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Theorien der Literatur VI

0515
2013
978-3-7720-5491-4
978-3-7720-8491-1
A. Francke Verlag 
Günter Butzer
Hubert Zapf

Literaturtheorie ist in den letzten Jahrzehnten national und international zu einem der wichtigsten Bereiche der Literatur- und Kulturwissenschaften geworden. Ihr kommt eine grundlegende, kritisch-reflektierende und systematisch-orientierende Funktion für die gegenwärtige und künftige Lehre und Forschung zu. Im Blick auf diese Situation wurde die Reihe ,Theorien der Literatur' konzipiert, in der bislang fünf Bände erschienen sind. Auch der nun vorliegende sechste Band behandelt sowohl unverzichtbare Grundlagen als auch aktuelle Perspektiven der Literaturtheorie und geht davon aus, dass diese beiden Pole keinen Gegensatz, sondern einen produktiven Zusammenhang bilden. Er beginnt mit zwei Studien, die das Spannungsverhältnis von Wissen und Mythos in der Literatur ausleuchten. Anthropologische Themen fokussieren die Beiträge zur Medienanthropologie sowie zu Literatur und Empathie. Daran schließen gattungstheoretische Reflexionen über die Autobiografie und das Sonett an. Auf Fragestellungen zur weltengenerierenden Potenz literarischer Texte und zur Beziehung von Literatur und Spieltheorie folgen Entwürfe einer Theorie literarischer Unterhaltung sowie einer Theorie des europäischen Naturalismus. Abhandlungen über kultur- und sozialwissenschaftliche Konzeptionen des Ecocriticism und der Beziehung von Literatur und Citizenship beschließen den Band.

<?page no="0"?> THEORIEN DER LITERATUR VI Literaturtheorie ist in den letzten Jahrzehnten national und international zu einem der wichtigsten Bereiche der Literatur- und Kulturwissenschaften geworden. Ihr kommt eine grundlegende, kritisch-reflektierende und systematisch-orientierende Funktion für die gegenwärtige und künftige Lehre und Forschung zu. Im Blick auf diese Situation wurde die Reihe ‚Theorien der Literatur‘ konzipiert, in der bislang fünf Bände erschienen sind. Auch der nun vorliegende sechste Band behandelt sowohl unverzichtbare Grundlagen als auch aktuelle Perspektiven der Literaturtheorie und geht davon aus, dass diese beiden Pole keinen Gegensatz, sondern einen produktiven Zusammenhang bilden. Er beginnt mit zwei Studien, die das Spannungsverhältnis von Wissen und Mythos in der Literatur ausleuchten. Anthropologische Themen fokussieren die Beiträge zur Medienanthropologie sowie zu Literatur und Empathie. Daran schließen gattungstheoretische Reflexionen über die Autobiografie und das Sonett an. Auf Fragestellungen zur weltengenerierenden Potenz literarischer Texte und zur Beziehung von Literatur und Spieltheorie folgen Entwürfe einer Theorie literarischer Unterhaltung sowie einer Theorie des europäischen Naturalismus. Abhandlungen über kultur- und sozialwissenschaftliche Konzeptionen des Ecocriticism und der Beziehung von Literatur und Citizenship beschließen den Band. A. Francke Verlag Tübingen und Basel THEORIEN DER LITERATUR Grundlagen und Perspektiven BAND VI Herausgegeben von Günter Butzer und Hubert Zapf 039913 Theorien der Literatur VI_039913 Theorien der Literatur VI Umschlag 25.04.13 16: 50 Seite 1 <?page no="2"?> Theorien der Literatur Grundlagen und Perspektiven BAND VI Herausgegeben von Günter Butzer und Hubert Zapf <?page no="3"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Druck und Verarbeitung: Laupp & Göbel, Nehren Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8491-1 Titel: Schmuckbuchstabe aus Hans Sachs: (Das vierdt poetisch Buch) mancherley neue Stücke schöner gebundener Reimen. Nürnberg: Heußler, 1576; Oettingen-Wallersteinsche Sammlung der Universität Augsburg <?page no="4"?> Inhaltsverzeichnis Vorwort S.7 Bernadette Malinowski und Michael Ostheimer Ödipus zum Beispiel: Zur Komparatistik als Wissenspoetik S. 9 Stephanie Waldow Literatur und Mythos S. 31 K. Ludwig Pfeiffer Medienanthropologie S. 49 Kaspar H. Spinner Literatur und Empathie S. 63 Saskia Wiedner Theorie der Autobiographie im 20. und 21. Jahrhundert S. 77 Timo Müller Theorien des Sonetts S. 101 Heide Ziegler Wie man aus Wörtern eine Welt macht: Shakespeares Spiel im Spiel S. 121 <?page no="5"?> Inhaltsverzeichnis 6 Rotraud von Kulessa Literarische Spieltheorien oder Literatur als Gesellschaftsspiel S. 139 Günter Butzer Theorie literarischer Unterhaltung S. 159 Hans Vilmar Geppert Von der „humanen Bestie“ zum „unbekannten Gott“? Theorie eines Europäischen Naturalismus S. 181 Serenella Iovino Ecocriticism oder: Wenn die Literatur vom Anderen spricht S. 205 Katja Sarkowsky „Is this my own? “ - Zugehörigkeit, citizenship und Literatur S. 217 Die Beiträgerinnen und Beiträger S. 233 <?page no="6"?> Vorwort Literaturtheorie ist in den letzten Jahrzehnten national und international zu einem der wichtigsten Bereiche der Literatur- und Kulturwissenschaften geworden. Ihr kommt eine grundlegende, kritisch-reflektierende und systematisch-orientierende Funktion für die gegenwärtige und künftige Lehre und Forschung zu. Literaturtheorie in dem Sinn, wie sie von den Autorinnen und Autoren dieses Bandes verstanden wird, ist nichts Abgehobenes oder nur Abstraktes, sondern stellt eine eigenständige, transdisziplinäre Form des Nachdenkens über Texte, kulturelle Prozesse, Symbolsysteme und Modelle menschlicher Selbstinterpretation dar. Sie ist daher in ihrer Bedeutung, wie die Literatur selbst, nicht auf den innerakademischen Bereich begrenzt, sondern potenziell von allgemeinerem Interesse. Das breite Spektrum von Fragen und Aufmerksamkeitsrichtungen, das sich mit ihr seit jeher verbunden hat und das sich im Repertoire klassischer Positionen von der Antike bis zur Moderne niederschlägt, hat sich im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert noch einmal entschieden erweitert durch neuere Ansätze der Literaturtheorie, die sich im kritischen Dialog mit der Geschichte der Literaturtheorie herausgebildet haben und die mittlerweile zu wesentlichen Bezugspunkten eines zunehmend globalisierten literatur- und kulturwissenschaftlichen Diskurses geworden sind. Im Blick auf diese Situation wurde die Reihe ‚Theorien der Literatur’ konzipiert, in der bislang fünf Bände erschienen sind. Auch die Beiträge des nun vorliegenden sechsten Bandes beziehen sich auf beide im Untertitel angesprochenen Seiten der literaturtheoretischen Debatte - auf ihre in lang zurückreichenden Reflexionsprozessen herausgebildeten Grundlagen und auf die in den vergangenen Jahrzehnten formulierten neuen Perspektiven, die oft unter Einbeziehung von Erkenntnissen anderer Disziplinen ästhetische Zeichenprozesse beleuchten und in ihren verschiedenen historischen, kulturellen, psychologischen und anthropologischen Dimensionen herausarbeiten. Diese beiden Pole markieren ohnehin keinen binären Gegensatz, denn einerseits bleiben auch die innovativen Ansätze der neueren Zeit noch im Gestus des radikalen Neuaufbruchs auf die Geschichte der Begriffs- und Diskursbildung angewiesen, die sich mit der kulturellen Evolution der Literatur und Literaturtheorie entwickelt hat. Und andererseits entfalten die klassischen Positionen im Rahmen neuer Fragestellungen und interdisziplinärer Impulse teilweise eine erstaunliche Aktualität, die sie als unverzichtbaren Bestandteil auch gegenwärtiger Orts- und Funktionsbestimmungen von Literaturtheorie erscheinen lässt. Dieser Dialektik von Tradition und Innovation ist auch der sechste Band der Reihe treu geblieben. Er beginnt mit zwei Studien, die das Spannungsverhältnis von Wissen und Mythos in der Literatur ausleuchten. Anthropologische Themen fokussieren die Beiträge zur Medienanthropologie sowie zu Literatur und Empathie. Daran schließen gattungstheoretische Reflexionen über die Autobiografie und das Sonett an. Auf Fragestellungen zur weltengenerierenden Potenz literarischer Texte und zur Beziehung von Literatur und Spieltheorie folgen Entwürfe einer Theorie literarischer Unterhaltung sowie einer Theorie des europäischen Naturalismus. Abhandlungen <?page no="7"?> über kultur- und sozialwissenschaftliche Konzeptionen des Ecocriticism und der Beziehung von Literatur und Citizenship beschließen den Band. Wie die vorherigen Bände der Reihe, sind auch die vorliegenden Beiträge aus einer Ringvorlesung hervorgegangen, die im Wintersemester 2011/ 12 und im Sommersemester 2012 an der Universität Augsburg stattfand. Zu den beteiligten Fächern gehören Anglistik und Amerikanistik, Germanistik und Romanistik, Philosophie und Medienwissenschaft sowie Europäische Kulturgeschichte und Vergleichende Literaturwissenschaft. Der herzliche Dank der Herausgeber gilt den Beiträgerinnen und Beiträgern sowie Bernd Villhauer und Karin Burger vom Francke Verlag für die vorzüglich Kooperation, insbesondere auch Constanze Ramsperger und Eva Mahr für ihr Engagement und die Sorgfalt, mit der sie das Manuskript für den Druck eingerichtet haben, sowie der Kurt-Bösch-Stiftung zugunsten der Universität Augsburg für die großzügige Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Es ist beabsichtigt, die Reihe sowohl als Vorlesung als auch in Publikationsform fortzusetzen. Günter Butzer und Hubert Zapf 8 Vorwort <?page no="8"?> Ödipus zum Beispiel: Zur Komparatistik als Wissenspoetik Bernadette Malinowski und Michael Ostheimer „Wir begreifen immer weniger, je mehr wir wissen. Das ist die Signatur einer Zeit, die sich Wissensgesellschaft nennt, auf die das Theater mit seinem Rückbezug auf die Antike reagieren könnte.“ 1 So urteilt der Theaterkritiker Dirk Pilz 2007 in einem Artikel der Zeitschrift Theater der Zeit über die Konjunktur antiker Stoffe auf deutschen Theatern. Seines Erachtens sind nicht nur die vielen Inszenierungen von griechischen Tragödien auf deutschen Bühnen erstaunlich - Pilz nennt mehrere Inszenierungen der Orestie sowie der Perser von Aischylos und der Medea von Euripides 2 -, auffällig sei auch ein zeitgeistiger Konsens: Das deutsche Theater spielt antike Stoffe und lässt die Götter außen vor. Als wären sie alte Onkels mit weißem Bart, die immer Bescheid wissen und das arme Menschenvolk gängeln. Auf solche Götter kann durchaus verzichtet werden. Nur sind und waren sie das nie. Die Götter gibt es vielmehr, weil es genug gibt, was sich unserem Verstand und Zugriff entzieht. Das Göttliche, so Pilz weiter, fungiere als Statthalter eines Wissens, das die menschliche „Begreifungskraft“ übersteigt. Aber das „derzeit tonangebende deutsche Theater hat für diese Götter kaum Sinn. Es hängt sein Herz an die Götzen eitlen Bescheidwissens.“ 3 Dirk Pilz verknüpft in seiner kritischen Diagnose des Gegenwartstheaters zwei Beobachtungen mit einem Urteil und einer Begründung. Erste Beobachtung: Das Gegenwartstheater spielt viele antike Stoffe. Zweite Beobachtung: Die Götter spielen bei den Inszenierungen antiker Stoffe keine bzw. keine maßgebliche Rolle. Urteil: Das Göttliche in Gegenwartsinszenierungen auszusparen bzw. es zu marginalisieren, ist unangemessen. Begründung: Das Göttliche als Instanz des überindividuellen Wissens vermag auch noch Menschen des 21. Jahrhunderts die Grenzen des menschlichen Begreifens zu offenbaren. Genau an dieser Begründung setzen wir an, genauer gesagt, an ihrer unausgesprochenen Voraussetzung, die besagt: Griechische Tragödien sind - in ökonomischer Metaphorik ausgedrückt - Verteilungskämpfe um das knappe Gut ‚Wissen‘. Um unser Vorhaben in einem Satz zu formulieren: Wir möchten König Ödipus von Sophokles sowie Hölderlins und Hofmannsthals Rezeptionen des Stücks als Wissenstragödien, als Auseinandersetzungen um Wissen per- 1 Pilz 2007, S. 7. 2 Man könnte diese Reihe problemlos bis in die unmittelbare Gegenwart fortführen (siehe z. B. die Antiken-Reihe am Hamburger Thalia-Theater). 3 Pilz 2007, S. 4. <?page no="9"?> Bernadette Malinowski und Michael Ostheimer 10 spektivieren. Auf diese Weise - also induktiv und exemplarisch - soll eruiert werden, welche Untersuchungsgegenstände und Fragestellungen sich einer wissensgeschichtlich orientierten Komparatistik eröffnen. I. Zur Komparatistik als Wissenspoetik Als Literatur- und Kulturwissenschaft interessiert sich die Komparatistik für den Zusammenhang von Wissen und Literatur, um eine spezifische Form der kulturellen Bedingtheit von Literatur zu reflektieren. Literarische Texte, so die erkenntnisleitende Vermutung, können kulturspezifisches Wissen enthalten, veranschaulichen und problematisieren. Als komparative Disziplin, die die Literaturen verschiedener Kulturen bzw. Kulturkreise vergleicht und über ihre Austauschbeziehungen nachdenkt, steht die Komparatistik vor der Aufgabe, den Zusammenhang von Kultur- und Wissensspezifika einzubeziehen. Eine Reflexion der kulturellen Bedingtheit von Literatur(en), die die von den poststrukturalistischen Ansätzen entscheidend beförderte Fragestellung ‚Literatur und Wissen’ umfasst, beeinflusst mithin die Theorie der literarischen Komparatistik. Mit dem von uns gewählten induktiven Vorgehen wollen wir vor allem dem Umstand Rechnung tragen, dass in der gegenwärtigen literaturwissenschaftlichen Debatte um den Zusammenhang von Literatur und Wissen bzw. Wissenschaft kein auch nur tentativer Konsens bei der Bestimmung des Zentralbegriffs ‚Wissen’ besteht. Die Komparatistik als historisch und kulturvergleichend arbeitende Disziplin bedarf, so unsere Grundannahme, eines wissensgeschichtlich und kulturkontrastiv variablen Wissensbegriffs - den es eben nur im Plural gibt. So ist es unstatthaft vom Wissen im Singular und damit von einer Wissensgeschichte zu sprechen, vielmehr müsste von vornherein die Pluralität der Wissen unterstrichen werden, um den Gegenstand angemessen zu bestimmen […]. Wenn sich also etwas überzeitlich Gültiges über das Wissen aussagen lässt, dann dass es kein überzeitlich gültiges Wissen geben kann. 4 Unter ‚Wissenspoetik‘ als einer ‚Poetik des Wissens‘ (mit objektivem Genitiv) verstehen wir in einer ersten Annäherung den Versuch, Kriterien, Funktionsbestimmungen und Verfahren dafür zu formulieren, Wissen in der Literatur darzustellen. Die Komparatistik als ‚Wissenspoetik‘ umfasst demzufolge die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit denjenigen Autoren- oder Gelehrten-Poetiken, die sich auf den Problemzusammenhang ‚Wissen‘ beziehen, sowie mit allen poetisch-literarischen Formen metapoetischer Wissensreflexion. Der Ausdruck ‚Wissenspoetik‘ wird hier identifiziert und synonym gebraucht mit ‚wissenschaftlicher Poetik des Wissens‘ bzw. ‚Wissenspoetologie‘ und hat alle Formen der literarischen Wissenspoetik zum Gegenstand. 4 Landwehr 2007, S. 801. <?page no="10"?> Zur Komparatistik als Wissenspoetik 11 In einem erweiterten Sinn berücksichtigt die komparatistische Wissenspoetik auch poetisch-narrative Formen und Strukturen der (Literatur-)Wissenschaften selbst; indem sie die Poetik der Wissenschaft epistemologisch reflektiert, wird sie zur Poetologie der Wissenschaft. 5 II. König Ödipus als Wissenstragödie In der Beschäftigung mit der griechischen Tragödie nimmt die Interpretation des König Ödipus seit der Poetik des Aristoteles einen wesentlichen Platz ein. Unter Einbeziehung der aristotelischen Konzeption des tragischen Helden hat sich gerade an der Figur des Ödipus eine kontroverse Diskussion über die Schuld des sophokleischen Protagonisten herausgebildet. In letzter Zeit zeichnen sich vor allem zwei Deutungsrichtungen ab: Eine mehr oder weniger deterministische, die die Ohnmacht des Menschen und die Scheinhaftigkeit seiner Existenz betont, und eine das schuldhafte Verhalten des Ödipus herausstellende, die im Sinne der aristotelischen hamartia- Lehre Fehler erkennt, durch die der Held zu seinem Untergang beiträgt. 6 Schicksal vs. Schuld, die Betonung eines unabwendbaren Ereignisses (Ödipus als „Paradeigma der Nichtigkeit menschlichen Lebens und der Scheinhaftigkeit“ 7 ) widerstreitet dem schuldhaften, aus Charakter und Denkhaltung resultierenden Fehlverhalten (Blindheit, Überklugheit und Hybris des Ödipus). Doch: Müssen sich beide Interpretationsrichtungen notwendigerweise ausschließen? Könnte es nicht sein, dass ein Schuldanteil des Menschen mit dem von den Göttern Vorgesehenen koinzidiert? 8 Es könnte, so denken wir. Weshalb? Weil wir im Rekurs auf einen von Freud bereits sehr früh geprägten Begriff davon überzeugt sind, dass die kontroversen Interpretationen des König Ödipus von Sophokles in der Hauptsache der Überdeterminierung des Stücks geschuldet sind. 9 Demnach verweist das tragische Scheitern des Protagonisten auf mannigfache determinierende Faktoren, „die sich in verschiedenen Bedeutungsreihen anordnen, von denen jede auf einem bestimmten Deutungsniveau ihren eigenen Zusammenhang hat“ 10 . Das bedeutet nicht, dass die verschiedenen Bedeutungen ein und desselben literarischen 5 Vgl. hierzu näher Bernadette Malinowski / Michael Ostheimer: Komparatistik als Wissenspoetik, in: Rüdiger Zymner / Achim Hölter (Hrsg.): Handbuch Komparatistik: Theorien, Arbeitsfelder, Wissenspraxis, Stuttgart: Metzler 2013 (im Druck). S. 256-261. 6 Vgl. Zimmermann 2011, S. 583, Fußn. 384, der die Positionen von Arbogast Schmitt und Eckard Lefèvre (Schuld) denen von Bernd Manuwald und Michael Lurje (Schicksal) gegenüberstellt. 7 Manuwald 1992, S. 1. 8 Vgl. Kullmann 1994, S. 106. 9 Klaus Heinrich 1993, S. 185, zufolge besteht die „Realistik der Mythologie“ darin, „daß die Rationalität mythologischen Stoffs die ‚Überdeterminiertheit‘ […] ist; und daß die rationalisierende Zurichtung dieses Stoffs bereits darin besteht, daß einzelne Determinanten aus ihm herausgezogen und zu allein geltenden Determinationsformen erklärt werden.“ 10 Laplanche/ Pontalis 1973, S. 544. <?page no="11"?> Bernadette Malinowski und Michael Ostheimer 12 Phänomens unabhängig nebeneinander koexistieren, vielmehr überschneiden sich die verschiedenen Bedeutungsketten in einem „Knotenpunkt“. 11 „Es ist nicht selbstverständlich“, so beginnt Hans Dillers wichtiger Aufsatz Göttliches und menschliches Wissen bei Sophokles, „daß das Werk eines Dramatikers unter die Frage nach dem Wissen gestellt wird.“ 12 Der ‚Knotenpunkt‘, also das zentrale Thema des sophokleischen König Ödipus, wenn nicht der sophokleischen Tragödien insgesamt, ist unseres Erachtens das Problem des Wissens. König Ödipus von Sophokles ist dasjenige Zeugnis der europäischen Literatur, das als erstes eindringlich die Frage nach den Grenzen des menschlichen Wissens mit der nach dem individuellen Selbstverständnis verknüpft. 13 Sophokles hat den Ödipus-Stoff gegenüber der Tradition und der ausschließlichen Determination der Handlung durch eine göttliche Macht (alle vorsophokleischen Fassungen kennen nur das eine Orakel an Laios 14 ) individualisiert und psychologisiert. Indem er die Selbständigkeit des Handelns in eigener Verantwortung und aus eigenem Antrieb verstärkt, sowie die Frage des Wissens und des Bewusstseins einführt, kommt das Problem der Schuld und der ethischen Zurechenbarkeit von Handlungen überhaupt erst ins Spiel. 15 Am Beispiel der Grenze der Vernunft diskutiert die sophokleische Tragödie diejenige Tendenz, die für viele Kulturhistoriker und Altphilologen hauptsächlich für den beispiellosen Erfolg der griechischen Kultur verantwortlich ist: nämlich, dass die griechische Kultur von Beginn an „eine Tendenz zum Überschreiten der eigenen engen Grenzen in sich trug“. 16 Indem wir nach der Rolle des Wissens im König Ödipus fragen, wollen wir der in den unterschiedlichsten wissenschaftlichen und künstlerischen Disziplinen vielbesprochenen Tragödie 17 nicht einfach eine weitere Deutung hinzufügen, sondern mit dem Fokus auf das Wissen eine Ebene etablieren, die einerseits die beiden Deutungsrichtungen (Schuld vs. Schicksal) fundierend umfasst, andererseits einen bestimmten Rezeptionsstrang des Stücks präfiguriert. Unter einer wissenspoetischen Perspektive auf den König Ödipus resultiert das tragische Potential hauptsächlich aus Konflikten zwischen differenten Wissensformen, Wissensinstanzen bzw. Wissensträgern und den sich darauf beziehenden Verstehens- und Handlungsprozessen. 11 Laplanche/ Pontalis 1973, S. 544. 12 Diller 1971, S. 255. 13 Vgl. Diller 1971, S. 255: „Neben dem Leiden aber ist es die Thematik des Wissens, die das sophokleische Drama bestimmt. Allerdings kann Wissen nicht Gegenstand dramatischer Gestaltung sein ohne die Antithetik zu seinem negativen Gegenpol, zu Irrtum, Trug und Schein, und so wird in der Tat bei Sophokles immer wieder ein menschliches, unvollkommenes bedingtes Wissen gegen ein göttliches, vollkommenes, unbedingtes abgesetzt und in Auseinandersetzung mit ihm gezeigt. Durch diese Thematik unterscheidet sich Sophokles nicht nur von Aischylos, sondern auch von Euripides.“ 14 Vgl. Flashar 2000, S. 118. 15 Vgl. dazu kulturhistorisch auch Böhme 2010, S. 115. 16 Szlezák 2010, S. 262. 17 Zimmermann 2011, S. 586: „Kein anderes Stück des Sophokles wurde mehr sowohl in der Literaturtheorie, in der philosophischen Diskussion und in anderen Disziplinen wie der Psychologie […] als auch von den Dramatikern und Literaten zur Kenntnis genommen als der König Oidipus.“ <?page no="12"?> Zur Komparatistik als Wissenspoetik 13 III. Unterschiedliche Wissensinstanzen und -formen: Rätsel vs. Orakel Die vorsophokleische Geschichte des Ödipus-Stoffs stellt sich, soweit man sie zu rekonstruieren vermag, 18 in aller Kürze wie folgt dar: Ödipus erschlägt unwissend seinen Vater, wird nach der Besiegung der Sphinx zum König von Theben und heiratet die Königin Iokaste, ohne zu wissen, dass sie seine Mutter ist. Blicken wir auf die beiden für die Wissensproblematik entscheidenden Motive der Sphinx und des Orakels. Wahrscheinlich wurde erst mit der „im sechsten Jahrhundert endgültig vollzogenen Einbürgerung der Sphinx in die griechische Welt“ 19 die Rätselversion geläufig. Erst durch die Rätselversion kann die Klugheit des Ödipus, von der das frühe Epos nichts weiß, aufkommen und zum tragenden Motiv werden. […] Gleichzeitig mit der Rätselversion dürfte nun im nachhomerischen Epos die dem Vater des Ödipus, Laios, gegebene Weisung, auf Nachkommenschaft zu verzichten, in Form eines Orakels von Delphi nicht - wie für das frühe Epos anzunehmen - als bloße Warnung des Sehers Teiresias gegeben worden sein. Jedenfalls gelangt nun im sechsten Jahrhundert das dem homerischen Epos noch kaum geläufige Delphi zu panhellenischer Bedeutung. 20 Die beiden Motive ‚Sphinx-Rätsel‘ und ‚delphisches Orakel‘ bezieht Sophokles aus der Stoffgeschichte des Ödipus. Seine eigentliche Leistung, nämlich sein „poetischer Stoffbezug“, 21 also die Funktionalisierung der beiden Mythologeme im literarischen Text des König Ödipus, lässt sich erstens beschreiben als Steigerung der Rolle des delphischen Orakels und zweitens als Inszenierung der Opposition Rätsel vs. Orakel. Rätsel und Orakel bilden einen semantischen Gegensatz. Ein Rätsel zu lösen ist keineswegs vergleichbar mit der Aufgabe, ein Orakel zu deuten. Während das Rätsel nur eine Lösung hat und von der Eindeutigkeit der Antwort lebt, sind Weissagungen nicht eindeutig, sondern ihrem Wesen nach vieldeutig. 22 Rätsel und Orakel sind distinkte Wissensinstanzen, denen unterschiedliche Wissensformen korrespondieren. Dem Rätsel korrespondiert ein trennendes, isolierendes Denken, das zersplittert ist in partikulare Informationen. Mit der Antwort auf die Sphinx-Frage entdämonisiert Ödipus in der Art eines Aufklärers die Wirklichkeit, steht nach Klaus Heinrich „das Wissen der Philosophie im Zentrum der Tragödie.“ 23 Das Rätsel der Sphinx hat „die Kunstform einer Parabel, in der der Einfluß der Philosophie deutlich und direkt zu sehen ist - einer Philosophie, gegen die der Tragödiendichter sich nun aber zur Wehr“ setze, da er es als ungenügendes Philosophen- und Privatwissen, das „niemandem wirklich etwas nütze“, in Zweifel ziehe. 24 Rätselraten verlangt vom Adressaten Scharfsinn, Esprit und Schlagfertigkeit; es gehorcht 18 Vgl. Flashar 2000, S. 102-107. 19 Flashar 2000, S. 103. 20 Flashar 2000, S. 104. 21 Vgl. zur Unterscheidung von „mythologischem Stoff“ und „poetischem Stoffbezug“ Kobbe 1973, S. 14-18. 22 Vgl. zu diesem Gegensatz Flaig 1998, S. 122f. 23 Heinrich 1993, S. 112. 24 Heinrich 1993, S. 113. <?page no="13"?> Bernadette Malinowski und Michael Ostheimer 14 den Prinzipien des Wettkampfs. Nun tut Sophokles den Sturz der Sphinx und das Wissen des Heros Ödipus nicht als Scheinlösung ab, um eine neue Philosophie zu etablieren, sondern perspektiviert den mythologischen Stoff als Sphäre, in der Aufklärungs- und Tragödienwissen nebeneinander koexistieren: „Mit dieser Sphäre erst ist die Realität bezeichnet - ein Ende und ein Ausgangspunkt aller Reflexion -, an die die Philosophie nicht herankommt.“ 25 Diese von Sophokles etablierte Wirklichkeit beinhaltet eben auch das Orakelwesen, dem als Wissensform ein umfassendes Wissen korrespondiert. Einen Orakelspruch zeichnet aus, dass er mehrere Deutungen ermöglicht, buchstäbliche und figurative. 26 Heraklit benennt das Wesentliche, wenn er vom delphischen Apollon sagt: „Der Herr, dem das Orakel von Delphi gehört, spricht nichts aus und verbirgt nichts, sondern er deutet an.“ 27 Eine Prophezeiung zu deuten, verlangt „Behutsamkeit und Langsamkeit, denn es gilt, die möglichen Antworten nicht zu reduzieren und zu vereindeutigen, sondern sie einzeln ins Auge zu fassen und für sich festzuhalten. Daher ist es unratsam, eine Weissagung alleine deuten zu wollen; man könnte Möglichkeiten übersehen oder - unter der Anspannung, die auf einem lastet - sich verkrampfen und sich vorschnell in eine Interpretation verbeißen. Man soll sich mit Freunden oder Verwandten beraten: diesen fallen Deutungen ein, die dem Adressaten nicht in den Sinn kommen; und sie können ihn daran hindern, sich übereilt festzulegen und sich starrsinnig festzuklammern.“ 28 Auf keinen Fall also sollte man sich anmaßen, das, was seinem Wesen nach mehrdeutig ist und der behutsamen Aufklärung durch unvoreingenommene Kommunikation bedarf, ohne Hinzuziehung anderer eigenmächtig zu deuten. 25 Heinrich 1993, S. 117. 26 Zum Orakel von Delphi vgl. Sabine Vogt 1998, bes. S. 37-41. Vogt betont mit Recht, dass das Orakel von Delphi zwar Wahrheit verkündet, was jedoch nicht heißt, „daß diese Wahrheit dem naturgemäß beschränkten menschlichen Verstand leicht zugänglich wäre“ (S. 37). So drückt sich die Mehrdeutigkeit des Orakels sprachlich z. B. in „Metaphern, Bildern, Gleichnissen und Andeutungen“ aus. „Daß die Griechen sich der hermeneutischen Schwierigkeit bewußt waren, in der sich der beschränkte menschliche Verstand gegenüber dem Wort des Gottes befand, zeigt die Tatsache, daß das Mißverstehen von Prophetie allgemein als Fehler von Seiten des menschlichen Geistes verstanden, nicht jedoch als Fehler des Orakels angesehen wurde“ (S. 38). Vgl. ferner Diller 1971, S. 271: „Die Gottheit redet in der Sprache ihres Wissens, der Mensch versteht nach der Fähigkeit seiner Aufnahmeorgane und versteht notwendig falsch, aber nicht, weil die Gottheit ihn irreführen will, sondern aus der strukturellen Verschiedenheit göttlicher und menschlicher Einsicht heraus. So ist es bei Sophokles, und so sagt auch Heraklit, daß der Gott in Delphi seine eigene Sprache hat, daß er nicht aussagt wie Menschen, aber auch nicht verbirgt, also etwa absichtlich zweideutig redet, sondern hindeutet (B 93).“ 27 Geoffrey S. Kirk/ John E. Raven/ Malcolm Schofield 1994, S. 229 (Fragment DK 22 B 93). Vgl. auch Diller 1971, S. 270: „Diese Aussage über die menschliche Denkstruktur nähert sich in bemerkenswerter Weise der philosophischen Aussage des Heraklit. Für Heraklit hat göttliche Art Einsichten, menschliche Art nicht (B 78). Die göttliche Einsicht beruht darauf, daß sie die Einheit sieht, wo menschliches Denken trennt.: ‚Dem Gott ist alles schön und gut und gerecht, die Menschen aber haben das eine als ungerecht, das andere als gerecht angenommen‘ (B 102). Die Gottheit weiß die Einheit der Gegensätze […].“ 28 Flaig 1998, S. 123. <?page no="14"?> Zur Komparatistik als Wissenspoetik 15 Zwischen Heraklit und Sophokles besteht „eine tiefgehende Gleichartigkeit in der Auffassung des Verhältnisses von göttlichem und menschlichem Wissen“. 29 Ein Verhältnis, das Sophokles im König Ödipus als Gegensatz unterschiedlicher Wissensinstanzen und -formen inszeniert, als Gegensatz von umfassendem, poetischem und isolierendem, philosophischem Wissen: auf der einen Seite das allseitige göttliche Wissen, vertreten durch die Orakel und die Prophetie des Teiresias, auf der anderen Seite das partikulare menschliche Wissen, das durch das Sphinx-Rätsel und den Rätsellöser Ödipus repräsentiert wird. IV. Drei Orakel - eine Rekapitulation der Ödipus - Geschichte Im König Ödipus des Sophokles spielen insgesamt drei Orakel eine Rolle; die ersten beiden betreffen die Vorgeschichte des Ödipus - im Stück eingeblendet durch erzählenden Bericht der Figuren -, das dritte prägt die konkrete Bühnenhandlung. Ein Orakelspruch ergeht an Laios, den König von Theben, dass, falls er gemeinsam mit seiner Frau Iokaste einen Sohn zeugen sollte, dieser ihn töten werde. Iokaste gebiert ihm einen Sohn, der von Laios am dritten Tag nach seiner Geburt mit zusammengeschnürten Fußgelenken einem Hirten ausgehändigt wird. 30 Anstatt das Kind im Gebirge auszusetzen, übergibt dieser es einem korinthischen Hirten; so erreicht es letztlich das Königspaar von Korinth, Polybos und Merope, die, da sie selbst keine Kinder haben, es als Königssohn aufziehen und ihm den Namen Ödipus, d. h. ‚Schwellfuß‘ geben. 31 Als er erwachsen ist, behauptet ein Betrunkener ihm gegenüber, er sei nicht der Sohn des korinthischen Königspaars, worauf Ödipus, tief verstört, trotz der Beschwichtigungen seiner Zieheltern das Orakel des Apollon in Delphi nach seinen wahren Eltern befragt. Das Orakel verweigert Ödipus die gewünschte Auskunft und weissagt stattdessen - in den Worten des Ratsuchenden -: […] daß ich der Mutter mich vermischen müßte Und ein Geschlecht, den Menschen unerträglich Zu schaun, vor Augen stellen würde und Mörder sein dessen, welcher mich gepflanzt, des Vaters. 32 Um die Erfüllung der Prophezeiung zu vermeiden, kehrt Ödipus Korinth den Rücken. Wandernd in Richtung Theben, begegnet er seinem leiblichen Vater Laios an einer Weggabelung, einem Dreiweg; dieser, auf einem Wagen und mit Dienern reisend, will das Orakel in Delphi um Rat ersuchen, wie gegen die Sphinx vor Theben, deren Rätsel unablässig Menschenleben fordert, vorzugehen sei. Aus der von Ödipus 29 Diller 1971, S. 271. 30 Vgl. Sophokles 1973, S. 38 [V. 711-719]; da die zur Erläuterung und - später - zum Vergleich herangezogene König Ödipus-Übersetzung von Wolfgang Schadewaldt auf eine Verszählung verzichtet, werden in eckigen Klammern die Versangaben nach dem modernen Sophokles- Text (unter Verwendung der Ausgabe von H. Lloyd-Jones und N. G. Wilson [1990]) ausgewiesen. 31 Vgl. Sophokles 1973, S. 49f. [V. 1019-1044]; S. 57 [V. 1171-1181]. 32 Sophokles 1973, S. 41 [V. 791-793]. <?page no="15"?> Bernadette Malinowski und Michael Ostheimer 16 ignorierten Aufforderung des Herolds, den Weg freizumachen, entwickelt sich eine gewalttätige Auseinandersetzung, in deren Verlauf Ödipus seinen Vater sowie drei der Diener erschlägt. Ein vierter entkommt und meldet den Thebanern, Räuber hätten den König ermordet. 33 Hierauf löst Ödipus das Rätsel der Sphinx, zieht als Befreier in die Stadt ein, heiratet die verwitwete Königin und wird so Herrscher über Theben. Zu einem Zeitpunkt, als seine vier Kinder, die er mit Iokaste gezeugt hat, erwachsen sind, wird die Stadt von der Pest befallen. An dieser Stelle beginnt das Drama: Um zu erfragen, wodurch die Stadt zu retten sei, sendet Ödipus seinen Schwager Kreon zum Orakel nach Delphi. 34 Apollon verkündet: Man soll des Lands Befleckung, als auf diesem Grund Genährt, vertreiben, statt unheilbar fortzunähren. 35 Kreon präzisiert: Und nun befiehlt der Gott uns klar: die Mörder [des Laios], Wer sie auch sei‘n, zu strafen mit der Hand. 36 V. Propositionales Wissen: Die Auseinandersetzung des Ödipus mit dem zweiten Orakelspruch Das zweite Orakel ergeht an Ödipus 37 : er werde mit seiner Mutter ein für die Menschen unerträgliches Geschlecht zeugen und seines Vaters Mörder werden. Die Prophezeiung ist „völlig eindeutig und unbedingt und läßt keinen Zweifel an der Interpretation“. 38 Des ungeachtet hat Ödipus die Möglichkeit, da ein deterministischer Schicksalsbegriff, wie schon Wilamowitz-Moellendorff mit Blick auf den kulturellen Kontext der griechischen Orakelpraxis dekretierte, für die Interpretation des König Ödipus auszuscheiden hat, 39 die geweissagten Taten zu unterlassen. 40 Stattdessen 33 Vgl. Sophokles 1973, S. 14f. [V. 114-131]; S. 40f. [V. 774-813]. 34 Vgl. Sophokles 1973, S. 13 [V. 68-72]. 35 Sophokles 1973, S. 14 [V. 97f.]. 36 Sophokles 1973, S. 14 [V. 106f.]. 37 Vgl. zur Ausgangskonstellation der Orakelweissagung Vogt 1994, S. 98: „Erstens liegt es in der Natur des Orakelwesens als einer besonderen Form der Mantik, daß kein Orakelspruch ohne eine Orakelbefragung erteilt werden kann; denn im Gegensatz zu Götterzeichen wie Omen, Naturereignissen und Träumen, die der Mensch unerwartet und ohne sein Zutun erhält, bringt die Konsultation einer Orakelstätte Mensch und Gottheit gleichsam in einen Dialog miteinander: Der Mensch hat beschlossen, in einer bestimmten Angelegenheit, in der er selbst keine Entscheidung zu treffen vermag, göttlichen Rat zu suchen; mit der Konsultation drückt er zugleich seine Bereitschaft aus, den göttlichen Rat zu befolgen oder sich zumindest mit ihm auseinanderzusetzen.“ Dieser und Teile des folgenden Abschnitts basieren auf: Michael Ostheimer: "Mythologische Genauigkeit". Heiner Müllers Poetik und Geschichtsphilosophie der Tragödie, Würzburg 2002, S. 24-28 38 Kullmann 1994, S. 107. 39 Vgl. Wilamowitz-Moellendorff 1911, S. 15f.: „Von einem Schicksal als einer Ursache, einer wirkenden Kraft ist bei Sophokles nirgends die Rede und konnte auch keine Rede sein.“ <?page no="16"?> Zur Komparatistik als Wissenspoetik 17 handelt er unbedacht. Er hat das Orakel nur befragt, weil er daran zweifelte, dass Polybos und Merope seine leiblichen Eltern seien. Ohne in Rechnung zu stellen, dass die Antwort des Orakels nicht die Antwort auf die von ihm gestellte Frage gibt und damit aus der logischen Frage-Antwort-Relation ausschert, erscheint ihm die Identität seiner Eltern unversehens geklärt. Nun meidet er, in der festen Überzeugung, damit dem Orakelspruch zu entgehen, seinen vermeintlichen Geburtsort Korinth. So verspielt er seinen Wissensvorsprung, war er doch „im Besitz eines Wissens, über das der Mensch in der Regel dem Orakel gegenüber nicht verfügt und das ihn daher oft zum unfreiwilligen Erfüllungsgehilfen macht: Ödipus verfügt über ein Wissen seines Nichtwissens, denn er weiß, und sogar mit existentiellem Nachdruck, daß er seine wahren Eltern, für die er nach dem Wortlaut des Orakels eine Gefahr ist, nicht kennt.“ 41 Erst durch die voreilige Entscheidung, Merope und Polybos für seine wahren Eltern zu halten, also das für gesichert zu erachten, was ihm kurz zuvor noch fraglich erschien, schließt Ödipus alle anderen in Betracht kommenden Personen aus. Damit schafft er die Voraussetzung dafür, dass das Orakel wörtlich in Erfüllung geht. Der Orakelspruch enthält nämlich ein spezifisches propositionales Wissen, also ein bestimmtes Satzwissen, das geeignet ist, die Erfüllung der Prophezeiung zu vermeiden. Als Handlungsimperativ formuliert, durch dessen Befolgung das Orakelschicksal hätte umgangen werden können: Töte keinen älteren Mann und heirate keine ältere Frau! 42 Statt aber das propositionale Wissen des Orakelspruchs in eine situativ angemessene Handlungsanleitung zu überführen, bringt Ödipus - auf den Erhalt des Orakels ist kein Tag vergangen -, nach einem Fußmarsch von etwa dreißig Kilometern zwischen Delphi und Daulia vier Männer um, von denen mindestens einer dem Alter nach sein Vater sein könnte (er ist es ja auch), zieht nach Theben, überwältigt die Sphinx, übernimmt die Herrschaft in der Stadt und heiratet kurz darauf eine Frau, die durchaus als seine Mutter in Frage käme (und sie ist es ja auch). Ödipus hat sich vorschnell entschieden. Er hat seine früheren Zweifel unterdrückt, erwartbare Möglichkeiten außer Acht gelassen, sich voreilig festgelegt, kurz: es an Umsicht im Umgang mit göttlichem Wissen mangeln lassen. Ödipus zweifelt nämlich keinen Moment an der buchstäblichen Eindeutigkeit des Orakels. Im Gegenteil: Er meint, das göttliche Wissen sofort erfasst zu haben. Sein Fehler besteht darin, seinen vorgängigen Zweifel an seiner korinthischen Abstammung nicht mit dem Orakel in Verbindung zu bringen. Er irrt also darin, dass er sogleich nach dem Erhalt des Orakelspruchs seinen Zweifel unterdrückt, sich sofort im Besitz der Wahrheit wähnt. Vermeintlich göttliches Wissen erkannt habend, zieht er die für ihn 40 Vgl. Flashar 2000, S. 113: „Nur für modernes, aber nicht antikes Empfinden ist der Versuch befremdlich, der Erfüllung eines eindeutigen Orakelspruches überhaupt entgehen zu wollen.“ 41 Schmitt 1988, S. 21. 42 Flashar 2000, S. 114: „Um die Erfüllung des Orakelspruches zu vermeiden, will er lediglich Korinth als Ort seiner vermeintlichen Eltern meiden, obwohl das Orakel die Zweifel über seine Herkunft nicht beseitigt hat. Wäre er auch nur einigermaßen vorsichtig, hätte er keinen älteren Mann erschlagen und keine ältere Frau geheiratet.“ <?page no="17"?> Bernadette Malinowski und Michael Ostheimer 18 einzig angemessene Konsequenz: Korinth zu meiden; forthin handelt er, ohne sein Tun noch einmal mit dem Orakel in Beziehung zu setzen. 43 Vergleicht man die Kunstfigur Ödipus mit dem Philosophen Sokrates 44 - schließlich versuchen beide der Forderung des Gottes Apollon nach Selbsterkenntnis zu genügen -, so fällt ihr gegensätzlicher Umgang mit dem Nichtwissen ins Auge. Sokrates versteht sein Wissen des Nichtwissens (als Auslegung des delphischen Spruchs: gnothi sauton) und die Widerlegung fremden Scheinwissens angesichts eines umfassenden Wissens, das allein den Göttern zukommt, als Dienst an dem Gott Apollon. Indem Ödipus im Umgang mit dem Orakelspruch auf das von Sokrates reklamierte Hinzuwissen des eigenen Nichtwissens (in dem Fall: wer die eigenen Eltern sind) unnötigerweise verzichtet, büßt er die Möglichkeit einer anthropine sophia (Apologie 20 d), einer ‚menschlichen Weisheit‘ ein. Angesichts des an Ödipus ergehenden Orakelspruchs tritt - besonders im Kontrast zum sokratischen Hinzuwissen des Nichtwissens - sein unzureichender Umgang mit dem sein Lebensschicksal betreffenden propositionalen Wissen zu Tage. VI. Nicht-propositionales Wissen: Hölderlins Deutung vom Umgang des Ödipus mit dem dritten Orakel Hölderlin hat seine Ödipus-Interpretation in seiner Übersetzung der Sophokles- Tragödie umgesetzt und in seinen Anmerkungen zum Oedipus (beide erschienen 1804) reformuliert. In den Ödipus-Anmerkungen heißt es: „Die Verständlichkeit des Ganzen beruhet vorzüglich darauf, daß man die Scene ins Auge faßt, wo Oedipus den Orakelspruch zu unendlich deutet, zum nefas [Frevel] versucht wird.“ 45 Hölderlins Augenmerk richtet sich auf den zweiten Teil des Prologs, auf die Szene also, in der Ödipus den Orakelspruch des Apollon deutet, den Kreon auf seine Veranlassung hin eingeholt und übermittelt hat. Mit dem Dialog zwischen Kreon und Ödipus ist nach Hölderlin die Passage gekennzeichnet, welche den weiteren Gang der Tragödie bedingt. Indem der König den Orakelspruch „zu unendlich deutet“, ruft er den tragischen Prozess hervor. Hölderlins Lesart setzt voraus, dass Ödipus über einen Interpretationsspielraum verfügte, der auch alternative Deutungen zugelassen hätte. In seiner Übersetzung lautet die Antwort des Orakels, die Kreon von dem Gott in Delphi überbringt: 43 Flashar 2000, S. 115: „Hätte Ödipus seinem Geschick entgehen können, wenn er vorsichtiger gewesen wäre? Die Frage muß schon deshalb als gegenstandslos bezeichnet werden, weil Sophokles sonst den vorgegebenen und bekannten Mythos zerstört hätte. Aber innerhalb des festen Rahmens, den Sophokles im Wesentlichen von Aischylos mit Deutungselementen übernommen hat, konnte er durch Wesenszüge, die erst er selbst der Gestalt Ödipus gegeben hat, die unausweichliche Erfüllung des Orakels mitbedingt sein lassen durch ein nicht unerhebliches Maß an Selbstverantwortung, ohne darin einen Widerspruch erblicken zu müssen. Denn nur bei Sophokles erhält Ödipus das Orakel, das ihn zur Vorsicht hätte mahnen müssen. In allen vorsophokleischen Fassungen des Mythos ist allein Laios der Orakelempfänger.“ 44 Vgl. dazu Hühn 1997, S. 192-197. 45 Hölderlin 1992, S. 311 (Anmerkungen zum Oedipus). <?page no="18"?> Zur Komparatistik als Wissenspoetik 19 Geboten hat uns Phöbos klar, der König, Man soll des Landes Schmach, auf diesem Grund genährt, Verfolgen, nicht Unheilbares ernähren. 46 Nach Hölderlin bedeutet das Orakel: „Richtet, allgemein, ein streng und rein Gericht, haltet gute bürgerliche Ordnung.“ 47 In Hölderlins Perspektive richtet sich das Orakel nicht auf eine konkrete Tat, ein bestimmtes Verbrechen, das die Polis in ihrer Existenz gefährdet und nach Sühne verlangt. Dagegen erkennt er in den Worten des Gottes ein allgemeines Gebot, das die thebanische Gesellschaft darauf verpflichten soll, die Handhabung der juristischen und politischen Praxis zu überdenken, um die „gute bürgerliche Ordnung“ entweder zu bewahren oder, falls man von ihr abgewichen sei, mit entsprechenden Maßnahmen zu erneuern. Nach Hölderlin interpretiert Ödipus den Orakelspruch nicht als König und Staatsmann; er reagiert als Priester, der nach der göttlichen Wahrheit strebt, wo politische Erfahrung und Weitblick verlangt sind. Nicht der Gott von Delphi fordert also dazu auf, den Mörder des Laios ausfindig zu machen, sondern Ödipus selbst deutet das allgemeine Gebot eigenmächtig in die Frage um, wer der Königsmörder sei. Nach Hölderlin kommt im König Ödipus ein Nichtergreifen einer Handlungsmöglichkeit als Fehlleistung des Helden zur Darstellung. Demnach böte der Orakelspruch für den menschlichen Deuter auch die Möglichkeit, im Rückgriff auf praktisches, strategisch-heuristisches Wissen von dem offerierten Deutungsspielraum Gebrauch zu machen. Und zwar, um den Sinn der Prophetie allgemein auf die moralisch-politische Praxis der thebanischen Polis zu beziehen bzw. zu lenken - ohne also auf die verengende Deutung zu verfallen, wonach der Laios-Mörder ausfindig zu machen sei. Über die nicht-propositionale Wissensform namens „praktisches Herrscherwissen“ angesichts der Polis-Krise nicht zu verfügen, macht den Kern von Hölderlins eigenwilliger Interpretation des tragischen Helden Ödipus aus. Ein solches Defizit zu diagnostizieren, vermag man als Interpret des König Ödipus freilich nur dann, wenn man sich der von Hölderlin eigens entworfenen epistemischen Konstellation zuwendet, sich also nicht auf einen propositionalen Wissensbegriff versteift, sondern sich in hermeneutischer Absicht auf das von Hölderlin aufgespannte Spektrum propositionaler und nicht-propositionaler Wissensformen einlässt. Letztlich kritisiert Hölderlin, dass Ödipus nicht die für einen gut sorgenden König angemessene ethische Praxis bzw. epistemische Lebensform einnimmt und nicht über das notwendige praktische Tugendwissen verfügt. Als Wissensträger mit einer Herrscherfunktion versagt Ödipus in der spezifisch epistemischen Konstellation der Orakeldeutung. Die vieldiskutierte Frage nach der Schuld des Königs beantwortet Hölderlin mithin eindeutig: Ödipus begeht, das belegt die Rede vom nefas, eine religiöse Verfeh- 46 Hölderlin 1992, S. 254 (Oedipus der Tyrann). 47 Hölderlin 1992, S. 311 (Anmerkungen zum Oedipus). <?page no="19"?> Bernadette Malinowski und Michael Ostheimer 20 lung, einen Akt der Selbstüberschätzung. Indem laut Hölderlin das Orakel kultischreligiös statt historisch-sozial ausgelegt wird, setzt der König seine Vernichtung selbst in Gang. Für Hölderlin, der das tragische Geschehen als „Begegnung zwischen Gott und Mensch“ versteht, 48 manifestiert sich in der Tragödie eine politische und religiöse Grundlagenkrise. Während einer solchen Phase umfassender Veränderungen werden das Selbst-, Welt- und Gottesverständnis des Menschen grundlegend erschüttert und neu definiert. Im König Ödipus stellt sich nach Hölderlin die Gottesbegegnung dadurch ein, dass der König, anstatt praktische Fähigkeiten und Fertigkeiten, also prozedurales und strategisch-heuristisches Wissen an den Tag zu legen (wie mit einem die Polis betreffenden Orakel in einem dem Gemeinwohl zuträglichen Sinn umzugehen ist), sein menschliches Wissen absolut setzt und in den Bereich des göttlichen Wissens eindringt. Damit negiert er, wo nicht-propositionales Wissen gefragt wäre, die Bedingungen seiner endlichen Existenz, was für Hölderlin die Hybris des Ödipus ausmacht. „Wenn man Hölderlins Interpretationsthese, Ödipus deute den Orakelspruch ‚zu unendlich‘, mit ihren Voraussetzungen und Implikationen ernst nimmt“, impliziert das, „daß Ödipus die Möglichkeit gehabt hätte, den Orakelspruch auch ‚endlich‘ zu deuten, daß damit die tragische Kollision keine von schlechthinniger Notwendigkeit ist“. 49 Ödipus hätte Hölderlin zufolge die Möglichkeit gehabt, den tragischen Konflikt zu vermeiden. Jedoch verengt er den Deutungsspielraum des Orakels auf den unendlichen, den göttlichen Sinn und verfehlt damit die endliche, menschliche Auslegung, die gemäß Hölderlin in dem allgemein zu verstehenden Gebot besteht, die politische Ordnung wiederherzustellen. Ödipus scheitert, weil er, als praktisches Wissen verlangt wird, nicht als König und Staatsmann reagiert, sondern „als Priester, der nach der göttlichen Wahrheit zielt“, 50 wo politische Erfahrung und Weitblick verlangt sind. Während wir bei der Sophokles-Lektüre die Interdependenzen von göttlichumfassendem und menschlich-partikularem Wissen unter dem Problemzusammenhang des propositionalen Wissens reflektiert haben, kam es uns am Beispiel von Hölderlins Interpretation des König Ödipus darauf an, dass es bei einem literarischen Text wie etwa einer Tragödie um mehr als um die Frage nach dem Umgang mit propositionalem Wissen geht. Besonders für kulturwissenschaftliche und wissenshistorische Lektüren besteht die Aufgabe konkreter Textinterpretation also nicht zuletzt darin, einen singulären Wissensbegriff zu vermeiden, um die Komplementarität sowie die Wechselbeziehungen von z.B. propositionalem und nicht-propositonalem Wissen einzuholen. 51 48 Vgl. Corssen 1948/ 49. 49 Hühn 1997, S. 197. 50 Hühn 1997, S. 186. 51 Vgl. zur Relevanz der Unterscheidung propositionales vs. nicht-propositionales Wissen in textwissenschaftlichen Fragestellungen Albrecht 2011. <?page no="20"?> Zur Komparatistik als Wissenspoetik 21 VII. ‚Dunkles Wissen ‘ : Hugo von Hofmannsthals Ödipus und die Sphinx (1905) „Zu denken, dass alle Himmel und Unterwelten aller Religionen aus dem menschlichen Innern erbaut sind: auf die Kraft der Projektion nach außen kommt alles an“, 52 so beschreibt Hugo von Hofmannsthal geradezu programmatisch seinen im Drama Ödipus und die Sphinx unternommenen Versuch, die „griechische Antike, auf der unser Dasein beruht“, einer radikalen Neudeutung zu unterziehen. Mit den Kenntnissen moderner Psychologie intendiert er, „die Antike als einen magischen Spiegel [zu] behandeln, aus dem wir unsere eigene Gestalt in fremder, gereinigter Erscheinung zu empfangen hoffen“. 53 Gegen das klassizistische, v.a. von Winckelmann und Goethe vertretene Antikebild, aber auch gegen die sophokleische, aus dem Horizont der demokratischen Polis verfasste, bereits entmythisierte Bearbeitung des Mythos gelte es, das Drama um Ödipus zu remythisieren und, wie Werner Frick pointiert formuliert, in eine „fremdartige Vor-Vergangenheit“, in ein „archaisches Plusquamperfekt“ zurückzuversetzen. 54 Entsprechend kehrt Hofmannsthal die sophokleische Tragödie des Inzests und Vatermords, vor allem aber die „Tragödie des Selbstbewusstseins, der Selbsterkenntnis“ (Ricœur) um, indem er gerade nicht die analytische Enthüllung des vergangenen Delikts (Mord an Laois) zum Gegenstand seines Dramas macht, sondern die „bewußtseinsmäßigen Bedingungen seiner Möglichkeit“. 55 Ödipus’ Auseinandersetzung mit der Sphinx ist in Sophokles’ Drama Teil der Vorgeschichte und erscheint damit als ein aus der Gegenwart der dramatischen Handlung ausgelagertes Vor-Geschehen, das in der Dramenhandlung in berichtenderinnernder Sprache zur Präsenz gelangt: Sie ist in Sprache übersetzte vorgängige Handlung. Folgt man Klaus Heinrich, der die Sphinx „als eine Figur des Wiederholungszwangs“ deutet, „unter dem Ödipus sein Schicksal vollzieht“, eine Figur also, die „sein Schicksal vorbildet“, 56 dann ist das Aufeinandertreffen zwischen Ödipus und der Sphinx nicht nur in Sprache übersetzte vorgängige Handlung, sondern zugleich in die gegenwärtige Dramenhandlung und damit in die Performanz (rück)übersetzte Sprache. Die vorgängige Ödipus-Sphinx-Handlung kommt in dem Augenblick an ihr Ende, in dem Ödipus das „Dunkel“ 57 der Frage durch seine Antwort „aufklär[t]“. 58 Zugleich nimmt sie in diesem Augenblick auch ihren Anfang, nicht in der Form einer identischen Wiederholung von Ereignissen, sondern vielmehr in der Wiederholung einer Struktur, die als eine Struktur von Frage und Antwort beschrieben werden kann. „Nun denn, von Grund auf werde ich es abermals / Aufklären! “ 59 Diese ‚tem- 52 Hofmannsthal 1980, S. 253. 53 Hofmannsthal 1980, S. 265. 54 Frick 1998, S. 72. 55 Frick 1998, S. 126. 56 Heinrich 1993, S. 112. 57 Sophokles 1973, S. 14 [V. 131]. 58 Sophokles 1973, S. 14 [V. 132]. 59 Sophokles 1973, S. 14 [V. 132]. <?page no="21"?> Bernadette Malinowski und Michael Ostheimer 22 porale Janusgesichtigkeit’ der Antwort, nämlich ineins Ende und Anfang zu sein, könnte nun in vielerlei Hinsichten weiter entfaltet werden. Zentral scheint uns jedoch zu sein, dass dieser temporale Aspekt Auskunft über die ‚hybride’ Natur der Antwort selbst und damit über das Ambivalente und Defizitäre des darin artikulierten Wissens gibt: Einerseits gelangt die Frage durch die Antwort an ihr Ende, sie wird getilgt und ausgelöscht durch die Eindeutigkeit der Antwort - der Selbstmord der Sphinx bzw. ihre Tötung durch Ödipus könnte so gedeutet werden. Andererseits geht diese Antwort nicht im Fraglosen auf, sondern impliziert, wie immer sie auch gelautet haben mag, ihrerseits eine Fraglichkeit und Fragwürdigkeit, die zum Movens des eigentlich dramatischen Geschehens als eines (sich wiederholenden) Frage- und Antwortgeschehens wird, in dessen ‚tragischem’ Verlauf der einstige Rätsellöser Ödipus aus seiner Selbstgewissheit fragend heraustritt ins Offene seiner eigenen Fragwürdigkeit und Fraglichkeit. Das Rätsel der Sphinx, so Charles Segal, „turns man’s intelligence against himself, and the solver of her riddle is the example par excellence of profound human ignorance“. 60 Mit anderen Worten: Die der Antwort implizite Fraglichkeit ergeht - im Drama über den Umweg des fragenden Verhörs anderer - als Aufforderung zur Selbstbefragung. Erst mit der zweifachen anagnorisis - der Erkenntnis, dass er selbst der gesuchte Mörder des Laios ist, sowie der Erkenntnis seiner eigenen Identität - erweist sich Ödipus erneut als ein Antwortender, der sich - dies in irritierender Parallelführung zur Selbsttötung der Sphinx - in Erfüllung des delphischen gnothi sauton selbst blendet und damit sein Wissen um seine eigene Nichtigkeit (sokratisch: sein eigenes Nichtwissen) zeichenhaft demonstriert. Stürzt sich die Sphinx nach Lösung des Rätsels von der Höhe in den Abgrund, so Ödipus, nachdem er das Rätsel um seine eigene Identität gelöst hat, vom „höchsten Grat“ in tiefste „Not“, 61 vom Zentrum der Macht ins Exil der Ohnmacht. Die Antwort auf die Frage nach seiner Genealogie offenbart selbstgewisse Identität als Schein und Illusion und etabliert Differenz und im letzten unaufhebbare ‚Interrogativität’ als eigentlichen Modus humanen Seins: Ödipus ist nicht nur König, Gatte und Rätsellöser, sondern auch Bettler, Sohn, „Verwirrung, Tod [und] Schande“, 62 sein Name vereint Rettung und Heil und zugleich der „Übel aller Namen“, 63 er ist „Einer“ und „Viele“ 64 , Apoll und Sphinx, Orakel und Rätsel. Diese Differenzen gehorchen freilich nicht den Gesetzen einer binären Logik; vielmehr demontieren sie diese, indem sie die Vernetzung und Interferenzen zwischen dichotomischen Kategorien permanent anzeigen, am deutlichsten vielleicht über die Vogelmetaphern, die die gleitenden Übergänge, das ‚Inzestuöse‘ noch zwischen dem Göttlichen und dem Bestialischen 60 Segal 1981, S. 153. 61 Sophokles 1973, S. 43 [V. 876f.]. 62 Sophokles 1973, S. 62 [V. 1284]. 63 Sophokles 1973, S. 62 [V. 1285]. 64 Als es um die Frage nach dem Mörder des Laios geht, dementiert Ödipus diese Verwobenheit von Allgemeinem und Besonderem und etabliert stattdessen ein Entweder-oder: „Wenn er noch jetzt / Die gleiche Zahl nennt, bin ich nicht der Mörder. / Denn Einer kann soviel nicht sein wie Viele. / Spricht er von Einem Manne, der allein ging / Eindeutig fällt die Tat dann auf mich.“ (Sophokles 1973, S. 42 [V. 843-845]). <?page no="22"?> Zur Komparatistik als Wissenspoetik 23 versinnbildlichen. Liegt hierin möglicherweise - und provokanterweise - die metapoetische, die ästhetische Dimension des Inzest, nämlich für die Lizenz der Kunst einzustehen, tabuisierte Grenzen zu überschreiten? 65 Von hier aus ließe sich der gesamte erste Aufzug von Hugo von Hofmannsthals Ödipus und die Sphinx als eine komplexe Dramatisierung der Genese des ‚Sphingischen’, als ein einziger, im exzessiven Rückgriff auf Frage und Antwort inszenierter Vorgang der Verrätselung lesen, inszeniert als unbewusstes Traumgeschehen - inszeniert mit dem Wissen einer von der Psychoanalyse maßgeblich geprägten Moderne. 66 Als Ödipus im zweiten Akt nach Theben gelangt und das Volk nach dem Grund seiner Not fragt, antwortet dieses: „Die Sphinx, / er weiß nichts von der Sphinx.“ Und Ödipus erwidert: „Was soll das Wort? “ Darauf das Volk: „Das Wort ist Qual und Tod. Dort drüben wohnts. / Es horstet im Geklüft so wie ein Geier / und äugt herab, wo Theben liegt, und Theben / gleicht dem gefallnen Vieh und zuckt vor Angst, / und seine Flanken fliegen, und die Augen / sind blutig.“ 67 Im letzten Aufzug, der die Ereignisse von der Begegnung mit der Sphinx bis zur Hochzeit mit Iokaste thematisiert, ist es nun nicht die Sphinx, die das Rätsel nach dem Menschen stellt, sondern Ödipus selbst, der vor der Begegnung mit der Sphinx die Antwort im Mythos: ‚Es ist der Mensch’ in die Form der Frage verkehrt: „Wer ist der Mensch? “ und „Weh, was ist ein Mensch! / Wer über diesem brütet, stirbt.“ 68 Die eigentliche Begegnung zwischen Ödipus und der Sphinx wird auch hier ausgespart und in der Form eines Berichts übermittelt: Ödipus verstörten Gesichtes, seiner selbst nicht mächtig, sich an Steinen haltend, bald zu Boden taumelnd Es nannte mich beim Namen! „Ödipus“, sprach es zu mir! „sei, Ödipus, gegrüßt, der du die tiefen Träume träumst“! Gekannt! Auch hier gekannt! […] […] Hier dies fremde Theben Ist eine Höhle, die mich kennt. Von Grausen geschüttelt . Der Dämon, der grauenhafte Dämon hat mit mir Gemeinschaft! mit dem Todesatem lüftet es den verschloßnen Deckel meiner Brust. 65 Durch Vogelmetaphern werden Sphinx („geflügelte Jungfrau“, [Sophokles 1973, S. 29] [V. 508]), Teiresias der „weise Vogelschauer“ (Sophokles 1973, S. 28 [V. 484]), Ödipus (von dem es zu Beginn heißt, er habe der Stadt Theben durch seinen Sieg über die Sphinx mit „Vögeln […] das Heil […] damals“ gebracht (Sophokles 1973, S. 12 [V. 52]) und letztlich auch Apoll, der die orakelhaften Vogelzeichen zur Deutung sendet, miteinander verbunden. Vgl. dazu auch Segal 1981, S. 151-163. 66 Zu Freuds Ausführungen zum Ödipus-Mythos vgl. insbesondere: Freud 2000, Bd. I, S. 211- 212, 325-332; Bd. II, S. 260-269. 67 Hofmannsthal 1979, S. 462. 68 Die erste Frage scheint eher ‚kontingent’ zu fallen (die Frage betrifft Kreon, der Ödipus auf seinem Weg zur Sphinx heimlich folgt); das zweite Mal steht die Frage in unmittelbarem Zusammenhang mit der Sphinx: Ödipus begegnet auf dem Weg zu ihr einem Sterbenden, der in die mörderischen Fänge der Sphinx gelangt war und Ödipus nun um Sterbehilfe bittet (vgl. Hofmannsthal 1979, S. 468 u. 469). <?page no="23"?> Bernadette Malinowski und Michael Ostheimer 24 Er weiß von meinen Träumen - ah, es gibt nur einen, den Traum von Delphoi, weh, den Traum vom Vater und von der Mutter und dem Kind! […] Sein irr schweifender Blick sieht die Sterne Ihr Götter, Götter! Sitzt ihr auf goldenem Gestühl da droben und weidet euch, daß der im Netz nun liegt, den ihr mit Hunden hetzt von Tag zu Nacht! Finster, groß Die ganze Welt ist euer Netz, das Leben ist euer Netz, und unsre Taten machen uns nackt vor euren schlummerlosen Augen, die auf uns schauen durch das Netz: - da lieg ich und wollte Taten tun und habe nichts getan als mich verraten an den Tod! 69 Und noch einmal heißt es später: „Ich habe meine Tat nicht tuen können: / das Wesen floh vor mir! “, und stürzt sich, nachdem es die Worte „‚Da bist du ja, […] auf den ich gewartet habe, heil dir, Ödipus! Heil, der die tiefen Träume träumt’“ an Ödipus gerichtet hat, mit dem „namenlosesten, / furchtbarsten Schrei, in dem sich Triumph / mit einem Todeskampf vermählt“ „rücklings in den Abgrund“. 70 Vor der Folie des Mythos gelesen, tritt Ödipus als Inkarnation der Antwort der Sphinx entgegen und tötet sie jenseits von Wort und Tat. Zugleich ist sie die antwortende Instanz, die des Rätsels Lösung - „Ödipus“ - verkündet und dem Namenlosen und Unbehausten („Eine Straße kam ich / vom Berg herab und habe keinen Namen“; „ich muß bleiben, aber ich darf nirgend hausen“ 71 ) mit einem Namen und - indirekt über den Lohn der Iokaste - mit einem Königreich ausstattet. Und wie Ödipus von sich sagen wird „Ich bin ein König und ein Ungeheuer / in einem Leib“, 72 so finden wir die Sphinx, die auf dem „Thron des Grausens“ wütet, unmittelbar verwoben mit dem Gott von Delphi und dem Orakel, das er Ödipus in der Gestalt eines „Lebenstraums“ vermittelt, als dieser ihn aufsucht, um seine Identität zu erfragen. In eindrücklichen Bildsequenzen nimmt jener im ersten Akt von Ödipus selbst berichtete Traum die gesamte spätere Ödipusfabel des sophokleischen Dramas vorweg, ohne dem Fragenden selbst die ‚richtige’ Antwort über seine Herkunft zu offenba- 69 Hofmannsthal 1979, S. 472 f. 70 Hofmannsthal 1979, S. 476. 71 Hofmannsthal 1979, S. 461 u. 404. 72 Hofmannsthal 1979, S. 477; vgl. auch S. 445, wo Iokaste, im Glauben, ihr Sohn sei tot, einen direkten genealogischen Zusammenhang zwischen Ödipus, dem Mörder des Laios und der Sphinx herstellt: „Nun ists doch / das Kind, das seinem Vater hat den Tod / gegeben. Freilich nicht mit eigner Hand, / das arme Kind - es wohnt ja nicht im Licht. / Doch einen Herold hats zuerst geschickt, / der nistete sich ein, von wo sein Singen / zum Vater und zur Mutter drang, sooft / sie schlafengehen wollten“ und weiter: „Ich rede von der Sphinx. / Die Mutter kennt die Boten, die das Kind / heraufschickt aus der finstern Welt da drunten.“ Vgl. ferner Klaus Heinrich, der an den inzestuösen Ursprung der Sphinx erinnert und im Inzest eine Kontinuität zwischen Sphinx und Ödipus sieht (Heinrich 1993, S. 112 u. 140). <?page no="24"?> Zur Komparatistik als Wissenspoetik 25 ren. Primär sind es nicht hermeneutische Inkompetenz oder Vorgänge des Verdrängens und Vergessens, die Ödipus an der richtigen Deutung des gottgesandten Traums scheitern lassen, sondern die Tatsache, dass Ödipus nur - um es mit einem Wort des sophokleischen Kreon zu sagen - „auf das vor unsern Füßen / Zu schaun“ 73 imstande ist. Sehr wohl aber vermag Ödipus die jedes menschliche Vorstellungsvermögen übersteigende Ungeheuerlichkeit dessen, was sich da traumhaft abzeichnet, abstrakt (und entsprechend von sich losgelöst) quasi-theologisch einzufangen, wenn er das Verhältnis von Mensch und Göttern als ein geradezu kafkaesk parabolisches Verhältnis von Frage und Antwort beschreibt: Die Götter antworten weise, wo wir töricht fragen. Die Frage, die aus unsrem Munde geht, verschmähen sie, und was im tiefsten Grund des Wesens schläft und noch zu Fragen nicht erwachte, dem mit ungeheurem Mund antworten sie zuvor. Was war ich für ein Knabe, daß ich hinging und vor mir her mit halb bekümmertem, halb frechem Herzen meine Frage wie eine Fahne trug! Da faßte mich der Gott am Haar und riß mich über’n Abgrund zu sich. 74 Systematisch umkreist der erste Aufzug die Frage nach der Identität, ohne sie ein einziges Mal explizit zu stellen. 75 Die ‚eigentliche’ Frage, die die Identitätsfrage möglicherweise lediglich entfernt tangiert und deren Antwort ihr immer schon „zuvor“ ist, wird dramaturgisch als Leerstelle inszeniert und vom Helden selbst als eine Frage gedeutet, die „im tiefsten Grund / des Wesens schläft und noch zu Fragen nicht / erwachte“. Die Worte der Sphinx lassen sich vor diesem Hintergrund als Klimax jenes traumhaft verrätselten, göttlichen Antwortgeschehens verstehen, dem sich Ödipus vor dem Orakel in Delphi ausgeliefert sah. Ihr Sturz in den Abgrund besiegelt jene (dionysische) „heilige Vergessenheit“, 76 der Ödipus und Iokaste sich hingeben, darin versichert, dass „das Namenlose […] noch kommt und doch schon da ist“. 77 Die logische Beziehung von Frage und Antwort erscheint hier selbst in Frage 73 Sophokles 1973, S. 14 [V. 131]. 74 Hofmannsthal 1979, S. 393. 75 Lykos, ein Sklave am Hof des Polybos, stellte als erster Ödipus’ Herkunft in Frage, woraufhin er von Ödipus im Zorn erschlagen wurde (vgl. Hofmannsthal 1979, S. 391); daraufhin sucht Ödipus seine Eltern Polybos und Merope auf; auch an dieser Stelle wird seine Frage ausgeblendet und nur die Antwort mitgeteilt: „in ihrem Ehebette / halb aufgerichtet, schworen sie mirs zu, / daß ich ihr Sohn bin“ (ebd., S. 392). Von hier aus macht sich Ödipus nach Delphi auf, um „auf den Grund des Dinges“ zu kommen (ebd., S. 393). Auch hier bleibt die Frage ausgespart und wird lediglich in den ‚Schattierungen’ der ‚antwortenden’ Traumbilder greifbar. 76 Hofmannsthal 1979, S. 484. Angesprochen ist hier nichts anderes als jene „Selbstvergessenheit der dionysischen Zustände“, von jenem Untergang des „Individuums, mit allen seinen [apollinisch gesetzten] Grenzen und Maßen“ (Nietzsche ²1988, Bd. 1, S. 41). 77 Hofmannsthal 1979, S. 485. <?page no="25"?> Bernadette Malinowski und Michael Ostheimer 26 gestellt und wird zum Ausdruck ihres einander Verfehlens. Aber noch in ihrer Unzugänglichkeit und Unverortbarkeit bleibt die Frage präsent als „das Dunkel, das wir wissen, und doch“, so Iokaste am Ende des Dramas, „und doch lachen wir -“. 78 Im Medium der Kunst und vor allem unter den Bewusstseins- und Wissensbedingungen der Moderne gestaltet Hofmannsthal das Unbewusste seiner Figuren dionysisch aus. Verglich Freud die Psychoanalyse ausdrücklich mit dem im sophokleischen Drama gezeigten Vorgang der „schrittweise gesteigerten und kunstvoll verzögerten Enthüllung“, 79 so eliminiert Hofmannsthal diesen Aufklärungsprozess nicht nur, sondern führt ihn ex negativo - als wissenschaftliche Matrix ist die Psychoanalyse dem Stück ja eingeschrieben - an seine Grenzen, indem er die Arbeit hermeneutischer Deutung und Selbstdeutung im Lachen angesichts eines ‚dunklen Wissens’ ausklingen lässt. In diesem Lachen - das Lachen der Sphinx - bricht sich in letzter Konsequenz auch das szientifisch-begrifflich Verdrängte und Unverfügbare erneut Bahn und wird in Umkehrung der logozentristischen Auffassung von Aufklärung zur Statthalterin einer Kunst, die gerade und ausschließlich durch die Negativität ihres anarchischen „Rätselcharakters“, 80 durch das von ihr wach gehaltene „konsequente Bewusstsein von Nichtidentität“ 81 kritisch-aufklärerisch zu sein vermag. Zu diesem Zweck bedient sich die Kunst - wie wir beispielhaft an Hölderlins und Hofmannsthals produktiven Rezeptionen des König Ödipus gezeigt haben - des literarischen Verfahrens der Intertextualität, das sich gleichermaßen als ein Verfahren des Transfers, der Konservierung und der Transformation von Wissen und damit auch als ein Verfahren der kritischen Auseinandersetzung mit und Ausdifferenzierung von Wissen erweist. Die epistemologischen Effekte und Funktionen der Intertextualität setzen sich schließlich - unter den Bedingungen der kulturell und individuell jeweils prägenden Wissensbestände - in weiteren Lektüreprozessen fort. VIII. Fazit Ausgehend von den am Beispiel des sophokleischen König Ödipus und dessen literarischen Rezeptionen durch Hölderlin und Hofmannsthal aufgezeigten epistemischhermeneutisch-praktischen Konstellationen stellt sich für eine Komparatistik als Wissenspoetik die Frage: Gibt es ein spezifisches Wissen der Literatur? Dient Literatur der Erkenntnis der Wirklichkeit? Hält Literatur Erkenntnisse über die Wirklichkeit bereit? Antworten darauf verspricht die literarische Epistemologie als nichtempirische Epistemologie, „deren Gegenstand die Formen der Weltdarstellung sind“. 82 Eine Wissenspoetik, die Texte als „Tatsachenphantasien“ (Döblin) versteht, als diejenigen sprachlichen Repräsentationsweisen von Wirklichkeit, die aus der Kopplung von Wissen (in der Pluralität seiner Bestimmungen) und Einbildungskraft 78 Hofmannsthal 1979, S. 485. 79 Freud 2000, Bd. II, S. 266. 80 Adorno 1998, Bd. 7, S. 182. 81 Adorno 1998, Bd. 6, S. 17. 82 Kohlross 2010, S. 27. <?page no="26"?> Zur Komparatistik als Wissenspoetik 27 hervorgehen, wird mithin die Literatur stets auch in ihren Wirklichkeitsreferenzen untersuchen. In der Differenzierung des für die literarische Produktion wie Rezeption maßgeblichen Untersuchungsfeldes aus Wissen und Einbildungskraft (in ihren Wechselwirkungen), in der Erweiterung des Wissensbegriffs um nicht-propositionale Wissensformen (Handlungs-, Erfahrungs-, Gebrauchs-, Gefühlswissen etc.), in der wissenshistorisch und -soziologisch fundierten Beobachtung der gleitenden Übergänge zwischen Wissensformen, -funktionen und -repräsentationen im Spannungsfeld literarischer Fremd- und Selbstreferentialität wird die Wissenspoetik einige ihrer vordringlichen Aufgaben haben. IX. Ausblick: Die Rezeption des König Ödipus in kulturdifferenten Wissensordnungen (am Beispiel von China) Wenn man im Hinblick auf die kulturelle Globalisierung den Untersuchungsbereich der vorliegenden wissenspoetischen Lektüre räumlich ausweitet, so könnte man überdies die Rezeptionsgeschichte des König Ödipus in kulturdifferenten Wissensordnungen untersuchen. So läge beispielsweise ein Vergleich mit der chinesischen Wissensordnung nahe, die sich, wie der französische Philosoph und Sinologe François Jullien in den letzten 15 Jahren in über einem Dutzend Bücher herausgearbeitet hat, durch ein Denken der Immanenz auszeichnet, das der abendländischen Metaphysik entgegensteht. Intelligenter Kulturdialog entsteht nach Jullien dann nicht, wenn man einfach zum vermeintlich Allgemeinen der Kulturen übergeht und die Differenzen kleinredet. Vielmehr müssten die Differenzen zwischen den Kulturen überhaupt erst einmal offengelegt werden. 83 Julliens Angebot eines europäisch-chinesischen Kulturdialogs auf Augenhöhe, den er „Ortswechsel des Denkens“ nennt, beinhaltet den Versuch, mittels eines „Umwegs über China“ die in der abendländischen Kultur anerkannten Denkkategorien und Handlungsstrategien zu verrücken, zumindest in ein neues Licht zu setzen. Während der Westen, so Jullien, die Wirklichkeit vorwiegend mittels der Begriffe „Sein“, „Sinn/ Wahrheit“ und „Enthüllung/ Offenbarung“ denkt, nähert sich China der Wirklichkeit eher über die Strategien „Prozess“, „Kohärenz“ und „Regulierung“. 84 Die Grunddifferenz zwischen dem abendländischen und dem chinesischen Denken sieht Jullien darin, dass sich in China die für das Abendland wesentliche Verdopplung der reflektierten Wirklichkeit in eine sinnlich zugängliche Realität und eine transzendente intelligible Welt der Wesenheiten nicht finden lässt. Für Jullien ist diese Abwesenheit jedoch kein Mangel, sondern Ausdruck von konkreter kultureller Differenz. Während das Abendland im logos eine rational überprüfbare Möglichkeit für die Annäherung an einen transzendenten Sinngehalt findet, versucht der chinesische Diskurs eine allusive Distanz zu seinen Gegenständen zu halten, um die Immanenz einer Welt erscheinen zu lassen, die stets zwischen fixierbaren Polen anzusetzen ist. Das Denken der Immanenz stellt Jullien der abendländischen Metaphysik 83 Vgl. Jullien 2009. 84 Vgl. Jullien 2000. <?page no="27"?> Bernadette Malinowski und Michael Ostheimer 28 entgegen, um im Zuge seiner Beschreibung der Andersartigkeit des chinesischen Denkens eine seiner provokantesten Thesen aufzustellen: dass das chinesische Denken keine Ontologie, also keine Lehre vom Sein, entwickelt hat. Es hat an den Begriffen „Gott“, „Sein“, „denkendes Subjekt“ und „Freiheit“ gleichsam vorbei gedacht und ein anderes erkenntnismäßiges Raster und entsprechend andere Denkgewohnheiten ausgebildet. Auf der Grundlage einer von ihm Stück für Stück erarbeiteten „eurochinesischen Lexik des Denkens“ 85 strebt Jullien einen Dialog zwischen den Kulturen an, wobei er versucht, dem Begriff des Dialogs das zurückzugeben, was er als ursprünglichen Sinn in sich trägt: ein Gegenüber verschiedener diskursiver Kohärenzformen, eine wechselseitige Erhellung und Durchdringung der intelligiblen Ressourcen zwischen Europa und China. Gerade weil Jullien zufolge das chinesische Denken keine Ontologie, also keine Lehre vom Sein entwickelt hat, ergeben sich in China Probleme bei der Vermittlung des griechischen Geistes, besonders „im Bereiche der Darstellung und Bezeichnung der Götter. Da den Chinesen“, wie Hellmut Flashar in dem Band Inszenierung der Antike schreibt, die antike Mythologie völlig fremd ist und irgendeine Götterlehre jenseits ihrer Vorstellungskraft liegt, hat man kurzerhand in der Aufführung des König Oedipus zugrundeliegenden Übersetzung für alle Gottheiten den Namen Apollon eingesetzt, weil dieser den Chinesen von der amerikanischen Raumfähre Apollo bekannt war. Aber auch lyrische Passagen und Chorlieder wurden gekürzt und chinesischen Gewohnheiten angepaßt, mag es auch einige strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen der klassischen chinesischen Oper und dem griechischen Chor geben. […] Bei all diesen Erscheinungen handelt es sich nicht um einen bloßen Export griechischen Theaters in außereuropäische Kulturen, sondern um souveräne Adaptationen, die auch zu eigenständigen Mischformen führen. 86 Für eine nicht zuletzt für deutsch-chinesische Rezeptionsprozesse aufgeschlossene Komparatistik ergäbe sich hier eine ebenso reizvolle wie anspruchsvolle Aufgabe, nämlich die Rekonstruktion der Austauschbeziehungen bzw. den Vergleich von kulturellen Wissensformen und literarischen Darstellungsformen zwischen Europa und China. 85 Jullien 2008, 105. 86 Flashar (2009), 298. <?page no="28"?> Zur Komparatistik als Wissenspoetik 29 Literaturverzeichnis Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann, Darmstadt 1998. Albrecht, Andrea: „Zur textuellen Repräsentation von Wissen am Beispiel von Platons Menon“, in: Tilmann Köppe (Hg.): Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge. Berlin/ New York: de Gruyter 2011, S. 140-163. Böhme, Hartmut: „Wer wir sind. 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Mythensammlungen, die den Mythos unter Stoff- und motivgeschichtlicher Perspektive untersuchen, 3 bis hin zu ausgewählten Einzelaspekten wie beispielsweise dem Zusammenhang von Mythos und Moderne 4 oder von Mythos und Romantik. 5 Das begriffliche Umfeld des Terminus ‚Mythos’ ist dementsprechend vielfältig und reicht von der ‚Mythologie’ über die ‚Mythostheorie’ bis hin zur ‚Mythopoetik’ und ‚dem Mythischen’. Hinzu kommt, dass nach dem medial turn ‚Mythos’ zu einem Begriff der öffentlichen Kommunikation geworden ist, der zumeist mit dem Begriff ‚Kult’ einhergeht, wie etwa Roland Barthes gezeigt hat. 6 Zugleich ist der Mythos zu einem Thema in fast allen Geistes- und Kulturwissenschaften geworden. Nicht nur die Literaturwissenschaft, auch die Theologie, Kunstwissenschaft, Philosophie, Soziologie oder Ethnologie zeigen großes Interesse an diesem Forschungsgegenstand. 1 Aleida und Jan Assmann: Art. „Mythos“. In H. Cancic u.a. (Hg.): Handwörterbuch religionsgeschichtlicher Grundbegriffe. Bd. IV. Stuttgart 1998. S. 179-200. 2 Vgl. hier exemplarisch: Gerhart von Graevenitz: Mythos. Zur Geschichte einer Denkgewohnheit. Stuttgart 1987; Christoph Jamme: „Gott an hat ein Gewand“. Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart. Frankfurt a. M. 1999; Wilfried Barner, Anke Detken, Jörg Wesche (Hg.): Texte zur modernen Mythentheorie. Stuttgart 2003. 3 U.a. Karl Kerényi: Die Mythologie der Griechen. Die Götter- und Menschheitsgeschichten (Band 1). Nördlingen 1983. Ein prominentes Beispiel ist sicher auch die Reihe Mythos im Reclam Verlag, die zu ausgewählten Mythen Lesebücher bereitstellt, die einen ersten Überblick über die Rezeptionsgeschichte des jeweiligen Mythos liefern. Exempl.: Wolfgang Storch (Hg.): Mythos Orpheus. Texte von Vergil bis Ingeborg Bachmann. Leipzig 2006. 4 Karl Heinz Bohrer: Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion. Frankfurt a. M. 1983. 5 Manfred Frank: Der kommende Gott (Vorlesungen über die neue Mythologie; 1). Frankfurt a. M. 1982; Manfred Frank: Mythendämmerung. Richard Wagner im frühromantischen Kontext. Paderborn u.a. 2008. 6 Roland Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt a. M. 1964. <?page no="31"?> Stephanie Waldow 32 Doch bei aller disziplinübergreifender Arbeit gibt es noch immer keine anerkannte Definition des Mythos. 7 Allerdings - und dies ist der erste Kunstgriff des Mythos - ist der Mangel an Fassbarkeit zugleich ein, wenn nicht das dem Mythos inhärente Prinzip. Aus diesem Grund soll und kann auch keine Definition des Mythos geleistet werden. Stattdessen steht im Folgenden die exemplarische Lektüre eines Textes im Mittelpunkt, der zum einen Formen und Funktionsweisen des Mythos veranschaulicht und zum anderen die wechselseitige Bedingtheit von Mythos und Erzählung, die der Titel „Literatur und Mythos“ ja bereits nahelegt, bis aufs Äußerste praktiziert. Gezeigt werden soll außerdem, dass die von Platon in seinem zweiten Buch der Politeia eingeführte Antithese von Mythos und Logos so nicht haltbar ist. Der Mythos wird hier mit dem Erzählen von unwahren Geschichten gleichgesetzt und als Lüge disqualifiziert. Der Mythos als ein dem Logos entgegensetztes Prinzip wird auf diese Weise nicht nur in den Bereich der Fiktion verbannt, sondern gilt darüber hinaus als moralisch verwerflich. Als Welterklärungsmodell spielt er nur als Negativfolie eine Rolle. 8 Interessanterweise benutzt Platon in seinen Dialogen allerdings selbst mythische Elemente, um seine Philosopheme zu veranschaulichen. 9 D.h. die Differenz von Mythos und Logos wird zwar inhaltlich postuliert, formal aber bereits bei Platon unterlaufen. Ein Blick in die Wortgeschichte bestätigt diesen Umstand: Mythos und Logos bedeuten ursprünglich beide ‚Wort’ oder ‚gesprochene Rede’. 10 An Platons Umgang mit dem Mythos zeigt sich aber noch etwas anderes: Der Mythos stellt offensichtlich eine Erzählweise bereit, die alternative Erkenntnismodelle eröffnet. Ein Erkennen, das wesentlich an den Akt des Erzählens gebunden ist. Mehr noch: Die Wechselwirksamkeit von Erzählen und Erkennen ist eines der wichtigsten, wenn nicht das signifikanteste Merkmal des Mythos. Demzufolge ist eine klare Unterscheidung, wie vielfach in der Forschung geschehen, in den Mythos als ein Denk- oder ein Erzählmodell ebenso wenig haltbar. 11 Von Beginn an existieren beide Perspektiven auf den Mythos und ergänzen sich sogar wechselseitig. Dies möchte ich anhand einer Lektüre von Sibylle Lewitscharoffs Roman Blumenberg diskutieren, der aus zwei Gründen besonders interessant erscheint: Erstens wird hier nicht ein einzelner Mythos aufgegriffen und in literarische Rezeption überführt, sondern gleich eine ganze Mythostheorie. Noch dazu eine Mythostheorie, die 7 Vgl. Walter Burkert: Platon in Nahaufnahme. Ein Buch aus Herculaneum (Lectio Teubneriana; 2). Stuttgart / Leipzig 1993. 8 Platon: Politeia. In: Ders.: Werke in acht Bänden (Bd. IV). Hg. v. Gunther Eigler. Darmstadt 1971, S. 364ff. 9 Exemplarisch: Platon: Phaidros. In: Ders.: Werke in acht Bänden (Bd. V). Hg. v. Gunther Eigler. Darmstadt 1983. 10 Exemplarisch: Ute Heidmann Vischer: Art. „Mythologie“. In: H. Fricke u.a. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. II. Berlin/ New York 2000. S. 660-664; Ute Heidmann Vischer: Art. „Mythos“. In: H. Fricke u.a. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (Bd. II). Berlin/ New York 2000. S. 664-668. 11 Vgl. dazu: Stephanie Waldow: Funktionen und Theorien des Mythos. Eine Einführung. Ersch. Reihe: Grundlagen der Germanistik. Hg. v. Christine Lubkoll, Martina Wagner-Egelhaaf. Erich Schmidt Verlag. Berlin 2013. <?page no="32"?> Literatur und Mythos 33 den Mythos als ein sprachliches Modell auffasst, welches in der Lebenswelt verankert ist. Damit nimmt Lewitscharoff eine entscheidende Potenzierung vor: sie stellt das Wirkungspotenzial des Mythos auf den Prüfstand und fragt nach den Grenzen und Möglichkeiten von Sprache und Erkenntnis, gerade weil die durch das Erzählen gewonnene Erkenntnis in diesem Fall zunächst einmal lautet: nicht alles ist erkennbar und schon gar nicht erklärbar. Aber genau hier setzt der Mythos an: er setzt gegen das Wissen das Nicht-Wissen, gegen die logische Erklärung die poetische Erzählung. Dass dabei Lewitscharoffs Text selbst als ein mythischer Text gelesen werden kann, ist dann fast schon ‚logische’ Konsequenz. II. Sibylle Lewitscharoffs Roman Blumenberg „Sibylle Lewitscharoffs Blumenberg ist ein kühner Roman. Sein Geheimnis gibt er nicht preis.“ 12 So oder ähnlich lauten die Titel der Buchbesprechungen, die sich mit Lewitscharoffs Text auseinandersetzen. Statt sein Geheimnis preis zu geben, lässt der Roman den Leser wissen, dass er nichts weiß und das ist sehr viel mehr als zu Beginn der Lektüre. Ein Geheimnis bleibt auch der Titel des Romans: ‚Blumenberg’ - zweifelsohne ist hier der Philosoph Hans Blumenberg gemeint, aber eine Biografie liefert Lewitscharoff nicht, vielmehr eine literarische Umsetzung von Blumenbergs Philosophie. Geleistet wird eine literarische Arbeit am Mythos, am Mythos im Sinne der Theorie Hans Blumenbergs, aber gleichzeitig auch am ‚Mythos Blumenberg’. Das Feuilleton spricht von einer „verehrungsvollen Fantasie, die Blumenberg mit Zitaten und Motiven seines Denkens umspielt.“ 13 Dafür erhielt die Stuttgarter Autorin Sibylle Lewitscharoff 2011 den Wilhelm-Raabe-Preis der Stadt Braunschweig und des Deutschlandfunks. Der Roman beginnt, indem Lewitscharoff der Figur des Münsteraner Philosophen kurzerhand einen Löwen ins Arbeitszimmer setzt. Einen Löwen, über dessen Existenz sich streiten lässt, denn außer der Figur Blumenberg und einer Nonne, der Blumenberg zufällig begegnet, kann niemand diesen Löwen sehen, wenngleich er durch seine Aura auch Blumenbergs Studenten in den Bann zieht. Beschäftigt man sich mit der Philosophie Hans Blumenbergs, wird transparent, dass es dem Philosophen um die Erkenntnis strukturierende und Mythen bildende Kraft von Metaphern und Bildern geht. Im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit stehen vor allem literarische Mythen. Anders als die funktionalistischen, lebendigen Mythen schriftloser Kulturen werden die literarischen Mythen nach Blumenberg ständig um- und weitergeschrieben. Demzufolge ist der Mythos immer auch schon Rezeption. Hervorgehoben wird hier der spielerische und vor allem variantenreiche Umgang mit dem Mythos. Der Löwe nimmt dabei eine zentrale Stellung in Blumenbergs Werk ein. Posthum wurde etwa ein Band veröffentlicht, in dem dokumentiert ist, wie sich Blumenberg Zeit seines Lebens mit dem König der Tiere bzw. mit den Mythen 12 Ijoma Mangold: „Der Trost des Löwen. Sibylle Lewitscharoffs ‚Blumenberg’ ist ein kühner Roman. Sein Geheimnis gibt er nicht preis“. In: ZEIT ONLINE, 8. 9. 2011. 13 Gregor Dotzauer: „Trost sollen mir die Löwen spenden“. In: Der Tagesspiegel, 11.9.2011. <?page no="33"?> Stephanie Waldow 34 um denselben auseinandergesetzt hat. 14 Jener Löwe wird, wie ich im Folgenden zeigen möchte, bei Lewitscharoff zur absoluten Metapher und überführt die aus dem Absolutismus der Wirklichkeit resultierende Unsagbarkeit in Sprache. Allerdings in eine Sprache, die ihr Geheimnis nicht preisgibt - die den Dingen Namen gibt, ohne sie in Begrifflichkeit zu überführen. III. Gegen das Absolute die absolute Kunst Lewitscharoffs Buch kreist um die Plötzlichkeit des Todes, die Angst vor demselben und schließlich um die Unergründbarkeit des Lebens. Wie absolut ist die Wirklichkeit, welche Strategien hat der Mensch, um ihr zu begegnen und vor allem, was kann er dem Absolutismus entgegensetzen? Die Figuren, die Lewitscharoff präsentiert, haben - so unterschiedlich sie auch sind - alle eines gemeinsam: Sie suchen nach Orientierung und nach Antworten auf ihre offenen Fragen die Lebenswelt betreffend. Auch der Philosoph Hans Blumenberg, der als Figur in Lewitscharoffs Buch Vorlesungen über die Trostbedürftigkeit des Menschen hält, weiß um diesen Absolutismus: Er bedeutet, dass der Mensch die Bedingungen seiner Existenz nicht annähernd in der Hand hatte und, was wichtiger ist, schlechthin nicht in der Hand glaubte. 15 Der Einbruch des Absoluten war nicht mitteilbar. 16 Der Zufall scheint die schicksalbestimmende Kraft zu sein, der alle Figuren ausgesetzt sind. Es ist der Zufall, der die Figuren zusammen- und auch wieder auseinanderführt, der Blumensträuße an ungeahnte Empfänger liefert 17 und der schließlich den Tod herbeiruft, überraschend und unerwartet, so dass fast die Glaubwürdigkeit des Erzählers auf dem Spiel steht. Aber die Wirklichkeit ist nun einmal absolut und nicht mit den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit zu kontrollieren. So viele Tode verhältnismäßig junger Menschen. Man wird einwenden, der Erzähler hätte besser daran getan, Verzicht zu üben und nicht mit einer solchen Häufung aufzuwarten, noch dazu nach Art eines Buchhalters, ohne die verflossene Zeit zu durchdringen und die Tode in einem verschlungenen Netz anspielungsreicher Bezüge zu bergen. Ein Erzähler hat aber die Pflicht, auch das Unwahrscheinliche wahrheitsgetreu zu verzeichnen. Möglichst knapp. So wurde in der Geschichte nun mal gestorben, und so wurde es auch festgehalten. 