewältigen einzelner, spezieller, meist neuer bzw. für den Probanden unbekannter Aufgaben unter strikt kontrollierten Randbedingungen gefordert ist. Es ist mit überwiegend bekannten Situationen und Aufgaben zu rechnen, die unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten und variable Folgen haben, die mit wenigen unbekannten Aufgaben oft in unvorhersehbarer Weise wechseln und zusammen mit diversen Störfaktoren auf die Individuen zukommen. Durch Stimulanzien werden möglicherweise unangemessene Reaktionen produziert, die unter Umständen gravierende Folgen zeitigen. Nicht zuletzt führt ein „Gefühl der Stärke und der erhöhten Wachheit und Leistungsfähigkeit“ (Bönisch et al., 2010: 332) und das damit verbundene erhöhte Selbstwertgefühl zu einer Überschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit nach Amphetaminkonsum und letztlich zu einem gefährlichen Bewusstseinszustand (s.9.1.3). Eine Untersuchung befasst sich mit den Auswirkungen der Amphetamineinnahme auf die Teilnahme im Straßenverkehr. Als konkreter kognitiver Prozess, über den gefährliche Effekte erzeugt werden, kommt eine Veränderung der Geschwindigkeitswahrnehmung in Frage (Silber et al., 2006). Die Autoren untersuchten die Wirkungen von d- Amphetamin, dl-Metamphetamin und d-Metamphetamin und kamen zu dem Ergebnis, dass zwar im Test verschiedene Aspekte der Aufmerksamkeit verbessert wurden, möglicherweise auch die psychomotorische Funktionstüchtigkeit und die Wahrnehmungsgeschwindigkeit. Gleichzeitig fiel jedoch die Einschätzung der Geschwindigkeit unter Amphetamin „weniger konservativ“ aus, worin die Autoren die Ursache für die tödlichen Verkehrsunfälle sehen. Schließlich ist für den Alltag die mögliche Wirkung von Stimulanzien auf die erweiterte, kreative Verstehensfähigkeit von Bedeutung. Diese Fähigkeit erfordert mehr Zeit als schnelle Assoziationen auf nur ein Wort (Posner und Raichle, 1996: 154ff). Stimulanzien begünstigen eine fokussierte, eindimensionale Denkweise (7.3.3), die sich als Störung der Kreativität bemerkbar macht (Lieb, 2010: 96). <?page no="178"?> Pharmakologie kognitiver Stimulanzien 178 9.6 Uerwünschte Wirkungen und Intoxikationen sowie unklare Langzeitwirkungen von Amphetaminen Im Folgenden werden unerwünschte Wirkungen der Amphetamine aufgeführt. Ihre Gewichtung in Enhancemententscheidungen wird unter 13.2.1 diskutiert. 9.6.1 Unmittelbare unerwünschte Wirkungen Im Kontext der Therapie werden diverse unerwünschte Wirkungen amphetaminähnlicher Stoffe erwähnt: „Vasokonstriktion mit Blutdrucksteigerung, Schwitzen, Tremor, Mundtrockenheit, reflektorische Bradykardie [langsamer Pulsschlag], daneben häufig auch Tachyarrhythmien [Herzrhythmusstörungen], in extremen Fällen Myokardinfarkt.“ (Bönisch et al., 2010: 333). Für den Bereich der Kinder- und Jugend-Pharmakotherapie werden noch differenziertere Angaben gemacht (Trott, 2004: 216ff). Die am häufigsten auftretenden unerwünschten Wirkungen sind demnach „verminderter Appetit, Einschlafstörungen, Reizbarkeit und Dysphorie.“ „Klinische Beobachtungen konnten auch zeigen, dass die Rate der Nebenwirkungen unter kontinuierlicher Therapie abnahm.“ (ebd.) Weiter werden dort folgende Nebenwirkungen genannt: unspezifische gastrointestinale Beschwerden und zuweilen erhöhte Herzfrequenz, die jedoch diesem Beitrag zufolge klinisch nicht relevant ist. Seltener kommt es zu sozialer Isolation, deren Ursache diesen Angaben zufolge unter Umständen in dem kritischeren Verhalten im sozialen Kontext liegen soll (ebd.: 217; s.9.6.2). Ebenfalls selten kann es zu depressiven Syndromen, Auslösung von Tics 86 , erhöhtem Blutdruck, Schwindel, Übelkeit und Obstipation oder auch Kribbelparästhesien 87 kommen (ebd.). Manchmal verschwinden die Symptome nach einiger Zeit wieder. Es wird auch von einer möglichen Einschränkung der kognitiven Leistungsfähigkeit bei hohen Dosen (mehr als 1 mg/ kg/ Tag) berichtet: „Die Einengung der Aufmerksamkeit, die verminderte Flexibilität im Denken und schlechtere Problemlösestrategien könnten ein psychisches Äquivalent motorischer Stereotypien bzw. Anzeichen einer exogenen Psychose sein.“ (ebd.: 218). Der Autor verweist auf das „therapeutische Fenster“, in dem ganz offensichtlich mit Stimulanzien die optimalen Behandlungsergebnisse möglich sind und warnt eindringlich vor einer Hochdosistherapie. Erfahrungsgemäß wäre, so Trott, in Fällen von Hoch- 86 Tic: kurze, unwillkürliche Kontraktion einzelner Muskeln oder Muskelgruppen. 87 Sensibilitätsstörung mit unangenehmen Kribbelempfindungen. <?page no="179"?> Unerwünschte Wirkungen und Intoxikationen sowie unklare Langzeitwirkungen 179 dosistherapie die Diagnostik meist nicht mit der gebotenen Sorgfalt erfolgt. Diese Aussage unterstreicht die Bedeutung der individuellen Dosisfindung durch Titrierung im Therapiefall und deutet auf eine mögliche Schwierigkeit bei der Anwendung zu Enhancementzwecken hin, wenn eine korrekte Dosisfindung ausbleibt. Die steigenden Verordnungsraten für Methylphenidatpräparate zu Therapiezwecken vermitteln den Eindruck, dass die Angaben zu unerwünschten Wirkungen kein Anlass für zurückhaltende Medikamentierung sind. Ob sich daraus auch tatsächlich keine größeren Probleme ergeben, lässt sich an dieser Stelle nicht beurteilen. Bezüglich der Wirkungen am Herzen kommt die FDA 88 zu einer Einschätzung, die sich deutlich von Trott’s Aussage unterscheidet. Ihr Beratungskomitee für Risikomanagement votierte nach kritischer Prüfung und Beurteilung der kardiovaskulären Effekte für das Anbringen eines speziellen Warnhinweises auf der Packungsbeilage 89 (Nissen, 2006). Begründet wird diese Entscheidung damit, dass sowohl nach Adderal 90 als auch nach MPH-Einnahme eine Steigerung des systolischen Blutdrucks um ca. 5 mmHg festzustellen ist (Wilens et al., 2005). Nissen betont, dass ein derartiger Blutdruckanstieg, der über längere Zeit erhalten bleibt, bekanntermaßen zu erhöhter Morbidität und Sterblichkeit führt, ja dass er sogar ein höchst verlässlicher Prediktor für kardiovaskuläre Problemfälle ist. Der Autor verweist auch auf die gut belegten Folgen einer anhaltend erhöhten Herzschlagfrequenz, die durch die Anwendung sympathomimetischer Stoffe erzeugt wird und im Tiermodel eine Herzinsuffizienz verursacht. Die FDA erwähnt Fälle von Myokardinfarkt, Schlaganfall und plötzlichem Tod bei Kindern und Erwachsenen, die ADHS-Stimulanzien einnehmen (FDA, 2006). Trotz der Schwierigkeiten, die Einzelfalldaten zu interpretieren, trat das Beratergremium der FDA für eine strenge Regulierung ein. Dieses Vorgehen sehen die Fachleute wegen der genannten Risiken gerechtfertigt, aber auch wegen des schnellen Anstiegs der Belastung der Bevölkerung durch Stimulanzien, also wegen des steigenden Verbrauchs, der in USA im Vergleich zu Deutschland noch höher liegt. Im deutschen Arzneiverordnungsreport erscheinen erstmals 2006 für MPH ein paar abklärungsbedürftige Komplikationen, die vielleicht zur weiteren Verbreitung von Vorsicht beitragen: „Häufiger aufgetretene optische Halluzinationen, plötzliche Todesfälle, nichttödliche kardiovaskuläre Ereignisse und die Relevanz der mutagenen Wirkung von Methylphenidat sind abklärungsbedürftig.“ (Lohse et al., 2007: 853f.). Der vage Hinweis auf 88 Food and Drug Association; in Amerika zuständig für die Zulassung von Arzneimitteln. 89 „Blackbox“ in USA. 90 Ein amphetaminhaltiges Produkt. <?page no="180"?> Pharmakologie kognitiver Stimulanzien 180 eine mögliche mutagene Wirkung 91 nach einer so langen Zeit, in der MPH eingesetzt wurde, die immerhin mit den 60er Jahren beginnt, gibt einen Eindruck davon, wie sehr offenbar die kurzfristigen unmittelbaren Nebenwirkungen bei der Risikoabschätzung im Vordergrund stehen. Ihnen gilt gewöhnlich die erste Sorge. Amphetamine können in sehr hohen Dosen Vergiftungen auslösen, bei denen im ZNS massiv DA freigesetzt wird. „Dadurch kommt es zu akuten psychotischen Zuständen mit Wahn und Halluzinationen. Diese Symptome können auch nach chronischer Anwendung auftreten und über mehrere Tage anhalten. […] Weitere Folgen einer akuten Amphetaminintoxikation sind Krämpfe und Delirien“ (Bönisch et al., 2010: 333). In der Therapiesituation ist eine Intoxikation wegen der ärztlichen und ggf. elterlichen Überwachung nicht zu erwarten, die Gefahr bei unkontrolliertem Gebrauch in der Privatsphäre bzw. bei Missbrauch ist größer. Im Zusammenhang mit der Verwendung als Rauschmittel wird erwähnt, dass sich häufig an die euphorische Phase eine stark depressive oder aber eine aggressive Stimmung anschließt. „Bei Dauergebrauch kann es (neben starkem Gewichtsverlust und Herzrhythmusstörungen) zu Depressionen, akustischen Halluzinationen und paranoiden Zuständen (mit Suizidversuchen oder Panikattacken) kommen“ (ebd.: 339). Missbrauch von Amphetamin hat starke Toleranzentwicklung zur Folge. Er „führt wie bei Cocain zu einer psychischen, kaum zu einer physischen Abhängigkeit. […] Erzwungenes Absetzen provoziert jedoch meist einige Symptome, die den Akutwirkungen entgegengesetzt sind: extremes Schlafbedürfnis, Heißhunger, Angst, Gereiztheit und Dysphorie bis Depression.“ (ebd.). Man spricht von Reboundeffekt. 9.6.2 Amphetaminwirkung auf das Sozialverhalten In den Tests zur Amphetamin bzw. MPH-Wirkung ergaben sich immer wieder Anhaltspunkte dafür, dass Amphetamine die Interaktionsbereitschaft der Betroffenen herabsetzen (Barkley and Cunningham, 1979, zitiert nach Robbins and Sahakian, 1979). Auch Tiere reduzieren unter Amphetaminen ihre sozialen Interaktionen (Schiorring and Randrup, 1971, zitiert nach Robbins and Sahakian, 1979). Kinder wirken mit einsetzender Stimulanzientherapie bisweilen sozial isoliert (Trott, 2004: 218), MPH hemmt ihre spontane Kontaktaufnahme (Amft, 2006). Amphetamine erwiesen sich als eine der am stärksten das Spielverhalten einschränkenden Stoffgruppen, die je im Tiermodell entdeckt wurden (Beatty et al., 1982, 1984). 91 Eine mögliche mutagene Wirkung ist zwar unter den Langzeitfolgen einzuordnen, wurde aber hier im Zusammenhang des Originaltextes bei den unmittelbaren Folgen erwähnt. <?page no="181"?> Unerwünschte Wirkungen und Intoxikationen sowie unklare Langzeitwirkungen 181 Neuere Untersuchungen bestätigen diese Befunde: MPH unterband das soziale Spielverhalten bei Ratten unabhängig davon wie intensiv das Spielverhalten zu Beginn war und ohne das Bewegungsverhalten zu ändern (Vanderschuren et al., 2008). Der Effekt war unabhängig von Toleranz und Sensitisierung und betraf sowohl die Initiierung von Spiel als auch das Eingehen auf Spielaufforderungen. Die Forscher betonen, dass das Spielen der stärkste Verhaltensantrieb im Repertoire von jungen Ratten ist. Sie interpretieren die Unterdrückung des Spielverhaltens durch MPH als Spiegelbild seiner therapeutischen Wirkung, die in einer verstärkten Impulskontrolle und Hemmung von Verhalten besteht. “However, given the importance of social play for development, these findings may also indicate an adverse side effect of methylphenidate.“ (Vanderschuren, et al., 2008). Diese kritische Bewertung von allem, was die Spielneigung reduziert, wird durch die Tatsache unterstrichen bzw. erklärt, dass soziales Spiel im Gehirn zur Aktivierung des Wachstumsfaktors BDNF 92 führt (Gordon et al., 2003). Andere sehen im depressiven Syndrom unter Stimulanzienbehandlung die Kehrseite der Behandlung: „Die verminderte körperliche Aktivität führt häufig zu dem Rückschluss, dass diese Kinder weniger fröhlich seien“ (Trott, 2004: 218). Mit anderen Worten: Die ADHS-diagnostizierten Kinder sind etwas umgänglicher im Sinne von nicht so umtriebig, aber eben auch weniger emotional und in ihrer Kontaktfähigkeit eingeschränkt. Umfangreichere Befunde zur Wirkung von Stimulanzien auf das Sozialverhalten von ADHS-diagnostizierten Menschen stehen nicht zur Verfügung. Es ist jedoch nachvollziehbar, dass sich für Menschen, deren soziale Kontakte durch ihre übermäßige Impulsivität belastet werden, eine gewisse Zurückhaltung positiv auswirken kann. Wie wirken sich jedoch Stimulanzien auf das Sozialverhalten von „gesunden“ Menschen aus? Wird die Kontaktfähigkeit bei Menschen, deren Aktivität nicht der Reduzierung bedarf, durch Stimulanzien noch stärker eingeschränkt als bei ADHS-diagnostizierten? Falls ja, wäre das wohl die andere Seite der reduzierten Ablenkbarkeit. In höheren Dosen, so wie sie im Missbrauch vorkommen, wird als Wirkung gesteigertes Mitteilungsbedürfnis und Kontaktfreudigkeit genannt (9.1.3), doch wie schon erwähnt, ist die Wirkung sehr stark von der Dosis abhängig. Gezielte Studien zu dieser schwer zu fassenden Wirkung liegen nicht vor. Auf Grund der beschriebenen Anzeichen erscheint es jedoch gerechtfertigt, die denkbaren Folgen dieser zwiespältigen möglichen Wirkungen zu diskutieren (siehe dazu 3.3.1 bzw. 13.1.4; 13.2.2; 13.3 v.a. 13.3.2; 13.3.3; 13.3.5) und einen Vergleich mit traditionellen Mitteln der Erziehung anzustellen (13.2.3). 92 BDNF=Brain Derived Neurotrophic Factor <?page no="182"?> Pharmakologie kognitiver Stimulanzien 182 9.6.3 Langzeitfolgen Die unmittelbaren Wirkungen sind natürlich von den Langzeitfolgen nicht strikt zu trennen, da erstere die letzteren mitbedingen, wie im vorigen Abschnitt angesprochen. So besteht kurzfristig und langfristig die Gefahr, die physischen und psychischen Ressourcen über das Maß hinaus zu strapazieren, jenseits dessen eine gesundheitliche Gefährdung nicht auszuschließen ist. Eine Diskussion der ethischen Aspekte dieser Gefährdung erfolgt unter 13.3.2. Das typische an Langzeitfolgen ist, dass sie erst nach langer Anwendungsdauer oder lange Zeit nach Verwendung eines Medikamentes auftreten, 10, 20, 30 oder mehr Jahre, was die Zuordnung von Ursache, Wirkung und Folge sehr erschwert. Aus diesem Grund stellt die Erforschung der Langzeitfolgen ein echtes Problem dar und wenn es um die Verwendung von Medikamenten im pädiatrischen Bereich geht, kommen weitere dazu. Die für die Zulassung von Arzneimitteln vorgeschriebenen Studien sind nach Dauer und Umfang nicht geeignet, seltene schwere oder kindheitstypische unerwünschte Ereignisse aufzudecken. So werden die ersten Jahre oder Jahrzehnte, in denen ein Arzneimittel regulär in Gebrauch ist, zur eigentlichen Langzeittestphase. Neuerdings werden bestimmte Produkte auch für den Einsatz im pädiatrischen Bereich getestet 93 . In einer Studie wurden die Empfehlungen der pädiatrischen Beratungskommission in USA für 67 Medikamente ausgewertet (Smith et al., 2008). Darin wird für das Medikament Concerta®, das auf MPH basiert, von 135 unerwünschten Vorkommnissen im Jahr seiner Überprüfung berichtet. Davon waren die häufigsten psychiatrische Ereignisse (n=36), darunter 11 Fälle von Suizidgedanken oder -versuchen, 15 Fälle von Verhaltensstörungen und 12 Fälle von Halluzinationen. Letztere legten sich in 8 der 12 Fälle nach Absetzten des Medikamentes. Demnach wurde schließlich vorgeschlagen, die warnende Kennzeichnung für Psychose und Manie klarer zu machen, und dass die bestehenden Warnungen vor bestimmten neuropsychiatrischen Ereignissen verstärkt werden sollten. Zusätzlich wurde der Einsatz eines „MedGuide“ 94 empfohlen. Von einem unkalkulierbaren Risiko des Neuauftretens einer Psychose oder einer Manie warnt auch Klaus Lieb (2010: 91). Dem Bericht zufolge wies die FDA außerdem die Hersteller von ADHS-Medikamenten an, Patienten über unerwünschte 93 Um Studien im pädiatrischen Bereich zu fördern, erhielten Pharmafirmen in den USA für bestimmte Produkte einen um 6 Monate verlängerten Patentschutz, wenn sie solche Studien durchführten. Die FDA verpflichete sich in dieser Zeit unerwünschte Ereignisse an die pädiatrische Beratungskommission zu berichten, die Empfehlungen erarbeitet. 94 Dabei handelt es sich um spezielle, von der FDA geprüfte medizinische Informationsbroschüren für Patienten, die die sichere und effektive Nutzung von Medikamenten, die ein ernstes Problem für die öffentliche Gesundheit darstellen, sicherstellen sollen. <?page no="183"?> Unerwünschte Wirkungen und Intoxikationen sowie unklare Langzeitwirkungen 183 kardiovaskuläre und psychiatrische Ereignisse in Kenntnis zu setzen (Smith et al., 2008). Festzuhalten ist, wie schwierig die Feststellung der Langzeitfolgen von Medikamenten im Allgemeinen ist und ganz besonders für Kinder. Damit im Zusammenhang steht wohl, dass im Umgang mit dem Wirkstoff MPH, obwohl er seit langem in Gebrauch ist, erst allmählich zu größerer Vorsicht und Zurückhaltung geraten und darauf hingewiesen wird, dass eine sparsame Verordnungspraxis angemessen ist und nicht eine „vorsorglich“ großzügige. Wie immer im Therapiefall mag es für die Behandlung einer Krankheit gerechtfertigt sein, das Restrisiko der Nebenwirkungen auf sich zu nehmen. Das Risiko von unerwünschten Wirkungen zum Zwecke von Enhancement auf sich zu nehmen, erscheint vor diesem Hintergrund eher fragwürdig (s.13.2.1). 9.6.4 Unklare Bewertung Amphetamin-induzierter morphologischer Veränderungen im Gehirn „Dendritic morphology, including size of the dendritic arbor, branching pattern, and spine density, are shaped by both intrinsic (genetic) and extrinsic factors“(Rakic, 1975; Purves, 1998; zitiert nach Selemon et al., 2007). Die Forscher merken an, dass ihnen die intrinsischen Faktoren bekannt sind, dass jedoch verschiedene extrinsische Faktoren in Frage kommen, die danach unterschieden werden können, ob sie für ein menschliches Wesen natürlich sind, wie z.B. die Begegnung mit anderen Menschen, Pflanzen und Tieren oder unnatürlich, wie z.B. die regelmäßige Einnahme von Medikamenten 95 . In diesem Zusammenhang muss man sich vergegenwärtigen, dass die Entwicklung des Gehirns zum Zeitpunkt der Geburt im Vergleich zu anderen Organen am wenigsten weit fortgeschritten ist, und folglich den extrinsischen Faktoren für seine Weiterentwicklung eine vergleichsweise größere Bedeutung zukommt als bei anderen Körpermerkmalen. Innerhalb des Gehirns erreichen die verschiedenen Hirnstrukturen ihre volle Reife zu unterschiedlichen Zeitpunkten. So sind z.B. Motoneuronen mit der Geburt sehr weit entwickelt, während Strukturen des Präfrontalen Cortex noch sehr unreif sind. Bis mindestens nach der Pubertät unterliegen sie starken Veränderungen und Reifungsprozessen 96 . Entsprechend dieser langen postnatalen Entwicklungszeit der präfrontalen Strukturen ist der Grad ihrer genetischen Determiniertheit geringer als z.B. beim motorischen Cortex, und Umwelteinflüsse gewinnen an Bedeutung. Medikamente sind ebenfalls als extrinsische Faktoren anzusprechen, die Spuren im Gehirn hinterlassen bzw. die Hirnentwicklung beeinflussen. Es 95 Der Medikamentenkonsum mag für einen älteren Menschen in unserer Zivilisation ziemlich „natürlich“, im Sinne von normal, sein, für Heranwachsende sicher nicht. 96 Auch danach bleibt ein Gehirn anpassungsfähig, aber es geht langsamer. <?page no="184"?> Pharmakologie kognitiver Stimulanzien 184 wurde auf verschiedenen Wegen versucht einen Nachweis dafür zu erbringen, dass wiederholte Behandlung mit Stimulanzien morphologische Veränderungen im Gehirn verursachen, die ihre unmittelbare Wirkung überdauern. Terry Robinson verabreichte Gruppen von Ratten mehrere Amphetaminbzw. Kokaininjektionen, während die Kontrollgruppe ein Laufrad zur Verfügung hatte. Danach blieben die Tiere ca. 3 Wochen ungestört, bevor ihr Gehirn im Mikroskop untersucht wurde. Die Behandlung mit Amphetamin und Kokain, nicht jedoch die Laufradnutzung, hatte eine Erhöhung der dendritischen Verzweigungen und der Dichte der dendritischen Spines 97 im Nucleus accumbens (N.acc) und Präfrontalen Cortex (PFC) zur Folge (Robinson, 1999). Daraus schließt der Autor, dass Stimulanzien bei wiederholter Einnahme die synaptischen Verbindungen im N.acc und PFC reorganisieren können und dadurch bleibende Konsequenzen für das neuronale Verhalten verursachen. Diese Veränderungen waren für Robinson von Interesse, weil sie seiner Vermutung nach die Entwicklung von Abhängigkeit und Sucht sowie anderer Formen von Psychopathologie, wie z.B. Amphetaminpsychose, bedingen. Steven Hyman greift in seinem Beitrag zu dem Konferenzbericht “Mapping the field” Robinsons Ergebnisse auf und bezieht sie auf die Therapiesituation. Er leitet daraus eindringliche Fragen ab in Bezug auf Unterlassung von Therapie am Beispiel von ADHS wie z.B.: „How does having an untreated mental illness—or even a milder, untreated impairment— affect the developing brain or the adult brain? And how does it affect a person’s life trajectory? “ (Hyman, 2002: 137). Diese Frage drängt geradezu darauf, dass die Chance auf dauerhafte, strukturelle Veränderung im Gehirn unter keinen Umständen versäumt werden darf. Es entsteht der Eindruck, dass diese Änderung positiv sein wird, obwohl der Autor alle üblichen Vorsichtshinweise bezüglich der Unsicherheit des Wissens anführt. Neuere Forschungen legen mehr Zurückhaltung bei der Interpretation der Versuchsergebnisse nahe. Selemon und Kollegen (2007) führten ähnliche Experimente wie Robinson durch, jedoch mit Affen 98 . Diese unterzogen die Forscher zunächst einer sensitisierenden Behandlung mit Amphetamin, ließen sie dann 3 Jahre in Ruhe um schließlich deren pyramidale 99 PFC-Neurone zu untersu- 97 Unter Spine versteht man eine membranöse Ausstülpung an einem Dendriten, die kleiner als ein Mikrometer ist und meist den postsynaptischen Teil einer Synapse bildet (s. Kasai et al., 2002) 98 Die ethische Problematik von Experimenten mit nichtmenschlichen Primaten ist offensichtlich. Eine Erörterung ist jedoch hier nicht möglich. 99 Die geschichteten Teile der Großhirnrinde lassen sich in sechs Hauptschichten gliedern. Die Zellen einiger der Schichten haben eine kegelförmige Gestalt, die an Pyramiden erinnert und der sie den Namen „Pyramidenzellen“ verdanken. Die entsprechenden Schichten nennt man Pyramidenschichten. (Möricke et al., 1956, hier 2007) <?page no="185"?> Unerwünschte Wirkungen und Intoxikationen sowie unklare Langzeitwirkungen 185 chen. Aus ihren Ergebnissen schließen sie, dass einige extrinsische Faktoren, z.B. der Einfluss von Stimulanzien, lang anhaltende morphologische Veränderungen in der dendritischen Spinearchitektur induzieren können, die zu Änderungen in Kognition und Verhalten beitragen, die für viele Jahre und vielleicht das ganze Leben bestehen bleiben. In diesem Punkt scheinen sich die Annahmen von Robinson zu bestätigen, jedoch die Art der gefundenen Veränderungen war genau entgegengesetzt: „Specifically, Amphetamin sensitization in the nonhuman primate resulted in a significant reduction in overall dendritic complexity and in peak spine density along the apical trunk for pyramidal cells in layer II/ IIIs.“ (Selemon et al., 2007: 925) Die unterschiedlichen Ergebnisse schließen sich nicht zwangsläufig gegenseitig aus; bei den Nagerstudien war das Intervall zwischen Amphetamin-Gabe und Untersuchung der anatomischen Veränderungen wesentlich kürzer als bei der Primatenuntersuchung. Selemon hält es denn auch für möglich, dass die Ergebnisse bei den Nagern frühe morphologische Veränderungen in Reaktion auf Amphetamin-Sensitisierung darstellen, während die Ergebnisse bei den Affen die Langzeitfolgen eines anhaltenden und offenbar permanenten Zustands von DA-Dysregulation im PFC darstellen (Selemon, 2007: 927). Auch kann wie immer die Vergleichbarkeit von Ergebnissen aus Experimenten mit verschiedenen Arten in Frage gestellt werden. Die Unterschiedlichkeit der Ergebnisse macht jedoch deutlich, wie wenig gesichert bis jetzt das Wissen in diesem Bereich ist, und sie demonstriert die Schwierigkeit der Wertung von Messergebnissen. Ob eine Erhöhung der Spine-Dichte positiv zu werten ist und eine Reduzierung in jedem Fall als schädlicher Verlust, folgt nicht unmittelbar aus den Daten. So gehören zur Reifung des Gehirns z.B. auch Phasen der Reduktion der Synapsenzahl. Solange die Erkenntnisse so wenig eindeutig sind, verbietet sich eine Argumentation, in der vorsichtige Medikamentierung durch suggestive Fragen als nachlässiges Versäumnis mit gravierenden Langzeitfolgen dargestellt wird. 9.6.5 Amphetamine und Sucht Die Wirkung von Amphetamin, Dextroamphetamin und Methylphenidat (MPH) ist euphorisierend, zentral stimulierend und antriebssteigernd (Bönisch et al.: 332f; 9.1.2 und 9.1.3). Wahrscheinlich ist die euphorisierende Wirkung verantwortlich für das Missbrauchs- und Abhängigkeitspotential, aufgrund dessen diese Substanzen der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung unterliegen. Wie können solche Substanzen sicher in der Therapie eingesetzt werden? Schon lange wird darauf hingewiesen, dass bei Kindern, die im Rahmen einer Therapie mit Amphetaminen behandelt werden, nicht von Suchtvorkommnissen berichtet wird (z.B. Robbins and <?page no="186"?> Pharmakologie kognitiver Stimulanzien 186 Sahakian, 1979: 946). Diese Autoren führen zwei mögliche Gründe dafür an, Volkow und Swanson (2003) sehen vier. Aufgrund einer Studie von Rapoport et al. (1980) diskutierten Robbins and Sahakian (1979) fehlendes Auftreten bzw. eingeschränkte Wahrnehmung von Euphorie bei Kindern als Grund für das Unterbleiben einer Suchtentwicklung bein ihnen. Jedoch sahen sie schon damals das Fehlen der willentlichen Kontrolle über die Einnahme als wesentliche Bedingung für das Ausbleiben von Suchtverhalten an (1979: 946). Diese frühe Annahme steht in Einklang mit den Ergebnissen aus Tierversuchen. In so genannten „joked experiments“ (Hemby et al., 1997; Mark et al., 1999) wurden je zwei Ratten so an die Zufuhr von z.B. Cocain angeschlossen, dass die „Masterrate“ sich selbstbestimmt verabreichen konnte, während die „joked“ Ratte, die mit der Masterratte bildlich gesprochen wie mit einem Joch verbunden war, jedes Mal dann von dem Stoff verabreicht bekam, wenn die Masterratte sich bediente. Die „joked“ Ratte erhielt jeweils automatisch dieselbe Menge wie die „Masterratte“ und hatte daher auf ihre Cocain-Einnahme keinen Einfluss. In der Folge zeigte sie schwächere Zeichen von Sucht als die Masterratte (ebd.). Eine besondere Bedeutung für die Suchtentwicklung hat der Kontext der Einnahme. So wurde gezeigt, dass z.B. die Rituale der Selbstverabreichung starke Konditionierungs- und Erwartungseffekte haben können. Im Gegensatz dazu werden beim therapeutischen Gebrauch von außen bestimmte Anforderungen gesetzt und die Kontrolle über die Einnahme liegt in der Regel bei anderen (Volkow und Swanson, 2003), zumindest für jugendliche Patienten, wodurch das Unterbleiben von typischem Suchtverhalten in der Amphetamintherapie erklärbar ist. Die Autoren nennen noch drei weitere Ursachen: Die Dosis, die typische Pharmakokinetik und individuelle Unterschiede in der Sensitivität für Amphetamine. So entscheidet die Höhe der Dosis über die Höhe und Geschwindigkeit des DA-Levelanstiegs. Eine höhere MPH-Dosis führt zu einem steileren DA-Levelanstieg. Ist er höher als bei therapeutischen Intentionen, wird er als verstärkend wahrgenommen, was zur Sucht führen kann. Soll „nur“ ein therapeutischer Effekt erzielt werden, sind entsprechend geringere Dosen einzusetzen. Dem ist zu entgegnen, dass eine geringe Dosis kein Garant für Suchtvermeidung zu sein scheint, denn wie unter 9.1.3 erwähnt, liegt die Einstiegsdosis für den Konsum von Amphetaminen als Rauschmittel durchaus im Bereich der therapeutischen Dosis. Viel bedeutsamer scheint der Effekt, den unterschiedliche Applikationsmethoden auf die Anflutungsgeschwindigkeit und damit für das Empfinden haben. Der schnelle Anstieg der Serumkonzentrationen des MPH bei Injektion und bei Schnupfen gefolgt von schnellem DA-Levelanstieg führt zu rauschhaftem Erleben (ebd.). Dies bedingt die „Reinforcer“- Eigenschaften der Amphetamine, weshalb solche Applikationsmethoden von Rauschmittelkonsumenten bevorzugt werden. Bei oraler Einnahme, wie sie für die <?page no="187"?> Unerwünschte Wirkungen und Intoxikationen sowie unklare Langzeitwirkungen 187 therapeutische Anwendung typisch ist, ist der rauschhafte Effekt abgeschwächt. Entscheidend für die verstärkenden Effekte von Stimulanzien und damit für die Gefahr der Suchtentwicklung ist also die Rate, mit der ein DA-Level ansteigt, und nicht die absolute Höhe, die er erreicht (Volkow, 2006). Inzwischen ist es gelungen, Medikamentenformen zu entwickeln, die durch osmotische Freigabe des Wirkstoffes einen noch langsameren, kontinuierlichen Anstieg des DA-Levels bewirken und damit so gut wie keine nachweisbaren verstärkenden Effekte zeigen (ebd.). Volkow und Swanson (2003) weisen des Weiteren darauf hin, dass die individuelle Sensitivität für Amphetamine eine ganz bestimmte Schwelle für die Blut- und Hirnspiegel setzt, bei deren Erreichen ein therapeutischer Effekt in Form von Symptomreduktion erzielt wird, und eine andere spezifische Schwelle, ab der ein „Hoch“ empfunden wird, das zu Vorliebe für den Stoff und zu Sucht führt. Da die Sensitivität zwischen Individuen variiert, könnte nach den Autoren in seltenen Fällen eine Dosis, die bei den meisten Menschen therapeutisch wirkt, bei Einzelnen zur Sucht führen. Dieser letzte Punkt scheint demnach nicht so sehr den Schutz vor Sucht zu erklären als die Tatsache, dass viele Menschen nicht süchtig werden und einzelne doch. Besonders plausible Erklärungen für das geringe Suchtrisiko der MPH- Therapie sind also die Fremdkontrolle der Einnahme sowie die typische Pharmakokinetik bei oraler Applikation bzw. bei modernen Medikamenten. Nicht unerwähnt seien Berichte, nach denen eine gut begründete und gut eingestellte medikamentöse ADHS-Therapie bei den Betroffenen der Entwicklung einer Sucht vorbeugen kann, die ansonsten zu den möglichen zusätzlichen Erkrankungen zählt. Im Falle einer Forderung nach Reduktion der MPH- Verschreibungsrate müsste also im Auge behalten werden, dass eine unbehandelt bleibende ADHS ebenfalls einen Risikofaktor für eine spätere Suchtproblematik darstellt (Zimmermann et al. 2007). Ob eine bestimmte Art personenbasierter Therapie oder eine medikamentöse Therapie den besten Erfolg verspricht, kann nur durch umfangreiche Diagnostik in jedem Einzelfall festgestellt werden (s. dazu 5). Anders ist die Sachlage in der Enhancementsituation. Unter offenen Enhancementbedingungen sind die Zugangsbeschränkungen und die Fremdkontrolle nicht gegeben, so dass dieser entscheidende „Suchtverhinderungsfaktor“ entfällt und die Gefahr des Abgleitens in eine Sucht eher besteht. Es ist zwar bekannt, dass Drogenkonsum im sozialen Rahmen bisweilen durch die kulturelle Einbettung unter Kontrolle gehalten werden kann. Als sozialer Rahmen wäre die Arbeitswelt, die Familie oder die Schule denkbar; dagegen spricht jedoch, dass auch Menschen, die in derartigen „Institutionen“ integriert sind, nicht vor Sucht geschützt sind, und dass <?page no="188"?> Pharmakologie kognitiver Stimulanzien 188 außerdem diese Institutionen selbst immer weniger tragfähig sind 100 . Kritisch scheint, dass bisher meist nur eine Suchtentwicklung in zeitlicher Nähe des Stimulanzienkonsums überprüft wurde. Dagegen deuten Ergebnisse aus Tierversuchen darauf hin, dass sich die Suchtanfälligkeit im Erwachsenenalter durch niedrige Dosen von MPH, die im Jugendalter verabreicht wurden, erhöht (Brandon et al., 2003). Unabhängig vom Alter der Versuchstiere wiesen Ferrario und Kollegen (2007) einen ähnlichen Effekt nach, Nach ihrer Interpretation der Ergebnisse verursacht die Amphetaminvorbehandlung und die dadurch in Gang gesetzte Sensitisierung eine Veränderung von neuralen Schaltkreisen, die gleichzeitig für die Entwicklung von suchtartigem Verhalten verantwortlich sind. Ließe sich dieser Befund auf Menschen übertragen, würde es bedeuten, dass Menschen, die als Jugendliche MPH unter freien Enhancementbedingungen verwendet haben, als Erwachsene einer erhöhten Suchtgefährdung ausgesetzt sind. Weitere Forschung in dieser Richtung ist sicherlich notwendig, doch es wäre nicht überraschend, wenn sich eines Tages herausstellt, dass pharmakologische Eingriffe ins Gehirn vor der Pubertät erst im Erwachsenenalter ihre Auswirkungen zeigen. So war jahrelang die Ansicht verbreitet, dass Cannabiskonsum nicht so problematisch wäre, solange es die Menschen schaffen, nicht dauerhaft süchtig zu werden. Als Untersuchungen darauf hindeuteten, dass der Konsum von Cannabinoiden vor der Pubertät zur Entwicklung von Schizophrenie in einem jüngeren Alter führen kann (Veen et al., 2004), war die Überraschung groß. Cannabis wird nun ausdrücklich als unabhängiger Risikofaktor für Psychosen bezeichnet (Semple et al., 2005) und in einschlägigen Reviews wird angeraten, die Bevölkerung vor den Gefahren des Cannabiskonsums zu warnen: „The current knowledge base makes it necessary to warn the population about the relationship between cannabis use and the development of psychosis“ (Roncero et al., 2007). Im Falle einer Freigabe von Enhancementpräparaten rechnen Suchtmediziner hierzulande mit einer Zunahme der Suchterkrankungen (Soyka, 2009). Eine Frage, die immer wieder auftaucht ist die, ob nicht die Anfälligkeit für Sucht ohnehin genetisch bedingt ist. Positionen, die von einer starken genetischen Determination von Sucht ausgehen, stehen im Widerspruch zu den Erkenntnissen, die die große Bedeutung der Kontextbedingungen in Verstärkungsprozessen belegen (Deadwyler et al., 2004) und damit auch auf eine anfänglich offene Situation im Gehirn hinweisen. Auch Suchtverhalten ist das Ergebnis der Interaktion intrinsischer und extrinsischer Faktoren. 