Das 'gute Leben' im Kapitalismus
Aristotelische Gerechtigkeit und der Marxsche Bewertungsmaßstab
0424
2014
978-3-7720-5483-9
978-3-7720-8483-6
A. Francke Verlag
Jan Sailer
Das Buch geht der Frage nach, ob es in der kapitalistischen Moderne möglich ist, moralisch gutes Handeln mit persönlichem Wohlergehen zu vereinen. Es zeigt, wie das aristotelische Konzept des ,guten Lebens' und sein Begriff von Gerechtigkeit Moralität und Eigennutz zusammen denkt. Karl Marx beurteilt und kritisiert die kapitalistische Wirtschaftsordnung auf Grund eines moralischen Maßstabs, der sich an diese Einheit von allgemeinem und individuellen Interesse anlehnt. Das Buch stellt damit in Frage, inwieweit der kapitalistisch vergesellschaftete Mensch noch zum moralischen Handeln fähig ist.
<?page no="0"?> Jan Sailer Das ‚gute Leben‘ im Kapitalismus Aristotelische Gerechtigkeit und der Marxsche Bewertungsmaßstab <?page no="1"?> Das gute Leben im Kapitalismus <?page no="2"?> Basler Studien zur Philosophie 18 Herausgegeben von Emil Angehrn und Lore Huhn <?page no="3"?> Jan Sailer Das ‚gute Leben‘ im Kapitalismus Aristotelische Gerechtigkeit und der Marxsche Bewertungsmaßstab <?page no="4"?> Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Der Druck dieses Buches wurde durch die Unterstützung der Rosa-Luxemburg- Stiftung und der Wissenschaftlichen Gesellschaft Freiburg ermöglicht. © 2014 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany ISSN 0941-9918 ISBN 978-3-7720-8483-6 <?page no="5"?> Meinen Eltern - für alles <?page no="6"?> Danksagung Dieses Buch wäre ohne die Hilfe anderer nicht zustandegekommen. Mein Betreuer Herr Prof. Dr. Metz hat es während des Projekts geschafft, stets mit seiner hilfreichen Unterstützung präsent zu sein und mir zugleich die für das wissenschaftliche Arbeiten nötige Freiheit zu lassen. Dafür danke ich ihm sehr. Dem Freiburger Kolloqium von Prof. Dr. Metz danke ich für den wissenschaftlichen Austausch, vor allem Herrn Jeong Hoon Park und Frau Eunhwa Shin. Ich bedanke mich bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung für die umfassende Förderung, insbesondere den stets hilfreichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Studienwerks. Der Wissenschaftlichen Gesellschaft Freiburg danke ich für die finanzielle Förderung zur Drucklegung. Meine Eltern, Renate Sailer und Wolfram Sailer, haben mir persönlich, inhaltlich und materiell geholfen, wann immer es nötig war. Dafür danke ich Ihnen. Den Korrektoren danke ich für ihre Mühe und Genauigkeit bei der Aufspürung von Fehlern: Jan Holtkamp, Marie-Christine Knoche, Angela Sauer und Sarah Schwarzkopf. Alle Mängel dieser Arbeit habe ich jedoch selbst zu verantworten. <?page no="7"?> 7 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung.............................................................................. 11 1.1. Die Finanzkrise, die Marxsche Fetischkritik und das ‚gute Leben‘ bei Aristoteles ....................................................11 1.2. Marx und Aristoteles ................................................................15 1.3. Gliederung der Arbeit ..............................................................18 1.4. Methodische Vorbemerkungen...............................................20 I. Gerechtigkeit und das ‚gute Leben‘ bei Aristoteles.....23 2. Einleitung.............................................................................. 23 2.1. Textgrundlage und Stand der Forschung ..............................23 2.2. Das Ziel der Ethik bei Aristoteles ...........................................26 2.3. Die Methode der ‚Nikomachischen Ethik‘ ............................28 3. Aristoteles‘ Begriff von eudaimonia................................ 33 3.1. Überblick und Probleme der Forschung................................33 3.2. Das Ziel (telos) und das Gut (agathon) ..................................36 3.3. Das Endziel (telos teleion) und das beste Gut (ariston) .......40 3.4. Glückseligkeit (eudaimonia) und das ‚gute Leben‘ (eu zen) .......................................................................................44 3.5. Die eigentümliche Leistung (ergon) des Menschen .............48 3.6. Tugend (arete) ...........................................................................51 3.7. Überblick der Diskussion um eudaimonia ............................53 3.8. eudaimonia: Die inklusive und dominante Interpretation .55 3.9. eudaimonia: Die umstrittene Textstelle .................................61 3.10. eudaimonia: Ergebnis der Diskussion ...................................73 3.11. eudaimonia und das ganze Leben ..........................................75 4. Gerechtigkeit........................................................................ 87 4.1. Gerechtigkeit als ethische Tugend..........................................87 4.2. Allgemeine Gerechtigkeit ........................................................92 4.3. Gerechtigkeit als die ganze Tugend und die vollkommene Tugend ..............................................................97 4.4. Besondere Gerechtigkeit ........................................................100 4.5. Verteilungsgerechtigkeit ........................................................106 4.6. Ausgleichende Gerechtigkeit ................................................110 <?page no="8"?> 8 5. Materielle Bedürfnisbefriedigung und eudaimonia .. 121 5.1. Materielle Güter als Hilfsmittel und Vorbedingungen für das ‚gute Leben‘ ................................................................122 5.2. Materielle Güter als Resultat der tugendhaften Aktivität .125 5.3. Materielle Güter als integrativer Bestandteil des ‚guten Lebens‘ .........................................................................128 6. Selbstliebe und Egoismus, Gemeinschaft und Individuum bei Aristoteles ............................................. 130 6.1. Egoismus versus Altruismus.................................................130 6.2. Kritik des Gegensatzes von Altruismus und Egoismus ....132 6.3. Transzendenz von Egoismus und Altruismus in der Gerechtigkeit ................................................................134 II. Marx‘ Bewertungsmaßstab .............................................140 7. Einleitung zu Marx‘ Bewertungsmaßstab .................... 140 7.1. Die Macht des Goldes.............................................................140 7.2. Der Wertmaßstab in der Forschung .....................................142 7.3. Die Entwicklung des Wertmaßstabes ..................................147 8. Entfremdung nach Feuerbach ......................................... 151 8.1. Religionskritik im ‚Wesen des Christentums‘ .....................151 8.2. Entfremdung im ‚Wesen des Christentums‘ .......................156 8.3. Verhältnis von Feuerbachs Entfremdungskritik zu Hegel 163 8.4. Hinwendung zum Materialismus nach ‚Wesen des Christentums‘ .....................................................167 9. Die Grundlagen des Marxschen Wertmaßstabs bis zu den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten..... 170 9.1. Die Rezeption von Hegel in Marx‘ Dissertation .................170 9.2. Die Philosophie in der Praxis in Marx‘ Dissertation und seiner journalistischen Arbeit........................................177 9.3. Marx‘ Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie ................185 9.4. Positives Verhältnis zu Hegel in der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie .............................................193 9.5. Entfremdung in der Praxis ....................................................198 10. Die Entfremdungstheorie als Wertmaßstab in den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten............. 206 10.1. Entfremdung: Negative Bestimmung nach Feuerbach......206 10.2. Entfremdung vom Produkt ...................................................211 10.3. Entfremdung vom Gattungswesen: Positive Bestimmung nach Hegel ........................................................217 10.4. Explizite Auseinandersetzung mit der Hegelschen Vergegegenständlichung .......................................................230 <?page no="9"?> 9 10.5. Entfremdung als negativer Wertmaßstab............................239 11. Der Wertmaßstab in den ‚Quellen der Deutschen Ideologie‘ ........................................................................... 242 11.1. Materialistische Geschichtsauffassung versus historischer Materialismus ....................................................242 11.2. Der Marxsche Wertmaßstab in den ‚Quellen der Deutschen Ideologie‘ ..............................................................249 12. Der Wertmaßstab in der Kritik der politischen Ökonomie ........................................................................... 259 12.1. Fetischcharakter der ökonomischen Verhältnisse ..............261 12.2. Der Wertmaßstab in der reellen Subsumtion von Arbeit unter das Kapital.........................................................270 12.3. Der Schwund des Wertmaßstabs in der Kritik der politischen Ökonomie ..........................................274 III. Das ‚gute Leben‘ bei Marx ............................................278 13. Der Marxsche Wertmaßstab und die ‚Einzelnen als Alle‘ ................................................................................ 279 13.1. Die ‚Einzelnen als Alle‘ in der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie .............................................279 13.2. Der Marxsche Wertmaßstab und die ‚Einzelnen als Alle‘ .293 13.3. Die ‚Einzelnen als Alle‘ in der materialistischen Geschichtsauffassung .............................................................296 13.4. Die ‚Einzelnen als Alle‘ in der Kritik der politischen Ökonomie ............................................................299 14. Die griechische Antike als Vorbild der ‚Einzelnen als Alle‘ ................................................................................ 303 14.1. Marx‘ Sicht auf die antike Fassung der ‚Einzelnen als Alle‘ .....................................................................................303 14.2. Marx‘ Sicht auf die antike Fassung der ‚Einzelnen als Alle‘ in der Kritik der politischen Ökonomie ................304 14.3. Aristoteles‘ Kritik an der Chrematistik als Kritik am Geld als realem Gemeinwesen ..............................................310 14.4. Aristoteles‘ Einheit der unterschiedenen Individuen als Vorbild für Marx‘ Ideal ....................................................313 14.5. Marx‘ Versuch einer Versöhnung der Hegelschen antiken und modernen Sittlichkeit .......................................320 15. Marx und Aristoteles ........................................................ 329 Literaturverzeichnis .................................................................. 333 <?page no="10"?> 10 Kurzfassungen von Literaturtiteln ‚Enzyklopädie‘ Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, dritte Ausgabe 1830 ‚Grundlinien‘ Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts ‚Grundrisse‘ Marx: Ökonomische Manuskripte 1857/ 58 ‚Judenfrage‘ Marx: Zur Judenfrage ‚Kapital‘ Marx: Kritik der politischen Ökonomie, Band 1 NE Aristoteles: Nikomachische Ethik MEW Marx-Engels Werke MEGA Marx-Engels-Gesamtausgabe, zweite Ausgabe ÖPM Marx: Ökonomisch-Philosophische Manuskripte ‚Phänomenologie‘ Hegel: Phänomenologie des Geistes ‚Thesen‘ Feuerbach: Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie ‘Quellen der DI‘ Marx; Engels: Quellen der Deutschen Ideologie <?page no="11"?> 11 1. Einleitung 1.1. Die Finanzkrise, die Marxsche Fetischkritik und das ‚gute Leben‘ bei Aristoteles In den Jahren nach 2008 beherrschte die Finanzkrise die Welt. Ausgehend von einer bestimmten Art von Wertpapieren wurde zunächst im Jahr 2008 die gesamte Finanzwirtschaft in starkem Ausmaß in Mitleidenschaft gezogen. Der Handel mit Wertpapieren überhaupt stockte, das gegenseitige Vertrauen unter den Wertpapierhändlern war beschädigt, Vermögen in der Form des Kredits wurde in gewaltigem Ausmaß vernichtet. Die Krise der Finanzwirtschaft griff auf die anderen Sphären der Wirtschaft über. Die Produktion von Gütern wurde zurückgefahren, Arbeitnehmer verloren ihre Arbeitsplätze und ihr Einkommen, Firmen gingen zugrunde. Aufgrund der Auswirkungen auf ihre Volkswirtschaften insgesamt sahen sich die Staaten gezwungen, sowohl die Akteure der Finanzwirtschaft mit Garantien, Bürgschaften, Krediten und dem Aufkauf maroder Wertpapiere zu retten, als auch den Umsatz der mit Gütern und Dienstleistungen befassten Unternehmen durch Konjunkturmaßnahmen zu stimulieren. Um diese Maßnahmen durchzuführen, griffen die belasteten Staaten wiederum auf die Finanzbranche zurück. Wie in konjunkturell normalen Zeiten des Auf- und Abschwungs auch, verschuldeten sich die Staaten, um die Finanzwirtschaft vor ihrem Untergang zu bewahren. Diese dankte es ihnen nicht. Weil die Kredite bloß unproduktiv für ihre eigene Rettung aufgenommen wurden, anstatt in der Volkswirtschaft Gewinne zu generieren, beäugte die Finanzwelt die Aufnahme dieser Gelder kritisch. Vor allem im Euro-Raum wurde die Kreditwürdigkeit mehrerer Staaten angezweifelt. Die Krise der Finanzwirtschaft hatte somit nicht nur Auswirkungen auf die Realwirtschaft, auf die Produktion von und den Handel mit nützlichen Gütern, sondern auch auf die Gemeinwesen selbst. Die Staaten mussten ihre nationalen Projekte und die Art und Weise ihrer Wirtschaftspolitik radikal verändern sowie ihre Sozialprogramme und die Betreuung und Ausbildung der Jugend erheblich einschränken, um von der Finanzwelt ein positives Urteil über ihre Kreditwürdigkeit zu erlangen. Im Zuge der Finanzkrise wurde vor allem in den Feuilletons der Zeitungen eine Marx-Renaissance ausgerufen. 1 Angesichts des Ausmaßes der Krise, in die das kapitalistische System sich selbst gebracht hatte, wurde seinem elaboriertesten Kritiker eine vermehrte Aufmerksamkeit zuteil. Dabei ist Marx gar nicht in erster Linie als Theoretiker der kapita- 1 So beispielsweise Arntz, Jochen: Auferstanden aus dem Ruin, In: Süddeutsche Zeitung vom 23.06.2008. <?page no="12"?> 12 listischen Tendenz zur Dysfunktionalität interessant. Vielmehr wäre vom Blickwinkel der Marxschen Theorie her zu rekonstruieren, was ein solcher Ausnahmezustand namens Finanzkrise über den Normalzustand des Kapitalismus im 21. Jahrhundert aussagt. Von der Marxschen Analyse her gesehen sind in der Finanzkrise zwei kapitalistische Phänomene bemerkenswert, die Selbstzweckhaftigkeit des kapitalistischen Reichtums und der Fetischcharakter der ökonomischen Gegenstände. Für Marx ist Geld nicht ein Mittel für eine ökonomische Funktion - wie die effiziente Allokation von Gütern - sondern der alles bestimmende Zweck diese Produktionsweise. Aus Geld mehr Geld zu machen, ist für Marx der beherrschende Zweck im Kapitalismus. Von dieser Position aus betrachtet ist das Kreditgewerbe nicht ein nützlicher Überbau für die Realwirtschaft, der deren Ausgangsbasis vergrößert, sondern die Sphäre, in der dieser Zweck am reinsten, ohne die Herstellung einer Ware, verfolgt wird. Für ihn wäre daher die Krise, die als Störung des Finanzkapitals beginnt und alle Bereiche der Gesellschaft - von der Realwirtschaft bis zum Staat - erfasst, das Eingeständnis, wie sehr die Gesellschaft von diesem Zweck beherrscht wird. Wenn eine Störung der Kapitalbewegung im Finanzsektor so katastrophale Auswirkungen auf die Reproduktion der Gesellschaft wie auf die Staaten hat, dann ist der bestimmende Zweck dieser Sphäre, die schrankenlose Geldvermehrung, anscheinend bestimmend für die gesamte Gesellschaft. Wenn das Finanzkapital keinen Gewinn mehr macht, dann steht die Existenz von Firmen und Arbeitsplätzen auf dem Spiel und die Staaten überprüfen all ihre Tätigkeiten daraufhin, ob sie die Zustimmung der Wertpapierhändler finden. Daraus muss man aus der Marxschen Perspektive schließen, dass der Gewinn im Wertpapierhandel als der für diese Gesellschaft übergeordnete Zweck erscheint. 2 Zugleich trifft die Marxsche Kritik an dem Fetischcharakter der ökonomischen Verhältnisse auf die Sphäre des Finanzkapitals in radikaler Weise zu. Ein wesentlicher Kritikpunkt an den kapitalistischen Verhältnissen ist für Marx der Umstand, dass sie ein Eigenleben gegenüber ihren Akteuren gewinnen. In den ökonomischen Gegenständen Wert, Geld und Kapital trete der Mensch seinem eigenen Produkt als einem ihm fremden und ihn beherrschenden Gegenstand gegenüber. Obgleich die kapitalistischen Produkte nichts als Ausfluss der Tätigkeit der Individuen sind, erringen sie Macht über ihre eigenen Schöpfer, und treten ihnen wie eine Naturgewalt gegenüber. Im Finanzsektor ist dieser Fetischcharakter der kapitalistischen Produkte am radikalsten zu beobachten. Zwar verdankt sich die Bewegung der Aktienkurse nichts anderem, als den Renditeerwartungen der mit ihnen handelnden Finanzdienstleister, die durch den Handel mit den Wertpapieren ihre kollektive Renditeerwartung wahr 2 Für Belege zum Zweck der Geldvermehrung bei Marx siehe Kapitel 14.3. <?page no="13"?> 13 machen. Zugleich verhalten sie sich zu den Kursen praktisch jedoch wie zu einer Naturgewalt. Das Produkt ihrer bewussten Aktionen, ihrer gesellschaftlichen Tat, tritt ihnen wie ein Naturereignis gegenüber, auf das sie nur reagieren. Was Marx von der Wertbestimmung insgesamt sagt, kommt in dem Phänomen der Börsenkurse sehr plastisch zur Anschauung. Wie in der Warenproduktion insgesamt schaffen die Wertpapierhändler eine Bewegung, die sich nichts als ihren eigenen Aktivitäten verdankt, sie tritt ihnen aber als gesellschaftliche Hieroglyphe entgegen. Danach „suchen die Menschen den Sinn der Hieroglyphe zu entziffern, hinter das Geheimnis ihres eignen gesellschaftlichen Produkts zu kommen“ 3 . Erst in den Börsennachrichten erhalten die Aktienhändler Kenntnis darüber, welches Resultat ihre Tätigkeit hat. „Ihre eigne gesellschaftliche Bewegung besitzt für sie die Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren.“ 4 In der Tat identifiziert Marx in Band 3 des ‚Kapital‘ den Kredit als die höchste Form dieses Fetischcharakters der kapitalistischen Verhältnisse. „Im zinstragenden Kapital ist daher dieser automatische Fetisch rein herausgearbeitet, der sich selbst verwerthende Wert, Geld heckendes Geld, und trägt es in dieser Form keine Narben seiner Entstehung mehr.“ 5 Für die Werthpapierhändler ist es ganz normal, dass sie aus nichts weiter als einer Summe Geldes eine größere Summe erhalten. „Es wird so ganz so Eigenschaft des Geldes, Werth zu schaffen, Zins abzuwerfen, wie die eines Birnbaums Birnen zu tragen.“ 6 Aufgrund dieser Verselbständigung der Produktionsverhältnisse müsse auch die Abwechslung von Aufschwung und Krise allen Akteuren „als übermächtige, sie willenlos beherrschende Naturgesetze erscheinen und sich ihnen gegenüber als blinde Nothwendigkeit geltend machen.“ 7 Aristoteles konnte von Finanzkrisen noch nichts wissen; er hatte eine andere Art von Wirtschaft vor sich. Dennoch lässt sich auch vom Standpunkt seiner praktischen Philosophie her die Stellung der Finanzbranche in unserer Gesellschaft anhand der im Jahre 2008 beginnenden Finanzkrise beurteilen. Für Aristoteles ist Ökonomie im Grunde eine Wissenschaft vom richtigen Gebrauch des Reichtums. Die Güter sollten für das gute Leben verwendet werden, das in der vortrefflichen Ausübung von Tätigkeiten gemäß der Vernunft besteht. Das ist für Aristoteles gleichbedeutend mit Aktivitäten gemäß der Tugend. Der Reichtum ist für Aristoteles demgemäß dafür da, jene tugendhaften Aktivitäten zu entfalten, die er in der ‚Nikoma- 3 Marx, Karl: Das Kapital - Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1, Hamburg 1890, In: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Abteilung II, Bd. 10, Berlin: Dietz 1991, S. 73. 4 Marx: Das Kapital, Bd. 1, 1890, MEGA II,10, S. 74. 5 Marx, Karl: Das Kapital - Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 3, Hamburg 1894, In: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Abteilung II, Bd. 15, Berlin: Dietz 2004, S. 381. 6 Marx: Das Kapital, Bd. 3, 1894, MEGA II,15, S. 381. 7 Marx: Das Kapital, Bd. 3, 1894, MEGA II,15, S. 805. Für weitere Belege zur Marxschen Fetischkritik siehe Kapitel 0. <?page no="14"?> 14 chischen Ethik‘ (NE) dargestellt hat. In der Tugend der Gerechtigkeit bezieht sich das Individuum positiv auf die Gemeinschaft, die wiederum das gute Leben ihrer Bürger zum Ziel hat, indem sie ihnen tugendhafte Aktivitäten gebietet. 8 Von der Ökonomie unterscheidet Aristoteles strikt die Wissenschaft von der Chrematistik. Sie befasse sich mit der Kunst der Einnahme von Geld. Sie hat nach Aristoteles nur Berechtigung, insofern sie auf die Ökonomie bezogen ist, also auf die Nutzung des Reichtums für das ‚gute Leben‘. Es ist daher nur konsequent, dass Aristoteles das Streben nach Gewinn als Selbstzweck scharf ablehnt. Die in der Finanzkrise offenbar gewordene Macht der Finanzbranche, die keine nützlichen Güter herstellt, sondern allein darauf aus ist, aus Geld mehr Geld zu machen, würde Aristoteles daher negativ beurteilen. Dass nicht nur die Herstellung der nützlichen Güter, sondern auch die Macht der Gemeinwesen von der Rechnungsweise der Finanzbranche abhängig ist, würde er negativ beurteilen, da so das Gemeinwesen seinem eigentlichen Zweck nicht nachkommen kann. Das gute Leben des Einzelnen, das in der philosophischen Betrachtung seine höchste Vollendung findet und das über die Gerechtigkeit auf den Nutzen der Mitbürger bezogen ist, hätte in einem solchen von der Beurteilung des Kreditgewerbes abhängigen Gemeinwesen keine gute Grundlage. 9 In der negativen Beurteilung der Geldvermehrung als Selbstzweck sind sich Marx und Aristoteles auf einer abstrakten Ebene einig. Aber geht die Gemeinsamkeit auch darüber hinaus? Haben die beiden Denker darüber hinaus gemeinsame Maßstäbe, die sie an die gesellschaftlichen Verhältnisse anlegen? Die vorliegende Arbeit will zeigen, dass Marx gegen die entfremdeten kapitalistischen Verhältnisse eine Auffassung über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft entwickelt, das sich an der aristotelischen orientiert. Sowohl Marx als auch Aristoteles haben den Anspruch, dass die Individuen unmittelbar auf die gesellschaftliche Allgemeinheit ausgerichtet sein sollen, um einen positiven Bezug zur Gemeinschaft zu haben. Die Wege dahin sind für beide unterschiedlich. Für Aristoteles hat diese Einheit eine objektive Grundlage in der polis. Für Marx fehlt dafür jede objektive Grundlage. Aristoteles thematisiert sowohl die individuellen Handlungen wie die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dieses unmittelbaren Bezugs, während Marx allein die soziale Objektivität als dessen Bedingung in den Blick nimmt. Aber alle diese Unterschiede beruhen auf einer Gemeinsamkeit: Beide wollen eine Gesellschaft, in der das Gut des Einzelnen unmittelbar positiv auf das Gut der Gemeinschaft bezogen ist. Marx aktiviert diese antike unmittelbare Vergesellschaftung der Individuen gegen jene kapitalistischen Zustände, die er 8 Für Belege zum aristotelischen ‚guten Leben‘ siehe Teil eins dieser Arbeit. 9 Für Belege zur Ökonomie bei Aristoteles siehe Kapitel 0. <?page no="15"?> 15 selbst in jungen Jahren als Entfremdung kritisiert und die er später als Fetischcharakter ökonomischer Gegenstände kennzeichnet. Die antike Gesellschaft nach der praktischen Philosophie des Aristoteles bietet für ihn einen Gegenentwurf zu Verhältnissen, in denen die Individuen sich vermittelt über Ware, Geld und Kapital so aufeinander beziehen, dass eine positive Gemeinsamkeit nicht zustande kommt, sondern das gemeinschaftliche Produkt Eigenständigkeit ihnen gegenüber gewinnt. Marx stützt sich in der Interpretation der griechischen Antike im Allgemeinen und von Aristoteles im Besonderen auf die Hegelschen philosophiegeschichtlichen und weltgeschichtlichen Betrachtungen. Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, das in dem aristotelischen Konzept des ‚guten Lebens‘ enthalten ist, ist für Marx somit ein Gegenentwurf zu Verhältnissen, in denen ein von der Produktion nützlicher Güter abgekoppeltes Kreditgewerbe ohne Wissen und Bewusstsein der Beteiligten und ohne einen einzigen Nutznießer die Reproduktion der Gesellschaft, das Einkommen der Lohnabhängigen und die politischen Programme von Staaten in den Abgrund stürzen kann. 1.2. Marx und Aristoteles Auf die Bezüge zwischen Marx und Aristoteles ist in verschiedener Hinsicht aufmerksam gemacht worden. So meint Martha Nussbaum, in Marx einen Theoretiker vor sich zu haben, der in zwei Punkten eine aristotelische praktische Philosophie vertritt. Erstens meine Marx wie Aristoteles, dass menschliches Leben im emphatischen Sinne der Möglichkeit bedarf, die genuin menschlichen Fähigkeiten durch eigene Wahl und mit Vernunft auszuleben. Und zweitens meine Marx wie Aristoteles, dass es für die Ausübung dieser Fähigkeiten eine politische Institution braucht, die dem Individuum diese Verwirklichung ermögliche. 10 Wood geht sogar noch weiter und meint in seinem englischsprachigem Standardwerk über Marx, dass dieser in seinen Frühwerken in dem Konzept des ‚Gattungswesens‘ eine aristotelische Sprache der Verwirklichung menschlicher Wesenskräfte benutzt, gerade so, wie Aristoteles von einer menschlichen Substanz ausginge, die ihre eigene Entfaltung verlange: „Both his dialectical method and his concept of humanity are based more or less openly on the Aristotelian notion that things have essences and that the task of science is to understand the properties and behavior of things in terms of essences. Marx‘s concept of alienation involves the further Aristo- 10 Siehe Nussbaum, Martha Craven: Nature, Function and Capability: Aristotle on Political Distribution, In: McCarthy, George E. (Hg.): Marx and Aristotle: Nineteenthcentury German Social Theory and Classical Antiquity, Savage: Rowman & Littlefield 1992, S. 205f. <?page no="16"?> 16 telian notion that a fulfilling life for men and women is one in which they exercise their distinctively human capacities.” 11 Auch in anderen Arbeiten wird die Auffassung vertreten, Marx habe einen Wertmaßstab 12 , der an die allgemeine aristotelische Struktur anknüpfe, dem Menschen wohne eine allgemeine Potenz inne, aus der der Anspruch folge, dass sie verwirklicht werde und die Bedingungen ihrer Verwirklichung vorliegen müssten. In diesem Sinne argumentieren Hurka und Leopold. 13 Margolis hat diese These scharf angegriffen. Er argumentiert dafür, dass in Marx‘ Gattungswesen gerade keine spezifisch menschliche Substanz enthalten sei. Zwar gebe es eine Eigenschaft, die den Menschen vom Tiere unterscheide, jedoch sei dies auf keinen Fall als aristotelische Substanz zu verstehen. 14 Margolis meint, dass Marx die aristotelische Trennung zwischen Theorie und Praxis wie den Gegensatz von Natur und Subjekt in der Arbeit aufgehoben sehe. Somit sei eine überhistorische menschliche Substanz bei Marx nicht möglich. 15 Insofern Marx von einem menschlichen Wesen spreche, sei dies ganz funktional als Unterscheidungsmerkmal zum Tier gemeint. Margolis‘ schlüssige Argumentation, die in weiten Teilen den Urteilen von Lobkowicz folgt 16 , ist nur insofern mangelhaft, dass Marx, indem er den Menschen vom Tier unterscheidet, eine überhistorische Natur des Menschen unterstellt. Marx‘ Rede vom Wesen des Menschen impliziert damit eine menschliche Substanz, die ihm eigentümlich sei. Meikle hat darauf aufmerksam gemacht, dass Marx in seiner ‚Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie‘ einerseits die Personifizierung der logischen Kategorien wie der Idee und die Ableitung der staatlichen Gegenstände aus ihnen kritisiert und dagegen hält, dass von ‚tatsächlichen‘ Gegenständen ausgegangen werden müsse. Andererseits äußere Marx diese Kritik, um den Kern der Hegelschen Überlegungen vor dessen ver- 11 Wood, Allen W.: Karl Marx, zweite Auflage, London: Routledge & Kegan Paul 2004, S. 235. 12 Mit ‚Wertmaßstab‘ soll im Folgenden nicht das Geld als Maß der Werte bezeichnet werden, sondern den hier zu rekonstruierenden Maßstab, unter dem Marx die gesellschaftlichen Verhältnisse beurteilt. 13 Siehe Hurka, Thomas: Perfectionism, New York und Oxford: Oxford University Press 1996, S. 6 und 12 und Leopold, David: The Young Karl Marx - German Philosophy, Modern Politics, and Human Flourishing, Cambridge: Cambridge University Press 2007, S. 185. 14 Siehe Margolis, Joseph: Praxis and Meaning - Marx‘s Species-Being and Aristotle‘s Political Animal, In: McCarthy, George E. (Hg.): Marx and Aristotle: Nineteenthcentury German Social Theory and Classical Antiquity, Savage: Rowman & Littlefield 1992, S. 334. 15 Siehe Margolis: Praxis and Meaning, S. 341f. 16 Siehe Lobkowicz, Nikolaus: Theory and Practice - History of a Concept from Aristotle to Marx, Notre Dame: University of Notre Dame Press 1967, S. 340-351. <?page no="17"?> 17 meintlicher Mystifizierung zu retten. 17 Darin ist Meikle zuzustimmen. Aber auch Meikle meint, dass Marx gegen Hegel einen Substanzbegriff aktiviert, der sich an Aristoteles orientiert. Sowohl die Behauptung, Marx teile mit Aristoteles den Wertmaßstab, der Mensch müsse imstande sein, seine ihm eigenen Potenzen zu verwirklichen, als auch die Behauptung, Marx greife in seiner Hegelkritik auf einen aristotelischen Substanzbegriff zurück, haben einen Mangel: Weil sich keine Textstellen finden lassen, die einen direkten Bezug von Marx zu Aristoteles hinsichtlich dieser behaupteten Gemeinsamkeit belegen würden, muss die Gemeinsamkeit als zufällige Übereinstimmung behauptet werden. Der Frage, ob der Marxsche Bewertungsmaßstab im Sinne einer aristotelischen unveränderlichen Substanz zu interpretieren sei oder im Rückgriff auf Hegel über diese hinausgeht, ist m. E. nicht in dieser abstrakten Fassung entscheidbar. 18 Fruchtbarer ist es, die Genese des Marxschen Bewertungsmaßstabs nachzuverfolgen, um die erläuterungsbedürftige Marxsche Rede vom ‚Wesen des Menschen‘ in den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten (ÖPM) inhaltlich genauer zu bestimmen. Die vorliegende Arbeit zeigt auf, dass Marx zwar den Kern seines Wertmaßstabs in der Auseinandersetzung mit Hegel und Feuerbach gewinnt, dass die gesellschaftliche Verwirklichung dieses Maßstabs jedoch zugleich ein unmittelbar positives Verhältnis vom Individuum zur Gesellschaft beinhaltet und dass nach Marx‘ Interpretation dieses Ideal in der aristotelischen praktischen Philosophie in getrübter Form verwirklicht ist. 19 Im aris- 17 Siehe Meikle, Scott: Essentialism in the thought of Karl Marx, London: Duckworth 1985, 40-45. 18 Diese abstrakte Entgegensetzung ist auch insofern problematisch, als Hegel selbst in seinem Substanzbegriff positiv auf Aristoteles Bezug nimmt. In der Vorrede zu der ‚Phänomenologie des Geistes‘ schreibt Hegel: „Allein, wie auch Aristoteles die Natur als das zweckmäßige Tun bestimmt, der Zweck ist das Unmittelbare, Ruhende, das Unbewegte, welches selbst bewegend ist; so ist es Subjekt.“ (Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970, S. 26) Hegel argumentiert in seinen ‚Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie‘ gegen die Interpretation von Aristoteles als eines Empiristen und betont ihren spekulativen Charakter. Allerdings sei die allgemeine Idee bei ihm nicht zu einem System entwickelt. Zwar erscheine sie als alle Wahrheit, trete aber als ein Besonderes neben anderem Besonderen auf. Siehe Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Teil 2, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, S. 145-151. Ein starrer Gegensatz zwischen aristotelischem Substanzbegriff und Hegelschem Begriff der Einheit von Subjekt und Substanz ist somit nicht plausibel. 19 Auf diese Beziehung zwischen Marx und Aristoteles ist bisher nur Depew eingegangen, allerdings ohne die Hintergründe des expliziten Bezugs von Marx zu Aristoteles zu klären. Siehe Depew, David: The Polis Transfigured: Aristotle‘s Politics and Marx’s Critique of Hegel‘s ‚Philosophy of Right‘, In: McCarthy, George E. (Hg.): Marx and Aristotle: Nineteenth-century German Social Theory and Classical Antiquity, Savage: Rowman & Littlefield 1992, S. 37-74. Irrlitz notiert nebenbei, dass sich Marx an der Solidarität der Antike orientiere, siehe Irrlitz, Gerd: Notizen zu Marx, <?page no="18"?> 18 totelischen Konzept vom ‚guten Leben‘ lässt sich tatsächlich ein unmittelbar positives Verhältnis des Individuums zur gesellschaftlichen Allgemeinheit konstatieren, auf das Marx über die Auseinandersetzung u. a. mit dem Begriff des zoon politikon Bezug nimmt. 1.3. Gliederung der Arbeit Um das Verhältnis des Marxschen Wertmaßstabs zum aristotelischen ‚guten Leben‘ zu klären, müssen zunächst die beiden Pole des Vergleichs für sich bestimmt werden, bevor auf das Verhältnis von Marx zu Aristoteles eingegangen werden kann. Die ersten beiden Teile dieser Arbeit bereiten somit die Untersuchung des Verhältnisses vor, die in Teil drei dargelegt wird. Die Untersuchung hat dabei den Anspruch, das Verhältnis von Marx zu Aristoteles nicht nur zu vermuten, sondern aus dessen expliziten Bezugnahmen auf Aristoteles zu rekonstruieren. Im ersten Teil wird der aristotelische Begriff des ‚guten Lebens‘ erarbeitet (Kapitel 2.-5.). Im aristotelischen ‚guten Leben‘ sind Individuum und Gesellschaft vor allem über die Tugend der allgemeinen Gerechtigkeit positiv aufeinander bezogen. Die allgemeine Gerechtigkeit zieht für Aristoteles ihre besondere Dignität daraus, dass sie positiv auf das gute Leben der Mitbürger bezogen ist. Sie gebietet die Achtung der Gesetze der Gemeinschaft, die wiederum für das gute Leben der Bürger sorgen soll. So sind in der Tugend der Gerechtigkeit das ‚gute Leben‘ des Individuums und der positive Bezug der Gesellschaft miteinander verschränkt. In der Forschung ist es aber umstritten, die Gerechtigkeit als notwendigen Bestandteil des ‚guten Lebens‘ zu bezeichnen, da sie in einigen Interpretationen als bloßes Mittel der philosophischen Betrachtung (theoria) aufgefasst wird. Daher muss die Frage geklärt werden, ob die Kennzeichnung von theoria als der vollkommenen Form von eudaimonia oder dem ‚guten Leben‘ bedeutet, dass die anderen Tugenden nur instrumentell auf diese Tätigkeit bezogen als ‚gutes Leben‘ gelten, oder auch für sich. Im ersten Teil dieser Arbeit wird eine Erklärung für die Charakterisierung der theoria als vollkommener Tugend erarbeitet, die gleichwohl die Geltung auch der Gerechtigkeit als ‚gutes Leben‘ nicht relativiert. Das zeigt, dass nach dem Marxismus, In: Gerhardt, Volker (Hg.): Marxismus - Versuch einer Bilanz, Magdeburg: Scriptum-Verlag Magdeburg 2001, S. 72f. Der Versuch von Castoriadis, Marx‘ Darstellung der ersten und der höchsten Phase des Kommunismus in der Kritik des Gothaer Programms im Licht der ausgleichenden Gerechtigkeit und der Billigkeit bei Aristoteles zu lesen, ist nicht hilfreich für die vorliegende Untersuchung, die den expliziten Bezug von Marx zu Aristoteles zu erklären sucht. Siehe Castoriadis, Cornelius: Wert, Gleichheit, Gerechtigkeit, Politik - Von Marx zu Aristoteles und von Aristoteles zu uns, In: Castoriadis, Cornelius (Hg.): Durchs Labyrinth, Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt 1981, S. 261-263. <?page no="19"?> 19 die unmittelbare Einheit von Individuum und Gesellschaft Voraussetzung und Ziel der aristotelischen Tugendlehre ist. (Kapitel 6) Die Einheit besteht zum einen darin, dass tugendhafte Aktivitäten der wohlverstandene Endzweck der individuellen Handlung sind. Diese Aktivitäten zielen durch die alle einzelnen ethischen Tugenden beinhaltende Gerechtigkeit auf die anderen Individuen und die polis als Ganzes hin. Zum anderen ist in der Tugend die materielle Bedürfnisbefriedigung des Individuums zwar nicht bezweckt, aber positiv enthalten. So ist für Aristoteles im Konzept des ‚guten Lebens‘ als dem Endzweck jeder Handlung die moralische Güte des Individuums - durch die Tätigkeit gemäß der spezifisch menschlichen Eigenschaft -, das Wohl des Gemeinwesens und die materielle Bedürfnisbefriedigung eingeschlossen und zusammengeführt. Marx formuliert eine radikale Kritik an Moral als eine ideologische Bewusstseinsform und will in seiner Kritik der politischen Ökonomie den Grund der materiellen Armut endgültig beseitigen. Scheinbar hat er mit Aristoteles als Wissenschaftler der Ethik damit nicht viel gemeinsam. Wenn man sich allerdings die Marxsche Entfremdungskritik näher anschaut, so lässt sich feststellen, dass Marx selbst einen kohärenten Wertmaßstab aufweist. 20 Im zweiten Teil dieser Arbeit wird der jener Marxschen Beurteilung implizit zugrunde liegende Wertmaßstab herausgearbeitet (Kapitel 7.-12.). Dabei spielt die teils über Feuerbach vermittelte, teils direkte Auseinandersetzung mit Hegel die wesentliche Rolle. Marx beginnt seine philosophische Laufbahn als überzeugter Schüler Hegels, der an die soziale Wirklichkeit den Maßstab anlegt, inwiefern sie der von ihm rezipierten Hegelschen Rechtsphilosophie genügt. Nachdem er die Hegelkritik Feuerbachs rezipiert, löst er sich vom Inhalt der Hegelschen Philosophie, bewahrt sich jedoch die Hegelsche Bewegung der Vergegenständlichung und wendet sie auf den Menschen an. Über die Rezeption von Feuerbachs religiöser Entfremdungskritik entwickelt er seine eigene Entfremdungskritik und sieht das Wesen des Menschen in der durch Arbeit stattfindenden Vergegenständlichung in einem ihm Anderen, der Natur, so dass der Mensch nur mit seinen selbstgesetzten Objekten umgeht. Es wird zu zeigen sein, dass dieser Maßstab der Vergegenständlich- 20 Die Untersuchung würde sich lohnen, ob dieser Wertmaßstab Marx‘ eigenem Begriff von Moral entspricht. Eine solche Untersuchung müsste allerdings den Marxschen Moralbegriff rekonstruieren, da Marx diesen nicht in systematischer Form darstellt. Eine solche Rekonstruktion würde den Rahmen dieser Arbeit allerdings sprengen. Die in der Forschung vieldiskutierte Frage, ob Marx nun moralisch argumentiert oder nicht, muss zugunsten des Bezugs von Marx zu Aristoteles‘ praktischer Philosophie zurückgestellt werden. Diese Verhältnisbestimmung kann auch ohne das Urteil durchgeführt werden, ob Marx‘ eigener Wertmaßstab seinem Moralbegriff entspricht oder nicht. Das Spannungsverhältnis zwischen expliziter Moralkritik und implizitem moralischem Wertmaßstab bei Marx soll an anderer Stelle untersucht werden. <?page no="20"?> 20 ung durch Arbeit auch noch nach der Entwicklung der materialistischen Geschichtsauffassung und in der Marxschen Fetischkritik aufzufinden ist. Die Bestimmung des aristotelischen ‚guten Lebens‘ und des Marxschen Bewertungsmaßstabs bietet im dritten Teil der vorliegenden Arbeit das Material für die Marxsche Bezugnahme auf Aristoteles (Kapitel 13.-15.). Die Einlösung seines Bewertungsmaßstabs beinhaltet für Marx zugleich das Ideal einer unvermittelten Einheit von Individuum und Gesellschaft. In seiner Kritik an Hegel löst sich Marx von dessen Vorstellung, das moderne freie Individuum durch differenzierte bürgerliche Einrichtungen wie Moralität, Ökonomie und Staat in eine gesellschaftliche Einheit zu integrieren. Stattdessen will er die gesellschaftliche Einheit unterschiedener Individuen durch kommunistische Arbeitsteilung unvermittelt herstellen. In der gedachten Erfüllung des Marxschen Bewertungsmaßstabs durch die dem Menschen inhärente Bestimmung, sein Wesen in Tätigkeit zu verwirklichen, bilden somit gemeinschaftliches Wohl und materielle Bedürfnisbefriedigung sowie die Verwirklichung der menschlichen Bestimmung eine Einheit. Das Zusammendenken dieser drei Momente teilt Marx mit Aristoteles. Diese Gemeinsamkeit mit Aristoteles rührt daher, dass Marx die substantielle Einheit der unterschiedenen Individuen, die Hegel der Antike zuspricht, mit dem modernen Prinzip der Individualität und der Freiheit zu versöhnen sucht. Marx meint, Hegel verfehle diese Einheit in Ökonomie und Staat. Stattdessen geht er auf die Unvermitteltheit der von Hegel bestimmten antiken Sittlichkeit zurück und aktiviert die aristotelischen Momente der Hegelschen Philosophie gegen deren Ausdifferenzierung in modernen bürgerlichen Institutionen. Obwohl Marx sich spätestens 1845 von der Hegelschen Philosophie abwendet, konstruiert er auf dessen Begriff der antiken Sittlichkeit aufbauend sein Ideal einer unvermittelten Einheit von Individuum und Gesellschaft. In der griechischen Antike und im aristotelischen Konzept des zoon politikon erblickt Marx eine beschränkte Verwirklichung seines Ideals. Über das zoon politikon übernimmt Marx damit die vor allem im Konzept des ‚guten Lebens‘ entwickelte Vorstellung von der Individualität, die unmittelbar die Gesellschaft zum Inhalt hat. 1.4. Methodische Vorbemerkungen Material dieser Arbeit sind die Gedanken dreier Philosophen: Aristoteles, Hegel und Marx. Dabei kommt jeder dieser Denker nur unter dem Gesichtspunkt zur Sprache, der für die leitende Fragestellung dieser Untersuchung relevant ist. Daraus folgt die Notwendigkeit, bloß einen Teil der jeweiligen Philosophien darzustellen - eine Aufgabe, die bei jenem Denker, der als Scharnier zwischen Aristoteles und Marx auftritt, am schwersten <?page no="21"?> 21 fällt. Denn der Systemgedanke der Hegelschen Philosophie bedeutet, dass sie erst in ihrem Vollzug, nämlich in der Notwendigkeit jedes Übergangs von einer Bestimmung zur nächsten, ihren Wahrheitsgehalt erweist. 21 Dennoch kann auch die Hegelsche Philosophie hier nur in den Aspekten dargestellt werden, in denen sie für die Beweiszwecke der Untersuchung relevant ist. Für sie gilt in größerem Maße das, was auch Hegel über Aristoteles in seinen ‚Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie‘ sagt: „Die Ausführlichkeit, die Aristoteles verdient kann ich ihm leider nicht gewähren“ 22 . Die Arbeit ist bewusst darauf ausgelegt, dass die beiden Teile, in denen das aristotelische ‚gute Leben‘ und der Marxsche Bewertungsmaßstab untersucht werden, als eigenständige Analysen gelesen werden können. Aufgrund des unterschiedlichen Untersuchungsgegenstands haben beide Teile je eigene Herangehensweisen. Aristoteles hat das Konzept des ‚guten Lebens‘ in einer eigenständigen Theorie dargelegt. Hier gilt es vor allem, die in der Forschung noch unentschiedene Frage zu klären, welcher Stellenwert der für die Untersuchung wesentlichen Tugend der Gerechtigkeit zukommt. Weil Marx seinen Wertmaßstab nicht explizit dargelegt hat, ist sein Bewertungsmaßstab dagegen aus seinen Bewertungen selbst abzuleiten. Die Genese und weitere Entwicklung des Marxschen Bewertungsmaßstabs bedarf daher im zweiten Teil einer detaillierten Rekonstruktion. Die Titel häufig verwendeter Werke werden in dieser Arbeit meist abgekürzt wiedergegeben, die Entsprechung findet sich im Abkürzungsverzeichnis. Wo möglich wird aus der zweiten Ausgabe der Marx-Engels- Gesamtausgabe (MEGA) zitiert, falls die Texte in dieser Edition noch nicht verfügbar sind, dann werden die Marx-Engels Werke (MEW) herangezogen. Die Abkürzung MEGA bezieht sich dabei auf die zweite Marx-Engels- Gesamtausgabe, die Bezugnahme zur ersten MEGA wird eigens gekennzeichnet. Einschübe in die Zitate werden mit eckigen Klammern und meinen Initialien ‚[J.S.]‘ gekennzeichnet, Auslassungen durch ‚[…]‘. Alle anderen Formatierungen, eckige Klammern o. ä. sind Zitat des Originals. 21 Nach der ‚Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften‘ bezweckt Hegel durch das Aufzeigen der Übereinstimmung von Philosophie mit Wirklichkeit und Erfahrung, „die Versöhnung der selbstbewußten Vernunft mit der seienden Vernunft, mit der Wirklichkeit hervorzubringen.“ (Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, dritte Ausgabe 1830, Hamburg: Meiner 1991, §6, S. 38) Durch die Darstellung der Notwendigkeit der Wirklichkeit in ihrem Begriffe will Hegel die Vernünftigkeit der Wirklichkeit beweisen. (Siehe Hegel: Enzyklopädie, §6, Anmerkung S. 38) Diese Darstellung der Vernünftigkeit der Wirklichkeit kann nach Hegel nur als System geschehen, weil das Wahre nicht von außen entwickelt werden kann sondern unter dem Postulat seiner eigenen Vernünftigkeit „nur als sich in sich entfaltend und in Einheit zusammennehmend und -haltend“ (Hegel: Enzyklopädie, §14, S. 47). 22 Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, S. 132. <?page no="22"?> 22 Auf das zitierte Medium wird nur im ersten Zitat mit vollständiger Angabe verwiesen, alle weiteren Verweise auf dasselbe Medium geschehen nur mit Nachnamen des Autors und abgekürztem Titel. Im Literaturverzeichnis ist die Sekundärliteratur nach Autor und im Falle mehrerer Titel desselben Autors nach Erscheinungsdatum sortiert, die benutzten Werke von Aristoteles, Engels, Feuerbach, Hegel und Marx sind jedoch in zweiter Instanz in alphabetischer Reihenfolge der Titel sortiert, um das Nachschlagen zu erleichtern. <?page no="23"?> 23 I. Gerechtigkeit und das ‚gute Leben‘ bei Aristoteles 2. Einleitung Um die Parallelen zwischen der aristotelischen Ethik und dem Marxschen Bewertungsmaßstab aufzuzeigen, soll in diesem ersten Teil der vorliegenden Untersuchung ein Überblick über das aristotelische Konzept des guten Lebens und der Gerechtigkeit gegeben werden. Dabei wird die Rolle der materiellen Güter in der aristotelischen Ethik aufgezeigt und die Frage erörtert, ob die eudaimonia-Lehre eher egoistische oder eher altruistische Tendenzen aufweist. Die Bestimmung, die Aristoteles von Gerechtigkeit gibt, ist eingebettet in seine eudaimonische Tugendlehre. In Kapitel 3 wird daher diese Grundlage der aristotelischen Gerechtigkeit in der ‚Nikomachischen Ethik (NE) dargestellt. Die Gerechtigkeit ist insofern ein wichtiger Schnittpunkt zwischen Marx und Aristoteles, da das, was wir unter Moral verstehen, der Bezug von Sollens-Sätzen auf die Beziehungen der Menschen untereinander, hier seine Entsprechung findet. 23 Kapitel 4 stellt den aristotelischen Begriff von Gerechtigkeit dar. Ein gemeinsames Merkmal des Marxschen Bewertungsmaßstabs und der aristotelischen Tugendlehre ist die positive, für die Entwicklung der menschlichen Potenz dienliche Rolle materieller Güter. In Kapitel 5 wird die positive Rolle der materiellen Güter für das ‚gute Leben‘ herausgearbeitet. Schließlich wird der Vergleich von aristotelischer Gerechtigkeit und Marxschem Bewertungsmaßstab dadurch vorbereitet, dass das Verhältnis vom ‚guten Leben‘ des Einzelnen zum ‚guten Leben‘ seiner Mitmenschen diskutiert wird. Die Frage, ob Aristoteles einen egoistischen oder einen altruistischen eudaimonismus vertritt, wird in Kapitel 6 erörtert. 2.1. Textgrundlage und Stand der Forschung Obgleich dem aristotelischen Begriff von Gerechtigkeit und dem Konzept von Tugend und eudaimonia in der Forschung oft Missverständlichkeit und Unklarheit vorgeworfen wird, ist ihr innerer Zusammenhang schlüssi- 23 Siehe Wolf, Ursula: Aristoteles’ Nikomachische Ethik, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007, 2., durchges. Aufl., S. 17. <?page no="24"?> 24 ger, als es manche Untersuchungen behaupten. 24 Zwar sind in der Tat weder die Bestimmung der Gerechtigkeit im Besonderen noch die eudaimonia-Konzeption im Allgemeinen unmittelbar einsichtig. Die Argumentation gilt zurecht an vielen Stellen als problematisch und Unklarheiten bedingend. „Der Text stellt die Interpretation vor besondere Schwierigkeiten“ 25 . Allerdings wird der Text m. E. in der modernen Rezeption zuweilen als problematischer dargestellt, als er sich nach einer gründlichen Lektüre tatsächlich darbietet. Aristoteles selbst gibt Anlass dazu, seine Untersuchung als abgeschlossenes Werk zu behandeln, wenn er in Buch zehn der NE meint, die wissenschaftliche Analyse sei abgeschlossen, der Gegenstand des menschlichen Handelns sei nun in der Praxis zu verwirklichen. 26 Um viele schwierige Textstellen der NE haben sich in der Forschung Diskussionen entwickelt. Sie zeigen, dass ein leichter, unmittelbarer Zugang zur aristotelischen Ethik nicht ohne weiteres möglich ist. Diese Diskussionen sind kein Selbstzweck oder eine Veranstaltung eitler Forscher, sondern belegen, wie viele Fragen der Text einem ernsten und gründlichen Leser gibt. In der folgenden Darstellung sollen diese Diskussionen aber nur dann und nur in so weit zur Sprache kommen, als sie für die aristotelische Bestimmung von Gerechtigkeit relevant sind. Der zentrale Begriff der aristotelischen Ethik, die eudaimonia (Glückseligkeit, das gute Leben) ist nach wie vor umstritten. Im Zentrum der Auseinandersetzung steht dabei die Frage nach dem Inhalt der eudaimonia und damit das Verhältnis der einzelnen Tugenden untereinander und ihre Relevanz für das gute Leben. Das Resultat dieser Diskussion hat Auswirkungen auf den Stellenwert und die Funktion von Gerechtigkeit als ethischer Tugend bei Aristoteles, was in Folge den Vergleich der Marxschen und aristotelischen praktischen Philosophie beeinflusst. Es soll gezeigt werden, dass gerechte Taten auch für sich allein als ‚gutes Leben‘ gelten können. Geklärt werden muss ferner das Verhältnis von Rechtspraxis und Gerechtigkeit, da die Gleichsetzung des Gesetzlichen mit dem allgemeinen Begriff von Gerechtigkeit über verschiedene Verfassungen hinweg Aristoteles den Vorwurf eingehandelt hat, jedes Gesetz zu rechtfertigen. Des Weiteren ist der Inhalt der ausgleichenden Gerechtigkeit, also der Gerechtigkeit in Bezug auf den Verkehr der Bürger und ihrer teilbaren Güter, 24 So unterstellt Hardie Aristoteles beispielsweise eine verwirrte Darstellung des besten Gutes. Hardie, William F. R.: The Final Good in Aristotle‘s Ethics, In: Moravcsik, J. M. E. (Hg.): Aristotle - A Collection of Critical Essays, London: Macmillan 1968, S. 299f. 25 Wolf: Aristoteles‘ Nikomachische Ethik, Wolf, S. 93. 26 Siehe Aristoteles: Nikomachische Ethik, Buch X,10, 1181b13-16, übersetzt von Eugen Rolfes, Hamburg: Meiner 1995, S. 261. Dieser Meinung ist auch Dirlmeier, Franz: Nachwort, In: Aristoteles: Nikomachische Ethik, übersetzt von Franz Dirlmeier, Stuttgart: Reclam 2003, S. 380. <?page no="25"?> 25 äußerst umstritten. Schließlich dient die wissenschaftliche Diskussion, ob Aristoteles eher eine eudaimonia des Egoismus oder des Altruismus vertritt, dazu, das aristotelische Verhältnis von eigenem und fremdem ‚guten Leben‘ zu entwickeln und das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft zu klären. Um den aristotelischen Begriff von Gerechtigkeit möglichst getreu herauszuarbeiten stütze ich mich auf den unstrittig von Aristoteles verfassten Text ‚Nikomachische Ethik‘ (NE). Wo es nötig und hilfreich ist, wird die Schrift ‚Politik‘ herangezogen. Die ‚Eudemische Ethik‘, deren Echtheit gegenwärtig als relativ gesichert angesehen wird, wird allerdings nur herangezogen, wenn sie einen Gedanken klarer zum Ausdruck bringt, als es die NE vermag. 27 Wie Höffe bemerkt, weist die NE die detailliertesten Ausführungen auf und hat am meisten Wirkung auf die Ideengeschichte des Abendlandes entfaltet. 28 Daher ist es sinnvoll, sich hauptsächlich auf diesen Text zu beziehen. Die sogenannte ‚große Ethik‘, oder ‚Magna Moralia‘ wird heutzutage im Allgemeinen nicht mehr Aristoteles zugeschrieben, und die Schrift über ‚Tugend und Laster‘ gilt eindeutig als Werk eines Aristoteles-Schülers. 29 Sie wird daher nicht für die Darstellung der aristotelischen Begriffsbestimmungen benutzt. Griechische Ausdrücke, die im Deutschen kein adäquat korrespondierendes Wort besitzen, werden im Text nach einer eingehenden Erläuterung im griechischen Original, aber mittels des lateinischen Alphabets wiedergegeben. Wenn das griechische Original ohne weitere Erklärung allein in Klammern nach seiner deutschen Übersetzung wiedergegeben wird, sieht die Forschung die Übersetzung als unproblematisch an und die Erwähnung des Ausdrucks im Original findet allein der einfacheren Zuordnung wegen statt. Der Forschung stehen verschiedene Übersetzungen der NE in die deutsche Sprache zur Verfügung. In der vorliegenden Untersuchung wird in erster Linie die Übersetzung von Rolfes zitiert. 30 Dieser von Bien überarbeitete Text aus dem 19. Jahrhundert legt u. a. Wert auf die Rezeptionsgeschichte der NE und nutzt damit das Wissen früherer Forschung für ihr Verständnis. Die neueste Übersetzung von Wolf bietet dazu die „metho- 27 Siehe Kenny, Anthony: The Aristotelian Ethics - A Study of the Relationship Between the ‚Eudemian‘ and ‚Nicomachean Ethics‘ of Aristotle, Oxford: Clarendon Press 1978, der die philosophische Bedeutung der EE rehabilitiert hat. 28 Siehe Höffe, Otfried: Einführung, In: Höffe, Otfried (Hg.): Aristoteles: Nikomachische Ethik, Berlin: Akademie-Verlag 2006, S. 5f. 29 Siehe beispielsweise Rowe, Christopher: Historical Introduction, In: Aristotle: Nicomachean Ethics, übersetzt von Christopher Rowe, Oxford: Oxford University Press 2002, S. 4. 30 Aristoteles: NE, Rolfes. <?page no="26"?> 26 dische Antipode“ 31 . Sie legt den Schwerpunkt darauf, eine frische, unmittelbare Lektüre der NE u. a. durch unvorbelastete Wortneuschöpfungen zu ermöglichen. Diese bis dato neueste Übertragung ins Deutsche setzt sich auch in Anmerkungen mit den vorherigen Übersetzungen auseinander. Sie wird im Folgenden dort zitiert, wo der dem Kontext und Inhalt nach erschließbare Sinn besser getroffen ist als in der Übersetzung von Rolfes. Aus dem selben Grund werden auch vereinzelt die Übersetzungen von Gigon 32 und Dirlmeier 33 herangezogen, wo sie begründeterweise den aristotelischen Sinn besser zu erfassen vermögen. Ich werde mich dem aristotelischen Begriff von Gerechtigkeit durch die Bestimmung der Begriffe nähern, die für die Entwicklung der aristotelischen Gerechtigkeitskonzeption ausschlaggebend sind. Gerechtigkeit ist bei Aristoteles eine Tugend (arete), und steht als solche im Verhältnis zur eigentümlichen Eigenschaft (ergon) des Menschen sowie zum ‚guten Leben‘ (eudaimonia). Eudaimonia wiederum bezeichnet das höchste Gut für den Menschen (ariston). Das höchste Gut ist eine bestimmte Steigerung dessen, was bei Aristoteles das Gut (agathon) einer Handlung ist. Er identifiziert es mit dem Ziel (telos) menschlicher Aktivitäten. Dieser Teil der Untersuchung beginnt daher mit der inhaltlichen Bestimmung dessen, was Gut und Ziel bei Aristoteles sind, und geht von dort aus weiter bis zur Bestimmung von Gerechtigkeit. Natürlich wird sich die Bestimmung der Begriffe vorzugsweise auf jene Stellen stützen, die Aristoteles explizit für die Entwicklung dieser Systematik verwendet. Allerdings bietet es sich an, auf andere Textstellen zurückzugreifen, insofern sie ein klärendes Licht auf den betreffenden Begriff zu werfen versprechen. Ob ein Wortlaut in einem anderen Kontext dieselbe Sache bestimmt oder einen anderen Gegenstand bezeichnet, ist im Einzelfall aus dem Kontext zu entscheiden. 2.2. Das Ziel der Ethik bei Aristoteles Aristoteles macht den Zweck der ‚Nikomachischen Ethik‘ selbst deutlich, indem er es bestreitet, dass der Jüngling geeignet sei, ethische Vorlesungen zu hören. Der Jugend fehle es an der Erfahrung, die für das Verständnis der Untersuchung Voraussetzung sei, bemerkt Aristoteles gleich zu Beginn 31 Müller, Jörn: Aristoteles‘ Nikomachische Ethik - Die neue Übersetzung von Ursula Wolf im Vergleich mit anderen Textausgaben, In: Information Philosophie 5 (2006), S. 90. Siehe Aristoteles: Nikomachische Ethik, übersetzt von Ursula Wolf, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2006. 32 Aristoteles: Nikomachische Ethik, übersetzt von Olof Gigon, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1991. 33 Aristoteles: Nikomachische Ethik, übersetzt von Franz Dirlmeier, Stuttgart: Reclam 2003. <?page no="27"?> 27 seiner als Vorlesung konzipierten 34 ‚Nikomachischen Ethik‘ (NE). Das verwundert, weiß man doch von Aristoteles, dass er besonderen Wert auf die Erziehung der Jugend legte, die zudem den allerersten Zweck hat, die Tugenden der Jugend auszubilden. 35 Und ausgerechnet sein Werk soll kein Beitrag dazu sein? Zumindest nicht so, dass jene Hörer, die die Tugend noch nicht ausgebildet haben, die Vorlesung mit Gewinn hören könnten. Wir werden später sehen, dass Aristoteles die ethische Tugend als eine Grundhaltung (hexis) bestimmt, die durch wiederholte Handlungen eingeübt werden muss. Die Tugend als eine solche identifizieren kann nur, wer sie sich bereits durch aktive Wiederholung angeeignet hat. Deutlich wird dies im Vergleich mit dem Bogenschützen. 36 Die Kenntnis von Beschaffenheit, Beweglichkeit und Entfernung des Ziels helfe dem Bogenschützen, sein Ziel zu treffen. Man muss allerdings bereits in einem gewissen Maße schießen können, bevor einem das Wissen um die Ziele, die der Pfeil treffen soll, beim Bogenschießen helfen kann. Wenn die Vorlesung von den Zielen des tugendhaften Mannes und dem Weg zu ihnen handelt, dann ist bereits vorausgesetzt, dass man sich auf dem Weg zu diesen Zielen befindet. Eine gewisse Standfestigkeit in Fragen der Tugend muss also gegeben sein, damit die Vorlesung einen Ertrag bringt. Zudem begründet Aristoteles die Unfähigkeit der jungen Leute, aus Moralvorlesungen einen Nutzen zu ziehen, mit der Vorherrschaft von Gefühl und Leidenschaft bei Heranwachsenden. Dass dies ein Argument gegen eine fruchtbare Aneignung der Vorlesung sei, begründet Aristoteles mit der Absicht der Moralvorlesung, da der „Zweck nicht das Wissen, sondern das Handeln ist“ 37 . Und ein Übermaß an Gefühl und Leidenschaft stehe dem richtigen Handeln im Wege. Die Aussage, die vorliegende Schrift diene nicht dem Wissen, sondern dem Handeln, mag befremdlich erscheinen. Es wäre in der Tat widersprüchlich, wenn eine Vorlesung nicht den Intellekt ihrer Zuhörer ansprechen und sie stattdessen ohne eine Änderung ihres Bewusstseins direkt zum Handeln bringen wollte. Schließlich bestimmt Aristoteles den Menschen gerade als ein Wesen, das der freien Entscheidung (prohairesis) fähig sei, in dem „begehrendes Denken oder denkendes Begehren“ inbegriffen sei. 38 Das Nachdenken über den Willen, den man hat, ist nach Aristoteles dem Menschen also wesentlich. Ist das dann etwa nicht das Ziel der Vorlesung? Doch, aber nach Aristoteles besteht ein fundamentaler 34 Siehe Barnes, Jonathan: Life and Work, In: Barnes, Jonathan (Hg.): The Cambridge Companion to Aristotle, Cambridge: Cambridge University Press 2007, S. 13. Siehe auch Aristoteles: NE I,1, 1095a2-13, Rolfes, S. 3. 35 Aristoteles macht dies deutlich in Aristoteles: Politik, Buch VII,15, übersetzt von Eugen Rolfes, Hamburg: Meiner 1995, S. 15. 36 Aristoteles: NE I,1, 1094a22-24, Rolfes, S. 2. 37 Aristoteles: NE I,1, 1095a3f., Rolfes, S. 3. 38 Aristoteles: NE VI,2, 1139b5, Rolfes, S. 132. <?page no="28"?> 28 Unterschied zwischen Vorträgen der einen Art, in denen Wissen als Selbstzweck vermittelt wird, und Vorträgen der anderen Art, deren Wissensvermittlung der menschlichen Praxis nutzen soll. Die letzteren haben eine Grundhaltung zur Voraussetzung, sich auf eine bestimmte Art und Weise auf seine Praxis zu beziehen. Bei den Menschen, die sich ihre Ziele von der Leidenschaft vorgeben lassen, „bleibt das Wissen ebenso nutzlos wie für den Unenthaltsamen, der das Gute will und doch nicht tut. Wohl aber dürfte für diejenigen, die ihr Begehren und Handeln vernunftgemäß einrichten, diese Wissenschaft von großem Nutzen sein.“ 39 Wie Höffe schreibt, ist damit der Anspruch einer praktischen Philosophie formuliert. 40 Statt bloße unbegründete Aufforderungen zum Handeln zu enthalten, ist sie schon Analyse dessen, was richtiges Handeln ist, also Philosophie. Zugleich ruht die Intention dieser Erkenntnis nicht in sich selbst, sondern ist auf praxis aus. Darin unterscheiden sich ‚Politik‘ und ‚Ethik‘ von Metaphysik und Analytik. Aristoteles spricht also durchaus die Vernunft seiner Zuhörer an, bedarf aber in dem, wie sie leben, bereits einer tugendhaften Grundhaltung. Es gibt noch einen weiteren Grund, den Aristoteles für das Unvermögen der Jugend anführt, Moralvorlesungen mit Gewinn zu hören. Das ist der Mangel an Erfahrung. Wem es an faktischen Kenntnissen um die Einzelfälle des praktischen Lebens fehlt, dem seien allgemeine Erkenntnisse über diese einzelnen Handlungen schwer zugänglich. Daher könnten junge Menschen eher in abstrakten, von den Einzelfällen sehr weit absehenden Disziplinen wie der Mathematik glänzen, als Klugheit im Sinne der praktischen Philosophie an den Tag zu legen. 41 2.3. Die Methode der ‚Nikomachischen Ethik‘ Wie ein Bogenschütze, der sein Ziel erkennen muss, um es zu treffen, soll die Ethik der richtigen Lebensführung dienlich sein, indem man weiß, worauf man zielen soll, um ein gelungenes Leben zu führen. Damit die Ethik dafür tauglich ist, muss sie wissenschaftlich genau sein. Aristoteles betont jedoch, dass die Exaktheit in der Ethik eine andere sein muss als die anderer Wissenschaften. Aristoteles macht anhand eines Beispiels deutlich, dass die Art der wissenschaftlichen Strenge dem Gegenstand angemessen sein muss. Er legt dar, dass der Baumeister und der Mathematiker den rechten Winkel auf 39 Aristoteles: NE I,1, 1095a8-12, Rolfes, S. 3. 40 Höffe, Otfried: Ethik als Praktische Philosophie - Methodische Überlegungen, In: Höffe, Otfried (Hg.): Aristoteles: Nikomachische Ethik, Berlin: Akademie-Verlag 2006, S. 30-37. 41 Aristoteles: NE VI,9, 1142a14-24, Rolfes, S.140f. <?page no="29"?> 29 verschiedene Weisen suchen. 42 Denn der Baumeister sucht den konkreten rechten Winkel auf seiner Baustelle, der Mathematiker hingegen sucht das Wesen des rechten Winkels zu erfassen. Beide haben nicht exakt denselben Gegenstand, also kann man auch nicht von beiden dieselbe Art von Genauigkeit erwarten. 43 Für die Genauigkeit des Mathematikers wären die Faktoren, die der Baumeister einberechnen muss, seiner Untersuchung hinderlich. Seine Aufgabe würde unter der Fülle des Stoffs begraben werden. Wäre andersherum die mathematische Genauigkeit Maßstab des Baumeisters, könnte er seine Bauwerke niemals fertigstellen, da die rechten Winkel seiner Werke niemals diesem Maßstab standhalten könnten. Der Stoff der Ethik sind die richtigen menschlichen Handlungen. Diese charakterisiert Aristoteles als divers und mannigfaltig. 44 Dieser Stoff gestatte seiner Untersuchung keinen Klarheitsgrad, in dem die Bestimmung jeder einzelnen richtigen Handlung ausgeführt werden könne. Somit müssten die Bestimmungen richtiger Handlungen notwendigerweise so allgemein bleiben, dass sie keine Vorgaben einzelner konkreter Handlungen sein können. Eine mechanische Anleitung zum richtigen Handeln kann man bei Aristoteles daher nicht erwarten. Was kann man dann aber erwarten? Wie steht es um die Wissenschaftlichkeit einer Disziplin, bei der „die Wahrheit in gröberen Umrissen“ angedeutet wird? Ethik muss eine Wissenschaft sein, die nicht in jede Einzelhandlung dringen kann, die Genauigkeit nicht im Detail, sondern in ihren allgemeinen Begriffen auszeichnet. Höffe bezeichnet diesen Umstand als Grundriss-Wissen. 45 Damit die Ethik Anleitung für das Handeln sein kann, muss sie stimmen, muss wahres Wissen (episteme) sein. Wie bereits Platon unterscheidet Aristoteles Wissen von der Meinung (doxa). Platon hat im Menon- Dialog festgestellt, dass eine Meinung auch dadurch bestimmt ist, dass sie die Möglichkeit zum Irrtum mit einschließt. 46 Diese nicht gesicherte Meinung wird, wenn sie begründet wird, zum Wissen. Genau so charakterisiert auch Aristoteles die Meinung als zur Richtigkeit fähig, die in diesem Fall die Form der Wahrheit annimmt. 47 Sie wird begleitet von der Möglichkeit der Verfehlung, im Falle der Meinung ist das die Unwahrheit. Dem Wissen wiederum spricht A. die Richtigkeit ab, da es sich der Dicho- 42 Aristoteles: NE I,7, 1198a26-34, Rolfes, S.13. 43 Siehe auch Höffe: Praktische Philosophie, S. 23f. 44 „Das sittlich Gute und das Gerechte, das die Staatswissenschaft untersucht, zeigt solche Gegensätze und solche Unbeständigkeit“, dass ihnen sogar manches Mal jede Notwendigkeit abgesprochen und Konvention als ihr einziger Grund angegeben werde. Aristoteles: NE I,1, 1094b14-16, Rolfes, S. 2. 45 Siehe Höffe: Praktische Philosophie, S. 28. 46 Platon: Menon, 97a-98b, In: Wolf, Ursula (Hg.): Platon - Sämtliche Werke, Bd. 1, Rowohlt Taschenbuch Verlag 2004, S. 495-498. 47 Aristoteles: NE VI,10, 1142b7-16, Rolfes, S. 142. <?page no="30"?> 30 tomie Wahrheit-Unwahrheit entzieht. Wissen ist stets wahr, ansonsten erweist es sich als bloße Meinung, zudem als unrichtige. Im Unterschied zu Platon ist doxa bei Aristoteles allerdings nicht allein negativer Ausgangspunkt der Untersuchung, die durch wirkliches Wissen und damit einhergehende stabile Gewissheit ausgeräumt werden muss, wie in den sokratischen Dialogen. Vielmehr ist die doxa, falls sie als anerkannte Meinung (endoxon) auftritt, bereits ein Indiz für die Stimmigkeit eines Urteils. 48 Auf keinen Fall ist damit aber die Untersuchung beendet; Aristoteles ersetzt nicht die Analyse durch eine Umfrage, welches die durchgesetzte Meinung sei. Die doxa kann sich immer noch irren. Aber wenn die doxa nicht nur willkürlich ist, sondern in irgendeiner Form anerkannt wird, dann ist es die Aufgabe der Wissenschaft, ihren als richtig anerkannten Gehalt in die Form des Wissens zu überführen. Aristoteles macht diese Methode in der Einleitung zu seiner Untersuchung der Unbeherrschtheit in der NE explizit: „Auch hier müssen wir wie sonst die Ansichten, die einen Schein von Richtigkeit haben, hersetzen und zuerst die Zweifel über sie vortragen, um dann entweder womöglich alles, was bezüglich der gedachten Affekte annehmbar erscheint, nachzuweisen, oder doch das meiste und Wichtigste davon. Denn wenn die Schwierigkeiten gelöst sind und das Annehmbare übrigbleibt, hat die Untersuchung das Ihrige getan.“ 49 Diese Herangehensweise benennt Aristoteles in der Topik als dialektische Methode. 50 Wie Bolton gezeigt hat, besteht sie darin, 1) die phainomena, also das, was der Fall zu sein scheint, zu benennen, 2) Zweifel über diese phainomena vorzubringen und 3) jene endoxa herauszufinden, die als Lösung des Zweifels fungieren können, um die endoxa in sicheres Wissen zu überführen. 51 Der erste Teilschritt besteht darin, das, was der Fall zu sein scheint, herauszufinden. In dem Fall ethischer Untersuchungen bestehen diese phainomena in jenen endoxa, die in Rolfes Worten „annehmbar“ sind a) weil sie als allgemeine Meinung angenommen werden, oder b) weil sie Expertenmeinungen widerspiegeln, die mit der allgemeinen Meinung nicht im Widerspruch stehen. 52 Das letzte Kriterium für ein endoxon, das ein 48 Siehe auch Wolf: Aristoteles‘ Nikomachische Ethik, S. 24f. und Fischer, Katharina: ‚Endoxon‘, In: Höffe, Otfried (Hg.): Aristoteles-Lexikon, Stuttgart: Kröner Verlag 2005, S. 177-179. 49 Aristoteles: NE VII,1, 1145b3-9 Rolfes, S. 152. 50 Aristoteles: Topik, I,1, 100a34, übersetzt von Eugen Rolfes, Hamburg: Meiner 1995, S. 1. 51 Bolton, Robert: Aristotle on the Objecitivity of Ethics, In: Anton, John und Kustas, George (Hg.): Aristotle‘s Ethics, New York: State University of New York Press 1991, S. 7-28. 52 Für diese Bestimmung siehe Bolton: Objectivity, S. 8-12, der die endoxa noch differenziert in solche, die als phainomenon nach oben genannten Kriterien Aus- <?page no="31"?> 31 phainomenon ist, ist also die allgemeine Meinung. Im zweiten Teilschritt dient das phainomenon als Ausgangspunkt dafür, ein dialektisches Problem aufzuwerfen, so dass die endoxa oder von ihnen abgeleitete Aussagen in Konflikt miteinander geraten. 53 Schließlich muss sich der Zweifel an den endoxa oder zumindest den wichtigsten als unwahr erweisen und die Probleme gelöst werden, „denn die Lösung einer Schwierigkeit ist ein Finden“. 54 Somit ist die Entkräftung des Problems der letzte Teilschritt der aristotelischen Methode, so dass die endoxa stehen bleiben und sich als durch Zweifel nicht widerlegbares Wissen Meinungen beweisen. Mit dieser Methode leitet Aristoteles seine Untersuchung der ‚Ethik‘ ein. Er geht von dem aus, was als allgemein richtig angenommen wird (dokai) und unterstützt die Richtigkeit dieser Meinung. 55 Diese Methode, das allgemein anerkannte Wissen als Grundlage seiner Untersuchung zu nehmen, ist programmatisch für sein Vorgehen auch in der Bestimmung der Gerechtigkeit. 56 Auch so zentrale Argumente wie die Gedanken um das menschliche ergon nimmt Ausgang in allgemein anerkannten Meinungen und Ansichten. 57 Aristoteles macht diese Methode explizit, indem er die Ansicht des Eudoxos widerlegt, da alles nach Lustvollem strebe, sei dies der oberste Wert. Im Zuge dieser Widerlegung kritisiert Aristoteles allerdings auch verschiedene Einwände als falsch, die bereits gegen diese Ansicht vorgebracht wurden. „Was alle glauben, das, behaupten wir, ist wahr. Wer diesen übereinstimmenden Glauben der Menschheit verwirft, wird schwerlich Glaubwürdigeres zu sagen haben.“ 58 Die Untersuchung der eudaimonia müsse nicht nur mit Hilfe von Prämissen und Schlussfolgerungen geschehen, sondern auch „ebenso auf Grund der darüber herrschenden Ansichten. Mit der Wahrheit stimmen alle Tatsachen überein, mit gangspunkt der dialektisch durchgeführten Untersuchung sein können, und solchen, die zwar von angesehenen Philosophen als Wahr angenommen werden, jedoch im Widerspruch zur allgemeinen Meinung stehen. 53 Siehe Aristoteles: Topik I,11, 104b1-7, Rolfes, S.14. Siehe auch Bolton: Objectivity, S.15f. 54 Aristoteles: NE VII,4, 1146b7, Rolfes, S. 155. 55 So beispielsweise in Aristoteles: NE I,1, 1094a1-4, Rolfes, S. 1. 56 Siehe Aristoteles: NE V,I, 1129a7f., Rolfes, S. 100. 57 Zwar hat Wolf: Aristoteles‘ Nikomachische Ethik, S. 37f. recht, wenn sie konstatiert, dass dieser Abschnitt mit einer Definitionsfrage eingeleitet wird, nämlich mit der auf die eudaimonia zielende Frage, „was sie ist“ (Aristoteles: NE I,6, 1097b23, Rolfes, S. 11). Allerdings verweist Bolton: Objectivity, S. 23 auf Formulierungen, mit denen zentrale Elemente des ergon-Arguments eingeführt werden, die erkennen lassen, dass es sich bei dem weiteren Verlauf zweifelsfrei um eine dialektisch vorgehende Untersuchung des ergon handelt. Derselben Ansicht ist auch Reeve, David: Practices of Reason - Aristotle‘s Nicomachean Ethics, Oxford: Clarendon Press 1992, S. 132. 58 Aristoteles: NE X,2, 1173a1-3, Rolfes, S. 236. <?page no="32"?> 32 dem Irrtum aber gerät die Wahrheit bald in Zwiespalt.“ 59 Aristoteles begründet seine Methode also ex negativo: Die Existenz richtiger und falscher Meinungen resultiert in Streit. Genießt eine Meinung allgemeine Anerkennung, so weist die Abwesenheit des Streits darauf hin, dass keine Konkurrenz richtiger und falscher Meinungen ausgefochten wird, es somit wahrscheinlich ist, dass die anerkannte Meinung zumindest nahe an der Wahrheit ist. Aufgabe des Wissens sei es, diese Nähe zu erkunden und den Wahrheitsgehalt zu beweisen, um damit die Meinung auf ein sicheres Fundament zu stellen. 59 Aristoteles: NE I,8, 1098b9-12, Rolfes, S. 13. <?page no="33"?> 33 3. Aristoteles‘ Begriff von eudaimonia 3.1. Überblick und Probleme der Forschung Die Lehre von der eudaimonia wird zumeist als Dreh- und Angelpunkt der aristotelischen Tugendlehre angesehen. 60 Eudaimonia wird oft übersetzt mit Glück 61 oder Glückseligkeit 62 . Eudaimonia ist nach Aristoteles gleichbedeutend mit gutem Leben und gutem Handeln (eu zen un eu prattein). 63 Als Inhalt der eudaimonia bestimmt Aristoteles die tugendhafte Aktivität des rationalen Teils der Seele (arete). Gerechtigkeit ist eine der Einzeltugenden (aretai). Was die eudaimonia ist, kann nicht allein philologisch beantwortet werden, ist also auch nicht bloß eine Frage der besten Übersetzung, weil hinter der aristotelischen Verwendung dieses Ausdrucks ein Begriff steht, der eine ganze philosophische Theorie beinhaltet. Es ist die Aufgabe dieses Abschnitts, die aristotelische Entfaltung des Begriffs von eudaimonia nachzuverfolgen. Diese Ableitung wird anhand der Begriffsbestimmungen, die Aristoteles zur Entwicklung seines Begriffs von eudaimonia leistet, dargestellt. Der manchmal stichwortartige Charakter des Vorlesungsskripts macht es notwendig, bei zentralen Begriffen andere Werke des Aristoteles hinzuzuziehen. Die Frage, was eudaimonia eigentlich genau ist und wie sie zu erreichen sei, wird in der EE explizit gestellt. 64 Die Herangehensweise in der NE ist anders. Hier wird die Frage nach eudaimonia nicht einfach nur gestellt, sondern als notwendige Frage aus der Analyse des menschlichen Handelns entwickelt. Die Frage nach dem guten Leben ist damit notwendige Folge dessen, was menschliches Handeln überhaupt ausmacht. Ausgangspunkt dieser Analyse der menschlichen Aktivität sind die allgemeinen Meinungen, die über sie im Umlauf sind. Im vorliegenden Abschnitt werden jene zentralen Bestimmungen vorgestellt, aus denen Aristoteles seinen Begriff von eudaimonia entwickelt: Das Ziel und das Gut (telos und agathon), das Endziel und das höchste Gut (telos teleion und 60 Allerdings nicht von Wolf: Aristoteles‘ Nikomachische Ethik, S. 31 und Cooper, John M.: Reason and Human Good in Aristotle, Cambridge: Harvard University Press, 1975 S. 91, die das ariston als systematisch grundlegenden Begriff der Untersuchung einschätzen. 61 In der Übersetzung von Wolf, siehe Aristoteles: NE I,5, 1097a34-b1, Wolf, S. 54. 62 Von Rolfes und Gigon, Siehe Aristoteles: NE I,5, 1097a34-b1, Rolfes, S. 10 und Aristoteles: NE I,5, 1097a34-b1, Gigon, S. 25. 63 Siehe Aristoteles: NE I,8, 1098b21, Rolfes, S. 14. 64 Das hat überzeugend Schneider, Wolfgang: Usia und Eudaimonia - Die Verflechtung von Ethik und Metaphysik bei Aristoteles, Berlin: de Gruyter 2001, S. 17ff. dargelegt. <?page no="34"?> 34 ariston), eudaimonia und die eigentümliche Leistung des Menschen (ergon) sowie eudaimonia und Tugend (arete). Der aristotelische Begriff der eudaimonia ist in der Forschung stark umstritten. Im Verlauf der folgenden Darstellung ist es notwendig, auf drei Fragen einzugehen, die für die Begriffsbildung selbst geklärt werden müssen und hinsichtlich der Absicht der vorliegenden Arbeit relevant sind. Die Ableitung des höchsten Guts gleich zu Anfang der NE wird kontrovers diskutiert. Die Auseinandersetzung dreht sich dabei um das Verständnis eines Satzes, in dem Aristoteles nach seiner Bestimmung von Gut als Ziel, dem alles Streben gelte, also dem besten Gut spricht. 65 Uneins ist sich die Forschung in der Frage, ob Aristoteles an dieser Stelle überhaupt einen Schluss auf das höchste Gut macht, und ob dieser Schluss plausibel ist. 66 Ich meine, dass Vranas, gestützt auf Wedin, eine plausible Lösung zu den aufgeworfen Problemen dieses Abschnitts gegeben hat. 67 Zum zweiten wird die Frage nach der Beziehung der beiden Bedeutungen von ‚gut‘ als Objekt und als Prädikation menschlicher Handlungen aufgeworfen. Die Frage besteht darin, was das Gut als Ziel der Handlungen in NE I,1 mit den vortrefflichen Leistungen menschlicher Tätigkeiten in NE I,6 zu tun haben kann. So meint Wolf, dass es keinen notwendigen Zusammenhang „vom Guten im Sinne der aretê zum Guten im Sinn des letztlich Gewollten, des telos bzw. der eudaimonia“ 68 gebe. Haucke geht noch weiter und meint, Aristoteles habe „zwei verschiedene Ansatzpunkte“ 69 , um den eudaimonia-Begriff zu umreißen. Im Gegensatz dazu möchte ich zeigen, dass die beiden Verwendungen von gut tatsächlich eine Einheit bilden, die die eudaimonia als bestes Gut erklärt. Zuerst beweist Aristoteles, dass eudaimonia die Kriterien des höchsten Gutes erfüllt, also als Endziel allen menschlichen Handlungen innewohnt. Dieser formellen Bestimmung von eudaimonia folgt die inhaltliche Bestimmung, die Aristoteles aus der charakteristischen Leistung (ergon) des Menschen, also seinem teleologischen Inhalt, schließt. Tugend, so meine Behauptung, ist damit der Zusammenschluss der Teleologie der Handlung mit der Teleologie des Menschen überhaupt. Sie ist damit bestimmt als die der 65 Aristoteles: NE I,1, 1094a18-22, Rolfes, S. 1. 66 So beispielsweise Ackrill, John: Aristotle on Eudaimonia, In: Höffe, Otfried (Hg.): Aristoteles: Nikomachische Ethik, Berlin: Akademie-Verlag 2006, S. 51ff. 67 Siehe Vranas, Peter B. M.: Aristotle on the Best Good - Is ‚Nicomachean Ethics‘ 1094a 18-22 Fallacious? , In: Phronesis 50.2 (2005), S. 116-129 und Wedin, Michael: Aristotle on the Good for Man, In: Mind 90 (1981), S. 243-262. 68 Wolf: Aristoteles‘ Nikomachische Ethik, S. 86. 69 Haucke, Kai: Werden und Sein der Aristotelischen Eudaimonia - Systematische Probleme einer teleologisch-finalen Bestimmung menschlichen Glücks, In: Prima Philosophia 15.1 (2002), S. 13. <?page no="35"?> 35 menschlichen Leistung angemessene Aktivität. 70 Ich will damit die Vorstellung zurückweisen, Aristoteles verfolge zwei Argumentationslinien in der Ableitung der arete. Diese beiden Seiten sind nicht zwei verschiedene Wege zur arete, sondern erst im Zusammenspiel dieser beiden Bestimmungen der arete, der formalen und der inhaltlichen, erweist sich die eudaimonia als arete, als Tätigkeit gemäß des rationellen Seelenteils. Die hauptsächliche Auseinandersetzung um Gehalt und Status der eudaimonia findet allerdings darum statt, ob eudaimonia alle anderen Güter beinhaltet oder ob man unter eudaimonia ein einzelnes Gut zu verstehen habe. Die erste Position wird als inklusive Interpretation der eudaimonia bezeichnet, ein wichtiger Vertreter ist Ackrill 71 . Die zweite Position wird die dominante Interpretation von eudaimonia genannt, ein namhafter Advokat von ihr ist Kraut 72 . Diese Auseinandersetzung ist deswegen relevant für die vorliegende Untersuchung, weil der Charakter des aristotelischen guten Lebens, also der eudaimonia und die Stellung der ethischen Tugend der Gerechtigkeit geklärt werden müssen, um beide Gegenstände auf ihren Begriff zu bringen und ins Verhältnis zum Marxschen Bewertungsmaßstab setzen zu können. Vor allem aber muss der Stellenwert der Gerechtigkeit in der aristotelischen Ethik geklärt werden, da ich aus dieser ethischen Tugend das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft bei Aristoteles herleite, auf welches sich Marx indirekt bezieht. Daher besteht die Notwendigkeit, dem Streit um die dominante oder inklusive Lesart von eudaimonia genügend Platz in dieser Arbeit einzuräumen. In der Besprechung dieses Problems der Forschung soll gezeigt werden, dass die beiden Interpretationen von edaimonia einerseits plausible Argumente auf ihrer Seite haben, andererseits aber stehen beide im Widerspruch zum aristotelischen Text. Der Lösungsvorschlag beinhaltet, die verschiedenen Ebenen der aristotelischen Bestimmung von eudaimonia zu unterscheiden, so dass die plausiblen Argumente beider Seiten stehen bleiben können, und zugleich die Probleme beider Positionen eliminiert werden können. 70 Meine formelle Bestimmung der eudaimonia stimmt überein mit dem, was Roche als formelle Bestimmung des höchsten Guts kennzeichnet, siehe Roche, Timothy: In Defense of an Alternative View of the Foundation of Aristotle‘s Moral Theory, In: Phronesis 37.1 (1992), S. 51. Es ist m. E. allerdings plausibler, dass das höchste Gut in NE I,5 den Inhalt eudaimonia erhält, die freilich von Aristoteles im darauf folgenden Kapitel erst selbst noch inhaltlich genau bestimmt werden muss. 71 In Ackrill: Aristotle on Eudaimonia. 72 Siehe Kraut, Richard: Two Conceptions of Happiness, In Philosophical Review 88 (1979), S. 167-197 und Kraut, Richard: Aristotle on the Human Good - An Overview, In: Sherman, Nancy: Aristotle‘s Ethics: Critical Essays, Lanham: Rowman & Littlefield, 1999, S. 79-105. <?page no="36"?> 36 3.2. Das Ziel (telos) und das Gut (agathon) Aristoteles beginnt seine ‚Ethik‘, die Untersuchung des moralischen Handelns und Beurteilens nicht mit einer normativen Prämisse, sondern mit der Untersuchung dessen, was alle bereits suchen. Er gründet seine Ethik und die Tugend damit auf dem Streben des Menschen. Das Sollen, das in jeder Ethik begründet wird, leitet Aristoteles aus dem Wollen des Menschen her. 73 Daher zitiert er zu Beginn der NE zustimmend eine allgemein anerkannte Meinung über all das, was Menschen vollbringen können: Sowohl jede einzelne Handlung (praxis) und die Entscheidung (prohairesis) zu ihr, als auch die Tätigkeitsbereiche Wissenschaft (methodos) und Kunstfertigkeit (techne) strebten nach einem Gut (agathon). Als Schlussfolgerung aus dieser herrschenden Meinung zitiert Aristoteles zustimmend Eudoxos‘ allgemeinste Bestimmung von ‚Gut‘ als dem Objekt allen Strebens. 74 Gut sei damit der Inhalt aller menschlichen Ziele. 75 Was genau meint Aristoteles, wenn er vom Gut und vom Ziel menschlicher Handlungen spricht? Der moderne Leser könnte meinen, telos sei der griechische Ausdruck für den Gegenstand des Willens und bezeichne damit jene Sache, auf die sich das individuelle Streben richte. 76 Stattdessen ist in der aristotelischen Teleologie die Vorstellung enthalten, dass Tätigkeitsfeldern an sich und unabhängig vom jeweiligen Streben einer bestimmten Person, die die Tätigkeiten ausübt, ein ihnen inhärentes Ziel zukommt. Dies wird markant deutlich, wenn man in Betracht zieht, dass die griechischen Bedeutung von telos nicht nur ‚Ziel‘, sondern auch ‚Ende‘ bedeutet. 77 Mit telos ist bei Aristoteles nicht irgendein 73 Derselben Ansicht ist auch White, Stephen A.: Is Aristotelian Happiness a Good Life or the Best Life? , In: Annas, Julia (Hg.): Oxford Studies in Ancient Philosophy 8 (1990), S. 103. 74 Aristoteles: NE I.1, 194a2-4, Rolfes, S. 1. 75 Eudoxos war Naturwissenschaftler und Philosoph und hielt sich zur Zeit, als Aristoteles in die Akademie eintrat, in ihrem Umfeld auf. Siehe Krämer, Hans: Die ältere Akademie - Eudoxos aus Knidos, In: Flashar, Hellmut (Hg.): Philosophie der Antike: Ältere Akademie, Aristoteles, Peripatos, zweite Auflage, Basel: Schwabe Verlag 2004, S. 56f. 76 So versteht beispielsweise McDowell den ersten Satz der NE, jeder Mensch hätte ein Gut, und damit auch das höchste Gut, als wissentliches Ziel. Im Folgenden versucht er, diese Aristoteles fälschlicherweise zugeschriebene und offensichtlich kontrafaktische Aussage in Schutz zu nehmen. Das ist allerdings ein Missverständnis. Siehe McDowell, John: The Role of Eudaimonia in Aristotle‘s Ethics, In: Rorty, Amélie (Hg.): Essays on Aristotle‘s Ethics, Berkeley: University of California Press, 1980, S. 359-376. Wie Wolf anmerkt, spricht Aristoteles in der ‚Nikomachischen Ethik‘ ganz zu Anfang nicht in erster Linie von Individuen. Vielmehr bezieht sich telos auf Tätigkeitsfelder, noch ehe der bewusste Wunsch eines einzelnen Menschen zur Sprache kommt. Siehe Wolf: Aristoteles‘ Nikomachische Ethik, S. 27f. 77 Siehe Horn, Christoph: Telos, In: Horn, Christoph und Rapp, Christof: Wörterbuch der Antiken Philosophie, München: Verlag C.H. Beck 2008, S. 427-429. <?page no="37"?> 37 x-beliebiger Abschluss eines Sachverhalts gemeint. Der Fall eines Akrobaten von seinem Hochseil während einer Zirkusvorstellung würde diese Bestimmung nicht treffen. Im Kontrast zum vorzeitigen Abbruch der Handlung bezeichnet telos nämlich den natürlichen Abschluss eines Sachverhalts, seine Vollendung. 78 Erst wenn der Akrobat mit einem Tusch das andere Ende des Seils erreicht hätte, wäre das telos des Balanceakts erreicht. Diese Bestimmung, dass der Balanceakt erst vollendet ist, sobald die schwierige und gefährliche Situation gemeistert wurde, ist wahr, unabhängig von der Vorstellungswelt des Akrobaten. Das telos ist mithin der einer menschlichen Aktivität wie der Entscheidung zu ihr, der einer Wissenschaft oder Kunstfertigkeit innewohnende Zustand, in dem die Handlung ihr Ende findet, worin sie mündet und als abgeschlossen gelten kann. 79 Diese Bestimmung von telos lässt sich in den an anderen Stellen des aristotelischen Werks zu findenden Erläuterungen aufzeigen. Gerade, wenn man den Gegenstandsbereich menschlicher Tätigkeiten verlässt, und den Begriff des telos in den anderen Werken Aristoteles‘ in Augenschein nimmt, wird klar, dass Aristoteles bei allen Unterschieden der verschiedenen Wissenschaftsbereiche diesen allgemeinen Begriff von telos ansetzt. So wendet sich Aristoteles polemisch gegen die dichterische Formulierung, ein Mann nehme sein Ende und dies sei der Tod, dessentwegen er geboren ward, „denn es will nicht jeder Schlußpunkt Ziel sein, sondern nur der beste Zustand.“ 80 In der ‚Politik‘ identifiziert Aristoteles das telos explizit über die Grenzen der verschiedenen Disziplinen hinweg mit der Natur des Dings: „Denn die Beschaffenheit, die ein jedes Ding beim Abschluss seiner Entstehung hat, nennen wir die Natur des betreffenden Dinges, sei es nun ein Mensch oder ein Pferd oder ein Haus oder was auch immer.“ 81 Damit ist die innere Notwendigkeit einer Sache durch ihren telos bestimmt. Denn weiß man, was die Sache in ihrer Vollendung ist, kennt man ihre Gesetzmäßigkeiten, weiß, was ihre Bestimmung ausmacht. 82 Das telos einer 78 Siehe auch Lear, Gabriel R.: Happy Lives and the Highest Good - An Essay on Aristotle’s Nicomachean Ethics, Princeton: Princeton University Press 2004, S. 11. 79 Dieses Verständnis von telos vertritt auch MacDonald, „completion being the central notion for understanding Aristotle‘s conception of an end.“ Siehe MacDonald, Scott: Aristotle and the Homonymy of the Good, In: Archiv für Geschichte der Philosophie 71 (1989), S. 165f. 80 Aristoteles: Physik, II,2, 194a30-33, übersetzt von Hans G. Zekl, Hamburg: Meiner 1995, S. 30. 81 Aristoteles: Politik I,2, 1252b32-34, Rolfes, S. 4. 82 Auch Lear meint, das telos der Biologie, der Metaphysik und der ‚Ethik‘ sei das Gleiche. Die Frage des Zusammenhangs der Teleologie der menschlichen Aktivitäten mit dem Begriff der Teleologie bei Aristoteles überhaupt kann an dieser Stelle nicht tiefer behandelt werden. Siehe Lear: Happy Lives, S. 14f. <?page no="38"?> 38 menschlichen Tätigkeit ist damit der Erfolgsmaßstab, unter dem diese Aktivität beurteilt wird. Alles, was zu diesem telos hilfreich ist, ist positiv zu bewerten. 83 In der Metaphysik teilt Aristoteles die Bedeutung der Vollendung (teleion) in drei Teile auf, die alle zusammen erst den ganzen Gegenstand der Vollendung ausmachten. Demnach könne man ‚Vollendung‘ in dreierlei Sinn auffassen. 84 Einmal in dem Sinne, dass die Sache komplett ist und ihr nichts fehlt. Als Beispiel nimmt Aristoteles hier eine Zeitspanne, die vollständig abgelaufen ist, wenn außerhalb von ihr keine weitere Zeit übrig bleibt. Bei einer 5-Minuten-Frist bleiben nach drei abgelaufenen Minuten immer noch zwei übrig, erst nach 5 Minuten gibt es keine Zeit, die für diese Spanne noch verstreichen könnte. Zweitens gibt es die Bedeutung von unübertreffbar, perfekt realisiert. Dafür nimmt Aristoteles zu Anschauungszwecken einen Dieb, der nicht besser stehlen könnte. Er ist ein vollendeter Dieb oder seine Tat ist der perfekte Diebstahl. Dieses Beispiel ist deswegen gut gewählt, weil dadurch der Kontrast zum dritten Aspekt des telos besser herauskommt: Vollendet im Sinne des telos und damit positiv zu bewerten. In diesem Sinne kann ein Diebstahl nicht als vollendet charakterisiert werden. Alle drei Aspekte der Vollendung sind nach Aristoteles aber eine Einheit. Daher könne man nur im übertragenen Sinne von der Diebeshandlung als einer vollendeten sprechen, da sie kein gutes, positiv zu bewertendes Ziel darstelle und damit dem Begriff des telos nicht in all seinen Facetten gerecht wird. Wenn die menschliche Handlung als vollendete aber einmal als gut ausgeführt, ein anderes mal als erstrebenswerte eingeordnet wird, in welchem Verhältnis steht das zum Gut? Ist das agathon bloß das Ziel jedweder menschlichen Tätigkeit, unabhängig von seinem Gehalt, oder hat es einen bestimmten Inhalt, so dass nur einige Ziele als Gut gelten können? Und wenn ja, nach welchen Kriterien bestimmt es sich, ob ein Ziel ein Gut ist oder nicht? Auf den ersten Blick scheint die oben beschriebene Differenzierung der Vollendung in die beiden Teilaspekte ‚unübertreffbare Realisierung‘ und ‚gutes Ziel‘ der Bestimmung des ersten Satzes der NE zu widersprechen, dem gemäß alle Tätigkeiten auf ein Gut zielten. Wenn Tätigkeiten mit guten Zielen von schlechten unterschieden werden, wie ist dann die Identifikation von menschlichen Streben mit Gut zu verstehen? Anders gesagt, wenn diese letztgenannte Aussage bloß die Absicht des Aristoteles wäre, „das jeweilige Ziel jedes Strebens ‚Gut‘ zu nennen“ 85 , wie Dirlmeier meint, so hätte das Gut davon abgesehen keinen besonderen Inhalt. Würde allein 83 Derselben Ansicht ist auch Lear: Happy Lives, S. 9. 84 Siehe Aristoteles: Metaphysik, V,16, übersetzt von Hermann Bonitz, Hamburg: Meiner 1995, S. 113f. 85 Dirlmeier in Aristoteles: NE, Dirlmeier, S. 303, Endnote 3. <?page no="39"?> 39 Aristoteles‘ Absicht, das Ziel menschlichen Strebens ‚Gut‘ zu nennen, die Identifikation beider motivieren, so wäre dies kein Urteil über zwei für sich bestehende Sachverhalte, sondern eine bloße Wortdefinition. Dass ‚Gut‘ aber tatsächlich noch einen weiteren Inhalt hat, wird in einer Passage in NE V,2 deutlich, nach der man danach trachten soll, dass die Güter von unbedingtem Wert auch für die Subjekte wertvoll sein mögen. 86 Nicht jedes Streben ist also ein Gut. Vielmehr sieht Aristoteles in den Objekten ihre eigene Werthaftigkeit begründet. Aus der heutigen Sicht ist das eine Umdrehung: Anstatt der Vorstellung dass jeder Zweck in den Objekten gute oder weniger gute Mittel seiner Erreichung vorfindet, lege es in den Objekten selbst begründet, dass sie es wert sind, sie sich zum Ziel zu setzen. 87 Allein daher kann Aristoteles an anderer Stelle von einem scheinbaren Gut (phainomenon agathon) sprechen, eine Sache, die man als Gut ansieht, die aber selbst kein Gut sei. In der NE wendet sich Aristoteles bewusst gegen die Vorstellung, das Gut sei nicht von Natur aus ein guter Gegenstand, sondern ihm komme diese Eigenschaft je nach Vorstellung desjenigen zu, der nach ihm strebt. 88 Dabei sei jedoch „das Gute Gegenstand des Wollens, für den Einzelnen aber das ihm Gut scheinende“ und der gute und schlechte Mensch unterschieden sich dadurch, dass der Schlechte allein das verfolgt, was ihm als Gut erscheint, bei dem Guten kongruierten aber Schein und Sein. 89 86 Siehe Aristoteles: NE V,2, 1129b2-8, Rolfes, S. 101. 87 Horn formuliert es so: „Das Wollen wird nach Ar. durch das Gute konstituiert, nicht umgekehrt das Gute durch das Wollen.“ Horn, Christoph: Boulesis, In: Höffe, Otfried (Hg.): Aristoteles-Lexikon, Stuttgart: Kröner Verlag 2005, S. 99f. Siehe auch Aristoteles: Politik VIII,3, 1338a7-9, Rolfes, S. 285: „dem besten Manne aber ist sie die beste Lust, die von den höchsten Objekten kommt.“ 88 Siehe Aristoteles: NE III,6, 1113a15ff., Rolfes, S. 54. 89 Siehe auch Brüllmann und Corcilius: „Das a. definiert sich allerdings nicht dadurch, daß es durch die Wahrnehmung oder mental repräsentiert wird., sondern besteht für jedes Lebewesen unabhängig von seinem Informationsstand. Lebewesen, die fähig sind, ihre Handlungszwecke subjektiv zu repräsentieren, können sich daher über diese Zwecke täuschen bzw. irren (An. III 433a27f.). Dies geschieht dann, wenn das repräsentierte a. (phainomenon a.) nicht mit dem übereinstimmt, was in dieser Situation faktisch das a. ist.“ Brüllmann, Philipp und Corcilius, Klaus: Agathon, In: Höffe, Otfried (Hg.): Aristoteles-Lexikon, Stuttgart: Kröner Verlag 2005, S. 4. Siehe auch Lear: Happy Lives, S. 35. Aristoteles benutzt den Begriff ‚Gut‘ auch von der subjektiven Seite, etwas als gut zu empfinden. So spricht Aristoteles in der NE davon, dass dem tugendhaften Mann die Tugend selbst auch Freude machen muss: „Ist dem aber so, dann müssen die tugendgemäßen Handlungen an sich genußreich, überdies aber auch gut und schön sein, und zwar dieses alles über alle Maße, wenn anders der Tugendhafte richtig über sie urteilt.“ (Aristoteles: NE I,9, 1099a20-29, Rolfes, S. 15.) An dieser Stelle spricht Aristoteles zuerst über die subjektive Empfindung der Tugend als gut, im zweiten Teil des Satzes, wo es um den Superlativ geht, wird <?page no="40"?> 40 Diese Position expliziert Aristoteles in der Metaphysik, in der er aufzeigt, dass Willensinhalte nach der Güte des gewünschten Objekts gewählt werden, und nicht Objekte für Gut befunden werden, auf die man seinen Willen gerichtet hat: „Denn Gegenstand des Begehrens ist dasjenige, was als schön erscheint, Gegenstand des Willens ist an sich das, was schön ist. Wir erstreben aber etwas vielmehr, weil wir es für gut halten, als daß wir es für gut hielten, weil wir es erstreben.“ 90 Es gilt allerdings noch, die Frage zu klären, was einer Sache die Bestimmung verschafft, gut zu sein. Diese Antwort ist in der Bestimmung des Endziels und des besten Guts zu finden. So ist das Gut das telos der Handlung und damit auch unabhängig von dem, was sich der jeweilig Handelnde zu seiner Handlung denkt. Man kann ein Gut verfolgen, ohne sich dessen bewusst zu sein, vor allem aber kann man eine Sache verfolgen, die gar kein Gut ist. 91 Es stellt sich damit die Frage, was das Kriterium dafür ist, dass eine erwünschte Sache ein Gut ist oder nicht. 3.3. Das Endziel (telos teleion) und das beste Gut (ariston) In NE I,1 beschreibt Aristoteles eine Hierarchie von Zielen. Das Ziel einer Tätigkeit oder einer Kunstfertigkeit ist wiederum auf ein weiteres Ziel bezogen, ist ein Schritt hin zu einem weiteren Ziel. Diese Hierarchie verschiedener Ziele veranschaulicht Aristoteles anhand verschiedener Kunstfertigkeiten (techne). Das telos des Baus einer neuen Schmiede ist mit der Vollendung der Schmiede abgeschlossen. Genauso ist die techne der Schmiede-Baukunst vollendet, sobald die Schmiede steht. Diese Schmiede ist aber wiederum auf ein telos bezogen, sie soll nämlich der Tätigkeit des Schmiedens dienen. So ist der Bau der Schmiede indirekt auf die Tätigkeit und damit das telos des Schmiedens bezogen, nämlich Metallgegenstände für den täglichen und politischen Bedarf herzustellen. Andersherum ist damit, da jede Tätigkeit ihren Wert durch ihr telos erhält, der Wert des Baus der Schmiede direkt abhängig vom telos des Schmiedens. Eine Schmiede, in der man zwar Hochzeiten feiern, jedoch keine Schwerter herstellen kann, hat ihr Ziel damit verfehlt. „Wenn es nun ein Ziel des Handelns gibt, das wir um seiner selbst wegen wollen, und das andere nur um seinetwillen, und wenn wir nicht alles eines anderen wegen uns zum Zwecke setzen - denn da ginge die Sache ins Unjedoch klar, dass diese Einschätzung mit der tatsächlichen Eigenschaft der Tugend als Gut übereinstimmt. 90 Aristoteles: Metaphysik XII,7, Bonitz, S. 256. 91 Siehe auch Lear: Happy Lives, S. 36. <?page no="41"?> 41 endliche fort, und das menschliche Begehren wäre leer und eitel -, so muß ein solches Ziel offenbar das Gute und Beste sein.“ 92 Aristoteles sieht einen Mangel an dieser Bedingungskette von Zielen. Wenn stets Ziele einem höheren Ziel untergeordnet wären, würde das Streben niemals erfüllt werden und müsste stets unbefriedigt bleiben. 93 Eine unendliche Kette von Zielen würde dem aristotelischen Begriff von ‚Ziel‘ widersprechen, denn es ist gerade die Natur von telos, zu einem Abschluss zu gelangen und damit die Aktivität zu vollenden. Mit dem Fortgang ins Unendliche würde jedes Ziel an dem jeweils höheren relativiert werden und „das menschliche Begehren wäre leer und eitel.“ 94 Aristoteles schließt von diesem Problem auf die Tatsache, dass es dann ein Ziel geben muss, das nicht auf ein weiteres Ziel bezogen ist. Dies ist das Endziel. Ganz ähnlich argumentiert Aristoteles in der Metaphysik, wo er darauf aufmerksam macht, dass eine unendliche Reihe von Ursachen die Kausalität als solche in Frage stellen würde. 95 So, wie jedes einzelne Ziel mit einem Gut identisch ist, muss dann auch das Endziel mit dem Gut überhaupt identisch sein. Es ist nach Aristoteles das beste Gut (ariston). 96 Der Schluss auf das Endziel und damit auch das beste Gut ist in der Forschung stark umstritten. In diesem Satz 97 meinen viele Forscher einen Fehlschluss auszumachen. Manche von ihnen meinen, Aristoteles würde aus dem Satz, man setze sich nicht alles eines anderen wegen zum Zwecke, schließen, es müsse ein Ziel des Handelns geben, dass man seiner selbst wegen erstrebe und um dessen willen man daher auch alles andere erstrebe. Zu ihnen gehören u. a. Ackrill, Bostock, Rowe und Urmson. 98 Dabei folge der letzte Satz gar nicht notwendigerweise aus dem ersten. Aristoteles würde somit einem Fehlschluss unterliegen. Ackrill formuliert diesen Vorwurf so: „It is commonly supposed that Aristotle is guilty of a fallacy in the first sentence, the fallacy of arguing that since every purposive activity aims at some end desired for itself there must be some end desired for itself at which every purposive activity aims.“ 99 Eine 92 Aristoteles: NE I,1, 1094a18-22, Rolfes, S. 1. 93 Aristoteles: NE I,1, 1094a18-22, Rolfes, S. 1. 94 Aristoteles: NE I,1, 1094a22, Rolfes, S. 1. 95 Siehe Aristoteles: Metaphysik II,2, Bonitz, S. 37-39. 96 Nach der Übersetzung von Wolf, die sie von Irwin übernimmt. Siehe Wolf: Aristoteles‘ Nikomachische Ethik, S. 28 und Aristotle: Nicomachean Ethics, übersetzt von Terence Irwin, Indianapolis: Hackett 2006, S. 2. Diese Übersetzung hat den Vorzug, sich im Streit um die dominante oder inklusivistische Interpretation von ariston/ eudaimonia erst einmal nicht für eine Seite zu entscheiden. 97 In Aristoteles: NE I,1, 1094a18-22, Rolfes, S. 1. 98 Siehe Ackrill: Aristotle on Eudaimonia, S. 51ff., Bostock, David: Aristotle‘s Ethics, Oxford: Oxford University Press 2000, S. 9f., Rowe: Historical Introduction, S. 12f. und Urmson, J. O.: Aristotle‘s Ethics. Oxford: Basil Blackwell 1988, S. 10. 99 Ackrill: Aristotle on Eudaimonia, S. 51. <?page no="42"?> 42 zweite Gruppe meint, der erste Satz, es gebe ein Gut, das nur seiner selbst wegen erstrebt werde und um dessen willen alle Güter erstrebt würden, sei bloß eine Hypothese von Aristoteles. Zu dieser Gruppe gehören Cooper, Hardie, Kenny, Kraut, Reeve, Williams. 100 Dann ist allerdings der Teilsatz, man setze sich nicht alles eines anderen wegen zum Zwecke, und dessen Begründung aus der Unmöglichkeit des unendlichen Regresses, um mit Ackrill zu sprechen, an dieser Stelle absurd und sinnlos. 101 M. E. hat Vranas aufbauend auf Wedin die Frage um den Fehlschluss zufriedenstellend gelöst. 102 Demnach habe Aristoteles mit dem ersten Teilsatz ausgesagt, dass es ein Endziel gebe, wegen dem alle anderen Ziele verfolgt werden würden. 103 Das heißt aber noch nicht, dass dieses Endziel nur seiner selbst wegen erstrebt wird. Aristoteles stellt an anderer Stelle klar, dass es Endziele gibt, die sowohl ihrer selbst wegen, als auch anderer Ziele wegen erstrebt werden. 104 Vranas argumentiert, dass Aristoteles mit dem zweiten Teilsatz, „wenn wir nicht alles eines anderen wegen uns zum Zwecke setzen“ 105 , die Bedingung setze, dass dieses Endziel nichtinstrumentell sei und damit einzigartig sein müsse. 106 Dass dem so sein müsse, begründet Aristoteles mit dem dritten Teilsatz, indem er postuliert „da ginge die Sache ins Unendliche fort, und das menschliche Begehren wäre leer und eitel“ 107 . Also setzt man sich nicht alles eines anderen wegen zum Zwecke, es gibt daher mindestens eine Sache, die bloß auf sich als Selbstzweck bezogen ist. Damit begründet der Satz beides, dass es mindestens ein Gut gibt, auf das alle Güter bezogen sind, und das es mindestens ein Gut gibt, das auf kein weiteres Gut mehr bezogen ist. Beides ist ein und dasselbe Gut und müsse daher „offenbar das Gute und Beste sein“ 108 . Somit hat Vranas gezeigt, dass Aristoteles weder einen Fehlschluss begeht, noch einen überflüssigen Einschub macht. Formell ist damit das ariston bestimmt als Endziel, auf das allen anderen Güter zielen. Das beste Gut kennt aus diesem Grund keinen Mangel. Es muss stets Selbstzweck sein, oder muss sich, anders aus- 100 Siehe Cooper: Reason, S. 93; Hardie: Final Good, S. 16f.; Kenny, Anthony: Happiness, In: Feinberg, Joel: Moral Concepts, Oxford: Oxford University Press 1969, S. 43-52; Kraut, Richard: Aristotle on the Human Good, Princeton: Princeton University Press 1989, S. 203ff.; Reeve: Practices of Reason, S. 108ff. und Williams, Bernard: Aristotle on the Good - A Formal Sketch, In: The Philosophical Quarterly 12 (1962), S. 292. 101 Ackrill: Aristotle on Eudaimonia, S. 52. 102 Siehe Vranas: The Best Good und Wedin: The Good for Man. 103 „Wenn es nun ein Ziel des Handelns gibt, das wir um seiner selbst wegen wollen, und das andere nur um seinetwillen...“ (Aristoteles: NE I,1, 1094a18-22, Rolfes, S. 1.) 104 Siehe Aristoteles: NE V,5, 1097a26-b7, Rolfes, S. 10. 105 Aristoteles: NE I,1, 1094a18-22, Rolfes, S. 1. 106 Siehe Vranas: The Best Good, S. 119f. 107 Aristoteles: NE I,1, 1094a18-22, Rolfes, S. 1. 108 Aristoteles: NE I,1, 1094a18-22, Rolfes, S. 1. <?page no="43"?> 43 gedrückt, selbst genügen (autarkes). 109 So wenig, wie das Endziel auf ein weiteres Ziel bezogen sein kann, ist das beste Gut Mittel für ein weiteres Gut. Mit der formellen Bestimmung des ariston hat Aristoteles damit auch die Festlegung des Kriteriums geleistet, was überhaupt ein Gut ist, auf das man sein Streben richten solle: Alle Güter sind Mittel für ein höheres Gut, und das höchste Gut ist dadurch gekennzeichnet, dass es für sich steht. Somit ist das Kriterium dafür, dass eine Sache ein Gut ist, dass es auf das höchste Gut hinzielt. 110 Aristoteles macht diesen Sachverhalt an der Regierungskunst anschaulich. Alle anerkannten Kunstfertigkeiten sind der Regierungskunst untergeordnet und sind wegen ihres Bezugs auf sie, weil sie einen Beitrag zu ihrem Gelingen leisten, wählenswert. 111 In Abgrenzung zu Platon betont Aristoteles, dass es nicht ein Gut als selbstständige Existenz gibt, in dem alle anderen Güter enthalten wären. Stattdessen gibt es ein höchstes Gut dadurch, dass alle anderen Güter auf es bezogen sind. Die verschiedenen Güter sind damit nicht etwa verschiedene Formen desselben Guts, sondern sind ein Gut für den Menschen, weil sie auf das eigenständige höchste Gut hinzielen und ihm damit untergeordnet sind. 112 Was ist der Inhalt des höchsten Guts? Was macht das beste Gut aus, das die Güter erstrebenswert macht, so dass sie tatsächlich Güter sind und nicht bloß scheinbare Güter? Aristoteles verweist in seiner Antwort auf diese Frage auf den Gegenstand, den „die meisten“ 113 nennen würden: eudaimonia. Der Begriff wird meist mit Glückseligkeit oder Glück übersetzt. 114 Die Übersetzung Glück hat den Nachteil, dass sie leicht mit der glücklichen Schicksalsfügung verwechselt werden kann, wofür Aristoteles und seine Zeitgenossen allerdings einen eigenen Ausdruck besaßen. Zugleich hat das deutsche Wort Glückseligkeit den Mangel, dass es die eine Seite von eudaimonia, nämlich subjektive Zufriedenheit, zu stark betont und damit die objektiv guten Lebensumstände vernachlässigt, die das wesentliche Moment von eudaimonia ausmachen. Ob die moderne Vorstellung von Glückseligkeit und der aristotelische Begriff von eudaimonia nicht so fern sind, wie z. B. von Kraut argumentiert wird, bedarf einer 109 Siehe Aristoteles: NE I,5,1106a14-1106b36, Rolfes S. 34-36. 110 Diese Aussage ist relativ unumstritten. Siehe beispielsweise Lear: Happy Lives, S. 15 und 20. 111 Siehe Aristoteles: NE I,1, 1094a28ff., Rolfes, S. 2, siehe auch Aristoteles: NE I,12, 1102a2-4, Rolfes, S. 22. 112 Das wird von Aristoteles in Aristoteles: NE I,4, 1105b19-1106a13, Rolfes, S. 33f. besprochen. 113 Aristoteles: NE I,2, 1095a18, Rolfes, S. 4. 114 Glückseligkeit ist die Übersetzung von Rolfes und Gigon, siehe Aristoteles: NE I,5, 1097a34-b1, Rolfes, S. 10 und Aristoteles: NE I,5, 1097a34-b1, Gigon, S. 25. Glück stammt von Dirlmeier und Wolf, siehe Aristoteles: NE I,5, 1097a34-b1, Dirlmeier, S. 8 und Aristoteles: NE I,5, 1097a34-b1, Wolf, S. 54. <?page no="44"?> 44 genaueren Untersuchung. 115 Zumindest haben beide Konzepte durchaus unterschiedliche Betonungen, schon allein dadurch, dass hinter der aristotelischen eudaimonia-Konzeption eine ganze Theorie steht. Um die Begriffsbestimmung nicht durch die Wahl der Worte vorwegzunehmen, werde ich im Folgenden den griechischen Ausdruck eudaimonia im Original belassen. Die bisherige Herleitung des besten Gutes hat gezeigt, dass Aristoteles in seiner Analyse menschlicher Handlungen nicht vom Willensinhalt eines bestimmten Individuums ausgeht, sondern den Inhalt von Streben überhaupt unabhängig davon untersucht. Einige Forscher wie Irwin meinen, Aristoteles habe die Ansicht vertreten, dass jeder stets nach dem besten Gut, das im nächsten Schritt mit eudaimonia identifiziert wird, strebe. 116 Andere wie McDowell, haben diese Sicht etwas relativiert und meinen, bloß die bewusst vollzogene Handlung (praxis) würde für das Ziel eudaimonia unternommen. 117 Wenn es allerdings in der Handlung selbst eingeschrieben ist, dass sie von sich aus auf das beste Gut und damit eudaimonia zielt, so ist irrelevant, was sich der Handelnde denken mag, die Güte seiner Handlung, auf die er zielt, stammt von dem Anteil, die zum Gelingen der eudaimonia beiträgt. Daher meint Aristoteles auch, dass man gemeinhin weiß, dass die Handlung für die eigene eudaimonia begangen wird und die Leute daher bewusst auf dieses Gut zielen. 118 3.4. Glückseligkeit (eudaimonia) und das ‚gute Leben‘ (eu zen) Nach der bereits vorgestellten Methode zitiert Aristoteles eine allgemein anerkannte Meinung, um das beste Gut inhaltlich zu bestimmen. Es sei die eudaimonia. 119 Der Konsens besteht jedoch nach Aristoteles erst einmal „im Namen“ 120 . Welchen Inhalt diese nominelle Übereinkunft hat, ist Gegenstand von Auseinandersetzungen vielfältigster, sich widersprechender Meinungen. 121 Es stellt eine besondere Herausforderung für Aristoteles 115 Siehe Kraut: Two Conceptions, S. 167ff. 116 Siehe Irwin, Terence: The Metaphysical and Psychological Basis of Aristotle‘s Ethics, In: Rorty, Amélie (Hg.): Essays on Aristotle‘s Ethics, Berkeley: University of California Press, 1980, S. 46f. 117 Siehe McDowell: The Role of Eudaimonia, S. 360-364. 118 Siehe Aristoteles: NE I,5, 1079b4-5, Rolfes, S. 10. 119 Siehe Aristoteles: NE I,2, 1095a18, Rolfes, S. 4. 120 Aristoteles: NE I,2, 1095a18, Rolfes, S. 4. 121 Siehe Aristoteles: NE I,2, 1095a17-20, Rolfes, S. 4. Lawrence sieht diese nominelle Bestimmung als zweiten Schritt in der grundlegenden Argumentationsstrategie der NE an. Siehe Lawrence, Gavin: The Function of the Function Argument, Ancient Philosophy 21.2 (2001), S. 445f. <?page no="45"?> 45 dar, die sich widersprechenden und zugleich als gültig anerkannten Meinungen als wahr zu beweisen und argumentativ zu festigen. Die erste Aufgabe des Aristoteles ist es aber, die allgemein anerkannte Meinung, die endoxa, dass die eudaimonia das beste Gut sei, auf eine solide argumentative Grundlage zu stellen. 122 Aristoteles überprüft diese gängige Meinung, indem er an eudaimonia die Kriterien des besten Guts anlegt. Letzteres würde „allezeit seinetwegen und niemals eines anderen wegen gewollt“ 123 werden. Das beste Gute könne kein weitergehendes Gut mehr haben, auf das es sich bezieht. Diesem Maßstab entspreche die eudaimonia. Es sei niemals Gegenstand des Willens, um Mittel für einen höheren Zweck zu sein. 124 Die Verlängerung dieser Bestimmung ist der Gedanke der Selbstgenügsamkeit (autarkes). „Als sich selbst genügend gilt uns demnach das, was für sich allein das Leben begehrenswert macht, so daß es keines Weiteren bedarf.“ 125 Damit hat Aristoteles eudaimonia als eine ganz besondere Art von Ziel bestimmt. Man kann es nämlich nicht wie jedes andere Ziel einfach so verfolgen, hat es irgendwann eingeholt und kann sich dann mit dem Erreichten zurücklehnen. Es sei vielmehr eine Sache, die auf das Leben des Individuums überhaupt Bezug nimmt und an keiner Stelle unbefriedigtes Begehren mehr übrig lässt. 126 Beide Kriterien, die Abwesenheit eines instrumentellen Verhältnisses der eudaimonia für ein höheres Gut und das Genügen der eudaimonia für ein begehrenswertes Leben, stellen somit klar, dass die eudaimonia das beste Gut sein muss. Es ist somit das erste Prinzip und der Grund des Guten. 127 In den verschiedenen Meinungen, was der Inhalt der eudaimonia sei, erkennt Aristoteles ein Muster, die eudaimonia falsch zu denken. Es werde gerade der Gegenstand mit eudaimonia identifiziert, dessen die jeweilige Person gerade bedarf: Der Kranke hält Gesundheit für eudaimonia, der 122 Ich werde die wichtige Kontroverse, ob die eudaimonia inklusiv oder dominant zu interpretieren sei, an dieser Stelle noch nicht behandeln, sondern zunächst mein Verständnis von eudaimonia darlegen. Danach folgt erst die Besprechung der Diskussion um die richtige Interpretation von eudaimonia. 123 Aristoteles: NE I,5, 109a35, Rolfes S. 10. 124 Wolf übersetzt an dieser Stelle teleios mit ‚abschließendes Ziel‘, da es nicht auf ein weiteres Ziel verweist und damit die Kette von instrumentellen Verhältnissen zu ihrem Abschluss bringt. Siehe Wolf: Aristoteles: Aristoteles: NE I,5, 109a35, Wolf, S. 54. 125 Aristoteles: NE I,5, 1097b14-16, Rolfes, S. 10. 126 Siehe auch Ackrill: Aristotle on Eudaimonia, 44. 127 Siehe Aristoteles: NE I,12, 1102a3f., Rolfes, S. 22. Price bezeichnet dies als den holistischen Ansatz von eudaimonia. Er verknüpft dies mit der Vorstellung, dass eudaimonia alle anderen Güter umfasse. Das ist allerdings allein aus dieser Bestimmung, dass alle Güter ihre Güte aus dem Bezug auf eudaimonia gewinnen, nicht herzuleiten. Siehe Price, Anthony: Aristotle‘s Ethical Holism, In: Mind 89 (1980), S. 342. <?page no="46"?> 46 Notleidende den Reichtum, der Unwissende die Weisheit. 128 Zurecht geht Aristoteles auf diese Vorstellungen nicht weiter ein, denn dass es dieser Gegenstände für eudaimonia bedarf, ist kein Argument dafür, dass sie eudaimonia sind. Sie mögen allesamt mindestens Bedingungen der eudaimonia sein, dass sie hinreichen, um einen Menschen eudaimon zu nennen, dafür sind diese aus dem Mangel geborenen Urteile keine hilfreichen Beiträge. Um dem Inhalt von eudaimonia näher zu kommen, untersucht Aristoteles drei Lebensweisen daraufhin, in welcher Beziehung sie zur eudaimonia stehen. Die am weitesten verbreitete Ansicht ist, die Lust überhaupt sei das „höchste Gut und das wahre Glück“ 129 und damit das Leben, das sich dem Genuss hingebe, das der eudaimonia adäquate. Diese Lebensweise wird von Aristoteles als „Leben des Viehs“ 130 kritisiert. Die politische Lebensweise, die nach Ehre strebt, fällt aus zweierlei Gründen nicht unter die Rubrik eudaimonia. Einmal ist man in einem Leben, das nach Ehre strebt, abhängig von denjenigen, die die Ehre zusprechen. 131 Von dem obersten Gut weiß man aber, dass es das Kriterium der Autarkie, der Eigenständigkeit erfüllen muss. Zum anderen ist das Material der Ehre der Besitz von Tugend (arete). Aristoteles stellt sich daher die weitergehende Frage, ob die Tugend daher gleichbedeutend mit eudaimonia sein könne. Er gibt auch darauf eine negative Antwort, denn man könne auch tugendhaft sein, ohne jemals tugendhafte Taten auszuüben. Damit ist allerdings auch keine Ehre zu erreichen, womit der bloße Besitz der Tugend nicht der Inhalt der eudaimonia sein könne. Was ist Aristoteles‘ Kriterium dafür, dass die Lebensweise des Genusses unmöglich ein Leben der eudaimonia sein könne? Zwar gibt Aristoteles an dieser Stelle dafür keine Argumente, aus Aristoteles‘ Beurteilung der Lebensweise der Politikers lässt sich jedoch ableiten, wieso das Leben des Genusses so schnell als Leben der eudaimonia verworfen wird. Denn das erste Argument dagegen, dass das Leben des Politikers gleichbedeutend mit der eudaimonia sei, trifft auch auf das Leben der Lust zu: Das Leben des Politikers zielt auf Ehre, die ihm gegeben wird. Damit erfüllt es jedoch nicht mehr das Kriterium der Selbstgenügsamkeit, da es auf etwas anderes als es selbst zielt. Beim Leben des Genusses ist die Abhängigkeit von den äußeren Gütern so offensichtlich, dass Aristoteles meint, der Hinweis, dass die Anhänger dieser Lebensweise knechtisch gesinnt seien, reiche bereits aus, um ihre Unselbstständigkeit offen zu legen. Und in der Tat ist von den drei Alternativen das Leben des Genusses am meisten abhängig von 128 Siehe Aristoteles: NE I,2, 1094a22-23, Rolfes, S. 4. 129 Aristoteles: NE I,3, 1095b15, Rolfes, S. 5. 130 Aristoteles: NE I,3, 1095b20, Rolfes, S. 5. 131 Siehe Aristoteles: NE I,3, 1095b23-26, Rolfes, S. 5. <?page no="47"?> 47 äußeren Gütern, da bei ihm die eigene Aktivität am wenigsten, die äußeren Güter sehr großes Gewicht haben. Es muss hier angemerkt werden, dass das Argument der Selbständigkeit (autarkes) an dieser Stelle nicht eins zu eins angewendet werden kann. In NE I,5 hieß autarkes noch, dass eine Sache ausreiche, um das Leben mangellos zu machen. Hier wird eine Lebensweise als eudaimonia verworfen, wenn sie einer anderen äußeren Sache bedarf, um realisiert zu werden. Die Selbstgenügsamkeit bezieht sich also auf je unterschiedliche Gegenstände. Diese Verschiebung ist konsistent mit der veränderten Anwendung des autarkes-Kriteriums auf die verschiedenen Lebensweisen der ethischen Tugend und der theoria in NE X,7 und NE X,8. 132 Curzer hat auf diese Veränderung aufmerksam gemacht. 133 Ich meine, dass diese veränderte Bedeutung des autarkes-Kriteriums darin begründet ist, dass sie jetzt auf das Leben als Ganzes bezogen ist. 134 Die Untersuchung der drei Lebensweisen bringt die Bestimmung von eudaimonia zunächst nur negativ voran. Jene Lebensweise, von der man erst später erfährt, dass sie einen positiven Bezug zur eudaimonia hat, wird völlig ausgeklammert; die Tugend taucht auch nur zur Abgrenzung einer falschen Vorstellung auf. Dadurch erhält die Frage nach den Lebensformen eine für die Bestimmung der eudaimonia zunächst nicht wesentliche Rolle. Die Frage nach der Beziehung von eudaimonia und Lebensform wird an das Ende der Untersuchung verschoben, spielt also in der Entwicklung der inhaltlichen Bestimmung von eudaimonia bloß eine negative Rolle. Erst gegen Schluss, wenn die Bestimmung von eudaimonia bereits geleistet wurde, kommt Aristoteles auf die Lebensformen zu sprechen. Das sollte bereits als erster Hinweis darauf dienen, dass es extrem problematisch ist, die in NE X,7 aufgenommene Besprechung der Lebensformen als Relativierung der Bestimmung von eudaimonia der frühen Bücher in der NE zu lesen, wie es die Vertreter der dominanten Sichtweise von eudaimonia getan haben. 132 Siehe Aristoteles: NE X,7, 1177a28-b1, Rolfes, S. 249 und NE X,8, 1178a23-b8, Rolfes, S. 252. 133 Siehe Curzer, H. J.: Criteria for Happiness in Nicomachean Ethics I 7 and X 6-8, In: The Classical Quarterly 40.2 (1990), S. 422-424. 134 Lear meint, dass die Lebensweisen unter dem Kriterium der Finalität beurteilt und kritisiert werden, also hinsichtlich dessen, wieweit das in der jeweiligen Lebensweise verfolgte Gut dem Kriterium der reinen Selbstzweckhaftigkeit entspricht. Zwar ist m. E. das Kriterium der Finalität, dass das beste Gut stets nur seiner selbst und niemals eines anderen wegen gewünscht wird, mit dem autarkes-Kriterium eng verknüpft, aber nicht ganz dasselbe. Siehe Lear: Happy Lives, S. 23f. Aristoteles wiederholt die Betonung der Abhängigkeit dessen, der sich von sinnlichen Genüssen leiten lässt in der Besprechung der Freundschaft: „Die nun von den genannten Dingen nie genug haben können, sind willfährige Knechte ihrer sinnlichen Lüste und überhaupt ihrer Leidenschaften und des vernunftlosen Seelenteils.“ (Aristoteles: NE IX,8, 1168b18-21, Rolfes, S. 223) <?page no="48"?> 48 Keine Kontroverse besteht laut Aristoteles in der Gleichsetzung der eudaimonia mit dem „Gut-Leben und Sich-Gut-Gehaben“ 135 , in dieser Identität sind sich „die Menge und die feineren Köpfe“ 136 einig. In NE I,8 will Aristoteles den Einklang seiner Bestimmung mit den „herrschenden Ansichten“ betonen. An dieser Stelle, an der auch die bereits erwähnte allgemeine Aussage zur Identität von Wahrheit (also den richtigen Auffassungen) und Tatsachen geäußert wird, stellt Aristoteles heraus, das seiner bisherigen Bestimmung nach das gute Leben und das gute Handeln mit eudaimonia insofern identisch sind, als „man von dem Glücklichen sagt, er lebe gut und gehabe sich gut. Mit unserer Definition ist ja ungefähr so viel gesagt wie gutes Leben und gutes Gehaben.“ 137 Ich habe diese Stelle, die sich erst mit der genauen inhaltlichen Bestimmung von eudaimonia überprüfen lässt, deswegen jetzt bereits genannt, weil sich in der Gleichbedeutung mit dem ‚guten Leben‘ (eu zen) bereits eine wesentliche Bestimmung von eudaimonia zeigt: Sie lässt sich nicht auf eine Seelenlage reduzieren, die man unabhängig von den äußeren Umständen haben könne. Vielmehr ist eudaimonia als gutes Leben bezogen auf die tatsächliche Objektivität der betreffenden Person. Welcher Art diese Objektivität ist, wird sich zeigen, wenn die inhaltliche Bestimmung von eudaimonia zur Sprache kommen wird. Die Identifizierung von gutem Leben und eudaimonia grenzt sich damit beispielsweise in radikaler Weise von Gedanken wie denen der Stoiker ab, die eudaimonia als rein subjektive Einstellungssache zu jedweden objektiven Lebensumständen ansehen. 