18 Gerhard stirbt, auf dem Höhepunkt seiner Philosophenkarriere, plötzlich an einem Hirnschlag. Richard gerät während seiner Reise auf dem Amazonas in einen Hinterhalt und Hansi, der Literat unter ihnen, scheitert an der Wirklichkeit, wird von der Polizei aufgegriffen und stirbt noch auf der Straße. Isa, wie alle anderen ebenfalls 14 Vgl. dazu die Sammlung von Martin Meyer: Hans Blumenberg: Löwen. Frankfurt a. M. 2001. 15 Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt a. M. 1979. S. 9. 16 Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg. Berlin 2011. S. 146. 17 Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg. S. 76f. 18 Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg. S. 196f. <?page no="34"?> Literatur und Mythos 35 eine Blumenbergstudentin, neurotisch noch dazu, begeht - gekleidet wie ein weißer Engel - Selbstmord, im festen Glauben, „alle finalen Rezepte zu überwinden, da der Mensch nur Vorzeichen dessen ist, was aus ihm werden soll.“ 19 So macht sie es sich zur Aufgabe, den „Absolutismus der Wirklichkeit abzubauen und zu einer Figur der schönen Resignation zu werden“, 20 doch letztlich bleibt auch ihr Tod ein „Rätsel.“ 21 Gegen 15 Uhr zog sich Isa weiß an. Ein langes, fließendes Kreppkleid, weiße Kniestrümpfe und mädchenhafte Riemchenschuhe. [...] Sie zog den Mund kraus. Wie ein ironischer Schnörkel, dieser Mund, sagte sie sich, war aber sogleich von sich hingerissen. Ihre Augen, so tief, tief, tief. Die Haut so weiß. Alles so weiß. Die Augenbrauen wie flachliegende Satzklammern, jetzt hoben sie sich, jetzt senkten sie sich, hoben sich wieder, senkten sich wieder, war das nicht schön? 22 Dass sie mit ihrem Sturz von einer Brücke einen Stau auf der Autobahn verursacht, in den ausgerechnet ihr akademischer Lehrer Blumenberg gerät, liest sich wie eine Ironie des Zufalls. 23 Isa ringt der Absolutheit des Todes die Ästhetik ab und führt damit direkt in die Philosophie Hans Blumenbergs ein, deren zentraler Motor die Entlastung von eben jenem Absolutismus der Wirklichkeit ist. Sowohl seine Mythosals auch seine Metapherntheorie sind auf diesen Problemkreis ausgerichtet. Die Entlastung reicht von einer Absage an eine starre Terminologie durch die Metapher über den Abstand vom theologischen Absolutismus durch die neuzeitliche Selbstbehauptung bis hin zur Entlastung vom absoluten Anfang durch die Arbeit am Mythos. Absolute Anfänge machen uns sprachlos im genauen Sinne des Wortes. Dieses aber ist es, was der Mensch am wenigstens erträgt und zu dessen Vermeidung oder Überwindung er die meisten Anstrengungen seiner Geschichte unternommen hat. 24 Die Neuzeit als Epoche der humanen Selbstbehauptung reagiert zunächst mit Technik und Vernunft auf eben jenen Absolutismus. Nach Blumenberg geht damit aber eine Entfremdung einher, die schließlich zu einer „objektiven Kulturschuld“ 25 führt. Stattdessen liegt die Aufgabe nach Blumenberg in einer Mäßigung der Sinnerwartung. 26 Gerade hier übernimmt der Mythos eine wichtige Aufgabe: die Arbeit des Mythos befreit von dem Bedrohlichen des Absolutismus, indem sie diesen nicht ausgrenzt, sondern zum Gegenstand der Erzählung werden lässt. Die Leistung der Arbeit am Mythos liegt in der poetischen Kreativität, die Distanz erzeugt, ohne in eine erneute Totalität zu überführen. Insofern ist die Logik des Mythos vom neuzeitlichen Bestreben nach Beherrschung von Welt vollkommen unterschieden. 19 Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg. S. 60. 20 Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg. S. 60. 21 Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg. S. 113. 22 Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg. S. 73. 23 Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg. S. 70f. 24 Hans Blumenberg: „Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotenzial des Mythos“. In: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption (Poetik und Hermeneutik, Bd. IV). Hg. v. Manfred Fuhrmann. München 1971. S. 11-67. 25 Hans Blumenberg: Legitimität der Neuzeit. Frankfurt a. M. 1988. S. 32. 26 Hans Blumenberg: Legitimität der Neuzeit. S. 127. <?page no="35"?> Stephanie Waldow 36 So ist - in Anlehnung an Heidegger - auch Blumenbergs „Prinzip des unzureichenden Grundes“. 27 zu verstehen, welches dafür plädiert, vom letztbegründeten Wissen Abstand zu nehmen und den Primat weniger auf theoretisches Wissen als vielmehr auf die Ausbildung eines eigenen Typus an Rationalität unter Einbeziehung mythischer Elemente zu setzen. Dabei ist das Prinzip kein Postulat des Verzichts auf letzte Gründe, vielmehr muss die Welt selbst zur ‚unbegründeten Sache’ werden, um neben oder in sich Unergründbares dulden zu können. 28 Letztlich wird so das Abwesende miteinbezogen und zu einem Anwesenden. Da in der Anschauung immer nur das momentan Anwesende präsent ist, müssen Mittel gefunden werden, das Abwesende und als Bedrohung Empfundene zugänglich zu machen. 29 Die Einsicht in die Kontingenz und letzte Unbegründbarkeit des Lebens lässt den Menschen Strategien wie die der „Arbeit am Mythos“ entwickeln; dies hat Blumenberg ausführlich in seinem gleichnamigen Buch gezeigt. Auf diese Weise kann die fundamentale Unsicherheit bewältigt und das Abwesende im Anwesenden erkennbar gemacht werden, ohne es in eine Endgültigkeit überführen zu müssen. Dass dem Absolutismus nicht mit einer Überhöhung des Realismus beizukommen ist, sondern nur mit der Fähigkeit zur Illusion, erkennt auch Lewitscharoffs Blumenberg. Die Figur weiß um das Orientierungs- und Trostbedürfnis seiner Studenten und warnt zugleich vor zuviel Realismus, denn die „Deutungen der Welt haben keinen anderen Dienst zu leisten, als den, dem Menschen Trost zu bieten.“ 30 Die Bewusstseinsprogramme, die wir uns verschrieben haben, die fortwährenden Ansporne, mehr Bewusstsein zu schaffen, sie nötigen uns dazu, unsere Entscheidungen nach Maßgabe des Realismus zu treffen. Das herrische Einfallen der Sachen in die Worte beraubt uns der Fähigkeit, Trost zu spenden, Trost zu empfangen. [...] Er führte aus, insofern sich die Menschen wechselseitig immerfort zum Realismus nötigten, seien sie zwar wie eh und je trostbedürftig, reell jedoch untröstlich. Sie hätten [...] die Fähigkeit zur Illusion fahren lassen und sich damit eines weiten Feldes der Tröstung beraubt, das sie aus der angsterregenden Verschlungenheit des Werdens und Vergehens befreien könnte. 31 Das Wissen um die Unbegründbarkeit der menschlichen Existenz bringt ästhetische Strategien hervor, um mit dieser Angst umgehen zu können. Eine davon ist das Erzählen, welches der Sprachlosigkeit über die eigene Unbegründbarkeit fiktive Möglichkeiten zur Seite stellt. Da absolute Anfänge sprachlos machen und der Mensch diese Sprachlosigkeit nicht ertragen kann, fängt er an, Geschichten zu erzählen, um diese Angst zu kanalisieren. 32 So wird schnell klar, dass der Absolutismus der Wirklichkeit nicht nur als Mangelsituation, sondern auch als Garant für eine ästhetische Produktion zu verstehen 27 Hans Blumenberg: „Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik.“ In: ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Stuttgart 1981. S. 104-137. 28 Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. S. 682. 29 Hans Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit. Frankfurt a. M. 1986. S. 44, 99. 30 Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg. S. 22. 31 Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg. S. 23f. 32 Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos. S. 28. <?page no="36"?> Literatur und Mythos 37 ist. 33 Gerade das Vertrauen in das Unvertraute und die Erfahrung mit dem Unerklärlichen sind es, die die Angst überwinden helfen. Nicht zuletzt in seinem Aufsatz über „Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos“ im Rahmen einer Poetik- und Hermeneutik-Tagung macht Blumenberg auf diese Wechselwirksamkeit von Absolutismus und Ästhetik bzw. Terror und Spiel aufmerksam: allein die Ästhetik, ausgedrückt in Metapher und Arbeit am Mythos, ist in der Lage, den Schrecken zu depotenzieren. 34 Die Leistung der Arbeit am Mythos besteht darin, den Terror in Spiel aufzulösen. Auch Odo Marquard weist darauf hin, dass es Hans Blumenberg um eine Entlastung vom Absoluten geht, die mit einem Recht auf Mythen und einer melancholischen Verteidigung der Heiterkeit einhergehe. Die Arbeit am Mythos ist also nicht allein Erklärungsfunktion, sondern zugleich auch eine Bearbeitung von Welt und damit kreative Leistung. Durch diese Kreativität bewältigt der Mensch die Undurchdringlichkeit der Welt und die Unergründbarkeit allen Seins. Der Schrecken wird mit Hilfe der Imagination gebannt. Die Art, wie die Arbeit am Mythos sich im alten Epos darstellt, ist der Form nach - und nicht nur durch das, was erzählt wird - der Erfolg dieser Arbeit selbst. Zum ersten Male zeigt sich, was ästhetische Verfahrensweisen gegen die Unheimlichkeit der Welt auszurichten vermögen. 35 Interessant an dieser Stelle ist die Umdeutung von Platons „Höhlengleichnis“ durch die Philosophie Hans Blumenbergs, die auch in Lewitscharoffs Roman eine entscheidende Rolle spielt. Bei Platon können die Menschen, die in der Höhle gefesselt sind, nur Schattenbilder des Wirklichen wahrnehmen und jeder, der ihnen von der Wirklichkeit berichtet, wird mit dem Tode bedroht, um die Abbilder nicht als Schein entlarven zu können. Dagegen führt Blumenberg in seinen Höhlenausgängen vor, dass diejenigen, welche die Höhle nicht zur Jagd verlassen konnten, eine Welt der Phantasie entworfen haben. Muße tritt hier als kompensatorische Nebenform der Selbstbehauptung auf. 36 Demnach existieren zwei Formen des Umgangs mit dem Absolutismus der Wirklichkeit: die Jäger, die sich die Welt durch materielle Arbeit verfügbar machen, und die Zurückgebliebenen, die Geschichten erzählen und dadurch die Arbeit am Mythos beginnen. So kann die Welt der Höhlenbilder von der Welt der Wirklichkeit entlasten, der Geist der Utopie erwächst in der Höhle und nicht außerhalb von ihr. Blumenberg nimmt hier eine Entplatonisierung des Höhlengleichnisses vor, indem er die Höhle zum Gesamtkunstwerk und zum Ort der kulturellen Selbstbefreiung werden lässt. Die Grenze zwischen Höhle und Außenwelt - ursprünglich Entfremdungs- und Differenzerfahrung - wird nun durch den Einbezug des Ästhetischen produktiv umgewendet und für die Selbstbehauptung des Subjekts genutzt. 33 Odo Marquard: „Zur Funktion der Mythologiephilosophie bei Schelling.“ In: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption (Poetik und Hermeneutik, Bd. 4). Hg. v. Manfred Fuhrmann. München 1971. S. 257-265. 34 Hans Blumenberg: „Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos“. S. 57. 35 Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. S. 149. 36 Hans Blumenberg: Höhlenausgänge. Frankfurt a. M. 1989. S. 33. <?page no="37"?> Stephanie Waldow 38 Dementsprechend lautet das letzte Kapitel in Lewitscharoffs Roman auch Im Inneren der Höhle. Gezeigt wird eine Höhle, die „kein Raum der Einsperrung“ ist und in dem „das Privileg der Schwachen, Geschichten zu erzählen“ seine Berechtigung hat. 37 In Lewitscharoffs Text ist der „Löwe Blickfang der Höhle“, einer Höhle, „deren Kleid wandelbar ist, wandelbar auch der Wall, an dem die Bilder auflaufen.“ 38 Die alte Höhle förderte das Aufkommen unsolider Gebilde. Ort der falschen Fertilität, Ort der trügerischen Nahrhaftigkeit, sagte Blumenberg. Aber wir sind in einer neuen Höhle, in der platonische Versprechungen so wenig ziehen wie in der alten. 39 Daran wird nicht nur deutlich, dass der Mythos, wie bereits in Aristoteles’ Poetik nachzulesen ist, eine kathartische Funktion innehat, sondern auch, dass die Arbeit am Mythos in der Lage ist, jenes Absolute in Ästhetik zu überführen. Demzufolge ist die Arbeit am Mythos eine poetische Strategie. 40 Darin besteht ihre kulturelle Leistung. Angst löst sich unter der Einwirkung der literarischen Rede auf. 41 Mythen sind „geglückte Versuche, dem Schrecken durch Geschichten über den Schrecken auszuweichen.“ 42 Allerdings lässt die zum Ästhetischen drängende Depotenzierung zu, dass Rudimente des Schreckens virulent bleiben. Insofern ist die Arbeit am Absoluten eine unendliche. Genau hier setzt Lewitscharoffs Buch an: Es setzt gegen den Absolutismus das Erzählen, gegen den Rationalismus das Unerwartete, gegen die Angst die Heiterkeit. So gesehen versteht sich der Roman Blumenberg als eine Arbeit am Mythos. Er praktiziert ein Erzählen, welches Abstand nimmt von einer restlosen Aufklärung, indem der Text das Recht auf das Unwahrscheinliche verteidigt. Sein spezifisch heiterer Ton resultiert aus der Einsicht in die Unbegründbarkeit menschlicher Existenz. Immer wieder wird deutlich, dass auch der Erzähler nicht allmächtig ist, er hat keine Kontrolle über das Erzählte und muss Abstand nehmen vom letztbegründeten Wissen. Seine Aufgabe ist es, auch das Unwahrscheinliche zu dokumentieren, selbst auf die Gefahr hin, an Glaubwürdigkeit zu verlieren. „Mit welcher Überlegenheit auch immer der Erzähler vorgibt, Bescheid zu wissen, er fischt hier bloß Luft aus der Luft. Wenn er ehrlich wäre, müsste er passen“. 43 Die kulturelle Handlung besteht also darin, das Unerklärliche mit einzubeziehen und dem Unwahrscheinlichen seine Würde zu lassen. 37 Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg. S. 212. 38 Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg. S. 204. 39 Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg. S. 211. 40 Vgl. dazu auch Stephanie Waldow: Der Mythos der reinen Sprache. Walter Benjamin, Ernst Cassirer, Hans Blumenberg. Allegorische Intertextualität als Erinnerungsschreiben der Moderne. München 2006. S. 225. 41 Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. S. 12. 42 Odo Marquard: „Diskussionsbeitrag zur ersten Diskussion: Mythos und Dogma“. Vorlage: Hans Blumenberg. „Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos“. In: Terror und Spiel. S. 528. 43 Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg. S. 82. <?page no="38"?> Literatur und Mythos 39 Den Mythos zu Ende bringen, das soll einmal die Arbeit des Logos gewesen sein. Diesem Selbstbewusstsein der Philosophie - oder besser: der Historiker der Philosophie - widerspricht, daß sich die Arbeit an der Endigung des Mythos immer wieder selbst als Metapher des Mythos vollzieht. Das Prinzip des unzureichenden Grundes im acte gratuit zur zentralen Idee der Ästhetik zu machen, heißt genauso, sie zu mythisieren, wie es etwa durch das Genie gemacht worden war. Die Welt selbst muß zur unbegründeten Sache von der Welt werden, damit sie unbegründbare Welten neben sich, in sich, gegen sich duldet. Nur im Universum der reinen Unverbindlichkeit kommt der ästhetische Gegenstand gegen alles andere auf. 44 Der Welt ihre Unbegründbarkeit lassen, darin besteht das ästhetische Prinzip des „unzureichenden Grundes.“ Selbstverständlich wird der Löwe in Lewitscharoffs Blumenberg nicht berührt. Ihm wird seine Würde gelassen, die aus der Unwahrscheinlichkeit seiner Existenz herrührt und Ausdruck findet in seiner anwesenden Abwesenheit. Der Handprobe hatte sich Blumenberg nach wie vor enthalten. Zartdünne Berührungspunkte existierten zwischen ihm und dem Löwen auch so. Ohne seine Einbildungskraft sonderlich anzustrengen, spürte er das Fell des Löwen an seiner Wange, spürte er die Tatze des Löwen an seiner Schulter. Fühlte er solchen Kontakt, war er dem Zwang zur radikalen Selbstverfügung enthoben. Von der Enthärtung der physischen Wirklichkeit bei unverwandt in die Erscheinung hineinblühendem Sein ging etwas zutiefst Beruhigendes aus. 45 IV. Der Löwe: Kunstgriff des Umverstehens Nicht umsonst erhält der Riss in der Wand von Blumenbergs Arbeitszimmer seine endgültige Bestimmung erst durch den Löwen. Daß der Löwe für sein Auftauchen keineswegs einen Riß in der Wand benötigte, die Atmosphäre für seine Verschwinde- und Erscheinungskünste andere Mittelchen bereithielt, litt keinen Zweifel, trotzdem bildete Blumenberg sich ein, der störende Riß sei jetzt endlich zu seiner wahren Bestimmung gelangt - Geistodem wehte, Geiststrahlen tasteten sich durch den Riß ins Zimmer. Er gratulierte sich dazu, daß er so stur gewesen war, jeden laut vorgetragenen Gedanken an eine Reparatur sofort abgeschnitten zu haben. 46 Liest man diesen Riss mit Ingeborg Bachmanns Gedicht Was wahr ist und bezieht die Heidegger-Rezeption, die sie mit dem Philosophen Hans Blumenberg verbindet und die sich unter anderem in ihrem Gedicht Böhmen liegt am Meer dokumentiert, mit ein, so wird deutlich, dass der Löwe der Sprache ‚auf den Grund’ geht. Bachmann setzt sich hier mit Heideggers Satz vom Grund auseinander. 44 Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. S. 681. 45 Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg. S. 123. 46 Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg. S. 40. <?page no="39"?> Stephanie Waldow 40 Du haftest in der Welt, beschwert von Ketten / doch treibt was wahr ist, Sprünge in die Wand. / Du wachst und siehst im Dunkeln nach dem Rechten, / dem unbekannten Ausgang zugewandt. 47 Der Löwe wird zum Sinnbild einer Sprache, die das Unerwartete und Unvertraute mit einbezieht. An Bachmanns Heidegger-Rezeption wird deutlich, dass Sprache zuerst zugrunde gehen muss, um sich wieder selbst konstituieren zu können. Erst die Absage an die Totalität einer starren Begrifflichkeit und das Zulassen der Offenheit verleiht Sprache ihre gesteigerte Ausdrucksfähigkeit. Zugrund - das heißt zum Meer, dort find ich Böhmen wieder. / Zugrund gerichtet, wach ich ruhig auf. / Von Grund auf weiß ich jetzt, und ich bin unverloren. 48 Folgt man der Philosophie Hans Blumenbergs, kann dem Anspruch der Wirklichkeit auf Faktizität nur durch eine Mehrdeutigkeit der Ästhetik widersprochen werden. Nur so ist ein Ausblick auf die Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit der Sprache gewährleistet. Notwendig ist eine „Korrektur der Lebenswelt, der Gewöhnlichkeit.“ 49 Nur wenn das Dargestellte, wie im Falle des Löwen, seine Eigenwirklichkeit hervorbringen kann, wird es zur Provokation gegenüber dem Absolutismus der Wirklichkeit und der Kontingenz des Lebens. Sprache wird auf diese Weise in eine Offenheit überführt, die sich der Faktizität entzieht bei gleichzeitiger Steigerung ihrer Prägnanz. Indem die dichterische Sprache ihre feste Bindung an Gegenstände und ihre Intentionalität auf die volle Bestimmung dieser Gegenstände preisgibt, ja indem die Sprache in letzter Konsequenz sich selbst widerspricht und ihre Verweisfunktion aufsprengt, wird sie selbst dinghaft. Francis Ponge hat die Sprache als ein vom Menschen ausgeschiedenes Gehäuse nach der Art einer Muschel vorgestellt [...]. Um unsere Sprachgehäuse uns selbst als unbekannte Dinge begegnen zu lassen, müssen wir die Gebrauchsfunktion, den objektiven Bedeutungswert der Worte zerstören, so daß sie - immer nach Ponge - ihrerseits zu Dingen werden, von uns hervorgebracht und doch nicht mehr von uns begreifbar. Diese Ontologie des ästhetischen Gegenstandes, die das Kriterium der Angemessenheit der Form an den Inhalt, der Sprache an das in ihr Bedeutete preisgibt, verliert damit auch die Entscheidbarkeit der Frage nach der Vollendung des ästhetischen Werkes. Unbeständigkeit (instabilité) gehört wesentlich zum ästhetischen Werk. 50 Zu solch einem „Sprachgehäus“ wird Lewitscharoffs Löwe. Er tritt auf als unbekanntes Ding, fernab von seinem objektiven ‚Gebrauchswert’ bzw. seiner ihm zugehörigen Begrifflichkeit und konfrontiert auf diese Weise mit dem Nicht- 47 Ingeborg Bachmann: „Was wahr ist“. In: dies.: Werke. Bd. 1. Gedichte, Hörspiele, Libretti, Übersetzungen. Hg. v. Christine Koschel, Inge von Weidenbaum, Clemens Münster. München 1993. S. 118. 48 Ingeborg Bachmann: „Böhmen liegt am Meer“. In: dies.: Werke. Bd. 1. S. 167. 49 Hans Blumenberg: „Die Selbsterfindung des Unpoeten. Paul Valérys mögliche Welten“. In: Neue Züricher Zeitung. 17.12.1982. S. 34 50 Hans Blumenberg: „Sokrates und das ‚objet ambigu’. Paul Valérys Auseinandersetzung mit der Tradition der Ontologie des ästhetischen Gegenstandes“. In: EPIMELEIA. Die Sorge der Philosophie um den Menschen. Helmut Kuhn zum 65. Geburtstag. Hg. v. Franz Wiedmann. München 1964. S. 285-323, hier S. 320. <?page no="40"?> Literatur und Mythos 41 Begreifbaren. Der Löwe überträgt Sprache von der Eindeutigkeit in die Uneindeutigkeit und macht sie offen für das Unerwartete. So gesehen ist auch hier der Löwe ein ‚Gehilfe’: er übersetzt Sprache von der Begrifflichkeit in die Unbegrifflichkeit. Der Löwe wird zum leibhaftigen „Sprachgehäus“, indem er seine ursprüngliche Verweisfunktion aufsprengt und dinghaft wird. Der Bedeutungswert des Begriffs bricht auf und der Löwe erhält auf diese Weise unmittelbare Präsenz. Er gefährdet den Sprach- und Sinnfluss des Textes; als solcher ist er Ausdruck der ‚Widerstimmigkeit’. Er bestritt die Nacht und abermals die Nacht mit Lesen, Karteikarten-Anlegen und Diktieren. [...] Der Löwe war ihn inzwischen unentbehrlich geworden. Umgekehrt schien der Löwe sich auch an ihn gewöhnt zu haben. Wie ein alter Haushund schlief er entspannt auf dem Teppich und hob nur selten den Kopf, um die Lage zu überprüfen. [...]Und doch. Und doch. Sobald er sich vom Fenster abwandte, mußte Blumenberg zugeben, daß er in seinem Zimmer unter einem wirksameren Einfluß stand als dem des Mondes, einem gewaltigen sogar, der ihn aus seiner Welt zog, in welcher Erfahrungstatsachen galten, durchdrungen und erfaßt vom logischen Denken. Umformung der Materie in die reine Erscheinung unter Wegziehung aller Substanzen, die gemeinhin zur Materie gehörten, gab es das? [...] Manchmal überkam ihm das Mißtrauen, daß all die Worte, die er Nacht für Nacht auf die geduldig fortrückenden Bänder der Stenorette sprach, tote Worte waren, tot, tot, tot, weil sie für das Wesen auf dem Teppich nicht galten. 51 Diese Widerstimmigkeit ist es, die letztlich die Vermutung nahe legt, dass es sich im Falle des „Sprachgehäus“ Löwen um eine absolute Metapher im Sinne der Philosophie Hans Blumenbergs handelt. Denn nach Blumenberg ist es das ursprüngliche Anliegen der Metapher, Bedeutungen so freizusetzen, dass sie die Ordnung der Semantik stören. Allerdings wird diese Störung immer wieder produktiv gewendet; die Metapher bricht die aktuellen Zusammenhänge auf, um auf andere verweisen zu können. Dadurch ist sie in der Lage, das Unvorhergesehene und Fremde in den Text zu integrieren und evoziert einen Reichtum des Verstehens. Der Löwe als das zunächst Fremde, als ,Wunder‘, wird im Verlauf des Textes zum integralen Bestandteil der Lebenswelt der Figur Blumenberg. Er gibt dem weiteren Erzählgeschehen einen neuen Zusammenhang. Auf diese Weise integriert er das Unfassbare und in seiner Unbegrifflichkeit Absolute der menschlichen Existenz. Mit Blick auf den Löwen sprach er beseelt. Sprach von [...] einer kleinen Meldung aus den Vermischten Nachrichten, derzufolge ein Amerikaner eine Zeithaube erfunden hatte, die ein bißchen wie ein gestickter Kaffeewärmer aussah, gleichwohl sollte sie dem Träger ermöglichen, sich in die Welt vor der Geburt und nach dem Tod hineinzutasten. [...] Um etwas gänzlich Unvertrautes ins Vertrauen zu ziehen, dazu bedarf es raffinierter Kunstgriffe, und sei’s ein Häubchen, das wie ein gestickter Kaffeewärmer aussieht. 52 Der Löwe ist im Sinne der Philosophie Hans Blumenbergs ein „Kunstgriff des Umverstehens“: 51 Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg. S. 120f. 52 Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg. S. 26. <?page no="41"?> Stephanie Waldow 42 Die Metapher aber ist zunächst, um mit Husserl zu sprechen, Widerstimmigkeit. Diese wäre tödlich für das seiner Identitätssorge anheimgegebene Bewußtsein; es muß das ständig erfolgreiche Selbstrestitutionsorgan sein. Es folgt, auch und gerade gegenüber der Metapher, der von Husserl formulierten Regel: Anomalität als Bruch der ursprünglich stimmenden Erscheinungseinheit wird in eine höhere Normalität einbezogen. Das zunächst destruktive Element wird überhaupt erst unter dem Druck des Reparaturzwangs der gefährdeten Konsistenz zur Metapher. Es wird der Intentionalität durch einen Kunstgriff des Umverstehens integriert. Die Erklärung des exotischen Fremdkörpers zur bloßen Metapher ist ein Akt der Selbstbehauptung: die Störung wird als Hilfe qualifiziert. In der Erfahrung entspricht dem die Notwendigkeit, auch den überraschendsten Auftritt an der Grenze zum vermeintlichen Wunder noch als dem kausalen Gesamtsystem angehörig einzugliedern. 53 Der Löwe fungiert zunächst als Fremdkörper, in dem sich die Gesamtheit des Nicht- Darstellbaren, des Unvorstellbaren komprimiert. Im Verlauf des Textes wird dieses Nicht-Darstellbare allerdings in einen Normalzusammenhang überführt. Der Löwe verliert an Schrecken; ihm wird seine Unfassbarkeit genommen. Diese Integration ist die poetische Leistung der Metapher. Das ehemals Unfassbare wird der menschlichen Lebenswelt zugeordnet, es bekommt ein ‚Gesicht’ und wird zum physiognomischen Ausdruck, anstatt bloßes Zeichen für etwas zu sein. Die funktionalen Zusammenhänge werden durch die Metapher aufgestört und in einen neuen Kontext eingebunden. Auf diese Weise verweigert die Metapher den objektiven Standard der Sprache; als Form der Unbegrifflichkeit nimmt sie Rekurs auf das Unsagbare. Es wird ein Punkt erreicht, an dem der semantische Dienstwert der Sprache gleichsam versagt. Ich werde nicht behaupten, daß in diesem Grenzereignis selbst der Spitzenwert der ästhetischen Möglichkeiten der Sprache zu sehen ist; aber die Nähe der Gefährdung durch dieses Grenzereignis bestimmt wesentlich den ästhetischen Reiz der poetischen Sprache. In diesem Horizont droht es für die der Sprache zugewandte Aufmerksamkeit sinnlos zu werden, den Bedeutungsspielraum auszuschöpfen und die Vielfalt des Möglichen auf die Stimmigkeit mit dem Kontext hin zu befragen. [...] Der Horizont von Informationen, Mitteilung, Anweisung zerbirst, die primär erwartete Leistung der Sprache ist nicht mehr Bezeichnung und Bedeutung. [...] [D]er ästhetische Reiz liegt hier wie überall in der Annäherung an den Umschlagpunkt in das Unmögliche, an die Selbstaufhebung, in der Annäherung, sage ich, nicht in der Identifizierung mit diesen Extremen. 54 V. Der Löwe als absolute Metapher Die Metapher ist nach Blumenberg die Bedingung der mythischen Begriffsbildung, denn Mythen sind erste sprachförmige Deutungssysteme, die das Unheimliche ins 53 Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt a. M. 1979. S. 88f. 54 Hans Blumenberg: „Sprachsituation und immanente Poetik“. In: Immanente Ästhetik - ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne (Poetik und Hermeneutik Bd. II). Hg. v. Wolfgang Iser. München 1966. S. 145-155, hier S. 147. <?page no="42"?> Literatur und Mythos 43 Bild setzen. 55 So trägt auch der Löwe wesentlich zur Depotenzierung der Angst bei, schützt vor dem Absolutismus und gibt das Vertrauen in die Welt zurück: Die Himmelsflucht, aus der der Löwe herabgeströmt war, um sich als täuschend echte Erscheinung zurechtzukomponieren und in natürlicher Anmutung auf dem Teppich zu dösen, war dazu da, sein, Blumenbergs, Vertrauen in die Welt, zumindest bei Nacht, zu festigen. [...] Der Löwe sorgte dafür, daß es ohne Angst geschah. [...] Der Löwe beschützte vor der Todesfurcht. 56 Überfiel ihn die Angst jetzt, gab er sie ohne Hemmung an den Löwen weiter, der sie verstand und sogleich entschärfte. 57 Die Metapher ist sowohl im Mythos als auch in der Sprache beheimatet und übersetzt zwischen beiden und dies nicht durch einen einmaligen Akt der Übertragung, sondern in Form einer permanenten Wechselbeziehung zwischen Mythos und Sprache, was die gegenseitige Bedingtheit beider unterstreicht. Diese eigentümliche Schwellenposition kann sie vor allem dadurch einnehmen, weil sie einen sinnlichen und nicht fassbaren Eindruck konkretisiert und prägnant darzustellen weiß, ohne diesen in Begrifflichkeit überführen zu müssen. Für Blumenbergs Metaphernkonzept ergibt sich daraus, dass Metaphern dort ihren Ort haben, wo das begriffliche Denken nicht zu einem Abschluss kommen kann. Die Metapher ist also ein Sprachvorgang. 58 Aufgrund dieser Eigenschaften ist sie ein Grenzphänomen zwischen Noch-Nicht und Nicht-Mehr bzw. zwischen Sagbarem und Unsagbarem. Die sich allein im gegenwärtigen Augenblick herstellende Metapher ist durch ihre Fähigkeit zur Prägnanz und Intensivierung bei gleichzeitiger Vieldeutigkeit charakterisiert, durch ihre Schwellenposition zwischen Anwesenden und Abwesenden; sie ist unübersetzbar bei gleichzeitiger unendlicher Übersetzbarkeit. 59 Behält man dieses im Auge, so kommt einer ganz bestimmten Form von Metaphorik, die ich als ‚Sprengmetaphorik’ beschrieben habe, eine signifikante Bedeutung zu, weil in ihr mit der intentionalen Erweiterung deren Vergeblichkeit immer schon zugleich ausgesprochen ist, der Vorgriff mit der Zurücknahme des Übergriffs. Die Erfindung dieser Metapherkonfiguration liegt in der Tradition der negativen Theologie, über Gott unentwegt sprechen zu sollen, ohne über ihn etwas sagen zu können sich zutrauen zu dürfen. [...] Der Raum der Metapher ist der Raum der unmöglichen, der fehlgeschlagenen oder der noch nicht konsolidierten Begriffsbildung. 60 Die Metapher entsteht nach Blumenberg durch den Prozess der Bedeutsamkeitsherstellung und zeichnet sich durch Dichte und Prägnanz bei gleichzeitiger Unbestimmtheit aus. Bedeutsam werden die Dinge vor allem dadurch, dass der Mensch 55 Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. S. 450. 56 Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg. S. 126. 57 Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg. S. 129. 58 Vgl. Stephanie Waldow: Der Mythos der reinen Sprache. S. 244f. 59 Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. S. 80. 60 Hans Blumenberg: „Beobachtungen an Metaphern“. In: Archiv für Begriffsgeschichte, 15, 1971. S. 195-199. <?page no="43"?> Stephanie Waldow 44 sie nicht besitzen kann. So auch der Löwe, der in seiner anwesenden Abwesenheit zwar präsent ist, aber dennoch nicht in Materialität überführt werden kann. Der Witz des Löwen bestand gerade darin, daß er existierte, ohne nach Art seiner Naturbrüder die ihm gemäße Portion Fleisch zu verschlingen. Er tauchte auf und verschwand, ohne Spuren zu hinterlassen, hatte es nicht nötig, die Tatzenabdrücke mit dem Quast seines Schwanzes zu verwischen. 61 Laut der Philosophie Blumenbergs kann sich der Mensch aufgrund des Absolutismus nicht unmittelbar auf die Welt einlassen, stattdessen muss der menschliche Wirklichkeitsbezug stets indirekt und metaphorisch sein. Durch die Metapher erlangt der Mensch Kenntnis von existenziellen Sachverhalten, durch die sich seine Weltvorstellung überhaupt erst konstituiert. Die Metapher konstruiert „Wirklichkeiten, in denen wir leben.“ 62 Sie schafft einen Vertrautheitshorizont und macht Welt zugänglich, ohne ihr die Vieldeutigkeit zu nehmen. Die Metapher verdeutlicht, dass die Forderung nach Eindeutigkeit niemals erfüllt werden kann, da die Idee nicht vollständig übersetzt werden kann. Während der Begriff als Instrument des Denkens die Fülle der sinnlichen Eindrücke zerstören würde und die Frage nach dem Unbestimmbaren nicht beantworten kann, springt die Metapher genau in diese Lücke ein und gibt der Welt Struktur in der Vieldeutigkeit. Sie präsentiert Welt, anstatt sie - wie ein Begriff - zu repräsentieren. Ähnlich wie der Mythos bietet auch die Metaphorik einerseits Orientierung und die Suggestion des Verstehens, andererseits veranschaulicht sie die Grenzen desselben. 63 Ziel der Metapher ist es, den Begriff zu hinterfragen, seine Verarmung an imaginärem Hintergrund offen zu legen und ihn in seiner Totalität zu zersetzen. So wird die Funktion der Metapher in der Konfiguration von Risiko und Sicherheit erkennbar. Die Metapher zeichnet sich durch einen Vorgriff, durch ein Hinausgehen über das theoretisch Gesicherte aus. Als Erklärung erscheint, was nur Konfiguration bzw. was Umkreisen der Leerstelle ist. Die Plausibilität der Metapher, ihre bildliche Evidenz, suggeriert, dass alle bereits wissen, was gemeint ist, ohne dies tatsächlich auszusprechen. 64 Sie macht auf das Abwesende aufmerksam, auf das, was sich dem menschlichen Geist entzieht, und deutet auf die Unmöglichkeit der Wahrheitsfindung hin. 65 In diesem Sinne ist die Metapher eine kritische Reflexion und kulturelles Produkt, die aber dennoch das Unaussprechliche, die Idee, mitartikuliert. Metaphorologie ist also nicht nur Diagnose eines Mangels, sondern vor allem auch Mittel zur produktiven Ausgestaltung von Kultur. Der ästhetische Gebrauch der Sprache, das Setzen von absoluten Metaphern ist dem Prozess, der auf Eindeutigkeit abzielt, entgegengerichtet. Stattdessen ist die Herstellung von Vieldeutigkeit in der poetischen Sprache, die Bindung an andere Kontexte, entscheidendes 61 Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg. S. 32. 62 Hans Blumenberg: Wirklichkeiten in denen wir leben. S. 115. 63 Hans Blumenberg: „Paradigmen zu einer Metaphorologie.“ In: Archiv für Begriffsgeschichte, 6, 1960. S. 7-142, 301-305, hier S. 20. 64 Hans Blumenberg: „Beobachtungen an Metaphern.“ In: Archiv für Begriffsgeschichte, 15, 1971. S. 192. 65 Hans Blumenberg: „Beobachtungen an Metaphern.“ S. 189; Hans Blumenberg: Ein mögliches Selbstverständnis. Aus dem Nachlaß. Stuttgart 1996. S. 87. <?page no="44"?> Literatur und Mythos 45 Kriterium bei der Hervorbringung einer wahrhaften Sprache. 66 Metaphern sind kein Vorfeld und keine Substruktur der Begriffsbildung. Als solche sind sie absolut. Daß diese Metaphern absolut genannt werden können, bedeutet nur, daß sie sich gegenüber dem terminologischen Anspruch als resistent erweisen, nicht in Begrifflichkeiten aufgelöst werden können, nicht aber, daß nicht auch eine Metapher durch eine andere ersetzt bzw. vertreten oder durch eine genauere korrigiert werden kann. Auch absolute Metaphern haben daher Geschichte. Sie haben Geschichte in einem radikaleren Sinn als Begriffe, denn der historische Wandel einer Metapher bringt die Metakinetik geschichtlicher Sinnhorizonte und Sichtweisen selbst zum Vorschein, innerhalb deren Begriffe ihre Modifikationen erfahren. 67 Hans Blumenberg spricht der absoluten Metapher eine Sprengkraft zu, da sie durch den poetischen Entwurf die Stelle des nicht mehr lebendigen absoluten Wissens besetzt. [D]ie Metaphorologie sucht an die Substruktur des Denkens heranzukommen, an den Untergrund, die Nährlösung der systematischen Kristallisationen, aber sie will auch fassbar machen, mit welchem Mut sich der Geist in seinen Bildern selbst voraus ist und wie sich im Mut zur Vermutung seine Geschichte entwirft. 68 Die Metapher als Bedingung der mythischen Begriffsbildung sucht nach einem Namen für das Unvertraute, denn das Unbekannte ist nach Blumenberg immer namenlos, als solches ist es nicht greifbar. Die Namensgebung ist somit wesentlich am Abbau des Absolutismus beteiligt, denn durch den Namen wird eine Identität geschaffen, die fassbar ist. Die unfassbare Absolutheit wird in eine Geschichte verwandelt, indem der Namen in das Chaos des Unbenannten einbricht. „Alles Weltvertrauen fängt mit dem Namen an, zu dem sich Geschichten erzählen lassen.“ 69 Was durch den Namen identifizierbar geworden ist, wird aus seiner Unvertrautheit durch die Metapher herausgehoben, durch das Erzählen von Geschichten erschlossen in dem, was es mit ihm auf sich hat. Panik und Erstarrung als die beiden Extreme des Angstverhaltens lösen sich unter dem Schein kalkulierbarer Umgangsgrößen und geregelter Umgangsformen, auch wenn die Resultate der magischen und kultischen Gegenleistung gelegentlich der Tendenz Hohn sprechen, an Gunst für den Menschen bei den Mächten zu gewinnen. 70 Die Hervorbringung von Metaphern ist ein Akt der Namensgebung für das Unvertraute und in den Prozess des Geschichtenerzählens eingebettet. Interessanterweise versteht sich die Figur Blumenberg aus Lewitscharoffs Roman als „Weltbenenner“. Durch den Prozess des Geschichtenerzählens holt der „Weltbenenner“ den Löwen in sein Dasein zurück, ruft ihn beim Namen und verleiht ihm dadurch Präsenz. Im Geheimen floß aus dem Löwen die nie versiegende Zusicherung, das Netz der über Himmel und Erde geworfenen Namen, welches die Menschen zu ihrer Beruhigung er- 66 Hans Blumenberg: „Beobachtungen an Metaphern.“ S. 191. 67 Hans Blumenberg: „Paradigmen zu einer Metaphorologie.“ S. 12f. 68 Hans Blumenberg: „Paradigmen zu einer Metaphorologie.“ S. 13. 69 Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. S. 41. 70 Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. S. 12. <?page no="45"?> Stephanie Waldow 46 sonnen hatten, sei selbst dann noch reißfest, wenn Physiker, Astronomen, Biologen und philologische Raspelwerker mit feinen Scheren und Schabwerkzeugen emsig an jedem Namen und jeder Metapher, die im Gefolge der Namen heraufgezogen war, herumschabten und -schnitten. 71 Allerdings handelt es sich dabei um eine Präsenz, die zwischen Anwesenheit und Abwesenheit changiert und als Bild an den tatsächlichen Löwen erinnert. Die Metapher des Löwen und infolgedessen sein Name widersetzt sich fester Zuschreibungen und statischer Begrifflichkeit. So gibt der Löwe zwar auf der einen Seite Zeugnis von der Depotenzierung des Schreckens in einem poetischen Bild, auf der anderen Seite ist der Schrecken, das Unbestimmte, immer noch in ihm aufbewahrt. Er fungiert als absolute Metapher, weil in ihm das Unbenennbare zwar in einen Namen, aber nicht in feste Begrifflichkeit überführt wird. Blumenberg hielt die Hand lang auf der Klinke der inzwischen geschlossenen Gartentür. Hatte er es mit einem Fabellöwen zu tun bekommen, dem abwesenden Löwen, der nicht zu dem gehörte, was der Fall ist, also nie und nimmer zur Welt? Aber, aber, dachte Blumenberg, dieser ganz andere weltabweisende Löwe kommt doch in etwas vor und ist damit auf eine neue und andere Art der Fall. Die Sprachspiele der Weltbenenner holen den Löwen ins Dasein und Leben zurück, murmelte er leise vor sich hin. Zufrieden mit dem Wort Weltbenenner, welches er umstandslos auf sich münzte, ging Blumenberg zu Bett. 72 VI. Schlussbetrachtung Lewitscharoffs Text stellt sowohl die Erkenntnisfähigkeit als auch die Sprache auf den Prüfstand und etabliert auf diese Weise den Mythos sowohl als Denkwie auch als Erzählmodell. Auf die Einsicht in die Unbegründetheit der menschlichen Existenz und die Notwendigkeit offener Fragen, reagiert der Text nicht mit logischen Begründungsversuchen, sondern mit einer Sprache, die nicht in restlose Begrifflichkeit aufgelöst werden kann. Dem Absolutismus der Wirklichkeit kann nur mit einer Sprache begegnet werden, der die Unbegrifflichkeit inhärent ist - einer poetischen Sprache, die sich in diesem Zusammenhang als mythische Sprache erweist. Die Metapher des Löwen als Bedingung der mythischen Begriffsbildung vermittelt durch ihre eigentümliche Schwellenposition zwischen dem Unsagbaren und dem Sagbaren, sie verschiebt das Undarstellbare und als bedrohlich Empfundene in den Bereich des Bildes und macht es so erfahrbar, ohne es vollkommen zu repräsentieren. Der ästhetische Reiz liegt in der Steigerung der Vieldeutigkeit, der Komplexität der Konstellationen, ohne eine Überführung in eine Totalität vornehmen zu müssen. Der Löwe zerstört herkömmliche Verweisungszusammenhänge und fungiert letztlich als Verfahren, durch das Bildlichkeit in die Sprache gelangt, da nach Blumenberg die Differenz von Unbestimmtheit und Prägnanz wesentliches Charakteristikum des Bildes ist. 73 71 Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg. S. 132. 72 Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg. S. 19. 73 Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. S. 450. <?page no="46"?> Literatur und Mythos 47 Dabei ist der Löwe in hohem Maße kulturstiftend, weil er den Schrecken des Unbenannten bannt, ohne ihn in Begrifflichkeit zu überführen. Indem Lewitscharoff dem Löwen als absolute Metapher Präsenz verleiht, führt sie Sprache an die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Der Löwe ist Sinnbild eines „Widerspiels des Möglichen mit dem Unmöglichen“. Lewitscharoff integriert durch den Löwen das Unbegriffliche in den Text und verleiht ihm Präsenz in seiner anwesenden Abwesenheit. Eine endgültige Überführung in Begrifflichkeit wird verweigert, das Geheimnis nicht gelüftet, stattdessen erhält das Unwahrscheinliche seinen Platz in der poetischen Rede. Somit setzt Lewitscharoffs Text gegen den Begriff die Metapher und gegen den Absolutismus die Heiterkeit. Kontingenz wird nicht reduziert, sondern kultiviert. Literaturverzeichnis Assmann, Aleida und Jan: Art. „Mythos“. In H. Cancic u.a. (Hg.): Handwörterbuch religionsgeschichtlicher Grundbegriffe. Bd. IV. 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Walter Benjamin, Ernst Cassirer, Hans Blumenberg. Allegorische Intertextualität als Erinnerungsschreiben der Moderne. München 2006. Waldow, Stephanie: Funktionen und Theorien des Mythos. Eine Einführung. Ersch. Reihe: Grundlagen der Germanistik. Hg. v. Christine Lubkoll, Martina Wagner-Egelhaaf. Erich Schmidt Verlag. Berlin 2013. <?page no="48"?> Medienanthropologie K. Ludwig Pfeiffer I. Anarchie der Wissenschaftsgeschichte oder Logik der Theoriedynamik? Medienanthropologie - so nennen wir eine reichhaltige kulturwissenschaftliche Theorie im besten Methodenalter. Vielmehr: Wir würden sie gerne so nennen, nagte da nicht der Verdacht an uns, es handle sich doch wieder nur um eine weitere Drehung an der Schraube der Wissenschaftsmoden oder, um im Bild der Drehung zu bleiben, um eine solche eines Abkömmlings vornehmlich der labilen Literaturwissenschaft, die sich seit langem wie ein bettlägeriger Patient immer wieder von der einen auf die andere Seite dreht. Schon in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts war bei den selbstkritischen Vertretern der Literaturwissenschaft die Metapher der Drehung oder gar des Drehschwindels im Bild eines Methodenkarussells aufgetaucht. Zu allem Überfluss und Überdruss fällt es schwer, den Drehschwindel im Fall der Medienanthropologie nicht auch noch in schwarz-rot-goldene Farben zu tauchen: Das Ausland, das bisher das Reflexionsniveau deutscher Medientheorie zum Teil wenn auch zähneknirschend (hoch-)geschätzt hat, neigt neuerdings zur Ansicht, es handle sich dabei weniger um neue Erkenntnisse als mehr um eine Übertragung des Sendungsbewusstseins der Germanistik auf neue, kulturell nicht mehr zu ignorierende Bereiche (eben die Medien), es artikuliere und reproduziere sich weniger die allseits respektierte deutsche Gelehrsamkeit als vielmehr der nicht weniger bekannte, aber eher berüchtigte deutsche Gelehrtenstreit. Jedenfalls fand schon 2008 in der Zeitschrift für Kulturwissenschaften eine internationale Diskussion über den drohenden Übergang Deutschlands vom gelobten zum verfluchten Land der Medienwissenschaft und Medientheorie statt, an welcher der Verfasser des vorliegenden Textes teilzunehmen die Ehre hatte. Die Medienanthropologie figuriert in solch kritischen Reaktionen neben ihren literaturwissenschaftlichen Filiationen auch als neuester inflationärer Seitentrieb der als sehr deutsch geltenden philosophischen Anthropologie. Diese besaß in ihren neueren Varianten, etwa bei Gehlen, später noch vor allem bei Gernot Böhme, schon ein akutes Gespür für die Zersetzung authentisch-individueller Erfahrung durch Technik und Medien, deren Wirkung sie mit Stichworten wie Erfahrung zweiter Hand, Zivilisiertheit, mediale Züchtung des Imaginären usw. recht prägnant beschrieb (vgl.: Gehlen 1957, S. 47-51, vor allem S. 49, Böhme 1985, S. 172, 174, 190 f.). In jedem Falle würde eine derartige Einbettung der Medienanthropologie nicht ausreichen, um das wüste Schwanken der Geisteswissenschaften (so der Historiker Droysen im 19. Jahrhundert) zugunsten einer geordneten - und sei es auch nur national geordneten - Theoriendynamik zu bereinigen. Die nationale Codierung verfügte auch nicht über die Kraft, jenen Verdacht auszuräumen, der schon auf der philosophischen Anthropologie lastete und auf der, auch und vor allem mit vielfältig <?page no="49"?> K. Ludwig Pfeiffer 50 technisch bestimmten Medien hantierenden, Medienanthropologie fast noch mehr lasten muss - dass sie nämlich eine Art vormoderne, irgendwo essentialistische, auf ein Wesenhaftes abstellende Reaktion auf bestandsbedrohende Modernisierungsprozesse darstellt. Als solche scheint sie unweigerlich in Widerspruch zu technischsozialer (Aus-)Differenzierung und Autonomisierung symbolischer, medial zirkulierender Codes als Schlüsselbegriffe der (Post-)Moderne zu geraten (vgl.: Giesen 1990). II. Medienanthropologie als medienorientierte Kulturanthropologie: Medienrituale Das Dilemma anarchische Wissenschaftsgeschichte vs. geordnete Theoriedynamik lässt sich nicht ganz aushebeln. Doch es machen sich zumindest interne Evidenzen geltend, wonach die stetig vorangetriebenen Ausdifferenzierungen gerade im Bereich der Künste und Medien irgendwann zum Griff zwar nicht nach Konstanten, aber doch nach Regelmäßigkeitsannahmen zwingen. Die Systemtheorie hat ja Personen oder, wie man umgangssprachlich heute wieder gerne sagt, Menschen aus den effektiven, den systemischen, aus den, wie bereits Lukács in seiner Ästhetik sagte, desanthropomorphisierenden Funktionskreisen moderner Gesellschaften hinaus komplimentiert und sie bestenfalls an deren Peripherie verbannt (Lukács 1972, Bd. 1, zweites Kapitel, „Die Desanthropomorphisierung der Widerspiegelung in der Wissenschaft“). Anthropologisch angehauchte Ansätze, etwa die heutige Hirnforschung legen aber nahe, dass sich Menschen womöglich sehr zu Recht nicht mit der absoluten Belanglosigkeit ihrer Regungen, Gefühle und Gedanken in den desanthropomorphisierten Funktionskreisen der Systeme abfinden. Künste und Medien, so ließe sich vorläufig sagen, bieten Varianten inszenierter Intuitionen, in denen Bezugsmöglichkeiten zwischen Menschen und Systemen wieder Gestalt gewinnen. Man kann die Ablagerungen solcher Intuitionen und eine zum Teil gesteigerte Inszenierungsintensität ihrer Reste selbst in posthuman anmutenden Kunstformen (in der britischen Literatur etwa von Oscar Wilde bis hin zu Beckett) entdecken. Bruno Latour hat in diesem Sinne ja absichtlich übertreibend behauptet, wir seien nie modern gewesen. Deleuze und Guattari sprachen im Anti-Ödipus etwa von Archaismen mit aktueller Funktion; Lukács sah in der Bekämpfung wissenschaftlich-technischer Desanthropomorphisierung eine nahezu allgemeine Funktion der Kunst. Die Kunst wirkt einerseits an der Entfetischisierung des Daseins mit. Sie kompensiert diese andererseits aber auch, ohne drittens der Refetischisierung zu verfallen (Latour 1998, Deleuze / Guattari 1974, S. 332, Lukács 1972, Bd. 1, S. 147 f., 207, in Verbindung mit Bd. II, Kap. 8). Innerhalb der sich Medienanthropologie nennenden Bemühungen ist zunächst eine spezifische, für mich freilich nicht zentrale Form der Medienanthropologie zu verzeichnen. Sie entstammt der Kulturanthropologie und hat sich ein beachtliches Durchschlagsvermögen durch deren mediale, im Ritualbegriff zentrierte Transforma- <?page no="50"?> Medienanthropologie 51 tion erworben (vgl. Rothenbuhler / Coman 2005, aber auch Wulf / Zirfas 2004). 1 Die Untersuchung ritualisierter Medieninszenierungen räumt mit der schon in der Kulturanthropologie umstrittenen Vorstellung vollends auf, wonach Rituale vor allem der Herstellung sozialer Ordnung dienten. Mit dieser Wendung hat sich auch die kulturwissenschaftliche Soziologie inzwischen angefreundet (Giesen 2010). Medienrituale jedenfalls stiften gesteigerte, aber meist auch sehr transitorische Formen kommunikativer Verdichtung. Deren Inszenierung wird umso dringlicher, je mehr ein historisches Ereignis wie der 11.9.2001 alle Vorstellungen von gesellschaftlicher und symbolischer Ordnung sprengen. Medienrituale suchen dabei den Schein der Sinnstiftung durch Resymbolisierungstechniken, etwa in Form archetypischer Geschichten (Epos heldenhafter Feuerwehrmänner usw.) zu erwerben. Generell obliegt den Medien die vordem durch Mythos, Religion und ältere Ritualformate geleistete Überschreitung alltäglicher Routine. Wir gewärtigen heute das bei Max Weber schon in einem nichtmedialen Kontext mit dem Stichwort Routinisierung des Charisma angesprochene Paradox der Attraktivität solcher Überschreitung: Sie führt stracks in die inflationäre Veralltäglichung und drängt damit zu einer hysterisch zu nennenden medienrituellen Dauerüberhitzung. III. (M)Ein medienanthropologisches Zentralmodell: Körper, Affekte, Inszenierung Im Blick auf das uns auch historisch geläufige Spektrum der Künste und Medien weist die rituell ausgerichtete Form der Medienanthropologie ganz offensichtlich erhebliche Lücken in der Abdeckung des Gegenstandsbereichs ‚Medien‘ auf. Dies gilt vor allem im Blick auf einen eisernen, wenngleich systemisch und systemtheoretisch an den Rand gedrückten Bestand an Themen sowohl der philosophischen Anthropologie wie der heutigen Neurobiologie. Dazu zählen besonders Relevanz- Annahmen zur Orientierungsleistung von Körper (vor allem bei Plessner) und Gefühlen. Im Kontext systemischer Ausdifferenzierung ist diese Leistung allerdings nicht mehr präzise zu bestimmen. Folglich besteht, wie oben mit dem Stichwort „inszenierte Intuition“ angedeutet, ein Inszenierungsbedarf für entsprechende Intuitionen. Wortspielerisch könnte man sagen, dass die Plastizität der Leistungen in den Inszenierungen eine von Fall zu Fall prägnant-attraktive, also eine plastische Gestalt gewinnt. Mit dem Zusammenspiel von allgemeinem Inszenierungsbedarf und historischen Bedingungen hat es der Kern der Medienanthropologie in meiner Sicht zu tun. So hat man nicht nur in der an Ritualen interessierten Medienanthropologie 1 Inzwischen ist die inflationäre Vermehrung von Ansätzen, die sich Medienanthropologie nennen, weit fortgeschritten. Jede google-Überprüfung gewinnt insofern leicht deprimierenden Charakter. Ich selbst würde ca. 70% dessen, was man da alles findet, nicht zur Medienanthropologie zählen. Aber das ist natürlich eine hoffnungslos veraltete Einstellung. Immerhin überschneidet sich der hier vorgestellte Ansatz im Blick auf ‚multimediale‘ Orientierungen und emotionale Investitionen teilweise mit den sehr interessanten und einschlägigen Thesen von Ellen Dissanayake zur Kunst als adaptiver und ‚artifizierender‘ Universalie. Vgl. etwa 1992 o der 2000. Die hier nicht diskutierbaren Differenzen bleiben gleichwohl beachtlich. <?page no="51"?> K. Ludwig Pfeiffer 52 Rock-Konzerte, moderne Sportereignisse usw. und/ oder deren Fernsehübertragung im Hinblick auf ihre dionysische Funktion mit griechischen Tragödien verglichen (Rothenbuhler/ Coman, S. 76, Easterling, S. 36 ff.). Ich übergehe hier die in solchen Vergleichen lauernde Frage, inwieweit das die Medienanthropologie veranlassen sollte, nicht den notorisch schwer zu definierenden Begriff des Mediums oder der nur scheinbar empirisch in klar umrissenen Formen auftretenden Medien, sondern den von unentwegten, teilweise völlig unterschiedlichen, teilweise aber auch stark überlappenden Medialisierungsprozessen mit nur begrenzter Erzeugung eindeutig identifizierbarer Medien als Leitbegriff zu favorisieren. In jedem Fall sieht sich die Medienanthropologie veranlasst, auf die Annahme eines menschlichen Wesens oder menschlicher Konstanten zu verzichten, gleichzeitig, gleichwohl und im Gegenzug aber darauf zu pochen, dass sich die Formen menschlicher Selbstinterpretation und bzw. als Selbstinszenierung nicht in bloßer empirischer Vielfalt, sei es der Formen, sei es der suggerierten Affekte erschöpfen. In der Medienanthropologie steckt daher entscheidend der Versuch, das Schwanken der philosophischen Anthropologie zwischen einem bestimmten menschlichen Wesen und individueller Freiheit, Offenheit, Unbestimmtheit und anthropiner Lücke nicht zugunsten der einen oder anderen Option zu stoppen, sondern den in der Vielzahl menschlicher Selbstinszenierung steckenden Regelmäßigkeiten und Analogien auf die Spur zu kommen. Medienanthropologie setzt fort, was Georg Simmel etwa am Beispiel der Mode unternommen hat zu zeigen, wie die vermeintliche oder tatsächliche Lücke zwischen einer zumindest oft stark empfundenen individuellen Freiheit und sozialer Bindung durch Medien in nach beiden Seiten kopplungsfähige, sprachlich-metaphorisch oder visuell prägnante oder musikalisch suggestive Gestalten überführt wird. Wohlgemerkt: Die Mode (und analog dazu andere ‚Medien‘) so wie wir sie im Westen kennen, ist kein universales Phänomen - wohl aber ihre medienbedürftige, von Simmel benannte „psychosoziale“ Funktion. 2 Eine solche Optik kann sich auf die uns geläufigen Künste und Medien, aber auch und verstärkt auf Medienkonfigurationen richten, auf Sachverhalte die seit einiger Zeit gern mit dem Begriff ‚Intermedialität‘ angepeilt werden, deren Appellstruktur oft mehr oder weniger verdeckt ist. IV. Medienkonfigurationen und die Codierung von Affekten zu Emotionen Ich möchte diese Andeutungen zunächst mit dem Hinweis auf die neben Kultur- und philosophischer Anthropologie dritte Ahnfrau und gelegentlich noch heutige Konkurrentin der Medienanthropologie ein Stück weit aufhellen - die Ästhetik. Da diese das Spektrum der Künste in den Blick nahm, hat sie diesen Blick nicht nur für die materialen, heute: medialen Bedingungen, sondern auch, vergleichend, für das psychokulturelle Leistungsvermögen dieser Künste, für ihre Überlappungen wie für ihre Differenzen geschärft. Dabei geriet nicht selten das weite Feld der sogenannten 2 Dazu auch Monneyron 2006, S. 30-34 und S. 50-52 zur Psychosoziologie der Mode. <?page no="52"?> Medienanthropologie 53 Literatur in eine eigentümlich labile Zwischenposition. Am prägnantesten hat das m.E. Hegel gesehen: Wie vollständig deshalb auch die Poesie die ganze Totalität des Schönen noch einmal in geistigster Weise produziert, so macht dennoch die Geistigkeit gerade zugleich den Mangel dieses letzten Kunstgebiets aus. Wir können […] die Dichtkunst in dieser Rücksicht der Architektur direkt entgegenstellen. Die Baukunst nämlich vermag das objektive Material dem geistigen Gehalt noch nicht so zu unterwerfen, daß sie dasselbe zur adäquaten Gestalt des Geistes zu formen imstande wäre; die Poesie umgekehrt geht in der negativen Behandlung ihres sinnlichen Elementes so weit, daß sie das Entgegengesetzte der schweren räumlichen Materie, den Ton, statt ihn […] zu einem andeutenden Symbol zu gestalten, vielmehr zu einem bedeutungslosen Zeichen herabbringt. Dadurch löst sie aber die Verschmelzung der geistigen Innerlichkeit und des äußeren Daseins in einem Grade auf, welcher dem ursprünglichen Begriffe der Kunst nicht mehr zu entsprechen anfängt, so daß nun die Poesie Gefahr läuft, sich überhaupt aus der Region des Sinnlichen ganz in das Geistige hineinzuverlieren. Die Mitte zwischen diesen Extremen der Baukunst und der Poesie halten die Skulptur, Malerei und Musik, indem jede dieser Künste den geistigen Gehalt noch ganz in ein natürliches Element hineinarbeitet und gleichmäßig den Sinnen wie dem Geiste erfaßbar macht. 3 (Hegel 1842 / 1955, Bd. II/ 3/ 3, S. 335 f.) In einer ganz aktuellen Wendung taucht das Problem bei Hans Ulrich Seeber mit der Frage auf, inwiefern auch die Literatur (hier vornehmlich die um 1900) als ein Potenzial für Faszination, also sinnlich-geistiges Gepacktsein wirken kann. Das hängt mit der weiteren Frage zusammen, die Hubert Zapf und auch den Verfasser dieses Essays umgetrieben hat: Inwiefern und wann kann Literatur auch als Medium kultureller Ökologie oder, in Anlehnung an Gregory Bateson, einer Ökologie des Geistes in die psychokulturelle Rechnung gestellt werden? Oder muss sie - generell, gelegentlich, unter Umständen - als monomedialer Spezialist für intransparente und leerlaufende Komplexität mehr oder weniger ins Medienmuseum verbannt werden? Jüngste Analysen von Heinz Schlaffer zur Lyrik verfolgen derart eher skeptische Gedanken. Anlass für derartige Skepsis bietet sicher nicht nur die Israel-Lyrik von Günter Grass. Es verbleiben freilich genügend kulturanthropologisch einschlägige Spielräume für das, was ich protoliterarische Schreibweisen nennen möchte. 4 Derartige, in der Kulturgeschichte immer wieder auffällige, wenn auch nicht mit den meist allzu stark homogenisierten Textsammlungen der Literaturgeschichten zusammenfallende Schreibweisen verknüpfen Imaginäres mit Realien und erfüllen dadurch eine zentrale Voraussetzung dafür, dass wir durch die Fiktionen hindurch emphatische Wirklichkeitsakzente gewärtigen. Noch im späten 19. Jahrhundert gereichte diese ihre elastische Geistigkeit der Literatur - für Dilthey etwa - zum erhabenen Vorteil, fast könn- 3 Lukács nimmt material-mediale Faktoren durchaus auch in den Blick, treibt sie aber mit der Annahme eines für jede Kunstform anzusetzenden „homogenen Mediums“ in eine nicht durchzuhaltende Richtung. Vgl. 1972, Bd. II, S. 177-204. Der „schrankenlose Pluralismus der ästhetischen Sphäre“, S. 210, bringt ihn schon im folgenden Kapitel in Schwierigkeiten. 4 Pfeiffer 2002, S. 285: „a discourse that, in spite of its imaginary ingredients, pretends to be riveted to the observed dynamics of the event itself“. <?page no="53"?> K. Ludwig Pfeiffer 54 te man im heutigen Jargon sagen: zum kulturgeschichtlichen Alleinstellungsmerkmal. In der - bereits für Dilthey - mit systemischer Unübersichtlichkeit geschlagenen Welt verknüpft die literarische Sprache Erleben, Ausdruck und Verstehen in besonders prägnanter Weise. Durch geschichtliches Verstehen, vor allem das Erlebnis der in der Dichtung sedimentierten Reste des Daseins blickt der Mensch „über alle Schranken der eigenen Zeit […] hinaus in die vergangenen Kulturen; deren Kraft nimmt er in sich auf und genießt ihren Zauber nach: ein großer Zuwachs von Glück entspringt ihm hieraus“ (1990, S. 317). Schlaffer hingegen sieht bei der Lyrik eine Zauberkunst am Werke, die ihre Magie verloren hat. Die Medienanthropologie ihrerseits verbucht Skepsis wie Optimismus nicht einfach als historische Rezeptionsformen von Literatur: Sie nimmt vielmehr die Hegelsche Vorstellung des Hineinarbeitens geistiger Gehalte in material-medial und / oder performativ-inszenierend bestimmte Elemente als einen medienanthropologischen Grundtatbestand beim Wort. Dann fällt der Schritt zur Annahme leichter, dass vieles von dem, was landläufig und umgangssprachlich, aber selbst in den Einzelphilologien oft immer noch als einzelne Kunst oder Medium traktiert wird (Theater, Oper, Film als markante Beispiele), in Wirklichkeit spannungsgeladene offene, verkappte oder latente Medienkonfigurationen bilden, dass mithin Analogien packender, mit Seeber: faszinierender Wirkung eher in offener oder versteckter Intermedialität - weniger in einzelkünstlerischer Reinheit - als basale ästhetische und psychokulturelle Wirkungsquanten angesetzt werden sollten. Das trifft die so genannte Literatur in besonderer Weise: Sie hat seit dem 18. Jahrhundert die Tendenz zur monomedialen, zur immateriellen, nichtperformativen und daher oft als überhaupt nicht medialisiert wahrgenommenen Konzentration - in diesem Fall auf Buchstabenreihen in Buchformat und damit eine irgendwann überflüssig werdende Interpretationsbedürftigkeit - wohl am weitesten vorangetrieben. Überflüssig könnte dieses Interpretationspotenzial heutzutage zumindest gelegentlich deswegen werden, weil es erstens oft in irritierenden Zwang umschlägt, weil zweitens ein uns gewaltig beanspruchender Interpretationsdruck auch auf den Wirklichkeiten lastet, in denen wir leben. Man sieht daher nicht mehr so leicht, wozu man die Möglichkeitsvielfalt der Literatur eigentlich noch braucht, warum „in einer ohnehin polykontextural verfassten Welt Kunst bzw. Literatur alternative Versionen derselben Realität beisteuern sollen, die doch stets und immer nur die Kontingenz der kontingenten Welt bestätigen können“ (Sill 2001, S. 199). Jedenfalls richtet sich ein aus meiner Sicht zentrales Merkmal der Medienanthropologie, das Denken in Medienkonfigurationen, das heißt in Amalgamierungen wirkungsmächtiger oder - schwacher medialer Schichten, verstärkt auf Analogien und Verschiebungen in deren psychokultureller Leistung, weniger auf die etwa sozialen Unterschiede in Entstehung und Rezeption oder die gattungsmäßigen Differenzen in der Struktur. Mediale Konfigurationen können sich leichter um ein Problem kümmern, über dessen Existenz, ja verschärfte Wiederbelebung, uns nicht zuletzt die Neurobiologie belehren kann. Seit der Aufklärung hat man die Macht der Affekte und Gefühle chronisch vernachlässigt. Affekte können dabei als meist teilweise unbestimmt, Gefühle hingegen als gesellschaftlich-sprachlich codierte und konventio- <?page no="54"?> Medienanthropologie 55 nalisierte, oft nur scheinbar klare Schemata gelten. 5 In der Gleichzeitigkeit von mächtigen, oft aber vagen oder jedenfalls unvollständig bestimmten Affekten und konventionalisierten, sprachlich (scheinbar, aber sozial hinreichend) fixierten Gefühlen stecken aber, wie nicht nur Eheleute nur zu gut wissen, kaum zu unterschätzende psychokulturelle Konfliktquellen, die in privaten wie öffentlichen Bereichen nur allzu oft quälende Routinen umschlagen, aus denen wir kaum mehr herauskommen. Wir brauchen daher Medien, in welchen die Codierung von unscharfen Affektmengen zu bestimmten, situativ relevanten, aber nicht wie im Alltag sprachlich-konventionell bereitliegenden, jedoch beileibe nicht immer situationsangemessenen Emotionen / Gefühlen in attraktiver(er), das heißt flexibler und doch spannend-prägnanter Form inszeniert wird. Das können in vielen Zeiten natürlich auch Texte, beispielsweise die sogenannte Lyrik sein. Aber nicht nur im Falle Grass kann man mit Heinz Schlaffer fragen (schon Adorno hatte ja angefragt, ob nach Auschwitz noch Lyrik möglich sei), ob sich solche und vielleicht auch andere Aufgaben der Lyrik nicht erledigt haben, ob Dichter deshalb so viel über das Dichten reden, weil sie weder über die vordem beschworenen Geister noch über die heutige Welt viel sagen können. Analoge Probleme rumoren im Sprechtheater, weil die körpergebundene Interaktion und Pathos-Rhetorik leicht in ein Missverhältnis zu den traktierten Problemen geraten. Man erinnere sich an die bekannte Hamlet-Kritik von T. S. Eliot, Hamlets Gefühle seien ohne „objective correlative“, „in excess of the facts as they appear“. Die Dringlichkeit unserer Gefühle lässt sich aber gleichwohl nicht abschaffen, das (hoffentlich auch reflexive Selbst-)Management der Reibungen zwischen Affekt und Emotion nicht abstellen. Medienanthropologisch treten daher Medien in den Vordergrund, welche den Widerstreit zwischen Dringlichkeit und Missverhältnis besonders prägnant inszenieren können: das ältere Theater (sicherlich, von Hamlet eben abgesehen, Shakespeare, manchmal selbst noch Schiller), intermedial gesättigte Texte (darüber müsste man ausführlicher sprechen), sodann Oper, Rockmusik oder Film. Die mit Texten oder gar Lyrik (Beispiel: Leonard Cohen) verbundene Musik vor allem, steigert die Intensität der Gefühle in der tendenziell autonomen Performanz besonders des Gesangs, des Rhythmus und der Instrumentierung und zieht dadurch unsere Aufmerksamkeit von ihrer Angemessenheit, Sinnhaftigkeit oder einer ihnen gelegentlich gar zugemuteten Vernünftigkeit ab. V. Systeme, Institutionen, Medien Die Dichte älteren medienanthropologischen Denkens nicht nur in der Ästhetik lässt sich durch weitere Spurensuche steigern. Im Altgriechischen und in einer Reihe weiterer Sprachen hebt der Begriff der Kunst stärker auf Kunstfertigkeit, auf den gekonnten bis ‚genialen‘ Umgang mit materialen und medialen Schichten ab. Plato attackiert die Schrift, das schließt das später literarisch genannte Schreiben a fortiori 5 Vgl. vor allem (wenngleich in begrifflich nicht spannungsfreier und eindeutiger Form), Damasio 2002, S. 67 f., 71, mit Hinweisen zu den Entfaltungsmöglichkeiten der Künste und Medien, 75, 342 f.). <?page no="55"?> K. Ludwig Pfeiffer 56 ein, wegen ihrer prinzipiellen, nicht an bestimmte Inhalte oder Verhaltensregeln gebundenen Unzuverlässigkeit. In den Gesetzen (817b, ein recht selten zitierter Abschnitt) konzipiert er den idealen Staat als ideale Tragödie, aus der er die nicht so ideale Bühnentragödie daher ausschließen möchte. Die vielfach, aber nie in ganz klarer Form anzutreffende Vorstellung, die Welt sei eine Bühne, zollt einer, in ihrer unklaren Reichweite irritierenden, Verschmelzung von Medium und Realität Tribut. Die Reichweite ist unklar, weil etwa die Polemik der Puritaner gegen das Theater der Angst vor den möglichen unkontrollierbaren menschlichen Metamorphosen beim Theaterspielen und -zuschauen entspringt. Darin liegt das medienanthropologische Potenzial des Theaters; seine Grenzen bestehen, wie vorhin angedeutet, darin, dass es, auf zwischenmenschliche Interaktion gegründet, deren Stellenwert in der modernen ‚abstrakten‘ Gesellschaft (Zapf 1988) nur noch schwer oder in Parodien des Versagens (Beckett) veranschaulichen kann. Natürlich variiert die Anerkennung medial gebundener künstlerischer Durchschlagskraft geschichtlich sehr stark. In der jüngeren Vergangenheit vor der Ankunft des sogenannten Medienzeitalters entdeckt man sie am besten in philosophischsoziologisch-technologischen Mischformen der Analyse. Ihre Autoren diagnostizierten zunächst Modernisierungsschübe vor allem auch technischer Art. Max Weber etwa sprach noch weitgehend medienneutral vom stählernen Gehäuse (der „Hörigkeit“), in welches Rationalisierung, Bürokratisierung und Arbeitsethos das moderne Individuum einsperrten. 6 Bei Schelsky eröffneten die Lücken dieses Käfigs dann neue, aber leider schnell von den „neuen Führungsmitteln“, den Medien aufgesogene Gestaltungsmöglichkeiten. „Auf der Suche nach Wirklichkeit“, so lautet der Titel einer seit 1965 immer wieder nachgedruckten Aufsatzsammlung Schelskys. 7 In dieser Suche steckt die Suche nach der realen „Treffsicherheit und Distinktionsvermögen, ja einfach“ nach der „Realität“ soziologischer Kategorien, die in den gängigen Begriffen wie Familie, Betrieb, Gemeindeformen, Stadt und Land, Mann und Frau, jung und alt, Klasse, Schicht, Institution schon geschwunden scheinen. 8 Schelskys Versuch, sich etwa gegen die Medialisierung der Politik oder mediale Führungsrollen generell noch zu stemmen, nimmt, wie seine von ihm selbst schon als antiquiert angesehenen und dadurch polemisch werdenden Kategorien ausgerechnet im Titel seines Spätwerks, nämlich „Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen“ zeigen, Züge der Vergeblichkeit an (Schelsky 1977). Zwischenzeitlich hatte sich, der Schelsky in vielem nahestehende Arnold Gehlen, endlich zur Einsicht durchgerungen, dass mediale Führungsrollen nicht nur die Gegenwart bestimmten. Nicht nur das technische Zeitalter hat sich mit „Erfahrungen zweiter Hand“, mit „Fiktionen 6 Zur etwas komplizierten Textlage vgl. Radkau 2005, S. 326 ff. 7 So lautet auch der Titel, den Ralf Dahrendorf in einem Nachruf auf Schelsky für DIE ZEIT, 2.3.1984, S. 6, gleichsam als Gesamtmotto für dessen Leben und Werk verwendete. 8 Vgl. Schelsky 1965, 1979, S. 38-63 zum kulturanthropologischen Hintergrund, S. 395-399 zum Realitätsverlust geläufiger soziologischer Kategorien, S. 408 sowie schon Schelsky 1955, S. 118 zur daraus entspringenden Rolle der Medien und Schelsky 1977, S. 178 ff. zu den „neuen [medialen] Führungsmitteln“. Die frühere, sicherlich anders geartete Führungsrolle von Medien bleibt dabei allerdings ausgeblendet. <?page no="56"?> Medienanthropologie 57 und Spielen“ herum zu schlagen, durch welche seelische Eigenarten geformt werden. Gehlen bemerkt etwa, dass die Neue Komödie der alten Griechen analoge Funktionen wie der psychologische Roman im 18./ 19. Jahrhundert übernimmt - die möglichst komplexe, aber doch auch prägnante und unterhaltsame Artikulierung des Zusammenhangs von fremdgesteuerten Reizen, Affektüberlastung einerseits, Innenverarbeitung und Psychisierung andererseits und fortbestehendem, aber meist latent werdendem Roh-Natürlichem zum Dritten (Gehlen 1957, S. 58, 62-66). Ein Medienanthropologe müsste sich überlegen, welche medialen Formen dieses Dreieck unter heutigen Bedingungen angenommen haben dürfte. Jedenfalls kann man aus diesen Impulsen folgern, dass ‚Medien‘ als Formierungsagenturen des Seelischen umso wichtiger werden, je mehr Gesellschaften unter „institutioneller Degeneration“, das heißt unter der spürbaren Erosion individueller Bindungsfähigkeit der Institutionen, also der mit Individuen (im Gegensatz zu den ‚abgehobenen‘ Systemen) gekoppelten Einrichtungen wie Familie, Schulen, Universitäten, kleinere Gemeinschaften und personale Netzwerke leiden. Das hat etwa Karl Polanyi in seinem Buch über die „große Transformation“ vorgeführt (Polanyi 1944, 1957). Er untersucht dort die nach ihm seit dem 18. Jahrhundert wahrnehmbare Abnahme an Erwartbarkeit und Zuverlässigkeit institutionellen Verhaltens. Auf Formen institutioneller Degeneration und deren ‚bloß‘ medialer Kompensation stoßen wir aber sicher häufiger, auch in der sogenannten guten alten Zeit, als es die Rede von der großen Transformation durch die Industrielle Revolution vermuten ließe. Für einen Intensivkurs in institutioneller Degeneration bräuchte man nur die kulturgeschichtlichen Werke Jacob Burckhardts zu lesen. Dieser hat im Übrigen spezifische Zusammenhänge und allgemeinere Analogien in und zwischen Künsten und Epochen - etwa die Notwendigkeit der Poesie für das lebendige Götterverständnis bei den alten Griechen, die anti-idealistische Verknüpfung ihrer Tragödie mit Staatsinteressen - klar gesehen (Burckhardt 2007, Bd. 2, S. 231, 574). Es kommt daher häufig, wenn nicht ständig dazu, dass ‚die Medien‘ das systemischinstitutionelle Geflecht infiltrieren, es insofern neu ordnen, als sie images, das heißt Deutungsmuster von einigermaßen prägnanter und transparenter Komplexität produzieren müssen, weil die diesbezüglichen Leistungen der Institutionen nicht überzeugen. In England bieten etwa die höfischen Maskenspiele unter Jakob I ein einfaches, aber nicht zuletzt literarisch aufschlussreiches Beispiel. Im soziopolitischen Bereich des späten 19. Jahrhundert machen sich Medien anheischig, die im Rahmen nationalistischen Rumorens sich abspielende institutionelle Degeneration z.T. von monarchischen, feudalen und demokratischen Institutionen je nachdem aufzudecken oder zu verdecken. Die Medien, vor allem die Formen der ja spätestens seit dem 16. Jahrhundert bekannten, nun aber professionell institutionalisierten Propaganda glätten, selbst da wo sie Konflikte anfachen, die Reibungsverluste zwischen Personen und einem Staat, der weder national noch international seine Interessen und sein image zureichend, das heißt als griffige Verbindung von Ideal- und Realpolitik zur Geltung bringen kann. <?page no="57"?> K. Ludwig Pfeiffer 58 VI. Institutionelle Degeneration und der Roman Es dürfte unmittelbar einleuchten, dass die so genannte Presse (die dann auch prompt zum Gegenstand der frühen Medienwissenschaft, der Zeitungswissenschaft wird) hier eine entscheidende Rolle spielt. In ihrer Frühzeit, zumindest in Spuren aber auch heute noch, übernimmt sie auch Funktionen, die ‚weltanschaulich‘ genannt werden müssten, also - auch das ein wichtiger medienanthropologischer Mechanismus - die politisch-soziale Aktualität mit Dimensionen allgemeinerer menschlicher Selbstinterpretation verknüpfen. Eine solche Verknüpfung ist dringlich, weil institutionelle Degeneration mit individueller Verunsicherung und entsprechenden inneren Turbulenzen einhergeht. Die dabei an- und aufgerührten emotionalen und imaginären Bedürfnisse lassen sich in der Presse aber nicht zureichend bändigen, auch wenn unverkennbar ist, dass Zeitungen mit Karikaturen und Fortsetzungsromanen tentative, wenngleich heterogen bleibende Schritte in diese Richtung unternehmen. In Einzelfällen mag es sogar Personen, speziell gewissen Künstlertypen gelingen, Unsicherheit und Turbulenz in narzisstisch-megalomanische Inszenierungen umzumünzen und diese sich selbst und Anderen als erhabenes Weltmodell zu verkaufen. Manche Romantiker haben diese Projektion wohl am prägnantesten vorgeführt, sich dafür aber auch nicht ganz unverdiente Schmähungen wie „egotistical sublime“ (Jo nes 1954 über Wordsworth) oder „heartlessness of ideas“ (Johnson 1990, S. 28, über Shelley) eingehandelt. Andere Kritiker haben die romantischen Widersprüche zwischen abstrakter Spekulation, politischer Naivität und selbstmanipulativem Einkassieren der großen Entwürfe hervorgekehrt (E. P. Thompson 1997, vor allem über Coleridge, z. B. S. 131: „The self-isolation of a utopian intellectual revolutionary has rarely been more explicitly defined.“). Die philosophische Lyrik bei Schiller, später in England bei Tennyson, Browning, Meredith oder noch Hardy wirkt angesichts der gesellschaftlichen Dynamik wie eine Flucht vor der in Pathologie abgleitenden Subjektivität, welche die ‚moderneren‘ Gedichte von Tennyson und Browning, die so genannten dramatischen Monologe, als gleichsam schon vollzogen hinstellten. Sie haben das mit dem weitgehenden Verlust an soziokultureller Kommunikativität dieser Lyrik bezahlt. Medienanthropologisch gesehen ist es vornehmlich der Roman, welchem ein soziokulturell schwer, wenn nicht unmöglich gewordenes Doppeltes obliegt: einmal die differenzierte (weniger als in Oper und Rockmusik intensivierte) Bewahrung der Intuition des unaufgebbaren (Zwischen-)Menschlichen, zum Anderen die weit über die Möglichkeiten des Dramas hinausgehende, ein Stück weit immer auch kontrafaktische, im Extrem utopische Einbettung in die abstrakten, institutionell mehr oder weniger degenerierten und die Subjekte plagenden, gerade weil als konkrete Wirklichkeiten nicht mehr greifbaren Gesellschaften. In der Doppelung von pathetischer Bewahrung des (Inter-)Subjektiven und in der singulär suggestiven erzählerischen Veranschaulichung der sich allen sonstigen Darstellungsversuchen entziehenden abstrakten Gesellschaft erhebt sich etwa Dickens, wie ihm Wolfgang Hildesheimer bescheinigt hat, zum größten Soziologen, ich würde sagen: Sozialanthropologen seiner Zeit (Hildesheimer 1975, 1991, S 148 f.). Der sogenannte realistische und <?page no="58"?> Medienanthropologie 59 naturalistische Roman verschiedener Länder steigert die Versuche, der Wirklichkeit gesellschaftlicher Dynamik habhaft zu werden, ohne die Intuition des (Zwischen- ) Menschlichen völlig preiszugeben. Allerdings wird die Labilität dieser Intuition auch deswegen unverkennbar, weil sie sich nicht nur gegen eine gleichgültige Außenwelt, sondern vor allem im späteren 19. Jahrhundert auch gegen die wild gewordenen Phantasien, die „wilde Ontologie“ der Innenwelt (Foucault 1974, S. 340) durchsetzen muss. In dieser Zeit entsteht die Psychopathologie, kurz darauf, noch ‚wilder‘, die Psychoanalyse. Im Roman des 20. Jahrhunderts geht es dann bestenfalls nur noch um eine begrenzte Neuentfaltung der von W. Iser etwa als Reduktionsformen beschriebenen Subjektivität. Anthropologisch krisenfester kann sich der Kriminalroman behaupten, weil er von vorneherein, jedenfalls in meiner Interpretation, weniger auf (zwischen-)menschliche Sinn- und Gefühlsbedürfnisse, sondern auf die unheimliche anthropologische Grundfigur des Todes und die spannende Dechiffrierung von verschlüsselten Informationen abzielt. Vielleicht darf ich, keineswegs um der politischen Korrektheit willen, anfügen, dass ich in der gegenwärtigen Konjunktur der von Frauen geschriebenen und meist mit Gerichtsmedizinerinnen in der Hauptrolle besetzten Kriminalromane eine Art Wiederkehr und Verstärkung der medienanthropologischen Dimension selbst durch eine monomediale Form erblicke, weil dort nicht nur das Pathos des Todes, sondern auch eine erhöhte Sensibilität im Blick auf die ‚menschlichen‘ Implikationen dechiffrierter Information am Werke ist. VII. Film, Medienanthropologie und / als Medienromantik? Aber auch in der Medienanthropologie gilt: Konkurrenz belebt das Geschäft. Es trifft sich hier, dass nicht nur der eigentliche Begründer der Medienanthropologie, André Leroi-Gourhan (dt. 1988, frz. bereits 1964 / 1965), sondern auch markante Vertreter der französischen Filmtheorie, Edgar Morin und Gilles Deleuze, sich einerseits mit der Suggestivität bildlich gestützter Sprache, noch mehr aber mit jener sprachlich gestützter Bilder, der bewegten des Films allzumal, herumgeschlagen haben. Morin etwa hält schon Anfang der 50er Jahre dafür, dass das bewegte Bild des Films, besonders in der Großaufnahme des Gesichts, gleichsam dafür plädiere, dass Menschen nicht eine in ihren Eigenschaften bestimmbare Seele, wohl aber ein inszenierungsbedürftiges Seelisches ihr Eigen nennen, ja nennen müssen (Morin 1956, S. 114). Und bei Deleuze schiebt sich innerhalb seiner drei Typen des filmischen Bewegungsbildes - Wahrnehmungs-, Aktions- und Affektbild - das letzte unwiderstehlich in den Vordergrund. Auch für Deleuze treiben vor allem die Großaufnahme und alle möglichen Formen der Montage bereits bei Eisenstein das „Pathetische“, ja gar die „Kohärenz“ einer „organisch-pathetischen Gesamtheit“ hervor (Deleuze 1989, Bd. 1, S. 18, 59). 9 Damit reiht sich der Film, mit ihm nun selbst die offenkundige Dominanz avancierter Technologien, medienanthropologisch in die Reihe jener künstlerisch-medialen Anstrengungen ein, die so etwas wie eine „umfas- 9 Ich beschränke mich aus Platzgründen auf diesen ersten, dem „Bewegungs-Bild“ gewidmeten Teil. Ohnehin ist das Zeit-Bild des zweiten Teils dem Bewegungs-Bild untergeordnet. <?page no="59"?> K. Ludwig Pfeiffer 60 sende Menschlichkeit“ (Muschg 1991, S. 25, über Kurosawa) gegen die anfangs skizzierten Ausdifferenzierungs- und Desanthropomorphisierungstrends zur Geltung bringen. In dieser Hinsicht wäre ein Begriff zu rehabilitieren, der in der Literaturwissenschaft zumeist als Gattungsbegriff für billige Sentimentalität oder als eine Art affektiver Lautsprecher denunziert worden ist: das Melodrama. Gemeint ist weniger das in der Tat aufdringliche Theater-Melodrama des 19. Jahrhunderts, sondern die, etwa für viele große Opern, für so unterschiedliche Filme wie Edelwestern oder auch die meisten Filme Akira Kurosawas und vieler anderer geltende, Vorstellung André Bazins von der „noblesse du mélodrame“ (Bazin 1975, S. 205, 219). Das heißt: In anthropologischer Hinsicht weichen attraktive Medien nicht den Fallstricken des Melodramas im 19. Jahrhundert aus, indem sie dessen schlichte Handlungsverläufe etwa ausblenden. Wohl aber kann man die Gefühls- und Handlungs-Stereotypen des Melodramas gleichzeitig relativieren und ihre Rest- und Fragmentformen ebenso intensivieren wie auch reflexiv ausdifferenzieren. Ich denke, dass beispielsweise der in Ost und West erfolgreiche Kurosawa ein Beispiel dafür bietet, wie das filmisch veredelte Melodrama als ein sowohl prägnantes Film-Genre eigenen Rechts wie auch starkes Moment in anderen Gattungen des 20. Jahrhunderts das „melodramma (in musica)“ des 18. und 19. Jahrhunderts, die Oper, gleichzeitig beerbt und fortführt. Schon Adorno hat bekanntlich im Essay „Bürgerliche Oper“ diese zum Platzhalter des noch ungeborenen Kinos ernannt. Erbe und Fortführung bestehen medienanthropologisch in der technisch und performativ unterschiedlich erzeugten Eindringlichkeit, mit der Oper wie Film vergessen machen, dass die Prätention „Darstellung umfassender Menschlichkeit“ in der Tat nur eine Prätention ist. Und doch entsteigt dem Grauen des etwa bei Kurosawa dargestellten Geschehens ein wie auch immer vager, mit einem gewissen Risiko als menschlich zu bezeichnender Mehrwert. Man kann die Tendenz der Medienanthropologie, auch in den avanciertesten Technologien, Inszenierungen des Nichtmodernen aufzuspüren - die heutigen Internet-basierten sozialen Netzwerke bieten erstaunliche Einblicke - man kann diese Tendenz auch Medienromantik nennen. Eric Havelock, Medientheoretiker und historiker besonders der Antike, hat diesen Begriff im Blick auf Harold Innis, den Vorgänger McLuhans, gewählt. Dieser habe trotz seines ausgeprägten Bewusstseins für die Differenzierung der Medien und Kommunikationswege darauf bestanden, dass der Mensch ein besonderes Wesen sei. Er habe von Humanismus geredet, weil Menschen immer noch gerne miteinander redeten (vgl. Innis 1997, S. 17, 23, 26). Ein anderes Modell für eine Medienanthropologie, die man Medienromantik nennen könnte, hat der erwähnte André Leroi-Gourhan mit dem Pionierwerk Hand und Wort geliefert. Er beharrt darauf, dass Künste und Medien unser Imaginäres bis in seine muskulären und viszeralen Schichten ansprechen müssen, wenn sie psychokulturell langfristig erfolgreich sein wollen (1988, S. 352 f., 358). In einer, sagen wir einmal ‚menschlichen‘ Form der Systemtheorie, hat James Grier Miller schon 1978 darauf hingewiesen, dass sehr viele Medien und Technologien vornehmlich dafür erfunden werden, um das stressige Dominanzgebaren anderer Medien zu bremsen, um - ohne dass man eine genaue Vorstellung davon hätte - ein gewisses Niveau des <?page no="60"?> Medienanthropologie 61 Menschlichen in den Kommunikationstechniken und -maschinen zu halten. Ein triviales Beispiel ist der Anrufbeantworter. Man kann medienromantisch an die Theorie des flow von Csikszentmihalyi (1990) 10 denken, wo die ‚optimale‘ Erfahrung technisch und medial bzw. körpergebunden durch ganz unterschiedliche Aktivitäten und Medien erzielt werden kann (Bergsteigen, medizinische Operationen, Schachspiel, Kunstpraxis und -erfahrung usw.). Kurosawa hat die romantische Frage anlässlich der Vorfälle nach dem Großen Kanto Erdbeben 1923 einfacher gestellt: „[...] I couldn't help shaking my head and wondering what human beings are all about” (1983, S. 52). Künste und Medien geben darauf keine Antwort. Aber sie entwerfen ein Spektrum von nur medial zugänglichen und eindringlichen Suggestionen. Literaturverzeichnis Bazin, André, Le cinéma de la cruauté, Paris 1975. Böhme, Gernot, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Darmstädter Vorlesungen, Frankfurt am Main 1985. Burckhardt, Jacob, Griechische Kulturgeschichte (Das Geschichtswerk Bd. II), Frankfurt am Main 2007. 