100 Dieser Behauptung kann hier nicht weiter nachgegangen werden; als Beispiel sei nur die zunehmende Auflösung von Familien genannt. <?page no="189"?> Zusammenfassung der Amphetamineffekte 189 9.7 Zusammenfassung der Amphetamineffekte Zusammenfassend ist festzuhalten, dass eine Verbesserung der geistigen Leistungsfähigkeit in Testverfahren nicht durchgängig nachgewiesen werden kann. Repantis und Kollegen äußern sich folgendermaßen: “Based on a systematic review and meta-analysis we show that expectations regarding the effectiveness of these drugs 101 exceed their actual effects, as has been demonstrated in singleor double-blind randomised controlled trials.“ (Repantis et al., 2010). Zudem sind die Wirkungen von Amphetaminen zum Teil widersprüchlich: Obwohl einige Studien auf eine Verbesserung bei Gedächtnisaufgaben durch MPH schließen lassen (Rapoport et al., 1980; Zeeuws and Soetens, 2007), ergibt sich bei anderen eine Beeinträchtigung der Leistung. Das räumliche Arbeitsgedächtnis scheint sich unter MPH zu verbessern, jedoch nur bei neuen Aufgaben (Elliot et. al., 1997). Testpersonen mit schwächerer Aufmerksamkeitsleistung können mitunter kurzfristig von Stimulanzien profitieren (Volkow et al., 2008). Auf längere Sicht kam es jedoch bei gehäufter Anwendung von verschreibungspflichtigem MPH und Amphetaminen zu Verschlechterungen der Leistung, auch nach anfänglicher Verbesserung (Reske et al., 2010). Die Wirkung von Amphetaminen hängt also von vielen Faktoren ab, z.B. von der Aktivitätsrate des Anwenders vor der Anwendung (Robbins and Sahakian, 1979), d.h. von ihrer Ausgangsleistung. Auch das Alter der Versuchspersonen scheint eine Rolle zu spielen: Kognitive MPH-Effekte sind bei älteren Menschen im Vergleich zu denen bei jungen Freiwilligen kaum noch nachweisbar (Turner et al., 2003). Schließlich ist eine Verbesserung besonders bei solchen Aufgabentypen zu verzeichnen, die die Daueraufmerksamkeit testen (9.3.2). Des Weiteren ist eine Leistungssteigerung durch Amphetamine eher feststellbar, wenn sie in Kombination mit Neuheit eingesetzt werden (Elliot et. al., 1997). Das fällt mit der Tatsache zusammen, dass Neuheit schon für sich zu einer Steigerung der Aufmerksamkeit führt. Amphetamine fördern die Daueraufmerksamkeit, d.h. die Wachheit, besonders gut bei Schlafentzug (9.3.2). Kurz gesagt gleichen die Vorteile der Stimulanzieneffekte denen von ausreichend Schlaf, interessanten Aufgaben und hoher Motivation; so könnten positive Effekte wohl auch daher rühren, dass Ermüdungserscheinungen, die aufgrund von Langeweile und Desinteresse auftreten, unterdrückt werden (Robbins and Sahakian, 1979). Die regelmäßig festgestellte Verkürzung der Reaktionszeit sorgt häufig für eine Erhöhung der Fehlerzahl, vor allem im zweiten Durchgang eines Tests (Elliot et. al., 1997). Elliot und Kollegen formulieren die Hypothese, dass die Versuchspersonen in diesem Fall antworten, bevor sie die Infor- 101 Die Untersuchung bezog sich auf MPH und Modafinil (s.u.) <?page no="190"?> Pharmakologie kognitiver Stimulanzien 190 mation vollständig verarbeitet haben. In diesem Zusammenhang sei nochmals darauf hingewiesen, dass für die kognitive Verarbeitung von Information offenbar bestimmte Mindestzeitspannen notwendig sind (7.3.3). So könnte die Verwendung von Stimulanzien für PCE zu unvollendeten Denkprozessen führen. PCE durch Stimulanzien steigert kurzfristig die Anstrengungsbereitschaft und Motivation unabhängig von der Bedeutung einer Aufgabe für den Betroffenen. Das führt zu der Vermutung, dass sich durch Amphetamine die persönliche Bewertung von Dingen und Situationen verändert, ohne dass sich die Bewertungsgrundlage ändert. Daraus ergibt sich die Möglichkeit zur Manipulation und der Gefährdung der Unabhängigkeit, auf die im Kapitel zur ethischen Bewertung näher eingegangen wird (13.3.4). Insgesamt scheint durch die Erhöhung der Anstrengungsbereitschaft und Motivation zusammen mit der Beschleunigung der Arbeitsweise und der Unterdrückung von Müdigkeit eine Arbeitsverdichtung und Arbeitsvermehrung möglich. Bezüglich des Lernprozesses wird bei Tieren von einer Einschränkung der Selektivität berichtet. Offen bleibt, wie sich der Eingriff in die zeitliche Dynamik des DA-Spiegels (5.3.2) für den Lernprozess und die langfristige Lernmotivation auswirkt. Es ist zu bedenken, dass pharmakologische Belohnung nicht identisch verarbeitet wird und zeitlich anders platziert ist wie die natürliche Belohnungswirkung (s. 8.2), daher kann eine Beeinträchtigung der künftigen Eigenmotivation nicht ausgeschlossen werden. Inwieweit sich eine im Labor unter Stimulanzien erzielte Verbesserung im Alltag bestätigt, lässt sich nicht sagen. Normalerweise ist davon auszugehen, dass ein Effekt nur während der Wirkungsdauer des Medikamentes feststellbar ist. Zudem stellt das tägliche Leben komplexere Anforderungen als die übliche Laborsituation mit genau definierten Randbedingungen. Fördern Amphetamine in bestimmten Testsituationen schnelle, jedoch fehlerhafte Reaktionen, so begünstigen sie in anderen Testsituationen tatsächlich bessere Ergebnisse. Im Gegensatz zur Laborsituation wechseln jedoch die Anforderungen im Alltag oft von einem Moment auf den nächsten, so dass möglicherweise unangemessene Reaktionen produziert werden, die unter Umständen gravierende Folgen zeitigen, wie dies im Straßenverkehr bisweilen der Fall ist (9.5). Neben unerwünschten kurzfristigen Wirkungen wie Tics, Einschlafstörungen oder eine veränderte Hungerwahrnehmung, ist langfristig eine Beeinträchtigung der Herz-Kreislauf-Funktion zu befürchten. Vor der Neuentstehung von psychischen Störungen muss gewarnt werden. Außerdem besteht unter Enhancementbedingungen, anders als in einer Therapiesituation, die Gefahr einer Suchtentwicklung. <?page no="191"?> Die „Kaffeefrage“ - Warum ist Coffein anders zu beurteilen als Amphetamine? 191 9.8 Die „Kaffeefrage“: Warum ist Coffein anders zu beurteilen als Amphetamine? In Diskussionen um pharmakologisches Cognition Enhancement (PCE) taucht bisweilen die „Kaffeefrage“ auf: Warum wird Kaffeegenuss im Gegensatz zu Amphetaminkonsum eher als unbedenklich eingestuft? Eine Tasse Kaffee enthält nach Starke ungefähr 100 mg Coffein, eine Tasse Tee etwa 50 mg, ein Glas Cola ungefähr 40 mg 102 . Coffein wird nicht als Enhancer bezeichnet, weil es kein Medikament, sondern ein legales Genussmittel ist (Lieb, 2010: 22). Eine Abgrenzung ist jedoch nicht nur formual berechtigt, sondern auch auf Grund der Wirkung des Coffein: es wirkt schwach, es macht nicht süchtig und es hat keine gefährlichen Langzeitfolgen; es beeinflusst nicht die anstrengungsbezogene Entscheidungsfindung. Ein paar Informationen zum Coffein sollen diese Behauptungen belegen (Starke, 2010: 174-177). 9.8.1 Pharmakodynamik des Coffeins Zunächst blockiert Coffein die Adenosinrezeptoren (Fisone, 2004), ist also ein Antagonist des Adenosins. Dieses hemmt über Adenosin-Rezeptoren 103 die Aktivität von Neuronen, wirkt dadurch sedierend und senkt den Sympathikustonus. Außerdem hat Adenosin eine negativ chronotrope und negativ inotrope Wirkung am Herzen (Abfall von Schlagfrequenz und Kontraktilität). Zudem dilatiert es cerebrale Blutgefäße. Durch die Blockade der Adenosin-Rezeptoren wirkt Coffein am Herzen positiv inotrop und positiv chronotrop (Steigerung von Kontraktilität und Schlagfrequenz), hohe Dosen können Arrhythmien auslösen (Starke, 2010: 175f.). Die Blockade der Adenosinrezeptoren führt demnach über eine Wirkung auf die GA- BA 104 -erge und dopaminerge Neurotransmission zu einer Aktivierung (Boutrel und Koob, 2004), d.h. Coffein bewirkt womöglich indirekt eine Erhöhung der Dopaminaktivität; GABA vermittelt Müdigkeit und seine Wirkung wird durch Coffein indirekt gehindert. Um A 1 -Adenosinrezeptoren zu blockieren, genügen „relativ niedrige Konzentrationen“, z.B. das in einer Tasse Kaffee enthaltene Coffein (Starke, 2010: 177). Auf der Verhaltensebene sind folgende Wirkungen feststellbar: „Müdigkeit lässt 102 Die Angaben zu den Coffeinkonzentrationen bei Claus Lieb weichen etwas von den hier genannten ab (2010: 144; er bezieht sich auf Stahl, 2008). Eine Erklärung dafür wäre, dass die Konzentrationen in Abhängigkeit vom verwendeten Material und der Zubereitungsmetode schwanken. 103 Für einen Transmitter gibt es häufig mehrere Rezeptoren, die zur Benennung nummeriert werden und häufig unterschiedliche Wirkungen vermitteln. Für Adenosin gibt es z.B. den A 1 oder den A 2A Rezeptor. 104 Gamma-Aminobuttersäure <?page no="192"?> Pharmakologie kognitiver Stimulanzien 192 nach, Aufmerksamkeit und Leistungsbereitschaft nehmen zu, Lernen wird erleichtert 105 , die Atmung angeregt, die Motorik verstärkt. All dies ist besonders deutlich, wenn man vorher müde war.“ (ebd.: 176). Bei steigender Konzentration hemmt Coffein Phosphodiesterasen. Diese Enzyme sind für den Abbau von cAMP (cyclisches Adenosinmonophosphat) verantwortlich und dessen Erhaltung führt möglicherweise zur Steigerung der Magensäuresekretion. (ebd.: 176f.). Schließlich stimuliert Coffein in noch höherer Dosis (ebd.) den Ryanodin-Rezeptor 106 , setzt Ca 2+ (Calciumionen) aus intrazellulären Speichern ins Cytoplasma frei und fördert auf diesem Wege in geringem Umfang die DA Freisetzung (Patel et. al.: 2009). 9.8.2 Unerwünschte Wirkungen des Coffeins „Nach höheren Dosen (ab 200-300mg Coffein) stellt sich Dysphorie ein mit Unruhe, Angst, Tremor, unter Umständen Übelkeit und Erbrechen. Noch höhere Dosen können Krämpfe auslösen.“ (Starke, 2010: 176). Bei Coffein kommt es wie bei anderen zu Missbrauch führenden Stoffen bei längerer Einnahme zu Toleranzentwicklung, d.h. bei gleicher Dosis lässt die Wirkung nach. Es entwickelt sich „psychische und körperliche Abhängigkeit mit Entzugssymptomen.“ (ebd.: 177). Davon sind die deutlichsten: „Kopfschmerzen, Müdigkeit und Schwierigkeit beim Arbeiten, z.B. durch verminderte Konzentration.“ (ebd.). 100 mg Coffein täglich sind schon genug, um bei Entzug diese Symptome zu verursachen, „mit einem Gipfel nach etwa 24 Stunden und Abklingen über einige Tage.“ Obwohl Coffein Eigenschaften eines Reinforcers zeigt und daher sein Konsum künftigen Konsum verstärkt (ebd.), weisen neuere Ergebnisse auf ein möglicherweise nur begrenztes Suchtpotential. So wurde berichtet, dass Coffein zwar Hirnregionen aktiviert, die mit der Kontrolle des Wachheitszustands, der Ängstlichkeit und der Herzkreislaufregulation im Zusammenhang stehen, dass es aber nicht auf Areale wirkt, die für Verstärkungs- oder Belohnungsmechanismen relevant sind (Nehlig, 2010). Daher ist ein Einfluss auf anstrengungsbezogene Entscheidungsfindung unwahrscheinlich. Der bei höheren Dosen gesteigerten Herzfrequenz kann möglicherweise ein gewisser Warneffekt zugeschrieben werden, der die Hemmschwelle erhöht noch höhere Dosen zu konsumieren. Ein wichtiger Unterschied zwischen Coffein und anderen zu Missbrauch führenden Stoffen, liegt darin, dass Coffein bei angemessener Dosierung dem Menschen selbst bei Dauergebrauch nicht schadet. Menschen mit Vorbelastung sollten Coffein zwar mit Vorsicht einnehmen, „aber die irreversiblen Schäden, die man dem Coffein von Zeit zu Zeit nachgesagt hat, haben sich nicht bestätigt: 105 Das hat mit der gestiegenen Wachheit zu tun. 106 Membranständiger Calciumionenkanal <?page no="193"?> Modafinil 193 Weder cardiovaskuläre Krankheiten noch intrauterine Schäden noch Malignome treten bei Dauereinnahme vermehrt auf.“ (Starke, 2010: 177). Für bestimmte Bevölkerungsgruppen zeichnen sich sogar Hinweise auf eine Reduktion des Risikos, an einem bestimmten Krebstyp zu erkranken, ab (Friberg et al., 2009). 9.8.3 Vergleich von Coffein mit Amphetaminen Die dopaminerge Wirkung von Coffein ist im Vergleich zu der von Amphetaminen gering. Eine euphorisierende Wirkung, die einen wesentlichen Aspekt der Amphetaminwirkung ausmacht, bleibt daher aus, ebenso ist kein Effekt auf anstrengungsbezogene Entscheidungsfindung zu erwarten. Im Gegenteil: Dysphorie mit Unruhe, Angst usw. (s.o.), die sich nach höheren Dosen einstellen (ab 200-300 mg Coffein, das wären 2-3 Tassen Kaffee), legen nahe, dass Coffein in seiner Wirkung eine grundsätzlich andere Tendenz aufweist und mit Amphetamin nur die müdigkeitsvermindernde Eigenschaft teilt. Angst und Unruhe, die nach zu viel Kaffee auftreten können, wirken sich eher ungünstig aus und bedingen zusammen mit verstärkter Herzfrequenz tendenziell eine unangenehme Erfahrung. Dagegen ist das Erlebnis nach einer Höherdosierung von Amphetaminen für viele Menschen offenbar angenehm und birgt daher ein großes Suchtrisiko, wie die Erfahrung bestätigt. Weiter gilt Coffein nicht als Einstiegsdroge für „härtere Drogen“ und eine Abhängigkeit von Coffein hat keine weiteren Folgen; unerwünschte Langzeitfolgen müssen gesunde Erwachsene 107 nicht befürchten (s.o.). Unter der Prämisse, dass Sucht im Sinne von psychischer Abhängigkeit für den Menschen Schaden bedeutet, stellt die vorübergehende Überwindung von Müdigkeit durch Amphetamin eine Gefahr dar, durch Coffein nicht. Coffein hat zwar manche Eigenschaften eines zu Missbrauch führenden Stoffs, aber es gibt für Erwachsene kein Coffeinproblem, das z.B. dem Alkoholproblem in irgendeiner Weise vergleichbar wäre. Man kann sagen, Coffeinkonsum kontrolliert sich selbst. Dagegen sind Amphetamine im Drogenmilieu verbreitet, als Einstiegsdroge oder als Begleitdroge. Vor diesem Hintergrund kann mit den Worten von Klaus Lieb gesagt werden: „Trinken sie Kaffee.“ (Lieb, 2010: 142). 9.9 Modafinil Modafinil stellt eine neue Stoffgruppe psychostimulierender Medikamente dar. Das Spektrum seiner Anwendungen hat sich im Laufe der Jahre ge- 107 Ein neuerdings auftretender problematischer Gebrauch von Coffein durch Kinder (Temple, 2009) kann an dieser Stelle nicht diskutiert werden. <?page no="194"?> Pharmakologie kognitiver Stimulanzien 194 wandelt und ist vielleicht beispielhaft für die schrittweise Verbreiterung des Einsatzes eines Medikamentes. 1998 wurde Modafinil von der FDA und vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte als Medikament für die Indikation Narkolepsie zugelassen (Deutsches Ärzteblatt, 2007). Bemerkenswert ist das Interesse der militärischen Forschung an Modafinil. Inzwischen wird seine Verwendung in der ADHS-Therapie und als Neuroenhancer diskutiert, weshalb es für die Beschreibung in dieser Arbeit ausgewählt wurde. Vermutlich besteht über das Internet ein Verbreitungsweg, auf dem Arztpraxis und Apotheke als mögliche Kontrollstellen umgangen werden. Modafinil wird nach oraler Gabe schnell absorbiert und langsam ausgeschieden. Die Halbwertszeit beträgt ungefähr 15 Stunden, weshalb eine sorgfältige Aufdosierung bis zum Erreichen des Steady State erfolgen sollte (Wong et al., 1999a). Ohne Titration wurden für Erwachsene nach entsprechenden Tests vorläufig 600mg als maximal verträgliche Dosis angesetzt 108 (ebd.). 9.9.1 Pharmakodynamik des Modafinil Der molekulare Wirkmechanismus von Modafinil ist noch nicht vollkommen geklärt. Es gibt Hinweise, dass Modafinil mit den Katecholamintransportern im Gehirn interagiert (Madras et al., 2006). An Ratten wurde gezeigt, dass Modafinil den extrazellulären Dopaminspiegel im N. accumbens erhöht und gleichzeitig den von L-DOPA, der Vorstufe von Dopamin, senkt (Murillo-Rodriguez et al., 2007). Dies würde für eine beschleunigte Umwandlung von L-DOPA in Dopamin unter Modafinil sprechen. Modafinil wirkt ähnlich psychomotorisch stimulierend wie Amphetamin. Bei der Anwendung zur Therapie der Narkolepsie wurde festgestellt, dass müdigkeitsbedingtes Nachlassen des kognitiven Leistungsvermögens aufgrund von Schlafentzug bei gesunden Probanden durch Modafinil teilweise kompensiert werden kann. Diese Wirkung ist auch für die militärische Nutzung interessant und so zielt eine Vielzahl von Untersuchungen auf diese Eigenschaft von Modafinil (Pigeau et al., 1995; Brun et al., 1998; Batejat und Lagarde, 1999; Caldwell Jr. et al., 2000; Walsh et al., 2004; Murillo-Rodriguez et al., 2007). Es wurden in den Tests subjektive Einschätzungen zu Stimmung, Erschöpfung und Schläfrigkeit abgefragt und objektive Messungen zu Reaktionszeit, Argumentationsfähigkeit, logisches Denken und Kurzzeitgedächtnis durchgeführt. Die Probanden erreichten sowohl unter Modafinil als auch unter Amphetamin bessere Ergebnisse als unter Placebo. Beide Medikamente heben die circadiane Änderung der Körpertemperatur auf (Pigeau et al., 1995). Die anderen genannten Studien 108 Die 800mg Dosierung wurde wegen gestiegenem Blutdruck und Puls abgebrochen <?page no="195"?> Modafinil 195 bestätigen diese Ergebnisse. Ein Vorteil von Modafinil gegenüber Amphetamin scheint darin zu liegen, dass Schlaf nicht verhindert wird, wenn sich Gelegenheit dafür bietet. Die psychomotorische Leistung von Piloten unter Schlafentzug wurde in der Simulation von Flugmanövern untersucht. Der Effekt von Modafinil, nämlich die bestmögliche Erhaltung der kognitiven Leistungsfähigkeit, zeigte sich deutlich bei konsekutiven kurzen Schlafphasen (Batejat und Lagarde, 1999). Unter vierzigstündiger kontinuierlicher Wachheit schwächte Modafinil bei definierten Hubschraubermanövern 109 die Auswirkungen des Schlafentzugs auf die Flugleistung ab, reduzierte die slow-wave Aktivität 110 und die Versuchspersonen berichteten seltener über Schwierigkeiten mit Stimmung und Wachheit im Vergleich zu Placebo (Akerstedt und Ficca, 1997). Diese Vorteile waren am auffälligsten zwischen 3.30 Uhr und 12.30 Uhr, wenn der gleichzeitige Einfluss von Schlafentzug und dem Tief des circadianen Rhythmus am stärksten war. Die Autoren sahen in Modafinil ein viel versprechendes Mittel, um Schlafmangel bei Normalpersonen zu kompensieren (Caldwell Jr. et al., 2000). Walsh et al. (2004) untersuchten daher die Modafinilwirkung bei Schlafentzug in simulierten Nachtschichten, also in einer durchaus zivilen Situation. Sie kommen ebenfalls zu dem Schluss, dass die physiologische Schläfrigkeit und die Defizite im neuronalen Verhalten, die in den Stunden einer typischen Nachtschicht auftraten, durch Modafinil eindeutig abgeschwächt werden. Bestätigt werden diese Befunde durch die Ergebnisse von Repantis und Kollegen (2010), jedoch konnten in der Studie auch wiederholte Modafinilgaben während längerem Schlafentzug den Abfall der kognitiven Leistungsfähigkeit nicht verhindern, obwohl die Wachheit erhalten wurde und eine Überschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit eintrat (s.u.). Die Effektivität, mit der Modafinil und Coffein den kognitiven Leistungsabfall sowie die Absenkung von Körpertemperatur und Blutdruck verhindern, ist vom Ausmaß her ähnlich (Dagan and Doljansky, 2006). Für junge, gesunde Freiwillige, die nicht unter Schlafentzug standen, zeigte sich unter Modafinil keine verbesserte kognitive Leistung (Randall et al., 2003). Dagegen waren die Teilnehmer der Hochdosis-Gruppe von Männern und Frauen mittleren Alters ohne Schlafentzug in einem Farbbenennungs- und in einem Konstruktionsfähigkeitstest deutlich schneller, jedoch mit höherer Fehlerquote als bei Placebo (Randall et al., 2004). Diese Autoren sehen daher nur begrenzt kognitive Effekte für Modafinil. Dies bestätigte sich bei jungen Freiwilligen, die in der Hochdosis-Gruppe eine beschleunigte Farbbenennung und verbesserte Daueraufmerksamkeit auf- 109 Z.B. Steigen, Sinken, Geschwindigkeit halten oder Kurvenfliegen und diversen Kombinationen. 110 Das slow-wave EEG in Ruhe zeigt typische Verläufe bei Schlafverhalten und kann als körperliches Kriterium für Wachheit bzw. schlafähnliche Zustände gewertet werden. <?page no="196"?> Pharmakologie kognitiver Stimulanzien 196 wiesen. Die Bewertung auf Daueraufmerksamkeit in Abhängigkeit vom IQ ergab eine Verbesserung der Zielobjektsensitivität 111 durch Modafinil nur bei der Gruppe mit niedrigerem IQ (Randall et al., 2005b). Randall und Kollegen sehen keine signifikanten Effekte durch Modafinil auf die Verbesserung von Langzeitgedächtnis, Entscheidungsfähigkeit, räumliches Vorstellungsvermögen und die Fähigkeit zu kategorisieren. Dort wo Modafinil Vorteile bringt, sind sie nicht eindeutig dosisabhängig. Bei niedriger Dosierung zeigt sich demnach ein limitierter Effekt auf die Verfügbarkeit des sprachlichen und visuellen Kurzzeitgedächtnisses. Dies halten die Autoren jedoch für nicht ausreichend, um Modafinil als kognitiven Enhancer für Individuen ohne Schlafentzug einzustufen (Randall et al., 2005a). Repantis und Kollegen (2010) stellen eine Aufmerksamkeitsverbesserung durch Modafinil bei ausgeruhten Personen fest. Insgesamt scheinen kognitive Vorteile mit Modafinil besonders in Vigilanz- und Geschwindigkeitstests erzielt werden zu können, bei denen Schläfrigkeit einen wichtigen Faktor darstellt (Randall et al., 2005b). Die Feststellung, dass bei hohem IQ die positiven Effekte von Modafinil beeinträchtigt oder nicht nachweisbar sind unterstreicht die Bedeutung der Ausgangssituation (ebd.). Baransky und Kollegen (2004) stellten unter Modafinil eine Tendenz zur Selbstüberschätzung bei der Bewertung der Leistung in Bezug auf die Aufgabenstufen fest. Damit deutet sich eine weitere Übereinstimmung in der Wirkungsweise mit Amphetaminen und Cocain an. Für Erwachsene mit einer ADHS-Diagnose wurde unter Modafinil eine Verbesserung des Kurzzeitgedächtnises nachgewiesen, ebenso des visuellen Gedächtnises, des räumlichen Planens und bei der Unterdrückung einer motorischen Aktion auf ein entsprechendes Signal (Turner et al., 2004). Für ADHS wird folglich geprüft, ob Modafinil eine gute Alternative zu Amphetaminen ist. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Modafinil den kognitiven Leistungsabfall bei Schlafentzug während der Nacht verhindert, wobei Coffein offenbar ähnlich effektiv ist. Ethische Überlegungen zur Verlängerung von Arbeitszeit finden sich unter 13.1.1. Bei gesunden Versuchspersonen, die nicht unter Schlafentzug gesetzt werden, sind kognitive Vorteile durch Modafinil am ehesten in Vigilanz- und Geschwindigkeitstests zu erzielen und zwar bei Personen, die einer Gruppe mit niedrigerem IQ zugeordnet werden können. 9.9.2 Unerwünschte Wirkungen und Suchtgefahr des Modafinil In einer frühen Studie ergab die Befragung der Probanden weniger Nebenwirkungen im klassischen Sinne für die Modafinilgruppe als für die 111 Genauigkeit, mit der das Zielobjekt von Probanden detektiert wurde. <?page no="197"?> Modafinil 197 Amphetamingruppe, jedoch mehr als für die Placebogruppe (Pigeau et al. 1995). Es erscheint interessant, wie in den folgenden 10 Jahren ein nebenwirkungsfreier Ersatz für Amphetamin und seine Derivate gefeiert wurde und fast gleichzeitig über das Auftreten schwerwiegender Komplikationen informiert werden muss. Einige werden hier berichtet, die dann unter 13.2.1 diskutiert werden. Z.B. wurde die Sekretion des Wachstumshormons während zweier Nächte mit Schlafentzug gegenüber den Placebo-Werten dramatisch reduziert, obwohl die Zahl der Sekretionsperioden gleich blieb (Brun et al. 1998). Diese Autoren stellen am Ende erstaunlicherweise dennoch fest, dass die anregenden Eigenschaften von Modafinil nicht mit einer Veränderung der Hormonprofile einhergehen und dass Verabreichung von Modafinil ohne kurzfristige Nebenwirkungen sei. Als häufigste unangenehme Ereignisse wurden zunächst Kopfweh, Fieber, Pharyngitis und Asthenie (allgemeine Schwäche) erkannt. Dabei wurden keine klinisch relevanten Unterschiede zwischen jungen Frauen, jungen Männern und alten Männern (n=12) hinsichtlich der Häufigkeit der Nebenwirkungen festgestellt (Wong et al., 1999b). Bald wurden vermehrte psychische Angst und körperliche Angstsymptome wie Zittern, Herzklopfen, Benommenheit, Unruhe, Muskelanspannung sowie physische Müdigkeit und aggressive Stimmung als psychische Nebenwirkungen genannt (Randall et al., 2003). Mögliche Ursachen für Schwindelgefühl, Brechreiz und Benommenheit in einem Flugsimulator-Test sahen die Autoren in dem bewegungsbasierten Test selbst, dem Simulator (es gibt auch „Simulatorübelkeit“), jedoch auch in der Verabreichung von über 400mg Modafinil. Sie sahen die Notwendigkeit von zusätzlichen Tests und einer Reduktion der Nebenwirkungen, bevor eine Anwendung für Piloten in Frage kommt (Caldwell Jr. et al., 2000). Seither hat sich das Auftreten von Schwindel offenbar bestätigt und als weitere zentrale Nebenwirkungen werden genannt: körperliche Unruhe, Angststörungen, Nervosität, Kopfschmerzen und Schlafstörungen. Ebenso bestätigt haben sich Magen-Darm- Probleme, die sich in Durchfall und Übelkeit äußern. „Besonders schwerwiegende Nebenwirkungen sind ein erhöhtes Infektionsrisiko, Arrhythmien und Bluthochdruck.“ (Bertsche und Schulz, 2005). Als kognitive Einschränkung ist die Verminderung des Reaktionsvermögens zu beachten. (Bertsche und Schulz, 2005). In früheren klinischen Studien sind offenbar Hautausschläge aufgefallen - und zwar bei der Anwendung bei Kindern. Wie der Hersteller mitteilte, führten diese Komplikationen bei 13 von 1.585 Patienten (0,8 Prozent) zum Abbruch der Behandlung. „Darunter befand sich ein Patient mit einem möglichen Stevens- <?page no="198"?> Pharmakologie kognitiver Stimulanzien 198 Johnson Syndrom (SJS) 112 und ein Fall mit einer Multiorgan- Überempfindlichkeitsreaktion. Einige der Fälle gingen auch mit Fieber oder anderen Störungen (zum Beispiel Erbrechen oder Leukopenie) einher, heißt es in einem Dear Health Professional-Brief des Unternehmens Cephalon. Derartige Störungen seien bei keinem von 4.264 Erwachsenen aufgefallen, die das Medikament in klinischen Studien erhalten hatten (Deutsches Ärzteblatt, 2007). In der erwähnten Mitteilung wurden die Sicherheitsinformationen für Provigil bzw. Modafinil auf den damals neuesten Stand gebracht 113 . Im Rahmen der Postmarketing Surveillance wurden weitere Fälle von SJS, Toxischer Epidermaler Nekrolyse oder dem Hypersensitivitätssyndrom DRESS (Drug Rash with Eosinophilia and Systemic Symptoms) gemeldet, „und zwar nicht nur bei Kindern, sondern auch bei Erwachsenen. Es werden keine Zahlen genannt. Die Häufigkeit liege aber über der Hintergrundinzidenz von 1 bis 2 pro eine Million Personenjahre“ (Deutsches Ärzteblatt, 2007). Laut Ärzteblatt könne bei einem beginnenden Hautausschlag eine schwere Überempfindlichkeitsreaktion nie ausgeschlossen werden. „Eine weitere Warnung betrifft das Angioödem, das ebenfalls Ausdruck einer Überempfindlichkeitsreaktion ist. Plötzliche Schwellungen im Bereich von Gesicht, Augen, Lippe, Zunge oder Rachen sowie das Auftreten von Schluck- und Atemstörungen zwingen zum sofortigen Absetzen des Medikamentes. Die Patienten sollten sofort einen Arzt aufsuchen, da es schnell zur tödlichen Anaphylaxie kommen kann. Von einem Todesfall wird berichtet“ (Deutsches Ärzteblatt, 2007). Die Fachinformationen weisen jetzt auch auf psychiatrische Komplikationen wie Angst, Manie, Halluzinationen und Suizidgedanken hin. In den USA ist Provigil® nicht zur Anwendung bei Kindern zugelassen. Die deutschen Fachinformationen zu Vigil® verweisen darauf, dass zur Anwendung bei Kindern und Jugendlichen nur begrenzte Erfahrungen vorliegen. Modafinil und Sucht Bis vor kurzem hatte Modafinil offiziell kein Suchtpotential. Daher wurde es Anfang 2008 in Deutschland aus der Liste der Medikamente, die unter das Betäubungsmittelgesetz fallen, gestrichen. Da inzwischen jedoch bekannt ist, dass es wie die Amphetamine über das Dopaminsystem wirkt (Volkow et al. 2009), kann eine suchterzeugende Wirkung nicht ausgeschlossen werden (siehe auch 10.1.1 und 13.3.2). 112 Hauterkrankung durch allergische Reaktion bei Infektionen, meist jedoch als Folge einer Arzneimittelallergie. Symptome: Gestörtes Allgemeinbefinden, hohes Fieber, schmerzhafte Blasen im Mund-, Rachen- und Genitalbereich, z.T. erschwerte Nahrungsaufnahme. 113 http: / / www.fda.gov/ medwatch/ safety/ 2007/ Provigil_dhcpletter091207_final.pdf <?page no="199"?> 10 Folgen des pharmakologischen Cognition Enhancement Die alleinige Diskussion von „Nebenwirkungen“, also der unter 9.6 und 9.9.2 beschriebenen unerwünschten und ungewissen Wirkungen von Stimulanzien, reichen für die Diskussion der PCE-Problematik nicht aus, denn die Komplexität menschlichen Denkens und Handelns lässt es nicht zu, sich auf eindimensionale, zu jedem Zeitpunkt überprüfbare, monokausale Zusammenhänge zu beschränken. Gerade die Auswirkungen der Stimulanzienanwendung im Alltag und auf lange Sicht sind unklar, was teilweise an der dünnen Datenlage zu Wirkungen bei Gesunden liegt. Ebensowenig können die Auswirkungen wiederholter Stimulanzienverwendung auf das sich entwickelnde Gehirn von Kindern und Heranwachsenden vorhergesagt werden (Andersen, 2005). Ziel dieses Kapitels ist es daher, aus der Darstellung des Grundlagenwissens aus Teil III Kapitel 7, 8, und 9 mögliche weiterreichende Folgen des Stimulanzienkonsums abzuleiten und zusammenzufassen, um damit die erweiterte Folgendiskussion unter Kapitel 13.3 vorzubereiten. Mit der Unterscheidung von „herkömmlichen“ Nebenwirkungen und erweiterten Folgen kann auch auf eine häufig gestellte, kontrafaktische Frage eingegangen werden: „Was wäre, wenn ein nebenwirkungsfreies Medikament zur Verfügung stünde? “. Für die erwünschten Folgen sei auf das Kapitel der Ziele des PCE verwiesen (10.1.2 und 13.1). 10.1 Mögliche Einschränkung der Autonomie der Betroffenen Hier ist die Einschränkung der Autonomie einer konkreten Handlung zu unterscheiden von der Einschränkung der Autonomiefähigkeit (Miller, 1995; Hildt, 2006; 6). (Zur ethischen Diskussion möglicher Einschränkungen der Autonomie des Individuums siehe 13.3.4). 10.1.1 Manipulation zur Einnahme von Stimulanzien Manipulation (6.5) zur Einnahme von Stimulanzien und damit eine Einschränkung der Handlungsautonomie (13.4.1) kann im Zusammenhang mit der Verabreichung von Medikamenten an Kinder auftreten, aber auch auf Erwachsene wird unter Umständen auf subtile Weise mentaler Zwang bzw. sozialer Druck ausgeübt. Eine Einschränkung der Autonomiefähigkeit der betreffenden Person ist weniger leicht nachvollziehbar. <?page no="200"?> Folgen des pharmakologischen Cognition Enhancement 200 10.1.2 Einschränkung der Autonomiefähigkeit Das für Stimulanzien beschriebene Wirkungsmerkmal der Kritiklosigkeit (Starke, 2010; 9.1.3) regt die Vermutung an, dass die Verwendung von Stimulanzien die Autonomiefähigkeit einschränken könnte. Eine Vermutung, die dadurch gestützt wird, dass das DA-System für kognitive Voraussetzungen der Autonomiefähigkeit (6.1.5) eine wesentliche Rolle spielt (8.4), wodurch diese dem Einfluss von Stimulanzien ausgesetzt ist (9.4). (Zur ethischen Betrachtung der Folgen für die Autonomiefähigkeit siehe 13.3.4). Voraussetzung für Handlungsfähigkeit ist, sich selbst wahrzunehmen, sich zu kennen und sich zu sich selbst und seinen Intentionen zu verhalten, um für sich bedeutende Ziele zu verfolgen (Miller, 1995; Hildt, 2006; 6.1.2). Stimulanzieneinnahme ändert die Wahrnehmung in bestimmten Situationen (Silber et al., 2006; 9.5), die Selbsteinschätzung (Baransky et al., 2004; 9.9.1) und die Motivation für Aufgaben (Volkow et al., 2004; 9.4.2). Obwohl zunächst nicht anzunehmen ist, dass sich dadurch die Intentionen einer Person grundlegend ändern, wird doch das „Sich-Selbst-Kennen“ erschwert. Sich selbst kennen bedeutet, sich selbst als jemanden zu kennen, der/ die eine bestimmte Reaktionsweise zeigt und Vorlieben hat und wenn diese durch Medikamenteneinnahme verändert werden, dann ist derjenige/ diejenige in verschiedenen Hinsichten mit Medikament ein anderer/ eine andere als ohne. Sich kennen bedeutet auch zu wissen, was man sich zutrauen kann, für die meisten ein schwieriger Lernprozess, der auf lange Sicht angelegt ist. Amphetamine stören diesen Prozess, da unter ihrer Wirkung das Selbstvertrauen ohne Anlass gestärkt wird, jedoch nur vorübergehend. Die innere Konstellation, auf die der Betreffende zurückgreift, die sich im Gefühl des Vertrauens auf sich selbst äußert, wird durch das Medikament verändert und ist nach Abklingen der Wirkung so nicht mehr verfügbar, weil sie sich abermals verändert hat. Ein Mensch dürfte dadurch eher unsicherer als sicherer in seiner Selbsteinschätzung werden, so dass das Langzeitprojekt der richtigen Selbsteinschätzung nicht vorangebracht wird. Insgesamt wird die Handlungsfähigkeit langfristig ungünstig beeinflusst. Ein weiterer Efffekt ist der, dass z.B. Arbeitnehmer ein überhöhtes Arbeitspensum eher für machbar halten, wenn es mit Medikamenten schon einmal geschafft wurde. Durch die in zweifacher Hinsicht manipulierte Selbsteinschätzung kann es zu Mehrarbeit bzw. längerer Arbeitszeit kommen und zur Schädigung der Gesundheit 114 . Die Unabhängigkeit in Form der Abwesenheit von Zwang und Manipulation, die eine Voraussetzung 114 Eine gewisse Schädigung z.B. für den Bewegungsapparat ist ohnehin immer zu erwarten, z.B. durch lang anhaltende sitzende Tätigkeiten. <?page no="201"?