138 3.5. Die eigentümliche Leistung (ergon) des Menschen Den Inhalt der kontrovers interpretierten eudaimonia bestimmt Aristoteles über die spezifische Eigentümlichkeit (ergon) des Menschen: Jede Sache habe eine ihr innewohnende eigentümliche Leistung. Das Messer schneide; die ihm eigentümliche Leistung, die keine andere Entität mit ihm teilt, ist, dass man mit diesem handhabbaren Gegenstand auf präzise Art und Weise schneiden kann. Dies ist nach Aristoteles das ergon einer Sache. 139 Genau so wie ein Organ oder ein Werkzeug ein ergon haben, so hat auch der Mensch als Ganzes ein ergon, eine Leistung, die er mit keiner anderen Entität teilt und die damit nur ihm eigen ist. Dieses menschliche ergon identifiziert Aristoteles mit menschlicher Aktivität, die gemäß dem 135 Aristoteles: NE I,2, 1095a19-20, Rolfes, S 4. 136 Aristoteles: NE I,2, 1095a18, Rolfes, S. 4. 137 Aristoteles: NE I,8, 1098b20-23, Rolfes, S. 14. 138 Siehe Annas, Julia: Aristotle on Virtue and Happiness, In: Sherman, Nancy: Aristotle‘s Ethics: Critical Essays, Lanham: Rowman & Littlefield, 1999, S. 44-46. 139 Siehe Aristoteles: NE I,6, 1097b30-33, Rolfes, S. 11. <?page no="49"?> 49 rationalen Teil der Seele ausgeführt wird. 140 Dass alles um eines Zweckes willen hervorgebracht wird, ist ein Axiom des Aristoteles. 141 Umstritten ist, ob diese metaphysische Grundlage im ergon-Argument eine Rolle spielt. Lawrence hat sehr überzeugend dafür argumentiert, dass das ergon- Argument ohne einen solchen Bezug auf teleologische Annahmen auskommt, zugleich aber auch nicht zu formell sei, um gar nichts aus zu sagen. 142 Damit wendet sich Lawrence sowohl gegen den Vorwurf von beispielsweise Williams 143 und Darwell u. a. 144 , die das ergon-Argument als Beispiel einer längst überholten Teleologie ansehen, als auch gegen die Vorstellung, das Argument würde erstaunlich inhaltsleer sein. Letzteres ist die Lesart von Cooper und Adkins. 145 Dagegen zeigt Lawrence, dass das ergon-Argument zwar nicht die einzelnen Tugenden (aretai) abzuleiten vermag, dafür allerdings schon einen genaueren Inhalt hat. 146 Das menschliche ergon ist nach Aristoteles nicht das Leben selbst, denn die rein vegetative Existenz teile der Mensch selbst mit den Pflanzen. 147 Das sinnliche Leben teile der Mensch mit den Tieren. Im Ausschlussverfahren gelangt Aristoteles zu demjenigen Teil der Seele, der allein dem Menschen eigen ist: „So bleibt also nur ein nach dem vernunft-begabten Seelenteile tätiges Leben übrig, und hier gibt es einen Teil, der der Vernunft gehorcht, und einen anderen, der sie hat und denkt.“ 148 Das Eigentümliche des Menschen liegt in seiner Vernunftbegabtheit (logos). Das eigentümliche seiner Seele ist somit, dass sie im einen Teil die Vernunft selbst hat, im anderen Teil zwar im unvernünftigen Strebevermögen besteht, das aber auf die Vernunft zu hören imstande ist. Es wurde darauf aufmerksam gemacht, dass die Vernunftbegabtheit nicht nur dem Menschen eigen ist. Auch die Götter sind der Vernunft fähig. Ihnen kommt das Denken in höherer Weise zu. 149 Das widerspricht jedoch nicht der Bestimmung der menschlichen Eigentümlichkeit. Denn sie beinhaltet die Vernunft gerade neben dem nicht rationalen Strebevermögen, auf das sie einwirken kann. Das typisch Menschliche ist Aktivität gemäß des logos zu entfalten, bei einem Strebevermögen, das selbst nicht 140 Siehe Aristoteles: NE I,6, 1098a3-5, Rolfes, S. 11f. 141 Der Ansicht ist auch Busche, Hubertus: Ergon, In: Höffe, Otfried (Hg.): Aristoteles- Lexikon, Stuttgart: Kröner Verlag 2005, S. 209. 142 Siehe Lawrence: The Function Argument, S. 445-47. 143 Siehe Williams, Bernard: Ethics and the Limits of Philosophy, London: Routledge 1985, S. 30-53. 144 Siehe Darwell, Stephen; Allan Gibbard und Peter Railton: Toward Fin De Siecle Ethics: Some Trends, In: The Philosophical Review 101.1 (1992), S. 168. 145 Siehe Cooper: Reason and Human Good und Adkins, Arthur W. H.: The Connection Between Aristotle‘s Ethics and Politics, Political Theory 12.1 (1984), S. 29-49. 146 Siehe Lawrence: The Function Argument, S. 448. 147 Siehe Aristoteles: NE I,6, 1097b34-1098a5, Rolfes, S. 11. 148 Aristoteles: NE I,6, 1098a3-5, Rolfes, S. 11. 149 Siehe Aristoteles: NE X,8, 1178b23-33, Rolfes, S. 253. <?page no="50"?> 50 logos ist. Das lässt sich auch für den Seelenteil sagen, der die Vernunft ganz hat: Im Unterschied zu den Göttern ist er Teil einer Seele, die auch einen nicht rationalen Teil hat - neben dem Strebevermögen auch den vegetativen Teil. 150 Nach Lawrence werden bereits an dieser Stelle drei wichtige inhaltliche Bestimmungen der eudaimonia gegeben. 151 Erstens wird eudaimonia mit dem Bezug zum menschlichen ergon als ein Gut der Seele identifiziert anstatt als ein körperliches oder äußeres Gut, wie einige der von Aristoteles zuvor wiedergegebenen Vorschläge zum Inhalt der eudaimonia lauteten. Diese Bestimmung deckt sich mit derjenigen des Körpers als Mittel für die Seele, die insofern sein Ziel ist, aus der Schrift De Anima. 152 Zweitens klärt Aristoteles den ontologischen Charakter des besten Guts: Es ist eine Aktivität gemäß der menschlichen Seele, im Unterschied zu einem Zustand oder einer Fähigkeit. Nach Haucke ist dies bereits dem Menschen als Lebewesen inhärent, denn das Tätig-Sein mache die Lebewesen insgesamt aus. 153 Noch näher ist praxis im Grunde nur dem Menschen eigen, daher muss das ergon und die auf ihr basierende eudaimonia eine Tätigkeit sein. 154 Und drittens ist bei dieser der Seele gemäßen Aktivität die Vernunft notwendig involviert. Wolf hält das ergon-Argument für einen „problematischen Schritt“ 155 . Entweder sei das ergon als eine Funktion des Menschen zu verstehen. Damit würde Aristoteles dem Menschen als Prämisse eine Aufgabe zuschreiben, die er nicht weiter begründet. Oder aber, das ergon des Menschen sei einfach als eine Zustandsbeschreibung zu lesen. Dann sei es aber ein Fehlschluss, aus einer Tatsache - nämlich der menschlichen Eigentümlichkeit - einen Bewertungsmaßstab abzuleiten. Als Zustandsbeschreibung habe die ergon-Konzeption keinerlei normative Kraft. Gómez-Lobo argumentiert überzeugend, dass das ergon-Argument allein die normative Leistung gar nicht erbringen soll. Diejenigen, die der Bestimmung des menschlichen ergon mangelnde normative Kraft nachsagen, würden daher der Bestimmung des menschlichen ergon eine mangelnde Leistung vorwerfen, die mit ihm gar nicht beabsichtigt sei. 150 Das passt zu der Bestimmung des Menschen in NE VI,2. Dort wird der Mensch als ein Prinzip verstanden, in dem beides, Denken und Begehren, verbunden sind. Beides ist in der Willenswahl (prohairesis) enthalten als „entweder begehrendes Denken oder denkendes Begehren“. (Aristoteles: NE VI,2, 1139b4-7, Rolfes, S. 132) 151 Siehe Lawrence: The Function Argument, S. 454-459. 152 Siehe Aristoteles: Über die Seele, II,4,415b18-20, übersetzt von Willy Theiler, Hamburg: Meiner 1995, S. 37. 153 Siehe Haucke: Werden und Sein der Aristotelischen Eudaimonia, S. 14ff. 154 Siehe Aristoteles: NE IX,9, 1169b29f., Rolfes, S. 227: „Wir haben eingangs erklärt, daß die Glückseligkeit eine Tätigkeit ist. Die Tätigkeit ist aber offenbar ein Geschehen, ein Vorgang; sie existiert nicht nach Weise eines bleibenden Dinges, z. B. eines Besitztums.“ 155 Wolf: Aristoteles‘ Nikomachische Ethik, S. 86. <?page no="51"?> 51 Stattdessen ruhe die Bestimmung vom ergon des Menschen auf der Prämisse, eine Sache sei dann gut, wenn sie, falls vorhanden, ihr ergon gut verwirkliche. 156 Damit kommen wir zu der Bestimmung von eudaimonia, auf die das ergon-Argument abzielt: Die Tätigkeit gemäß der Tugend (arete). 3.6. Tugend (arete) Gómez-Lobo zeigt, dass Aristoteles oft fälschlicherweise zugesprochen wird, seine Tugendethik würde eudaimonia als die Realisation des Menschenwesens definieren. 157 Gómez-Lobo bezieht sich damit auf Formulierungen von Grant, Hardie, Wilkes und Nagel, die diese Bestimmung mindestens nahe legen. 158 Dagegen wendet sich Gómez-Lobo mit dem Argument, dass das ergon zwar zur Bestimmung der eudaimonia unverzichtbar sei, dass eudaimonia jedoch nicht das ergon des Menschen, sondern die gute Ausführung dieses menschlichen ergons sei. 159 Aristoteles argumentiert demnach folgendermaßen: In einer ersten Prämisse wird angenommen, dass ein Einzelding dann ein gutes Exemplar eines Gegenstandes sei, wenn es gute Ausführungen des ergon dieses Gegenstandes vollbringe. Also ist die Yuccapalme im Wohnzimmer meines Vaters dann eine besonders gute Pflanze, wenn sie das ergon, das Pflanzen eigen ist, nämlich zu wachsen und zu gedeihen, besonders gut vollbringt. Diese Prämisse angewandt auf die Bestimmung des menschlichen ergon ist nichts anderes als die Bestimmung des besten Guts, nämlich arete. 160 156 Siehe Gómez-Lobo, A.: The Ergon Inference, Aristotle‘s Ethics, In: Anton, John und Kustas, George (Hg.): Aristotle‘s Ethics, New York: State University of New York Press 1991, S. 53-55. 157 Siehe Gómez-Lobo: The Ergon Inference, S. 43. 158 Siehe Grant, Alexander: The Ethics of Aristotle, Bd. 1, London: Longmans 1866, S. 419; Hardie, William F. R.: Aristotle’s Ethical Theory, zweite Auflage, Oxford: Clarendon Press 1980, S. 362; Wilkes, Kathleen: The Good Man and the Good for Man in Aristotle‘s Ethics, In: Rorty, Amélie (Hg.): Essays on Aristotle‘s Ethics, Berkeley: University of California Press 1980, S. 343 und Nagel, Thomas: Aristotle on Eudaimonia, In: Rorty, Amélie (Hg.): Essays on Aristotle‘s Ethics, Berkeley: University of California Press 1980, S. 8. 159 Siehe Gómez-Lobo: The Ergon Inference, S. 53. 160 Der Begriff lässt sich im Deutschen mit Tugend oder Tüchtigkeit wiedergeben. Bis zu diesem Punkt habe ich arete immer mit Tugend übersetzt, und das hat insofern seine Berechtigung, als auch arete die subjektive Disposition eines moralischen Werts bezeichnet. Diese Übersetzung hat allerdings den Mangel, den instrumentellen Charakter für einen vorausgesetzten Zweck, der in arete mitschwingt, zu unterschlagen. Diese Kongruenz der Tugend mit anderen Interessen, die noch näher zur Sprache kommen soll, wird deutlicher, wenn man arete mit dem deutschen Wort „Tüchtigkeit“ wiedergibt. Allerdings abstrahiert dieses Wort von der moralischen Implikation, die in arete enthalten ist. Man könnte zwar sagen, dass die Tüchtigkeit <?page no="52"?> 52 Die Teleologie menschlicher Handlungen, die im Begriff des besten Guts und der formellen Bestimmung von eudaimonia zum Ausdruck kommt, und die dem Menschen eigentümliche Leistung, die ihm als Fähigkeit innewohnt (ergon), sind in der Tugend identisch gesetzt. Wenn das telos des menschlichen ergon möglichst vollständig verwirklicht ist, dann wurde das telos teleion menschlicher Handlungen, eudaimonia, vollzogen. Dagegen unterteilen Wolf und Haucke die Entwicklung des Begriffs von eudaimonia in zwei Argumentationslinien, die erst im ergon-Argument wieder zusammen geschlossen würden. 161 Das ist m. E. unrichtig. Denn dass das telos der Handlung auch das telos des Menschen ist, wird schon klar, nachdem der Schluss auf das ariston vollzogen wurde. Das ariston ist das beste Gut, nicht nur der Handlungen, sondern auch des Menschen, der diese Handlungen vollzieht. In NE I,2 identifiziert Aristoteles bereits das beste Gut mit eudaimonia und dem guten Leben. 162 Das gute Leben bezieht sich jedoch nicht mehr allein auf Handlungen, sondern auch auf den Menschen. Das telos der Handlungen und das des Menschen ist somit bereits identifiziert, wenn Aristoteles in NE I,6 auf das ergon zu sprechen kommt. Im ergon-Argument wird nach der Zweckbestimmung des Menschen gefragt, um das telos der Handlungen zu bestimmen, weil bereits beide Bestimmungen implizit miteinander identifiziert wurden. Nach dieser Bestimmung der eudaimonia drängt sich die Frage auf, welche Aktivitäten das ergon des Menschen, ein tätiges Leben nach dem vernunft-begabten Seelenteile, besonders gut verwirklichen. Um das zu bestimmen, wendet sich Aristoteles der Untersuchung der Tugend zu: „Da aber die Glückseligkeit eine der vollendeten Tugend gemäße Tätigkeit der Seele ist, so haben wir die Tugend zum Gegenstande unserer Untersuchung zu machen, da wir damit die Glückseligkeit auch besser verstehen lernen.“ 163 Da die menschliche Tugend aber auf die Seele bezogen ist, sei es notwendig, diese noch genauer zu untersuchen. Einen ersten Hinweis auf die Tugend der Seele hat Aristoteles bereits bei der Bestimmung des menschlichen ergon gegeben: Das menschliche ergon teilt sich auf in „einen Teil, der der Vernunft gehorcht, und einen eines Menschen schon einen Maßstab voraussetzt, aber der muss ja nicht unbedingt moralisch wertvoll sein, sondern könnte z. B. auch die Nützlichkeit für die Interessen eines Ausbeuters bezeichnen. Ich werde weiterhin das Wort Tugend für arete gebrauchen. 161 So meint Wolf, dass in der NE zwei Argumentationslinien vermischt würden. Einmal würde das agathon von Tätigkeitsfeldern bestimmt, ein anderes mal das agathon (und ariston) des Menschen. Siehe Wolf, Ursula: Über den Sinn der aristotelischen Mesoteslehre, In: Höffe, Otfried (Hg.): Aristoteles: Nikomachische Ethik, Berlin: Akademie-Verlag 2006, S. 86 und Haucke: Werden und Sein der Aristotelischen Eudaimonia, S. 12f. Siehe auch Wolf: Aristoteles‘ Nikomachische Ethik, S. 44. 162 Siehe Aristoteles: NE I,2, 1095a14-20, Rolfes, S. 4. 163 Aristoteles: NE I,13, 1102a5-9, Rolfes, S. 22. <?page no="53"?> 53 anderen, der sie hat und denkt.“ 164 In NE I,13 bestimmt Aristoteles diese Zweiteilung noch weiter. Die Seele habe zwei Teile. Der eine Teil hat die Vernunft „in sich selbst“ 165 , ist also die Heimat des logos. In ihr denkt der logos. Der andere Teil sei das Strebevermögen. Es habe selbst keine Vernunft, besitze jedoch die Fähigkeit, dem logos zu gehorchen. Die Tugend der Seele wird demgemäß in zwei Arten unterteilt. Das eine sei die Tugend des Strebevermögens, das auf die Vernunft zu hören imstande sei. Dies sind die sogenannten ethischen Tugenden. Dazu gehören Einzeltugenden (aretai) wie Tapferkeit, Mäßigung und auch Gerechtigkeit. Auf der anderen Seite gebe es die Tugenden des Denkvermögens, die so genannten dianoethischen Tugenden. Zu ihr zählen Einzeltugenden wie Klugheit (phronesis) und Weisheit (sophia). Die so bestimmte eudaimonia beinhaltet damit dem Anspruch nach alle zuvor zitierten Momente, die Aristoteles in NE I,9 anspricht: Tugend, Klugheit, Weisheit, Lust und äußerer Segen. Damit haben sich diese Meinungen als Wahrheiten herausgestellt und wurden in einen logisch nachvollziehbaren Zusammenhang geordnet. 3.7. Überblick der Diskussion um eudaimonia Der Inhalt des als eudaimonia bestimmten besten Guts ist Gegenstand einer Forschungskontroverse, die sich im Wesentlichen um den Punkt dreht, ob eudaimonia inklusiv oder dominant zu verstehen ist. Die Vertreter der inklusiven Lesart sind der Ansicht, eudaimonia umfasse eine Menge mehrerer Güter, z. B. alle Tugenden. Demgegenüber steht die dominante Lesart von eudaimonia, die sie mit einem bestimmten Gut identifiziert. In den meisten Fällen handelt es sich bei diesem einen Gut um die Tugend der Weisheit (sophia) und die ihr gemäße Tätigkeit der philosophischen Betrachtung (theoria). Diese weitestgehende und zugleich häufigste Variante der dominanten Lesart wird im Unterschied zu anderen dominanten Varianten auch als intellektualistisch bezeichnet. Die inklusive Lesart von eudaimonia stützt ihre Argumentation im Wesentlichen auf Buch eins der NE, da sie meint, dass Aristoteles eudaimonia hier eindeutig als tüchtige Aktivität gemäß dem rationalen Seelenteil auffasst. Eudaimonia bestehe somit in mehr als einem Gut, nämlich mindestens in den intellektuellen und ethischen Tugenden. Demgegenüber sieht die dominante Lesart in Buch zehn der NE die inklusive Lesart widerlegt, weil hier die Tugenden untereinander hierarchisiert und die beste, die der Weisheit, mit der eudaimonia identifiziert werde. 166 164 Aristoteles: NE I,6, 1098a3-5, Rolfes, S. 11. 165 Aristoteles: NE I,13, 1103a3, Rolfes, S. 25. 166 So meint Whiting, dass vor allem Buch zehn im Widerspruch zur restlichen NE steht, und Kenny meint ebenfalls, dass die Diskussion hauptsächlich auf dem Verhältnis der Bücher eins und zehn beruhen. Siehe Whiting, Jennifer: Human Nature and Intel- <?page no="54"?> 54 Der Zweck der vorliegenden Arbeit ist es, zu belegen, dass Marx sein Ideal einer besseren Gesellschaft an das Konzept des ‚guten Lebens‘ von Aristoteles anlehnt. Wichtiger Schnittpunkt ist dabei die Gerechtigkeit als diejenige ethische Tugend, die als vollkommene Tugend unmittelbar positiv auf die gesellschaftliche Allgemeinheit bezogen ist. Würden aber die Aktivitäten gemäß der ethischen Tugenden, also auch die gerechten Taten, gar nicht für sich als ‚gutes Leben‘ gelten, sondern allein als Mittel für die der Weisheit gemäße Aktivität, dann wäre die in der Gerechtigkeit enthaltene Achtung der Gesetze und der gesellschaftlichen Allgemeinheit nur instrumentell auf die Weisheit bezogen. Damit wäre jedoch der Charakter des guten Lebens, notwendig positiv auf das Gemeinwesen bezogen zu sein, problematisch. Daher ist eine Klärung der Diskussion um die Bestimmung von eudaimonia, also den Inhalt des ‚guten Lebens‘, notwendig. Cooper bemerkt zurecht, dass die Kontroverse um die korrekte Interpretation dessen, was eudaimonia in der NE ist, einen schwierigen Gegenstand hat. 167 Gerade deswegen halte ich es für essentiell, den jeweiligen Kontext der Textpassagen im Auge zu behalten. Die NE hat m. E. eine strikte Abfolge von Argumenten, die aufeinander aufbauen, so dass man nicht ohne weiteres eine Aussage an einer Stelle als unterstützendes Argument an anderer Stelle verwenden kann. Ich meine, wenn man die jeweilige Argumentationsstruktur im Auge behält, lässt sich in der NE ein kohärenter Begriff von eudaimonia auffinden, so dass die verschiedenen Textpassagen der NE diesbezüglich nicht in den Widerspruch miteinander geraten. Kenny bemerkt, dass es bisher niemandem gelungen sei, eine Interpretation des ersten und letzten Buchs der NE zu leisten, die beiden Textpassagen Gerechtigkeit widerfahren hätte lasse, und zugleich beide Bücher als konsistent darzustellen. 168 Im Folgenden soll gezeigt werden, dass sowohl für die inklusive als auch für die dominante Position plausible Argumente sprechen, die nicht widerlegbar sind. Zugleich weisen jedoch auch beide Interpretationen Probleme auf, die innerhalb der jeweiligen Lesart nicht aufzulösen sind. Es wird zu zeigen sein, dass keines der vorliegenden Argumente den Widerspruch zwischen der Bestimmung von eudaimonia in NE I und NE X zufriedenstellend zu lösen imstande ist. 169 Allerdings haben verschiedene lectualism in Aristotle, In: Archiv für Geschichte der Philosophie 68.1 (1986), S. 70 und Kenny, Anthony: The Nicomachean Conception of Happiness, In: Kenny, Anthony (Hg.): Essays on the Aristotelian Tradition, Oxford: Clarendon Press 2000, S. 19. 167 Siehe Cooper, John M.: Contemplation and Happiness - A Reconsideration, In: Synthese 72.2 (1987), S. 191. 168 Siehe Kenny: Nicomachean Conception of Happiness, S. 28. 169 Es ist öfters vorgekommen, dass ein Gegenargument gegen die eine der beiden Positionen automatisch als Argument für die andere genommen wurde. So hat <?page no="55"?> 55 Autoren bereits gute Ansätze geleistet, um einen einheitlichen Begriff von dem zu entwickeln, was Aristoteles unter ‚gutes Leben‘ und eudaimonia verstanden hat. Darauf aufbauend werde ich einen eigenen Vorschlag entwickeln, wie der aristotelische Begriff von eudaimonia verstanden werden kann, ohne dass einzelne Stellen der NE in Widerspruch zueinander geraten. Dabei werden die Argumente, die sich in der folgenden Darstellung der Debatte als plausibel und nicht widerlegbar erweisen werden, als Ausgangspunkt genommen, um die übrig gebliebenen Widersprüche zu lösen. 3.8. eudaimonia: Die inklusive und dominante Interpretation Die inklusive Lesart von eudaimonia besagt, dass sie in der Ausübung mehrerer unabhängig voneinander verfolgten Aktivitäten besteht. Die inklusive Lesart von eudaimonia teilt sich in verschiedene Varianten, die entweder behaupten, dass eudaimonia alle Güter (Irwin, Price, Burnet) 170 , alle Güter, die von sich aus gut sind (Ackrill und darauf folgend Crisp) 171 , oder alle Tugenden (Keyt, Cooper, Roche, Whiting, White) 172 beinhalte. Um nur drei Beispiele zu nennen: Whiting argumentiert dafür, dass die ethischen Tugenden auf jeden Fall Bestandteil von eudaimonia sind, ganz gleich, welche Rolle theoria im Verhältnis zur eudaimonia einnimmt. 173 Crisp hat einen aretischen Inklusivismus entwickelt, demgemäß alle intrinsischen Güter in eudaimonia so enthalten sind, dass sie mit tugendhafter Aktivität gemäß des logos, also mit den Tugenden einhergehen. 174 Kenny einen Einwand gegen die dominante Lesart als ein Hauptargument vorstellt, das für die inklusive Interpretation spreche, siehe Kenny: Nicomachean Conception of Happiness, S. 23. Ähnlich verfährt Roche, der meint, weil die dominante Lesart unplausibel sei, bedürfe es einer plausiblen Theorie, die Buch zehn der NE mit der inklusiven Lesart versöhnt. Allerdings ist der Nachweis, dass ein Argument falsch ist, nicht unmittelbar gleichbedeutend mit dem Beweis der gegenteiligen Position. Siehe Roche, Timothy D.: Ergon and Eudaimonia in Nicomachean Ethics I - Reconsidering the Intellectualist Interpretation, In: Journal of the History of Philosophy 26.2 (1988), S. 194. 170 Siehe Irwin, Terence: Stoic and Aristotelian Conceptions of Happiness, In: Schofield, Malcolm und Striker, Gisela (Hg.): The Norms of Nature, Cambridge: Cambridge University Press 1986, S. 205-244; Price: Ethical Holism und Burnet, John: The Ethics of Aristotle, London: Methuen, 1900. 171 Siehe Ackrill: Aristotle on Eudaimonia und darauf folgend Crisp, Roger: Aristotle‘s Inclusivism, In: Taylor, C. C. W.(Hg.): Oxford Studies in Ancient Philosophy 12 (1994), S. 111-136. 172 Siehe Keyt, David: Intellectualism in Aristotle, In: Padeia 7 (1979), S. 138-157; Cooper: Contemplation and Happiness; Roche: Ergon and Eudaimonia; Whiting: Human Nature and Intellectualism und White: Aristotelian Happiness. 173 Siehe Whiting: Human Nature and Intellectualism, S. 95. 174 Siehe Crisp: Aristotle‘s Inclusivism, S. 119f. <?page no="56"?> 56 Und White stützt sich vor allem auf die Magna Moralia um zu zeigen, dass eudaimonia keinesfalls mit theoria gleichzusetzen sei. Vielmehr sei es ein „organized whole that is self-sufficient and final.“ 175 Da ich die letzte Variante, nach der eudaimonia alle Tugenden beinhalte, als die am schwersten zu widerlegende einschätze und sie sich zugleich mit den weitergehenden inklusiven Position teilweise überschneidet, soll sie im Folgenden hauptsächlich besprochen werden. Sie wird im Folgenden mit der inklusiven Lesart gleichgesetzt, Bezüge zu den anderen beiden Varianten werden eigens gekennzeichnet. Heinaman bemerkt zurecht, dass eine Widerlegung der beiden weitergehenden Varianten der inklusiven Interpretation von eudaimonia, denen gemäß eudaimonia aus allen oder allen intrinsischen Gütern besteht, leicht ist. 176 In NE I,6 bestimme Aristoteles eudaimonia eindeutig als tugendhafte Aktivität gemäß dem menschlichen logos. 177 Damit sei die Interpretation von eudaimonia, die alle oder auch nur alle intrinsischen Güter umfasse, ausgeschlossen. Dies erschließt sich nicht allein aus dem Resultat von NE I,6, sondern auch mit der Argumentation, warum tugendhafte Aktivität gemäß des menschlichen logos mit eudaimonia identisch sei. Demnach wird schließlich die optische Wahrnehmung, ein intrinsisches Gut, gerade nicht als Eigentümlichkeit des Menschen angesehen, da diese auch den dem Menschen untergeordneten Lebewesen der Tierwelt eigen sei. Augenlicht ist somit als notwendige Bedingung eudaimonia vorausgesetzt, ist jedoch kein integraler Bestandteil von ihr. Das Hauptargument der inklusiven Position stützt sich auf die Ableitung der tugendgemäßen Aktivität als Inhalt der eudaimonia aus dem ergon-Argument aus Buch I. 178 Wie bereits dargestellt entwickelt Aristoteles den Inhalt der eudaimonia aus dem ergon des Menschen: Wenn jede Tätigkeit und jede Sache eine bestimmte Eigentümlichkeit habe, müsse auch der Mensch ein solches ergon aufweisen. Dieses menschliche ergon bestehe in Aktivität gemäß dem logos. Die Seele sei in zweierlei Teile geteilt, in denen der logos eine Rolle spiele. Der eine Seelenteil sei der logos selbst, während der andere, das Strebevermögen, insofern nicht ohne logos ist, als es auf den logos zu hören imstande sei. Die menschliche Tüchtigkeit, das menschliche Gut sei somit die bestmögliche Aktivität gemäß des logos. Und so bestehe eudaimonia, so die inklusive Lesart, in der tüchtigen Aktivität gemäß der menschlichen Tugend, die aus einem ethischen und einem dianoethischen Element bestehe. 175 White: Aristotelian Happiness, S. 133f. 176 Siehe Heinaman, Robert: Eudaimonia and Self-sufficiency in the Nicomachean Ethics, In: Phronesis 33.1 (1988), S. 48. 177 Siehe Aristoteles: NE I,6, 1097b22-1098a23, RolfesA11f. 178 So z. B. Roche: Ergon and Eudaimonia. <?page no="57"?> 57 Dass die inklusive Position logisch aus dem ergon-Argument folgt, meinen u. a. Keyt, Roche, Ackrill. 179 Das Argument, dass die ethischen Tugenden genau so wie dianoethische dem ergon des Menschen entsprechen, gehe nicht nur implizit aus dem ergon-Argument hervor, es werde sogar von Aristoteles selbst explizit geäußert. Gemäß einer Stelle in Buch VI der NE seien sowohl praktische Klugheit, also eine dianoethische Tugend, als auch die ethischen Tugenden Äußerungen des menschlichen ergon. So zitiert Roche Aristoteles: „The ergon of man is performed in accordance with practical wisdom and moral virtue.“ 180 Die dominante Interpretation von eudaimonia besagt, dass Aristoteles eudaimonia mit einem bestimmten Gut identifiziert. Neben dieser unmissverständlichen Gemeinsamkeit gibt es aber innerhalb der Gruppe, die diese Position vertritt, eine wesentliche Differenzierung, die meines Wissens bislang nicht explizit gemacht wurde: Ein Teil der dominanten Interpreten sieht eudaimonia gleichbedeutend mit der Aktivität theoria oder mit dem Leben der theoria. Der andere Teil meint, dass das eine Gut, welches die eudaimonia ausmacht, in der Aktivität der Seele gemäß der Tugend bestehe, während das Leben der theoria für Aristoteles in eine Hierarchie von eudaimonia eingebettet sei, die daher als die beste eudaimonia gelte. Diese Gruppe von Forschern gehört zu der späteren Generation von dominanten Interpreten. Viele der Punkte, die die Vertreter der inklusiven Position an der dominanten auszusetzen haben, sind zwar für die erste Variante der dominanten Lesart zutreffend, die eudaimonia mit der Aktivität theoria oder dem Leben der theoria identifiziert, trifft aber nicht die spätere Variante, die eudaimonia als Aktivität der Seele gemäß der Tugend bestimmt. Vor allem ein wesentlicher Gegenstand der Kritik inklusiver Interpreten an der dominanten Lesart wird mit deren zweiten Variante stark modifiziert: Der ersten Variante der dominanten Lesart ist vorgeworfen worden, dass mit der Identifikation von eudaimonia mit theoria die Bestimmung des ersten Buches revidiert werde, da Aristoteles eudaimonia hier eindeutig mit Aktivität der Seele gemäß der Tugend, also, so die inklusiven Interpreten, mit den Aktivitäten gemäß ethischer und dianoethischer Tugenden identifiziere. Dieser Einwand trifft auf die zweite Art der dominanten Interpretation von eudaimonia nicht mehr zu. In der Debatte wurden diese beiden Varianten der dominanten Lesart bislang jedoch nicht unterschieden. Das gilt auf der einen Seite für Vertreter der inklusiven Lesart, die auch jenen Debattenbeiträgen, die in erster Linie gegen die inklusive Interpretation von eudaimonia gerichtet sind, die dominante Lesart der ersten Generation unterstellen, obgleich sie einen 179 Siehe Keyt, David: Intellectualism in Aristotle, S. 139f.; Roche: Ergon and Eudaimonia, S. 179-184 und Ackrill: Aristotle on Eudaimonia, S. 53-55 180 Roche: Ergon and Eudaimonia, S. 182 zitiert hier NE VI,13, 1144a6-7. <?page no="58"?> 58 sehr viel entwickelteren Ansatz haben. Zugleich unterlassen es jedoch auch die Vertreter der entwickelten dominanten Lesart, die Differenz ihres Ansatzes zu der Variante der ersten Generation dominanter Lesart klar herauszustellen. 181 Einige der dominanten Interpreten von eudaimonia zählen ohne zu differenzieren Vertreter beider Varianten auf und unterstellen damit ihre jeweilige Sichtweise als allgemeine, allen dominanten Interpreten gemeinsame Einschätzung. 182 Zwischen beiden Positionen gibt es jedoch substantielle Unterschiede, so dass viele der Gegenargumente der Vertreter einer inklusiven Lesart von eudaimonia bloß die frühere Generation der dominanten Position treffen, nicht jedoch die spätere Generation. Das Hauptargument für die frühe dominante Position ist das zehnte Buch der NE. Hier spricht Aristoteles von der besten/ vollendetsten eudaimonia (teleia eudaimonia), die in der Tätigkeit des Denkens, der theoria besteht. 183 Die meisten Vertreter der dominanten Position schließen daraus, dass eudaimonia letztlich in nur einem Gut, nämlich der Denktätigkeit bestehe. Die in Buch eins bis sechs der NE entwickelte Bestimmung von eudaimonia sei dementsprechend unabgeschlossen, da zuerst einmal die einzelnen Tugenden entwickelt werden müssten, um anschließend die beste unter ihnen mit eudaimonia zu identifizieren. Die folgenden Vertreter der dominanten Lesart sind der Ansicht, Aristoteles letzte Position sei es, dass das beste Gut eudaimonia identisch sei mit der ausgezeichneten Aktivität gemäß der sophia, der theoria: Grant, Hardie, Kenny, Eriksen, Adkins, Kraut und zuletzt Lear. 184 Grant meint, 181 Für den ersten Fall siehe White: Aristotelian Happiness, S. 114, Fußnote 11, der ausgerechnet Heinaman: Eudaimonia and Self-sufficiency, S. 35-41 fälschlicherweise als Beispiel für diejenigen anführt, die eudaimonia mit theoria gleichsetzen. Dabei formuliert Heinaman auf eben jenen Seiten sehr klar, dass er selbst eudaimonia mit der Aktivität der Tugend gleichsetzt: The conclusion of the function argument „is that eudaimonia is the exercise of virtue. Moral action is the exercise of virtue, so it counts as eudomania. Contemplation is the exercise of virtue, so it counts as eudaimonia.“ (Heinaman: Eudaimonia and Self-sufficiency, S. 37) Zugleich macht jedoch Heinaman seine Differenz zu anderen Vertretern der dominanten Lesart selbst nicht explizit. 182 Siehe Lear: Happy Lives, S. 2, der Kraut, Kenny und Heinaman als dominante Vertreter aufzählt, ohne die Unterschiede kenntlich zu machen. Siehe Kraut: Aristotle on the Human Good; Kenny, Anthony: Aristotle on the Perfect Life, Oxford: Clarendon Press 1992 und Heinaman: Eudaimonia and Self-sufficiency. Ähnlich verfährt Kenny: Nicomachean Conception of Happiness, S. 19. 183 Siehe Aristoteles: NE X,7, 1177a16-18, Rolfes, S. 248. 184 Siehe Grant, Alexander: The Ethics of Aristotle, Bd. 2, London: Longmans 1866, S. 336; Hardie: The Final Good, S. 301; Kenny: Happiness, S. 49; Eriksen, Trond B.: Bios Theoretikos - Notes on Aristotle’s Ethica Nicomachea X,6-9, Oslo: Universitetsforlaget 1976, S. 137; Adkins, Arthur W. H: Theoria versus Praxis in the Nicomachean Ethics and the Republic, In: Classical Philology 73.4 (1978), S. 297f.; Kraut: Aristotle on the Human Good, S. 39ff. und zuletzt Lear: Happy Lives, S. 5. <?page no="59"?> 59 „sophia, while producing happiness, is identical with it: but politikē is to happiness as means to end“ 185 ; Kenny denkt, „Aristotle seeks to show that happiness is identical with philosophical contemplation.“ 186 Hardie meint, Aristoteles verweise in NE I,6 mit der ‚besten Tugend‘ auf sophia und theoria in NE X,7. 187 Nach Adkins werden die in NE I,6 genannten Bedingungen in NE X,7 erfüllt, „so that the energeia of that (best) part (of man, i.e. nous) in accordance with its own arete must be eudaimonia. […] Theoria and eudaimania in the primary sense of the terms, then, are coextensive and co-variable.“ 188 ; Eriksen identifiziert eudaimonia mit der eudaimonia des Philosophen und meint, die Aktivität gemäß der ethischen Tugenden sei eudaimon zu nennen durch Instrumentalisierung für das bios theoretikos. 189 Kraut meint, Aristoteles verstehe unter Eudaimonia die Tätigkeit, die der Mensch mit Gott teile. Diese bestehe in theoria, da in der geistigen Tätigkeit die Nähe zu Gott offenbar werde. 190 Diese Annäherung an Gott durch theoria sei allerdings auch durch das Leben der ethischen Tugend erreichbar. Kraut meint damit, dass die ethischen Tugenden insofern auch eudaimonia seien, weil sie qua der für sie nötigen phronesis an der Aktivität Gottes teilhaben, wenn auch in einem geringeren Maße als theoria selbst. 191 Die Lebensweise der ethischen Tugend sei daher die zweitbeste eudaimonia, weil sie der phronesis bedarf, was den Menschen ebenfalls der Aktivität von Gott nahe bringe. 192 Somit meint auch Kraut, dass das beste Gut, eudaimonia ,mit theoria gleichzusetzen ist und die ethischen Tugenden durch ihren Bezug auf theoria eudaimonia seien. Hat Kraut in seinem Debattenbeitrag von 1989 vor allem darauf Wert gelegt, den zentralen Stellenwert der theoria und den von ihr abgeleiteten eudaimonischen Charakter des Lebens der ethischen Tugend darzulegen, betont Kraut zehn Jahre danach die Einheit der Tugenden und die Identität von eudaimonia mit der tugendhaften Aktivität gemäß des logos: „Aristotle never deviates from the idea that happiness consists solely in one type of good: virtuous activity of the rational soul.“ 193 Allerdings bestimmt Kraut eudaimonia immer noch von der Nähe zum Göttlichen her und interpretiert damit die ethische Tugend als eudaimonia durch ihren Bezug zur theoria. 194 Für Kraut ist also die Bestimmung von eudaimonia in 185 Grant: Ethics of Aristotle Bd. 2, S. 336, siehe auch Keyt: Intellectualism in Aristotle, S. 171. 186 Kenny: Happiness, S. 49. 187 Siehe Hardie: The Final Good, S. 301. 188 Adkins: Theoria Versus Praxis, S. 297f. 189 Siehe Eriksen: Bios Theoretikos, S. 137. 190 Siehe Kraut: Aristotle on the Human Good, S. 39ff. und 62ff. 191 Siehe Kraut: Aristotle on the Human Good, S. 58. 192 Siehe Kraut: Aristotle on the Human Good, S. 60-62. 193 Kraut: Aristotle on the Human Good - An Overview, S. 86. 194 Siehe Kraut: Aristotle on the Human Good - An Overview, S. 88f. <?page no="60"?> 60 NE I daher mit der in NE X kohärent, da die tugendhaften Aktivitäten ihren eudaimonischen Charakter aus ihrer Nähe zum Göttlichen gewinnen. Das dem göttlichen Leben nächste sei dabei das Leben der theoria, das zweitnächste das Leben der ethischen Tugend. Auf Kraut stützt sich schließlich Lear, der ebenfalls meint, Aristotle „does believe that the goodness of all human goods is explained by their being appropiately related to the single highest human good.“ 195 Auch Lear meint, die Einheit der tugendhaften Aktivitäten als eudaimonia sei durch die Nähe zur theoria gewährleistet. „Morally virtous action is, in Aristotle‘s account, a teleological approximation of contemplation“ 196 . Diese Forscher vertreten somit die Ansicht, dass Aristoteles eudaimonia im Sinne eines „strikten Intellektualismus“ verstehe. 197 Demgegenüber stehen die Anhänger der dominanten Interpretation der zweiten Generation: Heinaman und Kenny. 198 Diese Forscher vertreten eine Variante der dominanten Lesart, in der eudaimonia mit tugendhafter Aktivität identifiziert wird, während das Leben der theoria als die beste eudaimonia zu charakterisieren sei. Die Zweitrangigkeit des Lebens der ethischen Tugenden innerhalb von eudaimonia ist für diese Autoren kein Grund, den eudaimonischen Charakter der ethischen Tugenden von der theoria abzuleiten. Damit treffen viele der Einwände, die die inklusiven Vertreter gegen den strikten Intellektualismus formuliert haben, auf diese Variante der dominanten Lesart schlicht nicht mehr zu. Entwickelt hat diese Position vor allem Heinaman in seinen beiden Aufsätzen von 1988 199 und 2002 200 . Zugleich beharrt dieser Autor jedoch darauf, dass theoria die Tätigkeit gemäß der besten Tugend sei, wobei er bios als Tätigkeit einer bestimmten Aktivität des Lebens bestimmt. 201 Damit löst aber auch Heinaman nicht die scheinbar widersprüchlichen Bestimmungen von eudaimonia in NE,I und NE,X. Auf ihn aufbauend hat Kenny im Jahr 2000 seine Position überarbeitet. 202 Er meint nun nicht mehr, wie noch in seinem Aufsatz von 1969 203 , dass eudaimonia mit theoria gleichbedeutend sei. Vielmehr sei theoria die beste eudaimonia. 195 Lear: Happy Lives, S. 5. 196 Lear: Happy Lives, S. 5. 197 Ich übernehme diese Bezeichnung von Keyt: Intellectualism in Aristotle, S. 141. 198 Siehe Heinaman: Eudaimonia and Self-sufficiency und Kenny: Aristotle on the Perfect Life. 199 Siehe Heinaman: Eudaimonia and Self-sufficiency, S. 34, 35 und 37. 200 Siehe Heinaman, Robert: The Improvability of Eudaimonia in the Nicomachean Ethics, In: Oxford Studies in Ancient Philosophy 23 (2002), S. 100f. 201 Siehe Heinaman: Eudaimonia and Self-sufficiency, S. 32f. 202 Siehe Kenny: Nicomachean Conception of Happiness, S. 21f. 203 Siehe Kenny: Happiness, S. 49. <?page no="61"?> 61 3.9. eudaimonia: Die umstrittene Textstelle Die zentrale Textstelle für jeden, der in der Diskussion der Interpretation von eudaimonia Stellung bezieht, ist der Schluss, den Aristoteles im ersten Buch der NE aus der Besprechung des menschlichen ergon zieht. Aristoteles beendet sein Fazit des ergon-Arguments nämlich mit einem Nebensatz, der von der Mehrzahl der Vertreter der dominanten Lesart als Argument dafür genommen wird, dass die eigentliche Bestimmung von eudaimonia erst in NE X, mit der Erarbeitung der vollkommenen eudaimonia, vollständig erfolgt: „Das menschliche Gut ist der Tugend gemäße Tätigkeit der Seele, und gibt es mehrere Tugenden: der besten und vollkommensten Tugend gemäße Tätigkeit.“ 204 Da die Diskussion um diese Textstelle kreist, werde ich im Folgenden hauptsächlich diese umstrittene Passage als Ausgangspunkt nehmen, um die wesentlichen Argumente der Debatte darzustellen und zu beurteilen. Die meisten Vertreter der dominanten Lesart lesen diese Stelle so, dass Aristoteles im ersten Satzteil das menschliche Gut, also eudaimonia, mit der der Tugend gemäßen Tätigkeit der menschlichen Seele, also des logos, identifizieren würde, wenn es nur eine Tugend gäbe. Es gibt aber mehrere Einzeltugenden wie zum Beispiel Gerechtigkeit, Mäßigung, Weisheit. Der zweite Teil des Satzes besage daher, dass eudaimonia nicht mit der Aktivität gemäß aller Tugenden, sondern mit der der besten von ihnen zu identifizieren sei. Der zweite Teil des Satzes, der auf eine Unterscheidung der Tugenden untereinander Bezug nimmt, beziehe sich daher auf die Besprechung der der Tugend der sophia gemäße Aktivität des nous, nämlich theoria. Daher würde die Bestimmung der eudaimonia mittels des menschlichen ergon erst in Buch zehn zum Abschluss gebracht werden. In der Tat liest sich der erste Satz aus NE X,7 unmittelbar als Wiederaufnahme des obigen Zitats aus dem ersten Buch der NE: „Ist aber die Glückseligkeit eine der Tugend gemäße Tätigkeit, so muß dieselbe natürlich der vorzüglichsten Tugend gemäß sein, und das ist wieder die Tugend des Besten in uns.“ Das Beste in uns sei aber der Verstand, daher, so schließt Aristoteles, wird die „seiner eigentümlichen Tugend gemäße Tätigkeit die vollendete Glückseligkeit sein.“ 205 Somit, so die meisten Vertreter der dominanten Lesart, identifiziere Aristoteles eudaimonia mit der dem Leben der Tugend sophia gemäßen Tätigkeit theoria, und nicht mit arete überhaupt, wie man in Buch eins der NE noch annehmen könnte. So meint beispielsweise Cooper, dass Aristoteles hier eine bestimmte beste Tugend anspreche, die er in NE X mit der 204 Aristoteles: NE I,6, 1098a16-18, Rolfes, S. 12. 205 Aristoteles: NE X,7, 1177a11-17, Rolfes, S. 248. <?page no="62"?> 62 Tugend des nous, sophia, identifiziere. Somit identifiziere Aristoteles eudaimonia mit sophia und deren Aktivität, theoria. 206 Auch Adkins meint, dass Aristoteles in NE X die Definition der ‚besten und vollkommensten Tugend‘ wieder aufnimmt und mit sophia beantwortet, da dies die Tugend des Besten in uns, der Vernunft, sei. Theoria und eudaimonia seien somit übereinstimmend. 207 Kraut meint ebenfalls, dass der Halbsatz einen Gedankengang beginnt, der erst in NE X zu Ende gedacht werde: Es gebe eine beste Tugend, die endlich in NE X als sophia gekennzeichnet werde. 208 Lear meint, dass in NE X die Frage nach der besten Tugend beantwortet wird, die in dem fraglichen Halbsatz jedoch noch nicht begonnen, sondern allein vorbereitet werde. Allein retrospektiv könne man von NE X aus sehen, dass er im Halbsatz des ergon-Arguments die Grundlagen für das Argument lege, das in NE X eingelöst werde. 209 Auch Hardie, der als erster die Unterscheidung zwischen inklusiver und dominanter Interpretation von eudaimonia aufgebracht hat, meint, dass mit der vollkommensten Tugend in NE I,6 sophia gemeint sein müsse. 210 Auch Heinaman meint, dass teleion sich in der fraglichen Stelle in NE X,7 211 so auf eudaimonia bezieht, dass die Hierarchisierung gemeint ist, die in NE I,5 212 angedeutet wird, also die beste arete. 213 Er meint allerdings nicht, dass eudaimonia daher mit theoria oder dem Leben der theoria gleichzusetzen sei. Stattdessen bestimme der erste Teil des Satzes eudaimonia, der zweite Teil des Satzes beziehe sich aber auf die Unterscheidung innerhalb von eudaimonia. Heinaman stellt sich damit gegen alle bisherigen Interpreten der dominanten oder inklusiven Lesart, die allesamt die ‚beste und vollkommenste Tugend‘ als eine Charakterisierung von eudaimonia verstanden haben. Heinamans Interpretation dieser Textstelle ist fragwürdig, da damit Aristoteles die Unterscheidung von bester eudaimonia und zweitbester eudaimonia in der Form eines Urteils über eudaimonia überhaupt, also jenseits dieser Unterscheidung, ausdrücken 206 Siehe Cooper: Reason and Human Good, S. 100. 1987 revidiert Cooper sein Urteil und liest die Stelle als Argument für die inklusive Lesart. Siehe Cooper: Contemplation and Happiness. 207 Siehe Adkins: Theoria Versus Praxis, S. 297f. 208 Siehe Kraut: Aristotle on the Human Good - An Overview, S. 87f. 209 Siehe Lear: Happy Lives, S. 44f. 210 Siehe Hardie: The Final Good , S. 301. 211 Hier und jetzt folgend ist damit die oben zitierte Stelle in Aristoteles: NE X,7, 1177a16-17, Rolfes, S. 248 gemeint. 212 Hier und jetzt folgend ist damit die oben zitierte Stelle in Aristoteles: NE I,5, 1097a22- 24, Rolfes, S. 9 gemeint. 213 Siehe Heinaman: Eudaimonia and Self-sufficiency, S. 38. <?page no="63"?> 63 würde. Ein Argument für diese erklärungswürdige Ausdrucksweise hat Heinaman selbst nicht. 214 Kenny meint 1978 noch, dass Aristoteles in NE I eudaimonia mit einem einzigen dominanten Gut identifizieren würde, mit der Aktivität der besten Tugend. 215 Mehr als 20 Jahre später meint Kenny allerdings, dass im ergon-Argument in Buch eins der NE noch nicht entschieden wird, dass es eine Hierarchisierung der Tugenden gibt, dass ihr jedoch absichtlich Raum gelassen wird, um den Leser auf die spätere Identifikation von eudaimonia mit der Aktivität der besten Tugend der sophia vorzubereiten. 216 Kenny hält es daher, Heinaman folgend, für falsch, dass bereits hier vollkommenste Tugend mit sophia gleichgesetzt werde. Vielmehr werde hier ein Kriterium angesprochen, das erst später in NE X mit der Frage nach dem Inhalt der teleia eudaimonia beantwortet werde, nämlich der Tugend sophia. Kenny nennt auch verschiedene Indizien, die für eine enge Beziehung zwischen NE I und NE X sprechen. So bezieht sich Aristoteles in der Besprechung der Lebensweisen in NE I,3 217 auf die später, nämlich in NE X, folgende Besprechung des theoretischen Lebens. Andersherum nimmt er auch in NE X,6 218 Bezug auf das erste Buch der NE, wenn er es als eine Wiederholung kennzeichnet, dass Glückseligkeit in den tugendgemäßen Tätigkeiten besteht. Die inklusive Lesart interpretiert die Stelle „Das menschliche Gut ist der Tugend gemäße Tätigkeit der Seele, und gibt es mehrere Tugenden: der besten und vollkommensten Tugend gemäße Tätigkeit.“ 219 im Wesentlichen so, dass sich ‚vollkommenste Tugend‘ auf ein Gut bezieht, das alle Teile von eudaimonia beinhaltet. Die inklusive Lesart entwickelt ihre Interpretation dieser Textstelle in Abgrenzung zur dominanten Lesart. Wenn, wie die dominante Position im Wesentlichen besagt, mit ‚vollkommenste Tugend‘ die Tugend sophia gemeint sei und daher eudaimonia mit der Tätigkeit der sophia gleichgesetzt würde, stehe das im Widerspruch zu der im ergon- Argument entwickelten Bestimmung von eudaimonia. Demnach hätte Aristoteles erst mit Hilfe des menschlichen ergon das Argument entwickelt, dass eudaimonia in der tugendhaften Aktivität gemäß des logos bestehe und daher die Tugenden Elemente von eudaimonia seien, um gleich im Anschluss eudaimonia mit der Tätigkeit einer Einzeltugend 214 Kenny stimmt im Jahr 2000 Heinaman in der Interpretation dieser Stelle zu und hat damit dasselbe Problem wie er. Siehe Kenny: Nicomachean Conception of Happiness. 215 Siehe Kenny: The Aristotelian Ethics, S. 203. 216 Siehe hier und folgend Kenny: Nicomachean Conception of Happiness, S. 21-23. 217 Siehe Aristoteles: NE I,3, 1096a5, Rolfes, S. 6. 218 Siehe Aristoteles: NE X,6, 1177a10-11, Rolfes, S. 248. 219 Aristoteles: NE I,6, 1098a16-18, Rolfes, S. 12. <?page no="64"?> 64 gleichzusetzen. Ein solch grober Widerspruch innerhalb eines Satzes sei Aristoteles allerdings nicht zuzuschreiben. 220 Der Behauptung, dass der fragliche Halbsatz besage, dass im Falle einer Mehrzahl von Tugenden nur die beste und vollkommenste von ihnen mit eudaimonia zu identifizieren sei, begegnen die Vertreter der inklusiven Lesart mit einer alternativen Übersetzung des Adjektivs von ‚vollkommenste Tugend‘. Das griechische ‚teleiotaton‘ könne unabhängig vom Kontext sowohl mit ‚am meisten vollständig‘ als auch mit ‚am meisten vollkommen‘ (wie die hier zitierte Übersetzung von Rolfes lautet) wiedergegeben werden. 221 Die Vertreter der inklusiven Lesart argumentieren dafür, dass in diesem Falle jedoch ‚vollständig‘ die korrekte Übersetzung von teleiotaton sei. Außer des negativen Arguments, dass diese Bedeutung anders als die dominante Interpretation als ‚am meisten vollkommen‘ nicht gegen das ergon-Argument verstoßen würde, lassen sich die Argumente für diese Bedeutung von teleiotaton in zwei Bereiche aufteilen. Zum einen verweisen Vertreter der inklusiven Lesart auf eine sehr ähnlich klingende Stelle in der Eudemischen Ethik, in der teleiotaton explizit als das Ganze in einer Teil-Ganzes-Beziehung auftritt. 222 Auch Ackrill verweist auf diese Stelle der Eudemischen Ethik um die Bedeutung von teleiotaton in der umstrittenen Stelle der NE zu klären. 223 Allerdings hat der Verweis auf die Eudemische Ethik den Mangel, dass hier ein anderes Urteil ausgesprochen wird. In der zitierten Stelle geht es darum, dass die Gesamtheit der Tugend, also alle Tugenden, auf das gesamte Leben bezogen für eudaimonia vorhanden sein müssen. Eine Bestimmung von eudaimonia wie sie in der umstrittenen Stelle der NE vorgenommen werden soll, ist hier nicht beabsichtigt. Dieselbe Bedeutung in beiden Textstellen anzunehmen ist auch insofern problematisch, als Aristoteles schließlich in der Metaphysik dargestellt hat, dass er um die Mehrdeutigkeit von teleiotaton weiß. 224 Wenn er diese Mehrdeutigkeit in der umstrittenen Stelle der NE 220 Der Widerspruch der dominanten Interpretation dieses Nebensatzes mit dem aus dem ergon-Argument entwickelten Bestimmung von eudaimonia betonen z. B. Cooper, Ackrill und Keyt. Eine überzeugende Darstellung findet sich auch bei Roche. Siehe Cooper: Contemplation and Happiness, S. 200ff.; Ackrill: Aristotle on Eudaimonia, S. 54f.; Keyt: Intellectualism in Aristotle, S. 140 und Roche: Ergon and Eudaimonia, S. 178ff. 221 Aristoteles macht dies explizit in Aristoteles: Metaphysik, V,16, Bonitz, S. 113f.Siehe auch die obige Besprechung von telos. 222 So übersetzt Roche die fragliche Stelle in der Eudemischen Ethik: „And since eudaimonia was something complete and life is either complete or incomplete, and so also virtue (for it is whole [hole] on the one hand, but partial [morion] on the other), and the activity of what is incomplete is itself incomplete, eudaimonia must be activity of a complete life in accordance with complete virtue [arete teleian]“ (Roche: Ergon and Eudaimonia, S. 185; Klammern im Original) 223 Siehe Ackrill: Aristotle on Eudaimonia , S. 54. 224 Siehe Aristoteles: Metaphysik V,16, Bonitz, S. 113f. <?page no="65"?> 65 nicht klärt, dann bleibt die Frage, was das Wort an dieser Stelle bedeuten soll, gerade offen und kann nicht dadurch geklärt werden, dass er an anderer Stelle von der vollständigen Tugend redet. Deswegen kann Heinaman, der ansonsten gegen die Lesart von teleiotaton als ‚vollständig‘ argumentiert, ruhig zugeben, dass teleiotaton an jener Stelle der Eudemischen Ethik diese Bedeutung haben mag, was aber keine Rückschlüsse für dessen Bedeutung in NE I,6 225 zwingend macht. 226 Das andere Argument der inklusiven Position, warum teleiotaton an dieser Stelle mit ‚am vollständigsten‘ und nicht mit ‚am vollkommensten‘ übersetzt werden sollte, bezieht sich auf eine dem ergon-Argument vorausgehende Textstelle. 227 Um das ariston näher zu bestimmen, diskutiert Aristoteles drei Sorten von Zielen. Es gebe Ziele, die bloß gewählt werden, um ein anderes Ziel zu erreichen. Dann gibt es Ziele, die wegen sich selbst und im Hinblick auf ein anderes Ziel hin gewählt werden. Und drittens gibt es Ziele, die stets ausschließlich um ihrer selbst willen gewählt werden. Ein solches Ziel sei teleiotaton, ein Endziel „schlechthin vollendet“ 228 . Die Vertreter der inklusiven Lesart meinen, mit der Umschreibung ‚am vollständigsten‘ wolle Aristoteles genau das Gegenteil der dominanten Interpretation aussagen, nämlich dass alle Güter in eudaimonia enthalten sind. So argumentiert beispielsweise Ackrill, dass jedes dem obersten Gut untergeordnete Ziel daher für sich begehrenswert sei, da es ein Element von eudaimonia darstelle. 229 Und Keyt meint sogar, dass es die wesentliche Bedeutung dieser Textstelle sei, die Einordnung des bios theoretikos, und damit auch die Aktivität theoria und die Tugend sophia, als Elemente einer mehrere Elemente umfassenden eudaimonia darzulegen. Denn die Ziele, die Aristoteles dadurch charakterisiert, dass sie sowohl ihrer selbst willen als eines anderes Zieles wegen gewollt werden, seien die Leben der zuvor genannten drei Lebensweisen, von denen zwei in NE X besprochen würden. „The thrust of the entire passage is thus that theoretical activity, the activity of nous, is a subordinate end that is included as one component among others of the ultimate end, happiness.“ 230 Neben dem Aufzeigen des Widerspruchs der dominanten Position mit dem ergon-Argument ist diese Textstelle das wichtigste Argument für die inklusive Lesart. Heinaman argumentiert allerdings, dass die Ableitung der umstrittenen Bedeutung von teleiotaton in NE I,6 231 von der Bedeutung 225 Gemeint ist die Stelle Aristoteles: NE I,6, 1098a16-18, Rolfes, S. 12. 226 Siehe Heinaman: Eudaimonia and Self-sufficiency, S. 38 227 Siehe Aristoteles: NE I,5, 1097a25-b6, Rolfes, S. 9f. 228 Aristoteles: NE I,5, 1097a38, Rolfes, S. 10. 229 Siehe Ackrill: Aristotle on Eudaimonia , S. 46. 230 Keyt: Intellectualism in Aristotle, S. 169. 231 Gemeint ist die Stelle Aristoteles: NE I,6, 1098a16-18, Rolfes, S. 12. <?page no="66"?> 66 von teleion in NE I,5 232 genau ein Argument gegen die inklusive Lesart sei. 233 Nach seinem Verständnis besagt die Bedeutung von teleion in NE I,5 234 , dass eine Sache x dann mehr teleion als eine Sache y ist, entweder wenn x seiner selbst wegen gewählt wird und y immer einer anderen Sache wegen oder wenn x seiner selbst wegen gewählt wird und niemals einer anderen Sache wegen und y wegen seiner selbst und wegen einer anderen Sache. Mit anderen Worten: Ein Gegenstand ist dann mehr teleion, wenn er weniger Mittel für einen anderen Zweck ist und je eher er seinen Zweck in sich hat. Aristoteles nimmt Reichtum als Beispiel für einen Gegenstand, der stets um eines anderen Willen gewünscht wird 235 , und Ehre als Beispiel für einen Gegenstand, der seiner selbst wegen gewünscht wird, sich aber auch auf ein höheres Ziel beziehen kann 236 . Damit, so Heinaman, sei Ehre mehr teleion als Reichtum. Darüber, was in Ehre oder Reichtum alles enthalten ist, sei damit keine Aussage getroffen. 237 In der Tat ist im Argument des ‚schlechthin vollendeten‘ Endziels bloß enthalten, dass ein Endziel desto mehr teleion ist, je weniger es auf ein weiteres höheres Ziel bezogen ist. Dass heißt im Umkehrschluss aber keineswegs, dass in dem höheren Endziel diejenigen Ziele, die als Mittel auf es bezogen sind, enthalten sind. Tatsächlich spricht Aristoteles bezogen auf die Endziele überhaupt nicht von einem Verhältnis des Einschlusses mehrerer Gegenstände in einen anderen. Das Verhältnis, in dem sich die Objekte hier befinden ist eines von Zwecken, welcher Gegenstand auf einen weiteren als sein Ziel bezogen ist. Ein Rückschluss darauf, was in einem dieser Gegenstände enthalten sein mag, ist nicht möglich. 238 Der Bezug verschiedener Endziele aufeinander taugt also keineswegs dafür, die Bedeutung von ‚teleiotaton‘ zu klären. Die Vertreter der inklusiven Lesart lesen mehr in diese Textstelle hinein, als sie intendieren soll. Sie ist gar nicht darauf bedacht, zu thematisieren, ob alle Ziele im besten Gut enthalten sind oder nicht. Sie beinhaltet allein die Aussage, dass alle anderen Güter mindestens auch mal auf ein höheres Ziel bezogen sind und dass das beste Gut dieses Charakteristikum nicht teilt. Was eudaimonia alles umfasst, ob sie aus mehreren Elementen besteht oder bloß aus einem, ist dieser Textstelle gar nicht zu entnehmen. 232 Gemeint ist die Stelle Aristoteles: NE I,5, 1097a25-b6, Rolfes, S. 9f. 233 Siehe Heinaman: Eudaimonia and Self-sufficiency, S. 38. 234 In Aristoteles: NE I,5, 1097a30-b6, Rolfes, S. 10. 235 Siehe Aristoteles: NE I,5, 1097a27, Rolfes, S. 10. 236 Siehe Aristoteles: NE I,5, 1097b24, Rolfes, S. 10. 237 Siehe Heinaman: Eudaimonia and Self-sufficiency, S. 38. Kenny: Nicomachean Conception of Happiness, S. 21 stimmt diesem Einwand zu. 238 White meint ebenfalls, dass man aus dem Begriff des ‚Endziels schlechthin‘ keine Aussage über die Zusammensetzung von eudaimonia ableiten könne, ob sie als inklusiv oder dominant zu verstehen wäre. Siehe White: Aristotelian Happiness, S. 113. <?page no="67"?> 67 Cooper vertritt 1987 eine eigenwillige inklusive Position in der Debatte um die umstrittene Stelle in NE I,6, in der das menschliche Gut eudaimonia bestimmt wird als „der Tugend gemäße Tätigkeit der Seele, und gibt es mehrere Tugenden: der besten und vollkommensten Tugend gemäße Tätigkeit.“ 239 Anders als die anderen Interpreten insistiert Cooper darauf, dass eine Lösung gefunden werden müsse, die sowohl der Bestimmung von eudaimonia in NE I als alle Tugenden enthaltend gerecht wird, zugleich aber die offensichtliche Bezugnahme der vollkommensten Tugend auf sophia und die ihr entsprechende Tätigkeit theoria erklären kann. 240 Anders als die anderen Vertreter der inklusiven Position liest Cooper teleiotaton wie die dominanten Interpreten als ‚am meisten vollkommen‘. Cooper meint, dass die inklusive Lesart sowohl aus dem ergon-Argument folge, als auch von Aristoteles in drei verschiedenen Stellen in NE I explizit geäußert werde. 241 Wenn eudaimonia als „der Tugend gemäße Tätigkeit der Seele“ bestimmt werde, so müsse dieser Satz bereits mit dieser Prämisse aus dem ergon-Argument und den drei Textpassagen gelesen werden, die alle besagten, dass in eudaimonia alle Tugenden enthalten seien, wenn es mehrere von ihnen gebe. Um das teleiotaton in der ‚vollkommensten Tugend‘ aufzulösen verweist Cooper ebenfalls auf die vorhergehende Textstelle in NE I,5 242 . Hier spricht Aristoteles von drei verschiedenen Arten von Endzielen: Den niedrigsten, die bloß stets Mittel für andere Ziele sind; den mittleren, die sowohl eines höheren Ziels wegen, aber auch ihrer selbst wegen erstrebt werden; und schließlich dem schlechthin vollendeten Endziel, das man nur wegen seiner selbst erstrebt. Dieses Kriterium des Endziels schlechthin erfüllt nach Aristoteles eudaimonia. Cooper meint, dass Aristoteles diesen Gebrauch von teleion/ teleiotaton in NE X,7 auch auf die Tugend anwendet und damit jene Tugend bestimme, die stets ihrer selbst wegen gewählt werde: „Aristotle does precisely argue at some length (1177b1-4, 17-21) that the single virtue of philosophical wisdom is chosen for its own sake alone, and not, as like the practical virtues, chosen also for further goods it brings us.“ 243 Diese Hierarchie der Tugenden untereinander würde damit mittels der Formulierung ‚vollkommenste Tugend‘ im Schluss des ergon- Arguments in NE I,6 244 vorbereitet. Die umstrittene Stelle sei nicht die Identifikation von eudaimonia mit theoria oder sophia, sondern die Klarstellung, dass, wenn es mehrere Tugenden gebe, die beste und vollkommenste unter ihnen für eudaimonia nicht fehlen dürfe. Nach Cooper 239 Aristoteles: NE I,6, 1098a16-18, Rolfes, S. 12. 240 Siehe Cooper: Contemplation and Happiness, S. 200f. 241 Siehe Cooper: Contemplation and Happiness, S. 197-200 242 Gemeint ist die Stelle Aristoteles: NE I,5, 1097a28-b5, Rolfes, S. 10. 243 Cooper: Contemplation and Happiness, S. 200. 244 Gemeint ist die Stelle Aristoteles: NE I,6, 1098a16-18, Rolfes, S. 12. <?page no="68"?> 68 schließt Aristoteles das ergon-Argument mit dem Hinweis, man müsse gemäß aller Tugenden inklusive der besten unter ihnen tätig sein. 245 Anders als die anderen inklusiven Interpreten von eudaimonia meint Cooper also durchaus, dass ‚teleiotaton‘ sich auf die Tugend sophia bezieht. Allerdings sei damit nicht ausgesagt, dass eudaimonia mit theoria identisch sei. Vielmehr besage die umstrittene Stelle in NE I,6, dass alle Tugenden für eudaimonia nötig seien, inklusive der besten Tugend. Die in NE X,7 besprochene beste eudaimonia bedeute dem entsprechend nicht, dass sie erst hier vollständig, sondern dass sie hier am besten realisiert sei. Theoria sei wegen der in NE X,7 aufgezählten Kriterien die fortgeschrittenste Realisation von eudaimonia. Cooper folgt mit dieser Interpretation Keyt. 246 Cooper schließt, dass ‚beste eudaimonia‘ nur einen wesentlichen Bestandteil von eudaimonia, nämlich das bios theoretikos, bezeichnet und nicht die ganze eudaimonia. Coopers Interpretation ist problematisch. Erstens hat seine Interpretation, dass die Erwähnung der besten und vollkommensten Tugend in der umstrittenen Stelle in NE I,6 247 besage, dass zur eudaimonia die beste und vollkommenste Tugend unbedingt dazugehöre, den Mangel, dass sie die Form des Urteils ignoriert, in der auf die ‚beste und vollkommenste Tugend‘ Bezug genommen wird. Aristoteles identifiziert sie nämlich mit eudaimonia. Wie schon zuvor Heinaman sieht Cooper davon ab, dass eudaimonia, falls es mehrere Tugenden gibt, mit der Aktivität der besten und vollkommensten zusammenfällt. Cooper gibt kein dieser Textstelle inhärentes Argument, warum Aristoteles die Aussage, die beste und vollkommenste Tugend dürfe nicht fehlen, in der Form einer Gleichsetzung der besten und vollkommenen Tugend mit eudaimonia formuliert hat. Zweitens aber widerspricht sich Cooper in seinem Lösungsansatz von 1978 selbst. Seine Bestimmung von „beste eudaimonia“ als theoria, das ein Teil der ganzen eudaimonia sei, impliziert, dass in der anderen Alternative, im ethischen Leben, keine theoria und die korrespondierende Tugend sophia enthalten seien. Das widerspricht aber Coopers Lesart der umstrittenen Stelle in NE I,6, dass eudaimonia auf keinen Fall ohne sophia sein dürfe. Denn das ethische Leben gilt als eudaimonia und ist zugleich nach Coopers Lesart implizit ohne sophia. 245 „In other words, the result of considering what to say happiness is, if it turns out that there are more than one human virtue, is not to identify happiness with a single virtuous activity, that of the best virtue, but rather to emphasize the need for them all, including in particular the best one among them.“ (Cooper: Contemplation and Happiness, S. 202) 246 Siehe Cooper: Contemplation and Happiness, S. 206 und Keyt: Intellectualism in Aristotle , S. 179. 247 Aristoteles: NE I,6, 1098a16-18, Rolfes, S. 12. <?page no="69"?> 69 Curzer formuliert zu der Frage, wie die ‚beste Tugend‘ der umstrittenen Stelle in NE I,6 248 zu verstehen sei, eine Kritik an Coopers Interpretation und stellt zugleich einen eigenen Lösungsvorschlag vor, der die Diskussion m. E. entscheidend weitergebracht hat. 249 Curzer merkt kritisch an, dass die ‚beste und vollkommenste Tugend‘ in NE I,6 auf keinen Fall auf eine einzelne Tugend verweisen könne, wie Cooper 250 meint. Denn in der Stelle in NE I,5, in der Aristoteles von den verschiedenen Arten von Endzielen spricht und auf die die Vertreter der inklusiven Lesart als Argument für ihre Interpretation von teleiotaton verweisen, wird die Beziehung von Tugenden zur eudaimonia in einem Verhältnis bestimmt, die diese Lesart nicht zulässt. 251 Während eudaimonia das Endziel schlechthin sei, das stets nur seiner selbst wegen gewählt werde, sagt Aristoteles über ‚jede Tugend‘ , dass sie zwar auch ihrer selbst wegen gewählt werde, „doch wollen wir sie auch der Glückseligkeit willen in der Überzeugung, eben durch sie ihrer teilhaftig zu werden.“ 252 Jede Tugend wird also sowohl ihrer selbst wegen gewählt, als auch der eudaimonia wegen. Das widerspricht Coopers Hinweis, Aristoteles würde sophia als Tugend kennzeichnen, die stets ihrer selbst wegen und niemals einer anderen Sache wegen gewählt werde. 253 Curzer weist zurecht darauf hin, dass sich die beiden Stellen, in denen Cooper diese Bestimmung der besten und vollkommensten Tugend herausliest, voneinander unterscheiden. In NE X,7 254 kennzeichnet Aristoteles nicht die Tugend sophia als stets ihrer selbst wegen wählenswert, sondern die mit ihr korrespondierende Tätigkeit theoria. Die ‚beste und vollkommenste Tugend‘ in NE I,6 beziehe sich somit auf einen anderen Gegenstand als die Tugend sophia. Die von Curzer bei Cooper festgemachte und kritisierte Verwechslung von sophia und theoria trifft zugleich das grundlegende Argument für die Mehrzahl der dominanten Interpreten, die Bestimmung von eudaimonia in NE I,6 mit der Bestimmung der besten eudaimonia in NE X,7 zu verbinden. Denn auch die meisten von ihnen meinen wie Cooper, dass die Formulierung ‚vollkommenste Tugend‘ auf sophia verweise. In der Tat findet sich in NE X,7 keine Formulierung, die besagen würde, dass sophia die vollkommenste Tugend wäre. Zwar wird theoria als vollkommenste Tätigkeit bezeichnet, die Tugend sophia wird jedoch als „vorzüglichste Tugend“ 255 248 Aristoteles: NE I,6, 1098a16-18, Rolfes, S. 12. 249 Siehe Curzer: Criteria for Happiness. 250 In Cooper: Contemplation and Happiness, S. 199f. 251 Siehe Curzer: Criteria for Happiness, S. 429, Fußnote 22. 252 Aristoteles: NE I,5, 1097b1-5, Rolfes, S. 10. 253 In Cooper: Contemplation and Happiness, S. 200. 254 In den beiden Stellen Aristoteles: NE X,7, 1177b2-4, Rolfes, S. 249 und NE X,7, 1177b17-21, Rolfes, S. 250. 255 Aristoteles: NE X,7, 1177a12-14, Rolfes, S. 248; im griechischen kratisten arete nach Aristoteles: NE X,7, 1177a12-14, Wolf, S. 328. <?page no="70"?> 70 gekennzeichnet. Curzer meint, dass die dominante Interpretation, die eudaimonia mit sophia identifiziert, sowohl aufgrund dieser Differenz als auch wegen des bekannten Einwands, dass diese Lesart der „vollkommensten Tugend“ dem ergon-Argument widerspricht, nicht stimmen könne. 256 Curzer bietet eine eigene Lösung für die Interpretation der Formulierung ‚beste und vollkommenste Tugend‘ in NE I,6. Er negiert die Auffassung, die die meisten anderen Debattenteilnehmer beider Positionen vertreten, dass der erste Teil des Satzes die Zusammenfassung des ergon- Arguments sei und mit ‚beste und vollkommenste Tugend‘ im zweiten Satzteil die eudaimonia als inklusiv oder dominant charakterisiert werde. 257 Stattdessen meint, Curzer dass der ganze Satz nicht das ergon- Argument zusammenfasse, sondern die Kriterien wiederhole, die eudaimonia als bestes Gut erfülle. Mit der Umschreibung ‚beste und vollkommenste Tugend‘ rekurriere Aristoteles auf die in NE I,5 genannten Kriterien, die eudaimonia erfüllt, um das gesuchte beste Gut (ariston) zu sein: Genügsamkeit (autarkes) und Endziel schlechthin (teleios). Nach NE I,5 war eudaimonia das beste Gut, weil mit ihm das Leben keines weiteren mehr bedarf. Das, so Curzer, bedeute der Superlativ von ‚gut‘ in der umstrittenen Stelle. Und nach NE I,5 war eudaimonia das beste Gut, weil es schlechthin vollendet, Endziel schlechthin sei. Es sei auf kein weiteres Ziel mehr bezogen und würde stets seiner selbst wegen gewünscht. Das sei die Bedeutung von ‚am meisten vollkommen‘ in der umstrittenen Stelle von NE I,6. Somit wolle Aristoteles an der Stelle weder aussagen, dass die eudaimonia alle Tugenden umfasse, wie die inklusive Lesart argumentiert, noch wolle er sie mit einer bestimmten einzelnen Tugend, nämlich der sophia, identifizieren. Curzer selbst sieht ein Problem für seinen Lösungsvorschlag darin, dass die Textpassage von der ‚besten und vollkommensten Tugend‘ handelt und nicht, wie er die Aussage liest vom ‚besten und vollkommensten Gut‘. Allerdings ist das m. E. kein Mangel, sondern gerade der Fortschritt dieser Textpassage. Ansonsten würde das Urteil lauten, das menschliche Gut, also eudaimonia, ist, wenn es mehrere Güter gibt, das beste und vollkommenste Gut. Das wäre allerdings eine bloße Wiederholung des Arguments aus NE I,5. Ich meine allerdings, dass Aristoteles in dem umstrittenen Satz in NE I,6 das Resultat des ergon-Arguments über die Kriterien des besten Guts mit eudaimonia verknüpft. Curzers Ansatz bietet in dieser Hinsicht mehr, als er selbst entwickelt. Ich rekonstruiere auf Curzer aufbauend die Argumentation in NE I,6 folgendermaßen: Das ergon des Menschen besteht in „der Vernunft nicht 256 Siehe Curzer: Criteria for Happiness, S. 430. 257 Hier und folgend siehe Curzer: Criteria for Happiness, S. 431. <?page no="71"?> 71 entbehrender Tätigkeit der Seele“ 258 . Und gut ist, was dem ergon gemäß ausgeführt wird. 259 Eudaimonia, als Gut des Menschen, ist demnach die „der Tugend gemäße Tätigkeit der Seele.“ 260 Mit dieser Formulierung wiederholt Aristoteles wesentliche Resultate, die zuvor im ergon-Argument entwickelt wurden: Das menschliche Gut ist eine Aktivität der Seele, also eine Aktivität (und kein Zustand) und eine Sache der Seele (und keine des Körpers) und zwar - das ist das neue - auf tüchtige Art und Weise. Aus dem ergon-Argument wissen wir, dass der dem Menschen eigentümliche Teil der Seele gemeint ist, nämlich der logos. Damit ist eudaimonia, das Gut des Menschen bestimmt als Aktivität des logos gemäß der Tugend. Damit entspricht die Tugend in ihrer Allgemeinheit den Kriterien, denen eudaimonia auch entspricht: Mit ihr bedarf das Leben keines Weiteren mehr und sie ist Endziel schlechthin, ist nicht auf ein weiteres Ziel bezogen. Wenn der Mensch also mehrere Tugenden der Seele hat (also beispielsweise die Tüchtigkeit der Sehkraft oder der vegetativen Funktionen), dann ist eudaimonia mit der tugendhaften Aktivität jenes Teils der Seele identifiziert, der beste und vollkommenste Tugend genannt zu werden verdient, also der des logos. Damit ist nicht die Einzeltugend sophia gemeint, sondern generell die Tüchtigkeit des rationalen Seelenteils, auf den sich alle Einzeltugenden beziehen. Anstatt teleion und autarkes als Kriterien für die inhaltliche Bestimmung von eudaimonia zu nehmen, sollte man somit Curzer folgend darauf beharren, dass dies die Kriterien dafür sind, dass eudaimonia der Inhalt des besten Gutes (ariston) ist. Wenn Curzers Vermutung richtig ist, dass ‚beste und vollkommenste Tugend‘ sich auf diese beiden Kriterien beziehen, dann ist dieser Ausdruck nur das Resümee des nun ermittelten Inhalts der eudaimonia. Daher werden hier die Eigenschaften, die eudaimonia eigen sind, auf den Inhalt des menschlichen ergon übertragen. Die nicht vernunftlose Aktivität der Seele gemäß der Tugend muss damit auch Endziel schlechthin und autarkes sein. 261 Die umstrittene Stelle NE I,6 262 ist für sich nicht geeignet, den Streit um die dominante oder inklusive Lesart von eudaimonia positiv zu entscheiden, da die Entscheidung von der umstrittenen Bedeutung von 258 Aristoteles: NE I,6, 1098a6-7, Rolfes, S. 12. 259 Siehe Aristoteles: NE I,6, 1098a6-7, Rolfes, S. 12. 260 Aristoteles: NE I,6, 1098a16-18, Rolfes, S. 12. 261 Die Lesart, dass Aristoteles hier die Tugend des logos mit der Tugend anderer menschlicher Leistungen vergleicht, die dem Menschen zwar eigen, für ihn aber nicht charakteristisch sind, teile ich mit Roche: Ergon and Eudaimonia, S. 187. Diese Interpretation widerspricht nicht der Stelle in NE I,5, wonach ‚jede Tugend‘ sowohl ihrer selbst wegen gewählt wird als auch auf eudaimonia bezogen ist. (Siehe Aristoteles: NE I,5, 1097b1-5, Rolfes, S. 10) Denn wenn Aristoteles von ‚jeder Tugend‘ spricht, meint er damit eine einzelne Tugend wie Gerechtigkeit oder sophia. In NE I,6 ist aber Tugend überhaupt gemeint. 262 Siehe Aristoteles: NE I,6, 1098a6-7, Rolfes, S. 12. <?page no="72"?> 72 ‚teleiotaton‘ abhängt. Die Interpretationen dieses Satzes weisen bei beiden Positionen jeweils bedeutende Mängel auf. Jene dominante Lesart, die die vollkommenste Tugend mit sophia identifiziert, widerspricht dem ergon- Argument, dass eudaimonia in der der Tugend gemäßen Tätigkeit der Seele besteht. Aristoteles hätte somit innerhalb eines Satzes erst den Schluss aus ergon-Argument gezogen und es sogleich ohne ein weiteres Argument revidiert. Diese Lesart ist daher unplausibel. Die inklusive Lesart ist zwar mit dem ergon-Argument im Einklang, kann aber für ihre Lesart von teleiotaton kein positives Argument anführen, dass einer kritischen Betrachtung standhalten könnte. Sie nimmt die dem ergon-Argument vorausgehenden Textstelle um zu beweisen, dass teleiotaton hier im Sinne von „vollständig“ benutzt werden würde, womit dessen Bedeutung in der umstrittenen Stelle in NE I,6 fest stünde. Jedoch wird nirgendwo in der NE oder EE explizit gesagt, die eudaimonia sei eine Ansammlung aller Güter, darauf weist Heinaman in seinem Aufsatz von 2004 hin. 263 Stattdessen wird in der NE immer wieder darauf hingewiesen, dass eudaimonia in einem einzigen Gut, nämlich tugendhafter Aktivität, besteht. Heinaman 264 und ihm folgend Kenny 265 entwickeln die dominante Lesart weiter. Im Nebensatz der umstrittenen Stelle, die eudaimonia mit der ‚besten und vollkommensten Tugend‘ identifiziert, gehe es darum, was als beste eudaimonia gelte, während im Hauptsatz die Frage beantwortet würde, was zur eudaimonia zähle. Diese Lösung hat den Mangel, dass Heinaman zwei verschiedene Urteile postuliert, wo der Form nach nur eines vorhanden ist. Der Nebensatz bezieht sich schließlich auf denselben Gegenstand wie der Hauptsatz, nämlich eudaimonia. Dass im Nebensatz stillschweigend der zu bestimmende Gegenstand von „eudaimonia“ zu „beste eudaimonia“ gewechselt würde, kann nicht ohne weiteres angenommen werden. Von allen Interpretationen der Textstelle über die ‚beste und vollkommenste Tugend‘ ist die von Curzer am plausibelsten. Auf ihr aufbauend lässt sich ein schlüssiges Verständnis dieser Textstelle herstellen, das jedoch jenseits der Debatte um die inklusive oder dominante Lesart von eudaimonia ist: Weil die Tugend der menschlichen Seele das Gut für den Menschen ist, also eudaimonia, erfüllt die Aktivität der Tugend des logos die Kriterien des besten Guts. Die menschliche Tugend wird stets ihrer selbst wegen gewählt und mit ihr ist das Leben ohne Mangel. Die Lösung von Curzer hat auch den Vorteil, die Kriterien von eudaimonia in NE I wieder ihrem Zweck gemäß zu lesen, nämlich als Kriterien dafür, 263 Siehe Heinaman, Robert: The Improvability of Eudaimonia, S. 101. 264 Siehe Heinaman: Eudaimonia and Self-sufficiency, S. 38. 265 Siehe Kenny: Nicomachean Conception of Happiness, S. 22. <?page no="73"?> 73 dass eudaimonia der Inhalt des besten Gutes ist, anstatt sie als Bestimmung des Inhalts von eudaimonia zu nehmen. 3.10. eudaimonia: Ergebnis der Diskussion M. E. hat jede der jeweiligen Varianten von eudaimonia wichtige Bestimmung der eudaimonia geleistet, die zu würdigen sind. Zugleich hat die Debatte und die gegenseitige Kritik dazu geführt, dass die diese korrekten Bestimmungen begleitenden einseitigen Interpretationen größtenteils fallen gelassen wurden und sich die Positionen mehr und mehr angeglichen haben. 266 Welches positive Ergebnis liegt aus der bisherigen Analyse der Debatte um das Wesen von eudaimonia nun vor? Erstens umgeht die Lösung von Kraut, Heinaman und Kenny alle Mängel, die die anderen dominanten wie auch die inklusiven Interpretationen haben. 267 Nach diesen drei Autoren ist eudaimonia nur ein Gut, nämlich die (nicht vernunftlose) Aktivität der Seele gemäß der Tugend. Zugleich gelten alle einzelnen Tugenden und alle Tugendbereiche (dianoethische und ethische) als eudaimonia. Somit ist diese dominante Lesart nicht mehr in Widerspruch zu NE I. Obgleich Heinamans Interpretation des Urteils zur eudaimonia in NE I,6 problematisch ist, bringt seine Unterscheidung verschiedener Fragestellungen, die Aristoteles an verschiedenen Stellen beantworten will, viel Klarheit in die Debatte. 268 So differenziert Heinaman die Frage ‚Was ist die höchste Art von eudaimonia? ‘ von der Frage ‚Was gilt alles als eudaimonia? ‘ Die letzte Frage werde von Aristoteles in NE I beantwortet, die erste Frage in NE X,7-8. 269 In NE I wird m. E. genau ein Gut als bestes Gut identifiziert: eine nicht vernunftlose Aktivität der Seele gemäß der Tugend. Die gängigen inklusiven und dominanten Interpretationen weisen Mängel auf. Gegen die gängige dominante Lesart von eudaimonia muss darauf bestanden werden, dass eudaimonia nicht in theoria aufgeht. Und alle Tugenden zählen auch als eudaimonia. Zugleich muss gegen die inklusive Lesart eingewendet werden, dass es nur exakt ein bestes Gut gibt, nämlich tugendhafte Aktivität gemäß des logos. In dem Begriff dieses Guts ist auch nicht enthalten, dass alle tugendhaften Aktivitäten ausgeführt werden 266 Die letzte Aussage teilt auch Kenny: Nicomachean Conception of Happiness, S. 28. Die Debatte ist somit m. E. ein erfolgreiches Beispiel für Wahrheitsfindung im wissenschaftlichen Diskurs, in dem Fall das korrekte Verständnis eines Textes über die Auseinandersetzung konkurrierender Auffassungen. 267 Siehe Kraut: Aristotle on the Human Good; Heinaman: Eudaimonia and Selfsufficiency und Kenny: Nicomachean Conception of Happiness. 268 Siehe Heinaman: Eudaimonia and Self-sufficiency, S. 38. 269 Siehe Heinaman: Eudaimonia and Self-sufficiency, S. 37. <?page no="74"?> 74 müssten, vielmehr zählt jede Aktivität jeder Einzeltugend als eudaimonia. 270 Curzer hat zumindest teilweise zeigen können, dass die beiden Passagen NE I und NE X,7-8 unterschiedliche Kriterien aufweisen - oben wurde dies anhand des autarkes-Argument aufgezeigt. Curzer betont somit den Unterschied zwischen beiden Textstellen. Offen bleibt damit jedoch die Frage, wie Aristoteles in NE X,7 von einer vollendeten eudaimonia sprechen kann, wo doch bereits eudaimonia als das beste Gut bestimmt wurde. Aus dieser Frage gewinnt die dominante Lesart ihre Plausibilität, wonach eudaimonia gleichbedeutend mit theoria sei. Denn von der Eigenschaft des besten Gutes aus gedacht, muss dasjenige Gut eudaimonia sein, das letztlich am besten und vollkommensten von allen ist. Und wenn theoria ein eigenständiges Gut ist, dann muss nach NE X theoria das beste Gut sein. Aristoteles schließt die Besprechung der besten eudaimonia mit dem Resultat: „So ist denn die Glückseligkeit ein Denken.“ 271 Hier wird also doch in einem klaren Urteil theoria mit eudaimonia, und nicht nur mit der besten eudaimonia, identifiziert. Zudem, auch das ist ein Argument der dominanten Lesart, spricht Aristoteles in NE X,7 von der „teleia eudaimonia“, also der vollkommenen eudaimonia. Diese Formulierung kann man so lesen, dass erst hier die Bestimmung von eudaimonia zu ihrem Abschluss kommt. Wer hat jetzt recht, die gängige dominante Lesart, der gemäß eudaimonia mit theoria gleichzusetzen ist? Oder jene dominante Position, die in NE X,7-8 die Bestimmung der besten eudaimonia annimmt? Diesen wesentlichen Widerspruch hat die Debatte m. E. bisher nicht abschließend lösen können: In NE I ist das beste Gut unmissverständlich gleichbedeutend mit Aktivität gemäß der Tugend, also auch jeder Einzeltugend, die in den folgenden Büchern bestimmt werden. In NE X ist eudaimonia gleichbedeutend mit der der vorzüglichsten Tugend gemäßen Tätigkeit, theoria. Die Frage ist bisher unbeantwortet geblieben, ob und wie es möglich ist, dass eudaimonia einmal die Aktivität gemäß der Tugend überhaupt, und darin eingeschlossen aller Einzeltugenden ist, ein andermal die Aktivität einer bestimmten Einzeltugend. Anders formuliert besteht nach 270 Das ergon-Argument steht zwar im Widerspruch zu der dominanten Lesart von eudaimonia (mit Ausnahme der entwickelteren Variante von Heinaman und Kenny). Zugleich ist jedoch das ergon-Argument selbst kein Argument für die inklusive Lesart, wie Roche meint, siehe Roche: Ergon and Eudaimonia. In dieser Hinsicht hat Heinaman recht, wenn er meint, dass nichts im ergon-Argument besagt, dass für eudaimonia alle Tugenden vorhanden sein müssen. Vielmehr besagt das ergon- Argument bloß, was alles als eudaimonia zählt, nämlich Aktivitäten gemäß der ethischen wie der dianoethischen Tugenden. Dass alles vorhanden sein muss, besagt das ergon-Argument gar nicht. Diese Einsicht von Heinaman ist die Basis für meine eigene Lösung. Siehe Heinaman: Eudaimonia and Self-sufficiency, S. 37. 271 Aristoteles: NE X,7, 1178b23, Rolfes, S. 253. <?page no="75"?> 75 wie vor die Frage, wieso das beste Gut in NE I Aktivität der Seele gemäß der Tugend überhaupt ist, während in NE X das beste Gut in der theoria zu bestehen scheint. Nach NE I,1, kann es nämlich nur ein bestes Gut geben: „Wenn es nun ein Ziel des Handelns gibt, das wir seiner selbst wegen wollen, und das andere nur um seinetwillen, […] so muß ein solches Ziel offenbar das Gute und das Beste sein.“ 272 Auch mit der plausiblen Erklärung, dass Aristoteles in NE I und NE X,7-8 zwei verschiedene Objekte zum Gegenstand seiner Untersuchung hat, nämlich eudaimonia überhaupt auf der einen Seite und die beste eudaimonia auf der anderen Seite, ist dieser Widerspruch noch nicht gelöst. Das Problem kommt genau deswegen auf, weil in NE X das beste Gut, eudaimonia, eine Steigerung erfährt. Warum ist dann nicht dies das beste Gut überhaupt? Oder anders gefragt: Wie kann es ein bestes bestes Gut geben? Curzer hat einige plausible Argumente dafür formuliert, dass die Kriterien des Inhalts von eudaimonia in NE I und die für den Inhalt der besten eudaimonia in NE X unterschiedlich sind. Die genaue Beziehung zwischen beiden Bestimmungen ist allerdings noch nicht hinreichend geklärt. Ich meine, dass tatsächlich der Begriff von eudaimonia erst in NE X,7-8 zum Abschluss kommt. Zugleich besteht jedoch keine Notwendigkeit, NE I im Licht von NE X neu zu interpretieren. Und ich meine außerdem, dass beide Textpassagen einen wesentlichen Begriff von eudaimonia leisten, ohne einander zu widersprechen. 3.11. eudaimonia und das ganze Leben Die Besprechung der eudaimonia in NE I und NE X unterscheiden sich im Ansatzpunkt wesentlich darin, dass Aristoteles in NE X,7-8 verschieden Lebensweisen vergleicht, nämlich das Leben der theoria (bios theoretikos) und das Leben der ethischen Tugenden. Diese Lebensweisen sind der Bezug von eudaimonia auf das ganze Leben. Ich meine, dass Aristoteles diesen Bezug auf das ganze Leben als die vollendete Bestimmung von eudaimonia auffasst. In NE I abstrahiert Aristoteles noch von diesem Bezug, weil es ihm hier erst einmal darum geht, den Inhalt von eudaimonia ohne diese Bestimmung zu fassen. Der Bezug auf das ganze Leben bedeutet m. E. allerdings nicht, dass das ganze Leben von Anfang bis Ende in Sicht genommen wird - diese Herangehensweise hat Aristoteles in NE I,11 ausgeschlossen, da man so keinen Menschen glücklich nennen könne. 273 Es bedeutet vielmehr, dass die tugendhaften Aktivitäten stets in Perspektive auf das ganze Leben hin ausgeführt werden. Diese Perspektive bedingt die Notwendigkeit, zwischen verschiedenen Alternativen von Lebensweisen 272 Aristoteles: NE I,1, 1094a18-23, Rolfes, S. 1. 273 Siehe Aristoteles: NE I,11, 1100a33-b12, Rolfes, S. 18f. <?page no="76"?> 76 zu wählen. Und für diese Wahl werden nach Aristoteles die Kriterien für eudaimonia auf das ganze Leben angewendet. Dies stellt die Aktivitäten gemäß der Tugend in eine Hierarchie. In ihr wird in Bezug auf das ganze Leben ein bestes Gut ermittelt: theoria. Somit ist der vollendete Begriff von eudaimonia, die „vollendete eudaimonia“, eine eudaimonia, die ihre Kriterien bezogen auf die Lebensweise in einem ganzen Leben am besten erfüllt. Damit verwandeln sich in Bezug auf die bioi die Kriterien für das beste Gut aus NE I, erhalten teilweise einen anderen Inhalt und werden nicht mehr so streng ausgelegt wie noch in NE I,5. In Bezug auf die beste eudaimonia herrscht eher eine Beziehung des Komparativs als des Superlativs. Das Problem, das in der Debatte um die richtige Interpretation von eudaimonia m. E. noch nicht gelöst wurde, ist die Frage der Beziehung von eudaimonia zur vollendeten eudaimonia. Auf der einen Seite gibt es gute Argumente dafür, dass Aristoteles die Begriffsbestimmung von eudaimonia erst in NE X,7-8 vollendet. Dort spricht er von der vollendeten eudaimonia und identifiziert eudaimonia explizit mit theoria. 274 Zugleich hat Aristoteles in NE I bereits eine Begriffsbestimmung von eudaimonia gegeben, nämlich die nicht ohne Vernunft stattfindende Aktivität der Seele gemäß der Tugend. 275 Damit widersprechen sich die beiden Bestimmungen scheinbar. Im Streit um die inklusive oder dominante Interpretation von eudaimonia haben die wesentlichen Positionen versucht, eine von beiden Bestimmungen zugunsten der jeweils anderen zu relativieren. Ich meine, dass NE X,7-8 tatsächlich die Begriffsbestimmung von eudaimonia vollendet, indem Aristoteles eudaimonia auf die Lebensweise des ganze Lebens bezieht. In NE I bestimmt Aristoteles eudaimonia dementsprechend unvollständig ohne Bezug auf das ganze Leben. Er macht bereits in NE I deutlich, dass ein solcher Bezug zu ihrer vollständigen Begriffsbestimmung jedoch eigentlich dazugehört. Aristoteles meint nämlich in der Zusammenfassung des ergon-Arguments in NE I,6 explizit, dass es eine bestimmte Lebensweise ist, auf die Bezug genommen werden sollte, was er aber an dieser Stelle noch nicht getan hat. Erst fasst er das ergon-Argument dahingehend zusammen, dass „wir als die eigentümliche Verrichtung des Menschen ein gewisses Leben ansehen, nämlich mit Vernunft verbundene Tätigkeit der Seele und entsprechendes Handeln“ 276 . Das ergon des Menschen ist also demnach ein gewisses Leben (zoe). Anschließend fügt er noch hinzu, dass diese Tätigkeit allerdings für einen guten Menschen gut und recht zu geschehen habe, um dann in der vieldiskutierten Stelle zusammenzufassen: „das menschliche Gut ist der Tugend gemäße Tätigkeit 274 Siehe Aristoteles: NE X,7, 1178b23, Rolfes253. 275 So die umstrittene Stelle Aristoteles: NE I,6, 1098a7-18, Rolfes, S. 12. 276 Aristoteles: NE I,6, 1098a10-15, Rolfes, S. 12. <?page no="77"?> 77 der Seele“ 277 . In dieser Zusammenfassung fehlt allerdings der Bezug auf ein gewisses Leben, welches das ergon schließlich ist. Aristoteles bestätigt im Anschluss, dass es dieser Bestimmung mangelt, dass sie noch nicht auf das ganze Leben bezogen ist: „Dazu muß aber noch kommen, daß dies ein volles Leben hindurch dauert; denn wie eine Schwalbe und ein Tag noch keinen Sommer macht, so macht auch ein Tag oder eine kurze Zeit noch niemanden glücklich und selig.“ 278 Somit hat Aristoteles in NE I gemeint, dass das ergon ein bestimmtes Leben darstelle und dass daher die nicht ohne logos stattfindende Tätigkeit der Seele gemäß der Tugend auf das ganze Leben bezogen sein müsse. Was das genau heißt, ist an dieser Stelle nicht ausgeführt. Wie Aristoteles selbst schreibt, muss er erst einmal das beste Gut „zunächst nach den Grundlinien beschreiben und darauf diese im Einzelnen ausführen.“ 279 Um den Inhalt von eudaimonia auf das ganze Leben und damit eine bestimmte Lebensweise beziehen zu können, bedarf es erst einmal der Bestimmung dieses Inhalts. Allerdings spricht Aristoteles bereits in NE I,11 den Bezug von eudaimonia auf das ganze Leben an - ohne diesen Bezug bereits inhaltlich zu entwickeln. Aristoteles bezieht sich an dieser Stelle auf Solon, der dem wohlhabenden Kroesus ins Gesicht gesagt haben soll, dass dieser nicht der glücklichste Mann genannt zu werden verdient, sondern vielmehr ein gewisser Tellos, der zwar in bescheidenem, aber sicheren materiellen Verhältnissen gelebt habe und eines edlen Todes gestorben sei. Bei diesem könne man nämlich sicher wissen, dass ihm nicht Unglück widerfahren sei, was man von Kroesus nicht behaupten könne. 280 Aristoteles problematisiert die Vorstellung, der Bezug auf das ganze Leben müsse das Leben komplett von Beginn bis Abschluss beinhalten. Es erscheint Aristoteles absurd, wenn man keinen lebenden Menschen eudaimon nennen könne, weil diesem schließlich noch Missgeschicke widerfahren könnten. 281 Aristoteles nennt als Grund für diesen Widerspruch Solons falsche Identifikation von eudaimonia mit äußerem Wohlergehen. Mit dieser Gleichsetzung gerate die eigene eudaimonia tatsächlich in Abhängigkeit von äußeren Schicksalsschlägen, so dass man nicht wissen 277 Aristoteles: NE I,6, 1098a16-17, Rolfes, S. 12. 278 Aristoteles: NE I,6, 1098a18-21, Rolfes, S. 12. Wolf übersetzt die Stelle in NE I,6, in der Aristoteles das ergon mit einem gewissen Leben des logos identifiziert mit „wenn wir aber als die Funktion des Menschen eine bestimmte Lebensweise annehmen...“ (Aristoteles: NE I,6, 1098a10-15, Wolf, S. 56). Diese Übersetzung unterstützt mit dieser Interpretation den impliziten, aber noch nicht durchgeführten Bezug zu den Lebensweisen. 279 Aristoteles: NE I,6, 1098a21-23, Rolfes, S. 12. 280 Siehe White, Stephen A.: Sovereign Virtue - Aristotle on the Relation Between Happiness and Prosperity, Stanford: Stanford University Press 1992, S. 60f. White hat dieses Kapitel in seiner Monographie eingehend besprochen. 281 Siehe Aristoteles: NE I,11, 1100a33-b12, Rolfes, S. 18f. <?page no="78"?> 78 könne, ob man in der Zukunft noch glückselig genannt zu werden verdient. Mit Aristoteles‘ eigener Bestimmung von eudaimonia als tugendhafter Aktivität gemäß des rationalen Seelenteils sieht er sich dieses Widerspruchs enthoben. Denn das so bestimmte gute Leben sei so beschaffen, dass es „der Glücksgüter nur wie einer Zugabe bedarf, während für die Glückseligkeit die tugendhaften Handlungen entscheidend sind“ 282 . Weil eudaimonia damit an der eigenen Aktivität hänge, sei man von äußeren Einflüssen relativ unabhängig. Auch bei Solon wendet Aristoteles damit die Methode an, geehrten oder populären Meinungen einen Wahrheitsgehalt zuzusprechen, der jedoch erst bewiesen und von eventuellen Mängeln befreit werden muss. In Solons Fall ist es die Ansicht, dass das gesamte Leben in den Blick genommen werden muss, um einen Menschen eudaimon nennen zu können. Aber Solon irrt, wenn er meint, über Kroesus kein abschließendes Urteil vor dessen Tode fällen zu können, weil er fälschlicherweise äußere Güter wie Reichtum für das entscheidende Kriterium von eudaimonia begreift. Weil sie aber in der Aktivität des tugendhaft Handelnden bestehe, garantiere dies bereits eine Beständigkeit, die für das ganze Leben andauere. „Wenn aber wirklich, wie wir das vorhin besprochen haben, die Tätigkeiten es sind, die über das Leben entscheiden, so kann keiner, der glückselig ist, unglückselig werden, da er niemals Hassenswertes und Schlechtes tun wird.“ 283 Durch diese Kritik an der Solonschen Problematik übernimmt Aristoteles zugleich die Meinung, dass sich eudaimonia auf das ganze Leben beziehen müsse und unterstreicht damit die bereits im ergon-Argument angesprochene Perspektive, dass es notwendig für eudaimonia sei, dass sie „ein ganzes Leben lang dauert“ 284 . Aristoteles betont somit in Auseinandersetzung mit Solon den Aspekt, dass eudaimonia vollkommen ist, weil sie nicht nur punktuell auftrete, sondern auf das ganze Leben bezogen sein müsse. Für Aristoteles hindert ihn kein Argument daran, „als glückselig zu bezeichnen denjenigen, der gemäß vollendeter Tugend tätig und dabei mit äußeren Gütern ausgestattet ist, und das nicht bloß eine kurze Zeit, sondern ein ganzes, volles Leben lang.“ 285 Diese Bestimmung eines glückseligen Menschen ergänzt Aristoteles daher durch die Bestimmung, „daß er auch in Zukunft so leben und in diesen Verhältnissen sterben müsse“. 286 282 Aristoteles: NE I,11, 1100b9-12, Rolfes 18f. 283 Aristoteles: NE I,11, 1100b33-35, Rolfes19. 284 Aristoteles: NE I,6, 1198a19f., Rolfes, S. 12. 285 Aristoteles: NE I,11, 1101a14-17, Rolfes, S. 20. 286 Aristoteles: NE I,11, 1101a17-18, Rolfes, S. 20. Auch White meint, dass das ‚ganze, volle Leben‘ in sich nicht auf das Leben von Anfang bis Ende erstrecken müsse - unter anderem deswegen, weil Kinder nicht eudaimon sein könnten. Siehe White: Happiness and Prosperity, S. 100; siehe auch Aristoteles: NE I,10, 1100a1-5, Rolfes, S. 17. <?page no="79"?> 79 In NE I,11 verweist Aristoteles somit bereits darauf, dass eudaimonia nicht so auf das ganze Leben Bezug nehmen könne, dass die Sache von Anfang bis Ende in Betracht gezogen werde. Vielmehr ziele der Bezug auf das ganze Leben darauf, dass man auch in Zukunft ein Leben in tugendhafter Aktivität führen müsse. Somit finde der Bezug auf das ganze Leben nicht durch den Betrachter statt, der die eudaimonia einer Person beurteilt, sondern in demjenigen, der glückselig oder nicht glückselig genannt zu werden verdient. Über dieses Urteil entscheidet er mit seiner Lebensführung, durch die Reihe von einzelnen tugendhaften Aktivitäten, die er jedoch stets auf sein ganzes Leben bezieht und zwar so, dass es eudaimon genannt zu werden verdient. Die zur eudaimonia notwendige dazugehörige Bestimmung, dass sie sich auf ein ganzes Leben bezieht, ergibt sich somit durch die Perspektive des tugendhaft Handelnden auf das ganze Leben, die er bei jeder einzelnen tugendhaften Aktivität im Auge behält. Ich interpretierte sowohl zoe in NE I,6 als auch bios in NE X,7-8 als „Bezug auf das ganze Leben nehmend“. Das ist in der Forschung umstritten. So meint Cooper in seiner Monographie von 1975, bios bedeute in NE X,7-8 ‚Art und Weise, sein Leben zu führen‘. 287 Das sei der einzig mögliche Gebrauch von bios im Griechischen. Zoe dagegen könne in NE I,6 durchaus auch ‚Aspekt in einem Leben‘ bedeuten. Daher, so Cooper, seien die bioi in NE X,7-8 alternative Lebensweisen. Aristoteles würde hiermit notwendigerweise die Lebensweisen zweier verschiedener Personen beschreiben. Die beiden Lebensweisen schlössen sich aus. Keyt wendet sich gegen u. a. Cooper und meint, bios könne sehr wohl auch einzelne Aspekte des Lebens bezeichnen, so dass man die bioi durchaus gleichzeitig ausüben könne. 288 Beleg dafür sei die ‚Politik‘, wo verschiedene bioi die verschiedenen Arten der Subsistenzwirtschaft charakterisieren, die man durchaus auch gleichzeitig ausüben könne („so führen zum Beispiel die einen gleichzeitig ein Nomaden- und Räuberleben...“ 289 ). Heinaman bestreitet Coopers Lesart mit dem Argument, dass Aristoteles eudaimonia sowohl in NE I als auch in NE X mit einem bestimmtem Leben identifizieren würde. Die Stelle NE I,6, in der Aristoteles eudaimonia mit einem gewissen Leben (zoe) gemäß des logos bestimmt, zeige jedoch, dass Leben hier als „Art und Weise, zu leben“, also als Aspekt eines ganzen Lebens gemeint sei, nicht aber das ganze Leben selbst. 290 Ich behaupte, dass Aristoteles sowohl bios als auch zoe in den beiden Stellen in NE I,6 und in NE X,7-8 so benutzt, dass ein Bezug auf das ganze 287 Siehe Cooper: Reason and Human Good , S. 159-161. 288 Siehe Keyt: Intellectualism in Aristotle , S. 145. 289 Aristoteles: Politik I,8, 1256b4-5, Rolfes, S. 16. 290 Siehe Heinaman: Eudaimonia and Self-sufficiency, S. 32f. Kenny: Nicomachean Conception of Happiness, S. 19f. folgt dieser Einschätzung. <?page no="80"?> 80 Leben hergestellt wird. Allerdings heißt dies nicht, dass ein Leben von Anfang bis Ende ausschließlich von dieser Sache eingenommen werden müsste, oder dass sich das Leben eines Menschen bloß auf diese Sache richten sollte. Dass der Bezug auf das Leben die Betrachtung auf ein ganzes Leben von außen ist, also von Anfang bis Ende, hat Aristoteles in NE I,11 ausgeschlossen. Ich meine, dass der Bezug dadurch gegeben ist, dass diese Aktivität im Sinne des Handelnden für das ganze Leben eine herausragende Bedeutung hat. Somit wäre das Leben der Wahrnehmung und das Leben der Ernährung in NE I,6 Wege, sein Leben gemäß dieser Gegenstände einzurichten. Und auch das Leben gemäß des logos ist somit eine Art, sein Leben auf diese Sache hin auszurichten. 291 Price bespricht die Formulierung vom ganzen Leben ebenfalls und meint wie ich, der griechische Ausdruck bios teleios bedeute hier eindeutig ‚das vollständige Leben‘, also vom Anfang bis zum Schluss. Er meint daher, dass Aristoteles damit ausdrücken wolle, dass man alle Entscheidungen im Hinblick auf das ganze Leben treffen sollte, weil der Wert seines tugendhaften Charakters sich erst in der Gänze des Lebens zeige. Vor allem meint Price an dieser Stelle aber, dass die psychologische Annahme, man treffe alle Entscheidungen im Hinblick auf das ganze Leben, noch einer Erklärung bedürfe, die er selbst allerdings nicht gibt. 292 Ich meine, dass dies keine Annahme ist, sondern ein Schluss, der sich aus den anderen Argumenten u. a. aus NE I,11 zum ganzen Leben ergibt. Wenn sich der tugendhafte Charakter erst in der Gänze eines Lebens zeige, dann müssen die Entscheidungen auch auf das ganze Leben bezogen sein. In den anschließenden Büchern bespricht Aristoteles erst, was ‚nicht ohne logos stattfindende Tätigkeit der Seele gemäß der Tugend‘ genau bedeutet: Die Einteilung der Tugend in dianoethische und ethischen Tugenden und die abstrakte und konkrete Charakterisierung dieser Tugenden. Aristoteles führt also zunächst einmal aus, was die Tugend ist, ohne den Bezug ihrer Aktivität auf das ganze Leben herzustellen. Bis NE X,7-8 wird der Zusammenhang zum ganzen Leben nicht mehr besprochen. Das erste Indiz dafür, dass die vollendete eudaimonia die Anwendung der bisherigen Bestimmung von eudaimonia auf das ganze Leben ist, findet sich in der Besprechung der besten eudaimonia vorangehenden Stelle in NE X,6. Hier kündigt Aristoteles im Anschluss an die Besprechung der Freundschaft an, nun wieder auf eudaimonia zu sprechen zu kommen. Er verknüpft die Eigenschaft von eudaimonia, Tätigkeit des Menschen zu sein, mit dem Kriterium des besten Guts, Endziel schlechthin zu sein, das 291 In Aristoteles: Politik VII,1, 1323a19-23, Rolfes, S. 236 werden übrigens beide Ausdrücke, zoe und bios, synonym verwendet. In dieser Hinsicht stimmt Althoff mit mir überein. Siehe Althoff, Jochen: Zoe, In: Höffe, Otfried (Hg.): Aristoteles-Lexikon, Stuttgart: Kröner Verlag 2005, S. 614-616. 292 Siehe Price: Ethical Holism, 341f. <?page no="81"?> 81 nur seiner selbst wegen und niemals eines anderen Ziels wegen gewählt wird. 293 Dementsprechend erfüllt auch die Tätigkeit, die eudaimonia ist, das Kriterium des autarkes, keiner anderen Sache bedürftig zu sein. 294 Aristoteles stellt im Anschluss fest, dass die Unterhaltungen (oder das Spiel) nicht diesem Kriterium genügen, da der Zeitvertreib dazu dient, sich für die Arbeit auszuruhen. Dem Kriterium genügen vielmehr die tugendgemäßen Handlungen. Um das Leben lustigen Spiels als Kandidat auszuschließen betont Aristoteles, dass das tugendhafte Leben ein Leben ernsthafter Arbeit ist. Und da „das glückselige Leben ein tugendhaftes Leben zu sein“ 295 scheint, könne das Leben des Spiels nicht das Leben der eudaimonia sein. Damit hat Aristoteles die Struktur der folgenden Passage eingeleitet. In ihr wird es darum gehen, das ‚glückselige Leben‘ zu bestimmen. Dadurch hat Aristoteles zu dem für die vollständige Begriffsbestimmung von eudaimonia noch fehlenden Bezug auf das ganze Leben hingeführt. In Abgrenzung zum Leben eines Sklaven betont Aristoteles, worauf es dabei ankommt: Es geht darum, dass ein Individuum eine der eudaimonia entsprechenden Lebensform (bios) hat. 296 Aristoteles hat bereits im bisherigen Verlauf der NE entwickelt, welchen Inhalt eudaimonia hat: tugendhafte Aktivität. Wenn Aristoteles diese tugendhafte Aktivität nun auf eine Lebensform bezieht, also auf „die Art und Weise, wie ein Wesen seine Lebensvollzüge leistet und gestaltet“ 297 , dann ist der Blickwinkel der nachfolgenden Untersuchung die Ausrichtung der Lebensweise auf tugendhafte Aktivität hin. Es ist bereits klar, dass jede einzelne tugendhafte Aktivität wählenswert ist. Aber im Hinblick darauf, sein Leben auf tugendhafte Aktivität hin auszurichten, werden die einzelnen Aktivitäten zum ersten mal als Alternativen behandelt. Wenn man die Perspektive des ganzen eigenen Lebens einnimmt, stellt sich erstmals die Frage, welche von den tugendhaften Aktivitäten man am ehesten verfolgen solle. Da die Zeit begrenzt ist, stellt sich von selbst die Frage, auf welcher Aktivität man seinen Schwerpunkt setzen sollte - oder ob alle tugendhaften Aktivitäten evtl. gleich viel wert sind, so dass man keinen Schwerpunkt in den Aktivitäten, die man sucht, zu setzen braucht. Ich meine, dass dies die Frage ist, die für die Vervollständigung der Bestimmung von eudaimonia, der ‚vollendeten eudaimonia‘ maßgeblich ist. Sobald zum bisher entwickelten Begriff von eudaimonia die ihr inhärente Bestimmung, dass sie für das ganze Leben zu gelten habe, hinzutritt, besteht die Notwendigkeit, sich die Werthaftigkeit der tugendhaften Aktivi- 293 Siehe Aristoteles: NE X,6, 1176b1-5, Rolfes, S. 246. 294 Siehe Aristoteles: NE X,6, 1176b6-7, RolfesA246. 295 Aristoteles: NE X,6, 1177a2-3, Rolfes, S. 247. 296 Siehe Aristoteles: NE X,6, 1177a7-9, Rolfes, S. 247. 297 So Ricken, Friedo: Bios, In: Höffe, Otfried (Hg.): Aristoteles-Lexikon, Stuttgart: Kröner Verlag 2005, S. 98. <?page no="82"?> 82 täten untereinander zu betrachten und einen Schwerpunkt zu wählen. Es geht bei dieser Alternative also nicht darum, welche Aktivitäten man ausschließlich ausübt, sondern welche man am intensivsten sucht. Jedes Leben wird alle tugendhafte Aktivitäten beinhalten. Aber in der Frage, welche man besonders verfolgen will, muss man sich entscheiden. Aristoteles hat die Ethik als eine Wissenschaft bezeichnet, die den tugendhaften Menschen anleiten soll, gleich einem Schützen das Ziel besser zu treffen, indem man über es Bescheid weiß. 298 Diesem Bild entsprechend geht es bei Aristoteles vollendeter eudaimonia darum zu bestimmen, in welchem Jagdrevier sich überhaupt die besten Ziele befinden. Man soll alle tugendhaften Aktivitäten aktiv suchen, wenn sich aber die Alternative zwischen zwei Jagdgründen auftut, in denen verschiedene Arten von den Zielen, die man als lohnenswerte Beute kennt, in unterschiedlicher Quantität zu finden sind, ist natürlich der bessere von beiden zu wählen. In dieser Perspektive unternimmt Aristoteles nun die Untersuchung, welches die beste Aktivität ist und beginnt NE X,7 mit der Feststellung, dass, wenn eudaimonia in der Aktivität gemäß der Tugend besteht, es sich dann dabei um die vorzüglichste Tugend handeln muss. Aristoteles identifiziert eudaimonia hier also auf einmal mit der Aktivität gemäß der Tugend des Besten in uns, nämlich theoria. Diese Identifikation war hauptsächlicher Streitgegenstand in der Debatte um die inklusive oder dominante Interpretation von eudaimonia. Es stellt sich zurecht die Frage, wenn die eudaimonia hier mit theoria identifiziert wird, ob das die Bestimmung in NE I relativiert, der zufolge eudaimonia die nicht ohne logos stattfindende Aktivität gemäß der Tugend überhaupt ist. Ich meine, dass Aristoteles hier eine neue Ebene der Begriffsbildung beginnt, indem er eudaimonia auf das ganze Leben bezieht. In dieser Perspektive kann eudaimonia mit nur einer Aktivität identifiziert werden, ohne dass deswegen die bisherigen Bestimmungen - derzufolge alle tugendhaften Aktivitäten als eudaimonia gelten - negiert werden. Nach Aristoteles ist nun eudaimonia gleichbedeutend mit der der vorzüglichsten Tugend gemäßen Aktivität. Die vorzüglichste Tugend ist die Tugend des Besten im Menschen. Und das Beste im Menschen ist, so Aristoteles, das nous. Das nous ist jener Teil der Seele, der für das Auffassen der letzten Begriffe und Axiome zuständig ist, auf die wir beim Beweisen und Erklären unweigerlich stoßen. 299 Es vermag „das wesentlich Gute und Göttliche zu erkennen“ und sei „selbst auch göttlich oder das Göttlichste in uns“. 300 Wenn das nous also das beste im Menschen ist, da es für die Erkenntnis des Besten und Ersten zuständig sei, so sei „seine seiner 298 Siehe Aristoteles: NE I,1, 1094a23-24, Rolfes, S. 2. 299 Siehe Aristoteles: NE VI,6, 1140b31-1141a8, Rolfes, S. 137. 300 Aristoteles: NE X,7, 1177a15-17, Rolfes, S. 248. <?page no="83"?> 83 eigentümlichen Tugend gemäße Tätigkeit die vollendete Glückseligkeit.“ 301 Die eigentümliche Tugend des nous ist nach Aristoteles sophia, die ihr gemäße Tätigkeit die theoria. Theoria ist damit auch in der Metaphysik das ergründende Betrachten jener letzten Prinzipien: „Gibt es aber etwas Ewiges, Unbewegliches, Abtrennbares (Selbständiges), so muß offenbar dessen Erkenntnis einer betrachtenden Wissenschaft [theoria, J.S.] angehören.“ 302 In NE X,8 wird dieses Hauptargument wiederholt und näher ausgeführt, warum die Lebensweise der theoria die vollendete Lebensweise ist: Sie ist den Göttern näher, denn die Lebensweise der ethischen Tugend sei nur dem Menschen eigen, während die Aktivität der theoria den Göttern eigen sei. 303 In der Forschung wird das Problem diskutiert, ob diese Bestimmung des nous als eigentümliche Eigenschaft der Götter nicht der Ableitung der Tugend aus dem ergon des Menschen, nämlich seiner Vernunftbegabtheit, widerspricht. Allerdings ist dieser Widerspruch hinfällig, wenn man bedenkt, dass die den Menschen definierende Eigenschaft die Vernunft in einer Kreatur ist, die auch animalische und allgemein vegetative Vermögen und das Strebevermögen aufweist. So löst sich das Verhältnis der Vernunft bei den Göttern und bei den Menschen auf in einen „Gegensatz zwischen der Vernunft als einer isolierten Potenz und der Summe der menschlichen Fähigkeiten einschließlich der Vernunft als ihrem führenden Teil“ 304 , wie Allen es formuliert. Aristoteles identifiziert also über die aufs ganze Leben gerichtete Perspektive die Aktivität theoria mit eudaimonia. Wenn sie auf das ganze Leben bezogen wird, erfüllt sie alle Kriterien von eudaimonia aus NE I am besten. Der Begriff von eudaimonia ist damit vollendet, daher ist dies die vollendete eudaimonia (teleia eudaimonia). Im Anschluss führt Aristoteles alle Eigenschaften von eudaimonia wieder auf, nun allerdings auf jene tugendhaften Aktivitäten angewendet, die als eudaimonia gelten und auf das ganze Leben bezogen sind. 305 Die bei der Bestimmung von eudaimonia angewendeten Kriterien treten daher nicht mehr als absolute, sondern als relative Kriterien auf. Außerdem erhalten sie teilweise durch ihren Bezug auf das ganze Leben einen anderen Inhalt. Als Beispiel wäre das Kriterium des autarkes zu nennen. In NE I gilt autarkes noch als das, was sich selbst genügt, so dass das Leben keines weiteren mehr bedarf. 306 Hier wird das Kriterium des autarkes also von jenem Gegenstand erfüllt, mit dem dem Leben keine Sache mehr mangelt. 301 Aristoteles: NE X,7, 1177a16-18, Rolfes, S. 248. 302 Aristoteles: Metaphysik VI,1, 1026a10f., Bonitz, S. 126. 303 Siehe Aristoteles: NE X,8, 1178b22-24, Rolfes, 253. 304 Allan, D. J.. Individuum und Staat in der Ethik und der Politik des Aristoteles, In: Hager, Fritz-Peter (Hg.): Ethik und Politik des Aristoteles, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1972, S. 407. 305 Siehe Aristoteles: NE X,7, 1177a20-b27, Rolfes, S. 248-250 306 Siehe Aristoteles: NE I,5, 1097b7-20, Rolfes, S. 10f. <?page no="84"?> 84 In NE X,7 geht es Aristoteles um die Unterscheidung innerhalb der Aktivitäten, die als eudaimonia zählen, die also das Kriterium des autarkes aus NE I allesamt erfüllen. Das Leben kann also mit allen diesen Aktivitäten keinen Mangel mehr haben. Diesen Sinn von autarkes erfüllen alle tugendhaften Aktivitäten. Aber hier geht es um die Anwendung der Aktivität im Hinblick auf das ganze Leben und bezogen darauf kann eine Aktivität gleichwohl noch selbstgenügsamer sein als eine andere, nicht im Hinblick darauf, ob das Leben noch einer Sache mangelt, wenn man sie ausführt, sondern hinsichtlich dessen, was erforderlich ist, damit die Aktivität erst einmal ausgeführt werden kann. Solange es darum geht, das beste Gut überhaupt zu bestimmen, ist dieser Unterschied nicht von Belang. Aber sobald bestimmte Aktivitäten als Lebensform zur Alternative stehen, man also vor der Entscheidung steht, welche Lebensform man am aktivsten verfolgt, so ist jene Bedeutung von Selbstgenügsamkeit wichtig, die auf die Unabhängigkeit für ihr Zustandekommen von äußeren Gütern abzielt. Aristoteles‘ Vergleichsgegenstand, das Leben der ethischen Tugend, bedarf „vieler Dinge und bedarf ihrer desto mehr, je größer und schöner ihre Handlungen sind.“ 307 Dies gelte für die theoria nicht, sie bedarf keiner äußerer Güter oder anderer Menschen, um sie zu vollbringen. „Der Weise dagegen kann, auch wenn er für sich ist, betrachten, und je weiser er ist, desto mehr“ 308 . Die Abhängigkeit von äußeren Güter steigt also mit der Güte der Aktivitäten, die in der Lebensform der ethischen Tugend vor allem angestrebt werden, während diese Abhängigkeit in dem bios theoretikos mit der Zunahme von sophia abnimmt. Curzer hat die unterschiedlichen Bedeutungen des autarkes-Kriteriums in NE I und NE X,7 aufgezeigt. 309 Ich meine, dass das ins Verhältnis Setzen von eudaimonia zum ganzen Leben diesen Bedeutungswandel des Kriteriums der Selbstgenügsamkeit erklärt. Aristoteles zeigt also auf, inwiefern theoria verschiedenen Kriterien, denen eudaimonia unterliegt, besser entspricht als die ethischen Tugenden. Er schließt daraus über die theoria: „Und somit wäre dies die vollendete Glückseligkeit des Menschen, wenn sie außerdem noch die volle Länge eines Lebens dauert, da nichts, was zur Glückseligkeit gehört, unvollkommen sein darf.“ 310 An dieser Stelle macht Aristoteles m. E. explizit, dass die Hierarchisierung der tugendhaften Aktivität und die herausragende Stellung von theoria unter der Prämisse gilt, dass sie auf ein ganzes Leben bezogen ist. Wie bereits gezeigt wurde hat Aristoteles in NE I,11 festgestellt, inwiefern die von ihm bestimmte eudaimonia auf das ganze Leben bezogen ist. Dadurch, dass eudaimonia nicht im Wohlstand äußerer Güter besteht, 307 Aristoteles: NE X,7, 1178b2-3, Rolfes, S. 252. 308 Aristoteles: NE X,7, 1177a33-34, Rolfes, S. 249. 309 Siehe Curzer: Criteria for Happiness, S. 422-424. 310 Aristoteles: NE X,7, 1177b24-27, Rolfes, S. 250. <?page no="85"?> 85 sondern in einer Aktivität, weist das gute Leben eine Beständigkeit auf, die für das ganze Leben gilt. In NE X,7-8 wird dieser Bezug auf das ganze Leben explizit besprochen und dementsprechend geraten verschiedene Lebensformen in den Blick der Untersuchung. Aristoteles vergleicht also in NE X,7-8 die Lebensform der theoria mit der Lebensform der ethischen Tugend. Die Prüfung anhand der Kriterien von eudaimonia, die er dabei an die Aktivitäten anlegt, gelten von dieser Perspektive aus. Der Begriff von eudaimonia vollendet sich mit der Bestimmung der Form von eudaimonia, die auf ein ganzes Leben bezogen die Kriterien von eudaimonia am besten erfüllt. Diese eudaimonischste Lebensform sei damit die vollendete eudaimonia. Er kommt daher in seinem Fazit von NE X,7 im letzten Satz des Kapitels zu dem Schluss, dass die Lebensform der theoria das ‚glückseligste Leben‘ sei. 311 Das ist für Aristoteles die vollendete eudaimonia, der voll entwickelte Begriff von eudaimonia. Insofern identifiziert er sowohl zu Beginn des ganzen Abschnitts im ersten Satz von NE X,7 312 , als auch im Abschluss dieses Abschnitts im letzten Satz von NE X,8 313 eudaimonia überhaupt mit theoria. Auf dieser Ebene der Argumentation ist also tatsächlich das Leben der theoria gleichbedeutend mit eudaimonia. Das steht deswegen nicht im Widerspruch zu der in NE I gegebenen Bestimmung, der gemäß die Aktivitäten aller dianoethischen und ethischen Tugenden als eudaimonia gelten, weil dort die einzelnen Aktivitäten noch nicht als Lebensform auf das ganze Leben bezogen wurden. Jede Einzelhandlung dieser Aktivitäten ist immer noch eudaimonia, ist geboten und ist schön. Deswegen steht das Leben der ethischen Tugenden in NE X,7-8 auch an zweiter Stelle. Es ist eine Form von eudaimonia, denn auch es ist eine Reihe von Aktivitäten gemäß mehrerer Einzeltugenden, die auf das ganze Leben bezogen sind. Von einer Vollendung des Begriffs von eudaimonia, von der „vollendeten eudaimonia“ kann beim Leben der ethischen Tugenden allerdings nicht die Rede sein. Denn das eine Kriterium für eudaimonia erfüllt diese Lebensform nicht: Ihre Aktivität sind auf der Ebene der Lebensformen nicht so vollkommen wie theoria, auch wenn jede ihrer Einzeltugenden das beste Gut, eudaimonia ist. Dieser Mangel lässt diese Lebensform den Begriff von eudaimonia nicht abschließen. Sie ist zwar eine Lebensform von Aktivitäten, die als eudaimonia gelten, aber im Vergleich mit dem Leben der theoria ist sie weniger vollkommen. Die Klärung der Debatte um den Inhalt von eudaimonia und der Bezug zu den Einzeltugenden war notwendig, um den vorgenommenen Vergleich zwischen aristotelischer Gerechtigkeit und Marxschem Bewertungsmaßstab durchzuführen. Ich habe gezeigt, dass jene inklusive Lesart, der 311 Siehe Aristoteles: NE X,7, 1178a6-9, Rolfes, S. 251. 312 Siehe Aristoteles: NE X,7, 1177a12-13, Rolfes, S. 248. 313 Siehe Aristoteles: NE X,8, 1178b32-34, Rolfes, S. 253 <?page no="86"?> 86 gemäß das beste Gut automatisch alle anderen Güter mit einschließt, nicht plausibel ist. Dass alle Güter funktional auf das beste Gut bezogen sind, bedeutet für diese andersherum nicht, dass sie in der eudaimonia eingeschlossen wären. Damit sind auch die materiellen Güter als bloße Hilfsmittel und Vorbedingungen der eudaimonia eingeordnet, die zwar notwendig sind, jedoch nicht selbst als eudaimonia gelten. Jene dominante Lesart, die eudaimonia mit sophia oder theoria identifiziert, hat unrecht. Sowohl die Tätigkeiten der dianoethischen als auch die der ethischen Tugenden gelten als eudaimonia. Die Tätigkeiten der ethischen Tugenden sind also nicht erst abgeleitet von sophia/ theoria eudaimonia. Damit gelten auch gerechte Taten als eudaimonia, und zwar nicht nur so, dass sie zur sophia beitragen würde, sondern schon für sich. Die Klärung der Debatte hat gezeigt, dass Aristoteles innerhalb der NE einen kohärenten Begriff von eudaimonia hat. Die Bestimmungen in NE I und NE X,7-8 widersprechen sich nicht. Vollständig ist der Begriff von eudaimonia erst, wenn er sich auf das ganze Leben bezieht, indem in der Perspektive auf das ganze Leben eudaimonia verfolgt werde und damit ein Schwerpunkt gesucht wird, der den Kriterien von eudaimonia am meisten genügt. Die vollendete eudaimonia ist theoria. In Bezug auf die Lebensführung spricht Aristoteles der geistigen Lebensform theoria einen klar höheren Wert zu, als die Lebensform der ethischen Tugend. Zugleich gilt aber auch schon die Tätigkeit gemäß der Gerechtigkeit als ‚gutes Leben‘. Somit ist das in ihr vorgefundene unmittelbare Verhältnis der Individuen zu ihrer Gesellschaft zum guten Leben gehörig. <?page no="87"?> 87 4. Gerechtigkeit 4.1. Gerechtigkeit als ethische Tugend Nachdem Aristoteles eudaimonia als eine nicht ohne logos stattfindende Aktivität gemäß der Tugend bestimmt hat, stellt sich die Frage, was diese Tugend inhaltlich ist. Aristoteles bestimmt die ethische Tugend, also die gute Realisation des Strebevermögens, das auf den logos zu hören imstande ist, der Gattung und der Art nach. „Gattung ist was von mehreren und der Art nach verschiedenen Dingen bei der Angabe ihres Was oder Wesens prädiziert wird.“ 314 Die Art ist eine weitere Unterscheidung innerhalb einer Gattung. Sie gibt die spezifische Differenz an, die nicht in der Gattung ausgesagt ist. 315 Die Gattung der ethischen Tugend wird von Aristoteles in NE II,1-5 als Grundhaltung (hexis) bestimmt, die Art der ethischen Tugend in NE II,5 als Mitte (mesotes) zwischen zwei Extremen. Im Folgenden sollen diese beiden Bestimmungen kurz näher beleuchtet werden. Um die Gattung der ethischen Tugend zu bestimmen, untersucht Aristoteles in NE II,4 im Ausschlussverfahren drei verschiedene psychische Phänomene. Da wären einmal die Affekte, jene inneren Erscheinungen, die wie Zorn, Begierde oder Zuversicht mit Lust und Unlust zu tun haben. Wegen der Lust oder Unlust an sich werde man jedoch nicht getadelt oder gelobt, sondern insofern sie sich auf bestimmte Art und Weise in Handlungen niederschlagen. Außerdem habe man Furcht und Zorn nicht in der Hand. Tugend zeichne sich aber gerade dadurch aus, dass sie in einem notwendigem Verhältnis zur Selbstbestimmung stünde. 316 Als zweites psychisches Phänomen nennt Aristoteles das Vermögen, die oben genannten Affekte zu empfinden. Was für die Affekte selbst gilt, gelte aber erst recht für das Vermögen zu ihnen. Da kein Mensch gelobt oder getadelt werde, weil er einen bestimmten Affekt empfinden kann, könne dies auch keine allgemeine Bestimmung von Tugend sein. So bleibe nur das dritte Phänomen, die feste Grundhaltung (hexis) aufgrund derer man sich zu 314 Aristoteles: Topik I,5, 102a31, Rolfes, S. 7. 315 So auch Granger, Herbert: Aristotle and the Genus-Species Relation, In: The Southern Journal of Philosophy 18.1 (1980), S. 36-40. Dieses allgemeine Verhältnis von Gattung und Art soll für die vorliegende Untersuchung ausreichen. Ob, wie Dirlmeier meint, die Bestimmung von Gattung und Art darin aufgeht, dass ersteres die allgemeinere Bestimmung einer Sache ist und die Art eine weitere spezifische Differenz der Sache angibt, oder ob sie teilweise mehr beinhaltet, wie Granger argumentiert, kann hier nicht weiter untersucht werden. Siehe Dirlmeier in Aristoteles: NE, Dirlmeier, S. 311, Endnote 27. 316 Siehe Aristoteles: NE II,4, 1105b29-1106a7, Rolfes, S. 33. <?page no="88"?> 88 seinen Affekten richtig oder falsch verhält. 317 Übrigens garantiert diese feste Grundhaltung nach Aristoteles mit sehr hoher Sicherheit auch tugendhaftes Handeln, sobald die Grundhaltung einmal ausgebildet ist. Denn mit der festen Grundhaltung „hat es eine andere Bewandtnis als mit den Wissenschaften und Vermögen.“ 318 Bei ihnen sei es möglich, das Gegenteil zu tun. Bei festen Grundhaltungen ist das Gegenteil ausgeschlossen. Dass die ethische Tugend eine feste Grundhaltung ist, ist kohärent zu Aristoteles‘ voriger Darlegung in NE II,1-3, dass diese nicht durch Belehrung, sondern allein durch Gewohnheit auszubilden sei. Nur in der Wiederholung der Tätigkeit, so Aristoteles, werde man eine feste Grundhaltung (hexis) ausbilden. 319 Andererseits sei die feste Grundhaltung zur Tugend die beste Ausgangspunkt, um tugendhafte Aktivitäten zu vollbringen. „Durch die Enthaltung von sinnlichen Genüssen werden wir mäßig, und sind wir es geworden, so können wir uns ihrer am besten enthalten.“ 320 Die Bestimmung als feste Grundhaltung ist außerdem im Einklang mit dem Gegenstand der ethischen Tugend, der zuvor in NE I bestimmt wurde. Demnach war die ethische Tugend die tüchtige Aktivität jenes unvernünftigen Seelenteils, der imstande sei, auf den logos zu hören. Wenn er selbst nicht rational ist, so muss dieses Hinhören auf den logos zu allererst einmal zustande kommen. Einem irrationalen Seelenteil kann man jedoch nichts beibringen, man kann ihm höchstens durch Wiederholungen Verhaltensmuster angewöhnen. Diese Bestimmung der Gattung der ethischen Tugend als feste Grundhaltung (hexis) ist nicht unproblematisch. Denn wenn viele tugendhafte Handlungen nötig sind, um zu diesen Grundhaltungen zu gelangen, zugleich jedoch tugendhafte Aktivitäten das Resultat einer festen Grundlage zu ihr sind, so ist dies ein Zirkel. In NE II,3 gibt Aristoteles den Hinweis zur Auflösung dieses Zirkels. Zwar könne man gerechte und mäßige Werke verrichten, wie sie der Gerechte und der Mäßige verrichten, das allein mache jemanden aber noch nicht zu einem tugendhaften Menschen. 