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Der Terminus ‚Empathie‘ ist nicht so alt; obschon er etymologisch auf das Griechische zurückgeht, ist er nicht aus dem Griechischen ins Deutsche gekommen. Es handelt sich vielmehr um eine Übernahme des englischen empathy, das seinerseits vor gut hundert Jahren als Übersetzung des deutschen Wortes ‚Einfühlung‘ geprägt worden ist. Der Begriff der Empathie wird in der Psychologie, in der es eine breite Forschung dazu gibt, unterschiedlich definiert. Die knappste Definition ist „I feel what you feel“ (Keen 2007: 5), bezogen auf die Literatur also: Ich fühle, was die literarische Figur (oder das lyrische Ich) fühlt. Strittig ist, ob Empathie nur einen emotionalen Vorgang bezeichnet oder ob sie auch das Nachvollziehen von Gedanken anderer Menschen einschließt (zu dieser Diskussion vgl. Keen 2007: 27f.). Beim Lesen kommt auf jeden Fall die Kognition ins Spiel - der Lesevorgang ist wesentlich durch sie bestimmt. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, den Begriff ‚Empathie’ nicht mit ‚Einfühlung’ gleichzusetzen und die durch die deutsche Sprache gegebene Möglichkeit der Begriffsunterscheidung zu nutzen; im Englischen wird der Begriff nach wie vor als Übersetzung von ‚Einfühlung’ verwendet. Durch die im Deutschen mögliche Unterscheidung kann darüber hinaus verdeutlicht werden, dass Einfühlung auch auf Nichtmenschliches, z.B. eine Naturstimmung, Empathie aber nur auf den zwischenmenschlichen Bereich bezogen wird. In der Literaturtheorie spielt der Terminus ‚Empathie‘ erst seit wenigen Jahren eine Rolle; im Register von Standardwerken zur Literaturtheorie ist er noch kaum verzeichnet. Mit dem Buch Empathy and the Novel von Suzanne Keen (2007) liegt aber mittlerweile eine gründliche literaturtheoretische Studie zum Thema vor; ferner hat die Entdeckung der Spiegelneuronen durch die Neurowissenschaften und der dadurch gegebene neue Blick auf das Phänomen der Empathie das Interesse von Literaturwissenschaftlern geweckt, wie die Publikationen von Gerhard Lauer (2007) und Fritz Breithaupt (2009) zeigen. Aufgrund dieser Forschungslage gehe ich im Folgenden zuerst kurz auf die Spiegelneuronen und ihre Bedeutung für den Empat hiebegriff ein; dann zeige ich, dass Empathie in der Literatur historisch unterschiedlichen Ausprägungen unterliegt. Dabei gehe ich auf die Vorstellungen ein, die die Dichter von der empathischen Wirkung der Literatur haben, auf die literarischen <?page no="63"?> Kaspar H. Spinner 64 Mittel, die sie verwenden, und am Rande auch auf die tatsächliche Rezeption durch Leserinnen und Leser. I. Empathie in der Neurobiologie Die Entdeckung und Erforschung der Spiegelneuronen seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts wird von Neurowissenschaftlern als wissenschaftliche Sensation bezeichnet und mit weitreichenden Hoffnungen verknüpft. Im Originalton eines führenden Erforschers der Spiegelneuronen klingt das folgendermaßen: Philosophen haben über diesem Problem des „Fremdseelischen“ oder des „Fremdbewusstseins“, jahrhundertelang gebrütet - ohne nennenswerte Fortschritte zu machen. Jetzt haben sie ein paar wirklich wissenschaftliche Methoden, mit denen sie arbeiten können. Die Spiegelneuronenforschung gibt ihnen und jedem, der wissen will, wie wir einander verstehen, eine ganze Menge zu denken. (Iacoboni 2011: 14) Spiegelneuronen sind Gehirnzellen, die bei der Durchführung einer Handlung und auch beim Beobachten einer entsprechenden Handlung aktiviert werden bzw. ‚feuern‘, wie die Neurowissenschaftler sagen. Experimente bei Makaken-Affen haben zu diesen Erkenntnissen geführt, die durch Kernspinresonanztomographie bei Menschen bestätigt und weiter differenziert worden sind. Auch wenn nur virtuell etwas gesehen wird, z.B. bei einem Film, oder wenn eine Handlung nur genannt wird, ‚feuern‘ die Spiegelneuronen, ja sogar wenn Probanden nur aufgefordert wurden, sich eine Handlung vorzustellen. Dabei wagen die Neurowissenschaftler sogar Aussagen zu Vorgängen der Literaturrezeption: „Lisas [Forscherin Lisa Aziz-Zadeh; K.S.] Experiment lässt vermuten, dass unsere Spiegelneuronen, wenn wir einen Roman lesen, die darin beschriebenen Handlungen simulieren“ (ebd.: 105). Das Experiment, auf das hier Bezug genommen wird, wurde allerdings nur anhand des Lesens einzelner Sätze durchgeführt. Die Spiegelneuronen liefern „eine unreflektierte, automatische Simulation (oder ‚innere Nachahmung’)“ (ebd.: 122), die man als körperliches Verstehen bezeichnen kann, und senden dann Signale an die Emotionszentren (das limbische System), darauf folgt ggf. das explizite Erkennen. „Spiegelneuronen reflektieren die innerste Ebene, auf der wir einander begegnen und verstehen: Sie belegen, dass wir zur Empathie geschaffen sind […]“ (ebd.: 279), so lautet die Folgerung von Iacoboni. Von „verstehen“ sprechen die Neurowissenschaftler, weil die Spiegelneuronen dann ‚feuern‘, wenn die Motorik mit einem Handlungsziel verbunden ist. In einem „Wörterbuch der Akte“ (Rizzolatti/ Sinigaglia 2008: 132) hat das Gehirn ein entsprechendes motorisches Grundwissen gespeichert. Wenn jemand zu einem Glas Wasser greift, dann ‚feuern‘ die Spiegelneuronen, weil im Wörterbuch der Akte gespeichert ist, dass ein solches Greifen mit der Intention des Trinkens verbunden ist. Je nach Situationskontext - z.B., wenn ein Kellner nach Lokalschluss zu einem Glas auf einem Tisch greift - könnte auch das Handlungsziel des Aufräumens abgerufen werden. <?page no="64"?> Literatur und Empathie 65 In der weiterführenden Forschung ist auch zwischen automatisierter Simulationsempathie und enactment (Nachvollziehen)-Empathie unterschieden worden. Letztere ist komplexer und schließt bewusste Steuerung ein. (vgl. Tan 2009: 198ff.) Die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse, die die Grundlage von Empathie in der Aktivierung der auf die Körpermotorik bezogenen Spiegelneuronen sehen, machen in literaturtheoretischer Sicht auf die Bedeutung der erzählten Handlungen aufmerksam (vgl. Lauer 2007); durch sie werden die Spiegelneuronen des Lesers aktiviert. Aber das literarische Verstehen bleibt darauf nicht beschränkt; erst die Aktivierung des Emotionszentrums des Lesers und die kognitive Verarbeitung machen empathisches Verstehen aus. Im Verlauf der Literaturgeschichte hat es sehr unterschiedliche Ausprägungen des Empathieangebotes in den Texten gegeben und entsprechend auch sich wandelnde Rezeptionsweisen. Aus diesem Grunde ist es sinnvoll, einen literaturtheoretischen Begriff von Empathie ausgehend von seiner historischen Entwicklung zu definieren. Im Folgenden soll an Beispielen diese Entwicklung skizziert werden, und zwar beginnend mit dem 18. Jahrhundert, das für die Fragestellung besonders interessant ist. II. Mitleidspoetik im 18. Jahrhundert In der Philosophie des 18. Jahrhunderts wird der Begriff des Mitleids intensiv diskutiert und er spielt dann auch in den damaligen Überlegungen zur Wirkung und Funktion von Literatur eine Rolle. Einflussreich ist Rousseaus Verständnis der Mitleidsfähigkeit als menschlicher Wesenseigenschaft, das er in seiner Schrift Discours sur l’origine de l’inégalité entre les hommes (1755) entfaltet. Diese Schrift ist von Moses Mendelssohn, dem Freund Lessings, übersetzt und von Lessing gelesen worden. Zentral ist der Mitleidsbegriff auch in Francis Hutchesons A system of Moral Philosophy, ebenfalls im Jahr 1755 erschienen; diese Schrift ist von Lessing als Sittenlehre der Vernunft ins Deutsche übersetzt worden. Er ist es, der dann den Mitleidsbegriff für seine Überlegungen zum Drama in Anspruch genommen hat und der auch den aristotelischen Begriff eleos als „Mitleid“ übersetzt hat. Aufschlussreich ist dafür Lessings umfangreicher Briefwechsel mit Moses Mendelssohn und Friedrich Nicolai; zehn Jahre später hat er seine Mitleidstheorie dann in der Hamburgischen Dramaturgie einem größeren Publikum vorgestellt. Zitiert sei hier aus dem viel genannten Brief an Nicolai vom 13. November 1756: […] die Bestimmung der Tragödie ist diese: sie soll unsre Fähigkeit, Mitleid zu fühlen, erweitern […] Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch […] Wer uns also mitleidig macht, macht uns besser und tugendhafter, und das Trauerspiel […] thut jenes, um dieses thun zu können. (Lessing 1840: 50) Interessant ist, dass Lessing einen klaren Unterschied zwischen den Gefühlen des Rezipienten und denen der literarischen Figur bzw. des Schauspielers macht: Wenn eine Dramenfigur zornig oder verliebt ist und der Schauspieler Verliebtheit und Zorn spielt, heißt das nach Lessing nicht, dass der Zuschauer nun auch diese Gefühle empfindet (vgl. Lessings Brief an Mendelsohn vom 2. Februar 1757, ebd.: 70ff.). <?page no="65"?> Kaspar H. Spinner 66 Seine Reaktion ist das Mitleiden, mit den Worten Lessings: „Kurz, ich finde keine einzige Leidenschaft, die das Trauerspiel in dem Zuschauer rege macht, als das Mitleiden“ (ebd.: 49). Lessings Mitleidstheorie hat aufklärerische Züge. Das gilt zum einen für ihre ethische Ausrichtung: Man könnte von einer Indienstnahme des Trauerspiels für die ethische Vervollkommnung der Menschen sprechen, in Lessings Worten: „Ich lasse mich zum Mitleiden im Trauerspiel bewegen, um eine Fertigkeit im Mitleiden zu bekommen“ (ebd.: 65). Zum Zweiten ist Lessings Unterscheidung zwischen den Emotionen der Figuren und denjenigen des Rezipienten eine aufklärerische Konzeption, die heute verbreiteten Vorstellungen von empathischem Lesen als Identifikation mit den Figuren widerspricht. Den Aufklärern war eine unreflektierte Identifikation mit literarischen Helden verdächtig. Die damit aufgeworfene Frage, in welchem Verhältnis Emotionen der literarischen Figuren zu denen der Rezipienten stehen, bleibt in der weiteren Geschichte der Literatur und deren Rezeption aktuell, wie die folgenden Ausführungen zeigen sollen. Lessing bezieht seine Mitleidstheorie ausdrücklich auf das Trauerspiel; beim Epos sieht er eine andere Rezipientenreaktion: „Der bewunderte Held ist der Vorwurf der Epopee; der bedauerte des Trauerspiels“ (ebd.: 51). Anders ist dies knapp zwanzig Jahre später bei Christian Friedrich von Blanckenburg, der sich auf die in der Zwischenzeit aufgekommene empfindsame Romanliteratur stützen kann. In seiner viel beachteten Schrift Versuch über den Roman (1774) wendet er die Mitleidstheorie auf den Roman an, den er vom älteren Epos abgrenzt. Diesem sei es auf Handlungen angekommen, für den Roman dagegen seien die „Empfindungen“ der Menschen wichtig: Wenn der Dichter nicht das Verdienst hat, daß er das Innre des Menschen aufklart, und ihn sich selber kennen lehrt: so hat er gerade - gar keins. […] nur dies Verdienst kann er haben; dies ist es, was er vorzüglich thun kann. [Der Romandichter] hat vorzüglich Mittel in Händen, uns Thüren zu öffnen, die nur der Dichter überhaupt öffnen kann. Damit dient die Romanliteratur nach Blanckenburg der Beförderung der Vervollkommnung des Lesers, insbesondere der „Ausbildung eines der edelsten Gefühle der Menschheit“, nämlich des „Mitleids“ (ebd.: 91). Auch Blanckenburg will nicht einen Leser, der nur identifikatorisch mit den literarischen Figuren mitfühlt, vielmehr will er - ganz aufklärerisch - den „denkenden Leser“ (ebd.: 369), dessen Empfindungen und moralische Urteilskraft gebildet werden sollen: „Der Dichter soll die Empfindungen des Menschen bilden; er soll es uns lehren, was werth sey, geschätzt und geachtet, so wie gehasst und verabscheut zu werden“ (ebd.: 435). III. Empathie mit einem Selbstmörder? Die Leiden des jungen Werthers (1774) Im gleichen Jahr wie Blanckenburgs Schrift ist ein Roman erschienen, der als eine Provokation der aufklärerischen Dichtungsauffassungen erscheinen musste und der <?page no="66"?> Literatur und Empathie 67 der literaturtheoretischen Diskussion neuen Antrieb gab: Goethes Werther. Der Komponist, Dichter und Publizist Christian Friedrich Daniel Schubart schrieb in einer Rezension zu Goethes Roman: Da sitz ich mit zerfloßnem Herzen, mit klopfender Brust, und mit Augen, aus welchen wollüstiger Schmerz tröpfelt, und sag Dir, Leser, daß ich eben die Leiden des jungen Werthers von meinem lieben Göthe - gelesen? - Nein, verschlungen habe. […] Wollte lieber ewig arm seyn, […] als einem solchen sentimentalischen Schriftsteller nicht nachempfinden zu können. (zit. nach Rothmann 1974: 121f.) Das ist nicht mehr eine Rezeptionshaltung, wie sie sich Lessing und Blanckenburg mit ihrer Mitleidspoetik vorgestellt haben. Neben so enthusiastischen Reaktionen, wie der von Schubart, gab es allerdings auch viel Ablehnung von Goethes Roman, vor allem von Seiten des orthodoxen Klerus, der im Roman eine Verteidigung des Selbstmordes sah. Interessant ist, wie die Aufklärer reagierten. Der oben schon genannte Lessing-Freund Nicolai verfasste als Reaktion auf Goethes Roman die Schrift Die Freuden des jungen Werthers mit einem versöhnlichen Schluss, bei dem Albert auf Lotte verzichtet und Werther Lotte heiratet (vgl. ebd.: 141ff.). Lessing schrieb in einem Brief an einen Bekannten: Damit das Buch kein Unheil anrichte, hätte Goethe noch ein Schlusskapitel schreiben sollen mit Hinweisen, wie Werther „zu einem so abentheuerlichen Charakter“ (ebd.: 136) habe werden können und wie sich andere junge Menschen davor bewahren können. Auch Wieland schrieb eine Rezension, die deshalb besonders aufschlussreich ist, weil er auf die Mitleidstheorie Bezug nimmt: […] in einer langen Reihe von Briefen können wir den Charakter desselben [= Werthers] nach allen seinen kleinen Bestimmungen so durchschauen, daß wir ihn selbst an den Rand des Abgrundes begleiten. […] Einen einzelnen Selbstmörder […] zum Gegenstande des Mitleids zu machen, in seinem Beyspiele zu zeigen, daß ein allzuweiches Herz und seine feurige Phantasie oft sehr verderbliche Gaben sind, heißt keine Apologie des Selbstmords schreiben. (ebd.: 123) Das ist keine identifikatorisch-überschwängliche Lesart wie bei Schubart, keine Identifikation mit dem Romanhelden, trotzdem aber eine Rechtfertigung des Romans, weil er Mitleid bewirke und den Leser den Charakter des Helden „durchschauen“ lasse. Ganz ähnlich, aber wesentlich ausführlicher argumentiert Christian Friedrich von Blanckenburg in seiner Rezension; er nimmt dabei Bezug auf die Selbstmordwelle, die der Roman ausgelöst haben soll: Wir können hier nicht untersuchen, ob die Menge jener Unglücklichen jetzt größer sey, als ehemals; aber das wissen wir gewiß, daß nur der ganz Unglückliche zum Selbstmörder wird, und daß wohl noch nie die Lektüre irgend eines Dichters irgend einen Menschen in der wirklichen Welt geradeswegs unglücklich gemacht habe. […] Wir sind [im Werther] auf die anschauendste Art, mit dem menschlichen Herzen überhaupt und besonders mit alle den Eigenthümlichkeiten eines empfindsamen Herzens bekannt gemacht worden, indem wir Werthers ganze Denk- und Empfindungsart vor unsern Augen gleichsam werden und wachsen sahen […]. (zit. nach Braun 1883: 204f.) <?page no="67"?> Kaspar H. Spinner 68 Ähnlich wie Wieland wahrt Blanckenburg Distanz zu Werthers Gefühlen, wie die Formulierungen „bekannt gemacht“ und „vor unsern Augen gleichsam werden und wachsen sahen“ deutlich zeigen. Man könnte in den zeitgenössischen Leserreaktionen drei Grundorientierungen sehen: die enthusiastisch-identifikatorische Rezeption, die vor allem religiös orientierte Ablehnung des Romans als gefährliche Schrift und die aufklärerische Interpretation im Horizont der Mitleidstheorie. Für die Geschichte des Verhältnisses von Literatur und Empathie erscheinen mir beim Werther-Roman besonders die folgenden vier Aspekte interessant: 1. Der Werther ist ein Briefroman und als solcher typisch für die Empfindsamkeit. Rousseaus La Novelle Héloïse oder die Briefromane Richardsons sind einflussreiche Werke für diese Romanform im 18. Jahrhundert. Sie erlaubt eine direkte Ich- Aussprache der Hauptfigur mit entsprechendem Identifikationsangebot. Es ist kein Zufall, dass eine schriftliche Kommunikationsform, eben der Brief, zum bevorzugten Modell für die empfindsame Literatur geworden ist. Schriftlichkeit erlaubt einsame Lektüre, eine Kommunikation von Seele zu Seele - im Werther wird denn auch in der Herausgeberfiktion der Leser als „gute Seele“ (Goethe 1994: 11) angesprochen. Schriftlichkeit blendet die Körperlichkeit eines Gesprächspartners oder eines anwesenden Erzählers aus; es kommt, wie Albrecht Koschorke das formuliert, zu einer „Abstreifung des Äußerlichen, die es ermöglicht, daß die hüllenlosen Innerlichkeiten ineinanderfließen“ (Koschorke 1994: 611, vgl. auch Koschorke 2003: 196); eine empathisch-identifikatorische Lektüre hat also auch mit der medialen Schriftlichkeit zu tun. 2. Als Grundmuster für die Erzeugung literarischer Empathie hat Fritz Breithaupt in seinem Buch Kulturen der Empathie die Konstellation von gutem Helden und bösem Gegenspieler dargelegt (vgl. Breithaupt 2009: 13). Empathie entstehe beim Rezipienten durch Antipathie, die er gegenüber dem Gegenspieler entwickle. In traditioneller Märchen- und Abenteuerliteratur ist diese Konstellation deutlich zu erkennen. Im Werther ist der Zusammenhang anders. Hier gibt es keine einzelne böse Figur, auf die sich die Antipathie des Helden und des Lesers richten kann (Werthers Konkurrent Albert ist kein Bösewicht), vielmehr sind es die gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen Werther leidet. Das bewirkt im Roman, dass die Antipathie, der ein fassbarer Gegenspieler fehlt, als Selbstaggression auf den Helden zurückwirkt, und in der Rezeption, dass sowohl Identifikation mit dem Helden, gegen den sich die ganze Welt verschworen zu haben scheint, als auch Abwehr, angesichts seiner selbstzerstörerischen Reaktionen, in gesteigerter Form auftreten. <?page no="68"?> Literatur und Empathie 69 3. Blanckenburgs oben zitierte Bemerkung in seiner Werther-Rezension, dass „wir Werthers ganze Denk- und Empfindungsart vor unsern Augen gleichsam werden und wachsen“ sehen, verweist auf den Zusammenhang von Empathie und Narration: Indem erzählende Texte die Geschichte von Figuren als Werdegang ihres Charakters, ihrer Einstellungen und Verhaltensweisen erzählen, schaffen sie empathisches Verstehen. Befremdliche, extreme Verhaltensweisen und Gefühlsäußerungen von Figuren werden so nachvollziehbar. 4. Im Werther gibt es durchaus auch Distanzierungssignale, die, wenn sie wahrgenommen werden, eine rein identifikatorische Lektüre relativieren. Da ist zum einen die Herausgeberfiktion, die die Briefe einrahmt und damit eine gewisse Distanz schafft. Ferner wird der Selbstmord von Werther alles andere als verklärend dargestellt. Und schließlich ermöglicht die Briefform des Romans mehr als nur eine Rezeptionsperspektive: Liest man die Briefe, indem man sich mit dem Schreiber identifiziert, oder nimmt man eher die Perspektive des Adressaten ein oder liest man sie als Dokument, wie es der fiktive Herausgeber nahelegt (und wie Blanckenburg den Roman gelesen haben möchte)? Auch ermöglicht die Briefform einerseits den direkten Gefühlsausdruck des Schreibers während des Aufschreibens, andererseits aber auch den Rückblick auf Erlebtes und damit Verarbeitung durch Reflexion. Goethes Werther als Roman über einen Selbstmörder wirft so in aller Schärfe die Frage nach dem Verhältnis von nachempfindend-identifikatorischer und distanzierend-reflektierender Lektüre auf. Damit ist ein Spannungsfeld bezeichnet, das es im Folgenden beim Blick auf den Fortgang der literarischen Entwicklung weiter zu beachten gilt. IV. Empathie mit einem Mörder? Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786/ 92) Dass man die Lebensgeschichte eines Selbstmörders, dem das Leben übel mitgespielt hat, mit Empathie verfolgt, kann man nachvollziehen, auch wenn das am Ende des 18. Jahrhunderts zu heftigen Diskussionen geführt hat. Aber wie ist es, wenn es um einen Mörder geht? Diese Frage wirft Friedrich Schiller mit seiner Erzählung Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786/ 92) auf, die auf einen tatsächlichen Kriminalfall zurückgeht. In der programmatisch-theoretischen Einleitung zu seiner Geschichte schreibt Schiller, es gehe ihm um „Seelenkunde“, „die den sanften Geist der Duldung verbreitet“ (Schiller 1967: 15). Diese Begründung erinnert an die Mitleidstheorie, allerdings mit einem stärker reflexiv-kognitiven Akzent, was schon das Wort „Geist“ in der Fügung „Geist der Duldung“ signalisiert. Schiller will nicht „das Herz“ des „Lesers durch hinreißenden Vortrag“ bestechen, denn das beleidige die „republikanische Freiheit des lesenden Publikums, dem es zukömmt, selbst zu Gericht zu sitzen“ (ebd.: 14). Er „will dem Ausspruch des Lesers nicht vorgreifen“, ob „der Verbrecher, von dem [er] jetzt sprechen werde, auch noch ein Recht gehabt <?page no="69"?> Kaspar H. Spinner 70 hätte, an jenen Geist der Duldung zu appellieren“ (ebd.: 15). Dem Verbrecher nutze ein solches Urteil nicht mehr, „aber die Leichenöffnung seines Lasters unterrichtet vielleicht die Menschheit und - es ist möglich, auch die Gerechtigkeit“ (ebd.: 15). Mit der „Leichenöffnung des Lasters“ meint der ausgebildete Mediziner Schiller, was seine Erzählung leisten soll. Sie soll dies durch folgende Maßgabe erreichen: […] wir müssen mit ihm [dem Helden] bekannt werden, eh er handelt, wir müssen ihn seine Handlung nicht bloß vollbringen, sondern auch wollen sehen. An seinen Gedanken liegt uns unendlich mehr als an seinen Taten, und noch weit mehr an den Quellen seiner Gedanken als an den Folgen jener Taten. (ebd.: 14f.) Es geht Schiller also darum zu zeigen, wie ein Mensch dazu kommt, ein Verbrecher zu werden. Die Erzählung handelt von einem verarmten Wirt, der in seiner Kindheit wegen seiner Hässlichkeit gehänselt wurde und später zum Wilddieb wird, vor allem um seiner Angebeteten, die ihn verschmähte, Geschenke machen und sie so gnädig stimmen zu können. Dreimal wird er verurteilt, mit immer härterer Strafe. „Die Richter sahen in das Buch der Gesetze, aber nicht einer in die Gemütsverfassung des Beklagten“ (ebd.: 17f.). Aus verletztem Ehrgefühl wird der Wilddieb zum Räuber und zum Mörder. Schiller zeigt in seiner Erzählung, wie die gesamte Einwirkung des gesellschaftlichen Umfelds einen Menschen zum Mörder werden lässt. Hier wird erneut ein Grundelement von erzählender Literatur als Narration deutlich: Sie stellt kausale Beziehungen her bzw., rezeptionsästhetisch gewendet, hält sie den Leser dazu an, kausalen Zusammenhängen im Verhalten der Figuren und deren Abhängigkeit vom sozialen Umfeld nachzugehen. Das ist keine identifikatorisch-emotionale, sondern eine rational begründete Empathie. Sie ist auch gegenüber einem Mörder, dessen Tat man nicht billigt, möglich. V. Empathie mit einem psychisch Kranken? Lenz (1835) Georg Büchners Erzählung Lenz (1835 geschrieben) stellt eine weitere Stufe im Empathieangebot literarischer Texte dar. Die Figur, um die es in der Erzählung geht, referiert auf den Sturm-und-Drang-Dramatiker Michael Reinhold Lenz. Im sog. Kunstgespräch in Büchners Erzählung vertritt Lenz eine Position, die empfindsame Vorstellungen aus der Zeit des historischen Lenz aufgreift und die zugleich als Ausdruck von Büchners Auffassung gelten kann: „Man muß die Menschheit lieben, um in das eigenthümliche Wesen jedes einzudringen, es darf einem keiner zu gering, keiner zu hässlich seyn, erst dann kann man sie verstehen […]“ (Büchner 1967: 451). Büchner nimmt in seiner Erzählung nicht eine analysierende Haltung wie Schiller ein, er führt auch keinen Gegenspieler ein, der die Antipathie des Lesers auf sich zieht und Sympathie für den Helden weckt (bei Schiller gibt es noch einen solchen Gegenspieler), vielmehr erzeugt er Empathie durch eine starke Perspektivierung, die eine große Nähe zur Figur, dem psychisch erkrankten Lenz, schafft. An folgender Stelle, der Erweckungsszene, in der Lenz in seinem Wahn ein totes Kind wieder lebendig machen will, lässt sich das besonders gut beobachten: <?page no="70"?> Literatur und Empathie 71 Lenz schauderte, wie er die kalten Glieder berührte und die halbgeöffneten gläsernen Augen sah. Das Kind kam ihm so verlassen vor, und er sich so allein und einsam; er warf sich über die Leiche nieder; der Tod erschreckte ihn, ein heftiger Schmerz faßte ihn an, diese Züge, dieses stille Gesicht sollte verwesen, er warf sich nieder […]. (ebd.: 461) In dieser Textstelle wird wiedergegeben, was Lenz sieht und fühlt; den Satz „diese Züge, dieses stille Gesicht sollte verwesen“ kann man als ein frühes Beispiel für erlebte Rede bezeichnen, dem erzähltechnischen Mittel, das sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts. entwickelt. Die erlebte Rede ist eine typisch schriftliche Ausdrucksform, die im mündlichen Erzählen kaum vorkommt. Sie ist ein weiteres Beispiel für den Zusammenhang von Empathie und Schriftkultur. Dadurch, dass in der erlebten Rede die Er-Form beibehalten wird und zugleich Empfindungen und Gedanken einer Figur so wiedergegeben werden, als spreche die Figur selbst, erlaubt sie eine Verbindung von Distanz und Nähe; da oft (wie bei der zitierten Stelle aus dem Lenz) ein fließender Übergang von Erzählerrede zu erlebter Rede stattfindet, wird die erlebte Rede zu einem Mittel, Fremdverstehen als Annäherung an eine fremde Innenwelt und nicht als Illusion eines vollständigen Verstehens, das bei einem psychisch Kranken kaum möglich ist, zu gestalten. Anders als Schiller, der die Beweggründe seiner Hauptfigur aufklären will, schafft Büchner mit seiner Erzählweise eine große Nähe zum Erleben von Lenz und vermittelt zugleich die Erfahrung der Grenze des Fremdverstehens. VI. Der unparteische Romancier: Madame Bovary (1856) Das Spannungsverhältnis zwischen Empathie und Andersheit bleibt in der weiteren Theorie- und Literaturgeschichte ein zentrales Thema; ihm soll im Folgenden besondere Beachtung geschenkt werden. Für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts sei auf Gustave Flaubert hingewiesen. Aufschlussreich und viel zitiert sind seine Briefe an George Sand vom 5. und 15.12.1866: […] j’éprouve une répulsion invincible à mettre sur le papier quelque chose de mon cœur. 1 (Flaubert 1991: 575) Je crois que le grand art est scientifique et impersonnel. Il faut, par un effort d’esprit, se transporter dans les Personnages et non les attirer à soi. 2 (Flaubert 1991: 579) Der aus einer solchen Haltung resultierende objektive Erzählstil, für den Flauberts Roman Madame Bovary berühmt ist, wurde schon von den Zeitgenossen als ungewöhnlich empfunden. In einer zeitgenössischen Kritik heißt es: „Herr Gustave Flaubert, Sohn und Bruder ausgezeichneter Ärzte, führt die Feder wie andere das Skalpell“ (Sainte-Beuve 1877: 363, Übersetzung K.S.). Das erinnert an Schillers 1 […] ich empfinde […] einen unüberwindlichen Widerwillen, etwas aus meinem Herzen zu Papier zu bringen. (Übersetzung K.S.) 2 Ich glaube, dass die große Kunst wissenschaftlich und unpersönlich ist. Man muss sich durch eine geistige Anstrengung in die Personen hineinversetzen und sie nicht an sich heranziehen. (Übersetzung K.S.) <?page no="71"?> Kaspar H. Spinner 72 „Leichenöffnung des Lasters“. Ein extremes Beispiel für Flauberts Erzählstil ist die, sich über viele Seiten hinziehende, Schilderung von Emma Bovarys Todeskampf, die Arsen eingenommen hat. Ein grässliches Lachen, „un rire atroce, frénétique, désespéré“ (Flaubert 1961: 302), ist ihre letzte Äußerung. Hier wird die distanzierte Kälte, seine impassibilité, mit der Flaubert seine Figuren gestaltet, überdeutlich - aber zugleich hat Flaubert berichtet: „Als ich die Vergiftung der Emma Bovary beschrieb, fühlte ich den Geschmack des Arsen auf meiner Zunge“ (zit. nach Roloff 1974: 5879). Das ist eine geradezu körperliche Empathie, die man heute mit den Spiegelneuronen erklären könnte. Man könnte sagen, dass Flaubert körperliche Empathie mit den Figuren empfinde (und dem Leser vermittle), dass er mit analytischem Blick das Verhalten und die Innenwelt der Figuren unter die Lupe nehme, dass er sich aber den Ausdruck emotionaler Einfühlung verbiete. Diese bleibt eine Leerstelle. Vor allem bei den Nebenfiguren bekommt diese Distanziertheit des Erzählstils eine ironische Färbung - die Schilderung des Mittagessens, das dem berühmten Arzt Larivière während des Sterbens von Emma Bovary serviert wird, ist dafür ein Beispiel. VII. Ironie und innerer Monolog: Tonio Kröger (1903) und Fräulein Else (1924) Bei Thomas Mann wird die Ironie zu einem durchgehenden Stilmittel, das die Empathie mit den Figuren begleitet; dabei bedient sich Thomas Mann in besonders kunstvoller Weise der erlebten Rede. Als Beispiel sei hier eine Stelle aus Tonio Kröger genauer betrachtet; es handelt sich um die Tanzstundenszene; in der Pause stellt sich Tonio Kröger vor ein Fenster, aus dem er gar nicht hinaussehen kann: Er blickte aber in sich hinein, wo so viel Gram und Sehnsucht war. Warum, warum war er hier? Warum saß er nicht in seiner Stube am Fenster und las in Storms ‚Immensee’ […]. (Mann 1981: 288) Das ist erlebte Rede in ihrer entwickeltsten Form (vgl. dazu Wood 2011: 22ff., der in ähnlicher Weise Passagen anderer Autoren analysiert). Die Formulierung „wo so viel Gram und Sehsucht war“ ist typisch für die Raffinesse moderner Erzähltechnik: Dieser Satz kann zunächst verstanden werden als eine Aussage, die der Erzähler über das Innere von Tonio Kröger macht im Sinne von: „wo viel Gram und Sehnsucht war“. Aber da steht noch ein „so“, das als Signal erlebter Rede, die im folgenden Fragesatz weitergeführt wird, die Perspektive von Tonio zum Ausdruck bringt (in Ich-Form umformuliert: „ich bin so voller Sehnsucht“). Das „so“ vermittelt dem Leser auch das Selbstmitleid von Tonio Kröger und gibt der Formulierung eine ironische Färbung, die nun wieder der Perspektive des Erzählers zugehört und die man, mit einem Begriff, den Albrecht Koschorke in einem Aufsatz über Goethes Wilhelm Meister verwendet hat, als „Empathie-Sperre“ (Koschorke 2010: 184) bezeichnen kann. So entsteht ein Hin und Her zwischen Innensicht und Außensicht, zwischen Empathie und Distanzierung. <?page no="72"?> Literatur und Empathie 73 Eine andere moderne literarische Form, mit der die Innenperspektive von Figuren wiedergegeben wird, ist der Bewusstseinsstrom, der, was die deutsche Literatur betrifft, die weitestgehende Ausprägung bei Arthur Schnitzler, vor allem in seiner Novelle Fräulein Else, gefunden hat. Anders als die erlebte Rede ist der Bewusstseinsstrom in Ich-Form und im Präsens formuliert. Die folgende Stelle zeigt die besondere Leistung dieser Erzählform: Da hängen die Kleider im Kasten! Ist das grüne Loden überhaupt schon bezahlt, Mama? Ich glaube nur eine Anzahlung. Das Schwarze zieh ich an. Sie haben mich gestern alle angestarrt. Auch der blasse kleine Herr mit dem goldenen Zwicker. Schön bin ich eigentlich nicht, aber interessant. Zur Bühne hätte ich gehen sollen. Bertha hat schon drei Liebhaber, keiner nimmt es ihr übel … In Düsseldorf war es der Direktor. Mit einem verheirateten Manne war sie in Hamburg und hat im Atlantic gewohnt. Appartement mit Badezimmer. Ich glaub gar, sie ist stolz darauf. Dumm sind sie alle. Ich werde hundert Geliebte haben, tausend, warum nicht? Der Ausschnitt ist nicht tief genug; wenn ich verheiratet wäre, dürfte er tiefer sein. (Schnitzler 2002: 18) Schnitzlers Technik des Bewusstseinsstroms schafft eine radikale Vergegenwärtigung von Subjektivität, die bewirkt, dass die Figur nicht mehr als ein Ich fassbar ist, denn der Bewusstseinsstrom ist eine Aneinanderreihung von Assoziationen, die durch situative Zufälligkeiten und ein unkontrolliertes Unterbewusstsein beeinflusst sind und denen das Ich ausgeliefert erscheint. Der Leser wird hineingezogen in eine empathische Lektüre und zugleich entgleitet ihm die Figur als Person im assoziationsbeladenen Bewusstseinsstrom. Hier zeigt sich, dass Empathie ihre Grenze nicht nur in der Fremdheit des Anderen findet, sondern auch, wenn sich eine Figur (oder in der Realität eine Person) als Spielball ihrer, durch situative Zufälligkeiten und unbewusste Reaktionen ausgelösten, Assoziationen erweist. VIII. Thematisierung der Grenze von Empathie: Am Beispiel meines Bruders (2003) In seinem Buch Am Beispiel meines Bruders gestaltet Uwe Timm den Versuch, seinen Bruder, der in der SS-Totenkopfdivision war und im Krieg umkam, zu verstehen. Dabei wird die Grenze von Empathie zum Thema; sie ist gegeben durch die Tatsache, dass Timms Buch autobiographisch ist, dass es also nicht um das Verstehen einer fiktiven literarischen Figur geht, über die ein Autor verfügen kann, sondern um einen wirklichen Menschen. Eine solche Thematisierung von Nichtverstehen, von unüberbrückbarer Andersheit, ist jedoch, auch unabhängig von biographischen Inhalten, ein Thema, das für die Gegenwartsliteratur kennzeichnend ist. Wenn es zudem um das Verstehen eines Menschen geht, der zu den Tätern des Nationalsozialismus gehört, wird erst recht ein empathisches Verstehen schwierig. <?page no="73"?> Kaspar H. Spinner 74 Uwe Timm bzw. der Erzähler verfügt über ein Kriegstagebuch des Bruders; die folgende Stelle in diesem Tagebuch ist eine Schlüsselstelle für den Erzähler: März 21. Donez Brückenkopf über den Donez. 75 m raucht Iwan Zigaretten, ein Fressen für mein MG. (Timm 2003: 19) (Mit Iwan ist ein Russe gemeint.) Was Uwe Timm an den Tagebuchnotizen besonders irritiert, ist die „Abwesenheit von jedem Mitempfinden“ (ebd.: 151). Die Tagebuchstelle wird vom Erzähler kommentiert: Ein Fressen für mein MG: ein russischer Soldat, vielleicht in seinem Alter. Ein junger Mann, der sich eben die Zigarette angezündet hatte - der erste Zug, das Ausatmen, dieses Genießen des Rauchs, der von der brennenden Zigarette aufsteigt, vor dem nächsten Zug. An was wird er gedacht haben? An die Ablösung, die bald kommen mußte? An den Tee, etwas Brot, an die Freundin, die Mutter, den Vater? Ein sich zerfaserndes Rauchwölkchen, in dieser von Feuchtigkeit getränkten Landschaft, Schneereste, Schmelzwasser hatte sich im Schützengraben gesammelt, das zarte Grün an den Weiden. An was wird er gedacht haben, der Russe, der Iwan, in dem Moment? Ein Fressen für mein MG. (ebd.: 19) Empathie wird hier auf zwei Ebenen zum Thema: Weil den Erzähler die Abwesenheit von Empathie im Tagebuch irritiert, schafft er in seiner Kommentierung der Tagebuchstelle Empathie mit dem Russen; dies ist aber nur als ungewisse Annäherung möglich, wie die Formulierungen in Frageform zeigen. Zugleich steht hinter den Überlegungen des Erzählers zum Russen die Frage, ob der Bruder tatsächlich keine Empathie mit dem Feind, den er erschossen hat, aufbringen konnte. Diese Frage wird viel später im Buch aus anderer Perspektive aufgegriffen: „Was würde der Bruder, hätte er überlebt […] sagen, wenn er heute diesen Satz lesen würde: 75 m raucht Iwan Zigaretten, ein Fressen für mein MG? “ (ebd.: 154) Diese Frage bleibt unbeantwortet und zeigt, wie der Empathie mit dem Bruder eine Grenze gesetzt ist. Timms Buch ist ein prägnantes Beispiel dafür, wie literarisches Schreiben durch den Versuch, sich eine Vorstellung von einem Menschen und seinem Umfeld zu machen, empathisches Verstehen anstreben und zugleich die Grenzen von Empathie aufzeigen kann. IX. Schluss Empathie und Literatur haben eine wechselvolle Geschichte; sie ist geprägt von der Ambivalenz, dass einerseits Empathie als eine zentrale Wirkungskomponente von Literatur angesehen wird und sich damit Vorstellungen einer humanen Wirkung verbinden und dass andererseits Grenzen von Empathie diskutiert und literarisch gestaltet werden. Insofern wird man den Titel Woher wir wissen, was andere denken und fühlen (Iacoboni 2011), den das Buch über die Spiegelneuronen von Marco Iacoboni in der deutschen Übersetzung trägt, mit Skepsis betrachten. Die vorbewusste Reaktion der Spiegelneuronen ist noch kein Wissen; erst die daran anschließenden emoti- <?page no="74"?> Literatur und Empathie 75 onalen, imaginativen und reflexiven Prozesse führen zu dem, was man in literaturtheoretischer Sicht als Empathie bezeichnen kann. Literaturverzeichnis Blanckenburg, Christian Friedrich von: Versuch über den Roman. Leipzig, Liegnitz: Siegerts, 1774. Braun, Julius W.: Goethe im Urtheile seiner Zeitgenossen (1773-1786). Berlin: Luckhardt, 1883. Breger, Claudia/ Breithaupt, Fritz (Hgg.): Empathie und Erzählung. Freiburg i. Br.: Rombach, 2010. Breithaupt, Fritz: Kulturen der Empathie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2009. Büchner, Georg: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1. Hg. Werner R. Lehmann. Hamburg: Wegner, 1967. 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Obwohl die Diskussion in den 1980er und 1990er Jahren einen Höhepunkt durchschritten 2 und zahlreiche Definitionsangebote gemacht hat, die sich besonders auf das Verhältnis von autobiographischem Faktum und Fiktion beziehen, ist bis heute keine verbindliche Antwort auf die Frage nach diesem Verhältnis formuliert worden. Was ist geschehen? Warum scheint die Forschung das Interesse an diesem Thema verloren zu haben? Die Reflexion um die Autobiographie und Diskussion um ihre Gattungsmerkmale, ihr ästhetisches Formeninventar und ihre ethischen Ansprüche scheinen heute in eine Sackgasse geraten zu sein. Damit stellt sich die Frage nach der Zukunft des Theoriediskurses der Autobiographie, nach möglichen Perspektiven, nach neuen Ansätzen, die aus aktuellen autobiographischen Texten herausdestilliert werden können. Das Aufspüren neuer Tendenzen und Ansätze in der literarischen Selbstdarstellung erfordert vor allem die Untersuchung grundlegender Parameter des autobiographischen Textes, wie die Struktur der dargestellten Identität, die Frage nach dem Subjekt und seinem Verhältnis zur Umwelt und zur Geschichte sowie die Frage nach der ästhetischen Form und Funktion der literarischen Selbstaussage. Im erforschenden Dialog mit sich selbst wird nicht selten zugleich auch der hermeneutische Ansatz, der zum Verstehen des autobiographischen Ich führt, formuliert. 3 Sich selbst zum Objekt schonungsloser Erkenntnis zu machen, die zudem 1 Philippe Lejeune, Génétique et autobiographie, extrait de la communication de Philippe Lejeune lors de la session CLELIA (Colloque de linguistique et littérature d’Assois) 2007 [http: / / www.fabula.org/ atelier.php ? G%26eacute%3Bn%26eacute%3Btique_et_autobiographie, aufgerufen am 24.11.2012]. 2 Einen Höhepunkt des Theoriediskurses bezeichnen die Arbeiten Philippe Lejeunes. Als für die Geisteswissenschaften wichtige Quellengattung wird die Autobiographie durch Georg Mischs vierbändige Geschichte der Autobiographie etabliert; in der Weiterentwicklung der Dilthey’schen Auffassung von Philosophie als Selbstbesinnung des Lebens, versteht Misch die Autobio graphie als eine der bevorzugten Quellen historischer und philosophischer Annäherung an das Individuum. 3 Vgl. Paul Ricœur, Soi même comme un autre, Paris: Éd. du Seuil, 1990. - <?page no="77"?> Saskia Wiedner 78 einer Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, 4 ist jedoch ein Projekt, das spätestens seit der Freud’schen Psychoanalyse paradox erscheint. Dennoch erhebt der autobiographische Text bis heute den Anspruch auf Authentizität und Wahrheit, Begriffe, an welchen er nicht im Hinblick auf einen realen Referenzraum gemessen werden will, sondern die er diskursiv hervorbringt. Dieser Bruch mit der Referenz erfolgt bereits im 18. Jahrhundert. In den Confessions, die der Forschung als erster moderner autobiographischer Text gelten, 5 formuliert Rousseau in einer Präambel das Diktum des „tout dire“ als auch die Vorstellung von der Singularität, die den Einzelnen für das Projekt der Autobiographie ausweise und die im autobiographischen Text lesbar wird. Wenn, wie Rousseau vorgibt, die Form des autobiographischen Textes die Erfindung seines Autors ist und dieser Text die Wahrheit des Schreibenden zum Ausdruck bringt, 6 so ist damit die Funktion der literarischen Form als (einziger) Spiegel des Individuellen bezeichnet. Das Interesse am autobiographischen Text ist heute fächerübergreifend: sowohl die Literaturwissenschaften als auch die Geschichtswissenschaften, Psychologie und Sozialwissenschaften widmen sich der Untersuchung autobiographischer Texte, um die Dimension und Aussagefähigkeit textueller Selbstwahrnehmungen auszuloten. Während das Kriterium für die Quellen literaturwissenschaftlicher Studien vor allem in der Literarizität des Textes besteht, werden im Kontext geschichtswissenschaftlicher Untersuchungen vor allem diejenigen autobiographischen Zeugnisse herangezogen, die Aufschluss über das Verständnis und die individuelle Verarbeitung elementarer historischer Veränderungen in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft geben, sowie Rückschlüsse auf Haltungen, Vorstellungen und Verhaltensweisen erlauben, die der Einzelne unbewusst durch die textualisierte Selbstwahrnehmung artikuliert. 7 Es gilt an dieser Stelle also zwischen den für die Literaturwissenschaften bevorzugten Quellen und den von anderen Fächern zur Untersuchung herangezogenen Quellen auf der Basis der Literarizität des Textes zu unterscheiden. Aus diesem Grunde werden hier ausschließlich autobiographische Schriften von Schriftstellern zur Analyse herangezogen. Im Theoriediskurs der Autobiographie stehen sich heute zwei Auffassungen gegenüber, von welchen eine den Standpunkt vertritt, jeder Text könne, als Produkt 4 Die Offenlegung der Innerlichkeit, die sich stets der Relativität ihres Wissens bewusst ist, wird für die Forschung zum Anknüpfungspunkt, um die Strukturhomologie zwischen der gerichtlichen und der autobiographischen Situation bis in die Rhetorik hinein zu verfolgen. Vgl. dazu Gisèle Mathieu-Catellani, La scène judicaire de l’autobiographie, Paris: P.U.F., 1996. 5 Eugene L. Stelzig, The Romantic Subject in Autobiography. Rousseau and Goethe, Charlottesville/ London: University Press of Virginia, 2000, S. 25. 6 „[…] il faudrait pour ce que j’ai à inventer un langage aussi nouveau que mon projet“(zit. nach Ph. Lejeune, Singes des vie. Le pacte autobiographique 2, Paris: Éd. du Seuil, 2005, S. 214). 7 Diesen Ansatz verfolgt vor allem die Mentalitäten- und Mikrogeschichte, die Teil der historischen Kulturanthropologie sind. Vgl. dazu Winfried Schulze, Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte? , in: ders., Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin: Akademie-Verlag, 1996, S. 11-30, hier S. 12f. <?page no="78"?> Theorie der Autobiographie 79 menschlicher Reflexion, autobiographisch gelesen werden, 8 während die andere Position von einer literarischen Gattung Autobiographie ausgeht, die durch ästhetische Merkmale definiert ist. 9 Dass es im Hinblick auf eine Untersuchung der aktuellen Entwicklung autobiographischen Schreibens wenig hilfreich ist, von der Autobiographie als einer Lesart zu sprechen 10 wird durch eine, die produktionsästhetische Perspektive verabsolutierenden Sichtweise deutlich, die im Umkehrschluss jeden Text als autobiographisch definieren muss. Alain Robbe-Grillets Texte stützen diesen Befund; der Begründer des nouveau roman und der nouvelle autobiographie behauptet „Je n’ai jamais parlé d’autre chose que de moi“. 11 I. Schlüsselwerke der ‚modernen‘ Autobiographie Wird im abendländisch-christlichen Kontext über die Autobiographie und ihre Theorie gesprochen, so gibt es eine kanonische Abfolge von Referenzwerken, die genannt werden muss. Ihren Beginn nimmt die Autobiographie mit dem in die Innerlichkeit des Menschen gewendeten Blick der Confessiones (um 400 n. Chr.) des Augustinus von Hippo. Weitere, für die Entwicklung der Gattung wichtige Werke sind die in Anlehnung an den augustinischen Text verfassten Confessions (1782) des 8 Vgl. dazu: Paul de Man, Autobiographie als Maskenspiel, in: ders., Die Ideologie des Ästhetischen, hrsg. von Christoph Menke, Frankfurt a. M. 1993, S. 131-146. An dieser Stelle muss auf die Unschärfe dieses Begriffs hingewiesen werden. Das Autobiographische kann nicht nur aus allen Texten herausgelesen werden. Der Begriff kann in extremis auch auf alle von Menschenhand gefertigten, also kulturellen Artefakte angewendet werden. Somit verliert der Begriff an Trennschärfe. Wird jedoch in einer umgekehrten Perspektive die Definition des Kulturellen als das Vom-Menschen-Gemachte an das Autobiographische, den autobiographischen Text, angelegt, so wird dieser zum Inbegriff des Kulturellen, er zeigt die Verfasstheit des Kulturellen im Spiegel des Individuellen in einer dichten Form. Auf diese Weise kann es zu einem interdisziplinären Ansatz kommen, der kulturwissenschaftliche und literatur wissenschaftliche Fragestellungen bündelt. 9 Michaela Holdenried bevorzugt den Begriff Autobiographik, ein Terminus, der in ihren Arbeiten zur Bezeichnung des „ästhetischen Experimentierfelds neuer Identitätskonzeptionen“ verwendet wird. Vgl. M. Holdenried, „Das Ende der Aufrichtigkeit? Zum Wandel autobiographischer Dispositive am Beispiel von Georges-Arthur Goldschmidt“, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen, hrsg. von H. Brunner/ K. Heitmann/ D. Mehl, Bd. 234, Jg. 149 (1997), S. 1-18, hier S. 2. 10 „Empirisch wie theoretisch erweist sich die Autobiographie als ungeeignetes Objekt für eine gattungstheoretische Definition; jeder Einzelfall scheint eine Ausnahme von der Regel zu sein; jeder in Frage kommende Text scheint sich dem Zugriff zu entziehen und in benachbarte oder sogar in ganz fremde Gattungen abzugleiten; am entlarvendsten ist vielleicht aber die Tatsache, dass gattungstheoretische Diskussionen, die im Falle der Tragödie oder des Romans eine wichtige heuristische Funktion besitzen, von so lähmender Unfruchtbarkeit sind, wenn es um die Autobiographie geht“ (Paul de Man, Autobiographie als Maskenspiel, S. 132). Dem Vorschlag Paul de Mans kann hier nicht gefolgt werden, da er den rezeptionsästhetischen Ansatz mit einem produktionsästhetischen mischt und es somit unmöglich macht, Kategorien für die von uns angenommene Textart Autobiographie zu entwickeln. 11 Michel Contat (Hg.), L’auteur et le manuscrit. Perspectives critiques, Paris: P.U.F., 1991, S. 37, Anm. 1. - <?page no="79"?> Saskia Wiedner 80 Jean-Jacques Rousseau, Johann Wolfgang Goethes Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit (1808 bis 1831) und Jean-Paul Sartres Les Mots (1964). Die hier zitierten Werke bezeichnen Schlüsselstellen der Entwicklung autobiographischen Schreibens und beleuchten die für eine Geschichte der Autobiographie - wie sie u. a. Georg Misch in aller Ausführlichkeit für die Entwicklung vom Altertum bis in das 19. Jahrhundert erstellt hat 12 - wichtigen neuralgischen Punkte. Der Herausbildung einer prototypischen Innerlichkeit des christlich-abendländischen Subjekts, des christlichen homo interior in den augustinischen Confessiones folgt die Säkularisierung dieser Innerlichkeit in Rousseaus Confessions. Zugleich vollzieht sich ein Paradigmenwechsel von der primär referentiell ausgerichteten Autobiographie, wie beispielsweise den Berufs-, Gelehrten- und Künstlerautobiographien der Frühen Neuzeit, 13 zur literarischen Autobiographie. Die einschneidendste Veränderung erfährt der autobiographische Text in der Moderne, im 19. und 20. Jahrhundert. 14 Während die für die Autobiographie konstitutiven Parameter wie die Zeitlichkeit, die chronologische Darstellung des Lebens und die Einheit des Subjekts bis zu diesem Zeitpunkt niemals ernstlich bedroht waren, stellt die Moderne gerade diese grundlegenden Elemente autobiographischer Texte in Frage. Damit wird jedoch die primäre Funktion einer sinnvollen Selbstaussage des Individuums durch den autobiographischen Text nicht unmöglich; es werden lediglich andere sprachliche Mittel zum Einsatz gebracht. Modernes und postmodernes autobiographisches Schreiben arbeitet an der Wiederherstellung des Verlorenen, der Zeit und der Einheit des Subjekts und versteht sich als Form kreativer sprachlicher Auseinandersetzung mit modernen defizitären Lebenswelten. Die folgenden Betrachtungen zum Theoriediskurs der Autobiographie nehmen Johann Wolfgang Goethes autobiographischen Text Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit zum Ausgangspunkt. Bereits der Titel verweist auf drei Konstituenten au- 12 Georg Mischs umfangreiche Geschichte der Autobiographie konzentriert sich besonders auf das Mittelalter und deckt lediglich in ihrem letzten Band das 18. und 19. Jahrhundert ab. Vgl. G. Misch, Geschichte der Autobiographie, Bd. 1: Das Altertum, Leipzig/ Berlin: Teubner, 1907; Bd. 2: Das Mittelalter. Die Frühzeit, Frankfurt a. M.: Schulte-Bulmke, 1955 (in zwei Teilbänden); Bd. 3: Das Mittelalter. Das Hochmittelalter im Anfang, Teilbd. 1: Frankfurt a. M.: Schulte-Bulmke, 1959, Teilbd. 2: Frankfurt a. M.: Schulte-Bulmke, 1962; Bd. 4: Das Hochmittelalter in der Vollendung, Frankfurt a. M.: Schulte-Bulmke, 1967 (erster Teilbd.), Von der Renaissance zu den Autobiographischen Hauptwerken des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M.: Schulte-Bulmke, 1969 (zweiter Teilbd.). 13 wie z. B. Bartholomäus Sastrow, Bartholomäi Sastrowen Herkommen, Geburt und Lauf seines ganzen Lebens (1595-96) oder Benvenuto Cellini: Mein Leben. Die Autobiographie eines Künstlers aus der Renaissance, hrsg. und übersetzt von Jacques Laager, Zürich: Manesse-Verlag, 2000. Siehe dazu auch Karl A. E. Enenkel, Die Erfindung des Menschen. Die Autobiographik des frühneuzeitlichen Humanismus von Petrarca bis Lipsius, Berlin: de Gruyter, 2008. 14 Einen vorläufigen Endpunkt der Modernisierung der deutschen Autobiographie sehen Holdenried und Neumann um 1985. Die Modernisierung findet ihren Ausdruck in der „schreibenden Ich-Einholung“, die als Funktion und Thema des autobiographischen Textes gelesen wird. Vgl. Bernd Neumann, Paradigmenwechsel. Vom Erzählen über die Identitätsfindung zum Finden der Identität durch das Erzählen: Goethe (1822), Thomas Mann (1910), und Bernhard Blume (1985), Edda-Hefte 2 (1991) und M. Holdenried, Das Ende der Aufrichtigkeit? , S. 4. <?page no="80"?> Theorie der Autobiographie 81 tobiographischen Schreibens, die für den modernen Theoriediskurs bedeutend werden: Mit der Formulierung „Aus meinem Leben“ wird neben der sprachlichen, bzw. der narrativen Verfasstheit auf die Selektionsfunktion von Erinnerung hingewiesen: Das Erinnerte ist im Hinblick auf die Lebenserzählung das Bedeutsame. Der Nachsatz „Dichtung“ gibt die Freiheit des Autors an, das erinnerte biographische Faktum in der Kunstform literarischer Sprache, zum Ausdruck zu bringen. So wird eine Form von „Wahrheit“ erzeugt, die sich nicht mit einem objektiven Wahrheitsbegriff gleichsetzen lässt, sondern die auf das autonome und kreative Subjekt als Wahrheit generierende Instanz an der Schnittstelle von Leben und Werk, von Biographie und Zeitverhältnissen verweist. Den Auftakt und gleichzeitig die Begründung des autobiographischen Unternehmens Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit bildet der vom Autor zitierte Brief eines Freundes, in welchem Goethe gebeten wird, sein Werk nach […] gewissen inneren Beziehungen […] in einer chronologischen Folge auf[zu]führen und sowohl die Lebens- und Gemütszustände, die den Stoff dazu hergegeben, als auch die Beispiele, welche auf [ihn, Goethe,] gewirkt, nicht weniger die theoretischen Grundsätze, denen [er] gefolgt, in einem gewissen Zusammenhange vertrauen möchte[n]. 15 In diesem poetologischen Vorwort - welches seinerseits als Peritext zu verstehen ist - wird das Verlangen nach einem das dichterische Werk begleitenden und erhellenden Paratext formuliert, der dem Publikum nicht nur Aufschluss über die inneren Zustände des Dichters geben soll, die zu seinem Werk geführt hatten. Auch der Einfluss, den die Lebenswelt auf das Werk hatte sowie theoretische Überlegungen Goethes sollen in diesem autobiographischen Text offengelegt werden. Goethe kommt diesem Begehren nur zu gerne nach und muss dabei feststellen, dass der Weg, das eigene Werk in seinen Motivationen zu erklären, nicht nur in die Innerlichkeit führt, sondern ihn aus dem „[…] engen Privatleben in die weite Welt gerückt“ 16 hatte. Die Wahrheit des schreibenden Ich ist demnach nicht nur - wie noch in den Confessions von Jean-Jacques Rousseau - in der inneren Abgeschiedenheit des Herzens, den Tiefen der Psyche zu finden. Sie ist das Ergebnis der Interaktion des sozialen, politischen, ökonomischen, religiösen und kulturellen Umfeldes mit dem Schreibenden. Obwohl Goethes Lebensbeschreibung mit einer Fülle an Fakten und Daten aufwartet, ist es doch die literarische Umwandlung des Erlebten, die das Werk an den Ausgangspunkt einer im 20. Jahrhundert immer weiter fortschreitenden Literarisierung des autobiographischen Schreibens stellt. Goethe selbst beschreibt die Textualisierung des eigenen Lebens als eine symbolische Verdichtung: „Es sind lauter Resultate meines Lebens […] Ich dächte, es steckten darin einige Symbole des 15 Johann Wolfgang Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, hrsg. von Klaus-Detlef Müller, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker-Verlag, 1986, Bd. 15, S. 12. 16 J.-W. Goethe, Aus meinem Leben, S. 13. <?page no="81"?> Saskia Wiedner 82 Menschenlebens. Ich nannte das Buch Wahrheit und Dichtung, weil es sich durch höhere Tendenzen aus der Region einer niedern Realität erhebt.“ 17 Die autobiographische Darstellung greift hier über die Vermittlung des Individuellen und Singulären hinaus und sucht den Einzelnen in eine größere symbolische Ordnung menschlichen Daseins zu stellen. 18 Diese Vorstellung des Individuums als ineffabile 19 kollidiert nur scheinbar mit der Überzeugung, der Einzelne sei in einer Symbolwelt aufgehoben, die als philosophisches Dispositiv Selbsterkenntnis ermöglicht. Tatsächlich wird hier versucht, die Unerreichbarkeit der Wirklichkeit durch die (Alltags-)Sprache 20 mit den Mitteln der Literatur, dem Symbol, zu ermöglichen. Der autobiographische Text gewinnt an Literarizität. Damit rückt die literarische Sprache als Medium autobiographischer Darstellung ins Zentrum. II. Tendenzen der Autobiographie im 20. Jahrhundert La narration et la lecture de vies humaines ne sont pas seulement une distraction. Elles satisfont en nous un besoin fondamental qui est de se servir de langage pour appréhender notre expérience dans le temps. Qu’il s’agisse d’une expérience réelle ou fictive ne fait pas de différence de ce point de vue. Quand la fiction s’éloigne, il reste l’autobiographie pour tenter de ressaisir par des moyens propres de l’enchaînement d’une vie dans le temps, et, au-delà, son énigme. Par elle, au moment où ce besoin de récit est atteint par la désaffecta- 17 Johann Wolfgang Goethe/ Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens (1823-1832), (Brief vom 30. März 1831), hrsg. von Christoph Michel, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker-Verlag, 1999, S. 479. 18 Aktuelle Studien zeigen, wie Ernst Cassirers Auseinandersetzung mit dem Denken Goethes die Philosophie, die Cassirer als symbolische Ordnung versteht, als das Dispositiv von Goethes Streben nach Selbst- und Welterkenntnis ausmacht: „Es ist eine in der frühen geisteswissenschaftlichen Studie [gemeint ist die Studie Freiheit und Form von 1916, S.W.] formulierte Grundthese Cassirers, dass Goethes Anschauung und Denken nicht trennen, sondern „die Anschauung selbst in das Denken“ einbeziehe, dass Goethe also die „Eigenart seiner ‚symbolischen’ Betrachtungsweise“ gewinne, „indem er sich, gerade im Individuellen, zugleich einem bestimmten ‚Typus’ angehörig fühlte, der ihm das Gesetz des eigenen Wesens erst völlig zum Verständnis brachte“ (B. Naumann/ B. Recki, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Cassirer und Goethe. Neue Aspekte einer philosophisch-literarischen Wahlverwandtschaft, Berlin: Akademie-Verlag, 2002, S. vii-xx, hier S. x). 19 Vgl. dazu Goethes Brief an Lavater vom 20.9.1780, indem er seine Überzeugung von der Nichtfassbarkeit des Einzelnen im Diktum des Individuum est ineffabile formuliert. Vgl. Schriften der Goethe-Gesellschaft, hrsg. von E. Schmidt/ B. Suphan, Bd. 16, Weimar: Verlag der Goethe-Gesellschaft, 1901, S. 135-138, besonders S. 138. 20 Die Alltagssprache ist durch ihre Funktion in der Kommunikationssituation charakterisiert; sie wird instrumentell und besitzt referentiellen Charakter, wohingegen die Sprache der Literatur, besonders die poetische Sprache durch ihre selbstreferentielle Funktion charakterisiert ist. Vgl. Jean-Paul Sartre, Qu’est-ce que la littérature? , in: ders., Situations, II. Littérature et engagement, Paris: Gallimard, 1948, S. 53- 309, besonders S. 61-73. <?page no="82"?> Theorie der Autobiographie 83 tion de la fiction, la narration revit au contact du réel comme Antée au contact de la terre. Cette seconde moitié du siècle avait tout pour devenir […] le temps de l’autobiographie. 21 In seinen Beobachtungen zur Autobiographie konstatiert Henri Godard ein Zögern des Romanciers vor der Fiktion, die er als eine Kraft beschreibt, welche es dem Schriftsteller ermöglicht, seine Romangestalten zu erfinden und ihnen durch die Erzählung Leben und Authentizität einzuhauchen. Nach Godard behilft sich der Romancier dann eines Tricks: Er legt ein Raster autobiographischer Fakten, die dem Leser bekannt sind, und transponiert diese in eine imaginäre Welt. Auf halbem Weg zur Autobiographie findet er sich dann dennoch auf der Seite des Romans wieder: „Entre vérité et imaginaire, l’écart de densité épistémologique est tel que, se situer ainsi théoriquement à mi-chemin de l’autobiographie et du roman, c’est se retrouver du côté du roman.“ 22 Die Verbindung von Authentizität und Imagination im romanautobiographique wird zur Rettungsmaßnahme für den Roman im 20. und 21. Jahrhundert und führt im Gegenzug die Autobiographie über die sie traditionell bestimmende, enge Referentialität hinaus in den weiten Raum der Fiktion. Während einerseits das autobiographische Faktum sich in der Fiktion aufzulösen droht, bewirkt die Integration desselben andererseits die Rückführung und eine Verankerung des Romans in einer grenzenlosen Realität. 23 Die von Henrik Baumann für die moderne Autobiographie konstatierte Polarität von „autobiographisch-dokumentarischer Re- 21 „Das Erzählen und die Lektüre von menschlichen Lebenswegen ist nicht nur eine Zerstreuung. Es befriedigt in uns ein grundlegendes menschliches Bedürfnis, nämlich dasjenige, sich der Sprache zu bedienen, um unsere (Lebens-)Erfahrung in der Zeit zu erfassen. Ob es sich dabei um eine wirkliche oder eine imaginierte Erfahrung handelt macht aus diesem Blickwinkel keinen Unterschied. Es bleibt die Autobiographie, um mit den ihr eigenen Mitteln zu versuchen die Verkettung eines Lebens in der Zeit und darüber hinaus seine Rätselhaftigkeit zu erfassen, wenn das die Fiktion nicht mehr vermag. In dem Augenblick, in dem das Bedürfnis autobiographischen Erzählens von der Zweckentfremdung durch die Fiktion erfasst wird, gewinnt die Erzählung in der Berührung mit der Lebenswirklichkeit neue Kraft, wie sie Antaios durch die Berührung mit der Erde erhält. Diese zweite Jahrhunderthälfte hatte alles, um […] das Jahrhundert der Autobiographie zu werden (Übersetzung S.W.).“ (H. Godard, La crise de la fiction. Chroniques, roman-autobiographique, autofiction, in: Marc Dambre/ Monique Gosselin-Noat, L’éclatement des genres au XXe siècle, Paris: Presses de la Sorbonne Nouvelle, 2001, S. 81-89, hier S. 86). 22 H. Godard, La crise de la fiction, S. 91. 23 „De la même façon, le roman, devenu le genre majeur et dominant, oublie qu’il n’est qu’une forme dégradée de l’épopée (selon Lukacs) pour accueillir tous les autres genres, dont il fait son miel, intégrant, en particulier, au niveau supérieur, la classe du récit intime, qui vient, en quelque sorte, ancrer la fiction dans une réalité sans rivages“ (Henri Béhar, Il n’y a que deux genres, le poème et le pamphlet, in: M. Dambre/ M. Gosselin-Noat, L’éclatement des genres au XXe siècle, S. 61-80, hier S. 79f). <?page no="83"?> Saskia Wiedner 84 ferentialität und ästhetischer Autonomie“ 24 ist somit in der Sicht Godards aufgehoben. 25 Godards funktionalistische Perspektive - die Frage nach den Grenzen zwischen Roman und Autobiographie zum Zweck der Darstellbarkeit subjektiver Wahrheit - unterstreicht auch Henri Béhar in seiner Untersuchung zu der Entwicklung der Gattungen in Frankreich im 20. Jahrhundert. Béhar stützt sich auf das Online-Corpus FRANTEXT 26 und ermittelt, indem er das Gattungssystem des BDHL (Banque de données d’histoire littéraire) anwendet, Kombinationsmöglichkeiten der Gattungen. Er erstellt somit ein gattungstheoretisches Raster für die Literatur des 20. Jahrhunderts. 27 Béhars Untersuchung führt zu der Feststellung einer gesteigerten Produktivität des autobiographischen Textes durch das Aufweichen von Gattungsgrenzen sowie der Möglichkeit einer formalästhetisch individuelleren Formgebung autobiographischer Texte. Im 20. Jahrhundert befinden sich Autobiographie und moderner Roman in einer parallelen Entwicklung: beide verstehen sich zunehmend als hybride Textformen, deren referentielle und fiktionale Elemente sich nahezu untrennbar verbinden. 24 Henrik Baumann, Die autobiographische Rückkehr. Studien zu Serge Doubrovsky, Hervé Guibert und Jean Rouaud (= Romania Viva 5, Texte und Studien zur romanischen Gegenwartsliteratur, hrsg. von Ulrich Prill, Münster) München, 2008, S. 15. 25 „Il était inévitable qu’en un temps durablement marqué par le reflux de la fiction et par la préférence de l’autobiographie, on en vienne à essayer de conjoindre les prestiges en principe exclusifs de l’authenticité et de l’imaginaire - à tenter, en somme, un roman sans fiction dans la mesure où les personnages du récit seraient réels, à commencer par le narrateur dûment identifié à l’auteur, et les faits, en tout cas certains d’entre eux, avérés. La gageure d’un roman-autobiographique qui associe sans les annuler ces deux termes antinomiques est devenue un des traits caractéristiques de la narration de notre époque“ (H. Godard, La crise de la fiction, S. 86). 26 FRANTEXT ist eine umfangreiche Sammlung von zentralen französischen Texten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Sie umfasst Werke der Belletristik, Fachtexte sowie Korrespondenz und wird seit 1992 vom Institut der AILF (Analyse de Traitement Informatique de la langue Française) bereitgestellt. Diese quantitativen Erhebungen lassen Rückschlüsse auf Entwicklungstendenzen zeitgenössischer Literatur zu. 27 Die Untersuchung kombiniert drei Niveaus, die dann als literarische Kategorien betrachtet werden. Niveau 1 klassifiziert den Text nach seiner Sprache (Prosa, Vers, Mischung, Andere und nicht-definierbar), Niveau 2 ordnet nach grammatikalischem Subjekt („je“ ist poésie oder discours intime, „tu“ théâtre, „il“ fiction etc.), Niveau 3 stellt die „Etiketten“ zur Verfügung, welche die Texte zum Zeitpunkt ihres Erscheinens erhielten. Niveau 3 ist die umfangreichste Sparte, bestehend aus: autobiographie, bande dessiné, biographie, chanson, comédie, conte, correspondance etc. In einer weiteren Tabelle werden alle Gattungsmerkmale miteinander kombiniert und daraufhin die produktivsten Kombinationen qua Prozentangabe festgestellt. Die Auswertung für die Zeiträume vom 16. bis zum 20. Jahrhundert ergibt folgendes Ergebnis: der Roman ist mit den Gattungsmerkmalen (Prosa/ Fiktion/ Roman) der Gewinner: „On constate qu’au XXe siècle, l’usage de l’étiquette générique roman (prose/ fiction/ roman) va croissant, non seulement en valeur absolue, mais aussi en valeur relative“ (H. Behar, Il n’y a que deux genres, S. 72). Ein beträchtliches Wachstum können vor allem die Autobiographie und das Tagebuch nachweisen: „[…] on note surtout la croissance du poème en prose sous deux variables (prose/ poésie/ poésie ; mixte/ poésie/ poésie), du journal intime (prose/ discours intime) et de l’autobiographie (prose/ discours intime) […]“ (ebd.). <?page no="84"?> Theorie der Autobiographie 85 Dadurch wird im autobiographischen Text ein realer Kern des Erzählten, die biographische Genese und psychologische Entwicklung, in vielen Fällen nur noch angedeutet. 28 Gerade solche Mischformen fordern mit der Bestimmung von autobiographischem Gehalt und Fiktion den Theoriediskurs heraus und rücken die Sprache als Träger von Authentizität ins Zentrum. Diese ist nicht mehr an die Darstellung des naturalistischen Faktums, die Formalästhetik der traditionellen Autobiographie gebunden. Sie ist deshalb auch nicht selten das Medium des Sagbaren, sondern wird - vor allem vor dem Hintergrund traumatischer Erlebnisse - zum Medium des Unsagbaren. 29 Markus Malo verweist in seiner 2009 erschienenen Studie „Behauptete Subjektivität. Eine Skizze zur deutschsprachigen jüdischen Autobiographie im 20. Jahrhundert“ 30 auf die gemeinsame Entwicklung von modernem Roman und autobiographischem Schreiben im formalästhetischen Bereich. Der Bruch modernen Erzählens mit traditionellen Darstellungsprinzipien ist sowohl für den modernen Roman als auch für die moderne Autobiographie maßgeblich. Die verstärkte Analyse sprachlicher Mittel im Zuge des linguistic turn führt auf produktionsästhetischer Seite zu einer Verlagerung des Erkenntnisinteresses vom referentiellen Gegenstand auf die durch Sprache evozierten autobiographischen Fiktionen. Durch die Autonomisierung des sprachlichen Zeichens wird die Frage nach der Wirklichkeit und die Trennung von außersprachlicher Wirklichkeit und Sprache in den Mittelpunkt gerückt. Christoph Miething problematisiert diese Entwicklung selbstreferentieller Systeme in autobiographischen Texten, indem er auf die bedeutungsgenerierende Differenz von Wirk- 28 In dieser Perspektive liest Holdenried die autobiographischen Texte Georges-Arthur Goldschmidts. Der Zugriff auf das biographische Faktum wird durch Goldschmidts Umgang mit der Sprache geradezu verhindert: „Der von allen Rezensenten hervorgehobene abweisende Gestus der Goldschmidtschen Texte rührt aus solchen Schnitten ins Gewebe der Sprache; kühl und lakonisch wird an den Wurzeln des Sagbaren das Seziermesser angesetzt, während der eigentliche autobiographische Komplex, das Lebensgerüst, die biographischen Daten, unscheinbar werden. Was Goldschmidts Texte so verweigern, sind Auskünfte über biographische Geneseschritte […]“ (M. Holdenried, Das Ende der Aufrichtigkeit? , S. 5). 29 Auf das Paradox von Unsagbarkeit und Notwendigkeit des Erzählens hat stellvertretend für zahlreiche andere jüdische Schriftsteller und Holocaustüberlebende Raymond Federman hingewiesen: „Trop souvent, le simple acte de raconter ces histoires les mélodramatise, les sentimentalise, les réduit à des anecdotes inoffensives, et même à des feuilletons d’Hollywood, sans jamais atteindre l’événenemt central ineffable. Peut-être que ce qui devrait être exprimé […] n’est pas […] l’événement […] mais l’absence de mots pour exprimer cet événement. […] Mais dire ceci est aussi devenu un cliché, une impasse“ (R. Federman, Displaced person: The Jew/ The Wanderer/ The Writer, Denver Quarterly, 19, 1 (1984), S. 85-100, hier S. 92); siehe dazu auch Raymond Federman, Critifiction. Postmodern Essays, Albany: State University of New York Press, 1993 sowie Judith Nysenholc, L’enfant caché en traduction. 1979 The Voice in the closet de Raymond Federman, in: Adolphe Nysenholc, L’enfant terrible de la littérature. Autobiographies d’enfants cachés, Bruxelles: Didier Devillez Éditeur (Institut d’Études du Judaïsme), 2011, S. 63-80. 30 Markus Malo, Behauptete Subjektivität. Eine Skizze zur deutschsprachigen jüdischen Autbiographie im 20. Jahrhundert, (Condition Judaica, 74), Tübingen: Niemeyer, 2009 (zugl. Stuttgart Diss. 2008). <?page no="85"?> Saskia Wiedner 86 lichkeit und Sprache hinweist. 31 Selbstreferentielle Schreibweisen, wie sie den modernen Roman charakterisieren, durchsetzen die Autobiographie in den 1970er und 1980er Jahren. Da der autobiographische Text nicht mehr dem Realitäts- und Referentialitätspostulat verpflichtet ist, entsteht Freiraum für das selbstreferentiell gewordene autobiographische Faktum, die Autofiktion. Das bedeutet jedoch, dass dem autobiographischen Schreiben kein ontologischer Sonderstatus mehr zugesprochen werden kann; gegenüber dem fiktionalen Text eignet dem autobiographischen Text keine differentia specifica mehr. Philippe Lejeunes kanonische Definition der Gattung Autobiographie aus L’Autobiographie en France „Nous appelons autobiographie le récit rétrospectif en prose que quelqu’un fait de sa propre existence, quand il met l’accent principal sur la vie individuelle, en particulier sur l’histoire de sa personnalité“ 32 , die auch Hans- Rudolf Picard mit den Worten „[…] enthält diese doch die wesentlichen Formalia der Gattung und entspricht dem Verständnis, das man heute von dieser hat“ 33 für seine Untersuchung übernimmt, ergänzt das bis heute zur Bestimmung autobiographischer Texte herangezogene Strukturmerkmal der Namensgleichheit von Autor, Erzähler und Protagonist, den autobiographischen Pakt (pacte autobiographique). 34 Als 2001 das Thema Biographie auf die Prüfungsliste der französischen Gymnasien gesetzt wurde, erhielt Lejeune von den Prüflingen zahlreiche Anfragen, ob er nicht eine etwas ausführlichere Definition des pacte autobiographique geben könne. Daraufhin fertigte er den folgenden Text an: „Le pacte autobiographique est l’engagement que prend un auteur de raconter directement sa vie (ou une partie, ou un aspect de sa vie) dans un esprit de vérité. Il s’oppose au pacte de fiction. Quelqu’un qui vous propose un roman (mêmes s’il est inspiré de sa vie) ne vous demande pas de croire pour de bon à ce qu’il raconte […]“. 35 Zentral für die Definition des autobiographischen Paktes ist der Begriff der Wahrheit (esprit de vérité). Diese Kategorie impliziert nicht zuletzt auch eine ethische Dimension, weil sie den Autor gegenüber dem Leser auf 31 Vgl. dazu Ch. Miething, Gibt es jüdische Autobiographien? , in: ders. (Hg.), Zeitgenössische Jüdische Autobiographie, hrsg. von Christoph Miething, (Romania Judaica, Bd. 7), Tübingen 2003, S. 43-73, hier S. 52. 32 Philippe Lejeune, L’Autobiographie en France, Paris: Armand Colin, 1971. „Autobiographie nennen wir die retrospektive Prosaerzählung, die jemand über seine eigene Existenz verfasst, wenn er das Hauptaugenmerk auf das individuelle Leben, besonders auf die Entwicklung seiner Persönlichkeit legt“ (zit. nach H.-R. Picard, Autobiographie im zeitgenössischen Frankreich. Existentielle Reflexion und literarische Gestaltung, München. Fink 1978, S. 10). 33 H.-R. Picard, Autobiographie im zeitgenössischen Frankreich, S. 10. 34 Vgl. Ph. Lejeune, Le Pacte autobiographique, Paris: Éd. du Seuil, 1975. 35 „Der autobiographische Pakt bezeichnet die Verpflichtung, die ein Autor eingeht, sein Leben (einen Teil oder einen Aspekt seines Lebens) unmittelbar und der Wahrheit gemäß zu erzählen. Er steht dem fiktionalen Pakt diametral gegenüber. Jemand, der ihnen einen Roman vorlegt (selbst wenn er von seinem eigenen Leben angeregt wurde) wird nicht von Ihnen verlangen, das, was er erzählt für wahr zu halten (Übersetzung S.W.)“ (Ph. Lejeune, Signes de vie. Le pacte autobiographique 2, S. 31). Vgl. dazu auch Magdalena Silvia Mancas, Le retour à soi dans la nouvelle autobiographie, in: Alain Montandon (Hg.), De soi à soi: l’écriture comme autohospitalité, Clermont-Ferrant: Presses Universitaires Blaise Pascal, 2004, S. 107-124, hier S. 113. <?page no="86"?> Theorie der Autobiographie 87 eine Wahrheit verpflichtet, die jedoch nicht genauer bestimmt ist. Dreißig Jahre nach dem pacte autobiographique unternimmt Lejeune in seinem 2005 publizierten Buch Signes de vie. Le pacte autobiographique 2 eine schonungslose Kritik der Hypothesen zur Autobiographie von 1975. Zum Einen bezeichnet er die Gleichsetzung von récit (Erzählung) und fiction als groben Irrtum (erreur grossière) 36 , zum Anderen revidiert er die Ansicht, dass die Autobiographie kein spezieller Fall des Romans, noch das der Roman eine besondere Form autobiographischen Erzählens sei. Beide Gattungen, so die neue Erkenntnis, sind besondere Formen der mise en récit, des erzählenden Ins- Wort-Setzens. Schließlich betont er seine Überzeugung, der Mensch sei ein hommerécit, denn sein Leben in eine Erzählung zu fassen heiße nichts anderes als leben: „Aujourd’hui, je sais que mettre sa vie en récit, c’est tout simplement vivre. Nous sommes des hommes-récits“. 37 Die von Lejeune für den autobiographischen Text postulierte Kategorie der Wahrheit nimmt auch Henri Godard zum Anlass, um über das Verhältnis von Referentialität, Sprache und Imagination zu reflektieren. Der „pacte de véracité“, 38 wie ihn Henri Godard nennt, setzt allerdings nicht voraus, dass die Imagination (besoin d’imaginaire) unterdrückt werden muss. Wahrheit versteht sich folglich nicht als eine objektive Kategorie, die im Abgleich mit Realität auf ihren Tatsachengehalt überprüft werden kann, sie wird in autobiographischen Texten mit selbstreferentiellen Tendenzen als sprachliche Konstruktion verstanden, die sich in letzter Konsequenz paradoxerweise gegen die Existenz des Autors wendet und damit die Autobiographie des Subjekts zur ‚Autobiographie’ des Logos umerklärt. Diesem Verständnis von Autobiographie der postmodernen und konstruktivistischen Literaturtheorie wohnt die Gefahr der Abkoppelung der Sprache von Welt inne und damit der Verlust einer ethischen Dimension sprachlicher Bedeutung, die nicht mehr in den Kategorien ‚wahr’ und ‚falsch’ oder ‚Wahrheit’ und ‚Lüge’ gefasst werden kann. Die Absenz eines a priori gegebenen, der Welt innewohnenden Sinnes bewirkt einen permanenten Prozess der Sinn- und Bedeutungszuschreibung und macht in der Folge Autobiographie zu einem Akt medialer Sinn- und Bedeutungskonstruktion. Als solcher gibt der Text am Beispiel des anderen, beschriebenen Selbst Auskunft über den Schreibenden in seiner jeweiligen Aktualität, beide sind - um ein Bild zu bemühen - durch die Schrift miteinander verbunden, wie Vor- und Rückseite einer Münze. Durch die textuelle Konstruktion von Lebenswirklichkeit wird das autobiographische Schreiben zum heuristischen Instrument und ist zugleich sein eigenes Ergebnis. Das Paradox Mittel und Zweck zugleich und damit ineffabile zu sein äußert sich im beständigen (Neu-)Schreiben des eigenen Selbst- und Weltbezugs, einer andauernden autobiographischen Tätigkeit. 39 36 Ph. Lejeune, Signes de vie, S. 17. 37 Ph. Lejeune, Signes de vie, S. 17. 38 H. Godard, La crise de la fiction, S. 86. 39 Vgl. Bernd Scheffer, Interpretation und Lebensroman. Zu einer konstruktivistischen Literaturtheorie, Frankfurt a. M., 1992, S. 16. Diesen Ansatz verfolgt auch Martina Wagner-Egelhaaf „jeder Ich- und Weltbezug ist ein fiktionaler“ vgl. M. Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, Stuttgart/ Weimar: Metzler, 2005 (2. Aufl.), S. 5. <?page no="87"?> Saskia Wiedner 88 Die zunehmende Fiktionalisierung des autobiographischen Textes gründet nicht zuletzt in einer tiefen Sprachskepsis: die lebensweltliche Erfahrung des Individuums übersteigt ein mimetisches Verhältnis von Erinnerung und Erzählung, so dass der autobiographische Text in Unsagbarkeitstopoi oder gar in Schweigen mündet. In der Folge nötigt der Vertrauensverlust in die Sprache den Schreibenden zur Subversion der Referentialität zu Gunsten des Fiktionalen und des Autofiktionalen. An dieser Stelle kann die Frage, ob der Roman (und die autofiktionale Literatur) im Gegensatz zur traditionellen Autobiographie in der Lage ist, eine tiefere Wahrheit des Individuums auszudrücken, dahingehend beantwortet werden, dass es sich hier nicht mehr nur um eine inhaltliche Diskussion handelt, sondern vor allem um eine formalästhetische und eine sprachhistorische. Serge Doubrovskys 1977 publiziertes Buch Fils 40 , das den Untertitel roman trägt, definiert zusammen mit weiteren Texten wie z. B. Georges Perecs W. ou le souvenir d’enfance (1975), Roland Barthes‘ roland BARTHES par roland barthes (1975) oder Patrick Modianos Livret de famille (1977) ein Feld von autobiographischen Texten, die sich auf das Abenteuer Sprache, d. h. einer Sprache außerhalb der traditionellen Normen, einer Sprache der Devianz und der Differenz einlassen. Doubrovsky selbst charakterisiert Fils wie folgt: Autobiographie? Non, c’est un privilège réservé aux importants de ce monde, au soir de leur vie, et dans un beau style. Fiction, d’événements et de faits strictement réels; si l’on veut, autofiction, d’avoir confié le langage d’une aventure à l’aventure du langage, hors sagesse et hors syntaxe du roman, traditionnel ou nouveau. 41 Wird der Begriff Wahrheit auf eine literarisch-ästhetische Dimension reduziert, wird er zur einer Kategorie des Narrativen, dann Entkoppeln sich nicht nur Bedeutung und Wirklichkeit, sondern auch Diskurs und autonomes, kreatives Subjekt. Mit dieser Ermächtigung von Sprache wird das Konzept der Autobiographie gekippt, weil Autobiographie an das Autorsubjekt als Schöpfer des sprachlichen Lebens gekoppelt ist. Ist der Schreibende nicht mehr Herr der Sprache und des Diskurses - wird er polemisch in der (postmodernen) These vom „Tod des Autors“ abgeschafft - erscheint auch die Autobiographie als ein sinnloses Unterfangen. 42 In der Folge kommt es zu einer „Autobiographie der Schrift“, wie Eva Meyer herausgestellt hat: Die Autopoesie […] ist die Autobiographie der Schrift, was schon heißt, dass sie sich primär biographisch bestimmt und von dort her das selbst lebendige Schreiben der Schrift 40 Serge Doubrovsky, Fils (roman), Paris: Éditions Galilée, 1977. 41 „Autobiographie? Nein, das ist ein für die Wichtigen der Welt reserviertes Privileg, die an ihrem Lebensabend und in schönem Stil ihre Autobiographie schreiben. Fiktion, Ereignisse und Tatsachen im engen Sinn real, wenn man möchte, Autofiktion bedeutet, die Sprache des Abenteuers dem Abenteuer Sprache überantwortet zu haben, ein Abenteuer außerhalb der Vernunft und außerhalb der Syntax des Romans, sei er nun traditionell oder neu (Übersetzung S.W.)“ (Serge Doubrovsky, Fils, Umschlagtext). 42 Vgl. dazu Rolf Günter Renner, Dekonstruktion, in: D. Kimmich u. a. (Hg.), Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart, Stuttgart 1996, S. 281-290, hier S. 282. <?page no="88"?> Theorie der Autobiographie 89 in Gang setzt, die alle Eigenheiten ausstreicht und ihre Verarbeitung in der Autobiographie vereitelt. 43 Postmoderne und (radikaler) Konstruktivismus führen damit letztendlich zu einem Subjektbegriff, der die leibliche Dimension der Subjektivität zu Gunsten des Dispositivs Sprache wenn nicht ganz verleugnet, so doch drastisch vernachlässigt. Die Verselbständigung der Sprache wirft die Frage nach der Subjektivität auf. III. Zum Subjektbegriff modernen und postmodernen autobiographischen Schreibens Wird die Frage nach der Autobiographie gestellt, so muss vor allem nach dem Schreibenden selbst gefragt werden. So diagnostiziert Holdenried: „In keiner anderen Gattung wird das Moment der Geschichtlichkeit von Subjektivitätskonzepten so unmittelbar greifbar wie in der Autobiographie.“ 44 Eine Theorie autobiographischen Schreibens kommt deshalb nicht ohne die Subjekttheorie aus. Vor allem die Annahme der historischen Bedingtheit autobiographischen Schreibens bedeutet, dass es sich sowohl bei dem dargestellten Leben als auch bei seinem Autor um geschichtliche Phänomene handelt. Die Erkenntnis der Historizität autobiographischen Schreibens führt die literaturwissenschaftliche Perspektive nahe an kulturhistorische Betrachtungs- und Untersuchungsweisen heran. Unter diesem Blickwinkel gibt sie nicht nur Aufschluss über literarische Konventionen, die autobiographisches Schreiben zu einem Zeitpunkt in der Geschichte geprägt haben; sie lässt auch Rückschlüsse auf die Vorstellung von Welt und Mensch sowie deren Beziehung zu: Die Autobiographie ist ein ganz und gar geschichtliches Gebilde, und auch die Formen, unter denen sie auftritt, sind geschichtliche Formen, die durch die Zeit ihrer Entstehung und deren Welt- und Menschenbild, das die Autobiographie mit ihrer Hilfe ausdrückt, geprägt sind. 45 Allerdings darf in dieser historischen Perspektive nicht der Filter vernachlässigt werden, durch den der Blick auf den Schreibenden erfolgt: das sich selbst und seine Umwelt denkende, wertende und darstellende Subjekt. Aus dieser historischen Sicht ist zudem sofort erkennbar, dass es die Form autobiographischen Schreibens nicht gibt. 46 Allerdings muss auch darauf verwiesen werden, dass über gewisse Zeiträume hinweg bestimmten autobiographischen Texten eine Modellfunktion zugesprochen werden kann. Diese stellen wiederum Darstellungsmuster bereit, die auch die Selbstwahrnehmung des Subjekts prägen. 43 Eva Meyer, Die Autobiographie der Schrift, Basel/ Frankfurt a. M.: Stroemfeld/ Roter Stern, 1989, S. 18. 44 M. Holdenried, Das Ende der Aufrichtigkeit? , S. 1. 45 Günter Waldmann, Autobiographisches als literarisches Schreiben. Kritische Theorie, moderne Erzählformen und -modelle, literarische Möglichkeiten eigenen autobiographischen Schreibens, Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren, 2000, S. 8. 46 Vgl. G. Waldmann, Autobiographisches als literarisches Schreiben, S. 5. <?page no="89"?> Saskia Wiedner 90 Um die jüngsten Phänomene und Entwicklungen der Autobiographie in ihrem Kern begreifbar zu machen, muss zunächst das Subjektverständnis skizziert werden, das diesen zu Grunde liegt. Manuela Günter hat in ihrer Studie zur Herausbildung des modernen Subjekts durch die Subversion autobiographischen Schreibens 47 Friedrich Nietzsche als den Zerstörer der durch das Selbstbewusstsein geschaffenen Subjekt-Objekt-Identität, die widerspruchsfreie Einheit, dass der Mensch in seinem Selbstempfinden als Subjekt, für andere jedoch als Objekt existiert, ausfindig gemacht. Die Entmächtigung des Subjekts, seine Trennung vom Sein und der Verlust von Erkenntnisfähigkeit, machen es als Grund und Ursprung des autobiographischen Projekts obsolet. So gibt es nach Nietzsche „[…] kein ‚Sein‘ hinter dem Thun, Wirken, Werden; ‚der Thäter‘ ist zum Thun bloss hinzugedichtet, - das Thun ist Alles“. 48 Die Auflösung des Subjekts ist das Resultat wissenschaftlicher und gesellschaftstheoretischer Diskurse des 19. Jahrhunderts. In Sigmund Freuds Psychoanalyse funktioniert der Mensch als ein Triebbündel und ist dem permanenten Drängen seines Unbewussten ausgesetzt, wohingegen Karl Marx den Menschen als Objekt eines ökonomischen Prozesses sieht, das vom Kapitalverhältnis permanent reproduziert wird. Ob Arbeiter oder Kapitaleigner, das bewusstseinslogische Subjekt des Idealismus bleibt nach Marx solange ein Schein, „[…] bis sich die Gattung in der Reproduktion ihres materiellen Lebens als gesellschaftliches Subjekt verwirklicht“ 49 hat. Der autobiographische Text stellt par excellence das Feld dar, an welchem neue, zeitgenössische Identitätskonstruktionen erprobt und abgelesen werden können: Die inhaltliche Erweiterung bzw. dialektische Fassung des Subjektbegriffs in neueren Identitätskonzeptionen wie denjenigen eines „multiplen Subjekts“, „offener Identität“ und dergleichen ist in zunehmendem Maße auch an den ästhetisch avancierten autobiographischen Darstellungen abzulesen. 