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Die Tagzeitenliturgie an den drei Tagen vor Ostern

Feier - Theologie - Spiritualität

0814
2013
978-3-7720-5493-8
978-3-7720-8493-5
A. Francke Verlag 
Ingrid Fischer

An den drei Tagen vor Ostern kommt der Tagzeitenliturgie 22 von jeher besondere Bedeutung zu, aus ihrer schlichten, von den Psalmen geprägten Feiergestalt erklärt sich die Theologie dieser Tage. Vor allem die als "Trauermetten" populären Nacht- und Morgengottesdienste erweisen sich für das Verständnis des Paschamysteriums Christi - die Mitte jeder Liturgie - als überaus fruchtbar. Auf Basis einer umfassenden Analyse der älteren Tradition wird die Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils gewürdigt und die Vielfalt alternativer Feierformen exemplarisch vorgestellt, so werden Quellen authentischer Spiritualität für die heutige Praxis erschlossen.

<?page no="0"?> INGRID FISCHER Die Tagzeitenliturgie an den drei Tagen vor Ostern Feier - Theologie - Spiritualität A. FRANCKE VERLAG TÜBINGEN UND BASEL <?page no="1"?> Die Tagzeitenliturgie an den drei Tagen vor Ostern <?page no="2"?> PIETAS LITURGICA · STUDIA 22 Interdisziplinäre Beiträge zur Liturgiewissenschaft begründet von Hansjakob Becker herausgegeben von Ansgar Franz Die Reihe »Pietas Liturgica« erscheint in Zusammenarbeit mit »KULTUR - LITURGIE - SPIRITUALITÄT e.V.« Interdisziplinäre Vereinigung zur wissenschaftlichen Erforschung und Erschließung des christlichen Gottesdienstes <?page no="3"?> INGRID FISCHER Die Tagzeitenliturgie an den drei Tagen vor Ostern Feier - Theologie - Spiritualität A. FRANCKE VERLAG TÜBINGEN UND BASEL <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Vereins KULTUR - LITURGIE - SPIRITUALITÄT e.V. © 2013 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISSN 1862-2704 ISBN 978-3-7720-8493-5 Titelabbildung: Antiphonale des Hartker, St. Gallen, Stiftsbibliothek 391, p. 28. Foto: Stiftsbibliothek Sankt Gallen <?page no="5"?> Inhalt Vorwort und Dank ................................................................................................ 1 0 Einleitung .......................................................................................................... 2 0.1 Fragestellung und Ziel der Arbeit .................................................................... 2 0.2 Ausgangspunkt der Arbeit ............................................................................... 3 0.2.1 Gegenstand ...................................................................................................... 3 0.2.2 Abgrenzungen ................................................................................................. 3 0.2.3 Die Quellen ..................................................................................................... 4 Ordines Romani ......................................................................................................... 5 Liturgiekommentare .................................................................................................. 6 Libri Ordinarii ............................................................................................................ 6 Breviere ..................................................................................................................... 7 Antiphonare ............................................................................................................... 8 0.3 Methode und Gliederung der Arbeit ............................................................... 8 0.4 Zum Forschungsstand ...................................................................................... 10 1 Die vorösterlichen Tage nehmen Gestalt an: Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss .................................................. 13 1.1 Die Kodifikation der römischen und monastischen Tradition im Frühmittelalter ............................................................................................ 13 1.1.1 Die Letzten Tage der Hohen Woche in den Ordines Romani ........................ 13 1.1.1.1 Einzelbestimmungen zur Feier des Offiziums ................................................ 13 1.1.1.2 Das Offizium im Verhältnis zu den anderen Gottesdiensten des Tages ...... 28 1.1.1.3 Zusammenfassung: Merkmale des Offiziums an den vorösterlichen Tagen in den Ordines Romani ..................................................................... 33 1.1.2 Das Offizium in den letzten Tagen der Hohen Woche bei Amalar († 850/ 53) ........................................................................................................ 37 1.1.2.1 Liber officialis .............................................................................................. 39 1.1.2.2 Liber de ordine antiphonarii ........................................................................ 47 1.1.2.3 Zusammenfassung: Gestalt und Deutung des Offiziums der vorösterlichen Tage ............................................................................... 53 1.1.3 Ausgewählte Antiphonalien ............................................................................ 56 1.1.3.1 Handschriften des Cursus Romanus ............................................................ 57 1.1.3.2 Handschriften des Cursus Monasticus ......................................................... 57 1.1.3.3 Die Gesänge an den vorösterlichen Tagen ................................................... 58 1.1.4 Synthese: Das frühmittelalterliche Offizium von Gründonnerstag bis zur Osternacht ........................................................................................... 66 1.2 Die Entwicklung der Feiergestalt im Hoch- und Spätmittelalter .................... 69 1.2.1 OR 50 im Pontificale Romano-Germanicum .................................................. 69 1.2.1.1 Die Quelle: OR 50 ....................................................................................... 69 <?page no="6"?> Inhalt vi 1.2.1.2 Zusammenfassung: Das Offizium von Gründonnerstag bis zur Osternacht im PRG .......................................................................... 77 1.2.2 Ausgewählte Libri Ordinarii als Zeugnisse lokaler Bräuche .......................... 78 1.2.2.1 Der Liber tramitis aevi Odilonis abbatis von Cluny .................................... 78 1.2.2.2 Der Rheinauer Liber Ordinarius (Hirsauer Reform) .................................... 81 1.2.2.3 Der Ordo officiorum am Lateran ................................................................. 83 1.2.2.4 Der älteste Ordinarius der Abtei St. Denis bei Paris .................................... 85 1.2.2.5 Der älteste Liber Ordinarius am Dom zu Trier ............................................ 87 1.2.2.6 Das Ceremoniale am Dom zu Basel ............................................................ 88 1.2.2.7 Zusammenfassung: Das Offizium vom Hohen Donnerstag bis zur Osternacht in den Lokaltraditionen ausgewählter Libri Ordinarii ............... 88 1.2.3 Die Bücher der römischen Kurie und ihre Verbreitung durch die Franziskaner ................................................. 89 1.2.3.1 Das Ordinale Innozenz III. (1198-1216) .................................................... 90 1.2.3.2 Das Franziskanische Brevier (Mitte 13. Jh.) ................................................ 96 1.2.4 Ein Seitenstrang der Tradition: Das ,Kreuzbrevier‘ des Quignonez (1535) ... 98 1.2.5 Das römische Reformbrevier von 1568 (Pius V.) ......................................... 101 1.2.6 Ausblick: Von Trient bis zum 2. Vatikanum ................................................ 103 1.2.6.1 Reformen des 17. Jhs. ................................................................................ 103 1.2.6.2 Die Brevierreform von 1911 (Pius X.) ...................................................... 103 1.2.6.3 Die Reform der Osternacht 1955 und der Hohen Woche 1956 (Pius XII.) .................................................................................................. 105 1.2.7 Synthese: Das Offizium vom Hohen Donnerstag bis zur Osternacht am Ende des zweiten Jahrtausends ............................................................... 106 1.3 Das Mysterium der Erlösung in den Texten und Gesängen des Offiziums .. 107 1.3.1 Die Antiphonen als hermeneutischer Schlüssel ............................................ 108 1.3.1.1 Hoher Donnerstag ...................................................................................... 109 1.3.1.2 Karfreitag ................................................................................................... 147 1.3.1.3 Karsamstag ................................................................................................. 170 1.3.2 Versikel, Lesungen, Responsorien ................................................................ 190 1.3.2.1 Hoher Donnerstag ...................................................................................... 195 1.3.2.2 Karfreitag ................................................................................................... 218 1.3.2.3 Karsamstag ................................................................................................. 245 1.3.3 Gebete ........................................................................................................... 265 1.3.3.1 Tropen zur Kyrielitanei (Ad tenebrae faciendum) ..................................... 266 1.3.3.2 Orationen ................................................................................................... 267 1.3.4 Synthese: Liturgische Schriftrelecture als Quelle österlicher Theologie ...... 268 1.4 Zur Theologie und Spiritualität der vorösterlichen Tage im Offizium ......... 270 1.4.1 Hoher Donnerstag: Brüchige Beziehungen zwischen Gott und Mensch ...... 270 1.4.1.1 Gericht ....................................................................................................... 271 1.4.1.2 Judas ........................................................................................................... 272 1.4.1.3 Eucharistie ................................................................................................. 274 1.4.2 Karfreitag: Ende oder Rettung des Menschen? ............................................ 275 1.4.2.1 Die Feinde .................................................................................................. 275 1.4.2.2 Gottes Gedenken im Zorn .......................................................................... 276 1.4.2.3 Passion ....................................................................................................... 277 <?page no="7"?> Inhalt vii 1.4.3 Karsamstag: Im Himmel, auf der Erde und unter der Erde .......................... 278 1.4.3.1 An allen Orten seiner Herrschaft ............................................................... 278 1.4.3.2 Klage und Schmerz, Staunen und Erwartung ............................................ 278 1.4.3.3 Christi descensus ad inferos ....................................................................... 279 1.4.4 Bevorzugte theologische Quelle(n) und ihre Hermeneutik .......................... 284 1.4.4.1 Theologie und theozentrische Christologie aus den Psalmen und Propheten ............................................................................................ 284 1.4.4.2 Christologische Relecture und ekklesiologische Aneignung in den Responsorien ................................................................................... 286 1.4.5 Beobachtungen zur liturgischen Vermittlung und Aneignung der Feierinhalte ............................................................................................. 286 1.4.5.1 Hören und Lernen ...................................................................................... 287 1.4.5.2 Identifikation .............................................................................................. 287 1.4.5. Theologie im Schritttempo ........................................................................ 288 1.5 Historisch-theologische Zwischenbilanz ....................................................... 288 2 Die aufgehobene Tradition: Gegenwärtige Feierordnungen ..................... 291 2.1 Die erneuerte Liturgia Horarum (1974/ 1978) ................................................ 293 2.1.1 Auswahl, Rezeption und Neukontextualisierung der römischen Tradition .. 296 2.1.1.1 Psalmodie und Antiphonen ........................................................................ 296 2.1.1.2 Versikel, Lesungen und Responsorien ....................................................... 309 2.1.1.3 Gebet .......................................................................................................... 323 2.1.2 Theologische Quellen und ihre Hermeneutik ............................................... 326 2.1.2.1 Das Paschamysterium im Neuen Testament .............................................. 326 2.1.2.2 Verheißung, Erfüllung und kirchliche Reflexion ....................................... 327 2.1.3 Theologische Akzente ................................................................................... 327 2.1.3.1 Christologie ................................................................................................ 327 2.1.3.2 Soteriologie ................................................................................................ 329 2.1.3.3 Ekklesiologie ............................................................................................. 331 2.1.4 Vermittlung und Aneignung der Feierinhalte ............................................... 332 2.1.4.1 Durch die Kirche ........................................................................................ 332 2.1.4.2 Im Dialog ................................................................................................... 332 2.1.4.3 Theologie aus dem Zusammenklang vieler Elemente ............................... 333 2.1.5 Synthese: Die römische Tagzeitenliturgie vom Hohen Donnerstag bis Karsamstag in der erneuerten Liturgia Horarum .................................... 335 2.2 Das Benediktinische Antiphonale .................................................................. 336 2.2.1 Psalmodie und Antiphonen: Ein Bruch mit der Tradition? .......................... 336 2.2.1.1 Hoher Donnerstag ...................................................................................... 338 2.2.1.2 Karfreitag ................................................................................................... 351 2.2.1.3 Karsamstag ................................................................................................. 359 2.2.1.4 Die Versikel ............................................................................................... 384 2.2.1.5 Zur Rezeption der lateinischen Tradition .................................................. 384 2.2.2 Lesungen und Responsorien ......................................................................... 390 2.2.2.1 Hoher Donnerstag ...................................................................................... 391 2.2.2.2 Karfreitag ................................................................................................... 394 2.2.2.3 Karsamstag ................................................................................................. 396 <?page no="8"?> Inhalt viii 2.2.3 Gebete ........................................................................................................... 399 2.2.4 Theologische Akzente der Neuordnung ....................................................... 400 2.2.4.1 Personalität und anthropologischer Erfahrungshorizont ............................ 400 2.2.4.2 Theozentrik ................................................................................................ 402 2.2.4.3 Zion: Symbol Christi und der Kirche ......................................................... 403 2.2.4.4 Lineare Theologie ...................................................................................... 404 2.2.5 Synthese: Die monastische Tagzeitenliturgie vom Hohen Donnerstag bis Karsamstag im Benediktinischen Antiphonale ....................................... 405 2.3 Zwischenbilanz zur Gegenwart ..................................................................... 406 3 Ergebnis ........................................................................................................... 407 Abkürzungsverzeichnis ........................................................................................ 409 Kurzzitation der verwendeten Quellen und Literatur ............................................. 409 Untersuchte Gesangs- und Textelemente ............................................................... 410 Sonstige Abkürzungen ............................................................................................ 410 Bibliographie ........................................................................................................ 411 Quellen: Liturgische und patristische Dokumente .................................................. 411 Lehramtliche Dokumente ....................................................................................... 414 Bibelausgaben und Kommentare ............................................................................ 414 Hilfsmittel .............................................................................................................. 415 Sekundärliteratur ..................................................................................................... 415 <?page no="9"?> Vorwort und Dank Die Wurzeln der vorliegenden Studie reichen ein gutes Jahrzehnt zurück: Schon die Untersuchungen zu meiner Diplomarbeit über die Antiphonen am Karsamstag (2001) haben in mir Freude und Interesse an einer umfassenderen Beschäftigung mit der vorösterlichen Tagzeitenliturgie geweckt, die mir durch das Chorgebet benediktinischer Prägung seit vielen Jahren als genuiner theologischer Feierort vertraut ist. Univ.-Prof. Dr. Hans Jörg Auf der Maur † hat die Anfänge der Arbeit mit großer Aufmerksamkeit wahrgenommen; sein Vorschlag zur Vertiefung im Rahmen einer Dissertation war mir Verpflichtung und Ermutigung. In die zehn Jahre nach Abschluss des Diplomstudiums fällt auch die Lehrtätigkeit als theologisch-wissenschaftliche Assistentin bei den Theologischen Kursen (Wien), die inzwischen mein Hauptberuf ist. Die Kurserfahrung mit den Teilnehmenden zeigt durchwegs die Notwendigkeit der elementaren theologischen Erschließung liturgischer Ausdrucksformen sowie den legitimen Wunsch nach einer stimmigen Feierpraxis. Die Tagzeitenliturgie ist hier fast immer ein erst noch zu hebender Schatz. Die Motivation, dessen Entdeckung und Bergung voranzutreiben, hat mir während der Arbeit über manche Durststrecke hinweggeholfen. Univ.-Prof. Dr. Hans-Jürgen Feulner (Wien) hat nicht nur meine Themenwahl äußerst wohlwollend aufgenommen, sondern mich in jeder Arbeitsphase mit seinem fachlichen Rat unterstützt und ermutigt. Prof. Dr. Harald Buchinger (Regensburg) gilt mein besonderer Dank für zahlreiche wertvolle Anregungen von einem Seminar über die Psalmen in der Tagzeitenliturgie über die Betreuung der Diplomarbeit bis zur Endredaktion der Dissertation. Der Leiter der Theologischen Kurse, Mag. Erhard Lesacher, hat die sechsmonatige Bildungskarenz, in der ich die über längere Phasen hinweg brach liegende Arbeit nun zu Ende bringen konnte, großzügig befürwortet, wofür ich ihm sehr danke. Er und meine Kolleginnen und Kollegen sind stets interessierte und freundschaftliche Gesprächspartner und pflegen mit mir einen befruchtenden fachlichen Austausch quer durch die theologischen Fächer. Darüber hinaus durfte ich meinem Kollegen Dr. Peter Zeillinger alle technischen und Layout-Fragen anvertrauen, wodurch die Endphase der Fertigstellung meiner Arbeit beträchtlich entlastet wurde. Seine stets geduldige und kompetente Hilfe habe ich gerne und dankbar angenommen. Mag. Dr. Michael Margoni-Kögler hat sich um die Durchsicht der lateinischen Übersetzungen angenommen und war mir bei der Lösung philologischer Fragen ein akribischer und fachkundiger Ratgeber. Sr. MMag. Barbara Kampf OSB (Steinfeld/ Eifel), Dipl. theol. Veronika Niederhofer (Regensburg) und Dr. Edith Buchinger (Wien) sei für den ebenso mühevollen wie wertvollen Dienst des Korrekturlesens herzlich gedankt. Sie haben ihn mit großer Sorgfalt geleistet und mir überdies auch aufschlussreiche inhaltliche Rückmeldungen gegeben. Nicht zuletzt danke ich meinen betagten Eltern und meinen inzwischen erwachsenen Kindern, die mich mit der größten Rücksichtnahme gleichermaßen zeitlich anspruchslos wie liebevoll unterstützt haben und die Freude über den Abschluss dieser Arbeit mit mir teilen. <?page no="10"?> 0 Einleitung 0.1 Fragestellung und Ziel der Arbeit „Mangels anderer liturgischer Quellen für diesen Tag kommt dem Stundengebet am Karsamstag eine besondere Bedeutung zu, wenn man den Charakter dieses Tages genauer bestimmen will.“ 1 Diesem anerkennenden Befund des Theologen Hans-Ulrich W IESE ist in zweifacher Hinsicht zuzustimmen: Er würdigt liturgisches Feiern als locus theologicus - und räumt doch ein, dass offenbar erst das spürbare Defizit „anderer Quellen“ auf das Stundengebet aufmerksam werden lässt. 2 Treffender ist die allgemeine Wahrnehmung dieser Gottesdienstform im Bewusstsein der Gläubigen und im kirchlichen Leben der Ortsgemeinden, aber auch in der wissenschaftlichen Forschung kaum zu beschreiben. Die Tagzeitenliturgie (früher: Offizium) als primäre Quelle genuiner christlicher Spiritualität und Frömmigkeit etwas mehr ins gebührende Licht zu rücken, ist das Grundanliegen dieser Arbeit. Aus der Tagzeitenliturgie - dem täglich, nicht fallweise, gefeierten Gottesdienst der Kirche - ist Tag für Tag geistlich zu schöpfen. Das bleibt im Blick, auch wenn sich die vorliegende Untersuchung drei außergewöhnliche Tage - Gründonnerstag, Karfreitag und Karsamstag - zum Thema wählt: Zum einen stellt die jährliche Feier von Ostern das Herzstück kirchlichen Feierns im liturgischen Jahr dar und das darin entfaltete Paschamysterium Christi Grund und Mitte des gesamten Gottesdienstes der Kirche, also auch des Stundengebetes. Zum anderen wird gerade im Offizium der drei letzten Tage der Hohen Woche jene schlichte und ursprüngliche Gestalt von Tagzeitenliturgie sichtbar, die nicht nur einen einzigartigen Zugang zu schriftbezogener Paschatheologie eröffnet, sondern in ihrer Klarheit besonders geeignet ist, das fundamentale und funktionale Verstehen dieser Feierform zu fördern. 3 Nicht zuletzt brachten es die als „Trauermetten“ bekannten Feiern der Nacht- und Morgenhore des Offiziums selbst in Zeiten, da ,das Volk‘ in der offiziellen Liturgie der Kirche weithin marginalisiert war, zu einer gewissen Popularität. Umso mehr könnte und sollte heute, nach Vorgabe der Liturgiekonstitution, „das Stundengebet als öffentliches Gebet der Kirche auch Quelle der Frömmigkeit und Nahrung für das persönliche Beten“ 4 aller Gläubigen sein. Als konkrete Aufgabenstellung der Arbeit ergibt sich daraus die historische Darstellung und theologisch-spirituelle Erschließung der vorösterlichen Tagzeitenliturgie in Geschichte (1) und Gegenwart (2). Ihr Ziel ist, den spezifischen Anteil des Offiziums am theologischen Proprium dieser Tage zu erheben und als relevanten Beitrag zu einer 1 W IESE , Karsamstagsexistenz 113. Das Interesse des Autors am „Dazwischen“ von Karfreitag und Ostersonntag führt ihn - notgedrungen - auch zur Befragung der liturgischen Quellen des Offiziums. Seine tiefe existentielle Auslotung der „Zwischen“-Dimensionen des Karsamstags bringt heutige theologische und künstlerische Ansätze in einen inspirierenden Dialog. 2 Vgl. ähnlich lapidar A UF DER M AUR , Feiern 113: „Das Offizium selbst bringt auf hervorragende Weise die Grabesruhe Christi, den Descensus ad inferos und die Auferstehungshoffnung zum Ausdruck, blieb aber im großen und ganzen eher eine klerikale Angelegenheit.“ 3 Obwohl die jüngste Liturgiereform die überkommene urtümliche Feiergestalt dem heutigen Horenschema entsprechend grundlegend neu strukturiert hat, trifft das Gesagte mutatis mutandis dennoch zu: Wer die Tagzeitenliturgie von Gründonnerstag bis Karsamstag nach der gegenwärtigen Ordnung feiert, lernt nicht eine gegenüber dem Alltag abweichende archaische Sonderform kennen, sondern deren heute üblichen Aufbau und Feierverlauf. 4 Sacrosanctum Concilium 90 ( 2 LThK 12 [1986] 80f). <?page no="11"?> 0.2 Ausgangspunkt der Arbeit 3 spirituell und existentiell vertieften Feier des Paschamysteriums Christi aufzuzeigen. Aus der Kenntnis der Tradition möchte die Studie zum verbesserten Verstehen und zur Evaluierung heutiger Feierformen beitragen. Damit verbindet sich der Wunsch, einen Anstoß für die Bemühungen um die Neubelebung der Tagzeitenliturgie - in der Hohen Woche und darüber hinaus - als Gottesdienst der Gemeinde zu geben. 0.2 Ausgangspunkt der Arbeit 0.2.1 Gegenstand Gegenstand der Untersuchung ist die Feier der römischen Tagzeitenliturgie von Gründonnerstag bis Karsamstag feria V in coena domini, feria VI in parasceven, et sabbato sancto von den ältesten Quellen bis in die Gegenwart. Anhand der liturgischen Quellen vom 8./ 9. Jh. bis zu heutigen Feierordnungen lassen sich die formativen Phasen ihrer Gestaltwerdung von der Kodifikation im Frühmittelalter über die Festschreibung in den nachtridentinischen Brevieren bis zur Neuordnung im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils in großen Linien nachziehen. Gefragt sind hier Beobachtungen zur historischen Entstehung und Entwicklung der Feiergestalt der Tagzeitenliturgie sowie zu ihrer Tradierung zwischen Kontinuität, Veränderung und Reform. Die Erwartung eines spezifischen theologischen Gehaltes des Offiziums an den drei vorösterlichen Tagen gründet in seinem schon früh ausgeprägten unverwechselbaren Feierprofil: ,Schlanker‘ als sonst sind die Horen durch Auswahl und Zusammenstellung bestimmter Texte und Gesänge, aber auch von außergewöhnlichen Handlungselementen konturiert. Es ist zu fragen, wie darin die Einheit und theologische Entfaltung des Paschamysteriums zum Ausdruck kommt, sowie nach der Weise der Vermittlung und Aneignung der Feierinhalte durch die Gläubigen. 0.2.2 Abgrenzungen Untersucht wird das Offizium der drei letzten Tage der Hohen Woche von Gründonnerstag bis Karsamstag vor der Paschavigil in der römischen und römisch-fränkischen Liturgie einschließlich ihrer monastischen Ausprägung. In deren Quellen bilden diese drei Tage von den ältesten verfügbaren Zeugnissen bis ins 20. Jh. insofern eine Einheit, als sich ihre Feiergestalt nicht nur prägnant von den übrigen Tagen der Hohen Woche unterscheidet, sondern auch im ganzen liturgischen Jahr singulär ist. 5 Ebenso deutlich verläuft eine Zäsur vor der Osternacht. Es ist also im Folgenden nicht vom heutigen, an das augustinische sacratissimum triduum crucifixi, sepulti, suscitati Christi 6 angelehnte „Triduum Paschale“ auszugehen, das die Liturgiereform des 2. Vatikanischen Konzils zur konzeptuellen Grundlage der Liturgietheologie genauso wie der heutigen Feierordnung gemacht hat, 7 nicht zuletzt, um den Verlust der theologischen Einheit des Paschamysteriums Christi zu korrigieren. 8 Schon das Dekret zu der bereits 1956 promulgierten Neuordnung der Hohen Woche bezieht sich darauf als 5 Offenkundig wird ihre Zuordnung auch in den im Anschluss an die Beschreibung des Gründonnerstags fast überall anzutreffenden Rubriken sicut in feria V, duobus sequentibus diebus, sicut supra diximus u. ä. für die Kartage. 6 Epistula 55, 14,24 (CSEL 34, 195 G OLDBACHER ). 7 Derzufolge sind „Die Drei Österlichen Tage vom Leiden, vom Tod und von der Auferstehung des Herrn Höhepunkt des ganzen Kirchenjahres“ und „beginnen mit der Abendmahlsmesse des Gründonnerstags; sie haben ihren Mittelpunkt in der Osternacht und schließen mit der Vesper am Ostersonntag.“ (Grundordnung des Kirchenjahres Nr. 19 [Messbuch 80*]). 8 Vgl. F ISCHER , Pascha-Triduum. <?page no="12"?> 0. Einleitung 4 peculiare triduum und behält zugleich die traditionelle liturgische Terminologie und Abgrenzung des triduum sacrum, id est: feria V in Cena Domini, feria VI in Passione et Morte Domini, et sabbato sancto 9 bei. 10 Eine zweite Abgrenzung betrifft die großen Liturgien dieser Tage. Die generell weit mehr als das Offizium erforschten Messfeiern am Gründonnerstag, die Büßeraussöhnung und Fußwaschung sowie die Feier vom Leiden und Sterben des Herrn und die Paschavigil sind nicht Gegenstand dieser Untersuchung. Sie kommen nur insofern in den Blick, als ihr Zeitansatz und ihre Dauer Konsequenzen für einzelne Offiziumshoren haben. Der Fragestellung und Zielsetzung der Arbeit entsprechend steht der von den ältesten greifbaren Quellen bis ins 20. Jh. breit und nahezu unverändert tradierte Hauptstrang der römischen Tradition im Mittelpunkt des historischen und theologischen Interesses. Nicht weiter verfolgt werden deshalb die reformatorischen Alternativen des 16. Jhs., während das Kreuzbrevier des Kardinals Quignonez zumindest als Seitenlinie der katholischen Entwicklung kurz zur Sprache kommt. Auch die nichtrömischen Liturgien bleiben außerhalb des Horizonts der Untersuchung. Eine letzte Einschränkung muss vorerst hinsichtlich der Klanggestalt der Offiziumsgesänge gemacht werden. So grundlegend, unabdingbar und förderlich für das Verständnis eine aus langjähriger liturgischer Feier- und Singpraxis erwachsende Vertrautheit mit Text und Melodie, Wort und Klang auch sein mag, bedarf ihre methodisch-wissenschaftliche Darstellung zweifellos einer facheinschlägigen Kompetenz und musikwissenschaftlichen Qualifikation, über die ich zu meinem Bedauern nicht verfüge. Darum ist eine ergänzende semiologische und modologische Auswertung der Antiphonen durch den Theologen und Kirchenmusiker Georg W AIS geplant, welche an anderer Stelle erscheinen soll. 11 0.2.3 Die Quellen Die historische Darstellung (1.1 und 1.2) basiert auf maßgeblichen Quellen aus Schlüsselphasen der römischen Liturgietradition. Dies sind zunächst die ältesten erhaltenen Textzeugnisse für die Tagzeitenliturgie: diejenigen Ordines Romani, die Leseordnungen oder zeremonielle Hinweise zum Stundengebet und/ oder zur Jahresfeier von Ostern enthalten die allegorische Liturgieerklärung Amalars (9. Jh.) ausgewählte Antiphonalien (9. Jh.-13. Jh.) Für die weitere Überlieferungsgeschichte bis in die Neuzeit hauptsächlich: das Pontificale Romano-Germanicum (OR 50, 10. Jh.) ausgewählte Libri Ordinarii (10.-16. Jh.) 9 Decretum generale S.R.C., Liturgicus hebdomadae sanctae Ordo instauratur (Maxima redemptionis nostrae mysteria): AAS 47 (1955) 838-841; hier 838; 840. 10 Dieser Spannung geht der jüngst erschienene Artikel von Harald B UCHINGER , Triduum, nach. Obwohl sich das exegetisch-literarische Konzept des Triduum liturgisch de facto bis zur letzten Reform nirgendwo niedergeschlagen hat, kann die - entsprechend umsichtige - Implementierung dieses Theologumenon in der Jahresfeier von Ostern zwar nicht als Wiederherstellung eines älteren Zustands, aber doch als „an outstanding example of organic liturgical development“ angesehen werden. 11 Georg Wais ist seit November 2011 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Regensburg im Rahmen des von der Fritz-Thyssen-Stiftung geförderten Projekts „Thesaurus Gregorianus“ zur Erschließung der Gregorianischen Offiziumsantiphonen. <?page no="13"?> 0.2 Ausgangspunkt der Arbeit 5 die franziskanischen Bücher der römischen Kurie (12./ 13. Jh.) das Breviarium Romanum 1568 Die Untersuchung heute geltender Feierordnungen (2.1 und 2.2) konzentriert sich auf die im Zuge der nachvatikanischen Liturgiereform erneuerte römische Liturgia Horarum samt ihrer deutschsprachigen Version und das Benediktinische Antiphonale als repräsentative Neuordnung des monastischen Chorgebets. Ordines Romani Ordines im liturgischen Sinn instruieren über den Aufbau und Ablauf einzelner kirchlicher Feiern, sowohl für den täglichen Gottesdienst der Kirche als auch für Feste und Feiern des liturgischen Jahres. 12 In der Art eines Zeremonienbüchleins, Direktoriums oder Augenzeugenberichts stellt der Ordo eine wichtige Ergänzung zum Sakramentar dar. Bis zum Aufkommen der bischöflichen Zeremonienbücher (Pontifikalien) sind nördlich der Alpen zahlreiche solcher Ordines im Umlauf. Sie sind die wichtigsten historischen Zeugnisse abendländisch-spätantiker bis frühmittelalterlicher liturgischer Praxis, wobei die darin beschriebene Liturgie teils älter ist als die Handschriften, die sie tradieren. 13 In der maßgeblichen, von Michel A NDRIEU edierten Sammlung von fünfzig ursprünglich unabhängig voneinander kursierenden, teilweise aber schon im Mittelalter gesammelt tradierten Ordines 14 firmieren unter dem Titel Ordo Romanus (OR) sehr unterschiedliche Anordnungen zu diversen gottesdienstlichen Feiern. Gemeinsam ist ihnen der Bezug zur stadtrömischen Liturgie, die sie zumindest teilweise verarbeiten. 15 Nur einige von ihnen beanspruchen explizit, die authentische römische Liturgie wiederzugeben und tun dies auch. In den karolingischen Schreibstätten werden verfügbare Ordines teils unter Verwendung römischer Vorlagen (sofern vorhanden) kopiert, teils von Romreisenden in Kenntnis oder eigener Anschauung der Liturgie aus dem Gedächtnis niedergeschrieben. Häufig passt man sie an die heimischen Erfordernisse und Gegebenheiten an und erstellt dafür eigene Sammlungen. In solch nachträglichen Kollektionen fränkischer Redaktion sind die Ordines Romani erhalten. Unterscheiden las- 12 Eine Einführung in die Gattung und Verwendung der Ordines Romani gibt V OGEL , Liturgy 135- 224; ausführlicher vgl. M ARTIMORT , Ordines 20-47. 13 Direktiven sind dort nötig, wo eine Gemeinde oder Kirche mit neuen liturgischen Bräuchen vertraut gemacht werden soll, wie ab dem 8. Jh die fränkische Kirche unter Karl dem Großen: Ihm lag daran, die unübersichtliche Fülle divergierender liturgischer Gepflogenheiten in seinem Reich nach römischem Vorbild zu vereinheitlichen. Die in seinen Scriptorien angefertigten Abschriften und Überarbeitungen der zur Verfügung stehenden Vorlagen führen häufig romanus oder in ecclesia Romana oder in ecclesia Sancti Petri im Titel, um die propagierte Musterliturgie mit entsprechender Autorität auszustatten. 14 A NDRIEU , Ordines. 15 Die Quellen sind teils deskriptiv, teils präskriptiv; neben liturgischen Formularen finden sich auch didaktisch-instruktive Passagen oder Gesetzestexte. Die Ordines unterscheiden sich im Umfang (von ein oder zwei Seiten bis zum Buch) und Inhalt (Papstmesse, Regelung der Mahlzeiten im Kloster, Kaiserkrönung etc.), ebenso nach dem Alter (die Zeitspanne ihrer Abschrift, Redaktion und Neuordnung reicht in etwa vom Anfang des 8. Jhs. bis zur ersten Jahrtausendwende; das in den Quellen verarbeitete Material ist jedoch teilweise wesentlich älter) und ihrer Herkunft (stadtrömisch oder nördlich der Alpen, z. B. germanisch, fränkisch, gallisch, wisigotisch). Sie können sowohl der Abwicklung einer bekannten Liturgie dienen als auch zum Zwecke der Einführung neuer Feierformen angefertigt worden sein. <?page no="14"?> 0. Einleitung 6 sen sich: Zeugen authentischer römischer Liturgie, gallikanisierte Bearbeitungen der römischen Liturgie (Mischtexte) und genuin fränkische Liturgie, die sich gemeinhin an der römischen Liturgie orientiert. 16 Ebenfalls im Karolingerreich entsteht ab 800 der liturgische Buchtyp des Pontifikale zur Regelung und Abhaltung bischöflicher Liturgien. 17 Dafür werden entweder entsprechende Ordines mit passenden Gebets- und Weihetexten ausgestattet oder die zeremoniellen Anweisungen aus den Ordines in die Sakramentare eingefügt. Fallweise bindet man einzelne Libelli nach Bedarf zu Sammlungen und kopiert sie. Es kursieren demnach unterschiedliche Ausgaben von Pontifikalien. Erst das in St. Alban bei Mainz um 950 redigierte umfangreiche Pontifikale Romano-Germanicum (PRG) - OR 50 bildet darin das 99. Kapitel - erreicht größere Verbreitung und, in verschiedenen Fassungen, eine bis ins Hochmittelalter reichende Wirkungsgeschichte in Rom als Grundlage für die späteren kurialen und diözesanen Pontifikalien. Liturgiekommentare Der Gottesdienst der Kirche vergegenwärtigt anamnetisch das heilsgeschichtliche Handeln Gottes in Christus. Einhergehend mit der rituell-symbolischen Entfaltung liturgischen Feierns ab dem 4./ 5. Jh. wächst das Interesse an der mimetisch-bildhaften Deutung ihrer Einzelvollzüge. In Wechselwirkung mit anderen Faktoren (religiöse Archaisierung, Ritualisierung, Klerikalisierung etc.) führt sie in der frühmittelalterlichen Kirche des Westens zur allmählichen Überformung der altkirchlichen Anamnese und macht zudem die Erläuterung und Neudeutung unverständlich gewordener Riten notwendig. 18 Eine Folge davon ist die allegorisch-mimetische Liturgieerklärung, die in Form des Kommentars einzelne Riten, Gebärden und Elemente möglichst detailreich mit ,historischen‘ Einzelheiten der Heilsgeschichte korreliert, um über deren bildliche Vorstellung die fromme Anteilnahme der Gläubigen zu fördern. 19 Libri Ordinarii Der Liber Ordinarius (auch: Ordinarius, Ordinale, Ordo officiorum, Breve servitii, Observantiae oder Consuetudines u. a.) bildet ab dem 11./ 12. Jh. einen neuen Typ eines liturgischen Regiebuchs, in dem alle gottesdienstlichen Feiern eines Klosters, einer Stifts- oder Kathedralkirche während des gesamten Jahreszyklus beschrieben und geregelt sind. 20 16 Die komplexe Überlieferungssituation der Ordines Romani hat ausführlich A NDRIEU , Ordines, dargestellt (vgl. Anm. 14); „Collection A“ umfasst jene Ordines, in denen die authentische römische Liturgie beschrieben wird; diese Sammlung wurde ca. 700-750 redigiert; erhalten ist sie mehr oder weniger vollständig in Handschriften in Montpellier, Kopenhagen, London, Rom, Paris und Leningrad (von ca. 800 bis ins 11. Jh.). „Collection B“ (redigiert 754-820) enthält eine Gruppe hybrider römisch-germanischer Mischtexte, in denen ursprüngliches römisches Material entsprechend den Möglichkeiten, Erfordernissen und Gebräuchen der Kirche nördlich der Alpen adaptiert wurde; bedeutende Textzeugen gibt es in Verona und Köln (beide Anfang 9. Jh.) und München (9./ 10. Jh.). Darüber hinaus existieren vereinzelte ältere (ab Ende 8. Jh.) und einige jüngere Handschriften (10-12. Jh.). Eine tabellarische Übersicht gibt M ARTIMORT , Ordines 112-123. 17 Vgl. K LÖCKENER , Pontifikale. 18 Vgl. M ESSNER , Hermeneutik. 19 Die von patristischen Mystagogien inspirierte allegorische Liturgieerklärung ist eine das ganze Mittelalter hindurch blühende literarische Gattung; vorliegende Arbeit beschränkt sich darauf, mit Amalar lediglich ihren ältesten und prominentesten Vertreter kurz vorzustellen. 20 Das unterscheidet sie von den Ordines Romani, die häufig nur auf bestimmte Anlässe oder spezielle Feiern eingehen, und ergänzt sie; vgl. M ARTIMORT , Ordines; B ÄRSCH , Liber. <?page no="15"?> 0.2 Ausgangspunkt der Arbeit 7 Ähnlich wie die Ordines enthalten die Libri Ordinarii nicht die vollständigen liturgischen Texte oder Gesänge der erläuterten Feiern, sondern stellen anhand des Kalendars die Incipits in ihrer liturgischen Abfolge, seltener nach anderen Kriterien geordnet, sowie rituelle Anweisungen für den Umgang mit Geräten oder Elementen - an den untersuchten Tagen etwa für den Umgang mit dem Licht - zusammen. Vor allem die Klöster reichern ihre in der Substanz römische Liturgie mit Sonderbräuchen an und bilden um diesen Kern eigene Klostergewohnheiten aus. Der Buchaufbau, dessen Zweiteilung in Temporale und Sanctorale sich bewährt, ist in den meisten Fällen ähnlich. Die Bedeutung der Libri Ordinarii liegt in ihrer Bezeugung lokaler Traditionen, in denen die konkret gelebte kirchlich-liturgische Frömmigkeit einer mittelalterlichen Ortskirche zum Ausdruck kommt. Breviere Ein Breviarium in seiner ältesten, dem Ordo nicht unähnlichen Form, bietet eine Übersicht oder listenartige Zusammenfassung der essentiellen Teile des Offiziums (Psalmen, Antiphonen, Cantica, Lesungen, Responsorien, Hymnen und Gebete), meist unter Angabe ihrer Initien. Ergänzend zum häufig anlassbezogenen Ordo regelt das Breviarium primär die Horen des täglichen Chorgebets. Es bündelt jene Informationen, die bislang in verschiedenen Büchern - Antiphonar, Psalterium, Lektionar, Responsoriale, Kollektar, Hymnar, Homiliar, Passionar etc. - zu finden waren, und bietet - nicht selten zum Singen eingerichtete (neumierte) - Modelle für unterschiedliche Offizien. Der im Hochmittelalter entwickelte Buchtyp „Brevier“ enthält bald sämtliche für den Vollzug notwendigen Texte und Gesänge inklusive Rubriken, verzichtet aber in der Regel auf die Notation der Melodien: Ein solches auf Reisen leicht mitzuführende Buch ist praktisch und entspricht den Bedürfnissen der im Dienst der Seelsorge vagierenden Minderbrüder. Es ist für den - seit Benedikt ausnahmsweise zugestandenen 21 - Einzelvollzug des Offiziums konzipiert, der nun zunehmend zum Regelfall wird. 22 Die Übernahme und Bearbeitung des im 13. Jh. erneuerten und gekürzten Offiziums der päpstlichen Kurie durch die Franziskaner beschleunigt dessen Verbreitung weit über Rom hinaus bei. Ab dem 14. Jh. wird das Kurialoffizium als offizielles Brevier der römischen Kirche allgemein und verbindlich eingeführt. 23 Das in seiner neuzeitlichen Gestalt nur mehr bedingt „liturgisch“ zu nennende - die Versammlung stellt für den Vollzug weder eine Notwendigkeit noch die Realität dar - Breviarium Romanum 1568 dient bis ins 20. Jh. der privaten Lektüre und Erbauung des Klerus. 24 21 RB 50 (148f S TEIDLE ). 22 Der auf einer Synode in Trier 1227 den Weltpriestern für Reisen vorgeschriebene Besitz eines entsprechend kurzen Buches Breviaria sua, in quibus possint horas suas legere, quando sunt in itinere, führt in letzter Konsequenz zu seinem selbstverständlichen täglichen Gebrauch; B ÄUMER , Geschichte 319 (dort auch Anm. 3); vgl. ausführlicher S ALMON , L’Office (1959) 11-68. 23 Als Standardwerke zur Geschichte des römischen Offiziums unüberholt sind B ÄUMER , Geschichte; P ASCHER , Stundengebet, sowie S ALMON , L’Office (1959) und D ERS ., L’Office (1967). 24 Obwohl die Liturgiereform des Zweiten Vatikanums sich dezidiert für die Förderung des gemeindlichen Vollzugs der Tagzeitenliturgie ausspricht (Sacrosanctum Concilium 99; 100 [ 2 LThK 12 (1986 [= 1966]) 84f; 86f]), geht sie bei ihrer - gleichwohl fundamentalen - Erneuerung letztlich immer noch von den Bedürfnissen und der Spiritualität des klerikalen Einzelbeters aus. <?page no="16"?> 0. Einleitung 8 Antiphonare Antiphonare (auch: Antiphonalien) sind Sammlungen der Gesänge für das Offizium sowohl für die ausgedehnte nächtliche Vigilfeier (pro nocturnis horis) als auch für den sehr viel kürzeren Tagescursus (pro diurnis horis). Im Unterschied zu den Brevieren, die alle Gesangs- und Gebetstexte sowie die Lesungen, üblicherweise aber keine Melodien enthalten, bieten die Antiphonare - mit Ausnahme einiger früher Exemplare - die Singweise der Antiphonen und Responsorien; nicht unbedingt darin enthalten sind die gängige Psalmodie sowie bekannte Hymnen. Anfangs dem liturgischen Jahresverlauf (per anni circulum) folgend, wird ab dem 12. Jh. die Einteilung in Temporale und Sanktorale üblich. 25 0.3 Methode und Gliederung der Arbeit Die Darstellung der historischen Gestaltwerdung der Tagzeitenliturgie von Gründonnerstag bis Karsamstag erfolgt anhand jener Bestimmungen in maßgeblichen liturgischen Quellen des Frühmittelalters bis zum Beginn der Neuzeit, in denen - in Abhebung von der üblichen Form des Offiziums - die strukturellen und inhaltlichen Besonderheiten der vorösterlichen Tage erkennbar werden. Sie betreffen insbesondere das nächtliche Gebet (Vigil, bestehend aus Nokturnen) und die Morgenhore (Matutin 26 / Laudes). Die lateinischen Originalzitate aus den Quellentexten 27 sind mit einer eigenen Übersetzung versehen. Die Bezeichnung der einzelnen Tage variiert in den Handschriften; die unterschiedlichen Begriffe werden im Deutschen möglichst konkordant folgendermaßen wiedergegeben: feria quinta, feria V = Donnerstag … in caena Domini = Gründonnerstag, Hoher Donnerstag (HoDo) feria sexta, feria VI = Freitag … in parasceven = Karfreitag (KarFr) feria septima = Samstag sabbato sancto = Karsamstag (KarSa) Da einerseits diese Tage auch jenseits des Offiziums in außergewöhnlicher Weise gefeiert werden (Hauptliturgien) und andererseits ihre Heraushebung als triduum nicht isoliert betrachtet werden soll, kommt, wo es dem Verständnis dient, die Einbettung dieser Gottesdienstform in den Tagesverlauf und, gegebenenfalls, das Verhältnis der drei Tage zu der Zeit davor (Hohe Woche, Passionszeit, Quadragesima) in den Blick. Inhaltlich stellen im Offizium die Psalmen den größten Anteil an biblischen Texten. Im Zusammenspiel mit der als Einübung in die Schrift täglich gepflegten Psalmenmeditation bildet die christologische Auslegung der Psalmen das hermeneutische Fundament für ihren spezifischen liturgischen Gebrauch, v. a. an Herrenfesten und in den geprägten Zeiten. Ihre methodische Erschließung „im Schnittpunkt von Bibelwissenschaft, Patristik und Liturgiewissenschaft“ folgt der von Harald B UCHINGER - in Weiterführung der Ansätze von Balthasar F ISCHER , 28 André R OSE 29 und Albert G ER - HARDS 30 - entwickelten Methode und geht in mehreren Schritten vor: 31 25 Vgl. H ESBERT , CAO I, XXIV. 26 Matutinae (auch: Matutini) bezeichnet fallweise auch die Vigil/ Nokturnen, was aber aus dem Kontext ersichtlich wird. 27 Ihre Orthographie entspricht nicht klassischem Latein und geht, abgesehen von möglichen eigenen Tippfehlern, auf die mittelalterlichen Quellen zurück. 28 F ISCHER , Psalmen. <?page no="17"?> 0.3 Methode und Gliederung der Arbeit 9 Ausgehend von einer kurzen Vergewisserung über das alttestamentliche Verständnis der Psalmen und ihren bibelwissenschaftlichen Hintergrund anhand der Kommentare von Frank-Lothar H OSSFELD und Erich Z ENGER 32 wird zunächst nach der neutestamentlichen Rezeption gefragt; Grundlinien der patristischen Psalmeninterpretation in Ost und West umreißt die - im historisch-philologischen Detail allerdings nicht unkritisch zu gebrauchende - Sammlung einschlägiger Zitate, Paraphrasen und Auslegungen in den Vätertexten von Claude J EAN -N ESMY . 33 Ihr sind die entsprechenden Hinweise auf das christologische Verständnis der Psalmen und einzelner Psalmverse entnommen. Nicht weniger als die theologisch-reflexive Deutung der christlich gefeierten Heilsgeheimnisse im Licht des Alten Testaments prägen die Resonanzen der liturgischen Gesänge und Texte im Kirchenjahr die Feiererfahrung der Beter. Deren Erschließung bedient sich vor allem folgender Hilfsmittel zum liturgischen Gebrauch biblischer Texte: der bei André R OSE dokumentierten Verwendung der Psalmen in der römischen Liturgie und in den nicht-römischen Traditionen 34 sowie der Zusammenstellung der liturgischen Gesangsfassungen biblischer Texte in kanonischer Ordnung von Carl M ARBACH . 35 Die hermeneutischen Kerntexte der Arbeit - die Schlüsselverse der Antiphonen sowie die Responsorien - werden hauptsächlich anhand der von René-Jean H ESBERT edierten ältesten Quellen verifiziert, ebenso ihre Referenzgesänge aus der Messpsalmodie, 36 einzelne jüngere Gesangsstücke mit Hilfe der Internetdatenbank C ANTUS . 37 Zum allergrößten Teil exklusiv den untersuchten Tagen vorbehalten sind die überwiegend psalmogenen Antiphonen und die Responsorien; deren Texte verarbeiten ebenfalls psalmodische Motive oder sind anderen biblischen Schriften entnommen, v. a. den Prophetenbüchern und Evangelien. Ob und wann die gewählten biblischen Lesungen auch an anderen Tagen des Jahres liturgische Verwendung finden, ist dem Bibelstellenregister sowie der Quellensynopse von Antoine C HAVASSE zu entnehmen. 38 Die Gliederung der Arbeit entspricht dem methodischen Vorgehen: Teil 1: Zunächst wird die geschichtliche Entwicklung der Feiergestalt des vorösterlichen Offiziums anhand maßgeblicher und liturgiehistorisch repräsentativer Quellen skizziert (1.1 und 1.2), bevor die einzelnen Feierelemente - Psalmen/ Antiphonen, Lesungen/ Responsorien und Gebete - dem Verlauf des Offiziums folgend eingehend darzustellen (1.3) und theologisch auszuwerten sind (1.4). 29 R OSE , Psaumes. 30 G ERHARDS , Psalmen. 31 B UCHINGER , Hermeneutik; auf derselben Basis liegt als hermeneutische Vorstudie zum Karsamstag F ISCHER , Offiziumsantiphonen (Diplomarbeit), vor. 32 H OSSFELD / Z ENGER , Psalmen I-III; für die Psalmen 1-50 liegt der Kommentar von Frank-Lothar H OSSFELD und Erich Z ENGER der Neuen Echter Bibel vor; für das 2. und 3. Drittel des Psalters ist der zweibändige Herderkommentar derselben Autoren auf dem jüngsten exegetischen Forschungsstand; eine Erstinformation gewinnt man aus Z ENGER , AT. 33 N ESMY , Tradition. 34 R OSE , Psaumes. 35 M ARBACH , Carmina. Er gibt den Zustand der römischen Liturgie vor der pianischen Reform von 1911 inklusive zahlreicher rezenter Feste wieder, die hier nicht zu berücksichtigen sind. 36 H ESBERT , CAO; D ERS ., AMS. 37 www.cantusdatabase.org. 38 C HAVASSE , Lectionnaires. <?page no="18"?> 0. Einleitung 10 Teil 2: Für die gegenwärtigen Feierordnungen ist das Vorgehen analog. Da die Liturgia Horarum 1974 [1978] weitgehend aus dem Kernrepertoire der überkommenen Feier (2.1.1, 2.1.2) schöpft, die Texte und Gesänge aber in einen neuen Kontext einbettet, werden die sich daraus ergebenden theologischen Inhalte und Akzente der heutigen Feier der Tagzeitenliturgie nach der lateinischen Editio typica und ihrer deutschen Textausgabe (Stundenbuch) im Vergleich mit der älteren Tradition besprochen (2.1.3). Die Ordnung für das monastische Chorgebet an den drei vorösterlichen Tagen im Benediktinischen Antiphonale 1996 [1971-1974] ist gegenüber der mittelalterlichen Offiziumstradition gänzlich neu. Die Darstellung folgt deshalb zunächst wieder dem Feierverlauf (2.2.1-2.2.3), bevor abschließend einige theologische Charakteristika der Feiern an den untersuchten Tagen systematisiert werden. Die Kapitel der zweiten und dritten Gliederungsebene schließen generell mit einer Zusammenfassung. Kurze, grau unterlegte Binnenzusammenfassungen halten nach längeren Abschnitten zudem die wichtigsten Zwischenergebnisse in Evidenz. Teil 3 stellt das Ergebnis dar und formuliert einen Ausblick für Forschung und Praxis. Ein abschließendes, grau unterlegtes Abstract sichert in knapper Form den Ertrag der Untersuchung. 0.4 Zum Forschungsstand Die Tagzeitenliturgie der drei Tage vor Ostern gehört nicht zu den bestbestellten Forschungsfeldern der Liturgiewissenschaft: In den Standardwerken zur Geschichte des römischen Offiziums 39 sowie in den aktuellen Handbüchern wird das Thema nicht oder nur mit kurzen Bemerkungen erwähnt. 40 Die dogmatische Tragweite der liturgischen Christologie, Theologie, Ekklesiologie, Soteriologie und Anthropologie wurde von der systematisch-theologischen Zunft erst ansatzweise zur Kenntnis genommen. 41 Die archaisch wirkende Feiergestalt der Gottesdienste zwischen Passionssonntag und Weißem Sonntag - das Offizium wird mit wenigen Beobachtungen lediglich gestreift - hat Anton B AUMSTARK mit seinem Gesetz der Erhaltung des Alten in liturgisch hochwertiger Zeit plausibel erklärt; 42 dessen Auswirkungen auf die Liturgie- 39 Vgl. B ÄUMER , Geschichte, und knapp, aber informativ, P ASCHER , Stundengebet, sowie für die Tagzeitenliturgie in Ost und West T AFT , Liturgy. 40 Im noch immer gründlichsten Handbuch GDK beschließt A UF DER M AUR , Feiern 83-113, die Darstellung der römischen Osterfeier vom 6.-16. Jh. mit einem kurzen Absatz zum Karsamstag, in dem er auf das Offizium verweist und zwei Literaturangaben zur Theologie des Karsamstags und zum Descensus gibt (ebd. 113). Die Beiträge zur Liturgy of the Hours in dem von C HUPUNGCO herausgegebenen Handbook 5, 3-132, behandeln Geschichte und Feierstruktur des Stundengebets ohne Verweis auf die Besonderheit der vorösterlichen Tage; in der Darstellung des liturgischen Jahres (ebd. 135-316) genügt für Karsamstag der pauschale Hinweis: „The significance of this day is expressed by texts for the Liturgy of the Hours.“ (ebd. A UGÉ , Year 188). Bei P INELL , Liturgia, in Anàmnesis 5, 213-215, findet zwar das Stundengebet als eine das Paschamysterium aktualisierende Gottesdienstform Erwähnung, nicht aber seine Eigenheiten im Kontext der Jahresfeier von Ostern; umgekehrt stellen weder die Beschreibung der Feiern der Hohen Woche (95-126) noch die kurze Reflexion von N OCENT , Triduo, in Anàmnesis 6, 114f einen Bezug zur Tagzeitenliturgie her. Auch M ARTIMORT , Prière, in EeP 4, 167-293 geht nicht auf die Bedeutung des Offiziums für die Theologie der Herrenfeste ein; J OUNEL , Année 58-69, konstatiert den historisch bedingten Mangel einer über das Offizium hinausgehenden „célébration spécifique“ (ebd. 63) an dem im Zeichen der Grabesruhe und des Descensus stehenden Karsamstag (ebd. 68). 41 W OHLMUTH , Weg. 42 B AUMSTARK , Gesetz. <?page no="19"?> 0.4 Zum Forschungsstand 11 reform des II. Vaticanum hat Martin K LÖCKENER , ebenfalls hauptsächlich für die Hauptgottesdienste und Messfeiern, untersucht. 43 Die ausführlichsten inhaltlichen Hinweise zum vorösterlichen Stundengebet bieten Joseph P ASCHER in seiner historisch und theologisch gutinformierten Gesamtdarstellung über Das liturgische Jahr am Vorabend der letzten Liturgiereform 44 und Louis B OUYER in seiner Monographie über Le Mystère pascal; 45 zur nachkonziliar erneuerten Liturgie existieren dagegen nur kürzere Beiträge, die vorzugsweise die postulierte oder bezweifelte theologisch-liturgische „Leere“ des Karsamstags behandeln. 46 Zwar sind die eindrucksvollen, wenn auch historisch sekundären und sachlich letztlich nicht befriedigend zu erklärenden Lichtriten der Tenebrae in der materialreichen Dissertation von Alistair M AC G REGOR aufgearbeitet 47 und neuerdings von Harald B U- CHINGER zusammengefasst; 48 von den Texten und Gesängen sind bislang aber nur sehr ausgewählte Aspekte detaillierter untersucht worden: Nach dem Artikel von Friedrich V ANDENBROUCKE 49 zur Textbasis des liturgischen Psalters hat André R OSE die Vigilpsalmen von Karfreitag und Karsamstag im traditionellen Offizium analysiert, indem er die wichtigsten neutestamentlichen und exemplarisch einige patristische und liturgische Bezüge darstellt. 50 Joan H ALMO hat den Antiphonen des Triduums eine musikwissenschaftliche Dissertation gewidmet, deren theologischer Ertrag methodenbedingt entsprechend begrenzt ist. 51 In seiner Bestandsaufnahme des Psalmengebrauchs in Stundengebet und Meßfeier formuliert Albert G ERHARDS mit der kanonischen Psalterrezeption und der Kontextualisierung bestimmter Psalmen und einzelner Verse zwei wesentliche, auf der „regelmäßigen Kommemoration des gesamten Psalmenbuches“ gründende Prinzipien der liturgischen Psalmenverwendung. 52 43 K LÖCKENER , Auswirkungen. 44 P ASCHER , Jahr 129-156, findet in den Offiziumsantiphonen und Responsorien zur Interpretation der vorösterlichen Tage geeignete Motive und bietet eine Übersetzung der wichtigsten Texte. 45 Kapitel 1 (25-67) Les offices des Ténèbres gehört zu den gehaltvollsten Erschließungen der überkommenen Liturgie; ebenfalls ertragreich ist Kapitel 14 (359-371) La descente du Christ aux Enfers. 46 Im Ansatz ähnlich wie H OLLAARDT , Spiritualiteit 74-83, jedoch im Vergleich der römischen mit der ostkirchlichen Tradition etwas ausführlicher, hält auch B AUMGARTNER , Karsamstag 1-25 der theologischen Reduktion des Karsamstags auf bloße Leere („Hohlraum“ vor der Auferstehung) die aus den Offiziumstexten sprechende Heilsdynamik entgegen, die beide für die Rückgewinnung und pastorale Erschließung der Tagzeitenliturgie oder entsprechender Andachtsformen plädieren lässt. Ebenfalls Bewährtes aus der Tradition empfehlen zu ihrer Gestaltung K REUELS , Trauermette 174-180 und L EONHARD , Leere 24. Der von L EWIS , Cross, als „a significant zero, a pregnant emptiness, a silent nothing which says everything“ (3) vermutete Karsamstag regt zur Betrachtung der vorösterlichen Erfahrung des Todes Christi an. Die unpublizierte Diplomarbeit von S TORCH , Karsamstag, war mir nicht zugänglich. 47 M C G REGOR , Fire, analysiert die Lichtriten (auch der Osternacht) in knapp 300 Quellen (vgl. 508- 519) vom Frühmittelalter bis zur Neuzeit. 48 B UCHINGER , Feuer. 49 V ANDENBROUCKE , Psautier 935-956, zeigt die vorrangige Bedeutung der LXX-Übersetzung nicht nur für die neutestamentliche, sondern v. a. für die liturgische Rezeption der Psalmen in der römischen Tradition anhand der Offiziumspsalmodie von Gründonnerstagabend bis zum Ostersonntag auf. 50 R OSE , Salmi 159-178. Damit liegt seiner Darstellung prinzipiell jenes Programm zugrunde, das hier mit größerer Vollständigkeit und in einem weiteren inhaltlichen und methodischen Rahmen durchgeführt wird. 51 H ALMO , Antiphons. 52 G ERHARDS , Psalmen 375. <?page no="20"?> 0. Einleitung 12 Den Schriftbezug der diesbezüglich vernachlässigten Gesänge aufzuweisen und theologisch zu systematisieren hat sich die explizit spirituell-pastoral motivierte Sammlung sämtlicher Responsorien der französischsprachigen Ausgabe der Liturgia Horarum von Paul D AYDOU zum Anliegen gemacht; 53 darüber hinaus existieren zu den Responsorien mehrere eher an der äußeren Geschichte als an der inhaltlichen Auswertung interessierte Studien. 54 Den Tropen in der Kyrielitanei der Tenebrae hat Pedro Romano R OCHA eine kurze Untersuchung gewidmet, in der sie als Hilfsmittel für einen empathischen Zugang zur Passion erläutert werden. 55 Theologisch aufschlussreich sind trotz der methodischen Grenzen ihrer mystagogischen Gattung weiterhin auch die Klassiker der spirituell-pastoralen Liturgieerklärung von Prosper G UÉRANGER , Pius P ARSCH und Aemiliana L ÖHR ; 56 einen hermeneutisch reflektierten Entwurf auf Basis der heutigen römischen Liturgie einschließlich der Tagzeitenliturgie hat neuerdings Josef W OHLMUTH vorgelegt. 57 Die jüngste amerikanische Erschließung der Hohen Woche von Paul T URNER befasst sich dagegen nicht mit der Tagzeitenliturgie; 58 die drei italienischen Bände zur Feier des Triduo Pasquale von Alceste C ATELLA und Giordano R EMONDI nur gelegentlich und sehr kurz mit dem Karfreitag. 59 Die Tagzeitenliturgie vor allem des Karsamstags mit seinen Bezügen zum Descensus Christi 60 wurde immer wieder zum Ausgangspunkt systematisch-theologischer Reflexionen und Spekulationen, über die auch Hans-Ulrich W IESE in seiner Auseinandersetzung mit dem Karsamstag in Liturgie und moderner Kunst informiert; 61 prominent ist das Thema vor allem bei Hans Urs von B ALTHASAR . 62 Die liturgischen Gesänge der römischen Tradition selbst als Quelle einer Theologie des Karsamstags zieht allerdings nur der Beitrag von Harald B UCHINGER heran. 63 Eine umfassende Untersuchung der Theologie der Tagzeitenliturgie an den drei vorösterlichen Tagen fehlt also bis heute; die vorliegende Studie versucht diese Lücke mit den genannten Einschränkungen zu schließen. 53 D AYDOU , Répons; ihr Gebrauch ist aufgrund der komplexen Ordnungskriterien nicht ganz einfach. Innerhalb der geprägten Zeit „Carême“ (148; 269-284) spielen die untersuchten Tage keine signifikante Rolle. 54 L E R OUX , Répons, hat die Signaturen aller in Solesmes und nach L EROQUAIS zugänglichen Quellen und Textzeugen für die Responsorien vom Triduum und in der Osterzeit alphabetisch zusammengestellt. H ESBERT , Répons, untersucht das Responsorium Tenebrae in der römischen, beneventanischen und Mailänder Liturgie; D ERS ., Graduel analysiert die ursprünglichen drei Textfassungen und musikalischen Gattungen des Gesanges Christus (dominus) factus est im Offizium und in der Messe. G Y , Répons, interessiert sich für die Überlieferungssituation der Responsorien; ähnlich die vergleichende Studie von P INELL , Dramatismo. B AUMSTARK , Übersetzungen, geht den griechischen Wurzeln ,gregorianischer‘ Gesänge anhand der Responsorien an den vorösterlichen Tagen nach. 55 R OCHA , Tropes, enthält auch eine Liste der in den mittelalterlichen Quellen belegten Verse (693). 56 Zur Charakterisierung dieser Werke vgl. B UCHINGER , Parsch 17-22. 57 W OHLMUTH , Weg 105-156. Die Tagzeitenliturgie kommt auch hier nur am Karsamstag in den Blick. 58 T URNER , Glory. 59 C ATELLA / R EMONDI , L’Unità II, 177-187 (hier: 178-182). 60 Zum Motiv des Descensus s. u. Kapitel 1.4.3.3 (mit Schlüsselbibliographie). 61 W IESE , Karsamstagsexistenz 118-143; abgesehen von Descensus-Predigten am Karsamstag macht W IESE freilich die liturgischen Texte selbst nur relativ knapp zum Thema (113-118). 62 Über Quellen und Interpretationen informieren zuletzt z. B. die Beiträge von H AUKE , Lehre, und M ENKE , Theologie, sowie die römische Dissertation von Alyssa L. P ITSTICK , Light. 63 B UCHINGER , Osterfeier. <?page no="21"?> 1 Die vorösterlichen Tage nehmen Gestalt an: Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 1.1 Die Kodifikation der römischen und monastischen Tradition im Frühmittelalter 1.1.1 Die Letzten Tage der Hohen Woche in den Ordines Romani 1.1.1.1 Einzelbestimmungen zur Feier des Offiziums Folgende Ordines Romani - allesamt fränkischer Herkunft und überwiegend aus dem 8./ 9. Jh. - bieten für die Themenstellung der Arbeit relevante Informationen: 64 Zum Offizium: OR 12 OR 13A OR 13B OR 13C OR 13D OR 14 OR 16 OR 17 ca. 775-850 65 ca. 700-750 ca. 770-780/ 800 um 1025 11. Jh. ca. 650-700 ca. 750-787 ca. 780-790 Antiphonar/ Temporale Leseordnung/ Nachtoff. Leseordnung/ Nachtoff. Leseordnung/ Nachtoff. Leseordnung/ Nachtoff. Leseordnung/ röm. Off./ Vat. monast. Zeremoniale Zeremoniale/ Breviarium römisch/ fränkisch römisch/ fränkisch interpoliert fränkisch fränkisch fränkisch römisch/ fränkisch fränkisch fränkisch Zur Vorbereitungszeit auf Ostern und zur Feier der Hohen Woche: OR 23 OR 24 OR 26 OR 27 OR 28 OR 29 OR 30A OR 30B OR 31 OR 32 OR 33 ca. 700-750 ca. 750-800 ca. 750-775 ca. 750-800 um 800 ca. 870-890 ca. 750-800 ca. 770-800 ca. 850-900 ca. 870-890 Ende 10.? Zerem./ Papstlit./ HoDo-KarSa Zerem./ Bischofslit./ Mi-KarSa Zerem./ HoDo-Pentekoste Zerem./ HoDo-Osteroktav Zerem./ 14 Tage v. O.-Oktav Direktor./ monast./ Mi-KarSa Ordo/ reg.kanon./ HoDo-Oktav Offizium/ HoDo-Oktav Offizium/ 14 Tage v. O.-Oktav Zerem./ HoDo-KarSa Offizium/ HoDo-KarSa päpstlich/ fränkisch fränkisch (suburbicar)/ fränkisch (römisch)/ fränkisch fränkisch fränkisch fränkisch (päpstlich)/ fränkisch fränkisch fränkisch fränkisch Die Angaben zum Offizium und/ oder zur Feier der vorösterlichen Zeit in den verschiedenen Quellen informieren den jeweiligen Zeremoniär päpstlich-bischöflicher, presbyteraler oder klösterlicher Liturgien v. a. über die zu beachtenden Abweichungen und Eigenheiten seines Vollzugs im Verlauf des liturgischen Jahres. Ihrer literarischen Abhängigkeit zufolge enthalten die vielfach kopierten Ordines über weite Strecken identische Passagen. Um Wiederholungen ohne Erkenntnisgewinn zu vermeiden, werden, wo sie begegnen, solche Parallelen zwar erwähnt, hauptsächlich aber die Entwicklung bestimmter Praktiken oder noch nicht thematisierte Inhalte dargestellt. 64 Der Überblick basiert auf V OGEL , Liturgy 175f. 65 Die von V OGEL abweichenden Datierungen folgen A NDRIEU , Ordines II und III. <?page no="22"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 14 OR 12 OR 12, eine Übersicht über die Offiziumsantiphonen fränkischer Herkunft, ist in guter Kenntnis der römischen Gepflogenheiten geschrieben und datiert aus den Jahren 775- 850. 66 Der Ordo bietet keine vollständige Liste, sondern ergänzt oder korrigiert die in einem von ihm so genannten capitulare enthaltenen Angaben zu den Gesängen des (eher kathedralen als monastischen? ) Offiziums um einige Sonderbestimmungen für die geprägten Zeiten. 67 Abgesehen von der ausgesuchten Verwendung von Ps 90(91) in der Quadragesima und von Ps 21(22) ab dem 5. Sonntag in mediana - beide jeweils zur Prim 68 -, ordnet OR 12 die Unterlassung bestimmter Wortelemente an: Die Doxologie Gloria Patri entfällt in der Woche vor dem Palmsonntag zunächst bei den Responsorien 69 , ab Palmsonntag bis Gründonnerstag auch beim Invitatorium und der Psalmodie. 70 An den letzten Tagen vor Ostern reduziert sich die Form noch weiter: OR 12 16. In cena domini, nec Deus in adiutorium, nec invitatorium, nec Gloria in psalmis nec in responsoriis dicunt. Et post matutinum non dicitur Cyrieleison, sed tantum oratio dicitur. 16. Am Gründonnerstag gibt es weder [den Eröffnungsruf] O Gott, komm mir zu Hilfe noch das Invitatorium und zu den Psalmen und Responsorien kein Ehre [sei dem Vater]; nach der Matutin kein Kyrieeleison, sondern nur die Oration. 17. In parasceven non dicitur Domine labia mea, nec invitatorium, nec Gloria in psalmis et, antequam sedeant, ab episcopo aut a presbitero aliquid nec ille petit bene[dictionem] qui legit et, cum fine debet facere, non dicit: Tu autem 71 domine, miserere nobis, et orationem non dicunt nec Cyrieleison. Similiter agitur ad nocturnos in sabbato sancto. In his duobus diebus nec prima, nec tercia, nec sexta, nec nona, nec vespera cant[atur]. 72 17. Am Karfreitag wird nicht Herr, öffne meine Lippen gesagt, kein Invitatorium und kein Gloria zu den Psalmen. Bevor sie sich hinsetzen, erbittet derjenige, der liest, keinen Segen vom Bischof oder Presbyter und sagt auch nicht, wie er es sonst tun muss, wenn die Lesung zu Ende ist: Tu autem domine, miserere nobis. Sie sprechen keine Oration und kein Kyrieeleison. Ebenso verfährt man bei den Nokturnen am Karsamstag. An diesen beiden Tagen werden weder die Prim noch die Terz, Sext, Non oder Vesper gesungen. 66 Hs St. Gallen 614; eine jüngere Abschrift von OR 12 (Hs St. Gallen 140, Anfang 10. Jh.) fand Aufnahme ins Mainzer Pontificale Romano-Germanicum (um 950), während spätere Ausgaben des PRG den Ordo nicht mehr rezipieren; nach A NDRIEU , Ordines II, 451. 67 „L’Ordo XII n’est pas, à proprement parler, un véritable ordo, c’èst-à-dire un directoire complet et se suffisant à lui-même. Il se borne à énumerer un certain nombre de cas, où il faut apporter des compléments ou des corrections au livre contenant les antiphones et les répons de l’office canonique. Ce livre est appelé ici Capitulare. On disait habituellement Liber antiphonarius, Antiphonarius, Antiphonale, ou bien Liber responsalis, Responsoriale. Notre Ordo suppose qu’on lui suit habituellement, sauf pour les quelques dérogations qu’il indique.“ (A NDRIEU , ebd. 453f). 68 OR 12,13 (SSL 23, 463 A NDRIEU ). 69 OR 12,14 (ebd.). 70 OR 12,15 (ebd.). 71 Die Anweisung des Vorstehers, die Lesung zu beenden, lautet Tu autem [desine oder cessa]. Darauf antwortet der Lektor Domine, miserere nobis und der Chor Deo gratias; nach B ÄUMER , Geschichte 268. 72 OR 12,16-17 (SSL 23, 463f A NDRIEU ). <?page no="23"?> 1.1 Kodifi im Frühmittelalter 15 Die Bestimmung, nach der Nacht- und Morgenhore die weiteren Tagzeiten nicht mehr zu „singen“, heißt entweder, dass diese Horen nicht in der üblichen Form (Chorgebet) oder aber, dass sie gar nicht stattfinden. 73 Beides wäre ein Hinweis darauf, dass die Kleinen Horen an diesen Tagen nicht ursprünglich, sondern sekundär sind. OR 13 A-D Der in mehreren Handschriftengruppen erhaltene OR 13 bietet die Leseordnung der biblischen Bücher für die Nokturnen im Verlauf des liturgischen Jahres. 74 Der im Kern römische Ordo 13A (1. Häfte 8. Jh.) ordnet für die Septuagesima, in der man jährlich die Bibel von vorne zu lesen beginnt, bis 15 Tage vor Ostern die Lesung des „Heptateuch“, das sind die fünf Bücher Mose, Josua und Richter (möglicherweise inklusive Rut 75 ) an; 76 in den folgenden zwei Wochen usque in pascha liest man aus Jeremia. 77 Gegenüber der häufiger belegten Nennung ganzer Bücher enthalten manche Codices 78 eine präzisierende Erweiterung der Leseordnung für die letzten Tage der Hohen Woche: Sie führen weitere Schriften (Klgl, Paulusbriefe) sowie die Incipits der 7. Lesung (de apostolo) am Hohen Donnerstag (1 Kor 11,23) und Karfreitag (Hebr 4,11) an und erwähnen auch die etwas reduzierten Laudes am Donnerstag; für Karsamstag müssen der Rückverweis sicut superius diximus 79 und die allgemeine Anordnung, sermones de proprie (sic) zu lesen, genügen: OR 13A 3. Feria V in caena domini legunt lectiones tres de lamentatione Hieremiae et tres de tractatu sancti Augustini in psalmo Exaudi, Deus, orationem meam cum deprecor; tres de apostolo ubi ait ad Corinthios: Ego accepi a domino quod et tradidi vobis; VIIII psalmos, VIIII lectiones, VIIII responsoria omnia complenda sunt. Sequitur matutinum. Matutino completo, non dicimus Kyrieleison, nec ne nos inducas in temptationem. … 3. Am Gründonnerstag lesen sie drei Lesungen aus den Klageliedern des Jeremia, und drei aus dem Traktat des hl. Augustinus zum Psalm Gott, erhöre mein Gebet, wenn ich zu dir rufe (Ps 63[64]); drei vom Apostel, wo er zu den Korinthern sagt: Ich habe vom Herrn empfangen, was ich euch überliefert habe; 9 Psalmen, 9 Lesungen und 9 Responsorien sind zu vollziehen. Darauf folgt die Matutin; ist sie zu Ende, sagen wir weder Kyrieleison noch und führe uns nicht in Versuchung. … 4. In parasceven similiter tres lectiones de lamentatione Hieremiae pro- 4. Am Karfreitag ebenso drei Lesungen aus den Klageliedern des Prophe- 73 Psalmos cantare (oder: psalmos dicere) kann sowohl den Psalmengesang als auch die Psalmenrezitation bezeichnen. 74 Die beiden ältesten Textversionen römischen Ursprungs, die sich nur durch eine gallikanische Interpolation (Ende 8. Jh.) der Nr. 3-5 unterscheiden, fasst A NDRIEU zu OR 13A zusammen; die nach dieser Nomenklatur OR 13B-D genannten Manuskripte sind jüngere fränkische Bearbeitungen; nach A NDRIEU , Ordines II, 469. 75 Vgl. Anm. 1 bei A NDRIEU , Ordines II, 481. 76 OR 13A,1 (SSL 23, 481 A NDRIEU ). 77 OR 13A,2 (SSL 23, 482 A NDRIEU ). Einige Handschriften (DHMQV, nach A NDRIEU , Ordines II, 480) beenden die Jer-Lesung bereits in cena domini, geben aber für die restlichen Tage bis Ostern keinen weiteren Hinweis (ebd. 482). 78 Wie Anm. 77. 79 Vgl. die Angabe in dem etwa zeitgleichen oder etwas jüngeren (? ) OR 30A,12 (SSL 24, 456 A ND- RIEU ), die auch den Umgang mit dem Licht beinhaltet. <?page no="24"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 16 phetae, tres de tractatu sancti Augustini de psalmo LXVIIII 80 , tres de apostolo, ubi ait ad Hebreos: Festinemus ergo ingredere ad illam requiem. Deinde sequitur matutinum. ten Jeremia, drei aus dem Psalmentraktat des hl. Augustinus zu Ps 69(70), drei vom Apostel, wo er zu den Hebräern sagt: Beeilen wir uns daher, in jene Ruhe einzutreten. Darauf folgt die Matutin. 5. In sabbato sancto in psalmis, in lectionibus, in responsoriis similiter omnia complenda sunt, sicut superius diximus, et si fuerint sermones de proprie, legantur. 81 5. Am Karsamstag ist bei den Psalmen, den Lesungen und den Responsorien alles so zu machen, wie wir es vorher gesagt haben; und wenn es passende Predigten gibt, sollen sie gelesen werden. Der wenig jüngere fränkische Ordo 13B bietet den Anfang der jeweils 1. und das Ende der jeweils 3. Lesung ex lamentationibus für alle drei Tage: Klgl 1,1-2,8 am HoDo, [von dort] bis Klgl 3,22 am KarFr, und ab Klgl 3,22 „bis zum Ende des Propheten“ am KarSa. Ob das Kapitelende in Klgl 3,66 gemeint ist oder das Ende des Buches in Klgl 5,22, bleibt unklar. OR 13B 3. In caena domini … ab eo loco ubi dicitur: Quomodo sedet sola civitas plena populo, usque: cogitavit dominus dissipare murum filiae Sion. Et post haec leguntur homeliae sanctorum patrum ad ipsum diem pertinentes. 3. Am Gründonnerstag … von dort, wo gesagt wird Wie einsam sitzt da die bevölkerte Stadt bis Zu schleifen plante der Herr die Mauer der Tochter Zion. Und danach werden zu diesem Tag gehörende Homilien der heiligen Väter gelesen. 4. In parasceven similiter … usque: Misericordiae domini multae. Deinde leguntur homeliae sanctorum patrum ad ipsum diem pertinentes. Am Karfreitag ebenso … bis zu Des Herrn großes Erbarmen. Danach werden Homilien der heiligen Väter gelesen, die zu diesem Tag gehören. 5. In sabbato sancto similiter leguntur lectiones tres ex lamentationibus Hieremiae prophetae, ab eo loco ubi dicit: Misericordiae domini multae, usque ad finem prophetae. Deinde leguntur homeliae sanctorum patrum ad ipsum diem pertinentes. 82 5. Am Karsamstag werden ebenfalls drei Lesungen aus den Klageliedern des Propheten Jeremia gelesen, ab dort, wo er sagt: Des Herrn großes Erbarmen bis zum Ende des Propheten. Danach liest man Homilien der heiligen Väter, die zu diesem Tag gehören. OR 13C 83 (fränkisch, 11. Jh.) begnügt sich für die alttestamentlichen Lesungen (1. Nokturn) mit dem Hinweis auf den Beginn mit Klgl 1,1 am Hohen Donnerstag. 84 Als 80 Die Angaben differieren in den Hss zwischen Pss 59(60), 64(65) und 69(70); siehe die kritische Anm. zu OR 13,4 bei A NDRIEU , Ordines II, 483. 81 OR 13A,3-5 (SSL 23, 482f A NDRIEU ). 82 OR 13B,3-5 (ebd. 499f). 83 OR 13C ist nur in einer einzigen Handschrift fränkischen Ursprungs erhalten (Wien 701; eine in Mainz verfasste Ausgabe des Pontificale Romano-Germanicum), die den Text der Rechtssammlung des Decretum Burkhards von Worms (ca. 1010) zur Vorlage hatte. Ordo 13C kompiliert den als ursprünglicher erkannten und deshalb bevorzugten OR 13A (samt Interpolation) und OR 13B, die er zu größerer Genauigkeit zu harmonisieren und zu verbessern sucht; nach A NDRIEU , Ordines II, 509f. <?page no="25"?> 1.1 Kodifi im Frühmittelalter 17 Väterlesung (2. Nokturn) ordnet er von Donnerstag bis Samstag den Augustinustraktat zu Ps 63(64) an. 85 Für die je drei Lesungen aus der Briefliteratur (3. Nokturn) bietet er die Incipits aller drei Tage, was der Perikopierung der jeweils ersten zwei Lesungen gleichkommt; das Ende der jeweils letzten Lesung steht noch nicht fest. Am Gründonnerstag liest man ab: 1 Kor 11,20; 1 Kor 11,25; 1 Kor 12,1; am Karfreitag ab: Hebr 4,11; Hebr 5,1; Hebr 5,11; am Karsamstag ab: Hebr 9,11; Hebr 9,16; Hebr 10,1. OR 13C 3. In caena: Tres lectiones de apostolo, ubi ait ad Corinthios: Convenientibus vobis in unum. Secunda lectio sic incipit: Similiter postquam caenavit. Tertia: De spiritalibus autem nolumus vos ignorare, fratres. 3. Am Gründonnerstag: Drei Lesungen aus dem Apostel, wo er zu den Korinthern sagt: Wenn ihr zusammenkommt. Die zweite Lesung beginnt so: Ebenso nach dem Mahl. Die Dritte: Auch über die Gaben des Geistes möchte ich euch nicht unwissend lassen, Brüder. 4. In parasceve: Festinemus ingredi … Omnis namque pontifex … De quo grandis nobis sermo est. 4. Am Karfreitag: Beeilen wir uns einzutreten … Denn jeder Hohepriester … Darüber wäre noch viel zu sagen. 5. In sabbato sancto: Christus assistens pontifex … Ubi enim testamentum … Umbram enim habens lex bonorum futurorum. 86 5. Am Karsamstag: Christus tritt als Hohepriester heran … Wo nämlich ein Testament [vorliegt] … Denn das Gesetz enthält einen Schatten der künftigen Güter. OR 13D (12. Jh.) 87 enthält zwei teils einander überschneidende, teils einander ergänzende Leseordnungen für das Kirchenjahr (Nr. 1-21; 22-34); in manchem detaillierter als seine Vorlagen (OR 13A-C), vermerkt er für die Hohe Woche nur die Klagelieder In quinto decimo die ante pasca ponitur Hieremias cum lamentationibus suis usque in pasca (2) und den Zusammenhang mit der Passion Hieremiam prophetam cum responsoriis Isti sunt dies, ceterisque sequentibus de passione domini (23). OR 14, 16, 17 (Monastische Bearbeitungen) Die Heptateuch-Lesung in der Quinquagesima bis Palmsonntag kennen auch OR 14 (römische Instructio für das Offizium in ecclesia sancti Petri 88 ) und dessen Überarbeitung OR 16 (zweiteiliges fränkisches monastisches Zeremoniale 89 ). 90 Für die Hohe 84 OR 13C,3 (SSL 23, 513 A NDRIEU ). 85 OR 13C,3-5 (ebd.) 86 Ebd. 87 Einziger Textzeuge ist das Manuskript St. Gallen 614; nach A NDRIEU , Ordines II, 517f. 88 Gemeint ist das Kloster bei St. Peter im Vatikan; der fränkische Redaktor von OR 14 will die Gebräuche der apostolischen Stadt in seiner Heimat verbreiten und deren Gegebenheiten anpassen. Überwiegend aus dem 8. Jh. stammen die Handschriften aus fränkischer Werkstatt, in denen OR 14 vorliegt (zwei Rezensionen, deren eine die ursprüngliche römische Praxis, die andere deren Überarbeitung bietet); ältester Textzeuge ist Rom, Vat. Palat. lat. 277 (erste Hälfte 8. Jh.); nach A NDRIEU , Ordines III, 25. 89 Es enthält Angaben zum Stundengebet (Nr. 1-17; vgl. OR 14) und zum liturgischen Jahr (Nr.18- 54; vgl. OR 15); OR 16 dürfte zwischen 750 und 787 von jenem fränkischen Benediktiner überarbeitet worden sein, der zugleich der mutmaßliche Redaktor von OR 15, OR 18 und OR 19 ist. Einziger Textzeuge ist die Handschrift St. Gallen 349. Der im Verhältnis zum bescheidenen Umfang <?page no="26"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 18 Woche sehen beide Ordines neben den nicht genauer bestimmten Klageliedern „passende“ Lesungen aus Jesaja, vemutlich die Gottesknechttexte, vor: OR 14 3. Et septem dies ante pascha liber Isaiae prophetae unde ad passionem Christi convenit et lamentationis Hieremiae. 91 3. Und sieben Tage vor dem Pascha der Prophet Jesaja, was daraus mit der Passion Christi übereinstimmt, und die Klagelieder des Jeremia. OR 16 6. Et septem dies ante pascha liber Isaie profete unde ad passionem Christi pertenit et lamentacionis Hieremie. 92 6. w. o. OR 16 erwähnt außerdem die Gesänge und hält die Übereinstimmung der Responsorien und Antiphonen mit den spezifisch gewählten Büchern und mit der christlichen Jahresfeier fest: OR 16 28. … ad vigiliis de aptatico: unde leguntur et responsuria inde canentur; quod si exinde minus responsuria habuerit, tam in die quam in nocte quadragissamalis responsuria canuntur. 93 28. … zu den Vigilien aus dem Heptateuch: aus dem, was gelesen wird, werden auch die Responsorien gesungen; wenn es daraus zu wenige Responsorien gibt, werden am Tag so wie in der Nacht Reponsorien der Quadragesima gesungen. 30. Et a XV mo die ante pascha tam responsuria quam et antephone cum versibus suis de passione domini incipiunt celebrare. 94 30. Vom 15. Tag vor dem Pascha an beginnt man mit Responsorien so wie mit Antiphonen samt ihren Versen von der Passion des Herrn zu feiern. Am Karfreitagabend versammelt man sich im Anschluss an den Hauptgottesdienst zur Vesper in der Kirche, deren Verlauf aber ebensowenig erörert wird wie das übrige Offizium. Danach brennt während der Nacht in der Kirche kein Licht und man hält das Paschafasten bis zur Paschavigil kurz nach der neunten Stunde am Karsamstag. 95 OR 16 36. [In parasceven] Et ipsa nocte in ecclesia lumen non accenditur usque in sabato. 36. [Am KrFr] Und in dieser Nacht wird in der Kirche kein Licht entzündet bis zum Samstag. 37. His autem expletis, ingrediuntur ad vesperum. … 96 37. Sobald sie [die Karfreitagsfeier] beendet ist, ziehen sie zur Vesper ein. … des Ordo überlange Titel sollte wohl die Authentizität, Autorität und Verbindlichkeit unterstreichen. Tatsächlich bleibt OR 16 recht nahe an seinem römischen Vorbild. 90 OR 14,2 (SSL 24, 39 A NDRIEU ) und OR 16,5 (ebd. 147); beide gehören zur Sammlung St. Gallen 349 (750-787); nach A NDRIEU , Ordines III, 38; 146. 91 OR 14,3 (SSL 24, 40 A NDRIEU ). 92 OR 16,6 (ebd. 147). 93 OR 16,28 (ebd. 150f). 94 OR 16,30 (ebd. 151). 95 OR 16,36-38 (ebd. 152). Hier setzt bereits die Schilderung der Osternacht ein. 96 Ebd. <?page no="27"?> 1.1 Kodifi im Frühmittelalter 19 Der hybride OR 17 97 ergänzt die Vigillesungen in den 15 Tagen vor Ostern aus Jesaja und Jeremia um weitere passionsbezogene Prophetentexte Ose et Zachariae, unde ad passionem Christi convenit 98 , und in den Laudes am Sonntag sind spezielle Antiphonen tam de prophetis quam de evangelia vorgesehen. 99 Die Bestimmung zum Licht - es wird „verborgen“ - führt er weiter aus lumen … non accenditur, sed absconditur, ut non ab omnibus videatur usque in sabbatum. 100 Die Folge dieser Bestimmungen wäre ein nächtlicher Gottesdienst am Karsamstag in völliger Dunkelheit. Ab Karfreitag unterbleibt außerdem das Zeichen zur gottesdienstlichen Versammlung, es gibt aber eine gemeinsame Vesper an diesem Tag: OR 17 93. Et in ipsa nocte in vigilia parasceven, hoc est sexta feria, non canuntur Gloria nec Kirieleison nec signum non pulsaverit usque in sabbato sancto ad vigilia. 93. In derselben Nacht in der Vigil des Karfreitags, das ist der sechste Wochentag, singt man weder das Ehre noch Kyrieeleison, und man schlägt kein (Glocken-) Zeichen bis zur Vigil am Karsamstag [sc. zur Paschavigil]. 99. His autem expletis ingrediuntur ad vesperas … 101 99. Wenn alles [der Hauptgottesdienst am Karfreitagnachmittag] abgeschlossen ist, ziehen sie zur Vesper [in die Kirche] ein … OR 23, 24, 26, 27, 29 OR 23, ein präzises Gedächtnisprotokoll der päpstlichen Liturgie am Triduum aus eigener Anschauung des fränkischen Verfassers (1. Hälfte 8. Jh.), bietet die bereits bekannten Reduktionen für die Laudes 102 ; statt der Kyrierufe ordnet er - offenbar als den die Hore abschließenden Versikel - Christus factus est pro nobis an. 103 Das Zitat aus Phil 2,8 stellt somit ein weiteres konstantes Merkmal der drei letzten Tage vor Ostern dar. 104 Auch in OR 24 (Zeremoniale für die fränkische Bischofsliturgie, 2. Hälfte 8. Jh.) sind römische Spuren (eher der suburbicaren als der päpstlichen Liturgie) erkennbar. Er behandelt die Hauptgottesdienste von Gründonnerstag bis zur Osternacht; zum Offizium bemerkt er nur et feria V non cantatur responsum ad vesperum. 105 97 Er mischt die Vorlagen OR 15 und OR 16. 98 OR 17,73 (SSL 24, 185 A NDRIEU ). 99 OR 17,90 (ebd. 187). 100 OR 17,98 (ebd. 189). 101 OR 17,93.99 (ebd. 188f). 102 Vgl. OR 12,16 (SSL 23, 463 A NDRIEU ). 103 Neque Kirieleison per circuitum, sed tantum: Christus factus est pro nobis; OR 23,1 (SSL 24, 269 A NDRIEU ). 104 Die Tradierung dieses Elementes im Rahmen der Laudes (später auch in anderen Horen) ist konstant, wenn auch nicht lückenlos: in den 21 von A NDRIEU untersuchten Hss des PRG tradiert es nur Codex Wolfenbüttel 4099 (S) aus dem 11. Jh. (OR 50 25, 7, Anm. 6 [SSL 29, 188f A NDRIEU ]); auch Amalar scheint es nicht zu kennen (vgl. Index II bei H ANSSENS , Opera III [StT 140], 359- 370), doch nehmen Text- und Klanggestalt unterschiedliche Formen an, von denen sich schließlich eine nicht aus dem Offizium, sondern aus der Messfeier stammende Version durchsetzt; mehr zu dieser Entwicklung siehe unten Kapitel 1.3.1.1. 105 OR 24,40 (SSL 24, 295 A NDRIEU ) belegt also eine Vesper am HoDo; in der Handschrift St. Gallen 614 fehlt diese Bemerkung (ebd.). <?page no="28"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 20 Ergänzend zu OR 24 regelt der nur wenig jüngere OR 26 106 (ca.750-775 für eine Kirche in der Umgebung Roms verfasst) das nächtliche Offizium der Hohen Woche und der Woche vor dem Palmsonntag nach römischem Vorbild, ohne ihm jedoch strikt zu folgen. 107 Außer dem gestuften Wegfall der Doxologie bis nec in ullo loco 108 ab Gründonnerstag finden sich darin ausgedehnte Bestimmungen für den besonderen Umgang mit Feuer und Licht an den drei vorösterlichen Tagen. 109 Am Nachmittag des Hohen Donnerstags schlägt man Neues Feuer: 110 OR 26 111 3. Ea vero die, hora nona, faciunt excuti ignem de lapide in loco foras basilica; sit ibidem oratorium habuerint, super portam ibi excutiunt; sin vero, in loco quo consideravit prior, ita ut ex eo possit candela accendi. 3. An diesem Tag aber, zur neunten Stunde, schlagen sie an einem Ort außerhalb der Kirche Feuer aus einem [Feuer-]Stein; sei es ebenda an der Schwelle des Oratoriums oder an einem anderen Ort, den der Prior erwogen hat, so, dass daran eine Kerze entzündet werden kann. 4. Quae candela in arundine debet poni et a mansionario ecclesiae portari, presente congregatione vel populo. 112 4. Diese Kerze muss auf ein Rohr gesteckt und vom Mansionarius der Kirche in Gegenwart der Versammlung oder des Volkes getragen werden. 106 Die Manuskripte Albi 42 (A) und Wolfenbüttel 4175 (W) unterscheiden sich von den Handschriften Brüssel 10127-10144 (B) und St. Gallen 614 (G) durch einige Auslassungen sowie durch ihre ergänzenden Bemerkungen zur Messe am Gründonnerstag (10) und die Adaptierung für klösterliche Verhältnisse (14). Beide Manuskript-Paare sind eigenständige Bearbeitungen des Originals und wurden voneinander unabhängig überliefert. Der Ordo ist in denselben Handschriften wie OR 24 erhalten, den er inhaltlich ergänzt; nach A NDRIEU , Ordines III, 309f. 107 In diesem Sinne können nicht nur Kirchen aus der geographischen Nachbarschaft Roms als „suburbicar“ bezeichnet werden, sondern auch Kirchen anderer, z. B. fränkischer, Diözesen mit mehr oder weniger enger Anbindung an Rom. 108 OR 26,2 (SSL 24, 325 A NDRIEU ). 109 Umfassend dargestellt bei M AC G REGOR , Fire. 110 Dieser Brauch entspricht nicht römischer Tradition. Bonifatius (Mitte 8. Jh.) erhält auf Anfrage die päpstliche Auskunft, in Rom werde am Gründonnerstag das Öl aus allen Lampen der Lateranbasilika in drei großen Gefäßen gesammelt und an einem anderen Ort verwahrt, um davon in der Paschavigil das Licht für die Taufzeremonien zu holen: … dum sacrum chrisma consecratur, tres lampades magnae capacitatis, ex diversis candelis aecclesiae oleo collecto, in secretiori aecclesiae loco ad figuram interioris tabernaculi insistente, indeficienter cum multa diligentia inspecte ardebunt, ita ut oleum ipsum sufficere possit usque ad tertium diem. De quibus candelis sabbato sancto pro sacri fontis baptismate sumptus ignis per sacerdotem renovabitur. (Zacharias, ep. 87 [13] ad Bonifatium [MGH.Ep 3, 370 D ÜMMLER ]). 111 Vgl. OR 27,6-8.11 (SSL 24, 348f; 350 A NDRIEU ), der, fränkischer Herkunft (2. Hälfte 8. Jh.), zwei ursprünglich unabhängig verbreitete Ordines verarbeitet: ein Zeremoniale für die Papstgottesdienste an den vier letzten Tagen vor Ostern (1-68), auf Basis von OR 24 und OR 26, und einen im Frankenreich kursierenden römischen Ordo für die Vespern in der Osteroktav (69-94); nach V O- GEL , Liturgy 148. 112 OR 26,14 bestimmt die wechselnden Träger der Kerze sowohl für die gemeindliche (Hss B, G) als auch die klösterliche Liturgie (Hss A, W): Der Mansionarius trägt sie am Hohen Donnerstag, der Erzdiakon am Karfreitag und am Karsamstag der epsicopus iunior, „qui ne peut être que le plus jeune des sept évêques hebdomadiers du Latran“ (A NDRIEU , Ordines III, 312), ein Amt, das es außerhalb Roms und jenseits der päpstlichen Liturgie nicht gibt; in monasterio übernehmen diese Aufgabe custos, praepositus und abbas. <?page no="29"?> 1.1 Kodifi im Frühmittelalter 21 5. Et de ipso igne continuo, in eadem ecclesia vel loco ubi accenditur, lampada una servetur usque in sabbato sancto ad inluminandum cereum, qui eodem die benedicendus est, ordine quod in Sacramentorum continetur. […] 5. Und von diesem andauernden Feuer soll in derselben Kirche oder an dem Ort, wo es angezündet wird, eine Lampe aufbewahrt werden bis zum Karsamstag, um jene Kerze anzuzünden, die an diesem Tag zu benedizieren ist, nach der Ordnung, die im Sakramentar enthalten ist. […] 9. Nam, quod intermisimus, accepit mansionarius prior iam ficta candela in manu sua inluminata in canna, prosequente eum populo cum supplici silentio, ita ut summitas candelae quae inluminatur altare versa inclinata respiciat illa ecclesia quam sunt ingressuri, quae tamen prius absque lumine erit, preparatis ante altare septem lampadibus ita composite, ut, absque ulla inpedimenti cuiuscumque retardatione, manu mansionarii cum eadem candela possint accendi. 113 9. Denn, wo wir unterbrochen haben, nimmt der Mansionarius/ Prior (? ) die schon bereitete, in seiner Hand auf einem Rohr entzündete Kerze, vom Volk in andächtigem Schweigen gefolgt, so, dass die Spitze der Kerze, die angezündet wird, zum Altar hingeneigt schaut in der Kirche, in die sie eintreten und die zuvor noch ohne Licht sein wird, und sieben vorbereitete Lampen vor dem Altar so aufgestellt sind, dass sie ohne jede Behinderung und Verzögerung durch die Hand des Mansionarius mit eben dieser Kerze angezündet werden können. Obwohl der Ritus am Karfreitag und Karsamstag in gleicher Weise wiederholt wird 114 , bewahrt man das Feuer vom Gründonnerstag auf, um davon das Licht für die Osternacht zu nehmen. 115 An jedem der drei Tage aber wird am jeweils neu geschlagenen Feuer eine Kerze entzündet und in Prozession in die Kirche getragen, um daran sofort sieben vor dem Altar brennende Lampen 116 und Kerzen zur vollen Beleuchtung der Kirche - omne lumen decoret ecclesiam - anzuzünden, die bis zu den Vigilien am nächsten Morgen (gegen zwei Uhr früh) brennen. 117 Während der Nokturnen auf Karfreitag werden die Kerzen/ Lichter (in unbestimmter Anzahl) und die sieben Lampen wiederum einer genauen Ordnung folgend nacheinander ausgelöscht: OR 26 118 13. Luminaria autem ecclesiae ab initio cantus nocturnae inchoantur extingui, hoc tamen ordine, ut ab int- 13. Die Lichter der Kirche aber werden vom Beginn des nächtlichen Gesanges angefangen in folgender Ord- 113 OR 26,3-5.9 (SSL 24, 325-327 A NDRIEU ). 114 OR 26,14 (ebd. 329). 115 OR 26,5 (ebd. 326); 27,8 (ebd. 349); 29,16 (ebd. 440); 28,27 (ebd. 397); 31,32 (ebd. 495f) - es sind das allesamt gallikanisierte Ordines; OR 23,24 (ebd. 272) hingegen erwähnt nur beiläufig, dass in der Paschavigil an jenem Feuer, quod de feria VI absconditum est, zwei Kerzen entzündet werden. In der römischen Tradition geschieht demnach das Verwahren von Licht erstmalig und einmalig am Karfreitag für die Osternacht, während das Entzünden, Auslöschen und Wiederanzünden von Kerzen und Lampen für und während der Vigilien unbekannt ist. Das bestätigt indirekt auch das Zeugnis von Amalar (siehe unten Kapitel 1.1.2). 116 Vielleicht symbolisieren sie die in Offb 4,5 genannten sieben vor dem Thron Gottes brennenden Fackeln; nach M AC G REGOR , Fire 51. 117 OR 26,10 (SSL 24, 327 A NDRIEU ). 118 Vgl. OR 27,5 (ebd. 348). <?page no="30"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 22 roitu prius ecclesiae incipiant paulatim tutare, aut verbi gratia, peracto primo nocturno, videatur eorum pars tertia esse restincta; medio nocturno, iterum tertia; tertio vero expleto, exceptis septem lampadibus, nihil luminis relinquatur; quas in matutinis extinguntur hoc ordine ut in initium psalmi primi sit custos ecclesiae paratus in loco dextre partis ecclesiae prope lampadibus, ut, ubi audierit antephonam, tenens canna in manu sua tutat lampadam unam; in finem vero psalmi ipsius tutat aliam sinistrae partis; in secundo psalmo cum antephonam audierit, tutat de dextera parte aliam; sic una ex una parte, alia ex alia, tutantur usque ad evangelium. In evangelium vero tutatur mediana lampada. 119 nung ausgelöscht: vom Eingang der Kirche ausgehend nach und nach, so, dass zum Beispiel am Ende der ersten Nokturn ein Drittel ausgelöscht ist; nach der mittleren Nokturn ein weiteres Drittel; nach der dritten Nokturn aber kein Licht mehr übrig bleibt, mit Ausnahme der sieben Lampen, die während der Laudes folgendermaßen gelöscht werden: am Anfang des ersten Psalms steht der Custos der Kirche bei den Lampen auf der rechten Seite der Kirche bereit, sobald er die Antiphon hört, mit dem Rohr in seiner Hand ein Licht zu löschen; am Ende desselben Psalms aber löscht er eine auf der linken Seite. Sobald er die Antiphon des zweiten Psalms hört, löscht er wieder ein Licht auf der rechten Seite. So wird abwechselnd eine von diesen und eine von jenen gelöscht bis [zur Antiphon] zum Evangelium [= Benedictus]: Zum [Canticum aus dem] Evangelium aber wird die mittlere Lampe ausgelöscht. OR 29 120 (Ende 9. Jh.) fügt präzisierende Details hinzu. Die vollständige Illumination der Kirche am Morgen des Gründonnerstags setzt er mit 28 Lichtern fest und regelt minutiös, wann die Kerzen und Lampen im Verlauf der Nacht- und Morgenhore auszulöschen sind, deren Summe allerdings 39 ergibt. 