321 Denn damit ein Mensch, der tugendhaft handelt, auch ein tugendhafter Menschen genannt werden könne, müssten drei Vorbedingungen gegeben sein. Er müsse erstens wissentlich, zweitens mit Vorsatz die tugendhafte Aktivität drittens allein ihrer selbst wegen bezwecken wollen. 322 Es kann nach Aristoteles also durchaus jemand tugendhafte Taten vollbringen, ohne bereits die Tugend internalisiert zu haben. So sei man 317 Diese Lesart teile ich mit Urmson, J.O.: Aristotle‘s Doctrine of the Mean, In: Rorty, Amélie (Hg.): Essays on Aristotle‘s Ethics, Berkeley: University of California Press 1980, S.161-163. 318 Aristoteles: NE V,1, 1129a12-13, Rolfes, S. 100. 319 Siehe Aristoteles: NE II,1, 1103b7-26, Rolfes, S. 27. 320 Aristoteles: NE II,2, 1104a34-b1, Rolfes, S. 29. 321 Siehe Aristoteles: NE II,3, 1105b5-8, Rolfes, S. 32. 322 Siehe Aristoteles: NE II,3, 1105a28-b1, RolfesA32 <?page no="89"?> 89 beispielsweise durch die kundige Anleitung von Außen zu tugendhaften Taten zu bringen, die die feste Grundhaltung der Tugend festigen können. 323 Was heißt es, dass Aristoteles die ethische Tugend der Art nach als Mitte bestimmt? Aristoteles stellt in NE II,5 für jeden Gegenstand allgemein fest, dass die Tugend einer jeder Sache der Art nach das sei, was das, auf welches sie bezogen ist (oder die Ausübung des ergon) vollkommen macht. So mache beispielsweise die Tugend des Auges das Auge und seine Funktion gut, da es eine gute Sicht bewirkt. Also sei auch die Tugend des Menschen jene feste Grundhaltung, „vermöge dessen er selbst gut ist und sein Werk gut verrichtet.“ 324 Das sei dann die Art der ethischen Tugend. Wiederum ganz allgemein fragt Aristoteles, was eine Sache denn gut mache. Die Antwort ist, wenn sie genau die Mitte zwischen zwei falschen Extremen sei. Mitte sei hier allerdings nicht im arithmetischen Sinne gemeint. Aristoteles verteidigt hier also nicht das Prinzip, stets ein Mittelmaß einzuschlagen. Stattdessen soll das abstrakte Prinzip gemeint sein, dass es zwischen zwei Extremen exakt eine richtige Mitte gibt, und die zu treffen ist die Herausforderung. Jede Wissenschaft und Kunst ziele in diesem Sinne auf die Mitte. 325 Im nächsten Schritt schließt Aristoteles diese allgemeine Bestimmung, was eine Sache gut mache, sei seine Mitte, mit dem Gegenstand der ethischen Tugend zusammen: Die ethische Tugend, so Aristoteles in NE I,13, beziehe sich auf die Aktivität des Strebevermögens. Somit sei der Gegenstand, auf den sich die Mitte beziehe, Aktivität und Affekt. Und damit sei das, was die Affekte gut mache, dass sie die rechte Mitte zwischen ihren Extremen träfen. Man könne von einem Affekt zu viel oder zu 323 So argumentiert auch Wolf: Aristoteles‘ Nikomachische Ethik, S. 68f.Nach Derbolav würde man sich in einer weiteren Aporie wieder finden, wenn man mit der Angewöhnung der festen Grundhaltung durch Andere dieser Aporie zu entkommen suche. Denn wenn uns die Grundhaltungen zur Tugend von anderen beigebracht werden müssen, wie komme es dann, dass man für das tugendhafte Handeln verantwortlich zeichne? In der Tat hat Aristoteles in NE III,1-5 die Freiwilligkeit als Vorbedingung für die tugendhafte Aktivität gekennzeichnet. Er sieht diese Bedingung darin erfüllt, dass man den Anfang der festen Grundhaltung jeder Tugend selbst bestimmt habe. (Siehe Aristoteles: NE III,7, 1114a10-22, Rolfes, S. 57) Jede Einzelhandlung, die zu der festen Grundhaltung geführt habe, der gemäß man gegenwärtig handelt, liege in die Verantwortlichkeit des jeweils Handelnden. Dann jedoch stellt sich wiederum die Frage, wie die Grundhaltung zu tugendhaften Aktivitäten überhaupt zustande kommen soll und man ist wieder bei dem ursprünglichen Zirkel. Nach Derbolav ist diese Aporie nicht aufzulösen, solange eine Ethik nicht in der Freiheit des Individuums gründet. Siehe Derbolav, Josef: Von den Bedingungen gerechter Herrschaft - Studien zu Platon und Aristoteles. Stuttgart: Klett-Cotta 1980, S. 99-101 und 201. 324 Aristoteles: NE II,5, 1106a23f., Rolfes, S. 34. 325 Siehe Aristoteles: NE II,5, 1106a24-b8, Rolfes, S. 34f. <?page no="90"?> 90 wenig haben. „Dagegen diese Affekte zu haben, wann man soll, und worüber und gegen wen und weswegen und wie man soll, das ist die Mitte und das Beste, und das ist die Leistung der Tugend.“ 326 Genau so verhalte es sich mit den Handlungen. Übermaß und Mangel seien somit die allgemeinen Bestimmungen der Extreme, zwischen denen die Mitte der allgemeine Begriff der ethischen Tugend sei. Aristoteles hat sich in der NE nicht vorgenommen, einzelne tugendhafte Aktivitäten zu identifizieren, sondern die Tugenden selbst. Es wird also abstrahiert von Einzelhandlungen das Prinzip jeder Tugend benannt, dass sie die Tätigkeit eines Handlungsbereichs ist, der zwischen zwei Extremen das rechte Maß finden muss. Das rechte Maß wird nicht benannt und kann auf dieser Abstraktionsstufe nicht benannt werden. Das macht Aristoteles gleich zu Anfang des Abschnitts nochmals deutlich: Die Abstraktheit der Bestimmungen sei der Vielzahl menschlicher Handlungen adäquat. 327 Urmson fasst die abstrakte Bestimmung der ethischen Tugend zusammen als die in einer Aktivität realisierende Emotion, die im richtigen Maß zwischen zwei falschen Extremen geschieht. 328 Die allgemeine Bestimmung der ethischen Tugend, die feste Grundhaltung zu einer Aktivität zu haben, die die Mitte zwischen zwei Extremen darstellt, wendet Aristoteles auf die verschiedenen Affektbereiche an. So sei auf dem Gebiet von Furcht und Zuversicht jene feste Grundhaltung zu Aktivitäten, die zu den Extremen Tollkühnheit und Feigheit die Mitte darstelle, die ethische Tugend. Das sei die Tugend der Tapferkeit. 329 In diesem Schema zählt Aristoteles in NE II,7 verschiedene ethischen Tugenden auf. So sei beispielsweise Mäßigung die Mitte zwischen Zuchtlosigkeit und Stumpfsinn. Aristoteles‘ Übergang von der Bestimmung der eudaimonia als nicht ohne logos stattfindende Aktivität der Seele gemäß der Tugend zu den einzelnen Tugenden wie Tapferkeit und Gerechtigkeit wird in der Forschung als nicht notwendig kritisiert. So meint beispielsweise Cooper, dass Aristoteles kein Argument dafür anbringe, warum Gerechtigkeit, Mäßigung oder auch Weisheit Tugenden seien. 330 Adkins meint, der Inhalt der Einzeltugenden sei eine bloße Setzung. 331 Ackrill hält fest, dass die einzelnen Tugenden nicht aus dem Resultat der ergon-Argumentation hergeleitet sind. 332 Young meint, die Klugheit (phronesis) sei dafür zuständig, die Notwendigkeit nachzuweisen, warum Gerechtigkeit usw. überhaupt Tugen- 326 Aristoteles: NE II,5, 1106b22-24, Rolfes, S. 35. 327 Siehe Aristoteles: NE II,2, 1103b34-1104a11, Rolfes, S. 28. 328 Siehe Urmson: Doctrine of the Mean, S. 163. 329 Siehe Aristoteles: NE II,7, 1107a34-b1, Rolfes, S. 37. 330 Siehe Cooper: Reason and Human Good, S. 146. 331 Siehe Adkins: Ethics and Politics. 332 Siehe Ackrill, John: Introduction, In: Aristotle: Aristotle‘s Ethics, übersetzt von David Ross, Oxford: Oxford University Press 1998, S. 20. <?page no="91"?> 91 den seien. Eine Begründung sei aufgrund der aristotelischen Bestimmungen möglich, werde aber in der NE nicht durchgeführt. 333 Auch Wolf meint, dass die Tugenden nicht aus dem ergon abgeleitet würden und auch sonst keine eigenständige Begründung für ihr Dasein als Tugenden gegeben werde. 334 Allerdings muss zu Aristoteles‘ Verteidigung angemerkt werden, dass er nirgendwo behauptet, die Lehre von der Mitte oder das ergon- Argument seien ausreichend, um die einzelnen Tugenden vollständig zu bestimmen. Das Resultat aus der Analyse des ergon ist das Argument, dass eine Analyse der Tugenden zu folgen habe, da die ihr gemäßen Aktivitäten als eudaimonia gelten. Und mit der Bestimmung der ethischen Tugend überhaupt und damit auch jeder einzelnen ethischen Tugend als Mitte zwischen zwei Extremen hat Aristoteles nicht behauptet, ein Kriterium an der Hand zu haben, mit dem man Tugenden bestimmen könne. Vielmehr hat er damit eine allgemeine Bestimmung von Tugend gegeben. Dass er selbst den Anspruch hätte, aus dieser allgemeinen Bestimmung die Einzeltugenden abzuleiten, geht aus seiner Untersuchung nicht hervor. 335 Lawrence verweist auf die dialektische Methode des Aristoteles, um die Kritik an dieser Stelle zu relativieren. Bei der Bestimmung des besten Gutes zitiert Aristoteles den generellen Konsens, dass eudaimonia das beste Gut sei. Jedoch wie es das sei und was eudaimonia eigentlich beinhalte, das zu bestimmen ist die Leistung der NE. 336 Genau so verhalte es sich auch mit den Einzeltugenden. Kein Mensch würde auf die Idee kommen, ein Laster mit einer Tugend zu verwechseln. Die Auseinandersetzung findet stets darüber statt, ob die eine Aktivität als die jeweilige Tugend gelte oder nicht. So gilt beispielsweise für die (besondere) Gerechtigkeit, „daß eine 333 Siehe Young, Charles M.: Virtue and Human Flourishing in Aristotle’s Ethics, In: Depew, David J. (Hg.): The Greeks and the Good Life - Proceedings of the Ninth Annual Philosophy Symposium, California State University, Fullerton. Indianapolis: California State University 1980, S. 138f. 334 Siehe Wolf: Aristoteles‘ Nikomachische Ethik, S. 93. 335 Ein Punkt, der oft genannt wird, ist der Umstand, dass Aristoteles selbst einige Aktivitäten als rein schlechte kennzeichnet, die man daher auch nicht als Mitte zwischen zwei Extremen in diesem Sinne bezeichnen könne. (siehe Aristoteles: NE II,6, 1107a9-20, Rolfes, S. 36) Damit, so die Kritiker, leiste die Lehre von der Mitte nicht die zweifelsfreie Identifizierung der Tugenden. Wie Gould richtig bemerkt hat, nimmt Aristoteles hier allein Bezug auf Aktivitäten, die selbst durch Laster motiviert sind. Sie seien somit bereits durch die anderen Tugenden abgedeckt. Und wenn man die Extreme für sich betrachtet, so Aristoteles, dann gibt es keine Mitte. „Denn so bekämen wir eine Mitte des Zuviel und Zuwenig und ein Zuviel des Zuviel und ein Zuwenig des Zuwenig.“ (Aristoteles: NE II,6, 1107a20-22, Rolfes, S. 36f.) Siehe Gould, Thomas: The Metaphysical Foundations for Aristotle‘s Ethics, In: Anton, John und Kustas, George (Hg.): Essays in Ancient Greek Philosophy. Albany: Society for Ancient Greek Philosophy 1971, S. 459f., Fußnote 6. 336 Siehe Lawrence: The Function Argument, S. 468-473. Siehe auch Aristoteles: NE I,2, 1095a20-22, Rolfes, S. 4. <?page no="92"?> 92 gewisse Würdigkeit das Richtmaß der distributiven Gerechtigkeit sein müsse“ 337 , bloß was die Würdigkeit sei, darüber gingen die Meinungen auseinander. Jeder bezieht sich also positiv auf Tugenden und negativ auf Laster und kennt sie auch dem Namen nach. Jeder, so Lawrence, weiß um den positiven Charakter von Tugend, jeder weiß, dass er den Appetit beherrschen muss, um nicht selbst beherrscht zu sein, dass er auf dem Gebiet der Furcht, der Verteilung der Güter und der Lust und Unlust richtig und falsch handeln kann. Bloß wie das in der einzelnen Aktivität auszusehen hat, darüber gingen die Meinungen auseinander. 338 4.2. Allgemeine Gerechtigkeit Aristoteles räumt der Tugend Gerechtigkeit besonders viel Platz in seiner Untersuchung ein. Dadurch, dass sie sich auf andere bezieht, ist sie die die vollkommene Tugend (arete teleia). Neben dem allgemeinen Begriff Gerechtigkeit, die alle Tugenden beinhaltet, gebe es noch eine besondere Form von Gerechtigkeit, die sich neben die anderen einzelnen Tugenden einreiht. Die Charakterisierung der ethischen Tugenden als feste Grundhaltung gibt Aristoteles die Herangehensweise zur Bestimmung der Gerechtigkeit vor: Eine feste Grundhaltung habe ein festes Gegenteil. So wie die wiederholte gerechte Handlung einen zu einem gerechten Menschen mache, werde man ungerecht, wenn man stets ungerecht handele. Gerechte und ungerechte Handlung, also auch der gerechte und ungerechte Mensch, bezögen sich aber auf denselben Gegenstand. Das, was man als Gerechter missachtet, strebe man als Ungerechter an und umgekehrt. Daher will Aristoteles von dem ausgehen, was einen ungerechten Menschen kennzeichnet, um daraus zu schließen, was Ungerechtigkeit ist, und darüber den Inhalt von Gerechtigkeit zu bestimmen. 339 Aristoteles nimmt das, was den Ungerechten ausmacht, daher als Ausgangspunkt zur Bestimmung von Gerechtigkeit. Dabei geht Aristoteles wie so oft von dem aus, was allgemein als ungerecht gilt. Wie auch schon der Anfang der ganzen NE geht damit auch die Untersuchung der Gerechtigkeit von dem aus, was als richtige Meinung anerkannt ist. 340 Gerechtigkeit ist nach Aristoteles ein zweideutiger Begriff. 341 Die Bestimmung der beiden Formen von Gerechtigkeit nimmt ihren Ausgang bei dem, der als Ungerechter gilt. Einmal gelte als ungerecht derjenige, der die Gesetze missachtet (paranomos). Ein gerechter Mann wäre dement- 337 Aristoteles: NE V,6, 1131a25-28, Rolfes, S. 107. 338 Siehe Lawrence: The Function Argument, S. 471. 339 Siehe Aristoteles: NE V,1, 1129a7-27, Rolfes, S. 100f. 340 Siehe Aristoteles: NE V,2, 1129a32-b2, Rolfes, S. 101. 341 Siehe Aristoteles: NE V,2, 1129a27-32, Rolfes, S. 101. <?page no="93"?> 93 sprechend derjenige, der die Gesetze achtet, und das Gerechte entsprechend die Achtung der Gesetze. Auf der anderen Seite gelte als ungerecht, wer mehr haben will (pleonektēs) und damit die Gleichheit letze. 342 Gerechtigkeit ist demnach zweierlei: Einmal die Beachtung der Gesetze und zweitens die Beachtung der Gleichheit. „Das Ungerechte zerfällt in das Ungesetzliche und das der Gleichheit Widerstreitende, das Gerechte in das Gesetzliche und das der Gleichheit Entsprechende.“ 343 Die beiden Arten von Gerechtigkeit verhielten sich zueinander wie Teil und Ganzes. Die Beachtung der Gleichheit wird in der Forschung meist ‚besondere Gerechtigkeit‘ genannt, die Beachtung der Gesetze ‚allgemeine Gerechtigkeit‘. Nach der Bestimmung beider Formen soll die Beziehung zwischen beiden Arten der Gerechtigkeit nochmals genauer zur Sprache kommen. Was Gerechtigkeit als feste Grundhaltung zur Achtung der Gesetze heißt, führt Aristoteles im Folgenden weiter aus. Was Aristoteles später als allgemeine Gerechtigkeit kennzeichnet 344 , bestimmt er dadurch, dass er den einen Sinn von „ein Ungerechter“ als Ausgangspunkt nimmt. Der Ungerechte ist demnach derjenige, der das Gesetz missachtet. Damit sei es gerecht, das Gesetz zu achten. Und damit sei das Gerechte (dikaion) gleichbedeutend mit dem Gesetzlichen. Damit hat Aristoteles implizit den allgemeinen Begriff von Gerechtigkeit bestimmt. Allgemein gesprochen wäre Gerechtigkeit demnach die feste Grundhaltung, sich nach den Gesetzen zu richten. 345 342 Siehe Aristoteles: NE V,2, 1129a32-b2, Rolfes, S. 101. In der Übersetzung von Rolfes kommen drei verschiedene Arten des Ungerechten vor, nämlich neben dem Gesetzesmissachter und demjenigen, der mehr haben will, auch noch derjenige, der die Gleichheit missachtet. Meines Wissens ist Rolfes jedoch der einzige, der aus dieser Textstelle diese dritte Art des Ungerechten heraus liest. Alle anderen deutschen Übersetzer geben die Stelle grammatikalisch so wieder, wie sie inhaltlich Sinn macht - nämlich dass der Ungerechte auch als einer gilt, der mehr haben will, also die Gleichheit missachtet. Die Missachtung der Gleichheit wird in der Regel als Ergänzung des Mehr-haben-wollenden aufgefasst. Das ist im Zusammenhang mit Aristoteles‘ Argumentation schlüssig, denn Aristoteles spricht explizit von zwei Arten, gerecht und ungerecht zu sein. Siehe auch die Kritik von Gordon, John- Stewart: Aristoteles über Gerechtigkeit - Das V. Buch der Nikomachischen Ethik, Freiburg: Alber 2007, S. 39f., Fußnote 32 an der Übersetzung von Rolfes. 343 Aristoteles: NE V,5, 1130b7-9, Rolfes, S. 105. 344 Diese Formulierung übernehme ich von Rolfes, siehe Aristoteles: NE V,4, 1130a33-b6, Rolfes, S. 104. 345 Salomon weist darauf hin, dass das Gerechte und die Gerechtigkeit unterschiedliche Begriffe sind, siehe Salomon, Max: Der Begriff der Gerechtigkeit bei Aristoteles, Leiden: Sijthoff 1937, S. 5-8. Der Unterschied ist m. E. jedoch nicht groß: Das Gerechte bezeichnet den Gegenstand, auf den der Gerechte sein Streben richtet, während die Gerechtigkeit (nomima) die Tugend als feste Grundhaltung kennzeichnet, stets das Gerechte anstreben zu wollen. Es ist leicht, von einem auf das andere zu schließen. Implizit ist die Bestimmung damit abgeschlossen und Aristoteles selbst bezieht sich <?page no="94"?> 94 Die Meinungen darüber, mit was genau Aristoteles die allgemeine Gerechtigkeit identifiziert, gehen auseinander. In NE V,2 wird der Gegenstand der allgemeinen Gerechtigkeit als nomimos gekennzeichnet. 346 ‚Nomimos‘ ist ein substantiviertes Adjektiv von nomos. 347 Generell lässt sich ‚nomos‘ mit ‚Brauch‘ und ‚Konvention‘ genau so übersetzen wie mit ‚Gesetz‘. 348 Darüber, wie dieses Wort hier zu verstehen ist, gehen die Meinungen auseinander. Einige wie Bien, Rowe, Stewart, Wolf, Haacke sind der Meinung, ‚nomos‘ sei hier im weiteren Sinn zu verstehen und bezeichne somit soziale Normen überhaupt. 349 Darin sei das geschriebene Gesetz ebenso eingeschlossen wie beispielsweise Sitten, Bräuche oder religiöse Vorschriften. Dagegen meinen Burnet, Joachim und Gordon, dass Aristoteles sich hier nur auf das geschriebene Gesetz beziehe. 350 Die eingeschränkte Bedeutung von ‚nomos‘ und damit die Identifikation von dem Gerechten mit dem geschriebenen Gesetz erscheinen plausibel. Denn Aristoteles hat die Bedeutung dieses Begriffs in NE V,3 selbst erläutert: „Was nämlich von der gesetzgebenden Gewalt vorgeschrieben ist, ist gesetzlich, und jede gesetzliche Vorschrift bezeichnen wir als gerecht oder Recht.“ 351 Damit hat Aristoteles den Umkreis dessen, was nomos bedeuten kann, auf die in den Gesetzen niedergeschriebenen Vorschriften eingegrenzt. Das deckt sich im Übrigen mit der allgemeinen Verwendung von ‚nomos‘ bei Aristoteles. 352 auf diese Form des Gerechten umstandslos im Anschluss an seine Ausführungen als eine der beiden zuvor genannten Gerechtigkeiten. Und da kein Zweifel darüber besteht, dass die besondere Gerechtigkeit, diejenige, die Teil der ganzen Gerechtigkeit ist, die Beachtung der Gleichheit ist, bleibt nur die Beachtung des Gesetzes als feste Grundhaltung als Bestimmung der allgemeinen Gerechtigkeit. Gordon problematisiert daher die Identifikation von Befolgung der Gesetze mit der allgemeinen Gerechtigkeit m. E. zu Unrecht, siehe Gordon: Aristoteles über Gerechtigkeit, S. 41ff. 346 Siehe Aristoteles: NE V,2, 1129a32-b2, Rolfes, S. 101. 347 So Gordon: Aristoteles über Gerechtigkeit, S. 41f. 348 Siehe Kauffmann, Clemens.: Nomos, In: Horn, Christoph und Rapp, Christof: Wörterbuch der Antiken Philosophie, München: Verlag C.H. Beck 2008, S. 292. 349 Siehe Bien, Günther: Gerechtigkeit bei Aristoteles, In: Höffe, Otfried (Hg.): Aristoteles: Nikomachische Ethik, Berlin: Akademie-Verlag 2006, S. 136; Broadie, Sarah: Commentary, In: Aristotle: Nicomachean Ethics, übersetzt von Christopher Rowe, Oxford: Oxford University Press 2002, S. 337; Stewart, John A.: Notes on the Nicomachean Ethics of Aristotle, Nachdruck von 1892 , New York: Arno Press 1973, S. 173; Wolf: Aristoteles‘ Nikomachische Ethik, S. 98 und Haacke, Stefanie: Zuteilen und Vergelten - Figuren der Gerechtigkeit bei Aristoteles, Wien: Turia und Kant 1994, S. 22. 350 Siehe Burnet: The Ethics of Aristotle, S. 207; Joachim, Harold: The Nicomachean Ethics - A Commentary by the Late H. H. Joachim. Oxford: Clarendon Press 1955, S. 130 und Gordon: Aristoteles über Gerechtigkeit, S. 41f. 351 Aristoteles: NE V,3, 1129b13-15, Rolfes, S. 102. 352 Siehe Geiger, Rolf: Nomos, In: Höffe, Otfried (Hg.): Aristoteles-Lexikon, Stuttgart: Kröner Verlag 2005, S. 377-381. <?page no="95"?> 95 Die Beachtung der Gesetze als feste Grundhaltung ist demnach eine eigene Tugend, nämlich die der Gerechtigkeit. Im Vergleich zu den anderen Tugenden fällt zweierlei auf. Auf der einen Seite wird diese Tugend der Gerechtigkeit im allgemeinen Sinne nicht als Mitte zwischen zwei Extremen charakterisiert. Zugleich benennt Aristoteles einen Grund, warum die Beachtung der Gesetze eine Tugend darstelle: „Der größte Teil der Gesetzesvorschriften nämlich betrifft Handlungen der ganzen Tugend. Denn das Gesetz gebietet, im Leben jede Tugend zu üben und verbietet, irgendwelchem Laster Raum zu geben.“ (NE V,5,1130b23-25,RolfesA105) Dass die Gesetze die Tugenden gebieten folgt bereits aus der Bestimmung der Tugend als feste Grundhaltung, die man sich angewöhnen muss. Denn um die feste Grundhaltung zu erlangen, muss man die tugendhafte Aktivität wiederholen, bevor man bereits selbst ein tugendhafter Mensch ist. Diese erzieherische Aufgabe sei die Funktion der Gesetze. Damit ist die eudaimonia der Bürger abhängig vom Inhalt der Gesetze. 353 Indem Aristoteles die allgemeine Gerechtigkeit als Grundhaltung zur Achtung der Gesetze bestimmt, bezieht er die Gerechtigkeit des handelnden Subjekts, mit der er angefangen hat, auf die objektive Ordnung desjenigen, der gerecht handeln soll. Es drängt sich unmittelbar die Frage auf, ob diese Bestimmung für jede Ordnung und für jedes schriftlich fixierte Recht gelte, oder ob die Achtung der Gesetze sich auf eine bestimmte Ordnung bezieht. Anders gesagt: Ist Gerechtigkeit damit die Bewertung der Handlung einer Person unter dem Maßstab der Gesetze, ganz gleich, welchen Inhalt diese Gesetze haben? Auch wenn Aristoteles an anderer Stelle die verschiedenen Gesetze beurteilt, würde er dennoch die Befolgung auch schlechter Gesetze als Aktivität gemäß der Tugend bezeichnen, also als eudaimonia. In NE V,3 geht Aristoteles auf die unterschiedlichen Nutznießer der Gesetze ein: „Die Gesetze handeln aber von allem, indem sie entweder den allgemeinen Nutzen verfolgen, oder den Nutzen der Aristokraten oder den der Herrscher, mögen sie dies dank ihrer Tugend oder sonst einer auszeichnenden Eigenschaft sein.“ 354 Aristoteles formuliert daraufhin, dass alles, was in der staatlichen Gemeinschaft auf eudaimonia zielt, gerecht sei, und zeigt anschließend auf, dass die Gesetze tugendhafte Taten gebieten und lasterhafte Taten verbieten. Diese Stelle wird von einigen Forschern so interpretiert, dass Aristoteles hier explizit die Gerechtigkeit mit der festen Grundhaltung zur Erfüllung jedweder Gesetze gleichsetze. Ganz gleich, wer den Nutzen aus den Gesetzen ziehe, die Befolgung der Gesetze sei in jeder Staatsform gerecht. So meint Bien, Aristoteles formuliere hier „die Einsicht, daß das, was in den Staaten als gerecht gilt, davon abhängt, wer gerade die politische 353 Siehe Aristoteles: NE X,10, 1180a1-24, Rolfes, S. 257. 354 Aristoteles: NE V,3, 1129b14-19, Rolfes102. <?page no="96"?> 96 Macht und damit auch die juristische und ethische Definitionsmacht besitzt.“ 355 Gordon meint, in dieser Gleichsetzung des Gerechten mit dem Gesetzlichen vertrete Aristoteles einen rechtspositivistischen Ansatz. 356 Wenn man die Textstelle so versteht, steht sie allerdings im Gegensatz zu der Definition einer guten und einer schlechten Verfassung in der ‚Politik‘. Hier meint Aristoteles, „daß alle diejenigen Verfassungen, die auf den gemeinen Nutzen abzielen, richtige sind nach dem Maßstabe des Rechtes schlechthin, und daß dagegen diejenigen, die nur auf den eigenen Vorteil der Regierenden abzielen, sämtlich fehlerhafte Verfassungen und Entartungen der richtigen sind“ 357 . Die beiden Textstellen stehen somit scheinbar in einem unmittelbarem Widerspruch zueinander. In der NE ist das Gerechte scheinbar die Befolgung jedweder Gesetze, weil sie selbst das Gerechte sind, gleichgültig zu wessen Nutzen sie gemacht sind. Die Unterschiede im Nutzen macht Aristoteles anhand verschiedener Staatsverfassungen wie z. B. der Demokratie fest. 358 In der ‚Politik‘ hingegen darf nur diejenige Verfassung gerecht genannt werden, die gerade allen gemeinsam nutzt, und nicht nur denjenigen, die herrschen. Ich denke, dass Aristoteles in den beiden Textstellen in der ‚Politik‘ und NE von verschiedenen Gegenständen handelt. In NE V,3 spricht er von der Aufgabe des Gesetzes. Das sei die eudaimonia der Bürger, indem es ihnen Aktivitäten gemäß der Tugend gebietet und solche gegen die Tugend verbietet. Um das zu unterstreichen, zeigt Aristoteles auf, dass dem in allen von ihm genannten Verfassungen so ist. Das Gesetz ziele stets auf eudaimonia, sei es auf die eines Tyrannen oder die der Mehrheit oder die aller Bürger. In der ‚Politik‘ III,6 geht es um die politeia, also um die gute Verfassung. Und die Verfassung hat im Blick, wer der Nutznießer der Polis ist. Insofern unterscheidet Aristoteles eine gute Verfassung von einer schlechten danach, ob sie den gemeinsamen Nutzen oder bloß den Nutzen der Herrscher im Auge habe. Eine solche Frage ist aber in der Stelle der NE gar nicht Thema. In NE V,3 sagt Aristoteles bloß, dass das Gesetz der staatlichen Gemeinschaft auf die eudaimonia zielt. Insofern ist es auch gerecht. Damit hat Aristoteles an dieser Stelle kein Urteil darüber abgegeben, ob es besser, schlechter oder gleichgültig sei, ob das Gesetz Einzelnen, Mehreren oder Allen nutzt. Davon handelt die ‚Politik‘. Die Textstelle ist also nicht 355 Bien: Gerechtigkeit bei Aristoteles, S. 141. 356 Siehe Gordon: Aristoteles über Gerechtigkeit, S. 48. 357 Siehe Aristoteles: Politik III,6, 1279a17-20, Rolfes, S. 90. 358 Zur Diskussion um Anzahl und Inhalt der in NE V,3 erwähnten verschiedenen Verfassungen siehe Gordon: Aristoteles über Gerechtigkeit, S. 60f. Die genaue Zahl und der Inhalt ist weder für die Bestimmung der allgemeinen Gerechtigkeit, noch für die Frage, ob Aristoteles an dieser Stelle eine rechtspositivistische Position einnimmt, relevant. <?page no="97"?> 97 Ausdruck einer rechtspositivistischen Annahme, sondern zeigt auf, dass eudaimonia selbst in unterschiedlichsten Verfassungen Zweck des Gesetzes ist. 4.3. Gerechtigkeit als die ganze Tugend und die vollkommene Tugend Gerechtigkeit hat eine besondere Stellung im aristotelischen Katalog der Einzeltugenden inne. Das ist u. a. daran erkenntlich, dass ihr am meisten Platz und gedankliche Beschäftigung eingeräumt wird. Der Gerechtigkeit ist als einziger Einzeltugend ein ganzes Buch gewidmet. Dafür gibt es zwei Gründe. Zum einen meint Aristoteles, die bisher bestimmte allgemeine Gerechtigkeit, also die gesetzliche Gerechtigkeit, sei „kein bloßer Teil der Tugend, sondern die ganze Tugend“ 359 (teleia arete aplos). Zum anderen sei Gerechtigkeit die vollkommene Tugend (arete teleia), da sie auf den anderen bezogen ist. Die Gerechtigkeit ist die ganze Tugend wegen des bereits explizierten Charakters des Gesetzes: Gerechtigkeit im allgemeinen Sinne ist die feste Grundhaltung, das Gesetz zu achten, das wiederum tugendhafte Aktivitäten gebietet. Aristoteles zählt Mut, Mäßigung und Sanftmut auf, die das Gesetz gebietet, und erwähnt, dass dies „ebenso für die anderen Tugenden und Laster“ 360 gelte. Daher zitiert Aristoteles zustimmend das Sprichwort „in der Gerechtigkeit ist jede Tugend enthalten.“ 361 Die Gerechtigkeit sei also die Tugend in ihrem ganzen Umfange, weil sie alle anderen Einzeltugenden dadurch umfasse, dass sie die Beachtung der Gesetze als feste Grundhaltung ist, die die Einzeltugenden gebieten und die Laster verbieten und damit über Eingewöhnung die Tugend der Bürger sicher stellen. Somit ist in der Tugend der Gerechtigkeit, ein gutes Gemeinwesen vorausgesetzt, die Betätigung und damit die Eingewöhnung aller anderen Einzeltugenden eingeschlossen. Aristoteles stellt klar, dass in gewisser Hinsicht eine Identität zwischen der ganzen Tugend, also allen Einzeltugenden, und der Gerechtigkeit besteht. „Beide sind dasselbe, aber ihr Begriff ist nicht derselbe“. 362 Wolf macht darauf aufmerksam, dass damit gemeint sei, dass sich beide Konzepte auf denselben Gegenstandsbereich 359 Aristoteles: NE V,3, 1130a8-9, Rolfes, S. 103. 360 Aristoteles: NE V,3, 1129b19-24, Rolfes, S. 162. Es ist kein Wunder, dass Aristoteles hier nur ethische Tugenden aufzählt - die tugendhaften Aktivitäten gemäß des vernünftigen Seelenteils lassen sich nicht durch ein Gesetz befehligen, sie obliegen ganz dem freien Willen des Subjekts. Die allgemeine Gerechtigkeit umfasst somit nur die ethischen Tugenden. 361 Aristoteles: NE V,3, 1129b28-29, Rolfes, S. 163. 362 Aristoteles: NE V,3, 1130a12f., Rolfes, S. 103. <?page no="98"?> 98 beziehen, also dieselbe Reichweite haben, aber der Sinn dennoch verschieden ist. 363 Was, was die allgemeine Gerechtigkeit noch von den anderen ethischen Tugenden unterscheidet, ist ihre zweite Bestimmung als vollkommene Tugend: Sie ist als einzige Tugend notwendigerweise auf einen anderen Menschen bezogen, nützt einem anderen als einem selbst. Die Gerechtigkeit scheint Aristoteles als einzige unter den Tugenden ein fremdes Gut zu sein, da sie nicht dem Gerechten zugute kommt, sondern einem anderen. 364 Was ist Aristoteles‘ Grund für diese besondere Dignität, dass die Tugend einem anderen nützt, statt einem selbst? Oder anders gefragt, was ist das Gut, das man einem anderen zukommen lässt? Explizit nennt Aristoteles nur, dass es schwieriger sei, seine Tugend einem anderen als sich selbst zugute kommen zu lassen. Aber das ist für sich noch keine Begründung, warum eine solche Tat höherwertiger ist. Der Grund lässt sich bestimmen, wenn man genauer in Augenschein nimmt, wie ein Mensch auf den anderen in gerechten Aktivitäten bezogen ist. Wolf stellt fest, dass der Andere, dessen Gut man mit gerechten Taten bezweckt, nicht als Freund oder Familienangehöriger gedacht wird. Vielmehr geht es darum, dass die Aktivitäten als „öffentlich-politische Handlungen“ auf die Mitbürger bezogen seien. 365 Das ist plausibel, denn das Gerechte, das der Gerechte anstrebt, ist die Befolgung der Gesetze, also muss der Bezug zum Anderen ein öffentlich-politischer sein. Der Bezug auf den Anderen ist also nicht als ein rein privates Verhältnis gedacht, sondern besteht über die politische Instanz, die polis. Der Zweck dieser polis ist nichts anderes, als für die eudaimonia seiner Bürger zu sorgen. Das geht nicht nur implizit aus NE V,3 hervor, wo Aristoteles den Nutzen der Gesetze für die Bürger mit ihrer eudaimonia identifiziert und auf dieser Grundlage den Schluss zieht, dass gerecht sei, was in der staatlichen Gemeinschaft diese eudaimonia hervorbringe. 366 In der ‚Politik‘ wird dieser Zweck der polis explizit gemacht. Ähnlich wie zu Beginn der NE beginnt Aristoteles in der ‚Politik‘ mit der Feststellung, dass alle Gemeinschaften nach einem Gut trachten, die Polis aber nach dem „allervornehmsten Gute“ 367 , da sie der Zusammenschluss aller anderen Gemeinschaften ist. Der Staat mag vielleicht des Überlebens wegen entstanden sein; Zweck seines Bestehens, seiner weiteren Existenz jedoch ist das gute Leben. 368 Aristoteles wiederholt diese explizite Zweckbestimmung der Polis für das gute Leben in der ‚Poli- 363 Wolf in Aristoteles: NE, Wolf, S. 368, Endnote 5. 364 Siehe Aristoteles: NE V,3, 1130a2-6, Rolfes, S. 103. 365 Siehe Wolf: Aristoteles‘ Nikomachische Ethik, S. 99. Derselben Ansicht ist auch Broadie: Commentary, S. 337. 366 Siehe Aristoteles: NE V,3, 1129b14-19, Rolfes, S. 102. 367 Aristoteles: Politik I,1, 1252a5f., Rolfes, S. 1. 368 Siehe Aristoteles: Politik I,2, 1252b27-30, Rolfes, S. 4. <?page no="99"?> 99 tik‘ III,9 369 und erklärt in einem Schluss: „Dieses aber besteht, wie wir erklären, in einem glücklichen und tugendhaftem Leben. Und mithin muß man behaupten, daß die staatliche Gemeinschaft der tugendhaften Handlungen wegen besteht, und nicht des Zusammenlebens wegen.“ 370 In der ‚Politik‘ bestimmt Aristoteles somit das Verhältnis von Tugend und eudaimonia ebenso wie in der NE, nämlich dass die Erziehung zu tugendhaften Taten den Bürgern zu eudaimonia verhelfe, als auch, dass das Ziel der politischen Ordnung in eudaimonia und tugendhaften Taten besteht. 371 Die politische Ordnung, über die die Bürger ihren Verkehr miteinander bestreiten, ist auf das beste Gut der Bürger und damit auf ihre tugendhaften Taten hin ausgerichtet. 372 Die wesentliche Beziehung zwischen der NE und der ‚Politik‘ wird anhand der Anthropologie beider Werke klar. In der NE ist der Mensch ein Wesen, dessen ergon der logos ist, und dessen bestes Gut daher Aktivität der Seele nicht ohne Anteil des logos ist. Es ist allgemein bekannt, dass Aristoteles in der ‚Politik‘ den Menschen als zoon politikon bestimmt, als Lebewesen, das von Natur aus ein politisches Wesen ist. 373 Als Begründung weist er dabei auf die Fähigkeit des Menschen hin, zwischen Gut und Schlecht zu unterscheiden. Aristoteles meint in der ‚Politik‘ I,2, dass die Sprache für den Menschen insofern eigentümlich sei, als er mittels ihr in der Lage sei, „das Nützliche und das Schädliche und so denn auch das Gerechte und das Ungerechte anzuzeigen. Denn das ist den Menschen vor den anderen Lebewesen eigen, daß sie Sinn haben für Gut und Böse, für Gerecht und Ungerecht und was dem ähnlich ist. Die Gemeinschaftlichkeit dieser Ideen aber begründet die Familie und den Staat.“ 374 Die Fähigkeit des Menschen zur Staatenbildung folgt somit aus der Eigenschaft des Menschen, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, mithin aus der Bestimmung des Menschen, nach eudaimonia zu streben und damit die feste Grundhaltung zu tugendhaften Aktivitäten auszubilden. So ist die Ethik des Individuums und die polis als menschliche Gemeinschaft wechselseitig Bedingung füreinander. Die polis gebietet ihren Bürgern gute Taten und erzieht sie dadurch zu einer festen Grundhaltung, tugendhafte 369 Siehe Aristoteles: Poliitik III,9, 1280b38-39, Rolfes, S. 96. 370 Aristoteles: Politik III,9, 1281a2-4, Rolfes, S. 96. 371 Wolf ist der selben Meinung was arete und Staatszweck angeht: „Die eudaimonia besteht aber, was das menschliche Leben in der Polis angeht, in der Ausübung der aretē...“ ( Wolf: Aristoteles‘ Nikomachische Ethik, S. 97). 372 Für Aristoteles ist der Staat gleichbedeutend mit der Gesellschaft. Der Staat ist die wesentliche Verbindung der Menschen untereinander. Für die Diskussion, ob Aristoteles den Unterschied zwischen Staat und Gemeinschaft nicht beachtet, siehe Gordon: Aristoteles über Gerechtigkeit, S. 142. 373 Siehe Aristoteles: Politik I,2, 1253a1-3, Rolfes, S. 4. 374 Aristoteles: Politik I,2, 1253a13-18, Rolfes, S. 4f. <?page no="100"?> 100 Aktivitäten ausüben zu wollen. Und die darüber erworbene Fähigkeit des Menschen, Gut von Böse zu unterscheiden, bedingt die Fähigkeit des Menschen, die beiden grundlegenden Gemeinschaften zu bilden: Staat und Familie. 375 Die Gerechtigkeit verweist somit unmittelbar auf die gesellschaftliche Allgemeinheit, da jene ihren Inhalt aus dieser erhält. „Die Gerechtigkeit aber, der Inbegriff aller Moralität, ist ein staatliches Ding. Denn das Recht ist nichts anderes als die in der staatlichen Gemeinschaft herrschende Ordnung, und eben dieses Recht ist es auch, das über das Gerechte entscheidet.“ 376 Damit ist erwiesen, dass das Gut des anderen ein erstrebenswertes Ziel ist. Denn das beste Gut, das ein Mensch erstreben kann, ist eudaimonia. Die polis und ihre Gesetze sind aber jener Zusammenschluss, der auf die eudaimonia zielt. Die polis bezweckt - wenn sie gut eingerichtet ist - die eudaimonia aller Bürger. 377 Somit ist die Befolgung der Gesetze automatisch auf das ‚gute Leben‘ der anderen Bürger bezogen; als das beste Gut ist der Nutzen des Anderen damit unbedingt erstrebenswert. Aber mehr noch: Indem man die Gesetze achtet, respektiert man jene Instanz, die wesentliche Bedingung der eudaimonia aller Bürger ist. Dies begründet die besondere Dignität, dass über die polis das Gut des Anderen verfolgt wird. Das tugendhafte Handeln ist insofern hier besonders gut, weil es sich positiv auf jene Instanz bezieht, die die anderen zum tugendhaften Handeln anleitet und damit zur eudaimonia verhilft. Gerechtigkeit ist daher nicht nur eine Einzeltugend, deren Tat auch als eudaimonia gilt, sondern von zentraler Relevanz für die Entwicklung von eudaimonia in der Gemeinschaft. 378 4.4. Besondere Gerechtigkeit Die zweite Bedeutung von Gerechtigkeit erschließt Aristoteles aus der Bedeutung dessen, der als ein Ungerechter gilt. Als ungerecht in diesem Sinne gilt der Mehr-haben-wollende, der sich gegen die Gleichheit stellt 375 Höffe verweist auf Aristoteles: NE X,10, 1181b15, Rolfes, S. 261 um zu verdeutlichen, dass ‚Ethik‘ und ‚Politik‘ klar unterschiedene Gegenstände untersuchen, aber in einer Hinsicht auch eine Einheit bilden. Hier, zum Ende der NE, verweist Aristoteles auf die Staatslehre, die die Philosophie der menschlichen Angelegenheiten zum Abschluss bringen muss. Höffe schließt daraus: „Als ‚Philosophie der menschlichen Angelegenheiten‘ bilden Ethik und Politik zusammen den Kern einer philosophischen Lehre vom Menschen, einer philosophischen Anthropologie“ (Höffe: Ethik als Praktische Philosophie, S. 19). 376 Aristoteles: Politik I,2, 1253a37-39, Rolfes, S. 6. 377 Siehe Aristoteles: Politik III,6, 1279a17-20, Rolfes, S. 90. 378 Der Ansicht ist auch Gordon: „Für die Verwirklichung der ‚menschlichen Natur‘ […] ist Gerechtigkeit notwendig und das zentrale Moment gesellschaftlicher Kooperation und individueller Lebenspraxis.“ Gordon: Aristoteles über Gerechtigkeit, S. 22. <?page no="101"?> 101 (pleonektes). 379 Das Gerechte ist demnach das Gleiche. Gerechtigkeit wäre demnach die feste Grundhaltung, die Gleichheit zu achten. Diese Art von Gerechtigkeit wird im Deutschen gemeinhin als besondere Gerechtigkeit bezeichnet. Das Mehr-haben-wollen bezieht sich auf äußere Güter wie Ehre, Eigentum oder Sicherheit. Er will mehr von jenen Sachen haben, die ihm zu nützen scheinen, während er jene vermeidet, die ihm übel erscheinen. (Nach NE V,2, und NE V,4) Es sind dies Gegenstände, von denen Aristoteles in der Besprechung zur Freundschaft sagt, sie seien die Dinge, um die „beständiger Streit“ 380 herrsche. Während der Gegenstand der Gerechtigkeit als positiver Bezug auf die geltenden Gesetze kein neues Konzept ist, stellt Aristoteles mit diesem Konzept der besonderen Gerechtigkeit einen neuen Begriff vor. Während sich Aristoteles zur Charakterisierung der allgemeinen Gerechtigkeit auf Sprichwörter und allgemeine Meinungen stützen konnte, macht er sich in NE V,4 die Mühe, überhaupt die Existenz der besonderen Gerechtigkeit nachzuweisen. 381 Den Existenznachweis der besonderen Gerechtigkeit als Teil der allgemeinen entwickelt Aristoteles in NE V,4 in drei kleinschrittigen Schlüssen aus dem Begriff des Mehr-haben-wollenden (pleonektes). Zunächst stellt Aristoteles fest, dass das Mehr-haben-wollen auch eine spezielle Art und Weise sei, gegen das Gesetz zu verstoßen. Es verstößt somit auch gegen die allgemeine Gerechtigkeit. Andererseits unterscheidet es sich von allen anderen den Tugenden zugehörigen Lastern. Wer beispielsweise mit dem Geld geize, werde ein Geizhals geschimpft, aber noch nicht unbedingt ein Ungerechter. Er verstößt gegen die Tugend der Großzügigkeit. Somit ist das Mehr-haben-wollen das Laster einer Tugend, die noch nicht bestimmt wurde. Damit sei aber auch das Motiv des Ungerechten ein anderes, als die Motive der anderen Laster. So liege, wenn jemand der Lust wegen Ehebruch begeht, das Laster der Maßlosigkeit vor. Wenn jedoch ein Ehebruch des Mehr-haben-wollens wegen begangen wird, könne man nicht von Maßlosigkeit sprechen, da eine andere Motivation, nämlich das Mehr-haben-wollen von Geld ausschlaggebend sei. Das Mehr-haben-wollen unterscheidet sich also von den den anderen Einzeltugenden zugehörigen Lastern. Alle anderen Laster sind, wie ausgeführt, 379 Siehe Aristoteles: NE V,2, 1129a32-b2, Rolfes, S. 101. Wolfs Übersetzung von pleonektes als derjenige, der mehr haben will, kommt m. E. der weiter unten ausgeführten Bedeutung dieser Ungerechtigkeit näher als Rolfes Übersetzung des ‚Habsüchtigen‘. Siehe Wolf: Aristoteles‘ Nikomachische Ethik, S. 100f. 380 Aristoteles: NE IX,8, 1168b18f., Rolfes, S. 223. 381 Dieser Meinung sind auch Wolf und Gordon. Höffe nennt Aristoteles den Entdecker der besonderen Gerechtigkeit, genau so Bien. Siehe Wolf: Aristoteles‘ Nikomachische Ethik, S. 100f.; Gordon: Aristoteles über Gerechtigkeit, S. 82; Höffe, Otfried: Gerechtigkeit - Eine Philosophische Einführung, München: Beck 2007, S. 23 und Bien: Gerechtigkeit bei Aristoteles, S. 145f. <?page no="102"?> 102 zugleich auch immer ungerechte Handlungen, da sie gegen das Gesetz verstoßen. Sie sind jedoch stets auch das lasterhafte Extrem zu einer Einzeltugend. Da also das Mehr-haben-wollen allein als Ungerechtigkeit und als keine andere Schlechtigkeit getadelt werde, es mit der Negation der allgemeinen Gerechtigkeit aber zugleich nicht zusammenfällt, müsse es eine Art von Ungerechtigkeit sein, die Teil der allgemeinen Ungerechtigkeit (der Missachtung der Gesetze) ist. Genau so müsste dann auch die besondere Gerechtigkeit ein Teil der allgemeinen Gerechtigkeit sein. Die Unterscheidung des Mehr-haben-wollens von den anderen Lastern ist nicht unumstritten. Vor allem wurde die Frage diskutiert, ob nicht das Laster der Feigheit sowie die Extreme der Tugenden Großzügigkeit und Großgeartetheit, Geiz und Knausrigkeit inhaltlich als Mehr-haben-wollen bestimmt werden können. Damit wäre das Argument für die Existenz einer besonderen Gerechtigkeit hinfällig, dass das Mehr-haben-wollen als Ungerechtigkeit gelte und nicht identisch mit einem Laster der anderen Einzeltugenden sei. Aristoteles nimmt das zu der Tapferkeit gehörige Extrem der Feigheit um zu zeigen, dass das Mehr-haben-wollen in keinem der bisher genannten Laster enthalten ist. Wer in der Schlacht seinen Schild wegwerfe, wolle nicht mehr haben, sondern sei feige. 382 Salomon, Broadie und Gordon problematisieren, dass das Mehr-haben-wollen durchaus als Laster der Feigheit interpretiert werden kann. 383 Fritz sieht den Unterschied darin begründet, dass der Feige aufgrund einer unüberwindlichen Emotion sein Schild wegwerfe, während der Mehr-haben-wollende in kühler Berechnung handele. 384 Dieser Gegensatz von heißer Emotion und kühler Berechnung ergibt sich allerdings weder explizit noch implizit aus dem Text. Weder spricht Aristoteles von der Erregtheit des pleonektes, noch ergibt es sich aus dem Gesagten, wie stark seine Emotionen bei der Aktivität ist, in der sich das Mehr-haben-wollen ausdrückt. Auch in der Ausführung dessen, was die besondere Gerechtigkeit, also die entsprechende Tugend zum Laster des Mehr-haben-wollens, charakterisiert, wird die kühle Berechnung nirgends erwähnt. Zudem, darauf hat Gordon hingewiesen, kann gerade der Deserteur die Truppe sehr berechnend verlassen. 385 Gordon meint, dass der Unterschied sich auf das Motiv der Handlungen bezieht. Das gebe Aristoteles selbst an, wenn er die besondere von der allgemeinen Gerechtigkeit unterscheidet. Die besondere Ungerechtigkeit bezieht sich „auf Ehre oder Eigentum oder Gesundheit oder in welchem Ausdruck wir all dies zusammenfassen mögen, und entspringt 382 Siehe Aristoteles: NE V,4, 1130a17f., Rolfes, S. 104. 383 Siehe Salomon: Der Begriff der Gerechtigkeit, S. 18ff.; Broadie: Commentary, S. 338 und Gordon: Aristoteles über Gerechtigkeit, S. 86f. 384 Siehe Fritz, Kurt von: Zur Interpretation des Fünften Buches von Aristoteles‘ Nikomachischer Ethik, In: Archiv Für Geschichte Der Philosophie 62 (1980), S. 249. 385 Gordon: Aristoteles über Gerechtigkeit, S. 87f. <?page no="103"?> 103 der unordentlichen Freude am Gewinn“ 386 . Gordon meint, wie Joachim 387 , Aristoteles habe hier aufgezeigt, dass das charakteristische Merkmal, das dieses Laster von allen anderen Lastern unterscheidet, darin bestehe, dass der Gewinn um seiner selbst willen erstrebt wird. Daher sei pleonexia, das Mehr-haben-wollen, adäquat mit ‚Gewinnsucht‘ wiedergegeben. Jedes andere Laster beziehe sich auf eine bestimmte Sache, die erstrebt wird. Die Gewinnsucht hingegen sei rein selbstreferentiell, es werde ein ‚Mehr‘ um seiner selbst willen gewünscht. Williams hat dagegen argumentiert, dass das Mehr-haben-wollen selbst kein eigenständiges Motiv ist. Denn niemand will einfach nur mehr des Mehr-haben-wollens wegen. 388 In der Tat besagt der von Gordon angeführte Satz auch nicht, dass das Mehrhaben-wollen ein Selbstzweck ist. Die Lust am Gewinn, von der Aristoteles hier spricht, ist ganz eindeutig auf drei äußere teilbare Güter bezogen. Wie Williams zurecht anmerkt, will kein Mensch mehr haben, bloß um des Mehr-habens willen. Das machen gerade die zwei Beispiele des Ehebruchs deutlich. Da wird dieselbe lasterhafte Tat begangen, der Grund, das zugrundeliegende Laster, ist jedoch je verschieden. Einmal geschieht sie eines Mehrs an äußeren Gütern wegen, das andere mal aus Maßlosigkeit, also der körperlichen Lust wegen. Das ‚Mehr‘ bezieht sich also immer auf etwas Bestimmtes und dieses Bestimmte erstrebt der pleonektes. Ich meine, dass Broadie einen Punkt in der Charakterisierung des Mehr-haben-wollenden trifft, wenn sie als Unterschied zwischen dem Feigen und dem Mehr-haben-wollenden festhält: „the former shows the wrong attitude to certain kinds of fearsome things, whereas the latter shows the wrong attitude to profit or advantage considered as a finite good that ought to be shared fairly with others.“ 389 Broadie hat damit m. E. den springenden Punkt in der Charakterisierung des Mehr-haben-wollenden erwischt. Das ‚Mehr‘ bezieht sich nicht auf irgendeinen Gegenstand. Vielmehr bezieht es sich auf die rechte Verteilung von jenen äußeren Gütern, die Aristoteles in der von Gordon zitierten Stelle aufgezählt hat: Ehre, Eigentum und Gesundheit. Und diese Güter, die für sich zwar alle erstrebenswert sind, aber nicht immer für jeden, werden von dem pleonektes stets erwünscht. Aber worauf bezieht sich das ‚Mehr‘, der Gewinn, nach dem der pleonektes ungebührlicherweise strebt? Mehr als der andere? Mehr als zuvor? Dann wäre in der Tat der einzige Unterschied zu den meisten anderen Lastern, dass dieses sich speziell auf äußere Güter des Besitzes bezieht. Das wäre aber kein sehr markantes Charakteristikum, denn auch die Laster des Geizes und der Verschwendungssucht sind auf be- 386 Aristoteles: NE, V,4, 1130b2-4, Rolfes, S. 104. 387 Siehe Joachim, Harold: The Nicomachean Ethics, S. 132. 388 Siehe Williams, Bernard: Justice as a Virtue, In: Rorty, Amélie (Hg.): Essays on Aristotle‘s Ethics, Berkeley: University of California Press 1980, S. 198. 389 Broadie: Commentary, S. 338. <?page no="104"?> 104 stimmte äußere Güter bezogen. Bezieht sich das ‚Mehr‘ dann vielleicht auf andere? So meint Gordon das ‚Mehr‘ sei relativ zu dem gemeint, was jemand anderes an äußeren Gütern besitzt. 390 Aber dem widerspricht die Verteilungsgerechtigkeit, in der es auch als gerecht gelten kann, wenn eine Person mehr hat als die andere. Obgleich sich das „Mehr“ auf Andere bezieht, bedeutet es nicht allein, dass erstrebt werde, mehr als Andere an äußeren Gütern zu haben. Vielmehr bezieht sich das ‚Mehr‘ auf den Vergleich mit Anderen anhand eines Maßstabes. Erst wenn man im Bestreben nach äußeren Gütern ein bestimmtes Maß im Verhältnis der eigenen Güter zu den Gütern eines anderen überschreitet, will man mehr. Und die Aktivität gemäß dieses Strebens ist das Laster. Dieses rechte Maß genau zu bestimmen, ist Zweck der Analyse der besonderen Gerechtigkeit. Damit ist auch der zweite Vergleich des Mehr-haben-wollenden mit dem Geizigen zurückgewiesen. Young weist darauf hin, dass Aristoteles der Geiz als eine Eigenschaft des Lasters desjenigen gilt, der gegen die Großzügigkeit im Nehmen verstößt, indem er mehr will. Hurenwirte und Wucherer, die kleine Summen zu hohen Zinsen verleihen, „nehmen woher sie nicht sollen und mehr als sie sollen. Als gemeinsam erscheint bei ihnen schimpfliche Gewinnsucht“ 391 . Young meint daher, das zu der Großzügigkeit gehörige Laster beim Nehmen, die Gewinnsucht, sei ein Spezialfall des Mehr-haben-wollens. 392 Auf der einen Seite geht das an dem vorbei, worauf sich das ‚Mehr‘ beim pleonektes bezieht. Es bezieht sich nämlich nicht einfach nur auf ein mehr an äußeren Gütern wie Reichtümern, wie es die Gewinnsucht tut, das andere Extrem der Großzügigkeit. Vielmehr ist das Zuviel des pleonektes auf einen ganz gewissen, noch näher zu bestimmenden Maßstab bezogen, anhand dessen Güter und andere Menschen in einem rechten Verhältnis zueinander stehen. Zudem ist aber auch die Stelle nicht ganz korrekt wiedergegeben, die von der Gewinnsucht handelt, dem zur Großzügigkeit gehörigen Laster. Aristoteles verknüpft an dieser Stelle nämlich eine ungebührlich hohe Summe mit einer schändlichen Einkommensquelle, die des Gewinns wegen gewählt wird. Pleonexia, das Mehr-haben-wollen, ist also ein eigenes Laster, das weder identisch ist mit einem Laster einer der anderen Einzeltugenden noch mit dem Laster der allgemeinen Gerechtigkeit. Allerdings ist auch diese Art von Gerechtigkeit auf einen Anderen bezogen. 393 In NE V,5 legt Aristoteles dar, dass die zur pleonexia gehörige Gerechtigkeit zwar auch Gerechtigkeit ist, aber zugleich mit den anderen Einzeltugenden in der gesetzlichen Gerechtigkeit enthalten sei. Daher wird diese Art von Gerech- 390 Siehe Gordon: Aristoteles über Gerechtigkeit, S. 49. 391 Aristoteles: NE IV,3, 1122a1-3, Rolfes, S. 79. 392 Siehe Young: Virtue and Human Flourishing, S. 236-238. Derselben Meinung ist auch Gordon: Aristoteles über Gerechtigkeit, S. 90-101. 393 Siehe Aristoteles: NE V,4, 1130a32-b6, Rolfes, S. 104. <?page no="105"?> 105 tigkeit die besondere Gerechtigkeit genannt. Sie und die gesetzliche Gerechtigkeit verhalten sich nach Aristoteles zueinander wie Teil und Ganzes. Bevor Aristoteles die besondere Gerechtigkeit in zwei Unterarten getrennt bestimmt, entwickelt er aus dem Begriff der Gleichheit in NE V,6 eine abstrakte Bestimmung der besonderen Gerechtigkeit als Ganzes. Er geht dabei von der bisher entwickelten Bestimmung des Ungerechten als Mehr-haben-wollendem aus, der zuviel an scheinbaren Gütern und von anderem zuwenig erstrebt. Der Mehr-haben-wollende ist damit „ein Freund der Ungleichheit. Das ist nämlich der weitere und gemeinsame Begriff.“ 394 In NE V,6 schließt Aristoteles, dass das Mittlere, das jede Tugend ja darstellt, bei diesen teilbaren Gütern das Gleiche ist. Denn gibt es ein Zuviel oder ein Zuwenig, so Aristoteles, so gibt es ein Gleiches. Somit ist das Gerechte ein Gleiches. 395 Aristoteles weist darauf hin, dass Gleichheit die Existenz zweier Dinge impliziert, die sich in einem bestimmten Verhältnis befinden. Da es sich bei dieser Gleichheit um Gerechtigkeit handelt, die stets auf den anderen bezogen ist, müssen diese Dinge in einem bestimmten Verhältnis zu zwei Personen stehen, denen sie gehören. 396 Das Gleiche nun bezieht sich auf das Verhältnis, in dem das Verhältnis einer Person zu seiner Sache mit einer anderen Person zu seiner Sache steht. Das Gerechte sei etwas Proportionales, führt Aristoteles anhand der Verteilungsgerechtigkeit aus. Und: „Proportionalität ist Gleichheit der Verhältnisse.“ Wie genau diese Proportionalität von Person A und der Beziehung zu seiner Sache c zu Person B und seiner Sache d beschaffen ist, hängt davon ab, auf welchen Handlungsbereich sich die besondere Gerechtigkeit bezieht. 397 Aristoteles nennt zwei verschiedene Arten der besonderen Gerechtigkeit: Gleichheit in der Verteilung von Gütern unter den Staatsbürgern und Gleichheit im zwischenmenschlichen Verkehr. 398 Jene Art besonderer Gerechtigkeit, die sich auf Güter bezieht, die unter den Staatsangehörigen verteilt werden, nennt man im Deutschen Verteilungsgerechtigkeit (dianemetike). 399 Die andere Art besonderer Gerechtigkeit, die sich auf den Verkehr der Menschen untereinander bezieht, wird von Aristoteles mit diorthotike 400 und epanothortike 401 bezeichnet. Weil die Bedeutung dieser 394 Aristoteles: NE V,2, 1129b11-13, Rolfes, S. 102. 395 Siehe Aristoteles: NE V,6, 1131a10-14, Rolfes, S. 106. 396 Siehe Aristoteles: NE V,6, 1131a10-21, Rolfes, S. 106f. 397 Gordon meint, mit der in NE V,6 angesprochenen Proportionalität sei allein die Verteilungsgerechtigkeit gemeint. Dabei ist mit Proportionalität hier erstmal nicht anderes ausgesagt, als dass das Verhältnis fest zu sein hat, auch wenn es seine Größe ändert. Das trifft aber auf beide Formen von Proportionalität zu, die Aristoteles später bestimmt. Siehe Gordon: Aristoteles über Gerechtigkeit, S. 149. 398 Siehe Aristoteles: NE V,5, 1130b30-1131a2, Rolfes, S. 106. 399 Siehe Aristoteles: NE V,5, 1130b30-34, Rolfes, S. 106. 400 Siehe Aristoteles: NE V,5, 1130b30-34, Rolfes, S. 106. <?page no="106"?> 106 Begriffe umstritten sind, unterscheiden sich auch die Übersetzungen dieser Bezeichnungen ins Deutsche. Unter anderem werden die beiden Wörter mit ausgleichender, ordnender, wiederherstellender oder regelnder Gerechtigkeit wiedergegeben. 402 Im Folgenden werde ich diese Art Gerechtigkeit wie Wolf mit dem Prädikat ‚ausgleichend‘ versehen. 403 Ob diese Benennung der Sache adäquat ist, muss geprüft werden, nachdem die Sache bestimmt wurde; bis dahin ist diese Übersetzung eine reine Setzung. 404 4.5. Verteilungsgerechtigkeit Es mag den modernen Leser überraschen, dass Aristoteles die Verteilung teilbarer Güter unter den Polisbürgern in einer Schrift behandelt, die in diesem Abschnitt doch die Tugenden des Menschen untersucht. Wieso ordnet Aristoteles die Verteilungsgerechtigkeit als die Grundhaltung einer ethischen arete ein und behandelt sie nicht als Verteilungsprinzip einer guten Staatsverfassung in der ‚Politik‘? 401 Siehe Aristoteles: NE V,7, 1132a18, Rolfes, S. 109. 402 Nach Wolf: Aristoteles‘ Nikomachische Ethik, S. 102. 403 Siehe Siehe Aristoteles: NE V,5, 1130b30-34, Wolf, S. 170. 404 Aubenque streitet in seinem Aufsatz dafür, dass diese beiden Unterarten wesentlich getrennt sind. Die Gleichheit in der Güterverteilung und des menschlichen Verkehrs würde auf unterschiedlichen Aspekten der menschlichen Natur beruhen: Die Verteilung der Güter beruht auf dem natürlichen Wert jedes Individuums für das Gemeinwesen, während der Verkehr untereinander auf der Gleichheit der Menschen beruht. Damit seien die beiden Unterarten besonderer Gerechtigkeit scharf voneinander unterschieden. Ohne bereits auf den Inhalt der beiden unterschiedlichen Arten besonderer Gerechtigkeit eingegangen zu sein, muss festgehalten werden, dass Aristoteles selbst den Unterschied so bestimmt, dass die besondere Gerechtigkeit auf unterschiedliche Handlungsbereiche angewendet wird. Die Verteilungsgerechtigkeit bezieht sich auf die Zuerteilung von Gütern durch den Staat an die Bürger, die ausgleichende Gerechtigkeit auf den Verkehr der Bürger untereinander. Es stimmt zwar, dass die beteiligten Menschen jeweils andere Rollen spielen, aber das ist der Bestimmung des Verhältnisses untergeordnet, in dem sie sich jeweils befinden. Beiden Unterarten besonderer Gerechtigkeit haben ein gemeinsames Prinzip, wie sich im weiteren erweisen wird. Die Ansicht, dass die beiden Unterarten der Gerechtigkeit sich nach den Handlungsbereichen gliedern, teilen auch Trude, Bien, Wolf und Gordon. Siehe Aubenque, Pierre: The Twofold Natural Foundation of Justice According to Aristotle, In: Heinaman, Robert (Hg.): Aristotle and Moral Realism, London: University College of London Press 1995, S. 35-47; Trude, Peter: Der Begriff der Gerechtigkeit in der Aristotelischen Rechts- und Staatsphilosophie, Berlin: de Gruyter 1955, S. 104f.; Bien: Gerechtigkeit bei Aristoteles, S. 152; Wolf: Aristoteles‘ Nikomachische Ethik, S. 103 und Gordon: Aristoteles über Gerechtigkeit, S. 120. Auch die Anzahl der Unterarten besonderer Gerechtigkeit ist strittig; einige Autoren teilen die ausgleichende Gerechtigkeit wiederum in zwei verschiedene Arten auf, während andere dies kritisieren. Diese Frage wird unten im Abschnitt zur ausgleichenden Gerechtigkeit besprochen. <?page no="107"?> 107 Auf der einen Seite wird auch die Verteilung, die über die polis geschieht, von einzelnen Personen entschieden. Von wem auch immer über die staatliche Verteilung entschieden wird, ob in Demokratie oder in Oligarchie, es muss auf jeden Fall entschieden werden. Und die Entscheidungsträger über die Verteilung bedürfen eines guten Maßstabs. Es müssen gerechte Menschen sein, die also die Tugend der besonderen Gerechtigkeit bereits verinnerlicht haben. Damit ist allerdings noch nicht einsichtig, warum diese feste Grundeinstellung, gemäß gerechter Kriterien zu verteilen, eine Tugend des Menschen überhaupt sein sollte und es nicht ausreicht, sie als Tugend des Gesetzgebers zu bestimmen. Die Rolle der Verteilungsgerechtigkeit lässt sich mit einer Stelle aus der ‚Politik‘ verständlich machen, der gemäß es einen guten Staatsbürger auszeichnet, sowohl gut herrschen zu können als auch sich gut beherrschen zu lassen. 405 Unabhängig davon, ob ein Staatsbürger also jemals eine verantwortliche Position im Gemeinwesen ausübt oder nicht, er sollte auch gut herrschen können. Diese Stelle zeigt, dass Aristoteles davon ausgeht, dass alle Bürger auch die Rolle des Herrschers annehmen können sollen. Wenn diese Rolle die Gesetzgebung mit einschließt, dann muss auch jeder Bürger die Grundhaltung der Verteilungsgerechtigkeit verinnerlicht haben. Andersherum ist die Leistung, sich auch beherrschen zu lassen, maßgeblich davon bestimmt, die Gesetze unter dem Blickwinkel des Ganzen zu betrachten. Darauf hat Thomas von Aquin hingewiesen: Die Bürger bedürfen auch der Tugend der Verteilungsgerechtigkeit, um der Verteilung des Herrschers ihre Zustimmung zu erteilen. 406 Das Gleiche in der Verteilungsgerechtigkeit ist nach Aristoteles das proportionale Verhältnis zweier vom Staat verteilter Güter, deren Verhältnis zueinander das Verhältnis der Personen zueinander widerspiegeln soll, die diese Güter erhalten. So, wie Person A sich zu Person B verhält, so müssen sich auch Gütermenge c, die A zugeteilt wird und d, die B gehören soll, zueinander verhalten, damit man ihre Verteilung gerecht nennen kann. Aristoteles drückt dies negativ aus: Ungleiche sollen nicht Gleiches, Gleiche nicht Ungleiches bekommen. 407 Aus der Tatsache, dass es sich um Personen handelt, folgt allerdings noch kein differenziertes Verhältnis zwischen diesen Personen. Es bedarf einer Eigenschaft in diesen Personen, das in ein proportionales Verhältnis zueinander treten kann. Das Verhältnis der Personen zueinander, anhand deren die Verteilung der Güter vorgenommen werden soll, ist laut Aristoteles das Verhältnis einer Würdigkeit oder eines Werts (axia). Dieser Wert ist laut Aristoteles je nach Staatsverfassung verschieden. Die Vertreter 405 Siehe Aristoteles: Politik III,4, 1277a25-b13, Rolfes, S. 84f. 406 Siehe Thomas von Aquin: Recht und Gerechtigkeit - Summa Theologia Buch II, Teil II, Fragen 57-79, Heidelberg: Kerle 1953, Frage 61, Artikel 1, Einwand 3, S. 91-93. 407 Siehe Aristoteles: NE V,6-7, 1131b4-17, Rolfes, S. 107f. <?page no="108"?> 108 des demokratischen Prinzips würden alle Vollbürger als gleichermaßen Freie wertschätzen, die des oligarchischen Prinzips würden die Bürger anhand ihres Reichtums bewerten, andere würden nach edler Abstammung bewerten und die Aristokraten würden ihre Wertschätzung anhand der Tugend verteilen, die jemand besitzt. 408 Die Darstellung der gerechten Verteilung nach der richtigen Proportionalität ist in der Forschung stark umstritten. Das gilt sowohl für den Stellenwert der Proportionalität in der Verteilungsgerechtigkeit als auch für ihren Inhalt. Viele Autoren sehen es zumindest als überflüssig an, dass Aristoteles die mathematische Form der Proportionalität anwendet, um die Verteilungsgerechtigkeit anschaulich zu machen. So meint beispielsweise Hardie, „the mathematical formulae in chapter 5 say nothing which is not better said without them.“ 409 Derbolav sieht es als eine Schwierigkeit an, die mathematischen Formeln inhaltlich zu füllen. 410 Gordon meint dagegen, dass der Rückgriff auf Mathematik zur Zeit von Aristoteles dafür genutzt worden sei, um die zeitlose und universale Gültigkeit seiner Thesen zu belegen: „A. geht es im Kern darum, mittels Analogieschluß aus dem Bereich der Mathematik, seine Überlegungen im Bereich der Ethik zu fundieren.“ 411 Ich meine, dass die mathematische Formel der Verteilungsgerechtigkeit weder überflüssig ist noch eine Art und Weise, den Wahrheitsgehalt von Aristoteles‘ Behauptung zu untermauern. Vielmehr behauptet Aristoteles, dass die Verteilungsgerechtigkeit darin besteht, dass so wie das Verhältnis von Person A zu seiner Sache c ist, auch das Verhältnis von B zu seiner Sache d sein muss. Diese Proportionalität ist der ganze Inhalt der Verteilungsgerechtigkeit. Insofern ist die mathematische Formel keine Ausdrucksweise, womöglich um die eigenen schwachen Argumente noch zu untermauern. Vielmehr ist es andersherum: Aristoteles versucht an verschiedenen Stellen, die abstrakte mathematische Formel in Worten zu umschreiben. So formuliert Aristoteles das ungerechte Verhältnis als dasjenige, in dem „Gleiche nicht Gleiches oder nicht Gleiche Gleiches bekommen und genießen.“ 412 Es stimmt also nicht, dass das Prinzip des proportionalen Verhältnisses in mathematischer Form überflüssig wäre. Dieses Prinzip ist mathematisch und jede andere Ausdrucksweise ist akzidentiell. Es wäre ein Irrtum, von dieser abstrakten Formel der Verteilungsgerechtigkeit zu verlangen, mit ihrer Hilfe konkrete Verteilungen vornehmen zu wollen. Aristoteles will offen legen, wie sich Menschen verhalten, die bereits gerecht verteilen. Und hat man Aristoteles‘ Vorlesung 408 Siehe Aristoteles: NE V,6, 1131a25-29, Rolfes, S. 107. 409 Hardie: The Final Good, 200. 410 Siehe Derbolav: Bedingungen Gerechter Herrschaft, S. 208, Fußnote 2. 411 Gordon: Aristoteles über Gerechtigkeit, S. 164, siehe auch S. 148f. 412 Aristoteles: NE V,6, 1131a23-24, Rolfes, S. 107. <?page no="109"?> 109 zur Ethik gehört, kann man in seiner Verteilung auch systematisch vorgehen, um gerecht zu sein, also sich beispielsweise bewusst machen, welches der Maßstab der Würdigkeit ist und wie er in diesem Fall angewendet wird. Aber direkt ableiten, wie viel, sagen wir, ein Läufer nach erfolgreichem Spurt erhalten soll, oder wie hoch die Zuteilung an Ehre für besondere Tapferkeit sein soll, kann man nicht. Man muss hier die Vorbemerkung in Erinnerung rufen, die Aristoteles mehrmals wiederholt: Die Ethik bestimmt im Allgemeinen, was zu einem guten Leben gehört, also beispielsweise, dass es tugendhafte Aktivitäten sind und was die Tugenden genau sind. Aber die Ethik kann keine Bestimmung auf der Ebene der Einzelhandlungen leisten - zumindest nicht in dieser Abhandlung . Dafür sind die Handlungen des Menschen und die beeinflussenden Faktoren zu divers. 413 Man darf von den Formeln keine Leistungen erwarten, die nicht beabsichtigt sind. In der Forschung herrscht Dissens über die Identität der Güter, um die es in der Verteilungsgerechtigkeit geht. Die bisher besprochene Bestimmung wird von manchen Forschern in ein Verhältnis zu ‚Politik‘ III,9- 13 gesetzt. Hier geht es Aristoteles um die Verteilung von Ämtern. Keyt, Wolf, und Gordon meinen, dass hauptsächlicher Verteilungsgegenstand in der verteilenden Gerechtigkeit Staatsämter seien. 414 Wolf interpretiert diese Stelle in der ‚Politik‘ so, dass die Würdigkeit (axia), nach der die Ämter verteilt werden sollen, nicht den Verdienst meint. Vielmehr seien die Fähigkeiten ausschlaggebend, die zur Ausübung dieses Amtes nötig sind. 415 Sind also bei Aristoteles die Regierungsämter Güter, die nach der Verteilungsgerechtigkeit in der NE vergeben werden sollen? Es gibt zwei Indizien, die dagegen sprechen. Zum einen erwähnt Aristoteles die Ämter als zu verteilendes Gut an der Stelle zur Verteilungsgerechtigkeit nicht. Nach NE V,4 416 bezieht sich die besondere Gerechtigkeit auf ‚Ehre oder Eigentum oder Gesundheit‘ 417 . Und nach NE V,5 bezieht sich die Verteilungsgerechtigkeit im engeren Sinne „auf die Zuerteilung von Ehre oder Geld oder anderen Gütern, die unter den Staatsangehörigen zur Verteilung gelangen können.“ 418 Aristoteles erwähnt die Verteilung der Staatsaufgaben, nach Angabe obiger Autoren Hauptgegenstand der Verteilungsge- 413 NE I,7 handelt von dieser Schwierigkeit. 414 Siehe Keyt, David: Distributive Justice in Aristotle‘s Ethics and Politics, In: Topoi 4.1 (1985), S. 32; Wolf: Aristoteles‘ Nikomachische Ethik, S. 106 und Gordon: Aristoteles über Gerechtigkeit, S. 145 . 415 Siehe Wolf: Aristoteles‘ Nikomachische Ethik, S. 106. 416 Siehe Aristoteles: NE V,4, 1130b1-3, Rolfes, S. 104. 417 Nach Wolf und Gigon handelt es sich um Ehre, Geld und Selbsterhaltung, nach Dirlmeier handelt es sich bei dem letzten Gut um Daseinssicherung. Siehe Aristoteles: NE V,4, 1130b1-3, Wolf, S. 164; Aristoteles: NE V,4, 1130b1-3, Gigon, S. 207 und Aristoteles: NE V,4, 1130b1-3, Dirlmeier, S. 124. 418 Aristoteles: NE V,5, 1130b32-34, Rolfes, S. 106. <?page no="110"?> 110 rechtigkeit, im Abschnitt zur besonderen Gerechtigkeit nicht. Zudem ist es fraglich, ob Aristoteles ein Regierungsamt als ein Gut begreift, das man verteilen sollte wie Ehre oder Geld. Nach Aristoteles ist ein Amt die Funktion der polis, die zu dem Zweck besteht, ihren Bürgern ein Leben in eudaimonia zu ermöglichen. Insofern ist das Gut des Amtes kein Gut für denjenigen, der das Amt ausführt, sondern für diejenigen, denen durch das Amt zur eudaimonia verholfen wird. Insofern werden die Ämter tatsächlich nach der Fähigkeit vergeben, die einer für diese Funktion mitbringt. Von einer Verteilung, wie sie in dem Abschnitt zu Verteilungsgerechtigkeit vorkommt, kann hier aber keine Rede sein. 419 4.6. Ausgleichende Gerechtigkeit Die zweite Art von besonderer Gerechtigkeit ist diejenige, „die den Verkehr der einzelnen untereinander regelt“ 420 , und zwar bezogen auf die Güter derjenigen, die miteinander verkehren. 421 Aristoteles teilt diese Art der besonderen Gerechtigkeit, die hier ausgleichende Gerechtigkeit genannt wird, in zwei Formen, die unterschiedliche Gegenstandsbereiche betreffen. Einmal beziehe sich die ausgleichende Gerechtigkeit auf den freiwilligen Verkehr, ein anderes Mal auf den unfreiwilligen Verkehr. Freiwillig sei der Verkehr von „z. B. Kauf, Verkauf, Darlehen, Bürgschaft, Nießbrauch, Hinterlegung, Miete“ 422 , da das grundlegende Prinzip dieser Form von Verkehr der freie Wille sei. Als unfreiwilligen Verkehr kennzeichnet Aristoteles „teils heimliche Handlungen, wie Diebstahl, Ehebruch, Giftmischerei, Kuppelei, Sklavenverführung, Meuchelmord, falsches Zeugnis, teils gewaltsame, wie Mißhandlung, Freiheitsberaubung, Totschlag, Raub, Verstümmelung, Scheltreden, Herabwürdigung.“ 423 Die Anzahl der Arten besonderer Gerechtigkeit ist in Bezug auf die ausgleichende Gerechtigkeit umstritten, darauf hat Broadie hingewiesen. 424 So unterteilen einige Interpreten die ausgleichende Gerechtigkeit in zwei verschiedene Gerechtigkeiten, eine im strikten Sinne ausgleichende Gerechtigkeit im unwillentlichen Verkehr und eine Tauschgerechtigkeit. Andere Interpreten meinen, dass die später besprochene Reziprozität und der Tausch nicht mehr zur ausgleichenden Gerechtigkeit gehören. Dieser 419 Das ist meine Interpretation der Kapitel ‚Politik‘ III,9-11. Eine genauere Diskussion würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. 420 Aristoteles: NE V,5, 1131a1f., Rolfes, S. 106. 421 Wolf übersetzt daher synallagma, was Rolfes mit ‚Verkehr‘ wiedergibt, mit ‚Transaktionen‘, siehe Aristoteles: NE 1130b34-1131a1, Wolf, S. 166. 422 Aristoteles: NE V,5, 1131a3-6, Rolfes, S. 106. 423 Aristoteles: NE V,5, 1131a6-9, Rolfes, S. 106. 424 Siehe Broadie: Commentary, S. 339. <?page no="111"?> 111 Meinung sind zumindest Grant, Gauthier, Hardie und Wolf. 425 Scaltsas argumentiert sogar dafür, dass Aristoteles neben der Verteilungsgerechtigkeit und der ausgleichenden Gerechtigkeit eine dritte Art von besonderer Gerechtigkeit beschreibt, nämlich die der reziproken Gerechtigkeit. 426 Gegen eine solche Interpretation argumentiert Thomas von Aquin, dass es nur zwei Arten der besonderen Gerechtigkeit gäbe, Verteilungsgerechtigkeit und ausgleichende Gerechtigkeit. In der ausgleichenden Gerechtigkeit sei der Austausch von Gütern eingeschlossen, was Thomas gleichsetzt mit Kauf und Verkauf. 427 Die folgende Argumentation stützt sich auf Thomas‘ Ansatz. Aristoteles spricht in NE V,5 von dem willentlichen Verkehr und dem unwillentlichen Verkehr. 428 Es fällt denjenigen, die den Tausch nicht als Form der ausgleichenden Gerechtigkeit interpretieren, als seltsam auf, dass der willentliche Verkehr bis auf eine kurze Bemerkung nicht mehr besprochen wird. 429 Wenn man die Besprechung des Tausches als Untersuchung des willentlichen Verkehrs liest, gibt es allerdings hinsichtlich dessen keinen Mangel. Außerdem ist der Tausch inhaltlich identisch mit einer der von Aristoteles erwähnten willentlichen Verkehrsformen: Kauf und Verkauf. Denn wie Aristoteles später bemerken wird, macht es keinen Unterschied, ob man Ware gegen eine bestimmte Quantität anderer Waren tauscht oder Ware gegen eine Menge an Geld. 430 Dass Thomas von Aquin recht darin tut, den kommerziellen Austausch als ausgleichende Gerechtigkeit zu besprechen, soll die folgende Argumentation erweisen. Aristoteles stellt die ausgleichende Gerechtigkeit anhand des ihm zugrunde liegenden Gleichheitsverhältnisses vor. Auch hier geht es um die Beziehung zweier Güter im Verhältnis zu der Beziehung zweier Personen. Allerdings wird in dieser Art der Gerechtigkeit von der Würdigkeit (axia) und sonstigen Unterschieden der Personen abstrahiert. 431 Es geht einzig darum, dass es sich so, wie das Verhältnis der einen Personen zu ihrer Sache zum Verhältnis einer anderen Person zu ihrer Sache vor der vertraglichen Beziehung war, nach ihrem gesellschaftlichem Verkehr in dem selben Verhältnis wieder darstellen soll. Da die Personen hier als gleichwertige gesetzt sind, ist die Proportionalität, in der das Verhältnis von 425 Siehe Grant: Ethics of Aristotle Bd. 2., S. 112-116; Jolif, Jean Y. und Gauthier, René: L’ Éthique à Nicomaque - Bd. 2.1. Commentaire Livres I-V, Louvain: Université de Louvain, 1959, S. 369-372; Hardie: The Final Good, S. 193-200 und Wolf: Aristoteles‘ Nikomachische Ethik, S. 109-111. 426 Siehe Scaltsas, Theodore: Reciprocal Justice in Aristotle‘s Nicomachean Ethics, In: Archiv für Geschichte der Philosophie 77 (1995), S. 248-262. 427 Siehe Thomas von Aquin: Summa Theologia Buch II, Teil II, Frage 61, Artikel 3, S. 98- 102. Siehe auch Broadie: Commentary, S. 339. 428 Siehe Aristoteles: NE V,5, 1131a3-9, Rolfes, S. 106. 429 So beispielsweise Wolf: Aristoteles‘ Nikomachische Ethik, S. 109. 430 Siehe Aristoteles: NE V,8, 1133b26-28, Rolfes, S. 114. 431 Siehe Aristoteles: NE V,7 1132a2-7, Rolfes, S. 109. <?page no="112"?> 112 Person A zu Sache c zum Verhältnis von Person B zu Sache d steht gleichbedeutend mit der Bestimmung, dass Sache c und Sache d weiterhin in dem selben Verhältnis zueinander stehen sollen wie zuvor. Für beide Personen, die in den Verkehr getreten sind, ist dieser also dann gerecht gewesen, wenn das Verhältnis der Güter zueinander nach dem Verkehr das Verhältnis der Güter zueinander vor dem Verkehr widerspiegelt. Diese arithmetische Proportionalität ist also ein Verhältnis der beiden Sachen zueinander, die je zu den beiden Personen gehören, die in einen willentlichen oder unwillentlichen Verkehr treten. 432 Zur Darstellungsform der ausgleichenden Gerechtigkeit ist zuvor zu bemerken, dass Aristoteles wie bereits bei der Distinktion zwischen Verteilungsgerechtigkeit und ausgleichender Gerechtigkeit in der Darstellung des allgemeinen Begriffs und der seiner Unterarten nicht sauber unterscheidet. Er redet zuerst von dem unwillentlichen Verkehr um zu verdeutlichen, dass die Würdigkeit der Personen in der ausgleichenden Gerechtig- 432 Gordon meint, die arithmetische sei lediglich eine extreme Form der geometrischen Proportionalität, nämlich dann, wenn in der geometrischen Formel beide Personen als gleiche gesetzt werden. Es handele sich also nicht um radikal anderen Prinzipien. Er gibt damit Marc-Wogau recht, der die ausgleichende Gerechtigkeit als Spezialfall der Verteilungsgerechtigkeit ansieht. Damit will er auch erklärt haben, warum sich die Würdigkeit (axia) dann doch in der ordnenden Gerechtigkeit auswirken könne, wie man am geschlagenen Beamten (NE V,8), an der Freundschaft (NE VIII,11) oder an den Verhältnissen der Glieder eines Hauses (NE VIII,12) sehen könne. Siehe Gordon: Aristoteles über Gerechtigkeit, S. 166f. und Marc-Wogau, Konrad: Aristotle‘s Theory of Corrective Justice and Reprocity, In: Marc-Wogau, Konrad (Hg.): Philosophical Essays - History of Philosophy, Perception, Historical Explanation, Copenhagen: Ejnar Munksgaard 1967, S. 21-40. Es ist in der Tat plausibel, dass beide Proportionalitäten sehr ähnlich sind. Allerdings ist die ausgleichende Gerechtigkeit nicht, wie Gordon meint, ein Spezialfall der Verteilungsgerechtigkeit. Ein solches Verhältnis hätte Aristoteles gewiss nicht verschwiegen. Gordon und Marc-Wogau schließen dies, da sie die Charakterisierung von Proportionalität überhaupt in Aristoteles: NE V,6, 1131a30-b3, Rolfes, S. 107 als Charakterisierung der Verteilungsgerechtigkeit lesen. Die Aristoteles nicht entsprechende Sicht, die ausgleichende Gerechtigkeit als eine Unterart der Verteilungsgerechtigkeit zu begreifen, lässt sich vermeiden, indem nicht das gesamte Kapitel NE V,6 als Vorstellung des allgemeinen Konzepts von Proportionalität anhand der Proportionalität der Verteilungsgerechtigkeit aufgefasst wird. In Aristoteles: NE V,6, 1131a15-21, Rolfes, S. 106f. redet Aristoteles von der Proportionalität überhaupt, in Aristoteles: NE V,6, 1131a21-29, Rolfes, S. 107 dagegen spricht Aristoteles von der unterschiedlichen Würdigkeit und damit speziell von der Proportionalität der Verteilungsgerechtigkeit, aber in Aristoteles: NE V,6, 1131a15-21, Rolfes, S. 106f. schiebt er nochmals einige Überlegungen zur Proportionalität überhaupt ein. M. E. versucht Aristoteles dadurch, dass er die Bestimmung einer speziellen Unterart des allgemeinen Begriffs dazwischen schiebt, die Anschauung des abstrakteren Prinzips zu verdeutlichen. Ähnlich verfährt er mit dem Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit im Verhältnis zu ihrer Anwendung im unwillentlichen und willentlichen Verkehr, wie noch zu zeigen sein wird. <?page no="113"?> 113 keit keine Rolle spielt, in dem Fall bei der Bestimmung der Strafe. Darüber kommt er auf das allgemeine Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit zu sprechen: Auch wenn es nicht immer passe, rede man im Verkehr der Bürger untereinander von Gewinn (kerdos) und Verlust (zēmia). 433 Dies sei jedoch das Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit als Mitte zwischen zu viel und zu wenig: „Gewinn und Verlust sind aber auf entgegengesetzte Weise zu viel bzw. zu wenig: Zu viel vom Gut und zu wenig vom Übel ist der Gewinn, und das Gegenteil gilt für den Verlust. Das Mittlere zwischen ihnen war das Gleiche, von dem wir sagen, dass es gerecht ist. Folglich wird das ausgleichende Gerechte das Mittlere zwischen Verlust und Gewinn sein.“ 434 Die Mitte in der ausgleichenden Gerechtigkeit ist mithin die Verteilung der Güter, bevor die Bürger in Verkehr miteinander traten. Das Ziel dieser Gerechtigkeit ist es somit, die Gleichheit des Verhältnisses der Güter zueinander vor wie nach dem Verkehr sicher zu stellen. Die von Wolf angebotene Übersetzung ‚ausgleichende Gerechtigkeit‘ ist daher adäquat, denn diese Gerechtigkeit will ein Ungleichgewicht in der Verteilung vermeiden oder die Gleichheit mit dem ursprünglichen Verhältnis wieder herstellen. 435 Für den unfreiwilligen Verkehr, für den Aristoteles die Ausdrücke Gewinn und Verlust explizit als Metapher aus der Sphäre des willentlichen Verkehrs auf den unwillentlichen Bereich anwendet, heißt das, dass ein erlittener Schaden wieder ausgeglichen werden muss, so dass die Verteilung der Güter danach wieder die Verteilung der Güter vor dem Zustandekommen des Schadens widerspiegelt. Die Ungleichheit in der Verteilung der Güter, die der Schaden verursacht hat, muss also wieder ausgeglichen werden. Dies kann dadurch geschehen, dass der Geschädigte Güter von seinem Schädiger erhält, oder dadurch, dass dem Schädiger seinerseits Güter genommen werden. In beiden Fällen muss es die bezweckte Absicht sein, die ursprüngliche Proportion der Güter wieder herzustellen. Viele Interpreten sehen es dabei als ein Problem an, dass der ursprüngliche Zustand nicht genau so wieder hergestellt werden kann. So verweist Aristoteles selbst auf die Tötung eines Menschen durch einen anderen um zu zeigen, dass Tat und Leiden auf zwei Personen verteilt sind, von denen 433 Siehe Aristoteles: NE V,7, 1132a9f., Wolf, S. 170. Rolfes übersetzt diese beiden Begriffe hier mit Vorteil und Nachteil, Siehe Aristoteles: NE V,7, 1132a9f., Rolfes, S. 109. Das erscheint inkonsistent, denn auf dieselben Begriffe geht Aristoteles zum Abschluss des unwillentlichen Verkehrs nochmals ein und zwar ebenfalls mit der Bemerkung, dass sie auf den unwillentlichen Verkehr nicht so recht passen, siehe Aristoteles: NE V,7, 1132b13-18, Rolfes, S. 110f. An dieser Stelle übersetzt Rolfes dann die beiden Wörter wie Aristoteles: NE V,7, 1132b13-18, Wolf, S. 171f. mit Gewinn und Verlust. Daher habe ich an dieser Stelle die Übersetzung von Wolf gewählt. 434 Aristoteles: NE V,7, 1132a16-18, Rolfes, S. 109. 435 Siehe Wolf: Aristoteles‘ Nikomachische Ethik, S. 107f. <?page no="114"?> 114 eine ihr Leben verliert und die andere dadurch im Verhältnis mehr hat als der andere, nämlich sein Leben. Allerdings, so der Einwand, ist der ursprüngliche Zustand nach der Tötung nicht wieder herzustellen. Dasselbe galt zu Aristoteles‘ Zeiten für die Amputation. Daher hält beispielsweise Fritz es für völlig absurd, einen Schadensausgleich für eine Tötung vornehmen zu wollen. 436 Diese Kritik missversteht Aristoteles allerdings, indem sie ihm moderne juristische Kategorien unterstellt und diese dann als mangelhaft kritisiert. Aristoteles spricht nämlich nicht von einem Schadensausgleich, sondern von der Wiederherstellung des ursprünglichen Verhältnisses. Dies ist auch gegeben, wenn der Mörder hingerichtet wird. Aber nicht nur die Todesstrafe, auch Einzug des Vermögens oder Verbannung waren in der griechischen Rechtssprechung für Mord üblich. 437 Und auch das ist im Einklang mit der aristotelischen Konzeption von Gerechtigkeit. Gleich im Anschluss an die Besprechung des unwillentlichen Verkehrs grenzt Aristoteles sich von jener Reziprozität ab, die besagt, dass die Tat identisch am Täter wiederholt werden sollte. Dies sei nicht im Sinne der ausgleichenden Gerechtigkeit. In der Bestimmung der Strafe seien noch andere Faktoren ausschlaggebend, beispielsweise ob eine Tat freiwillig oder unfreiwillig gewesen ist. Wie der Wert verschiedener Güter miteinander verglichen werden kann, so dass das ursprüngliche Verhältnis möglichst wieder hergestellt werden kann, ist in der Tat nicht leicht zu beantworten und wird von Aristoteles auch nicht thematisiert. 438 Wie immer man das Verhältnis der Güter zueinander bestimmt, das abstrakte Resultat, dass es gilt, das ursprüngliche Verhältnis der Güter zueinander wieder herzustellen, ist damit festgehalten. So schließt Aristoteles die Besprechung des unfreiwilligen Verkehrs mit dem Resultat: „So ist denn das Recht eine Mitte zwischen einem nicht auf freiem Willen beruhendem Gewinn und Verlust, also dies, daß man nach wie vor das Gleiche hat.“ 439 Der freiwillige Verkehr kommt am Ende des unfreiwilligen Verkehrs zu Sprache, indem Aristoteles die Bezeichnungen Gewinn und Verlust als aus dem freiwilligen Verkehr stammend kennzeichnet. „Gewinnen bedeutet nämlich eigentlich mehr erhalten, als man hatte, und Verlieren bedeutet weniger erhalten, als man vorher besaß, wie bei Kauf und Verkauf und jedem solchen gesetzlich erlaubten Verkehr.“ 440 Damit ist das Gleiche im freiwilligen Verkehr bestimmt, denn „wenn nicht mehr und nicht weniger vereinnahmt wird, sondern Gleiches um Gleiches, dann sagt man, man 436 Siehe Fritz: Zur Interpretation des Fünften Buches, S. 265. 437 Nach Gordon: Aristoteles über Gerechtigkeit, S. 175. 438 Bien: Gerechtigkeit bei Aristoteles, S. 159 äußert sich dazu, wie man sich diesen Ausgleich denken könnte. 439 Aristoteles: NE V,7, 1132b18-20, Rolfes, S. 111. 440 Aristoteles: NE V,7, 1132b13-16, Rolfes, S. 110f. <?page no="115"?> 115 erhalte das Seinige und erleide weder Verlust noch mache man Gewinn.“ 441 Das Gleiche ist somit im freiwilligen Verkehr, dass man das Seinige erhält. Wie das gemeint sein kann, muss sich noch erweisen, denn unmittelbar erscheint es so, dass man eine Sache weg gibt und eine andere dafür bekommt. Wie kann Aristoteles da sagen, das Eigene werde erhalten? Eine Gemeinsamkeit mit dem abstrakten Resultat im unfreiwilligen Verkehr fällt unmittelbar ins Auge: Bei beiden ist die Gleichheit der Güter vor wie nach dem Verkehr bezweckt. Bloß ist die ausgleichende Gerechtigkeit beim freiwilligen Verkehr auf die Erhaltung des ursprünglichen Verhältnisses ausgerichtet, während es beim unfreiwilligen Verkehr auf die Wiederherstellung des Verhältnisses vor dem Verkehr ankommt. Aristoteles leitet den willentlichen Verkehr mit der Abgrenzung zu einem falschen Urteil darüber ein, was gerecht sei. Aristoteles kritisiert die Ansicht, das Gerechte sei das reziproke Erleiden dessen, was man anderen angetan hat. Dies habe die pythagoreische Schule vertreten. 442 Über die Einordnung der Reziprozität 443 innerhalb der besonderen Gerechtigkeit herrscht in der Forschung große Uneinigkeit. Scaltsas meint, dass die Reziprozität eine eigene Art der besonderen Gerechtigkeit darstelle, neben den beiden bereits bestimmten. 444 Wolf meint, die Reziprozität sei eine Ablenkung vom eigentlichen Thema des freiwilligen Verkehrs; der Warentausch diene allein der Abweisung einer falschen Auffassung von Gerechtigkeit, nämlich des pythagoräischen Gedankens der Reziprozität, und hätte „in der dargestellten Form nichts mit Gerechtigkeitsfragen zu tun“ 445 . Derselben Ansicht ist auch Salomon. 446 Das ist m. E. nicht richtig. Ich möchte im Folgenden zeigen, dass der Warentausch genau die Explizierung des freiwilligen Verkehrs und die Reziprozität nicht bloß eine „assoziative Gedankenfolge“ 447 ist, sondern der Übergang vom unfreiwil- 441 Aristoteles: NE V,7, 1132b16-18, Rolfes, S. 111. 442 Siehe Aristoteles: NE I,8, 1132b21-23, Rolfes, S. 111. Ob Aristoteles damit dieser philosophischen Schule, mit der er sich intensiv auseinandergesetzt hat, gerecht wird, ist für die vorliegende Untersuchung irrelevant. Für eine Kritik dieser Zuschreibung siehe Stewart: Notes on the Nicomachean Ethics, S. 444f. Gordon meint, man könne die vorliegende Stelle auch so lesen, dass Aristoteles nicht die Pythagoreer selbst meinte, sondern „einige Menschen, die sich das Prinzip der Pythagoreer zu eigen gemacht haben.“ (Gordon: Aristoteles über Gerechtigkeit, S. 179, Fußnote30) 443 Ich übernehme die Übersetzung des Wortes antipeponthis als Reziprozität von Wolf, da dies die Neutralität der Reaktion besser betont als die von Rolfes gewählte Bezeichnung ‚Wiedervergeltung‘, die im Deutschen eine negative Konnotation hat. Siehe Aristoteles: NE I,8, 1132b21-23, Wolf, S. 172 und Aristoteles NE I,8, 1132b21-23, Rolfes, S. 111. 444 Siehe Scaltsas: Reciprocal Justice. 445 Wolf: Aristoteles‘ Nikomachische Ethik, S. 112. 446 Siehe Salomon: Der Begriff der Gerechtigkeit, S. 157. 447 Wolf: Aristoteles‘ Nikomachische Ethik, S. 109. <?page no="116"?> 116 ligen zum freiwilligen Verkehr. 448 Die nach Aristoteles pythagoräische Form der Reziprozität, die besagt, dass das Erleiden des Einen unmittelbar identisch sein müsste mit dem, was der erleidet, mit dem er verkehrt, kritisiert Aristoteles mit dem Verweis auf die Rechtspraxis. Als ein wichtiges Argument nennt er den Umstand, dass der Schaden, der im Staatsdienst stehenden Menschen angetan wird, wie auch der Schaden, den diese Menschen anderen zufügen, anders ausgeglichen wird als anderer Schaden. Einige Forscher haben dies als Widerspruch zu der Charakterisierung der ausgleichenden Gerechtigkeit angesehen, von der Würdigkeit der betroffenen Personen gerade abzusehen. 449 Dieser Einwand trifft Aristoteles hier allerdings nicht. Ihm geht es hier darum zu zeigen, dass in dem Ausgleich der Veränderung in der Verteilung der Güter durch unfreiwilligen Verkehr auch Gesichtspunkte eine Rolle spielen, die dem Prinzip ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn‘ entgegenstehen. Diejenigen, die hier einen Widerspruch gefunden zu haben meinen, denken, dass Aristoteles hier den Gesichtspunkt der Würdigkeit anlegt, womit er seiner vorigen Ausführung widerspricht. Thomas von Aquin hat zurecht festgestellt, dass es bei der ausgleichenden Gerechtigkeit um die Natur des Schadens geht, der angerichtet wird. Dem entsprechend geht es beim Beispiel des Staatsbediensteten um den Schaden, den das Gemeinwesen erleidet. Dieser Schaden muss dementsprechend zusätzlich zu dem an den Gütern Gesundheit und Ehre der Person angetanen Schaden auch bei dem Ausgleich durch den Richter in Betracht gezogen werden. Demnach ist es streng genommen nicht die Würdigkeit der Person, sondern das Gemeinwesen selbst, das stellvertretend im Staatsbediensteten geschädigt wird. Die Würdigkeit der Person selbst ist somit weder explizit noch implizit in der Widerlegung der unmittelbaren Reziprozität Thema. 450 Der zweite Gesichtspunkt, der beim Ausgleich eine Rolle zu spielen hat, ist die Frage der Freiwilligkeit der Handlung. 451 448 Das Urteil, dass der Warentausch die Ausführung der ausgleichenden Gerechtigkeit im freiwilligen Verkehr ist, teile ich mit Gordon: Aristoteles über Gerechtigkeit, S. 165. 449 So sieht Gordon die Stringenz der Argumentation, im Ausgleich des unfreiwilligen Verkehrs würde von der Würdigkeit der Personen abgesehen, durch das Beispiel des Staatsbediensteten in Frage gestellt, siehe Gordon: Aristoteles über Gerechtigkeit, S. 168. 450 Siehe Thomas von Aquin: Commentary on the Nicomachean Ethics, übersetzt von C.I. Lintzinger, Chicago: Henry Regnery Company 1964, Kommentar 969. Siehe auch Aubenque: The Twofold Natural Foundation of Justice, S 46, Fußnote 16. 451 Siehe Aristoteles: NE I,8, 1132b31f., Rolfes, S. 111. Salomon und Trude meinen, dass sich Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit hier auf die beiden Formen der ausgleichenden Gerechtigkeit bezieht. Allerdings sind diese beiden Formen nach freiwilligem und unfreiwilligem Verkehr unterschieden, nicht nach der Freiwilligkeit von Handlungen. Gegenargumente nennen auch Gordon und Broadie. Siehe Salomon: Der Begriff der Gerechtigkeit, S. 150, Fußnote 2; Trude: Der Begriff der Ge- <?page no="117"?> 117 Für Aristoteles steht diese Reziprozität somit im Widerspruch zu sowohl der Verteilungsgerechtigkeit als auch der ausgleichenden Gerechtigkeit. 452 Diese Abgrenzung der Reziprozität von den beiden Arten der besonderen Gerechtigkeit ist für einige Forscher das entscheidende Argument, dass Wiedervergeltung und Tausch nicht zur ausgleichenden Gerechtigkeit gehören. 453 Das widerspricht der expliziten Aussage von Aristoteles, mit der er von seiner Kritik an der Vorstellung von der Reziprozität als das Gerechte überhaupt zur Besprechung der Reziprozität im freiwilligen Verkehr überleitet: „In Tauschgemeinschaften (koinonia allaktike) aber hält diese Art des Gerechten die Menschen zusammen, und zwar das Reziproke, das der Proportion und nicht der Gleichheit entspricht.“ 454 Aristoteles unterscheidet also in Bezug auf den Tausch eine besondere Form der Reziprozität von dem, was er zuvor als Reziprozität kritisiert und was im Widerspruch zu den beiden Arten besonderer Gerechtigkeit steht. Ich meine, dass diese ‚gerechte‘ Reziprozität damit die ausgleichende Gerechtigkeit in Bezug auf den freiwilligen Verkehr darstellt. Erstens wurde dieser Bereich noch nicht ausgeführt. Zweitens wird diese Form der Reziprozität mit jenem Bereich in Verbindung gebracht. Drittens ist der Tausch, der später über das Geld vermittelt wird, eine freiwillige Verkehrsform. Und viertens wird die Reziprozität auch noch als eine Form des Gerechten bezeichnet. 455 Ob diese besondere Form von Reziprozität tatsächlich in die allgemeinen Bestimmungen der ausgleichenden Gerechtigkeit passt, muss sich an ihrem Inhalt erweisen. Was sie ausmacht ist, dass sie sich auf den Tausch bezieht und dabei nicht das Prinzip der identischen Gleichheit des Aug‘ um Aug‘ anwendet, sondern das Prinzip der Proportionalität. Diese Entgegensetzung ist wenig missverständlich, denn später führt Aristoteles die beiden Prädikate Gleichheit und Proportionalität zusammen: „Gleichheit im Sinne der Proportionalität“ 456 . Aus dem Inhalt der von Aristoteles kritisierten Reziprozität, die rein ‚mechanisch‘ das Erlittene mit identisch demselben beantwortet, lässt sich erschließen, dass hier mit Gleichheit dasselbe rechtigkeit, S. 102, Fußnote 500; Gordon: Aristoteles über Gerechtigkeit, S. 179f. und Broadie: Commentary, S. 343. 452 Siehe Aristoteles: NE V,8, 1132b23-26, Rolfes, S. 111. 453 Siehe Scaltsas: Reciprocal Justice, S. 251-253. 454 Dies in der Übersetzung von Wolf. Aristoteles: NE V,8, 1132b32-34, Wolf, S. 173. 455 Die zuletzt wiedergegebene Übersetzung von Wolf legt diese Verbindung nahe. Mir erscheint sie inhaltlich am schlüssigsten. Es gibt allerdings auch Übersetzungen, die die diesen Sachverhalt weniger unmittelbar nahe legen. So übersetzt Rolfes diese Passage beispielsweise etwas anders: „In jedem auf Gegenseitigkeit beruhendem Verkehr freilich begreift die Wiedervergeltung das fragliche Recht in sich, jedoch eine Wiedervergeltung nach Maßgabe der Proportionalität, nicht nach Maßgabe der Gleichheit.“ (Aristoteles: NE V,8, 1132b32-34, Rolfes, S. 111. 456 Aristoteles: NE V,8, 1133a10f., Rolfes, S. 112. Nach der Übersetzung von Wolf Aristoteles: NE V,8, 1133a10f.,Wolf, S.173: „proportionale Gleichheit“. <?page no="118"?> 118 Gut in derselben Quantität auf der anderen Seite gemeint ist. Dies trifft nach Aristoteles auf den Tausch nicht zu. Qualitativ wird niemals absolut Gleiches, sondern stets Ungleiches getauscht „denn aus zwei Ärzten wird keine Gemeinschaft“ 457 , entsteht also kein Tausch. Zugleich ist genau deswegen die Quantität unterschiedlich, in der der Tausch stattfindet. Denn, so formuliert es Aristoteles vorsichtig, „es könnte leicht der Fall sein“ 458 , dass eines der Dinge im Austausch wertvoller ist als das andere. Damit wäre die Gleichheit jedoch genau nicht gewährleistet, wenn exakt eine Sache gegen genau eine andere, aber wertvollere getauscht würde. Dies macht das Verhältnis der Proportionalität notwendig. Das quantitative Verhältnis der Sachen zueinander, die den jeweiligen Personen gehören, soll nach dem freiwilligen Verkehr genau so sein, wie vor dem Verkehr. Damit ist der Tausch gemäß der reziproken Proportionalität eine Form der ausgleichenden Gerechtigkeit. Wie diese soll jene das ursprüngliche Verhältnis wieder herstellen. „Denn man muss dem, der uns gefällig gewesen ist, Gegendienste erweisen und auch selbst wieder zuerst ihm gefällig sein.“ 459 Für Aristoteles ist der Tausch wie eine Gegengabe, die Wiederherstellung des ursprünglichen Verhältnisses. Der Tausch ist bei Aristoteles damit ganz in die Bestimmung eingegliedert, für den Zusammenhalt der Gemeinschaft da zu sein. Genau unter diesem Blickwinkel sollte auch die berühmte Bestimmung des Tauschs gelesen werden, auf die Marx in seiner Wertbestimmung zurückkommt. Aristoteles kommt vom Blickwinkel der ausgleichenden Gerechtigkeit darauf, dass eine Gabe mit einer Gegengabe erwidert werden muss, damit das ursprüngliche Verhältnis bestehen bleibt. Von diesem Standpunkt aus meint Aristoteles, „daß wie der Bauer zum Schuster, so die Leistung des Schusters sich zu der des Bauers verhält“ 460 . Über diese Stelle ist viel diskutiert worden. 461 Schwierig ist dabei, dass Aristoteles die Verbindung der Elemente unter der „Maßgabe der Diagonale“ 462 begreift, aber in der Austauschbeziehung stets nur die beiden Güter bespricht. Damit wäre diese Reziprozität aber nicht als Diagonale zu verstehen oder, auf das obige Zitat bezogen, es bräuchte keine Beziehung zwischen Bauer und Schuster, um zu klären, in welchem Verhältnis ihre Produkte zueinander stehen. 463 Wenn aber vier Elemente in einem Verhältnis stehen, welche Qualitäten des Bauers und Schusters sind es dann, die in einem Verhältnis 457 Aristoteles: NE V,8, 1133a17-19, Rolfes S. 112. 458 Diese Übersetzung nach Wolf. Aristoteles: NE V,8, 1133a13f., Wolf, S. 173. 459 Aristoteles: NE V,8, 1133a4f., Rolfes111f. 460 Aristoteles: NE V,8,1133a24-1133b1, Rolfes, S. 113. 461 z. B. äußern sich zu ihr Wolf111f., Bostock(2000)64, einen guten Überblick bietet Judson, Lindsay: Aristotle on Fair Exchange, In: Oxford Studies in Ancient Philosophy 15 (1997), S. 147-175. 462 Aristoteles: NE V,8,1133a7, Rolfes, S. 112. 463 Dies ist Thema in Aristoteles: NE V,8,1133b23-28, Rolfes, S. 114. <?page no="119"?> 119 stehen? Zwar wurde auch schon die Meinung vertreten, die Darstellung der Tauschgerechtigkeit sei „unerklärlich“ 464 ; dabei hat Judson m. E. einen plausiblen Erklärungsversuch vorgelegt. Vor allem hat sie aber gezeigt, dass die Arbeitszeit nicht, wie beispielsweise Hardie es vertritt, die ausschlaggebende Größe ist. 465 Der Abschnitt gibt wahrscheinlich vor allem daher Rätsel auf, weil er unter dem Gesichtspunkt der modernen ökonomischen Wissenschaft gelesen wird, dafür aber nicht geschrieben wurde. 466 Aristoteles geht es nicht um die Befriedigung der Bedürfnisse durch den Tausch, sondern um die Beziehung derjenigen, die durch den Tausch miteinander in Verkehr treten. Aristoteles spricht davon, dass der Tausch nach einer bestimmten Proportion geschehen muss 467 , er problematisiert die Kommensurabilität der Güter, die gegeben sein muss, damit die Güter in ein bestimmtes Verhältnis zueinander gestellt werden können 468 , er sieht das Bedürfnis als die Grundlage dieser Proportion an 469 , und leitet aufgrund der Verschiedenheit der Bedürfnisse das Geld als vermittelndes Medium ab 470 . All diese ökonomischen Bestimmungen geraten aber Aristoteles nur ins Blickfeld als Gegenstand der Reziprozität, der sozialen Tugend der besonderen Gerechtigkeit. Für Aristoteles ist das Wesentliche nicht die Befriedigung der Bedürfnisse, sondern dass hier eine positive Gemeinschaft von Gabe und Gegengabe zustande kommt, dass also die Tugend der ausgleichenden Gerechtigkeit geübt wird. Das Wesentliche am Tausch ist für ihn, dass die Individuen in ein positives und harmonisches Verhältnis zueinander treten, das nicht vom Mehr-habenwollen gekennzeichnet ist, sondern vom Willen zur Vergeltung der guten Gabe, die man erhalten hat. Ohne die Proportionalität „kann kein Austausch und keine Gemeinschaft sein“ 471 , ohne die Gemeinsamkeit des Be- 464 Joachim, Harold: The Nicomachean Ethics, S. 150. 465 Siehe Judson: Aristotle on Fair Exchange, S. 163-168 und Hardie: Aristotle’s Ethical Theory, S. 169. Derselben Ansicht ist auch Marx, der Aristoteles zugesteht, die Wertform als erster erkannt zu haben; es sei ihm jedoch nicht möglich gewesen, die Arbeit als Substanz des Werts zu bestimmt. Siehe Marx: Das Kapital, Bd. 1, 1890, MEGA II,10, S. 59f. Einen Versuch, die aristotelische Untersuchung des Tauschs von einer Marxschen Perspektive her zu interpretieren hat Meikle unternommen, siehe Meikle, Scott: Aristotle‘s Economic Thought. Oxford: Clarendon Press 1995. 466 Das haben bereits einige Forscher betont, siehe u. a. Judson: Aristotle on Fair Exchange, S. 147f.; DeGolyer, Michael: The greek Accent of the Marxian Matrix, In: McCarthy, George E. (Hg.): Marx and Aristotle: Nineteenth-century German Social Theory and Classical Antiquity, Savage: Rowman & Littlefield 1992, S. 132-135 und Castoriadis: Von Marx zu Aristoteles und von Aristoteles zu uns, S. 236. 467 Siehe Aristoteles: NE V,8,1133a10-17, Rolfes, S. 112. 468 Siehe Aristoteles: NE V,8,1133a24-27, Rolfes, S. 112. 469 Siehe Aristoteles: NE V,8,1133a27-29, Rolfes, S. 113. 470 Siehe Aristoteles: NE V,8,1133a29-33, Rolfes, S. 113 und Aristoteles: NE V,8,1133b16- 23, Rolfes, S. 114. 471 Aristoteles: NE V,8,1133a24f., Rolfes, S. 112. <?page no="120"?> 120 dürfnisses „würde entweder kein Austausch sein oder kein gegenseitiger“ 472 , was zeige, dass „das Bedürfnis als eine verbindende Einheit die Menschen zusammenhält“ 473 . Ohne die Reziprozität „gäbe es keine Gemeinschaft des Verkehrs“ 474 . Aristoteles schätzt damit den Tausch als eine sittliche Kraft, die der Gerechtigkeit bedarf um zu existieren, und damit eine Tugend aus praktischer Notwendigkeit gebietet. Der Tausch ist bei Aristoteles damit ganz in die Bestimmung eingegliedert, für den Zusammenhalt der Gemeinschaft da zu sein. Die besondere Gerechtigkeit ist jene Tugend, die explizit das Verhältnis zu äußeren Gütern zum Gegenstand hat. Daneben thematisiert Aristoteles aber auch gelegentlich das Verhältnis dieser äußeren Güter zu seiner Tugendlehre insgesamt. Dabei spielen diese Güter eine untergeordnete, aber positive Rolle. Dieses Verhältnis der äußeren Güter im Allgemein, und der materiellen Bedürfnisbefriedigung im Besonderen zur aristotelischen Tugendlehre ist ein wesentlicher Schnittpunkt zwischen Marxschem Bewertungsmaßstab und aristotelischer Ethik. Daher soll im Folgenden die Rolle der materiellen Bedürfnisbefriedigung im ‚guten Leben‘ bei Aristoteles bestimmt werden. 472 Aristoteles: NE V,8,1133a28-29, Rolfes, S. 113. 473 Aristoteles: NE V,8,1133b7, Rolfes, S. 113. 474 Aristoteles: NE V,8,1133b6, Rolfes, S. 113. <?page no="121"?> 121 5. Materielle Bedürfnisbefriedigung und eudaimonia Während der Begriff Tugend heutzutage im alltäglichen Sprachgebrauch mit sinnlichem Verzicht in Verbindung gebracht wird, ist Aristoteles‘ Tugendlehre weit von dieser Bedeutung von Tugend entfernt. Vielmehr spielen materielle Güter in seiner Tugendlehre eine positive, wenn auch untergeordnete Rolle. Obgleich er sich gegen die zu seiner Zeit populäre und weit verbreitete Meinung wendet, dass Glückseligkeit mit Wohlstand und Erfolg gleichzusetzen sei, integriert er gemäß seiner Methode, von jeder Meinung die Wahrheit heraus zu arbeiten und wissenschaftlich zu beweisen, auch die positive Rolle, die materielle Güter für eudaimonia spielen. 475 Zwar stellt Aristoteles dabei die populäre Legitimation der Tugenden, dass sie für die Erlangung und Bewahrung der Güter nützlich sei, auf den Kopf, indem er stattdessen die äußeren Güter als Mittel für die tugendgemäße Aktivität darstellt, jedoch integriert er zugleich den Genuss äußerer Güter in das ‚gute Leben‘. Und wie zu zeigen sein wird, erkennt er selbst an, dass die tugendhafte Aktivität nützlich für die äußeren Güter ist. Somit gehört für Aristoteles materielles Wohlergehen, also auch die gute Befriedigung materieller Bedürfnisse oder die Abwesenheit materieller Entsagung und Leiden, zu einem guten Leben dazu. ‚Äußere Güter‘ ist ein relationaler Begriff und bezieht sich auf zwei verschiedene Verhältnisse. Einmal beschreibt er jene Güter, die sich außerhalb des eigenen Körpers befinden, namentlich Freunde, Reichtum, politischer Einfluss, eine ehrbare Herkunft und brave Kinder. 476 Wie Cooper ganz richtig dargestellt hat, bezieht Aristoteles in diesen Begriff in Bezug auf eudaimonia aber auch Güter ein, die sich auf den Körper beziehen und sich damit außerhalb der Seele befinden, 477 wie körperliche Schönheit 478 , Kraft 479 und Gesundheit 480 . Im Folgenden geht es um den materiellen Reichtum, den Reichtum an materiellen Gütern, die zur Bedürfnisbefriedigung gedacht sind. Sie sind ein Teil der äußeren Güter; um sie geht es dem entsprechend auch immer mit, wenn die äußeren Güter genannt werden. Die Rolle der materiellen Güter in der Tugendlehre des Aristoteles hat drei Aspekte. Erstens zeigt 475 Ganz ähnlich argumentiert auch White: Happiness and Prosperity, S. 49-52. 476 Siehe Aristoteles: NE I,9, 1199b1-3, Rolfes, S. 16. 477 Siehe Cooper, John M.: Aristotle on the Goods of Fortune, In: The Philosophical Review 94.2 (1985), S. 176f. 478 Siehe Aristoteles: NE I,9, 1199b3, Rolfes, S. 16. 479 Siehe Aristoteles: NE X,9, 1178a33, Rolfes, S. 252. 480 Siehe Aristoteles: NE X,9, 1178b34f., Rolfes, S. 254. <?page no="122"?> 122 Aristoteles auf, dass äußere Güter, zu denen für ihn auch die zur Bedürfnisbefriedigung zählenden Güter gehören, notwendige Bedingung und hilfreiche Instrumente für tugendhafte Aktivitäten und damit für ein gutes Leben sind. Zweitens deutet Aristoteles an, dass materielles Wohlergehen als Nebenwirkung tugendhafter Aktivitäten eintrete. Und drittens verdient ein tugendhaftes Leben ohne ein gewisses materielles Wohlergehen nach Aristoteles nicht gut genannt zu werden. 5.1. Materielle Güter als Hilfsmittel und Vorbedingungen für das ‚gute Leben‘ Es gehört zum Realismus des Aristoteles, dass er zwar allen freien Männern generell zugesteht, ein gutes Leben zu führen, indem sie Tätigkeiten gemäß der Tugend ausüben, jedoch zugleich weiß, dass diese Tätigkeiten äußere Mittel erfordern. Eine ähnliche Sicht zeigt er in der ‚Politik‘, wenn er bemerkt, dass Leute, die „mit der Beschaffung des notwendigen Lebensunterhalts befasst sind“ 481 , wie Sklaven, Handwerker und Tagelöhner, sich unmöglich in den Werken der Tugend üben könnten. Zwar geht es an dieser Stelle um die von den in der NE entwickelten allgemeinmenschlichen Tugenden verschiedenen Tugenden des Bürgers, aber die Stelle zeigt dennoch, dass Aristoteles keineswegs die materiellen Güter bei der Ausübung der tugendgemäßen Tätigkeiten vergisst. Das kann nicht verwundern angesichts einer Ethik, der es ebenso sehr auf den guten Willen wie auf die gute Tat selbst ankommt. Ein guter Wille muss sich nach Aristoteles auch zeigen, ansonsten sei der schlechte Wille vom guten ununterscheidbar. 482 Daher muss man der Sorgen enthoben sein, sich um die Notwendigkeiten des Überlebens zu kümmern, um tugendhafte Grundhaltungen auszubilden. In der NE bemerkt Aristoteles gleich zu Anfang, dass die Glücksgüter, die tugendhaften Aktivitäten, der Vorbedingungen und Mittel bedürfen: „so können die übrigen Güter teils von selbst der Tugend niemals fehlen, teils kommen sie für dieselbe naturgemäß nur als brauchbare und hilfreiche Werkzeuge in Betracht“ 483 . Diese notwendigen Bedingungen und Hilfsmittel für das gute Leben bespricht Aristoteles in seiner Ausführung in NE X, die davon handelt, warum die Lebensform der theoria die ‚vollendete eudaimonia‘ genannt zu werden verdient. Ein Argument für die Lebensform der theoria besteht darin, dass sie in einer Hinsicht autarker ist als die politische Lebensform, die das Leben auf die Tätigkeiten der ethi- 481 Aristoteles: Politik III,5, 1278a21-22, Rolfes, S. 86. 482 Siehe z. B. Aristoteles: NE X,8, 1178a28-1178b1, Rolfes, S. 252. 483 Aristoteles: NE I,10, 1109b26-28, Rolfes, S. 17. <?page no="123"?> 123 schen Tugenden hin ausrichtet. Der theoria sei es eigen, dass man sie ohne Hilfsmittel ausüben könne: „Der Freigebige braucht Geld, um freigebig zu handeln, und der Gerechte braucht es, um Empfangenes zu vergelten - denn das bloße Wollen ist nicht erkennbar, und auch, wer nicht gerecht ist, tut so, als wolle er gerecht handeln -; der Mutige bedarf der Kraft, wenn er eine Tat des Mutes vollbringen will, und der Mäßige bedarf der Freiheit und Ungebundenheit.“ 484 An dieser Stelle wird klar, wie Aristoteles sich die Rolle der äußeren Güter denkt, die Hilfsmittel für das gute Leben seien. So braucht der Großzügige Geld, um es wegzugeben, ohne Geld hat er keine Möglichkeit, großzügig zu handeln. Derjenige, der die Tugend der Tauschgerechtigkeit ausüben will, braucht angemessenen Reichtum, um der Gabe mit einer adäquaten Gegengabe zu entgegnen. Aber nicht nur materielle Güter sind notwendig; so bedarf der Tapfere der Kraft, um das Risiko, das er auf sich nimmt, überhaupt meistern zu können. Und der Besonnene schließlich bedarf der Gelegenheiten, in denen er seine Besonnenheit beweisen kann, also der Möglichkeit der Mäßigung, den Zugriff auf Güter nur besonnen und im genau rechten Maße und auf die richtige Weise auszuführen. Diese Gelegenheit ist nach Aristoteles nicht gegeben, wenn der mäßige Genuss durch äußeren Mangel erzwungen werde. Aristoteles kommt es darauf an, dass sich die Tugend in der Tat zeigt, ansonsten könnte auch Armut als Mäßigung ausgegeben werden. Der besonnene Genuss bedarf demnach des Materials, dem er sich nur in genau dem richtigen Maße hingibt. 485 Zwar schränkt Aristoteles ein, dass es nicht ungeheurer Reichtümer bedarf, um ein gutes Leben zu führen. Es muss kein Schiff für die polis sein, das die Großgeartetheit des Spenders zeigt. Aber Aristoteles macht auch deutlich, dass die Größe einer Tat wie die Großzügigkeit einer Spende zumindest auch nach dem Effekt beurteilt wird, den sie vollbringt. Und so fasst Aristoteles zu der politischen Lebensform und damit den ethischen Tugenden zusammen: „Nun bedarf sie aber, um zu handeln, vieler Dinge und bedarf ihrer desto mehr, je größer und schöner die Handlungen sind.“ 486 Die theoria, die innere Versenkung in die Wahrheit bedarf im Kontrast dazu gar keines äußeren Gegenstands - und daher sei die Lebensform der theoria die ‚vollkommene eudaimonia‘. 487 Zugleich kann man in 484 Aristoteles: NE X,8, 1178a28-33, Rolfes, S. 252. 485 Die Übersetzung von exosia mit ‚Gelegenheit‘ von Wolf als das notwendige äußere Gut der Besonnenheit erscheint plausibler als die oben wiedergegebene Übersetzung von Rolfes mit ‚Freiheit‘ und ‚Ungebundenheit‘. Aristoteles: NE X,8,1178a28-33, Wolf, S. 332 und Aristoteles: NE X,8,1178a28-33, Rolfes, S. 254. 486 Aristoteles: NE X,8, 1178b1-3, Rolfes, S. 252. 487 Auch in der ‚Politik‘ betont Aristoteles den Mittelcharakter der äußeren Güter für das gute Leben. Er resümiert, „daß das beste und vollkommenste Leben, so für den Einzelnen für sich wie für die Staaten als Gemeinschaften, das Leben nach der <?page no="124"?> 124 diesem Vergleich der beiden Lebensformen auch nachvollziehen, wie Aristoteles sich die notwendigen Bedingungen für das gute Leben denkt. Diesen Aspekt teilt nämlich die Lebensform der theoria mit der politischen Lebensform: Beide benötigen das für das Leben Notwendige. „Der Glückselige wird aber als Mensch auch in äußeren guten Verhältnissen leben müssen. Denn die Natur genügt sich selbst zum Denken nicht; dazu bedarf es auch der leiblichen Gesundheit, der Nahrung und alles andern, was zur Notdurft des Lebens gehört.“ 488 Ein Mensch, so lässt sich schließen, der sich um den Bedarf der täglichen Lebensmittel kümmern muss oder beständig damit beschäftigt ist, einen Schlafplatz zu finden, wird kaum die Muße haben, eine beständige Grundhaltung der Tugenden wie Tapferkeit oder die Achtung der Gesetze auszubilden. Dieselbe Position drückt Aristoteles in seiner Haushaltskunst (oikonomia) von der Perspektive der materiellen Güter her aus. 489 In der NE bestimmt Aristoteles die oikonomia als eine Art der phronesis. 490 Die phronesis ist für Aristoteles eine der dianoethischen Tugenden, die dafür zuständig ist, darüber nachzudenken, was für den Menschen nützlich im Sinne des guten Lebens wäre. Der Nutzen, auf den die phronesis abzielt, ist damit nicht irgend ein selbst gesetztes Ziel, sondern der Nutzen „in Bezug auf das, was das menschliche Leben gut und glücklich macht“ 491 . Ziel der phronesis sind somit Aktivitäten gemäß der Tugenden. 492 Somit ist die Haushaltskunst selbst ein Denken, das darauf aus ist, den Haushalt für die eudaimonia nützlich zu machen. Aus der Kunst, den Haushalt zu führen, lässt sich somit ableiten, dass der Zweck des Haushalts selbst für Aristoteles der richtige Gebrauch der Güter für die Tugend seiner Bewohner ist. „Es ist also klar, daß die Sorge des Hausvorstandes sich mehr auf die Menschen richtet als auf den toten Besitz, und mehr auf die Vortrefflichkeit der ersteren als auf die Fülle der letzteren, die wir Reichtum nennen“ 493 Die Haushaltskunst ist nach Aristoteles somit ganz auf die gute Benutzung der materiellen Güter im Sinne der eudaimonia ausgerichtet. Damit richtet sich Tugend ist, die der äußeren Mittel genug besitzt, um sich in tugendgemäßen Handlungen betätigen zu können.“ (Aristoteles: Politik VII,1, 1323b39-43, Rolfes, S. 238, Kursiv im Original) 488 Aristoteles: NE X,9, 1178b33-35, Rolfes, S. 254. 489 ‚Haushaltskunst‘ ist die Übersetzung von Rolfes in Aristoteles: NE VI,8, 1141b30-35, Rolfes, S. 140. In der ‚Politik‘ übersetzt Rolfes den Begriff mit Haushaltslehre, siehe Aristoteles: Politik I,3, 1253b2-3, Rolfes, S. 6. ‚Haushaltslehre‘ kann aber leicht mit der modernen Haushaltsführung außerhalb der Produktions- und Zirkulationssphäre verbunden werden. In der antiken oikinomia waren diese Aspekte jedoch integriert. Daher ist der Begriff der Haushaltskunst dem Gegenstand angemessener. 490 Siehe Aristoteles: NE VI,8, 1141b30-35, Rolfes, S. 140. 491 Aristoteles: NE VI,5, 1140a27f., Rolfes, S. 135. 492 Dazu gehören ethische wie dianoethische Tugenden, siehe Wolf: Aristoteles‘ Nikomachische Ethik, 147, Fußnote 5. 493 Aristoteles: Politik I,13, 1259b17-21, Rolfes, S. 27. <?page no="125"?> 125 Aristoteles gegen die bereits in seiner Zeit populäre Meinung, oikonomia sei die Lehre vom Besitz oder Erwerb. 494 Den Erwerb ordnet Aristoteles der Lehre dessen unter, worauf der Erwerb vernünftigerweise gerichtet sein sollte, nämlich dem Gebrauch der materiellen Güter für das ‚gute Leben‘. Dieser Zweck sei demnach auch die natürliche Grenze des Erwerbs. 495 5.2. Materielle Güter als Resultat der tugendhaften Aktivität Aristoteles betont, dass äußere Güter kein Selbstzweck sein sollen, sondern Mittelcharakter für die Ausübung der Tugenden in ihnen gemäßen Tätigkeiten haben. Aber zugleich meint Aristoteles auch, dass ein Leben gemäß der der Seele eigenen Tüchtigkeit, also gemäß der arete, auch andersherum nützlich ist im Hinblick auf äußere Güter. Erstens lässt sich erschließen, dass für Aristoteles ein tugendhaftes Leben nützlich ist für die Erlangung von materiellen Gütern. Zweitens haben bestimmte einzelne Tugenden die Nebenwirkung, dass die eigenen materiellen Güter bewahrt werden. Und drittens haben einzelne Tugenden auch den Effekt, den Genuss der materiellen Güter sicher zu stellen. Aristoteles spricht in der ‚Politik‘ davon, dass ein gutes Leben eher durch ein Übermaß an inneren Gütern - also Tugenden - und ein begrenztes Maß an äußeren Gütern zu erreichen sei als andersherum. Er betont also den eingeschränkten Mittelcharakter der materiellen Güter für ein gutes Leben. Dabei bemerkt er aber auch, dass es doch offensichtlich sei, „daß die Tugenden nicht durch die äußeren Güter erworben und bewahrt werden, sondern diese durch jene“ 496 . Ein tugendhaftes Leben bedingt also die Erlangung und Bewahrung äußerer Güter, mithin auch materiellen Reichtums. 497 Wie das zu verstehen ist, wird aus der Stelle der ‚Politik‘ nicht klar, lässt sich aber aus weiteren Stellen in der NE rekonstruieren. Unmittelbar ist eine Wirkung tugendhafter Aktivität die Anerkennung in der Ehre, die einem erwiesen wird. „Denn die Ehre ist der Tugend Preis, 494 Siehe Aristoteles: Politik I,3, 1153b8-14, Rolfes, S. 6. 495 Siehe Aristoteles: Politik I,8, 1156b27-37, Rolfes, S. 17. 496 Aristoteles: Politik VII,1, 1323a40, Rolfes, S. 237. 497 Ganz ähnlich argumentiert Aristoteles in der Rethorik. Dort relativiert er zwar die Ansicht, dass die Tugend eine Fähigkeit sei, „Güter zu beschaffen und zu bewahren“, stellt sie aber hinter ihre Fähigkeit zurück, „viele und große Wohltaten zu erweisen“. Damit relativiert er zwar die populäre Ansicht über das positive Verhältnis der Tugend zu den äußeren Gütern, auf die in der ersten Fähigkeit Bezug genommen ist, zugleich negiert er sie aber gar nicht. (Zitiert nach Aristoteles: Rethorik I,9, 1366a36- 1366b2, übersetzt von Christof Rapp, In: Flashar, Helmut: Aristoteles - Werke, Bd. 4.2, Berlin: Akademie-Verlag 2002, S. 46) <?page no="126"?> 126 und den Guten wird sie zuerkannt.“ 498 Der tugendhafte Mann suche die Ehre (time) als Beleg dessen, dass man gut sei; man wolle nämlich seine arete geehrt wissen. 499 Ein Form des Ausdrucks dieser Ehre ist jene Freundschaft (philia), die in ihrer höchsten Form nicht der Lust oder des Nutzens willen geschlossen wird, sondern weil man sich an der arete des anderen erfreut 500 und dadurch zu weiterem guten Handeln anspornt 501 . Diese Freunde sind schlechthin gut und gut füreinander 502 . Dieses äußere Gut der Ehre beinhalte jedoch bei den in der griechischen antiken Gesellschaft üblichen Bindungen Gefälligkeiten und Dienstleistungen. Daher ist der Schluss zulässig, dass auch die auf der Tugend basierende Freundschaft also bedeutete, Hilfe für ein gutes Leben in umfassenden Sinne zu erhalten. Das beinhaltet sowohl das Schenken äußerer Güter als auch die Hilfestellung, dass die vorhandenen materiellen Güter für die eudaimonia genutzt werden, also Hilfe zur Entwicklung der inneren Güter, der Tugend. 503 Ein anderes Zeichen der Anerkennung sind öffentliche Ehrungen, die sich durchaus auch in materiellen Gütern manifestieren können. Die öffentliche Anerkennung oder die Hilfe gleichgesinnten Freunde, die der Ehre eines tugendhaften Menschen Ausdruck verleihen, verhelfen zu äußeren Gütern. Dadurch sind diese das von Aristoteles behauptete Nebenprodukt tugendhafter Taten. Dass das tugendhafte Leben nützlich zur Bewahrung der eigenen Güter ist, ergibt sich aus dem Inhalt der Tugenden. Der tugendhaft Handelnde ist nämlich vortrefflich genug, sein Leben so zu organisieren, dass er seine Zwecke gemäß der ihm eigenen Tüchtigkeit vollbringen kann. Das heißt aber auch, dass es ihm dank seiner Tüchtigkeit gelingt, die dafür nötigen Güter, die schon über das bloße Überleben hinausgehen und Voraussetzung für ein gewisses Wohlergehen und Muße sind, zu organisieren und zusammen zu halten. So ist in der Tapferkeit auch enthalten, nicht alles zu riskieren, wenn der Erfolg aussichtslos scheint. Und zur Großzügigkeit gehört auch, beim Geben nicht zu freizügig zu sein. Obgleich die tugendhafte Tat nun um ihrer selbst wegen vollbracht werden muss, um 498 Aristoteles: NE IV,7, 1123b35-1124a1, Rolfes, S. 85. 499 Siehe Aristoteles: NE I,3, 1095b25-30, Rolfes, S. 5f., siehe auch Aristoteles: NE IX,8, 1169a30-32, Rolfes, S. 225. 500 Siehe Aristoteles: NE VIII,4, 1156b6-18, Rolfes, S. 185f. 501 Siehe Aristoteles: NE IX,12, 1172a8-14, Rolfes, S. 233. 502 Siehe Aristoteles: NE VIII,4, 1156b13-15, Rolfes, S. 186. 503 Siehe Reibnitz, Barbara von: Freundschaft, In: Cancik, Hubert (Hg.): Der neue Pauly - Enzyklopa ̈ die der Antike, Stuttgart: Metzler 1996, S. 669f. Wohlgemerkt: Die materielle Ausstattung sollte nach Aristoteles keine Kalkulation des Freundes sein, denn ist er nicht ähnlich aufopferungsvoll für seinen Freund, dann ist es eine reine Nutzensfreundschaft und keine Freundschaft, die sich auf der Tüchtigkeit des Anderen gründet. Sie verhilft damit auch nicht zu den inneren Gütern, die für die Anwendung der äußeren ja unabdingbar ist, und geht außerdem zugrunde, wenn der Nutzen ausbleibt. Sie ist damit einem guten Leben nicht zuträglich. <?page no="127"?> 127 als eine solche gelten zu können, ist es nach Aristoteles auch ein Nebeneffekt, dass der Tugendhafte seinen materiellen Besitz zusammenhält und damit ein sichereres Leben führt als der Lasterhafte. Vor allem garantiert das tugendhaftes Leben nach Aristoteles jedoch den bestmöglichen Gebrauch der eigenen Güter. Die positive Wirksamkeit materiellen Reichtums für das eigene gute Leben ist erst mit den aretai gegeben. So stellt die Besonnenheit einen schönen Genuss sicher, ohne in Völlerei oder Askese zu verfallen, denn nach NE III,14 504 strebt der Besonnene mit der Konsumtion Gesundheit und Wohlbefinden zu fördern, indem er maßvoll äußere Güter genießt. „Nun gibt es aber in den sinnlichen Gütern ein Übermaß, und der Schlechte ist schlecht, weil er das Übermaß und nicht die notwendige Lust begehrt. Denn alle Menschen erfreuen sich einigermaßen an guten Speisen, Weinen und Geschlechtsgenuß, aber nicht alle in gebührender Weise.