50 Die Entmächtigung des Subjekts geht mit dem Verlust der Weltdeutung durch die Vernunft einher. In der Folge lässt sie sich nur noch als ein ästhetisches Phänomen betrachten, das nicht mehr mit den Mitteln von Mimesis erkannt werden, sondern nurmehr durch die Mittel von Poiesis vergegenwärtigt werden kann. 51 Die durch die moderne (Arbeits-)Welt bedrohte Souveränität und Autonomie des Subjekts kann vor allem in der Praxis des autobiographischen Schreibens, in der deutenden Neuschaffung von Ich und Welt, restituiert und gefestigt werden. Indem das Individuum hier den Raum einer kreativen Idealität entfalten darf, erprobt es seine Kommunikations- und Symbolfähigkeit in eigener Sache. 47 Manuela Günter, Anatomie des Anti-Subjekts. Zur Subversion autobiographischen Schreibens bei Siegfried Kracauer, Walter Benjamin und Carl Einstein, (EPISTEMATA, Würzburger Wissenschaftliche Schriften, Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 192-1996), Würzburg: Königshausen & Neumann, 1996 (zugleich Dissertation an der LMU München 1995). 48 F. Nietzsche, Genealogie der Moral, S. 279, hier zit. nach M. Günter, Anatomie des Anti-Subjekts, S. 45. 49 M. Günter, Anatomie des Anti-Subjekts, S. 38. 50 M. Holdenried, Das Ende der Aufrichtigkeit? , S. 2. 51 Vgl. M. Malo, Behauptete Subjektivität, S. 41. <?page no="90"?> Theorie der Autobiographie 91 Nachdem Philosophie und Literaturwissenschaft die Vorstellung von Subjektivität, die in Begriffen und Kategorien ausgedrückt werden kann in der Moderne und Postmoderne fallen gelassen haben, bietet die Kultursoziologie einen theoretischen Zugriff auf das Subjekt. Andreas Reckwitz hat in seiner umfassenden Studie zu modernen und postmodernen Subjektkulturen 52 dargelegt, wie das postmoderne Subjekt als ein künstliches angesehen werden muss, wenn es durch die Ästhetisierung seiner Umwelt wie auch seiner selbst zum eigenen Schöpfer und damit souverän wird. Postmoderne Kulturen motivieren ihre Praktiken der Souveränität, so Reckwitz, durch ein ästhetisches Künstlerideal, wohingegen bürgerliche Kulturen diese bisher moralisch motiviert hatten. 53 Darüber hinaus zeigt sich das erfolgreiche Ich-Konzept des Einzelnen an seinem Erfolg. Nicht nur, dass das Individuum permanent dazu angehalten ist, sich auf einem Markt konkurrierender Individuen zu profilieren. Seine Individualität muss sich in einer charakteristischen Außendarstellung - einer Marke - artikulieren, die den Einzelnen als Träger und Erschaffer derselben in seiner Einzigartigkeit ausweist. Das Ideal-Ich postmoderner Kulturen ist also nicht einfach nur der Künstler, sondern zudem ein erfolgreicher Unternehmer in eigner Sache, ein „enterprising self“: 54 Die Unverwechselbarkeit der eigenen Person zu entwickeln, setzt die Selbstbeobachtung der Fähigkeiten und des Außenbildes, den Vergleich mit den Eigenschaften relevanter Anderer und schließlich die Eruierung der sozialen ‚Nachfrage‘ nach bestimmten Individualitätselementen voraus. Während in der moral- und respektabilitätsorientierten bürgerlichen Kultur und der normalistischen Kultur der organisierten Moderne individuelle Abweichung riskiert [und] als Subjektdefizit […] wahrgenommen […] wird, avanciert nun die Demonstration individueller Differenz selbst zu einer kulturellen Subjektanforderung. Umgekehrt riskiert Ununterscheidbarkeit im Raster sozialer Aufmerksamkeit zu verschwinden und einen Mangel des Subjekts, die Unfähigkeit sein besonderes Ich zu entwickeln, zu signalisieren. Die Subjektanforderung individueller Differenz erkennt jedoch nicht den Unterschied als wertvoll gelungen an: Die individuelle Differenz muss sich […] in einer wahrnehmbaren performance, einem demonstrativen Individualstil niederschlagen; gleichzeitig muss diese Performanz des Besonderen einen Effekt des Authentischen vermitteln, das heißt: darf nicht als „gewollte“, sondern muss als „expressive“ Individualität erscheinen (die sie idealerweise auch ist). 55 Im Hinblick auf das Subjektverständnis der verschiedenen wissenschaftlichen Ansätze artikuliert sich hier ein Widerspruch: Die Autobiographie ist demnach gerade in postmodernen Kulturen - jenen, die aus philosophischer Perspektive das autonome Subjekt bereits für tot erklärt haben - das ideale Medium, worüber sich das den Prämissen des ökonomischen und globalen Marktes untergeordnete Individuum artikulieren und inszenieren kann. Autobiographie erzählt dann nicht mehr (nur) die Lebensgeschichte seines Schreibenden. Sie ist eine Marketingstrategie der eigenen 52 Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Göttingen: Hubert & Co, 2006. 53 Vgl. A. Reckwitz, Das hybride Subjekt, S. 524. 54 Vgl. A. Reckwitz, Das hybride Subjekt, S. 603. 55 A. Reckwitz, Das hybride Subjekt, S. 603. <?page no="91"?> Saskia Wiedner 92 Person und des erfolgreichen Schriftstellers. Eines der besten Beispiele hierfür ist wohl der autobiographische Roman des sehr medienpräsenten französischen Autors Frédéric Beigbeder L’égoïste romantique 56 , dessen Erzähler sich als weniger romantisch sonder vielmehr egoistisch entpuppt. Dass autobiographisches Schreiben nicht ahistorisch, sondern im Gegenteil sehr stark an das historische, ökonomische, soziale und politische Feld gebunden ist, zeigen die folgenden Beispiele zur Autobiographie als littérature de témoignage (Autobiographie als Literatur der Zeitzeugenschaft) und die Autoethnographie (autoethnography). IV. Autobiographie und politisches Feld - Autobiographie als littérature de témoignage Den Einflüssen des politischen Dispositivs auf die formalästhetischen Strukturen der Autobiographie geht Aurélia Kalisky in ihrer Untersuchung „Quand tremblent les pactes. Poétique(s) de l’enfance traquée“ nach. 57 Kalisky setzt sich mit autobiographischen Texten auseinander, die von Juden geschrieben wurden, welche als Kinder in der Zeit des sogenannten Dritten Reiches von ihren Eltern vor den Nationalsozialisten (meist außerhalb der Familie) versteckt worden waren. Die frühe Trennung von ihrem jüdischen Umfeld führte nicht selten dazu, dass die Kinder (enfants cachés) - zum Teil ohne ein Bewusstsein davon entwickelt zu haben - sich an die Gastkulturen anpassten, bzw. anpassen mussten. Die Frage nach der eigenen kulturellen Identität führte in der Folge immer zur Frage des eigenen Ichs und endlich zur schriftlichen Auseinandersetzung mit dem Erlebten, der Vergangenheit und der Gegenwart: Si l’on voulait définir le témoignage strictu sensu, on pourrait affirmer qu’il est un récit assumé et adressé dont l’authenticité est attestée par la présence du narrateur à l’événement raconté. Par là même, il implique souvent un pacte référentiel et autobiographique qui garantisse l’identité entre l’auteur, le narrateur et le protagoniste du récit, ce dernier étant souvent homodiégétique. Le témoignage littéraire, lui, pourrait se définir non comme un objet défini une fois pour toutes mais plutôt comme un processus qui mène de la réalité vécue (celui du témoin survivant) à la transmission de son sens, soit de sa „vérité“ selon le témoin et ce dans et à travers le langage. Lorsque le témoignage devient littéraire, „le discours tout entier“, pour reprendre la définition qu’Henri Meschonnic donne de la littérature, „est porté à l’éclat de la subjectivité“. 58 56 Frédéric Beigbeder, L’égoïste romantique, Paris: Grasset, 2005. 57 A. Kalisky, Quand tremblent les pactes. Poétique(s) de l’enfance traquée, in: A. Nysenholc, L’enfant terrible de la littérature, S. 233-310. 58 „Wollte man Zeugenschaft im engeren Wortsinn definieren, so würde man von einem akzeptierten und adressierten Erzählen sprechen, dessen Authentizität durch die Anwesenheit des Erzählers bei dem erzählten Ereignis beglaubigt wird. Auf diese Weise wird für die Erzählung ein referentieller und autobiographischer Pakt impliziert, der die Identität zwischen dem Autor, dem Erzähler und dem Protagonisten, letzterer erweist sich häufig als homodiegetische Figur, sicherstellt. Die literarische Zeugenschaft allerdings lässt sich nicht als ein einmal definiertes Objekt bestimmen, sondern vielmehr als Prozess, der von der erlebten <?page no="92"?> Theorie der Autobiographie 93 Literarische Zeitzeugenschaft unterscheidet sich von einer Zeugenaussage (témoignage) durch ihre ästhetisierte und literarisierte sprachliche Verfasstheit sowie durch ihre starke Subjektzentrierung. Aufgrund dieser Aspekte kann von literarischer Zeitzeugenschaft auch als einer besonders durch die historischen Ereignisse geprägten Form autobiographischen Schreibens gesprochen werden. Den Grad der Literarisierung, das Spiel mit dem Hiatus von biographischem, bzw. historischem Faktum und Fiktum bestimmt nicht nur das Individuum, sondern er ist abhängig vom Grad seiner Traumatisierung durch die erlebte Geschichte. Aus diesem Grunde verweist Kalisky im Verlauf ihrer Untersuchung auf die Arbeiten von Cathérine Coquio 59 , die die Variation und Modifikation autobiographischen Schreibens im jüdischen Umfeld nicht als einen spielerischen Umgang mit den Gattungsgrenzen, sondern als eine bewusste Wahl des Autors versteht, die einerseits auf eine künstlerische Idee hindeutet, andererseits das Ergebnis der Erfahrung politischer, physischer und psychischer Gewalt ist: das Trauma hinterlässt eine Narbe: den autobiographischen Text. Sich als Zeitzeuge auszudrücken, ist für die enfants cachés in erster Linie eine ethische Entscheidung, die sich allerdings alsbald in die poetologische und ästhetische Frage nach der adäquaten Darstellung wandelt. In diesem Zusammenhang ist auf Adornos Diktum der Unmöglichkeit von Dichtung nach Auschwitz zu verweisen, das im Hinblick auf die autobiographischen Texte der enfants cachés allerdings umgekehrt werden muss: Dichtung, Literarisierung und Ästhetisierung des Erlebten ist nach der Shoah für die Überlebenden notwendig geworden, um das Erlebte, die in der Alltagssprache unsagbaren Ereignisse in einer individuell angemessenen Weise zum Ausdruck zu bringen und damit die Würde des Einzelnen wiederherzustellen. In den autobiographischen Schriften der jüdischen enfants cachés liegen in hohem Grade experimentelle Formen von Autobiographie vor. Sie alle zeigen, wie durch das autobiographische Schreiben eine progressive Identität und eine Subjektkultur geschaffen werden, die gerade durch die Versprachlichung ihre Brüchigkeit enthüllen. Postmodernes autobiographisches Erzählen ist also ambivalent insofern als es auf eine Sprache angewiesen ist, die nicht mehr in der Lage ist, Identität dauerhaft zu garantieren und damit die Vorstellung eines autonomen Subjekts als Mythos enthüllt. Exemplarisch für viele weitere Texte aus diesem Bereich sei hier auf die bereits erwähnte Autobiographie von Raymond Federman hingewiesen. 60 Federman stellt hier die Umstände dar, denen er als einziges Familienmitglied sein Überleben verdankt: Als die Nazis im Juli 1942 die Wohnung seiner Eltern stürmten, waren diese Wirklichkeit (nämlich jene des überlebenden Zeugen) zur Übertragung des ihr innewohnenden Sinns - sei diese auch nur die ‚Wahrheit‘ des Zeugen - führt und das in und durch die Sprache. Wenn die Zeugenschaft literarisch wird, wird ‚der ganze Diskurs‘ - um hier die Definition Henri Meschonnics von der Literatur aufzugreifen - ‚in den Glanz der Subjektivität gerückt‘ (Übersetzung S.W.)“ (A. Kalisky, Quand tremblent les pactes, S. 237). 59 Cathérine Coquio ist Professorin am Département de Littérature générale et comparée der Universität Paris 8 und Präsidentin der Internationalen Vereinigung für Genozidforschung AIRCRIGE. 60 Raymond Federman, La Voix dans le Cabinet de Débarras/ The Voice in the Closet, Madison/ Wis.: Coda Press, 1979. <?page no="93"?> Saskia Wiedner 94 so geistesgegenwärtig, ihren dreizehnjährigen Sohn in einer Abstellkammer zu verstecken, die er vierundzwanzig Stunden lang nicht zu verlassen wagte. Der Text ist zweisprachig, französisch und englisch und spiegelt die Ambivalenz Federmans gegenüber seiner Teilnahme an einem kulturellen Diskurs, der den Schrecken des Holocaust in Unterhaltung verwandelt. 61 Das Buch ist umkehrbar und kann von beiden Seiten her gelesen werden. Darüber hinaus verhalten sich die Texte nicht nur optisch asymmetrisch zueinander. Die Übersetzung zeigt, wie durch die verschiedenen Sprachen unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt werden, wie zwei Darstellungen ein und desselben Ereignisses geboten werden. Obwohl beide Texte von einer Person stammen, muss hier von einer repetitiven Darstellung gesprochen werden. Allein die Semantik beider Sprachen, die dem Autor verschiedene Darstellungsmöglichkeiten eröffnen, erlaubt es, von zwei sprachlich-kulturell unterschiedlichen kodierten Perspektiven auf das Erlebte zu sprechen. Der Prozess der Selbstübersetzung von der Sprache des Erlebens (Französisch) in die Sprache der Erinnerung (Englisch) legt eine sprachliche und eine historische Differenz frei, die beide die Frage nach der Identität von erlebendem und schreibendem Subjekt stellen. Darüber hinaus wird durch die Anordnung des Textes der Übergang von sprachlichem Zeichen zum Ikon deutlich gemacht: Während der englische Text die ganze Seite füllt, nimmt der französische Text nur ca. eine halbe Seite ein. Jede Seite ist ein Prosablock ohne Unterbrechung von Satzzeichen. Er ist ein hermetisch abgeschlossener Textraum, ein Ikon, der ähnliche Qualitäten wie sein Referenzgegenstand, die Kammer aufweist. Dergestalt angeordnet verhält sich der Text ambivalent, erzählt einerseits vom Erlebnis des Eingeschlossen-seins und zeigt andererseits, wie er mit seinen Mitteln den eigenen Bedeutungsraum zu erweitern und zu subvertieren vermag. V. Autobiographisches Schreiben in politischen Dispositiven: die Autoethnographie Eine weitere Form autobiographischen Schreibens, das vom politischen Dispositiv stark geprägt das allerdings aus diesem Grund auch umso produktiver mit den Vorgaben der Gattung umgeht, ist die Autoethnographie. Der Begriff Autoethnographie (autoethnography) wurde in den postcolonial studies zur Analyse hybrider Textformen im Bereich autobiographischen Schreibens eingeführt. Autoethnographie bezeichnet Subjektkulturen im Hinblick auf ein spezifisches soziales bzw. ethnisches Milieu und wird von Autoren angefertigt, die - wie Julia Watson darlegt - in der abendländischchristlichen Tradition autobiographischen Schreibens nicht verwurzelt sind: „Autoethnography is practised by subjects who are „unauthorized“ in the autobiographical tradition, who implicitly interrogate its norms.“ 62 61 Vgl. dazu J. Nysenholc, „L’enfant caché en traduction“, S. 77-80. 62 Julia Watson, Autoethnography, in: Margaretta Jolly (Hrsg.), Life-Writing. Autobiographical and Biographical Forms, Bd. 1, London/ Chicago: Fitzroy Deaborn Publishers, 2001, S. 83-86, hier S. 83. <?page no="94"?> Theorie der Autobiographie 95 Konsequenterweise bildet die Autoethnographie einen eigenen Identitätsbegriff heraus, der Identität als eine kollektive und transindividuelle Kategorie versteht. Sie bestimmt einen „Kontaktbereich“ an den Schnittflächen und Rändern von Metropole und indigener Bevölkerung, der die Diskurse der angestammten Bevölkerung und diejenigen der kolonialen Macht zusammenführt. 63 In der Folge entstehen hybride literarische Formen, die grundlegende narrative Muster aus zwei sich konflikthaft gegenüberstehenden Kulturen verschmelzen. Der Ansatz der Autoethnographie setzt sich damit gegen das westliche, grundlegend durch das Selbstbewusstsein bestimmte Masternarrativ und Subjektivitätskonzept - wie es Georges Gusdorf darlegt - ab. Gusdorf geht davon aus, dass autobiographische Texte in indigenen Bevölkerungen, die ohne eine Vorstellung von Selbstbewusstsein leben, nicht existieren. 64 Eine solche Hypothese ist heute nicht mehr haltbar. Lejeune greift das Konzept der Autoethnologie im Kontext seiner Untersuchungen zu autobiographischen Texten französischer Arbeiter auf und stellt eine ambivalente Wirkung fest, die zum einen auf der Internalisierung kollektiver Geschichtserinnerung und zum Anderen auf der Abspaltung des Schreibenden gegenüber der sozialen Gruppe der Arbeitenden, der er eigentlich zugehört beruht. 65 Theoretisierungsversuche dieser Textform aus den 1990er Jahren sehen ihren konstitutiven Charakterzug in der Minimalisierung der traditionellen Perspektive autobiographischen Schreibens zu Gunsten einer Gegenwartsperspektive, die im Augenzeugenbericht ihren Ausdruck findet. 66 Hier knüpft die Autoethnographie an das Konzept der littérature de témoignage an. Nicht selten leistet der Theoriediskurs eine Verbindung zwischen literarischer und ethnologischer Reflexion und macht damit eine interdisziplinäre Perspektive auf den Text möglich. Stellvertretend für viele weitere Beispiele sei hier Coetzee’s Titel Boyhood. Scenes from a provincial life (1997) genannt, ein Text, der das Konfliktpotential zwischen politischem und kulturellem Kolonialismus in Südafrika/ Kapstadt verhandelt. Die Augenzeugenperspektive schafft Coetzee durch eine extreme Distanz 67 , aus welcher der Protagonist das Leben um ihn herum schildert und die sinnfällig jenen Abstand fühlbar macht, der weiße und schwarze Bevölkerung im Kapstadt der 1960er voneinander trennt. Im Zentrum des Textes steht der Bewusstwerdungsprozess des Protagonisten: Differenz wird im Buch noch einmal vollzogen, nun aber als reflektierter Prozess. Obwohl immer wieder betont wird, dass in Coetzees Erzählungen Fiktion und Fakten kaum voneinander zu trennen sind, dass der Protagonist der autobiographischen Werke immer auch zugleich eine Kunstfigur sei, ist der autobio- 63 Mit Paul Ricœur geht Watson dabei von einer diskursiven Verfasstheit von Identität, von einer narrativen Identität aus. 64 Vgl. G. Gusdorf (zit. nach J. Watson, Autoethnography, S. 83): „it is obvious that autobiography is not possible in a cultural landscape where consciousness of self does not, properly speaking, exist“. 65 Ph. Lejeune, „The Autobiography of those who do not write“, in: ders., On Autobiography, Minneapolis: University of Minnesota Press, 1989, S. 185-215, besonders S. 211-215. 66 Vgl. J. Watson, Autoethnography, S. 85. 67 Diese Distanz wiederholt sich im Abstand zwischen Autor und dem Erzähler in der dritten Person. <?page no="95"?> Saskia Wiedner 96 graphische Gehalt der Texte zugleich auch immer ihr politischer Gehalt. Autobiographie und politisches Engagement lassen sich in Coetzees Werk nicht voneinander trennen. Ein weiteres Beispiel für einen ethnologischen Ansatz in der Autobiographie ist Annie Ernaux‘ autobiographischer Text La Honte 68 . Dieser zeigt die Subvertierung der psychoanalytischen Lesart, welche die Bilder der Erinnerung hervorholen und in Sprache übersetzen will, durch eine ethnologische Untersuchung: Naturellement pas de récit, qui produirait une réalité au lieu de la chercher. Ne pas me contenter non plus de lever et transcrire les images du souvenir mais traiter celles-ci comme des documents qui s’éclaireront en les soumettant à des approches différentes. Être en somme ethnologue de moi-même. 69 Ernaux’ ethnologische Methode im Umgang mit der eigenen Erinnerung, die sie als historische Dokumente betrachtet, entwickelt in der Folge eine ihr eigene Hermeneutik. Die Erinnerungsbilder sind nicht der Seelenspiegel; sie zeigen das Eigene als das Fremde, eine Außenperspektive des Ich und fordern den Schreibenden auf, das autobiographische Ich durch seine Objekthaftigkeit zu erfassen. Eine solche für das autobiographische Unternehmen paradoxe Perspektive, die vor allem gegen jede Form der Autofiktion zielt, rückt Autobiographie in produktionsästhetischer Perspektive bewusst in die Nähe des bereits erwähnten Ego-Dokuments. VI. Autobiographie um (s)ein Phantom - die Parodie der autofiction In Form einer mise en abyme entfaltet die Autobiographie einen eigenen, ihr inhärenten Diskurs, der ihre traditionelle Funktion der Suche nach Identität und Selbsterkenntnis kritisch hinterfragt und bisweilen in ihrem Ernst und ihrem Pathos parodiert. In Marc Weitzmanns 1997 erschienenem Roman Chaos - einem jüdischer Familienroman - schildert der Ich-Erzähler den durch den Tod des Vaters ausgelösten Zusammenbruch seiner Identität und die Suche nach einer neuen. Dies scheint zunächst wenig spektakulär, ist doch die Verhandlung von prekären Identitäten in der postmodernen Literatur an der Tagungsordnung. Das Pikante an der Erzählung ist der Familienname des Erzählers - er heißt Weitzmann, der Vorname wird nicht erwähnt und er ist der jüngere Bruder von Marc Weitzmann, dem literarischen Wunderkind, in einer Familie von schriftstellerisch ambitionierten französischen Juden, in deren Genealogie sich auch Serge Doubrovsky einreiht. Der autobiographische Pakt ist geschlossen - wenn auch etwas asymmetrisch, denn der mit dem Autor namensidentische Marc Weitzmann taucht im Roman nicht auf, er ist lediglich durch die und in der Erzählung seines Bruders präsent. Und das mit gutem Grund. 68 Annie Ernaux, La Honte, Paris: Gallimard, 1997. 69 „Natürlich schreibe ich keine Erzählung, die Wirklichkeit konstruieren würde anstatt sie zu suchen. Ich werde mich nicht damit zufrieden geben, die Erinnerungsbilder zu heben und zu übertragen, sondern ich werde sie wie Dokumente behandeln, die sich gegenseitig erhellen, indem sie verschiedenen Annäherungen ausgesetzt werden. Schließlich muss ich mir gegenüber zum Ethnologen werden (Übersetzung S.W.)“ (A. Ernaux, La Honte, S. 38). <?page no="96"?> Theorie der Autobiographie 97 Er ist nämlich zum enfant terrible der journalistischen Szene avanciert und provoziert seine Leser - und nicht zuletzt auch seine jüdischen Verwandten - mit revisionistischen Artikeln über den Holocaust. Die Vergangenheit der Familie manifestiert sich in zahlreichen ineinander verwebten autobiographischen Texten aus den Nachlässen einzelner Familienmitglieder, eine Textur, die sich schließlich rätselhaft um den Selbstmordversuch von Serge Doubrovskys Frau Ilse schlingt. Doubrovskys Autofiktionen werden im Roman als Monstren gebrandmarkt, 70 die ihre realen Vorbilder verschlingen, nachdem sie sie ausgebeutet haben. Eine Vorstellung von autobiographischer Literatur, die die Familie Weitzmann heftig kritisiert: Marie [die Ehefrau des Erzählers; S.W.] et moi avions bien jugé toute l’affaire malsaine et absolument scandaleuse. Dans la famille, nous n’étions pas les seuls. Il était clair pour tout le monde depuis longtemps qu’à force de jouer avec le feu, Serge finirait par s’y brûler. Mais ce qui semblait particulièrement odieux, et inattendu, c’est qu’il se fût en quelque sorte brûlé par procuration. Il avait utilisé un être psychiquement plus fragile que lui, l’avait manipulé, usé, torturé jusqu’à la fin, dans le seul et unique but d’achever son entreprise littéraire. Ce n’était certes pas la conception que nous nous faisons de la littérature. 71 Ilse, eine gebürtige Österreicherin und Doubrovskys Ehefrau, deren Vater bei der Wehrmacht und deren Onkel sich bei der SS engagierte, hatte all die Jahre ihrer Ehe einsam und geduldig in der fünften Etage ihrer Pariser Wohnung Seite um Seite die literarischen Ergüsse ihres Gatten redigiert und dort die Apotheose ihrer Rolle als Ehefrau eines nunmehr berühmten Schriftstellers gelesen, bis sie sich dazu entschloss, sich das Leben zu nehmen. Doubrovskys Autofiktionen, die Verklärung der Saga Weitzmann in Le Livre brisé werden in Chaos als Blendwerke des Schriftstellers, als autobiographie caviardée (zensierte Autobiographie) entlarvt, deren Distanz zu jeder biographischen Realität nur so groß als irgend sein kann. Der Roman selbst parodiert die Möglichkeiten der Autofiktion und führt das Genre auf tragische Weise ad absurdum. Indem der Autor Marc Weitzmann das fiktionale Moment autobiographischen Schreibens als eine vom Schriftsteller bewusst angewandte Strategie zu Verklärung der eigenen Person zeigt, enthüllt er auch den ambivalenten Charakter der Autofiktion. Nicht der Fiktion in der Autobiographie ist der Vorwurf der Lüge zu machen und lässt sie vom Ethos der autobiographischen Schreibens abweichen, sondern ihre Relation und Funktion im Hinblick auf das reale Leben der anderen lösen sie aus 70 „Le Livre brisé - un livre monstre, un succès de scandale. C’est à jouer les Faust avec la fiction, à passer de la réalité en contrebande, le roi de l’autobiographie caviardée, inventeur de la nouvelle critique et spécialiste incontesté de la tragédie cornélienne, s’était fait rattraper par la vie qui, sous forme de tragédie, bien réelle cette fois, était venue pulvériser son existence autofictionnée“ (M. Weitzmann, Chaos, Paris: Gallimard, 1997, S. 143). 71 „Marie und ich verurteilten jede Affäre als ungesund und skandalös. Mit diesem Urteil waren wir in der Familie nicht allein. Für alle war seit langem klar, dass Serge durch sein Spiel mit dem Feuer sich schließlich daran verbrennen musste. Was aber ganz besonders unausstehlich war und vor allem unerwartet geschah, war, dass er an seiner statt jemand anderem den Schaden aufbürdete. Er hatte sich dazu ein Wesen ausgesucht, das psychisch viel schwächer war als er selbst, hatte es manipuliert, benutzt und bis zuletzt gefoltert, mit dem einzigen und alleinigen Ziel, sein literarisches Ziel zu erreichen. Das war bestimmt nicht die Auffassung, die wir von der Literatur vertraten (Übersetzung S.W.)“ (M. Weitzmann, Chaos, S. 144). <?page no="97"?> Saskia Wiedner 98 dem Status des autonomen Ästhetischen heraus und lassen sie zu einer Kategorie des Ethischen werden. Literaturverzeichnis Baumann, Henrik, Die autobiographische Rückkehr. 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Weitzmann, Marc, Chaos, Paris: Gallimard, 1997. <?page no="100"?> Theorien des Sonetts Timo Müller I. Einleitung Beim Blick in die Literaturgeschichte fällt auf, dass das Sonett zwar seit seinem Entstehen im 13. Jahrhundert eine überaus beliebte Gattung ist, ausführliche theoretische Diskussionen aber eine Seltenheit geblieben sind. Sonetttheorie wird meist nebenbei betrieben, in Form gelegentlicher Bemerkungen in Briefen, Rezensionen, Vorworten und - ein literarhistorischer Sonderfall - zu einem beachtlichen Teil in Sonetten selbst, den sogenannten autoreflexiven Sonetten. 1 Dieser Aufsatz behandelt, wie der Titel schon ankündigt, diese verschiedenen Theorien des Sonetts. Er will keine verallgemeinernde Sonetttheorie entwerfen - was angesichts einer multinationalen, mehr als 700 Jahre langen Gattungsgeschichte ohnehin ein fragwürdiges Projekt wäre -, sondern wichtige Entwicklungen in der theoretischen Betrachtung der Form herausgreifen und versuchen, Zusammenhänge zwischen ihnen aufzuzeigen. Bei diesen Entwicklungen handelt es sich zunächst um die Grundlegung systematischer Sonetttheorie in der Romantik und daran anschließend um drei Hauptstränge: die organische, die nationalistische und die irreguläre Konzeption des Sonetts. Viele Theorien des Sonetts behandeln auch die Frage nach der Definition der Form, ähnlich wie viele Literaturtheorien sich mit der Frage beschäftigen, was Literatur ist und was nicht. Dieser Aufsatz widmet sich der Frage, wie ein Gedicht aufgebaut sein muss, um als Sonett bezeichnet zu werden, nur am Rande. Einerseits hat sie, wie auch die Frage nach einem qualitativen Literaturbegriff im Allgemeinen, in den letzten Jahrzehnten bei Schriftstellern und Wissenschaftlern an Relevanz eingebüßt: viele Texte, die heute als Sonette veröffentlicht werden, halten sich an kein bestimmtes Vers- oder Reimschema mehr. Andererseits scheinen fast alle Dichter, selbst im Akt ihrer Überschreitung, die klassische Konsensdefinition vorauszusetzen, nach der ein Sonett 14 Zeilen hat und entweder in eine Oktave und ein Sextett aufgeteilt ist oder aber in drei Quartette und ein Couplet. Mein Interesse gilt vielmehr den sich überschneidenden Fragen, inwiefern die Sonettform in der Literaturgeschichte auf bestimmte Inhalte bezogen wurde, inwiefern ihr bestimmte sprachliche, kulturelle, politische oder andere Funktionen zugeschrieben wurden, und inwiefern sie in ihrer Bestimmtheit, ihrer Regelhaftigkeit, untersucht und hinterfragt wurde. In diesem Sinne überspringen wir die Frühgeschichte der Sonetttheorie, nämlich die Poetiken der italienischen Renaissance, der Elisabethaner in England und des deutschen Barock, die kaum über Bemerkungen zur Herkunft und Struktur der Form 1 Becher 628-29; Goetsch. <?page no="101"?> Timo Müller 102 hinausgehen. Wir wenden uns gleich der ersten Hochphase der Sonetttheorie zu, in der alle drei erwähnten Fragerichtungen zum ersten Mal ausführlich diskutiert werden: dem späten 18. Jahrhundert, vor allem der Romantik. II. Theoretische Grundlegungen: Romantik Die Begeisterung für das Sonett scheint auf den ersten Blick gar nicht in das sonstige Programm der Romantiker zu passen. Warum sollte, wer Freiheit und Individualismus propagiert, die wilde Erhabenheit der Natur sucht und klassische Formstrenge ablehnt, 2 es hinnehmen, sich in 14 Zeilen und ein vorgegebenes Reimschema pressen zu lassen? Die Romantiker waren sich dieses Widerspruchs wohl bewusst, doch mit Ausnahme der ersten Generation in Frankreich ließen sie sich davon nicht vom Sonettieren abhalten. Es überrascht also nicht, dass sich romantische Sonetttheorie zuvorderst mit dem Widerspruch von Freiheit und Form auseinandersetzt, der alle wichtigen Debatten und Tendenzen durchwirkt. Eine bekannte Zusammenführung dieser Tendenzen bietet William Wordsworth im autoreflexiven Einleitungssonett seiner Gedichtsammlung Poems, in Two Volumes (1807): Nuns fret not at their Convent’s narrow room; And Hermits are contented with their Cells; And Students with their pensive Citadels: Maids at the Wheel, the Weaver at his Loom, Sit blithe and happy; Bees that soar for bloom, High as the highest Peak of Furness Fells, Will murmur by the hour in Foxglove bells: In truth the prison, unto which we doom Ourselves, no prison is: and hence to me, In sundry moods, ’twas pastime to be bound Within the Sonnet’s scanty plot of ground: Pleas’d if some Souls (for such there needs must be) Who have felt the weight of too much liberty, Should find brief solace there, as I have found. 3 Das Sonett wird zunächst als tektonische Form begriffen, als „enger Raum“, danach aber ins Natürliche gewendet. Die Biene, traditionell ein Symbol für den Dichter, 4 kehrt gerne in ihren Blütenkelch zurück, nachdem sie das Gebirge Furness Fells erkundet hat, und der Sprecher selbst begreift das Sonett lieber als Wiesen- oder Ackerland denn als Gefängniszelle. Als einziger konkreter Bezug verorten die Furness Fells das Gedicht in einem spezifisch englischen Zusammenhang, und auch das Bild der Erdung deutet Wordsworths Hang zum Volkstümlichen an. In diesem Gedicht sind also schon drei Definitionen des Sonetts angesprochen - die tektonische, die natürliche und die nationale -, die in der Romantik und über sie hinaus starken Ein- 2 Siehe z.B. Schulz 13-29. 3 Wordsworth, Poems 133. 4 Butzer/ Jacob 44-46. <?page no="102"?> Theorien des Sonetts 103 fluss entwickeln sollten. Mit ihnen vielfältig verknüpft ist der ambivalent konservative Zug des Sonetts, seine Beschränkung nicht nur des dichterischen Ausdrucks, sondern auch des Freiheitsstrebens im Allgemeinen. Diese Beschränkung wird einerseits explizit begrüßt, andererseits aber in mehrfacher Hinsicht unterlaufen. Wordsworth macht schon durch die imaginative Weite des Inhalts deutlich, dass er sich von der Sonettform nicht wirklich einschränken lässt, ganz explizit dann durch seine demonstrative Überschreitung der Grenze zwischen Oktave und Sextett, die er mit dem Enjambement nicht nur seinem Ausdruckswillen unterwirft, sondern auch seiner programmatischen Aussage über die Nichtigkeit des Gefängnischarakters. 5 Ein ähnliches Spannungsverhältnis findet sich in Goethes autoreflexiven Sonetten von 1800, allerdings mit je unterschiedlicher Wertung. Das erste der beiden Gedichte, überschrieben „Das Sonett“, entwickelt zunächst ein konservatives Argument über die Notwendigkeit von Beschränkung, die alleine zur Vollendung des Kunstwerks führen könne. Nachdem Goethe die klassische Volta noch eingehalten hat und vorschriftsgemäß zur persönlichen Reflektion auf das Argument der Oktave übergeht, stellt er allerdings fest: So möcht’ ich selbst in künstlichen Sonetten, In sprachgewandter Maßen kühnem Stolze, Das Beste, was Gefühl mir gäbe, reimen; Nur weiß ich hier mich nicht bequem zu betten, Ich schneide sonst so gern aus ganzem Holze, Und müßte nun doch auch mitunter leimen. 6 Das Individuelle bricht sich Bahn und die Sonettform ist abermals desavouiert, da sie als Bestandsaufnahme der ihr inhärenten Probleme herhalten muss, insbesondere der historisch vielfach belegbaren Tatsache, dass ihr striktes Reimschema zu abgeschmackten, übertriebenen oder sogar komisch wirkenden Reimen verleitet. 7 Eine andere Haltung nimmt Goethe im zweiten Sonett an, das unter dem Behelfstitel „Natur und Kunst“ geläufig ist. Hier arbeitet er auf eine Synthese dieser beiden Begriffe hin und schließt programmatisch: Wer Großes will muß sich zusammenraffen; In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister, Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben. 8 Das Verhältnis von Freiheit und Gesetz, Natur und Kunst, Ausdruckswillen und Form durchzieht seitdem die gesamte Sonetttheorie. Goethe verortet das kreative Potential und die paradigmatische Funktion des Sonetts gerade in der Dynamik zwischen den beiden Polen, Hegel später in ihrer Synthese: „Die Unmittelbarkeit des 5 Die Exteriorität und politische Anspielungskraft des Sonetts werden besonders deutlich im Kontrast mit der Nachahmung „The Poet’s Solitude“ von Thomas Doubleday, einem wenig bedeutenden Dichter der Zeit (Wagner 115-16). 6 Goethe 408. 7 Vor allem das Reimpaar „reimen/ leimen“ ist immer wieder aufgegriffen worden (Mönch 176- 77). 8 Goethe 838-39. <?page no="103"?> Timo Müller 104 Empfindens und Äußerns“, sagt er in seinen Vorlesungen über die Ästhetik, „hebt sich hier zur Vermittlung der Reflexion und vielseitig umherblickenden, das Einzelne der Anschauung und Herzenserfahrung unter allgemeinere Gesichtspunkte zusammenfassenden Betrachtung auf.“ 9 Beide Sichtweisen finden sich in späteren Sonetttheorien, wobei Goethes schon auf das irreguläre Sonett, wie es Baudelaire begründet, vorausweist, während Hegel eher die zeitgenössische Auffassung zu treffen scheint. Letztere soll anhand der drei zentralen Definitionsansätze, die Wordsworth anspricht, nun näher untersucht werden: Tektonik, Natürlichkeit und Volkstümlichkeit. Die wichtigste tektonische Definition findet sich in der ersten ausführlichen theoretischen Diskussion des Sonetts in Deutschland, August Wilhelm Schlegels Vorlesung über das Sonett (1803/ 04). Schlegel hatte schon einige Jahre zuvor in seiner Kritik an Bürgers Sonetten das Wordsworth’sche Argument vorweggenommen, „daß für das Sonett nichts zu groß, stark und majestätisch sei, was sich nur irgend nach materiellen Bedingungen des Raumes darein fügen will“. 10 In seiner Vorlesung macht er sich nun an eine genauere Bestimmung dieser „materiellen Bedingungen des Raumes“. Er kann dabei auf eine gewisse Tradition räumlich-statischer Sonettkonzeptionen zurückblicken. Schon Shakespeare bezeichnet seine Sonette öfter als Grabmäler, in denen Vergängliches verräumlicht und damit der Vergänglichkeit entzogen wird. Ein ähnlicher Gedanke liegt dem bekannten Satz John Donnes zugrunde, in dem er seiner Geliebten verspricht, And if no piece of chronicle we prove, We’ll build in sonnets pretty rooms; As well a well-wrought urn becomes The greatest ashes, as half-acre tombs […] 11 Auch bei Schlegel wird das Sonett räumlich gedacht, allerdings weicht der spielerische Zug der Renaissancedichtung einem ernsten Erkenntnisinteresse: die Gattung soll nun „aus der Betrachtung ihres wahren Wesens begriffen“ und „ihre Notwendigkeit […] mathematisch“ abgeleitet werden. 12 Diese mathematische Ableitung erfolgt zunächst über die Geometrie - die Quartette als Quader, die Terzette als Dreiecke -, erhält dann aber die dritte, räumliche Dimension in dem einflussreichen „Gleichniß aus der Architectur“: man solle sich das Sonett denken als einen länglicht viereckigen Tempel, die zwey Seitenwände, welche ihn einschließen, von der schlichtesten Bauart und ohne Verzierung sind die Quartetts; die schmalere Hinterseite […] würde dem ersten Terzett entsprechen; die Vorderseite endlich krönt wie das letzte Terzett, es schließt das Ganze, giebt dessen Bedeutung im Auszuge, es zeigt an den stüt- 9 Zit. in Fechner 367. 10 Zit. in Fechner 337. 11 Donne 238. 12 Zit. in Fechner 337, 343. Zur Attraktivität tektonischer Vorstellung für den Idealismus im Allgemeinen siehe Armstrong 108. <?page no="104"?> Theorien des Sonetts 105 zenden Säulen und dem deckenden Giebel die reichste architectonische Pracht, jedoch immer mit einfacher Würde. 13 Schlegel liegt vor allem an der Symmetrie des Aufbaus, der Entsprechung und Parallelität der Quartette und Terzette, ohne die der Tempel nicht stehen könne. Obwohl seine Metapher selbst etwas schief konstruiert ist - man fragt sich, ob der Tempel auch ein Dach hat - hat die strenge Kanonisierung des petrarkischen Schemas, die er aus ihr ableitet, in der deutschen Sonettistik bis ins späte 20. Jahrhundert fortgewirkt. Gerade in der literarischen Moderne bleiben experimentelle Sonette weit seltener als etwa im englischen Sprachraum, und noch in den 1970er Jahren erscheinen Anthologien, die andere Sonetttypen fast völlig ignorieren. 14 Ein weiteres Anliegen Schlegels war die analytische Herangehensweise nicht nur des Kritikers, sondern schon des Dichters an die Konstruktion des Sonetts. Zufrieden bemerkt er in seiner Vorlesung, dass durch „eine so bestimmte Gliederung das Sonett gewaltig aus den Regionen der schwebenden Empfindung in das Gebiet des entschiedenen Gedankens gezogen wird“ und es dadurch „manche Freunde des melodischen Hin- und Herwiegens in weichen Gefühlen“ abschreckt. 15 Damit setzt sich Schlegel deutlich von seinen unmittelbaren Vorgängern ab, den Dichtern der Empfindsamkeit, die in der Populärkultur seiner Zeit prägend fortwirkten. Ein wichtiger Aspekt dieser Absetzbewegung, der schon unter den Frühromantikern viele Anhänger fand und vielleicht ihr bleibendstes Vermächtnis für die deutsche Sonettdichtung darstellt, ist die Abkehr vom Liebesspiel als Hauptmotiv der Gattung. An seine Stelle tritt vor allem die Kunst, in Gestalt von Widmungs- und Künstlersonetten, autoreflexiven Sonetten wie denen Goethes, musikalischen wie Tiecks Gedichten über die Musik (1802), und vor allem ekphrastischen Gemäldesonetten, wie sie Schlegel selbst zuerst im Athenaeum (1799) und später in seinen Gedichtsammlungen veröffentlicht. 16 Neben der analytisch-tektonischen Auffassung der Form enthält Schlegels Sonettvorlesung aber auch eine organisch-holistische, die seinem Umfeld eher zugesprochen haben mag und die ihn, obwohl konkrete Einflüsse nicht nachweisbar sind, recht nahe an die englischen Romantiker rückt. 17 Schlegel widerlegt das alte Argument vom Sonett als Prokrustesbett, in dem die Gedanken auf unnatürliche Weise gestreckt oder verkürzt werden müssten, indem er auf den organischen Zusammenhang von Inhalt und Form, Gedanken und Ausführung verweist. Das Prokrustes- Argument verfehle, dass „die Form vielmehr Werkzeug, Organ für den Dichter ist und gleich bei der ersten Empfängnis eines Gedichtes, Gehalt und Form wie Seele und Leib unzertrennlich ist“. Später nennt er das Sonett „eine in sich zurückgekehr- 13 Zit. in Fechner 351. 14 So Fechner und, allerdings in der DDR, Dietze/ Dietze; vgl. Schindelbeck 47-60. Ein späteres Beispiel für eine tektonische Definition bietet Albrecht Schaeffer, der das Sonett als „Gebäude nach Verstandes-Gesetzen“ bezeichnet (157). 15 Ähnlich äußert sich Coleridge in der Einleitung zu seinen Sonetten (Poems 73). 16 Borgstedt, Topik 396-409. 17 Eine deutliche Affinität besteht zu Bürger, der ein Sonett dann für gelungen hält, „wenn sein Inhalt ein kleines, volles, wohl abgerundetes Ganzes ist, das kein Glied merklich zu viel, oder zu wenig hat“ (zit. in Fechner 319). <?page no="105"?> Timo Müller 106 te, vollständige und organisch articulierte Form“. 18 Während der Vollständigkeitsgedanke auch aus seiner tektonischen Auffassung begründbar ist, besteht ein gewisser Widerspruch zwischen Schlegels Forderung nach mathematischer Konstruktion des Sonetts einerseits und der - vage bleibenden - Idee der organischen Artikulation. Dieser Widerspruch tritt vor allem in der abschließenden Zusammenfassung hervor, in der Schlegel versucht, seine Analyse der symmetrischen Beziehungen innerhalb des Sonetts mit seiner holistischen Auffassung der Form zu vereinbaren. So sagt er zu den Strophen im Sonett: „Das Sonett hat nur eine, oder wenn man will, zwey sich entgegengesetzte, womit alles erschöpft ist und nichts weiter folgen kann.“ Die Frage, ob es denn nun eine oder zwei Strophen sind, ist im Kontext seiner Sonetttheorie nicht ganz unwichtig, bleibt aber offen; stattdessen weist Schlegel noch darauf hin, dass auch antithetisch aufgebaute Sonette sich zu einem organischen Ganzen fügen und „das wahrste Gefühl athmen“ können, und dass die Abgeschlossenheit des Sonetts jeden „Augenblick […] festlich und kostbar“ macht. Der erste dieser beiden Aspekte weist wiederum auf Hegels Konzeption des Sonetts als exemplarischer synthetischer Form voraus; der zweite, der auf eine Überhöhung des verräumlichenden Impulses hinausläuft, sollte in England zu einiger Prominenz gelangen. Auch Wordsworth, der Schlegel wohl nie rezipiert hat, 19 verstand sich als Architekt und suchte in seiner Lyrik nach Heimat und Verwurzelung. Das Sonett in seiner Kürze und Begrenztheit erschien ihm nicht nur als geeignete Ausdrucksform für diese Werte, sondern, wie John Kerrigan gezeigt hat, auch als Wohnstatt im Heidegger ’ schen Sinn. 20 Seine Sonette sind also keine Tempel, sondern Kleinhandwerk in einer harmonischen, von Natur und Volkskultur geprägten Umwelt. Diese Vorstellung hat durchaus problematische Beiklänge, auf die wir noch zurückkommen werden. Zentral ist aber zunächst, dass es den englischen Romantikern im Gegensatz zu Schlegel nicht um eine stringente Regelpoetik des Sonetts ging. 21 Ihre Überlegungen bezogen sich eher auf funktionelle und selbstreflexive Fragen, wie sie auch in Wor ds worths eingangs zitiertem „Nuns fret not at their convent’s narrow room“ zum Ausdruck kommen. Zudem brach die englische Sonettistik nie in dem Maße mit der Empfindsamkeit, wie das die deutschen Frühromantiker taten. Vielmehr stand sie bis ins 19. Jahrhundert hinein unter dem Einfluss zweier sentimentaler Bestseller, Charlotte Smiths Elegiac Sonnets (1784) und William Lisle Bowles’ Fourteen Sonnets (1789). 22 Charlotte Smiths vorsichtige Bemerkung in ihrem Vorwort, ihre Sonette seien zwar nicht legitim im strengen Sinn, aber „appear to me no improper vehicle for a single Sentiment“, wurde bei Coleridge zur programmatischen Definition: 18 Zit. in Fechner 345, 351. 19 Ein indirekter Einfluss über Coleridge ist diskutiert worden, scheint sich aber nicht verfestigt zu haben (Herzberg 316-20). 20 Kerrigan 57-58; vgl. Bate 243-83. In späteren Jahren näherte er sich allerdings der organischen Konzeption an und griff tektonisches Vokabular nicht mehr auf (Curran 40; siehe auch Armstrong 107-29). 21 Keats deutet einmal an, er experimentiere mit einer neuen Sonettstrophe, konnte aber keine weitergehende Wirkung entfalten (Mönch 171-72). 22 Curran 30-36. <?page no="106"?> Theorien des Sonetts 107 The Sonnet then is a small poem, in which some lonely feeling is developed […] Poems, in which no lonely feeling is developed, are not Sonnets because the Author has chosen to write them in fourteen lines: they should rather be entitled Odes, or Songs, or Inscriptions. 23 Coleridge war zwar bald darum bemüht, sich von seinem empfindsamen Frühwerk zu distanzieren, 24 doch seine Sonettdefinition wurde von den Epigonen der ersten Romantikergeneration aufgegriffen und findet sich bis ins späte 19. Jahrhundert hinein fast wörtlich in den Einleitungen vieler Sonettanthologien. 25 Auch die berühmte Definition von Dichtung, die Wordsworth dem gemeinsamen Epochenwerk Lyrical Ballads (1798) voranstellt, ist noch ganz von diesem Geist getragen: „Poetry is the spontaneous overflow of powerful feelings: it takes its origin from emotion recollected in tranquility.“ 26 Man könnte noch einen Schritt weitergehen und sagen: aus der Perspektive der Sonetttheorie betrachtet bildet diese Definition eine zweistufige Konzeption des Sonetts ab, in der Oktave und Sextett unterschiedliche, nämlich die beiden von Wordsworth genannten Funktionen zugesprochen werden. Diese Definition wurde von der Empfindsamkeit bis zur Vormoderne immer wieder aufgegriffen, so schon 1774 von Ludwig Unzer, wenn er das Sonett für seine Eignung empfiehlt, „eine Empfindung, oder ein lebhaftes Bild auzudrücken“, und die Struktur folgendermaßen erklärt: Die beiden ersten Strophen des Sonetts dienen dazu, diese Empfindung, dieses Bild, zu schildern; sie sind voll und harmonisch. Die beiden dreyzeiligen Halbstrophen verlangen ihrer Natur nach entweder einen beruhigten, gemäßigtern Affekt, oder die Sprache der Application der Betrachtung. […] [Der Dichter] läßt anfänglich seiner Empfindung vollen Lauf. Ist im Dichten sein Affekt besänftigt worden; so ist es ja auch natürlich, daß die letzten Verse seines Gedichts einen gelassenern Ton, einen ruhigern Gang nehmen. 27 Die Langlebigkeit dieser Konzeption in England zeigt sich in der spätviktorianischen Vorstellung vom Sonett als Wellen- oder Gezeitenbewegung, die im folgenden Abschnitt behandelt werden soll. III. Organische Sonetttheorie im Viktorianismus Insbesondere Coleridge wurde als Begründer einer organischen Konzeption des Sonetts rezipiert, die sich weniger mit der äußeren Gedichtform beschäftigt als mit 23 Poems 72; ähnlich im Vorwort zu Poems on Various Subjects x. 24 Remoortel 55-73, 86-87. 25 So bei Leigh Hunt: „it must confine itself to one leading idea, thought or feeling“; Charles Tomlinson: „the sonnet must consist of one leading idea, or thought or feeling“; und David M. Main: „the Sonnet shall … be a development of one idea, mood, feeling, or sentiment, and one only“ (zit. in Kallich et al. 139, 148, 151). 26 Wordsworth, Lyrical Ballads 756; siehe dazu auch Curran 37. 27 Zit. in Borgstedt, Topik 393. <?page no="107"?> Timo Müller 108 dem dahinterstehenden kreativen Impuls und seinem holistischen Ausdruck. 28 Tatsächlich bekundet Coleridge schon im Vorwort zu seinen Sonetten pointiert sein Desinteresse an regelpoetischen Fragen, wenn er die Begrenzung auf 14 Zeilen als arbiträr bezeichnet - „as some particular number is necessary […] it may as well be fourteen as any other“ - und dem Dichter die Wahl von Versmaß und Reimschema freistellt: es gehe lediglich um den raschen Ausdruck des inspirierenden Gefühls. 29 Auch Wordsworth rät in einem weiteren poetologischen Sonett, nicht ängstlich an die Regelkritiker zu denken, sondern aus dem „lebendigen Strom“ zu schöpfen. 30 Seine Formulierung weist auf die Popularität der Wassermetapher hin, die wir schon in Schlegels Vorlesung finden („Das Lyrische ist das Wasser der Poesie“) und die in der englischen Sonetttheorie des 19. Jahrhunderts als Ausdruck der organischen Konzeption zu weiter Verbreitung gelangt. Sie setzt sich vor allem zum Ende des Jahrhunderts hin gegen eine Vielzahl anderer Metaphern durch - Richard Watson Gilder bringt in seinem autoreflexiven Sonett von 1879 gleich neun auf einmal unter -, wobei ihr in der klassizistischen Bildlichkeit, die sich von Sainte-Beuve und Gautier her bei den Präraphaeliten verbreitet, ein starker Konkurrent verbleibt. 31 Ihre herausragende Stellung verdankt sie vor allem dem bestens vernetzten Kritiker und Gelegenheitsdichter Theodore Watts-Dunton, der sich nicht scheute, seine zahlreichen Kontakte zur Verbreitung seiner Theorie einzuspannen - unter anderem schrieb er einen neuen Sonettartikel für die Encyclopedia Britannica, in dem er diese Theorie als allgemeingültig darstellte - und die Sonette seines hochangesehenen Freundes Dante Gabriel Rossetti als Beweisstücke heranzuziehen, obwohl Rossetti als Präraphaelit eher der klassizistischen Richtung angehörte und das in seinem bekannten Gedicht „The sonnet is a moment’s monument“ auch deutlich machte. 32 Watts-Duntons „The Sonnet’s Voice“, geschrieben um 1880 und programmatisch untertitelt „A Metrical Lesson by the Seashore“, ist die erste Formulierung seiner Theorie und zugleich ihre beispielhafte Ausführung. Yon silvery billows breaking on the beach Fall back in foam beneath the star-shine clear, The while my rhymes are murmuring in your ear A restless lore like that the billows teach; For on these sonnet-waves my soul would reach From its own depths, and rest within you, dear, As, through the billowy voices yearning here, Great nature strives to find a human speech. A sonnet is a wave of melody: From heaving waters of the impassion’d soul A billow of tidal music one and whole 28 Die Auffassung von Kunst als organischer Form übernimmt Coleridge von Schlegel und verbreitet sie in England (Orsini 100-101). 29 Poems 71-72. 30 Wordsworth, Last Poems 366-67. 31 Gilder 134; Gautier cxliii n. 1; Kallich et al. 150 ; Phelan 134-37. 32 Kallich et al. 165-66; Rossetti 1005. Gemeinsame Freunde behaupteten allerdings, Rossetti sei von dem Wellenmodell durchaus angetan gewesen (Wagner 122). <?page no="108"?> Theorien des Sonetts 109 Flows in the “octave; ” then returning free, Its ebbing surges in the “sestet” roll Back to the deeps of Life’s tumultuous sea. 33 Die Grundidee besteht also darin, dass die Oktave der Flutbewegung entspricht, der auf den Strand zurollenden Welle, während das Sextett den langsamen Rückgang der Welle darstellt. Wie schon bei den Romantikern wird der Ursprung des Gedichts in einem machtvollen inneren Impuls verortet, einer Emotion, die aus einer verborgenen, unermesslichen Weite kommt und im Sonett an die Oberfläche dringt, um sich allerdings gleich wieder zurückzuziehen. Wie das Naturphänomen der Welle ist diese Emotion in ständigem Werden und Vergehen begriffen und kann nur für einen Moment ausgedrückt werden. Auch bei Watts-Dunton ist die organische Konzeption der Form mit der holistischen verbunden: die Welle ist „one and whole“, Oktave und Sextett sollen also in der Ausführung zu einem Ganzen verschmelzen und nicht voneinander teilbar sein. Inwiefern sein eigenes Sonett diesen Anspruch einlöst, ist durchaus diskutabel. Einige Jahre später hat Watts-Dunton seine Theorie in einem Essay weiter ausgeführt. Er beansprucht ihre Gültigkeit nun explizit für alle Sonette in der petrarkischen Form, weicht das Gezeitenbild aber auf, indem er die Oktave allgemein als „Woge“ („billow“) bezeichnet und das Sextett als „a response by way of ebb or flow“ auf diese Woge. 34 In diesem Essay distanziert er sich auch spürbar von den Romantikern, denen er sowohl die Authentizität abspricht (für die das Sonett ohnehin zu „monumental“ sei) als auch, zumindest im Falle Coleridges, die organische Ausführung ihrer Sonette. Diese Argumentation ist deutlich durch das Verlangen motiviert, seine eigene Wellentheorie als die eigentlich authentische und organische Form hinzustellen. Er schließt den Essay dann auch mit einem kurzen Überblick über die bisherige Rezeption seiner Theorie, die er auf dem Weg zu allgemeiner Akzeptanz sieht. Von Watts-Duntons Zeitgenossen wurde diese Theorie durchaus positiv aufgenommen. In ihrer flexiblen, ästhetischen Grundlegung entsprach sie der Präferenz vieler Dichter für eine organisch-holistische anstelle einer strikt normativen Poetik. 35 Explizite Anerkennung fand sie allerdings vor allem in Watts-Duntons Freundeskreis. Hall Caine führt sie in der Einleitung zu seiner Anthologie Sonnets of Three Centuries (1881/ 82) als Grundform der Gegenwartssonettistik ein, da diese weiter ausgreife als noch zu Shakespeares oder Miltons Zeiten und daher einer offeneren und naturgesetzlichen Konzeption bedürfe. Zur Unterstützung dieser These zitiert er Sonette von Wordsworth, Keats, Arnold und einer Reihe von Gegenwartslyrikern. 36 Der anerkannte Schriftsteller John Addington Symonds, den Watts-Dunton in seinem Essay selbst zitiert, übernahm das Wellenmodell ebenfalls und sah es sogar in 33 Zuerst veröffentlicht als „The Love-Sonnet“ in Sharp, Dante Gabriel Rossetti 392; hier zitiert aus Stedman 269. 34 Watts-Dunton, Poetry 172. 35 Phelan 137-40. 36 Caine xx-xxii. <?page no="109"?> Timo Müller 110 einigen shakespearianisch strukturierten Sonetten umgesetzt. 37 Sein Freund William Sharp wiederum fasste alle diese Thesen in seiner Einleitung zu Sonnets of This Century (1886) zusammen und differenzierte sie hinsichtlich der zugrundeliegenden Emotion. Sei diese liebender oder empfindsamer Natur, drücke sie sich eher in der Flut- Ebbe-Bewegung aus; sei sie dagegen „intellectually or passionately forceful […], dignified and with impressive amplitude of imagery“, entspreche ihr eher die umgekehrte Abfolge. Dann nämlich gleiche die Oktave einem „steadily resilient wavewash till the culminating moment when the billow has curved“, der Ebbe also, während das Sextett die „solid inflowing wave, sweeping strongly foward,“ darstelle. 38 Andere Literaturwissenschaftler sahen die Wellentheorie kritischer, etwa weil sie die Grundbewegung des italienischen Sonetts prinzipiell für eine vorwärtsdrängende hielten oder weil sie Oktave und Sextett jeweils als eine eigene Wellenbewegung sahen. 39 Ihnen gemein war die organisch-holistische Auffassung des Sonetts als homogenes Ganzes, das in den Worten eines Zeitgenossen „commends, amalgamates, and glorifies all the parts - that every part is, indeed, but a member of a vital organism“. 40 IV. Nationalistische Sonetttheorie um den Zweiten Weltkrieg Aus der romantischen Sonetttheorie entwickelte sich neben der organischen jedoch auch eine gegensätzliche Variante: die nationalistische. Über die Affinität der romantischen Bewegung zum Nationalismus ist viel gestritten worden, einerseits weil viele ihrer Vertreter im Laufe der Zeit unterschiedliche politische Standpunkte einnahmen, andererseits weil das Phänomen des Nationalismus sich im frühen 19. Jahrhundert erst herausbildete und in sich noch höchst widersprüchlich war: je nach Land und Zeitpunkt war es mit ganz unterschiedlichen politischen Haltungen vereinbar, vom volkstümlichen Konservatismus des alten Wordsworth zum revolutionär-subversiven Liberalismus der deutschen Befreiungsdichter. 41 Das Sonett wird im romantischen Nationalismusdiskurs vor allem in zwei Zusammenhängen genannt: einerseits als Akt der Disziplin und der Begrenzung, andererseits als Ausdruck von Volkstümlichkeit. Trotz und vielleicht gerade wegen seiner italienischen Herkunft bemühen sich die Romantiker anderer Länder um die Nationalisierung des Sonetts. Am einfachsten haben es die Franzosen, die sie sich auf eine traditionelle, eigenständige Struktur berufen können (Alexandriner mit dem Sextettschema ccd ede). In Deutschland bemüht Schlegel den Nationalgedanken zunächst gegen Frankreich, indem er schon 37 Watts-Dunton, Poetry 185. 38 Sharp li-lii. 39 Crosland 77-78; Kallich et al. 165. 40 J. Ashcroft Noble, zit. in Kallich et al. 163-64. In der späteren Kritik ist allerdings darauf hingewiesen worden, dass schon Zeitgenossen sich der Konventionalität solcher organischer und natürlicher Metaphern bewusst waren oder zumindest hätten sein sollen (Prins 55-56). 41 Beiser 222-27; Schmitt 13-14; Schulz 20-29, 50-58. <?page no="110"?> Theorien des Sonetts 111 in seiner Vorlesung von 1803/ 04 versucht, eine direkte Linie von Petrarca zum deutschen Sonett zu ziehen, und alle französischen Einflüsse ablehnt. Im Zuge dieser Nationalisierung kommt nicht nur der Alexandriner aus der Mode, sondern auch die französische Schreibung „Sonnet“; neben seiner heutigen Schreibweise erhält das Sonett in dieser Phase auch die männliche Reimform und die strophische Gliederung. 42 Im beginnenden „Sonettenkrieg“ wird die Form von mancher Seite pauschal als undeutsch verspottet. 43 Uhland greift Schlegels Idee von der wesenhaften Bestimmung der Form in einem Brief von 1812 auf und versucht ein spezifisch deutsches Sonett aus den Eigenschaften der Sprache zu begründen: während die „südlichen Sprachen“ vor allem „schöner Klang“ seien, bestehe das Deutsche „nur durch den inwohnenden Geist“. Das Sonett definiere sich in Deutschland also über seine gedankliche Struktur, sei nicht mehr „leichtes Spiel“, sondern „wird zum besonnensten Kunstwerk“. 44 Nationalistische Unterscheidungen dieser Art finden sich in England erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. 45 Doch schon bei Wordsworth und anderen Romantikern wird das Sonett in seiner Begrenztheit zu einer Form der Auseinandersetzung mit der Frage nach der britischen Nationalität, die sich mit dem beginnenden Imperialismus neu und drängend stellt. 46 Die Rezeption des 19. Jahrhunderts hat aus dieser Auseinandersetzung vor allem die Forderung nach Disziplin abgeleitet, die bei Wordsworth selbst, wie wir gesehen haben, eher ambivalent gehalten ist. In den 1860ern bemüht sich dann vor allem der Literaturkritiker Henry Reed um eine „territoriale“ Konzeption des Sonetts, das nun der „englischen Erde“ entwachse und mit seinen italienischen Ursprüngen nichts mehr gemein habe. 47 Wirkmächtiger als solche punktuellen Revisionen war allerdings die Assoziation des Sonetts mit Volkstümlichkeit, die nicht nur bei Wordsworth angelegt ist, sondern sich durch Bürgers einflussreiche Sonette an Molly auch in Deutschland verbreitete. Schiller kritisierte Bürger für die „ausgesprochen lyrische Volkstümlichkeit“ dieser Sonette, doch die Romantiker nahmen sich seine betont einfache, volksnahe Sprache zum Vorbild. 48 Explizit nationalistisch wird das Sonett dann bei Friedrich Rückert, dessen Geharnischte Sonette (1814) den Befreiungsdichtern das poetologische und bildliche Rüstzeug bieten. Gleich im ersten Gedicht redet Rückert seine Sonette als Soldaten an, die diszipliniert in Reih und Glied stehen und, ganz der überlieferten Terminologie 42 Borgstedt, Topik 453-64. Auch der Nationalismus der englischen Romantik richtete sich bald gegen Frankreich (Newman 240-44). 43 Siehe Fechner 358. 44 Zit. nach Fechner 367. 45 Wagner 120-21. 46 Hoagwood 178-82; Ross 56-64. Wordsworth selbst schrieb zahlreiche nationale und nationalistische Sonette, z.B. viele der „Poems Dedicated to National Independence and Liberty“. Zum Problem der romantischen Ideologie allgemein siehe die wegweisende Studie von McGann, dessen Argumentation Bormann („Stählerne Romantik“ 88-93) mit Bezug auf die deutsche Romantik und den Nationalsozialismus aufgreift. 47 Reed 361-63, m.Ü. 48 Borgstedt, „Poesie“ 211, 214; vgl. Kaim-Kloock 65-102. <?page no="111"?> Timo Müller 112 entsprechend, eine „Kette“ bilden. 49 Begeistert schreibt Friedrich de la Motte- Fouqué in seiner Rezension der Sonette: Sie treffen, sie verwunden mit jeglicher Zeile den Haufen, welcher nach ewigen Rechten getroffen und verwundet werden soll, und was uns früher als epigrammatische Spitze vorkam, erscheint uns hier - nicht nur am Schluß, sondern vielmehr fast Reim an Reim - als Tod und Leben bringende Waffe eines heiligen Gottesurtheils. Da haben wir es denn, was wir eigentlich vom deutschen Sonett ahnend begehrten, schlagende, witzige Kraft, großmächtige Gediegenheit zusammengedrängter Bilder und Gedanken, ja beinahe ein dramatisch entzündetes Leben. 50 Das Deutsche an diesen Sonetten, und potentiell am Sonett im Allgemeinen, ist also das Kriegerische: fest, schlagend, mächtig und rauh steht diese von italienischen Spitzfindigkeiten befreite Form im Dienst der Nation. „ Entkeimt des Süds melodischem Gesange“, schreibt Friedrich Beck später in einem autoreflexiven Sonett, Hat Rückert mit dem Harnisch dich gerüstet. Zum Kampfe dich geführt in edlem Drange! […] Der deutsche Geist, er will sich fester betten; Gedanken malst du ihm mit mark’gem Pinsel Und dröhnst vom Schall zerbroch’ner Feindesketten. 51 Diese Auslegung gerät mit der beginnenden Moderne und ihrer Ästhetik der Irregularität aus der Mode, lebt aber in der völkischen Tradition weiter und verschafft dem Sonett auch einen Platz im Formenkanon des Nationalsozialismus. Zwar bevorzugte die Reichsschrifttumskammer unmittelbar anwendbare Lyrik, beispielsweise Marschlieder und Aufführungsgesänge, doch die Forschung hat gezeigt, dass auch das Sonett zur Vermittlung nationalsozialistischer Gedanken herangezogen und wegen seiner formalen Strenge als durchaus adäquates Medium betrachtet wurde. 52 Ihren Theoretiker fand diese Entwicklung in dem österreichischen Lyriker und NS- Sympathisanten Josef Weinheber, der die romantischen Überlegungen zum Wesen des deutschen Sonetts aufnahm und in seine Ästhetik des Heroischen einbezog. Wie Uhland stellt er „das Musikalische des Italieners“ und „das denkerisch Mathematische des Deutschen“ gegenüber und betrachtet das Sonett als geeignete Form auch für letzteres. „Da findet menschliches Denken und Planen, auf Satz und Gegensatz aus, und auf Behauptung und Beweis gestellt, seine Not-Wende, sein Ruhebett“, schreibt er. „Und mit der letzten Zeile, die Streit und Widerstreit versöhnt, erlöst sich im Sonett der kämpferische Geist. Nun haben sich die Dinge nach oben erhoben, und dort, in jener freieren Luft, haben sie ein Gesicht.“ 53 Die Vorstellung vom Sonett als Aufhebung des kämpferischen Geistes verbindet Hegels Konzeption der Form mit den politischen Zielen der völkischen Tradition. Auch den Aspekt der 49 Rückert 43. 50 Motte-Fouqué 454. 51 Beck 42-44. 52 Böhn 16; Jungrichter. 53 Weinheber 631-32. <?page no="112"?> Theorien des Sonetts 113 Disziplin greift Weinheber auf und legt ihn explizit politisch aus, wenn er zum Sonettenkranz schreibt: Um diese Form auch im Geistigen zu rechtfertigen, ist wohl eine zu großen Einordnungen befähigte Klarheit des Denkens vom Dichter erforderlich. Mit Beiläufigkeiten ist hier nichts getan, und da der Beweis einer äußersten Bändigung erbracht werden soll, wird man sich dort, wo nichts zu bändigen ist, wohl hüten müssen, Sonettenkränze zu schreiben. Nirgends würde der Mangel an Dämonie und dichterischem Furor rascher und deutlicher offenbar werden als an dieser Form. Sie ist gewissermaßen auf der äußersten Rechten aufgestellt, als Zeichen und Unterpfand eines eifernden Ordnungswillens, als Sinnbild der Unumstößlichkeit der Gesetze. Sie ist das Kehrgesicht zu jener äußersten Linken, zum lallend Chaotischen des genial Bedrängten, der auf des Messers Schneide geht und jeden Augenblick in das Sinnlose, Formlose, Gottlose abzustürzen in Gefahr ist. 54 Hier wird das schon bei Wordsworth und Schlegel aufgerufene Bild von der Bändigung zur Ideologie erhoben, aus der sich eine „rechte“ Poetik der Ordnung ableiten lässt. Die Unterwerfung des dichtenden Ichs erfolgt nicht mehr unter die Liebe, die Kunst oder die Natur, sondern unter die Ordnung selbst, und zwar unter eine politisch vorgegebene und durchsetzbare Ordnung. 55 Das Sonett ist also nicht mehr romantischer Selbstausdruck, sondern wird zum Agenten der Unterordnung der Lyrik unter die Volksgemeinschaft. Die Politisierung des Sonetts erfolgt in dieser Zeit allerdings nicht alleine auf Seiten der „Rechten“. Während Weinheber noch 1944 versucht, aus der Entstehung des Sonetts am Hof Friedrichs II. seinen „reichische[n] Anspruch“ abzuleiten, 56 haben die Dichter des Widerstands es längst für ihre Zwecke entdeckt. Ob sie schon die italienischen Wurzeln des Sonetts als „leise[n] Akt des Protestes gegen die germanisierende Kulturpolitik des Dritten Reichs verstehen“, wie das Theodore Ziolkowski behauptet, muss angesichts des bisher ausgeführten bezweifelt werden. 57 Unstrittig scheint jedoch, dass dieselbe Ordnung, die Weinheber als Inbegriff des Rechten feiert, von den Dichtern des Exils und der inneren Emigration als Garant gegen das Chaos des Krieges und des Nationalsozialismus erfahren wird. Nicht nur das Sonett selbst, sondern auch das Motiv der Gegenüberstellung von Form und Chaos finden breiten Anklang. 58 Der entscheidende Unterschied zur Weinheberschen Auffassung liegt in der Betonung des Individuellen, wenn etwa Fritz Diettrich in russischer Kriegsgefangenschaft schreibt: Du bist die Form, Sonett, in diesen Tagen, Da alles schwankt und in den Fugen kracht, Ein klares Wort gebändigt auszusagen, Wenn auch erzwungne Ruhe Mühe macht. 54 Weinheber 633-34. 55 Bormann, „Wer heut Sonette schreibt“ 158. 56 Weinheber 270. 57 Ziolkowski 162; ebenfalls kritisiert in Bormann, „Wer heut Sonette schreibt“ 156, Schindelbeck 49-57. 58 Imhoff 165-67; Ziolkowski 165-67. <?page no="113"?> Timo Müller 114 Still ziehst du hin in fürstlichem Betragen Abseits von niedren Geistern durch die Nacht, Die sich mit ungestümen Fragen plagen, Von deiner Würde sinnlos aufgebracht. Du lehrtest uns, die Stimmgewalt zu dämpfen Und abzuwarten, bis der Morgen kommt, Um uns mit dir zur Klarheit durchzukämpfen. Du gibst uns in chaotischem Gedränge Die unbequeme Weisung, die uns frommt Und uns zuletzt versöhnt mit deiner Strenge. 59 Das Vokabular ist immer noch das der Bändigung und des Kampfs, doch der Kampf ist nicht mehr Ausdruck des imperialen Geistes oder der Selbstaufhebung des Individuums im Wettbewerb der Völker. Vielmehr dient er dem Ringen des dichterischen Ichs um „Klarheit“, als Versprechen auf eine Morgendämmerung, die individuell und historisch verstanden wird. Und die Strenge der Form wird nicht mehr als Unterwerfung erfahren, sondern als individuelle Auseinandersetzung, die in der Versöhnung enden muss, damit das Gedicht überhaupt entsteht. Agens ist nicht die Ordnung, sondern das Individuum. Eine weitere interessante Spiegelung auf Weinhebers Theorie stellt die „Philosophie des Sonetts“ von Johannes Becher dar. Als erster Kulturminister der DDR steht Becher auf der gegenüberliegenden Seite des politischen Spektrums, doch anders als von Weinheber vermutet, gibt er sich nicht dem „lallend Chaotischen“ hin, sondern unterscheidet streng das, wie er selbst formuliert, „wesenhafte“ Sonett vom „entarteten“ Vierzehnzeiler. 60 Wie er bald erkennt, ist sein Versuch, das Sonett über seinen dialektischen Aufbau zu definieren, allerdings schon deshalb problematisch, weil diese Auslegung von keinem einzigen frühen Sonettdichter oder -theoretiker gestützt wird. Alleine Bechers Folgerung, das Sonett könne schon bei Lentini, dem wohl ersten Sonettdichter, „in einer verkümmerten Struktur überliefert“ sein, nähert seine Argumentation dem Bereich des Absurden. 61 Während er mit seiner politischen Sonettistik durchaus inspirierend gewirkt hat, ist seine Theorie aus heutiger Sicht der letzte große Versuch, das Sonett als wesenhaft regelmäßig zu bestimmen; das Scheitern dieses Versuchs weist voraus auf die Postmoderne und ihr Aufbrechen traditioneller Formschemata. 62 Gleichzeitig steht Becher aber, wie auch die Widerstandsdichter, für die Abkehr von völkischen und nationalen Definitionen des Sonetts und damit für die Entwicklung hin zur Transnationalität, die sich auch an der Tradition irregulärer Sonettistik aufweisen lässt. 59 Diettrich 358-59. 60 Becher z.B. 605-8, 612, 632; vgl. Bormann, „Wer heut Sonette schreibt“ 158-59. 61 Becher 610. 62 Ähnlich auch noch Viëtor, der ebenfalls das strikte Reimschema und den dialektischen Aufbau fordert (298). <?page no="114"?> Theorien des Sonetts 115 V. Theorien des irregulären Sonetts von Baudelaire zur Postmoderne Auch das irreguläre Sonett der letzten Jahrzehnte kann auf die theoretischen Überlegungen der Romantiker zurückgeführt werden. Die Vorläufer dieses Strangs sind allerdings nicht Wordsworth und August Wilhelm Schlegel, sondern dessen Bruder Friedrich und insbesondere Charles Baudelaire. Friedrich Schlegels Vorstellung vom Sonett als „vollkommenste Form für ein romantisches Fragment“ entfaltete zwar keine unmittelbare Wirkung, 63 floss aber später in die Ästhetik des irregulären Sonetts ein, die von Baudelaire in Theorie und Praxis begründet wurde und im 20. Jahrhundert vor allem im englischen Sprachraum starken Einfluss ausgeübt hat. Mit „irregulär“ ist hier nicht, wie vor allem in Frankreich noch verbreitet, die bloße Abweichung von einem vorgegebenen Reimschema gemeint - das wurde auch in der französischen Lyrik schon lange vor Baudelaire praktiziert, in der italienischen und der englischen sogar sehr häufig. Vielmehr entwickelt Baudelaire die Kategorie des Irregulären als zentralen Bestandteil seiner Auffassung von Schönheit in der Dichtkunst. „[C]e qui n’est pas légèrement difforme,“ schreibt er, „a l’air insensible; - d’où il suit que l’irrégularité, c’est-à-dire l’inattendu, la surprise, l’étonnement sont une partie essentielle et la caractéristique de la beauté.“ 64 Diese Ästhetik bedarf also einer Regularität, deren Nichterfüllung den Leser aus seiner Bequemlichkeit reißt und dadurch besonders tiefen Eindruck auf ihn macht. 65 Die zentrale Rolle des Lesers hat sich Baudelaire wohl von Edgar Allan Poe abgeschaut, ebenso wie die These, ein Gedicht könne per definitionem nicht länger sein als die Aufmerksamkeitsspanne des Lesers. 66 Indem Baudelaire diese Forderung übernimmt, setzt er sich von der ersten Generation der französischen Romantik ab, die gerade im Langgedicht eine Möglichkeit sah, sich von der klassizistischen Formstrenge des 18. Jahrhunderts zu befreien. Bezeichnenderweise finden wir die Forderung in Baudelaires Korrespondenz in einem sonetttheoretischen Zusammenhang: für alle bisher genannten ästhetischen Prinzipien bietet das Sonett die ideale Ausdrucksform. Es ist kurz, regelhaft und, wie schon Banville bemerkte, durch den Längenunterschied von Oktave und Sextett in sich grotesk angelegt („infirme“). 67 Die Grenzen der Sonettform bieten die Möglichkeit, den Lesereindruck in zweifacher Hinsicht zu verstärken: einerseits akzentuieren sie die Weite dessen, was hinter den Grenzen aufscheint - Baudelaire vergleicht sie mit der perspektivischen Eingrenzung des Himmels im Gemälde -, andererseits sind sie so streng und konventionalisiert, dass die Ästhetik des Irregulären, des Überraschenden, auch auf subtile Weise durchgeführt werden kann. 63 Schlegel 62-63. 64 Œuvres complètes 1254. 65 Siehe Lloyd 102. 66 Poe sagt das über die Kurzgeschichte und behauptet an anderer Stelle: „the phrase, ‚a long poem,‘ is simply a flat contradiction in terms“ (Poe 71). Ebenfalls von Poe beeinflusst ist die Forderung an anderer Stelle, jedes Kunstwerk müsse auf seinen Ausgang (dénouement) hin komponiert sein (Correspondance 537-38). 67 Banville 199-200. <?page no="115"?> Timo Müller 116 Baudelaires Gedichtsammlung Les fleurs du mal bietet nur wenige offensichtlich irreguläre Sonette, 68 doch die subtile Durchführung lässt sich an zahlreichen Beispielen aufzeigen. So hat Anis Ghannam gezeigt, dass Baudelaire oft eine innere Struktur entwickelt, die der äußeren Strophenform des Sonetts zuwiderläuft. 69 Als Beispiel nennt er „De profundis clamavi“, ein Gedicht, das äußerlich ganz regulär daherkommt, aber von der narrativen und argumentativen Logik her in Abschnitte von zwei, neun und drei Versen aufgeteilt ist: J’implore ta pitié, Toi, l’unique que j’aime, Du fond du gouffre obscur où mon cœur est tombé. C’est un univers morne à l’horizon plombé, Où nagent dans la nuit l’horreur et le blasphème; Un soleil sans chaleur plane au-dessus six mois, Et les six autres mois la nuit couvre la terre; C’est un pays plus nu que la terre polaire; - Ni bêtes, ni ruisseaux, ni verdure, ni bois! Or il n’est pas d’horreur au monde qui surpasse La froide cruauté de ce soleil de glace Et cette immense nuit semblable au vieux Chaos; Je jalouse le sort des plus vils animaux Qui peuvent se plonger dans un sommeil stupide, Tant l’écheveau du temps lentement se dévide! 70 Die ersten beiden Verse sind eine abgeschlossene Einheit, nicht nur weil sie einen eigenen Satz bilden, sondern auch weil sie das sprechende Ich als Subjekt enthalten, das für die folgenden neun Verse verschwindet. Es erscheint wieder zu Beginn des Schlussterzetts, als auch der Erzählstrang aus den ersten beiden Versen aufgenommen wird („Je …“). Narratologisch gesprochen handelt es sich um eine Rahmenerzählung; in dramatischer Hinsicht können die drei Teile auch als Exposition, Umschwung und Dénouement gelesen werden. Baudelaire legt also seine eigene Struktur innerhalb der traditionellen Sonettstruktur an, um die Trostlosigkeit des rein beschreibenden Mittelteils möglichst lang und ausweglos erscheinen zu lassen und sie abschließend möglichst effektiv an das lyrische Ich zurückzubinden. Nicht zu unrecht wird also Baudelaire auch im Sonett als Mitbegründer der literarischen Moderne gesehen. Im 20. Jahrhundert passt sich das irreguläre Sonett in die allgemeine Bewegung weg von strikt formaler Lyrik ein und wird theoretisch kaum mehr eigens besprochen. Eine interessante Perspektive, die auch den Abschluss dieses Essays bilden soll, bietet allerdings die afroamerikanische Dichterin Rita Dove im Vorwort zu ihrer Sonettsammlung Mother Love (1995). Sie schreibt: The sonnet is a heile Welt, an intact world where everything is in sync, from the stars down to the tiniest mite on a blade of grass. And if the “true” sonnet reflects the music of the 68 Darunter „Bien loin d’ici“, „L’avertisseur“, „Le chat“. 69 Die folgende Interpretation ist zusammengefasst von Ghannam 352-54; vgl. auch Gendre 190-93. 70 Baudelaire, Œuvres complètes 31. <?page no="116"?> Theorien des Sonetts 117 spheres, it then follows that any variation from the strictly Petrarchan or Shakespearean forms represents a world gone awry. Or does it? Can’t form also be a talisman against the vicissitudes of fortune by its charmed structure, its beautiful bubble. All the while, though, chaos is lurking outside the gate. 71 Diese Konzeption basiert auf demselben Gedanken, der auch die Widerstandsdichter im Dritten Reich zum Sonett führte: die feste Form dämmt das Chaos ein und ermöglicht die Illusion einer heilen Welt. Doch Rita Dove interessiert sich weniger für diese Illusion als für die Prozesse, die in Gang kommen, wenn die Illusion durchbrochen wird. Die Welt ihrer Sonettfragmente kann nicht mehr einfach durch einen Akt der Formgebung geheilt werden. Das Fragment, wie es Friedrich Schlegel im Sinn hatte, war Ausdruck des Krankens am Riss in der Welt, und diese Vorstellung finden wir auch bei Rita Dove. Doch anstatt solche Risse zu beklagen, spürt sie ihnen nach und begibt sich damit in die Unterwelten des emotional und kulturell Verdrängten. Primär drehen sich die Sonette in Mother Love um die emotionalen Spannungen und Abgründe der Mutter-Tochter-Beziehung, die allerdings ständig in der mythischen Geschichte von Demeter und Persephone gespiegelt und schließlich in einen weiteren, transnationalen und postkolonialen Rahmen gestellt werden. 72 Der abschließende Zyklus der Sammlung, „Her Island“, erzählt von einer Reise, die Rita Dove und ihr deutscher Ehemann durch Sizilien unternehmen, angeblich der Ort, an dem Persephone von Hades in die Unterwelt entführt wurde. Die Touristen werden von einem alten Italiener angesprochen und, durch die örtliche Müllhalde hindurch, zur Ruine eines Vulcanus-Tempels geführt, an die sich niemand mehr erinnert. Die physische Reise in die Unterwelt ist parallel zur mythischen Reise angelegt; beide weisen auf die lange koloniale Geschichte der Insel hin. Sizilien bildete für die Griechen das Tor zum westlichen Mittelmeer, danach wurden die griechischen Kolonien von den Römern übernommen, ihre Kultur weitergetragen; und als Dove ihren Mann mit dem Italiener deutsch sprechen hört, realisiert sie, da dieses Deutsch die Sprache der Nationalsozialisten ist: „Stilted / German, gathered word by word / half a century ago.“ 73 Sie reagiert mit „Schaudern“ („I shudder“), als sie sich die historischen Implikationen dieser Partnerschaft vor Augen ruft, zumal der Italiener sie als Schwarze eben noch mit unverhohlener Neugier betrachtet hat. Die koloniale Geschichte der Insel ist also eine Geschichte der Unterwelten, die sich hinter den Rissen dieser Sonettfragmente auftun. Das Land Petrarcas kann nicht mehr als heile Welt erfahren werden, doch die lyrische Form, der Petrarca zum Durchbruch verhalf und die ebenfalls aus der Kolonialisierung Siziliens entstand, am Hofe des Stauferkaisers Friedrichs II. nämlich - diese Form kann offenbar noch einer Afroamerikanerin an der Schwelle zum 21. Jahrhundert als adäquater Ausdruck ihrer Erfahrungen dienen. 71 Dove xiii. 72 Müller 260-66. 73 Dove 71. <?page no="117"?> Timo Müller 118 Literaturverzeichnis Armstrong, Charles I. Romantic Organicism: From Idealist Origins to Ambivalent Afterlife. Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2003. Banville, Théodore de. Petit traité de poésie française. Paris: Charpentier, 1922. Bate, Jonathan. The Song of the Earth. London: Picador, 2000. Baudelaire, Charles. Correspondance. Bd. 1. Hg. Claude Pichois. Paris: Gallimard, 1973. —. Œuvres complètes. Hg. Y.-G. Le Dantec und Claude Pichois. Paris: Gallimard, 1961. 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Gass sagt in seinem Essay „The Ontology of the Sentence, or How to Make a World of Words“: It might at first seem difficult - to make a world of words - but actually nothing is easier. […] Is your fancy in fine fettle? God is a bubble of soap then - infinitely thin, infinitely large, infinitely hued. The outer rim of reality - its rubberous skin - is all that‘s real. 1 Gass war einerseits ein Schüler des späten Ludwig Wittgenstein und andererseits des Philosophen Max Black, der nachwies, dass ein Denken ohne den Gebrauch von Metaphern unmöglich ist; und gängige narrative Theorien gehen grundsätzlich davon aus, dass Erzählen Teil unseres Lebens ist und wir nur innerhalb der Geschichten, die wir selbst imaginieren, überhaupt lebensfähig sind. 2 Für den späten Wittgenstein der erst 1953 posthum erschienenen Philosophischen Untersuchungen ist die Sprache der Raum des Denkens und der Wirklichkeit. „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.“ 3 Dabei meint Wittgenstein die Alltagssprache, deren Gebrauch die Funktion eines Ensembles von Gepflogenheiten oder einer „Lebensform“ ist, die in „Sprachspiele“ zerfällt. „Das Wort ‚Sprachspiel‘ soll hier hervorheben, dass das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform.“ 4 Wir sind in unseren Sprachspielen gefangen, unsere durch unsere  Dieser Vortrag wurde - in gekürzter Form - zuerst am 25. September 2011 vor der Europäischen Autorenvereinigung „Die Kogge“ in Minden gehalten. Der Vorstand der „Kogge“ hatte beschlossen, das Thema eines von mir und Susan Bernofsky 1995 herausgegebenen Bandes mit Essays von William H. Gass (William H. Gass: Wie man aus Wörtern eine Welt macht: Essays, hrsg. von Heide Ziegler und Susan Bernofsky, aus dem Amerikanischen von Silvia Morawetz. Residenz Verlag: Salzburg und Wien, 1995) zum Thema seiner Jahrestagung 2011 zu machen, und man hatte mich eingeladen, zu diesem Thema den Festvortrag zu halten. 1 William H. Gass, „The Ontology of the Sentence, or How to Make a World of Words“, in: The World Within the Word: Essays. Alfred A. Knopf: New York, 1979, S. 308; 310. 2 Vgl. etwa David Lucking, „Hamlet and the Narrative Construction of Reality“, English Studies Vol. 89, No. 2, April 2008, S. 152-165, der diese Theorie vor allem für eins unserer Beispiele, Shakespeares Tragödie Hamlet, aufstellt. „We learn from Hamlet’s own comments not only that The Murder of Gonzago is a well-known drama, but that ‚The story is extant, and written in a very choice Italian‘“ (3.2.264-5). What is to be wondered at, then, in view of such clearly pointed indications as these, is whether it might not be the play itself, or the story from which it is derived, that has influenced Hamlet’s interpretation of recent events at Elsinore“ (S. 162). 3 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen / Philosophical Investigations, übersetzt von G. E. M. Anscombe. 3. Auflage. The Macmillan Company: New York, 1958 [1953] § 43 (S. 20). 4 Ibid. § 23 (S. 11). <?page no="121"?> Heide Ziegler 122 jeweilige Umwelt geprägte Sprache bestimmt unser Denken, aus denen uns der Philosoph befreien soll und kann, indem er uns auf dieses Gefangensein in unseren Sprachspielen aufmerksam macht. Der Philosoph oder der Schriftsteller, möchte man mit Gass hinzufügen, denn nicht nur ist Gass sowohl Philosoph als auch Schriftsteller, sondern er erklärt uns den Ansatz Wittgensteins in dem obigen Zitat darüber hinaus poetisch, oder metaphorisch. Gott ist bei ihm eine Seifenblase, welche das, was wir für Wirklichkeit halten, umspannt. Doch nur „the outer rim of reality“ ist eigentlich, was innerhalb der Seifenblase stattfindet, sind lediglich Sprachspiele, referentielle Erzählungen. Trotzdem: diese Seifenblase ist dehnbar, und sie ist bunt, das heißt: sie ist nicht leer; sie enthält unsere gesamte schillernde Sprache. Mit Wittgenstein können wir unsere Sprache - ebenfalls metaphorisch - als eine alte Stadt innerhalb dieser Seifenblase beschreiben, die sich ständig ausdehnt: „Ein Gewinkel von Gäßchen und Plätzen, alten und neuen Häusern, und Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten; und dies umgeben von einer Menge neuer Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen und mit einförmigen Häusern.