> Mögliche Einschränkung der Autonomie der Betroffenen 201 der Autonomiefähigkeit ist, wird durch die manipulierte Selbsteinschätzung beeinträchtigt. Ein besonders relevanter Teil der inneren Unabhängigkeit, ist die Unabhängigkeit gegenüber starken Gewohnheiten. Da die selbstbestimmte Einnahme von Stimulanzien leicht zu Sucht führen kann (9.6.5), ist die Unabhängigkeit durch die Stimulanzienwirkung gefährdet. Viele Anwender schätzen vor allem die Möglichkeit, mit Hilfe von Stimulanzien Arbeit für längere Zeit durchzuhalten, entweder um öde Arbeit mit Hilfe verbesserter Daueraufmerksamkeit länger zu bewältigen oder um das Schlafbedürfnis zu verdrängen, oder beides: länger lernen, länger fliegen, länger operieren, das ist ihr Ziel. Für sie steht offenbar die aktivierende Eigenschaft des Wirkstoffes im Vordergrund, die Eigenschaft, die Ressourcen des Körpers über die Grenze der Müdigkeit und Erschöpfung hinaus verfügbar macht (9.1.3). Sie begeben sich unter Umständen in eine Art Abhängigkeit, die von den Anwendern typischer Weise bestritten wird. Diese erfüllt nicht direkt die Kriterien für Sucht, weil sich bei Entzug keine schweren, sichtbaren Entzugserscheinungen einstellen. Sie wird durch den anekdotischen Bericht beschrieben, nach dem Krankenhausärzte, die freien Zugang zu Modafinil hatten und das Medikament während der Arbeit für sich verwendeten, schon nach kurzer Zeit nicht mehr darauf verzichten wollten. Oder muss man sagen ‚konnten‘? (Bruce, 2007). Diese Art Abhängigkeit ist nicht medizinisch definiert oder es wurde bisher nicht versucht, sie zu definieren, doch auch in dieser Art Abhängigkeit liegt eine Gefahr für die Unabhängigkeit. Zu erwarten ist weiter eine Veränderung des Entscheidungsverhaltens (Salamone, 1994; Galvan et al., 2005; 9.4.3), genauer der anstrengungsbezogenen Entscheidungsfindung, die zwar nicht das Verfolgen von Zielen verhindert, aber Folgen für die Rationalität hat. Im Sinne von rationaler Entscheidungsfindung setzt sie voraus, dass eine Person Vorstellungen hat, die sich mit Standards von Wahrheit und Evidenz vertragen (Miller, 1995; 6.1.3). Sie impliziert jedoch auch, dass eine Person ihre Vorstellungen und Werte ändern kann, z.B. auf Grund der Bewertung einer geänderten Faktenlage, und dass sie in Abhängigkeit davon ihr Entscheidungsverhalten ändert. Wenn beispielsweise die Kosten bzw. die Anstrengung für einen Nutzen immer höher werden, wird eine Person diese Anstrengung nicht mehr unternehmen, wenn die Kosten „zu hoch“ geworden sind. Was in diesem Fall „zu hoch“ bedeutet, ist die Entscheidung eines jeden einzelnen, abhängig von seinen oder ihren Wünschen, Haltungen und Werten. Stimulanzien steigern die Bereitschaft, mehr Mühe für denselben Lohn aufzubringen als die Person normalerweise bereit wäre aufzubringen. Das bedeutet, dass sich die Basis der Entscheidungen ändert als Folge von Verschiebungen im Transmittergleichgewicht, die jedoch nicht aus der Wahrnehmung geänderter Umstände oder tieferer Einsicht resultieren, <?page no="202"?> Folgen des pharmakologischen Cognition Enhancement 202 sondern aus der Änderung der Wahrnehmung unveränderter Umstände und aus der Änderung des Reaktionsverhaltens. Der direkte Eingriff auf biochemischer Ebene durch Amphetamine bewirkt eine Verhaltensänderung nicht unter Umgehung des Bewertungssystems, sondern durch Eingriff in das Bewertungssystem (s. auch 7.3.4). Die Entscheidung wird ein Stück losgelöst von Relevanz und Bedeutung der Information für den Betroffenen (9.4.2 und 9.4.3) und dadurch weniger rational. Indem also die Amphetaminwirkung die Handlungsfähigkeit, Rationalität und Unabhängigkeit eines Individuums einschränkt, verletzt sie die Autonomiefähigkeit einer Person, wobei das Ausmaß in verschiedenen Fällen unterschiedlich sein kann. Die Bedeutung dieser Einschränkung wird noch deutlicher, wenn ihre Auswirkung auf die Verantwortungsfähigkeit betrachtet wird. Ihre ethische Relevanz wird unter 13.2.4 bzw. 13.3.1 erörtert. Bezüge ergeben sich auch zur Veränderung der Handlungsstruktur (13.3.5). 10.1.3 Fragen nach der Verantwortungsfähigkeit Da die unmittelbar wahrnehmbaren Verhaltensänderungen in Folge der Amphetaminwirkung reversibel sind, könnte man dazu neigen, nicht von einem anhaltenden Verlust der Autonomiefähigkeit durch Amphetamineinnahme einer erwachsenen Person auszugehen, sondern eher von jeweils vorübergehenden Einschränkungen. Eine solche Einschätzung ist jedoch kurzsichtig, aus folgendem Grund: Wie oben ausgeführt (6.7), ist Verantwortungsfähigkeit auf personale Identität angewiesen, folglich müssen die intentionalen, mentalen Relationen über die Zeit hinweg erhalten bleiben (Northoff, 2001). Wie oben erwähnt werden durch Stimulanzieneinnahme z.B. das Verhalten bei anstrengungsbezogenen Entscheidungen (9.4.3) und die Motivation (9.2.1; 9.4.2), aber auch die Impulskontrolle (9.4.1) verändert. Dies allein würde noch keine Beeinträchtigung der personalen Identität bedingen, denn diese Eigenschaften und Persönlichkeitsmerkmale können sich im Laufe der Zeit durchaus ändern. Es ist die Geschwindigkeit, mit der sich die Veränderung vollzieht. Sie tritt innerhalb von 15 bis 30 Minuten ein und dadurch wird eine zeitlich parallele Integration des veränderten Zustands in das Selbstbild verhindert (3.7 und 6.7). Die Integration der Veränderung könnte nun im Laufe einiger Zeit vollzogen werden, doch dies wird ebenfalls verhindert, da die Medikamentenwirkung relativ schnell 115 wieder nachlässt, im Vergleich mit der nichtmedikamentösen Veränderung solcher Eigenschaften, die in der Größenordnung von Jahren ablaufen kann. Es ist also die schnelle Abfolge von unterschiedlichen Zuständen, die eine Beeinträchtigung der persona- 115 Vom Präparat abhängig, aber im Bereich von ein paar Stunden. <?page no="203"?> Folgen auf interpersoneller und gesellschaftlicher Ebene 203 len Identität bedeutet, weil das erforderliche Maß an Kontinuität fraglich wird. Die möglichen Veränderungen der personalen Identität durch Stimulanzieneinnahme und die damit verbundene Einschränkung der Verantwortungsfähigkeit unterstreichen auf Grund der wechselseitigen Abhängigkeit von Autonomiefähigkeit und Verantwortungsfähigkeit (6.7) die Gefahren für die Autonomie. (Zur ethischen Diskussion siehe 13.3.3). 10.2 Folgen des Cognition Enhancement durch Stimulanzien auf interpersoneller und gesellschaftlicher Ebene Die Konzeption von Sozialisation als wechselseitige Beeinflussung zwischen Individuum und Umwelt bedeutet, dass das Handeln der Individuen direkt die Situation auch für die anderen verändert, aber auch, dass die Änderung von Persönlichkeitsmerkmalen Einzelner in einer Gesellschaft auf die Gesellschaft zurückwirkt und sich die soziale Umwelt ihrerseits ändert (Hurrelmann et al., 2008; 11.3.1). Die Wirkung von Stimulanzien greift damit direkt in Sozialisationsprozesse ein, da sie Persönlichkeitsmerkmale verändert. Daraus ergeben sich Anknüpfungspunkte für die ethische Bewertung (13.3). 10.2.1 Einschränkung von Interaktionen Stimulanzien verringern direkt die Kontaktaufnahme und das Spielverhalten bei Menschen und Tieren (Schiorring and Randrup, 1971, zitiert nach Robbins and Sahakian, 1979; Barkley and Cunningham, 1979, zitiert nach Robbins and Sahakian, 1979; Beatty et al., 1982, 1984; Trott, 2004; Amft, 2006; Vanderschuren et al., 2008; 9.6.2). Diese Einschränkung von sozialen Kontakten ist auch im Zusammenhang mit der medikamentösen Arbeitsverdichtung bei Schülern und Erwachsenen (9.3) zu sehen: es sind zwei Seiten einer Medaille. Befürworter der medikamentösen Arbeitsverdichtung mögen einwenden, dass nach getaner Arbeit umso mehr Zeit für Kommunikation und Interaktion zur Verfügung steht, dass die Kommunikation also nur verschoben wird. Dagegen spricht, dass Menschen, die sich z.B. Arbeit mit nach Hause nehmen, dazu neigen, sich noch mehr Arbeit aufzuladen, sobald die Zeit es erlaubt, und wenn sie es nicht selbst tun, wird die allgegenwärtige Produktivitätssteigerung, zu der sie selbst beitragen, dafür sorgen. Die gesellschaftliche Entwicklung, in einen Tag immer mehr Tätigkeiten hineinzupacken, wie es z.B. de Grandpre beschrieben hat (1999; hier 2005), wird nicht etwa durch die Einnahme von Stimulanzien in Gang gesetzt. Stimulanzien sind vielmehr ein Mittel, diese Entwicklung mit noch mehr Druck voranzutreiben. Die daraus möglicherweise resultierende Reduktion von Interaktionen könnte dazu führen, soziale Beziehungen langfristig zu beschädigen. <?page no="204"?> Folgen des pharmakologischen Cognition Enhancement 204 10.2.2 Änderung der Kommunikationsstruktur Die Einschränkung der sozialen Interaktion (s.o.) kann ein Hinweis auf die Veränderung von Kommunikationsstrukturen bei Menschen sein. Die Veränderungen können zunächst positiv erscheinen, wie das folgende gedankliche Beispiel zeigt: Angenommen, ein Erziehungsberechtigter oder Lehrer versucht, einen Schüler durch Befehlen, Überzeugen, Überreden oder Bitten dazu zu bewegen, eine Mathematikaufgabe zu erledigen, könnte es sein, dass er damit keinen Erfolg oder nur teilweise Erfolg hat. Die Kommunikationssituation behält trotzt des Machtgefälles eine gewisse Offenheit. Ungeachtet der Ursachen der Unlust auf Seiten des Schülers könnte es sein, dass dieser in derselben Situation unter MPH die Aufgabe angeht und löst, da unter der Wirkung dieses Stoffes die Motivation steigt, eine Aufgabe, sei sie auch ungeliebt, zu bearbeiten (Volkow et al., 2004; 9.4.2). Mit dem Beispiel soll verdeutlicht werden, dass in dieser Kommunikationssituation das von dem Mentor angestrebte Ergebnis durch das Medikament mit höherer Wahrscheinlichkeit eintreten wird als ohne. In dem Maße, wie dadurch die Offenheit des Ausgangs eingeschränkt wird, verändert sich die Struktur und der Charakter der Handlung hin zu strategischer Kommunikation. Zur ethischen Bedeutung dieser Veränderung siehe 11.2 bzw. 13.3.5. 10.2.3 Verstärkung der affirmativen Aspekte der Sozialisation Es ist anzunehmen, dass die beschriebenen Veränderungen in den Kommunikationsstrukturen als Folge der Verwendung von Stimulanzien zu einer Reduktion von Störungen und Hindernissen auf der primären Handlungsebene führen. Auf der Basis des Verständnisses von Handlungsebenen (Eckensberger und Plath, 2006; 7.4.2) ist weiter zu vermuten, dass in der Folge Regulationen und Reflexionen der zweiten und dritten Handlungsebene, die durch Störungen und Hindernisse initiiert werden, ausbleiben bzw. reduziert werden. Es gibt damit weniger Gelegenheiten, die Fähigkeiten zur Handlungskoordination auf der zweiten Handlungsebene zu trainieren und Rollen auszuhandeln. Außerdem werden normalerweise die Regelsysteme der zweiten Handlungsebene gerade in Krisen hinterfragt und bearbeitet (Eckensberger und Plath, 2006; 7.4.2). In einer durch Medikamente veränderten Sozialisationssituation würde die Relevanz der normativen Bezugssysteme der zweiten Ebene vermutlich seltener in Frage gestellt, da es womöglich seltener zu der erwähnten, verstärkten Selbstreflexion der dritten Ebene kommt, in der sich ein Individuum den Selbst- und Identitätsstrukturen zuwendet und den Stellenwert von Regelsystemen ergründet. Die Reduktion von Reflexionen und Regulationen könnte also in der Folge zu einer Festigung der bestehenden Regelsysteme führen, da seltener affektive und/ oder kognitive oder soziale Umstrukturierungen bei den <?page no="205"?> Folgen auf interpersoneller und gesellschaftlicher Ebene 205 Einzelnen vollzogen werden. Die Verwendung von Medikamenten, die das Erreichen bestimmter Standards fördern sollen, verstärkt also besonders die affirmativen Aspekte der Sozialisation (s.13.3.5). Ob aber Lernen nicht vielleicht doch erleichtert werden könnte oder sollte wird im ethischen Teil unter 13.1.5 diskutiert. 10.2.4 Verschiebung von Standards und Nachahmungseffekte Die Stimulanzienanwendung eines Einzelnen kann für die Mitmenschen, z.B. auch für Kolleginnen und Kollegen, eine veränderte Situation schaffen, indem sich der Erwartungshorizont an der durch Stimulanzien erreichten Mehrarbeit eines Einzelnen orientiert und in der Folge von allen mehr Arbeit verlangt wird. Das Interesse, Stimulanzien oder andere Medikamente zu verwenden, von denen eine Steigerung der geistigen Leistungsfähigkeit erwartet wird, entsteht im Kontext von Leistung und Konkurrenz. Die Annahme, derartige Eingriffe würden im konkurrenzfreien Raum zur zweckfreien Förderung der menschlichen Erkenntnis durchgeführt, entspricht gewiss nicht der Realität des Anwenderalltags. In der Schule konkurrieren die Schüler um die besten Ausbildungs- und Studienplätze, in Studium und Ausbildung um die besten Arbeitsplätze und im Beruf um die besten Aufstiegsmöglichkeiten. Wenige möchten freiwillig zurückstecken. Wer nach Selbstverbesserung sucht, der will nicht einfach gut sein, sondern er will besser sein als seine Altersgenossen, Kollegen oder Geschäftspartner. George Khushf meint, dass sogar Studenten, die normalerweise nicht mit Drogen wie Marihuana experimentieren würden, sich ernsthaft mit der Frage auseinandersetzen, ob sie nicht doch auch „smart drugs“ nehmen sollen (Khushf, 2005). Es wurde diskutiert (Bruce, 2007: 24), dass sich ein junger Mensch gezwungen fühlen könnte, ein Medikament einzunehmen, von dem gesagt wird, dass es kognitive Leistungen verbessert und von dem er weiß, dass es die anderen nehmen; er wird das Gefühl haben, dass seine Leistung im Vergleich zu den anderen schlechter ausfallen wird, wenn er es nicht tut. Wenn in einem solchen Kontext ein leistungsverbesserndes Medikament zur Verfügung stehen würde, und es zunächst nur einige Vorreiter nützen würden, die daraus einen realen oder vermeintlichen Nutzen ziehen, würde das möglicherweise zu einem sehr schnellen Nachfolgeverhalten führen, obwohl die meisten der Betroffenen das ablehnen. Enhancement würde sozusagen durch die Hintertür zur Normalsituation. Wenn jedoch alle Beteiligten in einer kompetitiven Situation Enhancement nützen, hätten sie davon keinen Vorteil mehr. Was bliebe wäre nur eine allgemeine Anhebung der Leistungsstandards, so dass niemand mehr riskieren könnte, das Enhancement nicht zu nützen. Der Wert eines Enhancements ist also nicht das Enhancement selbst, sondern er liegt darin, es als erste/ r zu haben. <?page no="206"?> Folgen des pharmakologischen Cognition Enhancement 206 10.3 Beeinträchtigung von Lern- und Entwicklungsaufgaben 10.3.1 Störung von Selektivität im Lernprozess In einer Lernsequenz ist eine natürliche zeitliche Dynamik von DA- Konzentrationsänderungen nachweisbar (Stark et al., 1999; 2004; 8.3.2), die mutmaßlich die Selektivität der DA-Wirkung ausmacht (Arbuthnott et al., 2007). Diese zeitliche Struktur wird vermutlich bei Stimulanziengabe nicht nachgeahmt, sondern in schwer zu bestimmender Weise verändert, so dass es zur Beeinträchtigung der Selektivität des Lernprozesses (vgl. Horsley and Cassaday, 2007) kommen kann. 10.3.2 Beeinträchtigung der nachhaltigen Strategiebildung Unter 7.4.1 und 7.4.4 wurde dargestellt, dass kognitive Leistungsfähigkeit und speziell die exekutiven Funktionen des Gehirns durch Strategien verbessert werden (Schneider und Lockl, 2006; Kuhl und Kraska, 1992; Sethi et al., 2000; Mauro und Harris, 2000; Houdé et al., 2000). Da sich jedoch metakognitive Fähigkeiten nicht spontan entwickeln, ist Anleitung nötig und es könnte sein, dass kognitive Schwächen auf mangelnden kognitiven Strategien beruhen, die ihre Ursache in fehlender oder unzureichender Anleitung haben. Darauf verweisen der Zusammenhang von mütterlichem Erziehungsstil und kindlicher Fähigkeit, Belohnung aufzuschieben (Mauro und Harris, 2000; 7.4.4), die Möglichkeit des Trainings zur Impulskontrolle (Houdé et al., 2000; 7.4.4) und ebenso die positive Wirkung von Trainingsprogrammen, die in den Gebrauch von Gedächtnisstrategien einweisen (Schneider und Lockl, 2006; 7.4.1). Das Training metakognitiver Strategien ist daher als Möglichkeit für die Verbesserung der geistigen Leistungsfähigkeit einschließlich Aufmerksamkeit und des verlässlichen Verhaltens sowohl für Kinder als auch für Erwachsene in Betracht zu ziehen. Defizite im metakognitiven Wissen bei Erwachsenen (Schneider und Lockl, 2006; 7.4.1) zeigen, dass hier noch Verbesserungspotential liegt. Werden Stimulanzien verwendet, um eine bessere Leistung zu erzielen und auf diesem Wege fehlende Strategieanwendung kompensiert, wird möglicherweise die Ausbildung oder Weiterentwicklung von Strategien unterbleiben oder in geringerem Maße gefördert. Es ist also davon auszugehen, dass die Lösung von Aufgaben unter Stimulanzien weniger nachhaltig zu Lernerfolgen führt als ohne. Gelernt wird dagegen die Strategie der Medikamentennutzung. Man könnte nun einwenden, dass bestimmte Strategien auch unter MPH ausprobiert und gelernt werden könnten. Zu der Frage, ob eine unter Stimulanzien erlernte Strategie ohne den Medikamenteneinfluss auf die gleiche Weise wieder abgerufen werden kann, liegen keine Ergebnisse vor, <?page no="207"?> Beeinträchtigung von Lern- und Entwicklungsaufgaben 207 doch gemeinhin geht man nicht von einer bleibenden Wirkung von Stimulanzien aus. Möglicherweise würde sich ein Unterschied zwischen Gedächtnisstrategien und Strategien zur Impulskontrolle zeigen, da die betreffenden Fähigkeiten unterschiedlich stark von der Medikamentenwirkung betroffen sind. 10.3.3 Verlust von Lerngelegenheiten für soziale Kognition Die Einschränkung von Ineraktionen reduziert allgemein die Lerngelegenheiten für soziale Kognition (9.6.2; 10.3.3), bei Lern- und Ausbildungsprozessen kommt noch ein spezieller Effekt hinzu. Ein Kennzeichen von Kognition und Voraussetzung von Lernen ist es, bestimmten Informationen Bedeutung zu verleihen, ihnen Interesse zu schenken und sie aus der Fülle der Informationen herauszuheben. Natürlich kann nicht erwartet werden, dass der gesamte Lerninhalt in modernen, organisierten Lernprozessen für Heranwachsende Bedeutung hat, denn niemand kann immer alles interessant finden. Sozial bedeutende Personen kostet es häufig viel Mühe, den Lerninhalten oder den übergeordneten Zielen die Bedeutung für die Lernenden zu verleihen, die es braucht, dass dennoch gelernt wird. Gerade bei den Unterstützungsversuchen spielen sich interaktive Vorgänge ab, welche die Entwicklung sozialer Kognition unterstützen. Sollten sie zu Konflikten führen, stellen diese (bis zu einem gewissen Umfang) Lerngelegenheiten für die Bildung sozialkognitiver Regelsysteme (Thiersch, 2004; 7.4.2) dar. Es ist nun möglich, durch Stimulanzien wie MPH das Interesse an einer Mathematikaufgabe zu steigern (Volkow et al., 2004; 9.4.2) und so ohne Eigenaktivierung den Antrieb zu verstärken. Dies könnte möglicherweise Konflikte vermeiden und kurzfristig zu Leistungsverbesserungen führen. Vermieden werden aber möglicherweise auch Interaktionen, Regulationen und Reflexionen und eine solche Sozialisationssituation bietet weniger soziale Erfahrungen, die dazu geeignet sind, angemessene soziale Kognitionen zu entwickeln und zu einem mündigen Individuum heranzuwachsen (7.4.3). 10.3.4 Amphetaminwirkung auf Motivation und Selbstvertrauen Lernen ist zu einem großen Teil eine Frage der Motivation. Aus fehlender Motivation und inneren Widerständen im Lernprozess können Störungen und Hindernisse im Handlungskontext entstehen. Über die notwendig werdende Auseinandersetzung mit sich selbst und möglicherweise auch mit anderen initiieren sie Regulationen und Reflexionen (Eckensberger und Plath, 2006). Störungen und Hindernisse werden daher als unverzichtbare Elemente einer gelingenden Persönlichkeitsentwicklung erkannt (Hüther, 1997; Amft, 2004; 7.4.2), obwohl sie für das Erreichen konkreter Zielsetzun- <?page no="208"?> Folgen des pharmakologischen Cognition Enhancement 208 gen in realen Situationen durchaus hinderlich sein können. Indem die inneren Widerstände beim Anstreben bestimmter Lernziele erfahren werden, kann ein Selbstkennenlernprozess stattfinden, in dessen Verlauf die Wege zur Überwindung der Widerstände erprobt werden. Es kommt ein Lernprozess in Gang, der zur Aneignung metakognitiver Strategien führt, einschließlich Selbstkontrollfähigkeit und Selbstmotivationsfähigkeit. Dieser Lernprozess kann durch Stimulanzienanwendung erschwert werden. Selbstverständlich dürfen Anforderungen und selbst gesetzte Ziele nicht unangemessen hoch sein und es sollen keine unüberwindlichen Hindernisse entstehen, da sonst der Lernprozess stecken bleibt und am Ende zu Resignation anstatt zu Motivation führen könnte. Ebenso wenig ist es hilfreich, wenn ein Mensch das Gefühl bekommt, das ganze Leben bestünde nur noch aus Hindernissen. Sollte dies tatsächlich der Fall sein, wäre ein grundsätzliches Überdenken der Situation angezeigt, eben eine Reflexion. Was die langfristige Motiavion betrifft, geht normalerweise von der erfolgreichen Lösung einer Aufgabe eine Motivationswirkung für künftige Aufgaben aus (Wise, 2004; Stark et al., 1999; 2004). Da jedoch pharmakologische Belohnung nicht identisch verarbeitet wird wie die natürliche Belohnungswirkung (Salamone, 2005; 8.2), sind Störungen der Ausbildung langfristiger Lernmotivation nicht auszuschließen. Dies umso mehr als anzunehmen ist, dass die sensible zeitliche Dynamik der DA- Levelveränderungen im Verlauf des Lernprozesses (Stark et al., 1999; 2004; 8.3.2) durch PCE verändert wird. Da jedoch belohnend wirkende Reize nur eine nachhaltige Motivierung und Aktivierung für künftige Aufgaben erzeugen, wenn sie nach einer Aufgabe auftreten (Gallistel, 1974; 8.3.2), PCE jedoch schon vorher zu wirken beginnt, wird deutlich, dass PCE eine langfristige Motivation eher schwächt. Schließlich hat Motivation auch mit Selbtvertrauen zu tun. Für seine Entstehung ist die Erfahrung von Selbstwirksamkeit ein wesentlicher Faktor, also die Erfahrung durch eigenes Handeln eine Wirkung zu erzielen und ein Ziel zu erreichen. Selbstvertrauen wird z.B. gestärkt, wenn eine schwierige Prüfung bestanden wird, nachdem dafür gearbeitet wurde. Das Erreichen des Ziels wird mit der Handlung, die zum Ziel führte, assoziiert und davon geht eine positive, motivierende Wirkung für künftige Handlungen aus (Arbuthnott und Wickens, 2007; 8.3). Wird für eine Prüfung oder für die Prüfungsvorbereitung ein Medikament als Unterstützung hinzugenommen und das gewünschte Ergebnis erzielt, steigt die Wahrscheinlichkeit für künftige Medikamenteneinnahmen in vergleichbaren Situationen: das Einnehmen des Medikamentes wird gelernt. Es kann sein, dass der Betroffene das Gefühl hat, seine Leistung beruhe auf der Medikamentenwirkung, selbst wenn eine positive Wirkung des Medikamentes nicht uneingeschränkt gegeben ist. In zukünftigen Leistungssituationen wird er dann vermutlich weniger auf sich selbst vertrauen als auf das Me- <?page no="209"?> Beeinträchtigung von Lern- und Entwicklungsaufgaben 209 dikament. Nun könnte man fragen, ob Misserfolg dem Selbstvertrauen nicht noch mehr schadet und daher notfalls auch mit medikamentösen Mitteln vermieden werden sollte. Eine Folge davon wäre wohl, dass sich ein Selbstwertgefühl auf falscher Grundlage entwickelt und gleichzeitig der Aufbau einer realistischen Selbsteinschätzung und eines realistischen Selbstbildes verhindert wird. Langfristig wird möglicherweise die Fähigkeit beeinträchtigt oder schwächer entwickelt, Misserfolge zu verarbeiten und eine allgemeine Resilienz 116 aufzubauen, aber auch die Fähigkeit, sich für angemessene Aufgaben zu entscheiden. (Zur Diskussion ethischer Aspekte hierzu siehe 13.3.3). Zusammen mit der Annahme einer möglichen Einschränkung der Selektivität im Lernprozess führen diese Überlegungen zu der Vermutung, dass bei gesunden Menschen durch Stimulanzien ein effektiver, bedeutungsbezogener und gleichzeitig nachhaltiger Lernprozess nicht gefördert, sondern eher behindert wird (ethische Aspekte s. 13.3.3). Es ist jedoch denkbar, dass diese Auswirkungen bei einer einzelnen Lernsequenz nicht unmittelbar sichtbar bzw. testbar werden, sondern sich erst nach wiederholter Einnahme über einen längeren Zeitraum zeigen. 116 Hier: Persönliche Widerstandsfähigkeit gegenüber Krisen <?page no="211"?> Teil IV Ethische Bewertung des pharmakologischen Cognition Enhancement <?page no="213"?> 11 Theoretische Grundlagen der ethischen Bewertung Für die ethische Bewertung von pharmakologischem Cognition Enhancement (PCE) sind das Konzept der Autonomie und ihr Element, die Handlungsfähigkeit, von großer Bedeutung. Entsprechend wurde in Teil I die für diese Arbeit maßgebliche Vorstellung vom Menschen als einem handlungsfähigen, autonomen Wesen als normative Prämisse formuliert (3.5). Dieses Menschenbild spiegelt sich in Moralbegründungen wider, bei der die Erhaltung, Sicherstellung und Förderung der Bedingungen für Handlungsfähigkeit im Zentrum steht. Das Ziel, die unverzichtbaren Bedingungen der Handlungs- und Autonomiefähigkeit zu erhalten, bildet eine Kernaussage in verschiedenen ethischen Theorien, die in diesem Punkt konvergieren. Für die vorliegende Arbeit wurde als ethischer Ansatz eine deontologische Orientierung gewählt, weil damit die Rechte und Pflichten von Individuen sehr gut verteidigt bzw. eingefordert werden können. Ein weiterer Anknüpfungspunkt für die ethische Bewertung von PCE ist die soziale Komponente: Es wurden verschiedene soziale Aspekte in der Arbeit angesprochen und auf deren mögliche Veränderung oder Beeinträchtigung hingewiesen (10.2). Die Frage ist, wie Veränderungen und Beeinträchtigungen in diesem Bereich zu bewerten sind. Den Überlegungen hierzu liegt die Vorstellung zugrunde, dass sich die gegenseitige Respektierung der Autonomie und ihrer Grundlagen im Verhalten der Menschen zueinander und in der Kommunikation miteinander äußert und dass umgekehrt, im Miteinanderumgehen und Kommunizieren der Menschen bestimmte Anforderungen erfüllt sein müssen, damit die Respektierung der Autonomie des jeweils anderen gewährleistet ist. Eine interessengeleitete Kommunikation (Höffe, 1999: 54) ist zudem das Werkzeug, mit dem gemeinsame Regeln, Rechte und Pflichten ausgehandelt werden. Mit der Theorie des kommunikativen Handelns (Habermas, 1981) und ihrer weiteren Anwendung (Eckensberger und Plath, 2006) stehen Konzepte zur Verfügung, in denen sich die beschriebene Vorstellung wieder findet (11.2). Da Kinder und Heranwachsende in dieser Arbeit eine besondere Berücksichtigung finden, ist es notwendig, ihre besondere Situation bezüglich Autonomie sowie bezüglich ihrer Bedürfnisse und Rechte speziell auszuführen (11.3). <?page no="214"?> Theoretische Grundlagen der ethischen Bewertung 214 11.1 Ethische Theorien auf der Basis der Handlungsfähigkeit Ziel dieses Kapitels ist es, die Wichtigkeit der Erhaltung der Handlungs- und Autonomiefähigkeit für den Einzelnen und für die Gemeinschaft zu verdeutlichen. Davon ausgehend wird der Schutz dieser Fähigkeiten über eine Argumentation gerechtfertigt, die in der gegenseitigen Respektierung der Bedingungen der Handlungsfähigkeit die Grundlage für ein gedeihliches Zusammenleben der Menschen sieht. Daran wird die Forderung angeschlossen, dass Individuen für ihre Handlungs- und Autonomiefähigkeit auch selbst Verantwortung tragen, wodurch ihrer Veränderungsfreiheit Grenzen gesetzt sind. Die Bedeutung der Handlungs- und Autonomiefähigkeit für Menschen liegt in der Tatsache, dass sie das ist, was den Menschen ausmacht (s.3.5 und 3.7). Wie unter 6.2 ausgeführt realisieren verschiedene Menschen unterschiedliche Grade der Autonomiefähigkeit, die im Laufe des Lebens typischen Änderungen unterliegen. Folglich gibt es einzelne Menschen, die noch nicht, nicht mehr oder vorübergehend nicht oder nur teilweise über Handlungs- und Autonomiefähigkeit verfügen, aber grundsätzlich ist diese Fähigkeit für den Menschen als solchen typisch. Die Handlungs- und Autonomiefähigkeit eines Menschen ist wiederum an bestimmte Bedingungen geknüpft. Otfried Höffe nennt sie die „Anfangsbedingungen der (menschlichen) Handlungsfähigkeit“ (1999: 56). Er entwickelt daraus eine Minimalanthropologie: „eine Theorie jener Anfangsbedingungen des Menschseins, in denen die unverzichtbaren Bedingungen von Handlungsfähigkeit liegen.“ (ebd.; s.6). Als Bedingungen der Handlungs- und Autonomiefähigkeit benennt Klaus Steigleder (1997) Freiheit und Wohlergehen und bezieht sich dabei auf Gewirth (1978). Unter „Wohlergehen“ werden alle Güter zusammengefasst, die die Grundlage dafür bilden, dass ein Handlungsfähiger in der Lage ist, Ziele zu verfolgen. Sie sind für jedes Handeln unverzichtbar. Damit wird deutlich, dass die Abwesenheit von physischem Zwang allein nicht ausreicht, um Handlungsfähigkeit sicherzustellen, sondern dass bestimmte biologische und psychische Voraussetzungen gegeben sein müssen. Zu den psychischen Voraussetzungen ist z.B. die Abwesenheit von subtilem mentalem Zwang bzw. Manipulation (s.6.5) zu zählen. Es ist leicht einzusehen, dass der Handlungs- und Autonomiefähigkeit in den alltäglichen Handlungssituationen immer wieder Beeinträchtigungen drohen, vor allem von anderen handlungsfähigen Individuen. In seiner Argumentation kommt Steigleder (1997, 1999) zu dem Schluss, dass ein Individuum einen Anspruch auf Nichtbeeinträchtigung der Bedingungen seiner Handlungsfähigkeit gegenüber den anderen Gemeinschaftsmitgliedern erheben muss, um konsistent zu sein. Andernfalls würde ein Mensch <?page no="215"?> Ethische Theorien auf der Basis der Handlungsfähigkeit 215 in Selbstwiderspruch geraten, denn es widerspricht dem Wesen des Menschen, nicht handlungsfähig sein zu wollen und sich keine Ziele setzen können zu wollen. Klaus Steigleder (1999) sucht zu belegen, dass aus diesem Anspruch eines Individuums ein Recht auf Schutz der Bedingungen der Handlungs- und Autonomiefähigkeit abgeleitet werden kann. Micha Werner (2002) zielt in seinem Beitrag darauf, eben dies zu widerlegen. Die Diskussion über diese Frage hält an und in der vorliegenden Arbeit ist nicht der Ort, diese Diskussion fortzuführen. Vielmehr erscheint es mir sinnvoll, an diesem Punkt dazu überzugehen, die Situation von Menschen in der Gemeinschaft zu betrachten, denn einen Rechtsanspruch zu formulieren und zu sichern ist immer das Gemeinschaftswerk einer Menschengruppe und der Vorteil eines Rechtanspruchs kommt nur gemeinsam zustande (Höffe, 1999: 54). Menschen haben überhaupt deshalb damit begonnen, sich selbst Regeln zu geben und die selbstbeschränkende Seite der Autonomie (s. 6.1.4) zu entwickeln, weil sie sich der Gefahren für sich selbst bewusst wurden, welche durch ungehinderte Freiheit in der Gemeinschaft drohen (ebd.: 51). Eine Voraussetzung für diese Entwicklung war und ist eine angemessene Kommunikation, auf die im folgenden Abschnitt eingegangen wird (11.2). Hier wird zunächst die Rechtfertigung des Schutzes der Handlungs- und Autonomiefähigkeit anhand einer vertragstheoretischen Position verfolgt, die Otfried Höffe (1999) vorgestellt hat. Entsprechend den vorigen Überlegungen befinden sich alle Menschen in derselben Situation, wenn eine ideale Ausgangssituation der elementaren Freiheit und Gleichheit vorausgesetzt wird: sie erheben gegenüber ihren Mitmenschen den Anspruch auf die Wahrung der Bedingungen ihrer Handlungs-und Autonomiefähigkeit. In dieser Situation haben sie die Möglichkeit, ihren Anspruch abzusichern, indem sie sich gegenseitig das Recht auf den Schutz ihrer Handlungs-und Autonomiefähigkeit zusprechen. Sie können zum gegenseitigen Vorteil einen Tausch vereinbaren. Die Vorstellung eines Tausches in diesem Zusammenhang ist Teil eines Ansatzes von Otfried Höffe (1999: 39ff), in dem er die Legitimation der Zwangsbefugnis, d.h. die Durchsetzung von Recht und Gesetz unter Androhung von Sanktionen in einem Gemeinwesen, darlegt. Nun geht es in diesem Kapitel eigentlich nicht darum, die Legitimierung der Zwangsbefugnis nachzuvollziehen, doch wesentliche Komponenten des Ansatzes sind dazu geeignet, die Forderung der Individuen auf gegenseitige Respektierung der Grundlagen ihrer Handlungs- und Autonomiefähigkeit als Recht zu formulieren. Durch den Tauschgedanken sind die entsprechenden Pflichten für die jeweils anderen impliziert. Der entscheidende Gedanke ist, dass Höffe in den Bedingungen der Handlungsfähigkeit ein Gut erkennt, zu dessen Gunsten eine Freiheitseinschränkung überhaupt gerechtfertigt ist. Um den Grund dafür zu verste- <?page no="216"?