“ 505 Im rechten Gebrauch der Güter durch die Tugend der Besonnenheit schließt Aristoteles somit den leiblichen Genuss äußerer Güter mit der tugendhaften Tat zusammen. Anders als der lasterhafte, übermäßige Genuss verdient der tugendhafte Genuss für Aristoteles tatsächlich gut genannt zu werden, denn er verhilft zu einem ‚guten Leben‘ ohne der Lust entsagen zu müssen. Der Besonnene verspürt keinen Schmerz über die Abwesenheit des Genusses und „jenes Lustbringende, das zur Gesundheit oder zum Wohlbefinden gehört, begehrt er mit Maß und wie es recht ist“ 506 . Die Besonnenheit führt somit die sinnlichen äußeren Güter dem wahren Genuss zu; durch sie wird die tugendhafte Handlung vollzogen und darin ist eingeschlossen, dass das Wohlbefinden und die Gesundheit des Genießenden gesteigert wird. Aber nicht nur die Besonnenheit verhilft nach Aristoteles zu einem guten Umgang mit den äußeren Gütern, die Tugenden insgesamt helfen im Umgang mit jenen Gütern, „die äußeres Glück und Unglück bedingen, die zwar schlechthin und an sich immer gut sind, aber nicht immer für den einzelnen. Die Leute aber beten und bemühen sich um sie. Das sollte nicht sein. Sie sollten vielmehr beten, daß das schlechthin Gute auch ihnen gut sein möge, und sollten dann erwählen, was für sie gut ist.“ 507 504 Siehe Aristoteles: NE III,14, 111916-19, Rolfes, S. 70. 505 Aristoteles: NE VII,14, 1154a15-18, Rolfes, S. 178. 506 Aristoteles: NE III,14, 111917-18, Rolfes, S. 70. 507 Aristoteles: NE V,2, 1129b2-8, Rolfes, S. 101. <?page no="128"?> 128 5.3. Materielle Güter als integrativer Bestandteil des ‚guten Lebens‘ Schließlich stellt Aristoteles fest, dass ein tugendhaftes Leben ohne ein Maß an äußeren Gütern nicht wahrhaft gut genannt zu werden verdient. Eine tugendhafte, aber verelendete Existenz kann demnach kein gutes Leben sein. Zwar benötigt man keine ungeheuren Reichtümer, aber eine gewisse Absicherung, zusammen mit anderen äußeren Gütern wie Gesundheit und guten Kinder, gehörten zu einem guten Leben dazu. Materielle Güter sind damit nicht nur als Hilfsmittel und notwendige Bedingungen auf die Ausübung der tugendhaften Aktivitäten bezogen, sondern haben bei Aristoteles auch jenseits dieses instrumentellen Verhältnisses einen festen Platz im guten Leben. Aristoteles verdeutlicht dies anhand der Lust. Die Leute identifizierten Lust mit eudaimonia „mit Recht, denn keine Tätigkeit ist vollkommen, wenn sie gehemmt ist, die Glückseligkeit ist aber etwas Vollkommenes. Daher bedarf der Glückselige auch noch der leiblichen und der äußerlichen Glücksgüter, damit die Tätigkeit und die Glückseligkeit nicht gehindert werde.“ 508 Zwar macht Aristoteles auch hier nochmals deutlich, dass Reichtum an äußeren Güter nicht gleichbedeutend mit einem guten Leben sei, ja diesem im Übermaß sogar schaden könnten. 509 Aber dennoch zeigt diese Stelle, dass Aristoteles‘ Konzept des ‚guten Lebens‘ moralische Güte mit materiellem Interesse verbindet. 510 „Denn um gut und glücklich zu leben, bedarf es auch einer gewissen Ausstattung mit äußeren Mitteln, für besser geartete Naturen freilich in geringerem, für die weniger edlen dagegen in höherem Maße.“ 511 Das Konzept des ‚guten Lebens‘ ist somit ein moralisch wertvolles Leben, das die materiellen Güter als notwendige Bestandteile betrachtet. Die aristotelische Tugendlehre integriert somit die Befriedigung materieller Bedürfnisse, insofern sie der tugendhaften Tat nicht entgegenstehen oder ihr behilflich sind. Cicero sieht diese Synthese von tugendhafter Aktivität und dem Genuss äußerer Güter in Bezug auf das ganze Leben überhaupt als das charakteristische Merkmal der aristotelischen Ethik: „So hat z. B. Aristoteles die praktische Übung der Tugend mit dem vollkommenen 508 Aristoteles: NE VII,14, 1153b16-19, Rolfes, S. 176. 509 Siehe Aristoteles: NE VII,14, 1153b19-25, Rolfes, S. 177. 510 White macht darauf aufmerksam, dass Aristoteles sich damit sowohl von Sokrates wie von der Stoa absetzt. Für Aristoteles gibt es auch Güter, die nicht unmittelbar auf die Ausübung von Tugend bezogen sind, die aber dennoch einen intrinsischen Wert haben, verfolgt zu werden. „Like everyone else, the virtuous would prefer to enjoy what is good, and unless they exercise their virtue in pursuit of at least some ends that are good by themselves, their activity is not complete.“ (White: Happiness and Prosperity, S. 133) 511 Aristoteles: Politik 7,13, 1332a1-3, Rolfes, S. 264. <?page no="129"?> 129 Lebensglück verbunden“ 512 . Annas problematisiert diese Sichtweise als zu einfach, denn Cicero unterschlägt die Unterordnung der Bedürfnisbefriedigung unter die tugendhafte Tat. 513 Nach Annas fällt Aristoteles keine Entscheidung zwischen dem Primat der tugendhaften Aktivität und der Integration materieller Bedürfnisbefriedigung in die Tugendlehre. „Aristotle should choose between two alternatives, but never really does; he gives the matter amazingly little attention, in fact, in view of its importance, and what he says is indeterminate to a surprising degree“ 514 . 512 Cicero, Marcus Tullius: de finibus bonorum et malorum - Über das höchste Gut und das größte Übel, Stuttgart: Reclam 2003, S. 141. 513 Siehe Annas: Virtue and Happiness, S. 45. 514 Annas: Virtue and Happiness, S. 48. <?page no="130"?> 130 6. Selbstliebe und Egoismus, Gemeinschaft und Individuum bei Aristoteles Das Verhältnis von Gemeinschaft und Individuum bei Aristoteles ist für den Vergleich von aristotelischer Tugendlehre insgesamt und der darin enthaltenen Gerechtigkeitskonzeption im Besonderen mit dem Marxschen Bewertungsmaßstab von Bedeutung. Es soll nun im Folgenden geklärt werden. Das Verhältnis gewinnt an Konturen, wenn man sich ihm über die Kontroverse nähert, ob Aristoteles‘ eudaimonia-Konzeption egoistische oder altruistische Züge aufweise. Es ist dabei nicht Aufgabe des vorliegenden Abschnitts, die Diskussion erschöpfend wiederzugeben oder alle vorgetragenen Argumente fundiert zu beurteilen. Vielmehr will ich mich anhand der Auseinandersetzung dem Phänomen nähern, dass Aristoteles‘ Tugendlehre auf bestimmte Art und Weise das Eigeninteresse des tugendhaft Handelnden und das Handeln für die gesellschaftliche Allgemeinheit zusammen denkt. 6.1. Egoismus versus Altruismus In der Forschung stehen sich in Bezug auf das Verhältnis von tugendhafter Handlungen und Eigeninteresse bei Aristoteles zwei Auffassungen diametral gegenüber. Die eine Position meint, dass die Tugendlehre im Prinzip des ‚guten Lebens‘ auf dem Interesse des Tugendhaften beruht, so dass mit dieser Lehre für die Tätigkeit gemäß der Tugend als Handlungsorientierung argumentiert werden könne. Die Tugendlehre sei auf das gute Leben des Handelnden ausgerichtet und der Nutzen, den andere aus den eigenen tugendhaften Taten zögen, sei nur ein Nebenprodukt. Diese Lesart der aristotelischen Ethik wird von anderen Interpreten angezweifelt. Aristoteles‘ Tugendlehre betone gerade das gemeinschaftliche Fundament des eigenen guten Lebens und setze das Gut der Gemeinschaft vor den Nutzen des Einzelnen. Dieser Streit zwischen einer egoistischen und einer altruistischen Lesart von eudaimonia beleuchtet einen für den Vergleich mit dem Marxschen Bewertungsmaßstab wichtigen Aspekt der aristotelischen eudaimonia-Lehre. Wielenberg ist ein Vertreter der ersten Lesart. Er vertritt die Ansicht, dass eine Person, die die ethische Tugenden verfolge, immer Tätigkeiten wähle, die seine eigene eudaimonia befördern, selbst wenn dies auf Kosten der eudaimonia eines anderen gehen sollte. 515 Er führt NE IX, 8 als Beleg 515 Wielenberg, Erik J.: Egoism and Eudaimonia-Maximization in the Nicomachean Ethics, In: Oxford Studies in Ancient Philosophy 26 (2004), S. 281f. <?page no="131"?> 131 für diese These an. An dieser Stelle argumentiert Aristoteles, dass der tugendhafte Mensch sich selbst am meisten liebt, da er von seiner Tugendhaftigkeit weiß und diese schätzt. Diese Form der Selbstliebe, die sich selbst nicht die äußeren Güter, sondern die inneren Glücksgüter, die tugendhaften Aktivitäten, zuordnet, sei nicht zu tadeln, sondern zu loben. 516 Ein tugendhafter Mensch würde nun stets so handeln, dass die eigene eudaimonia im Vordergrund stehe. Daher stehe die Selbstaufopferung - sowohl äußerer Güter, als auch des eigenen Lebens - nicht im Gegensatz zur Selbstliebe, denn sie befriedige das ergon des Menschen auf beste mögliche Weise, ist also eine vortreffliche Aktivität gemäß des besten Teils des Seele, indem sie der Tugend der Tapferkeit entspreche. Wielenberg schließt daraus, dass die Selbstaufopferung bis hin zum Heldentod für Freunde oder polis die eigene eudaimonia befördert. 517 Denn „bei dem guten Mann trifft es auch zu, daß er für seine Freunde und sein Vaterland vieles tut, und, wenn es sein muß, selbst dafür stirbt.“ 518 Es sei in dem Begriff von eudaimonia sogar angelegt, dass man die tugendhafte Aktivität dem Freund überlasse, denn „es gibt Fälle, wo es schöner ist, den Freund eine Tat ausführen zu lassen, als sie selbst auszuführen.“ 519 Wielenberg schließt daraus, dass selbst die Überlassung einer guten Tat für den Freund eine eigennützige Tat sei und somit seine These stütze, dass das Individuum stets nach seiner eigenen eudaimonia strebe und dieses Streben niemals für die eudaimonia eines anderen relativieren würde. Das gelte damit auch dann, wenn dem anderen die gute Tat überlassen wird. „In this way, he assigns the larger share of virtous activity to himself and, once again, gets the better end of the bargain.“ 520 McKerlie argumentiert in die genau entgegengesetzte Richtung. 521 Er wendet sich vor allem gegen die Auffassung, dass Aristoteles mit seiner Tugendlehre ein Argument an die Hand gäbe um zu zeigen, dass moralisches Handeln im eigentlichen Eigeninteresse des Handelnden liege. 522 Er meint, dass diese Auffassung die vorherrschende Lesart der aristotelischen Tugendlehre sei und in sich die seiner Ansicht nach falschen Gleichsetzung der beiden Fragen ‚Wie soll ich leben? ‘ und ‚Wie erreiche ich eudaimonia? ‘ (oder: ‚wie lebe ich ein gutes Leben? ‘) ausdrücke. 523 McKerlie lokalisiert die 516 Siehe Aristoteles: NE IX,8, 1168b25-34, Rolfes, S. 223f. 517 Siehe Wielenberg: Eudaimonia-Maximization, S. 282f. 518 Aristoteles: NE IX,8, 1169a18-20, Rolfes, S. 225. 519 Aristoteles: NE IX,8, 1169a33-34, Rolfes, S. 225. 520 Wielenberg: Eudaimonia-Maximization, S. 284. 521 Siehe McKerlie, Dennis: Aristotle and Egoism, In: The Southern Journal of Philosophy 36.4 (1998), S. 531-557. 522 Eine solche Auffassung vertritt Wielenberg im oben zitierten Aufsatz nicht. Gleichwohl wird sich zeigen, dass die Auffassung von McKerlie(1998) der von Wielenberg(1999) im Prinzip diametral gegenüber steht. 523 Siehe McKerlie: Aristotle and Egoism, S. 553, Fußnote 16. <?page no="132"?> 132 seiner Ansicht nach falsche Zuschreibung einer egoistischen eudaimonia- Konzeption in einer weit verbreiteten fehlerhaften Interpretation von NE I. 524 In Buch I entfaltet Aristoteles die Argumentation vom Gut, auf das jeder Handlungsbereich zielt, über das beste Gut, die eudaimonia, bis hin zum ergon des Menschen, das in der tüchtigen oder tugendhaften Aktivität gemäß des rationellen Seelenteils besteht. McKerlie meint, dass diese Entwicklung des Arguments fälschlicherweise von den meisten Interpreten als die Beschreibung einer individuellen Willensentscheidung für die tugendhafte Aktivität gelesen werde. „In an ideal case the agent‘s deliberation will move through a series of less final and complete ends until the question is ultimately decided in terms of eudaimonia, and the eudaimonia of the decision-maker.“ 525 Aristoteles gehe es in Buch I der NE jedoch gar nicht um die Entscheidung eines Individuums, sondern um die Natur des menschlichen Guts überhaupt. Eudaimonia werde nicht als Ziel eines Individuums, sondern eines politischen Lebewesens eingeführt. „Book I makes it clear that eudaimonia is the final good, but it does not make it clear that in deciding what to do I should simply choose the action that will best promote my own eudaimonia.“ 526 So setzt McKerlie gegen den egoistischen Eudaimonismus einen altruistischen Eudaimonismus. Aristoteles bestimme eudaimonia überhaupt als das beste Gut des Menschen und stellt damit den Imperativ auf, für die eudaimonia aktiv zu werden, sei es nun die eigene oder die eines anderen. 527 In NE IX,8 sage Aristoteles nicht, dass der tugendhafte Mensch allein sein eigenes Leben liebe, sondern dass er sein Leben mehr liebe als das seines besten Freundes - und schließe damit keineswegs aus, dass man für die eudaimonia eines anderen sorge, ohne damit die eigene eudaimonia zu befördern. 528 6.2. Kritik des Gegensatzes von Altruismus und Egoismus Wielenberg und McKerlie stehen für die beiden extremen Pole in dieser Diskussion um das Verhältnis der eigenen eudaimonia zu der eudaimonia der anderen. Während Wielenberg dafür argumentiert, dass das tugendhafte Individuum stets die eigene eudaimonia im Blick habe und dafür auch die eudaimonia eines anderen opfern werde, interpretiert McKerlie die eudaimonia überhaupt als bestes Gut des Menschen und damit sowohl die fremde als auch die eigene eudaimonia als Ziel des Handelns. Beide Positionen weisen immanente Schwächen auf, die zunächst aufzuzeigen sind. Es muss schon im Vorhinein darauf hingewiesen werden, dass die 524 Siehe McKerlie: Aristotle and Egoism, S. 541f. 525 McKerlie: Aristotle and Egoism, S. 542. 526 McKerlie: Aristotle and Egoism, S. 543. 527 McKerlie: Aristotle and Egoism, S. 553, Fußnote 18. 528 McKerlie: Aristotle and Egoism, S. 543. <?page no="133"?> 133 Besprechung der Schwächen beider Seiten nicht automatisch ein Argument für die jeweilige Gegenposition ist. Vielmehr wird zu zeigen sein, dass die Lösung jenseits der beiden dargestellten Extreme liegt. Wielenberg hat insofern recht, als die angegeben Stellen in NE IX,8 tatsächlich den Beweiszweck haben zu zeigen, dass die Aufopferung nicht im Gegensatz zu der Selbstliebe des tugendhaften Menschen steht. Der tugendhafte Mensch liebt das in sich, was tatsächlich gut und edel sei, nämlich seine Tugendhaftigkeit. Indem er seine Tugenden liebt und daher ihnen gemäß Aktivitäten ausübt, „wird er denn mit Recht als ein trefflicher Mann erscheinen, da er das sittlich Schöne allem anderen vorzieht.“ 529 Der treffliche Mann, der seine Tugend in Aktivitäten äußert, lebt jedoch nach der Ableitung von NE I ein ‚gutes Leben‘, entfaltet die Aktivitäten, die eudaimonia ausmachen. Somit ist es der Beweiszweck des Kapitels NE IX,8, zu zeigen, dass Selbstaufopferung und das eigene ‚gute Leben‘ zusammen fallen können. Nachdem Aristoteles gezeigt hat, dass Selbstliebe nicht nur auf den blind nach äußeren Gütern jagenden, sondern auch auf den tugendgemäße Aktivität entfaltenden Menschen angewendet werden kann, zeigt er, dass kein Widerspruch zwischen der eigenen Aufopferung und dem eigenen guten Leben besteht. Es geht somit, anders als McKerlie meint, in NE IX,8 tatsächlich um die eigene eudaimonia, derentwegen der tugendhafte Mensch sich aufopfert. Die Lösung von McKerlie, derzufolge die tugendhafte Aufopferung an dieser Stelle nicht in erster Linie der eigenen eudaimonia zugute kommt, sondern dem Empfänger der guten Tat, kann angesichts der Tatsache nicht überzeugen, dass Aristoteles in diesem Abschnitt gerade zeigt, wie Selbstaufopferung auch eine Form der Selbstliebe sein kann. Auch das Argument von McKerlie, dass eudaimonia als das beste Gut nicht als das eigene Ziel der Individuen verstanden werden sollte, sondern als eine Aussage über die Natur dessen, was der Mensch sich als Ziel setzt, ist nicht schlüssig. McKerlie meint, „eudaimonia is introduced as the goal of political understanding, not as the ultimate end of individual choice. And political understanding aims at the eudaimonia of the citizens of the state, not at the eudaimonia of an individual.“ 530 In dieselbe Richtung argumentiert auch Kraut. 531 Auch er verweist auf den Anfang der NE, in der Aristoteles seine Untersuchung in die Staatskunst einordnet und deren Gegenstand als „das höchste menschliche Gut“ 532 kennzeichnet. Dieses Gut wird gleich zu Beginn tatsächlich nicht individuell aufgefasst, sondern als Wohl des Volkes oder Staates. 533 Dass Aristoteles eudaimonia schlechthin 529 Aristoteles: NE IX,8, 1169a32-33, Rolfes, S. 225. 530 McKerlie: Aristotle and Egoism, S. 542. 531 Siehe Kraut: Aristotle on the Human Good - An Overview, S. 94. 532 Aristoteles: NE I,1, 1094b6-7, Rolfes, S. 2. 533 Siehe Aristoteles: NE I,1, 1094b10-11, Rolfes, S. 2. <?page no="134"?> 134 und unabhängig vom Individuum als das beste Gut bestimmt, heißt jedoch nicht, dass er sie nicht auch als Ziel des Individuums ansieht. Tatsächlich geht es in Buch I der NE um die allgemeine Natur von eudaimonia. Aber jene Interpreten haben recht, denen McKerlie vorwirft, NE I so zu interpretieren, dass es hier um die eigene, individuelle eudaimonia geht. 534 Zwei Indizien sprechen dafür. Erstens spricht Aristoteles davon, dass wir auch Güter, die einen inneren Wert haben, nicht um ihrer selbst willen verfolgen, sondern „auch um der Glückseligkeit willen in der Überzeugung, eben durch sie ihrer teilhaftig zu werden.“ 535 Es geht demnach darum, an der eudaimonia Anteil zu haben, und das heißt, dass die tugendhafte Tat die eudaimonia für mich befördern soll. Zweitens stellt McKerlie selbst fest, dass es keine explizite Diskussion des ganzen Sachverhalts gibt. 536 Aristoteles scheint nicht besonders darum besorgt zu sein, die Natur von eudaimonia überhaupt von der eigenen eudaimonia abzugrenzen. Die Interpretation von McKerlie, dass es in NE I in Abgrenzung von eudaimonia überhaupt als dem besten Gut gerade nicht um die eigene eudaimonia des Individuums gehen sollte, ist gerade wegen der fehlenden Unterscheidung bei Aristoteles mehr als zweifelhaft. Zugleich ist aber auch die Kritik an der egoistischen Lesart von eudaimonia zutreffend. In der Tat lässt sich aus der Passage in NE IX,8, in der es um die Selbstliebe geht, nicht die Aussage ableiten, dass der tugendhafte Mensch, anstatt die eudaimonia des Freundes zu befördern seine eigene eudaimonia zum Zweck nimmt. An dieser Stelle trifft die Kritik von Kraut zu, dass Aristoteles in NE IX,8 die These verteidigt, dass die tugendhafte Einschränkung in der Verfolgung äußerer Güter nicht ein Abzug, sondern die Realisation des ‚guten Lebens‘ sei. „What Aristotle endorses is not egoism but rather the thesis that when we virtously rstrict our pursuit of such external resources as power, honor, and wealth, we are not sacrificing our good but in fact promoting it.“ 537 Die Aussage, dass die eigene eudaimonia im Notfall auch auf Kosten der eudaimonia eines anderen verfolgt werden müsse, lässt sich aus dieser Stelle nicht ableiten. 6.3. Transzendenz von Egoismus und Altruismus in der Gerechtigkeit Es zeigt sich demnach, dass sowohl die altruistische als auch die egoistische Interpretation von eudaimonia prinzipielle Probleme aufweisen. Weder lässt sich Aristoteles das Urteil zusprechen, der tugendhafte 534 Siehe McKerlie: Aristotle and Egoism, S. 541. 535 Aristoteles: NE I,5, 1079b4-5, Rolfes, S. 10. 536 Siehe McKerlie: Aristotle and Egoism, S. 541. 537 Kraut: Aristotle on the Human Good - An Overview, S. 95. <?page no="135"?> 135 Mensch würde seine eigene eudaimonia auch auf Kosten anderer verfolgen, noch lässt sich aus der Textgrundlage erschließen, dass für Aristoteles die eigene eudaimonia zugunsten der von anderen zurückgestellt werden müsse. Die NE vertritt weder ein Konzept von eudaimonia, das dem eigenen ‚guten Leben‘ Priorität über das ‚gute Leben‘ anderer zuweist, noch beinhaltet seine Tugendlehre den Begriff von eudaimonia, der über und jenseits des Individuums stünde. Auch wenn Kraut von einer falschen Prämisse ausgeht und fälschlicherweise die individuelle Dimension von eudaimonia leugnet, zeigt er doch zugleich eine wichtige Eigenschaft von eudaimonia auf. Für ihn fallen Selbstinteresse und tugendhafte Aktivitäten dadurch zusammen, dass es viel erfolgversprechender für ein gutes Leben sei, tugendhaft zu handeln als bloß äußeren Gütern hinterher zu jagen. „Aristotle is not commiting himself to the formal thesis that, whatever the good is, one‘s ultimate end should consist solely in one‘s own good, and that the well-being of others should receive one‘s attention only to the extent that doing so can be shown to promote one‘s happiness.” 538 Vielmehr sei der Inhalt des besten Guts bei Aristoteles jenseits eines abstrakten Egoismus oder Utilitarismus. Madigan geht noch einen Schritt weiter. Er trennt die aristotelische Argumentation in NE IX,8 zur Selbstliebe in zwei verschiedene Argumentationslinien, eine des Edlen (kalon) und eine der Rationalität (nous). „The first level, that of kalon, stems from Greek heroic and civic tradition. The second level, that of the nous, comes from Aristotle‘s own psychological investigations.“ 539 Ob diese Trennung die aristotelischen Argumente trifft, ist für die vorliegende Untersuchung weniger entscheidend; wichtiger ist, dass Madigan beiden Argumentationen eine Transzendenz von Eigennutz und Nutzen anderer zuschreibt. Denn seiner stark inhärent auf die Textstelle beschränkte Interpretation besagt, dass sowohl nous als auch kalon das überschreitet, was gut für einen selbst und was gut für andere ist. „The complexity and obscurity of the self, even of the nous, and of the kalon suggests that the supreme good or interest is somehow jointly constituted by the self and the other or others.“ 540 Und er schließt daraus, dass Aristoteles sich dem Gegensatz von Altruismus und Egoismus entzieht. „Aristotle is neither egoist nor altruist. He is not a party to the debate.“ 541 Diese Einheit von der Verfolgung des besten Guts für sich selbst und für den anderen wird von Wilkes explizit hervorgehoben. Sie sieht es als ein damals typisch zeitgenössisches Urteil 538 Kraut: Aristotle on the Human Good - An Overview, S. 95. 539 Siehe Madigan, Arthur: Eth. Nic. 9.8: Beyond Egoism and Altruism? , In: Anton, John und Kustas, George (Hg.): Aristotle‘s Ethics, New York: State University of New York Press 1991, S. 84. 540 Madigan: Beyond Egoism and Altruism? , S. 86. 541 Madigan: Beyond Egoism and Altruism? , S. 89. <?page no="136"?> 136 an, dass ein wohlverstandenes Eigeninteresse und das beste Gut für andere in Harmonie miteinander begriffen sind. „The essential thing to realize is that Aristotle - and Plato - wrote in a time when the distinction between moral (other-regarding) and prudential (selfregarding) virtues had not been framed, and, perhaps even more importantly, that they would have denied any reality or importance to the distinction had it explicitly presented to them.” 542 Die Gegenargumente sowohl gegen die egoistische wie gegen die altruistische Lesart von eudaimonia lässt somit die positive Bestimmung erkennen, dass Aristoteles einen solchen Unterschied gar nicht kennt. Das wird auch in der Besprechung der Selbstliebe erkennbar. Aristoteles unterscheidet an dieser Stelle nämlich gerade zwei Arten von Selbstliebe. In der einen zurecht getadelten, gehe man seinem Bedürfnis nach äußeren Gütern nach. Die höhere Form der Selbstliebe sei allerdings die, in der das am meisten geliebt werde, was einen zum Menschen macht, nämlich die eigene Rationalität (nous). Und weil Aristoteles bereits festgestellt hat, dass der Mensch dadurch seinem ergon am besten gerecht wird, indem er Aktivitäten gemäß der Tugend dieses ausgezeichneten Seelenteils nachgeht, wird der so sich selbst liebende Mensch seine Tugendhaftigkeit lieben und sie gerne ausführen. 543 An dieser Stelle zeigt Aristoteles aber gerade, dass er das eigene beste Gut und das Gut der anderen zusammen denkt. „Würden aber alle um die Wette nach Sittlichkeit streben und bemüht sein, das Beste zu tun, so hätte nicht nur die Gesamtheit alles, was ihr not tut, sondern es wäre auch jeder einzelne für sich im Besitz der größten Güter, wenn anders die Tugend ein solches hervorragendes Gut ist.“ 544 Aristoteles stellt somit eindeutig heraus, dass die Selbstliebe sowohl der Gemeinschaft als auch dem Individuum das Beste bringt. Er schließt somit an dieser Stelle einen Gegensatz zwischen der Verfolgung des Guts für sich selbst oder für andere aus. Da Aristoteles auch an keiner anderen Stelle einen möglichen Konflikt zwischen dem, was für die polis oder andere gut sein möge, und der Beförderung der eigenen eudaimonia thematisiert, muss davon ausgegangen werden, dass Aristoteles bei richtiger Einsicht in 542 Wilkes: The Good Man, S. 354. 543 Siehe Aristoteles: NE IX,8, 1168b15-1169a7, Rolfes, S. 223f. 544 Aristoteles: NE IX,8, 1169a8-12, Rolfes, S. 224. Siehe auch White, der ebenfalls durch den Inhalt des besten Guts, auf den der Tugendhafte zielt, keinen Antagonismus von Egoismus und Altruismus bei Aristoteles entdecken kann. „Aristotle‘s account of self-love does show that the line between our own good and the good of others is rarely as sharp as contrasts between egoism and moral altruism suggest. By showing how the virtuous view acting for the good of others as part of their own happiness, he finds a place in eudaimonism for moral virtues and provides a way to see acting for others as an integral part of our own good.“ (White: Happiness and Prosperity, S. 290) <?page no="137"?> 137 die Notwendigkeit der tugendhaften Taten keinen Gegensatz zwischen dem eigenen Nutzen und dem Nutzen für die Gemeinschaft annimmt. Der von der rechten Selbstliebe Angetriebene soll seine eigene eudaimonia verfolgen, „da es ihm selbst und anderen nützen wird, wenn er, von dieser Liebe getrieben, das sittlich Schöne vollbringt“ 545 . Es gibt eine Stelle, in der Aristoteles auf das Verhältnis von eigenem und fremden Gut zu reden kommt, nämlich in seiner Kennzeichnung der Gerechtigkeit als der vollkommensten Tugend. 546 Die oben geleistete Rekonstruktion der aristotelischen Gerechtigkeitskonzeption könnte fälschlicherweise als Unterstützung für die altruistische Interpretation von eudaimonia wie bei Kraut und noch stärker bei McKerlie ausgelegt werden. Denn in NE V,3 argumentiert Aristoteles, dass die Gerechtigkeit die vollkommenste Tugend sei, weil sie als einzige das Gut des anderen im Auge habe. Diese Dignität wurde oben aus der Tatsache abgeleitet, dass die Gesetze, die der Gerechte achtet, nicht nur die eigenen, sondern auch die tugendhaften Taten anderer zum Inhalt haben. Somit zielt die Gerechtigkeit auf die Achtung und damit Stärkung jener gesellschaftlichen Strukturen, die die eudaimonia aller zum Zweck hat. Diese Interpretation stimmt mit McKerlie und Kraut insofern überein, als Aristoteles hier tatsächlich unter der vollkommenen Tugend das beste Gut nicht für das Individuum, sondern für einen anderen Menschen fasst. McKerlie und Kraut haben generell recht mit ihrer Aussage, dass Aristoteles das beste Gut nicht auf das Gut für das Individuum reduziert. Die gesamte Ableitung in NE I ist darauf aus, unabhängig von Interessen und Bewusstsein des Einzelnen das beste Gut zu identifizieren. Und nur weil Aristoteles das beste Gut, eudaimonia, die Aktivität gemäß der Tugend, nicht auf die eudaimonia des Tätigen beschränkt, kann er der Gerechtigkeit eine besondere Dignität zuschreiben, weil sie nicht nur die eigene, sondern die eudaimonia der Gemeinschaft zum Gegenstand hat. Aber McKerlie und Kraut irren, wenn sie dagegen halten, dass die eudaimonia überhaupt anstattder eigenen eudaimonia das Ziel der tugendhaften Handlung ist, wie oben gezeigt wurde. 547 Und das zeigt sich auch anhand der Gerechtigkeit als vollkommenster Tugend. Denn dass in ihr die eudaimonia des anderen zum Gegenstand wird, unterscheidet diese Tugend gerade von anderen Tugenden und zeichnet sie vor diesen als vollkommenste aus. Aber nicht nur das, in der Gerechtigkeit ist logisch das Gut des anderen und das eigene Gut zusammengeschlossen. Denn die Gesetze befehligen den Gerechten zu tugendhaften Taten und verhelfen ihn damit zu einem 545 Aristoteles: NE IX,8, 1169a12-13, Rolfes, S. 224. 546 Aristoteles: NE V,3, 1129b27- 1130a8, Rolfes, S. 102f. 547 Diesen falschen Schluss kritisiert auch White: Happiness and Prosperity, S. 23, Fußnote 3 und führt NE III,4, 1111b28 als Beleg an, dass Aristoteles eindeutig die eigene eudaimonia als Ziel des Individuums thematisiere. <?page no="138"?> 138 ‚guten Leben‘. Gleichzeitig wird durch die Achtung der Gesetze, die auf die eudaimonia aller gerichtet ist, auch das beste Gut der anderen Gemeinschaftsglieder gefördert. In der Gerechtigkeit als der vollkommenen Tugend ist somit das individuelle ‚gute Leben‘ und das Gut der gesellschaftlichen Allgemeinheit zusammengedacht. Das wohlverstandene Endziel der individuellen Handlung, die mit dem ‚guten Leben‘ identische tugendhafte Aktivität, ist in der Gerechtigkeit somit unmittelbar auf die gesellschaftliche Allgemeinheit ausgerichtet. Und weil die ethischen Tugenden auch eigenständig als ‚gutes Leben‘ gelten und nicht nur als Mittel für theoria, die Gerechtigkeit aber zugleich als ‚ganze Tugend‘ alle anderen ethischen Tugenden umfasst, hat sie eine zentrale Stellung unter den ethischen Tugenden. Das Gut der gesellschaftlichen Allgemeinheit, das in ihr verfolgt wird, fällt zusammen mit den Aktivitäten gemäß aller ethischen Tugenden, die von den Gesetzen des Gemeinwesens geboten sind. Der Bezug auf die gesellschaftliche Allgemeinheit ist im ‚guten Leben‘ somit in unmittelbarer Weise verwirklicht: Das beste Gut des Individuums ist als feste Grundhaltung zu gerechten Taten unmittelbar auf die gesellschaftliche Allgemeinheit bezogen. Auch wenn die letzte Bestimmung des guten Lebens die Ausrichtung der eigenen Lebensweise auf ein Leben der theoria ist, so ist doch durch den Inhalt und die Stellung der Gerechtigkeit der unmittelbar positive Bezug der individuellen Handlung zu der gesellschaftlichen Allgemeinheit zentraler Bestandteil des ‚guten Lebens‘. Die aristotelische Tugendlehre allgemein und die Gerechtigkeitskonzeption im Besonderen weisen somit ein Verhältnis von Individuum und Gesellschaft auf, das von prinzipieller Harmonie geprägt ist. Der tugendhafte Mensch kennt keinen Konflikt, in dem er entweder für sich selbst oder für einen anderen Menschen das Beste befördern könnte. Der tugendhafte Mensch steht nach Aristoteles in jeder Hinsicht „mit sich selbst in Übereinstimmung und begehrt seiner ganzen Seele nach ein und dasselbe“ 548 . Das ‚gute Leben‘ kennt demnach keinen Gewissenskonflikt, der Tugendhafte ist bei Aristoteles „über die Reue erhaben“ 549 , weil er weiß, was gut für sich und für die Gemeinschaft ist und danach handelt. Im ‚guten Leben‘ ist die eigene maßvolle Bedürfnisbefriedigung, die Verwirklichung der den Menschen auszeichnenden Eigentümlichkeit und die gute Tat für die gesellschaftliche Allgemeinheit als eine Einheit gedacht. 550 548 Aristoteles: NE IX,4, 1166a13-14, Rolfes, S. 216. 549 Aristoteles: NE IX,4, 1166a29, Rolfes, S. 217. 550 Explizit drückt Aristoteles dies in der Rethorik aus, wo die positive Rolle der Tugend für die Erlangung und Bewahrung der äußeren Güter neben ihrer Fähigkeit genannt wird, „den anderen in höchstem Maße nützlich“ (Aristoteles: Rethorik I,9, 1366b4, Rapp, S. 46) zu sein. Zwar ist ersterer Aspekt dem letzteren untergeordnet, beides ist aber im ‚guten Leben‘ enthalten. <?page no="139"?> 139 Es ist diese Einheit, auf die sich Marx positiv bezieht und die in einer Gesellschaft, die nach seinem Bewertungsmaßstab ‚gut‘ zu nennen ist, vollständig verwirklicht wird. Um diesen Bezug darzustellen muss zunächst der den Marxschen Theorien zugrunde liegende Bewertungsmaßstab für sich entwickelt werden. Das ist die Aufgabe des folgenden zweiten Teils dieser Arbeit. <?page no="140"?> 140 II. Marx‘ Bewertungsmaßstab 7. Einleitung zu Marx‘ Bewertungsmaßstab 7.1. Die Macht des Goldes Marx hat mit der Herausarbeitung seiner materialistischen Geschichtsauffassung seit 1845 moralische Maßstäbe als ideologische Bewusstseinsform gekennzeichnet. 551 Deswegen meint Marx, „die Kommunisten predigen überhaupt keine Moral“ 552 . Nach dem Kommunistischen Manifest würde diese Bewusstseinsform „mit dem gänzlichen Verschwinden des Klassengegensatzes sich vollständig auflösen“ 553 . Und auch noch 1875 meint Marx zu der Forderung eines gerechten Arbeitstages, solche Kategorien seien „ideologische Rechts- und andre […] Flausen“ 554 , die nicht ins Gothaer Programm gehörten. Im Gegensatz zu diesen kritischen Äußerungen über Moral steht Marx‘ Interpretation einer Stelle von Shakespeares Timon von Athen im Jahre 1844, in der die Macht des Goldes beschrieben wird: „Soviel hievon macht schwarz weiß, häßlich schön; Schlecht gut, alt jung, feig tapfer, niedrig edel.“ 555 Nach Marx‘ Interpretation beschreibt Shakespeare hier den Skandal, dass das Geld es vermag, moralisch schlechte Eigenschaften im gesellschaftlichen Bewusstsein umzukehren. „Ich bin ein schlechter, unehrlicher, gewissenloser, geistloser Mensch, aber das Geld ist geehrt, also auch sein Besitzer.“ 556 In Marx‘ Kritik wird allerdings klar, dass er zwar die Umkehrung der positiven Eigenschaften des Menschen kritisiert, dass aber der eigentliche Skandal nicht in dem Inhalt der Eigenschaften liegt, also nicht 551 Siehe Marx, Karl und Engels, Die Deutsche Ideologie, I. Feuerbach - Fragment 2, In: Internationale Marx-Engels-Stiftung (Hg.): Die Deutsche Ideologie - Artikel, Druckvorlagen, Entwürfe, Notizen zu I. Feuerbach und II. Sankt Bruno, Marx-Engels Jahrbuch 2003, Berlin: Akademie-Verlag 2004, S. 115. 552 Marx, Karl und Engels, Friedrich: Die Deutsche Ideologie, In: Marx-Engels-Werke, Bd. 3, Berlin: Dietz 1969, S. 229. 553 Marx, Karl und Engels, Friedrich: Manifest der Kommunistischen Partei, In: Marx- Engels-Werke, Bd. 4, Berlin: Dietz 1972, S. 481. 554 Marx, Karl: Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei, In: Marx- Engels-Gesamtausgabe, Abteilung I, Bd. 25, Berlin: Dietz 1985, S. 15. 555 Marx, Karl: ökonomisch-Philosophische Manuskripte, In: Marx-Engels- Gesamtausgabe, Abteilung I, Bd. 2, Berlin: Dietz 1982, S. 319. 556 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 320. <?page no="141"?> 141 primär darin, dass hier Tugenden zu Laster gemacht werden, sondern darin, dass diese Umkehrung nicht unmittelbar durch beispielsweise den heuchelnden Menschen selbst geschieht, sondern der Mensch dazu befähigt wird, diese Umkehrung tatsächlich zu vollbringen, indem er einen leblosen, aber mächtigen Gegenstand benutzt. Dass das Geld diese Umkehrung bewirkt und nicht etwa geschickte Verstellung und Vortäuschung falscher Tatsachen, sieht Marx hier als Skandal an. Warum ist diese Verkehrung durch einen dinglichen Gegenstand und nicht das so Verkehrte selbst, das Laster, die Sünde etc. für Marx kritikwürdig? Der Antwort auf diese Frage kommt man näher, indem man sich die Marxsche Bestimmung des kritisierten Gegenstands genauer betrachtet. Marx meint, das Geld sei dazu imstande, diese Verkehrung zu leisten, weil es mit gesellschaftlicher Macht ausgestattet sei. Es könne nicht nur die menschlichen „Wesenkräfte“ 557 zu ihrem Gegenteil machen, „es verwandelt meine Wünsche aus Wesen der Vorstellung […] in ihr sinnliches, wirkliches Dasein“ 558 . Diese Macht besitze das Geld, weil es „das entäusserte Vermögen der Menschheit“ 559 sei. In den ÖPM kritisiert Marx diese Entäußerung des menschlichen Vermögens in einen Gegenstand als Entfremdung. Warum richtet sich Marx‘ Kritik ausgerechnet auf diese Entfremdung, anstatt auf die Taten, die mit diesem ökonomischen Gegenstand ausgeführt werden? Dieser Entfremdungskritik liegt der Bewertungsmaßstab zugrunde, dass der Mensch ein Wesen sei, das sich durch Arbeit befähige, alle Gegenstände, mit denen es umgeht, selbst zu setzen und dadurch die Kluft zwischen Subjekt und Objekt praktisch aufzuheben. In den ÖPM beschreibt Marx den entfremdeten Zustand dieser Vergegenständlichung des menschlichen produktiven Wesens. Durch die entfremdete Arbeit vergegenständliche sich der Mensch nicht in einem ihm Anderen, einem natürlichen Gegenstand, so dass er sich in seinem Gegenüber erkennen könne, sondern er schaffe sich einen Gegenstand, der Selbständigkeit von ihm und feindliche Macht über ihn gewinne. In der modernen Ökonomie verkehre sich so das tatsächliche Wesen des Menschen in sein genaues Gegenteil. Diese gegenständliche Macht, die unabhängig vom Menschen vorliege, befähige seinen Besitzer, alle menschlichen Eigenschaften zu erwerben, ohne sie als Individuum ausbilden zu müssen. Diesen Maßstab herauszuarbeiten, ist Aufgabe des vorliegenden zweiten Teils dieser Arbeit. Dafür müssen erstens die Grundlagen erarbeitet werden, auf denen Marx seinen Wertmaßstab in den ÖPM errichtet. Zweitens muss aus der Entfremdungskritik in den ÖPM der Maßstab genau bestimmt werden. Und drittens stellt sich die Frage, ob Marx mit der Entwicklung seiner materialistischen Geschichtsauffassung den Wertmaß- 557 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 320. 558 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 320. 559 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 320. <?page no="142"?> 142 stab komplett aufgibt, oder ob er ihn trotz seiner expliziten Ablehnung von Moral und Philosophie beibehält. Es wird zu zeigen sein, dass Marx‘ Entfremdungskonzept negativ auf Feuerbach und positiv auf Hegel aufbaut. Gerade die Feuerbachsche Kritik an einem falschen Selbstbezug des Menschen, der sein eigenes unendliches Wesen als übermächtiges Individuum von sich abtrennt und als eigenständige Entität anbetet, dient Marx als Schablone für seinen Zugang zur Kritik der Nationalökonomie 1844. Er überträgt das Feuerbachsche Verhältnis des Menschen zu Gott auf die ökonomischen Gegenstände und meint, der Mensch schaffe sich im Geld einen ihn beherrschenden Gegenstand, der seine gesellschaftlichen Verhältnisse korrumpiert. Dadurch erklären sich auch die Marxschen Hervorhebungen in der Beschimpfung des Goldes bei Shakespeare: Timon ruft das Gold an als „sichtbare Gottheit, Die Du Unmöglichkeiteneng verbrüderst, Zum Kuß sie zwingst! du sprichst in jeder Sprache, Zu jedem Zweck! o du der Herzen Prüfstein! Denk, es empört dein Sklave sich, der Mensch! “ 560 Marx stimmt Shakespeare in der Beschreibung des Goldes als sichtbarer Gottheit deswegen zu, weil er die Feuerbachsche Entfremdungskritik an Gott als dem vergegenständlichten Wesen des Menschen auf Gold und Geld überträgt. „Die Verbrüderung der Unmöglichkeiten - die göttliche Kraft - des Geldes liegt in seinem Wesen als dem entfremdeten, entäußernden und sich veräußernden Gattungswesen der Menschheit.“ 561 Wie Feuerbach führt Marx die dem Menschen entfremdete Instanz auf die positive Kraft des Menschen als Gattungswesen zurück. Zwei wesentlichen Bestimmungen unterscheiden ihn dabei von Feuerbach. Anders als Gott hat das Gold eine sichtbare, eine handgreifliche Existenz. Und die Bestimmung des positiven Gattungswesens des Menschheit lehnt Marx näher am Subjektbegriff Hegels an als Feuerbach. 7.2. Der Wertmaßstab in der Forschung Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass einige Autoren einen Schnittpunkt zwischen Aristoteles und Marx darin sehen, dass Marx ähnlich wie Aristoteles einen Maßstab an die gesellschaftliche Zustände anlege, in welchem die dem Menschen innewohnenden Anlagen sich möglichst gut 560 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 319. Die Kursivsetzuungen stammen von Marx, siehe Institute für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU und ZK der SED (Hg.): Apparat zu den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten, In: Marx-Engels- Gesamtausgabe, Abteilung I, Bd. 2, Apparat, Berlin: Dietz 1982, S. 915. 561 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 320. <?page no="143"?> 143 entfalten können sollten. 562 Margolis hat gezeigt, dass eine solche Gemeinsamkeit aufgrund des unterschiedlichen Substanzbegriffs beider Denker unplausibel ist. 563 Im vorliegenden Teil der Arbeit soll gezeigt werden, dass Marx seinen Wertmaßstab in Auseinandersetzung mit Hegel gewinnt und eine modifizierte und fast aller Hegelschen Inhalte entkleidete Fassung von dessen Subjektbegriff entwickelt. Allerdings fasst Marx diesen Subjektbegriff selbst wieder als ‚Wesen des Menschen‘ und geht von einer feststehenden Substanz des Menschen aus, die seine Fähigkeit zur Weiterentwicklung seiner sich selbst und seine Welt gestaltenden schöpferischen Kräfte zum Inhalt hat. In seinem Bild vom Wesen des Menschen denkt Marx somit Substanz und Subjekt als Einheit. Das Wesen des Menschen ist damit für Marx nicht einfach eine feststehende Substanz, die mit fortschreitender Entwicklung der Produktivkräfte zu ihrer Verwirklichung drängen würde, wie es Heinrich dargestellt hat. 564 Vielmehr bestimmt Marx dieses Wesen selbst als eine dynamische Bewegung, in der die eigenen Potenzen selbst gesetzt werden. Marx denkt dieses Wesen auch nicht als einen ideellen Zustand, der erst hergestellt werden müsse. 565 Vielmehr kann sich der Mensch für Marx von diesem seinen Wesen niemals völlig lösen. In seinem Entfremdungskonzept bestimmt Marx daher auch nicht den Verlust des menschlichen Wesens so, dass sich der Mensch in kapitalistischen Zuständen nicht vergegenständlichen könne. Vielmehr könne er gar nicht anders, als seine schöpferischen Potenzen zu vergegenständlichen. 566 Zugleich trenne sich diese Bewegung im Kapitalismus jedoch von dem, was da vergegenständlicht wird. Sowohl seine eigene schöpferische Tätigkeit als auch deren Produkt würden im Kapitalismus nicht einfach in materielle Form gegossen und stünden dem Produzenten zur weiteren Entwicklung seiner schöpferischen Individualität zur Verfügung, sondern die Bewegung der Vergegenständlichung trete verkehrt auf. Die schöpferische Kraft, die der Mensch vergegenständlicht, sei nicht die seine, sondern trete ihm als fremde, ihn beherrschende Macht gegenüber. Marx postuliert somit ein Wesen des Menschen, dessen Vergegenständlichung sich zwar notwendig vollzieht, unter entfremdeten Zuständen jedoch eine ihm fremde Form annimmt. Das menschliche Wesen als die Vergegenständlichung seiner Schaffenskraft werde im Kapitalis- 562 Siehe oben Fußnote 10-13. 563 Siehe Margolis: Praxis and Meaning, S. 334. 564 Siehe Heinrich, Michael: Die Wissenschaft vom Wert - Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie zwischen wissenschaftlicher Revolution und klassischer Tradition. 2. überarbeitete Auflage, Münster: Westfälisches Dampfboot 1999, S. 111f. 565 Auch diese Ansicht vertritt Heinrich: Die Wissenschaft vom Wert, S. 116. 566 Auch Petrović meint, dass das Wesen des Menschen identisch mit seiner sich selbst erschaffenden und alles-schaffenden Tätigkeit ist, siehe Petrović, Gajo: Der Menschenbegriff bei Marx, In: Petrović, Gajo (Hg.): Wider den autoritären Marxismus, Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt 1969, S. 73. <?page no="144"?> 144 mus zu einer eigenständigen, ihn beherrschenden und ihm fremd gegenüber tretenden Macht. In zweierlei Hinsicht unterscheidet sich die folgende Darstellung des Marxschen Entfremdungskonzepts von dessen gängiger Besprechung in der Marx-Forschung; erstens hinsichtlich des Verhältnisses zu Hegel und Feuerbach und zweitens hinsichtlich des Verhältnisses zu der späteren Kritik der politischen Ökonomie. Marx entwickelt diesen Bewertungsmaßstab im Kern negativ durch die Anwendung der Feuerbachschen Entfremdung auf die kapitalistische Ökonomie einerseits und aufgrund der dadurch notwendigen Entwicklung einer positiven Vergegenständlichungsbewegung durch die Übernahme und Modifizierung des Hegelschen Subjektbegriffs andererseits. Dass Marx sein Konzept in Auseinandersetzung mit diesen beiden Denkern entwickelt, hat in der Marx-Forschung zwar bereits den Status einer Binsenweisheit. Aber wie dieses Verhältnis genau beschaffen ist, darüber gehen die Ansichten auseinander. So meint Fromm, Marx teile mit Hegel die Auffassung, „daß die menschliche Existenz ihrem Wesen entfremdet ist“ 567 . Als Begründung für diese Behauptung verweist er allerdings nur auf die Entfremdung des Geistes von sich in der Weltgeschichte, ohne näher zu erklären, worum es sich dabei handelt. 568 Inhaltlich genauere Erläuterungen zu dem Verhältnis von Marx und Hegel finden sich bei Fromm nicht. 569 Mészáros bespricht den Einfluss von Hegel aus der Perspektive der Marxschen Interpretation von Hegel, so dass er behaupten kann, dass „die Einsicht in die Notwendigkeit, die kapitalistischen Prozesse aufzuheben […] im Hegelschen Denken im Vordergrund steht“ 570 , als ob Hegel sich unmittelbar mit der Entfremdung kapitalistischer Verhältnisse befasst hätte. Dadurch wird aber gar nicht das Verhältnis des Marxschen Entfremdungskonzepts zur Hegelschen Philosophie bestimmt, sondern zur Marxschen Interpretation der Hegelschen Philosophie. Zu den Forschern, die sich intensiv und im Detail mit dem Verhältnis von Marxscher Vergegenständlichung im Verhältnis zu Hegel beschäftigt haben, zählt Lange. Er untersucht das Marxsche Urteil, Hegel habe in seiner ‚Phänomenologie‘ das Wesen der Arbeit fassen können. 571 Langes Untersuchung kommt dabei ähnlich der hier vertretenen These zu dem Resultaten, dass Marx seinen Arbeitsbegriff in den ÖPM in Anlehnung an die Hegelsche Bewegung des 567 Fromm, Erich: Das Menschenbild bei Marx - Mit den wichtigsten Teilen der Frühschriften von Karl Marx, zehnte, überarbeitete Auflage, Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt 1980, S. 51. 568 Fromm verweist dabei - ohne selbst die Seitenzahl zu nennen - auf Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 76. 569 Fromm referiert allerdings an anderer Stelle noch die marxistische Hegel- Interpretation von Marcuse, siehe Fromm: Das Menschenbild bei Marx, S. 35-37. 570 Mészáros, Istva ́ n: Der Entfremdungsbegriff bei Marx, München: List 1973, S. 78. 571 Siehe Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 292f. <?page no="145"?> 145 Geistes aus der ‚Phänomenologie‘ gewinnt. 572 Anders als Lange argumentiert, wird die vorliegende Untersuchung jedoch zeigen, dass diese Übertragung erst der zweite Schritt in der Herausarbeitung des Entfremdungskonzepts in den ÖPM ist. Zunächst überträgt Marx die ebenfalls in Auseinandersetzung mit Hegel gewonnene Entfremdungskritik Feuerbachs auf die Kritik der Nationalökonomie. Erst durch die Notwendigkeit, der negativen Entfremdung eine positive Vergegenständlichung zugrunde zu legen, überträgt Marx die Bewegung des Subjekts in der ‚Phänomenologie‘ auf die Arbeit. Weil Marx‘ Rezeption von Hegel nicht erst 1844 ansetzt, muss für das Marxsche Verhältnis zu Hegel die frühere Rezeption und Ablösung von dessen Philosophie nachverfolgt werden. Dadurch zeigt sich, dass die Genese des Marxschen Bewertungsmaßstabs im Ganzen eine negative Bewegung vollführt. Zunächst wendet Marx Hegels Philosophie kritisch gegen die soziale Wirklichkeit, dann wendet er diese mit Feuerbach gegen die Hegelsche Philosophie. In seiner Bemühung, die Entfremdungsbewegung in der Wirklichkeit aufzufinden, kommt er jedoch nicht umhin, auf die Bewegung der Vergegenständlichung bei Hegel zurückzugreifen. Um den Einfluss der Hegelschen Gedanken auf das Marxsche Entfremdungskonzept zu bestimmen darf man allerdings nicht den Fehler begehen, Hegel bereits durch die Marxsche Interpretation in den ÖPM zu lesen. Vielmehr muss diese Interpretation ins Verhältnis der Hegelschen Philosophie als solche gesetzt werden. Richtige Hinweise hierfür gibt m. E. Löwith. 573 Auch hinsichtlich des Verhältnisses des Entfremdungskonzepts zu der späteren Kritik der politischen Ökonomie unterscheidet sich die vorliegende Arbeit von anderen Besprechungen des Marxschen Entfremdungskonzepts. In einigen älteren Arbeiten wurde die Ansicht vertreten, dass die ökonomischen Arbeiten im Grunde eine Ausarbeitung des Entfremdungskonzepts seien. So meint Fromm, dass für Marx Arbeit und Kapital nicht nur ökonomische Kategorien seien, „sie waren für ihn vielmehr anthropologische Kategorien, die von seiner humanistischen Wertung her bestimmt waren.“ 574 Und Mészáros versucht in seiner Monographie, die Kritik der politischen Ökonomie vom Entfremdungskonzept her neu zu denken. 575 Dies steht im starken Gegensatz zu der in der früheren marxistischen Orthodoxie, aber auch in der gegenwärtigen Marx- 572 Siehe Lange, Ernst Michael: Das Prinzip Arbeit - 3 Metakritische Kapitel über Grundbegriffe, Struktur und Darstellung der ‚Kritik der Politischen Ökonomie‘ von Karl Marx, Frankfurt am Main: Ullstein 1980, S. 20-73. 573 Siehe Löwith, Karl: Von Hegel zu Nietzsche - Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts, Hamburg: Meiner 1995, S. 295-304. 574 Fromm: Das Menschenbild bei Marx, S. 46. 575 Siehe Mészáros: Der Entfremdungsbegriff bei Marx. Außerdem baut die gesamte kritische Monographie von Calvez auf dieser Lesart auf, siehe Calvez, Jean-Yves: Karl Marx - Darstellung und Kritik seines Denkens, Olten: Walter 1964. <?page no="146"?> 146 Forschung gängigen Praxis, das Entfremdungskonzept strikt von den späteren ökonomischen Arbeiten zu trennen. Die orthodoxen Marxisten des Ostblocks konnten mit dem Entfremdungskonzept nicht viel anfangen und haben es als leider noch philosophisch gefärbte Vorarbeit zu der eigentlichen Kritik der politischen Ökonomie interpretiert. So geht beispielsweise der Apparat des 1982 erschienenen und die ÖPM enthaltenen MEGA-Bandes auf die Entfremdung in den ÖPM in nur zwei zusammenfassenden Sätzen ein. 576 Die gegenwärtige Marx-Forschung ist größtenteils mit Heinrich der Meinung, dass Marx das Entfremdungskonzept in den ‚Quellen der Deutschen Ideologie‘ ein für alle Mal verwirft. 577 Der vorliegende zweite Teil dieser Arbeit wird zeigen, dass die beiden Positionen das Verhältnis in beide Richtungen unnötig radikalisieren. Der Marxsche Titel seiner ökonomischen Arbeiten lautet ‚Kritik der politischen Ökonomie‘, Marx selbst beschreibt seine Darstellung mit folgenden Worten: „Die Arbeit, um die es sich zunächst handelt, ist Kritik der ökonom. Categorien, od., if you like, das System der bürgerlichen Ökonomie kritisch dargestellt. Es ist zugleich Darstellung des Systems u. durch die Darstellung Kritik derselben.“ 578 Gegen die behauptete Trennung der frühen, stark wertenden Arbeiten von Marx von dessen wissenschaftlichen und ökonomischen Arbeiten muss demnach daran festgehalten werden, dass Marx mit der Darstellung der politischen Ökonomie zugleich eine Kritik, also eine negative Wertung über sie transportieren wollte. Es wird zu zeigen sein, dass diese negative Wertung inhaltlich eine Fortsetzung der im Entfremdungskonzept begonnenen Kritik darstellt. Damit verleugnet aber das Postulat einer strikten Trennung der Entfremdung von der Kritik der politischen Ökonomie die Herkunft und Grundlage der letzteren. Zugleich soll auch gezeigt werden, dass in diesem Konzept der Entfremdung von 1844 durchaus bereits Grundlagen der späteren ökonomischen Bestimmungen gelegt werden. Deswegen aber wie Mészáros die Kritik der politischen Ökonomie unter dem Blickwinkel der Entfremdung zu lesen, mag als Weiterführung der marxistischen Theorie seinen Wert haben, ist aber kein Beitrag zu der Verhältnisbestimmung von Entfremdungskonzept und Kritik der politischen Ökonomie bei Marx selbst. Denn Marx benutzt zwar durchaus in seinen späteren ökonomischen Arbeiten noch Inhalte seiner Entfremdungskonzeption - dass dies aber erst bewiesen werden muss, 576 Siehe Institute für Marxismus-Leninismus (Hg.): Apparat zu den Ökonomisch- Philosophischen Manuskripten, MEGA I,2, S. 694. 577 Siehe Heinrich: Die Wissenschaft vom Wert, S. 134. Mit ‚Quellen der Deutschen Ideologie‘ , kurz, ‚Quellen der DI‘, bezeichne ich im Folgenden jene Texte, die als Grundlage zur Konstruktion des Textes ‚Deutsche Ideologie‘ benutzt wurde. Näheres dazu im Kapitel 11.1. 578 Karl Marx an Ferdinand Lasalle, 22. Februar 1858, In: Marx, Karl und Engels, Friedrich: Briefwechsel Januar 1858 bis August 1859, In: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Abteilung III, Bd. 9, Berlin: Dietz 2003, S. 72. <?page no="147"?> 147 zeigt, dass Marx selbst seine beiden theoretischen Konstruktionen nicht als identisch ansah. Es darf nicht übersehen werden, dass die Kritik von Marx‘ späterem Werk der politischen Ökonomie gilt. Dass nach Mészáros der „Begriff der ‚Aufhebung‘ (transcendence) der ‚Selbstentfremdung der Arbeit‘ das entscheidende Verbindungsstück zur Gesamtheit des Marxschen Werks, einschließlich der letzten Arbeiten des so genannten reifen Marx“ 579 sei, ist daher nicht einsichtig. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass Marx tatsächlich zentrale Bestimmungen seiner späteren politischen Ökonomie durch die Anwendung der Feuerbachschen Entfremdungskritik auf die politische Ökonomie in Rohform gewinnt, die Entfremdungskritik zwar modifiziert, aber bis in seine ökonomischen Arbeiten hinein beibehält, ohne dass man aber deswegen vom ‚Kapital‘ als einer ausgeführten Entfremdungskritik sprechen könnte. 580 Es wird zu zeigen sein, dass für eine solche Einschätzung der Wertmaßstab im Spätwerk nicht nur quantitativ zu wenig Raum einnimmt, sondern auch qualitativ verblasst. 581 7.3. Die Entwicklung des Wertmaßstabes 1843 übernimmt Marx von Feuerbach zweierlei Arten von Kritik. Feuerbach hatte 1841 im ‚Wesen des Christentums‘ zunächst in Anlehnung an Hegels Entfremdung in der ‚Phänomenologie‘ eine kritische Entfremdungstheorie entworfen. Feuerbach bezieht sich dabei auf die Bewegung des Subjekts in Hegels „Phänomenologie‘, in der der Geist sich als Subjekt in einem ihm Anderen vergegenständlicht, das er in seiner Erfahrung als sich selbst erkennt, womit er die Kluft zwischen Subjekt und Gegenstand aufhebt. Diese Bewegung in ihren religiösen Formen interpretiert Feuerbach in seiner Religionskritik als falschen Bezug des Menschen zu sich, der in Gott sein eigenes Gattungswesen als ein ihm fremdes Individuum anschaut. Die von Feuerbach gedachte Entfremdung hat vier Aspekte: Erstens sehe der Mensch in Gott sich selbst als ein von ihm unabhängiges Wesen an, das zweitens Macht über ihn besitze, ihm drittens feindlich gegenüber eingestellt sei und viertens die Form des Menschenwesens als Gattungswesen zerstöre. Indem Hegels Philosophie 579 Mészáros: Der Entfremdungsbegriff bei Marx, S. 25. 580 Eine ganz ähnliche Argumentation vertritt auch Tomberg, Friedrich: Der Begriff der Entfremdung in den ‚Grundrissen‘ von Karl Marx, In: Tomberg, Friedrich: Basis und Überbau - Sozialphilosophische Studien, Darmstadt, Neuwied: Luchterhand 1974, S. 148f. 581 Dass Marx‘ Auseinandersetzung mit Hegels Philosophie in den ÖPM einerseits das ursprüngliche Fundament der späteren Arbeiten von Marx ist, welche jedoch selbst primär ökonomischen Charakter haben, meint auch Löwith: Von Hegel zu Nietzsche, S. 303f. <?page no="148"?> 148 in Feuerbachs programmatischen Schriften auch dieser Entfremdungskritik verfällt und das Subjekt des Hegelschen Idealismus als Fortführung der Religion interpretiert wird, entwickelt Feuerbach eine zweite Kritik, auf die Marx aufbaut. Feuerbach wirft Hegel vor, die menschlichen Qualitäten in ein den Menschen übergeordnetes Subjekt zu setzen und darin Subjekt und Prädikat zu verwechseln. Gegen den Kern der ‚Phänomenologie‘ zu zeigen, dass im Geist als Subjekt die Kluft zwischen Subjekt und Objekt nichtig ist, setzt Feuerbach die bleibende Trennung zwischen Subjekt und Objekt als Ausgangspunkt. Die Darstellung der Feuerbachschen Entfremdung erfolgt in Kapitel 8 dieser Untersuchung. Vor 1844 entwickelt Marx die Grundlagen seines Wertmaßstabs in zwei Schritten. Seine Dissertation und die Vorarbeiten zu ihr zeigen, wie Marx als überzeugter Hegelianer einen theoretischen Beitrag zum Hegelschen Blick auf die Geschichte der Philosophie leisten will. Marx teilt sowohl abstrakt die Hegelsche Grundaussage, dass das wahre Ganze ebenso sehr als Subjekt wie als Substanz aufzufassen ist, wie auch die Hegelsche Ausführung dieses Gedankens in der ‚Phänomenologie‘. Marx weicht von seinem Lehrer zu dieser Zeit (1840-41) bloß in zwei wesentlichen Punkten ab. Erstens meint er, die junghegelianische Religionskritik im Anschluss an die Quellenkritik von Strauss sei kein Bruch, sondern die logische Fortführung der Hegelschen Religionsphilosophie. Die Ausklammerung der Religion aus dem Hegelschen System scheint er als unproblematisch anzusehen. Zweitens teilt er mit den anderen Junghegelianern das Anliegen, die Hegelsche Philosophie zu verwirklichen. Anders als Hegel meint er nicht, dass die Philosophie der Nachvollzug einer bereits vollzogenen geistiggeschichtlichen Entwicklung ist, sondern dass diese jener folgen müsse. Marx‘ Wertmaßstab fällt in dieser Zeit mit der Hegelschen Philosophie zusammen. Die Praxis der Philosophie ist für ihn das Maßnehmen der besonderen Wirklichkeit an der Idee. 582 Er sieht es als Notwendigkeit des Zeitlaufs, dass „die Philosophie die Augen in die Aussenwelt kehrt, nicht mehr begreifend, sondern als eine praktische Person gleichsam Intriguen mit der Welt spinnt“ 583 . Diese Notwendigkeit will Marx in seiner journalistischen Arbeit 1842 vollbringen. In seinen Publikationen in der Rheinischen Zeitung prüft Marx die aktuelle politische Entwicklung - das Eherecht wie die Novellierung eines Gesetzes zum Holzdiebstahls - unter dem Maßstab der Hegelschen Philosophie. Marx kommt zu der Ansicht, das Praktisch-werden der Philosophie sei eine Angelegenheit außerhalb 582 Siehe Marx, Karl: Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie nebst einem Anhange, In: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Abteilung I, Bd. 1, Berlin: Dietz 1975, S. 68. 583 Marx: Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie, MEGA I,1, S. 99. <?page no="149"?> 149 ihrer selbst. Marx vollbringt 1842 die Wende von einer Praxis der Philosophie zu einer Philosophie in der Praxis. Marx rezipiert die Feuerbachsche Kritik der Hegelschen Philosophie zunächst, um Hegels Legitimation der konstitutionellen Monarchie der Unwahrheit zu überführen. Mit Feuerbach meint Marx, dass Hegel ein Subjekt über dem Menschen erschaffe. Damit hat Marx seinem gesamten bisherigen Bewertungsmaßstab den Grund entzogen, denn bei Hegel ist das sich entfaltende Subjekt gerade das Wahre als das Ganze, das die Kluft zwischen Subjekt und Objekt übersteigt. Allerdings trennt Marx diese Hegelsche Grundaussage, dass es ein Subjekt gebe, das sich über die Selbstsetzung in einem ihm Anderen manifestiere, von der Ausführung dieses Gedankens ab, bewahrt ihn auf und überträgt ihn auf den Menschen. Damit hat Marx von der Hegelschen Philosophie einen Gedanken für seinen Bewertungsmaßstab modifiziert übernommen: Der Mensch muss, um Subjekt seiner selbst zu sein, sich in einem ihm Anderen vergegenständlichen. Wie diese Vergegenständlichung aussieht, entwickelt Marx negativ, nämlich entlang der Linien der Feuerbachschen Entfremdungskritik. Marx sieht allerdings als Grundlage der religiösen Entfremdung eine Entfremdung im vorherrschenden Gesellschaftszustand. Im Proletariat findet Marx die soziale Kraft vor, die diese veränderte Philosophie in die Praxis überführen soll. Die Entwicklung der Grundlagen des Marxschen Bewertungsmaßstabs wird in Kapitel 9 dargestellt. In den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten (ÖPM) überträgt Marx die Feuerbachsche Entfremdungstheorie auf das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital. Im Kapital produziere die Lohnarbeit ein Produkt, das dem Menschen als selbständig, mächtig, feindlich und seine Gemeinschaftlichkeit zerstörend gegenübertritt. Dies definiert Marx nicht nur als Entfremdung des Produkts von seinem Schöpfer, sondern auch als Entfremdung des Menschen von seinem eigenen Gattungswesen. Darin zeigt sich, dass Marx bei aller Kritik an Hegel die Aussage vom Wahren als eines sich selbst setzenden Subjekts in einem ihm Anderen nicht aufgegeben hat und nun auf den Menschen als einem produktiven Wesen überträgt. Indem der Mensch ein Produkt erschaffe, vergegenständliche sich sein eigenes Wesen als Subjekt, es habe mit nichts als selbst geschaffenen Produkten zu tun. Im Kapitalismus entfremde sich das Produkt praktisch vom Menschen, es gelte daher objektiv, nicht nur in der Vorstellung wie Gott bei Feuerbach, nicht mehr als eigener Gegenstand. Diese Entfremdung in der Arbeit manifestiere sich in der Aneignung des Produkts durch den Kapitalisten. Der Kommunismus als die Emanzipation von der entfremdeten Arbeit sei daher „ die wahrhafte Auflösung des Widerstreites zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen“ 584 . Wie Feuerbach benutzt Marx demnach die Hegelsche Entfremdungsbewegung 584 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 263. <?page no="150"?> 150 als ganz abstrakten Ausgangspunkt für seine Kritik. Damit hat er sich einen eigenen Wertmaßstab entwickelt: Dem Menschen sei es gemäß, dass er sich in Arbeit vergegenständlicht und so die Kluft zwischen sich und der Natur überwindet. Diese Erarbeitung von Marx‘ Wertmaßstab wird in Kapitel 10 nachverfolgt. In den Texten, die später als ‚Deutsche Ideologie‘ publiziert werden, entwickelt Marx seine materialistische Geschichtsauffassung und modifiziert seinen Bewertungsmaßstab dahingehend, dass nun nicht mehr der Mensch überhaupt, sondern die jeweils geschichtliche Art und Weise der Arbeitsteilung der Gattung ermöglicht, ihr schöpferisches Wesen in der Welt zu vergegenständlichen. Hinzu kommt der Aspekt, dass die schöpferischen Potenzen des Menschen mit der jeweiligen gesellschaftlichen Vergegenständlichung immer weiter steigen. Inhaltlich ist Marx diese Übertragung des zu vergegenständlichenden Subjekts vom Menschen auf die arbeitsteilige Gesellschaft in diesen Texten nachzuweisen, obgleich er dies in polemischer Abgrenzung zu den Junghegelianern explizit negiert. Marx kennt dennoch weiterhin ein Wesen des Menschen, das in der Fähigkeit besteht, die Welt nach seinen Vorstellungen zu verändern, obwohl er sich ausdrücklich dagegen sperrt, dass es ein solches Wesen gibt. Auch wenn Marx es leugnet, ist auch in den den später als ‚Deutsche Ideologie‘ veröffentlichten Texten damit die Vergegenständlichung des nun als Gesellschaft gedachten Subjekts in Arbeit noch immer der Bewertungsmaßstab, mit dem Marx den Kapitalismus beurteilt. Das soll in Kapitel 11 bewiesen werden. In der Kritik der politischen Ökonomie findet sich dieser Maßstab auch noch, maßgeblich in der Kritik des Fetischcharakters der Ware, aber auch in dem Verhältnis des Lohnarbeiters zur kapitalistischen Maschinerie. Allerdings tritt der Maßstab stark in den Hintergrund und verwischt sich teils zu dem diffusen Imperativ, dem Menschen solle es möglich sein, alle seine Potentiale jenseits der Arbeit zu verwirklichen. Hier taucht auch die Gleichung von Freiheit und Freizeit auf, womit der in den ÖPM entwickelte Maßstab fast vollständig verschwindet. Der Marxsche Bewertungsmaßstab in der Kritik der politischen Ökonomie ist Thema von Kapitel 12. <?page no="151"?> 151 8. Entfremdung nach Feuerbach 8.1. Religionskritik im ‚Wesen des Christentums‘ Mit der Schrift ‚Wesen des Christentums‘ wagt Feuerbach eine erste inhaltlich ausgearbeitete und zugleich radikale Abkehr von der spekulativen Philosophie. Diese Schrift sollte eine unheimliche Wirkkraft entfalten. Nach Engels‘ Einschätzung entfaltete der Text einen ungeheuren Einfluss auf die progressiven Theoretiker im Allgemeinen und die Junghegelianer im Speziellen. „Die Begeisterung war allgemein: Wir waren alle momentan Feuerbachianer.“ 585 Nachdem die erste Auflage vom Juni 1841 nach nur wenigen Monaten fast vergriffen war, 586 war es die zweite Auflage 1843, die die größte Wirkkraft entfaltete 587 . Der Einfluss auf Marx und Engels selbst war wohl 1843 bis 1845 am stärksten 588 , also genau in jener Zeit, in der sich Marx der Ökonomie zuwandte und - so die zu beweisende These - über die Auseinandersetzung mit Feuerbach und in Rückgriff auf Hegel seinen Bewertungsmaßstab entwickelte. Es ist selbstverständlich, dass dabei nur die Kerngedanken dieser Schrift genauer in den Blick genommen werden können, vor allem aber der Feuerbachsche Begriff von Entfremdung. Bereits die Herangehensweise an seinen Gegenstand gewinnt Feuerbach in Abgrenzung zu Hegel. Diesem wirft er vor, den Unterschied von Objektivität und Subjektivität aufheben zu wollen. Damit werde jedoch die Frage des ontologischen Status der religiösen Gegenstände ignoriert. Mit der genetisch-kritischen Methode, die sich dem Ursprung der Religion zuwende, werde diese Frage jedoch wieder aufgeworfen. Wie Feuerbach bereits früher schreibt, besteht diese Methode darin anzuzweifeln, „ob der Gegenstand ein wirklicher Gegenstand oder nur eine Vorstellung, überhaupt ein psychologisches Phänomen ist, welche daher aufs Strengste zwischen dem Subjektiven und Objektiven unterscheidet.“ 589 585 Siehe Engels, Friedrich: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, In: Marx-Engels-Werke, Bd. 21, Berlin: Dietz 1969, S. 272. 586 Nach Schuffenhauer, Werner: Vorbemerkung, In: Schuffenhauer, Werner (Hg.): Ludwig Feuerbach - Gesammelte Werke, Bd. 5, dritte, durchgesehene Auflage, Berlin: Akademie-Verlag 2006, S. VII. 587 Siehe Weckwerth, Christine: Ludwig Feuerbach zur Einführung, Hamburg: Junius 2002, S. 144 Fußnote 59. 588 Nach Jaeschke, Walter und Schuffenhauer, Werner: Einleitung der Herausgeber, In: Jaeschke, Walter und Schuffenhauer, Werner (Hg.): Ludwig Feuerbach - Entwürfe zu einer Neuen Philosophie, Hamburg: Meiner 1996, S. XXII. 589 Feuerbach, Ludwig: Zur Kritik der Hegelschen Philosophie, In: Schuffenhauer, Werner (Hg.): Ludwig Feuerbach - Gesammelte Werke, Bd. 9, dritte, durchgesehene Auflage, Berlin: Akademie-Verlag 1990, S. 52. <?page no="152"?> 152 Es geht Feuerbach demnach darum, die Religion als Seelenzustand zu betrachten. Diese Herangehensweise grenzt Feuerbach von der wissenschaftlich-spekulativen wie der religionsinternen Betrachtungsweise ab. Die spekulative Philosophie mache den Gegenstand der Religion zu Gedanken, die Religion selbst mache ihren Gegenstand zu einer Sache, während man es tatsächlich mit einem Bild zu tun haben. 590 Da Feuerbach das Christentum als gegenwärtig bereits in seiner Auflösung begriffen sieht, ist das Anschauungsmaterial seiner Untersuchung das frühe Christentum als seine klassische Zeit, weil nur so der Gegenstand unverfälscht von ihm fremden, modernen Einflüssen untersucht werden könne. 591 Anschließend an seine bereits 1839 in der Schrift ‚Philosophie und Christentum‘ veröffentlichten Überlegungen 592 konstatiert Feuerbach, dass Gott als der Gegenstand des Glaubens eine ganz eigentümliche Wahrheit besitze. Einerseits sei er nämlich den Sinnen (und in seiner nach Feuerbach ursprünglichen, also nicht-theologischen Form auch der Vernunft) entzogen. Andererseits werde er dennoch als wahr angenommen und als sinnliches Sein postuliert. Feuerbach führt diesen Widerspruch aus und folgert aus ihm, dass der Atheismus seine logische Konsequenz sei. 593 Nach Feuerbach ist etwas genau dann wirklich und habe dann eine eigenständige Existenz, wenn es eine Grundlage in der Sinnenwelt habe. Dann sei ein Gegenstand nämlich unabhängig vom Subjekt vorhanden. Dieses Kriterium sei beim Gegenstand des Glaubens nicht gegeben. Anders als andere Religionskritiker beispielsweise des 18. Jahrhunderts, die ebenfalls auf die Widersprüche der Religion aufmerksam gemacht haben, 594 bleibt Feuerbach allerdings bei diesem Befund nicht stehen. Er meint auch nicht, dass dieser Widerspruch dem Glauben nicht aufgefallen sei, dass 590 Siehe Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums, Erstauflage 1841, In: Schuffenhauer, Werner (Hg.): Ludwig Feuerbach - Gesammelte Werke, Bd. 5, dritte, durchgesehene Auflage, Berlin: Akademie-Verlag 2006, S. 6. Die Wiedergabe in diesem Band folgt der Erstauflage 1841, vermerkt aber auch die Änderungen in den beiden darauf folgenden Auflagen 1843 und 1849. Weil die verschiedenen Auflagen im Folgenden noch eine Rolle spielen werden, ist jeweils angeben, auf welche Auflage sich der Verweis oder das Zitat bezieht. Im Folgenden wird in erster Linie die Erstauflage herangezogen, die auch Marx bekannt gewesen war. Weil Feuerbach seine Argumente in späteren Auflagen teils pointierter formuliert hat, werden sie aber auch zur Charakterisierung seiner Gedanken herangezogen, wo sich diese Formulierungen nicht von der Argumentation der Erstauflage unterscheidet. Nur dort, wo ein Unterschied im Begriff vorhanden ist, wird er im Folgenden thematisiert. 591 Siehe Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 1841, S. 6. 592 Siehe Feuerbach, Ludwig: Philosophie und Christentum, In: Schuffenhauer, Werner (Hg.): Ludwig Feuerbach - Gesammelte Werke, Bd. 8, dritte, durchgesehene Auflage, Berlin: Akademie-Verlag 1989, S. 219-222 und S. und 232. 593 Siehe Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 1841, S. 340f. 594 Als einer dieser Aufklärer wäre D‘Holbach zu nennen. <?page no="153"?> 153 also dessen Erwähnung und Erklärung eine hinreichende Art der Religionskritik sei. Vielmehr zieht er daraus den Schluss, dass der Glauben aufgrund dieses Widerspruchs nicht primär auf Vernunft beruhe. Der zweite Schluss aus diesem Urteil ist beispielhaft für das ganze Vorhaben Feuerbachs: Er fragt sich, was den Glauben eigentlich ausmachen muss, wenn er trotz dieses Widerspruchs vertreten wird. Die Religion beruht nach Feuerbach nicht nur nicht auf der Vernunft; vielmehr müsse auch der Widerspruch zur Vernunft vom Gläubigen ausgehalten werden. Der Glauben müsse daher in einer Instanz seine Basis haben, die dem der Vernunft aufstoßenden Widerspruch Widerstand zu leisten imstande sei. Diese Instanz bestimmt Feuerbach als die Phantasie. 595 Anders als ihm vorausgegangene Religionskritiker bestimmt Feuerbach die Religion damit nicht nur als Abwesenheit von Vernunft, sondern positiv als eine bestimmte Geistesleistung. Aber auch dem schließt sich für Feuerbach nur die Frage an, was für ein Phantasieprodukt der Gegenstand des Glaubens - Gott - eigentlich sei. Dabei fällt ihm auf, dass der Gegenstand des Glaubens in seinen Attributen dem Menschen zunächst unmittelbar gegensätzlich gegenübertritt: „Gott ist nicht, was der Mensch ist - der Mensch nicht, was Gott ist. Gott ist das unendliche, der Mensch das endliche Wesen; Gott vollkommen, der Mensch unvollkommen; Gott ewig, der Mensch zeitlich; Gott allmächtig, der Mensch ohnmächtig; Gott heilig, der Mensch sündhaft. Gott und Mensch sind Extreme: Gott das schlechthin Positive, der Inbegriff aller Realitäten, der Mensch das schlechtweg Negative, der Inbegriff aller Nichtigkeiten.“ 596 Zunächst erscheint Gott daher im Glauben als das ganz Andere des Menschen, als ihm entgegengesetzt. Aber was ist es, das der Gläubige in Gott eigentlich anbetet? Feuerbach verweist auf Hegels Wissenschaft der Logik, der gemäß die Prädikate im Urteil gerade nicht vom Subjekt stammen können. Wenn dem aber so ist und Gottes Prädikate ihn zu einem Gott machten, dann müssten es diese Prädikate sein, die in Gott in der Form des Subjekts angebetet würden. „Eine Qualität ist nicht dadurch göttlich, daß sie Gott hat, sondern Gott hat sie, weil sie an und für sich selbst göttlich ist, weil Gott ohne sie ein mangelhaftes Wesen ist. [...] Wenn aber Gott als Subjekt das Bestimmte, die Qualität, das Prädikat aber das Bestimmende ist, so gebührt ja in Wahrheit 595 „Die Einbildungskraft ist überhaupt der wahre Ort einer abwesenden, den Sinnen nicht gegenwärtigen, aber gleichwohl dem Wesen nach sinnlichen Existenz. Nur die Phantasie löst den Widerspruch zwischen einer zugleich sinnlichen, zugleich unsinnlichen Existenz; nur die Phantasie bewahrt vor dem Atheismus.“ Siehe Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 1841, S. 344f. 596 Siehe Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 1841, S. 75. <?page no="154"?> 154 dem Prädikat, nicht dem Subjekt der Rang des ersten Wesens, der Rang der Gottheit.“ 597 Weil es die Prädikate Gottes seien, die in der Religion verehrt würden, müsse man sich ihnen zuwenden um zu schauen, was die Menschen in dieser erdachten Gestalt anbeten, was also ihr Gegenstand und ihr Interesse des Glaubens sei. Dabei hat Feuerbach den Prädikaten wiederum zwei Eigenschaften entnommen. Einmal stammten sie aus der Welt. Dies ist kohärent mit Feuerbachs Prämisse, dass nur das Wirklichkeit hat, was in der sinnlichen Welt seine Grundlage hat, also in irgendeiner Weise als sinnliches Phänomen erfassbar sei. „Die Religion umfaßt alle Gegenstände der Welt; alles, was nur immer ist, war Gegenstand religiöser Verehrung; im Wesen und Bewußtsein der Religionen ist nichts anderes, als was überhaupt im Wesen und Bewußtsein des Menschen von sich und von der Welt liegt. Die Religion hat keinen aparten Inhalt.“ 598 Zweitens seien die Prädikate Gottes, als des höchsten Gegenstands der Religion, besonders anbetungswürdig, weil sie vollkommener Natur seien. „Warum ist dieses Prädikat ein Prädikat Gottes? Weil es göttlicher Natur ist, d.h., weil es keine Schranke, keinen Mangel ausdrückt.“ 599 Der Ursprung dieser positiven Eigenschaften ist nach Feuerbach der Mensch selbst. Diese These will Feuerbach in jedem Kapitel seiner Schrift anhand jeweils einer bestimmten Qualität Gottes nachweisen. Zugleich zieht er aus diesem abstrakten Befund, dass die Prädikate Gottes die Prädikate des Menschen seien und dass die Prädikate Gottes ihn zu einem solchen machten, einen Schluss: „Wenn es nun aber ausgemacht ist, daß, was das Subjekt ist, lediglich in den Bestimmungen des Subjekts liegt, d.h., daß das Prädikat es ist, wodurch das Subjekt uns allein in seinem Wesen Gegenstand ist, so ist auch erwiesen, daß, wenn die göttlichen Prädikate Bestimmungen des menschlichen Wesens sind, auch das Subjekt derselben menschlichen Wesens ist.“ 600 Mit dieser Synthese aus den bisherigen Resultaten bestimmt Feuerbach die Religion. Wenn die Prädikate Gottes das ihn Bestimmende sind, diese aber menschliche Prädikate seien, dann sei das Subjekt, das der Gläubige in Gott anbetet, der Mensch selbst. 601 Nach Feuerbach ist Gott demnach die geistige Vergegenständlichung des menschlichen Wesens in einem vorgestellten eigenständigen Subjekt. „Die Religion, wenigstens die christliche, ist das Verhalten des Menschen zu sich selbst, oder richtiger: zu seinem (und zwar subjektiven) Wesen, aber das 597 Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 1843, S. 59. 598 Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 1843, S. 60. 599 Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 1843, S. 61. 600 Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 1841, S. 62. 601 Siehe auch Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 1841, S. 49. <?page no="155"?> 155 Verhalten zu seinem Wesen als zu einem andern Wesen. Das göttliche Wesen ist nichts andres als das menschliche Wesen oder besser: das Wesen des Menschen, gereinigt, befreit von den Schranken des individuellen Menschen, verobjektiviert, d.h. angeschaut und verehrt als ein andres, von ihm unterschiednes, eignes Wesen - alle Bestimmungen des göttlichen Wesens sind darum menschliche Bestimmungen.“ 602 Der Gegenstand der Religion, der im Christentum angebetet werde, sei in seinem Wesen nichts anderes als das, was den Menschen im Kern ausmache, aber abgetrennt von den Schranken des Individuums. Sein Wesen mache sich der Mensch in der Religion mithin zum Gegenstand, aber ausgedrückt als eine eigenständige Existenz und als ein eigenständiges Wesen. Die Religion ist somit eine Form des Selbstbewusstseins des Menschen, ohne sich dieses wahren Wesens Gottes bewusst zu sein. An diese Bestimmungen schließt sich die Frage an, wie der Mensch nach Feuerbach die absoluten Prädikate Gottes innehaben kann, wenn er von sich als Individuum abstrahieren muss, um sein eigenes Wesen in Gott zu vergegenständlichen. „In der Persönlichkeit Gottes feiert der Mensch die Übernatürlichkeit, Unsterblichkeit, Unabhängigkeit, Unbeschränktheit seiner eignen Persönlichkeit.“ 603 Wie bestimmt Feuerbach dieses absolute Wesen, wenn nicht als Individuum? Absolut ist für Feuerbach nicht das Individuum, sondern der Mensch als Gattung, als Kollektiv. Und nur als Gattung sei der Mensch er selbst. „Aber der Begriff der Gottheit fällt mit dem Begriff der Menschheit in eins zusammen. Alle göttlichen Bestimmungen, alle Bestimmungen, die Gott zu Gott machen, sind Gattungsbestimmungen - Bestimmungen, die in dem Einzelnen, dem Individuum beschränkt sind, aber deren Schranken in dem Wesen der Gattung und selbst in ihrer Existenz - inwiefern sie nur in allen Menschen zusammengenommen ihre entsprechende Existenz hat - aufgehoben sind. Mein Wissen, mein Wille ist beschränkt; aber meine Schranke ist nicht die Schranke des Andern, geschweige der Menschheit; was mir schwer, ist dem Andern leicht; was einer Zeit unmöglich, unbegreiflich, ist der kommenden begreiflich und möglich.“ 604 Was der Mensch mithin im Glauben vergegenständliche, sei das Bewusstsein aller Attribute, die ihm als Gattungswesen zukommen, also als Kreatur, deren wesentliche Attribute solche des Kollektivs statt des Individuums seien. Der Gattung seien die absoluten Prädikate wesentlich, die die Menschen als so göttlich empfänden, dass sie sie in einem Individuum personifizieren und zu einem höheren, von ihnen getrennten Wesen machen würden. Es stellt sich als nächstes die Frage, warum sich der Mensch in Gott vergegenständlichen will, warum er also seine Phantasie 602 Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 1841, S. 48f. 603 Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 1841, S. 188. 604 Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 1841, S. 267f. <?page no="156"?> 156 bemüht, sich diesen Gegenstand vorzustellen und auf ihm eine ganze Religion zu errichten. Motivation für die Vergegenständlichung des Gattungswesens als Gott sei eben genau jener Widerspruch zwischen vergänglichem Individuum und absolutem Gattungswesen. „Gott ist nichts andres bei den Christen als die Anschauung von der unmittelbaren Einheit der Gattung und Individualität, des allgemeinen und individuellen Wesens. Gott ist der Begriff der Gattung als eines Individuums, der Begriff oder das Wesen der Gattung, welches als Gattung, als allgemeines Wesen, als der Inbegriff aller Vollkommenheiten, aller von den Schranken, die in das Bewußtsein und Gefühl des Individuums fallen, gereinigten Eigenschaften oder Realitäten, zugleich wieder ein individuelles, persönliches Wesen ist.“ 605 Es ist also der Widerspruch des schrankenhaften Individuums zu seinem eigenen schrankenlosen Wesen, das es als Gattung innehat, an dem das Individuum verzweifelt. Im Glauben werde dieser Widerspruch in der Vorstellung durch die Imagination eines Individuums aufgehoben, das alle absoluten Prädikate der Gattung in sich vereine. Im Gegensatz zur Idee der Gattung sei die Idee Gottes damit ein das Gemüt entzückender Gegenstand, denn die Idee der Menschheit sei ein abstrakter Gedanke, der allzuschnell als Kollektiv beschränkter Individuen vorgestellt werde, während Gott die unmittelbare Verwirklichung der menschlichen Eigenschaften in einem Individuum darstellen und somit den Wunsch nach diesen absoluten Qualitäten geistig befriedigen würde. 606 8.2. Entfremdung im ‚Wesen des Christentums‘ Obgleich Feuerbach äußerst polemisch über das Christentum spricht, will er es nicht vollständig negieren. Er hat von sich nicht das Bild eines, der die Religion in Bausch und Bogen verurteilt. „Unser Verhältnis zur Religion ist daher kein nur negatives, sondern ein kritisches; wir scheiden nur das Wahre vom Falschen“ 607 . Feuerbachs Untersuchung ist in zwei Teile geteilt, der größere von beiden behandelt das „die Religion in Übereinstimmung mit dem Wesen des Menschen“, 608 und dies ist durchaus als positive Bewertung aufzufassen. Der andere Teil behandelt das nach Feuerbach unwahre Wesen der Religion. Feuerbach stellt demnach an der Religion eine positive und eine negative Leistung fest. Für ihn ist Religion die Vergegenständlichung des 605 Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 1841, S. 268f. 606 Siehe Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 1841, S. 268. 607 Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 1841, S. 444. 608 Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 1841, S. 75. <?page no="157"?> 157 Menschen in einem von ihm selbst getrennten Wesen. Das Positive an diesem Verhältnis sei, dass die Religion dem Menschenwesen zur Anschauung verhelfe. Das ist für Feuerbach sehr wesentlich, denn menschliches Bewusstsein überhaupt sei erst möglich, wenn man ein Bewusstsein von sich selber habe. 609 „Die Religion ist das erste Selbstbewußtsein des Menschen. Heilig sind die Religionen, eben weil sie die Überlieferungen des ersten Bewußtseins sind.“ 610 Dabei werde in Gott nicht allein die reine Vergegenständlichung des Menschenwesens geleistet, sondern diese Verobjektivierung werde auch genau so beurteilt, wie es dem Menschenwesen angemessen sei. In Gott sei der Mensch sich selbst das Höchste. Die Anbetung Gottes sei das richtige Verhältnis des Menschen zu seinem eigenen Wesen, das ihm das Höchste sein sollte. „Gott ist das offenbare Innere, das ausgesprochne Selbst des Menschen; die Religion ist die feierliche Enthüllung der verborgnen Schätze des Menschen, das Eingeständnis seiner innersten Gedanken, das öffentliche Bekenntnis seiner Liebesgeheimnisse.“ 611 Diese positiven Leistungen will Feuerbach bewahren und zugleich unvermittelt zur Entfaltung bringen, indem der Mensch sich selbst als Gattungswesen anschauen und als das Höchste anerkennen soll. Damit werde in der Anerkennung seiner selbst als Gattungswesen für Feuerbach gerade das Wesen der Religion anerkannt und aufbewahrt. So schreibt er über die Verwandlung von Christus mit der von ihm geforderten anthropologischen Wende: „Wo also das Bewußtsein der Gattung als Gattung entsteht, da verschwindet Christus, ohne daß sein wahres Wesen vergeht; denn er war ja der Stellvertreter, das Bild des Bewußtseins der Gattung“ 612 . Feuerbach hat somit keine rein negative Stellung zur Religion; für ihn verwirklicht sich in der Anthropologie erst der wahre Gehalt der Religion. Zugleich hat diese erste Art der menschlichen Vergegenständlichung in der Religion jedoch eine negative Seite, weswegen sie aufgehoben werden müsse. Die über Gott vermittelte Anschauung des menschlichen Wesens negiere gerade die Leistung der Vergegenständlichung: „Die Religion ist das Verhalten des Menschen zu seinem eignen Wesen - darin liegt ihre Wahrheit und sittliche Heilkraft -, aber zu seinem Wesen nicht als dem seinigen, sondern als einem andern, von ihm unterschiednen, ja entgegengesetzten Wesen -, darin liegt ihre Unwahrheit, ihre Schranke, ihr Widerspruch mit Vernunft und Sittlichkeit, darin die unheilschwangere Quelle des religiösen Fanatismus, darin das oberste, metaphysische Prinzip der blutigen Menschenopfer, kurz, darin die prima materia aller Greuel, 609 Siehe ‚Kapitel 1: Das Wesen des Menschen im allgemeinen‘ in Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 1841, S. 28-44. 610 Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 1841, S. 444. 611 Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 1841, S. 46. 612 Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 1841, S. 442. <?page no="158"?> 158 aller schaudererregenden Szenen in dem Trauerspiel der Religionsgeschichte.“ 613 Feuerbach bestimmt die Greuel, die im Laufe der Religionsgeschichte begangen wurden, nicht als dem Glauben entgegengesetzt oder akzidentiell, sondern als im Wesen des spezifisch über Gott vermittelten Verhaltens des Menschen zu sich begründet. Weil der Mensch sich zu sich als einem fremden Wesen verhalte, werde gerade die Verwirklichung seines Wesen unterdrückt und theoretisch wie praktisch negiert. Wegen der spezifischen Vergegenständlichung als Glaube denke der Mensch gegen die Gesetze der Vernunft und behandele seine Mitmenschen nicht als solche. Dadurch, dass sich der Mensch zu seinem eigenen Wesen als einem anderen ins Verhältnis setze, dadurch also, dass er sich von der Anschauung seines eigenen Wesens entfremde, entfremde er sich von sich selbst. Diese Entfremdung des Menschen von sich selbst hat bei Feuerbach vier Aspekte: Erstens gewinne in der Religion das Produkt des Bewusstseins Selbständigkeit. Dieses verselbständigte Gedankenprodukt gewinne zweitens Macht über diejenigen, die es gedacht haben. Drittens wende sich das religiöse Gedankenkonstrukt gegen seine Schöpfer; das so versinnbildlichte Wesen des Menschen stehe zu diesem im Gegensatz. Und viertens übe das verselbständigte Produkt des religiösen Bewusstseins namens Gott die feindliche Macht über und gegen seine Schöpfer so aus, dass es die Bestimmung des Menschen als Gattungswesen selbst negiere. Im Glauben wird nach Feuerbach das Wesen des Menschen, das die Form eines Produkt des Bewusstseins innehat, als eine eigenständige Existenz vorgestellt. Diese Verwechslung, die nur gegen die Vernunft mit Hilfe der Phantasie aufrecht erhalten werden könne, sei der Kern des Glaubens als Bewusstseinsform. Dem Glauben sei es wesentlich, dass er die Identität seines Inhalts mit dem menschlichen Wesen nicht sehen wolle und stattdessen in dem höchsten Individuum - Gott - personifiziere. Damit werde das Wesen des Menschen als eine Entität veranschaulicht, die unabhängig vom Menschen eine eigenständige Existenz besitze. „Die Religion scheidet das Wesen des Menschen vom Menschen. Die Tätigkeit Gottes ist die entäußerte Selbsttätigkeit des Menschen, der vergegenständlichte freie Wille.“ 614 Diese Selbständigkeit des menschlichen Gedankenprodukts ist der erste und grundlegende Aspekt der Feuerbachschen Entfremdungskonzeption. Die Anschauung des menschlichen Wesens in Gott bleibe jedoch nicht dabei stehen, das eigene Wesen als selbständige Entität zu denken; als solch autonom gedachtes Subjekt ist es zugleich mit Macht über die Menschen ausgestattet. Es kommt also dahin, dass das eigene Produkt des 613 Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 1843, S. 334. 614 Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 1841, S. 397. <?page no="159"?> 159 Menschen, das zugleich nichts anderes ist, als sein eigenes vergegenständlichtes Wesen, ihn in seinem Denken und in seinem Handeln bestimme. „Der Mensch - dies ist das Geheimnis der Religion - vergegenständlicht sich sein Wesen und macht dann wieder sich zum Objekt dieses vergegenständlichten, in ein Subjekt verwandelten Wesens; er denkt sich, ist sich Objekt, aber als Objekt eines Objekts, eines andern Wesens.“ 615 Diese Fremdbestimmung durch Gott konstatiert Feuerbach auf verschiedenen Ebenen. Einmal interpretiere der Mensch die eigene Existenz als abhängig von Gott. Der Glauben kehre das wirkliche Verhältnis von Mensch und Gott um und erkläre das Produkt seines eigenen Bewusstseins als das Tätige, von dem er komplett abhängig sei, „weil er die eigne Tätigkeit nur als eine objektive, das Gute nur als Objekt anschaut, so empfängt er notwendig auch den Impuls, den Antrieb nicht von sich selbst, sondern von diesem Objekt.“ 616 Die ganze Existenz wie das spezifische Handeln der Menschen werde durch die Anschauung des menschlichen Wesens in einem vorgestellten höchsten Individuum in dieses verlegt. In der religiösen Vorstellung habe das Handeln der Menschen daher seinen Ursprung im religiösen Gedankenkonstrukt. „Alle Gesinnungen, die dem Leben, dem Menschen zugewendet werden sollen, alle seine besten Kräfte vergeudet der Mensch an das bedürfnislose Wesen. Die wirkliche Ursache wird zum selbstlosen Mittel, eine nur vorgestellte imaginäre Ursache zur wahren, wirklichen Ursache.“ 617 Zugleich werde der Mensch insofern durch sein eigenes Gedankenprodukt bestimmt, als die Ausgestaltung der Glaubensinhalte gar nicht mehr aus der Vernunft entstammen könnten, sondern nun willkürlich gesetzt werden müssten. Von diesen dem Menschen und seiner Vernunft entzogenen Glaubensinhalten mache sich der Mensch abhängig, wenn er meint, dass seine Vergegenständlichung unabhängig von ihm existiere und es ihm ermögliche, alle Beschränkungen des Individuums im ewigen Leben zu überschreiten. „Der Glaube ist wesentlich bestimmter Glaube. […] Es ist daher notwendig, es liegt im Wesen des Glaubens, daß er als Dogma fixiert wird […], damit jeder bestimmt weiß, was er glauben soll und wie er seine Seligkeit sich erwerben kann.“ 618 Dass der Mensch von seinen Glaubensinhalten bestimmt werde, habe aber neben dieser formellen auch eine inhaltliche Bestimmung. Anhand der Sakramente zeigt Feuerbach auf, dass der Gehalt der Sakramente im Glauben selbst liege - und dass das Sakrament genau deswegen in der religiösen Praxis zugleich auf die rein äußerliche Form reduziert werden 615 Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 1841, S. 71. 616 Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 1841, S. 72. 617 Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 1841, S. 446. 618 Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 1841, S. 415. <?page no="160"?> 160 müsse. Im Glauben werde nämlich einerseits zugegeben, dass beispielsweise der Empfang des Abendmahls nur mit dem Glauben gelinge. Diese Aussage weise korrekterweise auf die Wahrheit des Sakraments hin, die in der Form des Glaubens liege. Zugleich werde das Resultat des Sakraments, die Union mit Gott, jedoch als unabhängig von der Sache selbst gedacht. Dadurch werde die eingebildete Sache und nicht die Einbildung als Form zum Wesen des Sakraments bestimmt. 619 So sei eine Konsequenz des Glaubens Aberglauben, also der magische Glaube an Rituale, die auch ohne die rechte Gesinnung wirken könnten. Zugleich verliere das Sakrament durch den Glauben jede Heiligkeit insofern, als das Heiligende außerhalb des Menschen gesetzt werde. Dadurch gehe dem Menschen die Wertung von etwas als heilig verloren. 620 Diese Immoralität im Sakrament überträgt Feuerbach auf die Immoralität des Glaubens insgesamt: Im Glauben nehme der Mensch als gute Prinzipien des Handelns nicht etwas, was im Handeln selbst begründet wäre, sondern etwas Äußeres, ihm Vorausgesetztes. Die Menschen handelten nach Prinzipien, die aus der falschen Vergegenständlichung entspringen anstatt aus dem unvermitteltem Verhältnis zu sich selbst. 621 Feuerbach versucht an diesen Stellen zu zeigen, wie sich auf den ersten Aspekt der Entfremdung ein zweiter Aspekt oben drauf sattelt. Nicht nur, dass der Mensch sein eigenes Wesen als ein Fremdes, von ihm Eigenständiges wahrnimmt; dieses autonom gedachte Wesen übe auch noch Macht über ihn aus. Der Mensch meint nicht nur, dass sein Leben von Gott bestimmt werde; er handelt auch noch praktisch nach den Geboten des Glaubens, lasse sich also von seinem eigenen Gedanken als einem fremden Wesen bestimmen. In Bezug auf das Sakrament fasst Feuerbach diesen Aspekt der Entfremdung zusammen: „So wird also auch hier das religiöse Subjekt von sich selbst als wie von einem andern Wesen vermittelst der Vorstellung eines eingebildeten Objekts affiziert.“ 622 Oben wurde bereits dargestellt, wie die Attribute Gottes zu denen des Menschen genau entgegengesetzt erschienen. Während Gott allwissend, allmächtig, absolut erscheine, werde der Mensch in der Religion als im 619 Die notwendigen Folgen sind Superstition und Immoralität, Superstition, weil mit einem Dinge eine Wirkung verknüpft wird, die nicht in der Natur desselben liegt, weil ein Ding nicht sein soll, was es der Wahrheit nach ist, weil eine bloße Einbildung für objektive Realität gilt; Immoralität, weil sich notwendig im Gemüte die Heiligkeit der Handlung als solcher von der Moralität separiert, der Genuß des Sakraments, auch unabhängig von der Gesinnung, zu einem heiligen und heilbringenden Akt wird. (Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 1841, S. 408f.) 620 An dieser Stelle wird auch deutlich, dass Feuerbach das Gefühl der Heiligkeit an sich über die Religiösität hinaus retten will. Schließlich propagiert er gerade die unmittelbare Anbetung des Menschenwesens. 621 Siehe Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 1841, S. 432f. 622 Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 1841, S. 408. <?page no="161"?> 161 Wissen beschränkt, ohnmächtig und relativ angesehen. Mit der Vergegenständlichung des menschlichen Gattungswesens in Gott verhalte sich der Mensch damit zu seinem eigenen Gattungswesen als einem fremden Wesen und sehe sich im Verhältnis zu diesem absoluten Wesen als ganz und gar beschränkt an. Die spezifische Vergegenständlichung des eigenen Gattungswesens als eines fremden hat somit das Resultat auf das Selbstbild des Menschen, dass dieser seine eigene Unbeschränktheit nicht nur ignoriert, sondern grob umkehrt. Durch die Vergegenständlichung seines eigenen Wesens in Gott drehten sich die positiven Eigenschaften des Menschen in seinem Selbstbild somit direkt um. Weil der Mensch seine Unbeschränktheit in Gott lege, sehe er sich als beschränktes Wesen an. „Der Mensch negiert Gott gegenüber sein Wissen, sein Denken, um in Gott sein Wissen, sein Denken zu setzen. Der Mensch gibt seine Person auf, aber dafür ist ihm Gott, das allmächtige, unbeschränkte Wesen ein persönliches Wesen; er verneint die menschliche Ehre, das menschliche Ich; aber dafür ist ihm Gott ein selbstisches, egoistisches Wesen, das in allem nur sich, nur seine Ehre, seinen Nutzen sucht, Gott also die Selbstbefriedigung der eignen, gegen alles andere mißgünstigen Selbstischkeit, Gott der Selbstgenuß des Egoismus. Die Religion negiert ferner das Gute als eine Beschaffenheit des menschlichen Wesens: der Mensch ist schlecht, verdorben, unfähig zum Guten; aber dafür ist Gott nur gut, Gott das gute Wesen.“ 623 Wenn aber der Mensch aufgrund der über Gott vermittelten Anschauung seines Wesens sich als ohnmächtiges Wesen sieht, so negiert er über diese spezifische Anschauung seines Gattungswesens gerade den Inhalt dieses Gattungswesens selbst. Dadurch dass der Mensch im Vergleich zu Gott ohnmächtig und unwissend erscheine, negiere er seine eigene schrankenlose Macht und Kenntnisfähigkeit. Aber nicht nur das Selbstbild, auch die theoretische wie praktische Tätigkeit des Menschen werde unter der Prämisse der Religion in ihr Gegenteil verkehrt. Feuerbach spricht dies u. a. im Widerspruch der Religion in der Offenbarung an. So könne der innere Widerspruch des als absolut wahr geltenden Wort Gottes in der Bibel nur durch Sophismus aus dem Weg geräumt werden - um dem Glauben Platz einzuräumen, müsse der Mensch also seine eigene Vernunft negieren. 624 Zugleich würden moralische Gebote nicht eingehalten, weil sie als solche legitime Prinzipien darstellten, sondern weil sie als äußere Ansprüche an die Menschen herangetragen würden. Sie seien dadurch „der innern Gesinnung, dem Herzen entfremdet, daß sie als Gebote eines äußerlichen Gesetzgebers vorgestellt werden, daß sie in die Kategorie willkürlicher, polizeilicher Gebote treten. Was getan wird, geschieht, nicht, weil es gut und recht ist, so zu handeln, 623 Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 1841, S. 67. 624 Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 1841, S. 355-359. <?page no="162"?> 162 sondern weil es von Gott befohlen ist.“ 625 Mithin würde die Religion auch die Moral des Menschen zerstören, die immerhin auch als unbeschränkte Sittlichkeit zu seinem Gattungswesen zähle. In seinem Selbstbild wie in seinen theoretischen und praktischen Aktivitäten stehe die vom Menschen geleistete Personifikation seiner selbst somit seinem eigenen Wesen feindlich gegenüber und zerstöre dessen Verwirklichung. Die Selbstentfremdung des Menschen kulminiere im Gipfel der Selbstentfremdung: Nicht nur die dem Menschen eigenen Bestimmungen, die sein Wesen ausmachten, würden negiert, sondern die Form seines Wesens selbst. Der Mensch hat nach Feuerbach absolute, schrankenlose Eigenschaften, insofern er ein Gattungswesen sei, also allein als Gemeinschaft auftrete. Feuerbach sieht nun die religiöse Liebe als emphatische Wahrheit des Christentums, die allerdings durch die Form des Glaubens, zerstört werde. „Die Liebe identifiziert den Menschen mit Gott, Gott mit dem Menschen, darum den Menschen mit dem Menschen; der Glaube trennt Gott vom Menschen, darum den Menschen von dem Menschen; denn Gott ist nichts andres als der mystische Gattungsbegriff der Menschheit, die Trennung Gottes vom Menschen daher die Trennung des Menschen vom Menschen, die Auflösung des gemeinschaftlichen Bandes.“ 626 Indem Gott als „Unterscheidungsmerkmal“ 627 genommen werde, werde ein Keil in die Menschheit getrieben, sie werde geteilt in Gläubige und Ungläubige. Der Glaube sei „wesentlich parteiisch“ 628 und gehe „notwendig in Haß, der Haß in Verfolgung über“ 629 , wenn die menschliche Liebe sich dem nicht entgegenstelle. Das in Gott vergegenständlichte Gattungswesen negiere sich somit selbst. Abstrahiert vom Inhalt der Entfremdung ist damit festzuhalten, dass die Entfremdungsbewegung bei Feuerbach folgenden Inhalt hat: Der Mensch muss sich vergegenständlichen, um sich zu sich verhalten zu können. In der Religion tut er dies dadurch, dass er sein unendliches Wesen in einem ihm fremden Individuum vergegenständlicht. Mit dieser entfremdeten Vergegenständlichung fasst der Mensch sich selbst als eine von ihm getrennte, übergeordnete Macht auf, die ihm gegenüber zugleich feindlich eingestellt ist und die seine Gattungseinheit zerstört. 625 Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 1841, S. 354. 626 Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 1841, S. 410. 627 Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 1841, S. 413. 628 Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 1841, S. 422. 629 Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 1841, S. 429. <?page no="163"?> 163 8.3. Verhältnis von Feuerbachs Entfremdungskritik zu Hegel Feuerbach meint, Gott sei die Vergegenständlichung des gläubigen Subjekts selbst. Dieses Objekt werde als ihm fremde Macht begriffen. Um dieses Verhältnis zu begründen, greift Feuerbach auf die Vergegenständlichungsbewegung des Subjekts in Hegels ‚Phänomenologie‘ zurück. 630 In seiner der ‚Phänomenologie‘ vorangestellten Vorrede äußert sich Hegel zu seiner Philosophie insgesamt. Sie zielt auf die Durchführung von Metaphysik, dem Begreifen des Absoluten. Hegel hat sich vorgenommen, „daran mitzuarbeiten, daß die Philosophie der Form der Wissenschaft näherkomme - dem Ziele, ihren Namen der Liebe zum Wissen ablegen zu können und wirkliches Wissen zu sein“ 631 . Der Kern der ‚Phänomenologie‘ wird in dem berühmten Satz von Hegel auf den Punkt gebracht, es komme „alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken.“ 632 Damit bestimmt Hegel das Absolute, von dem alles andere seine Wahrheit ableitet, sowohl als spinozistische Substanz, als Einheit von Natur und Gott, wie auch als Subjekt. Substanz und Subjekt werden im weiteren näher bestimmt. Die Substanz zeichne sich nach Hegel durch folgende Eigenschaften aus: „Zugleich ist zu bemerken, daß die Substantialität so sehr das Allgemeine oder die Unmittelbarkeit des Wissens selbst als auch diejenige, welche Sein oder Unmittelbarkeit für das Wissen ist, in sich schließt.“ 633 Damit ist die Substanz als Wissen wie als Gegenstand des Wissens behauptet. Die Hegelsche Substanz muss sich somit als Einheit von Erkenntnis und ihrem Gegenstand erweisen. Beides muss im Resultat in einem Gegenstand aufgehen. Damit wird auch einsichtig, warum Hegel den Gegenstand der Metaphysik als ‚das Wahre‘ angeben kann. Diese Charakterisierung entspricht nicht nur der Tradition, sie zeigt auch Hegels Ansicht, dass Wissen und Gegenstand als Absolute eine Einheit bilden müssen. Hegel bestimmt das Subjekt näher: „Die lebendige Substanz ist ferner das Sein, welches in Wahrheit Subjekt oder, was dasselbe heißt, welches in 630 Im Folgenden wird Hegels ‚Phänomenologie‘ nur aus der Perspektive von Feuerbachs ‚Wesen des Christentums‘ in den Blick genommen. Die folgende Argumentation des Umschlags von Idealismus zu Materialismus im ‚Wesen des Christentums‘ zu Beginn des zweiten Kapitels folgt der Darstellung von Schmieder, Falko: Ludwig Feuerbach und der Eingang der klassischen Fotografie - Zum Verhältnis von anthropologischem und historischem Materialismus, Berlin: Philo 2004, S. 72-76, angereichert durch einige eigene Überlegungen und Bemerkungen von Rawidowicz, Simon: Ludwig Feuerbachs Philosophie: Ursprung und Schicksal, Berlin: de Gruyter 1964, S. 100-110 und S. 82f. 631 Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 14. 632 Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 22f. 633 Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 23. <?page no="164"?> 164 Wahrheit wirklich ist, nur insofern sie die Bewegung des Sichselbstsetzens oder die Vermittlung des Sichanderswerdens mit sich selbst ist.“ 634 Die Substanz, die die Einheit von Wahrheit und ihrem Gegenstand sein muss, wird von Hegel als Subjekt bestimmt. Das Subjekt zeichne sich dadurch aus, dass es alle seine Bestimmungen nur aus sich selbst erhält. Die Bewegung dieses sich selbst Setzens drückt Hegel sogleich noch einmal von einer anderen Perspektive aus, nämlich vom Standpunkt des Werdens des Subjekts. Das sich selbst Setzen geschehe dadurch, dass das Subjekt sich mit sich selbst vermittele. Dies geschehe durch das ‚Sichanderswerden mit sich selbst‘. Das Subjekt setze sich selbst in einem ihm Anderen und bleibt zugleich es selbst. Die Phänomenologie des Geistes ist nach Hegel die Erfahrung des Bewusstseins, das von der Trennung zu seinem Gegenstand ausging, dass es in Wahrheit bereits in Einheit mit diesem ist. 635 Es scheint, dass Feuerbach diese Bewegung als abstraktes Vorbild für seine entfremdete Vergegenständlichungsbewegung nimmt. Der Meinung sind auch Rawidowicz, Weckwerth und Schmieder. 636 Feuerbach stützt sich tatsächlich zu Anfang von ‚Wesen des Christentums‘ noch explizit auf die These von der Einheit von Subjekt und Objekt. Zu Anfang des ‚Wesen des Christentums‘ legt er das allgemeine Verhältnis von Bewusstsein und Gegenstand dar, um die Vergegenständlichung in der Religion zu plausibilisieren. „Der Mensch ist nichts ohne Gegenstand. […] Aber der Gegenstand, auf welchen sich ein Subjekt wesentlich, notwendig bezieht, ist nichts anderes, als das eigne, aber gegenständliche Wesen dieses Subjekts.“ 637 In der Aussage, dass das Subjekt eines Gegenstandes bedürfe, klingt bereits die spätere materialistische Position an, die die Eigenständigkeit des sinnlichen Gegenstandes betont. Kurz darauf vertritt Feuerbach allerdings eine 634 Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 23. 635 Dass dies der Beweiszweck der ‚Phänomenologie‘ ist, meinen z. B. auch Jaeschke, Walter: Hegel-Handbuch: Leben - Werk -Schule, 2. Auflage, Stuttgart: Metzler, 2010, S. 183 und Nicolaus, Helmut: Hegels Theorie der Entfremdung, Heidelberg: Manutius 1995, S. 169. Auch Lange vertritt eine ähnliche Position, siehe Lange: Das Prinzip Arbeit, S. 34-36. Wenn Lange allerdings meint, die allgemeine Bewegung des Geistes in der ‚Phänomenologie‘ beruhe auf der Bewegung des Zwecks bei Hegel, die Lange das ‚Entäußerungsmodell des Handelns‘ nennt, dann dreht Lange das Verhältnis um. Tatsächlich ist der Geist in der ‚Phänomenologie‘ das Subjekt, dessen Bewegung sich auch im Zweck manifestiert. Siehe Lange: Das Prinzip Arbeit, S. 27f. und 35. Im Folgenden ist mit ‚Vergegenständlichung‘ im Hegelschen Sinne diese Bewegung gemeint. 636 Siehe Rawidowicz: Ludwig Feuerbachs Philosophie, S. 100-103; Weckwerth, Christine: Feuerbachs anthropologische Wendung des Hegelschen Phänomenologie- Konzepts, In: Arndt, Andreas und Müller, Ernst (Hg.): Hegels ‚Pha ̈ nomenologie des Geistes‘ heute, Berlin: Akademie Verlag 2004, S. 232 und Schmieder: Ludwig Feuerbach und der Eingang der klassischen Fotografie, S. 73. 637 Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 1841, S. 33. Unverändert in den späteren Auflagen. <?page no="165"?> 165 Position, die nicht weit von der Hegelschen Spekulation entfernt zu sein scheint, wenn er die These vertritt, dass die wesentliche Beziehung des Subjekts auf den Gegenstand ‚nichts anderes‘ als die gegenständliche Form des Subjekts selbst sei. Dieser Satz impliziert die wesentliche Bewegung des Geistes in der ‚Phänomenologie‘, der sich auf sich so bezieht, dass er sich selbst vergegenständlicht und dann auf diesen Gegenstand als seinem eigenen in fremder Form bezieht. Ohne den Inhalt der Hegelschen Vergegenständlichungsbewegung überhaupt zu thematisieren, stützt sich Feuerbach dennoch auf die von ihr übernommene abstrakte These der Einheit von Subjekt und Objekt. „An dem Gegenstande wird daher der Mensch seiner selbst bewußt: Das Bewußtsein des Gegenstands ist das Selbstbewußtsein des Menschen. An dem Gegenstande erkennst Du den Menschen; an ihm erscheint dir sein Wesen: Der Gegenstand ist sein offenbares Wesen, sein wahresobjektives Ich. Und das gilt keineswegs nur von den geistigen, sondern auch von den sinnlichen Gegenständen. Auch die dem Menschen fernsten Gegenstände sind, weil und wiefern sie ihm Gegenstände sind, Offenbarungen des menschlichen Wesens. Auch der Mond, auch die Sonne, auch die Sterne rufen dem Menschen das Gnôthi sauton zu. Daß er sie sieht und sie so sieht, wie er sie sieht, das ist ein Zeugnis seines eignen Wesens.“ 638 Der Mensch habe ein Bewusstsein von sich, weil er im Bewusstsein des Gegenstandes mit nichts anderem verkehrt, als mit sich selbst. Dabei bestimmt Feuerbach nicht nur jene Gegenstände als objektiv gewordenes ‚Ich‘, die Produkt des Geistes seien, sondern auch sinnliche Gegenstände, ja die fernsten Sterne. Diese Argumentation ist eindeutig der Hegelschen Argumentation in der ‚Phänomenologie‘ entlehnt, ist allerdings aufgrund seiner puren Funktionalität als Grundlage für die Nichtanerkennung dieser Vergegenständlichung des menschlichen Gattungswesens bloß kaum entwickelt. Obgleich Feuerbach zu Beginn seiner Untersuchung demnach der Hegelschen Prämisse folgt, benutzt er nur ihr abstraktes Resultat, ohne sie auf eine Erfahrungsgeschichte des Bewusstseins und die Wissenschaft der Phänomenologie des Geistes zu beziehen, um die inhaltliche Identität von Mensch und Gott plausibel zu machen. Feuerbach zitiert zustimmend die idealistische Prämisse, „was subjektivdie Bedeutung des Wesens, das hat eben damit auch objektivdie Bedeutung des Wesens. Der Mensch kann nun einmal nicht über sein wahres Wesen hinaus.“ 639 Diese allgemeine Aussage 638 Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 1841, S. 34. Sinngemäß unverändert in den späteren Auflagen. Der griechische Satz lautet: ‚Erkenne dich selbst‘. 639 Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 1841, S. 43. Sinngemäß unverändert in den späteren Auflagen. <?page no="166"?> 166 über das Verhältnis von Bewusstsein und Gegenstand wird allerdings nur aufgebaut, um in der Identitätsthese von Gott und Mensch und der Abhängigkeit von ersterem von letzterem zu münden. Im Gegensatz zu Hegel, der diese Einheit jedoch als Erfahrung des Bewusstseins selbst entfaltet, das der Unwahrheit der Kluft zwischen Subjekt und Objekt überführt wird, postuliert Feuerbach diese Identität demnach bloß. Eine Ableitung dieser Identität nach Hegelschem Vorbild könnte ihm nun auch gar nicht mehr gelingen, denn indem er das Subjekt gleich zu Beginn als den Menschen identifiziert, ist es nicht mehr die Entfaltung des Subjekts, sondern eine vermeintlich konkrete, in Wahrheit aber inhaltsleere Bestimmung, die sich in einem ihm Anderen anschaut. Eine alternative Notwendigkeit dafür, dass der Mensch sich in seinem Gegenstand sich selbst erblickt, entwickelt Feuerbach nicht. Während Feuerbach noch die Identität des Subjekt mit seinem Gegenstand für seine Religionskritik benutzt, dispensiert er diese These gleich wieder. „Im Verhältnis zu den sinnlichen Gegenständen ist das Bewußtsein des Gegenstandes wohl unterscheidbar vom Selbstbewußtsein; aber bei dem religiösen Gegenstand fällt das Bewußtsein mit dem Selbstbewußtsein unmittelbar zusammen. Der sinnliche Gegenstand ist außer dem Menschen da, der religiöse in ihm, ein selbst innerlicher - darum ein Gegenstand, der ihn ebensowenig verläßt, als ihn sein Selbstbewußtsein, sein Gewissen verläßt - , ein intimer, ja der allerintimste, der allernächste Gegenstand.“ 640 Feuerbach hatte die zweite Auflage des ‚Wesen des Christentums‘ bewusst von den in der ersten Auflage noch stark präsenten Spuren Hegelscher Philosophie gereinigt und eine hegelkritische Einleitung verfasst. 641 Dennoch hat er jenen oben nachgezeichneten und abrupten Übergang von Idealismus zum Materialismus innerhalb seiner ersten beiden Kapitel nicht geändert. Es scheint so zu sein, dass die Feuerbachsche Religionskritik sich wesentlich auf die Hegelsche Philosophie stützt und es nicht vermag, sich ein vollständig eigenständiges Fundament zu geben. Schmieder, der die 640 Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 1841, S. 45f. Sinngemäß unverändert in den späteren Auflagen. 641 SieheRawidowicz: Ludwig Feuerbachs Philosophie, S. 84-86. Viele Leser der ersten Auflage teilten das Urteil, Feuerbach sei mit seinem ‚Wesen des Christentums‘ eine fulminante Fortführung der Hegelschen Philosophie gelungen; so bezeichnete Engels Feuerbachs Schrift in seinem Kommentar zu Schelling als „eine notwendige Ergänzung zu der durch Hegel begründeten spekulativen Religionslehre“. (Engels, Friedrich: Schelling, der Philosoph in Christo, oder die Verklärung der Weltweisheit zur Gottesweisheit, In: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Abteilung I, Bd. 3, Berlin: Dietz 1985, S. 312) Feuerbach sah sich gezwungen, in der ‚Augsburger Allgemeinen Zeitung‘ darauf hinzuweisen, dass das ‚Wesen des Christentums‘ in vollständiger Opposition zur Hegels Philosophie stehe, siehe Rawidowicz: Ludwig Feuerbachs Philosophie, S. 85. <?page no="167"?> 167 oben wiedergegebene textnahe Interpretation des Umbruchs vom Idealismus zum Materialismus im ‚Wesen des Christentums‘ von 1843 entwickelt hat, vernachlässigt dabei diese theoretische Produktivkraft der idealistischmaterialistischen Kehrtwendung für die Feuerbachsche Religionskritik. 642 Mittels der idealistischen Prämisse von Subjekt und Objekt verplausibilisiert Feuerbach die Vergegenständlichung des Menschen in Gott. Und mit der abrupt auftretenden materialistischen These der Unabhängigkeit der sinnlichen Objekte vom Subjekt stellt er im Kontrast dazu die Abhängigkeit des religiösen Gegenstands als Objekt der Phantasie vom es denkenden Subjekt Mensch heraus. 8.4. Hinwendung zum Materialismus nach ‚Wesen des Christentums‘ 1842 veröffentlicht Feuerbach seine ‚Thesen zu einer Reformation der Philosophie‘. In ihr kritisiert Feuerbach die spekulative Philosophie Hegels als eine fortgesetzte Theologie. Wie diese den Menschen von sich in einem von ihm getrennten Gott entfremde, so meint Feuerbach, “der absolute Geist Hegels ist nichts andres, als der abstrakte, von sich selbst abgesonderte, sogenannte endliche Geist, wie das unendliche Wesen der Theologie nichts anderes ist, als das abstrakte endliche Wesen.“ 643 Die Entfremdungskritik, die Feuerbach in Anlehnung an Hegels Philosophie entwickelt und am Gegenstand der Religion durchgeführt hat, wendet er nun auf Hegel selbst an. Dieser habe den konkreten Menschen in eine Abstraktion gegossen und dadurch sich selbst entfremdet. 644 Mit der Ablösung von Hegels Philosophie will Feuerbach die Religionskritik vollenden. „Wer die Hegelsche Philosophie nicht aufgibt, der gibt nicht die Theologie auf. Die Hegelsche Lehre, daß die Natur, die Realität von der Idee gesetzt - ist nur der rationelle Ausdruck von der theologischen Lehre, daß die Natur von Gott, das materielle Wesen von einem immateriellen, d.i. abstrakten Wesen geschaffen ist.“ 645 Dem stellt Feuerbach die Eigenständigkeit der materiellen Welt gegenüber. Feuerbach entwickelt seinen Materialismus in Abgrenzung zu Hegel und als Mittel seiner Religionskritik. Um die Besonderheit des religiösen Gegenstands als menschengemacht zu betonen, legt er besonderen Wert auf die Selbständigkeit der Natur. In seinen programmatischen Schriften erhebt er diese Eigenständigkeit der Natur, des Materiellen, des Endlichen 642 Siehe Schmieder: Ludwig Feuerbach und der Eingang der klassischen Fotografie, S. 72-76. 643 Feuerbach, Ludwig: Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie, In: Schuffenhauer, Werner (Hg.): Ludwig Feuerbach - Gesammelte Werke, Bd. 9, dritte, durchgesehene Auflage, Berlin: Akademie-Verlag 1990, S. 246. 644 Siehe Feuerbach: Thesen zur Reformation der Philosophie, S. 247. 645 Feuerbach: Thesen zur Reformation der Philosophie, S. 258. <?page no="168"?> 168 zum Programm. Diese Hinwendung verknüpft Feuerbach allerdings auch mit einer Absage an jedwede Abstraktion vom unmittelbaren Gegenstand. Eine Reminiszenz an idealistische Attribute des Menschen, die ihn als Gattungswesen auszeichnenden unendlichen Prädikate, diese Bestimmungen aus dem ‚Wesen des Christentums‘ können hier nicht mehr auftauchen. „Der Anfang der Philosophie ist nicht Gott, oder des Absoluten nicht das Absolute, nicht das Sein als Prädikat der Idee - der Anfang der Philosophie ist das Endliche, das Bestimmte, das Wirkliche.“ 646 Bereits im ‚Wesen des Christentums‘ hat Feuerbach die Hegelsche Religionsphilosophie mit einer Umkehrmethode kritisiert. Hegel habe richtige Einsichten über die Religion geäußert, Subjekt und Prädikat seien jedoch verwechselt. Indem man das von Hegel bestimmte Verhältnis von Gott und denkendem Menschen umkehre, erhalte man die Wahrheit. 647 Feuerbach setzt diese in der Religionskritik angewandte Methode der Umkehr auch in den programmatischen Schriften fort. „Wir dürfen nur immer das Prädikat zum Subjekt und so als Subjekt zum Objekt und Prinzip machen - also die spekulative Philosophie nur umkehren, so haben wir die unverhüllte, die pure, blanke Wahrheit.“ 648 Der von Feuerbach anvisierte neue Gegenstand, das Wirkliche, ist der Mensch. Er muss für Feuerbach im Mittelpunkt aller Erkenntnis stehen. Der neue kategorische Imperativ, den wirklichen Menschen, von dem das Denken nur ein Prädikat sein dürfe, nicht umgekehrt, garantiere die richtige Erkenntnis. 649 Die Rücknahme der Hegelschen Entfremdung ist für Feuerbach die Rücknahme der Natur in den Menschen. Der Mensch in seiner unmittelbaren Wirklichkeit gilt Feuerbach nun primär als bedürftiges Individuum. Später versinnbildlicht Feuerbach die Leiblichkeit dieser Anthropologie im Essen als der Essenz des Menschen. Er meint, dass das, was er 1843 proklamiert, ebenso in einem populärwissenschaftlichen Werk über die ‚Lehre der Nahrungsmittel‘ von Moleschott aufzufinden sei. Er behauptet „daß diese Schrift, obgleich sie nur von Essen und Trinken handelt, […] die wahren ‚Grundsätze der Philosophie der Zukunft‘ und Gegenwart enthält, daß wir in ihr die schwierigsten Probleme der Philosophie gelöst 646 Feuerbach: Thesen zur Reformation der Philosophie, S. 249. 647 Allerdings erst in der im selben Jahr wie die ‚Thesen‘ erschienenen zweiten Auflage, siehe Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 1843, S. 385. 648 Feuerbach: Thesen zur Reformation der Philosophie, S. 244. Weckwerth: Ludwig Feuerbach - Zur Einführung, S. 61-64 hat überzeugend dargestellt, dass Feuerbach im Verhältnis zu Hegel eine Kritik der ‚Umkehr‘ für angemessen hält. Hegel enthalte richtige Einsichten, man muss aber ihre Aussage zum Teil umkehren, um die Verwechslung von Subjekt und Prädikat rückgängig zu machen. 649 Feuerbach, Ludwig: Grundsätze der Philosophie der Zukunft, In: Schuffenhauer, Werner (Hg.): Ludwig Feuerbach - Gesammelte Werke, Bd. 9, dritte, durchgesehene Auflage, Berlin: Akademie-Verlag 1990, §52, S. 334. <?page no="169"?> 169 finden.“ 650 In der sprichwörtlich gewordenen Aussage ‚Der Mensch ist, was er isst‘ fasst sich nach Feuerbach die Quintessenz dessen zusammen, was den Menschen ausmacht, seine Leiblichkeit und Sinnlichkeit. 651 „Was haben sich nicht die Philosophen mit der Frage gequält: Was ist der Anfang der Philosophie? Ich oder Nicht-Ich, Bewußtsein oder Sein? Oh, ihr Toren, die ihr vor lauter Verwunderung über das Rätsel des Anfangs den Mund aufsperrt und doch nicht seht, daß der offene Mund der Eingang ins Innere der Natur ist, daß die Zähne schon längst die Nüsse geknackt haben, worüber ihr noch heute euch vergeblich den Kopf zerbrecht! “ 652 650 Feuerbach, Ludwig: Die Naturwissenschaft und die Revolution, In: Schuffenhauer, Werner (Hg.): Ludwig Feuerbach - Gesammelte Werke, Bd. 10, dritte, durchgesehene Auflage, Berlin: Akademie-Verlag 1990, S. 356f. 651 Später wird Feuerbach unter diesem Wortspiel eine Kritik des religiösen Opfers veröffentlichen. Siehe Feuerbach, Ludwig: Das Geheimnis des Opfers oder Der Mensch ist, was er isst, In: Schuffenhauer, Werner (Hg.): Ludwig Feuerbach - Gesammelte Werke, Bd. 11, dritte, durchgesehene Auflage, Berlin: Akademie-Verlag 1990, S. 26-52. Lemke bezeichnet diesen Aspekt des Feuerbachschen Materialismus als ‚gastrosophische Anthropologie‘. Siehe Lemke, Harald: Feuerbachs Stammtischthese oder zum Ursprung des Satzes: „Der Mensch ist, was er isst“, In: Aufklärung und Kritik : Zeitschrift für freies Denken und humanistische Philosophie, 11. Jahrgang (2004), S. 117. 