121 In der 1. und 2. Nokturn werden zu den drei Psalmen je zwei Lichter und je eines pro Lesung und Responsorien plus ein Licht zur Oration gelöscht; in der 3. Nokturn erlischt pro Antiphon und Lesung je ein Licht. Die sieben vor dem Altar brennenden Lampen werden in bekannter Weise während der Laudespsalmodie gelöscht, die letzte zum Benedictus 122 : OR 29 8. [Feria quarta] … et cantatur vespera. Et postea non sonetur clocca usque in sabbato ad missam. 8. [Am Mi]: Und man singt die Vesper. Danach ertönt keine Glocke mehr bis zur Messe am Samstag. 11. [Feria quinta] Et tunc ecclesia omni lumine sit decorata id est XXVIII luminaribus. 11. [Am Do]: Und dann werde die Kirche mit vollem Licht geschmückt, das sind 28 Leuchten. 119 OR 26,13 (ebd. 328f). 120 Adaptiert auf Basis von OR 27 ein kathedral konzipiertes Direktorium für den klösterlichen Gebrauch; nach V OGEL , Liturgy 149. 121 Achtundzwanzig Lichter könnte ein Lesefehler des Kopisten sein, der XXVIII statt XXXVIIII gelesen habe; durch rechnerische Ergänzung sei er dennoch auf die ihm richtig scheinende Zahl von neununddreißig Kerzen gekommen, zu denen er aber - ein zweiter Irrtum - auch die Laudeslampen zählt, also: 13 + 13 + 6 + 7; richtig dagegen wäre 13 + 13 + 13 + 7 (insgesamt 46 Lichter); nach M AC G REGOR , Fire 98-101. 122 Vgl. OR 27,5 (SSL 24, 348 A NDRIEU ). <?page no="31"?> 1.1 Kodifi im Frühmittelalter 23 12. Lumen autem … inchoatur extingui: primo nocturno, cum incipit cantor primam antiphonam, sit custos paratus, et tutat unam lampadam ab introitu ecclesiae et, cum finierit ipsum psalmum, aliam tutat et, cum audierit secundam antiphonam, tutat tertiam et, psalmo finito, tutat quartam … … et dum orant, tutat septimam. Cum vero lector primam lectionem legerit, tutat octavam et, inchoato primo responsorio, tutat nonam … et sic inchoate tertio responsorio, tutat tertiam decimam. Ista est tertia pars luminis ecclesiae. In secundo quoque nocturno, ipsum ordinem tutationis … observet. Porro in tertio nocturne, cum audierit primam antiphonam tutat lampadem unam et, secunda antiphona inchoata, tutat aliam … et ita fit, ut nihil luminis remaneat nisi septem lampades qui in matutinis hoc ordine extinguuntur … 12. Man beginnt aber das Licht zu löschen: in der ersten Nokturn, wenn der Kantor die erste Antiphon anstimmt, halte sich der Custos bereit und er löscht eine Lampe beim Kircheneingang; am Ende des Psalms eine weitere, wenn er die zweite Antiphon hört, die dritte, am Ende des Psalms die vierte usw. … und während sie beten 123 die siebte. Sobald der Lektor die erste Lesung liest, löscht er die achte, und wenn das erste Responsorium anfängt, die neunte usw. … und so löscht er beim dritten Responsorium die 13. [Lampe]. Das ist ein Drittel der Kirchenbeleuchtung. Auch in der zweiten Nokturn befolgt er dieselbe Ordnung des Auslöschens. Ferner in der dritten Nokturn löscht er, sobald er die erste Antiphon hört, eine Lampe, bei der zweiten Antiphon die nächste usw. und so bleibt kein Licht mehr übrig außer den sieben Lampen [vor dem Altar], die während der Matutin nach dieser Ordnung gelöscht werden … 13. Expleta matutina, orant cum silentio et exeant foras. 124 13. Am Ende der Matutin beten sie still und gehen hinaus. Außer diesen sieben Lampen für die Laudes entzündet man am Karfreitag mit der am Neuen Feuer entflammten Kerze eine unbestimmte Anzahl weiterer Kerzen; und am Karsamstag zur Feier der Osternacht je eine Kerze rechts und links vom Altar: OR 29 29. [Feria VI] … faciunt de igne sicut fecerunt in quinta feria … et septem lampades eius manibus inluminentur et de candelis quantum priori videtur … 29. [Am KarFr] … machen sie es mit dem [neuen] Feuer wie am Donnerstag … und es werden von seiner Hand [des Praepositus] sieben Lampen entzündet und so viele von den Kerzen wie dem Prior [angemessen] erscheint. 45. [Sabbato sancto] … de ipso lumine duo cerei inluminentur, tenentibus notariis, unus in dextro cornu altaris et alter in sinistro. 125 45. [Am KarSa] … entzünde man am selben [Kerzen-]Licht zwei Kerzen, die von zwei Notarii an der rechten und linken Seite des Altars gehalten werden. 123 Vemutlich ist damit das Segensgebet gemeint, das die Benediktsregel zwischen Psalmodie und Lesungen vorsieht (RB 9,5; 11,7 [90f; 94f S TEIDLE ]). 124 OR 29,8.11-13 (SSL 24, 438-440 A NDRIEU ). 125 OR 29,29.45 (ebd. 442; 443). <?page no="32"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 24 OR 28, 30A und 30B Der kurze OR 30A (2. Hälfte 8. Jh.) wurde vermutlich für Regularkanoniker geschrieben und enthält Anweisungen für das Offizium in der Hohen Woche und der Osteroktav inklusive der beschriebenen Besonderheiten: Unterlassungen, Lesungen aus den Klageliedern, aus dem Augustinustraktat zu Ps 63(64) sowie die Incipits der jeweils 7. Vigillesung (NT-Briefe). Das Entzünden und Auslöschen von Licht am Karsamstag wird „wie zuvor gesagt“ angeordnet, ohne dass eine über das reine Faktum hinausgehende Beschreibung gegeben würde: OR 30A 5. [Feria sexta] … Deinde sequitur matutinum. Lucerne extinguntur. 5. [Am KarFr] … Dann folgt die Matutin. Die Lichter werden gelöscht. 12. [Sabbato sancto]… Media nocte in psal[mis], in lec[tionibus] in resp[onsori]a, in an[tiphoni]s, in lucernis accendendis vel extinguendis, sicut superius diximus ita fiat. 126 12. [KarSa] … Zur Mitte der Nacht geschehe bei den Psalmen, Lesungen, Responsorien, Antiphonen, [sowie] bei den Lichtern, die anzuzünden bzw. auszulöschen sind, [alles] so, wie wir es weiter oben gesagt haben. Zum Vollzug der Vesper am Karfreitag heißt es: 127 OR 30A 11. Et post paululum vespere dic[it] unusquisque privatim et sic vadunt ad mensam. 128 11. Wenig später [nach dem Gottesdienst mit Kreuzverehrung und Kommunion], sagt ein jeder für sich die Vesper, und unmittelbar darauf gehen sie zu Tisch. Die Bearbeitung dieses Ordo in OR 30B (Ende 8. Jh.) zeigt sich enger an der Papstliturgie orientiert und in vielem präziser, erwähnt allerdings weder die Tageshoren noch Vesper oder Komplet und ist daher vielleicht ein Zeuge für deren sekundären Charakter. Der Gebrauch von Licht in den Vigilien der Kartage ist anders nuanciert: OR 30B 28. [Feria sexta parasceven] … Sed tantum inchoat ad matutinum antiphona; in primo psalmo tuta lampada de parte dextra, in secundo psalmo de parte sinistra; similiter per omnes psalmos usque VI aut VII, aut in finem evangelii reservetur absconsa usque in sabbato sancto. 28. [Am KarFr] … Aber es fängt nur die Antiphon zur Matutin an; beim ersten Psalm eine gelöschte Lampe auf der rechten Seite, beim zweiten Psalm eine auf der linken Seite; genauso durch alle Psalmen bis zum 6. oder 7., oder bis zum Ende des Evangeliums [Canticum] nur die bis zum Karsamstag verborgene übrig bleibt. 36. [In sabbato sancto] … Media nocte surgendum est et, sicut superius taxavimus, ita fiat excepto in luminaribus, sed tantum una lampada 36. [Am KarSa] … Um Mitternacht soll man aufstehen und es geschehe alles so, wie wir es weiter oben festgesetzt haben, mit Ausnahme der 126 OR 30A,5.12 (ebd. 456). 127 Die Vesper in sabbato sancto (Ostervesper), eher Teile daraus, findet innerhalb der Paschavigil als Begleitgesang zur Kommunion statt: dum communicant vesperum dicant. (OR 30A,19 [SSL 24, 457 A NDRIEU ]). 128 OR 30A,11 (ebd. 456). <?page no="33"?> 1.1 Kodifi im Frühmittelalter 25 accendatur propter legendum. 129 Lichter, denn es soll nur eine Lampe angezündet werden, um lesen zu können. OR 28 (fränkisch, um 800) bietet im Rückgriff auf den älteren OR 30A und andere Quellen ein vollständiges Direktorium für alle Gottesdienste in den drei Wochen vom 5. Sonntag der Quadragesima in mediana bis zum Oktavtag von Ostern domenica in albis 130 . Auch er enthält die allgemeinen Bestimmungen zum Nachtoffizium am/ ab Gründonnerstag (7-9) 131 , die Vigil-Leseordnung an den vorösterlichen Tagen (9f.29.49) 132 sowie Regeln für das Neue Feuer und die Aufbewahrung einer Kerze/ Lampe bis zur Osternacht (25-27) 133 . Erwähnenswert sind die vermehrten Anmerkungen zum Vollzug des restlichen Offiziums: 134 OR 28 28. [Feria V caenae domini] Ipsa vero die omne diurnal officium insimul canunt. A vespere autem huius diei nuda sint altaria usque in mane sabbati. 28. [Am HoDo] Am selben Tag rezitieren sie das gesamte Tagesoffizium gemeinsam. Von der Vesper dieses Tages an bleiben die Altäre bis Samstag früh entblößt. 48. [Feria VI in parasceven] … Et post paulolum vesperam dicit unusquisque privatim et sic vadunt ad mensam. 48. [Am KarFr] … wenig später [= nach dem Gottesdienst mit Kreuzverehrung und Kommunion], sagt ein jeder für sich die Vesper, und so gehen sie zu Tisch. 86. Item ipsa die diuturnale cursum separatim canunt. 135 86. Auch an diesem Tag [KarSa] singen sie das Tagesoffizium jeder für sich. Die Vesper am Gründonnerstag und die Tageshoren finden offenbar noch gemeinsam in der Kirche statt (im selben Absatz 28 ist von den Altären im Kirchenraum die Rede 136 ), am Karfreitag und Karsamstag werden die Vesper und die Tageshoren jedoch privatim bzw. separatim gesungen. 129 OR 30B,28.36 (ebd. 470f). 130 Er schöpft aus den OR 24, 26, 27, 11, 13B und 30A und dem Gelasianischen Sakramentar. Sein Anhang (App OR 28) enthält die Leseordnung der Paschavigil; vgl. Anm. 135. 131 Vgl. OR 30A,1-4 (SSL 24, 455 A NDRIEU ); OR 27,3-4 (ebd. 347). 132 Vgl. OR 13B,3-5 (SSL 23, 499f A NDRIEU ); OR 30A, 2-3.5.12 (SSL 24, 455f A NDRIEU ). 133 Vgl. OR 26,3-5 (ebd. 325f); OR 27,6-8 (ebd. 348f). 134 Vgl. OR 12,17 (SSL 23, 463f A NDRIEU ). 135 OR 28,28.48.86 (SSL 24, 397; 401; 409 A NDRIEU ); OR 28 behandelt das Tages- und Nachtoffizium während der drei Wochen vom Passionssonntag bis zum Weißen Sonntag. Weitgehend eine gallikanisierte Version von OR 27, benutzt und bearbeitet OR 28 aber auch das Material anderer Ordines römischer und fränkischer Herkunft eigenständig (v. a. die Vorlagen von OR 27, nämlich OR 24 und OR 26, auf die er mitunter direkt zurückgreift; außerdem OR 11, OR 13B und OR 30A sowie ein fränkisches Gelasianisches Sakramentar des Gellonenser Typs) und ist in mehreren Handschriftensorten erhalten. Zur komplexen Quellenlage und der Überlieferungssituation von OR 28 siehe A NDRIEU , Ordines III, 375-388. 136 OR 31 bestätigt das indirekt durch die Anweisung Ac deinceps [HoDo Nachmittag] … omni lumine decoretur ecclesia et ita ingrediatur ad missas. Sed et ipsa ecclesia usque ad vespertinas illuminata permaneat (OR 31,31 [SSL 24, 495 A NDRIEU ]). <?page no="34"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 26 OR 31, 32, 33 OR 31 (fränkisch, 2. Hälfte 9. Jh. 137 ) ist im Wesentlichen eine Bearbeitung von OR 28 138 , dessen Anweisungen zum besonderen Feiervollzug der Vigilien und Laudes/ Matutinen an den letzten Tagen der Hohen Woche er übernimmt. Bezüglich der Tageshoren am Gründonnerstag und Karsamstag sowie der Vesper und Komplet am Karfreitag präzisiert er: OR 31 33. [Cene domini] Ipsa vero die omne diurtinale officium insimul canunt. … 33. [HoDo] An diesem Tag singen sie das ganze Tagesoffizium gemeinsam. … 51. Quo ordine peracto, dicat pontifex: In nomine patris et filii et spiritus sancti. Secedite omnes in pace. Et cantent singulariter secrete vesperas et accedant ad mensam, tantummodo cum signo benedictionis sine versu, et ita surgant cum tacita oratione. 51. Sobald dieser Ordo [= die Kommunionfeier am Karfreitag] fertig ist, sage der Pontifex: Im Namen des Vaters … Gehet alle hin in Frieden. Und sie sollen jeder einzeln still die Vesper singen und zu Tisch gehen, nur mit der Segensgeste ohne Vers, und so sollen sie in stillem Gebet aufstehen. 52. Similiter et completorium singillatim et secrete omnes cantent et petant lectisternia sua. 52. In gleicher Weise sollen alle auch die Komplet einzeln und in Stille singen und zu Bett gehen. 121. In sabbato autem sancto, cursum diurnum omnes separatim canant, exceptis vespertinalibus ymnis vel laudibus 139 quae cum Alleluia cantantur, donec communicat populus. 140 121. Am Karsamstag aber sollen sie alle das Tagesoffizium einzeln für sich singen, ausgenommen die Hymnen und Lobgesänge der Vesper, die mit Alleluja gesungen werden, während das Volk kommuniziert. Der jüngere OR 33 (fränkisch, vor 1000) hält nur für das Tagesoffizium der Kartage fest: OR 33 8. In parasceve nec in sabbato sancto cursum insimul non cantent. 141 8. Am Karfreitag und am Karsamstag sollen sie das Tagesoffizium nicht gemeinsam singen. 142 OR 32, ein Zeremoniale für die drei letzten Tage der Hohen Woche (fränkisch, Ende 9. Jh.), 143 greift auf mehrere ältere Quellen - erkennbar OR 28 und OR 31 - zurück. Der 137 Der einzige überkommene Textzeuge Paris Lat. 9421 (10. Jh.) enthält u. a. die Erstausgabe des Liber officialis von Amalar (s. u. 1.1.2.1); nach A NDRIEU , Ordines III, 481. 138 Daher werden auch dessen Vorlagen (v. a. OR 24, 27 und 30A) in einzelnen Textpassagen erkennbar. 139 Gemeint ist die Ostervesper. 140 OR 31,33.51-52.121 (SSL 24, 496; 498f; 508 A NDRIEU ). 141 OR 33,8 (SSL 24, 532 A NDRIEU ). 142 Der Verweis des Herausgebers auf die Vorlage in OR 31,121 separatim canant (A NDRIEU , Ordines III, 508) legt nahe, dass hier der nicht-gemeinsame Vollzug der Tageshoren gemeint ist, was der mehrheitlich belegten Praxis entspricht. 143 Als fehlerhafte Kopie erhalten in der in Corbie (Ende 9. Jh.) verfassten Handschrift Paris, B. N., Lat. 14088 (P); erhebliche Unterschiede dazu weist das jüngere bretonische Manuskript auf (Mitte <?page no="35"?> 1.1 Kodifi im Frühmittelalter 27 Umgang mit Licht und Feuer ist in den verfügbaren Manuskripten unterschiedlich (Entzünden der Osterkerze in der Sakristei oder am Neuen Feuer) und für Vigil und Matutin/ Laudes wenig detailliert geregelt: OR 32 (P) 5. [Feria VI] … et in ipsas tres noctes VII lampadas accensas in aecclesia ardeant et in fine uniuscuiusque salmi in ipsas tres noctes, ad matudinum unamquamque extingunt, ut ita veniant ut Benedictus absque lumen sallatur. 5. [Am KarFr] … Und in diesen drei Nächten sollen sieben angezündete Lampen in der Kirche brennen; und am Ende eines jeden Psalms in diesen drei Nächten und zu jeder Matutin löschen sie sie aus, so dass man das Benedictus ohne Licht psalliert. 16. [In sabbato sancto] … hora nona ingrediuntur in sacrarium … 16. [Am KarSa] … Sie gehen zur neunten Stunde in die Sakristei … 17. et accenso cereo procedunt simul omnes de sacrario ipso caereo in aecclesia in silentio … 144 17. … und gehen alle zugleich mit der brennenden Kerze in Prozession aus der Sakristei schweigend in die Kirche … OR 32 (C) 5. [Feria VI] … et in ipsas tres nocturnas ternas novies lampades septemque ad matutinos accendatur et in fine uniuscuiusque salmi responsoriorum vel lectionum earundem nocturnarum vel eorundum extinguantur, ita ut Benedictus absque lumen sallatur. 5. [Am KarFr] … und in diesen drei Nokturnen (Nachtfeiern) entzünde man je dreimal je neun Lampen und zu den Matutinen sieben, und am Ende eines jeden Psalms, der nämlichen Responsorien oder Lesungen derselben Nokturnen sollen sie ausgelöscht werden, so dass man das Benedictus ohne Licht psalliert. 16. [In sabbato sancto] … hora nona excutiatur ignis de petra. 16. [Am KarSa] … Zur neunten Stunde schlage man Feuer aus einem Stein. 17. Veniant omnes simul cum ipso caereo in aecclesiam … 145 17. Und es sollen alle zugleich mit eben dieser Kerze in die Kirche kommen … An den drei vorösterlichen Tagen gibt es keine Versammlung zum Offizium außer zu den Tageshoren und zur Vesper am Gründonnerstag und zu den Nacht- und Morgenhoren, zu denen aber am Karfreitag und Karsamstag nicht mehr gerufen/ geläutet wird: OR 32 (P, C) 2. [In caena domini] … Omnem cursum ipsa die insimul canunt et conpleta similiter. 146 2. [HoDo] Die Tageshoren an diesem Tag singen sie gemeinsam und die Komplet ebenso. 10. Jh.) Cambridge, Corpus Christi College, Cod. lat. 192 (C), das u. a. den Liber officialis von Amalar überliefert (ebd. 513). 144 OR 32,5.16.17 (SSL 24, 518; 520f A NDRIEU ). 145 Ebd. 146 OR 32,2 (ebd. 517). <?page no="36"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 28 OR 32 (C) 147 3. Et illa signa a V feria <post vesperos> usque in sabbato sancto … non sonent. 3. Und jene (Glocken-) Zeichen sollen vom Donnerstag an <nach der Vesper> bis zum Karsamstag nicht ertönen. 4. Nocturnos <vero> in <feria V>, feria VI et sabbato seu et matutinos simul 148 canunt. 4. Die Nokturnen <aber> und die Matutinen [= Laudes] singen sie am <Donnerstag,> Freitag und Samstag gemeinsam. 6. Feria VI que est parasceven, diurnalem cursum separatim canunt. 149 6. Am Karfreitag singen sie das Tagesoffizium jeder für sich. Handschrift P weist die Versammlung zur Vesper am Karfreitag an (ingrediuntur), die dann allerdings von den Anwesenden für sich (separatim) zu vollziehen ist. Es ist also eher an ein stilles Gebet als an lautes Für-sich-Singen der einzelnen Beter zu denken. Codex C erwähnt nach der Karfreitagsfeier keinen weiteren Gottesdienst mehr: OR 32 (P) 15. [Feria VI] … Deinde sequitur oratio post communionem. His autem expletis, ingrediuntur ad vesperum separati[m] canentes. 150 15. [Am KarFr] … Darauf folgt die Oration nach der Kommunion. Danach gehen sie zur Vesper, die sie jeder für sich singen. OR 32 (C) 16. … Et communicent omnes cum silentio et expletum est ipsa die. 151 16. Es kommunizieren alle in Stille und [damit] ist es an diesem Tag vollendet. Das Offizium der Tage von Gründonnerstag bis Karsamstag (bis zur Osternacht) bildet in den ältesten zugänglichen Quellen der römischen Liturgietradition, den Ordines Romani, aufgrund folgender Merkmale eine strukturelle wie inhaltliche Einheit: 1) Die Feiergestalt ist verbal stark reduziert und 2) um nonverbale Lichtriten (anzünden, verbergen, auslöschen) erweitert. 3) Die Texte und Gesänge des Offiziums beziehen sich primär auf die Passion; die Lesungen werden zunehmend genauer festgelegt. 4) Liturgisch relevant sind insbesondere die Nacht- und Morgenhore. 1.1.1.2 Das Offizium im Verhältnis zu den anderen Gottesdiensten des Tages Trotz seiner klar geregelten Sonderstellung steht das Offizium von Gründonnerstag bis Karsamstag zum einen in Kontinuität mit der vorausgehenden Zeit, zum anderen in strukturellem und inhaltlichem Bezug zu den großen Liturgien dieser Tage. Es erwächst organisch aus den passionstheologisch geprägten letzten zwei Wochen 152 der vierzigtägigen (oder zeitweise noch längeren) Vorbereitungszeit auf die jährliche Osterfeier, zu der es hinführt und deren integraler Bestandteil es ist. Die liturgisch-theologische 147 Text aus C; <Text in Klammern > fehlt in P. 148 Insimul in P (OR 32,4, Anm. 6 [SSL 24, 517 A NDRIEU ]) hat dieselbe Bedeutung. 149 OR 32,3.4.6 (ebd. 517f). 150 OR 32,15 (ebd. 520). 151 OR 32,16 (ebd. 520f). 152 In den Vigilien liest man aus den Propheten „das, was sich auf die Passion bezieht“; die Messfeiern von Montag bis Mittwoch der Hohen Woche sind ebenfalls durch den Bezug zur Passion und ihrer Deutung im Licht alttestamentlicher Lesungen und ausgewählter Psalmen charakterisiert; A UF DER M AUR , Feiern 101f. <?page no="37"?> 1.1 Kodifi im Frühmittelalter 29 Prägung der drei Tage vor Ostern erfolgt in den Nachtstunden durch das kanonische Offizium, insbesondere - und am Karsamstag ausschließlich - durch die Nacht- und Morgenhore 153 , und tagsüber durch den jeweiligen Hauptgottesdienst. Hoher Donnerstag Nach den ältesten römisch-fränkischen Quellen beginnt die Feier des Gründonnerstags in den Klöstern und für den Klerus um Mitternacht 154 (oder zur hora octava 155 , ca. zwei Uhr) mit der Vigil in ihrer reduzierten Gestalt ohne Eröffnungsruf 156 , Invitatorium und Doxologie bei Psalmen und Responsorien. Sie besteht aus neun (statt der üblichen zwölf) Psalmen und je drei Lesungen aus den Klageliedern, passenden Väterhomilien (häufig aus dem Psalmen-Traktat des Augustinus zu Ps 63[64]) sowie aus dem ersten Korintherbrief mit neun 157 Responsorien; darauf folgen die ebenfalls gekürzten Laudes. Als besonderer Gesang im Offizium wird Christus factus est erwähnt. 158 Die päpstliche Liturgie sieht nur eine nachmittägliche Messfeier im Lateran mit der Weihe der Öle vor. 159 Vermutlich begann die missa chrismalis ursprünglich direkt mit dem Gläubigengebet und erhielt erst sekundär einen Wortgottesdienst. 160 In den römischen Titelkirchen gibt es nach dem Zeugnis der Altgelasianischen Sakramentare tagsüber drei Eucharistiefeiern: 161 die morgendlichen orationes in quinta feria zum Abschluss der Quadragesima, in der auch die Rekonziliation der Büßer stattfindet; eine zweite item in quinta feria missa chrismalis, in der die Kranken- und Katechumenenöle benediziert werden (fränkische Bearbeiter integrieren hier die Chrisamweihe aus der Papstliturgie) und schließlich item in feria quinta missa ad vesperum, die ursprünglich ebenfalls ohne Wortgottesdienst und sofort mit der Gabenbereitung anfängt. 162 Die fränkische Rezeption der Ordines Romani beschreibt übereinstimmend nur eine Eucharistiefeier am Gründonnerstag, 163 deren Zeitansatz stark variiert. 164 Zur Messe in 153 Das ebenfalls am Karsamstag vorgesehene letzte Scrutinium der Taufbewerber schließt die Vorbereitungen auf ihre Eingliederung in die Kirche ab, ist aber keine gemeindliche Feier im engeren Sinn. 154 OR 30A,1 (SSL 24, 456 A NDRIEU ); OR 28,7 (ebd. 392f). 155 OR 29,9 (ebd. 438). 156 Domine labia mea (OR 23,1 [SSL 24, 269 A NDRIEU ]) und Deus in adiutorium (OR 12,16; [SSL 23, 463 A NDRIEU ] und OR 28,8 [SSL 24, 393 A NDRIEU ]). 157 In OR 28,9 (ebd.) irrtümlich „VIII“? 158 OR 23,1 (ebd. 269). 159 OR 23,2-8 (ebd. 269f); 24,8-21 (ebd. 289-291); 30B; 5-23 (ebd. 467-470); vgl. die Gregorianischen Sakramentare des 7./ 8. Jhs. 160 Man wählt dafür Joh 13,1-15 (vom Dienstag der Hohen Woche) und 1 Kor 11,20-32; vgl. OR 24,10-12 (ebd. 290) und OR 27,23-25 (ebd. 353); vgl. A UF DER M AUR , Feiern 104; zum Wortgottesdienst am Gründonnerstag in den von ihm untersuchten Quellen vgl. auch die Register-Angaben bei M AIER , Feier 287. 161 Sacramentarium Gelasianum Vetus XXXVIII-XL (RED.F 4, 55-64 M OHLBERG ). 162 Spuren dieser Praxis zeigen sich in OR 16, der die Messe am Gründonnerstag ohne liturgischen Gruß und Introitus (vgl. die Büßermesse), ohne Wortgottesdienst und ohne Friedenskuss (vgl. die Chrisammesse) beschreibt (OR 16,31 [SSL 24, 151 A NDRIEU ]); vgl. D ERS ., Ordines III, 135-138. 163 Nördlich der Alpen wird ab dem 8. Jh. die päpstlich-bischöfliche Liturgie generell stärker prägend als die ehemals verbreitete presbyterale Tradition. 164 Um ca. 13 Uhr (OR 23,2 [SSL 24, 269 A NDRIEU ]); gegen 15 Uhr (OR 26,3.10 [ebd. 325f; 327]); die Feier verschiebt sich allmählich über den Vormittag (11Uhr in OR 28,11-24 [ebd. 394-396] und OR 30B,5 [ebd. 467]) bis in den Morgen (9 Uhr in OR 24,8 [ebd. 289]; OR 27,21 [ebd. 352]; <?page no="38"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 30 caena domini gehören ein entfalteter Wortgottesdienst und die Benediktion der Öle 165 , wobei das Krankenöl von den Gläubigen gebracht und nach Hause mitgenommen werden kann 166 ; bei Bedarf wird die Büßeraussöhnung zwischen Wortgottesdienst und Gabenbereitung eingeschoben. 167 Im Anschluss an die Eucharistiefeier verwahrt man das Sakrament für die Präsanktifikatenliturgie am Karfreitag. 168 Eigentliches Proprium des Hohen Donnerstags ist die doppelte traditio Jesu (Verrat des Judas/ Überlieferung in den Tod sowie das Vermächtnis der Eucharistie) im Gesamtkontext der Passion, doch zieht der Tag im Lauf der Zeit weitere Inhalte an. 169 Wo der Brauch bekannt ist, findet der seit dem Frühmittelalter belegte Ritus des Neuen Feuers meist um die neunte Stunde vor der Kirche statt 170 , der die Beleuchtung während der Abendmahlsfeier und für die Feier der Vigil in der kommenden Nacht gewährleistet. Neben den zeitaufwändigen Gottesdiensten am Nachmittag und Abend des Gründonnerstags, für die bereits am Vormittag entsprechende Vorbereitungen zu treffen sind, bleiben die übrigen Horen des Offiziums von untergeordneter Bedeutung. Das Tagesoffizium findet gemeinschaftlich (insimul) 171 , jedoch ohne Eröffnung und Doxologie 172 statt; ebenso die Komplet (insimul). 173 Die Vesper wird in den ältesten Quellen nicht erwähnt. 174 Ab der 2. Hälfte des 8. Jhs. ist sie belegt, doch wird sie gegebenenfalls gekürzt (non cantatur responsum ad vesperum) 175 . Danach bleiben die Altäre bis zum Morgen des Karsamstags entblößt (nuda sint). 176 OR 28,11 [ebd. 394]; OR 31,16 [ebd. 493]). Wo divergierende Vorlagen nicht konsequent redigiert wurden, kommt es vor, dass dieselbe Messe doppelt erwähnt wird, einmal zur hora tertia, ein andermal zur hora nona (OR 27,21; 6.12 [ebd. 352; 348f]; OR 31,16.29-31 [ebd. 493; 495]); dies sei aber „kein Grund, von zwei Messen am Gründonnerstag auszugehen“, sondern eine Folge der sukzessiven Vorverlegung, meint M AIER , Feier 60. 165 OR 24,8-21 (SSL 24, 289-291 A NDRIEU ); OR 26,3.10 (ebd. 325f; 327); OR 28,11-24 (ebd. 394- 396); OR 29,19-26 (ebd. 440f); OR 30B,6-23 (ebd. 468-470). 166 OR 30B,11 (ebd. 468); vgl. dazu die Erläuterung von A NDRIEU , Ordines III, 463f. 167 OR 31,20 (SSL 24, 494 A NDRIEU ) erweitert hier seine Vorlage OR 28,15 (ebd. 394f), der diese Bestimmung noch nicht kennt. 168 Vgl. R EGAN , Reservation. Die Fußwaschung findet außerhalb der Eucharistiefeier statt (siehe unten Kapitel Zur Fußwaschung mit Anm. 920-923). 169 Vgl. A UF DER M AUR , Feiern 103-107. Die Büßeraussöhnung ist zwar schon früh für den Donnerstag vor Ostern bezeugt (für Rom im Jahr 416 durch den Brief Innozenz’ I. an Decentius von Gubbio [BRHE 58, 28 C ABIÉ ]), ist aber kein eigentlicher Inhalt des Gründonnerstags, sondern dient der Rekonziliation der Pönitenten vor den Kerntagen der Paschafeier. Ebenfalls nicht ursprünglich zum theologischen Proprium des Tages gehört die Weihe der Tauföle, die auf die Initiation in der Osternacht hingeordnet ist. Sekundär sind zudem die Ritualisierung der anfänglich rein funktionalen Aufbewahrung der eucharistischen Gaben sowie der Abdeckung der Altäre und die Fußwaschung. 170 OR 26,3-5.9-10 (SSL 24, 325-327 A NDRIEU ); OR 28,25-27 (ebd. 396f); OR 31,29-31 (ebd. 495). In OR 29 geht die Zeremonie ohne nähere Zeitangabe der Messe vom Abendmahl voraus (OR 29,14.19 [ebd. 440]). 171 OR 28,28 (SSL 24, 397 A NDRIEU ); OR 31,33 (ebd. 496); OR 32,2 (ebd. 517). 172 Wie OR 31,33 (ebd. 496) eigens vermerkt. 173 OR 32,2 (ebd. 517). 174 Die ältesten Quellen für das römische Offizium - OR 13, OR 14 und OR 26 für die Klosterliturgie sowie OR 23 für die Papstliturgie am Triduum (1. Hälfte 8. Jh.) - regeln für die vorösterlichen Tage detailliert nur die Nacht- und Morgenhore. 175 OR 24,40 (SSL 24, 295 A NDRIEU ); OR 27,34 (ebd. 354f). 176 OR 27,34 (ebd. 354f); OR 29,27 (ebd. 442); OR 28,28 (ebd. 397); OR 31,33 (ebd. 496). <?page no="39"?> 1.1 Kodifi im Frühmittelalter 31 Karfreitag Der Tagesablauf am Karfreitag ist liturgisch ähnlich strukturiert wie am Vortag: Für Vigil und Laudes gelten dieselben Bestimmungen wie für Gründonnerstag, sofern sie nicht ausnahmsweise überhaupt erst für den Karfreitag angeordnet sind. 177 Die untersuchten Quellen bieten für die päpstliche Stationsliturgie und ihre fränkische Rezeption am Karfreitag unterschiedliche Modelle mehrteiliger Feiern. 178 OR 23 zufolge beginnt der Gottesdienst am Nachmittag um ca. 14 Uhr: Man zieht in Prozession vom Lateran nach St. Crux in/ ad Hierusalem, 179 wo nach der Verehrung der Kreuzreliquie durch den Papst sofort - noch während der Verehrung durch das Volk - der Wortgottesdienst (Joh-Passion, Hos 6, Ex 12 180 mit den Gesängen 181 und orationes sollemnes) beginnt; nach der Rückkehr in den Lateran kann das Volk kommunizieren. 182 Eine einzige gemeinsame Karfreitagsliturgie von Bischof, Klerus und Volk zur hora nona kennt auch der fränkische OR 31. 183 Zwei zeitlich getrennte Feiern bietet u. a. OR 27: Zur hora tertia hält der Pontifex/ Bischof den Wortgottesdienst mit orationes; ad vesperum findet in derselben Kirche und zeitgleich in den anderen Kirchen der Stadt die Kreuzverehrung und Kommunion aller statt. 184 Die Presbyter nehmen zunächst an der vormittäglichen (,päpstlichen‘) Bischofsliturgie teil; anschließend wiederholen sie die ganze Feier (hoc ordine cuncta) in den Pfarrkirchen, worauf dann die Kreuzverehrung und Kommunionfeier folgen. 185 Obwohl am Zeitansatz dieser Feier zur hora nona (Sterbestunde Christi) festgehalten wird, kommt es auch hier zur Vorverschiebung auf den späten Vormittag. 186 Die monastische Praxis kennt den Kommunionempfang am Karfreitag, aber nicht notwendig die Kreuzverehrung. 187 Die übrigen Offiziumshoren treten hinter die Feiern, die sowohl den Vormittag als auch den Nachmittag und frühen Abend beanspruchen und später generell auf den Vor- 177 Nach OR 17,93 (ebd. 188) entfallen erst am Karfreitag: Kyrie-Litanei, Doxologie und das Glockenzeichen zur Versammlung; in OR 26,11-12 (ebd. 328): Eröffnungsruf, Invitatorium und Segen; die Doxologie hingegen schon während der Passionszeit bei den Responsorien und ab dem Gründonnerstag auch bei den Psalmen und überall sonst (OR 26,2 [ebd. 325]). 178 Älter ist die Feier eines reinen Wortgottesdienstes am Karfreitag (5. Jh.), wie er im Papstgottesdienst bis ins 7. Jh. üblich ist; dann verbindet er sich - auf strukturell unterschiedliche Weise - mit Kreuzverehrung und/ oder Kommunionfeier; nach A UF DER M AUR , Feiern 108. 179 Sie wird als Kreuzweg des Papstes inszeniert: Ein Diakon legt dem Pontifex die Kreuzreliquie auf den Rücken; ein anderer führt in der Rolle des Simon von Cyrene den Papst an der linken Hand; nach K LÖCKENER , Karfreitag 220-221. 180 OR 23,17f (SSL 24, 271 A NDRIEU ); OR 30A,6f (ebd. 456); vgl. C HAVASSE , Lectionnaires I, 54; II, 14. 181 Hab 3 und Ps 90(91); in OR 23,17f (SSL 24, 271 A NDRIEU ); OR 30B,31 (ebd. 471). Später wird Ps 90(91) durch Ps 139(140) ersetzt: z. B. OR 24,24 (ebd. 292) und OR 31,38 (ebd. 497); vgl. A UF DER M AUR , Feiern 109. 182 OR 23,9-22 (ebd. 270-272). Dieser Teil der Feier ist in der Papstliturgie sekundär; in den Presbyterkirchen Roms ist die Kommunionfeier hingegen üblich. 183 OR 31,36 (ebd. 496). 184 OR 27,35.41-50 (ebd. 355; 357f); sowie OR 24,22.29 (ebd. 291; 293) und OR 28,31.38 (ebd. 398; 400). 185 OR 24,28 (ebd. 293); OR 28,37 (ebd. 399). 186 Hora V in OR 30B,29 (ebd. 470). 187 OR 16,32-35 (ebd. 151f); OR 17,94-97 (ebd. 188f). <?page no="40"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 32 mittag wandern, zurück. Der Tagescursus 188 wird, sofern überhaupt erwähnt, nicht in Gemeinschaft vollzogen (separatim, non insimul). 189 Wo im klösterlichen Umfeld vom Einzug zur Vesper die Rede ist 190 (ingrediuntur ad vesperum), versammelt man sich zwar in der Kirche, wo aber sodann jeder für sich die Vesper vollzieht (separatim canentes). 191 Ausdrücklich einzeln (privatim; singulariter et secrete) halten die Regularkanoniker Vesper 192 und Komplet (singillatim et secrete). 193 Karsamstag Der Karsamstag wird liturgisch ausschließlich vom Offizium geprägt, 194 die Angaben dazu sind allerdings knapp, pauschal und wiederholen sich: Man steht wiederum um Mitternacht 195 oder gegen zwei Uhr früh 196 auf und hält die Nacht- und Morgenhore - inklusive Lichtauslöschen - wie an den Vortagen; 197 eine Ausnahme macht OR 30B, der an diesem Tag eine Lampe vorsieht, um lesen zu können. 198 Die bereits einsetzende Vorverlegung der Osternachtsfeier 199 - nach den Ordines Romani findet sie weitgehend übereinstimmend 200 am frühen bis mittleren Nachmittag zwischen 13 und 15 Uhr 201 statt, wobei die eigentliche Vigilmesse bei Einbruch der Dunkelheit beginnt 202 - schmälert oder verdrängt alle Horen außer der Nacht- und Morgenhore. Das Tagesoffizium findet nur mit dem Hinweis auf den nichtgemeinschaftlichen Vollzug (non insimul, separatim) Erwähnung. 203 Es gibt keine Vesper und Komplet, denn zu dieser Zeit ist die Paschavigil in vollem Gang. Abgesehen von den beobachteten Eigenheiten im Feiervollzug (Reduktion, Lesungsauswahl, Sonderriten mit Feuer und Licht) prägt das Offizium als solches auch den Verlauf der vorösterlichen Tage in außerordentlicher Weise. Nicht die gewohnte gleichmäßige Durchdringung von Nacht und Tag mit mehrmaligem Gebet steht im Vordergrund; die Tage sind vielmehr zweiphasig strukturiert: Die Nacht- und Morgenhore sowie der jeweilige Hauptgottesdienst am Abend oder Nachmittag bilden die 188 OR 32,6 (ebd. 518). Für beide Kartage gilt die diesbezügliche Anweisung in OR 12,17 (ebd. 23, 464) und OR 33,8 (ebd. 24, 532). 189 OR 32,6 (ebd. 518); OR 33,8 (ebd. 532). 190 Ohne weiteren Hinweis: OR 16,37 (ebd. 152); OR 17,99 (ebd. 189). 191 OR 32,15 (ebd. 520). 192 OR 30A,11 (ebd. 456); OR 28,48 (ebd. 401); OR 31,51 (ebd. 498). 193 OR 31,52 (ebd. 499). 194 Die letzten Scrutinien finden zwar ebenfalls am Karsamstagvormittag statt (OR 28,50 [ebd. 401]; OR 31,54 [ebd. 499]), verlieren aber mit dem Verfall der Erwachseneninitiation an Bedeutung. OR 26 beschreibt die Herstellung des für Rom typischen Agnus Dei aus Wachs am frühen Morgen des Karsamstags (OR 26,7f [ebd. 326f]). 195 OR 28,49 (ebd. 401). 196 OR 29,44 (ebd. 443). 197 OR 12,17 (SSL 23, 463f A NDRIEU ); OR 26,14 (SSL 24, 329 A NDRIEU ); 29,44 (ebd. 443); 30A,12 (ebd. 456). 198 OR 30B,36 (ebd. 471). 199 Vgl. J UNGMANN , Vorverlegung. 200 Keine Angabe zum Zeitansatz der Osternacht machen OR 24,41 (SSL 24, 295 A NDRIEU ) und OR 27,51 (ebd. 359). 201 Hora VII/ septima: OR 23,23 (ebd. 272); OR 29,45 (ebd. 443); octava hora: OR 30A,13 (ebd. 456); hora nona: OR 16,38 (ebd. 152); OR 17,100 (ebd. 189); OR 28,58 (ebd. 403); OR 32,16 (ebd. 521). 202 Iam sero: OR 23,32 (ebd. 273). 203 OR 28,86 (ebd. 409); OR 31,121 (ebd. 508); OR 33,8 (ebd. 532). <?page no="41"?> 1.1 Kodifi im Frühmittelalter 33 theologisch-liturgischen Koordinaten am Gründonnerstag und Karfreitag. Die übrigen Tagzeiten treten nahezu völlig dahinter zurück. Am Karsamstag bleibt das Offizium die einzige Liturgie bis zur Feier der Paschavigil (außer wenn am Vormittag noch katechumenale Gottesdienste gehalten werden). 1.1.1.3 Zusammenfassung: Merkmale des Offiziums an den vorösterlichen Tagen in den Ordines Romani Unterlassungen Für das Offizium der Hohen Woche gilt grundsätzlich die Quadragesima-Ordnung, die durch einige Sonderbestimmungen ergänzt wird. In den letzten Tagen vor Ostern verstummt der Glockenruf zur gottesdienstlichen Versammlung: zunächst auf Karfreitag und Karsamstag beschränkt 204 , kann auch der Gründonnerstag einbezogen werden 205 ; oder es herrscht Stille bereits ab der Vesper vom Mittwoch der Hohen Woche. 206 Erst zur Feier der Osternacht, näherhin der Messe, wird das Signal erneut gegeben und die Glocken dürfen wieder läuten. Häufig als erste und wichtigste Anordnung für die auf Ostern hin geprägte Zeit der Quadragesima nennen die betreffenden Ordines die Unterlassung gewohnter Wortelemente im Offizium und in der Messfeier, die an markanten Punkten (Passionssonntag/ in mediana, Palmsonntag, Hoher Donnerstag) gestuft zunimmt, bis sich das Offizium an den letzten drei Tagen der Hohen Woche schließlich in jener scheinbar reduzierten, in Wahrheit aber ursprünglichen Form zeigt, die auch in späteren Jahrhunderten gegenüber Anreicherungen und Überformungen resistenter bleiben wird als zu anderen liturgischen Anlässen: 207 Zwei Wochen vor Ostern entfällt die trinitarische Doxologie bei den Responsorien, in der Hohen Woche auch zum Invitatorium und bei der Psalmodie; 208 an den letzten drei Tagen hat das Offizium weder Eröffnungsruf noch Invitatorium, keine Akklamationen, Litaneien, Segenssprüche etc. In den Laudes, der Vesper und den Tageshoren entfallen die Kurzlesungen und man singt keine Responsorien oder Versikel; in den Tageshoren hat die Psalmodie keine Antiphonen; generell gibt es keinen Hymnengesang. 209 Die Gebetsformeln vor und nach den Lesungen und andere Gebete werden weggelassen oder wie das Vaterunser still gebetet. In der archaisch anmutenden Feier der Nacht- und Morgenhore des Gründonnerstags und insbesondere am Karfreitag und Karsamstag kommen wie sonst kaum jemals während des liturgischen Jahres Psalmen und Antiphonen, Lesungen und Responsorien als die tragenden Elemente des Offiziums zur Geltung, auf die stilles Gebet und eine schlichte Oration antworten. 204 Die früheste Erwähnung, dass das (Glocken-) Zeichen ab Karfreitag verstummt - nec signum non pulsaverit usque in sabbato sancto ad vigilia -, findet sich in OR 17,93 (ebd. 188); OR 30A,6 (ebd. 456) macht beim Schweigen der Glocken für die Lesungen zur 8. Stunde des Karfreitags eine Ausnahme. 205 Gemäß OR 28,7 (ebd. 392f) herrscht am Gründonnerstag nach den Vigilien Stille; OR 31,33 (ebd. 496) und OR 32,3 (ebd. 517) zufolge am selben Tag erst nach der Vesper. 206 OR 29,8 (ebd. 438). 207 Vgl. B AUMSTARK , Gesetz, und K LÖCKENER , Auswirkungen. 208 OR 12,15 (SSL 23, 463 A NDRIEU ) bietet diese Abstufung ab dem Palmsonntag, die meisten Quellen ab Gründonnerstag. 209 Auch nicht während der Osteroktav, was bestimmt nicht mit dem Verzicht auf Feierlichkeit erklärt werden kann, sondern nur mit der für die römische Liturgie typischen - und in dieser Zeit bewahrten - Resistenz gegenüber nichtbiblischen Gesängen wie es die meisten Hymnen sind; nach B AUMSTARK , Gesetz 1-2. <?page no="42"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 34 Leseordnung Eine besondere Regelung erfährt in den ältesten Quellen der römisch-fränkischen Liturgie das Nachtoffizium mit seinen ausgedehnten Lesungen. Die verbreitete Bahnlesung des Heptateuch ab Septuagesima bis zum 15. Tag vor Ostern 210 oder ab Quinquagesima bis zum 8. Tag davor 211 endet also entweder am (ersten) Passionssonntag oder am Palmsonntag. Sie wird bis zum Pascha 212 , in anderen Quellen bis zum Hohen Donnerstag 213 , von der Lektüre des Jeremiabuches 214 oder prophetischer Texte unde ad passionem Christi convenit aus Jesaja sowie den Klageliedern abgelöst. 215 Frühe Leseordnungen, in denen die drei vorösterlichen Tage bereits separat behandelt werden, enthalten für die Vigil meist nur den Hinweis auf die Klagelieder - hierfür geben sie Anfang und Ende der zu lesenden Abschnitte an - und auf „passende“ Väterlesungen ad ipsum diem pertinentes. 216 Am Gründonnerstag und Karfreitag bevorzugt man für die patristische Lesung der 2. Nokturn sehr bald die christologische Auslegung von Ps 63(64) aus dem Psalmenkommentar von Augustinus 217 und wählt für die 3. Nokturn Passagen über die Einsetzung der Eucharistie und die Gaben des Geistes aus dem ersten Korintherbrief (HoDo) sowie aus dem Hebräerbrief Perikopen über Christus, den Hohepriester und im Leiden gehorsamen Sohn sowie über das ein für alle Mal von Christus dargebrachte Sündopfer (KarFr). 218 Abgesehen von den Lamentationen 219 und, seltener, dem Hinweis auf die neutestamentliche Lesung, 220 sind die Angaben für den Karsamstag häufig unspezifisch. In den Lektionaren zeichnet sich generell die Tendenz ab, die Lesungen einerseits genauer festzulegen - von der Nennung der Bücher (die ursprünglich zur Gänze gelesen werden) über die Angabe der Incipits bis hin zur exakten Perikopierung 221 -, die andererseits mit der allmählichen Kürzung der Perikopen einhergeht. Sonderriten: Licht und Feuer Aus den frühmittelalterlichen Quellen ab der Karolingerzeit wird ein charakteristischer Umgang mit Feuer und Licht an den Tagen von Gründonnerstag bis Karsamstag erkennbar, dessen Variantenreichtum ein sehr komplexes Bild ergibt. 222 210 OR 13A,1f (SSL 23, 481f A NDRIEU ); davon abhängig OR 13B,1 (ebd. 499); OR 13C,1 (ebd. 513); OR 13D,1 (ebd. 521). 211 OR 14,2 (SSL 24, 39 A NDRIEU ); OR 16,5 (ebd. 147). 212 OR 13A,2 (ebd. 482); OR 13D,2 (ebd. 521). 213 OR 13B,2 (ebd. 499); OR 13C,2 (ebd. 513). 214 Wie Anm. 212 und Anm. 213: OR 13A-D (ebd.). 215 OR 14,3 (ebd. 40); OR 16,6 (ebd. 148). 216 OR 13B,3.4.5 (ebd. 499f). 217 Die interpolierte Angabe OR 13A,4 (ebd. 483) bietet am Karfreitag an dieser Stelle Ps 69(70). 218 OR 30A,2.5.12 (ebd. 455f); OR 30B,3.26.36 (ebd. 467; 470f); OR 28,9.29.49 (ebd. 393; 397; 401); für Karsamstag geben diese Ordines die pauschale Anweisung sicut superius diximus (taxavimus); vgl. OR 13A,3.4 (ebd. 482), dessen Absätze 3-5 präzisierende fränkische Ergänzungen sind, wobei auch hier der KarSa unbestimmt bleibt; unübliche Angaben für die Psalmenexegese bieten am KarFr die Hss Montpellier 412 mit Ps 60(61) und Rom Vat. Lat. 6018 mit Ps 64(65); nach A NDRI- EU , Ordines II, 483. 219 OR 13B,5 (ebd. 500) bestimmt den Gesamtumfang der drei Lesungen aus den Klageliedern. 220 OR 13C,5 (ebd. 513) nennt die Klagelieder pauschal und die Incipits der Lesungen aus dem Hebräerbrief. 221 Dieses Stadium der Entwicklung wird erst im 2. Jahrtausend erreicht. 222 Die überlieferten Praktiken unterschiedlicher Herkunft folgen keiner chronologisch-linearen Entwicklung, sondern bestehen zu gleicher Zeit und unter wechselseitigem Einfluss nebeneinander. <?page no="43"?> 1.1 Kodifi im Frühmittelalter 35 Die Bestimmungen betreffen die Verwendung von teils funktionalem, teils liturgisch-symbolischem Licht und Feuer in und außerhalb der Kirche, an allen drei vorösterlichen Tagen, an den Kartagen oder auch nur am Gründonnerstag oder am Karsamstag. Primär geht es dabei um die Versorgung mit Licht für die Vigilien, die an den Kartagen anders bewerkstelligt wird als in gewöhnlichen Nächten. Während man üblicherweise wohl unmittelbar vor dem Gottesdienst das benötigte Licht entzündet, kennen manche Ordines einen besonderen Ritus bereits am Nachmittag des Gründonnerstags, der am Karfreitag und Karsamstag (für die Paschavigil) wiederholt wird 223 : Man schlägt aus einem Stein oder einer Brennlinse sogenanntes Neues Feuer 224 , das zweifach verwendet wird: erstens kann an einem verborgenen Ort etwas davon für die Feier der Osternacht aufbewahrt werden (in sabbato sancto ad inluminandum cereum) 225 , zweitens entzündet man daran eine Kerze und trägt sie in stiller Prozession in die Kirche 226 , um damit die normale Kirchenbeleuchtung (Kerzen) und die Lampen (vor dem Altar) anzuzünden, die für den Rest des Tages bis zu den Vigilien am folgenden frühen Morgen des Karfreitags brennen bleiben, 227 um dann neuerlich gelöscht zu werden: 228 „They all agree that illumination returned to the church after the new fire had been brought in procession into the building, at times ranging from 11.00 a. m. (Pontificale Romano-Germanicum [PRG]) to 3.00 p. m. (OR 26); and it is assumed that until the arrival of the new fire the lights had remained extinguished since Tenebrae. For between the conclusion of Matins/ Lauds and the commencement of Mass in the late afternoon or evening of Maundy Thursday, no liturgical Hier ist nochmals auf die umfassende Studie von M AC G REGOR , Fire, sowie auf die übersichtliche Darstellung bei B UCHINGER , Feuer, zu verweisen. 223 OR 26,14 (SSL 24, 329 A NDRIEU ); OR 27,13 (ebd. 350f); OR 29,14.29.45 (ebd. 440; 442; 443). Das dreifache Neue Feuer (HoDo, KarFr, KarSa) gallikanischer Herkunft ermöglicht zudem das rituelle Auslöschen von Licht - anfangs von sieben Lampen während der Morgenhore, später auch der sonstigen Kirchenbeleuchtung während der Vigil - zunächst am KarFr und am KarSa, zuletzt auch HoDo (OR 26,14 [ebd. 329]; OR 29,11 [ebd. 438]), womit dieser Ritus seine volle Entfaltung erreicht. Stadtrömische Praxis hingegen ist das bloße Verbergen von Licht am Karfreitag (vgl. OR 16,36 [ebd. 152]; OR 17,98 [ebd. 189]; OR 23,24 [ebd. 272]; dass Licht vom Gründonnerstag aufbewahrt werde, wie Papst Zacharias schreibt (s. o. Anm. 110), ist sonst nicht belegt; monastischen Ursprungs könnte der Brauch sein, am Karsamstag gar kein (OR 16,36 [ebd. 152]) oder nur ein einziges Leselicht zu verwenden (OR 30B,36 [ebd. 471]); nach M AC G REGOR , Fire 21-30. 224 Das Neue Feuer als vorösterlicher kirchlicher Ritus entstammt nicht römischer Praxis - laut päpstlicher Auskunft an Bonifatius wird altes Licht vom Hohen Donnerstag (de facto eher vom Karfreitag) für die Osternacht aufbewahrt -, sondern ist das Ergebnis der Inkulturation nordeuropäischer paganer Feuerriten, die sich im Zusammenhang mit der Erneuerung durch das Osterereignis christlich interpretieren ließen; M AC G REGOR verweist dazu auf die bis heute maßgebliche Untersuchung von F RAZER , J. G., The Golden Bough (13 Bde.), London: Macmillan 1923. Dass es üblich wird, das Feuer zu segnen, geht aus den Ordines Romani bis zum PRG nicht hervor. Segensformulare für das Neue Feuer wurden entweder eigens geschaffen oder, aus kirchlichen Lichtfeiern stammend, dafür adaptiert; etwa 40 derartige Gebete (v. a. aus Quellen des 2. Jtds.) dokumentiert M AC G RE- GOR , Fire 457-467. Eines davon ist im PRG enthalten (siehe unten Kapitel 1.2.1). 225 OR 26,5 (SSL 24, 329 A NDRIEU ); OR 27,8 (ebd. 349); OR 29,16 (ebd. 440); OR 28,27 (ebd. 397); OR 31,32 (ebd. 495f); sie alle bezeugen die fränkische Praxis. Der römische OR 23,24 (ebd. 272) hingegen merkt lediglich an, dass in der Osternacht das am Karfreitag verborgene Licht, quod de VI feria absconditum est, verwendet wird. 226 OR 26,9 (ebd. 327); OR 29,17 (ebd. 440); OR 27,11 (ebd. 350); OR 31,30 (ebd. 495); ab dem 10./ 11. Jh. sind als Begleitgesänge Litaneien und Psalmen (v. a. Bußpsalmen) bezeugt; nach M AC G REGOR , Fire 155. 227 OR 26,9-10 (SSL 24, 327 A NDRIEU ); OR 27,11-12 (ebd. 350); OR 29,17-18 (ebd. 440); OR 31,30-31 (ebd. 495). 228 OR 26,13 (ebd. 328f). <?page no="44"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 36 light would have been required in church. Once lit, the lights remained burning throughout the remainder of Maundy Thursday until they were once again extinguished at Tenebrae of Good Friday. This pattern was repeated after the liturgy of Good Friday afternoon, in readiness for the final extinguishing of the lights at Tenebrae of Holy Saturday.“ 229 Im Verlauf der drei Nokturnen werden wiederum zuerst die funktionalen Lichter, dann auch die sieben Lampen vor dem Altar während der Matutin/ Laudes ausgelöscht. Wie viele Kerzen die Nacht hindurch brennen, hängt von der Kirchengröße und den Gepflogenheiten ab und variiert, doch kommt man der Symmetrie der drei Nokturnen wegen häufig auf eine durch drei teilbare Zahl. 230 Die Bestimmung zweier Ordines, nach dem Karfreitagsgottesdienst in ipsa nocte in ecclesia kein Licht mehr zu entzünden, sondern es zu verbergen und den Blicken aller bis zum Samstag zu entziehen, 231 wertet M AC G REGOR als Indiz für eine ursprünglich rein psalmodische Liturgie ohne Lesungen in völliger Dunkelheit am Karsamstag, 232 was freilich von keiner Quelle bezeugt ist und folglich hypothetisch bleiben muss. Das Auslöschen der Kerzen und Lampen während der Vigil und Matutin/ Laudes ist in den fränkischen Ordines Romani der Karolingerzeit breit bezeugt und detailliert geregelt. Da es aber ohne explizite verbale Deutung geschieht, bleibt letztlich unklar, ob diese Handlung funktional oder theologisch begründet ist und wie sie entsprechend zu interpretieren wäre. 233 Primäre und sekundäre Tagzeiten Die ausdrücklichen Bestimmungen zum Offizium der letzten Tage vor Ostern konzentrieren sich in den Ordines Romani im Wesentlichen auf die Nacht- und Morgenhoren (Vigilien und Matutin/ Laudes), deren Zeitablauf, Texte und Gesänge sowie Lichtriten speziell geregelt werden. Der für diese Horen aufgewendeten theologischen und rubrikalen Sorgfalt entspricht ihr selbstverständlich gemeinschaftlich-feierlicher Vollzug. Ähnlich zeitintensiv und anspruchsvoll wie die Nokturnen sind am Gründonnerstag und Karfreitag nur die jeweiligen Hauptgottesdienste, deren Vorbereitung und Feier den weiteren Tagesverlauf weitgehend beanspruchen. Am Karsamstag nimmt diese Stelle die im 8. Jh. bereits auf den frühen Nachmittag verschobene Osternachtfeier ein. 234 Die übrigen Offiziumshoren finden deshalb privatim oder rudimentär in die Hauptfeiern integriert statt oder sie entfallen. Wo infolge der zeitlichen Vorverschiebung der tagesspezifischen Liturgien in der zweiten Tageshälfte Leerstellen entstehen, ergänzt man die fehlenden Horen unter Verwendung vorhandener Texte: die Vesper 229 M AC G REGOR , Fire 35f. 230 Z. B. 39 Kerzen (OR 29,12 [SSL 24, 439 A NDRIEU ]); 27 (OR 32,5 [ebd. 518]) oder 24 (OR 50, 25,4 [SSL 29, 187 A NDRIEU ]). 231 OR 16,36 (SSL 24, 152 A NDRIEU ); 17,98 (ebd. 187). 232 „It follows, that in the churches to which the two ordines relate, the night office of Holy Saturday was held in total darkness.“ (M AC G REGOR , Fire 18). Das ausdrückliche Zugeständnis tantum una lampada propter legendum (OR 30B,36 [SSL 24, 471 A NDRIEU ]) sei „the result of the inclusion of lessons in the night office for that day.“ (M AC G REGOR , Fire 22). 233 Bisherige Theorien zur Herkunft des Lichtablöschens erörtert M C G RGEOR , Fire 126ff. Eine andere Annahme, dass nämlich erst der Verlust der ursprünglichen Symbolik von Finsternis als Bedingung für die Erfahrung österlichen Lichtwerdens zu ihrer - sekundären - rituellen Implementierung in die Nacht- und Morgenhoren der römisch-fränkischen Liturgie geführt habe, äußert demgegenüber R AFFA , Afania 559-595. Die frühmittelalterlichen Liturgiekommentare füllen diese Lücke und geben den für sie unverständlichen Handlungen allegorisch-symbolische Deutungen. 234 Vgl. dazu F ISCHER , Pascha-Triduum 48-54. <?page no="45"?> 1.1 Kodifi im Frühmittelalter 37 vom Gründonnerstag wird am Karfreitag wiederholt. 235 Darauf folgt die tägliche Komplet. Hoher Donnerstag: Abschluss oder Übergang? Der Gründonnerstag schließt einerseits die Quadragesima ab, andererseits trifft man an diesem Tag bereits liturgische Vorbereitungen für die Paschavigil, in der auch die Neophyten und versöhnten Pönitenten an der Eucharistie teilnehmen können sollen (Benediktion der Öle, Büßeraussöhnung). Das Proprium der Abendmahlsmesse eröffnet die Jahresfeier von Ostern mit der Anamnese der traditio Jesu in den Tod und im Vermächtnis der Eucharistie. Die Bestimmungen zum vorösterlichen Offizium spezifizieren sich während der letzten zwei Wochen vor der Paschafeier ab dem 15. Tag vor Ostern (Passionssonntag, in mediana), weiter am Palmsonntag und noch einmal am Hohen Donnerstag. In den gallikanisierten Quellen gelten die genannten Besonderheiten - reduzierte Feiergestalt, spezielle Vigillesungen, Licht- und Feuerriten - meist schon am Gründonnerstag und lassen die letzten drei Tage der Hohen Woche als liturgische Einheit erscheinen; römischer Tradition entspricht eher die Zäsur am Karfreitag. In den untersuchten Quellen nimmt der Gründonnerstag eine hybride Stellung ein. 236 1.1.2 Das Offizium in den letzten Tagen der Hohen Woche bei Amalar († 850/ 53) Amalar (775/ 80-850/ 53) 237 , zeitweiliger Bischof von Trier (ca. 810-815? ) und von Karl d. Gr. in liturgischen Fragen als Autorität geschätzt und gefördert, hat zahlreiche Kommentare zur Liturgie verfasst, die von Johannes Michael H ANSSENS kritisch ediert sind. Zwei seiner Werke, der mehrbändige Liber Officialis und das Buch De Ordine Antiphonarii, wurden im Karolingerreich rasch rezipiert, da Amalars Liturgieverständnis und -erklärung den Erfordernissen seiner Zeit entgegenkam. Die Herausforderung bestand darin, den Gläubigen einen sprachlich (lateinisch) wie traditionell (römisch) nahezu unverständlich gewordenen Kult zu erschließen. Angesichts der grundsätzlichen Unantastbarkeit der aus Rom übernommenen Riten 238 bedurfte es also einer Interpretation, die - unter Absehung von den enigmatisch bleibenden Texten - einen ansprechenden Sinn zumindest der nonverbalen gottesdienstlichen Vollzüge, vorzugsweise den Umgang mit Elementen, Gerätschaften, Zahlensymbolik etc., vermitteln konnte. Als Schüler Alkuins mit der allegorischen Schriftauslegung 239 vertraut, schien Amalar 235 Am Karsamstag nimmt infolge der Vorverlegung der Osternacht diese Stelle bereits die erste Ostervesper ein. Sie wird - ggf. bis auf das Magnificat mit Antiphon, Hymnus und Oration gekürzt - entweder in die Paschavigil integriert (in die Pause zwischen Tauffeier und Eucharistiefeier oder nach der Kommunion gegen Mitternacht) oder an die Feier angehängt. 236 Vgl. ausführlicher B UCHINGER , Triduum. 237 Die früher angenommene Verbindung zu Metz sei nach heutigem Wissensstand nicht mehr haltbar und daher die gängige Bezeichnung ,Amalar von Metz‘ durch ,Amalar von Trier‘ zu ersetzen, wie u. a. die quellenkritischen Arbeiten von S TECK , Liturgiker und D IÓSI , Amalarius (hier: 253), ergeben haben. 238 „Im Kern ging es um dieses eine: Wirksame Liturgie gründete sich im Jenseitigen und mußte von Heilsmittlern gestiftet sein. Auffinden konnte man sie darum in den apostolisch gegründeten Gemeinden; wie diese sich als Ort der wahren Lehre bewährten, so auch der rechten Liturgie. Rom, das … bevorrechtigter Ort der Glaubenstradition zu sein beanspruchte, gewann Autorität ebenso für seine Liturgie.“ (A NGENENDT , Geschichte 353); diese ist sakrosankt, denn: „Ob ihrer überirdischen Dignität kann der Mensch solche Rituale nicht produzieren, auch nicht in Form oder Ablauf umgestalten, nicht einmal zeitlich oder örtlich variieren.“ (Ebd. 352). 239 Neben dem wörtlichen Sinn eines Textes ist sie eine jener drei spirituellen Auslegungsweisen, mit denen sich auch Augustinus, auf den sich Amalar gerne beruft, ausführlich befasst hat: Die allego- <?page no="46"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 38 diese Methode zur Erklärung der Liturgie geeignet. Wo er, wie er einräumt, den ursprünglichen Sinn liturgischer Handlungen nicht mehr ergründen kann oder nicht für wichtig hält, verlässt er sich auf sein Empfinden. Im Vorwort zum Liber Officialis schreibt er: „Im jüngst vergangenen Sommer schienen mir - gleich als säße ich in einer Krypta - die Lichtfunken dessen, was ich [zu wissen] ersehnte, durch ein kleines Fenster bis zu unserer Wenigkeit zu strahlen. Seit langem begierig vor Hunger, ließ ich mich nicht von der Furcht vor irgendeinem Meister zügeln, sondern habe alsbald, Gott dankend, geschrieben, was ich erfuhr.“ 240 Indem Amalar eine liturgiefremde Methode, nämlich die Allegorese 241 , benützt, um „Riten und Gebete - oft sehr sachfremd und gekünstelt - auf einen tieferen Sinn hin zu erklären“ 242 , tritt die Erfahrung der im konkreten liturgischen Handeln anamnetisch vergegenwärtigten Heilsgeschichte zugunsten der gesonderten Betrachtung und Interpretation einzelner Riten zurück. Der schon vor Amalar im Westen nicht gänzlich unbekannte, doch anders als im Osten belehrend-erbauliche Liturgiekommentar will die Gläubigen einbeziehen, indem er „dem äußeren Verlauf der Liturgie einen Sinn unterlegt, ohne dass die Sprache des Gottesdienstes unbedingt verstanden werden muss.“ 243 Die von Amalar intendierte Wirkung des in memoriam reducere zielt auf die psychologische Erinnerung des Einzelnen, nicht die liturgisch-anamnetische Vergegenwärtigung durch die Gottesdienstversammlung. 244 Obwohl keineswegs unwidersprochen, zeitweise auch heftig bekämpft 245 , hat die allegorische Methode Amalars das mittelalterliche Liturgieverständnis entscheidend und nachhaltig geprägt. rische Deutung lehre, was zu glauben sei, die moralisch-tropologische Deutung, wie sich die Erkenntnis in der Lebensführung auszuwirken habe, und die anagogische Deutung, was bei der eschatologischen Vollendung des Menschen zu erhoffen sei. 240 Praeterita proxima aestate videbatur mihi, quasi in crypta posito, fenestratim lucis scintillas radiare usque ad nostram parvitatem de re quam desiderabam. Longa esurie avidus, non frenum passus sum timoris alicuius magistri, sed ilico mente gratias agens Deo, scripsi, quod sensi. (LibOff. Praefatio, 2 [StT 139, 19 H ANSSENS ]). Zum Liturgieverständnis Amalars vgl. K OLPING , Amalar; wertvolle liturgietheologische Anstöße zur künftigen Erforschung der westlich-mittelalterlichen Liturgieallegorese gibt M ESSNER , Hermeneutik 284-319; 414-434. 241 Die allegorische Textinterpretation wurzelt in der griechischen Antike und wird von jüdischen und christlichen Autoren (Philo v. Alexandrien, Origenes u. a.) zur Auslegung der Bibel übernommen. Amalar kann sich bei seiner im Westen „erstmals sehr konsequent“ (M ESSNER , Hermeneutik 416) durchgeführten allegorischen Liturgieerklärung methodisch sowohl auf Vorbilder im Osten wie vereinzelt auch im frühmittelalterlichen Westen berufen, freilich mit einer entscheidend anderen Auffassung von der Bildhaftigkeit der Liturgie. Für den Osten gilt: „Die der allegorischen Liturgieerklärung und der Ikonentheologie gemeinsame Grundlage ist das Konzept einer Anamnese durch das Medium des Bildes.“ (ebd. 319). Westlichem Verständnis zufolge führt „das Bild … den Betrachter nicht in die Gegenwart der Heilsmysterien, sondern gibt ihm Anlaß zur frommen Betrachtung; seine Funktion ist nicht anamnetisch-verkündigend, sondern pädagogisch-meditativ.“ (ebd. 424). 242 So das Urteil von E MMINGHAUS , Amalarus 505. 243 S UNTRUP , Bedeutung 50. 244 Vgl. M ESSNER , Hermeneutik 424. 245 Ein scharfer Kritiker der allegorischen Liturgieerklärung war der theologisch hoch gebildete Diakon Florus von Lyon, der die seinshafte Heilswirklichkeit der Liturgie durch die bloß auf das Heilsgeschehen verweisende Dimension gefährdet sah. Zudem hat „für Florus […] die Allegorese nur den von den Vätern benutzten Erkenntniswert für die Zukunft, nicht aber den Erinnerungswert, den Amalar aus der anschaulichen Darstellung gewinnt.“ (K OLPING , Amalar 458). Die von Florus kolportierte angebliche Verurteilung der Liturgieauffassung Amalars auf einer Synode von Quierzy (838) ist indes nicht nachweisbar; S TECK , Liturgiker 113-115. <?page no="47"?> 1.1 Kodifi im Frühmittelalter 39 1.1.2.1 Liber officialis Der vierbändige Liber Officialis erscheint 822 und ist äußerst erfolgreich; 832 erreicht er die dritte Auflage. Amalar kommentiert im Anschluss an zwei Vorreden und die jeweilige Einleitung zunächst die Liturgie im Jahreskreis (Buch 1), dann die liturgischen Ämter und Dienste (Buch 2) sowie detailliert die Feier der Eucharistie (Buch 3) und ausführlich das Offizium im Jahres- und im Osterfestkreis sowie ergänzende Fragen (Buch 4). Quadragesima und Passionszeit Die ersten dreißig Kapitel im ersten Buch des Liber Officialis widmen sich der Erklärung der vorösterlichen Bußzeit, beginnend mit der Vorfastenzeit ab Septuagesima 246 , deren siebzig Tage die Jahre der babylonischen Gefangenschaft bezeichnen 247 , geprägt von Mühe, Trauer, Enthaltsamkeit von der Liebe zu dieser Welt und einem demütigen Sinn, bis sich die Traurigkeit durch die Auferstehung des Herrn in Freude verwandle und die Heimkehr ermögliche. Sexagesima sei, obwohl noch trennend und todbringend die Sünde zwischen Gott und Mensch stehe, durch die Vollkommenheit der guten Werke bezeichnet, die den angestrebten Lohn der Herrschaft mit Christus im Reich des Vaters mit sich bringt. 248 Sinnbild dieser Werke wiederum sei die Quinquagesima, da sie mit allen fünf Sinnen zu verrichten seien. 249 Die Zahlensymbolik der Quadragesima - sie beginnt wie in den Ordines Romani am ersten Sonntag nach dem Aschermittwoch, ab dem allgemein gefastet wird, und endet mit Gründonnerstag 250 - begründet Amalar biblisch: vierzig Generationen im Stammbaum Jesu, vierzig Jahre Königsherrschaft Sauls, vierzig Tage fasten Mose und Elija, vierzig Tage fastet Jesus und kämpft gegen die teuflische Versuchung. Die altkirchliche Heilszeit des sacramentum quadragesimale scheint hier zum Zeichen des irdischen Lebens in Mühsal geworden zu sein (laboriosi huius temporis sacramentum). 251 Im vierten Buch ergänzt Amalar die Besonderheiten des Offiziums in den Wochen vor Ostern (Kapitel 18-20): Ab Septuagesima werden in den Sonntagslaudes die in der römischen Ordnung ersten zwei Psalmen Ps 92(93) und Ps 99(100) durch die Psalmen Ps 50(51) und Ps 117(118) aus der benediktinischen Sonntagsordnung ersetzt 252 , um noch nicht vollkommene Menschen zu der ihnen irdisch („hier“) möglichen Vollkommenheit anzuleiten (per 246 LibOff 1, 1,1-23 (StT 139, 26-36 H ANSSENS ); als Vorlage diente Amalar u. a. OR 27; vgl. A ND- RIEU , Ordines III, 343. 247 Für die biblische Herleitung zieht Amalar Sach 1,12 und Jer 29,10 heran. 248 LibOff 1, 2,1.7 (StT 139, 36; 39 H ANSSENS ). 249 LibOff 1, 3,2 (ebd. 40). 250 Finitur quinta feria ante pascha Domini (LibOff 1, 4,4 [ebd. 45]). In einem gewissen Widerspruch dazu stehen die von Amalar aufgeführten acht Eigenheiten der Quadragesima (LibOff 1, 4-16 [ebd. 44-110]): Die darunter fallende 6., 7. und 8. Besonderheit dieser Zeit betreffen den Gründonnerstag (ebd. 66-90), den Karfreitag (ebd. 90-99; 99-107; 107f) und den Karsamstag (108- 110). In seiner Studie zum Karfreitag beobachtet V OLGGER , dass dieser Tag „bei Amalar einerseits zur Quadragesima zählt, andererseits losgelöst verstanden wird vom alten triduum sacratissimum crucifixi, sepulti et suscitati und zugleich eingebunden ist in das neugewachsene triduum ante pascha“ (V OLGGER , Feier 127) und stellt fest, „dass Amalar den Begriff triduum sacrum als solchen selbst nie verwendet, sondern ihn lediglich mit Autoren zitiert. LibOff 4,21 überschreibt Amalar nicht mit der zu seiner Zeit durchaus gebräulichen Form triduum sacrum, sondern er zählt die drei Tage einzeln auf: De caena domini et parascheve ac sabbato sancto.“ (Ebd. 126, Anm 970). 251 LibOff 1, 4,2-3 (StT 139, 44f H ANSSENS ). 252 Vgl. OR 17,90 (SSL 24, 187f A NDRIEU ), der diese Psalmen für die Laudes an den Sonntagen der Quadragesima diebus dominicis a quadraginsime incipiente anweist; der ältere OR 16,29 (ebd. 151) hingegen täglich ab dem 15. Tag diebus dominicis sicut et cottidianis diebus a quinquagissimo incipiente, d. h. in der Passionszeit. <?page no="48"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 40 hos duos psalmos informantur hi qui nondum sunt perfecti, etiam illo modo quo homines hic perfecti esse possunt 253 ): Wer seine Sünde beweint hat, dessen Furcht vor der Vergeltung Gottes, die Ps 50(51) einschärft, wird durch den Geist, der die Trauernden tröstet, vertrieben, und er schreitet fort zur Hoffnung und bekennt mit Ps 117(118) die Güte Gottes. 254 Der in den Vierzig Tagen häufig wiederkehrende Ps 90(91) 255 rufe der Kirche, die in der Quadragesima einen größeren Kampf zu bestehen habe als zu jeder anderen Zeit, häufig das Vorbild derer in Erinnerung, die „in den Kampf gestellt ihre Hoffnung auf Gott setzen und alle Hilfe von ihm erbitten“ (qui in certamine positi in Domino ponunt spem suam, et omne adiutorium ab eo deprecantur 256 ). Während der Passionszeit unterbleibe die trinitarische Doxologie bei den Responsorien, durch die der Menschensohn in Einheit mit dem Gottessohn verherrlicht wird, wegen der näher kommenden Erniedrigung Christi in Verfolgung und Leiden (propter humiliationem capitis nostri proximam). 257 Die zweiwöchige Dauer der Passionszeit entspreche den zwei Zeitaltern des natürlichen Gesetzes und des geschriebenen Gesetzes bis zur Wiederherstellung der Verherrlichung am Ostertag (in qua restauratur omnis amissa glorificatio). In der dritten Woche - dem nun anbrechenden Zeitalter des Gesetzes der Gnade - würden der Kirche all jene von den Vätern erhofften Heilsgüter zugewendet (omnia beneficia redduntur ecclesiae, quae expectaverunt patres nostri 258 ). Der fünfte, sechste und siebte Tag der Hohen Woche Im ersten Buch kommen die Gottesdienste der drei letzten Tage der Hohen Woche als 6.-8. Varietas der Quadragesima zur Sprache. 259 Das Offizium betrifft nur der Entfall des Gloria Patri sowie des Glockengeläuts an allen drei Tagen - hier gegen die faktische Chronologie des biblischen Geschehens triduana sepultura genannt -, den Amalar mit der Grablegung Christi und seinem Verweilen im Grab 260 begründet: 253 LibOff 4, 18,1 (StT 139, 465 H ANSSENS ). 254 LibOff 4, 18,2 (ebd.). 255 Vgl. OR 12,13 (SSL 23, 463 A NDRIEU ). 256 LibOff 4, 19 (StT 139, 467 H ANSSENS ). 257 LibOff 4, 20,4 (ebd. 468). 258 LibOff 4, 20,5 (ebd.). 259 LibOff 1, 11-16 (ebd. 66-110); wie Anm. 250. 260 Amalar berechnet es mit 72 Stunden (LibOff 4, 22,1 [ebd. 472]), also vollen drei Tagen. Der Ansatz einer dreitägigen Grabesruhe auf die Tage von Donnerstag bis Samstag widerspricht zwar der biblischen Chronologie, wurde aber liturgisch einflussreich: Das schon im 2. Jh. bezeugte zweitägige (40-stündige) Fasten, Wachen und Beten in Erinnerung an den entzogenen Bräutigam (Mk 2,20 parr) verbindet sich ab dem 10. Jh. mit einer symbolischen Grablegung: erst des Kreuzes, bald auch des sakramentalen Leibes Christi, der nach der Präsanktifikatenliturgie im Grab deponiert wird und bis zu seiner Erhebung (,Auferstehung‘) am Karsamstag ,begraben‘ bleibt. Die Aufbewahrung der Hostie aus der Messe am Gründonnerstag für die Kommunion am Karfreitag im sepulchrum genannten Kelch und die im 16. Jh. verbreitete Aussetzung des Sakraments in der Monstranz am „Heiligen Grab“ erstreckt die Grabesruhe schließlich vom Abend des Gründonnerstags bis zum Morgen oder Mittag am Karsamstag; vgl. dazu J UNGMANN , Andacht; vgl. auch B U- CHINGER , Triduum 268 (dort Anm. 36). <?page no="49"?> 1.1 Kodifi im Frühmittelalter 41 LibOff 1 12. De sexta varietate caenae Domini 12. Von der sechsten Besonderheit am Gründonnerstag 1. Sexta varietas est in quinta feria quam vocamus caenam Domini. In ea nocte non cantatur Gloria Patri et Filio et Spiritui Sancto. … 1. Die sechste Besonderheit gibt es am Donnerstag, den wir Hohen Donnerstag nennen. In dieser Nacht wird Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist nicht gesungen. 33. Per tres continuos dies, id est quinta feria, sexta feria, septimaque, triduanam sepulturam eius celebramus, ac per hoc, ut compaginemur humilitati sepulturae eius, amittimus excelsa nostra, id est Gloria Patri et campana signa, sive alia, quae congruentius tractabuntur, cum ad dilucidandum ea perventum fuerit. 261 33. Drei aufeinanderfolgende Tage lang, also am Donnerstag, Freitag und Samstag, feiern wir die drei Tage seines Begräbnisses, und indem wir uns mit der Erniedrigung seiner Grablegung verbinden, lassen wir unsere Verherrlichung im Ehre sei dem Vater und die Glockenzeichen aus sowie andere Dinge, die passender behandelt werden, sobald wir zu ihrer Erklärung gelangt sind. Im Hauptgottesdienst am Gründonnerstag findet die Weihe der Öle statt; Amalar gibt außerdem eine allegorische Erklärung der Fußwaschung und der Reinigung der Kirchenböden und kommentiert die Büßeraussöhnung. 262 Obwohl Amalar die Präsanktifikatenliturgie bekannt ist, plädiert er dafür, die eucharistischen Gestalten nicht aufzubewahren 263 und beruft sich dafür auf die Auskunft aus Rom, dass im Papstgottesdienst am Karfreitag niemand kommuniziere. 264 Amalar untermauert das mit dem biblischen Motiv des geschlagenen Hirten und der Zerstreuung der Schafe (Sach 13,7); wir mögen daher warten, bis Christus das Sakrament seines Leibes und Blutes am Kreuz gegeben und in seiner Auferstehung erneuert habe, und das heilbringende Sakrament nicht schon gesättigt essen und trinken, wie die Apostel beim Abendmahl, sondern nüchtern. 265 Die gemäß OR 27,34 von der Vesper am Hohen Donnerstag bis zur Osternacht entblößt bleibenden Altäre versteht Amalar als Hinweis auf die Flucht der Jünger: nuda sint altaria, quod aliud non significat, ni fallor, nisi fugam apostolorum. 266 Zu den Besonderheiten am Karfreitag zählt außer dem Hauptgottesdienst die Enthaltung vom Friedenskuss, um nicht an den Brüdern dasselbe Unrecht zu begehen, das Christus von seinem Verräter widerfahren sei. 267 Bezüglich der Kreuzverehrung ist 261 LibOff 1, 12,1.33 (ebd. 66; 78f). 262 LibOff 1, 12,36-40 (ebd. 80-84). 263 LibOff 1, 12,34 (ebd. 79). Am Gründonnerstag sei nämlich von den Jüngern das typologische Lamm und in dem Kelch, den Jesus zuerst ihnen gereicht hat, das Alte Testament verzehrt worden, um zu dem kommenden Neuen zu gelangen, das wir in der Auferstehung des Herrn zu erwarten haben, weshalb der Leib Christi eher verzehrt als aufbewahrt werden müsse - Ratione suprascripta potius est consummandum corpus quam reservandum (ebd.) - umso mehr als der Herr selbst nicht mehr davon trinken werde, „bis zu dem Tag, an dem ich mit euch von neuem davon trinke im Reich meines Vaters.“ (Mt 26,29). 264 LibOff 1, 15,1 (ebd. 107): In ea statione ubi apostolicus salutat crucem, nemo ibi communicat. 265 LibOff 1, 15,2 (ebd. 107f). 266 LibOff 1, 12,53 (ebd. 89). 267 LibOff 1, 13,18 (ebd. 98). <?page no="50"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 42 Amalar bewusst, dass keineswegs in jeder Kirche eine Kreuzreliquie verehrt werden kann, sondern Abbilder des Kreuzes, wobei freilich non deest virtus sanctae crucis in eis crucibus, quae ad similitudinem dominicae crucis factae sunt. 268 Für den Karsamstag erklärt Amalar die Herstellung der römischen Agni Dei aus gesegnetem Wachs, aus denen am Oktavtag von Ostern die Gläubigen in Erinnerung an das unbefleckte, geschlachtete Paschalamm Weihrauch verbrennen, um ihre Häuser mit seinem Wohlgeruch zu erfüllen: ex his incensum adolendum et adsuffumigandum domibus suis. 269 Die Paschavigil aber müsse, unter Berufung auf die Autorität der Väter, als Nachtfeier begangen werden. 270 Im vierten Buch des Liber Officialis widmet sich Amalar den über den Entfall der Doxologie hinausgehenden Eigenheiten des Offiziums der vorösterlichen Tage, das die Erniedrigung Christi im Verzicht auf Feierlichkeit nachzuahmen sucht: LibOff 4 21. De caena Domini et parascheve ac sabbato sancto 21. Vom Abendmahl des Herrn, vom Karfreitag und Karsamstag 3. Quantum potuit institutor officii, conformari nos voluit sua ammonitione Christi passioni et causis apostolorum, qui obstricti erant tempore passionis, nec non et disiungi moribus persecutorum. 3. Soweit der Gestalter des Offiziums vermochte, wollte er uns durch seine Belehrung für das Leiden Christi und die Lage der Apostel rüsten, die sich in der Zeit der Passion schuldig gemacht hatten und uns außerdem von der Gesinnung der Verfolger trennen. 4. Primo dicendum est quod omnis doctrina pastoris taceatur in ecclesia his diebus, id est caena Domini, et parascheve, ac sabbato sancto. Non dicitur: Domine, labia mea aperies, non datur benedictio legentibus, ammonitio lectionis non ministratur in matutinali officio, post ymnum Zachariae non gubernatur oratio solito more a pastore. 4. Zuerst ist zu sagen, dass in diesen Tagen jede Unterweisung des Hirten in der Kirche unterbleiben soll, d. h. am Gründonnerstag, am Karfreitag und am Karsamstag. Man sagt nicht Herr, öffne meine Lippen, und denen, die lesen, wird kein Segen gegeben und keine Ermahnung durch die Lesung im morgendlichen Gottesdienst [Laudes] erteilt; und nach dem Lobgesang des Zacharias leitet der Hirt nicht wie sonst die Oration ein. 5. Ideo haec non fiunt, quia pastor noster Christus recessit 271 , et arietes gregis, qui iam praedestinati erant, ut pastores fierent ecclesiae, dispersi sunt. Minores quique faciunt suum officium typo discipulorum, qui forsan minus cogniti erant discipuli esse Christi, et typo mulierum, quae praesentes adesse poterant humiliationi Christi. Solent enim aliqui cantores amittere versum ante Benedictus 5. All dies wird deshalb nicht getan, weil unser Hirt Christus fortgegangen ist, und die Böcke der Herde, die schon bestimmt waren, Hirten der Kirche zu werden, zerstreut sind. Es sind die Geringeren, die ihren Dienst nach dem Bild von Jüngern tun, die vielleicht gar nicht wussten, dass sie Jünger Christi waren, und nach dem Bild der Frauen, die auch in der Erniedrigung Christi dazubleiben ver- 268 LibOff 1, 14,10 (ebd. 102). 269 LibOff 1, 17,1 (ebd. 110); vgl. OR 26,7-8 (SSL 24, 326f A NDRIEU ). 270 LibOff 1, 16,1 (StT 139, 108f H ANSSENS ). 271 Das Responsorium Recessit pastor noster am Karsamstag ist Amalar bekannt (LibOAnt, Tab. ad Ant. ad 43,6 [StT 140, 185 H ANSSENS ]). <?page no="51"?> 1.1 Kodifi im Frühmittelalter 43 Dominus Deus Israhel, quia non praecedit lectio; quod non oportet illis facere. Suum officium illi caelebrant, sed pastoris officium 272 reticetur. mochten. Einige Kantoren pflegen nämlich den Versikel vor dem Benedictus wegzulassen, da keine Lesung vorausgeht; was jenen nicht zu tun zusteht. Ihr Amt vollziehen sie, aber der Dienst des Hirten wird verschwiegen. 6. Invitatorium non cantant, ut doceant malum conventum vitare suos, qualis fuit apud Iudaeos de nece Christi. Quanto propius instant passioni, tanto se plus humiliant in officio suo. Igitur in istis noctibus sive diebus penitus amittunt Gloria Patri et Filio et Spiritui sancto. Omnis salutatio 273 deest in istis tribus diebus sive noctibus, ad vitandum salutationem pestiferam, qualem diabolus Iudas exercuit. 6. Sie singen kein Invitatorium, um zu zeigen, dass sie bei sich die schlechte Zusammenkunft vermeiden, die bei den Juden über die Tötung Christi abgehalten wurde. Je näher sie der Passion kommen, desto mehr erniedrigen sie sich bei ihrem Dienst. Deshalb lassen sie in diesen Nächten und Tagen Ehre sei dem Vater … gänzlich weg. In diesen drei Tagen und Nächten entfällt jeglicher Gruß, um jenen todbringenden Gruß zu meiden, den der Teufel Judas ausgeführt hat. 7. Necnon etiam altitudo signorum, quae fiebat per vasa aerea, deponitur, et lignorum sonus, usquequaque humilior aeris sono, necessario pulsatur, ut conveniat populus ad ecclesiam. Potest et in hoc humilior usus ecclesiae Romanae designari antiquis temporibus, quam nunc sit, et praecipue tunc, quando latitabat per criptas propter persecutores. Nam adhuc iunior Roma 274 , quae antiquis temporibus sub uno dominio cum antiqua Roma regebatur, usum lignorum tenet, non propter aeris penuriam, sed propter vetustatem. 7. Außerdem wird auch auf die Erhabenheit der (Glocken-) Zeichen, die durch die ehernen Geräte entsteht, verzichtet, und der Klang von Hölzern, in jeder Hinsicht niedriger als der Klang von Erz, wird nur deshalb geschlagen, damit das Volk zur Versammlung in die Kirche kommt. Es kann darin auch der im Vergleich zu heute demütigere Brauch der römischen Kirche in alter Zeit angezeigt sein, besonders damals, als sie sich wegen der Verfolger in den Katakomben versteckt hielt. Denn noch immer hält das jüngere Rom, das früher mit dem alten Rom unter einer Herrschaft stand, am Brauch der Hölzer fest, nicht des Mangels an Eisen wegen, sondern aufgrund des alten Brauches. 8. Et quia salvatoris nostri humiliatio per sepulturam triduo caelebratur, convenit ut per tres dies, id est quintam feriam, et sextam, et septimam, humiliatio nostri officii subsequatur. 275 8. Und weil die Erniedrigung unseres Erlösers im Grab drei Tage hindurch gefeiert wird, ist es passend, dass die Erniedrigung unseres Dienstes sie drei Tage lang, d. h. vom fünften bis zum siebenten Tag, nachahmt. 272 Gemeint ist der Dienst des liturgischen Vorstehers. 273 Dazu zählt auch der Friedensgruß in der Eucharistiefeier (LibOff 1, 13,18 [StT 139, 98 H ANS- SENS ]). 274 Konstantinopel. 275 LibOff 4, 21,3-8 (ebd. 469f). <?page no="52"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 44 Mit der ihm eigenen Vorliebe für Zahlensymbolik und die auf Augustinus zurückgehende, im Frühmittelalter populäre Lehre der Weltzeitalter deutet Amalar auch die sich aus der üblichen Feierstruktur ergebenden drei mal drei Lesungen und Responsorien als Hinweis auf die alle Zeiten und Geschlechter umfassende Heilstat Christi: LibOff 4 21. De caena Domini et parascheve ac sabbato sancto 21. Vom Abendmahl des Herrn, vom Karfreitag und Karsamstag 9. Novem psalmi, et novem lectiones, ac novem responsorii, qui caelebrantur per tres noctes, insinuant quod Dominus, descendens ad inferiora loca terrae, inde tria genera hominum rapuit et transvexit ad societatem novem ordinum angelorum. Haec tria genera distinguntur in evangelio per eos qui in agro sunt, et per eos qui in molendino sunt, atque per eos qui in lecto sunt. Et quia haec tria genera creduntur fuisse in naturali lege, et in tempore legis litterae, seu tempore prophetarum, merito per tres noctes recoluntur; et propter novem ordines angelorum, quorum nomina legimus per novenarium numerum, eorum reductio colitur ad societatem eorundem angelorum. 9. Die neun Psalmen, neun Lesungen und neun Responsorien, die drei Nächte lang gefeiert werden, legen die Deutung nahe, dass der Herr, der in die Unterwelt hinabstieg, von dort drei Geschlechter von Menschen geraubt und zur Gemeinschaft der neun Chöre der Engel hinübergeführt hat. Diese drei Geschlechter werden im Evangelium als die auf dem Feld, die an der Mühle und die im Bett unterschieden. Und weil man glaubt, dass es diese drei Geschlechter auch in der Zeit des natürlichen Gesetzes und zur Zeit des geschriebenen Gesetzes bzw. zur Zeit der Propheten gegeben hat, erinnert man sie zu Recht während der drei Nächte. Wegen der neun Chöre der Engel, deren Namen wir durch die Neunzahl lesen, wird ihre Rückführung zur Gemeinschaft dieser Engel gefeiert. 10. Memorata tria genera electorum Agustinus ita dilucidat in libro Quaestionum evangeliorum, titulo quadragesimo septimo: Qui sunt in illa nocte duo in lecto, et duae molentes in unum, et duo in agro, de quibus omnibus binis singuli assumentur et singuli relinquentur? 276 Tria genera hominum hic videntur significari. 10. Die erwähnten drei Geschlechter der Erwählten erklärt Augustinus in seinen Quaestiones evangeliorum in Kapitel 47: Wer sind in jener Nacht die zwei auf dem Bett und die zwei Frauen, die gemeinsam mahlen, und die zwei am Feld, von denen jeweils eine/ r mitgenommen und der/ die andere zurückgelassen wird? Drei Menschengeschlechter scheinen hier bezeichnet zu sein. 276 Lk 17,34-35 (Bett, Mühle); par Mt 24,40-41 (Feld, Mühle). <?page no="53"?> 1.1 Kodifi im Frühmittelalter 45 11. Unum eorum qui otium et quietem eligunt, neque negotiis saecularibus neque negotiis ecclesiasticis occupati; quae illorum quies lecti nomine significata est. Alterum eorum qui, in plebibus constituti, reguntur a doctoribus, agentes ea quae sunt huius saeculi; quos et feminarum nomine significavit; quia consiliis, ut dixi, peritorum regi eis expetit; et molentes dixit, propter temporalium negotiorum orbem atque circuitum; quas tamen in uno molentes dixit, in quantum de ipsis rebus et negotiis suis praebent usibus ecclesiae. Tertium eorum qui operantur in ecclesiae ministerio, tamquam in agro Dei, de qua agricultura apostolus loquitur. 277 11. Eines davon sind die, welche Muße und Ruhe wählen und weder durch weltliche noch durch kirchliche Pflichten in Anspruch genommen sind; ihre Ruhe wird durch das Bett bezeichnet. Das andere besteht aus dem Volk, das von Lehrern [Herrschern] geleitet wird und das tut, was von dieser Welt[zeit] ist; diese hat er durch die Frauen bezeichnet; denn, wie gesagt, ihnen ist es förderlich, durch Ratschläge der Kundigen regiert zu werden; dass sie beim Mahlen sind, hat er wegen des Zirkels und Kreislaufs der zeitlichen Aufgaben gesagt. Dass sie freilich mit einer [Mühle] mahlen, hat er gesagt, weil sie sich hinsichtlich eben dieser ihrer Dinge und Aufgaben der Kirche zum Nutzen erweisen . Das dritte [besteht] aus denen, die im Auftrag der Kirche arbeiten, gleichsam im Acker Gottes, von welchem Ackerbau der Apostel spricht. 12. Quoniam ista tria genera non afuisse credimus in omnibus articulis temporum, quae tamen, quamvis electa essent, descendebant ad inferni claustra, et ea in istis diebus descendit Dominus inde auferre et sociare actioni, et cognitioni, et gaudio scilicet angelorum, non immerito per novem psalmos, qui pertinent ad actionem, et novem lectiones quae pertinent ad cognitionem operum Dei, et novem responsorios, qui pertinent ad cantica sanctorum angelorum, nocturnalia officia caelebrantur. 278 12. Weil wir glauben, dass diese drei Geschlechter zu keiner Zeit fehlten, und sie, obwohl sie doch erwählt waren, zu den Pforten der Unterwelt hinabgestiegen sind, und der Herr in diesen drei Tagen hinabstieg, um sie von dort wegzuholen und sie seiner Tat, der Erkenntnis und selbstverständlich der Freude der Engel zu verbinden, werden die nächtlichen Offizien nicht zu Unrecht durch neun Psalmen, die sich auf die Tat beziehen, neun Lesungen, die die Erkenntnis der Werke Gottes betreffen, und neun Responsorien, die zu den Gesängen der heiligen Engel gehören, gefeiert. Geläufig ist Amalar der Ritus des Lichtanzündens und -auslöschens während der nächtlichen Vigilfeiern von Gründonnerstag bis Karsamstag, den er, gestützt auf eine Abhandlung Gregors d. Gr. († 604) 279 , auf den Tod Jesu und seine Grabesruhe deutet. Unverständlich bleibt ihm die römische Praxis des Aufbewahrens von Licht an allen drei vorösterlichen Tagen: 277 Augustinus, Quaestiones evangeliorum II, 44 (CChr.SL 44B, 104-106 M UTZENBECHER ). 278 LibOff 4, 21,9-12 (StT 139, 470f H ANSSENS ). 279 Gregor d. Gr., Moralia in Iob, Liber XV, 29,35 (CChr.SL 143A, 769f A DRIAEN ). <?page no="54"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 46 LibOff 4 22. De extinctione luminum 22. Vom Auslöschen der Lichter 1. Accenduntur in quinta, et sexta, et septima feria, per singulas noctes XXIIII lumina, et extinguntur per singulas antiphonas et responsorios: et fiunt simul LXX duae inluminationes et extinctiones. Totidem enim oris iacuit Christus in sepulchro. Lumen et cantus gaudii et laetitiae participes sunt; extinctio enim luminum signat defectum laetitiae septuaginta duorum discipulorum, et mestitiam eorum, quam habuerunt quamdiu Christus iacuit in sepulchro, sive mestitiam apostolorum quam pertulerunt per septuaginta duas oras quae consecratae sunt Christi sepulturae. 1. Am Donnerstag, Freitag und Samstag werden in den einzelnen Nächten 24 Lichter angezündet und bei den einzelnen Antiphonen und Responsorien ausgelöscht: das macht zusammen 72 Entzündungen und Auslöschungen. So viele Stunden nämlich lag Christus im Grab. Licht und Gesang sind Gefährten der Freude und Fröhlichkeit; das Auslöschen der Lichter zeigt offenbar das Fehlen der Fröhlichkeit der zweiundsiebzig Jünger an und ihre Traurigkeit, die sie empfanden, solange Christus im Grab lag, und auch die Traurigkeit der Apostel, die sie während der zweiundsiebzig Stunden ertragen mussten, die der Grabesruhe Christi geweiht waren. 2. In Romana ecclesia extinguitur totus ignis in sexta feria et reaccenditur. In hoc facto imitatur ignis, fotus et conservatus per congesta lignorum, principalem ignem, id est solem corporeum, qui ab humanis obtutibus se abscondit tempore passionis Domini a sexta ora usque ad oram nonam, ne suo lumine fruerentur qui male gaudebant de ignominia domini sui et creatoris. Hac ratione ignis iste, qui nostris usibus procuratur, potest extingui in sexta feria sextam oram diei et renovari circa nonam oram diei. 2. In der römischen Kirche wird alles Feuer am Freitag gelöscht und wieder angezündet. In dieser Handlung ahmt das durch gesammeltes Holz genährte und aufbewahrte Feuer das bedeutendste Feuer nach, d. h. die irdische Sonne, die sich zur Zeit der Passion des Herrn von der sechsten bis zur neunten Stunde vor dem menschlichen Anblick verborgen hat, damit nicht die ihr Licht genießen sollten, die sich böse an der Schande ihres Herrn und Schöpfers freuten. Deshalb kann dieses Feuer, das nach unseren Bräuchen gehütet wird, am Freitag zur sechsten Stunde des Tages ausgelöscht und um die neunte Stunde des Tages erneuert werden. 3. De quo igne dicit Gregorius in Moralibus: Ignis namque corporeus, ut esse ignis valeat, corporeis indiget fomentis. Qui, cum necesse est ut servetur, per congesta ligna procul dubio nutritur, nec valet, nisi succensus, esse, et, nisi refotus, subsistere. 280 3. Über dieses Feuer sagt Gregor in den Moralia: Das irdische Feuer braucht ja, damit es als Feuer lodern kann, irdisches Brennmaterial. Es wird, was zu seiner Erhaltung nötig ist, ohne Zweifel durch Holzscheite genährt und vermag nicht zu bestehen, wenn es nicht unterzündet wird, und nicht anzudauern, wenn es nicht gehütet wird. 280 Ebd. 769,4-770,6. <?page no="55"?> 1.1 Kodifi im Frühmittelalter 47 4. Quod enim praecipitur in libello qui vocatur de Romano ordine, ut quinta feria, et sexta feria, atque sabbato remaneat 281 ignis circa oram nonam, non est mihi in aperto quid rationis in se contineat, unde mihi aliqua materies tribuatur scribendi, praecipue cum archidiaconus sanctae Romanae ecclesiae retulisset mihi ignotum sibi fore utrum in aliquo loco urbis idem ordo servavetur necne. 282 4. Was nämlich in dem schriftlichen Zeugnis, das ,Römische Ordnung‘ heißt, vorgeschrieben wird, dass nämlich am Donnerstag, Freitag und Samstag das Feuer zur neunten Stunde bleiben solle, davon ist mir nicht einsichtig, welchen Sinn es in sich birgt, von dem her mir irgendein Stoff zum Schreiben zukommen könnte, zumal selbst der Erzdiakon der heiligen römischen Kirche mir berichtet hat, dass ihm nicht bekannt wäre, ob diese Ordnung an irgendeinem [anderen] Ort der Stadt beobachtet würde oder nicht. In der Paschavigil werden zwei Kerzen entzündet: Die erste - nur sie wird benediziert - am Neuen Feuer als Zeichen der neuen Lehre des Neuen Testamentes und der neuen Gnade, durch die die Nacht der Auferstehung Christi einzigartig erhellt ist. 283 Eine zweite Kerze 284 aber bezeichne die Schar der Apostel, zu denen Christus sagt: „Ihr seid das Licht der Welt.“ (Mt 5,14) 285 1.1.2.2 Liber de ordine antiphonarii Der zweiteilige Liber de ordine antiphonarii beschreibt zunächst - gesondert für die Sonn- und Wochentage - die Struktur des Offiziums und macht Angaben zur Anzahl der nächtlichen Lesungen und Responsorien (Teil I Adnotatio de nocturnalibus officiis et diurnalibus quae vulgo cursus vocantur); danach ordnet er die Gesänge - Antiphonen und Responsorien - an Festtagen und in den geprägten Zeiten des Kirchenjahres (Teil II De ordine antiphonarii). Auch in diesem Werk beruft sich Amalar wiederholt auf den Erzdiakon Theodor, seinen Gewährsmann am päpstlichen Hof, so etwa in Kapitel 44 De extinctione luminum circa sepulturam Domini, in dem Amalar erneut 286 auf das Auslöschen der Lichter während der Vigilien der letzten drei Tage der Hohen Woche zu sprechen kommt. Er würdigt sowohl die eigene fränkische wie auch die römische Praxis als geeignete Mittel, die Trauer und Freude über das Pascha Christi zu veranschaulichen: 281 Amalars hauptsächliche Vorlage OR 27,6-8 (SSL 24, 348f A NDRIEU ) ordnet an, vom Neuen Feuer des Gründonnerstags etwas für die Paschavigil aufzubewahren, und weiter et sicut in isto die taxavimus, sic et sexta feria faciendum est similiter et sabbato (OR 27,13 [ebd. 350]) - womit das dreimalige Neue Feuer und das tägliche Anzünden einer Kerze, nicht aber das dreimalige Verwahren von Feuer für die Osternacht gemeint sein dürfte. 282 LibOff 4, 22,1-4 (StT 139, 472f H ANSSENS ). Die Auskunft Theodors bezieht sich auf den Gründonnerstag und bestätigt indirekt, dass das Neue Feuer in Rom nur am Freitag und für die Paschavigil geschlagen wird; weiter geht er nicht auf das Offizium ein, sondern auf den Hauptgottesdienst am Karfreitag, der ohne künstliches Licht abgehalten wird. 283 LibOff 1, 20,1 (ebd. 121). 284 Amalar zitiert einen ihm vorliegenden Libellus - „Et tunc inluminantur duo cerei, tenentibus duobus notariis“ (LibOff 1, 20,2 [ebd.]; vgl. Anm. 125) - und interpretiert ihn dahingehend, dass außer der Osterkerze nur eine weitere Kerze angezündet werde. 285 Ebd. 286 Vgl. LibOff 4, 22,1 (472). <?page no="56"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 48 LibOAnt 44 1. Mos ecclesiae nostrae obtinet per tres noctes, id est per feriam quintam, quae vocatur caena Domini, et per sextam, quae vocatur parascheve, et per septimam, quae vocatur sabbatum sanctum, ut extinguantur luminaria ecclesiae in nocte. 1. Der Brauch unserer Kirche hält fest, dass drei Nächte hindurch, d. h. an dem Donnerstag, der Gründonnerstag genannt wird, an dem Freitag, den man Karfreitag, und dem Samstag, den man Karsamstag nennt, die Lichter der Kirche während der Nacht[hore] auszulöschen sind. 2. De more sanctae matris nostrae Romanae ecclesiae interrogavi archidiaconum Theodorum memoratae ecclesiae, scilicet Romanae, qui respondit: Soleo esse cum apostolico in Lateranis, quando officium celebratur de caena Domini. 287 Nihil autem ibi in eadem nocte observatur de extinctione luminum. In feria sexta nullum lumen habetur lampadum sive cereorum in ecclesia in Hierusalem, quamdiu domnus apostolicus ibi orationes solemnes facit, aut quamdiu crux salutatur, sed tamen in ipsa die novus ignis accenditur, de quo reservatur usque ad nocturnale officium. 288 2. Über die Weise, wie das in unserer heiligen Mutter, der römischen Kirche, geschieht, habe ich Theodor, den Erzdiakon der besagten Kirche, nämlich der römischen, befragt, und er hat geantwortet: Üblicherweise bin ich mit dem Papst im Lateran, wenn der Gottesdienst vom Gründonnerstag gefeiert wird. Dort wird aber in dieser Nacht kein Auslöschen der Lichter beobachtet. Am Karfreitag hat man in der Kirche [Santa Croce] in Jerusalem kein Licht, weder in den Lampen noch Kerzen, solange der Papst dort die Großen Fürbitten hält und solange das Kreuz verehrt wird; aber an eben diesem Tag wird das neue Feuer entzündet, von dem man etwas bis zum nächtlichen Offizium aufbewahrt. 3. Utrique mores per rationabile iter gradiuntur. Noster mos, qui extinguit lumina cereorum aut lampadum per tres noctes, docet nos apostropham facere de laetitia in tristitiam, de gaudio in moestitiam. Cognitum est omnibus significari ecclesiae laetitiam per lumen cereorum et lampadum. Simili modo cantus magis pertinet ad delectationem et laetitiam mentium, quam ad luctum et moestitiam. 3. Beide Bräuche beschreiten einen vernünftigen Weg. Unsere Sitte, welche die Kerzen- und Lampenlichter drei Nächte hindurch auslöscht, lehrt uns die Abkehr von der Freude zur Traurigkeit, vom Vergnügen zur Wehmut. Wie allgemein bekannt ist, wird die Freude der Kirche durch das Licht der Kerzen und Lampen bezeichnet. Ebenso gehört der Gesang eher zum Genuss und zur Freude des Geistes als zur Klage und zur Trauer. 4. Per tres enim noctes extinguuntur lumina, quae continent in se cum suis diebus septuaginta duas horas. Per praesentem extinctionem designatur extinctio laetitiae quae recolitur facta 4. Die Lichter werden in drei Nächten, die zusammen mit ihren Tagen zweiundsiebzig Stunden dauern, ausgelöscht. Durch die gegenwärtige Auslöschung wird jenes Verlöschen 287 Über den Wortlaut dieser Anfrage lässt sich nur mutmaßen; vermutet man mit M AC G REGOR , Fire 20-22, dass es Amalar primär um die Frage ging, ob man in Rom überhaupt ein Lichtauslöschen praktiziere, und weniger, wann es stattfinde (während des Offiziums oder in der Nacht), sei Theodors Auskunft über die Abendmahlsmesse „intelligible and satisfactory“ (ebd. 22). 288 Die Paschavigil. <?page no="57"?> 1.1 Kodifi im Frühmittelalter 49 esse in cordibus discipulorum Christi, quamdiu Christus iacuit in sepulchro, sive illa extinctio laetitiae quae facta est in cordibus apostolorum post traditionem Domini, usque dum intravit ad eos ianuis clausis, et ostendit eis manus et pedes, atque manducavit coram eis. der Freude bezeichnet, das, wie wir uns erinnern, in den Herzen der Jünger Christi gewesen ist, solange Christus im Grab lag; und auch jenes Verlöschen des Frohsinns, das in den Herzen der Apostel nach dem Verrat des Herrn war, bis er bei verschlossenen Türen bei ihnen eintrat, ihnen Hände und Füße zeigte und vor ihren Augen aß. 5. Et bene in eo loco extinguuntur ubi cantus renovatur, ut innotescat in unoquoque articulo alicuius improvisae laetitiae adfuisse semper obicem tristitiae. De hac re et numero cereorum habemus scriptum Libello officiali. 