> Theoretische Grundlagen der ethischen Bewertung 216 hen, muss die Argumentation kurz umrissen werden. Dabei ist zunächst zu bedenken, dass es immer eine Freiheitseinschränkung bedeutet, anderen ein Recht zu zuerkennen. Höffe führt sodann aus, dass Freiheitseinschränkungen nur dann gerechtfertigt sind, wenn jeder ihnen zustimmen kann, weil sie für jeden einen Vorteil bringen: „Allseitige[n] Zustimmungswürdigkeit aufgrund allseitigen Vorteils“ (1999: 39). Diese Zustimmung kann nur unter der Bedingung anerkannt werden, dass sie freiwillig gegeben wird und unter der Voraussetzung, dass die Zustimmung eines jeden Individuums zählt. Dies entspricht dem Konzept des legitimatorischen Individualismus, bei dem im Menschen ein Sozialwesen gesehen wird und zugleich gefordert wird, dass sich das Gemeinwesen vor jedem einzelnen Individuum rechtfertigen muss. Um einen Überblick zu ermöglichen sei erwähnt, dass damit der legitimatorische Individualismus als strenge Konsenstheorie einzuordnen ist. Sie ist durch zwei Merkmale gekennzeichnet: „durch die Unterscheidung der geschuldeten Moral vom verdienstlichen Mehr und durch jenen strengen Konsensbegriff, der eine allseitige Zustimmung, die strenge Einstimmigkeit verlangt“ (Höffe, 1999: 46). Um dem Einwand zu entgehen, Nicht-Zustimmungsfähige würden übergangen oder die Zustimmung erfolgte mangels ausreichender Informiertheit, muss der Grund für die Zwangsbefugnis für jeden so bedeutsam sein, „dass man ihr die Zustimmung nicht überlegterweise versagen kann“ (ebd.: 47). Dies trifft nach Höffe zu, wenn als Grund die Sicherung der Bedingungen der Handlungs-und Autonomiefähigkeit angesetzt wird, weil sich aus der Zustimmung ein unbestreitbarer Vorteil ergibt und zwar für jeden einzelnen; es ist dadurch sichergestellt, „dass niemand den Interessen anderer, und sei es auch noch so vieler anderer, geopfert werde“ (ebd.: 48). Damit ist nach Ansicht des Autors eine weitere oder wiederholte Information nicht notwendig und die Stellvertretung Abwesender oder die Bevormundung Nichtzurechnungsfähiger ist in diesem eingeschränkten Bereich legitim. Damit ist weiter auch klar, dass es sich zwangsläufig immer um einen wechselseitigen Vorteil handeln muss, da einseitige Vorteile auf Kosten der Interessen einzelner erzielt würden. Aufgrund der notwendigen Wechselseitigkeit 117 ist demnach die Vorstellung eines Tausches gerechtfertigt, bei dem es jedoch nicht um Güter, Dienstleitungen, Waren oder Geld geht, sondern um die wechselseitige Übertragung von Rechten und Pflichten (ebd.: 53). Man könnte nun einwenden, dass es sich bloß um eine strategische Wechselseitigkeit handelt, bei der die persönlichen Interessen lediglich addiert werden. Dem hält Höffe entgegen, dass die beschriebenen Verpflichtungen in die Form von Regeln gebracht werden und dadurch der Tausch eine soziale Komponente erhält (ebd.: 53). Da nämlich Regeln nur in 117 Für die Sicherstellung der wechselseitigen Vorteile gehen Menschen Verträge ein. Siehe dazu Höffe, 1999: 48--53. <?page no="217"?> Ethische Theorien auf der Basis der Handlungsfähigkeit 217 sozialen Gemeinschaften möglich sind und nötig werden, muss dieser Tausch auch das Allgemeininteresse berücksichtigen. Im Gegensatz zu einer bloß strategischen Wechselseitigkeit schaffen die Beteiligten bei einem sozial ausgerichteten Tausch „eine gemeinsame Ordnung; und diese wird deshalb von jedem einzelnen und zugleich von allen gemeinsam gewollt, weil sie allseits vorteilhaft ist“ (ebd.: 54). Die Zustimmungswürdigkeit ist also nur gegeben, wenn sich aus der Zustimmung ein kollektiver Vorteil ergibt, der sich mit einem distributiven Vorteil zu einem kollektivdistributiven Vorteil verbindet. Die universale Zustimmungswürdigkeit entsteht also dann, wenn sie ein Allgemeininteresse befördert, in dem sich jeder einzelne wieder finden kann (ebd.: 55). Diese Art Vorteil ist, so Höffe, unter den gewöhnlichen Interessen nicht zu finden, da diese viel zu unterschiedlich sind. Der gesuchte allseitige Vorteil wird vielmehr im Schutz und in der Sicherstellung der Bedingungen der Handlungsfähigkeit gesehen. Die Interessen an den Bedingungen der Handlungsfähigkeit nennt Höffe in Abgrenzung zu den gewöhnlichen Interessen ‚transzendentale’ Interessen, da sie einer Handlungstheorie entspringen, die sich nicht nur auf die Handlungen, sondern auf die Bedingungen der Handlungsfähigkeit richtet und insofern transzendental zu nennen ist (ebd.: 55). Entsprechend hat der dargestellte Tausch neben dem oben beschriebenen sozialen Charakter auch einen transzendentalen Charakter: Dieser außergewöhnliche Tausch ist in dem Sinne transzendental, als er „die Bedingungen der Möglichkeit gewöhnlicher Wechselseitigkeit und gewöhnlichen Tauschens darstellt“ (ebd.: 56). Entsprechend dem unter 6.6 ausgeführten Autonomieverständnis hat jeder als mündiges Mitglied der Gesellschaft Verantwortung für die Verbindlichkeit der gemeinsamen Normen zu übernehmen. Die Forderung handelnder Subjekte nach Respektierung der eigenen Handlungsfähigkeit in Form des oben beschriebenen Tauschs impliziert die Forderung an sich selbst und an andere Subjekte, sich stets zu fragen, ob das eigene Handeln tatsächlich die Grundlagen der Handlungsfähigkeit der anderen nicht verletzt. Kurz gesagt, alle müssen verantwortlich handeln. Menschen können das, wenn sie die Möglichkeit haben, autonom zu entscheiden, ob sie etwas tun oder nicht. Sie sind gleichzeitig in der Lage und in der Pflicht, die Folgen ihres Tuns vorherzusehen, zu bewerten und in ihren Handlungsentscheidungen zu berücksichtigen, denn Autonomiefähigkeit und Verantwortungsfähigkeit sind untrennbar miteinander verknüpft: “Dadurch, dass ich mich selbst als autonomes Vernunftwesen bestimme, schreibe ich mir zugleich moralische Verantwortung zu, nämlich die Verpflichtung, mein Handeln an allgemein akzeptablen ‚Gesetzen’ zu orientieren.“ Freiheit ist nicht nur „Voraussetzung der Verantwortlichkeit, sondern Verantwortlichkeit auch Grund der Freiheit“ (Werner, 2006: 544) und das bedingt Autonomie (s.6.6). <?page no="218"?> Theoretische Grundlagen der ethischen Bewertung 218 Beeinträchtigt nun ein Mitglied der Gesellschaft seine Handlungs- und damit seine Autonomiefähigkeit selbst, so ist es weder in der Lage, auf seine eigenen Interessen Rücksicht zu nehmen, noch in der Lage auf die Interessen anderer Menschen Rücksicht zu nehmen. An ein nicht handlungsfähiges Subjekt kann nicht die Forderung gerichtet werden, das Wohlergehen und die Freiheit eines handlungsfähigen Gesellschaftsmitglieds zu respektieren. Durch die Beeinträchtigung seiner Autonomiefähigkeit entledigt sich das Subjekt gleichzeitig seiner Verantwortungsfähigkeit. Es zieht also einen Vorteil aus der Handlungsbzw. Autonomiefähigkeit der anderen Gemeinschaftsmitglieder, da diese seine Handlungsfähigkeit respektieren können, und entzieht ihnen umgekehrt diesen Vorteil im Falle einer Selbstbeeinträchtigung seiner Verantwortungsfähigkeit. Damit zerstört er/ sie die Wechselseitigkeit des transzendentalen Tausches (s.o.). Daher ist ein Individuum als Mitglied einer Gemeinschaft, welches sein Recht auf Respektierung der Bedingungen seiner Handlungsfähigkeit durch andere gewahrt sehen möchte, verpflichtet, seine eigene Handlungs- und Autonomiefähigkeit nicht willentlich selbst zu beeinträchtigen. Bezogen auf die ethische Bewertung von PCE ist also nicht nur eine Beeinträchtigung der Autonomie eines Individuums durch andere relevant, sondern auch eine mögliche Selbstbeeinträchtigung von Autonomie- und Verantwortungsfähigkeit. 11.2 Kommunikatives Handeln - die Realisierung des Respekts vor dem Recht auf Wohlergehen und Freiheit Hier wird kommunikatives Handeln als ein konkreter Weg aufgefasst, die Grundlagen der Handlungs- und Autonomiefähigkeit zu respektieren. Respekt gegenüber einem Mitmenschen zu erweisen bedeutet, in diesem Sinne dessen Anspruch auf Wohlergehen und Freiheit als Grundlage seiner Handlungsfähigkeit zu respektieren und diese nicht zu verletzen. Dabei bergen die Handlungen des alltäglichen Miteinanders, die die Beziehungen der Menschen und ihre Kommunikation betreffen, durchaus Beeinträchtigungspotential für die Bedingungen der Handlungsfähigkeit. Um dies zu erläutern, werden in einem kleinen Exkurs grundlegende Handlungsbegriffe (Habermas, 1981: 126ff) und ihre Weiterverwendung (Eckensberger und Plath, 2006: 427ff) vorgestellt. Mit dem Begriff des teleologischen Handelns beschreibt Habermas, dass ein Handelnder ein bestimmtes Ziel verfolgt und dazu erfolgversprechende Mittel einsetzt. Dem geht eine „Entscheidung zwischen handlungsalternativen“ voraus (Habermas, 1981: 126). Diese Form bildet sozusagen die <?page no="219"?> Kommunikatives Handeln - Realisierung des Respekts 219 Grundform, weil allen Handlungstypen eine teleologische Struktur zu Grunde liegt, da bei den Handelnden immer eine Zielsetzung und ein Interesse am Erreichen ihres Ziels sowie die Fähigkeit zu zweckgerichtetem Handeln vorausgesetzt werden kann bzw. muss (Habermas, 1981: 150f.). Von strategischem Handeln spricht Habermas, wenn ein Akteur teleologisch handelt und dabei „die Erwartung von Entscheidungen mindestens eines weiteren zielgerichtet handelnden Aktors“ in seine Entscheidungen bei der Auswahl der Mittel usw. mit einbezieht, um die Wahrscheinlichkeit, sein Ziel zu erreichen, zu erhöhen (ebd.: 127). Der Begriff des normenregulierten Handelns bezieht sich „auf Mitglieder einer sozialen Gruppe, die ihr Handeln an gemeinsamen Werten orientieren.“ (Habermas, 1981: 127). Für Aktionen von Interaktionsteilnehmern, „die füreinander ein Publikum bilden, vor dessen Augen sie sich darstellen“ (ebd.: 128) wählte Habermas den Begriff des dramaturgischen Handelns. Schließlich führt er den Begriff des kommunikativen Handelns aus: Die Akteure in der so benannten Interaktion sind sprach- und handlungsfähig und „suchen eine Verständigung über die Handlungssituation, um ihre Handlungspläne und damit ihre Handlungen einvernehmlich zu koordinieren“ (ebd.). Daher ist auch vom verständigungsorientierten Handeln die Rede, das sich an Mitmenschen 118 richtet. Die Sprache dient als Kommunikationsmedium der Verständigung. Es ist offensichtlich, dass dieser Handlungstyp ein Instrument der Aushandlung zustimmungsbasierter Regeln in einem auf Konsens angelegten Gemeinwesen ist (s.11.1). Die vier Handlungstypen kommen im Alltag üblicherweise nicht in Reinform vor. Man kann dennoch berechtigter Weise davon sprechen, dass eine Handlung überwiegend dem einen oder anderen Typ entspricht. Alle Handlungstypen haben, wie oben erwähnt, eine teleologische Grundstruktur. Beim strategischen Handeln wird jedoch das Ziel ohne jede Bedingung verfolgt, das Handeln ist auf unmittelbare Erfolgsorientierung beschränkt. Dagegen werden in den übrigen Handlungsmodellen Bedingungen herausgearbeitet, unter denen ein Subjekt seine Ziele verfolgt: „Bedingungen der Legitimität, der Selbstdarstellung oder des kommunikativ erzielten Einverständnisses“ (Habermas, 1981: 151). An diesen vier Grundhandlungstypen orientieren sich Eckensberger und Plath in ihrem Modell der Handlungen, sie beschränken sich jedoch auf zwei Grundtypen: Instrumentell-effektorientierte Handlungen auf der einen Seite und verständigungs- oder normenorientierte auf der anderen (Eckensberger und Plath, 2006: 427ff). Mit dieser Zusammenfassung heben die Autoren den Unterschied in der Bedeutung für das Gegenüber hervor. Sie gehen dabei so vor, dass sie einzelne Systemelemente der menschlichen Handlungen benennen und die Art der Verbindung (Relation) zwischen 118 Die Kommunikation zwischen Menschen und Tieren wird hier nicht erörtert. <?page no="220"?> Theoretische Grundlagen der ethischen Bewertung 220 den Elementen beschreiben. Die Relationen sind für den jeweiligen Handlungstyp charakteristisch und verleihen ihm eine typische Struktur. Als Handlungselemente werden neben dem handelnden Subjekt die Ziele, Mittel, Ergebnisse und intendierte sowie nicht intendierte Folgen benannt. Für die weitere Argumentation ist nur wichtig zu wissen, dass in der Handlungsstruktur einer effektorientierten Handlung „das Handlungsergebnis … im Vollzug der Handlung …logisch impliziert“ ist und die Folgen der Handlung „kausal bewirkt“ werden (ebd.: 427). Entscheidend bei diesem Handlungstyp ist die Möglichkeit, Handlungsfolgen intendiert herbeizuführen oder zu unterdrücken, so dass ein berechenbarer Kausalitätszusammenhang besteht. Dieser Handlungstyp zielt auf die technische Verfügung über die Sachen und Prozesse (Habermas, 1969; s.3.4). Durch eine derartige Handlung tritt ein Individuum, wie es Eckensberger und Plath beschreiben, in Beziehung zur Sachumwelt und eine solche instrumentelle, effektorientierte Handlung ist für die Sachwelt angemessen (Eckensberger und Plath, 2006: 427). In die Sachwelt gehören demnach die physikalisch materiellen Gesetze, auf die sich die kontrollierbare und objektivierbare Effektorientierung richtet. Bei den bewertenden Überlegungen zur Möglichkeit von Medikalisierungen und Manipulation wird auf diesen Handlungstyp noch einmal Bezug genommen (12.1.2 bzw. 13.2.4). Im Gegensatz dazu kann die Handlung eines anderen Subjekts „weder herbeigeführt noch unterdrückt werden“ (Eckensberger und Plath, 2006: 429). Ein handelndes Subjekt A kann z.B. Aufforderungen, Befehle, Verbote oder Bitten an ein Subjekt B richten. Bevor B die kommunikativen Aktionen und die an ihn gerichteten Äußerungen verweigert oder befolgt, muss es das Ansinnen deuten und verstehen, es muss eine Haltung dazu einnehmen und eine eigene Intention entstehen lassen. Die Reaktion eines Gegenübers wird also nicht herbeigeführt in dem Sinne, dass sie zwangsläufig folgt, ebenso wenig kann eine Reaktion mit Sicherheit unterdrückt werden. Man könnte sagen, „dass auf Seiten des B etwas ‚veranlasst’ wird, wobei das Ziel der Kommunikation letztlich in der Koordination der Handlungen von A und B besteht oder bestehen muss“ (Eckensberger und Plath, 2006: 429). Der Mechanismus der Handlungskoordinierung im kommunikativen Handeln ist dabei nicht der Sprechakt selbst, sondern es sind die Interpretationsleistungen, die notwendig sind, um kooperative Situationsdeutungen zu erzielen (Habermas, 1981: 151). Im Bereich des verständigungsorientierten Handelns ist der zentrale Begriff das Verstehen, der Begriff der Erklärung bezieht sich auf die Sachwelt. Bei strategischen Handlungen, bei denen die Ziele, auch in Anbetracht differierender Interessen des Gegenübers, bedingungslos angestrebt werden, kommt es zu effektorientierter Behandlung von Menschen (Eckensberger und Plath, 2006: 430; Habermas, 1981). Dem handelnden Subjekt geht es in diesem Fall nicht um die Koordinierung der Handlung mit dem <?page no="221"?> Kommunikatives Handeln - Realisierung des Respekts 221 Gegenüber, sondern vor allem darum, die eigenen Ziele mit möglichst hoher Wahrscheinlichkeit zu erreichen und dazu beim Gegenüber die den eigenen Zielen förderlichen Handlungen zu bewirken. Hier zeigt sich die Nähe zur Manipulation (6.5), die meist zum eigenen Vorteil eingesetzt wird. Der Forderung nach gegenseitiger Respektierung der Bedingungen der Handlungsfähigkeit wird in strategischen Handlungssituationen nicht genügt, da der Mitmensch nicht als handlungsfähiges Gegenüber behandelt wird, sondern wie eine Sache. Das bedeutet nicht, dass der so Handelnde glaubt sein Gegenüber wäre eine Sache oder dass er sein Gegenüber als Sache betrachtet, aber er bedient sich der Handlungsweise, die im Umgang mit der Sachwelt angemessen ist, nicht jedoch gegenüber Mitmenschen. Er behandelt ihn oder sie im Hinblick auf ein bestimmtes Ziel wie eine Sache. Der Handelnde versucht, eine Reaktion beim Gegenüber gesichert herbeizuführen oder mit Sicherheit zu unterdrücken. Dabei muss es nicht um direkten Zwang gehen, sondern das agierende Subjekt kann versuchen, seine Intentionen mit subtilem Zwang durchzusetzen (Hildt, 2006: 55; s.6.1.4). Die Verschiebung der Handlungsstruktur in Richtung der strategischen Handlung kann sich auf ein bestimmtes Ziel beschränken, sie muss nicht zu jedem Zeitpunkt aktuell sein. Dennoch wird der Handlungstyp, der in einem Bereich praktiziert wird, sich auch auf andere Bereiche auswirken und die Gesamtbeziehung zu einem Mitmenschen prägen, vor allem dann, wenn der betreffende Lebensbereich so umfassend ist, wie z.B. die Erziehung, (Aus-) Bildung oder die Arbeit. So kann auch der soziale Druck in einer Arbeitssituation die Bedingungen der Handlungsfähigkeit beeinträchtigen. Dadurch wird die positive Freiheit des Betroffenen beeinträchtigt und damit seine innere Autonomie gegenüber Ansprüchen von außen (6.1.4). Dies ist nicht mit der Pflicht zur Respektierung der Bedingungen der Handlungsfähigkeit des jeweils anderen vereinbar. Verständigungsorientierung ist folglich ein Gebot des Respekts vor der Autonomie des Gegenübers. An dieser Stelle möchte ich bereits die Vermutung äußern, dass pharmakologisches Cognition Enhancement in besonderer Weise Mittel und Ausdruck einer strategischen Handlung ist, sei es gegenüber sich selbst oder anderen. Die Berechtigung dieser Vermutung wird unter 13.3.5 ausführlich dargestellt und diskutiert. Die bis hierher ausgeführten theoretischen Überlegungen werde ich für die ethische Bewertung der Verwendung von Stimulanzien im Kontext von Cognition Enhancement unter 13 wieder aufgreifen. <?page no="222"?> Theoretische Grundlagen der ethischen Bewertung 222 11.3 Die besondere Situation von Kindern und Heranwachsenden Im Umgang mit Kindern und Heranwachsenden, insbesondere in der Erziehung, kommt es notwendiger Weise zu einer Beeinflussung und es entsteht in dieser Hinsicht eine ambivalente Situation. Dies soll durch die Darstellung der affirmativen und der autonomen Aspekte der Sozialisation verdeutlicht werden (11.3.1). Anschließend werden im Bewusstsein dieser schwierigen Situation die Rechte der Kinder formuliert (11.3.2), um diese bei der ethischen Bewertung von PCE mit zu berücksichtigen (13; 13.2.4). 11.3.1 Affirmative und autonome Aspekte der Sozialisation „Sozialisation ist ein Prozess, durch den in wechselseitiger Interdependenz zwischen der biopsychischen Grundstruktur individueller Akteure und ihrer sozialen und physischen Umwelt relativ dauerhafte Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsdispositionen auf persönlicher ebenso wie auf kollektiver Ebene entstehen“ (Hurrelmann et al., 2008: 25). Unter diesem Begriff wird also die Gesamtheit der Prozesse zusammengefasst, durch die sich ein Mensch zur sozialen und handlungsfähigen Persönlichkeit mit ihren Vorstellungen und Werten entwickelt, und er schließt folglich Erziehungsprozesse mit ein. So beinhaltet Sozialisation nicht nur das Hineinwachsen in Struktur- und Interaktionszusammenhänge sowie verschiedene Rollen, sondern vermittelt auch Normen- und Wertvorstellungen. Sie ist demnach gekennzeichnet durch Aspekte der Anpassung des Individuums an die bestehenden Verhältnisse mit bestimmten Rollen-, Verhaltens- und Leistungsanforderungen. Dieser Aspekt wird bei Hurrelmann als der affirmative Aspekt der Sozialisation bezeichnet. Die gegebene Definition beinhaltet aber auch den anderen Aspekt, und zwar den, dass Sozialisation die Möglichkeit der Entwicklung zu einem autonomen, handlungsfähigen Individuum offen lassen und fördern muss. Dem Individuum muss daher eine gewisse Widerständigkeit gegenüber bestehenden Werten, Normen und Standards zugebilligt werden und die Sozialisationssituation muss eine gewisse Offenheit bewahren, Offenheit für alternative Ergebnisse. Dieser Aspekt wird hier als der autonome Aspekt der Sozialisation bezeichnet. Auf das Spannungsfeld zwischen Konformität und Freiheit wird auch im Bericht des President’s Council eingegangen (President’s Council on Bioethics, 2003: 86f.). Zu beachten ist die bei Hurrelmann beschriebene Wechselseitigkeit der Beeinflussung von Sozialisationsrahmen bzw. Sozialisationskontext und einem sich sozialisierenden Individuum (2008). Es wird also nicht mehr so gesehen, dass die Umgebung einseitig auf ein heranwachsendes Individuum einwirkt, sondern man geht davon aus, dass gerade die basalen Persön- <?page no="223"?> Die besondere Situation von Kindern und Heranwachsenden 223 lichkeitsbereiche recht stabil sind und ihrerseits die Umgebung beeinflussen. Demnach beeinflusst die Persönlichkeit auch die Sozialisationsbedingungen. Der Begriff ‚Doppelnatur von Sozialisation’ bezeichnet die Vorstellung, „dass durch das gemeinsame Handeln individueller Akteure soziale Strukturen (also soziale Umwelten) geschaffen werden, die interpretiert und bewertet werden, mithin erfahrungsbildend wirken und so als Kontexte für die Persönlichkeitsentwicklung fungieren.“ (Hurrelmann et al. 2008: 17). Soziale Umwelten, die durch wenige Individuen geschaffen werden, sind dann auch für andere Individuen real und wirken auf diese. Das deckt sich mit der Annahme, dass die Anwendung von PCE durch einige Subjekte einer Gemeinschaft die Bedingungen für die anderen verändern. Zu ergänzen wäre, dass die Sozialisationsforschung heute die Perspektive auf die gesamte Lebensspanne ausgeweitet hat (Faltermaier, 2008) und das Interesse längst nicht mehr ausschließlich dem zu sozialisierenden Kind und Jugendlichen gilt. Es wurde erkannt, dass sich auch an die erwachsene Person immer wieder neue Anforderungen in der gesellschaftlichen Praxis stellen und die unterstellte Stabilität des Erwachsenenlebens so nicht gegeben ist. Die dynamische Konzeption von Person-Umwelt- Interaktionen, nach der das Individuum und seine physische und gesellschaftliche Umwelt aufeinander einwirken und in Veränderung sind, gilt nach Faltermaier für alle Lebensphasen. Dadurch wird klar, dass alles, was ein Individuum an sich selbst verändert, auch durch die Anwendung von PCE, nicht ohne Auswirkungen für die anderen Individuen einer Gesellschaft bleiben kann. Zur ethischen Diskussion darüber siehe 13.3.5. 11.3.2 Die Rechte der Kinder Die genuinen Bedürfnisse von Kindern gehen über die negativen Freiheitsrechte hinaus; sie fallen in den Bereich der positiven Freiheitsrechte, die sich direkt daran anschließen: Es sind Sozialrechte (Höffe, 1999: 74 ff), wie z.B. das Recht auf Nahrung, Kleidung, Wohnung und eine gewisse Ausbildung. Menschen sind dieser positiven Leistungen sowohl bedürftig als auch fähig. Bei Kindern ist dieses Verhältnis vollkommen einseitig: Sie sind völlig bedürftig, sie brauchen alles, was Erwachsene brauchen und darüber hinaus Zuwendung, Kontinuität, Geborgenheit usw. (s.u.). Sie sind ihrerseits zu keinen substanziellen Leistungen in der Lage 119 . Die Begründung der Sozialrechte liegt in ihrer Bedeutung für die Handlungsfähigkeit (Höffe, 1999: 75). Die Übergänge vom bloßen Überleben, das durch die negativen Rechte gesichert wird, zum guten Leben, das durch die positiven Rechte ermöglicht wird, sind fließend (ebd.: 76). Auf der Seite 119 Kindliche „Gegenleistungen“ wie Freude, die sie verbreiten oder Sinn, den sie stiften, sind an dieser Stelle nicht gemeint. <?page no="224"?> Theoretische Grundlagen der ethischen Bewertung 224 der positiven Rechte gibt es Spielräume; sie müssen nicht von allen Menschen erbracht werden, denn wenn jemand zu diesen Leistungen nicht fähig oder nicht willens ist, können meist andere einspringen. Die Frage, bei wem letztlich die Bringschuld gegenüber den Kindern liegt, beantwortet Höffe (ebd.: 78) mit „natürlichen Leistungserbringern“, womit die Eltern gemeint sind. Es ist eine eigene Diskussion, ob alle erwachsenen Mitglieder einer Gesellschaft eine Bringschuld haben, doch die kann an dieser Stelle nicht geführt werden. Jedoch man kann wohl akzeptieren, dass Eltern zu ihren Kindern in einem besonderen Verantwortungsverhältnis stehen. Konkrete Beschreibungen der Bedürfnisse von Kindern finden sich bei Janusz Korczak. Er war Kinderarzt und Waisenhausgründer und hat diese Bedürfnisse aus einem praktischen Zugang zu den Problemen der Kinder heraus als „children’s rights“ formuliert. Es ging ihm dabei sowohl um elementare Grundrechte als auch um darüber hinausgehende Rechte. Das Vermächtnis des Kinderarztes und Waisenhausgründers bringt uns Sven Hartman (2009) nahe und hebt zwei Kinderrechte besonders hervor: Zunächst das Recht zu sprechen und gehört zu werden, ähnlich wie es später in der Convention über die Rechte der Kinder festgeschrieben wurde. Mit dem Kinderrat im Waisenheim wurde es sichtbar umgesetzt. Führt man diesen Ansatz weiter, kann man mit Bezug auf die obigen Ausführungen ein Recht auf verständigungsorientierte Kommunikation für Kinder formulieren. Über den Gedanken, gegenseitigen Respekt und Kommunikation zu verknüpfen, schreibt Hartmann: „Mutual respect cannot be sustained if children do not also have the right to be heard.“ (Hartmann, 2009: 17). Weiter nennt Hartman das Recht auf Respekt. Dieses führt er folgendermaßen aus: …“How about children’s right to respect? Do we respect their ignorance and their striving for knowledge? Do we respect their failures and tears, their possessions and assets? Do we respect what their life is just now? Each hour and day? Do we respect the mysteries and setbacks that growing up entails? For Korczak, all this lay in children’s rights. But he also presupposes realism in practical action: We aren’t miracle-workers nor do we want to be charlatans. Let us renounce the deceptive longing for perfect children.“ (ebd.: 21). Dieses Zitat (kursive Schrift) wurde 1921 geschrieben und hat nichts von seiner Aktualität verloren. Es verweist darauf, dass Unwissenheit, Misserfolg und Rückschläge Teil des Lebens von Heranwachsenden ist. Es ist die Aufforderung an Erwachsene, Kinder vorbehaltlos zu akzeptieren und zu erkennen, dass Fehlleistungen ein Teil des Lebens der Kinder und daher ein Teil ihrer selbst sind, der ebenfalls zu akzeptieren ist. Erwachsene dürfen nicht ihre eigenen Perfektionsansprüche auf Kinder projizieren und ihre Zuneigung nicht an Bedingungen hinsichtlich der Leistung knüpfen. Kindern muss das Recht auf eine sie akzeptierende Grundhaltung <?page no="225"?> Die besondere Situation von Kindern und Heranwachsenden 225 seitens der Erwachsenen zugesprochen werden. Mehr noch als Erwachsene sind sie darauf angewiesen, und zwar deshalb, weil eine solche Haltung die Voraussetzung dafür ist, dass sie die Entwicklungs- und Lernaufgaben bewältigen können, durch die sie zu autonomiefähigen, erwachsenen Menschen werden (s.13.3.5). Die Forderung nach Sicherstellung der Bedingungen der Entwicklung von Autonomie- und Handlungsfähigkeit wird durch die obigen Ausführungen (11.1) begründet. Bei der ethischen Bewertung des PCE-Ziels, Standards zu erreichen, kommen die Kinderrechte wieder zu Sprache (13.1.5) ebenso, wenn es um die Folgen für Autonomie- und Verantwortungsfähigkeit geht (13.3.4). Diese Rechte sind auch deshalb besonders zu beachten, weil Kinder meist keine echte autonome Entscheidung für etwas treffen können und daher häufig advokatorische Entscheidungen für Kinder getroffen werden müssen (s.13.4.1). <?page no="226"?> 12 Ethische Aspekte der Stimulanzienanwendung im Kontext der Aufmerksamkeitsdefizit/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS) 12.1 Ethische Aspekte bezüglich der Diagnose von ADHS 12.1.1 ADHS-Diagnose und die Grauzonenproblematik Hinweise darauf, dass durch die Behandlung hyperaktiver Kinder v.a. oder vielleicht „auch“ Anforderungen der Gesellschaft genüge geleistet werden sollte, enthält schon das „System einer ‚Pädagogischen Pathologie oder die Lehre von den Fehlern der Kinder‘, das 1890 der Leipziger Philosoph und Psychologe Ludwig Strümpell (1812-1899) vorlegte.“ (Seidler, 2004). Ganz allgemein unterliegt die Bewertung von Verhalten dem Einfluss der sich ändernden gesellschaftlichen Normen (Khushf, 1995: 463), und auf die Rolle kultureller und sozialer Standards bei der Qualifizierung von Verhaltensproblemen als behandlungsbedürftige Störung wird regelmäßig hingewiesen (Timimi, 2005; zitiert nach Günter, 2008). Die Tendenz, Verhalten als „unerträglich“ und „nicht normal“ zu klassifizieren, wird noch gefördert in einem gesellschaftlichen Rahmen, in dem die Toleranz gegenüber kindheitstypischem Verhalten ohnehin abnimmt. Eine Verschiebung der erwarteten Verhaltensstandards befürchtet auch der President’s Council (President’s Council on Bioethics, 2003: 88). Die normative Komponente der ADHS-Diagnose (s.5.2) zeigt sich z.B. auch in der Tatsache, dass eine Person, die unter Anwendung von DSM IV mit ADHS diagnostiziert wird, bei Anwendung von ICD 10 unter Umständen nicht diagnostiziert wird (s.5.2.2). Die vermehrte Anwendung von DSM-IV führt folglich zu einer Ausweitung der Diagnose (Günter, 2008). Nun ist die Veränderung von Normen nicht per se ethisch verwerflich. Zu fordern wäre jedoch, diese Änderungen zu reflektieren und dabei die Grauzone zwischen Therapie und Enhancement nicht nur als Schwierigkeit wahrzunehmen. Diese fließenden Übergänge stehen auch für Interpretationsspielräume, und es ist unsere Entscheidung, Verhalten in diesem Bereich großzügig als behandlungsbedürftig einstufen oder den Versuch zu unternehmen, die äußeren Bedingungen so zu gestalten, dass sie eine größere Verhaltensvariabilität zulassen. Gerade im Umgang mit diesen „offenen Stellen“ drücken sich unsere Einstellungen und Werte aus. Daher sollte überprüft werden, ob die Bandbreite tolerierten Verhaltens von Kindern immer schmaler wird. Sollte dies der Fall sein, müssen wir uns fragen, ob <?page no="227"?> Ethische Aspekte bezüglich der Diagnose von ADHS 227 dies mit den Einstellungen übereinstimmt, die wir z.B. zu Freiheit, Individualität und Selbstbestimmung gerne haben möchten. 12.1.2 Ethische Aspekte von Medikalisierungen und verdecktem Enhancement Falls eine Medikalisierung und/ oder verdecktes Enhancement (5.4.7) zu einer unnötigen oder nicht dauerhaft hilfreichen, medikamentösen Behandlung führt, ist dies schon aufgrund der unnötigen Belastung durch unerwünschte Nebenwirkungen (9.6) unter Berücksichtigung des Vorsorgeprinzips (3.2) nicht vertretbar. Medikalisierungen haben jedoch einen weiteren ethischen Aspekt: Sie entstehen aus einer Tendenz, menschliche Anliegen „wegzuerklären“. Der Begriff der Erklärung bezieht sich auf die Sachwelt, das Erklären entspricht der Art und Weise, wie Handelnde mit der Sachwelt in Beziehung treten (Eckensberger und Plath, 2006; 11.2). So können z.B. Naturvorgänge erklärt werden. Wenn jedoch unruhiges Verhalten als problemanzeigendes Verhalten (Amft, 2004; 5.3.3) auftritt, wäre es wichtig zu verstehen, welches Anliegen diesen Menschen bewegt. Verstehen ist Teil des verständigungsorientierten Handelns (Habermas, 1981; 11.2); man muss verstehen, was das Gegenüber bewegt und welches die umfassenden Zusammenhänge für sein Verhalten sind. Verstehen hat daher einen empathischen Anteil. Habermas spricht von „Interpretationsleistungen, aus denen sich kooperative Deutungsprozesse aufbauen.“ (Habermas, 1981: 151). Das erfordert Zeit und manchmal Mühe und so ist eine Erklärung, womöglich eine einfache Erklärung, die eine einfache Lösung verspricht, mitunter willkommen. Die Diagnose einer Krankheit, kann im Beispiel von ADHS eine klare, plausible Erklärung für unerwünschtes Verhalten darstellen, für die es womöglich eine einfache, medikamentöse Behandlung gibt. Den betroffenen Menschen wird eine solche Erklärung unter Umständen nicht gerecht, weil ihnen die Verstehensbemühung, die einem Mitmenschen gebührt, vorenthalten wird. So hilfreich Erklärungen sein können, muss doch gesagt werden, dass sie aus ethischer Sicht in diesem Kontext zwar nicht überflüssig, jedoch nicht ausreichend sind. Der Ansatz der integrierten Medizin (v.Uexküll und Wesiack, 2011; 4.1.3) beinhaltet einen ausgeprägten Anspruch zu verstehen und weist ebenfalls auf die Interpretationserfordernis hin, worin sich der Bezug dieses medizinischen Ansatzes zum Konzept des kommunikativen Handelns zeigt. Diese Art mit menschlichen Zuständen umzugehen könnte dazu beitragen, Medikalisierungen zu vermeiden. Sehr umfassend wird die Medikalisierung, wenn Stimulanzien zur Unterstützung von Sozialisation und Erziehung herangezogen werden oder allein mit dem Ziel, Standards zu erreichen, eingesetzt werden (zu letzterem s.13.1.5). Selbstverständlich ist es nicht das explizite Ziel der Verwen- <?page no="228"?