652 Feuerbach: Die Naturwissenschaft und die Revolution, S. 358f. <?page no="170"?> 170 9. Die Grundlagen des Marxschen Wertmaßstabs bis zu den Ökonomisch- Philosophischen Manuskripten Marx entwickelt sein Entfremdungskonzept in den ÖPM auf Grundlage der von Feuerbach übernommenen Entfremdungskritik, die er auf die Bewegung des Subjekts bei Hegel zurückbezieht. Allerdings geht den ÖPM bereits eine intensive Auseinandersetzung mit Hegel voraus, in der Marx eine Bewegung von Attraktion und Repulsion vollführt. Im Folgenden soll den wesentlichen Stationen dieser Auseinandersetzung nachgegangen werden. Es wird zu zeigen sein, dass Marx sich nach einer anfänglich intensiven Hegelrezeption nach und nach von dessen Philosophie verabschiedet, dabei aber ein Element von ihr abtrennt und als Grundlage seines Bewertungsmaßstabs benutzt: Die Vorstellung eines Subjekts, das sich durch Vergegenständlichung in einem ihm Anderen seine eigene gegenständliche Welt schafft und dadurch die Kluft zwischen Subjekt und Objekt aufhebt. Marx teilt stillschweigend das Hegelsche Projekt, die Trennung von Subjekt und Objekt zu überwinden und meint, die Hegelsche Philosophie habe diese Leistung theoretisch erbracht. Nun sei es an der Philosophie, praktisch zu werden. Praktisch werde die Philosophie aber allein durch Kritik. Daher legt Marx den Hegelschen Idealismus als Wertmaßstab an die politische Wirklichkeit an. Marx rezipiert 1843 Feuerbachs Hegelkritik und trennt sich von Hegel. Damit hat er einen rein negativen Wertmaßstab, nämlich die der religiösen Entfremdung zugrunde liegende gesellschaftliche Entfremdung aufzuheben. 9.1. Die Rezeption von Hegel in Marx‘ Dissertation Nachdem Marx für sein Studium nach Berlin gekommen und mit der Hegelianischen Philosophie in Berührung gekommen ist, steht er ihr zunächst kritisch gegenüber. Ausgehend von Kants und Fichtes Metaphysik scheint ihn gerade die Diesseitigkeit der Hegelschen Philosophie zu stören. So legt er in einem Gedichtband an seinen Vater Hegel die Worte in den Mund: Kant und Fichte gern zum Aether schweifen, Suchten dort ein fernes Land, Doch ich such‘ nur tüchtig zu begreifen, Was ich - auf der Strasse fand! 653 653 Marx, Karl: Gedichte, meinem teuren Vater zu seinem Geburtstage 1837, In: Marx- Engels-Gesamtausgabe, Abteilung I, Bd. 1, Berlin: Dietz 1975, S. 644. <?page no="171"?> 171 Dieses Urteil aus dem Frühjahr 1837 steht im Kontrast zu dem Enthusiasmus, mit dem Marx gerade diesen Zug der Hegelschen Philosophie in einem Brief vom November desselben Jahres begrüßt. Von Kant und Fichte herkommend fasziniere es ihn, „im Wirklichen selbst die Idee zu suchen. Hatten die Götter früher über der Erde gewohnt, so waren sie jezt das Centrum derselben geworden.“ 654 Marx zeigt sich in dem ersten überlieferten Zeugnis seiner intensiven Auseinandersetzung mit Hegel somit begeistert darüber, dass in dessen Philosophie die Vernunft als Eigenschaft der Wirklichkeit begriffen werde und damit das Absolute im Diesseits verortet, und nicht als jenseitiges Prinzip aufgefasst werde. Marx stellt die Aneignung Hegels als widerwilligen Kampf dar, nach der Rezeption einiger Fragmente versuchte er sich nochmals an einer literarischen Vereinigung von Kunst und Philosophie, bemerkte jedoch zum Schluss zu seinem Entsetzen, dass „der letzte Satz der Anfang des hegel‘schen Systems“ 655 sei und sein literarischer Versuch ihn „wie eine falsche Sirene dem Feind in den Arm“ 656 getragen habe. Nach eigener Darstellung erkrankt Marx aus Gram darüber, „eine mir verhaßte Ansicht zu meinem Idol machen zu müssen“ 657 . Wenn man Marx‘ eigenen Worten glauben darf, ringt er geradezu mit Hegel, muss sich letztlich jedoch der wissenschaftliche Strenge des Idealisten geschlagen geben. Die verordnete Kur bei Rummelsburg im Berliner Umland treibt seine ‚Krankheit‘ jedoch nur noch weiter, denn hier liest Marx Hegel „vom Anfang bis zum Ende“ 658 und gehabt sich „wie toll“ 659 , bevor er sich ganz der Hegelschen Philosophie ergibt. Seinen eigenen Angaben zufolge vollendet sich diese Konversion zum Anhänger Hegels durch ‚Dialektik‘ im kommunikativen Sinne: Er tritt einem Berliner Doktorklub bei und schärft seine an Hegel orientierte Argumentation im philosophischen Streitgespräch. Hier trifft er nach und nach die so genannten Junghegelianer Bruno und Edgar Bauer, Graf von Cieszkowski und Max Stirner. Für die Kommunikation spielt Arnold Ruge eine wichtige Rolle, der ab 1838 ein Organ herausbringt, das den Junghegelianern eine Plattform zur theoretischen Auseinandersetzung bietet. 1841 veröffentlicht Marx seine Dissertation. Zusammen mit den dazu angefertigten Vorarbeiten ist sie das erste Zeugnis seit 1837, das über die philosophische Entwicklung von Marx genauere Auskunft gibt. Zwar lässt sich durchaus bereits ein Einfluss von Bauer feststellen, aber die Hauptlinie der Argumentation der Dissertation selbst ist im Wesentlichen eine eigenständige Anwendung der Hegelschen Philosophie auf die Naturphiloso- 654 Karl Marx an Heinrich Marx, 10./ 11. November 1837, In: Briefwechsel bis April 1846, Marx-Engels-Gesamtausgabe, Abteilung III, Bd. 1, Berlin: Dietz 1975, S. 16. 655 Karl Marx an Heinrich Marx, 10./ 11. November 1837: MEGA III,1, S. 16. 656 Karl Marx an Heinrich Marx, 10./ 11. November 1837: MEGA III,1, S. 16. 657 Karl Marx an Heinrich Marx, 10./ 11. November 1837: MEGA III,1, S. 16. 658 Karl Marx an Heinrich Marx, 10./ 11. November 1837: MEGA III,1, S. 16. 659 Karl Marx an Heinrich Marx, 10./ 11. November 1837: MEGA III,1, S. 16. <?page no="172"?> 172 phie von Epikur. 660 Das allgemeine Vorhaben, das Marx in seiner Dissertation verfolgt, ist die Widerlegung der Behauptung, Epikur habe in seiner Naturphilosophie einfach nur die Atomtheorie Demokrits kopiert und keine großen Änderungen vorgenommen. 661 Dagegen meint Marx, dass die Naturphilosophie Epikurs zwar dieselben Prinzipien mit Demokrit teilt - nämlich Atome und Leere, dabei würden sie sich jedoch in ihrer Auffassung von diesen Prinzipien prinzipiell unterscheiden. 662 Anhand der Besprechung der Deklination des Atoms bei Euklid wird die Rezeption der Hegelschen Philosophie in Umrissen erkennbar. Demokrit und Epikur gehen nach Marx beide gemeinsam von zwei Bewegungen des Atoms aus, dem Fall in einer geraden Linie und der Abstoßung der Atome voneinander. Epikur kennt allerdings noch eine dritte Bewegung: Die der Abweichung von der geraden Linie. 663 Diese Abweichung interpretiert Marx nach dem Vorbild von Hegels Philosophie der ‚Phänomenologie‘. Marx interpretiert Epikur so, dass dieser die abstrakte Einzelheit überhaupt zu seinem Gegenstand mache und dies auch in der Atomistik anwende. Und für die abstrakte Einzelheit als Atom gelte dasselbe wie für jede abstrakte Einzelheit, sie könne nur existieren, indem sie von ihrem Anderen, dem Dasein, abstrahiere. Um das ihr gegenübertretende Dasein „wahrhaft zu überwinden, müßte sie es idealisieren, was nur die Allgemeinheit vermag.“ 664 Weil das Atom Materie sei, müsse sich diese Negation der Unmittelbarkeit aber auch positiv auf etwas beziehen. Da für das Atom nur es selbst existiere, dass Atom zu nichts anderem eine Beziehung habe als zu anderen Atomen, müsse dieses Verhältnis eines der unterschiedlichen Atome zueinander sein: 660 Darin folge ich der Argumentation von Browning, Gary K.: Marx’s Doctoral Dissertation: The Development of a Hegelian Thesis, In: Burns, Tony und Fraser, Ian (Hg.): The Hegel-Marx Connection, Basingstoke: Macmillan 2000, S. 135f. Auch Waser konstatiert überzeugend einen bloß minimalen Einfluss von Bauers - damals auch noch recht widersprüchlichen - Positionen auf Marx‘ Dissertation. Siehe Waser, Ruedi: Autonomie des Selbstbewußtseins - Eine Untersuchung zum Verhältnis von Bruno Bauer und Karl Marx (1835 - 1843), Tübingen: Francke 1994, S. 104. Einen starken Einfluss Bauers auf das Denken von Marx konstatiert dagegen Rosen, Zvi: Bruno Bauer and Karl Marx - The Influence of Bruno Bauer on Marx‘s Thought, Dordrecht: Kluwer 1977. 661 Siehe Marx, Karl: Marx: Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie, MEGA I,1, S. 23-25. 662 Siehe Marx, Karl: Marx: Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie, MEGA I,1, S. 25. 663 Siehe Marx, Karl: Marx: Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie, MEGA I,1, S. 33. 664 Siehe Marx: Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie, MEGA I,1, S. 37. <?page no="173"?> 173 „Seine Negation aller Beziehung auf anderes, muß verwirklicht, positiv gesetzt werden. Dies kann nur geschehen, indem das Dasein, auf das es sich bezieht, kein anderes als es selbst ist, also ebenfalls ein Atom und, da es selbst unmittelbar bestimmt ist, viele Atome.“ 665 Aus dieser Bestimmung leite Epikur die Abweichung des Atoms von der geraden Linie ab. Denn erst in der Abweichung von der gerade Linie könnten die Atome sich treffen. 666 Für Marx leitet Epikur die Repulsion der Atome mithin aus dem Begriff des Atoms als abstrakter Einzelheit ab. Demokrit wisse nur um die materielle Existenz der Repulsion, Epikur kenne ihre Notwendigkeit. „Demokrit im Gegensatz zu Epikur macht zu einer gewaltsamen Bewegung, zu einer Tat der blinden Notwendigkeit, was jenem Verwirklichung des Begriffs des Atoms ist.“ 667 Das ist das generelle Urteil von Marx über Demokrit und Epikur. Ersterer sehe nur die Determination der Natur, sei damit jedoch unfähig, Gesetze zu formulieren. Ganz anders Epikur, der die Notwendigkeit der Repulsion des Atoms aus seiner Selbständigkeit abzuleiten vermöge. 668 Marx interpretiert die Atomtheorie von Epikur im Lichte der spekulativen Philosophie Hegels. Das sieht man nicht nur daran, dass Marx mit den Hegelschen Kategorien argumentiert, Marx folgt auch der Hegelschen Einschätzung, dass in der nacharistotelischen Philosophie alle Momente des Selbstbewusstseins, wie Hegel es in der ‚Phänomenologie‘ rekonstruiert, vorhanden seien. Außerdem gleicht die Bestimmung des Atoms, die Marx bei Epikur erblickt, tatsächlich der ersten Gestalt des Selbstbewusstseins der ‚Phänomenologie‘, dem Verhältnis von Herr und Knecht. Marx interpretiert die Atomtheorie mit den Kategorien und in der Form, die Hegel für die Selbstentfaltung des Geistes oder der Idee verwendet. Dass das Selbständige, um sich als Unmittelbares zu erhalten, das ihm gegenüberstehende unmittelbare Dasein negieren müsse ist sehr nahe an der Hegelschen Bestimmung des ‚Eins und Vieles‘ in der Seinslogik. 669 Hier soll aber vor allem auf die Marxsche Einordnung der epikureischen Philosophie in die Philosophiegeschichte hingewiesen werden, die der von Hegel folgt. Marx meint, Hegel habe die nacharistotelische Philosophie des 665 Marx: Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie, MEGA I,1, S. 38. 666 Siehe Marx: Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie, MEGA I,1, S. 38. 667 Marx: Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie, MEGA I,1, S. 39. 668 Siehe Marx: Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie, MEGA I,1, S. 38f. 669 Siehe Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. Wissenschaft der Logik I, Teil 1, Die objektive Logik, Buch 1, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, S. 182. <?page no="174"?> 174 antiken Griechenland richtig charakterisiert und „das Allgemeine der genannten Systeme im ganzen richtig bestimmt“ 670 . So hält Hegel in seinen ‚Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie‘ über diese Epoche als Grundmotiv fest: „Das Denken des Kriteriums, des einen Prinzips, als in seiner unmittelbaren Wirklichkeit ist das Subjekt in sich; Denken und das Denkende hängt unmittelbar zusammen. Das Prinzip dieser Philosophie ist nicht objektiv, sondern dogmatisch, beruht auf dem Triebe des Selbstbewußtseins, sich zu befriedigen. Das Subjekt ist so dasjenige, wofür gesorgt werden soll. Das Subjekt sucht für sich Prinzip seiner Freiheit, Unerschütterlichkeit in sich, es soll gemäß sein dem Kriterium, d.h. diesem ganz allgemeinen Prinzip, - es soll sich erheben zu dieser abstrakten Freiheit, zu dieser Unabhängigkeit. Das Selbstbewußtsein lebt in der Einsamkeit seines Denkens und findet darin seine Befriedigung.“ 671 Hegel meint demnach, dass diese Philosophie sich dadurch auszeichne, dass das Selbstbewusstsein sich selbst als bestimmendes Moment ansieht und seinen Gegenstand als unselbständig ansieht. Diese Philosophie sei ein Ausdruck dessen, was er in der ‚Phänomenologie‘ als Form des Selbstbewusstseins bestimmt hat: Das Subjekt sei das reale, sein Gegenstand sei von ihm abhängig, alle Realität kommt aus dem Bewusstseins selbst. Hegel bringt diesen Begriff des Selbstbewusstseins in dem Satz zum Ausdruck: „Ich unterscheide mich von mir selbst, und es ist darin unmittelbar für mich, daß dies Unterschiedene nicht unterschieden ist.“ 672 Hegel meint demnach, dass die unmittelbar der aristotelischen folgende griechische Philosophie eine Repräsentation des Selbstbewusstseins sei, das er in der ‚Phänomenologie‘ dargestellt habe. Diese Aussage stimmt mit der dem historischen Ort des Selbstbewusstseins in der ‚Phänomenologie‘ überein, schließlich wird die Entwicklung des Selbstbewusstseins dort auch mit den philosophischen Richtungen des Skeptizismus und Stoizismus identifiziert, die beide in diese Zeit fallen. 673 Auf diese Einordnung bezieht sich Marx. Er fragt sich, ob es Zufall sein könne, „daß in den Epikureern, Stoikern und Skeptikern alle Momente des Selbstbewußtseins vollständig, nur jedes Moment als eine besondere Existenz, repräsentiert sind? Daß diese Systeme zusammengenommen die vollständige Konstruktion des Selbstbewußtseins bilden? “ 674 Marx teilt demnach die Hegelsche Einordnung und weitet sie auf die Philosophie 670 Marx: Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie, MEGA I,1, S. 13. 671 Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, S. 251f. 672 Siehe Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 134f. 673 Siehe Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 157-159. 674 Marx: Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie, MEGA I,1, S. 22. <?page no="175"?> 175 Epikurs aus. Dessen Philosophie hat Hegel in der ‚Phänomenologie‘ nicht explizit als Gestalt des Selbstbewusstseins bestimmt. Marx scheint seine eigene Leistung darin zu sehen, die epikureische Philosophie als eine solche zu interpretieren. 675 Seine Leistung muss damit zugleich darin bestehen, die Bestimmungen des Selbstbewusstseins in der ‚Phänomenologie‘ als solche der Naturphilosophie auszudrücken. Damit kann das Fürsichsein zwar nicht mehr als reines Sichselbstsetzen aufgefasst werden, zugleich negiert jedoch auch bei der Marxschen Interpretation der epikureischen Atomtheorie das Selbstständige das unmittelbare Dasein. Wie in der ‚Phänomenologie‘ richtet sich diese Negation des Atoms auf ein anderes seiner selbst: „Und in Wahrheit: die unmittelbar seiende Einzelheit ist erst ihrem Begriff nach verwirklicht, insofern sie sich auf ein anderes bezieht, das sie selbst ist, wenn auch das andere in der Form unmittelbarer Existenz gegenübertritt. So hört der Mensch erst auf, Naturprodukt zu sein, wenn das andere, auf das er sich bezieht, keine verschiedene Existenz, sondern selbst ein einzeler Mensch ist, ob auch noch nicht der Geist. Daß der Mensch als Mensch sich aber sein einziges wirkliches Objekt werde, dazu muß er sein relatives Dasein, die Macht der Begierde und der bloßen Natur, in sich gebrochen haben. Die Repulsion ist die erste Form des Selbstbewußtseins; sie entspricht daher dem Selbstbewußtsein, das sich als Unmittelbar-Seiendes, Abstrakt- Einzeles erfaßt.“ 676 Diese Stelle ist eindeutig auf das Kapitel zum Selbstbewusstsein in der ‚Phänomenologie‘ bezogen. Marx vergleicht die dargestellte Atomtheorie des Epikur mit der Bestimmung des Menschen. Mit dem Hinweis auf den Menschen als Naturprodukt ist die Überleitung zum Selbstbewusstseinskapitel in der ‚Phänomenologie‘ durch die Begierde gemeint. In ihr wird nach der ‚Phänomenologie‘ die Eigenständigkeit des Gegenstandes, der noch im unmittelbaren Bewusstsein postuliert wurde, vernichtet. 677 Die reine Negativität der Begierde werde dadurch aufgehoben, dass das Bewusstsein sich auf seinesgleichen als unmittelbare Existenz beziehe. 678 Diese soziale Beziehung ist aber noch als Unterordnungsverhältnis bestimmt und hat noch keine Welt, in der die Versöhnung von Subjekt und sein Objekt geleistet wäre. In Hegels erster Form des Selbstbewusstseins beziehen sich die Subjekte negativ aufeinander, wollen jeweils das andere in seiner Selbständigkeit negieren, um selbst ein solches zu sein. 679 Die 675 Siehe Marx: Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie, MEGA I,1, S. 22f. 676 Marx: Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie, MEGA I,1, S. 38f. 677 Siehe Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 138-140. 678 Siehe Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 146f. 679 Siehe Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 150. <?page no="176"?> 176 Repulsion der Atome in Marx‘ Dissertation spiegelt somit den Kampf der Selbstbewusstseine in der ‚Phänomenologie‘, der dort als Herrschaft und Knechtschaft auftaucht. 680 Die Deklination des Atoms sieht Marx als Prinzip, das die ganze epikureische Philosophie durchzieht. 681 Jeder Gegenstand werde bei Epikur vom Subjekt als unselbständig angesehen, es lasse den ihm gegenübertretenden Gegenstand verschwinden, oder es weiche ihm aus. Somit ist für Marx tatsächlich die gesamte Philosophie des Epikur von der Gestalt des Selbstbewusstseins bestimmt. 682 Neben der expliziten Charakterisierung des Epikur als Repräsentant des Hegelschen Selbstbewusstseins verweist Marx allerdings auch auf das Prinzip der ‚abstrakten Einzelheit‘ als des Scharniers zwischen der griechischen und der römischen Welt des Geistes. Denn in der ‚Phänomenologie‘ geht die griechische sittliche Welt unter im römischen Rechtszustand, der die Rechtsperson als abstrakte, „leere Eins der Person“ 683 zu seinem Prinzip hatte. Marx macht einen expliziten Hinweis darauf, dass es kein Zufall sein mag, dass ausgerechnet in jener Übergangszeit, in der das Gemeinwesen nach Hegel „in die Atome der absolut vielen Individuen zersplittert“ 684 ist, die Atomtheorie wieder belebt und reicher als zuvor gedacht werden konnte: „Endlich, wenn wir auf die Historie einen Blick werfen, sind Epikureismus, Stoizismus, Skeptizismus partikulare Erscheinungen? Sind sie nicht die Urtypen des römischen Geistes? Die Gestalt, in der Griechenland nach Rom wandert? “ 685 Die Marxsche Argumentationsweise orientiert sich damit zur Zeit seiner Dissertation an dem Hegelschen Vorhaben des Beweises der Identität von Vernunft und Wirklichkeit. Es geht ihm um das Wahre als Subjekt, wenn er die Natur in Kategorien des Subjekts wie ‚Selbständigkeit‘ beschreibt. In der Atomtheorie Epikurs sieht er einen Beitrag zum Beweis der Vernünftigkeit der Wirklichkeit, des Auffindens des Subjekts in der Materie. Deutlich wird dies nochmals in einem Kommentar zu Cicero in seinen Vorarbeiten: „Indem wir die Natur als vernünftig erkennen, hört unsere 680 Siehe Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 148. 681 Siehe Marx: Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie, MEGA I,1, S. 37. 682 „So ist der Zweck des Tuns das Abstrahieren, das Ausbeugen vor dem Schmerz und der Verwirrung, die Ataraxie. So ist das Gute die Flucht vor dem Schlechten, so ist die Lust das Ausbeugen vor der Pein. Endlich, wo die abstrakte Einzelheit in ihrer höchsten Freiheit und Selbständigkeit, in ihrer Totalität erscheint, da ist konsequenterweise das Dasein, dem ausgebeugt wird, alles Dasein; und daher beugen die Götter der Welt aus und bekümmern sich nicht um dieselbe und wohnen außerhalb derselben.“ (Marx: Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie, MEGA I,1, S. 37) 683 Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 357. 684 Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 355. 685 Marx: Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie, MEGA I,1, S. 22. <?page no="177"?> 177 Abhängigkeit von derselben auf. Sie ist kein Schrecken unsres Bewußtseins mehr, und grade Epikur macht die Form des Bewußtseins, in ihrer Unmittelbarkeit, das Fürsichsein zur Form der Natur.“ 686 9.2. Die Philosophie in der Praxis in Marx‘ Dissertation und seiner journalistischen Arbeit Marx weicht allerdings bereits in seiner Dissertation in zwei wesentlichen Punkten von Hegel ab: erstens in der Rolle der Religion und zweitens in dem Verhältnis von Philosophie und Wirklichkeit. 687 Marx‘ kritische Haltung zur Religion zeigt sich an seiner affirmativen Haltung zu Prometheus: „Die Philosophie verheimlicht es nicht. Das Bekenntnis des Prometheus: haplô logô, tous pantas echthairô theous [mit einem Wort, ich hasse alle Götter] ist ihr eigenes Bekenntnis, ihr eigener Spruch gegen alle himmlischen und Irdischen Götter, die das menschliche Selbstbewußtsein nicht als die oberste Gottheit anerkennen. Es soll keiner neben ihm sein.“ 688 Während Hegel meint, dass Philosophie und Religion denselben Inhalt teilen, sieht Marx einen Gegensatz zwischen beiden und stellt wie Feuerbach den Menschen ins Zentrum seines Denkens. 689 Marx meint, auf dem Boden des Hegelschen Idealismus dennoch die Religion aus diesem ausschließen zu können. Damit weicht er jedoch bereits wesentlich von Hegel ab, denn bei diesem ist das sich entfaltende Subjekt in der ‚Phänomenologie‘ wie in seinem System nicht auf den Menschen reduzierbar. 690 686 Siehe Marx, Karl: Hefte zur epikureischen Philosophie, Heft 1-7, In: Marx-Engels- Gesamtausgabe, Abteilung IV, Bd. 1, Berlin: Dietz 1976, S. 140. 687 Waser rekonstruiert in der Dissertation selbst, vor allem aber in den Vorarbeiten zu ihr, das Bemühen, die Hegelsche Spekulation von ihrem religiösen Gehalt zu trennen. Tatsächlich ist zu konstatieren, dass Marx in den Vorarbeiten und in der Dissertation selbst eine religionskritische Sichtweise offenbart. Siehe Waser: Autonomie des Selbstbewußtseins, S. 76-84. 688 Marx: Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie, MEGA I,1, S. 14. 689 Siehe Hegel: Enzyklopädie, §1, S. 33-35. 690 Bauer hatte Marx brieflich empfohlen, dieser sollte nichts schreiben, „was die philosophische Entwicklung überschreitet“; er dürfe den Behörden keinen „Brocken hinwerfen, der ihnen Anlass zum Schreien gibt und sogar Waffen, um Dich für lange Zeit vom Katheder entfernt zu halten.“ (beide Zitate nach Bruno Bauer an Karl Marx, 12. April 1841, MEGA III,1, S. 357) Den prometheischen Ausdruck sollte er daher auf keinen Fall in die Arbeit mit aufnehmen. Es ist anzunehmen, dass er aufgrund seiner immer schwierigeren materiellen Situation - sein bisheriger Unterstützer, der Vater, tot und vor einer Familiengründung stehend - diese Warnung beherzigt haben wird. Siehe Bruno Bauer an Karl Marx, 12. April 1841, MEGA III,1, S. 357f. Die die umstrittene Stelle enthaltene Vorrede war wahrscheinlich nicht Teil der abgegeben Dis- <?page no="178"?> 178 Zweitens bestimmt Marx das Verhältnis von Philosophie zur Wirklichkeit ganz anders als Hegel. Marx sieht die Notwendigkeit von einem „Übergang aus der Disciplin in die Freiheit“ 691 . Die Philosophie habe in Hegels System theoretische Freiheit erlangt; damit könne sie jedoch nur noch als praktische Freiheit auftreten. Das heißt für Marx, die Philosophie muss mit dem Anspruch an die Wirklichkeit herantreten, ihr gemäß zu sein. Der Wille der Philosophie bestehe als Kritik: „Allein die Praxis der Philosophie ist selbst theoretisch. Es ist die Kritik, die die einzelne Existenz am Wesen, die besondere Wirklichkeit an der Idee mißt.“ 692 Dies ist einerseits eine Affirmation, andererseits eine radikale Abkehr vom Hegelschen Idealismus. Dessen Prämisse war es, eine Versöhnung nur erkennend einzuholen, die sich bereits in der Geistesgeschichte und Weltgeschichte ereignet habe. Bei Hegel ist der Geist als übergreifendes Subjekt nicht nur das Resultat einer Geschichte von philosophischen Positionen, sozialen Konstellationen und religiösen Einsichten, er ist identisch mit der Erfahrung des Bewusstseins auf all diesen Gebieten. Die Wahrheit hat sich damit nach Hegel bereits ereignet, die ‚Phänomenologie‘ stelle den Zusammenhang der verschiedenen Erscheinungsformen des Geistes in seinen verschiedenen Gestalten dar. Diese Philosophie zeigt demnach nur, was nicht nur in der Theoriegeschichte, sondern auch in der Weltgeschichte bereits eingetreten sei. Das muss nach dem Vorhaben der ‚Phänomenologie‘ auch so sein, denn wenn das Absolute Subjekt sein soll, dann muss sich dieses Subjekt tatsächlich selbst gesetzt haben, und nicht bloß von Hegel als notwendig abgeleitet werden. Mit der Verschränkung von Psychologie, Subjekt- Philosophie, Geistes- und Sozialgeschichte bindet Hegel die Entfaltung des Subjekts an geschichtliche, theoretische und soziale Entwicklungen und will damit aufzeigen, dass sich das Subjekt durch die Geschichte bereits selbst gesetzt hat. Das ist die Notwendigkeit der berühmten Hegelschen Formel: „Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug“ 693 Hegel will mit diesem Bild zum Ausdruck bringen, dass die Philosophie stets nur im Nachhinein den Fortschritt der Wirklichkeit reflektiere. „Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertig sertation. Die Dissertation ist nicht in der abgegebenen Endfassung überliefert. Siehe Institute für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU und ZK der SED (Hg.): Apparat zur Dissertation, In: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Abteilung I, Bd. 1, Apparat, Berlin: Dietz 1975, S. 882f. 691 Marx: Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie, MEGA I,1, S. 67. 692 Marx: Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie, MEGA I,1, S. 68. 693 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, S. 28. <?page no="179"?> 179 gemacht hat.“ 694 Das Bild lässt sich auch in Bezug auf einen bestimmten Philosophen deuten. Die Eule war in der Antike der Göttin Athene zugeordnet, Minerva ist deren römisches Äquivalent. Athenes Attribut war aber nicht nur die Weisheit, sie war auch die Stadtgöttin Athens, Wirkungsstätte von Aristoteles. Die Eule ließe sich daher auch als Hinweis auf Aristoteles lesen, der als größter Philosoph des Altertums erst dann auftrat, als die attische Welt bereits im Vergehen war. Marx setzt das Bild von Prometheus an die Stelle der Eule der Minerva. „Wie Prometheus, der das Feuer vom Himmel gestohlen, Häuser zu bauen und auf der Erde sich anzusiedeln anfängt, so wendet sich die Philosophie, die zur Welt sich erweitert hat, gegen die erscheinende Welt. So jezt die Hegelsche.“ 695 Marx sieht den Grund für die kritische Wendung nach außen zunächst allerdings gar nicht in einem inhärenten Mangel der Welt, sondern verortet die Notwendigkeit von Kritik vielmehr in dem Abschluss der Philosophie durch Hegel selbst. In den Vorarbeiten zur Dissertation kommt dieses Urteil noch deutlicher zum Tragen. Hier meint Marx, dass der von Hegel geleistete philosophische Abschluss einer „vollendeten totalen Welt“ 696 zwangsläufig einer Wirklichkeit gegenübertreten müsse, die durch den Bezug auf diese Totalität im Widerspruch mit sich selbst sein müsse. Dies sei einerseits ein Widerspruch, zugleich jedoch auch Bedingung der Lösung, dass die Philosophie sich selbst „ihr Umschlagen in ein praktisches Verhältniß zur Wirklichkeit annimmt“ 697 . Marx folgert aus der Vollendung der Hegelschen Philosophie, dass diese nun verwirklicht werden müsse. Damit tritt die Philosophie als Partei in die Welt, die dieser auch noch entgegengesetzt sei. Die notwendige Fortsetzung des Hegelschen Systems durch seine Verwirklichung sei zugleich dessen Negation, schreibt Marx in seiner Dissertation. „Begeistet mit dem Trieb, sich zu verwirklichen, tritt es in Spannung gegen Anderes.“ 698 Dieser objektive Widerspruch entspräche ein subjektiver Kampf der Philosophen. In der Auseinandersetzung mit der Welt hätten sie auch die Notwendigkeit, sich von der Philosophie frei zu machen. „Ihre Freimachung der Welt von der Unphilosophie ist zugleich ihre eigene Befreiung von der Philosophie, die sie als ein bestimmtes System in Fesseln schlug.“ 699 Damit scheint Marx sich selbst zu meinen, der die Aneignung Hegels einige Jahre zuvor als Unterwerfung empfunden und sein Verhält- 694 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 28. 695 Marx: Hefte zur epikureischen Philosophie, MEGA IV,1, S. 99. 696 Marx: Hefte zur epikureischen Philosophie, MEGA IV,1, S. 100. 697 Marx: Hefte zur epikureischen Philosophie, MEGA IV,1, S. 100. 698 Marx: Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie, MEGA I,1, S. 68. 699 Marx: Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie, MEGA I,1, S. 68. <?page no="180"?> 180 nis zu dieser Philosophie als Ankettung charakterisiert hat. 700 Die Verwirklichung der Philosophie scheint für Marx eine Befreiung aus der Abhängigkeit von seinem Lehrer zu versprechen, ohne sich explizit von ihm lösen zu müssen. Er sieht die Hinwendung zur Kritik als notwendige Konsequenz des Abschlusses der Philosophie durch Hegel an. Marx meint, in seiner Gegenwart sei einer jener Momente gekommen, „in welchen die Philosophie die Augen in die Aussenwelt kehrt, nicht mehr begreifend, sondern als eine praktische Person gleichsam Intriguen mit der Welt spinnt“ 701 . So wie Marx‘ eigene Arbeiten ihn Jahre zuvor zur Hegelschen Philosophie gebracht hat, ihn „wie eine falsche Sirene dem Feind in den Arm“ 702 getrieben hat, so stellt es Marx nun als Notwendigkeit der Hegelianischen Philosophie dar, sich „ans Herz der weltlichen Sirene“ 703 zu werfen. Dies bringt den Anspruch von Marx als Junghegelianer auf den Punkt: Das Absolute, die Versöhnung von Subjekt und Objekt bei Hegel in der gesellschaftlichen Realität zu verwirklichen. Gegen die Hegelsche Philosophie wendet Marx zu dieser Zeit vor allem eines ein: Dass sie zu selbstvergessen und passiv sei, keine Anstalten mache, ihr eigenes Gutes tatsächlich zu verwirklichen. Dabei sei es Notwendigkeit der Philosophie selbst, dass sie wirklich werde. „Was innerliches Licht war, wird zur verzehrenden Flamme, die sich nach außen wendet.“ 704 Allerdings gibt es einen wesentlichen Unterschied zu den anderen Junghegelianern. Die sich 1840 bereits andeutende Tendenz der Junghegelianer, von Hegel auf Fichte zurückzugehen und sich dem Selbstbewusstsein hinzuwenden, kann Marx vor dem Hintergrund der ‚Phänomenologie‘ nicht gutheißen. Da Marx sowohl die nacharistotelische als auch die nachhegelsche Philosophie als eine Hinwendung zum Selbstbewusstsein begreift und die nacharistotelische als geschichtlichen Ort des Selbstbewusstseins in der ‚Phänomenologie‘ bestimmt, liegt der Schluss nahe, dass Marx auch die nachhegelianische Philosophie als einseitig auf das Selbstbewusstsein ausgerichtet sieht. 705 Über die Philosophie des Epikur zumindest urteilt Marx nicht nur positiv. Neben dem Fortschritt, dass bei diesem das Subjekt ganz auf sich bezogen sei und die Realität nicht 700 Karl Marx an Heinrich Marx, 10./ 11. November 1837: MEGA III,1, S. 17. 701 Marx: Hefte zur epikureischen Philosophie, MEGA IV,1, S. 99. 702 Karl Marx an Heinrich Marx, 10./ 11. November 1837: MEGA III,1, S. 16. 703 Marx: Hefte zur epikureischen Philosophie, MEGA IV,1, S. 99. 704 Marx: Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie, MEGA I,1, S. 69. Diese Bestimmung der Identität der Junghegelianer teile ich mit Löwith, Karl: Philosophische Theorie und geschichtliche Praxis in der Philosophie der Linkshegelianer, In: Löwith, Karl (Hg.): Die Hegelsche Linke, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann 1988, S. 10f. 705 Siehe Marx: Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie, MEGA I,1, S. 68f. <?page no="181"?> 181 mehr, wie noch bei Demokrit, dem Subjekt entgegenstehe, konstatiert Marx auch eine Einseitigkeit. Denn dessen gesamte Philosophie bestehe - wie das Selbstbewusstsein in der ‚Phänomenologie‘ - in der Abstraktion des dem abstrakten Einzelnen gegenüberstehenden Dasein. 706 Dieses Verhältnis und die damit einhergehende „Beruhigung des erklärenden Subjekts“ 707 , die Ataraxie, sei der Beweiszweck der gesamten Philosophie des Epikur. Damit verfahre Epikur jedoch auch mit einer „grenzenlosen Nonchalance in der Erklärung der einzelnen physischen Phänomene.“ 708 Marx kritisiert die Philosophie des Epikur dafür, „daß seine Erklärungsweise nur die Ataraxie des Selbstbewußtseins bezwecke, nicht die Naturerkenntnis an und für sich.“ 709 Das ist vor dem Hintergrund der ‚Phänomenologie‘ verständlich, denn die Überwindung des Gegensatzes von Subjekt und Objekt geschieht im Selbstbewusstsein nur auf der Grundlage der Abstraktion von der realen Welt, einer Abstraktion, die nur für die jeweilige Bewusstseinsgestalt Geltung hat und die Überschreitung dieses Gegensatzes somit nicht für beide Seiten vollzieht. Wenn Marx auf diese Einseitigkeit hinweist, wird ihm die Parallelität zu der Tendenz in der Philosophie einiger seiner junghegelianischen Freunde (vor allem Bauer) bewusst gewesen sein, die die Freiheit des Hegelschen Systems in einer Weiterentwicklung der Selbstbewusstseinsphilosophie zu erreichen suchten. Die Dissertation zeigt, dass Marx mit dieser Weiterführung des Hegelschen Idealismus nicht einverstanden sein kann. Marx präsentiert sich in seiner Dissertation als ein gebildeter Hegel- Schüler, der theoretisch Hegels Philosophie originalgetreu anzuwenden und weiter zu entwickeln sucht. Ihm scheint es vor allem daran gelegen zu sein, jene Argumentation der ‚Phänomenologie‘, die sich auch in der Hegelschen Geschichtsphilosophie wieder findet, zu verifizieren und im Detail weiter zu entwickeln. Er weicht allerdings in zwei wesentlichen Punkten von Hegels Idealismus ab. Er lässt in den Arbeiten an der epikureischen Atomistik 1839-1841 erkennen, dass er die Religion aus der Hegelschen Spekulation ausnehmen will; 710 zugleich teilte Marx mit den anderen 706 Siehe Marx: Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie, MEGA I,1, S. 37. 707 Marx: Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie, MEGA I,1, S. 31. 708 Marx: Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie, MEGA I,1, S. 30. 709 Marx: Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie, MEGA I,1, S. 31. 710 Diese Erkenntnis ist eine Hauptaussage von Waser, der schreibt: „Marx war im Laufe des Jahres 1839 zu einer Position gelangt, die es ihm erlaubte, die Hegelsche Philosophie des Absoluten befreit von allem religiösen und theologischen Beiwerk in Anspruch zu nehmen. Vorbehaltlos stand er jetzt auf dem Boden dieses Idealismus, dessen Prinzip die als spekulative Einheit von Natur und Geist begriffene absolute Idee war.“ (Waser: Autonomie des Selbstbewußtseins, S. 102) So sehr Waser zuzu- <?page no="182"?> 182 Junghegelianern den Anspruch, die Philosophie zu verwirklichen. Anders als jene meint Marx jedoch, dass sie nicht durch ein verändertes Bewusstsein hervorzubringen sei. Seine Hinwendung zum Menschen als Mittelpunkt der Philosophie ist eine Hinwendung zur gesellschaftlichen Objektivität. 711 Dabei dürfe man nicht wie die ‚halben Gemüter‘ halbherzig zu Werke gingen. Stattdessen solle man sich Feldherren wie Themistokles zum Vorbild nehmen, der, „als Athen Verwüstung drohte, die Athener bewog, es vollends zu verlassen und zur See, auf einem andren Elemente, ein neues Athen zu gründen.“ 712 Marx vollzieht diesen Übergang in das andere Element, die soziale Wirklichkeit, mit dem Abschluss seiner Dissertation. Marx betritt die Sphäre der Politik. In der Rheinischen Zeitung, die erst Anfang des Jahres 1842 gegründet wurde, kann Marx die geplante Umsetzung der Philosophie in die Praxis, und das heißt für ihn in die Kritik der sozialen Umstände am Maßstab der Hegelschen Philosophie, umsetzen. Aus dem Blickwinkel eines liberal und religionskritisch gewendeten Hegel berichtet und kommentiert er fortan das aktuelle Tagesgeschehen. So berichtet er beispielsweise im Detail in einer Artikelserie von den Debatten im rheinischen Landtag über die Pressefreiheit und nimmt die Widersprüche der Gegner der Pressefreiheit aufs Korn. Dabei beurteilt er die politischen Geschehnisse anhand seines von Hegel übernommenen Idealismus, so z. B. die Pressefreiheit: „Von dem Standpunkte der Idee aus versteht es sich von selbst, daß die Preßfreiheit eine ganz andere Berechtigung hat als die Censur, indem sie selbst eine Gestalt der Idee, der Freiheit, ein positiv Gutes ist, während die Censur eine Gestalt der Unfreiheit, die Polemik einer Weltanschauung des Scheines gegen die Weltanschauung des Wesens, eine nur negative Natur ist.“ 713 stimmen ist, dass Marx diese Position entwickelt hatte, so ist diese Trennung doch problematischer, als es Waser hier darstellt. Denn das Christentum ist bei Hegel nicht einfach nur ‚Beiwerk‘, sondern es ist in der ‚Phänomenologie‘ die höchste Form des Geistes, die nur vom absoluten Wissen selbst übertroffen wird. 711 Diesen Übergang begründet Marx mit dem Hegelschen System: „Es ist ein psychologisches Gesetz, daß der in sich frei gewordene theoretische Geist zur praktischen Energie wird, als Wille aus dem Schatten des Amenthes heraustretend, sich gegen die weltliche, ohne ihn vorhandene Wirklichkeit kehrt.“ (Marx: Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie, MEGA I,1, S. 67f.) Marx rekurriert auf Hegels philosophischem System, in der auf den ‚freien Geist‘ der Psychologie der auf dem freien Willen aufbauende objektive Geist folgt, den die Rechtsphilosophie zum Gegenstand hat. Marx folgert daraus die Konfrontation mit der Realität, die ihrem eigenen vernünftigen Begriff nicht entspricht. Siehe beispielsweise die Gliederung der Psychologie in Hegel: Enzyklopädie, §443, S. 357f. 712 Marx: Hefte zur epikureischen Philosophie, MEGA IV,1, S. 100. 713 Marx, Karl: Die Verhandlungen des 6. Rheinischen Landtags, Erster Artikel: Debatten über Preßfreiheit und Publikation der Landständischen Verfassungen, In: <?page no="183"?> 183 Wenn Marx die Idee als Ausgangspunkt einer Legitimation der Pressefreiheit nimmt und die positive Freiheit als Grundlage des Rechts nimmt, so bewegt er sich ganz auf dem Boden der Hegelschen Rechtsphilosophie. Das gilt sogar für seinen Kommentar zu einem neuen Ehescheidungsgesetzentwurf, das auch wieder auf Hegelschen Gedanken basierend argumentiert. Marx weiß sich im Familienrecht mit Hegel vollkommen einig, dass von der Familie mehr abhängt als nur die Liebe zweier Individuen und dass daher die Ehe nicht von den Launen der Gatten abhängig gemacht werden dürfe, wie manche forderten. „Jene berücksichtigen also den individuellen Willen oder richtiger die Willkür der Ehegatten, aber berücksichtigen nicht den Willen der Ehe, die sittliche Substanz dieses Verhältnisses.“ 714 Der in familiären Fragen sehr bodenständige Marx ist sich mit Hegel aber nicht nur in der Sache einig. 715 Auch die logische Formen, die Hegel auseinander gelegt hat, wendet Marx an: An sich sei die Ehe nach Hegel unauflöslich 716 , das gelte jedoch nur, wenn die Ehe ihrem Begriff entspreche. Marx verweist hier auf das von Hegel so genannte ‚Urteil des Begriffs‘: Wenn eine einzelne Sache ihrem allgemeinen Begriff nicht mehr oder nur noch ungenügend entspricht, ist sie nicht mehr in ihrer wahren Gestalt, also keine wahre Ehe, kein wahres Fahrrad etc. mehr, sondern eine schlechte Ausführung dessen. 717 Ganz im Sinne der Dissertation, die Philosophiegeschichte von Hegel aus zu beurteilen, betrachtet Marx die Hegelsche Rechtsphilosophie als den höchsten Abschluss aller bisherigen philosophischen Begründungen des Staates. „Wenn aber die früheren philosophischen Staatsrechtslehrer aus den Trieben, sei es des Ehrgeizes, sei es der Geselligkeit, oder zwar aus der Vernunft, aber nicht aus der Vernunft der Gesellschaft, sondern aus der Vernunft des Individuums den Staat construirten: so die ideellere und gründlichere Ansicht der neuesten Philosophie aus der Idee des Ganzen. Sie betrachtet den Staat als den großen Organismus, in welchem die rechtliche, sittliche und politische Freiheit ihre Verwirklichung zu erhalten hat und der einzelne Staatsbürger in den Staatsgesetzen nur den Naturgesetzen seiner eignen Vernunft, der menschlichen Vernunft gehorcht.“ 718 Marx meint demnach, Hegel habe den qualitativ bedeutenden Schritt getan, den Staat aus der Freiheit und der Vernunft abzuleiten. Dass der Staat Publizistische Arbeiten, Marx-Engels-Gesamtausgabe, Abteilung I, Bd. 1, Berlin: Dietz 1975, S. 142. 714 Marx, Karl: Der Ehescheidungsgesetzentwurf, In: Publizistische Arbeiten, Marx- Engels-Gesamtausgabe, Abteilung I, Bd. 1, Berlin: Dietz 1975, S. 288f. 715 Siehe Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §161-163, S. 309-315. 716 Siehe Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §163, S. 313-315. 717 Siehe Hegel: Enzyklopädie, §178-179, S. 161f. und Marx: Der Ehescheidungsgesetzentwurf, MEGA I,1, S. 288f. 718 Marx: Debatten über Preßfreiheit, MEGA I,1, S. 189. <?page no="184"?> 184 aus einem absoluten System abgeleitet wird, welches auf der Idee beruht, bejaht Marx ebenso wie die Charakterisierung des Staates als eines Organismus. Er bewegt sich damit auf dem Boden der Hegelschen Rechtsphilosophie. Marx bleibt damit in seinen Artikeln der ‚Rheinischen Zeitung‘ seinem orthodoxen Idealismus treu. 719 Das zeigt sich auch in Marx‘ Artikel zur Novellierung des Holzdiebstahlgesetzes. 720 In dem Artikel verteidigt Marx das Recht auf Privateigentum als sittliches Recht und meint, der rheinische Landtag verstoße gegen dessen Hegelsche Bestimmung, indem es an das Aufklauben von Fallholz einerseits staatliche Strafmaßstäbe ansetze, die jedoch der Waldeigentümer in Anspruch nehmen könne. Marx will damit zeigen, „wie der Landtag die exekutive Gewalt, die administrativen Behörden, das Dasein des Angeklagten, die Staatsidee, das Verbrechen selbst und die Strafe zu materiellen Mitteln des Privatinteresses herabwürdigt.“ 721 Marx geht allerdings insofern über die Hegelsche Rechtsphilosophie hinaus, als er das Holzsammeln als eines der „Gewohnheitsrechte der Armen“ 722 legitimiert. Zum ersten Mal geraten die sozial Deklassierten in seinen Blickpunkt. Marx macht sich dabei zum Fürsprecher der benachteiligten Bürger. Später charakterisiert Marx selbst diese und ähnliche Artikel als „die ersten Anlässe zu meiner Beschäftigung mit ökonomischen Fragen.“ 723 Wie gezeigt wurde, ist bis zu Marx‘ Rezeption der Feuerbachschen Hegel-Kritik ein eng an Hegel angelehnter Idealismus der Marxsche Bewertungsmaßstab. Marx übernimmt die grundlegende Aussage von Hegel, dass die Kluft zwischen Subjekt und Objekt sich dadurch auflösen möge, dass das Subjekt nur mit selbstgeschaffenen Gegenständen zu tun hat. Im Bild des Prometheus sieht Marx die Konsequenz aus der Hegelschen Philosophie verbildlicht, dass dieses Subjekt explizit nicht in der Religion zu finden sei, sondern im Menschen selbst. Zwar abstrahiert Marx damit von wesentlichen Gehalten des Hegelschen Idealismus, das Maßnehmen der Wirklichkeit an der Idee geschieht jedoch wesentlich anhand des Inhalts der Hegelschen Rechtsphilosophie. 719 Schuffenhauer wendet sich gegen diese Interpretation und meint dagegen ganz nach der Tendenz der DDR-Ideologie, Marx‘ spätere Theorien in die Frühschriften hineinzulesen, in Marx‘ Artikeln der Rheinischen Zeitung trete der „an Feuerbach orientierte, antispekulative Grundzug“ in den Vordergrund. (Zitat in Schuffenhauer, Werner: Feuerbach und der junge Marx - Zur Entstehungsgeschichte der marxistischen Weltanschauung, zweite Auflage, Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften 1972, S. 33) 720 Siehe Marx, Karl: Die Verhandlungen des 6. Rheinischen Landtags, Dritter Artikel: Debatten das Holzdiebstahlgesetz, In: Publizistische Arbeiten, Marx-Engels- Gesamtausgabe, Abteilung I, Bd. 1, Berlin: Dietz 1975, S. 199-236. 721 Marx: Debatten das Holzdiebstahlgesetz, MEGA I,1, S. 232. 722 Marx: Debatten das Holzdiebstahlgesetz, MEGA I,1, S. 207. 723 Siehe Marx, Karl: Zur Kritik der politischen Ökonomie, Erstes Heft, 1859, In: Marx- Engels-Gesamtausgabe, Abteilung II, Bd. 2, Berlin: Dietz 1980, S. 100. <?page no="185"?> 185 Mit der Rezeption der Hegel-Kritik von Feuerbach legt Marx den Hegelschen Idealismus als Wertmaßstab ab. Anders als Feuerbach bewahrt er sich dennoch die idealistische Kernthese, dass die Kluft zwischen Subjekt und Objekt nur dadurch überwunden werden kann, indem ein Subjekt sich in einem ihm Anderen setzt und damit nur selbstgesetzte Objekte zum Gegenstand hat. Allerdings abstrahiert er dieses Aussage von allen weiteren idealistischen Inhalten und interpretiert Feuerbach folgend den Menschen als dieses Subjekt. 9.3. Marx‘ Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie Marx arbeitet bereits seit Ende 1841 bis September 1842 an einer Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. 724 Es mag kein Zufall sein, dass aus dieser Zeit keine Manuskripte erhalten sind; anscheinend kommt Marx‘ Vorhaben nicht so recht voran, die Hegelsche Affirmation der konstitutionellen Monarchie als „eines sich durch und durch widersprechenden und aufhebenden Zwitterdings“ 725 zu kritisieren. Inspiriert von der Lektüre von Feuerbachs ‚Thesen‘ im Februar 1843 schreibt Marx von März bis September einen zusammenhängenden Text, in dem er das Hegelsche Staatsrecht kritisiert. 726 Die Feuerbachschen ‚Thesen‘ sind ihm anscheinend eine Offenbarung, wie Hegel zugleich zu kritisieren, aber auch zu affirmieren sei. Der Gedanke der Umkehr von Subjekt und Prädikat in Hegels Theorie macht er sich zu eigen und will ihn an dem Punkt umsetzen, an dem er die Verwirklichung der Philosophie erblickt: in der praktischen Philosophie. In einem Brief an Ruge vom 13. März schreibt er: „Feuerbachs Aphorismen sind mir nur in dem Punkt nicht Recht, daß er zu sehr auf die Natur und zu wenig auf die Politik hinweist. Das ist aber das einzige Bündniß, wodurch die jetzige Philosophie eine Wahrheit werden kann. Doch jetzt wird’s wohl gehen, wie im 16ten Jahrhundert, wo den Naturenthusiasten eine andere Reihe von Staats-enthusiasten entsprach.“ 727 Braun drückt es ganz richtig aus, wenn er konstatiert, „Marx will der Feuerbach der Rechts- und Religionsphilosophie werden.“ 728 Marx spricht später zusammen mit Engels Feuerbach euphorisch die Leistung zu, der 724 Siehe Institute für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU und ZK der SED (Hg.): Verzeichnis nicht überlieferter Arbeiten, In: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Abteilung I, Bd. 1, Apparat, Berlin: Dietz 1982, S. 1278. 725 Karl Marx an Arnold Ruge, 5. März 1842, MEGA III,1, S. 22. 726 Nach Institute für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU und ZK der SED (Hg.): Apparat zu Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, In: Marx-Engels- Gesamtausgabe, Abteilung I, Bd. 2, Apparat, Berlin: Dietz 1982, S. 577. 727 Karl Marx an Arnold Ruge, 13. März 1842, MEGA III,1, S. 45. 728 Siehe Braun, Hans-Jürg: Ludwig Feuerbachs Lehre vom Menschen, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann 1971, S. 37. <?page no="186"?> 186 erste gewesen zu sein, der die Hegelsche Philosophie erfolgreich kritisiert habe. „Aber wer hat denn das Geheimnis des ‚Systems‘ aufgedeckt? Feuerbach. Wer hat die Dialektik der Begriffe, den Götterkrieg, den die Philosophen allein kannten, vernichtet? Feuerbach. Wer hat [...] ‚den Menschen‘ an die Stelle des alten Plunders, auch des ‚unendlichen Selbstbewußtseins‘, gesetzt? Feuerbach und nur Feuerbach.“ 729 Die gefeierte Leistung von Feuerbach besteht für Marx in der gelungenen Hegelkritik und im Ersatz der logischen Kategorien als Subjekt durch den Menschen. Damit wird aber auch deutlich, dass Marx nicht die Sprengung des Hegelschen Systems beabsichtigt, sondern die Aufdeckung des ihm zugrunde liegenden Geheimnisses. In der Kritik der Umkehr meint Marx sich von dem idealistischen Subjekt der Idee verabschieden zu können, ohne die These der Identität von Vernunft und Wirklichkeit, der Versöhnung von Subjekt und Objekt und der Wahrheit als Substanz und Subjekt aufgeben zu müssen. Man merkt es dieser Stelle auch an, dass Marx‘ Kritik an dieser Stelle nicht direkt Hegels Philosophie gilt als vielmehr ihrer Interpretation im Lichte des Selbstbewusstseins durch die Junghegelianer Bauer und Stirner. 730 Unter den Namen Philosophie und Idealismus wird Marx auch in den Jahren 1844-1846 seine ehemaligen junghegelianischen Weggefährten bitter verspotten, er arbeitet sich im Grunde genommen eher an ihnen als an Hegel selbst ab. 731 An der von Marx geübten Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie lässt sich exemplarisch ersehen, welchen Mangel Marx der Hegelschen Gesellschaftstheorie und Philosophie überhaupt vorwirft. 732 Das Manuskript von 1843 ist die Niederschrift eines von Marx bereits seit Frühjahr 1842 geplanten Projekts mit dem Ziel, die konstitutionelle Monarchie anhand von Hegels Rechtsphilosophie zu kritisieren. 733 729 Marx, Karl und Engels, Friedrich: Die Heilige Familie, In: Marx-Engels-Werke, Bd. 2, Berlin: Dietz 1972, S. 98. 730 Siehe Marx; Engels: Die Heilige Familie, MEW 2, S. 98. 731 Dieser Meinung ist u. a. Wagenknecht, Sarah: Vom Kopf auf die Füße? Zur Hegelkritik des jungen Marx oder das Problem einer dialektisch-materialistischen Wissenschaftsmethode, Bonn: Pahl-Rugenstein 1997, S. 180f. 732 Die in diesem Manuskript erarbeiteten Vorwürfe von Marx an Hegel werden auch in den ÖPM von 1844 zusammengefasst und wiederholt. Siehe Reichenberg, Gerd und Schweitzer, Dieter (Hg.): Karl Marx, In: Kimmerle, Heinz und Bochumer Dialektik- Arbeitsgemeinschaft (Hg.): Modelle der Materialistischen Dialektik, Den Haag: M. Nijhoff 1978, S. 36. 733 Marx spricht im September 1842 von einem „Aufsatz gegen Hegels Lehre von der konstitutionellen Monarchie“ (Karl Marx an Dagobert Oppenheim, etwa Mitte August bis zweite Hälfte September 1842, MEGA III,1, S. 32.). <?page no="187"?> 187 Für die vorliegende Untersuchung von Bedeutung ist dabei die Art und Weise, wie Marx Hegel kritisiert. Marx geht an Hegel mit einem streng wissenschaftlichen Ansatz heran: „Mit Recht fordert […] die praktische politische Parthei […] die Negation der Philosophie. Ihr Unrecht besteht nicht in der Forderung sondern in dem Stehnbleiben bei der Forderung, die sie ernstlich weder vollzieht noch vollziehen kann. Sie glaubt, jene Negation dadurch zu vollbringen, daß sie der Philosophie den Rücken kehrt und abgewandten Hauptes - einige ärgerliche und bannale [sic! ] Phrasen über sie hermurmelt.“ 734 Dagegen will Marx Hegel an seinen eigenen Ansprüchen von Wissenschaftlichkeit messen. Insofern will sein detaillierter Kommentar von 1843 den basalen Anforderungen immanenter Kritik genügen: Er prüft die Hegelschen Aussagen daran, ob sie den von Hegel behaupteten Anspruch erfüllen, den Inhalt jeder Bestimmung mit Notwendigkeit aus der vorhergehenden Bestimmung herzuleiten. Nach Hegel ist schließlich die Identität der Explikation der Idee aus sich heraus mit dem Begriff der Welt der Beweis der Vernünftigkeit der jeweiligen Bestimmungen 735 , und zwar nach beiden Seiten hin: Einerseits ist damit die Wahrheit der Bestimmungen bewiesen, andererseits sind sie als Resultate der Idee als Vernünftige gerechtfertigt. Die Notwendigkeit der Idee ist für Hegel also gleichbedeutend mit der Vernünftigkeit der Sache. 736 Dass die Idee sich in ihrem eigenen Vollzug in Widersprüche verwickelt, zeigt den Mangel der jeweiligen Bestimmung, dass die Notwendigkeit des Gegenstandes also einer weiteren Bestimmung bedarf. Der vollständige Begriff der Idee wäre damit die vollständige Ableitung und logische Gliederung aller Elemente aus der Welt der Erscheinung. Diese Ableitung, die notwendige Folge einer Bestimmung aus der anderen und der damit verbundenen Entwicklung der Idee ist es, was für Hegel zu Beginn der ‚Enzyklopädie‘ Dialektik nennt. 737 Nach Marx gelingt Hegel diese Ableitung der Notwendigkeit des Gegenstands ‚konstitutionelle Monarchie‘ aus den vorhergehenden Bestimmungen nicht. Deutlich werde dies beispielsweise an der Bestimmung des Verhältnisses von politischem Staat und den anderen Instanzen der Sittlichkeit, Familie und bürgerlicher Gesellschaft. Hier macht Marx klar, dass die selbstständige Entwicklung des politischen Staates aus der bürgerlichen Gesellschaft und der Familie nicht gelingt. Hegel würde das Verhältnis des Staates zu diesen Institutionen nämlich einerseits als äußerliche Notwendigkeit kennzeichnen, zugleich jedoch behaupten, dass er ihr 734 Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung, In: Marx- Engels-Gesamtausgabe, Abteilung I, Bd. 2, Berlin: Dietz 1982, S. 175. 735 Siehe Hegel: Enzyklopädie, §14, S. 47f. 736 Siehe Hegel: Enzyklopädie, §12, S. 44-46. 737 Zumindest nach dem Anfang der ‚Enzyklopa ̈ die‘, siehe Hegel: Enzyklopädie, §11, S. 44. <?page no="188"?> 188 immanenter Zweck sei. Das sei eine „ungelöste Antinomie“ 738 , ein Widerspruch, der nicht durch die folgenden Bestimmungen aufgelöst werde. Marx wirft Hegel vor, dass der Staat als die Wahrheit von bürgerlicher Gesellschaft und Familie bestimmt, zugleich jedoch nicht aus ihnen entwickelt werde. Marx meint in den Paragraphen zum inneren Staatsrecht entdeckt zu haben, dass der Staat bei Hegel als Voraussetzung für Familie und bürgerliche Gesellschaft auftaucht, ohne dass er in ihnen seine Begründung habe. Marx zitiert Hegels Bestimmung des Verhältnisses: „Die wirkliche Idee, der Geist, der sich selbst in die zwei ideellen Sphären seines Begriffs, die Familie und die bürgerliche Gesellschaft, als in seine Endlichkeit scheidet, um aus ihrer Idealität für sich unendlicher wirklicher Geist zu sein, theilt somit diesen Sphären das Material seiner Wirklichkeit, die Individuen als die Menge zu, so daß diese Zuteilung am Einzelnen durch die Umstände, die Willkür und die eigene Wahl seiner Bestimmung vermittelt erscheint.“ 739 Marx kritisiert diese Bestimmung des Verhältnisses. Er bemängelt, dass es kein Argument dafür gebe, dass es im Verhältnis des Staates zu den beiden Privateinrichtungen Familie und bürgerliche Gesellschaft der wirkliche Geist sei, der sich erst in seine Endlichkeit scheidet, um dann im Staat wieder zu sich zu kommen. Hier würde eine den untersuchten Gegenständen vorausgesetzte Instanz, die wirkliche Idee als objektiver Geist, als die Wahrheit des Verhältnisses behauptet, jedoch nicht bewiesen. 740 So werde unter der Hand der Staat zum Grund für Familie und bürgerliche Gesellschaft interpretiert, ohne dafür eine stichhaltige, immanent plausible Begründung anzugeben. 741 Marx wirft Hegel vor, dieser gehe hier einerseits stillschweigend von den sinnlichen Erscheinungen aus, interpretiere sie jedoch als „bloß die Erscheinung einer Vermittlung, welche die wirkliche Idee mit sich selbst vornimmt und welche hinter der Gardine vorgeht.“ 742 Die Idee werde zum Subjekt gemacht und den Bestimmungen der Hegelschen Philosophie als Wirklichkeit unterstellt. Damit greift Marx den Vorwurf auf, den Feuer- 738 Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, In: Marx-Engels- Gesamtausgabe, Abteilung I, Bd. 2, Berlin: Dietz 1982, S. 6. 739 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 7-7. Marx zitiert hier den §262 in Hegels Rechtsphilosophie, siehe Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §262, S. 410. 740 Siehe Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 7-10. 741 In seinem Kommentar zum §266 der Grundlinien der Philosophie des Rechts expliziert Marx diesen generellen Vorwurf an Hegel: „Der Uebergang der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft in den politischen Staat ist also der, daß der Geist jener Sphären, der an sich der Staatsgeist ist, sich nun auch wieder als solcher zu sich verhält und als ihr Inneres sich wirklich ist.“ (Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 10) 742 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 8. <?page no="189"?> 189 bach in seiner kurz zuvor erschienenen Schrift ‚Vorläufige Thesen zur Reform der Philosophie‘ gegen Hegel eingewendet hat, dieser würde Subjekt und Prädikat konsequent vertauschen. Indem man die Aussagen der spekulativen Philosophie umkehre, erhielte man daher die Wahrheit. 743 Die im ‚Wesen des Christentums‘ analysierte Entfremdung des Menschen überträgt Feuerbach in den ‚Thesen‘ auf das Subjekt der Hegelschen Philosophie. Die philosophische Spekulation sei somit die rationelle Fassung der Theologie, jene sei ebenso zu überwinden wie diese. Hegel würde den Widerspruch von Denken und Sein nur so überwinden, indem er die eine Seite des Widerspruchs, den Gedanken, zum Subjekt verabsolutiere und somit die materielle Welt zum Prädikat des Gedankens mache. 744 Auch Marx wirft Hegel vor, Prädikat und Subjekt zu vertauschen. Die Idee des Staates werde zum Subjekt gemacht, während das wirkliche Subjekt des Staates - der Mensch in seinen sozialen Verhältnissen - zu dessen Prädikat gemacht werde. 745 Marx meint, wenn man die Bestimmung der konstitutionellen Monarchie umkehre, erhalte man die Demokratie als ihre eigentliche Wahrheit, weil dann nicht mehr der Staat den Menschen mitsamt seiner privaten Anliegen schaffe, sondern andersherum der Mensch den Staat. So überträgt Marx das Feuerbachsche Paradigma von der Umkehr von Subjekt und Prädikat auf die Hegelsche Institutionenlehre. „Hegel geht vom Staat aus und macht den Menschen zum versubjektivirten Staat; die Demokratie geht vom Menschen aus und macht den Staat zum verobjektivirten Menschen. Wie die Religion nicht den Menschen, sondern wie der Mensch die Religion schafft, so schafft nicht die Verfassung das Volk, sondern das Volk die Verfassung.“ 746 Die von Weckwerth bei Feuerbach identifizierte Kritik an Hegel, die die Hegelschen Bestimmungen umkehren will, um ihre Wahrheit freizulegen, wird somit auch von Marx angewendet. 747 Arndt hat darauf aufmerksam 743 Siehe Feuerbach: Thesen zur Reformation der Philosophie, S. 244. 744 Siehe Feuerbach: Thesen zur Reformation der Philosophie, S. 244-246. Siehe auch Zeleny ́ , Jindr ̌ ich: Die Wissenschaftslogik bei Marx und das Kapital, Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt 1973, S. 276. 745 Siehe Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 8f. 746 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 31. 747 Siehe Weckwerth: Ludwig Feuerbach - Zur Einführung, S. 61-64. Auch in Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 32f. wendet Marx die Feuerbachsche Entfremdungskritik und den Gedanken der Umkehr auf das Verhältnis von Demokratie und Monarchie an und bestimmt letztere als vollendeten Ausdruck eine Entfremdung, die in der bloß formellen, vom Privatleben getrennten Vergegenständlichung des menschlichen Gattungswesens im politischen Staat bereits vorliege. Feuerbach leistet diese Kritik der Umkehr der Hegelschen Gedanken im ‚Wesen des Christentums‘, allerdings erst in der im selben Jahr wie die ‚Thesen‘ erschienenen zweiten Auflage, siehe Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 1843, S. 385. Maßgeblich für Marx sind aber die ‚Thesen‘. <?page no="190"?> 190 gemacht, dass Marx Hegel nicht nur Feuerbach folgend die Vertauschung von Subjekt und Prädikat vorwirft. 748 Zum einen betont Marx auch die Überhöhung der spekulativen Idee auf Kosten der empirischen Wirklichkeit: „Wenn aber die Idee versubjektivirt wird, werden hier die wirklichen Subjekte […] zu unwirklichen anderes bedeutenden, objektiven Momenten der Idee.“ 749 Zum anderen übt Marx auch Kritik an dem Inhalt der Idee. Denn dieser Inhalt sei von Hegel aus der gegebenen Empirie übernommen worden. Nach Marx komplementiert Hegel die Unterordnung der Empirie unter die versubjektivierte Idee mit einer Überhöhung der empirischen Wirklichkeit in das Wesen dieser Idee. „Diese Verkehrung des Subjektiven in das Objektive und des Objektiven in das Subjektive […] hat nothwendig das Resultat, daß unkritischer Weise eine empirische Existenz als die wirkliche Wahrheit der Idee genommen wird; denn es handelt„nicht davon, die empirische Existenz zu ihrer Wahrheit, sondern die Wahrheit zu einer empirischen Existenz zu bringen, und da wird denn die zunächstliegende als ein reales Moment der Idee entwickelt; denn es handelt sich nicht davon, die empirische Existenz zu ihrer Wahrheit, sondern die Wahrheit zu einer empirischen Existenz zu bringen, und da wird denn die zunächstliegende als ein reales Moment der Idee entwickelt.“ 750 Ganz immanent kritisiert Marx Hegel dort, wo dieser die Notwendigkeit des Monarchen ableiten will, vom Standpunkt der Spekulation her. Weil Hegel die Empirie aus einer versubjektivierten Idee bestimmen wolle, sei auch das Wesen der Phänomene nicht auf ihre Wahrheit gebracht, sondern werde verkleidet als Idee für ihr eigenes Wesen genommen. Marx wirft Hegel somit nicht bloß vor, dass dieser die Empirie mittels einer Projektion einer subjektivierten Idee erklärt, sondern auch, dass der Inhalt dieser Erklärung ganz mit der Empirie übereinstimmt. 751 Marx konstatiert bei Hegel daher das „nothwendige Umschlagen von Empirie in Speculation und von Speculation in Empirie“ 752 . Mit dieser Kritik meint Marx den Finger auf den prinzipiellen Fehler der Hegelschen spekulativen Philosophie gelegt zu haben: „Die Thatsache, von der ausgegangen wird, wird nicht als solche, sondern als mystisches Resultat gefasst. Das Wirkliche wird zum Phänomen, aber die Idee hat 748 Siehe Arndt, Andreas: Hegel und Marx, In: Lethen, Helmut; Schmieder, Falko und Löschenkohl, Birte (Hg.): Der sich selbst entfremdete und wiedergefundene Marx, München: Wilhelm Fink Verlag 2010. 28-38. 749 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 8. 750 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 40. 751 Siehe Iber, Christian: Methodische und inhaltliche Aspekte von Marx’ Kritik des Hegelschen Staatsrechts, In: Wischke, Mirko und Przyłebski, Andrzej (Hg.): Recht Ohne Gerechtigkeit? Hegel und die Grundlagen des Rechtsstaates, Wu ̈ rzburg: Ko ̈ nigshausen & Neumann 2010, S. 170f. und Arndt: Hegel und Marx, S.30f. 752 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 40. <?page no="191"?> 191 keinen anderen Inhalt als dieses Phänomen. […] In diesem § ist das ganze Mysterium der Rechtsphilosophie niedergelegt und der hegel‘schen Philosophie überhaupt.“ 753 Marx wirft damit Hegels spekulativer Philosophie vor, von Tatsachen auszugehen und sie als Erscheinungen eines Wesens auszudrücken, das gar keinen anderen Inhalt kennt, außer das Phänomen zu bewirken. Unabhängig davon, ob der geschulte Hegelschüler Marx sich dessen bewusst ist, reproduziert Marx hier die Hegelsche Kritik an der Verhältniskategorie von Kraft und Äußerung. 754 Hegel hat damit gekennzeichnet, dass allein die Erklärung einer Erscheinung mittels einer sie bewirkenden Kraft, Fähigkeit, Macht etc. nichts zu der Bestimmung der Sache hinzutue. Vielmehr werde der zu erklärende Gegenstand inhaltlich verdoppelt in einen außer ihm stehenden Grund, der keinen anderen Inhalt kennt, als diesen Gegenstand zu bewirken. Damit habe man bloß denselben Gegenstand formell in zwei inhaltlich identische Gegenstände verdoppelt. Damit hat Marx seine wesentliche Kritik der Hegelschen Philosophie erarbeitet. Diese Kritik wird in einer anderen Passage besonders prägnant deutlich: „Der konkrete Inhalt, die wirkliche Bestimmung, erscheint als formell; die ganze abstrakte Formbestimmung erscheint als der konkrete Inhalt. Das Wesen der staatlichen Bestimmungen ist nicht, daß sie staatliche Bestimmungen, sondern daß sie in ihrer abstraktesten Gestalt, als logischmetaphysische Bestimmungen betrachtet werden können. Nicht die Rechtsphilosophie, sondern die Logik ist das wahre Interesse. Nicht daß das Denken sich in politische Bestimmungen verkörpert, sondern daß die vorhandenen politischen Bestimmungen in abstrakte Gedanken verflüchtigt werden, ist die philosophische Arbeit. Nicht die Logik der Sache, sondern die Sache der Logik ist das philosophische Moment. Die Logik dient nicht zum Beweis für den Staat, sondern der Staat dient zum Beweis für die Logik.“ 755 Marx kritisiert, dass der Hegelschen Betrachtungsweise ein sachfremdes Anliegen zu Grunde liegt. Erstens hat Marx zuvor kritisiert, dass Hegel die Übergänge nicht aus der jeweiligen Sache sondern aus seinen spekulativen Kategorien gewinnt. Zweitens würde dies offenbaren, dass Hegel damit 753 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 10. 754 „Man pflegt zu sagen, daß die Natur der Kraft selbst unbekannt sei und nur ihre Äußerung erkannt werde. Einesteils ist die ganze Inhaltsbestimmung der Kraft ebendieselbe als die der Äußerung; die Erklärung einer Erscheinung aus einer Kraft ist deswegen eine leere Tautologie. Was unbekannt bleiben soll, ist also in der Tat nichts als die leere Form der Reflexion-in-sich, wodurch allein die Kraft von der Äußerung unterschieden ist, - eine Form, die ebenso etwas Wohlbekanntes ist. Diese Form tut zum Inhalte und zum Gesetze, welche nur aus der Erscheinung allein erkannt werden sollen, im geringsten nichts hinzu.“ (Hegel: Enzyklopädie, §136, Zusatz S. 152f.) 755 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 18. <?page no="192"?> 192 nicht mehr die Gegenstände der Erscheinungswelt als in ihrer jeweiligen Notwendigkeit betrachtet, sondern als Erscheinungsweise von ‚logischmetaphysischen‘ Bestimmungen. Damit sei aber drittens die Absicht Hegels eine andere, als die Erklärung seiner Forschungsgegenstände, z. B. des Staats, zu liefern. Vielmehr seien alle Erklärungen nur Material, um den jeweiligen Gegenstand der Untersuchung als Erscheinungsweise logischer Kategorien darzustellen. Anstatt die sinnlich erfassbare Wirklichkeit zu erklären, würde von einem eigentlichen Prinzip, der Idee, als Vorurteil ausgegangen, das dann als Grund aller Erscheinungen behauptet werde. Marx wendet gegen die Vorgehensweise von Hegel ein: Das „Begreifen besteht aber nicht, wie Hegel meint, darin, die Bestimmungen des logischen Begriffs überall wiederzuerkennen, sondern die eigenthümliche Logik des eigenthümlichen Gegenstandes zu fassen.“ 756 Dem Projekt von Hegel, die Vernünftigkeit der Wirklichkeit mit der Geistgleichheit der Gegenstände zu beweisen, wirft Marx vor, diese Identität nicht bewiesen zu haben, sondern vielmehr seine logischen Kategorien dogmatisch in alle Gegenständen hinein zu projezieren. Marx expliziert diese Kritik an Hegel in der 1846/ 47 geschriebenen Kritik an Proudhon. In dieser Schrift kritisiert er den hegelianischen Ansatz Proudhons und wirft ihm vor, politische Ökonomie als Metaphysik zu betreiben, damit jedoch den ökonomischen Gegenständen nicht gerecht zu werden. Proudhon käme auf den Einfall, die Genese der ökonomischen Kategorien nicht historisch zu erklären, sondern „den Ursprung dieser Gedanken in die Bewegung der reinen Vernunft zu verlegen.“ 757 Dabei würde er an den Fehler der Hegelschen Dialektik anknüpfen, von Objekt und Subjekt der Vernunft zu abstrahieren. Hegel mache die Vernunft selbst zum Subjekt und damit zu einer „reinen, vom Individuum getrennten Vernunft. An Stelle des gewöhnlichen Individuums und seiner gewöhnlichen Art zu reden und zu denken, haben wir lediglich diese gewöhnliche Art an sich, ohne das Individuum.“ 758 Auch auf der Seite des Objekts des Denkens abstrahiere Hegel von jeder Eigentümlichkeit des Objekts. „Wenn wir solchermaßen konsequent abstrahieren, von jedem Subjekt, von allen seinen belebten oder unbelebten angeblichen Akzidenzien, Menschen oder Dingen, so haben wir ein Recht zu sagen, daß man in letzter Abstraktion nur noch die logischen Kategorien als Substanz übrigbehält.“ 759 756 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 101. 757 Marx, Karl: Das Elend der Philosophie, In: Marx-Engels-Werke, Bd. 4, Berlin: Dietz 1972, S. 126. 758 Marx: Das Elend der Philosophie, MEW 4, S. 127. 759 Marx: Das Elend der Philosophie, MEW 4, S. 127. Marx geht es in der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie vor allem darum, den Mangel der Hegelschen Philosophie herauszustellen. Dennoch zeigt obige Bemerkung, dass der Vorwurf der Abstraktion vom Subjekt auch beinhaltet, dass Marx Hegel schon zugesteht, die ge- <?page no="193"?> 193 9.4. Positives Verhältnis zu Hegel in der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie Man könnte meinen, dass sich Marx mit der Anwendung des Umkehrungsgedankens der Hegelschen Spekulation komplett entledigt. Denn die Hegelsche Versöhnung von Subjekt und Objekt wird durch ein übergreifendes Subjekt geleistet, das schließlich mit nichts Umgang hat als mit seinen eigenen Produkten. Gleichgültig, ob der Einwand, die Sache der Logik sei nicht die Logik der Sache, Hegel trifft, mit dieser Kritik distanziert sich Marx von dessen Ausgangspunkt und müsste konsequenterweise die Hegelsche Bestimmung eines solchen Subjekts und einer vernünftigen Wirklichkeit eigentlich verlassen. Dem ist jedoch nicht so. Das lässt sich zum einen daran ersehen, dass Marx sehr viel Zeit und Energie - immerhin zum Zeitpunkt der Niederschrift des Manuskripts bereits zwei Jahre - darauf verwendet, Hegels Ableitung der konstitutionellen Monarchie zu kritisieren. Die Kritik an diesem einen Punkt der Hegelschen Ableitung ist nur verständlich, wenn sie das Grundprinzip des Hegelsche System als affirmierten Ausgangspunkt nimmt. Marx beurteilt demnach die Hegelsche Philosophie als Mystifikation, die die Idee zum wesentlichen Inhalt des Gegenstands mache und verwirft insofern tatsächlich die spekulative Grundthese von der Einheit von Subjekt und Objekt. In seiner Gegenüberstellung, sich der Logik der Sache statt der Sache der Logik zuzuwenden, liegt die Ablehnung der Hegelschen Philosophie, die Trennung von Subjekt und Objekt dadurch aufzuheben, dass das Wahre als Subjekt wie als Substanz gedacht werde. Aber in der Durchführung seiner Kritik spricht er selbst noch vom Staat als der wahrhaften Allgemeinheit des Gattungsinhalts 760 und kennzeichnet die Demokratie innerhalb der Hegelschen Rechtsphilosophie als Wahrheit der Monarchie 761 . In Vokabular und Theorie folgt Marx demnach Hegel, ohne dessen Grundprämisse vollends zu teilen. Demnach möchte er die Demowöhnliche Art zu reden und zu denken getroffen haben, dass Marx von der Hegelschen Logik also durchaus eine positive Meinung hat. Ob Marx‘ Kritik wirklich stichhaltig ist, kann an dieser Stelle nicht eingehend untersucht werden. Allerdings bleibt schon festzuhalten, dass es in der Marxschen Hegel-Kritik qualitative Unterschiede gibt. So kritisiert Marx Hegel in der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie von 1843 noch insoweit immanent, als er von den einzelnen Bestimmungen der Hegelschen Rechtsphilosophie ausgeht. Wenn er darüber jedoch den Kern der Hegelschen Philosophie zu treffen meint, ist fraglich, inwieweit er diesem Anspruch gerecht wird. Schließlich wird gar nicht das Hegelsche System als Ganzes zum Gegenstand der Untersuchung, sondern die Analyse verbleibt ganz bei den einzelnen Gegenständen der Rechtsphilosophie. Die Kritik der Hegelschen Philosophie als Ganzes bedürfte jedoch schon einer intensiveren Auseinandersetzung mit dieser. 760 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 32. 761 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 30. <?page no="194"?> 194 kratie in Hegels Rechtsphilosophie integrieren, weil er diese für richtig hält. Dies ist ein Widerspruch. Einerseits kritisiert er das Kernstück des Hegelschen Idealismus, andererseits hält er an ihm fest, um die Demokratie zu legitimieren. Für Marx sind diese beiden Ansichten kein Widerspruch, weil er das spekulative Grundvorhaben von dessen idealistischer Ausführung trennt. Er teilt immer noch Hegels Grundvorhaben, Subjekt und Objekt miteinander zu versöhnen, indem die Substanz zugleich Subjekt ist. 762 Davon trennt Marx jedoch die Ausführung des Hegelschen Systems ab, und weist die Antwort, das Ganze als die Selbstentfaltung der Idee zu begreifen, zurück. Damit teilt Marx noch nicht die Feuerbachsche Prämisse von der Trennung von Geist und Materie, die dieser in seinen ‚Thesen‘ vertritt. So wie es sich in seiner „Collision“ 763 mit der Fassung der Feuerbachschen Religionskritik gerade in Feuerbachs 1842 veröffentlichter und materialistisch gewendeter Interpretationshilfe zum ‚Wesen des Christentums‘ ankündigt, teilt Marx die materialistische Prämisse von Feuerbach nicht. Sich durch das Postulat der bleibenden Trennung von Subjekt und Objekt von Hegel zu distanzieren, wie Feuerbach in den ‚Thesen‘, ahmt Marx in seiner Hegelkritik von 1843 nicht nach. Darin, dass Marx das Urteil der Vernünftigkeit der Wirklichkeit kritisch wendet, bewahrt er sich die idealistische Prämisse der Nichtexistenz einer Trennung von Subjekt und Objekt. „Daß das Vernünftige wirklich ist, beweist sich eben im Widerspruch der unvernünftigen Wirklichkeit, die an allen Ecken das Gegentheil von dem ist, was sie aussagt, und das Gegentheil von dem aussagt, was sie ist.“ 764 Dieses ambivalente Verhältnis von Marx zum spekulativen Idealismus lässt sich eindeutig an einem Brief ersehen, den Marx genau im Monat des Abbruchs an dem Manuskript ‚Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie‘ an Ruge sendet. 765 In diesem Text resümiert Marx das Vorhaben der Junghegelianer, die Philosophie zu verwirklichen. Von der Philosophie her sei diese Verwirklichung geleistet, die Philosophie habe sich der Praxis verschrieben, sei inzwischen selbst politische Partei. Das erkennt Marx auch daran, dass die junghegelianische Philosophie von den Mächten der Restauration als Feind anerkannt werde. „Bisher hatten die Philosophen die Auflösung aller Räthsel in ihrem Pulte liegen und die dumme exoterische Welt hatte nur das Maul aufzusperren, damit ihr die gebratenen Tauben der Wissenschaft in den Mund flogen. Die 762 Auch Iber meint, dass Marx in seiner Hegelkritik nicht zu einem „Substanz- oder Substratdenken zurückkehrt, das das Verhältnis von Subjekt und Prädikat statisch als Verhältnis von Substanz und Akzidenz versteht.“ (Iber: Marx’ Kritik des Hegelschen Staatsrechts, S. 172) 763 Karl Marx an Arnold Ruge, 20. März 1842, MEGA III,1, S. 25. 764 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 68. 765 Siehe Karl Marx an Arnold Ruge, September 1843, MEGA III,1, S. 54-57. <?page no="195"?> 195 Philosophie hat sich verweltlicht und der schlagendste Beweis dafür ist, dass das philosophische Bewusstsein selbst in die Qual des Kampfes nicht nur äusserlich, sondern auch innerlich hineingezogen ist.“ 766 Marx‘ eigene Schwierigkeiten, die ökonomische Basis seines jungen Ehe trotz der preußischen Zensur als Journalist zu sichern, sieht er als Beleg dafür, dass die Philosophie auf dem richtigen Wege ist, in die Wirklichkeit verändernd einzugreifen. Und mit der Philosophie meint er die auf Hegelschem Fundament entwickelten junghegelianischen Theorien. 767 Es ist demnach immer noch sein Zweck, die Hegelsche Philosophie zu verwirklichen. Damit teilt er auch noch wesentliche Bestimmungen des spekulativen Idealismus. Für Ruge und Marx, die ein gemeinsames Publikationsprojekt planen, stellt sich zu diesem Zeitpunkt aber die wesentliche Frage, wie die Wirklichkeit zur Philosophie gebracht werden kann. Weil für Marx bereits klar ist, dass die Philosophie nur durch das Bündnis mit politischen Kräften verwirklicht werden kann, lautet die Frage genauer, wie das Bewusstsein der fortschrittlichen Kräfte dahin gebracht werden kann, die Philosopie zu verwirklichen. Darauf gibt Marx auch nach der ‚Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie‘ eine ganz Hegelianische Antwort: „Die Vernunft hat immer existirt, nur nicht immer in der vernünftigen Form. Der Kritiker kann also an jede Form des theoretischen und praktischen Bewusstseins anknüpfen und aus den eigenen Formen der existirenden Wirklichkeit die wahre Wirklichkeit als ihr Sollen und ihren Endzweck entwickeln.“ 768 Die Hegelsche These von der Identität von Vernunft und Wirklichkeit wird hier von Marx reproduziert, obgleich er zugleich in seinem Manuskript kritisiert, dass Hegel die Idee als eigenständiges Subjekt begreift. Beides ist jedoch bei Hegel untrennbar miteinander verknüpft, denn die vernünftige Wirklichkeit ist bei ihm nichts anderes als die zur Wirklichkeit gekommenen Idee. Dennoch leistet sich Marx diesen Widerspruch und meint, die Vernunft setze sich durch und die Geschichte sei durch die Vernunft bestimmt. Marx geht noch weiter und meint wie Hegel, der politische Staat, der restaurative Gegner der progressiven Partei enthalte „in seinen modernen Formen die Forderungen der Vernunft.“ 769 Offensichtlich ist Marx Hegels spekulativer Prämisse immer noch verpflichtet, obgleich er sie kritisiert hat. 766 Karl Marx an Arnold Ruge, September 1843, MEGA III,1, S. 54f. 767 Zu diesem Zeitpunkt wird er dabei weniger die subjektiv gewendete Philosophie Bauers und Stirners im Auge haben, als vielmehr die der sozialen Objektivität zugewandten Richtung. 768 Karl Marx an Arnold Ruge, September 1843, MEGA III,1, S. 55. 769 Karl Marx an Arnold Ruge, September 1843, MEGA III,1, S. 55. <?page no="196"?> 196 Marx will die Verwirklichung der Vernunft, lehnt aber zugleich jene Theorie, aus der er diesen Standpunkt hernimmt, radikal ab. Marx will demnach weiterhin die Verwirklichung eines tatsächlich vernünftigen Verhältnisses, das jedoch nicht mehr der Inhalt des spekulativen Idealismus sein kann. Marx arbeitet sich nach dem Abbruch an der ‚Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie‘ dazu hin, den gefragten Inhalt zu entwickeln. Formell kündigt er in dem Brief an Ruge bereits an, die neue Welt aus der Kritik der alten entwickeln zu wollen. Marx sieht es als Vorzug der progressiven Junghegelianer, dass sie nicht „dogmatisch die Welt anticipiren, sondern erst aus der Kritik der alten Welt die neue finden wollen.“ 770 Weil die Wirklichkeit die Vernunft bereits enthalte, sei diese mittels von Kritik heraus zu arbeiten. „Wir treten dann nicht der Welt doctrinär mit einem neuen Princip entgegen: Hier ist die Wahrheit, hier kniee nieder! Wir entwickeln der Welt aus den Principien der Welt neue Principien.“ 771 Die Kritik soll sich den realen Kämpfen ganz zuwenden und ihnen zeigen, dass sie das Recht der Vernunft auf ihrer Seite haben. Marx hat damit die Hegelsche Philosophie zwar radikal kritisiert, sieht es jedoch zugleich als notwendig an, die spekulative Philosophie weiter zu führen, ohne die logischen Formen zum Subjekt zu erheben. Marx kündigt an, dass die Kritik, die er an der Welt leisten will, sich an dem Kritikmodell von Feuerbach orientiert. „Unser ganzer Zweck kann in nichts anderem bestehn, wie dies auch bei Feuerbachs Kritik der Religion der Fall ist, als dass die religiösen und politischen Fragen in die selbstbewusste menschliche Form gebracht werden. Unser Wahlspruch muss also sein: Reform des Bewusstseins nicht durch Dogmen, sondern durch Analysirung des mystischen sich selbst unklaren Bewusstseins, trete es nun religiös oder politisch auf. Es wird sich dann zeigen, dass die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewusstsein besitzen muss, um sie wirklich zu besitzen. Es wird sich zeigen, dass es sich nicht um einen großen Gedankenstrich zwischen Vergangenheit und Zukunft handelt, sondern um die Vollziehung der Gedanken der Vergangenheit. Es wird sich endlich zeigen, dass die Menschheit keine neue Arbeit beginnt, sondern mit Bewusstsein ihre alte Arbeit zu Stande bringt.“ 772 770 Karl Marx an Arnold Ruge, September 1843, MEGA III,1, S. 54. 771 Karl Marx an Arnold Ruge, September 1843, MEGA III,1, S. 56. 772 Karl Marx an Arnold Ruge, September 1843, MEGA III,1, S. 56. DeGolyer meint, Marx referiere mit dem ‚alten Arbeit‘ auf das Ideal der alten Griechen: „full, free human development in community.“ Diese Behauptung stützt die Hauptthese der vorliegenden Arbeit, liest aber m. E. in die Stelle mehr hinein, als in ihr drin steht. Dass Marx sich hier ausgerechnet auf die alten Griechen bezieht, geht aus der Stelle nicht hervor. Die ‚alte Arbeit‘ scheint hier vielmehr die Aneignung der Welt zu sein, die dem Mensch bisher als fremde gegenübertrete und die nach Marx eigentlich bereits die eigene sei. Siehe DeGolyer: The greek Accent, S. 118f. <?page no="197"?> 197 Die Vernunft der gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustände soll dadurch zu Tage treten, dass das Bewusstsein die vernünftigen Produkte seines Handelns anerkennt und als seine erkennt. Marx wird demnach das Feuerbachsche Kritikmodell auf die Wirklichkeit anwenden, eine Entfremdung in der Wirklichkeit finden. Das bisherige Handeln der Menschen soll ihnen als eigenes und als im Kern vernünftig kenntlich gemacht werden. Dadurch sollen die Menschen zum Subjekt ihrer selbst gemacht werden. An die Stelle der Idee tritt für Marx nun ‚der Mensch‘. Marx vollzieht damit die „anthropologische Wendung des Hegelschen Phänomenologie- Konzepts“ 773 von Feuerbach nach. Anders als in Hegels reifem Idealismus, der nicht die Menschheit im Blick hat, sondern in Bezug auf den Menschen die menschlichen Bestimmungen in all ihren Facetten auf ihren Begriff bringen will, stützen sich Feuerbach und Marx auf diesen abstrakten Gegenstand. So schreibt Marx an Ruge im Mai 1843 kurz nach der Lektüre der Feuerbachschen ‚Thesen‘, in den aktuellen Zuständen seien der „entmenschte Mensch“ 774 und eine „entmenschte Welt“ 775 zu beklagen. Marx will das dem Idealismus zugesprochene Ziel, „den Menschen zum Menschen machen zu wollen“ 776 , tatsächlich verwirklichen. Marx hat nach seiner Rezeption und Anwendung des Feuerbachschen Kritikmodells der Umkehr der Hegelschen Philosophie das Fundament entzogen. Gleichwohl teilt er immer noch die Ausgangsprämisse, die Kluft zwischen Subjekt und Objekt zu überbrücken, indem ein Subjekt sich seine Gegenstände selbst schaffe. Als Subjekt, das diese Versöhnung zu leisten habe, firmiert nun jedoch nicht mehr der Geist oder die Idee sondern der Mensch. Marx teilt demnach auch die anthropologische Wende von Feuerbach. Wie der Mensch Subjekt seiner selbst sein kann, so dass er nur mit selbstgeschaffenen Produkten Umgang hat, ist demnach der Gegenstand der weiteren theroetischen Arbeiten von Marx. Dieses Vorhaben will er über eine „rücksichtslose Kritik alles Bestehenden“ 777 verfolgen. In der Anwendung der Feuerbachschen Entfremdungskritik auf die soziale Wirklichkeit soll den sozialen progressiven Kräften klar gemacht werden, dass sie den Kampf der Vernunft kämpfen, der sie zum Subjekt machen wird. In dem Text ‚Zur Judenfrage‘ wird Marx erstmals diese Kritik auf den Staat übertragen. In der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie wird er das Proletariat als die Bewegung identifizieren, die die Philosophie verwirklichen und den Menschen zum Subjekt seiner Um- 773 So der treffende Titel eines Aufsatzes von Weckwerth, siehe Weckwerth, Christine: Feuerbachs anthropologische Wendung des Hegelschen Phänomenologie-Konzepts, In: Arndt, Andreas und Müller, Ernst (Hg.): Hegels ‚Pha ̈ nomenologie des Geistes‘ heute, Berlin: Akademie Verlag 2004, S. 217-244. 774 Karl Marx an Arnold Ruge, erste Hälfte Mai 1843, MEGA III,1, S. 50. 775 Karl Marx an Arnold Ruge, erste Hälfte Mai 1843, MEGA III,1, S. 49. 776 Karl Marx an Arnold Ruge, erste Hälfte Mai 1843, MEGA III,1, S. 51. 777 Karl Marx an Arnold Ruge, September 1843, MEGA III,1, S. 55. <?page no="198"?> 198 stände machen soll. In den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten (ÖPM) wird er die Entfremdungskritik von Feuerbach auf ökonomische Gegenstände übertragen und eine zugrunde liegende positive Vergegenständlichungsbewegung konstatieren, die Hegel mit einem falschen Inhalt, aber inhaltlich richtig formuliert habe. Bereits im Mai schreibt Marx, die politische Emanzipation auf Grundlage des Idealismus - also bis 1842 sein eigenes Projekt - sei „der verunglückte Versuch, den Philisterstaat auf seiner eigenen Basis aufzuheben“ 778 . Marx sieht die Unvereinbarkeit von Staat und Humanität als Lehre seines eigenen misslungenen Versuchs an, die Hegelsche Philosophie mit den Mitteln des Journalismus zu verwirklichen. Von nun an muss sich die Realisierung der Philosophie der Politik selbst zuwenden, Bereits Anfang 1843 sieht Marx es als notwendig an, die Grundlage der Inhumanität des politischen Systems auf sein Fundament zurückzuführen. „Das System des Erwerbs und des Handels, des Besitzes und der Ausbeutung der Menschen führt […] zu einem Bruch innerhalb der jetzigen Gesellschaft, den das alte System nicht zu heilen vermag, weil es überhaupt nicht heilt und schafft, sondern nur existirt und geniesst.“ 779 9.5. Entfremdung in der Praxis In dem Artikel ‚Judenfrage‘ wendet Marx die Feuerbachsche Entfremdungskritik erstmals im Ansatz auf einen praktischen Gegenstand an. Der Text, den Marx von Oktober bis Dezember 1843 verfasst und der in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern veröffentlicht wird, setzt sich kritisch mit zwei Schriften von Bruno Bauer aus dem Jahre 1843 auseinander, in denen dieser auf die Judenemanzipation Bezug genommen hatte. Bauer wollte die Kontroverse auf eine andere Ebene heben, indem er die Religion allgemein kritisierte und als Voraussetzung der Emanzipation den Abfall von jedwedem Glauben propagierte. 780 Marx kritisiert diese Schrift, indem er ihr vorwirft, die politische Emanzipation als Zielmarke zu setzen, indem der Glaube aufgegeben werde. Dabei habe die politische Emanzipation selbst erhebliche Mängel. Während Marx im Manuskript ‚Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie‘ der Hegelschen Philosophie vorgeworfen hat, Staat und bürgerliche Gesellschaft nicht ordentlich voneinander unterscheiden und eine Integration von letzterer in ersterer nicht leisten zu können, nimmt er dies nun nicht 778 Karl Marx an Arnold Ruge, erste Hälfte Mai 1843, MEGA III,1, S. 52. 779 Karl Marx an Arnold Ruge, erste Hälfte Mai 1843, MEGA III,1, S. 52. 780 Siehe Institute für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU und ZK der SED (Hg.): Apparat zu Zur Judenfrage, In: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Abteilung I, Bd. 2, Apparat, Berlin: Dietz 1982, S. 649f. <?page no="199"?> 199 mehr als Fehler der idealistischen Rechtsphilosophie, sondern als Defizit der bürgerlichen Institutionen selbst wahr. „Der Konflikt, in welchem sich der Mensch als Bekenner einer besondern Religion mit seinem Staatsbürgertum, mit den anderen Menschen als Gliedern des Gemeinwesens befindet, reduciert sich auf die weltliche Spannung zwischen dem politischen Staat und der bürgerlichen Gesellschaft. […] Der Widerspruch, in dem sich der religiöse Mensch mit dem politischen Menschen befindet, ist derselbe Widerspruch, in welchem sich der bourgeois mit dem citoyen, in welchem sich das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft mit seiner politischen Löwenhaut befindet.“ 781 Marx führt den von Bauer konstatierten Gegensatz einer bestimmten Religion - des Judentums - mit dem Staat darauf zurück, dass der moderne Staat überhaupt die Gattungseinheit der Menschen auf Kosten der Abstraktion von ihren materiellen Interessen sei. In der staatlichen Gemeinschaft sei der Mensch zwar als Gattung verwirklicht, seine materiellen wie geistigen Voraussetzungen kämen aber nicht mehr vor. Während der Mensch im Staat „seines wirklichen individuellen Lebens beraubt“ 782 sei, sei er in der bürgerlichen Gesellschaft, d.h. im privaten Leben mit seinen individuellen Ansichten und materiellen Interessen, „eine unwahre Erscheinung“ 783 . Marx benutzt die Hegelsche Ausdrucksweise, um zu kennzeichnen, dass der Mensch seinem Begriff nicht entspricht in Einheit mit seiner gesellschaftlichen Allgemeinheit zu sein. Vielmehr sei die bürgerliche Gesellschaft die Sphäre „worin er sich als Privatmensch thätig ist, die anderen Menschen als Mittel betrachtet“ 784 . Aufgrund dieser Trennung charakterisiert Marx die Staatsbürger als solche bereits als religiös, weil sich der Staat in der rein politische Emanzipation, der die bürgerliche Gesellschaft zu seiner Grundlage hat, selbst durch religiöse Entfremdungsbewegung auszeichnet: „Religiös sind die Glieder des politischen Staats durch den Dualismus zwischen dem individuellen und dem Gattungsleben, zwischen dem Leben der bürgerlichen Gesellschaft und dem politischen Leben, religiös, indem der Mensch sich zu dem seiner wirklichen Individualität jenseitigen Staatsleben als seinem wahren Leben verhält, religiös, insofern die Religion hier der Geist der bürgerlichen Gesellschaft, der Ausdruck der Trennung und der Entfernung des Menschen vom Menschen ist. Christlich ist die politische Demokratie, indem in ihr der Mensch, nicht nur ein Mensch, sondern jeder Mensch, als souveränes, als höchstes Wesen gilt, aber der Mensch in seiner unkultivirten, unsocialen Erscheinung, der Mensch in 781 Marx, Karl: Zur Judenfrage, In: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Abteilung I, Bd. 2, Berlin: Dietz 1982, S. 149. 782 Marx: Zur Judenfrage, MEGA I,2, S. 149. 783 Marx: Zur Judenfrage, MEGA I,2, S. 149. 784 Marx: Zur Judenfrage, MEGA I,2, S. 149. <?page no="200"?> 200 seiner zufälligen Existenz, der Mensch, wie er geht und steht, der Mensch, wie er durch die ganze Organisation unserer Gesellschaft verdorben, sich selbst verloren, veräußert, unter die Herrschaft unmenschlicher Verhältnisse und Elemente gegeben ist, mit einem Wort, der Mensch, der noch kein wirkliches Gattungswesen ist. Das Phantasiegebild, der Traum, das Postulat des Christentums, die Souveränität des Menschen, aber als eines fremden, von dem wirklichen Menschen unterschiedenen Wesens, ist in der Demokratie sinnliche Wirklichkeit, Gegenwart, weltliche Maxime.“ 785 In der ‚Judenfrage‘ überträgt Marx die von Feuerbach konstatierte religiöse Entfremdungsbewegung auf den politischen Staat. Der moderne Staat emanzipiere den Menschen nur so, dass er von einer gegensätzlichen bürgerlichen Gesellschaft absehe und ihn als abstraktes Wesen anerkenne. Der Mensch verhalte sich zu dieser politischen Instanz als seinem wahren Wesen, obgleich diese von seinen gesellschaftlichen Unterschiede und Eigenheiten abstrahiere. Wie der Gläubige bei Feuerbach, so vergegenständliche sich auch das moderne Individuum in einem Staat, in dem er selbst sich nicht mehr wiedererkennt. Der Mensch als Privatmensch tritt sich als Staatsbürger in einer ihm fremden Form gegenüber. Der falschen Vergegenständlichung stellt Marx eine richtige Vergegenständlichung gegenüber, die sehr inhaltsleer bleibt, jedoch mit ‚Demokratie‘ umschrieben wird. In Anlehnung an Feuerbach wäre sie die Verwirklichung der Wahrheit des religiösen Geistes. „Der religiöse Geist kann nur verwirklicht werden, insofern die Entwicklungsstufe des menschlichen Geistes, deren religiöser Ausdruck er ist, in ihrer weltlichen Form heraustritt und sich konstituirt. Dies geschieht im demokratischen Staat. Nicht das Christenthum, sondern der menschliche Grund des Christenthums ist der Grund dieses Staates.“ 786 Bei Feuerbach vergegenständlicht sich das menschliche Gattungswesen so, dass es eine Form von sich schaffe, die ihm nicht nur eigenständig gegenübertrete, sondern auch ihn beherrschend, ihm feindlich gesonnen und seine Natur als Gattungswesen zerstörend. In der ersten Anwendung dieses Konzepts auf den Staat hält sich Marx nicht exakt an diese Bestimmungen. So wird durch die Berechtigung all der gegensätzlichen Bestimmungen der bürgerlichen Gesellschaft wie bürgerliche Freiheit und Privateigentum die Einheit des Gattungswesens zwar tatsächlich zerstört, aber in der falschen Vergegenständlichung ist das Gattungswesen auch bereits auf unwahre Art und Weise verwirklicht, nämlich in Abstraktion der materiellen Interessen. Das ist ein wesentlicher Unterschied zu Feuerbach, in dessen entfremdetem Gattungswesen zwar seine Prädikate auftauchen, jedoch gerade als einem Individuum zugesprochene. 785 Marx: Zur Judenfrage, MEGA I,2, S. 154. 786 Marx: Zur Judenfrage, MEGA I,2, S. 154. <?page no="201"?> 201 Nach Marx kommt diese Entfremdung im politischen Sinne nur zustande aufgrund „der ganzen Organisation unserer Gesellschaft“ 787 . An dieser Stelle macht Marx darauf aufmerksam, dass es Defizite in der bürgerlichen Gesellschaft seien, die diese Entfremdung des Gattungswesens im politischen Staat bewirkten. Nur aufgrund einer Unwahrheit der menschlichen materiellen Verhältnisse verwirkliche sich das Gattungswesen auf Art der politischen Emanzipation, so dass es sich als Gattungswesen von sich abtrenne und im Staat als einem seinen materiellen Interessen fremd gegenüberstehende Form vergegenständliche. Marx gibt im zweiten Teil seiner Abhandlung - wiederum in Rückgriff auf Feuerbachs Entfremdungskonzept - erste Hinweise, wie diese falschen materiellen Interessen aussehen könnten. Marx, der sich Ende 1843 erstmals ökonomischen Theorien zuwendet, bestimmt als Grundlage der politischen eine ökonomische Entfremdung. In Analogie zur Feuerbachschen Entfremdungskonzeption sieht er das Geld als die falsche Vergegenständlichung des menschlichen Wesens an. „Die Veräußerung ist die Praxis der Entäußerung. Wie der Mensch, solange er religiös befangen ist, sein Wesen nur zu vergegenständlichen weiß, indem er es zu einem fremden phantastischen Wesen macht, so kann er sich unter der Herrschaft des egoistischen Bedürfnisses nur praktisch betätigen, nur praktisch Gegenstände erzeugen, indem er seine Produkte, wie seine Tätigkeit, unter die Herrschaft eines fremden Wesens stellt und ihnen die Bedeutung eines fremden Wesens - des Geldes - verleiht.“ 788 Die in seinem Brief an Ruge angekündigte Anwendung der Feuerbachschen Entfremdungskritik, um allen falschen Vergegenständlichungen ihren vernünftigen eigentlichen Inhalt entgegenzusetzen, wird hier auf die Ökonomie angewendet. Indem Marx diese falsche Vergegenständlichung als Fundament der politischen Entfremdung bestimmt, erhält sie eine zentrale Rolle. Dem Subjekt dieser falschen Vergegenständlichung hat Marx damit auch einen neuen Inhalt gegeben. Denn dem Geld als der falschen Vergegenständlichung ist nun nicht mehr ‚der Mensch‘ entgegengesetzt, sondern der sich in Arbeit vergegenständlichende: „Das Geld ist das dem Menschen entfremdete Wesen seiner Arbeit und seines Daseins, und dies fremde Wesen beherrscht ihn, und er betet es an.“ 789 Indem er die Arbeit und das materielle Dasein, die physische Reproduktion des Menschen als Grundlage der ökonomischen Entfremdung bestimmt, legt Marx die Grundlage für die Ausarbeitung einer positiven Vergegenständlichung durch Arbeit. In dem Text ‚Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie‘ erhebt er die Ausarbeitung der praktischen Entfremdung, die 787 Marx: Zur Judenfrage, MEGA I,2, S. 154. 788 Marx: Zur Judenfrage, MEGA I,2, S. 168. 789 Marx: Zur Judenfrage, MEGA I,2, S. 166. <?page no="202"?> 202 der religiösen zugrunde liege, zum Programm. In den ‚Ökonomisch- Philosophischen Manuskripten‘ (ÖPM) wird er den Versuch unternehmen, diese Theorie zu entwickeln. Von Oktober bis Dezember 1843 arbeitet Marx für die Publikation der Deutsch-Französischen Jahrbücher an dem Text ‚Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie‘. In diesem Text geht Marx von der Feuerbachschen Religionskritik aus und interpretiert sie als den Auftakt zu einer Suche nach der wahren Wirklichkeit des Menschen. „Der Mensch, der in der phantastischen Wirklichkeit des Himmels, wo er einen Uebermenschen suchte, nur den Wiederschein seiner selbst gefunden hat, wird nicht mehr geneigt sein, nur den Schein seiner selbst, nur den Unmenschen zu finden, wo er seine Wirklichkeit sucht und suchen muß.“ 790 Die mit Feuerbach vollendete Kritik der religiösen Entfremdung bedarf für Marx die Kritik der ihr zugrunde liegenden Entfremdung in der sozialen Wirklichkeit. Marx wiederholt das abstrakte Resultat der Feuerbachschen Religionskritik, um ihren Grund von Feuerbach abweichend zu bestimmen. „Das Fundament der irreligiösen Kritik ist: Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewußtsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat.“ 791 Feuerbach hat für die entfremdete Vergegenständlichung des menschlichen Gattungswesens in Gott einen ahistorischen Grund angegeben. Im ‚Wesen des Christentums‘ bestimmt Feuerbach den Widerspruch des beschränkten Individuums mit seiner eigenen schrankenlosen Natur als Grund für die Vergegenständlichung in Gott. Durch den Glauben werde dieser Widerspruch in der Phantasie dadurch aufgehoben, dass alle Prädikate der Gattung in einem Individuum verwirklicht würden, das dem Gläubigen helfe, seine Beschränktheit zu überwinden. Obgleich Marx die Charakterisierung der religiösen Entfremdung rückhaltlos teilt und die Religionskritik mit Feuerbach als „im Wesentlichen beendigt“ 792 ansieht, distanziert er sich von dem Grund der Entfremdung. Anders als Feuerbach sieht er ihren Grund nicht in der falschen Umdeutung eines ahistorischen Widerspruchs des Menschen als Individuum zu sich als Gattungswesen, sondern in einem defizitären praktischen Verhältnis des Menschen zu sich. Es geht um ein spezifisches historisches Missverhältnis des Menschen zu sich selbst: „Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Societät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes 790 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung, MEGA I,2, S. 170. 791 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung, MEGA I,2, S. 170. 792 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung, MEGA I,2, S. 170. <?page no="203"?> 203 Weltbewußtsein, weil sie eine verkehrte Welt sind. Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr encyklopädisches Compendium, ihre Logik in populärer Form, ihr spiritualistischer Point-d‘honneur, ihr Enthusiasmus, ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund. Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt.“ 793 Marx gibt zu bedenken, dass der Mensch, der sich verwirklichen will, bereits in einer bestimmten gesellschaftlichen Konstellation steht. Es ist damit nicht mehr der Mensch überhaupt, sondern der Mensch in einem bestimmten gesellschaftlichen Verhältnis, der zur Selbstentfremdung in der Religion führe. Die Selbstentfremdung in der Phantasie führt Marx somit auf eine Selbstentfremdung in der praktischen Wirklichkeit zurück. Weil das irdische Jammertal der Grund für die Entfremdung in der Religion sei, müsse die Religionskritik weiter gehen zur Kritik der sozialen Wirklichkeit. „Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammerthales, dessen Heiligenschein die Religion ist.“ 794 Marx kündigt an, die Feuerbachsche Religionskritik auf die soziale Wirklichkeit zu übertragen: „Es ist also die Aufgabe der Geschichte, nachdem das Jenseits der Wahrheit verschwunden ist, die Wahrheit des Diesseits zu etabliren. Es ist zunächst die Aufgabe der Philosophie, die im Dienste der Geschichte steht, nachdem die Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung entlarvt ist, die Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven. Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik.“ 795 Marx sieht es trotz aller positiven Leistungen der Feuerbachschen Religionskritik als ihr Defizit an, dass sie es zu keiner positiven menschlichen Vergegenständlichung im praktischen Diesseits gebracht habe. Die Vergegenständlichung des Gattungswesens, die Feuerbach mit seiner Kritik bezweckt, bleibt in der Tat inhaltlich leer. Marx will diesen Inhalt da- 793 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung, MEGA I,2, S. 170. Auch Feuerbach kennt im ‚Wesen des Christentums‘ weltliche Gründe für den religiösen Glauben an ein himmlisches Jenseits. Allerdings gibt Feuerbach diesen Grund ganz unbestimmt als das ‚menschliche Leben‘ an und sieht im Kern den Widerspruch zwischen individueller Endlichkeit und der Unendlichkeit des Menschen als Gattungswesen als Grund der Selbstentfremdung des Menschen in Gott an. So schreibt er über den Glauben an ein Leben nach dem Tode: „Das andre Leben ist nichts andres als das Leben im Einklang mit dem Gefühl, mit der Idee, welcher dieses Leben widerspricht. Das Jenseits hat keine andere Bedeutung, als diesen Zwiespalt aufzuheben, einen Zustand zu realisieren, der dem Gefühl entspricht, in dem der Mensch mit sich im Einklang ist.“ (Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 1841, S. 305) 794 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung, MEGA I,2, S. 171. 795 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung, MEGA I,2, S. 171. <?page no="204"?> 204 durch füllen, dass er die Entfremdungskritik auf die wesentlichen gesellschaftlichen Institutionen anwendet. Die beiden Positionen zu der Entfremdung in der Religion bei Marx und Feuerbach lassen sich durch die wesentlichen Bestimmungen der Religion in ihren unwahren, unvollendeten Gestalten in der ‚Phänomenologie‘ darstellen, im Glauben und unglücklichen Bewusstsein. Feuerbach interpretiert die Rolle der religiösen Entfremdung im Anschluss an Hegels Bestimmung des unglücklichen Bewusstseins als Form des Selbstbewusstseins, also als inneres Verhältnis des Bewusstseins zu sich. Marx dagegen bestimmt die Herkunft religiöser Entfremdung eher parallel zu Hegels Charakterisierung des Glaubens im Entfremdungsabschnitt des Geist- Kapitels. Hegel sieht den Glauben dort als die geistige Spiegelung einer realen Entfremdung, in der eine Welt des Reichtums und der Politik nicht mehr als die eigene anerkannt werde. „Die Welt dieses Geistes zerfällt in die gedoppelte: die erste ist die Welt der Wirklichkeit oder seiner Entfremdung selbst; die andere aber die, welche er, über die erste sich erhebend, im Äther des reinen Bewußtseins sich erbaut.“ 796 Dieser theoretischen Konsequenz der Feuerbachschen Religionskritik fügt Marx eine praktische Konsequenz hinzu. „Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem categorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ 797 . Wie der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sein kann, will Marx damit über den Weg der Kritik an den entfremdeten Zuständen herausfinden. Erst durch die Anwendung der Entfremdungskritik wird Marx das positive Wesen des Menschen eruieren, das das höchste des Menschen sein solle. Neben diesen programmatischen Erklärungen identifiziert Marx jene politische Kraft, die die Philosophie verwirklichen könne. Zwar stellt er immer noch fest, es sei der „Philosoph, in dessen Hirn die Revolution beginnt“ 798 , aber inzwischen hat sich die Vorstellung, dass eine außerphilosophische gesellschaftliche Kraft die Verwirklichung der Philosophie bewerkstelligen müsse, zu einer festen Einsicht entwickelt. Öffentlich erklärt Marx nun, „es genügt nicht, daß der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muß sich selbst zum Gedanken drängen.“ 799 In der ‚Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie‘ erklärt Marx, dass eine solche gesellschaftliche Bewegung nur in einer „Klasse mit radikalen Ketten“ 800 liegen kann, deren Unterdrückung „der völlige Verlust des Men- 796 Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 360. 797 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung, MEGA I,2, S. 177. 798 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung, MEGA I,2, S. 177. 799 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung, MEGA I,2, S. 178. 800 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung, MEGA I,2, S. 181. <?page no="205"?> 205 schen ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann.“ 801 Im Proletariat meint Marx damit eine Klasse vor sich zu haben, deren Entfremdung gleichbedeutend mit der menschlichen Entfremdung selbst ist. Marx hat es sich damit selbst zur Aufgabe gemacht, die Entfremdungstheorie von Feuerbach in der sozialen Wirklichkeit so zu bestimmen, dass sie menschliche Verhältnisse durch die Aufhebung der Entfremdung der Arbeiterklasse herstellt. Anhand diese Fragestellung, die mit dem direkten Kontakt mit Kommunisten und Sozialisten in Paris seit Oktober 1943 an genährt wird, setzt sich Marx mit der Nationalökonomie auseinander. Marx bezweckt demnach auch nach seiner Kritik an Hegel immer noch die Verwirklichung der Philosophie und meint, dass die Emanzipation der total entmenschlichten Klasse das Subjekt Mensch zu seiner wahren Bestimmung bringen werde. Durch die Rezeption der Feuerbachschen Hegelkritik löst Marx sich somit von Hegel. Anders als Feuerbach hält Marx allerdings an der Kernaussage des Idealismus fest, die Kluft zwischen Subjekt und Objekt durch ein übergreifendes Subjekt überbrücken zu wollen, das sich seine Gegenstände selbst setzt. Damit isoliert er die Kernaussage der ‚Phänomenologie‘ von deren Ausführung und verändert radikal sein Projekt der Verwirklichung der Philosophie. Sein Vorhaben besteht jetzt darin, die von Feuerbach entwickelte und in der sozialen Wirklichkeit neu verortete Entfremdung rückgängig zu machen und dadurch den Menschen als das wahre Subjekt zu verwirklichen. Das Proletariat ist für Marx die soziale Bewegung, deren Bestimmung es sei, diese Entfremdung aufzuheben. 802 In den ‚Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten‘ lässt sich zeigen, dass Marx allerdings die Verwirklichung der Philosophie nicht allein negativ bestimmt, sondern dass ihr implizit eine positive Vergegenständlichung zugrunde liegt. Es wird zu zeigen sein, dass diese Vergegenständlichung sich an dem Residuum des Hegelschen Idealismus orientiert, der Selbstsetzung des Subjekts in einem ihm Anderen. 801 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung, MEGA I,2, S. 182. 802 Dieser Auffassung folgt auch noch der späte Engels; dieser meint noch nach Marx‘ Tod, dass die Arbeiterbewegung der legitime Erbe der deutschen Philosophie sei. Siehe Engels: Ludwig Feuerbach, MEW, Bd. 21, S. 307. <?page no="206"?> 206 10. Die Entfremdungstheorie als Wertmaßstab in den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten In den ‚Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten‘ (ÖPM) wendet Marx gemäß seinem zuvor verkündeten Programm Feuerbachs Entfremdungstheorie auf die Nationalökonomie an. Um die dieser Kritik zugrunde liegende positive Vergegenständlichung zu bestimmen greift er auf den von ihm noch nicht vollständig aufgegebenen Hegelschen Subjektbegriff zurück. Marx selbst nennt Feuerbach und Hegel als wesentliche Stützen seiner Kritik der Nationalökonomie. 803 Der kritische Entfremdungsbegriff fußt in den ÖPM auf der Feuerbachschen Entfremdungskonzeption. Auf dieser negativen Grundlage wendet sich Marx wieder Hegel zu, um eine positive Vergegenständlichung als Grundlage der Kritik zu entwickeln. Den Begriff des Hegelschen Subjekts in der ‚Phänomenologie‘ liest er als Bestimmung des produktiven Menschen. Dass das abstrakte Prinzip der Hegelschen Entfremdung das Modell für Marx‘ positive Vergegenständlichung ist, lässt sich nicht nur implizit aus der Entfremdungskritik entnehmen, sondern auch der expliziten Hegelkritik der ÖPM. Es wird zu zeigen sein, dass einige der dunklen Stellen in der Entfremdungskritik sich durch spätere Bestimmungen aus der Kritik der politischen Ökonomie erhellen lassen. Das zeigt, dass die Entfremdungstheorie von Marx nicht bloß die theoretische Sackgasse eines daher unveröffentlicht gebliebenen Projekts gewesen ist sondern ein bleibendes Fundament der späteren Arbeit von Marx bleibt. Nach Löwith sind die ÖPM, „zusammen mit der ‚Deutschen Ideologie‘, das bedeutendste Ereignis in der Geschichte der nachhegelschen Philosophie“ 804 . In ihnen versucht Marx den Hegelschen Subjektbegriff materialistisch zu wenden und meint damit, dass die Trennung von Subjekt und Objekt in der Arbeit je schon aufgehoben wäre - wenn diese in nicht-entfremdeter Form stattfände. 10.1. Entfremdung: Negative Bestimmung nach Feuerbach Marx erläutert die zentralen Argumente seines Entfremdungskonzepts in einem zusammenhängenden Abschnitt der ÖPM. 805 Um das Entfremdungskonzept in seinen Grundzügen vorzustellen, muss einerseits der 803 Siehe Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 317. 804 Löwith: Von Hegel zu Nietzsche, S. 295. 805 Auf den Seiten Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 235-244. <?page no="207"?> 207 Gang der Argumentation dargelegt, zugleich sollen aber auch einige besonders schwierige und dunkle Stellen näher beleuchtet werden. Weil der Text zwar nur ein unvollständiges Manuskript darstellt, verdient er eine gründliche Lektüre. 806 Marx beginnt die ÖPM mit einer Kommentierung der politischen Ökonomie. Er hatte kurz zuvor das Hauptwerk des politischen Ökonomen Smith ‚Über den Reichtum der Nationen‘ exzerpiert. 807 Marx eröffnet Heft I der ÖPM damit, Smiths Analyse als wahr zu unterstellen und die in ihr enthaltenen Implikationen für die drei Einkommensarten Lohnarbeit, Kapital und Grundeigentum herauszuarbeiten. Dafür ordnet Marx die Bereiche in drei parallel laufende Spalten. Später fasst er die drei Resultate zusammen. Seine Analyse habe „aus der Nationalökonomie selbst, mit ihren eigenen Worten, […] gezeigt, daß das Elend des Arbeiters im umgekehrten Verhältnis zur Macht und zur Grösse seiner Production steht, daß das nothwendige Resultat der Conkurrenz die Accumulation des Capitals in wenigen Händen, also die fürchterlichere Wiederherstellung des Monopols ist, daß endlich der Unterschied von Capitalist und Grundrentner wie von Ackerbauer und Manufacturarbeiter verschwindet und die ganze Gesellschaft in die beiden Klassen der Eigenthümer und eigenthumslosen Arbeiter zerfallen muß.“ 808 Zuerst zeigt Marx demnach auf, wie immanent in der Analyse der politischen Ökonomie das Elend des Arbeiters enthalten ist. Der sich anschließende berühmte Abschnitt über die Entfremdung wird mit der Ankündigung eingeleitet, nun nicht mehr die Voraussetzungen der politischen Ökonomie mitzumachen, sondern diese selbst zu hinterfragen. Zentral sei dabei die Kategorie des Privateigentums. „Die Nationalökonomie geht vom Factum des Privateigenthums aus. Sie erklärt uns dasselbe nicht. Sie faßt den materiellen Prozeß des Privateigenthums, den es in der Wirklichkeit durchmacht, in allgemeine, abstrakte Formeln, die ihr dann als Gesetze gelten. Sie begreift diese Gesetze nicht, d.h., sie zeigt nicht nach, wie sie aus dem Wesen des Privateigenthums hervorgehn.“ 809 Marx will demnach der Frage nachgehen, was der Grund jener Phänomene ist, die die politischen Ökonomen als Selbstverständlichkeit voraus- 806 In der vom ZK der SED besorgte MEGA-Ausgabe der ÖPM wurde Marx fälschlicherweise im Apparat untergeschoben, er erarbeite sich im Abschnitt zur entfremdeten Arbeit die Einsicht der Politischen Ökonomie, dass Wert aus der Arbeit entstehe (Siehe Institute für Marxismus-Leninismus (Hg.): Apparat zu den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten, MEGA I,2, S. 694). Diese Aussage ist keinesfalls der Kern der Marxschen Überlegungen in den ÖPM. 807 Das Exzerptheft liegt editiert vor in Marx, Karl: Exzerpte aus Adam Smith: Recherches sur la nature et les causes de la richesse des nations" In: Marx-Engels- Gesamtausgabe, Abteilung IV, Bd. 2, Berlin: Dietz 1981, S. 332-386. 808 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 243. 809 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 234. <?page no="208"?> 208 setzen. Er will damit die bisher in getrennten Spalten erarbeiteten Erkenntnisse zusammenführen und erklären. Dabei wäre eine Erklärung für ihn dann gewonnen, wenn nachgewiesen würde, wie die Gesetze der politischen Ökonomie aus dem Wesen des Privateigentums resultieren. Dafür muss Marx selbstverständlich erst einmal dieses Wesen selbst identifizieren. „Wir haben also jetzt den wesentlichen Zusammenhang zwischen dem Privateigentum, der Habsucht, der Trennung von Arbeit, Kapital und Grundeigentum, von Austausch und Konkurrenz, von Wert und Entwertung der Menschen, von Monopol und Konkurrenz etc., von dieser ganzen Entfremdung mit dem Geldsystem zu begreifen.“ 810 Marx wiederholt seine bereits zuvor geäußerte Ankündigung, die Missstände der Ökonomie als Ausdruck einer Entfremdung nach Feuerbachschem Vorbild kritisieren. Es ist dabei zu beachten, dass Marx das Geldsystem im Blick hat. Es wird sich zeigen, dass die fragwürdigen Stellen der Marxschen Entfremdungstheorie dadurch an Klarheit gewinnen, dass man ihren ökonomischen Charakter nicht aus dem Auge verliert. Um dem Zusammenhang von Privateigentum, Arbeit und Geld auf den Grund zu kommen, geht Marx auf ein Phänomen ein, dass man in der Gesellschaft, die die Nationalökonomen analysieren, beobachten könne: Mit steigender Produktivität wird der Arbeiter nicht reicher, sondern ärmer. Je mehr Waren der Arbeiter schafft, desto mehr verringert sich der Wert seiner Ware. Und schließlich würde auch noch die Arbeit sich selbst und den Arbeiter zur Ware machen, und zwar in dem Verhältnis, in dem sie Waren produziere. Dieses Phänomen sei durch den Begriff der Entfremdung treffend charakterisiert: „Der Gegenstand, den die Arbeit producirt, ihr Product, tritt ihr als ein fremdes Wesen, als eine, von d[em] Producenten unabhängige Macht gegenüber. Das Product der Arbeit ist die Arbeit, die sich in einem Gegenstand fixiert, sachlich gemacht hat, es ist die Vergegenständlichung der Arbeit. Die Verwirklichung der Arbeit ist ihre Vergegenständlichung. Diese Verwirklichung der Arbeit erscheint in dem nationalökonomischen Zustand als Entwirklichung des Arbeiters, die Vergegenständlichung als Verlust des Gegenstandes und Knechtschaft unter dem Gegenstand, die Aneignung als Entfremdung, als Entäusserung.“ 811 Der Kern der ökonomischen Aktivität ist nach Marx die Vergegenständlichung von Arbeit. Sie schaffe sich ein Gegenüber, indem sie verausgabt und in einem nützlichen Gegenstand objektiv werde. Im Produkt werde die Arbeit sachlich. Marx scheint auf diese Vergegenständlichungsbewegung in der Arbeit allerdings nicht durch eine nähere Analyse dessen, was 810 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 235. 811 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 236 <?page no="209"?> 209 Arbeit ist, zu stoßen. Vielmehr kommt Marx überhaupt nur auf diese Vergegenständlichung von Arbeit, weil er die kapitalistische Ökonomie als Entfremdungsbewegung im Feuerbachschen Sinne interpretiert. 812 Die Entfremdungsbewegung, die er beschreibt, ähnelt bereits auf den ersten Blick grob der der Feuerbachschen Religionskritik: Die Arbeit habe die Notwendigkeit, sich zu vergegenständlichen, tue dies jedoch im Kapitalismus in einem Produkt, das dem Produzenten als eigenständig gegenübertritt und den Arbeiter unterwirft. Die in jeder Arbeit präsente normale Vergegenständlichung wird von Marx demnach unterstellt, um ihre Perversion zu kritisieren. Marx schließt demnach auf die Arbeit als positive Bewegung der Verwirklichung, Vergegenständlichung und Aneignung, indem er ihre kapitalistische Form als negative Bewegung der Entwirklichung, der Vergegenständlichung und der Entäußerung kritisiert. Anhand der oben zitierten Stelle wird auch deutlich, dass Marx mit der Entfremdungstheorie nicht die Arbeit generell im Blick gehabt hat, sondern eine pervertierte Art von Vergegenständlichung. Eine Interpretation, dass Marx meine, Entfremdung sei eine der Arbeit generell eigentümliche Kategorie, gibt der Text nicht her. Genau so sieht es beispielsweise auch Nicolaus. 813 Die kapitalistische Ökonomie, die Marx 1844 zu analysieren beginnt, ist ihm bereits durch den von ihm in seinen Deutsch-Französischen Jahrbüchern publizierten Artikel ‚Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie‘ bekannt, den der ihm damals vage bekannten Autor Engels geschrieben hatte. Marx führt die kapitalistische Ökonomie auf eine ökonomische Entfremdungsbewegung zurück, die explizit auf die Feuerbachsche religiöse Entfremdung rekurriert: „In der Bestimmung, daß der Arbeiter zum Produkt seiner Arbeit als einem fremden Gegenstand sich verhält, liegen alle diese Konsequenzen. Denn es ist nach dieser Voraussetzung klar: Je mehr der Arbeiter sich ausarbeitet, um so mächtiger wird die fremde, gegenständliche Welt, die er sich gegenüber schafft, um so ärmer wird er selbst, seine innre Welt, um so weniger gehört ihm zu eigen. Es ist ebenso in der Religion. Je mehr der Mensch in Gott setzt, je weniger behält er in sich selbst. Der Arbeiter legt sein Leben in den Gegenstand; aber nun gehört es nicht mehr ihm, sondern dem Gegen- 812 Im Folgenden wird der Zustand der Nationalökonomie als Kapitalismus bezeichnet. Auch wenn Marx dieses Wort zu dem Zeitpunkt nicht benutzt hat, trifft es doch die Sache, die er analysiert. 813 Siehe Nicolaus: Hegels Theorie der Entfremdung, S. 297f. So hat der frühe Marcuse argumentiert, dass die Vergegenständlichung bereits die Tendenz zur Entäußerung in sich trägt. Siehe Marcuse, Herbert: Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus, In: Marcuse, Herbert (Hg.): Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1969, S. 42. <?page no="210"?