289 5. Und vorteilhaft werden sie an der Stelle ausgelöscht, wo der Gesang neu anfängt, damit deutlich werde, dass in jeder Artikulation einer gewissen unverhofften Freude immer ein Schutz gegen die Traurigkeit sei. Darüber und über die Zahl der Kerzen habe ich im liber officialis geschrieben. 6. Ut autem in sexta feria iuxta romanum morem reaccenditur lumen novum, hanc habet rationem. In eadem die sol obscuratus est a sexta hora usque ad horam nonam; instar eius obscurationis extinguuntur lumina consueta in ecclesia, et iterum renovantur, quoniam circa horam nonam reversum est lumen solis ad orbem inluminandum. Per tres enim horas non dedit lumen suum, ut praedicaret orbi tribus diebus et tribus noctibus creatorem suum et operatorem obscuraturum se in sepulchro. Et propter necessitatem communem redaccenditur in sancta Romana ecclesia eodem die, ut ex illo cibi coquantur, et reservatur ad usum noctis necessarium. 6. Dass aber am sechsten Tag gemäß römischer Sitte das neue Licht angezündet wird, hat diesen Sinn: An diesem Tag hat sich die Sonne von der sechsten bis zur neunten Stunde verdunkelt; ihrer Verfinsterung gleich werden die gewohnten Lichter in der Kirche ausgelöscht und wiederum angezündet, weil ja um die neunte Stunde das Sonnenlicht zurückgekehrt ist, um den Erdkreis zu erleuchten. Drei Stunden lang nämlich hat sie ihr Licht nicht gegeben, um der Erde vorherzusagen, dass sich ihr Schöpfer und Erhalter drei Tage und Nächte im Grab verbergen werde. Und wegen der allgemeinen Notwendigkeit wird es in der heiligen römischen Kirche am selben Tag wieder angezündet, damit davon Speisen gekocht werden, und es wird aufbewahrt, was man in der Nacht benötigt. 7. In eadem vero nocte, id est dominica, quae pertinet ad resurrectionem Christi, causa significandi mysterii omnia lumina renovantur. Propter sacramentum dominicae sepulturae et resurrectionis in dominica nocte, liquet ratum esse ordinem, ut, cum ventum fuerit ad officium quod perti- 7. In dieser Nacht auf den Sonntag aber, die zur Auferstehung Christi gehört, werden, um das Mysterium zu bezeichnen, alle Lichter neu entzündet. Wegen des Sakramentes der Grabesruhe und der Auferstehung in der Herrennacht ist es klar, darauf bedacht zu sein, dass, sobald beim 289 LibOff 4, 22,1-4 (StT 139, 472f H ANSSENS ). <?page no="58"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 50 net ad resurrectionem Christi, novus ignis et permansurus exurgat, qui inluminet totam ecclesiam. Offizium das gekommen ist, was zur Auferstehung Christi gehört, das neue Feuer sich bleibend erhebe, das die ganze Kirche erleuchten soll. 8. Hoc est quod dico: reservetur ignis de sexta feria, ut inluminetur cereus qui ponitur in vice columnae ignis ad benedicendum, qui ab initio benedictionis inluminatus est, et cum benedictus est, ab eo inluminetur secundus cereus. Cetera luminaria extincta permaneant usque ad novissimam laetaniam, quae pertinet ad officium missae de resurrectione Domini; tunc accendantur luminaria ecclesiae et neofytorum, ut significetur resurrectione Christi de terra inluminandum orbem terrarum. 290 8. Und das sage ich: Das Feuer vom Karfreitag soll aufbewahrt werden, um daran jene Kerze anzuzünden, die als Bild der Feuersäule gesegnet wird; sie brennt von Beginn der Segnung an, und sobald sie gesegnet ist, werde an ihr eine zweite Kerze entzündet. Die übrigen Lichter bleiben ausgelöscht bis zur letzten Litanei, die zur Messe von der Auferstehung des Herrn gehört; dann werden die Lichter der Kirche und der Neugetauften angezündet, damit angezeigt werde, dass durch die Auferstehung Christi aus der Erde der [ganze] Erdkreis erleuchtet werden muss. Die Wochen vor Ostern Die Septuagesima wird wiederum als Zeit der Pilgerschaft und der Fremde vorgestellt, aus der die Feiernden in der Erwartung von Ostern zu entfliehen hoffen. Dass in dieser Zeit die Responsorien wie auch sonst üblich noch mit Alleluja gesungen werden, begründet Amalar damit, dass man in den Nächten der Septuagesima der dem Elend bereits entronnenen Bürger des himmlischen Jerusalems gedenke, indem man wie sie, die das Lob Gottes nie unterbrechen, Alleluja singt. 291 Die Responsorien der Sexagesima, die nicht zufällig in die Frühlingszeit fallen, erinnern an den paradiesischen ersten Menschen und an seinen Sturz vom Glück ins Elend. 292 Die Differenz zwischen sechzig und siebzig beträgt zehn, zwischen den Wochen Septuagesima und Sexagesima liegen aber nur sieben Tage: Mystisch verstanden könne man in der siebenfältigen Gabe des Heiligen Geistes die Vorschrift der zehn Gebote erkennen. 293 Quinquagesima sei eine Mahnung an den Gebrauch der fünf Sinne zum Guten oder Bösen, an das Jobeljahr und an die verbleibenden fünfzig Tage bis zum Pascha; zudem sei in Ps 50(51) die Stimme des Büßers zu vernehmen: Wer in Quinquagesima für seine Sünde um Vergebung bitte, werde zur österlichen Freude gelangen. 294 Die Responsorien der Quadragesima versteht Amalar als Schlüssel sowohl zum gegenwärtigen Zustand als auch zu den Erfordernissen dieser Zeit: Lebensänderung, Fasten, Weinen, Gebet, Geduld, Wachen, Buße und Almosen - all das sei mehr zu üben als zu anderen Zeiten des Jahres. 295 Ab der vierten Woche (media quadragesima) kommen in den Responsorien des Mose bis Josua heilsgeschichtliche Ereignisse zur Sprache. 296 In den Nokturnen der zweiwöchigen Passionszeit entfällt bei den Responsorien das Gloria patri; der Akzent liegt nun ganz auf dem Leiden des Herrn, auf das alle Texte und Gesänge abgestimmt sind. 297 290 LibOAnt 44,1-8 (StT 140, 79-81 H ANSSENS ). 291 LibOAnt 30,1-3 (ebd. 65). 292 LibOAnt 31,2-3 (ebd. 67f). 293 LibOAnt 32,1-2 (ebd. 68). 294 LibOAnt 33,1 (ebd. 70). 295 LibOAnt 35,2 (ebd. 71f). 296 LibOAnt 41 (ebd. 76); Amalar ergänzt sie um Popule meus, quid feci tibi aus Mi 6,3 (ebd.); vgl. LibOAnt, Tab. ad Ant. ad 41 (ebd. 179f). 297 Ad celebrandam passionem Domini; die Antiphonen von der Salbung Jesu durch die Sünderin verlegt Amalar vom Passionssonntag auf den Samstag vor Palmsonntag mit der Begründung illa enim die celebrata est eadem unctio (LibOAnt 43,1 [ebd. 78f]); vgl. LibOAnt, Tab. ad Ant. ad 43 (ebd. <?page no="59"?> 1.1 Kodifi im Frühmittelalter 51 Im Kapitel über die Komplet als ars moriendi findet sich der Hinweis auf den vorösterlichen Charakter der Kompletpsalmen Ps 4 und Ps 30(31): LibOAnt 7 2. Somnus enim est imago mortis. Idcirco aliquos psalmos in isto officio cantamus, quos solemus cantare in nocte sabbati, quando Dominus requievit in sepulchro, et quos ipse cantavit in cruce, et nostra ecclesia canit in officium mortuorum. 2. Der Schlaf ist nämlich ein Bild des Todes. Deshalb singen wir einige Psalmen in diesem Gottesdienst, die wir gewöhnlich in der Samstagnacht singen, da der Herr im Grab ruhte, und die er selbst am Kreuz gesungen hat, und die unsere Kirche im Totenoffizium singt. 3. Psalmus Cum invocarem … cantatur in nocte sabbati memorata; ipse cantatur completorio propter orationem quam in se continent In pace in idipsum … Psalmus In te, Domine, speravi cantatus est a Christo in cruce, et in eo loco ubi se commendavit Patri dicens: In manus tuas … 298 3.Der Psalm Wenn ich rufe wird in besagter Samstagnacht gesungen; derselbe auch in der Komplet, weil er die Bitte enthält: In Frieden [lege ich mich nieder] … Der Psalm Herr, ich suche Zuflucht bei dir wurde von Christus am Kreuz gesungen, als er sich dem Vater empfohlen hat und sprach: In deine Hände … Für Ps 90(91), der ebenfalls in der Komplet gesungen wird 299 , verweist Amalar auf seine Verwendung als Tractus am ersten Sonntag der Quadragesima und am Karfreitag, um, dem Beispiel Jesu folgend, in der Versuchung durch den Teufel ebenso standhaft zu bleiben wie in Verfolgung und Leiden. 300 Die letzten drei Tage der Hohen Woche Amalars Ausführungen zufolge endet die sechziggtägige vorösterliche Zeit am Mittwoch der Hohen Woche.301 In Kapitel 43 De passione Domini erläutert Amalar die Responsorien der drei letzten Tage, die er zum einen nach der kanonischen Reihenfolge, zum anderen gemäß der Passionschronologie geringfügig neu ordnet.302 Beide Kriterien behandeln die Gesänge als inhaltlich unabhängig von den vorausgehenden Lesungen: LibOAnt 43 3. In caena Domini congregavi illos responsorios in quibus Dominus praedixit discipulis suis de sua traditione, et quid egerit orando, et quid Iudas e contra insidiando et tradendo. 3. Am Gründonnerstag habe ich jene Responsorien gesammelt, in denen der Herr seinen Jüngern seine Auslieferung vorhergesagt hat, was er im Gebet äußerte und was dagegen Judas 180f). Im Übrigen verweist Amalar auf LibOff 4, 20,1-5 (StT 139, 467f H ANSSENS ). Für den uneinheitlichen Befund der alten Lektionare siehe C HAVASSE , Lectionnaires II,28. 298 LibOAnt Adnot. 7,2-3 (ebd. 35). 299 LibOAnt Adnot. 7,4 (ebd. 35f). 300 LibOAnt 7, 6.8 (ebd. 36); vgl. LibOff 4, 19 (StT 139, 467 H ANSSENS ). 301 Sexaginta dies sunt a septuagesima usque ad quartam feriam ante caena Domini (LibOff 1, 1,14 [StT 139, 31 H ANSSENS ]); in Spannung dazu steht die Abgrenzung der Quadragesima: finitur quinta feria ante pascha Domini (LibOff 1, 4,4 [ebd. 45]; vgl. auch Anm. 250); vgl. ähnlich LibOAnt 35, 7: … habet suam perfectionem in caena Domini (StT 140, 72 H ANSSENS ). 302 LibOAnt, Tab. ad Ant. ad 43 (StT 140, 183-185 H ANSSENS ); der Herausgeber bietet die Amalar bekannten Antiphonen und Responsorien im Vergleich mit dem Breviarium Romanum 1568, Codex Vat. B 79, Codex St. Gallen 390-391 (Hartker) und Codex Paris BN lat. 17436 (vgl. ebd. 110). An den vorösterlichen Tagen stimmen sie nahezu lückenlos überein. Siehe unten Kapitel 1.3. <?page no="60"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 52 Eos quos repperi de evangelio excerptos, iuxta ordinem evangeliorum posui; ceteros conatus sum iuxta consequentiam rerum gestarum ponere. hinterhältig und verräterisch [plante]. Die ich aus den Evangelien entnommen gefunden habe, habe ich nach den Evangelien geordnet. Die übrigen habe ich entsprechend der Reihenfolge der Geschehnisse anzuordnen versucht. 4. In nocte parascheves mutavi de caena Domini responsorium de Esaia propheta Ecce vidimus eum, qui proprie pertinet ad tempus crucis. Illum sequitur de Hieremia propheta Animam meam dilectam tradidi in manus iniquorum. Hos duos de prophetis praemisi. In contextu sequentium responsoriorum inscribitur responsorius de Esaia propheta Expandi manus meas, quem non cantamus in istis noctibus, sed in festivitate sancti Andreae. Idcirco posui illum in isto ordine, quia inventus est in romano antiphonario. 4. In der Nacht auf Karfreitag habe ich das Responsorium vom Gründonnerstag Ecce vidimus eum aus dem Propheten Jesaja ausgetauscht, das eigentlich zur Zeit des Kreuzes gehört. Jenem folgt aus dem Propheten Jeremia Animam meam dilectam tradidi in manus iniquorum. Diese zwei aus den Propheten habe ich vorangestellt. Im Verlauf der weiteren Responsorien ist das Responsorium aus dem Propheten Jesaja Expandi manus meas angeführt, das wir nicht in diesen Nächten singen, sondern zum Fest des heiligen Andreas. Ich habe es deshalb in dieser Ordnung angeführt, weil es sich im römischen Antiphonar findet. 5. Ceteri compositi sunt a magistris sanctae Romanae ecclesiae, in quibus compunctio traditionis eius frequentatur, et dolor crucifixionis eius stimulat corda fidelium. In novissimis duobus de evangelio celebrantur ea quae in novissimo peracta sunt circa passionem eius usque ad celebrationem sepulturae in die parascheves. 5. Die übrigen sind von den Lehrern der heiligen römischen Kirche zusammengestellt worden: in ihnen wird die Erschütterung über seine Auslieferung erinnert und der Schmerz über seine Kreuzigung im Herzen der Gläubigen wachgerufen. Als die letzten zwei aus dem Evangelium singen sie jene, in denen letztlich es um seine Passion bis zur Feier der Grablegung am Karfreitag geht. 6. In sabbato sancto recolitur sepultura eius in aliquibus responsoriis, in aliquibus vero planctus et flectus dolentium de nece iniusta. 303 6. Am Karsamstag wird in manchen Responsorien sein Verweilen im Grab erinnert, in manchen aber wird er voll Schmerz über den ungerechten gewaltsamen Tod beklagt und beweint. In der Ordnung der Responsorien nach den biblischen Büchern vermerkt Amalar nur: LibOAnt 76 3. Omnes prophetae de Christo prophetaverunt; … Hieremias, qui plurimum narrat de passione Domini, reservatur usque ad tempus passionis. … 304 3. Alle Propheten haben über Christus prophezeit; … Jeremia, der am meisten von der Passion des Herrn spricht, bleibt der Passionszeit vorbehalten. … 303 LibOAnt 43,3-6 (ebd. 79). 304 LibOAnt 76,3 (ebd. 105f). <?page no="61"?> 1.1 Kodifi im Frühmittelalter 53 1.1.2.3 Zusammenfassung: Gestalt und Deutung des Offiziums der vorösterlichen Tage Amalar findet in der überlieferten charakteristischen Feiergestalt des Offiziums an den vorösterlichen Wochen und Tagen vor allem die Passion Jesu, seine Erniedrigung in Leiden und Tod, die Schwäche und Traurigkeit der Jünger sowie das verwerfliche Handeln der Gegner Jesu und seines Verräters allegorisch abgebildet. Seine rememorativ-tropologische Auslegung weist diversen rituellen Vollzügen Einzelaspekte der Heilsereignisse zu, die das Leiden und Sterben Jesu den Gläubigen möglichst detailreich und anschaulich vor Augen führen. Sie dienen der Belehrung und Mahnung, wollen Mitgefühl erwecken und zur Nachahmung disponieren. Methode Obwohl in der frühmittelalterlichen Kirche des Karolingerreiches möglichst getreu tradiert, ist die rituelle Gestalt des römischen Gottesdienstes erklärungsbedürftig geworden: Amalar schließt seine Wissens- und Verständnislücke römischer Feierpraktiken, indem er die Methode östlicher Liturgieallegorese auf die Frömmigkeit seines Kulturkreises überträgt. Dies markiert einen Wendepunkt im westlichen Liturgieverständnis: Wichtiger als Herkunft und ,Sitz im Leben‘ gottesdienstlicher Handlungen sowie der Inhalt kaum mehr allgemein verständlicher liturgischer Texte ist Amalar die anschauliche Zeichenhaftigkeit einzelner Akte und Elemente. 305 Aufgrund ihrer äußeren Gestalt scheinen ihm dafür nahezu jeder Brauch, jede Gebärde geeignet, die göttlichen Mysterien, insbesondere das Christusereignis, zu bezeichnen (designare) 306 und „ins Gedächtnis zurückzuführen“. Der von Amalar dafür verwendete geprägte Begriff ad memoriam reducere umschreibt jene psychologische Wirkung, die westlicher Auffassung nach religiösen Bildern zukommt: Sie belehren über den dargestellten Inhalt und regen über die Betrachtung zur Nachahmung an. Amalars Anwendung der allegorischen Auslegungsmethode basiert also auf der Bildhaftigkeit der Liturgie, doch liegt ihr ein grundlegend anderes Bildkonzept zugrunde als im Osten: 307 Während nach östlicher Auffassung das Schauen eines Bildes - ob Ikone oder bildhafter Ritus - dem Betrachter das dargestellte vergangene oder künftige Heilsgeschehen vergegenwärtigt 305 Indem Amalars Liturgieerklärung nahezu ohne Differenzierung jeder liturgischen Geste Gewicht und tiefe Bedeutung zuschreibt, verwischt sich der Unterschied zwischen symbolischen und pragmatischen Handlungen, zwischen Kernvollzügen gottesdienstlichen Handelns und sekundären Elementen. Zuletzt verliert das liturgische Symbolgefüge den inneren Zusammenhang und seine Höhepunkte; vgl. M ESSNER , Hermeneutik 418. 306 Obwohl dafür die augustinische Zeichentheorie Pate steht, geht Amalar - anders als Augustinus - nicht von der Sakramentalität bestimmter liturgischer Handlungen aus, sondern vor allem von ihrem anzeigenden und belehrenden Charakter. Das bezeichnete Mysterium (Signifikat) und die bezeichnende Handlung (Signifikant) beginnen sich bereits voneinander zu lösen: „Die kultischen Riten werden nicht mehr so sehr angesehen, daß sie Mysterien sind, als daß sie Mysterien enthalten.“ K OLPING , Amalar 442. In der späteren abendländischen Philosophie und Theologie werden Symbol/ Bild und Wirklichkeit sukzessive weiter auseinandertreten, letztlich geradezu als Gegensätze erscheinen. 307 Wie Anm. 241. Zur liturgischen Entfremdung trägt das Modell des ,heiligen Mannes‘ (Priester, Heiliger) bei, das den ekklesialen Selbstvollzug sowie die sakramentale Teilhabe der Gemeinde an den feiernd vergegenwärtigten Heilsmysterien überlagert und verdrängt. Die Fokussierung auf die Konsekrationsvollmacht des Priesters lässt zudem fast alle anderen liturgischen Handlungen als entbehrliche Zutat ansehen. Erst als solche bedürfen sie überhaupt einer Erklärung; vgl. M ESSNER , Hermeneutik 428. <?page no="62"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 54 und ihn darin einbezieht, halten das westliche Bild und der anschauliche liturgische Ritus lediglich pädagogische Mittel zur kognitiven Erinnerung an heilsgeschichtliche Ereignisse bereit, deren Anschauung in den Gläubigen affektiv-emotionale Betroffenheit wie Freude, Trauer etc. auslöst und sie zu einer entsprechenden Lebensführung anregt. 308 Vorösterliche Bußzeit bis zum Paschatag Das altkirchliche sacramentum quadragesimale - schon vor Amalar zu der nach Ständen gestuft zu haltenden neunbis sechswöchigen vorösterlichen Bußzeit erweitert - hat bei Amalar den Charakter eines laboriosi huius temporis sacramentum 309 , einer Exilszeit fern der himmlischen Freuden, angenommen. Die gnadenhafte Zeit der Umkehr im Zugehen auf die Osterfeier weicht der Betrübnis über die eigene Sündhaftigkeit. Die Gläubigen sollen sich durch gute Taten und in der Nachahmung der Entäußerung Christi und seiner Leiden darum mühen, der Freude von Ostern teilhaftig zu werden. Mit besonderer Vorliebe befasst sich Amalar mit der Symbolik von Zahlen. Die zweiwöchige Passionszeit (dies passionis Domini) entspreche den zwei Zeitaltern vor Christus, einerseits dem des Noah, dessen Blöße offen lag, andererseits dem unter dem Gesetz, das niemanden seines Lebens sicher sein lasse (timebis nocte et die, non credes vitae tuae 310 ). 311 In dieser Zeit gibt es kein Gloria Patri bis zum Paschatag, der schließlich die dritte Woche (= drittes Zeitalter) eröffne (Dies paschae iam de tertia ebdomada est 312 ). Hoher Donnerstag bis Karsamstag Die drei letzten Tage vor Ostern werden als Einheit (addatur cum sexta feria et septima quinta 313 ) zur Erinnerung der dreitägigen Grabesruhe Christi gefeiert. 314 Sie heben sich sowohl von der vorausgehenden Zeit (als deren Ende) als auch vom Ostertag - beginnend mit der nächtlichen Feier auf Sonntag - ab. 315 Die rituellen Besonderheiten der drei vorösterlichen Tage bezeichnen primär die der Verherrlichung vorausgehende Erniedrigung Christi in den Tod. 316 Unterlassungen als Zeichen der Erniedrigung Wie Christus in Herrlichkeit auferstanden ist, so hat er zuvor sein Leiden und Sterben in Erniedrigung auf sich genommen, weshalb auch seine doxologische Erhöhung durch die Kirche in den Tagen seiner Passion unterbleibe. Dieselbe Erklärung gibt Amalar auch für das Verstummen der Glocken oder den Ersatz von Glockengeläut durch den weniger erhabenen Klang von Hölzern. 317 Die Nichtausübung des Hirtendienstes in laut gesprochenen Gebeten, Segenssprüchen, in der Schriftauslegung und anderen Sprechakten des Vorstehers begründet 308 „Amalars allegorische Auslegung kann nicht als legitime Entfaltung der liturgischen Anamnese angesehen werden, bei der es eben nicht um die Betrachtung eines vergangenen Geschehens, sondern um den Eintritt in die Gegenwart des Heils geht“, resümiert M ESSNER , Hermeneutik 426. 309 LibOff 1, 4,3 (StT 139, 45 H ANSSENS ). 310 Dtn 28,66. 311 LibOff 4, 20,1 (ebd. 467). 312 LibOff 4, 20,5 (ebd. 468). 313 LibOff 1, 12,33 (edb. 78). 314 Ebd. Siehe oben Anm. 260. 315 In qua restauratur omnis amissa glorificatio (LibOff 4, 20,5 [ebd. 468]). 316 LibOff 1, 12,33 (ebd. 78); LibOff 4, 20, 4 (ebd. 468). 317 LibOff 1, 12,33 (ebd. 78); LibOff 4, 21, 7 (ebd. 470). <?page no="63"?> 1.1 Kodifi im Frühmittelalter 55 Amalar einerseits mit dem Tod und Weggang „unseres Hirten“ Christus, andererseits mit der Schwäche der Apostel, den geflohenen und zerstreuten Hirten, nach deren Beispiel die Vorsteher in ihrem Dienst zu schweigen hätten. 318 Im Verzicht auf das Invitatorium komme der Wille zum Ausdruck, bei sich keine für Jesus tödliche Versammlung zu konstituieren; im Entfall jeglichen liturgischen Grußes desgleichen die Absicht, den vom Verräter missbrauchten Begrüßungskuss nicht untereinander nachzuahmen. 319 Auslöschen von Licht als Zeichen der Trauer Anders als das Hervorbringen oder Verwahren und Verbergen von Feuer und Licht wird das rituelle Verlöschen von Licht im Offizium an den vorösterlichen Tagen in den ältesten Quellen weder begründet noch erklärt. Amalar greift nicht nur die Praxis auf, sondern deutet auch Zeitansatz und Dauer sowie die Zahl der verwendeten Kerzen mit der ihm vertrauten allegorischen Methode. 320 Dass am Hohen Donnerstag, Karfreitag und Karsamstag Licht ausgelöscht wird, verbindet diese drei Tage unter dem Aspekt des Todes und Begrabenseins Christi. Das an jedem der drei Tage praktizierte Auslöschen von 24 Lichtern/ Kerzen entspricht in Summe jenen 72 Stunden, die Jesus im Grab gelegen ist, aber auch die von Jesus ausgesandten 72 Jünger. 321 Zugleich sei das Schwinden des Lichtes Ausdruck des Wandels der Freude in Trauer und des Erlöschens jeglichen Frohsinns. 322 Der in wachsender Dunkelheit je neu einsetzende Psalmengesang helfe, die allzu große Traurigkeit zu mildern. 323 Auch dem ihm aus Rom bekannten Fehlen von Licht von der 6. bis zur 9. Stunde am Karfreitag gibt Amalar eine doppelte Auslegung: Zum einen sei dadurch die Schande Jesu den bösen Blicken der Menschen entzogen worden, andererseits zeige die dreistündige Finsternis die drei Tage seiner Grabesruhe an. 324 Gesänge und Texte Weniger ausführlich als zu den rituellen Handlungen fällt Amalars Kommentar zu den Texten und Gesängen des Offiziums aus. Die ihm bekannten Antiphonen und Responsorien ordnet er nach zwei Gesichtspunkten: einem systematisch-inhaltlichen (HoDo: Verrat, KarFr: Kreuzigung, KarSa: Grab) und nach der richtigen Chronologie der Passion. 325 Die Zuordnung der Psalmen, Lesungen und Responsorien zur Heilstat Gottes, zu ihrer Erkenntnis und zur Freude (der Engel) zeigt eine gewisse Entsprechung zur liturgischen Dynamik des Zuspruchs der Heilsgeschichte an und ihrer Annahme durch die Gläubigen. Von der Neunzahl dieser Gesänge und Texte in jeder der drei Nächte gelangt Amalar ohne Umschweife zu den von Christus aus der Unterwelt geraubten drei Menschengeschlechtern. Während der Descensus als Ursache ihrer Rettung nur kurz in zwei Halbsätzen erwähnt wird, 326 widmet er den tria genera einige Aufmerk- 318 LibOff 4, 21,5 (ebd. 469). 319 LibOff 4, 21,6 (ebd. 470). 320 LibOff 4, 22,1 (ebd. 472). 321 Vgl. Lk 10,1 (ebd.). 322 LibOAnt 44,3 (StT 140, 80 H ANSSENS ). Die Verwandlung von Licht in Finsternis ist gegenläufig zur Paschavigil, in der die Gläubigen von der Trauer zur Freude, vom Tod zum Leben gehen. 323 LibOAnt 44,5 (ebd.). 324 LibOff 4, 22,2 (StT 139, 472 H ANSSENS ); LibOAnt 44,6 (StT 140, 80 H ANSSENS ). 325 LibOAnt 43,3-6 (ebd. 79). 326 LibOff 4, 21,9; 12 (StT 139, 470f H ANSSENS ). <?page no="64"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 56 samkeit und macht - in Verbindung mit einem längeren Augustinuszitat - an ihnen die Mahnung fest: Gerettet würden jene Menschen aller Generationen, welche die im Evangelium geforderte Wachsamkeit bei der Wiederkunft Christi an den Tag legten. 327 1.1.3 Ausgewählte Antiphonalien Auskunft über die Gesänge für Offizium und Messe bieten die entprechenden Antiphonare oder Antiphonalien, in denen die Texte und später auch die Melodien der Antiphonen, Psalmen, Responsorien etc. für den liturgischen Gebrauch gesammelt sind. Entsprechend der Psalmenverteilung und der daraus resultierenden Abweichungen bezüglich Anzahl und Anordnung der Gesänge kann die „römische“ von der „monastischen“ Tradition unterschieden werden. Je sechs solcher Quellen aus beiden Traditionssträngen hat René-Jean H ESBERT im Corpus Antiphonalium Officii (CAO) synoptisch ediert. Die folgende Erörterung des Gesangsrepertoires der frühmittelalterlichen Offiziumstradition basiert auf den im CAO erschlossenen Codices aus dem 9.- 13. Jh., die ihres Alters und ihrer Verbreitung wegen als ausreichend verlässliche und repräsentative Zeugen gelten können. 328 Für die drei vorösterlichen Tage stimmen die zwölf Handschriften praktisch völlig überein. Sie lassen sich hier also gemeinsam darstellen, obwohl sie geographisch unterschiedlicher Herkunft sind und auch zeitlich nicht alle in gleicher Nähe zur formativen Phase des Frühmittelalters stehen. 329 In den frühmittelalterlichen Liturgien Roms und der karolingisch-fränkischen Kirchen sind unterschiedliche Bibeltexte/ Psalterien in Gebrauch: 330 In Rom etabliert sich der von Hieronymus revidierte Text des altrömischen Psalters (Psalterium Romanum), teils halten sich Lesarten der Vetus Latina/ Itala. Diesseits der Alpen und in Gallien verbreitet sich ab ca. dem 6. Jh. Hieronymus zweite, unter Verwendung einer hexaplarischen Septuaginta verbesserte Psalmenübersetzung (Psalterium Gallicanum): Diese Bibelübersetzung samt Psalter (Vulgata iuxta LXX) setzt sich ab dem 8./ 9. Jh. weitgehend durch, findet unter franziskanischem Einfluss Eingang in das Kurialbrevier und wird im 16. Jh. als liturgischer Psalter der römischen Kirche verbindlich eingeführt. 331 In den Antiphonen und Responsorien sowie in Messgesängen, in deren Klanggestalt man nicht eingreifen will, bleibt das Psalterium Romanum jedoch erhalten. 332 327 LibOff 4, 21,9-11 (ebd. 470f). 328 Die Offiziumsantiphonen der „altrömischen“ Gesangstradition hat N OWACKI , Studies, nach Handschriften des 12./ 13. Jhs. ediert. Der Bestand der drei Tage vor Ostern (ebd. 371-373, Nr. 586-639) weist keine Besonderheiten auf; Formulierungsdetails der Textgestalt und die von der „gregorianischen“ Tradition abweichende Klanggestalt können hier nicht weiter erörtert werden. 329 Die Darstellung übernimmt die Abkürzungen der Handschriften (Großbuchstaben), die in der Aufzählung grundsätzlich durch Beistriche getrennt werden; die Unterscheidung zwischen römischen und monastischen Quellen erfolgt mittels Trennung durch Strichpunkt (z. B. C, G, B; H, R, S). Um anzugeben, welche Responsorialverse in welchen Codices belegt sind, wird ebenfalls die im CAO verwendete Schreibweise Großbuchstaben ohne Spatien und Satzzeichen in Klammern (z. B. CGBEMV) beibehalten. 330 Vgl. D YER , Psalters. 331 Damit löst der Usus Romanae Curiae den bisherigen Ordo Romanae Ecclesiae ab. In St. Peter/ Rom allerdings behält man den älteren Psalter bis ins 20. Jh. bei; vgl. B ÄUMER , Geschichte 320; 323; 446 sowie P ASCHER , Stundengebet 68. Die nach dem Urtext philologisch beste Übersetzung des Psalters iuxta hebraeos kam nie in liturgischen Gebrauch. 332 Ebd. <?page no="65"?> 1.1 Kodifi im Frühmittelalter 57 1.1.3.1 Handschriften des Cursus Romanus Als Schlüsselzeugen des von H ESBERT als Cursus Romanus bezeichneten Traditionstranges, dem die „säkulare“, d. h. die nicht-monastische Offiziumsordnung zugrundeliegt, werden von ihm folgende Handschriften herangezogen: Codex Compendiensis (C) 333 860-880 Abtei St. Corneille, Compiègne, Nord- Frankreich ältester Zeuge; bereits mit Tendenz zur Sammlung von Material Codex Gallicanus (G) 334 11. Jh. vermutlich Nord- Frankreich Temporale und Sanctorale getrennt Codex Bambergensis (B) 335 Ende 12. Jh. Bamberg Eigenheiten im Temporale (Septuagesima) und im Sanctorale Codex Eporediensis (E) 336 11. Jh. Ivrea, Nord-Italien, Piemont Eigenheiten im Temporale (Epiphanie) und im Sanctorale Codex Modoetiensis (M) 337 Anfang 11. Jh. Monza, Nord-Italien, Lombardei Offiziumstonar, neumiertes Antiphonar Codex Veronensis (V) 338 Verona, Nord-Italien, Veneto Eigenheiten im Temporale (Epiphanie) und im Sanctorale 1.1.3.2 Handschriften des Cursus Monasticus Die Textzeugen der von H ESBERT Cursus Monasticus genannten Tradition basieren auf der benediktinischen Psalmenverteilung. Sie ist in seiner Ausgabe durch folgende Handschriften repräsentiert: Codex Hartkeri (H) 339 Ende 10.- Anfang 11. Jh. Stift St. Gallen, Schweiz röm. und monast. Tradition; ältestes neumiertes Offiziumsantiphonar Codex Rhenaugiensis (R) 340 13. Jh. Kloster Rheinau, Schweiz komplettes Breviarium; rein monastisch Codex Sandionysianus (D) 341 12. Jh. Abtei St. Denis, Paris nachgestellte Responsorien für alle drei Nokturnen Codex Fossatensis (F) 342 Ende 11.- Anfang 12. Jh. Abtei St. Maur-des- Fossés, Île-de-France Cluniazenser Tradition Codex Silensis (S) 343 11. Jh. Abtei St. Domingo Silos, Spanien, Burgos Antiphonar mit ausführlichen Rubriken Codex S. Lupi Beneventani (L) 344 Ende 12. Jh. Abtei, S. Lupus, Italien, Benevent nachgestellte Responsorien für alle drei Nokturnen 333 Antiphonar aus der Abtei St. Corneille, Compiègne (F-Pn lat. 17436). 334 Nordfranzösisches Antiphonar (GB-DRc B. III. 11). 335 Antiphonar aus Bamberg (D-BAs lit. 23); nach dem erstrangigen Zeugen der germanischen Tradition Codex Hartker - vom Herausgeber dem Cursus monasticus zugeordnet - ist Codex Bamberg die zweitbeste Wahl. 336 Antiphonar aus Ivrea (I-IV 106). 337 Antiphonar aus Monza (I- MZ c. 12.75). 338 Antiphonar aus Verona (I-VEcap XCVIII). 339 Antiphonar von Hartker (CH-SGs 390-391). 340 Antiphonar aus Rheinau (CH-Zz Rheinau 28). 341 Antiphonar aus St. Denis (F-Pn lat. 17296). 342 Antiphonar aus St. Maur-les-Fossés (F-Pn lat. 12584). 343 Antiphonar aus Silos (GB-LBl add. 30850). <?page no="66"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 58 1.1.3.3 Die Gesänge an den vorösterlichen Tagen Die Vigil an Festtagen besteht im römischen Cursus aus drei Nokturnen zu je drei Psalmen samt Antiphonen, drei Lesungen und drei Responsorien; 345 im monastischen Typ aus zwei Nokturnen à sechs Psalmen mit Antiphonen und einer Nokturn mit drei Cantica unter ein und derselben Antiphon sowie vier Lesungen und Responsorien in jeder Nokturn. 346 Psalmen und Antiphonen Das Schema für die Nokturnen an den drei letzten Tagen der Hohen Woche ist in beiden Cursus identisch nach römischem Vorbild: drei Nokturnen à drei Psalmen, drei Lesungen und drei Responsorien. 347 In allen zwölf Quellen des CAO sind folgende Psalmen und Antiphonen vorgesehen (Vulgata/ Septuaginta-Zählung): HoDo 348 Antiphon Vers aus + Psalm C G B E M V H R D F S L 1. Nokt. Zelus domus tuae 10 68 x x x x x x x x x x x x Avertantur retrorsum 4 69 x x x x x x x x x x x x Deus meus eripe me de manu 4 70 x x x x x x x x x x x x 2. Nokt. Liberavit Dominus pauperem 12 71 x x x x x x x x x x x x Cogitaverunt impii et locuti 8 72 x x x x x x x x x x x x Exsurge Domine et iudica 22 73 x x x x x x x x x x x x 3. Nokt. Dixi iniquis nolite loqui 5.6 74 x x x x x x x x x x x x Terra tremuit et quievit dum 9 75 x x x x x x x x x x x x In die tribulationis meae 3 76 x x x x x x x x x x x x Matutin Iustificeris Domine 6 50 x x x x x x x x x x x x Dominus tamquam ovis Jes 53,7f 89 x x x x x x x x x x x x Contritum est cor Jes 23,9 62+66 x x x x x x x x x x x x Exortatus es in virtute tua Ex 15,1- 21 x x x x x x x x x x x x Oblatus est Jes 53,7.12 148-150 x x x x x x x x x x x x in evangelio Traditor autem Mk 14,44 Ben. x x x x x x x x x x x x In humilitate x Ait Pilatus munde x x Petrus autem x Tageshoren Replevit et inebriavit x x Accepto pane x x x Ait Pilatus munde x x Si male locutus sum x x x 344 Antiphonar aus S. Lupus, Benevent (I-BV V. 21). 345 An Wochentagen hingegen gibt es eine Nokturn mit zwölf Psalmen, an Sonntagen und höheren Festen dazu zwei weitere Nokturnen mit je drei Psalmen; nach P ASCHER , Stundengebet 88f; 198f. 346 Codex Hartker ist hier eine Ausnahme: für die 1. und 2. Nokturn folgt er offenbar dem römischen Schema mit je drei Responsorien, für die 3. Nokturn bietet er sehr häufig die monastischen vier Responsorien und in manchen Fällen zwischen zwei und acht weitere Gesänge (H ESBERT , CAO II, Préface VIII). 347 Zu dieser Besonderheit vgl. u. a. G Y , Répons. 348 CAO I, 166-171; CAO II, 302-311 § 72. <?page no="67"?> 1.1 Kodifi im Frühmittelalter 59 HoDo Antiphon Vers aus + Psalm C G B E M V H R D F S L Ante diem festum Paschae x Tamquam ad latronem x Vesper Calicem salutaris accipiam 13 115 x x x x x x x x x x x x Cum his qui oderunt pacem 7 119 x x x x x x x x x x x x Ab hominibus iniquis libera 5 139 x x x x x x x x x x x x Custodi me a laqueo 9 140 x x x x x x x x x x x x Considerabam ad dexteram 5 141 x x x x x x x x x x x x De manu filiorum alienorum 7 143 x x x x x in evangelio Cenantibus autem Mt 26,26 Magn. x x x x x x x x x x x x Accepto pane Iudas tradidit x x x Si male locutus sum x x Cena facta dixit Iesus x x Ecce dico vobis x Mandatum Ante diem festum Paschae x Vos vocatis me Dominus x x Cena facta dixit Iesus x Dominus Iesus postquam x x Postquam surrexit Dominus x x x x Si ego Dominus et Magister x x x x In hoc cognoscent omnes x x x Domine tu mihi lavas pedes x x x In diebus illis mulier x x x Mandatum novum do vobis x x x x Ubi fratres in unum x x x Diligamus nos x x x Suscepimus Deus x Benedicta sit x Ubi est caritas x x Congregavit nos x x x Tibi laus tibi gloria x Maria autem unxit x Caritas est x Maneant in nobis x <?page no="68"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 60 Hinsichtlich der Psalmodie und Antiphonie für die Nacht- und Morgenhoren aller drei Tage besteht völlige Übereinstimmung; am Gründonnerstag ist auch die Vesper weitgehend einhellig tradiert. Die Anordnung der Antiphonen für Laudes und Vesper variiert: Die römischen Codices C und E führen in evangelio zusätzliche Antiphonen an, welche die monastischen Handschriften entweder den Tageshoren oder der Fußwaschung (ad mandatum) zuordnen. 349 C und H bieten nicht selten darüber hinaus überzählige Antiphonen. 350 Nur zwei der sechs Codices aus der römischen Tradition vermerken den Brauch des Lichtauslöschens einmalig am Gründonnerstag nach dem Benedictus zur Kyrielitanei der Matutin/ Laudes unter Ad tenebras (M) und Ad tenebre faciendum (V). 351 Desgleichen ordnen die Rubriken im monastischen Codex S an, das Licht während des Canticums zu löschen. 352 KarFr 353 Antiphon/ Rubrik Vers aus + Psalm C G B E M V H R D F S L 1. Nokt. Astiterunt reges terrae 2 2 x x x x x x x x x x x x Diviserunt sibi vestimenta mea 19 21 x x x x x x x x x x x x Insurrexerunt in me testes 12 26 x x x x x x x x x x x x 2. Nokt. Vim faciebant qui quaerebant 13 37 x x x x x x x x x x x x Confundantur et revereantur 15 39 x x x x x x x x x x x x Alieni insurrexerunt in me 5 53 x x x x x x x x x x x x 3. Nokt. Ab insurgentibus in me libera 2.4 53 x x x x x x x x x x x x Longe fecisti notos meos 9 87 x x x x x x x x x x x x Captabant in animam iusti et 21 93 x x x x x x x x x x x x Matutin Proprio filio suo Röm 8,23 50 x x x x x x x x x x x x Anxiatus est in me 4 142 x x x x x x x x x x x x Ait latro ad latronem Lk 23,41f 62+66 x x x x x x x x x x x x Dum conturbata 2 Hab 3 x x x x x x x x x x x x Memento mei Lk 23,42 148-150 x x x x x x x x x x x x in evangelio Posuerunt super Mt 27,37 Ben. x x x x x x x x x x x x Replevit et inebriavit x x x Iesus clamans x Cum accepisset x x x x Eloi, Eloi lama sabachtani x x x x Tristis est anima x Recordatus est x Deus meus Deus meus ut quid x 349 Siehe unten Kapitel 1.3.1. 350 Beide Codices zeigen die Tendenz zur Sammlung von kursierenden Traditionselementen. 351 CAO I, 169 § 72b. 352 CAO II, 395 § 72b. 353 CAO I, 172-175; CAO II, 312-317 § 73. <?page no="69"?> 1.1 Kodifi im Frühmittelalter 61 KarFr Antiphon/ Rubrik Vers aus + Psalm C G B E M V H R D F S L Tageshoren Hore sine Antiphone x Omnes Horas diei cum silentio x Latro de cruce x Iesus clamans x Sal. Crucis Hagios ho Theos x Ecce lignum x Crucem tuam x Cum fabricator x Sepulto Domino x Vesper Cum accepisset x x Considerabam x in evangelio Velum templi Magn. x Der Karfreitag bietet für Vigil und Matutin/ Laudes dasselbe komplette Bild wie am Vortag. Die ephemere Rolle der Tageshoren und - an diesem Tag auch der Vesper - wird ebenso deutlich. Zwei monastische Codices vermerken für die Tageshoren ausdrücklich entweder das Fehlen von Antiphonen (R) oder ihren gänzlich stillen Vollzug (S). 354 Nur H führt Gesänge zur Kreuzverehrung (ad salutandam crucem) im nachmittäglichen Hauptgottesdienst an. KarSa 355 Antiphon/ Rubrik Vers aus + Psalm C G B E M V H R D F S L 1. Nokt. In pace in idipsum dormiam 9 4 x x x x x x x x x x x x Habitabit in tabernaculo tuo 1 14 x x x x x x x x x x x x Caro mea requiescet in spe 9 15 x x x x x x x x x x x x 2. Nokt. Elevamini portae aeternales 7.9 23 x x x x x x x x x x x x Credo videre bona Domini 13 26 x x x x x x x x x x x x Domine abstraxisti ab inferis 4 29 x x x x x x x x x x x x 3. Nokt. Deus adiuvat me 6 53 x x x x x x x x x x x x In pace factus est 3 75 x x x x x x x x x x x x Factus sum sicut homo 5f 87 x x x x x x x x x x x x Matutin O mors ero mors Hos 13,14 50 x x x x x x x x x x x x Plangent eum quasi unigenitum Sach 12,10 42 x x x x x x x x x x x x Attendite universi populi Klgl 1,18 62+66 x x x x x x x x x x x x A porta inferi erue Domine Jes 38 x x x x x x x x x x x x O vos omnes qui transitis Klgl 1,12 148-150 x x x x x x x x x x x x in evangelio Mulieres sedentes ad monumentum Ben. x x x x x x x x x x x x 354 Ebd. 314f § 73b. 355 CAO I, 174-177; CAO II, 316-321 § 74. <?page no="70"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 62 KarSa Antiphon/ Rubrik Vers aus + Psalm C G B E M V H R D F S L Tageshoren Sepulto Domino x x x Ululate pastores Jer 25,34 x x x Videbunt in quem Sach 12,10 x x x Ioseph ab Arimathia petiit x x Omnes igitur Horas diei dicant cum silentio usque ad officium quod est dicendum hore none. x Am Karsamstag ist die geradezu exklusive Bedeutung der Nacht- und Morgenhore evident: Sie enthält inhaltlich alles, was die Kirche in ihrem Gottesdienst an diesem Tag feiert. Größtes theologisches Gewicht kommt der Vigil zu, deren Psalmen und Antiphonen zum Tag passend gewählt sind, wobei jedoch das Prinzip der aufsteigend angeordneten Psalmen beibehalten wird. In den Laudes sind nur die - mehrheitlich prophetischen, in den Tageshoren dann auch neutestamentlich-narrativen - Antiphonen und das AT-Canticum spezifisch, die Psalmodie entspricht den Laudes am Dienstag im römischen Wochenpsalter. 356 Nur in B sind die zwei aus den Klageliedern entnommenen Laudesantiphonen vertauscht; die in der Tabelle unter „Tageshoren“ angeführten Antiphonen bieten C und E wie an den vorausgehenden Tagen in evangelio. 357 Codex S weist erneut den stillen Vollzug des Tagescursus an. 358 Es gibt keine Vesper. Responsorien in den Vigilien Unter ,Responsorien‘ (responsorium, responsorius, auch: responsum) versteht man zur Zeit unserer Quellen bereits vollständige eigene Gesänge. Hier interessieren nur die responsoria prolixa der Nachthore 359 , deren Vortragsweise sich ab dem 9. Jh. allmählich verändert: Römischer Praxis folgend singt man nach dem Versikel das ganze Responsorium von vorn, während in Gallien nur dessen zweiter Teil wiederholt wird. 360 Letztere Weise der Repetitio setzt sich ab dem Frühmittelalter durch; sie spiegelt sich auch in den untersuchten Codices. 356 Nach P ASCHER , Stundengebet 88. 357 CAO I, 176f § 74b. 358 CAO II, 321 § 74c. 359 Für Laudes und Vesper gilt: „In den drei letzten Tagen der Karwoche und in der Osterwoche gibt es kein Kapitel, sicher derselbe alte Zustand, wie er sich für die Kleinen Horen noch lange erhalten hat.“ (P ASCHER , Stundengebet 180) Demzufolge gibt es weder responsoria brevia noch Hymnen. Die am Hohen Donnerstag in den monastischen Quellen H (zur Terz, Sext und Non) sowie in S außerdem zur Prim angeführten Responsorien sind sämtlich Wiederholungen von Nokturnresponsorien (CAO II, 308f § 72d); am Karfreitag ebenso in S (ebd. 315 § 73b); nur H ordnet an diesem Tag Responsoriola de Passione Domini Erue a frame cum reliquis (ebd. 314 § 73b; CAO IV, 171 Nr. 6670 § 73 und § 66 [Passionssonntag]) an. 360 Amalar problematisiert diesen Unterschied bezüglich der inhaltlichen Übergänge zwischen Versen und Repetenda: Illi a capite incipiunt responsorium, finito versu; nos versum finitum informamus in responsorium per latera eius; ac sic facimus de duobus corporibus unum corpus. Ideo necesse est ut hos versus quaerumus, quorum sensus cum mediis responsorium conveniat, ut fiat unus sensus ex verbis responsorii et verbis versus. (Prologus 12 [StT 138, 362 H ANSSENS ]); vgl. C UTTER , Responsory 221f und H ILEY , Responsorium 179f, dem freilich Amalars Angaben über die Vortragsweise der Responsoria prolixa aufgrund der uneinheitlichen späteren Praxis nicht einfachhin „dem allgemeinen Usus seiner Zeit in Rom und im Frankenreich“ zu entsprechen scheinen (ebd. 180). Um stimmige Anschlüsse zwischen Vers und Repetitio zu erhalten, bedurfte es jedenfalls der <?page no="71"?> 1.1 Kodifi im Frühmittelalter 63 Die Verteilung der Vigilresponsorien in den Quellen des CAO an den drei letzten Tagen der Hohen Woche stellt sich folgendermaßen dar: HoDo 361 Responsorium C G B E M V H R D F S L 1. Nokt. In monte oliveti x x x x x x x x x x x x Tristis est anima mea x x x x x x x x x x x x Ecce vidimus eum x x x x x x x x x x x x 2. oder 3. Nokt. Amicus meus osculum x x x x x x Iudas mercator pessimus x x x x x x x Unus ex discipulis meis x x x x x x x x x x x Eram quasi agnus x x x x x x x x x x x Una hora non potuistis x x x x x x x x x x x Ecce turba x x x x 3. oder 2. Nokt. Seniores populi x x x x x x x x x x x Revelabunt caeli x x x x x x x x x O Juda qui dereliquisti x x x x x x x x x Facta est lingua iniquorum x S hat Revelabunt erst am Karfreitag in der 3. Nokturn. 362 KarFr 363 Responsorium C G B E M V H R D F S L 1. Nokt. Omnes amici mei x x x x x x x x x x x x Vinea mea electa x x x x x x x x x x x x 1. oder 2. Nokt. Velum templi scissum x x x x x x x x x x xx x Tamquam ad latronem x x x x x x x x x x x x Barabbas latro dimittitur x x x x x x x x x x x x Tenebrae factae sunt x x x x x x x x x x 3. oder Tradiderunt me x x x x x x x x x x x 2. Nokt. Iesum/ Me tradidit impius x x x x x x x x x x x x Caligaverunt oculi mei x x x x x x x x x x x x Circumdederunt me x Obprobrium factus sum x weitere Respons. Animam meam dilectam x x Viderunt in quem x Principes sacerdotum x Vadis propitiatus x Ingressus Pilatus x Multa egerunt Iudaei x Velum bietet nur D in der 3. Nokturn, 364 S am Karfreitag und Karsamstag; 365 S wiederholt die ersten vier Vigilresponsorien zu den Kleinen Horen. 366 L hat Caligaverunt erst am Karsamstag (2. Nokturn). 367 Die in L am Karfreitag singulären Responsorien Circumdederunt und Obprobrium 368 sind in anderen Quellen überwiegend in der Passionszeit bis Palmsonntag, letzteres am Palmsonntag und in der Hohen Woche belegt. 369 textlichen Korrektur der Gesänge, die u. a. vom Trierer Benediktinerabt Helisachar († 820) geleistet wurde; nach B ÄUMER , Geschichte 282. 361 CAO I, 166-169; CAO II, 302-305 § 72. 362 Ebd. 313 § 73a. 363 CAO I, 172f; CAO II, 312f § 73. 364 Ebd. 312. 365 Ebd. 313; 319 § 74b. 366 Ebd. 309 § 72d; 315 § 73b; 317 § 73c. 367 Ebd. 319 § 74b. 368 Ebd. 313 § 73a. 369 CAO IV, 73 Nr. 6287; 330f Nr. 7325. <?page no="72"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 64 KarSa 370 Responsorium C G B E M V H R D F S L 1. Nokt. Sepulto Domino x x x x x x x x x x x x Hierusalem luge x x x x x x x x x x x x Plange quasi virgo x x x x x x x x x x x x 2. Nokt. Recessit pastor noster x x x x x x x x x x x x O vos omnes x x x x x x x x x x x x Ecce quomodo moritur x x x x x x x x x x x x 3. Nokt. Aestimatus sum x x x x x x x x x x x Agnus Dei Christus x x x x x x x x x x x x Sicut ovis x x x x x x x x weitere Respons. Domine post passionem x x x Scindite vestimenta x In pace in idipsum x Das Responsorium Ecce quomodo führt L erst in der 3. Nokturn an; 371 H kennt den Gesang Agnus Dei am Karfreitag auch zur Kreuzverehrung. 372 Nicht lückenlos wie die Psalmen und Antiphonen, aber in hohem Ausmaß übereinstimmend ist die Überlieferung der Vigilresponsorien von Gründonnerstag bis Karsamstag, wobei sich die 1. Nokturn am stabilsten zeigt - möglicherweise deshalb, weil auch ihre Lesungen aus den Klageliedern als einzige von Anfang an fest geregelt werden. Angaben zur Feiergestalt Das Antiphonar aus der spanische Benediktinerabtei Santo Domingo in Silos (11. Jh.) enthält detaillierte und in die Präsentation der Offiziumsgesänge integrierte Ausführungsbestimmungen. 373 Da der Text sich inhaltlich nur wenig von den bisher dargestellten Quellen unterscheidet, kann hier eine Paraphrase die wörtliche Übersetzung ersetzen: Codex Silensis (S) Officium in Cena Domini In histis tribus diebus non dicatur Deus in adiutorium meum intende neque Gloria Patri in horas dierum et noctium neque Imvitatorio (sic) sed illico ad Matutinos Antifone incipiantur subsequentibus Psalmis. an diesen drei Tagen: keine Eröffnung, keine Doxologie sondern: sofortiger Beginn mit der ersten Antiphon und den Psalmen [III. N: ] Non dicatur Te Deum laudamus sed ilico post Responsum Antifona incipiatur. Vigil kein Te Deum nach letztem Responsorium der 3. Nokturn: 1. Laudesantiphon [Mat.] Non dicatur Capitulum neque Ymnum neque Versus set tantumodo Antifona incipiatur de Evangelio. Mox autem ut incipiatur Antifona ad Canticum extinguatur lumen in Evangelia usquequo finiantur hore. … Et prostrati omnes in terra dicantur Laudes keine Kurzlesung kein Hymnus zur Benedictus-Antiphon: - Lichtauslöschen bis zum Ende der Hore - Prostratio mit stillem Gebet bis 370 CAO I, 174-177; CAO II, 316-319 § 74. 371 Ebd. 319 § 74b. 372 Ebd. 316 § 73c. 373 CAO II, 303-321 § 72a-§ 74c. <?page no="73"?> 1.1 Kodifi im Frühmittelalter 65 Preces cum silentio. Quibus dictis faciat Abbas sonum ut eleventur a terra et sic adducatur lumen ad ecclesiam. der Abt das Zeichen zum Aufstehen gibt dann: Licht in die Kirche [I a ] Dicto versu sileant omnes et cum silentio dicant Preces Pater noster. Credo … usque ad Confiteor Domino Deo iungant se omnes in unum et dicant pariter confessionem in unum Confiteor Domino Deo. Qua dicta reddeat unusquisque ad locum suum et conpleantur Preces cum silentio Converte nos Deus. Prim stille Gebete gemeinsames Schuldbekenntnis stille Gebete [III a , VI a , VIIII a ] Et postea dicantur Preces cum silentio. Tageshoren stille Gebete Post VIIII a igitur in ipso die dicatur Missa et … mox ut acceperint sanctam communionem incipiat continuo sacerdos ad altare Antifona de Vespera. … Et post istis Antifonis incipiatur continuo Antifona de Evangelio. … Et sic compleatur Missa et Vespera in unum sub una oratione adiugentes Benedicamus Domino. - Vesper nach der Kommunion: nur Psalmen, Antiphonen und Magnificat - Oration und Entlassung Completorium vero totum in ipsa nocte cum silentio dicatur. Komplet in Stille Officium in VI a feria [III. N: ] Et mox incipiatur Antifona in Matutinis Laudibus. Vigil/ Laudes sofortiger Übergang von 3. Nokturn zu 1. Laudesantiphon Finitis Matutinis dicant postea omnes Horas diei cum silentio. Quomodo externo [sic] die dixerunt. Horas ita odie sic dicantur. Tageshoren wie am Vortag in Stille [I a ] et sic dicantur Preces Kirie Criste Kirie. - Kyrielitanei [III a , VI a , VIIII a ] Postea (deinde) dicantur Preces. - Gebete Sabbato [Mat., Kirie] Postea dicantur Preces cum silentio. nach Laudes: - Gebete in Stille Omnes igitur Horas diei dicant cum silentio usque ad officium quod est dicendum hore none. Tageshoren inklusive Non: in Stille Die Anweisungen zur Feier des Offiziums von Gründonnerstag bis Karsamstag beinhalten die schon bekannte Unterlassung der eröffnenden Rufe und bestimmter Gebete oder deren Vollzug in Stille, die ausdrücklich auch für die Kleinen Horen und die Komplet am Hohen Donnerstag gilt. In den Laudes gibt es weder Lesung noch Hymnus. Die Tageshoren am Karfreitag finden wie am Vortag (quomodo externo die) statt. <?page no="74"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 66 Die Vesper am Gründonnerstag ist - reduziert auf Psalmodie und Magnificat - in die Abendmahlsmesse eingebaut; 374 am Karfreitag wird sie nicht erwähnt. Das Auslöschen von Kerzenlicht findet erst ab der Antiphon zum Benedictus und im Zuge der Kyrielitanei nach den Matutinen/ Laudes statt - worin S mit dem Zeitansatz der in M und V erwähnten Tenebrae übereinstimmt - und wird am Ende des Gottesdienstes offenbar wieder angezündet (adducatur lumen ad ecclesiam). Das Repertoire an Offiziumsgesängen von Gründonnerstag bis Karsamstag ist in den untersuchten Quellen - sie repräsentieren exemplarisch die römische und monastische Tradition im gesamten abendländischen Mittelalter - nahezu identisch: ausnahmslos gilt das für die Psalmen und Antiphonen der Nacht- und Morgenhore; kaum weniger für die Vigilreponsorien, die lediglich nicht immer exakt derselben Nokturn zuzuordnen sind, sondern fallweise zwischen diesen wandern. Zudem gibt es v. a. im Cursus Monasticus überzählige Gesänge. Am wenigsten stabil sind die Responsorialverse, die nach einfachen psalmodischen Melodiemodellen rezitiert werden und leichter veränderbar sind als die kunstvoll auskomponierten und melodisch fixierten Responsa. 1.1.4 Synthese: Das frühmittelalterliche Offizium von Gründonnerstag bis zur Osternacht In den ältesten liturgischen Quellen - durchwegs fränkische Bearbeitungen der römischen Liturgietradition (ab 8. Jh.) - heben sich die drei letzten Tage der Hohen Woche durch besondere Feierinhalte und durch eine eigene liturgisch-rituelle Gestaltung von den anderen Tagen der Hohen Woche ab. Aus den entsprechenden Ordines Romani, dem Liturgiekommentar Amalars (9. Jh.) sowie den untersuchten Antiphonalien der römischen und monastischen Tradition (9.-13. Jh.) ergibt sich für die Feiergestalt des Offiziums von Gründonnerstag bis zur Osternacht folgendes Bild: Thematisch-inhaltlich bleibt das Offizium der vorösterlichen Tage - in Fortsetzung der zwei Wochen davor - von der Passion Jesu geprägt, was sich nun auch in der dezidierten Auswahl „passender“ biblischer und patristischer Lesungen im nächtlichen Offizium niederschlägt, für die freilich anfänglich, von den Klageliedern abgesehen, keine oder nur pauschale Angaben existieren. Für Psalmodie, Antiphonie und die übrigen Gesänge verweisen die Ordines auf die entsprechenden liturgischen Bücher (Antiphonare, Capitulare etc.) und heben fallweise den Passionsbezug mancher Psalmen, z. B. Ps 90(91) und Ps 21(22), eigens hervor. Die liturgischen Bestimmungen zum Offizium betreffen hauptsächlich, in den ältesten Quellen ausschließlich, die Vigilien und Matutin/ Laudes. Die Horenstruktur entspricht auch in den monastischen Codices dem römischen Aufbau. In der Vigil gibt es daher drei Nokturnen mit je drei Psalmen und Antiphonen sowie je drei Lesungen und Responsorien. Sofern die übrigen Tageshoren inklusive Vesper und Komplet überhaupt erwähnt werden, lautet die Anordnung meist nur, diese Horen privatim, singillatim, separatim, d. h. nicht in der liturgischen Versammlung, zu vollziehen, was sie klar als historisch und sachlich sekundär ausweist. Gründe dafür sind wohl die faktische Vorverlegung der Ostervigil 375 - sie beginnt in den untersuchten Quellen bereits am frühen Nachmittag des Karsamstags - und der gleichfalls sukzessiv vorgeschobene 374 Nicht zuletzt die in späterer Zeit liturgisch zwischen Messe und Vesper integrierte Fußwaschung zeige, dass es sich hier nicht um eine „organische Verbindung“ beider Gottesdienste handelt (B AUMSTARK , Gesetz 19). 375 J UNGMANN , Vorverlegung 52-54. <?page no="75"?> 1.1 Kodifi im Frühmittelalter 67 Zeitansatz der mehrstündigen Hauptgottesdienste am Hohen Donnerstag und Karfreitag. 376 Das Offizium - insbesondere die Nacht- und Morgenhore - erscheint an den drei Tagen vor Ostern unter Entfall bestimmter verbaler Elemente, v. a. der Eröffnungsriten, einiger Gebete sowie der Doxologien bei allen Gesängen, in seiner auf die Kernvollzüge - Psalmodie, Bibellesung und Gesang - reduzierten Gestalt. Gewisse Unterlassungen beachtet man schon ab dem 15. Tag vor dem Pascha, weitere ab der Hohen Woche. Mit dem zusätzlichen Verzicht auf das (Glocken-) Zeichen zur Versammlung am Hohen Donnerstag oder Karfreitag erreichen sie ihre nur für die zwei oder drei letzten Tage der Hohen Woche charakteristische Ausformung. Die Zäsur nach Abschluss der Vorbereitungszeit verläuft in den römisch-fränkischen Ordines Romani nicht einheitlich. Indizien dafür sind in der Feiergestalt des Offiziums die besagten Reduktionen, speziell ausgewählte Texte und Gesänge und ein besonderer Umgang mit Feuer und Licht. 377 Belegt sind einerseits die Bewahrung einer (existierenden) Flamme/ Lichtquelle für die Paschavigil oder die Hervorbringung von Neuem Licht zu diesem Zweck, andererseits das rituelle Auslöschen von Kerzen und Lampen an den drei Tagen, das zunehmend minutiös geregelt wird. 378 In Rom ist das Verbergen einer Lampe - nach den meisten Quellen am Karfreitag - für die Osternacht ursprünglich, im Karolingerreich das Schlagen von Feuer aus Stein an einem der beiden Tage. Die vermutlich außerhalb Roms entstandene und auf alle drei vorösterlichen Tage ausgedehnte Praxis des Neuen Feuers stellt die Versorgung mit Licht sowohl für die Osternacht als auch in den Vigilien von Karfreitag und Karsamstag sicher, um dort rituell ausgelöscht und am Nachmittag jeweils wieder vom Neuen Feuer angezündet werden zu können. Das Lichtauslöschen in der Nacht auf Gründonnerstag steht dabei vermutlich nicht am Anfang, sondern am Ende der Entwicklung dieses Ritus. Über Sinn und Herkunft des immer breiter angelegten rituellen Ablöschens einer bestimmten Anzahl von Kerzen und Lampen während der Nacht- und Morgenhore können nur Vermutungen angestellt werden. Nicht auszuschließen ist ein Zusammenhang mit der Jerusalemer Liturgie apte diei et loco in Getsemane. Die in weitgehender Dunkelheit gehaltene Feier könnte ein Versuch sein, das nächtliche Geschehen, die Verhaftung und das Verhör Jesu in den frühen Morgenstunden des Karfreitags, liturgisch darzustellen. Im nächtlichen Offizium des Karsamstags könnte das schwindende Licht der beim Tod Jesu über die Welt hereingebrochenen Finsternis von der 6. bis zur 9. Stunde (freilich des Tages, nicht der Nacht) entsprechen 379 , die sich in Rom im Verzicht auf künstliches Licht im Hauptgottesdienst am Karfreitag Nachmittag niederschlägt. Als weiterer möglicher Vorläufer des abnehmenden Lichts kommt der vereinzelt belegte monastische Brauch in Betracht, die Karsamstagsvigil in völliger oder fast völliger Finsternis zu halten. 380 376 Dazu kommen gelegentlich weitere Messfeiern (Büßeraussöhnung, Weihe der Öle) am Hohen Donnerstag und - in Rom - die teilweise Wiederholung der päpstlichen Stationsliturgie in den anderen Kirchen Roms am Nachmittag und Abend, die in den fränkischen Bearbeitungen analog für die Bischofsliturgie rezipiert wird. 377 Sicher belegt ist die funktionale oder liturgische Verwendung von Licht an den vorösterlichen Tagen frühestens in der 2. Hälfte des 6. Jhs. in Gallien und einige Jahrzehnte später in Rom; nach M AC G REGOR , Fire 13. 378 Die Entwicklung des nächtlichen Lichtanzündens und -auslöschens lässt sich in mehreren idealtypischen Stadien darstellen, die jedoch faktisch weder streng voneinander zu trennen, noch überall exakt chronologisch aufeinander folgend zu beobachten sind; ebd. 19-30. 379 Diese Überlegungen scheinen zumindest plausibler als die frühere Herleitung von Katakombengottesdiensten oder vom konstruierten pragmatischen Zusammenhang mit dem anbrechenden Tageslicht; ebd. 124-132. 380 Ebd. 18. <?page no="76"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 68 Das Repertoire an Gesängen an den drei Tagen ist in den untersuchten mittelalterlichen Antiphonalien in der Nacht- und Morgenhore sowohl für die römische als auch für die monastische Tradition bei den Psalmen und Antiphonen hundertprozentig stabil, für die Responsorien ist die Übereinstimmung fast ebenso hoch. Die bisherigen Beobachtungen bestätigen sich: Der Gründonnerstag unterscheidet sich von den beiden anderen Tagen durch die Beibehaltung des kurrenten Wochenpsalters. Von daher ist er als gewöhnlicher Wochentag der Quadragesima anzusehen, der sich aber zugleich durch eigens gewählte Antiphonen von den Vortagen abhebt. Am Karfreitag und Karsamstag ist die Vigilpsalmodie samt psalmogenen Antiphonen durchwegs speziell zusammengestellt, während man in den Laudes aller drei Tage die den Wochentagen zugeordneten Psalmen mit tagesspezifischen Antiphonen singt. Sowohl in Kombination mit den gewöhnlichen als auch mit außerordentlichen Psalmen sind es die Antiphonen und alttestamentlichen Cantica, die maßgeblich zur theologischen Charakteristik der Tage beitragen. Weiters wird die hervorragende, am Karsamstag exklusive Stellung der Nacht- und Morgenhore im Offizium deutlich: dafür sprechen die hohe Stabilität ihrer Überlieferung, und, via negativa, die Vernachlässigung der übrigen Horen. Selten (in drei von zwölf Handschriften) und ohne nähere Angaben wird das Lichtauslöschen erwähnt und einmal, sehr beiläufig, das Wiederentzünden von Licht am Gründonnerstag. 381 Die teilweise Übertragung der Besonderheiten des Offiziums am Karfreitag und Karsamstag auf den Gründonnerstag zeigt diesen Tag - das Ende der vierzig- (Quadragesima 382 ) bis sechzigtägigen (Quinquagesima, Sexagesima, Septuagesima) Vorbereitungszeit auf das Jahrespascha - bereits mit der zweitägig entfalteten Feier am Karfreitag und Karsamstag zu einer eigenständigen Einheit zusammengewachsen. 383 In den römisch-fränkischen Quellen des Frühmittelalters präsentiert sich der Hohe Donnerstag im Offizium als liturgischer Zwitter, an dem die quadragesimale Praxis und eine regressiv ausgeweitete präpaschale Praxis ineinandergreifen. 381 CAO I, 169 § 72b; CAO II, 305 § 72b; 307 § 72c. 382 Die Berechnung der vierzig Fasttage erfolgte unterschiedlich; wahrscheinlich zählten Anfang des 6. Jhs. in Rom der Karfreitag und Karsamstag zur Quadragesima; die Sonntage waren keine Fasttage. Den jüngsten Forschungsstand zur Frage der Herkunft und Entwicklung der Quadragesima bringt B UCHINGER , History. 383 Woraus in Zusammenwirkung mit der Vorverschiebung des „Ostertriduum“ (Arbeitsruhe von Montag bis Mittwoch) auf Sonntag bis Dienstag der Osterwoche das nachmalige Leidenstriduum von Donnerstag bis Samstag der Hohen Woche erwächst; nach F ISCHER , Triduum 153-156. <?page no="77"?> 1.2 Entwicklung im Hoch- und Spätmittelalter 69 1.2 Die Entwicklung der Feiergestalt im Hoch- und Spätmittelalter 1.2.1 OR 50 im Pontificale Romano-Germanicum Das zwischen 950-962 vermutlich in Mainz (Kloster St. Alban) zur Ordnung bischöflicher Liturgien redigierte Pontificale Romano-Germanicum (PRG) enthält außer Bestimmungen für die Abhaltung bischöflicher gottesdienstlicher Handlungen auch die aus verschiedenen Sakramentaren ergänzten ausformulierten liturgischen Texte des Vorstehers. 384 Diese wichtige Quelle bezeugt nicht nur den Liturgieaustausch zwischen Rom und der Kirche im Karolingerreich und seinen Nachfolgestaaten, sondern auch den Rückimport der römischen Liturgie nach Rom - in ihrer gallikanisierten Version. Die römisch-fränkische Mischliturgie wird in der Folgezeit als vermeintlich authentisch ,römische Tradition‘ maßgeblich für die mittelalterliche Liturgie des Abendlandes. 1.2.1.1 Die Quelle: OR 50 Michel A NDRIEU hat das umfangreiche 99. Kapitel des Pontificale Romano-Germanicum als OR L in seine Edition der Ordines Romani aufgenommen und 1961 in Les Ordines Romani du haut moyen âge 5 (SSL 29) herausgegeben. OR 50 befasst sich in 55 Kapiteln und elf Anhängen keineswegs nur mit der Bischofsliturgie, sondern bietet zahlreiche andere liturgische und außerliturgische Inhalte. Die Autoren schöpfen weiterhin aus der überkommenen römischen Tradition 385 und verbinden sie mit den zeitgenössischen liturgischen Gegebenheiten ihrer Heimat: Als authentischer Teil des PRG findet OR 50 am Ende des ersten Jahrtausends im Abendland in mehr als fünfzig heute bekannten Handschriften 386 allgemeine Verbreitung und beeinflusst nicht zuletzt in seiner späteren kurialen Rezeption im 13. Jh. auch die weitere Entwicklung der römischen Liturgie entscheidend. OR 50 ist literarisch von etlichen der bereits dargestellten älteren Ordines Romani abhängig, die der Redaktor teils einzeln, teils in Kenntnis ihm vorliegender Sammlungen römischer und gallikanisierter Quellen verarbeitet. 387 Für die Abhandlung der Hohen Woche stützt er sich insbesondere auf OR 11 (Scrutinien und Taufe), OR 28 sowie 30A und 30B (Hohe Woche). Für das Offizium benutzt er v. a. OR 13B (Leseordnung) als Vorlage und übernimmt weite Passagen aus OR 24, 26, 27 und 29. Die daraus resultierende Darstellung der letzten Tage der Hohen Woche umfasst in OR 50 die Kap. 25 (Gründonnerstag), Kap. 26 (Nacht auf Karfreitag; zwei Notizen in Kap. 27) und Kap. 28 (Karsamstag). 388 Sie bietet inhaltlich wenig Neues, fügt aber die bisherigen, teils lückenhaften, teils disparaten Informationen zu den drei vorösterlichen Tagen zum Gesamtbild jener Feiergestalt zusammen, die sich auch in den folgenden Jahrhunderten weitgehend unverändert erhalten wird; Neueinsätze und Alternativordnungen machen den kompositen Charakter des Dokuments deutlich und lassen nicht immer eine chronologisch oder sachlich schlüssige Abfolge erkennen. 384 Darüber hinaus bietet das PRG einiges Material aus nicht-bischöflichen Liturgien sowie didaktische und juristische Elemente. 385 Hauptsächlich aus den Ordines Romani und den älteren Sakramentaren; vgl. A NDRIEU , Ordines V, 49-71. 386 Zur Überlieferungssituation von OR 50 ebd. 3-48. 387 In A NDRIEU s Nomenklatur sind das die „Collection romaine A“ und die „Collection gallicanisée B“ sowie der Ordo von St. Amand. Eine detaillierte Darstellung der OR 50 zugrundeliegenden Quellen siehe ebd. 49-71. 388 Die Hauptgottesdienste dieser Tage werden jeweils im Anschluss an das Offizium beschrieben. <?page no="78"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 70 Für den Gründonnerstag werden zuerst Bestimmungen für das Offizium mit seinen Besonderheiten einschließlich der Lichtriten geboten; 389 auf Anweisungen zur Vorbereitung der Chrisammesse folgen umfangreiche Ordnungen der Büßeraussöhnung mit zahlreichen Alternativen 390 , bevor nach einem Neueinsatz (Item ordo unde supra) die Chrisammesse geregelt wird. 391 Die Bestimmungen für die Vesper, die Entblößung der Altäre (Denudatio altarium) und die Fußwaschung (mandatum) 392 sowie weiteres Material über die Ölweihen 393 schließen das Kapitel zum Gründonnerstag ab. Caena domini Für die Leseordnung der Vigilien aller drei Tage fügt OR 50 die jeweils genauesten Angaben seiner Vorlagen zusammen: für die 1. Nokturnen aus OR 13B, für die 2. und 3. Nokturnen aus OR 13C. Überdies nennt er die erste Vigilantiphon an jedem Tag. Für die Lesung aus den Klageliedern ist ausdrücklich die Aussprache der hebräischen Buchstaben verlangt, nach denen die einzelnen Textstrophen geordnet sind: OR 50 25. De officiis divinis a caena domini usque in octavam pentecostes. 25. Von den Offizien vom Gründonnerstag bis zur Pfingstoktav. 1. Feria quinta maioris ebdomadae, eadem nocte surgunt ad vigilias hora noctis octava. 394 Et tangitur campanae signum sicut aliis diebus. Et post haec non tangitur ad matutinum, nisi in nocte sancti paschae. Et tunc ecclesia omni lumine decoretur. 1. Am Donnerstag der Hohen Woche stehen sie in dieser Nacht um die achte Nachtstunde zu den Vigilien auf. Es wird das Glockenzeichen gegeben, so wie an den anderen Tagen; danach zur Matutin (Laudes) nicht mehr bis zur heiligen Paschanacht. Dann werde die Kirche mit voller Beleuchtung geschmückt. 2. Venientibus autem omnibus in ecclesiam infra chorum, more solito, <non dicatur> Domine labia mea aperies nec Deus in adiutorium meum intende, nec venite, sed cantor incipiat in psalmis antiphonam Zelus domus tuae, et reliquas, sicut in antiphonario continentur. In fine psalmorum non dicatur Gloria nec in responsoriis, nec in ullo loco, nec finis subtrahatur. Post tres psalmos dicatur versus pleniter, non subtrahendo finem. Sed et in finem nocturni lector benedictionem non petit nec pontifex aut presbiter more solito benedictionem complet. Et quando finit lector <lectionem> non dicit: Tu autem domine, sed ex verbis lectionis iube- 2. Wenn alle in der Kirche im Chor versammelt sind, sage man weder wie üblich Herr, öffne meine Lippen noch O Gott, komm mir zu Hilfe, noch Kommt [Invitatorium], sondern der Kantor intoniere zur Psalmodie die Antiphon Der Eifer für dein Haus und das übrige, wie es im Antiphonar steht. Am Ende der Psalmen soll es kein Ehre geben, auch nicht zu den Responsorien und überhaupt nirgends, und das Ende lasse man nicht weg. Nach drei Psalmen rezitiere man den Vers vollständig, ohne das Ende auszulassen. Am Ende der Nokturn erbittet der Lektor keinen Segen, und weder der Pontifex noch der Presbyter geben in gewohnter 389 OR 50, 25,1-20 (SSL 29, 186-192 A NDRIEU ). 390 OR 50, 25,21-59 (ebd. 192-207). 391 OR 50, 25,60-104 (ebd. 207-226). 392 OR 50, 25,105-137 (ebd. 226-233). 393 OR 50, 25,138-145 (ebd. 233-244). 394 Gegen zwei Uhr früh. <?page no="79"?> 1.2 Entwicklung im Hoch- und Spätmittelalter 71 tur facere finem, aut certe ex terminatione. Weise den Segen. Und wenn der Lektor <die Lesung> beendet, sagt er nicht Du aber, Herr, sondern er wird angehalten, mit den Worten der Lesung zu enden, oder jedenfalls mit deren Abschluss [Kapitelende? ]. 3. Lectiones vero legantur tres de lamentationibus Hieremiae prophetae, ab eo loco, ubi dicit: Quomodo sedet sola civitas, cum pronuntiatione Aleph usque: cogitavit dominus dissipare murum filiae Syon; 395 tres de tractatu sancti Augustini in psalmo sexagesimo tertio, id est Exaudi Deus, orationem meam cum deprecor, et tres de Apostolo. <Prima> ubi ait ad Corinthios, capitulo quinquagesimo septimo: Ego accepi a domino quod et tradidi. Secunda lectio sic incipit: Similiter postquam caenavit. Tertia: De spiritalibus autem nolumus vos ignorare. 396 Novem itaque psalmi, novem lectiones, novem responsoria per omnia complenda sunt. 3. Es sollen drei Lesungen aus den Klageliedern des Propheten Jeremia gelesen werden, von dort, wo er sagt: Wie einsam sitzt da die Stadt mit Aussprache des Aleph bis Zu schleifen plante der Herr die Mauer der Tochter Zion; drei aus dem Traktat des heiligen Augustinus zu Psalm 63(64), d. h. Erhöre, Gott, mein Gebet, wenn ich flehe, und drei aus dem Apostel: die erste, wo er zu den Korinthern im Kapitel 57 sagt: Ich habe vom Herrn empfangen, was ich auch überliefert habe; die zweite Lesung beginnt so: Ebenso nach dem Mahl. Die dritte: Auch über die Gaben des Geistes will ich euch nicht in Unkenntnis lassen. Und so sind insgesamt neun Psalmen, neun Lesungen und neun Responsorien zu vollziehen. 4. Accenduntur in quibusdam locis in hac nocte viginti quatuor lumina et extinguuntur per singulas lectiones et responsoria, quae simul per tres noctes fiunt LXXII. 4. An gewissen Orten werden in dieser Nacht vierundzwanzig Lampen angezündet und bei den einzelnen Lesungen und Responsorien ausgelöscht, was in drei Nächten zusammen 72 macht. 5. Lumen autem ecclesiae apud Romanos ab initio cantus nocturni inchoatur extingui, hoc tamen ordine ut ab introitu ipsius ecclesiae incipiat paulatim tutari, ut, verbi gratia, peracto primo nocturno, videatur eorum pars tertia esse extincta; medio nocturno, iterum tertia; tertio vero expleto, exceptis septem lampadibus, nihil luminis relinquatur. 5. Die Kirchenbeleuchtung aber, die sie bei den Römern bei Beginn des nächtlichen Gesanges auszulöschen anfangen, werde nach dieser Ordnung vom Eingang der Kirche aus nach und nach ausgelöscht, und zwar so, dass z. B. nach der ersten Nokturn ein Drittel davon erloschen ist; nach der mittleren Nokturn wieder ein Drittel; nach der dritten aber außer sieben Lampen kein Licht übrigbleibt. 6. Sequuntur matutini in quibus similiter non dicatur Deus in adiutorium meum, nec Gloria patri, sed antiphonae tantum super matutinas 6. Es folgen die Matutinen [Laudes] in eben dieser Weise, dass kein O Gott, komm mir zu Hilfe und kein Ehre sei dem Vater gesungen werde, 395 Klgl 1,1-2,8. 396 1 Kor 11,23; 1 Kor 11,25; 1 Kor 12,2. <?page no="80"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 72 laudes, et in matutinis septem lampades hoc ordine extinguantur; in initio psalmi primi sit custos semper paratus in loco dextrae partis ecclesiae, prope lampades; at, ubi audierit primam antiphonam, tenens cannam in manu sua, tutat lampadem unam; in fine vero psalmi ipsius tutat aliam sinistrae partis; sic, una ex parte una, alia ex alia, tutentur usque ad evangelium. 397 In evangelio vero ante Benedictus non dicatur lectio, sed versus tantum et statim tutatur mediana lampada vel subtrahitur et servatur ut ita veniat ut Benedictus dominus Deus Israel absque lumine psallatur. sondern nur (sofort) die Laudesantiphonen; dabei sollen die sieben Lampen folgendermaßen gelöscht werden: ab dem Anfang des ersten Psalms halte sich der Kustos auf der rechten Seite der Kirche immer bei den Lampen bereit; sobald er die erste Antiphon hört, löscht er, das Rohr in der Hand haltend, eine Lampe; am Ende des Psalms eine auf der linken Seite; so soll abwechselnd auf jeder Seite immer eine nach der anderen bis zum Evangelium gelöscht werden. Zum Evangelium aber soll es vor dem Benedictus keine Lesung geben, sondern nur den Versikel, und sogleich löscht er die mittlere Lampe oder entfernt sie und bewahrt sie auf, sodass man, wenn sie zu Gepriesen sei der Herr, der Gott Israels kommen, ganz ohne Licht psalliert. 7. Benedictus finito cum antiphona, non dicatur Kyrie eleison, nec Et ne nos inducas in temptationem, neque preces, neque oratio alta voce more solito, sed secum tacite; factoque signo a priore omnes pariter surgant sicque finiantur vigiliae nocturnae atque matutini. 7. Nach dem Benedictus mit Antiphon, spreche man kein Kyrie eleison und kein Und führe uns nicht in Versuchung, auch keine Bitten oder laut gesprochene Oration wie sonst, sondern schweigend bei sich; auf das Zeichen des Priors hin sollen sie alle zugleich aufstehen und so Vigil und Matutin beenden. 8. Matutino <autem> completo, vadunt per oratoria, psalmos canendo cum antiphonis sine Gloria. 8. Nach der Matutin <aber> gehen sie durch die Oratorien und singen Psalmen mit Antiphonen ohne Ehre. 9. Eodem die altaria templi et parietes sive pavimenta ecclesiae laventur et vasa domino sacrata purificentur. 9. Am selben Tag sollen sie die Altäre des Heiligtums, die Wände und die Böden der Kirche waschen und die dem Herrn geweihten Gefäße reinigen. 10. Ad primam autem non dicitur Deus in adiutorium, sed tantum psalmi sine Gloria et sine Kyrie eleison, ac sine precibus, sed tamen in choro communiter stent, prout supra, et ita finiatur. Similiter eodem die tertia, sexta, nona. 398 10. Zur Prim aber sagt man nicht O Gott, komm mir zu Hilfe, sondern nur die Psalmen ohne Ehre und ohne Kyrie eleison und ohne Bitten; sie sollen dennoch gemeinsam im Chor stehen so wie vorher und sie so beenden. Genauso [verfahren sie] an diesem Tag bei der Terz, Sext und Non. Die Zahl der auszulöschenden Lichter ist mit 24 pro Nachtfeier festgesetzt, von denen in jeder Nokturn ein Drittel auszulöschen ist; es bleiben jene sieben Lampen übrig, die 397 Gemeint ist das Canticum aus Lk 1,68-79, das Benedictus. 398 OR 50, 25,1-10 (SSL 29, 186-189 A NDRIEU ). <?page no="81"?> 1.2 Entwicklung im Hoch- und Spätmittelalter 73 während den Laudes bis zum Benedictus gelöscht werden, wonach kein Licht mehr in der Kirche brennt. Danach wäscht man die Altäre, Kirchenböden und die liturgischen Gefäße. Am frühen Morgen (mane) werden die Öle (Chrisam, Katechumenen- und Krankenöl) bereitet; 399 zwischen sechs und sieben Uhr (mediante hora prima diei) halten Bischof und Klerus gemäß den Statuten Rat. 400 Um neun Uhr (hora tertia) läuten die Glocken zum Hauptgottesdienst, in dem auch die Öle geweiht werden. 401 Noch vor Beginn der Messe kommen die Büßer zur Rekonziliation. 402 Um 15 Uhr (hora nona) wird das Neue Feuer entzündet, gesegnet und das Licht in Prozession in die Kirche getragen. 403 Für die im Wesentlichen auf die Psalmodie reduzierte Vesper am Gründonnerstag bringt OR 50 sämtliche Antiphonen und Psalmen sowie den Wortlaut der Oration, die unter Bezugnahme auf die Eucharistie und das demütige Beispiel Christi bei der Fußwaschung die Reinigung von der Beschmutzung durch die Sünden erbittet. Die Abdeckung der Altäre ist zu einem liturgischen Dienst während der Vesperpsalmodie ausgestaltet, der von Akolythen in schwarzen Paramenten geleistet wird. OR 50 25. De officiis divinis a caena domini usque in octavam pentecostes. 25. Von den Offizien vom Gründonnerstag bis zur Pfingstoktav. 105. Ad vesperum in cena domini non dicatur Deus in adiutorium, sed antiphonam Calicem salutaris <…> Ps. Credidi. Ant. Cum his qui oderunt <…> Ps. Ad dominum cum tribularer. Ant. Ab hominibus <…> Ps. Eripe me domine. Ant. Custodi me <…> Ps. Domine, clamavi. Ant. Considerabam <…> Ps. Voce mea. 105. Zur Vesper am Gründonnerstag werde kein O Gott, komm mir zu Hilfe gesagt, sondern [gleich] die Antiphon Den Kelch des Heils + Ps 115(116B). Ant. Mit denen, die [den Frieden] hassen + Ps 119(120). Ant. Vor den Menschen + Ps 139(140). Ant. Behüte mich + Ps 140(141). Ant. Ich hielt Ausschau + Ps 141(142). 106. Lectio non dicatur nec versus, sed antiphona Cenantibus autem <…> Et Magnificat. Kyrie eleison ut supra et preces. 106. Es werde keine Lesung gesprochen noch ein Vers(ikel), sondern die Antiphon Während des Mahles zum Magnificat. Kyrie eleison wie oben und die Bitten. 107. Oratio ad vesperas. Deus, cuius cenam sacratissimam veneramur, ut ea digni inveniamur, munda nos, quaesumus, a sordibus peccatorum, qui ad insinuandum nobis humilitatis exemplum, pedes tuorum dignatus es hodie lavare discipulorum. Qui cum patre. 107. Oration zur Vesper. Gott, dessen heiligstes Mahl wir verehren, wasche uns, so bitten wir, vom Schmutz der Sünden, damit wir dessen würdig erfunden werden, der du, um uns ein Beispiel der Demut einzuprägen, dich nicht gescheut hast, heute die Füße deiner Jünger zu waschen. Der du mit dem Vater. 108. Cum autem scola primam antiphonam dicit Calicem salutaris, statim duo acoliti parati cum nigris casulis incipiant expoliare altaria 108. Wenn die Schola die erste Antiphon Den Kelch des Heils anstimmt, sollen zwei Akolythen in schwarzen Gewändern sofort begin- 399 OR 50, 25,21 (ebd. 192). 400 OR 50, 25,22 (ebd.). 401 OR 50, 25,23; 60-104; 138-145 (ebd. 192; 207-226; 233-244). 402 OR 50, 25,24 (ebd. 192). 403 OR 50, 25,11-15 (ebd. 189-191). <?page no="82"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 74 usquedum finitur vespera, postea tollantur. A vespera autem huius diei nuda sint altaria usque in mane sabbati. 404 nen, die Altäre abzuräumen bis die Vesper beendet ist; danach soll (alles) weggetragen werden. Von der Vesper dieses Tages an bleiben die Altäre leer bis zum Samstagmorgen. Nach der Vesper vollzieht der Bischof das Mandatum mit Evangelienlesung, Fußwaschung mit Begleitgesang, Bitten und Oration, 405 und man fastet bis zur Paschanacht oder begnügt sich mit etwas Brot, Kräutern oder Gemüse. 406 Die Komplet am Gründonnerstag wird nicht erwähnt. Parasceve Zur Vigil am Karfreitag steht man schon um Mitternacht auf; statt Glockenklang ertönt ein Klopfzeichen. OR 50 26. Ordo in nocte parasceves 26. Ordnung in der Nacht auf Karfreitag 1. In nocte parasceves temporarie, id est media nocte, parvum ligneum signum sonetur. Collectis omnibus in ecclesia non dicatur Deus in adiutorium, nec Venite, sed antiphona Astiterunt reges. Ad psalmos non dicatur Gloria, nec finis subtrahatur. Versus dicatur pleniter, non subtrahendo finem. Dicantur autem novem psalmi, cum totidem responsoriis. Lectiones legantur, tres de Lamentationibus Hieremiae prophetae, ab eo loco ubi ait: Cogitavit dominus dissipare murum usque: misericordiae domini multae 407 , cum pronuntiatione Aleph; tres de tractatu sancti Augustini de psalmo LXIII et tres de Apostolo, ubi ait ad Hebraeos, capitulo quinto: Festinemus ingredi; secunda lectio: Omnis inquam, pontifex; tertia: De quo grandis nobis sermo est. 408 Lector benedictionem non petat nec finem solitum faciat; sed de ipsa lectione finem faciat. Luminaria ad psalmos singulos extinguantur. 1. In der Nacht auf Karfreitag werde rechtzeitig, also um Mitternacht, das schlichte hölzerne Zeichen geschlagen. Wenn sich alle in der Kirche versammelt haben, kein O Gott, kein Kommt, sondern die Antiphon Die Könige sind aufgestanden. Zu den Psalmen kein Ehre, und das Ende werde nicht weggelassen. Der Vers- (ikel) werde ganz gesagt, ohne das Ende auszulassen. Sie sollen neun Psalmen mit ebenso vielen Responsorien sagen. Als Lesungen sollen drei aus den Klageliedern des Propheten Jeremia gelesen werden, von dort, wo er sagt: Zu schleifen plante der Herr die Mauer bis Des Herrn großes Erbarmen mit Vortrag des Aleph; drei aus dem Traktat des heiligen Augustinus zu Ps 63(64) und drei aus dem Apostel, wo er zu den Hebräern sagt, im fünften Kapitel: Beeilen wir uns einzutreten; als zweite Lesung: Denn jeder Hohepriester; als dritte: Darüber hätten wir noch viel zu sagen. Der Lektor erbitte keinen Segen und mache nicht den üblichen Abschluss, sondern mit der Lesung selbst komme er zum Schluss. Die 404 OR 50, 25,105-108 (ebd. 226f). 405 OR 50, 25,109-136 (ebd. 228-232). 406 OR 50, 25,137 (ebd. 232f). 407 Klgl 2,8-3,22. 408 Hebr 4,11; 5,1; 5,11. <?page no="83"?> 1.2 Entwicklung im Hoch- und Spätmittelalter 75 Lichter sollen zu den einzelnen Psalmen ausgelöscht werden. 2. Deinde sequuntur matutini. Ante Benedictus non dicatur lectio et versus. Finito Benedictus, privatim et sub silentio dicantur preces et Kyrie eleison. Sic finiantur matutini. 2. Darauf folgen die Matutinen. Vor dem Benedictus rezitiere man keine Lesung und keinen Vers(ikel). Nach dem Benedictus sollen die Bitten von jedem bei sich und unter Schweigen gesprochen werden und Kyrie eleison. So sollen sie die Matutin beenden. 3. Primam privatim cantent 409 eodem die; similiter tertiam, sextam, nonam et vesperam, communiter in choro stantes; similiter et completam. 410 3. Die Prim sollen sie an diesem Tag jeder für sich singen; ebenso die Terz, Sext, Non und die Vesper, gemeinsam im Chor stehend; ebenso die Komplet. An diesem Tag und am Karsamstag bis zur Paschavigil gibt es keine Messe. Das privatim zu vollziehende Tagesoffizium hat keinen gemeinschaftlich-liturgischen Charakter, doch stellt die Versammlung in der Kirche sicher, dass es von allen persolviert wird. Am Vormittag um elf Uhr (hora quinta) bringt man Licht in die Kirche, um den Hauptgottesdienst zu halten: OR 50 27. Ordo de sexta feria parasceves 27. Ordnung am Karfreitag 2. In ipso autem die, hoc est feria sexta, hora quinta, deportatur lumen, ut supra, ab archidiacono seu praeposito et illuminantur lampades septem, vel ut alius ordo 411 <dicit>, illuminantur inde duae candelae ad altare ubi officium agitur. 412 2. Am selben sechsten Tag wird zur fünften Stunde das Licht, wie oben, vom Erzdiakon oder Vorsteher gebracht und dann sieben Lampen oder - wie ein anderer Ordo sagt - zwei Kerzen daran angezündet bei dem Altar, wo man den Gottesdienst hält. Nach dem Wortgottesdienst mit Lesungen, Passion und Großen Fürbitten - der anschließend in den Pfarrkirchen wiederholt wird 413 - folgen gegen Abend (ad vesperum) in derselben Kirche wie am Vormittag Kreuzverehrung und Kommunionfeier. 414 Dazwischen steht der Hinweis auf den in Rom üblichen Verzicht auf künstliches Licht von der 6. bis zur 9. Stunde: 33. Notandum vero est quia in romana ecclesia extinguitur totus ignis in hac feria, hora sexta, et reaccenditur hora nona. 415 33. Es ist aber anzumerken, dass in der römischen Kirche alles Feuer an diesem Tag zur sechsten Stunde ausgelöscht und zur neunten Stunde wiederum entzündet wird. Die das Kapitel 27 abschließende Rubrik vermerkt nach der Kommunionfeier für die Vesper am Karfreitag nur: 409 Hier ist vermutlich nicht an ein lautes Singen zu denken, denn sonst wären die Horen - „im Chor stehend“ -wie gewohnt zu vollziehen, was offenbar an diesem Tag aber nicht geschehen soll. 410 OR 50, 26,1-3 (SSL 29, 244f A NDRIEU ). 411 OR 29,29 (SSL 24, 442 A NDRIEU ). 412 OR 50, 27,2 (SSL 29, 245f A NDRIEU ). 413 OR 50, 27,33 (ebd. 252). 414 OR 50, 27,3-32; 34-53 (ebd. 246-252; 252-260). 415 OR 50, 27,33 (ebd. 252); vgl. OR 28,48-39 (SSL 24, 401 A NDRIEU ) und OR 30A,11 (ebd. 456). <?page no="84"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 76 54. Et post paululum vesperos dicit unusquisque privatim et sic vadunt ad mensam. 416 54. Und wenig später sagt ein jeder für sich die Vesper und sodann gehen sie zu Tisch. Sabbatum sanctum Das gleichfalls kurze Kapitel 28 äußert sich nur knapp zur Vigilfeier am Karsamstag, weist aber darauf hin, dass die hebräischen Buchstaben an diesem Tag nicht vorgetragen werden: OR 50 28. De sabbato sancto in nocte 28. Von der Nacht des Karsamstags 1. In sabbato sancto ad vigilias media nocte surgendum est et similiter ut in parasceve fiunt omnia. 1. Zur Vigil am Karsamstag steht man um Mitternacht auf und alles geschehe so wie am Karfreitag. 2. Dicuntur novem psalmi cum responsoriis. Tres lectiones leguntur de Lamentationibus Hieremiae prophetae, sine pronuntiatione Aleph, Beth, et reliquarum, ab eo loco ubi dicit: Misericordiae domini multae 417 usque ad finem. Et tres de apostolo ubi ait, in epistola ad Hebraeos: Christus assistens pontifex. Secunda lectio: Ubi enim testamentum. Tertia: Umbram enim habens lex. 418 Deinde leguntur omeliae sanctorum patrum ad ipsum diem pertinentes. Et in candelis accendendis vel extinguendis, sicut superius habetur. 419 2. Es werden neun Psalmen mit Responsorien gesagt und drei Lesungen aus den Klageliedern des Propheten Jeremia gelesen, ohne Aleph, Beth und die übrigen [Buchstaben] vorzutragen, von dort, wo er sagt: Des Herrn großes Erbarmen bis zum Ende. Drei aus dem Hebräerbrief, wo er sagt: Christus tritt als Hohepriester heran. Die zweite Lesung: Wo nämlich ein Testament [vorliegt]. Und die dritte: Denn das Gesetz hat einen Schatten. Danach werden Väterhomilien gelesen, die zu diesem Tag gehören. Das Anzünden und Auslöschen der Kerzen geschieht wie zuvor. Bereits am Morgen, nachdem die Kirche mit allem Nötigen geschmückt wurde, kommen die Taufkandidaten nach neun Uhr (post horam tertiam) zum letzten Scrutinium mit Wiedergabe von Vaterunser und Glaubensbekenntnis sowie einem Exorzismus. 420 Um ca. 13 Uhr (hora septima) beginnt die Feier der Osternacht: nach dem Kerzenlob und der Lesevigil werden die Kandidaten getauft und konfirmiert; es folgt die Messe. 421 inklusive rudimentärer Ostervesper - Ps 116(117) mit Antiphon und Magnificat - während der Kommunion. 422 Das Tagesoffizium des Karsamstags geht infolge der vorgezogenen Paschavigil fast völlig unter. Es wird lediglich angeordnet: OR 50 29. Item ordo de sabbato sancto in die 29. Ebenso die Ordnung des Karsamstags am Tag 93. Item ipsa die diurnalem cursum separatim canant. 423 93. Ebenso an diesem Tag [Karsamstag] sollen sie das Tagesoffizium jeder für sich singen. 416 OR 50, 27,54 (SSL 29, 260 A NDRIEU ). 417 Klgl 3,22. 418 Hebr 9,11; 9,16; 10,1. 419 OR 50, 28,1-2 (SSL 29, 260f A NDRIEU ). 420 OR 50, 29,1-10 (ebd. 261-264). 421 OR 50, 29,11-88 (ebd. 264-294). 422 OR 50, 29,89 (ebd. 294). 423 OR 50, 29,93 (ebd. 295); vgl OR 28,86 (SSL 24, 409 A NDRIEU ). <?page no="85"?> 1.2 Entwicklung im Hoch- und Spätmittelalter 77 1.2.1.2 Zusammenfassung: Das Offizium von Gründonnerstag bis zur Osternacht im PRG OR 50 verändert die Feiergestalt des Offiziums von Gründonnerstag bis zur Osternacht gegenüber den älteren Quellen kaum, er sammelt lediglich einander ergänzende Anweisungen aus den ihm vorliegenden Ordines und schreibt sie mehr oder weniger ausführlich aus. Die sich in den jüngeren Ordines Romani ankündigende Tendenz, die Liturgie präzise zu regeln, kommt in OR 50 sowohl im Willen zur möglichst lücken- und widerspruchsfreien Bewahrung der Tradition als auch in einzelnen zusätzlichen rituellen Anweisungen zum Ausdruck. Anhand der verwendeten Leseordnungen sind nun die Vigillesungen aller drei Nokturnen festgelegt und werden einigermaßen präzise angegeben: die Klagelieder - zumindest die ersten drei Kapitel, wenn nicht alle fünf, vollständig (ad finem) gelesen - nicht mehr wie in den ältesten Quellen pauschal, sondern mit Incipit und Desinit, die kürzeren Perikopen aus den Briefen mit Incipit. Die hebräischen Buchstaben am Beginn jeder Strophe der Klagelieder werden am Gründonnerstag und Karfreitag vorgetragen, am Karsamstag nicht. Die Lesungen aus dem Augustinustraktat zu Ps 63(64) sind für alle drei Tage vorgesehen, bleiben im Detail aber unbestimmt. Angeführt werden weiters die Psalmen und Antiphonen: für die Vigilien am Gründonnerstag und Karfreitag die jeweils erste (nicht aber für den Karsamstag) und für die Vesper am Gründonnerstag alle. 424 Dieser Tendenz zur Ritualisierung entspricht einerseits der Vorgang, pragmatischnotwendige Tätigkeiten, die als solche nicht mehr erkennbar sind - wie etwa das Abräumen der Altäre nach der Abendmahlsmesse -, zu liturgischen Diensten auszugestalten; 425 andererseits die Anweisung, die Verrichtung des sekundären Tagesoffiziums an den Kartagen privatim in choro stantes, d. h. unter a-liturgischen, aber kontrollierten Bedingungen sicherzustellen. 426 Die quasiliturgische Aufwertung ursprünglich funktionaler Handlungen wird durch die seit dem 9. Jh. verbreitete allegorische Liturgieerklärung gefördert, die insbesondere einzelnen Elementen, Gesten und Gebärden große Aufmerksamkeit widmet. Sie vermag die Lücke der fehlenden liturgischen Deutung der Lichtriten in den Vigilien der drei letzten Tage der Hohen Woche problemlos zu schließen und diese rituell zu festigen. 427 Andere Handlungen behalten indes ihren praktischen Charakter, z. B. die Reinigung der Kirchen am Gründonnerstag. Neben den Vigilien und Matutinen/ Laudes prägt der jeweilige Hauptgottesdienst die Liturgie des Tages. Er findet am Gründonnerstag ab neun Uhr statt (daher reduzierte, weitgehend stille Tageshoren in der Kirche, abends gemeinschaftliche Vesper und Fußwaschung), 428 am Karfreitag in zwei getrennten Feiern: Wortgottesdienst ab elf Uhr und Kreuzverehrung mit Kommunion aller am Abend 429 (danach stille Vesper in 424 OR 50, 25,3; 26,1; 28,2 (SSL 29, 187; 244f; 260f A NDRIEU ). 425 OR 50, 25,108 (ebd. 227). 426 OR 50, 26,3 (ebd. 245). 427 Vgl. LibOff 4,22,1-4 (StT 139, 472f H ANSSENS ) und LibOAnt 44,1-8 (StT 140, 79-81 H ANSSENS ). 428 OR 50, 25,10; 23; 105 (SSL 29, 189; 192; 226f A NDRIEU ). 429 In der Zwischenzeit wiederholen die Kleriker den Wortgottesdienst in ihren eigenen Kirchen; die Vorlage dafür findet sich in OR 28,37 (SSL 24, 399 A NDRIEU ) und OR 24,28 (ebd. 293). <?page no="86"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 78 der Kirche und Komplet), 430 und am Karsamstag ab 13 Uhr (private Tageshoren) statt. 431 Das Tagesoffizium ist schon davor zu persolvieren. Mit der Festschreibung im PRG des 10. Jhs. ist die formative Phase und Kodifizierung der Feiergestalt des Offiziums von Gründonnerstag bis Karsamstag abendländischer Prägung weitgehend abgeschlossen. Sie ist das Resultat eines ab 800 zwischen Rom und den fränkisch-deutschen Kirchen stattfindenden intensiven Liturgieaustauschs, dessen Ergebnis im 11. Jh. zur Grundlage des Re-Imports der römischfränkischen Mischliturgie nach Rom wird. Von dort ausgehend erfolgt sodann deren allgemeine Verbreitung und verbindliche Einführung im gesamten Einflussbereich der römischen Kirche. Das vorösterliche Offizium bleibt in der bisher dargestellten Gestalt auch im 2. Jahrtausend nahezu unverändert erhalten. 1.2.2 Ausgewählte Libri Ordinarii als Zeugnisse lokaler Bräuche Die große Stabilität der gegen Ende des 1. Jahrtausends in Büchern wie dem Pontificale Romano-Germanicum breitenwirksam in Umlauf gebrachten Feierform des vorösterlichen Offiziums römisch-fränkischer Prägung ist aus den bisher dargestellten liturgischen Quellen des 8.-10. Jhs. ersichtlich geworden. Dieser Hauptstrang der römisch-monastischen Offiziumstradition ist nun in einigen wenigen Exemplaren so genannter Libri Ordinarii des 11.-14. Jhs. zu verfolgen. 432 Sie regeln und beschreiben das kirchlichliturgische Leben einer konkreten mittelalterlichen Ortskirche. Obwohl sie jeweils nur einen kleinen Beitrag zum Gesamtbild der Liturgie dieser Jahrhunderte liefern, haben manche weit über ihren Herkunftsort hinaus das Umland geprägt. Mit Sicherheit ist das von der burgundischen Abtei Cluny zu sagen, die als Ausgangsort einer liturgischen Reformbewegung im 10./ 11. Jh. geschichtswirksam wurde. Der für Cluny verfasste LO steht am Anfang des exemplarischen Durchgangs durch folgende ausgewählte Quellen: 433 Herkunftsort Datierung Kategorie Abkürzung Abtei Cluny, F 1. Hälfte 11. Jh. monastisch, Männer LOCl Abtei Rheinau, CH Anfang 12. Jh. monastisch, Männer LORh Lateran, Rom 12. Jh. regularkanonisch OOLt Abtei St. Denis, F 1. Hälfte 13. Jh. monastisch, Männer LOsD Trier Domkirche, D Anfang 14. Jh. kathedral LOTr Baseler Münster, CH Anfang 16. Jh. kathedral CerB 1.2.2.1 Der Liber tramitis aevi Odilonis abbatis von Cluny Die im 10. Jh. exempt gegründete Benediktinerabtei von Cluny wird im 11. Jh. zum Ausgangsort einer monastisch-geistlichen Erneuerungsbewegung, die bald hunderte Klöster europaweit erfasst. Im Zentrum des Interesses steht die Besinnung auf die mönchische Lebensweise, die sich wesentlich auf die Erfüllung des Offiziums als opus dei konzentriert. 434 Die Quelle beschreibt die klösterlich-liturgische Praxis unter Odo, dem zweiten Abt von Cluny († 942). 430 OR 50, 26,3; 27,2.34; 27,54 (SSL 29, 245; 252; 260 A NDRIEU ). 431 OR 50, 29,11; 93; 98 (ebd. 264; 295; 296). 432 Etwa hundertzwanzig solcher lokalkirchlicher Ordnungen sind bisher ediert, d. h. die Anzahl der von H ÄNGGI , Liber XXIV-XXXVI angeführten Editionen bis 1957 hat sich inzwischen mehr als verdoppelt; vgl. die Listen bei M ARTIMORT , Ordines 49-885 (hier v. a. 54-61) sowie die Ergänzungen bei B ÄRSCH , Liber 37-58. 433 Die hier getroffene kleine Auswahl berücksichtigt verschiedene Zeiten (11.-16. Jh.), unterschiedliche Typen (monastisch, kathedral, säkular) und Regionen. 434 Der Aufschwung des monastischen Lebens in Cluny, der mit einer letztlich überfordernden Vervielfältigung der Gebetspflichten einhergeht, führt im 12. Jh. zur Krise. Diese Entwicklung vom <?page no="87"?> 1.2 Entwicklung im Hoch- und Spätmittelalter 79 Die Lesungen gibt der LOCl ebenso wie die älteste verfügbare Leseordnung des Breviarius lectionum per annum secundam cluniacum nur per Incipit an. Zwei jüngere, unvollständig erhaltene Lektionare aus Cluny bieten für die untersuchten Tage ergänzende Informationen. 435 Qualiter agantur in cena Domini Ante Nocturnos: Vor dem Hochaltar werden auf einem hölzernen Leuchter 15 Kerzen 436 für die 15 Vigil- und Laudespsalmen angezündet; zuvor betet man die 15 Gradualpsalmen sub silentio post ternas orationes. 