> Ethische Aspekte der Stimulanzienanwendung im Kontext von ADHS 228 dung von Stimulanzien, Sozialisation und Erziehung zu unterstützen. Da jedoch die Entwicklung einer Fähigkeit wie Impulskontrolle mit vom Verhalten der Erwachsenen abhängt (Mauro und Harris, 2000; 7.4.4), könnte es wohl sein, dass ungeeignetes Erwachsenenverhalten zu Mängeln in Sozialisation und Erziehung und zu unangemessenem Verhalten der Heranwachsenden in der Gesellschaft führt. Die Beobachtung, dass Verhaltensschwierigkeiten häufig mit Schuleintritt auftreten bzw. offenbar werden (Amft, 2004: 98), könnte ein Hinweis darauf sein, dass die frühe Sozialisation nicht leistet, worauf die Schule aufbaut und/ oder die Schule nicht ausreichend darauf abgestimmt ist, was die frühe Sozialisation leisten kann. Wenn nun z.B. mangelnde Impulskontrolle durch Stimulanzien reguliert und so das unangemessene Verhalten mit Hilfe von Medikamenten angepasst wird, werden diese Medikamente zu Sozialisations- und Erziehungswerkzeugen. Schon im Bericht des President’s Council wird angemerkt: „The continuity of ADHS symptoms with ordinary behaviors, the range of their severity, and the resultant difficulty of diagnosis is only part of what opens the door to widespread use of stimulant drugs to control behavior.” (President’s Council on Bioethics, 2003: 81). Nun denn was ist dagegen einzuwenden? Ist es nicht unerheblich, auf welchem Wege das Ziel des angemessenen Verhaltens erreicht wird, Hauptsache es wird erreicht? In diese Richtung könnte Michael Quante verstanden werden, wenn er schreibt: „Damit ist das Ziel der Manipulation, nicht die Tatsache der Beeinflußung als solcher, das Kriterium, anhand dessen die Verträglichkeit zu testen ist.“ (Quante, 2006). Welches die adäquaten Mittel für Sozialisation und Erziehung sind, ist in ständiger Diskussion. Stimulanzien können nicht dazu gezählt werden, weil schon ihre unerwünschten Nebenwirkungen auf der Grundlage des Vorsorgeprinzips zur Ablehnung führen (s.o.). Noch ungünstiger ist es, wenn über die Verwendung von Stimulanzien eine strategische Kommunikationsstruktur (Eckensberger und Plath, 2006; 11.2) entsteht, da dies gerade die Entwicklung sozialer und kommunikativer Fähigkeiten beeinträchtigen kann. Gegen die Verschiebung der Problematik des unruhigen Verhaltens von Heranwachsenden in den medizinischen Bereich wendet sich auch der Bericht des President’s Council. Dort wird angemahnt, diese Unruhe als moralische Herausforderung zu betrachten (President’s Council on Bioethics, 2003: 90). Die Betroffenen sollten demnach ein Selbstverständnis entwickeln, nach welchem ihr Handeln von moralischen Entscheidungen bestimmt wird, die auf einem Sinn für die Richtigkeit und Angemessenheit der Handlung basieren. Die Verantwortung für ihre Handlungen sollte bei ihnen selbst liegen und nicht in ihren Pillen. Auch wenn dieser Forderung intuitiv zugestimmt werden kann, scheint der Schritt problematisch, das unruhige Verhalten Heranwachsender als moralisches Problem zu betrachten. Obwohl Impulsbzw. Selbstkontrolle erlernbar und trainierbar sind <?page no="229"?> Ethische Aspekte bezüglich der Diagnose von ADHS 229 (Sethi et al., 2000; Mauro und Harris, 2000; Houdé et al., 2000; 7.4.4), scheinen die Kategorien „gut“ und „böse“ für einen Mangel an Selbstkontrolle bei Heranwachsenden eher nicht angemessen. Man kann den jungen Akteuren ihre mangelnde Selbstkontrolle nicht oder meist nicht als böse Absicht auslegen. Um diese Fähigkeit zu entwickeln, brauchen Heranwachsende die Unterstützung Erwachsener, denen damit eine wichtige Aufgabe zufällt. Die Reichweite elterlicher und gesellschaftlicher Pflichten bei der Erziehung Heranwachsender sind in der Diskussion, können jedoch an dieser Stelle nicht ausgeführt werden. Zur Vermeidung von Medikalisierungen wäre es notwendig, auch auf gesellschaftlicher Ebene Überlegungen und Handlungen anzustoßen. So ist die Frage zu klären, wie die Kluft zwischen dem Ergebnis der Frühsozialisation und den Anforderungen des Schulalltags überwunden werden kann, wobei Veränderungen in beiden Bereichen nötig sind. Da es nicht um Wissensdefizite geht, kann die Lösung nicht in einer früheren „Frühförderung“ irgendwelcher konkreten Fähigkeiten wie Rechnen oder einer Fremdsprache liegen, wie dies bisweilen diskutiert wird. Vielmehr wäre es geboten zu fragen, unter welchen Bedingungen sich ein kleines Kind (0-5 Jahre) seelisch gesund entwickeln kann, sodass es erst gar nicht zu problemanzeigendem, hyperaktivem Verhalten, wie es Amft beschrieben hat (2004; 5.3.3), kommt (s. Prävention, 12.2). Die Frage nach den angemessenen Bedingungen auf materielle Bedürfnisse und auf Fragen der Unterbringung und Beaufsichtigung einzugrenzen, trifft das Problem nicht. Obwohl dazu relativ viel Wissen bereitsteht, sind diese Themen doch schwer zu bearbeiten, da hier verschiedene, konfligierende Interessen aufeinanderstoßen. Eine weitere Erörterung dieses Teilbereiches geht über den Rahmen dieser Arbeit hinaus. Es ist jedoch festzuhalten, dass das großzügige Inkaufnehmen von Medikalisierung erzieherischer, pädagogischer und sozialer Probleme Untätigkeit und Stillstand mit sich bringt und die Stabilisierung der bestehenden Verhältnisse begünstigt. Da die zu Grunde liegenden Probleme von Verhaltensschwierigkeiten durch Medikalisierungen nicht bearbeitet werden, ist nicht mit nachhaltigem Erfolg zu rechnen. Dies kann für einzelne Betroffene dazu führen, dass sie ein Leben lang auf Medikamente angewiesen sind. Es kann jedoch auch geschehen, dass die latent weiter bestehenden Schwierigkeiten zu einer Verschlechterung der Situation und zu schlimmen Krankheitsverläufen führen (Günter, 2008; s.u.). Diese Überlegungen führen, zusammen mit dem Wissen um die unerwünschten Wirkungen von Medikamenten und den weiteren Folgen der Stimulanzienanwendung (s.u.), zur grundsätzlichen Ablehnung von Medikalisierungen. Damit verbindet sie ein Appell an alle Verantwortlichen, Medikalisierungen zu vermeiden. Dazu ist vor allen Dingen der Forderung nach einer angemessenen Diagnosestellung für ADHS zu entsprechen (s.12.1.3). Diese Forderung darf nicht dahingehend missverstanden wer- <?page no="230"?> Ethische Aspekte der Stimulanzienanwendung im Kontext von ADHS 230 den, dass Einzelnen, die Hilfe benötigen, der Zugang zu Hilfe erschwert werden soll. So kann es sein, dass auch problemanzeigendes Verhalten zu einer vertretbaren ADHS-Behandlung führt, wenn die augenblicklichen Verhältnisse keine andere Lösung zulassen. Daneben sollte jedoch langfristig auf gesellschaftlicher Ebene einerseits die Verbesserung der Bedingungen für gelebte Verhaltensvariabilität in Institutionen der Bildung und Jugendarbeit verbessert werden. Andererseits sollten verhaltensorientierte Kompetenzen als Lernziele formuliert und für das Erreichen geeignete zeitliche und personelle Rahmenbedingungen geschaffen werden. 12.1.3 Forderung einer angemessenen Diagnosestellung für ADHS Nur eine umfassende und kompetente diagnostische Abklärung vor einer ADHS-Diagnose einschließlich der Berücksichtigung der Entwicklungsbedingungen und der Lebenssituation, ermöglicht die korrekte Wahl der optimalen Therapie (Günter, 2008; s.5.3.3) und verhindert verdecktes Enhancement und Medikalisierungen. Eine unvollständige diagnostische Abklärung kann bei den Betroffenen zu „desaströsen Verläufen“ führen, falls komorbide Störungen unerkannt und unbehandelt bleiben (Günter, 2008; 5.2.3). Problematisch ist jedoch nicht nur das Übersehen von komorbiden Störungen, sondern auch die Überbewertung und falsche Einordnung von Verhaltensweisen, die dann zu verdecktem pharmakologischem Cognition Enhancement (PCE) und Medikalisierungen führen können (4.4.3; 4.4.4; 12.1.2). Ein vollwertiges Diagnoseverfahren ist daher von großer Bedeutung für alle Kinder, auch für lebhafte, gesunde Kinder, weil ja auch sie oder gerade sie von Medikalisierungen betroffen sein können. Eine umfassende Diagnostik wird bisweilen für überflüssig gehalten, weil bestimmte, sehr spezifisch ausgerichtete Studien (3.3.2; 5.4.4) zu teilweise unvollkommenen Informationen bezüglich der Wirksamkeit von verschiedenen Therapieverfahren führten, sodass der Eindruck entstand, Stimulanzien wären für jeden ADHS-Fall eine hilfreiche und ausreichende Therapie (s.u.). So wird das, was selbstverständlich erscheint, nämlich eine angemessene Diagnostik, in vielen Fällen nicht gewährt. Kindern muss jedoch auf der Grundlage des Rechts auf Wohlbefinden (11.1) und auf Grund ihrer besonderen Situation als Kinder (11.3) ein Recht auf eine vollwertige Diagnose zugesprochen werden. Ganz konkret würde das z.B. bedeuten, zumindest den Kriterienkatalog des ICD 10 (5.2.2) anzuwenden. <?page no="231"?> Ethische Aspekte bezüglich der Entstehungsfaktoren der ADHS und der Prävention 231 12.2 Ethische Aspekte bezüglich der Entstehungsfaktoren der ADHS und der Prävention Die vielen unterschiedlichen Entstehungsfaktoren der ADHS (5.3) zu ergründen ist nicht nur für die optimale Therapiewahl erforderlich, sondern sie bietet auch die Chance für Prävention (5.5). Diese schlichte Aussage hat Relevanz für alle Kinder, denn sollte es zutreffen, dass die Zahl der Kinder und jungen Menschen mit angeeignetem ADHS-ähnlichem Verhalten steigt, und dafür gibt es Hinweise (Skrodzki; 5.3.3), muss die Art und Weise, wie Kinder in unserer Gesellschaft aufwachsen, wie mit ihnen umgegangen und was ihnen zugemutet wird, hinterfragt werden. Viele Einzelfaktoren, die ADHS-ähnliches Verhalten fördern, wie z.B. das Zulassen von Medienkonsum (Christakis, 2004; 5.3.3) oder die Unterbringung in ungeeigneten Einrichtungen (Leuzinger-Bohleber, 2006c: 9-11; 5.3.3), sind als Handlungen von Erwachsenen veränderbar. Die ethische Dimension bezüglich der Entstehungsfaktoren für ADHS umfasst die gesellschaftliche und die individuelle Ebene. Wenn Freiheit und Wohlergehen berechtigte Forderungen handelnder Subjekte sind (Steigleder, 1997; Höffe, 1999; 11), unabhängig davon, ob sie aktuell voll oder teilweise handlungsfähig sind, dann haben Kinder und Heranwachsende ein Recht darauf, so aufzuwachsen, dass ihre seelische Gesundheit nicht gefährdet wird und sie diese Fähigkeit zur Freiheit ausbilden können. Wohlgemerkt geht es dabei nicht um das Ausfindig machen von „Schuldigen“, wie das zeitweise schon der Fall war, und wodurch viele Eltern schwer belastet wurden. Gefordert ist vielmehr das Beschaffen und Verbreiten hilfreicher Information, denn erst durch das Erkennen der Risikofaktoren durch genaues Hinsehen wird Prävention möglich (5.5). Wenn sich z.B. bestätigt, dass die Entwicklung von Selbstkontrollfähigkeit auch vom Erziehungsverhalten abhängt (7.4.4), können daraus nützliche Hinweise für junge Eltern und andere Bezugspersonen entwickelt werden. Nicht hilfreich und nicht korrekt ist das vorschnelle Verbreiten der Ansicht, dass genetische Veranlagung der bedeutendste Faktor oder gar der alleinige Auslöser für die Ausbildung einer ADHS sei (5.3.2). Obwohl diese Sicht der Dinge in gewisser Weise eine entlastende Funktion haben kann (4.1.7), lähmt sie die Eigeninitiative und erschwert die Entwicklung einer Haltung, für sein Verhalten selbst Verantwortung zu übernehmen. In diese Richtung wird auch im Bericht des President’s Council argumentiert, jedoch wird unangemessenes Verhalten darin als moralisches Versagen interpretiert (President’s Council on Bioethics, 2003: 90; s.o.). Hilfreicher wäre vielleicht, es so zu sehen, dass sich der veränderbare Teil des Verhaltens bei Mangel an Lerngelegenheit und Lernunterstützung ungünstig entwickeln kann (s.12.1.2). Dann können die Betroffenen darin unterstützt werden, Wege zur Aufarbeitung zu gehen. <?page no="232"?> Ethische Aspekte der Stimulanzienanwendung im Kontext von ADHS 232 Menschen, die genetische Veranlagung als eine genetische Festlegung z.B. auf ADHS interpretieren, halten Prävention möglicherweise für überflüssig oder wirkungslos. Diese Ansicht kann, ähnlich wie Medikalisierung, die Stabilisierung der bestehenden Verhältnisse unterstützen und Untätigkeit und Stillstand zur Folge haben. Angesichts der Tatsache, dass viele Kinder unter ungünstigen und sogar problematischen Lebensbedingungen aufwachsen (s.o.), wäre dies nicht akzeptabel und stünde der Forderung nach Freiheit und Wohlergehen für alle Menschen entgegen. Solche ungünstigen Bedingungen sollten nicht verfestigt, sondern verbessert werden. 12.3 Ethische Aspekte bezüglich der Therapie der ADHS Die Forderungen hinsichtlich der ADHS-Therapie unterscheiden sich nicht von denen, die man an jede andere therapeutische Entscheidung, Durchführung und Begleitung stellen würde. Es ist auch nicht besonders typisch, dass eine vermeidbare medikamentöse Behandlung Gefahren birgt, die Nichtbehandlung der tatsächlichen Störung jedoch ebenfalls. Das Problem ist eher, dass die Ansichten darüber so divergieren, dass manche eine „vorsorglich“ großzügige Medikamentierung für richtig halten und andere die völlige Ablehnung einer medikamentösen Behandlung propagieren. Aus ethischer Sicht ist zu fordern, dass nicht ökonomisches Kalkül über die Therapie entscheidet, sondern die Wirksamkeit bei jedem Individuum und die Aussicht auf Nachhaltigkeit. Welche Therapie in welcher Situation für jeden Betroffenen die optimale ist, bleibt eine fachliche Frage, die für jeden Einzelfall zu lösen ist und nur mit hoher Kompetenz korrekt beantwortet werden kann. Damit sollte jedoch nicht die Verantwortung für den Umgang mit „schwierigen“ Kindern im Allgemeinen oder für die Erziehung im Allgemeinen an Ärzte abgegeben werden. Die Diskussion über das Allgemeine dieses Themas muss weiter in verschiedenen Disziplinen, z.B. auch in Erziehungswissenschaft oder Pädagogik, geführt werden. Eine gründliche Einzelfallprüfung ist auch deshalb nötig, weil immer wieder das Dilemma auftreten wird, dass eine Stimulanzientherapie grundsätzlich vielleicht kritisch betrachtet wird, jedoch in akuten Einzelfällen eine schnelle Beruhigung dringend gebraucht wird. Es sind immer die unterschiedlichen Ebenen zu berücksichtigen: Was auf der allgemeinen Ebene gut zu diskutieren ist, z.B. der Verzicht auf Medikamente, kann im konkreten Einzelfall den Beteiligten viel, vielleicht zu viel, abverlangen. Therapieentscheidungen müssen also immer auf den Einzelfall angepasst werden, dennoch sind allgemeine Überlegungen nicht nutzlos. Es wäre nötig die Ebenen besser zu verzahnen, so dass durch langfristige Maßnahmen und Einstellungsveränderungen auf gesellschaftlicher Ebene, die z.B. <?page no="233"?> Ethische Aspekte bezüglich der Therapie der ADHS 233 unter dem Thema Prävention (5.5; 12.2) oder hier unten angesprochen werden, in Zukunft schnelle Notmaßnahmen bei Einzelnen überflüssig werden. An dieser Stelle soll nun kurz überlegt werden, was bei Menschen durch eine Stimulanzientherapie alles verändert wird. Bedenkt man, dass sich viele Kinder mit einer ADHS-Diagnose sehr gut auf Dinge konzentrieren können, die sie interessieren, könnte man sich fragen, ob ein Medikament mit Amphetaminwirkstoff Kindern (und Erwachsenen) vor allem hilft, sich auch auf die Dinge zu konzentrieren, die sie nicht interessieren, wie z.B. eine Mathematikaufgabe (Volkow et al., 2004). Selbstverständlich muss man im Leben häufig Dinge lernen und Dinge tun, die einen nicht interessieren, doch es sollte darüber nicht vergessen werden, wie wertvoll es ist, zu wissen, was einen selbst interessiert und was man für wichtig hält. Dies sollte in einer Therapie nicht ganz verschwinden! Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite stellen Volkow und ihre Kollegen (ebd.) auf der Grundlage ihrer Ergebnisse die Überlegung an, ob nicht das „Interessantermachen“ von Aufgaben für ADHS-Betroffene eine Alternative zur herkömmlichen (medikamentösen) Therapie wäre. Das ist doch geradezu ein Aufruf, die Bemühungen, die Unterricht an die Bedürfnisse von ADHS- Kindern anpassen wollen und nicht umgekehrt, zu verstärken und entsprechende Projekte zu unterstützen. Bemerkenswert ist nun weiter, dass aus der Diskussion um die richtige Therapie eine schwierige Gemengelage von Forderungen und subtilem bis offenem Druck unter den Akteuren entsteht. So drängen Bildungsinstitutionen und Unterbringungseinrichtungen die Eltern „schwieriger“ Kinder, schnell „etwas“ zu unternehmen. Eltern drängen Ärzte, Medikamente zu verschreiben. Eltern erzählen Kindern Geschichten, damit sie das Medikament einnehmen. Wissenschaftler legen Ärzten und Eltern nahe, das Medikament einzusetzen oder das Gegenteil. Die pharmazeutische Industrie fördert Wissenschaftler, die Evidenz für die Wirksamkeit ihrer Medikamente beschaffen und beeinflusst Eltern durch die Initiierung und das Sponsoring von Selbsthilfegruppen, ihre Medikamente einzufordern. Die umfassende Bearbeitung dieser Zusammenhänge ist im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich, obwohl sie von großer ethischer Relevanz sind. Der thematische Schwerpunkt hier liegt auf der Bewertung von gezieltem und verdecktem pharmakologischem Cognition Enhancement. <?page no="234"?> 13 Ethische Bewertung der Ziele, Mittel und Folgen des Stimulanziengebrauchs im Kontext von pharmakologischem Cognition Enhancement 13.1 Diskussion der ethischen Vertretbarkeit der Ziele des pharmakologischen Cognition Enhancement Aufgrund seiner besonderen Existenzweise ist der Mensch genötigt sich selbst zu formen (3.7. bzw. Engels, 2001: 105), daher kann das allgemeine Ziel, sich zu verändern, nicht aus ethischen Gründen abgelehnt werden. Das speziellere Ziel des pharmakologischen Cognition Enhancement (PCE), die Verbesserung der geistigen Aktivität und Leistung, erscheint ebenfalls prima facie unproblematisch. Es stellt sich ungefährlich dar, denn die geistige Leistung ist eine typische und besonders wichtige Leistung des Menschen. Mancher denkt an das Streben nach Erkenntnis, das mit allen Mitteln verfolgt werden sollte. Dies zu fördern ist aus ethischer Sicht erlaubt, wenn nicht gar geboten. Neben diesem expliziten Ziel lassen sich implizite Ziele bzw. Intentionen ausmachen, die mit PCE verfolgt werden, von denen die meisten positiv und ebenfalls ethisch unbedenklich erscheinen. Erst durch die in den folgenden Abschnitten angestellten Überlegungen dazu, was die Ziele konkret bedeuten, wenn sie durch PCE verfolgt werden, stimmen einige davon nachdenklich. Es zeigt sich dabei, dass hier die Bewertung von Ziel und Mittel nicht immer ganz getrennt vorgenommen werden kann. Da die diskutierten Ziele häufig als Rechtfertigungsgrund für PCE genannt werden, sind Einwände verständlicher, wenn sie direkt dem positiven Ziel gegenübergestellt werden. Es geht also nicht nur darum, zu klären, ob ein Ziel für sich genommen akzeptabel ist, sondern ob es als Rechtfertigungsgrund für PCE akzeptabel ist. Die Frage, welche Bewusstseinszustände wir uns wünschen oder den Heranwachsenden und anderen Mitmenschen zugestehen, stellt sich meines Erachtens im Zusammenhang mit PCE nicht. PCE-Interessenten streben ganz offensichtlich nicht nach einer Bewusstseins-veränderung wie die Drogenkonsumenten in den 60iger und 70iger Jahren und wohl auch heute noch. PCE-Nutzer wollen weder Töne sehen noch Farben hören. Nicht das Erreichen bislang unbekannter Qualitäten ist das Ziel, sondern eine Verbesserung bekannter Größen, um den Standards und Erwartungen in der Schule gerecht zu werden, um ein Examen im Studium oder an dessen <?page no="235"?> Ethische Vertretbarkeit der Ziele des PCE 235 Ende zu bestehen oder besser zu bestehen und um im Beruf schneller zu sein, länger und/ oder mehr zu arbeiten. Gerald Hüther wird mit dem Satz zitiert „Ritalin ist die Droge für die Pflichterfüller-Generation.“ (ZEIT ON- LINE CAMPUS, 2009). Vielleicht haben deshalb so viele nichts dagegen einzuwenden. 13.1.1 Kompensation von Schlafentzug und Erhöhung der Arbeitssicherheit Häufig wird die Erhöhung der Sicherheit bei notwendiger Nachtarbeit, wie z.B. im medizinischen Sektor oder im Flugbetrieb, als legitimes und legitimierendes Ziel von PCE genannt. Zunächst ist klarzustellen, dass es sich hier nicht um eine Verbesserung der geistigen Leistungsfähigkeit, also nicht um PCE im eigentlichen Sinne handelt, sondern um die Kompensation von Einbußen durch Schlafentzug. Unter welchen Umständen und in welchem Ausmaß fehlender Nachtschlaf zu Einbußen in der kognitiven Leistungsfähigkeit führt, kann hier nicht im Detail untersucht werden, doch nicht jeder Nachtdienst wird unter verminderter Leistungsfähigkeit geleistet, d.h. Nachtarbeit muss nicht automatisch zu Einbußen in der Leistungsfähigkeit führen. Oft ist ja nicht der Nachtdienst selbst, sondern die fehlende Möglichkeit danach auszuruhen, das eigentliche Problem. Wachzeiten von 36 Stunden, wie in den entsprechenden Tests (9.3.2 und 9.9.1), sollten in der Arbeitswelt nicht angestrebt, sondern vermieden werden. Des Weiteren ist auf die falsche Annahme hinzuweisen, dass schlafmangelbedingte Minderungen der kognitiven Leistungsfähigkeit durch Stimulanzien in einer Weise kompensiert werden könnten, dass der Betroffene so agiert, als hätte er keinen Schlafmangel. Die Person agiert unter Schlafmangel zweifellos mit PCE wacher als ohne PCE, jedoch auf jeden Fall anders als ohne Schlafmangel. Dies ist meines Erachtens nicht ausreichend untersucht. Die Verhaltensänderung durch Stimulanzien, die mit verkürzter Reaktionszeit durch reduzierte Verarbeitungszeit und mit erhöhter Fehlerquote einhergeht, kann in Stresssituationen ein besonderes Risiko bedeuten. Als Hinweis darauf mag die Andeutung verstanden werden, dass ein tragischer Militärunfall deshalb geschehen konnte, weil die Piloten unter der Einwirkung von Amphetamin standen (Lieb, 2010: 92). Damals kamen in Afghanistan vier kanadische Soldaten bei einem versehentlichen Angriff amerikanischer Piloten („friendly fire“) um und die Überlegung geht in die Richtung, dass die Piloten durch die Amphetaminwirkung zu schnell reagierten und das fragliche Ziel bombardierten bevor klar war, dass es sich nicht um ein feindliches Objekt handelte. Obwohl es auf jeden Fall plausibel ist, dass ein erhöhtes Ausgangserregungsniveau durch extremen Stress wie bei Kampfpiloten, oder auch bei Chirurgen, durch Amphetaminein- <?page no="236"?> Ethische Bewertung des Stimulanziengebrauchs im Kontext von PCE 236 nahme zur vermehrten Fehleinschätzung von Situationen führen können (Lieb, 2010: 135), ist das Beispiel der Piloten nicht unproblematisch. Der Zusammenhang von Medikamenteneinnahme und Unfall ist so nicht unmittelbar nachweisbar; sicher ist dieser Unfall nicht die Folge von Selbstüberschätzung oder unangemessen riskantem Verhalten. Die Piloten haben sicher zu schnell reagiert, aber man muss sehen, dass es in der Situation des Krieges vor allem riskant ist, zu langsam zu reagieren. Daher fällt die Nutzen-Risiko-Abwägung für diese Situation anders aus: Das Risiko der Fehlleistung durch Übermüdung oder durch zu langsame Reaktionen ist offenbar größer als durch Amphetamineinnahme beschleunigte Reaktionen. Dies ist mit zivilen Situationen nicht zu vergleichen. 120 . Für die zivile Nutzung ist auf jeden Fall zu bedenken, dass die Reaktion auf das Medikament mit dem Ausgangserregungsniveau variieren kann und dass die Gefahr einer vorschnellen Reaktion nicht ausgeschlossen werden kann. Da die Sicherheit von ziviler Nachtarbeit durch Medikamente nicht gesichert erhöht werden kann, stellt sie kein legitimierendes Ziel von PCE dar. Vielmehr sollte man sich um Alternativen bemühen. Zunächst wäre zu prüfen, ob der Schlafentzug als Ursache für diesen Zustand vermeidbar ist und ob er vermieden werden sollte, d.h. welche Anlässe für Nachtarbeit und Schlafentzug gerechtfertigt und welche zu vermeiden sind. Es ist zu prüfen, ob die Ansprüche derer, die nächtliche Dienste in Anspruch nehmen, gerechtfertigt sind und so weit reichen, dass diejenigen, welche die Dienste leisten, ihre Gesundheit gefährden. Notwendige Nachtarbeit ließe sich durch ausreichend Personal und gute Arbeitsplanung so gestalten, dass auch ungünstige Zeiten ohne dramatische Einbußen abgedeckt werden könnten. Dies wären in diesem Zusammenhang wichtige Forderungen. Wenn es also um Personalentscheidungungen geht, die möglicherweise zu Überlastungen führen, müssen wirtschaftliche Interessen gegenüber dem Risiko von Fehlhandlungen und möglichen Gesundheitsgefährdungen der Betroffenen abgewogen werden. 13.1.2 Erzielen eines Konkurrenzvorteils Die Enhancementfrage kann nicht diskutiert werden, ohne den Bezug zum Leistungsprinzip in unserer Gesellschaft und zum Leben in Konkurrenz herzustellen. Hoher Stress, Arbeitsplatzunsicherheit und Konkurrenz sind akzeptierte Beweggründe (Kordt, 2009), aus denen Millionen Menschen zu Amphetaminen und anderen Medikamenten greifen. Sie hoffen trotz zweifelhafter Vorteile und eindeutiger Nachteile, mehr Arbeit in derselben Zeit 120 Auf die weitere Diskussion dieses Beispiels wird verzichtet, weil der militärische Kontext ganz eigene, neue, unter Umständen schwierige Analysen erforderlich machen würde. <?page no="237"?> Ethische Vertretbarkeit der Ziele des PCE 237 leisten zu können, vor allem mehr als ihre Kollegen, Kommilitonen oder Mitbewerber. Einen Konkurrenzvorteil gegenüber anderen zu erlangen ist das vorrangige Ziel von Enhancement. Sogar Situationen, die auf den ersten Blick vielleicht nicht als Konkurrenzsituationen empfunden werden, wie das Schreiben eines Buches, unterliegen in unserer Gesellschaft dem Leistungs- und Konkurrenzprinzip. Konkurrenz und das Streben nach Konkurrenzvorteilen ist jedoch ein unvermeidlicher Bestandteil des Lebens und gehört folglich auch zum Wesen des Menschen, selbst wenn dies in vielen Lebensbereichen nicht offen zu Tage tritt. Damit entzieht sich das Ziel, Konkurrenzvorteile zu erstreben, in gewisser Weise der ethischen Beurteilung, denn dieser prinzipielle Zug ist nicht zu ändern. Umso mehr sind die Mittel und Folgen von Enhancement zu beachten, denn Menschen sind in der Lage, bezüglich der Mittel, mit denen Konkurrenz ausgetragen wird, Vereinbarungen zu treffen, falls die Folgen unerwünscht sind. Schöne-Seifert stellt die wichtige Frage, „ob der in unseren westlichen Gesellschaften bereits bestehende Leistungsdruck immer weiter genährt werden sollte.“ (Schöne-Seifert, 2009: 353). Damit hinterfragt sie die uneingeschränkte Geltung des Konkurrenzprinzips, stellt jedoch auch die Möglichkeit zur Diskussion, dass das Problem von hohem Leistungsdruck ein Übergangsproblem sein könnte (ebd.: 351). 13.1.3 Mehrarbeit und Zeitsparen durch Arbeitsverdichtung Durch schnelleres, längeres Arbeiten ohne Pausen und notfalls zu ungünstigen Zeiten lässt sich die Arbeit verdichten (9.3.3). Ein mögliches Ziel für PCE-Nutzer könnte es dabei sein, dadurch Mehrarbeit zu leisten, ein anderes könnte sein, Zeit „einzusparen“ um mehr Freizeit zu gewinnen. Letzteres ist wohl auf den ersten Blick ethisch unbedenklich, es bleibt nur fraglich, ob die hier diskutierten Mittel zu seiner Erreichung taugen. Die Erfahrung zeigt, dass Menschen, die versuchen durch Beschleunigung Zeit zu „gewinnen“, zeitliche Freiräume stets mit neuer Arbeit auffüllen. Man könnte das als „Momoeffekt“ bezeichnen, entsprechend der Geschichte von Michael Ende, in der er beschreibt, dass die beschleunigte Verrichtung von Arbeit nicht zu mehr Freizeit und Freiheit führt, sondern zu mehr Arbeit in derselben Zeit, also zu Arbeitsverdichtung und zu Unfreiheit (Ende, 1973). Für diese Menschen müssten andere Ziele formuliert werden, etwa die richtige Balance zwischen Arbeit und Freizeit, unter Umständen eine positivere Einstellung zur Arbeit, die Gestaltung eines positiveren Arbeitsumfeldes oder Möglichkeiten zu finden, Arbeit zu tun, die einem die Zeit wert ist. Diese Themen sind alle nicht Teil dieser Arbeit. Es ist jedoch festzuhalten, dass das Ziel, im obigen Sinne Zeit zu „sparen“, in dem Moment ethisch relevant wird, in dem es für andere propagiert wird <?page no="238"?> Ethische Bewertung des Stimulanziengebrauchs im Kontext von PCE 238 und in dem behauptet wird, es ließe sich durch PCE erreichen, obwohl damit nur andere Probleme verdeckt werden (13.4.2). Um das Ziel, ein größeres Pensum zu bewältigen, z.B. im Arbeitsprozess oder bei der Prüfungsvorbereitung, zu bewerten, ist zu klären, wie die Zielsetzung erfolgt. Wird das Ziel selbst, aus freien Stücken gesetzt, dann ist es nicht unmittelbar ethisch bedenklich. Werden dagegen die Arbeitsanforderungen von außen so umfangreich festgelegt, dass sie überhaupt nicht zu bewältigen sind, obwohl die Arbeit an sich für den Betroffenen angemessen ist, und wird deshalb nach unterstützenden Möglichkeiten gesucht, dann wird die Zielsetzung bzw. die Zielvorgabe ethisch bedenklich. Dasselbe gilt, wenn das Ziel unter sozialem Druck angestrebt wird (s.13.4.1). Ethisch bedenklich sind hier vor allem die Folgen (s.13.3.2). 13.1.4 Verbesserung der sozialen Fähigkeiten? Als Ziel der Stimulanziennutzung wird hin und wieder die Verbesserung des sozialen Verhaltens genannt, gleichzeitig mit der Verbesserung der geistigen Leistungsfähigkeit. Wenn damit die Förderung der sozialen Kompetenzen der Menschen gemeint ist, dann ist dieses Ziel aus ethischer Sicht geboten. (Wohlgemerkt, über die Mittel ist damit noch nichts gesagt.) Falls die Forderung jedoch beinhalten soll, Menschen durch Medikamente weniger aggressiv zu machen, konfliktvermeidend und allgemein ruhig, kommt der Verdacht auf, dass hier ein Missverständnis darüber vorliegt, was unter einem sozial kompetenten Menschen zu verstehen ist. Denn dies ist nicht ein Mensch, der „ruhig gestellt" wurde, sondern einer, der seine sozialen Kognitionen, wie sie unter 7.2 skizziert wurden, wohl ausbilden konnte (s.7.4 bes. 7.4.3; Eckensberger und Plath, 2006: 442-447) und in der Lage ist, seine sozialen Bezüge zu realisieren. Dazu gehören die Interpretation der eigenen Handlungen und der Handlungen anderer Individuen, das Denken über sich und andere, und die Beziehungen zwischen sich und den anderen. Er ist zur Auswahl und Verarbeitung sozialer Information fähig und kann über sich und die soziale Welt Urteile fällen und Entscheidungen treffen (ebd.: 410). Als eigentliches Kriterium sozialer Kognition wird das Verstehen von Einzelelementen der menschlichen Handlung betrachtet, das ein Verständnis des Gesamtzusammenhangs ermöglicht (ebd.: 425; 7.2). Es befähigt die Individuen, ihre Handlungen zu koordinieren, das bedeutet auch Konflikte zu lösen ohne dabei aggressiven Impulsen freien Lauf zu lassen. Soziale Kompetenzen werden im Wesentlichen in angemessenen sozialen Interaktionen entfaltet und weiterentwickelt (s.u.). Bei dem Ziel, aggressive Impulse einzudämmen, ist zu differenzieren zwischen Aggression als Emotion oder Grundtrieb und aggressivem Verhalten mit Gewaltbereitschaft. Aggression im ersten Sinne ist ein wichtiger <?page no="239"?> Ethische Vertretbarkeit der Ziele des PCE 239 Bestandteil der Antriebskräfte, die Verhalten hervorbringen. Bei der Beurteilung von aggressivem Verhalten im Kindes- und Jugendalter sollte man wissen, dass vor allem Jungen im Laufe des Heranwachsens ihre aggressiven Antriebskräfte kennenlernen und mit ihnen umgehen lernen müssen. Es ist notwendig sie darin zu unterstützen, ein positives Verhalten zu entwickeln und nicht jeden Anflug von Aggressivität zu kriminalisieren. Neben der Fähigkeit, sich in andere Personen hineinzuversetzen, sind als wichtige Voraussetzung für ein sozial sinnvolles Verhalten auch das „Sichselbst-kennen“ und eine gewisse Kontrollfähigkeit zu nennen, sodass eine ausgewogene Mischung der verschiedenen Verhaltenskomponenten zustande kommt. Das Ziel bei gesunden Menschen, eine Verhaltenskomponente zu unterdrücken, ist vor diesem Hintergrund nicht sinnvoll. Kommt es zu einer Störung der Balance mit überschießendem aggressivem Verhalten, z.B. durch unzureichende Interaktions-Bedingungen und - Möglichkeiten (7.4.3), so kann das Zusammenleben gefährdet werden. Wann in solchen eine medikamentöse Regulierung des Verhaltens medizinisch angezeigt ist, muss in einer sorgfältigen Diagnosestellung geprüft werden, die eine unnötige Medikalisierung von Erziehungs-, Beziehungs- und Lebensproblemen ausschließt. 13.1.5 Lernziele und Standards erreichen durch Stimulanzien? Lernen, genauer gesprochen, das explizite Lernen von bestimmten Inhalten zu fördern, ist ein legitimes, ja ein gebotenes Ziel in Bildung und Ausbildung. Ebenso das Erreichenwollen von Standards. Die Frage ist, welche Mittel dazu geeignet und vertretbar sind (s.u.), doch darüber kann man offen diskutieren. Problematisch sind tatsächlich Medikalisierungen, denn obwohl es kein explizites Ziel der Stimulanzienanwendung ist, Sozialisation und Erziehung zu unterstützen, kommt es leicht zur Medikalisierung von Problemen in diesem Bereich (s.12.1.2). Zu hinterfragen ist, wenn für Heranwachsende Leistungsziele formuliert werden, ohne sie ausreichend zu den Fähigkeiten und Potentialen der Betroffenen in Beziehung zu setzen, und wenn diese dadurch in eine Überforderungssituation geraten. Bei Kindern und Heranwachsenden ist das vor allem deshalb problematisch, weil ihre Zielentscheidungen wesentlich durch Erwachsene bestimmt werden und sie sich meist nicht durch eigenen Entschluss aus einer Überforderungssituation befreien können. Skrodzki (2000: 38) spricht über Kinder mit ADHS, wenn er die Schule als enges Tor beschreibt und die Zeit danach als Chance bezeichnet, ganz andere Fähigkeiten zur Geltung bringen zu können. Doch wäre es nicht denkbar, dass die gesellschaftlichen, institutionellen und familiären Normerwartungen auch den Fähigkeiten vieler „normaler“ Kinder nicht gerecht werden? Dieser Eindruck entsteht, wenn man z.B. die Situation in der vierten Grundschulklasse in Baden-Württemberg be- <?page no="240"?