> 210 stand. Je größer also diese Tätigkeit, um so gegenstandsloser ist der Arbeiter.“ 814 Weil der Arbeiter in der kapitalistischen produktiven Tätigkeit eine Entfremdungsbewegung vollführe, könne er über sein eigenes Produkt nicht verfügen. Der Arbeiter vergegenständliche immer mehr von sich im Produkt, das ihm als Fremdes gegenübertrete und damit gehöre ihm immer weniger. Weil das Produkt die entfremdete Vergegenständlichung der Arbeit sei, werde der Arbeiter ärmer, je mehr von von der Arbeit stattfinde. Diese Entfremdung, die Marx synonym mit dem Wort ‚Entäußerung‘ benutzt, charakterisiert Marx zunächst mit den ersten drei Bestimmungen, mit denen auch Feuerbach das in Gott vergegenständlichte Gattungswesen charakterisiert. Bei Feuerbach hat es die Bestimmung, selbständig von seinem Erzeuger zu existieren, Macht über ihn zu besitzen, seiner Natur feindlich gegenüber zu treten und die Form des Menschen als Gattungswesen zu zerstören. „Die Entäusserung des Arbeiters in seinem Produkt hat die Bedeutung, nicht nur, daß seine Arbeit zu einem Gegenstand, zu einer äussern Existenz wird, sondern daß sie ausser ihm, unabhängig, fremd von ihm existirt und eine selbstständige Macht ihm gegenüber wird, daß das Leben, was er dem Gegenstand verliehn hat, ihm feindlich und fremd gegenübertritt.“ 815 Marx konstatiert damit im Produkt der Arbeit eine entfremdete Vergegenständlichung, die ebenfalls Selbständigkeit gegenüber seinem Schöpfer hat, die Macht über ihn ausübt und ihm feindlich gesinnt ist. 816 Jaeggi meint, es bleibe in den ÖPM unklar, was in der Vergegenständlichung eigentlich einen Gegenstand erhalte. 817 Dieses Urteil hat insofern seine Berechtigung, als Marx die Arbeit als Vergegenständlichungsbewegung von ihrer negativen Fassung aus in den Blick nimmt. Erst von der Anwendung der Feuerbachschen Entfremdung auf die Ökonomie erhält Marx ein vages Konzept, das er mit Hilfe der von Hegelschen rezipierten Vorstellung der Vergegenständlichung des Subjekts positiv zu bestimmen sucht. Um auf die positive Bestimmung des Wesens zu kommen, das der Mensch in der Arbeit vergegenständlicht, muss also zunächst die negative, entfremdete Form der Vergegenständlichung analysiert werden. Der Inhalt der Entfremdungstheorie in den ÖPM ist umstritten. In der Tat liegt sie in einer groben Fassung vor, die selbst nicht ohne weiteres verständlich ist. Der kritisierte Tatbestand der Entfremdung wirft zunächst 814 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 236. 815 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 236. 816 An verschiedenen Stellen des Manuskripts setzt Marx Entfremdung mit einer dieser drei Bestimmungen identisch. Inhaltlich zieht sich aber die Linie durch den Text, dass alle drei Charakteristika zur Entfremdung dazu gehören. 817 Siehe Jaeggi, Rahel: Entfremdung - Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems, Frankfurt am Main: Campus-Verlag 2005, S. 32f. <?page no="211"?> 211 einmal viele Fragen auf. Inwiefern gewinnt das Produkt Selbständigkeit? Wie gewinnt es Macht über seinen Produzenten und wie äußert sich das? Und inwiefern und warum steht es dem Arbeiter feindlich gegenüber? Für die Beantwortung dieser Fragen muss man die genaueren Bestimmungen der Entfremdung analysieren. Marx kennt vier Ebenen von Entfremdung, die er allesamt auf die Entfremdung im Arbeitsakt zurückführt: Entfremdung vom Produktes 818 , Entfremdung von der Arbeit 819 , Entfremdung vom Menschen als Gattungswesen 820 und Entfremdung vom Mitmenschen 821 . Über diese vier Aspekte derselben Entfremdung soll im Folgenden das Marxsche Entfremdungskonzept rekonstruiert, die implizite positive Vergegenständlichung herausgearbeitet und das damit entwickelte Marxsche Menschenbild abgeleitet werden. In der Entfremdung vom Produkt wendet Marx negativ das Feuerbachsche Entfremdungsmodell an. Und in der Entfremdung vom Gattungswesen greift Marx auf die Hegelsche Bewegung der Vergegenständlichung zurück, um das positive Verhältnis zu bestimmen. Im Folgenden werden diese beiden Aspekte der Entfremdung näher untersucht. 10.2. Entfremdung vom Produkt Nach den bisher besprochenen einleitenden und skizzenhaften Bestimmungen nimmt sich Marx die erste wesentliche Erscheinungsform der Entfremdung vor, mit der er auch in das ganze Thema eingestiegen ist, nämlich die Entfremdung vom Produkt: „Betrachten wir nun näher die Vergegenständlichung, die Production des Arbeiters und in ihr die Entfremdung, den Verlust des Gegenstandes.“ 822 Auch hier wird klar, dass Entfremdung eine besondere Form von Vergegenständlichung darstellt und Marx diese beiden Phänomene nicht identisch setzt. Obgleich Marx in den unmittelbar vorausgehenden Passagen die entfremdete von der eigentlichen Arbeit unterschieden hat, genau so wie das entfremdete von dem nicht-entfremdeten Produkt, leitet Marx die Erläuterung zur Entfremdung des Produkts ein mit einem allgemeinen Verhältnis zwischen Natur und Arbeit: „Der Arbeiter kann nichts schaffen, ohne die Natur, ohne die sinnliche Aussenwelt. Sie ist der Stoff, an welchem sich seine Arbeit verwirklicht, in welchem sie thätig ist, aus welchem und mittelst welchem sie producirt.“ 823 Es scheint, als würde Marx an dieser Stelle über das stets 818 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 236-238. 819 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 238f. 820 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 239-242. 821 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 242. 822 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 236. 823 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 236f. <?page no="212"?> 212 bestehende Verhältnis von Arbeit und Natur sprechen, gleich welche Form das Arbeitsprodukt annimmt: Das arbeitende Subjekt bedarf eines Gegenstandes, um zu arbeiten, die Arbeit muss sich auf etwas beziehen. Dieser Gegenstand ist der Arbeit letztlich vorausgesetzt und als solcher Natur. Diese Notwendigkeit besteht stets. Zugleich ist nach Marx die Natur aber auch die Materie für die physische Existenz des Arbeiters. Der folgende Abschnitt ist allerdings unverständlich, wenn Marx immer noch über die produktive Tätigkeit überhaupt spräche: „Je mehr also der Arbeiter sich die Aussenwelt, die sinnliche Natur durch seine Arbeit sich aneignet, um so mehr entzieht er sich Lebensmittel nach der doppelten Seite hin, erstens daß immer mehr die sinnliche Außenwelt aufhört, ein seiner Arbeit angehöriger Gegenstand, ein Lebensmittel seiner Arbeit zu sein; zweiten, daß sie immer mehr aufhört Lebensmittel im unmittelbaren Sinn, Mittel für die physische Subsistenz des Arbeiters zu sein.“ 824 Wenn man diesen Abschnitt als Bestimmung eines allgemeinen Verhältnisses von Arbeit und Natur liest, so ist der zweite Teil dieses Absatzes unsinnig. Marx‘ Rede von der Natur als materielles Mittel zur Erhaltung des Arbeiters hat man noch als ungenauen Ausdruck für die Aussage interpretieren können, dass die der Arbeit vorausgesetzte Materie auch die Voraussetzung für die physische Fortexistenz des Arbeiter sei. Aber in diesem Textabschnitt behandelt Marx die Natur nicht mehr nur als Voraussetzung, sondern als tatsächliches Lebensmittel, das mit der Arbeit weniger wird. Das würde das tatsächliche Verhältnis auf den Kopf stellen. Zunächst einmal ist die Natur für sich noch kein Lebensmittel, sondern muss erst zu einem solchen gemacht werden, und zwar durch die Arbeit. Und zweites wird das Lebensmittel, das man aus der Natur gewinnt, mit Arbeit nicht weniger, sondern mehr. Auch wenn man die Passage so interpretiert, dass Marx hier auf die Natur als notwendige, materielle Voraussetzung für Lebensmittel Bezug nimmt, ergibt diese Passage keinen Sinn. Denn das würde bedeuten, dass Marx die Natur als einen Haufen Materie ansieht, der durch Arbeit immer geringer wird. Das setzt allerdings ein Verständnis von Ressourcenknappheit voraus, das die Ökonomen des 19. Jahrhunderts im Allgemeinen nicht teilen. Zudem wäre dies auch kein Widerspruch der Arbeit, sondern von Konsumption überhaupt: Je mehr man konsumiert, desto weniger hat man für die spätere Konsumption. Die Schwierigkeiten, die sich ergeben, wenn man die Passage weiter als Charakterisierung von Arbeit überhaupt liest, also auch im nicht-entfremdeten Zustand, werden im folgenden Abschnitt noch offensichtlicher. „Nach dieser doppelten Seite hin wird der Arbeiter also ein Knecht seines Gegenstandes, erstens daß er einen Gegenstand der Arbeit, d.h. daß er Arbeit 824 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 237. <?page no="213"?> 213 erhält und zweitens daß er Subsistenzmittel erhält. Erstens also daß er als Arbeiter und zweitens, daß er als physisches Subjekt existiren kann. Die Spitze dieser Knechtschaft ist, daß er nur mehr als Arbeiter sich als physisches Subjekt erhalten [kann] und nur mehr als physisches Subjekt Arbeiter ist.“ 825 Liest man auch diese Passage weiterhin als eine Aussage über Arbeit allgemein, so steht sie im Gegensatz zu den zuvor zitierten Abschnitten, in denen Marx ausdrücklich Entfremdung als ein Charakteristikum der kapitalistischen Arbeit kennzeichnet. Vor allem ergäbe jedoch diese Passage auch immanent keinen Sinn. Warum sollte der Arbeiter Knecht seines Gegenstandes werden, allein indem er ihn herstellt? In dieser Lesart wäre dies die Folge dessen, dass der Arbeiter den Gegenstand der Arbeit und die Subsistenzmittel erhält, dass ihm also beides zur Verfügung steht. Jedoch bliebe damit unklar, warum allein die Tatsache, dass der Arbeiter diese Voraussetzungen seiner eigenen Existenz und der weiteren Arbeit erhält, zur Knechtschaft führen sollte. Umgekehrt stellt sich die Frage, wie dieses Erhalten von Arbeitsgegenstand und Subsistenzmitteln beschaffen sein muss, damit es unter das Prädikat ‚Knechtschaft‘ subsumiert werden kann. Schließlich wird unter der Prämisse, hier gehe es Marx um das allgemeine, immer richtige Verhältnis vom Arbeiter zu seinem Gegenstand, die Behauptung unlösbar, der Arbeiter erhalte einen Arbeitsgegenstand, indem er arbeitet. Diese Aussage ist unplausibel, denn wenn man von vollständigen Arbeitsprozessen ausgeht, dann ist das Resultat der Arbeit das Produkt und die Notwendigkeit, sich einen neuen Arbeitsgegenstand anzuschaffen. Das war schließlich auch Marx‘ Argument im vorhergehenden Absatz. Der gesamte Abschnitt ergibt überhaupt nur Sinn, wenn Marx hier stillschweigend zu der Besprechung entfremdeter Verhältnissen übergegangen ist, ohne dies explizit zu kennzeichnen. Er setzt an dieser Stelle entfremdete Arbeitsverhältnisse voraus und beschreibt dann, wie unter diesen Umständen das Verhältnis der Arbeit und des Arbeiters zu ihren Voraussetzungen aussieht. Wenn Marx demnach behauptet, „je mehr also der Arbeiter sich die Aussenwelt […] aneignet, um so mehr entzieht er sich Lebensmittel“ 826 für sich und seine Arbeit, dann zeigt das ‚also‘ nicht einfach einen Schluss aus dem vorhergehenden Satz an, in dem Marx die allgemeine und überhistorische Bestimmung des Verhältnisses von Arbeit und seinen materiellen Voraussetzungen darlegt, sondern bezeichnet den theoretischen Übergang der allgemeinen Bestimmung von Arbeit zu ihrer entfremdeten Form. Mit dieser Interpretation ist diese Stelle zwar noch längst nicht geklärt; jedoch hat die so interpretierte Behauptung den Vorteil, nicht in sich widersprüchlich zu sein. Anstatt aus dieser Passage die Behauptung heraus 825 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 237. 826 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 237. <?page no="214"?> 214 zu lesen, der Arbeiter mache sich stets zum Knecht seines Produkts, weil er mit der Arbeit die Subsistenz- und Arbeitsmittel erhält, lautet die Behauptung in meiner Lesart: Wenn Arbeit im Zustand der Entfremdung geleistet wird, dann sieht das Produkt so aus, dass der Arbeiter einen Gegenstand seiner Arbeit und ein Mittel seiner Subsistenz erhält. Die Arbeit im entfremdeten Zustand macht den Arbeiter damit abhängig von seinem Produkt, anstatt dass dieses ihm und seinen Bestimmungen untergeordnet wäre. Dadurch ist die Aussage von Marx, dass es die Spitze der Knechtschaft darstelle, dass eine bestimmte Form von Arbeitsprodukt den Arbeiter zu zweierlei zwingt, zumindest keine fragwürdigen These mehr. Stattdessen impliziert sie zwei noch auszuführende Behauptungen: Erstens zwinge das Arbeitsprodukt den Arbeiter, sich nur in seiner Eigenschaft als physisches Subjekt erhalten zu können, indem er seiner Bestimmung als Arbeiter (und zwar derjenigen im Zustand der Entfremdung) nachkommt. Zweitens unterwerfe es ihn der Bestimmung, nur als physisches Subjekt Arbeiter sein zu können. Mit dieser Interpretation stellen sich folgende Fragen: Wie gelingt es dem Arbeitsprodukt, Lebensmittel für die Arbeit und den Arbeiter bereitzustellen und damit beide unter seine Bestimmungen zu unterwerfen? Wie muss das Arbeitsprodukt beschaffen sein, damit es diese Selbständigkeit und Macht erhält? Warum erhält der Arbeiter mit diesem Arbeitsprodukt den Gegenstand der Arbeit? Wie zwingt ausgerechnet das Arbeitsprodukt den Arbeiter dazu, nur insofern als physisches Subjekt existieren zu können, als er seine Bestimmung als (entfremdeter) Arbeiter erfüllt? Damit kann nicht der einfache Sachverhalt gemeint sein, dass ohne Arbeit die Lebensmittel ausbleiben, die zur Reproduktion der physischen Existenz eines Subjekts notwendig sind. Denn hier geht es nicht mehr um die Abhängigkeit von der Arbeit oder ihren Voraussetzungen sondern im Kontrast dazu um Abhängigkeit vom Produkt der Arbeit. Ausgerechnet das Produkt, die Vergegenständlichung der Arbeit dient nicht dem physischen Subjekt, sondern unterwirft es sich. Das Subjekt kann nur existieren, wenn es als Arbeiter auftritt. Was genau ist damit gemeint und wie ist das Arbeitsprodukt dazu in der Lage? Wie ist drittens dieses eigentümliche Produkt beschaffen, dass es fähig ist, den Arbeiter auf seine Eigenschaften als physisches Subjekt zu reduzieren? 827 Wie sieht diese Reduktion genau aus und wie kann ausgerechnet das eigene Produkt des Arbeiters ihn unter diese Bestimmung subsumieren? Ich meine, dass Marx in seinen Ausführungen ein ganz bestimmtes Produkt unterstellt und dass sich diese Fragen nur lösen lassen, wenn man 827 An dieser Stelle wird übrigens auch deutlich, dass zumindest der junge Marx entgegen mancher Vorurteile den Geist ganz und gar nicht gering schätzt. Im Gegenteil, gerade die Reduktion des Arbeiters auf seine Existenz als physisches Subjekt ist es, die Marx als Spitze der Knechtschaft kritisiert. <?page no="215"?> 215 die Entfremdung des Produkts genau auf dieses bestimmte Produkt bezieht. Kurz vor dem Abschnitt zur Entfremdung des Produkts gibt Marx einen Hinweis, wie er sich das Produkt, das sich vom Arbeiter entfernt und diesen unterwirft, vorstellt: Der Arbeiter gerate „unter die Herrschaft seines Products, des Capitals“ 828 . Aus dieser Bemerkung sind mehrere Erkenntnisse zu gewinnen. Ganz grundsätzlich lässt sich festhalten, dass Marx nicht denkt, dass jederlei Arbeit die drei bisher erarbeiteten Charakteristika der Entfremdung aufweist. Stattdessen ist Entfremdung bei ihm mit der Produktion von Kapital verknüpft. Wenn das Produkt die Form von Kapital aufweist, gerät der Arbeiter unter dessen Herrschaft. Somit wird für Marx Entfremdung erst durch die spezifische Form des Arbeitsprodukts bedingt. Demgemäß ist es die Tatsache, dass das Produkt als Kapital vorliegt und nicht als einfacher Gebrauchsgegenstand, die es zum Feind des Arbeiters macht - und, so kann man schließen, es auch aus der Macht und Verfügungsgewalt des Produzenten entfernt. Marx hat es sich explizit zur Aufgabe gemacht, den am Anfang seines Manuskripts konstatierten Gegensatz von Kapital und Arbeit als Entfremdung aufzufassen. 829 Im ökonomischeren Teil des Manuskripts findet sich daher auch die Erklärung, dass durch die Bereicherung in Form von Kapital „dem Arbeiter immer mehr von seinen Produkten aus der Hand genommen wird, daß seine eigne Arbeit immer mehr als fremdes Eigenthum gegenübertritt und die Mittel seiner Existenz und seiner Thätigkeit immer mehr in der Hand d[es] Capitalisten sich concentrieren.“ 830 Marx denkt bei der Entfremdung des Produkts somit bereits an den Gegensatz von Lohnarbeit und Kapital. Wenn aber die Entfremdung des Produkts genau dann stattfindet, wenn die Arbeit als Lohnarbeit stattfindet und das Produkt in der Form von Kapital vorliegt, dann sind auch alle drei bisher offen gebliebenen Bestimmungen beantwortbar: Wieso kann das Kapital als Produkt von Arbeit erstens die notwendigen Bedingungen der Arbeit, nämlich Subsistenzmittel für den Arbeiter und einen Gegenstand der Arbeit, wieder herstellen? Wie bringt es das Arbeitsprodukt Kapital zweitens fertig, das physische Subjekt unter seine Funktion als Arbeiter zu subsumieren? Und wie reduziert Kapital drittens die Arbeit auf die physische Existenz des Arbeiters? Ein Blick in die späteren ökonomischen Arbeiten von Marx lässt vermuten, woran Marx hier gedacht haben mag. In Band 1 des ‚Kapital‘ beschreibt Marx, wie der Kapitalist mittels Kapital alle Faktoren der Produktion kommandiert. Der Lohnarbeiter ist gezwungen, für den Erhalt der 828 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 236. 829 Siehe Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 235. 830 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 197. <?page no="216"?> 216 Reproduktionsmittel seiner Arbeitskraft das Kapital des Eigentümers an Produktionsmitteln zu mehren. Dabei schafft der Arbeiter für sich allein die Mittel seiner Subsistenz, während er für den Eigentümer das Kapital vermehrt. Da das Kapital in einem fertig eingerichteten Kapitalismus ausreicht, um über alle Faktoren der Arbeit zu verfügen, schafft der Lohnarbeiter damit auch den Gegenstand der Arbeit neu. Es ist Sache des Kapitalisten, diese Kapitalsumme auf dem Markt wieder in die sachlichen Mittel der Produktion einzutauschen. 831 Marx kann also erstens behaupten, dass im Kapitalverhältnis der Lohnarbeiter nicht nur seine Subsistenzmittel erhält, sondern auch den Arbeitsgegenstand schafft, weil alle Bestandteile des Produktionsprozesses Kapital in einer anderen Form sind. 832 Im ‚Kapital‘ stellt Marx außerdem dar, wie im Kapitalismus eine ganze Klasse in ihrer ganzen physischen Existenz von jenem Produkt bestimmt ist, das sie selbst schafft. Zwar ist das Kapital das Werk des Lohnarbeiters; nachdem er es produziert hat, gehört es nicht mehr ihm. Ob es dafür eingesetzt wird, ihn weiterhin zu beschäftigen, obliegt den Gesetzen seiner Vermehrung und der aktuellen Marktsituation: „Der Arbeiter selbst producirt daher beständig den objektiven Reichthum als Kapital, ihm fremde, ihn beherrschende und ausbeutende Macht“ 833 . In Kapitel 23 beschreibt Marx auf eindrückliche Weise, wie die Marktgesetze des Kapitalismus die Arbeiter abwechselnd attrahieren und abstoßen. 834 Als Lohnarbeiter ist der Produzent somit zweitens in seiner physischen Existenz abhängig von seinem eigenen Produkt. Auch dass die Arbeit in ihrer reichen Vielfalt an Fähigkeiten und Leistungen im Produkt Kapital auf die physische Existenz des Arbeiters reduziert wird, wird im ‚Kapital‘ angesprochen. In Kapitel 4 beschreibt Marx, wie der allgemeine Arbeitsprozess dadurch, dass er zum Verwertungsprozess wird, formell neue Bestimmungen erhält. Die allgemeinste dieser Bestimmungen ist, dass der sachliche und konkrete Aspekt der Arbeit ganz dem Zweck untergeordnet wird, mehr Wert zu schaffen, als die Bestandteile des Arbeitsprozesses gekostet haben. Damit wird jedoch der Arbeiter ganz darauf reduziert, dass er mehr Wert, also mehr gesellschaftlich durchschnittliche Arbeitszeit, in das Produkt gießt, als zu seiner Subsistenz nötig ist. Diese Reduktion seiner kreativen Produktivität auf ein bloßes ‚Mehr‘ an Mühsal ist drittens damit bereits in den ÖPM angedeutet. Marx arbeitet in den ÖPM diese Erklärungen der später entwickelten Kritik der politischen Ökonomie noch nicht aus. Allerdings sind diese Parallelen zu seiner späteren Kritik der politischen Ökonomie Belege dafür, dass er an dieser Stelle den Kern seiner späteren Bestimmungen mit 831 Siehe Marx: Das Kapital, Bd. 1, Kapitel 22.1, 1890, MEGA II,10, S. 518-526. 832 Siehe Marx: Das Kapital, Bd. 1, Kapitel 6, 1890, MEGA II,10, S. 180-191. 833 Marx: Das Kapital, Bd. 1, 1890, MEGA II,10, S. 511. 834 Siehe Marx: Das Kapital, Bd. 1, 1890, MEGA II,10, S. 564-568. <?page no="217"?> 217 Hilfe seines an Feuerbach und Hegel angelehnten Entfremdungsbegriffs entwickelt. Er redet somit von Arbeit als Lohnarbeit und dem Produkt als Kapital. Marx wendet mithin wie zuvor angekündigt die Feuerbachsche Entfremdung auf die soziale Wirklichkeit an. Die genauere Analyse hat gezeigt, dass er dabei bereits in den ÖPM das Kapital als Produkt der Lohnarbeit im Sinn hat. Marx beschreibt das Geld als der Existenzform des Kapitals daher auch an anderer Stelle 1844 als „wirklichen Gott“ 835 , der Mensch schaffe sich eine falschen Vergegenständlichung seiner selbst, in der er sich nicht wiedererkenne, die aber im Gegensatz zum eingebildeten Gott eine materielle Existenz aufweise. Damit stellt sich aber wie schon für Feuerbach auch für Marx die Frage, welches positive Verhältnis dieser Entfremdungsbewegung zugrunde liegt. Denn wenn der Mensch sich wie bei Feuerbach zu seinem Wesen als einem anderen, ihm fremden Wesen verhält, dann muss dies die verkehrte Form eines eigentlich notwendigen Verhältnisses des Menschen zu seinem wahren Wesen sein. Mehr noch als Feuerbach greift Marx für die Bestimmung dieses positiven Verhältnisses auf Hegel zurück, um der falschen, pervertierten Vergegenständlichung ein positives Fundament geben zu können. Das zeigt sich implizit im Marxschen Begriff des entfremdeten Gattungswesens. 10.3. Entfremdung vom Gattungswesen: Positive Bestimmung nach Hegel Nach Marx ist die Tatsache, dass dem Arbeiter sein Produkt fremd gegenübertritt, Resultat einer Entfremdung auf einer anderen Ebene. Denn für das entfremdete Arbeitsprodukt gelte dasselbe wie für jedes andere: „Das Product ist ja nur das Resumé der Thätigkeit, d[er] Production.“ 836 Wenn dem Arbeiter das eigene Produkt fremd gegenübertritt, dann ist es für Marx zwingend notwendig, dass die zu seiner Herstellung nötige Arbeit selbst einen entfremdeten Charakter gehabt haben muss. „In der Entfremdung des Gegenstands der Arbeit resumirt sich nur die Entfremdung, die Entäusserung in der Thätigkeit der Arbeit selbst.“ 837 Der Entfremdung des Arbeitsprodukts liegt also die Entfremdung der Arbeit selbst zugrunde. Die entfremdete Arbeit ist nach Marx dem Arbeiter äußerlich, sie gehöre „nicht zu seinem Wesen“ 838 . Was diese Äußerlichkeit bedeutet, bleibt 835 Marx, Karl: Exzerpte aus James Mill: Élemens d‘économie politique, In: Marx-Engels- Gesamtausgabe, Abteilung IV, Bd. 2, Berlin: Dietz 1981, S. 448. 836 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 238. 837 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 238. 838 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 238. <?page no="218"?> 218 innerhalb dieses Abschnitts unklar, lässt sich aber mit der Entfremdung des Gattungswesens klären, da in diesem Aspekt der Entfremdung Marx positiv bestimmt, was das Gattungswesen ist und warum die Arbeit dessen Ausdruck ist. In der entfremdeten Arbeit hingegen geht Marx wiederum negativ von Feuerbachs Kritikmodell aus und überträgt es phänomenologisch auf die Arbeit im Zustand der Nationalökonomie, ohne jedoch den Unterschied von entfremdeter und nicht-entfremdeter Arbeit genau auszuführen. Der Unterschied wird erst eindeutig, wenn man sich das Gattungswesen, das sich in der Arbeit ausdrückt, genauer anschaut. Es wird sich dabei herausstellen, dass Marx‘ Begriff vom ‚Gattungswesen‘ viel umfassender ist als der von Feuerbach. Die entfremdete Arbeit hat nach Marx auch Auswirkungen auf das Verhältnis des Menschen zu sich als Gattungswesen. Methodisch geht Marx an diesen Aspekt der Entfremdung jedoch anders heran als zuvor bei der Arbeit und dessen Produkt. An dieser Stelle wendet Marx nicht zuerst das Feuerbachsche Kritikmodell eines entfremdeten Gattungswesens an und unterstellt damit implizit eine positive Vergegenständlichung, wie er es zuvor beim Produkt der Arbeit und der Arbeit selbst getan hatte. Vielmehr gibt Marx hier erst eine positive Bestimmung der Vergegenständlichung des Gattungswesens, bevor er dessen Emtfremdung bespricht. In dieser positiven Bestimmung schließt er sich allerdings auch nicht Feuerbach an, dessen Begriff vom Gattungswesen auch sehr abstrakt ist, sondern an Hegel und dessen Begriff vom Subjekt in der ‚Phänomenologie‘. Marx beginnt die Entfremdung des Gattungswesens mit der Bestimmung, warum der Mensch ein Gattungswesen sei: „Der Mensch ist ein Gattungswesen nicht nur indem er praktisch und theoretisch die Gattung, sowohl seine eigne als die der übrigen Dinge zu seinem Gegenstand macht, sondern - und dieß ist nur ein anderer Ausdruck für dieselbe Sache - sondern auch indem er sich zu sich als einem universellen, darum freien Wesen verhält.“ 839 Marx interpretiert Gattungswesen nicht in der Bedeutung, die Feuerbach mit diesem Begriff verbindet, nämlich dass der Mensch im Kollektiv sein schrankenloses Wesen hat. Feuerbach hat die Gattung als unendlich bestimmt, als Gattung kenne der Mensch keine technischen, moralischen oder sonstigen Beschränkungen. 840 Marx‘ erste Bestimmung von Gattungswesen versteht jedoch Gattung als die Allgemeinheit eines Objekts. Dem Menschen sei es eigentümlich, dass er die Gattung der Sachen zum Gegenstand macht - im Unterschied zum Tier, das stets in der Sache selbst befangen bleibt und sich keinen Begriff von ihr machen kann. Sich die Gattung einer Sache theoretisch zum Gegenstand nehmen heißt für Marx hier, dass 839 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 239. 840 Siehe Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 1841, S. 165f. <?page no="219"?> 219 der Mensch erkennend an sich selbst und die übrigen Dinge herangeht und sie auf ihren Begriff bringt. Marx setzt hier aber den Fakt, dass der Mensch jede Gattung - ob seine eigene oder vor allem die ‚übrigen Dinge‘ - zu seinem Gegenstand macht, gleich mit dem Fakt, dass der Mensch sich zu sich als einem universellen, darum freien Wesens verhält. Was aber hat der Fakt, dass sich der Mensch die Gattung eines anderen Objekts zum Gegenstand macht, mit dem Verhalten zu sich zu tun? Wie kann Marx beides ineins setzen? Marx kann diese Identität ohne weitere Umschweife behaupten, weil sie eine zentrale Aussage des spekulativen Idealismus ist, die Marx vom Rest des Hegelschen Idealismus isoliert und als Anspruch bewahrt hat, nämlich dass es ein Subjekt gibt, welches mit nichts umgeht als mit seinen eigenen, selbst geschaffenen Gegenständen. Ein solches Verhältnis scheint Marx im Sinn zu haben, wenn er den Bezug des Menschen zur Gattung jedweden Gegenstands mit der universellen Selbstbezugnahme identifiziert. Universell ist das Verhalten zu sich selbst daher, weil der Mensch sich in jedem Gegenstand selbst wieder erkennt. Damit überträgt - ähnlich wie Feuerbach - Marx die Aussage des spekulativen Idealismus, das Wahre sei ebensowohl Subjekt wie Substanz auf den Menschen. Allerdings argumentiert Marx dabei noch näher an Hegel als Feuerbach. Wie an obigem Zitat deutlich, macht sich für Marx der Mensch die Gattung der Dinge nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch zum Gegenstand. Der Mensch ist also dadurch Subjekt, dass er sich die Allgemeinheit der Dinge auch praktisch zu seinem Gegenstand macht. Marx macht an diesem Bezug des Menschen zur Sache weiter und nicht am theoretischen - dies ist damit auch der letzte Scheidepunkt zu der in seinem Denken übrig gebliebenen Theorie seines Lehrers Hegel. Was unter der These zu verstehen ist, der Mensch mache sich die Allgemeinheit der Sachen praktisch zum Gegenstand und sei dadurch Subjekt, ein universelles Wesen, das mit nichts Umgang hat als mit seinem eigenen, in ein anderes vergegenständlichten Selbst, macht Marx in einer ersten näheren Bestimmung klar: „Die Universalität des Menschen erscheint praktisch eben in der Universalität, die die ganze Natur zu seinem organischen Körper macht, sowohl insofern sie 1) ein unmittelbares Lebensmittel, als inwiefern sie d[er] Gegenstand \ Materie und das Werkzeug seiner Lebensthätigkeit ist. Die Natur ist der unorganische Leib des Menschen“ 841 . Der Mensch macht sich somit die Allgemeinheit der Dinge, die nicht unmittelbar mit ihm selbst zusammenfallen, dadurch zum Gegenstand, dass er sich instrumentell auf die Natur als Mittel seiner Lebenstätigkeit bezieht. Unter Lebenstätigkeit fasst Marx das produktive Leben, das Herstellen von 841 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 240. <?page no="220"?> 220 Gegenständen des Bedarfs. Marx meint demnach, dass der Arbeiter in der Bearbeitung des Gegenstandes sich die Allgemeinheit des Gegenstandes zum Inhalt nimmt und dadurch Universalität in dem Sinne gewinnt, als seine Bestimmung zugleich das Subjekt wie das Objekt sei. Dass die Allgemeinheit des Arbeitsgegenstands zum Inhalt des Arbeiters werde, hat damit zwei Seiten, eine passive und eine aktive. Einerseits muss der Arbeiter, um den Gegenstand überhaupt bearbeiten zu können, diesen als selbständigen behandeln, der seinen eigenen Notwendigkeiten folgt. An dessen allgemeinen Bestimmungen muss sich der Arbeiter halten, will er den Arbeitsgegenstand erfolgreich bearbeiten. So muss er Holz anders behandeln als Boden. Andererseits ist damit jedoch der Arbeitsgegenstand als ein dem Arbeiter vorausgesetztes Objekt negiert, denn er wird unter die Allgemeinheit gebeugt, zu dem der Gegenstand gemacht werden soll, also unter die Allgemeinheit des Produkts. Damit ist der Inhalt dieser anderen, vom Subjekt unmittelbar unterschiedenen ‚übrigen Dinge‘ 842 ganz vom Subjekt ausgegangen. Der Gegenstand hat mit seiner Verarbeitung diese Bestimmung akzeptiert und sich dementsprechend gewandelt: Das praktische Erzeugen einer gegenständlichen Welt, die Bearbeitung der unorganischen Natur ist die Bewährung des Menschen als eines bewußten Gattungswesens, d.h. eines Wesens, das sich zu der Gattung als seinem eignen Wesen oder zu sich als Gattungswesen verhält. 843 Die Gattung ist nach Marx also insofern das Wesen des Menschen, als er durch Arbeit seine eigene allgemeine Bestimmung zur Bestimmung der unorganischen, also nicht zu seinem Leib gehörigen Natur macht. Er ist fähig, seine Gattung zu der Gattung aller ‚übrigen Dinge‘ zu machen, indem er sie als Arbeitsgegenstände behandelt und gemäß seinen Vorstellungen umformt. Die Natur als der ‚unorganische Leib‘ 844 soll metaphorisch genau dieses Verhältnis ausdrücken: Die Natur wird durch Arbeit in das Wesen des Menschen inkoorperiert. So, indem der Mensch die Gattung der Dinge zu seinem Inhalt macht, indem sie durch seine Gattung mittels Arbeit bestimmt wird, charakterisiert Marx den Menschen als Gattungswesen. Es wäre allerdings ein Trugschluss, würde man behaupten, Marx würde darauf abzielen, das Ziel des Hegelschen Idealismus mit den genau umgekehrten Mitteln nämlich auf Seite der Praxis anstatt der Theorie zu verwirklichen. Dem Anspruch nach integriert Marx nämlich beide Seiten in sein Konzept positiver Vergegenständlichung. Marx unternimmt dabei den Versuch, das idealistische Residuum von der Verwirklichung der Identität von Subjekt und Objekt in einem seine Gegenstände selbst setzenden Subjekt sowohl seinem theoretischen als auch seinem praktischen Aspekt 842 Siehe oben, Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 239. 843 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 241. 844 Siehe oben, Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 240. <?page no="221"?> 221 nach in der Arbeit zu verwirklichen. In der Arbeit sieht Marx sowohl einen theoretischen, reflektierenden Aspekt, indem sich der Arbeiter auf den Arbeitsgegenstand einlassen muss und dessen allgemeine Bestimmung zu seinem Inhalt machen muss, als auch einen praktischen, kreativen Aspekt, in dem die allgemeine Bestimmung des Arbeiters sich auf diesen Gegenstand überträgt und in ihm vergegenständlicht. Diesen Sachverhalt erläutert Marx in Abgrenzung zur produktiven Tätigkeit beim Tier, beispielsweise der Produktion der eigenen Behausung von Bienen und Bibern. Der Mensch nehme, im Unterschied zum produzierenden Tier, ein reflektiertes Verhältnis zu seiner eigenen Lebenstätigkeit ein: „Der Mensch macht seine Lebensthätigkeit selbst zum Gegenstand seines Wollens und Bewußtseins.“ 845 Der Mensch sei also nicht wie das Tier von der Allgemeinheit des Gegenstandes abhängig, sondern er verhalte sich distanzierend zu ihm. Erst, indem er sich zu ihm theoretisch, als zu einem ihm vorausgesetzten Gegenstand verhalte, könne er sich praktisch als Subjekt, als Urheber des Gegenstandes setzen. Der Mensch lasse sich weder von dem Gegenstand noch von seinem unmittelbaren Bedürfnis bestimmen, sondern er verwirkliche sein Gattungswesen in einem anderen. Marx resümiert sein Konzept des Gattungswesens in einer Art, die offensichtlich die idealistische Sicht vom Subjekt als Sich-selbst-setzen in einem ihm Anderen als produktive Vergegenständlichung in Arbeit interpretiert: „Eben in der Bearbeitung der gegenständlichen Welt bewährt sich der Mensch daher erst wirklich als Gattungswesen. Diese Production ist sein Werktätiges Gattungsleben. Durch sie erscheint die Natur als sein Werk und seine Wirklichkeit. Der Gegenstand der Arbeit ist daher die Vergegenständlichung des Gattungslebens des Menschen; indem er sich nicht nur, wie im Bewußtsein, intellektuell, sondern werkthätig, wirklich verdoppelt, und sich selbst daher in einer vonihm geschaffenen Welt anschaut.“ 846 Marx selbst fasst seine Bestimmung des Gattungswesens so zusammen, dass der Bezug zu Hegels spekulativer Grundthese eindeutig wird. Hegels Entfremdungsbegriff beinhaltete die Aussage, dass das Wahre ebensosehr Subjekt wie Substanz sei. Das Subjekt müsse sich somit als ein anderes setzen, es entfremde sich mithin von seiner eigenen Bestimmung; indem es sich als diese Selbstsetzung jedoch erkenne, bleibe es sich gleich. Dadurch verhalte sich das Subjekt nur zu Objekten, die seiner eigenen Setzung entstammen. Dies ist für Marx die Verdopplung im Bewusstsein. Marx nimmt diese Bewegung und füllt sie mit dem Inhalt Feuerbachscher Anthropologie - dem Menschen als Subjekt - und seinem Arbeitsbegriff - der produktiven Tätigkeit als der Vergegenständlichungsbewegung. In der entfremdeten Arbeit wird damit jene Leistung der Arbeit pervertiert, die den 845 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 240. 846 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 241. <?page no="222"?> 222 Menschen zum Subjekt seiner selbst macht und so nur mit Gegenständen zu tun hat, die seiner Schaffenskraft entspringen. Stattdessen werde die Arbeit zum Existenzmittel: „Die entfremdete Arbeit kehrt das Verhältniß dahin um, daß der Mensch eben, weil er ein bewußtes Wesen ist, seine Lebensthätigkeit, sein Wesen nur zu einem Mittel für seine Existenz macht.“ 847 Marx unterscheidet hier Arbeit als Lebenstätigkeit und Wesen des Menschen von Arbeit als bloßem Mittel für die Existenz. In der entfremdeten Arbeit würde die Arbeit von ersterem zu letzterem. Diese Unterscheidung wäre problematisch, würde man unter Lebenstätigkeit des Menschen jene Tätigkeit verstehen, die ihm das Überleben ermöglicht. Dann wären Lebenstätigkeit und Existenzsicherung identisch und die Kritik einer Instrumentalisierung der Arbeit für die eigene Existenz auf Kosten der Arbeit als Lebenstätigkeit des Menschen wäre unsinnig. Aber Marx sieht die Lebenstätigkeit des Menschen gar nicht als bloße Existenzsicherung an, sondern als den Weg, wie der Mensch sich selbst in einem ihm Anderen setzt und damit sein Subjekt-Sein begründet. Der Mensch erhalte jedoch zu seinem eigenen Wesen durch die entfremdete Arbeit, die ihm als selbständige, ihn beherrschende und ihm feindliche gegenübertritt, ein instrumentelles Verhältnis. Das, was ihn eigentlich als Subjekt auszeichne, erhalte die Bestimmung, bloß der Existenzsicherung zu dienen - und werde darüber selbst dafür als Mittel untauglich. Wenn die Arbeit als Vergegenständlichung des Gattungswesens fungierte, wäre die Bedürfnisbefriedigung für Marx wie selbstverständlich darin eingeschlossen. „Und welcher Widerspruch wäre es auch, daß je mehr der Mensch die Natur durch seine Arbeit sich unterwirft, je mehr die Wunder der Götter überflüssig werden durch die Wunder der Industrie, der Mensch diesen Mächten zu lieb auf die Freude an der Production und auf den Genuß des Products verzichten sollte.“ 848 Marx sieht eine gelingende Bedürfnisbefriedigung demnach als integralen Bestandteil der Vergegenständlichung an. Weil Marx meint, der Mensch sei dadurch Subjekt, dass er in der produktiven Tätigkeit seine eigenen Gegenstände setze, sei der Verbrauch des Produkts Teil dieser Bewegung. Erst in der Herstellung eines Gegenstandes für den Gebrauch sei der Mensch Subjekt in diesem umfassenden Sinne. Es ist daher für Marx selbstverständlich, dass sich für den Produzenten der Verbrauch der Produktion anschließen muss. Marx will demnach nicht einer asketischen Arbeitsethik das Wort reden, sondern wenn er die Instrumentalisierung der Arbeit für die bloße Existenz kritisiert, will er die Reduktion der Arbeit allein für die Bedürfnisbefriedigung kritisieren. Er nennt es zwar eine Vereinseitigung 847 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 240f.. 848 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 242f. <?page no="223"?> 223 der Privateigentums, dass wir meinen, eine Sache erst dann zu haben, wenn wir sie besitzen oder gebrauchen. 849 Aber dem setzt er nicht die andere Einseitigkeit eines rein auf die Produktion ausgerichteten Daseins entgegen. Vielmehr meint er, dass sich der Mensch als Individuum nicht nur in der Arbeit vergegenständliche, sondern sich durch das Produkt der Arbeit auch sinnlich entwickele. „Erst durch den gegenständlich entfalteten Reichtum des menschlichen Wesens wird der Reichtum der subjektiven menschlichen Sinnlichkeit, wird ein musikalisches Ohr, ein Auge für die Schönheit der Form, kurz, werden erst menschlicher Genüsse fähige Sinne, Sinne, welche als menschliche Wesenskräfte sich bestätigen, teils erst ausgebildet, teils erst erzeugt.“ 850 Wenn die Arbeit jedoch bloßes Mittel der eigenen Existenz wird, hat dies nach Marx qualitativ und quantitativ negative Auswirkungen. Qualitativ ist die Arbeit damit nicht mehr die Verwirklichung des Gattungswesens, sie befähigt den Menschen nicht mehr dazu, Subjekt seiner selbst zu sein. Und quantitativ sind die Früchte seiner Arbeit bloß noch Mittel zur Erhaltung seiner Existenz, also ein sehr bescheidener Ertrag angesichts der Entwicklung seiner Produktivkräfte. 851 Ausgerechntet der eigentliche Vorzug gegenüber dem Tier, dass das Produkt als Eigenständiges, ihm nicht unmittelbar Verhaftetes gegenübertritt, was Marx als freies Verhältnis kennzeichnet, wird dem produktiven Menschen im Zustand der entfremdeten Arbeit zum Verhängnis. „Indem daher die entfremdete Arbeit dem Menschen den Gegenstand der Production entreißt, entreißt sie ihm sein Gattungsleben, seine wirkliche Gattungsgegenständlichkeit und verwandelt seinen Vorzug vor dem Thier in den Nachtheil, daß sein unorganischer Leib, die Natur, ihm entzogen wird.“ 852 Der ökonomische Inhalt der Entfremdung vom Gattungswesen ist der Arbeitslohn. So, wie der spätere Marx den Arbeitslohn bestimmt, trifft er genau auf die Entfremdung vom Gattungswesen zu: Der Arbeitslohn wird im ‚Kapital‘ als jene Summe bestimmt, die nötig ist, die Arbeitskraft des Arbeiters zu reproduzieren. Er ist also bloß das Mittel, um die Existenz als Arbeiter weiter zu führen. 853 Diese Notwendigkeit sieht Marx auch bereits in den ÖPM: „Der Arbeitslohn gehört daher zu den nöthigen Kosten des Capitals und d[es] Capitalisten und darf das Bedürfniß dieser Noth nicht 849 Siehe Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 298f. 850 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 270. 851 Anschaulich kritisiert Marx dies in der Kritik der kapitalistischen Maschinerie, in der der Arbeiter „geistig und leiblich zur Maschine herabgedrückt wird und aus einem Menschen eine abstrakte Thätigkeit und ein Bauch wird“. (Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 198) 852 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 241. 853 Marx: Das Kapital, Bd. 1, 1890, MEGA II,10, S. 155f. <?page no="224"?> 224 überschreiten.“ 854 Aber abgesehen von der Höhe des Arbeitslohns ist in seiner Zahlung überhaupt eingeschlossen, dass der Arbeiter sich auf seine Arbeit nicht als Verwirklichung seines Wesens bezieht und damit seiner Bestimmung als Subjekt seiner Umstände verlustigt geht: „Eine gewaltsame Erhöhung des Arbeitslohns, […] wäre also nichts als eine bessere Salarirung d[es] Sklaven und hätte weder dem Arbeiter noch der Arbeit ihre menschliche Bestimmung und Würde erobert.“ 855 Marx überträgt mit der Entfremdung vom Gattungswesen den bereits zuvor angedeuteten dritten Aspekt der Feuerbachschen Entfremdung auf das Kapitalverhältnis: Der entfremdete Gegenstand ist nach Feuerbach nicht nur selbständig von seinem Erzeuger und übt Macht über ihn aus, sondern er ist auch dem menschlichen Wesen feindlich gegenüber eingestellt. Bei Feuerbach heißt dies, dass die entäußerte Vergegenständlichung des Menschen das zerstöre, was ihn im Wesen ausmache, nämlich in seinem Wesen keinerlei Beschränkungen zu kennen. Auch bei Marx ist es ein Aspekt der Entfremdung, dass der entfremdete Gegenstand, die Arbeit unter der Bestimmung der Nationalökonomie, das Wesen des Menschen in sein Gegenteil verkehrt. Während die Arbeit eigentlich der Ausdruck seines Wesens sei, weil er sich in ihr zum Subjekt macht, werde die Arbeit im entfremdeten Zustand zu einem Mittel für seine bloße Existenz herabgesetzt. Die entfremdete Arbeit trete ihm somit als feindlich gegenüber, als negative Größe, der er sich notgedrungen befleißigen müsse, um seine Existenz zu sichern. Mit der positiven Bestimmung des Gattungswesens und dessen eigentliche Vergegenständlichung in der nicht-entfremdeten Arbeit lässt sich nun klarer bestimmen, was für Marx die entfremdete Arbeit ausmacht. In dem Abschnitt zur entfremdeten Arbeit geht Marx eher phänomenologisch an den Gegenstand heran und beschreibt die Stellung des Arbeiters zu seiner entfremdeten Lebenstätigkeit. Dabei beschreibt Marx all jene Phänomene, die aus seiner Entfremdung des Gattungswesens offenbar werden: Der Arbeiter fühle sich subjektiv in der Arbeit nicht wohl, die er habe ein negatives Verhältnis zu ihr und sie werde für ihn von einem Zweck zu einem bloßen Mittel. Die subjektive Stellung der Arbeiter zu ihrer Arbeit sei dadurch charakterisiert, dass der Arbeiter sich „in seiner Arbeit nicht bejaht, sondern verneint, nicht wohl, sondern unglücklich fühlt […]. Der Arbeiter fühlt sich daher erst ausser der Arbeit bei sich und in der Arbeit ausser sich. Zu Hause ist er, wenn er nicht arbeitet und wenn er arbeitet, ist er nicht zu Haus.“ 856 Der Arbeiter habe durch die entfremdete Arbeit demnach ein negatives Verhältnis zu der Arbeit, die er verrichtet. Dies ist jedoch nach Marx nicht bloß sein subjektives Urteil, die Beziehung des 854 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 249. 855 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 245. 856 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 238. <?page no="225"?> 225 Arbeiters zu seiner Tätigkeit sei objektiv negativ bestimmt, weil er in der entfremdeten Arbeit „seine Physis abkasteit und seinen Geist ruinirt“ 857 . Bloß weil die entäußerte Arbeit objektiv ein negatives Verhältnis zum Arbeiter einnnehme, werde diese Beziehung daher auch in Willen und Bewusstsein des Arbeiters dementsprechend aufgenommen. Die Arbeit sei unter diesen Umständern „nicht freiwillig, sondern gezwungen, Zwangsarbeit.“ 858 Die nicht-entfremdete Arbeit werde demgemäß dem Arbeiter entsprechen und vom Arbeiter gewählt werden. In der Tat folgert Marx, die entfremdete Arbeit sei „nicht die Befriedigung eines Bedürfnisses, sondern sie ist nur ein Mittel, um Bedürfnisse ausser ihr zu befriedigen.“ 859 Marx führt in der Entfremdung des Gattungswesens aus, dass die Arbeit nicht bloßes Existenzmittel sei, sondern die Verwirklichung dessen, was den Menschen ausmache, die Realisierung seines Daseins als Subjekt dadurch, dass er sich die Gegenstände seines Umgangs selbst herstelle. Dadurch dass die Arbeit dies nicht mehr sei, sondern Mittel für einen Zweck außer der Arbeit, nämlich für das Produkt namens Kapital, sei die Arbeit selbst für den Arbeiter eine negative Tätigkeit, anstatt sein Wesen auszudrücken. In direkter Analogie zu Feuerbach vergleicht Marx die geistige Tätigkeit des Gläubigen und die produktive Tätigkeit des Arbeiters, um aufzuzeigen, dass es sich hier um die Entfremdung des Menschen von sich selbst handelt. „Wie in der Religion die Selbstthätigkeit der menschlichen Phantasien des menschlichen Hirns und des menschlichen Herzens unabhängig vom Individuum, d.h. als eine fremde, göttliche oder teuflische Thätigkeit auf es wirkt, so ist die Thätigkeit des Arbeiters nicht seine Selbstthätigkeit. Sie gehört einem andern, sie ist der Verlust seiner selbst.“ 860 Während der Gläubige ausgerechnet die genuin menschlichen Eigenschaften - Hirn und Herz, Geist und Gefühl - als ihm fremde Tätigkeiten eines anderen Wesens ausdrücke, so sei auch in der kapitalistischen Arbeit die genuin menschliche Tätigkeit eine dem Arbeiter fremd gegenübertretende. Sie sei der Verlust seines selbst, weil es sein Gattungscharakter sei, der sich durch Arbeit verwirkliche. Diese Verwirklichung werde ihm im Kapitalismus genommen. Daher sei die Entfremdung der Arbeit zugleich „Selbstentfremdung“ 861 , deswegen verliere der Mensch durch die entäußerte Arbeit nicht allein materielle oder ideelle Werte, sondern das Selbst. Diese Art Arbeit sei somit „Selbstaufopferung“ 862 . 857 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 238. 858 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 238. 859 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 238. 860 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 238f. 861 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 239. 862 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 238. <?page no="226"?> 226 So klärt sich auch auf, warum die Arbeit nach Marx ein Bedürfnis des Menschen ist: Weil die Arbeit konstitutiv für das Mensch-Sein als solches ist, bedarf der Mensch ihrer auch. Sie sei daher ein Bedürfnis für ihn und nicht nur ein Mittel zum Zweck. Im entfremdeten Zustand werde dieser Zweck negiert, weswegen die Arbeiter auch subjektiv ausgerechnet jene Funktionen, die sie mit den Tieren teilen wie Essen, Trinken und Zeugen als Reich der Freiheit begriffen, während sie die wahre menschliche Funktion - Arbeit - als tierische Abhängigkeit interpretierten. 863 Zugleich tauchen auch an dieser Stelle wieder jene zentralen Momente der Entfremdung auf, die auch auf das Produkt bezogen sind: Der entfremdete Gegenstand, in diesem Falle die Arbeit, ist dem Arbeiter gegenüber selbständig, übt Macht über ihn aus und tritt ihm feindlich gegenüber. Die Frage, wie man sich diese Entfremdung in seinen drei Erscheinungsformen in der Arbeit vorzustellen habe, bleibt an dieser Stelle jedoch im Dunkeln. Marx schreibt über die entfremdete Arbeit: „Dieß Verhältniß ist das Verhältniß des Arbeiters zu seiner eignen Thätigkeit als einer fremden, ihm nicht angehörigen, d[ie] Thätigkeit als Leiden, d[ie] Kraft als Ohnmacht, [d]ie Zeugung als Entmannung. Die eigne physische und geistige Energie des Arbeiters, sein persönliches Leben, - denn was ist Leben als Thätigkeit - als eine wider ihn selbst gewendete, von ihm unabhängige, ihm nicht gehörige Thätigkeit.“ 864 In dieser Zusammenfassung wird nochmals deutlich, welcher Widerspruch in der entäußerten Arbeit eigentlich nach Marx realisiert wird: Was eigentlich eine Äußerung von schöpferischer Produktivität sein sollte, ist eine selbständige Existenz, die die aktive Tätigkeit des Arbeiters zu einer Passiven Sache macht (Leiden) und Macht über ihn gewinnt (Ohnmacht), ihn also darüber unterwirft und seiner eigentlichen schöpferischen Fähigkeiten beraubt (Entmannung). In diesem Resümee der Attribute der entfremdeten Arbeit spiegelt sich nochmals die Feuerbachsche Entfremdung des Gattungswesens als Gott wider. Auch die Arbeit sei wie vom Arbeiter getrennt und selbständig vorliegend, so dass der Arbeiter sie eher als Passivität denn als Aktivität betreibe. Sie gewinne Macht über denjenigen, der sie ausführe, und sie schädige ihn in dem, was seinem Wesen entspreche, beraube ihn nämlich seines kreativen Potentials. Obgleich die entfremdete Arbeit das Kernstück der Marxschen Entfremdungstheorie ist, ist sie dennoch der uneindeutigste Teil seiner Ausführungen. Marx beschreibt an dieser Stelle eher Auswirkungen der entfremdeten Arbeit auf die Stellung der Arbeiter zu ihr, ohne genauer auf den Unterschied von entfremdeter und nicht-entfremdeter Arbeit einzugehen und zu entwickeln, was die Bestimmungen dieser Arbeit an ihr 863 Siehe Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 239. 864 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 239. <?page no="227"?> 227 selbst sind. Marx scheint eher eine diffuse Vorstellung davon zu haben, was entfremdete Arbeit von nicht-entfremdeter unterscheidet. Er gibt allerdings wichtige Hinweise darauf, wie man sich die entfremdete Arbeit denken könnte: „Endlich erscheint die Aüsserlichkeit [sic! ] der Arbeit für den Arbeiter darin, daß sie ihm nicht gehört, daß er in ihr nicht sich selbst, sondern einem anderen angehört.“ 865 Wenn die Arbeit nicht mehr dem gehört, der sie tätigt, dann muss es sich dabei um Lohnarbeit handeln, also um den Erwerb von Arbeitkraft mittels Lohn und deren Einsatz durch einen vom Arbeiter getrennten Käufer dieser Arbeitskraft. Auch hier hat Marx demnach bereits eine Kategorie im Sinn, die er erst später, in der Kritik der politischen Ökonomie, detailliert untersuchen wird. In der Lohnarbeit kommen tatsächlich die bisher drei ausgearbeiteten Aspekte der Feuerbachschen Entfremdung wieder vor. Denn in der Lohnarbeit wird die Arbeitskraft als ein Stück Eigentum behandelt und veräußert, so dass die stattfindende Arbeit eine Selbständigkeit gegenüber den Arbeiter gewinnt: Wozu sie aufgewendet wird, wie sie aussieht, was sie bearbeitet, obliegt nicht mehr der Maßgabe des Arbeiters. sondern dem Käufer der Ware Arbeitskraft. Zugleich übt diese Art der Arbeit Macht über den Arbeiter aus, denn sie ist nicht von ihm zu trennen; was aus dem Arbeiter wird, wie seine pure Existenz aussieht, wie seine Physis und sein Geist sich entwickeln werden von der Arbeit bestimmt, die er verrichten muss. Und diese Arbeit steht dem, was seinem Wesen entspricht, feindlich gegenüber, denn sie dient nicht der Realisation seines Gattungswesens, macht ihn nicht zum Subjekt, sondern im Gegenteil zum Anhängsel der Arbeit, die er verrichten muss. Seine kreativen Potentiale werden durch die Lohnarbeit nicht entwickelt, sondern verkümmern. Die Feuerbachsche vierte Ebene der Entfremdung, die die Form des Menschen als Kollektiv zerstört, taucht in den Marxschen ÖPM erst in der vierten Form der Entfremdung auf, in der Entfremdung zum Mitmenschen. Marx verausgabt nicht viel Arbeitskraft, um diesen Aspekt der Entfremdung zu erläutern, vielmehr sieht er die Entfremdung zum Mitmenschen als eine „unmittelbare Consequenz“ 866 der Entfremdung vom Produkt, von der Arbeit und vom Gattungswesen an. Marx konstatiert wie Feuerbach, dass jeder Selbstbezug des Menschen sich erst verwirkliche, indem der Mensch sich zu einem anderen Menschen verhalte. „Die Entfremdung d[es] Menschen, überhaupt jedes V[er]hältniß, in dem der Mensch zu sich selbst steht[,] ist erst verwirklicht, drückt sich aus in dem Verhältniß, in welchem der Mensch zu d[em] andern Menschen steht.“ Dieser Stelle ist zu entnehmen, dass Marx das menschliche Wesen nicht nur als Gattungswesen in dem oben dargestellen Sinne bestimmt, das sich 865 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 238. 866 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 242. <?page no="228"?> 228 nämlich in der Arbeit selbst in ein anderes setzt und darüber Subjekt ist, sondern zugleich auch den Feuerbachschen Inhalt von dessen Gattungswesen übernimmt: Der Mensch kann sich nur auf sich beziehen, weil ihm der Bezug zum Mitmenschen fundamental eigen ist. Aufgrund dieser Einsicht meint Marx, dass der Arbeiter sich als Mensch entfremde und sich dementsprechend nur seiner ökonomischen Rolle nach als Arbeiter gegenübertrete. „Also betrachtet in dem Verhältniß der entfremdete[n] Arbeit jeder Mensch d[en] andern nach dem Maaßstab und dem Verhältniß in welchem er selbst, als Arbeiter sich befindet.“ 867 Die Gattungseinheit werde durch die entfremdete Arbeit zerstört, also genau die Einheit, die den Menschen als kollektives Wesen ausmache. Dieser Gedanke wird später in der materialistischen Geschichtsauffassung näher entwickelt. Der Ausdruck und die Wirklichkeit der entfremdeten Arbeit in all ihren bisher erarbeiteten Facetten wird von Marx als das Kapitalverhältnis und die Aneignung der Arbeitserträge durch einen anderen Menschen bestimmt. Marx schließt von dem Umstand entfremdeter Arbeit auf ein Eigentumsverhältnis: „Wenn das Produkt der Arbeit mir fremd ist, mir als fremde Macht gegenübertritt, wem gehört es dann? “ 868 Marx meint, dass das Produkt entfremdeter Arbeit einem anderen gehören müsse. Dieses vom Arbeiter unterschiedene Wesen könnten jedoch nicht die Götter, so Marx in bewusster Abgrenzung zu Feuerbach, sondern müsse ein anderer Mensch sein. „Wenn das Product der Arbeit nicht dem Arbeiter gehört, eine fremde Macht ihm gegenüber ist, so ist dieß nur dadurch möglich, daß es einem andern Menschen ausser dem Arbeiter gehört. […] Nicht die Götter, nicht die Natur, nur der Mensch selbst kann diese fremde Macht über d[en] Menschen sein.“ 869 So ist die Entfremdung in der Arbeit gleichbedeutend mit Ausbeutung, also mit der Aneignung des entfremdeten Gegenstands durch einen anderen Menschen. Anders als bei Feuerbach gewinnt für Marx nicht allein ein Gegenstand Macht über den Menschen, sondern der andere Mensch mit Hilfe des entfremdeten Gegenstands. Marx löst Entfremdung also weder in ein einfaches Herrschaftsverhältnis auf, in dem der Eine den Anderen unterdrückt - schließlich ist die entfremdete Arbeit die Grundlage der Ausbeutung, nicht andersherum -, noch hält sich Marx strikt an das Feuerbachsche Kritikmodell, wonach das Produkt selbst zu einer feindlichen Macht über den Menschen wird. Vielmehr wird die spezifische ökonomische Herrschaft des Kapitals aus der entfremdeten Arbeit abgeleitet. Die entfremdete Arbeit wird damit einerseits als ein Ausbeutungsverhält- 867 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 242. 868 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 242. 869 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 242. <?page no="229"?> 229 nis gekennzeichnet, das zugleich nicht als solches auftritt, sondern als eine Verselbständigung und feindselige Ermächtigung des Produkts der entfremdeten Arbeit. Bereits in den ÖPM beschreibt Marx damit den Kapitalismus als ein gesellschaftliches Unterdrückungsverhältnis in der Form versachlichter ökonomischer Institutionen. Diese Ambivalenz, dass einerseits wo Entfremdung herrscht, der Eine den Nutzen von der Arbeit des Anderen davonträgt, dass aber andererseits auch jeder Mensch, selbst der Ausbeuter, als Subjekt negiert und von den durch diesen menschlichen Bezug aufeinander verdinglichten Verhältnissen bestimmt wird, formuliert Marx explizit: „Die Entfremdung erscheint sowohl darin, daß mein Lebensmittel eines andern ist, daß dieß, was mein Wunsch der unzugängliche Besitz eines andern ist, als daß jede Sache selbst ein andres als sie selbst, als daß meine Thätigkeit ein andres, als endlich, - und dieß gilt auch für den Capitalisten - daß überhaupt die unmenschliche Macht her[rscht].“ 870 Für Marx drückt sich dieses Verhältnis in einem modernen Sprichwort aus: „das Geld hat keinen Herrn, worin die ganze Herrschaft der todtgeschlagnen Materie über d[en] Menschen ausgesprochen ist.“ 871 Das mit dem Kapitalverhältnis verbundene rechtliche Verhältnis des Privateigentums, das die Nationalökonomie immer nur vorausgesetzt, aber nie erklärt hat, meint Marx damit auch abgeleitet zu haben: „Das Privateigenthum ist also das Produkt, das Resultat, die nothwendige Consequenz d[er] entäusserten Arbeit, des äusserlichen Verhältnisses des Arbeiters zu der Natur und zu sich selbst.“ 872 In der Entfremdungstheorie wird damit auf vielfältige Weise der Grundstein für die späteren ökonomischen Arbeiten gelegt. Durch die Anwendung der Feuerbachschen Entfremdungskonzeption auf die Arbeit legt Marx wesentliche Fundamente seiner späteren Theorie der ökonomischen Ausbeutung. Auf Grundlage der negativen Bestimmung von Lohnarbeit und Kapital als Entfremdung von der Arbeit und deren Produkt entwickelt Marx implizit ein positives Vergegenständlichungskonzept, das er im Bezug auf das Gattungswesen in Rückgriff auf Hegel in groben Zügen entwickelt. Dieser positive Begriff der Vergegenständlichung wird deutlicher, wenn man sich der expliziten Auseinandersetzung mit Hegels ‚Phänomenologie‘ zuwendet. 873 870 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 290. 871 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 231. 872 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 244. 873 Es ist an dieser Stelle nicht möglich, die gesamte Auseinandersetzung von Marx mit Hegel zu diskutieren; stattdessen geht es um die Auseinandersetzung mit der spekulativen Grundthese, dass das Subjekt sich durch das Setzen in einem Anderen <?page no="230"?> 230 10.4. Explizite Auseinandersetzung mit der Hegelschen Vergegegenständlichung Marx avisiert in dem mit ‚Vorrede‘ betitelten Teil des Manuskripts eine „Auseinandersetzung mit der hegel‘schen Dialektik und Philosophie überhaupt“ 874 , weil die anderen Junghegelianer der kritischen Schule - wie Bauer und Stirner - eine solche Kritik nicht geleistet hätten, ja, ihre Notwendigkeit gar nicht einsehen würden. 875 Marx hält Feuerbachs Hegelkritik für die beste Auseinandersetzung mit dem einstmaligen Lehrer. Zugleich meint Marx, dass selbst Feuerbachs Auseinandersetzung mit Hegel nicht vollendet sei. Marx will in dieser Hinsicht die Ausführung jener Argumente leisten, die Feuerbach nur angedeutet hat. 876 Im Folgenden soll gezeigt werden, dass Marx in der expliziten Auseinandersetzung mit Hegel zwar starke Kritik übt, dass sich in dieser Kritik allerdings auch die bleibende affirmative Stellung zu einem isolierten Kern von dessen Theorie finden lässt. Marx hält die Kritik der Hegelschen Dialektik nicht nur deshalb für wichtig, weil auch sie eine kritikable Entfremdung beinhalte und unter den Junghegelianern lebendig bliebe, sondern auch, weil Hegel eine bleibende theoretische Umwälzung geleistet habe: „Je geräuschloser desto sichrer, tiefer, umfangreicher und nachhaltiger ist die Wirkung der Feuerbachischen Schriften, die einzigen Schriften - seit Hegels Phänomenologie und Logik - worin eine wirkliche theoretische Revolution enthalten ist.“ 877 Um die Größe von Feuerbachs Hegelkritik zu kennzeichnen, vergleicht Marx ihn mit Hegels eigener theoretischer Leistung. Das zeigt, dass Hegels Theorie für Marx der Maßstab für wissenschaftliche Leistungen - auch für Kritik - bleibt. An dieser Stelle geht es nur darum zu beweisen, dass selbst dort, wo Marx Hegel explizit kritisiert, er die isolierte und von allem weiteren Gehalt abstrahierte Grundaussage vom Subjekt, das sich selbst in einem ihm Anderen setzt nicht relativiert, sondern im Gegenteil in den Materialismus der ÖPM einbaut. Das Verhältnis in den ÖPM zu Hegel ist vielseitig, die Marxsche Hegel-Kritik im Hinblick auf dessen spekulative Grundaussage jedoch klar umrissen und wird anhand einiger prägnanter Textstellen deutlich. als wirkliches Subjekt erweist, das sich auf keine ihm vorausgesetzten, sondern bloß auf selbst gesetzte Objekte bezieht. 874 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 317. 875 Siehe Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 317. 876 „Inwiefern dagegen Feuerbachs Entdeckungen über das Wesen der Philosophie noch immer - wenigstens zu ihrem Beweise - eine kritische Auseinandersetzung mit der philosophischen Dialektik nötig machten, wird man aus meiner Entwicklung selbst ersehen.“ (Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 318) 877 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 317. <?page no="231"?> 231 Marx feiert Feuerbachs Hegelkritik als die endgültige theoretische Befreiung aus dem Bann von Hegels Philosophie: „Feuerbach ist der einzige, der ein ernsthaftes, ein kritisches Verhältniß zur hegel‘schen Dialektik hat und wahrhafte Entdeckungen auf diesem Gebiet gemacht hat, überhaupt der wahre Ueberwinder der alten Philosophie ist.“ 878 Marx knüpft explizit an Feuerbachs Hegel-Kritik an, die dieser erstmals in den ‚Thesen‘ dargelegt hat. Feuerbach hat in seinen programmatischen Schriften die Religionskritik auf die Hegelsche Philosophie ausgeweitet und sie als die modernste Form der Theologie kritisiert, die menschliches Denken vom Menschen selbst abtrenne und diese Vergegenständlichung des menschlichen Prädikats als eine eigenständige, vom Menschen getrennte und ihn bestimmende Entität vorstelle. Marx preist Feuerbach für diesen „Beweis, daß die Philosophie nichts andres ist als die in Gedanken gebrachte und denkend ausgeführte Religion; also ebenfalls zu verurtheilen ist; eine andre Form und Daseinsweie d[er] Entfremdung des menschlichen Wesens.“ 879 Aber während Feuerbach Hegel dafür kritisiert, dass dessen Philosophie die Entfremdung der Theologie auf wissenschaftlicher Grundlage wiederhole, kennzeichnet Marx die Entfremdung der Theologie bereits in der ‚Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie‘ als Widerschein einer unmenschlichen Welt. Daher muss auch die Hegelsche Philosophie Ausdruck der ökonomischen Entfremdung in der sozialen Wirklichkeit sein. Anhand des Hegelschen Systems stellt Marx fest, es sei „die ganze Enzyklopädie nichts als das ausgebreitete Wesen des philosophischen Geistes, seine Selbstvergegenständlichung; wie der philosophische Geist nichts ist als der innerhalb seiner Selbstentfremdung denkend, d.h. abstrakt sich erfassende entfremdete Geist der Welt.“ 880 Die von Marx konstatierte weltliche Entfremdung des Menschen von sich selbst werde in der Philosophie auf gedanklicher Ebene wiederholt. So, wie der Mensch in der Ökonomie sein Wesen in einen Gegenstand lege, den er als selbständig von sich bestehend auffasse, so werde auch das Selbst des Menschen, sein Bewusstsein, in der Philosophie vom konkreten Menschen getrennt und als eine eigenständige, von den Individuen getrennte und ihre Geschicke lenkende Entität aufgefasst. Marx vergleicht dabei diese Entfremdung bei Hegel explizit mit der ökonomischen Entfremdung. „Die Logik - das Geld des Geistes, der spekulative, der Gedankenwerth des Menschen und der Natur ihr gegen alle wirkliche Bestimmtheit vollständig gleichgültig gewordnes und darum unwirkliches Wesen - das entäusserte, 878 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 276. 879 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 276. 880 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 278. <?page no="232"?> 232 daher von der Natur und d[em] wirklichen Menschen abstrahirende Denken; das abstrakte Denken.“ 881 So wie das Geld das vom Menschen entfremdete Produkt ist, das aber von ihm selbst abstrahiere und ihm fremd gegenübertrete, so trete auch bei Hegel das Denken dem Menschen als fremd gegenüber, als sein eigenes aber von ihm getrenntes, ihn beherrschendes, ja sogar in seiner konkreten Wirklichkeit zerstörendes Wesen. Die gedanklichen Kategorien bei Hegel sähen vom konkreten Individuum ab und würden von Hegel als mit Macht begabte Subjekte interpretiert. Darin sei das Denken von Hegel ‚abstrakt‘. Sowohl das einzelne menschliche Individuum wie auch das menschliche Kollektiv seien bei Hegel nur Erscheinungsformen des logischen Subjekts. 882 Marx übt in den ÖPM Kritik an dem Kern der ‚Phänomenologie‘, nämlich an der Grundthese, dass das Ganze das Wahre sei, weil es sowohl Subjekt als auch Substanz sei, dass es also ein Subjekt gebe, das sich selbst als ein Anderes setze und zugleich in diesem Anderen als sich selbst erkenne. Marx meint, dass diese Bewegung bloß das abstrakte Denken hervorbringe, die Gedanken als hypostasierte Entität, die unabhängig von den Individuen existiere. „Die ganze Entäusserungsgeschichte und die ganze Zurücknahme der Entäusserung ist daher nichts als die Productionsgeschichte des abstrakten, des absoluten Denkens, des logischen, spekulativen Denkens.“ 883 Marx übt eine rückhaltlose Kritik an diesem Gedanken: „Die Entfremdung, welche daher das eigentliche Interesse dieser Entäusserung und Aufhebung dieser Entäusserung bildet, ist der Gegensatz von an sich und für sich, von Bewusstsein und Selbstbewusstsein, von Objekt und Subjekt, d.h. der Gegensatz des abstrakten Denkens und der sinnlichen Wirklichkeit oder der wirklichen Sinnlichkeit innerhalb des Gedankens selbst.“ 884 Explizit hält Marx die Überwindung der Kluft von Subjekt und Objekt für die Lösung eines hausgemachten Problems des Hegelschen Idealismus. Es resultiere aus der Trennung des abstrakten Subjekts von der sinnlichen 881 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 278. 882 Marx geht nicht darauf ein, dass Hegel gerade in der ‚Phänomenologie‘, auf die Marx sich bei seiner Kritik vorwiegend stützt, das übergreifende Subjekt auch als Geist bestimmt, der in der Welt ist und seine Geschichte hat, und insofern dem Anspruch nach gerade nicht als von der Lebenswirklichkeit der Menschen losgelöstes Subjekt erscheint. Marx wird in dieser Hinsicht Hegel nicht gerecht und es scheint, dass Marx Hegel hier durch jene Junghegelianer der kritischen Schule (Bauer und Stirner) hindurch liest, auf die jene Kritik tatsächlich eher zuträfe. Für die vorliegende Untersuchung ist es allerdings nicht in erster Linie relevant, ob Marx‘ Kritik zutrifft oder nicht, sondern wie Marx sich zu der spekulativen Aussage von der Einheit von Subjekt und Objekt stellt. 883 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 284. 884 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 284. <?page no="233"?> 233 Wirklichkeit, die selbst ein Reflex auf die Selbstentfremdung des Menschen von seinen eigenen Gegenständen in der sinnlichen Wirklichkeit sei. An dieser Stelle könnte man meinen, Marx nehme wie Feuerbach engültig Abschied von dem Projekt einer Versöhnung von Subjekt und Objekt. Feuerbach, dessen beide programmatische Schriften 885 Marx in den ÖPM so emphatisch begrüßt, hat dort polemisch gegen Hegel die Trennung von Objekt und Subjekt als bleibende Prämisse postuliert, die nicht wieder vom Subjekt überschritten werden könne. Auf dieser Grundlage wird die ÖPM in der Forschung oft als jene Schrift interpretiert, in der Marx den Feuerbachschen Materialismus übernimmt. 886 Das ist eine zu einseitige Lesart der Marxschen Hegelkritik in den ÖPM. Allerdings sieht Marx die Versöhnung, die Hegel zwischen Subjekt und Objekt anbietet, als ein Problem, das überhaupt nur aufkomme, weil Hegel die Entfremdung des Menschen von sich selbst nicht richtig fasse, sondern sie auf rein geistiger Ebene zu lösen versuche und dadurch reproduziere. Marx kritisiert an Hegel damit zwar, dass Gegenstand und Subjekt im absoluten Wissen ineins fielen, so dass das Subjekt zugleich Bewegung, Bewegtes und Beweger sei, aber er teilt damit auch die Prämisse, dass es ein Subjekt geben müsse, das sich selbst in einem anderen setze, um Subjekt zu sein. In dieser Hinsicht nimmt er eine dritte Position zwischen Feuerbach und Hegel ein. Auf der einen Seite meint er wie Feuerbach, dass der sinnliche Gegenstand eine Unabhängigkeit vom Subjekt habe und behalte. Zugleich teilt er jedoch mit Hegel die Einsicht, dass das Subjekt sich vergegenständlichen müsse, um sich selbst als Objekt zu haben. In polemischer Abgrenzung zu Hegel, aber auch im Unterschied zu Feuerbach bestimmt er als dieses Subjekt bereits in den ÖPM die Geschichte der menschlichen Arbeitsteilung. Diese Thesen sind anhand einiger prägnanter Stellen in der Auseinandersetzung mit Hegel zu belegen. Marx kritisiert an Hegel, dass dieser den Unterschied von Subjekt und Objekt dadurch zu überbrücken versuche, dass er Gegenstände als Produkte des abstrakten Denkens kennzeichne. Hegel wolle zeige, „daß Sinnlichkeit, Religion, Staatsmacht etc geistige Wesen sind“ 887 . In dieser Kritik wird deutlich, dass auch Marx die Differenz des Subjekts zu seinem Gegenstand aufheben will. Marx wendet sich nicht dagegen, die Kluft zwischen Subjekt und Objekt aufheben zu wollen, sondern dagegen, wie Hegel diese Differenz und das sie transzendierende Subjekt bestimmt. Für Marx besteht die Aufklärung dieser Gegenstände in der „Erkenntniß, daß das sinn- 885 Gemeint sind damit die beiden Schriften Feuerbach: Thesen zur Reformation der Philosophie, S. 243-262 und Feuerbach: Grundsätze der Philosophie der Zukunft, S. 264-341. 886 Siehe beispielsweise Taubert: Inge: Einleitung, In: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Abteilung I, Bd. 2, Berlin: Dietz 1982, S. 35*. 887 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 285. <?page no="234"?> 234 liche Bewußtsein kein abstrakt sinnliches Bewußtsein, sondern ein menschlich sinnliches Bewußtsein, daß die Religion, der Reichthum etc nur die entfremdete Wirklichkeit der menschlichen Vergegenständlichung, der zum Werk herausgebornen menschlichen Wesenskräfte und darum nur der Weg zur wahren menschlichen Wirklichkeit sind“ 888 . Gegen Hegel besteht Marx darauf, dass das, was bei Hegel Produkte eines rein geistigen Subjekts sei, tatsächlich das Werk des konkreten Menschen sei. Zwar folgt Marx Feuerbach darin, ‚den Menschen‘ als Subjekt anzusehen, zugleich bestimmt er dieses Subjekt jedoch anders als dieser, nämlich nicht nur als sinnliches Wesen, sondern als eine tätige Kreatur, die in der Produktion sein produktives Vermögen vergegenständlicht und sich darin anschaut. In dieser Kritik deutet Marx damit die von Hegel geforderte Versöhnung zwischen Subjekt und Objekt um. Dieses Problem stelle sich überhaupt nur auf Grundlage der Selbstentfremdung des Menschen mit sich und seiner Umdeutung in einen Gegensatz zwischen abstraktem Denken und sinnlichem Gegenstand. Marx interpretiert das Vorhaben von Hegel, Objekt und Subjekt zu versöhnen, als Problematik der Selbstentfremdung des Menschen. Er kritisiert Hegel dafür, dass er den Gegensatz als eine zwischen Gegenständlichkeit und abstraktem Denken fasst, wo eigentlich die Entfremdung als ein Widerspruch des Menschen mit sich selbst, nämlich mit dem Objekt, das er bereits als Eigenes gesetzt hat, entstanden sei: „Nicht daß das menschliche Wesen sich unmenschlich, im Gegensatz zu sich selbst sich vergegenständlicht, sondern, daß es im Unterschied von und im Gegensatz zum abstrakten Denken sich vergegenständlicht, gilt als das gesezte und als das aufzuhebende Wesen der Entfremdung.“ 889 So nimmt Marx die spekulative Grundthese von der Einheit von Subjekt und Objekt auf und sieht sie als in der praktischen Lebenswirklichkeit praktisch schon gelöst an, wenn der Mensch sein Gattungswesen in nichtentfremdeter Weise vergegenständlichen könnte. Marx integriert so die These von der Identität von Subjekt und Objekt insofern in seinen Materialismus, als der Mensch sich in der Arbeit die Objekte seines Umgangs tatsächlich selbst produziere, sein eigenes Wesen in eine materielle Form bringe und so sein eigenes Wesen zum Gegenstand habe: „Die Menschlichkeit der Natur und d[er] von der Geschichte erzeugten Natur, d[er] Producte des Menschen, erscheint darin, daß sie Producte des abstrakten Geistes sind und insofern also geistige Momente, Gedankenwesen.“ 890 Natur und Mensch sind nach der Marxschen Vergegenständlichungstheorie jedoch nicht getrennt. Es sei die entfremdete Arbeit, die die Produzenten 888 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 285. 889 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 284. 890 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 285. <?page no="235"?> 235 von ihrem Produkt trenne, und die spekulative Philosophie reproduziere diese Trennung im Gegensatz ihres abstrakten Denkens vom sinnlichem Gegenstand. Die Setzung der Natur durch den Menschen sieht Marx mithin in der nicht-entfremdeten Arbeit bereits als gegeben, die Selbstsetzung des Menschen durch die Aneignung der von ihm ursprünlich getrennten Materie sei das Korrelat der Versöhnung von Subjekt und Objekt bei Hegel. Die obige These, dass Marx den Kern des Hegelschen Idealismus, die Identität von Subjekt und Objekt dadurch übernimmt, dass das Subjekt sich selbst in einem Anderen setzt, als den Charakter von Arbeit beschreibt und wieder gegen diese spekulative These selbst wendet, findet auch Bestätigung im positiven Bezug von Marx auf Hegel in den ÖPM. Marx gesteht Hegel bei aller Kritik zu, die Selbsterzeugung des Subjekts - das aber als Mensch gefasst werden sollte - richtig dargestellt zu haben. „Das Grosse an der Hegelschen Phänomenologie und ihrem Endresultate - der Dialektik, der Negativität als dem bewegenden und erzeugenden Princip - ist also, einmal daß Hegel die Selbsterzeugung d[es] Menschen als einen Proceß faßt, die Vergegenständlichung als Entgegenständlichung, als Entäusserung, und als Aufhebung dieser Entäusserung; daß er also das Wesen der Arbeit faßt und den gegenständlichen Menschen, wahren, weil wirklichen Menschen, als Resultat seiner eignen Arbeit begreift.“ 891 Marx meint, Hegel habe in der Form der Vergegenständlichung des Subjekts in einem Anderen, der damit einhergehenden Entfernung des Subjekts von sich selbst und der Aufhebung dieser Entfernung in der Anerkennung des Objekts als Selbstgeschaffenes den Charakter der Arbeit selbst bestimmt. Marx sieht damit seine Bestimmung von Arbeit als Vergegenständlichung des Gattungswesens des Menschen als die Weiterentwicklung der Erkenntnis, die Hegel in seiner Philosophie bereits gewonnen habe. Der Mensch sei Resultat seiner eigenen Arbeit darin, dass er sich selbst durch Arbeit erhalte und die ihn umgebende, ihm vorausgesetzte Objektivität in eigene Setzungen verwandele. Marx sieht sich damit selbst in der Tradition der Hegelschen Philosophie, insofern der Mensch als Resultat seines eigenen Tuns bestimmt wird. Marx teilt somit mit Hegel die Auffassung, dass der Mensch wirkliches Subjekt sei, weil dank seiner Tätigkeit, dank seiner Aktivität alle Gegenstände bloß Setzungen seiner selbst seien. Dass Marx sich die Selbsterzeugung des Menschen durch die Veränderung der Natur mittels Arbeit denkt, erläutert er kurz vor der Auseinandersetzung mit Hegel. Damit der Mensch als selbständiges Wesen gelten könne, müsse er sich selbst erzeugen: „Ein Wesen gilt sich erst als selbständiges, sobald es auf eignen Füssen steht und es steht erst auf 891 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 292. <?page no="236"?> 236 eignen Füssen, sobald es sein Dasein sich selbst verdankt.“ 892 Marx problematisiert daraufhin diese Bewegung mit der Frage, wie es denn sein könne, dass der Mensch sich selbst schaffe? Er antwortet mit Aristoteles: Der Mensch schaffe den Menschen im Gattungsakt: „Du mußt auch die Kreisbewegung, welche in jenem Progreß sinnlich anschaubar ist, festhalten, wonach der Mensch in der Zeugung sich selbst wiederholt, also der Mensch immer Subjekt bleibt.“ 893 Die Kreisbewegung als Antwort auf die Frage, wie der Mensch sich selbst schaffen könne, hält er formell für richtig; allerdings kommt es Marx nicht nur auf die Wiederholung der bloßen Existenz an. Daher muss diese Kreisbewegung für Marx auf das Wesen des Menschen übertragen werden, in der und durch die Produktion Subjekt zu sein: „Indem aber für den socialistischen Menschen die ganze sogenannte Weltgeschichte nichts andres ist als die Erzeugung des Menschen durch die menschliche Arbeit, als das Werden der Natur für d[en] Menschen, so hat er also den anschaulichen, unwiderstehlichen Beweis von seiner Geburt durch sich selbst, von seinem Enstehungsprozeß.“ 894 Für Marx ist somit das Erzeugen der Natur, seiner Objekte durch Arbeit gleichbedeutend mit der Selbsterzeugung des Menschen. Zwar hat Hegel für Marx den Charakter der Arbeit richtig erfasst; allerdings habe seine Theorie den Mangel, dass sie nur die geistige Tätigkeit als Selbstsetzung des Menschen fasse. Damit fasse Hegel die Selbstentfremdung des Menschen von den Objekten, die er bereits geschaffen hat, als Entfremdung von Subjekt und Objekt auf. An dem Schluss- und Höhepunkt der Hegelschen Theorie, dem absoluten Wissen, sehe man, dass Hegel nicht darum gehe, die Selbstentfremdung, sondern die Fremdheit des abstrakten Denkens zur sinnlichen Gegenständlichkeit aufzuheben. „Es gilt daher den Gegenstanddes Bewußtseins zu überwinden. Die Gegenständlichkeit als solche gilt für ein entfremdetes, dem menschlichen Wesen, dem Selbstbewußtsein nicht entsprechendes Verhältniß des Menschen […] d.h. also der Mensch gilt als ein nicht-gegenständliches, spiritualistisches Wesen.“ 895 Marx wirft Hegel vor, den Gegensatz des selbstentfremdeten Menschen zu sich selbst zu übertragen auf ein abstraktes Subjekt auf der einen und sinnliche Gegenständlichkeit auf der anderen Seite. Diese Trennung, dieser Reflex der Entfremdung in der Philosophie werde dann durch Hegel vermeintlich aufgehoben, indem die eine Seite des Gegensatzes negiert 892 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 273. 893 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 273. 894 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 274. 895 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 293. <?page no="237"?> 237 werde. 896 Marx kritisiert diese Abtrennung des Subjekt-Seins vom Menschen und hält es für eine wichtige Einsicht, dass der Mensch nicht im Subjekt-Sein aufgehe, sondern dass er als sinnliches Wesen Subjekt sei. Indem Hegel den Menschen von seiner produktiven Tätigkeit trenne, bleibe nur übrig, dass er Subjekt sei. Hegel führe die Bestimmungen dieser Abstraktion aus, anstatt das Subjekt-Sein als ein Prädikat des produktiven Menschen zu erkennen und an der Produktion auszuführen. „Der Gegenstand zeigt sich nicht nur [...] als zurückkehrend in das Selbst. Der Mensch wird = Selbst gesezt. Das Selbst ist aber nur der abstrakt gefaßte und durch Abstraktion erzeugte Mensch. Der Mensch ist Selbstisch.“ 897 Marx kritisiert die „Überwindung des Gegenstandes des Bewußtseins“ 898 , in der das Ding vom Selbstbewusstsein als von ihm gesetzt gewusst werde und dadurch in seinem Anderssein bei sich sei, wodurch das Subjekt zum allein geistigen Wesen werde. In dieser Kritik geht Marx allerdings nicht immanent vor, sondern operiert vom Standpunkt der Feuerbachschen Entfremdung her und wirft Hegel aus dieser Perspektive Mängel vor. 899 „Da nun nicht der wirkliche Mensch, darum auch nicht die Natur - der Mensch ist die menschliche Natur - als solcher zum Subjekt gemacht wird, sondern nur die Abstraktion d[es] Menschen, das Selbstbewußtsein, so kann die Dingheit nur das entäusserte Selbstbewußtsein sein“ 900 . Marx setzt dieser Hegel vorgeworfenen Trennung von abstraktem Denken und sinnlicher Gegenständlichkeit eine positive Bestimmung entgegen. Seine Theorie der Vergegenständlichung durch Arbeit muss nicht die Selbstsetzung als Subjekt postulieren, weil der Mensch bereits durch reale, produktive Selbstsetzung Subjekt sei. Wenn der Ausgangspunkt nicht die Entgegensetzung von Subjekt und Objekt überhaupt ist, sondern die vom Menschen zu sich selbst, der entfremdete Produkte in die Welt setzt ist, dann ist für Marx nicht die Gegenständlichkeit überhaupt zu überwinden, sondern nur spezifisch jene Gegenständlichkeit, die dem Menschen seiner 896 An dieser Stelle wird nochmals deutlich, wie stark Marx Hegels Philosophie in den ÖPM verfehlt, denn dieser hat nicht gemeint, dass die Gegenständlichkeit durch den Geist aufgehoben werde, sondern vielmehr, dass der Gegenstand des Subjekts sich als selbstgesetzt erweisen werde. Marx hat in den ÖPM die generelle Tendenz, Hegel nicht immanent zu kritisieren - wie er es ansatzweise in dem Manuskript ‚Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie‘ gemacht hat - sondern seine durch Feuerbach und Hegel geschulte Entfremdungstheorie auf Hegels Philosophie anzuwenden und sie abwechselnd als philosophischen Reflex der ökonomischen Entfremdung zu kritisieren oder als Vorarbeit zu seiner positiven Vergegenständlichungstheorie zu interpretieren. 897 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 294. 898 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 294. 899 Siehe Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 294. 900 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 295. <?page no="238"?> 238 wesenshaften Qualität beraubt, über Arbeit Subjekt seiner selbst zu werden. „Wenn der wirkliche, leibliche, auf der festen wohlgerundeten Erde stehende, alle Naturkräfte aus und einathmende Mensch seine wirklichen, gegenständlichen Wesenskräfte durch seine Entäußerung als fremde Gegenstände sezt, so ist nicht das Setzen Subjekt; es ist die Subjektivität gegenständlicher Wesenskräfte, deren Action daher auch eine gegenständliche sein muss.“ 901 Nach der Kritik des Hegelschen Idealismus geht Marx daran, „die positiven Elemente der hegel‘schen Dialektik - innerhalb der Bestimmung der Entfremdung - zu fassen.“ 902 Marx sieht es dabei als bleibende Leistung Hegels an, sowohl die grundlegende Bestimmung von Arbeit als auch ihre entfremdete Gestakt bestimmt zu haben. Hegel hat nach Marx die Charakteristika von beiden Bereichen richtig dargestellt, „er faßt - innerhalb der Abstraktion - die Arbeit als den Selbsterzeugungsakt des Menschen, das Verhalten zu sich als fremdem Wesen und das Bethätigen seiner als eines fremden Wesens als das werdende Gattungsbewußtsein und Gattungsleben.“ 903 Erstens sieht es Marx demnach als Hegels Verdienst an, dass dieser in der Tätigkeit des Menschen seine Selbsterzeugung erblickt. Marx meint, dass der Mensch sich in der Arbeit dadurch selbst erschaffe, dass er die Natur vermenschliche und so die ihm eigene Beziehung zu der Allgemeinheit der ihn umgebende Objekte nicht nur passiv-theoretisch auf ihm vorausgesetzte Gegenstände beziehe, sondern neue Gegenstände schaffe, deren Begriff er vorgebe und setze. Der Mensch erweise sich insofern als Subjekt. In dieser Hinsicht sieht sich Marx in der Tradition von Hegels Philosophie. Der wahre Kommunismus ist insofern für Marx die praktizierte Aufhebung der Kluft zwischen Subjekt und Objekt, weil die Arbeit in ihm zu ihrer eigentlichen Bestimmung finde, den Menschen zu einem Subjekt im Hegelschen Sinne zu machen. Löwith hat den Hegelbezug dieses zentralen Elements passend formuliert: Der Kommunismus ist für Marx „die praktische Weise, wie der gesellschaftlich existierende Mensch die gesamte Gegenständlichkeit als selbsterzeugte in seiner Gewalt behält und im Anderssein bei sich selbst ist.“ 904 Zweitens meint Marx, dass Hegel in der Entfremdungsbewegung nicht nur die typisch-menschliche Vergegenständlichungsbewegung erfasst habe, sondern auch die Arbeit in ihrer entfremdeten Gestalt. Allerdings bewertet Hegel diese negative Seite der Arbeit gar nicht als negativ. „Hegel steht auf dem Standpunkt der modernen Nationalökonomen. Er erfaßt die Arbeit als das Wesen, als das sich bewährende Wesen d[es] Menschen; er sieht nur die positive Seite der 901 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 295. 902 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 301. 903 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 301. 904 Löwith: Von Hegel zu Nietzsche, S. 302. <?page no="239"?> 239 Arbeit, nicht ihre negative.“ 905 Dennoch habe er in der von ihm beschriebenen Entfremdungsbewegung, in der das Subjekt das vergegenständlichte Selbst nicht als das eigene Produkt anerkenne, die ökonomische Entfremdung auf den Punkt gebracht: Das Produkt steht dem Erzeuger als von ihm scheinbar unabhängiges Objekt gegenüber. Sowohl in der Bemühung, sich von Hegel abzugrenzen, als auch in der positiven Würdigung von dessen Leistungen zeigt sich somit, dass er dessen Subjektbegriff auf den produktiven Menschen überträgt. Während er in der Bestimmung der ökonomischen Entfremdungskritik vor allem auf Feuerbach zurückgreift, stützt er das dieser Kritik zugrundeliegende positive Vergegenständlichungskonzept bei aller Kritik auf wesentliche Kerngedanken von Hegels ‚Phänomenologie‘. Marx übernimmt von Hegel die Vorstellung von dem Subjekt, das sich dadurch in der Tätigkeit selbst schafft, dass es sich in einem ihm Anderen setzt. Marx kann daher die Auflösung der ökonomischen Entfremdung auch als das Ende der Subjekt- Objekt-Trennung charakterisieren. „Also die Gesellschaft ist die vollendete Wesenseinheit des Menschen mit der Natur, die wahre Resurrektion der Natur, der durchgeführte Naturalismus d[es] Menschen und der durchgeführte Humanismus der Natur.“ 906 10.5. Entfremdung als negativer Wertmaßstab In den ÖPM identifiziert Marx die der religiösen Entfremdung zugrunde liegende Entfremdung in der sozialen Wirklichkeit. Dafür überträgt er die kritischen Aspekte der Feuerbachschen Entfremdung auf das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital, um die Genese des Privateigentums als Produkt ausbeuterischer Arbeit zu bestimmen. Der Lohnarbeiter schaffe im Kapital ein Produkt, dass ihm nicht in der Einbildung, sondern praktisch selbständig, mächtig, feindlich und seine Kollektivität zerstörend gegenüber trete. Diese negative Entfremdung impliziert eine nicht-pervertierte Vergegenständlichung des Menschen. Marx kommt somit von der Anwendung der Feuerbachschen Entfremdungskritik zu der Notwendigkeit, eine positive Vergegenständlichung zu postulieren. Dabei greift er auf die aus seiner Auseinandersetzung mit Hegel übrig gebliebene idealistische Aussage zurück, dass Subjekt und Objekt dadurch nicht getrennt seien, dass das Subjekt sich selbst in einem Anderen setze. Diese von Hegel übernommene und allem idealistischen Inhalt entkleidete Aussage wendet Marx materialistisch. Für ihn ist die Vergegenständlichung keine des Bewusstseins, sondern des praktisch tätigen Produzenten. Diese Selbstset- 905 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 292f. 906 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 266f. <?page no="240"?> 240 zung des Produzenten in einem ihm Anderen Arbeitsprodukt konstituiert dessen Bestimmung als Subjekt. Weil diese Arbeit als entfremdete Lohnarbeit geschieht, entfremdet sich das Produkt und erhält die Bestimmung, Privateigentum eines anderen zu sein. Es ist demnach die Anwendung der von ihm rezipierten Feuerbachschen Entfremdungskritik und seiner von Hegel entlehnten Bewegung der Vergegenständlichung des Subjekts, die Marx das Privateigentum auf Ausbeutung zurückführen lässt. Marx leitet die Textstellen zur Entfremdung mit der Frage ein, wieso dem Arbeiter bei steigender Produktivität immer weniger verbleibe. Seine Kommentierung zu Adam Smiths kann als Resümee seiner Entfremdungstheorie gelesen werden. Marx fasst zusammen, „daß dem Arbeiter immer mehr von seinen Produkten aus der Hand genommen wird, daß seine eigne Arbeit ihm immer mehr als fremdes Eigenthum gegenübertritt“ 907 . Der Marxsche Bewertungsmaßstab wird den ÖPM demnach nicht nur negativ durch die Anwendung der Feuerbachschen Entfremdungskritik gewonnen, er bleibt auch explizit negativ, nämlich dass der Mensch sich von der ökonomischen Entfremdung durch die Aufhebung des Verhältnisses von Lohnarbeit und Kapital emanzipieren müsse. Der dieser Kritik zugrunde liegende positive Gehalt des Wertmaßstabs ist die Bestimmung, dass es dem Menschen eigentümlich sei, dass er sein kreatives, schöpferisches Wesen in einem ihm zunächst fremden Arbeitsgegenstand setze und danach als Arbeitsprodukt anschaut. Dadurch könne der Mensch seine individuellen schöpferischen Anlagen zur Entfaltung bringen und zugleich seine Bedürfnisse nicht nur in der ihm adäquaten Weise befriedigen, sondern diese auch verfeinern und weiter entwickeln. Die Realisierung dieses menschlichen Wesens werde ihm im Kapitalismus verwehrt; diese Produktionsweise werde damit diesem Maßstab nicht gerecht. Vielmehr sei es so, wie Marx an anderer Stelle schreibt, dass im Kapitalismus dem Arbeiter „sein Leben als Aufopferung seines Lebens, daß die Verwirklichung seines Wesens als die Entwirklichung seines Lebens, daß seine Production als Production seines Nichts, daß seine Macht über den Gegenstand als die Macht des Gegenstands über ihn, daß er der Herr seiner Schöpfung als der Knecht dieser Schöpfung erscheint.“ 908 In den ‚Quellen der Deutschen Ideologie‘ (‚Quellen der DI‘) entwickelt Marx zusammen mit Engels seine materialistische Geschichtsauffassung. Bereits in den ÖPM hat Marx die Abhängigkeit der verschiedenen geistigsozialen Aspekte von der Produktion bemerkt. „Religion, Familie, Staat, Recht, Moral, Wissenschaft, Kunst etc sind nur besondre Weisen der 907 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 197. 908 Marx: James Mill, MEGA IV,2, S. 452f. <?page no="241"?> 241 Production und fallen unter ihr allgemeines Gesetz.“ 909 Diese Abhängigkeit wird in den ‚Quellen der DI‘ geschichtlich gewendet und gegen die in den ÖPM noch explizit vertretene Vorstellung von einem menschlichen Wesen gewendet. Während Marx noch in seinen Notizen zu Mill die Entfremdung des Menschen von sich und des gesellschaftlichen Zusammenhangs von sich identisch setzt 910 , teilt er diese beiden Aspekte der Entfremdung in den ‚Quellen der DI‘ explizit in zwei verschiedene Phänomene. Die Entfremdung des Menschen von seinem Wesen kritisiert er dabei auf Grundlage der Analyse der entfremdeten gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Es wird zu zeigen sein, dass er dennoch implizit ein Wesen des Menschen voraussetzt. 909 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 264. 910 Nach Marx ist es „ein identischer Satz, daß der Mensch sich selbst entfremdet, und daß die Gesellschaft dieses entfremdeten Menschen die Carikatur seines wirklichen Gemeinwesens, seines wahren Gattungslebens sei“ (Marx: James Mill, MEGA IV,2, S. 452). <?page no="242"?> 242 11. Der Wertmaßstab in den ‚Quellen der Deutschen Ideologie‘ 11.1. Materialistische Geschichtsauffassung versus historischer Materialismus Im zwanzigsten Jahrhundert werden Marx und Engels eine in sich geschlossene wissenschaftliche Weltanschauung namens ‚historischer Materialismus‘ zugesprochen. Engels benutzt diesen Ausdruck erstmals in der Einleitung zur englischen Ausgabe seiner Schrift ‚Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft‘ zur Kennzeichnung der Geschichtsauffassung von ihm und Marx. Historischer Materialismus sei eine „Bezeichnung derjenigen Auffassung des Weltgeschichtsverlaufs, die die schließliche Ursache und die entscheidende Bewegungskraft aller wichtigen geschichtlichen Ereignisse sieht [sic! ] in der ökonomischen Entwicklung der Gesellschaft, in den Veränderungen der Produktions- und Austauschweise, in der daraus entspringenden Spaltung der Gesellschaft in verschiedne Klassen und in den Kämpfen dieser Klassen unter sich.“ 911 Die Vordenker der Sowjetunion entwickeln unter dieser Bezeichnung die in Engels späteren Schriften dargelegte Weltanschauung weiter und kennzeichnen sie als Grundlage der Marxschen Theorie. 912 In den meisten sozialistischen Ländern des vorigen Jahrhunderts wird sie zur beherrschenden geschichtsphilosophischen Doktrin. Als ihre Grundlage gilt der 1932 veröffentlichte Text ‚Deutsche Ideologie‘ 913 . Laut des Vorwort zur 911 Siehe Engels, Friedrich: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, Einleitung zur englischen Ausgabe 1892, In: Marx-Engels-Werke, Bd. 22, Berlin: Dietz 1972, S. 298. 912 Siehe Küttler, Wolfgang; Petrioli, Alexis und Wolf, Frieder Otto: Historischer Materialismus, In: Haug, Wolfgang Fritz (Hg.): Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 6.1, Hamburg: Argument-Verlag 2004, S. 321-325. 913 Aus den im vorliegenden Abschnitt zu erläuternden Gründen wird in dieser Arbeit der von den Herausgebern der ersten MEGA konstruierte Text ‚Deutsche Ideologie‘ von den ihm zugrundeliegenden Originaltexten, den ‚Quellen der Deutschen Ideologie‘, kurz ‚Quellen der DI‘, unterschieden. Zugleich wird die mit der ‚Deutschen Ideologie‘ legitimierte Weltanschauung als ‚historischer Materialismus‘ bezeichnet, während die von Marx und Engels in den ‚Quellen der DI‘ vertretene Ansicht als ‚materialistische Geschichtsauffassung‘ bezeichnet wird. Zwar wird genau diese Formulierung erstmals 1884 von Engels gebraucht, allerdings bringt sie die Ansicht von Marx und Engels 1845/ 46 gut auf den Punkt. Siehe Hecker, Rolf: Marx mit der MEGA neu lesen - Zum 190. Geburtstag des Klassikers, In: Junge Welt vom <?page no="243"?> 243 Deutschen Ideologie in den Marx-Engels-Werken, das vom Institut für Marxismus-Leninismus des ZK der SED verfasst wurde, wird im zentralen Teil dieser Schrift der historische Materialismus ausgearbeitet. Dessen grundlegenden Leitsätze würden in dem mit Feuerbach überschriebenen Abschnitt dieses Textes erstmals „ausführlich dargelegt“ 914 . Dies beinhalte u. a. die Begründung der These, dass das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimme und die Erkenntnis, dass der Motor der Weltgeschichte der sich entwickelnde Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsweise sei, der unvermeidlich in einer Revolution aufgelöst werden müsse. 915 Wie so viele theoretische Aussagen von Marx werden auch die ‚Quellen der DI‘ und der aus ihnen zusammengesetzte Text als Lehre kodifiziert und als Instrument der sowjetischen Herrschaft missbraucht. Mit Marx als der offiziell verbindlichen Instanz des Marxismus- Leninismus lässt sich jede Theorie als Theorie denunzieren. Der historische Materialismus, den Marx zusammen mit Engels angeblich in der ‚Deutschen Ideologie‘ entwickelt habe, zeige schließlich, dass es in der Geschichte auf die Praxis ankäme; die vorgetragene Theorie sei aber keine Praxis, und daher nichtig. Diese theoriefeindliche Stellung des offiziellen Ostblock-Marxismus zeigt sich auch in der Editionsgeschichte des ersten Teils der ‚Deutschen Ideologie‘, des so genannten Feuerbach-Kapitels. 1926 veröffentlicht der Herausgeber der ersten Russischen Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) Rjazanow erstmals - noch außerhalb des Rahmens der ersten MEGA - einige ‚Quellen der DI‘. Die zweite MEGA würdigt diese Publikation als „beachtlichte wissenschaftlich-editorische Leistung.“ 916 In dieser ersten Publikation wird dabei der teils fragmentarische und heterogene Charakter der Schriften anerkannt. 917 Kurz vor der geplanten Herausgabe der Quellen der ‚Deutschen Ideologie‘ im Rahmen der ersten MEGA fällt Rjazanow 05.05.2008, S.10 und Marx; Engels: Die Deutsche Ideologie, Feuerbach und Geschichte, Entwurf S. 1 bis 29, Marx-Engels Jahrbuch 2003, S.28f. 914 Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED: Vorwort, In: Marx-Engels Werke, Bd. 3, Berlin: Dietz 1969, S. VII. 915 Siehe Institut für Marxismus-Leninismus: Vorwort, MEW 3, S. VII-XI. 916 Taubert, Inge und Pelger, Hans: Einführung, In: Internationale Marx-Engels-Stiftung (Hg.): Die Deutsche Ideologie - Artikel, Druckvorlagen, Entwürfe, Notizen zu I. Feuerbach und II. Sankt Bruno, Marx-Engels Jahrbuch 2003, Berlin: Akademie-Verlag 2004, S. 9*. 917 Die erste Ausgabe von Rjazanow diente 2004 als Grundlage einer Neuherausgabe im Kröner-Verlag derjenigen Texte, aus dem der Anfang der Deutschen Ideologie in der ersten MEGA konstruiert wurde. Siehe Marx, Karl und Engels, Friedrich: Die Deutsche Ideologie (1845/ 46), Erster Band: Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner, In: Landshut, Siegfried (Hg.): Karl Marx - Die Frühschriften, Stuttgart: Kröner 2004, S. 405-554. <?page no="244"?> 244 1931 bei der sowjetischen Führung in Ungnade und wird verbannt. 918 Die ein Jahr später erscheinende vollständig neue Edition im Rahmen der ersten MEGA ist jene Schrift, die als ‚Deutsche Ideologie‘ bekannt wird. Sie wird im Rahmen der Marx-Engels-Werke fast wortgetreu übernommen. Diese Publikation suggeriert die Existenz eines kohärenten und fertig ausgearbeiteten Feuerbach-Kapitels, und soll damit als solide Grundlage für den im Ostblock vorherrschende Ideologie vom historischen Materialismus dienen. 919 Spätestens mit der erstmaligen Veröffentlichung der ‚Quellen der DI‘ im Rahmen der zweiten MEGA wird diese Interpretation revidiert. Zwar liegt der Band zu den ‚Quellen der DI‘ noch nicht vor, allerdings werden jene Texte, aus dem der Anfang der Deutschen Ideologie in der ersten MEGA konstruiert wurde, vorab im Marx-Engels Jahrbuch 2003 veröffentlicht. 920 Hier werden jene ‚Quellen der DI‘, aus denen in der ersten MEGA und den MEW ein vollständiges Feuerbach-Kapitel konstruiert worden sind, in der Reihenfolge ihrer Niederschrift und möglichst originalgetreu veröffentlicht. Es wird dem entsprechend auch nicht der Versuch unternommen, ein Feuerbach-Kapitel zu rekonstruieren. Diese Veröffentlichung zeigt, dass der große Teil des Feuerbach-Kapitels in der Deutschen Ideologie, die die MEGA angenommen hat, aus drei heterogenen Teilen besteht, die Marx erst nach ihrer Niederlegung im Nachhinein und auch nur teilweise durch fortlaufende Paginierung zusammen angeordnet hat und die größtenteils noch Entwurfcharakter haben. Später sind Textanfänge entstanden, die den Titel ‚I. Feuerbach‘ tragen. Sie bestehen aus Einleitung, Kapitelanfang und Textfragmenten, teilweise in Reinschrift, teilweise in verschiedenen Varianten, und sind größtenteils für die Konstruktion des 918 Siehe Hecker, Rolf: Rjazanovs Herausgabe der MEGA und oder vs. Marxismus- Leninismus, In: Lethen, Helmut; Schmieder, Falko und Löschenkohl, Birte (Hg.): Der sich selbst entfremdete und wiedergefundene Marx, München: Wilhelm Fink Verlag 2010, S. 139f. 919 Der Umgang der stalinistischen Sowjetunion mit den Schriften von Karl Marx zeigt, dass er keineswegs als wahre Autorität gewürdigt wurde und stattdessen vielmehr als Kultfigur und Legitimationshilfe sowjetischer Gewaltpolitik herhalten musste: Die editorisch gründliche Marx-Forschung mitsamt der Herausgabe seiner gesamten Schriften im Rahmen der ersten MEGA wurde im Zuge der stalinistischen ‚Säuberungen‘ der KP ohne weiteres in den 30er Jahren eingestellt. Erst Ende der 60er Jahre wurde die Editionsarbeit an der so genannten zweiten MEGA aufgenommen. Siehe Hecker: Rjazanovs Herausgabe der MEGA, S. 138-140. Die Stalinisierung der Marx-Forschung in der Sowjetunion sind dokumentiert in Vollgraf, Carl-Erich (Hg.): Stalinismus und das Ende der ersten Marx-Engels-Gesamtausgabe (1931-1941) - Dokumente über die politischen Sa ̈ uberungen des Marx-Engels-Instituts 1931 und zur Durchsetzung der Stalin‘schen Linie, Berlin: Argument-Verlag 2001. 920 Marx; Engels: Die Deutsche Ideologie, Marx-Engels Jahrbuch 2003. Im Folgenden wird wenn möglich aus dieser Edition zitiert. Für alle anderen Fälle wird Band drei der Marx-Engels Werke herangezogen. <?page no="245"?> 245 Anfangs des Kapitels ‚I. Feuerbach‘ der Deutschen Ideologie der ersten MEGA benutzt worden. Der Text ‚Deutsche Ideologie‘ muss daher als eine zwar mit Textfragmenten von Marx und Engels zusammengestellte, jedoch von den Herausgebern der ersten MEGA maßgeblich konstruierte Schrift angesehen werden. Die Herausgeber der zweiten MEGA kommen zu dem Schluss, dass diese Konstruktion eines Feuerbach-Kapitels in der ersten MEGA (und damit auch der weit verbreitete MEW-Ausgabe) unter anderem dazu diente, um die Quellen als „Kronzeuge für den sogenannten dialektischen und historischen Materialismus“ 921 zu instrumentalisieren. Die Behauptung, dass eine „Ausarbeitung des historischen Materialismus“ 922 damit einem vermeintlich ausgearbeiteten Text namens ‚Deutsche Ideologie‘ vorangestellt ist und damit „den wichtigsten Platz“ 923 , einnimmt, lässt sich so nicht mehr halten. Es bedürfte einer genauen philologischen Arbeit, um den Stellenwert des Feuerbach-Kapitels anhand der neuen Quellenlage neu zu interpretieren. Die Fiktion eines kohärenten und fertig ausgearbeiteten Textes lässt sich zumindest nicht aufrecht erhalten. 924 Es wäre jedoch ebenso falsch, wegen des Missbrauchs der ‚Quellen der DI‘ diese Überlieferung komplett zu ignorieren. Es ist allerdings nötig, die Zeugnisse als das anzuerkennen, was sie sind: Eine Masse heterogener Texte, die verschiedene Stadien eines Forschungsprozesses von Marx und Engels darstellen, als sie beginnen, sich der Ökonomie zuzuwenden und 921 Siehe Taubert; Pelger: Einführung, Die Deutsche Ideologie, Marx-Engels Jahrbuch 2003, S. 15*. 922 Institut für Marxismus-Leninismus: Vorwort, MEW 3, S. VII. 923 Institut für Marxismus-Leninismus: Vorwort, MEW 3, S. VII. 924 Für diese Position argumentieren Heinrich, Michael: Praxis und Fetischismus - Eine Anmerkung zu den Marxschen Thesen über Feuerbach und ihrer Verwendung, In: Kirchhoff, Christine u. a. (Hg.): Gesellschaft als Verkehrung - Perspektiven einer neuen Marx-Lektüre; Festschrift FürHelmut Reichelt, Freiburg: Ça Ira 2004, S. 249- 270; Schmieder, Falko: Für eine neue Lektüre der Feuerbachkritik, der Thesen über Feuerbach und der Deutschen Ideologie, In: Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge (2006), S. 178-206; und Carver, Terrell: The German Ideology never took place, In: History of Political Thought 31.1 (2010), S. 107-127. Problematischer noch als die ‚Quellen der DI‘ sind die Thesen über Feuerbach, die in der MEW-Ausgabe der Deutschen Ideologie vorangestellt wurden. Es handelt sich hierbei um Thesen, die nicht in unmittelbaren Zusammenhang mit den ‚Quellen der DI‘ stehen: Wie Heinrich anmerkt, hatte Marx diese Thesen Engels nie gezeigt, obgleich Marx und Engels zur Entstehungszeit dieser Thesen eng an mehreren geplanten Projekten zur Kritik des Junghegelianismus in Deutschland zusammenarbeiteten - Engels war ziemlich überrascht, als er diese 40 Jahre später in Nachlass seines Freundes fand. Zudem taucht der dort thematisierte Praxisbegriff in den ‚Quellen der DI‘ nur noch sehr selten auf - stattdessen ist eher von Produktion und der ihr enstsprechenden Verkehrsform die Rede. Zudem hat Marx die Thesen über Feuerbach später nie wieder erwähnt oder für seine Argumentationen benutzt. Siehe Heinrich: Praxis und Fetischismus , S. 249f. <?page no="246"?> 246 mit ihrem „ehemaligen philosophischen Gewissen abzurechnen“ 925 . Ist man dessen gewahr, erhellen diese Texte - auch wenn sie nicht mehr als das Gründungszeugnis einer fertig ausgearbeiteten Weltanschauung gelten können - die Ansichten von Marx und Engels zu konkreten Bestandteilen und zur systematischen Grundlage ihrer theoretischen Arbeit. Allerdings wirft die neue Einordnung der Texte auch ein neues Licht auf deren Inhalte. 926 In dem Text ‚Deutsche Ideologie‘, wie er in der ersten MEGA herausgegeben worden sind, sind die hauptsächlichen Thesen und Argumente, die für die Legitimation des historischen Materialismus in Anspruch genommen worden sind, widersprüchlich, teilweise inkohärent und dadurch problematisch. Bezieht man jedoch den Entstehungskontext der ‚Quellen der DI‘ in ihre Interpretation mit ein und charakterisiert man die Texte als Momentaufnahmen eines Forschungsprozesses, so lassen sich einige der Widersprüche und Probleme, die bei der unbefangenen Lektüre offensichtlich werden, zumindest nachvollziehen. Die von Marx selbst gegebene Einordnung dieser Texte, derzufolge sie die Abrechnung mit Marx‘ und Engels philosophischem Gewissen darstellen 927 , gibt einen Hinweis darauf, wo diese Widersprüche und Probleme herrühren: Die hier geäußerten Argumente sind in erster Linie negativ auf frühere Positionen bezogen und erarbeiten nur insofern eine neue weltanschaulichen Grundlage, indem die Autoren sich von anderen Standpunkten abgrenzen wollen. Marx und Engels gelangen nicht in erster Linie durch substantielle Forschung geschichtlicher Ereignisse zu ihrer materialistischen Geschichtsauffassung. Stattdessen verdankt sie sich zumindest in diesen Schriften noch stark dem Abgrenzungsbemühen von Marx und Engels gegen ihre junghegelianische Auffassung, von der sie sich in Form der polemischen Kritik an den Junghegelianern Stirner, Bauer und Feuerbach lösen. Ironischerweise ist Marx‘ und Engels‘ Abgrenzung zur Philosophie und ihr Beharren auf praktischer Veränderung gegen die reine Theorie der Philosophie und die Priorität der 925 Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie, Erstes Heft, MEGAII,2, S. 101f. 926 Nach Schmieder(2006) werden die ‚Quellen der DI‘ heutzutage in drei Punkten anders beurteilt als früher. Erstens wird der Entstehungszusammenhang und der fragmentarische Charakter der Schriften nicht länger ignoriert. So sind Forscher zunehmend der Ansicht, dass man nicht von einer fertig ausgearbeiteten Geschichtstheorie bei Marx reden kann. Der Ansicht sind auch so beispielsweise Rohbeck und Mäder. Zweitens wird die Kontinuität der in diesen Texten dargestellten Gedanken relativiert. Und drittens ist die Auseinandersetzung zugleich von einer kritischen Wiederaneignung dieser Texte gekennzeichnet. Es ist zuzustimmen, dass eine kritische Hinterfragung aller drei Komponenten notwendig ist. Inwiefern die in diesen Texten zu findenden theoretischen Äußerungen aber später noch relevant sind, muss am jeweiligen Gegenstand entschieden werden. Siehe Schmieder: Für eine Neue Lektüre, S. 191f.; Rohbeck, Johannes: Marx, Leipzig: Reclam 2006, S. 83 und Mäder, Denis: Fortschritt bei Marx, Berlin: Akademie-Verlag 2010, S. 303f. 927 Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie, Erstes Heft, MEGAII,2, S. 101f. <?page no="247"?> 247 gesellschaftlichen Umstände über die Veränderung des Bewusstseins damit gerade nicht in erster Linie Resultat einer substantiellen Forschung über die menschliche Tätigkeit, ihre ökonomischen Grundlagen und der Untersuchung des damit im Verhältnis stehenden Bewusstseins, sondern wird in polemischer Abgrenzung zu den besagten Junghegelianern entwickelt, also gerade in Auseinandersetzung mit Philosophie. 928 In den ‚Quellen der DI‘ entwickelt Marx zusammen mit Engels 929 seine in den ÖPM dargelegte Kritik an Hegel zu einer generellen Kritik an Philosophie überhaupt. In polemischer Abgrenzung zu den Junghegelianern verwirft er explizit die Philosophie zugunsten jeder positiven Wissenschaft. „Da wo die Spekulation aufhört, beim wirklichen Leben, beginnt also die wirkliche, positive Wissenschaft, die Darstellung der praktischen Bethätigung, des praktischen Entwicklungsprozesses der Menschen. […] Die selbständige Philosophie verliert mit der Darstellung der Wirklichkeit ihr Existenzmedium.“ 930 Nach dieser expliziten Ankündigung scheint es demnach so zu sein, als würde Marx jedweden philosophischen Ansprüchen abschwören und sich ganz der Nationalökonomie den Staatswissenschaften und Geschichtswissenschaften zuwenden. Der Inhalt des Textkonvoluts der ‚Quellen der DI‘ spricht allerdings dagegen. Obwohl Marx behauptet, seine materialistische Weltanschauung in Auseinandersetzung mit den Gegenständen der menschlichen Geschichte gewonnen zu haben, ist es die Abgrenzung zu Feuerbach und vor allem Stirner und Bauer, auf die er seine Theorie aufbaut. Dahingehend modifiziert er die in den ÖPM gewonnenen Erkenntnisse zwar, überführt sie aber bei weitem nicht in eine außerphilosophische Wissenschaft. Insofern mag er zwar gegen die selbständige Philosophie polemisieren - seine positiven Aussagen verdanken sich in erster Linie dieser Wissenschaft. Zu seiner eigenen bisherigen Entwicklung nimmt Marx einen geteilten Standpunkt ein. Zwar kritisiert er die Junghegelianer dafür, beständig die Wirklichkeit anhand der Religionskritik zu kritisieren. Beurteilt Marx daher seine in den ÖPM geleistete Übertragung der Feuerbachschen Religionskritik auf die Ökonomie daher als Fehlschritt? Es wird zu zeigen sein, dass Marx an der Entfremdungskonzeption zwar auch Kritik übt, 928 Auch Eßbach ist der Ansicht, dass Marx‘ und Engels‘ Materialismus der Verhältnisse ein direkter Gegenentwurf zu Stirners Materialismus des Selbst ist. Siehe Eßbach, Wolfgang: Die Junghegelianer - Soziologie einer Intellektuellengruppe, München: Fink 1988, S. 224. 929 Weil der Bewertungsmaßstab von Marx Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist wird im Folgenden Engels als Mitautor der ‚Quellen der DI‘ der besseren Lesbarkeit wegen nicht mehr eigens genannt. 930 Marx; Engels: Die Deutsche Ideologie, I. Feuerbach, Fragment 2, Marx-Engels Jahrbuch 2003, S. 116. <?page no="248"?> 248 wesentliche Inhalte seiner ökonomischen Entfremdung jedoch weiterhin für richtig hält. Vielmehr stellt er sich nun ganz auf die Seite, die in der ‚Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie‘ bereits angeklungen ist, dass die Entfremdung in der Religion nur der Widerschein einer entfremdeten Welt sei, und dass diese kritisiert werden müsse, um jene aufzuheben. Marx wirft den Junghegelianern vor, die Emanzipation im Gedanken mit der Befreiung in der Wirklichkeit zu verwechseln: „Die Junghegelianer kritisirten Alles, indem sie ihm religiöse Vorstellungen unterschoben oder es für theologisch erklärten. Die Junghegelianer stimmen mit den Althegelianern überein in dem Glauben an die Herrschaft der Religion, der Begriffe, des Allgemeinen in der bestehenden Welt.“ 931 Indem die Junghegelianer für die Befreiung des Bewusstseins auf gedanklicher Ebene kämpften, verhielten sie sich wie die von ihnen kritisierten Althegelianer, denen Marx vorwirft, den Gedanken als die ganze Wirklichkeit zu nehmen: „Da bei diesen Junghegelianern die Vorstellungen, Gedanken, Begriffe, überhaupt die Produkte des von ihnen verselbständigten Bewußtseins für die eigentlichen Fesseln der Menschen gelten […], so versteht es sich, daß die Junghegelianer auch nur gegen die Illusionen des Bewußtseins zu kämpfen haben.“ 932 Dagegen hält Marx fest, dass die Emanzipation eine geschichtliche Tat sei und einer realen Umwälzung bedürfe. Der Interpretation der Welt hält Marx ihre Revolutionierung entgegen. „Die ‚Befreiung‘ ist eine geschichtliche That, keine Gedankenthat, & sie wird bewirkt durch geschichtliche Verhältnisse“ 933 In bewusster Abgrenzung zu den Junghegelianern behauptet Marx das genaue Gegenteil wie die ihnen zugesprochene Auffassung. Nicht das Bewusstsein bestimme das Sein, sondern es sei das gesellschaftliche Sein, das das Bewusstsein bestimme. 934 Dem gemäß sei die Geschichte auch nicht von Abfolgen den Bewusstseins bestimmt, sondern von der materiellen Produktion. 935 Marx und Engels entwickeln diese These nicht argumen- 931 Marx; Engels: Die Deutsche Ideologie, I. Feuerbach, Fragment 2, Marx-Engels Jahrbuch 2003, S. 115. 932 Marx; Engels: Die Deutsche Ideologie, I. Feuerbach, A. Die Ideologie überhaupt, namentlich die deutsche, Marx-Engels Jahrbuch 2003, S. 105. 933 Marx; Engels: Die Deutsche Ideologie, Feuerbach und Geschichte, Entwurf S. 1 bis 29, Marx-Engels Jahrbuch 2003, S. 6. 934 Siehe Marx; Engels: Die Deutsche Ideologie, I. Feuerbach, Fragment 2, Marx-Engels Jahrbuch 2003, S. 115f. 935 „Diese Geschichtsauffassung beruht also darauf, den wirklichen Produktionsprozeß, & zwar von der materiellen Produktion des unmittelbaren Lebens ausgehend, zu entwickeln & die mit dieser Produktionsweise zusammenhängende & von ihr fortwährend erzeugte Verkehrsform, also die bürgerliche Gesellschaft in ihren verschiedenen Stufen als Grundlage der ganzen Geschichte aufzufassen“. (Marx; Engels: Die Deutsche Ideologie, Feuerbach und Geschichte, Entwurf S. 1 bis 29, Marx-Engels Jahrbuch 2003, S.28f.) „Alle Kollisionen der Geschichte haben also nach unsrer Auffassung ihren Ursprung in dem Widerspruch zwischen den Produktivkräften & der <?page no="249"?> 249 tativ, sondern setzen sie abstrakt der kritisierten Position der Junghegelianer entgegen. Es ist daher anzunehmen, dass Marx diese Behauptung nicht in erster Linie in der Auseinandersetzung mit positiven Gegenständen gewonnen hat, sondern dass sie sich dem Abgrenzungsbemühen von der eigenen junghegelianischen Vergangenheit verdankt. Der in ihr liegende Gedanke des Determinismus wird nicht strikt durchgehalten. 936 Wichtig für das vorliegende Kapitel, die Rekonstruktion des Marxschen Bewertungsmaßstabs, ist Marx‘ Kritik an Feuerbach, die polemische Abgrenzung zu der Kategorie ‚der Mensch‘ und die damit einhergehende implizite Neubestimmung des Menschenwesens und des Laufs der Geschichte. 11.2. Der Marxsche Wertmaßstab in den ‚Quellen der Deutschen Ideologie‘ Während Marx Feuerbach in den ÖPM von Mitte 1844 noch begeistert als den Vollender der Hegel-kritik lobt und seine Entfremdungstheorie erstmals auf ökonomische Gegenstände anwendet, übt er in den ‚Quellen der DI‘ scharfe Kritik an der Anthropologie Feuerbachs. Ohne es explizit zu machen, kritisiert Marx damit auch sich selbst, denn die nun inkriminierte Auffassung hat er in den ÖPM noch selbst vertreten. Im Kern wirft Marx Feuerbach eine unhistorische Betrachtungsweise vor, denn dieser „sezt ‚den Menschen‘ statt den ‚wirklichen historischen Menschen‘.“ 937 Zuvor hat Marx in den ÖPM zusammen mit Feuerbach die Hegelsche Bestimmung des Subjekts als zu abstrakt kritisiert. Anstatt des abstrakten Gedankens sei es doch der Mensch selbst, der sich als Subjekt in Verkehrsform.“ (Marx; Engels: Die Deutsche Ideologie, Feuerbach und Geschichte, Entwurf S. 36 bis 72, Marx-Engels Jahrbuch 2003, S. 68) In einer anderen Schrift bringt Marx diese These anschaulich auf den Punkt: „Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten“. (Marx: Das Elend der Philosophie, MEW 4, S. 130) 936 Den Satz, in dem Marx und Engels die Ansicht vertreten, man müsse die Geschichte ausgehend von der materiellen Produktion des unmittelbaren Lebens zu analysieren, führen sie fort, es seien dabei auch „die sämmtlichen verschiedenen theoretischen Erzeugnisse & Formen des Bewußtseins, Religion, Philosophie, Moral &c &c aus ihr zu erklären u. ihren Entstehungsprozeß aus ihnen zu verfolgen, wo dann natürlich auch die Sache in ihrer Totalität (u. darum auch die Wechselwirkung dieser verschiednen Seiten aufeinander) dargestellt werden kann.“ ( Marx; Engels: Die Deutsche Ideologie, Feuerbach und Geschichte, Entwurf S. 1 bis 29, Marx-Engels Jahrbuch 2003, S.28f. ) Marx und Engels gehen demnach nicht von einem einseitigen Einfluss des gesellschaftlichen Seins auf das Bewusstsein aus, sondern wissen auch um eine Wechselwirkung. Derselben Ansicht ist auch Smart, Paul: Mill and Marx - Individual Liberty and the Roads to Freedom, Manchester: Manchester University Press 1991, S. 71. 937 Marx; Engels: Die Deutsche Ideologie, Feuerbach und Geschichte, Entwurf S. 1 bis 29, Marx-Engels Jahrbuch 2003, S. 7. <?page no="250"?> 250 einem materiellen Gegenstand vergegenständlichen müsse. Nun weitet Marx diese Kritik der Abstraktion auch auf den Menschen selbst aus - der auch in seiner Vergegenständlichungs- und Entfremdungskonzeption das Subjekt gewesen ist: ‚Der Mensch‘ sei eine Abstraktion von der jeweils historisch bedingten Stufe des wahren Subjekts. „Die Individuen, die nicht mehr unter die Theilung der Arbeit subsumirt werden, haben die Philosophen sich als Ideal unter dem Namen: ‚der Mensch‘ vorgestellt, & den ganzen, von uns entwickelten Prozeß als den Entwicklungsprozeß ‚des Menschen‘ gefasst, sodaß den bisherigen Individuen auf jeder geschichtlichen Stufe ‚der Mensch‘ untergeschoben & als die treibende Kraft der Geschichte dargestellt wurde. Der ganze Prozeß wurde so als Selbstentfremdungsprozeß ‚des Menschen‘ gefasst“ 938 . Marx sieht den Selbstentfremdungsprozess des Menschen nun als die verschleierte Form einer ganz anderen Entwicklung, nämlich der Arbeitsteilung, deren Gehalt und Stellenwert selbst noch zu analysieren ist. Zunächst einmal ist jedoch hervorzuheben, dass das Konzept der Selbstentfremdung nach dieser Selbstkritik von Marx auf einer vorgestellten Idee basiert, die geschichtlich niemals existiert habe, nämlich der Abwesenheit einer pervertierten materiellen Vergesellschaftung der Menschen. Diese Idee werde an jeder historischen falschen Vergesellschaftung als Maßstab angelegt und damit als unmenschlich, als dem Menschen fremd, gekennzeichnet. Marx revidiert insofern seine vorherige Position. Allerdings bleibt an dieser Stelle offen, ob Marx das Selbstentfremdungskonzept als Ganzes verwirft und eine ganz neue Theorie an seine Stelle setzt. Der vorliegende Abschnitt wird zeigen, dass dem nicht so ist, dass das Entfremdungskonzept vielmehr in der Kritik der ausbeuterischen Arbeitsteilung modifiziert, aber nicht wesentlich verlassen wird. Was beinhaltet demnach die nach Marx tatsächlich der Entfremdungstheorie zugrundeliegende Kategorie der Arbeitsteilung? Obgleich Marx Kritik an dem Entfremdungskonzept des Menschen übt, legt er es nicht ab, sondern bewahrt seinen Inhalt in anderer Form auf. „Die Individuen sind immer von sich ausgegangen, gehn immer von sich aus. Ihre Verhältnisse sind Verhältnisse ihres wirklichen Lebensprozesses. Woher kömmt es, daß ihre Verhältnisse sich gegen sie verselbständigen? daß die Macht ihres eignen Lebens übermächtig gegen sie werden? Mit einem Wort: Die Theilung der Arbeit, deren Stufen von der jedesmal entwickelten Productivkraft abhängt.