437 Ein entsprechendes Klangzeichen (sonantibus signis) signalisiert den Mönchen, wann sie mit dem jeweils nächsten Psalm beginnen sollen. Ab der 1. Vigilantiphon - die weiteren sind offenbar als bekannt vorausgesetzt und werden nicht genannt - bis zu den Laudespsalmen 148-150 löscht man abwechselnd auf beiden Seiten des Leuchters eine Kerze nach der anderen bis auf eine einzige. Erst nachdem man an ihr eine Laterne entzündet hat, wird auch diese letzte Kerze zur Benedictusantiphon ausgelöscht. Die Vortragsweise der Antiphonen ist schlicht und auch die Schüler (infantes) psallieren gemeinsam mit den Mönchen (ad finem tonum non faciant quemadmodum soliti sunt. Infantes pronuntient psalmos). Die Lesungen beginnen ohne Segnungen und enden metro vel melodia. 438 Angesichts des enormen Gebetspensums, das in Cluny täglich bewältigt wurde, und seiner sonstigen Prachtentfaltung überrascht die Zurückhaltung hinsichtlich der Länge wie auch des Vollzugs der Vigillesungen: 439 Die Lesung der Klagelieder beginnt mit der nicht zum kritischen Text gehörigen Einleitung 440 Et factum est postquam in capti- 10. bis zum 12. Jh. ist bei H ALLINGER , Consuetudines, nachzuvollziehen. An den untersuchten Tagen zeigen sich in den Handschriften die Lichtriten teils weiter verfeinert (Zahl der Kerzen, Ort der Aufstellung, Zeitpunkt des Anzündens und Ablöschens etc.), was keine geringe Anforderung an die Aufmerksamkeit der dafür verantwortlichen Schüler (infantes) darstellt (ebd. 69-93). Hier indessen genügt die Information, dass der Kernritus ebenso unverändert bleibt wie die weiterhin stabil tradierten Texte und Gesänge. 435 É TAIX , Lectionnaire 102. 436 LOCl I, 55.1 (CCM 10, 71 D INTER ). Die Neuerung, 15 (in anderen Klöstern des 10./ 11. Jhs. zweimal 15 = 30) Kerzen statt der unter dem Einfluss Amalars im PRG (OR 50, 25,4) genannten 24 zu entzünden, könnte ursprünglich der Zählung der vor der Matutin still zu betenden Gradualpsalmen und - davon abgeleitet - der 9 + 6 (= 15) Vigil- und Laudespsalmen gedient haben: Bei 30 brennenden Kerzen kann bei jedem der vor der Hore leise und in den Horen laut gebeteten Psalmen ein Licht ausgelöscht werden; bei 15 Lichtern nur zur 2. Hälfte der insgesamt 30 Psalmen. Obwohl im Text 15 Kerzen und die Prozedur des Auslöschens erst für die erste Vigilantiphon angewiesen werden - Quindecim <candelae> in instrumento lignorum ante maius altare, totidem accensae candelae quot psalmi sunt inponendi. Et remanentibus triginta psalmis ante Nocturnas dica<n>tur quindecim sub silentio post ternas orationes facta … incipiat antiphonam Zelus domus tuae. Et statim extinguatur … (LOCl I, 55.1 [ebd.]) -, habe Cluny als mutmaßlicher Herkunftsort des 15armigen Leuchters zwei derartige Ständer verwendet, vermutet M AC G REGOR , Fire 76ff. 437 Die trina oratio ist ein trinitarisches Privatgebet, das sich ab dem 9. Jh. mit Psalmengebet und Altarbesuch verbindet; vgl. F OLEY , Ordinary [=LOsD] (SpicFri 32, 64f). 438 LOCl I, 55.1 (CCM 10, 72 D INTER ). Worin hier die Besonderheit von „Metrum“ und „Melodie“ besteht, ist im Detail nicht klar. 439 Dieselben kurzen Perikopen wie LOCl bietet das älteste Manuskript Breviarius lectionum per annum secundam cluniacum (Paris, B. N. lat. 13371, 10. Jh.); die jüngeren Ausgaben (Paris, B. N. n.a.l. 2390 und Paris, B. N. n.a.l. 2246, beide 11. Jh.) sehen längere Lesungsabschnitte vor; für alle drei Tage Lect.Cl. 77-85; nach É TAIX , Lectionnaire 102. 440 Ebd. 77. <?page no="88"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 80 vitatem ductus est Israel und endet mit Klgl 1,6. 441 Sie wird nicht kantilliert (aput [sic] nos legitur sine cantum sicuti aliae lectiones); anschließend wird der Augustinus- Kommentar zu Ps 63(64),2(3)-5 und zuletzt aus 1 Kor 11,18-34 gelesen. 442 Nach der letzten Antiphon wirft man sich zu Boden, beendet die Gebete im Schweigen und geht wieder zu Bett. Abgesehen von den üblichen verbalen Reduktionen an diesen Tagen sind die Tageshoren wie an jedem Tag, jedoch - wie zweimal eingeschärft wird - ohne Eröffnung und Doxologie. 443 An allen drei Tagen gibt es zur Non die Segnung des Neuen Feuers mit Prozession in die Kirche unter Psalmengesang, bis alle im Chor versammelt sind. Während zur Messe noch alle Glocken läuten, werden die Brüder ab dann bis zur Paschavigil in der Kirche wie im Kloster nur noch vom Klang der tabulae 444 gerufen. 445 Nach der Non folgen die Abendmahlsmesse, das mandatum pauperum, danach die Vesper mit den üblichen für diesen Tag ausgewählten Psalmen; während die Sakristane die Altäre abdecken, geht man bereits ins Refektorium, wo das mandatum fratrum stattfindet. Nach dem Abendessen gehen die Mönche in die Kirche, wo sie, nach Osten gewendet, jeder für sich still die Komplet sprechen. 446 In parasceven qualiter agatur Der nächtliche Gottesdienst findet in derselben Weise wie am Hohen Donnerstag statt: stilles Gebet, Licht, Psalmen. Man liest in der Vigil Klgl 1,7-14 447 , die weitere Auslegung zu Ps 63(64),5-8 und Hebr 4,11-5,14. 448 Zur Prim kommen die Mönche an diesem Tag barfuß; nach dem Auszug rezitieren sie gemeinsam den ganzen Psalter, woran sich - wie im Übrigen an allen Liturgien - auch die Klosterschüler mit ihren Lehrern beteiligen. Vor der Terz werden Kreuze und Leuchter enthüllt (discooperiantur). 449 Vor dem Hauptgottesdienst nach der Non entzündet und segnet man das Neue Feuer; nach der Kommunion und dem Ende der Feier waschen sich alle die Füße und ziehen Schuhe an. 450 Die Vesper sagen sie schweigend jeder für sich; sie besteht hauptsächlich aus der Psalmodie samt Antiphonen. Danach fasten sie bei Brot, Kräutern und Wasser mit Wein. 451 441 Bis V. 6 nur im Breviarius lectionum; nach den jüngeren Lektionaren liest man bis zum Kapitelende (V. 22); Lect.Cl. 77 (ebd. 102); vgl. LOCl I, 55.1 (CCM 10, 72 D INTER ). 442 Incipits: LOCl I, 55.1 (ebd. 72); Desinits: Lect.Cl. 79 (É TAIX , Lectionnaire 102). 443 LOCl I, 55.2 (CCM 10, 73 D INTER ). 444 An den vorösterlichen Tagen ist darunter wohl der Klang von Hölzern zu verstehen (vgl. LibOff 4, 21,7 [StT 139, 470 H ANSSENS ]; OR 50, 26,1 [SSL 29, 244 A NDRIEU ]), sonst auch der metallische Klang einer „plaque de métal en guise de chloche“, wie sie für die abendliche Collectio der Mönche (vgl. OR 18,9 [SSL 24, 206 A NDRIEU ]) verwendet wurde; vgl. B LAISE , Lexicon 900 s. v. Tabula. 445 LOCl I, 55.3 (CCM 10, 74f D INTER ). 446 LOCl I, 55.4-7 (ebd. 75-78). 447 LOCl 56.1 (ebd. 78; Anm. zu Zeile 20 bringt aus Lect. Clun. II, f. 42v die längere Lesung ab Klgl 2,1); erster Angabe entspricht - wiederum nur in Hs A - das Desinit V. 14: Lect.Cl. 80a (É TAIX , Lectionnaire 102); die jüngeren Textzeugen haben die längere Lesung und enden mit Klgl 3,22; Lect.Cl. 80b (ebd.). 448 Die Lesungsschlüsse finden sich wiederum in Lect.Cl. 81 und 82 (ebd.). 449 LOCl I, 56.1 (CCM 10, 78f D INTER ). 450 LOCl I, 56.2 (ebd. 79-82). 451 LOCl I, 56.3 (ebd. 82f). <?page no="89"?> 1.2 Entwicklung im Hoch- und Spätmittelalter 81 Qualiter agatur in Sabbato Sancto Noch kürzer als sonst fallen die Bestimmungen für den Karsamstag mit dem Hinweis auf schon Gesagtes aus (Vigiliae, Matutinae et omnia caelebrentur quemadmodum iam intulimus). Man liest Klgl 1, 15-21 452 , die Auslegung zu Ps 63(64),11f und Hebr 9,11- 28. 453 Anschließend werden diverse vorbereitende Tätigkeiten für die Osterfeier (u. a. der Schmuck der Kirche) erläutert. Die Ordnung unter dem Titel de officio divino setzt an diesem Tag mit der Non und der Lichtfeier der Paschavigil ein, auf die sich alle weiteren Angaben beziehen. 1.2.2.2 Der Rheinauer Liber Ordinarius (Hirsauer Reform) Wie viele andere Klöster seiner Zeit nimmt sich Kloster Rheinau (gegr. Ende 8./ Anfang 9. Jh.) Anfang des 11. Jhs. in seinem Streben nach Erneuerung Cluny zum Vorbild. Es kann dabei auf die Klostergewohnheiten des Württembergischen Benediktinerklosters Hirsau zurückgreifen, von dem aus sich die Cluniazenser Reform in neugegründeten wie in älteren Klostergemeinschaften verbreitet. Um 1090 führt Abt Cuno die Consuetudines Hirsaugienses in Rheinau ein. Die Angaben zu den drei Tagen vor Ostern füllen im LORh etliche Seiten, wobei - abgesehen von den Hauptgottesdiensten - dem Verhalten der Mönche im Tagesablauf und den Aufgaben einzelner Dienste besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. Die liturgischen Angaben für Vigil und Laudes hingegen sind eher knapp: Sie nennen an erster Stelle sämtliche Texte und Gesänge sowie die Besonderheiten im rituellen Umgang mit dem Licht; für die übrigen Horen werden hauptsächlich die an diesen Tagen ausfallenden Handlungen (Gebete, Zusatzoffizien etc.) und besondere Vollzugsweisen (sub silentio; procumbendo oder super formas procumbi etc.) vermerkt, außerdem der Gebrauch von tabulae anstelle der Glocken sowie alle Tätigkeiten, die sonst noch zwischen den Tagzeiten zu erledigen sind. In cena domini Vor der Vigil betet man die trina oratio und die fünfzehn Gradualpsalmen in Prostratio und Schweigen. Nach dem Zeichen beginnt die Nokturn unmittelbar mit der 1. Antiphon und Psalm. 454 Die Vigillesungen werden am selben Ort für alle drei Nächte angeführt: für die 1. Nokturn pauschal und ohne jede weitere Angabe de lamentatione Hieremiae - vermutlich also alle fünf Gesänge -, jedoch kantilliert (lamentabili modo), mit Artikulation der Buchstaben (cum hebraico alfabeto) sowie immer mit der Schlusswendung Hierusalem, Hierusalem convertere ad dominum deum tuum (Hos 14,2a). 455 Auch die weite- 452 Lect.Cl. 83a (É TAIX , Lectionnaire 102). Besonders kurze Perikopen - pro Lesung zwei Verse aus Klgl 1, wobei die letzte mit V. 21 endet, d. h. man liest nicht einmal das erste Kapitel zur Gänze, sondern bricht vor dem letzten Satz ab - bietet wiederum nur die Handschrift A; alle anderen bringen die längere Variante Klgl 3,25-4,22 (Ende); Lect.Cl. 83b (ebd.). 453 Lect.Cl. 84 und 85 (ebd.). 454 Im Gegenzug zu manchen Kürzungstendenzen (v. a. der Schriftlesungen) im römischen Offizium erfährt die monastische Tagzeitenliturgie im Hochmittelalter zahlreiche Erweiterungen: die Anreicherung mit Zusatzoffizien, besonderen Psalmenreihen, z. B. die Gradual- und die Bußpsalmen, Hymnen, etlichen Zusatzgebeten etc.; sie alle sind nicht integrierende Bestandteile des Offiziums, werden aber vielfach als verdienstvoll angesehen; vgl. S CHMIDT , Zusätze. 455 Ihre ursprüngliche Bedeutung liegt darin, dem Lektor anzuzeigen, dass er seinen Vortrag beenden soll. Solange die Länge der Lesungen nicht festgelegt ist, entscheidet der Vorsteher mittels Klopfzeichen, später durch derartige Formeln - die je nach bestimmten Zeiten und Büchern variieren können -, wann eine Lesung abzubrechen ist. Obwohl sich ihre Funktion mit perikopierten Leseordnungen erübrigt, bleiben sie als Schlussfloskeln - im Regelfall Tu autem - erhalten. An den vorösterlichen Tagen entfallen sie mit Ausnahme von Ierusalem, Ierusalem, convertere ad domi- <?page no="90"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 82 ren Lesungen sind die üblichen, und man liest jeweils bis zum Kapitelende: 1 Kor 11,18-34 456 (HoDo); Hebr 4,11-5,15 (KarFr); Hebr 9,11-28 (KarSa). 457 Bei den Antiphonen und Psalmen gibt es keinerlei Veränderung gegenüber den älteren Quellen, die Responsorien finden sich außerdem in der im CAO am häufigsten belegten Kombination und Reihenfolge. 458 Am Anfang der einzelnen Antiphonen und Responsorien der Vigil werden - wie früher - die Kerzen gelöscht; als Leselicht dient eine schwach scheinende Lampe: Absconsa ad secundam lectionem uniuscuiusque nocturne circumfertur. 459 Am Ende der Matutinen/ Laudes wird nur ein Licht in einem Schrank des Presbyteriums und ein zweites in einer Laterne in der Nähe des Chores verwahrt (unum tantum in armario presbiterii reconditur sed et aliud lumen … prope chorum in laterna, occulte tamen servatur). 460 Die Kirche bleibt danach in diesen beiden Nächten dunkel und man kehrt erst bei Tagesanbruch wieder, wenn man kein künstliches Licht mehr braucht. Es gibt eine dreimalige Feuerweihe am Nachmittag 461 mit Prozession in die Kirche unter Psalmengesang. Es folgen der Hauptgottesdienst mit mandatum pauperum, die Vesper - mit den Antiphonen und Psalmen vom Tag - und das mandatum fratrum; 462 zuletzt die Komplet mit den täglichen Psalmen. 463 In parasceve Zu Vigil und Matutinen/ Laudes macht der LORh keine über die unverändert tradierten Antiphonen, Psalmen, Versikel und Responsorien hinausgehenden Angaben. Man übt den verbreiteten Brauch, am Karfreitag gemeinsam den ganzen Psalter zu rezitieren - exeunt fratres in claustrum considere et communiter totum psalterium decantant -, wofür Bücher ausgeteilt und anschließend sofort wieder in Verwahrung genommen werden. Danach richtet man Kirche und Kloster für die kommenden Feiern und Tage her (ausräumen, reinigen, ausstreuen etc.), 464 bevor nach der Non Feuerweihe und Hauptgottesdienst stattfinden. 465 Zur Vesper wiederholt man die Psalmen vom Vortag; nur das Magnificat hat die Antiphon Cum accepisset acetum; abschließend sequitur completorium. 466 In sabbato sancto Die Angaben zu Vigil und Matutinen/ Laudes bieten die bekannten Gesänge (Antiphonen, Psalmen, Versikel und Responsorien) sowie eine Antiphon zu jeder Kleinen Honum deum tuum am Ende der Lesungen aus den Klageliedern; nach P ASCHER , Stundengebet 215. Sowohl im Entfall von Tu autem als auch in der Tradierung von Ierusalem convertere bestätigt sich die Beobachtung von B AUMSTARK , Gesetz. 456 Ab V. 23 in OR 50, 25, 3 (SSL 29, 187 A NDRIEU ). 457 LORh 95a-b (SpicFri 1, 114 H ÄNGGI ). 458 LORh 96a (ebd. 115). Siehe oben Kapitel 1.1.3.3. 459 LORh 95b (ebd. 114): Absconsa meint ein gedämpftes Licht (ebd., Anm. zu Zeile 27). 460 LORh 96a (ebd. 115). 461 Obwohl sie in Rheinau früher „meist am Samstag, oft am Hohen Donnerstag und seltener am Karfreitag vorgenommen“ wurde (LORh 98b [ebd. 118, Anm. zu Zeile 6]). 462 LORh 99b-102b (107a) (ebd. 119-122 [126]). 463 LORh 107b (ebd. 126). 464 LORh 108b (ebd. 127). 465 LORh 109a-113b (ebd. 128-132). 466 LORh 114a-b (ebd. 132f). <?page no="91"?> 1.2 Entwicklung im Hoch- und Spätmittelalter 83 re: 467 Sepulto Domino (I.), Ululate pastores (III.), Videbunt in quem (VI.) und Ioseph ab Arimathia (VIIII), sowie Versus sicut in nocte. 468 Zur persönlichen Vorbereitung für die Osterfeier gehört die Körperpflege und Rasur der Mönche; nach der Sext darf gesprochen werden; die Osterkerze wird beschriftet und für die Paschavigil nach der Non hergerichtet. 469 1.2.2.3 Der Ordo officiorum am Lateran Der ordo officiorum der Lateranbasilika (OOLt) ordnet die liturgische vita communis der an der päpstlichen Hauptkirche lebenden Regularkanoniker (Chorherren) im 12. Jh. und weist z. T. extrem konservative Züge stadtrömischer Liturgie wie den generellen Verzicht auf Hymnen auf: Das Offizium ist darin rasch beschrieben, denn der weitaus größere Teil des Regelwerks befasst sich mit den päpstlichen Hauptgottesdiensten und deren besonderen Feiern (Bereitung der Öle, Ölweihe, Büßeraussöhnung, Mandatum, Kreuzverehrung etc.). Auf die Vortragsweise der liturgischen Gesänge wird Wert gelegt. Feria V. cene domini Die Vigil muss vor Tageslicht stattfinden und enden. An diesen ,Triduum‘ genannten Tagen (hoc autem triduo) wirft man sich bei jedem Gebet nieder (prosternimur) und betet nur das Offizium vom Tag, keine Zusatzoffizien. Die Gesänge enden ohne feierliche Schlussfloskel (non cum neumate finiuntur). Interessant ist die Lesungsauswahl der Vigilien, die unter Volksbeteiligung stattfinden, sowie deren pastorale Begründung: Nach den drei Abschnitten aus Klgl 1,1-2,8 liest man nicht nur drei, sondern sechs Lesungen aus den Predigten des Augustinus - sie ersetzen die Psalmenauslegung und Lektüre der Briefe (1 Kor und Hebr): 470 Denn das Volk erfreut und erbaut sich mehr an den Lesungen von Predigten, die es versteht, als an der Auslegung der Psalmen oder den Briefen des Apostels Paulus, die schwer verständlich sind. 471 Das Licht betreffend lautet die Anordnung im OOLt, eine Lampe dort aufzubewahren, wo man sie nicht sehen kann; danach werden alle Kerzen und Lampen in der Kirche bis auf zwölf auf einem Kronleuchter vor dem Hauptbild (ante maiorem imaginem) gelöscht. Sobald der Kantor mit der Antiphon Traditor autem einsetzt, werden auch diese subito ausgelöscht, sodass das Benedictus im Finstern gesungen wird. 472 So findet das auch an den Folgetagen statt. Die Tenebrae führen zur spirituellen Betrachtung der Passion und der eigenen Sünden, aber auch der Freude über das wiedergeschenkte Heil, und stärken die Bereitschaft zur Hingabe: 467 Diese Antiphonen bieten am Karsamstag auch die Codices C, E: CAO I, 176F § 74b sowie H, R, L (außer Ioseph): CAO II, 320f § 74c. 468 LORh 115a (SpicFri 1, 133 H ÄNGGI ). 469 LORh 116a (ebd. 134). 470 Eine Tendenz zum Ersatz der Paulusbriefe durch Homilien in der 3. Nokturn lässt sich schon dort feststellen, wo sich mit steigender Anzahl von (nach der Sonntagsordnung gefeierten) Festen die Wiederholung bestimmter Epistellesungen häuft; dazu kommt der Wunsch, nicht nur die alttestamentlichen Schriftlesungen durch die Sermones in den 2. Nokturnen, sondern auch das Evangelium des Tages (oder die Epistel) zu kommentieren; erste Anzeichen dafür finden sich bereits in OR 1 und OR 11; ab dem 9. Jh. werden dafür eigene Sammlungen (Homiliare) erstellt; im 13. Jh. kommt die Epistellesung auch in Rom außer Übung; nach B ÄUMER , Geschichte 286f. 471 Quia populus magis letatur et edificatur de sermonum lectionibus, quas intelligit, quam de psalmorum expositione vel epistolis Pauli, quarum intellectus est difficilis. OOLt 116 (HFQ 2-3, 45,30-32 F ISCHER ). 472 Ebd. <?page no="92"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 84 Wir aber rufen die Augen des Geistes aus der Betrachtung der gegenwärtigen Finsternis zu (der) der Sünden, die wir als Dunkel erleiden, zurück und bedenken auch jene Stunde des Leidens des Herrn und unserer Erlösung, in der über die ganze Welt Finsternis hereingebrochen ist, als gewissermaßen schon ganz nahe (Stunde) und wollen so aus der Betrachtung der Verbrechen wie aus dem frommen Mitleiden und der Freude über die Wiederherstellung des Heiles unseren Geist unter Tränen neu formen. Und während wir darüber meditieren, soll jener Bußpsalm die Aufmerksamkeit unserer Hingabe steigern … und wir sagen am Ende der Laudes nur den Psalm Miserere mei. Und kurz danach, wenn der Obere das Zeichen gibt, bringe der Mansionarius das Licht herbei. Die Brüder sollen sich schweigend erheben und ins Dormitorium gehen. 473 Die Tageshoren reduzieren sich auf den vorgesehenen Abschnitt aus Ps 118(119)* und Gebet (Vaterunser, Credo). Vor der Terz findet das karitative mandatum pauperum an hundert Armen statt; anschließend die einzige Messe mit Ölweihe; nach dem Abendessen das klerikale mandatum fratrum. 474 Der Gesang der Tageshoren und Vesper - mit den üblichen Psalmen - ist verhalten (suaviter cantant). In allen Horen wird nach der Psalmodie der Versikel Christus factus est gesungen. 475 Die Komplet am Hohen Donnerstag besteht aus den täglichen Psalmen ohne Antiphonen und Gebet in Stille (tacite, inter se), und man ist gehalten, sich die Ereignisse dieser Nacht vor Augen zu führen: Verrat, Verhör, Anklage, Geißelung, Dornenkrönung, Spott, Schläge, Speichel. 476 Feria VI. parasceve Die Tenebrae (Vigilien) nehmen denselben rituellen Verlauf wie am Vortag: de tenebris faciendis vel oratione pridie diximus. Antiphonie und Psalmodie stehen fest, die Versikel sind angeführt. Die ersten drei Lesungen stammen aus Klgl 2,8-3,22; die übrigen sechs sind mit Rücksicht auf das Volk wiederum aus zum Tag passenden Predigten entnommen. 477 Am Karfreitag gibt es kein capitulum; im Tagescursus wiederholt man die Texte und Gesänge aus den Matutinen/ Laudes und meditiert bis zur Non und dem Hauptgottesdienst 478 erneut die zu jeder Stunde passenden einzelnen Leiden Jesu. 479 Nachdem alle Brüder cum silentio kommuniziert haben, wiederholen sie die Vesper vom Gründonnerstag zur Gänze. Sie nehmen nur etwas Brot und Wasser (mit Wein) zu sich, und nach der Collatio 480 mit Predigten zur Passion Christi folgt die tägliche Komplet und das Übrige wie am Vortag. Bei der Nacht aber solle der Beter dieser Ereignisse gedenken: 473 Nos vero ex presentium tenebrarum consideratione ad peccatorum, quas patimur tenebras, mentis oculos revocantes illam quoque dominice passionis nostreque redemptionis horam, qua per universum mundum tenebre facte sunt, quasi iam proximam recolentes tam ex consideratione criminum quam ex compassione pietatis vel gaudio reperande salutis mentem reformemus in lacrimis. Dumque hec meditamur, psalmus ille qui occurrit penitentialis, intentionem augeat nostre devotionis. Finitis autem matutinis … tantum dicimus psalmum Miserere mei et sic post paululum prelate sonitum innuente mansionarius proferat lumen et sic fratres tacite surgant et dormitorium petant. (OOLt 116 [ebd. 46, 3-15]). 474 OOLt 116-120 (ebd. 46-47); vgl. die Bestimmungen für die Bereitung der Öle, der Büßeraussöhnung, die Chrisamweihe etc. bis zur Abdeckung der Altäre (OOLt 124-133 [ebd. 49-54]). 475 OOLt 117.122 (ebd. 46; 48). 476 OOLt 134 (ebd. 54). 477 OOLt 135 (ebd. 54); vgl. OOLt 116 (ebd. 45f). 478 OOLt 137-139 (ebd. 55-59). 479 OOLt 136 (ebd. 54f). Aus derselben Zeit datiert eine Betrachtung der Passion Christi in den sieben Horen des Tages De meditatione passionis Christi per septem diei horas libellus - mit H ÄUSSLING , Büchlein, die „Programmschrift des hochmittelalterlichen Verständnisses des Stundengebetes“. 480 Hier: die abendliche (nicht-liturgische) Zusammenkunft der Mönche vor der Nachtruhe. <?page no="93"?> 1.2 Entwicklung im Hoch- und Spätmittelalter 85 Selbstverständlich seiner Grabesruhe nach dem vielen, was er [Christus] erduldet hatte, und jener bei seinem Abstieg zur Unterwelt unsagbaren und großen Freude der Elenden über den so lange erwarteten und plötzlich gegenwärtigen, die Christus aus dem überwältigten Reich des Todes mit sich aus der Unterwelt herausgeführt hat, damit er, während der Geist angeleitet wird das zu betrachten, in Frieden schlafe und ausruhe. 481 Sabbato sancto Für die Nacht- und Morgenhore am Karsamstag genügt wiederum die Angabe der Versikel sowie der 1.-3. Lesung ab Klgl 3,22 bis zum Ende (des Kapitels? ). 482 Die Tageshoren finden in der gleichen Weise wie am Gründonnerstag statt, doch setzt man die Non später als sonst (tardius solito) an, damit die Messe der Paschavigil tatsächlich in der Nacht gefeiert werden kann. Vorher hält man das Paschafasten, und an beiden Tagen wird keine Messe gefeiert. 483 Im (offenbar häufigen) Falle der Abwesenheit von Kurie und Schola rezitiert man die Lesungen und Tractus für die Paschavigil bereits ein erstes Mal in capitulo am Morgen. Zu den letzten Tätigkeiten vor der Osterfeier - zwischen Sext und Non - zählen die Rasur der Brüder, die unmittelbare Vorbereitung der Katechumenen auf die Taufe, die Beschriftung der Osterkerze mit Jahreszahl und Alpha/ Omega sowie die Schmückung der Kirche. 484 1.2.2.4 Der älteste Ordinarius der Abtei St. Denis bei Paris Die allgemeinen typischen Merkmale des Offiziums von Gründonnerstag bis Karsamstag, die als ,Leidenstriduum‘ wahrgenommen werden, umfassen im LOsD außer den überkommenen und weiter tradierten verbalen Unterlassungen auch den Entfall der Zusatzgebetsleistungen wie der psalmi familiares, der Fürbitten oder Heiligenlitanei, der Allerheiligenlaudes und des Totenoffiziums. Vermehrt begegnen an diesen Tagen die Vollzugsweisen Prostration/ Knien und Schweigen. Für die Litaneien am Ende der Laudes gibt es eigene Einschübe (Tropen). 485 Der Herausgeber weist zudem auf die in den Klöstern ansonsten nicht befolgte römische Struktur der Vigilien als besonderes Merkmal dieser Tage hin. 486 Die im LOsD recht knapp ausfallenden Anweisungen für die untersuchten Tage bestätigen die kodifizierte Tradition weitestgehend. Feria V Auch in St. Denis vollzieht man vor den Vigilien am Gründonnerstag und Karfreitag sub silencio die Gradualpsalmen und die vorgesehenen Gebete. 487 Für die Nacht- und Morgenhoren aller drei Tage werden dieselben Psalmen und Antiphonen angeführt wie in den ältesten Quellen sowie die häufigsten Responsorien in der am breitesten bezeugten Abfolge (von der nur die Reihung am Karfreitag geringfügig abweicht); dazu die Oration Respice. Die Klagelieder werden - vollständig: 1-2 (HoDo), 3 (KarFr), 4-5 (KarSa) - ebenso gelesen wie der Augustinus-Kommentar zu Ps 63(64); für die 3. Nokturn wählt man in St. Denis allerdings von der älteren römischen Praxis abweichende Vigillesungen: 481 Eius scilicet post tanta, que pertulerat, requies de sepulchro ac per eius descensum ad inferos ineffabile illud magnumque gaudium miserorum tamdiu prestolatum tamque subito presentatum, quos captivato mortis imperio Christus ab inferis secum eduxit, ut dum per ista cogitanda mens ducitur, in pace in idipsum dormiat et requiescat. (OOLt 139 [HFQ 2-3, 59,6-11 F ISCHER ]). 482 OOLt 140 (ebd. 59). 483 OOLt 143 (ebd. 60). 484 OOLt 141-143 (ebd. 59f). 485 Siehe unten Kapitel 1.3.3.1. 486 F OLEY , Ordinary [=LOsD] (SpicFri 32, 141-144). Siehe oben Kapitel 1.1.3.3. 487 LOsD (SpicFri 32, 375 F OLEY ). <?page no="94"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 86 Joh 13,1ff (HoDo); Sermo 49 De passione Domini (feria quarta) ab Decursis dilectissimi von Leo d. Gr. (= Beginn der Predigt) 488 (KarFr); Mt 28,1ff (Botschaft des Engels am leeren Grab, KarSa). Die Kleinen Horen finden bei Anbruch des Tageslichts in reduziert-schlichter Gestalt statt; 489 der LOsD erwähnt keine Lichtriten während der Nacht- und Morgenhore, sondern nur das Neue Feuer vor dem Hauptgottesdienst; eine allfällige Messe davor müsse diejenige vom Tag (also keine Votiv- oder Totenmesse) sein und dürfe nicht ohne Feuer [= mit Beleuchtung] zu halten sei (non aliam Missam quam de die neque sine igne cantabit). 490 Die Büßeraussöhnung, bei der die Reliquien gezeigt werden (Nägel, Dornenkrone, Arm des hl. Simeon), hat die Form einer Generalabsolution für das Volk mit vorausgehender Ermahnung angenommen (Ante absolucionem faciat dominus abbas sermonem ad populum aut cui iusserit). 491 Die Vesper mit den üblichen Psalmen singt man während der Kommunion der Abendmahlsmesse. Nach dem Magnificat folgt die Oration Refecti vitalibus oder, falls einer bei der Messe nicht anwesend war, Respice. Es gibt zwei Fußwaschungen: mandatum XII pauperibus in honore XII apostolorum und Mandatum fratrum. Die Komplet wird sub silencio gebetet. 492 Feria VI Der nächtliche Gottesdienst am Karfreitag verläuft wie am Vortag: Nach dem stillen Psalmengebet beginnt die Vigil mit der 1. Antiphon in der unverändert tradierten Form. Nach der Nacht- und Morgenhore samt Litanei kommen die Mönche bei Tagesanbruch - an diesem Tag barfuß (nudis pedibus) - zur Prim; anschließend wird im Kreuzgang der ganze Psalter gebetet (sedeant in claustro et cantent psalterium ex integro domno abbate incipiente); dort verweilt man auch zwischen den Kleinen Horen. 493 Das Tagesoffizium und die Komplet verlaufen wie am Gründonnerstag in Stille (in silencio eo ordine quo et pridie). 494 Am Nachmittag vor dem Hauptgottesdienst wird das Neue Feuer gesegnet, und während der Kommunion singt man die Vesper vom Vortag inklusive Antiphon zum Magnificat Cenantibus autem. 495 Sabbato Abgesehen von den wiederum lückenlos tradierten Eigengesängen des Karsamstags verlaufen die Nacht- und Morgenhore wie am Karfreitag (Matutine eodem ordine celebrantur quo pridie); alles Übrige nach den Laudes wie am Donnerstag (ut in feria V). Das Tagesoffizium hält man schweigend (Hore diurne cantentur sicut pridie). Nach der Non entzündet man das Neue Feuer für die Paschavigil. 488 LOsD (ebd. 381); vgl. CChr.SL 138-138A, 349-362 C HAVASSE . 489 LOsD (SpicFri 32, 376 F OLEY ). 490 Ebd. In Cluny hält man es anders: absque igne faciant tandiu, quousque maior sacrata incoata fuerit. (LOCl I, 55.2 [CCM 10, 74 D INTER ]). 491 LOsD (SpicFri 32, 377 F OLEY ). 492 LOsD (ebd. 378-380). 493 LOsD (ebd. 381). 494 LOsD (ebd. 381; 383). 495 LOsD (ebd. 382). <?page no="95"?> 1.2 Entwicklung im Hoch- und Spätmittelalter 87 1.2.2.5 Der älteste Liber Ordinarius am Dom zu Trier Der undatierte LOTr beschreibt, beginnend mit dem 1. Adventsonntag, den kompletten Jahreszyklus der mittelalterlichen Kathedralliturgie von Trier mit Ausnahme der Messfeier. In cena domini Für das Offizium macht der LOTr nicht nur tagesspezifische, sondern auch Pauschalangaben für die drei vorösterlichen Tage, etwa zur Vortragsweise: So sind etwa alle Antiphonen an diesen Tagen mit schlichter Endung sine cauda und alle Versikel lamentarie anzustimmen. Die Lesungen der 1. Nokturn stammen wie auch sonst an den drei Tagen aus den Klageliedern und werden nicht weiter präzisiert; für die Lesungen der 2. und 3. Nokturnen am Hohen Donnerstag wählt man Abschnitte aus den Homilien von Augustinus Enarr. in ps. LXIII ab Nostis fratres karissimi 496 und Beda Venerabilis, hom. 5, In cena Domini zu Joh 13,1 497 . Für sie legt der Lektor das Ende des zu lesenden Abschnitts fest (terminum imponat lector). Die Antiphonen, Psalmen und Responsorien entsprechen ausnahmslos der ältesten Tradition. 498 Die 24 zu Beginn der Vigil (matutines) brennenden Kerzen werden ab der 1. Antiphon und dann immer am Ende jedes Psalms und jeder Lesung in der Nacht- und Morgenhore (in laudibus) ausgelöscht. Prim und Tagescursus sind auf die üblichen Psalmen(abschnitte), das Responsorium O Iuda und die Oration Deus a quo Iudas reduziert. 499 Die Vesper wird nach der Kommunion der Abendmahlsmesse eingeläutet, worauf die Glocken bis zum Samstag verstummen. Auf die für diesen Tag ausgewählten Psalmen folgt sofort das Magnificat mit Cenantibus autem; ebenso verläuft die Komplet mit den täglichen Psalmen, Responsorium und Oration. 500 Die Büßeraussöhnung wird in Form eines Ablasses für die Pilger zu den Trierer Passionsreliquien, die am Gründonnerstag gezeigt werden, vorgenommen. 501 Weitere Besonderheiten des Tages sind die zur feierlichen Zeremonie ausgestaltete allegorisierte Waschung der Altäre mit Wasser und Wein sowie das klerikale mandatum mit Agape und Verköstigung von zwölf Bedürftigen. 502 Feria sexta, id est in parasceve Die Bestimmungen zum Karfreitagsoffizium führen kaum mehr als die aus den ältesten Quellen bekannten Gesänge für Vigil und Laudes an. 503 Die Lesungen der 2. und 3. Nokturn sind aus Homilien von Augustinus Enarr. in ps. LXIII,7 O cor durum 504 und Leo d. Gr. Sermo 49 De passione Domini (feria quarta) ab Decursis dilectissimi. 505 496 LoTr 33v (LWQF 52, 486 K URZEJA ); vgl. CChr.SL 39, 809, 12 D EKKERS ; die Anrede ist im Blick auf den liturgischen Neueinsatz eingefügt. 497 CChr.SL 122, 214-219 H URST . 498 Das gilt auch für den Karfreitag und Karsamstag. 499 LOTr 33v-34r (LWQF 52, 486f K URZEJA ). 500 LOTr 34v’und 35v’ (ebd. 487.489). 501 LOTr 33v-34v’ (ebd. 487). Vgl. die ebenfalls in der Rekonziliation wurzelnde Generalabsolution für Klerus und Volk in LOsD (SpicFri 32, 377 F OLEY ). 502 K URZEJA , Liber Ordinarius [=LOTr] (LWQF 52, 132). 503 LOTr 35v’-36r (LWQF 52, 489 K URZEJA ). 504 CChr.SL 39,812,1f D EKKERS . 505 Wie Anm. 488. Dieselbe Lesung bietet am Karfreitag auch LOsD (SpicFri 32, 381 F OLEY ). <?page no="96"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 88 Zur Vesper wiederholt man nicht die Feier vom Vortag, sondern rezitiert voce submissa die Ferialpsalmen Pss 137-141 506 unter der Antiphon Replevit et inebriavit und zum Magnificat die Antiphon Cum accepisset acetum. Die monastisch belegte Rezitation des ganzen Psalters am Karfreitag 507 kennt man erwartungsgemäß in der Trierer Kathedralliturgie nicht. In Sabbato Sancto Außer den überkommenen Psalmen, Antiphonen und Responsorien zur Nacht- und Morgenhore, den Versikeln und dem allgemeinen Hinweis auf prime tres lectiones de Lamentationibus Iheremie bietet LOTr nur noch zur Prim und den übrigen Horen das Responsorium Sicut ovis sowie die Oration Deus a quo. 508 1.2.2.6 Das Ceremoniale am Dom zu Basel Das Zeremoniale für die Kathedralliturgie am Münster zu Basel aus der Feder des dort ab 1505 tätigen Domkaplans Hieronymus Brilinger enthält an den drei vorösterlichen Tagen eine Auffälligkeit: die Trauermetten werden „neuerdings“ aus „vernünftigem und ehrenwertem Beweggrund“ schon am Vorabend gefeiert, um die Volksbeteiligung daran zu fördern. 509 Dazu passt die dramatisch eindrucksvolle Inszenierung der Liturgie durch zahlreiche Rollenträger (Klerus, Domschüler, Chorsänger etc.) unter Verwendung des gesamten Kirchenraums als Schauplatz: u. a. für den nach der tropierten Kyrielitanei am Ende der Laudes 510 zu singenden und wie diese von verschiedenen Orten her angestimmten ausgedehnten Gesang des Hymnus Rex Christe factor omnium 511 , auf dessen einzelne Verse je ein Kyrieruf und ein vierzeiliges volkssprachiges Lied folgen, das entsprechend oft wiederholt wird. Ist der Hymnus mit „Amen“ zu Ende, bringt man die letzte noch brennende Kerze, die beim letzten Laudespsalm hinausgetragen und in der Sakristei verborgen wurde, wieder herein und stellt sie als einziges Licht aufs Pult. 512 1.2.2.7 Zusammenfassung: Das Offizium vom Hohen Donnerstag bis zur Osternacht in den Lokaltraditionen ausgewählter Libri Ordinarii Die kursorische Sichtung etlicher weiterer Libri Ordinarii 513 verändert de facto nichts an den Konturen und nur wenig an den Schattierungen des bisher gewonnenen Bildes vom vorösterlichen Offizium. Es behält seine reduzierte, durch stabil tradierte Gesänge und den besonderen Umgang mit Licht charakterisierte Form. Die dennoch festzustel- 506 Die hier anstelle der Wiederholung der Vesper vom Vortag belegte „ziemlich seltene“ Lösung, die Ferialpsalmen zu rezitieren, erklärt der Herausgeber mit der Einführung einer 1. Vesper am Vorabend eines Festtages; nachdem sie die Festpsalmodie an sich gezogen habe, wurden der eigentlichen (nun 2.) Vesper die Ferialpsalmen zugeordnet; nach K URZEJA , Liber Ordinarius [=LOTr] (LWQF 52, 136f; 364f). Diese Lösung stellte Amalar nicht zufrieden, der die Festpsalmen deshalb in beiden Vespern gesungen wissen will (LibOAnt 16,1-10 [StT 140, 52f H ANSSENS ]). 507 Zu einer möglichen Verbindung mit dem Psallieren am hl. Grab verweist der Herausgeber auf J UNGMANN , Andacht. 508 LOTr 36v-36v’ (LWQF 52, 490 K URZEJA ). 509 Mit Erfolg, wie der Hg. anmerkt, H IERONIMUS , Hochstift [= CerB] 152 (dort Anm. 1). 510 Auch diese wird vielfach mit verteilten Rollen dramatisch inszeniert („prenant l’allure d’un jeu rythmé“) und zielt auf die Empathie der Feiernden mit dem leidenden Christus; nach R OCHA , Tropes 695. 511 Aus den Laudes am Palmsonntag, seltener auch am Passionssonntag; einige Handschriften v. a. des 13. Jhs. führen den Hymnus als Ergänzungsgesang am Hohen Donnerstag an, kaum eine am Karfreitag; nach cantusdatabase.org Cantus ID 008384. 512 Nach H IERONIMUS , Hochstift 152-155. 513 Hier konnte auf eine Durchsicht von ca. 80 Libri Ordinarii von Veronika N IEDERHOFER zurückgegriffen werden, die sie mir dankenswerter Weise zur Verfügung gestellt hat. <?page no="97"?> 1.2 Entwicklung im Hoch- und Spätmittelalter 89 lenden Unterschiede der liturgischen Inszenierung resultieren vor allem aus den Gewohnheiten und praktischen Gegebenheiten einer Gemeinschaft vor Ort und spiegeln, ebenso wie ihre fallweise eingestreute Erklärungen, zugleich die Prägung durch zeitbedingte Spiritualität, insbesondere in der zunehmend stärkeren Wahrnehmung des Offiziums als einem Nacherleben der Passion Jesu 514 , das teils auch dramatisch inszeniert wird. Mancherorts gibt es Konzessionen an die Volksbeteiligung, etwa durch die Auswahl oder Kürzung von Lesungen unter pastoralem Gesichtspunkt oder - ein vergleichsweise empfindlicher Eingriff - die Verschiebung der Vigilien an den Vorabend. Die Kleinen Horen bleiben nachrangig und werden wie schon früher zumeist sub silentio gehalten; die anfänglich privatim gebetete Karfreitagsvesper findet freilich häufig im Umfeld der Kommunion - entweder als deren psalmodischer Begleitgesang oder sofort danach - statt. Als Ergebnis kann festgehalten werden, dass auch die hochbis spätmittelalterliche Feiergestalt des Offiziums von Gründonnerstag bis Karsamstag weder in der Kathedralnoch in der Klosterliturgie wesentlichen Veränderungen unterworfen ist. Die Zusammenstellung und Auswahl der Gesänge bleibt unangetastet, weitgehend auch die der Texte. Die Gestaltungsmöglichkeiten der Ortskirchen konzentrieren sich hauptsächlich auf nonverbale, symbolische Handlungselemente (Lichtanzünden, Lichtauslöschen, Körperhaltungen etc.) oder spielen sich an den Rändern der Liturgie ab. Erkennbar wird eine Tendenz zur Vereinfachung der Leseordnung sowie zur Pflege bestimmter Gesangs- und Vortragsweisen. 1.2.3 Die Bücher der römischen Kurie und ihre Verbreitung durch die Franziskaner Im Hochmittelalter erfolgen wichtige Weichenstellungen für die weitere Entwicklung des römischen Offiziums: zunächst wird die Liturgie Roms ab dem 11. Jh. nicht mehr primär auf Betreiben des Kaisers im Reich gefördert, sondern erstmals unter Gregor VII. († 1085) päpstlicherseits autoritativ verbreitet. Im 13. Jh. tragen die neuen, zentralistisch organisierten Mendikantenorden, insbesondere die Franziskaner, durch ihre pastorale Wandertätigkeit zur allgemeinen und weiten Verbreitung der liturgischen Bräuche der römischen Kurie bei. Dies gilt auch für die breite Übernahme der von Innozenenz III. († 1216) erneuerten und gestrafften Form des römischen Offiziums und ihre franziskanische Bearbeitung in der zweiten Hälfte des 13. Jhs.: eine Reform, die insgesamt stärker dem Vollzug und der Erbauung des Einzelbeters und weniger dem Chorgebet Rechnung trägt, auch wenn frühe franziskanische Quellen den gemein- 514 Erste Ansätze dafür finden sich in den allegorischen Liturgieerklärungen ab dem 9. Jh.; im Hochmittelalter kommt das passionsfromme Verständnis der Liturgie (Messe und Offizium) zu einer Hochblüte, fallweise in Verbindung mit antijüdischer Polemik wie z. B. im Ordinale von Exeter (14. Jh.), das im Auslöschen der Kerzen die Grausamkeit der Juden bei den Apostel und Propheten ausgedrückt sieht: iuxta numerum duodecim prophetarum et duodecim apostolorum signant crudelitatem Iudeorum in prophetis et in apostolis. (OrdEx [HBS 37, 132 D ALTON ) Weder Liturgieallegorese noch Antijudaismus sind neu, doch zielen die älteren Erklärungen grundsätzlich auf die Zerknirschung der Gläubigen und nicht auf Fremdbeschuldigung. So deutet Amalar das schwindende Licht als Zeichen der Trauer der Jünger über die Grabesruhe Christi (LibOff 4, 22, 1[StT 139, 472 H ANSSENS ]; LibOAnt 44, 4 [StT 140, 80 H ANSSENS ]); oder CerB (16. Jh.) als Verlöschen des Glaubens in den Jüngern (H IERONIMUS , Hochstift 152). Die Anzahl der Kerzen insinuiert bestimmte biblische Zahlensymboliken; die etwa in CerB (ebd.) verwendeten dreizehn Kerzen stehen für die Apostel und Maria; zahlreiche weitere Beispiele bei M AC G REGOR , Fire 52-66. <?page no="98"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 90 schaftlichen Vollzug im Blick haben. 515 Die untersuchten Tage bleiben indessen auch von dieser Entwicklung weitgehend unberührt. Im 13. Jh. wird die kuriale Praxis des päpstlichen Hofes an allen Kirchen Roms eingeführt und setzt sich Ende des 14. Jhs. schließlich auch gegenüber dem älteren Kathedraloffizium am Lateran durch. Als mos Sanctae Romanae Ecclesiae werden die libri moderni franziskanischer Prägung zur Norm für alle anderen Kirchen. 516 1.2.3.1 Das Ordinale Innozenz III. (1198-1216) Das Offizium in dem 1213-1216 erstellten päpstlichen Ordinale basiert im Kern auf der römisch-fränkischen Tradition des 8.-11. Jhs. 517 : Es beseitigt oder beschneidet einerseits rezente Zusätze und Überfrachtungen des Offiziums und integriert andererseits jüngere Neuerungen wie stark gekürzte biblische und patristische Lesungen. Letztere Eingriffe sind mit zwei hauptsächlichen Strukturprinzipien der älteren Offiziumstradition monastischer Prägung - der Lesung ganzer biblischer Bücher und der Rezitation des Psalters in einer Woche - nun kaum mehr vereinbar. Im Zuge der Adoption des Breviarium curiae durch die Minoriten kommt es zum Austausch des römischen Psalters durch das Psalterium gallicanum. 518 Der Gattung nach ist das Ordinale Innozenz III. ein frühes Brevier, insofern es die Angaben mehrerer liturgischer Bücher dem Feierverlauf folgend stichwortartig kompiliert. Es bietet die Initien, aber noch nicht den vollen Wortlaut der Texte und Gesänge. Je nach ihrer Verwendung im klösterlichen Kontext unterscheiden sich die Manuskripte in manchen Details, v. a. in der Adaptierung der päpstlichen Hauptgottesdienste. Das Offizium von Gründonnerstag bis Karsamstag ist davon kaum, die Nacht- und Morgenhore dieser Tage faktisch gar nicht betroffen. Feria quinta Für das kuriale Offizium an den drei letzten Tagen vor Ostern wird außer den hinlänglich bekannten Unterlassungen - Eröffnung, Invitatorium, Hymnus, Doxologie etc. 519 - ausdrücklich der vollständige Vollzug der Antiphonen am Anfang und am Ende jedes Psalms verlangt. 520 Neben den Antiphonen sind auch sämtliche Versikel, Lesungen, Responsorien mit Versen und die Orationen angegeben. Matutin (ad matutinum) bezeichnet hier nicht die Laudes, sondern die Vigil: Ordinarium Innocentii III Feria quinta in coena Domini Gründonnerstag Ad matutinum non dicitur [Domine labia mea nec] Deus in adiutorium neque invitatorium neque ymnus. Sed absolute incipit ebdomarius ant. Zelus domus tuae. Antiphone nocturnales et laudum et vesperarum per istos tres dies ante psalmos et post di- Zur Matutin sagt man weder [Herr, öffne meine Lippen noch] O Gott, komm mir zu Hilfe, kein Invitatorium und keinen Hymnus. Sondern der Hebdomadar beginnt sofort die Ant. Der Eifer für dein Haus. Die Antiphonen der Nokturnen, Laudes und 515 Vgl. A BATE , Breviario. 516 Vgl. B ÄUMER , Geschichte 320f. 517 Vgl. insbesondere OR 23 und OR 26-33. 518 Vgl. oben Anm. 330. 519 OrdInn (SpicFri 22, 225f V AN D IJK ) Es entfallen außerdem die Ankündigungen aus dem Martyrologium, die des Mondes (Kalenders) und aller Festivitäten; außerdem rituelle Elemente wie die Reverenz der Kardinäle und Prälaten vor dem Papst. 520 OrdInn (ebd. 222): wie im Duplex-Officium. <?page no="99"?> 1.2 Entwicklung im Hoch- und Spätmittelalter 91 cuntur tote. Id est a capite et in fine. Sicut quando fit officium duplex. Et omnes psalmos dicuntur sine Gloria patri in omnibus [h]oris in isto triduo. 521 Vespern an den drei Tagen werden vor den Psalmen und danach zur Gänze gesagt, d. h. am Anfang und am Ende; so wie es im Duplex-Offizium geschieht. Und alle Psalmen werden an diesem Triduum in allen Horen ohne Gloria patri gesagt. Ungewöhnlich ist die patristische Lesung der 2. Nokturn am Gründonnerstag, deren präzise Angabe Exaudi deus orationem meam cum deprecor et ne despexeris deprecationem die Verwechslung mit dem in älteren Quellen vorgesehenen Ps 63(64) 522 , der mit denselben Worten beginnt, ausschließt. Gelesen werden soll aus dem augustinischen Psalmentraktat zu Ps 54(55),2. An den folgenden Tagen liest man wie früher die Auslegungen zu Ps 63(64): zu V. 3 am Karfreitag und zu V. 7 am Karsamstag. Das Lichtauslöschen - ohne die Zahl der Kerzen und Lampen näher zu bestimmen - während der Vigil und Laudes sieht das Ordinale bereits am Gründonnerstag vor: Ordinarium Innocentii III Feria quinta in coena Domini Gründonnerstag … Ad Benedictus ant. Traditor autem. … Zum Benedictus die Ant. Der Verräter aber. Dum ebdomadarius pronuntiat hanc antiphonam cantando acolitus unam candelam ceream quam manu tenet extinguit. Set antequam officium laudis expleatur extinguit idem acolitus omnes lampades que ad officia sunt accense et faculas que ardent coram domino papa. Et abscondat aliquam candelam ita ut valeat eam post omnia expleta reducere illuminatam. Interim dum sunt in obscuro cantatur Benedictus magnis vocibus [V] Christus factus est pro nobis obediens usque ad mortem. 523 Hac nocte non ultra progreditur. 524 Während der Hebdomadar diese Antiphon vorträgt, löscht ein Akolyth eine Wachskerze, die er in der Hand hält. Aber bevor man das Offizium der Laudes beende, löscht derselbe Akolyth alle Lampen, die für den Gottesdienst angezündet wurden, und die Fackeln, die vor dem Herrn Papst brennen. Und er soll eine Lampe so verbergen, dass er sie, nachdem alles beendet ist, erleuchtet zurückbringen könne. Während sie inzwischen im Dunkeln sind, wird mit lauten Stimmen das Benedictus [und der Vers] Christus factus est pro nobis obediens usque ad mortem gesungen. In dieser Nacht geht man darüber nicht hinaus. Das Weitere geschieht weitgehend im Schweigen (sub silentio); die Gebete vollzieht jeder für sich (private) oder paarweise im Wechsel (ad invicem). 525 Das Ordinale Innozenz III. sieht am Gründonnerstag folgende Texte und Gesänge der Nacht- und Morgenhore vor: 521 OrdInn (ebd. 222,1-6). 522 Zuletzt in OR 50, 25,3 (SSL 29, 187 A NDRIEU ). 523 Christus factus est wird jeden Tag um eine Wortgruppe verlängert: bis mortem - bis crucis - bis nomen. Obwohl der Gesang hier noch Versus [V] genannt wird, hat sich also bereits die Gradual- Fassung dieses Textes etabliert (vgl. Anm. 801). 524 OrdInn (SpicFri 22, 223,22-224,7 VAN D IJK ). 525 OrdInn (ebd. 224). <?page no="100"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 92 HoDo Horen Antiphonen + Psalmen Versikel Lesungen + Responsorien Christus + Oration d1N Zelus domus tuae Ps 68(69) Avertantur retrorsum + Qui cogitant mihi mala Klgl 1,1 In monte Oliveti + Vigilate et orate. Spiritus quidem Avertantur retrorsum Ps 69(70) Klgl 1,10 Tristis est anima mea + Ecce appropinquant. Vos Deus meus eripe me Ps 70(71) Klgl 1,20 Ecce vidimus eum non habentem + Vere languores. Cuius d2N Liberavit dominus Ps 71(72) Deus meus eripe me de manu + Et de manu contra 3 Abschnitte augustin. Ps- Traktat. zu Ps 54(55),2 Amicus meus + Bonum erat ei. Infelix Cogitaverunt impii Ps 72(73) Iudas mercator pessimus + Avaritie [quoque] inebria[tus]. Denariorum Exurge domine Ps 73(74) Unus ex discipulis meis + Qui intingit mecum. Melius d3N Dixi iniquis Ps 74(75) Exurge domine + Et iudica causam 3 Abschnitte 1 Kor 11,20 Eram quasi agnus innocens + Omnes inimici mei. Venite Terra tremuit Ps 75(76) Una [h]ora non potuistis + Quid dormitis. Vel Iudam In die tribulationis Ps 76(77) Seniores populi + Collegerunt. [Ut Ihesum] dL Iustificeris Ps 50(51) Homo pacis mee in quo sperabam + Qui edebat panes Dominus tamquam ovis Ps 89(90) Contritum est cor meum Ps 62(63) Exhortatus es in virtute Ex 15 Oblatus est Pss 148-150 Traditor autem Benedictus Christus factus est + Respice quesumus domine <?page no="101"?> 1.2 Entwicklung im Hoch- und Spätmittelalter 93 Die Prim und die übrigen Horen finden ohne Besonderheiten statt (psalmi consueti, d. h. die täglichen Abschnitte aus Ps 118[119]), aber ohne Lesung, Versikel und Schuldbekenntnis. 526 Nach der Abendmahlsmesse und ggf. einer Stärkung räumt man die Altäre ab. Die dazugehörige Antiphon Diviserunt sibi vestimenta sua mit Ps 21(22) interpretiert die im Kern pragmatische Handlung allegorisch als Gedächtnis der Entblößung Jesu vor der Kreuzigung. Während der Fußwaschung singen die Kantoren oder Kapläne (capellani) - nebst weiteren spezifischen Antiphonen 527 - die Vesper. 528 Die dortige Anweisung dazu nennt die erste Antiphon Calicem salutaris und verweist dann auf die übrigen Antiphonen und Psalmen 529 , die an anderer Stelle wie folgt beschrieben wird: HoDo Antiphonen + Psalmen Versikel Lesungen + Responsorien Christus + Or. dV Calicem salutaris Ps 115(116) kein Versikel keine Lesung kein Responsorium Cum his qui oderunt pacem Ps 119(120) Ab hominibus iniquis Ps 139(140) Custodi me a laqueo Ps 140(141) Considerabam ad dexteram Ps 141(142) Cenantibus autem Magnificat Christus factus est + Respice quesumus domine Zur Komplet gehören hiis tribus diebus videlicet quinta et sexta feria et sabbato 530 das Schuldbekenntnis mit Vergebungsbitte; die üblichen vier Psalmen (Pss 4; 30[31]; 90[91]; 133 [134]) ohne Antiphonen; keine Lesung, sondern sofort das Canticum Nunc dimittis; dann Christus factus, das Vaterunser (still) und die Oration. 531 Alle Horen am Gründonnerstag schließen mit dem Gesang Christus factus und der Oration Respice. Feria sexta Analog beschreibt das Ordinale auch das Offizium vom Karfreitag. 532 Nur zwei Handschriften erwähnen das „verborgene Licht“ wie schon am Vortag (absconso lumine ut supra). 533 Eine Notiz zur Papstliturgie merkt die wechselseitige Rezitation des gesamten Psalters (prima hora … ad dicendum psalterium … vicissim totum psalterium complent) an - ein weit verbreiteter Brauch am 526 OrdInn (ebd. 225). 527 OrdInn (ebd. 229). 528 OrdInn (ebd. 241). Die Vesper am Karfreitag unterscheidet sich nur durch die Antiphon zum Magnificat und die Länge von Christus factus est. Siehe unten Feria sexta. 529 OrdInn (ebd. 227). 530 Die selbstverständliche Voraussetzung einer Komplet am Karsamstag stellt ein sachlich und historisch sehr spätes Entwicklungsstadium dar. 531 OrdInn (ebd. 242-243; 259). 532 OrdInn (ebd. 243-245). 533 OrdInn (ebd. 244). <?page no="102"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 94 Karfreitag - und erwähnt die Quadragesima-Oration Deus cui proprium est vor dem marianischen Offizium (ante primam sancte Marie). 534 Die übrigen Horen am Karfreitag schließen mit der Oration Respice. Nach der Sext beginnt der Hauptgottesdienst mit Wortgottesdienst, Großen Fürbitten sowie der Kreuzverehrung mit Begleitgesängen und Kommunion des Papstes. 535 Darauf folgt sofort die Vesper vom Gründonnerstag, aber mit einer eigenen Antiphon zum Magnificat: Das Ordinale führt hier in antiphonario curie romane den Text Cum accepisset acetum an; alternativ dazu kann Ait latro a[d] latronem aus den Laudes genommen werden. Die Vesper am Karfreitag wird rezitiert, nicht gesungen (non cantando, sed recitando). 536 Papst und Klerus fasten sodann, doch wer will, nimmt ein Abendessen für sich alleine ein. Die Komplet ist dieselbe wie am Vortag. 537 KarFr Horen Antiphonen + Psalmen Versikel Lesungen + Responsorien Christus + Oration f1N Astiterunt reges Ps 2 Diviserunt sibi + Et super vestem Klgl 2,8 Omnes amici mei + Inter iniquos proiecerunt. Et ter[r]ibilibus Diviserunt sibi Ps 21(22) Klgl 2,15 Velum templi scis[s]um + Petre scisse sunt. Latro de cruce Insurrexerunt in me Ps 26(27) Klgl 3,1 Vinea mea electa + Sepivi te. Quomodo f2N Vim faciebant Ps 37(38) Insurrexerunt in me + Et mentita est 3 Abschnitte augustin. Ps- Traktat. zu Ps 63(64),3 Tamquam ad latronem + Cumque iniecisse[n]t. Cotidie Confundantur et revereantur Ps 39(40) Tenebre facte sunt + Exclamans Ihesus. [Et inclinato] Alieni insur[r]exerunt Ps 53(54) Animam meam dilectam + Insur[r]exerunt in me. Quia f3N Ab insurgentibus in me Ps 58(59) Locuti sunt adversum + Et sermonibus odii 3 Abschnitte Hebr 4,11 Tradiderunt me in manu[s] + Alieni insur[r]exerunt. Et sicut Longe fecisti Ps 87(88) Ihesum tradidit impius + Adduxerunt autem. Petrus Captabunt in animam iusti Ps 93(94) Calligaverunt + O vos [omnes] qui transitis. Si est 534 OrdInn (ebd. 245). 535 Die päpstliche Stationsliturgie wird in anderen Handschriften den Umständen entsprechend adaptiert. Zeitansatz dieser Gottesdienste ist nach der Non; OrdInn (ebd. 254-259). 536 OrdInn (ebd. 259). 537 Ebd. <?page no="103"?> 1.2 Entwicklung im Hoch- und Spätmittelalter 95 KarFr Antiphonen + Psalmen Versikel Lesungen + Responsorien Christus + Or. fL Proprio filio Ps 50(51) Collocavit + Sicut mortuos Anxiatus est Ps 142(143) Ait latro Ps 62(63) Dum conturbata fuerit Hab 3 Memento mei Pss 148-150 Posuerunt super caput Benedictus Christus factus est ~ crucis [Deus cui proprium est] + Respice In sabbato sancto Die Anweisungen für das Offizium am Karsamstag beschränken sich auf die Nennung der Incipits der Nacht- und Morgenhore sowie den Hinweis, alles habe so zu geschehen wie an den beiden anderen Tagen (in aliis [duobus] diebus); so auch die Prim dieses Tages. Der Gesang Christus factus erklingt nun in allen Horen mit dem vollständigen Text Christus factus est pro nobis obediens usque ad mortem mortem autem crucis propter quod usque super omne nomen. 538 Die Paschavigil beginnt um die Mittagsstunde. Neu ist das zu dieser Zeit nur in mittelitalienischen Quellen belegte Responsorium Astiterunt reges in der 3. Nokturn. 539 KarSa Horen Antiphonen + Psalmen Versikel Lesungen + Responsorien Christus + Oration s1N I[n] pace in idipsum Ps 4 In pace in idipsum + Obdormiam et requiescam Klgl 3,22 Sicut ovis ad occisionem + Tradidit in mortem. Ut Habitavit in tabernaculo Ps 14(15) Klgl 4,1 Ierusalem luge + Deduc quasi torrentem. Quia in te Caro mea Ps 15(16) Klgl 5,1 Plange quasi + Accingite vos. Quia veniet s2N Elevamini Ps 23(24)) Tu autem domine miserere mei + Resuscita me 3 Abschnitte augustin. Ps- Traktat. zu Ps 63(64),7 Recessit pastor noster + Destruxit quidem. Nam et ille Credo videre Ps 26(27) O vos omnes qui transitis + Attendite universi. Si est Domine abstraxisti Ps 29(30) Ecce quomodo moritur iustus + Tamquam agnus. Et erit 538 OrdInn (ebd. 260f; hier 261). 539 OrdInn (ebd. 260). www.cantusdatabase.org. führt als älteste Zeugnisse dieses Responsoriums vier (je zwei monastische und kathedrale) toskanesische Quellen des 12. Jhs. an: ID 600155. <?page no="104"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 96 KarSa Antiphonen + Psalmen Versikel Lesungen + Responsorien Christus + Or. s3N Deus adiuvat me Ps 53(54) In pace factus est locus + Et in Syon habitatio 3 Abschnitte Hebr 9,11 Astiterunt reges terre + Quare fremuerunt. Adversus In pace factus est Ps 75(76) Estimatus sum + Posuerunt me in lacu. Factus Factus sum sicut homo Ps 87(88) Sepulto domino + Accedentes principes. Ponentes sL O mors ero mors Ps 50(51) Caro mea requiescet + Et non dabis sanctum tuum Plangent eum Ps 42(43) Attendite universi populi Ps 62(63) A porta inferi Jes 38 O vos omnes Pss 148-150 Mulieres Benedictus Christus factus est ~ super omne nomen + Respice 1.2.3.2 Das Franziskanische Brevier (Mitte 13. Jh.) Der von Gregor IX. († 1241) mit der neuerlichen Revision des bereits unter Innozenz III. (um 1216) gekürzten Breviers der römischen Kurie befasste franziskanische Gelehrte Haymo von Faversham († 1244) war federführend an jenem für die Erfordernisse seines Ordens maßgeschneiderten Buch beteiligt, das seit seinem Erscheinen 1241 bis ins 14. Jh. nicht nur größte geographische Verbreitung erfuhr, sondern als offizielles römisches Brevier schließlich auch das römische Kathedraloffizium verdrängen sollte. Die Anweisungen zum Offizium führen knapp und präzise die festgelegten Texte und Gesänge per Incipit an und unterscheiden sich nur minimal vom Vorgängerbuch: Am Gründonnerstag verwendet man im 5. Responsorium Iudas mercator (2. Nokturn) den Vers Melius illi (nicht: Avaritie quoque inebriatus) 540 , am Karfreitag die Repetitio Et omnis (statt: Latro de cruce) im 2. Responsorium Velum templi (1. Nokturn). 541 Auf die klaren Angaben zum Lichtauslöschen folgt die Festlegung der jeweiligen Texterweiterung von Christus factus est für die kommenden drei Tage: Ordo breviarii Feria quinta in cena Domini Gründonnerstag Antequam compleantur laudes, extinguuntur omnia luminaria 542 preter duas candelas, quarum altera absconditur, reliqua extinguitur quando incipitur ant. Traditor autem Ps. Be- Bevor die Laudes beendet werden, löscht man alle Lichter außer zwei Kerzen, deren eine verborgen, die andere ausgelöscht wird, sobald die Ant. Traditor autem [zum Ps] Bene- 540 OrdHay (SDF 2, 84 V AN D IJK ). 541 OrdHay (ebd. 86). 542 Ohne Angabe einer bestimmten Anzahl. <?page no="105"?> 1.2 Entwicklung im Hoch- und Spätmittelalter 97 nedictus alta voce cantatur et post antiphonam V 543 Christus factus est, qui prima nocte terminatur ibi usque ad mortem, secunda nocte additur mortem autem crucis, tertia nocte adiungitur Propter quod et Deus exaltavit illum totum. … dictus angefangen und mit erhobener Stimme gesungen wird; und nach der Antiphon singt man den Vers Christus factus est, der in der ersten Nacht bei usque ad mortem beendet wird; in der zweiten Nacht fügt man mortem autem crucis hinzu; in der dritten Nacht lässt man das ganze Propter quod et Deus exaltavit illum folgen. … … Et postea lumen absconditum reportatur. 544 Und danach [nach den Laudes] wird das verborgene Licht wieder hereingetragen. Die übrigen Anweisungen beziehen sich auf die Unterlassungen und die Vollzugsweise der Horen an allen drei Tagen, von denen nur die Nacht- und Morgenhoren der drei Tage und die Vesper am Gründonnerstag gesungen werden: Ordo breviarii Feria quinta in cena Domini Gründonnerstag Et sicut in matutinis ita dicitur per horas diei, excepto quod non cantatur nisi in matutinis istorum trium dierum et vesperis huius diei tantum. Finito vero hoc versu, flexis genibus sine Kyrie dicitur Pater noster totum sub silentio, postea ps. Miserere aliquantulum altius ad invicem. Quo finito immediate sine Oremus dicitur oratio Respice domine simili voce, sed Qui tecum dicitur sub silentio. Und so wie in den Matutinae [Laudes] sagt man ihn [V Christus] in den Tageshoren, mit der Ausnahme, dass nicht gesungen wird, außer nur in den Matutinae [Laudes] an diesen drei Tagen und in der Vesper dieses Tages (HoDo). Wenn aber dieser Vers beendet ist, spricht man mit gebeugten Knien ohne Kyrie das Vaterunser zur Gänze in Stille; danach ein wenig lauter einer zum anderen den Ps Miserere 50(51); wenn er beendet ist, wird sofort ohne Lasset uns beten die Oration Respice Domine mit ähnlicher Stimme gesprochen, aber Qui tecum wird still gesagt. Item prima, tertia, sexta et nona absolute incipiuntur a psalmis. Quibus finitis, dicitur V Christus factus est deinde flexis genibus Pater noster. Miserere et oratio Respice dicuntur sicut in matutinis. 545 Ebenso beginnt man die Prim, Terz, Sext und Non unmittelbar mit der Psalmodie. Wenn sie beendet sind, sagt man den V Christus factus est, und dann werden kniend das Vaterunser, Miserere [= Ps 50(51)] und die Oration Respice wie in den Matutinae [Laudes] gesprochen. Die Vesper besteht de facto aus den Psalmen 115(116B), 119(120), 139(140), 140(141) und 141(142) sowie dem Magnificat samt Antiphonen; 546 ohne Kurzlesung, Hymnus und Versikel schließt die Hore mit V Christus factus est cum reliquis ut supra 543 Wie Anm. 523. 544 OrdHay (ebd. 84,31-36; 85,42f). 545 OrdHay (ebd. 85,36-42; 1-3). 546 Vgl. OR 50, 25,105 (SSL 29, 226f A NDRIEU ) und CAO I, 170f; CAO II, 310 § 72. <?page no="106"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 98 in matutinis. 547 Die Komplet umfasst Schuldbekenntnis und Vergebungsbitte, die psalmi consueti, Nunc dimittis und denselben Abschluss wie zuvor. Dieser wird abschließend noch einmal für alle Horen in hoc triduo usque ad vesperas sabbati eingeschärft. 548 Am Karfreitag werden mit einer eigenen Magnificat-Antiphon Cum accepisset acetum die Vesperpsalmen und Antiphonen vom Vortag wiederholt, an diesem Tag aber dicuntur sine cantu. 549 Die Ordnung für Karsamstag bietet ausschließlich die bekannten Gesänge für die Nacht- und Morgenhore. 550 Weder die von Innozenz III. angestrengte Reform des kurialen Offiziums noch deren franziskanische Revision bringt für die untersuchten Tage Neuerungen. Erkennbar bleibt die Tendenz zur Auffüllung eventuell verbliebener Lücken im Ablauf und zur strukturellen Angleichung der drei Tage. Die Abweichung von den älteren Quellen ist allerdings nicht größer als die schon dort feststellbaren Unterschiede. Gegenüber der bisherigen Tradition neu sind im Ordinale das aus der mittelitalienischen Lokaltradition übernommene Responsorium Astiterunt reges am Karsamstag (3. Nokturn) und die Festlegung der patristischen Vigillesungen (2. Nokturn) aus dem augustinischen Psalmenkommentar zu Ps 53(54),2 am Hohen Donnerstag, während man am Karfreitag und Karsamstag weiterhin aus der Auslegung zu Ps 63(64),3.7 liest. Der nächtliche Lichtritus wird ebenso tradiert wie die allermeisten Gesänge und Texte. Die Gradualversion von Christus factus est hat die Text- und Klanggestalten des Versikels und des Kyrietropus ersetzt. 1.2.4 Ein Seitenstrang der Tradition: Das ,Kreuzbrevier‘ des Quignonez (1535) Einen - wenn auch nur für kurze Zeit - überaus erfolgreichen Neuentwurf stellt das das unter Clemens VII. († 1534) beauftragte und von seinem Nachfolger Paul III. († 1549) approbierte so genannte ,Kreuzbrevier‘ 551 aus der Feder des spanischen Franziskanerkardinals Francisco de Quignonez († 1540) dar. 552 Für die Privatrezitation konzipiert und einfach im Gebrauch, erfreut es sich rasch großer Beliebtheit und erreicht allein im ersten Jahr nach seinem Erscheinen elf Auflagen und an die hundert in den folgenden drei Jahrzehnten. 553 Die Ordnung beseitigt nicht nur Doppelungen in der Psalmodie, Heiligenlegenden aus den Lesungen und Zusatzoffizien (marianisches Offizium, Totenoffizium), sondern konsequent auch die für die Praxis des Chorgebets essentiellen, für den Einzelbeter aber entbehrlich scheinenden Gesangselemente wie Antiphonen, Responsorien, Hymnen, Litaneien etc. Andere, teils sekundäre Elemente behält Quignonez bei (Preces, Confessiones, Absolutiones etc.) sowie liturgischdialogische Elemente (Segenssprüche und Schlussfloskeln), die im Privatgebet aber kaum gattungsgemäß vollzogen werden können. Zum Offizium der letzten drei Tage vor Ostern ordnen zunächst nur zwei kurze Absätze durchaus Bekanntes an: Alle Horen beginnen - außer die Matutin (welche hier 547 OrdHay (SDF 2, 85 V AN D IJK ). 548 Ebd. 549 OrdHay (ebd. 86). 550 CAO I, 174-177f; CAO II, 316-321 § 74. 551 Nach der Titelkirche Santa Croce in Gerusalemme. 552 Ausführlicher dazu vgl. H ÄUSSLING , Brevierreformen 221-223, und J UNGMANN , Reformbrevier. 553 T AFT , Liturgy 311. Der Einfluss des ,Kreuzbreviers‘ ist auch im anglikanischen Book of Common Prayer von Erzbischof Thomas Cranmer († 1556) erkennbar. <?page no="107"?> 1.2 Entwicklung im Hoch- und Spätmittelalter 99 die Vigil meint) mit Confiteor 554 - sofort mit der Psalmodie, worauf das Vaterunser und die Lesungen folgen; danach die Laudes. Brev. Rom. a Quignonio editum Feria quarta Mittwoch [der Hohen Woche] His tribus sequentibus diebus omnibus aliis praetermissis, excepta confessione generali ad Matutinum omnes horae absolute incipiuntur a psalmis: qui etiam terminantur sine Gloria patri. Post psalmos ad Matutinum dicitur Pater noster. Et deinde tres lectiones sine benedictionibus, et sine Tu autem. Et non dicitur Te deum. Nec Miserere. Sed statim dicuntur laudes. 555 An diesen drei folgenden Tagen lässt man alles andere außer das allgemeine [Schuld-] Bekenntnis zur Matutin aus und beginnt alle Horen unmittelbar mit den Psalmen, die auch ohne Ehre sei dem Vater beendet werden. Nach den Psalmen zur Matutin spricht man das Vaterunser. Und dann drei Lesungen ohne Segnungen und ohne [die Schlussfloskel] Tu autem. Und man sagt weder das Te deum noch Miserere [= Ps 50(51)]; sondern man spricht sofort die Laudes. In hoc triduo (HoDo - KarSa/ Vesper) sagt man den Vers Christus factus est in der Nacht- und Morgenhore, in der Vesper und Komplet ausschließlich nach den neutestamentlichen Cantica (Benedictus, Magnificat, Nunc dimittis) sowie in den übrigen Horen nach den Psalmen, und zwar immer den vollständigen Text bis super omne nomen. Man beugt die Knie, sagt das Vaterunser, Ps 50(51) Miserere 556 und sogleich ohne Gebetsaufforderung die Oration Respice. 557 Das Quignonez-Brevier basiert nicht nur auf einer völlig neuen Psalmenverteilung, auch seine Leseordnung ist ungewöhnlich: 558 Auf jeweils drei Psalmen pro Hore, die das ganze Jahr über unterschiedslos in immer derselben Ordnung und ohne Antiphonen rezitiert werden, 559 folgen meist zwei, zu bestimmten Anlässen drei Lesungen. An den vorösterlichen Tagen sind sie speziell gewählt und stammen aus Genesis, den Passionserzählungen (HoDo: Lk-Ev, KarFr und KarSa: Joh-Ev) und abschließend (! ) den Klageliedern. 560 Mit der Lesung der beiden ersten Bücher (Gen, Joh-Ev) beginnt man bereits am Septuagesima-Sonntag; 561 die Lamentationen sind dem Triduum vorbehalten. Nicht die gleichförmige Psalmodie - zumal ohne Antiphonen - stellt den Bezug zwischen alttestamentlicher Heilsverheißung und den kirchlich gefeierten Inhalten dieser Tage her, sondern ausschließlich die Textauswahl der Lesungen. 554 Das gewöhnlich ebenfalls vor dem Eröffnungsruf jeder Hore zu betende Pater noster, der Ruf und das Invitatorium Ps 94(95) hingegen entfallen. 555 BrQu (ebd. 56f W ICKHAM ). 556 Im Advent und in der Quadragesima ersetzt er das Te Deum nach der 3. Lesung (BrQu [ebd. Preface, xii-xiii]). 557 BrQu (ebd. 57). 558 Vorgesehen ist je eine Lesung aus beiden Testamenten, wobei das Neue Testament mit Ausnahme von Offb zur Gänze gelesen wird (vgl. BrQu [ebd. Preface li]); eine dritte Lesung ist einigen Herren- und etlichen Heiligenfesten vorbehalten, für die Quignonez einen eigenen Index mit externen Quellen bietet. (BrQu [ebd. 203-205]). 559 Da Quignonez Doppelungen in der Psalmenverteilung strikt vermeidet, wird auch in seinem Schema in jeder Woche des Jahres der ganze Psalter gebetet: Psalterium dispositum in dies, et horas ordine quo totum singulis hebdomadis dicitur per totum annum. (BrQu [ebd. 1]). 560 BRQu (ebd. 57). 561 BrQu (ebd. 39). <?page no="108"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 100 Feria quinta in coena domini Die Psalmen für Donnerstag im Wochenpsalter des BrQu sind für die Matutin: Pss 67(68), 72(73), 88(89), für die Laudes Pss 99(100), 102(103), Ex 15; Ben. 562 1. Lesung Gen 49,1-32 (Segen Jakobs), 2. Lesung Lk 23,13-56 (Verhandlung vor Pilatus), 3. Lesung Klgl 1,1-12 (Aleph-Lamed) mit Ierusalem. Ierusalem, convertere ad dominum deum tuum. 563 Feria sexta Die freitäglichen Psalmen für die Matutin: Pss 21(22), 68(69), 70(71); in den Laudes: Pss 148, 149 und Hab 3; Ben. 564 1. Lesung Gen 50,1-13 (Tod und Begräbnis Jakobs), 2. Lesung Joh 18,1-40 (Verhaftung, Verhör, Verleugnung), 3. Lesung Klgl 3,40-66 (Nun-Thau) mit Ierusalem. Ierusalem, convertere … 565 Sabbato sancto Am Samstag werden in der Matutin folgende Psalmen rezitiert: Pss 54(55), 105(106), 106(107); in den Laudes: Pss 116(117), 150 und Dtn 32,1-43; Ben. 566 1. Lesung Gen 50,14-25 (Josefs letzte Jahre und Tod), 2. Lesung Joh 19,1-42 (Geißelung, Kreuzigung, Grablegung), 3. Lesung Klgl 4,17-22 (ab Ain) mit Ierusalem. Ierusalem, convertere … 567 Die Psalmen werden nicht in ihrer kanonischen Reihenfolge gelesen, folgen aber dem Prinzip der aufsteigenden Ordnung. Mit Ausnahme von Ps 21(22) und eventuell Ps 68(69) lässt sich keiner der Psalmen direkt mit der Jahres- oder Wochenfeier von Ostern in Verbindung bringen. Die den Wochentagen Donnerstag bis Samstag zugeordneten AT-Cantica behält BrQu an den drei vorösterlichen Tagen unverändert bei. 568 Die ,Auszeichnung‘ des Triduums im Offizium von Quignonez beschränkt sich de facto auf die Beachtung der tradierten Unterlassungen (die auch den Kürzungsabsichten entgegenkommen), ohne jedoch die Mittel zur spezifischen theologischen Füllung der Horen - etwa durch die Auswahl christologisierter Psalmen - auszuschöpfen. Der radikale Verzicht auf Antiphonen lässt diese hervorragende Interpretations- und Verständnishilfe der Psalmen sowohl im Alltag als auch zu besonderen Zeiten und an Festen gänzlich ungenützt. Insofern ist die Beibehaltung der Klagelieder-Lesungen und des an allen drei Tagen ungekürzt zu rezitierenden Christus factus est bemerkenswert. Unter dem Konzilspapst von Trient, Pius V. († 1572), der seinerseits eine umfassende Liturgiereform veranlasst, 569 wird das Brevier von Quignonez nach kurzer steiler, freilich nicht unhinterfragter Erfolgsgeschichte verboten. Sein Anliegen, alter Tradition gemäß jedes Jahr (fast) die ganze Schrift zu lesen und einmal wöchentlich den ganzen Psalter zu beten, 570 hinterlässt freilich auch in den Nachfolgebüchern Spuren. 562 BrQu (ebd. 11f). 563 BrQu (ebd. 57). 564 BrQu (ebd. 13f). 565 BrQu (ebd. 57). 566 BrQu (ebd. 15-17). 567 BrQu (ebd. 57). 568 Die ältere Tradition hingegen ersetzt am Karsamstag Dtn 32 durch den Hiskija-Psalm Jes 38 vom Dienstag. 569 Während der Zeit des abendländischen Schismas und der Folgeperiode der Neuerstarkung des Papsttums findet der vielfach bestehende Reformbedarf des Offiziums wenig Aufmerksamkeit. 570 Viele davon wurden de facto nicht mehr gebetet, sondern waren durch die immer gleiche Festpsalmodie der Heiligenfeste verdrängt worden. <?page no="109"?> 1.2 Entwicklung im Hoch- und Spätmittelalter 101 1.2.5 Das römische Reformbrevier von 1568 (Pius V.) Pius V. bevorzugt gegen Quignonez die Reformvorschläge des Theatinerordens, dem sein Vorvorgänger Paul IV. angehörte. Mit dem konservativen Reformbrevier 1568 schließt die römische Kirche bewusst an die überkommene Tradition an, obschon sie das Offizium weiter kürzt und vereinfacht. 571 Man legt dem Reformbrevier die alte kurrente Psalmenverteilung zugrunde (Wochenpsalter) und übernimmt die schon von OR 13 bezeugte Ordnung der jährlichen Lektüre der ganzen Schrift. In der Matutin (Vigil) liest man in der 1. Nokturn biblische Lesungen, in der 2. Nokturn Vätertexte (oder Heiligenviten) und in der 3. Nokturn Homilien zum Tagesevangelium. Da das Buch gleichermaßen für den liturgischen wie für den privaten Gebrauch vorgeschrieben ist, 572 behält es die musikalischen und die Antwortelemente für den gemeinschaftlichen Vollzug bei. Bei den Hymnen - sie betreffen das Triduum freilich nicht - sieht man deutlichen Korrekturbedarf, hingegen: „Die Antiphonal- und Responsorialgesänge tastete man nicht an. Denn das hätte die Gefährdung eines Schatzes kirchlicher Melodien bedeutet, dessen erhabenen Wert man nicht verkannte. Hier blieben infolgedessen auch die Texte in der alten Form erhalten, in der sie aus den gleichen Gründen die Jahrhunderte überdauert hatten.“ 573 Im Breviarium Romanum 1568 stehen die untersuchten Tage 574 auch nach dieser Reform der liturgischen Bücher in ungebrochener Kontinuität mit den ältesten Quellen. Zugleich bleibt jede einzelne Hore in den deutlich jüngeren, zeitgemäßen Rahmen flankierender Pflichtgebete eingebettet. 575 Man behält also einerseits die traditionellen verbalen Reduktionen in der - inhaltlich unveränderten - Feier bei, andererseits jene seit dem Mittelalter um die Kerngestalt des Offiziums angelagerten Gebete, welche dem Eröffnungsruf vorausgehen und an jede Hore angehängt werden: 576 vor dem Offizium: Aperi, Domine, os meum danach (auch bei Privatrezitation kniend): Sacrosanctae et individuae Trinitati sowie Pater noster, Ave Maria vor jeder Hore (außer Komplet): Pater noster, Ave Maria zur Matutin und Prim und nach der Komplet: Credo 571 Insbesondere dem Ferialoffizium soll gegenüber den wuchernden Heiligenfesten wieder zu stärkerer Geltung verholfen werden. Auch in den folgenden Jahrhunderten bleiben die sich immer neu und stetig vermehrenden Heiligenfeste die Haupt- und Daueraufgabe der Reform; Leo XIII. († 1903) nimmt eine neuerliche Reduktion vor. 572 Ausgenommen sind Eigentraditionen, die nachweislich älter als 200 Jahre sind; sie dürfen weiter gepflegt werden; vgl. Z ERFASS / H ÄUSSLING , Bulle 339. 573 P ASCHER , Stundengebet 63. Für die weiteren geschichtlichen Anmerkungen zu den Reformen der Neuzeit vgl. ebd., 59-65; konsultiert wurde auch die umfassende Darstellung bei B ÄUMER , Geschichte, hier: 376-590. 574 BR 1568, 346-351; 351-355; 355-359 (MLCT 3, 376-381; 381-385; 385-389 S ODI / T RIACCA ). 575 Sowohl die von S CHMIDT , Zusätze (siehe oben Anm. 454), angeführten Erweiterungen als auch die in der nachtridentinischen Reform angestrebte grundsätzliche Vereinfachung des Offiziums zielten auf dessen sinnvollen Vollzug. Die von jeher schlichte Feiergestalt an den vorösterlichen Tagen war von beidem praktisch nicht betroffen. 576 In jüngeren Ausgaben (z. B. im Breviarium Romanum ex decreteo SS Concilii Tridentini restitutum. Pars verna. Editio tornacensis nona post typicam; Tournai: Desclée, 1896) stehen die entsprechenden Rubriken samt dem Wortlaut der Gebete im allgemein einleitenden Teil des Breviers (xl) sowie am Beginn des Psalteriums (1). In der Editio princeps sind sie zumindest an diesen Stellen noch nicht zu finden; einleitend zu den drei Tagen ist hier nur davon die Rede, dass nach dem still gebeteten Pater noster alles übrige auszulassen sei; man setze mit der 1. Antiphon fort und singe alle Antiphonen zweimal sowie die Psalmen ohne Gloria patri (BR 1568, 346 [MLCT 3, 376]). <?page no="110"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 102 In jeder Nokturn ist nun das Vaterunser zwischen Psalmodie und Lesungsteil still zu beten (dicitur secreto), in hoc triduo aber ohne die abschließende Bitte Et ne nos. 577 Die jeweilige Absolution und Benediktion vor den Lesungen sowie die Schlussformel Tu autem entfallen. 578 Neben den überkommenen Gesängen, Texten und verbalen Reduktionen sind die Handlungen mit dem Licht während den Laudes, der Gesang Christus factus est in allen Horen sowie die Körperhaltung und Lautstärke/ Sprechweise der Gebete geregelt: Breviarium Romanum 1568 Feria quinta in cœna Domini Gründonnerstag Ad Laudes Zu den Laudes Capitulum et Hymnus non dicuntur. 579 keine Kurzlesung, kein Hymnus Interim dum dicitur canticum Benedictus extinctis prius omnibus candelis in candelabro triangulari, praeter unam, quae posita est in summitate candelabri, extinguuntur paulatim sex candelae supra altare, ita ut in ultimo versu extinguatur ultima candela: similiter extinguuntur lampades et alia luminaria per Ecclesiam. Während das Canticum Benedictus gesprochen wird, löscht man, nachdem zuvor alle Kerzen auf dem Triangelleuchter 580 bis auf eine - die an der Spitze angebracht ist - ausgelöscht wurden, nach und nach [die] sechs Kerzen auf dem Altar, so dass beim letzten Vers die letzte Kerze gelöscht werden soll. Ebenso werden alle Lampen und die anderen Lichter in der Kirche gelöscht. Cum repetitur antiphona Traditor, ex candelabro accipitur suprema candela, et sub altari absconditur in cornu Epistolae. Repetita antiph. post Benedictus dicitur V Christus factus est … ad mortem. Secunda nocte additur. Mortem autem crucis. Tertia nocte additur. Propter quod et Deus … omne nomen. Et sicut in Matutino ita dicitur per Horas diei. Wenn die Antiphon Traditor wiederholt wird, nimmt man die oberste Kerze vom Leuchter und verbirgt sie an der Epistelseite unter dem Altar. Nach der Wiederholung der Antiphon sagt man den V Christus factus est … mit täglicher Erweiterung in den Tageshoren Cum incipitur V Christus factus est omnes genuflectunt, et eo finito dicitur Pater noster. totum sub silentio: postea Psal. Miserere. aliquantulum altius. bei Christus factus est knien alle dann still Pater noster und etwas lauter Ps 50(51) […] Oratio Respice … sed Qui tecum. dicitur sub silentio. Miser. - Oration (laut), aber Schlussfloskel Qui tecum (still); Ps 50(51) Finita Oratione, fit fragor et strepitus aliquantulum: mox profertur candela accensa, et omnes surgunt, et cum si- Nach der Oration gibt es ein kurzes krachendes Geräusch und bald bringt man die [beim Altar verborgene] an- 577 OR 13A,3 (SSL 23, 482 A NDRIEU ) ordnet bereits den Entfall dieser Bitte beim Herrengebet am Ende der Laudes an. 578 BR 1568, 346 (MLCT 3, 376). 579 BR 1568, 350, 2335 (ebd. 380). 580 Mit 15 Kerzen; zu Herkunft, Entwicklung und Gebrauch dieses (und anderer Formen des) eigens konstruierten Kerzenleuchters vgl. M AC G RGEOR , Fire 67-75. <?page no="111"?> 1.2 Entwicklung im Hoch- und Spätmittelalter 103 lentio discedunt. 581 gezündete Kerze hervor; alle stehen auf und gehen schweigend hinaus. Ad horas Zu den Tageshoren Prima, Tertia, Sexta et Nona 582 absolute inchoantur a psal. consuetis quibus finitis dicitur V Christus factus est … Deinde flexis genibus dicitur secreto Pater noster Psal. Miserere. Oratio Respice quaesumus. sicut in Matut. 583 übliche Psalmodie - Christus factus est … - Pater noster und Ps 50(51) - Oration wie in der Matutin Ad vesperas Zur Vesper Vesperae incipiuntur absolute a prima Antiphona … V Christus factus est rep. ut supra ad alias Horas. Sic terminantur omnes Horae in hoc triduo usque ad Vesperas sabbathi sancti. 584 übliche Psalmodie - Christus factus est + alles Übrige wie oben in allen Horen bis zur Vesper am Karsamstag In derselben bekannten Weise finden auch der Karfreitag und Karsamstag (bis zur Non) statt. Die Vesper am Karfreitag wiederholt gesprochen (sine cantu) die Psalmen vom Gründonnerstag Ps 115(116), Ps 119(120), Ps 139(140), Ps 140(141), Ps 141(142); das Magnificat mit der ebenfalls üblichen Antiphon Cum accepisset acetum. 585 Die Komplet wird weder am Gründonnerstag noch am Karfreitag erwähnt. 586 1.2.6 Ausblick: Von Trient bis zum 2. Vatikanum 1.2.6.1 Reformen des 17. Jhs. Von den kleineren nachtridentinischen Brevierreformen ist hier nur pauschal festzuhalten, dass sie sich mit ähnlichen Tendenzen wie in den vorhergegangenen Jahrhunderten auseinanderzusetzen haben: Die Qualität der Heiligenviten und die grassierenden Heiligenfeste bleiben ebenso Thema - Clemens VIII. († 1605) wertet sie teilweise wieder auf - wie das den Seelsorgeklerus belastende Gebetspensum. 1632 erscheint unter Urban VIII. († 1644) eine Neuausgabe des römischen Breviers mit - auf vielfachen Wunsch - überarbeiteten Hymnen. Die weiteren Anliegen bleiben offen. Das Triduum ist von den Veränderungen nicht betroffen. 1.2.6.2 Die Brevierreform von 1911 (Pius X.) Die von Leo XIII. angestrebte, infolge des abgebrochenen 1. Vatikanums aber nicht zu Ende gebrachte Revision des Offiziums beschränkt sich auf die Entschlackung der Festordnung zugunsten der Ferialpsalmodie. Anders die Liturgiereform unter Pius X. (1911): Sie bringt mit einer neuen Psalmenverteilung und der spürbaren Aufwertung des Ferialoffiziums und der Sonntage einschneidende Veränderungen. 587 Die Hohe Woche ist freilich auch davon nicht betroffen. Die Brevierausgaben und Antiphonalien ad normam Constitutionis Apostolicae „Divinu afflatu“ (Pius X.) ab 1911 bieten das Offizium von Gründonnerstag bis Karsamstag in der seit Trient ,für immer‘ festgeschriebenen Form. Folgende zum Singen eingerichtete Ausgaben aus den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jhs. (in exemplarischer Auswahl) enthalten lediglich einige ergänzende Hinweise 581 BR 1568, 350, 2337-2339 (MLCT 3, 380 S ODI / T RIACCA ). 582 Jüngere Ausgaben ergänzen hier die stillen Gebete Pater noster, Ave Maria und zur Prim Credo (BR [rev. Nachdr. 1896] 296). 583 BR 1568, 350, 2340 (MLCT 3, 380 S ODI / T RIACCA ). 584 BR 1568, 350f, 2342-2347 (ebd. 380f). 585 BR 1568, 355, 2381 (ebd. 385). 586 Später wird an beiden Tagen dieselbe Komplet angewiesen (BR [rev. Nachdr. 1896] 299; 317). 587 Vgl. P ASCHER , Stundengebet 64f. <?page no="112"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 104 zur Vortragsweise: Antiphonale sacrosanctae romanae ecclesiae pro diurnis horis [=Liber Antiphonarius pro diurnis horis]. (A Pio papa X restitutum et editum SS. D. N. Benedicti XV auctoritate recognitum et vulgatum), Romae: Typis Polyglottis Vaticanis, 1919. Für den monastischen Gebrauch: Officium et Missae ultimi tridui Majoris Hebdomadae juxta ritum monasticum. Paris-Tournai: Desclée, 1923; und Antiphonale Monasticum pro Diurnis Horis juxta vota RR. DD. Abbatum congregationum confœderatarum ordinis sancti Benedicti. (A Solesmensibus monachis restitutum), Solesmes: La froidfontaine, 1995 [Tournai: Desclée & Co, 1934]. Liber Antiphonarius pro diurnis horis Der römische Liber Antiphonarius pro diurnis horis (Ausgabe von 1919) präzisiert gegenüber dem BR 1568 v. a. hinsichtlich des Gesanges: Die Antiphonen an den drei vorösterlichen Tagen sind vor und nach dem Psalm vollständig zu singen (Antiphonae duplicantur). 588 Das Benedictus singt man in tono solemni. 589 Nach der Oration am Ende der Laudes folgt, täglich erweitert, der gesungene Vers Christus factus est, in allen weiteren Horen aber totum sine cantu. 590 Die Vesper am Gründonnerstag und ihre Wiederholung am Karfreitag mit den jeweiligen Eigenantiphonen zum Magnificat 591 werden nach „heutigem“ Brauch nicht gesungen (iuxte morem hodiernam sine cantu), doch notiert man die Melodien der Antiphonen, um sie als besondere Gesangsstücke zu bewahren (cum cantu proprio, ne pereat) und aus Pietät gegenüber der älteren Gesangstradition. 592 Das Lichtauslöschen wird nicht erwähnt, doch immer noch ist nach der Oration, bevor alle hinausgehen, auf das übliche akustische Zeichen hin (fragor et strepitus) eine brennende Kerze von unter dem Altar hervorzuholen. 593 Officium et Missae ultimi tridui Majoris Hebdomadae juxta ritum monasticum Die monastische Feierordnung Officium et Missae für die drei letzten Tage der Hohen Woche (Ausgabe von 1923) vermerkt in den praenotanda zunächst den Entfall der Doxologie bei Antiphonen und Responsorien, sodann die Unterscheidung zwischen gesungenem Vollzug (wie gewohnt) und der bloßen Rezitation des Offiziums: bei letzterer soll die Stimme am Ende jedes Psalms, der Cantica und bei jeder divisio abfallen (deprimitur); ebenso am Ende von Ps 50(51), der nach den Horen 594 leise zu sagen ist (voce submissa recitatur). Die Oration hingegen spricht man mit ernster und gerader Stimme (gravi et recta voce) und man flektiert, wie bei den Psalmen, die letzte Silbe (deprimitur). 595 Alle Klgl-Lesungen werden kantilliert. Nur die 3. Lesung am KarSa (Klgl 5,1-11) kann außer im üblichen Ton ad libitum auch in einer anderen Singweise 588 LibAnt 370; eine Besonderheit, die sonst den darum so genannten Duplexfesten zukommt (sicut in Festo Duplici [ebd.]). Die Tage von Gründonnerstag bis Karsamstag stehen im Rang der festa duplicia primae classis. Während die Antiphon am Ende des Psalms immer vollständig gesungen wird, hängt ihre Singweise am Anfang des Psalms vom Rang des Festes ab: „Hier wird sie bei den kleinen Gebetsstunden immer und bei den großen an den Tagen, die nicht Duplex-Rang haben, nur mit den ersten Worten angestoßen. Man richtet sich also nach der Feierlichkeit des Anlasses.“ (P A- SCHER , Stundengebet 75). 589 LibAnt 372. 590 Ebd. 591 Ebd. 376. 592 So die Begründung der Herausgeber in einer Fußnote (ebd. 373). 593 Ebd. 594 OffMiss 47. 595 Ebd. 6. <?page no="113"?> 1.2 Entwicklung im Hoch- und Spätmittelalter 105 (alter tonus) vorgetragen werden. 596 Auf einem Triangelleuchter vor dem Altar sind 15 Kerzen aufgesteckt, von denen am Ende jedes Vigil- und Laudespsalms eine gelöscht wird; die Rubrik am Ende der Laudes - wörtlich wie im BR 1568 - weist sodann das Auslöschen der sechs Altarkerzen während des Benedictus an. 597 Antiphonale Monasticum pro Diurnis Horis Auch im Antiphonale Monasticum (Ausgabe von 1934) findet sich der explizite Hinweis auf die den ranghöchsten Festen vorbehaltene (vollständige) Wiederholung der Antiphonen vor und nach dem Psalm. 598 Das Lichtauslöschen während des Benedictus und das Bringen einer zuvor beim/ unter dem Altar verborgen brennenden Kerze am Ende der Laudes werden beibehalten. 599 Die Vesper wird gesprochen, außer in Klöstern, die an der olim ubique befolgten Singweise des Offiziums bis heute festhalten. 600 Kleine Horen und Vesper am Karfreitag finden wie am Hohen Donnerstag statt (außer die traditionelle Eigenantiphon zum Magnificat); ebenso am Karsamstag bis zur Non. 601 1.2.6.3 Die Reform der Osternacht 1955 und der Hohen Woche 1956 (Pius XII.) Einen bemerkenswerten Reformschritt stellt die von Pius XII. veranlasste Erneuerung der Jahresfeier von Ostern dar, für die Bibelbewegung und Liturgische Bewegung seit dem 19. Jh. wichtige Vorarbeit geleistet hatten. Sowohl für die Reform der Osternacht (1955) 602 als auch für die neu zu ordnende Hohe Woche (1955/ 56) soll u. a. der angemessene Zeitansatz (veritas horarum) der Gottesdienste ein maßgebliches Prinzip sein. Für das - weiterhin nahezu unveränderte - Offizium der untersuchten Tage gilt ab 1951 (zunächst nur für den Karsamstag), dass Vigil und Laudes in choro nicht am Vorabend antizipiert werden dürfen (mane) und auch die Kleinen Horen hora competenti zu halten sind; der im Anschluss an diese Horen übliche Ps 50(51) entfällt nunmehr, und es folgt sofort die Oration Concede quaesumus, omnipotens Deus 603 (bisher: Respice, quaesumus Domine). 604 Der passende Zeitansatz wird für den wenige Jahre später erscheinenden Ordo Hebdomadae Sanctae Instauratus (Editio typica. Città del Vaticano: Typis polyglottis vaticanis, 1956) für den Vollzug in choro vel in communi auf alle drei Tage ausgedehnt 605 und für die Privatrezitation durch einen entsprechenden Hinweis omnes horae 596 Ebd. 188f. 597 Ebd. 7; 45. 598 AntMon 412. Vgl. Anm. 588. 599 AntMon 419; 421. 600 Ebd. 429; wie oben LibAnt 372, der zudem auf die offenbar wünschenswerte Erhaltung der Gesangsweise hinweist (cum cantu ne pereat). 601 AntMon 444; 450. 602 Ihr ging die Erlaubnis zur nächtlichen Feier der Paschavigil ad experimentum (ab 1951) voraus. Pius XII. als „Erneuerer der Liturgie der Heiligen Woche“ (16) würdigen H EINZ , Liturgiereform 3-38 (hier v. a. 16-19), sowie M AAS -E WERD , Papst 606-629, und neuerdings P RÉTOT , Réforme 196-217. Alle zwischen 1951 und 1956 von Pius XII. dazu promulgierten Dokumente bietet Hebdomada Sancta I (= HS I S CHMIDT ). 603 OSS 7,1 (ebd. 24). 604 Siehe unten Anm. 607. 605 S.R.C., decr. Liturgicus hebdomadae sanctae Ordo instauratur II,5 (HS I, 222-225 S CHMIDT ). Nur an Kirchen, in denen die Chrisammesse gefeiert wird, darf die Nacht- und Morgenhore vom Hohen Donnerstag bereits am Vorabend stattfinden (ebd.); vgl. OHS 61,1 (ebd. 14). <?page no="114"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 106 dicuntur congruo tempore ergänzt. 606 Die seit 1951 geltende Karsamstagsordnung wird in den Ordo übernommen. Das rituelle Lichtauslöschen wird aus den Rubriken entfernt. 607 Infolge des neuen Zeitansatzes der Hauptgottesdienste 608 (cum earum locum teneant functiones liturgicae principales horum dierum) entfallen die Vespern am Hohen Donnerstag und Karfreitag für diejenigen, die an der Hauptliturgie teilnehmen. 609 Am Karsamstag wird die Vesper zur gewohnten Zeit vollzogen. 610 Die Komplet findet an beiden Tagen in gleicher Weise post functiones liturgicas vespertinas statt und entfällt am Karsamstag. 611 In der Privatrezitation sind his tribus diebus alle kanonischen Horen gemäß den Rubriken zu beten. 612 Volksausgaben wie Die Liturgie der Karwoche lateinisch und deutsch mit Erklärungen im Anschluß an die Meßbücher von Anselm Schott OSB. (Herausgegeben von der Erzabtei Beuron), Ausgabe D (Choralausgabe), Tournai: Desclée, 1957 - „vor allem für die Chorsänger“, aber auch für jene Gläubigen, die an „der Hochform der heiligen Liturgie nach den Weisen des Gregorianischen Chorals teilnehmen“ 613 -, wollen zum Verständnis und würdigen Vollzug der erneuerten Liturgie der Hohen Woche beitragen. Von der nach dem Breviarium Romanum 1568 tradierten Stundenliturgie wird darin freilich nur die Komplet des Klerus am Gründonnerstag 614 und am Karfreitag im Anschluss an die Hauptgottesdienste erwähnt, während jeder auch nur pauschale Hinweis auf die Horen an dem für das Volk ,liturgiefreien‘ Karsamstag fehlt. Immerhin am Gründonnerstag kommt das Offizium als Feierort in Betracht, an dem die Inhalte des Tages (Abendmahl, Fußwaschung, Einsetzung der Eucharistie, Betrauung der Apostel mit dem Priestertum 615 , Verrat, Gefangennahme Jesu sowie Büßeraussöhnung) zur Sprache kommen 616 - wenn auch nur für den Klerus. 1.2.7 Synthese: Das Offizium vom Hohen Donnerstag bis zur Osternacht am Ende des zweiten Jahrtausends Die weitere Tradierung der um die erste Jahrtausendwende kodifizierten Feiergestalt des vorösterlichen Offiziums lässt sich anhand der untersuchten repräsentativen liturgischen Quellen verfolgen. Trotz unterschiedlicher regionaler Herkunft, Datierung und situativer Pragmatik bieten sie hinsichtlich der Kernvollzüge an den letzten Tagen der 606 OHS 61,1 (ebd. 14). 607 Neuer (OHS) und alter (BR) Text im Vergleich (ebd. 14-30). 608 Die Messe am Gründonnerstag soll am Abend zwischen 17 und 20 Uhr stattfinden, die Feier vom Leiden und Sterben Jesu Christi am Karfreitagnachmittag (spätestens um 18 Uhr) und die Paschavigil ab Mitternacht (keinesfalls vor Sonnenuntergang) auf Ostersonntag (S.R.C., decr. Liturgicus II, 7-9 [ebd. 225]). 609 Das gilt für diejenigen, die an der Hauptliturgie teilnehmen (OHS 61,1 [ebd. 14]; andernfalls ist die Hore (an beiden Tagen dieselbe) zu beten (ebd. 19; 23). 610 S.R.C., decr. Liturgicus II, 5 (ebd. 225). 611 Ebd. 612 Ebd. 613 Aus dem Nachwort der genannten Ausgabe. 614 Nach der Entblößung der Altäre „werden die Kerzen gelöscht, und der Klerus betet zum Schluß die Komplet. Wenigstens bis Mitternacht werden […] Anbetungsstunden gehalten“, an denen - anders als am Offizium - das Volk teilnehmen kann und soll (ebd. 97). 615 Liturgisch schlägt sich die theologische Verknüpfung zwischen der Einsetzung der Eucharistie und jener des ordinierten Priestertums erst in der erneuerten nachvatikanischen Ordnung des 20. Jhs. nieder; vgl. M AIER , Feier 191-198. In der Abendmahlsmesse weist Rubrik 5. zur Fußwaschung an, darüber zu predigen: „Die Homilie handelt von den großen Geheimnissen, deren Gedächtnis in der Messe gefeiert wird, von der Einsetzung der Eucharistie und des Priestertums und vom Gebot der Bruderliebe.“ (Messbuch, Kleinausgabe [23]). In die Chrisammesse wurde als neues Element die Renovatio promissionum sacerdotalium eingeführt (Ebd. [16f]). 616 „Die meisten dieser Motive finden in dem liturgischen Drama dieses Tages irgendwann ihren Ausdruck, sei es im Stundengebet, sei es im Rahmen der Abendmahlsfeier.“ (LitKW 56). <?page no="115"?> 1.2 Entwicklung im Hoch- und Spätmittelalter 107 Hohen Woche weiterhin ein sehr einheitliches Bild. Das gilt nahezu uneingeschränkt für die Tage von Gründonnerstag bis Karsamstag. Inszenierung und Durchführung der Feiern zeigen verstärkt bestimmte Tendenzen: Präzisierung und Ritualisierung funktionaler Vollzüge, Verfeinerung, fallweise Dramatisierung der Vortragsweisen und Akkumulation klösterlicher Sonderriten vor und nach den Gottesdiensten. Es gibt Zugeständnisse an die Volksbeteiligung, u. a. durch die pastoral getroffene Auswahl von Lesungen oder die Verbindung mit volkstümlichen Elementen wie Reliquienschau und Generalabsolution. Die integralen Bestandteile des Offiziums sind davon nicht substantiell berührt. Im Mitvollzug der gefeierten Mysterien verändert sich die Weise der Teilnahme von der biblisch-heilsgeschichtlichen Anamnese zu einer zunehmend historisierenden und persönlich-meditativen Betrachtung. Die von offizieller Seite mehrfach veranlassten Reformen - zumeist ein Tribut an die klerikale Lebensform oder an die Erfordernisse der Seelsorge der Mendikantenorden - bringen meist Kürzungen und Erleichterungen mit sich. An den untersuchten Tagen schlägt sich dieser allgemeine Trend lediglich in der Verkürzung der nächtlichen Lesungsperikopen nieder. Eine interessante, wirkungsgeschichtlich aber trotz zeitweise größter Beliebtheit wenig nachhaltig bedeutende Sonderform stellt das so genannte ,Kreuzbrevier‘ des Quignonez dar, das dem sich im 16. Jh. durchsetzenden privaten Einzelvollzug des römischen Offiziums radikal Rechnung trägt. Das aus der Liturgiereform des Konzils von Trient wenige Jahrzehnte später hervorgehende Breviarium Romanum hingegen steht - zumal an den vorösterlichen Tagen - ganz in Kontinuität zur überkommenen Tradition. Auch die späteren Brevierreformen greifen nicht in die Gestalt des Offiziums am Triduum ein. Bis zum Ende des 2. Jahrtausends bestätigen sich also all jene Beobachtungen zur Feier des Offiziums an den drei vorösterlichen Tage, die schon in den ältesten römisch-fränkischen Quellen gemacht werden konnten. Charakteristisch bleiben 1) die reduziert erscheinende (archaische) Feiergestalt des Offiziums: der Entfall oder stille Vollzug integrierender, später auch akkumulierter Elemente; 2) die von Gründonnerstag bis Karsamstag nahezu sakrosankt überlieferten Nacht- und Morgenhoren sowie im Gegenzug der entsprechend geringe Stellenwert der übrigen, teils erst sekundär ausgebildeten Horen; 3) das weder in seiner Herkunft geklärte noch im liturgischen Vollzug gedeutete Lichtauslöschen in der Nacht- und Morgenhore, das dennoch lückenlos tradiert wird. Abgesehen von 4) der Tendenz zur Verkürzung des Lesepensums bleibt das vorösterliche Offizium in seiner bisher skizzierten Gestalt nahezu unverändert bis zur Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils erhalten. Tiefgreifend ist die Wiederherstellung der Tagesstruktur durch den stimmigen Zeitansatz der Hauptgottesdienste und der Tagzeiten (veritas horarum) in der zweiten Hälfte des 20. Jhs. Für das Offizium hat sie den faktischen Entfall der Vesper am Gründonnerstag und Karfreitag zur Folge, was weniger innovativ ist als vielmehr eine Rückkehr zur älteren Praxis darstellt. <?page no="116"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 108 1.3 Das Mysterium der Erlösung in den Texten und Gesängen des Offiziums Dieses Kapitel dient der Darstellung und theologischen Interpretation der konstitutiven und an den vorösterlichen Tagen deutlicher als sonst hervortretenden 617 Feierelemente des Offiziums. Dessen Grundstruktur Psalmodie - Lesung - Gebet folgen die nächsten drei Kapitel: Den Psalmen und vor allem den Antiphonen kommt dabei eine Schlüsselfunktion für das Verstehen des Gefeierten zu (Kapitel 1.3.1): Sie stellen die Feiernden in die Beziehung zum Gott Israels, Jesu Christi und der Kirche und damit in jenen biblisch-heilsgeschichtlichen Horizont, in welchem die Schriftlesungen (und die Vätertexte zur Schrift) gehört und in den Responsorien verarbeitet werden (Kapitel 1.3.2); der Anspruch des Wortes Gottes ruft die existentielle Gebetsantwort der Kirche hervor, die in den Orationen (und anderen Gebetstexten) zum Ausdruck kommt (Kapitel 1.3.3.). 