“ 5 Unser Alltag kann - mit anderen Worten - benannt und immer wieder neu beschrieben werden. Ein großer Schriftsteller zeichnet sich dadurch aus, dass er diesen Vorgang imitieren kann. Nicht nur kann er analog derartige Seifenblasen erschaffen, sondern er kann auch, wie der Philosoph, darauf verweisen, dass wir wie seine Charaktere in ihnen wohnen, dass wir in ihnen gefangen sind. Um dies zu illustrieren, scheint mir kein Schriftsteller besser geeignet zu sein als William Shakespeare. Vor allem seine Komödien sind derartige bunte Seifenblasen, Lebensformen, die in Sprachspiele zerfallen, und Shakespeare ist der Meister, der sie aufbläst - während er in seinen Tragödien zu dem Philosophen wird, der genau diese Sprachspiele infragestellt. Das heißt: Shakespeare ist deshalb ein guter Gewährsmann, wenn es darum geht zu zeigen, wie man aus Wörtern eine Welt macht, weil er diese Frage selbst immer wieder thematisiert. Wenn er immer wieder seine Schauspieler beteuern und darlegen lässt, dass die Welt eine Bühne und dass die Bühne die Welt ist, dann will er damit genau dies aussagen: dass nur mit Worten wirklichkeitsträchtige Welten geschaffen werden können. Am deutlichsten wird dies dann, wenn Shakespeare diesen Schaffensprozess selbst auf der Bühne dramatisiert, mit anderen Worten: wenn er ein Spiel im Spiel inszeniert. Denn diese Inszenierung überlässt er scheinbar Charakteren, die einerseits einen Platz in derselben Alltagssprache haben wie alle anderen Charaktere, andererseits aber selbst eine neue Welt aus Wörtern kreieren wollen und dies im Kontext des Dramas auch tun. Ich ziehe für unsere Betrachtung dabei eine Tragödie und eine Komödie heran, weil sich dabei nicht nur epistemologische, sondern auch gattungsspezifische Differenzen ergeben: A Midsummer Night’s Dream (1595) und Hamlet (1599). Im Hamlet inszeniert der Prinz von Dänemark ein Schauspiel, für das er allerdings den Text eines bereits bestehenden Stückes, The Murder of Gonzago, mithilfe einer Schauspielertruppe, die am Hofe des Königs Claudius auftreten soll, so abändert, dass es darin Hinweise auf die Ermordung seines eigenen Vaters Hamlet durch dessen Bruder 5 Ibid. § 18 (S. 8). <?page no="122"?> Wie man aus Wörtern eine Welt macht: Shakespeares Spiel im Spiel 123 Claudius gibt; in A Midsummer Night’s Dream wollen einige Handwerker für den Herzog von Athen zu dessen Hochzeit die antike Tragödie von Pyramus und Thisbe aufführen, die ihnen aber - von ihnen selbst verfasst - unter der Hand zur Komödie gerät. I. Komplexität in Hamlet und A Midsummer Night’s Dream Athen und Helsingör sind bei Shakespeare eher literarische Szenarien als „reale“ Orte. Das zeigt sich schon daran, dass Hamlet, von König Claudius befragt, wie denn das Spiel im Spiel heiße, das aufgeführt werden soll, antwortet: „The Mousetrap. Marry, how? Tropically! This play is the image of a murder done in Vienna - Gonzago is the Duke’s name, his wife Baptista - you shall see anon” (III.ii, 232-235). Es ist in diesem Zusammenhang nicht ohne Interesse, dass The Murder of Gonzago auf eine „wahre“ Begebenheit zurückgeht, deren Schauplatz Hamlet aber willkürlich nach Wien verlegt, den Mord an dem italienischen Herzog von Urbino im Jahr 1538. Indem Hamlet, wie Shakespeare, mit den Orten spielt, kann er auch leichter den Titel des Stücks fingieren, um seine eigene Absicht anzudeuten - die er den Zuschauern oder Lesern allerdings schon früher mitgeteilt hat: zutiefst erschüttert durch die Aussagen des Geistes seines toten Vaters zu Beginn des Stückes will Hamlet die Gelegenheit, die sich mit dem Besuch der Theatergruppe am Hof ergibt, ergreifen, um ein Spiel zu inszenieren, bei dem sich König Claudius als Mörder verrät. Hat Claudius, wie der Geist behauptet, wirklich seinen Bruder umgebracht, um anschließend König zu werden und die verwitwete Königin zu ehelichen, dann wird er sich beim Anschauen der Tragödie The Murder of Gonzago alias The Mousetrap verraten; er wird sein schlechtes Gewissen nicht verleugnen können: „The play’s the thing / Wherein I’ll catch the conscience of the King“ (II.ii, 600-601). So hat es Hamlet dem Publikum angekündigt. Wir können also festhalten: Hamlet, Prinz von Dänemark, inszeniert in der Tragödie, die seinen Namen trägt, ein Stück zu seinen eigenen Zwecken, indem er ein bereits bestehendes Schauspiel und eine zufällig vorbeikommende Schauspieltruppe instrumentalisiert. Sein Status als Prinz und Thronfolger, als Sohn des verstorbenen Königs und der gegenwärtigen Königin und Neffe des gegenwärtigen Königs, verleiht ihm den dafür nötigen Einfluss. Denn Hamlet, gerade vom Studium aus dem protestantischen Wittenberg heimgekehrt, muss im Grunde an Geistererscheinungen als solchen zweifeln, also auch an dem Geist seines Vaters. Andererseits ist ihm der Geist des alten Hamlet ‚leibhaftig‘ auf der Bühne entgegengetreten, nachdem ihn bereits andere Personen gesehen hatten, etwa sein Freund Horatio, dem Hamlet voll vertraut. Die Ähnlichkeit des Geistes mit seinem Vater war überdies überzeugend, und der Mord an seinem Vater im Garten, welchen der Geist ihm schildert, stimmt mit Hamlets Ahnungen voll überein. Dennoch fragt sich Hamlet, ob es sich nicht bei dem Geist möglicherweise um einen Dämon, einen Abgesandten der Hölle, handelt, der ihn in die Irre führen will. Um die Frage nicht entscheiden zu müssen, ob er der Geistererscheinung und ihren Absichten trauen kann, sucht Hamlet daher nach ei- <?page no="123"?> Heide Ziegler 124 nem weiteren, experimentellen und eher ,wissenschaftlichen‘ Beweis für die Schuld seines Onkels, bevor er seinen Vater rächen zu können glaubt. Die Welt, die er selbst aus Worten kreieren will - und dies ist das historisch Bedeutsame - scheint ihm ‚realer‘ und beweiskräftiger zu sein als der Glaube an ein Jenseits, an dem zu Shakespeares Zeiten noch keiner ernsthaft zweifelte. 6 Doch schon hier lässt sich fragen, ob Shakespeares Hamlet mit Hilfe des Spiels im Spiel eine eigene Logik des Handelns ins Werk setzen kann, die eine größere Beweiskraft besitzt als der Auftritt des väterlichen Geistes im ersten Akt. Diese Frage ist eine andere als die rezeptionsästhetisch einleuchtende Frage, ob nicht die Vorstellung des Purgatoriums, aus dem Hamlets Vater vorübergehend zurückkehrt, dem heutigen Zuschauer oder Leser eher fern liegt, unabhängig davon, ob er dem katholischen oder dem protestantischen Glauben angehört, 7 während er das Heraufbeschwören der Gewissenspein des Claudius durch das Spiel im Spiel ohne Weiteres psychologisch nachvollziehen kann. Wir werden auf die Frage zurückkommen. II. Das Spiel im Spiel in A Midsummer Night’s Dream in seinem Kontext Doch zunächst wollen wir uns dem Spiel im Spiel in A Midsummer Night’s Dream zuwenden, weil ein Verständnis dieses Spiels im Spiel dazu verhilft, die komplexere Situation in Hamlet zu erhellen. Thema dieser fulminanten Shakespeare’schen Komödie ist das Verhältnis von Liebe und Heirat und welche Rolle die Liebe in der Ehe (noch) spielen kann. Da ist es nicht unproblematisch, dass die Athener Handwerker, um den Preis bei den Hochzeitsfeierlichkeiten des Herzogs zu gewinnen, ausgerechnet eine Liebestragödie aufführen wollen: den an Romeo and Juliet gemahnenden Liebestod von Pyramus und Thisbe. Es handelt sich um einen antiken Stoff, der sich im Buch IV von Ovids Metamorphosen findet, die Arthur Golding 1567 ins Englische übersetzt hatte, sodass Shakespeare der Stoff gut bekannt gewesen sein dürfte. Wie in Romeo and Juliet sind die Familien von Pyramus und Thisbe verfeindet, obwohl oder weil ihre Grundstücke aneinander stoßen. Nur eine Mauer trennt die beiden Anwesen, und durch einen Spalt in dieser Mauer pflegen Pyramus und Thisbe zu 6 Aleida Assmann meint: „Als Shakespeare das Stück schrieb, waren beide Handlungsformen bereits überholt. Die Institution der feudalen Rache wurde als kriminell betrachtet und die Institution des Purgatoriums war eine Generation zuvor in England abgeschafft worden.“ (Aleida Assmann, Einführung in die Kulturwissenschaft: Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen. Grundlagen der Anglistik und Amerikanistik 27. Erich Schmidt Verlag: Berlin, 2011, S. 197.) Aber es handelt sich im Hamlet nicht um eine feudale, sondern um eine metaphysisch begründete Rache; und dass Hamlet nicht daran zweifeln will, dass eine ohne Absolution gestorbene Seele es im Jenseits schwerer hat als jemand, der im Glauben stirbt, erweist sich einwandfrei in der Szene, als er König Claudius nicht während des Gebetes umbringen will, weil er glaubt, dass Claudius auf diese Weise einen ungerechtfertigten Vorteil gegenüber seinem toten Vater hätte, der während des Schlafes ermordet wurde. 7 In seiner vorzüglichen Studie Hamlet in Purgatory (Princeton University Press: Princeton and Oxford, 2001) untersucht Stephen Greenblatt unter anderem “the way in which Purgatory, the middle space of the realm of the dead, was conceived in English texts of the later Middle Ages and then attacked by English Protestants of the sixteenth and early seventeenth centuries” (S. 3). <?page no="124"?> Wie man aus Wörtern eine Welt macht: Shakespeares Spiel im Spiel 125 kommunizieren. Nachdem sie in einer Mondnacht verabredet haben, sich am Grabmal des Nineus zu treffen um gemeinsam zu fliehen, erscheint ein Löwe auf der Szene, welcher die zu früh eingetroffene Thisbe in die Flucht schlägt. Zurück bleibt ihr blutiger Mantel. Pyramus kommt, glaubt, dass der Löwe seine Geliebte zerrissen hat und nimmt sich das Leben. Thisbe kehrt zurück, findet den toten Geliebten und tötet sich ebenfalls. Zwar handelt es sich bei der aufgeführten Liebestragödie in A Midsummer Night’s Dream nur um ein sogenanntes Interlude, das heißt: ein kurzes Stück, oft ein Zwischenspiel, aber es wird von den Handwerkern mit großer Ernsthaftigkeit einstudiert, um die Hochzeitsgesellschaft des Herzogs zu beeindrucken, der im Begriff ist, die Amazonenkönigin Hippolyta zu ehelichen. Die Komik des Spiels im Spiel ist insofern unfreiwillig und wird für den Zuschauer weitgehend durch die Kommentare der Zuschauer auf der Bühne hervorgerufen, die im Wesentlichen aus Theseus und Hippolyta und zwei jungen aristokratischen Paaren bestehen, die sich nach manchen Irrungen und Wirrungen im Laufe von A Midsummer Night’s Dream zusammengefunden haben und nun zugleich mit dem Herzogspaar Hochzeit feiern. Die Haltung des Zuschauers und Lesers ist deshalb ambivalent. Soll er lieber den guten Willen und den Einsatz der Handwerker anerkennen, obwohl Shakespeare ihr komisches Scheitern auf allen Ebenen, vor allem auf derjenigen der Sprache, mit offensichtlich überschäumendem Vergnügen auf die Bühne bringt? Oder soll er sich der spottenden, doch glücklicherweise nicht boshaften Herablassung der aristokratischen Zuschauer anschließen und sich über die komischen Verfehlungen der schauspielernden Handwerker einfach mokieren? Shakespeare lässt beides zu, aber nur bedingt, da der Herzog die Fäden klug in der Hand behält. Er scheint zu keinem Zeitpunkt zu vergessen, dass es sich bei seiner Hochzeit auch um einen Staatsakt handelt, allerdings um einen Staatsakt, den er human gestalten will. Er liebt die Königin der Amazonen, aber er will ihr auch zeigen, dass und wie sie seine Untertanen schätzen und einschätzen soll. Der Zuschauer muss sich also nur mit Hippolyta identifizieren, um einerseits sicher zu gehen, dass er den Handwerkern in ihrer Unbeholfenheit nicht unrecht tut, um aber andererseits auch die Möglichkeit zu haben, herzlich über sie und über alles, was sie, ohne es zu wissen, parodieren, lachen zu können. Denn der Herzog ruft bewusst beide Reaktionen in ihr hervor. Bei dem Spiel im Spiel in A Midsummer Night’s Dream handelt es sich daher um eine zwar mehrschichtige, aber sehr viel klarer strukturierte Angelegenheit als bei Hamlets tastendem Versuch, seinen Onkel, mit Hilfe einer manipulierten Theateraufführung des Brudermordes, zu überführen. Zunächst lässt sich feststellen, dass das Interlude über Pyramus und Thisbe nichts zur Entwicklung der Handlung innerhalb der Komödie beiträgt. Die Handwerker proben zwar im Wald bei Athen, in dem auch sonst weite Teile der Handlung stattfinden; und Nick Bottom, der Weber, der den Pyramus verkörpern soll, wird auch eine Rolle in der Feenwelt spielen, die wir hier im Wald vorfinden. Der König der Elfen wird ihm vorübergehend einen Eselskopf verpassen lassen. Aber seine Rolle als Esel hat mit der von ihm in der Liebestragödie verkörperten nichts zu tun. Zwar webt Shakespeare in A Midsummer Night’s Dream insgesamt ein magisches Gespinst von Treue und Verrat, Freundschaft <?page no="125"?> Heide Ziegler 126 und Eifersucht, Strafe und Vergebung - alles eingebunden in das Streben nach wahrer Liebe in ihren verschiedensten Formen; insofern hängt in A Midsummer Night’s Dream letztlich alles mit allem zusammen. Aber dennoch lässt sich festhalten, dass auf der Handlungsebene - anders als im Hamlet - das Spiel im Spiel entbehrlich wäre. Bedeutet dies, dass meine ursprüngliche These, dass das Spiel im Spiel bei Shakespeare uns besonders gut vor Augen führen kann, wie man aus Wörtern eine Welt macht, in sich zusammenfällt, bevor wir sie überhaupt ernsthaft überprüfen konnten? Das Gegenteil scheint mir der Fall zu sein. Vielleicht lehrt uns gerade das Beispiel von A Midsummer Night’s Dream, dass wir bei dem Versuch, Welten zu verstehen, die aus Wörtern gemacht sind, jeden schnellen Schluss vermeiden und daher gerade von Handlungszusammenhängen vorübergehend absehen sollten - obwohl oder gerade weil wir daran gewöhnt sind, die ‚Wirklichkeit‘ in der Regel durch das handelnde Subjekt bestimmt zu sehen. Der englische romantische Dichter Samuel Taylor Coleridge, der sich viel mit Shakespeare und der Shakespeare-Rezeption in seiner Zeit befasst hat, nennt einen solchen Vorgang auf Seiten des Zuschauers oder Lesers „that willing suspension of disbelief“, 8 das heißt: eine freiwillige, vorübergehende Verdrängung jedes kritischen Zweifels, der die Poesie zuallererst ermöglicht. Unter der Voraussetzung einer solchen „willing suspension of disbelief“ kann sich der Zuschauer auf die Spannung zwischen dem von den Handwerkern aufgeführten Spiel im Spiel und dessen kritischer Rezeption durch das aristokratische Publikum in A Midsummer Night’s Dream ganz und gar einlassen. Und dann wird er feststellen, dass es sich hier nicht um eine schlichte Farce handelt - obwohl das Interlude farcenhafte, burleske und vor allem parodistische Komponenten enthält - sondern dass es im eigentlichen Sinne hochkomisch ist. Der Unterschied zwischen Farce und Hochkomik besteht darin, dass „[t]he most lamentable comedy, and most cruel death of Pyramus and Thisbe“ (I.ii, 11-12), wie Quince, der Tischler, das Stück nennt, nicht nur lächerlich („comedy“), sondern auch anrührend („lamentable“) ist. Als etwa Bottom-Pyramus die Bühne betritt, in der Hoffnung, Flute-Thisbe anzutreffen, und anfängt, den Mond - der von einem weiteren Handwerker gespielt wird - mit den Worten anzusprechen: „Sweet Moon, I thank thee for thy sunny beams“ (V.i, 261), dann ist das Oxymoron der Sonnenstrahlen des Mondes auf den ersten Blick nur komisch, für den modernen Zuschauer umso mehr, als es durchaus Einiges für sich hat, weil der Mond die Sonnenstrahlen reflektiert. Dann aber stellt Pyramus fest, dass alles, was er mit Hilfe dieses überhellen Mondes sieht, Thisbes blutiger Mantel ist, sodass er nun verzweifelt die Parzen 8 Vgl. Samuel Taylor Coleridge, Biographia Literaria, or Biographical Sketches of My Literary Life and Opinions, edited with an introduction by George Watson. Everyman’s Library. Dutton: New York, 1965 [1906], ursprünglich 1817 erschienen, wo er im Chapter XIV erläutert, wie sein Anteil zu den mit William Wordsworth verfassten Lyrical Ballads aussehen sollte: „[I]t was agreed that my endeavours should be directed to persons and characters supernatural, or at least romantic; yet so as to transfer from our inward nature a human interest and a semblance of truth sufficient to procure for these shadows of imagination that willing suspension of disbelief for the moment, which constitutes poetic faith” (S. 168-69). <?page no="126"?> Wie man aus Wörtern eine Welt macht: Shakespeares Spiel im Spiel 127 anruft, damit sie seinem Leben ein Ende setzen: „O Fates, come, come! / Cut thread and thrum: / Quail, crush, conclude, and quell“ (V.i, 274-276). Pyramus ruft hier zwar alle drei Parzen an: sowohl Clotho, die den Lebensfaden spinnt, als auch Lachesis, die ihn abmisst, jedoch besonders Atropos, die den Lebensfaden abschneidet: „cut thread and thrum.“ „Thrum“ ist der Rand des Gewebes, der am Webrahmen zurückbleibt, wenn das Webstück fertig ist und ausgeschnitten wird. 9 Der Weber Bottom kennt sich in seinem Gewerbe aus; er will, dass Atropos ganze Sache macht: kein Stück vom (Lebens-)Faden soll irgendwie übrig bleiben! Es ist anrührend, wie wörtlich - nicht Pyramus, sondern Bottom - die traditionelle Metapher nimmt. Und so empfindet es auch sein Publikum. Theseus sagt: „This passion, and the death of a dear friend, would go near to make a man look sad.“ Und Hippolyta ergänzt: „Beshrew my heart, but I pity the man” (V.i, 277-279). Es ist eine der wenigen Stellen in Shakespeares Komödie, wo das seelische Einvernehmen von Theseus und Hippolyta in vollem Umfang deutlich wird. Das aus Fäden gesponnene Gewebe scheint mir einer der metaphorischen Schlüsselbegriffe zum Verständnis von Welten zu sein, die aus Wörtern gemacht sind. In seinem Roman Pale Fire (1962), dessen Titel aus Shakespeares Drama Timon of Athens entlehnt ist, lässt Vladimir Nabokov seinen Dichter John Shade sagen, dass es nicht so sehr auf den „text“ ankomme, sondern auf „texture“, das heißt: „a web of sense“ 10 - auf die dargestellte Welt als ein bedeutsames Gewebe, das zart, versponnen, assoziativ, poetisch, ja übernatürlich ist und das nur der Autor zu evozieren vermag. „[T]he novelist”, behauptet auch William Gass, „if he is any good, will keep us kindly imprisoned in his language - there is literally nothing beyond.“ 11 Dies genau ist die Wirkung des fiktionalen Gewebes: wir werden in ihm gefangen gehalten wie in einem Netz, und dies kann angenehm, tragend, sogar erlösend sein, aber auch gefährlich und scheinbar wirklichkeitsbedrohend. Auf den ersten Blick scheint uns in A Midsummer Night’s Dream vor allem Theseus, der Herzog von Athen, in seiner Sprache gefangen zu halten. Er vertritt das Gesetz; von seinem Schiedsspruch hängt nicht nur das Glück, sprich die Belohnung der schauspielernden Handwerker ab, sondern auch Wohl und Wehe der beiden jugendlichen Paare: Hermia und Lysander, Helena und Demetrius. Wir lernen Theseus jedoch auch als einen Charakter kennen, der sich dem Humanismus verpflichtet fühlt. Insofern scheint er den Brückenschlag zu garantieren zwischen dem vorgegebenen Recht, das er zu vertreten hat und der aufklärerischen Philosophie seiner Zeit. Seine Reichweite ist jedoch begrenzt. Dies wird bereits in der ersten Szene von A Midsummer Night’s Dream deutlich. Hier soll der Herzog darüber entscheiden, was mit Hermia, der Tochter des einflussreichen Egeus, geschehen soll, die sich weigert, den ihr vom Vater bestimmten Freier Demetrius zu heiraten, weil sie Lysander liebt. Der 9 Vgl. Harold F. Brooks (Hrsg.), A Midsummer Night’s Dream. The Arden Edition of the Works of William Shakespeare. Methuen: London und New York, 1979, S. 119. „The thrum is the tufted end of a weaver’s warp, left attached to the loom when the web is cut and removed.“ 10 Vladimir Nabokov, Pale Fire, Vintage International: New York, 1989 [1962], S. 63. 11 William H. Gass, „Philosophy and the Form of Fiction“, in: Fiction and the Figures of Life, Vintage Books: New York, 1972. S. 8. <?page no="127"?> Heide Ziegler 128 Herzog weiß nichts Besseres zu tun als ihr einen Zeitaufschub zu gewähren, innerhalb dessen sie sich ihres Vaters Vorstellungen anpassen kann. Heiratet sie nach Ablauf dieser Frist Demetrius nicht, muss sie entweder sterben oder eine Nonne werden. Theseus ist in A Midsummer Night’s Dream Herrscher über das Reich des Tages und Vertreter der Rationalität. Es bedarf daher einer anderen Macht, deren Gewebe heimlicher und weiter gespannt ist, welche den Text des Gesetzes von Athen mit dem persönlichen Anspruch auf Liebe zwischen Hermia und Lysander versöhnen kann - allerdings erst nach einigen Irrungen und Wirrungen, die aber letztlich dazu führen, dass Demetrius auf Hermia verzichtet und Helena als seine wahre Liebe erkennt. Diese Macht verkörpert sich in Oberon, dem König des Bereichs der Träume, des Mondes, der Magie und der Nacht - eben jenes Bereichs, in dem der Sommernachtstraum stattfindet. Zwar ist auch dieser Nachtbereich grundsätzlich ambivalent - so wie es zu Shakespeares Zeiten den Glauben an die weiße Magie neben demjenigen an die schwarze Magie gab; und diese Ambivalenz verkörpert Puck, ein Geist und die Gefolgsperson von Oberon. Oberon will seine Elfen-Königin Titania, die sich ihm entfremdet hat, strafen, indem er mittels des „lovejuice“, eines aus Blumen und Kräutern gewonnenen Zaubersafts, den Puck Titania im Schlaf auf die geschlossenen Lider träufelt, erreicht, dass sie sich beim Aufwachen auf Anhieb in Bottom verlieben muss, der inzwischen dank der List von Puck den Eselskopf auf seinen Schultern trägt. Dies alles wäre nur Burleske, wenn es nicht Oberon letztlich darum ginge, Titanias Liebe zurückzugewinnen. Er kann an ihre Einsicht und ihren Stolz appellieren, sobald sie erkennt, in wen sie sich da verliebt hat; außerdem gewinnt Bottom - gerade als er den Eselskopf trägt - an Weisheit und Tiefsinn. Er ist zwar ein Esel, aber ein Esel, der von seinem eigentlichen Selbst Distanz gewonnen hat. Während Bottom bei der Rollenverteilung für die lamentable comedy noch voll törichter Begeisterung am liebsten sowohl die Rolle des Pyramus als auch die der Thisbe als auch die des Löwen übernehmen wollte und damit bewies, dass er von dramatischer Handlung nicht das Geringste versteht, weil der Liebhaber nicht zugleich seine eigene Geliebte darstellen kann (ungeachtet der Tatsache, dass Thisbe auf der Shakespeare-Bühne durch einen Mann dargestellt werden musste) und weil der Löwe, der sein Opfer angreift, nicht zugleich dieses Opfer verkörpern kann - so legt ihm Shakespeare doch während des Sommernachtstraums die wichtigste Einsicht, welche die Komödie zu bieten hat, in den Mund. Ausgerechnet, wenn er mit einem Eselskopf ausgestattet ist, spricht er zu Titania: „And yet, to say the truth, reason and love keep little company together nowadays“ (III.i, 138-139). Dies gilt zumindest für die beiden Liebespaare, aber auch Titania ist an dieser Stelle noch ganz in der Irrationalität des Traums befangen. Und doch ist ihre Antwort, scheinbar nur diktiert durch die Magie des Liebessafts, „Thou art as wise as thou art beautiful“ (III.i, 142), nicht nur grotesk. Erkennen wir doch gerade, wenn wir Oberons Zauberland betreten, dass Schönheit und Weisheit nicht ein Vorrecht der Menschen sind! Die Irrungen und Wirrungen, die Verblendung und die Eifersuchtsszenen, in welche die Liebe die beiden jugendlichen Liebespaare, Hermia und Lysander, Demetrius und Helena in dieser Sommernacht stürzt, rufen vielmehr umgekehrt den Seufzer Pucks hervor: „Lord, what fools these mortals be! “ <?page no="128"?> Wie man aus Wörtern eine Welt macht: Shakespeares Spiel im Spiel 129 (III.ii, 115). Oberon und Titania, Puck und die übrigen Elfen und Trolle, vermögen als Verkörperung der Mächte der Natur mit allen ihren Sinnen höher und weiter auszugreifen als die Menschen, die häufig durch gesellschaftliche und historische Vorgaben gefangen und geblendet sind. Insofern kann der Herrscher des nächtlichen Traumlands, in dem es so viel spielerischer spukt und raunt, viel leichter eine eigene Welt erschaffen als der Herzog von Athen. Denn er gebietet nicht nur über Worte, sondern darüber hinaus über Musik und Gesang und Tanz; seine Untertanen necken und scherzen, sie fliegen und schweben, und kreieren so das Gewebe einer umfassenderen Gegenwelt, mit der die Menschen nicht mitzuhalten vermögen. Doch die Geister in A Midsummer Night’s Dream sind den Menschen letztlich wohlgesonnen. Da sich alle Paare in der Komödie um die wahre Liebe bemühen und diese schließlich - mit etwas Nachhilfe durch den Herzog, die Geister und den Autor - auch erlangen, webt sich ein freundliches Band zwischen ihrer „realen“ Welt und der imaginären der Geister ihrer Träume. Wort und Tat können im Horizont gegenseitiger Liebe eins werden. Und so kann durch Oberons Zauberspruch am Ende des Stücks sichergestellt werden, dass die drei frisch verheirateten Paare sich ihr Leben lang lieben und gesunde und glückliche Nachkommen haben werden: „So shall all the couples three / Ever true in loving be; / And the blots of Nature’s hand / Shall not in their issue stand“ (V.i, 393-396). Zwar nennt Puck die Gestalten aus Oberons Reich, zu denen er doch selbst gehört, zum Schluss „shadows“ (V.i, 409), aber sind sie dies wirklich? Sind Traumgestalten Schatten, die kein Eigenleben besitzen? Wichtig ist der Kontext, innerhalb dessen Puck diesen Begriff verwendet. Denn ihm fällt die Aufgabe zu, den Epilog zu sprechen und sich damit unmittelbar an das Publikum im Theater zu wenden: „If we shadows have offended, / Think but this, and all is mended, / That you have but slumber’d here / While these visions did appear“ (V.i. 409-412). Puck spricht offensichtlich ironisch, denn wenn alle Schauspieler, auch diejenigen, welche nicht die Gestalten aus Oberons Reich verkörpern, nur Schatten sind, dann sind es auch die Zuschauer. Denn existentiell gehören Zuschauer und Schauspieler derselben Alltagswelt an. Die Schauspieler sind zwar zusätzlich insofern Schatten, als sie nicht ‚wirklich‘ sind, wer sie zu sein vorgeben; aber sie verweisen dennoch auf die Charaktere, die sie darstellen - so wie man aus einem Scherenschnitt auf die ‚wirkliche‘ Gestalt schließen kann. Und Träume haben für Shakespeare’sche Gestalten fast immer prophetischen Charakter, weil sie aus Ängsten, Wünschen und Schuldgefühlen geboren werden. Sowohl Schatten als auch Träume haben daher Verweischarakter. Sie bedeuten und bilden Bewusstsein. III. Das Spiel im Spiel in A Midsummer Night's Dream Was dies impliziert, lehrt uns das Spiel im Spiel in A Midsummer Night’s Dream, indem es die dargestellte Welt, das heißt in diesem Fall die ‚Wirklichkeit‘ und ihre Sprachspiele in Frage stellt. Denn in diesem Spiel im Spiel sehen wir, dass es den Handwerker-Schauspielern gerade nicht gelingt, ihr eigentliches Sein zu verbergen und in ihrer <?page no="129"?> Heide Ziegler 130 Rolle aufzugehen; dadurch rufen sie entsprechende Reaktionen und Kommentare bei ihren ‚Zuschauern‘ hervor, welche die Grenze zwischen Spiel und Spiel im Spiel, welche die ‚Schauspieler‘ aufzuheben drohen, immer wieder herzustellen suchen. An der Fehlleistung der Schauspieler lässt sich daher ablesen, wie man eine Welt aus Wörtern gerade nicht machen soll, denn weil sie nicht in sich geschlossen ist und keine klaren Konturen hat, fehlt ihr auch der Verweischarakter. Dies soll an einem Beispiel erläutert werden: Wenn Bottom-Pyramus die Bühne betritt, dankt er zunächst der Mauer, dargestellt von Snout, dem Kesselflicker, dass sie einen Spalt besitzt, durch den er Thisbe erspähen kann. Dann nähert er sein Auge den gespreizten Fingern von Snout, welche den Spalt in der Mauer darstellen sollen. Pyr. But what see I? No Thisbe do I see. O wicked wall, through whom I see no bliss, Curs’d be thy stones for thus deceiving me! The. The wall, methinks, being sensible, should curse again. Pyr. No, in truth sir, he should not. ‘Deceiving me’ is Thisbe’s cue: she is to enter now, and I am to spy her through the wall. You shall see it will fall pat as I told you: yonder she comes (V.i, 177-185). Der Herzog versteht selbstverständlich, warum Pyramus die Mauer beschimpft, wenn er Thisbe durch deren Spalt noch nicht erblickt. Es handelt sich um die Ungeduld des Liebhabers und deren Projektion auf den gerade zuhandenen Gegenstand. Aber es amüsiert ihn, dass die Mauer in diesem Fall kein Gegenstand ist, sondern von einem Handwerker gespielt wird. Daher will er der personifizierten Mauer, die schließlich nichts dafür kann, dass Thisbe noch nicht da ist, das Recht einräumen, ihrerseits zu fluchen. Dies sieht Bottom-Pyramus jedoch anders. Er fällt sofort aus der Rolle, um den Herzog darüber zu belehren, dass die Mauer kein Recht dazu hat, ihrerseits zu fluchen, da sie, die Mauer, genau weiß, dass seine eigenen letzten Worte „deceiving me“ das Stichwort für Thisbe sind zu erscheinen. Er versichert dem Herzog, dass sie sogleich auftreten wird - was auch geschieht - und impliziert damit, dass die Mauer und er sich im Grunde einig sind. Bottom verweist auf das sogenannte prompt-book, das für jeden Schauspieler dessen eigene Zeilen und die sogenannten cues, das heißt: die letzten Worte des vorausgehenden Textes eines andern Schauspielers enthält, auf die er reagieren muss. Damit unterminiert Bottom seine Rolle als Schauspieler, die ihn anweist, die Mauer als Gegenstand zu behandeln und sie entsprechend zu beschimpfen. Er hat schlicht die Ironie des Herzogs nicht verstanden, die darin besteht, dass dieser die Mauer als „Person“ gegen die Mauer als „Gegenstand“ ausspielt. Dennoch darf der erklärende Eifer des Bottom den Zuschauer nicht nur amüsieren (weil der Schauspieler alles andere eher darf, als aus seiner Rolle zu fallen), sondern er muss ihn auch rühren (weil Bottom als einfacher Handwerker an dem rhetorischen Bildungsgut des Herzogs nicht einmal ansatzweise teilhaben kann). Trotz allem bleibt festzuhalten, dass der Herzog das Spiel im Spiel aufmerksam verfolgt. Er gibt sich weder blasiert noch gelangweilt. Seine Kommentare sind nicht nur witzig, sondern für das aristokratische Publikum in Shakespeares Theater in <?page no="130"?> Wie man aus Wörtern eine Welt macht: Shakespeares Spiel im Spiel 131 hohem Grade menschlich relevant. Und wenn die groundlings auf den billigen Plätzen sich eher mit Bottom identifizieren, weil sie vielleicht selbst Handwerker sind, dann wird es sie umgekehrt befriedigen, dass Bottom es wagt, dem Herzog zu widersprechen und darauf zu verweisen, dass er es ist, der weiß, wie das Stück weitergeht, nicht der Herzog! Was Shakespeare hier klug gelingt, ist somit nicht mehr und nicht weniger, als mit Hilfe der hochkomischen Illusionsdurchbrechung auf der Bühne eine momentane Harmonie zwischen Oberschicht und Unterschicht im Publikum zu beschwören und deren Klassenunterschiede vorübergehend einzuebnen. Denn alle, die Handwerker auf der Bühne, die eigentlich Schauspieler sind, und deren scheinbar aristokratische Zuschauer, die auch nur Schauspieler sind, sowie die „realen“ Zuschauer, die eigentlich Aristokraten oder Handwerker sind - sie alle sind vorübergehend in dem sprachlichen Gewebe des großen Magiers dieses Stückes gefangen. Shakespeare ist die dritte und höchste Macht nach Oberon und dem Herzog von Athen in A Midsummer Night’s Dream. Niemand kann seinem Zauber entkommen, und man kann nur hoffen, am Ende gnädig entlassen zu werden. IV. Das Spiel im Spiel in Hamlet in seinem Kontext Anders scheint es in der Tragödie auszusehen. Schon Aristoteles hat in seiner Poetik die Tragödie nicht nur als die Nachahmung einer bedeutsamen Handlung charakterisiert, sondern sich vor allem auf deren Wirkung auf den Zuschauer jenseits des Bühnengeschehens konzentriert. Phóbos und éleos bewirke die Tragödie beim Zuschauer, sagt er, was normalerweise als „Furcht“ und „Mitleid“ übersetzt wird. Mit anderen Worten: während das erlebte Geschehen in der Komödie sich auf den Zeitraum beschränkt, den dieses für sich auf der Bühne beanspruchen kann, besteht der Sinn der Tragödie darin, dass sie den Zuschauer mit zwei widerstreitenden Empfindungen in der Brust entlässt, die er im Nachhinein reflektierend in eine Balance bringen muss. Furcht empfindet er, weil der tragische Held, den er gerade bei einem sublimen Scheitern erlebt hat, nachweisbar ‚besser‘ ist als er selbst und dennoch am Schicksal zerbrochen ist. Er erkennt, dass er selbst einem solchen unverschuldeten, aber unausweichlichen Scheitern noch weniger gewachsen gewesen wäre und nicht so verantwortungsvoll und heroisch gehandelt hätte wie der tragische Held. Mitleid empfindet er aber zugleich, weil der Held so viel besser als er selbst doch auch wieder nicht war, insofern als er sich allzu sehr überschätzt hat. Der Zuschauer kann daher echte Empathie mit dem Helden entwickeln. Aristoteles nennt diesen menschlich / allzu menschlichen Fehler im Charakter des tragischen Helden dessen hamartia; wir sprechen in der Regel von seiner Hybris, im Englischen vom tragic flaw. Gemeint ist in jedem Fall eine falsche Selbsteinschätzung des tragischen Helden, die sein Handeln bestimmt und damit letztlich seinen tragischen Fall auslöst. Man könnte daher die These aufstellen, dass die Tragödie nur dann eine in sich geschlossene Welt aus Wörtern darstellt, wenn die Emotionen von Furcht und Mitleid, die sie beim Zuschauer hervorruft, das Schicksal des tragischen Helden im Nachhinein interpretieren und abschließend mitgestalten. Dafür würde sprechen, <?page no="131"?> Heide Ziegler 132 dass der Schicksalsbegriff in der Tragödie seit der Antike eine derart wichtige Rolle spielt. Denn dem Schicksal kann weder der tragische Held noch der Zuschauer entgehen; es führt beide in der wechselnden Abhängigkeit von unberechenbarem Zufall und unausweichlicher Notwendigkeit zusammen. Wir versuchen daher als Leser oder Zuschauer mittels der bei uns hervorgerufenen Empfindungen von Furcht und Mitleid insofern in das tragische Geschehen einzugreifen, als wir das Schicksal oder das Problem des Helden zu unserem eigenen machen wollen, um es auf diese Weise bewältigen zu können. Das ist die Form der aristotelischen Katharsis. Ins Ästhetische gewendet, sieht dies auch William Gass so: [Art] can succeed only through the cooperating imagination and intelligence of its consumers, who fill out, for themselves, the artist’s world and make it round, and whose own special genius partly determines the ultimate glory of it. 12 Auch Hamlet wird in seinem Handeln beziehungsweise Nichthandeln von einem Schicksal bestimmt, das von außen - als der Geist seines ermordeten Vaters - in seine Welt eindringt und ihm die Rache an seinem Onkel Claudius auferlegt. Aber eben nicht einfach nur die Rache am gegenwärtigen König von Dänemark; es geht genauso darum, eine neue Herrschaft zu etablieren, welche die früheren, von Hamlet als ideal empfundenen politischen Verhältnisse, wiederherstellt. Daher klagt Hamlet zu Recht: „The time is out of joint. O cursed spite, / That ever I was born to set it right” (I.v, 196-197). Die kaum zu übernehmende Verantwortung für Hamlet besteht darin, dass er durch einen Mord an Claudius, und sei dieser auch noch so gerechtfertigt, selbst schuldig wird und dass er insofern die untadelige Herrschaft seines Vaters nicht wiederherstellen wird können. Aus dieser Lage, in der er seine moralischen Vorstellungen nicht mit der von ihm geforderten Handlungsweise in Einklang bringen kann, flieht Hamlet in eine alternative Welt der Worte - in das Spiel im Spiel. Insofern kommt dem Spiel im Spiel in Hamlet - anders als in A Midsummer Night’s Dream - die entscheidende Rolle zu, und Shakespeare unterstreicht dessen Wichtigkeit, indem er es im dritten Akt, das heißt: an der zentralen Stelle der Tragödie, stattfinden lässt - dort wo wir die Peripetie, den Umschlag vom Glück ins Unglück im tragischen Schicksal des Helden erwarten. Während aber in A Midsummer Night’s Dream die Tragikomödie von Pyramus und Thisbe im vollen Umfang, begleitet von den Kommentaren der Zuschauer, auf der Bühne auch stattfindet, wird The Murder of Gonzago in Hamlet nicht zu Ende gespielt, sondern bricht ab, als - so erklärt es Hamlet - der Neffe (nicht der Bruder ! ) des alten Königs diesen im Garten vergiftet. Es bricht ab, weil König Claudius an dieser Stelle nach Licht ruft und das Theater verlässt. Denn da Hamlet im Spiel im Spiel den Neffen des Königs als dessen Mörder benennt, deutet er für König Claudius seine Absicht an, ihn, seinen Onkel umzubringen. Claudius verlässt somit das Theater wahrscheinlich nicht, oder jedenfalls nicht nur, weil ihn sein Gewissen mahnt, sondern auch, oder vielleicht sogar vor allem, weil ihn die Furcht vor Hamlet übermannt. 12 William H. Gass, „Philosophy and the Form of Fiction“, in: Fiction and the Figures of Life, S. 23. <?page no="132"?> Wie man aus Wörtern eine Welt macht: Shakespeares Spiel im Spiel 133 Doch wenn auch das Spiel im Spiel in Hamlet mittendrin abbricht, so wird es immerhin von Hamlet in mindestens drei Anläufen gründlich vorbereitet, weil Hamlet nichts dem Zufall überlassen will. Zuerst zitiert der Hauptdarsteller der Theatertruppe im Vorfeld, das heißt: nicht während des Spiels im Spiel, auf Hamlets Bitte hin eine Stelle aus einem bekannten Drama, das den Bericht über den aus Troja geflohenen Aeneas, wie er sich im zweiten Buch von Vergils Aeneis findet, aufnimmt und die Ermordung des trojanischen Königs Priamos durch Pyrrhus, den Sohn des Achilles, beschreibt. Es handelt sich um eine brutale Rachetragödie, und die unreflektierte Grausamkeit des Pyrrhus ruft Furcht und Entsetzen hervor, während die anschließende Wehklage der Hekuba um ihren ermordeten Gatten Priamos ein solches Mitleid erweckt, dass selbst dem Schauspieler, der den Text rezitiert, die Tränen in den Augen stehen. Als sich Hamlet danach allein auf der Bühne befindet, bekennt er, wie sehr auch ihn diese Wehklage mitgenommen hat, aber nicht im Sinne einer Katharsis: er verflucht sich vielmehr selbst, weil er nicht mehr Mitleid mit seinem ermordeten Vater empfindet und diesen unverzüglich rächt. Hamlet beschwört folglich zuerst selbst die Empfindungen der Furcht (durch Pyrrhus) und des Mitleids (durch Hecuba) für den Leser oder Zuschauer herauf, das heißt: genau die Empfindungen, welche die Tragödie nach Aristoteles auslösen soll, aber nicht, um sich von ihnen im Nachhinein reflektierend zu befreien, sondern vielmehr, um sich zu eigenen Rachegedanken inspirieren zu lassen. Aus einer vergangenen Welt soll ihm Hilfe zur Bewältigung seiner gegenwärtigen Welt erwachsen. Schon hier wird sich der Zuschauer bang fragen, ob dies möglich ist und ob Hamlets Sprachwelt eine andere Sprachwelt einschließen und instrumentalisieren kann. Aber noch scheint Hamlet alle Fäden in der Hand zu halten, und so glaubt er, mithilfe des Stückes, das den Tod seines Vaters abbildet, König Claudius überführen zu können. Denn, so scheint er zu argumentieren, wenn eine Tragödie Furcht und Mitleid hervorrufen kann, dann kann sie auch Gewissensbisse deutlich werden lassen. Dass sich die Emotionen, die Aristoteles anspricht, deshalb beim Zuschauer voll entfalten können, weil sie nur stellvertretend, auf den tragischen Helden bezogen, entstehen, bedenkt Hamlet dabei nicht. Und so bittet er den Hauptdarsteller nur, in die Tragödie The Murder of Gonzago zwölf bis sechzehn Zeilen, die er selbst verfassen wird, einzufügen und diese einzustudieren. Außerdem wird dem solchermaßen für den Zuschauer und Leser bereits gut vorbereiteten Spiel im Spiel sicherheitshalber innerhalb des Spiels im Spiel noch eine sogenannte dumbshow vorgeschaltet, eine Pantomime, in der die gesamte Handlung des Spiels im Spiel vorweggenommen wird: die Liebe zwischen der Königin und ihrem ersten Ehemann; die Ermordung des Königs durch seinen Bruder im Garten, wo er dem König Gift ins Ohr träufelt; und das anschließende erfolgreiche Werben des Mörders um die Königin. Alles dies wird gebärdenreich, wenn auch ohne Worte dargestellt. <?page no="133"?> Heide Ziegler 134 V. Die Rolle der Pantomime im Spiel im Spiel Dieser Pantomime wollen wir uns nun genauer zuwenden, da sie die Komplexität des Spiels im Spiel in dieser komplexesten aller Shakespeare’schen Tragödien besonders deutlich macht und die Frage, ob und wie sich aus Wörtern eine Welt machen lässt, auf den Punkt bringt. Obwohl einem Stück vorgeschaltete Pantomimen auf der elisabethanischen Bühne durchaus üblich waren, hat gerade diese Pantomime vor dem eigentlichen Spiel im Spiel in Hamlet einen langen und erbitterten Streit unter Shakespeare-Interpreten hervorgerufen. Dieser Streit entzündet sich immer von neuem an der Frage, wieso König Claudius nicht schon an der Pantomime ablesen kann, worum es in dem Spiel im Spiel gehen wird, und warum er infolgedessen die Aufführung nicht schon dann abbrechen lässt, wenn noch keiner Verdacht schöpft. Da die Pantomimen in der Regel einen anderen Inhalt als das nachfolgende Stück aufwiesen, wurde ihnen normalerweise ein Erklärer beigegeben, der dem Publikum die Handlung erläuterte; denn diese dumbshows waren zumeist emblematisch und bedurften von daher einer solchen Erklärung. Doch einen Erklärer gibt es gerade bei dieser Pantomime nicht. Stattdessen übernimmt Hamlet spontan diese Rolle, aber scheinbar nur für Ophelia, in deren Schoß er seinen Kopf gelegt hat. Das heißt: König Claudius kann, aber muss ihn nicht hören. Trotzdem dürfte gerade für ihn der Inhalt der Pantomime auch ohne Erklärer unmissverständlich sein. Manche Interpreten vermuten daher - insofern als solche Pantomimen oft schlicht als Spektakel vor allem für die groundlings gedacht waren - dass König Claudius die Pantomime gar nicht beachtet. Doch hätte auch nur eine flüchtige Aufmerksamkeit König Claudius zumindest stutzig machen müssen. Und dass Hamlet spontan für den Erklärer einspringt, hätte sein Augenmerk ebenfalls auf die Pantomime lenken müssen, vor allem weil man davon ausgehen kann, dass der König, wenn schon nicht auf die Pantomime, dann sicherlich auf das Verhalten seines Neffen achtet. Die zweite angebotene Erklärung für die scheinbare Unaufmerksamkeit des Königs besteht darin, dass man annimmt, dass Claudius den Inhalt der Pantomime ohne offiziellen Erklärer nicht versteht. Das ist aber sehr unwahrscheinlich, und die Tatsache, dass Ophelia sie nicht versteht und Hamlet um eine Erklärung bittet, beweist gar nichts: denn Ophelia weiß nichts von dem Brudermord. Die dritte Antwort läuft auf eine psychologische Erklärung hinaus und wird - mangels einer besseren Theorie -von den meisten Interpreten bevorzugt. Sie besagt, dass Claudius der Pantomime zuschaute und sie auch verstand, dass er sie aber beim ersten Mal noch verkraften konnte, während er sie, als die Handlung sich dann im eigentlichen Spiel im Spiel wiederholte, nicht mehr ertrug. 13 Diese Erklärung lässt sich übernehmen, wenn man sie in folgender Weise ergänzt: König Claudius wird während der Pantomime zwar mit seiner eigenen Vergangenheit und seinem eigenen Verbrechen konfrontiert, darf aber gleichzeitig vermuten, dass die anderen Anwe- 13 Hierbei handelt es sich um die sogenannte second tooth-Theorie, wonach man einen schmerzenden Zahn gerade noch ertragen mag, aber wenn ein zweiter zu schmerzen beginnt, zusammenbricht.Vgl. Harold Jenkins (Hrsg.) Hamlet. The Arden Edition of the Works of William Shakespeare. Methuen: London and New York, 1982, S. 501. <?page no="134"?> Wie man aus Wörtern eine Welt macht: Shakespeares Spiel im Spiel 135 senden nicht durchschauen, was da auf der Bühne abläuft, da es nicht offiziell erläutert wird. Außerdem darf er zu Recht vermuten, dass das eigentliche Spiel im Spiel einen anderen Inhalt haben wird. Unruhig wird er daher erst, als das Spiel im Spiel die in der Pantomime dargestellte Handlung zu wiederholen beginnt. Als der alte König im Spiel im Spiel sich im Garten zum Schlafen niederlegt, das heißt: kurz bevor der Mord an ihm geschehen wird, fragt Claudius Hamlet, ob er den Inhalt des Spiels im Spiel kenne und ob es nichts Anstößiges enthalte. Durch Hamlets Kommentare während des Spiels im Spiel und die Bezeichnung des Mörders als des Königs Neffe wird Claudius jedoch klar, dass es Hamlet selbst war, der Pantomime und Spiel im Spiel inszeniert hat und dass der Prinz um sein Geheimnis weiß. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang noch ein anderer Aspekt. So wie Hamlet kann auch Claudius zu seiner inneren Selbstrechtfertigung auf die Literatur der Antike zurückgreifen. So kann die Pantomime für König Claudius durchaus eine mythologische Grundsituation darstellen: der Angehörige eines Herrscherhauses tötet den Herrscher, um selbst an die Macht zu gelangen, und er legitimiert seinen Herrschaftsanspruch im Nachhinein durch die Hochzeit mit der Witwe des Verstorbenen. Eine ähnliche Situation finden wir etwa bei Agamemnon, Klytemnestra und Ägisth; oder bei Laios, Iokaste und Ödipus. Da Claudius anfangs nicht davon ausgehen muss, dass sich die in der Pantomime dargestellte Handlung im Spiel im Spiel wiederholt, könnte er allenfalls durch die Art des dargestellten Königsmords beunruhigt sein; aber auch dafür gibt es literarische Vorbilder. 14 Es dürfte für König Claudius daher gar nicht so schwer sein, während der Pantomime seine Gedanken zu verbergen und seinen Emotionen nicht freien Lauf zu lassen. Insofern irrte Hamlet, als er meinte, den König werde sein böses Gewissen unmittelbar überführen. VI. Hamlet als moderner tragischer Held Aber was wir als Zuschauer und Leser im Hinblick auf das Spiel im Spiel schon erlebt haben, bevor Claudius und Gertrude überhaupt das Theater des Spiels im Spiel betreten, dürfte uns - was Hamlets Erfolg angeht - ohnehin nicht zuversichtlich gestimmt haben. Denn wir haben feststellen müssen, dass Hamlet bei den verschiedenen Anläufen, die er zur Vorbereitung auf das Spiel im Spiel unternimmt, ständig versucht, sein eigenes Schicksal durch den Rückgriff auf die antike Mythologie zu entindividualisieren. Hamlet wird von Shakespeare-Interpreten in der Regel als die erste Tragödiengestalt gedeutet, die sich als Subjekt begreift, und die Monologe, in denen er sein Schicksal reflektiert, stützen diesen Ansatz. 15 Dies aber bedeutet in 14 Das bekannteste ist sicher die Befruchtung Mariae, welche durch das Ohr stattfindet. 15 Z.B. Bernhard Greiner, „The Birth of the Subject out of the Spirit of the Play within the Play: The Hamlet Paradigm”, in: The Play within the Play: The Performance of Meta-Theatre and Self- Reflection, hrsg. von Gerhard Fischen und Bernhard Greiner. Rodopi: Amsterdam und New York, 2007, S. 3-14; vgl. S. 13. „The drama confronts this Hamlet with the Hamlet as audience at his own performances that call forth in him a subjective essence beyond all appearances, an emphatic first-person declaration of the recognition of guilt.“ Aber beim Spiel im Spiel geht es Hamlet zunächst noch um die Schuld von Claudius. Erst mit dem Hinweis auf Lucianus, den <?page no="135"?> Heide Ziegler 136 unserem Zusammenhang - schlicht gesagt - nur, dass Hamlet anders ist als Claudius und dass er dies erst im Laufe der Tragödie allmählich begreift. Auch Claudius mag in seinen Sprachspielen gefangen sein, aber er handelt dort, wo Hamlet zunächst auf die Bedingungen seines Handelns reflektiert. Hamlets Vorbereitungen auf das Spiel im Spiel zeigen, dass Hamlet versucht, in wohlbekannte Wortwelten zu entfliehen, um sein eigenes Schicksal, vor dem ihm graut, auf diese Weise vorhersehbar zu machen, so dass es sich scheinbar wie von selbst ergibt. Dieser Versuch kann nicht gelingen, weil Hamlet vom Geist seines Vaters aufgerufen ist, gegen das Andere in der Form des Claudius anzutreten. Hamlets ursprünglicher Versuch, mithilfe des Spiels im Spiel die Fäden seines eigenen Schicksals und die des Schicksals seines Landes in die Hand zu nehmen, war damit schon im Ansatz verfehlt. Einen wichtigen Gedanken bringt in diesem Zusammenhang Stephen Greenblatt ins Spiel. Indem er den Status des Geistes und dessen Botschaft gesondert thematisiert, verweist er auf eine weitere Spannung, in der sich Prinz Hamlet nach dessen Auftritt befindet. Allen Andeutungen zufolge, die Shakespeare im Hinblick auf den Status des Geistes macht, befindet sich dieser im Purgatorium, und obwohl dies ein sehr qualvoller (wenn auch letztlich vorübergehender) Zustand ist, in dem alte Sünden, die auf Erden begangen wurden, gesühnt werden müssen, so ist es doch unmöglich, im Purgatorium weitere Sünden zu begehen. Genau dies aber legt der Aufruf des Geistes zur Rache an Claudius seinem Sohn nahe - was nicht christlichem Gedankengut entstammt, sondern auf die Rachetragödien des Seneca zurückgeht: The trouble is that Purgatory, along with theological language of communion (houseling), deathbed confession (appointment), and anointing (aneling), while compatible with a Christian (and, specifically, a Catholic) call for remembrance, is utterly incompatible with a Senecan call for vengeance. Such a call for vengeance - and Hamlet understands that it is premeditated murder, not due process, that is demanded of him - could come only from the place in the afterlife where Seneca’s ghosts reside: Hell. 16 Hamlet befindet sich im Hinblick auf Claudius somit nicht nur in einer Spannung zwischen Denken und Handeln, sondern auch zwischen innerweltlichem und metaphysischem, antikem und christlichem Denken, zwischen Rache und Erinnerung. Genau aus diesem Grund kann er Claudius nicht töten, als er diesen später allein und scheinbar im Gebet antrifft. Würde - wie er fälschlicherweise annimmt - das Gebet von Claudius erhört oder auch nur von Gott angehört, dann träfe seine Rache möglicherweise eine Gestalt, die gleichfalls auf Sühne im Purgatorium hoffen darf - was Hamlets Sünde noch vergrößern würde, indem sein Handeln einen vergleichbaren Zustand zwischen seinem ermordeten Vater und dessen Bruder herstellen würde. Nach dem Spiel im Spiel muss Hamlet begreifen, dass seine eigene Welt auseinanderfällt, dass auch sein gespielter Wahnsinn ihm nicht mehr weiterhilft, weil Claudius seine Absicht durchschaut hat. Von nun an muss er gegen Verstrickungen ankämpfen, die er zwar ursprünglich selbst initiiert hat, die aber zunehmend als Neffen des Königs, den er als dessen Mörder im Spiel im Spiel benennt, scheint er die Möglichkeit eigener Schuldverstrickung zu erkennen. 16 Stephen Greenblatt: Hamlet in Purgatory, S. 237. <?page no="136"?> Wie man aus Wörtern eine Welt macht: Shakespeares Spiel im Spiel 137 unabhängige Ironie des Schicksals erscheinen. Denn das Schicksal beginnt nun, in Form des Zufalls zuzuschlagen: Hamlets unbeabsichtigter Mord an Polonius; das Piratenschiff, welches das Schiff überfällt, das Hamlet an den König von England ausliefern soll, ein Ereignis, das es ihm ermöglicht und nahelegt, statt seiner Rosencrantz und Guildenstern ermorden zu lassen, das heißt: weitere Schuld auf sich zu laden; der Wahnsinn und Selbstmord von Ophelia, Lebensformen, welche in Ophelias Liebe Hamlets Verhalten nicht nur spiegeln, sondern verabsolutieren, und welche Ophelia und Hamlet infolgedessen für immer in tödlicher Liebe aneinander fesseln; der Tod von Ophelias Bruder Laertes durch den vergifteten Degen, dessen Wirkung dieser eigentlich Hamlet zugedacht hatte und der Hamlet nach einem Degenwechsel schließlich auch trifft - alles schicksalhafte Zufälle, deren Logik nur im Nachhinein deutlich wird. Erst als Hamlet seinem treuen Freund Horatio am Ende des Dramas den Giftbecher entreißt, damit dieser weiterleben kann, um seine, Hamlets, Geschichte zu erzählen, vermag er die Fäden der Handlung noch einmal zu bündeln. Es zeigt sich, dass Hamlet damit am Ende seines Lebens nicht nur doch noch aus Wörtern eine Welt zu machen versteht, sondern darüber hinaus heroische Statur gewinnt. Aber sein Heroismus ist ironischer Natur; Hamlet wird ungewollt zum modernen Helden. Denn er gewinnt seinen Rang als tragischer Held nur dadurch, dass er die Geschichte seiner Geschichte höher bewertet als diese Geschichte selbst. Mit Worten soll Horatio vollbringen, was ihm als Handelndem nicht gelungen ist. Hamlet weist somit selbst über die Grenze der Tragödie hinaus, in deren Mittelpunkt er steht, und er stellt das Verständnis seines tragischen Schicksals einem späteren Publikum anheim - während für ihn selbst nur noch das große Schweigen bleibt. VII. Shakespeares Komödie und Tragödie im Vergleich Wir können somit Folgendes festhalten: die Wortwelten, die Shakespeare in seinen Komödien kreiert, sind prinzipiell anders als diejenigen, die in seinen Tragödien gelten. In den Komödien existieren Gestalten und Mächte, welche die Balance zwischen natürlicher und zivilisatorischer Ordnung und damit die Sicherheit der einzelnen Charaktere garantieren. Diese können sich im Rahmen der Komödie somit frei entfalten und selbst ein Spiel im Spiel integrieren und ironisch kommentieren. Der Zuschauer oder Leser weiß aufgrund der klaren Gruppenzugehörigkeit der einzelnen Charaktere, ihrer eindeutig definierten Sprachspiele und ihres nicht in Frage gestellten Selbstverständnisses, dass sie letztlich nicht zu Fall kommen werden. Ein geradezu kosmisches Wohlwollen, die weiße Magie ihres Schöpfers, garantiert nicht nur ihre Sicherheit, sondern auch ihre Freiheit im Umgang miteinander. In der Tragödie indessen ist der Held, der zum tragischen Helden werden wird, zunehmend isoliert. Dies geschieht weniger durch das Verhalten der anderen Charaktere als durch die Auflösung gewohnter Verhaltensmuster; durch unbekannte und bedrohliche Mächte, die als Schicksal auf den Plan treten; vor allem aber durch die - selbstverschuldete - zunehmende Entfremdung und das Anderssein des tragischen <?page no="137"?> Heide Ziegler 138 Helden. Während Shakespeare in der Komödie über das unbekümmerte, zum Teil gar närrische Treiben seiner Charaktere seine schützende Hand hält, entlässt er seinen tragischen Helden in eine noble, aber gefährliche individuelle Freiheit des Denkens und Handelns. Er weiß, dass der Held damit scheitern muss, weil er Chaos und Turbulenzen sowohl in der Natur als auch in der Gesellschaft hervorruft und weil sich - jedenfalls bei Shakespeare - letztlich immer wieder ein Ordnungswille in der Welt durchsetzt. Trotzdem gestaltet und verfolgt Shakespeare den Aufstieg und Fall seiner tragischen Helden mit größter Aufmerksamkeit und Sympathie, denn sie sind für ihn die Garanten alternativer Wortwelten, ohne die sich keine neuen Bewusstseinsformen entwickeln können. Gerade im Hamlet nimmt Shakespeare somit die Moderne vorweg. Er zeigt eine Welt, die aus Wörtern gemacht ist, und gut gemacht ist - im Gegensatz zu der Welt des Spiels im Spiel -, die aber keine Götter mehr besitzt, welche die Bedeutung dieser Wörter garantieren, weil sie nicht mehr den äußeren Rand der Wirklichkeit bilden. Literaturverzeichnis Assmann, Aleida: Einführung in die Kulturwissenschaft: Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen. Grundlagen der Anglistik und Amerikanistik 27. Erich Schmidt Verlag: Berlin, 2011. Coleridge, Samuel Taylor: Biographia Literaria, or Biographical Sketches of My Literary Life and Opinions. Edited with an introduction by George Watson. Everyman’s Library. Dutton: New York, 1965 [1906]. Gass, William H.: Fiction and the Figures of Life. Vintage Books: New York, 1972 Gass, William H.: The World Within the Word: Essays. Alfred A. Knopf: New York, 1979. Gass, William H.: Wie man aus Wörtern eine Welt macht: Essays. Hrsg. Heide Ziegler und Susan Bernofsky, aus dem Amerikanischen von Silvia Morawetz. Res i denz Verlag: Salzburg und Wien, 1995. Greenblatt, Stephen: Hamlet in Purgatory. Princeton University Press: Princeton und Oxford, 2001. Greiner, Bernhard: „The Birth of the Subject out of the Spirit of the Play within the Play: The Hamlet Paradigm”, in: The Play within the Play: The Performance of Meta-Theatre and Self- Reflection. Hrsg. Gerhard Fischen und Bernhard Greiner. Rodopi: Amsterdam und New York, 2007, S. 3-14. Lucking, David: „Hamlet and the Narrative Construction of Reality“. English Studies Vol. 89, No. 2, April 2008, S. 156-165. Nabokov, Vladimir: Pale Fire. Vintage International: New York, 1989 [1962]. Shakespeare, William: A Midsummer Night‘s Dream. Hrsg. Harold F. Brooks. The Arden Edition of the Works of William Shakespeare. Methuen: London und New York, 1979. Shakespeare, William: Hamlet. Hrsg. Harold Jenkins. The Arden Edition of the Works of William Shakespeare. Methuen. London und New York, 1982. <?page no="138"?> Literarische Spieltheorien oder Literatur als Gesellschaftsspiel Rotraud von Kulessa „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ (Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 1795). Die Tradition der Literatur als gesellschaftliche Praxis, in Form eines spielerischen Wettstreites, lässt sich von der Antike bis zum Ende des 18. Jahrhunderts feststellen. So entstand die Tragödie aus dem Dichterwettstreit im Kontext des Dionysoskults mit der Funktion der Erhaltung der gesellschaftlichen Ordnung. 1 Auch das Mittelalter kennt den Dichterwettstreit und die Praxis des höfischen Liebesgerichtes, wie sie am Hofe der Aliénord’Aquitaine belegt war und aus der in der Folge, ausgehend von Boccaccios Decameron, die Praxis des Novellenerzählens oder der Liebeskasuistik als Gesellschaftsspiel in einer Vielzahl von Werken vom ausgehenden Mittelalter bis zum Ende der frühen Neuzeit literarisch inszeniert wird. 2 Die Krise der Literatur als literarisches Gesellschaftsspiel bahnt sich mit der Ausdifferenzierung der Künste und dem aufklärerischen Topos der Zivilisationskritik erst im Laufe des 18. Jahrhunderts an. Mit dem sich im bürgerlichen Zeitalter durchsetzenden Arbeitsethos wird die Lektüre zum einsamen Privatvergnügen und steht fortan im Spannungsfeld zwischen romantischer Autonomieästhetik, gesellschaftlichem Engagement und nutzloser Zeitvergeudung. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zeugen die Entwicklungen der Avantgarden, wie dem Futurismus und dem Surrealismus, von dieser Spannung. In der Postmoderne hingegen geraten das Sprachspiel und die Lust am Text in den Fokus der Überlegungen zu Literatur und Spiel. Die Werke von Roland Barthes, die Vertreter der literarischen Bewegung Oulipo, Italo Calvino, Umberto Eco, Jorge Luis Borges demonstrieren beispielhaft das unerschöpfliche Spielpotential der Literatur. Es soll deshalb im Folgenden untersucht werden, inwiefern der Spielbegriff dazu taugt, Wesen und Funktion der Literatur als gesellschaftliche Praxis beschreibbar zu machen. Stefan Matuschek betitelt das erste Kapitel seines komparatistisch angelegten Werkes zu den literarischen Spieltheorien mit: „Spieltheorien, ein modisches Passepartout.“ 3 In der Tat lädt der Spielbegriff in seiner Mannigfaltigkeit und 1 Vgl. Joachim Latacz: Einführung in die griechische Tragödie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1993, S. 29ff. 2 Zu den Cours d’amour, vgl: Jacques Lafitte-Houssat: Troubadours et cours d’amour. Paris: PUF 1979. 3 Stefan Matuschek: Literarische Spieltheorie. Von Petrarca zu den Brüdern Schlegel. Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter 1998, S. 1. <?page no="139"?> Rotraud von Kulessa 140 Unbestimmtheit geradezu zum Spiel mit ihm ein. Von der Verführungskraft des Spielbegriffs zeugen in den letzten Jahren eine wachsende Anzahl von Werken, die in den Literatur- und Kulturwissenschaften versuchen, analog zur Mathematik oder zu den Wirtschaftswissenschaften den Spielbegriff theoretisch zu instrumentalisieren. 4 Der Spielbegriff in der Literaturtheorie hatte vor allem in der Postmoderne Hochkonjunktur und Stefan Matuschek stellt so zu Recht die Frage nach der Spieltheorie als „modischem Passe-Partout“, wobei die historische Semantisierung des Spielbegriffs zumeist vorschnell als Theorie postuliert wurde. Im Folgenden möchte ich deshalb trennen zwischen der historischen Semantisierung des Spielbegriffs und einem zweiten Teil, der dem Potential des Spielbegriffes für die Literaturwissenschaft gewidmet ist. I. Historischer Überblick über literarische Spieltheorien In der Antike finden sich bereits grundlegende Überlegungen zur Beziehung von Spiel und Literatur, die vor allem den philosophischen Dialog zum Gegenstand haben und die im bereits erwähnten Werk von Stefan Matuschek ausführlich dargestellt werden, 5 weshalb sie im Folgenden nur kurz zusammengefasst werden. So sei einleitend an Platon erinnert, der mit dem Spielbegriff das Menschenmaß im Gegensatz zum Göttlichen bemisst. Der Gegensatz von Ernst und Spiel bezieht sich im Phaidros auf Überlegungen zur Gattung des philosophischen Dialogs. Platon unterscheidet zwischen zwei Arten von Wissen, dem schriftlich fixierten Wissen und dem Wissen in Form des Gesprächs, dem er den Vorzug gibt, da er im Gegensatz zur erstarrten Schrift den Vorteil der Prozesshaftigkeit besitzt. Das geschriebene Wort als verlorenes und eitles wird verurteilt als Spiel (paidiá), dem der Ernst (spoudé) des philosophischen Dialogs gegenübersteht. Im Staat des Platon wird Spiel zur Metapher für die sokratische Ironie, indem das Spiel des Dialogs mit einem Brettspiel verglichen wird, bei dem der sokratische Spieler die geschickteren Spielzüge übt, womit die Überlegenheit des sokratischen Streitdialogs über den Sophismus demonstriert wird. Spiel wird hier zum Spiel mit Worten und es wird die Analogie von Spiel und Streit etabliert, die für die literarische Selbstreflexion bis zur Romantik konstitutiv scheint. Aristoteles stellt in seiner Poetik die Analogie von Mimesis und Spiel her, wenn er den Trieb des Wirklichkeit Nachahmens als dem Menschen angeboren erklärt. Mimesis bezeichnet dabei die Nachahmung der Wirklichkeit als Kunst des ‚so tun als 4 Brian Edwards: Theories of Play and Postmodern Fiction. New York 1998; Thomas Anz: Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen. München: Beck 1998; Ruth Sonderegger: Für eine Ästhetik des Spiels. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 2000; Johannes Merkel: Spielen, Erzählen, Phantasieren. Die Sprache der inneren Welt. München: Antje Kunstmann 2000; Jörg Neuwied: Alles ist Spiel. Zur Geschichte der Auseinandersetzung mit einer Utopie der Moderne. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005; Thomas Anz/ Heinrich Kaulen (Hrsg.): Literatur als Spiel. Berlin/ New York 2009; Jahn, Bernhard/ Schilling, Michael (Hrsg.): Literatur und Spiel. Zur Poetologie literarischer Spielszenen. Stuttgart: Hirzel Verlag 2010. 5 Diese Darstellung beruht auf Matuschek, ebd., S. 25-32. <?page no="140"?> Literarische Spieltheorien oder Literatur als Gesellschaftsspiel 141 ob‘. Der Spielbegriff, wie er sich in der Nikomachischen Ethik abzeichnet, zielt dagegen auf die Muße (scholé). Im Gegensatz zur Arbeit als Mittel zum Zweck erscheint Muße als Selbstzweck, der im Hinblick auf die Glückseligkeit definiert wird, insofern als Muße zwar Freiheit von praktischen Zwängen, zugleich aber Tätigkeit der höchsten, geistigen Fähigkeiten des Menschen sei. Der Glückseligkeit als „betrachtende Tätigkeit“ (theoría) in Form von Muße wird bei Aristoteles das Spiel als ebenfalls zweckfreie, aber niedere Tätigkeit gegenübergestellt. Das Spiel steht damit, wie die Muße, im Gegensatz zur Arbeit, führt aber nicht zur Glückseligkeit, sondern allein zur Erholung, die dazu dient, die Arbeitskraft wieder herzustellen. Aristoteles definiert in der Nikomachischen Ethik weiterhin die Grundsätze der geselligen Unterhaltung mit den Kriterien der Gewandtheit und der Angemessenheit. Wortgewandtheit (eutrapelía) entspricht dabei dem Mittelmaß, ein Kriterium, das wir im 16. Jahrhundert in Castigliones Libro del Cortegiano als Grundsatz der höfischen Konversation in Form von mediocrità wiederfinden. Die Verbindung von Soziabilität, Gespräch und Literatur liegt auch Ciceros Gesprächen in Tusculum zugrunde, in denen dieser das Ideal des otium cum litteris prägt. Die bisher genannten Werke wurden hier deshalb aufgeführt, weil sie den Konnex von Geselligkeit, Muße, Wahrheitssuche über den Spielbegriff in Einklang bringen und damit grundlegend erscheinen für eine literarische Praxis, wie sie uns im italienischen Trecento mit Boccaccios Novellensammlung des Decameron begegnet, in dem ein literarisches Spiel als gesellschaftliche Praxis inszeniert wird und der eine lange literarische Tradition von Texten begründet, die das Verhältnis von Literatur und Spiel in Form eines performativen Aktes reflektieren. In der italienischen Literatur des Trecento erscheint in Boccaccios Decameron literarisches Spiel als gesellschaftliche Praxis. Während in Florenz die Pest wütet, versammeln sich sieben junge Frauen und drei junge Männer in einem auf einem Hügel vor der Stadt gelegenen Haus, dessen Umgebung paradiesartig als locus amoenus gestaltet ist. Die „brigata onesta“ („ehrbare Gesellschaft“) unter der Führung von Pampinea, der ältesten der Damen, entwickelt dort eine Parallelgesellschaft, die nach festen Regeln funktioniert, die den Prinzipien der Ordnung („ordine“) und des Vergnügens („piacere“) gehorchen. 6 Pampinea schlägt vor, die Mittagszeit statt mit üblichen Spielen, wie Musizieren und Tanzen, Novellen erzählend („novellando“) 7 zu verbringen. Die zehn jungen Menschen werden fortan an zehn Tagen jeder je zehn Novellen vortragen. Pampinea, als Königin des ersten Tages, erklärt das Vorgehen: Jeder Erzähltag steht unter der Leitung einer Königin bzw. eines Königs, die das Thema des Tages bestimmen und die einzelnen Erzähler aufrufen. Es handelt sich beim Decameron wohl um das erste Werk der italienischen Literatur in der Volkssprache, das Literatur, hier in Form von Erzählen, als gesellschaftliche Spielpraxis mit festen Regeln inszeniert, wobei dieses Spiel dem Zweck dient, eine aus den Fugen geratene Realität wieder in eine gesellschaftliche Ordnung zurückzuführen. In der Tat erscheint der Decameron als Architext für eine Tradition des 6 Giovanni Boccaccio: Decameron (Hg.. Cesare Segre). Milano: Musia 1966, S. 43. 7 Ebd. S. 45. <?page no="141"?> Rotraud von Kulessa 142 literarischen Gesellschaftsspiels, das im Wechselspiel von literarischer und gesellschaftlicher Praxis darauf abzielt, gesellschaftliche Normen zu verhandeln, wovon zahlreiche Beispiele zeugen, von denen hier nur einige bedeutende genannt werden können: Geoffrey Chaucer: The Canterbury Tales (ca. 1387), Pietro Bembo: Gli Asolani (1505), Baldassare Castiglione: Il libro del Cortegiano (1528), Claude de Taillemont: Discours des Champsfaëz. A l’honneur, et exaltation de l’Amour des Dames (1553), Marguerite de Navarre: L’Heptaméron (1559), Scipione Bargagli: Trattenimenti (1578), Moderata Fonte: Il merito delle donne (1600), María de Zayas y Sotomayor: Novelas amorosas y ejemplares (1637); Parte segunda del sarao y entretenimiento honesto (1647), Charles Sorel: La maison des jeux (1642), Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächsspiele (1641/ 42). Fast allen diesen Werken ist gemein, dass in einer fiktiven Rahmenerzählung das literarische Gesellschaftsspiel als Parallelhandlung zu einer aus unterschiedlichen Gründen aus den Fugen geratenen realen Welt inszeniert wird und dazu dient, gesellschaftliche Ordnung wiederherzustellen. Häufig wird das inszenierte Spiel auch mit einem festlichen Kontext assoziiert, so mit Weihnachten/ dem Karneval bei María de Zayas und Scipione Bargagli, einer Hochzeitsfeier am Hofe der Caterina Cornaro in den Asolani des Pietro Bembo. Neben der ordnungsstiftenden Funktion des Spiels wird in allen Fällen - analog zu Ciceros Gesprächen in Tusculum - der Konnex zur Muße hergestellt, bei Marguerite de Navarre, María de Zayas und Scipione Bargagli wird darüber hinaus auf die therapeutische Funktion des literarischen Gesellschaftsspiels verwiesen. Folgen die Rahmenhandlungen also grundsätzlich dem Modell des Architextes - des Decameron -, so variieren doch die Formen der Spiele. Steht im Heptaméron der Marguerite de Navarre und den Novellas amorosas y ejemplares der María de Zayas das Novellenerzählen nach dem Modell des Boccaccio im Vordergrund, werden in den Asolani von Pietro Bembo in der vordergründigen Form der Liebeskasusitik der Cours d’amour in Dialogform unterschiedliche Diskursmodelle, nämlich das antike gegen das volkssprachliche, gegeneinander ausgespielt. 8 Im Libro del Cortegiano generiert das dialogische Spiel das Ideal des Hofmanns, in den Trattenimenti des Scipione Bargagli wird hingegen das gesamte Inventar der sienesischen Spielkultur vorgeführt und auch im Maison des jeux von Sorel geht es darum, unterschiedliche literarische und kulturelle Praktiken gegeneinander auszuspielen, die hier im Kontext der sogenannten Salonkultur stehen. Bei Moderata Fonte wird der Dialog zum Geschlechterstreit, der die Stadt Venedig zu einer Cité des dames à la Christine de Pizan werden lässt und damit die freiheitliche Ordnung der Stadt Venedig lobt und stabilisiert. In diesen Texten figuriert das literarische Spiel also ein sich gegenseitiges Generieren von literarischer und gesellschaftlicher Praxis, das gesellschaftliche Ordnungen entwirft, gesellschaftliche und kulturelle Normen re- 8 Vgl. Rotraud von Kulessa: „Das Wissen von der Liebe als Spiel”. In: Tobias Leuker/ Rotraud von Kulessa (Hrsg.): Nobilitierung versus Divulgierung? Strategien der Aufbereitung von Wissen in romanischen Dialogen, Lehrgedichten und Erzähltexten der frühen Neuzeit. München: Martin Meidenbauer 2011, S. 1-16. <?page no="142"?> Literarische Spieltheorien oder Literatur als Gesellschaftsspiel 143 flektiert, einen gesellschaftlichen Habitus generiert, so den des Hofmanns im Werke Castigliones und den des Akademiegelehrten in den Trattenimenti des Bargagli. In der Tat verzeichnet die Renaissance eine Hochkonjunktur des Spiels: „Wenn je eine bewusste und sich selbst absondernde Elite gesucht hat, das Leben in einem Spiel künstlicher Vollkommenheit zu fassen, dann ist es der Kreis der Renaissance gewesen“, so Johan Huizinga in seinem Werk Homo Ludens. 9 Peter Burke bezeichnet die Hochrenaissance als Zeitalter des Wettstreits. 10 Das Prinzip der imitatio und die damit einhergehende angestrebte aemulatio, d.h. die Nachahmung von Vorbildern und deren Überbietung, bilden in diesem Sinne den literarischen Wettstreit ‚par excellence‘. Deshalb möchte ich mich im Folgenden einigen Texten dieser Zeit zuwenden, die exemplarisch das Verhältnis von Literatur und Spiel im Konnex von literarischer Geselligkeit und Muße reflektieren. Im Kontext der sienesischen Renaissance-Akademien stehen die Werke der Gebrüder Girolamo und Scipione Bargagli, die Zeugnis ablegen wollen von der sienesischen Spielkultur der Renaissance. Der Dialogo de ’ giuochi des Girolamo Bargagli ist entstanden zu Beginn des 16. Jahrhunderts, erstmals gedruckt wird er allerdings erst 1572. Wie das Werk des Bruders zielt dieser Dialog darauf ab, das Leben der sienesischen Accademia degli Intronati nachzuzeichnen und sich damit der Macht der florentinischen Medices 11 gegenüber zu profilieren. In der Tat lassen sich die italienischen Renaissance-Akademien als Orte beschreiben, an denen sich die Mitglieder spielerisch mit Kunst, Literatur und den Wissenschaften beschäftigen, wobei diese Beschäftigung das gesellschaftliche Ideal des Akademiegelehrten hervorbringt, der sich unter anderem in seiner Doppelfunktion als zugleich Lehrender und Lernender auszeichnet, eine Funktion, die sich im spielerischen Wettstreit erfüllt und der moralischen und intellektuellen Vervollkommnung der Wettstreitenden gereicht: Oggi per questa voce d’Accademia - egli afferma - si debba intendere, e stimarsi, […] non esser altroch’uno addunamento di liberi, e virtuosi intelletti, con util, honesto e amichevol gareggiamento al saper pronti: li quali sotto lor propri leggi, in diversi e honesto studi, e principalemente di lettere, ora imparando, ora insegnando s’esercitino; per divenir ogni giorno più virtuosi e più dotti. 12 9 Johan Huizinga: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Hamburg: Rowohlt 2009, S. 196. 10 Peter Burke: Die europäische Renaissance. München: Beck 1998, S. 92. 11 Vgl. Scipione Bargagli: I Trattenimenti. A curadi Laura Riccò. Roma: Salerno Editrice 1989, Einleitung, S. xxxvff. 12 „[…] eine Zusammenkunft freier und tugendhafter Geister in ehrbarem und freundschaftlichem Wettspiel um die Bereitschaft zum Wissen: die sich nach eigenen Regeln in unterschiedlichen und ehrbaren Studien, vornehmlich der der Literatur, üben, zuweilen lernend, zuweilen lehrend, um jeden Tag tugendhafter und gelehrter zu werden.“ (eigene Übersetzung) <?page no="143"?> Rotraud von Kulessa 144 So schreibt Scipione Bargagli 1569 in seiner Lobesrede auf die Akademien, die er anlässlich der Wiedereröffnung der Accademia degli Accesi in Siena hielt. 13 Der spielerische Wettstreit innerhalb dieser Gemeinschaft von Gelehrten verweist auf die Dynamik des Wissens, das im spielerischen Prozess immer wieder neu ausgehandelt wird, bzw. in einer Dialektik von Wissensgenerierung und Wissenstransfer steht und auf die Perfektionierung des uomo universale abzielt. Diese Konstruktion eines gesellschaftlichen Ideals, das auf dem Konversationsspiel begründet ist, steht auch im Mittelpunkt des von Girolamo Bargagli verfassten Dialogo dei giuochi, in dem er insgesamt 130 solcher Spiele vorstellt, die er in seinem Vorwort folgendermaßen beschreibt: Or considerando che cosa sia questo giuocho, secondo ch’io sentii una volta dire da un dotto Intronato sopra ciò, per scherzo filosofando, e’ pare che dire non si possa altro che una festevole azzione d’una lieta e amorosa brigata, dove sopra una piacevole od ingegnosa proposta fatta da uno, come autore e guida di tale azzione, tutti gli altri facciano o dicano alcuna cosa l’un dall’altro diversamente, e questo a fin di diletto e d’intertenimento. 14 Matuschek nennt die Konstituenten dieses Gesellschaftsspiels: Dynamik (azzione), Regelhaftigkeit, Vergnügen und Unterhaltung. 15 Dabei verweist die „lieta e amorosa brigata“ wiederum auf die Tradition der mittelalterlichen cours d’amour wie auch auf den Architext des Decameron. Explizit nennt Bargagli an anderer Stelle eine weitere Quelle, nämlich das Buch des Hofmanns des Baldassare Castiglione, insbesondere im Hinblick auf die gemischt geschlechtliche Zusammensetzung der brigata. In der Tat wird die Konversation der „nobili e virtuose donne“ mit dem Hinweis auf Platons Symposiums valorisiert: „Il che volle insegnar Platone co l’introdurre Socrate a parlare e filosofar con Diotima, quasi mostrandoci che dalla conversazione di quella rara donna avesse Socrate apparata la perfezzione delle scienze e la sanità de’ costumi.” 16 Erkennt Bargagli der Akademiebewegung den höchsten philosophischen Anspruch der „perfezzione delle scienze” 17 zu, rekurriert er gleichzeitig auf die in der 13 Scipione Bargagli: „Delle lode delle Accademie”, 1569, in: ID.,Dell’Imprese di Scipion Bargagli gentil’huomo Sienese. Alla prima parte, la Seconda e la Terza nuovamente aggiunte, Venezia: De Franceschi, 1594, S. 512. 14 Girolamo Bargagli: Dialogo de‘ giuochi che nelle vegghie sanesi si usano di fare. A cara di P. D’Incalci Ermini. Introduzione di R. Bruscagli. Siena 1982, S. 69. „Um nun darzustellen, worin diese Spiele bestehen, […] scherzend zu philosophieren, und es scheint, man könnte nichts anderes sagen, als dass in einem festlichen Akt eine lustige und galante Gesellschaft über einen amüsanten und einfallsreichen Vorschlag, der von einem Mitglied gemacht wurde, das zugleich als Spielführer agiert, auf unterschiedliche Weise diskutiert, mit dem Ziel des Erfreuens und der Zerstreuung.” (eigene Übersetzung) 15 Stefan Matuschek, op.cit., S. 120. 16 G. Bargali, op.cit., p. 57. „Was Platon uns mitteilen wollte, als er Sokrates mit Diotima sprechen und philosophieren ließ, war, dass Sokrates aus der Konversation mit dieser einzigartigen Frau, die Perfektion der Wissenschaften und die Gesundung der Sitten herleiten konnte.” (eigene sinngemäße Übersetzung) 17 Stefan Matuschek, op.cit., S. 123. <?page no="144"?> Literarische Spieltheorien oder Literatur als Gesellschaftsspiel 145 Nikomachischen Ethik beschriebene Funktion des Spiels als Erholung (ricreazione) und führt so das zusammen, was Aristoteles sorgfältig trennt, nämlich das Spiel als Form des Philosophierens, als Erholung und als Idealform der Muße. Das akademische Spielideal beruht also auf der „Verschmelzung von philosophisch-literarischen Studien und dem erholsamen Vergnügen“ 18 : Trapassavano […] le fatiche e le noie delle studi con tanta dolcezza, e così congiunti con le lettere erano i loro piaceri che non si poteva discernere se gli studi erano i loro diletti, o se i dilleti erano i studi loro. Si trovavano insomma legati fra di loro d’un così stretto e affettuoso legame di vera amicizia. 19 Die Gemeinschaft der Spielenden erscheint dabei ebenso unauflösbar wie die Beziehung von „studi“ und „diletti“. In seinen Trattenimenti, die der sienesischen Mäzenatin Madonna Fulvia Spannochi de‘ Sergardi gewidmet sind, 20 fügt Scipione Bargali der Funktion des Spiels als Erholung noch die der Therapie gegen Melancholie in schweren historischen Zeiten hinzu. Analog zu Boccaccios Decameron beschreibt der narrative Rahmen des Werkes eine historische Ausnahmesituation, nämlich die Belagerung der Stadt Siena durch die Spanier und die Revolte gegen die Spanier im Jahre 1555. Wie die Pest im Decameron wird die Situation der Belagerung, die die gesellschaftliche Ordnung aus den Fugen geraten lässt und darüber hinaus die Festkultur des sienesischen Karnevals außer Kraft setzt, sehr ausführlich geschildert. In der Dialektik von Leid und Freude, Bitterkeit und Süße (dolce-amaro) entfaltet sich eine zusätzliche Funktion der spielerischen Geselligkeit in der Therapie gegen die Melancholie: S’aggiunge a quanto è stato detto, il riguardo avuto in questo luogo del potere nella ‘mpresa maniera meglio porvi davanti il caso avvenuto della ragunanza dell’onesta brigata, ch’in quel fortunoso tempo per iscacciar malinconia s’accolse insieme a prendere spasso e consolazione. 21 Die Spiele der Trattenimenti werden so eingangs als Mischung aus Liebeskasuistik, Novellenerzählung und Dichtung eingeführt: […] ne‘ tre ultimi giorni del carnovale di quell’anno che Siena dimorò con sí grave strettezza assediata, avvenne che da quattro nobili e vaghe donne e da cinque virtuosi giovani si mandarono ad effetto tra loro piú e varii giuochi gentili e d’ingegno nella forma e se- 18 Ebd., S. 123. 19 G. Bargali, op.cit., S. 137. „Sie verbrachten die Anstrengungen und die Unnannehmlichkeiten des Studierens mit so viel Süße, und ihre Freuden waren so sehr eins mit der Literatur, dass nicht zu unterscheiden war, ob ihre Studien ihre Freuden oder ihre Freuden ihre Studien waren. Untereinander waren sie genauso mit einem festen und herzlichen Band der wahren Freundschaft verbunden.” (eigene Übersetzung) 20 Die Trattenimenti wurden wohl vor 1569 verfasst, allerdings erst 1587 publiziert, vgl. Scipione Bargagli: I trattenimenti. A cura di Laura Riccò. Roma: Salerno Editrice 1989, Einleitung, S. lxix. 21 Ebd., S. 7. „[…] der Fall der Zusammenkunft der achtbaren Gesellschaft, die sich in dieser schicksalhaften Zeit zusammenfand, um die Melancholie zu vertreiben und Spaß und Trost zu finden.“ (eigene Übersetzung) <?page no="145"?> Rotraud von Kulessa 146 condo il bel costume antico della lor patria. Per eseguzione de’ qua’ giuochi vennero dalle predette donne e uomini proposte ed esaminate diverse quistioni d’amore e determinati varii amorosi dubii. Furon raccontati alcuni casi, avvenimenti, over novelle che si chiamino, e cantate ultimamente per maggior diletto in varie guise diverse canzonette. 22 Am Karnevalssonntag des Jahres trifft sich so die onesta brigata im Hause der Clarice, um nach dem Modell des Decameron und der Asolani den Trattenimenti als Ersatz für die Festivitäten des Karnevals zu fröhnen: Senza che a tali rispetti e cagioni s’aggiunga da me l’esempio de‘ due primieri autori di sí fatte materie nella lingua nostra, a’quali avviso di spiegare sotto finte voci i nomi delle donne e de gli uomini che condussero insieme a ragionare in simili loro trattati, l’uno dico, nel suo Decameron, ne gli Asolani suoi l’altro. 23 Wiederum analog zu Boccaccios Pampinea beginnt Clarice, als Älteste und als Hausherrin, die Spielregeln zu bestimmen. Wie der Erzähler zu Beginn des Rahmens der Trattenimenti hebt auch Clarice auf die therapeutische und gesundheitsfördernde- Funktion des Spiels ab: „Né a questa ora mi fa bisogno di farvi sapere quanta cura naturalmente si ponga e quanta opera sempre porsi debba in preservare intera la sanità de’ nostri corpi, come uno de’ primi e più importanti fondamenti dell’opere che uscir possono di noi […]” 24 . Fulvio schlägt daraufhin das erste Spiel vor, das „giuoco dell’insegne e delle bandiere“, das im Anschluss dialogisch, in Form eines performativen Aktes vorgeführt wird. Es handelt sich bei diesem Spiel um ein „giuoco di spirito e d’ingegno“, also um ein Spiel, das den Geist und den Intellekt fordert. Diese Spiele wurden, so die Gebrüder Bargagli, vorzugsweise vor dem Essen gespielt, wohingegen die Zeit nach dem Abendessen den „giuoci di scherzo e di piacevolezza“ 25 reserviert war, also den Spielen, die rein dem Vergnügen dienten und keinen oder wenig Bezug zur Literatur hatten. Das Spiel „dell’insegne o bandiere“, übersetzen könnte man dies sinngemäß mit dem Wappenspiel, reiht sich ein in die Tradition des Frauenlobs und steht somit in der Logik der Widmung der Trattenimenti. Die rhetorischen Sprachspiele rufen das literarische Gedächtnis der 22 Ebd., S. 10-11. „Und es geschah, während der letzten drei Tage des Karnevals des Jahres der Belagerung Sienas, dass vier anmutige Edeldamen und fünf tugendhafte Jünglinge zu verschiedenen ehrbaren und geistreichen Spielen in der schönen Tradition ihrer Heimatstadt zusammentrafen. Die Spiele der genannten Damen und Herren bestanden aus unterschiedlichen Fragen der Liebeskasuistik. Es wurden einige Novellen erzählt und schließlich zur größten Freude einiger, Lieder zum Besten gegeben.“ (eigene Übersetzung) 23 Ebd., S. 39-40. „Ich möchte nicht vergessen auf das Beispiel zweier der ersten Autoren solcher Materie in unserer Sprache hinzuweisen, die auch Frauen und Männer mit erfundenen Namen in ihren Traktaten diskutieren ließen, nämlich im Dcameron und in den Asolani.“ (eigene Übersetzung) 24 Ebd., S. 42-43. „Jetzt verspüre ich die Notwendigkeit, Ihnen mitzuteilen, wie viel Mühe wir darauf verwenden müssen, die Gesundheit unseres Körpers zu bewahren bei allem, was wir tun.“ (eigene Übersetzung) 25 Scipione Bargagli: Trattenimenti, S. 55. <?page no="146"?