“ 939 938 Marx; Engels: Die Deutsche Ideologie, Feuerbach und Geschichte, Entwurf S. 36 bis 72, Marx-Engels Jahrbuch 2003, S. 92. 939 Marx; Engels: Die Deutsche Ideologie, Feuerbach und Geschichte, Notizen, Marx- Engels Jahrbuch 2003, S. 100. <?page no="251"?> 251 Marx will mit seiner Kritik am ‚Wesen des Menschen‘ die konkreten Lebensumständen der historisch jeweiligen Individuen genauer analysieren. Auch in den ‚Quellen der DI‘ ist der Hauptkritikpunkt eine Bewegung, die sich inhaltlich mit dem Resultat der Entfremdungsbewegung aus den ÖPM deckt: Die Menschen schaffen demnach ein Produkt, das sie selbst nicht unter Kontrolle haben, sondern das sie kontrolliert. Marx‘ Blickwinkel auf diese falsche Vergegenständlichung hat sich allerdings von einem anthropologischem zu einem soziologischen gewandelt. Nun ist das Produkt, das die Menschen zwar schaffen, das sich aber ihrer Kontrolle entzieht, die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst. Und es ist nicht mehr ‚der Mensch‘, der dieses ihm Fremde durch seine Arbeit schafft, sondern ein Kollektiv von durch Arbeitsteilung miteinander verbundenen Individuen, die sich über die von der Entwicklung ihrer Produktivkraft abhängige Art der Arbeitsteilung vergesellschaften. Statt ‚der Arbeit‘ und ‚dem Menschen‘ ist es nun also die spezifische und historisch variable Art der Arbeitsteilung von dadurch aufeinander bezogenen Individuen, die Verhältnisse schaffen, die diesen Individuen als selbständige, sie kontrollierende, ihnen feindlich gegenüberstehende und ihre charakteristische Formbestimmung als Kollektiv zerstörende Verhältnisse gegenübertreten. Was ist der Charakter dieser Arbeitsteilung? Und inwiefern kann sie als die Fortführung des in den ÖPM entwickelten Entfremdungskonzepts aufgefasst werden? „Und endlich bietet uns die Theilung der Arbeit gleich das erste Beispiel davon dar, daß solange die Menschen sich in der naturwüchsigen Gesellschaft befinden, [...] solange die Thätigkeit also nicht freiwillig, sondern naturwüchsig getheilt ist, die eigne That des Menschen ihm zu einer fremden, gegenüberstehenden Macht wird, die ihn unterjocht, statt daß er sie beherrscht.“ 940 Die Arbeitsteilung, die nach Marx vergegenständlichte Verhältnisse hervorbringt, ist nicht gleichbedeutend mit dem Fakt, dass verschiedene Gesellschaftsglieder ihre notwendigen Arbeiten aufeinander aufteilen. In der Arbeitsteilung, die Marx kritisiert, teilen nicht die Individuen ihre Arbeit, sondern die Arbeit teilt sich. Es ist nach Marx eine naturwüchsige Arbeitsteilung, die von den zusammengeschlossenen Individuen unabhängige Strukturen schafft und sie unter diese Strukturen zwängt. Diese Art der Arbeitsteilung habe ihre Blüte in der Konkurrenz der Privateigentümer erreicht, in der diese sich gegenseitig ihren ökonomischen Erfolg bestreiten und zugleich in einer gesellschaftlichen Arbeitsteilung zusammengeschlossen sind. 940 Marx; Engels: Die Deutsche Ideologie, Feuerbach und Geschichte, Entwurf S. 1 bis 29, Marx-Engels Jahrbuch 2003, S. 20. <?page no="252"?> 252 „Erstens erscheinen die Produktivkräfte als ganz unabhängig & losgerissen von den Individuen, als eine eigne Welt neben den Individuen, was darin seinen Grund hat, daß die Individuen, deren Kräfte sie sind, zersplittert & im Gegensatz gegen einander existiren, während diese Kräfte andererseits nur im Verkehr & Zusammenhang dieser Individuen wirkliche Kräfte sind.“ 941 Die Produktivkräfte und die ihnen korrespondierenden Verkehrsformen nehmen eine versachlichte Gestalt an, weil die Menschen sich als Privateigentümer begegnen, sich einerseits in ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis begeben, zugleich aber in Konkurrenz zueinander treten. Darüber nimmt ihre Arbeitsteilung eine naturwüchsige Form an, in der die Individuen nicht wissen, was sie getan haben und was die Auswirkungen ihres Tuns sein werden. Marx identifiziert das versachlichte, der Kontrolle der Individuen entzogene Verhältnis als Markt, auf globalem Maßstab als Weltmarkt. 942 Inhaltlich beerbt die Kritik an der naturwüchsigen gesellschaftlichen Arbeitsteilung damit die negative Entfremdungskritik, die Marx in den ÖPM von der Religion auf das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital angewandt hat. Nun sind es die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst, das dem Menschen als Produkt seiner eigenen Tat fremd gegenüber treten. Zwar ist es bereits das Ergebnis der Entfremdungsanalyse der ÖPM, dass sich die Entfremdung in ein soziales Verhältnis auflöst, die Analyse hat allerdings die Entfremdung noch sehr gegenständlich gefasst und an den Gegenständen der Entfremdung (Arbeit und Produkt) ausgedrückt. In den ‚Quellen der DI‘ fasst Marx die Entfremdung eindeutig sozial. Die Frage ist, ob Marx mit der Übertragung der negativen Entfremdungskritik von der Arbeit auf die Arbeitsteilung und vom Kapital als Produkt der entfremdeten Arbeit auf die Produktionsverhältnisse insgesamt nun auch die der Entfremdung zugrunde liegende positive Vergegenständlichung ändert. In der Kritik der naturwüchsigen Arbeitsteilung macht Marx auch deutlich, wie er sich das nicht-versachlichte Verhältnis denkt: „Die Verwandlung der persönlichen Mächte (Verhältnisse) in sachliche durch die Theilung der Arbeit kann nicht dadurch wieder aufgehoben werden, daß man sich die allgemeine Vorstellung aus dem Kopfe schlägt, sondern nur dadurch daß die Individuen diese sachlichen Mächte wieder unter sich subsumiren, & die Theilung der Arbeit aufheben. Dies ist ohne 941 Marx; Engels: Die Deutsche Ideologie, Feuerbach und Geschichte, Entwurf S. 36 bis 72, Marx-Engels Jahrbuch 2003, S. 88. 942 Siehe auch Marx; Engels: Die Deutsche Ideologie, Feuerbach und Geschichte, Entwurf S. 1 bis 29, Marx-Engels Jahrbuch 2003, S. 21. Gleich daneben hatte Marx geschrieben: „Diese ‚Entfremdung‘, um den Philosophen verständlich zu bleiben“... (Marx; Engels: Die Deutsche Ideologie, Feuerbach und Geschichte, Entwurf S. 1 bis 29, Marx-Engels Jahrbuch 2003, S. 21.) <?page no="253"?> 253 die Gemeinschaft nicht möglich. Erst in der Gemeinschaft existiren für jedes Individuum die Mittel, seine Anlagen nach allen Seiten hin auszubilden, erst in der Gemeinschaft wird also die persönliche Freiheit möglich.“ 943 Die gesellschaftliche Arbeitsteilung ist für Marx demnach die Garantie der persönlichen Freiheit, die darin besteht, die eigenen schöpferischen Potenzen zu entwickeln. Wie bereits in der Entfremdungstheorie besteht der Wertmaßstab damit für Marx darin, dass das Subjekt seine schöpferischen Fähigkeiten verwirkliche und entwickele. Allerdings ist dieses Subjekt nun nicht mehr ‚der Mensch‘, sondern das Verhältnis vergesellschafteter Individuen, die jedes für sich durch die Arbeitsteilung, durch die materielle Gemeinschaft, ihre Potenzen und Möglichkeiten entfalten könnten. Es ist damit für Marx eine Ironie, dass ausgerechnet jene Gemeinschaft, die den menschlichen Individuen die Entfaltung ihrer Fähigkeiten garantieren müsste auf so eine Art und Weise zustandekomme, dass die Individuen nicht mehr das Subjekt ihrer Umstände seien, sondern als von ihnen Getriebene erschienen. In der Hegel-Kritik der ÖPM und der Kritik der Selbstentfremdung des Menschen als Gattungswesen in der entfremdeten Arbeit wurde dennoch festgestellt, dass Marx das Konzept des sich in einem anderen vergegenständlichenden Subjekts übernimmt und auf ‚den Menschen‘ überträgt. In der ‚Quellen der DI‘ wendet sich Marx nun eindeutig dagegen, die gesellschaftliche Arbeitsteilung als Subjekt zu interpretieren, das sich selbst erzeugen könne. „Diese Anschauung kann nun wieder spekulativ-idealistisch d.h. phantastisch als ‚Selbsterzeugung der Gattung‘ (‚die Gesellschaft als Subjekt‘) gefaßt & dadurch die aufeinanderfolgende Reihe von im Zusammenhang stehenden Individuen als ein einziges Individuum vorgestellt werden, das das Mysterium vollzieht sich selbst zu erzeugen. Es zeigt sich hier, daß die Individuen allerdings einander machten, physisch & geistig, aber nicht sich machen“ 944 . Marx vollendet seine explizite Kritik an Hegel und wendet sich nun explizit gegen die zuvor noch als die Bestimmung von Arbeit gelobte Bewegung des Subjekts als Vergegenständlichung. Marx hält allerdings trotz seiner expliziten Kritik implizit an dieser Bewegung fest. Denn Marx integriert in der Arbeitsteilung wesentliche Elemente dessen, was er in seinem Konzept der entfremdeten Arbeit als Subjekt-Sein des Menschen bestimmt hat, nämlich die Fähigkeit, sich zu vergegenständlichen, in dem Produkt seine eigenen schöpferischen Potenzen anzuschauen, seine Objekte als 943 Marx; Engels: Die Deutsche Ideologie, Feuerbach und Geschichte, Entwurf S. 36 bis 72, Marx-Engels Jahrbuch 2003, S. 73. 944 Marx; Engels: Die Deutsche Ideologie, Feuerbach und Geschichte, Entwurf S. 1 bis 29, Marx-Engels Jahrbuch 2003, S. 26f. <?page no="254"?> 254 selbstgeschaffenen Gegenstand zu haben und sich in seiner Lebenswirklichkeit dabei schließlich selbst zu schaffen. Alle diese Eigenschaften hat auch die Arbeitsteilung in den ‚Quellen der DI‘: In ihr tun sich die Individuen zusammen, schaffen ein gesellschaftliches Verhältnis von Arbeitsteilung und vergegenständlichen sich in der Industrie, schauen darin ihre schöpferischen Potenzen an, gehen insofern mit nichts um als ihrem eigenem Produkt und schaffen sich ihre eigene Lebenswirklichkeit. Allerdings verhindert es die von Marx inzwischen entwickelte materialistische Geschichtsauffassung, diese Vergegenständlichung noch als die Verwirklichung des menschlichen Subjekt-Seins aufzufassen. Das wäre nach Marx eine Individualisierung des menschlichen Kollektivs. Stattdessen werde die Art der Arbeitsteilung und damit der Vergegenständlichung dieser Arbeitsteilung in der Industrie von der Entwicklung der Produktivkräfte bestimmt. Marx sieht in der geschichtlichen Entwicklung der Produktivkräfte das Agens der Geschichte, ohne sie aber als Subjekt bestimmen zu wollen. Es stellt sich damit die Frage, ob Marx überhaupt noch so etwas wie ein menschliches Wesen kennt. Marx kritisiert Feuerbachs sinnlichen Materialismus mit folgenden Argumenten: „Er sieht nicht wie die ihn umgebende sinnliche Welt nicht ein unmittelbar von Ewigkeit her gegebenes, sich stets gleiches Ding ist, sondern das Produkt der Industrie & des Gesellschaftszustandes & zwar in dem Sinne, daß sie geschichtliches Product ist, das Resultat der Thätigkeit einer ganzen Reihe von Generationen ist, deren jede auf den Schultern der vorhergehenden stand, ihre Industrie & ihren Verkehr weiter ausbildete, ihre soziale Ordnung nach den veränderten Bedürfnissen modifizirte.“ 945 Nach Marx ist die sinnliche Welt, die Feuerbach als vom Menschen getrennte beschreibt, eine vom Menschen geschaffene. Die materialistische Geschichtsauffassung hat für Marx gegenüber dem Feuerbachschen Materialismus den Vorzug, die Natur nicht als eine dem Menschen fremd gegenübertretende zu interpretieren sondern als eine vom Menschen selbst geschaffene. Hier bewahrheitet sich die Ankündigung, die Marx bereits in der ‚Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie Feuerbach entgegnet: Der Mensch sei identisch mit der Welt des Menschen. 946 Der Mensch geht in den ‚Quellen der DI‘ in der jeweiligen Art und Weise der Arbeitsteilung und ihrer Verkehrsform auf. Und das Verhältnis zum Objekt ist nach Marx - wie im Entfremdungskonzept - nicht durch Fremdheit bestimmt, sondern durch Urheberschaft. Denn 945 Marx; Engels: Die Deutsche Ideologie, Feuerbach und Geschichte, Entwurf S. 1 bis 29, Marx-Engels Jahrbuch 2003, S. 8. 946 Siehe Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, MEGA I,2, S. 170. <?page no="255"?> 255 „die wichtige Frage über das Verhältniß des Menschen zur Natur, […] aus der alle die ‚unergründlich hohen Werke‘ über ‚Substanz‘ & ‚Selbstbewußtsein‘ hervorgegangen sind, zerfällt von selbst in der Einsicht, daß die vielgerühmte ‚Einheit des Menschen mit der Natur‘ in der Industrie von jeher bestanden & in jeder Epoche je nach der geringeren oder größeren Entwicklung der Industrie anders bestanden hat ebenso wie der ‚Kampf‘ des Menschen mit der Natur, bis zur Entwicklung seiner Productivkräfte auf einer entsprechenden Basis.“ 947 In der Entfremdungskonzeption hat Marx das Hegelsche Verhältnis von Subjekt zu Objekt, von Mensch zur Natur als ein Rätsel kritisiert, das keiner Lösung bedürfe, weil Gegenstand des Menschen durch die Vergegenständlichung des menschlichen Wesens in Arbeit bereits die „vermenschlichte Natur“ 948 sei. In den ‚Quellen der DI‘ sieht er dieses Verhältnis ebenfalls nicht als Rätsel an, da die Einheit in der Industrie bereits existiere. Wie in der Entfremdungskonzeption sieht Marx demnach auch in der bewussten, nicht-naturwüchsigen Arbeitsteilung die Integration der gegenständlichen Welt in die Welt des Menschen, die er nach seinen Vorstellungen forme. Zwar sei der Mensch aufgrund seiner Abhängigkeit von den Produktivkräften kein Subjekt mehr, aber es sei ihm dennoch eigen, dass er in der vergegenständlichten Arbeitsteilung, der Industrie, sich die Natur zu seinem Gegenstand gemacht habe. So, wie Marx in den ÖPM die Natur als den Leib des Menschen bestimmt, so ist auch hier die Industrie die Einheit von Natur und Mensch. 949 Die Produktionskraft und die ihnen entsprechende Arbeitsteilung ist nach Marx nicht nur verantwortlich für die Vermenschlichung der Natur, sondern auch für die Vorstellung eines Wesens des Menschen. „Diese Summe von Produktionskräften, Kapitalien & sozialen Verkehrsformen, die jedes Individuum & jede Generation als etwas Gegebenes vorfindet, ist der reale Grund dessen, was sich die Philosophen als ‚Substanz‘ & ‚Wesen des Menschen‘ vorgestellt, was sie apotheosirt & bekämpft haben“ 950 . 947 Marx; Engels: Die Deutsche Ideologie, Feuerbach und Geschichte, Entwurf S. 1 bis 29, Marx-Engels Jahrbuch 2003, S. 9. 948 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 270. 949 Die von den Menschen unberührte Natur existiert nach Marx in der Gegenwart nicht mehr. „Übrigens ist diese, der menschlichen Geschichte vorhergehende Natur ja nicht die Natur in der Feuerbach lebt, nicht die Natur, die heutzutage, ausgenommen auf einzelnen australischen Koralleninseln neueren Ursprungs, nirgends mehr existirt, also auch für Feuerbach nirgends mehr existirt.“ (Marx; Engels: Die Deutsche Ideologie, Feuerbach und Geschichte, Entwurf S. 1 bis 29, Marx-Engels Jahrbuch 2003, S. 10) 950 Marx; Engels: Die Deutsche Ideologie, Feuerbach und Geschichte, Entwurf S. 1 bis 29, Marx-Engels Jahrbuch 2003, S. 30. <?page no="256"?> 256 Marx will zwar nicht ein Wesen des Menschen behaupten, aber sein ‚realer Grund‘ eines solchen Wesens unterscheidet sich davon inhaltlich nur in einer Hinsicht: Das von Marx kritisierte Vorstellung des ‚Wesen des Menschen‘ ist statisch, während deren ‚realer Grund‘ mit den jeweiligen ökonomischen Verhältnissen wechselt. Demnach hat auch Marx eine Vorstellung vom Wesen des Menschen: Eine durch Arbeitsteilung vergesellschaftete Kollektivität, die durch die Entwicklung ihrer Produktivkraft ihren Individuen die Möglichkeiten gibt, ihre schöpferischen Potenzen zu entwickeln und daher in ihrem Wesen dynamisch ist. 951 Marx zeigt an anderer Stelle, dass er die Bestimmung vom Menschenwesen keineswegs aufgibt, und zwar wieder an einer Stelle, an der er Feuerbach kritisiert. Dieser hat in den ‚Grundsätzen der Philosophie der Zukunft‘ geschrieben, dass das Sein mit dem Wesen ineins falle, „nur im menschlichen Leben sondert sich, aber auch nur in abnormen, unglücklichen Fällen, Sein von Wesen“ 952 . Marx hält dem entgegen, dass die Millionen verelendeten Proletarier nicht mit Feuerbach übereinstimmen würden, dass das Sein ihrem Wesen entspreche, oder dass sie eine Ausnahme seien, und sie „werden dies ihrer Zeit beweisen, wenn sie ihr ‚Sein‘ mit ihrem ‚Wesen‘ praktisch, durch eine Revolution, in Einklang bringen werden.“ 953 Wo Feuerbach demnach gegen die Scheidung von Wesen und Sein argumentiert, stimmt Marx nicht zu und vergibt sich nicht die Möglichkeit, auf die Differenz von der schlechten Wirklichkeit der proletarischen Lebensbedingungen mit den ihrem Wesen entsprechenden Verhältnissen zu verweisen. Marx hat demnach die Vorstellung eines Wesens des Menschen und verwahrt sich nur dagegen, es als überhistorisches Individuum vorzustellen. 954 Demgemäß überträgt Marx das Menschenwesen, das er in der Entfremdungsbewegung der ÖPM vorausgesetzt hat, in den ‚Quellen der DI‘ auf die gesellschaftliche Arbeitsteilung, die sich in Produktivkräften und ihren Verkehrsverhältnissen vergegenständlicht und damit die Schaffenskraft 951 Marx meint außerdem, dass der Mensch anfange, „sich von den Thieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produziren, ein Schritt der durch ihre körperliche Organisation bedingt ist. Indem die Menschen ihre Lebensmittel produziren, produziren sie indirekt ihr materielles Leben selbst.“ (Marx; Engels: Die Deutsche Ideologie, I. Feuerbach, A. Die Ideologie überhaupt, namentlich die deutsche, Marx-Engels Jahrbuch 2003, S. 107) Marx kennt also durchaus einen Begriff vom Menschsein im Unterschied zum Tier. 952 Feuerbach: Grundsätze der Philosophie der Zukunft, §27, S. 306. 953 Marx; Engels: Die Deutsche Ideologie, Feuerbach und Geschichte, Entwurf S. 1 bis 29, Marx-Engels Jahrbuch 2003, S. 38. 954 Auch Schmidt meint, dass Marx seine Kritik von der Vorstellung eines menschlichen Wesens 1845/ 46 vor allem gegen dessen junghegelianische Fassung richtet, nicht aber gegen die Bestimmung eines menschlichen Wesens per se, siehe Schmidt, Christian: Entfremdung und die Reproduktion der Unvernunft, In: Marx-Engels Jahrbuch (2005), S. 91f. <?page no="257"?> 257 der Individuen weiter entwickelt. Weil diese durch Arbeitsteilung vergegenständlichte Kollektivität den geschichtlichen Notwendigkeiten der Entwicklung der Produktivkräfte folgt, will Marx es nicht mehr als Subjekt kennzeichnen. Obgleich der Kommunismus selbst auch eine gewisse Stufe der Produktivkraftentwicklung benötige, unterscheide er sich dadurch von allen bisherigen Stufen, dass in ihm die Beherrschung der eigenen Lebensumstände durch die Arbeitsteilung wirklich werde. Dann seien in der Tat die Individuen über die gesellschaftliche Arbeitsteilung Subjekt ihrer selbst und könnten sich als Subjekte ihrer selbst betätigen, könnten sich in einem Gegenstand vergegenständlichen, der ihnen nicht als sachliche Macht gegenübertrete, sondern der wiederum der Entwicklung ihrer Schaffenskraft diene. „Der Kommunismus unterscheidet sich von allen bisherigen Bewegungen dadurch daß er die Grundlage aller bisherigen Produktions- & Verkehrsverhältnisse umwälzt, & alle naturwüchsigen Voraussetzungen zum ersten Mal mit Bewußtsein als Geschöpfe der bisherigen Menschen behandelt, ihrer Naturwüchsigkeit entkleidet & der Macht der vereinigten Individuen unterwirft. […] Das Bestehende was der Kommunismus schafft ist eben die wirkliche Basis zur Unmöglichmachung alles von den Individuen unabhängig bestehenden sofern dies Bestehende dennoch nichts als ein Produkt des bisherigen Verkehrs der Individuen selbst ist.“ 955 Obwohl Marx und Engels sich in ihrer materialistischen Geschichtsauffassung explizit gegen Vorstellungen wenden, in denen „die Geschichte ihren aparten Zwecke erhält und eine ‚Person neben anderen Personen‘“ 956 werde, fassen die beiden Autoren die gesellschaftliche Arbeitsteilung inhaltlich 1845/ 46 als eigenständiges Subjekt auf. In der gesellschaftliche Arbeitsteilung trete den Menschen den Menschen ihre eigene Tat als eine ihnen fremde und selbständige Struktur gegenüber. Dem setzt Marx das Ideal entgegen, dass die Individuen ihre selbst geschaffenen Strukturen wieder in die eigene Gewalt bekommen. Die Gesellschaft soll nicht mehr über die Menschen herrschen, sondern nur die Zusammenfassung der unterschiedenen Individuen sein. „Oder wie kommt es, daß der Handel, der doch weiter nichts ist als der Austausch der Produkte verschiedner Individuen & Länder, durch das Verhältniß von Nachfrage & Zufuhr die ganze Welt beherrscht - ein Verhältniß, das, wie ein englischer Oekonom sagt, gleich dem antiken Schicksal über der Erde schwebt & mit unsichtbarer Hand Glück & Unglück an die Menschen vertheilt, Reiche stiftet & Reiche zertrümmert, Völker entstehen & verschwinden macht - während mit der Aufhebung der Basis, des 955 Marx; Engels: Die Deutsche Ideologie, Feuerbach und Geschichte, Entwurf S. 36 bis 72, Marx-Engels Jahrbuch 2003, S. 79. 956 Marx; Engels: Die Deutsche Ideologie, Feuerbach und Geschichte, Entwurf S. 1 bis 29, Marx-Engels Jahrbuch 2003, S. 24. <?page no="258"?> 258 Privateigenthums, mit der kommunistischen Regelung der Produktion & der darin liegenden Vernichtung der Fremdheit, mit der sich die Menschen zu ihrem eignen Produkt verhalten, die Macht des Verhältnisses von Nachfrage & Zufuhr sich in Nichts auflöst, & die Menschen den Austausch, die Produktion, die Weise ihres gegenseitigen Verhaltens wieder in ihre Gewalt bekommen? “ 957 Marx Entfremdungstheorie, die Feuerbachs negative Entfremdungskritik mit der seiner idealistischen Basis beraubten Vergegenständlichungsbewegung von Hegels Subjekt kombiniert, wird demnach in den ‚Quellen der DI‘ nicht fallen gelassen, sondern auf die Gesellschaft als Ganzes übertragen. In der Kritik an einem überhistorischen Menschenwesen zeigt Marx, dass er den Menschen nun insofern als Subjekt fasst, als er es vermag, die ihn umgebende sinnliche wie soziale Welt durch Arbeit nach seinen Maßgaben zu verändern und seine ihm eigentümliche schöpferische Potenz zu entwickeln. Dies ist nach den ‚Quellen der DI‘ sein Wertmaßstab, anhand dessen er die Gesellschaft beurteilt und den Kapitalismus kritisiert. Das lässt sich auch anhand seiner ökonomischen Analysen nachvollziehen. 957 Marx; Engels: Die Deutsche Ideologie, Feuerbach und Geschichte, Entwurf S. 1 bis 29, Marx-Engels Jahrbuch 2003, S. 22. <?page no="259"?> 259 12. Der Wertmaßstab in der Kritik der politischen Ökonomie Obgleich Marx in den späteren ökonomischen Arbeiten nur sporadisch dem Inhalt nach auf das Konzept der Entfremdung Bezug nimmt, wird der in dem Konzept der entfremdeten Arbeit und der naturwüchsigen Arbeitsteilung entwickelte Wertmaßstab beibehalten und leicht modifiziert. Die Versachlichung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die Überführung der gesellschaftlichen Tat in von den Tätigen unabhängige ökonomische Institutionen, die durch dieses Tun Macht über ihre Schöpfer gewinnen, bleibt die Grundlage der Marxschen Kritik am Kapitalismus. Allerdings taucht der bisher entwickelte Bewertungsmaßstab quantitativ seltener auf und hat einen geringeren Stellenwert. Das wurde als eine Abkehr von moralischen Urteilen und eine Hinwendung zur rein wissenschaftlichen Analyse gedeutet. 958 Es wird zu zeigen sein, dass Marx den bisher rekonstruierten Wertmaßstab bis zuletzt vertreten hat. Warum er an Relevanz und inhaltlich an Kontur verliert, lässt sich aus seiner Genese erklären. Zunächst muss jedoch gezeigt werden, dass Marx‘ bisheriger Bewertungsmaßstab für ihn immer noch Relevanz hat. Das zeigt Marx‘ Kritik am Fetischcharakter der ökonomischen Gegenstände im Kapitalismus und an der kapitalistischen Maschinerie. Bereits in den frühen ökonomischen Analysen der vierziger Jahre lässt sich die Fortsetzung der Entfremdungskritik beobachten. So beschreibt Marx das Verhältnis des Arbeiters zu seiner Tätigkeit und seinem Produkt in einem 1849 veröffentlichten Artikel in ganz ähnlichen Worten wie die Entfremdung in den ÖPM: „Die Betätigung der Arbeitskraft, die Arbeit, ist aber die eigne Lebenstätigkeit des Arbeiters, seine eigne Lebensäußerung. Und diese Lebenstätigkeit verkauft er an einen Dritten, um sich die nötigen Lebensmittel zu sichern. Seine Lebenstätigkeit ist für ihn also nur ein Mittel, um existieren zu können. Er arbeitet, um zu leben. Er rechnet die Arbeit nicht selbst in sein Leben ein, sie ist vielmehr ein Opfer seines Lebens. Sie ist eine Ware, die er an einen Dritten zugeschlagen hat. […] Wenn der Seidenwurm spänne, um seine Existenz als Raupe zu fristen, so wäre er ein vollständiger Lohnarbeiter.“ 959 958 So beispielsweise Heinrich, Michael: Kritik und Moral - Zur Diskussion um die normativen Grundlagen der Kritik der politischen Ökonomie, In: Beiträge zur Marx- Engels-Forschung. Neue Folge (1992), S. 89. 959 Marx, Karl: Lohnarbeit und Kapital, In: Marx-Engels-Werke, Bd. 6, Berlin: Dietz 1959, S. 400f. <?page no="260"?> 260 An dieser Stelle findet sich eine in der Entfremdungsanalyse entwickelte Bestimmung wieder. Marx bestimmt immer noch die Arbeit als Lebenstätigkeit des Menschen, und damit als Zweck an sich. In den ÖPM hatte Marx erarbeitet, dass gerade die Reduktion der Arbeit als bloßes Mittel der Existenzsicherung im Kapitalismus diese Instrumentalisierung zunichte macht. 960 Auch in dieser ökonomischen Schrift sieht Marx demnach die Arbeit als Zweck an sich an und damit, so der nahe liegende Schluss, als Vergegenständlichung des Menschen als Subjekt, der sich in einem ihm Anderen vergegenständlicht. Auch in der Hinwendung zur ökonomischen Analyse wendet Marx mithin seinen Wertmaßstab des Entfremdungskonzepts an. Das zeigt sich auch im ‚Kommunistischen Manifest‘. Das Kapital wird hier als Produkt der gesellschaftlichen Arbeitsteilung gekennzeichnet: „Das Kapital ist ein gemeinschaftliches Produkt und kann nur durch eine gemeinsame Tätigkeit vieler Mitglieder, ja in letzter Instanz nur durch die gemeinsame Tätigkeit aller Mitglieder der Gesellschaft in Bewegung gesetzt werden.“ 961 Allerdings verhält sich das Kapital nach Marx selbst in seiner sachlichen Form als Produktionsmittel gegensätzlich zum eigentlichen Begriff eines Produktionsmittels: „In der bürgerlichen Gesellschaft ist die lebendige Arbeit nur ein Mittel, die aufgehäufte Arbeit zu vermehren. In der kommunistischen Gesellschaft ist die aufgehäufte Arbeit nur ein Mittel, um den Lebensprozeß der Arbeiter zu erweitern, zu bereichern, zu befördern.“ 962 Im Kapitalismus würde demnach die lebendige Arbeit zum Mittel der toten Arbeit. Auch hier kritisiert Marx die elende Lage der Arbeiter als Ausdruck eines versachlichten Verhältnis von Arbeitsteilung. Das Produkt gewinne Macht über die vergesellschaftete Arbeitsteilung und mache sie sich zum Mittel. Dagegen setzt Marx - ganz dem Menschenbild der ÖPM und ‚Quellen der DI‘ gemäß - die Arbeit als Mittel für den ‚Lebensprozeß des Arbeiters‘, also für dessen produktive Fähigkeiten, die sich durch die bisher hergestellte Produktivkraft entfalten können sollen. So gewinne das Produkt des Menschen Selbständigkeit, Macht über ihn und stehe seinem schöpferischem, kreativem Wesen feindlich gegenüber. „In der bürgerlichen Gesellschaft herrscht also die Vergangenheit über die Gegenwart, in der kommunistischen die Gegenwart über die Vergangenheit. In der bürgerlichen Gesellschaft ist das Kapital selbständig und persönlich, während das tätige Individuum unselbständig und unpersönlich ist.“ 963 960 Siehe Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 242f. 961 Marx; Engels: Manifest der kommunistischen Partei, MEW 4, S. 457. 962 Marx; Engels: Manifest der kommunistischen Partei, MEW 4, S. 476. 963 Marx; Engels: Manifest der kommunistischen Partei, MEW 4, S. 476. <?page no="261"?> 261 Wie in dem Konzept der entfremdeten Arbeit dreht sich auch im ‚Kommunistischen Manifest‘ nach Marx das Verhältnis vom Menschen zu seiner Arbeit um. Anstatt, dass das Produkt seiner Persönlichkeit und Selbständigkeit dient, dient er der Selbständigkeit und Persönlichkeit des Kapitals. Damit gewinnt, wie in der Anwendung der Feuerbach-Kritik auf die Nationalökonomie in den ÖPM, das Produkt der Arbeit Selbständigkeit vom Menschen, wird zum bestimmenden Faktor in dem Verhältnis und zerstört die Selbständigkeit und Persönlichkeit des Individuums, das ihn geschaffen hat. Allerdings bleibt Marx dabei, nicht mehr von ‚dem Menschen‘ zu reden, sondern von menschlichen, in Arbeitsteilung vergesellschafteten Individuen. Was unter der Persönlichkeit des Kapitals zu verstehen sei wird eindeutig, sobald man sich die Kritik des Kapitalfetischs genauer anschaut. Auch in der berühmtesten ökonomischen Arbeit von Marx, dem ersten Band des ‚Kapital‘, geht es um die Entstehung einer dem Produzenten fremden und ihn beherrschenden Macht. Die Menschen schaffen durch ihre Produktion ihnen versachlicht gegenübertretende Vergegenständlichungen ihres Tuns, die sie beherrschen und ihnen feindlich gegenüber stehen. Marx sieht diese falsche Vergegenständlichung des Menschen einmal in den abstrakten ökonomischen Gegenständen, die die Menschen schaffen (Ware, Geld, Kapital), aber auch in den sinnlichen Produkten ihrer Arbeit (Maschinen). Im ‚Kapital‘ wiederholt Marx somit sowohl die Bestimmungen aus den ÖPM wie aus den ‚Quellen der DI‘, in ersteren hatte er das Produkt der Arbeitstätigkeit als verselbständigt, in den ‚Quellen der DI‘ das gesellschaftliche Verhältnis, die Konkurrenz auf dem Markt als das verselbständigte Produkt der gesellschaftlichen Arbeitsteilung bestimmt. 12.1. Fetischcharakter der ökonomischen Verhältnisse Zunächst zu der Fetischanalyse der Ware. Marx beginnt seine berühmte Analyse damit zu zeigen, nach welchen gesellschaftlichen Gesetzen sich die Waren austauschen. Dabei kommt er zu dem Resultat, dass die Waren im Tausch auf die in ihnen verausgabte gesellschaftlich durchschnittliche Arbeitskraft reduziert werden. Wie viel von dieser gesellschaftlich durchschnittlichen Arbeitszeit der Produzent aber in seiner individuellen Ware vergegenständlicht habe, stelle sich erst im Tausch heraus. 964 Der Zugriff des bedürftigen Menschen auf den Gebrauchswert wird demnach von Gesetzen bestimmt, die sich ganz jenseits seines Willens oder des Willens seines Kontrahenten im Tausch abspielen. Im Fetischkapitel stellt Marx 964 Marx beschreibt im ‚Kapital‘ welche Umstände des Tausches auf den Tauschwert der individuellen Ware wirken können, so dass dieser Wert seiner Ware sich im Tausch noch ändern kann. Marx: Das Kapital, Bd. 1, 1890, MEGA II,10, S. 100f. <?page no="262"?> 262 dar, wie in der Warenform die gesellschaftlichen Verhältnisse eine gegenständliche Form erhalten: „Die Gleichheit der menschlichen Arbeiten erhält die sachliche Form der gleichen Werthgegenständlichkeit der Arbeitsprodukte, das Maß der Verausgabung menschlicher Arbeitskraft durch ihre Zeitdauer erhält die Form der Werthgröße der Arbeitsprodukte, endlich die Verhältnisse der Producenten, worin jene gesellschaftlichen Bestimmungen ihrer Arbeiten bethätigt werden, erhalten die Form eines gesellschaftlichen Verhältnisses der Arbeitsprodukte.“ 965 Diese Versachlichung lässt sich auf zweierlei Weise auffassen. Eine häufige Interpretation ist, dass das Bewusstsein von der Gegenständlichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse geblendet werde und die wahre gesellschaftliche Qualität der ökonomischen Einrichtungen wie Wert oder Geld nicht durchschaue. Die mittels Waren aufeinander bezogenen Individuen würden die Werthaltigkeit ihres Produkts als natürliche Eigenschaft des Produkts ansehen, die Fähigkeit, Wert zu schaffen, nicht als eine Eigenschaft der Arbeit unter den Bedingungen der kapitalistischen Warengesellschaft, sondern als eine Eigenschaft von Arbeit überhaupt. Diese Seite des Fetischcharakters der Ware betont Lukács. Zwar bemerkt er auch eine objektive Seite des von Marx analysierten Fetischcharakters der ökonomischen Gegenstände 966 , jedoch meint er, Marx gehe es vor allem darum, zu analysieren wie sich mit fortschreitendem Kapitalismus eine „Verdinglichungsstruktur immer tiefer, schicksalhafter und konstitutiver in das Bewußtsein der Menschen hinein“ 967 senkt. Auch Korsch sieht im Warenfetisch die „ökonomische Grundideologie der bürgerlichen Gesellschaft“ 968 und interpretiert ihn damit als gesellschaftliche Bewusstseinsform. Heinrich, der sich als einer der prominentesten Vertreter einer kritischen Wertanalyse von der traditionellen ‚Kapital‘-Interpretation unterscheidet, wendet sich strikt dagegen, im Fetischabschnitt einen über die Kritik des Bewusstseins hinausgehende Kritik zu erblicken: „Nicht die Kritik an der Gesellschaftsform, sondern die Kritik eines aus dieser Gesellschaftsform entspringenden (alltäglichen und wissenschaftlichen) Bewußtseins, ist der Gegenstand des Fetischabschnitts.“ 969 965 Marx: Das Kapital, Bd. 1, 1890, MEGA II,10, S. 71. 966 Siehe Lukács, Georg: Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats, In: Geschichte und Klassenbewusstsein - Studien über marxistische Dialektik, Amsterdam: Thomas de Munter 1967, S. 97f. 967 Lukács: Die Verdinglichung, S. 105. 968 Korsch, Karl: Marxismus und Philosophie, In: Buckmiller, Michael (Hg.): Schriften zur Theorie der Arbeiterbewegung, 1929-1933, Amsterdam: Stichting beheer IISG 1993, S. 354. 969 Heinrich: Kritik und Moral, S. 91. Auch in der gegenwärtig populärsten Einführung in das ‚Kapital‘ betont Heinrich, dass es im Fetischabschnitt nicht bloß um die Kritik, sondern auch um die objektive Notwendigkeit dieses falschen Bewusstseins gehe, be- <?page no="263"?> 263 In der Tat ist in Marx‘ Analyse vom Fetischcharakter der Ware eine Erklärung des falschen Bewusstseins enthalten. So stellt Marx es als ein Charakteristikum des Kapitalismus dar, dass die Menschen ihr eigenes Tun nicht verstehen und sie erst eine Wissenschaft benötigen, um die Resultate ihrer eigenen Tat nachvollziehen zu können. Die ökonomischen Formen der Warengesellschaft „besitzen bereits die Festigkeit von Naturformen des gesellschaftlichen Lebens, bevor die Menschen sich Rechenschaft zu geben suchen nicht über den historischen Charakter dieser Formen, die ihnen vielmehr bereits als unwandelbar gelten, sondern über deren Gehalt.“ 970 Es wäre allerdings verkehrt, die Vergegenständlichung auf eine falsche Erscheinungsform zu reduzieren, die den Warenbesitzern ein falsches Bewusstsein über ihre eigenen Produkte nahelegt. Vielmehr spricht Marx davon, dass die Gleichheit der menschlichen Arbeiten, das Maß der Dauer ihrer Verausgabung oder das Verhältnis der Produzenten zueinander, in der kapitalistischen Warengesellschaft eine sachliche Form erhält. Der Terminus ‚sachliche Form‘ bezieht sich dabei nicht auf die Auffassung im Bewusstsein der Warenbesitzer, sondern auf die praktische Wirklichkeit. Indem die Produzenten sich als Warenbesitzer aufeinander beziehen, schaffen sie tatsächlich von ihrem Willen unabhängige Strukturen, deren Gesetzmäßigkeiten sie sich dann beugen müssen. Marx macht dies an einer Stelle klar, in der er über die ökonomische Wissenschaft redet, die das falsche Bewusstsein von der Natürlichkeit der Wertbestimmungen revidiert: „Die Bestimmung der Werthgröße durch die Arbeitszeit ist daher ein unter den erscheinenden Bewegungen der relativen Waarenwerthe verstecktes Geheimniß. Seine Entdeckung hebt den Schein der bloß zufälligen Bestimmung der Werthgrößen der Arbeitsprodukte auf, aber keineswegs ihre sachliche Form.“ 971 An dieser Stelle wird deutlich, dass Marx sich die versachlichten Beziehungen nicht einfach als falsches Bewusstsein der Warenbesitzer denkt, da Marx eindeutig zwischen dem Bewusstsein davon, wie die Wertgrößen der Produkte zustande kommen, und ihrer tatsächlich sachlichen Form klar unterscheidet. 972 Weil die sachliche Form eine praktisch gültige, von dem spricht die Fetischkritik somit unter dem Blickwinkel des Bewusstseins. Siehe Heinrich, Michael: Kritik der politischen Ökonomie - Eine Einführung, Stuttgart: Schmetterling-Verlag 2004, S. 179-185. 970 Marx: Das Kapital, Bd. 1, 1890, MEGA II,10, S. 75. 971 Marx: Das Kapital, Bd. 1, 1890, MEGA II,10, S. 74. 972 Noch deutlicher wird Marx in den ‚Grundrisse‘ genannten Vorarbeiten zum ‚Kapital‘: „Soweit auf dem Standpunkt des Capitals und der Lohnarbeit die Erzeugung dieses gegenständlichen Leibes der Thätigkeit im Gegensatz zum unmittelbaren Arbeitsvermögen geschieht - dieser Process der Vergegenständlichung in fact als Process der Entäusserung vom Standpunkt der Arbeit aus oder der Aneignung fremder Arbeit vom Standpunkt des Capitals aus erscheint - ist diese Verdrehung und Verkehrung eine wirkliche, keine blos gemeinte, blos in der Vorstellung der <?page no="264"?> 264 Bewusstsein der Menschen gerade unabhängig gültige ist, verschwindet sie auch nicht mit dem Wissen darum, dass tatsächlich die gesellschaftlichen Taten der Warenbesitzer dem Wert diese ihnen feindliche Macht verleihen. Eine solche Aufhebung wäre nur mit der Abschaffung der kapitalistischen Warengesellschaft selbst zu erreichen. Das falsche Bewusstsein von diesen versachlichten Beziehungen ist daher für Marx ein Beweis für die Verselbständigung des Produkts der warenproduzierenden Arbeitsteilung. So nimmt Marx die von den Nationalökonomen entwickelten Wertgesetze, die sogar unabhängig von dem Willen der Beteiligten funktionieren, als Ausdruck der Perversion dieser spezifischen Arbeitsteilung. Diese ökonomischen Gesetze seien „Formeln, denen es auf der Stirn geschrieben steht, daß sie einer Gesellschaftsformation angehören, worin der Produktionsprozeß die Menschen, der Mensch noch nicht den Produktionsprozeß bemeistert“ 973 . Die Kritik am Fetischcharakter kapitalistischer gesellschaftlicher Gegenstände ist somit die Fortführung dessen, was er zuvor in den beiden Bestimmungen der Entfremdung der Arbeit in den ÖPM und der Arbeitsteilung in den ‚Quellen der DI‘ entwickelt hatte. Wie in der Entfremdungskonzeption der ÖPM tritt das Produkt der Arbeit den Produzenten als selbständiger, sie beherrschender, ihren Produzenten gegenüber feindlich eingestellter und als die Gattungseinheit zerstörender Gegenstand entgegen. Der von ihnen produzierte Wert ist unabhängig vom Willen der Beteiligten; er wird nach Gesetzmäßigkeiten geschaffen, die weder der Einzelne noch das Kollektiv bewusst steuern könnten. Das Verhältnis der Menschen untereinander wird durch das Verhältnis dieses Gegenstands bestimmt. Er übt also Macht über sie aus. Ihre eigentliche Bestrebung, ihre materielle Bedürftigkeit durch die Produktion einer Ware zu stillen, wird von der ‚gewaltsamen Durchsetzung‘ des Wertgesetzes immer wieder durchkreuzt. Und schließlich stehen die Warenbesitzer im Wert in einer gesellschaftlichen Abhängigkeit, die jedoch einen ganz negativen Charakter hat, da sich die Warenbesitzer nicht ergänzen und der eine einen Gebrauchswert für den anderen schafft, sondern sie vielmehr in eine Konkurrenz um den Wert treten. Die vier Aspekte der Feuerbachschen Entfremdung tauchen somit auch im ‚Kapital‘ wieder auf. 974 Allerdings wird im Fetischcharakter der Ware nicht umstandslos die Entfremdungskonzeption auf die Ware übertragen. Die in den ‚Quellen der DI‘ erfolgte Modifikation, dass es nicht bloß ‚der Mensch‘ sondern die menschlichen Individuen in Arbeiter und Capitalisten existirende.“ (Marx, Karl: Ökonomische Manuskripte 1857/ 58, In: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Abteilung II, Bd. 1.2, Berlin: Dietz 1976, S. 698) 973 Marx: Das Kapital, Bd. 1, 1890, MEGA II,10, S. 81f. 974 In den ‚Grundrissen‘ wird der Fetischcharakter noch ausdrücklicher mit der Sprache der Entfremdung beschrieben, so beispielsweise in Marx: Ökonomische Manuskripte 1857/ 58, MEGA II,1.2, S. 697f. <?page no="265"?> 265 ihrem sozialen Gefüge, also die gesellschaftlichen Verhältnisse sind, die sich in ökonomischen Gegenständen versachlichen, wird hier präzisiert und auf das von Marx entwickelte Wertgesetz angewendet. 975 In dem Fetischcharakter der Ware wird somit gegenüber dem Entfremdungskonzept der ÖPM auf die spezifische Gesellschaftlichkeit der Arbeit Wert gelegt. Gegenüber der Kritik der naturwüchsigen Arbeitsteilung in den ‚Quellen der DI‘ hingegen bezieht sich Marx nicht nur abstrakt auf die Teilung der Arbeit, sondern bestimmt diese spezifischer in der bestimmten Art der Produktion von aufeinander bezogenen Waren, also in der abstrakten Arbeit. „Dieser Fetischcharakter der Waarenwelt entspringt, wie die vorhergehende Analyse bereits gezeigt hat, aus dem eigenthümlichen gesellschaftlichen Charakter der Arbeit, welche Waaren produciert.“ 976 Indirekt nimmt Marx dadurch Bezug zu seiner Anwendung der Feuerbachschen Entfremdung auf die Gegenstände der Nationalökonomie in den ÖPM, dass er die Versachlichung der Beziehungen mit der Verselbständigung von religiösen Gegenständen beschreibt. 977 Marx bezeichnet die im Wertgesetz sich vollziehende Verwandlung von gesellschaftlichen Verhältnissen zu vom Willen der Produzenten unabhängigen ökonomischen Gegenständen als Fetischcharakter. Weil sich die Warenproduzenten allein über die Tauschwerte der Waren auf einander beziehen, erscheine 975 In den ‚Grundrissen‘ drückt Marx diese versachlichte Macht des gesellschaftlichen Verhältnisses anhand des Geldes aus: „Die wechselseitige und allseitige Abhängigkeit der gegen einander gleichgültigen Individuen bildet ihren gesellschaftlichen Zusammenhang. Dieser gesellschaftliche Zusammenhang ist ausgedrückt im Tauschwerth, worin für jedes Individuum seine eigne Thätigkeit oder sein Product erst eine Thätigkeit und ein Product für es wird; es muß ein allgemeines Product produzieren - den Tauschwerth oder, diesen für sich isolirt, individualisirt, Geld. Andrerseits die Macht, die jedes Individuum über die Thätigkeit der andren oder über die gesellschaftlichen Reichthümer ausübt, besteht in ihm als dem Eigner von Tauschwerthen, von Geld. Es trägt seine gesellschaftliche Macht, wie seinen Zusammenhang mit der Gesellschaft, in der Tasche mit sich.“ (Marx, Karl: Ökonomische Manuskripte 1857/ 58, In: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Abteilung II, Bd. 1.1, Berlin: Dietz 1976, S. 90.) 976 Marx: Das Kapital, Bd. 1, 1890, MEGA II,10, S. 72. 977 In anderen ökonomischen Manuskripten aus dem Umfeld der Arbeiten zum ‚Kapital‘ macht Marx die Beziehung des Fetischcharakters zur Feuerbachschen Religionskritik explizit: „Die Herrschaft des Capitalisten über den Arbeiter ist daher die Herrschaft der Sache über den Menschen, der todten Arbeit über die lebendige, des Products über den Producenten, da ja in der That die Waaren, die zu Herrschaftsmitteln (aber blos als Mittel der Herrschaft des Capitals selbst) über die Arbeiter werden, blosse Resultate des Productionsprocesses, die Producte desselben sind. Es ist dieß ganz dasselbe Verhältniß in der materiellen Production, im wirklichen Gesellschaftlichen Lebensproceß - denn dieß ist der Productionsproceß - welches sich auf dem ideologischen Gebiet in der Religion darstellt, die Verkehrung des Subjekts in das Objekt und umgekehrt.“ (Marx, Karl: Ökonomische Manuskripte 1863-1867, Teil 1, In: Marx- Engels-Gesamtausgabe, Abteilung II, Bd. 4.1, Berlin: Dietz 1988, S. 64f.) <?page no="266"?> 266 „das gesellschaftliche Verhältniß der Producenten zur Gesammtarbeit als ein außer ihnen existirendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen. [...] Um daher eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte, unter einander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand. Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waaren produciert werden, und der daher von der Waarenproduktion unzertrennlich ist.“ 978 Marx wollte in der ‚Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie‘ die Kritik des Himmels in eine Kritik der Erde verwandeln. Dieser Anwendung der Feuerbachschen Entfremdungskritik bleibt er im ‚Kapital‘ insofern treu, als dass er die konstatierte Versachlichung der menschlichen Arbeit und der menschlichen Arbeitsteilung immer noch mit religiösen Gegenständen vergleicht: Dadurch dass die Wilden sich auf ein von ihnen geschaffenes Produkt gemeinsam als die Gabe eines Gottes beziehen, erhält es tatsächlich eine Selbständigkeit und Macht über die Menschen. Allerdings trennt Marx seit seiner Entwicklung der materialistischen Geschichtsauffassung in den ‚Quellen der DI‘ eindeutig die Entfremdung im Bewusstsein von der sich verselbständigenden Vergegenständlichung in der Praxis. Das falsche Bewusstsein verschwinde mit seiner Kritik, die Versachlichung warenmäßiger Arbeitsteilung habe ihren Ursprung jedoch in der sozialen Praxis der Warenbesitzer und verschwinde erst mit der praktischen Umwälzung dieser Arbeitsteilung selbst. Marx hat damit die Feuerbachsche Entfremdung als Ausgangspunkt seiner Überlegungen genommen, unterscheidet sie formell aber inzwischen deutlich von der religiösen Entfremdung. Dass Marx trotz seiner materialistischen Geschichtsauffassung auf die religiöse Entfremdung zurückkommt, zeigt, dass er immer noch eine inhaltliche Gemeinsamkeit sieht. Daher beschreibt er das Resultat der Warenanalyse mit Metaphern aus dem religiösen Umfeld, die Analyse ergebe, dass die Ware „ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken.“ 979 Was Marx im Hinblick auf den Wert konstatiert hat, liegt nach seiner Ansicht auch im Kapital vor. Nicht nur ist das Kapitalverhältnis seiner 978 Marx: Das Kapital, Bd. 1, 1890, MEGA II,10, S. 71f. 979 Marx: Das Kapital, Bd. 1, 1890, MEGA II,10, S. 70. Marx fährt fort: Als Gebrauchswert ist der Gegenstand ganz und gar nicht rätselhaft. „Aber sobald er als Waare auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding. Er steht nicht nur mit seinen Füßen auf dem Boden, sondern er stellt sich allen andren Waaren gegenüber auf den Kopf und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne.“ (Marx: Das Kapital, Bd. 1, 1890, MEGA II,10, S. 70f.) In anderen Manuskripten zum ‚Kapital‘ identifiziert Marx den Fetischismus mit der Transsubstantiation, siehe Marx, Karl: Ökonomische Manuskripte 1861-1863, Teil 4, In: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Abteilung II, Bd. 3.4, Berlin: Dietz 1979, S. 1494. <?page no="267"?> 267 Ansicht nach die Wahrheit der Warengesellschaft 980 , sondern es trifft auch noch genauer das, was er in den ÖPM als Selbstentfremdung bezeichnet hat. Bereits im ‚Kommunistischen Manifest‘ hatte Marx das Kapital als selbständig und persönlich, gegenüber der Unselbständigkeit und Unpersönlichkeit des es schaffenden Arbeiters, bezeichnet. Nun gilt es zu erklären, wie Marx diesen Ausdruck von der Persönlichkeit des Kapitals meint. Im ‚Kapital‘ bestimmt Marx das Kapital als die Bewegung, in der aus einer vorgeschossenen Summe Geldes mehr Geld geschaffen werden kann. Die kapitalistische Produktionsweise vorausgesetzt, ist dieses Verhältnis ein bloßes Verhältnis der Endsumme des Kapitals zu seiner Ausgangssumme. Dass sich das gesamte ökonomische und von den Menschen in naturwüchsiger Arbeitsteilung blind geschaffene System dadurch kennzeichnet, dass ein ökonomischer Gegenstand selbst die wesentliche Bewegung vollführt, ist für Marx eine besondere Absurdität. „In der Tat aber wird der Werth hier das Subjekt eines Processes, worin er unter dem beständigen Wechsel der Formen von Geld und Waare seine Größe selbst verändert, sich als Mehrwert von sich selbst als ursprünglichem Wert abstößt sich selbst verwerthet. Denn die Bewegung, worin er Mehrwerth zusetzt, ist seine eigne Bewegung, seine Verwertung als Selbstverwerthung. Er hat die okkulte Qualität, Werth zu setzen, weil er Werth ist. Er wirft lebendige Junge oder legt wenigstens goldne Eier.“ 981 Im Kontrast seiner bisherigen Vorstellung, wonach die Individuen zum Subjekt ihrer eigenen Schaffenskraft und deren Entwicklung werden sollten, wird für Marx im Kapital das Produkt der Arbeit selbst zum Subjekt. Zwar deckt Marx durchaus auf, dass die Verwertung des Werts durch die Anwendung der Arbeitskraft zustande kommt, deren Qualität es ist, mehr Wert neu zu schaffen, als sie zu ihrer Reproduktion benötigt. Einmal einen kapitalistischen Arbeitsmarkt unterstellt, sei es jedoch allein die Summe Kapital an sich, die ausreiche, um diese Bewegung zu vollführen. In eingerichteten kapitalistischen Gesellschaften liege der Grund für die Vermehrung des Kapitals einzig und allein in seiner Ausgangssumme. Damit sei es aber die Wahrheit des Kapitals, dass es sich selbst vermehre - und damit das Subjekt seiner selbst sei. Hatte Marx seinen ökonomischen 980 Gegen die später sich durchsetzende historisierende Interpretation des Übergangs von der Ware ins Kapital, die auch von Engels vertreten wurde, hält Marx in der 1. Auflage des ‚Kapital‘ fest: „Ganz so nothwendig, wie die Waarenproduktion auf einem gewissen Entwicklungsgrad kapitalistische Waarenproduktion wird — ja nur auf der Grundlage der kapitalistischen Produktionsweise wird die Waare zur allgemeinen, herrschenden Form des Produkts, — ganz so nothwendig schlagen die Eigenthumsgesetze der Waarenproduktion in Gesetze der kapitalistischen Aneignung um." (Marx: Das Kapital, Bd. 1, 1867, MEGA II,5, S. 472, Fußnote 23) Engels hat diesen Teil der Fußnote in der 4. Auflage des ‚Kapital‘ gestri chen, vgl. Marx: Das Kapital, Bd. 1, 1890, MEGA II,10, S. 726. 981 Marx: Das Kapital, Bd. 1, 1890, MEGA II,10, S. 141. <?page no="268"?> 268 Bewertungsmaßstab dadurch entwickelt, dass der Mensch sich in der Arbeit seine Schaffenskraft vergegenständlicht und damit nur noch mit seinen eigenen, selbstgesetzten Objekten umgeht, und später in den ‚Quellen der DI‘ auf die in der jeweiligen Produktionsweise durch Arbeitsteilung vergesellschaftete Individuen übertragen, so ist dieses Subjekt-Sein in der fetischisierten Gesellschaft auf das Produkt der Arbeit selbst übergegangen. Als solches Subjekt bestimmt es selbst den Willensinhalt des Kapitalisten. „Nur als Personifikation des Kapitals ist der Kapitalist respektabel. Als solcher theilt er mit dem Schatzbildner den absoluten Bereicherungstrieb. Was aber bei diesem als individuelle Manie erscheint, ist beim Kapitalisten Wirkung des gesellschaftlichen Mechanismus, worin er nur ein Triebrad ist.“ 982 In Bezug auf den Proletarier schreibt Marx, dass es die Bestimmung der Lohnarbeit sei, eine ihr gegenüberstehende Macht zu schaffen, die sich die Lohnarbeit zum Mittel ihrer selbst macht, anstatt umgekehrt: „Da vor seinem Eintritt in den Proceß seine eigne Arbeit ihm selbst entfremdet, dem Kapitalisten angeeignet und dem Kapital einverleibt ist, vergegenständlicht sie sich während dieses Processes beständig im fremden Produkt. Da der Produktionsproceß zugleich der Konsumtionsprozeß der Arbeitskraft durch den Kapitalisten, verwandelt sich das Produkt des Arbeiters nicht nur fortwährend in Waare, sondern in Kapital, Werth, der die werthschöpfende Kraft aussaugt, Lebensmittel, die Personen kaufen, Produktionsmittel, die den Producenten anwenden. Der Arbeiter selbst produziert daher beständig den objektiven Reichtum als Kapital, ihm fremde, ihn beherrschende und ausbeutende Macht“ 983 . An dieser Stelle benutzt Marx zweifelsohne nochmals die Terminologie und die Gedanken seines Entfremdungskonzepts. Nicht nur, dass er die Vergegenständlichung der Arbeitskraft durch Lohnarbeit im Kapital als Entfremdung charakterisiert, er zählt auch drei Aspekte von Feuerbachs Entfremdungskritik wieder auf: Dem Menschen steht sein eigenes Produkt als selbständige, ihn beherrschende und ihm feindlich gesinnte Macht gegenüber. Dass Marx auf das Entfremdungskonzept zurückgreift, lässt vermuten, dass die ihm zugrundeliegende Bestimmung des Menschen als nicht-entfremdete Vergegenständlichung auch noch eine Rolle spielt. Der Wertmaßstab von 1844 ist somit in verwandelter Form in die Kritik der politischen Ökonomie aufgenommen. Wie Lange ganz richtig schreibt, ist damit im Fetischcharakter der Ware der „Maßstab der Kritik an der Warenproduktion enthalten. Die Verhältnisse der Warenproduktion sind nicht ‚unmittelbar gesellschaftlich‘, Produktion aber sollte unmittelbar ge- 982 Marx: Das Kapital, Bd. 1, 1890, MEGA II,10, S. 530. 983 Marx: Das Kapital, Bd. 1, 1890, MEGA II,10, S. 510f. <?page no="269"?> 269 sellschaftlich sein.“ 984 Der Maßstab dieser unmittelbar gesellschaftlichen Produktion ist die oben abgeleitete positive Vergegenständlichung. Positiv kommt Marx auf diesen Wertmaßstab in den Vorarbeiten zum Kapital zu sprechen. „In fact aber, wenn die bornirte bürgerliche Form abgestreift wird, was ist der Reichthum anders, als die im universellen Austausch erzeugte Universalität der Bedürfnisse, Fähigkeiten, Genüsse, Productivkräfte etc der Individuen? Die volle Entwicklung der menschlichen Herrschaft über die Naturkräfte, die der s. g. Natur sowohl, wie seiner eignen Natur? Das absolute Herausarbeiten seiner schöpferischen Anlagen, ohne andre Voraussetzung als die vorhergegangne historische Entwicklung, die diese Totalität der Entwicklung, d. h. der Entwicklung aller menschlichen Kräfte als solcher, nicht gemessen an einem vorhergegebnen Maaßstab, zum Selbstzweck macht? wo er sich nicht reproducirt in einer Bestimmtheit, sondern seine Totalität producirt? Nicht irgend etwas Gewordnes zu bleiben sucht, sondern in der absoluten Bewegung des Werdens ist? “ 985 Es ist die Bestimmung des Menschen, dass er seine soziale Schaffenskraft in einem Produkt vergegenständlichen kann, das ihm nicht nicht als eigenständige Struktur gegenübertritt sondern seiner Gewalt unterliegt. So wie nach dem Begriff des Gattungswesens in den ÖPM der Mensch durch die Arbeit ein universelles Wesen ist, produziert der Mensch sich hier selbst in seiner Totalität. Er transzendiert die Kluft zwischen sich und der Natur dadurch, dass er in der Arbeit ein Subjekt in dem umfassenden Sinne ist, dass er seine Objekte und sich selbst setzt, sich als die ‚absolute Bewegung des Werdens‘ bestimmt. Und wie in den ‚Quellen der DI‘ ist das Produkt die durch die Arbeitsteilung der Individuen geschaffene soziale und materielle Welt, die sich nicht an einem absoluten Maßstab messen muss, sondern an der vielmehr an der dem Menschen eigenen Bestimmung, seine schöpferischen Kräfte zu entwickeln. Insofern ist auch in der Kritik der politischen Ökonomie die freie, nicht-entfremdete Arbeit immer noch als Selbstzweck, als Verwirklichung des Marxschen Maßstabs bestimmt. Bevor untersucht wird, warum dieser Wertmaßstab zusehends in den Hintergrund rückt, soll anhand der kapitalistischen Produktivkräfte gezeigt werden, dass Marx die im Entfremdungskonzept auf die Ökonomie übertragenen Aspekte der Feuerbachschen Religionskritik auch in den materiellen Produktionsbedingungen zur Anwendung bringt. 984 Lange, Ernst Michael: Wertformanalyse, Geldkritik und die Konstruktion des Fetischismus bei Marx, In: Bubner, Rüdiger (Hg.): Marx‘ Methodologie, Neue Hefte für Philosophie, Heft 13 (1978), S. 25. 985 Marx: Ökonomische Manuskripte 1857/ 58, MEGA II,1.2, S. 392. <?page no="270"?> 270 12.2. Der Wertmaßstab in der reellen Subsumtion von Arbeit unter das Kapital Die kapitalistische Maschine ist nach Marx nicht ein verlängertes und mächtiges Werkzeug seiner Schaffenskraft, sondern eine Struktur, die den Arbeiter ersetzt. Kraft wie Geschick des Arbeiters wird in der Maschine vergegenständlicht und tritt ihm als solches entgegen. „Die Maschine, wovon die industrielle Revolution ausgeht, ersezt den Arbeiter, der ein einzelnes Werkzeug handhabt, durch einen Mechanismus, der mit einer Masse derselben oder gleichartiger Werkzeuge auf einmal operirt und von einer einzigen Triebkraft, welches immer ihre Form, bewegt wird.“ 986 Damit werde das Verhältnis des Arbeiters zu seinem Werkzeug radikal umgedreht. Nicht nur, dass der Arbeiter zu seinem eigenen Werkzeug in ein Konkurrenzverhältnis trete, weil dieses ihn verdrängen kann, bei Arbeiter und Werkzeug sind die Rollen von Subjekt und Objekt gänzlich vertauscht. Zum Unterschied von der Maschine im Kommunismus und kapitalistischer Maschinerie schreibt Marx: „In dem einen erscheint der kombinirte Gesamtarbeiter oder gesellschaftliche Arbeitskörper als übergreifendes Subjekt und der mechanische Automat als Objekt; in dem andren ist der Automat selbst das Subjekt, und die Arbeiter sind nur als bewußte Organe seinen bewußtlosen Organen beigeordnet und mit denselben der centralen Bewegungskraft untergeordnet.“ 987 Ausgerechnet das Werkzeug, das den Menschen zum Subjekt machen soll, wird im Kapitalismus selbst zum Subjekt. So wie das Kapital in seinem Begriff als sich verwertender Wert zum automatischen Subjekt werde, so wird es auch in seiner sachlichen Form als Maschine zum bestimmenden Element im Arbeitsprozess. Fortan sind es nicht die Erfordernisse des Arbeiters, denen die Maschine gehorcht, sondern es ist die Maschine, deren Notwendigkeiten der Arbeiter nachzukommen hat. Das ist nur folgerichtig nach dem, was Marx in den ÖPM als Subjekt-Sein des Menschen bestimmt hatte. Dass der Mensch ein Subjekt genannt zu werden verdient, verdanke er der Tatsache, dass er mittels seiner schöpferischen Fähigkeiten die Natur zum Ausdruck seines Selbst zu machen imstande sei. Wenn diese produktive Potenz in die Maschine gelegt wird, ist es nur schlüssig, dass nun die Maschine als das Subjekt und der Arbeiter als beigeordnetes Objekt erscheint, das der Maschine dient. Dadurch wird dem Arbeiter die schöpferische Kraft selbst geraubt: „Mit dem Arbeitswerkzeug geht auch die Virtuosität in seiner Führung vom Arbeiter auf die Maschine über. Die Leistungsfähigkeit des Werkzeugs 986 Marx: Das Kapital, Bd. 1, 1890, MEGA II,10, S. 337. 987 Marx: Das Kapital, Bd. 1, 1890, MEGA II,10, S. 377f. <?page no="271"?> 271 ist emancipiert von den persönlichen Schranken menschlicher Arbeitskraft. […] An die Stelle der sie [die Manufaktur, J.S.] charakterisierenden Hierarchie der specialisierten Arbeiter tritt daher in der automatischen Fabrik die Tendenz der Gleichmachung oder Nivellirung der Arbeiten, welche die Gehülfen der Maschinerie zu verrichten haben, an die Stelle der künstlich erzeugten Unterschiede der Theilarbeiter treten vorwiegend die natürlichen Unterschiede des Alters und Geschlechts.“ 988 Das Kapital kann sich dank der Maschine unbeschränkt von den Fähigkeiten der ausgebeuteten Arbeiter vermehren. Im Vergleich zu der kapitalistischen Arbeitsteilung in der Manufaktur werden die Arbeiter in der Fabrik alle auf ihr Dasein als existierende Menschen reduziert. Weil alles Geschick in der Maschine liegt, werden die natürlichen Unterschiede wieder relevant. Der ganze Fortschritt der Arbeitsteilung, dass die Menschen sich über ihre Naturform erheben, wird durch die kapitalistische Maschinerie nivelliert. Der Arbeiter wird von dem bereits in der kapitalistischen Manufaktur auf ein Anhängsel reduziertes Organ des Gesamtarbeiters in der maschinisierten Fabrik zu einem Teilwerkzeug der Maschine, die ihn nun antreibt. „Aus der lebenslangen Specialität, ein Theilwerkzeug zu führen, wird die lebenslange Specialität, einer Theilmaschine zu dienen. Die Maschinerie wird mißbraucht, um den Arbeiter selbst von Kindesbeinen in den Theil einer Theilmaschine zu verwandeln.“ 989 Der Arbeiter wird schließlich soweit abhängiges Anhängsel der Maschine, dass sich er seine schöpferische Kraft ganz einseitig darauf ausrichten muss, der Maschine zu dienen. Dies fesselt den Lohnarbeiter ganz an seinen kapitalistischen Arbeitsplatz. „Die Theilung der Arbeit vereinseitigt diese Arbeitskraft zum ganz partikularisirten Geschick, ein Teilwerkzeug zu führen. Sobald die Führung des Werkzeugs der Maschine anheimfällt, erlischt mit dem Gebrauchswerth der Tauschwerth der Arbeiterkraft. Der Arbeiter wird unverkäuflich, wie außer Kurs gesetztes Papiergeld.“ 990 Vor allem die vermehrte Kinderarbeit, da Kinder nun auch als Fütterer der Maschinen dienen können, habe schreckliche Folgen. Nachdem die Kinder wegen zu hohen Alters auf die Straße gesetzt werden, sind sie zu keiner Art produktiver Tätigkeit mehr fähig: „Einige Versuche, ihnen anderswo Beschäftigung zu verschaffen, scheiterten an ihrer Unwissenheit, Roheit, körperlichen und geistigen Verkommenheit.“ 991 Marx sieht die Verkümmerung des Arbeiters in der maschinisierten Fabrik als besonderes Elend, weil die produktiven Potenzen des Arbeiters gerade durch diese Art von 988 Marx: Das Kapital, Bd. 1, 1890, MEGA II,10, S. 378. 989 Marx: Das Kapital, Bd. 1, 1890, MEGA II,10, S. 380. 990 Marx: Das Kapital, Bd. 1, 1890, MEGA II,10, S. 387. 991 Marx: Das Kapital, Bd. 1, 1890, MEGA II,10, S. 437. <?page no="272"?> 272 Arbeit verkümmern würden. Aus der Kritik der kapitalistischen Maschinisierung lässt sich ersehen, dass Marx es als eigentliches Ziel der Maschine ansieht, den Menschen zum Herrn über die Natur zu machen und die allseitige Entwicklung der menschlichen produktiven Potenzen zu befördern. Auch im Maschinenkapitel scheint Marx‘ Wertmaßstab durch, den Menschen zum Subjekt seiner eigenen individuellen Produktivkraftentwicklung zu machen und seine Fähigkeiten umfassend zu erweitern. Die negativen Auswirkungen der Maschine jedoch erforderten die Abschaffung ihrer kapitalistischen Benutzung. Über die Maschine schreibt Marx: „Sie macht es zu einer Frage von Leben oder Tod, die Ungeheuerlichkeit einer elenden, für das wechselnde Exploitationsbedürfnis des Kapitals in Reserve gehaltenen, disponiblen Arbeiterbevölkerung zu ersetzen durch die absolute Disponibilität des Menschen für wechselnde Arbeitserfordernisse; das Theilindividuum, den bloßen Träger einer gesellschaftlichen Detailfunktion, durch das total entwickelte Individuum, für welches verschiedne gesellschaftliche Funktionen einander ablösende Bethätigungsweisen sind.“ 992 In der Maschine sieht Marx demnach die Möglichkeit, die menschlichen Fähigkeiten zu erweitern und das Individuum so weit zu entwickeln, dass es zu einem total entwickelten Individuum wird, also alle schöpferischen Potenzen voll ausbildet. Damit wäre der Mensch nicht mehr darauf festgelegt, das abhängige Anhängsel der Maschine zu sein, sondern wäre ihr Herr, der von einem maschinisierten Arbeitsplatz auf den nächsten wechseln könnte. Marx hält demnach an dem Wertmaßstab fest, dass die menschlichen schöpferischen Fähigkeiten sich entwickeln sollten und misst die kapitalistische Maschinisierung an diesem Maßstab. Es ist für Marx eine Perversion, dass die Maschine, die die Produktivkraft der Arbeit so unfassbar steigert, die „an sich ein Sieg des Menschen über die Naturkraft ist, kapitalistisch angewandt den Menschen durch die Naturkraft unterjocht“ 993 . Auch die Prämisse der ÖPM, dass der Mensch sich die Natur durch seine Arbeit aneignet und sich seine eigenen Objekte dadurch selbst setzt, also mit keiner ihm fremden Natur, sondern nur mit selbstgeschaffenen Objekten Umgang hat, wird in der Maschinerie in sein Gegenteil verkehrt. Dem Arbeiter tritt die selbstgeschaffene Maschine wie eine Naturgewalt gegenüber, deren Notwendigkeiten er sich unterwerfen muss um zu überleben. In der Kritik an der kapitalistischen Maschinerie tritt somit ein wesentlicher Inhalt der Marxschen Entfremdungskonzeption wieder auf. „Während die Maschinenarbeit das Nervensystem aufs äußerste angreift, unterdrückt sie das vielseitige Spiel der Muskeln und konfisciert alle freie 992 Marx: Das Kapital, Bd. 1, 1890, MEGA II,10, S. 339. 993 Marx: Das Kapital, Bd. 1, 1890, MEGA II,10, S. 397. <?page no="273"?> 273 körperliche und geistige Thätigkeit. Selbst die Erleichterung der Arbeit wird zum Mittel der Tortur, indem die Maschine nicht den Arbeiter von der Arbeit befreit, sondern seine Arbeit vom Inhalt. Aller kapitalistischen Produktion, soweit sie nicht nur Arbeitsprozeß, sondern zugleich Verwerthungsprozeß des Kapitals, ist es gemeinsam, daß nicht der Arbeiter die Arbeitsbedingung, sondern umgekehrt die Arbeitsbedingung den Arbeiter anwendet, aber erst mit der Maschinerie erhält diese Verkehrung technisch handgreifliche Wirklichkeit. Durch seine Verwandlung in einen Automaten tritt das Arbeitsmittel während des Arbeitsprocesses selbst dem Arbeiter als Kapital gegenüber, als todte Arbeit, welche die lebendige Arbeitskraft beherrscht und aussaugt.“ 994 In der Maschine vergegenständlicht sich somit die kapitalistische Verkehrung, dass der Produktionsprozess den Produzenten beherrscht anstatt andersherum. Der bereits im Fetisch herausgearbeitete Wertmaßstab tritt hier somit in sachlicher Gestalt wieder auf. Auch hier werden die Erkenntnisse aus dem Konzept der entfremdeten Arbeit und der naturwüchsigen Arbeitsteilung aufgegriffen und auf die Maschine als materielle Gestalt des Kapitals übertragen. Wie in den ÖPM sollte Arbeit als ‚freie körperliche und geistige Tätigkeit‘ dazu dienen, den Inhalt seines Objekts selbst zu setzen. Stattdessen konstatiert Marx es als eine Tortur, dass aller Inhalt vom Arbeiter in die Maschine gelegt wird und dieser es damit als einzige Fähigkeit entwickeln kann und muss, die Anforderungen der kapitalistischen Maschine auszuhalten. Die kapitalistische Maschine hat somit inhaltlich alle Aspekte der in den ÖPM auf die Nationalökonomie übertragenen Feuerbachschen Entfremdung. Sie ist die Vergegenständlichung des verselbständigten Produktionsprozesses und tritt dem Arbeiter damit auch als selbständiger, außer seiner Kontrolle stehender Gegenstand gegenüber. Obgleich sie Produkt der Arbeiter ist, geraten sie unter ihre Kontrolle und stehen mit ihr in einem Konkurrenzverhältnis. Die Maschine steht seinem Schöpfer also feindlich gegenüber. Auf diese Feindseligkeit verweist Marx auf verschiedenen Ebenen. Nicht nur, dass die Maschine den Arbeiter verdrängt und dadurch einkommenslos macht, sie bewerkstellige auch eine Zerstörung der Sinnesorgane 995 , bietet dem Arbeitenden an der Maschine unmenschliche Lebensbedingungen 996 , verlängert den Arbeitstag 997 und macht eine Intensivierung der Arbeit auf Knopfdruck möglich 998 . Wie der kapitalistische Produktionsprozess insgesamt eine Konkurrenz unter den Arbeitern stiftet, so verstärkt die Maschinisierung diese Konkurrenz noch einmal durch Ver- 994 Marx: Das Kapital, Bd. 1, 1890, MEGA II,10, S. 380f. 995 Siehe Marx: Das Kapital, Bd. 1, 1890, MEGA II,10, S. 383f. 996 Siehe Marx: Das Kapital, Bd. 1, 1890, MEGA II,10, S. 384. 997 Siehe Marx: Das Kapital, Bd. 1, 1890, MEGA II,10, S. 362-368. 998 Siehe Marx: Das Kapital, Bd. 1, 1890, MEGA II,10, S. 368-371. <?page no="274"?> 274 drängung der Arbeiter aus der Fabrik auf den Arbeitsmark und Nivellierung ihrer Fähigkeiten und Kenntnisse. So ist das arbeitsteilige Produkt des Menschen eine Vergegenständlichung ihres kapitalistischen Gegensatzes. Die Einheit der Menschen wird dadurch weiterhin geschädigt. Für Marx ist somit die kapitalistische Maschine das materiell gewordene Verkehrungsverhältnis der kapitalistischen Produktionsweise, die greifbarste Form der Feuerbachschen Entfremdung in der Produktion. Der Kapitalismus ist für Marx eine Produktionsweise, „worin der Arbeiter für die Verwerthungsbedürfnisse vorhandner Werthe, statt umgekehrt der gegenständliche Reichthum für die Entwicklungsbedürfnisse des Arbeiters da ist. Wie der Mensch in der Religion vom Machwerk seines eignen Kopfes, so wird er in der kapitalistischen Produktion vom Machwerk seiner eignen Hand beherrscht.“ 999 12.3. Der Schwund des Wertmaßstabs in der Kritik der politischen Ökonomie Zwar wendet Marx den in den ÖPM entwickelten und in den ‚Quellen der DI‘ modifizierten Wertmaßstab für die Beurteilung des Kapitalismus in den späteren ökonomischen Schriften immer noch an, zugleich wird dieser Wertmaßstab jedoch zusehends schwächer und diffuser. Während man in den ÖPM noch einen klaren der Entfremdungskritik zugrundeliegende positiven Wertmaßstab herausarbeiten konnte, ist dieser in den späteren ökonomischen Schriften nur noch als Spurenelement vorhanden. Es fällt auf, dass der Maßstab selbst an Kontur verliert. So bestimmt Marx den wirklichen Reichtum der Gesellschaft: „Das Reich der Freiheit beginnt in der That erst da, wo das Arbeiten, das durch Noth und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion. […] Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehn, daß der vergesellschaftete Mensch, die associirten Producenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehn. Aber es bleibt dies immer ein Reich der Nothwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Nothwendigkeit als 999 Marx: Das Kapital, Bd. 1, 1890, MEGA II,10, S. 557. <?page no="275"?> 275 seiner Basis aufblühn kann. Die Verkürzung des Arbeitstags ist die Grundbedingung.“ 1000 Marx stellte in den ÖPM noch die Vergegenständlichung des Menschen in Arbeit als Wertmaßstab auf und bestimmte die lebensnotwendige Arbeit als das für den Menschen Charakteristische. Gerade die Lebenstätigkeit, die den Menschen als Menschen erhalte, hatte er damals als die für den Menschen bestimmende Tätigkeit identifiziert. In Rückgriff auf Hegels Vergegenständlichungsbewegung hat er die Subjekt-Werdung des Menschen durch Arbeit als die menschlichste Tätigkeit interpretiert. 1001 Damit waren die Bedingungen für die freie Entfaltung dieser Potenzen der Maßstab zur Beurteilung gesellschaftlicher Gegenstände. Jetzt sieht Marx jedoch ausgerechnet die notwendige Arbeit als notwendiges Übel an. Er hat zwar immer noch den Wertmaßstab, die Kontrolle über die Produktion des Lebensnotwendigen zu erlangen und damit eine Gesellschaft einzurichten, die der menschlichen Natur am würdigsten sei. Man könnte immer noch denken, Marx würde unter der menschlichen Natur fassen, dass der Mensch seine kreativen Potenzen in Geist und Physis frei entfalten könnte. Aber dem entgegen spricht, dass er die Zeit jenseits der notwendigen Arbeit nun als das wahre Reich der Freiheit ansieht und die Freiheit auf dem Gebiet der Notwendigkeit auch darin besteht, diese Arbeit möglichst kurz und mit möglichst wenig Kraftaufwand zu tätigen. Der späte Marx scheint wahre Freiheit mit Freizeit zu identifizieren. Allerdings bestimmt Marx die positive Tätigkeit in der Freizeit genauer, nämlich als die auf sich selbst bezogene Kraftentwicklung. Nicht mehr die Herstellung der eigenen Lebensmittel scheint nun der Maßstab zu sein, sondern wie viel Zeit man hat, all jene Potenzen zu entwickeln, die jenseits der Arbeit liegen und auf sich selbst bezogen sind. An dieser Stelle wird deutlich, dass Marx‘ Bewertungsmaßstab sich weiterhin wandelt, ohne dass Marx darüber reflektieren oder auch nur argumentieren würde. Zugleich lässt sich immer noch festhalten, dass Marx an anderen Stellen in den Spätschriften zwar einen diffusen und grundlosen Wertmaßstab vertritt, dieser aber zum Teil dennoch eine gewisse Kohärenz mit zuvor entwickelten Erkenntnissen aufweist. So urteilt Marx über die Endphase der kommunistischen Gesellschaft in der sehr spät geschriebenen Kritik des Gothaer Programms von 1875: 1000 Marx, Karl: Das Kapital - Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 3, Hamburg 1894, In: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Abteilung II, Bd. 15, Berlin: Dietz 2004, S. 794f. Ganz ähnlich argumentiert Marx in Marx: Das Kapital, Bd. 1, 1890, MEGA II,10, S. 474f. Siehe auch Marx, Karl: Ökonomische Manuskripte 1863-1867, Teil 1, Value, Price, Profit, In: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Abteilung II, Bd. 4.1, Berlin: Dietz 1988, S. 424. 1001 Siehe Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 241f. <?page no="276"?> 276 „In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Theilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Productivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichthums voller fliessen...“ 1002 Dieses Urteil ist wieder im Einklang mit dem in den ÖPM entwickelten Wertmaßstab. Marx hatte mit der Übertragung der Feuerbachschen Entfremdungskritik auf die Ökonomie Teile der Hegelschen Vergegenständlichungstheorie übernommen und auf dieser Grundlage sein Menschenbild entwickelt. Obgleich er sich spätestens in den ‚Quellen der DI‘ nicht nur von Hegel sondern auch explizit von jedweder Anthropologie, die ihm zuvor als Maßstab gegolten hat, verabschiedet, tauchen dennoch immer wieder die Bestimmungen des Bildes vom Menschen auf, der in Arbeitsteilung seine individuellen produktive Potenzen verwirklicht, entwickelt und entfaltet und darüber die Kluft zwischen Subjekt und Objekt überwindet. In dieser Vergegenständlichung durch Arbeit ist im nichtentfremdeten Zustand auch die Befriedigung und die Entwicklung der menschlichen Bedürfnisse enthalten. Marx hatte dieses Menschenbild durch die Vergegenständlichungstheorie des Subjekts von Hegel übernommen und sich explizit sukzessive davon entfernt. Sowohl die Rede vom Menschen als Subjekt als auch vom Wesen des Menschen werden nach und nach kritisiert. Dennoch behält Marx wesentliche Inhalte dieses Bildes vom Menschen, der durch die Arbeit Subjekt seiner selbst ist. Marx hat sich demnach einen Standpunkt erarbeitet, den er selbst nicht mit Gründen aufrecht erhalten kann, da er sich letztlich jede Grundlage für eine Begründung oder eine Weiterentwicklung seines Wertmaßstabs entzogen hat. Zuletzt bleibt nur noch der unbestimmte Standpunkt, dass es dem Menschen eigen sei, seine schöpferischen Potenzen zu entwickeln und zu entfalten. Zu einer genaueren Bestimmung kommt Marx in seinen späteren Schriften nicht. Aus der Bestimmung, seine schöpferischen Potenzen rundum zu entwickeln, wird zum Ende seiner wissenschaftlichen Karriere die freie, geistige und gesellschaftliche Betätigung der Individuen, für die genug Zeit da sein müsse. In der Reduktion von Freiheit auf Freizeit rächt sich der Abschied von der Philosophie und die alleinige Hinwendung zur positiven Wissenschaft. Marx kann seinem Wertmaßstab damit kein sicheres Fundament mehr bieten. Den in nicht kapitalistischen Zuständen positiven Effekt der Maschinisierung fasst Marx daher auch neben der seinem Wertmaßstab treu gebliebenen Beurteilung der Potenzierung seiner Schaffenskraft zugleich als Mittel für den Müßiggang. Neben Aristoteles zitiert er Antipatros, einen griechischen Dichter zur Zeit des Cicero, um 1002 Marx: Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei, MEGA I,25, S. 15. <?page no="277"?> 277 zustimmend die Nützlichkeit der nicht-kapitalistischen Maschinerie für die Freizeit zu veranschaulichen: Schonet der mahlenden Hand, o Müllerinnen, und schlafet Sanft! es verkünde der Hahn euch den Morgen umsonst! Däo hat die Arbeit der Mädchen den Nymphen befohlen, Und itzt hüpfen sie leicht über die Räder dahin, Daß die erschütterten Achsen mit ihren Speichen sich wälzen, und im Kreise die Last drehen des wälzenden Steins. Laßt uns leben das Leben unserer Väter, und laßt uns der Gaben Arbeitslos uns freun, welche die Göttin uns schenkt. 1003 Im späten Werk von Marx steht sein Wertmaßstab von der Verwirklichung des menschlichen Wesens durch Arbeit somit unvermittelt neben einem ganz anderen, umbestimmten Maßstab, in dem die Freiheit mit Freizeit identifiziert wird. Dennoch greift er vor allem in den Vorarbeiten zum ‚Kapital‘ wiederholt auf den hier rekonstruierten Wertmaßstab zurück und setzt ihn ins Verhältnis zu dem von Aristoteles‘ bestimmten unmittelbar positiven Bezug des Individuums zu seiner gesellschaftlichen Allgemeinheit. Dieser Bezug ist Thema des folgenden dritten Teils dieser Arbeit. 1003 Marx: Das Kapital, Bd. 1, 1890, MEGA II,10, S. 367, Fußnote 156. <?page no="278"?> 278 III. Das ‚gute Leben‘ bei Marx In diesem Teil wird gezeigt, dass Marx von Hegel das Ziel einer substantiellen Einheit der in ihrer Individualität freien Einzelnen übernimmt und die Verwirklichung dieses Ziels in einer unmittelbaren Vergesellschaftung erblickt. Marx meint, im Kommunismus könne sich der Mensch nicht nur als Subjekt setzen, indem er die eigene schöpferische Kraft vergegenständlicht und dadurch immer weiter entwickelt, sondern er beziehe sich als Individuum dadurch auch unmittelbar positiv auf seine Gesellschaft. Gegen die Hegelsche Zusammenführung der atomisierten Individuen im Staat setzt Marx die unmittelbare Vergesellschaftung der ‚Einzelnen als Alle‘ oder der ‚gesellschaftlichen Einzelnen‘. Diese These ist Beweiszweck von Kapitel 13. Kapitel 14 zeigt, dass Marx für dieses Ideal der unmittelbaren Vergesellschaftung auf die Antike und auf Aristoteles als ihres höchsten Vertreter zurückgreift. Im Vergleich mit dem kapitalistischen Umschlag von Individuum und Gesellschaft in voneinander getrennte und sich gegenüberstehende Extreme, so dass die Gemeinsamkeit im wechselseitigen Ausschluss im ‚Gemeinwesen Geld‘ und der Einzelne nur als Charaktermaske seiner ökonomischen Funktion antagonistisch gegen den anderen auftritt, hält Marx in der griechischen antike die Einheit der unterschiedenen Individuen für immerhin beschränkt verwirklicht. In Kapitel 15 wird dargelegt, dass Marx das aristotelische Vorbild des guten Lebens für die unmittelbare Einheit der unterschiedenen Individuen nicht nur in direkter Auseinandersetzung mit dessen Schriften gewonnen hat, sondern sich vor allem auf der Hegelschen Einschätzung der antiken Sittlichkeit und der aristotelischen Philosophie als ihres wissenschaftlichsten Ausdrucks stützt. <?page no="279"?> 279 13. Der Marxsche Wertmaßstab und die ‚Einzelnen als Alle‘ In der Rekonstruktion des implizit der Marxschen Kritik inhärenten Wertmaßstabs wurde festgestellt, dass Marx in Anlehnung an Hegel und Feuerbach den Maßstab entwickelt, dass der Mensch Subjekt seiner selbst durch die praktische Setzung seines Objekts sei. Eine dem menschlichen Wesen gemäße Gesellschaft muss ihm die Möglichkeit bieten, seine produktiven Potenzen in nützlichen Produkten zu vergegenständlichen und darüber weiter zu entwickeln. Parallel zu diesem Wertmaßstab übernimmt Marx von Hegel das Ziel einer gesellschaftlichen Einheit von Einzelnen, die in der Gesellschaft ihre Individualität ausleben und entwickeln können. In der Hegelschen Rechtsphilosophie kritisiert Marx die Hegelsche Einheit der unterschiedenen freien Individuen im Staat. In den ÖPM entwickelt Marx seine Ansicht, wie die Kluft zwischen Subjekt und Objekt zu überbrücken sei, nämlich mittels einer produktiven Vergegenständlichung des Menschen. Diese Vergegenständlichung ist für ihn im nicht entfremdeten Zustand zugleich die wahre Verwirklichung der Einheit von unterschiedenen Individuen. In den ‚Quellen der DI‘ entwickelt Marx diesen Wertmaßstab mit seiner materialistischen Geschichtsauffassung weiter, aber auch in der Kritik der politischen Ökonomie ist dieses Ideal noch präsent. 13.1. Die ‚Einzelnen als Alle‘ in der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie Über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft bei Marx gibt die frühe Schrift ‚Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie‘ genauer Auskunft, die auch zuvor bereits Thema war. Hier lässt sich anhand der negativen Abgrenzung zu Hegel ablesen, wie Marx das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in seiner Ablösung von der Hegelschen Philosophie formt. Es wird zu zeigen sein, dass Marx dieses Verhältnis niemals vollständig aufgibt, selbst nicht mit der Entwicklung seiner materialistischen Geschichtsauffassung. In der Sphäre der Sittlichkeit der ‚Grundlinien‘ ist nach Hegel der Begriff der Freiheit zu einer vorhandenen Welt und zur Natur des Selbstbewusstseins geworden. 1004 Damit gehen in ihr beide zuvor aus der Freiheit abgeleiteten, aber noch getrennten Sphären zusammen: Einerseits das auf 1004 Siehe Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §142, S. 292. <?page no="280"?> 280 der Freiheit beruhende Prinzip des abstrakten Rechts, der rechtlichen Allgemeinheit, andererseits die Individualität der Subjektivität, das sich in der Moralität formell, aber dadurch abstrahiert von jedem Inhalt, auf die Allgemeinheit bezieht. Aber in der bürgerlichen Gesellschaft, die die Ökonomie beinhaltet, habe die Freiheit noch keine substantielle Wahrheit, zwar „schlägt die subjektive Selbstsucht in den Beitrag zur Befriedigung der Bedürfnisse aller anderen um“ 1005 , indem die Individuen nur für den eigenen Nutzen produzieren, sich aber in Arbeitsteilung zugleich auf das Bedürfnis des anderen positiv beziehen müssen, zugleich verlören sich individuelle Besonderheit und gesellschaftliche Allgemeinheit jedoch in ihre Extreme. 1006 Erst der Staat sei die „Wirklichkeit des substantiellen Willens, die er in dem zu seiner Allgemeinheit erhobenen besonderen Selbstbewußtsein hat“ 1007 . Im Staat existiere die Freiheit der unterschiedenen Individuen als zugleich der Individualität der Einzelnen Recht gebendes, aber nicht von ihnen abhängigen Selbstbewusstsein. Im Hinblick auf die Einheit von individueller Freiheit als besonderem Wohl und gesellschaftlicher Substanz kann der Staat in den ‚Grundlinien‘ als die gesellschaftliche Verwirklichung eines früher von Hegel bestimmten Subjekts gelesen werden. In der ‚Phänomenologie‘ bestimmt Hegel den Geist, der in der Welt ist (also der Geist aus dem Geistkapitel) als die Identität von einander unterschiedenen Selbstbewusstseinen, die zugleich in einer von ihnen unterschiedenen Substanz sich selbst als unterschiedene gleich und zugleich in einer höheren Einheit identisch sein können. Hegel beschreibt dies anhand der in der ‚Phänomenologie‘ nachverfolgten Erfahrung des Bewusstseins zur Wissenschaft: „Was für das Bewußtsein weiter wird, ist die Erfahrung, was der Geist ist, diese absolute Substanz, welche in der vollkommenen Freiheit und Selbständigkeit ihres Gegensatzes, nämlich verschiedener für sich seiender Selbstbewußtsein[e], die Einheit derselben ist; Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist.“ 1008 Obgleich diese Stelle nicht mit der Sittlichkeit der ‚Grundlinien‘ gleichgesetzt werden kann, so wird sich doch zeigen, dass für Marx im Grunde diese Aussage die Perspektive ist, unter der er die Sittlichkeit in den ‚Grundlinien‘ liest, mit dem Fortschritt, dass die Selbstbewusstseine in den ‚Grundlinien‘ Individuen der Freiheit sind. Es wird zu beweisen sein, dass es Marx um die individuelle Freiheit unterschiedener Selbstbewusstseine geht, die sich zugleich in einer Einheit vorfinden. Das ‚Ich, das Wir ist‘ wird in den ‚Grundlinien‘ durch moralische Individuen repräsentiert, die 1005 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §199, S. 353, siehe auch §189, S. 346f. 1006 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §184, S. 340. 1007 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §258, S. 399. 1008 Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 145. <?page no="281"?> 281 ihre Wahrheit in einer Allgemeinheit haben und somit in einer Einheit verbunden sind. Zugleich ist die Freiheit auch in den ‚Grundlinien‘ das ‚Wir, das Ich ist‘, denn die Individuen konstituieren diese Einheit, sie bleiben Individuen und verfolgen auf rechtliche Weise ihre individuelle Freiheit, auch wenn und gerade dadurch, dass sie in die übergreifende Allgemeinheit eingegliedert sind. So lässt sich der Staat in den ‚Grundlinien‘ als Verwirklichung dieser abstrakten Bestimmung des Geistes, der in der Welt ist, aus der ‚Phänomenologie‘ lesen. „Das Prinzip der modernen Staaten hat diese ungeheure Stärke und Tiefe, das Prinzip der Subjektivität sich zum selbständigen Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden zu lassen und zugleich es in die substantielle Einheit zurückzuführen und so in ihm selbst diese zu erhalten.“ 1009 Marx scheint die ‚Grundlinien‘ in seiner Kritik von 1843 auch unter diesem Blickwinkel gelesen zu haben. Bereits im vorhergehenden zweiten Teil wurde festgestellt, dass Marx in seiner Auseinandersetzung mit Hegel bis inklusive 1843 die Verwirklichung der Philosophie als die Überbrückung der Kluft zwischen Subjekt und Objekt bezweckt. Dass Marx in der ‚Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie‘ dies mit der Einheit von individueller Freiheit und gesellschaftlicher Allgemeinheit verbindet, wird sowohl in seiner negativen Kritik der ‚Grundlinien‘ als auch in seinem von Demokratie deutlich. Marx beginnt seinen Kommentar der Hegelschen Rechtsphilosophie mit dem Hegelschen Verhältnis von bürgerlicher Gesellschaft und Familie auf der einen und Staat auf der anderen Seite. Marx stützt sich dabei vor allem auf zwei Bestimmungen. In §261 charakterisiere Hegel den Staat einerseits als die „äußere Notwendigkeit und höhere Macht“ 1010 der familiären und ökonomischen Sphäre, so dass dem Staat „ihre Gesetze sowie ihre Interessen untergeordnet und davon abhängig sind“ 1011 . Diese Unterordnung sei aber zugleich kein Despotismus gegen die Freiheit der Individuen, weil im Staat als „ihr immanenter Zweck“ 1012 die besonderen Interesse dieser Sphären aufgehoben seien. Diese Versöhnung von besonderen Interessen der Individuen und ihrem allgemeinem Endzweck sei in der Verknüpfung von Recht und Pflicht im modernen Staat vollzogen. 1013 „Das Individuum muß in seiner Pflichterfüllung auf irgendeine Weise zugleich sein eigenes Interesse, seine Befriedigung oder Rechnung finden, und ihm [muß] aus seinem Verhältnis im Staat ein Recht erwachsen, wodurch die allgemeine Sache seine eigene besondere Sache wird.“ 1014 1009 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §260, S. 407. 1010 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §261, S. 407. 1011 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §261, S. 407. 1012 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §261, S. 408. 1013 Siehe Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §261, S. 407-410. 1014 Siehe Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §261, Anmerkung, S. 409. <?page no="282"?> 282 In seiner ‚Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie‘ hält Marx diese beiden Bestimmungen des Staates als zugleich ‚äußere Notwendigkeit‘ und ‚immanenten Zweck‘ von Familie und bürgerlicher Gesellschaft gegeneinander und meint, dass sie schlechthin nicht versöhnbar seien. „Unter der ‚äusserlichen Notwendigkeit‘ kann nur verstanden werden, daß ‚Gesetze‘ und ‚Interessen‘ der Familie und der Gesellschaft den ‚Gesetzen‘ und ‚Interessen‘ des Staats im Collisionsfall weichen müssen; ihm untergeordnet sind; ihre Existenz von der seinigen abhängig ist; oder auch sein Wille und seine Gesetze ihrem ‚Willen‘ und ihren ‚Gesetzen‘ als eine Nothwendigkeit erscheint.“ 1015 Marx hält demnach an dem äußerlichen Verhältnis des Staates zu seinen beiden Sphären fest und schließt daraus, dass er damit auch nicht mehr mit deren immanentem Zweck identisch sein könne. Er sieht es als nicht zu lösenden Widerspruch an, dass der Staat die bürgerliche Gesellschaft und Familie unterordnet und damit ihre Inhalte von ihm abhängig macht und sie zugleich in sich aufnimmt. Dieser Widerspruch von bürgerlicher Gesellschaft und Staat zieht sich durch Marx‘ Kommentar der ‚Grundlinien‘. Anhand dreier verschiedener Bezugnahmen von Marx zur ‚Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie‘ kommt man der Vorstellung von Marx näher, wie das versöhnte Verhältnis von Besonderheit und Allgemeinheit aussehen müsste, so dass die Individualität gewahrt und in einer gesellschaftlichen Allgemeinheit aufgehoben wird. Erstens anhand der Kritik des Hegelschen Verhältnisses von Staat und Familie/ bürgerlicher Gesellschaft, zweitens anhand der Kritik an dessen Versöhnung durch die Stände und drittens positiv anhand seines Ideals von Demokratie. Hegel wendet sich in den ‚Grundlinien‘ explizit gegen das Missverständnis, den Staat als aus Familie und bürgerlicher Gesellschaft Abgeleitetes aufzufassen, bloß weil er in den ‚Grundlinien‘ als drittes Element der Sittlichkeit nach Familie und bürgerlicher Gesellschaft auftritt. Dieses Verhältnis sei zwar „der wissenschaftliche Beweis des Begriffs des Staats“ 1016 , das wirkliche Verhältnis sei aber umgekehrt. „In der Wirklichkeit ist darum der Staat überhaupt vielmehr das Erste, innerhalb dessen sich erst die Familie zur bürgerlichen Gesellschaft ausbildet, und es ist die Idee des Staates selbst, welche sich in diese beiden Momente dirimiert“ 1017 In dieser Bestimmung ist allerdings unklar, wieso der Staat als die höhere Allgemeinheit der in der bürgerlichen Gesellschaft willkürlich und antagonistisch ihre besonderen Zwecke verfolgenden Individuen diese nicht auf eine vernünftige Form ihrer Interessensverfolgung verpflichtet. Warum lässt der Staat als der Grund für die bürgerliche Gesellschaft diese in „durch- 1015 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 6. 1016 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §256, Anmerkung, S. 397. 1017 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §256, Anmerkung, S. 397f. <?page no="283"?> 283 gängiger Abhängigkeit von äußerer Zufälligkeit und Willkür“ 1018 ? Hegel gibt die Antwort in §262 der ‚Grundlinien‘. Der Staat sei nicht nur die entwickelte Idee, die sich in die beiden Sphären Familie und bürgerliche Gesellschaft aufteilt, er teile auch diesen Sphären ihre Gegenstände als Menge zu, so dass es für den Einzelnen als Willkür und Zufall erscheine, was tatsächlich Resultat der wirklichen Idee, und somit vernünftig, sei: „Die wirkliche Idee, der Geist, der sich selbst in die zwei ideellen Sphären seines Begriffs, die Familie und die bürgerliche Gesellschaft, als in seine Endlichkeit scheidet, um aus ihrer Idealität für sich unendlicher wirklicher Geist zu sein, teilt somit diesen Sphären das Material dieser seiner endlichen Wirklichkeit, die Individuen als die Menge zu, so daß diese Zuteilung am Einzelnen durch die Umstände, die Willkür und eigene Wahl seiner Bestimmung vermittelt erscheint (§ 185 und Anm. das.).“ 1019 Diese Bestimmung kritisiert Marx im Detail und wendet an dieser Stelle die aus seiner Feuerbach-Rezeption gewonnene Kritikmethode an, dass Hegel einerseits die Bestimmungen des Gegenstands aus der Logik gewinnt, damit aber andererseits das tatsächliche Verhältnis von Subjekt und Prädikat umkehrt. Marx meint, wenn die Zuteilung des Materials von Familie und bürgerlicher Gesellschaft als Resultat der Umstände, der Willkür und des Zufalls erscheint, dann sei daraus erstens zu schließen, dass die Staatsvernunft damit nichts zu tun habe. 1020 Zweitens ist für Marx die Begründung aus einer anderen Vernunft als der Sache - des Staates und seiner zwei Sphären - gewonnen, nämlich aus der Notwendigkeit der Idee, sich in endliche Sphären aufzuteilen, um aus deren Idealität für sich unendlicher wirklicher Geist zu sein. Somit hat aber „die Idee keinen andern Zweck, als den logischen“ 1021 , aus ihm folge aber gar nicht mit Notwendigkeit die gegen den Augenschein behauptete Zuteilung des Materials von Familie und bürgerlicher Gesellschaft durch den Staat, die angeblich „hinter der Gardine vorgeht“ 1022 . Hegel leite den Übergang von den beiden individuellen Sphären der Sittlichkeit zu der Allgemeinheit der Sittlichkeit, dem Staat, „also nicht aus dem besondern Wesen der Familie etc. und dem besondern Wesen des Staats, sondern aus dem allgemeinen Verhältniß von Nothwendigkeit und Freiheit“ 1023 ab. Drittens gewinnt Marx aus seiner Kritik dieser Bestimmung der Hegelschen Rechtsphilosophie ein positives Resultat. Er schließt aus dem Umstand, dass sich der Staat notwendigerweise in zwei endliche Sphären scheiden müsse, dass jene als wirkliche Existenzen des Willens die Daseinsweise des Staates seien. „Familie und 1018 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §185, S. 341. 1019 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §262, S. 410. 1020 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 7f. 1021 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 10. 1022 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 8. 1023 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 10f. <?page no="284"?> 284 bürgerliche Gesellschaft machen sich selbst zum Staat. Sie sind das Treibende.“ 1024 Marx übernimmt von Feuerbach die Kritik, dass Hegel durch die Logifizierung aller Beziehungen das Prädikat mit dem Subjekt austausche und meint somit wie dieser, dass die Umdrehung das tatsächliche Verhältnis widerspiegelt. „Familie und bürgerliche Gesellschaft sind die Voraussetzungen des Staats; sie sind die eigentlich thätigen; aber in der Spekulation wird es umgekehrt.“ 1025 Dieses Verhältnis von Staat und bürgerlicher Gesellschaft drückt sich nach Marx aber nicht nur bei Hegels Bestimmung des Übergangs aus, sondern vor allem in der Bestimmung des Staates selbst als der Versöhnung und höheren Allgemeinheit der unterschiedenen und in ihrer Freiheit berechtigten Individuen untereinander. Weil nach Marx das Verhältnis von Familie und bürgerlicher Gesellschaft zum Staat falsch bestimmt wird, muss nicht nur der Übergang von den beiden privaten Sphären des Rechts zum Staat falsch sein, die Versöhnung von besonderem und allgemeinem Willen kann damit im Staat auch nicht gelingen. In seiner Kritik des gesetzgebenden Elements der politischen Repräsentation durch die Stände zeige Hegel unwillentlich die Unterordnung des Staates unter die Privatinteressen - und treffe damit den aktuell tatsächlich existierenden Staat, aber nicht seine Wahrheit. In dieser Kritik zeigt sich, dass Marx in der ‚Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie‘ dessen Anspruch an die gesellschaftliche Allgemeinheit beibehält, zugleich eine substantielle Einheit zu bilden und der Individualität Recht zu geben. Marx hat an der organischen Staatsverfassung als der versöhnenden Allgemeinheit der besonderen Individuen zwei wesentliche Kritikpunkte. Erstens meint Marx, dass durch die Monarchie nicht die Individualität im Staat integriert werde. Und zweitens kritisiert Marx, dass die Ständeversammlung nicht die Aufhebung von besonderen Interessen in einer höheren Allgemeinheit sei. Hegel führt die Monarchie als die fürstliche Gewalt ein, die neben Allgemeinheit (Legislative) und Besonderheit (Regierungsgewalt) das dritte Moment der Totalität, die Individualität ausmacht. 1026 Hegel bestimmt die Souveränität des Staates darin, dass die besonderen Institutionen auf sein Ganzes bezogen sind 1027 und nicht im besonderen Willen der Individuen gründen, sondern auf der Einheit des Staates beruhen. 1028 Die erbliche Monarchie, das Prinzip, dass eine individuelle Person aufgrund ihrer Ge- 1024 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 9. 1025 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 8. 1026 Siehe Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §273, S. 435-440. 1027 Siehe Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §277, S. 441f. 1028 Siehe Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §278, S. 442. <?page no="285"?> 285 burt den Staat verkörpert, bestimmt Hegel als die ihrer selbst gewisse Subjektivität dieser Souveränität. 1029 Marx kritisiert diese Bestimmung unter anderem mit dem Argument, dass hier die organische Einheit des Staates in seinem Moment der Einzelheit als Zufall bestimmt werde. „Die beiden Momente sind: der Zufall des Willens, die Willkhür, und der Zufall der Natur, die Geburt, also Seine Majestät der Zufall. Der Zufall ist also die wirkliche Einheit des Staats.“ 1030 Marx hält es für einen immanenten Widerspruch Hegels, der doch die Vernünftigkeit der Wirklichkeit bestimmen wollte, ausgerechnet die Einheit der vernünftigen Objektivität, die Versöhnung der unterschiedenen Individuen der privaten Sittlichkeit in eine höhere Allgemeinheit in der Einheit durch die zufällige Willkür zu bestimmen. Hegel hatte in der Tat die Willkür als Begriff des freien Willens zu Beginn der ‚Grundlinien‘ als abstrakten Begriff der Freiheit ausgeschlossen, weil sie der Zufall des Willens sei. 1031 Dass sie nun als Spitze dieses entwickelten Begriffs der Freiheit wieder auftaucht, kritisiert Marx als immanenten Widerspruch. An dieser Bestimmung lässt sich jedoch ersehen, dass Marx von Hegel das Ziel der Einheit der Individuen, das Ziel einer Gesellschaft, die auf der Individualität ihrer Glieder und auf den besonderen Bedürfnissen der Menschen beruht, in dieser Weise verändert übernimmt. Marx bemerkt, dass Hegel selbst für diese Legitimation der fürstlichen Gewalt wieder auf die Logik verweisen muss 1032 , auch hier bestimmt für Marx also nicht die Logik der Sache den Begriff, sondern die Sache der Logik. Weil die Verfassung nach Innen, die Gewaltenteilung, bei Hegel eine organische Einheit bildet, sind alle drei Momente des Begriffs (Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit) zugleich in allen drei Elementen der Verfassung tätig, die sich alle drei aufeinander beziehen. 1033 In der gesetzgebenden Gewalt treten daher auch noch das monarchische Moment und die Regierungsgewalt auf. 1034 Als neues Element bestimmt Hegel das ständische Moment, die Abordnung von Vertretern der Stände, die sich in der bürgerlichen Gesellschaft gebildet haben. 1035 Hegel sieht darin die Anbindung der in der bürgerlichen Gesellschaft individuell verfolgten besonderen Interessen an die Allgemeinheit des Staates, der die höhere 1029 Siehe Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§279f., S. 444-451. 1030 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 36. 1031 Siehe Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §15, S. 65-68. 1032 Siehe Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 36. Siehe auch §280: „Dieser Übergang vom Begriff der reinen Selbstbestimmung in die Unmittelbarkeit des Seins und damit in die Natürlichkeit ist rein spekulativer Natur, seine Erkenntnis gehört daher der logischen Philosophie an.“ (Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §280, S. 450) 1033 Siehe Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §272, S. 432-435. 1034 Siehe Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §300, S. 468. 1035 Siehe Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §303, S. 473f. <?page no="286"?> 286 Wahrheit dieser Interessen ist. „Nur so knüpft sich in dieser Rücksicht wahrhaft das im Staate wirkliche Besondere an das Allgemeine an.“ 1036 Marx interpretiert diese Aufhebung des besonderen sittlichen Interesses im Staat als unmöglich. Einerseits seien die Stände als Vertreter ihrer Besonderheit aus der bürgerlichen Gesellschaft im Staat präsent, andererseits sollen sie ausgerechnet diese Besonderheit als Repräsentanten im Staat ablegen und an die Allgemeinheit denken. „Die Stände sind die Synthese zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft. Wie die Stände es aber anfangen sollen, zwei widersprechende Gesinnungen in sich zu vereinen, ist nicht angegeben. Die Stände sind der gesezte Widerspruch des Staats und der bürgerlichen Gesellschaft im Staate. Zugleich sind sie die Forderung der Auflösung dieses Widerspruches.“ 1037 Für Marx sind die Stände nicht nur ein antiquiertes Element der Staatsverfassung. Er sagt zwar auch, dass dieses Element der gesetzgebenden Gewalt eigentlich noch mittelalterlichen Zuständen angehört 1038 , aber vor allem sind sie ein Zeichen dafür, wie im modernen Staat die bürgerliche Gesellschaft erstens im Widerspruch zum Staat steht, und zweitens als tatsächlicher Ursprung des Staates die Allgemeinheit der legitimierten Sonderinteressen verhindert. Marx fasst diese Kritik in dem Vorwurf zusammen, dass Hegel den Widerspruch von Staat und bürgerlicher Gesellschaft in die Staatsverfassung hineinträgt. „Er stellt überall den Conflikt der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates dar.“ 1039 Marx kritisiert somit, dass Hegel aufgrund des Gegensatzes von bürgerlicher Gesellschaft und Staat den Staat nicht als die wahre Sittlichkeit, nicht 1036 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §303, S. 473. 1037 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 71. 1038 Siehe Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 78f. 1039 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 80. Die verschiedenen Arten der Vermittlung zwischen den verschiedenen Elementen der organischen Staatsverfassung untereinander und mit der bürgerlichen Gesellschaft sei daher eine Illusion. Die Argumentation kritisiert Marx dahingehend, dass die verschiedenen Akteure abwechselnd die Rolle der Extreme und der Vermittlung eingehen und damit aber jede wahre Vermittlung unmöglich machen. Siehe Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S.91-103.„Hier tritt das ganze Ungereimte dieser Extreme, die abwechselnd bald die Rolle des Extrems, bald der Mitte spielen hervor. Es sind Janusköpfe, die sich bald von vorn, bald von hinten zeigen und vorn einen andern Charakter haben als hinten. Das, was zuerst als Mitte zwischen zwei Extremen bestimmt, tritt nun selbst als Extrem auf, und das eine der zwei Extreme, das durch es mit dem anderen vermittelt war, tritt nun wieder als Mitte (weil in seiner Unterscheidung von dem anderen Extrem) zwischen sein Extrem und seine Mitte. Es ist eine wechselseitige Bekomplimentirung. [...] Es ist wie der Löwe im Sommernachtstraum, der ausruft: ‚Ich bin Löwe, und ich bin nicht Löwe, sondern Squenz.‘ So ist hier jedes Extrem bald der Löwe des Gegensatzes, bald der Squenz der Vermittlung.“ (Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 97.) <?page no="287"?> 287 als die wahre Allgemeinheit bestimmen kann. Der Staat ist für Marx nicht die Versöhnung der unterschiedenen und freien Individuen, er ist die abhängige Macht von der bürgerlichen Gesellschaft und ihren Notwendigkeiten. „So sinkt Hegel überall dahin hinab, den ‚politischen Staat‘ nicht als die höchste an und für sich seiende Wirklichkeit des socialen Daseins zu schildern, sondern ihm eine prekäre, in Beziehung auf andres, abhängige Wirklichkeit zu geben: ihn nicht als das wahre Dasein der andern Sphäre zu schildern, sondern ihn vielmehr in der andern Sphäre sein wahres Dasein finden zu lassen. Er bedarf überall der Garantie der Sphären, die ausser ihm liegen. Er ist nicht die verwirklichte Macht. Er ist die gestüzte Ohnmacht, er ist nicht die Macht über diese Stützen, sondern die Macht der Stütze. Die Stütze ist das Mächtige.“ 1040 An dieser Stelle kommt zum Ausdruck, dass Marx Hegel nicht bloß immanent kritisiert, sondern dass er den Maßstab der Hegelschen Philosophie teilt, den Staat als die Spitze von Gesellschaftlichkeit zu bestimmen. Die an Hegel angelehnte Formulierung, der Kontext der Rechtsphilosophie und die immanente Kritik der dort angebotenen Lösung lassen erkennen, dass Marx die Hegelsche Einheit von besonderer Individualität und gesellschaftlicher Allgemeinheit als Ziel teilt, jedoch bestreitet, dass die Versöhnung durch einen Staat, der sich über die bürgerliche Gesellschaft erhebt und die Einheit ihrer unterschiedenen Interessen vereinen will, gelingen kann. Weil die besonderen Interessen der bürgerlichen Gesellschaft nach Marx den Staat bestimmen, ist dessen Allgemeinheit nicht inhaltlich gefüllt, sondern wo diese Allgemeinheit im politischen Staat bestehe, da gebe es sie nur formell. Marx wirft diese Bestimmung nicht nur der Hegelschen Rechtsphilosophie vor, sondern gesteht Hegel zu, damit die Existenzweise des modernen Staates tatsächlich getroffen zu haben. „In den modernen Staaten, wie in Hegels Rechtsphilosophie ist die bewußte, die wahre Wirklichkeit der allgemeinen Angelegenheit nur formell, oder nur das Formelle ist wirkliche allgemeine Angelegenheit.“ 1041 Die Kritik der Hegelschen inneren Staatsverfassung, insbesondere des ständischen Elements der gesetzgebenden Gewalt, zeigt, dass auch Marx die Hegelsche Einheit der unterschiedenen und in ihrem Privatinteresse berechtigten Interessen anstrebt. Er kritisiert jedoch nicht nur die spezifische Versöhnung der Individuen im Staat, sondern meint, dass die ganze Konstruktion der Hegelschen Sittlichkeit fehlgeleitet ist. Er sieht es als einen prinzipiellen Mangel nicht nur der Hegelschen Rechtsphilosophie, sondern auch des modernen Staates überhaupt an, dass dieser die Ver- 1040 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 124. 1041 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 68. <?page no="288"?> 288 söhnung der unterschiedenen Individuen der bürgerlichen Gesellschaft in einer von ihr unterschiedenen Sphäre, in einer höheren Allgemeinheit herbeiführen will. Somit sieht Marx diese Versöhnung nicht darin, dass das ständische Element der gesetzgebenden Versammlung aufgehoben wird. Vielmehr sieht es Marx als Verdienst an, dass Hegel gerade diese Trennung so klar auf den Punkt bringt und als Widerspruch fasst. Der Ersatz des Ständesystems durch ein repräsentatives System hingegen würde für Marx die Trennung nicht aufheben, sondern nur noch weiter zementieren. „Die repräsentative Verfassung ist ein großer Fortschritt, weil sie der offene, unverfälschte, consequente Ausdruck des modernen Staatszustandes ist. Sie ist der unverholene Widerspruch.“ 1042 Wenn Marx das Vorhaben von Hegel abstrakt teilt, dessen Lösungsansatz aber verwirft, wie denkt sich Marx dann die bezweckte Versöhnung? Marx bestimmt die Demokratie als die angestrebte Versöhnung von freiem Individuum und gesellschaftlicher Allgemeinheit. „In der Demokratie ist das formelle Princip zugleich das materielle Princip. Sie ist daher erst die wahre Einheit des Allgemeinen und Besondern.“ 1043 Allerdings darf man sich unter dem, was Marx hier unter ‚Demokratie‘ versteht, nicht unmittelbar die heutige parlamentarische Demokratie vorstellen. Einen ausgearbeiteten Begriff von Demokratie präsentiert Marx nicht; daher kann man eher von einem unklaren Ideal von Demokratie sprechen, dessen Inhalt im Folgenden erarbeitet werden soll. „Hegel geht vom Staat aus und macht den Menschen zum versubjektivirten Staat; die Demokratie geht vom Menschen aus und macht den Staat zum verobjektivirten Menschen. Wie die Religion nicht den Menschen, sondern wie der Mensch die Religion schafft, so schafft nicht die Verfassung das Volk, sondern das Volk die Verfassung. [...] Der Mensch ist nicht des Gesetzes, sondern das Gesetz ist des Menschen wegen da, es ist menschliches Dasein, während in den andern der Mensch das gesetzliche Dasein ist. Das ist die Grunddifferenz der Demokratie.“ 1044 In Anlehnung an die Feuerbachsche Methode der Hegelkritik der Umkehrung meint Marx, dass Hegel Subjekt und Prädikat vertauscht habe. Nicht der Mensch sei für den Staat, sondern der Staat sei für den Menschen da. Anstatt der ‚inhaltslose Verstand‘, die abstrakte Form des Inhalts all der Verhältnisse zu sein, in denen sich der Mensch bereits familiär, ökonomisch und sonstwie sozial assoziiert, sei der politische Staat in der Demokratie „so weit er sich neben diesen Inhalt stellt und von ihm unterscheidet, selbst nur ein besondrer Inhalt, wie eine besondre Daseinsform des Volkes.“ 1045 Der politische Staat als unterschiedene Organisation habe keine 1042 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 85. 1043 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 31. 1044 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 31. 1045 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 32. <?page no="289"?> 289 vom Volk unterschiedenen Inhalt, sei bloß dessen Organisation, und sei daher als Besonderes nur Besonderes, als Allgemeines nur Allgemeines. 1046 Die Demokratie ist daher auch keine besondere Staatsform, die durch eine Republik anstelle der Monarchie verwirklicht werden könnte. „Der Streit zwischen Monarchie und Republik ist selbst noch ein Streit innerhalb des abstrakten Staats.“ 1047 Neben diesen abstrakten Idealen gibt die Stelle aber auch schon einen Hinweis, wie Marx die Versöhnung durch die Demokratie versteht. Wenn Marx im Kontext der Rechtsphilosophie den Menschen als das Subjekt und den Zweck des Staates bestimmt, dann ist dies nicht nur die Übernahme der Feuerbachsche Hinwendung zum konkreten Menschen als dem Subjekt der Philosophie, die Bezugnahme auf die Kategorie ‚Mensch‘ kann hier auch im Rahmen der Hegelschen Rechtsphilosophie gemeint sein. Hegel bestimmt im Abschnitt zur bürgerlichen Gesellschaft das, was man sich gemeinhin unter dem Menschen in seiner konkreten Wirklichkeit vorstellt, als das bedürftige Wesen. Bis zur bürgerlichen Gesellschaft sei derGegenstand des Rechts nicht der Mensch, sondern Person, Subjekt, Familienmitglied gewesen. Erst „hier auf dem Standpunkte der Bedürfnisse (vgl. § 123 Anm.) ist es das Konkretum der Vorstellung, das man Mensch nennt; es ist also erst hier und auch eigentlich nur hier vom Menschen in diesem Sinne die Rede.“ 1048 Wenn man diesen Begriff auf die bisher dargestellte Marxsche Vorstellung von Demokratie anwendet, dann besteht diese darin, dass der bedürftige Mensch im Mittelpunkt steht und damit die Trennung zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Staat aufhebt. Und tatsächlich hat Marx gemeint, dass in der Demokratie, dem Staat in seiner Wahrheit, die Trennung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat aufgehoben sein sollte. Die von Hegel thematisierte Frage 1049 , ob nach Marx „Alle einzeln“ 1050 an den Beschlüssen der allgemeinen Staatsangelegenheiten teilnehmen sollten, modern ausgedrückt die Frage nach direkter Demokratie, sei selbst noch „eine Frage, welche aus der Trennung des politischen Staats und der bürgerlichen Gesellschaft hervorgeht.“ 1051 Nicht nur die verschiedenen Regierungsformen, selbst der Streit um die direkte oder die repräsentative Demokratie setze diese Trennung voraus und mache die Allgemeinheit zu einer inhaltsleeren Form. 1052 In der Abgrenzung zur 1046 Siehe Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 32. 1047 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 32. 1048 Siehe Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §190, S. 348. 1049 Siehe Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §308, S. 476-478. 1050 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 127. 1051 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 128. 1052 Siehe Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 126: „Die Frage, ob die bürgerliche Gesellschaft so teil an der gesetzgebenden Gewalt nehmen soll, daß sie entweder durch Abgeordnete eintritt oder so, daß ‚Alle einzeln‘ unmittelbar <?page no="290"?> 290 direkten Demokratie wird klar, wie sich Marx die anvisierte Versöhnung denkt: „In einem wirklich vernünftigen Staat könnte man antworten: ‚Es sollen nicht Alle einzeln an der Berathung und Beschliessung über die allgemeinen Angelegenheiten des Staats Antheil haben‘, denn die ‚Einzelnen‘ haben als ‚Alle‘, d.h. innerhalb der Societät und als Glieder der Societät, Anteil an der Berathung und Beschließung über die allgemeinen Angelegenheiten. Nicht Alle einzeln, sondern die Einzelnen als Alle.“ 1053 Die Lösung, wie die Trennung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat und damit auch prinzipiell von individuellen Sonderinteressen und der gesellschaftlichen Allgemeinheit nicht nur scheinbar, wie bei Hegel, sondern tatsächlich überwunden werden kann, besteht darin, diese Lösung aus dem Staat in die bürgerliche Gesellschaft zurückzuverlegen. Die Individuen sollen nicht erst als voneinander getrennte in einer politischen, über ihren Interessen stehenden staatlichen Institution versöhnt werden, sondern die Versöhnung soll bereits in der basalen ökonomischen Gesellschaftlichkeit geschehen, so dass im Staat bereits die ‚Einzelnen als Alle‘ zusammenkommen. Marx setzt damit das von Hegel in der ‚Phänomenologie‘ formulierte ‚Ich, das Wir‘ als Anspruch an die Rechtsphilosophie an und meint, die Einheit der unterschiedenen Individuen müsse unmittelbar geschehen, anstatt die Entzweiung ihrer Einzelinteressen in einer ihnen übergeordneten Allgemeinheit aufzuheben. Der politische Staat ist dann nichts als die Regelung der gemeinsamen Angelegenheiten, die bereits in der bürgerlichen Gesellschaft gemeinsame sind. Diese unmittelbare Einheit in der bürgerlichen Gesellschaft wird anhand einer anderen Stelle deutlich, in der Marx nochmals seine Bestimmung des wahren Staates von der direkten Demokratie abgrenzt. „Entweder findet Trennung des politischen Staats und der bürgerlichen Gesellschaft statt, dann können nicht Alle einzeln an der gesetzgebenden Gewalt Theil nehmen“ 1054 , denn dann würde sich die bürgerliche Gesellschaft selbst aufheben; das adäquate Modell dieser Trennung sei daher die Repräsentation der Bürger in einem von ihnen getrennten Staat. 1055 „Oder umgekehrt. Die bürgerliche Gesellschaft ist wirkliche politische Gesellschaft. [...] In diesem Zustand verschwindet die Bedeutung der gesetzgebenden Gewalt als einer repräsentativen Gewalt gänzlich. Die gesetzgebende Gewalt ist hier Repräsentation in dem Sinne, wie jede Funktion teilnehmen, ist selbst eine Frage innerhalb der Abstraktion des Politischen Staats oder innerhalb des abstrakten Politischen Staats“. 1053 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 126. Auf die zentrale Vorstellung einer Vergemeinschaftung der ‚Einzelnen als Alle‘ hat Iber aufmerksam gemacht, siehe Iber: Marx’ Kritik des Hegelschen Staatsrechts, S. 184-187. 1054 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 129. 1055 Siehe Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 129. <?page no="291"?> 291 repräsentativ ist, wie z. B. der Schuster, insofern er ein sociales Bedürfnis verrichtet, mein Repräsentant ist, wie jede bestimmte sociale Thätigkeit als Gattungsthätigkeit nur die Gattung, d.h. eine Bestimmung meines eignen Wesens repräsentirt, wie jeder Mensch der Repräsentant des anderen ist. Er ist hier Repräsentant nicht durch ein andres, was er vorstellt, sondern durch das, was er ist und thut.“ 1056 In der Demokratie, wie Marx sie sich vorstellt, sollen die bestehenden sozialen Beziehungen, vor allem die ökonomischen Verhältnisse, bereits unmittelbar politischen Charakter haben, indem in ihr die unterschiedenen und zu ihrem Wohl kommenden Individuen darin bereits unmittelbar positiv auf die gesellschaftliche Allgemeinheit bezogen sein sollen. Der politische Staat ist damit auch keine abgetrennte Allgemeinheit, sondern bloß die Funktion der Gemeinsamkeit, die bereits existiert. Damit ist bei aller Unschärfe dieses Ideals zumindest ein Resultat eindeutig: Es soll eine gesellschaftliche Einheit geben, die keine trennende Unterscheidung von Ökonomie und Staat mehr hervorbringt, sondern die Einheit soll gleich in der Organisation von Produktion und Bedürfnisbefriedigung angelegt sein. Das Interesse des Einzelnen soll unmittelbar als allgemeines auftauchen. Es ist nicht verwunderlich, dass sich Marx seit diesem Zeitpunkt zunehmend intensiver mit der politischen Ökonomie auseinandersetzte. Denn diesem Resultat schließt sich notwendig die Frage an, warum die bürgerliche Gesellschaft eine von den Individuen getrennte, ihre Unterschiedenheit nicht aufhebende, bloß formelle Allgemeinheit namens Staat hervorbringt. In dieser Hinsicht scheint seine Darstellung von 1859 glaubhaft, dass es diese Auseinandersetzung mit der Hegelschen Rechtsphilosophie war, die ihn zu der Befassung mit der politischen Ökonomie brachte: „Meine Untersuchung mündete in dem Ergebniß, daß Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln, deren Gesammtheit Hegel, nach dem Vorgang der Engländer und Franzosen des 18. Jahrhunderts, unter dem Namen ‚bürgerliche Gesellschaft‘ zusammenfaßt, daß aber die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Oekonomie zu suchen sei.“ 1057 Marx‘ Lebenswerk der Analyse der politischen Ökonomie ist nicht nur von dem Wertmaßstab durchdrungen, die Hegelsche Philosophie insofern zu verwirklichen, als die Kluft zwischen Subjekt und Objekt durch die Vergegenständlichung in Arbeit überwunden werden soll, sondern auch von dem Ideal, dass die unterschiedenen Individuen bereits in ihrer unmittelbaren Beziehung eine gesellschaftliche Einheit bilden sollen. Mit der Ent- 1056 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 129. 1057 Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie, Erstes Heft, MEGAII,2, S. 100. <?page no="292"?