1.3.1 Die Antiphonen als hermeneutischer Schlüssel Die untersuchten Antiphonalien (9./ 10.-13. Jh) geben für das vorösterliche Offizium zu jedem der ausgewählten Psalmen eine Antiphon an. Diese den Psalmen - rahmend oder refrainartig unterbrechend - beigefügten Gesangselemente sind für den Vollzug musikalisch und hermeneutisch essentiell: Mit ihrer Hilfe wird der Psalm nicht nur intoniert, sondern auch interpretiert; selbst für die bloße Rezitation oder stille Lektüre bleibt der Text der Antiphon der inhaltliche Schlüssel zum jeweiligen Psalm. 618 „Das Hauptfeld für das antiphonale Singen war und blieb jedoch stets das Offizium, das gemeinsam in Klöstern oder ähnlichen Gemeinschaften gesungene opus dei. Demnach ist auch die Antiphon in erster Linie im Stundengebet mit seinem ausgedehnten Ps.-Singen beheimatet. … Innerhalb des Offiziums lassen sich drei Arten von Psalmodie und damit auch des antiphonischen Stils unterscheiden. … Diese drei Arten der Offiziumsantiphonie haben gemeinsam, daß der Ps. als Ganzes, Vers für Vers gesungen wird; er blieb die unveränderliche Hauptsache.“ 619 Die Antiphonen im Ferialpsalter sind psalmogen und sehr schlicht. Auch an den Herrenfesten und in den geprägten Zeiten Advent und Quadragesima bleibt der Psalm selbst die Hauptquelle für die teils kunstvoll komponierten Antiphonen; fallweise greift man auch auf andere Schrifttexte zurück, vor allem auf die alttestamentlichen Propheten oder die Tagesevangelien. Dadurch werden die kanonischen Heilstexte beider Testamente mit dem Psalter in Beziehung gebracht und die gefeierten Heilsgeheimnisse ins Licht der gesamten Schrift gestellt. Mit beiden Antiphonentypen haben wir es auch an den drei vorösterlichen Tagen zu tun. 620 617 B AUMSTARK , Gesetz. 618 Diese Funktion wird deshalb auch für den heute immer noch weitgehend privaten Vollzug festgehalten: „Auch wenn das Stundengebet rezitiert wird, hat jeder Psalm seine Antiphon, die auch beim Gebet des einzelnen verwendet wird. Die Antiphonen verdeutlichen die literarische Gattung eines Psalms. Sie machen ihn zum persönlichen Gebet. Sie betonen ein gewichtiges Wort, das sonst der Aufmerksamkeit entgehen könnte. Sie geben einem Psalm bei den verschiedenen Anlässen jeweils ein eigenes Kolorit, und solange ungewöhnliche Ausdeutungen vermieden bleiben, tragen sie viel zum typologischen oder zu einem dem Fest entsprechenden Verständnis bei; sie sind geeignet, den Psalmengesang freudig und abwechslungsreich zu gestalten.“ (Allgemeine Einführung in das Stundengebet 113 [StB I, 68*]). 619 S TÄBLEIN , Antiphon 528f nennt hier die „gewöhnliche“, die „feierlichere“ (für die NT-Cantica in Laudes und Vesper) und eine „eigene, abwechslungsreich ausgestaltete Singweise“ von Ps 94(95) zum Invitatorium. Über die jüngere Forschung informieren N OWACKI , Antiphon 636-660, und H UGLO / H ALMO , Antiphon 735-748. 620 Frei gedichtete Antiphonen gibt es an den untersuchten Tagen nicht; sie sind häufig an Heiligenfesten und jüngeren Ideefesten anzutreffen. <?page no="117"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 109 1.3.1.1 Hoher Donnerstag Die nächtliche Psalmenverteilung sowie die Psalmodie am Morgen und am Tag folgen in allen untersuchten Handschriften beider Cursus dem kurrenten Wochenpsalter des römischen Offiziums. 621 In der monastischen Vigil entspricht das den ersten neun der sonst üblichen zwölf Psalmen. 622 Sämtliche Psalmen und Cantica jedoch erhalten eigens für diesen Tag ausgewählte und ihm vorbehaltene Antiphonen, in denen daher das hermeneutische Proprium der Gründonnerstagspsalmodie zu suchen ist. Sie lenken die christologische Lesart der vertrauten Psalmen in eigener Weise auf das Paschamysterium Christi und führen die ,mit Christus‘ psallierende Kirche in die Dramatik des Ostergeschehens ein. Die Nachthore: Vigil Erste Nokturn d1N1 623 Zelus domus tuae comedit me, et opprobria exprobrantium tibi ceciderunt super me. Der Eifer für dein Haus hat mich verzehrt, und die Schmähungen derer, die dich schmähen, haben mich getroffen. Ps 68(69) eröffnet wie jeden Donnerstag per annum die Reihe der Vigilpsalmen, allerdings am Gründonnerstag mit der eigenen, aber ebenfalls psalmogenen Antiphon Quoniam zelus domus tuae comedit me et obprobria exprobrantium tibi ceciderunt super me (V. 10). Die Antiphon ist in allen Quellen des CAO dem Offizium dieses Tages vorbehalten. 624 Ihr erster Textabschnitt Quoniam zelus domus tuae comedit me findet sich allerdings auch als Repetenda des Vigilresponsoriums Deus Israel 625 am Palmsonntag 626 , Dienstag 627 oder Mittwoch der Hohen Woche. 628 Der Beter von Ps 68(69) befindet sich in höchster Not: Durch sein unbeirrbares Festhalten an JHWH hat er sich den Hass derer zugezogen, die Gott durch Missachtung lästern. Seine Treue hat ihm Spott, Verachtung und Schande gebracht und ihn zum Opfer von Unrecht und Gewalt werden lassen. Komplex und dramatisch ist das Verhältnis des Beters zu JHWH, da „letztlich Gott selbst die Ursache seiner gesellschaftlichen Ächtung ist.“ 629 In den drei Folgepsalmen inklusive Ps 71(72) nimmt das Motiv des „Armen“, der um Hilfe schreit, an Dringlichkeit zu. 630 Bereits auf kanonischer Ebene wird der Beter von Ps 68(69) mit Jesus identifiziert und der Psalm in zahlreichen Anspielungen oder direkten Zitaten als Prophetie seines 621 Diese Beobachtung setzt sich auch für die anderen Horen fort. An den untersuchten Tagen hat die römische Offiziumsordnung die monastische Tradition samt der ihr eigenen Psalmenverteilung überformt. 622 Die letzten drei Psalmen Pss 77 (78)-79 (80) entfallen. Abgesehen von der im liturgischen Jahr einzigartigen strukturellen Übereinstimmung zwischen römischer und monastischer Tradition (vgl. H ALMO , Antiphons 33), kann die Feiergestalt der Nokturnen am Hohen Donnerstag als eine bewusste Angleichung an die beiden folgenden Tage, die der kürzeren römischen Ordnung folgen, gesehen werden (ebd. 32f; 132-135). 623 CAO III, 550 Nr. 5516 § 72. 624 CAO I, 166f; CAO II, 302f § 72. 625 CAO IV, 109 Nr. 6425. 626 Ebd. § 68 (C, V, H, R, D, F). 627 Ebd. § 70 (G, E). 628 Ebd. § 71 (B, R). 629 H OSSFELD / Z ENGER , Psalmen II, 263; vgl. Z ENGER , AT 1115. 630 Nach H OSSFELD / Z ENGER , Psalmen II, 280. <?page no="118"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 110 Leidens aufgefasst, das nicht erst mit der Passion beginnt. 631 Ein früher Vorschein der „Entfremdung von den eigenen Brüdern“ (V. 9) ist in der Reaktion der Angehörigen Jesu auf seine Predigt und die Aufsehen erregenden Dämonenaustreibungen erkennbar: „Er ist von Sinnen“ sagen sie und wollen ihn „mit Gewalt“ zurückholen (Mk 3,21); denn „auch seine Brüder glaubten nämlich nicht an ihn“ (Joh 7,5). „Die Welt“ wiederum hat durch ihre Feindschaft das Psalmwort wahr gemacht: „Ohne Grund haben sie mich gehasst.“ (V. 5 in Joh 15,25). Und am Kreuz erfüllt sich schließlich V. 22 „Sie gaben mir Gift zu essen, für den Durst reichten sie mir Essig.“ (Mt 27,34.48; Mk 15,23.36; Lk 23,36; Joh 19,28). Der christologisch verstandene Ps 68(69) dient in den neutestamentlichen Schriften aber auch als düstere Prophetie über Israel: Dem „verstockten“ Volk, das seinen Messias nicht erkennen wollte, werde „der Opfertisch … zur Falle, das Opfermahl zum Fangnetz“ (V. 24 in Röm 11,9); sowie als Fluch über Judas, der zum Verräter geworden war: „Sein Gehöft soll veröden, niemand soll darin wohnen! “ (V. 26 in Apg 1,20); umgekehrt verheißt er den Standhaften: Sieger sind und werden niemals „aus dem Buch des Lebens getilgt“, die sich zu Christus bekannt und „für das Evangelium gekämpft haben“ (V. 29a in Phil 4,3 und Offb 3,2). Der außergewöhnliche Text der ersten Antiphon des Tages führt eine Schlüsselszene johanneischer Christologie vor Augen. Bereits am Anfang des öffentlichen Wirkens Jesu steht dort jener Konflikt, der sich später tödlich zuspitzt: Die Vertreibung der Geldwechsler und Händler aus dem Tempel (Joh 2,13-17 parr). Jesu heftiges Durchgreifen gegen die religiösen Geschäftemacher und Nutznießer institutionalisierter Frömmigkeit verbindet sich in der Erinnerung der Jünger mit Ps 68(69),10a Recordati vero sunt discipuli eius quia scriptum est zelus domus tuae comedit me (in Joh 2,17). Der zweite, im Evangelium nicht mehr zitierte, aber mitzuhörende Halbvers 10b et obprobria exprobrantium tibi ceciderunt super me lässt die kommende Eskalation ahnen. Auf die empörte Nachfrage der Juden aber, wodurch Jesus sein unerhörtes Tun im Tempel legitimiere, antwortet dieser mit dem prophetischen Wort vom Niederreißen und Wiederaufrichten des Tempels seines Leibes. Auch daran würden sich die Jünger später erinnern (Joh 2,18-22). Jesu entschiedene Hingabe an Gott sollen sich auch die ChristInnen in der Gemeinde Roms zum Vorbild nehmen und im Umgang miteinander wie er das Unvermögen der Schwächeren mittragen. Paulus unterstreicht seine Forderung mit V. 10b Etenim Christus non sibi placuit sed sicut scriptum est inproperia inproperantium tibi ceciderunt super me (in Röm 15,3). Auf Basis der kanonischen Rezeption von Ps 68(69) legen patristische Autoren diesen Psalm detailliert Vers für Vers aus: bis inklusive V. 22 als Vorausbild der Passion; die V. 23-29 tendenziell gegen das jüdische Volk und als Prophetie des zerstörten Tempels; die V. 30-37 als Verheißung der Auferstehung, der Kirche und des himmlischen Jerusalem. 632 In V. 10 spricht der Sohn in heiligem Zorn, da der geliebte Vater geschmäht wird. Durch seine Parteinahme für Gott zieht Jesus die aggressive Reaktion derer auf sich, die er als Verächter und Feinde Gottes aufgedeckt hat, obwohl gerade sie dem religiösen Establishment angehören. Ihre Verleumdung, Jesus sei von einem Dämon, einem 631 Von den Klagepsalmen wird nur Ps 21(22) häufiger im Neuen Testament zitiert; ebd. 281; vgl. N ESMY , Tradition 335-336. 632 Nach N ESMY , Tradition 337-357. <?page no="119"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 111 unreinen Geist, von Beelzebul „besessen“ (Mk 3,30), er rede „im Wahn“ (Joh 1,20) und „treibe die Dämonen mit Hilfe des Anführers der Dämonen aus“ (Mk 3,22 parr) steht am Anfang, die Verurteilung und Hinrichtung des „Gotteslästerers“ (Mt 26,65) am Kreuz am Ende; dem Hohn der Leute und ihrer Anführer schließt sich selbst der mitgekreuzigte Verbrecher an (Mt 27,44; Lk 23,35). 633 Die liturgische Verwendung von Ps 68(69) konzentriert sich auf die Hohe Woche von Palmsonntag bis Gründonnerstag, 634 was diesen Text in besonderer Weise zu einer Deutefolie des ganzen Paschamysteriums - Leid, Tod und Rettung - macht. 635 Ps 68(69) in der Nachthore des Gründonnerstags zu rezitieren ist angesichts des Tagespsalters nicht ungewöhnlich. Die Wahl von V. 10 als erster Antiphon an diesem Tag aber richtet die Aufmerksamkeit auf den Psalmbeter Christus und das Heilsereignis seines Leidens, Sterbens und seiner Auferweckung in Jerusalem. d1N2 636 Avertantur retrorsum et erubescant, qui cogitant mihi mala. Beschämt sollen sich alle abwenden und erröten, die Böses gegen mich planen. Ps 69(70) führt die kanonische Psalmenreihe der wöchentlichen Donnerstagsvigil weiter. Als Antiphon wird der daraus stammende V. 4a nur am Gründonnerstag verwendet, 637 und zwar in der Textfassung des römischen Psalters, der dort vollständig lautet Avertantur retrorsum et erubescant qui cogitant mihi mala avertantur statim erubescentes qui dicunt mihi euge euge. 638 Ps 69(70),2f.4a bilden außerdem den Introitus Deus in adiutorium am Donnerstag der 2. Woche der Quadragesima und am 12. Sonntag nach Pfingsten. 639 Ps 69(70) ist - wie sein Vorgänger - ein dringender, impulsiver Hilferuf an Gott: 640 Die Zeit drängt, denn die Not ist groß, die die Feinde dem Beter bereiten. Die V. 2 und 6 bilden nicht nur den Rahmen, sondern den eigentlichen Inhalt des Gebetes: die inständige Anrufung Gottes, zu helfen, und zwar eilig! V. 5 ist Ausdruck der Hoffnung, dass der Beter und mit ihm alle, „die dich suchen“, ihr Vertrauen nicht vergeblich auf Gott setzen. V. 3f konkretisiert die Rettung in Form von Wünschen gegen die Feinde: „Die sich bereits als die großen Sieger feierten, sollen entehrt und voll Schande das ,Kampffeld‘ räumen.“ 641 Das Neue Testament bezieht sich an keiner Stelle ausdrücklich auf Psalm 69(70), doch scheint V. 3f jene Szene zu illustrieren, in der die Soldaten und Gerichtsdiener ihren Auftrag, Jesus zu verhaften, erst gar nicht ausführen können, sondern „als er zu ihnen sagte: Ich bin es! , wichen sie zurück und stürzten zu Boden“ (Joh 18,6). Im feindseligen „Recht geschieht dir! “ (Euge Euge! , hebr. Ha, ha! ) hallen die Zurufe derer wider, die Christus noch am Kreuz verhöhnen (Mt 27,42f). 633 Hilarius, ebd. 338. 634 In späterer Zeit findet Ps 68(69) Eingang in einige, Einzelaspekten des Leidens Christi gewidmete, Ideenfeste des 14.-19. Jhs; nach M ARBACH , Carmina 153-156. 635 Vgl. H OSSFELD / Z ENGER , Psalmen II, 281. 636 CAO III, 65 Nr. 1547 § 72. 637 CAO I, 166f; CAO II, 302f § 72. 638 W EBER , Psautier 160. Vulgata: Avertantur retrorsum et erubescant qui volunt mihi mala. 639 AMS 231 § 50a; § 184. 640 Vgl. Ps 39(40),13-18, eine mutmaßlich jüngere redaktionelle Bearbeitung desselben Textes; nach H OSSFELD / Z ENGER , Psalmen II, 283. 641 Z ENGER , AT 1117. <?page no="120"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 112 In der Auslegung zahlreicher Kirchenväter spricht in Ps 69(70) Christus in seiner Entäußerung, „arm und gebeugt“ (V. 6) um des Menschengeschlechtes willen: 642 „Er, der reich war, wurde euretwegen arm“ (2 Kor 8,9). 643 Die Feinde aber, die schon ihren Triumphgesang euge euge angestimmt haben, müssen erkennen, dass dieser von Menschen Gerichtete lebt und als Richter der Menschen wiederkommen wird. 644 Denselben Psalm beten die Märtyrer in Gemeinschaft mit ihrem Herrn und davon überzeugt, dass Gott ihre Mühen ansehen wird, vielleicht auch in der Hoffnung, dass sich Scham und Erschrecken der Henker, so sie zur Furcht Gottes führen, in Einsicht und Bekehrung wandeln. 645 Vertrauensvoll mit Christus beten schließlich alle in Ängsten, Traurigkeiten und Kämpfen geprüften Menschen 646 , Gott möge sich nicht von ihnen zurückziehen. Um die conditio humana wissend sowie unter dem Einfluss des Johannes Cassian ordnet der heilige Benedikt deshalb in seiner Regel an, das Chorgebet mit dem Ruf Deus, in adiutorium meum intende, Domine, ad adiuvandum me festina! (Ps 69[70],2) zu eröffnen. 647 Derselbe Vers steht in der römischen Liturgie am Anfang aller Tagzeiten des Offiziums (außer der ersten): Mehrmals täglich, Tag für Tag, erbittet die Kirche nicht nur in den Beschwernissen des Lebens, sondern auch für den Dienst des liturgischen Gotteslobs den „eiligen“ Beistand Gottes. Außer am Gründonnerstag greift die römische Tradition v. a. im Osterfestkreis auf Ps 69(70) oder einzelne Verse aus diesem Psalm zurück: V. 3 erklingt im Responsorium Noli esse am Palmsonntag, 648 sowie in den Messgesängen der Quadragesima: in der Woche nach dem 2. Sonntag die V. 2-4 im Introitus Deus in adiutorium (der auch am 12. Sonntag nach Pfingsten gesungen wird 649 ) und die V. 7.3 im Graduale Adiutor meus; schließlich in der 4. Woche der österlichen 40-Tage-Zeit wiederum V. 2-4 im Offertorium Domine, ad adiuvandum. 650 Ps 68(69),10 hatte die Auseinandersetzung Jesu mit der religiösen Führerschaft im Tempel vergegenwärtigt. Sein Vorwurf, sie hätten aus dem Tempel eine Räuberhöhle gemacht, provozierte Hass: „Die Hohenpriester und die Schriftgelehrten hörten davon und suchten nach einer Möglichkeit, ihn umzubringen.“ (Mk 11,17f). Darin gleichen sie den Feinden aus Ps 69(70), Jesus aber dem Gerechten, gegen den sie „Böses planen“ (V. 4) und dem sie „nach dem Leben trachten“ (V. 3). Als vox Christi gehört, gewinnt der Vergeltungswunsch des Psalmbeters an prophetischer Schärfe. 642 Cyrill von Alexandrien, Athanasius, Hilarius, Hieronymus u. a.; nach N ESMY , Tradition 358. 643 Ausdrücklich auf diesen Vers beziehen sich u. a. Eusebius und Hilarius, ebd. 644 Hieronymus, ebd. 645 Cassiodor, ebd. 646 Augustinus, ebd. 647 RB 18,1 (102f S TEIDLE ); „Dieses Gebetswort, das Benedikt liebte, ist also zu Beginn jeder Gebetszeit eine Epiklese des Heiligen Geistes über die betende Gemeinschaft und über jeden einzelnen.“ (H OLZHERR , Benediktsregel 160); da Benedikt die Arbeit für die Gemeinschaft ebenfalls als Hingabe an Gott versteht, sieht er auch für die Übernahme des wöchentlichen Küchendienstes die dreimalige Anrufung Gottes um Hilfe vor (RB 35,17 [124f S TEIDLE ]). 648 Dieses ist in allen Quellen des römischen und monastischen Cursus belegt: CAO IV, 304 Nr.7219 § 68; in B und R auch am Folgetag, ebd. § 69. 649 AMS 184f § 184. 650 Ebd. 64f § 50a; ebd. 62f § 47; ebd. 78f § 64. <?page no="121"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 113 d1N3 651 Deus meus, eripe me de manu peccatoris. Mein Gott, entreiss mich der Hand des Frevlers. Es folgt der übliche Ps 70(71) mit einer eigenen Antiphon, der ersten Hälfte von V. 4 Deus meus eripe me de manu peccatoris de manu contra legem agentis et iniqui. Die Bitte der ausschließlich am Hohen Donnerstag verwendeten Antiphon 652 wiederholt sich im Versikel der 2. Nokturn des Tages 653 und gehört in allen Quellen des CAO außer M zum Responsorium Deus meus eripe 654 am Montag nach dem Passionssonntag. 655 Ps 70(71) schließt nicht nur in der kanonischen Zählung, sondern auch inhaltlich an seinen Vorgänger an. Er spielt dessen Themen erneut zweifach durch (V. 1-13; 14- 24), wobei sich die Bitte um das Scheitern der Feinde (confundantur et deficiant V. 13) im Vorgriff auf ihr Ende als Gescheiterte (confusi et reveriti fuerint V. 24) zuspitzt. Obwohl der Psalmbeter hier gewissermaßen Rückblick auf sein Leben hält, 656 gibt es doch Parallelen zu den großen Leid- und Klagepsalmen, welche die Kirche als Prophetien der Passion Christi verstanden hat. 657 Der Menschensohn wird in die „Hand der Sünder und Gesetzesübertreter“ fallen und „den Sündern ausgeliefert werden“ (Mk 14,41; vgl. V. 4). Obwohl er das redet, was er von seinem Vater gehört hat, der für die Wahrheit bürgt (vgl. Joh 8,26; vgl. V. 17), werden sie beschließen, „Jesus mit List in ihre Gewalt zu bringen und ihn zu töten (Mt 26,4; 27,1; vgl. V. 10c), denn „sie nahmen Anstoß an ihm und lehnten ihn ab“ (Mt 13,57; vgl. V. 7). Am Ende werden nicht nur sie, sondern sogar er selbst aufschreien, von Gott verlassen zu sein (vgl. Mt 27,46.49; vgl. V. 11a). Und doch: Obwohl er „in seiner Schwachheit gekreuzigt“ wurde (2 Kor 13,4), erweist sich in ihr seine Kraft (vgl. 2 Kor 12,9; vgl. V. 9b). Die Schriften des Neuen Testaments spielen auch über den engeren Bezug zur Passion hinausgehend immer wieder auf Ps 70(71) an. Aus seinem christologischen Verständnis ergeben sich Konsequenzen für das Selbstverständnis der Gläubigen. Die in Christus geoffenbarte Gerechtigkeit Gottes (Röm 3,21) und seine Größe (Lk 1,49) ist dieselbe, die auch der Psalmbeter durchgehend bezeugt (V. 2.15.18.19.24): Sie muss weder „vom Himmel herunternoch aus der Tiefe heraufgeholt“ werden, sondern sie ist dem Menschen nahe, der „Christus mit dem Mund bekennt und mit dem Herzen glaubt“ (Röm 10,6-9; vgl. V. 20). Dieser darf mit Paulus hoffen, „in keiner Hinsicht beschämt zu werden“ und „bei seinem Kommen nicht zu unserer Schande von ihm gerichtet“ zu werden (Phil 1,20; 1 Joh 2,28; vgl. V. 1). Vorläufig aber ist die Erfahrung des Apostels dieselbe wie des „gezeichneten“ Psalmbeters (V. 7): Zwar sind wir „zum Schauspiel geworden für die Welt, für Engel und Menschen“ (1 Kor 4,9), doch „Gott, der die Niedergeschlagenen aufrichtet, hat auch uns aufgerichtet“ (2 Kor 7,6; vgl. V. 21b). 651 CAO III, 14 Nr. 2174 § 72. 652 CAO I, 166f; CAO II, 302f § 72. 653 CAO I, 443; ebd. 166-169; CAO II, 304f § 72. 654 CAO IV 109 Nr 6427 § 66. 655 CAO I, 437; ebd. 156f; CAO II, 282f § 66. 656 „Von der Psalmbuchredaktion … ist dieser Psalm dem altgewordenen David zugeschrieben worden.“ (Z ENGER , AT 1118). 657 Es sind das die Psalmen 21(22), 30(31), 34 (35) sowie Ps 68(69), der am Gründonnerstag die Psalmodie eröffnet. <?page no="122"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 114 Patristische Auslegungen stellen einerseits fest, „c’est le Christ, qui parle“, 658 und „le psaume 70(71) est une claire prophétie sur le Mystère du Christ.“ 659 Mit ihm singen freilich auch die Apostel diesen Psalm, die Gott danken und Opfer des Lobes darzubringen geloben. 660 Christi eigentlicher Feind und Widersacher aber, der hier zu triumphieren scheint, ist Satan (V. 4). Unter seiner Herrschaft steht als Gefangener der Sünde der Mensch; mit Christus an seiner Seite fleht er um Rettung. An prominenter Stelle stehen in der römischen Liturgie außer V. 4 als Offiziumsantiphon und Versikel am Gründonnerstag nur noch der im Te Deum rezipierte V. 1 In te, Domine speravi, non confundar in aeternum. 661 Nicht passionstypologisch, sondern im Vorgriff auf das himmlische Hochzeitsmahl eucharistisch verwendet der byzantinische Ritus Ps 71 (70),8. 662 Am Morgen des Gründonnerstags führt nicht nur Ps 70(71) die Klage des vorausgehenden Psalms weiter; die Antiphonen beider Psalmen zeigen, wie sich die Lage und Stimmung des Beters verändern: der Zorn über die frevlerischen Feinde hat dem Flehen um Rettung vor dem „Sünder“ Platz gemacht: Deus meus eripe me de manu peccatoris - ein halber Vers, fast ohne Kraft, die eigene Rechtfertigung oder gar Vergeltung zu fordern. Die Vigilpsalmodie am Gründonnerstag folgt dem Wochenschema, wobei der eröffnende Ps 68(69) überaus geeignet ist, das sich anbahnende Heilsdrama zu illustrieren. In der Perspektive ihrer speziellen Antiphonen zeichnen die Psalmen der 1. Nokturn das Stimmungsbild einer Provokation: Die ungewöhnliche Glaubenstreue des Psalmisten löst bei seinen Mitmenschen Irritation, Ärger, schließlich Hass aus. Seinen leidenschaftlichen Einsatz („Eifer“) für Gott quittieren die Gottlosen mit Verachtung und unverhohlener Aggression; aber auch die Nahestehenden, die eigenen Angehörigen, lehnen die Radikalität seiner Hingabe ab. Am Psalmbeter Jesus profiliert sich die Todfeindschaft derer, denen das religiöse Leben Israels institutionell anvertraut ist: An seinem Anspruch gemessen erscheinen sie schuldig, und er gefährdet ihre Macht und ihre Interessen. Die Methode zur Beseitigung des Kontrahenten ist alt: Rufmord und Mord. Zweite Nokturn d2N1 663 Liberavit a Dominus pauperem a b potente c , et inopem cui non erat adiutor. a - F: Liberabit b - V: ad c - S, L: potentem Befreit hat der Herr den Armen vom Mächtigen und den Hilflosen, der keinen Beistand hatte. Die Psalmenreihe setzt sich in der 2. Nokturn, der kanonischen Ordnung folgend, mit Ps 71(72) fort. Die durchwegs und ausschließlich am Hohen Donnerstag belegte An- 658 Origenes; nach N ESMY , Tradition 361. 659 Gregor von Nyssa, ebd. 362. 660 Athanasius, ebd. 361. 661 Der Vers steht wortgleich in den Pss 30(31),2 und 70(71),1. 662 Der Gesang nach der Kommunion beginnt mit den Worten „Mein Mund ist erfüllt von deinem Lob“ (V. 8); nach R OSE , Psaumes 184. 663 CAO III, 318 Nr. 3624 § 72. <?page no="123"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 115 tiphon 664 gibt nicht den Wortlaut des römischen Psalters wieder Quia liberavit pauperem a potente et inopem cui non erat adiutor (V. 12). 665 Der die Reihe der vorausgehenden Psalmen motivlich und semantisch resümierende Text 666 richtet sich nur in seinem ersten Vers direkt an JHWH mit der Bitte um die Einsetzung eines Königs, dessen „gerechtes Walten“ allen Völkern für immer zum Segen werde. Der restliche Psalm beschreibt diesen Herrscher und sein segensreiches Wirken. Ps 71(72) ist ein in der kirchlichen Tradition stark christologisch gefärbter Psalm. Schon die neutestamentlichen Schriften und in der Folge die Kirchenväter identifizieren in zahlreichen Anspielungen den darin beschriebenen Königssohn mit Christus Jesus, dem Erlöser und endzeitlichen Herrscher. „Der Herr … hat mich gesandt, damit ich den Armen die Frohbotschaft verkünde (Jes 61,1f): Jesus, der diesen Jesaja-Text mit seinem Kommen als erfüllt proklamiert (Lk 4,18), ist der messianische Regent und Richter, von dem V. 12 sagt „Denn er rettet den Gebeugten, der um Hilfe schreit, den Armen und den, der keinen Helfer hat“ - also den Gläubigen 667 wie auch den Heiden 668 und den Menschen überhaupt 669 . Damit übertreffe er selbst David, von dem hier ursprünglich die Rede gewesen sein mag. 670 Der Mächtige aber, von dem der Arme für immer befreit wird 671 - liberavit a potente (V. 12) -, sei der Widersacher, nämlich der Teufel. 672 Im Kirchenjahr begegnet Ps 71(72) öfter im Weihnachtsfestkreis. Außer im Advent und in der Christnacht prägt er insbesondere die Mess- und Offiziumspsalmodie von Epiphanie. 673 Die Verwendung von Ps 71(72) im Kontext der Huldigung durch die reges tharsis bedeutet: Der in Niedrigkeit Geborene ist der wahre und universale König - vor allem für die Armen. Antiphon und Psalm am Gründonnerstag weisen darauf hin, dass dieser König(ssohn) den Weg der Entäußerung von der Krippe bis zum Kreuz geht. Er ist den Menschen, die JHWH zusammen mit ihm retten wird, „in allem gleich“ geworden (Hebr 2,17). Deutlicher als an einem gewöhnlichen Donnerstag leitet Ps 71(72) mit seiner Antiphon dazu an, im „Gebeugten, Armen, Schwachen und Hilflosen“ (vgl. V. 12f) denselben Christus zu erkennen, den der Vater als „Königssohn“ - beglaubigt und „über alle erhöht“ (Phil 2,9) - in „sein Richteramt“ (V. 1) eingesetzt hat. Denn „sein Blut ist in seinen Augen kostbar“ (V. 14): In dieser Hingabe hat er das Menschengeschlecht erlöst und ist zum „Segen für alle“ geworden (vgl. V. 17). 664 CAO I 166f; CAO II 302f § 72. 665 W EBER , Psautier 166. Vulgata: Quia liberavit pauperem a potente et pauperem cui non erat adiutor. 666 Er ist zugleich Abschluss der Teilkomposition Ps 68(69)-71(72) und des zweiten Davidspalters Ps 50(51)-71(72); nach H OSSFELD / Z ENGER , Psalmen II, 328. 667 Augustinus; nach N ESMY , Tradition 376. 668 Cyrill von Alexandrien, ebd. 669 Theodoret, ebd. 670 Justin und Origenes u. a., ebd., 371. 671 Der „Mächtige“ wird in der Einheitsübersetzung verschwiegen: „Denn er rettet den Gebeugten, der um Hilfe schreit, den Armen und den, der keinen Helfer hat.“ (V. 12). 672 Mit Bezugnahme auf „den Starken“ in Mt 12,29; Lk 11,22 u. a. Cyrill von Alexandrien, Athanasius, Theodoret, Augustinus, Cassiodor, ebd. 376. 673 Hier steht V. 10 Reges Tharsis im Zentrum; CAO III, 439 Nr. 4594 § 24; CAO IV, 379 Nr. 7522 § 24f und ebd. Nr. 7523 § 23f; AMS 247 § 18. <?page no="124"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 116 Im Feierverlauf eröffnet sich dem christlichen Beter mit dieser Antiphon eine doppelte Perspektive: Einerseits erkennt er im „Armen“ genauso wie im „Königssohn“ Christus; mehr noch findet er sich selbst (und alle Menschen) im „Armen“ wieder, dem der „Königssohn“ gleich wurde, um ihn zu erlösen. Andererseits bricht nun, nachdem es in der 1. Nokturn nach und nach immer enger um den verfolgten Gerechten geworden war, erstmals Hoffnung, ja Heilsgewissheit durch: Gott, der als Retter angerufen wurde, hat den Armen, hat seinen Christus und das Menschengeschlecht, befreit (liberavit); er wird befreien (liberabit) im Codex F, dem möglicherweise eine Lesart des Mozarabischen oder des Mailänder Psalters zugrundeliegt. 674 Ob perfektivisch oder futurisch, die biblisch begründete Erfahrung bleibt dieselbe: JHWH, der seinem Namen treu bleibt, hat gehandelt und wird handeln. d2N2 675 Cogitaverunt impii et locuti sunt nequitiam a , iniquitatem in excelso locuti sunt. a - V: nequitia; L: nequitias Schändliches haben die Gottlosen im Sinn gehabt und gesprochen; von oben herab haben sie Frevel geredet. Die Psalmenreihe setzt sich fort mit Ps 72(73) und der diesem Psalm vorbehaltenen psalmogenen Antiphon Cogitaverunt et locuti sunt nequitiam; iniquitatem in excelso locuti sunt (V. 8) 676 im Wortlaut des römischen Psalters 677 . Die Antiphon ergänzt durch die Einfügung von impii die hier angeklagten Subjekte des Handelns, nämlich jene hochmütigen Sünder (vgl. V. 3), die sich in Frevel und Gottlosigkeit hüllen (V. 6). 678 Psalm 72(73) steht am Eingang zum dritten Psalmenbuch 679 und schildert, wie das Bekenntnis des Gläubigen zu JHWH angesichts der gesellschaftlichen Realität auf eine harte Probe gestellt wird. Fehlt es denen, die leben, als gäbe es Gott nicht, denn an irgendetwas? Viel öfter ist das Gegenteil der Fall. Die Anmaßung der Gewaltmenschen, denen ihr übles Tun auch noch Wohlstand und gesellschaftliche Macht verschafft, tritt in Ps 72(73) noch deutlicher als zuletzt hervor. Erst der gerechte „Königssohn“ in Ps 71(72) wird ihnen für immer ein Ende bereiten. Das herrschende Unrecht ruft nun erneut den Zorn des Psalmisten hervor (V. 3); zugleich wird es ihm zur Versuchung: Warum soll er es den erfolgreichen Prahlern nicht gleichtun (V. 2.15)? Doch in Vergegenwärtigung der Heilsgeschichte Israels ringt er sich zur Treue durch: Sein Gott ist gerecht; wer ihn sucht, findet das Glück, während die Treulosen zugrunde gehen. Dieses Bekenntnis verkündet der Beter vor anderen und für andere; es richtet nicht nur ihn selbst, sondern auch seine Zuhörer auf. 680 Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung sind auch jene Stellen in den neutestamentlichen Schriften zu verstehen, die - ohne Ps 71(72) wörtlich zu zitieren - vom Zorn Gottes gegen die „Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen, die die Wahrheit durch Ungerechtigkeit niederhalten“ (Röm 1,18; vgl. V. 6) oder vom Lernen durch Leiden sprechen (vgl. Heb 12,5; Offb 3,19; vgl. V. 14); ebenso von der retten- 674 Beide überliefern liberabit; W EBER , Psautier 166. 675 CAO III, 102 Nr. 1844 § 72. 676 CAO I 166f; CAO II 304f § 72. 677 W EBER , Psautier 169. Vulgata: In nequitia iniquitatem in excelso locuti sunt. 678 Sie werden in den lateinischen Psalterien peccatores, iniqui oder iniusti genannt (v. 3); W EBER , Psautier 169. Vulgata: quia zelavi super iniquis pacem peccatorum videns … operti sunt iniquitate et impietate sua (V. 3.6b) 679 Pss 72(73)-88 (89). 680 Nach H OSSFELD / Z ENGER , Psalmen II, 334. <?page no="125"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 117 den Nähe Gottes und der innigen Bindung an Christus (vgl. Jak 4,8; 1 Kor 6,17; vgl. V. 28). Auf merkwürdige Art klingt V. 13 in der matthäischen Passionserzählung an: Angesichts der herrschenden Ungerechtigkeit stellt der Beter zweifelnd fest, er habe „umsonst“ sein Herz reingehalten und seine Hände in Unschuld gewaschen - dieselbe Geste, durch die Pilatus, der Jesus wider besseres Wissen in den Tod schickt (Mt 27,24), sich von diesem Urteil reinwaschen will, und die sprichwörtlich für emphatische Selbstenschuldigungen wurde. Welcher christliche Psalmbeter könnte - nach dem Fehlurteil des Pilatus, dem Verrat des Judas, der Verleugnung durch Petrus und der Flucht der Apostel - von sich sagen et lavi inter innocentes manus meas? Die Kirchenväter legen Psalm 72(73) ausführlich Vers für Vers aus. Die üble Haltung der Frevler in V. 8 beurteilen sie als keineswegs nur gegen die Mitmenschen gerichtetes Unrecht, sondern als „Blasphemie“: 681 Nicht heimlich, sondern ohne Scham und offen planen und begehen sie Böses, als hätten sie das Gericht Gottes nicht zu fürchten. Ps 72(73),1-3.24 erklingt im Graduale Tenuisti bereits am Palmsonntag, 682 dem Tag des freudig akklamierten Einzugs Jesu in Jerusalem et cum gloria suscepisti me (V. 24). Freilich bewahrheiten sich diese Worte nicht im Jubelruf des Volkes, der sich rasch in Ablehnung verkehrt. Dementsprechend realistisch fällt das Urteil des Psalmisten aus: Wo die Prahler das große Wort führen, ihr „Maul aufreißen und ihrer Zunge freien Lauf lassen“ (vgl. V. 9), „wendet sich das Volk ihnen zu und schlürft ihre Worte in vollen Zügen“ (V. 10). Doch wird der Vater derjenige sein, der den Sohn „in Ehren“ (V. 24) aufnimmt, wenn er „von der Erde erhöht“ und „verherrlicht“ ist (Joh 12,32; 17,1). d2N3 683 Exsurge, Domine, et iudica causam meam a . a - M, V, F, L: tuam Erhebe dich, Herr, und führe meine Sache. Lästerung und Gericht bleiben auch im darauffolgenden Ps 73(74) wichtige Stichworte, dessen erster Halbvers 22a als Antiphon nur für diesen Tag gewählt wurde. 684 Domine schreiben die Repräsentanten des alten gallischen Psalters 685 ; meam findet sich im Psalter von Verona. 686 Die Vulgata übersetzt exsurge Deus iudica causam tuam 687 memor esto inproperiorum tuorum eorum qui ab insipiente sunt tota die. V. 22 begegnet außerdem in allen Codices als 3. Laudesantiphon am Palmsonntag 688 und ist als Vers im Graduale Respice Domine in der Quadragesima breit belegt. 689 Zunächst schildert Ps 73(74),3-8 die Auswüchse des frevlerischen Tuns der Gottfeinde, die „sagen in ihrem Herzen: Wir zerstören alles“ (V. 8a) - und das auch getan haben. Damit sie nicht das letzte Wort haben, mögen sich Gottes Schöpfungsmacht und Heilswille (V. 2.12-17) nun erneut erweisen: Der Beter ruft sie seinem Gott eben- 681 Eusebius, Athanasius u. a.; N ESMY , Tradition 385. 682 AMS 238 § 73a; ferner an den Sonntagen der Quadragesima; ebd. § 40a. 683 CAO III, 221 Nr. 2823 § 72. 684 CAO I, 166f; CAO II, 304f § 72. 685 Psalter von St. Germain und Corbie; W EBER , Psautier 176f. 686 Ebd. 687 Vgl. Codices M, V, F und L. Tuam kennen auch Origenes und Theodoret, die betonen, dass allein Gott Unrecht geschehe, wohingegen der Mensch, selbst der Fromme, nicht unverdient leide; nach N ESMY , Tradition 404. 688 CAO III, 306 Nr. 3515; CAO I, 162f; CAO II, 292f § 68. 689 AMS 238 § 46; ferner am 13. und 14. Sonntag nach Pfingsten; ebd. § 185b und § 186. <?page no="126"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 118 so dringend in Erinnerung (V. 10-23) wie auch die unaufhörliche Schmähung seines göttlichen Namens (V. 10.18.22f). Das Weisheitslied will aus der geschichtlichen Erfahrung Israels eine „,Lehre für Gegenwart und Zukunft“ ziehen. 690 In diesem Psalm steht der Gemeinde Gottes, „die du vorzeiten erworben“, dem „Stamm dir zu eigen erkauft“ (V. 2) die babylonische Besatzung gegenüber, in ihrem Treiben ein törichtes „Volk ohne Einsicht“ (V. 18), das zu triumphieren scheint, wenn JHWH nicht um seines Namens Willen und zur Rettung des Armen eingreift. 691 Israel hat diesen Psalm gegen Babylon und die fremden Völker gesungen; der jungen Kirche erschienen die Rollen vertauscht: Der Römerbrief greift zwar die im Psalm eingangs gestellte Frage, warum und ob Gott denn sein Volk für immer verstoßen habe (V. 1), auf und verneint sie dezidiert: „Keineswegs! “ (Röm 11,1); „Aber der ganze Zorn ist schon über sie 692 gekommen“, denn „diese haben sogar Jesus, den Herrn, und die Propheten getötet … und hindern uns daran, den Heiden das Evangelium zu verkünden und ihnen so das Heil zu bringen.“ (1 Thess 2,15f); „die Herde … durch das Blut seines eigenen Sohnes erworben“ sei nun die Kirche (Apg 20,28; vgl. V. 2). „Zum Berg Zion hingetreten, zur Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem …“ ist derjenige, der an Christus glaubt (Hebr 12,22; vgl. V. 2); das irdische Heiligtum, der Tempel, aber ist zerstört (vgl. V. 7; Mt 24,2; Lk 19,44) und die Stadt derer, die nicht zum königlichen Hochzeitsmahl erschienen sind, obwohl sie eingeladen waren, liegt „in Schutt und Asche“ (Mt 22,7). Wenn schließlich am heiligen Ort der „unheilvolle Greuel“ (vgl. V. 4; Dan 9,27 u. a. in Mt 24,15) errichtet ist, nahen Ende und Gericht „über die Bewohner der Erde“ (Vgl. V. 17; Offb 6,10; 13,4-7). Eine besondere Tragik liegt darin, dass in der christlichen Relecture nicht ein fremdes Volk, sondern das Gottesvolk selbst sein Heiligstes vernichtet hat. Die kirchliche Auslegung hat das Motiv der zerstörten heiligen Stätte nicht nur antijüdisch ekklesiologisch - die Kirche ersetze den zerstörten Tempel - verstanden, sondern christologisch zugespitzt: Christus wohne in dem von ihm angenommenen Leib und in der Kirche; beide seien also jener „Berg Zion, auf dem du Wohnung genommen“ hast (V. 2d). 693 Das verwüstete Heiligtum, die „bis auf den Grund entweihte Wohnung deines Namens“ (vgl. V. 7) sei der ins menschliche Dasein Christi erniedrigte Geist Gottes 694 . Nicht weniger sollte das vom Gekreuzigten zu sagen sein. Die beiden vorausgehenden Antiphonen haben die Aufmerksamkeit zunächst auf den Ausgelieferten (pauperem et inopem), dann auf seine zahlreichen Gegner (impii) gelenkt. Die dritte Antiphon und ihr Psalm ziehen die Konsequenz daraus, dass die Übeltäter - nunmehr ein ganzes Volk - sich an Gott vergreifen, und sich die Bosheit gegen den Frommen in Wahrheit gegen den Höchsten richtet: Er selbst ist aufgerufen (domine), diese Auseinandersetzung zu entscheiden. Gott, dessen Gesetz den Armen schützt und der sich durch den unverhohlenen Rechtsbruch verhöhnt sieht - „Wie sollte Gott das merken? Wie kann der Höchste das wissen? “ (V. 11); „Bedenke, wie die Toren dich täglich schmähen.“ (V. 22b) -, möge für den Armen Partei ergreifen und 690 H OSSFELD / Z ENGER , Psalmen II, 362. 691 Nach Z ENGER , AT 1122f. 692 Paulus spricht hier (wie auch in 2 Kor 11,24) von „den Juden“ nicht als den Angehörige eines Volkes - dem er selbst und auch Jesus angehören - oder gar einer Rasse, sondern von jener konkret fassbaren Synagoge, welche die christliche Gemeinde in Judäa bedrängt; nach H OLTZ , Brief 103. 693 Hieronymus; nach N ESMY , Tradition 398. 694 Origenes; nach ebd. 400. <?page no="127"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 119 seine - Gottes - Gerechtigkeit wieder herstellen: Iudica causam meam - oder vielmehr: causam tuam. In der Geschichte Israels mit seinem Gott bilden meam und tuam die zwei Seiten derselben Medaille: Gottes Identifikation mit den Seinen hat immer die konkrete Not seines Volkes 695 und seiner Erwählten (David 696 , der Gottesknecht 697 ) zum göttlichen Anliegen gemacht. Dieser Rechtsstreit in höchster Instanz war nötigenfalls auch gegen das eigene Volk zu führen. 698 Wo im Psalm vox Christi hörbar ist, wie es im Vorfeld der Passion nahe liegt, werden meam und tuam geradezu austauschbar: Wer dem Sohn - wegen Gotteslästerung - den Prozess macht, fordert den Vater zum Rechtsstreit. 699 Nicht nur einzelne Sünder, sondern ein ganzes Volk hat der Gerechte gegen sich aufgebracht, was die Parteinahme Gottes für den Frommen herausfordert. Die göttliche Gerechtigkeit für den Armen ist das Hoffnungsthema der 2. Nokturn. Gott selbst wird richten und retten. Wann und wie das geschehen wird, weiß der Psalmbeter aber nicht. Er kann nicht mehr und nicht weniger tun, als sich und die Feinde dem Gericht Gottes zu überlassen. Dritte Nokturn d3N1 700 Dixi iniquis: Nolite loqui adversus Deum iniquitatem. Zu den Frevlern habe ich gesagt: Redet nicht Unrecht gegen Gott! Es folgt Ps 74(75). Seine Antiphon begegnet nur an diesem Tag 701 . Sie setzt sich aus den Anfängen der V. 5 und 6 zusammen Dixi iniquis nolite inique facere et delinquentibus nolite exaltare cornu; nolite extollere in altum cornu vestrum nolite loqui adversus Deum iniquitatem. (V. 5f) Liturgisch bleiben Psalm und Antiphon ohne weitere Resonanz. Wieder ist die Selbstüberhebung der Gottlosen das Thema. Diesmal aber führen sie weder das große Wort, noch kommen sie überhaupt zu Wort, sondern sie müssen sich ein Wort der Zurechtweisung gefallen lassen. Das Gericht Gottes scheint überfällig: Im Anschluss an die beiden vorausgehenden Psalmen, in denen die Frevler und Zerstörer das Sagen haben und der Fromme in Ps 73(74),10 verstört fragt, „Wie lange noch? “ erklingt in Ps 74(75) nun die Stimme des Herrn: „Ja, zu der Zeit, die ich selbst bestimme, halte ich Gericht nach meinem Recht.“ (V. 3f; vgl. V. 11). Außer dem Richter sprechen noch ein Kollektiv „Wir“ (V. 2) und ein weiteres „Ich“ (V. 9f). Die V. 5-8 bleiben schwierig, ihr Sprecher und die Bedeutung des Gesagten sind nicht eindeutig zu fassen: Spricht Gott selbst, ist das Wort also göttlicher Richtspruch oder mahnt hier ein Frommer zur Mäßigung, der nicht müde wird, den Frevlern ins Gewissen zu reden? 702 695 Vgl. Ex 3,7 und 6,5. 696 1 Sam 24,16; 25,39. 697 Jes 50,8. 698 Mi 6,1-2. 699 Mi 6,3 bildet den Kehrvers der Improperien zur Kreuzverehrung am Karfreitag Populus meus quid feci tibi et quid molestus fui tibi responde mihi, in denen vox Dei und vox Christi ineinander übergehen. 700 CAO III, 155 Nr. 2265 § 72. 701 CAO I, 168f; CAO II, 304f § 72. 702 „Geht man (mit guten Gründen) davon aus, dass V. 5-8 Gottesrede ist, dann ist Ps 75 insgesamt weitgehend Gottesrede: V. 3-4.5-8.11“, meint Z ENGER , AT 1123. <?page no="128"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 120 Im Neuen Testament zitiert nur die Offenbarung des Johannes aus Ps 74(75), und zwar V. 9 im Zusammenhang mit dem endzeitlichen Gericht, da der „Becher seines Zornes“ von denen geleert werden muss, die „das Tier und sein Standbild anbeten“ und „seinen Namen als Kennzeichen angenommen haben“ (Offb 14,9.11). Patristische und mittelalterliche Auslegungen fassen Ps 74(75) weitgehend als Gottesrede, insbesondere des göttlichen Sohnes auf 703 , denn er ist es, der Gericht hält (V. 3f). Die Verbformen im Plural confitebimur tibi Deus confitebimur et invocabimus (V. 2) aber drücken die Verbundenheit Christi mit den Gliedern seines Leibes aus. 704 V. 5f richtet sich einmal mehr gegen den blasphemischen 705 Hochmut der Menschen 706 : Schon die Propheten und später die Apostel 707 haben die Warnung des Allmächtigen, des Schöpfers und Richters 708 , überbracht. In christologischer Perspektive haben die Antiphonen der vorausgehenden Nokturnen die Psalmen vor allem als Klage des verfolgten Gerechten (vox Christi ad Patrem), aber auch als Verheißung über den messianischen Herrscher (vox de Christo) hören lassen. In Ps 74(75),5f* verschmelzen beide Aspekte, die Sprecher fallen in Christus zusammen: Dixi iniquis - derselbe, der die Frevler zu Lebzeiten „mit Vollmacht“ 709 zurechtgewiesen hat, urteilt nach seiner Erhöhung als ihr göttlicher Richter. 710 Die Kirche findet sich im „Wir“ (V. 2) ebenso wieder wie mit Christus vom Vater sprechend (V. 5f.10). V. 3f bleibt der göttlichen Autorität (Vater und Sohn) vorbehalten. Das abschließende Gotteswort in V. 11 erscheint in der vorösterlichen Perspektive geradezu als Prophetie des Vaters über den Sohn und „Gerechten“ (vox Dei de Christo): Et omnia cornua peccatorum confringam et exaltabuntur cornua iusti. d3N2 711 Terra tremuit et quievit, dum resurgeret a in iudicio b Deus. a - D, L: exsurgeret b - C, V: iudicium Die Erde erbebte und wurde still, da Gott sich zum Gericht erhob. Für den darauffolgenden Ps 75(76) werden dessen V. 9b.10a zu einer dem Gründonnerstag vorbehaltenen Antiphon verbunden. 712 Dem Wortlaut der Antiphon kommt der altrömische Psalter am nächsten De caelo iudicium iaculatum est terra tremuit et quievit, dum exsurgeret 713 in iudicio Deus ut salvos faceret omnes quietos terrae. 714 Timere statt tremere schreibt Hieronymus in seinen drei Psalmenübersetzungen. In der Vulgata iuxta LXX lautet die Stelle: De caelo auditum fecisti iudicium terra timuit et quievit cum exsurgeret in iudicium Deus ut 703 „Celui qui parle aux v. 3 et suivants est Dieu, ou le Christ puisqu’à lui ‚est remis tout le jugement‘ (Joh 5,22)“ so N ESMY , Tradition 289. 704 Rupert von Deutz, ebd. 406. 705 Cassiodor, Theodoret und Augustinus, ebd. 407. 706 Cyrill von Alexandrien, Athanasius, ebd. 707 Cassiodor, ebd. 708 Theodoret, ebd. 709 Mk 1,27 parr. 710 Ähnliches gilt für die zweite Aussage desselben „Ich“ ego autem adnuntiabo in saeculum cantabo Deo Iacob. (V. 10). 711 CAO III, 505 Nr. 5139 § 72. 712 CAO I, 168f; CAO II, 304f § 72. 713 Andere Textzeugen (Mailänder Psalter, Mozarabischer Psalter und St. Gallen 912) schreiben zwar resurgeret, weichen aber sonst stärker vom Text ab; W EBER , Psautier 179f. 714 Ebd. <?page no="129"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 121 salvos faceret omnes mansuetos terrae [diapsalma]; ebenso im Gallikanischen Psalter und im Psalter iuxta Hebraeos, dort aber futurisch terra timens tacebit. 715 Als Kombinationen ergeben sich also: „erbeben/ erzittern - sich (wieder) beruhigen“ sowie „erschrecken/ sich fürchten - schweigend verstummen“. 716 Beide Vorgänge, kosmologisch wie psychologisch zu verstehen, entsprechen den biblischen Theophanie-Schilderungen und den Begleitumständen des göttlichen Gerichts. 717 Ps 75(76) gehört zu den Zionspsalmen, die den Weltenrichter und Retter auf dem Zion besingen. Salem/ Zion ist hier der irdisch-symbolische Ort der Einwohnung Gottes, dessen Urteil über die ganze Erde freilich „vom Himmel“ her ergeht (V. 9). Einen Anklang an Ps 75(76),6 turbati sunt omnes insipientes corde dormierunt somnum suum et nihil invenerunt omnes viri divitiarum manibus suis enthält im Neuen Testament nur der Römerbrief: Den „Ausgeplünderten“ vergleicht Paulus die Heiden: Denn obwohl das, was Menschen von Gott erkennen können, von ihm schon seit der Erschaffung der Welt offenbart wurde, „haben … sie ihn aber nicht als Gott geehrt und ihm nicht gedankt. Sie verfielen in ihrem Denken der Nichtigkeit, und ihr unverständiges Herz wurde verfinstert.“ 718 (Röm 1,21; vgl. V. 6). 719 In christologischer Relecture lässt sich Salem/ Zion in Ps 75(76),2f als Metapher für Christus, in dem Gott „sich zu erkennen gab“ (V. 2) 720 und bei den Menschen Wohnung nahm (vgl. V. 3), 721 verstehen; derselbe Christus wird sich zum letzten Gericht erheben 722 (vgl. V. 9f). Liturgische Verwendung findet Ps 75(76) im engsten Vorfeld und im Zentrum der Osterfeier: nach dem Gründonnerstag kehrt er in der Vigilpsalmodie am Karsamstag mit V. 3 als Antiphon 723 und Versikel 724 wieder; schließlich begegnet V. 9f im Offertorium Terra tremuit am Ostersonntag. 725 In der Hohen Woche ist zunächst vox Christi ad patrem, den Anwalt des leidenden Gerechten, hörbar; dann vox de Christo, des Gerechten, in Salem/ Zion. Am Ostertag feiert die Kirche Christus als den künftigen Wel- 715 Auch die Psalter von Verona, St. Gallen und St. Germain schreiben timuit, letzterer setzt futurisch fort et requiebit; ebd. 716 Letzterer Auslegung gibt die heutige deutsche Einheitsübersetzung den Vorzug. 717 Erdbeben als Begleitung einer Theophanie sowie das Verstummen der Völker vor dem Gerichtszorn JHWHs schildern u. a. Hab 3,6; Ps 77(78),19; Ps 96(97),4 (Teophanie); Ez 38,19; Mt 24,7 (Vorboten der Endzeit); Hebr 12,26; Offb 6,12; 11,19 (Endgericht). Auch Erwählte Gottes werden durch ähnliche göttliche Machterweise beglaubigt, z. B. 1 Sam 14,15 (Jonatan gegen die Philister); Dan 5,19 (Herrschaft Nebukadnezzars). 718 Vulgata: Quia cum cognovissent Deum non sicut Deum glorificaverunt aut gratias egerunt sed evanuerunt in cogitationibus suis et obscuratum est insipiens cor eorum. Das Stichwort ist cor insipiens. 719 Möglicherweise gilt aber selbst diesen „schlafenden“ Streitern (vgl. V. 6) das Wort „ Wach auf, du Schläfer, und steh auf von den Toten, und Christus wird dein Licht sein“ (Eph 5,14) als Hoffnung. 720 So etwa Origenes; für Hieronymus steht die über Juda/ Israel universal ausgeweitete Erkenntnis Gottes im Vordergrund; nach N ESMY , Tradition 410. 721 Einige patristische Auslegungen dieses Verses, etwa bei Eusebius, Athanasius, Hieronymus und Cassiodor, basieren auf dem Wortspiel „Salem“ = „Friede“ und deuten die Einwohnung Gottes „auf dem Zion“ als seine Gegenwart in der Kontemplation; nach ebd. 411. Origenes sieht die Christen „zum Berg Zion hingetreten, zur Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem“ (Hebr 12,22), und von daher bestimmt auch er den Ort Gottes bei den Menschen als „l‘âme pure, l’esprit contemplatif“ (Origenes; zit. nach ebd. 410f). 722 Athanasius und Cassiodor; nach ebd. 413. 723 CAO III, 276 Nr. 3264; CAO I, 176f; CAO II, 318f § 74. 724 CAO IV, 490 Nr. 8098 § 74. 725 AMS 248 § 80. <?page no="130"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 122 tenrichter, der bei den Königen der Erde Furcht erregt. Ihm ist von allen Menschen und Völkern Anerkennung und Tribut zu zollen, wie die Communio Vovete (V. 12) am 17. Sonntag nach Pfingsten fordert. 726 Dem Wortlaut der Antiphon terra tremuit entsprechend hebt das Gericht Gottes in Verbindung mit einem Erdbeben an. Dieselbe Naturerscheinung begleitet auch den Tod Jesu (Mt 27,51.54), findet dann am leeren Grab statt (Mt 28,2) und gehört zur eschatologischen Szenerie des Endgerichts (Hebr 12,26; Offb 8,5; 16,18; 6,12; 11,19). Im Feierverlauf des Gründonnerstags wird mit Ps 75(76) der Richtspruch des Höchsten besungen, der das verwüstete Heiligtum (vgl. Ps 73[74],7) 727 - Christus - „vom Himmel“ her als Ort seines Gerichts über die Völker offenbart: Das Urteil, das Menschen über Jesus gefällt und an ihm vollstreckt haben, ist zum Urteil über sie selbst geworden (vgl. Joh 3,18). d3N3 728 In die tribulationis meae Deum exquisivi manibus meis. Am Tag meiner Bedrängnis habe ich Gott mit meinen Händen gesucht. Ps 76(77), der die kurrente Vigilpsalmodie am Donnerstag abschließt, erklingt - nur am Gründonnerstag - mit V. 3a als Antiphon. 729 Der vollständige Vers lautet In die tribulationis meae Deum exquisivi manibus meis nocte contra eum et non sum deceptus rennuit consolari anima mea. Ps 76(77) hat „seine spezifische Bedeutung im Moment der subjektiven theologischen Reflexion“ 730 und ist die Suche eines von der Zerstörung Jerusalems und der Exilserfahrung tief erschütterten „Ichs“ nach Gott: nicht nur der persönliche Glaube des Beters, auch die Israel-Theologie des Gottesvolkes ist durch die Ereignisse in die Krise geraten. Anlässlich der gegenwärtigen scheinbaren Abwesenheit Gottes denkt der Beter über die Ursprungsgeschichte Israels nach und findet so zur Gewissheit der rettenden Nähe Gottes zurück. V. 3 steht im ersten Abschnitt des Psalms, in dem Frage über Frage den Beter Tag und Nacht quält: Ist er für immer im Zorn Gott verstoßen, hat Gott seine Verheißung aufgegeben, sein Erbarmen vergessen? All dem hält er seine Versuche, Gott zu erreichen, entgegen. Im Neuen Testament finden sich abgesehen von der Mahnung, dass „die Männer überall beim Gebet ihre Hände in Reinheit erheben“ sollen (1 Tim 2,8; vgl. V. 3), keine direkten Zitate aus Ps 76(77). Doch gibt es einige sprachliche Hinweise auf jene Naturphänomene, die Gottes Nähe anzeigen: die Macht dessen, der schon „damals“ Himmel und Erde erschüttert hat (vgl. V. 17.19) und „der jetzt vom Himmel her spricht“, um sie „noch einmal“ zu erschüttern, um sie „umzuwandeln“ (Hebr 12,26); im Lob auf die wunderbaren Heilswege Gottes (Röm 11,33), deren erster Israel sicher durch „das Meer, durch gewaltige Wasser“ (V. 20) geführt hatte; außerdem Exodus- Reminiszenzen beim Gang Jesu über das Wasser (Mt 14,25) und der Stillung des Seesturms (Lk 8,24); die Stimme des Vaters ertönt bei der Verklärung Christi (Mt 17,5; Lk 9,35) wie damals „aus dem Gewölk“ (V. 18); schließlich gleicht der gute Hirt, der seinen Schafen „voraus geht“ (Joh 3,4), Israels Gott, der sein „Volk wie eine Herde durch die Hand von Mose und Aaron“ geführt hat (V. 21). 726 AMS 251 § 189b. 727 Der letzte Psalm der vorausgehenden 2. Nokturn. 728 CAO III, 271 Nr. 3223 § 72. 729 CAO I, 168f; CAO II, 304f § 72. 730 H OSSFELD / Z ENGER , Psalmen II, 412. <?page no="131"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 123 Augustinus versteht Ps 76(77) als Gebet eines transiliens und erkennt in der Geste der zu Gott ausgestreckten Hände die Haltung eines Menschen, der alles hinter sich gelassen hat, bereit, Gott um seiner selbst willen und ohne eine Gegenleistung zu lieben. 731 Ein Wagnis mit Höhen und Tiefen: Bald sinkt dem Beter der Mut, bald fühlt er sich getröstet. Für Hieronymus wiederum verweist dieselbe Geste auf die von der Sünde verursachte Entfernung zwischen Gott und dem Beter hin. 732 Im Kontext der anbrechenden Kartage und der bisherigen Psalmen ist die Antiphon mit Ps 76(77) als vox Christi zu hören, als Stimme des sich in seiner Entäußerung nach dem Vater sehnenden Sohnes, der das Leiden der Gottferne als Sündenfolge unschuldig auf sich genommen hat. Auch ihm bleibt die Heilsgeschichte Israels der einzige Hoffnungsanker in der tiefsten Krise seines Lebens. Der überindividuellen theologischen Bedeutung dieses Psalmes entspricht, dass sich im Schicksal des hier alleine betenden Jesus das Schicksal der ganzen Welt entscheidet. Darüber hinaus hat Ps 76(77) keine weiteren Resonanzen in den liturgischen Gesängen des Kirchenjahres. Der ungebührlichen Rede der Stolzen, ihren Lügen und Verleumdungen und dem Hohn über Gottes ,Unwissenheit‘ hat der Fromme seine Mahnung entgegengesetzt - in ihr klingt bereits der Urteilsspruch JHWHs mit, dessen Gericht kommt. Am Ende der 3. Nokturn verstummt die Rede des Gerechten; an ihre Stelle tritt die wortlose Bitte seiner flehentlich zu Gott erhobenen Hände. Die Morgenhore: Matutin/ Laudes Zur Psalmodie dL1 733 Iustificeris, Domine, in sermonibus tuis, et vincas cum a iudicaris. a - L: dum Recht behalten mögest du, Herr, in deinen Worten und siegen, wenn man mit dir rechtet. Nur am Morgen des Gründonnerstags wird zu dem - römisch wie benediktinisch 734 - täglichen die Laudes eröffnenden Ps 50(51) dessen V. 6b als Antiphon gesungen. 735 Der ganze Vers lautet Tibi soli peccavi et malum coram te feci ut iustificeris in sermonibus tuis et vincas cum iudicaris. Ps 50(51) ist die Klage und Selbstanklage eines Einzelnen, der seine Schuldverstrickung erkannt hat und sie vor Gott mit der Bitte um Vergebung und Neuschaffung bekennt. Die biblische Überschrift des Psalms identifiziert den Beter mit David, „als der Prophet Natan zu ihm kam, nachdem sich David mit Batseba vergangen hatte.“ (V. 2) Röm 3,4 greift Ps 50(51),6 auf, um die Treue und Gerechtigkeit Gottes aufzuzeigen, die von der Untreue des Menschen nicht aufgehoben werde; vielmehr erweise sich angesichts seiner Lüge die größere Wahrhaftigkeit Gottes. Das Gesetz nämlich, so Paulus, könne niemanden rechtfertigen, sondern es führe zur Erkenntns der Sünde aller Menschen (vgl. Röm 3,20). Die patristische Auslegung betont die Größe der Schuld, der die größere Barmherzigkeit Gottes - Christus ist sie in Person 736 - entgegengebracht wird. 737 731 Rupert von Deutz folgt dieser Auslegung; nach N ESMY , Tradition 414-415. 732 Ebd. 415. 733 CAO III, 309 Nr. 3537 § 72. 734 P ASCHER , Stundengebet 88f; RB 12; 13 (96f S TEIDLE ). 735 CAO I, 168f; CAO II, 304f § 72. 736 Cyrill von Alexandrien; nach N ESMY , Tradition 225. 737 Origenes, Eusebius, Athanasius, Hieronymus, Augustinus u. a., ebd. <?page no="132"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 124 In der römischen Liturgie hat Ps 50(51) als Bußpsalm seinen festen Platz: als Laudespsalm im täglichen Gebet ebenso wie zu besonderen Anlässen, etwa der Rekonziliation der Büßer am Gründonnerstag. 738 Sein V. 17 Domine labia mea aperies et os meum adnuntiabit laudem tuam eröffnet die erste Offiziumshore jeden Tages. An den Tagen vor Ostern kommt Ps 50(51) dieselbe theologische Bedeutung zu wie immer: Er fordert dazu auf, sich dem Gericht Gottes zu überlassen, dessen Gerechtigkeit den Sünder nicht vernichten will, sondern ihn gerecht macht, „indem er ihn von der Destruktivität der Sünde befreit.“ 739 Der als psalmogene Antiphon gewählte Halbvers 6b am Beginn der Morgenhore des Gründonnerstags hat indes besondere Bedeutung: Das Eingeständnis des schuldbeladenen Psalmisten, nicht mit Gott rechten zu können ut iustificeris in sermonibus tuis et vincas cum iudicaris, bekommt im Kontext der bisherigen Feier einen eigenen Klang: Vor dem Gericht lügnerischer Menschen steht - unschuldig „für uns zur Sünde gemacht“ (2 Kor 5,21) - Jesus, dessen Verurteilung allein Gottes Richtspruch aufheben kann (vox Christi); das Gebet der Kirche adressiert sich gleichermaßen an Christus, den von Gott „gerichteten“ Auferweckten und seinerseits zum Rechtsstreit geforderten Herrn und künftigen Richter der Welt (vox ecclesiae ad Christum): „Gerechtfertigt mögest du sein, Herr, in deinen Worten und den Sieg erhalten, wenn man mit dir rechtet.“ dL2 740 Dominus tamquam ovis ad victimam ductus est, et non aperuit os suum. Wie ein Lamm wurde der Herr zum Schlachten geführt und tat seinen Mund nicht auf. Die erste nicht psalmogene Antiphon des Tages rahmt - nur am Hohen Donnerstag 741 - den in beiden Ordnungen am Donnerstag üblichen Laudespsalm Ps 89(90). 742 Dieser eröffnet das vierte Psalmenbuch 743 und ist ein Klage- und Bittgebet angesichts der Hinfälligkeit des Menschen: Unter dem gerechten „Zorn“ Gottes (V. 9) bleibt sein Leben nicht nur flüchtig, sondern trostlos, wenn nicht Gott selbst lehrt, diese Vergänglichkeit in rechter Weise zu leben. 744 Die Bitte „Sättige uns am Morgen mit deiner Huld“ (V. 14) hat Ps 89(90) einen festen Platz im morgendlichen Offizium verschafft. Die Formulierung der Antiphon ist ein Mischzitat aus Jes 53,7 und dessen Wiedergabe in der Apg 8,23 und entspricht im Wortlaut weitgehend dem neutestamentlichen Vulgata-Text. 745 Das Prophetenwort steht im Kontext der Bekehrung des Kämmerers der Kandake; Philippus deutet besagte Jesaja-Stelle, die dem Proselyten zunächst unverständlich ist, auf Christus: Er ist der leidende Gottesknecht, von dem der Prophet sagt, er habe sich ohne Widerstand, still wie ein Lamm, zum Opfer führen lassen. Der Äthiopier kommt zum Glauben, lässt sich taufen und zieht froh seiner Wege. 746 Jes 53,7bc in der neutestamentlichen Redaktion Tamquam ovis ad occisionem ductus est et sicut agnus coram tondente se sine voce sic non aperuit os suum (Apg 8,32) dient als Aufweis der Schriftgemäßheit des Todes Jesu. Das in der altestamentliche Referenz- 738 OR 50, 25,33 (SSL 29, 196 A NDRIEU ). „Die Kirche wendet ihn stets an, wenn sie die Barmherzigkeit Gottes erflehen will. Unter allen Liedern des königlichen Propheten ist keines, das christlichen Seelen vertrauter wäre“, resümiert G UÉRANGER , Kirchenjahr 6, 352. 739 Z ENGER , AT 1098. 740 CAO III, 173 Nr. 2422 § 72. 741 CAO I, 168f; CAO II, 304f § 72. 742 Wie Anm. 734. 743 Pss 89(90)-105 (106). 744 Vgl. H OSSFELD / Z ENGER , Psalmen II, 610f. 745 Der einzige Unterschied ist occisionem (Vulgata) statt victimam (Antiphon). 746 Apg 8,26-40. <?page no="133"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 125 stelle der Vulgata teils perfektivisch, teils futurisch formulierte Leiden des Gottesknechts 747 wird in seiner kerygmatischen Wiedergabe zum Ereignis, das in Christus erfüllt ist. Aus dieser Schlüsselstelle des vierten Gottesknechttextes (Jes 52,13-53,12) zitieren in der römischen Liturgie nicht nur die 2. Laudesantiphon am Gründonnerstag, sondern auch Responsorien am Karfreitag 748 und Karsamstag. 749 Die kanonische und die liturgische Rezeption dieses Textes als Relecture des Schicksals Jesu haben ihn zu einem der bekanntesten messianischen Prophetien der christlichen Tradition gemacht. Die Antiphon bekennt Christus als den Gottesknecht aus Jes 53,7 und als das Lamm Gottes 750 . Ihre Verbindung mit Ps 89(90) macht diesen zum Gebet Jesu, der zum Schuldträger für alle Menschen geworden ist. Hat der Psalmist von Ps 50(51),11.13 eben noch darum gebeten „Verbirg dein Gesicht vor meinen Sünden … verwirf mich nicht von deinem Angesicht“, sind mit Ps 89(90) nun die ganze Schuld und ihre Folgen am Schicksal des Gottesknechts und Lammes offenbar geworden: „Du hast unsre Sünden vor dich hingestellt, unsere geheime Schuld in das Licht deines Angesichts.“ (V. 8) Sie besteht wesentlich darin, mit der Botschaft Jesu auch ihn selbst und mit ihm das Gottesreich verworfen zu haben. Die Psalmbitte um die mitleidige Zuwendung Gottes, die allein Freude am Leben schenkt (V. 13f), wird im Munde Jesu zu einer das irdische Dasein übersteigenden Hoffnung: „Sättige uns am Morgen mit deiner Huld. Dann wollen wir jubeln und uns freuen all unsre Tage“ - Ist in dieser Formulierung bereits ein Aufleuchten des Ostermorgens zu erkennen? dL3 751 Contritum est cor meum in medio mei, contremuerunt omnia ossa mea. Zerrieben ist mein Herz in meinem Inneren, es erzitterten alle meine Knochen. Die alttestamentliche Antiphon rahmt nur an diesem Tag den Morgenpsalm Ps 62(63), nach R und L auch Ps 66(67). 752 Beide Psalmen gehören zur römischen Morgenhore und werden täglich rezitiert. 753 Ps 62(63) gibt der Sehnsucht eines Verfolgten nach der im Heiligtum „anzuschauenden“ Nähe Gottes und dessen Schutz Ausdruck. So lange er nicht dort ist, „dürstet“ die Seele und „schmachtet mein Leib wie dürres, lechzendes Land ohne Wasser“ (V. 2). Die Antiphon bringt ein ähnlich starkes ,leibhaftiges‘ Bild einer Gotteserfahrung, die an die Existenz geht. Sie zitiert den ersten Halbvers aus Jer 23,9, ein Wort über die von Gott heimgesuchten Propheten, das die Sehnsucht des Psalmbeters geradezu ins Gegenteil verkehrt: Ad prophetas contritum est cor meum in medio mei contremuerunt omnia ossa mea factus sum quasi vir ebrius et quasi homo madidus a vino a facie Domini et a facie verborum sanctorum eius. Die Antiphon assoziiert also nicht die tröstende, heilende Gegenwart Gottes, sondern den erschütternden Konflikt, in den der Prophet zwischen dem Anspruch Gottes und „seiner heiligen Worte“ und dem gänz- 747 Oblatus est quia ipse voluit et non aperuit os suum; sicut ovis ad occisionem ducetur et quasi agnus coram tondente obmutescet et non aperiet os suum (Jes 53,7). 748 Omnes amici: CAO IV, 328 Nr. 7313 § 73. 749 Sicut ovis und Ecce quomodo: ebd. 409 Nr. 7661 und ebd. 155 Nr. 6605 § 74. Siehe unten Kapitel 1.3.2.2 und 1.3.2.3. 750 Vgl. Joh 1,29.36; Offb 5,6; 6,9; 21,23. 751 CAO III, 110 Nr. 1912 § 72. 752 CAO I, 168f; CAO II, 304f § 72. 753 P ASCHER , Stundengebet 88f. Die Benediktsregel sieht Ps 62(63) nur am Sonntag, Ps 66(67) hingegen täglich vor (RB 12; 13 [96f S TEIDLE ]). <?page no="134"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 126 lich unbekümmerten Verhalten seines Volkes geraten ist. - Ein Schicksal, das auch den Propheten Jesus getroffen hat. Den falschen Propheten aller Zeiten aber, so führt Jer 23 weiter aus, droht der Zorn Gottes, der wie „ein Wirbelsturm über die Köpfe der Frevler“ hereinbricht und nicht aufhört „bis er die Pläne seines Herzens ausgeführt und vollbracht hat“ (Jer 23,19f). Dieselbe Hoffnung hegt auch der Beter von Ps 62(63) - hier wird vox Christi hörbar: „Viele trachten mir ohne Grund nach dem Leben, aber sie müssen hinabfahren in die Tiefe der Erde 754 … und allen Lügnern wird der Mund verschlossen.“ (V. 10.12) Ps 66(67) ist eine Bitte um den Segen Gottes für die ganze Erde. „Er lasse sein Angesicht über uns leuchten, damit auf Erden sein Weg erkannt wird“ (V. 2f). Im Kontext des bisher Gehörten fällt auf: Hier ist nicht von der Schuld einzelner 755 , des Gottesvolkes 756 oder aller Menschen 757 die Rede, vor der Gott sein Angesicht verbergen oder die er in seinem Licht erhellen möge 758 , sondern vom Segen, der von Gottes leuchtendem Antlitz ausgeht und alle Völker zu Dank und Ehrfurcht bewegt (V. 6.8). - Die römische Liturgie kennt Ps 67 (77) als Gesang zur Kreuzverehrung am Karfreitag 759 , „in welchem der Psalmist beim Aufgang der natürlichen Sonne einen Strahl der göttlichen Barmherzigkeit für die Welt erfleht, damit ,die Erde ihre Frucht gebe‘ 760 , nämlich den Erlöser, auf den die Menschen harren. Nur noch einen Tag und die Erde wird ihre Frucht am Baume des Kreuzes geben.“ 761 dL4 762 Exhortatus a es b in virtute tua c , et in refectione d sancta tua, Domine. a - G: Exaltatus b - M, V, H, S: est (H korrigiert zu es) c - S: sua d - D: respectione; S: defectione Ermutigt/ Getröstet hast du in deiner Kraft und in deiner heiligen Ruhe/ Herberge/ Erholung, Herr. Diese dem Gründonnerstag eigene Antiphon 763 zu dem an jedem Donnerstag gesungenen alttestamentlichen Canticum Ex 15,1-19 (22? ) 764 ist kein wörtliches Schriftzitat, sondern in biblischer Sprache frei formuliert. 765 Zweifach hat „der Herr“ gehandelt (in virtute, in refectione), als sein Volk beim Exodus von den ägyptischen Streitmächten am Schilfmeer neuerlich bedrängt wird: Gottes machtvolles Wirken in virtute be- 754 Ps 62(63),10 begegnet als Laudesantiphon am Mittwoch der Hohen Woche; CAO III, 293 Nr. 3408 § 71. 755 Vgl. Ps 50(51) mit seiner Antiphon. 756 Vgl. Antiphon aus Jer 23,9. 757 Vgl. Antiphon aus Jes 53,7 (Apg 8,32). 758 Vgl. Ps 89(90). 759 Textzeugen für den Gesang von Ps 66(67) und Ps 118(119) zur Kreuzverehrung sind die Antiphonarien von Compiègne (Paris, Bib. Nat. lat. 17436) und Senlis (Paris, Bibl. St. Geneviève, codex III): AMS 97 § 78 b , während das Antiphonale von Corbie (Paris, Bib. Nat. lat. 12050) nur Ps 118(119) anführt (ebd.); Das Antiphonar aus Rheinau (Zürich, Zentralbibliothek, Rh. 30) kennt Ps 66(67),2 als Communio-Vers (ebd. 96). 760 Vgl. V. 7. 761 G UÉRANGER , Kirchenjahr 6, 356. 762 CAO III, 217 Nr. 2784 § 72. 763 CAO I, 168f; CAO II, 304f § 72. 764 Die Verteilung der Laudescantica im Wochenpsalter ist in der römischen wie in der monastischen Tradition dieselbe; nach P ASCHER , Stundengebet 88f; B ÄUMER , Geschichte 174. 765 Möglicherweise hatten die Kopisten damit Mühe, wie die Varianten respectione und defectione vermuten lassen. <?page no="135"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 127 zwingt die Feinde (vgl. Ex 15,1-19) und tröstet/ ermutigt das Gottesvolk; seine sancta refectio vermittelt Kräftigung, Erstarkung, Schutz und Wiederherstellung. Sie lässt an die schützende, belebende, tröstliche Gegenwart Gottes denken, der mit dem Volk ins Land „seiner Ruhe“ 766 ziehen und sich am Zion, dem Ort seiner „ruhenden Gegenwart“ 767 , niederlassen wird. Ähnlich wie die Antiphon verbindet das Canticum die machtvolle Befreiungstat Gottes mit der Sicherheit der Geretteten am Ort seiner heiligen Einwohnung: Dux fuisti in misericordia tua populo quem redemisti et portasti eum in fortitudine tua ad habitaculum sanctum tuum - „Ein Führer warst du in deinem Erbarmen dem Volk, das du erlöst hast, und hast sie machtvoll zu deiner heiligen Wohnstätte getragen“ (Ex 15,13). In diesem Kontext wird refectio zur göttlichen Herberge für das Gottesvolk und zu seinem gottgeschenkten Rastplatz. 768 Auch das Canticum endet nicht mit der staunenswerten Vernichtung der Feinde, sondern mit dem Ziel des Exodus, dem Einzug der Befreiten ins Gelobte Land (Ex 15,17). In kirchlicher Relecture wurde der Exodus zu einem zentralen Typos der österlichen Befreiungserfahrung und Ex 15 zu einem kerygmatischen Text in der Lesevigil der römischen Paschafeier. 769 Die Verwendung des ,Moseliedes‘ als Laudescanticum am Gründonnerstag legt die christologische Auslegung seiner Antiphon nahe. In kirchlichtheozentrischer Lesart wird Christus als jener ,Ort‘ Gottes erkennbar, in dem Gott sein Volk „in Macht und heiliger Gegenwart“ ermutigt und getröstet hat. Zugleich richtet sich die Antiphon an Christus, der selbst als „Herr“ (und Subjekt des Handelns) angesprochen ist: „In deiner Macht/ Kraft und in deiner heiligen refectio hast du ermutigt“. 770 Die für sein Volk tröstliche Macht und Präsenz Gottes (virtus/ sancta refectio) wird im liturgischen Kontext der (vor)österlichen Tage als refectio Christi (und mit ihm auch die der Kirche) verstehbar, die Resonanzen christlicher Erlösungshoffnung zum Klingen bringt: refectio in der Bedeutung von körperlich-seelischer Wiederherstellung durch erholsamen nächtlichen Schlaf wird zum Interpretament der (Grabes)ruhe/ des Todesschlafes Christi; 771 die refectio des Gekreuzigten zum neuen Leben - schillernd zwischen Auferweckung (in der Kraft Gottes) und Auferstehung (aus eigener göttlicher Kraft) - begründet die christliche Hoffnung auf die refectio des Menschen(geschlechtes). Seine Wiederherstellung zum „neuen Menschen“ 772 verdankt sich der Erhöhung Christi zum Vater in virtute tua (= Kraft Gottes, des Vaters/ des Sohnes) und der Wiederherstellung und bleibenden Gegenwart des „in Heiligem Geist und Kraft“ gesalbten Erlösers 773 unter den Menschen (in refectione sancta tua). 766 Vgl. sinngemäß Ps 94(95),11; dort heißt es allerdings requiem (nicht refectionem) meam. 767 Vgl. Ps 131(132),14; auch hier ist die Rede von haec requies mea; (vgl. Anm. 141). 768 Vgl. den „Ruheplatz am Wasser“ in Ps 22(23),2: … super aquam refectionis educavit me. 769 AMS 96f § 79 a . In der heutigen Ordnung ist es der Antwortgesang zur dritten Lesung, der einzigen von sieben alttestamentlichen Lesungen, die nicht entfallen darf. 770 Die Christologisierung „von oben“ ist in den vorösterlichen Tagen selten, aber nicht ausgeschlossen; ein außergewöhnliches Beispiel dafür liefern die Improperien am Karfreitag, in denen vox Christi das Volk tadelt, es vergelte die Wohltaten des Exodus mit den Misshandlungen der Passion. Die rettende Gegenwart Christi im Exodus formuliert auch Paulus: „… denn sie tranken aus dem Leben spendenden Felsen, der mit ihnen zog. Und dieser Fels war Christus.“ (1 Kor 10,4). 771 Vgl. Ps 4,9 am Karsamstag. 772 D. h. zu einem Leben in novitate vitae (Röm 6,4). 773 Iesum a Nazareth quomodo unxit eum Deus Spiritu Sancto et virtute qui pertransivit benefaciendo et sanando omnes oppressos a diabolo quoniam Deus erat cum illo (Apg 10,38); durch ihn wird <?page no="136"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 128 In der sakramentalliturgischen Sprache bezeichnet refectio die erlösende Wiederherstellung der Gläubigen durch ihre sakramentale Teilhabe an Christus in der Taufe (in aqua refectionis) und in der Eucharistie (panis refectionis). 774 An dem durch das Einsetzungsgedächtnis geprägten Gründonnerstag klingt in der Antiphon die eucharistische refectio mit, der die refectio in der Taufe vorausgegangen ist; beide erwarten die Katechumenen in der kommenden Paschavigil für sich. Nicht zuletzt stellt refectio einen direkten wörtlichen Anklang an das Abschiedsmahl Jesu her: Das Mk-Ev überliefert die Frage Jesu, wo er einen Ort fände, um mit seinen Jüngern das Pesachmahl feiern zu können (refectio mea). 775 Als nachösterliches Exodusgedächtnis ist die Eucharistiefeier jener Ort, an dem Christus die Kirche durch die sakramentale Vergegenwärtigung seines machtvollen Hinübergehens vom Tod zum Leben in virtute et sancta refectione sua tröstet. dL5 776 Oblatus est quia ipse voluit a , et peccata nostra ipse portavit. a - V: noluit Er wurde hingegeben, weil er selbst es wollte, und er selbst hat unsere Sünden getragen. Diese letzte Eigenantiphon 777 zu den täglich die Laudes abschließenden Psalmen Pss 148-150 778 ist ein weiteres Mischzitat aus Altem und Neuem Testament. Die erste Hälfte greift erneut auf Jes 53,7 779 aus dem vierten Gottesknechttext 780 zurück, diesmal auf den bisher noch nicht zitierten ersten Halbvers. 781 Die Übersetzung der Vulgata Oblatus est quia ipse voluit weicht hier vom Text der Masoreten und der LXX ab. 782 Ergänzt wird die Antiphon durch Qui peccata nostra ipse pertulit (1 Petr 2,24a 783 ) aus dem ersten Petrusbrief, der sich mehrfach auf Jes 53 beruft. 784 Die soteriologische Spitzenaussage dieser Antiphon (vox de Christo) - der sühnende Opfertod des Gottesknechtes - gründet sich auf die kanonische Auslegung von Jes 53,7 durch das Neue Testament und unterstreicht die Freiwilligkeit der Selbsthingabe des Gottesknechtes. Der scheinbar Ohnmächtige ist der allein Mächtige aus frei geschenkter Liebe. Das kosmische Gotteslob der liturgisch ,unbeweglichen‘ täglichen Hallelpsalmen 148-150, in das auch die „Gebeugten“ (Ps 149,4) einstimmen, antizipiert die universale Bedeutung der Erlösung. sich auch das Schwache „in Herrlichkeit und Kraft“ erheben (seminatur in ignobilitate surgit in gloria seminatur in infirmitate surgit in virtute, 1 Kor 15,43). 774 Vgl. die Deutung von Ps 22(23),5 auf die Eucharistie. 775 Et quocumque introierit dicite domino domus quia magister dicit ubi est refectio mea ubi pascha cum discipulis meis manducem (Mk 14,14). 776 CAO III, 378 Nr. 4097 § 72. 777 CAO I, 168f; CAO II, 304f § 72. 778 Auch hier besteht kein Unterschied zwischen römischer und monastischer Tradition; siehe oben Anm. 734. 779 Siehe oben dL2 (Jes 53,7b-c; Apg 8,32b-c). 780 Jes 52,13-53,12. 781 In der Wiedergabe von Jes 53,7 in Apg 8,32 fehlt dieser erste Versteil überhaupt; das Zitat setzt dort erst mit dem zweiten Stichos tamquam (sicut) ovis ein. 782 Dort ist von den Misshandlungen die Rede, die den Gottesknecht verstummen lassen; vgl. in der EÜ: „Er wurde misshandelt und niedergedrückt.“ (Jes 53,7a). 783 Aus dessen Fortsetzung … in corpore suo super lignum ut peccatis mortui iustitiae viveremus cuius livore sanati estis geht unmissverständlich hervor, dass der Gottesknecht kein anderer ist als der Gekreuzigte, der „unsere Sünden … mit seinem Leib auf das Holz getragen hat.“ (1 Petr 2,24a). 784 Jes 53,4.5.6.9.12 in 1 Petr 2,22-25. <?page no="137"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 129 In evangelio dBen1 785 Traditor autem dedit eis signum, dicens: Quem osculatus fuero, ipse est, tenete eum. (S: Mox autem ut incipiatur Antifona ad Canticum extinguatur lumen in Evangelia usquequo finiatur hore) L: + Vers: et accedens ad Iesum dixit: Ave, Rabbi. Et osculatus est eum. Traditor. Der Verräter aber gab ihnen ein Zeichen und sagte: Den ich küssen werde, der ist es, den ergreift. Diese in allen untersuchten Quellen nur am Gründonnerstag belegte Antiphon 786 zum Benedictus (Lk 1,68-79) eröffnet eine Reihe neutestamentlich-narrativer Antiphonentexte, die aus den Passionserzählungen schöpfen, und bringt die Verabredung zwischen dem Verräter und den Hohepriestern zu Sprache: Dederat autem traditor eius signum eis dicens quemcumque osculatus fuero ipse est tenete eum et ducite (Mk 14,44). dBen2 787 Ait Pilatus: Mundae sunt manus meae a a sanguine huius iusti, vos videritis. C, E, H; V: nach der Kyrielitanei (ad tenebrae faciendum) 788 L: zur Prim 789 ; R: zur Non 790 a - V: ad Pilatus sprach: Meine Hände sind rein vom Blut dieses Gerechten, ihr habt es gesehen. Diese Antiphon, eine Paraphrase von Mt 27,24 791 , ist nicht in allen Quellen am Gründonnerstag belegt. 792 In Ps 72(73) war vom Glaubenszweifel des Gerechten die Rede gewesen, der angesichts des erfolgreichen Lebens seiner Feinde klagte, seine Hände „umsonst“ in „Unschuld gewaschen“ zu haben (V. 13). Mit der Geste des Pilatus gewinnt das Bild eine neue Facette: Das perverse Bemühen, sich begangener Schuld symbolisch zu entledigen, macht Pilatus zum Gegenbild des Gottesknechtes. Nicht „in Unschuld“, sondern im Blut des Unschuldigen werden die Schuldigen reingewaschen. 793 „Christus factus est“ Einige Handschriften führen vor oder nach dem Benedictus einen neutestamentlichen Gesang mit dem Incipit Christus an: 794 Christus factus est pro nobis obediens usque ad mortem. 795 Christus war für uns gehorsam bis zum Tod. 785 CAO III, 509 Nr. 5169 § 72. 786 CAO I, 168f; CAO II, 306f § 72. 787 CAO III, 36 Nr.1318 § 68; 71; 72. 788 CAO I, 168f § 72b; CAO II, 306 § 72c. 789 CAO II, 306 § 72c. 790 Ebd. 308 § 72d. 791 Vulgata: Videns autem Pilatus quia nihil proficeret sed magis tumultus fieret accepta aqua lavit manus coram populo dicens innocens ego sum a sanguine iusti huius vos videritis. 792 F und S bieten sie am Mittwoch der Hohen Woche: CAO II, 301 § 71a; E auch am Palmsonntag: ebd. 163, 68b. 793 Vgl. Offb 22,14. 794 CAO III, 96 Nr. 1792; CAO IV, 478 Nr. 7983. 795 In allen Quellen des AMS ist ein Graduale Christus in der Abendmahlsmesse (AMS 235 § 77a) bezeugt; dieser Text gehört außerdem zum Introitus In nomine Iesu am Mittwoch der Hohen Woche (ebd. 232 § 76) und findet auch als Gradualgesang an den Kreuzfesten Inventio und Exaltatio S. Crucis Verwendung (ebd. § 97; § 150). Weiters begegnet das Zitat als Teil der Lesung Phil 2,5- 11 am Palmsonntag (C HAVASSE , Lectionnaires I, 57; II, 14; und [mit Ausnahme der Würzburger Epistelliste und dem Alkuinlektionar] am Fest Kreuzerhöhung: ebd. I, 57; II, 19). Als Antiphon im Offizium bietet ihn nur Codex C am Samstag vor dem Palmsonntag (CAO I, 160 § 67b). <?page no="138"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 130 Dieses Zitat von Phil 2,8 ist bereits in den ältesten römischen Quellen als Besonderheit im Offizium der drei vorösterlichen Tage erwähnt. 796 Auch die Handschriften des CAO kennen einen Gesang Christus an einem oder mehreren dieser Tage entweder als Laudesversikel mit Responsum vor dem Benedictus 797 oder - mit etwas anderem Text - als Tropus in der Kyrielitanei der Laudes (ggf. in Verbindung mit dem Lichtauslöschen) 798 : 799 Versus Tropus V Christus factus est pro nobis Phil 2,8* V Christus Dominus factus est vgl. Phil 2,8* obediens usque ad mortem, obediens usque ad mortem, R Mortem autem crucis. R Mortem autem crucis. Beide Versionen sind in den Quellen des CAO, am häufigsten für Gründonnerstag, belegt: Versus Tropus C, B, E, M; R HoDo B, M, V; R, D, S HoDo C, B; S 800 KarFr S 784 KarFr C, B, E; H, S KarSa H, S KarSa Versikel und Tropus sind gattungsgemäß sowohl strukturell als auch in der Melodieführung - eher Kantillation als Gesang - schlicht. 801 Der Text bleibt an allen drei Tagen unverändert. Weitere Antiphonen im Cursus Romanus Einige Handschriften bieten in evangelio überzählige neutestamentliche Antiphonen. Drei dieser Texte aus dem Matthäus- und Johannesevangelium stellen die Machthaber vor, denen Jesus gegenübertritt. Sie geben den bisher anonymen Feinden der Psalmen konkrete Gesichter: Da sind der römischen Statthalter, der weiß, dass er einen Unschuldigen verurteilt, und die Hohenpriester mit ihrem Gefolge, die nichts gegen Jesus in der Hand haben; dazu Petrus, der auf den Ausgang des Geschehens wartet. 796 Z. B. OR 23,1 (SSL 24, 269 A NDRIEU ) ordnet diesen Text statt der Kyrierufe (nach den Laudes) an. 797 An allen drei Tagen im römischen Cursus: CAO I, 168f (C, B, E, M); 174 (C, B); 176f (B, E; C nach Ben.) § 72-74; am Gründonnerstag in Laudes und Vesper nur in R (monast.): CAO II, 304 § 72b; 310 § 72e. 798 In beiden Cursus am Gründonnerstag: CAO I, 169-171 (B; ad tenebras/ ad tenebre faciendum: M, V) § 72; CAO II, 306f (R, D, S: in der Litanei sowohl mit dem Text Christus factus als auch mit Christus Dominus) § 72; Karfreitag: 315 (S) § 73; Karsamstag: 320f (H, S) § 74. 799 CAO IV, 478 Nr. 7983 § 72-74 („Versets“: Versikel und Tropus werden hier nicht unterschieden). 800 S bietet in der Kyrielitanei beide Textfassungen: CAO II, 307 § 72c. 801 Schon in dieser Hinsicht ähneln Vers und Tropus in keiner Weise dem Gradualgesang Christus in der Abendmahlsmesse am Gründonnerstag, der auf denselben Text zurückgreift (AMS 235 § 77a); ebenso wenig ist dessen deutlich längere Textfassung (mit V. 9 als Responsorialvers) Christus factus est pro nobis obediens usque ad mortem, mortem autem crucis. R Propter quod et Deus exaltavit illum et dedit illi nomen, quod est super omne nomen. (Phil 2,8f) im Offizium anzutreffen. Dass sie dort dennoch bis heute am Gründonnerstag, Karfreitag und Karsamstag verwendet wird und sukzessive die anderen offiziumseigenen Text- und Klanggestalten von Versikel und Litaneivers verdrängt hat, erklärt H ESBERT , Graduel, als Folge der in den Quellen üblichen Anordnung der Gesänge per Incipit Christus (factus), die keine Unterscheidung der Textversionen zulässt. Auf die daraus resultierende Unklarheit sei letztlich die schleichende Übernahme der Gradualfassung ins Offizium zurückzuführen. Seit der jüngsten Liturgiereform ersetzt die Text- und Klanggestalt des Graduale Christus factus est als - wie schon früher - dreimal erweiterte „Antiphon“ das Kurzresponsorium in den Laudes, in der Vesper und Komplet an den drei letzten Tagen vor Ostern. <?page no="139"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 131 Eine vierte Antiphon aus der Apostelgeschichte - sie zitiert einmal mehr aus Jes 53 - gibt auf die Frage nach dem Ende eine implizite, aber klare Antwort. In der Reihenfolge ihrer Nennung in Codex C, der alle vier Antiphonen bietet, sind dies: dDiv1=dBen2 Ait Pilatus: Mundae sunt manus meae a sanguine huius iusti, vos videritis. Pilatus sprach: Meine Hände sind rein vom Blut dieses Gerechten, ihr habt es gesehen. dDiv2 802 In humilitate iudicium eius sublatum est; generationem eius quis enarrabit? nur C In der Erniedrigung wurde sein Urteil aufgehoben; sein Geschlecht/ seine Nachkommen, wer wird sie aufzählen können? Diese Antiphon bringt zum dritten Mal 803 an diesem Tag ein Mischzitat aus der Taufkatechese für den äthiopischen Kämmerer (Jes 53,8a in Apg 8,33a) 804 nach der Vulgata. Das dort zitierte Prophetenwort In humilitate iudicium eius sublatum est generationem illius 805 quis enarrabit quoniam tollitur de terra vita eius gibt allerdings nicht den Vulgata-Text von Jes 53,8a 806 wieder, sondern dessen Deutung durch die LXX, deren Übersetzung von Jes 53,8a den hebräischen Text beinahe ins Gegenteil verkehrt: „Hinfällig“ (sublatus est) ist nicht mehr der Gottesknecht (Israel/ der Messias), „hinfällig“ (sublatum est) ist nunmehr seine Verurteilung. In dem von den LXX korrigierten Text fehlt der Hinweis auf Haft und Gericht als die schändliche Todesursache des Gerechten; er antizipiert vielmehr, worauf auch der hebräische Text zielt: die Rehabilitierung des schuldlos für „die Vielen“ erniedrigten Opfers und seine sowie „der Schuldigen“ Zukunft. 807 Diese Interpretation entspricht der christlichen Verkündigung 808 und macht die Verwendung dieses Textes in der Liturgie der Hohen Woche 809 und der Kartage umso einsichtiger: Der Gottesknecht Jesus wurde „dahingerafft durch Haft und Gericht/ Urteil“, doch wird der über ihn verhängte Urteilsspruch aufgehoben. Damit erscheint auch die Frage nach dem Schicksal und Fortbestehen des Knechtes generationem eius quis ennarrabit? im zweiten Teil der Antiphon beantwortet, die somit zur Verheißung bleibender Bedeutung und zahlreicher Nachkommenschaft wird. Die Kirche versteht darunter die Gemeinschaft all jener, die in der Taufe Anteil am Tod und an der Auferstehung des Gottesknechtes Jesus Christus erhalten. 802 CAO III, 274 Nr. 3242 § 72. 803 Siehe oben dL2 Tamquam ovis und dL5 Quia ipse voluit. 804 CAO I, 168 § 72b. 805 In der Antiphon durch eius ersetzt. 806 Der Vulgatatext von Jes 53,8 liest in Übersetzung des hebräischen Textes: De angustia et de iudicio sublatus est generationem eius quis enarrabit. 807 Zwar ist der Gottesknecht nach menschlichem Ermessen gescheitert und ausgelöscht, doch findet Gott an ihm Gefallen, rettet ihn und verschafft ihm Nachkommen und langes Leben: Indem der Knecht die Schuldigen gerecht rechtfertigt, wird der Plan Gottes durch ihn gelingen (vgl. Jes 53,10-12). 808 Die Übereinstimmung hat möglicherweise die Aufnahme der LXX-Übersetzung in Apg 8,33a begünstigt. 809 Die ältesten Lektionare nennen Jes 53,1-12 als Lesung am Mittwoch der Hohen Woche; nach C HAVASSE , Lectionnaires I, 53; II, 14. <?page no="140"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 132 dDiv3 810 Petrus autem sequebatur a a longe ut videret finem b . C; F a - C: + Iesum b - C: exitum rei Petrus aber folgte von ferne, um das Ende zu sehen. Die Frage nach dem Ende des Verurteilten stellt auch die nächste Antiphon, die aus der Passion im Mt-Ev zitiert: 811 Petrus autem sequebatur eum a longe usque in atrium principis sacerdotum et ingressus intro sedebat cum ministris ut videret finem (Mt 26,58). Die Sorge um Jesus hält Petrus in der Nähe des Geschehens. Er wartet draußen bei den Soldaten und Mägden im Hof, um „das Ende“ zu sehen; im Gespräch mit ihnen wird er Jesus dreimal verleugnen. dDiv4 812 Si male locutus sum, perhibe testimonium; a si b autem bene, quid c me caedis? in evang.: C, E; H; Tageshoren: R, L, F a - F: testimonium perhibe b - F, R: sin c - E: cur Wenn ich schlecht geredet habe, beweise es; wenn aber gut, was schlägst du mich? Die Antiphon zitiert aus dem Verhör Jesu in Joh 18,23 813 Respondit ei Iesus si male locutus sum testimonium perhibe de malo si autem bene quid me caedis. Man bemüht sich vergeblich, Jesus zu einer Aussage zu bewegen, die man gegen ihn verwenden könnte. Die beigebrachten Zeugen sind falsch, der Nachweis einer Schuld Jesu gelingt nicht. Seiner aufrichtigen Rede haben die Ankläger nichts entgegenzusetzen außer Gewalt. Die Tageshoren im Cursus Monasticus: Prim, Terz, Sext und Non Nur die Handschriften des Cursus Monasticus (außer D 814 ) führen ad horas/ ad cursus diurnos neben zwei der genannten Antiphonen weitere an; L gibt außer für die Prim nur die Antiphonen an; S nennt die zu rezitierenden Abschnitte aus Ps 118(119), dazu Versikel und Responsorien: 815 psalmi a prima (S) ad primam (L) in III a dicendi (nur S) ad VI a psalmi dicendi (nur S) psalmi ad VIIII a dicendi (nur S) Ps 53(54) Ps 117(118) (nur S) Ps 118(119),1-32 Ps Quicumque vult (nur S) Ps 118(119),33-80 Ps 118(119),81-128 Ps 118(119),129-176 Ohne speziellen Bezug verbinden sich die angegebenen Antiphonen mit der Sonntagspsalmodie des römischen Tagescursus: 816 mit dem Klagepsalm 53(54)/ Prim/ täglich, mit Ps 117(118)/ Prim/ So sowie mit den jeweiligen Abschnitten aus dem Gesetzeslob Ps 118(119); Codex S erwähnt zudem das ebenfalls zur Sonntagsprim gehörende Symbolum Athanasianum Quicumque vult. 817 Alle übrigen Gebete sollen nach S still ge- 810 CAO III, 402 Nr. 4285 § 71; 72. 811 CAO I, 168 § 72b; in F am Mittwoch der Hohen Woche: CAO II, 301 § 71. 812 CAO III, 477 Nr. 4900 § 71; 72. 813 CAO I, 169 § 72b; in C zur Vesper: ebd. 170 § 72c; in E auch am Mittwoch der Hohen Woche: ebd. 167 § 71b; CAO II, 308f § 72d; in H zur Vesper: ebd. 310 § 72e. 814 Er setzt mit der Vesper fort; CAO II, 310 § 72e. 815 Siehe unten Kapitel 1.3.2.1. 816 P ASCHER , Stundengebet 88-91. 817 B ÄUMER , Geschichte 330f. <?page no="141"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 133 sprochen werden, das Schuldbekenntnis aber gemeinsam: Dicto versu sileant omnes et cum silentio dicant Preces Pater noster, Credo in Deum, Repleatur hos meum. Quibus dictis usque ad Confiteor Domino Deo jungant se omnes in unum et dicant pariter confessionem Confiteor Domino Deo. Qua dicta reddeat unusquisque ad locum suum et conpleantur Preces cum silentio Converte nos Deus. Auch in den übrigen Horen spricht man die Preces an diesem Tag cum silentio. 818 dD1= dBen2 Ait Pilatus: Mundae sunt manus meae a sanguine huius iusti, vos videritis. L (Prim), R (Non) Pilatus sprach: Meine Hände sind rein vom Blut dieses Gerechten, ihr habt es gesehen. dD2=dDiv4 Si male locutus sum, perhibe testimonium; si autem bene, quid me caedis? F, L (Terz), R (Sext) Wenn ich schlecht geredet habe, beweise es; wenn aber gut, was schlägst du mich? dD3 819 Replevit et inebriavit me amaritudine a inimicus meus. R (Prim), F (Non); C, E; H: Karfreitag a - C: amaritudine fehlt Gesättigt und getränkt mit Bitternis hat mich mein Feind. Diese am Gründonnerstag oder Karfreitag verwendete Antiphon 820 erinnert an Klgl 3,15 Replevit me amaritudinibus inebriavit me absinthio. 821 Das dritte Klagelied verbindet die Klage eines Einzelnen und seine spätere Danksagung mit Elementen eines Volksklage- und Bußliedes und paränetisch-weisheitlichen Erklärungen des erlittenen Leidens. 822 Die Gestalt des Leidenden erinnert an den jesajanischen Gottesknecht, sie leidet aber nicht wie dieser schuldlos, sondern hat den Zorn Gottes berechtigt auf sich gezogen. In dem mit der Antiphon verwandten Abschnitt klagt der Beter, wie schwer dieser ihn körperlich und seelisch getroffen hat: Gott reicht ihm - gegen alle Gastfreundschaft und familiäre Bindung - „bittere Kost“ und „Wermut“ (Klgl 3,15) als Trank. Im Klagelied handelt Gott wie die Feinde in Ps 68(69),22. 823 Der liturgische Kontext der Antiphon insinuiert zunächst, dass hier Menschen feindlich am Werk sind - Judas, Pilatus, die Priesterschaft und die Soldaten -, gegen deren Tun allein Gott angerufen werden kann. Sie entstellen Gastfreundschaft und Mahl als Grundlage und Ausdruck lebensförderlicher menschlicher Gemeinschaft: Bitter-ungenießbar ist, was sie („mein Feind“) zu bieten haben, und erfüllt den, der selbst das Leben ist 824 , mit Trauer. 825 In kirchlicher Lesart erklingt in dieser Antiphon die Klage Jesu, der am Kreuz in seinem Durst mit Essig getränkt wird: 826 „Gift und Essig“ 827 , „Bitteres und Wermut“ 828 gibt man ihm. Ein scharfer Kontrast zum Stellenwert der Mahlgemeinschaft in der 818 CAO II, 309 § 72d - 311 § 372e. 819 CAO III, 442 Nr. 4615 § 72; § 73. 820 CAO II, 306 § 72c; ebd. 309 § 72d; in evangelio am Karfreitag in C, E: CAO I, 174f § 73b; ebenso in H: CAO II, 314 § 73b. 821 Vgl. die Lesungen der 1. Nokturn am Karfreitag (Klgl 2,8-3,22). 822 Nach Z ENGER , AT 1592. 823 Siehe oben erster Vigilpsalm am Gründonnerstag. 824 Vgl. Joh 11,25. 825 Vgl. Mt 26,38 parr. 826 Vgl. Joh 19,28-30. 827 Vgl. Ps 68(69),22. 828 Vgl. Klgl 3,15. <?page no="142"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 134 Verkündigung und Praxis Jesu, der beim Letzten Mahl im Freundeskreis in Brot und Wein sich selbst zur Speise und zum Trank gibt. Dennoch legt die theologische Deutung des Leides im Anklang an Klgl 3,15 nahe, das Schicksal Jesu nicht ausschließlich als Tun des Feindes, sondern als Handeln Gottes zu begreifen. Im Klagelied handelt Gott am Beter wie „mein Feind“ in der Antiphon. Da wie dort zeigt sich das Leid als ein möglicher (nicht zwingender) Ort der Erfahrung Gottes. Eine solche Erfahrung liegt Klgl 3,15, wie überhaupt den Klageliedern, zugrunde, wo die Annahme der von Gott verhängten Not den Weg zur Einsicht von Schuld ebnet und den Willen zur Umkehr weckt. 