> Ethische Bewertung des Stimulanziengebrauchs im Kontext von PCE 240 trachtet, in der sich viele Kinder mit der Erwartung konfrontiert sehen, in erster Linie den Anforderungen für den Übergang auf das Gymnasium zu entsprechen. Mit diesem Beispiel soll nicht die Diskussion um strukturelle Veränderungen im Schulsystem aufgenommen, sondern das Problem der von außen kommenden Erwartungen vergegenwärtigt werden. Seit Eltern die Schulkarriere ihrer Kinder fest planen und eng lenken sind die Belastungen für die Kinder vor allem in der vierten Klasse gestiegen. Selbstverständlich brauchen Kinder orientierende Erwartungen seitens für sie bedeutender Erwachsener, doch diese müssen den Fähigkeiten der Betroffenen angemessen sein. Auf den Wunsch nach „besseren Kindern“ geht auch der Bericht des President’s Council ein (President’s Council on Bioethics, 2003: 71f.) Zeitungsberichte und persönliche Mitteilungen geben Hinweise auf einen gestiegenen Beratungs- und Therapiebedarf von Kindern und Jugendlichen seit der Einführung des 8-jährigen Gymnasiums in Baden- Württemberg (persönliche Mitteilung von Therapeuten; Loga, 2011 zitiert nach: dpa in Schwäbisches Tagblatt, 15.08.2011). Falls sich dies für weite Teile des Landes bestätigt, könnte es ein Hinweis auf teilweise unangemessene Anforderungen sein, bei denen nicht die gesunde Gesamtentwicklung oder die Entwicklung der Persönlichkeit der Heranwachsenden im Vordergrund stehen, sondern bestimmte von außen kommende Erwartungen. 121 . Werden solche Ziele bzw. institutionellen Zwangssituationen mit einer Haltung kombiniert, die jeden Misserfolg unter allen Umständen zu vermeiden sucht und gleichzeitig keine Zielkorrekturen erlaubt, dann kann daraus eine Überforderungssituation entstehen, die unter Umständen in eine Not- und Zwangssituation münden kann, in der leicht jedes nur erdenkliche Mittel zur Zielerreichung akzeptiert wird. Ist die Erfüllung unangemessener, langfristiger, privat oder staatlich gesetzter Bildungsziele das Ziel bei der Stimulanzienanwendung, dann hat dieses Ziel eine ethisch problematische Seite, die sich durch die Kombination mit der Konkurrenzsituation verschärft. Das Ziel, drohenden Misserfolg kurzfristig zu vermeiden, ist differenziert zu betrachten: Bei jungen Kindern ist es die Aufgabe von Eltern und Pädagogen, Situationen zu schaffen, in denen Erfolgserlebnisse möglich sind; dann wird dieses Ziel als akute Notlösung überflüssig. Dabei ist wiederum zu beachten, dass ein Übermaß an Forderungen nicht durch ein Übermaß an Förderungen kompensiert werden kann. Beides muss angemessen sein. Gleichzeitig ist es nützlich und notwendig, mit Misserfolgen umgehen zu lernen und aus Misserfolgen zu lernen. Sie sind älteren Kindern und Heranwachsenden durchaus zuzumuten und sollten nicht als 121 An dieser Stelle kann nicht diskutiert werden, welche Seite in erster Linie für diese Erwartungen verantwortlich ist. <?page no="241"?> Ethische Vertretbarkeit der Ziele des PCE 241 Katastrophen angesehen werden, die jedes Mittel der Vermeidung rechtfertigen. Schließlich ist es ein Irrtum, zu glauben, nur glatte Lebensläufe seien gute Lebensläufe. Die „Veränderungspotenz“ von Störungen, Hindernissen und Krisen wirkt konstruktiv und initiiert „Regulationen und Reflexionen“, die die Entwicklung einer reifen Persönlichkeit voranbringen (Eckensberger und Plath, 2006: 440; 7.4.2, 10.2.3). Zum Problem werden Misserfolge erst, wenn Menschen in dieser Situation allein gelassen, verachtet oder auf andere Weise bestraft werden. Höchst problematisch ist in diesem Zusammenhang bedingte Akzeptanz, bei der Heranwachsende die Erfahrung machen, dass sie von wichtigen Bezugspersonen nur unter Vorbehalt akzeptiert werden; damit ist gemeint, dass sie sich nur dann ganz akzeptiert und geliebt fühlen können, wenn sie ein bestimmtes Ziel erreichen. Eine solche Haltung widerspricht dem Grundgedanken der Kinderrechte (11.3.2). Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf Respektierung ihrer Lebenssituation als Heranwachsende und Lernende mit den dazugehörenden Misserfolgen und Rückschlägen (Hartman, 2009; 11.3.2), zu der interessierte Begleitung unbedingt dazugehört. Bildungsziele sollten also für die, die sie verfolgen sollen und/ oder wollen, angemessen sein, um Notsituationen, die durch inadäquate Zielsetzungen entstehen, zu vermeiden. Das Ziel, Misserfolge zu vermeiden, ist zwar zu begrüßen, es rechtfertigt jedoch nicht die Risiken der Verwendung von Medikamenten. Stattdessen sollten Misserfolge von Bezugspersonen mitgetragen und mit aufgearbeitet werden. Bisweilen wird eine vorübergehende PCE-Nutzung angesprochen, deren Ziel z.B. die Erleichterung der schwierigen Situation vor und während Prüfungen ist. Obwohl das Anliegen verständlich ist, muss es doch kritisch bewertet werden. Dabei geht es an dieser Stelle nicht um die Frage des Konkurrenzvorteils oder des unverdienten Erfolgs, sondern um den Sinn einer Prüfung und um die Frage, ob dieser Sinn durch Enhancement während der Prüfung ausgehöhlt wird. Eine umfassende Erörterung des Sinns von Prüfungen kann an dieser Stelle nicht geleistet werden, doch ein besonders wichtiger Gedanke soll aufgegriffen werden. Er bezieht sich auf Überlegungen, die dahin gehen, eine Leistung auf „leistungsrelevantes Talent“ und „mentales Talent“ zurückzuführen (Pawlenka, 2010, bezogen auf Birnbacher, 2006). In dem Beitrag wird eine Zustimmung zur medikamentösen Förderung des mentalen Talentes, z.B. bei einem Musiker, diskutiert. Im Zusammenhang mit den hier angesprochenen Prüfungssituationen, welche die Fähigkeit zu wissensbasierten Tätigkeiten überprüfen sollen und weitreichenden, lebenslangen Legitimierungen vorgeschaltet sind, erscheint ein solcher Ansatz nicht sinnvoll. Zweifellos setzt sich eine Leistung immer aus verschiedenen Komponenten zusammen, sei es aus motorischen und verschiedenen mentalen Komponenten, oder, bei einer rein kognitiven Leistung, z.B. aus dem Zusammenwirken von Arbeits- und <?page no="242"?> Ethische Bewertung des Stimulanziengebrauchs im Kontext von PCE 242 Langzeitgedächtnis sowie Selbstkontrollfähigkeit usw. Der Sinn einer Prüfung liegt jedoch wohl nicht darin, eine Teilleistung eines Kandidaten zu testen, sondern darin, seine Gesamtleistung zu testen. Dabei ist das Bewältigen von so schwierigen Situationen wie Prüfungssituationen ebenso Teil der Prüfung wie ihr inhaltlicher Aspekt, weil in der Zukunft ebenfalls Gesamtleistungen erforderlich sind. Nach diesen Überlegungen kann die kurzfristige Erleichterung einer Prüfungssituation, also wenn sie durch PCE oder andere vorübergehend wirksame Mittel erreicht werden soll, nicht als legitimes Ziel angesehen werden. Anders bei einer Prüfungserleichterung durch langfristiges mentales Training. Die dabei erlernten Fähigkeiten stehen dem Betroffenen auch für seine späteren Tätigkeiten zur Verfügung. Ähnlich wie bei den Anforderungen für Heranwachsende ist es auf jeden Fall nötig, Prüfungsinhalte und -umfänge für die Teilnehmer regelmäßig zu überprüfen und sowohl mit den Vorbereitungsmöglichkeiten als auch, soweit möglich, mit den künftigen Erfordernissen des angestrebten Abschlusses abzugleichen. Wie bereits erwähnt werden Erwachsene unter Umständen ebenfalls in eine Überforderungssituation gebracht, wenn Leistungsziele bzw. Standards fremdgesteuert nach oben gesetzt werden. Sollte Betroffenen in Überforderungssituationen nicht durch freien Zugang zu entsprechenden Medikamenten geholfen werden, die Situationen zu bewältigen? Kritisch an dieser Lösung ist zunächst die potentielle Gesundheitsgefahr durch Medikamente und durch Überanstrengung (13.3.2). Weiter führt sie dazu, dass die neuen Standards dann für alle bewältigbar erscheinen und scheinbar zu Recht eingefordert werden. Damit würden Veränderungspotentiale, die auf eine Verbesserung der Situation hinwirken können, unterdrückt (10.1.2), und das ist nicht wünschenswert, weil es letztendlich dem Wohlbefinden aller entgegenwirkt (11.1). Greifen die Betroffenen in einer Überforderungssituation zu Medikamenten, ist außerdem ihre Entscheidung für PCE nicht wirklich autonom. Eine autonome Entscheidung wäre jedoch wie bereits erwähnt aus ethischer Sicht eine Mindestforderung für eine akzeptierende Bewertung von PCE. Diese Überlegung zeigt einmal mehr, wie schwierig eine autonome Entscheidung für PCE sichergestellt werden kann (s.13.4). Für Fälle, in denen sich Erwachsene durch eine unrealistische Selbsteinschätzung oder durch Fehleinschätzung der Aufgabe selbst in eine Überforderungssituation bringen, sollten die Möglichkeiten verbessert werden, zurückzustecken. Das Ziel, Standards zu erreichen ist nach dem Gesagten ethisch unbedenklich, solange die Standards freiwillig gewählt und angemessen sind und nicht zu einer Notsituation führen. Da diese Bedingungen in vielen Fällen nicht vorliegen, ist das Ziel, Standards mit Hilfe von PCE erreichen zu wollen, häufig indirekt ethisch problematisch. <?page no="243"?> Ethische Vertretbarkeit der Ziele des PCE 243 13.1.6 Selbstvervollkommnung In der Enhancementdiskussion wird als Ziel von Enhancement immer wieder die Selbstvervollkommnung des Menschen genannt (z.B. Lanzerath, 2002, Kipke, 2010, 2011), wobei jeweils ein anderes Verständnis von Selbstvervollkommnung zugrunde gelegt wird. Bei der Gleichsetzung des Begriffs „Selbstvervollkommnung“ mit Begriffen wie „Training“, „Selbsterziehung“, „Selbstsorge“, „Arbeit an sich selbst“ oder „Selbstbildung“ (Kipke, 2010) wird die Beschreibung der Eigentätigkeit eines Individuums als gemeinsames Merkmal betont und darauf liegt der Fokus des Artikels. Der Begriff der Selbstvervollkommnung wie ihn wohl Dirk Lanzerath (2002) versteht impliziert zusätzlich ein Ziel: das Ziel der Vollkommenheit, das mit unterschiedlichen Mitteln angestrebt werden kann, z.B. durch PCE oder durch eine bestimmte Art von Training. Doch wann ist ein Mensch vollkommen? Existiert ein optimaler Zielpunkt? Eine konkrete, allgemein akzeptierte Vorstellung davon, wie ein vollkommener Zustand bzw. wie der optimale Mensch sein sollte, steht nicht zur Verfügung, weder für den Menschen als Art noch für einen einzelnen, konkreten Menschen. Überlegungen dazu gehen in verschiedene Richtungen. Eine Konkretisierung der Vollkommenheitsvorstellung könnte sich darauf beziehen, was ein Mensch kann. Ist ein Mensch vollkommen, der allen Anforderungen, selbst gestellten und fremden, gerecht wird? Einer, der einfach alles kann? Womöglich einer der allmächtig ist? Vollkommenheit in dieser Form wäre als Ziel nicht akzeptabel. Das Erreichen dieses Zieles könnte nur ein unmenschliches Monster entstehen lassen, das nicht in der Lage ist, in einer sozialen Gemeinschaft zu leben, denn gerade die Fehlbarkeit und Verletzlichkeit des Menschen, die neben anderen als typische Wesensmerkmale angesehen werden, bringen ihn dazu, sich sozial zu verhalten und soziale Gemeinschaften zu bilden, wie schon Charles Darwin sagte (Engels, 2007: 145ff). Allein schon aus diesem Grund müsste ein solches Ziel abgelehnt werden. Dies vor allem dann, wenn die Vollkommenheitsvorstellung die Möglichkeit der Macht über andere impliziert, wie das bei der Allmächtigkeitsvorstellung mitschwingt. Gibt es eine positive Konkretisierung der Vollkommenheitsvorstellung? Die Vervollkommnung als das Streben nach einem fiktiven vollkommenen Zustand aufzufassen ist ebenfalls schwierig, weil die Entwicklung des Menschen prinzipiell infinit ist: wie alle Lebewesen befindet er sich solange er lebt in Veränderung, die in einem menschentypischen zeitlichen Rahmen abläuft (6.7). Das Ziel kann also kein bestimmter Zustand sein. Einen brauchbaren Zugang bietet das vorgeschlagene Konzept, das Vollkommenheit als kognitive Ganzheit versteht, bei der Wissenssysteme (Carey and Spelke, 1996) und soziale Kognitionen einschließlich ihrer emotionalen <?page no="244"?> Ethische Bewertung des Stimulanziengebrauchs im Kontext von PCE 244 Basis integriert gedacht werden (7.5) 122 . Auch diese Art Vollkommenheit wird lebenslang angestrebt, aber nie erreicht, dennoch scheint sie konkreter und kann als unerreichbarer Attraktor 123 wirksam werden und dem Streben eine Richtung geben. Vollkommenheit in diesem Sinne hätte kein absolutes Ziel, sondern wäre ein individuelles Ziel und gerade die Offenheit der Entwicklung der Menschen macht ihre Weiterentwicklung prinzipiell möglich. Vollkommenheit wäre damit abgelöst vom Vergleichszwang; sie trüge ihr Maß in sich, da ein hoher Grad an Vollkommenheit einem hohen Grad an Integriertheit der Bedingungen der betreffenden Person entsprechen würde. Da Kognition in ihrer ganzen Plastizität als Entwicklungsgeschehen zu verstehen ist, wäre Vollkommenheit die optimale Integration der optimal entwickelten persönlichen Voraussetzungen. Das Ziel einer so verstandenen Selbstvervollkommnung scheint für sich genommen ethisch vertretbar und wünschenswert. 13.2 Diskussion der ethischen Vertretbarkeit von Stimulanzien als Mittel für pharmakologisches Cognition Enhancement Welche Mittel für die Verbesserung der geistigen Leistungsfähigkeit angemessen sind, wurde schon immer diskutiert z.B. in den Fachgebieten der Lernpsychologie und der Pädagogik. Manche Autoren machen keinen Unterschied zwischen Enhancement durch Unterricht und Enhancement durch technische Mittel z. B. Caplan (2003) oder sehr explizit Greely und Kollegen: „The drugs just reviewed, along with newer technologies such as brain stimulation and prosthetic brain chips, should be viewed in the same general category as education, good health habits, and information technology - ways that our uniquely innovative species tries to improve itself“ (Greely et al., 2008). Mit dieser Sicht haben die Autoren insofern Recht, als nicht die Tatsache eines Unterschiedes der Mittel ethisch relevant ist, sondern seine Bedeutung für die Betroffenen. Diese wird im Wesentlichen durch die Folgen einer Technik, hier der Stimulanzienanwendung (13.3), beschrieben. Dennoch bleiben einige Punkte zu erwähnen bei der Frage, ob Stimulanzien ein ethisch vertretbares Mittel für PCE sind. 122 Hier ist ein Bezug zur Anthropologie Plessners (1928, hier: 1975) möglich: So lässt sich eine Ganzheitsvorstellung aus der Darstellung der exzentrischen Positionalität (3.7) des Menschen entwickeln, die es ihm erschwert, sich als Ganzes zu verstehen und zu erleben. Das Bemühen, verschiedene Aspekte seiner selbst zu integrieren, könnte als Streben nach Vollkommenheit interpretiert werden. 123 Anziehungspunkt, der in der Zukunft liegt und von daher auf die Gegenwart wirkt. Teil der menschlichen Antizipationsfähigkeit. <?page no="245"?> Ethische Vertretbarkeit von Stimulanzien als Mittel für PCE 245 13.2.1 Diskussion der unerwünschten Wirkungen Aufgrund der beschriebenen Risiken und Nebenwirkungen der Stimulanzienanwendung wie Gefahren für das Herz-Kreislaufsystem (Bönisch et al., 2010: 333; Nissen, 2006), Gefahr psychiatrischer Störungen (Bönisch et al., 2010: 339; Lieb, 2010; Smith et al., 2008), Langzeitwirkungen auf die zelluläre Gehirnstruktur mit unklarer Bedeutung (Selemon et al., 2007) und nicht zuletzt die Suchtgefahr (9.6.5; Soyka, 2009; 9.9.2) sind Stimulanzien als Mittel für PCE problematisch. Es zeigt sich auch hier, dass der häufig verwendete Begriff „Nebenwirkung“ irreführend ist, da diese unerwünschten Wirkungen keinesfalls nebensächlich sind. Aus ethischer Sicht wäre es nicht vertretbar, Stimulanzien für gesunde Personen zu verschreiben oder sie ihnen zu verabreichen und dabei die Gefährdung der Gesundheit der Betroffenen in Kauf zu nehmen, denn gesundheitlicher Schaden steht dem Recht auf Wohlergehen entgegen. Grundsätzlich steht es jedem Erwachsenen frei, entsprechend seiner persönlichen Entscheidung ungesunde Dinge zu tun, solange andere nicht davon betroffen sind. Folgen für die Autonomie- und Verantwortungfähigkeit (13.3.4) und Veränderungen in der Handlungsstruktur (13.3.5) wirken jedoch in die interpersonelle und gesellschaftliche Ebene hinein. 13.2.2 Wird das Ziel der Verbesserung kognitiver Leistungsfähigkeit mit Hilfe von Stimulanzien erreicht? Gibt es Alternativen? Falls ein Mensch Arbeitsverdichtung zum Ziel hat, kann er es durch Verwendung von Stimulanzien wahrscheinlich erreichen (9.3). Eine Verbesserung der kognitiven Leistung ist durch Stimulanzien allenfalls in Teilbereichen und unter bestimmten Bedingungen möglich (Elliott et. al., 1997; 9.2.1). Immer wieder wird von Einschränkungen der kognitiven Leistungsfähigkeit berichtet (z.B. Reske et al., 2010; 9.2 bzw. 13.1.6) bzw. von zu hohen Erwartungen, was die Effektivität von MPH und Modafinil angeht (Repantis et al., 2010; 9.7). Das Verbesserungspotential von Stimulanzien ist also nach der Ergebnislage von Tests eher fraglich, möglicherweise schleichen sich mehr Fehler ein und unter Umständen wird das Nachdenken beeinträchtigt (7.3.3; Elliott et. al., 1997; Wright and White, 2003; 9.2.1; 9.3.1). Wird zudem das in Kapitel 7 beschriebene umfassende Verständnis von Kognition zur Grundlage der Bewertung gemacht, kann von einer wirklichen Verbesserung der kognitiven Leistung nicht die Rede sein, da soziale Kognition nicht verbessert wird. Im Gegenteil, die Interaktionsneigung wird durch Amphetamine 124 eingeschränkt (Barkley and Cunningham, 1979, zitiert nach Robbins and Sahakian, 1979; Trott, 2004: 218; Amft, 124 Für Modafinil fehlen entsprechende Untersuchungen <?page no="246"?> Ethische Bewertung des Stimulanziengebrauchs im Kontext von PCE 246 2006 125 ; 9.6.2) und zugleich die Basis für die Ausbildung sozialer Kognition geschwächt. Von einer verbesserten Qualität des Geleisteten, wie immer man das messen könnte, liegen für gesunde Probanden keine Berichte vor. Von Stimulanzien ist gesunden Prüfungskandidaten also eher abzuraten. Hier sei auf einen Selbstversuch hingewiesen, bei dem der Tester berichtet, unter Ritalin® besser zu leisten, dessen Prüfungsergebnis sein Gefühl jedoch nicht so deutlich widerspiegelt (ZEIT ONLINE CAMPUS, 2009). Möglicherweise hat dies mit der euphorisierenden Wirkung der besprochenen Stoffe zu tun, so dass ein Anwender einfach nur das Gefühl bekommt, mit Ritalin® besser zu sein (s. auch 13.1.3 bzw. 13.3.2). Für manchen mag das hilfreich sein, doch für Prüfungen ist PCE aus anderen Gründen dennoch nicht akzeptabel (s.13.1.5). Können Stimulanzien nach diesen Feststellungen ein geeignetes Mittel sein, um das Ziel der Selbstvervollkommnung zu verfolgen? Vollkommenheit in der Konzeption von Ganzheit (13.1.6) beschreibt eine gut integrierte Persönlichkeit, der es gelingt, die unterschiedlichen Aspekte ihrer Persönlichkeit und damit auch unterschiedliche Zustände, in denen sie sich als Person befinden kann, gut zu integrieren. Diese Aufgabe wird durch PCE nicht unterstützt, sondern erschwert, denn die Einnahme von psychoaktiven Substanzen fügt den Zuständen, in denen sich eine Person befinden kann, weitere Zustände, eben die Zustände unter der Substanz, hinzu, die zusätzlich in das Selbstkonzept integriert werden müssen (6.7.). Die Ausbildung einer integrierten Persönlichkeit wird dadurch eher erschwert und damit der Betreffende der persönlichen Vollkommenheit nicht näher gebracht. Außerdem werden durch Stimulanzien Einzelaspekte der Kognition gefördert z.B. Daueraufmerksamkeit (Robbins and Sahakian, 1979; Rapoport et al., 1980; Elliott et al. 1997; Hermens et al., 2007; Lieb, 2010; 9.3.2) andere dagegen eingeschränkt, z.B. Kreativität (Posner und Raichle, 1996; Lieb, 2010; 7.3.3; 9.5), was ebenfalls dieser Idee von Vollkommenheit entgegenläuft. Es ist anzunehmen, dass die Integration im Laufe der Entwicklung fortschreitet und bei Erwachsenen eine gewisse Festigung erfahren kann. Daher ist zu vermuten, dass die Integration umso mehr erschwert wird, je weniger weit die persönliche Entwicklung der betreffenden Person zum Zeitpunkt der Medikamenteneinnahme vorangeschritten ist und je weniger gefestigt ihre Integration bis dahin ist. In der Regel sind also die Folgen für jüngere Personen deutlicher. Der insgesamt mäßige Erfolg dieser PCE-Technik wird dadurch ethisch relevant, dass die Ergebnisse häufig so positiv dargestellt werden, dass sich immer neue Interessenten auf einen Nutzungsversuch einlassen. Nur solange Erwachsene Zugang zu korrekter Information haben, werden sie 125 Im Tiermodell: Schiorring and Randrup, 1971, zitiert nach Robbins and Sahakian, 1979; Beatty et al., 1982, 1984; Vanderschuren et al., 2008; <?page no="247"?> Ethische Vertretbarkeit von Stimulanzien als Mittel für PCE 247 nicht manipuliert. Hier ist die Frage aufzuwerfen, wie viel Informationsarbeit dem Einzelnen zugemutet werden kann bzw. muss, damit er etwa missverständliche Werbebotschaften durchschauen kann (s. 13.4.2). Eine Alternative zu Medikamenten um die kognitive Leistung zu verbessern wäre die Vermeidung von Langeweile, Desinteresse oder Müdigkeit, wobei das letzte einfach durch ausreichend Schlaf zu erreichen ist. Weitere lebensnahe, vernünftige Alternativen schlägt Klaus Lieb vor (210: 138-145): Vernünftige Arbeitsorganisation, Pausen einlegen, für seelische Ausgeglichenheit sorgen und Sport treiben. Nicht zuletzt rät er zu ausreichendem Kaffeekonsum um Leistungseinbußen durch Müdigkeit auszugleichen (9.7). Auch das könnte als Unterstützung zur Arbeitsverdichtung, eingestuft werden, aber als behutsame. Man erkennt daran, dass auch bei der Abgrenzung von Enhancement gegenüber Ernährung ein fließender Übergang besteht, und sich dazwischen, ähnlich wie zwischen Krankheit und Gesundheit, Therapie und Enhancement, eine Grauzone befindet (s.4.2). 13.2.3 Pharmakologisches Cognition Enhancement im Vergleich mit traditionellen Mitteln der Erziehung Manche Autoren sehen die Effekte von Erziehung, guter Ernährung und ausreichend Bewegung sowie Informationstechnologie in derselben Kategorie wie die Wirkung von psychoaktiven Substanzen und anderen Neurotechniken (Greely et al., 2008). Dagegen wird Erziehung in der vorliegenden Arbeit als Überbegriff aufgefasst, der Handlungen beschreibt, durch die ein oder mehrere erziehende Personen versuchen, bei den zu Erziehenden kurz- und langfristig erwünschtes Verhalten zu verstärken oder zur Entfaltung zu bringen. Unter der Annahme, dass in unserer Gesellschaft das langfristige, übergeordnete Erziehungsziel ein mündiges, autonomiefähiges Mitglied der Gesellschaft ist, dient Erziehung zugleich der Anpassung an anerkannte gesellschaftliche Normen und der Entwicklung einer kritischen Haltung gegenüber diesen Normen, so dass schließlich ein Heranwachsender einzelne Erziehungsziele, die er allmählich kennenlernt, in bewusster Entscheidung anerkennen oder in gewissem Umfang ablehnen kann. Die intentionalen Erziehungsprozesse sind Teil des Sozialisationsprozesses, in dem zusätzliche und in bedeutendem Umfang nichtintentionale Umwelteinflüsse wirken. Zur Erziehung werden unterschiedliche Methoden eingesetzt, die überwiegend auf Kommunikation basieren. Autoren wie Greely und seine Kollegen (2008) sind nun offenbar der Ansicht, pharmakologisches Cognition Enhancement (PCE) könne eine Erziehungsmethode sein, die zur Förderung der geistigen Leistungsfähigkeit eingsetzbar ist. Man kann nun fragen, ob und inwiefern sich verschiedene Methoden der Erziehung in ihrer Wirkung <?page no="248"?> Ethische Bewertung des Stimulanziengebrauchs im Kontext von PCE 248 auf das Gehirn unterscheiden und sich dazu die Wirkung verschiedener Stimuli auf das Dopamin-(DA)-System vergegenwärtigen. So fungieren natürliche Belohnungs- und Lernreize, zu denen neben Nahrung und Wasser soziale Kontakte, positiver und negativer Affekt und „Novelty“ gehören, als natürliche Stimuli für das DA-System und wirken als natürliche Motivationsverstärker (8.2.1). Es wurde gezeigt, dass diese im Gehirn nicht in identischer Weise vermittelt werden wie die Effekte elektrischer Stimulationen und psychoaktiver Substanzen (Salamone, 2005), so dass auch unterschiedliche Langzeitwirkungen zu erwarten sind. Es ist also davon auszugehen, dass natürliche Stimuli auf dieser Ebene nicht gleichwertig durch nichtnatürliche Stimuli zu ersetzen sind (8.2.2). Nun ist die Tatsache, dass die unterschiedlichen Stimuli nicht genau dieselben biochemischen Wege nützen, ethisch gesehen nicht unmittelbar problematisch. Zudem könnte man einwenden, dass es gar nicht das Ziel ist, die natürlichen Stimuli zu ersetzen und dass beide sich ergänzen könnten. Bei dem letzten Einwand ist darauf hinzuweisen, dass die Auswirkung von ausgedehntem Gebrauch nichtnatürlicher Stimuli auf die Effektivität der natürlichen Stimuli, also z.B. persönlicher Erziehung, geprüft werden sollte. Die vorhandenen Ergebnisse regen außerdem folgende Überlegung an: Die Tatsache, dass Stimulanzien soziale Kontakte markant reduzieren (Barkley and Cunningham, 1979, zitiert nach Robbins and Sahakian, 1979; Trott, 2004: 218; Amft, 2006 126 ; 9.6.2) und dadurch Interaktionsgelegenheiten eingeschränkt werden, zeigt, dass der Unterschied zwischen Erziehung und PCE nicht nur im biochemischen Bereich liegt, sondern auch auf der interaktiven Ebene. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass persönliche Erziehung bei medikamentöser Unterstützung an Intensität verliert. Persönliche Erziehung ist dadurch gekennzeichnet, dass die erziehende Person in die Kommunikation persönlich involviert ist und sich aktiv um das gewünschte Ergebnis bemühen muss. Im Aufbringen von Zeit und Mühe spiegelt sich die Wertschätzung für das Gegenüber. Durch medikamentöse Unterstützung könnte die persönliche Beteiligung reduziert und dadurch die Lerngelegenheit für das oben formulierte Erziehungsziel des mündigen Gesellschaftsmitglieds eingeschränkt werden (zu den Folgen s. 13.3.5). In anderer zeitlicher Reihenfolge könnten Stimulanzien in gewissem Umfang der Kompensation für einen bereits erfahrenen Mangel an sozialen Erfahrungen, Lernaufforderungen und Lernanforderungen dienen, und zum Ersatz für andere Methoden werden. Diese Konstellation scheint jedoch den Bereich der Risikofaktoren für psychische Störungen zu berühren. 126 Im Tiermodell: Schiorring and Randrup, 1971, zitiert nach Robbins and Sahakian, 1979; Beatty et al., 1982, 1984; Vanderschuren et al., 2008; 9.6.2) <?page no="249"?> Ethische Vertretbarkeit von Stimulanzien als Mittel für PCE 249 Sollten sich diese Annahmen bestätigen, wäre PCE kein Mittel der Erziehung für Kinder und Jugendliche, das ethisch zu rechtfertigen oder zu befürworten wäre. 13.2.4 Motivation und Manipulation durch Stimulanzien? Kognitive Leistung kommt durch viele Faktoren zustande und Motivation ist einer davon. Motivation durch Stimulanzien (Volkow et al., 2004; 9.4.2) unterscheidet sich in ethisch relevanter Hinsicht von bisher bekannten Motivations- und Lernhilfen. So entsteht Motivation etwas zu tun, sich mit einer Sache zu befassen oder etwas zu lernen durch die Eigenschaften von Objekten oder Aufgaben, durch das „Interessantmachen“ von Aufgaben durch andere oder durch die mentale Vorwegnahme erwünschter Handlungsergebnisse. Selbstverständlich entsteht Motivation auch durch die Zuneigung zu wichtigen Bezugspersonen, die erwidert wird, also durch positiven Affekt (Dreisbach and Goschke, 2004). Solche Motivations- und Beeinflussungsversuche müssen ihren Weg über die Wahrnehmung durch das Bewertungssystem nehmen, bis sie auf eine Handlungsentscheidung einwirken können. Ein Handelnder A, der Subjekt B zu einer bestimmten Handlung oder Haltung veranlassen möchte, muss es akzeptieren, wenn seine Aufforderungen, Befehle, Verbote oder Bitten gegenüber B von B abgelehnt werden und B sich weigert, diesen nachzukommen, aus welchen Gründen auch immer. Der Ausgang der Interaktion hat eine gewisse Offenheit, die typisch ist für verständigungsorientiertes Handeln, welches wiederum typisch für menschliche Interaktion ist und erwünscht (Habermas, 1981: 126ff; Eckensberger und Plath, 2006: 427ff; 11.2). Im Gegensatz dazu wird mit Hilfe von Stimulanzien direkt auf der biochemischen Ebene eines Individuums eingegriffen, sein Bewertungssystem wird umgangen (10.1.2) und so das Ergebnis, z.B. das Erledigen einer Aufgabe, mit größerer Sicherheit herbeigeführt. Es kommt seitens des Handelnden A zu einer Verschiebung hin zu einem vermehrt effektorientierten Handeln, welches sich in seiner Reinform auf die Sachwelt richtet und das Ergebnis nach den Gesetzen der Kausalität herbeiführt (Habermas, 1981: 126ff; Eckensberger und Plath, 2006: 427ff; 11.2.). Gerade der Grad der Offenheit des Ausgangs einer Interaktion ist also der entscheidende Unterschied zwischen, verständigungsorientiertem und effektorientiertem Handeln, obwohl vermutlich keines in Reinform vorkommt (11.2). Der Respekt gegenüber einem anderen Menschen gebietet verständigungsorientiertes Handeln, ist Ausdruck der Achtung seiner Würde und ermöglicht die Wahrung seiner Autonomie, wie in der ethischen Grundlagenreflexion dargelegt wurde (11.1; 11.2). Im Kontext von Erziehungssituationen ist verständigungsorientiertes Handeln umso mehr gefordert, als es sich hier um eine asymmetrische Inter- <?page no="250"?> Ethische Bewertung des Stimulanziengebrauchs im Kontext von PCE 250 aktionssituation 127 handelt. Nun sind Erziehungssituationen gekennzeichnet durch eine komplexe, konfliktreiche Konstellation von unterschiedlichen Vorstellungen, Hoffnungen und Wünschen und geprägt durch Vorschlagen, Vormachen, Überzeugen, Überreden und Drängen, wobei die Übergänge zur Manipulation fließend sind. Obwohl sicher alle erzieherisch Tätigen die Verständigungsorientierung für ihr Handeln als angemessen bezeichnen würden, fällt es ihnen oft schwer, die Offenheit des Ausgangs von Interaktionsituationen, also auch die Möglichkeit von alternativen Ergebnissen, zu akzeptieren. Das bedeutet nicht, dass jedes Verhalten und jede Entscheidung von Heranwachsenden ohne weiteres akzeptiert oder hingenommen werden soll bzw. kann, schon deshalb nicht, weil Heranwachsende nur bedingt autonomiefähig sind und ihre Situation oft weder überblicken noch einschätzen können. Hier gilt es immer wieder in Abhängigkeit von der Situation abzuwägen, wie weit die Offenheit gehen kann. Es kommt dabei z.B. darauf an, ob es um unmittelbare Gefährdungen geht oder um Entscheidungen, über die man diskutieren kann. Entscheidend ist, welche Mittel zur Einschränkung der Offenheit als angemessen akzeptiert werden. So besteht inzwischen Einigkeit darüber, dass körperliche Züchtigung kein adäquates Mittel der Erziehung ist, unter anderem, weil die Betroffenen keine Chance haben, auf dieser Ebene zu reagieren. Ebenso müsste eine klare Diskussion geführt werden über die Gefahr, dass Medikamente dazu eingesetzt werden könnten, junge Menschen dazu zu bringen, sich so zu verhalten, wie es Erwachsene von ihnen erwarten. Steven Rose spricht z.B. von Ritalin® als „drugs to control children’s behaviour.“ (2005: 244). Da Heranwachsende auf biochemischer Ebene nicht reagieren können und es deshalb durch Stimulanzien im Umgang mit ihnen zu einer Verschiebung des Handlungstyps hin zu einem effektorientierten bzw. strategischen Typ kommen kann, wäre eine derartige Verwendung von Stimulanzien aus ethischer Sicht nicht zu befürworten. In Erziehungssituationen ist daher höchste Ehrlichkeit der Fürsorgebevollmächtigten gegenüber sich selbst und den Schutzbefohlenen bezüglich der Motive für eine Stimulanzienbehandlung geboten, denn das berechtigte Anliegen, junge Menschen für bestimmte Dinge, die Erwachsene aus guten Gründen für wichtig halten, zu motivieren, birgt die Gefahr, unbewusst einer manipulativen Verwendung von Medikamenten zuzustimmen. Manipulationen (6.5) sind jedoch ethisch nicht vertretbar, denn „…im manipulativen Umgang mit Menschen werden diese zu steuerbaren, verwendbaren, machbaren Objekten degradiert“ (Höffe, 2002: 154). Sie gefährden die Autonomie des Individuums (6), was unter ethischen Gesichtspunkten kritisch zu bewerten ist, wie in der ethischen Grundlagenreflexion ausgeführt wurde (11.1). 127 Von einer asymmetrischen Interaktionssituation spricht man, wenn ein Machtgefälle zwischen den Interaktionspartnern wie z.B. zwischen Eltern und Kindern oder Lehrern und Schülern vorliegt. <?page no="251"?