> Literarische Spieltheorien oder Literatur als Gesellschaftsspiel 147 Spielenden ab, wie übrigens auch die anschließenden Questioni d’amore, die auf die spätmittelalterliche Praxis der Liebesgerichte rekurrieren, wie wir sie bereits in Boccaccios Filocolo 26 beschrieben finden. Eine klassische Liebesfrage besteht so in der nach dem besseren Liebhaber: findet man diesen bei den Vertretern der Krieger oder bei denVertretern der Gelehrsamkeit? Ähnlich der scholastischen Disputatio werden die Rollen verteilt, am Ende steht der Schiedsspruch. Die Argumentation folgt den Regeln der antiken Rhetorik und dient dazu, die literarische Gelehrsamkeit und den geschickten Umgang mit derselben unter Beweis zu stellen. Spielerisches Merkmal ist hier neben dem Zufallsprinzip der Auswahl der Spielenden Agôn. Es handelt sich hierbei um einen literarischen Wettstreit, der auf dem Prinzip der imitatio-aemulatio als Spiel mit intertextuellen Versatzstücken beruht und zwar auf der Ebene der Rahmenhandlung wie auf der Ebene des Spiels selbst, wobei diese Doppelung auf die Selbstreflexivität ob des Spielcharakters verweist. Im 17. Jahrhundert insbesondere in Frankreich, aber auch in Spanien, so in den Novellensammlungen der María de Zayas bleibt der Konnex von gesellschaftlicher Vorbildlichkeit, literarischer Spielkultur und geselliger Unterhaltung, insbesondere in der so genannten Salonkultur, 27 von großer Bedeutung. Exemplarisch steht hierfür das nach dem Modell der italienischen Spielanthologien der Renaissance verfasste, Maison des jeux von Charles Sorel, 28 das 1642 in einer ersten Fassung mit dem selbst erklärenden Untertitel: „où se trouvent les divertissments d’une compagnie, par des narrations agréables, & par des jeux d’esprits, & d’autres entretiens d’une honneste conversation“ 29 erscheint. Ähnlich wie in den Trattenimenti handelt es sich bei den Spielen um eine Mischung vom Novellenerzählen, geistreichen Sprachspielen und geselligen Unterhaltungen. Die Widmung an eine Mademoiselle V.D.I verweist auf die damals mit dem Salon bleu der Marquise de Rambouillet entstehende Praxis der Salons. Es sei darauf hingewiesen, dass diese halböffentlichen Zusammenkünfte auch als Académies 30 bezeichnet wurden, wodurch wiederum die Verbindung zu den italienischen Rennaissanceakademien hergestellt wird. Gleich zu Beginn der Widmung stellt Sorel den Vergleich des Spiels mit einer Täuschung an: „Le jeu et la feinte estant la mesme chose […]“. 31 26 Giovanni Boccaccio: Filocolo. Bari: Laterza 1938, Buch IV. 27 Was die Problematik des Salonbegriffs angeht, möchte ich auf das Werk Antoine Liltis hinweisen (Antoine Lilti: Le monde des salons. Sociabilité et mondanité à Paris au XVIIIe siècle. Paris: Fayard 2005). 28 Vgl. Stefan Matuschek, op.cit., S. 129ff. 29 Charles Sorel: La maison des jeux. Ed. Daniel-A. Gajda, Genève: Slatkine 1977, S. xvii. „[…] indem man die Vergnügungen einer Gesellschaft, durch angenehme Erzählungen, geistreiche Spiele und andere Unterhaltungen der ehrbaren Konversation finden kann.” (eigene sinngemäße Übersetzung) 30 S. Myriam Dufour-Maître: Les Précieuses. Naissance des femmes de lettres en France au XVIIe siècle. Paris : Champion 2008, S. 249. 31 Charles Sorel, op.cit., S. aj. „Spiel und Verstellung sind die gleiche Sache.“ (eigene Ubersetzung) <?page no="147"?> Rotraud von Kulessa 148 Im weiteren Text wird sich zeigen, dass sich die „feinte“ nicht nur auf Literatur als Mimesis bezieht, sondern die Täuschung auch den gesellschaftlichen Kontext fokussiert. In der Tat sieht das in Anlehnung an Castigliones Libro del Cortegiano 1630 von Nicolas Faret 32 formulierte Soziabilitätsideal des „honnête homme“ die „honnête dissimulation“ 33 als Voraussetzung für das plaire, das den Anderen Gefallen, an, und damit als grundsätzliche Voraussetzung für den gelungenen Umgang in der Gesellschaft. Die Widmung entfaltet im Folgenden den Konnex von Spiel und Konversation, die nicht nur zur Unterhaltung gereichten, sondern durchaus ernsthafter Natur sind: C’est sincerement que je vous presente un Ouvrage qui en traitant d’une matière divertissante, ne laisse pas de nous mener à des choses sérieuses. Les plus belles conversations sont accompagnées de jeux, et celles où vous présidez chez vous, ne sont dépourvues de cet agrément. 34 In dem an die Leser gerichteten Vorwort wird die Ernsthaftigkeit dieses Spiels durch seine Zielsetzung erklärt. So handele es sich nämlich um eine Benimmanleitung für den „honnête homme“ der Salons. Analog zum Libro del Cortegiano des Castiglione und den Trattenimenti von Bargagli handelt es sich um einen Soziabilitätstext, in dem sich literarische und gesellschaftliche Praxis wechselseitig generieren und ein Soziabilitätsideal hervorbringen: den „honnête homme“ der Salons. Darüber hinaus entwickelt Sorel eine Hierarchie der Spiele, die er an die gesellschaftliche Vorbildlichkeit rückbindet: Mais en ce qui est des jeux dont nous parlons, la plupart ne peuvent plaire qu’à des personnes de bonne condition, nourries dans la civilité et la galanterie, et ingénieueses à former quantité de discours et de reparties pleines de jugement et de scavoir, et ne sauraient etre accomplis par d’autres ; C’est pourquoi nous les appelons des jeux d’esprit et de conversation, et par cette qualité ils se montrent estimables sur tous ceux qui sont d’une autre nature. 35 In der sich anschließenden Rahmenerzählung entwirft Sorel analog zum Decameron einen locus amoenus, dem allerdings kein locus orribilis gegenübergestellt wird: die vorbildliche Gesellschaft trifft sich vielmehr während eines schönen Herbstes in einem 32 Nicolas Faret: L‘honnête homme ou l’art de plaire à la cour. Genève: Slatkine 1970. 33 „ehrhafte Verstellung“ 34 Ebd., S. aij. „In ehrlicher Absicht präsentiere ich Ihnen ein Werk, das zwar von Zerstreuung handelt und uns dennoch zu ernsthaften Dingen führen wird. Die schönsten Unterhaltungen werden von Spielen begleitet, und diejenigen, denen sie bei sich vorstehen, entbehren nicht dieser Annehmlichkeit.” (eigene Übersetzung) 35 Ebd., S. ej-eij. „Aber was die Spiele angeht, von denen wir sprechen, so kann die Mehrzahl von ihnen nur Menschen von guter Herkunft gefallen, die mit Höflichkeit und Galanterie aufgewachsen sind, die einfallsreich sind im Halten von Reden und im vernünftigen und gelehrten Diskutieren, von anderen könnten sie nicht gespielt werden; deshalb nennen wir sie geistreiche Spiele der Unterhaltung und diese Qualität zeichnet sie aus gegenüber anderen Spielen.” (eigene Übersetzung) <?page no="148"?> Literarische Spieltheorien oder Literatur als Gesellschaftsspiel 149 prächtigen Landhaus; nach dem Modell der Chambre bleue und des Schäferromans tragen die Teilnehmer der „belle compagnie“ griechische Decknamen. Die Ironie im Subtext, in Bezug auf die Schäferromane, steht dabei im Kontext Sorels Reflexionen zur Gattung des Romans. Im dritten Teil des ersten Tages wird so ein Streitgespräch für und wider den Roman inszeniert. 36 Sorel greift mittels des literarischen Spiels in die Romandebatte ein, die das ganze 17. Jahrhundert durchzieht. 37 Wie in den Renaissancetexten und bei Boccaccio, und übrigens auch in der Salonpraxis selbst, gilt das Kriterium der Geschlechtermischung als Voraussetzung für die Vorbildlichkeit der „compagnie“. Die Rolle der Männer sei es dabei, den Frauen auf angenehme Art und Weise die Zeit zu vertreiben. Weiterhin gehören die männlichen Mitglieder der Gesellschaft sowohl dem Amtsadel als auch dem Schwertadel an. Es zeigen sich hier also jene Demokratisierungstendenzen, die auch den Raum der Salons auszeichnen. Der erste Teil des Maison des jeux stellt wiederum die Verbindung von Spiel und otium her, im Gegensatz zum negotium, das übrigens drei der Spieler in Paris aufgehalten hat. Das Spiel beginnt damit, dass diese drei zu spät Gekommenen dazu verurteilt werden zu erzählen, weshalb sie in Paris zurückgehalten wurden, sodass der Erzählrahmen das erste Spiel des Geschichten-Erzählens generiert. Der Teil schließt mit den Überlegungen Hermogènes zur Hierarchie der Spiele, bei denen die Gesprächsspiele an erster Stelle stehen. 38 Auch im Maison des Jeux basiert das Spiel auf dem intertextuellen Spiel, auf dem kulturellen Gedächtnis der Literatur, wobei auf der Gesprächsebene Fragen der Gattungshierarchie verhandelt werden, so in Form der Disputatio für und wider den Roman, für und wider die Komödie (im 3. Teil). Das Haus der Spiele des Sorel wird so zur Allegorie der französischen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts, in der diese eng mit der Literatur verwoben ist 39 und in der das Gelingen des Spieles als „feinte“ zum Kriterium gesellschaftlicher Vorbildlichkeit wird. 40 Im Laufe des 18. Jahrhunderts gerät die gesellschaftliche Qualität des rechten Spielers, die sich vor allem aus der adeligen Mußegesellschaft herausbildet, allerdings zunehmend in eine Krise. Die Zivilisationskritik, die sich am Gesellschaftsideal des „honnête homme“ entzündet, ist dabei schon lang vor Jean-Jacques Rousseaus Discours sur les sciences et les arts und seiner im Lettre à d’Alembert zum Ausdruck gebrachten Theaterkritik zum literarischen Topos erstarrt. Allerdings bleibt das Spiel der geselli- 36 Charles Sorel, op.cit., S. 388-401. 37 Zur Romandebatte des 17. Jahrhunderts in Frankreich, vgl. Camille Esmain: Poétiques du roman. Scudéry, Huet, Du Plaisir et autres textes théoriques et critiques du XVIIe siècle sur le genre romanesque. Paris: Champion 2004. 38 Charles Sorel, op.cit., S. 151-160: „[…]où l’on répond à quelques questions ou l’on raconte quelque Histoire.“ 39 Zum Zusammenhang von Literatur und Gesellschaft im Grand siècle, vgl. Emmanuel Bury: Littérature et politesse. L’invention de l’honnête homme. Paris: PUF 1996. 40 Stefan Matuschek sieht im Maison des jeux gar einen „Grundstein einer Spielals Kulturtheorie“ (ebd., S. 131). Weiterhin schließt er seine Ausführungen zu Sorel: „Damit stellt La Maison des jeux die Selbstreflexion der literarisch gesellschaftlichen Spieltheorie dar. Ihr Ergebnis ist die Spannung zwischen literarischer Utopie und ritueller gesellschaftlicher Selbsttäuschung als Selbstbeschäftigung“ (ebd., S. 139). <?page no="149"?> Rotraud von Kulessa 150 gen Unterhaltung in der philosophischen Literatur wie auch in der Erziehungsliteratur und zum Zweck der Divulgierung von Wissen weiterhin ein funktionierendes Modell, wie zum Beispiel in der erfolgreichen Erziehungs- und Kinderliteratur der Marie Leprince de Beaumont. 41 Mit dem im bürgerlichen Zeitalter aufkeimenden Arbeitsethos wird die Lektüre zunehmend zum einsamen Privatvergnügen und steht fortan im Spannungsfeld zwischen Autonomieästhetik, gesellschaftlichem Engagement und nutzloser Zeitvergeudung. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zeugen die Entwicklungen der Avantgarden, wie zum Beispiel der Surrealismus, von dieser Spannung. In der Postmoderne geraten im Sprachspiel zunehmend die Lust am Text, aber auch die Metareflexion über die Möglichkeiten der Literatur in der Vordergrund, die es im Spiel zu ergründen gilt: So demonstrieren die Mitglieder von OuLiPo das unerschöpfliche Spielpotential der Literatur. Es sollen deshalb als Abschluss des historischen Teils die spieltheoretischen Überlegungen der Surrealisten und der Gruppe OuLiPo betrachtet werden. Bereits im Manifeste du Surréalisme aus dem Jahre 1924 unterstreicht André Breton unter dem Einfluss von Sigmund Freuds Traumdeutung und dessen Überlegungen zum Dichter und dem Phantasieren die Bedeutung des zweckfreien Spiels neben der Allmacht des Unbewussten im Traum, um zu einer höheren Wahrheit zu gelangen: […] automatisme psychique pur, par lequel on se propose d ’ exprimer, soit verbalement, soit par écrit, soit de toute autre manière, le fonctionnement réel de la pensée. Dictée de la pensée, en l ’ absence de tout contrôle exercée par la raison, en dehors de toute préoccupation esthétique ou morale […] Le surréalisme repose sur la croyance à la réalité supérieure de certaines formes d ’ associations négligées jusqu ’à lui, à la toute-puissance du rêve, au jeu désintéressé de la pensée. Il tend à ruiner définitivement tous les autres mécanismes psychiques et à substituer à eux dans la résolution des principaux problèmes de la vie. 42 Das zweckfreie Spiel wird damit mit dem Traum zum integralen Bestandteil der écriture automatique. Wie Emmanuel Garrigues in seiner Präsentation der Jeux surréalistes zu Recht hervorhebt, ist das Spiel der Surrealisten ein wesentliches Spiel, das keine Unterschei- 41 Vgl. Laurence Vanoflen, „La conversation, une pédagogie pour les femmes? “, in: Marie- Emannuelle Plagnol/ Isabelle Brouard-Arends (Hrsg.): Femmes éducatrices au siècle des lumières, Rennes, Presses Univ. de Rennes, 2007, S.183-196. 42 André Breton: Manifeste du Surréalisme (1924). In: ders. Manifestes du Surréalisme. Paris: Gallimard 1975, S. 37. „[…] Reiner psychischer Automatismus, durch den man mündlich oder schriftlich oder auf jede andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung. […] Der Surrealismus beruht auf dem Glauben an die höhere Wirklichkeit gewisser, bis dahin vernachlässigter Assoziationsformen, an die Allmacht des Traums, an das zweckfreie Spiel des Denkens. Es zielt auf die endgültige Zerstörung aller anderen psychischen Mechanismen und will sich zur Lösung der hauptsächlichen Lebensprobleme an ihre Stelle setzen.“ (eigene Übersetzung) <?page no="150"?> Literarische Spieltheorien oder Literatur als Gesellschaftsspiel 151 dung zwischen ernsten und nicht ernsten Spielen zulässt. 43 Rückblickend hält André Breton so 1954 in der Zeitschrift Medium fest: S ’ il est, dans le Surréalisme, une forme d ’ activité dont la persistance a eu le don d ’ exciter la hargne des imbéciles, c ’ est bien l ’ activité de jeu dont on retrouve trace à travers la plupart de nos publications de ces trente-cinq dernières années. 44 Die literarischen Spiele der Surrealisten, die in ihren Formen durchaus denen der Renaissance ähneln, dienen so der Unterhaltung, als Untersuchungsmethode und vor allem auch dem Gruppenzusammenhalt: „D ’ emblée, elle [l ’ activité de jeu; R.v.K.] se montra propre à resserrer les liens qui nous unissaient, favorisant la prise de conscience de nos désirs en ce qu‘ils pouvaient avoir de commun.“ 45 Wie in der Renaissance generiert das Spiel ein Soziabilitätsideal, nämlich nunmehr das des surrealistischen Dichters, wobei dieses Spiel und dieses Ideal nicht mehr ordnungsstiftend wirken, sondern vielmehr gesellschaftliche Provokation bezwecken. Der Zweckfreiheit der Literatur hingegen hat sich die Gruppe OuLiPo verschrieben, allerdings in Absage an jegliche Genieästhetik. Der Akzent des Ouvroir de littérature potentielle liegt vielmehr auf dem imaginären Ort der literarischen Produktion als Werkstatt und der Eigenschaft der Potentialität der Literatur. Der ursprünglich rein französische Autorenkreis, dem nach und nach ausländische Schriftsteller assoziiert wurden, wie auch Italo Calvino, wurde 1960 von dem Mathematiker François Le Lionnais und dem Schriftsteller Raymond Queneau begründet. Seit über 50 Jahren treffen sich die Mitglieder nun, analog zur Salonkultur des Ancien Régime, jeden Donnerstagabend zum Essen, um ihre literarischen Sprachspiele zu betreiben, die den Zweck haben, „die Spracherweiterung durch formale Zwänge“ 46 zu erreichen. Die Spielregel besteht hier in der contrainte, dem Zwang, der das Sprachmaterial gleichsam beschränkt und literarische Techniken wiederbelebt bzw. neu entdeckt, um alte Literatur neu zu bearbeiten oder aber neue Literatur zu generieren. So sind ursprünglich zwei Disziplinen zu unterscheiden: l’anoulipisme oder OuLiPo analytique, der die bereits vorhandenen literarischen Werke auf ihre Potentialität hin untersucht 43 Emmanuel Garrigues (Hrsg.): Les jeux surréalistes. Paris: Gallimard 1995, S. 13: „Les surréalistes jouent; ils jouent très sérieusement, ou, plus exactement, ils refusent la distinction entre ce qui est sérieux et ce qui n’est pas sérieux, car ce refus fait partie de leur combat; ils jouent à l’essentiel.“ 44 A. Breton: „L ’ un dans l ’ autre“, Medium nr. 2, février 1954, S.17. „Wenn es im Surréalismus eine Aktivität gegeben hat, deren Nachhaltigkeit die Fähiglkeit besaß, die Streitsucht der Dummköpfe zu provozieren, dann war es die Aktivität des Spiels, deren Spuren man in den meisten unserer Publikationen der letzten fünfunddreißig Jahre findet. “ (eigene Übersetzung) 45 Ebd., S. 17. „Im Großen und Ganzen besaß sie [die Aktivität des Spiels; R.v.K] die Eigenschaft, die Beziehungen, die uns verbanden, zu stärken, indem sie die Bewußtwerdung unserer Wünsche in ihren Gemeinsamkeiten ermöglichte.“ (eigene Übersetzung) 46 Zur literarischen Bewegung Oulipo, vgl.: Heiner Boehnke/ Bernd Kuhn: Anstiftung zur Poesie. Oulipo-Theorie und Praxis der Werkstatt für potentielle Literatur. Bremen 1993; Uwe Schleypen: Schreiben aus dem Nichts. Gegenwartsliteratur und Mathematik. D as Ouvroir de littérature potentielle. München: Meidenbauer 2004. <?page no="151"?> Rotraud von Kulessa 152 und der synthoulipisme (Ou Li Posynthétique), der sich der Generierung neuer literarischer Strukturen verschrieben hat. Der primär orale Charakter der Versammlungen, der elitäre Anspruch ihrer Mitglieder, die Regelhaftigkeit der Sprachspiele in Form von Lipogramm, Monogramm, Pangramm, etc. verweisen auf die Akademiespiele der italienischen Renaissance, allerdings steht im Zeitalter der Postmoderne die Selbstreflexivität der Literatur im Vordergrund. Auch diversifizieren sich die Spielräume des literarischen Spiels, wie die aufwändige Internetseite der OuLiPo-Bewegung zeigt. 47 Das Spiel in der Literatur ist also nach wie vor allgegenwärtig. Es erscheint als literaturhistorische Klammer und beschreibt Wesen und Funktion der Literatur als gesellschaftliche Praxis. II. Spieltheorien und Literaturwissenschaft Brian Edwards spricht in seinem Werk mit dem Titel Theories of Play and Postmodern Fiction vom „game as an attractive metaphor to apply to literature.“ 48 Thomas Anz kritisiert die postmoderne Konjunktur des Spielbegriffs in seiner Rezension der Publikationen von Stefan Matuschek, Johannes Merkel und Ruth Sonderegger. 49 Bleibt der postmoderne Spielbegriff, so Anz, häufig wenig konturiert, beinhaltet er darüber hinaus unter Umständen die Gefahr des Anachronismus bei der Anwendung auf die älteren Literaturen. Um der Kritik an der Unklarheit des postmodernen Spielbegriffs zu entgehen, soll im Folgenden auf die anthropologischen Spieltheorien von Huizinga und Caillois eingegangen und über ihre Funktionalisierung für eine mögliche literaturwissenschaftliche Spieltheorie nachgedacht werden. In seinem Homo ludens (1938) beschreibt Johan Huizinga die Entfaltung der menschlichen Kultur im Spiel und als Spiel. 50 Das Spiel versteht Huizinga als Form von Aktivität, als sinnvolle Form und als soziale Funktion. 51 Es befriedigt Ideale des Ausdrucks und des Zusammenlebens, 52 dabei ist es abgeschlossen und begrenzt. 53 Die räumliche Begrenzung des Spielraumes gehorcht einer inneren Ordnung. 54 Im Falle von Regelübertretungen kommt es dagegen zum Zusammenbruch des Spiels. 55 Ein weiteres Charakteristikum des Spiels ist nach Huizinga das der Wiederholbar- 47 http: / / www.oulipo.net., 05.09.2012. 48 Brian Edwards: Theories of Play and Postmodern Fiction. New York/ London: Garland Publishing 1998, S. 14. 49 Thomas Anz: „Literaturtheorie als Spieltheorie“. In: literaturkritik.de, 5. Mai 2001, http: / / www.literaturkritik.de/ public/ rezension, 13.09.2012. 50 Johan Huizinga: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Hamburg: Rowohlt 2009, S. 12- 13. 51 Ebd., S. 12. 52 Ebd., S. 17. 53 Ebd., S. 18. 54 Ebd., S. 19. 55 Ebd., S. 19. <?page no="152"?> Literarische Spieltheorien oder Literatur als Gesellschaftsspiel 153 keit. 56 Aus der Regelhaftigkeit und der Wiederholung heraus ergibt sich so die ordnungsschaffende Funktion des Spiels. Zwei Kapitel des Homo ludens sind ausdrücklich dem Verhältnis von Literatur und Spiel gewidmet. Im siebten Kapitel „Spiel und Dichtung“ unterstreicht Huizinga die soziale, vitale und liturgische Funktion der Poesie. So gehören alle Aktivitäten der poetischen Formgebung in die Sphäre des Spiels. 57 Der Mensch dichte, weil er in Gemeinschaft spielen muss. Auch Huizinga unterstreicht hier die Annahme, bei Dichtung handele es sich um ein Gesellschaftsspiel. 58 Der französische Soziologe Roger Caillois 59 entwickelt 1958 Huizingas Spieltheorie weiter im Hinblick auf die Beschreibbarkeit von Gesellschaften mitttels der Kategorie des Spiels. Er entwickelt so eine Klassifizierung vier möglicher Spielhaltungen: 60 1. Agôn als Wettkampf, bei dem der Einzelne aus Ehrgeiz heraus bestrebt ist, innerhalb des geregelten Wettkampfes zu siegen; 2. Alea als das Glücksspiel, das dem Zufall unterliegt; 3. Mimikry als Neigung, in eine fremde Rolle zu schlüpfen; 4. Ilinx als das Streben nach Rausch. Die vier Spielhaltungen werden von Caillois zu den entgegengesetzten Spielweisen von ludus und paidia in Verbindung gesetzt. Während ludus eher ein zweckgerichtetes diszipliniertes Spiel charakterisiert, bezeichnet paidia den ungezügelten Spieltrieb. Agôn als Spielhaltung würde somit eher durch ludus charakterisiert, während Ilinx paidia zuzurechnen wäre. Im Folgenden versucht sich Caillois in einer Soziologie des Spiels, wobei Kunst und Literatur wenig Beachtung finden. Einzig der Bereich des Theaters wird als Beispiel für die Spielform der Mimikry angeführt. Es soll auch nicht verschwiegen werden, dass Caillois im zweiten Teil seines Werkes eine Entwicklungsgeschichte der Zivilisation entwirft, die im postkolonialen Kontext nicht mehr haltbar ist. So dominierten Ilinx und Alea in primitiven Völkern, Agôn und Mimikry hingegen werden als Belege für zivilisierte Kulturen angeführt. Wolfgang Iser 61 hat bislang wohl am konsequentesten versucht, die Kategorien von Caillois für die Literaturtheorie nutzbar zu machen. Das Spiel erscheint bei ihm als Strukturbegriff, der das komplexe Verhältnis mehrerer Sinnebenen im literarischen Text reflektiert. Im Kontext von Isers anthropologischen Überlegungen zum Fiktiven und zum Imaginärem erscheint das Textspiel als „Hin- und Her zwischen dem, was in den Text eingegangen ist, und der Referentialität, aus der es herausgebrochen wurde“, wobei er sich dabei auf Gadamers Konzept der zweckfreien Spielbewegung als Hin- und Her bezieht. 62 Das Wechselspiel zwischen Fiktivem und Imaginären wird damit zum Kippspiel, bei dem das Fiktive dem Imaginärem Gestalt gewährt. Das Kippspiel entspräche, so Iser, dem englischen Begriff play, dem weit 56 Ebd., S. 18. 57 Ebd., S. 146f. 58 Ebd., S. 135. 59 Roger Caillois: Les jeux et les hommes. Paris: Gallimard 1958. 60 Ebd., S. 25f. 61 Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1991. 62 Ebd., S. 406. <?page no="153"?> Rotraud von Kulessa 154 gefassten Begriff des Spiels als Spielen. Das game ergibt sich durch „ein bestimmtes Ausagieren dessen, was im endlosen Spiel alles angelegt ist.“ 63 Es handelt sich hierbei um ein regelhaftes Spiel. Iser bringt im Folgenden Caillois Spielkategorien dergestalt zur Anwendung, dass er sie als Spielformen definiert, die in jedem Text mit je unterschiedlicher Dominanz angelegt sind und aus deren Zusammenspiel sich das Textspiel ergibt. Im Laufe der Geschichte dominieren dabei jeweils unterschiedliche Formen. In älteren Texten erscheine so Agôn als dominant, während in modernen und insbesondere postmodernen Texten Alea überwiege. 64 Den Sonderfall der Inszenierung des Spiels im Textspiel bezeichnet Iser mit „agôn als mimicry“. 65 Wie Iser eindrücklich zeigt, scheinen die Spielformen nach Caillois grundsätzlich als literarische Analysekategorien 66 geeignet und ihre anthropologische Dimension verweist insbesondere auf die Frage nach der Beziehung zwischen Literatur und Gesellschaft. III. Perspektiven und Zusammenfassung In ihrem 2010 erschienem Sammelband mit dem Titel Literatur und Spiel 67 versuchen Bernhard Jahn und Michael Schilling einleitend mögliche Beziehungen zwischen Literatur und Spiel zu systematisieren und kommen so auf sechs mögliche Relationen, die jeweils an Beispielen exemplifiziert werden: 1. Spiel als Attribut und Kolorit (Rolandslied), 2. Spiel als Katalysator und Zentrum der Handlung (Nibelungenlied), 3. Spiel als Konstruktionsbasis literarischer Texte (Wartburgkrieg), 4. Metaphorische und allegorische Verwendung von Spielen (Hartmann von Aue: Erec), 5. Spiele mit Literatur (G. Ph. Harsdörffer: Frauenzimmergesprächsspiele), 6. Spiele in der Literatur als Auseinandersetzung mit Spieltheorien (Hermann Hesse: Das Glasperlenspiel). Ich möchte nun im Folgenden auf die im ersten Teil dargestellten Werke zurückgreifen, die mehrere der von Jahn und Schilling aufgeführten Relationen vereinen, nämlich die Varianten 1, 3, 5 und 6 und an ihnen abschließend exemplarisch das Potential für die Anwendung des anthropologischen Spielbegriffs als literaturwissenschaftliche Analysekategorie darstellen. In den Texten, die nach dem Modell des Decameron im Zeitraum einer weit gefassten frühen Neuzeit vom ausgehenden Mittelalter bis zum 17. Jahrhundert produktiv sind, und die wir in Anlehnung an Klaus Hempfers 68 Konzepts des ‚literari- 63 Ebd., S. 443. 64 Ebd., S. 453ff. 65 Ebd., S. 456. 66 Iser verweist in seinem Unterkapitel 4 (Spielen und Gespieltwerden, S. 468ff) zu Recht auch auf die Rolle des Lesers im Textspiel, eine Perspektive, die hier aus Gründen der Komplexität der Fragestellung ausgeblendet wurde. 67 Bernhard Jahn/ Michael Schilling (Hrsg.): Literatur und Spiel. Zur Poetologie literarischer Spielszenen. Stuttgart: Hirzel Verlag 2010, Einleitung, S. 7-26. 68 Klaus W. Hempfer: „Probleme der Bestimmung des Petrarkismus. Überlegungen zum Forschungsstand“. Stempel, Wolf-Dieter/ Stierle, Karl-Heinz (Hrsg.): Die Pluralität der Welten. Aspekte der Renaissance in der Romania. München 1987, S. 253-277. <?page no="154"?> Literarische Spieltheorien oder Literatur als Gesellschaftsspiel 155 schen Systems‘ als System des literarischen Gesellschaftsspiels bezeichnen wollen, lassen sich folgende Systemkonstituenten ausmachen: Eine Rahmenerzählung inszeniert ein Spiel und definiert dessen Regeln, wobei der Anlass des Spiels aus einer Ausnahmesituation resultiert: eine aus den Fugen geratene Welt bewirkt die Flucht in eine Parallelwelt, in der Regel toposhaft als locus amoenus dargestellt, die mittels der Regelhaftigkeit des Spiels die aus den Fugen geratene gesellschaftliche Ordnung wieder herstellt. Häufig ist diese spielende Gemeinschaft, deren Teilnehmer in der Regel dem Kriterium gesellschaftlicher Vorbildlichkeit gehorchen im Kontext einer spezifischen Festkultur situiert und verweist damit auf den rituellen Charakter des Spiels. Der in allen Texten sich wiederholende Rekurs auf den Architext des Decameron verstärkt dabei die ritualisierende Wirkung des Spiels und wirkt damit beim Rezipienten stabilisierend. Grundlegende Formen der Spiele selbst sind Agôn und zwar auf der Ebene der Rahmenerzählung wie auch auf der Ebene der Spiele selbst, und zwar mittels des Prinzips der imitatio-aemulatio, d.h. also der Intertextualität sowie Mimikry, dem Rollenspiel, das dem performativen Charakter der Texte entspricht. Die literarischen Dialoge, das Geschichten-Erzählen, das Dichten werden in Form eines performativen Aktes narrativ inszeniert. Im literarischen System des literarischen Gesellschaftsspiels erscheint so Agôn als Mimikry. Das literarische Spiel des Agôn als Mimikry birgt das Bewusstsein der Spielenden (Figuren/ Leser) ob ihres Spiels und verweist auf die Selbstreflexivität der Literatur. Dabei beinhaltet Agôn 69 auch immer die Komponente des Streits, so dass wir uns im Spiel dem permanenten Aushandeln von Diskursen ausgesetzt sehen, wobei dieses Aushandeln im Wechselspiel von gesellschaftlicher und literarischer Praxis häufig zur Generierung von Soziabilitätsmodellen führt. In der höfischen Gesellschaft war dabei das Soziabilitätsideal gekoppelt an die Frage einer Ethik der Muße. Funktionen (Rekreation, Therapie, Ordnungstiften) und Form der Muße (als otium cum literis) bedingen sich dabei gegenseitig. Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts und insbesondere im 19. Jahrhundert scheint Literatur sich nicht mehr ohne Weiteres als Agôn als Mimikry beschreiben zu lassen. Die experimentellen Ansätze der romantischen Poesie, die Autonomieästhetik, rücken das formale Potential der Literatur in den Vordergrund. Die Lust an der ästhetischen Betrachtung, das Mußekonzept eines Kant, verweisen auf eine Verinnerlichung der literarischen Praxis. Ilinx (Rausch) und Alea (Zufall) gewinnen nun, und insbesondere in der Postmoderne, zunehmend an Bedeutung. Dabei begründen frühneuzeitliche Intertextualität wie postmoderne Intertextualität in ihrem agonalen Charakter als Konstante das Bewusstsein ob des Spielcharakters der Literatur. Allerdings lässt sich auch in der Postmoderne das literarische Spiel nicht auf Selbstbezüglichkeit reduzieren. Wie die Darstellung der surrealistischen Überlegungen zum Spiel sowie die Darstellung der OuLiPo-Bewegung zeigen, hat das literarische Spiel nach wie vor identitätsbildende und gruppenstiftende Funktion, wenn es auch nicht mehr darauf abzielt, Idealvorstellungen zu generieren und Ordnung zu stiften, sondern vielmehr herkömmliche Ordnungsmuster zu dekonstruieren und zu 69 Vgl. auch Iser, S. 452f. <?page no="155"?> Rotraud von Kulessa 156 destabilisieren. Gehören die, in all diesen Texten generierten und darüber hinaus immer komplexer werdenden, virtuellen Spielräume (von den Akademien hin zur Webseite von OuLiPo) zum Bereich elitärer Kulturen, zeugt das literarische Gesellschaftsspiel auch von Produktivität im Bereich der Populärkulturen. Zwischen Provokation und identitärer Rückversicherung lässt sich so die heute sehr beliebte Praxis der slampoetry situieren, die sich unter Rückgriff auf die etablierte literarische Tradition des Dichterwettstreits in den Kontext der Jugendkulturen einschreibt und die, wie Rap, Beat-Boxing, etc., für die Jugendlichen identitätsstiftende Funktion inne haben. Das literarische Gesellschaftsspiel in Kombination der Spielformen von Agôn, Mimikry, Ilinx und Alea hat damit auch für unsere heutige Kultur nichts von ihrer Produktivität eingebüßt und zeugt von der Produktivität des Spielbegriffs für eine Literaturanthropologie. Literaturverzeichnis Anz, Thomas: Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen. 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Jahrhunderts der (durchaus problematischen) Herausbildung eines eigenständigen Systems der Literatur als Kunst 2 im Wege stand, und dazu zählen auf der Produktionsseite die unbzw. semiprofessionellen Autoren, die zunächst v.a. vom Adel gestellt, zunehmend jedoch mit den schreibenden Frauen identifiziert werden (im Dilettantismus); sodann die spezifische Ausrichtung literarischer Texte auf deren emotionale Wirkung (im Kitsch), die geringen Bildungsvoraussetzungen sowie die historische Kontextgebundenheit der Werke (in der Trivialliteratur) und schließlich die Verworfenheit der behandelten Themen im doppelten Wortsinn - als moralische Niedertracht und als kulturelles Abjekt (im Schmutz und Schund). Bei den genannten Begriffen handelt es sich durchweg um operationale Konzepte, die, wie schon die Betonung ganz heterogener Aspekte zur Kennzeichnung ‚schlechter Literatur‘ verrät, entgegen ihrer eigenen Intention keine essentialistische Beschreibung unternehmen, sondern vielmehr historisch variable Kategorien darstellen, deren Funktion zuvorderst die Unterscheidung - bzw. genauer: die Unterscheidbarkeit - zwischen Literatur als Kunst und ihrem unkünstlerischen Komplement bildet. Denn Letzteres taucht an zwei Positionen des literarischen Diskurses auf: Es ist einerseits defizient gegenüber der eigentlichen Literatur (i.S. von schlechter Literatur); andererseits erscheint es aber auch als das schlechthin Andere von Literatur (i.S. von Un- oder Nicht-Literatur). Diese merkwürdige Ambivalenz zwischen Defizienz und Alterität, zwischen Abwertung (ästhetische Differenz) und 1 Umfassendere analytisch-deskriptive Studien hierzu sind nach wie vor selten. Vgl. zur Trivialliteratur die frühe Arbeit von Schulte-Sasse 1971, zum Dilettantismus Blechschmidt/ Heinz 2007, zum Schmutz und Schund Storim 2002, zum Kitsch den Sammelband von Braungart 2002 sowie die Monografie von Putz 1994. 2 Vgl. Schmidt 1989: 409ff.; Eibl 1995: 134ff.; kritisch dazu Günter 2008. <?page no="159"?> Günter Butzer 160 Ausgrenzung (kulturelle Differenz) scheint mir zentral für das Verständnis dieser Literatur an der Schwelle zur Nicht-Literatur. Nachvollziehbar wird sie erst, wenn man die Beziehung von Literatur als Kunst und als Nicht-Kunst historisch betrachtet und damit die Ko-Evolution der beiden Konzepte in den Blick nimmt. Kant, der einer der wichtigsten Agenten dieses Prozesses gewesen ist, macht den Ausgangspunkt der Ko-Evolution sichtbar, wenn er in § 44 der Kritik der Urteilskraft zwischen den schönen und den angenehmen Künsten unterscheidet. „Angenehme Künste“, so Kant, „sind die, welche bloß zum Genusse abgezweckt werden“; ihre Aufgabe liegt darin, „daß die Lust die Vorstellungen als bloße Empfindungen“ (KU 178) 3 begleitet - denn „[a]ngenehm ist das, was den Sinnen in der Empfindung gefällt“ (KU 7). Als Beispiel der angenehmen Künste nennt Kant „die Reize [...], welche die Gesellschaft an einer Tafel vergnügen können“ (KU 178). Zu diesen gehören die Erzählung, das freimütige und lebhafte Gespräch sowie Scherz und Lachen, mithin mündliche Formen der Geselligkeit, die auf die „augenblickliche Unterhaltung“ abzielen, „nicht auf einen bleibenden Stoff zum Nachdenken oder Nachsagen“ (ebd.). Dementsprechend zählt Kant auch die Tischdekoration und die Tafelmusik zu den angenehmen Künsten sowie „alle Spiele, die weiter kein Interesse bei sich führen, als die Zeit unvermerkt verlaufen zu machen“ (ebd.). Der Zeitvertreib in Gespräch und Spiel fungiert hier also als Modell der angenehmen Künste, die sich durch Mündlichkeit, Geselligkeit und Präsenz auszeichnen. Im Gegensatz dazu begleitet bei der schönen Kunst (deren Kollektivsingular sich eben in jener Zeit herausbildet; vorher gab es nur Künste) die Lust die Vorstellungen laut Kant nicht als Empfindung, sondern als Urteil. Die Lust an der schönen Kunst ist demnach keine des Genusses, sondern der Reflexion. Hier stimuliert die Fantasie den Verstand und provoziert ästhetische Urteile über die Schönheit des Gegenstands, der mithin zum Nachdenken anregt und ein Spiel zwischen Einbildungskraft und Verstand in Gang bringt, das von einem Gefühl ästhetischer Lust begleitet wird. Bei den angenehmen Künsten hingegen stimuliert die Fantasie die Empfindungen und erzeugt dadurch sinnliche und damit nicht ästhetische Lust. Kant leitet daraus eine Hierarchisierung der schönen Künste ab, deren Kriterium sich nach der Nähe bzw. Ferne der jeweiligen Kunst zu den sinnlichen Empfindungen bemisst: Am höchsten stehen diejenigen, die direkt auf die Einbildungskraft wirken, insbesondere die Dichtung (bei Kant wird daneben noch die Rhetorik genannt); am tiefsten werden die Künste situiert, die die Empfindungen affizieren und damit die Grenze zu den angenehmen Künsten berühren, vor allem die Musik; 4 dazwischen befinden sich 3 Die Seitenangaben folgen der üblichen Zitierweise nach der Paginierung der Erstausgabe der Kritik der Urteilskraft aus dem Jahr 1790. 4 Die Musik ist nur insofern eine schöne Kunst, als nicht das Angenehme der Empfindung als solches wahrgenommen wird, sondern „die Proportion der verschiedenen Grade der Stimmung (Spannung) des Sinnes, dem die Empfindung angehört“ (KU 211) - d.h.: schön ist die Relation zwischen den sinnlichen Empfindungen, also letztlich eine formale Größe (wie die Relation zwischen Einbildungskraft und Verstand bei der Dichtung), nicht die Empfindung als solche, die lediglich angenehm sein kann. Empfindungen sind demnach in der Musik schön nicht als bloße Sinneseindrücke, sondern als „Wirkung einer Beurteilung der Form im Spiele <?page no="160"?> Theorie literarischer Unterhaltung 161 die bildenden Künste, weil sie die Anschauung und damit einen Bereich zwischen Empfindung und Einbildungskraft ansprechen. Kant unterscheidet also zweierlei Arten von Lust: eine sinnliche, an Empfindungen geknüpfte und eine geistige, an Erkenntnis gebundene. Dem entspricht seine begriffliche Trennung zwischen Vergnügen und Wohlgefallen: Vergnügen ist das, was in der Empfindung, Wohlgefallen hingegen das, was bloß in der Beurteilung gefällt. Näherhin heißt es in § 54 der Kritik der Urteilskraft über das Vergnügen, es sei ein „Gefühl der Beförderung des gesamten Lebens des Menschen, mithin auch des körperlichen Wohlbefindens, d.i. der Gesundheit“ (KU 222f.). Beim Vergnügen ist also der ganze Mensch betroffen, als Integral seiner physischen und geistigen Vermögen. Insofern meint Gesundheit auch nicht nur, wie Kant eingrenzen möchte, ein körperliches Wohlbefinden, sondern einen Zustand gesteigerten Selbstgefühls, der auf dem „freie[n] Spiel der Empfindungen (die keine Absicht zum Grunde haben)“ (KU 223) beruht und offenbar auch die geistigen Kräfte betrifft. Dem Vergnügen an den angenehmen Künsten eignet demnach eine diätetisch-therapeutische Funktion, wie sie aus der aristotelischen Politeia für die Musik und aus der Poetik für die Dichtung bekannt ist. Die Differenz zwischen den beiden Arten der Lust im Vergnügen und im Wohlgefallen liegt offenbar weniger in der ausschließlichen Stimulierung von Empfindung und Verstand als vielmehr in der Ausgrenzung des Körperlich-Sinnlichen aus der schönen Kunst (vgl. Bourdieu 1987: 761ff.). Damit setzt Kant einen Prozess der begrifflichen Reinigung - mit den Worten Foucaults: der „empirisch-transzendentalen Reduplizierung“ (Foucault 1988: 405) - in Gang, der unter anderem von Schiller und Karl Philipp Moritz (mithin den Begründern der Autonomie-Ästhetik) weiter getrieben wird. Da die schöne Kunst noch keinen eigenen Bereich besetzt hält, weil es sie allererst zu begründen gilt, muss dieser Bereich diskursiv geschaffen werden, und das geschieht in der Regel über terminologische Doubletten. So spricht Moritz von einem „reinen und uneigennützigen Vergnügen[ ], welches uns das Schöne gewährt“ (Moritz 1989: 11) und grenzt dieses vom sinnlichen Vergnügen ab. Der Zweck dieses reinen Vergnügens ist demgemäß kein von außen bestimmter, sondern liegt in diesem Vergnügen selbst, das zu „einer Art von höherem Dasein“ führt, bei dem wir uns „in dem schönen Gegenstande zu verlieren scheinen“ (ebd.). Dieser höhere Nutzen wird von Moritz und seinen Zeitgenossen auf den Begriff der Bildung bzw. der ästhetischen Erziehung gebracht. Im Rahmen dieses Programms schreibt denn auch Schiller von einer Vereinigung der „Bildung des Verstands und des Herzens mit der edelsten Unterhaltung“ (Schiller 1993a: 821) und versucht damit auch diesen Begriff aus dem Feld des Sinnlichen in den des Schönen zu erheben: ins Reich einer „höhere[n] Kunst“ (Schiller 1993b: 588), die mehr und anderes sein soll als das, was man noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts darunter verstanden hat. Der Blick von hier aus zurück auf eben jene Jahrhundertmitte bestätigt einen nahe liegenden Verdacht: Die Entstehung der schönen Künste vollzieht sich aus dem vieler Empfindungen“ (KU 312), sofern das Hören eines Tones mehr ist als die Wahrnehmung eines akustischen Geräusches. <?page no="161"?> Günter Butzer 162 Geist der Unterhaltung. Betrachtet man Charles Batteux ’ epochales Werk Les beaux arts réduits à un même principe aus dem Jahr 1746, das eine Entwicklung abschließt, die 1690 mit Pierre Perraults Le cabinet des Beaux Arts begann und die Herausbildung eines genuinen Begriffs der schönen Künste in Abgrenzung von den traditionellen freien Künsten (also den artes liberales) zum Ziel hatte (vgl. Ullrich 2001: 571-573), so erkennt man, dass hier nicht nur die schönen Künste auf ein einziges Prinzip - es ist bekanntlich das der Nachahmung - zurückgeführt werden, sondern dass sie zur Unterscheidung von den mechanischen Künsten, die noch bei Perrault in Gestalt der Optik und Mechanik einen Teil der schönen Künste gebildet hatten, auch einem gemeinsamen Ziel unterstellt werden: nämlich dem Vergnügen (plaisir) (vgl. Batteux 1969: 27). Denn in Absonderung von den mechanischen Künsten und den artes liberales insgesamt zeichnen sich die beaux arts, so Batteux, durch ihre Nutzlosigkeit aus. Sie dienen ausschließlich dem Vergnügen und stellen somit einen Luxus dar, der als Zeichen einer kultivierten Gesellschaft angesehen wird. 5 Am Ursprung des modernen Kunstbegriffs in der Mitte des 18. Jahrhunderts sind Kunst und Vergnügen also noch identisch - ein Umstand, den man nicht genug betonen kann angesichts der späteren Entwicklung. Warum aber dann die folgenreiche Trennung im Sinne einer Absonderung ‚transzendentaler Kunst‘ von ihrem empirischen Double? Die Ursache liegt, so scheint mir, im sozio-kulturellen Bereich. Denn die Auffassung der schönen Künste als Vergnügung einer der Sorge um den schieren Lebensunterhalt entrückten Gruppe ist letztlich an die höfische Gesellschaft und damit an den Adel gebunden, der im 17./ 18. Jahrhundert nicht nur in Frankreich die Künste als Gegenstand seiner Muße pflegt. Kunst ist hier reine Unterhaltung im Sinne von Lust, Zeitvertreib und Geselligkeit (divertissement) - ganz so, wie es Kant den angenehmen Künsten zugeschrieben hat. Dessen Ausdifferenzierung der schönen und angenehmen Künste folgt somit einer bürgerlichen Kritik höfischer Kultur, die die Kunstdiskussion des 18. Jahrhunderts weitgehend dominiert. Bereits Batteux ’ deutscher Übersetzer Johann Adolf Schlegel kritisiert in seinen fortlaufenden Anmerkungen zu dessen Buch die Konzentration der schönen Künste auf den plaisir, weil er den Nutzen der Kunst dabei über Bord gehen sieht, und „eine Anmuth ohne allen Nutzen würde mit einem beständigen Müßiggange gleiche Wirkung haben“ (Batteux/ Schlegel 1976: II, 165). Müßiggang ohne gesellschaftlichen Nutzen ist aber, wie wir wissen, einer der Hauptvorwürfe des Bürgertums gegenüber dem Adel. Dessen Übertragung auf die schönen Künste verwirft somit eine Kunst ohne Nutzen, die nur um des Vergnügens und der Zerstreuung willen da ist. Die Nutzlo- 5 Vgl Batteux 1969: 28f.: „Ennuyés d’une jouissance trop uniforme des objets que leur offroit la Nature toute simple, & se trouvant d’ailleurs dans une situation propre à recevoir le plaisir; ils [sc. les hommes, G.B.] eurent recours à leurs génie pour se procurer un nouvel ordre d’idées & de sentimens, qui réveillât leur esprit & ranimât leur goût.“ - Batteux ist denn auch, wie bereits der Titel von Moritz‘ Aufsatz („Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten“) deutlich macht, der Hauptgegner, gegen den sich dessen Reinigung des Vergnügens zur Kontemplation - bekanntlich ein Begriff der religiösen Askese - im Sinne des „Anschauen[s] der Zweckmäßigkeit“ (Moritz 1989: 16) eines Kunstwerks richtet. <?page no="162"?> Theorie literarischer Unterhaltung 163 sigkeit der Unterhaltung ist also, bevor sie auf die Freizeitgestaltung moderner Massen angewandt wird, ein Vorwurf bürgerlicher Kritiker gegenüber der höfischen Kultur. Eine zweite Dimension neben der sozialen liefert ein anderer prominenter Kritiker der schönen Künste in der Mitte des 18. Jahrhunderts: Jean-Jacques Rousseau, der in der Lettre à d’Alembert (1758) das Theater als Ursache für den Verfall der Sitten in den modernen Gesellschaften anprangert und sich damit in die lange Reihe christlicher Theaterkritik stellt. Die Künste schlechthin sind für Rousseau, wie er im Discours sur les sciences et les arts (1750) schreibt, ein ebenso großer Luxus wie die Wissenschaften und die Technik oder die großstädtische Lebensorganisation; als solcher entfremden sie die Menschen von ihrer Natur und führen dadurch die soziale Degeneration herbei. Ähnlich wie Schlegel unterstellt Rousseau, die schönen Künste brächten einen „goût délicat et fin“ (Rousseau 1955: 8) mit sich, der für die Gesellschaft überflüssig und schädlich sei, weil er die oisiveté und die vanité und letztlich den Absolutismus befördere. 6 In den schönen Künsten erkennt er eine „préférence des talents agréables sur les talents utiles“ (ebd.: 46) und stellt so deren Nutzlosigkeit heraus, die an die Beförderung des Angenehmen - also der sinnlichen Affektion nach Kant - gebunden wird. Diese Kunstkritik geht bei Rousseau einher mit dem bereits beschriebenen antihöfischen Affekt, der dem Adel Müßiggang, Luxus und Selbstliebe vorhält und die politesse als oberflächlichen Schein entlarvt. So wird eine enge Korrelation von Unterhaltung und Oberflächlichkeit hergestellt, die die Verurteilung der Unterhaltungsliteratur bis heute prägt (vgl. Butzer 2011). Darüber hinaus ist die Beschäftigung mit Kunst für Rousseau aber auch eine „perte irréparable du temps“ (Rousseau 1955: 32) und schon deshalb lasterhaft, weil man seine Lebenszeit zum Heil der Seele nutzen soll - ein durch und durch religiöses Argument, das, wie wir seit Max Weber wissen, das protestantische Ethos entscheidend geprägt hat. 7 So kommt er im Verlauf des Discours zu dem bekannten Schluss: „[...] nos âmes se sont corrompues à mesure que nos sciences et nos arts se sont avancés à la perfection“ (ebd.: 14). Rousseau führt also mit seiner Beurteilung der Künste die bürgerlich-antihöfische mit der religiös-calvinistischen Position zusammen und provoziert damit letztlich die beschriebene Ausdifferenzierung einer ‚höheren Kunst‘ gegenüber den bloß unterhaltenden Künsten, wie sie u.a. Schiller vollführt hat. Dass Kunst nicht das Wohlbefinden des ganzen Menschen befördern soll, wie es Kant den angenehmen Künsten zugeschrieben hat, sondern ein Bemühen um Bedeutung provoziert, wie es die zeitgleich mit der modernen Kunst entste- 6 Vgl. Rousseau 1955: 8: „Les princes voient toujours avec plaisir le goût des arts agréables et des superfluités, dont l’exportation de l’argent ne résulte pas, s’étendre parmi leurs sujets; car, outre qu’ils les nourrissent ainsi dans cette petitesse d’âme si propre à la servitude, ils savent très-bien que tous les besoins que le peuple se donne sont autant de chaînes dont il se charge.“ 7 Die Verknüpfung von Zeitökonomie und Seelenheil kennzeichnet - in unterschiedlichem Ausmaß - alle radikalprotestantischen Richtungen (vgl. Jacob 2003). Rousseaus Kritik entspricht damit in weiten Teilen genau jenen Argumenten, die schon in der zweiten Hälfte des 17. Jh. - auch hier häufig von calvinistisch geprägten Autoren wie Heidegger - gegen die Literatur im allgemeinen und gegen die Romane im besonderen vorgetragen worden sind. <?page no="163"?> Günter Butzer 164 hende Hermeneutik fordert, hat hier, so meine ich, seinen Ursprung. Die Arbeit am Text, die nicht von der Zugänglichkeit des Sinns, sondern vom prinzipiellen Missverstehen ausgeht (wie dies Schleiermacher als Grundsatz der Hermeneutik propagiert), partizipiert damit am emphatischen Arbeitsethos protestantischer Prägung. Echte Kunst macht Mühe, nur die leichte Muse trägt ihre Bedeutung auf der Stirn: diese uns allen vertraute Maxime ist eine in letzter Instanz theologische, und es ist daher nicht zufällig, wenn die Begründer der neuzeitlichen Hermeneutik - von Dannhauer über Francke, Rambach und Ernesti bis hin zu Schleiermacher - durchweg protestantische Theologen gewesen sind. Mit der Durchsetzung des protestantisch-bürgerlichen Arbeitsethos und dessen Übertragung auf die Künste einher geht die Kritik an der Muße, die in der Vormoderne als Voraussetzung für jede künstlerische Betätigung galt und die nunmehr unter das Verdikt des Müßiggangs und damit der Zeitverschwendung fällt. Erst die Etablierung des modernen Kunstbegriffs um 1800 unternimmt den Versuch, Muße und Vergnügen in ein Programm ästhetischer Erziehung einzubinden und damit den Nachweis ihrer höheren Nützlichkeit zu erbringen - allerdings um den Preis der bloßen Unterhaltung, die nicht auf ein höheres Bildungsziel hin orientiert ist, sondern im gegenwärtigen Vergnügen aufgeht. Ich ziehe daraus den Schluss, dass eine umfassende Theorie literarischer Unterhaltung nicht am Schisma moderner Literatur in Kunst und Unterhaltung ansetzen darf, sondern auf die Vormoderne zurückgreifen muss. Denn die moderne literarische Unterhaltung ist nurmehr eine Schwundstufe dessen, was vordem Unterhaltung gewesen ist. Von daher sind auch die eingangs erwähnten wertenden Begriffe wie Kitsch und Trivialliteratur für eine Theorie nicht brauchbar, die die Beziehung von Literatur und Unterhaltung als Ganze in den Blick nehmen will. Daher werde ich auch nicht den üblichen teleologischen Argumentationsstrategien folgen, die die moderne Unterhaltungsliteratur als Teil der kapitalistischen Kulturindustrie und damit als Kulmination vormoderner Tendenzen betrachtet. 8 Vielmehr scheint mir die adäquate Einsicht in das, was Unterhaltung durch Literatur sein kann, nur im Rückgriff auf die Vormoderne sinnvoll zu gewinnen zu sein. Dieser Rückgriff kann freilich nur exemplarisch erfolgen. Ich werde daher im zweiten Teil meiner Ausführungen anhand von zwei Beispielen literarischer Unterhaltung - der griechischen Tragödie und deren Theoretisierung durch die Poetik einerseits, der Integration von Literatur in die höfische Kultur des Mittelalters andererseits - zu zeigen versuchen, welche Elemente unverzichtbar sind, um im Anschluss daran im dritten Teil die Konsequenzen für eine gegenwärtige Theorie literarischer Unterhaltung zu ziehen. 8 Vgl. beispielhaft Leo Löwenthal, der die Kritik an den „Gefahren der Zerstreuung“ bis auf Pascal zurückführt, welcher „eines der wichtigsten Themen der modernen Diskussionen über die Massenkultur“ vorwegnehme: „die Auffassung, daß durch sie die Moral, die Selbstbestimmung und die einheitliche Persönlichkeit bedroht werde und daß sie zu einer Preisgabe an bloße Vorläufigkeiten führe, für die das Streben nach höheren Zielen geopfert wird“ (Löwenthal 1980: 29-31). <?page no="164"?> Theorie literarischer Unterhaltung 165 II. Genealogie Vorab möchte ich vier Grundsätze der aristotelischen Poetik in Erinnerung rufen: (1.) alle Dichtung ist Nachahmung (mimesis); (2.) das Nachahmen ist dem Menschen angeboren (symphyton); (3.) Nachahmung ruft beim Menschen Freude (to chairein) hervor; 9 (4.) Ursache der Freude an der Nachahmung ist der menschliche Erkenntnistrieb, der bei richtigem Gebrauch von Lust (hedone) begleitet wird (vgl. Aristoteles 1982: 1448b). Deshalb kann Aristoteles auch die Erzeugung von Lust als wichtigstes Ziel der Tragödie wie der Poesie insgesamt proklamieren und damit die poetische Mimesis als Ganze im Raum lustvoller Erkenntnis situieren. 10 Diese lustvolle Erkenntnis ist zum einen an die wahrscheinliche Beziehung von Charakteren und Handlung geknüpft; zum andern bereitet aber gerade das Wunderbare Lust durch die Überraschung, mit der es eintritt (vgl. ebd.: 1460a). Eingeholt wird dieser Widerspruch durch die lapidare Feststellung: „Es ist wahrscheinlich, dass sich vieles gegen die Wahrscheinlichkeit abspielt“ (ebd.: 1456a). Gerade die tragödientypischen Affekte Jammer (eleos) und Schaudern (phobos) werden ja durch überraschende Wendungen der Handlung (vom Glück ins Unglück) herbeigeführt, und ohne diese Affekte entsteht wiederum nicht die tragödientypische Lust, die auf der Reinigung dieser Affekte beruht (vgl. ebd.: 1452a). Was immer demnach genau die Erkenntnis sein mag, die die Zuschauer beim Besuch der Tragödie gewinnen, so lässt sich doch eins sagen: Es ist eine Erkenntnis, die mit Lust einher geht, ja auf der Erfahrung von Lust beruht. Es ist mithin eine sinnliche Erkenntnis, die auf der Freude an der poetischen Nachahmung basiert und sich über die Erzeugung von Affekten vollzieht. Insofern kann Arbogast Schmitt von einer „Kultur des Affekts“ als Ziel der griechischen Tragödie sprechen und dies wie folgt beschreiben: So erreicht die Tragödie gerade durch die Erzeugung einer angemessenen Affektempfindung starke, große Affekte und verschafft dem Zuschauer reiche und anschauliche Erfahrung über die vielfältigen Anlässe, die aus einer falschen (weil z.B. zu schnell, zu ungenau gebildeten, aber für bestimmt genommenen) Einschätzung einer Gefahr heraus dazu führen, daß sich der Blick für die tatsächlich großen Gefahren trübt und man sich zu verhängnisvollen Fehlschlüssen und daraus folgenden Fehlhandlungen treiben läßt. (Schmitt 1994: 339) Dies vorausgesetzt, nimmt es vielleicht weniger Wunder, wenn Aristoteles die griechische Tragödie - darin Platon folgend, aber mit anderer Bewertung - nicht im Bereich der Erziehung (paideia) oder der sich daran anschließenden Muße (diagoge) verortet, sondern im Bereich der Erholung (anapausis) und des Spiels (paidia). Dorthin gehört sie für Aristoteles schon allein wegen der Verwendung orgiastischer Musik (insbesondere der dionysischen Flöte) und der damit zusammenhängenden Erregung 9 Diese aristotelische Idee wird auch von Batteux wieder aufgegriffen: „[...] cette imitation, dis-je, est une des principales sources du plaisir que causent les Arts“ (Batteux 1969: 38). 10 „Das Lernen bereitet nicht nur den Philosophen größtes Vergnügen, sondern in ähnlicher Weise auch den übrigen Menschen (diese haben freilich nur wenig Anteil daran). Sie freuen sich also deshalb über den Anblick von Bildern, weil sie beim Betrachten etwas lernen und zu erschließen suchen, was ein jedes sei“ (Aristoteles 1982: 1448b). <?page no="165"?> Günter Butzer 166 von Leidenschaften, die stets auf Vergnügen und Lust ausgerichtet sind (vgl. Aristoteles 1989: 1341a), und nicht, wie die diagoge, auf die Beförderung der Glückseligkeit (eudaimonia) - obschon die Tragödie über die Vermittlung sinnlicher Erkenntnis eine solche Wirkung nicht ausschließt. Im Vordergrund steht aber die Erholung - ein Konzept, das die Entspannung (aneis) vom Spannungszustand des tätigen Lebens bezeichnet. In der Politeia schreibt Aristoteles über die paidia - also das Spiel bzw. die Belustigung, denen das Theater und damit auch die Tragödie zugeordnet werden -, sie wirke unmittelbar auf die Seele und rufe so spontane Affekte hervor, die in den Umkreis der unschädlichen Vergnügungen (ablabeis hedonai) gehören (vgl. Aristoteles 1989: 1342a). Tatsächlich wird damit recht genau der kulturelle Ort bezeichnet, den die griechische Tragödie von Anfang an inne gehabt hat: als Teil der Dionysos-Feierlichkeiten, die alljährlich mit einem großen Volksfest begangen wurden, das der athenische Staat für alle griechischen Bürger veranstaltet hat. Nach Perikles wurden die Feste zur Erholung des Geistes von der Arbeit installiert (vgl. Thukydides 1991: 2, 38). Durch die Konzeption der Tragödienaufführungen als Wettkampf (agon) werben die Dichter und Regisseure um die Gunst eines nach Tausenden zählenden Massenpublikums, zu dem vor allem Männer, vermutlich auch Frauen und eventuell sogar Jugendliche gehört haben. Popularität muss also, will man Erfolg haben, oberstes Ziel sein - und das bei Zuschauern, deren tyrannischer Geschmack von den Autoren immer wieder beklagt wird (etwa von Aristophanes in den Rittern, v. 518-540). Doch die Tragödienaufführungen stehen nicht nur untereinander in Konkurrenz, sondern vielleicht mehr noch mit den anderen Volksbelustigungen im Rahmen der Dionysosfeiern (v.a. sportlichen Wettkämpfen, Tänzen, Gesängen, Umzügen und Gelagen), hinter deren Beliebtheit sie nicht selten zurückfallen. 11 Dem entsprechend wird von den athenischen Intellektuellen - vulgo Philosophen - immer wieder die „üble Herrschaft des Publikums“ kritisiert, die an die Stelle der „Herrschaft der Besten“ (Platon 2005: 701a) getreten sei: die Tyrannei der ungebildeten Masse, die ihren Vorlieben und ihrem schlechten Geschmack mit Pfiffen, Geschrei und Lärm Geltung verschafft (vgl. ebd.: 700c). Statt, wie es Platon gerne hätte, das Kunstwerk andächtig und stumm zu genießen, erhebt die Menge in perverser Verkehrung „die Lust dessen, der sich daran freut [hedone de te tou chairontos]“ (ebd.: 700e), zur Richtschnur des Schönen. Und auch Aristoteles beobachtet mit Sorge, wie die ungebildete, lärmende Menge das wie ein mittelgroßes Fußballstadion dimensionierte Theater dominiert und dadurch das Schauspiel herabwürdigt und einem allgemeinen künstlerischen Verfall preisgibt. Amusement und Rausch sind für ihn die Wirkungen, die das Publikum von den Aufführungen erwartet (vgl. Aristoteles 1989: 1341b), und so versuchen die Philosophen mit ihren Traktaten, „das Vergnügen in geordnete Bahnen zu lenken“ (André 1994: 50). Insbesondere die aristotelische Tragödientheorie kann vor diesem Hintergrund als Versuch verstanden 11 In der ersten Parabase der Vögel des Aristophanes schlägt der Chorführer vor, die Zuschauer sollten während der langweiligen Tragödienaufführungen lieber zum Essen gehen (vgl. Aristophanes 1971: 785-789). <?page no="166"?> Theorie literarischer Unterhaltung 167 werden, die unkontrollierbaren Wirkungen der orgiastischen Katharsis durch ästhetische Kriterien wie Ganzheit, Wahrscheinlichkeit und Einheitlichkeit, aber auch durch einen ethischen Anspruch wie die Kultivierung der Affekte zu bändigen. Entscheidend scheint mir jedoch die Tatsache zu sein, dass beide Haltungen - die der großen Volksmasse und die der Intellektuellen - am selben kulturellen Ort, nämlich dem Dionysostheater, zusammentreffen; dass mithin die unterschiedlichen Ansprüche am selben Gegenstand artikuliert werden, der, trotz der kontroversen Positionen (die wir ja immer nur von einer Seite her kennen! ), diesen Ansprüchen offenbar dennoch gerecht zu werden vermochte - ähnlich wie das Theater zur Zeit Shakespeares (vgl. Höfele 2010). Das griechische Theater erscheint deshalb als eine Form des Vergnügens, die sowohl der Erholung eines Massenpublikums als auch den Erkenntnisinteressen der Philosophen zu entsprechen vermochte. Möglich war dies, weil es nicht offen didaktisch oder pädagogisch aufgetreten ist, sondern einem Modus sinnlicher, lustgebundener Erkenntnis verpflichtet war, der nur im theatralen Raum zu verwirklichen ist. Nur dort, so meine These, im Kontext des öffentlichen Spektakels, ließen sich die divergenten Ansprüche homogenisieren und eine den ganzen Menschen ansprechende ästhetische Kommunikation realisieren. Das heißt aber auch: in dem Moment, in dem sich Literatur aus dem Spektakel zurückzieht in den hermetischen Raum der Schriftkultur, ist es mit dieser Synthese von Lust und Erkenntnis vorbei. Zu beobachten ist dies in der römischen Literatur, die, überspitzt formuliert, das Spektakel dem Zirkus überlässt und sich auf den engen Bereich der litterae beschränkt. Am deutlichsten wird dies bei Horaz, der sich in der Ars poetica über mehr als drei Jahrhunderte hinweg in die Theaterkritik Platons und Aristoteles ’ einreiht, daraus aber ganz andere Konsequenzen zieht, die ich hier nur andeuten kann. Horaz geht von einer ähnlichen Diagnose aus wie die griechischen Philosophen, wenn er im dem Drama gewidmeten Abschnitt der Ars poetica den Verfall des römischen Theaters konstatiert. Früher, so der Dichter, der bezeichnenderweise selbst nie ein Theaterstück verfasst hat, waren die Theateraufführungen dezenter: Die Flöten machten keinen Lärm, das Publikum war kleiner und elitärer, nämlich „wacker, anständig und sittsam [frugi castusque verecundusque]“ (Horaz 1997: 207). Später jedoch bildete sich ein gemischtes Publikum von gebildeten Städtern und ungebildeten Bauern heraus, welch Letztere in ihrer Freizeit ins Theater gingen und sich vorher besoffen (vgl. ebd.: 213). Dies führte zu lauter und effekthascherischer Musik und sprachlichem Pomp auf der Bühne (vgl. ebd.: 217), die mit einem Zwang zum Neuen und Auffälligen, Krassen einhergingen: „Der Dichter [...] versuchte herbe [...] zu scherzen, weil er mit Lockmitteln und mit dem Reiz der Neuheit ein Publikum festhalten musste, das [...] trunken und vom Gesetze befreit war“ (ebd.: 220-224). Angesichts dieser von ihm als Verfall diagnostizierten Entwicklung fordert Horaz eine Einhaltung des Decorums in doppelter Hinsicht: einmal in moralischer, d.h. nichts Unanständiges, Hässliches, Grausames oder Wunderbares soll auf der Bühne gezeigt werden (vgl. ebd.: 182ff.); zum andern in ästhetischer Hinsicht: keine maßlose Sprache soll das Theater bestimmen, sondern eine mit viel Mühe in Form gebrachte, maßvolle und schöne Sprache (vgl. ebd.: 46ff., 240ff.). D.h.: Horaz zielt auf <?page no="167"?> Günter Butzer 168 eine neue Distinguiertheit bei Dichtern und beim Publikum: „Sitze ich zu Gericht, so mögen die Faune, aus ihren Wäldern geholt, sich hüten, je so, als seien sie auf den Gassen und fast auf dem Forum geboren, in allzu feinen Versen wie ein Jüngling zu tändeln oder unsaubre, ehrlose Witze zu reißen; da nehmen Anstoß, die Pferd, Vater und Reichtum besitzen“ (ebd.: 244-248). Horaz fordert mithin eine anständige Literatur für ein wohlhabendes und gebildetes Publikum, die nicht nur das Unterhaltungsbedürfnis bedient, sondern auch moralischen Anforderungen genügt, und er fasst dies in der berühmten Forderung nach einer Verknüpfung von Vergnügen und Nutzen (delectare und prodesse; vgl. ebd.: 333f., 343f.) zusammen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass, wie die Horazforschung herausgearbeitet hat, in hellenistischer Zeit die unterhaltende Funktion nicht nur des Dramas, sondern der Poesie schlechthin Gemeingut sowohl der Poetik als auch der Theaterpraxis gewesen ist, Horaz demnach mit seiner Forderung nach einem erzieherischen, ja politischen Nutzen der Dichtung als Reformer auftritt; noch für Cicero und Quintilian gilt es als selbstverständlich, dass die Poesie ausschließlich erfreuen solle (vgl. Schwinge 1963: 85). Gegenüber einem solchen „rein hedonistischen Ästhetizismus“ (Fuhrmann 1992: 153) stellt Horaz die ethische Bedeutung der Dichtung heraus und verbindet diese einerseits mit einer Abgrenzung des Rezipientenkreises von der großen Masse, andererseits mit der Etablierung eines poetischen Arbeitsethos. Beides ist an die Überführung der Dichtung in die etablierte Schriftkultur der augusteischen Zeit gebunden. Denn es sind eben, verglichen mit dem Zirkuspublikum, nur relativ wenige Römer, die aktiv an der literarischen Kultur teilnehmen, und diese können neben der Lese- und Schreibfähigkeit eine hohe literarische Bildung vorweisen. Für diesen kleinen Kreis von Kennern schreibt Horaz, und dem entspricht sein Maßstab für den Dichter selbst. Dieser müsse hart an seinen Werken arbeiten, um sie zu ästhetischer Perfektion zu führen, und das erfordere die Mühe des beständigen Feilens - den berühmten „limae labor“ (Horaz 1997: 291) - und damit auch einen erheblichen Zeitaufwand, der jeden Dilettantismus ausschließe. Ziel ist das vollkommene Werk, das zehnmal überarbeitet wurde, erst nach eingehender Überprüfung veröffentlicht wird und dem Blick auch des schärfsten Kritikers standhält. Eine so verstandene Dichtung kann sowohl dem Autor als auch dem Leser nurmehr bedingt Lust bereiten. Auf Seiten des Autors dominiert vielmehr der scribendi labor (vgl. Horaz 1972: I, 4, 12), die Mühe, ja bisweilen sogar Qual des Schreibens, und auch auf Seiten der Rezipienten hält sich das Vergnügen in Grenzen. Dies signalisiert bereits der von Horaz verwendete Begriff des delectare, der der Rhetorik entstammt und eine gemäßigte, gedämpfte Weise der Gefühlserregung bezeichnet im Unterschied zur Erzeugung heftiger Leidenschaften, die dem rhetorischen Ziel des movere entspricht und in der Lust der Tragödie ihr poetisches Paradigma hat. Ruhe, Anmut und Gelassenheit bei gleichzeitig reichem Schmuck, Buntheit und Zierlichkeit sind laut Cicero Eigenschaften eines Stils, der zu erfreuen vermag und den er als schön - im Unterschied zum pathetisch-erhabenen Stil der Tragödie - bezeichnet (vgl. Cicero 1998: 27, 92-96). Nicht Pathos, sondern Ethos ist das Ziel des delectare, wird Quintilian (1972: XII, 10, 59f.; vgl. VI, 2, 9) später schreiben, und diese ethi- <?page no="168"?> Theorie literarischer Unterhaltung 169 schen, d.h. maßvollen Empfindungen sind das, was die Unterhaltung im Feld der Schriftlichkeit noch hervorzubringen vermag. Es ist das Vergnügen eines kleinen Kreises literarischer Kenner, das weit von der dionysischen Rauscherfahrung des griechischen Theaters oder des römischen Zirkus entfernt ist. Alle darüber hinaus gehende Unterhaltung ist auch für Horaz, wie für Aristoteles, ans Spiel (ludus) und das heißt ans Mimetische und Performative, kurz, ans Spektakel gebunden: an die unmittelbar sinnliche Wirkung der Aufführungssituation. Verglichen damit wird jede Leselust immer defizitär erscheinen - schon allein deshalb, weil der Anblick von Buchstaben nur selten unmittelbare Freude bereitet und das Lesen in der Regel mühsam vonstatten geht. Insbesondere das stumme Lesen (bekanntlich der Ausnahmefall in Antike und Mittelalter und bis weit in die Neuzeit hinein) ist eine sensomotorisch extrem eingeschränkte Aktivität, die deshalb auch kulturgeschichtlich sehr spät durchgesetzt wurde und nur mit großer Mühe zu erlernen ist. Mehr oder weniger bewegungslos vor einem Buch zu verharren und den Bedeutungen der Wörter innerlich nachzuspüren ist eine Tätigkeit, die in der Tat wenig sinnliche Lust verspricht. Dass sie daneben auch gesundheitsschädlich ist und Verdauungsstörungen, entzündliche Dyspepsien und in deren Folge Melancholie hervorbringt, stellt einen Gemeinplatz neuzeitlicher Medizin und Anthropologie dar (den wir etwa in Richard Burtons Anatomy of Melancholy breit ausgeführt finden). So muss die Dichtung erst mit der Fantasie als ‚innerer Sinnlichkeit‘ in Konjunktion treten, um ein einigermaßen wirksames Supplement für die sensomotorische Stillstellung der Lektüre zu liefern. 12 So lautet meine zugespitzte These: Literatur in unserem heutigen, an die Schriftlichkeit gebundenen Sinn - im Unterschied zum weiten, noch nicht vollständig schriftbasierten Poesie-Begriff der Antike -, Literatur ist nicht per se unterhaltsam, sondern bereitet Mühe. Von daher verstehe ich auch die bekannte Tatsache, dass literarische Texte bis weit in die Neuzeit hinein eben nicht primär gelesen, sondern vorgetragen und gehört wurden. Das eindrucksvollste Beispiel hierfür bildet die höfische Kultur des Mittelalters, die, wie heute allgemein anerkannt wird, keine mündliche Kultur des Singens und Sagens gewesen ist, sondern eine in weiten Bereichen schriftbasierte Kultur (vgl. Butzer 1995), die aber nichtsdestotrotz im poetischen Feld am Modell und Ideal der Aufführung - mehr noch als die römische Kultur - festgehalten hat (vgl. Müller 1996). Der Raum von Literatur bzw. Dichtung im Mittelalter - davon legen die überlieferten Werke ein beredtes Zeugnis ab - war ein performativer, an die leibliche Ko-Präsenz von Vortragendem und kollektiver Zuhörerschaft gebundener, und zwar unabhängig davon, ob die Werke (wie die Romane) in schriftlicher Form vorlagen oder (wie der Minnesang und die Spruchdichtung) mündlich weiter gegeben wurden. Als idealen Ort poetischer Performanz fungierte, wie vor allem die Epik immer wieder belegt, das höfische Fest, und das nicht von ungefähr, handelte es sich dabei doch um große öffentliche Spektakel 13 mit einem 12 Das geschieht in der literarischen Praxis mit dem antiken Abenteuerroman, in der Theorie erst im Laufe des 18. Jahrhunderts (vgl. Schön 1987: 88-90, 162f.). 13 „mirabile spectaculum“ heißt es in der Chronica majora des Matthæus Parisiensis von einem Fest am Hof Kaiser Heinrichs III (Matthæus Parisiensis 1877: 147). <?page no="169"?> Günter Butzer 170 reichhaltigen und verschiedenartigen Unterhaltungsangebot, das von Ritterspielen, sportlichen Wettkämpfen und Akrobatik bis hin zu Musik, Tanz und Krach (d.h. festlichem Lärm) reicht und einem einzigen Ziel unterstellt ist: dem Hervorrufen festlicher vröude. Mit diesem Begriff scheint mir auch das bezeichnet, was literarische Unterhaltung im Mittelalter sein kann und was in den Romanen immer wieder als vornehmste Wirkung von Dichtung herausgestellt wird: die Steigerung festlicher Hochgestimmtheit, die kein subjektives Gefühl meint, sondern einen „Zustand der festlichen Erregtheit und der Erhobenheit über den Alltag“ (Bumke 2008: 428), der nur im Kollektiv möglich ist. Durch diese Bindung an die vröude (afrz. joie) 14 wird die Poesie zum Teil des festlichen Überflusses und damit einer Ökonomie der Verausgabung im Sinne Batailles, die keinen konkreten Nutzen und keine Lehre verfolgt, sondern ihre Aufgabe gerade - modern gesprochen - in der sinnlosen Verschwendung erfüllt, deren eigentliche Funktion freilich in der Konstitution bzw. Erhaltung eines Machtgefälles zwischen Gastgeber und Gästen liegt (die Lust der Verschwendung ist also eine Lust der Macht! ). 15 Gegenüber diesem - wie immer wieder hervorgehoben wird: primären - Ort der Dichtung erscheint bereits der Vortrag eines Werks im geselligen Kreis der Hofgesellschaft als Reduktion der genuinen Wirkung poetischer Texte im Sinne festlicher vröude. Erhalten bleiben indessen die grundlegenden medialen Konstituenten der Aufführungssituation, zu denen die Mündlichkeit des Vortrags, seine musikalische, melodiös-rhythmische Intonation, die präsentische Interaktionssituation und die kollektive Rezeption gehören. Den eigentlichen Bruch mit dieser Form literarischer Unterhaltung stellt erst der Übergang vom öffentlichen Vortrag der Werke zu deren privater Lektüre dar (die in der Regel ja immer noch keine individuelle stumme Lektüre gewesen ist, sondern das Vorlesen des Textes im kleinen intimen Kreis). Erst (bzw. schon) hier stellen sich jene Krisenphänomene der Lektüre ein, die die rein positive Funktion von Dichtung, die höfische vröude zu mehren, in eine grundlegende Ambivalenz literarischer Unterhaltung hineinreißen, welche bereits im späteren 13. Jahrhundert beschrieben, jedoch erst im späten 18. Jahrhundert auf den Begriff der Lesesucht gebracht wird (vgl. Koschorke 1999: 398ff.). Zu diesen Lesesüchtigen (die damals noch Vorlesesüchtige sein konnten) gehören all jene, die ein unstillbares Verlangen nach den Geschichten insbesondere der Artusromane verspüren, sich mit deren Helden identifizieren und mit ihnen mitleiden, ja diese sich zum Vorbild nehmen und ihnen nacheifern - im Sinne einer imitatio bzw. sequela, die als unmittelbare Konkurrenz zur imitatio Christi empfunden wird. 16 Der prominenteste Vertreter die- 14 Das höchste Lob, das Walther von der Vogelweide seinem verstorbenen Kollegen und Konkurrenten Reimar dem Alten spenden kann, lautet dem gemäß: „Dû kundest al der werlte fröide mêren“ (Walther von der Vogelweide 1983: L. 83, 1, v. 7). 15 Hier scheint mir der vormoderne Ursprung für die neuzeitliche Auffassung von Kunst als Luxus zu liegen, der einem im positiven Sinn bei Batteux, im negativen bei Rousseau begegnet (s. Abschnitt I). 16 Ein Kleriker schreibt über die Lektüre von Ritterromanen in seiner Jugend: „Ich erinnere mich, dass ich durch Geschichten, die in der Volkssprache über Arthur erzählt werden, von <?page no="170"?> Theorie literarischer Unterhaltung 171 ser krankhaft Unterhaltungssüchtigen erscheint dreihundert Jahre später in Gestalt von Cervantes ’ Ritter von der traurigen Gestalt, dessen Melancholie sich ganz wesentlich aus seiner Sucht nach der Lektüre von immer mehr Ritterbüchern speist, bis sie in die wahnsinnige Einbildung mündet, er, Don Quijote, sei selbst zu jenem Rittertum berufen, das er sich in seiner Fantasie als Wirklichkeit imaginierte (vgl. Melberg 1995: 61ff.). Doch rein statistisch ist dieser Schritt vom innerlichen Nacherleben zur äußeren Nachfolge wohl eher selten, und dringt man weiter in die Moderne vor, so zeigt sich, dass literarische Unterhaltung zunehmend zu einem Abenteuer der Fantasie gerät, das sich an der Grenze zu Melancholie und Wahnsinn abspielt. Welche Konsequenzen daraus für eine Theorie literarischer Unterhaltung in der Moderne zu ziehen sind, soll der dritte und letzte Teil der Ausführungen darlegen. III. Theorie Die moderne literarische Unterhaltung ist lektüregebunden und damit von allem Anfang an defizitär gegenüber dem, was Unterhaltung durch Dichtung einmal gewesen ist. Dient als Modell der vormodernen Unterhaltung das multimediale Spektakel, das sich durch Mündlichkeit, Interaktion, Performanz und Kollektivität auszeichnet, so erscheint die literarische Unterhaltung in der Moderne als Spektakel in der Fantasie einsamer Leser, das Präsenz, Interaktion und damit sensomotorische Aktivität nurmehr simulieren kann (und die Geschichte moderner Unterhaltungsmedien jenseits der Schriftlichkeit - vom Panorama über den Film bis zum Online-Game - ist ja im Wesentlichen eine Perfektionierung dieser Simulation). Das Modell hierfür ist aber kaum jünger als das des Spektakels selbst und kann als dessen Verinnerlichung aufgefasst werden. Wie soeben in Bezug auf den Beginn moderner Unterhaltungsliteratur im mittelalterlichen Ritterroman erläutert wurde, tritt dieser in Konkurrenz zur religiösen imitatio Christi, und das ist alles andere als ein Zufall. Denn an diesem für die mittelalterliche Frömmigkeitspraxis zentralen Konzept der imitatio lässt sich eben jenes Modell verinnerlichten Mit- und Nacherlebens in der Fantasie nachzeichnen, das dann für die moderne literarische Unterhaltung von herausragender Bedeutung werden wird. 17 dem ich sonst nichts weiß, manchmal bis zum Ausbruch der Tränen bewegt wurde [usque ad effusionem lacrimarum fuisse permotum]“; in anderen Berichten steht, die Herzen der Zuhörer würden durch die Artusgeschichten „von Mitleid erschüttert und bis zu Tränen betrübt [concutiuntur ad compassionem [...] et usque ad lacrymas compunguntur]“ (beide Zitate nach Bumke 2008: 711). Im Renner Hugos von Trimberg heißt es: „Und wie hie vor die alten recken / Durch frouwen minne sint verhouwen, / Daz hœrt man noch vil manige frouwen / Mêre klagen und weinen ze manigen stunden / Denne unsers herren heilige wunden“ (Hugo von Trimberg 1970: vv. 21692-21696). Zur Konkurrenz von weltlicher und religiöser compassio und imitatio unter dem Zeichen der Internalisierung der Unterhaltung durch die Fantasie siehe Abschnitt III. 17 Noch in Flauberts Madame Bovary werden die beiden Elemente der religiösen Erbauung und der empfindsamen Lektüre als Ursachen von Emmas romantischem Liebeswahn eng geführt. <?page no="171"?> Günter Butzer 172 Entstanden ist dieses Modell - und damit bewegen wir uns in einem inzwischen vertrauten Kontext - aus der Theaterkritik der christlichen Kirche, die von den Kirchenvätern (u.a. Tertullian, Augustinus) über Albertus Magnus bis zu den protestantischen Reformbewegungen (Calvinisten, Puritaner, Pietisten) reicht und, so Jörg Jochen Berns, einer Frömmigkeitspraxis Bahn gebrochen hat, die das äußere Theater durch das innere Spektakel der Imagination zu ersetzen sucht (vgl. Berns 2003: 548- 560; ders. 2004). Ich kann das in diesem Rahmen selbstverständlich nur grob skizzieren. Die wichtigste Schaltstelle dieses, nicht nur für die literarische Unterhaltung, sondern auch für die moderne Medienentwicklung, zentralen Vorgangs dürfte jedenfalls die Erfindung der imaginativen Meditationstechnik durch Ignatius von Loyola darstellen, die ihre Vorläufer vor allem in den Passionsmeditationen des Spätmittelalters gehabt hat (vgl. Zarncke 1931). Diese verstanden sich als Ergänzungen bzw. Substitut der szenischen Passionsspiele und stellten den Versuch dar, die starken affektiven Wirkungen dieser Spiele imaginativ durch die textinduzierte innere Bildproduktion zu simulieren (vgl. Schuppisser 1993; Müller 1998). Im Anschluss daran konzipiert Ignatius in seinen Exerzitien die Meditation der Passion Jesu in mehreren Schritten: 18 dabei ruft man in der sog. compositio loci mit Hilfe des Gedächtnisses die historische Situation herauf und versucht, sich selbst als gegenwärtig am geschichtlichen Schauplatz zu imaginieren; um die Wirkung zu steigern, empfiehlt Ignatius die sog. Anwendung der Sinne (applicatio sensuum), bei der man die imaginierte Situation nacheinander mit den fünf Sinnen empfindet und so die Simulation perfektioniert. Man erlebt dann das Gelesene mit den ‚Sinnen der Einbildung‘ (imaginarii sensus) als reales, aber innerliches Geschehen. Mit dieser meditativen Technik wurde in der frühen Neuzeit nicht nur die Bibel, sondern vor allem die Fülle religiöser Erbauungsliteratur verarbeitet, so dass man davon ausgehen kann, dass sich die Entstehung des modernen Lesers (und nicht zuletzt der Leserin) nach dem Modell der meditativimaginativen Lektüre vollzogen hat. So, wie man die Vita Christi als inneres Schauspiel miterlebt hat, hat man dann auch die Liebes- und Abenteuerromane der frühen Neuzeit rezipiert. Dass damit von Anfang an gewisse Gefahren - von der assoziativen Abschweifung über die Melancholie bis hin zum Wahnsinn - verbunden waren, gilt denn auch für die religiöse wie die profane Lektüre gleichermaßen. 19 So sind die Praktiken der literarischen Disziplinierung, wie sie insbesondere im Rahmen der Lesesucht-Debatte propagiert wurden, in erster Linie solche der Regulierung der imaginativen Bildproduktion. Denn das Vergnügen des Lesens ist eines der Einbildungskraft, wie der Erzähler von Karl Philipp Moritz‘ Roman Anton Reiser weiß, und es hält schadlos „für den Mangel an wirklichen Jugendfreuden, die andre in vollem Maße genießen“ (Moritz 1972: 147). Zugleich sind aber auch die Leiden Anton Reisers, „im eigentlichen Verstande, die Leiden der Einbildungskraft“ (ebd.: 89) und müssen daher an dieser - als der Schaltstelle zwischen Sinn und Sinnlichkeit - 18 Vgl. zum Folgenden Ignatius: von Loyola, Exercitia spiritualia, § 121f., sowie Wehr 2009: 84ff. 19 Zum Zusammenhang von religiöser Lektüre, Schwärmerei und Melancholie vgl. Wodianka 2005. Die anthropologischen Grundlagen werden explizit gemacht in John Lockes Kritik der Schwärmerei im Kapitel „Of Enthusiasm“ der vierten Auflage des Essay concerning Human Understanding (IV, 19). Vgl. dazu Schings 1977: 143ff. (zu Locke 172f.), Butzer 2008: 412ff. <?page no="172"?> Theorie literarischer Unterhaltung 173 therapiert werden. Die Prinzipien dieser Therapie lauten: Entmischung der verworrenen Vorstellungen, denn nur diese wirken auf die Empfindung, während die deutlichen Vorstellungen vom Verstand verarbeitet werden können; sodann Verlangsamung des Lesetempos, verbunden mit der Überführung der Linearität der Lektüre in eine innehaltende Vor- und Rückwärtsbewegung; schließlich Selektion von bedeutungshaften Elementen, die nicht nur die Fläche, sondern auch die dreidimensionale Tiefe der Bedeutungen erfasst (vgl. Koschorke 1999: 404ff.). Auf diese Weise soll die frei flottierende Fantasie durch die Urteilskraft gebändigt und auf den Textsinn hin ausgerichtet werden. Was so entsteht, ist das hermeneutische Lektürekonzept, das sich gleichzeitig mit der Ausdifferenzierung der Kunstliteratur als Komplement genialischer Textproduktion herausbildet. Dem gegenüber ist die moderne literarische Unterhaltung, als Double der Kunstliteratur, nicht sinnhaltig, sondern informativ. 20 Ihr Wert beruht nicht auf Bedeutung, sondern auf Differenz, denn „Information ist nicht so sehr das, was gesagt wird, sondern das, was gesagt werden kann“ (Eco 1985: 54). Deshalb ist auch, so Eco, ein Kriminalroman, in dem der Mörder unter einer größeren Anzahl von Personen vermutet wird und wo die Lösung umso unerwarteter kommt, informativer - und das heißt zugleich: spannender - als einer mit weniger Verdächtigen. Spannung ist demnach der Modus, in dem Information in der Unterhaltung auftritt. Damit zusammen hängt eine weitere wesentliche Differenz zwischen literarischer Kunst und Unterhaltung: die unterschiedliche Operationsgeschwindigkeit. Sinnerfassung erfolgt, wie erwähnt, langsam, reflexiv und nicht-linear, weil sie auf die Tiefe der Bedeutungsschichten ausgerichtet ist, die in intensiver Lektüre erschlossen wird. Informationsverarbeitung hingegen vollzieht sich schnell und programmgesteuert, also nichtreflexiv, dafür aber streng linear, und das schon allein deshalb, weil der Informationswert per definitionem nur einmal realisiert werden kann: „Informationen lassen sich nicht wiederholen, sie werden, sobald sie Ereignis werden, zur Nichtinformation. Eine Nachricht, die ein zweites Mal gebracht wird, behält zwar ihren Sinn, verliert aber ihren Informationswert“ (Luhmann 1996: 41). Die Information, so könnte man sagen, schwindet also durch Lektüre, während der Sinn wächst. Unterhaltung verwandelt mithin beständig und zwangsläufig Information in Nichtinformation. Dafür gewinnt sie jedoch eine potenzierte Fähigkeit zur Beschleunigung der Kommunikation, die sich als Handlungsreichtum realisiert. Die Unterscheidungen, auf denen die Information beruht, werden nämlich innerhalb des Texts in Entscheidungen von Handlungsträgern umgesetzt. Ganz im Sinne strukturaler Erzähllogik realisiert sich der Informationsgehalt des Textes als Summe der Handlungsoptionen der Figuren. Die Entscheidungsmöglichkeiten der Figuren und damit der Informationswert der einzelnen Handlungen werden dabei von den Texten selbst im Vollzug der Handlung definiert. So entsteht das, was man auch traditionell als Spannung bezeichnet: die Erzeugung und Auflösung einer selbstgeschaffenen Ungewissheit. 20 Das Folgende ausführlicher in Butzer 2011: 326-332. <?page no="173"?> Günter Butzer 174 Insofern lässt sich literarische Unterhaltung als abgeschlossenes fiktionalnarratives Spiel beschreiben, das seine eigenen Regeln mitproduziert 21 und auf die höchstmögliche Konsistenz der Erzählung ausgerichtet ist: Wie für den guten Detektivroman, gilt für alle Genres der Unterhaltung, dass Verlauf und Ende auf den Anfang rückbeziehbar sein müssen und keine Fragen offen, d.h. keine Handlungssequenzen unabgeschlossen bleiben dürfen. 22 Entscheidend für das Gelingen von Unterhaltung ist demnach, dass es zwar mehr oder weniger feste Schemata der Handlung gibt, aber jede Geschichte sich durch die je eigene Erzeugung und Auflösung von Ungewissheit individualisiert. Auf diese Weise entsteht Langeweile nur beim Wiederlesen desselben Textes, nicht aber eines anderen Textes desselben Genres; man erlebt also die Spannung in jedem Text neu, wie ähnlich sich die Texte auch sein mögen. „Der Leser oder Zuschauer“, so Luhmann, „muß nicht, wie Ludwig Tieck meint, aufgefordert werden, so rasch wie möglich zu vergessen, damit Neues geschrieben und verkauft werden kann; sondern das ergibt sich von selbst daraus, daß jede Spannung individuell aufgebaut und aufgelöst wird“ (Luhmann 1996: 106). Der konkrete Unterhaltungstext hingegen kann nach der Lektüre schnell vergessen werden, weil er im informationstechnischen Sinn veraltet - wie die Nachricht vom vergangenen Tag. Damit das literarische Unterhaltungsspiel funktioniert, muss der Autor bzw. Erzähler hinter den Text zurücktreten, da seine Anwesenheit als auktoriale Instanz die Spannung reduzieren würde. Der Mechanismus der Erzeugung des Textes darf im Text selbst nicht nochmals vorkommen, d.h. der Mitteilungscharakter als kommunikative Voraussetzung des Werks darf nicht ins Bewusstsein des Lesers treten. Dies resultiert unmittelbar aus der Umstellung von Sinn auf Information in der Unterhaltung, denn hermeneutischer Sinn besteht ja nicht zuletzt in der In-Bezug-Setzung der Textbedeutung auf einen Sender, dem diese zugeschrieben wird. Daraus ergeben sich jedoch Fragen der Intentionalität von Erzähler und Autor (und damit auch Fragen nach der Funktion des Textes), die die Konzentration auf den Spannungsverlauf unterbrechen und dadurch die Unterhaltung stören würden. Der Unterhaltungsleser fragt also nicht nach den Intentionen des Textes als kommunikativer Mitteilung, sondern nur nach der Information, d.h. der Handlungssequenz. Die Funktion von Unterhaltung liegt aber nicht nur darin, „uns auf gefällige Weise [...] über ein paar öde, beschäftigungslose Stunden“ hinwegzuhelfen“. 