829 Als vox Christi macht die Antiphon schließlich die Klage der „Vielen“ und „Schuldigen“ 830 hörbar, mit denen Christus sich identifiziert und für die er unschuldig und stellvertretend leidet: Israel, die Kirche, die Menschen. Wo „mein Feind“ Gott ist, werden zugleich all jene entmachtet, die sich für mächtig halten, und deren Tun am Ende doch dem Heilswillen Gottes unterworfen bleibt. Das erweist sich an der Passion Jesu, der authentischer Beter des dritten Klageliedes wie auch der Antiphon ist. dD4 831 Accepto pane Iudas tradidit Dominum, sicut promiserat principibus sacerdotum. C, E; H, R, L, F F (Prim), R (Terz), L (Non) C, E; H: in evangelio (Vesper) Nach Empfang des Brotes hat Judas den Herrn verraten, wie er es den Hohepriestern versprochen hatte. Diese Antiphon paraphrasiert die Ankündigung des Verrats beim Abschiedsmahl durch Jesus nach Mt 26,23.47f parr 832 At ipse respondens ait qui intinguit mecum manum in parapside hic me tradet. … Adhuc ipso loquente ecce Iudas unus de duodecim venit et cum eo turba multa cum gladiis et fustibus a principibus sacerdotum et senioribus populi. Qui autem tradidit eum dedit illis signum dicens quemcumque osculatus fuero ipse est tenete eum. Judas, der mit Jesus gegessen hat 833 , verlässt in dieser Nacht das gemeinsame Mahl, um Jesus auszuliefern. 834 Subjekt des Handelns scheint Judas zu sein, doch Jesus kennt und bestimmt die Dramaturgie: Er reicht Judas den Bissen Brot, der ihn als Verräter offenbart. dD5 835 Ante diem festum Paschae, sciens Iesus quia venit eius hora, cum dilexisset suos, in finem dilexit eos. F (Sext) C, G, E; F Vor dem Tag des Paschafestes, als Jesus wusste, dass seine Stunde gekommen war, zeigte er den Seinen, weil er sie liebte, seine Liebe bis zum Ende. 829 Vgl. Klgl 3,40. Die Klagelieder zeigen, wie die Katastrophe von 586 v. Chr. theologisch verarbeitet werden konnte. Ihre Zuschreibung an den „Zorn“ Gottes meint keine temporäre, willkürliche oder pädagogische Gefühlsaufwallung, sondern benennt - in menschlicher Redeweise - den selbst durch großes Leid hindurch erfahrbaren, letztlich befreienden Heilswillen Gottes. Dessen gerechte Reaktion auf die Schuld Israels lässt alle hoffen, die umkehren. 830 Vgl. Jes 53,12. 831 CAO III, 25 Nr. 1219 § 72. 832 Ebd.; Tageshoren: CAO II, 307-309 § 72c-d; zur Vesper in C, E: CAO I, 170f § 72c; sowie in H: CAO II, 310 § 72e. 833 Vgl. Ps 40 (41),10 in Mk 14,18. 834 Die synoptische Tradition lässt offen, wann genau das geschieht. 835 CAO III, 52 Nr. 1432 § 69; 70; 72. <?page no="143"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 135 Dieser außer am Gründonnerstag zur Sext (nur F) 836 und ad mandatum (F) 837 auch am Montag (C) 838 und Mittwoch der Hohen Woche (G, E) 839 bezeugte Text spielt auf die Fußwaschung, das zweite Stiftungsereignis des Tages, an, die nur das Joh-Ev im Rahmen des letzten Beisammenseins Jesu mit seinen Jüngern überliefert (Joh 13,1-9). Die Antiphon zitiert etwas verkürzt den ersten Vers Ante diem autem festum paschae sciens Iesus quia venit eius hora ut transeat ex hoc mundo ad Patrem cum dilexisset suos qui erant in mundo in finem dilexit eos (Joh 13,1). Jesus weiß um das bevorstehende Ende und setzt eine Tat der Liebe, die zugleich Vorbild und Maßstab des Handelns seiner Jünger sein soll. dD6 840 Tamquam ad latronem existis cum gladiis, cum quotidie apud vos eram docens vos in templo. nur L (Sext) Wie zu einem Räuber seid ihr mit Schwertern hinausgegangen, obwohl ich täglich bei euch im Tempel gelehrt hatte. Nur eine Handschrift (L) führt dieses gekürzte Herrenwort aus Mt 26,55 In illa hora dixit Iesus turbis tamquam ad latronem existis cum gladiis et fustibus conprehendere me cotidie apud vos sedebam docens in templo et non me tenuistis als Antiphon im Tagescursus an. Es richtet sich an jene, die bewaffnet gekommen sind, um Jesus gefangen zu nehmen. 841 Auch die Laudespsalmodie aus dem Wochenspalter erfährt ihre tagesspezifische Deutung durch besondere Antiphonen: Psalmogen, prophetisch (Jes, Jer) und zum AT- Canticum (Ex 15) frei formuliert, verbinden sie die Motive Gerechtigkeit und Opfer, Verzagtheit und Ermutigung, Sündenlast und Erlösung. Die einzige neutestamentliche Antiphon zum Benedictus bindet die Hore thematisch (Verrat) an die Abendmahlsmesse an. Ebenso schöpfen die überzähligen und alternativen Antiphonen sowie der Tagescursus fast ausschließlich aus den Passionserzählungen, deren vorrangige Motive die Pervertierung von Freundschaft und die Mahlgemeinschaft sind. Die Abendhore: Vesper Die ältesten Quellen der römischen Tradition lassen vermuten, dass die feierliche Vesper am Gründonnerstag nicht ursprünglich, sondern eine spätere Einführung ist. 842 In den untersuchten Quellen des CAO ist sie durchwegs bezeugt. Für die monastische Tradition gibt S die Anweisung, nach der Kommunion der Abendmahlsmesse mit den Antiphonen zu beginnen. 843 836 CAO II, 309 § 72d. 837 Ebd. 310 § 72e; ebd. 783 § 147b. 838 CAO I, 164 § 69b. 839 Ebd. 164f § 70. 840 CAO III, 500 Nr. 5099; CAO II, 309 § 72d. 841 Denselben Hinweis auf sein öffentliches Auftreten im Tempel gibt Jesus im Verhör vor Hannas (Joh 18,19), worauf dessen Knecht ihn schlägt. Die Rückfrage Jesu, ob diese Rede Unrecht gewesen sei, begegnete bereits als eine der Antiphonen zu den Tageshoren (dD2=dDiv4). 842 Siehe oben Kapitel 1.1.1.2. 843 Post VIIIIa igitur in ipso die dicatur Missa et postquam acceperint communione sancta non dicatur Communio neque Dominus vobiscum sed mox ut acceperint sanctam comunionem [sic] incipiat continuo sacerdos ad altare Antifona de Vespera (CAO 311 § 72e). <?page no="144"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 136 Zur Psalmodie Erstmals an diesem Tag sind nicht nur die Antiphonen, sondern auch die Psalmen eigens zusammengestellt. Sie stammen alle aus der Vesperpsalmodie des römischen Ferialpsalters: Ps 115(116B) und Ps 119(120) vom Montag 844 lassen Abendmahl und Verrat, die Hauptthemen des Tages, anklingen; die Pss 139(140)-141(142) gehören in die Vesper am Freitag, und Ps 143(144) eröffnet die erste Sonntagsvesper per annum. 845 dV1 846 Calicem salutaris accipiam, et nomen domini invocabo. Den Kelch des Heils will ich ergreifen und den Namen des Herrn anrufen. Diese erste Antiphon zur Vesper am Gründonnerstag zitiert Ps 115(116B),13 847 der mit Blick auf das Abendmahl die Reihe der Psalmen eröffnet. 848 Psalm 115(116B) ist der zweite Teil eines Dankliedes, das gattungsgemäß aus Bekenntnis und Rettungserzählung (V. 1-11) sowie der Ankündigung eines Lobopfers in der Gemeinde (V. 12-19) besteht. Die traditionelle Unterteilung dieses Textes in Pss 114(116A) und 115(116B), so auch in der Vulgata, folgt nicht dieser exegetischen Logik 849 , sondern setzt die Zäsur bei V. 10: V. 1-9 bilden Ps 114(116A), V. 10-19 Ps 115(116B). Im Psalter zählt dieser Text zur Komposition des sogenannten ägyptischen Hallel. 850 Er erstattet Gott liebenden Dank als Antwort auf dessen zuvor dem ganzen Volk erwiesene Liebe und Treue. Der einzelne Beter hat sie in einer Situation der Todesnot als rettend erfahren. Die V. 12-19 kündigen deshalb das Gott gebührende „Opfer des Dankes“ an: eine Dankliturgie inmitten der Festversammlung, zu der auch der „Kelch des Heils“ (V. 16) - eine Trankopferspende oder der beim Mahl erhobene festliche Becher mit Wein - gehört. Das Neue Testament spielt mehrmals auf Ps 115(116B) an: Christus teilt die Erfahrungen des Psalmbeters: „Als er auf Erden lebte, hat er mit lautem Schreien und unter Tränen Gebete und Bitten vor den gebracht, der ihn aus dem Tod retten konnte, und er ist erhört und aus seiner Angst befreit worden“ (vgl. V. 4b.3; Heb 5,7); und bei der Erweckung des Lazarus ist Jesus gewiss, „dass du mich immer erhörst“ (vgl. V. 1f; Joh 11,42). Petrus bezieht sich in seiner Pfingstpredigt auf die „Fesseln des Todes“ und „Ängste der Unterwelt“ aus Ps 114(116A),3 und bekräftigt die Errettung Jesu aus dem Tod: „Gott aber hat ihn von den Wehen des Todes befreit und auferweckt; denn es war unmöglich, dass er vom Tod festgehalten wurde“ (Apg 2,24); unter Berufung auf Ps 115(116B),10 stellt Paulus die Apostel, die Jesus verkündigen und nachfolgen, in die Reihe derer, die den „Geist des Glaubens“ haben, „von dem es in der Schrift 844 P ASCHER , Stundengebet 90. In der Benediktsregel gehört Ps 114-115(116) ebenfalls in die Montagsvesper (RB 18,17 [104f S TEIDLE ]); Ps 119(120) sieht sie am Dienstag zur Terz vor (ebd. 18,8 [102f S TEIDLE ]). 845 Die Benediktsregel ordnet Pss 139(140) und 140(141) der Donnerstagsvesper zu; Pss 141(142) und 143(144) der Vesper am Freitag (ebd. 18,12f [104f]). 846 CAO III, 91 Nr. 1754 § 72. 847 CAO I, 170f; CAO II 310f § 72. 848 Die Vulgata teilt mit den LXX Ps 116,1-19 (MT) in Ps 114,1-9 und Ps 115,10-19, setzt aber die Verszählung fort; die Antiphon Ps 115,13 (Vulgata) entspricht Ps 116,13 (MT; EÜ; Nova- Vulgata). 849 Nach Z ENGER , AT 1173. 850 Ebd. 1171. Nach heutiger Zählung sind das die Pss 113-118; zur Zeit Jesu werden sie möglicherweise bei der jüdischen Pessachfeier gesungen (vgl. Mt 26,30). <?page no="145"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 137 heißt: ,Ich habe geglaubt, darum habe ich geredet.‘ Auch wir glauben, und darum reden wir“ (V. 10 in 2 Kor 4,13); die rettende Botschaft gilt allen, denn „jeder, der den Namen des Herrn anruft, wird gerettet werden (vgl. V. 4; Röm 10,13; vgl. Joel 3,5); die Toten werden „ausruhen von ihren Mühen“ und „Gott wird alle Tränen von ihren Augen abwischen“ (vgl. V. 7f; Offb 14,13; 7,17; 21,4; vgl. Jes 25,8). Auch die Untreue und die Schuld aller Menschen, über die aber die Wahrheit und Gerechtigkeit Gottes triumphieren, hat schon Ps 115(116B),11 zu Sprache gebracht: „Gott soll sich als der Wahrhaftige erweisen, jeder Mensch aber als Lügner …“ (vgl. V. 11; Röm 3,4). Besondere Bedeutung gewinnt der „Kelch des Heiles“ (V. 13) in Verbindung mit den Kelchworten Jesu, die auf die Passion hinweisen. Die ehrgeizigen Zebedäussöhne werden zurechtgewiesen: „Ihr wißt nicht, um was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinken werde? Sie sagten zu ihm: Wir können es. Da antwortete er ihnen: Ihr werdet meinen Kelch trinken.“ (Mt 20,22f parr) Die Rede ist vom Kelch des Leidens, den anzunehmen auch Jesus schwerfällt: „Mein Vater, wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an mir vorüber. Aber nicht wie ich will, sondern wie du willst.“ Und weiter: „Mein Vater, wenn dieser Kelch an mir nicht vorübergehen kann, ohne dass ich ihn trinke, geschehe dein Wille.“ (Mt 26,39b.42 parr) 851 Als Petrus bei der Verhaftung Jesu zur Verteidigung ansetzt, ist Jesus entschieden: „Der Kelch, den mir der Vater gegeben hat - soll ich ihn nicht trinken? “ (Joh 18,11). Das Deutewort über den Weinbecher - „der Neue Bund in meinem Blut“ (1 Kor 11,25 parr) - beim Abschiedsmahl antizipiert Jesu Lebenshingabe am Kreuz. Diesen Kelch zu „nehmen“, schenkt Teilhabe an Christi Tod und seinem neuen Leben (1 Kor 10,16; 11,27f). Die patristische Auslegung von Ps 114-115(116B) deutet den „Kelch des Heils“ (V. 13) sowohl auf die Eucharistie als auch ausdrücklich auf das Martyrium 852 als einzig entsprechende Erwiderung der Liebe Gottes, die alles gegeben hat, und als „Imitation“ der Passion Christi 853 ; weshalb man den Vers geradezu mit „Ich will den Kelch Jesu erheben“ übersetzen könne. 854 V. 13 eröffnet als Antiphon die Vesperpsalmodie am Gründonnerstag und im römischen Offizium auch am Karfreitag, der dort keine eigene Vesper hat. Eine vergleichbare liturgische Resonanz hat kein anderer Vers aus Ps 114-115(116B). Im Zentrum des Hauptgottesdienstes am Nachmittag/ Abend des Gründonnerstags standen das Gedächtnis des Abschiedsmahles Jesu und die Stiftungen - Eucharistie und Fußwaschung -, die auf das bevorstehende Ende weisen. Die Antiphon zum ersten Psalm der Vesper führt dieses Thema weiter. Sie ist gleichermaßen vox Christi, der in seinem Blut den neuen Bund schließt und den Kelch des Leidens annimmt, wie vox ecclesiae, die Eucharistie feiert und bereit ist, Christus in seinem Leiden nachzufolgen. 851 Pater si non potest hic calix transire, nisi bibam illum: fiat voluntas tua (Mt 26,42) ist die Communio am Palmsonntag (AMS 250 § 73b). 852 Origenes, nach N ESMY , Tradition 642. 853 Beda Venerabilis, ebd. 854 Hieronymus, ebd. <?page no="146"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 138 dV2 855 Cum his qui oderunt pacem eram a pacificus, cum b loquebar illis impugnabant me gratis. a - V: erant b - L: dum Mit denen, die den Frieden hassen, war ich friedfertig; sobald ich mit ihnen sprach, feindeten sie mich grundlos an. Der kurze Ps 119(120) ist der erste aus der Sammlung der sogenannten Wallfahrtspsalmen: 856 Der Beter, der „als Fremder“ (V. 5) unter feindseligen Menschen (V. 6f) leben muss, sehnt sich nach dem Frieden, der von Zion ausgeht. Die Antiphon dazu ist der Schlussvers V. 7. 857 Mehrere Stellen im Neuen Testament lassen erkennen, dass auch die ersten Generationen von Christen manche ihrer Erfahrungen im Horizont von Ps 119(120) reflektieren, auch wenn sie ihn nicht wörtlich zitieren: Wie die Patriarchen als „Fremde und Gäste auf Erden“, weiß auch Paulus - „Ich unglücklicher Mensch! “ (Röm 7,24) - „dass wir fern vom Herrn in der Fremde leben“ und sehnt sich danach, „aufzubrechen und bei Christus zu sein“ (vgl. V. 5f; Hebr 11,13; 2 Kor 5,6; Phil 1,23); denn sein Friede ist nicht einer, „wie die Welt ihn gibt“ (Joh 14,27), und „er ist unser Friede“ (Eph 2,14); aber „wenn die Welt euch hasst“ (Joh 15,18), und „ihr um meinetwillen beschimpft und … auf alle mögliche Weise verleumdet werdet“ (Mt 5,11), sollen sich die Jünger Jesu freuen. Bis zum Ende aber ist mit allem anderen als Frieden zu rechnen: „Die Menschen werden selbstsüchtig sein, habgierig, prahlerisch, überheblich, bösartig … verleumderisch, heimtückisch …“ und es „werden alle, die in der Gemeinschaft mit Christus Jesus ein frommes Leben führen wollen, verfolgt werden“ (vgl. V. 2.7; 2 Tim 3,12) Die patristische Auslegung verbindet das schwierige Zusammenleben so gegensätzlicher Personen wie dem Psalmisten und seiner Umgebung (V. 6f) mit dem Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen 858 oder mit der zwischen dem Sohn der Sklavin (Hagar) und dem Sohn der freien Frau (Sara) herrschenden Feindschaft; 859 schließlich bedeute es die Verpflichtung der „Schafe“ zur Nächstenliebe, auch wenn sie „unter den Wölfen“ (Mt 10,16) leben. 860 Für Hilarius ist Ps 119(120) vox Christi, „der Friede gestiftet hat am Kreuz durch sein Blut“ (Kol 1,20); 861 in größter Not „schrie [er] noch einmal laut auf“ (Mt 27,50; vgl. V. 1). Ps 119(120) wird, mit Ausnahme von V. 6f als zweite Vesperantiphon am Gründonnerstag und Karfreitag, liturgisch nicht weiter verwendet. Die erste Vesperantiphon hatte mit den Worten Et nomen domini invocabo geendet. Der nächste Psalm setzt mit einem Hilferuf ein Ad Dominum cum tribularer clamavi et exaudivit me (V. 1); der zweite Textteil Cum loquebar illis impugnabant me gratis mag auch jene Szene illustrieren, in der Jesus im Verhör geohrfeigt wird. 862 Ps 119(120) wird im liturgischen Kontext des Gründonnerstags auf den Verrat des Judas gedeutet. Am Abend der Auslieferung Jesu bietet es sich an, Judas mit den 855 CAO III, 123 Nr. 2008 § 72. 856 Auch Aufstiegslieder oder Gradualpsalmen. Diese Teilkomposition des Psalters umfasst fünfzehn Psalmen, nämlich Pss 119(120)-133(134). 857 CAO I, 170f; CAO II, 310f § 72. 858 Hieronymus; nach N ESMY , Tradition 679. 859 Augustinus, ebd. 860 Chrysostomus, ebd. 861 Hilarius, ebd. 680. 862 Joh 18,22. <?page no="147"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 139 „Lügnern“ und „falschen Zungen“ (V. 2) zu identifizieren, doch lassen sich auch die „falschen Zeugen“ einbeziehen oder Petrus, der Jesus „in dieser Nacht“ verleugnet hat. 863 In ihnen kann die betende Kirche auch sich selbst erkennen. dV3 864 Ab hominibus iniquis libera me, Domine. Von ungerechten Menschen befreie mich, Herr. Ps 139(140) ist ein mit den Nachfolgepsalmen 140(141) bis 142(143) verwandtes Bittgebet eines Einzelnen, der sich massiver gewalttätiger Verfolgung ausgesetzt sieht. 865 Der Beter ist einer der „Armen und Gerechten“ (V. 13f), die unter dem besonderen Schutz JHWHs stehen. Die dritte Vesperantiphon zitiert den ersten Teil aus V. 5b 866 in der Schreibweise des römischen Psalters 867 Custodi me Domine de manu peccatoris ab hominibus iniquis libera me qui cogitaverunt subplantare gressus meos. 868 Einige Worte Jesu und der Apostel spiegeln die Klage aus Ps 139(140) sinngemäß oder wörtlich wider: Wo sie Anfeindung ausgesetzt sind, identifizieren sie ihre Erfahrung mit der des Psalmbeters: Die Vaterunser-Bitte um Bewahrung vor dem Bösen konkretisiert sich in den Abschiedsreden Jesu nochmals als Fürbitte für seine Jünger (Mt 6,13; Joh 17,15; vgl. V. 2); der böse Feind, der in der Nacht das „Unkraut“ unter den „Weizen“ sät, ist „der Teufel“ (Mt 13,39); er bleibt tätig, und der Tag des Herrn, die zweite Ankunft Christi, kommt erst, bis dieser „Mensch der Gesetzwidrigkeit“, der „Sohn des Verderbens“, der „Widersacher … sich selbst als Gott ausgibt“ (2 Thess 2,3). Die Erfahrung böser Zungen (V. 4) macht Jesus jedenfalls nicht erst am Ende seines Lebens: „Schlangenbrut“ nennt er die Pharisäer und Schriftgelehrten, deren Frömmigkeit nicht aufrichtig ist und die das Gute, das Jesus den Menschen erweist, schlechtreden (Mt 3,7; 12,34); mit dieser Schlechtigkeit sieht Paulus allerdings nicht nur „den Feind“, sondern alle Menschen ohne Ausnahme behaftet - Röm 3,13 zitiert V. 4 -, denn „die Zunge … voll von tödlichem Gift, kann kein Mensch zähmen“ (Jak 3,8). Kennzeichnend für die Gottlosen als „Hand(langer)“ des Teufels 869 ist nach Auffassung der Kirchenväter, dass sie in ihrem Tun ausschließlich nur den eigenen Vorteil suchen. 870 Für das in den V. 5f geschilderte heimtückische Verhalten gebe es im Leben Jesu etliche Beispiele: Christus erweckt Lazarus, ihn will man töten; er heilt den Blindgeborenen, ihm flucht man; die Frage der Pharisäer nach der kaiserlichen Steuer ist ebenso eine Falle wie die nach der Ehescheidung etc. 871 Durch den mehrfachen liturgischen Gebrauch in der Hohen Woche ist Ps 139(140) eng mit der Passionsthematik verknüpft: In voller Länge (V. 2-14) erklingt er als Tractus Eripe me in der Präsanktifikatenmesse am Karfreitag. 872 V. 5 ist als Offertorium Custodi me am Mittwoch der Hohen Woche 873 zu hören; V. 5b als Vesperantiphon am 863 Mt 26,34.60. 864 CAO III, 22 Nr. 1199 § 72. 865 Nach Z ENGER , AT 1204. 866 CAO I, 170f; CAO II, 310f § 72. 867 W EBER , Psautier 338. Vulgata: eripe statt libera. 868 Fast wortgleich leitet V. 2b die erste Strophe der Feindklage ein ab viro iniquo libea me. 869 Athanasius; nach N ESMY , Tradition 758. 870 Theodoret, ebd. 871 Hilarius, ebd. 872 AMS 244 § 78 a . 873 Ebd. 245 § 75. <?page no="148"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 140 Gründonnerstag. 874 V. 8 wird im Introitus Iudica Domine am Montag der Hohen Woche gesungen; 875 und das Responsorium Ne perdas V. 2 an den Tagen zwischen Passionssonntag und Palmsonntag. 876 In der 1. Nokturn des Tages war die Antiphon Deus meus, eripe me de manu peccatoris zu hören gewesen. 877 Danach standen Verrat, Gefangennahme und der vergebliche Versuch, Jesus einer Schuld zu überführen, im Zentrum. Psalm 139(140) mit seiner Antiphon nimmt die anfangs geäußerte Bitte des Bedrängten mit ähnlichen Worten neu auf Ab hominibus iniquis libera me, Domine (V. 5b). Auch ohne eigenständigoriginäres theologisches Konzept vermitteln die Vespertexte die Erfahrung, an den Anfang zurückgeworfen zu sein, ja womöglich sogar vergeblich Hilfe zu erbitten. Die ersten Verse von Ps 139(140) zeichnen nach, was nicht nur die Offiziumsantiphonen des Tages wiederholt reflektiert haben: die Entwicklung von Bösartigkeit und Gewalt im Menschen, die, ausgehend von seinen Gedanken über die Zunge bis zu seinem Tun (V. 2-5), immer mehr an Wirklichkeit gewinnen. Nun werden die Feinde buchstäblich handgreiflich, um den Verfolgten endgültig zu Fall zu bringen (V. 5): Dafür haben sie Schlingen ausgelegt, Netze gespannt, Fallen aufgestellt (V. 6). dV4 878 Custodi me a laqueo quem statuerunt mihi, et ab scandalis operantium a iniquitatem. a - L: operantibus Behüte mich vor der Schlinge, die sie mir legten, und vor den Fallen/ Verführungen derer, die Böses tun. Ps 140(141) ist mit seinem biblischen und hier auch liturgischen Vorgänger und Folgepsalm durch mehrere Bildworte aus der Jagdmetaphorik (Fallen, Netze, Schlingen) verknüpft. 879 V. 9 als Antiphon 880 greift es neuerlich auf. Auch dieser Psalm bittet um Bewahrung vor dem Bösen. 881 Sein hebräischer Text weist philologische Unklarheiten auf; eindeutig ist aber, dass die erfahrene Bedrohung dem Psalmisten weniger ans physische Leben geht, als dass sie seinen gläubigen Lebensentwurf in Gemeinschaft mit JHWH in Frage stellt: „Der ,Sitz im Leben‘ dieses Psalm ist nicht primär eine soziale, sondern eine theologische Not.“ 882 Die „Schlingen“, „Netze“ und „Fallen“ aus dem vorhergehenden Psalm liegen weiterhin aus, um das Opfer zu fangen. Aber der Kampf, den der Beter auszutragen hat, erreicht eine neue existentielle Dimension. Die neutestamentliche Rezeption von Ps 140(141) beschränkt sich im Wesentlichen auf V. 2: Die zum Himmel aufsteigenden Gebete des Hauptmanns Kornelius „sind zu Gott gelangt“ (Apg 10,4); und in der Vision des Johannes tragen Engel „Schalen voll von Räucherwerk; das sind die Gebete der Heiligen“ vor das Lamm, und „aus der Hand des Engels stieg der Weihrauch mit den Gebeten der Heiligen zu Gott empor“ (Off 5,8; 8,4). 874 CAO III, 22 Nr. 1199 § 72. 875 AMS 232 § 74. 876 CAO IV, 301 Nr. 7206 § 66; Nr. 2707 § 66-68. 877 d1N3. 878 CAO III, 134 Nr. 2082 § 72. 879 Ps 139(140),6 und Ps 140(141),9. Dieses Motiv bleibt an den vorösterlichen Tagen bestimmend. 880 CAO I, 170f; CAO II, 310f § 72. 881 Vgl. den vorausgehenden Ps 139(140). 882 Z ENGER , AT 1205. <?page no="149"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 141 Die Rettung ab scandalis operantium iniquitatem (V. 9) kann als Bewahrung „vor den Fallen derer, die Unrecht tun“ wiedergegeben werden. 883 Das griechische Lehnwort scandalon meint darüber hinaus auch „Stolperstein“, „Stein, an dem man zu Fall kommt“, „Anstoß/ Ärgernis“ und „Verführung“. Die gefährlichste Falle für den Frommen könnte die Versuchung zu einem gottlosen Leben sein - wie dort, wo Unkraut und Weizen zusammen wachsen (Mt 13,24-30). Um Menschen davor zu schützen, kommt das Gericht des Menschensohns Mittet Filius hominis angelos suos et colligent de regno eius omnia scandala et eos qui faciunt iniquitatem - dessen „Engel“ holen alle zusammen, „die andere verführt und Gottes Gesetz übertreten“ haben, und übergeben sie dem „Feuer“ (Mt 13,41f; vgl. V. 9). Der Vätertheologie gibt Ps 140(141) manches zu lösen auf. 884 V. 10 sum ego donec transeam jedenfalls versteht sie im Horizont der Passion als Aussicht auf den Durchgang Jesu vom Tod zum Leben, auf sein Hinübergehen aus dieser Welt zum Vater und damit als Hoffnung derer, die mit ihm beten. 885 Der einsame transitus Christi 886 wandelt den Untergang menschlichen Lebens zum Übergang. Die römische Liturgie übernimmt Ps 140(141),2 als Versikel in den täglichen abendlichen Gottesdienst 887 und entzündet dazu Weihrauch. Das sacrificium vespertinum (V. 2) der Kirche besteht in der Darbringung von Lobpreis und Danksagung für jenes „Abendopfer“ Christi, das er mit am Kreuz ausgebreiteten Armen vollzogen hat. 888 Als Graduale Dirigatur erklingt V. 2 vor und in der Quadragesima sowie am 19. und 20. Sonntag nach Pfingsten. 889 Ps 140(141),9 im Feierkontext vermittelt außer der virulenten Feindbedrohung auch etwas von der Versuchung zum Zweifel. Das Leiden Jesu - „in allem wie wir in Versuchung geführt“ (Hebr 4,15) 890 - wird selbst diese Dimension erreichen. dV5 891 Considerabam ad a dexteram et videbam, et non erat qui cognosceret b me. a - L: a b - L: agnosceret Ich blickte nach rechts und schaute aus, doch da war keiner, der mich er-/ gekannt hätte. Es folgt Ps 141(142) mit V. 5a als Antiphon. 892 In diesem Hilferuf in auswegloser Not kehrt das Motiv der „Schlinge auf dem Weg“ (V. 4) wieder, in der sich der Beter verfangen hat. Der Text endet dennoch hoffnungsvoll mit einem Ausblick auf die vorweggenommene Rettung. Geeignet, die Glaubenserfahrung und das Leiden Jesu zu illustrieren, klingt Ps 141(142) in einigen neutestamentlichen Texten an, etwa im Todessschrei Jesu (Lk 23,46) und im Schreien „unter Tränen“ während seiner Erdenzeit (Hebr 5,7; vgl. 883 So die EÜ. 884 „Psaume obscur, que tout le monde chante sans le comprendre“ (Chrysostomus); nach N ESMY , Tradition 762. 885 „Le Christ ,passant au Père‘ sanctifie ,le soir‘ de notre vie.“ (N ESMY , Parole 440). 886 Augustinus; nach N ESMY , Tradition 765. 887 CAO IV, 482 Nr. 8018 § 32 3-8 ; 36; 38. 888 Die staurologische Deutung des Gebetsgestus ist gängig und weit verbreitet, wenn auch manchem Theologen zu wenig tiefsinnig; vgl. F ISCHER , Psalmen 50f mit Verweis auf Origenes (sie sei „abgeschmackt“) in Libr 1 Reg Hom. 1,9 (GCS VIII, 16 B AEHRENS ). 889 AMS 235 § 42; 46; 194 a ; 195. 890 Dieser Text gehört schon früh zu den Vigillesungen am Karfreitag, z. B. OR 13C,3 (SSL 23, 513 A NDRIEU ). 891 CAO III, 108 Nr. 1891 § 72; nur L auch: § 73. 892 CAO I, 170f; CAO II, 310f; § 72; L auch zur Vesper am Karfreitag § 73c. <?page no="150"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 142 V. 2). Der Klage des Psalmisten non est qui requirit animam meam (V. 5d) entspricht die Mahnung Jesu, das seit Erschaffung der Welt vergossene Blut aller Propheten werde „von dieser Generation zurückgefordert“ (ut inquiratur sanguis omnium prophetarum … requiretur ab hac generatione Lk 11,50f). Die Fangfrage der Sadduzäer nach der Auferstehung der Toten beantwortet Jesus mit der Selbstoffenbarung Gottes als „der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs“ (Ex 3,6), der deshalb nicht ein „Gott der Toten, sondern der Lebenden“ sein müsse (Mt 22,32) - in der Sprache des Psalms „mein Teil im Land der Lebenden“ (V. 6); Der „bis zum Tod am Kreuz“ (Phil 2,8; vgl. V. 7) erniedrigte Christus ist schließlich zur Hoffnung der Gläubigen geworden (spes mea und portio mea in terra viventium), denn „wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt.“ (Joh 11,25; vgl. V. 6). Anhand von V. 5 reflektieren die Kirchenväter die Verlassenheit Jesu in seinem dramatischen Leiden: Sein Kampf geht nicht gegen Fleisch und Blut, sondern gegen die Mächte der Finsternis. 893 Niemand begleitet den Herrn in seiner Passion - im Gegenteil, Petrus hat ihn verleugnet 894 -, und keiner erkennt ihn, der Fleisch angezogen hat, als Gott; 895 denn sonst „hätten sie den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt“. 896 Weil aber die Hingabe des „guten Hirten“ aus freiem Willen geschieht, wird er sich nicht entziehen und nicht fliehen wie der bezahlte Knecht (vgl. Joh 10,11-18). 897 Ps 141(142) begegnet im Kirchenjahr auf zweierlei Art. Mit Considerabam (V. 5) als Antiphon hört die Kirche ihn nur am Gründonnerstag als vox Christi ad patrem und lässt sich von seiner Verlassenheit das Urteil sprechen: Et non est qui …. In der - nun an den auferstandenen Herrn gerichteten - wöchentlichen Antiphon Portio mea (V. 6) der ersten Sonntagsvesper 898 bringt derselbe Psalm die österliche Auferstehungshoffnung der Getauften in der Teilhabe an Christi Leiden, Sterben und Erhöhung zum Ausdruck (vox ecclesiae ad Christum). dV6 899 De manu filiorum alienorum libera me, Domine. C, E, M, V; F Aus der Hand der Söhne fremder Menschen befreie mich, Herr. Der letzte Vesperpsalm am Gründonnerstag ist der zweiteilige Ps 143(144) mit der Antiphon (V. 7a.c). 900 Die V. 1-11 schildern die Not eines Einzelnen („Ich“), die V. 12-15 beschreiben den Segen, der auf die Rettung folgt („Wir“). Dieser Text greift auf verschiedene andere Psalmen des ersten Davidpsalters 901 zurück, v. a. auf den Königspsalm 17(18) und andere Danklieder, und liest sie für Israel neu. Dass Ps 143(144) dennoch weitgehend wie ein Klagepsalm aufgebaut ist, dürfte „die Funktion haben, der Klage ein Fundament zu geben, d. h. die schon einmal bzw. vielfach erfahrene und in Ps 8; 18 und 33 bezeugte Heilszuwendung JHWHs als erneute bzw. eschatologische (vgl. den Kontext Ps 140-142) Aktualisierung einzuklagen.“ 902 Die Psalmen- 893 Vgl. Eph 6,12; Origenes; nach N ESMY , Tradition 768. 894 Hilarius, ebd. 895 Hieronymus und Cassiodor, ebd. 896 Cassiodor, ebd. 897 Augustinus, ebd. 898 CAO III, 406 Nr. 4316 § 31; 32 8 ; 42. 899 Ebd. 138 Nr. 2111 § 72. 900 CAO I, 171; CAO II, 310f § 72. 901 Pss 3-41(42). 902 Z ENGER , AT 1209. <?page no="151"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 143 überschrift der Vulgata schreibt diesen Psalm dem jungen David im Kampf gegen den übermächtigen Feind zu David adversus Goliad. Die christliche Relecture dieses Psalms mit seiner eschatologischen Vision vom Leben „in Fülle“ (vgl. V. 13) unter der Herrschaft des siegreichen Königs findet schon in den Schriften des Neuen Testaments statt: Christus ist der königliche Beter, dem der Vater „alles zu Füßen gelegt“ hat (Hebr 2,8 [< Ps 8,7b]); die Feinde ebenso - „der letzte Feind, der entmachtet wird, ist der Tod“ (1 Kor 15,26; vgl. V. 2) - wie die Engel, die „ihm unterworfen“ mit dem ganzen himmlischen Hofstaat ein „neues Lied vor dem Thron“ singen (1 Petr 3,22; Offb 5,9; 14,3; vgl. V. 2.9). Vorerst aber stehen mit Christus auch die Seinen im Kampf „gegen die Fürsten und Gewalten, gegen die Beherrscher der finsteren Welt, gegen die bösen Geister des himmlischen Bereichs“ (Eph 6,12; vgl. V. 1); ist er bestanden, werden sie „jede Art von Bitterkeit, Wut, Zorn, Geschrei und Lästerung“ aus ihrer Mitte verbannen, und es wird „keine Klage, keine Mühsal“ mehr sein (Eph 4,31; Offb 21,4; vgl. V. 14). „Ce psaume concerne le Christ, que souvent l’Écriture appelle ,David‘“. 903 Hatten die Kirchenväter in den vorausgehenden Psalmen primär Christus als exemplarischen Psalmbeter gesehen (Christologisierung ,von unten‘), trifft das auf Ps 143(144) nur teilweise zu, etwa auf V. 1-3. Doch die patristische Deutung der V. 5-7 kippt einhellig in die Christologisierung ,von oben‘: Sie versteht Inclina caelos tuos et descende (V. 5) als Prophetie der Inkarnation des göttlichen Logos 904 und begreift die aus der Höhe herabgestreckte göttliche Hand manum tuam de alto (V. 7a) als Bildwort für Christus. 905 Hier tritt Christus als Psalmbeter zurück und wird seinerseits zum Mittler und Vollstrecker der erhofften göttlichen Hilfe. Diese Psalmauslegung wäre in der Vesper am Gründonnerstag schwer nachvollziehbar und verbietet sich zudem durch den Text der Antiphon (V. 7a.c). In dem knappen Hilferuf des leidenden Gerechten machen nicht die tiefen Chaoswasser aus V. 7b die Bedrohung aus - der Text der Antiphon übergeht sie 906 -, sondern die personale Not, den Händen „der Söhne der Fremden“ ausgeliefert zu sein, die ihn „nicht (er)kennen“, wie auch die vorangehende Antiphon beklagte. 907 Die Liturgie stellt Ps 143(144) am Gründonnerstag in den schon von der Psalterredaktion intendierten Kontext massiver Feindbedrängnis des Königs (David) - hier Christus -, in der Hoffnung, er werde sie erfolgreich überwinden. Die Kirche spricht diesen Psalm mit Christus, stimmt in die Klage ebenso ein wie in seine (ihre) Hoffnung: nach der alles entscheidenden, „endzeitlichen“ Gefährdung und Errettung des Menschensohnes wird ihm und seinem Volk eine gesegnete, glückliche Zukunft eröffnet. Erst im letzten Psalmvers erfährt die Stellung Christi im Beten der Kirche, die sich als „das Volk, dessen Gott der Herr ist“ (V. 15) versteht, eine Veränderung, denn ihr Herr ist Christus. In diesem doppelten Sinne - Gebet mit Christus, und Bekenntnis zu 903 Hilarius zur Gesamtauslegung von Ps 143(144); nach N ESMY , Tradition 773. 904 Ders. sowie Eusebius, Athanasius, Hieronymus und Cassiodor, ebd. 774. 905 Athanasius, Hilarius, Augustinus, Cassiodor, ebd. 775. 906 Damit entfällt auch die inhaltliche Stichwort-Verknüpfung mit der Vorlage in Ps 17(18),17 misit de summo et accepit me adsumpsit me de aquis multis. Jede Verkürzung und fehlende Verse verschieben die Akzente - es ist diese eine Weise, den Text der Antiphon enger mit ihrer liturgischen Vorgängerin dV5, als mit ihrem biblischen Herkunftstext zu verknüpfen; demzufolge bleibt auch die Gegenüberstellung von manum tuum und de manu filiorum alienorum in der Antiphon unausdrücklich. 907 Siehe oben Ps 141(142),5a. <?page no="152"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 144 Christus - findet der Psalm auch in der ersten Sonntagsvesper mit V. 1 Benedictus Dominus Deus meus als Antiphon ,österliche‘ Verwendung. 908 Die Antiphon am Gründonnerstag weiß von diesem Sieg noch nichts. In evangelio Zum Magnificat (Lk 1,46-55) wird - darin stimmen die Quellen der römischen und monastischen Tradition des CAO ausnahmslos überein - die erste der nachstehenden Antiphonen gesungen; manche Handschriften führen weitere Gesänge an. Nicht immer ist die Zuordnung zum Canticum oder zum Mandatum eindeutig. Drei der folgenden Antiphonen in evangelio stammen aus der matthäischen Abendmahlstradition: Stiftung der Eucharistie, Verrat, Prophetie des Verrats, Prophetiewort zum Weingenuss, die letzte aus dem Joh-Ev. Eine Ausnahme bildet Si male. 909 dMagn1 910 Cenantibus autem, accepit Iesus panem a , benedixit ac b fregit, dedit discipulis suis. a - V: panes (korrigiert zu panem) b - E, M: et Während sie aßen, nahm Jesus das Brot, sprach den Lobpreis und brach es und gab es seinen Jüngern. Die Antiphon zitiert den zur eucharistischen Thematik des Tages passenden Vers Mt 26,26a 911 aus der Passion. 912 dMagn2=dD4 Accepto pane Iudas tradidit Dominum, sicut promiserat principibus sacerdotum. Nach Empfang des Brotes hat Judas den Herrn verraten, wie er es den Hohepriestern versprochen hatte. dMagn3=dDiv4 Si male locutus sum, perhibe testimonium; si autem bene, quid me caedis? Wenn ich schlecht geredet habe, beweise es; wenn aber gut, was schlägst du mich? dMagn4 913 Cena facta a , dixit Iesus discipulis suis: Amen, amen b dico vobis: Unus vestrum est c hic, qui me traditurus est in hac nocte. C, E; H (ad mandatum) a - C: + est b - E: amen nur einmal c - C, E: est fehlt Nach dem Mahl sprach Jesus zu seinen Jüngern: Amen, amen, ich sage euch: Einer von euch ist hier, der mich in dieser Nacht verraten wird. Die Antiphon 914 ähnelt Mt 26,21 Et edentibus illis dixit amen dico vobis quia unus vestrum me traditurus est, doch spricht Jesus hier erst nach dem Mahl cena facta den Verrat an. Die Wendung in hac nocte gehört nicht zur matthäischen Vorlage 915 , son- 908 CAO III, 87 Nr. 1720 § 31; 32; 32 8 ; 42; 43. 909 Nur H verbindet diese Antiphon mit dem Magnificat, andere Codices verlegen sie in eine der Tageshoren. 910 CAO III, 94 Nr. 1781 § 72. 911 CAO I, 170f; CAO II, 310f § 72. 912 Am Palmsonntag wird sie zur Gänze (Mt 26,2-27,66) gelesen; nach C HAVASSE , Lectionnaires I, 62; II, 28. 913 CAO III, 94 Nr. 1780 § 72. 914 CAO I, 170f; CAO II, 310 § 72. 915 Nur Joh spricht metaphorisch von der Nacht, die draußen herrscht: erat autem nox (Joh 13,30). <?page no="153"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 145 dern zur Vorhersage der Verleugnung durch Petrus: Ait illi Iesus amen dico tibi quia in hac nocte antequam gallus cantet ter me negabis (Mt 26,34). Die Antiphon stellt zweifellos die Schuld des Judas heraus, doch in seinem Schatten steht der andere Jünger, der „in dieser Nacht“ gefallen ist. dMagn5 916 Ecce dico vobis: A modo iam non bibam ex hoc genimine vitis, donec illum bibam novum in regno Patris mei. nur C Das sage ich euch: Von jetzt an werde ich nicht mehr von der Frucht des Weinstocks trinken, bis ich jenen neu trinken werde im Reich meines Vaters. Dieses Propethiewort Jesu stammt dem lateinischen Wortlaut nach aus Mt 26,29. 917 Noch einmal ergreift Jesus vollmächtig das Wort: Auf die Ansage von Verrat dico vobis und implizit der Verleugnung (dico tibi) folgt nur in C 918 die feierliche Ankündigung ecce dico vobis, das Fest auszusetzen und keinen Wein - Symbol des endzeitlichen Festmahles für alle Völker 919 - zu genießen, bis das Reich des Vaters kommt. Die Psalmen der im engen Kontext von Abendmahlsmesse und Fußwaschung angesetzten oder darin integrierten Vesper sind am Gründonnerstag mit Blick auf das Abendmahlsgeschehen speziell gewählt. Ihre durchwegs psalmogenen Eigenantiphonen thematisieren den doppelten Kelch (des Heiles und des Leidens), die Feindseligkeit der Mitmenschen sowie die immer größere Verlassenheit des Gerechten. Ausdrücklich auf die Stiftung der Eucharistie bezieht sich die Magnificatantiphon mit ihren weitgehend narrativen Alternativen. Zur Fußwaschung Nach johanneischer Überlieferung erhalten die Jünger während des Letzten Abendmahls nicht den Auftrag zur Feier der Eucharistie, sondern zum Dienst aneinander. Dem Vorbild Jesu folgend sollen sie einander zuvorkommende Liebe erweisen. Obwohl Jesus damit ein Beispiel (exemplum), keine rituelle Anweisung gibt, findet die Fußwaschung auf verschiedene Weise Eingang in die Liturgie. 920 Wohl von Joh 13,8.10 („Wenn ich dich nicht wasche, hast du keinen Anteil an mir … Wer vom Bade kommt, ist ganz rein und braucht nur mehr die Füße gewaschen zu bekommen“) inspiriert ist die in der nichtrömisch-westlichen Spätantike breit bezeugte Fußwaschung als Teil der Taufliturgie; 921 als mimetische Handlung am Gründonnerstag ist eine Fußwaschung vermutlich ab dem 5. Jh. in der Jerusale- 916 CAO III, 185 Nr. 2505 § 72. 917 Vgl. parr Mk 14,25; Lk 22,18. 918 CAO I, 170 § 72. 919 Vgl. Jes 25,6. 920 Zum Ursprung und zur geschichtlichen Entwicklung dieses Ritus vgl. S CHÄFER , Fußwaschung, und B EATRICE , Lavanda, weiters L OSSKY , cérémonie. L EONHARD , Fußwaschung, 106- 114, problematisiert die liturgische Fußwaschung in ihrer heutigen Form als ein „ästhetisch berührendes Ritual“, in dem - gegen das biblische Vorbild - „einer die Macht ausübt, eine Darstellung seiner persönlichen Demut den Mitfeiernden aufzudrängen und sich damit als ihr Vorbild zu empfehlen“ (112); sein Plädoyer für den Verzicht darauf schließt jedoch künftige, nicht zuletzt von älteren mittelalterlichen Quellen inspirierte, „kreative Neugestaltungen des traditionellen Rituals keineswegs aus“ (ebd.). 921 In der Tauffeier des 4.-6. Jhs. ist die postbaptismale Fußwaschung in Gallien, Mailand und auf den britischen Inseln belegt; ebenso in Spanien, wo sie jedoch schon 309 wieder verboten wird. Gallische Taufordines verpflichten die Getauften zum Dienst an den Mitmenschen. Mit der allgemeinen Einführung der römischen Liturgie, die keine Tauffußwaschung kennt, verschwindet der Brauch aus der liturgischen Praxis; nach S CHÄFER , Fußwaschung 1-19. Orientalische Quellen diskutiert B EATRICE , Lavanda 33-79. <?page no="154"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 146 mer Liturgie bezeugt. 922 Als gelebte Nachfolge und Übung der Gastfreundschaft etabliert sich im klösterlichen Alltag die unliturgische Fußwaschung an Gästen 923 , Pilgern und Armen; feierlich werden in den mittelalterlichen Klöstern beide Fußwaschungen am Gründonnerstag begangen. 924 Diesem Vorbild folgend praktiziert man im Frankenreich (9./ 10. Jh.) ebenfalls zwei Fußwaschungen an Klerikern und Armen in der Kathedralliturgie der Hohen Woche. 925 Nach Rom, wo dieser Brauch zunächst nicht bekannt ist, gelangt die Fußwaschung erst im 10. Jh. durch das PRG, worauf sich ein schlichter Doppelritus für die päpstliche Liturgie am Gründonnerstag entwickelt (12. Jh.): Während der Klerus die Vesper singt, wäscht der Papst zwölf Subdiakonen die Füße; beim Abendessen wiederholt er das an den Armen, bedient und beschenkt sie. Als einziger Eigentext des mandatum clericorum kommt die Antiphon Dominus Jesus postquam coenavit in Betracht; ansonsten fehlt ihm und erst recht dem mandatum pauperum jeder feierlich-liturgische Charakter. Erst Jahrhunderte später erhält die Fußwaschung am Gründonnerstag ihren fixen Platz in der offiziellen lateinischen Liturgie (15./ 16. Jh.). 926 In die Eucharistiefeier integriert wurde sie überhaupt erst von den Reformen des 20. Jhs. Im Cursus Romanus ist die Fußwaschung nicht ursprünglich. Codex C nennt in evangelio zwölf Antiphonen ohne weiteren Hinweis; 927 acht davon (nicht Ubi fratres in unum) gibt er samt Psalmen nochmals in caena Domini ad mandatum an 928 sowie weitere zehn Antiphonen (ohne Psalmen). 929 Damit bietet C das größte Repertoire an Begleitgesängen zur Fußwaschung; Codex M hingegen daraus nur fünf Antiphonen. 930 Die Antiphonen zitieren, kompilieren oder paraphrasieren fast ausschließlich neutestamentliche Schriftstellen, häufig aus Joh 13; einige beziehen sich auf die lukanische Erzählung von der Fußwaschung an Jesu durch die Tränen der Sünderin im Haus des Pharisäers (Lk 7,37f). Auch im Cursus Monasticus geben lediglich drei Codices (H, F und L) Anordnungen zu Begleitgesängen ad mandatum. H nennt vierzehn, 931 L neun 932 und F sechzehn Antiphonen. 933 Die Texte sind gemischt: das Stiftungsereignis, dazu Ps 47(48), das „größte Gebot“ (Mt 22) und das Fazit des paulinischen Hoheliedes der Liebe (1 Kor 13,13), sowie zwei Doxologien. Abgesehen von Mandatum novum und Postquam surrexit Dominus in allen fünf Quellen trifft jede Hs aus den bisher genannten Antiphonen eine eigene Auswahl in jeweils anderer Reihenfolge. 934 Die Umgestaltung der klösterlichen Gepflogenheit der Fußwaschung zur liturgischen Handlung am Gründonnerstag ist ein mehrere Jahrhunderte lang andauernder Prozess. Sie wird erst spät rituell in der römischen Liturgie verankert. Die überwiegend neutestamentlichen Antiphonen ad mandatum besingen Christus als Herrn des Geschehens. 922 Vgl. B UCHINGER , Zeiten 309, mit Verweis auf das Georgische Lektionar und die 5. Ijob-Homilie des Hesychius von Jerusalem. 923 Daraus entwickelt sich später die Fußwaschung an den Gästen auf Zeit, den Novizen. 924 Domklerus, Chorherren und Kanonissen übernehmen später diese Praxis in eingeschränkter Form. 925 Es sind dies Umgestaltungen der verbreiteten klösterlichen Fußwaschungen an Armen und Mitbrüdern. Amalar setzt die Fußwaschung als bekannt voraus; er erklärt ihren Sinn, beschreibt sie aber nicht detailliert (LibOff. 1, 12,1 [StT 139, 66 H ANSSENS ]). 926 Alle Angaben zur Herkunft und rituellen Ausformung nach S CHÄFER , Fußwaschung. 927 CAO I, 170 § 72c. 928 Ebd. 416 § 147. 929 Ebd. 930 Ebd. 417 § 147. 931 CAO II, 310 § 72e. 932 Ebd. 311 § 72e. 933 CAO II, 783 § 147 b . 934 Da das mandatum nicht integraler Teil des Offiziums ist, sind seine Antiphonen hier nicht eingehender darzustellen. <?page no="155"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 147 Zum Tagesschluss: Komplet Nur der monastische Codex S enthält eine Rubrik für die vor der Oration in die Messe integrierte Vesper und die in Stille zu haltende Komplet 935 : Hoc explicito dicat sacerdos ad altare et contra populum Dominus vobiscum cum sua oratione. Et sic compleatur Missa et Vespera in unum sub una Oratione adjugentes benedicamus Domino. Completorium vero totum in ipsa nocte cum silentio dicatur. Eine spätere Zufügung weist präzisierend die täglichen Kompletpsalmen 4 und 30(31) sowie „das weitere“ 936 ohne Hymnus und Kurzlesung an. 937 Die Offiziumspsalmodie des Gründonnerstags meditiert das Schicksal eines unschuldig Leidenden und die Verstrickung dieses als Gottesknecht bezeugten Gerechten in immer größere Not. Die Psalmodie der Nacht- und Morgenhore sowie der Tageshoren folgt dabei dem Wochenspalter; die Wahl weitgehend psalmogener und diesem Tag vorbehaltener Antiphonen leitet in Verbindung mit Zitaten aus dem 4. Gottesknechttext sehr zurückhaltend zur christologischen Relecture der Psalmen und Leidensprophetien als Betrachtung der Passion Jesu an. Erst zum Benedictus, zu den besonderen Handlungen dieses Tages (Lichtauslöschen am frühen Morgen; Fußwaschung am Abend) und im Tagescursus erklingen neutestamentliche Antiphonen mit den zum Tag passenden Themen der Leidensgeschichte (Verrat, Verhaftung, Verhör) sowie der Stiftungen Jesu (Abendmahl, Fußwaschung). Die spezifische Psalmenreihe der Vesper mit ihren wiederum mehrheitlich psalmogenen Antiphonen in zeitlicher Nähe zur Eucharistiefeier samt Fußwaschung deutet beide Vermächtnisse Jesu im Horizont der gesamten Heilsgeschichte. Der johanneische Christus der Fußwaschung - souveräner „Herr und Meister“ - ist derselbe Christus der Psalmen, der - jeder Herrlichkeit entäußert - in die Tiefen des menschlichen Daseins absteigt. 1.3.1.2 Karfreitag Die Nachthore: Vigil Die Feiergestalt der Tenebrae (,Trauermette‘) am Karfreitag unterscheidet sich von der des Gründonnerstags vor allem durch die Psalmenauswahl: Folgt man am Gründonnerstag noch dem kurrenten Wochentagspsalter des römischen Offiziums mit tagesspezifischen Antiphonen, ist am Karfreitag auch die Vigilpsalmodie ganz auf den Feiertag zugeschnitten: aus dem Ferialpsalter von Freitag Pss 80(81)-96(97) erklingen am Karfreitag nur die Pss 87(88) und 93(94) sowie aus der Prim Ps 21(22) vom Freitag und der tägliche Ps 53(54). 938 Die übrigen fünf Psalmen sind den Vigilien der anderen Wochentage entnommen. 935 CAO II, 311 § 72e. 936 An gewöhnlichen Tagen wären das außerdem Ps 90(91) und Ps 133(134); nach P ASCHER , Stundengebet 90f. 937 CAO II, 311 § 72e (Anm. 1): Ps Quum invocarem, In te Domine et reliquos, absque Imnum et Capitulum. 938 Das römische Schema folgt weitestgehend dem kanonischen Psalter. Außer einigen für Laudes und Komplet reservierten Psalmen finden sich im Wochenpsalter nur zwei weitere thematisch platzierte Psalmen: der ,eucharistische‘ Ps 22(23) in der Prim am Donnerstag und der Sterbepsalm Jesu Ps 21(22) in der Freitagsprim. <?page no="156"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 148 Erste Nokturn f1N1 939 Astiterunt reges terrae et principes convenerunt in unum, adversus Dominum et adversus Christum ejus. Die Könige der Erde haben sich erhoben, und die Anführer sind übereingekommen gegen den Herrn und gegen seinen Gesalbten. Die erste Antiphon des Karfreitags zitiert Ps 2,2, 940 einen der Königspsalmen, in denen das Amt des Jerusalemer Königs für die messianische Zeit gedeutet wird. Aufgrund der schwierigen hebräischen Überlieferung hat dieser Text mehrfach theologische „Korrekturen“ erfahren 941 und steht als „gewalttätig“ (V. 9) in der Kritik der christlichen Auslegung. Die Sprecher des Psalms wechseln; die Könige der Erde (V. 3), der Weltenkönig JHWH (V. 6), der Zionskönig = Gesalbte/ Sohn (V. 7-9); der Text schließt mit der Aufforderung an die aufrührerischen Mächtigen zur Unterwerfung und zum JHWH-Dienst der Völkerwelt. 942 V. 2 schildert die Rebellion der „Könige“ und „Großen“ gegen den „Gesalbten“. Ps 2 wird im Neuen Testament an mehreren Stellen zitiert. Vor allem die V. 1f.7 werden christologisch und ekklesiologisch zugespitzt (Apg 4,23-31): Petrus und Johannes erhalten nach der Heilung eines Gelähmten vom Hohen Rat Predigtverbot. Nach der Rückkehr der Apostel betet die Gemeinde um Kraft für die weitere furchtlose Verkündigung der Botschaft Jesu. Legitimiert durch die geistgewirkte Prophetie Davids, „unseres Vaters, deines Knechtes“ (puer tuus), zieht sie Ps 2,1f zur Deutung ihrer Situation heran: Die Verfolgung der Apostel und der Gemeinde richtet sich gegen Jesus, den Gesalbten Gottes (Christum eius); die aufsässigen Könige und Fürsten der Erde (reges terrae et principes) sind „Herodes und Pontius Pilatus gemeinsam mit den Heiden und den Stämmen Israels“ (V. 1f in Apg 4,25-27); die Empörung eint diejenigen, die sonst nichts gemeinsam haben. Jesus aber ist mehr als David, er ist „heiliger“ Knecht und Gesalbter (… sanctum puerum tuum Iesum quem unxisti, Apg 4,27) und „dein heiliger Sohn“ (durch dessen Namen Zeichen geschehen werden; … per nomen sancti filii tui Iesu, Apg 4,30). Obwohl im Text nicht niedergeschrieben, ist hier mitzuhören: „heute“ gezeugt vom Vater (filius meus es tu ego hodie genui te, Ps 2,7). Dass die Gläubigen „dein Wort“ (verbum tuum) - Christus - verkünden, macht auch sie (wie David und Jesus) zu „deinen Knechten“ (servi tui, Apg 4,29). In der Offenbarung verkündet der Engel beim Schall der siebten Posaune die in Ewigkeit währende Herrschaft Domini nostri et Christi eius über die Welt - auch gegen den Willen der zornig empörten Völker (V. 1f in Offb 11,15.18) und jener reges terrae, die unter der Herrschaft der „großen Stadt“ Babylon und „des Tieres“ stehen (V. 2 in Offb 17,18; 19,19). Programmatisch schon im ersten Kapitel stehen die Bekenntnisse der Apostel Andreas und Natanael im Johannesevangelium: nach Andreas, der seinem Bruder Simon freudig berichtet „Wir haben den Messias gefunden“ (vgl. V. 2), bekennt Natanael, den Jesus unter dem Feigenbaum sah, dieser sei „der Sohn Gottes und … König von Israel“ (Joh 1,49; vgl. V. 7); als „mein geliebter Sohn“ wird Jesus bei seiner Taufe im Jordan und bei der Verklärung offenbart V. 7 in Mk 1,11 parr; Mk 9,7 parr; 2 Petr 939 CAO III, 60 Nr. 1506 § 73. 940 CAO I, 172f; CAO II, 312f § 73. 941 So auch in der EÜ; nach Z ENGER , AT 1041. 942 Nach H OSSFELD / Z ENGER , Psalmen I, 49-54. <?page no="157"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 149 1,17); „heute gezeugt“ ist der vom Vater auferweckte Sohn; er ist die „an uns“ erfüllte Verheißung Gottes und ewiger Hohepriester (V. 7 in Apg 13,33; Hebr 1,5; 5,5). Zuletzt wird JHWH seinem Gesalbten - sein „Joch ist leicht“ (Mk 11,29f; vgl. V. 3) - die Macht zur Herrschaft mit „eisernem Zepter“ über alle Völker und Menschen verleihen (V. 9 in Offb 2,26f; 12,5; 19,15), und er wird keinen von ihnen verlieren (Joh 17,6; vgl. V. 8). Im Einklang mit dem neutestamentlichen Befund und wohl auch, weil philologisch unklare Stellen theologische Interpretation erfordern, kommentieren die Kirchenväter Ps 2 ausgiebig. Auch sie identifizieren die Empörer „gegen den Herrn und seinen Gesalbten“ einerseits mit Herodes und Pilatus 943 , andererseits mit den Dämonen. 944 Origenes erklärt die vergebliche Auflehnung des gesetzeskundigen jüdischen Volkes und die selten einmütige Rebellion der üblicherweise untereinander zerstrittenen Reiche damit, dass keiner von ihnen in dem bekämpften Gegner Gott und seinen Christus erkannt habe. Deshalb spreche der Sohn in V. 3 zu den Engeln: „Wir wollen ihre Fesseln der Boshaftigkeit zerreißen, danach werden sie das süße Joch tragen.“ 945 Die explizite liturgische Verwendung von Ps 2 im Weihnachts- und Osterfestkreis entspricht seiner christologischen Relevanz und bindet das Offenbarungsereignis der Inkarnation und des Paschamysteriums zusammen. Am Karfreitag eröffnet Ps 2,1f den hermeneutischen Horizont für alle weiteren Texte; am Karsamstag kehrt derselbe Vers als Vigilresponsorium wieder. 946 In der - infolge der Vorverlegung der Paschanacht auf den Karsamstag - ,ergänzten‘ Vigil von Ostersonntag 947 wird Ps 2 mit der freien, an V. 8 (postula a me) angelehnten, vox Christi-Antiphon Postulavi Patrem meum 948 gesungen; 949 in der römischen Sonntagsvigil mit der Antiphon Servite Domino (V. 11). 950 Dieselbe Aufforderung ergeht bereits am Beginn der Quadragesima in der Communio Servite Domino (V. 11f) samt Ps 2. 951 Dominus dixit (Ps 2,7) erschließt den Weihnachtsfestkreis: als eröffnende Vigil- Antiphon in natale/ nativitate Domini 952 und dem Oktavtag; 953 als Introitus und Halleluja in der nächtlichen Weihnachtsmesse. 954 Mit diesen Resonanzen erklingt Ps 2 in der Nachthore des Karfreitags. Die Kirche bekennt darin Jesus in seiner Erniedrigung in Leiden und Tod - und darüber hinaus - als den Messias Gottes, den Sohn des Höchsten und den König über alle Welt. In dieser Spannung sind die folgenden Texte zu verstehen. 943 Irenäus; nach N ESMY , Tradition 25. 944 Justin, ebd. 945 Origenes, ebd. 27. 946 Siehe unten Kapitel 1.3.2.3. Die Quellen des CAO kennen dieses Responsorium noch nicht. www.cantusdatabase.org. führt als früheste Zeugnisse dieses Gesangs einige Quellen des 12. Jhs. an: ID 600155. 947 Zur Zeit der Quellen im CAO ist diese Entwicklung abgeschlossen, alle Hss enthalten eine Vigil vom Ostersonntag; CAO I, 178f; CAO II, 324f; § 75. 948 CAO III, 409 Nr. 4342 § 75. 949 CAO I, 178f; CAO II, 324f; § 75. 950 CAO III, 474 Nr. 4876 § 36; vgl. www.cantusdatabase.org.: ID 004876. 951 AMS 52f § 39b. 952 CAO III, 171 Nr. 2406; CAO I, 34f; CAO II, 64f § 19. 953 CAO I, 60f; CAO II, 92f § 23. 954 AMS 231 § 9a. <?page no="158"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 150 f1N2 955 Diviserunt sibi vestimenta mea, et super vestem meam miserunt sortem. Geteilt haben sie unter sich meine Kleider, und über mein Gewand das Los geworfen. Es folgt - schärfer könnte der Kontrast zu Ps 2 kaum sein - Ps 21(22). Gemeinsam ist ihnen die ausgeprägte liturgische relecture im Rahmen der wichtigsten Herrenfeste. Dieser redaktionell gattungsgemischte Klagepsalm 956 will die Sichtweise des Beters verändern, ihn aus der erlittenen Gottferne herausführen und Hoffnung auf Rettung erwecken. V. 22b des hebräischen Textes markiert den Wendepunkt: „… rette mich. - Du hast mir geantwortet.“ 957 Ps 21(22) gilt aufgrund seiner kanonischen Rezeption in der Passion als „der biblische Klagepsalm par excellence“. 958 Das den Jüngern angekündigte Leiden (Mk 9,12; vgl. V. 7) hat den Menschensohn umfangen (Mk 15,29; Mt 27,29.39; vgl. V. 8); zynisch überlassen die Täter ihn dem Urteil und der Hilfe Gottes (V. 9 in Mt 27,43; vgl. Mk 15,29f; Lk 23,35); Jesus, dürstend (Joh 19,28; vgl. V. 16b), stirbt mit dem Schrei der Gottverlassenheit auf den Lippen (V. 2f in Mk 15,34.37; Mt 27,46.50); dass Jesus in seiner Qual dieser und kein anderer Psalm in den Mund gelegt wird, enthält Hoffnung wider alle Hoffnung: „Ich will deinen Namen meinen Brüdern verkünden, inmitten der Gemeinde dich preisen“ (V. 23). Ps 21(22) ringt sich zu einem Dankversprechen durch für eine Rettung, die nicht mehr möglich scheint und doch geschieht (V. 23 in Hebr 2,12): Maria von Magdala wird sie „meinen Brüdern“ verkünden (Joh 20,17; vgl. V. 23) und „denen, die an seinen Namen glauben, die … aus Gott geboren sind“ (Joh 1,13; vgl. V. 31b-32); sie und alle Apostel werden fortführen, was Jesus zu Lebzeiten angefangen hat (Joh 17,6; vgl. V. 23). Alle Evangelien (Mk 15,24; Mt 27,35; Lk 23,34; Joh 19,24) zitieren V. 19, den Text der Antiphon 959 , um die letzte Enteignung des Gekreuzigten auszudrücken. Andere neutestamentliche Schriften beziehen sich ebenfalls auf Ps 21(22), auf Erfahrungen und Bilder: Wer wie die Witwe den ungerechten Richter bedrängt, „bei Tag und bei Nacht“ zu Gott schreit, wird erhört werden (Lk 18,7; vgl. V. 3) und seine Hoffnung wird „nicht zugrunde gehen“ (Röm 5,5; vgl. V. 6); mag der Teufel umhergehen „wie ein brüllender Löwe“ - wer Gottes Hilfe vertraut, entkommt dem „Rachen des Löwen“ (V. 14 in 1 Petr 5,8; 2 Tim 4,17; vgl. V. 22) und sein Sehnen nach Gottes Nähe erfüllt sich. „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,20; vgl. V. 30c); „alle, die ihn fürchten, Kleine und Große“, stimmen in das endzeitliche Lob Gottes ein (Offb 19,5; vgl. V. 24). Denn Jesus hat „mit lautem Schreien und unter Tränen Gebete und Bitten vor den gebracht, der ihn aus dem Tod retten konnte, und er ist erhört und aus seiner Angst befreit worden“ (Hebr 5,7; vgl. V. 25), und „nun gehört die Herrschaft über die Welt unserem Herrn und seinem Gesalbten“, „denn er muss herrschen, bis Gott ihm alle Feinde unter die Füße gelegt hat“ (Offb 11,15; 1 Kor 15,25; vgl. V. 29). Entsprechend breit ist die christologische Relecture von Ps 21(22) in der patristischen Literatur, die sich besonders auf V. 2 konzentriert. 960 V. 19, die Antiphon zu 955 CAO III, 154 Nr. 2260 § 73. 956 Er enthält auch Bitte, Dank, Bekenntnis, Lobversprechen und endzeitliches Lob; vgl. H OSS- FELD / Z ENGER , Psalmen I, 144; 149-154. 957 Die EÜ („rette mich Armen! “) folgt an dieser Stelle den LXX, deren Übersetzung das weit weniger deutlich akzentuiert; nach Z ENGER , AT 1061. 958 Z ENGER , AT 1060. 959 CAO I, 172f; CAO II, 312f § 73. 960 Vgl. die Übersicht bei N ESMY , Tradition 98-104. <?page no="159"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 151 Ps 21(22) am Karfreitagmorgen, spielt rezeptionsgeschichtlich keine hervorragende Rolle, es dominiert die allegorisch-anagogische Auslegung: Das Gewand - „ganz durchgewebt und ohne Naht“ (Joh 19,23) - gilt den Kirchenvätern als „großartiges Bild für den Glauben, den die Apostel in aller Welt gesät haben, ohne ihn zu zerteilen“. 961 Eine andere - für den Karsamstag vorgesehene - Deutung sieht die Kleidung als Symbol der Vergänglichkeit: Dass derselbe, der die Erzeltern bekleidet hatte, entblößt ans Kreuz gehängt wird, möge den Gläubigen anzeigen, dass sie dadurch der Sterblichkeit entkleidet wurden, um sich mit dem Glanz der Unsterblichkeit zu bekleiden. 962 In der römischen Tradition prägt Ps 21(22) vor allem die Liturgie am Passionssonntag und am Palmsonntag: Die Responsorien In te iactatus sum, In proximo est tribulatio mea und Deus meus es tu (Passionssonntag) 963 sowie Circumdederunt (Palmsonntag, seltener Passionssonntag und Hohe Woche) 964 akzentuieren die Not (V. 17-23); ebenso der Introitus Domine, ne longe (V. 20.22) am Palmsonntag, 965 während der Tractus Deus Deus meus desselben Tages eine heilsgeschichtlich umfassende Kompilation der V. 2.3-9.18.19.22.24.32 bietet. 966 V. 19 rezitiert man in der Jerusalemer Liturgie am Karfreitagnachmittag; im byzantinischen Ritus im Orthros, zur Non und in der Vesper sowie Psalm 21(22) zur Prim. Im koptischen Ritus prägt Ps 21(22) die Gesänge der Hohen Woche. 967 Im Offizium am Karfreitag folgt mit Ps 21(22) auf das Bekenntnis zum Königtum Christi (Ps 2) das Bekenntnis der tiefsten Erniedrigung bis hin zur Verzweiflung, die den Gesalbten des Herrn erfasst hat: vox Christi, dem zuletzt das sprichwörtliche „nackte“ Leben genommen wird, wodurch sich die Hoffnung auf Rettung erschöpft zeigt; vox ecclesiae, die nichts zu feiern und zu beten hätte, dürfte sie mit Christus den Text nicht zu Ende sprechen: „Rette mich. - Du hast mir geantwortet.“ (V. 22) f1N3 968 Insurrexerunt in me testes iniqui, et mentita a est iniquitas sibi. b a - D: mentitas b - B: iniquitas in me Erhoben haben sich gegen mich ungerechte Zeugen, und die Ungerechtigkeit hat sich selbst belogen (zu b: Unrechtes ist gegen mich erdichtet worden). Es folgt als dritter Psalm Ps 26(27), der aus einer Vertrauenskundgabe (V. 1-6) und einer nachgestellten Feindklage mit Bitte an JHWH (V. 7-13) besteht. V. 12bc aus der Klage bildet die Antiphon. 969 Der Beter - ihm droht eine „verleumderische Anklage mit drohender Verurteilung zum Tod“ 970 durch die wie Wildtiere und Krieger angreifenden Feinden - vertraut darauf, bei JHWH, in „seinem Tempel, in seinem Haus und 961 Ephräm, ebd. 96. 962 Johannes v. Damaskus, ebd.; die mittelalterliche Theologie legt den Text außerdem typologisch - Joseph, geliebter Sohn Jakobs, wird von den Brüdern seines Gewandes beraubt (Gen 37,23) - und allegorisch aus: dieselbe Antiphon wird zur Entblößung der Altäre am Gründonnerstag gesungen; vgl. www.cantusdatabase.org.: ID 002260. 963 CAO IV, 236 Nr. 6941; ebd. 234 Nr. 6931; ebd. 110 Nr. 6428 § 66. 964 Ebd. 73 Nr. 6278 § 66; 68; vereinzelt am Gründonnerstag und Karfreitag § 72; 73; dazu siehe unten Kapitel 1.3.2.2 fR 16 . 965 AMS 231 § 73a. 966 Ebd. § 73b. 967 Nach R OSE , Psaumes 230. 968 CAO III, 287 § 73. 969 CAO I, 172f; CAO II, 312F § 73. 970 Zenger, AT 1066. <?page no="160"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 152 in seinem Zelt“ Schutz zu finden (V. 1-6) und schließt mit der Selbstaufforderung, „festen Mut“ (V. 14) zu zeigen. Im Neuen Testament lassen sich mehrere Anklänge an die Bildsprache (Licht, Felsen, Angesicht) von Ps 26(27) ausmachen: Gottes schon lange wirkende Gnade ist jetzt offenbar geworden durch „das Aufstrahlen unseres Herrn Jesus Christus“ (2 Tim 1,10; vgl. V. 1); während der Wüstenwanderung des Exodus kamen Rettung und Leben aus dem Felsen, „und dieser Fels war Christus“ (1 Kor 10,4; vgl. V. 5); die Bewohner des himmlischen Jerusalem „werden sein Angesicht schauen“ (Offb 22,4; vgl. V. 8); bevor Christus (in den Himmel) „aufgenommen wurde“, hat er sich den Seinen gezeigt und sie ermutigt, den Heiligen Geist zu erwarten (Apg 1,2; vgl. V. 10). Im liturgischen Kontext konkretisiert sich die Bedrohung des Psalmisten durch „gierige Gegner und falsche Zeugen“ in dem Bemühen des Hohen Rates „um falsche Zeugenaussagen gegen Jesus, um ihn zum Tod verurteilen zu können“ (Mt 26,59; Mk 14,57; vgl. V. 12). Auf dieser Basis legen die Kirchenväter Ps 26(27) teils christologisch (Christus, der Fels; vgl. V. 5), aber mehr noch ekklesiologisch als Gebet des neuen, vollkommen wiederhergestellten Volkes Gottes aus; 971 wie seinerzeit Israel ziehe es ins „Land der Lebenden“, um „im Haus der Herrn zu wohnen“, das „die Kirche aus lebendigen Steinen“ ist. 972 V. 12b mentita est iniquitas sibi deckt die Lüge als Selbstbetrug auf. Die falschen Zeugen können nicht überzeugen, sie scheitern an der Wahrheit; 973 die Ungerechtigkeit gefällt sich in ihrer Sünde 974 , und führt doch den eigenen Untergang herbei; 975 so auch jene, die sich anschicken, „mich [den Gerechten] zu verlocken, um mich vom rechten Weg abzubringen.“ 976 Das Licht-Motiv aus Ps 26(27),1 wurde in Ost und West liturgisch wirksam. In der byzantinischen Tradition gilt es am Lazarussamstag als Vorschein der Auferstehung; in der Osternacht deutet es die Taufe als Erleuchtung, und zu Epiphanie dient es zum Lobpreis des göttlichen Lichts; dazu gibt es in der spanischen Liturgie ein Parallele; V. 1 eröffnet in Spanien und in Mailand überdies das Luzernar der täglichen Vesper. 977 Mit ähnlicher Konnotation findet Ps 26(27) in der römischen Tradition mehrfach Verwendung: V. 9 im Responsorium Adiutor meus (nach Epiphanie; weiters an Sexagesima und Quinquagesima) 978 ; gleichfalls in der vorösterlichen Messpsalmodie die V. 1.8f im Introitus Tibi dixit (Quadragesima) 979 ; mit V. 12 in der Communio Ne tradideris (Freitag und Samstag vor Palmsonntag) 980 kommt das Unrecht in den Blick. Derselbe V. 12 kehrt am Karfreitag in der Vigil als Antiphon zu seinem Ps 26(27) und als Versikel 981 wieder; in der Karsamstagsvigil dann noch einmal Ps 26(27) mit der Antiphon Credo videre (V. 13). 982 971 Cyrill von Alexandrien; nach N ESMY , Tradition 119. 972 Origenes, ebd. 120. 973 Eusebius, ebd. 122. 974 Augustinus, ebd. 975 Hieronymus, ebd. 976 Beda, ebd. 977 Nach R OSE , Psaumes 107; 178; 149; 144; 99. 978 CAO IV, 10 Nr. 6037 § 26-27; 38; 54; 56. 979 AMS 234 § 48a. 980 Ebd. 250 § 72. 981 Siehe unten Kapitel 1.3.2.2. 982 Siehe unten s2N2. <?page no="161"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 153 Die zwei Offiziumsantiphonen deuten Aspekte der Passion: In V. 12b Insurrexerunt in me testes iniqui spricht der bedrängte Gerechte/ Christus; V. 12c mentita est iniquitas sibi entlarvt den scheinbar erfolgreichen Angriff als schon zum Scheitern verurteilt. 983 Mit der Antiphon credo videre bona Domini in terra viventium (V. 13) am Karsamstag wendet sich das Leid in Zuversicht. Am Karfreitag sind nun außer den Antiphonen auch die Psalmen eigens für diesen Tag zusammengestellt. In der 1. Nokturn greift man dabei auf die schon im Neuen Testament christologisch bedeutsamen Psalmen 2 und 21(22) zurück, deren liturgische Verwendung das Christusereignis vom Anfang (Gottessohnschaft, ausgesetzte Menschwerdung) bis zum sichtbaren Ende (Feindschaft der Mächtigen und der Völker, tödliche Gottverlassenheit) vor Augen bringt. Die psalmogenen Antiphonen akzentuieren weitere Spannungen: die Heftigkeit der Auflehnung gegen den Gesalbten und - letztlich - ihre Vergeblichkeit sowie die Sohnschaft des Leidenden und seine Gottverlassenheit; die Evidenz des Geschehens gleichermaßen wie sein Mysterium. Zweite Nokturn f2N1 984 Vim faciebant qui querebant animam meam. Gewalt übten, die nach meinem Leben trachteten. Die 2. Nokturn beginnt mit Ps 37(38), der Klage eines Schwerkranken, in der die Schilderung der Not breiten Raum einnimmt (V. 1-15.18-21), mit V. 13a als Antiphon. 985 Die Klage überwiegt die knappe Bitte um Erhörung (V. 22f) und die Gewissheit, dass Gott helfen wird (V. 16f). Auffallend ist, dass Schuld und Krankheit, Zorn und Strafe in diesem Psalm in ursächlichem Zusammenhang gesehen werden: Die Krankheit ist selbstverschuldete Sündenfolge, „weil du mir grollst“ (V. 4). Darüber hinaus quält den Beter, dass auch „Freunde und Gefährten“ (V. 12) ihm „ohne Grund“ zu Feinden geworden sind, ihm „Gutes mit Bösem“ vergelten, ja ihm „nach dem Leben trachten.“ (V. 13.20.21). Der Beter bezeugt Schuldeinsicht und den Willen zum Guten. Ps 37(38) lässt sich versweise, aber nicht ohne weiteres als Ganzer als vox Christi verstehen; es sei denn, die Christologisierung ,von unten‘ (z. B. in V. 12) und ,von oben‘ (z. B. in V. 4) greifen ineinander wie in der neutestamentlichen Rezeption: Die Evangelien erzählen vom einsamen Sterben Jesu, denn „alle seine Bekannten … standen in einiger Entfernung“ (Lk 23,49; vgl. Mt 26,56 und Joh 7,5; vgl. V. 12); ,von unten‘ deutet Ps 37(38) auch die Frage des Pilatus „Hörst du nicht, was sie dir alles vorwerfen? “, die Jesus „wie ein Tauber, wie ein Stummer“ nicht beantwortet (Mt 27,13; vgl. Mk 14,56 und Mt 26,60; vgl. V. 13f); nach Paulus hat Gott „den, der keine Sünde kannte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm Gerechtigkeit Gottes würden“ (2 Kor 5,21; vgl. V. 19); mitfühlend mit unserer Schwäche und „in allem wie wir in Versuchung geführt“ (Hebr 4,15), ohne zu sündigen, spricht Christus stellvertretend für alle „Kinder des Zorns“ (Eph 2,3; vgl. V. 2): „Ja, ich bekenne meine Schuld, ich bin wegen meiner Sünde in Angst“ (V. 19; vgl. 1 Kor 15,3). Ihretwegen und von ihrer Hand muss der „Urheber des Lebens“ sogar den Tod erleiden (Apg 3,15; vgl. V. 21). Christologie ,von oben‘ zeigt Jesus, der die Sünder als „Kranke“ annimmt, die zu rufen und zu heilen er als „Arzt“ gekommen ist (Mk 2,17 parr; vgl. V. 4); der alle von 983 Nicht in Textvariante b: Die Lüge trifft hier allein den Beter. 984 CAO III, 539 Nr. 5423 § 73. 985 CAO I, 172f; CAO II, 312 § 73. <?page no="162"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 154 der Bürde der Sündenschuld befreit - „die ihr euch plagt“ - und ihnen statt dessen sein Joch auflegt, denn „meine Last ist leicht“ (Mt 11,28.30; vgl. V. 5b.7). Auch die Vätertheologie hat einige Mühe mit der Christologie von Ps 37(38), wie der lapidare Befund zeigt: „Ce psaume s’applique au Christ à partir du verset 12“ (außer V. 19). 986 Dieser sowie die V. 1-11 beziehen sich nach patristischer Auslegung auf die schuldverstrickte Situation des Menschen. In V. 13 aber spricht Christus, der all das für uns erlitten hat. 987 Keine hermeneutische Schwierigkeit bereitet V. 13a, der als Antiphon Psalm 37(38) 988 rahmt und auf das Leiden Christi ausrichtet: Er fasst die in den bisherigen Antiphonen thematisierten feindlichen Handlungen gegen den Gerechten als „Gewalttat“ (vis) zusammen und nennt als deren Ziel den Tod des Opfers. Die liturgischen Resonanzen von Ps 37(38) kommen in der römischen Tradition aus der Quadragesima: in der Messe am Mittwoch der 2. Woche im Introitus Ne derelinquas (V. 22f) 989 ; im Offizium im Responsorium Tota die am Passionssonntag (V. 7.8.13.12). 990 f2N2 991 Confundantur et revereantur qui quaerunt animam meam ut auferant eam. Zugrunde gehen und beschämt werden sollen, die nach meinem Leben trachten, um es zu nehmen. Darauf folgt Ps 39(40). Vermutlich in mehreren Etappen fortgeschrieben besteht er in seiner redaktionellen Endgestalt aus einer Danksagung für die Errettung aus Todesnot (V. 2-5), einem Bekenntnis zum Leben nach der Tora (V. 6-11) und einer Bitte um Beistand in neuerlicher Bedrängnis und Schuldverstrickung (V. 12-18). 992 Aus einem ursprünglich eigenständigen Bittgebet (V. 14-18) 993 , das in den letzten Abschnitt integriert wurde, stammt die Antiphon (V. 15) 994 . „In der ungewöhnlichen Abfolge Dank - Klage/ Bitte ist der Psalm eine Bündelung der spannungsreichen menschlichen Existenz.“ 995 Wie im vorigen Psalm deutet der Psalmist den Zusammenhang zwischen Leid und Schuld: „Meine Sünden holen mich ein.“ (V. 13) Der Hebräerbrief bekräftigt unter Zitation von Ps 39(40) - es „spricht Christus bei seinem Eintritt in die Welt“ - das Ende aller Opfer (V. 7-9 in Hebr 10,5-9). Nach dem Willen dessen, der weder Schlacht- und Speiseopfer noch Brand- und Sündopfer fordert, sondern den Seinen Gehör und Leib geschaffen hat, „sind wir durch die Opfergabe des Leibes Jesu Christi ein für allemal geheiligt“ (Hebr 10,10); Grund genug für die Gläubigen, es ihm gleichzutun (Eph 5,2; vgl. V. 7); auch sonst bezieht sich das Neue Testament auf einzelne Verse: Wie der Psalmist „ein neues Lied … einen Lobgesang auf ihn, unsern Gott“, singen auch die Erlösten „ein neues Lied vor dem Thron“ (Offb 14,3; vgl. V. 4); der „Fels“, der ihren Schritten festen Halt gibt, ist Christus (1 Kor 10,4; vgl. V. 3); dem beharrlichen Warten des Beters expectans expectavi Do- 986 Hieronymus; nach N ESMY , Tradition 160. 987 Cyrill von Alexandrien, ebd. 161. 988 Die Psalmincipits in S und L Domine ne in ira tua legt die Verwendung des altrömischen Psalters nahe; W EBER , Psautier 80. 989 AMS 233 § 49. 990 CAO IV, 434 Nr. 7771 § 66. 991 CAO III, 107 Nr. 1883 § 73. 992 Nach H OSSFELD / Z ENGER , Psalmen I, 252. 993 Es stammt aus dem älteren Ps 69(70); ebd. 994 CAO I, 172f; CAO II, 312f § 73. 995 Z ENGER , AT 1084. <?page no="163"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 155 minum et intendit mihi (V. 2) 996 gleichen die Hoffnung des greisen Simeon (Lk 2,25), die Frage des Täufers (Mt 11,3) und die Bitte Josefs von Arimathäa (Mk 15,43) ebenso wie die Geisterwartung der Jünger nach der Begegnung mit dem Auferstandenen (Apg 1,4) und nicht zuletzt die Sehnsucht der ganzen Schöpfung (Röm 8,19; alle vgl. V. 2). Das (stellvertretende) Schuldbekenntnis des Beters Jesus (V. 13) und seine Armut (V. 18) ist als Identifikation mit den Sündern im Sinne von 2 Kor 5,21 verstehbar. 997 Die patristische Auslegung versteht Ps 39(40) als dreifach gesungenes Lied: Christus kündigt seine Menschwerdung und die Erlösung an und offenbart den Menschen das göttliche Mysterium; das Gottesvolk des Alten Bundes bekennt seine Schuld; dazu bestimmt, den Glauben an Christus zu erfassen, stimmen schließlich alle Menschen ein. 998 Auf V. 15 gehen die Kirchenväter nicht eigens ein. Ps 39(40) ist kein liturgisch prominenter Psalm, doch begegnet er in der Quadragesima in den Offertorien Exspectans (V. 2-4) 999 und Domine, in auxilium (V. 14f) 1000 ; im Offizium im Responsorium Statuit Dominus (V. 2-4) 1001 nach Epiphanie; am Dienstag per annum als Responsorialvers in Auribus (V. 14) 1002 . In der Karfreitagsvigil führt V. 15 über die Stichwortverknüpfung quaerere animam meam den Text der vorherigen Antiphon weiter: Die dem Beter gewalttätig „nach dem Leben trachten“, mögen zugrunde gehen und beschämt werden. f2N3 1003 Alieni insurrexerunt in me et fortes quaesierunt animam meam. Fremde sind gegen mich aufgestanden, und Mächtige haben nach meinem Leben getrachtet. Ps 53(54), die individuelle Klage eines tödlich Bedrängten 1004 , beschließt die Psalmodie der 2. Nokturn; seine Antiphon ist V. 5. 1005 In knapper Form ergeht ein vierfacher Hilferuf an JHWH mit der Bitte, er möge die Untaten der Gegner auf sie zurückwenden; gattungstypisch endet der Klagepsalm mit einem Lobversprechen für die antizipierte Rettung. Das Neue Testament bezieht sich nicht ausdrücklich auf Ps 53(54), doch wie der Psalmist erfährt Jesus von Anfang an feindselige Nachstellungen durch die Mächtigen enim ut Herodes quaerat puerum ad perdendum eum (Mt 2,13.20); dieselben planen den Tod Jesu quid me quaeritis interficere? (Joh 7,20; vgl. Mk 11,18; 14,1; Lk 19,47; 22,2), den sie mit seiner Ausforschung und Verhaftung quem quaeritis? (Joh 18,4) ins Werk zu setzen beginnen. Die Kirchenväter geben der Auslegung von 53(54) etwas mehr Raum. In V. 5 hören sie vox Christi klagen, wie es der menschlichen Natur entspricht; 1006 das Flehen Davids vox hominis diene „uns“ und allen, die ein frommes Leben führen und sich des- 996 In der EÜ: „Ich hoffte, ja ich hoffte auf den Herrn.“ 997 Vgl. Ps 37(38). Beide Psalmen vermitteln das solidarische Leiden des Gottesknechtes „für die Schuldigen“ (vgl. Jes 52,13-53,12). Damit treffen sie ins Zentrum paschaler Soteriologie. 998 Cyrill von Alexandrien; nach N ESMY , Tradition 166; die dreifache Sichtweise (Israel - Christus - Menschengeschlecht) gilt generell für viele Psalmen. 999 AMS 245 § 65; außerdem am 15. Sonntag nach Pfingsten: ebd. § 187. 1000 Ebd. § 51; 64; sowie am 16. Sonntag nach Pfingsten: ebd. § 188. 1001 CAO IV, 416 Nr. 7698 § 27; 28. 1002 www.cantusdatabase.org.: ID 006154za (nicht vor dem 11. Jh.). Die älteren Quellen des CAO führen als Vers Ps 39(40),2 Dixi custodiam an: CAO IV, 40 Nr. 6154 § 27; 28. 1003 CAO III, 37 Nr. 1321 § 73. 1004 Er wird dem von den Sifitern an Saul verratenen David zugeschrieben (V. 1f). 1005 CAO I, 172f; CAO II, 312f § 73. 1006 Hilarius, nach N ESMY , Tradition 236. <?page no="164"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 156 halb immer in Bedrängnis sehen werden, „zur Belehrung“. 1007 Für die vorösterlichen Tage ist die Auslegung von V. 8 von Bedeutung: Sie sieht das „freiwillige“ Opfer (voluntarie sacrificabo tibi) Davids in der Wüste - was anderes als das geistliche Opfer seines Willens hätte er dort darzubringen gehabt? 1008 - als Typos für die freiwillige Lebenshingabe des Gottesknechtes (vgl. Jes 53,7 in der Vulgata 1009 ), der Christus ist. 1010 Aufschlussreich für das passionstypologische Verständnis von Ps 53(54) ist sein mehrfacher Anklang vor und in der Hohen Woche: im Graduale Deus exaudi (V. 4.3) 1011 nach dem 5. Quadragesimasonntag; im Introitus In nomine (V. 3-5) 1012 am Mittwoch der Hohen Woche sowie im Offizium der Kartage: der Text der Antiphon Alieni insurrexerunt (V. 5) kehrt als Responsorialvers in Tradiderunt in der 3. Nokturn desselben Tages 1013 wieder und V. 6 Deus adiuvat me ist eine Vigilantiphon der 3. Nokturn am Karsamstag. 1014 V. 5 als Antiphon enthält einmal mehr jene Wendung quaesierunt animam meam, die man den ,Refrain‘ der 2. Nokturn nennen könnte. Wieder sind es „fremde“ und „mächtige“ Gegner (alieni et fortes), die das Leben des Frommen bedrohen. Die Erfahrung der Fremdheit und Entfremdung ist in diesen Tagen bedrängend: der Beter muss unter Fremden leben, die ihn nicht erkennen; 1015 fremde Könige stehen gemeinsam gegen ihn auf 1016 ; selbst die eigenen „Brüder“ verstehen ihn nicht. 1017 - „Fremd“ sind die, die nicht verstehen und nicht erkennen und so zu Feinden werden. Die 2. Nokturn entfaltet das Gewaltpotential der Empörung gegen den Gesalbten/ Christus. Die hierfür gewählten Psalmen sind in christologischer Lesart bereits aus der Quadragesima oder der Hohen Woche vertraut. Ihre Antiphonen vermitteln über die Stichwortverknüpfung (animam meam) den Feiernden, dass in der Person des Beters/ Christi auch ihr Leben auf dem Spiel steht. Zuletzt klingt das Motiv der Fremdheit/ Entfremdung und Unkenntnis (Gottes) als Nährboden wachsender Feindschaft an. Dritte Nokturn f3N1 1018 Ab insurgentibus in me libera me, Domine, quia a occupaverunt animam meam. a - L + ecce Von denen, die sich auf mich stürzen, befreie mich, Herr, denn sie haben sich meines Lebens bemächtigt. Die 3. Nokturn setzt mit der Antiphon Ps 58(59),2b.4a 1019 ein. Dieser „Gebetskampf“ 1020 eines einzelnen in sehr drastisch und konkret geschilderter Not wurde zu einem Bittgebet Israels in der Bedrohung durch fremde Völker umgestaltet. 1021 1007 Eusebius, ebd. 1008 Ders., ebd. 1009 Vgl. die Antiphonen dL2 und dL5 aus Jes 53,7 am Gründonnerstag. 1010 Hippolyt, Hilarius, Hieronymus, Cassiodor, ebd. 1011 AMS 235 § 68. 1012 Ebd., 232 § 76. 1013 Siehe unten Kapitel 1.3.2.2 fR 7 . 1014 Siehe unten s3N1. 1015 Vgl. Ps 119(120),5 (dV2); Ps 141(142), 5a (dV5); Ps 143(144),7 (dV6); sowie f2N3. 1016 Vgl. f1N1. 1017 Vgl. im 1. Vigilpsalm Ps 68(69),9 am Gründonnerstag. 1018 CAO III, 22 Nr. 1201 § 73. 1019 CAO I, 172f; CAO II 312F § 73. <?page no="165"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 157 In den neutestamentlichen Schriften finden sich keine direkten Bezüge zu Ps 58(59) oder einem seiner Verse. Im Kontext der Passion lässt sich jedoch nicht nur Pilatus, der seine Unschuld am „Blut dieses Gerechten“ (Mt 27,24) beschwört, als einer der „Blutmenschen“ 1022 (V. 3) ausmachen. 1023 Anders als in den Bußpsalmen 37(38) und 39(40) der 2. Nokturn weiß sich der Beter in diesem Text von jeder Schuld frei (V. 4b.5a). Umso leichter ist es, Ps 58(59) als vox Christi und Prophetie seiner Passion zu hören, wie es die Kirchenväter durchwegs tun. 1024 Dabei steht nicht nur das physische Leben Jesu auf dem Spiel, sondern auch das durch die Versuchung angefochtene Seelenleben. 1025 Außer im Wochenpsalter beschränkt sich die liturgische Verwendung von Ps 58(59) auf das Offertorium Eripe me (V.2) in der 5. Qudragesimawoche. 1026 Die Antiphon verbindet in der Textfassung des altrömischen Psalters 1027 je einen Halbvers aus V. 2 Eripe me de inimicis meis Deus et ab insurgentibus in me libera me und V. 4 quia ecce occupaverunt animam meam inruerunt in me fortes und fügt die Anrede Domine aus V. 5 ein. Die in der 2. Nokturn beobachtete Stichwortverknüpfung quaerere animam meam wird fortgeführt. Die Gewalttätigkeit adstiterunt, diviserunt, insurrexerunt (= vim faciebant) erhält mit insurgentibus in me eine gefährlich nahe Komponente: es wird eng um den Verfolgten, und das Streben der Feinde (quaerere animam meam) kommt in occupaverunt animam meam ans Ziel. Hier durchbricht die Antiphon die Reihe der (an)klagenden Feststellungen, die das Feindverhalten ins Zentrum rücken, und wendet sich dem zu, der helfen kann Domine libera me. f3N2 1028 Longe fecisti a notos meos a me; traditus sum, et non egrediebar. a - D: fecistis Weit entfernt hast du meine Bekannten von mir; ich bin ausgeliefert worden und entkam nicht. Ps 87(88) setzt die Psalmodie mit V. 9 als Antiphon 1029 fort. Kein typischer Klagepsalm - es fehlen Bitte und Dankversprechen - ist er vielmehr „Theodizeeklage“ in Todesangst: In im Psalter einzigartiger Weise ist der „Gott meines Heils“ (V. 2) dem Beter zum tödlichen Feind geworden, hat ihn „in finsterste Nacht“ gestürzt und „ins tiefste Grab gebracht“ (V 7), den Toten gleich (vgl. V. 6). Dafür klagt der Beter Gott an und hält ihn doch als Gott des Lebens fest (V. 10b-13). Der Psalm endet ohne Erhörungsgewissheit und in existentieller Finsternis. Psalm 87(88) ist „kein dogmatischer Traktat über Gott, sondern betender Kampf gegen Gott mit Gott.“ 1030 1020 H OSSFELD / Z ENGER , Psalmen II, 152. In der Zuschreibung nimmt David vor der tödlichen Verfolgung durch Saul bis zu seinem Haus Zuflucht zu JHWH. 1021 Ebd. 145. 1022 In der EÜ: „Mörder“. 1023 Nach Augustinus alle, die die Kreuzigung Jesu unter der Selbstverfluchung „Sein Blut komme über uns“ gefordert hatten (Mt 27,22.23.25); nach N ESMY , Tradition 257. 1024 Origenes, Hilarius, Cyrill von Alexandrien, Theodoret, ebd. 1025 Origenes, ebd. 1026 AMS 245 § 70. 1027 W EBER , Psautier 130. Vulgata: ceperunt (statt occupaverunt). 1028 CAO III, 319 Nr. 3632 § 73. 1029 CAO I, 172f; CAO II 312F § 73. 1030 Z ENGER , AT 1137. <?page no="166"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 158 Für die Deutung des Leidens und Sterbens Jesu wird dieser scheinbar hoffnungslose Text 1031 in den neutestamentlichen Schriften nicht herangezogen. Einen Widerschein davon mag man in der zuletzt unüberbrückbaren Entfernung des Gekreuzigten von „alle[n] seine[n] Bekannten“ finden (Lk 23,49; vgl. V. 9.19) 1032 ; einen anderen in der Erhörung Christi am Ostermorgen „in aller Frühe“ (Mk 16,2; vgl. V. 14b); „die Leiber vieler Heiligen“, die beim Tod Jesu aus ihren Gräbern kommen, erinnern an jene „Schatten“, die - wider alle Hoffnung - „aufstehn, um dich zu preisen“ (Mt 27,52; vgl. V. 11). Ähnlich hält auch Offb 9,11 fest, die Wesen des Totenreichs hätten „über sich als König den Engel des Abgrunds“. 1033 Die patristische Psalmenauslegung widmet sich Ps 87(88) ausführlich. Höchste theologische Bedeutung misst sie den V. 5b.6a (aestimatus sum cum descendentibus in lacum) factus sum sicut homo sine adiutorio; inter mortuos liber (sicut vulnerati dormientes in sepulchris quorum non es memor amplius et ipsi de manu tua repulsi sunt) zu. 1034 V. 9 longe fecisti notos meos a me posuerunt me abominationem sibi traditus sum et non egrediebar, dessen erster und dritter Stichos den Text der Antiphon bilden, ermöglicht zahlreiche Assoziationen: Er lässt die Väter an den Verrat des Freundes und die Flucht der Jünger denken 1035 sowie an die Ferne des Gottessohnes von den Engeln (V. 9a); 1036 jene Freunde, die nun mit Abscheu reagieren, seien die Juden, die Jesus am Kreuz sehen (9b); 1037 Christus aber - der von Judas ausgelieferte 1038 Gefangene der Synagoge 1039 - habe seine Gottheit bis zur Auferstehung am dritten Tag verborgen 1040 , um die Wirklichkeit seines Todes zu bekräftigen. 1041 Der den Psalm abschließende V. 19 elongasti a me amicum et proximum et notos meos a miseria nimmt das Motiv der Entfremdung noch einmal auf, und zeigt Christus verlassen von den Aposteln 1042 und ohne jeden Trost in seinem Elend. 1043 Ps 87(88) hat in die Liturgie des Karfreitags und Karsamstags als Interpretament der Passion und des Glaubensartikels „Jesus Christus, hinabgestiegen in das Reich des Todes“ Eingang gefunden - sowohl zum Erweis des Todes des Menschen Jesus als auch zum Erweis seiner Gottheit und Hoheit über den lebensfeindlichen Machtbereich des 1031 „Die Kraft seiner Anklage ist zugleich die Kraft seiner Hoffnung.“ (H OSSFELD / Z ENGER , Psalmen II, 567). 1032 Vgl. auch Ps 37(38),12 Amici mei et proximi mei adversus me adpropinquaverunt et steterunt et qui iuxta me erant de longe steterunt. 1033 Vgl. den „tiefen, unüberwindlichen Abgrund“ zwischen denen „im Schoß Abrahams“ und „euch“ in der Unterwelt (Lk 16,26). 1034 Die Verse 5a.6b (Factus sum sicut homo sine adiutorio, inter mortuos liber) werden im Offizium am Karsamstag in der Antiphonie und als Responsorium verarbeitet (s3N3, sR 7 ); siehe unten Anm. 1208. 1035 Athanasius und Hieronymus; nach N ESMY , Tradition 479. 1036 Hieronymus, ebd. 1037 Origenes, Cassiodor, ebd. 1038 Cassiodor, ebd. 1039 Athanasius, ebd. 1040 Augustinus, Hieronymus, ebd. 1041 Hieronymus ebd. 1042 Eusebius, ebd. 1043 Athanasius; für Theodoret gründet das Elend Christi in seiner Entäußerung als Sklave; Hieronymus sieht das Elend derer, die keinen Hirten mehr haben; alle ebd. Der hebräische Text ist schwierig: „Das letzte Wort des Psalms hat zwar offensichtlich bereits den alten Versionen Probleme bereitet, doch kann MT beibehalten werden: … und meint ursprünglich ,Finsternisort‘“ (H OSS- FELD / Z ENGER , Psalmen II, 566; vgl. EÜ: „Finsternis“). <?page no="167"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 159 Todes. Der im Ansatz biblisch inspirierte 1044 , später dogmatisierte Descensus Christi ad inferos ist seit patristischer Zeit ein zentraler christologisch-soteriologischer Inhalt der Karsamstagstheologie: 1045 An diesem Tag wird Ps 87(88) mit der Antiphon Factus sum (V. 5f) wiederholt; die V. 5-7 erklingen im Responsorium Aestimatus sum. 1046 Schon die Jerusalemer Liturgie kennt Ps 87(88) im Zusammenhang mit der Passion; ebenso der ambrosianische, koptische und byzantinische Ritus von der Ankündigung des Leidens Jesu bis zur Grablegung: V. 7 begründet die Verwendung des Psalms in der byzantinischen Karfreitagsvesper und im Orthros und erklingt in der koptischen Liturgie zur Stunde des Todes Christi und seines Descensus. 1047 Entfremdung und Ausschluss aus der menschlichen Gemeinschaft gehören zu den biblischen Todeserfahrungen. 1048 Für den Bruch der Beziehung zwischen Gott und Mensch steht der Sturz in die Scheol, den der Beter in Ps 87(88) erleidet. Ps 87(88) mit seiner Antiphon stellt im Feierverlauf des Karfreitags einen absoluten Stimmungstiefpunkt dar: Nach den Feindklagen der ersten sechs Antiphonen verhallt der Hilferuf der siebenten Antiphon ungehört, da JHWH sich entzogen hat. Zu der sich unaufhörlich steigernden Bedrängnis, zu den Nachstellungen und Anfeindungen durch Gegner und frühere Gefährten kommt jetzt der „lähmende ,Gottesschrecken‘“. 1049 Die Situation erscheint ausweglos, denn JHWH selbst hat gehandelt (fecisti). 1050 f3N3 1051 Captabunt a in animam justi, et sanguinem innocentem condemnabunt b . a - G, B, H, F, S: Captabant b - B: condemnabant Zu fassen kriegen werden sie das Leben des Gerechten und unschuldiges Blut verdammen. Letzter Vigilpsalm am Karfreitag ist Ps 93(94) mit V. 21 als Antiphon. 1052 Die Anrufung JHWHs als Gott der Gerechtigkeit, als Anwalt und Richter, verbindet sich mit einer Mahnrede an die „Frevler“ (V. 3), sich nicht in Gott zu täuschen, der - als Vollstrecker des Tun-Ergehen-Zusammenhangs - alles Unrecht auf sie zurückfallen lassen („vergelten“) und die Gewalttäter „vernichten“ wird (V. 23). Das Thema Gerechtigkeit und „Rache“ als endzeitliche Wiederherstellung der Heilsordnung ist auch im Neuen Testament von Bedeutung. Außer Paulus reflektieren auch weitere Briefe und Schriften die Gotteserfahrung von Ps 93(94): Gott allein sei es, der Rechtsüberschreitung und Betrug „rächt, wie wir euch schon früher gesagt und bezeugt haben“ (1 Thess 4,6), weshalb die Gläubigen nicht selbst Vergeltung suchen, sondern „Raum für den Zorn Gottes“ lassen sollen (Röm 12,19; beide vgl. V. 1f; vgl. Hebr 10,30), der nicht zögern wird, „unser Blut an den Bewohnern der Erde zu rä- 1044 Die frühchristlichen Theologen beziehen sich meist auf den 1. Petrusbrief (1 Petr 3,19; 4,6); doch lassen sich auch andere Schriftstellen für die Entfaltung des Descensusmotivs anführen, u. a. Mt 12,40; Apg 2,24.30f; Röm 10,7; Eph 4,8; Hebr 13,20; 1 Petr 3,18-20; nach V ORGRIMLER , Vorfragen 282. 1045 Zur Entstehungsgeschichte der christlichen Descensusvorstellung und ihrer bibeltheologischdogmatischen Einordnung siehe unten Kapitel 1.4.3.3 Christi descensus ad inferos. 1046 Siehe unten s3N3; sR 7 . 1047 Nach R OSE , Psaumes 246. 1048 Vgl. Ps 37(38),12; Ps 68(69),9; Ijob 30,10.29 u. a. 1049 H OSSFELD / Z ENGER , Psalmen II, 574. 1050 Das an die Feinde adressierte fecistis (in D) ist wohl eher eine Verschreibung als theologische Absicht. 1051 CAO III, 93 Nr. 1767 § 73. 1052 CAO I, 172f; CAO II, 312f § 73. <?page no="168"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 160 chen“ (Offb 6,10). Vor dessen rettendem Eingreifen aber waren alle Menschen in ihrem Denken der Nichtigkeit verfallen (Röm 1,21; vgl. V. 21) und selbst die „Gedanken der Weisen“ - weiß der Herr - „sind nichtig“ (V. 11 in 1 Kor 3,20); keiner möge deshalb „die Zucht des Herrn“ verachten (Hebr 12,5; vgl. V. 10.12), die „vor bösen Tagen“ bewahrt (V. 13; vgl. Eph 5,16; 6,13); oder sich „mit Ungläubigen unter das gleiche Joch beugen“, denn „was haben Gerechtigkeit und Gesetzwidrigkeit miteinander zu tun? “ (2 Kor 6,14; vgl. V. 20). Angesichts des Kreuzestodes Jesu muss Judas erkennen, dass er „gesündigt“ und „einen unschuldigen Menschen ausgeliefert“ hat (Mt 27,4; vgl. V. 21); und das jüdische Volk hört den Vorwurf, „den Heiligen und Gerechten verleugnet“ zu haben (Apg 3,14; vgl. V. 21); doch „Gott hat sein Volk nicht verstoßen, das er einst erwählt hat“ (V. 14 in Röm 11,1f), wie Paulus unter Zitation von Ps 93(94) unmissverständlich bekräftigt. Die patristische Auslegung erkennt im „Gott der Vergeltung“ (V. 1) denselben „Gott des Erbarmens und des Trostes“ (2 Kor 1,3), der Geduld mit den Guten und mit den Bösen zeigt, 1053 damit sie erzogen, aber nicht gerichtet würden. 1054 Über die christologische Lesart von Ps 93(94) als Prophetie der Inkarnation (V. 17) und des „Gottesmordes“ ist man sich einig. Die Antiphon captabunt in animam iusti et sanguinem innocentem condemnabunt (V. 21) beklage nicht irgendeinen Frevel, sondern kündige an, dass nur das „Leben und Blut des schuldlosen Gerechten“/ Christi das Böse für immer überwinden konnte: Zum Tode verurteilt, sei er unser Heil und unsere Zuflucht geworden (V. 22). 1055 Einen weiteren Aspekt bietet die allegorische Deutung der Jagd der Dämonen auf die Seelen. 1056 Ps 93(94) hat keine weiteren liturgischen Resonanzen. Am Ende der 3. Nokturn zeigt sich das Ausmaß des Unrechts: die Tötung eines Unschuldigen unter dem Vorwand der Rechtmäßigkeit (captabunt animam iusti - condemnabunt sanguinem innocenti). Das Eingreifen Gottes bleibt nach Ps 87(88) zwiespältig: Fällt der Verurteilte dem Tun der Frevler oder dem Zorn JHWHs zum Opfer? Wird Gott ihn richten oder rächen? Geschieht alles mit seiner Zustimmung, oder hat er es selbst herbeigeführt? Mit Ps 93(94) schließt die Vigilpsalmodie am Karfreitag: Obwohl dieser Text nach dem Sturz ins Bodenlose in Ps 87(88) das Vertrauen auf die Gerechtigkeit Gottes erneuert, lässt seine Antiphon die Verdammnis des Opfers erwarten. Paradoxerweise besiegelt ein Hoffnungstext das Schicksal des Verfolgten. Die Variante condemnabant in B verändert die Prophetie der Antiphon zur narrativen Schlussnotiz. Die Kombination aus erzählendem captabant und vorblickendem condemnabunt in G, H, S und F hält die Antiphon in Spannung: Die Feinde haben den Gerechten in ihre Gewalt gebracht, seine Verurteilung müssen sie erst noch erreichen. Die Psalmodie und Antiphonen der 3. Nokturn schildern den Gebetskampf des Opfers, das unschuldig (Ps 58[59]) unter der Aggression der Feinde und unter der Entfremdung von den Seinen leidet (Ps 87[88]). Zuletzt wird selbst die Hoffnung auf Rettung brüchig, denn sogar Gott - die letzte Zuflucht des Beters - scheint ihm zum Feind geworden zu sein. 1053 Eusebius; nach N ESMY , Tradition 514. 1054 Augustinus ebd. 515. 1055 Ders. und Gregor von Nyssa, ebd. 514. 1056 Cyrill von Alexandrien und Origenes, ebd. 521. <?page no="169"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 161 Die Morgenhore: Matutin/ Laudes Zur Psalmodie fL1 1057 Proprio filio suo non pepercit Deus, sed pro nobis (omnibus) tradidit illum. Seinen eigenen Sohn hat Gott nicht verschont, sondern er hat ihn für uns (alle) hingegeben. Als Losung für die Feier des Karfreitagsgeschehens steht über der Laudespsalmodie die erste nicht-psalmogene Antiphon des Tages. Sie zitiert fast wörtlich aus dem Römerbrief qui etiam Filio suo non pepercit sed pro nobis omnibus tradidit illum. (Röm 8,32a) 1058 Dieser Halbvers knüpft mit pro nobis an den vorausgehenden Vers si Deus pro nobis quis contra nos (V. 31b) an und erläutert, was „Gott für uns“ getan hat, und warum: Ein für alle Mal ist das Heil geschehen und es ist unwiderruflich Quis contra nos? (V. 31b) - Jede Anklage muss ins Leere laufen, Paulus kann getrost zum Rechtsstreit rufen. Typos für Gottes Heilshandeln ist die Hingabebereitschaft Abrahams: Wie er seinen Sohn Isaak Gott nicht vorenthalten hat quia … non pepercisti filio tuo unigenito (Gen 22,16), so hat Gott seinen Sohn den Menschen nicht vorenthalten proprio filio suo non pepercit Deus. (Röm 8,32) Isaak wurde vor dem Tode bewahrt. Jesus wurde „für uns“ hingegeben und „für uns“ aus dem Tod errettet. Wie Abraham hat Christus zahlreiche Nachkommen im Glauben. (Gen 22,17) Paulus verschweigt indes nicht, was denen widerfahren wird, die Christus angehören: Sie werden „um deinetwillen … behandelt wie Schafe, die man zum Schlachten bestimmt hat.