> Ethische Vertretbarkeit der Folgen des PCE 251 13.3 Diskussion der ethischen Vertretbarkeit der Folgen des pharmakologischen Cognition Enhancement durch Stimulanzien 13.3.1 Diskussion der verkürzten Reaktionszeit und der Verkürzung von Abwägungsprozessen Unter 9.3.1 wurde dargestellt, dass Stimulanzien die Reaktionszeit in diversen kognitiven Tests verkürzen können. Das kann gleichzeitig bei gelernten Aufgaben zu Nachteilen führen (Elliott, 1997), z.B. zu einer erhöhten Fehlerzahl, möglicherweise auch in Prüfungen (ohne Nachweis), oder beim Autofahren zu einer erhöhten Unfallgefahr (Silber et al., 2006). Mit Fehlleistungen muss außerdem bei allen anderen Tätigkeiten, die nicht neu sind, also bei allen Alltagsverrichtungen und Dienstleistungen (Lieb, 2010: 135), gerechnet werden. Daraus ergeben sich als ethische Aspekte die mögliche Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer, ebenso die mögliche Gefährdung von Mitmenschen durch Minderleistung in den Alltagsabläufen oder bei Dienstleistungen, die bislang noch nicht untersucht wurden. Solche Gefährdungen wären aus ethischer Sicht nicht hinnehmbar. Ein denkbarer Einwand wäre, dass die Nutzer auf das Autofahren und auf berufliche Tätigkeiten verzichten könnten, doch die Erfahrung mit anderen psychoaktiven Substanzen wie z.B. Alkohol zeigt, dass dies nicht zuverlässig eingehalten wird. Außerdem wäre ja häufig gerade das Ziel beruflich zu profitieren. Einem weiteren Einwand zufolge könnte es Situationen oder Arbeitsprozesse geben, in denen langwierige, bewusste Abwägungsprozesse, wie sie vielleicht für logische Schlussfolgerungen nötig sind, als verzichtbar angesehen werden. So hängt es nicht nur vom Aufgabentyp ab, ob die Stimulanzienwirkung als erwünscht bewertet wird, sondern auch vom erwünschten Charakter des Ergebnisses einer kognitiven Arbeit. Um dies zu erklären, sei an die Assoziationsaufgaben erinnert, bei denen das Ergebnis in Abhängigkeit von der zur Verfügung stehenden Zeit variiert (Posner und Raichle, 1996; 7.3.3). Unter Zeitdruck werden nur starke Assoziationen aktiviert, schwächere nicht, d.h. der erste Impuls muss sofort eine Reaktion auslösen. Nimmt man an, dass auch bei einer medikamentös beschleunigten Reaktion der erste Impuls zu der Reaktion führt, die auf einer starken Assoziation basiert, könnte das unter Umständen erwünscht sein, denn es besteht durchaus eine Tendenz, alles möglichst schnell und kurz erledigen zu wollen bzw. zu sollen. Die Forderung, sich auf das „Wesentliche“ zu beschränken, ist häufig zu vernehmen und es kommt dann nur darauf an, dass der Betroffene ausreichend auf das, was in dem jeweiligen Kontext als das „Wesentliche“ gilt, geschult ist. In diesem Sinne könnte es z.B. erwünscht sein, Entscheidungen unter einem <?page no="252"?> Ethische Bewertung des Stimulanziengebrauchs im Kontext von PCE 252 einzigen Gesichtspunkt sehr schnell zu treffen, z.B. dem der kurzfristigen Gewinnmaximierung, und andere Gesichtspunkte, z.B. der langfristigen Stabilität, der Sicherheit, der Gesundheit oder ökologischer Folgen auszublenden. Falls Stimulanzien solche Einschränkungen, die ja auch ohne Medikamente praktiziert werden, unterstützen und verstärken, mag ihre Wirkung in bestimmten Kontexten von bestimmten Beteiligten erwünscht sein. Dies kann jedoch leicht zu einer Funktionalisierung der Betroffenen führen, die unter den oben erläuterten ethischen Gesichtspunkten kritisch zu bewerten wäre. Da Abwägungsprozesse zu Kritik führen können, ist davon auszugehen, dass dort, wo Kritik unerwünscht ist, gerne zu Gunsten von Reaktionszeitverkürzungen bzw. vergrößertem Arbeitspensum auf Abwägungsprozesse verzichtet werden würde. Einer der genannten Amphetamineffekte auf Verhaltensebene ist ja Kritiklosigkeit (Starke, 2010: 197; 9.1.3, 10.1.2). Wird die Wirkung, die in diese Richtung läuft, unterstützt oder ausgenützt, würde die Autonomiefähigkeit der Betroffenen gefährdet. Diese Überlegungen zeigen, dass auch die zunächst unproblematisch erscheinende Reaktionszeitverkürzung ethisch problematische Aspekte aufweist bzw. mit den übrigen Folgen zusammenhängt. 13.3.2 Diskussion der gesundheitlichen Gefährdung durch verlängerte Arbeitszeit, Arbeitsverdichtung und Abhängigkeit Das Verständnis von Sucht impliziert, dass ein Kontrollverlust vorliegt und die Betroffenen sukzessive wichtige Bereiche ihres Lebens vernachlässigen. Sie legen häufig ein Verhalten an den Tag, das ihnen und anderen schadet. Es ist plausibel, dass Sucht vermieden werden sollte, doch was wäre davon zu halten, wenn viele Menschen zwar unauffällig leben, jedoch ihre täglichen Aufgaben nur noch leisten könnten, wenn sie Medikamente einnehmen, obwohl sie nicht krank sind (s.9.9.2), wenn Schüler die Anforderungen in der Schule nur meistern könnten, wenn sie Medikamente einnehmen, obwohl sie nicht krank sind? Was ist von einer Art Abhängigkeit zu halten, die den Menschen dadurch abhängig macht, dass sie ihm das Selbstvertrauen in seine Leistungsfähigkeit nimmt, dass sie das Funktionieren des Arbeitsmenschen sichert, indem sie ihn zu immer größerem Arbeitspensum befähigt, das schließlich selbstverständlich von ihm verlangt wird? Diese Art Abhängigkeit ist nicht als Sucht im klassischen Sinne zu bezeichnen, weil die Betroffenen kontrolliert wirken, ihr Leben sehr kontrolliert abläuft und Bereiche wie musische Betätigung, die sie evtl. vernachlässigen, ohnehin als unwichtig erachtet werden. Dennoch beeinträchtigt diese Art Abhängigkeit die Unabhängigkeit, die Voraussetzung für die Autonomiefähigkeit (6.1.4) und damit für Verantwortungsfähigkeit ist, und sollte aufgrund der ethischen Überlegungen (s.11.1) vermieden werden. <?page no="253"?> Ethische Vertretbarkeit der Folgen des PCE 253 Wie ist nun die Arbeitsverdichtung (9.3) zu bewerten, die durch schnelleres Arbeiten und den Verzicht auf Pausen möglich wird? Und wie die verlängerte Arbeitszeit und die vermehrte Arbeit zu ungünstigen Zeiten (9.3.2) Indizien für eine zunehmende Arbeitsverdichtung in Deutschland gibt es in unterschiedlichen Lebensbereichen, wenn auch eindeutige Belege fehlen. In der Industrie spricht man von Produktivitätssteigerung, wenn derselbe Arbeitsumfang von den Menschen in kürzerer Zeit oder von weniger Menschen in derselben Zeit erledigt wird. Im universitären Bereich brachte die Umstellung von Diplom- und Staatsexamensstudiengängen auf Bachelorstudiengänge offenbar eine Erhöhung des Arbeitsumfangs für Studierende, möglicherweise auch für Lehrende, die sich z.B. in der erhöhten Zahl von Prüfungen pro Prüfungszeitraum in vielen Studiengängen zeigt. Die gestiegene Belastung führte zu Protesten unter den Studenten und inzwischen wird wieder nach Entlastungsmöglichkeiten gesucht bzw. werden solche erprobt. Sogar für die Schule scheint Arbeitsverdichtung nicht ausgeschlossen. So brachte die Umstellung vom 9-jährigen auf das 8-jährige Gymnasium (G8) in Baden-Württemberg ab 2004 eine deutliche Erhöhung der Zahl der Unterrichtsstunden pro Woche. Beispielsweise hatte ein 15-jähriger Schüler im Schuljahr 2009/ 2010 38 Pflicht-Schulstunden zuzüglich Hausaufgaben und Lernzeiten zu bewältigen. Demgegenüber belief sich die Verpflichtung eines Schülers entsprechenden Alters im Schuljahr 2005/ 2006 auf 32 Schulstunden, bei vergleichbaren Fächerkombinationen. Zu der Frage, wie sich diese erhöhte Belastung auf die betroffenen Studenten und Schüler auswirkt, stehen bisher lediglich nicht belegte Einzelberichte zur Verfügung. So wird z.B. Jürgen Loga, Leiter des Burnout- Helpcenters in Löwenstein, mit folgenden Worten zitiert: „Wir verzeichnen erstmals eine signifikant erhöhte Anzahl von Schülern und Studenten“ [in unserer Einrichtung] (zitiert nach: dpa in Schwäbisches Tagblatt, 15.08.2011). In dem Zeitungsartikel heißt es weiter: „Er sieht darin eine Folge des achtjährigen Gymnasiums und der Einführung des Bachelors an Hochschulen.“ Persönliche Äußerungen von Psychologen über einen Anstieg des Beratungs- und Behandlungsbedarfs von Schülern in Tübingen könnten ebenfalls ein Indiz für steigende psychische Belastung durch Arbeitsverdichtung und Arbeitsverlängerung und den dadurch empfundenen Druck sein. Diese Hinweise sollten zumindest Anlass sein, die Zusammenhänge offen und ehrlich zu untersuchen. Bekannt ist, dass Stimulanzien die Ausbeutung physischer und psychischer Ressourcen fördern, denn ein typisches Merkmal ihrer Wirkung ist gerade, dass die natürlichen Leistungsgrenzen überschritten werden, indem normalerweise geschützte Reserven zugänglich gemacht und aufgebraucht werden (Bönisch et al., 2010: 339; 9.1.3). Mit dem Phänomen der völligen Erschöpfung der Ressourcen ist nicht nur in Ausdauersportarten <?page no="254"?> Ethische Bewertung des Stimulanziengebrauchs im Kontext von PCE 254 wie dem Radfahren, sondern auch im psychischen Bereich zu rechnen. Stimulanzien könnten dazu geeignet sein, die Entwicklung eines Burn-out- Syndroms 128 zu begünstigen und damit die Gesundheit der Betroffenen zu gefährden. Auch hier gibt es Forschungsbedarf. Durch Stimulanzien geförderte Arbeitsverdichtung, verlängerte Arbeitszeit und Arbeit zu ungünstigen Zeiten können Folgen für die Unabhängigkeit (s.10.1.2) und das Wohlbefinden der Betroffenen haben, weshalb eine solche Nutzung von Stimulanzien kritisch zu bewerten ist. 13.3.3 Diskussion der Beeinträchtigung von Lern- und Entwicklungsaufgaben Bei Erwachsenen scheint die Beeinträchtigung von Lern- und Entwicklungsaufgaben keine große Bedeutung zu haben. Sollte sich ein Erwachsener für Stimulanzienanwendung entscheiden und es dadurch zu einer Störung von Selektivität und Nachhaltigkeit in einem doch immer noch möglichen Lernprozess kommen (10.3.1; 10.3.2), könnte dies als persönliches Missgeschick abgelegt werden, ohne ihm den Rang eines ethischen Problems einzuräumen. Wird jedoch der Medikamentengebrauch zum Lerninhalt (10.3.4), kann sich bei dem Erwachsenen Suchtverhalten einstellen bzw. eine medizinisch nicht definierte Abhängigkeit (9.9.2; 13.3.2) entwickeln, mit der Folge, dass die Autonomie- und Verantwortungsfähigkeit gefährdet wird (10.1.3). Die dringende Forderung nach Erhaltung der Verantwortungsfähigkeit wurde oben begründet (11.1) und wird unten nochmals diskutiert, weil sie nicht nur für das Individuum relevant ist (13.3.4). Die vorstellbaren langfristigen Folgen von Stimulanzieneinsatzes für Kinder und Heranwachsende bezüglich Lern- und Entwicklungsaufgaben sind natürlich gravierender. Bei ihnen wirkt sich neben der möglichen Störung von Selektivität und Nachhaltigkeit im Lernprozess (10.3.1; 10.3.2) der denkbare Verlust an Lerngelegenheiten durch die medikamentöse Motivation (10.3.3; 10.3.4) stärker aus. Möglicherweise wird die Aneignung metakognitiver Strategien (7.4.1) behindert, was sich z.B. ungünstig auf die Lernfähigkeit auswirken könnte. Ebenso kann die Entwicklung von Selbstkontrollfähigkeit (7.4.4) und Selbstmotivationsfähigkeit (10.3.3; 10.3.4) beeinträchtigt werden, da es nicht gesichert bzw. unwahrscheinlich ist, dass solche Fähigkeiten, die unter dem Medikamenteneinfluss leichter funktionieren, dennoch nachhaltig gelernt werden. Normalerweise halten die Medikamenteneffekte nur während der Dauer der Wirkung. Durch das Erlernen des Medikamentengebrauchs kann ein Gefühl des Angewiesenseins auf das Medikament entstehen, so dass sich Selbstvertrauen 128 Bevor ein Burn-out-syndrom entsteht, kommen meist verschiedene Ursachen zusammen; dies kann hier jedoch nicht ausgeführt werden. <?page no="255"?> Ethische Vertretbarkeit der Folgen des PCE 255 schwächer entwickelt (10.3.4). Mangelndes Selbstvertrauen ist das Hauptproblem bei vielen psychischen Störungen und sozialen Problemen. Außerdem ist in der Folge mit der Beeinträchtigung der Entwicklung von Autonomie- und Handlungsfähigkeit zu rechnen (10.2.3; 10.3.3), weil zugrunde liegende Fähigkeiten, wie z.B. Selbstkontrollfähigkeit, möglicherweise schwächer entwickelt werden. Ein denkbarer Einwand wäre, dass ein möglicher medikamentös unterstützter Erfolg das Selbstvertrauen dennoch stärken und damit langfristig für eine positive Wirkung für den Betroffenen sorgen könnte. Dazu liegen keine Untersuchungen vor, man geht jedoch davon aus, dass es bei Stimulanzien in der Regel keine positive Wirkung über die Dauer der Medikamentenwirkung hinaus gibt. Kurzfristig ist dagegen mit unangenehmen Reboundeffekten 129 zu rechnen. Die beschriebenen, möglichen Folgen für Kinder und Heranwachsende sind aus ethischer Sicht kritisch zu bewerten und sollten mit Blick auf die Rechte der Kinder vermieden werden (11.1 und 11.3). Zusätzlich zu den genannten Folgen ist bei der Verwendung von Stimulanzien mit einer Einschränkung sozialer Interaktionen zu rechnen, so dass Heranwachsende weniger soziale Erfahrungen machen, die dazu geeignet sind, angemessene soziale Kongnitionen zu entwickeln (7.4.3). Daher sind Einschränkungen in diesem Bereich gerade für Kinder und Heranwachsende (9.6.2) aus ethischer Sicht problematisch. 13.3.4 Diskussion der Folgen für die Autonomie- und Verantwortungsfähigkeit Unter 10.1 wurde die Beeinträchtigung der Autonomie- und Verantwortungsfähigkeit als mögliche Folge der Stimulanzienanwendung im Rahmen von pharmakologischem Cognition Enhancement (PCE) aufgezeigt. Mit dem Problem der Verantwortung im Zusammenhang mit Neuroenhancement hat sich z.B. Marco Stier befasst (2009). Auch für ihn „hat das Neuro- Enhancement potentiell den Effekt, sowohl die >Minimalkonzeption< personaler Freiheit als auch die darauf beruhende Zuschreibbarkeit von Verantwortung zu untergraben.“ (Stier, 2009: 288). Die Bedeutung der Autonomie- und Verantwortungsfähigkeit für die Einzelnen und für die Gesellschaft wurde dargelegt und die Forderung sie zu wahren begründet (11.1). Ihre Beeinträchtigung würde, wie oben ausgeführt, nicht nur das einzelne, anwendende Subjekt betreffen, sondern zugleich auch seine Mitmenschen und letztlich die ganze Gesellschaft. Sie ist darauf angewiesen, dass möglichst viele ihrer Mitglieder verantwortungs- 129 Reboundeffekt: Nach Absetzen eines Arzneimittels verstärktes Auftreten solcher Symptome, die zuvor durch das Medikament unterdrückt wurden. Z. B. nach Absetzen von Stimulanzien extremes Schlafbedürfnis, Hungergefühl und Disphorie. <?page no="256"?> Ethische Bewertung des Stimulanziengebrauchs im Kontext von PCE 256 fähig sind, um diejenigen, die dazu nicht mehr, noch nicht oder auf Dauer nicht in der Lage sind, mit zu tragen. Daher ist es auf Basis des Vorsorgeprinzips (Kloepfer, 1993; 3.2) zu rechtfertigen, die genannten möglichen Folgen durch eine vorsorgliche Unterbindung der großflächigen Stimulanzienverwendung zu vermeiden. Ein weiterer Grund dafür ist, dass durch den Einsatz von Stimulanzien bei Heranwachsenden unter Umständen schon die Entwicklung von Autonomie- und Verantwortungsfähigkeit eingeschränkt wird (s.13.3.3; 10.2.3; 10.3.3). Die Verabreichung von Stimulanzien an Kinder und Jugendliche ohne zwingende medizinische Indikation ist daher auch in dieser Hinsicht ethisch problematisch. 13.3.5 Diskussion der Veränderung der Handlungsstruktur durch pharmakologisches Cognition Enhancement in Erziehungs- und Bildungssituationen sowie in der Selbstbehandlung Hier wird nun das Beispiel des Schülers aufgegriffen, der mit Hilfe von Stimulanzien motiviert wird, ungeliebte Mathematikaufgaben eher zu erledigen (9.4.2), wobei man sich das Beispiel auch als Ablauf über einen längeren Zeitraum hinweg vorstellen kann. Durch ein solches Vorgehen wird die Handlungsstruktur in der Situation bzw. in dem Prozess dahingehend verändert, dass sie mehr Anteile vom strategischen Typ enthält und dadurch in Richtung einer strategischen, effektorientierten Handlung verschoben wird (10.2.2). In der ethischen Grundlagenreflexion wurde ausgeführt, dass dieser Handlungstyp in Bezug auf Sachen angemessen ist, nicht jedoch für andere Subjekte und dass deshalb aus ethischer Sicht die Verschiebung in diese Richtung abzulehnen ist (11.2). Diese Sichtweise legt eine kritische Bewertung des pharmakologischen Cognition Enhancement (PCE) und der Motivation von gesunden Kindern und Heranwachsenden durch Medikamente nahe. Ein vorhersehbarer Einwand ist der, dass auch in herkömmlichen Erziehungs- und Beratungssituationen effektorientiert kommuniziert wird. Das ist insofern richtig, als menschliche Handlungen immer eine teleologische Grundstruktur haben, weil Menschen Ziele haben und diese erreichen wollen (Habermas, 1981; 11.2). Diese teleologische Grundstruktur behalten sie auch in Interaktionen mit anderen Menschen, so dass diese immer auch effektorientiert sind. Dieser effektorientierte Anteil ist jedoch, wenn Sprache als Mittel eingesetzt wird, wesentlich geringer, als wenn Medikamente dazukommen. So könnte z.B. in einem Gespräch unterschwellig Druck aufgebaut werden, um dem Erreichen bestimmter Standards mit Nachdruck oberste Priorität einzuräumen und andere Wünsche oder Bedürfnisse des betreffenden Individuums diesem Ziel unterzuordnen. Der oder die Angesprochene kann jedoch auf dieser Ebene erwidern oder zumindest die Forderungen seinerseits ignorieren. Im Gegensatz dazu ist die Beeinflus- <?page no="257"?> Ethische Vertretbarkeit der Folgen des PCE 257 sung von Verhalten mit einem Medikament eine Einbahnstraße, denn die Einflussnahme wird von der verbalen Ebene auf die biochemische Ebene verschoben, auf der ein Betroffener nicht kommunizieren kann (s.9.4.2; 9.4.3; 10.1.2). Natürlich ist es dem Betroffenen weiterhin möglich zu kommunizieren, aber die Veränderung seines Verhaltens vollzieht sich, solange die Wirkung des Medikamentes anhält. Das Beispiel des Schülers, der durch Stimulanzien zu einer ungeliebten Mathematikaufgabe motiviert wird, könnte nun dazu verleiten, die Sache als Problem in einzelnen Situationen und daher als überschaubar, tragbar und vertretbar zu betrachten. Das Beispiel verweist aber auf ein weiterreichendes Grundproblem. So können strategische Handlungsmuster im Umgang mit Heranwachsenden, aber auch Erwachsenen, Ausdruck einer ausgeprägten, unangemessenen Erwartungshaltung sein, die eine gewisse akzeptierende Grundhaltung vermissen lässt und stattdessen signalisiert: „So wie Du bist, bist Du nicht in Ordnung! “. Als soziale Wesen sind Menschen jedoch auf die Anerkennung ihrer Mitmenschen angewiesen und alle Entwicklungs- und Lernvorgänge setzen eine gewisse akzeptierende Grundhaltung gegenüber dem Lernenden voraus. Sie ist insbesondere für die Ausbildung eines stabilen Selbstwertgefühls unverzichtbar, das als Basis der inneren Autonomie gegenüber Ansprüchen von außen (6.1.4) zu den Bedingungen der Handlungs- und Autonomiefähigkeit gehört. Durch ständige, durchaus wohlgemeinte, jedoch übermäßige Aufforderungen von außen, sich zu verbessern, wird die innere Werthaltung bei Kindern und Heranwachsenden (sowie bei Erwachsenen) gefährdet. Ein vorübergehender Impuls, die Leistung zu steigern, kann zwar unterstützend wirken und das wohlwollende Interesse für den Weg und die Leistung eines Kindes oder Heranwachsenden zum Ausdruck bringen. Wenn jedoch der Wert seiner Selbst unter dem Vorbehalt der ständigen Verbesserung in bestimmten von außen festgelegten Kategorien steht, wird ein Mensch in einen permanenten Wettlauf um den Erhalt seines Wertes getrieben. Dies führt auf Dauer eher zur Schwächung des Selbstwertgefühls. Diese Überlegung unterstreicht die oben ausgeführte Forderung, das Nichtwissen und die Misserfolge von Kindern und Heranwachsenden zu respektieren (Hartmann, 2009; 11.3.2) und Kinder und Heranwachsende mit diesen zu akzeptieren. Ausdruck einer akzeptierenden Grundhaltung ist eine verständigungsorientierte Kommunikation, die auch aus diesem weiteren Grunde nicht gefährdet werden sollte. Darüber hinaus wäre ein Appell an alle Verantwortlichen zu richten, Erwartungen an Kinder und Heranwachsende immer wieder auf ihre Angemessenheit hin zu überprüfen und die Bildungsanforderungen an den Bedürfnissen und Fähigkeiten der Betroffenen auszurichten. <?page no="258"?> Ethische Bewertung des Stimulanziengebrauchs im Kontext von PCE 258 Ein wichtiger Einwand ist hier, dass unangemessene Erwartungshaltungen nicht durch PCE entstehen, sondern dass PCE ihnen lediglich eine höhere Durchsetzungskraft verleiht. Das ist zwar völlig richtig, dennoch ist zu bedenken, dass Fehlentwicklungen solange nicht entgegengewirkt wird, solange sie von den Einzelnen, auch um den Preis der Schädigung der eigenen Gesundheit, mitgetragen werden, z.B. durch PCE. Erst bei Scheitern oder Protest wird gegengesteuert und so würde PCE die ungünstige Situation verlängern. Auch bei den Betroffenen selbst werden Reflexionen, die zur Erkennung des Handlungsbedarfs führen, oft erst dann angestoßen, wenn sich Misserfolg einstellt. Daher wäre es ungünstig, wenn Alltagsprobleme bei Gesunden durch Medikamente überdeckt werden. Wie verhält es sich nun, wenn sich effektorientiertes Handeln durch PCE auf das handelnde Subjekt selbst richtet? Man stelle sich vor, dass eine Person die bewusste und überlegte Absicht hat, mehr zu arbeiten, doch verschiedene innere Determinanten, wie z.B. Ablenkungsbereitschaft, Unlust oder Müdigkeit wirken dem entgegen. Eine Stimulanzieneinnahme würde in diesem Fall die Wirkung der bremsenden inneren Faktoren zurückdrängen und die Mehrarbeit wahrscheinlicher machen. Wäre das nicht die vernünftige Handlung eines autonomen Subjektes? Zunächst ist hier zu bedenken, dass es ein Zeichen mangelnden Selbstrespekts sein kann, sich selbst mit einem vergrößerten effektorientierten Anteil und damit vermehrt wie eine Sache zu behandeln. Weiter muss man annehmen, dass gerade eine Person, die sich auf diese Weise zu sich selbst verhält, oft nicht den gebotenen Respekt gegenüber ihren Mitmenschen aufbringt. Gut vorstellbar, dass ein Chef, der selbst Stimulanzien für PCE einnimmt, den Maßstab des Machbaren verliert und schließlich auch von seinen Mitarbeitern erwartet, Stimulanzien zu verwenden. Das Handeln des Einzelnen fördert so den gesellschaftlichen Funktionalismus (13.3.4). Diese Sichtweise entspricht einem Verständnis von Sozialisation, gemäß dem die Art und Weise wie Menschen mit sich selbst umgehen nicht ohne Auswirkungen, vor allem auf die soziale Umwelt, bleiben kann (Hurrelmann, 2008; 11.3.1). Nicht zuletzt könnte sich die instrumentelle Haltung gegen sich selbst auf den Vollzug von Selbstreflexion auswirken. Wer seine Ziele so fest im Blick hat, dass er Medikamente einnimmt, um sie zu erreichen, hat womöglich keine Zeit, diese Ziele zu hinterfragen, Prozesse zu durchdenken und Zusammenhänge zu erkennen. Er verhindert möglicherweise Hindernisse und Schwierigkeiten, die dazu geeignet wären, Reflexionen und Veränderungsprozesse auszulösen. Er begibt sich in die Welt der technischen Verfügung und arbeitet dem Wesen nach mit „technischem Erkenntnisinteresse“, das „emanzipatorische Erkenntnisinteresse“ (Habermas 1969; hier 2009; 3.4) <?page no="259"?> Ethische Vertretbarkeit der Folgen des PCE 259 würde zurückgedrängt 130 . Um sich darüber klar zu werden, warum dies nicht zu begrüßen ist, sollten die beschriebenen Verschiebungen in der Handlungsstruktur vor dem Hintergrund eines Prozesses gesehen werden, der als übergeordnete Aufgabe verstanden werden kann: „den Fortgang der Menschengattung zur Mündigkeit“ (ebd.: 164), der demnach eben nur erreicht werden kann, wenn das emanzipatorische Erkenntnisinteresse gefördert und nicht beeinträchtigt wird. Damit wird nochmals klar, dass es Habermas mit der Formulierung der erkenntnisleitenden Interessen (3.4) nicht ausschließlich um Klarheit innerhalb des wissenschaftlichen Arbeitens geht und darum, die „Verflechtung der Erkenntnis mit den Interessen der Lebenswelt“ aufzuzeigen (ebd.: 152). Thema ist auch die Lebensbedeutsamkeit der Wissenschaften und die Frage, wie eine „handlungsorientierende Bildung“ von ihnen ausgehen kann (ebd.: 146-168). Habermas kritisiert: „Ein positivistisches Selbstverständnis der nomologischen Wissenschaften leistet vielmehr dem Ersatz aufgeklärten Handelns durch Technik Vorschub.“ (ebd.: 166) 131 . Mit anderen Worten, Habermas kritisiert Handlungen, die dem Fortgang aller Menschen zur Mündigkeit entgegenstehen und fordert die Weiterentwicklung eines emanzipatorischen Erkenntnisinteresses. Dies schließen die unter 11 herausgearbeiteten Forderungen mit ein. Die Verschiebung der Handlungsstrukturen innerhalb von Erziehungsprozessen, und ganz allgemein, von der Verständigungsorientierung hin zu Effektorientierung behindert mit großer Wahrscheinlichkeit die Entwicklung von Autonomie- und Verantwortungsfähigkeit, weil sie die interaktiven Aushandlungsprozesse umgeht bzw. reduziert. Daher wirkt sie sich auch in diesem Sinne auf die Gesellschaft aus: Die affirmativen Aspekte der Sozialisation (11.3.1) werden durch Stimulanzien verstärkt 130 Obwohl das Thema der Arbeit die Leistung im Sport nicht umfasst, wäre eine denkbare Rückfrage an dieser Stelle, ob sich nicht auch jemand, der übermäßig und überehrgeizig trainiert, als Sache behandelt. Dazu ist zunächst in Erinnerung zu rufen, dass Handlungen in der Regel nicht aus einem einzigen Handlungstyp bestehen, sondern zusammengesetzt sind (11.2). Dann kann man sich gut vorstellen, dass die Handlungsanteile der Effektorientierung bei sportlichem Training, das auf den Erfolg im modernen Leistungssport zielt, größer werden. Tatsächlich kann eine ins Extrem gesteigerte Selbstkontrolle und der Wille, den Körper zu beherrschen, so erscheinen als sei der Körper für den Athleten eine Sache. Solange er dabei jedoch die körpereigenen mentalen und muskulären Mittel einsetzt, werden ihm durch seinen Körper Grenzen gesetzt und er wird nur zum Erfolg gelangen, wenn er diese in seiner Planung und seinem Vorgehen berücksichtigt. Wenn der Athlet zu Dopingmittel greift, können ihn diese dazu bringen, die Grenzen zu überschreiten bei gleichzeitiger, deutlicher Erhöhung der Gesundheitsgefährdung. Damit, dass die Effektorientierung weniger oder gar nicht mehr unter der Bedingung des Gesundheitsschutzes steht, wird sie (nahezu) bedingungslos und (fast) vollkommen strategisch (11.2). 131 Zu den nomologischen Wissenschaften gehören vor allem die empirisch-analytischen Wissenschaften. <?page no="260"?> Ethische Bewertung des Stimulanziengebrauchs im Kontext von PCE 260 (10.2.3; 10.3.3). Da Sozialisation nicht als ein Kindheitsphänomen anzusehen ist, gelten diese Überlegungen auch für Erwachsene. Eine solche Verstärkung bedeutet z.B. eine Festigung der bestehenden Struktur und Organisation von Bildungsinstitutionen wie Schule und Universität oder der Strukturen der Arbeitswelt. Eine Stärkung der affirmativen Aspekte der Sozialisation geschieht leicht zu Lasten ihres autonomen Aspektes und wirkt so dem angestrebten Fortgang aller Menschen zur Mündigkeit (s.o.) entgegen. Um der Autonomie- und Verantwortungsforderung zu genügen, darf also der autonome Aspekt der Sozialisation nicht in den Hintergrund geschoben oder unterdrückt werden. Die verbreitete Anwendung von Stimulanzien mit dem Ziel in den Bildungseinrichtungen und der Arbeitswelt zu bestehen sollte vor dem Hintergrund der berechtigten Forderung nach Sicherstellung der Bedingungen der Handlungsfähigkeit bzw. ihrer Entwicklung vermieden werden. Das bedeutet nicht, dass die stabilisierenden Effekte der affirmativen Sozialisationsaspekte verhindert werden sollten, denn eine Gesellschaft braucht, um ihren Mitgliedern Freiheit und Wohlergehen zu sichern, ein gewisses Maß an Stabilität. Es bedeutet, dass ein ausgewogenes Verhältnis beider Aspekte angestrebt bzw. erhalten werden sollte. 13.4 Chancen auf eine autonome Entscheidung für pharmakologisches Cognition Enhancement ? 13.4.1 Sozialer Druck und advokatorische Entscheidungen Eine autonome Entscheidung für pharmakologisches Cognition Enhancement (PCE) ist eine Grundvoraussetzung für eine mögliche ethische Vertretbarkeit von PCE. Die Autonomie dieser Entscheidung ist auf verschiedene Weise gefährdet. So führt Enhancement im Kontext von Konkurrenz zu Nachahmungseffekten (Khushf, 2005) und zu sozialem Druck (10.1.1). Auf die Gefahr des mächtigen sozialen Drucks wurde immer wieder hingewiesen (z.B. President’s Council on Bioethics, 2003: 82 bzw. 282). Die Orientierung an gesellschaftlichen und institutionellen Normerwartungen stellt für die Mitglieder einer Gesellschaft ein selbstverständliches Ziel dar und die Normen und Erwartungen haben dabei immer einen gewissen Aufforderungscharakter, durch den die Individuen angeregt, überzeugt oder sanft gedrängt werden, ihnen gerecht zu werden. Es ist jedoch die Frage, ob die Ziele und Normen für den einzelnen Betroffenen absolut gesetzt werden oder ob die Situation soweit offen bleibt, dass genügend Spielraum für Variabilität und eigene Entscheidungen bleibt. Wie unausweichlich darf eine Aufforderung werden, bevor sie zum äußeren Zwang wird? Für diese Frage wurde hier keine Antwort erarbeitet, es zeigt sich <?page no="261"?> Chancen für eine autonome Entscheidung für PCE 261 jedoch unmittelbar ein fließender Übergang von der Aufforderung zum Zwang und daher ist besondere Vorsicht vor unangemessenem sozialem Druck geboten. Es scheint notwendig, Individuen davor zu schützen, insbesondere dann, wenn durch das zur Debatte stehende Mittel, Stimulanzien, die Kritiklosigkeit gefördert wird (9.1.3; 9.4.2 bzw. 13.2.4). Um zu prüfen ob Erwachsene, die in einem Arbeitsverhältnis stehen, eine autonome Entscheidung für oder gegen PCE treffen können, müssen die übergeordneten Strukturen der Arbeitswelt berücksichtigt werden. Arbeitgeber oder Institutionen haben ein Interesse an der Arbeitsverdichtung bei den Arbeitenden und können durch entsprechende Vorgaben hinsichtlich des Arbeitsumfangs die Entscheidung der Betroffenen derart beeinflussen, dass sie nicht mehr als autonom zu bezeichnen ist. Vor allem, wenn durch den PCE-Gebrauch Einzelner die Erhöhung des Arbeitsumfangs oder die Verlängerung der Arbeitszeit möglich erscheint und in der Folge die Standards für alle angehoben werden, finden sich diejenigen, die nicht zu PCE greifen, möglicherweise in der Situation, dass sie ihre Arbeit nicht mehr schaffen, und sehen sich gezwungen, es ebenfalls mit PCE zu versuchen. Für Erwachsene vor oder im Erwerbsleben kann der wirtschaftliche Druck, ausgelöst durch die Arbeitsplatzfrage, existenziell werden. Sieht der Betreffende in einer entsprechen Konkurrenzsituation keine andere Möglichkeit, als Medikamente zu nutzen, kann von einer autonomen Entscheidung für oder gegen PCE nicht die Rede sein; die Entscheidung ist dann pseudofrei. Menschen müssen davor geschützt werden, in eine derartige Entscheidungssituation zu geraten. Aber, so könnte man einwenden, wäre eine Anhebung der Standards nicht zu begrüßen? Würde das nicht die ganze Gesellschaft voranbringen? Dem ist zu entgegnen, dass weder in Tests noch in Erfahrungsberichten von einer qualitativen Verbesserung der Arbeit berichtet wird, mit einer Steigerung des Erkenntnisgewinns oder mit besseren Problemlösungen durch Stimulanzien ist nicht zu rechnen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass im Wesentlichen die Mengenstandards angehoben werden, d.h. die Menge der zu bewältigenden Arbeit bzw. des Lernstoffs pro Zeiteinheit. Hinweise darauf sind die Praxis der Produktivitätssteigerung in Unternehmen oder auch die Anhebung des Arbeitsumfangs im achtjährigen Gymnasium und den Bachelorstudiengängen (13.3.2). Obwohl eine Diskussion über den Wert von mehr Arbeit in kürzerer Zeit hier nicht geführt werden kann, liegt der Schluss nahe, dass die Steigerung der Menge die möglichen gesundheitlichen Risiken und weiterreichenden Folgen (s.o.) <?page no="262"?> Ethische Bewertung des Stimulanziengebrauchs im Kontext von PCE 262 nicht aufwiegt. Hier stehen letztlich wirtschaftliche Interessen gegen Gesundheit und Wohlbefinden der betroffenen Menschen 132 . Bei freier Verfügbarkeit geeigneter Präparate, mit weiter steigenden Erwartungen und der Anhebung der Leistungsumfänge in den verschiedenen Bereichen von Erziehung, Bildung und Arbeit, wäre der Schutz Einzelner oder bestimmter Gruppen vor dem Druck, PCE zu verwenden, kaum noch zu gewährleisten. PCE würde zur Normalsituation werden und niemand hätte mehr einen Vorteil davon, denn der Wert eines Enhancements ist nicht das Enhancement selbst, sondern er liegt darin, es als erste/ r oder einzige/ r zu haben (Bruce, 2007: 24). Daher könnte man sich darauf einigen, den freien Verkauf von Medikamenten nicht zu befürworten. Im Falle von Kindern und Heranwachsenden ist es schwierig zu beurteilen, inwieweit überhaupt je von einer autonomen Entscheidung gesprochen werden kann, da Eltern für ihre Kinder advokatorische Entscheidungen treffen müssen. Das bedeutet, dass Eltern für ihre Kinder entsprechend deren Interessen Entscheidungen treffen, weil deren Rationalität und Unabhängigkeit noch schwach sind und folglich ihre Autonomie- Verantwortungs- und Urteilsfähigkeit noch zu begrenzt sind, um eigene Entscheidungen zu treffen. Hinzu kommt, dass kleine Kinder durch ihre existenzielle innere und äußere Abhängigkeit darauf angewiesen sind, sich an den Bezugspersonen zu orientieren und zu kooperieren. Folglich sind fremdgesetzte Ziele zunächst normal und es besteht eben die Gefahr, dass sie nicht zum Wohle der Kinder gewählt werden, doch dies ist kein PCEspezifisches Problem. Um einen freien Blick für die Interessen der Kinder zu haben, müssen Erwachsene, insbesondere Eltern, die Vorstellung vom perfekten Kind aufgeben (11.3.2) und nicht zur Leitlinie für Entscheidungen zum Wohle der Kinder machen. Da also Heranwachsende keine autonome Entscheidung treffen können und eine gewisse Gefahr fremdgesetzter Ziele besteht, sollte auf der Basis des Vorsorgeprinzips (Kloepfer (1993; 3.2) auf PCE für Kinder und Heranwachsende verzichtet werden. 