23 In der Unterhaltung geht es vielmehr darum, „eine glaubwürdige, aber nicht konsenspflichtige Realität vorgeführt zu bekommen“ (Luhmann 1996: 112). Denn der Rezipient von Unterhaltungsliteratur ist prinzipiell entlastet von jedem Zwang zur Anschlusskommunikation und kann sich stattdessen ganz auf das Erleben und die Motive der im Text vorgeführten Personen konzentrieren. Diese besondere Form der Beobach- 21 Vgl. zum Folgenden Luhmann: 1996: 96ff. Zur Übertragung der Spieltheorie auf die Unterhaltung vgl. Hallenberger 1990: 29-38 und den Beitrag von Rotraud von Kulessa in diesem Band. 22 Die Ereignisse der Handlungsstruktur müssen also, mit Lotman (1993: 300ff.), wieder getilgt werden. 23 So Robert Prutz bereits 1847 im ersten mir bekannten Entwurf einer Theorie literarischer Unterhaltung (vgl. Prutz 1973: 10). Dazu Langenbucher 1968 und Günter/ Butzer 2000: 243ff. <?page no="174"?> Theorie literarischer Unterhaltung 175 tung ist sowohl identifikatorisch als auch distanzierend; sie impliziert den Vergleich mit dem eigenen Erleben, ohne jedoch, wie bei den Lesesüchtigen, in die Verwechslung von Fiktion und Realität (und damit in den Wahnsinn) zu münden. Stattdessen zielt Unterhaltung auf die Aktivierung von selbst Erlebtem, Erhofftem, Befürchtetem und ermöglicht dadurch die Selbstverortung in der dargestellten Welt und im Anschluss daran auch die potenzielle Bezugnahme auf die eigene Identität. Der Leser kann Elemente, angefangen von Produktmarken über sprachliche und Handlungselemente bis hin zu konkreten Habitus, für sich übernehmen - oder es bleiben lassen. Worin liegt demnach, so ist abschließend zu fragen, die Attraktivität dieser besonderen Art literarischer Informationsverarbeitung? Sie liegt sicherlich nicht in dem, was Unterhaltung in der Vormoderne einmal bedeutet hat: in der Interaktion, Performanz und Kollektivität des Spektakels, das seine kulturellen Orte bis heute jenseits der Literarizität gefunden bzw. bewahrt hat. Auf der Ebene des Spektakels bildet moderne literarische Unterhaltung, wie schon Moritz‘ konstatierte, nicht mehr als ein schlechtes Supplement für das reale Vergnügen. Letzten Endes ist es wohl die zwar programmgesteuerte, aber doch selbsterzeugte und im Rahmen dieser Autopoiesis freie Bildproduktion, die nicht, wie in der Kunstliteratur, durch Verfahren der Sinnbildung eingehegt wird. Unterhaltungslektüre ist wilde Lektüre und vermag so, wie reduziert auch immer, einen gewissen Ersatz für den Verlust an motorischer und sinnlicher Spontaneität zu liefern. Moderne literarische Unterhaltung präsentiert sich damit als Ergebnis einer Transformation vom Spektakel zum Spiel in einem engeren Sinn, das nicht mehr das kollektive play, sondern das eher intime game mit seiner ausgeprägten Regelfixierung meint. Aus dem vormodernen poetischen Spektakel spalten sich demnach zwei idealtypische Formen ab: das Spiel der Unterhaltung einerseits und die Arbeit der Kunst andererseits. Wo immer sich aber Literatur wieder dem Spektakel nähert - wie dies in den Avantgardebewegungen (von Seiten der Kunst) oder in der neueren Popliteratur (von Seiten der Unterhaltung) der Fall ist -, verspricht auch die Trennung von Kunst und Unterhaltung wieder obsolet zu werden. Dass dieses Spektakel in der Regel kein durch Interaktion und kollektive Präsenz geprägtes mehr sein wird, sondern wesentlich ein Medienspektakel darstellt, liegt auf der Hand. Insofern ist etwa der Poetry Slam als agonale Form literarischer Performanz eine rückwärts gerichtete Veranstaltung, die mehr an den mittelalterlichen Sängerkrieg als an zeitgemäße Kommunikationsverhältnisse erinnert. Was uns stattdessen erwartet und wovon die neuere Popliteratur seit den 1990er Jahren einen Vorgeschmack geliefert hat, ist Literatur als multimediales Spektakel, das keine Grenzen mehr respektiert: weder zwischen literarischen und audiovisuellen Medien noch zwischen analogen und digitalen. Der Raum der Literatur wird dann ein mehrdimensionaler sein, der zwischen der Autorenlesung (als performativer Schrumpfform des Spektakels), der Literaturverfilmung, dem Musical, der Fernseh-Talk-Show, dem Weblog, dem Computerspiel und dem Werbeauftritt (sowie weiteren denkbaren oder noch undenkbaren Varianten wie der literarischen Wander- und Radltour) verteilt ist und deren möglichst enge Vernetzung anstrebt. Der erste autochthone Ort moderner Literatur als Kunst wie <?page no="175"?> Günter Butzer 176 als Unterhaltung: die einsame Buchbzw. E-Book-Lektüre (mit ihren verinnerlichenden Spektakel- und Bildungseffekten) wird dadurch seine privilegierte Stellung verlieren und nurmehr ein Modus des Literarischen unter anderen sein. Das Abjekt literarischer Unterhaltung indessen - als Trivialliteratur, Kitsch oder Schmutz und Schund - wird damit endgültig verschwinden, und ich meine, es lohnt nicht, ihm nachzutrauern. Literaturverzeichnis André, Jean-Marie. Griechische Feste, römische Spiele. Die Freizeitkultur der Antike. Übers. v. Katharina Schmidt. Stuttgart: Reclam 1994 [frz. teilw. 1984]. Aristophanes. Die Vögel. Komödie. Übers. v. Christian Voigt. Stuttgart: Reclam 1971. ---. Die Ritter. In: Ders. Sämtliche Komödien. Übers. v. Ludwig Seeger. Einl. v. Otto Weinreich. Bd. 1. Zürich: Artemis 1952, S. 53-118. Aristoteles. Poetik. Griech./ dt. Übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann. 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(Ich erinnere mich noch genau daran: Die Prüfung endete mit einem schwachen „Dreier“.) Im Herbst 2007 muss ich, so belehrt mich jedenfalls mein Kalender, die letzte derartige Prüfung wahrgenommen haben. (Aber davon weiß ich überhaupt nichts mehr). Dazwischen jedoch kehrte nach dem Schema: „Epoche - Gattung - Autor“, das etwas beinahe schon in Stein Gemeißeltes hatte, es kehrte „Der Naturalismus“ immer und immer wieder. Er galt als schmale und leicht zu überschauende Epoche. Und mit derselben Regelmäßigkeit wurden immer wieder dieselben Fragen gestellt: „Was heißt eigentlich ‚Natur ‘ im Naturalismus? “ - übrigens eine gar nicht so leichte Frage, daher keinesfalls am Anfang und in vielen Fällen eher gar nicht zu stellen! Ich komme noch darauf zurück. Dies ist vielleicht die Leitfrage dieses Vortrags: Was heißt „Natur“ im Naturalismus? Zur Eröffnung des Prüfungsgesprächs geeignet aber war: „Vergleichen Sie bitte die Dramen Nora oder ein Puppenheim (Et dukkehjem, 1879) von Henrik Ibsen, dann Arno Holz / Johannes Schlaf Die Familie Selicke (1890) und - wer errät das dritte? - Gerhart Hauptmann Vor Sonnenaufgang (1889)! “ Das galt - die Studierenden gaben entsprechende Unterlagen untereinander weiter - als eher „leichte“ Frage. Aber ist sie das wirklich? Dazu meine erste These: I. These: Die Schriftsteller des Europäischen Naturalismus gehen von gemeinsamen Voraussetzungen aus, folgern daraus literarisch aber durchaus Verschiedenes. Ibsens Nora beispielsweise, Holz / Schlafs Toni und Hauptmanns Helene sind alle gefangen in sozialen und familiären Situationen, die sie menschlich erdrücken, erdrü- 1 Émile Zola, Le roman experimental (1879 / 1880). Hrsg. von Aimé Guedji. Paris: Garnier Flammarion 1971, S. 152. Alle Übersetzungen stammen, sofern nichts anderes vermerkt ist, von mir. <?page no="181"?> Hans Vilmar Geppert 182 cken vor allem in ihrem weiblichen Selbstbewusstsein. Dieser „Milieudeterminismus“ wäre gleich eine dieser genannten Gemeinsamkeiten. Die in Titel und Motto genannte „tierische“ Natur des Menschen, das Körperlich-Triebhafte wäre eine weitere. Aber damit ist nie bereits genug erfasst an dieser Literatur. Denn wenn Nora am Ende des Dramas Mann und Kind verlässt - seinerzeit und womöglich noch heute ein Skandal 2 -, wenn Toni aus Verantwortung für ihre Familie ihre Lage akzeptiert und ihrem Geliebten nicht in die Freiheit folgt, und wenn Helene, weil der Mann, der ihre Hoffnung gewesen war, sie verlassen hat, wenn sie sich ersticht - was sollen wir weiter dazu sagen? Mal geht es so aus, mal so? Die eine hat Recht, die andere nicht? In Norwegen waren die Frauen emanzipierter als in Deutschland? Ibsen traut ihnen den Schritt in die Freiheit zu, Hauptmann immerhin den Protest des Suizids, Holz allenfalls die Verantwortung, noch dazu eine ganz passive? Und so weiter, „als ob“ das „irgendwie“ sich so „wirklich“ ereignet hätte? Wir sind im Theater. Wenn der Vorhang gefallen ist, gehen wir wieder. Es kommt auf die literarische Wirkung des ganzen Dramas an, nicht lediglich auf den Ausgang der Handlung. Die drei Dramen gehen von vergleichbaren Voraussetzungen aus, aber folgen verschiedenen Diskursen: Das Zusammenwirken literarischer und theatralischer Mittel zielt auf verschiedene Wirkungskonzepte; die Dramen wollen die Zuschauer auf verschiedene Weise ansprechen und motivieren. Da ich das jetzt natürlich nicht ausführlich analysieren kann, erlauben Sie, sozusagen als Vorgriff auf mögliche Ergebnisse solcher Überlegungen, ein paar Vorschläge für anschauliche, wenn Sie wollen, plakative Inszenierungen! Wenn die „Kindfrau“ Nora auf der Bühne zur selbstbewussten Persönlichkeit heranreift, dann soll sie die Zuschauer, vor allem die Zuschauerinnen mitnehmen. Mitnehmen aber heißt nicht Identifikation. Am Ende, wenn der Vorhang gefallen ist, ist das Publikum „mit Nora“ jeweils bei sich: Dass diese ihre Kinder zurücklässt, ist dann nicht mehr einfach übertragbar. So haben ja auch die Dialoge in den letzten Szenen eher „gestische“ Bedeutung: Sie sind ein großes Weggehen. Das letzte Argument, das „Wunderbare“ ist so vage, dass es nur noch eine offene Zukunft bezeichnen kann, eher „das Unbekannte“ als „das Wunderbare“. Und die eigentliche Wende in Noras Emanzipationsprozess war ja eine ästhetische gewesen. Noras Protest gewinnt Kraft, wenn sie so „wild“ und mit „Leidenschaft“ die Tarantella tanzt, „als ginge es [ihr] ans Leben“ - und „das tut es auch“, wie sie selbst sagt, aber eben im Sinne eines anderen Lebens, eines Neuanfangs: Spiel im Spiel, Bühne auf der Bühne. Wenn Nora endgültig weggeht, muss das als Akt der Befreiung inszeniert werden, der das Publikum einbezieht: Proxemisch (nach der Bedeutung von Bewegungen), indem etwa eine Treppe durch den Saal führt, oder emotional-musikalisch, durch Hintergrund-Musik, oder irgendwie empathisch, das Publikum zum Mitfühlen auffordernd, bis dann zuletzt „die Haus- 2 Die Diskussion im Anschluss an einen Augsburger Vortrag von Eva Matthes (Henrik Ibsen „Nora oder Ein Puppenheim“. In: H.V. Geppert [Hrsg.], Große Werke der Literatur IX. Tübingen und Basel 2006, S. 61- 73) war erbittert („Haben Sie selbst Kinder? “), dauerte lange und kreiste vor allem darum. <?page no="182"?> Theorie eines Europäischen Naturalismus 183 tür dröhnend ins Schloß fällt“. 3 Wie auch immer: Die schiere Energie von Noras Denken und Fühlen, auch ihre erotische Ausstrahlung, soll sich den Zuschauern und Zuschauerinnen mitteilen. Und das ist Methexis, Teilhabe an einem Lebensrhythmus, die über die Mimesis modellhafter Handlung hinausgeht. Ganz anders Die Familie Selicke. Wir sehen und begreifen einen Winkel Berliner Alltagsrealität um 1890 - von Anfang an distanziert, eine „Guckkastenbühne“: Hier hat sich dies und das schlimm entwickelt. Man schaut den Personen über die Schulter und hört „hinter“ ihren Dialogen und durch ihre Sprache hindurch Wahrheiten, die sie sich selbst verbergen. Der Schluss ist nicht offen, sondern auf fast kreisende Weise statisch. 4 Die Verheißung: „Ich komme wieder“ 5 wirkt leer und beliebig - so beliebig wie „das Wunderbare“ in Nora. Aber wo Nora die Bühne überschreitet und das Publikum mitnimmt, sinkt Toni in die Bühne zurück. Die analytische Distanz wächst so eher noch. Und man kann folgern: Es gibt noch viele solche Winkel. Könnte man sich nicht vorstellen, und das wäre eine völlig andere Inszenierung, als sie Nora verlangt, dass Bühne und Schauspieler am Ende - technisch geht ja inzwischen alles - Teil einer Videoinstallation werden, die viele andere Großstadtszenen gleichzeitig zeigt? 6 Es geht um das Einzelne und um viele Einzelne und darum, hier - letztlich moralistisch - von Fall zu Fall aufzuklären und zu verbessern. Und Hauptmann? Seine Dramen schließen oft mit großen Gesten. Nicht nur die Namen „Loth“ oder „Helene“ haben etwas Mythisches. Die Personen des Dramas folgen hier immer ihren jeweiligen, sei es äußerlich bestimmten oder, wie es im Text heißt, ihren „inneren Gesetzen“: Dass jemand so „gewissenhaft“ war, dass er „sich eben erschossen“ hat, 7 ist der erste wesentliche Gesprächsinhalt, und so fort. Insbesondere Loth kennt, wie sein Name sagt, nur eine gerade Linie und keine Umkehr. Am Ende - so stelle ich mir das vor - wird die Bühne dunkel, man hört wie einen antik-schicksalhaften, hier allerdings völlig wirren Chor die Stimmen der „ununterbrochen schreienden“ Magd und des betrunkenen Vaters; 8 und vor dem inneren Auge der Zuschauer stehen nur noch die Gestalten menschlicher Erschütterung: die Mutter mit ihrem toten Kind und die Selbstmörderin, groß und einsam da. Das ist immer noch die klassische Katharsis, die das Publikum erfahren soll, eine „Reinigung“ des Gemüts, indem es erschüttert wird. Natürlich habe ich jetzt überdeutliche, wie gesagt, plakative Inszenierungen vorgeschlagen. Aber sie zeigen die Verschiedenheit der literarischen Diskurse. Und 3 Henrik Ibsen, Dramen. In den vom Dichter autorisierten Übersetzungen. Sonderausgabe für die Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1982, S. 806 - 808 und 830. 4 „Ach Gott ja! […] Ach Gott ja! “ am Anfang und am Ende. Arno Holz und Johannes Schlaf, Die Familie Selicke. Drama in drei Aufzügen. Mit einem Nachwort von Fritz Martini, Stuttgart: Reclam 1966, S. 5 und 65. 5 Ebd. S. 66. 6 Etwa so wie der „Titeltrick“ in Rainer Werner Fassbinders Fernsehfassung von Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (1980), vgl. Rainer Werner Fassbinder und Harry Baer, Der Film BERLIN- Alexanderplatz. Ein Arbeitsjournal. Frankfurt a. M. 1980, S. 22-25. 7 Gerhart Hauptmann, Das dramatische Werk. Hrsg. von Hans-Egon Hass, 8 Bde., Frankfurt, Berlin, Wien: Ullstein 1974, Bd. 1, S. 147. 8 „ Gald […] a poar hibsche Töchter“ usw. Ebd. S. 227 / 228, vgl. zudem S. 226 ff. <?page no="183"?> Hans Vilmar Geppert 184 dieses Modell „kontrafaktischer“ Gemeinsamkeit - gemeinsame Voraussetzungen, unterschiedliche Folgerungen - lässt sich auf noch viele weitere Geschichten gesellschaftlich „eingesperrter“ Frauen in dieser Epoche anwenden: August Strindbergs Fräulein Julie (Fröken Julie, 1888), in dem das adlige „Fräulein“ über ihren Privilegien und Restriktionen sich und ihre Welt nicht mehr versteht, argumentiert bereits mit Absurditäten. In Anton Tschechows Die Möwe (Čajka, 1898 - der Titel setzt das Freiheitssymbol negativ zum Dramengeschehen) gewinnt die Heldin in den Täuschungen und Zwängen, im „Strudel“ 9 der Welt ihre innere Festigkeit und findet vor allem ihr künstlerisches Selbstbewusstsein. 10 In Gerhart Hauptmanns Rose Berndt (1903) verkörpern die Frauen im Bund mit der so betont „fruchtbaren Landschaft“ 11 einen weiblich-mütterlichen Gegenentwurf zum Gefängnis der Vorurteile und Abhängigkeiten. Und diesen Mutter-Mythos können die verhängnisvollen Täuschungen, Missverstände und Kurzschlüsse der Handlung nicht negieren. Man könnte sich diese Epoche als Modell einer Gemeinsamkeit vieler Schnittmengen vorstellen, oder, wenn man will - so deuteten Studierende mein Diagramm - als einen Kreis von Leuten, die an einem gemeinsamen Tisch sitzen: Und so lassen sich dann auch mehrere Gattungen zusammen sehen. In der deutschen Literatur dieser Zeit fehlt zwar ein naturalistischer Roman von Niveau, es dominiert das Drama. Aber die großen europäischen Romane im letzten Drittel des 9 Anton Tschechow, Die Möwe. Dt. von Kay Borowski, Stuttgart: Reclam 1975, S. 64. Auch der „Strudel“, ein dynamisches, wegtreibendes und hinunterziehendes „Gefängnis“ (vgl. George Gissings Roman The Whirlpool, 1897), gehört so zu einer für diese Epoche typischen „Krisensignatur“ (vgl. unten These V). 10 „Wenn ich an meine Berufung denke, habe ich keine Angst mehr vor dem Leben. “ Ebd. S. 66. 11 Gerhart Hauptmann, Das dramatische Werk, Bd. 3, S. 351 und 378 (der Beginn der Regieanweisungen zum ersten und dritten Akt). <?page no="184"?> Theorie eines Europäischen Naturalismus 185 19. Jahrhunderts nehmen vielfach naturalistische Themen und Formen wahr. Sie erzählen schon, bevor das Drama einsetzt, und sie erzählen weiter, nachdem es abbricht. In vergleichender Perspektive ist der Roman die wesentliche Leitgattung dieser Epoche. So werden etwa die Konflikte aus Rose Berndt (1903) - von der Verführung zum Selbstmord - in Thomas Hardys Roman Tess of the d’Urbervilles (1891) bereits differenzierter und härter - von der Vergewaltigung zur Hinrichtung - aber letztlich in vergleichbarer Argumentation erzählt: A Pure Women, so der Untertitel, behauptet sich - oder besser: soll sich im Urteil der Leser behaupten - gegen das bewegliche und zugleich unentrinnbare ‚Gefängnis‘ - man denke an die nachtwandlerische Szene, wenn Tess lebendig in den Sarg gelegt wird (Kap. XXXVII) -, ein Gefängnis von Abhängigkeiten („I will obey you like your wretched slave“), von Lebens- und Arbeits-Zwängen und vor allem von männlichen Privilegien und Vorurteilen („there is that which I cannot endure“), ein Gefängnis, das der Aufstand der „reinen“ Kreatur nicht durchbrechen kann („they all closed in with evident purpo se“), das aber gegenüber dem geradezu natur-mythischen Opfer („sacrifice […] to the sun“) und eben gegenüber der Anrufung der „reinen Natur“ letztlich nicht Recht behält, nicht Recht behalten darf. 12 Ganz anders, analytisch, relativierend und differenzierend argumentiert ein zeitlich benachbarter anderer englischer Roman. In George Gissings The Odd Women (1893) geht es durchaus naturalistisch um Arbeit, um genau berechnete, kleinbürgerlich enge Lebenshaltungskosten, um Klassenunterschiede, Alkoholismus, bürgerliche Vorurteile, ein ungewolltes Kind usw., aber auch um realistische Projekte weiblicher Bildung und Emanzipation. Die beiden alternativen Heldinnen befinden sich in diesem Geflecht von Konditionierungen beide in Situationen, die „odd“, unpassend sind. Weder gibt weibliche Anpassung hier die Antwort („she despised herself, and hated him for the degradation which resulted from his lordship over her“). Noch kann sich weibliche Emanzipation („she is quite like a man […] hard-heartet“) hier gegen die Falle von Vorurteilen behaupten, die, durch Missverständnisse ausgelöst, unentrinnbar zuschnappt. Hier geht es nicht um tiefe menschliche Tragik wie bei Hardy oder Hauptmann. Mythen und Symbole sagen hier nichts. Die Aporie der Frauen ist eine der noch nicht und nicht genug erarbeiteten Bildungs-Emanzipation, an deren Zukunft kein Zweifel besteht: „Women in general shall become rational and responsible human beings“. 13 So könnte man sich immer weiter und weiter umsehen. Zu denken wäre etwa, um noch zwei weltliterarische Beispiele zu nennen, an die Kontrast-Entsprechungen in Émile Zolas Les Rougon Macquart / Die Rougon-Macquart (1871-1893): Gervaise Macquart-Lantier, eingezwängt in immer engere, immer ärmere soziale Räume, zuletzt in einen Verschlag unter der Treppe (L’Assommoir / Der Totschläger [Die Schnapsbude], 1876), und ihr entgegengesetzt und doch vergleichbar Renée Rougon (La curée / 12 Thomas Hardy, Tess of the d’Urbervilles. A Pure Women Faithfully Presented. Hg. von David Skilton, Harmondsworth: Penguin 1978, in der Reihenfolge der Zitate, S. 300, 324, 486, 485. 13 George Gissing, The Odd Women. Hrsg. von Patricia Ingham, Oxford / New York: Oxford’s World Classics 2000, in der Reihenfolge der Zitate S. 234, 36, 44, 152 (im Original kursiv). <?page no="185"?> Hans Vilmar Geppert 186 Die Beute, 1872) in ihrem neureich dekadenten Käfig. Aber andere „Zweige“ der Familie werden überleben und frei und stark sein. Nena in Giovanni Vergas Roman I Malavoglia / Die Malavoglia (1881) ist in den Traditionen und Zwängen ihrer sizilianischen Fischerfamilie innerlich so gefangen wie äußerlich in dem „Haus mit dem Mispelbaum“, sodass vom Anfang bis zum Ende der Geschichte ihr „Herz […] in einem Schraubstock eingezwängt“ bleibt („il cuore stretto in una morsa“). 14 Aber ihre Schicksale und die ihrer Familie spielen vor dem Hintergrund des offenen und unberechenbaren Meeres: „Il mare non ha paese […] ed è di tutti / das Meer hat keine Heimat, und es gehört allen“ 15 - Symbol einer großen unbekannten Alternative zu all den sozialen und mentalen Zwängen, so unbekannt, wie Noras Schicksale bei Ibsen und „das Wunderbare“, auf das sie hofft, oder wie das „unbekannte Kind“ und der „unbekannte Gott“, mit deren Anrufung Émile Zola seinen Rougon- Macquart-Zyklus schließt. Wir müssen hier abbrechen, denn es geht ja lediglich um die These als solche, die These einer „multiplen kontrafaktischen“ - irgendwann muss dieser Vortrag ja mal wie Theorie klingen -, einer vielfältigen Gemeinsamkeit der Voraussetzungen und offenen Verschiedenheit der Ergebnisse im Europäischen Naturalismus: Immer wieder trifft man in dieser literarischen Epoche auf gemeinsame, zumindest vergleichbare Situationen, die harte soziale und mentale Realität des späten 19. Jahrhunderts, die aber ganz verschieden - bis hin zum „Antinaturalismus“ - forterzählt werden. II. These: Die Naturalisten experimentieren mit Systemen Mit dem Programm, bzw. „der Vorstellung einer Literatur, die von der Wissenschaft geleitet wird / l’idée d’une littérature déterminée par la science“, mit diesem Stichwort beginnt Émile Zola 1879 seine wichtigste literaturtheoretische Schrift: Le roman expérimental / Der experimentelle Roman. Und „Determinismus“, so liest man gleich darauf, ist „die Ursache, die die Erscheinung der Phänomene determiniert / ‚déterminisme ‘ […] la cause qui détermine l’apparition des phénomènes“. 16 Das literarische Experiment, das so entsteht, ist dann - und das scheint mir jetzt sehr wichtig - eines des Aufzeigens, des Demonstrierens, des Sichtbar-Machens dieses „Determinismus“: „une expérience ‚pour voir’“, die Demonstration von Gesetzmäßigkeiten, nicht das Aufzeigen von Sachverhalten. Denn „tout se tient / alles hängt mit allem zusammen“: die klassische Definition eines Systems. Dann wäre eine „wissenschaftlich geleitete Literatur“ ein fiktionales, experimentelles Durchspielen eines hypotheti- 14 Giovanni Verga, I Malavoglia. Hrsg. von Sarah Zappulla Muscarà, Milano: Mursia 1982-1987, S. 299 / Die Malavoglia. Dt. von René König, Frankfurt: Bibliothek Suhrkamp 1982, S. 295 (das unnötige „wie“ in dieser Übersetzung habe ich entfernt, da es die Metapher abschwächt, auf deren Härte es ja gerade ankommt). 15 Ebd. S. 300 und 297. 16 Die folgenden Zitate stammen aus: Émile Zola, Le roman expérimental, in der Reihenfolge der Zitate S. 59, 60, 64, 70, 81. <?page no="186"?> Theorie eines Europäischen Naturalismus 187 schen Systems determinierender Faktoren, eines Systems, das von den Naturwissenschaften („la science“) auf die Literatur übertragen wurde, und dessen Auswirkungen die Literatur simuliert und demonstriert („expériment pour voir“). „Was heißt ‚Natur ‘ im Naturalismus? “ Wenn wir diese Standard-Frage präzisieren zu: Was heißt ‚Natur ‘ in Zolas Formel: „un coin de la nature vu à travers un tempérament / ein Winkel Natur durch ein Temperament hindurch gesehen [so die wörtliche Übersetzung; besser wäre allerdings: ], ein Ausschnitt der Natur, wie ihn einzelne Menschen erfahren“? 17 , dann könnten wir eine erste Antwort geben: „Natur“, das sind für Zola in erster Linie Naturgesetze als hypothetisches System begriffen. Und das bedeutet dann sogleich etwas völlig anderes, als die „Natur“ in Arno Holz’ von Zola übernommener, produktiv missverstandener und zu großer Wirkung weiterentwickelter Formel: „Kunst = Natur x“, auf die ich - keine Sorge! - noch eingehen werde. 18 Entscheidend ist zunächst, also für Zola, der systematische Zusammenhang der Naturgesetze, nicht deren je einzelne positive Richtigkeit. Hier erlaubt Zola sich ja phantastische Phänomene, etwa, dass ein unglücklich verliebtes Mädchen sich durch den Duft vieler Blumen selbst töten kann (La faute de l’abbé Mouret / Die Schuld des Pfarrers Mouret, 1875), oder dass ein alter Trunkenbold sich mit der Glut seiner Pfeife selbst entzündet (Le docteur Pascal / Doktor Pascal, 1893), oder die berühmte, völlig phantastische Schluss-Szene des Eisenbahner- und Triebmörder- Romans La bête humaine / Bestie Mensch (1890), dass ein Eisenbahnzug als ein „train fantôme / ein Phantom-Zug“ ohne Kohle und ohne Lokomotivführer endlos weiter fahren kann - voller betrunkener Soldaten, die 1870 an die Front fahren. 19 Entscheidend ist das Denken, Sehen, Vorstellen und Demonstrieren von Gesetzmäßigkeiten, von Systemen, und das erzählende Experimentieren mit ihnen. So spielt, um gleich dieses schlechthin zentrale Werk des Europäischen Naturalismus, den Romanzyklus Les Rougon-Macquart (1871-1893) weiter vorzustellen, Zola mit systematisch-gesetzmäßig vorgegebenen Möglichkeiten der Kombination von Erbfaktoren, die sich ableiten lassen aus einer weiblichen (Adelaide) und zwei männlichen „Erbmassen“ (Rougon und Macquart). Und nicht nur das. Folgt man dem, im Anhang zum Roman Une page d’amour / Ein Blatt der Liebe (1878) veröffentlichten Stammbaum, 20 dann sucht Zola auch die Ergebnisse dieser „Prägungen“, also die einzelnen Mitglieder der Familie systematisch, als ein System von Oppositionen auszuarbeiten: reich und arm, bürgerlich und proletarisch, gesund und krank, Minister und Revolutionär, „ehrbar“ und kriminell, klug und „imbécile“ und so fort. Und es handelt sich um ein System, das sowohl hypothetisch, als auch endlich ist. Es kann in sich selbst neutralisiert werden. Interessant sind hier z.B. die Ergänzungen, die Zola später zu diesem Plan hinzugefügt hat, und die immer das Bedürfnis zeigen, 17 Ebd. S. 140. Allerdings fährt Zola fort: „Si nous en restons là, nous n’irons pas loin / Wenn wir hier stehen bleiben, werden wir nicht weit kommen“. 18 Vgl. dazu unter These IV. 19 Émile Zola, La bête humaine. Hrsg. von Robert A. Jouanny, Paris: Garnier-Flammarion 1972, S. 381, 382. 20 Émile Zola, Une page d’amour. Hrsg. von Colette Becker, Paris: Garnier-Flammarion 1973, S. 364, 365. <?page no="187"?> Hans Vilmar Geppert 188 das System zu bewahren und zu vervollständigen. So wurde etwa der „Hure“ Anna Coupeau (Nana, 1880), deren „état de vice / Zustand des Lasters“ schon früh geplant war, 21 die im Stammbaum von 1878 noch nicht vorgesehene „Heilige“ Angélique (Le Rêve / Der Traum, 1888) entgegengesetzt. Vergleichbar sollten die beiden Söhne der Gervaise Macquart, Claude Lantier, der Maler, 22 und Étienne Lantier, der Arbeiter, die Systemstellen „Genie“ und „Triebmörder“ besetzen. Aber im Verlauf der Romane Le ventre de Paris / Der Bauch von Paris (1873) und vor allem Germinal (März bzw. Keimmonat, 1885) hatte sich Étienne als Arbeiterführer zu edel entwickelt, um als Mörder zu enden. Er erhält in den Kolonien eine neue Chance. Statt seiner wurde, wie in einer heutigen Soap-Opera, um Étiennes System-Stelle auszufüllen, ein früherer Sohn Gervaises, Jacques Lantier, nachträglich hinzu erfunden und eingeführt, der dann diesen erblich angelegten Trieb in einem Umfeld vieler weiterer Mörder ausleben muss (La bête humaine / Bestie Mensch, 1890). Und dass das System hypothetisch und begrenzt funktioniert, zeigt von Anfang an die Figur des Pascal Rougon (La fortune des Rougon / das Glück [Vermögen] der Rougons, 1870 / 1871), des, wenn man will, völlig edlen und völlig gesunden Gegenpols der ganzen Familie. In ihm haben sich die Erb-Faktoren in der Tat neutralisiert: Rien au moral ni au physique ne rappelait les Rougon chez Pascal. [Il] ne paraissait pas appartenir à la famille. C’était un de ces cas fréquents qui font mentir les lois de l’hérédité. / Nichts im Aussehen und im Charakter Pascals erinnerte an die Rougons. Er schien nicht zur Familie zu gehören. So werden oft die Gesetze der Vererbung Lügen gestraft. 23 So wie Pascal direkt aus den noch über dem System stehenden „forces créatrices [de] la nature / schöpferischen Kräften der Natur“ 24 hervorgegangen ist, so wird er selbst zuletzt (Le docteur Pascal / Doktor Pascal, 1893) das System aus sich selbst heraus überwinden: Er zeugt mit seiner Nichte einen Sohn, eine Art „Erlöser“, dessen Zukunft völlig offen ist; und - womit er dann völlig zum Sprachrohr seines Autors wird - er will auch theoretisch das hypothetisch-systematische Experiment des Roman- Zyklus in das unbekannte und regellose „Leben“ hinein aufheben. 25 Systematisch aufgebaut ist oft die naturalistische Bühne. In Strindbergs Der Vater (Fadren, 1887) bezeichnet die Opposition von Szene und off stage die Feindschaft von männlicher und weiblicher Welt. In Ibsens Die Wildente (Vildanden, 1884) steht der sichtbare Bühnenraum, die bürgerliche Wohnung, für das Bewusstsein, damit auch für Täuschungen, ja für die „Lebenslüge“, der unsichtbare, aber in den Dialogen präsente Dachboden steht für die verdrängten Probleme und deren Verhängnis. Mehrfach systematisch-antithetisch ist die Bühne in Hauptmanns Die Weber (1892) aufgebaut: Die Weber warten rechts, gehen dann nach links zur Bühnenmitte, geben 21 Ebd. 22 Obwohl er der jüngere ist, wird er zuerst und nach „oben“ führend eingezeichnet. Er vertritt eine „höherwertige“ Entwicklungsmöglichkeit (vgl. ebd. S. 365). 23 Émile Zola, La fortune des Rougon. Hrsg. von Robert Ricatte, Paris: Garnier-Flammarion 1969, S.104. 24 Ebd. 25 Vgl. unter These VII: Das Unbekannte - Naturalismus und Moderne. <?page no="188"?> Theorie eines Europäischen Naturalismus 189 ihre Ware zur Prüfung und zum Wiegen ab, gehen weiter, um ihr Geld zu erhalten, und dann gehen sie wieder in die Gegenrichtung ab; alles ist genau geregelt. Darin gleichen sie dann, wie der Autor anweist: Menschen, die vor die Schranken des Gerichts gestellt sind, wo sie in peinigender Gespanntheit eine Entscheidung über Tod und Leben zu erwarten haben. 26 Denn der quer die Bühne teilende Tisch, vor den die Weber nacheinander treten, fügt zur Opposition von „links“ und „rechts“ auch die von „vorn“ und „hinten“ hinzu, die sich raum-symbolisch zur Opposition von „unten“ und „oben“ überhöht: ein vollständiges System. Denn der Tisch bedeutet die räumlich-systematische Grenze zwischen Macht und Ohnmacht. Und wie manchmal in der barocken Bühne gibt es eine sich öffnende hintere Wand, die die Stelle einer Art Transzendenz einnimmt: das Arbeitszimmer des Fabrikanten selbst. Aber diese Transzendenz ist leer. Der auftretende Direktor bestätigt und verfestigt vielmehr gerade die Gesetzmäßigkeit der Szene: Aus dem System von Arbeit und Ausbeutung gibt es keinen Ausweg - einzig am Ende des Dramas die Alternativen eines absurden Glaubens und einer absurden Revolution. 27 Aber das Absurde ist selbst eine alternative, „kontrafaktische“, mögliche Folgerung des Naturalismus. III. These: Die romantische Natur schaut zum Fenster herein In den ausführlichen Anweisungen zu dieser Anfangsszene der Weber merkt Hauptmann ausdrücklich an, wie hübsch („nicht ohne Reiz“) die halb verhungerten Webermädchen sein können: grazil, mit „zarten Formen“, blass (damals noch ein Schönheitsideal), „mit großen Augen“ usw.. 28 Vergleichbar liest man etwa bei Arnold Bennet (Anna of the Five Towns, 1902), dass die Porzellan-Malerinnen in der Fabrik vom Einatmen der giftigen Farben besonders schön werden („enjoy a general reputation for beauty“), dass sie volle Lippen, glänzende Augen und seidige Haare bekommen, und dass ihre gefährliche Arbeit sie mit einem „frivolous charme“ umgibt. 29 Oder man denke daran, dass Cathérine für Étienne Lantier bei der schweren und schmutzigen Arbeit im Bergwerk (Germinal, 1885) erst dann hübsch und interessant wird, 30 wenn sie vom Kohlenstaub schwarz ist und das Weiß ihrer Zähne und das „Grünlich-Katzenhafte“ ihrer „vergrößerten“ Augen umso mehr leuchten. Das ist ein auffällig gemeinsames Motiv: Das plötzliche Auftauchen weiblicher Schönheit in einem Kontext letztlich unmenschlicher Arbeit wirkt wie eine Erinnerung und ein kleiner, fast verzweifelter Protest. Es erinnert an und fordert eine „schöne“, ja liebende Natur, in der und mit der die Menschen in Harmonie leben könnten. 26 Gerhart Hauptmann, Das dramatische Werk, Bd. 2, S. 455. 27 „Die springt vor a Bajonettern rum, wie wenn se zur Musicke tanzen tät“, ebd. S. 531. 28 Ebd. S. 456. 29 Arnold Bennett, Anna of the Five Towns. Harmondsworth: Penguin 1988, S. 121. 30 „Elle lui semblait d’un charme singulier / sie schien ihm eigentümlich reizvoll“, Émile Zola, Germinal. Hrsg. von Adeline Wrona, Paris: Garnier-Flammarion 2008, S. 48. <?page no="189"?> Hans Vilmar Geppert 190 „Alles ist gut, geht es aus den Händen der Natur hervor; alles entartet unter den Händen des Menschen“: Mit diesem Zitat aus Jean Jacques Rousseaus seinerzeit alternativem Erziehungsroman Émile (1762) schließt Max Kretzer seine gesellschaftskritische Erzählung Die Engelmacherin (1888). 31 Auch dies erinnert an eine „andere“ Natur als die berechenbare und gesetzmäßige Natur der Naturwissenschaften und ihrer wirtschaftlichen und technischen Folgerungen. Und auf diese, hier der Einfachheit halber „romantisch“ genannte Natur - es kommt ja eben vor allem auf die Alternative an, wenn man fragt: Was heißt „Natur“ im Naturalismus? - trifft man in der Literatur dieser Epoche auf Schritt und Tritt. Sie steht nie im Mittelpunkt, ist aber an der räumlichen und mentalen Peripherie immer wieder auf bedeutsame Weise präsent. In die sozialen Gefängnisse, die hier so oft entworfen werden, schaut die romantische Natur gewissermaßen „zum Fenster herein“. Dabei ist, wie gesagt, der Kontrast als solcher wichtiger, als das jeweilige Aussehen dieser alternativen Natur. Exemplarisch wären z.B. die einander korrespondierenden Tagträume des sich selbst betrügenden Wendt und des todkranken Linchens in Familie Selicke, Träume von einer „schönen“ Welt und „ganz andren Menschen“ bzw. von einem Leben „auf [dem] Land“, wo es „immer“ genug zu „essen“ gäbe und die Kinder es „gut hätt[en]“. 32 Das Konventionell-Idyllische in alledem macht die Alternative sofort hilflos, aber es macht die Sehnsucht nach ihr authentisch. Vergleichbares gilt etwa für die von „heiligem“ 33 All-Leben erfüllte Naturwelt im Waldes - und im Seeleninneren in Gerhart Hauptmanns Bahnwärter Thiel (1888), oder für den einen einzigen Tag, an dem drei Personen in George Gissings The Nether World (1889) den „pest-stricken regions of East London“ entfliehen können, und an dem vor allem die Romanheldin an einem Wendepunkt ihres Lebens, zwischen dem Druck der Vernachlässigung und dem Sog der illusionär-idealistischen Überforderung, „[she who] had been meant by nature for one of the most joyous among children“, in einer Umwelt, „where man and beast seem on good terms with each other, where all green things grow in abundance“ und in „pure air“ ihre inneren „pure instincts“ im Einklang sehen kann mit „the sweetness of the hour“. 34 All das darf sie nur im Vorübergehen erleben - in der Tat wie einen kurzen Blick aus einem Fenster, aus dem die Leser freilich dann immer wieder und viel intensiver hinausschauen dürfen als die Romanperson. Eine „Natur“ im Sinne Rousseaus und der Romantik, allerdings auch hier und erst Recht in einem immer „kontra-determinierten“, gebrochenen Sinn zu verstehen, durchzieht in vielen Formen Zolas Rougon-Macquart-Zyklus. So wie in Familie Selicke zwei verschiedene Personen imaginativ durch dasselbe „Fenster“ hinaussehen können, so werden diese alternativen Natur-Szenerien bei Zola im Einzelnen jeweils sofort getilgt; erst ihr Zusammenhang im Ganzen gibt ihnen, der Großschrift auf 31 Gerhard Schulz (Hrsg.), Prosa des Naturalismus. Stuttgart: Reclam 1973, S. 55-63. 32 Arno Holz / Johannes Schlaf, Die Familie Selicke, S. 30, 31 und 39, 40. 33 Gerhart Hauptmann, Das erzählerische Werk in 10 Einzelbänden. Hrsg. von Ulrich Lauterbach, Frankfurt / Berlin / Wien: Ullstein 1981, S.44. 34 George Gissing, The Nether World. Hrsg. von Stephen Gill, Oxford / New York: World’s Classics, 1992, in der Reihenfolge der Zitate S. 164, 139, 165, 166. <?page no="190"?> Theorie eines Europäischen Naturalismus 191 einer Karte vergleichbar, ihre Bedeutung. Der erste Roman der Serie, La fortune des Rougon / Das Glück [bzw. Vermögen] der Rougons (1870 / 1871), 35 noch bevor die Vorgeschichte der Familie und ihres Systems von Erbgut und Milieu aufgebaut wird, beginnt zwar auf einem „terrain vague / einem Brachland“, aber dieser Raum enthält buchstäblich als „Subtext“ unter sich einen verwilderten früheren Friedhof, der von Attributen wie „fertilité formidable / ungeheure Fruchtbarkeit“ oder „vie ardente des herbes et des fleurs / leidenschaftliches Leben der Kräuter und der Blumen“ geprägt ist. In der ersten Anfangsszene treten die beiden ersten Helden der ganzen Serie, Silvère, „der Waldige“, und Miette, „die Erdkrume“, aus dieser wuchernden Natur- und Nacht-Welt - „une mer d’un vert sombre profonde piquée de fleurs larges / ein dunkelgrünes Meer, von großen Blumen übersäht“ 36 - heraus auf die Bühne ihrer tragischen politischen und sozialen Geschichte; und es wirkt so, als verließen sie ihre eigentliche Heimat. Eine „herrliche Kinderwelt“ („un coin d’adorable enfance“), von Sonne, frischer Luft, Vogelgesang und Blumenduft erfüllt, aber doch nur eine Insel in einem kalten, „toten Gebäude“ („cette maison morte“), lange schon verlassen und nur noch in der Erinnerung lebendig, wird kurz, aber gerade darin bedeutsam evoziert in dem brutalen Erfolgs-Roman, es geht um Immobilien-Spekulation, La Curée / Die Beute (eigentlich: Das Ausschlachten der Beute, 1872). 37 Breit und intensiv erzählt, aber doch nur vorübergehend eine natürlichparadiesische Heimat ist ein Lebensraum mit dem bezeichnenden Namen „Le Paradou“ - „chaque herbe, chaque bestiole leur devenait des amies. Le Paradou était une grande caresse / jede Pflanze, jedes Tier wurde ihnen zum Freund. Der Paradou war eine große Liebkosung“ 38 - ein riesiger verwilderter Park, zugleich so etwas wie ein Ökosystem in sich, in dem die gesellschaftlich verbotene Liebe zwischen dem Pries ter Serge Mouret und dem „wilden“ Natur-Mädchen Albine „au sein de la nature complice / im Schoß der ihnen verbündeten Natur“ 39 gelebt werden kann (La faute de l’abbé Mouret, 1875, und Le docteur Pascal / Doktor Pascal, 1893). Genauso nur vorübergehend natürlich frei und heimatlich ist für die Personen die Fluss- Wasser- und Inselwelt im VI. Kapitel, also recht genau in der Mitte des tragischen Künstlerromans L’Œuvre / Das Werk (1886): diese „gute Natur“ („la bonne nature“), in der man nur die reine Lebensfreude empfindet („la joie unique de vivre par toutes les fonctions [du] corps“). 40 Dasselbe gilt für die von allen Attributen des Lebens und 35 Die Publikation in einer Zeitschrift (28.6. - 11.8.1870) wurde durch den Krieg unterbrochen und 1871 fortgesetzt, im Oktober 1871 erschien der Roman als Buch. 36 Émile Zola, La fortune des Rougon, S. 38. (Im Französischen klingen „la mer“, das Meer, und „la mère“, die Mutter, genau gleich, was der auffälligen Metapher einen mythischen Unterton gibt.) 37 Émile Zola, La curée. Hrsg. von Claude Duchet, Paris: Garnier-Flammarion 1970, S. 117, 118. 38 Émile Zola, La Faute de l’abbé Mouret. Hrsg. Von Colette Becker, Paris: Garnier-Flammarion 1972, S. 232, vgl. v.a. das Livre deux / Das zweite Buch, S. 149 ff. 39 Émile Zola, Le docteur Pascal. Hrsg. von Jean Borie, Paris: Garnier-Flammarion 1975, S. 154: Gerade in der Erinnerung wird das rousseauistisch-romantische Prinzip dieser „Natur“ genau bezeichnet. 40 Émile Zola, L’Œuvre. Hrsg. von Antoinette Erhard, Paris: Garnier-Flammarion 1974, S. 203 und 205. <?page no="191"?> Hans Vilmar Geppert 192 der Frische erfüllte Natur-Insel neben und im Schatten der ihr feindlichen Kathedrale - „[un] clos […] solitaire, d’une solitude délicieuse et fraîche, [un] débordement d’herbes folles […], c’était de la santé et de la joie au grand soleil / ein abgelegener, abgeschlossener Platz, köstlich einsam und frisch, in dem die Pflanzen sich wild verbreiteten, und wo Gesundheit und Freude unter der freien Sonne zuhause waren“ 41 - im Roman sanfter, aber tödlicher Heiligkeit Le Rêve / Der Traum (1888). So könnte man noch lange weiter zitieren. Immer wieder hält Zola die Erinnerung an eine - oder den Traum von einer? - „anderen“ Natur aufrecht, einer „eigentlichen“ gegenüber der von Wissenschaft, Technik und Gesellschaft geschaffenen Umwelt. Und hat man diese sich durch das ganze Roman-Werk hinziehende „Großschrift“ gelesen, die freilich im jeweiligen Kontext „klein“ bleibt, erkennt man sie dann nicht auch selbst in der kleinen Ecke von vertrocknetem Rasen, armseligen Kübelpflanzen und dem hingebend gepflückten Strauß von Löwenzahn im Großstadtroman L’Assommoir / Der Totschläger (1877), einer „armen, besseren Natur“, bei deren Anblick die unglücklich Liebenden buchstäblich in Tränen ausbrechen? IV. These: Die „naturalistische Natur“ soll die gesamte Realität sein. Die Kunst hat die Tendenz wieder die Natur zu sein. Sie wird sie nach Maßgabe ihrer jeweiligen Reproduktionsbedingungen und deren Handhabung. 42 Oder kürzer: Kunst = Natur x. 43 Alle, fast alle, die ein Germanistik-Studium durchlaufen haben, kennen die kurze Formel, viele auch die längere. („Der Naturalismus“ ist ja ein beliebtes „Spezialgebiet“ in Prüfungen.) Aber was ist damit gesagt? Was heißt „Natur“ in der Formel: „Kunst = Natur x“? Natürlich gibt es darauf mehrere Antworten: Wer Arno Holz’ Schrift Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze (1891), in der diese Formeln stehen, gelesen hat - das sind nicht alle, die sie zitieren - kann wissen, dass Holz mit „Natur“ hier ein „Stück Natur“ 44 meint, irgendeinen Gegenstand, irgendein reales Ding, das künstlerisch dargestellt werden kann. Und das ist gleich einmal ziemlich genau das Gegenteil des Naturbegriffs von Zola, für den auch in der von Holz abgewandelten Formel „un coin de la nature, vu à travers un tempérament“, 45 dieser „jeweils subjektiv gesehene Winkel Natur“ - das scheint mir die treffendste Übersetzung -, dass dies im ganzen Kontext der Theorie Zolas immer ein Versuchsfeld, ein Teilbereich des Systems der Naturgesetze ist. 41 Émile Zola, Le rêve. Hrsg. von Colette Becker, Paris: Garnier-Flammarion 1975, S. 106 und 108. 42 Arno Holz, Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze. In: Theo Meyer (Hrsg.), Theorie des Naturalismus. Stuttgart: Reclam 1973, S. 168-174, S. 174. 43 Arno Holz, Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze, S.171. 44 Ebd. 45 Émile Zola, Le roman expérimental, S. 140. <?page no="192"?> Theorie eines Europäischen Naturalismus 193 Wenn das so ist, wenn „Natur“ hier für Holz „irgendetwas“ sein kann - und genau das illustriert Arno Holz’ Beispiel des kleinen Jungen, der etwas auf eine Schiefertafel kritzelt -, kann man dann nicht weiter folgern: „Kunst = y x“? Und da dann erst das „x“ den Wert des „y“ bestimmt, folgt dann nicht: „y ← x“, bzw. „y ist Funktion von x“, und ausformuliert: „Die jeweilig dargestellte ‚Natur’ ist Funktion der jeweiligen künstlerischen Mittel“? In der Tat, genau in diesem Sinne definiert die Kritzelei des Kindes selbst, was sie darstellt. Und genau so hat Arno Holz später lapidar festgestellt: „Die Entwicklung der Kunst ist die Entwicklung ihrer Mittel“, bzw. noch kürzer, als „Wahlspruch“ für seinen eigenen „Nachruf“, auf Latein und an seine Kritiker gerichtet: „Lex mihi Ars! “ (Die Kunst sei mir ihr eigenes Gesetz). 46 Wie auch immer, zeigt sich hier nicht punktuell, aber recht klar, was sich auch sonst immer wieder zeigt, gerade in Arno Holz’ eigenem Œuvre - man denke nur an den berühmten Phantasus (1898-1924) - kündigt sich hier nicht der Umschlag an, einer gegenständlich verstandenen Kunst in eine medial, eine von ihren „Mitteln“, ihrer „Sprache“, von der Funktionalität ihrer Zeichen her sich begreifende, also, und mit einem leicht falsch zu verstehenden Wort bezeichnet, in eine „abstrakte“ Kunst? Ich werde darauf noch zurückkommen. Auf alle Fälle aber richtig bleibt die Lesart der Formel: „Kunst = Natur - x“, die davon ausgeht, dass „Natur“ hier „irgendetwas“ sein kann. Und daraus folgt genauso klar: „Natur“ bedeutet für die Naturalisten, dass nichts ausgeschlossen wird. „Natur“, das soll „die gesamte Realität“ sein. Denn das ist sicher eine prägende Tendenz des Europäischen Naturalismus: Die Kunst soll nichts ausschließen: „Die Kunst habe die Tendenz, sich mit der gesamten Realität zu beschäftigen“. Auch wenn dabei natürlich die Tabubrüche gegenüber den viktorianischen oder wilhelminischen oder einfach gut-bürgerlichen Vorurteilen des späten 19. Jahrhunderts am meisten Aufmerksamkeit erregten, also vor allem die „niederen“ Milieus und Themen am meisten auffielen: Industrialisierung, Proletariat, die Dienstboten, Hunger und Elend, der Kampf in den Familien, der Kampf der Geschlechter, Prostitution, Alkoholismus, Krankheit, das „Bestialische im Menschen“ usw., und auch wenn natürlich hier die jeweilige nationale, regionale und soziale Kompetenz der Autoren immer eine große, ja entscheidende Rolle spielt, immer geht es ihnen allen darum, eine möglichst umfassende Realität einzubeziehen. So spielt etwa nicht nur der Weltmarkt in den Überlebenskampf der sizilianischen Fischer bei Verga oder das Weberstübchen bei Hauptmann mit hinein, alle dramatischen Verdichtungen, alle Kurzgeschichten, auch alle Momentaufnahmen - zu finden etwa im Band: (Deutsche) Prosa des Naturalismus 47 -, alles Dargestellte muss immer vor einem großen sozialen, historischen und durchaus auch geographischen Hintergrund gesehen werden. Zolas Versuch, einen Querschnitt durch die Gesellschaft des Zweiten Kaiserreichs und durch die Regionen Frankreichs zu skizzieren und anhand einer weit verzweigten Familie zu erzählen, von den Ärmsten der Macquarts bis zu den Reichsten und Mächtigsten der Rougons, dieses umfassende Experiment kann hier sicher als allgemein gültiges Pa- 46 In: Theo Meyer (Hrsg.), Theorie des Naturalismus, S. 175 und 181 (im Original kursiv). 47 Vgl. Gerhard Schulz (Hrsg.), Prosa des Naturalismus. Stuttgart: Reclam 1973. <?page no="193"?> Hans Vilmar Geppert 194 radigma dienen. Und Zolas Programm in Le roman expérimental / Der experimentelle Roman klingt in diesem Sinn genauso lapidar, wie das von Arno Holz: Pour avoir le drame humain réel et complet, il faut le demander à tout ce qui est / will man das menschliche Drama real und vollständig erfassen, muss man es in allem suchen, was es gibt. 48 Oder kürzer: Nous disons tout / wir sprechen alles aus. 49 V. These: Totalisierungen Der Vorhang geht hoch, und man ist im Bilde: So ließe sich, nicht immer aber doch sehr oft, die naturalistische Bühne kennzeichnen. In der Prosa ist das nicht von Anfang an so deutlich, aber stellen Sie sich doch einmal die folgenden Textpassagen verfilmt vor: Es war eine klare Mondscheinnacht und so kalt, daß es aussah, als wäre selbst der Mond bleich geworden. Die Bäume waren mit Rauhreifkristallen bedeckt, die brachen das klare Mondlicht, so daß die Luft voller unzähliger kleiner Lichter zu sein schien, die von Zweig zu Zweig tanzten. Die Sterne blitzten am Himmel und der Erdboden funkelte. […] Die ganze Natur strahlte Licht aus, aber es war ein Licht ohne Wärme. (August Strindberg, För konsten / Für die Kunst, 1872) 50 Le flot ininterrompu d’hommes, de bêtes, de charettes […] descendait des hauteurs de Monmartre et de la Chapelle [et] s’engouffrait dans Paris où [il] se noyait, continuellement. / Der Strom von Menschen, Tieren, Wagen floss ununterbrochen die Höhen von Monmartre und La Chapelle herunter und stürzte sich nach Paris hinein, wo er immer weiter versank. (Émile Zola, L’assommoir / Der Totschläger,1876 / 1877) 51 Die Strecke schnitt rechts und links gradlinig in den unabsehbaren grünen Forst hinein; zu ihren beiden Seiten stauten sich die Nadelmassen gleichsam zurück, zwischen sich eine Gasse frei lassend, die der rötlichbraune, kiesbestreute Bahndamm ausfüllte. (Gerhart Hauptmann, Bahnwärter Thiel, 1889) 52 In der Klasse war es ganz still. […] Kein Kind rührte sich. […] Die kleinen Sträflinge saßen[…] alle da wie schlecht angemalte Holzpuppen. (Arno Holz, Der erste Schultag, 1889) 53 48 Émile Zola, Le roman expérimental, S. 232. 49 Ebd. S. 152. 50 August Strindberg, Abschied von Illusionen. Ausgewählte Erzählungen. Dt. von Hans-Jürgen Hube, hrsg. von Klaus Möllmann, Zürich: Diogenes 1991, S. 22. 51 Émile Zola, L’Assommoir / Der Totschläger (eigentlich: Die Totschlag-Maschine). Hrsg. von Jacques Dubois, Paris: Garnier-Flammarion 1969, S. 37. 52 Gerhart Hauptmann, Das erzählerische Werk, Bd. 1, S. 42 f. <?page no="194"?> Theorie eines Europäischen Naturalismus 195 The brown surface of the field went right up towards the sky all round, where it was lost by degrees in the mist that shut out the actual verge and accentuated the solitude. […] The fresh harrow-lines seemed to stretch like the channelings in a piece of new corduroy, lending a meanly utilitarian air to the expanse taking away its gradations, and depriving it of its history. (Thomas Hardy, Jude the Obscure, 1894 / 1895) 54 Dächte man sich dazu filmische Umsetzungen, müssten hier nicht jeweils lange, ruhige, handlungslose Einstellungen der Kamera stehen: große Totalen oder auch weite, langsame Schwenks, eventuell mit einem Zoom am Ende? Denn dies sind bei völlig verschiedenem Inhalt doch formal vergleichbare, immer wieder ganz einheitliche, uniforme, von einem einzigen durchgehenden Muster, einer einzigen oder wenigen kräftigen Farben, oder auch von einer großen Bewegung beherrschte Totalanschauungen. In ihnen verdichtet sich allerdings nicht, das scheint mir unbedingt wichtig, die Handlung der jeweiligen Erzählung, sondern es spricht unmittelbar das Sujet dieser Literatur: die immer neu determinierende Situation, von der ausgehend sich die Konflikte entfalten bzw. in ihr zuspitzen. Die, die das so sehen, Personen wie Erzähler, sehen diese Totalisierungen als Krise: eine umfassende, gefährliche Gesetzmäßigkeit, die den Menschen überwältigt. Die systematische Ordnung der Welt wird zum Gefängnis: Die industrialisierte, von Maschinen geprägte Landwirtschaft, das Zwangs-System Schule - die Kinder üben als erstes „Stillsitzen“ -, die Monokultur des Nutzwaldes gegenüber der einsinnigen Zweckmäßigkeit der Bahnlinie, die Massenarbeit beim Umbau von Paris in eine moderne und militärisch kontrollierbare Großstadt, die geradezu existentielle Grenzsituation einer strahlend hell aufgeklärten und tödlich kalten Welt (der Held in Strindbergs Erzählung hat vor, Selbstmord zu begehen) - immer wieder macht gerade die Form künstlerischer Darstellung, macht die Totalanschauung einer Welt für das Temperament, das sie so sieht, eine übermächtige und krisenhafte Gesetzmäßigkeit anschaulich in diesen an sich ganz verschiedenen „Stücken Natur“. Und die Autoren erzählen gegen diese Totalen literarisch-diskursiv ganz verschieden an. Bei Hardy soll der kleine Junge, den diese völlig geordnete Welt bedrückt, die Krähen vom uniformen Acker verscheuchen. Aber er lädt sie, sie sind doch arm wie er selbst, in christlicher Gesinnung zum Essen ein. Gegen die harte Realität steht ein verzweifelter Bildungsroman. Und in diesem moralistischen Erzählen, das auch seine eigene Aporie mit zu erzählen vermag, ist Hardy eher Keller oder noch mehr Raabe vergleichbar, als Hauptmann oder Holz. Arno Holz, dessen kurze Erzählung durchaus als der Anfang eines nicht geschriebenen Lebens-Romans gelesen werden kann - und ist dieses Abbrechen selbst nicht auch signifikant? -, sucht die zwanghaft geschlossene Realität durch vielfältige ästhetische Erneuerungen (dazu 53 Arno Holz, Der erste Schultag. In: Gerhard Schulz (Hrsg.), Prosa des Naturalismus. Stuttgart: Reclam 1973, S. 65-96, S. 68; 74. 54 Thomas Hardy, Jude the Obscure. Hrsg. von Terry Eagleton und P.N. Furbank, London: Macmillan (The New Wessex Edition) 1974, S. 33. <?page no="195"?> Hans Vilmar Geppert 196 gleich) punktuell immer wieder zu sprengen. Die „naturalistische“ Totalisierung schlägt um in „anti-naturalistische“ Abstraktion. Gerhart Hauptmann dagegen und noch mehr Zola entdecken in der Totalisierung ihr literarisch-mythisches Potential: etwas, das die Menschen übermächtig beherrscht, bedrohlich, aber auch faszinierend und voll unbekannter Möglichkeiten. Eindrucksvoll verwandeln sich so z.B. bei Zola die großen Maschinen immer wieder in Dämonen, die auf mythisch-gefährliche Weise ihr Eigenleben führen: das Bergwerk in Germinal (1885) beispielsweise, eine „böse Bestie, die nach dem menschlichen Fleisch riecht, das sie verdaut hat“, 55 oder die Lokomotive in La bête humaine (1890), der Panzerschrank der Bank in L’Argent / Das Geld (1891), und so auch in L’Assommoir die große, einem Knäuel von Schlangen gleichende Destilliermaschine („des monstres ouvrant leurs mâchoires pour avaler le monde / Monster, die ihr Maul aufreißen, um die Welt zu verschlingen“), oder die apokalyptische Dampf- Schmiede („bien sûr, un jour la machine tuerait l’ouvrier / sicherlich, eines Tages würde die Maschine den Arbeiter umbringen“) oder das große neue Mietshaus, das auf Gervaise wie „une personne géante / eine riesenhafte Person“ und eine „bête de peur / ein Angst-Tier“ wirkt. Und wenn sie dann doch dort einzuziehen beschließt, scheint es ihr, „als werfe sie sich mitten in eine laufende Maschine hinein“ („il lui semblait […] se jeter au beau milieu d’une machine en branle“), und als werde sie von dieser „erdrückt“ („de se trouver écrasée“). 56 In Gerhart Hauptmanns Bahnwärter Thiel kann man das Umschlagen von Naturalismus - auch ein bloßer „Punkt“ am Horizont ist ja eine konsequent verkleinerte Totale - in modernes offenes, ein „Unbekanntes“ suchendes Wahrnehmen, hier einen recht konsequenten akustischen Impressionismus, und von diesem wiederum in eine neue technologische Mythologie anschaulich verfolgen. Die Realität wird singular total definiert, löst sich dann auf in „Eindrücke“ und verdichtet sich erneut zu mythischer Dynamik: Der Mensch und seine Welt werden bewegt von einer unfassbaren, übergeordneten Macht: Ein dunkler Punkt am Horizont, da wo die Geleise sich trafen, vergrößerte sich. Von Sekunde zu Sekunde wachsend, schien er doch auf einer Stelle zu stehen. Plötzlich bekam er Bewegung und näherte sich […]. Ein Keuchen und Brausen schwoll stoßweise fernher durch die Luft. Dann plötzlich zerriß die Stille. Ein rasendes Tosen und Toben erfüllte den Raum, die Geleise bogen sich, die Erde zitterte - ein starker Luftdruck - eine Wolke von Staub, Dampf und Qualm, und das schwarze, schnaubende Ungetüm war vorüber. 57 Das Geschehen wird aufgelöst in visuelle und akustische Eindrücke; die naturalistische Totale schlägt um in Impressionismus - viel intensiver, als hier zitiert werden konnte - und verdichtet sich erneut zu einer visionären Verwandlung des Zuges in eine mythische Bestie. Die entsprechende Darstellung des Nachtzuges mutet dann aus heutiger Sicht schon deutlich expressionistisch an: 55 Émile Zola, Germinal, S. 57. 56 Émile Zola, L’Assommoir, in der Reihenfolge der Zitate S. 355, 192, 61, 89 und 149. 57 Gerhart Hauptmann, Das erzählerische Werk, Bd. 1, S. 43 f. <?page no="196"?> Theorie eines Europäischen Naturalismus 197 Zwei rote, runde Lichter durchdrangen wie die Glotzaugen eines riesigen Ungetüms die Dunkelheit. Ein blutiger Schein ging vor ihnen her, der die Regentropfen in seinem Bereich in Blutstropfen verwandelte. Es war, als fiele ein Blutregen vom Himmel. 58 Auch bei Strindberg, um das erste Textbeispiel zumindest anzusprechen, schlägt die naturalistische Totale um in „Antinaturalismus“, allerdings auf erneut ganz andere Weise: Sie geht über in die Vision ihrer Alternative. Der Selbstmörder erlebt in dieser totalen, kalten Lichtwelt eine mystische „Licht-Epiphanie“: In die Lichtquelle selbst ist das hebräische Wort Jahwe eingeschrieben, eine in der Nähe „betende […] kleine“ christliche Gemeinde findet ihn, und er kann, von ihr gepflegt, „glücklich […] und voll Dankbarkeit […] sterben“. 59 Das lässt an Strindbergs späteres Œuvre denken (vor allem an das Drama Nach Damaskus, 1903), ist aber auch für andere Autoren der Zeit nicht ausgeschlossen; man denke an Gerhart Hauptmanns „mystische“ Tendenzen oder an die „negative Theologie“ in Hardys Jude the Obscure. Der Naturalismus, überhaupt die lange empiristisch-realistische Tradition des 19. Jahrhunderts, springt immer wieder über in Transzendenz. VI. These: Krisensignaturen - Gefängnis, Labyrinth, Riss Wenn Gervaise im ersten Kapitel von Zolas L’Assommoir (1876 / 1877) morgens aus dem Fenster schaut, dann nimmt die oben zitierte Totale der nach Paris hineinströmenden Menschen die Bildmitte ein, aber vorher war schon ein nicht weniger bedeutsamer Rahmen darum gelegt worden, der sich, einer mehrdimensionalen naturalistischen Bühne vergleichbar, aus systematisch einander entgegengesetzten Werten aufbaut: links und rechts, Mensch und Tier, schwarz und weiß im Kontrast von Schlachthof (schwarz ist das geronnene Blut) und „weißem“ Krankenhaus, geschlossen („le mur de l’octroi / die Zollmauer“) und offen (der Horizont von Paris), hoch und tief im Gleiten des Blicks, eng ist das bewohnte Zimmer, davor verzweigen sich unbekannte Straßen und Winkel immer weiter, und so fort. Doch all das steht gewissermaßen unter einem zentralen „Oberbegriff“: Hinter der „Zollmauer“ hört man manchmal „des cris d’assassinés / Schreie von Ermordeten“, im Schlachthaus werden Tiere „massakriert“, aber auch im Hospital wird der Tod „die Sichel führen / où la mort devait faucher“, was alles natürlich dem Romantitel, wörtlich: „Die Totschlag-Maschine“, entspricht. Das System des Romanzyklus wird für diese Romanperson zu einem tödlichen Gefängnis werden; und am Ende dieses ersten Kapitels ahnt sie das selbst: „prise d’une épouvante sourde, comme si sa vie, désormais, allait tenir là, entre un abattoir et un hôpital / von einer dumpfen Furcht erfasst, dass ihr Leben von jetzt an hier festgehalten würde, zwischen einem Schlachthof und einem Hospital“. 60 Dass Gervaises „naturalistische Schwestern“ fast überall in Europa in gefängnisartigen Zuständen leben müssen, dass die naturalistische Bühne oft einem Gefängnis 58 Gerhart Hauptmann, Das erzählerische Werk, Bd. 1, S.47. 59 August Strindberg, Abschied von Illusionen, S. 23, 24. 60 Emile Zola, L’Assommoir, S. 36, 40 und 61. <?page no="197"?> Hans Vilmar Geppert 198 gleicht, wurde bereits gezeigt. Und was umgibt etwa das besonders „enge“ und unentrinnbare Weber-„Stübchen“ 61 im Zweiten Akt von Gerhart Hauptmanns Die Weber? Man konnte es im Ersten Akt bereits erfahren: Die Produktionsbedingungen für Textilien, die Bewegungen des Weltmarktes, die wirtschaftlichen Folgen der Industrialisierung haben ihre Gesetzmäßigkeit, sie haben ihre Vernunft; aber für die in diesem System gefangenen Personen bei Hauptmann sind sie so wirr und undurchschaubar, wie das Meer für die Fischer in Vergas I Malavoglia tückisch oder freundlich sein kann, und ihr Fang erst lange ausbleibt und dann durch ein Überangebot am Markt entwertet wird. Immer wieder sind die naturalistischen „Gefängnisse“ von „Labyrinthen“ umgeben. Das hatte schon für Gervaise in Zolas L’Assommoir gegolten. Beim berühmten Blick vom höchsten Punkt auf Paris - den Eiffelturm gab es damals noch nicht - bestätigt sich das nur: Der Schwindel ist die wichtigste Erfahrung, die Aussicht selbst macht stumm. Und, um gleich die dritte wesentliche „Krisensignatur“ zumindest anzusprechen, es wird der „Durchbruch“, der „Riss“ in ihrer kleinbürgerlichen Wohnung sein, durch den Lantier, der Parasit, Gervaises böser Dämon, wieder in ihr Leben eintreten wird. 62 Auch dies hat im literarischen Naturalismus seine Topik: Immer wieder etwa scheint am Ende eines Dramas dieser Zeit, z.B. in Ibsens Nora (1879) oder Die Wildente (1884) oder Hedda Gabler (1890), ein „Riss“ durch die brüchigen, bürgerlichen „Konstruktionen“ zu gehen, in denen die Personen bis dahin gelebt haben. Oder man denke etwa daran, wie in Arno Holz’ und Johannes Schlafs Die papierne Passion (1890) das Fenster vom Sturm aufgerissen wird, um ein dramatisches und zerstörerisches „Stück Natur“ herein zu lassen. 63 Ist dann vielleicht in Arno Holz’ Der erste Schultag gegenüber dem „viereckigen“, „hässlichen […] Raum“, in dem „die kleinen Sträflinge“ regungslos sitzen müssen, auch dies sicher ein „Gefängnis“, ist hier der „Riß oben, mitten in der weißen Decke“ etwas, was auch die Leser „lebhaft […] interessier[en]“ könnte oder sogar sollte? 64 Anschaulich, ja fast plakativ verfolgen lässt sich das Zusammenwirken dieser drei „Krisensignaturen“ in Émile Zolas Bergwerks- und Bergarbeiter-Roman Germinal / Keimmonat, bzw. „März“ nach dem seinerzeitigen „Revolutionskalender“ (1885): Sowie er zum ersten Mal betreten wird und dann immer wieder wirkt der enge Stollen, in dem die Bergleute arbeiten und sozusagen „leben“ müssen, wie ein Gefängnis, besonders bedrückend natürlich vor allem während der Zeit, in der die Arbeiter verschüttet sind. Darum herum legen sich die Gänge und Schächte des Bergwerks als ein „dédale d’escaliers et de couloirs“, 65 ein dreidimensionales „Labyrinth von Treppen und Gängen“. Aber die größte „Bedrohung“, der größte „Schrecken“ („mena ce“, „terreur“) für diese technisch-ökonomisch organisierte, geschlossene und zugleich wirre „Welt“ geht davon aus -, dies ist eine eigene eindrucksvolle 61 Gerhart Hauptmann, Das dramatische Werk, Bd. 2, S. 468, vgl. ebd. ff. 62 Émile Zola, L’Assommoir, S. 106 ff. und S. 256 ff. 63 Gerhard Schulz (Hrsg.), Prosa des Naturalismus, S. 118 ff., vgl. S. 97-122. 64 Ebd. S. 68 und 74. 65 Die folgenden drei Zitate stammen aus: Émile Zola, Germinal, in der Reihenfolge der Zitate S. 75, 507, (vgl. gleich lautend S. 552), 334f. <?page no="198"?> Theorie eines Europäischen Naturalismus 199 „Krisensignatur“ -, dass die Verschalung des Hauptförderschachtes reißen könnte. Denn das Bergwerk ist umgeben von „unterirdisch strömenden Wassermassen / des masses d’eau séjournant sous terre“; ja diese bilden geradezu [Une] mer souterraine […], une mer avec ses tempêtes et ses naufrages, une mer ignorée, insondable, roulant des flots noirs / ein unterirdisches Meer, ein Meer mit seinen Stürmen und Schiffbrüchen, ein unbekanntes, unergründliches Meer, das da seine schwarzen Fluten strömen ließ. Wenn der Anarchist Souvarine in die Verschalung einen „Riss“ hineinschlägt, dann bedeutet dies eine Katastrophe, aber auch eine anarchisch-revolutionäre Aktion, die eine Krise dieser technisch-ausbeuterischen Welt auslöst. Doch dies ist hier noch nicht die endgültige „Signatur“ bzw. „Symbolik“. Denn diese Vision eines unterirdischen Meeres enthält deutlich eine noch tiefere Gegenbedeutung: Der russische Name Souvarine klingt für französische Ohren weiblich; die Romangestalt ist noch von weiteren weiblichen Attributen umgeben, so wie hier auch die anarchische Seite der Arbeiter-Revolte - „une furie de visages […] les femmes déliraient / eine Furie von Gesichtern, die Frauen wurden rasend“ - auffallend weibliche Züge getragen hatte. Und „la mer / das Meer“ und „la mêre / die Mutter“ klingen im Französischen gleich. So wie im obigen Zitat „la mer“ zu emphatisch wiederholt wird, um nicht an diese Homophonie zu erinnern: Als würde eine „dunkle Mutter“, eine chthonische Erd- und Wasser-Gottheit beschworen, so scheint die Vision dieses Meeres „mit seinen Stürmen und Schiffbrüchen“ den engeren Kontext zu sprengen. Einmal mehr schaut eine „große mütterliche Natur“ durch den „Riss“ in der Technik herein. Sie steht hier für eine, das Zerstörerische einschließende, übermächtige, all-lebendige Alternative, aber sie hat auch „ignorée, insondable“ etwas modern Unbekanntes. VII. These: Das Unbekannte - Naturalismus und Moderne Die Naturalisten gehen von gemeinsamen Voraussetzungen aus, folgern daraus aber verschiedene, oft geradezu alternative literarische Diskurse. Die zentrifugale Tendenz dieser „multiplen kontrafaktischen“ Gemeinsamkeit führt dann schließlich auch.- nicht immer - aber auf vielen Wegen zur „modernen“ Offenheit des Sehens und Darstellens: „le dérèglement de tous les sens / die (entregelnde) Befreiung aller Sinne (und Bedeutungen)“ 66 , wie es das berühmte Programm Arthur Rimbauds für den französischen Symbolismus formuliert hatte, einen wesentlichen Wegbereiter der europäischen, literarischen Moderne. Und die Dichter, die die Welt so sehen wollen, begeben sich „au fond de l’Inconnu / in den Grund des Unbekannten hinein“, 67 so Charles Baudelaire - nicht zufällig taucht hier das Symbol des Meeres wie- 66 Arthur Rimbaud, Œuvres complètes. Hrsg. von Antoine Adam, Paris: Édition de la Pléiade 1972, S. 249. 67 Charles Baudelaire, Œuvres complètes. Hrsg. von Claude Pichois, Paris: Édition de la Pléiade 1975, Bd. 1, S. 124. <?page no="199"?> Hans Vilmar Geppert 200 der auf - „arrivent à l’Inconnu / kommen an im Unbekannten“, 68 so Rimbaud, „what is known I strip away, and I launch all men and women with me forward into the unknown“, 69 so Walt Whitman, ein weiterer, wesentlicher Anreger der literarischen Moderne. Es muss klar sein, dass dies jetzt nur ganz punktuelle Ausblicke sein können, so wie „das Unbekannte“ eben nur einen tentativen Oberbegriff abgeben kann für vielfältige „moderne“ Tendenzen. Zumal diese noch dazu in ihrem jeweiligen Kontext vielleicht kaum auffallen und erst in der vergleichenden Retrospektive sprechend werden. Denn die Modernismen, die in naturalistischer Literatur vorübergehend auftauchen mögen, sind inzwischen anderswo durchaus stilbildend geworden. Das gilt etwa für die „expressionistisch“ anmutende „neue Mythologie“ bei Gerhart Hauptmann oder Zola, die bereits angesprochen wurde. Und derlei gibt es auch sonst oft. Vergleichbares gilt für die literarischen Impressionismen, wie sie ja etwa für Zola schon von seiner Biographie her nahe lagen und im Künstlerroman L’Œuvre / Das Werk (1886) reflektiert werden. So wird beispielsweise in Zolas Roman Une page d’amour / Ein Blatt Liebe (1878) die rhythmisch in jedem Kapitel wiederkehrende Stadt-Ansicht von Paris immer wieder neu variierend in Farbeindrücke und Farbbewegungen, in literarische „Farbimpressionen“ aufgelöst. Nur ein Beispiel, eine halbe Seite, und diese lediglich in besonders anschaulichen Stichworten, sei zitiert: […] enflamma l’azur, roches crayeuses, blocs de carmin, petite nuées nageant lentement dans le bleu, voiles de pourpre, la ville toute jaune, poussière orange, noir fourmillement / entflammter Azur, kreidefarbene Felsen, Blöcke von Karmesinrot, kleine Wolken schwammen langsam im Blau, Schleier von Purpur, die ganz gelbe Stadt, orangefarbene Staubwolken, schwarzes Gewimmel. 70 Man sieht, wie die Totalanschauungen hier in einzelne Farb-Abstraktionen umschlagen. Das hat etwas von einer „ästhetischen Befreiung“, insbesondere wenn man diesen freien Blick auf Paris, frei in der Übersicht, frei in der Imagination, mit dem stumm und schwindelig machenden Panorama in L’Assommoir - direkt davor 1877 erschienen - vergleicht. 71 Und dabei fällt ein bezeichnendes Stichwort: Paris „c’était la pleine mer, avec l’infini et l’inconnu de ses vagues / das war dass offene Meer, mit dem Unendlichen und dem Unbekannten seiner Wellen“. 72 Bei Arno Holz, um ein weiteres Beispiel innovativen Erzählens zu nennen, kann man durchaus von einer „ästhetischen Revolte“, zumindest von „ästhetischem Widerstand“ sprechen. Der Autor bricht in den Formen seiner Darstellung das „Gefängnis“ auf, in dem die Personen gefangen sind. Und das ist hier bedeutsam: Arno Holz’ Erzählung Der erste Schultag (1889) kann geradezu als ein „Mikrokosmos“ naturalistischer Literatur gelesen werden. Es handelt sich im Kern um eine einfache, 68 Arthur Rimbaud, Œuvres complètes, S. 251. 69 Walt Whitman, The Complete Poems. Hrsg. von Francis Murphy, Harmondsworth: Penguin 1975, S. 728. 70 Émile Zola, Une page d’amour. Hrsg. von Colette Becker, Paris: Garnier-Flammarion 1973, S. 159, vgl. S. 94 ff., 218 ff., 280 ff., 341 ff. 71 Émile Zola, L’Assommoir, S. 106 ff. 72 Émile Zola, Une page d’amour, S. 99. <?page no="200"?> Theorie eines Europäischen Naturalismus 201 durch die „Schulpflicht“ geprägte bzw. „determinierte“ Geschichte, die aber vielerlei alternative literarische Folgerungen auslöst (vgl. These I). Prägend ist sodann auf den ersten Blick ein System. Zunächst einmal hat der Lehrer ein „System. Und von diesem System wich er nie ab“: 73 : in der Ablage der Beschwerde-Briefe, beim „regelmäßigen […] Ziehen [der] Notenlinien“, vor allem in der Abstufung der Schulstrafen und so fort. Aber auch die Sicht, die der Autor von dieser Schulwelt aufbaut, ist systematisch fundiert: nach den Oppositionen von „männlich-weiblich“ („der Lehrer“ gegen „die Mama“), nach der Opposition von „drinnen“ und „draußen“ (das Schulzimmer und der „Jahrmarkt“, nach dem Gegensatz von „erwachsen“ und „kindlich“ bzw. „jung“ und „alt“, nach „bürgerlich“ und „Außenseiter“, bis hin und sehr eindrucksvoll am Ende der Erzählung zum Gegensatz von „Leben“ und „Tod“ (vgl. These II). Den „Blumenstrauß“ der „Mama“ - das wird emphatisch vier Mal wiederholt - wirft der Lehrer zwar „zum Fenster raus“, aber eben durch dieses Fenster schaut im Wertediskurs die romantische Natur sichtbar, fühlbar ja „duftend“ herein (vgl. These III). Darauf, dass es Arno Holz um die ganze Realität geht - „die Kunst habe die Tendenz nichts auszuschließen“ -, wurde schon eingegangen (vgl. These IV), ebenso auf die „Totalanschauungen“ (vgl. These V) und die „Krisensignaturen“, wenn etwa die Kinder wie kleine „Sträflinge“ im Gefängnis des Schul- Systems „still sitzen“ müssen (vgl. These VI). Aber wörtlich heißt es, und damit kommen wir zur These „Naturalismus und Moderne“: „Die kleinen Sträflinge saßen jetzt wieder alle da wie schlecht angemalte Holzpuppen“. Und es lohnt sich, dieses Bild auf sich wirken zu lassen: Der Vergleich, in dem die „Holzpuppen […] schlecht angemalt“ sind, befreit sich von seinem Gegenstand, das Bild verdeckt, was es darstellt, die Kinder werden zu „Holzpuppen“, eben weil diese „schlecht angemalt“ sind. Der kühne Vergleich verfremdet zugleich die ganze Zwangssituation zu einer kritischen Klarheit, die die bloße Beschreibung durchbricht; in eins damit bekommt der Vergleich etwas Spielerisches: Die Freiheit künstlerischen Sehens, sowohl als Impression wie als Expression, als Eindruck wie als emotionales Urteil, opponiert gegen die zwanghafte, die naturalistisch „determinierte“ Realität. Dann ist es nur ein kleiner Schritt zur „ästhetischen Revolte“, wenn ich so sagen darf, etwa zur kühnen, den Vergleich selbst wieder durchbrechenden Metapher: „Die ganze, große, rote Stube schwamm jetzt in Blut. In Blut. Oh! ...“, oder zur „expressiven“ Abstraktion von Eindrücken: der „scharf-gezackte Schatten“ beispielsweise, oder „der stürmische Applaus“, der in das „stille, geleerte Klassenzimmer […] wie ein lauter, lang anhaltender Wutschrei gebrochen“ ist, oder zu einer abstrahierend anschaulichen Perspektiven-Verdichtung im Stil etwa des anglo-amerikanischen Imagismus: „Der kleine Jonathan stand da wie tot. Er sah nur noch die Sonne, die sich unten in dem schwarzen Teerstreifen spiegelte“. Das abstrahierte und zugleich verdichtete image - „an intellectual and emotional complex in an instant of time“ (Ezra 73 Im Folgenden im Text zitiert wird die Ausgabe: Gerhard Schulz (Hrsg.), Prosa des Naturalismus. Stuttgart: Reclam 1973, S. 65-96. <?page no="201"?> Hans Vilmar Geppert 202 Pound) 74 - am Ende eines Kapitels scheint die Zeit anzuhalten und den Kontext zu durchbrechen: Zeichen ganz anderer, unbekannter Möglichkeiten, unbekannter Bedeutungen und unbekannter Realitäten. Diese vielerlei ästhetischen Innovationen - man könnte noch den Mikro- Dialogismus des „Sekundenstils“ so interpretieren, oder das Groteske (das im „Tintenfaß […] in die Höhe“ schwimmende „scheußliche“ Gesicht) oder das Absurde (die im Mund eines Toten gefangene, brummende Fliege), oder das an Bachtins Theorie erinnernde anarchische „Lachen“ -, dieser vielfache Antinaturalismus der sich befreienden literarischen „Mittel“ 75 hat hier sicher etwas Manieristisches, das letztendlich in seiner fast atemlosen Häufung die künstlerische Qualität dieser Prosa mindert, aber in vergleichender und eben auch in literaturtheoretischer Perspektive ist er sprechend. Auf alle Fälle scheinen die „naturalistischen Wege zur Moderne“, von denen natürlich noch viel mehr zu sagen wäre, die „kontrafaktische Gemeinsamkeit“ in dieser Epochenphysiognomie - gemeinsame Voraussetzungen, alternative Folgen - noch einmal zu bestätigen, ja zu potenzieren. Und nur ein ganz negativer Oberbegriff wie „das Unbekannte“ scheint hier angemessen. Auch in Émile Zolas Bekenntnis zu einem regellosen Vitalismus ganz am Ende des Romanzyklus Les Rougon-Macquart, auf den letzten Seiten des Romans Le docteur Pascal / Doktor Pascal (1893), wird ausdrücklich „das Unbekannte“ angerufen. Zwar geht dem durchaus das Vertrauen in die Selbstheilungskräfte des Systems der Vererbung voraus, zumindest in deren Möglichkeit: „Laisser l’évolution s’accomplir […] laisser la nature évoluer […] Qui savait d’où nâitrait la branche saine / die Evolution sich vollenden lassen, die Natur sich entwickeln lassen! Wer konnte wissen, wo der gesunde Zweig wachsen würde? “ 76 Genauso bekennt sich Pascal, ganz wie sein Autor, zum Wert der Arbeit, der Wissenschaft, auch der Technik und Ökonomie. Aber dann werden die ganzen Dokumente zur Familiengeschichte vernichtet: Die „Wahrheit“ bleibt abstrakt und verborgen, real und historisch setzt sich die „Lüge“ durch („[la] haine de la vérité […] imposant son mensonge á l’histoire“). 77 Doch dann wird in einer neuerlichen Wende des Werte-Diskurses ein Kind, eine Art Erlöser, geboren („le rédempteur peut-être“), dessen erbliche „Prägung“ völlig offen und „unbekannt“ ist („l’enfant inconnu“). Und auch ideell wird das systematische, quasiwissenschaftliche Experiment geradezu in sein Gegenteil überführt, wenn das ungezügelte, unberechenbare „Leben“ als solches gefeiert und damit nicht eine „menschliche Bestie“ proklamiert, sondern ein „unbekannter Gott“ angerufen wird. Von der „menschlichen Bestie“ zum „unbekannten Gott“? La vie, la vie qui coule en torrent, qui continue et recommence, vers l’achèvement ignoré! […] C’était une prière, une invocation. A l’enfant inconnu, comme au dieu inconnu! / Das Leben, das Leben, das als ein Strom dahinfließt, das immer weiter führt und immer 74 Peter Jones (Hrsg.), Imagist Poetry. Harmondsworth: Penguin 1972, S. 130. 75 Vgl. zu Holz’ Kunst-Theorie oben These IV. 76 Émile Zola, Le docteur Pascal. Hrsg. von Jean Borie, Paris: Garnier-Flammarion 1975, in der Reihenfolge der Zitate S. 234, 259 und 283. 77 Émile Zola, Le docteur Pascal, in der Reihenfolge der Zitate S. 362 und 357. <?page no="202"?> Theorie eines Europäischen Naturalismus 203 neu beginnt, einer unbekannten Vollendung entgegen! Es war ein Gebet, eine Anrufung: an das unbekannte Kind und den unbekannten Gott. 78 Literaturverzeichnis Baudelaire, Charles, Œuvres complètes. 2 Bde., hrsg. von Claude Pichois, Paris: Édition de la Pléiade 1975. Bennett, Arnold, Anna of the Five Towns. Harmondsworth: Penguin 1988. Fassbinder, Rainer Werner und Harry Bär, Der Film BERLIN-Alexanderplatz. Ein Arbeitsjournal. Frankfurt: Zweitausendeins 1980. Gissing, George, The Nether World. Hrsg. von Stephan Gill, Oxford / New York: World’s Classics 1992 -, The Odd Women. Hrsg. von Patricia Ingham, Oxford / New York: Oxford’s Classics 2000. Hardy, Thomas, Jude the Obscure. Hrsg. von Terry Eagleton und P.N. Furbank, London: Macmillan (The New Wessex Edition) 1974. - Tess of the d’Urbervilles. A Pure Women. Hrsg. von David Skilton, Harmondsworth: Penguin 1978. Hauptmann, Gerhart, Das dramatische Werk. 8 Bde., hrsg. von Hans Egon Hass u.a., Frankfurt / Berlin / Wien: Ullstein 1974. - Das erzählerische Werk in 10 Bänden. Hrsg. von Ulrich Lauterbach, Frankfurt / Berlin / Wien: Ullstein 1981. Holz, Arno und Schlaf, Johannes, Die Familie Selicke. Drama in drei Aufzügen. Mit einem Nachwort von Fritz Martini, Stuttgart: Reclam 1966. Ibsen, Henrik, Dramen. 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Hrsg. von Francis Murphy, Harmondsworth: Penguin, 1975. Zola Émile, L’Assommoir. Hrsg. von Jacques Dubois, Paris: Garnier-Flammarion 1969. - Germinal. Hrsg. von Adeline Wrona, Paris: Garnier-Flammarion 2008. - La bête humaine. Hrsg. von Robert A. Jouanny, Paris: Garnier-Flammarion 1972. - La curée. Hrsg. von Claude Duchet, Paris: Garnier-Flammarion 1970. - Le docteur Pascal. Hrsg. von Jean Borie, Paris: Garnier-Flammarion 1975. - La faute de l’abbé Mouret. Hrsg. von Colette Becker, Paris: Garnier-Flammarion 1972. - La fortune des Rougon. Hrsg. von Robert Ricatte. Paris: Garnier-Flammarion 1969. 78 Émile Zola, Le docteur Pascal, S. 384; S. 385. <?page no="203"?> Hans Vilmar Geppert 204 - L’Œuvre. Hrsg. von Antoinette Erhard, Paris: Garnier Flammarion 1972. - Le rêve. Hrsg. von Colette Becker, Paris: Garnier-Flammarion 1975. - Le roman expérimental. Hrsg. von Aimé Guedji, Paris: Garnier-Flammarion 1971. - Une page d’amour. Hrsg. von Colette Becker, Paris: Garnier-Flammarion 1973. <?page no="204"?> Ecocriticism oder: Wenn die Literatur vom Anderen spricht Serenella Iovino Literatur spielt eine Schlüsselrolle in der Umwelterziehung und in der Repräsentation ökologisch relevanter Themen und Probleme. Zu diesen Themenkontexten gehören umweltbezogene Werte und Krisen (globale Erwärmung, massenhafter Verlust an Artenvielfalt, ökosoziale Konflikte, verschiedene Formen menschlicher und natürlicher Ausbeutung), aber auch die Dialektik von menschlicher und nichtmenschlicher Natur (unser Verhältnis zu nichtmenschlichen Lebewesen, unsere Rolle in der evolutionären Dynamik, die Schaffung und Zerstörung von Landschaften). Aus der Sicht der zeitgenössischen Literaturtheorie können all diese Themen zusammengefasst werden in einer Richtung der Literatur- und Kulturkritik namens Ecocriticism, eine Disziplin die an amerikanischen Universitäten in den späten 1980er Jahren entstand und seither auch in Europa zunehmend einflussreich geworden ist. Ich werde meinen Beitrag in zwei Teile gliedern, einen theoretischen und einen praktischen. Im theoretischen Teil werde ich zunächst einen allgemeinen Überblick über den Ecocriticism geben und danach meinen eigenen persönlichen Zugang zu diesem Forschungsgebiet skizzieren. Im praktischen Teil werde ich mich auf Textbeispiele beziehen und insbesondere eine ökokritische Interpretation eines wie ich meine sehr bedeutenden, wenn auch nicht besonders berühmten italienischen Romans des letzten Jahrhunderts vorstellen, nämlich Anna Maria Orteses L’Iguana, auf Italienisch erschienen 1965 und ins Deutsche übersetzt 1988 unter dem Titel Iguana. Ein romantisches Märchen. 1 I. Was nun ist der Ecocriticism? Der Ecocriticism oder die Literaturökologie, wie sie im Deutschen auch genannt wird, ist eine Form der Literatur- und Kulturkritik, die eine besondere Aufmerksamkeit auf Umweltfragen und ökologische Beziehungen in Texten und Diskursen richtet, oft auch verbunden mit dem Ziel, ein Bewusstsein über die Werte zu wecken und zu intensivieren, um die es bei Fragen des Umweltschutzes und umweltbezogener Konflikte geht. 2 Der Ecocriticism ist also an der 1 Die in diesem Beitrag benutze deutsche Ausgabe ist ein Reprint der Übersetzung von Siegfried Vagt aus dem Jahr 1991. 2 Einen Überblick über Ecocriticism im englischensprachigen Raum liefern Glotfelty, Fromm 1996; Coupe 2000; Garrard 2004; Buell 2005; und die neuerschienenen Clark 2011 und Goodbody, Rigby 2011. <?page no="205"?> Serenella Iovino 206 Schnittstelle zwischen Ökologie, Literatur und Ethik angesiedelt. Er beschäftigt sich mit der Frage, inwiefern Literatur ethische und philosophische Grundaspekte unserer Beziehung zur Natur erkunden und symbolisch vermitteln kann. Ausgehend vom Bewusstsein der gegenwärtigen ökologischen Krise untersucht der Ecocriticism, inwiefern literarische Repräsentationen dabei helfen können die problematischen Aspekte unserer Beziehung zur natürlichen Welt zu beleuchten. Die Fragen, mit denen sich Ökokritiker auseinandersetzen, beziehen sich z.B. auf die Art und Weise, wie Landschaft oder nichtmenschliche Lebewesen in literarischen Werken präsentiert werden, mit der Natur-Kultur-Dialektik, mit der Dynamik zwischen Lokalem und Globalem, mit dem Einfluss politischer und ökonomischer Systeme auf die gesellschaftliche Wahrnehmung von Natur und ihrer künstlerischen Verarbeitung, mit den Formen, in denen Literatur Fragen von Gender, ethnischer Herkunft, sozialer Klasse und kultureller Differenz in ihrer Beziehung zu Verhältnissen der Dominanz und Ausbeutung der Natur repräsentiert. 3 Literarische Beispiele hierfür wären etwa Henry David Thoreau’s Walden, Don DeLillo’s White Noise oder Underworld, Goethes Werther oder Christa Wolfs Störfall, Beispiele sind aber auch unmittelbare Formen des naturewriting, Texte über politischen Öko-Aktivismus oder auch, gerade im US-amerikanischen Kontext besonders wichtig, das Erbe der Indianerkulturen. Obwohl es verschiedene Interpretationsrichtungen gibt (im Englischen teilweise auch ,waves‘ genannt) läuft doch der herkömmliche Ecocriticism darauf hinaus, die Präsenz der Natur und von umweltrelevanten Themen in der Literatur zu betonen. In Deutschland jedoch hat der Ecocriticism eine eigenständige Ausprägung erfahren insbesondere dank des innovativen Forschungsansatzes von Hubert Zapf zur Literatur als kultureller Ökologie. Anders als in der nordamerikanischen Richtung des Ecocriticism konzentriert sich dieser Ansatz darauf, ein solides theoretisches Fundament für den Ecocriticism zu entwickeln, das sich vor allem bezieht auf die Arbeit des englischen Epistemologen Gregory Bateson und auf deutsche Theoretiker der Kulturökologie wie Peter Finke oder Gernot und Hartmut Böhme. 