“ (Röm 8,36) 1059 In den Laudes wird die übliche römische Psalmenauswahl beibehalten. Der außergewöhnliche Text dieser Antiphon aus dem Römerbrief verbindet sich also mit dem gewohnten Bußpsalm Ps 50(51). Umso höher ist der christologische, soteriologische und ekklesiologische Rang der Antiphon. Sie affirmiert die göttliche Identität des unschuldig verfolgten Gerechten, die in der Vigilpsalmodie offenbar wurde und das Verdienst seiner Hingabe mitschwingen lässt cum illo omnia nobis donabit (V. 32b). Sie erweist zudem das Feindhandeln und Leiden des Gerechten als Ort göttlichen Handelns. Die Vigilantiphonie war ein einziger Schrei nach Gerechtigkeit für den Schuldlosen. Die erste Laudesantiphon zeigt nun eine Dimension göttlicher Gerechtigkeit, die - schuldige - Menschen gerecht macht quis accusabit adversus electos Dei Deus qui iustificat (V. 33). Die besondere theologische Bedeutung der jeweils ersten Antiphon einer Hore wird in der Zusammenschau der drei Tage ersichtlich: Am Gründonnerstag war Ps 50(51) von der psalmogenen Antiphon Iustificeris in sermonibus tuis et vincas cum iudicaris (V. 6b) begleitet, die das Schicksal des unschuldig Verfolgten der göttlichen Gerechtigkeit anvertraut hatte. Am Karfreitag wird an dieser Stelle erkennbar, worauf diese Gerechtigkeit „für uns“ hinausläuft: Filio suo non pepercit sed pro nobis omnibus tradidit illum. In den Laudes am Karsamstag verheißt ein prophetischer Text aus dem Alten Testament das eigentliche und endültige Gericht als Sieg über Sünde und Tod: 1057 CAO III, 416 Nr. 4395 § 73. 1058 CAO I, 172f; CAO II, 314f § 73. 1059 Ps 43(44),23 lässt im Kontext der vorösterlichen Tage auch den Gottesknecht (Jes 53,7) und das Lamm Gottes (Joh 1,29) denken. <?page no="170"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 162 O mors, ero mors tua; morsus tuus ero, inferne (Hos 13,14). 1060 Subjekt des Handelns in und an Christus - dessen Name nicht genannt wird - ist allein Gott. 1061 Die Verwendung von Röm 8,32 in den liturgischen Gesängen von Messe und Offizium ist am Karfreitag singulär 1062 ; dieser Text ist auch nicht als (Teil einer) Lesung im Temporale vorgesehen. 1063 fL2 1064 Anxiatus est in me spiritus meus; in me turbatum a est cor meum. a - L: turbatus Verängstigt ist mein Geist in mir; mein Herz ist in mir verstört. Der zweite Laudespsalm ist Ps 142(143). Er thematisiert die existentielle Schuldverstrickung des Menschen, dem aber „deine Gerechtigkeit“ (V. 1) Hoffnung auf Erhörung, Vergebung und Gemeinschaft mit JHWH schenkt. 1065 Die Beziehung des Beters ist von der „fundamentale[n] Erkenntnis der eigenen … Sündhaftigkeit angesichts des gerechten Gottes“ 1066 bestimmt, die das Beharren auf dem Tun-Ergehen-Zusammenhang durch die Bitte um Hilfe zur rechten Lebensführung ersetzt. 1067 Das Neue Testament teilt diese Überzeugung: Paulus, bester Kenner der Tora, begreift, „durch Werke des Gesetzes wird niemand vor ihm gerecht werden“ (Röm 3,20a); vielmehr „sind auch wir dazu gekommen, an Christus Jesus zu glauben, weil wir … erkannt haben, dass der Mensch nicht durch Werke des Gesetzes gerecht wird.“ (Gal 2,16b.a; beide vgl. V. 2b) Der für diesen Tag als Antiphon 1068 gewählte psalmogene V. 4 im Wortlaut des römischen Psalters 1069 anxiatus est in me spiritus meus in me turbatum est cor meum formuliert die große Verzagtheit des Beters, der sich „in der Finsternis“ (V. 3) weiß, bis Gott ihn rettet. Im Joh-Ev äußert sich Jesus mit ähnlichen Worten über „diese Stunde“ seiner Verherrlichung (durch den Tod hindurch) nunc anima mea turbata est et quid dicam Pater salvifica me ex hora hac sed propterea veni in horam hanc … (Joh 12,27f) und weist die Jünger an, „euern Weg zu gehen, solange ihr das Licht habt, damit euch nicht die Finsternis überrascht“ (Joh 12,35). Diesen „neuen und lebendigen Weg“ hat Christus erschlossen (Hebr 10,20; vgl. Hebr 9,8; vgl. V. 8c), in dem „alle lebendig gemacht werden.“ (1 Kor 15,22b; vgl. V. 11) Anxiatus et turbatus (V. 4) sei Jesus seiner Menschennatur nach, meint Augustinus, denn alle Menschen mussten mutlos sein, bis ihr Leib der Niedrigkeit „in die Gestalt seines verherrlichten Leibes“ verwandelt und „unser alter Mensch mitgekreuzigt“ 1060 Siehe unten sL1. 1061 Die Klanggestalt der Antiphon und insbesondere die außergewöhnliche Schreibweise der Trivirga- Neume auf der ersten Silbe von pro-prio lassen keinen Zweifel an der intendierten theologischen Sinnspitze: „Den eigenen (Sohn) - für (uns) alle! “. 1062 Einen Nachklang findet es in dem nicht vor dem 11. Jh. belegten Responsorialvers Mortuus est semel im Responsorium Christus resurgens (Ostersonntag, Osterwoche, Weißer Sonntag); nach www.cantusdatabase.org.: ID 600356. 1063 Nach C HAVASSE , Lectionnaires I, 55. 1064 CAO III, 53 Nr.1442 § 73. 1065 Nach Z ENGER , AT 1207. 1066 H OSSFELD / Z ENGER , Psalmen III, 774. 1067 Ebd. 1068 CAO I, 172f; CAO 314f § 73. 1069 W EBER , Psautier 343. Vulgata: anxiatus est super me spiritus meus statt in me. <?page no="171"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 163 (Phil 3,21; Röm 6,6; vgl. V. 4)worden sei. 1070 In diesem Psalm bete das Haupt für die Glieder, Christus für die Kirche; und die Kirche bete für ihre schwachen Glieder. 1071 Ps 142(143), Freitagspsalm im römischen Offizium, ist auch sonst eng mit der vorösterlichen Zeit verbunden: als Graduale Eripe me am Passionssonntag 1072 und gleichnamiges Offertorium (V. 9f) am Montag der Hohen Woche 1073 ; die Dunkelheit des Karfreitags klingt im Laudesversikel Collocavit me in obscuris (V. 3) am Karsamstag nach. 1074 Im Advent erhält Ps 142(143) die Antiphon Ad te Domine levavi animam meam. 1075 (V. 8f) 1076 In der Morgenhore am Karfreitag wird der Beter/ Christus mit der 2. Antiphon auf den tödlichen Ernst der conditio humana zurückgeworfen. Nach dem Aufblitzen der göttlichen Heilsperspektive in Röm 8,32 wird klar, dass der Weg, „den ich gehen soll“ (V. 8c) in den letzten Abgrund menschlichen Daseins führt, um alle „aus der Not“ (V. 11) herausführen zu können. Ps 142(143),4 lädt die Gläubigen nicht dazu ein, mit Christus um seine Rettung zu beten, sondern lässt sie den Seufzer des Menschgeborenen hören. Die Betrachtung des Leidens Christi ist Betrachtung der eigenen Hinfälligkeit, die der Mensch Jesus mit Zittern und Angst angenommen, getragen und überwunden hat. fL3 1077 Ait latro ad latronem: Nos quidem digna factis recipimus a , hic autem, quid fecit? Memento mei, Domine, dum b veneris in regnum tuum. a - L: recepimus b - C: cum Es sagte der eine Räuber zum anderen: Wir freilich empfangen, was unseren Taten entspricht, er aber, was hat er getan? Gedenke meiner, Herr, wenn du in dein Reich kommen wirst. Es folgen die üblichen Morgenpsalmen Ps 62(63) und Ps 66(67) mit einer neutestamentlichen Antiphon, die erstmals ausdrücklich aus der Passion zitiert (Lk 23,41f). 1078 Sprecher ist einer der beiden mit Jesus gekreuzigten Verbrecher. Er weiß nicht nur um die Unschuld Jesu und anerkennt die eigene Schuld, sondern er nennt Jesus „Herr“ und bittet ihn, „in deiner Herrschaft“ („deinem Reich“) seiner zu gedenken. Auch wenn die Antiphon sie nicht ausführt, ist die Antwort Jesu bekannt, der dem Räuber verheißt, er werde „heute noch“ mit ihm im Paradies sein (Lk 23,43). Der Wortlaut der Bitte memento mei, dum veneris in regnum tuum erinnert - mit umgekehrtem Vorzeichen - an das Leben Josefs in Ägypten: unschuldig mit zwei Leidensgenossen im Kerker, deutet Josef die Träume seiner Mitgefangenen; den daraufhin freigelassenen Obermundschenk des Pharao bittet er, ihn nicht zu vergessen tantum memento mei cum tibi bene fuerit (Gen 40,14); den gleichfalls eingesperrten Oberbäcker kann Josef nicht retten, er wird hingerichtet. Der Gerettete aber „dachte nicht mehr an Josef und vergaß ihn.“ (Gen 40,23) Dennoch wird Josef vom Pharao re- 1070 Nach N ESMY , Tradition 770. 1071 Gregor d. Gr., ebd. 771. 1072 AMS 235 § 67a. 1073 Ebd. 245 § 74. 1074 Siehe unten Kapitel 1.3.2.3 sv5. 1075 Vgl. Ps 24(25), dessen fast gleichlautender V. 1 Ad te levavi als hermeneutischer Schlüsselvers dieser Zeit im Kirchenjahr gelten kann. 1076 CAO III, 29 Nr. 1255 § 7; 14; 15; 17. 1077 Ebd. 36 Nr. 1316 § 73. 1078 CAO I, 174f; CAO II, 314f § 73. Die Textabweichungen in L („haben empfangen“) und C verändern den Sinn nicht. <?page no="172"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 164 habilitiert, der ihm königliche Würden überträgt und ihn „über ganz Ägypten“ stellt (Gen 41,41). Als unschuldig Leidender ist Josef Typos für Christus: Der von Anfang an Erwählte (Gen 37,7) wird von den Brüdern beraubt 1079 , erniedrigt und um zwanzig Silberstücke verkauft (Gen 27,28); später zu Unrecht beschuldigt (Gen 39,19f), verheißt er einem der mit ihm Verurteilten Rettung, dem anderen nicht (Gen 40,13.19), und wird schließlich erhöht und anerkannt (Gen 41,41; 45,9). Als erlösungsbedürftiger Mensch, der sich selbst nicht retten kann, bleibt Josef Bild jedes Menschen: auf andere Menschen angewiesen, wird seine Hoffnung enttäuscht. Anders der mit Christus gekreuzigte Verbrecher: Er hat Hoffnung, weil Christus zu ihm ,in seinen Kerker‘ herabgestiegen ist „in allem seinen Brüdern gleich … um denen zu helfen, die in Versuchung geführt werden“ (Hebr 2,17a.18b) und ihn „heute noch“ mit sich herauszuführen (Lk 23,43). In Christus den König zu erkennen, bringt dem einen todgeweihten Verbrecher Rettung; das Schicksal des anderen bleibt offen. Die Antiphon bringt mehr als einen kurzen Wortwechsel zwischen den Gekreuzigten zur Sprache. Anhand der Typologie des versklavten und unschuldig eingekerkerten Josef führt sie die Konsequenzen der Kenosis vor Augen: Christus - „in Gottes Gestalt“ - wurde „wie ein Sklave“ und dem Schächer gleich (vgl. Phil 2,6f); er lässt sich „unter die Verbrecher rechnen“ (Jes 53,12) und empfängt, „was unseren Taten entspricht“ (Lk 23,41), um alle mit sich aus dem Kerker der Sünde und des Todes zu führen. Der bittende Räuber leiht „den Menschen“ (Phil 2,7) seine Stimme. Wie in der vorigen Antiphon ist Jesus der mit-den Menschen-Leidende schlechthin. Das Stichwort regnum bindet die Antiphon an die erste Vigilantiphon zurück. Anders als die Könige der Erde bekennt sich der Gesetzesbrecher zum Königtum des Gekreuzigten. Ein weiterer Schlüsselbegriff für die folgenden Texte wird das erbetene „Gedenken“ sein. fL4 1080 Dum conturbata fuerit anima mea, Domine, misericordiae memor eris a . a - G, M: ero Wenn meine Seele verwirrt ist, wirst du, Herr, deiner Barmherzigkeit gedenken. Es folgt das am Freitag vorgesehene AT-Canticum Hab 3,2-19. Dieses so genannte Gebet des Habakuk hat formale Ähnlichkeit mit den Psalmen und schildert über weite Strecken die Vision einer Theophanie. 1081 Die Canticumsantiphon 1082 fügt zwei Schrifttexte zu einer neuen Aussage zusammen, ohne deren ursprüngliche Kontexte zu verlieren: Das Motiv der Verstörung im ersten Halbvers der Antiphon dum conturbata fuerit anima mea stammt aus Ps 41(42),7: 1083 Deus meus ad me ipsum anima mea conturbata est propterea memor ero tui de terra Iordanis et Hermoniim a monte modico. Die Erschütterung des Beters anima mea conturbata ruft sogleich seine Erinnerung wach: propterea memor ero tui. In der Not seines Herzens gedenkt der Psalmist Gottes, in dessen tosende Wasser und Wogen er sich eingetaucht sieht (vgl. V. 8). Der zweite Halbvers der Antiphon misericordiae memor eris ist an Hab 3 angelehnt und beschwört Gott, er möge nach (in) 1079 Vgl. f1N2 Diviserunt sibi vestimenta mea und Gen 37,23. 1080 CAO III, 176 Nr. 2444 § 73. 1081 Nach Z ENGER , AT 1802. 1082 CAO I, 174f; CAO II, 314f § 73. 1083 Ps 42 (43) ist „eine individuelle Sehnsuchtsklage eines Menschen, der seine Situation der Gottferne mit räumlichen Chaosmetaphern … als Sphäre des Todes beklagt … und die Klage zur Anklage Gottes steigert.“ (Z ENGER , AT 1086). <?page no="173"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 165 der Aufwallung seines Zornes auch an sein Erbarmen denken: misericordiae recordaberis cum iratus fueris (V. 2). Die Antiphon ersetzt den Zorn-Aspekt durch die aufgewühlte Verwirrung des Beters dum conturbata fuerit - was freilich nicht ausschließt, sie in einen inneren Zusammenhang mit dem Zorn Gottes zu bringen. 1084 Der erste Teil der Antiphon Dum conturbata fuerit anima mea übernimmt die Stimmung der 2. Antiphon, in der bereits Angst und Herzensverstörung zum Ausdruck kommen (turbatum/ cor; conturbata/ anima). Jetzt aber mündet der zuvor noch in sich gekehrte Seufzer in die Anrufung JHWHs. Ausdrücklicher als bisher macht der Leidende sich in der Hoffnung auf das Erbarmen Gottes fest. Die Sprecher und die Adressaten der Laudesantiphonen sind nicht eindeutig festzulegen, sondern sie wechseln mit den je neu entstehenden Bezügen. In der 2. Antiphon spricht vox Christi solidarisch mit den Menschen (,von unten‘). In der 3. Antiphon wendet sich der Räuber als vorbildlich Glaubender an den Gekreuzigten als „Herrn“ (,von oben‘). In der Anrufung domine in der 4. Antiphon verschmelzen viele Stimmen sowie Vater und Sohn im Adressaten: vox Christi ad patrem und vox ecclesiae/ humana ad Christum, die in bestürzter Selbsterkenntnis nach dem Vorbild des Räubers erbarmendes Gedenken, d. h. Rettung, erbittet. Die Rettung - ob aus dem Zorn Gottes oder aus dem Leiden - geschieht durch das Erbarmen des Herrn, der „gedenkt“. Auf Hab 3,2d cum iratus fueris misericordiae recordaberis folgt die Schilderung einer Theophanie mit all ihren Schrecken. Die Wortwahl der Antiphon memor eris (statt recordaberis) erleichtert die Assoziation der Bitte des Schächers memento mei aus der vorherigen Antiphon. Die Verbindung beider Antiphonen legte nahe: Das Eingedenk-sein Jesu ist ebenso rettend wie das Eingedenksein Gottes. Diese Parallelisierung (memor/ memento) bestätigt ihn als den von Gott eingesetzten Christus und JHWH-gleichen Kyrios. Dass das Freitagscanticum Hab 3 auch am Karfreitag gesungen wird, akzentuiert diesen Tag eschatologisch. In der Menschwerdung Jesu und im Paschamysterium seines Todes und seiner Erhöhung manifestiert sich Gottes Heilshandeln in der Geschichte. Sie können nicht ohne die Erwartung seines die Weltzeit beendenden Wiederkommens zu Gericht und Vollendung der Schöpfung erinnert und gefeiert werden. Mag das Königreich Jesu auch „nicht von dieser Welt“ sein (Joh 18,36) - im Horizont des erschreckend-machtvollen Erscheinens Gottes, der auszieht, die Frevler zu vernichten und sein Volk zu retten (Hab 3,13), wird Jesu Eingehen in sein Königtum durch den irdischen Tod hindurch zur Epiphanie vor aller Schöpfung. fL5 1085 Memento mei, Domine Deus, dum a veneris in regnum tuum. a - C: cum Gedenke meiner, Herr und Gott, wenn du in dein Reich kommen wirst. Diese Antiphon wiederholt die Worte des Räubers (Lk 23,42) aus fL3, verkürzt aber den Vers. 1086 Situation und Sprecher sind bekannt, es bleibt also nur die Bitte: „Gedenke meiner, wenn du König bist.“ Ein drittes Mal beharrt der Beter auf dem Geden- 1084 Die Lesart memor ero in den Codices G und M bliebe insofern näher an Ps 41(42),7, als darin der Beter „gedenkt“ und nicht JHWH wie in Hab 3; angesichts der Handlungsdimension biblischen Gedenkens, erscheint diese Variante hier aber nicht sinnvoll: „Seines Erbarmens“ tatkräftig zu gedenken vermag nur Gott, nicht der Mensch. Dass der Psalmist seinerseits Gottes „gedenkt“ bedeutet, dass er auf Gottes erwiesene Zuwendung sein Vertrauen setzt, ohne sie selbst herbeiführen zu können. 1085 CAO III, 332 Nr. 3736 § 73. 1086 CAO I, 174f; CAO II, 314f § 73. <?page no="174"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 166 ken Gottes, das gleichbedeutend mit Rettung ist; noch einmal bekennt er sich zum Angesprochenen - Gekreuzigten - als dem König (regnum tuum) und nennt ihn hier mit dem um Deus ergänzten Hoheitstitel „Herr und Gott“. 1087 Im Kontext aller bisherigen Texte wird der angedeutete eschatologische Aspekt der Antiphon jetzt noch stärker: Indem die Antiphon von der konkreten Situation (Kreuzigung Jesu, Dialog mit dem Mitverurteilten) absieht, werden die Worte zur Bitte jedes Menschen und Christus zum König aller, die ihn in dieser Weise bitten. Es folgen die täglichen Laudes-Pss 148-150. In evangelio fBen1 1088 Posuerunt super caput ejus causam ipsius scriptam: Jesus Nazarenus, Rex Judaeorum. Nur L ergänzt: Et erat ibi scriptum, litteris hebraicis, graecis et latinis. Sie setzten über sein Haupt die schriftliche Begründung (seines Rechtsfalls): Jesus von Nazaret, König der Juden. Und das war dort geschrieben mit hebräischen, griechischen und lateinischen Buchstaben. Die letzte Laudesantiphon am Karfreitag zitiert Mt 27,37 1089 und führt wieder zurück unter das Kreuz. Die sich des Gerechten entledigen wollten, bringen ihr Vorhaben zum gewünschten Abschluss und versäumen nicht, dem Unrecht einen legalen Anschein zu geben und das Todesurteil zu begründen: „König der Juden“ habe er zu sein beansprucht, was die politisch wie religiös Mächtigen nicht zulassen konnten. Das semantische Feld reges (terrae), regnum (tuum), Rex (Judaeorum), das Anfang und Ende der Nacht- und Morgenhore des Karfreitags auffallend prägt, wird bipolar gefüllt: Das Tun der Könige der Erde bringt Gewalt hervor - davon handeln ausnahmslos alle Vigilantiphonen; das Königtum JHWHs/ Christi konnotiert hingegen Erbarmen und Rettung („Eingedenksein“) in fL3, fL4 und fL5. Die Titulierung Jesu als Rex Judaeorum oszilliert: einerseits höhnisch-zynischer Vorwand zur ,legalen‘ Beseitigung eines Gerechten, durch dessen Leben und Botschaft die Machthaber sich gefährdet sahen; andererseits die schlichte und ganze Wahrheit über ihn: Jesus ist der Vorausverkündigte, der Erwartete und Ersehnte, die Rettung seines Volkes, der „König der Juden“ - und aller anderen. Weitere Antiphonen im Cursus Romanus und im Codex Hartker Unter in evangelio führen am Karfreitag die römischen Codices C, E, M, V sowie Codex H eine oder mehrere der folgenden Antiphonen an; ihre Verwendung in den übrigen Horen, wie sie andere Hss (R, F, S) fallweise angeben, ist wahrscheinlich. Bis auf die erste alttestamentliche Antiphon (vgl. Klgl 3,15) stammen alle Antiphonen aus den Passionserzählungen der Evangelien: fDiv1= dD3 Replevit et inebriavit me amaritudine a inimicus meus. C, E; H (Ben.), R, F: am Gründonnerstag a - C: amaritudine fehlt Gesättigt und getränkt mit Bitternis hat mich mein Feind. 1087 Vgl. das Bekenntnis des Thomas vor dem Auferstandenen in Joh 20,28. 1088 CAO III, 409 Nr. 4343 § 73. 1089 CAO I, 174f; CAO II, 340f § 73. <?page no="175"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 167 fDiv2 1090 Cum accepisset acetum a dixit: Consummatum est; et, inclinato capite, tradidit b spiritum. C, E, M; H (Ben.), S, R (Magn.) a - S: azetum b - R: emisit Als Jesus den Essig genommen hatte sprach er: Es ist vollbracht. Und er neigte das Haupt und gab den Geist auf. (Joh 19,30) fDiv3 1091 Eloi Eloi lamma sabacthani; a Deus, b Deus meus, ut quid me dereliquisti? c1092 C, E, V; H griech. und lat. a - C: lama zabdani; E: lema zabgtani; V: lema sebathani; H: b - V: Deus meus; E: hoc est: Deus meus c - E: dereliquisti me Gott, mein Gott, was hast du mich verlassen? (Mt 27,46) fDiv4 1093 Jesus clamans voce magna emisit spiritum, et velum templi scissum est, a et omnis terra tremuit. C; L (ad nonam) a - C: endet hier Jesus schrie laut auf und hauchte den Geist aus; und der Vorhang des Tempels zerriss und die ganze Erde erbebte. (Mt 27,50f; vgl. V. 52) 1094 fDiv5 1095 Tristis est anima mea usque ad mortem; sustinete hic, et vigilate mecum. Nur C Meine Seele ist zu Tode betrübt; bleibt hier und wacht mit mir. (Mt 26,38) 1096 fDiv6 1097 Recordatus est a Petrus verbi Jesu quod dixerat ei, b et egressus foras flevit amare. Nur C am KarFr a - L: fehlt b - L: fehlt Petrus erinnerte sich an das Wort Jesu, das er ihm gesagt hatte, und er ging hinaus und weinte bitterlich. (Lk 22,61f) Die Tageshoren im Cursus Monasticus: Prim, Terz, Sext, Non Nach Codex H werden im Tagescursus die Nokturnversikel wiederholt; dazu die Kurzresponsorien von der Passion des Herrn wie am Hohen Donnerstag (idem versus ad diurnos cursus sicut in Nocturnis et Responsoriola de Passione Domini Erue a framea 1098 cum reliquis). 1099 Codex R weist die Psalmen ohne Antiphonen sowie die Versikel aus den Nokturnen an (hore sine antiphonae; versus ut ad Nocturnos). 1100 Laut Codex S werden die Tageshoren - wie schon am Gründonnerstag - in Stille vollzogen (Finitis Matutinis dicant postea omnes Horas diei cum silentio. Quomodo ex- 1090 CAO III, 117 Nr. 1970 § 71; 72; 73; CAO I, 174f; CAO II, 314; 316f § 73; S: Gründonnerstag/ Vorabend (Magn.): CAO II, 303 § 72a; F: Mittwoch (Ben.): ebd. 301 § 71a. 1091 CAO III, 201 Nr. 2640; CAO I, 174f; CAO II, 314 § 73. 1092 Die Verse 2.3-9.18.19.22.24.32 aus Ps 21(22) bilden den Tractus am Palmsonntag: AMS 244 § 73b. 1093 CAO III, 303 Nr. 3487; CAO I, 174; CAO II, 317 § 73. 1094 Siehe unten Kapitel 1.3.2.2 Responsorium fR 2 . 1095 CAO III, 511 Nr. 5187; CAO I, 174 § 73b. 1096 Siehe unten Kapitel 1.3.2.1 Responsorium dR 2 . 1097 CAO III, 438 Nr. 4578; CAO I, 174 § 73b; L: Mittwoch/ Vesper: CAO II, 303 § 71b. 1098 Siehe unten Kapitel 1.3.2.1 dv14. 1099 CAO II, 314 § 73b. Versikel und Responsorien siehe unten Kapitel 1.3.2. 1100 Ebd. <?page no="176"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 168 terno [sic] die dixerunt Horas ita odie sic dicantur.) S bietet dieselben Psalmen wie am Vortag (ohne Antiphonen): 1101 psalmi ad prima (S) in III a dicendi (S) ad VI a psalmi dicendi (S) psalmi ad VIIII a dicendi (S) Ps 53(54) Ps 117(118) Ps 118(119),1-32 Ps 118(119),33-80 Ps 118(119),81-128 Ps 118(119),129-176 Ps Quicumque vult 1102 Zwei zum Tag passende Antiphonen, die nur er bestimmten Horen zuordnet, bringt Codex L: fD1 1103 Latro de cruce clamabat, dicens: Memento mei, Domine, dum veneris in regnum tuum. nur L ad primam Der Räuber schrie vom Kreuz her: Denk an mich, Herr, wenn du in dein Reich kommen wirst. (Lk 23,42) Dazu werden, wie in der römischen Prim am Freitag 1104 , Ps 21(22) und Ps 118(119)* rezitiert. fD2=fDiv4 Hiesus clamans voce magna L ad nonam Jesus schrie laut auf. Die im CAO nur in Codex H angeführten Gesänge zur Kreuzverehrung 1105 gehören zum Hauptgottesdienst des Tages. Als Tageslosung über der Laudespsalmodie am Karfreitag steht eine erste nichtpsalmogene Antiphon (Röm 8,32a). Dieses Zitat kann als theologisch-soteriologische Antwort auf die Frage nach der Gerechtigkeit für den unschuldig Leidenden verstanden werden: In seine Rechfertigung werden auch die Schuldigen einbezogen. Die in den weiteren Antiphonen artikulierte Angst und Verzagtheit ist nicht mehr so sehr die des leidenden Frommen, vielmehr wird hier die Stimme des Sünders hörbar, dessen Furcht berechtigt ist. Ein neutestamentlicher paradigmatischer Sünder - Personifizierung des in Jesus gekreuzigten Menschen - findet zu der einzig angemessenen Antwort: der Bitte um das selbst „im Zorn“ rettende Gedenken Gottes (Hab 3). Er richtet sie an den Gekreuzigten, in dem er Gott erkennt. Die Abendhore: Vesper In den römischen Quellen des CAO gibt es keine Angaben zu einer Vesper am Karfreitag. Im Cursus Monasticus scheint die Vesper am Karfreitag nur in drei Codices auf, die dafür entweder auf die römische (Codex R) oder die benediktinische Vesper (S und L) vom Freitag im Wochenpsalter zurückgreifen. Es werden nur drei Antiphonen genannt: 1101 Ebd. 315; 317. 1102 Wie Anm. 817. 1103 CAO III, 313 Nr. 3581; CAO II, 315 § 73b. 1104 Nach P ASCHER , Stundengebet 88f. 1105 CAO II, 316 § 73c. <?page no="177"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 169 Vesper R S L Psalmen Ps 137(138) Ps 141(142) Ant. Considerabam a dexteram Ps 141(142) Ps 138(139) Ps 143(144) Ps 143(144) Ps 139(140) Ps 144(145) Ps 144(145) Ps 140(141) Ps 141(142) Ant. in evangelio Cum accepisset acetum dixit Cum accepisset acetum dixit Velum templi scissum est et … V Postquam autem crucifixerunt fV1= dV5 Considerabam ad dexteram et videbam, et non erat qui cognosceret me. nur L am Karfreitag fV2= fDiv2 Cum accepisset acetum dixit R, S in der Vesper fV3 1106 Velum templi scissum est, et omnis terra tremuit; sanctorum dormientium resurrexerunt corpora. V Postquam autem crucifixerunt Judaei Dominum nostrum Jesum Christum, trementem terra concussum illico a summo usque deorsum. Velum. nur L Der Tempelvorhang riss entzwei und die ganze Erde erbebte, und die Leiber der entschlafenen Heiligen standen auf. V Nachdem die Juden aber unseren Herrn Jesus Christus gekreuzigt hatten, [bebte die Erde und riss der Vorhang 1107 ] sogleich von oben bis unten entzwei. (vgl. Mt 27,51f) Zum Tagesschluss: Completorium (Komplet) Die Komplet wird in den Quellen des CAO 1108 an diesem Tag nicht erwähnt. 1109 Unter den den Karfreitag prägenden Psalmen sind sowohl christologisch erstrangige Psalmen (Ps 2 und Ps 21[22]) als auch existentiell zugängliche Texte wie das Vertrauenslied Ps 26(27) oder der abgründige Ps 87(88), dessen V. 5 überdies zum christlichen Interpretament des freiwilligen rettenden Abstiegs Christi in die Unterwelt wurde. Buß-, Trauer- und Klagepsalmen erklären sich an diesem Tag von selbst. Die Vigilpsalmodie führt die spannungsvolle Dreier-Beziehung (Leidender/ Gott/ Feinde) in einen Dialog zwischen dem Frommen und seinem Gott über, dessen Handeln er allerdings als ambivalent bis unverständlich, ja feindselig erfährt. Die Kluft (,Feindschaft‘) zwischen Gott und Welt wird nicht aufgelöst; vielmehr sind beide Partner - Gott und sein Frommer in der Gottesfinsternis - davon betroffen. Die erste Laudesantiphon (Röm 8,32) gibt die erlösende Deutung des mörderischen Karfreitags als Handeln Gottes: pro nobis tradidit. Angesichts dessen erhebt erstmals 1106 Diese Antiphon samt Vers ist im CAO nur in Codex L belegt: CAO III, 527 Nr. 5315; CAO II, 317 § 73c; vgl. www.cantusdatabase.org.: ID 005315 (Antiphon) und ID 005315a (Antiphon-Vers). 1107 In Kenntnis der zugrundeliegenden Evangelienstelle ließe sich der unverständliche Satz unter Annahme zweier Abschreibfehler auflösen: tremente terra (,zufälliger‘ Querstrich über e als m ausgeschrieben? ); concussum als Verschreibung von conscissum (s in sc ist schwach; u nur ein Strich mehr als i? ). Die Stelle hieße dann: … tremente terra conscissum illico a summo usque deorsum velum. (Konjekturvorschlag von Michael M ARGONI -K ÖGLER , mündlich). 1108 OR 31,52 hatte noch den, wenn auch nicht gemeinschaftlichen, Vollzug angeordnet (vgl. Anm. 193). 1109 Es ist nicht erkennbar, wohl auch nicht anzunehmen, dass der Hinweis zu den Tageshoren in Codex S die Komplet einschließen sollte: … omnes Horas diei cum silentio. Quomodo externo (sic) die dixerunt Horas ita odie sic dicantur. (CAO II, 315 § 73b). <?page no="178"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 170 der Mensch, indem er sich als Sünder bekennt, seine Stimme und bittet um das rettende Gedenken Gottes/ Christi. Damit verbindet sich das Bekenntnis zum gekreuzigten Messias: Sein Königtum ist das Thema im nächtlich/ morgendlichen Gottesdienst. Schon die erste Vigilantiphon weist auf die königlich-göttliche Identität Jesu hin; in den Laudesantiphonen setzt ein Verbrecher darauf seine Hoffnung; die zynische Betitelung des Hingerichteten als Rex Judaeorum in der abschließenden Antiphon offenbart nichts weniger als die Wahrheit. Die Tageshoren sowie eine rudimentäre Vesper vom Wochentag fügen diesem Mysterium nichts hinzu. 1.3.1.3 Karsamstag Fast alle Nokturnpsalmen des Karsamstags stammen aus der Vigil- oder Primpsalmodie des römischen Wochenpsalters; eine Ausnahme ist der tägliche Kompletpsalm Ps 4. Die Laudespsalmodie des Tages behält überwiegend die täglichen Psalmen bei: Ps 50(51) 1110 , Ps 62(63), Ps 66(67), Pss 148-150; dazu Ps 42(43) 1111 und Ps 91(92) 1112 ; Ps 117(118) gehört zur Sonntagsprim. Gleich bleibt auch das neutestamentliche Canticum Benedictus. Eine spezielle Wahl ist der Hiskija-Psalm (Jes 38,10-20), das Laudescanticum vom Dienstag per annum. 1113 Die Nachthore: Vigil Erste Nokturn s1N1 1114 In pace in idipsum dormiama et requiescam. a - L: obdormiam In Frieden werde ich (ent)schlafen und ruhen. Die Morgenhore des Karsamstags eröffnet Ps 4 mit V. 9a als Antiphon. 1115 Psalm 4 ist das Bittgebet eines Frommen, dessen Gottvertrauen sich dem Zynismus und der Resignation seiner Mitmenschen entgegenstellt, die von JHWH nichts (mehr) erwarten und damit ihn und den Beter „schmähen“. 1116 Der neutestamentliche Epheserbrief zitiert aus Psalm 4, um die Gläubigen im gegenseitigen Umgang zu ermahnen: „Wenn ihr zürnt, so sündigt nicht.“ (V. 5a in Eph 4,26) Die frühkirchliche Christologisierung von Ps 4 stellt ihn in den Zusammenhang mit dem Paschamysterium und versteht diesen Text als „Psaume de la victoire du Christ“. 1117 V. 9 bietet Anhaltspunkte für eine differenzierte, auch paschatheologische Auslegung. 1118 Schon die Suche nach einer adäquaten Übersetzung der Adverbpartikel 1119 in V. 9a des hebräischen Textes 1120 gibt den Kirchenvätern Gelegenheit zur Interpretation: 1110 Außer Sonntag. 1111 Dienstag im Wochenpsalter. 1112 Samstag im Wochenpsalter. 1113 Nach P ASCHER , Stundengebet 88f. 1114 CAO III, 276 Nr. 3265 § 74; nur in M auch pro defunctis § 146. 1115 CAO I, 174f; CAO II, 316f § 74. 1116 Nach H OSSFELD / Z ENGER , Psalmen I, 59. 1117 Origenes, Hieronymus u. a.; nach N ESMY , Tradition 35; vgl. F ISCHER , Psalmenverständnis 52-59. 1118 Im Überblick bei N ESMY , Tradition 40-48. 1119 " # bei den LXX; Vulgata: in idipsum (Hieronymus iuxta hebr.: simul); Hilarius zieht in idipsum inhaltlich zu V. 8 Dedisti laetitiam in corde meo, a tempore frumenti et vini et olei sui, multiplicati sunt in idipsum; nach N ESMY , Tradition 39. <?page no="179"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 171 Der erfüllte Friede desjenigen sei gemeint, der alles - nicht vereinzelt und nicht in „tausend Sorgen“ zerteilt - in sich versammelt habe; der, ausruhend von den Mühen des Lebens, sich an den Genüssen der Weisheit sättige; 1121 dessen Seele sich selbst inne sei und den sterblichen Dingen fremd geworden. 1122 Doch auch die Einheit/ Gemeinschaft der Heiligen könne gemeint sein 1123 und schließlich Gott selbst als idipsum schlechthin. 1124 Singulariter (V. 9b) bedeute die absolute Andersartigkeit Christi 1125 aufgrund seiner Sündenlosigkeit; 1126 zugleich beschreibe es die Einsamkeit der „ausgesonderten“ Propheten und Heiligen; 1127 nicht zuletzt werde damit die Einmütigkeit (singularitas) der wachsenden Gemeinde bezeichnet (Apg 4,32). 1128 Vor allem das Motiv des sorglosen Schlafes (V. 9) ist den Kirchenvätern als vox Christi geläufig. Sie hören Ps 4 gemeinsam mit Ps 30(31),6 als zuversichtliches Gebet Jesu bei seinem Sterben in Gott. 1129 Die entscheidende liturgische Resonanz findet dieser Psalm in der abendländischen Kirche spätestens seit dem 6. Jh. in der Komplet. Bei Einbruch der Nacht - Symbol der periodisch wiederkehrenden Zeit der Anfechtung wie auch der Finsternis des Todes - vergewissert sich der Beter, dass Gott ihn trägt. Dabei führt der zum Tagesschluss dankbar gesprochene V. 9 auch das Ende des Lebens vor Augen: 1130 Wie der nächtliche Schlaf sei dann das Sterben der Gläubigen in und mit Christus friedlich und ohne Sorge; und wie er aus dem Todesschlaf auferweckt wurde, erwarte auch sie dereinst das morgendliche Auf(er)stehen zum ewigen Leben. Doch mahnt Ps 4,9 nicht nur Abend für Abend die Gläubigen zur Aufmerksamkeit für die unausweichlich kommende Todesnacht und leitet sie an, sich Christus anzuvertrauen. Seine außerordentlichen Verwendung am frühen Morgen des Karsamstags hält im selben V. 9 auch eine hoffnungsvolle Perspektive für den Gekreuzigten bereit, deutet er doch die Grabesruhe als „sorglosen Schlaf“, aus dem Christus sich - so das implizite Bekenntnis der Kirche an diesem Morgen - zu neuem Leben erheben wird. Schlaf und Tod, Erwachen und Leben, menschliche Erfahrung und Heilsgeschehen interpretieren einander wechselseitig. Und obwohl am Karsamstag „zunächst Christus der intendierte Sprecher des Psalms ist“, sind seine Worte vor dem Hintergrund der täglichen Gebetspraxis „in einem Höchstmaß offen für die Identifikation des Beters“ 1131 . Zudem kann er beide Situationen ihrer liturgischen Verknüfung entsprechend wahrnehmen: 1132 „Sowohl der Karsamstag als auch die Komplet wird „zur ars moriendi (und zugleich resurgendi).“ 1133 1120 Ohne inhaltliche Bedeutung dient sie hier nur der Verbindung zweier Sätze. 1121 Chrysostomus; nach N ESMY , Tradition 39. 1122 Augustinus, ebd. 1123 Cyrill von Alexandrien, ebd. 40. 1124 Augustinus, Confessiones 9,10f (CChr.SL 27, 147,17 V ERHEIJEN ); vgl. F ELDMANN , Psalmenauslegung 312-313. 1125 „Une place absolument à part“ (Origenes); nach N ESMY , Tradition 40. 1126 Chrysostomus, ebd. 1127 Cyrill von Alexandrien, ebd. 1128 Augustinus, ebd. 1129 Die Lesart obdormiam (Codex L) - „ent-schlafen“ - konnotiert das noch deutlicher. 1130 Nach P ASCHER , Stundengebet 90f; ebenso in der RB 18,19 (104f S TEIDLE ). 1131 B UCHINGER , Lebensraum 189. 1132 Nach ebd. 188. 1133 Ebd. 189; vgl. auch D ERS ., Osterfeier. <?page no="180"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 172 s1N2 1134 Habitabit a in tabernaculo tuo, requiescet in monte sancto tuo. a - S, L: Habitavit Er wird wohnen in deinem Zelt, ausruhen wird er auf deinem heiligen Berg. Es folgt der kurze Ps 14(15), der (eventuell Teil eines Tempeleinlassrituals) die Voraussetzungen für ein Leben in der Nähe Gottes reflektiert. Wahrscheinlicher ist, dass es sich bei diesem Psalm um eine poetische Nachgestaltung eines solchen Rituals handelt und dieser auch im übertragenen Sinn und unabhängig vom Ort gebetet werden konnte. 1135 Die Antiphon basiert auf V. 1 1136 und erfragt, wer „Gast und Mitwohner Gottes“ auf dem Zion sein darf. Ähnlich wie in Ps 23(24), der die 2. Nokturn des Tages eröffnet, werden als Bedingungen für die Zulassung zum Heiligtum genannt: Reinheit des Herzes und der Hände, Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit gegen den Nächsten. 1137 Das Neue Testament spielt auf diese Charakterisierung der von JHWH Gesegneten an: mit Blick auf Jesus, den Abrahams Nachkommen ablehnen, obwohl er zu ihnen „die Wahrheit gesagt hat, wie ich sie von Gott gehört habe“ (Joh 8,40; vgl. V. 2); und für die Kirche, denn es sei Gott „in jedem Volk willkommen, wer ihn fürchtet und recht tut“ (Apg 10,35); im Munde Jesu „war kein trügerisches Wort“ (1 Petr 2,22), und die von ihm freigekauften „Erstlinge für Gott und das Lamm … sind ohne Makel.“ (Offb 14,4f; alle vgl. V. 2); sie sind „gekommen zu dem Berg Zion und zu der Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem … zu der Versammlung und Gemeinde der Erstgeborenen“ (Hebr 12,22; V. 1). 1138 „Zelt“ und „Berg“ (V. 1) sind für die Kirche nicht mehr irdische Orte, sondern die ewige Wohnung Gottes, der Himmel 1139 , Ort der Ruhe für alle, „die aus dem Fleisch ausgezogen sind.“ 1140 Zwar nicht mehr auf Erden lebend, aber zugänglicher „heiliger Berg“ ist Christus: ihn erklimmen, die „Christus erkennen und sich ihm einverleiben“; 1141 Christi Lehre folgend und in seiner Ruhe verweilend, findet der Mensch seine Vollendung als „wahrer Gnostiker.“ 1142 Das von Christus auf die Kirche übertragene, von österlicher Hoffnung geprägte Verständnis spiegelt sich im liturgischen Gebrauch von Ps 14(15) wider. Außer am Karsamstag 1143 und als Communio Domine quis habitabit in der 3. Woche der Quadragesima 1144 begegnet V. 1f auch in der Bekennerantiphon Domine, iste sanctus 1145 sowie zu Allerheiligen in der Antiphon Domine, qui operati sunt. 1146 Die Antiphon greift Ps 14(15),1 auf, formuliert die dort gestellte Frage Quis habitabit … quis requiescit jedoch um zum Indikativ der christologischekklesiologischen Aussage Habitabit … requiescet: Christus ist der im Psalm beschriebene Gerechte; mit ihm sind es auch die Gläubigen. 1134 CAO III, 242 Nr. 2987 § 74. 1135 Nach H OSSFELD / Z ENGER , Psalmen I, 103-105. 1136 CAO I, 174f; CAO II, 316f § 74. 1137 Diese Voraussetzungen erfüllen auch Heilige und Märtyrer; vgl. Anm. 1134. 1138 Nach N ESMY , Tradition 69f. 1139 F ISCHER , Psalmenverständnis 106. 1140 Eusebius; nach N ESMY , Tradition 69. 1141 Origenes, Hilarius, ebd. 69f. 1142 Clemens von Alexandrien, nach R OSE , Psaumes 72. 1143 Auch als Versikel sv8; siehe unten 1.3.2.3. 1144 AMS 249 § 55. 1145 CAO III, 165 Nr. 2350 § 125; in C auch zu Stephanus: ebd. § 20. 1146 Ebd. 167 Nr. 2369 § 115; in S stattdessen zur Kirchweihe: ebd. § 127. <?page no="181"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 173 Die Lesart habitavit in S dürfte gleichbedeutend mit habitabit sein. 1147 Immerhin denkbar wäre hier die theologische Deutung „Er hat in deinem Zelt gewohnt und wird ausruhen auf deinem heiligen Berg“ auf Christus, den präexistenten Logos, der JHWH-gleich inmitten seines Volkes gegenwärtig ist. 1148 In vier Codices beider Cursus ist dieselbe Antiphon zusätzlich auch in der Pluralvariante Habitabunt … requiescent belegt: „Sie werden in deinem Zelt wohnen, ausruhen werden sie auf deinem heiligen Berg.“ 1149 In dieser ekklesiologischen Ausweitung sind es die Heiligen und Märtyer, welche die genannten Zulassungskriterien zum Heiligtum erfüllen. Ein zweites Mal am Morgen des Karsamstags erklingt das Stichwort requiescere: Im vorausgehenden Ps 4 noch die Chiffre für die Grabesruhe Christi, zeigt es sich in Ps 14(15) als Inbegriff des gotterfüllten Lebens. - In Verbindung beider Aspekte interpretiert hier requiescere das Paschamysterium als Durchgang vom Tod ins Leben. s1N3 1150 Caro mea requiescet in spe. Mein Fleisch/ Leib wird ausruhen in (sicherer) Erwartung/ Aussicht/ Hoffnung. Als dritter Psalm folgt Ps 15(16), dessen V. 9 als Antiphon gewählt wurde. 1151 „Inmitten tiefsitzender Lebensangst“ hält hier ein Frommer an JHWH als seinem „persönlichen Schutzgott“ fest. 1152 Gott zeigt dem Psalmisten den „Pfad zum Leben“ (V. 11), und verbürgt es ihm selbst als „Los“, „Erbe“ und „Anteil“ (V. 5f); der Beter erhofft immerwährende „Freude in Fülle, zu deiner Rechten Wonne vor deinem Angesicht für alle Zeit.“ (V. 11) Das Neue Testament rezipiert diesen Psalm zweimal prominent als Prophezeiung und Interpretament des Christusereignisses. In der Pfingstpredigt (Apg 2,14-36) verkündet der Petrus der Apostelgeschichte vor den Juden und allen übrigen Bewohnern Jerusalems den Gekreuzigten und Auferweckten unter Berufung auf Ps 15(16): „Sagt doch David von ihm [sc. Jesus]: Ich habe den Herrn allzeit vor Augen, denn er steht mir zur Rechten, dass ich nicht wanke. Darum freut sich mein Herz und jubelt meine Zunge, und auch mein Fleisch wird in Hoffnung ruhen. Denn du wirst meine Seele nicht im Totenreich lassen und deinem Heiligen nicht zu sehen geben die Verwesung.“ (V. 8-11 in Apg 2,25-28); als Prophet nämlich sagte David „vorausschauend über die Auferstehung des Christus: Er gibt ihn nicht der Unterwelt preis, und sein Leib schaut die Verwesung nicht“ (Apg 2,31). Petrus argumentiert, dass der idealtypische Beter des Psalmes, David, nicht zugleich der sein konnte, von dem der Psalm spricht, denn: „Er starb und wurde begraben, und sein Grabmal ist bei uns erhalten.“ (Apg 2,29); vielmehr habe sich die Prophezeiung erst in Christus, der von den Toten auferweckt wurde, wahrhaftig erfüllt. Christus hat den Glaubenden „den neuen und lebendigen Weg“ erschlossen, der er selber ist. (Hebr 10,20; Joh 14,6; vgl. V. 11) Ebenso greift Paulus, der im pisidischen Antiochia in der Synagoge seinen schriftkundigen Zuhörern die Glaubwürdigkeit der Auferstehungsbotschaft darlegt, auf „den 1147 Die Buchstaben b und v sind in S auch an anderen Stellen austauschbar. 1148 Vgl. die paulinische Rezeption von Ex 17,61: „Der lebensspendende Felsen, der mit ihnen zog … Dieser Fels war Christus.“ (1 Kor 10,4); ähnlich die Aussagen in den Improperien am Karfreitag. 1149 M, H, R, S führen diese Variante im Märtyrer-Commune an (CAO III, 242 Nr. 2987 § 122-125), S überdies zu Allerheiligen (ebd. § 115) sowie C und H am Fest der Unschuldigen Kinder (ebd. § 22). 1150 CAO III, 74 Nr. 1775 § 74. 1151 CAO I, 174f; CAO II, 316f § 74. 1152 Nach Z ENGER , AT 1053. <?page no="182"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 174 Frommen“ aus Ps 15(16) zurück, „der die Verwesung nicht gesehen“ habe (V. 10 in Apg 13,35). Auch patristische Auslegungen ab dem 3. Jh. sehen Ps 15(16) als „den Psalm von der Rechtfertigung aus dem Glauben“ 1153 überwiegend in diesem explizit christologischen Blickwinkel. Vielfache Auslegungen erfahren die V. 8-11, die schon das Neue Testament als Prophetie auf Christus versteht. 1154 Wie David - Typos für Christus - zu JHWH, betet Jesus zum Vater (vox Christi) im Namen des Menschengeschlechts (vox hominis) und im Namen der Kirche (vox ecclesiae), die „sein Leib“ 1155 ist; er betet als Erster, dessen „Fleisch“ in sicherer Hoffnung ruht (V. 9). Nicht nur in der Hoffnung, zur Auferstehung zu gelangen, sondern in den Himmel aufgenommen zu werden. 1156 In diesem Sinn wird Ps 15(16) in der römischen Liturgie mehrmals verwendet: in der Messpsalmodie der Quadragesima im Offertorium Benedicam Dominum (V. 7f) 1157 und in der Communio Notas mihi fecisti (V. 11) 1158 ; das Offizium kennt V. 9 ausschließlich als Vigilantiphon und Versikel am Karsamstag 1159 ; weiters am Oktavtag von Epiphanie die Responsorien Notas mihi fecisti (V. 11) 1160 und A dextris est (V. 5.8f). 1161 In der ausgesetzten Situation zwischen Tod und Leben legt das Karsamstagsoffizium die Worte des Beters von Ps 15(16),9 Jesus in den Mund und schließt sich seiner hoffenden Erwartung an. 1162 Das Gebet der Kirche bezeugt wie Apg 2,31 Jesus als den Messias und jenen wahrhaft „Frommen“, der weder „Grab“ noch „Verwesung“ schauen wird. Auch die dritte Antiphon des Tages enthält das Verb requiescere. Ihre Interpretation bereichert das christologische Verständnis - nach der Rettung aus dem Tod und der sicheren Erwartung neuen Lebens - um den Aspekt der Herrschaft: Der Platz „zu deiner Rechten“ gebührt Christus, der den Tod überwunden hat. Die implizite Verheißung der 1. Nokturn am Karsamstag gründet in der anthropologischen Erfahrung von Schlaf und Erwachen (Ps 4). Die Verknüpfung aller drei Psalmen durch das Motiv requiescere vermittelt nicht Friedhofs- oder Grabesruhe, sondern das Eingehen des Frommen in jene „Ruhe Gottes“, die das Leben in Fülle ist. 1153 Cyrill von Alexandrien; nach N ESMY , Tradition 71. 1154 Vgl. A UF DER M AUR , Deutung. Vor Origenes ist das patristische Interesse an Ps 15(16) trotz seiner kanonischen Rezeption eher gering. Ein Grund dafür könnte die zunehmend stärkere Betonung der eigenmächtigen Auferstehung Christi sein, während die Deutung durch den Psalmvers die Auferweckung Jesu als Werk des Vaters nahelegt, vermutet F ISCHER , Studien 184-187. 1155 „Qui est sa chair“ (Athanasius, zit. nach N ESMY , Tradition 71). 1156 Origenes, ebd. 73. 1157 AMS 244 § 47; sowie am 5. Sonntag nach Pfingsten ebd. § 177. 1158 Ebd. 259 § 56. 1159 Siehe unten Kapitel 1.3.2.3 sv7. 1160 CAO III, 309 Nr. 7240 § 26. 1161 Ebd. 1 Nr. 6001 § 26. 1162 Die Christologisierung ,von unten‘ (Jesus, der Beter) und ,von oben‘ (Jesus, der Verheißene) gehen hier ineinander über - und steht jedenfalls „im Dienst der Soteriologie“, da „sich der Beter mit dem in erster Person vorgetragenen Text zu identifizieren und damit seiner eigenen Hoffnung Ausdruck zu verleihen vermag.“ (B UCHINGER , Lebensraum 191); über das Stichwort infernum (V. 10) „[führen] gewisse Stränge der Deutungstradition zudem zum Theologumenon der Hadesfahrt Christi und damit ins Zentrum der altkirchlichen Christologie und Soteriologie.“ (Ebd.). <?page no="183"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 175 Zweite Nokturn s2N1 1163 Elevamini, portae aeternales, et introibit a Rex gloriae. a - C, M, S, L: introivit Hebt euch, ihr ewigen Pforten, und eintreten wird der König der Herrlichkeit. Die 2. Nokturn am Karsamstag eröffnet Ps 23(24) mit V. 7b (= V. 9b) 1164 als Antiphon. 1165 Ähnlich wie zuvor in Ps 14(15) 1166 geht es auch in Ps 23(24) um die Begegnung zwischen Mensch und Gott im Tempel. Die Bedingungen („reine Hände“, „ein lauteres Herz“) für den Einlass in die Heilsstätte (V. 3f) jedoch werden auf alle Menschen erweitert, die nach Gott „fragen“ und dafür auf das Gottesvolk schauen („dein Angesicht suchen, o Jakob“, V. 6); wie auch dessen Herrschaft universal ist: Als sein Eigentum gehört die Erde und ihren Bewohner (V. 1) zum „Segensbereich des Zionsgottes“. 1167 Die „Liturgie an den Toren“ (V. 7-10) richtet den Blick auf den Urheber des Segens und trifft Vorkehrungen, „damit die Erhabenheit des Gottkönigs überhaupt einziehen kann“ 1168 , den doch „auch der Tempel ... nicht zu fassen vermag.“ 1169 An einigen Stellen im Neuen Testament begegnen theologische Motive aus Ps 23(24): Jesus preist diejenigen „selig, die reinen Herzens sind“ und deshalb „Gott schauen“ werden (Mt 5,8; vgl. V. 4.6); Paulus zitiert aus Ps 23(24), um die Freiheit der Christen vom jüdischen Gesetz zu argumentieren (V. 1 in 1 Kor 10,26); im Präskript des ersten Timotheusbriefs deklariert der Verfasser seine Berufung als Auftrag „Gottes, [unseres] Erlösers“ (1 Tim 1,1; vgl. V. 5). Die V. 7-10 werden neutestamentlich nicht rezipiert 1170 , doch haben sie eine ausgeprägte Wirkungsgeschichte in der patristischen Psalmenexegese. Der patristischen Literatur gilt der Einzug des Königs/ Christus in Ps 23(24),7.9 schon sehr bald als mehrfach prophetisch: er beschreibe das Kommen des Logos in die Welt (descendit de caelis), Christi Abstieg zu den Toten/ Höllenfahrt (descensus ad inferna) sowie seine Auferstehung und Himmelfahrt (ascendit in caelos). 1171 Dieser Auslegung folgend bestimmt die Einzugsthematik in Psalm 23(24),7.9 auch seinen liturgischen Gebrauch zur Interpretation und Feier christologischer Heilsgeheimnisse. Die liturgische Textfassung der V. 7.9 lautet wie im altrömischen Psalter Tollite 1172 portas: Der Text erklingt als Antiphon zu Kirchweih 1173 und im Responsori- 1163 CAO III, 200 Nr. 2631 § 74. Im CAO lückenlos auch für den Oktavtag von Weihnachten bezeugt; ebd. § 23; monastisch (H, S, L) außerdem für die Weihnachtsvigil: ebd. 64f § 19b. 1164 Der ganze Vers 7.9 lautet Adtollite portas principes vestras et elevamini portae aeternales et introibit rex gloriae. 1165 CAO I, 174f; CAO II, 318f § 74. 1166 Wie schon zuvor Ps 14(15); siehe oben s1N2. 1167 Z ENGER , AT 1063; vgl. H OSSFELD / Z ENGER , Psalmen I, 156f. 1168 Ebd. 160. 1169 W EINERT , Himmelfahrt 141. 1170 Wohl aber finden sich vergleichbare Formulierungen zur Bezeugung des Herrschaftsanspruchs Christi, u. a. in Hebr 9,11-12; Eph 1,20-21; Offb 1,18 und 21,12; Mt 16,18; Joh 12,31; 1 Petr 3,19-20 und 4,6; nach W EINERT , Himmelfahrt 142-143. 1171 Die Basis dafür bieten die Personifizierung der „Torhäupter“ in der griechischen Übersetzung sowie die Einbeziehung „zeitgenössischer kosmologisch-dämonologischer Konzeptionen“; nach M ARGONI -K ÖGLER , Psalm 24 42ff; 121; vgl. W EINERT , Himmelfahrt 143-147; die wichtigsten Belege bietet auch N ESMY , Tradition 109; 111-112. Ausführlicher zur christologischen Relecture von Ps 23(24) vgl. R OSE , Portas 453-478. 1172 W EBER , Psautier 46. Vulgata: adtollite … et elevamini. 1173 CAO III, 508 Nr. 5159 § 127; vereinzelt auch § 114 (H) und § 120 (F). <?page no="184"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 176 um Aspiciens am 1. Sonntag im Advent 1174 ; ebenfalls im Advent und zu Verkündigung des Herrn als Graduale (V. 7.3f) 1175 ; am Vorabend der Weihnacht sowie Darstellung des Herrn als Offertorium. 1176 Die liturgische Verwendung von Ps 23(24) in anderen Riten bietet sich in vergleichbarer Fülle dar. 1177 Diese durch Ps 23(24),7.9 interpretierten Festinhalte klingen im Karsamstagsoffizium mit und bringen das soteriologisches Motiv des Descensus Christi ad inferos 1178 mit anderen Aspekten des Kommens Gottes/ Christi in die Welt - von der Inkarnation bis zum Eschaton - in eine umfassende heilsgeschichtliche Perspektive. Wie in seinen liturgischen Vorgängern Pss 14(15) und 15(16) geht es auch in Ps 23(24),3-6 am Karsamstag zunächst um den Einzug des Getreuen in die Gegenwart JHWHs, um „Segen [zu] empfangen und Heil von Gott, seinem Helfer“ (vox de Christo/ von unten). 1179 Die Dialog-Verse 7-10 verändern aber die Perspektive sowohl auf den Gerechten/ Christus, der hier erstmals 1180 als rex gloriae in Erscheinung tritt (vox de Christo/ von oben), als auch auf Ort und Richtung des Einzugs, was einen „Höhepunkt am Tiefpunkt“ 1181 ahnen lässt: Der Aufstieg des Gerechten ins Heiligtum (Erhöhung/ Auferstehung) wird weder abrupt unterbrochen noch beendet, sondern führt über sein - keineswegs mehr bedrohliches, vielmehr triumphales - Absteigen in die Unterwelt (Hades, scheol), die unter seiner Herrschaft ihren tödlichen Schrecken verliert. 1182 s2N2 1183 Credo videre bona Domini a in terra viventium b . a - S: Domine b - C: viventium fehlt Ich bin gewiss, zu schauen die Wohltaten des Herrn im Land der Lebenden. 1174 CAO IV, 32 Nr. 6129 § 1. 1175 AMS 238 § 5a; Verkündigung: ebd. § 33a. 1176 Ebd. 248 § 8; Darstellung: ebd. § 29b. Demgegenüber hat die altkirchlich breit belegte Verwendung von Ps 23(24) am Fest Christi Himmelfahrt - „liturgietheologisch als Ausgliederung des Aufstiegs-Motivs aus dem eigentlichen Pascha-Kern zu verstehen“ (B UCHINGER , Lebensraum 193) - keinen nennenswerten Eingang in die römische Tradition gefunden. Andere Riten des Westens (etwa in Spanien und Mailand) und insbesondere die byzantinische Liturgie verwenden Ps 23(24),7-10 als zentrales Interpretament der Erhöhung Christi zum Vater; nach R OSE , Psaumes 128f; vgl. D ERS ., Portas, 453-478 (hier besonders 468-478). 1177 Der Schwerpunkt liegt dabei stärker auf dem Osterfestkreis, weniger auf Advent und Weihnachten; entsprechend seiner Verwendung am Fest Christi Himmelfahrt (vgl. Anm. 1176) hat Ps 23(24) in jenen Riten „qui lient dans la célébration l’Ascension à la Résurrection“ (R OSE , Psaumes 127; dort Anm. 66), etwa in der koptischen Liturgie, seinen Ort in der Osternacht (ebd.). 1178 Vgl. Anm. 1045. 1179 B UCHINGER , Lebensraum 195, unterscheidet methodisch den liturgischen Gebrauch des vorausgehenden Psalms 4, dessen wechselseitige Deutung von Lebenswelt und Liturgie kein literarisches Vorbild zu haben scheint, und die Verwendung von Ps 15(16), die auf dessen neutestamentlicher Relecture basiert, von einer dritten, bei Ps 23(24) zu beobachtenden Weise liturgischer Psalmenrezeption, „[die sich] erst von der nachbiblisch-patristischen Tradition geprägt, auch in der vielfältigen liturgischen Verwendung dieses Textes niedergeschlagen hat.“ Wie Anm.1177. 1180 Die erste Nokturn kennt noch keine ausdrückliche Christus-Prädikation; die christliche Relecture von Ps 23(24),7.9. geht zudem über die biblischen Vorgaben hinaus; nach ebd. 194. 1181 Ebd. 1182 Je zwei der sechs Codices jeder Hss-Familie schreiben introivit („eingetreten ist der König der Herrlichkeit“): Sofern hier nicht bloß die in S häufige Schreibweise v statt b vorliegt, wäre damit das Gewicht von der Erwartung des Heilsgeschehen zur Glaubensgewissheit hin verschoben. 1183 CAO III, 114 Nr. 1948 § 74; vereinzelt auch pro defunctis § 127; 146. <?page no="185"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 177 Zum zweiten Mal in den Nokturnen der Kartage ist hier Ps 26(27) vorgesehen; davor bereits am Karfreitag. 1184 Am Karsamstagmorgen erklingt Ps 26(27) mit der psalmogenen Antiphon V. 13 Credo videre bona Domini in terra viventium. Der Psalmist schließt seine Feindklage (V. 7-13) mit einem Ausdruck der Hoffnung, den sich auch die Feiernden zu eigen machen. „Das Land“ spielt in der Geschichte und im Glauben Israels eine entscheidende Rolle: Verheißen, umkämpft, verloren und neu geschenkt verbürgt es die Nähe und Einwohnung JHWHs bei seinem Volk. Vom Zion, dem Ort „meiner Ruhe“ 1185 , aus ergeht Segen für die Bewohner „im Land der Lebenden“. Nach dem vielsagenden requiescere der 1. Nokturn gewinnen Topoi wie terra viventium Bedeutung. 1186 Die singuläre (falsche? ) Schreibweise Domine (statt Domini) in S ist nicht sinnstörend, doch ist Gott hier angesprochen: „Ich bin gewiss, Gutes zu schauen, Herr, im Land der Lebenden.“ Die um viventium verkürzte Aussage in C enthält nicht weniger Assoziationen: „Ich bin gewiss, zu schauen (die) Wohltaten des Herrn im Land.“ s2N3 1187 Domine, abstraxisti ab inferis animam meam. Herr, fortgerissen aus der Unterwelt hast du mein Leben. Die 2. Nokturn schließt mit Ps 29(30) und der Antiphon V. 4 1188 in der Textfassung des altrömischen Psalters. 1189 Ps 29(30) enthält einen zweifachen Rückblick auf die vergangene Not und doppelten Dank (V. 3-4; 7-12): V. 4 benennt die ,äußere‘ Rettung vor „Feinden“ durch Gott; der zweite Dank vermittelt die innere Einsicht des Beters von diesem Geschehen, das er als Rückkehr vom Tod ins Leben erfahren hat. 1190 Weder beziehen sich die Schriften des Neuen Testaments ausdrücklich auf Ps 29(30), noch befasst sich die Auslegung der Kirchenväter ausführlicher damit. Erkennbar werde darin der Descensus Christi und seine Rettung. 1191 Liturgischen Anklang findet Ps 29(30) vor allem in der vorösterlichen Zeit: Der Introitus Audivit Dominus (V. 11) 1192 in der Woche nach Aschermittwoch nimmt die Erhörungsgewissheit des Bittenden vorweg; das Graduale Exaltabo te (V. 2-4) 1193 und das gleichlautende Offertorium 1194 in der 2. bzw. 5. Woche der Quadragesima interpretieren diese Tage als Zeit der Heilung und des Heiles. Seit Anfang des 5. Jhs. ist Ps 29(30) in der Jerusalemer Liturgie als Osternachtspsalm bezeugt. 1195 Die römische Osternacht kennt ihn hingegen nicht. 1196 1184 Mit V. 12 Insurrexerunt in me testes iniqui, et mentita est iniquitas sibi als Antiphon; siehe oben f1N3. 1185 Vgl. Ps 114(116),7.9; Ps 94(95),11; Ps 131(132),8; Ez 20,15; Num 14,28-30; Dtn 1,34f. 1186 Vgl. dixi non videbo Dominum in terra viventium non aspiciam hominem ultra et habitatorem quievit (Jes 38,11); „Gott zu schauen“ ist nicht Jenseitshoffnung, sondern eine konkrete Erfahrung im Hier und Jetzt des irdischen Lebens; der Hiskija-Psalm (Jes 38,10-20) ist das Laudescanticum des Tages; siehe unten sL4. 1187 CAO III, 162 Nr. 2325 § 74. 1188 CAO I, 174f; CAO II, 318f § 74. 1189 W EBER , Psautier 56; Vulgata: eduxisti. 1190 Nach H OSSFELD / Z ENGER , Psalmen I, 186; 190. 1191 Eusebius, Basilius; nach N ESMY , Tradition 126. 1192 AMS 231 § 39a. 1193 Ebd. 236 § 70 1194 Ebd. 245 § 37b. 1195 Armenisches Lektionar § XLIVter, 116 (PO 36/ 2 = 168, 309 [171] R ENOUX ). 1196 Vgl. ausführlicher W ITZENRATH , Abend 447-496. <?page no="186"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 178 Ps 29(30) am frühen Morgen des Karsamstags in seiner christologischen Deutung erscheint verfrüht: vox Christi ,schon jetzt‘ im Rückblick auf das Heilsereignis seiner Auferweckung/ Auferstehung sprechen zu hören, entspricht jedoch dem Prinzip der liturgischen Anamnese, die Gottes Heilshandeln als künftiges Heil vergegenwärtigt. Antiphon und Psalm antizipieren die Verwandlung der Paschavigil: von der Klage zur Freude, vom Weinen zum Jubel („Tanz“), vom Tod zum Leben. ,Eingehen - an Orte des Lebens und des Todes - macht auch die Dynamik der 2. Nokturn aus. Ps 23(24) kündigt den Einzug des Königs an. Der liturgische Gebrauch dieses Psalms u. a. im Weihnachts- und im Osterfestkreis besingt das Kommen Christi an alle Orte seiner Herrschaft im Himmel, auf der Erde und - am Karsamstag - unter der Erde (Unterwelt). Dritte Nokturn s3N1 1197 Deus, adiuvat a me, et b Dominus susceptor est animae meae. a - E, M, V, D, F, S, L: adiuva b - G, F: et fehlt Gott, er hilft mir, und der Herr ist der Hüter meines Lebens. Als ersten Psalm der 3. Nokturn wiederholt man Ps 53(54), der schon am Karfreitag in der Vigil gesungen wurde; 1198 diesmal aber mit V. 6 als Antiphon. 1199 Die Aussage des kurzen Psalms bleibt dieselbe - die Bitte um Überwindung hochmütiger Feinde -, doch die neue Antiphon benennt den entscheidenden Unterschied: Nicht mehr die Gewalttäter sind am Zug, sondern der helfende Gott. Während jene dem Armen das Leben raubten (quaesierunt animam meam), wird Gott es hüten (susceptor est animae meae). Diese in wenigen Versen als Güte Gottes (vgl. V. 8) erfahrene Wendung von der Not zum Triumph über die Feinde wird liturgisch auf zwei Tage erstreckt. Die Lesart adiuva stellt die Hilfe Gottes nicht nur fest, sondern erbittet sie: Gott, hilf mir, (und) der Herr ist es, der mein Leben erhält. Der Beter wendet sich zunächst an Gott, um ihn dann bekennend zu bezeugen. s3N2 1200 In pace factus est locus eius, et in Sion habitatio eius. Im Frieden ist sein Ort (bereitet) und auf dem Zion seine Wohnstatt. Auch Ps 75(76) ist eine Wiederholung und war innerhalb der Wochentagspsalmodie bereits am Hohen Donnerstag mit eigener Antiphon (V. 9b) vorgesehen. 1201 Am Karsamstag bildet nun V. 3 die Antiphon. 1202 Beide Verse handeln von der Präsenz Gottes: V. 3 besingt JHWH, der sich auf dem Zion niederlässt, V. 9 seinen Richtspruch über die Welt. Die liturgische Reihenfolge ist anders: Sie stellt die Erschütterung und das Verstummen der Erde vor JHWH, der sich zum Gericht erhebt, voran und gibt damit dem beginnenden Leiden Christi unter dem Gericht der Menschen eine theozentrische Interpretation (Gründonnerstag). Ihre Deutung von eius am Karsamstag ist christologisch: Christus hat „Ort“ und „Wohnstatt“ (V. 3) in der Gegenwart Gottes gefunden. Das Gericht Gottes (V. 9) und sein Friede (V. 3) fallen hier in eins: Beide sind Ausdruck der Hoffnung auf die Rehabilitierung des Gekreuzigten von Gott her. 1197 CAO III, 144 Nr. 2165 § 74. 1198 Siehe oben f2N3 mit V. 5 als Antiphon. 1199 CAO I, 176f; CAO II, 318f § 74. 1200 CAO III, 276 Nr. 3264 § 74. 1201 Siehe oben d3N2 mit V. 9b als Antiphon. 1202 CAO I, 176f; CAO II, 318 § 74. <?page no="187"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 179 Innerhalb der Nokturnen bietet die Antiphon eine weitere Ortsmetapher: Nach tabernaculo/ monte sancto tuo (s1N2), terra viventium (s2N2) sowie der Torliturgie von Ps 23(24) in der Scheol (s2N1, s2N3) richtet sich der Blick hier auf den eschatologischen Ort der Einwohnung Gottes in Sion. Auch die Einsetzung des gerichteten und geretten Christus als endzeitlicher Weltenrichter auf dem Zion mag mitzuhören sein. Schließlich bindet in pace diese vorletzte Nokturnantiphon an die erste Antiphon des Tages zurück (in pace in idipsum, s1N1), dessen Horizont „sicherer Hoffnung“ und Erwartung (in spe, s1N3) sie - angesichts des Kommenden - offenhält. s3N3 1203 Factus sum sicut homo sine adiutorio, a inter mortuos liber. a - M: et eingefügt Geworden bin ich wie ein Mensch ohne Beistand, (entlassen unter die Toten) frei unter den Toten. Wie der vorige Psalm wurde auch Ps 87(88) bereits am Karfreitag gesungen. Die nochmalige Verwendung dieses einzigartig abgründigen Psalms am Karsamstag dient dem Begreifen des unbegreiflichen Leidens und Sterbens Christi. Der V. 9a.c. 1204 ist nun durch V. 5b.6a als Antiphon 1205 ersetzt. Der interpretationsbedürftige zweite Halbvers inter mortuos liber hat christliche Auslegungsgeschichte geschrieben. Entgegen diversen Textkonjekturen 1206 infolge exegetischer Zweifel an der Richtigkeit des Masoretentextes ist die allgemeine ältere Auffassung (Vulgata, LXX) als (unter die Toten) „Freigelassener“ (stärker: „Entlassener“) beizubehalten - gemeint ist der auf der untersten sozialen Stufe stehende dienstuntauglich gewordene Soldat. 1207 Auf Basis der darin gründenden rabbinischen Auffassung, die Toten seien „frei vom Gesetz“, argumentiert Paulus die Freiheit derer, die - „mit Christus gestorben und begraben“ (Röm 6,4.8) - den Ansprüchen des Gesetzes gegenüber „tot“ seien. (Röm 7,4.6) 1208 Das ,Freisein‘ Jesu als Preisgabe unter die Toten behält seine ursprüngliche und fatale Bedeutung, sofern es um den wirklichen Tod des Gekreuzigten geht; zugleich hat die Vätertheologie darin den einzigartigen Status Christi unter den Verstorbenen ausgedrückt gesehen, wodurch „unter den Toten frei“ zum Inbegriff der Freiheit Christi vom Tod wurde. So konnte sich der vernichtende Literalsinn von inter mortuos liber in Ps 87(88),6a - noch unter den Toten nimmt der Beter den letzten Platz des „Entlassenen“ ein - in der christlichen Auslegungstradition schließlich zur Erlösungsformel wandeln: Die Freiheit Christi unter den Toten bestehe in seiner Freiheit von der Sünde, weshalb Christus nicht endgültig unter die Knechtschaft des Todes - den „Lohn der Sünde“ (Röm 6,23) - gezwungen werden kann. 1209 1203 CAO III, 225 Nr. 2849 § 74. 1204 Siehe oben f3N2 mit V. 9a.c als Antiphon. 1205 CAO I, 176f; CAO II, 318f § 74. 1206 Auch deren philologisch „noch am plausibelsten“ erscheinende Version „mein Lager“ - sie hat Eingang in die Nova-Vulgata gefunden: inter mortuos stratum meum - ist heute obsolet; nach H OSSFELD / Z ENGER , Psalmen II, 565. 1207 Ebd. 1208 Vgl. die Untersuchung zu Röm 3-8 von D IEZINGER , Toten, sowie R OSE , Versets 217-223. Zur Wirkungsgeschichte dieses Verses, u. a. in der 14. präbaptismalen Katechese des Cyrill von Jerusalem über den Glaubensartikel von Auferstehung, Himmelfahrt und Erhöhung, vgl. B UCHIN- GER , Lebensraum 196. 1209 Origenes, Eusebius, Gregor v. Nyssa, Athanasius, Ephräm d. Syrer, Augustinus, Hieronymus, Cyrill v. Jerusalem u. a.; nach N ESMY , Tradition 475-481. <?page no="188"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 180 Im liturgischen Kontext steht die Freiheit Christi bei den Toten für die Souveränität des Siegers über den Tod, der seine Herrschaft auch auf die Bewohner der Unterwelt/ die Toten ausdehnt (Descensus-Motiv; Ps 23[24]). 1210 Die Hilflosigkeit des ersten Halbverses 5b sicut homo sine adiutorio stellt gegenüber der zuvor geäußerten Zuversicht Deus adiuvat me (s3N1) freilich einen Rückschlag dar. Obgleich die Vigilpsalmodie des Karsamstags also „in jenem Zentrum altkirchlicher Paschatheologie [endet], in dem Christologie und Soteriologie konvergieren“, 1211 - in der konkreten Feiersituation bleiben Antiphon und Psalm vorläufig ambivalent. In der 3. Nokturn bewährt sich das Vertrauen auf Gott: Die Wiederholung von Ps 75(76) von Gründonnerstag und Ps 87(88) von Karfreitag mit anderen Antiphonen interpretiert deren bisherige Erfahrungen neu: Vom Zion aus erging das Gericht und erschütterte die Erde - jetzt steht der Zion als Ort des Friedens offen; die tödliche Entfremdung von allem Leben aber, das dennoch im Tod endet, erweist sich als Freiheit im Durchgang vom Tod zum neuen Leben. Die Morgenhore: Matutin/ Laudes Zur Psalmodie sL1 1212 O mors, ero mors tua; morsus tuus ero, inferne. O Tod, ich werde dein Tod sein; dein Biss/ Stachel, Hölle, werde ich sein. Die erste Antiphon des Tages stammt aus Hos 13,14 in der Textgestalt der Vulgata 1213 , welche die Wortfolge Ero mors tua o mors ero morsus tuus inferne (V. 14c.d) geringfügig umstellt. Wie am Vortag begleitet hier also eine einzigartige nichtpsalmogene Antiphon den täglich gleichbleibenden Laudespsalm 50(51) und setzt damit am Anfang der Laudes einen weiteren theologischen Akzent. 1214 Bei den Masoreten lautet der zugrundeliegende Text freilich noch anders: 1215 Im Kontext einer überaus scharfen Gerichtsrede gegen den treulosen Stamm Efraim (Hos 13,4-15) befiehlt „der Herr, dein Gott“ (V. 4) Tod und Unterwelt herbei, um deren Plagen als Strafen zu verhängen: „Tod, wo sind deine Seuchen? Unterwelt, wo ist dein Stachel? “ (V. 14c.d) Will man den Text konsistent verstehen, stellt sich unmittelbar davor die Frage nach der intendierten (oder verweigerten? ) Rettung: „sollte ich“ - Gott? - „sie (in V. 13 „Efraim“) erlösen? “ (V. 14a.b) 1216 1210 Außer der römischen Tradition verwenden auch die Mailänder Liturgie und der koptische Ritus Ps 87(88) mit derselben Antiphon am Karsamstagmorgen; nach R OSE , Psaumes 117. 1211 B UCHINGER , Lebensraum 196. 1212 CAO III, 371 Nr. 4045 § 74. 1213 CAO I, 176f; CAO II, 318f § 74. 1214 Siehe oben fL1; dL1 am Gründonnerstag ist zwar ebenfalls singulär, aber psalmogen. 1215 Der folgende kursorische Überblick zur Text- und Rezeptionsgeschichte und das Verständnis von Hos 13,14 basiert auf der Darstellung von F ISCHER , Mors 97-113. 1216 Der hebräische Text des ganzen Verses 14 lässt sich nicht ohne theologische Anstrengung interpretieren und hat zu unterschiedlichen, geradezu gegenteiligen Übersetzungen geführt; entscheidend ist, ob man den Anfang des Verses als Aussage oder als rhetorische Frage versteht. Die EÜ behält die Gerichtsansage bei: „Aus der Gewalt der Unterwelt sollte ich sie befreien? Vom Tod sollte ich sie erlösen? Tod, wo sind deine Seuchen? Unterwelt, wo ist dein Stachel? Meine Augen kennen kein Mitleid.“ (Hos 13,14); die revidierte Lutherbibel (1984) etwa schließt sich hingegen der Rettungslesart an und übersetzt Hos 13,14 so: „Aber ich will sie aus dem Totenreich erlösen und vom Tode erretten; Tod, ich will dir ein Gift sein; Totenreich, ich will dir eine Pest sein; Rache kenne ich nicht mehr.“ <?page no="189"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 181 Die LXX wie auch die Vetus Latina übernehmen - wohl philologisch korrekt - die Strafintention. Die Interpretation des Textes bleibt infolge der in alten Bibelhandschriften fehlenden Interpunktion dennoch unsicher: unklar, doch entscheidend ist, ob V. 14a.b auch als Willensäußerung zugunsten der Beklagten verstanden werden könnte - und nicht gegen sie. Dann nämlich würde die abwehrende Frage in V. 14a.b „… befreien sollte ich sie? “ (= Strafdrohung) zur Selbstverpflichtung Gottes: „Aus der Gewalt der Unterwelt sollte (will) ich sie befreien; vom Tod sollte (will) ich sie erlösen.“ (= Drohwort gegen den Tod) und V. 14c.d mutierte vom Befehlswort an die Strafwerkzeuge zum Verteidigungswort für die Bestraften. Hieronymus greift für seine Übersetzung - gegen die LXX und deren vielleicht ursprüngliches Verständnis - auf eine hebräische Variante zurück, in der eine (theologisch motivierte? ) Konsonantenverschreibung die Sprechrichtung im Sinne der Rettung verkehrt hat („ich werde sein“ statt „Wo …“) und folgerichtig nicht mehr Efraim, sondern dem Tod der Kampf angesagt wird: „Ich werde für dich Seuche sein, Tod. Ich werde für dich Stachel sein, Unterwelt.“ (V. 14c.d) Zudem folgt er der paulinischen Rezeption absorta est mors in victoria; ubi est mors victoria tua; ubi est mors stimulus tuus (Mischzitat aus Hos 13,14c.d und Jes 25,8 in 1 Kor 15,54f), die den Text aus christologischen Gründen ebenfalls ,falsch‘, d. h. gegen den Tod, ins Treffen führt und zudem aus einem Mischzitat mit Jes 25,8 die Rede vom „Sieg“ einträgt. Damit ist über die christliche Interpretation des Textes entschieden: Vernichtet wird die Unterwelt, nicht der Sünder. 1217 MT, korrigiert Ich werde deine Pest sein, Tod, ich werde dein Verderben (Seuche? Stachel? ) sein, Unterwelt. Rettung für Efraim / Drohung gegen den Tod $ Vulgata Ich werde dein Tod sein, Tod, ich werde dein Biss sein, Unterwelt. MT, überlieferter Text Wo ist deine Pest, Tod? , wo ist dein Verderben (Seuche? Stachel? ), Unterwelt? Strafe für Efraim / Befehl an die Strafwerkzeuge $ LXX = Vetus latina Wo ist deine Strafe, Tod? Wo ist dein Stachel, Unterwelt? 1 Kor 15,55 Mischzitat mit Jes 25,8 Wo ist, Tod, dein Sieg; wo ist, Tod, dein Stachel? Rettung der Glaubenden / „Sieg“ über den Tod Die prägnante Antiphon nennt also Tod und Unterwelt als Thema des Karsamstags beim Namen, spricht aber zugleich von ihrer Überwindung. Obwohl die Aussage exklusiv christologisiert ist, hat sie eine eminent soteriologische Spitze; ist doch die Entmachtung von Tod und Hölle die letzte und universale Konsequenz des Heilstodes Christi. Die exponierte Stellung am Anfang des Morgenoffiziums macht den Text zu einer „Kurzformel der römischen Liturgie für das Paschamysterium“; 1218 sieht man sie in einer Reihe mit den entsprechenden Antiphonen des Hohen Donnerstags und des Karfreitags, wird sie zu einem Höhepunkt der gesamten Osterliturgie: Gott richtet und siegt (dL1), indem er seinen Sohn für uns hingibt (fL2), um dem Tod die Macht über das Leben der Menschen endgültig zu nehmen (sL1). 1217 Nur zwei Vertreter der antiochenischen Schule erkennen in der Vernichtung der Assyrer eine bereits inneralttestamentliche Erfüllung des von ihnen gleichfalls als Trostwort gedeuteten Textes (F ISCHER , Mors 109f mit Verweis auf Theodor v. Mopsuestia und Julian v. Eclanum). 1218 So der Titel der Analyse von F ISCHER . <?page no="190"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 182 sL2 1219 Plangent eum quasi unigenitum, quia innocens a Dominus occisus est. a - F: quia Dominus innocens Sie werden ihn beweinen wie den Erstgeborenen, denn schuldlos ist der Herr getötet worden. Nur der erste Teil der Antiphon hat in Sach 12,10c 1220 ein biblisches Vorbild; der zweite Teil enthält Anklänge an das Schicksal der Propheten in Jerusalem (Mt 23,37) sowie an das geschlachtete Lamm (Offb 5,9c) und war bereits im Responsorium Ierusalem luge als Vers zu hören. 1221 Die letzten Kapitel des Sacharjabuches 12-14 entwerfen die Vision eines apokalyptischen Szenarios: nach dem Völkersturm und der letzten Entscheidungsschlacht wird Jerusalem „an jenem Tag“ zum Ort weltweiten Friedens. 1222 Das Haus David und die Einwohner Jerusalems werden dabei heftig wehklagen um einen, den sie selbst getötet haben: „Doch über das Haus David und über die Einwohner Jerusalems werde ich den Geist des Mitleids und des Gebets ausgießen. Und sie werden auf den 1223 blicken, den sie durchbohrt haben. Sie werden um ihn klagen, wie man um den einzigen Sohn klagt; sie werden bitter um ihn weinen, wie man um den Erstgeborenen weint.“ (Sach 12,10) Der Tod des Beklagten 1224 wird für sie Sühne erwirken. 1225 Vor allem das Motiv des Durchbohrten aus Sach 12,10b wird neutestamentlich rezipiert und mit dem Gekreuzigten identifiziert: Joh 19,34.37 (Lanzenstich); Offb 1,7 (Offenbarung vor allen Völkern). 1226 Denn beim machtvollen Erscheinen des Menschensohnes auf den Wolken des Himmels werden „alle Völker der Erde wehklagen“. (Mt 24,30, vgl. Sach 12,10c.d; 12.14) Im liturgischen Kontext näher liegt vorerst die Erinnerung an den Kreuzweg Jesu, den die Frauen „um ihn weinend und ihn beklagend“ begleitet hatten (Lk 23,37, vgl. Sach 12,10c) sowie an den Schmerz der Mutter um „ihren Sohn, den Erstgeborenen“ (Lk 2,7). Die Antiphon spricht von Christus, sie verweist - wie die neutestamentlichen Anspielungen - auf „ihn“ (eum, nicht me). So ist auch der göttliche Sprecher aus Sach 12,10b mitzuhören, der seinerseits um den „eingeborenen“ Sohn klagt. 1227 Ein liturgisches Vorecho hat diese Antiphon in der Lesung Sach 11,12-13,9 am Montag der Hohen Woche, die die ältesten Lektionare übereinstimmend belegen. 1228 Als Psalm zu dieser Antiphon nennen die römischen Quellen (außer B ohne Angabe) sowie die monastischen Codices D, F und L Ps 42(43) aus den römischen Dienstagslaudes: Das Bittgebet eines Bedrängten, der „trauernd einhergehen“ muss (V. 2), um die Anwaltschaft Gottes und Führung „zu deinem heiligen Berg und zu deiner Wohnung“ (V. 3) konzentriert einige an diesem Tag wichtige Motive aus den Noktur- 1219 CAO III, 403 Nr. 4295 § 74. 1220 CAO I, 176f; CAO II, 318f § 74. 1221 Dieser Text gehört auch zum 2. Responsorium des Tages sR 2 ; siehe unten Kapitel 1.3.2.3. 1222 Nach Z ENGER , AT 1829. 1223 Vulgata: aspicient ad me quem confixerunt et plangent eum planctu quasi super unigenitum et dolebunt super eum ut doleri solet in morte primogeniti. 1224 Die individuell oder kollektiv zu deutende messianische Gestalt des „Durchbohrten“ ist Subjekt einer weiteren Antiphon des Tages; siehe unten sD3. 1225 Vgl. die Einsicht der Völker in Jes 53,4-6. 1226 Siehe unten Kapitel 1.3.2.2 (vgl. dort Anm. 1421 und 1440). 1227 Den Gott „nicht geschont, sondern für uns hingegeben hat“; vgl. fL1. 1228 Nach C HAVASSE , Lectionnaires I, 54; II, 14. <?page no="191"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 183 nen: Gerechtigkeit, Trauer und Zion/ Gottesnähe. Auch schon davor prägt Ps 42(43) die vorösterliche Zeit, v. a. in den Messgesängen. Nach der Communio Introibo (V. 4) an Sexagesima 1229 erklingen die V. 1-3 im Introitus Iudica me Deus et discerne am Passionssonntag 1230 und im Graduale Discerne (V. 1.3) am Mittwoch danach. 1231 Im Offizium begleitet die Antiphon Discerne causam meam Domine (V. 1) denselben Laudespsalm bereits am Dienstag. 1232 H und R bieten mit Ps 91(92) den nach der römischen Ordnung üblichen hymnischen Dank- und Lehrpsalm vom Tag (Samstag), in dem der Beter seine als Triumph über die Feinde erfahrene Rettung mit der Einsicht proklamiert, dass Unrecht vor Gott keinen Bestand hat, der Gerechte aber leben wird. 1233 Es gibt einige liturgische Bezüge, die aber aufgrund der Allgemeingültigkeit des gewählten Verses wenig spezifisch bleiben: Wiederholt erklingt das frohe Bekenntnis Bonum est (V. 1) als Graduale in der Quadragesima 1234 und nach Pfingsten 1235 ; an Sexagesima auch zum Offertorium. 1236 S macht mit Confitemini Domino keine eindeutige Angabe. 1237 sL3 1238 Attendite, universi populi, et videte dolorem meum. Merkt auf, alle Völker, und seht meinen Schmerz. Die Antiphon zu den täglichen römischen Laudespsalmen Ps 62(63) und Ps 66(67) zitiert fast wörtlich aus Klgl 1,18b audite obsecro universi populi, et videte dolorem meum. 1239 Als tägliche Psalmen 1240 proklamieren sie Lob und Segen, wobei die Verwendung von Ps 66(67) als Begleitgesang zur Kreuzverehrung am Karfreitag 1241 diesen Text stärker als sonst universal soteriologisch färbt. Die Klagelieder - eine poetisch-theologische Reflexion der Katastrophe des Exils in Babylon, die als Vigillesungen in den Morgenhoren der drei vorösterlichen Tage 1242 ihren ebenso festen wie nahezu auschließlichen Ort haben 1243 - stellen Gott die Verzweiflung und das Elend seines Volkes vor Augen. Der von Gott geschlagenen „Frau Zion“ - Symbol des Gottesvolkes -, krank vor Kummer, trostlos und verlassen, bleibt wenig mehr als das Eingeständnis ihrer Schuld. 1244 Die Vorüberkommenden fordert sie auf, den Zusammenhang zwischen ihrer Sünde und dem über sie verhängten Schmerz zu erkennen („Er, der Herr, ist im Recht. Ich habe seinem Wort getrotzt.“ V. 18a), 1229 AMS 250 § 35. 1230 Ebd. 232 § 67a. 1231 Ebd. 235 § 69a. 1232 CAO III, 153 Nr. 2252 § 70. 1233 Nach Z ENGER , AT 1143. 1234 AMS 235 § 52; § 65; § 66. 1235 Ebd. § 186; § 187; § 189. 1236 Ebd. 245 § 34. 1237 Das Incipit ist nicht eindeutig: Gemeint sein könnten Ps 32(33), einer der Alleluia confitemini- Psalmen 104(105), 105(106), 106(107), 117(118) und 135(136) oder der Primpsalm 117(118). 1238 CAO III, 61 Nr. 1512 § 74. 1239 CAO I, 176f; CAO II, 318f § 74. 1240 Siehe oben dL3 und fL3. 1241 Wie Anm. 759. 1242 Siehe unten Kapitel 1.3.2. 1243 Nur ein Sakramentar gelasianischen Typs (8. Jh.) aus Angoulême belegt die Lesung von Klgl 3,22-57 am Donnerstag der 2. Woche der Quadragesima; nach C HAVASSE , Lectionnaires I, 53; II, 13. 1244 Vgl. die aus Schuldeinsicht erwachsende Heilsmöglichkeit wie in der vorigen Antiphon sL2 (Sach 12,10). <?page no="192"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 184 doch zeigen diese ebenso wenig Einsicht („Sie zischeln und schütteln den Kopf über die Tochter Jerusalem“ Klgl 2,15b) wie die Spötter, die am Kreuz Jesu vorüberkommen, ihn höhnen und lästern. (Mt 27,39 par) Mit der Stimme der „Frau Zion“ beklagt die Kirche stellvertretend für die Menschheit (vox hominis) den Verlust ihrer gottgeschenkten Würde und die Gefangenschaft ihrer „Mädchen und jungen Männer“ (V. 18c) in der Sünde und letztlich im Tod. Im Zusammenhang mit der Beweinung des Gekreuzigten und vor dem Klang der vorherigen Antiphon (sL2) ist der Text zugleich offen für die Klage des von den Menschen verkannten Christus (vox Christi), ja sogar für die Klage Gottes um den geliebten Sohn (vox Dei). sL4 1245 A porta inferi erue, Domine, animam meam a . a - D: eius Vom Eingang der Unterwelt reiß weg, Herr, mein Leben. Die nicht als ein wörtliches Schriftzitat aus der Vulgata identifizierbare Antiphon 1246 formuliert eine Bitte, wie sie in jedem Klagepsalm 1247 oder in verwandten Texten stehen könnte, die eine „Todesnot und Rettung durch das Eingreifen Gottes“ schildern. In den Nokturnen war dies zuletzt in Ps 29(30),4 (s2N3) der Fall. Das zugehörige Canticum Jes 38,10-20, das üblicherweise in den Laudes am Dienstag gesungen wird 1248 , enthält eine ähnliche Wendung in V. 17b. Der tödlich erkrankte König Hiskija sucht Hilfe bei JHWH, wobei er seine Treue und seinen gerechten Lebenswandel geltend macht (V. 3). Gott lässt ihm durch den Propheten Jesaja sagen: „Ich werde deinen Tagen noch fünfzehn Jahre hinzufügen.“ 1249 (V. 5) Das NT geht auf Jes 38,10-20 nicht ein. Allenfalls eine entfernt ähnlich lautende Selbstaufforderung mit lauterem Herzen „in das Heiligtum einzutreten“ (acccedamus cum vero corde, Heb 10,19.22) enthält einen schwachen Anklang an die (Selbst-) Rechtfertigung des Hiskija memento quaeso quomodo ambulaverim coram te in veritate et in corde perfecto. (Jes 38,3) In der Morgenhore am Karsamstag ist Jes 38,10-20 aufgrund seines Vokabulars eine hermeneutisch hervorragende Wahl, um bereits gehörte Motive aufzugreifen und zu verdichten: 1245 CAO III, 21 Nr. 1191 § 74; vereinzelt (L, M, D) auch pro defunctis § 127; 146; 150. 1246 CAO I, 176f; CAO II, 318f § 74. 1247 Z. B. Ps 48(49),16 verumtamen Deus redimet animam meam de manu inferi cum acceperit me - Gott aber entreißt mein Leben der Unterwelt und nimmt mich an; Ps 88(89),48 beschreibt fast wortgleich die Vergeblichkeit menschlichen Bemühens, dem Tod zu entgehen quis est homo qui ... eruet animam suam de manu inferi? Oder Ps 106(107),18, der die Rettung von Menschen erzählt, die den Pforten des Todes gefährlich nahe gekommen waren: adpropinquaverant usque ad portas mortis. 1248 Nach P ASCHER , Stundengebet 88. 1249 Die Parallelstelle in der Vulgata IV Reg 20,6 (= 2Kön 20,6) fügt in V. 5d die Vorwegnahme der Heilung und den Gang zum Tempel ecce sanavi te die tertio ascendes templum Domini ein. Fehlt im MT (und in der EÜ). <?page no="193"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 185 Jes 38 Referenztext liturgischer Ort V. 10 ad portas inferi elevamini portae aeternales abstraxisti ab inferis anima meam s2N1 s2N3 V. 11 non videbo Dominum in terra viventium credo videre bona Domini in terra viventium s2N2 habitatorem habitabit habitatio eius s1N2 s3N2 quievit (quietis? ) requiescam requiescet requiescet s1N1 s1N2 s1N3 V. 17a in pace in pace in pace s1N1 s3N21 amaritudo mea amarissima amaritudine (cum accepisset acetum) fD dV, fD V. 17b tu autem eruisti animam meam ut non periret Domine abstraxisti ab inferis animam meam s2N3 V. 18 non infernus confitebitur tibi neque mors laudabit te numquid narrabit aliquis in sepulchro misericordiam tuam et veritatem tuam in perditione KarSa, 3. N, 3. Ps 87(88),12 V. 20 cantabimus in domo Domini in tabernaculo tuo, in monte sancto tuo in Sion habitatio eius s1N2 s3N2 Die Antiphon A porta inferi erue, Domine, animam meam teilt mit V. 17b eruere und animam meam und zielt mit diesen an sich noch nicht außergewöhnlichen Vokabeln dennoch ins Zentrum der Karsamstagstheologie. Ausschlaggebend dafür ist seine Einbettung in den engeren und weiteren liturgischen Kontext. Die Antiphon holt die Bitte um Rettung aus der Vergangenheit des Hiskijatextes in die Gegenwart: erue, nicht eruisti. Sie spricht nicht aus der Perspektive des Genesenen, auch nicht aus der Gewissheit der Heilung, der Zufügung von Lebensjahren und der Rettung Jerusalems vor der assyrischen Bedrohung durch Sanherib, sondern sie ruft im Jetzt. Sie belässt das Canticum vertrauensvoll-appellativ, ohne Triumph. Hiskija wird darin zum Christus-Typos, dessen Schicksal allerdings eine Wende von sehr viel größerer Tragweite nimmt. Der Gekreuzigte wird nicht „an“/ „vor“ den Pforten der Unterwelt bewahrt, sondern darin; nicht vor dem Tod, sondern durch ihn hindurch. Christi Aufstehen zum Leben verlängert nicht sein irdisches Dasein, sondern ist neue Existenz. Aus der Parallelstelle 2 Kön 20 mögen hier auch das „Hinaufsteigen zum Tempel des Herrn“ (V. 5) und die Sündenvergebung (V. 17c) mitklingen. Die Lesart eius, die Fassung der Antiphon aus dem Totenoffizium, verlässt die Ich- Perspektive (vox Christi). Sie bittet um das Leben des anderen und wird als Flehen des Gottesvolkes (vox ecclesiae) um den Gerechten/ Christus hörbar. 1250 1250 Möglicherweise wird hier gar die für (oder eher: um) Christus bittende Stimme der Kirche hörbar; vgl. B RAULIK , Verständnis 87. <?page no="194"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 186 sL5 1251 O vos omnes qui transitis per viam, attendite, et videte si est dolor sicut dolor meus . O, ihr alle, die ihr des Weges kommt, seht her und seht, ob ein Schmerz ist wie mein Schmerz. Wie zuvor sL3 zitiert auch diese Antiphon zu den abschließenden Psalmen 148-150 noch einmal aus den Klageliedern, hier Klgl 1,12. 1252 Wiederum stellt sich die Assoziation zur Kreuzigung Jesu und der Klage der Frauen (Mt 27,39 par) ein. Eine Doppelung, die den Schmerz neuerlich ins Zentrum rückt, ohne zu entscheiden, wer ihn erleidet und woher er rührt. Die Wiederholung lädt ein, nochmals hinzuhören, wer aller sich diese Klage zu eigen macht: das schuldige und entehrte Volk Gottes; die Mutter Jesu mit den Frauen - von denen in der nächsten Antiphon die Rede ist - und die Getreuen; Christus, der die Vorüberkommenden beschwört, ihn anzublicken und sein Leiden zu ermessen; Christus, der sein Scheitern bei den Menschen beklagt; Christus, der das elende Schicksal des Menschen in seiner ganzen Tragweite auf sich genommen hat …? In evangelio sBen1 1253 Mulieres sedentes ad monumentum lamentabantur, flentes Dominum . V (L): quae secutae erant eum a Galilaea, ministrantes ei. Mulieres. Die Frauen saßen am Grab und klagten, sie beweinten den Herrn; die ihm seit Galiläa gefolgt waren und ihm dienten. Diese in der Nacht- und Morgenhore des Karsamstags erste und einzige neutestamentliche Antiphon spricht von den Frauen im Umfeld Jesu: 1254 Sie sitzen am Grab Jesu (Mt 27,61); und nicht nur Maria von Magdala weint um den Herrn (Joh 20,11), sondern auch jene Frauen, die Jesus seit Beginn seiner Lehrtätigkeit Gefolgschaft und Dienstbereitschaft erwiesen hatten (Mt 27,55 par): Sie alle halten Totenklage um Jesus. Die neutestamentlich-narrative Perspektive auf den Gekreuzigten verändert die Hermeneutik der Feier von der christlichen relecture alttestamentlicher Texte hin zur Erwartung der - liturgisch erst noch einzulösenden - Osterverkündigung. Die Grenze zwischen heilsgeschichtlicher Anamnese und historisierend-einfühlsamer Betrachtung wird fließend. Inhaltlich führt die Antiphon Trauer, Klage und Schmerz aus den bisherigen Gesängen am vorerst letzten Ort des Tages - dem Grab - zusammen und konkretisiert sie zur Totenklage um den Herrn. Die Kombination mit dem täglichen Laudescanticum Benedictus erzeugt eine Spannung, da seine Verheißung und Erwartung am Prüfstein des Kreuzes gescheitert sein könnte. Nur Codex B (Ende 12. Jh., Bamberg) nennt am Karsamstag am Ende der Laudes/ der Kyrielitanei eine weitere Antiphon (sowie das Responsorium In pace 1255 ): 1251 CAO III, 378 Nr. 4095 § 74. 1252 CAO I, 176f; CAO II, 318f § 74. 1253 CAO III, 343 Nr. 3826 § 74. 1254 CAO I, 176f; CAO II, 318f § 74. 1255 Siehe unten Kapitel 1.3.2.3 sR 12 . <?page no="195"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 187 1256 Media vita in morte sumus; quem quaerimus adiutorem, nisi te, Domine, qui pro peccatis nostris iuste irasceris. a Sancte Deus, Sancte fortis, Sancte misericors Salvator, amarae morti b ne tradas nos. V A In te speraverunt patres nostri, speraverunt et liberasti eos. Sancte Deus. V B Ne projicias in tempore senectutis nostrae; cum defecerit virtus nostra ne derelinquas nos, Domine. Sancte Fortis. V C De ore leonis libera me, Domine, et a cornibus unicornium humilitatem meam. Sancte et misericors Salvator, amarae morti ne trades nos. 1257 a - B: bis hierher; verteilt den Folgetext auf die drei Verse. b - V: mortis Mitten im Leben sind wir im Tod; wen könnten wir als Beistand erbitten außer dir, Herr, der du über unsere Sünden zu Recht erzürnt bist. Heiliger Gott, heiliger starker, heiliger barmherziger Erlöser, überliefere uns nicht dem bitteren Tod. V A Auf dich haben unsere Väter vertraut, sie haben vertraut, und du hast sie befreit. Heiliger Gott. V B Verwirf uns nicht, wenn wir alt sind, wenn unsere Kraft schwindet, verlass uns nicht, Herr. Heiliger starker. V C Vor dem Rachen des Löwen befreie mich, Herr, und vor den Hörnern der Einhörner meine Niedrigkeit. Heiliger und barmherziger Erlöser, überliefere uns nicht dem bitteren Tod. Die zweiteilige nicht-biblische Antiphon betrachtet die Endlichkeit des Menschen unter dem Aspekt der Tödlichkeit der Sünde und schließt mit dem Trishagion und der Bitte um Bewahrung. 1258 So sicher der Mensch den gerechten Zorn Gottes erregt (weil er dessen Gerechtigkeit verletzt), so sicher findet er bei ihm, dem „heiligen, starken Gott und barmherzigen Erlöser“, Zuflucht. Der erzürnte Richter (irasceris) und der Rechtsbeistand (adiutor) ist derselbe: Sein - in Christus inkarnierter - Heilswille ist die Rettung des Sünders vor dem Tod (salvator). Für eine Antiphon ungewöhnlich ist auch die Erweiterung durch - hier psalmogene - Verse: Vers A knüpft mit Ps 21(22),5 an die heilsgeschichtlich tradierte Hoffnung der Väter (und Mütter) im Glauben an; Vers B zitiert die Bitte um Hilfe in Alter und (moralischer? ) Schwäche aus Ps 70(71),9; Vers C beklagt mit Ps 21(22),22 die Hilflosigkeit in der Anfechtung durch übermächtige und als unmenschlich (raubtierhaft) erfahrene Gegner. Nach der christologischen Neudeutung von Ps 87(88),6 auf den Descensus, spricht nun die vox Christi selbst in der ersten Laudesantiphon am Karsamstag mit Hos 13,14 ein soteriologisches Machtwort: Dieses an das Gottesvolk gerichtete Drohwort, das schon die alttestamentliche Auslegungstradition auf den Tod übertragen und somit zum Hoffnungstext gemacht hatte, wurde in der paulinisch-augustinischen Rezeption (vgl. 1 Kor 15,55) zu einer Kurzformel für die österliche Überwindung von Sünde und Tod. 1256 CAO III, 331 Nr. 3732; nur B: CAO I, 176 § 74b. 1257 H ESBERT verweist an dieser Stelle im CAO (ebd.) auf weitere Tropen zu Media vita im mittelalterlichen Missale (AHMA 49, 386-388 B LUME ). 1258 Zu der ab dem 11. Jh. in der römisch-fränkischen Liturgie bezeugten Antiphon vgl. H OLLAARDT , Vita, sowie P RASSL , Media vita in morte sumus: 3 LThK 7 (1998) 30: Als ars moriendi ursprünglich zum Nunc dimittis in der Komplet gesungen (vgl. V: CAO III, 331 § 145), findet sie, zum Responsorium erweitert, u. a. Eingang in die Totenliturgie. <?page no="196"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 188 Christi Freiheit von der Sünde bringt dem Menschen die Befreiung aus der Macht des Todes. Die Rettungserfahrung des Hiskija (Jes 38) sowie die implizite Heilsverheißung der Prophetenzitate (Sach, Jes) bleiben dem klagenden Volk (Klgl) und den trauernden Frauen am Grab (Mt 27; Joh 20) aber - auch tagsüber - noch entzogen. Die Tageshoren: Prim, Terz, Sext, Non Die römischen Quellen C und E bieten unter in evangelio folgende Antiphonen, die in den monastischen Codices H, R und L den Tageshoren des Karsamstag eindeutig zugeordnet sind. 1259 Sie halten prophetische Verheißungen aus der Nacht- und Morgenhore und narrative Motive aus der Passion den Tag über präsent. sD1 1260 Sepulto Domino, signatum est monumentum, ponentes milites qui custodirent eum a . Prim a - C: illud Nachdem der Herr bestattet war, versiegelte man das Grab und stellte Soldaten hin, es zu bewachen. Die Antiphon paraphrasiert Mt 27,66 illi autem abeuntes munierunt sepulchrum signantes lapidem cum custodibus. 1261 Am Grab Jesu versammelt sich - außer den Frauen - eine zweite Gruppen von Menschen aus einem gänzlich anderen Motiv: Die Soldaten sollen im Auftrag der Feinde Jesu dafür sorgen, dass es ruhig um Jesus bleibt. Der Text vermittelt fast veristisch die Realität und - vermeintliche - Endültigkeit des Todes Jesu. 1262 sD2 1263 Ululate pastores et clamate, aspergite vos cinere, quia completi a sunt dies Domini. Terz a - C: completa Heult, ihr Hirten, und schreit, bedeckt euch mit Asche, denn erfüllt sind die Tage des Herrn. Diese Antiphon zitiert mit einer geringen Textänderung Jer 25,34 1264 quia conpleti sunt dies vestri. Die Rede ist von den schlechten Hirten (= den königlichen, priesterlichen und falsch-prophetischen Eliten) des Volkes Israel, deren („eure“) Tage zu Ende gehen. Sie werden den Gerichtsbecher JHWHs trinken müssen. Den größeren Kontext bilden die Sprüche gegen die Völker in Jer 25. Die Antiphon hingegen spricht von den erfüllten Tagen „des Herrn“. Auf das in Jer 25,29f angekündigte Gericht über alle Völker nehmen neutestamentliche Schriften mehrmals Bezug: bei Lk 21,35 im Zusammenhang mit dem überraschenden Kommen des Menschensohnes; 1 Petr 4,17 kündigt an, dass das Gericht Gottes in seinem Volk („Haus“) beginnt und von dort auf alle Welt übergreift; in Offb 10,11 ergeht in der Gerichtsvision an den Verfasser der Auftrag, nochmals über die Völker zu weissagen; und Offb 14,18 verwendet das Bild der Ernte im Gericht. 1259 CAO I, 176f; CAO II, 318f § 74. 1260 CAO III, 473 Nr. 4868 § 74; nur in H auch § 73. 1261 CAO I, 176f; CAO II, 318f § 74. 1262 Breiter entfaltet wurde das Motiv im Vigilresponsorium sR 1; siehe unten Kapitel 1.3.2.3. 1263 CAO III, 520 Nr. 5264 § 74. 1264 CAO I, 176f; CAO II, 318f § 74. <?page no="197"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 189 Die Liturgie greift die ursprünglich an die weltlichen und religiösen Führer Israels gerichtete Aufforderung JHWHs zur Bußklage auf. 1265 Die Hirten des Gottesvolkes - hier: der Kirche - müssen den Vorwurf fürchten, die Herde schlecht zu weiden. Die Klageaufforderung wird zur ernsten Mahnung. In der kirchlichen Feier erklingt sie als Selbstanklage im Mund der Feiernden, doch wird sie anders begründet als in Jer 25,34. „Denn erfüllt haben sich die Tage des Herrn“: einerseits im Tod Jesu - des Herrn -, dessen Tage (pl.) sich „erfüllt haben“; 1266 andererseits bezeichnet dies domini das Gericht JHWHs wie in Jes 13,6 1267 (aus dem Spruch gegen Babel): Ululate quia prope est dies Domini quasi vastitas a Domino veniet. An diesen Tag (sg.) aber knüpft sich die Erwartung der Wiederherstellung der göttlichen Gerechtigkeit zugunsten der Armen. 1268 Die Rede von dem/ den dies domini macht den Karsamstag also auch zu einem Tag des Gerichts: voll Schrecken für die unzuverlässigen Hirten und heilbringend für die Bedrängten; rehabilitierend für Christus und ehrfurchtgebietend für alle Völker. 1269 sD3 1270 Videbunt in quem transfixerunt, et plangent a super eum b omnes tribus terrae. Sext a - E, L: + se b - C: eo Sie werden auf den schauen, den sie durchbohrt haben, und weinen werden über ihn alle Stämme der Erde. Nach sL2 greift diese Antiphon zum zweiten Mal das Prophetenwort aus Sach 12,10 auf 1271 und geht auf die Person des Beweinten, den „Durchbohrten“, ein: Der erste Teil der Antiphon zitiert hier Joh 19,37b videbunt in quem transfixerunt und nicht das Original et aspicient ad me quem confixerunt (Sach 12,10bc). Die zweite Hälfte ist die universalisierende Rezeption von Sach 12,10.12 in Offb 1,7 videbit eum omnis oculus et qui eum pupugerunt et plangent se super eum omnes tribus terrae. Mit dem Durchbohrten verbindet sich - im AT wie im NT so auch im liturgischen Kontext vor Anbruch der Paschavigl - die eschatologische Hoffnung auf die Ausgießung seines/ des Geistes Gottes. sD4 1272 Joseph ab Arimathia petiit a corpus Jesu, et sepelivit eum b in sepulcro suo. Non a - H: petivit; E: accepit b - R: illud Joseph von Arimathia erbat den Leichnam Jesu und bestattete ihn in seinem Grab. Die letzte - wieder neutestamentliche - Antiphon des Karsamstags zitiert in ihrem ersten Teil Mk 15,34*, die zweite Hälfte ist an Mk 15,46 angelehnt. 