13.4.2 Fehlinformation als Einschränkung der Autonomie? Die häufig geäußerte Ansicht (Galert et al., 2009), nach der Erwachsene in jedem Fall entscheiden können, was gut für sie ist, und in unbegrenzter Zahl informierte Zustimmungen abgeben können, klingt gut, doch mit der Beschaffung, Auswahl und Gewichtung von Informationen ist der Einzelne oft überfordert. Die Suche nach ausgewogener Information wird zudem 132 Es wird nicht übersehen, dass wirtschaftliches „Wohlergehen“ bis zu einem gewissen Grad auch Grundlage für umfassendes Wohlergehen ist. Diese Zusammenhänge und das Problem des Gewinns für andere können hier nicht ausgeführt werden. <?page no="263"?> Chancen für eine autonome Entscheidung für PCE 263 erschwert, weil ein wesentlicher Teil der medikamentenbezogenen Informationen durch Pharmafirmen geliefert wird, die ein Interesse daran haben, die Nutzung von Medikamenten positiv darzustellen. Forlini berichtet, dass in den Medien und sogar im bioethischen Diskurs die Wirkungen häufig positiver dargestellt werden als sie sind, so dass Menschen über die bioethische Debatte zum Stimulanziengebrauch angeregt werden (2009). So steht im Bericht des President’s Council zu lesen, dass Stimulanzien keine wesentlichen Nebenwirkungen hätten, sicher seien (President’s Council on Bioethics, 2003: 72 bzw. 74) und für Gesunde höchst positive Effekte hätten (ebd.: 76). Gleichzeitig wird kritisiert, dass Pharmafirmen die Präparate direkt an Eltern vermarkten (ebd.: 83) und der Gesamtbericht bewertet Enhancement eher kritisch (ebd.: 273ff). Die Rolle der verschiedenen Akteure im Vermarktungsprozess von Medikamenten für PCE kann hier nicht weiter bearbeitet werden. Zu fordern wäre jedoch, verstärkt Informationen unabhängiger Quellen zur Verfügung zu stellen. Dabei ist das Problem zu beachten, dass es für Forscher, die für verschiedene Pharmafirmen im „advisory board“, als „speaker“ oder auf ähnliche Weise tätig sind und von Firmen Forschungsunterstützung erhalten 133 , möglicherweise schwierig ist, ihre Unabhängigkeit zu bewahren. Für den Aufbau eines Systems für die Bereitstellung von Information aus unabhängigen Quellen wären also ausreichend öffentliche Investitionen nötig, mit denen in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist. Vor allen Dingen ist die Forderung zu betonen, in den Medien der ethischen Debatte, „Siencefictionen“ nicht auf eine Weise zu diskutieren, dass sie für einen Laien gar nicht mehr als solche erkennbar sind. 13.4.3 Fehleinschätzung der Ausgangssituation? Einige Befragungen unter Nutzern geben Auskunft darüber, wer wie oft mit welcher Absicht Stimulanzien verwendet hat oder wie groß das Interesse an pharmakologischem Cognition Enhancement (PCE) ist (1.3). Sie sagen nichts darüber aus, aus welchem Grund die Betroffenen zu den Medikamenten gegriffen haben oder geneigt wären, als Gesunde Medikamente einzunehmen, um ihre Leistungsfähigkeit zu stärken. Die Frage welcher Antrieb die Handlung in Gang gesetzt hat, wurde nicht gestellt. Mancher Beitrag zu diesem Thema liest sich so, als ob an PCE interessierte Menschen aus einer Position der Ruhe und Gelassenheit heraus, nach reiflicher 133 Für Joseph Biedermann (2005) wurden Tätigkeiten für Pharmafirmen aufgeführt, darunter bei Eli Lilly & Company (Produzent von Ritalin), Novartis Pharmaceutical, Pfizer Pharmaceutical oder Cephalon Pharmaceuticals. Bei 7 Firmen ist er „speaker“, bei 10 Firmen im „advisory board“ und von 8 Firmen erhält er Forschungsunterstützung. Barbara Sahakian, Mitautorin des Nature-Artikels, in dem Cognition Enhancement propagiert wird, berät eine Reihe pharmazeutischer Firmen und hält Aktien (Greely, 2008: 705). <?page no="264"?> Ethische Bewertung des Stimulanziengebrauchs im Kontext von PCE 264 Überlegung und Abwägung der Vor- und Nachteile, den Schritt zu PCE tun könnten. Ihr Ziel wäre die wirkliche Verbesserung ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit, um zu neuen bahnbrechenden Erkenntnissen zu gelangen und in neue Sphären des Wissens und des Seins überhaupt vorzudringen. Vielleicht stellt sich das Bild jedoch so dar, dass den Menschen, die an PCE interessiert sind oder es benützen, gar keine Zeit für gründliches Nachdenken bleibt, sondern dass sie vielmehr getrieben sind durch den ständigen Termindruck und dass sie durch den Berg der Aufgaben nicht mehr zu grundsätzlichen Fragen hindurchschauen. Wer sagt uns, dass das Bekenntnis, gerne PCE benützten zu wollen, vorausgesetzt es ist sicher, nicht ein Hilferuf ist, der ganz einfach ausdrückt: Ich schaffe es nicht mehr! ! ! Hier liegt Forschungsbedarf, doch bei den Individuen, die sich aus einer Notsituation für PCE entscheiden, kann von einer autonomen Entscheidung nicht die Rede sein. <?page no="265"?> 14 Fazit 14.1 Zusammenfassung Der Begriff „pharmakologisches Cognition Enhancement“ (PCE) steht für die medikamentöse Behandlung ohne medizinische Indikation mit dem Ziel der Verbesserung der kognitiven Leistung. Er erlaubt eine differenzierte Risikobewertung, denn die Risiken eines pharmakologischen Eingriffs lassen sich eher rechtfertigen, wenn ein Mensch von einer Krankheit bedroht ist, als wenn er gesund ist. Auf eine Diskussion nicht zur Verfügung stehender Techniken oder Präparate, die hochwirksam und zugleich sicher sein sollen, wurde im Sinne einer nicht spekulativen Ethik (Nordmann, 2007; s.3.2) verzichtet. Da Mittel und Folgen des PCE nur im Konkreten hinreichend genau studiert werden können, wurden innerhalb der denkbaren PCE-Möglichkeiten Stimulanzien für die Diskussion ausgewählt. PCE hat inzwischen eine messbare Verbreitung erreicht (Babcock, 2000; University of Michigan, 2005; zitiert nach: Volkow, 2006; McCabe, 2006; Teter, 2006; Maher, 2008; Kordt, 2009; Bogle, 2009; Lieb, 2010; ). und scheint vor allem bei kognitiv stark beanspruchten Menschen zumindest ab und zu willkommen. Im Zusammenhang mit der Therapie von ADHS kann es zu verdecktem Enhancement kommen. Darunter wird hier eine Nutzung von Stimulanzien verstanden, die zwar im Rahmen einer Therapie erfolgt, jedoch dem Sinne nach dem PCE entspricht. Dazu kann es kommen da inadäquate Anforderungen, z.B. in der Schule, zu den Risikofaktoren gehören, die ADHSähnliches Verhalten auslösen (Amft et al., 2004: 79; Döpfner und Schultz, 2005: 89). Dies ist am ehesten bei schwachen ADHS-Anzeichen zu erwarten, die im Bereich der Grauzone zwischen Krankheit und Gesundheit anzusiedeln sind und durch eine Anpassung der Anforderungen gelindert werden könnten. Stimulanzieneffekte Nach den vorgestellten Ergebnissen ist durch Stimulanzien keine eindeutige Verbesserung bei kognitiven Testaufgaben zu erwarten (Rapoport et al., 1980; McKetin, 1999; Turner et al., 2003; Mehta et al., 2004; Turner et al., 2005; Zeeuws and Soetens, 2007; Volkow et al., 2008; Repantis, 2010; Reske et al., 2010; Finke et al., 2010). Eine genaue Vorhersage der Wirkung wird zudem durch ihre Kontextabhängigkeit und die individuellen Unterschiede in der Wirksamkeit von Medikamenten erschwert (Elliott et al., 1997; Silber et al., 2006; Volkow et al., 2008; Lieb, 2010). Da Stresssituationen völlig andere Ausgangssituationen darstellen (Lieb, 2010: 135), die zu unerwarteten Medikamentenwirkungen führen können, ist die Einnahme <?page no="266"?> Fazit 266 von Stimulanzien einschließlich Methylphenidat (MPH) in solchen Situationen nicht empfehlenswert. Entgegen diesen Einschätzungen werden die persönlichen Erfahrungen offenbar zumindest von einem Teil der Nutzer als Verbesserung erlebt. Das ist insofern nachvollziehbar, als durch Stimulanzien eine Arbeitsverdichtung erreicht werden kann (9.3.3), doch es fällt schwer, diesen Effekt überhaupt als Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit anzuerkennen, da es keine Verbesserung über das hinaus bringt, was ein Mensch sowieso leisten kann. Die häufig unter Stimulanzien festgestellte beschleunigte Reaktion wird von manchen als gesteigerte Entscheidungsbereitschaft interpretiert (Kordt, 2009: 45). Tatsächlich scheint es sich um den vorzeitigen Abbruch der Informationsverarbeitung zu handeln (Elliott, 1997), der zu Qualitätseinbußen führen kann. Stimulanzien bewirken erhöhte Anstrengungsbereitschaft, ohne dass sich die relevanten Umstände geändert hätten, d.h. es hat sich nur deren Bewertung geändert. Man kann also schließen, dass Stimulanzien direkt in das Bewertungssystem (8.4.1; Damasio, 2004) eines Menschen eingreifen und auch zu „Kritiklosigkeit“ führen (Starke, 2010). Direkte, unerwünschte Stimulanzieneffekte können nicht mehr ignoriert werden (Nissen, 2006; Lohse et al., 2007) und die Interpretation der beobachtbaren morphologischen Langzeitveränderungen durch Amphetamine im Gehirn ist bislang unklar (Selemon et al., 2007). Die Veränderung der Geschwindigkeitswahrnehmung durch Stimulanzien (Silber, 2006) stellt zusammen mit der Euphorisierung (Bönisch et al., 2010) und der Erhöhung des Selbstwertgefühls bei gleichzeitiger Überschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit (Baransky et al., 2004), eine Gefahr in der Alltagswelt dar. Beim therapeutischen Gebrauch besteht so gut wie keine Suchtgefahr (Robbins and Sahakian, 1979; Volkow and Swanson, 2003). Bei selbstbestimmter Einnahme ist dagegen mit der Entwicklung von Suchtverhalten zu rechnen (9.6.5; Hemby et al., 1997; Mark et al., 1999). Dies trifft auf die Enhancementsituation zu. Außerdem wird die Strategie der Medikamentennutzung erlernt und Suchtmediziner hierzulande rechnen bei Freigabe von Stimulanzien mit einer Zunahme von Suchterkrankungen (Soyka, 2009). Stimulanzien können den zeitlichen Verlauf der DA-Konzentra tionsänderungen während Lernprozessen (Stark et al., 199 9; 2004) in schwer zu bestimmender Weise verändern, so dass der Lernprozess, z.B. die Selektivität (Horsley and Cassaday (2007), und die zukünftige Motivation (Wise, 2004; Arbuthnott und Wickens, 2007) beeinträchtigt werden können. Es ist anzunehmen, dass Stimulanzien den Nutzer bis zu einem gewissen Grad von der Anstrengung entheben, Strategien z.B. zur Impuls- und Selbstkontrolle zu üben oder sich andere notwendige kognitive Strategien anzueignen. Die Trainierbarkeit solcher Strategien ist nach- - <?page no="267"?> Zusammenfassung 267 gewiesen (Schneider und Lockl, 2006; Sethi et al., 2000; Mauro und Harris, 2000; Houdé et al., 2000). Weitere Untersuchungen zur Einschränkung von Strategieentwicklung und -training wären nötig. Des Weiteren kann PCE die Entwicklung von Selbstvertrauen sowie den Aufbau eines realistischen Selbstbildes beeinträchtigen. Amphetamine bewirken eine direkte und möglicherweise auch eine indirekte Einschränkung der sozialen Kontakte und des Spielverhaltens 134 bei Menschen und Tieren (Schiorring and Randrup, 1971, zitiert nach Robbins and Sahakian, 1979; Barkley and Cunningham, 1979, zitiert nach Robbins and Sahakian, 1979; Beatty et al., 1982, 1984; Trott, 2004; Amft, 2006; Vanderschuren et al., 2008). Indem Stimulanzien die Leistungsbereitschaft verstärken und die Kritikneigung einschränken (Starke, 2010), können sie außerdem zur Glättung von Widerständen, Störungen und Hindernissen im Sozialisationsprozess führen. Fehlen diese, dann fehlen möglicherweise Lerngelegenheiten für soziale Kognitionen und Autonomiefähigkeit. Theoretische Grundlagen der ethischen Bewertung Eine Bewertung der unmittelbaren Stimulanzieneffekte kann anhand des Vorsorgeprinzips (Kloepfer, 1993) vorgenommen werden. Für die Beurteilung der Selbstverabreichung reicht dieses Prinzip jedoch nicht aus, denn ein unabhängiger Erwachsener könnte sich für PCE entscheiden und die Nachteile bewusst in Kauf nehmen. Als Bewertungskriterium für PCE wird daher Autonomie herangezogen. Sie ist einerseits als Handlungsautonomie und anererseits als Autonomiefähigkeit zu verstehen, wobei zur letzteren die innere Autonomie gegenüber äußeren Reizen und inneren Impulsen ebenso gehört wie die innere Autonomie gegenüber Ansprüchen von außen (Miller, 1995; Hildt, 2006). Im Unterschied zu anderen Autonomiekonzeptionen, die Autonomie ausschließlich als Fähigkeit und Möglichkeit zur selbstbestimmten Lebensgestaltung verstehen (Singer, 1999), integriert die hier zu Grunde gelegte weite Auffassung von Autonomie den Aspekt der Selbstkontrolle und Selbstgesetzgebung und damit die einschränkende Seite der Autonomie. Autonomie als Fähigkeit hat gewisse kognitive und emotionale Voraussetzungen (Goschke, 2004; Goschke und Walter, 2005) und wird z.B. durch Suchtverhalten und Abhängigkeit beeinträchtigt. Eine weitere Voraussetzung von Autonomie ist Rationalität im Sinne der Fähigkeit zu rationalen Entscheidungsabläufen (Miller, 1995). Die Begründung der Autonomie- und Handlungsfähigkeit als Kriterium für die Bewertung der Stimulanzienverwendung erfolgt auf der Grundlage von Theorien, die die Respektierung der Bedingungen der Handlungsfähigkeit durch andere Subjekte fordern und begründen (Steigleder, 1999; Höffe, 1999: 40ff). Danach impliziert die Forderung handelnder Subjekte nach Respektierung der eigenen Handlungsfähigkeit die Forde- 134 Für Modafinil liegen zu diesem Aspekt bislang keine Ergebnisse vor. <?page no="268"?> Fazit 268 rung an andere Subjekte, verantwortlich zu handeln. Daher hat jedes Subjekt, das die Respektierung der Bedingungen seiner Handlungs- und Autonomiefähigkeit erwartet, die Pflicht, seine eigene Autonomie- und Verantwortungsfähigkeit nicht selbst einzuschränken. Doch wie sieht die geforderte Respektierung der Handlungs- und Autonomiefähigkeit im konkreten Umgang der Menschen mit sich und anderen aus? Auf der Basis der Theorie des kommunikativen Handelns (Habermas, 1981) kann diese Frage, strukturiert werden (Eckensberger und Plath, 2006). Danach lässt sich ableiten, dass eine verständigungsorientierte Kommunikationsstruktur unter den Individuen die praktizierte Respektierung der Handlungs- und Autonomiefähigkeit ist und daher gefordert wird. Zur Entwicklung eines mündigen Individuums gehört außerdem die Ausbildung von emanzipatorischem Erkenntnisinteresse mit dem Ziel der Selbstreflexion, die die Emanzipation von inneren Zwängen und unkontrollierten Handlungsanreizen anstrebt (Habermas, 1969 ) . Darin klingt die Forderung an, dass Menschen in ihrer Entwicklung zu autonomen, handlungsfähigen Individuen nicht beeinträchtigt werden sollen. Vielmehr sollte gesehen werden, dass Sozialisation sowohl durch autonome Aspekte als auch durch affirmative Aspekte, gekennzeichnet ist (Hurrelmann et al., 2008) und dass beide Aspekte im Gleichgewicht stehen sollten. Dem Individuum muss daher eine gewisse Widerständigkeit gegenüber bestehenden Werten, Normen und Standards zugebilligt werden, und die Sozialisationssituation muss eine gewisse Offenheit für alternative Ergebnisse von Sozialisation und Erziehung bewahren. Janusz Korczak forderte auch das Nichtwissen, die Misserfolge und Rückschläge der Kinder zu respektieren und Hartman (2009) zitiert ihn mit den Worten: „Let us renounce the deceptive longing for perfect children”. Die Offenheit ist für die Entwicklung der Kinder wichtig, aber auch die Gesellschaft braucht sie für ihre Weiterentwicklung. Ethische Bewertung In den typischen Konkurrenzsituationen, in denen PCE angestrebt oder betrieben wird, z.B. im Studium oder in der Arbeitswelt, kann durch sozialen Druck eine Gefährdung der Handlungsautonomie entstehen. Dem Einwand, Konkurrenz gehöre zum Wesen des Menschen, ist zu entgegnen, dass Vereinbarungen bezüglich der im Wettbewerb zulässigen Mittel eine selbstbestimmte Regelfindung und -einhaltung bedeuten und dass genau dies zur Autonomie in der hier zugrunde gelegten Konzeption gehört. Die Verschreibungspflicht für die zur Diskussion stehenden psychoaktiven Substanzen widerspricht daher nicht der Autonomie der Interessenten. Am Beispiel anstrengungsbezogener Entscheidung wurde erläutert, wie Stimulanzien auf die neuronale Basis der Autonomie- und Handlungsfähigkeit einwirken (9.4.3; 10.1.2). Pharmakologische Motivationsverstärker machen Entscheidungen weniger rational, mangelnde Strategieentwick- <?page no="269"?> Zusammenfassung 269 lung schwächt die Unabhängigkeit und falls die Stimulanzieneinnahme zur Gewohnheit wird oder zur Sucht führt ist die innere Unabhängigkeit gefährdet. So kann die Stimulanzienwirkung die Autonomiefähigkeit einer Person und damit auch ihre Verantwortungsfähigkeit einschränken. Die wiederhohlte Anwendung von PCE führt zudem jedes Mal zu einer relativ schnellen Abfolge von unterschiedlichen Zuständen der betroffenen Person und macht es ihr schwer, ein stabiles Selbstbild zu bewahren und ihre eigenen Fähigkeiten richtig einzuschätzen. Dies führt dazu, dass Autonomie- und Verantwortungsfähigkeit nicht nur vorübergehend, sondern ständig gefährdet sind (6.7). Rechtliche Schwierigkeiten können auftreten, wenn eine Person unter Medikamenteneinfluss handelt und später, z.B. nach einem Unfall, dafür zur Verantwortung gezogen werden soll. Der Gebrauch von Stimulanzien zu Enhancementzwecken durch Erwachsene kann also zur Selbstbeeinträchtigung von Unabhängigkeit, Rationalität und Verantwortungsfähigkeit führen und damit die Autonomie- und Handlungsfähigkeit einschränken. Außerdem kann es nicht ohne Folgen bleiben, wenn sich ein Subjekt selbst effektorientiert behandelt, wie dies bei PCE der Fall ist. Gerade einer Person, die sich auf diese Weise zu sich selbst verhält, könnte es am gebotenen Respekt gegenüber ihren Mitmenschen mangeln. Schließlich könnte die Initiierung von Selbstreflexion bei häufiger Anwendung der Medikamente erschwert werden, wodurch das emanzipatorische Erkenntnisinteresse (Habermas, 1969; hier 2009; 3.4) in den Hintergrund gerät. Festzuhalten ist, dass Erwachsene, sofern sie nicht durch den Arbeitsprozess oder andere Umstände unter sozialem Druck stehen, eine autonome Entscheidung für oder gegen PCE treffen könnten. Dennoch muss PCE durch Stimulanzien für Erwachsene vor dem Hintergrund der ethischen Reflexion (11.1) aufgrund der möglichen Folgen für die Autonomie- und Verantwortungsfähigkeit, die Fähigkeit zur Achtung gegenüber anderen und die Selbstreflektion kritisch bewertet werden. Bei Heranwachsenden kommen weitere Schwierigkeiten hinzu. So ist eine eigene, autonome Entscheidung für oder gegen PCE bei Kindern nicht möglich; ihre Eltern müssen für sie advokatorische Entscheidungen treffen. Weiter wirken sich für sie direkte und indirekte Einschränkungen sozialer Interaktionen besonders gravierend aus, da diese nach Eckensberger und Plath (2006) ein entscheidender Entwicklungsfaktor sozialer Kognitionen sind; dasselbe gilt für Autonomie- und Verantwortungsfähigkeit. Hinzu kommt die Verschiebung der Handlungsstruktur durch medikamentöse Motivation von einer verständigungsorientierten Handlung mehr in Richtung einer effektorientierten, also strategischen Handlung (Definition nach Eckensberger und Plath, 2006) in erzieherischen Kommunikationssituationen. Dieses Kommunikationsverhalten deutet auf einen Mangel an Respekt vor der heranwachsenden Person in ihrer besonderen Situation (11.3) und <?page no="270"?> Fazit 270 kann die Entwicklung einer mündigen Persönlichkeit beeinträchtigen. Durch verbreitete Anwendung von PCE durch Stimulanzien würden also besonders die affirmativen Aspekte der Sozialisation verstärkt, zu Lasten ihrer autonomen Aspekte. Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass ein gewisser Anteil des PCE bei Heranwachsenden in verdeckter Form stattfindet, z.B. durch eine Ausweitung der ADHS-Diagnose. Aus ethischer Sicht sind beide Formen des PCE problematisch, doch im Falle von verdecktem PCE gestaltet sich die Praxis kompliziert, denn PCE birgt Gefahren, die es zu vermeiden gilt, die Nichtbehandlung von ADHS jedoch ebenfalls. Eine „vorsorglich“ großzügige Medikamentierung ist daher genauso fehl am Platz wie die grundsätzliche Verneinung des Störungsbildes oder die vollkommene Ablehnung einer medikamentösen Behandlung. In der Konsequenz ist die Sicherstellung der sorgfältigsten Diagnosestellung einschließlich der Ergründung der Lebenssituation der Betroffenen zu fordern. Die Unterlassung einer umfassenden diagnostischen Abklärung stellt daher den Kern des Problems des verdeckten PCE durch Stimulanzien dar und ist nach ethischen Kriterien nicht vertretbar. Mancher mag die Berücksichtigung der Entwicklungsbedingungen und der Lebenssituation als überflüssig für die effektive Behandlung des einzelnen Individuums ansehen. Doch abgesehen davon, dass das Hintergrundwissen für die optimale Therapiewahl erforderlich ist, hat es große Relevanz für alle Kinder: Falls die Zahl der Kinder und jungen Menschen mit angeeignetem ADHS-ähnlichem Verhalten steigt, muss die Art und Weise, wie Kinder in unserer Gesellschaft aufwachsen und wie mit ihnen umgegangen wird, hinterfragt werden anstatt die Schwierigkeiten mit Medikamenten zu verdecken. Bei der Suche nach Lösungen, wie Kinder aufwachsen und sich zu mündigen Menschen entwickeln können, ohne Störungen auszubilden, sollte eine Balance zwischen den Interessen der Erwachsenen und denen der Kinder gesucht werden. Das geht über die Prävention bei einem einzelnen Individuum hinaus und betrifft einen größeren zeitlichen Rahmen. Eine potentielle Nutzergruppe für PCE wurde bisher außer Acht gelassen: Menschen, deren geistige Leistungsfähigkeit ihren Höhepunkt überschritten hat und so stark nachlässt, dass sie in ihrer Lebensführung eingeschränkt werden. Ohne auf die Diskussion einzugehen, inwieweit Beschwerden des Alters als natürliches Entwicklungsstadium oder als Krankheit anzusehen sind, scheint für diese Gruppe eine sinnvolle Verwendung von PCE vorstellbar, falls geeignete Präparate zur Verfügung stehen. Doch auch für diese Gruppe kann PCE nicht pauschal als vertretbar oder geboten bewertet werden, ohne zuvor eine umfassende Klärung von Fragen, wie sie hier für gesunde Erwachsene und Heranwachsende untersucht wurden, vorzunehmen. <?page no="271"?> Ausblick - Bessere Enhancementpräparate in der Zukunft? 271 14.2 Ausblick - Bessere Enhancementpräparate in der Zukunft? Ein denkbarer Einwand wäre, dass sich die vorliegende Arbeit auf die Untersuchung von Stimulanzien beschränkt und die Untersuchung eines anderen Medikamentes zu anderen Ergebnissen führen könnte. Im Bericht des President’s Council findet sich dazu folgender Satz: „And common sense suggests that any drug whose brain effects are powerful enough to alter behavior is powerful enough to do damage, perhaps even as a result of its direct and immediate cerebral effects.“ (President’s Council on Bioethics, 2003: 84). So kann man feststellen, dass einige Argumente dieser Arbeit, z.B. die Gefährdung der Verantwortungsfähigkeit, nicht medikamentenspezifisch sind und dass man bei anderen Präparaten zu denselben Schlussfolgerungen wie bei den Stimulanzien kommen kann. Die Hoffnung auf Medikamente ohne die weiterreichenden Folgen der Stimulanzien scheint wenig realistisch, weil auch ein ganz neues Medikament im Gehirn ansetzen muss um die kognitive Leistungsfähigkeit zu verbessern. Die einzigen Präparate, die derzeit einer gewissen Anzahl von Menschen das Gefühl vermitteln, dass sie unter ihrem Einfluss besser arbeiten können, sind Amphetamine und ihre Derivate sowie Modafinil. Bei allen basiert die Wirkung wesentlich auf ihrem Einfluss auf das Dopamin-System. Möglicherweise wird jedes wirksame Medikament dieses zentrale System tangieren, das in die exekutiven Funktionen, auf denen Autonomie- und Verantwortungsfähigkeit basieren, involviert ist. Deshalb sind bessere wirksame Präparate für PCE schwer vorstellbar. 14.3 Schlussfolgerung Die in dieser Arbeit aufgeführten Ergebnisse und Argumente führen zu der Schlussfolgerung, dass sich die erhofften Vorteile von PCE durch Stimulanzien nicht gesichert einstellen, dass mit erheblichen unerwünschten Wirkungen zu rechnen ist und dass durch eine solche Technik auf individueller und gesellschaftlicher Ebene nicht nur für Kinder- und Heranwachsende, sondern auch für Erwachsene Folgen zu erwarten sind, die unter ethischen Gesichtspunkten eine kritische Bewertung nahelegen. Daher schränkt die Beibehaltung der Verschreibungspflicht für Stimulanzien die Autonomie der Individuen nicht über ein legitimierbares Maß hinaus ein. Dagegen könnte bei freiem Verkauf dieser Medikamente an alle Interessenten die Autonomie derer, die primär nicht an PCE interessiert sind, nicht ausreichend geschützt werden. PCE ist Ausdruck eines effektorientierten Umgangs mit sich selbst oder anderen Menschen und verstärkt auf diesem Wege die Entwicklung einer Welt, in der sich die Menschen und <?page no="272"?> Fazit 272 das Leben der technischen Verfügung unterzuordnen haben. Es ist ein Werkzeug, das Kinder und Heranwachsende in ihrer Entwicklung zu einem mündigen Individuum beeinträchtigen kann. Sollten die entsprechenden Medikamente frei verfügbar sein, kann diese Gruppe nicht ausreichend geschützt werden. Die dargestellten möglichen Folgen von PCE sind auf der Basis von begründeten Überlegungen formuliert. Gemäß dem Vorsorgeprinzip (Kloepfer, 1993; 3.2) belegen auch mögliche Folgen die Entstehungsmöglichkeit von Schaden und bei hinreichender Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind auf der Grundlage des Vorsorgeprinzips Maßnahmen zur Vermeidung zu rechtfertigen, insbesondere wenn es um ein hohes Gut geht, und wenn viele Menschen betroffen sind. Es wurde eine theoretische Begründung dargestellt, warum die Autonomie- und Handlungsfähigkeit für alle Individuen einer Gemeinschaft so wertvoll ist, dass sie nicht beeinträchtigt werden soll. Das gilt auch für die besonderen Rechte der Kinder. Als Betroffene sind im Fall von PCE nicht nur alle PCE-Anwender anzusehen, sondern auch sehr viele Mitmenschen. Das bedeutet für die vorliegende Fragestellung, dass verschreibungspflichtige Stimulanzien nicht zum Verkauf an alle Interessierten freigegeben werden sollten. <?page no="273"?> Literaturverzeichnis Ahveninen, J./ Kahkonen, S./ Tiitninen, H./ Pekkonen, E./ Huttunen, J./ Kaakkola, S./ Illmoniemi, R.J./ Jaaskelainen, I.P. (2000): Suppression of transient 40-HZ auditory response by haloperidol suggests modulation of human selective attention by dopamine D2 receptors, in: Neuroscience Letters 292, S. 29-32. Akerstedt, T./ Ficca, G. 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Basalganglien: Bestehen aus Nucleus caudatus und dem Nucleus lentiformis, der sich wiederum aus Putamen und Globus pallidus zusammensetzt. (Birbaumer und Schmidt, 2010) Benzodiazepin: Anxiolytikum; angstlösender, sedierender Wirkstoff. Bottom-up-Aktivierung: Impuls zur Aufmerksamkeit, der vom Objekt ausgeht. cAMP: cyclisches Adenosin Monophosphat: reguliert als Second- Messenger-Molekül verschiedene Stoffwechselprozesse; seine Erhaltung führt zur Anregung des Stoffwechsels. Catecholamine: Dopamin, Noradrenalin und Adrenalin gehören zu den Catecholaminen. CE: Cognition Enhancement: Behandlung mit Mitteln der Medizin ohne medizinische Indikation, die auf die Verbesserung menschlicher Fähigkeiten und Eigenschaften zielt. D1/ D2 Rezeptor: Dopaminrezeptor 1 bzw. 2. DA: Dopamin: Neurotransmitter. DAT: Dopamin-Transporter: Sorgen für die Wiederaufnahme von Dopamin z.B. aus dem synaptischen Spalt in das Axonplasma und beenden dadurch seine Wirkung. DAK: Deutsche Angestellten Krankenkasse (Ersatzkasse): Deutscher Krankenversicherungsträger. DSM IV: Diagnostic und Statistical Manual, Version IV. Herausgegeben von der American Psychiatric Association. Klassifikationssystem für psychische Krankheiten, entsprechend ICD 10. EEG: Elektroenzephalographie: Aufzeichnung der elektrischen Aktivität des Gehirns. FDA: Food and Drug Association; in Amerika zuständig für die Zulassung von Arzneimitteln. Glutamaterge Synapsen: Synapse mit Glutamatrezeptoren. ICD 10: International Classification of Diseases, Edition 10: Herausgegeben von der Weltgesundheitsorganisation WHO. Kriterienkatalog für die statistische Klassifikation von Diagnosen und ihrer Verschlüsselung. <?page no="302"?> 302 Kontingenz in der Psychologie: Wenn zwei Vorgänge zugleich bzw. im Zusammenhang miteinander auftreten. Kribbelparästhesien: Sensibilitätsstörung mit unangenehmen Kribbelempfindungen. Medikalisierung: Expansion des Medizinischen in alle Bereiche des Lebens und Versuche, nicht krankheitsbedingte Probleme mit Hilfe medizinischer Methoden zu lösen. Mesokosmos: Kosmos der mittleren Größenverhältnisse. Metakognitives Wissen: Wissen über kognitive Funktionen allgemein und über kognitive Strategien im Besonderen. MPH Methylphenidat: Amphetaminderivat; wirksamer Bestandteil in Ritalin® und entsprechenden Präparaten. N.acc.: Nucleus accumbens: Gruppe von Neuronen, die zu den Basalganglien gerechnet werden kann. „Die rostralen Teile der Basalganglien sind vom orbito-frontalen Kortex bedeckt. Nucl. Caudatus und Putamen sind an dieser Stelle so eng verbunden, dass man oft vom Fundus Striatum spricht, der auch den Nucl. accumbens umfasst.“ (Birbaumer und Schmidt, 2010). Steht im Zentrum der verhaltenssteuernden Funktionen des Dopamin. Spielt eine Rolle in der Suchtentwicklung. Nosologische Taxonomie: Systematische Krankheitslehre. Novelty: Überraschend Neues oder plötzlich eintretendes, unerwartetes Ereignis. PCE: Pharmakologisches Cognition Enhancement: Medikamentöse Behandlung ohne medizinische Indikation mit dem Ziel der Verbesserung kognitiver Leistung. Person: Menschliches Wesen mit normativem Status, der mit Rechten und Pflichten einhergeht. Personale Identität: Hier geht es nicht um Identität im strengen Wortsinn, sondern der Begriff drückt aus, dass die Identität einer Person über die Zeit hinweg erhalten bleibt (persistiert), wenn bestimmte Kriterien erfüllt sind. PET: Positronen-Emissions-Tomographie: Bildgebendes Verfahren der Nuklearmedizin. Phasische Aufmerksamkeit: Kurzfristige, gerichtete Aufmerksamkeit. Priming: Verstärkender Effekt von Belohnung, die vor einer Handlung gewährt wird. R: z.B. 9R Variante eines Gens: „R“ steht für „Repeats“ - Wiederholungen eines bestimmten Basenpaar-Motivs in einem Gen. Eine unterschiedliche Anzahl von Basenpaar-Motiv-Wiederholungen in bestimmten Regionen des Gens ergeben Polymorphismen dieses Gens in verschiedenen Individuen. Abkürzungen und Glossar <?page no="303"?> Abkürzungen und Glossar 303 Reboundeffekt: Nach Absetzen eines Arzneimittels verstärktes Auftreten solcher Symptome, die zuvor durch das Medikament unterdrückt wurden. Z. B. nach Absetzen von Stimulanzien extremes Schlafbedürfnis, Hungergefühl und Disphorie. Resilienz: Hier: Persönliche Widerstandsfähigkeit gegenüber Krisen. SAT: SAT Reasoning Test: früher: Scholastic Aptitude Test oder Scholastic Assessment Test. Es handelt sich hierbei um einen standardisierten Test für die Zulassung zum College in den USA. Sn: Substantia nigra: Im Mittelhirn gelegenes Kerngebiet, das zu den Basalganglien gerechnet werden kann. Spine: Membranöse Ausstülpung an einem Dendriten, die kleiner als 1 m ist und meist den postsynaptischen Teil einer Synapse bildet. Striatum: Teil der Basalganglien, bestehend aus dem Putamen und dem Nucleus caudatus. (Birbaumer und Schmidt, 2010). Tic: Kurze und unwillkürliche, regelmäßig oder unregelmäßig wiederkehrende motorische Kontraktion einzelner Muskeln oder Muskelgruppen. TOM: Theorie of Mind. TOM bedeutet, dass jemand sich selbst und anderen Bewusstseinszustände zuschreiben kann. Tonische Aufmerksamkeit: Anhaltende, ungerichtete Wachheit bzw. Aktivierung. Top-down-Aktivierung: Impuls zur Aufmerksamkeit, der vom Subjekt ausgeht. Transmitter: Botenstoffe im Gehirn, die für die Signalübertragung auf chemischem Wege sorgen. Verstärkung: Belohnung mit retroaktivem Effekt auf Lernvorgänge, da sie im Nachhinein erfolgt. Hat zusätzlich proaktive, motivierende Effekte für zukünftige Handlungen. VMAT 2: Vesicular Monoamine Transporter 2. Sorgen für die Wiederaufnahme von Dopamin in die Vesikel des Axons und verringern dadurch die Konzentration im Axonplasma. Volition: Bezieht sich auf die Kontrolle von Handlungen und generiert Handlungsantrieb. VT: Ventrales Tegmentum: Gruppe von Nervenzellen im Mittelhirn, die Dopamin produzieren. WHO: World Health Organisation.