4 In dieser Version der literarischen Ökologie wird die Umwelt nicht einfach als Objekt der Repräsentation oder Ort vergebener Werte und moralischer Normativität genommen. Vielmehr betrachtet sie die Dynamik der Kultur-Naturbeziehungen und ihre narrativen Repräsentationen als Teil eines weitverzweigten Systems multipler Wechselbeziehungen. Man kann sagen, dass sie Kultur, Ideen und literarische Darstellungsformen als komplexe Selbstbeschreibungen einer Gesellschaft im Licht der grundlegenden Kultur-Naturbeziehung betrachtet. Diese Ideen, besonders insofern sie durch die literarische Imagination vermittelt sind, sind explorativ, weltaufschließend, und wirkungsmächtig und können daher auf das Bewusstsein einer Gesellschaft von sich selbst einwirken. In dieser Hinsicht transformiert die literarische Ökologie die ökologische Struktur der Natur auf eine kulturelle Ebene, die sie im Sinn eines Gewebes aufeinander bezogener Elemente betrachtet. Sie weitet damit 3 Vgl. Glotfelty 1996, S. xviii-xix. 4 Vgl. Zapf 2002. <?page no="206"?> Ecocriticism oder: Wenn die Literatur vom Anderen spricht 207 den Begriff der Umwelt dergestalt aus, dass er Ideen, gesellschaftliche Dialektik, Prozesse der Einbeziehung und Ausschließung, Formen der Unterdrückung und allgemein die evolutionäre Dynamik umfasst, die dem Leben einer Gesellschaft zugrunde liegen. In diesem Sinn beschreibt die Kulturökologie, wie Kulturen und Gesellschaften sich organisieren und interpretieren; und sie nimmt die Literatur als ein Mittel, das durch die Imagination, Prozesse der gesellschaftlichen Bewusstwerdung, Befreiung und der sozialen Evolution erkunden, inspirieren und richtungsgebend beeinflussen kann. In dieser Hinsicht ist Literatur also auch eine Instanz gesellschaftlicher Selbstkritik, die möglicherweise zu einer „bewussten Evolution“ der Kultur beitragen kann. 5 Das Konzept der Literatur als kultureller Ökologie richtet dabei besondere Aufmerksamkeit auf die imaginative und ästhetische Dimension der Texte, die sie von anderen Formen des Textes und Diskurses unterscheidet und sie dazu befähigt, die ganze Komplexität lebendiger, miteinander vernetzter Differenzen ins Spiel zu bringen, die Bateson als charakteristisch für die Ökologie und für ökologisches Denken betrachtet. 6 Auf diese Weise wird die Literatur zur Instanz kultureller Selbstkorrektur, zu einer ökologischen Kraft innerhalb des diskursiven Systems, die letztlich für die fortgesetzte Evolutionsfähigkeit, Kreativität und Selbsterneuerungskraft einer Kultur unverzichtbar ist. 7 Ein wichtiger Aspekt dieser Konzeption ist meiner Meinung nach ihre dynamisch-konstruktive Epistemologie. Die Kulturökologie betrachtet Phänomene wie ‚Geist‘ oder ‚Kultur‘ als offenen Prozess, zu dem die literarische Imagination organisch beitragen kann, indem sie verdrängte, dunklere und ausgegrenzte Bereiche neu reklamiert. Indem sie das durch den Zivilisationsprozess Deformierte oder Vernachlässigte herausstellt, zielt die literarische Imagination darauf, das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Teilbereichen des gesellschaftlichen und individuellen Lebens wieder herzustellen und dadurch eine wirksame Befreiung von Ideen und Energien kultureller Veränderung zu ermöglichen. Wie schon Herbert Marcuse sagte: Umweltverschmutzung und Vergiftung sind nicht nur physische sondern mentale Phänomene, nicht nur objektive, sondern subjektive Phänomene. Der Kampf für eine Umwelt, die ein glücklicheres Leben ermöglicht, könnte auch bei Individuen die instinktiven Wurzeln ihrer eigenen Befreiung stärken. 8 Für die Literaturökologie ist Literatur eine der hauptsächlichen Mittel in diesem Bemühen um kulturelle Befreiung und Selbsterneuerung. 5 Vgl. Iovino 2006 und Iovino 2010. 6 Vgl. hier vor allem Bateson 1972 und Bateson 1979. 7 Vgl. Zapf 2002, S. 3-6. Vgl. auch Zapf 2006. 8 Marcuse 2005, S. 175. <?page no="207"?> Serenella Iovino 208 II. Meine eigene Position ist von solchen Ideen inspiriert, und versucht sie in einen ethischen Diskurs zu integrieren, indem die literarische Imagination zu einem fortentwickelten Humanismus beitragen kann. 9 Nach meiner Auffassung bietet eine ökologische Perspektive, die dem Ecocriticism zugrunde liegt, eine Voraussetzung für eine neue Diskussion der ethischen Kategorien, die den geistigen Haushalt einer Gesellschaft bestimmen. Angesichts der vielfach gestörten Balance kultureller Ökosysteme, wird die literarische Imagination zu einem Schlüssel des genannten Befreiungsdiskurses im Sinn einer „bewussten Evolution“ des menschlichen Geistes. Befreiung bedeutet hier vor allem die Anerkennung der Rechte dessen, das in welcher Hinsicht auch immer das ‚Andere‘ ist und als solches unterdrückt, zerstört oder marginalisiert wird. Vom anderen Menschen zu anderen natürlichen Lebewesen als das dem Menschlichen Entgegengesetzte, wird die Anerkennung des Rechts des Anderen zur Prämisse einer weiterentwickelten Kultur und daher zu einer ausgeglichenen, gerechteren und inklusiveren Gesellschaft. Ein in diesem Sinne fortentwickelter Humanismus ist deswegen einer, der die menschliche Verantwortung gegenüber der Natur erkennt und darauf zielt, einen inklusiven ethischen Horizont zu schaffen, in dem das Menschliche und das Nichtmenschliche gleichermaßen mit intrinsischem Wert ausgestatten sind. 10 Warum ist das Andere hier so wichtig und welche Form von Andersheit ist hier gemeint? Die Kategorie der Differenz/ des Anderen (der Otherness) spielt eine zentrale Rolle im ökologischen Diskurs. Diversität und Andersheit sind nicht nur biologische, sondern auch soziale, kulturelle und existenzielle Kategorien. Von daher leitet sich auch die Bedeutung von Kriterien wie Gender, Ethnizität, oder Spezies im Zusammenhang von Umwelt, Kultur und Ecocriticism her. Die Analyse der Repräsentationen des Anderen in literarischen Texten spielt daher eine wichtige Rolle in der Interpretationspraxis des Ecocriticism. In einem Essay über die politische Dimension von Literatur schrieb Italo Calvino: Literatur ist notwendig für Politik insbesondere in dem Sinn, dass sie dem eine Stimme gibt, das keine Stimme hat, dass sie dem einen Namen gibt, das keinen Namen hat, und insbesondere dem, was die Sprache der Politik ausgrenzt oder versucht auszugrenzen. […] Die Literatur ist wie ein Ohr, das Dinge hört, die jenseits des Verstehens der Sprache der Politik liegen; sie ist wie ein Auge, das jenseits des Farbspektrums sehen kann, das von der Politik wahrgenommen wird. […] Der Schriftsteller kann Bereiche entdecken, die niemand sonst zuvor erforscht hat, […] und dadurch Entdeckungen machen, die sich früher oder später als vital wichtige Bereiche des kollektiven Bewusstseins erweisen werden. 11 Mit anderen Worten, die literarische Imagination und Kreativität haben die Fähigkeit, soziokulturelle Isolations- und Ungleichgewichtszustände aufzubrechen und die Konzeption des Humanen mit einer weiteren Welt in Beziehung zu setzen, die aus 9 Vgl. Iovino 2010. 10 Vgl. Iovino 2004, S. 79-83; S. 144-147; Iovino 2006, S. 59-70; Iovino 2010. 11 Calvino 1995, Bd. I, S. 357-359 (eigene Übersetzung). <?page no="208"?> Ecocriticism oder: Wenn die Literatur vom Anderen spricht 209 andersartigen Subjekten, Lebewesen, Daseinsformen und Akteuren besteht. In dieser Hinsicht stellt die literarische Imagination eine regenerative Kraft bereit, die sowohl ontologisch wie auch ethisch wirksam ist. Dieses Potential korrespondiert auch auf relevante Weise mit den Prinzipien literarischer Ökologie. Indem sie unterdrückten Subjekten eine Stimme verleihen, üben literarische Werke eine kreative Form von Befreiung aus. Aber wer oder was sind diese unterdrückten Subjekte, und in welchem Sinn kann der Ecocriticism dazu beitragen, diese Kategorie zu definieren? Im anthropozentrischen Verständnis sind diese unterdrückten Subjekte andere Menschen, andere Völker, andere Kulturen. Im Horizont ökonomischer Globalisierung des freien Marktes und der ökologischen Krise sind solche unterdrückten Subjekte nicht schwer zu identifizieren: Es sind Frauen, Kinder, ausgebeutete und marginalisierte Menschen in den ausgebeuteten und marginalisierten Teilen der Welt. Aber gleichermaßen, wenn nicht noch mehr unterdrückt sind jene Subjekte, denen nicht zugestanden wird eine Geschichte zu haben, ein narratives Potential, diejenigen Wesen, die nicht anerkannt sind als Teil eines größeren erzählerischen Horizonts: Die Natur, nichtmenschliche Lebewesen, Dinge, Pflanzen; in Kürze: jede Form des Andersseins. Ich möchte hier die ontologischen und ethischen Implikationen des Diskurses des Anderen für den Ecocriticism betonen. In einem hegelianischen, geistbestimmten Kontext ist die Natur per se das Andere der Kultur, das Andere des Gesetzes, das Andere des Geistes, das Andere der Gesellschaft. Vereinfacht gesagt: das Andere des Menschlichen. Kulturelle Hervorbringungen scheinen in dieser Sicht zu bezeugen, dass die Menschheit sich unabhängig von der Natur entwickelt, die als mangelhaft und unzulänglich erscheint, ein bloßer Mechanismus, der von Notwendigkeit statt Freiheit beherrscht wird. Der Ecocriticism stellt diese Vision der Kultur fundamental in Frage. Die wesentliche ökokritische Annahme ist vielmehr, dass die Kultur und insbesondere auch die Literatur in einem eher von Darwin als von Hegel bestimmten Zusammenhang zu sehen ist: Eine Auffassung, die die Kontinuität anstelle des Dualismus von Kultur und Natur betont. Im Licht dieser Deutung sind menschliche Kulturformen nicht dadurch gekennzeichnet, dass sie die Natur negieren oder überwinden. Ganz im Gegenteil: Durch die Kultur wird die Natur ein Spiegel ihrer Selbst und kann auf diese Weise in eine repräsentierbare Komplexität verwandelt werden. Der Ecocriticism stellt also die Beziehung zwischen der menschlichen und der nichtmenschlichen Natur in den Mittelpunkt. Er richtet besonderes Augenmerk auf das, was als anscheinend radikal Anderes gesehen werden kann. Das Ziel von Ecocriticism und kultureller Ökologie ist es, diese radikale Spaltung in Frage zu stellen und die Prozesse der Unterwerfung zu überwinden, die auf einer Deutung von Andersheit in einem hierarchischen Sinn beruhen. Andersheit ist ein relationales Konzept. Man kann nicht von einem Anderen sprechen außer im Kontext einer Beziehung. Die Natur wie die Umwelt ist der offene Horizont, indem all diese relationalen Wechselbeziehungen stattfinden. Natur als Physis - das biologische oder materielle Entstehen von Formen - ist die Bedingung für jede Beziehung. Und es ist willkürlich, das Andere auf einer hierarchischen Skala <?page no="209"?> Serenella Iovino 210 zu ordnen als nicht nur etwas Verschiedenes, sondern auch Minderwertiges gegenüber einem vermeintlich höherwertigen Ausgangspunkt des Vergleichs. Zu sagen, dass der Ecocriticism und die Kulturökologie ein Diskurs der Befreiung sein wollen, bedeutet zugleich, dass sie sich auf die Kraft der Literatur beziehen, Repräsentationen des Anderen in einer inklusiven und nicht hierarchischen Weise zu rekonfigurieren. Literatur kann mit anderen Worten dazu beitragen, diese vertikalen Repräsentationen durch eine fluide Vision horizontal interpretierter Subjekte und Formen zu ersetzen. III. Vor dem Hintergrund solcher Überlegungen wende ich mich nun einer ökokritischen Interpretation von Iguana zu, einem sehr unkonventionellen Roman, geschrieben im Jahre 1965 von Anna Maria Ortese, die von 1914-1998 lebte. Ortese, die selbst als Intellektuelle marginalisiert wurde; aufgrund ihrer Angriffe auf die Kulturindustrie, wird heutzutage als eine der originellsten italienischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts gepriesen. 12 Die Handlung des Romans ist nicht leicht zusammenzufassen. Daddo, ein Edelmann aus Mailand, reist über das Mittelmeer in einer zweifachen Mission: Um Land im Auftrag seiner reichen Mutter zu kaufen und um im Auftrag eines befreundeten Verlegers zu suchen nach „irgendein em Gedicht, eine m canto, in dem die Auflehnung der Unterdrückten zum Ausdruck kommt“. 13 Daddo findet beide Dinge in Ocaña, einer imaginären portugiesischen Insel. Ocaña ist so arm und melancholisch wie ihr Meister, Don Ilario Segovia-Guzman, ein dilettierender Dichter, der dort mit seinen zwei Brüdern lebt. Im Haus von Don Ilario begegnet Daddo unerwartet einem kleinen Leguanmädchen namens Estrellita, das dort als Dienerin arbeitet. Don Ilario, der einst ihr Freund und Mentor war, verabscheut sie offenbar inzwischen. Er ‚bezahlt‘ sie mit kleinen Kieselsteinen vom Strand, die sie sorgfältig an einem verborgenen Ort aufbewahrt. In ihrem Zustand physischer und emotionaler Verlassenheit gewinnt diese surreale Cinderellafigur sehr bald Daddos Solidarität und Sympathie. Als die Hochzeit zwischen Don Ilario und einem reichen amerikanischen Mädchen gefeiert werde soll, wirft sich die Iguana in einen Brunnen. Daddo rettet sie, verliert aber dafür sein eigenes Leben. Bevor er stirbt, begreift Daddo Estrellitas ‚Wahrheit‘: „Der Leguan ist nicht ein Leguan, sondern eine arme Dienerin, ein kleines Mädchen, das durch Elend, Leiden und Unwissenheit auf einen quasi animalischen Zustand reduziert wurde“. 14 Im Moment seines Sterbens erkennt Daddo „dass die Echsen Mahnungen sind. Dass es keine Echsen gibt, sondern nur Verkleidungen, die der Mensch ersinnt, 12 Zu Orteses Leben und Werk, vgl. vor allem Clerici 2002 und Farnetti 1998. Eine ökofeministische Auffassung von L’Iguana wird von mir in Iovino 2006, S. 73-86 geliefert. 13 Ortese 1991, S. 10. 14 Ortese 2005, Bd. II, S. 1970. <?page no="210"?> Ecocriticism oder: Wenn die Literatur vom Anderen spricht 211 um seinesgleichen zu unterdrücken, und die von einer schrecklichen Gesellschaft aufrechterhalten werden“. 15 Iguana ist ein komplexes Werk, in dem allegorische und poetische Motive verwoben sind mit ethischen, sozialen und historischen. Im Anderssein dieses kleinen Reptilmädchens ruft Ortese alle Konstrukte der Unterdrückung auf: Sie ist eine Frau, ein Tier, eine Dienerin, sie lebt in einer Welt, die aufgeteilt ist in Kolonisierte und Kolonisatoren; ihre Sprache ist sehr reduziert, ihr Verhalten leidenschaftlich und irrational. Mit einem Wort, Estrellita ist selbst eine Figur der Differenz und eine „Mahnung“: Sie erinnert an die negierte Abhängigkeit der Welt der Unterdrücker von ihrer Welt und ihrer Existenz. Der Roman ist ein deutlicher Versuch, die patriarchale Logik zu kritisieren und zu subvertieren, die in dieser repressiven Welt impliziert ist. Die traditionelle Logik dieser Welt wird in der Tat zu Fall gebracht durch den Charakter Estrellitas, der in einer unbestimmten Weise „anders-als-menschlich“ ist, aber auch durch den Charakter von Daddo, der einen Bruchpunkt in der Kette der Unterdrücker darstellt. Die kleine Iguana und Daddo repräsentieren die alternativen Möglichkeiten, die hierarchisch-repressive Machtsysteme sprengen können und auseinanderbrechen lassen. Aus diesem Grund läuft der ethische Subtext des Romans auf eine Einladung hinaus, dominante Kategorien der Welt- und Selbstdeutung (ob nun sozialer, kultureller oder existenzieller Art) aufzugeben. Er bedeutet eine Einladung an seine Leser, über privilegierte Positionen hinauszudenken und sich für eine Ethik der Nähe zu öffnen, die hier in Daddos Begegnung mit der Iguana verkörpert wird: Groß war in diesem Augenblick Daddos Überraschung, als er gewahr wurde, dass diejenige, die er für eine Alte gehalten hatte, nichts anderes war als ein ganz und gar grünes Tier, so groß wie ein Kind, das unverkennbar wie eine riesige Eidechse aussah, aber als Frau gekleidet war mit einem dunklen Röckchen, einem sichtlich alten und zerschlissenen weißen Mieder und einem Schürzchen in verschiedenen Farben, da es anscheinend aus den Lumpen der ganzen Familie zusammengesetzt war. Um den Kopf gebunden, so dass es das harmlose weißgrüne Maul verbarg, trug die Magd ein ebenfalls dunkles Stückchen Stoff. Sie war barfuß. […] [D]em jungen Mann [wurde] zu seiner Verblüffung bewusst, dass die Kreatur, die er ‚Mütterchen’ genannt hatte, in Wirklichkeit noch nicht einmal ein Mädchen war, sondern ein armes Echslein von höchstens sieben oder acht Jahren, das nur durch das runzlige Aussehen seiner Spezies so zerknittert und verdüstert wirkte und auch weil es ziemlich heruntergekommen war, was sich auf verschiedene Ursachen zurückführen ließ, wie schweres Tragen, fleißiges Dienen und wer weiß was für eine grausame Verlassenheit, die auch für die Kindheit eines Tieres zu schwer gewesen war. 16 Im Vergleich zu ihrem Elend ist Estrellitas seltsames Wesen für Daddo nur ein untergeordnetes Detail, das sich bald in vertraute Begriffe übersetzen lässt („Ein Echslein“) und das von einem Gefühl spontaner Nähe abgelöst wird. Estrellita ist eine unvollständige Metamorphose: Sie ist weder vollständig Reptil noch vollständig Frau. Dennoch wandelt sich Daddos Überraschung, sich einer solchen sonderbaren Krea- 15 Ortese 1991, S. 181. 16 Ortese 1991, S. 23-26. <?page no="211"?> Serenella Iovino 212 tur gegenüber zu sehen, in Mitleid und Mitgefühl (bezeichnet durch die Begriffe „Mütterchen“, „Echslein“ oder „Kind“). Ortese repräsentiert Daddo auf eine Weise, dass er nicht primär durch Estrellitas Natur, sondern durch ihre Zerbrechlichkeit und ihr Leid bestürzt ist, die sich nicht zuletzt in der Art und Weise zeigen, wie ihre Kleidung und ihr Aussehen präsentiert werden. In der Marginalisierung Estrellitas erkennen wir alle Konstrukte des Anderen, wie sie kritisch vom Ecocriticism thematisiert werden. 17 Wir finden hier den Dualismus zwischen männlich und weiblich, zwischen menschlich und nichtmenschlich, zwischen Herr und Knecht, zwischen Subjekt und Objekt (ihre Identität wird auf einer reinen Nützlichkeitsebene definiert), Rationalität und Animalität, Universalität und Singularität (es gibt nämlich für Estrellitas Natur keine universalen Kategorien), aber eben auch von zivilisiert und primitiv und von Kultur und Natur (ihre Sprache ist äußerst reduziert, insbesondere im Vergleich zu den poetischen Aspirationen ihres Herrn), und schließlich auch der Dualismus von Freiheit und Notwendigkeit (Estrellita ist ein „lebendes Instrument“, fast ein bloßer Mechanismus). Unter all diesen Mustern der Herrschaft spielt diejenige der sozialen Unterdrückung die hauptsächliche Rolle. Estrellita „ist das Beispiel […] einer Kreatur, die als ‚ökonomisches Gut’ gehandelt wird, und die allein […] auf ihren Nützlichkeitswert hin betrachtet wird.“ 18 Der Kern solcher Unterdrückung liegt in seiner asymmetrischen Bilateralität: Dieser Mechanismus nämlich „erfordert, dass die Kreatur selbst sich ihres niedrigen Status voll bewusst ist - und ihn grundsätzlich auch akzeptiert.“ 19 Dies bedeutet, dass die Erfahrung der Unterdrückung so tief verwurzelt und internalisiert ist, dass sie die einzige Form darstellt, in der das unterdrückte Subjekt eine Identität haben kann. Die Kieselsteine sind ein Beispiel: Estrellita akzeptiert sie und bewahrt sie eifersüchtig auf, obwohl sie genau weiß, dass sie keinen realen Wert haben. Die Kieselsteine sind mithin das einzige Mittel, durch das sie eine Vorstellung ihrer Selbst gewinnen kann, und durch das sie sich anerkannt und akzeptiert fühlen kann, wenn auch nur als inferiores Wesen. Die Passage „es gibt keine Echsen, sondern nur Verkleidungen, die der Mensch ersinnt, um seinesgleichen zu unterdrücken, und die von einer schrecklichen Gesellschaft aufrechterhalten werden“, 20 drückt genau die Grundtendenz der Geschichte aus. In einer Welt der Unterdrücker wird das Andere, wie ähnlich es auch immer sein mag, per definitionem unterdrückt. Aber die Dualismen in Iguana beinhalten auch spirituelle Dichotomien, nämlich den ethisch-eschatologischen Dualismus von Gut und Böse und den Dualismus von Erlösung und Verdammung. Tatsächlich stellt für Ortese die Spiritualität eine grundlegende Ebene im Prozess der Unterwerfung dar. In Ausnutzung ihres Unwissens und ihrer Naivität brachten ihre Herren Estrellita dazu, zu glauben, dass sie nicht nur 17 Vgl.: auch, im öko-feministischen Diskurs, Plumwood 1993, S. 42-43. Zur engen Verbindung zwischen ökologischem Feminismus und Ecocriticism, vgl. z.B. Gaard 2010. 18 Borri 1988, S. 58. 19 Ebd. 20 Ortese 1991, S. 181. <?page no="212"?> Ecocriticism oder: Wenn die Literatur vom Anderen spricht 213 keine Seele habe, sondern dass sie selbst eine Kreatur des Bösen sei. Dies bewirkt in Estrellita eine, wie Ortese es nennt, „unangreifbaren Angst vor sich selbst“ 21 : Ihr Geist ist in dieser Hinsicht, so Ortese weiter, so einfach wie der Geist aller „Untergebene n ... , insbesondere ... Kinder und Tiere, also schwache n , machtlose n und schutzbedürfende n Wesen“. 22 Das Leiden an ihrer eigenen Natur erzeugt in Estrellita ein Gefühl der Entfremdung, das sie nicht selten missgünstig und rachsüchtig macht. Sie verhält sich so, als ob sie eine ihr aufgezwungene Repräsentation ihrer Selbst damit bestätigen wolle. Aber ihre spirituelle Unterwerfung besteht vor allem darin, dass ihr kein Recht auf Hoffnung zugestanden wird. Estrellita wird jeder Aussicht auf Erlösung beraubt. Der Himmel, was immer dieser sein mag, wird ihr verweigert: „Komme ich in die Hölle? “ „Was hast du gesagt? “ [Daddo] hatte es nicht verstanden. „Ich meine: Komme ich in die Hölle? , wenn ich sterbe, o senhor? “ „Weder in die Hölle noch ins Paradies, sagte [Daddo] mit unerwarteter Kühle ... , wenn du keine Seele hast.“ Wieder Schweigen, und währenddessen bewegte die Iguana leicht den Nacken, als ob sie dort Schmerzen hätte. „Der Marquis“, sagte sie nach einer Weile, aber mit so einer dünnen, brüchigen Stimme, dass es schien, als werde sie gleich zerspringen, „fährt heute nach dem Essen ins Paradies. Er fährt mit dem Schiff, und nach viel Wasser kommt dann der Himmel mit der heiligen Jungfrau und allen Gestirnen. Ich darf dahin nicht mit. Die Jungfrau will es nicht. ... Wer . . . wer hat dir denn das erzählt? “ fragte Daddo ... betrübt, und in diesem Augenblick war ihm, als stürze die ganze Welt der Christenheit zersplittert in die Tiefen. Die Kreatur machte abermals eine leichte Bewegung mit dem Hals, als ob ihr genau da etwas weh täte; und er bat ... noch einmal flehentlich um eine Antwort: „Wer . . . wer hat dir das erzählt, Echslein? Aber die einzige Antwort der Kreatur war ein dummer, sanfter Blick, als sei es für sie überflüssig, irgend etwas zu formulieren oder zu stammeln ... .“ 23 Diese Passage ist sehr wichtig, denn sie wirft ein Licht auf den fast paradoxen Aspekt dieser spirituellen Unterwerfung. Aber dies ist genau die Art und Weise, durch die Ortese subtil die typischen Diskriminierungsmechanismen auf den Kopf stellt, die dem Opfer die Schuld geben. Dadurch zeigt sie, dass Opfer stets ein beunruhigender Spiegel ihrer Unterdrücker sind; in ähnlicher Weise zeigt sie, wie das Nichtmenschliche ein beunruhigender Spiegel des Menschlichen wird. 24 Mit anderen Worten: das Andere ist stets ein Spiegel des Gleichen. 21 Ortese 1991, S. 98. 22 Ortese 1991, S. 64. 23 Ortese 1991, S. 156-57. 24 Zu diesem Thema schreibt Kate Soper: „human attitudes to animals serve both to express and to conceal a dualistic conception of ourselves as creatures who are both ,cultural’ (i.e. ,nonnatural’) and yet subject to ,natural’ functions and possessed of ,purely animal’ properties” (Soper 1995, S. 81). <?page no="213"?> Serenella Iovino 214 Dies wird ebenfalls deutlich in Daddos Geschichte. Daddo, der von Geburt an zur Klasse der Unterdrücker gehört, lehnt durch seinen Tod die „schreckliche Gesellschaft“ der Unterdrücker ab, wie Ortese sie nennt. Er entscheidet sich bewusst, sich auf ein Wertsystem einzulassen, das anders ist als dasjenige, zudem er durch seine Geburt gehörte. Auf diese Weise wird er willentlich zu einem ‚Anderen‘ seiner eigenen Welt. Sein Anderswerden impliziert gleichzeitig die Anerkennung und Sorge für das Anderssein. Durch seine Anerkennung und seinen Schutz Estrellitas wird Daddo zum Ausdruck einer Ethik mitfühlender Sorge, einer ethics of care, die nicht nur Estrellita, sondern die gesamte Ordnung der Dinge betrifft. Als er vor seinem Tod bemerkt, dass Estrellita ein kleines Kind und nicht wirklich ein Reptil ist, entdeckt Daddo die vitale, emotionale und geradezu erlösende Kraft des Nichtmenschlichen. Die Idee des Anderen, wie sie in diesem Roman entwickelt wird, ist eine Idee der Komplexität. Ob sie in der kleinen Estrellita oder in Daddo repräsentiert ist, Andersheit ist hier als kritische Warnung gegenüber beruhigend geordneten Vorstellungen der Welt und von Werten präsentiert, als ein Appell, die Welt als eine Landschaft komplexer physischer wie ethischer Wechselwirkungen zu sehen, eine Landschaft, die zugleich problematisch, inklusiv und nicht hierarchisch gestaltet ist. IV. Literatur bietet uns viele Beispiele, wie das Andere repräsentiert werden kann. Bei Kafka beispielsweise nimmt der Diskurs des Anderen manchmal paradoxe Formen an, wie etwa in der Erzählung „Die Verwandlung“. Etwas Ähnliches geschieht auch bei Ortese. Allerdings gilt ihre besondere Aufmerksamkeit nicht nur dem ontologischen Paradox, also der Transformation des Menschlichen in Außermenschliches oder der Durchlässigkeit zwischen dem Menschlichen und dem Nichtmenschlichen, sondern auch den ethischen Auswirkungen dieses Paradoxes. Iguana illustriert, wie die Kategorie der Differenz auf eine Weise vermittelt werden kann, die eine radikale Konfrontation des Menschlichen mit sich selbst sowohl von innen wie von außen ausdrückt, eine Konfrontation nicht nur mit einer, sondern mit allen Formen, die seine Identität ausmachen. Dies entspricht der Einsicht, dass Identität stets nur von der Beziehung zu einem Anderen her gedacht werden kann. Orteses Roman Iguana rückt das Menschliche in eine Perspektive außerhalb des Normalen, und eröffnet dadurch eine fortentwickelte, komplexere Vision des Menschlichen. Wir können dies posthuman nennen, womit nicht die Flucht in einen technologischen Cyberspace gemeint ist, sondern eben eine Neubestimmung des Menschlichen in einem konkreten, kooperativen und inklusiven Sinn. Es bedeutet, über das Humane als eine begriffliche Abstraktion hinauszugehen, die suggeriert, sie wäre isoliert von allem anderen existent, abgelöst von jeder Form von Relationalität. 25 Das Posthumane ist eine Evolution des Konzepts und der Praxis des Huma- 25 Zu diesem Thema, vgl. Haraway 1991; Haraway 2008; Hayles 1999; Marchesini 2002. In Bezug zum Ecocriticism, vgl. Wolfe 2010; Iovino 2012; Oppermann 2013. <?page no="214"?> Ecocriticism oder: Wenn die Literatur vom Anderen spricht 215 nen. Es ist der einzige Weg, den das Humane hat, um letztendlich und vollständig menschlich zu werden. Literaturverzeichnis Bateson, Gregory: Steps to an Ecology of Mind, Chandler, New York, 1972. —: Mind and Nature: A necessary Unity, Bantam Books, New York, 1979. Borri, Giancarlo: In vito alla lettura di Anna Maria Ortese, Mursia, Mailand, 1988. Buell, Lawrence: The Future of Environmental Criticism: Environmental Crisis and Literary Imagination, Blackwell, Malden 2005. 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Zum anderen jedoch - und dies ist im Kontext dieses Beitrages wichtiger - sei es eine Folge sozialer und politischer Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte: So spielten das Erstarken nationalistischer Bewegungen weltweit vor allem nach dem Ende des Kalten Krieges, der Abbau der Sozialsysteme, die Herausforderungen, die sich aus den globalen Migrationsbewegungen und aus einer zunehmend kulturell, ethnisch und religiös diversen Bevölkerung in den Industrienationen ergeben und die zunehmende Globalisierung nicht nur von Wirtschaftsbeziehungen, sondern auch von Entscheidungsprozessen, die die Rolle des Nationalstaates zunehmend in Frage stellen, eine entscheidende Rolle für das erneute Interesse an citizenship. 1 Dies scheinen auf den ersten Blick Entwicklungen zu sein, die zwar indirekt auch Auswirkungen auf Literatur haben; der Zusammenhang zwischen Literatur und dem neu erstarkenden Interesse an citizenship ist jedoch nicht unmittelbar einsichtig. Gerade aber für anglophone Literaturen seit den 1990er Jahren und deren Theoretisierung, so meine These, ist citizenship (und damit die erneute Debatte) ein wichtiger Aspekt. Um diesen Zusammenhang und um die Folgen, die dies für eine kulturwissenschaftliche und sozialphilosophisch orientierte Analyse literarischer Phänomene hat, soll es im Folgenden gehen. Dabei werde ich zunächst am Beispiel der Thematisierung der Verletzung von Staatsbürgerrechten in der japanisch-kanadischen Literatur zeigen, welche Rolle Diskurse von citizenship in der Literatur spielen können, bevor ich mich der theoretischen Debatte zuwende. 1 Das deutsche ‚Staatsbürgerschaft ‘ ist konzeptuell enger gefasst als das englische citizenship; während ersterer Begriff sich im engeren Sinne auf die Zugehörigkeit zur nationalstaatlichen Gemeinschaft mit ihren Rechten und Pflichten bezieht, berücksichtigt die Bedeutung von citizenship zunehmend auch transnationale Konstellationen und Identifikationen sowie neben der politischen auch kulturelle Zugehörigkeit, weshalb sich auch die englische Variante in der deutschsprachigen kulturwissenschaftlichen Debatte weitgehend durchgesetzt hat (siehe Quaestio 2000, 19-20). In diesem Beitrag wird weitgehend der englische Begriff verwendet. <?page no="217"?> Katja Sarkowsky 218 I. Als 1981 der Roman Obasan der japanisch-kanadischen Autorin Joy Kogawa publiziert wurde, stellte er die erste fiktionale Thematisierung der Internierungserfahrungen der japanisch-stämmigen Bürgerinnen und Bürgern als ‚enemy aliens ‘ während des Zweiten Weltkriegs in Kanada und den USA dar. In Kanada ist dieser Text vermutlich die erste publizierte Auseinandersetzung von Seiten einer Betroffenen überhaupt; in den USA finden sich bereits frühere Texte, allerdings zumeist Autobiographien oder kürzere, nur indirekt auf die Internierung und die damit verbundenen Traumatisierungen und materiellen Verluste eingehende Prosatexte. Obasan war somit in vielerlei Hinsicht bahnbrechend und greift, wie ich gleich zeigen möchte, auf unterschiedlichen Ebenen die gesellschaftliche Auseinandersetzung um die Bedeutung von citizenship (auch im engeren Sinne von Staatsbürgerschaft) auf und schreibt sich in sie ein. Der Titel Obasan ist das japanische Wort für ‚Tante‘ und bezieht sich auf die beiden sehr unterschiedlichen Tanten der Ich-Erzählerin, Naomi Nakane: die eine Tante, die nur obasan genannt wird, ist eine japanische Einwanderin und reagiert auf die Internierungserfahrungen mit Schweigen und dem Versuch zu vergessen; die andere, Emily Kato, Tochter japanischer Einwanderer und in Kanada geboren, hat die Aufarbeitung und Entschädigung des historischen Unrechts der Internierung zu ihrer Lebensaufgabe gemacht - vor dem Hintergrund ihrer verletzten Staatsbürgerrechte durch die Internierung und Enteignung. Die Ich-Erzählerin stellt ihre Tanten als Verkörperungen zweier Verhaltensweisen gegenüber: How different my two aunts are. One lives in sound, the other in stone. Obasan’s language remains deeply underground but Aunt Emily, BA, MA, is a word warrior. She’s a crusader, a little old grey-haired Mighty Mouse, a Bachelor of Advanced Activists and General Practitioner of Just Causes (1981, 32). Dieser unterschiedliche Umgang mit dem erlittenen Unrecht, Schweigen und Sprechen, werden im Verlauf des Textes immer wieder - gelegentlich an die Stereotypisierung grenzend - mit Kulturen, der japanischen und der kanadischen, assoziiert; für die psychologische Entwicklung der Protagonistin, die selbst die als Kind erlebte Internierung versucht zu verdrängen, erweisen sich beide als zentral. Ich möchte nun nur einen Aspekt dieses vielschichtigen Textes aufgreifen, der hier von Belang sein wird, die Art und Weise, wie der Roman durch Collagetechnik die historischen Ereignisse der Vertreibung der japanisch-stämmigen Kanadier von der Küste Britisch- Kolumbiens und ihre Internierung im Landesinneren mit der Familiengeschichte der Katos und Nakanes verbindet. Der Roman integriert unterschiedliche Rückblenden der Erzählerin, aber auch von ihrer Tante Emily verfasste Briefe, Tagebuchaufzeichnungen und Pamphlete. Diese sind zumeist direkte oder leicht abgewandelte Zitate aus den Publikationen und dem Nachlass der japanisch-kanadischen Journalistin Muriel Kitagawa, ur- <?page no="218"?> „Is this my own? “ - Zugehörigkeit, citizenship und Literatur 219 sprünglich geschrieben in den 1940er Jahren. 2 Ein Beispiel, Kitagawas Essay „This is My Own, My Native Land! “ (im Anklang an Sir Walter Scott) von 1946/ 47 macht in der Gegenüberstellung deutlich, wie Kogawa beinahe 40 Jahre später sich Kitagawas Stimme zu eigen macht, als Teil einer polyphonen Auseinandersetzung um nationale Zugehörigkeit, Staatsbürgerrechte und Patriotismus: At first I was rather shy about it, though very proud, because in spite of hardships, of hunger too, there was this feeling of belonging: “This is my own, my native land! ” Then as I grew older and joined the Nisei group taking a leading part in the struggle for political liberty, for economic equality, I waved those lines around like a banner in the wind: “This is my own, my native land! ” Later still after having been ordered out of my home town, having got permission to live in Toronto, after our former home had been sold over our vigorous protests, after having been re-registered, finger-printed, card-indexed, roped, and restricted, I cry out to you: “Is this my home, my native land? ” Well, it is. (Kitagawa 1985, 287-288) So many times after that, I repeated the lines: sadly, desperately, and bitterly. But at first, I was proud, knowing that I belonged. “This is my own, my native land! ” Then as I grew older and joined the Nisei group taking a leading part in the struggle for political liberty, for economic equality, I waved those lines around like a banner in the wind: “This is my own, my native land! ” Later still, after our former home had been sold over our vigorous protests, after having been re-registered, fingerprinted, card-indexed, roped, and restricted, I cry the question: “Is this my home, my native land? ” The answer cannot be changed. Yes. It is. For better or worse, I am Canadian. (Kogawa 1981, 40) Kitagwas Fortsetzung dieser Passage macht die Ambivalenzen, aber dadurch auch die Bedeutung der Staatsbürgerschaft sehr deutlich: My Canadian birth certificate wasn’t enough, and my record … in a very small way… as a fighter for TRUE Canadian democracy wasn’t enough to prevent all that happened to me, because racially I am not Caucasian. I have to have something better than that. I have to have a deeper faith in Canada, a greater hope for Canada. My daily life and my future must be an integral part of Canada. I have to be a better Canadian than most of the Celtic or Anglo-Saxon variety… which hasn’t been difficult lately… but which ought to be difficult if and when you, and I, succeed in our work (1985, 288). Ich zitiere Kitagawa hier so ausführlich, weil Kogawas Verwendung ihrer Texte die offensichtliche Anknüpfung an die Debatten der 1940er und tatsächlich auch der 1930er Jahre im Kanada der 1980er Jahre deutlich machen. Diese Phase, wie auch die Zeit, in der Kogawas Roman publiziert wird (also der Beginn der 1980er), sind gekennzeichnet von einer Diskussion um die impliziten Inklusionen und Exklusionen, die das Konzept von citizenship beinhaltet. Sowohl die 1930er/ 1940er als auch die Debatten um Entschädigung der 1970er und 1980er Jahre sind geprägt von der 2 Kogawa nutzte für ihren Roman den zum Zeitpunkt der Publikation des Romans noch unveröffentlichten Nachlass von Kitagawa; Kitagawas Schriften, u.a. der hier zitierte Text, wurden 1985 von Roy Miki herausgegeben. <?page no="219"?> Katja Sarkowsky 220 Forderung nach Anerkennung der japanisch-stämmigen Kanadier als vollwertige Bürger. Wie Kirsten McAllister anhand der visuellen Inszenierung von nationaler Zugehörigkeit im Rahmen der Wiedergutmachungsbewegung, des sog. Redress Movements, gezeigt hat, ging es in den 1970ern und 1980ern um eine Rehabilitierung der Japanese Canadians als patriotische kanadische Bürger, die sich vor allem realistischer Repräsentationsstrategien bediente: [R]ealism was used to produce evidence that proved they [Japanese Canadians] were not threats to national security, but in fact loyal citizens who contributed to the development of the nation. This helped Japanese Canadian activists develop a narrative which functioned to assimilate Japanese Canadians into the history of the Canadian nation (1999: o.S.). Genau diese Agenda, wenn auch mit narrativen Ambivalenzen, kennzeichnet auch Kogawas Roman. Die Verwendung historischer Quellen und Dokumente in Obasan wurden zumeist eher als realistische Strategie denn als Indikator für den Roman als historiographic metafiction gelesen, was vermutlich dem zeitlichen Kontext und Kogawas Verbindung zum Redress Movement geschuldet ist. Damit lässt sich eine klare Kontinuität zu den Debatten der 1930er und 1940er herstellen. 3 Was hier deutlich wird ist eine Auffassung von citizenship, die ‚affirmativ‘ genannt werden kann: Ziel der dem Roman zugrunde liegenden Strategien ist es, wie es McAllister im oben zitierten Kontext formuliert hat, sich in die Nation einzuschreiben, sie damit mit ihren Idealen und Selbstbildern sich zu eigen und sich selbst zuteil zu machen. Dieser ausführliche Einstieg in das Thema citizenship und Literatur soll Dreierlei illustrieren: Erstens ist citizenship ein Thema in literarischen Texten - zwar nicht in allen, nicht in allen Kontexten und zu allen Zeiten, aber vielfach in Texten, die sich mit den Belangen gesellschaftlicher Gruppen befassen, deren Zugehörigkeit zur ‚Nation‘ oder Wahrnehmung aller Teilhaberechte oder -möglichkeiten nicht immer selbstverständlich war oder ist; die Brisanz des Themas kommt dabei zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich stark zum Tragen. Zweitens, so meine Grundannahme, stellt diese Thematisierung eine Intervention in gesellschaftliche Diskurse und Debatten dar; literarische Texte können, um mit der Philosophin Seyla Benhabib zu sprechen, als Teil von „democratic iterati ons“ (Benhabib 2004, 2008) verstanden werden, als eine Form der kritischen oder affirmativen gesellschaftlichen Teilhabe, die nicht klare Programme formulieren muss, sondern deren Stärke Ambivalenz und semantische Offenheit ist. Drittens schließlich machen das Beispiel und meine folgenden Ausführungen deutlich, dass citizenship nicht nur ein Thema der Literatur und Literatur potentiell eine Form der Praxis von citizenship ist, sondern auch eine Art zu lesen. Um auf Kymlickas und Normans Diagnose der „explosion of interest in the concept of citizenship“ (1994, 352) zurückzukommen: dieses Interesse findet sich seit den 2000ern auch in den Literatur- und Kulturwissenschaften. 3 Für Analysen der Kontinuitäten in den Debatten der 1930er und 1940er siehe z.B. McAllister 1999; Sarkowsky 2008, 2012. <?page no="220"?> „Is this my own? “ - Zugehörigkeit, citizenship und Literatur 221 Zunächst werde ich nun einige Fragestellungen und Konzepte vorstellen, mit deren Hilfe versucht wird, das komplexe Verhältnis zwischen ‚Kultur‘ und ‚Staatsbürgerschaft‘ zu fassen und daran anknüpfend welche Rolle citizenship für das Verständnis literarischer Texte spielen kann und, umgekehrt, die mögliche Rolle von Literatur für ein Verständnis von citizenship und partizipatorische Möglichkeiten zu reflektieren. Vor diesem Hintergrund werde ich dann zwei weitere literarische Beispiele auf der Grundlage meiner Unterscheidung von citizenship als Thema der Literatur und Literatur als einer Form von citizenship, als eine Form der gesellschaftlichen Teilhabe diskutieren. Abschließend möchte ich Überlegungen zum dritten, eben konstatierten Aspekt von cultural citizenship anstellen, zu der Frage von citizenship als eine Analysematrix und Lesart für literarische Texte. II. Citizenship und ‚Kultur‘ Die eingangs angedeuteten politischen und sozialen Entwicklungen - Globalisierung, gesellschaftliche Pluralisierung, Migration, Umbau des Wohlfahrtsstaates, aber auch Bürgerrechtsbewegungen und die sog. Neuen Sozialen Bewegungen - hatten im Kontext der Staatsbürgerschaftsdebatten konkrete Folgen für die Frage nach der Rolle von ‚Kultur‘ für das Verständnis von citizenship. Bryan Turner beispielsweise definiert citizenship nicht nur als verschiedene rechtliche und politische Praxen, sondern auch als eine kulturelle Praxis (1993, 2) mit konkreten Auswirkungen auf soziale und räumliche Konstellationen, die wiederum die Voraussetzung für die politische Ausübung von citizenship bilden - so beispielsweise die „kulturelle Organisation“ des öffentlichen Raumes (1992, 57). Will Kymlickas Verständnis von citizenship basiert auf einer Annahme von gemeinsamen kulturellen Praktiken, auf denen Gruppenidentitäten und -kulturen aufbauen und die, mit Blick auf staatsbürgerliche Teilhabe, berücksichtigt werden müssen (1994; 2001; 2007). Und Nick Stevenson diskutiert den Zusammenhang von citizenship und Kultur mit Blick auf die vor allem hochtechnisierte Informationsgesellschaften kennzeichnende ‚Interpretationskonflikte’ und ‚semiotische Pluralität’ (2003, 4) im Umgang mit Zugehörigkeits- und Teilhabediskussionen. Was diese Konzepte trotz großer Unterschiede gemeinsam haben ist ein weitreichendes Verständnis von ‚Kultur‘ als einem sinnstiftenden System, das durch die enge Verknüpfung mit Identitätsbildungsprozessen zentrale Auswirkungen auf das Verständnis dessen hat, was citizenship konstituiert, welche Rechte damit verknüpft sind, wie sie sich zu anderen Rechten verhalten (z.B. Menschenrechten) und inwieweit citizenship ausdifferenziert werden muss, um in einer multikulturellen Gesellschaft angemessen funktionieren zu können. Ich komme auf diese unterschiedlichen Verknüpfungen von ‚Kultur‘ und citizenship gleich noch ausführlicher zu sprechen. Diese unterschiedlichen Überlegungen sind vor dem Hintergrund einer grundsätzlichen Neudefinition und Ausdifferenzierung des Begriffs entlang verschiedener ‚Achsen‘ zu verstehen; die Diskussionen der 1990er Jahre bewegten sich weg von einem Konzept des citizenship als universeller Kategorie - Engin Isin hat darauf hin- <?page no="221"?> Katja Sarkowsky 222 gewiesen, dass Staatsbürgerschaft in der europäischen Geschichte auf einem Konzept des autonomen Subjektes beruht und ‚traditionelle Bindungen‘ wie die der Verwandtschaft, des Clans etc. überschreibt (Isin 2002). Dieser Annahme von citizenship als universalisierender, das heißt Partikularitäten überschreibende Kategorie wurden vor allem in den letzten 20 Jahren Differenzierungen gegenübergestellt - so zum Beispiel sexual citizenship, gendered citizenship oder ecological citizenship - die Bereiche unterschiedlicher Rechte, aber auch unterschiedliche Subjektpositionen versuchten miteinzubeziehen. Darüber hinaus geht es aber auch um verschiedene Konzepte von ‚Kultur‘, das heißt um die kulturelle Dimension von citizenship, wie Nick Stevenson dies nennt (2003). Für Stevenson stellt sich die Frage nach der kulturellen Komponente von citizenship verstärkt im Kontext von Globalisierung, aber auch bedingt durch die Entwicklung neuer Kommunikations- und Partizipationsformen in der Informations- und Mediengesellschaft. Zentral ist für ihn ein Satz von Fragen, der das ‚klas sische‘ Verständnis von citizenship als politischer Teilhabe und vor allem als ein Katalog von Rechten mit gesellschaftlicher Sinnstiftung verbindet: How do questions of entitlement and duty [im ersten Fall das klassisch liberale, im zweiten das republikanische Verständnis von Staatsbürgerschaft] relate to the diversity of culture evident within everyday life, and what is the relationship between an increasingly ‚symbolic‘ society and the practice of politics? What modes of exclusion become apparent within an information society? (2003, 4f.) ‘Kultur’ ist für Stevenson dabei vor allem an Institutionen wie Museen, Schulen, Bibliotheken, Medien etc. gebunden; nicht im Vordergrund steht für ihn die Frage nach kulturellen Formen als mögliche Foren für diese intensivierten Aushandlungsprozesse um kulturellen Sinn. Eng mit Stevensons Verständnis verbunden aber nicht damit identisch sind Konzepte, die ‚Kultur‘ als einen eigenen Bereich verstehen, im Rahmen dessen staatsbürgerliches Engagement konzeptualisiert werden soll; hier geht es um Kultur als Teilbereich gesellschaftlicher Ordnung. Ein Beispiel hierfür ist Pieter Boele von Hensbroek (2010), der cultural citizenship nicht als die kulturelle Dimension von politischem citizenship versteht, sondern als citizenship mit Bezug auf den kulturellen Bereich. Er entwickelt dafür das Konzept des kulturellen co-authorships analog zum politischen co-actorships, auf das ich später noch ausführlicher zu sprechen kommen werde. Wieder andere Entwürfe verstehen ‚Kultur‘ im anthropologischen Sinne als spezifische sinnstiftende Praxen, die je nach ethnischer Gruppe etc. variieren können; hier geht es um den Bereich, der in der Diskussion als ‚kulturelle Rechte‘ diskutiert wird, und dies ist vermutlich das nach wie vor prominenteste - und umstrittenste! - Konzept für die Verknüpfung von citizenship und Kultur. Ein Beispiel hierfür ist das Konzept des „differentiated citizenship“, wie es von Iris Marion Young vorgeschlagen wurde. In ihrem Aufsatz „Polity and Group Difference“ von 1989 argumentiert sie für ein Modell von citizenship, das die unterschiedlichen Erfahrungen sozialer, vor allem ethno-kultureller Gruppen berücksichtigt; soziale Gruppen konstituieren sich für Young sowohl durch Zuschreibungen von außen als auch durch Identifikationen, <?page no="222"?> „Is this my own? “ - Zugehörigkeit, citizenship und Literatur 223 und diejenigen Gruppen, um die es in ihrem Modell geht, sind marginalisierte Gruppen mit unzureichend gesichertem Zugang zu öffentlichen Debatten. Für diese Konstitution als Gruppe und die Form, die ‚differentiated citizenship‘ annehmen sollte, spielt aber auch Kultur eine zentrale Rolle: „in part because they have been segregated and excluded from one another, and in part because they have particular histories and traditions, there are cultural differences among social groups“ (1989, 268). Als ‘Kultur’ und ‘kulturelle Differenz’ definiert Young dabei „group-specific phenomena of behavior, temperament, or meaning. Cultural differences include phenomena of language, speaking style or dialectic, body comportment, gesture, social practices, values, group-specific socialization and so on” (271). An diese Spezifika, was Sprache und ‚Gebräuche’ angeht, knüpft Young ihre Forderung nach der Implementierung von Gruppenrechten im Rahmen des demokratischen Gemeinwesens, da der Erhalt beispielsweise von Herkunftssprache für sie ein grundlegendes Recht und Teil individueller kultureller Integrität ist, der auch bei der Ermöglichung und Sicherung von Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe eine Rolle spielen muss. Kulturelle Assimilation, so schreibt sie, „should not be a condition of full participation, because it requires a person to transform his or her sense of identity, and when it is realized on a group level it means altering or annihilating the group’s identity” (1989, 272). Charles Taylor hat diese kulturelle Integrität im Rahmen der Anerkennungsdebatten der 1990er Jahre als ‚Authentizität‘ bezeichnet (Taylor 1994), ein problematischer Begriff, mit dem er versucht der identitätskonstituierenden Funktion kultureller Traditionen gerecht zu werden, sowohl mit Bezug auf das Individuum als auch auf die Gruppe. Die Art und Weise, wie hier ‚Kultur‘ und ‚Gruppe‘ als potentiell statische Einheiten verstanden werden ist natürlich kritisch zu hinterfragen. An dieser Stelle geht es mir nun jedoch nicht darum, die hier zugrunde gelegten Konzepte von Kultur, Gruppe, Integrität oder Authentizität zu kritisieren, dies würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Worum es mir bei Youngs Beispiel geht, ist die Rolle, die ‚Kultur‘ für das Verständnis und die gesellschaftliche Praxis von citizenship zugeschrieben wird. Vielmehr geht es mir um die Herausarbeitung eines Konzeptes von citizenship, das Staatsbürgerschaft nicht als statische Identität oder als ausschließlich formalen Status begreift, sondern als Ergebnis andauernder gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse, für die Kultur ein zentraler Aspekt ist und die selbst ihrerseits als ‚kulturelle Praktiken‘ verstanden werden können. Seyla Benhabib beispielsweise versteht kulturelle Manifestationen als Teil dessen, was sie, wie bereits erwähnt, als „democratic iterations“ bezeichnet, das heißt als „linguistic, legal, cultural, and political repetitions-in-transformation, invocations that are also revocations. They not only change established understandings but also transform what passes as valid or established view of an authoritative precedent” (2008, 48). Literatur beispielsweise wird im Kontext eines solchen Konzepts zu einem Teil gesellschaftlicher Aushandlungs- und Selbstverständigungsprozesse, der zwar nicht die gleiche Art der Wirkmächtigkeit hat wie juristische Diskurse, der aber dennoch die Bedeutung von Staatsbürgerschaft mitprägen und auch verändern kann. Es ist dieser letzte Aspekt, an den ich später noch ausführlicher anknüpfen möchte. <?page no="223"?> Katja Sarkowsky 224 Verkürzt ließen sich die Modelle, die ich skizziert habe, unterteilen in Kultur als gesellschaftliche Sinnstiftung, Kultur als Aktionsbereich für Teilhabe und Kultur als identitäre und differenzierte Grundlage für Teilhabe und Kultur als Praxis der Teilhabe. In diesen Konzepten geht es zumeist um sozialphilosophische Überlegungen, darum, welche Rolle Kultur im weitesten Sinne für die Inanspruchnahme oder auch wie bei Benhabib das Verständnis von Staatsbürgerrechten spielen kann. In den letzten Jahren fand der Begriff citizenship nun auch zunehmend Anwendung in den Literatur- und Kulturwissenschaften selbst, das heißt als Thema und Analysekategorie für kulturelle Ausdrucksformen wie Literatur, Film oder darstellende und bildende Kunst. Diese Anwendungen ursprünglich sozialwissenschaftlicher Kategorien und Konzepte lassen sich zum einen aus interdisziplinären Theoriediskussionen herleiten; in diesem Sinne kann die Übernahme einer Kategorie wie citizenship in die Kultur- und Literaturwissenschaften als vergleichbar mit der Übernahme anderer Kategorien und Begriffe gesehen werden, in den letzten Jahren beispielsweise die Begriffe ‚Transnationalismus‘, ‚Ökologie‘ und ‚Anerkennung‘, oder auch die Übernahme ganzer theoretischer Ansätze wie der Modernisierungstheorien von Anthony Giddens oder der figurationssoziologischen Ansätze von Norbert Elias. Für das Interesse an citizenship in den Literatur- und Kulturwissenschaften bedeutet dies vor allem die eingangs genannten Punkte: citizenship als Thema, citizenship als durch Literatur ausgehandelt und ausgeübt und citizenship als Analysegerüst. Der größere Rahmen für die - rein analytische - Trennung dreier eng miteinander verbundener Aspekte ist ein Verständnis von Literatur als Institution (Brydon 2007). III. Literatur und Citizenship Der oben ausgeführte Bezug auf Kogawas Obasan ist insofern ein Paradebeispiel, als sich an diesem Text nicht nur die Thematisierung von citizenship zeigen lässt, sondern der Roman auch eingebunden ist in die Auseinandersetzungen um die Wiedergutmachungsbewegung und einen der seltenen Fälle darstellt, wo sich der ‚Effekt’ eines literarischen Textes in anderen gesellschaftlichen Bereichen belegen lässt; so wurden während der offiziellen Zeremonie, in der der damalige Premierminister Brian Mulroney die offizielle Entschuldigung der Nation an die japanisch-stämmigen Kanadier verkündete, Passagen aus Obasan verlesen (McFarlane 402). Damit wird an diesem Beispiel eben nicht nur die Thematisierung deutlich, sondern auch die Verknüpfung mit anderen gesellschaftlichen und politischen Diskursen. Um dem kritischen Einwand zu begegnen, es handle sich hierbei zwar um einen besonders offensichtlichen, aber eher seltenen Fall, der somit in der Bedeutung von citizenship nicht verallgemeinerbar sei, möchte ich im Folgenden zwei weitere literarische Beispiele diskutieren, die offensichtlich citizenship als Thema aufgreifen und dabei ihre unterschiedliche Form der Thematisierung und ihre unterschiedlichen Erzählstrategien berücksichtigen. Dabei wird deutlich werden, dass diese Form der Thematisierung, also auch ihre erzählerischen Mittel, maßgeblich den zweiten Aspekt <?page no="224"?> „Is this my own? “ - Zugehörigkeit, citizenship und Literatur 225 beeinflussen, den ich genannt habe, Literatur als eine Form der Ausübung von citizenship, das heißt als eine Form der Teilhabe. In der Kurzgeschichte „Borders“ des indigenen kanadischen Autors Thomas King von 1993 reisen eine Blackfoot-Frau und ihr Sohn, der Ich-Erzähler der Geschichte, von Alberta nach Montana. Genauer gesagt, sie versuchen es, denn die Überquerung der Staatsgrenze zwischen Kanada und den USA erweist sich als schwierig. Die Ausreise aus Kanada ist kein Problem, aber folgende Szene spielt sich bei der versuchten Einreise in die USA zwischen dem amerikanischen border guard und der Mutter des Protagonisten ab: “Purpose of your visit? ” “Visit my daughter.” “Citizenship? ” “Blackfoot,” my mother told him. “Ma’am? ” “Blackfoot,” my mother repeated. “Canadian? ” “Blackfoot.” (1993, 135) Ihre Weigerung, wie im weiteren Verlaufe der Befragung gefordert, sich entweder als ‚Canadian Blackfoot‘ oder ‘American Blackfoot‘ zu identifizieren (1993, 135) führt dazu, dass Mutter und Sohn - vorerst zumindest - im Niemandsland zwischen den Grenzen stranden. Dieser Schlagabtausch an der Grenze thematisiert, postkolonial gelesen, die unterschiedlichen Ansprüche indigener Gruppen nicht nur auf angestammtes Land, sondern auch auf Deutungshoheit: Ganz im Sinne der politischen Strategie, die hinter der relativ neuen Selbstbenennung der indigenen Völker Kanadas als ‚First Nations‘ steht, eignet sich die Mutter des Protagonisten ihre Identifizierung als Blackfoot nicht nur als kulturelle Identität, sondern als dezidiert politische Identität an - mit Hilfe der selben Begriffe und Konzepte, die von den modernen Nationalstaaten Kanada und USA zur Benennung von Mitgliedschaft ins Feld geführt werden (Turner 1993, 14). Allen voran ist hier, mit Blick auf diesen Abtausch, der Begriff der Staatsbürgerschaft im engeren Sinn der Zugehörigkeit zu einer nationalen Konstellation zu nennen, den sich die Protagonistin im Sinne eines tribal nationalism zu eigen macht und der am Ende der Geschichte, zumindest für einen Moment, zum Erfolgsmodell wird. Das Ende des Dilemmas der beiden Gestrandeten stellt hier die Ankunft der Medien dar, also die Herstellung einer nationalen und internationalen Öffentlichkeit. Vor laufenden Kameras wird nun der gleiche Ablauf der Befragung noch einmal durchgespielt, nur diesmal mit einem anderen Ergebnis: <?page no="225"?> Katja Sarkowsky 226 “Morning, ma’am.” “Good morning.” [...] “Purpose of your visit? ” “Visit my daughter.” [...] “Citizenship? ” “Blackfoot.” The guard rocked back on his heels and jammed his thumbs into his gun belt. “Thank you,” he said [...] “Have a pleasant trip.” (King 1993, 143f.) Die Geschichte endet dann auch mit dem buchstäblichen Verschwinden der Grenze: „I watched the border through the rear window until all you could see were the tops of the flagpoles and the blue water tower, and then they rolled over a hill and disappeared” (1993, 145). Was hier als vermeintliches Gegenkonzept zur nationalen Staatsbürgerschaft entworfen wird, nämlich ein Modell von tribal nationalism, das sich der Sprache von citizenship bedient und damit Anerkennung einfordert und Legitimität für sich in Anspruch nimmt, wird jedoch gleichzeitig durch die Erzählperspektive wieder - zumindest teilweise - humoristisch in Frage gestellt. Die Geschichte wird aus Sicht eines Teenagers erzählt, der seine Mutter begleitet, eigentlich nur seine Schwester besuchen und vielleicht noch im Grenzland einen Hamburger essen will, und der insgesamt wenig Verständnis für das Verhalten seiner Mutter hat. „I told Stella that we were Blackfoot and Canadian, but she said that that didn’t count because I was a minor” (137). Die jugendliche Erzählperspektive und die Haltung des Erzählers schaffen ein Korrektiv zu der Position der Mutter, die sonst allzu leicht als Agenda der Geschichte erscheinen könnte. Der junge Erzähler reflektiert dabei auch über seine eigene Position und die der Mutter (und Schwester) als Vorbild, aber wieder mit einem humoristischen Effekt wenn er sagt: „Pride is a good thing to have, you know. Laetitia had a lot of pride, and so did my mother. I figured one day I’d have it, too” (140). Diese Position schafft eine ironische Distanz, ohne die vom Austausch an der Grenze aufgeworfenen Fragen deshalb zu verwerfen. An diesem Punkt wird auch deutlich, wo die bloße Thematisierung von citizenship in den Anspruch auf eine diskursive Teilhabe übergeht. Ich habe bereits an anderer Stelle auf das Konzept von cultural citizenship als co-authorship verwiesen. Formuliert wurde es von dem niederländischen Philosophen Pieter Boele van Hensbroek, der political citizenship und cultural citizenship folgendermaßen analogisiert: The political citizen can put forward the positive claim to be involved, that is, can claim political actorship while rejecting any claim of some to be a ‘natural’, ‘divine’ or ‘traditional’ guardian of power. […] Similarly, the cultural citizen can claim co-authorship and thus also the right to challenge any authoritatively or traditionally established cultural consensus and hegemony. While political citizenship concerns the process of decision-making in society, cultural citizenship concerns those of meaning-making. The essence of the idea of cultural citizenship is then: to be co-producer, or co-author, of the cultural contexts (webs of meaning) in which one participates. (2010, 322) Am Beispiel der Kurzgeschichte von King bedeutet dies, zum einen auf die bereits angesprochene Frage von Deutungshoheit zu fokussieren, die Frage, wie Nation und <?page no="226"?> „Is this my own? “ - Zugehörigkeit, citizenship und Literatur 227 citizenship zu verstehen sei und wie sich im Konflikt stehende Modelle zueinander verhalten können. Zum anderen bedeutet es, die Geschichte im Kontext der, und als Beitrag zu, politischen Kontroversen der Zeit in Kanada zu lesen: Publiziert kurz nach den medial vielbeachteten Auseinandersetzungen von Oka, 4 nimmt der Text - meiner Lesart nach - zentrale Fragen der politischen und kulturellen Selbstbestimmung und Zugehörigkeit auf, ohne sie jedoch zu vereindeutigen oder dem Text seine semantische Offenheit zu nehmen; auf den Effekt der Erzählperspektive als Korrektiv wurde ja bereits verwiesen. Mein letztes Literaturbeispiel ist etwas anders gelagert. Im Schlussmonolog von Tony Kushners preisgekröntem Theaterstück Angels in America: Perstroika prognostiziert einer der Protagonisten, Prior Walter, der zum Zeitpunkt dieses Monologs seit über fünf Jahren mit AIDS lebt: „This disease [AIDS; K.S.] will be the end of many of us, but not nearly all, and the dead will be commemorated and will struggle on with the living, and we are not going away. We won’t die secret deaths anymore. The world only spins forward. We will be citizens. The time has come” (1994, 148). Der Begriff citizenship taucht im gesamten Stück ausschließlich an dieser Stelle auf. Das nimmt der Verwendung nicht die Brisanz, denn hier wird eine wichtige kategoriale Unterscheidung in der Debatte um citizenship aufgegriffen, die zwischen citizenship als formalem Status, also m.E. als Synonym zur Nationalität, und citizenship als substantiell, also als tatsächliche, gleichberechtigte Möglichkeit (und nicht ausschließlich des formalen Rechts) des Zugangs und der Teilhabe verstanden. Citizenship ist für Prior kein Thema, was den formalen Status angeht: die Frage von Nationalität kommt im gesamten Stück nicht vor. Was er anspricht sind Sichtbarkeit, Repräsentation und das Recht marginalisierter Gruppen, wie schwuler Männer und/ oder Menschen mit HIV/ AIDS ein Teil der „imagined community” der Nation zu sein (Anderson 1983/ 1991), eine imaginäre Gemeinschaft, die durch Teilhabe und Rechte konstituiert ist, aber auch durch Erinnerung (Booth 2006) und damit einer Anerkennung von Zugehörigkeit von Gruppen und Individuen. Priors Gebrauch des Begriffs „citizen“ deckt damit also vor allem Fragen der Zugehörigkeit, nicht der formalen Mitgliedschaft ab. Der Ort des Monologs ist damit natürlich auch kein Zufall: Er findet statt bei Bethesda Fountain im Central Park. Bethesda Fountain bezieht sich zum einen auf eine im Evangelium des Johannes erwähnte Quelle in Jerusalem die mit einer Heilungsgeschichte assoziiert ist (Joh 5: 1-5); zum anderen ist sie - so einer der Protagonisten - das Denkmal für die Marinetoten des amerikanischen Bürgerkriegs. 5 Der nationale Bezug ist klar; und er interpretiert die zu heilenden Risse, die die amerikanische Ge- 4 1990 standen sich in Oka, Quebec, für einige Monate die Sûreté du Québec und Mohawk- Aktivisten und ihre Unterstützer gegenüber. Anlass war die geplante Anlage eines Golfplatzes auf von den Mohawk beanspruchtem Land. Diese Auseinandersetzung schaffte eine sympathisierende Öffentlichkeit für indigene Belange und hatte eine wichtige Signalwirkung für die Entwicklung der indigenen Literatur in Kanada (van Toorn 2004; Gruber 2008.) 5 Dies scheint nicht korrekt zu sein; die Statue erinnert an das erste Frischwassersystem der Stadt (s. „Bethesda Fountain“). Meine Interpretation stützt sich somit auf das - inkorrekte aber für die Agenda des Textes wichtige - Statement des Protagonisten Louis. <?page no="227"?> Katja Sarkowsky 228 sellschaft spalten (analog zu den Spaltungen des Bürgerkriegs), neu mit Bezug auf die Zeit der Reagan-Administration, ihrer gesundheitspolitischen Untätigkeit und buchstäblich tödlichen Ignoranz gegenüber HIV/ AIDS sowie ihrer, eine weitere Öffnung der Schere zwischen Arm und Reich befördernden, Wirtschaftspolitik. Dies ist der Aspekt, an dem sich mit Bezug auf Kushners Stück nicht nur die Thematisierung von citizenship aufzeigen lässt, sondern auch die Art und Weise, wie der Text und dessen Aufführungen und Verfilmung - eine öffentliche Form der Literatur! - gesellschaftspolitische Debatten aufgreifen, sich kritisch einschreiben und im Anschluss an dezidiert politische Bewegungen zu lesen sind - hier die ACT UP Bewegung und die Schwulenbewegung. IV. Schlussüberlegungen Abschließend möchte ich zwei Aspekte in den Vordergrund stellen. Zum einen stellt sich nach den bisherige Ausführungen die weitergehende Frage, was nicht nur das Konzept von citizenship zu einer Interpretation literarischer Texte als einer Form der gesellschaftlichen Teilhabe beitragen kann, sondern umgekehrt auch, welche Überlegungen Literatur für die citizenship-Debatte möglichweise aufwirft. Literatur nimmt ähnliche Fragestellungen wie die theoretischen Debatten auf und hat gleichzeitig jedoch die Möglichkeit, unabhängig von politischen oder sozialen Sachzwängen, Aspekte von Zugehörigkeit zu thematisieren, die implizit, oft aber auch explizit als citizenship gefasst werden. Der politische oder soziale Effekt, der in dem zitierten Konzept von Boele van Hensbroeks „co-authorship“ mitgedacht wird, ist für Literatur in dieser Form meist nicht nachzuweisen, auch wenn dies für einzelne Texte wie Kogawas vorgenommen wurde; ich halte es auch nicht für sinnvoll, hier nach konkreten Auswirkungen zu suchen und nur dann Literatur als potentiell wirkmächtig zu begreifen, wenn sich diese aufzeigen lassen. Wichtiger scheint mir hier das Verständnis von co-authorship im Sinne von Benhabibs „democratic iterations“ zu sein, das heißt, ein Verständnis von Literatur als Teil eines vielschichtigen gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses. Hilfreich ist hier auch Benhabibs Unterscheidung zwischen den unterschiedlichen Arten von Diskursen: der Rechtsdiskurs ist, durch seine Kodifizierung im Gesetz, hier auf einer anderen Ebene anzusiedeln als beispielsweise Literatur. Nun stellt sich aber auch zum anderen die Frage nach dem dritten Aspekt von citizenship und Literatur, den ich eingangs aufgeworfen habe: citizenship als ein Analyseansatz. Ich rekurriere noch einmal auf Kymlickas und Normans Konstatierung einer „explosion of interest“, die sie zwar 1994 auf die politische Theorie beziehen, die sich aber in den 2000ern auch für die Literatur- und Kulturwissenschaften bestätigen lässt. Man kann dies als eine weitere der vielen Moden in den Geisteswissenschaften abtun, aber hier würde ich das Interesse eher in den Kontext einer Tendenz der letzten Jahre vor allem im anglo-amerikanischen und kanadischen Bereich stellen, die Literatur nicht als Sammlung von Einzeltexten, sondern als Institution versteht (Brydon 2007) sowie, damit verbunden, vor dem Hintergrund der Herausforderun- <?page no="228"?> „Is this my own? “ - Zugehörigkeit, citizenship und Literatur 229 gen von Globalisierung, Transnationalisierung und Transkulturation und deren Auswirkungen auf das Konzept der Nationalliteratur etc., vor die sich auch Literatur- und Kulturwissenschaft gestellt sahen (Jay 2010). Dies ist natürlich nicht ganz zu trennen von der Frage danach, welche Texte im Mittelpunkt des Interesses einer solchen Analyse stehen. Meine Beispiele in diesem Beitrag stammen aus den 1980ern und 1990ern und sind von Autorinnen und Autoren verfasst worden, die einer gesellschaftlichen Minorität (ethnisch oder sexuell) angehören und die deren Situation auch thematisieren. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass aufgrund historischer Konstellationen sowie gesellschaftspolitischer Ein- und Ausschlussmechanismen die Frage von (auch formaler) Zugehörigkeit eine besondere Brisanz für viele soziale oder ethnische Gruppen hat. Die wiedererstarkenden Debatten um citizenship in den 1980er und 1990er Jahren, so meine Annahme, boten diesen Gruppen ein Sprachmuster für ihre Anliegen an, das es erlaubte sowohl Rechte und Partizipationsmöglichkeiten einzuklagen als auch darüber hinaus die Anerkennung der gleichberechtigten Zugehörigkeit zur Gesellschaft einzufordern. Für diese Vermutung spricht die gegenwärtig zu beobachtende Verschiebung von einer Sprache, in Anlehnung an citizenship, zu einer der Menschenrechte und damit auch der Frage nach dem Verhältnis von Menschenzu Bürgerrechten: Während Bürgerrechte dem Konzept nach exklusiv sind, so sind Menschenrechte dem Verständnis nach universal geltend. Politisch verschieben sich die Grenzen zunehmend oder lösen sich gar auf; Kymlicka weist beispielsweise auf eine Orientierung der Minoritätenpolitik in westlichen Demokratien seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs an Menschenrechtsgrundsätzen und -begründungsstrategien hin (Kymlicka 2007). Die zunehmende Auflösung der Grenzen zwischen Menschen- und Bürgerrechten, die zum Beispiel in Texten wie Obasan vor dem Hintergrund der japanischkanadischen Debatten zur Staatsbürgerschaft der 1930er und 1940er, auf die sich der Roman bezieht, noch weitgehend unhinterfragt bleiben, finden sich mittlerweile sowohl in literarischen Texten selbst, als auch in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Diskussion, und Konzepte wie die des global citizenship oder cosmopolitan citizenship versuchen dem Rechnung zu tragen. Ansätzen nun, die das Konzept des citizenship für die Literaturwissenschaften modifizieren, basieren auf der Annahme einer sozialen und politischen Funktion der ‚Institution Literatur’: Einem kulturwissenschaftlichen Verständnis von Literatur verpflichtet, das literarische Texte nicht nur als Teil eines kulturellen, sondern auch gesellschaftspolitischen Diskursgewebes sieht, stellt sich im Rahmen dieser Herangehensweisen zum einen die Frage nach der Funktion von Literatur als mögliches Forum gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse, zum anderen aber auch nach der Funktion der Literaturkritik und ihrer Analyseansätze. „Whose interest does literary theory and criticism serve? ” fragt Roy Miki (1998), und Julie Peters bemerkt mit Blick auf den human rights turn der Literaturwissenschaften: However different the reasons for the narrative turn in human rights and the turn towards human rights in literary studies, they are both institutionally redemptive projects. By channelling rights culture, literary critics not only give voice to the silenced victims of <?page no="229"?> Katja Sarkowsky 230 atrocity. They also reclaim literary studies foundering political role and thus redeem themselves from the terror of insignificance. While human rights are busy redeeming the injustices of violence and history, it can, at the same time, redeem literary criticism the guilt of aesthetic detachment. (2012, 33) Während ich Peters’ Einschätzung in dieser Form nicht teile, so verweist ihre bittere Bewertung doch auf einen wichtigen Punkt, nämlich auf das Bedürfnis, Literatur (und auch Literaturkritik und Literaturwissenschaft) nicht nur als individuell und ästhetisch befriedigend, sondern auch als gesellschaftlich eingebunden und relevant verorten zu können. Die Debatten um citizenship und Literatur auf den drei hier diskutierten Ebenen - citizenship als Thema der Literatur, Literatur als Forum und Form der Partizipation und citizenship als analytischer Rahmen - stellen somit die Literatur nicht nur in ihren zeitspezifischen gesellschaftlichen Kontext, sondern anerkennen auch ihre Rolle als Auseinandersetzungsforum theoretischer Debatten. Literaturverzeichnis Anderson, Benedict. Imagined Communities. London/ New York: Verso, (1983) 1991. Benhabib, Seyla. Another Cosmopolitanism. London/ NewYork: Oxford University Press, 2008. -. The Rights of Others: Aliens, Residents and Citizens. Cambridge, MA: Cambridge University Press, 2004. Boele van Hensbroek, Pieter. „Cultural Citizenship as a Normative Notion for Activist Practices.” Citizenship Studies 14: 3 (2010): 317-330. Booth, W. James. Communities of Memory. On Witness, Identity, and Justice. Ithaca: Cornell University Press, 2006. Brydon, Diana. „Metamorphoses of a Discipline.” Trans. 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Grundlagen und Perspektiven, Bd. 5, Tübingen, Basel 2011; (Hg., mit Joachim Jacob) Berührungen. Komparatistische Perspektiven auf die frühe deutsche Nachkriegsliteratur, München, Paderborn 2012; (Hg., mit Joachim Jacob) Metzler Lexikon literarischer Symbole, 2., erw. Aufl., Stuttgart, Weimar 2012. Hans Vilmar Geppert, Studium, Promotion und Habilitation in Tübingen. 1984 bis 2006 Inhaber des Lehrstuhls „Neuere Deutsche Literaturwissenschaft/ Vergleichende Literaturwissenschaft“ in Augsburg. Wichtigste Publikationen: Der „andere“ historische Roman (Tübingen 1976), Achim von Arnims Romanfragment „Die Kronenwächter“ (Tübingen 1979), Hg. Große Werke der Literatur Bd. 1ff. (Tübingen und Basel 1990ff.), Der realistische Weg (Tübingen 1994), Hg. Theorien der Literatur Bd. 1ff. (Tübingen und Basel 2003-2009), Literatur im Mediendialog (München 2007), Der historische Roman. (Tübingen und Basel 2009), Bert Brechts Lyrik (Tübingen und Basel, 2011). Aufsätze zum deutschen, englischen, französischen Roman des 19. und 20. Jahrhunderts, zu Literatur und Medien, Literatur und Werbung, Literatursemiotik, wiederholt zu Brechts Lyrik. Serenella Iovino ist Professorin für Ethik an der Universität Turin, Forschungsmitglied der Alexander-von-Humboldt-Stiftung und ehemalige Präsidentin der Europäischen Vereinigung für das Studium der Literatur, Kultur und Umwelt (www.easlce.eu). Wichtigste Monographien: Filosofie dell'ambiente. Natura, etica, società (2004) und Ecologia letteraria. Una strategia di sopravvivenza (2006). Ihre Publikationen umfassen Artikel und Essays über ökokritische Theorie, Umweltsphilosophie, Bioregionalismus, ökologischen Humanismus, Landschaftsethik, Umweltgerechtigkeit, Ökofeminismus, italienische Literatur, und zwei Bücher über den philosophischen Roman im Zeitalter Goethes. Mit Serpil Oppermann ist Prof. Iovino Mitherausgeberin von Material Ecocriticism (i.E., Indiana University Press). Rotraud von Kulessa, Studium in Freiburg, Paris, Berlin, Promotion und Habilitation in Freiburg. Seit April 2011 Inhaberin des Lehrstuhls für Romanische Literaturwissenschaft (Französisch/ Italienisch) an der Universität Augsburg. Zahlreiche Publikationen zur Frauenliteratur im 18. und 19. Jahrhundert, zum Kulturtransfer zwischen Frankreich und Italien im 18. Jahrhundert. Arbeitet zur Zeit zum Thema <?page no="233"?> Die Beiträgerinnen und Beiträger 234 Spiel und Streit in der Literatur: Françoise de Grafigny: Lettres d’une Péruvienne. Interpretation, Genese und Rezeption eines Briefromans aus dem 18. Jahrhundert. Stuttgart/ Weimar: Metzler 1997 (Ergebnisse der Frauenforschung, 46); Entre la reconnaissance et l’exclusion. La position de l’autrice dans le champ littéraire en France et en Italie à l’Epoque 1900. Paris: Honoré Champion 2011 (Bibliothèque de la littérature générale et comparée, sous la direction de Jean Bessière, 90); „La Querelle de La Princesse de Clèves jadis et naguère ou réflexions sur la notion de ‘Querelle’ en littérature“. In: Gröne, M./ von Kulessa, R. (Hrsg.): Urbanité et sociabilité dans la littérature française de la Renaissance jusqu’au 18e siècle. München: Peter Lang (in Vorbereitung); „Les Lettres d’une Péruvienne de Françoise de Graffigny et la Querelle des femmes en Italie au 18e siécle.“. In: Dubois-Nayt, A./ Henneau, M.-E./ von Kulessa, Rotraud (Hrsg.): Le discours sur l‘égalité/ l’inégalité des sexes à l’échelle européenne. Saint Etienne: PU (in Vorbereitung). Bernadette Malinowski hat seit 1. April 2011 die Professur für Neuere Deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Technischen Universität Chemnitz inne. Von 1990 bis 1996 studierte sie Vergleichende Literaturwissenschaft, Philosophie und Italienische Literaturwissenschaft an der Universität Augsburg sowie an der Brandeis University (M.A., USA). Bis 2011 war sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Wissenschaftliche Assistentin, zuletzt als Akademische Oberrätin an der Universität Augsburg tätig. Im Jahr 2001 promovierte sie mit einer Studie zum Thema „Das Heilige sei mein Wort“ - Paradigmen prophetischer Dichtung von Klopstock bis Whitman, 2008 erfolgte die Habilitation mit einer Arbeit über Scientia Poetica. Literarische Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie. Bisher publizierte Aufsätze setzen sich mit kulturanthropologischen (Erinnern und Vergessen, Bekennen, Krankheit) und literaturtheoretischen Fragen (das Imaginäre, literarische Inszenierungen wissenschaftlicher Diskurse) auseinander. Timo Müller ist akademischer Rat a.Z. am Lehrstuhl für Amerikanistik der Universität Augsburg. Dort 2009 Promotion zum Thema The Self as Object in Modernist Fiction: James Joyce, Hemingway (Königshausen & Neumann, 2010). Mitherausgeber des Kompendiums English and American Studies: Theory and Practice (Metzler, 2012) und des Sammelbandes Literature, Ecology, Ethics (Winter, 2012). Daneben Aufsätze zu modernistischer, afroamerikanischer und karibischer Literatur, zu Ecocriticism und Literaturtheorie. 2012/ 13 Visiting Fellow am Du Bois Institute for African American Research, Harvard University. Michael Ostheimer ist nach Studium (Germanistik, Griechische Philologie und VWL), Promotion (an der FU Berlin über Heiner Müller) und DAAD-Lektorat (an der Peking-Universität) seit dem WS 2005 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur Neuere Deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft der TU Chemnitz. Habilitation 2012 („Ungebetene Hinterlassenschaften. Studien zur literarischen Imagination über das familiäre Nachleben des Nationalsozialismus“). Wichtigste Publikationen: „Mythologische Genauigkeit“. Heiner Müllers Poetik und Geschichtsphilosophie <?page no="234"?> Die Beiträgerinnen und Beiträger 235 der Tragödie, Würzburg 2002; Literaturtheorie - Ansätze und Anwendungen (zus. mit Arne Klawitter), Göttingen 2008. K. Ludwig Pfeiffer promovierte 1973 in Würzburg und habilitierte sich 1977 in Konstanz. Er war Professor für Anglistik in Bochum 1978-1979, für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft in Siegen (Emeritierung 2009). Von 2007 bis zur erneuten Emeritierung 2011 war er Professor of Literature an der Jacobs University Bremen. Zahlreiche Gastprofessuren und fellowships an deutschen, USamerikanischen, japanischen und brasilianischen Universitäten. Neuere Publikationen: Das Mediale und das Imaginäre, Suhrkamp 1999; The Protoliterary. Steps toward an Anthropology of Culture, Stanford University Press 2002; Von der Materialität der Kommunikation zur Medienanthropologie, Heidelberg: Winter 2009. Verfasser von ca. 135 Aufsätzen und 30 weiteren Publikationen, (Mit-)Herausgeber von vierzehn Bänden zu literatur-, kultur-, medienwissenschaftlichen und wissenschaftsgeschichtlichen Themen. Katja Sarkowsky, seit 2008 Juniorprofessorin für Neue Englische Literaturen und Kulturwissenschaft an der Universität Augsburg. Arbeitsschwerpunkte: Literaturen ethnischer Minoritäten in Kanada und den USA, Kulturtheorie, Postkoloniale Theorie, Citizenship Studies. Veröffentlichungen: AlterNative Spaces: Constructions of Space in Native American and First Nations‘ Literatures, 2007; Travelling Concepts: Negotiating Diversity in Canada and Europe, 2010, hrsg. mit C.Lammert; Geschlechterverhältnisse und Öffentlichkeiten. Erfahrungen, Politiken, Subjekte, 2005, hrsg. mit Susanne Lettow und Ulrike Manz. Kaspar H. Spinner, Studium in Zürich und Berlin, Promotion bei Emil Staiger, 1968-1972 Assistent an der Universität Genf, 1972-1979 (Assistenz-)Professor an der Gesamthochschule Kassel, 1980-1988 Professor an der RWTH Aachen, 1988- 2006 Inhaber des Lehrstuhls für Didaktik der Deutschen Sprache und Literatur an der Universität Augsburg. Wichtigste Publikationen: Umgang mit Lyrik in der Sekundarstufe I (4. Aufl. 2000); Kreativer Deutschunterricht. Identität - Imagination - Kognition (2. Aufl. 2006); Kurzgeschichten - Kurze Prosa. Grundlagen - Methoden - Anregungen für den Unterricht (2012). Hg. SynÄsthetische Bildung in der Grundschule (2002); Hg. Lesekompetenz erwerben, Literatur erfahren (2006); Hg. Augsburger Studien zur Deutschdidaktik (seit 1998). Stephanie Waldow, Studium, Promotion und Habilitation in Gießen und Erlangen. Seit 2012 Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Ethik an der Universität Augsburg. Publikationen (Auswahl): Der Mythos der reinen Sprache. Allegorische Intertextualität als Erinnerungsschreiben der Moderne. Studien zu Walter Benjamin, Ernst Cassirer und Hans Blumenberg. Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2006; Ethik im Gespräch. Autorinnen und Autoren über das Verhältnis von Literatur und Ethik heute. Reihe Lettre. Bielefeld: transcript 2011; (zusammen mit Moritz Baßler/ Cesare Giacobazzi/ Christoph Kleinschmidt): (Be-)Richten und Erzählen: Verstehen von Literatur als Praxis gewaltfreien Denkens und Handelns. Reihe Ethik - <?page no="235"?> Die Beiträgerinnen und Beiträger 236 Text - Kultur. Hg. v. Christine Lubkoll/ Mathias Mayer/ Claudia Öhlschläger/ Joachim Jacob. Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2011; (zusammen mit Simone Broders/ Susanne Gruß): Phänomene der Fremdheit / Fremdheit als Phänomen. Würzburg: Königshausen & Neumann 2012; Sprache als Begegnung mit dem Anderen. Zum Verhältnis von Ethik und Narration in philosophischen und literarischen Texten der Gegenwart. Reihe Ethik - Text - Kultur. Hg. v. Christine Lubkoll/ Mathias Mayer/ Claudia Öhlschläger/ Joachim Jacob. Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2013. Saskia Wiedner, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Europäische Kulturgeschichte an der Universität Augsburg. Forschungsschwerpunkte: französischer Existentialismus, französischer Roman im 20./ 21. Jahrhundert, jüdische Literatur und Kultur im Frankreich des 20. Jahrhunderts, Autobiographie und Theorie der Autobiographie, politische Theologie und Strategien der Herrschaftslegitimation in der französischen Literatur und Bildpublizistik des 17. Jahrhunderts, kulturelle Transferprozesse und Nationbildung im 18./ 19. Jahrhundert in Italien und Frankreich. Veröffentlichungen: Die Konzeption der „situation“ in den Romanen Simone de Beauvoirs 1943-1954, Würzburg: Königshausen & Neumann 2009; Contacts: Le désir du canon. L’esthétique de la citation dans le roman français / francophone post-soixante-huitard. / Dossier der Zeitschrift Lendemains, 32 - 126/ 127 Tübingen: Verlag Gunter Narr 2007 (hrsg. mit Till R. Kuhnle); Orient lointain - proche Orient. La présence d’Israël dans la littérature francophone, Tübingen: Verlag Gunter Narr (Lendemains 15), 2011 (hrsg. mit Till R. Kuhnle und Carmen Oszi); Aufsätze zur französischsprachigen und italienischen Literatur; Artikel in literatur- und kulturwissenschaftlichen Lexika. <?page no="236"?> THEORIEN DER LITERATUR VI Literaturtheorie ist in den letzten Jahrzehnten national und international zu einem der wichtigsten Bereiche der Literatur- und Kulturwissenschaften geworden. Ihr kommt eine grundlegende, kritisch-reflektierende und systematisch-orientierende Funktion für die gegenwärtige und künftige Lehre und Forschung zu. Im Blick auf diese Situation wurde die Reihe ‚Theorien der Literatur‘ konzipiert, in der bislang fünf Bände erschienen sind. Auch der nun vorliegende sechste Band behandelt sowohl unverzichtbare Grundlagen als auch aktuelle Perspektiven der Literaturtheorie und geht davon aus, dass diese beiden Pole keinen Gegensatz, sondern einen produktiven Zusammenhang bilden. Er beginnt mit zwei Studien, die das Spannungsverhältnis von Wissen und Mythos in der Literatur ausleuchten. Anthropologische Themen fokussieren die Beiträge zur Medienanthropologie sowie zu Literatur und Empathie. Daran schließen gattungstheoretische Reflexionen über die Autobiografie und das Sonett an. Auf Fragestellungen zur weltengenerierenden Potenz literarischer Texte und zur Beziehung von Literatur und Spieltheorie folgen Entwürfe einer Theorie literarischer Unterhaltung sowie einer Theorie des europäischen Naturalismus. Abhandlungen über kultur- und sozialwissenschaftliche Konzeptionen des Ecocriticism und der Beziehung von Literatur und Citizenship beschließen den Band. A. Francke Verlag Tübingen und Basel THEORIEN DER LITERATUR Grundlagen und Perspektiven BAND VI Herausgegeben von Günter Butzer und Hubert Zapf 039913 Theorien der Literatur VI_039913 Theorien der Literatur VI Umschlag 25.04.13 16: 50 Seite 1