> 292 wicklung seines Wertmaßstabs, seiner materialistischen Geschichtsauffassung, wie auch seiner materiellen Studien wird Marx dieses Ideal behalten und verändern. Während Marx zunächst in der theoretischen Entwicklung seines Wertmaßstabs und des Grunds der Zerrissenheit zwischen Subjekt und Objekt sowie des Gegensatzes in der bürgerlichen Gesellschaft in den ÖPM dieses Ideal in den Hintergrund treten lässt, wird er in den ‚Quellen der DI‘ auf es als die abstrakte Befriedigung seines nunmehr veränderten Wertmaßstabs zurückkommen. Auch im Fetischcharakter der Ware der reifen Kritik der politischen Ökonomie wird dieses Ideal die soziale Antwort auf seinen Wertmaßstab sein. Bevor sich Marx aber diesem ökonomischen Studium widmet, präzisiert er seine Vorstellung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft nochmals in der Schrift ‚Judenfrage‘, die Ende des Jahres 1843 entsteht. Hier knüpft Marx unmittelbar an das abstrakte Resultat an, dass bürgerliche Gesellschaft und moderner Staat getrennt sind. Auch hier fasst Marx die staatliche Allgemeinheit als leere Versöhnung der in der bürgerlichen Gesellschaft getrennten Individuen auf und spitzt diese Aussage nochmals zu. Nun sei eindeutig der ökonomische Gegensatz der Individuen in der bürgerlichen Gesellschaft der Grund für die Entzweiung, die nicht durch die höhere staatliche Allgemeinheit repariert werden könne. Vielmehr werde diese Trennung durch die den Menschen als egoistisches Individuum schützenden Menschenrechte perpetuiert: „Weit entfernt, daß der Mensch in ihnen als Gattungswesen aufgefaßt wurde, erscheint vielmehr das Gattungsleben selbst, die Gesellschaft, als ein den Individuen äußerlicher Rahmen, als Beschränkung ihrer ursprünglichen Selbstständigkeit. Das einzige Band, das sie zusammenhält, ist die Natur-Nothwendigkeit, das Bedürfniß und das Privatinteresse, die Conservation ihres Eigenthums und ihrer egoistischen Person.“ 1058 Marx überträgt zudem diese Trennung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat auf das Individuum selbst. In seiner unmittelbaren sozialen Wirklichkeit, der Ökonomie, stehe der Mensch im Gegensatz zu seinesgleichen und sei insofern eine „unwahre Erscheinung“ 1059 , im Staat hingegen, wo er sich als Gattungsleben in der Einheit mit den anderen Menschen zusammenfindet „ist er das imaginäre Glied einer eingebildeten Souverainetät [sic! ], ist er seines wirklichen individuellen Lebens beraubt und mit einer unwirklichen Allgemeinheit erfüllt.“ 1060 Und die Lösung dieses unwahren Zustands, wie sie zuvor in der ‚Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie‘ herausgearbeitet wurde, tritt als zukunftsweisender Schlusssatz der ‚Judenfrage‘ auf, nun allerdings nicht mehr unter dem Titel ‚Demokratie‘: 1058 Marx: Zur Judenfrage, MEGA I,2, S. 159. 1059 Marx: Zur Judenfrage, MEGA I,2, S. 149. 1060 Marx: Zur Judenfrage, MEGA I,2, S. 149. <?page no="293"?> 293 „Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine ‚forces propres‘ als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisirt hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.“ 1061 Marx behält somit in der ‚Judenfrage‘ das Ideal bei, das er zuvor in der ‚Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie‘ entwickelt hatte. Die Einheit der befreiten Individuen könne nicht in einer höheren staatlichen Institution vollzogen werden, sondern müsse in den unmittelbaren ökonomischen Beziehungen geschehen. Marx verfolgt somit seit 1843 das Ziel, eine unmittelbare Einheit der unterschiedenen und in ihren materiellen Interessen berechtigten Individuen herzustellen. Wie kommt diese Einheit zu jener Zeit vor, in der Marx in den ÖPM seinen Wertmaßstab der Vergegenständlichung der produktiven Kräfte des Menschen entwickelt? Wichtige Hinweise dazu erhält man auch aus dem ‚Exzerptheft zu Mills Élements d‘Économie Politique‘, die kurz vor den ÖPM entstanden sind. 13.2. Der Marxsche Wertmaßstab und die ‚Einzelnen als Alle‘ In den ÖPM hält Marx sein Ideal aufrecht, dass in der ökonomischen Aktivität der Individuen bereits ihre Einheit realisiert werden sollte. In bewusster Abgrenzung zu der zuvor kritisierten Abtrennung der gesellschaftlichen Allgemeinheit als einer von der materiellen Reproduktion der Individuen unterschiedenen Sphäre wie im Hegelschen Staat meint er sogar, die Tätigkeit des Individuums sei unmittelbar eine gesellschaftliche. „Es ist vor allem zu vermeiden die ‚Gesellschaft‘ wieder als Abstraktion dem Individuum gegenüber zu fixiren. Das Individuum ist das gesellschaftliche Wesen. Seine Lebensäusserung - erscheine sie auch nicht in der unmittelbaren Form einer gemeinschaftlichen, mit andern zugleich vollbrachten Lebensäusserung - ist daher eine Aüsserung [sic! ] und Bestätigung des gesellschaftlichen Lebens.“ 1062 In vorangegangenen zweiten Teil wurde herausgearbeitet, dass in den ÖPM die Arbeit als die Lebensäußerung des Menschen gilt, weil diese Tätigkeit die Vergegenständlichung der dem Menschen eigenen schöpferischen Kräfte in einem ihm Anderen ist, das ihm damit nicht mehr als fremdes Objekt gegenüber steht. Im Vergleich zu 1843 hat Marx somit die 1061 Marx: Zur Judenfrage, MEGA I,2, S. 162f. 1062 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 267. <?page no="294"?> 294 Position erarbeitet, dass es nicht nur abstrakt das materielle Leben der bürgerlichen Gesellschaft ist, in der die Versöhnung der Individuen stattfinden müsse, er hat vielmehr diese Versöhnung in der Arbeit der Individuen bestimmt. Zugleich hat er die Einheit von Individuum und gesellschaftlicher Allgemeinheit radikalisiert, so dass er sogar meint, „Das individuelle und das Gattungsleben des Menschen sind nicht verschieden“ 1063 , ohne diese radikale Form der unmittelbaren Identität an dieser Stelle weiter auszuführen. Die unmittelbare Einheit der Individuen dadurch, dass die Individuen in der Produktion der Güter ein positives Verhältnis zueinander eingehen, wird in seinen Notizen zu Mill von 1844 näher bestimmt. Marx unterstreicht dort die 1843 nur angedeutete Bestimmung, dass in der ökonomischen Sphäre nicht nur die wahre Einheit der unterschiedenen und freien Individuen ihre Heimat habe, sondern auch die Entzweiung in dieser Einheit selbst zustande komme: „Indem das menschliche Wesen das wahre Gemeinwesen der Menschen, so schaffen, producieren die Menschen durch Bethätigung ihres Wesens das menschliche Gemeinwesen, das gesellschaftliche Wesen, welches keine abstrakt-allgemeine Macht gegenüber dem einzelnen Individuum ist, sondern das Wesen eines jeden Individuums, nur eigne Thätigkeit, sein eignes Leben, sein eigner Genuß, sein eigner Reichthum ist. Nicht durch die Reflection entsteht daher jenes wahre Gemeinwesen, es erscheint daher durch die Noth und den Egoismus der Individuen, d.h. unmittelbar durch die Bethätigung ihres Daseins selbst producirt. Es hängt nicht vom Menschen ab, ob dieß Gemeinwesen sei oder nicht; aber solange der Mensch sich nicht als Mensch erkennt und daher die Welt menschlich organisirt hat, erscheint dieß Gemeinwesen unter der Form der Entfremdung.“ 1064 Die Betätigung des Wesens des Menschen, die Arbeit, sei zugleich durch die positive Beziehung auf den anderen Menschen die Produktion eines Gemeinwesens. In der Produktion sieht Marx demnach eine unmittelbare Einheit der Individuen, die zugleich ihr Wesen verwirklichen. Marx grenzt diese Allgemeinheit bewusst von der abstrakten Allgemeinheit des modernen Staats ab, wie Hegel ihn in seiner tatsächlich existenten, aber unwahren Gestalt in den ‚Grundlinien‘ bestimmt habe. Diesem wahren Gemeinwesen können die Menschen nicht entkommen, unter entfremdeten Zuständen, bei entfremdeter Vergegenständlichung ihres schöpferischen Wesens erscheine der Zusammenhang jedoch als einer von Not und Egoismus und werde somit in sein Gegenteil verkehrt. Der notwendige Bezug der Menschen aufeinander sei nicht mehr positiv sondern negativ. Mit der Bestimmung der falschen Vergegenständlichung des Menschen als schöpferischem Wesen im Kapitalverhältnis hat Marx 1844 nicht nur die 1063 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 267. 1064 Marx: James Mill, MEGA IV,2, S. 452. <?page no="295"?> 295 wahre, sondern auch die falsche Allgemeinheit in der ökonomischen Sphäre aufgefunden. Die eigentliche wahre Einheit der Individuen werde in ihr Gegenteil verkehrt. Marx führt damit aus, was er 1843 in der ‚Judenfrage‘ als Zurücknahme des abstrakten Staatsbürgers in den wirklichen individuellen Menschen charakterisiert hatte 1065 : Es ist ein Zurück, weil die wahre Ökonomie, die eigentliche Gestalt der Arbeit, bereits die Einheit der Individuen sei, die im Kapitalismus in ihr Gegenteil verkehrt auftrete. Marx hat explizit sein Ideal der unmittelbaren Einheit der Individuen mit seinem Wertmaßstab der Vergegenständlichung des menschlichen Wesens in seinem Produkt und damit der Aufhebung der Kluft zwischen Subjekt und Objekt verknüpft. So schreibt er über die Produktion in der kommunistischen Gesellschaft, wo der Mensch als Mensch produziere, in seinen Notizen zu Mill von 1844: „Ich hätte 1) in meiner Production meine Individualität, ihre Eigenthümlichkeit vergegenständlicht und daher sowohl während der Thätigkeit eine indidivuelle Lebensäueeserung genossen“ 1066 . Die Vergegenständlichung in Arbeit ist somit die Verwirklichung der jedem Individuum eigenen, besonderen schöpferischen Kraft. Diese Erfüllung des Wertmaßstabs in der besseren Gesellschaft verknüpft Marx mit der positiven Beziehung zu dem anderen Menschen und macht damit auch deutlich, wie er sich dieses positive Verhältnis denkt: „2) In deinem Genuß oder Deinem Gebrauch meines Produkts hätte ich unmittelbar den Genuß, sowohl des Bewußtseins, in meiner Arbeit [ein] menschliches Bedürfnis befriedigt, also das menschliche Wesen vergegenständlicht und daher dem Bedürfniß eines andern menschlichen Wesens seinen entsprechenden Gegenstand verschafft zu haben“ 1067 . Wie entwickelt wurde, ist im Marxschen Wertmaßstab der ÖPM in der Überbrückung der Kluft zwischen Subjekt und Objekt durch die Vergegenständlichung der schöpferischen Kräfte in einem nützlichen Gegenstand die Konsumtion dieses Gegenstandes mitgedacht. Sie ist die Vollendung der Vergegenständlichung, weil in ihr das Objekt ganz darin aufgeht, für das Subjekt da zu sein. Zugleich wird aber das Menschenwesen nicht auf die Befriedigung des Bedürfnisses reduziert; vielmehr ist die Bedürfnisbefriedigung die Konsequenz durch das Setzen des produktiv tätigen Subjekts in einem ihm Anderen. In den Notizheften zu Mill verteilt die Ökonomie als arbeitsteilige diese verschiedenen Komponenten des Wertmaßstabs auf verschiedene Rollen: Der eine produziert, was der andere konsumiert. Beides gehört jedoch zum menschlichen Wesen, beides ist seine Lebensäußerung. Somit sind in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung die beiden Komponenten des mensch- 1065 Siehe Marx: Zur Judenfrage, MEGA I,2, S. 162f. 1066 Marx: James Mill, MEGA IV,2, S. 465. 1067 Marx: James Mill, MEGA IV,2, S. 465. <?page no="296"?> 296 lichen Wesens realisiert, die in ihrer Totalität die Vergegenständlichung ausmacht. Damit ist aber die Vergegenständlichung in Arbeitsteilung die Einheit der unterschiedenen Individuen. So ist der erfüllte Wertmaßstab zugleich die Einlösung des Ideals von unterschiedenen freien Individuen in einer unmittelbaren Einheit. Marx meint somit, dass der Kommunismus die Aufgabe der ‚Phänomenologie‘ wie der ‚Grundlinien‘ zu lösen imstande ist: Er befreie die Vergegenständlichung des menschlichen Wesens von seiner pervertierten Gestalt und verwirkliche damit die eigentlich in der Produktion enthaltene unmittelbare Einheit der unterschiedenen und ihre Individualität in Arbeit befriedigenden Menschen. So wird sowohl die Kluft zwischen Mensch und Natur überwunden als auch die Kluft zwischen den Individuen, die in einer Gattung leben, aber dennoch ihre Individualität in ihrer Arbeit ausleben können: „Dieser Communismus ist als vollendeter Naturalismus = Humanismus, als vollendeter Humanismus = Naturalismus, er ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreits des Menschen mit der Natur und mit d[em] Menschen, die wahre Auflösung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Nothwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung.“ 1068 In den ÖPM sieht Marx somit das Ideal der ‚Einzelnen als Alle‘ in der nicht-entfremdeten Arbeitsteilung verwirklicht. In ihr könnten die Einzelnen ihre Individualität als produktive Menschen in Produkten vergegenständlichen und würden sich darin positiv auf die gesellschaftliche Allgemeinheit beziehen. 1069 13.3. Die ‚Einzelnen als Alle‘ in der materialistischen Geschichtsauffassung In den ‚Quellen der DI‘ besteht der Wertmaßstab darin, dass der Mensch sich seine historisch wechselnden Umstände selbst schafft, dass der Mensch mithin in der Vergegenständlichung seiner schöpferischen Potenzen nicht nur die Natur verändert, sondern seine soziale Welt schafft und verändert. Obwohl Marx sich hier durch den Bezug auf die historische Vergänglichkeit und Veränderung vehement gegen die Annahme eines Wesen des Menschen wehrt, bewahrt er damit dennoch das so veränderte Menschenbild in seiner materialistischen Geschichtsauffassung auf. Unter dem Verhältnis der ‚Arbeitsteilung‘, in der einige sich die Früchte der anderen 1068 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 263. 1069 Lange bestimmt dieses Verhältnis im Umkreis der ÖPM ganz ähnlich, meint jedoch, es gelinge Marx nicht, „die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft nichtparadox zu formulieren“ (Lange: Das Prinzip Arbeit, S. 109) <?page no="297"?> 297 aneignen und genießen, erscheint die geschaffene soziale Welt allerdings nicht als eigenes Produkt der tätigen Menschen, sondern als von ihnen getrennte Entwicklung. In den ‚Quellen der DI‘ erfährt das Verhältnis von arbeitenden Individuen und gesellschaftlicher Allgemeinheit eine Veränderung. Der in der Ökonomie geschaffene Widerspruch zwischen den Individuen erscheint nun nicht nur als Verhinderung der tatsächlichen Allgemeinheit innerhalb der Ökonomie, sondern als Widerspruch zu einer in ihr waltenden tatsächlichen, aber verkehrten Allgemeinheit. „Ferner ist mit der Theilung der Arbeit zugleich der Widerspruch zwischen dem Interesse des einzelnen Individuums oder der einzelnen Familie & dem gemeinschaftlichen Interesse aller Individuen, die miteinander verkehren, gegeben; und zwar existirt dies gemeinschaftliche Interesse nicht etwa bloß in der Vorstellung, als ‚Allgemeines‘, sondern zuerst in der Wirklichkeit als gegenseitige Abhängigkeit der Individuen unter denen die Arbeit getheilt ist. Und endlich bietet die Theilung der Arbeit gleich das erste Beispiel davon dar, daß solange die Menschen sich in der naturwüchsigen Gesellschaft befinden, solange also die Spaltung zwischen den besondern & gemeinsamen Interesse existirt, solange die Thätigkeit also nicht freiwillig, sondern naturwüchsig getheilt ist, die eigne That des Menschen ihm zu einer fremden gegenüberstehenden Macht wird, die ihn unterjocht, statt daß er sie beherrscht.“ 1070 Das bereits 1844 konstatierte stets durch Arbeitsteilung bestehende notwendige Verhältnis zu den anderen Gesellschaftsgliedern wird nun als ein tatsächlich gemeinschaftliches Interesse gefasst. Diese Gemeinsamkeit ist allerdings nicht eine positive Allgemeinheit, sondern eine Abhängigkeit der zugleich negativ aufeinander bezogenen ökonomischen Akteure. Die Individuen sind sowohl in einem Gegensatz verfangen, über die gesellschaftliche Arbeitsteilung aber zugleich aufeinander bezogen. Somit gibt es sowohl ein gemeinschaftliches, wie ein individuelles Interesse, die beide im Gegensatz zueinander stehen. So ist die Spaltung in den ‚Quellen der DI‘ nicht nur eine zwischen den Individuen, sondern auch zwischen den Individuen und der tatsächlich bestehenden Allgemeinheit. Aufgrund dieser negativen Abhängigkeit der Individuen, also des Verhältnisses besonderer antagonistischen Einzelinteressen, die sich gegenseitig brauchen, gewinnt die gesellschaftliche Arbeitsteilung das Prädikat ‚naturwüchsig‘. Die von ihr bestimmte soziale Welt ist nicht das Resultat einer unmittelbaren Einheit der Individuen, sondern von einer Verschlingung von Abhängigkeiten und gegenseitigem Bestreiten der anderen Interessen, so dass die Individuen einer sozialen Wirklichkeit entgegentreten, die sich als von ihnen selbständig und sie beherrschend darstellt. Dieser die Individuen beherr- 1070 Marx; Engels: Die Deutsche Ideologie, Feuerbach und Geschichte, Entwurf S. 1 bis 29, Marx-Engels Jahrbuch 2003, S. 19f. <?page no="298"?> 298 schenden Vergesellschaftung stellt Marx wiederum eine unmittelbare Einheit der ökonomischen Individuen entgegen. In der naturwüchsigen Arbeitsteilung habe jeder nur einen ausschließlichen Kreis von Tätigkeiten - und ist damit in der freien Entfaltung seiner kreativen Potenzen und darin, seine Individualität durch deren Vergegenständlichung zu entwickeln, gehemmt, „während in der kommunistischen Gesellschaft, wo jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Thätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigem Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt & mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu thun, Morgens zu jagen, Nachmittags zu fischen, Abends Viehzucht zu treiben u. nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger Fischer Hirt oder Kritiker zu werden.“ 1071 Auch in den ‚Quellen der DI‘ gibt es demnach das Ideal einer unmittelbaren Einheit der Individuen. Hier nimmt sie die Gestalt an, dass die vergesellschafteten Individuen die Produktion bewusst und planend gestalten, so dass die Vergegenständlichung der Individualität in Arbeit durch die Verfolgung der individuellen Neigung verwirklicht werden könne. Die Gesellschaft sei insofern die Einheit der zugleich unterschiedenen Individuen, als diese dank des bewussten Zusammenspiels ihrer Schaffenskraft die materiellen Bedingungen dafür herstellten, dass jeder die Vergegenständlichung seiner eigenen Individualität zu realisieren und weiter zu entwickeln imstande sei. 1072 So findet sich auch in der materialistischen Geschichtsauffassung die Idealvorstellung der ‚Einzelnen als Alle‘. 1071 Marx; Engels: Die Deutsche Ideologie, Feuerbach und Geschichte, Entwurf S. 1 bis 29, Marx-Engels Jahrbuch 2003, S. 20f. 1072 Dass Marx das Recht der Individualität innerhalb der Vergegenständlichung in den ‚Quellen der DI‘ in der Vordergrund rückt, mag seinen Grund darin haben, dass er die Kritik Stirners an dem die Kollektivität des Menschen zu einseitig betonenden Begriff des Gattungswesens von Feuerbachs rezipiert und aufgenommen hat. Henning, der diese Aufnahme der Kritik Stirners in Marx‘ Wertmaßstab konstatiert, spricht daher von einem „Liberalisierungsschub“ in Marx Bezug zur Individualität (Henning, Christoph und Thomä, Dieter: Was bleibt von der Deutschen Ideologie? , In: Bluhm, Harald (Hg.): Karl Marx, Friedrich Engels, Die Deutsche Ideologie, Berlin: Akademie Verlag 2010, S. 205-222). <?page no="299"?> 299 13.4. Die ‚Einzelnen als Alle‘ in der Kritik der politischen Ökonomie Auch in der entwickelten Kritik der politischen Ökonomie ist die Vorstellung vorhanden, dass die wahre Vergegenständlichung des schöpferischen menschlichen Wesens gleichzusetzen ist mit einer Gesellschaft, in der die unterschiedenen Individuen eine unmittelbare Einheit bilden. Im ‚Kapital‘ wird die Kritik der Verselbständigung der in negativer Abhängigkeit aufeinander bezogenen Individuen auf die durch die Analyse der kapitalistischen Gesellschaft gewonnenen Gegenstände angewendet: Wert, Geld, Kapital. So kritisiert Marx im Kapitel zum Fetischcharakter der Waren zum Beispiel den Wertwechsel der Waren. Deren Wertgrößen „wechseln beständig, unabhängig vom Willen, Vorwissen und Tun der Austauschenden. Ihre eigne gesellschaftliche Bewegung besitzt für sie die Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrolliren.“ 1073 Im zweiten Teil der vorliegenden Untersuchung wurde herausgearbeitet, dass Marx dieses Verhältnis, das er als ‚Fetisch‘ kritisiert, nicht nur als eine Täuschung, sondern als eine tatsächliche, durch den kapitalistischen Bezug der Warenbesitzer wahrgemachte Realität ansieht. Wie sieht dieser Bezug aus? Marx spricht davon, „daß die unabhängig voneinander betriebenen, aber als naturwüchsige Glieder der gesellschaftlichen Theilung der Arbeit allseitig voneinander abhängigen Privatarbeiten fortwährend auf ihr gesellschaftlich proportionelles Maß reduciert werden, weil sich in den zufälligen und stets schwankenden Austauschverhältnissen ihrer Produkte die zu deren Produktion gesellschaftlich nothwendige Arbeitszeit als regelndes Naturgesetz gewaltsam durchsetzt, wie etwa das Gesetz der Schwere, wenn einem das Haus über dem Kopf zusammenpurzelt.“ 1074 Ähnlich wie zuvor in den ‚Quellen der DI‘ charakterisiert Marx die kapitalistische Arbeitsteilung als widersprüchlich. Einerseits werden die Güter arbeitsteilig, füreinander produziert - in der früheren Sprache wird demnach eine gesellschaftliche Allgemeinheit geschaffen. Zugleich ist diese Allgemeinheit jedoch von einem negativen Bezug der individuellen Produzenten aufeinander bestimmt dadurch, dass sie sich wechselseitig die Mittel ihrer Produktion bestreiten und zur Ausnutzung des jeweils anderen benutzen wollen. Daher ist die Einheit dann auch als ihnen feindliches Naturgesetz vorhanden, als ein von ihnen scheinbar unabhängiges Wertgesetz. 1075 Marx zitiert an dieser Stelle zwei Sätze der 1844 von ihm 1073 Marx: Das Kapital, Bd. 1, 1890, MEGA II,10, S. 74. 1074 Marx: Das Kapital, Bd. 1, 1890, MEGA II,10, S. 74. 1075 Wie bereits in den ‚Quellen der DI‘ wird auch hier diese blindwütige Vergesellschaftung als ‚naturwüchsig‘ bezeichnet. <?page no="300"?> 300 herausgegebenen Schrift von Engels ‚Umrisse zur Kritik der Nationalökonomie‘: „Was soll man von einem Gesetz denken, das sich nur durch periodische Revolutionen durchsetzen kann? Es ist eben ein Naturgesetz, das auf der Bewußtlosigkeit der Betheiligten beruht.“ 1076 Diese gemeinsame Position wird von Engels im Anschluss positiv gewendet: „Wüßten die Produzenten als solche, wieviel die Konsumenten bedürften, organisirten sie die Produktion, verteilten sie unter sich, so wären die Schwankungen der Konkurrenz und ihre Neigung zur Krisis unmöglich. Produzirt mit Bewußtsein, als Menschen, nicht als zersplitterte Atome ohne Gattungsbewußtsein, und Ihr seid über alle diese künstlichen und unhaltbaren Gegensätze hinaus.“ 1077 Nach der von Marx zitierten Schrift wird somit mit der bewusst geplanten Produktion ihre Verselbständigung von ihren Produzenten obsolet. Engels setzt dies explizit gleich mit der Produktion, die die Gattung, die gesellschaftliche Allgemeinheit, im Sinn hat. Denselben positiven Gedanken hat auch Marx in seinem vorgestellten ‚Verein freier Menschen‘. Marx benutzt diese Vorstellung, um die Verselbstständigung der Wertproduktion einer entwickelten arbeitsteiligen Gesellschaft entgegenzustellen, in der das nicht vorkommt: „Stellen wir uns endlich, zur Abwechslung, einen Verein freier Menschen vor, die mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln arbeiten und ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewußt als eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben.“ 1078 In Marx‘ entwickelter Kritik der politischen Ökonomie ist somit die Aufhebung des verselbstständigten Tuns der Produzenten in einer ihnen entgegengesetzten Allgemeinheit gleichbedeutend mit dem selbstbewussten Zusammenschluss der individuellen Arbeitskräfte zu einer allgemeinen Arbeitskraft. Dies ist nun die unmittelbare Einheit der unterschiedenen Individuen. In den Vorarbeiten zum ‚Kapital‘, den 1858/ 59 entstandenen, so genannten ‚Grundrissen‘ beschreibt Marx dieses Ideal: „Mit der Aufhebung aber des unmittelbaren Characters der lebendigen Arbeit, als blos einzelner, oder als blos innerlich, oder blos äusserlich allgemeiner, mit dem Setzen der Thätigkeit der Individuen als unmittelbar allgemeiner oder gesellschaftlicher, wird den gegenständlichen Momenten der Production diese Form der Entfremdung abgestreift; sie werden damit gesezt als Eigenthum, als der organische gesellschaftliche Leib, worin die Individuen sich reproduciren als Einzelne, aber als gesellschaftliche Einzelne.“ 1079 1076 Engels, Friedrich: Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie, In: Marx-Engels- Gesamtausgabe, Abteilung I, Bd. 3, Berlin: Dietz 1985, S. 484. 1077 Engels: Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie, MEGA II,3, S. 484. 1078 Marx: Das Kapital, Bd. 1, 1890, MEGA II,10, S. 74. 1079 Marx: Ökonomische Manuskripte 1857/ 58, MEGA II,1.2, S. 698. <?page no="301"?> 301 So ist in der Beschreibung der fetischisierten Vergesellschaftung das in Abgrenzung zu Hegel entstandene Ideal einer unmittelbaren Einheit der unterschiedenen Individuen in ökonomisch reifer Form vorhanden. Im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft erscheint die lebendige, stets auf andere bezogene Arbeit im Kapitalismus als einzelne. Dadurch macht sich die Vergesellschaftung dieser Arbeit erst im Nachhinein als blindwütiges Naturgesetz geltend. Indem das Wertgesetz aber durch eine geplant aufeinander bezogene Produktion aufgehoben wird, wird die fremde Form der Produktionsmittel abgestreift. Damit ist die lebendige Arbeit unmittelbar gesellschaftlich. Diese unmittelbare Gesellschaftlichkeit lebendiger Arbeit, die Reproduktion der Individuen als ‚gesellschaftliche Einzelne‘, ist die entwickelte Form des zu Anfang seiner ökonomischen Analyse ausgearbeiteten Ideals der ‚Einzelnen als Alle‘, die unmittelbare Einheit der unterschiedenen Individuen. Somit lässt sich für das Ideal der ‚Einzelnen als Alle‘ feststellen: Seit der ‚Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie‘ kommt Marx zusehends zu der Auffassung, dass die Hegelsche gesellschaftliche Einheit von unterschiedenen freien Individuen im Staat nicht verwirklicht wird, weil die ökonomischen Privatinteressen dies verhindern. In der ‚Judenfrage‘ wird dieser Standpunkt noch ausgebaut, die Einheit als erst herzustellende heißt nun Emanzipation. Gleichzeitig ändert Marx das Subjekt, das die Bewegung vollführt, die es ihm ermöglichen, dass es nur mit selbst geschaffenen Objekten umgeht. Nicht ein übergeordnetes Subjekt müsse sich vergegenständlichen, damit die Einheit von freien Individuen Wirklichkeit sein könne, sondern der Mensch selbst. In der ‚Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie‘ kündigt Marx programmatisch an, eine Entfremdung in der sozialen Realität als Grund für die religiöse Entfremdung im Bewusstsein bestimmen zu wollen. Im Proletariat als universell geknechtetem Wesen sieht Marx das Subjekt, das diese Entfremdung erfährt und dessen Bestimmung es daher sei, diese aufzuheben. In den ÖPM entwickelt Marx in erster Linie den Aspekt seines Wertmaßstabs, der das allgemeine Verhältnis von Subjekt und Objekt betrifft: Der Mensch sei durch die Vergegenständlichung in Arbeit Subjekt in dem umfassenden Sinne, dass er seine Objekte selbst zu setzen vermöge. Bereits in seinen Exzerptheften zu Mill thematisiert Marx im Ansatz das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, erst in den ‚Quellen der DI‘ aber kommt Marx mit diesem Konzept der positiven Vergegenständlichung des Menschen auf den Anspruch der unmittelbaren Einheit der Individuen zurück. Weil er nun weiß, dass der Mensch die Kluft zwischen Subjekt und Objekt mittels produktiver Vergegenständlichung überbrückt, sieht er in ihr auch die Verwirklichung der zweiten von Hegel übernommenen Versöhnung, der Einheit der unterschiedenen Individuen. Das Individuum ist durch die ihm eigene Vergegenständlichung, <?page no="302"?> 302 dadurch, dass die Verwirklichung seiner schöpferischen Kraft nur in Arbeitsteilung möglich ist, immer schon auf die anderen Individuen angewiesen. Allerdings sei die bisherige Arbeitsteilung immer ein Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnis gewesen, der Stand der Produktivkräfte habe dies bedingt. Erst im Kommunismus als der weitesten Entwicklung der Produktivkräfte und der ihnen entsprechenden Verkehrsform ist die freie Entwicklung des Einzelnen mit der freien Entwicklung aller notwendig verknüpft. Unter entfremdeten Verhältnissen sei jedoch diese eigentliche Einheit der Individuen in ihr Gegenteil verkehrt, und die gesellschaftlichen Entwicklungen würden als von den Individuen entkoppelt erfahren. Dieses Konzept findet sich auch noch in der Kritik der politischen Ökonomie wieder. In ihr wendet Marx sich ganz der historisch letzten Form der entfremdeten Arbeitsteilung, dem Kapitalismus, zu. Die Manifestationen des Menschen als des Subjekts, das sich durch Arbeit seine Objekte selbst schafft, gewinnen auch in den reifen ökonomischen Schriften noch Eigenständigkeit und erringen Gewalt über ihre Schöpfer. Gerade durch die spezifische Art der kapitalistischen Vergegenständlichung des Menschen wird sowohl die Überbrückung der Kluft zur Natur als auch die Einheit der Individuen in ihr Gegenteil verkehrt. So bringe der Kapitalismus ökonomische Produkte - Ware, Geld und Kapital - hervor, die als selbständige, die Menschen beherrschende Objekte angesehen werden. Weil die kapitalistische Produktion die kreative Potenz des Menschen zwar vergegenständliche, aber dadurch gerade nicht die Kluft zum Objekt schließe, sondern neu erschaffe, vergleicht Marx dieses Verhältnis mit der religiösen Illusion, selbst einen Fetisch zu produzieren, dem man sich anschließend unterwirft. Marx verfolgt somit seit seiner Ablösung von Hegel das Ideal einer unmittelbaren gesellschaftlichen Einheit, die durch die Einlösung seines Wertmaßstabes zugleich eintreten soll. Dieses Ideal einer unmittelbaren, ohne weitere Vermittlung stattfindenden Einheit, die zugleich die Individualität der in ihr zusammengeschlossenen zur freien Entwicklung ihrer kreativen Fähigkeiten und schöpferischen Potenzen sein soll, stellt sich im Prinzip kritisch gegen alle Formen einer gesellschaftlichen Vermittlung dieses Verhältnisses: „Die positive Aufhebung des Privateigenthums als die Aneignung des menschlichen Lebens, ist daher die positive Aufhebung aller Entfremdung, also die Rückkehr des Menschen aus der Religion, Familie, Staat etc in sein menschliches d.h. gesellschaftliches Dasein.“ 1080 1080 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 264. <?page no="303"?> 303 14. Die griechische Antike als Vorbild der ‚Einzelnen als Alle‘ Für das unmittelbare positive Verhältnis der Einzelnen in einer sie substantiell zusammenschließenden Einheit hat Marx in Abgrenzung zu den versachlichten Beziehungen des Kapitalismus immer wieder auf vorbürgerliche Gesellschaften zurückgegriffen. In der griechischen Antike hat er zwar nicht die vollendete Erfüllung seines Wertmaßstabs erblickt, jedoch hat sie in beschränktem Maße seinem Ideal unmittelbarer gesellschaftlicher Einheit von unterschiedenen Individuen entsprochen. Marx will dieses Verhältnis nicht mehr herstellen, aber er nimmt es dennoch abstrakt als Vorbild, um es verwandelt und auf höherer Stufe zu verwirklichen. 14.1. Marx‘ Sicht auf die antike Fassung der ‚Einzelnen als Alle‘ Die abstrakte Einheit des Staates, der von den besonderen Privatinteressen der Bürger getrennt auftritt, bestimmt Marx von Anfang seines gesellschaftlichen Ideals an als Charakteristikum der Moderne. „Die Abstraktion des Staats als solchengehört erst der modernen Zeit, weil die Abstraktion des Privatlebens erst der modernen Zeit gehört. Die Abstraktion des politischen Staats ist ein modernes Produkt.“ 1081 Es sei vor allem in der griechischen Antike nicht der Fall gewesen, dass die gesellschaftliche Einheit als leere Allgemeinheit einer getrennt davon existierenden Sphäre von sich bestreitenden Privatinteressen besteht. „In der unmittelbaren Monarchie, Demokratie, Aristokratie giebt es noch keine politische Verfassung im Unterschied zu dem wirklichen, materiellen Staat oder dem übrigen Inhalt des Volkslebens. Der politische Staat erscheint noch nicht als die Form des materiellen Staates. Entweder ist, wie in Griechenland, die respublica, die wirkliche Privatangelegenheit, der wirkliche Inhalt der Bürger und der Privatmensch ist Sklave; der politische Staat als politischer ist der wahre einzige Inhalt ihres Lebens und Wollens; oder, wie in der asiatischen Despotie, der politische Staat ist nichts als die Privatwillkühr eines einzelnen Individuums oder der politische Staat, wie der materielle, ist Sklave. Der Unterschied des modernen Staats von diesen Staaten der substantiellen Einheit zwischen Volk und Staat besteht nicht darin, daß die verschiedenen Momente der Verfassung zu besonderer Wirklichkeit ausgebildet sind, wie Hegel will, sondern darin, daß die Verfassung selbst zu einer besondern Wirklichkeit neben dem wirklichen Volksleben 1081 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 33. <?page no="304"?> 304 ausgebildet ist, daß der politische Staat zur Verfassung des übrigen Staats geworden ist.“ 1082 Max stellt der modernen Verfassung ‚unmittelbare‘ vormoderne Verfassungen gegenüber. Unter ‚Verfassungen‘ versteht Marx hier die Art und Weise, wie die Einheit der unterschiedenen Individuen in einer Allgemeinheit zustande kommt. Die vormodernen Verfassungen hätten nicht im Unterschied zum materiellen Staat, zur materiellen Einheit der Individuen gestanden, hätten keine besondere Wirklichkeit neben dem wirklichen Volksleben gehabt. Die gesellschaftliche Allgemeinheit der Antike habe Wahrheit als unmittelbares Wissen und Wollen der Privatmenschen gehabt und sei keine von ihnen getrennte, unabhängige Wirklichkeit gewesen. Sie habe damit auch nicht eine leere, sondern eine substantielle Einheit von Volk und Staat aufgewiesen. Marx nutzt die substantielle Einheit besonders der griechischen Antike als Gegenmodell, um das negative Verhältnis von Staat und bürgerlicher Gesellschaft in der Moderne zu kennzeichnen. In dieser Hinsicht ist ihm die griechische Antike ein Vorbild, das er gegen den modernen Staat anführt. Selbst diese geschichtlich überkommenen Zustände hatten der modernen Verfassung gegenüber Vorzüge. Marx stützt sich somit auf die substantielle Vergesellschaftung der unterschiedenen Individuen in der Antike, um die moderne Trennung zu kritisieren. Allerdings sieht er zugleich den Mangel dieser Einheit. Sie sei im antiken Griechenland durch Unterdrückung des Privatmenschen zustande gekommen, dadurch also, dass der Endzweck individuellen Wollens und Wissens ganz der Bestimmung unterworfen ist, positiv auf die gesellschaftliche Allgemeinheit bezogen zu sein. In der Antike sei somit die gesellschaftliche Allgemeinheit auf Kosten der Individualität zustande gekommen. In der Kritik der politischen Ökonomie ist dieses Urteil über die Antike auch aufzufinden. 14.2. Marx‘ Sicht auf die antike Fassung der ‚Einzelnen als Alle‘ in der Kritik der politischen Ökonomie In der Kritik der politischen Ökonomie hat sich gezeigt, dass Marx das Ideal der ‚Einzigen als Alle‘ darin verwirklicht sieht, dass es mit der Erfüllung seines Wertmaßstabs zusammenfällt. Die unmittelbare Vergegenständlichung des menschlichen Wesens in Gebrauchswerten für den gesellschaftlichen Bedarf ist für Marx hier gleichbedeutend mit der substantiellen Einheit der ihre Individualität in Arbeit befriedigenden und entwickelnden Einzelnen. Die abgetrennte Allgemeinheit sieht Marx nun nicht mehr in erster Linie im Staat, sondern in den verselbständigten kapitalisti- 1082 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 34. <?page no="305"?> 305 schen Verhältnissen, die sich vom Handeln der ökonomischen Subjekte abtrennen und ihnen als sachliche Notwendigkeiten gegenübertreten. Die Einheit überwindet somit nicht nur die Trennung zum Staat, sondern vor allem die diesem Gegensatz zugrundeliegende Trennung der Individuen zu ihrer tatsächlichen Einheit, die ihnen als versachlichte ökonomische Gegenstände gegenübertreten. Über die griechische Antike fällt Marx in der Kritik der politischen Ökonomie hinsichtlich des Verhältnisses von gesellschaftlicher Allgemeinheit und individueller Besonderheit zwei Urteile. Einerseits ist in ihr der Reichtum für die substantielle Einheit der unterschiedenen Individuen da; insofern wird das Ideal der ‚Einzelnen als Alle‘ erfüllt, was sie den bürgerlichen Zuständen voraushabe. Andererseits ist jedoch diese Verwirklichung zwar existent, aber nicht voll entfaltet. Weil die Integration der unterschiedenen Individuen durch den rechten Gebrauch der Güter zustandekomme, sei sowohl die Individualität als auch die gesellschaftliche Allgemeinheit in ihrer Entfaltung gehemmt. Erst im Kommunismus kämen beide Pole zu ihrer vollen Entfaltung. In den ‚Grundrissen‘ hat sich Marx intensiv mit den der kapitalistischen Produktionsweise vorhergehenden Gesellschaften auseinandergesetzt. In ihnen findet sich eine längere Textstelle, aus der sich in Abgrenzung zur versachlichten Ökonomie des Kapitalismus Marx‘ Bestimmung des antiken Verhältnisses von Individuum und gesellschaftlicher Allgemeinheit herausarbeiten lässt. Marx beginnt diesen Abschnitt mit der Bemerkung, dass Reichtum in der Antike eine ganz andere Rolle gespielt habe als im Kapitalismus: „Wir finden bei den Alten nie eine Untersuchung, welche Form des Grundeigenthums etc die productivste, den größten Reichthum schafft? Der Reichthum erscheint nicht als Zweck der Production, obgleich sehr wohl Cato untersuchen kann, welche Bestellung des Feldes die einträglichste, oder gar Brutus sein Geld zu den besten Zinsen ausborgen kann. Die Untersuchung ist immer, welche Weise des Eigenthums die besten Staatsbürger schafft.“ 1083 Aus den theoretischen Untersuchungen antiker Autoren über den Reichtum will Marx den Stellenwert des Reichtums in der antiken Gesellschaft ableiten. Selbst wenn es Untersuchungen über die Genese von Reichtum gibt, so werde dieser doch nie als Selbstzweck angesehen. Stattdessen sei es Ziel des Reichtums, den besten Staatsbürger zu schaffen. Er ist also positiv auf das Individuum als Mitglied des Gemeinwesens bezogen. Es wird zu zeigen sein, dass dieser positive Bezug des Reichtums auf die gesellschaftliche Allgemeinheit von Marx positiv beurteilt wird. Marx grenzt im Anschluss diese Form des Reichtums als Mittel des Individuums für die Inte- 1083 Marx: Ökonomische Manuskripte 1857/ 58, MEGA II,1.2, S. 391f. <?page no="306"?> 306 gration in eine gesellschaftliche Allgemeinheit ab von der modernen Form des Reichtums. „So erscheint die alte Anschauung, wo der Mensch, in welcher bornirten nationalen, religiösen, politischen Bestimmung auch immer als Zweck der Production erscheint, sehr erhaben zu sein gegen die moderne Welt, wo die Production als Zweck des Menschen und der Reichthum als Zweck der Production erscheint.“ 1084 Marx sieht in der vorbürgerlichen Produktion - wie der antiken griechischen - den Vorteil, dass der Mensch als Zweck der Produktion erscheint. Was heißt das in diesem Zusammenhang? Im Hinblick auf den antiken Gebrauch des Reichtums scheint Marx hier mit dem Menschen als Zweck des Reichtums zu meinen, dass hier die Erfüllung der individuellen Bedürfnisse positiv auf die Integration in die gesellschaftliche Allgemeinheit bezogen ist. Damit erfüllt auch in der Kritik der politischen Ökonomie die Antike in einer Hinsicht das Ideal einer unmittelbaren Allgemeinheit, nämlich darin, dass hier eine substantielle Einheit der unterschiedenen Individuen stattfindet. Der ökonomische Zusammenhang ist unmittelbar darauf bezogen, die gesellschaftliche Allgemeinheit herzustellen. Aber auch hier ist diese Erfüllung des Ideals kein Anlass für Marx, diese Art der Vergesellschaftung zu idealisieren. Stattdessen wird diese Einheit der unterschiedenen Individuen auch in der Antike - wo der Mensch als Staatsbürger Zweck der Produktion ist, also wahrscheinlich wegen seines politischen Elements - als ‚borniert‘ bezeichnet. Warum? Das Prädikat ‚borniert‘ hat bei Marx nicht in erster Linie wertenden Charakter, sondern bestimmt eine Sache als ‚beschränkt‘. Was ist beschränkt an dieser vorbürgerlichen Verwirklichung des Verhältnisses von den ‚Einzelnen als Alle‘? Von dem bisher erarbeiteten Marxschen Standpunkt ließe sich diese Charakterisierung auf beide Pole der ‚Einzelnen als Alle‘ anwenden. Sie ergibt sich aus der Bestimmung der griechischen Antike als einer Gesellschaft von Sklavenhaltern. Auf der einen Seite ist die Entfaltung der Individualität gehemmt, denn für die Vollbürger ist nur der Gebrauch der Güter vorgesehen, ihr menschliches produktives Wesen können sie nicht in Arbeit vergegenständlichen. Auf der anderen Seite ist die gesellschaftliche Allgemeinheit nur beschränkt als eine solche zu bezeichnen, da nicht ‚Alle‘ als positiver Bezugspunkt der unmittelbar gesellschaftlichen Taten des Einzelnen angesehen wurden, sondern nur die Vollbürger. Daher ist für Marx die Verwirklichung der ‚Einzelnen als Alle‘ in der griechischen Antike auf beiden Seiten getrübt. 1085 1084 Marx: Ökonomische Manuskripte 1857/ 58, MEGA II,1.2, S. 392. 1085 Der in der Hegelschen Geschichtsphilosophie nicht unerfahrene Marx wird die zentrale Hegelsche Entwicklungsstufen des Geistes in der Weltgeschichte gekannt haben, demnach „die Orientalen nur gewußt haben, daß Einer frei, die griechische und römische Welt aber, daß einige frei sind, daß wir aber wissen, alle Menschen an <?page no="307"?> 307 Im Anschluss an diese Passage beschreibt Marx, wie die versachlichte Vergesellschaftung die Bedingungen für eine volle Entfaltung der Individualität in einer befreiten Gesellschaft schafft. Dem stellt Marx nochmals die bürgerliche Ökonomie gegenüber, und in diesem Lichte erscheinen die vorbürgerlichen Ökonomien, wie die altgriechische, positiv. „In der bürgerlichen Oekonomie - und der Productionsepoche der sie entspricht - erscheint diese völlige Herausarbeitung des menschlichen Innern als völlige Entleerung; diese universelle Vergegenständlichung als totale Entfremdung, und die Niederreissung aller bestimmten einseitigen Zwecke als Aufopferung des Selbstzwecks unter einen ganz äusseren Zweck. Daher erscheint einerseits die kindische alte Welt als das Höhere. Andrerseits ist sie es in alle dem, wo geschloßne Gestalt, Form, und gegebne Begrenzung gesucht wird. Sie ist Befriedigung auf einem bornirten Standpunkt; während das Moderne unbefriedigt läßt, oder wo es in sich befriedigt erscheint, gemein ist.“ 1086 Zum Verständnis dieses Textabschnitts ist es wichtig zu wissen, dass Marx mit ‚kindischer alter Welt‘ die griechische Antike meint. Auch zuvor hat Marx diese Kultur als „geschichtliche Kindheit der Menschheit“ 1087 bezeichnet. Sie erscheint für Marx höher als die bürgerliche Ökonomie, weil jene nicht negativ gegenüber der menschlichen Vergegenständlichung, dem Marxschen Wertmaßstab, eingestellt ist, nicht eine Umdrehung dessen vollzieht, was den Menschen ausmacht. Der Selbstzweck der Produktion, über die Produktion von Gütern für den allgemeinen Gebrauch sein schöpferisches Wesen zu vergegenständlichen, wird im Kapitalismus unter einen dem Individuum äußeren Zweck subsumiert, nämlich dem Selbstzweck des verselbständigten Reichtums sich zu vermehren. Aber Marx bemerkt hier zugleich, dass die Antike unter einem bestimmten Aspekt nicht nur höher als die bürgerliche Ökonomie erscheint, sondern dass sie es sogar ist - wenn man von der seinem Wertmaßstab inhärenten Betonung der Entwicklung der individuellen und gesellschaftlichen Kräfte des Menschen abstrahiert. Dieses Höhere besteht anscheinend genau darin, dass es in der Antike einen positiven Bezug zur Allgemeinheit gibt, dass die Produktion unmittelbar positiv auf die Vergesellschaftung hin ausgerichtet ist. Diese Unmittelbarkeit der Vergesellschaftung in der Produktion hat dabei den Mangel, dass es nicht die Produktion selbst, sondern ihr bestimmter Gebrauch ist, der die Einheit der unterschiedenen Individuen herstellen soll. Das bedingt, dass die Arbeit eine untergeordnete, nur instrumentelle Rolle für die Vergesellschaftung spielt und damit einerseits die Entfaltung der schöpferischen Potenzen des Individuums sich, das heißt der Mensch als Mensch sei frei“ (Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 32). 1086 Marx: Ökonomische Manuskripte 1857/ 58, MEGA II,1.2, S. 392. 1087 Marx: Ökonomische Manuskripte 1857/ 58, MEGA II,1.1, S. 45. <?page no="308"?> 308 stark eingeschränkt ist, andererseits die positive Vergesellschaftung nicht für diejenigen gedacht ist, die die Arbeit machen, sondern für eine sie ausnutzende Elite. 1088 Dass das Individuum des antiken Griechenlands ganz auf das Gemeinwesen ausgerichtet war, erklärt sich Marx aus der damaligen auf dem Grundeigentum basierenden Produktionsweise. Für die unterschiedlichen auf Grundeigentum basierenden Produktionsweisen sieht Marx es als charakteristisch an, dass das Individuum stark als Glied mit dem Gemeinwesen verknüpft sei und damit weniger als einzelner auf sich bezogener Mensch gilt als in der modernen, auf Arbeit gegründeten Produktionsweise: „Das Individuum kann hier nie in der Punktualität auftreten, in der es als bloser freier Arbeiter erscheint. Wenn die objektiven Bedingungen seiner Arbeit vorausgesezt sind als ihm gehörig, so ist es selbst subjektiv vorausgesezt als Glied einer Gemeinde, durch welche sein Verhältniß zum Grund und Boden vermittelt ist. Seine Beziehung zu den objektiven Bedingungen der Arbeit ist vermittelt durch sein Dasein als Gemeindeglied; andrerseits ist das wirkliche Dasein der Gemeinde bestimmt durch die bestimmte Form seines Eigenthums an den objektiven Bedingungen der Arbeit.“ 1089 Weil die Reproduktionsbedingungen des Individuums in den auf Grundeigentum basierenden Produktionsweisen von den Strukturen des Kollektivs abhingen, konnte das Individuum in diesen Gesellschaften nicht so unabhängig auftreten und sich damit in seiner Individualität nicht so stark entwickeln wie in modernen Gesellschaften. Gesellschaftlichkeit wie Individualität dieser Gesellschaften sei durch die Form des Grundeigentums bestimmt. Das oben dargestellte Verhältnis von Reichtum zu der Vergesellschaftung der Individuen zeigt sich auch in Textstellen, in denen Marx das Geld in der modernen und antiken Produktionsweise näher untersucht. „Das Geld ist damit unmittelbar zugleich das reale Gemeinwesen, insofern es die allgemeine Substanz des Bestehns für alle ist, und zugleich das gemeinschaftliche Product aller. Im Geld ist aber, wie wir gesehn haben, das Gemeinwesen zugleich blose Abstraction, blose äusserliche, zufällige Sache für den Einzelnen, und zugleich blos Mittel seiner Befriedigung als eines isolirten Einzelnen. Das antike Gemeinwesen unterstellt eine ganz andre Beziehung des Individuums für sich. Die Entwicklung des Geldes in seiner 3t Bestimmung bricht es also.“ 1090 Für Marx ist im Kapitalismus Geld das reale Gemeinwesen, weil seine Vermehrung Selbstzweck dieser Gesellschaft ist und damit nicht nur zum 1088 Aristoteles lässt keinen Zweifel daran, dass ein ‚gutes Leben‘ nur diejenigen führen können, die durch Sklaven, Tagelöhner und Handwerker von der Notwendigkeit der Arbeit befreit sind. Siehe Aristoteles: NE VII,9, 1328b28-1329a3, Rolfes, S. 255 und Aristoteles: NE VII,9, 1330a25-29, Rolfes, S. 259. 1089 Marx: Ökonomische Manuskripte 1857/ 58, MEGA II,1.2, S. 390. 1090 Marx: Ökonomische Manuskripte 1857/ 58, MEGA II,1.1, S. 150. <?page no="309"?> 309 Zweck für alle werden muss, sondern auch die Teilung der Arbeit vermittelt. Geld ist das verstofflichte Produkt der Arbeitsteilung, das notwendige Verhältnis der Menschen aufeinander in eine materielle Form gegossen. Diese Gemeinsamkeit ist aber nicht eine ergänzende, sondern eine ausschließende. Dieses versachlichte Gemeinwesen tritt daher den Individuen fremd gegenüber, es wirkt als gesellschaftliche Allgemeinheit gar nicht verbindend, sondern schiebt sich trennend zwischen die Individuen und isoliert sie voneinander. Das Geld als reales Gemeinwesen bringt damit die negative, gegen die Anderen gerichtete Seite der Individualität zur Entfaltung. Die ‚ganz andere Beziehung‘ des Individuums für sich im antiken Gemeinwesen muss dem bisher Erarbeiteten nach darin bestehen, dass das Individuum ganz auf das Gemeinwesen bezogen war und daher für sich nicht entwickelt war. Der Reichtum war Mittel des Individuums, die allgemeinen Angelegenheiten im Unterschied zu den individuellen zu verfolgen. Die dritte Bestimmung des Geldes ist nach den ‚Grundrissen‘ das Geld als Selbstzweck. 1091 Weil Marx die Entwicklung des Geldes als Selbstzweck zwar in seiner entwickelten Form im Kapitalismus verordnet, es jedoch bereits viel früher auftritt, muss das durchs Geld vereinzelte Individuum mit der Bestimmung des antiken Individuums, auf das äußerliche Gemeinwesen bezogen zu sein, in Konflikt treten. „So das Geld nicht selbst das Gemeinwesen, muß es das Gemeinwesen auflösen.“ 1092 Das Geld wird von den antiken Autoren auch als Grund für die Auflösung ihrer Gemeinwesen erkannt. „Daher der Jammer der Alten über das Geld als die Quelle alles Bösen.“ 1093 Geld ist somit nach Marx in der Antike als Maß der Werte und als Zirkulationsmittel vorhanden. Die dritte Bestimmung des Geldes, sich Selbstzweck zu sein, zerstört das Gemeinwesen, weil es als die gesellschaft- 1091 Die erste und zweite Bestimmungen des Geldes sind Maß der Werte und Tauschmittel zu sein, siehe Marx: Ökonomische Manuskripte 1857/ 58, MEGA II,1.1, S. 131f. Diese drei Bestimmungen werden auch im dritten Kapitel des ersten Bands des ‚Kapital‘ dem Geld zugeschrieben, siehe Marx: Das Kapital, Bd. 1, 1890, MEGA II,10, S. 7490-119. 1092 Marx: Ökonomische Manuskripte 1857/ 58, MEGA II,1.1, S. 149. 1093 Marx: Ökonomische Manuskripte 1857/ 58, MEGA II,1.1, S. 145. Oder an anderer Stelle: „Die Geldgier oder Bereicherungssucht ist nothwendig der Untergang der alten Gemeinwesen. Daher der Gegensatz dagegen. Es selbst ist das Gemeinwesen und kann kein andres über ihm stehendes dulden. […] Bei den Römern, Griechen etc erscheint das Geld erst unbefangen in seinen beiden ersten Bestimmungen als Maaß und Circulationsmittel, in beiden nicht sehr entwickelt. Sobald sich aber entweder ihr Handel etc entwickelt, oder wie bei den Römern die Eroberung ihnen Geld massenhaft zuführt - kurz, plötzlich auf einer gewissen Stufe ihrer ökonomischen Entwicklung erscheint das Geld nothwendig in seiner 3ten Bestimmung, und je mehr es sich in derselben ausbildet, als Untergang ihres Gemeinwesens.“ Marx: Ökonomische Manuskripte 1857/ 58, MEGA II,1.1, S. 147. <?page no="310"?> 310 liche Klammer der voneinander nun unmittelbar Unabhängigen das gesellschaftliche Verhältnis versachlicht. Das erklärt auch, warum Marx im ‚Kapital‘ und seinen Vorarbeiten für die Wertbestimmung auf Aristoteles Bezug nehmen kann: Dieser kennt die beiden ersten Bestimmungen des Geldes - obwohl sie nach Marx noch nicht sehr weit entwickelt waren - und konnte in ihnen bereits im Ansatz analysieren, das im Austausch der Waren diese in einem Verhältnis zueinander stehen, dem ein drittes, ihnen Gemeinsames zugrunde liegt. Dies ist für Marx das „Genie des Aristoteles“ 1094 Wenn man sich die von Marx zitierten Stellen des Aristoteles genauer anschaut, wird deutlich, dass Aristoteles für Marx genau in jene Phase fallen muss, in der das ‚reale Gemeinwesen‘ Geld die polis aufzulösen beginnt. 14.3. Aristoteles‘ Kritik an der Chrematistik als Kritik am Geld als realem Gemeinwesen In Manuskripten zum ‚Kapital‘ führt Marx Aristoteles als Kritiker des Geldes in der oben beschriebenen dritten Funktion, Geld als Selbstzweck, an. „Je mehr sich die Production überhaupt als Production von Waaren entwickelt, um so mehr muß Jeder und will jeder Waarenhändler werden, Geld machen, sei es aus seinem Product, sei es aus seinen Diensten, wenn sein Product seiner natürlichen Beschaffenheit gemäß nur in der Form des Diensts existirt und dieß Geldmachen erscheint als der letzte Zweck jeder Art von Thätigkeit. (Siehe Aristoteles)“ 1095 Marx meint, dass mit der Entwicklung der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse hin zu einer Warenproduktion die ‚dritte‘ Bestimmung des Geldes, in der das Geld als Selbstzweck erscheint, sich mehr und mehr durchsetzt. Marx sieht Aristoteles als Zeugen einer solchen Entwicklung. Aristoteles unterscheidet in der ‚Politik‘ die Haushaltskunst (oikonomia) von der Kunst des Erwerbs von Geld (chrematistike). 1096 Die Haushaltskunst sei die übergeordnete Lehre von der Führung des Haushalts und beschäftige sich auf die Führung des Haushalts und auf äußere Güter bezogen mit deren guter Verwendung. In der Erwerbskunst unterscheidet Aristoteles zwischen zwei verschiedenen Arten, die der Marxsche Unterscheidung zwischen dem Geld in seiner zweiten und dritten Bestimmung, als Zirkulationsmittel und als Selbstzweck, ähneln. Die Erwerbskunst in ihrer natürlichen Art sei darauf bezogen, „all jene Dinge zu beschaffen und zu bewahren, die für die Gemeinschaft in Haus 1094 Marx: Das Kapital, Bd. 1, 1890, MEGA II,10, S. 60. 1095 Marx: Ökonomische Manuskripte 1863-1867, MEGA II,4.1, S. 110f. 1096 Aristoteles: Politik I,8, 1256a11, Rolfes, S. 14. <?page no="311"?> 311 und Staat zum Leben nützlich und notwendig sind. In diesen Dingen besteht ja auch wohl einzig der wahre Reichtum.“ 1097 Auf dieses Urteil trifft die Marxsche Bestimmung zu, dass der antike Reichtum als Mittel angesehen werde, den Menschen zu einem guten Staatsbürger zu machen. Marx meint, dass die auf die Haushaltskunst bezogene Erwerbskunst der Zirkulationsform Ware-Geld-Ware (W-G-W) entspreche, weil hier der Gebrauch der Ware Anfangs- und Endpunkt darstellten. Wenn Geld aber zum Selbstzweck werde, würde dies von Aristoteles kritisiert. Über die Verwandlung des Geldes vom Mittel zum Zweck der ökonomischen Tätigkeit, schreibt Marx über die Antike: „Die alten Philosophen, ebens Boisguillebert, betrachten dieß als Verkehrung, Mißbrauch des Geldes, das aus dem Knecht zum Herrn wird, den natürlichen Reichthum depreciirt, das Ebenmaß der Equivalente aufhebt. […] Aristoteles betrachtet daher die Form der Circulation W-G-W, worin das Geld nur als Maaß und Münze functionirt, eine Bewegung, die er die ökonomische nennt, als die natürliche und vernünftige, während er die Form G-W-G, die chrematistische, als unnatürlich, zweckwidrig brandmarkt. […] Verkaufen um zu kaufen ist der Gebrauchswerth Zweck; Kaufen um zu Verkaufen, der Werth selbst.“ 1098 Daraus, dass Aristoteles nach Marx zwischen zwei verschiedenen Arten von Erwerbskunst unterscheidet, lässt sich schließen, dass nach der Marxschen Theorie Aristoteles den Übergang des Geldes vom bloßen Zirkulationsmittel hin zum Selbstzweck miterlebt, an der die antike Gesellschaft zugrunde gehen müsse. Tatsächlich hat Aristoteles zwischen einer natürlichen, der Haushaltskunst untergeordneten Art der Erwerbskunst und einer anderen, pervertierten Art der Erwerbskunst differenziert. In Kapitel 4.6 dieser Arbeit wurde dargestellt, wie Aristoteles den Tausch in der NE als sittliche Kraft schätzt, weil er eine Bindung der Bürger eines Gemeinwesens herstellt. 1099 Es ist diese Stelle, die Marx im ‚Kapital‘ als erste Analyse des Wertausdrucks identifiziert. 1100 Aber Marx bezieht sich auch auf die negative ökonomische Bestimmung in der ‚Politik‘. Nach Aristoteles sind die Händler 1101 und die Geldverleiher 1102 jene Berufsgrup- 1097 Aristoteles: Politik I,8, 1256b28-31, Rolfes, S. 17. 1098 Marx, Karl: Zur Kritik der politischen Ökonomie, Urtext, 1858, In: Marx-Engels- Gesamtausgabe, Abteilung II, Bd. 2, Berlin: Dietz 1980, S. 74.W steht in der Bewegung für Ware, G steht für Geld. 1099 Siehe Aristoteles: NE, V,8,1133a24f-1133b6., Rolfes, S. 113. 1100 Siehe Marx: Das Kapital, Bd. 1, 1890, MEGA II,10, S. 59f. Miller sieht daher hier die Schnittmenge in Marx‘ und Aristoteles‘ Konsequentialismus, siehe Miller, Richard W.: Marx and Aristotle - A Kind of Consequentialism, In: McCarthy, George E. (Hg.): Marx and Aristotle: Nineteenth-century German Social Theory and Classical Antiquity, Savage: Rowman & Littlefield 1992, S. 287. 1101 Aristoteles: Politik I,9, 1257b3, Rolfes, S. 19. 1102 Aristoteles: Politik I,10, 1258b3, Rolfes, S. 23. <?page no="312"?> 312 pen, die dieser falschen Art der Erwerbskunst verfallen sind. Dies sind auch nach Marx die Berufe, die historisch als erste Formen des Kapitals aufgetreten sind, noch bevor das Kapital, das Prinzip des sich vermehrenden Geldes, die bestimmende ökonomische Tätigkeit der ganzen Produktionsweise geworden ist. 1103 Anhand des Handels beschreibt Aristoteles diese Art der Erwerbskunst, von der man mit Recht sagen könne, „Gelderwerb und naturgemäßer Reichtum ist zweierlei“ 1104 . Nach Aristoteles ist für den Händler der Umsatz von Waren und Geld Quelle des Reichtums; das heißt aber, dass der Zweck des Handels nicht die Herbeischaffung nützlicher Güter für deren Gebrauch in polis und Familie ist, sondern dass das Geld selbst der Zweck ist. „Dieser Umsatz scheint sich um das Geld zu drehen. Denn das Geld ist des Umsatzes Anfang und Ende.“ 1105 Aristoteles beschreibt somit den Selbstzweck des Geldes in den Worten der Zirkulation von Ware (W) und Geld (G), die auch Marx benutzt. Marx zitiert diese aristotelische Beschreibung der falschen Art der Erwerbskunst im‘Kapital‘, um die Maßlosigkeit dieser Bewegung des Geldes als Kapital zu illustrieren. 1106 Für Aristoteles ist diese endlose Bewegung schlecht, weil sie kein telos, keine ihr inhärente Vollendung kennt. 1107 Der Geldverleih widerspricht nach Marx auf schlagendste Art und Weise dem Prinzip des Warentauschs, indem immer Äquivalent gegen Äquivalent getauscht wird, weil hier unmittelbar eine Summe Geldes sich selbst vermehrt. „Im Handelskapital sind die Extreme, das Geld, das auf den Markt geworfen, und das vermehrte Geld, das dem Markt entzogen wird, wenigstens vermittelt durch Kauf und Verkauf, durch die Bewegung der Zirkulation. Im Wucherkapital ist die Form G-W-G‘ abgekürzt auf die unvermittelten Extreme G-G‘, Geld, das sich gegen mehr Geld austauscht, eine der Natur des Geldes widersprechende und daher vom Standpunkt des Warenaustausches unerklärliche Form. Daher Aristoteles: ‚Da die Chrematistik eine doppelte ist, die eine zum Handel, die andre zur Ökonomie gehörig, die letztre notwendig und lobenswert, die erstre auf die Zirkulation gegründet und mit Recht getadelt (denn sie beruht nicht auf der Natur, sondern auf wechselseitiger Prellerei), so ist der Wucher mit vollstem Recht verhaßt, weil das Geld selbst hier die Quelle des Erwerbs und dazu gebraucht wird, wozu es erfunden ward. Denn für den Warenaustausch entstand es, der Zins aber macht aus Geld mehr Geld.‘“ 1108 1103 Marx: Das Kapital, Bd. 1, 1890, MEGA II,10, S. 151. 1104 Aristoteles: Politik I,9, 1257b18, Rolfes, S. 20. 1105 Aristoteles: Politik I,9, 1257b18f., Rolfes, S. 20. 1106 Marx: Das Kapital, Bd. 1, 1890, MEGA II,10, S. 139f., Fußnote 6. 1107 Marx zitiert dabei Aristoteles: Politik, I,9, 1257b23-32, Rolfes, S. 20. 1108 Marx: Das Kapital, Bd. 1, 1890, MEGA II,10, S. 150. <?page no="313"?> 313 Marx nimmt somit im ‚Kapital‘ Aristoteles als Gewährsmann dafür, dass vom Standpunkt des einfachen Warentauschs die Bewegung des Kapitals - in den damals vorkommenden Formen des Handels und des Geldverleihs - dem Zweck des Geldes widerspricht. Liest man dieses Urteil zusammen mit der Aussage von Marx aus den ‚Grundrissen‘, dass der Reichtum in der antiken Produktionsweise dazu da war, aus dem Menschen ein gutes Mitglied des Gemeinwesens zu machen, dann verwirft Aristoteles demnach den Selbstzweck des Geldes, weil es seinem eigentlich Zweck, Mittel für das Individuum zu sein, sich das Gemeinwesen zum Zweck zu setzen, widerspricht. Für Marx ist Aristoteles somit in zweierlei Hinsicht interessant. Einmal als Theoretiker der antiken Gesellschaft, die auf Grundeigentum basiert und insofern Reichtum als Mittel ansieht, die Individuen über seinen guten Gebrauch positiv auf das Gemeinwesen zu beziehen. Und zugleich als ein Ökonom, der bereits den Kern der versachlichten Beziehung im Geld ahnt, der in den beiden der Epoche des Kapitals vorhergehenden Formen, Handelskapital und Leihkapital, schlummert. Dass Aristoteles im Niedergang der griechischen Epoche gelebt hat, passt in Marx‘ Theorie, dass das Geld als versachlichte Allgemeinheit in Konkurrenz tritt zu den auf Grundeigentum und unmittelbarer Vergesellschaftung der unterschiedenen Individuen basierten Gemeinwesen und damit diese Gesellschaften zerstört. Wenn Aristoteles die Abgrenzung von Haushaltskunst und Erwerbskunst gegen all jene Ansichten verteidigen muss, die meinen, beides sei identisch 1109 , dann tritt die praktizierte Auffassung, beides identisch zu setzen, anscheinend häufig auf. 14.4. Aristoteles‘ Einheit der unterschiedenen Individuen als Vorbild für Marx‘ Ideal Marx nimmt in der Zeit, in der er sein Ideal des Verhältnisses der unmittelbaren Einheit der unterschiedenen Individuen entwickelt, explizit auf Aristoteles Bezug. Noch während er die ‚Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie‘ beginnt, schreibt Marx in einem Brief an Ruge, dass die Philister ihren Willen nur auf ihre nackte Reproduktion richteten und sich vom Tier nur darin unterschieden, dass sie zudem noch ein Wissen von diesem Willen hätten. 1110 Marx kritisiert diese unpolitische Haltung des Philisters aber nicht als individuellen Mangel, sondern als Resultat einer historischen Entwicklung. „Barbarische Jahrhunderte haben ihn erzeugt und ausgebildet, und nun steht er da als ein consequentes System, dessen Princip 1109 Das ist der Beweiszweck der von Aristoteles: Politik I,8-10. 1110 Siehe Karl Marx an Arnold Ruge, erste Hälfte Mai 1843, MEGA III,1, S. 48. <?page no="314"?> 314 die entmenschte Welt ist.“ 1111 Über das Verhältnis von Individuum zur Gesellschaft in diesem konsequenten System schreibt Marx, der „deutsche Aristoteles, der seine Politik aus unsern Zuständen abnehmen wollte, würde an ihre Spitze schreiben: ‚Der Mensch ist ein geselliges, jedoch völlig unpolitisches Thier.‘“ 1112 Mit diesem Gegensatz vom Menschen als geselligen Tier, das jedoch kein zoon politikon mehr ist, meint Marx, dass die modernen Menschen sich nicht in Gemeinschaft vereinzeln, sondern dass sie als atomisierte Monaden zwar Nähe suchen, aber nicht in einer substantiellen Einheit verbunden sind. Um diesen Gegensatz deutlich zu machen, stellt Marx dem nur geselligen Individuum das Selbstgefühl des antiken Menschen und dessen Freiheitsbegriff entgegen: „Das Selbstgefühl des Menschen, die Freiheit, wäre in der Brust dieser Menschen erst wieder zu erwecken. Nur dies Gefühl, welches mit den Griechen aus der Welt und mit dem Christenthum in den blauen Dunst des Himmels verschwindet, kann aus der Gesellschaft wieder eine Gemeinschaft der Menschen für ihre höchsten Zwecke, einen demokratischen Staat machen.“ 1113 Die Demokratie wird Marx kurz nach diesem Brief als die Gesellschaft charakterisieren, in der die ‚Einzelnen als Alle‘ auftreten, also in einer unmittelbaren Einheit verbunden sind. In diesem Brief vermisst Marx das Gefühl zu dieser gesellschaftlichen Einheit; sie sei mit den alten Griechen aus der Welt verschwunden und habe - mit Feuerbach - im Christentum ihren eingebildeten Ort in einem Jenseits. Dieses gemeinschaftliche Gefühl der Individuen, die das Interesse an ihren Angelegenheiten teilen, ist für ihn das zoon politikon. Marx findet somit in der Antike nach Aristoteles die substantielle Einheit der Gesellschaft als verwirklicht an. Er wird allerdings später darstellen, dass die Antike, und damit auch Aristoteles, die Individualität, das besondere Interesse des Privatmenschen zu gering schätzte. Eine ähnliche Besprechung dessen findet sich auch in der Kritik der politischen Ökonomie, in ihm wird deutlich, wie Marx sich auf die aristotelische Einheit der unterschiedenen Individuen stützt. Nach der Ausarbeitung seiner materialistischen Geschichtsauffassung postuliert Marx in der Kritik der politischen Ökonomie mit der Entwicklung der Produktivkräfte und der ihnen entsprechenden Verkehrsverhältnisse eine historische Entwicklung der Individualität. Marx nimmt dabei explizit Bezug auf den aristotelischen Begriff des zoon politikon, das bereits eine entwickelte Stufe von Individualität kennzeichne. Marx kommt es darauf an, die Vereinzelung nicht, wie die politischen Ökonomen, zu 1111 Karl Marx an Arnold Ruge, erste Hälfte Mai 1843, MEGA III,1, S. 49. 1112 Karl Marx an Arnold Ruge, erste Hälfte Mai 1843, MEGA III,1, S. 49. 1113 Karl Marx an Arnold Ruge, erste Hälfte Mai 1843, MEGA III,1, S. 48. <?page no="315"?> 315 postulieren, sondern als eine historisch bestimmte Form von Vergesellschaftung zu charakterisieren. „Der Mensch vereinzelt sich erst durch den historischen Process. Er erscheint ursprünglich als ein Gattungswesen, Stammwesen, Heerdenthier - wenn auch keineswegs als ein ζω ̃ ον πολιτι ϰ όν [zoon politikon, J.S.] im politischen Sinn. Der Austausch selbst ist ein Hauptmittel dieser Vereinzelung. Er macht das Heerdenwesen überflüssig und löst es auf. Sobald die Sache sich so gedreht, daß er als Vereinzelter nur mehr sich auf sich bezieht, die Mittel aber, um sich als Vereinzelter zu setzen, sein sich Allgemein- und Gemeinmachen geworden sind. In diesem Gemeinwesen ist das objektive Dasein des Einzelnen als Eigenthümer, sage z. B. Grundeigenthümer vorausgesezt und zwar unter gewissen Bedingungen, die ihn an das Gemeinwesen ketten, oder vielmehr einen Ring in seiner Kette machen. In der bürgerlichen Gesellschaft steht der Arbeiter z. B. rein objektivlos, subjektiv da; aber die Sache, die ihm gegenübersteht, ist das wahre Gemeinwesen nun geworden, das er zu verspeisen sucht, und von dem er verspeist wird.“ 1114 Der Prozess der Individualisierung des Menschen wird von Marx als eine lange historische Entwicklung beschrieben. 1115 Ursprünglich trete der Mensch in unmittelbarer Einheit mit seinem Kollektiv auf - von einer Einheit der Unterschiedenen kann man hier noch nicht reden, daher auch nicht von einer politischen Organisation der Einzelnen. Durch die gesellschaftliche Arbeitsteilung löse sich diese unterschiedslose Einheit auf, so dass schließlich der Mensch sich in seinem Teil der gesellschaftlichen Arbeit als Vereinzelter auf sich bezieht, zugleich aber das Gemeinwesen als das Mittel dieser Individualisierung erscheint, so dass sich die Individualität ganz dieses Gemeinwesen zum Inhalt machen muss. Mit dieser Entwicklung der Produktivkräfte und den ihnen angemessenen Verkehrsformen - Marx nennt hier das mit dem Ackerbau auftretende Grundeigentum - ist die Vereinzelung des Einzelnen abhängig davon, Glied des Gemeinwesens zu sein, weswegen es sich das Gemeinwesen zum Inhalt setzen muss. Die Individualität sei insofern an das Gemeinwesen gekettet. Das trifft auch auf die griechische Antike zu. Marx nimmt den aristotelischen Begriff des zoon politikon, um zu kennzeichnen, dass der Mensch sich nur in Gesellschaft vereinzeln kann, wie er an anderer Stelle der ‚Grundrisse‘ deutlich macht: „Der Mensch ist im wörtlichsten Sinn ein ζω ̃ ον πολιτι ϰ όν, nicht nur ein geselliges Thier, sondern ein Thier, das nur in der Gesellschaft sich vereinzeln kann.“ 1116 Marx versteht somit unter der antiken, von Aristoteles im zoon politikon versinnbildlichten Vorstellung der Individualität, dass sich hier tatsächlich 1114 Marx: Ökonomische Manuskripte 1857/ 58, MEGA II,1.1, S. 399f. 1115 Siehe auch Marx: Ökonomische Manuskripte 1857/ 58, MEGA II,1.1, S. 22. 1116 Marx: Ökonomische Manuskripte 1857/ 58, MEGA II,1.1, S. 22. <?page no="316"?> 316 die ‚Einzelnen als Alle‘ zusammen finden. Allerdings ist die Individualität aufgrund der wenig entwickelten Produktionskräfte und der damit einhergehenden Verkehrsverhältnisse notwendig auf das Gemeinwesen als seine Existenzbedingung bezogen. Auch wenn Marx an dieser Stelle den die Individualität beschränkenden Aspekt der antiken Gesellschaft herausstellt, so zeigt sich doch, dass er deren Einheit in Vereinzelung positiv schätzt, indem er ihr die objektivlose Existenz des bürgerlichen Individuums gegenüber stellt. Das moderne Individuum bezieht sich auf sein Gemeinwesen als eine ihm äußerliche Sache; im Geld hat es sogar eine ihm selbständig gegenübertretende Existenz, auf das es sich als Einzelnes instrumentell bezieht - eine Instrumentalisierung, die im Falle des Arbeiters nicht gelingen kann. Marx will beide Einseitigkeiten überwinden, sowohl die beschränkte Entwicklung der Individualität in der Antike, die das Gemeinwesen und seine Notwendigkeiten zum Inhalt setzen muss, wie auch die „vereinzelten Einzelnen“ 1117 der bürgerlichen Gesellschaft, die eine Gemeinsamkeit nur in den ihnen gegenüberstehenden versachlichten Verhältnissen der Konkurrenz haben. Das Verhältnis, auf das sich Marx in Form des zoon politikon bezieht, ist tatsächlich ein wesentlicher Bestandteil der aristotelischen praktischen Philosophie, wie im ersten Teil der vorliegenden Arbeit gezeigt wurde. Inwiefern bezieht sich Marx auf das dem Konzept des ‚guten Lebens‘ inhärente unmittelbar positive Verhältnis des Individuums zu seiner gesellschaftlichen Allgemeinheit, indem er das Konzept des zoon politikon als beschränkte Verwirklichung des unmittelbaren Verhältnis der ‚Einzelnen als Alle‘ liest? Nach der aristotelischen ‚Tierkunde‘ ist zoon politikon keine ausschließliche Charakterisierung des Menschen allein. Auch Biene, Wespe, Ameise und Kranich sind soziale Tiere, die auch einen Staat bilden, weil sie ein gemeinsames Arbeitsziel haben. 1118 Das ist aber meist nicht das, was generell unter zoon politikon verstanden wird, und Marx grenzt die bloße Kollektivität oder Geselligkeit an mehreren Stellen vom Menschen als zoon politikon ab. 1119 In ‚Politik‘ I,2 beschreibt Aristoteles, warum der Mensch „mehr noch als jede Biene und jedes schwarm- oder herdenweise lebendes Tier“ 1120 in diese Kategorie fällt, und es ist diese Begründung, auf die sich u. a. Marx mit seiner Unterscheidung bezieht. Wie Aristoteles trennt er die Bestimmung des menschlichen zoon politikon von der Bestimmung als 1117 Marx: Ökonomische Manuskripte 1857/ 58, MEGA II,1.1, S. 22. 1118 Aristoteles: Tierkunde, übersetzt von Paul Gohlke, Paderborn: Ferdinand Schöning 1949, 487b33-488a11, S. 49f. 1119 Siehe Marx: Ökonomische Manuskripte 1857/ 58, MEGA II,1.1, S. 22. 1120 Aristoteles: Politik I,2, 1253a8, Rolfes, S 4. <?page no="317"?> 317 Herdentier. 1121 Welche Begründung führt Aristoteles nun dafür an, dass der Mensch ein besonderes soziales Lebewesen ist? Aristoteles unterscheidet den Menschen durch die vernunftbegabte Sprache von den anderen Lebewesen. Damit kann er das für ihn Gute von dem für ihn Schlechten trennen, vor allem aber das Gerechte und das Ungerechte voneinander unterscheiden. „Denn das ist den Menschen vor den anderen Lebewesen eigen, daß sie Sinn haben für Gut und Böse, für Gerecht und Ungerecht und was dem ähnlich ist.“ 1122 Damit ist es den Menschen erstens eigen, dass sie sich über die Tugenden und Laster, also den Gegenstand der Ethik, verständigen können und damit um diese Unterscheidung wissen. Zugleich verweist aber bereits die Unterscheidung der spezifischen Tugend der Gerechtigkeit darauf, dass es hier nicht allein um die Unterscheidung der Ethik geht, sondern auch um die rechtliche Ordnung dieser Tugenden, denn die Gerechtigkeit bezieht sich auf den Inhalt der Gesetze. Dieser notwendige Bezug auf die rechtliche Struktur des Zusammenlebens schließt Aristoteles explizit aus der Unterscheidungsfähigkeit von gut und böse, gerecht und ungerecht „Die Gemeinschaftlichkeit dieser Ideen aber begründet die Familie und den Staat.“ 1123 Aristoteles meint somit, dass die Fähigkeit, zwischen dem Gerechten und dem Ungerechten zu unterscheiden, den Staat begründet. Interessanterweise bezieht sich die Tugend der allgemeinen Gerechtigkeit in der NE auf die Achtung bereits existierender Gesetze. Innerhalb der aristotelischen Theorie stehen beide Aussagen aber nicht im Widerspruch, vielmehr lässt sich aus der Abwesenheit eines eindeutigen Begründungsverhältnis ersehen, dass es sich hier nicht um zwei verschieden Gegenstände handelt, sondern so wie Herz und Lunge nicht ohne einander zu denken wären, so sind das individuelle Wissen um gerecht und ungerecht und die guten Gesetze nicht voneinander zu trennen und lassen sich daher nicht in einem eindeutigen historischen Begründungsverhältnis darstellen. Es ist nicht so, dass zuerst das Gerechtigkeitsempfinden der Menschen bestanden hätte, um sich dann einen Staat zu geben. Vielmehr betont Aristoteles auch in der ‚Politik‘: „Die Gerechtigkeit aber, der Inbegriff aller Moralität, ist ein staatliches Ding.“ 1124 Zugleich ist aber der Staat selbst kein Selbstzweck, sondern Mittel für das gute Leben seiner Bürger. 1125 In Bezug auf die Gemeinschaft ist das gute Leben der Individuen wiederum positiv auf sie bezogen, wie im ersten Teil dieser Untersuchung herausgearbeitet wurde. Dieser Bezug manifestiert sich vor allem durch die Gerechtigkeit, die die polis und ihre Gesetze als 1121 Siehe Marx: Ökonomische Manuskripte 1857/ 58, MEGA II,1.1, S. 399. Auf diese Beziehung hat Depew aufmerksam gemacht, siehe Depew: The Polis Transfigured, S. 67f. 1122 Aristoteles: Politik I,2, 1253a15-17, Rolfes, S. 5. 1123 Aristoteles: Politik I,2, 1253a17f., Rolfes, S.5. 1124 Aristoteles: Politik I,2, 1253a37-39, Rolfes, S. 5f. 1125 Siehe Aristoteles: Politik I,2, 1252b30, Rolfes, S. 4 und III,6, 1278b15-24, Rolfes, S. 89. <?page no="318"?> 318 Bedingung des guten Lebens aller Vollbürger achtet und daher die vollkommene Tugend sei. Dieser Begriff der polis und des ‚guten Lebens‘ sind somit nicht voneinander zu trennen. Es ist somit m. E. nicht richtig zu behaupten, wie beispielsweise Kullmann 1126 argumentiert, dass es nicht der Begriff des zoon politikon sei, der die spezifische Differenz des Menschen charakterisiere, sondern dessen Vernunftfähigkeit, was ihm die Freiheit gebe, nach dem vollkommenen Glück zu suchen. Diese Gegeneinanderstellung reißt zwei Seiten auseinander, die untrennbar zusammen gehören. Denn die spezifische Art, wie der Mensch zoon politikon ist, verweist notwendig auf den Menschen als rationales Lebewesen, dessen Bestimmung die eudaimonia ist, so wie andersherum die NE mit Notwendigkeit auf die ‚Politik‘ verweist. Jeder Versuch, die Gegenseitigkeit von gesellschaftlicher Objektivität und subjektiver Individualität nach einer Seite hin aufzulösen, ist eine zu einseitige Auffassung der aristotelischen Ethik und ‚Politik‘. Das zoon politikon ist somit die gesellschaftliche Seite des tugendhaften Menschen. Dass beide Seiten mit Notwendigkeit aufeinander bezogen sind, heißt nicht, dass das gute Leben in der Gerechtigkeit aufgehen würde. Zum einen gehören zum guten Leben auch die dianoethischen Tugenden wie Klugheit und Wissenschaft. Zum anderen besteht, wie im ersten Teil dargestellt, die vollkommene eudaimonia darin, das ganze Leben in den Blick zu nehmen und sein Leben auf die Tätigkeit der theoria hin auszurichten. Trifft Marx‘ Charakterisierung der Antike und ihres Denkens Aristoteles? Von Marx‘ Bezug auf das Konzept des zoon politikon als eines Wesens, das sich nur in Gesellschaft vereinzeln kann, lässt sich schließen, dass Marx Aristoteles‘ praktische Philosophie als Ausdruck der von ihm bestimmten antiken Einheit der unterschiedenen Individuen ansieht. Wenn diese Zuschreibung stimmt, ist Aristoteles der Theoretiker einer auf Grundeigentum basierenden Gesellschaft, die Individualität nur auf dieser Grundlage kennt und anerkennt und sie damit unmittelbar an die Gemeinschaft der Grundeigentümer als ihrer Reproduktionsbedingung bindet. Nach Marx würde Aristoteles einerseits die Vereinzelung kennen, sie aber sofort rückbinden an die Gemeinschaft, indem ihr Inhalt unmittelbar positiv auf das Gemeinwesen bezogen wäre. Wenn Marx das antike Verhältnis von Individuum und Gesellschaft als Kontrast für das moderne Verhältnis benutzt, so kann Marx sich auf tatsächliche Sachverhalte bei Aristoteles stützen. Dass das Verhältnis der ‚Einzelnen als Alle‘ damals in beschränkter Weise verwirklicht gewesen sei, und nicht, wie im modernen Kapitalismus, in seine Extreme zersprungen sei, lässt sich in Aristoteles‘ Konzept des ‚guten Lebens‘ tatsächlich auffinden. 1126 Kullmann, Wolfgang: Theoretische und politische Lebensform, In: Höffe, Otfried (Hg.): Aristoteles: Nikomachische Ethik, Berlin: Akademie-Verlag 2006, S. 266f. <?page no="319"?> 319 Zum einen findet sich der positive Aspekt, den Marx der griechischantiken Individualität zuschreibt, tatsächlich bei Aristoteles wieder. Nach Aristoteles ist das tugendhafte Individuum, das das beste Gut und das eigene ‚gute Leben‘ verfolgt, zugleich positiv auf die polis und darüber auf die Mitbürger bezogen. In der Tugend der Gerechtigkeit richtet der sittliche Mensch seinen Willen darauf, die guten Gesetze der polis zu achten, also der Institution, die für das gute Leben der Vollbürger da ist, und darüber Tätigkeiten für das ‚gute Leben‘ der anderen zu vollbringen. In Teil I. wurde dargestellt, dass Aristoteles keinen Konflikt zwischen dem Handeln für das eigene oder das fremde ‚gute Leben‘ kennt, weil die Gerechtigkeit als dessen Bestandteil notwendigerweise das ‚gute Leben‘ des anderen bezweckt. Marx meint, dass die ausschließliche Alternative zwischen der Verfolgung des eigenen Nutzens zu Lasten des anderen oder der Beschränkung des eigenen Interesses zum Nutzen des anderen in der besseren Gesellschaft aufgelöst werden sollte. 1127 Marx trifft in abstrakter Hinsicht bei Aristoteles den Punkt, dass die Individualität des Einzelnen einerseits den Inhalt hat, unmittelbar auf das Gemeinwesen ausgerichtet zu sein, zugleich aber auch der Individualität des Einzelnen recht zu geben, und zwar in beiderlei Hinsicht, in der Marx die Entwicklung der Individualität fasst, in der spezifischen Tätigkeit des Menschen wie in der Erhaltung seiner Individualität mittels der Befriedigung seiner grundlegenden Bedürfnisse. Nach Aristoteles soll der Einzelne dazu befähigt werden, die spezifisch menschliche Tätigkeit des Menschen bestmöglich auszuführen. Bei Marx besteht diese Tätigkeit in der Produktion, bei Aristoteles in der Ausübung der Tugend. Zwar sind die spezifischen Tätigkeiten unterschiedlich, aber Marx‘ Urteil, in der Antike sei die Ausbildung des Individuums in beschränkter Weise erfolgt, stimmt in dieser abstrakten Hinsicht. Diese spezifische Tätigkeit soll der Einzelne als feste Grundhaltung ausbilden und darüber ein ‚gutes Leben‘ führen. Dieses ‚gute Leben‘ besteht bei Aristoteles nicht nur in der Verwirklichung der spezifischen menschlichen Funktion, sondern beinhaltet auch eine in Maßen durchgeführte Bedürfnisbefriedigung, wie in Kapitel fünf gezeigt wurde. So, wie Marx einen höheren, von den spezifischen Interessen des Individuums unterschiedenen Wertmaßstab sein eigen nennt, in dem gleichwohl die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse als Abschluss der Vergegenständlichungsbewegung eingeschlossen ist, so spielt auch bei Aristoteles die Bedürfnisbefriedigung des Individuums eine wenn auch beschränkte positive Rolle. Im Gegensatz zum kapitalistischen Verhältnis von Individualität und Gesellschaft, die erstere als vollkommen vereinzelten Ausgangspunkt nimmt, nur um sie einer sich von ihnen abgetrennten und die Individuen beherrschenden Allgemeinheit unterzuordnen, kommt die Individualität somit auch hinsichtlich der Bedürfnis- 1127 Siehe Marx; Engels: Die Deutsche Ideologie, MEW 3, S. 299. <?page no="320"?> 320 befriedigung im aristotelischen Verhältnis von gutem Leben des Einzelnen und der mit ihr verbundenen guten Gemeinschaft zu ihrem Recht. Allerdings geschieht diese Verwirklichung der Individualität nach Marx in der Antike ganz als „geschloßne Gestalt, Form, und gegebne Begrenzung“ 1128 , weil es nicht die Arbeit selbst ist, in der sich die Individualität verwirklicht, sondern der davon getrennte Gebrauch der produzierten Güter. Die Rolle der materiellen Güter für ein gutes Leben in Aristoteles‘ Theorie passt auch insofern in diese Marxsche Interpretation, weil Aristoteles die Produktion als für das gute Leben hinderlich betrachtet. Wichtig ist für ihn allein die Verwendung der Güter für das gute Leben, nicht deren Herstellung. Des Weiteren ist die in Marx‘ Urteil über die in der griechischen Antike beschränkte Verwirklichung des Verhältnisses der ‚Einzelnen als Alle‘ auch enthaltene Beschränkung der ‚Alle‘, für die der Einzelne da sein sollte, bei Aristoteles aufzufinden. Denn Aristoteles meint, dass ein gutes Leben nicht von allen lebbar ist, weil einige sich um die Notwendigkeiten dieses guten Lebens kümmern müssten. Nicht nur Sklaven, auch Tagelöhner und Handwerker könnten insofern kein gutes Leben führen. 1129 Es soll hier allerdings nicht der Eindruck erweckt werden, als hätte Marx mit dieser Charakterisierung einen umfassenden Begriff von Aristoteles‘ praktischer Philosophie gegeben. Denn weder kann man sagen, dass das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft bei Aristoteles in der Marxschen abstrakten Bestimmung dieses Verhältnisses der ganzen griechischen Antike aufgeht, noch dass dies der wesentliche Inhalt der Ethik ist - schließlich hat Aristoteles eine auf dem Glücksstreben basierte Tugendethik entwickelt, die in der theoria, also gerade nicht in einer sozialen Aktivität, ihre höchste Bestimmung hat. Dennoch lässt sich feststellen, dass die aristotelische Ethik unter die zwei abstrakten Bestimmungen von Marx subsumiert werden kann, der Individualität eine begrenzte Geltung zuzusprechen und die Individualität zugleich stark auf das Gemeinwesen hin auszurichten. 14.5. Marx‘ Versuch einer Versöhnung der Hegelschen antiken und modernen Sittlichkeit Marx entwickelt sein Urteil über das altgriechische Verhältnis von Individuum und Gesellschaft wahrscheinlich über Hegelsche Bestimmungen. Außer der allgemein gründlichen Kenntnis der Hegelschen Philosophie, gibt es zwei Hinweise, dass Marx Hegels Einordnung der der altgriechischen Epoche im Allgemeinen und der aristotelischen Philosophie 1128 Marx: Ökonomische Manuskripte 1857/ 58, MEGA II,1.2, S. 392. 1129 Siehe Aristoteles: NE VII,9, 1328b28-1329a3, Rolfes, S. 255 und Aristoteles: NE VII,9, 1330a25-29, Rolfes, S. 259. <?page no="321"?> 321 im Besonderen gekannt hat. Erstens geht aus Marx‘ frühem Exzerptheft zu Aristoteles Schrift über die Seele (‚de anima‘) hervor, dass Marx sehr stark an Hegel angelehnte Formulierungen für seine eigenhändige Übersetzung verwendet hat. 1130 Marx muss somit die Hegelsche Interpretation der aristotelischen Philosophie sehr genau gekannt haben. Zugleich nennt Marx in den so genannten ‚Grundrissen‘ die altgriechische Kultur die „geschichtliche Kindheit der Menschheit“ 1131 . Dieses Urteil hat Marx von Hegel übernommen, der in seinen ‚Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte‘ letztere in menschliche Entwicklungsstufen einteilt. 1132 Der Vergleich der hellenischen und der modernen Literatur bei Marx 1133 enthält wesentliche Bestimmungen aus Hegels ‚Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte‘ 1134 . Marx‘ Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in der Antike ist dieser Geschichtsbetrachtung Hegels entnommen. Er kritisiert - in Hegelscher Terminologie gesprochen - die moderne Sittlichkeit vom Standpunkt der antiken aus. In seinen ‚Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte‘ beschreibt Hegel die Antike in ähnlicher Weise, wie es zuvor bei Marx herausgearbeitet wurde. Hegel beschreibt die antike Sittlichkeit als Jünglingsalter, weil sich hier die Individualität ausbildet. „Hier ist es zuerst, wo der Geist herangereift sich selbst zum Inhalt seines Wollens und seines Wissens erhält, aber auf die Weise, daß Staat, Familie, Recht, Religion zugleich Zwecke der Individualität sind und diese nur durch jene Zwecke Individualität ist.“ 1135 In Griechenland tritt zum ersten mal das Individuum in die Welt, der Einzelne, der sich als Einzelner weiß, weil er auf seinen eigenen Willen und sein eigenes Bewusstsein reflektiert. Das Individuum hat aber zugleich gar keinen von der gesellschaftlichen Substanz verschiedenen Inhalt. Es weiß sich unmittelbar nur in und durch die Gesellschaft als Individuum und hat diese daher auch unreflektiert zu seinem Zweck. Hegel ordnet diese Form der Sittlichkeit, diese Art der unterschiedenen Einheit von Individuum und Gesellschaft, in die Charakterisierung 1130 Siehe Marx, Karl: Exzerpte aus Aristoteles: De anima, In: Marx-Engels- Gesamtausgabe, Abteilung IV, Bd. 1, Berlin: Dietz 1976, S. 155-182 und die erläuternden Anmerkungen in Institute für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU und ZK der SED (Hg.): Apparat zu den Exzerpten aus Aristoteles: De anima, Marx-Engels-Gesamtausgabe, Abteilung IV, Bd. 1, Apparat, Berlin: Dietz 1976, S. 733f. 1131 Marx: Ökonomische Manuskripte 1857/ 58, MEGA II,1.1, S. 45. 1132 Allerdings ist für Hegel die orientalische Epoche das Kindesalter der Geschichte und die griechische Welt vergleicht er mit dem Jünglingsalter der Menschheit, Marx fasst aber die griechische Welt als Kindesalter. Siehe Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970, S. 135 und 137. 1133 Siehe Marx: Ökonomische Manuskripte 1857/ 58, MEGA II,1.1, S. 45. 1134 Siehe Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 287-291. 1135 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 275. <?page no="322"?> 322 der griechischen Welt als Jünglingsalter der Menschheit ein. „Es ist die unbefangene Sittlichkeit, noch nicht Moralität, sondern der individuelle Wille des Subjekts steht in der unmittelbaren Sitte und Gewohnheit des Rechten und der Gesetze. Das Individuum ist daher in unbefangener Einheit mit dem allgemeinen Zweck.“ 1136 Das altgriechische Individuum kennt noch kein subjektives Recht, das mit der gesellschaftlichen Objektivität auseinandertreten könnte. Daher muss es sich auch nicht mühsam zu der Einheit mit dem allgemeinen Zweck hinarbeiten; es weiß um diese Einheit und kennt keine Alternative dazu, seine Individualität auf die bereits vorhandene Allgemeinheit richten. 1137 Das Verhältnis zum politischen Gemeinwesen kann man nach Hegel daher auch noch gar nicht als das Individuum bindende Pflicht beschreiben, weil das Individuum die gesellschaftliche Allgemeinheit nicht in freier Selbstreflexion als gut anerkennen kann. Der individuelle Wille sei „nach seiner Besonderheit die Betätigung des Substantiellen“ 1138 , während „die Innerlichkeit der Überzeugung und Absicht noch nicht vorhanden ist“ 1139 . Die Abwesenheit der Subjektivität macht sich nach Hegel in dieser unbefangenen Sittlichkeit so geltend, dass sie sich einerseits mit Notwendigkeit entwickelt, weil das Individuum mit fortschreitendem Bewusstsein auch Rechenschaft darüber haben will „daß, was mir als Recht und Sittlichkeit gelten soll, sich in mir, aus dem Zeugnisse meines Geistes bestätige“ 1140 , andererseits dies jedoch die unmittelbare Einheit der Sittlichkeit zerstört. Die griechische Freiheit, in der das Individuum auftritt, gebiert mit Notwendigkeit auch die Subjektivität dieses Individuums. Die geschichtlichen Gestalten dieser Verderbnis durch „die für sich frei werdende Innerlichkeit“ 1141 sind die Sophisten, mit ihnen „hat das Reflektieren über das Vorhandene und das Räsonieren seinen Anfang genommen“. 1142 Indem sie - und noch radikaler Sokrates - das Gute und Sittliche auf vernünftige Weise begründen wollen, zerstören sie das unmittelbare, unreflektierte 1136 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 137. 1137 Das heißt selbstverständlich nicht, dass das Individuum in der altgriechische Antike nach Hegel bloß einen Willen auf die Allgemeinheit ausrichtet. Im Gegenteil: Die Individualität tritt hier erstmal auf und entwickelt sich. So konnte sich auf der Basis der Gleichheit und Freiheit in der attischen Demokratie „alle Ungleichheit des Charakters und des Talents, alle Verschiedenheit der Individualität aufs freieste geltend machen“ (Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 318). Der Bezug auf die gesellschaftliche Allgemeinheit sei jedoch für das antike Individuum unmittelbar. 1138 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 306f. 1139 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 308. 1140 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 323. 1141 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 326. 1142 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 327. <?page no="323"?> 323 Verhältnis. 1143 „Das Prinzip der Moralität, das eintreten mußte, wurde der Anfang des Verderbens“. 1144 Nach dem bisher Erarbeiteten muss für Hegel Aristoteles ein Denker sein, der im Verderben dieser Sittlichkeit die Reflexion bereits zu höchster Blüte entwickelt hat, so dass Hegel ihn als „eins der reichsten und umfassendsten (tiefsten) wissenschaftlichen Genies“ 1145 bezeichnen konnte, das mit seinem entwickelten wissenschaftlichen Bewusstsein seine im Verschwinden begriffene Sittlichkeit zu analysieren wusste. Hegel bestimmt die praktische Philosophie des Aristoteles als reflektierter Ausdruck der attischen Sittlichkeit. Das ist für ihn bereits dadurch gegeben, dass die ‚Nikomachische Ethik‘ auf die ‚Politik‘ bezogen ist. „Von dem Ethischen erkennt Aristoteles, daß es zwar dem Einzelnen auch zukommt, aber seine Vollendung im Volke hat, - in der Politik.“ 1146 Und in Bezug auf die ‚Politik‘ betont Hegel die aristotelische Aussage, dass der Staat früher ist als der Einzelne, 1147 und interpretiert dies als eine logische Aussage: Der Staat ist die höhere Wahrheit des Individuums. „Aristoteles macht nicht den Einzelnen und dessen Recht zum Ersten, sondern erkennt den Staat für das, was seinem Wesen nach höher ist als der Einzelne und die Familie und deren Substantialität ausmacht.“ 1148 Hegel betont dabei explizit den Unterschied von antiker und moderner Sittlichkeit. Zu der Argumentation in der ‚Politik‘, in der Aristoteles so für die Priorität des Staates vor dem Bürger argumentiert, dass das Ganze immer früher sein muss als ein Teil 1149 , schreibt Hegel: „Dies ist gerade entgegengesetzt dem modernen Prinzip, was vom Einzelnen ausgeht; so daß jeder seine Stimme gibt und dadurch erst ein Gemeinwesen zustande kommt. Bei Aristoteles ist der Staat das Substantielle, die Hauptsache; und das Vortrefflichste ist die politische dynamis, verwirklicht durch die subjektive Tätigkeit, so daß diese darin ihre Bestimmung hat, ihr Wesen. Das Politische ist so das Höchste; denn sein Zweck ist der höchste in Rücksicht auf das Praktische. […] Der besondere Wille des Einzelnen (die Willkür) wird jetzt zum Ersten, Absoluten gemacht; das Gesetz soll so sein, was alle festsetzen.“ 1150 Hegel sieht es als wesentlichen Unterschied an, dass der moderne Staat vom Subjekt ausgeht und im Staat seine sittliche Objektivität findet, während das antike Verhältnis von Individuum und gesellschaftlicher 1143 Siehe Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 327-330. 1144 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 323. 1145 Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, S. 132. 1146 Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, S. 225. 1147 Siehe Aristoteles: Politik I,2, 1253a19f., Rolfes, S. 5f. 1148 Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, S. 226. 1149 Siehe Aristoteles: Politik I,2, 1253a2127, Rolfes, S. 5f. 1150 Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, S. 226. <?page no="324"?> 324 Allgemeinheit beim Staat anfing und die Individualität unmittelbar auf sie bezogen war. Zwar hat Hegel in seinem philosophischen System den in seinem Frühwerk unternommenen Versuch, den modernen Staat aristotelisch zu interpretieren, aufgrund der eben dargestellten Differenz nicht weiter verfolgt. 1151 Dennoch teilt die Hegelsche Rechtsphilosophie mit Aristoteles wesentliche Aussagen, so dass man mit Recht von einer Neuformulierung der praktischen Philosophie des Aristoteles im modernen Recht sprechen kann. 1152 Hegels Rechtsphilosophie ist der objektive Geist als Wille, der sich eine Welt setzt. Das Recht ist nach Hegel in seiner Wahrheit, die in der modernen Zeit verwirklicht ist, die Entfaltung der Subjektivität in eine Objektivität. Sie geht somit nicht, wie in der Antike, vom Gemeinwesen aus, sondern, wie Hegel im Unterschied zu Aristoteles festgestellt hat, nimmt den Einzelnen und seine Subjektivität als Ausgangspunkt. Dennoch hat Siep überzeugend Parallelen zwischen der aristotelischen praktischen Philosophie und der Hegelschen Rechtsphilosophie aufgezeigt. 1153 Hegels Rechtsphilosophie nimmt ihren Ausgangspunkt in der Freiheit des Willens, leitet aus ihm die Sphäre des abstrakten Rechts als dem unmittelbar äußeren Dasein der Freiheit ab und entwickelt die Notwendigkeit der Moralität als dem Recht des subjektiven Willens. 1154 Indem Hegel aber die rein innerliche Sphäre der Freiheit, die Moralität, als sich entfaltenden Widerspruch bestimmt, der sich auf jeder Stufe zuspitzt, so dass sich das innerliche Gute in sein Gegenteil verkehrt, sieht er die Notwendigkeit einer Objektivität, auf die sich das moralische Subjekt beziehen kann. So wie Hegel es nach Aristoteles als notwendig angesehen hatte, dass die Ethik in die Wissenschaft von der Politik übergeht, so ist auch nach Hegel die Moralität erst in einer gesellschaftlichen Objektivität wirklich. Bei Aristoteles ist das, was wir heute moralisch nennen würden, nämlich 1151 Es ist an dieser Stelle nicht möglich, die komplexe Rezeptionsgeschichte der aristotelischen praktischen Philosophie bei Hegel nachzuverfolgen. Für einen Überblick siehe Siep, Ludwig: Hegels Rezeption der Aristotelischen Politik, In: Siep, Ludwig (Hg.): Aktualität und Grenzen der praktischen Philosophie Hegels - Aufsätze 1997-2009, Paderborn: Fink 2010, S. 59-76. 1152 Es muss an dieser Stelle nicht diskutiert werden, ob Hegel dies genau so formuliert haben mag, die Gemeinsamkeiten lassen sich jedenfalls feststellen und sprechen für sich. Siep drückt es vorsichtig so aus: „Hegels politische Philosophie, in seinen Begriffen die Philosophie des ‚objektiven Geistes‘, ist eine spezifisch neuzeitliche Form des politischen Aristotelismus.“ (Siep: Hegels Rezeption der Aristotelischen Politik, S. 61) Und Depew meint, Hegel „has gradually reconceived the task of the new Aristotle as synthesizing the Christian world of individual freedom with the corporate world of ancient Greece by way of a more complex organicism“ (Depew: The Polis Transfigured, S. 59). 1153 Die folgende Überlegung stützt sich auf die Argumentation in Siep: Hegels Rezeption der Aristotelischen Politik, S. 68-72. 1154 Siehe Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §107, S. 205-206. <?page no="325"?> 325 das Bestreben, den Nutzen des anderen zu verfolgen, die Tugend der Gerechtigkeit. 1155 Sie ist aber keine Tugend, die man außerhalb eines Gemeinwesens leisten könnte, denn sie ist unmittelbar die praktische Achtung der guten Gesetze. In ihr bezieht sich der tugendhafte Mensch positiv auf die Mitbürger, weil er die Gesetze jenes Gemeinwesens achtet, die wiederum tugendhafte Taten gebieten und damit das ‚gute Leben‘ der Bürger bedingen. Nach Hegel kommt die Moralität als die innere Sphäre der Freiheit nicht zum Handeln, wenn sie nicht eine Objektivität vorfindet, die nach ihren Prinzipien gestaltet ist. Es ist daher nicht verwunderlich, dass der aristotelische Begriff von Gerechtigkeit in Hegels Begriff der Rechtschaffenheit seine Entsprechung findet. Sie ist bei Hegel „die einfache Angemessenheit des Individuums an die Pflichten der Verhältnisse, denen es angehört“ 1156 . Und die aristotelische Bestimmung der ethischen Tugenden als feste Grundhaltung sieht Hegel ebenfalls als Einstellung des Individuums zur Sittlichkeit, indem es die Pflichten in der gelebten Sitte zur festen Gewohnheit macht. 1157 Marx kritisiert den Hegelschen Versuch, die Einheit der Unterschiedenen in einer der bürgerlichen Gesellschaft übergeordneten, höheren Sphäre zu verwirklichen. Wie bei Aristoteles soll die Einheit unmittelbar stattfinden. Aber wie bei Hegel soll die Freiheit der Person gewahrt werden. Oben wurde erarbeitet, dass Marx das Hegelsche Ideal einer Einheit der unterschiedenen Individuen teilt, die sowohl gesellschaftliche Einheit wie Individualität zu ihrem Recht verhelfen soll. Die gesellschaftliche Ordnung soll für die Individualität ihrer Glieder da sein, und die Individuen sollen die gesellschaftliche Allgemeinheit zu ihrem Zweck haben. Es wurde gezeigt, dass Marx den Hegelschen Ansatz verwirft, von einer Trennung der Individuen auszugehen. Vom Marxschen Standpunkt aus gesehen geht die Hegelsche Rechtsphilosophie von einer Trennung der Individuen aus, die sich erst in einer höheren Einheit zusammen finden sollen. Die höhere Synthese der unabhängigen, freien Individuen im Staat gelinge Hegel nicht, weil die Individuen im Ausgangspunkt unversöhnlich getrennt würden. Nach seiner ersten Konfrontation mit der Hegelschen Rechtsphilosophie entwickelt Marx eine kritische Sichtweise auf deren fundamentale Kategorien. Das Eigentum, für Hegel das unmittelbare Dasein der Freiheit, ist für Marx seit 1843 eine die Individuen für immer trennende Institution. Vor allem aber ist die Hegelsche bürgerliche Gesellschaft für ihn die die Moderne bestimmende Sphäre. Ihre Bestimmungen sind ausschlaggebend für das funktional auf sie bezogene Staatswesen. Marx nimmt dabei die Hegelsche Bestimmung der bürgerlichen Gesellschaft als Extreme von Allgemeinheit und Einzelheit auf. Nach Hegel ist die bürgerliche Gesell- 1155 Siehe Wolf: Aristoteles‘ Nikomachische Ethik, S. 17. 1156 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §150, S. 298. 1157 Siehe Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §151, S. 301-303. <?page no="326"?> 326 schaft dadurch gekennzeichnet, dass „der selbstsüchtige Zweck“ 1158 der Individuen durch „ein System allseitiger Abhängigkeit“ 1159 auf eine Allgemeinheit bezogen sei. Dadurch kommen nach Hegel beide Seiten zu dem ihnen eigenen Recht, die individuelle Besonderheit kann sich nach allen Seiten hin befriedigen, die gesellschaftliche Allgemeinheit ist für die Besonderheit das bestimmende. Beide Seiten kommen zu ihrem Recht, aber voneinander getrennt und ganz gegensätzlich. „Es ist das System der in ihre Extreme verlorenen Sittlichkeit“ 1160 . Marx meint, dass die Hegelsche Bestimmung der bürgerlichen Gesellschaft als „Not- und Verstandesstaat“ 1161 die moderne Wirklichkeit im Ansatz richtig beschreibt, liest daraus aber ab, „daß die ganze Gesellschaft nur da ist, um jedem ihrer Glieder die Erhaltung seiner Person, seiner Rechte und seines Eigenthums zu garantiren“ 1162 . Bereits 1844 entwickelt Marx die Überzeugung, dass die gesellschaftliche Allgemeinheit deswegen in ihrer entfremdeten Gestalt erscheint, weil der Mensch sein eigenes produktiven Wesens in entfremdeter Arbeit falsch vergegenständlicht. 1163 In seiner Kritik der politischen Ökonomie setzt Marx diese Überzeugung fort. Im Geld als dem ‚realen Gemeinwesen‘ sieht Marx das gemeinschaftliche Produkt aller, das aber sowohl das Gemeinwesen als bloße Abstraktion aller individuellen Einzelinteressen interpretiert, als auch die Individuen als isolierte Einzelne bestimmt. 1164 Marx setzt der Vergesellschaftung durch Arbeit „als blos einzelner, oder als blos innerlich, oder blos äusserlich allgemeiner“ 1165 die dem menschlichen Wesen entsprechende Tätigkeit „ als unmittelbar allgemeiner oder gesellschaftlicher“ 1166 entgegen. Sein früh in der Auseinandersetzung mit Hegel gewonnenes Ideal der „Einzelnen als Alle“ 1167 tritt in der Kritik der politischen Ökonomie wieder auf in der Form der durch Arbeit vergesellschafteten Individuen, die sich „als gesellschaftliche Einzelne“ 1168 reproduzieren. Marx nimmt somit Hegels Problemstellung auf, wie die unterschiedenen und freien Willen eine substantielle Einheit bilden können, und verwirft die Basis der modernen gesellschaftlichen Allgemeinheit von Hegel wie vom Kapitalismus, weil hier die Individualität aufgrund ihrer fragmentierten Vergesellschaftung eine ihnen gegensätzliche Allgemeinheit 1158 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §183, S. 340. 1159 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §183, S. 340. 1160 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §183, S. 340. 1161 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §183, S. 340. 1162 Marx: Zur Judenfrage, MEGA I,2, S. 158 1163 Marx: James Mill, MEGA IV,2, S. 452. 1164 Siehe Marx: Ökonomische Manuskripte 1857/ 58, MEGA II,1.1, S. 150. 1165 Marx: Ökonomische Manuskripte 1857/ 58, MEGA II,1.2, S. 698. 1166 Marx: Ökonomische Manuskripte 1857/ 58, MEGA II,1.2, S. 698. 1167 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,2, S. 126. 1168 Marx: Ökonomische Manuskripte 1857/ 58, MEGA II,1.2, S. 698. <?page no="327"?> 327 hervorbringt. Der negative Ausgangspunkt von Marx‘ Wertmaßstab kann somit unter Hegels Bestimmung der Ökonomie als dem „System der in ihre Extreme verlorenen Sittlichkeit“ 1169 gelesen werden: Das Individuum ist auf eine Art und Weise freigesetzt, dass eine positive Gesellschaftlichkeit gar nicht zustandekommt. Allein die „wechselseitige und allseitige Abhängigkeit der gegen einander gleichgültigen Individuen bildet ihren gesellschaftlichen Zusammenhang“ 1170 . Zugleich existiert die gesellschaftliche Allgemeinheit als eine von den Individuen getrennte und ihnen als fremdes Gesetz gegenübertretende anonyme Struktur, als eine selbständige Bewegung von Sachen. Gegen diesen Verlust der Gesellschaft unterschiedener Individuen durch die Vermittlung kapitalistischer Strukturen setzt Marx eine unmittelbare Vergesellschaftung der Individuen, die bereits als Einzelne gesellschaftlich sein sollen. Das soll über die nicht entfremdete Vergegenständlichung in Arbeitsteilung geschehen. Als Vorbild einer gemeinschaftlichen Allgemeinheit dienen ihm dabei vorbürgerliche Zustände, vor allem der griechischen Antike, wie sie beispielhaft im aristotelischen Konzept des zoon politikon zu finden sind. Er sieht in der Antike einseitig das Ideal der unmittelbaren Vergesellschaftung verwirklicht - allerdings in einer beschränkten Weise. Dieses Urteil über das antike Griechenland übernimmt Marx von Hegel. Wie Hegel meint Marx, dass die Individualität im antiken Griechenland erstens vorhanden und zweitens unmittelbar auf die gesellschaftliche Allgemeinheit, das in der vollführten Sitte lebendige Gemeinwesen, bezogen gewesen sei. Dadurch dass er die entwickelte Hegelsche Sittlichkeit mit der unmittelbaren Einheit der unterschiedenen Individuen in der antiken Gesellschaft kontrastiert, führt er die Hegelsche Sittlichkeit der ‚Grundlinien‘ auf ihren aristotelischen Kern zurück. In einer Stelle, die Marx wahrscheinlich bekannt gewesen ist 1171 , vergleicht Hegel selbst die antike Sittlichkeit nach Aristoteles mit der modernen und thematisiert den wesentlichen Unterschied beider. Die alten Griechen waren „unbekannt mit dem abstrakten Recht unserer modernen Staaten, das den Einzelnen isoliert, ihn als solchen gewähren läßt (so daß er wesentlich als Person gilt) und doch als ein unsichtbarer Geist alle zusammenhält, - so daß aber in keinem eigentlich weder das Bewußtsein noch die Tätigkeit für das Ganze ist; er wirkt zum Ganzen, weiß nicht wie, es ist ihm nur um Schutz seiner Einzelheit zu tun. Es ist geteilte Tätigkeit, von der jeder nur ein Stück hat; wie in einer Fabrik keiner ein Ganzes macht, nur einen Teil, und die anderen Geschicklichkeiten nicht besitzt, nur einige die Zusammensetzung machen.“ 1172 1169 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §183, S. 340. 1170 Marx: Ökonomische Manuskripte 1857/ 58, MEGA II,1.1, S. 90. 1171 Siehe Fußnote 1130. 1172 Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, S. 227f. <?page no="328"?> 328 Von Marx‘ Einsichten her gelesen gewinnt dieser Satz von Hegel eine andere Bedeutung. Denn Marx identifiziert den inneren Zusammenhalt der isolierten Individuen als falsche Vergesellschaftung und die Fabrik als den Ort, an dem dem Einzelnen seine Individualität abhanden komme und eine von ihnen getrennte Allgemeinheit, ein dinglicher gesellschaftlicher Zusammenhang geschaffen werde, der ihnen feindlich gegenüber trete. Von dieser Kritik aus gesehen muss die substantielle Einheit der alten Griechen als höhere Form der ins Gegenteil verkehrten bürgerlichen Gesellschaft erscheinen. Auch wenn Marx sich nicht zu einer Idealisierung der antiken Sittlichkeit hinreißen lässt, seine Kritik sowohl der Hegelschen Rechtsphilosophie als auch der modernen Zustände basiert auf einer Vorstellung unmittelbarer Einheit der unterschiedenen Individuen, die in der von Hegel übernommenen und in seine materialistische Geschichtsauffassung integrierten Bestimmung des antiken Griechenland ein Vorbild hat. Für Hegel war die antike Sittlichkeit eine unmittelbare Einheit der unterschiedenen Individuen, zu der es keine Rückkehr mehr gibt, die aber auch nicht absolut erstrebenswert ist, da sie nicht auf der Basis der Individualität und der subjektiven Freiheit basierte. In der Marx bekannten Stelle zu Aristoteles kritisiert Hegel das moderne Demokratieideal und meint, es könne so nur in der griechischen Welt Bestand haben. In der Demokratie stimmten die Bürger über die öffentlichen Angelegenheiten ab, weil sie ihre Angelegenheiten seien. „Alles dies ist ganz richtig, aber der wesentliche Umstand und Unterschied liegt darin, wer diese Einzelnen sind. Absolute Berechtigung haben sie nur, insofern ihr Wille noch der objektive Wille ist, nicht dieses oder jenes will, nicht bloß guter Wille ist. Denn der gute Wille ist etwas Partikuläres, ruht auf der Moralität der Individuen, auf ihrer Überzeugung und Innerlichkeit. […] Die Innerlichkeit lag dem griechischen Geiste nahe, er mußte bald dazu kommen; aber sie stürzte seine Welt ins Verderben“ 1173 . Marx würde Hegel darin zustimmen, dass die Demokratie ohne eine substantielle Einheit der Individuen kein Fortschritt wäre. Die Einheit der Individuen kann nicht durch eine Stimmabgabe zustande kommen, sondern muss dieser zugrunde liegen. Die Individuen müssten einen objektiven Willen, einen Willen zur Gemeinschaft, haben. Aber für Marx soll dieser objektive Wille, der Wille zur Gemeinschaft unmittelbar zustande kommen, ohne dass dadurch die Individualität zerstört wird. Weil die Individualität nach Marx durch die Vergesellschaftung per Arbeit zustande kommt, ist für ihn die Innerlichkeit kein Gegensatz zu dieser unmittelbaren Einheit. 1173 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 309. <?page no="329"?> 329 15. Marx und Aristoteles Die Untersuchung hat zeigen können, dass Marx für die Kritik am Kapitalismus und das positive Gegenbild einer besseren Gesellschaft intensiv auf die aristotelische praktische Philosophie zurückgegriffen hat. Dabei konnte belegt werden, dass Marx seinen Wertmaßstab nicht in erster Linie in Bezug auf Aristoteles entwickelt, sondern in Auseinandersetzung mit Hegel und Feuerbach. Indem Marx Feuerbachs Entfremdungskritik auf die Ökonomie anwendet, bedarf er einer positiven Vergegenständlichung, die im Kapitalismus in verkehrter Form verwirklicht werde. Die Idee einer positiven Vergegenständlichung entwickelt Marx auf Grundlage seines von Hegel übernommenen und trotz seiner Hegelkritik nicht aufgegeben Begriff des Subjekts, das sich selbst in einem ihm Anderen setzt und dadurch nur mit selbstgesetzten Objekten umgeht. Marx meint, dass diese Vergegenständlichung in der Arbeit vorläge - wenn sie nicht unter kapitalistischen Verhältnissen geleistet werden müsste, in denen das Produkt der Lohnarbeit dem Arbeiter als selbständige, ihm feindlich gesonnene Macht gegenübertrete. Marx bewertet die Gesellschaft danach, inwiefern der Mensch in ihr befähigt wird, seine schöpferischen Kräfte in Arbeit zu vergegenständlichen und damit die Trennung zwischen Mensch und Natur und zwischen Mensch und Mensch aufzuheben. Die Arbeit soll aber den Menschen nicht nur zum wahren Subjekt machen. Es konnte gezeigt werden, dass Marx in Anlehnung an Hegel den Anspruch an die Gesellschaft entwickelt, dass sie den Individuen ihre Entfaltungsmöglichkeiten als Individuen lässt, und an die Glieder der Gesellschaft, dass die Entfaltung ihrer Individualität nicht im Widerspruch steht zu ihrer Gesellschaftigkeit, sondern positiv auf eine gemeinsame kollektive Identität hin ausgerichtet ist. Im Kontrast zu Hegel sieht Marx dieses positive Verhältnis von Individuum und Gesellschaft aber nicht in einer komplexen gesellschaftlichen Struktur verwirklicht, die den Menschen ihre Individualität zugesteht, und sie dennoch in eine positive Gemeinschaft überführt. Marx meint nicht nur, dass der bürgerliche Staat von Hegel die Gemeinsamkeit nicht erbringt, er meint generell, dass jede Gemeinschaftlichkeit in den Individuen selbst als Individuen verwurzelt sein müsse. Es müsse in der Individualität selbst angelegt sein, dass sie ein positives Verhältnis zur Gemeinschaft haben. Diesen Anspruch drückt Marx so aus, dass bereits die ‚Einzelnen als Alle‘ oder als ‚gesellschaftliche Einzelne‘ auftreten sollen. Aristoteles‘ Konzept des ‚guten Lebens‘ lässt sich als Verwirklichung dieses Ideals lesen, da die Tugend der Gerechtigkeit wie jede andere Tugend auch als Endziel der Handlung bestimmt ist. Aristoteles bestimmt <?page no="330"?> 330 in seiner Ethik das Endziel jeder Handlung als die nicht ohne logos stattfindende tugendhafte Aktivität. Er geht damit vom Streben des Individuums aus und will dessen Ziel bestimmen. Aristoteles‘ Ethik fußt somit darauf, dass die Zwecke des Einzelnen aufgehen sollen, insofern sie vernünftig das rechte Ziel vor Augen haben. Aristoteles will mit seiner Ethik dem Handelnden wie einem Bogenschützen Kenntnisse über das wahre Ziel vermitteln, damit dieser besser ins Schwarze treffen kann. Im ersten Teil dieser Arbeit wurde gezeigt, dass Aristoteles die nicht vernunftlose tugendhafte Aktivität als dieses Endziel, als eudaimonia, definiert. Auf das ganze Leben bezogen sei die philosophische Schau (theoria) die Vollkommenheit dieses Endziels. Allerdings wurde herausgearbeitet, dass auch die Aktivitäten gemäß der anderen Tugenden als Endziel, und damit als ‚gutes Leben‘, gelten können. Damit ist auch die Gerechtigkeit das Endziel der menschlichen Handlung. In ihr ist das handelnde Individuum unmittelbar auf das Gut der gesellschaftlichen Allgemeinheit bezogen, indem es auf die Achtung der Gesetze, und damit die das ‚gute Leben‘ der Mitbürger bezweckte Allgemeinheit, abzielt. Gleichzeitig ist in der tugendhaften Aktivität die individuelle Bedürfnisbefriedigung im beschränkten Maße enthalten. Damit ist im aristotelischen ‚guten Leben‘ der positive Bezug auf die gesellschaftliche Allgemeinheit wie die Erfüllung des eigenen telos mit der Erfüllung der eigenen Bedürfnisbefriedigung zusammengedacht. Insofern kann der aristotelische Gerechtigkeitsbegriff als Verhältnis der ‚Einzelnen als Alle‘ beschrieben werden. Marx nimmt nicht direkt auf das Konzept des ‚guten Lebens‘ Bezug, sondern auf das zoon politikon. Es wurde jedoch gezeigt, dass dieses Konzept den gesellschaftlichen Aspekt des tugendhaften Menschen umschreibt. Zoon politikon ist der Mensch nicht allein dadurch, dass er ein soziales Lebewesen ist, sondern dass er gerecht von ungerecht unterscheiden kann, also in Bezug auf die Gesellschaft tugendhafte Aktivitäten entfalten kann, weil er um den Unterschied zwischen Tugend und Laster weiß. Damit ist aber im Konzept des zoon politikon dasselbe Verhältnis beschrieben, wie in der allgemeinen Gerechtigkeit: Die Individuen sind als eben solche positiv auf die Allgemeinheit bezogen. Marx weiß um diese Bestimmung des Begriffs ‚zoon politikon‘, er grenzt sie explizit von der des Menschen als geselligem Lebewesen ab und zwar sowohl in der ‚Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie‘ als auch in den ‚Grundrissen‘. Es wurde gezeigt, dass Marx in der griechischen Antike nach Aristoteles das angestrebte Verhältnis des ‚gesellschaftlichem Einzelnen‘ in beschränktem Maße als verwirklicht ansieht. Vollends sei es aber erst gesellschaftliche Realität, wenn die Individuen ihre schöpferischen Potenzen in Arbeit vergegenständlichen könnten und damit imstande seien, in der Entfaltung ihrer Individualität unmittelbar einen positiven Bezug zur gesellschaftlichen Allgemeinheit herstellen zu können. <?page no="331"?> 331 „Der Mensch - so sehr er daher ein besondres Individuum ist und grade seine Besonderheit macht ihn zu einem Individuum und zum wirklichen individuellen Gemeinwesen - ebensosehr ist er die Totalität, die ideale Totalität, d[as] subjektive Dasein der gedachten und empfundnen Gesellschaft für sich, wie er auch in der Wirklichkeit sowohl als Anschauung und wirklicher Genuß des gesellschaftlichen Daseins wie als eine Totalität menschlicher Lebensäußerung da ist. Denken und Sein sind also zwar unterschieden, aber zugleich in Einheit miteinander.“ 1174 Die unterschiedene Identität von Objekt und Subjekt in der positiven Vergegenständlichung der menschlichen schöpferischen Potenzen durch Arbeit ist für Marx gleichbedeutend mit der unmittelbaren Ausrichtung des Individuums auf die Gesellschaft, das dennoch nicht seine Individualität verliert. Marx sieht dagegen das entwickelte gesellschaftliche Verhältnis, in dem das einzelne Individuum zunächst getrennt von der Gesellschaft als frei gilt und sich dann zusammen mit den anderen isolierten Individuen im bürgerlichen Staat in einer substantielle Gemeinsamkeit zusammenfindet, als entfremdeten Zustand an. Marx übernimmt für seine Zukunftsvision das Ideal einer unmittelbaren Einheit, das er in der Antike als verwirklicht ansieht - und aktiviert damit gegen die modernen Gesellschaft das idealisierte Bild vergangener Gesellschaftszustände. Der Radikalität des Anspruchs, Individualität und Gesellschaftlichkeit unmittelbar im Individuum als unterschiedene Einheit zu denken, entspricht dabei die Unklarheit, wie die ihres entfremdeten Zustands befreite Arbeitsteilung diese Synthese erbringen könne. Es ist augenscheinlich, dass der an der unterschiedenen Einheit von Subjekt und Objekt, wie an der unmittelbaren Kongruenz von Individualität und gesellschaftlicher Allgemeinheit orientierte Marxsche Wertmaßstab keine konkreten positiven Inhalte zu setzen vermag. Neben den bereits erwähnten und auch von Marx thematisierten Differenzen zu Aristoteles ist dies ein wesentlicher Unterschied. Aristoteles weiß um eine prinzipiell bisher bestehende gesellschaftliche Grundlage der unmittelbaren Einheit unterschiedener Individuen im ‚guten Leben‘, während sich nach Marx die vollendete Einheit erst verwirklichen muss. Marx vermag es daher auch nicht, positive Handlungsanweisungen aus seinem Wertmaßstab abzuleiten. Sein Imperativ, den er bereits früh formuliert und sein Leben lang verfolgt, ist ganz negativ auf die Abschaffung des falschen gesellschaftlichen Verhältnisses hin ausgerichtet, in dem Individuum und gesellschaftliche Allgemeinheit sich in ihre Extreme scheiden. Für Marx endet nicht nur die Religionskritik, sondern auch der bisher erarbeitete Wertmaßstab allein in dem negativen „kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechte- 1174 Marx: ÖPM, MEGA, I,2, S. 268. <?page no="332"?> 332 tes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ 1175 . Daher äußert sich das menschliche Wesen und der in ihm unmittelbar positive Bezug zur gesellschaftlichen Allgemeinheit für Marx ganz negativ. Für Marx wäre diese reine Negativität allerdings ganz der Unhaltbarkeit der kapitalistischen Verhältnisse geschuldet. Der Mensch kann nach dem rekonstruierten Wertmaßstab allein dadurch im Sinne des mit Aristoteles geteilten Ideals tätig werden, als er für dessen Verwirklichung kämpft. Das ‚gute Leben‘ in diesem Sinne wäre im Kapitalismus allein im Kampf gegen diesen möglich. Für Marx verwirklicht sich das Ideal der ‚Einzelnen als Alle‘ in dieser Auflehnung selbst. So wie das Ideal unmittelbarer Einheit der unterschiedenen Individuen in Marx‘ Wertmaßstab in der Negativität seine Stärke hat, aber keine positive Alternative zu entwickeln vermag, so entfaltet auch die diesem Maßstab entsprechende Praxis ihre Kraft negativ. „Eine sociale Revolution befindet sich deßwegen auf dem Standpunkt des Ganzen, weil sie - fände sie auch nur in einem Fabrikdistrikt statt - weil sie eine Protestation des Menschen gegen das entmenschte Leben ist, weil sie vom Standpunkt des einzelnen wirklichen Individuums ausgeht, weil das Gemeinwesen, gegen dessen Trennung von sich das Individuum reagirt, das wahre Gemeinwesen des Menschen ist, das menschliche Wesen.“ 1176 1175 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, MEGA I,2, S. 177. 1176 Marx, Karl: Kritische Randglossen zu dem Artikel ‚Der König von Preußen und die Sozialreform. 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Das Buch stellt damit die Frage, inwieweit der kapitalistisch vergesellschaftete Mensch noch zum moralischen Handeln fähig ist.