1273 Wie sD1 hält sie lapidar-ernüchternd die Bestattung Jesu als letzte Station seines irdischen Lebens fest 1265 Sie ist auch als fakultativer Vers in den Responsorien sR 2 und sR 3 am Karsamstag bezeugt; siehe unten Kapitel 1.3.2.3. 1266 Wie bereits in 1.3.1.3. anhand der 2. Antiphon gezeigt wurde, ist die Frage nach dem Dominus der Antiphon nicht mehr alternativ zu entscheiden: Was dort von JHWH gesagt ist, wird in gleicher Weise von Christus ausgesagt. 1267 Parallelstellen dazu Joel 1,15; 2,1 und Ez 30,3ff. 1268 Auch neutestamentliche Texte konnotieren den „Tag des Herrn“ überwiegend hoffnungsvoll wie Apg 2,20 oder 1 Kor 5,5. 1269 Die Hoffnung auf ein solches Gericht brachten bereits die 1. und 2. Antiphon der 3. Nokturn mit ihren Psalmen 53(54) und 75(76) zum Ausdruck. 1270 CAO III, 534 Nr. 5382 § 74. 1271 CAO I, 176f; CAO II, 318f § 74. 1272 CAO III, 305 Nr. 3506 § 74. 1273 CAO I, 176f; CAO II, 318f § 74. <?page no="198"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 190 - erstmals am Karsamstag nennt hier eine Antiphon Jesus mit Namen - und setzt damit einen vorläufigen Schlusspunkt. Die Verheißung der zuletzt gehörten Prophetenworte bleibt als - vage - Hoffnung bestehen. Die Abend- und Nachthore: Vesper und Komplet Es gibt an diesem Tag weder Vesper noch Komplet. Die Theologie des Karsamstags erschließt sich ausnahmslos über die Gesänge und Texte der Nacht- und Morgenhore; manche Motive kehren im Tagescursus wieder; die übrigen Horen entfallen. Die Nokturnpsalmen des Karsamstags bieten eine durchwegs hoffnungsvolle Perspektive. Es überwiegen die Rettungstexte, die aber nicht verschweigen, in welche Abgründe der Gerettete zuvor hinabgestiegen war. Der Erfahrung von Erniedrigung, Grab und Unterwelt steht die Aussicht auf Erhöhung, Leben in der heiligen Gegenwart Gottes gegenüber. Die an den vorausgehenden Tagen in den Klagepsalmen immer wieder geäußerte Hoffnung, die Bosheit des Feindes möge auf ihn selbst zurückfallen, wird sich dem größten Feind ,Tod‘ gegenüber bewahrheiten (Hos 13,14; vgl. 1 Kor 15,55). Mit dieser prophetisch-österlichen Verheißung beginnen die Laudes, in denen dennoch die Erschütterung über das Geschehene und die Klage angesichts der noch ungewissen Existenz der nach der Kreuzigung Jesu verlassenen Menschen dominieren. In den alttestamentlichen Antiphonen aus Klgl 1,18.12, Sach 12,10 und Jes 38,10-20 schwingt trotz des Schmerzes die Heilsverkündigung ihrer Herkunftstexte leise mit; das Weinen der Frauen am Grab, mit denen die Benedictusantiphon die Feiernden entlässt, ist noch ungetröstet. In derselben Spannung bleiben auch die Antiphonen der Tageshoren. 1.3.2 Versikel, Lesungen, Responsorien P SALMODIE und A NTIPHONEN (s. o. Kapitel 1.3.1) bilden den ersten großen Teil jeder Hore. Gleichermaßen biblisches Wort Gottes wie Klage, Dankssagung, Vertrauensäußerung und Gotteslob der Kirche haben sie den liturgischen Dialog zwischen Gott und den Feiernden ins Werk gesetzt. Er wird strukturiert weitergeführt. Vers/ Versikel Nach der Psalmodie (ggf. dem still gebeteten Vaterunser) steht jeweils ein einzelner psalmogener V ERS / V ERSIKEL . Als „kleine selbständig verwendete, rufartige Bildungen treten sie [meist] als Rede und Gegenrede auf: Versus und Responsum, … die je nach der liturgischen Situation musikalisch einfacher oder reicher gestaltet sind.“ 1274 Verse/ Versikel stammen häufig - nicht immer - aus schon rezitierten Psalmen und rufen einen bestimmten Aspekt des Gehörten (oder auch aus einem neuen Psalm) ins Bewusstsein. Dieser Akzent ist mitentscheidend für die Wahrnehmung der darauffolgenden Lesungen. 1275 Durch den Vers(ikel) erfolgt kurz und prägnant die hermeneutische Weichenstellung und Verbindung zwischen Psalmodie und Leseteil. 1276 1274 S TÄBLEIN , Versus 1519. An den untersuchten Tagen ist ihre Klanggestalt schlicht. Den gegenwärtigen Forschungsstand bieten H ILEY , Versus 1415-1418, sowie D ERS ./ L E H URAY , Versicle 493. 1275 In der Vesper der vorösterlichen Tage entfällt der Lesungsteil, daher auch der Versikel; es bleiben Psalmodie, Vaterunser, Christus factus est und Oration. 1276 Amalar spricht gar von Umkehrung Versus dicitur ille cantus per quem revertitur intentio mentis in aliam intentionem, quasi quaedam compositio officialis, disponens ita mentis suavi cantilena de uno affectu ad alterum: verbi gratia, de psalmodia ad lectionem. (LibOAnt 1, 6 [StT 140, 20, 34- 37 H ANSSENS ]). <?page no="199"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 191 Lesungen Es folgen die eigens für die letzten Tage der Hohen Woche vorgesehenen L ESUNGEN : je drei aus dem Alten Testament, aus Vätertexten und aus der neutestamentlichen Briefliteratur. Die Angaben zu allen Lesungen für die gesamte Hohe Woche bleiben in den ältesten Quellen (ab 700) meist allgemein, „man liest, was zur Passion Christi passt, und aus den Klageliedern“ 1277 oder schon in den zwei letzten Wochen bis Ostern pauschal „das Buch Jesaja und die Klagelieder, Hosea und Sacharja, von wo (ausgehend) es zur Passion Christi passt“. 1278 Aus den Kirchenvätern werden an den letzten drei Tagen „sofern es welche gibt, Predigten dazu“ 1279 gelesen oder „Homilien der heiligen [Väter], die zu diesem Tag gehören“. 1280 Zwar schreiben auch deutlich jüngere Quellen (um 950) noch, man lese „etwas aus dem Psalmenkommentar von Augustinus zu Ps 63(64)“ und an anderer Stelle überhaupt nur „aus passenden Väterlesungen“ 1281 , doch setzt sich der augustinische Kommentar zu Ps 63(64) recht früh (um 800) durch. 1282 Die biblischen Lesungen werden in den ältesten Quellen häufig nur durch das Buch 1283 oder durch Incipits 1284 (oder auch Desinits 1285 ) angegeben, aber nicht festgelegt, wie weit man liest. Je näher die Incipits zusammenrücken, desto exakter ergibt sich daraus die Perikopierung der immer kürzer werdenden Lesungen. 1286 Je jünger die Quellen, desto präziser werden im allgemeinen die Angaben (und tendenziell kürzer die Lesungen). 1287 Einen vorläufigen Endpunkt erreicht diese Entwicklung im Breviarium Romanum 1568: Die biblischen Lesungen aus den fünf Klageliedern etwa umfassen nun knapp die Hälfte der Gesamtversanzahl; 1288 dazu kommen dreimal drei knappe Auslegungen zu den Psalmversen Ps 54(55),1 und Ps 63(64),2.7. 1277 OR 14,3 (SSL 24, 40 A NDRIEU ). 1278 Unde ad passionem Christi convenit (OR 17,73 [ebd. 185]). 1279 OR 13A,3 (SSL 23, 482f A NDRIEU ). 1280 OR 13B,3 (ebd. 499). 1281 OR 50, 28,2 (SSL 29, 261 A NDRIEU ): Diese allgemeine Angabe gilt nur für die Vigil am Karsamstag; tres lectiones aus Augustinus zu Ps 63(64) sind hingegen für den Gründonnerstag (OR 50, 25,3 [ebd. 187]) und Karfreitag (OR 50, 26,1 [ebd. 244]) vorgesehen. 1282 Z. B. OR 13A,3 (SSL 23, 482f A NDRIEU ); OR 28,9 (SSL 24, 393 A NDRIEU ); OR 30A,2 (ebd. 455) u. a. 1283 Z. B. OR 13A,3 (SSL 23, 482f A NDRIEU ); OR 14,3 (SSL 24, 40 A NDRIEU ). 1284 Z. B. OR 13C,3-5 (SSL 23, 513 A NDRIEU ). 1285 Z. B. OR 13B,3-5 (Ebd. 499f). 1286 Vgl. dazu die Studie von D AVRIL , Longeur 183-197. 1287 Dass im 11. Jh. etwa in Cluny noch die Lesung ganzer Bücher praktiziert wird, ruft Verwunderung bei den Zeitgenossen hervor. Der Mönch Ulrich (Udalricus) von Augsburg gibt Wilhelm von Hirsau auf dessen diesbezügliche Anfrage hin (Audio lectiones vestras in hieme et in privatis noctibus multum esse prolixas. Si videtur, simul et semel edissere quomodo non modo inhieme, sed etiam in aestate Testamentum legatur utrumque) folgendeAuskunft: In aliis noctibus Quadragesimae legitur expositio S. Augustini super Psalterium, et maxime super cantica graduum. … In Passione Domini legitur Jeremias propheta, cujus rursus prologus erit ad primam lectionem. Legitur autem in ecclesia tantum, et ita ut ante Cœnam Domini finiatur usque ad Lamentationes. (Consuetudines cluniacenses, Liber I, I [PL 149, 643-644]). Man darf annehmen, dass die Klagelieder während der letzten drei Tage ebenfalls zur Gänze gelesen wurden. Siehe oben Kapitel 1.2.2.1. 1288 In den Ausgaben des BR 1568 im ausgehenden 19. Jh. (etwa im Breviarium Romanum ex decreteo SS Concilii Tridentini restitutum. Pars verna. Editio tornacensis nona post typicam; Tournai: Desclée, 1896) sind die Lesungen weiter geschrumpft: Am Hohen Donnerstag findet man darin <?page no="200"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 192 Ein Vergleich der an den drei letzten Tage der Hohen Woche aus den Klageliedern entnommenen Lesungen der 1. Nokturnen 1289 in den untersuchten Libri Ordinarii, Offiziumslektionaren und Brevieren zeigt sowohl die Kontinuität der für diese Tage charakteristischen Auswahllesung als auch die Bandbreite des Umgangs mit dem Text: Sie reicht von der vollständigen Lesung des Buches über die Beschränkung auf das erste Kapitel, die teilweise Wiederherstellung längerer Perikopen aus mehreren Kapiteln bis hin zur eklektischen Auswahl weniger Verse. Dazu kommt eine weitere Besonderheit: Trotz der Neigung zu einem gewissen Minimalismus im Vollzug wird die Vortragsweise auch dort, wo sich längst der Privatgebrauch etabliert hat, quasiliturgisch geregelt: Quelle Datum HoDo KarFr KarSa Vollzug OR 50 um 950 Klgl 1,1-2,8 Klgl 2,8-3,22 Klgl 3,22-66 (od. 5,22? ) Do, Fr mit / Sa ohne Aleph Cluny: Breviarius Lectionum 10. Jh. Klgl 1,1-6 Klgl 1, 7-14 Klgl 1,15-21 Cluny: LO 1. Hälfte 11. Jh. Klgl 1 ? Et factum est postquam in captivitatem Klgl 1,7ff k. A. caelebrentur quemadmodum iam intulimus nicht kantilliert Cluny 11. Jh. Klgl 1,1-22 Klgl 2,1-3,22 Klgl 3,25-4,22 OCist 1290 um 1180 Klgl 1,1-5 Klgl 2,1-4 Klgl 4,1-6 LORh Anfang 12. Jh. Klgl (pauschal) mit Buchstaben kantilliert + Schlussfloskel Kurienbrevier Ord. Inn. III. Anfang 12. Jh. Incipits: Klgl 1,1; 1,10; 1, 20 Incipits: Klgl 2,8; 2,15; 3,1 Incipits: Klgl 3,22; 4,1; 5,1 gesungen LOLt 12. Jh. Klgl 1,1-2,8 Klgl 2,8-3,22 Klgl 3,22ff LosD 1. Hälfte 13. Jh. Klgl 1,1ff Klgl 3,1ff Klgl 4,1ff Franziskanerbrevier 2. Hälfte 13. Jh. Klgl (pauschal) mit Buchstaben + Einleitungsfloskel / Schlussfloskel LOTr Anfang 14. Jh. Klgl (pauschal) wie es Brauch ist Kreuzbrevier 1535 Klgl 1,1-12 (3. Nokturn) Klgl 3,40-66 (3. N.) Klgl 4,17-22 (3. N.) mit Buchstaben + Schlussfloskel Reformbrevier 1568 Klgl 1,1-16 Klgl 2,8-12; Klgl 2,13-18; Klgl 3,1-12 Klgl 3,22-31 Klgl 4,1-7 Klgl 5,1-16 mit Buchstaben + Schlussfloskel Vergleichbares lässt sich in den besprochenen Quellen des ersten und zweiten Jahrtausends auch im Umgang mit den übrigen Vigillesungen feststellen: für die 1. Nokturnen die Perikopen Klgl 1,1-5; 6-9; 10-14; am Karfreitag Klgl 2,8-11; 12-15; Klgl 3,1-9; am Karsamstag: Klgl 3,22-30; Klgl 4,1-6; Klgl 5,1-11. Die Lesungen der 3. Nokturnen bieten ein vergleichbares Bild: während man aus 1 Kor 11 am Hohen Donnerstag die Verse 17-34 (Kapitelende) unverändert beibehält, sind die Kapitel 4 und 5 des Hebräerbriefs am Karfreitag gekürzt auf Hebr 4 und 5,1-10; sowie Kapitel 9 am Karsamstag auf Hebr 9,11-22. 1289 Nur im Kreuzbrevier von Quignonez stehen die Klgl-Lesungen in der 3. Nokturn. 1290 G RÉGOIRE , L’homéliaire 152f. <?page no="201"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 193 Die Lesungen/ Incipits an den letzten Tagen der Hohen Woche in Quellen des 1. Jtds. Gründonnerstag Karfreitag Karsamstag OR 14,3 Anf. 8. Jh. legitur ad passionem Christi convenit et lamentationis Hieremiae OR 13A,3 700-750 N1: lectiones tres de lamentatione Hieremiae N1: similiter tres lectiones de lamentatione Hieremiae prophetae N1: k. A. N2: et tres de tractatu sancti Augustini in psalmo Exaudi, Deus, orationem meam cum deprecor (= Ps 63[64]) N2: et tres de tractatu sancti Augustini in psalmo LXVIIII (= Ps 69[70]) N2: si fuerint sermones de proprie legantur N3: tres de apostolo ubi ait ad Corinthios Ego accepi a domino quod et tradidi vobis (= 1 Kor 11,23) N3: tres de apostolo ubi ait ad Hebraeos Festinemus ergo ingredere ad illam requiem (= Hebr 4,11) N3: k. A. VIIII psalmos, VIIII lectiones, VIIII responsoria omnia complenda sunt in psalmis, in lectionibus in responsoriis similiter omnia complenda sunt, sicut superius diximus (et, si fuerint sermones …) OR 13B, 3-6 Ende 8. Jh. N1: leguntur lectiones tres ex lamentationibus Hieremiae prophetae, ab eo loco ubi dicitur: Quomodo sedet sola … usque: Cogitavit Dominus (= Klgl 1,1-2,8) N1: similiter leguntur lectiones tres ex lamentationibus Hieremiae prophetae, usque: Misericordiae Domini multae (= Klgl 3,22) N1: similiter leguntur lectiones tres ex lamentationibus Hieremiae prophetae, ab eo loco ubi dicit: Misericordiae Domini multae (= Klgl 3,22) usque ad finem prophetae (= Klgl 4,22) N2: et post haec leguntur homeliae sanctorum patrum ad ipsum diem pertinentes N2: deinde leguntur homeliae sanctorum patrum ad ipsum diem pertinentes N2: deinde leguntur homeliae sanctorum ad ipsum diem pertinentes N3: k. A. N3: k. A. N3: k. A. OR 13C, 3-5 Anf. 11. Jh. N1: legunt tres lectiones de lamentatione Hieremiae: Quomodo sedet sola civitas et cetera N1: tres lectiones de lamentatione Hieremiae N1: tres lectiones de lamentatione Hieremiae N2: et tres de tractatu sancti Augustini in psalmo LXIII Exaudi, Deus, orationem meam cum deprecor (= Ps 63[64]) N2: et tres de tractatu sancti Augustini in psalmo LXIII N2: et tres de tractatu sancti Augustini in psalmo LXIII N3: et tres lectiones de apostolo, ubi ait ad Corinthios: Convenientibus vobis in unum (= 1 Kor 11,20); secunda lectio sic incipit: Similiter postquam caenavit (= 1 Kor 11,25); tertia: De spiritalibus autem nolumus vos ignorare, fratres (= 1 Kor 12,1) N3: et tres de apostolo, ubi ait ad Hebreos: Festinemus ingredi in illam requiem (= Hebr 4,11); secunda lectio: Omnis namque pontifex (= Hebr 5,1) tertia: De quo grandis nobis sermo est (= Hebr 5,11) N3: et tres de apostolo, ubi ait in epistola ad Hebreos: Christus assistens pontifex (= Hebr 9,11); secunda lectio: Ubi enim testamentum (= Hebr 9,16); tertia: Umbram enim habens lex bonorum futurorum (= Hebr 10,1) <?page no="202"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 194 Die Lesungen/ Incipits an den letzten Tagen der Hohen Woche in Quellen des 2. Jtds. Gründonnerstag Karfreitag Karsamstag OR 50 950 N1 Klgl 1,1-2,8 Klgl 2,8-3,22 Klgl 3,22-5,22 N2 Augustinus- Kommentar zu Ps 63(64) Augustinus- Kommentar zu Ps 63(64) deinde leguntur omeliae sanctorum patrum ad ipsum diem pertinentes N3 1 Kor 11,23 1 Kor 11,25 1 Kor 12,1 Hebr 4,11 Hebr 5,1 Hebr 5,11 Hebr 9,11 Hebr 9,16 Hebr 10,1 Ordinale Innozenz III. (röm. Kurie) 13. Jh. N1 Klgl 1,1 Klgl 1,10 Klgl 1,20 Klgl 2,8 Klgl 2,15 Klgl 3,1 Klgl 3,22 Klgl 4,1 Klgl 5,1 N2 3mal Augustinus- Kommentar zu Ps 54(55) 3mal Augustinus- Kommentar zu Ps 63(64) 3mal Augustinus- Kommentar zu Ps 63(64) N3 3 Abschnitte ab 1 Kor 11,20 3 Abschnitte ab Hebr 4,11 3 Abschnitte ab Hebr 9,11 Brev. Rom. 1568 N1 Klgl 1,1-6 Klgl 1,7-11 Klgl 1,12-16 Klgl 2,8-12 Klgl 2,13-18 Klgl 3,1-12 Klgl 3,22-31 Klgl 4,1-7 Klgl 5,1-16 N2 3mal Augustinus- Kommentar zu Ps 54(55),2-3.10 3mal Augustinus- Kommentar zu Ps 63(64),2 3mal Augustinus- Kommentar zu Ps 63(64),7 N3 1 Kor 11,17-22 1 Kor 11,23-26 1 Kor 11,27-34 Hebr 4,1-16 Hebr 5,1-7 Hebr 5,8-14 Hebr 9,11-15 Hebr 9,16-22 Hebr 9,23-28 Responsorien Auf jede Lesung folgt ein gesungenes R ESPONSORIUM , wobei die Länge der Texte und der Gesänge korrespondiert: das responsorium breve (oder responsoriolum) nach den kurzen Lesungen im römischen Tagesoffizium (Kleine Horen, Komplet) sowie nach der Kurzlesung (capitulum) von Laudes und Vesper in der monastischen Tradition. In der Vigil ,antworten die responsoria prolixa auf die längeren Nokturnlesungen. Responsorien sind zwei- (oder mehrteilig): Sie bestehen aus einem teilweise zu wiederholenden chorischen Teil und anfänglich nur einem (später auch mehreren) Vers(en) 1291 . Die Texte der Responsorien zitieren aus der Bibel, centonisieren Verse/ Verszeilen oder stellen sie um; sie erzählen Inhalte frei nach oder ergänzen sie. Diese Intertextualität eröffnet einen Zugang zum Verstehen der ganzen Überlieferung, und der kreative Umgang mit biblischen Vorlagen stellt eine Form ihrer interpretativen Aneignung dar. Schrifttext, intertextuelle Bezüge und Auslegung greifen in diesen Gesängen ineinander. Die Responsorien sind „un instrument de pénétration, d’assimilation et d’annonce de la parole de Dieu“. 1292 Die Darstellung der Feierelemente (Versikel, Lesungen und Responsorien) in den nächsten Kapiteln folgt wiederum dem Feierverlauf der einzelnen Tage. 1291 H UCKE , Responsorium 314, führt dafür als wichtigen Zeugen Codex Hartker an. Über den jüngeren Stand der Forschung informieren C UTTER / M AIANI / M ORONEY / C ALDWELL , Responsory 221-228, sowie umfassend H ILEY , Responsorium 176-200. 1292 D AYDOU , Répons 29. <?page no="203"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 195 Die Auswahl der Verse/ Versikel schöpft aus einem begrenzten Corpus von kaum vierzig Rufen. 1293 Da ihr Vorkommen innerhalb der Horen uneinheitlich ist, werden (1) die in der römischen und monastischen Tradition am häufigsten belegten Versikel angeführt und kommentiert (ggf. auch ihre anderweitige liturgische Verwendung); (2) danach allfällige Besonderheiten und (3) weitere vereinzelt auftretende Verse; (4) zuletzt - ihrer Breiten- und Langzeitwirkung wegen - die daraus hervorgegange römische Feiergestalt des 12./ 16. Jhs. als eine mögliche Konkretion des Materials mit theologischen Implikationen. Auch das Repertoire der Responsorien für die drei letzten Tage der Hohen Woche ist mit etwas mehr als vierzig Texten überschaubar, doch ebenfalls variabler als das der Psalmodie und Antiphonen. 1294 Es wird darum wieder (1) der jeweilige Mehrheitstext des Cursus Romanus oder Cursus Monasticus nach dem CAO herangezogen und auf relevante Textvarianten sowie liturgische Orte verwiesen. (2) Markante Veränderungen dieser Texte und Gesänge in der späteren Rezeption (v. a. der römischen Tradition im Breviarium Romanum 1568) mit hermeneutischen Folgen für den Feiervollzug werden ebenfalls in diesem Kapitel erörtert. 1295 1.3.2.1 Hoher Donnerstag Die Versikel Die Versikel stehen im Offizium an Übergängen: sie fungieren als hermeneutisches Bindeglied zwischen Psalmodie und Lesungen; zwischen Rezitation/ Gesang und gesprochenem Wort; zwischen biblischer Verkündigung und ihrer meditativen Aneignung. Vigil (und Laudes 1296 ) Die Nachthore des Gründonnerstags bietet (nach Häufigkeit gereiht) folgende fast ausnahmslos diesem Tag vorbehaltene Versikel, deren Zuordnung zu den Horen/ Nokturnen freilich uneinheitlich ist. Nur die ersten drei davon sind breit genug belegt, um als Kernrepertoire des Gründonnerstags gelten zu können. Sie bleiben auch in der späteren Entwicklung erhalten: dv1 1297 V Homo a pacis meae in quo sperabam. b Ps 40(41),10 R A. Ampliavit adversum me supplantationem. (B, H) R B. Qui edebat panes meos ampliavit adversum (sic). 1298 (L) C, G, B, E, M, V; H, R, D, L a - L: zweimal (beim 1. Mal beginnend mit A domo) b - H: speravi V Der Mensch, mit dem ich Frieden hatte und auf den ich hoffte. R [der mein Brot aß,] Er hat den Betrug/ die Falle gegen mich vergrößert. Ps 40(41) ist das Gebet eines Kranken und Verfolgten, der sich als von Feind und Freund gleichermaßen unverstanden und sozial geächtet erfährt, denn „gegen mich sind sich alle einig.“ (V. 8). Der Psalm als solcher ist im Offizium der Kartage nicht 1293 Hesbert, CAO IV, Responsoria, Versus, Hymni et Varia. Für bereits besprochene Texte wird auf das entsprechende Kapitel verwiesen. 1294 Ebd. 1295 Strukturelle Veränderungen, Kürzungen, Ersetzungen oder Neuschöpfungen in den dieser Arbeit zugrundegelegten liturgischen Büchern behandeln hingegen die Kapitel zur jeweiligen Quelle. 1296 Nur zwei Codices im CAO nennen am Gründonnerstag einen Laudesversikel (dv6 in H und dv1 in L). 1297 CAO IV, 489 Nr. 8090 § 72. 1298 Altrömischer Psalter; W EBER , Psautier 90. Vulgata: speravi … magnificavit adversum. <?page no="204"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 196 vorgesehen, doch einige seiner Verse wie hier V. 10 werden zur Interpretation bestimmter Aspekte herangezogen. Der Versikel knüpft mit einem neuen Psalmzitat an den Eröffnungspsalm des Tages Ps 68(69) an, unterstreicht die dort ausgedrückte Enttäuschung über den Verlust von Freundschaft und Beziehung („Entfremdet bin ich den eigenen Brüdern, den Söhnen meiner Mutter wurde ich fremd.“, V. 9) und konkretisiert sie: Im homo pacis meae werden - wenngleich noch nicht die Züge, so doch - die Umrisse des „entfremdeten Bruders“ Judas erkennbar. Ps 40(41),10 dient demnach an dieser Stelle primär zur Identifizierung des Verräters Jesu, der aus dem innersten Kreis kommt: Im liturgischen Kontext beklagt hier vox Christi den Verrat des früheren Freundes und Jüngers Judas, der zum Feind geworden ist. R B (V. 10b) enthält eine zusätzliche Anspielung auf die Rahmenbedingungen des Verrates beim abendlichen Mahl. Mit 13 1299 Belegen (ausschließlich an diesem Tag) und seiner Originalität ist der kurze Versikel Homo pacis meae als für den Gründonnerstag charakteristisch anzusehen. Unausdrücklich, aber zweifelsfrei bringt er die heilsgeschichtlich unentbehrliche Gestalt des Judas ins Geschehen. Die nächsten zwei (ebenfalls häufigen) Versikel bringen keine neuen Texte mehr, sondern bekräftigen schon Gehörtes/ Gesungenes: dv2 1300 V Deus meus eripe me de manu peccatoris. Ps 70(71),4a = d1N3 R Et de manu contra legem agentis et iniqui. Ps 70(71),4b C, B, M; H, R, D, L V Mein Gott, entreiss mich der Hand des Sünders. R Und aus der Hand, die gegen das Gesetz handelt, und der [Hand] des Ungerechten. Dieser Versikel stammt aus der Vigilpsalmodie 1301 des Gründonnerstags und gehört in den Quellen des CAO zur 2. oder (wie sein Herkunftspsalm Ps 70[71]) zur 3. Nokturn. Er betont dreifach den Verstoß des Sünders gegen das Gesetz Gottes. dv3 1302 V Exsurge Domine 1303 . a Ps 73(74),22 = d2N3 R Et iudica causam tuam. b C, G, E, M, V; D a - D: Deus b - D: meam V Erhebe dich, Herr. R Und führe deine (meine) Sache. Der überwiegend römisch (außer in B) bezeugte Versikel ist Teil des Vigil-Repertoires (in der monastischen Tradition kennt ihn nur D) und zwar der 1. oder 2. Nokturn. Wie deren letzte Antiphon hält er Gottes Eintreten für Gerechtigkeit und die Wiederherstellung des Rechts als dessen ureigenstes Anliegen fest. Der Versikel dv4 1304 V Ab insurgentibus in me begegnet mit R A Libera me Domine (in B) und R B Quia occupaverunt animam meam (in R) je einmal am Gründonnerstag; mehrmals hingegen am Karfreitag. 1305 1299 Außer S kennen ihn alle Quellen des CAO und zwar überwiegend in der Vigil (nur in L auch in den Laudes; in C und M in der Vigil und Vesper). 1300 CAO IV, 481 Nr. 8010 § 72. 1301 Als Wiederholung von d1N3 siehe Kapitel 3.1.1; ebenso alle weiteren Wiederholungen wie Anm. 524. 1302 CAO IV, 487 Nr. 8071 § 72. 1303 Altgallisch; W EBER , Psautier 176. Vulgata: Deus. <?page no="205"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 197 Vereinzelt und nur im Cursus Monasticus finden sich als Versikel diese Psalmverse, die alle auf Vigilantiphonen des Tages zurückgreifen, deren Aussagen sie bekräftigen: dv5 1306 V Zelus domus tuae comedit me. Ps 68(69),10 = d1N1 R Et opprobria exprobrantium. [tibi ceciderunt super me] H V Der Eifer für dein Haus hat mich verzehrt. R Und die Schmähungen derer, die [dich] schmähen [haben mich getroffen]. dv6 1307 V In die tribulationis meae. Ps 76(77),3 = d3N3 R Deum exquisivi manibus meis. H zu den Laudes V Am Tag meiner Not. R Habe ich Gott mit meinen Händen gesucht. dv7 1308 V Avertant (sic) retrorsum et erubescant. Ps 69(70),4 = d1N2 R Qui cogitant mihi mala. S V Beschämt sollen sich alle abwenden und erröten. R Die Böses gegen mich planen. dv8 1309 V Cogitaverunt impii et locuti sunt nequitia (sic). Ps 72(73),8 = d2N2 R Iniquitatem in excelso locuti sunt. S V Schändliches haben die Gottlosen im Sinn gehabt und gesprochen. R Von oben herab haben sie Frevel geredet. dv9 1310 V Terra tremuit et quievit. Ps 75(76),9b = d3N2 R Dum resurgeret in iudicio Deus. S V Die Erde erbebte und wurde still. R Als Gott sich zum Gericht erhob. Die folgenden zwei Eripe-Versikel gehören ursprünglich zum Passionssonntag. Da ihre Herkunftspsalmen Pss 58(59) und 139(140) auch im Gründonnerstagoffizium anzutreffen sind, ist ihre ,Wiederverwendung‘ an diesem Tag stimmig. dv10 1311 V Eripe me de inimicis, Deus meus. Ps 58(59),2a R Et ab insurgentibus in me libera me. Ps 58(59),2b = f3N1 L V Rette mich vor den Feinden, mein Gott. R Und von denen, die sich auf mich stürzen, befreie mich. Nur im Cursus Romanus sind zwei weitere Psalmverse als Versikel belegt: dv11 1312 V Eripe me Domine, ab homine malo. Ps 139(140),2 R A viro iniquo libera me. 1313 V 1304 CAO IV, 473 Nr. 7925 § 72. 1305 Ebd. § 73; siehe unten Kapitel 1.3.2.2. 1306 CAO IV, 504 Nr. 8247 § 72. 1307 Ebd. 489 Nr. 8093 § 72. 1308 Ebd. 476 Nr. 7959 § 72. 1309 Ebd. 479 Nr. 7987 § 72. 1310 Ebd. 502 Nr. 8219 § 72. 1311 CAO IV, 485 Nr. 8053 § 72. 1312 Ebd. Nr. 8054 § 72. 1313 So im altrömischen Psalter; W EBER , Psautier 338. Die Vulgata wiederholt eripe me. <?page no="206"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 198 V Rette mich, Herr, vor dem bösen Menschen. R Vom Ungerechten befreie mich. Dieser Vers zitiert aus einem der Vesperpsalmen am Gründonnerstag. In diesem Kontext (zumal die Vesper in den Hauptgottesdienst integriert ist) wird die singularische Redeweise von einem „schlechten/ bösen Menschen“ und „von dem Frevler“ zum Hinweis auf die Person des Judas. dv12 1314 V Et dederunt in esca mea 1315 fel. Ps 68(69),22* R Et in siti mea. E, C (am Karfreitag) V Und sie gaben mir als Essen Galle. R Und in meinem Durst. Auf diesen Vers trifft man je einmal am Gründonnerstag 1316 und am Karfreitag in zwei Quellen: am Karfreitag (in C) seiner Nähe zur Passion wegen; am Gründonnerstag (in E) schlägt dieser Laudesversikel aus Ps 68(69) noch einmal den Bogen zurück zum Anfang des Tages; und gewissermaßen auch zu seinem Ende, an dem ein von Verrat „vergiftetes“ Abendessen steht. 1317 Kleine Horen und Vesper Die Quellen machen zum weiteren Tagesverlauf im Allgemeinen keine Angaben. Als einzige Handschrift im CAO nennt der monastische Codex S zu jeder Kleinen Hore einen (jeweils um die eingeschobene Anrede Domine oder Deus erweiterten) biblischen Versikel. Die dafür verwendeten Psalmen 43(44) und 25(26) sind liturgisch eher unbedeutend 1318 , doch haben sie eine für diesen Tag wichtige Gemeinsamkeit in der ausdrücklichen Unschuldsbezeugung der Beter: Sie steht am Anfang (Prim) und Ende (Non) des Tagescursus, bildet also seinen Rahmen. Dazwischen (zur Terz und Sext) implementieren bedrohliche Tierbilder (Wildhund, Löwe und Büffel) aus dem kanonisch und liturgisch überaus wichtigen Ps 21(22) dem Gründonnerstag Elemente ,bestialischer‘ Verfolgung wie sonst am Passionssonntag und Palmsonntag. Zur Prim bietet S einen wenig spezifischen, im Offizium per annum täglichen, in H nur sonntäglichen Versikel, 1319 der außerdem noch am Oktavtag von Ostern 1320 verwendet wird: dv13 1321 V Exsurge, Domine, adiuva nos. Ps 43(44),26 1322 R Et libera. [nos propter nomen tuum.] S 1314 CAO IV, 481 Nr. 8006 [486 Nr. 8058]; vom Passionssonntag bis Palmsonntag vereinzelt in E, D, S § 66-68; hier § 72 und § 73. 1315 Psalter von Verona und Textzeugen des altgallischen Psalters; W EBER , Psautier 158. Vulgata: escam meam. 1316 Nur in der monastischen Handschrift S schon am Vorabend zur Vesper (CAO II, 282 § 66a). 1317 Im Wissen um die fehlende zweite Vershälfte potaverunt me aceto kommt nicht zuletzt auch die Kreuzigung in den Blick (Mt 27,48). 1318 In ihrer Ursprungssituation kommt hingegen beiden Texte eben diese Qualität zu: das „gottesdienstliche Volksklagelied“ Ps 43(44) und das „Pilgergebet am Tempel“ Ps 25(26) nennt sie Z EN- GER , AT 1088 sowie 1065. 1319 CAO IV, 487 Nr. 8072 § 32 3-9 ; § 36 (nur in H). 1320 Ebd. § 82. 1321 Ebd. § 72. 1322 Altrömischer Psalter; W EBER , Psautier 98. Vulgata: redime statt libera. <?page no="207"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 199 V Erhebe dich, Herr, hilf uns. R Und befreie. [uns um deines Namens willen.] Folgende zwei Versikel aus Ps 21(22) haben in S und einigen anderen Handschriften des CAO ihren primären liturgischen Ort ebenfalls 1323 am Passionssonntag: 1324 Zur Terz: dv14 1325 V Erue a framea, Deus, animam meam. Ps 21(22),21 R Et de manu canis unicam meam. S V Entreiße, Gott, mein Leben dem Speer. R Und mein einziges Leben aus der Gewalt (wörtl. Hand) des Hundes. Zur Sext: dv15 1326 V De ore leonis libera me, Domine. Ps 21(22),22 1327 R Et a cornibus unicornuorum humilitatem meam. S V Rette mich vor dem Rachen des Löwen, Herr. R Und vor den Hörnern der Einhörner rette meine Niedrigkeit. Zur Non: dv16 1328 V Ne perdas cum impiis, Deus, animam meam. Ps 25(26),9 R Et cum viri (sic) sanguinum vitam meam. S V Verdirb mein Leben/ mich nicht zusammen mit den Sündern. R Und mein Leben mit dem der Blutmenschen. Zur Vesper am Gründonnerstag vermerkt nur Codex H einen Versikel, der zugleich eine Vesperantiphon des Tages ist: dv17 1329 V De manu filiorum alienorum. Ps 143(144),7c = dV6 R Libera nos, Domine. H V Aus der Hand der Söhne fremder Menschen. R Befreie uns, Herr. Nur Codex C kennt zur Vesper außer dv1 Homo pacis meae noch zwei weitere Verse (beide ohne Responsum): dv18 1330 V Acuerunt linguas suas. Ps 139(140),4a = dV3 C V Sie haben ihre Zungen spitz gemacht. 1323 Wie dv10 und dv11. 1324 CAO IV, 486 Nr. 8058 § 66-69 und 71; außer S belegen nur C dv14 und nur B dv15 auch am Palmsonntag. Für die Verwendung am Gründonnerstag ist S der einzige Textzeuge (CAO II, 285 § 66c). 1325 Ebd. § 72. 1326 Ebd. 480 Nr. 8005 § 66-68; hier § 72. 1327 Altrömischer Psalter; W EBER , Psautier 43. Vulgata: salva me ex ore leonis … 1328 CAO IV, 495 Nr. 8146 § 66-71; hier § 72. 1329 Ebd. 480 Nr. 8004 § 72. 1330 Ebd. 474 Nr.7931 § 72. <?page no="208"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 200 dv19 1331 V Amici mei. vgl. Ps 37(38),12a 1332 C V Meine Freunde. Alle drei Verse veranschaulichen das Verhalten der Jünger/ Freunde an diesem Abend: Judas - und anders auch Petrus - verletzen mit ihrer Zunge; die übrigen suchen ihr Heil in der Flucht. Die Vigillesungen und ihre Responsorien Nach der Psalmodie mit ihren neun Psalmen bilden die dreimal drei Lesungen samt dreimal drei Responsoria prolixa das zweite ebenfalls stark biblisch fundierte Textcorpus jeder Vigil. Auch die Vätertexte dienen häufig der Schriftauslegung (v. a. der Psalmen). Für Gründonnerstag sind einhellig die Klagelieder (1. Nokturn) und der 1. Brief an die Korinther (3. Nokturn) als Lesungstexte bezeugt. Bezüglich der Länge der Perikopen werden anfangs keine (oder nur pauschale) Angaben gemacht, denn es war üblich, zu bestimmten liturgischen Zeiten ganze Bücher zu lesen. Im Lauf des Hoch- und Spätmittelalters verkürzen sich die Lesungen oft auf wenige Verse. 1333 Durch den Verlust des größeren Kontexts gehen viele mögliche Bezugnahmen zwischen den Lesungen und Responsorien verloren. Die sich aus den (oft zum Kapitelanfang hin) erfolgten Kürzungen ergebenden restlichen Bezüge mögen teils zufällig, teils ärmer sein. Ihre Bedeutung liegt zumindest darin, dass sie Jahrhunderte lang den Betern die hauptsächlich zugänglichen waren. 1334 Erste Nokturn Die drei Lesungen der 1. Nokturn de lamentationibus Hieremiae umfassen schon in OR 50 nicht mehr als maximal die Verse Klgl 1,1-2,8 1335 ; zur genauen Aufteilung macht er keine Angaben. Die Klagelieder verarbeiten den Schmerz der Katastrophe der Exilierung und geben ihm eine theologische Begründung und Deutung. In der angegebenen Perikope sind zwei Leitmotive vorherrschend: die Trostlosigkeit des Gottesvolkes nach der Zerstörung des Landes, des Tempels und der Deportation der Einwohner (Kap. 1), und die Erfahrung des göttlichen Zorns (Kap. 2 bis V. 9). 1336 Darauf folgt laut CAO in allen Quellen das Responsorium: dR 1 1337 In monte a oliveti oravi b ad Patrem: vgl. Mt 26,30.36c.42a Pater si fieri potest, transeat a me calix iste; Mt 26,39b si possibile est spiritus quidem promptus est, caro autem infirma. Mt 26,41b Fiat voluntas tua. Mt 26,42c V Verumtamen non sicut ego volo, sed sicut tu vis c Mt 26,39c 1331 Ebd. 475 Nr. 7942 § 72. 1332 Ps 37(38) kehrt in der Karfreitagsvigil samt Antiphon f2N1 wieder. 1333 Besonders deutlich ist die Lesungseinbuße in den jeweils 1. Nokturnen, wobei freilich noch im Hochmittelalter mancherorts, etwa in Cluny, die Klagelieder vollständig gelesen werden. Vgl. Anm. 1287. 1334 Zudem hat jeder (auch aus rein praktischen Gründen erfolgte) Eingriff in einen Text hermeneutische Konsequenzen, die aufgezeigt werden können. 1335 Oder entsprechend weniger, wenn damit lediglich Anfang und Ende festgelegt waren, aber nicht alles gelesen wurde (OR 50, 25,3 [SSL 29, 187 A NDRIEU ]). 1336 Nach Z ENGER , AT 1588; 1590. 1337 CAO IV, 231 Nr. 6916; CAO I, 166f; CAO II, 302f; 305 § 72. <?page no="209"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 201 *Fiat (CEMVHRDF) *Spiritus quidem. (BS) *Pater. (L) d a - C, G: montem b - H, D, F, L: oravit (L: + Jesus) c - L + Pater (*Pater) d - G: ohne * dR 1 Am Ölberg betete ich (er) zum Vater: Vater, wenn es geschehen kann, möge dieser Kelch an mir vorübergehen. Der Geist ist zwar willig, aber das Fleisch ist schwach. Es geschehe dein Wille. V Aber nicht, wie ich will, sondern wie du willst. *Es geschehe dein Wille. [*…] Das Responsorium thematisiert die zum Tag ,passende‘ Not Jesu im Gebet zum Vater in Getsemani („am Ölberg“); mehrheitlich in der 1. Ps. Sg. (in einigen Quellen erzählend in der 3. Ps. Sg.): Zentral ist das angstvolle Ringen Jesu um die Hingabe an den Willen des Vaters. Der Vers gibt Jesu Einverständnis wieder. Die Klagelieder und Mt 26: Zwei Texte, die zunächst die Bedrängnis ihrer Protagonisten gemeinsam haben. Wie die „Tochter Zion“ als weibliche Symbolgestalt für das Volk Gottes wird auch Jesus Erniedrigung, Trennung, Untreue, Verlassenheit, Trostlosigkeit und tiefe Trauer erfahren (und erfährt sie schon). Doch während Zion in ihrem Leid mit sich allein bleibt und in Trostlosigkeit versinkt, ringt Jesus um die Beziehung zum Vater. Ob er sein Gebet getröstet beendet, bleibt offen. Ein Stichwort der Lesung lässt einen tieferen Zusammenhang ahnen, nämlich die gemeinsame Ursache der Leiden beider „wegen ihrer vielen Sünden“ (Klgl 1,5). Was das Gottesvolk selbst verschuldet hat, nimmt Jesus unschuldig und stellvertretend auf sich. Welche Verse genau die 2. Lesung der 1. Nokturn ausmachen, ist den frühen Quellen nicht zu entnehmen. Es folgt in allen Handschriften des CAO das Responsorium: dR 2 1338 Tristis est anima mea usque ad mortem; a sustinete hic et vigilate mecum: Mt 26,38 nunc videbitis b turbam c quae circumdat d me; vgl. Mt 26,47 vos fugam capietis, vgl. Mt 26,56 et ego vadam e immolari pro vobis. vgl. Mt 26,28 V A Vigilate et orate, dicit Dominus. f (CGBEMVHRF) Mt 26,41a* *Nunc. (CBVHRF) *Vos fugam. (GE) * Et ego. (M) Mit den Versvarianten: V B Ecce appropinquabit g hora, et Filius hominis tradetur in manus peccatorum. (DL) Mt 26,45c *Vos fugam. Und: V C Verumtamen non sicut ego volo, sed sicut tu vis. (S) Mt 26,39c *Vos fugam. a - S: morte b - G: non videtis c - L: turba d - B, E, H, F, S: circumdabit; R: circumdedit. 1338 CAO IV, 437 Nr. 7780; CAO I, 166f; CAO II, 302f; 305 § 72. <?page no="210"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 202 e - B, M, H: vado (M: korr. vadam) f - M, F + ut non intretis in tentationem g - L: appropinquavit dR 2 Betrübt ist meine Seele bis zum Tode: bleibt hier und wacht mit mir. Bald werdet ihr die Schar sehen, die mich umzingelt. Ihr werdet die Flucht ergreifen, und ich werde gehen, für euch geopfert zu werden. V A Wacht und betet, spricht der Herr. *Bald. [*…] V B Seht, die Stunde naht, da der Menschensohn in die Hände der Sünder ausgeliefert werden wird. *Ihr werdet die Flucht ergreifen. V C Aber nicht wie ich will, sondern wie du willst. *Ihr werdet die Flucht ergreifen. Das Responsorium führt von der Betrübnis Zions in den nächtlichen Garten zurück. Tiefe Traurigkeit ist beiden Situationen eigen. Jesus - „zu Tode betrübt“ - bittet die Freunde um Beistand, da die feindliche Schar ihn bald holen wird. Der zweite Teil des Responsoriums interpretiert, dass Jesus nicht naiv bittet: 1339 Er lässt Jesus im Wissen um die ungetröstete Einsamkeit des letzten Wegabschnitts aussprechen, dass die Flucht der Jünger (vgl. Mt 26,56) und sein eigener Weg zum Opfertod diametral auseinanderführen. In vadam immolari pro vobis schwingen einige Schriftstellen mit: die Abendmahlstraditionen (z. B. Mt 26,28) vor dem Hintergrund des 4. Gottesknechttextes (Jes 52,13-53,12); für kundige Hörer vielleicht auch der Schlüsselvers paulinischer Paschatheologie vom geschlachteten Osterlamm, das Christus ist (1 Kor 5,7) oder das Gehen zum Vater (Joh 14,12.28; 16,10.16.17.28), das mit dem Gang in den Tod engstens verbunden ist. In jeder der drei überlieferten Repetenda ist der Blick auf eine andere Gruppe der handelnden Personen gerichtet: auf die Menge (Nunc videbitis turbam), auf die Jünger (Vos fugam) oder auf Jesus (Et ego). Vergleichbar variieren die drei alternativen 1340 Verse: A führt die Bitte Jesu um die Wachsamkeit der Jünger fort, aber nicht nur um seinetwillen, sondern auch um ihretwillen (vigilate mecum - vigilate et orate); B bestimmt die nahende „Stunde“, in der Jesus an die Sünder ausgeliefert wird (ecce hora appropinquabit); C bekräftigt die Übereinstimmung Jesu mit dem Willen des Vaters (sed sicut tu vis). Wie das Responsorium als solches bringen auch die Kombinationen von Responsa, Versen und Repetenda die Personen(gruppen) in unterschiedliche Spannung zueinander. Die 3. Lesung der 1. Nokturn endet mit Klgl 2,7: In den letzten Versen wird das Unglück und die Zerstörung Zions als Strafhandeln Gottes erkennbar. Das wiederum einhellig bezeugte Responsorium bringt darauf den entstellten, erschöpften Gottesknecht vor Augen, dessen Anblick niemand anschauen mochte: dR 3 1341 Ecce vidimus eum non habentem speciem, neque decorem; aspectus eius in eo non est: vgl. Jes 53,2cd hic peccata nostra portavit a et pro nobis dolens; b vgl. Jes 53 ipse autem vulneratus est propter iniquitates nostras: Jes 53,5a cuius livore sanati sumus. Jes 53,5d 1339 Vgl. Jesu Ankündigung des Verrats und und der Verleugnung durch die Jünger sowie seiner Selbsthingabe „für euch“ während des Abschiedsmahles (Mt 26,20-29). 1340 Ursprünglich hat ein Responsorium nur einen Vers; ab dem 9. Jh. erhalten sie in manchen Quellen mehrere Verse, die verschiedenen liturgischen Anlässen zugeordnet werden können. 1341 CAO IV, 158 Nr. 6618; CAO I, 166f; CAO II, 302f; 305 § 72. <?page no="211"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 203 V Vere languores nostros ipse tulit, c et infirmitates nostras d ipse portavit. e Jes 53,4a *Cuius. *Hic. *Ipse. a - M, H, R: portabit b - C, H: dolet c - B, E, M, V, H, R: abstulit d - E, F, S, L: et dolores nostros; B: et peccata nostra e - M, H: portabit dR 3 Siehe, wir haben ihn als einen gesehen, der kein Ansehen hatte noch Schönheit. Keiner schaut ihn an. Dieser hat unsere Sünden getragen und für uns gelitten. Er ist nämlich wegen unserer Missetaten verwundet worden: Durch seine Verwundung sind wir geheilt. V Wahrlich, er selbst hat unsere Krankheiten getragen und unsere Schwächen sich aufgeladen. *Durch seine Verwundung. [*…] Der Gegner - in beiden Texten - ist handgreiflich geworden. Die Folgen für Zion sind die Verwüstung des Heiligtums, Erschöpfung und Siechtum. Das Responsorium assoziiert damit die Krankheit und Schmerzen, Verletzungen und Wunden des Gottesknechtes, der - neben der „Tochter Zion“ - zweiten großen Symbolgestalt Israels. Das in R 1 noch verborgene Motiv der Stellvertretung im Leiden tritt durch das Jesaja-Zitat und seine Paraphrase in den Vordergrund. Die liturgische Relecture beider Texte im Kontext der Passion macht einerseits Jesu Solidarität mit Zion, dem schuldig gewordenen Volk Gottes, deutlich; sie identifiziert Jesus aber auch mit Zion als dem Ort der Einwohnung Gottes und innerstes Heiligtum, das verwüstet daliegt. Und sie sieht in Jesus den „Knecht Gottes“, durch dessen Wunden „die Vielen“ geheilt sind. Zweite Nokturn In der 2. Nokturn liest man aus „(zur Passion/ zum Tag) passenden Texten“; häufig aus den Enarrationes in psalmos von A UGUSTINUS , meist aus dem Kommentar zu Ps 63(64). Nach Auffassung der Kirchenväter erklingt hier die Stimme Christi, der den göttlichen Schutz vor der Schar der Böswilligen und dem Wüten der Feinde erfleht. Darin ist Christus Prototyp aller Märtyrer, denn seine wie ihre fundamentale Versuchung (und die aller Gläubigen) ist die Furcht vor denen, die den Leib töten können. Das Beispiel Christi und sein Gebot lehren deshalb, mit dem Psalmwort A timore inimici erue animam meam (V. 2) um Bewahrung zu bitten: nicht vor Verfolgung und Tod, sondern vor der Angst vor Verfolgung und Tod; darum, Gott zu fürchten und nicht die Menschen. 1342 Quid iubebat Dominus? Ne timerentur. Oretur ergo ut praestet quod iubet. A timore inimici erue animam meam. Erue me a timore inimici et subde timori tuo. Non timeam eum qui corpus occidit; sed timeam eum qui habet potestatem et corpus et animam occidere in gehenna ignis. Non enim a timore volo esse immunis: sed a timore inimici liber, sub timore Domini servus. (Enarr. in ps. LXIII,2) 1343 Die Auslegung der Folgeverse (falls sie gelesen wurden) erörtert das schuldhafte, weil ungerechte und hinterlistig-geheime Handeln an einem gänzlich Schuldlosen: dem zur Heilung gekommenen Gottesknecht und unbefleckten Lamm (V. 3.5). 1344 1342 Vgl. die Unterwerfung Jesu unter den Willen des Vaters in dR 1 . 1343 CChr.SL 39, 809,29-35 D EKKERS . 1344 Sie erhebt auch den kollektiv antijudastisch zugespitzen Vorwurf, „die Juden“ hätten den Verrat an Jesus herbeigeführt und ihn mit der Forderung, ihn zu kreuzigen, schon vor der Hinrichtung „mit ihrer Zunge“ getötet (V. 4.6). <?page no="212"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 204 Mehrheitlich belegen die Quellen für die 2. Nokturn folgende drei Responsorien, deren erstes (nach der 4. Lesung) Jesu prophetische Worte während des Abschiedsmahles erinnert: 1345 dR 4 1346 Unus ex discipulis meis a tradet me hodie. vgl. Mt 26,21c Vae illi per quem tradar b ego! Melius illi erat c si natus non fuisset. vgl. Mt 26,24bc V Qui intingit d mecum manum e in parapside, f hic me traditurus est g Mt 26,23 in manus peccatorum. vgl. Mt 26,45d *Melius. (CBERFSL) *Vae illi. (VHD) a - F: ex vobis b - G, E, V, H, R, L: trador c - C, fuerat; F: esset d - H, R, F: intinguit e - G: endet hier f - H, R: parapsidem g - L: endet hier dR 4 Einer von meinen Jüngern wird mich heute verraten: Wehe dem, durch den ich ausgeliefert werde: *Besser wäre es für jenen, wenn er nicht geboren wäre. V Der mit mir die Hand in die Schüssel eintaucht, dieser wird mich in die Hände der Sünder ausliefern. *Besser wäre es für jenen. [*…] Jesu Ankündigung des Verrates richtet sich nicht wie im Evangelium an den Jüngerkreis (vgl. Mt 26,21), sondern erzählend an die Zuhörer. Sie verbindet sich mit einem Ausdruck seines Mitleids mit dem Täter, der auch beim gemeinsamen Mahl sitzt, „mich“ aber bald ausliefern wird. Noch steht Judas als Freund 1347 und Jünger den Sündern gegenüber. Doch wird seine Hand, die mit Jesus „eingetaucht hat“, ihn in die „Hände der Frevler“ ausliefern. Die Gemeinschaft mit Jesus zerbricht. Was das für denVerräter bedeutet, beklagt der Refrain dieser Nokturn: „Besser, er wäre nicht geboren worden.“ Die 5. Lesung fährt mit dem Psalmenkommentar zu Ps 63(64) fort. Würde bis zu ut sagittent in abscondito immaculatum (V. 5) gelesen, ergäbe sich ein Anknüpfungspunkt im Motiv des „Lammes“: Magna iniquitas! Ecce de abscondito venit sagitta quae immaculatum ferit, qui nec tantum habebat maculae, quantum potest pungi a sagitta. Agnus quippe immaculatus, totus immaculatus, semper immaculatus; non cui maculae ablatae sint, sed qui maculas nullas contraxerit. Nam fecit multos immacultos donando peccata; ipse immaculatus non habendo peccata. (Enarr. in ps. LXIII, 6) 1348 Das Responsorium führt weiter aus: dR 5 1349 Eram quasi agnus innocens: ductus sum a ad immolandum, et nesciebam. Consilium b fecerunt inimici mei adversum c me, dicentes: Jer 11,19; vgl. Jes 53,7 1345 Sollte Ps 63(64),6 noch Teil der Lesung gewesen sein, akzentuiert das Responsorium demgegenüber klar die individuelle Schuld des Verräters. 1346 CAO IV, 444 Nr. 7809; CAO I, 168f; CAO II, 304f; § 72. 1347 Vgl. dR 10. 1348 CChr.SL 39, 811,17 - 812,23 D EKKERS . 1349 CAO IV, 169 Nr. 6660; CAO I, 168f; CAO II, 304f § 72; nur in G auch am Mittwoch der Hohen Woche CAO II, 164 § 71. <?page no="213"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 205 Venite, d mittamus lignum in panem e eius, et conteramus f eum de terra viventium. Jer 11,19; vgl. Jes 53,7 V Omnes inimici mei g adversum c me h cogitabant mala mihi, Ps 40(41),8b verbum iniquum mandaverunt adversum c me, dicentes. Ps 40(41),9a *Venite. a - G, B, S: sum fehlt b - L: Concilium c - L: adversus d - C: Venite fehlt e - C, G, V, F, S, L: pane f - D, L: eradamus g - M: endet hier h - E, V: enden hier dR 5 Ich war wie ein unschuldiges Lamm: Ich wurde zum Schlachten geführt und wusste es nicht. Meine Feinde hielten Rat gegen mich und sagten: Kommt, wir wollen Holz in sein Brot mischen 1350 und ihn ausrotten aus dem Land der Lebenden. V Alle meine Feinde planten Böses gegen mich. Unrechte Rede gaben sie gegen mich in Auftrag und sagten: *Kommt. Das zum Schlachten geführte (zunächst verstummte) Lamm erhebt rückblickend seine Stimme: In Unschuld (innocens) und Arglosigkeit (et nesciebam) wurde es das Opfer der Mordpläne seiner Feinde (cogitabant mala mihi), die es in seinen elementaren menschlichen Bedürfnissen betrogen (sein Brot mit Holz vermischt) 1351 haben, um es zuletzt - wie den Gottesknecht (vgl. Jes 53,8) - „aus dem Land der Lebenden auszukratzen“. Wie bei Augustinus steht auch in diesem Gesang die Arglosigkeit des Lammes der Mordlust der Feinde gegenüber. Das Responsorium zitiert ausführlich V. 19 aus der ersten Konfession des Jeremia (Jer 11,18-12,6) 1352 und verknüpft damit Ps 40(41), 8f* 1353 als Vers. Nach der 6. Lesung - sie setzt die Auslegung von Ps 63(64) fort - folgt als letztes Responsorium der 2. Nokturn: 1354 dR 6 1355 Una hora non potuistis a vigilare mecum, Mt 26,40b qui exhortabimini mori pro me? vgl. Mt 26,35 vel Iudam non videtis, b quomodo non dormit, sed festinat c tradere d me Iudaeis? vgl. Jes 59,7 1350 Die deutsche EÜ bietet: „den Baum im Saft verderben“. 1351 Vgl. „Sie gaben mir Gift zu essen, für den Durst reichten sie mir Essig.“ (Ps 68[69],22), „Staub muss ich essen wie Brot, mit Tränen mische ich meinen Trank (Ps 101[102],10); „Er speiste mich mit bitterer Kost und tränkte mich mit Wermut; meine Zähne ließ er auf Kiesel beißen.“ (Klgl 3,15f) 1352 In den Konfessionen bringt der Prophet in sehr persönlicher Sprache das Ringen um den göttlichen Auftrag und sein Leiden daran ins Wort; von daher sind sie gut geeignet als Identifikationstexte für die Passion Jesu. 1353 Vgl. dR 1 , das den Folgevers zitiert. 1354 Mangels genauer Leseangaben für den Psalmentraktat können spätestens hier bestimmte Bezüge zu den Responsorien nur noch vermutet werden. Da der Traktat 19 Kapitel umfasst, die im Maximalfall auf drei Tage aufgeteilt werden, dürfte man am Gründonnerstag nicht sehr viel weiter kommen als bis zu Abschnitt 6. 1355 CAO IV, 444 Nr.7807; CAO I, 168f; CAO II, 304f § 72; nur in G auch am Mittwoch der Hohen Woche CAO II, 164 § 71 <?page no="214"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 206 V A Dormite iam et requiescite: Mt 26,45b Ecce appropinquabit e qui me traditurus est. f (CGBEMVHRDS) Mt 26,46b *Vel Iudam. (CGBEMV) *Qui. (HR) *Quomodo. (S) g V B Qui h dormitis, surgite, Lk 22,46a et orate, ut non i intretis in tentationem. (FL) Lk 22,46b; Mt 26,41a *Vel Iudam. a - F: s am Ende ausradiert b - E: korrigiert vidistis c - V: dormis, sed festina d - L: traderet e - M, S: appropinquavit H: appropinquat f - G, B, H, R: + in manus peccatorm g - D: ohne * h - L: quid i - L: ne dR 6 Nicht eine Stunde konntet ihr mit mir wachen, die ihr dazu auffordern werdet, für mich zu sterben? Oder seht ihr Judas nicht, wie er nicht schläft, sondern sich beeilt, mich den Juden auszuliefern? V A Schlaft schon und ruht euch aus: Seht, es naht, der mich verraten wird. V B Was schlaft ihr? Steht auf und betet, damit ihr nicht in Versuchung geratet. *Oder seht ihr Judas nicht. Die Agitation der Feinde findet eine Entsprechung in der Selbstüberschätzung der Freunde, die mutig das Geschehen zu verschlafen drohen: Der Tonfall Jesu, in dem er die Freunde tadelt, ist hier von einiger Schärfe (dormite iam et requiescite - dormitis). Nur einer von ihnen - er hat aber die Seiten gewechselt - ist wach und in Eile (non dormuit - festinat). Dritte Nokturn In der 3. Nokturn liest man - sofern sich in den Quellen dazu Angaben finden - aus dem 1. Korintherbrief von der Einsetzung der Eucharistie. 1356 Der Umfang der Lesungen bleibt unsicher, doch aus den Incipits in OR 50 1357 ergibt sich, dass um die erste Jahrtausendwende die ersten beiden Lesungen nur je zwei Verse umfassen; auch die letzte Lesung „ab 1 Kor 12,1“ dürfte kaum länger gewesen sein. Die Einsetzungsworte - auf die 7. (Brotwort) und 8. Lesung (Kelchwort) aufgeteilt - thematisieren die Eucharistie, den prägenden Feierinhalt im Hauptgottesdienst des Tages, bereits im Offizium. Die drei letzten Responsorien der Gründonnerstagsvigil bleiben auf die Passion und insbesondere auf Judas konzentriert. Als Responsorium auf die Deuteworte Jesu über das bedankte und gebrochene Brot folgt in fast allen Quellen des CAO: 1356 Der frühe OR 13B,3-5 (SSL 23, 499f A NDRIEU ) erwähnt die Lesungen der 3. Nokturn nicht; der an dieser Stelle interpolierte OR 13A,3 (ebd. 482) liest ab Ego accepi (1 Kor 11,23). Möglicherweise hängt die Einführung dieser Perikope mit der stärker werdenden Betonung des Gründonnerstags als dem Tag der Einsetzung der Eucharistie zusammen; der Abschnitt könnte die anfangs vermutlich frei wählbare Lesung ersetzt haben. 1357 Und anderen Quellen des ausgehenden Frühmittelalters (z. B. OR 13C,3 [ebd. 513]): 1 Kor 11,23; 11,25; 12,1. <?page no="215"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 207 dR 7 1358 Seniores populi consilium fecerunt, ut Iesum dolo tenerent et occiderent; cum gladiis et fustibus exierunt tamquam ad latronem. vgl. Mt 26,(3).4.47c.55a V Congregaverunt iniquitatem sibi, et egrediebantur a foras. vgl. Ps 40(41),7b congregavit et egrediebatur *Cum gladiis. (CGBEMVHDFS) *Tamquam. (R) a - G, E, V, D: egrediebatur dR 7 Die Ältesten (Älteren) des Volkes haben Rat gehalten, wie sie Jesus mit List ergreifen und töten könnten. Mit Schwertern und Prügeln sind sie ausgezogen wie zu einem Straßenräuber. V Ihre Frevel haben sie (bei sich) versammelt und gingen hinaus. *Mit Schwertern. [*…] Es liegt nahe, den heuchlerischen Besucher aus Ps 40(41),7 et si ingrediebatur ut videret vane loquebatur cor eius congregavit iniquitatem sibi egrediebatur foras et loquebatur mit Judas zu identifizieren; doch weitet der im Responsorium in den Plural gesetzte Halbvers 7b den Vorwurf der Falschheit auf alle aus, die sich zur Verhaftung und Beseitigung Jesu zusammengetan haben. Das Responsorium nach der 8. Lesung (Deuteworte über den Kelch) hat das Schicksal des Frevlers zum Inhalt: dr 8 1359 Revelabunt coeli iniquitatem a Judae, et terra b adversus eum consurget, c Ijob 20,27 iniquitatem eius et manifestum erit peccatum illius in die furoris Domini Ijob 20,28b cum eis qui dixerunt Domino Deo: d Recede a nobis, scientiam e viarum tuarum f nolumus. Ijob 21,14 V A Fiat mensa eorum coram ipsis in laqueum, Ps 68(69),23 et in retributiones g et in scandalum. h (CGBEMVHR) *Cum. V B In die i perditionis servabitur, et ad diem ultionis ducetur. (DFSL) Ijob 21,30 *Cum. a - G, E, V, S: iniquitates (V korr. iniquitatem) b - L: terram c - B: consurgit d - C: meo e - L: scientia f -V: suarum g - B, M: retributionem h - G: laqueum (kein *? ) i - D, F: diem dR 8 Die Himmel werden den Frevel des Judas enthüllen, und die Erde wird sich gegen ihn erheben, und seine Sünde wird ersichtlich sein am Tag des Zornes Gottes, mit denen, die zu Gott, dem Herrn gesagt haben: Weiche von uns, die Weisheit deiner Wege wollen wir nicht. V A Ihr Tisch werde vor ihnen zur Falle und zur Vergeltung und zum Ärgernis. 1360 *Mit denen. 1358 CAO IV, 403 Nr. 7636; CAO I, 168f; CAO II, 304f § 72. 1359 CAO IV, 383 Nr. 7543; CAO I, 168f; CAO II, 304f § 72; am Mittwoch der Hohen Woche in E: CAO I, 165 und L: CAO II, 301 § 71; nur in S am Karfreitag: CAO II, 313 § 73. 1360 In der EÜ: „Der Opfertisch werde für sie zur Falle, das Opfermahl zum Fangnetz.“ <?page no="216"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 208 V B Am Tag des Verderbens wird er bewahrt und zum Tag der Rache geführt werden. *Mit denen. Das fast durchwegs aus dem Buch Ijob schöpfende Responsorium entwirft das Schicksal des Frevlers - den es durch die eingefügte Namensnennung mit Judas indentifiziert - wie in der zweiten Rede Zofars (Ijob 20,1-29); Vers B hält dem mit Ijobs Worten den tatsächlichen Lauf der Welt entgegen, in dem keineswegs jeder Sünder bestraft wird (Ijob 21,1-34; hier V. 30). 1361 Einen anderen Gedanken bringt Vers A: Der aus dem Nokturnpsalm Ps 68(69) zitierte V. 23 könnte einerseits als Vergeltungswunsch an den (das Lamm) „opfernden“ Priestern verstanden werden; über die Rede vom verfänglichen „(Opfer-) Tisch“ ergibt sich im Blick auf Judas auch ein gewisser Bezug zur Eucharistie, dem die frevlerische Teilnahme daran zum Verhängnis wird. Die 9. Lesung setzt mit 1 Kor 12,1 neu ein. Sie erinnert die Getauften an ihre frühere Affinität zu den Götzen und bekräftigt, dass das Bekenntnis zu Jesus sich allein dem Wirken des Geistes Gottes verdankt, wie umgekehrt niemand Jesus verfluchen kann, in dem dieser Geist ist. Auch das weitgehend poetische Responsorium formuliert Gegensätze: dR 9 1362 O Juda, a qui dereliquisti consilium pacis et cum Judaeis consiliatus es, b vgl. Sach 6,13e triginta argenteis vendidisti sanguinem iustum, vgl. Mt 26,15 et pacis osculum c ferebas quam d in pectore non habebas. vgl. Hymnus A solis ortus cardine V A Verax datur fallacibus, Pium flagellat impius. (CGBEMHR) *Et pacis. (CBEMHR) *Triginta (G) V B Corpore tantum cum cenantibus, et mente, e invidiae furore armabas. (FL) *Et pacem. V C Os tuum abundavit malitia, et lingua tua concinnabat dolos. (D) *Et pacem. a - C: Judas b - M: est (End-t ausradiert) c - D, F, L: pacem osculo d - G, B, H, R: quod C: quae L: quas e - F: mentem dR 9 O Judas, der du den Kreis (Rat) des Friedens verlassen hast und mit den Juden beratschlagt (paktiert) hast, der du um dreißig Silberstücke das gerechte Blut verkauft hast und den Kuss des Friedens gabst, den du nicht im Herzen hattest. V A Der Wahrhaftige wird den Falschen übergeben, den Frommen züchtigt der Gottlose. *Und den Kuss. [*…] V B Nur leiblich mit (bei) den Essenden warst du im Geiste mit rasender Missgunst gerüstet. *Und den Kuss. 1361 Der zweite Halbvers (vgl. die Vulgata: ad diem furoris ducitur) insinuiert allerdings gegen den Literalsinn (die realistische Einschätzung Ijobs), der Frevler werde sehr wohl „zum Tag der Rache geführt“, ja geradezu dafür „bewahrt“, diesen Tag zu erleben. 1362 CAO IV, 317 Nr. 7272; CAO I, 168f; CAO II, 304f § 72; nur in L am Mittwoch der Hohen Woche: CAO II, 301 § 71. <?page no="217"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 209 V C Dein Mund ging über vor Bosheit und deine Zunge hat Ränke geschmiedet. *Und den Kuss. V. A ist der fünften Strophe des von Sedulius im 5. Jh. geschaffenen 23-strophigen Hymnus A solis ortus cardine entlehnt; die dritte Aussage des Responsum greift ebenfalls auf diesen Hymnus zurück 1363 , spricht allerdings Judas in der 2. Person direkt an. Ähnlich wie in der kurzen Lesung bestehen die Gegensätze im Responsum und in den drei alternativen Versen auf je eigene Weise in der Diskrepanz zwischen äußerem Handeln und innerer Gesinnung (ferebas - non habebas; corpore - mente), aber auch zwischen der Gutheit Jesu und der Bosheit des Judas (verax - fallax; pius - impius). Vor dem Hintergrund der Lesung erscheint dieser zudem als der schlechthin vom Geist Gottes Verlassene. Consilium pacis ist bei Sacharja eines der Zeichen der kommenden Heilszeit; er beschreibt das Zusammenwirken eines „mit Hoheit bekleideten“ 1364 Herrschers (et ipse portabit gloriam), der gemeinsam mit einem an seinem Thron stehenden Priester für den Frieden sorgt: et consilium pacis erit inter duos illos. (Sach 6,13e) Die Beratungen des Verräters mit den Hohepriestern des Volkes (consiliatus es) dienen dem genauen Gegenteil. In der Vigil am Gründonnerstag steht die Person des Judas vom 1. Versikel bis zum letzten Responsorium im Mittelpunkt. Zwei weitere Responsorien sind in der 2. Nokturn am Gründonnerstag zwar stabil, aber seltener belegt, und zwar in den ältesten Quellen beider Cursus C, H sowie in G, E, L und S (dort auch zur Non) nach der 4. Lesung: dR 10 1365 Amicus meus osculi a me tradidit signo: b vgl. Mt 26,50 quem osculatus fuero, ipse est, tenete eum! Mt 26,48b Hoc malum fecit signum, qui per osculum adimplevit homicidium. Infelix praetermisit pretium sanguinis, vgl. Mt 27,5a et in finem c laqueo se suspendit. Mt 27,5b V A Melius illi erat d si natus non fuisset. (CGEHS) vgl. Mt 26,24c *Infelix. (GEHS) *Qui per osculum. (C) V B Bonum erat ei, si natus non fuisset homo ille. (L) Mt 26,24c *Infelix. a - C: osculum b - E, S, L: signum c - H: fine d - C, S: fuerat dR 10 Mein Freund hat mich mit dem Zeichen des Kusses verraten: den ich küssen werde, der ist es, ihn ergreift. Dieses böse Zeichen hat er gegeben, der durch den Kuss den Mord begangen hat. Der Unglückliche hat das Blutgeld sein lassen und sich am Ende in einer Schlinge erhängt. 1363 In der 19. Strophe heißt es über Judas: Pacem ferebat osculo, quam non habebat pectore. Für den gesamten Text des Hymnus A solis ortus cardine verweist H ESBERT (ebd.) auf AHMA 50, 59 D REVERS . 1364 So übersetzt die EÜ. 1365 CAO IV, 20 Nr. 6083; CAO I, 168f; CAO II, 304f; 309 § 72. <?page no="218"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 210 V A Besser wäre es für ihn, wenn er nicht geboren worden wäre. *Der Unglückliche. [*…] V B Gut wäre es für ihn, wenn jener Mann nicht geboren worden wäre. *Der Unglückliche. Hier dominiert die persönliche, jetzt zerstörte, Beziehung der früheren Freunde und Vertrauten Jesus und Judas. Letzterer wird unglücklich/ unselig genannt: Er kann seine Tat nicht ungeschehen machen, obwohl er das Blutgeld zurückgibt, und beendet sein „besser“ nicht gelebtes Leben von eigener Hand. Sechs Quellen belegen in der 2. Nokturn als Responsorium eineinhalb Strophen des Passionshymnus Hymnum dicamus Domino (M, V zur 4.; C, E, H, S zur 5. Lesung; nur L zur 8. Lesung/ 3. Nokturn). 1366 Während Vers A biblisch bleibt, überzeichnet Vers B die Person des Judas: dR 11 1367 Iudas mercator pessimus Osculum a petiit b Domino; c vgl. Hymnus Hymnus dicamus Domino vgl. Mt 26,15 Ille, ut agnus innocens Non negat d Iudae osculum; vgl. Jes 53,7 Denariorum numero e Christum Iudaeis tradidit. vgl. Mt 26,15 V A Melius illi fuerat f , si natus non fuisset. g (CEMVH) vgl. Mt 26,24c *Denariorum h V B Avaritiae inebriatus veneno, dum sitit lucrum pervenit ad laqueum. (GSL) *Denariorum a - H: osculo b - C: petit G: peti c - M, H, S: Dominum d - E, L: negavit e - M, V: numerum (M korr. numero) f - E, H: erat g - V: + Vae homini illi, per quem tradetur h - C: ohne * dR 11 Judas, der übelste Händler, näherte sich dem Herrn mit einem Kuss: Der aber, wie ein unschuldiges Lamm, verweigert den Kuss des Judas nicht. Für eine Handvoll Denare hat er Christus den Juden verraten. V A Besser wäre es für jenen gewesen, wenn er nicht geboren wäre. *Für eine Handvoll. V B Vom Gift der Habgier trunken dürstet es ihn nach Gewinn, unterdessen gelangt er zum Strick. *Für eine Handvoll. Polemischer als die bisherigen Texte leitet V B weder zur Betrachtung der Passion noch - wie der Wehruf Christi - der tragischen Person des Verräters an, sondern zur Empörung über ,den‘ Schuldigen. 1368 1366 Es handelt sich um die 4. und die ersten zwei Zeilen der 5. Strophe; für den gesamten Text des 8strophigen Gesanges, der hauptsächlich die Verworfenheit des Judas und der Juden zum Inhalt hat, verweist H ESBERT , CAO IV, 261, auf AHMA 51, 76 B LUME . 1367 CAO IV, 261 Nr. 7041; CAO I, 168f; CAO II, 304f § 72; nur G am Dienstag der Hohen Woche CAO I, 164 § 70. 1368 Das BR 1568 rezipiert dieses Responsorium, nicht aber - wie sonst meist - Vers B. <?page no="219"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 211 Je zwei Vertreter der monastischen und der römischen Tradition (H, S, C und E) bieten in der 2. Nokturn nach dR 10 und dR 11 als letztes Responsorium dR 4 Unus ex discipulis . 1369 Während die Mehrheitstradition (dR 4 , dR 5 , dR 6 ) Freund und Feind ins Spiel bringt, fokussiert diese Reihe (dR 10 , dR 11 , dR 4 ) auf den Einzeltäter Judas, der - als Jünger und Verräter - beiden Gruppen angehört. Zwei weitere Gesänge, die um Judas kreisen, sind v. a. in den römischen Quellen belegt. Der erste (in C, E in der 3. Nokturn, G in der zweiten; H ordnet ihn der Terz zu) bleibt eng an der neutestamentlichen Vorlage: dR 12 1370 Ecce turba et qui vocabatur Judas venit; et dum a appropinquaret ad Iesum ut eum oscularetur Iesus dixit ad eum: Iuda, osculo trades Filium hominis Lk 22,47f ad crucifigendum? vgl. Mt 20,19 V A Filius quidem hominis vadit, sicut sriptum est de illo: b Vae autem c homini illi per quem tradetur. (CGEH) Mt 26,24ab *Ad crucifigendum. (CEH) *Iuda. (G) V B Et confestim accedens ad Iesum, d (L) Mt 26,49a osculatum est eum; dixitque illi Iesus. Mt 26,49c.50a * Iuda. a - L: cum b - H: eo c - C: autem fehlt d - L: + et (von gleicher Hand) dR 12 Da kam die Schar und er, der Judas hieß. Und als er sich Jesus näherte, um ihn zu küssen, sprach Jesus zu ihm: Judas, mit einem Kuss wirst du den Menschensohn zur Kreuzigung ausliefern? V A Der Menschensohn freilich geht (seinen Weg), wie es von ihm geschrieben steht: Doch wehe dem Menschen, durch den er ausgeliefert (werden) wird. *Zur Kreuzigung. [*…] V B Und sogleich ging er auf Jesus zu und küsste ihn; Und Jesus erwiderte ihm. *Judas. Nur C bietet folgendes an Micha angelehnte Responsorium: dR 13 1371 Facta est lingua inimicorum fraudulenta in ore ipsorum, et loquebantur mendacium; vgl. Mi 6,12b omnes in sanguine insidiati sunt, Mi 7,2c virum iustum venumdati sunt ad mortem: vgl. Mi 7,2d ipse autem pacifica verba loquebatur ad Iudaeos. vgl. Ps 119,7b V Quid me quaeritis interficere, hominem qui vera locutus sum vobis? Joh 8,40a veritatem *Ipse autem. dR 13 Die Zunge der Feinde ist in ihrem Mund zur Betrügerin (betrügerisch) geworden, und sie sprachen (nur) Lüge. Alle lauerten auf Blut und haben den Gerechten in den 1369 Diese seltenere Zusammenstellung übernimmt auch BR 1568. Nach den Väterlesungen der 2. Nokturn steht explizit dreimal die Person des Verräters im Mittelpunkt. 1370 CAO IV, 157 Nr. 6611; CAO I, 168f; CAO II, 308 § 72; nur L schon am Mittwoch der Hohen Woche CAO II, 301 § 71. 1371 CAO IV, 179 Nr. 6711; CAO I, 168 § 72. <?page no="220"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 212 Tod verkauft; er selber aber sprach friedfertige Worte zu den Juden. V Was sucht ihr mich als einen Menschen zu töten, der ich Wahres zu euch gesprochen habe? Judas wird in diesem Text nicht genannt und ist doch als der zu erkennen, dem Lug und Betrug zur zweiten Natur geworden sind, und der den Gerechten an die Blutgierigen verschachert hat. Markante Gegensätze bilden die Gewaltbereitschaft „aller“ und die Friedfertigkeit „des Gerechten“, die Lüge der Feinde und die Worte Jesu. Kleine Horen Als Responsoria brevia ad diurnos ordnen zwei monastische Handschriften einige der oben dargestellten Gesänge an: Codex H ergänzt die neun Vigilgesänge um drei weitere zur Terz ( dR 12 ), Sext ( dR 8 ) und Non ( dR 9 ) 1372 , bietet am Gründonnerstag also insgesamt zwölf Responsorien. Codex S wiederholt zur Prim, Terz, Sext und Non die ersten Responsorien des Tages ( dR 1, dR 2, dR 3, dR 10 ). 1373 Am Übergang von der Psalmodie zum Lesungsteil wiederholt und bekräftigt der Versikel jenen Aspekt, der weiterhin bestimmend bleiben soll. Am Hohen Donnerstag steht hier der Verrat durch Judas an erster Stelle. Er erweckt Betroffenheit und fördert die persönliche Anteilnahme der Feiernden. Die tagesspezifischen biblischen Lesungen anerkennen 1) das Leiden in der Verbannung (Exil) als Sündenfolge (Klgl 1-2) und bringen 2) die Deuteworte Jesu über Brot und Wein beim Abendmahl (1 Kor 11). Die Väterlesung mahnt zur Nachfolge ohne Menschenfurcht. Die Responsorien (u. a. Jes 53; Mt 26) greifen diese Motive teilweise auf - so etwa leidet auch der Unschuldige (Gottesknecht/ Lamm) der „vielen Sünden“ wegen; hauptsächlich aber kreisen die Gesänge um die Person und das Schicksal des Verräters, um das Versagen der Jünger, um die Konspiration aller Autoritäten gegen Jesus und um die Bosheit des Menschen. Die Rezeption im Breviarium Romanum 1568 Aus beiden Cursus schöpfend setzen sich in den römischen Quellen vom Hochmittelalter bis in die Neuzeit bestimmte Texte an teils neuen Orten im Feierverlauf durch. Die im BR 1568 festgeschrieben und verbindlich eingeführte Tradition spiegelt den Zustand des römischen Offiziums und die allgemeine Brevierpraxis vom 16. bis ins 20. Jh.. Erste Nokturn Das tridentinische Reformbrevier (BR 1568) übernimmt am Gründonnerstag 1374 als Versikel nach den ersten drei Psalmen einen an dieser Stelle ungewöhnlichen Vers. Belegt ist er laut CAO in der monastischen Tradition nur einmal (in S) und dort ebenfalls als erster Versikel nach den Psalmen 68(69), 69(70) und 70(71): d1Nv = dv7 V Avertantur retrorsum et erubescant. Ps 69(70),4 = d1N2 R Qui cogitant mihi mala. V Beschämt sollen sich alle abwenden und erröten. R Die Böses gegen mich planen. Die drei Antiphonen der 1. Nokturn haben Bewegungen („Motivation“) erkennen lassen: den Gotteseifer des Gerechten, das beschämte Zurückweichen der Feinde und das dynamisch-rettende Eingreifen Gottes. 1372 CAO II, 308 § 72d. 1373 Ebd. 309. 1374 BR 1568, 346-351 (MLCT 3, 376-381 S ODI / T RIACCA ). <?page no="221"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 213 In Wiederholung der 2. Antiphon stellt der Versikel bereits in der 1. Nokturn das Ende der Gegner vor Augen: Obwohl noch nichts darauf hinweist - sie werden zuletzt beschämt sein, nicht das Opfer. Der Akzent am Ende der Psalmodie der 1. Nokturn verschiebt sich von der subjektiven Leiderfahrung des Verratenen und der Person des Verräters (Homo pacis meae) auf das Schicksal aller Täter. Die Lesungen der 1. Nokturn bringen drei Abschnitte aus Klgl 1,1-16 . Die letzten sechs Verse fehlen, und die drei Perikopen sind exakt angegeben. Die 1. Lesung „Aleph bis Vau“ (Klgl 1,1-6) schildert die Erfahrung von Erniedrigung, Untreue, Trennung, Verlassenheit, Trostlosigkeit und tiefer Trauer des Gottesvolkes in der Identifikationsfigur der „Tochter Zion“. Ihr Kummer ist selbst verschuldet „wegen ihrer vielen Sünden“ (V. 5). Trotz Kürzung bleibt der Zusammenhang zwischen 1. Lesung und Responsorium in dem - im einen Fall verdienten, im anderen Fall unverdienten, aber freiwillig und stellvertretend auf sich genommenen - Leiden an den Sünden des Gottesvolkes erkennbar. Im Responsorium dR 1 In monte oliveti wurde der frühere Vers Verumtamen non sicut ego volo ersetzt durch: V Vigilate et orate, ut non intretis in tentationem. Mt 26,41a V Wacht und betet, damit ihr nicht in Versuchung geratet! [*Der Geist.] Der neue Vers korrigiert das Responsorium im Sinne des Evangeliums und macht die Sorge Jesu um die Jünger zum eigentlichen Thema. Die „Schwäche des Fleisches“ beschreibt nicht mehr (entgegen Mt 26,41) die Todesangst Jesu, sondern ,richtig‘ die Verfassung der Jünger: Sie werden der Situation nicht standhalten, und sich trotz guten Willens schwach zeigen. Sie bedürfen des Gebetes, um nicht zu fallen. Mit dem neuen Vers gewinnt das Responsorium an Schrifttreue, doch verliert es an (nicht weniger schriftkonformer 1375 ) theologischer Originalität. Der willige, aber angefochtene Jesus erscheint wieder souverän und voll pastoraler Sorge. Weniger sein aufgewühltes Beten als die tadelnde Ermahnung der Jünger bleibt im Ohr. Die gegenüber der älteren Tradition gekürzte 2. Perikope „Zain bis Caph“ (Klgl 1,7-11) setzt die Schilderung des Schicksals der erniedrigten Tochter Zion fort: ihrer Schönheit beraubt, verlachen und verachten sie ihre Feinde; der Bedränger Zions „streckte die Hand aus nach ihren Schätzen“ (V. 10) und hat ihr Heiligtum entweiht. Sie ist entblößt und leidet Not. Das Responsorium nach der 2. Lesung bleibt unverändert auch im Brevier dR 2 Tristis est anima mea mit dem selteneren Vers B Ecce appropinquabit und den Repetenda *Vos fugam. Wie dR 1 zeigt es die prekäre und blamable Situation der Jünger. Die Person Jesu tritt hinter den umtriebigen Gegner und hilflosen Jüngern zurück. Obwohl gegenüber dem früheren Ende 1376 deutlich gekürzt, bleibt in den Versen „Lamech (sic) bis Ain“ (Klgl 1,12-16) der 3. Lesung das Zorn-Motiv erhalten: Alle Vorübergehenden sehen Zions Schmerz, „mit dem der Herr mich geschlagen hat am Tag seines glühenden Zornes“ (V. 12) und Zion „zunichte“ gemacht, „preisgegeben“ und „verworfen“ hat (V. 13-15). Unter dem „Joch meiner Sünden, von seiner Hand aufgelegt“ (V. 14), geht sie krank, kraftlos und ohne Trost. 1375 Vgl. Hebr 5,7f aus der Vigillesung am Karfreitag. 1376 Klgl 2,7(8). <?page no="222"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 214 Es folgt dR 3 Ecce vidimus. In beiden Texten hat der Zorn JHWHs die völlige Erschöpfung der Gestraften (Zion) sowie des vermeintlich Geschlagenen (Gottesknecht) zur Folge. Zweite Nokturn Nach den Psalmen 71(72), 72(73) und 73(74) der 2. Nokturn folgt im BR 1568 der im CAO zweithäufigste 1377 Versikel : d2Nv = dv2 V Deus meus eripe me de manu peccatoris Ps 70(71),4a = d1N3 R Et de manu contra legem agentis, et iniqui. Ps 70(71),4b V Mein Gott, entreiss mich der Hand des Sünders. R Und aus der Hand, die gegen das Gesetz handelt, und der [Hand] des Frevlers. Ein diesen Psalmen gemeinsames Thema ist die Frage nach dem Recht. Die Gottlosen verletzen Recht und Gesetz scheinbar ungestraft; ihr Opfer - hier Christus - hat nur noch JHWH zum Anwalt. Gegen die Menschen, die Hand an den Gerechten gelegt, sich an ihm vergriffen haben, soll Gott sich erheben, der allein Recht schaffen kann (und wird). Das unterstreicht der Versikel durch die Wiederholung der letzten Antiphon der 1. Nokturn. Das Stichwort „Hand“ - ebenfalls aus der 1. Nokturn - bleibt auch weiterhin aussagekräftig. Lesungen aus der traditionellen Auslegung von Ps 63(64) sieht das tridentinische Brevier erst für Karfreitag (zu V. 2) und Karsamstag (zu V. 7cd.8a) vor. Für die patristischen Lesungen der 2. Nokturn am Gründonnerstag wählt man drei Abschnitte aus einem anderen augustinischen Traktat, nämlich zu drei Versen aus Psalm 54(55) , 2.3.10 1378 Als Responsorien übernimmt es in seine 2. Nokturn nicht die Mehrheitstexte, sondern die Reihe der Judas-Responsorien dR 10 , dR 11 und dR 4 . Ps 54(55) beklagt die gesellschaftliche Gewaltbereitschaft und besonders die enttäuschende Erfahrung von Verrat und Missbrauch einer Freundschaft durch einen engen Vertrauten. 1379 Augustinus hört Ps 54(55),1(2)-2(3) Exaudi Deus orationem meam et ne despexeris deprecationem meam; intende mihi et exaudi me. Contristatus sum in exercitatione mea et conturbatus sum als Bittruf Christi, der „unser“ Unheil geteilt hat; er fordert seine Zuhörer auf, sich darum auch dem Gebet Jesu und der „Erprobung“ der Guten durch das Böse anzuschließen. In exercitatione mea, inquit. Homines malos quos patitur commemoraturus est, eademque passionem malorum hominum exercitationem suam dixit. Ne putetis gratis esse malos in hoc mundo, et nihil boni de illis de agere Deum. Omnis malus aut ideo vivit ut corrigatur, aut ideo vivit ut per illum bonus exerceatur. (Enarr. in ps. LIV,4) 1380 Als Responsorium nach der 4. Lesung übernimmt das BR 1568 nicht den Mehrheitstext Tamquam, sondern wie in H ist dR 4(BR) =dR 10 Amicus meus osculi me tradidit signo , den im CAO nur einmal belegten Vers B Bonum erat und *Infelix . Es entfaltet die für Judas tödlichen Folgen des Verrates. Von der Lesung ausgehend wären zwar Reue und Besserung des schlechten Menschen nach der bösen Tat nicht ausgeschlossen gewesen. Das Responsorium aber betont das unglückliche Ende des Verräters. Es bleibt also bei der Prüfung des guten Menschen (Jesu) durch das Tun böser Menschen (wie Judas). 1377 Von sieben Belegen als Vigilversikel aber nur zweimal (D, L) in der 2. Nokturn. 1378 CChr.SL 39, 657,1-658,14; 658,14-29; 665,1-2.10-666,22 D EKKERS . 1379 Nach Z ENGER , AT 1101. 1380 CChr.SL 39, 657,8-658,14 D EKKERS . <?page no="223"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 215 Dass auch die Gläubigen erprobt werden, führt Augustinus im Abschnitt der 5. Lesung aus und warnt eindringlich davor, „die Bösen“ zu hassen. Denn niemand wisse, ob er im Feind nicht den Bruder hasst. Der Kampf gegen das Böse sei nicht gegen „Menschen aus Fleisch und Blut“ zu führen, sondern gegen die „Fürsten und Gewalten, gegen die Beherrscher dieser finsteren Welt“ (Augustinus zitiert Eph 6,12) - jener Welt, die „ihn nicht erkannt“ (Joh 1,10) hat. Auf diese Überlegungen folgt wie in H dR 5(BR) = dR 11 Iudas mercator pessimus mit dem Mehrheitstext Vers A Melius illi und *Denariorum. Etwas weniger abschätzig als in dem von Vers B 1381 entworfenen Zerrbild des Jüngers erreicht die Schlechtigkeit des „üblen Händlers“ im Verrat des Herrn um eine Handvoll Münzen gleichwohl ihren Gipfel. Der Text insinuiert Geldgier 1382 als Judas wunden Punkt und niedrige Motivation für den Verkauf des unschuldigen Lammes. Die Wiederholung und Steigerung des vernichtenden Urteils über das heillose Leben des Verräters verschärft das Fazit: Nicht gut, „besser“ wäre gewesen, er wäre gar nicht erst geboren. In der 6. Lesung befasst sich die Auslegung von 54(55),10b quoniam vidi iniquitatem et contradictionem in civitate mit „einer gewissen Stadt“ 1383 als Ort des Unrechts und der Ablehnung: Ihre Einwohner damals wie jetzt - Augustinus spricht hier seine Hörer direkt an - geraten über Jesus in Aufregung 1384 und bringen einen Einwand nach dem anderen gegen die Heilstaten Gottes vor (contradicis). 1385 Gegenüber der Stadt wird das Kreuz errichtet, das trotz aller Schmähung die Welt und ihre Könige (die inzwischen christlichen Könige tragen es bereits auf ihrer Stirn, iam in fronte regum) besiegt hat. Von dort aus streckt der Herr seine Hände nach dem Volk aus, das im Unrecht ist, weil es nicht glaubt: Quod ergo hic ait iniquitatem, perfidiam intellego. Videbat ergo Dominus in civitate iniquitatem et contradictionem, et extendebat manus suas ad populum non credentem et contradicentem; et tamen et ipsos exspectans dicebat: Pater, ignosce illis, quia nesciunt quid faciunt. (Enarr. in ps. LIV,12) 1386 Die Reihe der Gesänge schließt nach der 6. Lesung mit jenem Responsorium, dR 6(BR) = dR 4 Unus ex discipulis mit V Qui intingit mecum manum und *Melius , das in den Jüngerkreis zurückführt, zugleich aber wiederum Judas zum Subjekt hat. Vor dem Hintergrund der Augustinus-Auslegung scheint sich das Urteil über den „Städter“ Judas einerseits noch zu verschärfen. Oder gehört er doch zu denen, für die Jesus am Kreuz um Vergebung bittet? Dritte Nokturn Auch der Versikel der 3. Nokturn nach den Psalmen 74(75), 75(76) und 76(77) wiederholt eine bereits gehörte Antiphon: d3Nv = dv3 V Exsurge Domine Ps 73(74),22 = d2N3 R Et iudica causam meam. 1381 Avaritiae inebriatus veneno … (CAO IV, 261 Nr. 7941). 1382 Vgl. den pejorativen johanneischen Einschub in die Erzählung von der Salbung in Betanien, der Judas Iskariot zum „Dieb“ erklärt und bemerkt „er hatte nämlich die Kasse und veruntreute die Einkünfte“ (Joh 12,6). 1383 Das in alle Völker zerstreute „Babel/ Babylon“ als Gegenbild zur Kirche, die die Zerstreuten in desertum bonae conscientiae sammelt. 1384 Vgl. Mt 21,10. 1385 Wie seinerzeit im Prozess Jesu falsche Behauptungen erhoben wurden. 1386 CChr.SL 39, 665,19-666,22 D EKKERS . <?page no="224"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 216 V Erhebe dich, Herr. R Und führe meine Sache. Der in der älteren Tradition der 1. oder 2. Nokturn zugeordnete Versikel - hier wortgleich (meam) mit der entsprechenden Antiphon - erscheint nun durchaus passend in der 3. Nokturn. Ihre Psalmen behandeln das Gottesgericht in doppelter Perspektive: als erwartetes Gericht über die Frevler und über alle Völker in den beiden ersten Psalmen; als bereits ergangenes Gericht über das Gottesvolk in Ps 76(77), der auch den Zusammenhang zwischen erlittener Gottferne und eigener Schuldgeschichte beklagt und reflektiert. Alle Psalmbeter - ob unschuldig oder mitschuldig - haben Grund zu mahnen und zu klagen. In ihrer Mitte, zwischen Gerechten und Ungerechten, Treulosen und Unbedarften, wird vox Christi hörbar, der Gottes Auftreten und Entscheid für „meine Sache“ erfleht. In der 3. Nokturn werden im BR aus dem 1. Korintherbrief die Anweisungen des Paulus für die rechte Feier des Herrenmahles ( 1 Kor 11,17-34 ) gelesen. Das ist gegenüber früher ein längerer Abschnitt. 1387 Der Inhalt verändert sich durch die Erweiterung markant. Die 7. Lesung (1 Kor 11,17-22) setzt nun nicht mehr mit den Stiftungsworten Jesu, sondern mit der scharfen Kritik des Paulus an der Feierpraxis der Korinther ein: „Was ihr bei euren Zusammenkünften tut, ist keine Feier des Herrenmahles mehr … In diesem Fall kann ich euch nicht loben.“ (V. 20.22) Als Responsorien übernimmt das Brevier wieder die gängigsten Gesänge aus der Tradition. Auf die 7. (paulinische) Lesung folgt das von den Psalmen und Propheten (Jer; DtJes) inspirierte dR 7(BR) =dR 5 Eram quasi agnus. Ein theologischer Bezug zu dem davor gelesenen Abschnitt aus dem 1. Brief an die Korinther über die Eucharistie ist - abgesehen von ihrer Deutung als „Opfer“ - nicht zwingend. Unüberhörbar freilich ist die mitschwingende Mahnung: Im Kontext des Abschiedsmahles Jesu werden nicht nur die längst gehegten Pläne seiner Feinde offenkundig (adversum me cogitabant mala mihi), auch die „Freunde“ und „Jünger“ 1388 und ebenso die in der Nachfolge stehenden Gläubigen (in Korinth und anderswo) sind gefährdet, den Herrn zu verleugnen oder zu verraten und das ihnen anvertraute Herrenmahl zu pervertieren; dementsprechend ist das gereichte „Brot“ von sehr unterschiedlicher Qualität: gemeinschaftsstiftend und nährend als eucharistischer „Leib Christi“, roh und wertlos als jenes Gemisch aus Holz und Mehl (lignum in panem), das die Feinde dem Propheten bereiten (Jer 11,19). Dasselbe gilt für die Mandata dieses Tages: Jesu Auftrag lautet, einander zu lieben und zu dienen - kontrastiert von dem gegen Jesus in Auftrag gegebenen „unbilligen Wort“ der falschen Zeugen (verbum iniquum mandaverunt adversum me). Nach der Folgeperikope über die Stiftung der Eucharistie (1 Kor 11,23-26) als 8. Lesung singt man das Responsorium dR 8(BR) = dR 6 Una hora non potuistis mit Vers B V Quid dormitis? und *Vel Iudam. Inhalt der kurzen Lesung ist die in den Worten „Mein Leib für euch“ und „dieser Kelch ist der Neue Bund in meinem Blut“ (V. 24f) verdichtete Hingabe Jesu mit Leib und Leben für die anderen. Setzt man das Responsorium dazu in Beziehung, ,ant- 1387 Eine Ausweitung lässt sich schon im Ordinale Innozenz III. (12. Jh.) feststellen, das den Anfang der 7. Lesung immerhin mit V. 20 festlegt; vgl. auch Anm. 590. 1388 Vgl. dR 4 und dR 6 . <?page no="225"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 217 wortet‘ es ernüchternd: Auf das Vermächtnis Jesu folgt die Enttäuschung, dass keiner der Vertrauten - eben noch todesmutig ihre Treue beschwörend (exhortabamini mori pro me) - sich dem Kommenden stellen, geschweige denn Jesu Weg mitgehen würde. Schwach und verschlafen wie die Jünger (damals wie heute? ) sind, fordert Jesus sie nochmals auf, zu beten, um nicht in Versuchung zu fallen. 1389 Nicht säumig hingegen ist der Verräter: Er hat es geradezu eilig (festinat), Jesus auszuliefern. - Die Überzeichnung lässt die Hilflosigkeit der Freunde und den ungehemmten Antrieb der Feinde als umso schärfere Gegensätze erscheinen. Die 9. Lesung bringt die ausdrückliche Warnung vor dem lieblosen („unwürdigen“) Empfang der Eucharistie sowie den Aufruf, sich selbst zu prüfen und nötigenfalls vom Herrn zurechtweisen („richten“) zu lassen (1 Kor 11,27-34). Darauf folgt dR 9(BR) = dR 7 Seniores populi. Allerdings wird der in den früheren Handschriften psalmogene Vers 1390 , der auch ,spätgeborenen‘ Sündern eine Identifikationsmöglichkeit geboten hatte, im BR 1568 neutestamentlich zugespitzt: die ,historisch‘ Schuldigen stehen fest, die Feiernden kommen als potentielle ,Mittäter‘ nicht mehr in Betracht. V Collegerunt Pontifices et Pharisaei concilium. *Ut. V Die Hohepriester und Pharisäer versammelten sich um zu beratschlagen, *wie sie Jesus mit List ergreifen und töten könnten. * Wie. Durch die scharfen Worte der Lesung werden zwischen den Texten dennoch Parallelen erkennbar, nämlich über die handelnden Personen(gruppen) und das Gerichtsmotiv. In der Lesung handeln die Glieder der Gemeinde: Sie sollen prüfen, ob sie am Vermächtnis Christi schuldig werden; wo die Selbstbeurteilung unterbleibt, handelt Christus, indem er richtet und zurechtweist. Im Responsorium handeln die religiösen Anführer und Mächtigen der Gemeinde: der Ältestenrat, das Priesterkollegium und die Schriftgelehrten; ihr Ziel ist, Jesus von Rechts wegen („wie einen Räuber“) zu ergreifen, um ihn zu richten und hinzurichten. Die vermutlich erst ab einem gewissen Zeitpunkt der Liturgiegeschichte eucharistisch konnotierte 3. Nokturn erhält dadurch einen mahnend-moralisierenden Unterton. Laudes Erst die Laudespsalmodie, deren letzte Antiphon zum Canticum den Kuss des Verräters zum Inhalt hat, bringt einen im Feierverlauf neuen Text, nämlich den prominenten Versikel: dLv = dv1 V Homo pacis meae, in quo speravi. 1391 Ps 40(41),10 R Qui edebat panes meos, ampliavit adversum me supplantationem. V Der Mensch, mit dem ich Frieden hatte und auf den ich hoffte. R Der mein Brot aß, hat den Betrug/ die Falle gegen mich vergrößert. Der frühere Vigilversikel (hier mit speravi wie in H) hat nun in den Laudes seinen neuen, nicht weniger markanten Ort: 1392 Am Ende der Hore und im Gefolge der neu- 1389 Vgl. dR 1 . 1390 Congregaverunt iniquitatem sibi, et egrediebantur foras (vgl. Ps 40[41],7). 1391 Vgl. Anm. 529. 1392 Und kombiniert beide Antwortvarianten (A, B) der älteren Quellen zu einem Responsum; siehe oben dv1. <?page no="226"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 218 testamentlichen Canticumsantiphon 1393 (Traditor autem) tritt die Person des Verräters noch deutlicher hervor als bisher; ebenso wird die Erwähnung des gemeinsamen Essens (qui edebat panes meos) im neuen Kontext zu einem beinahe zwingenden Hinweis auf das Abschiedsmahl Jesu. Über die bloße Andeutung hinaus bindet in dieser Ordnung der Versikel Ps 40(41),10 das Offizium und den abendlichen Hauptgottesdienst inhaltlich zusammen. Den Abschluss der Nacht- und Morgenhore des Gründonnerstags (ebenso auch der Kleinen Horen und der Vesper) bildet immer der Gesang Christus factus est. An diesem Tag singt man bis ad mortem. Die Rezeption der Lesungen und Responsorien im Breviarium Romanum akzentuiert in der Vigil am Gründonnerstag schärfer als zuvor 1) die deutliche Abgrenzung von den Gegnern Jesu und 2) die Sorge um die moralische Standfestigkeit ,der Jünger‘ - hier: der Feiernden. 1.3.2.2 Karfreitag Die Versikel Vigil (und Laudes 1394 ) Am Karfreitag ist die Auswahl an Versikeln kleiner, und in den behandelten Quellen sind sie weniger variabel als am Vortag: Vier davon, die in bestimmten Nokturnen signifikant oft belegt sind, 1395 können als charakteristisch für den Karfreitag gelten. Auch hier wiederholen und bekräftigen die Versikel fast ausnahmslos Texte der Vigilantiphonen: fv1 1396 V Diviserunt sibi vestimenta mea. Ps 20(21),19 = f1N2 R Et super vestem meam miserunt sortem. C, B, M, V; H, R, D, S, L R Geteilt haben sie unter sich meine Kleider. V Und über mein Gewand das Los geworfen. Dieser Ruf wiederholt die zweite Antiphon des Tages. Fast alle Codices (außer G, E, F) kennen und verwenden ihn nur in der 1. Nokturn (außer L in der 3. Nokturn und in den Laudes). Der Versikel greift das prominenteste Psalmzitat auf: Die Soldaten teilen die Kleidung des Hingerichteten als ihre Beute untereinander auf. fv2 1397 V Insurrexerunt in me testes a iniqui. Ps 26(27),12 = f1N3 R Et mentita iniquitas sibi. C, B, E, M, V; H, R, D, S, L a - S: fortes. V Erhoben haben sich gegen mich falsche Zeugen. R Und die Ungerechtigkeit hat sich selbst belogen. Dieser Ruf ist zugleich die dritte Antiphon des Tages und erklingt in den Quellen des CAO in neun (von zehn) Fällen als Versikel der 2. Nokturn (nur in E in der 1. Nokturn). 1393 Während des Benedictus werden die Lichter sukzessive gelöscht. Bei der Wiederholung der Antiphon nach dem Canticum nimmt man die letzte Kerze vom Ständer und verbirgt sie unter dem Altar. 1394 Als Laudesversikel werden nur fv5 in H und R sowie fv9 in C angeführt. 1395 Obwohl sie fallweise auch zwischen den Nokturen hin- und herwandern. 1396 CAO IV, 482 Nr.8020 § 73. 1397 Ebd. 490 Nr.8102 § 73. <?page no="227"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 219 Er prägt die Lüge ein, die nicht nur ein Verbrechen an Jesus war, sondern viel mehr noch sich selbst betrogen hat. fv3 1398 V Ab insurgentibus a in me. b Ps 58(59),2b = f3N1 R A (G, E, V) Libera me Domine. R B (L) Quia c occupaverunt animam meam. Ps 58(59),4a G, E, V; D, L a - V: bis hierher; mit R A b - D: + Domine; ohne Resp. oder mit R A c - L: + ecce V Von denen, die sich auf mich stürzen. R A Befreie mich, Herr. R B Denn sie haben sich meines Lebens bemächtigt. Diesen Versikel - er wiederholt ganz oder teilweise die 1. Antiphon der 3. Nokturn - gibt es am Karfreitag in den Varianten: mit R A oder R B oder ohne Responsum. 1399 fv4 1400 V Locuti sunt adversum me lingua dolosa. Ps 108(109),3ab R Et sermonibus odii circumdederunt me. B, E, M; R V Sie haben gegen mich mit falscher Zunge gesprochen. R Und mich mit hasserfüllten Reden umgeben. Der Versikel zitiert Ps 108(109),3 und lässt ein Vigilresponsorium anklingen, das ursprünglich am Passionssonntag, 1401 in jüngeren Quellen häufiger am Mittwoch der Hohen Woche 1402 belegt ist. Das Psalmzitat eignet sich zur Interpretation mehrerer Szenen der Passion Jesu: des Verhörs, in dem Jesus ungerechtfertigten Anschuldigungen und meineidigen Zeugenaussagen ausgesetzt wird; der lautstarken Forderung des Volkes, ihn hinzurichten; schließlich auch des Spottes, der selbst noch den Gekreuzigten trifft. Vier weitere Vigilversikel kommen nur je einmal in den Quellen des CAO vor: fv5 1403 V Alieni insurrexerunt adversum me. Ps 53(54),5 = f2N3 R Et fortes quaesierunt animam meam. H V Fremde sind gegen mich aufgestanden. R Und Mächtige haben mein Leben gefordert. fv6 1404 V Longe fecisti notos meos a me. Ps 87(88),9a = f3N2 R Posuerunt me abominationem sibi. Ps 87(88),9b S V Weit entfernt hast du meine Bekannten von mir. R Sie haben mich ihrem Abscheu ausgesetzt. 1398 Ebd. 473 Nr. 7926 1399 Am Gründonnerstag dv4 nur mit Responsum A (in B) und mit Resonsum B (in R); siehe oben Kapitel 1.3.2.1. 1400 CAO IV, 493 Nr. 8124 § 73. 1401 CAO IV, 275 Nr. 7095 § 66 (nur D); vier weitere Quellen des 9.-11. Jhs. bietet www.cantusdatabase.org.: ID 007095. 1402 Ebd. Die Belege dafür sind allesamt jüngeren Datums (12. bis ausgehendes 14. Jh.) 1403 CAO IV, 475 Nr. 7940 § 73. 1404 Ebd. 493 Nr. 8125 § 73. <?page no="228"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 220 fv7 1405 V Captabunt in animam iusti. Ps 93(94),21a = f3N3 C V Zu fassen kriegen werden sie das Leben des Gerechten. Ohne Responsum. Theologisch markant, freilich disparat, bleibt dieser nur in H und R belegte Laudesversikel: fv8 1406 V Proprio Filio suo non pepercit Deus. Röm 8,32 = fL1 R Sed pro nobis omnibus. H, R (Laudes und Vesper) V Seinen eigenen Sohn hat Gott nicht verschont. R Sondern [er hat ihn] für uns alle [hingegeben]. Er entspricht der ersten Laudesantiphon, deren Theologumenon von der Hingabe des Sohnes „für uns alle“ die gesamte Paschatheologie enthält. Nur C bringt am Karfreitag ebenfalls in den Laudes den Versikel fv9=dv12 V Et dederunt in esca mea fel. R Et in siti mea (Ps 68[69],22), den E und S am Gründonnerstag und noch früher platzieren. 1407 Kleine Horen und Vesper Zum Tagesoffizium am Karfreitag machen die Quellen des CAO keine Angaben; nur Codex R wiederholt fv8 V Proprio Filio … ein drittes Mal zur Vesper 1408 und gibt dieser Aussage damit entscheidendes Gewicht. Die Vigillesungen und ihre Responsorien Am Karfreitag setzt man in der Vigil die Lesung aus den Klageliedern und dem augustinischen Psalmentraktat zu Ps 63(64) fort; zuletzt liest man als neutestamentliche Lesung drei Abschnitte aus dem Hebräerbrief. Neun der 17 im CAO am Karfreitag belegten Responsorien lassen sich weitgehend denselben Nokturnen zuordnen und bilden das Kernrepertoire dieses Tages. Erste Nokturn Die drei Lesungen der 1. Nokturn setzen gemäß OR 50 beim letzten Vers des Vortags Klgl 2,8 ein und enden mit 3,22 . 1409 Wann genau welcher Abschnitt und ob der ganze Text oder (wie in späterer Zeit) nur einige wenige Verse gelesen werden, geht aus den Angaben nicht hervor. Klgl 2 schildert das Strafhandeln Gottes, der „all das zerstört, was dem Volk Sicherheit und Ordnung gibt: Nicht nur die Stadtmauern, Paläste und Burgen werden zerstört, sondern auch das Königtum samt Beamtenschaft und Priestern geht zugrunde.“ 1410 Dazu kommt JHWHs nicht weniger feindliches Schweigen; es gibt „keine Weisung“, „keine Offenbarung“ mehr, so dass auch die Ältesten und Propheten des Volkes verstummt sind. (V. 9f) Auf die 1. Lesung ab Klgl 2,9 folgt im CAO einhellig das Responsorium: 1405 Ebd. 478 Nr. 7981 § 73. 1406 Ebd. 498 Nr. 8174 § 73. 1407 Ebd. 481 Nr. 8006 § 66-68; § 72; hier § 73. 1408 CAO II, 316 § 73c. 1409 OR 50,26,1 (SSL 29, 244f A NDRIEU ). 1410 Z ENGER , AT 1591. <?page no="229"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 221 fR 1 1411 Omnes amici mei dereliquerunt me, Ijob 19,14; vgl. Mt 26,56 et praevalerunt insidiantes a mihi; vgl. Ijob 30,13; vgl. Lk 11,54 tradidit me quem diligebam, Ijob 19,19; vgl. Mt 26,21 et terribilibus oculis b Ijob 16,10c plaga crudeli c percutiens 1412 , d vgl. Jer 30,14; vgl. Mt 27,26 aceto potabant me. e Ps 68(69),22; vgl. Mt 27,48 V Et dederunt in f escam meam g fel, et in siti mea. *Aceto. a - E, V: insidiantem b - L: terribilibus hominum c - M, V, L: crudelis d - G, V, L: percutientes e - H, R: potabat; B: potavit f - D: me g - V: mea fR 1 Alle meine Freunde haben mich verlassen, und die Bedränger haben mich überwältigt. Verraten hat mich der, den ich liebte; und mit fürchterlichem Blick und grausamem Schlag haben sie mich getroffen und gaben mir Essig zu trinken. V Und gaben mir Galle in mein Essen und in meinem Durst. *Und gaben mir … Abgesehen von der allgemeinen motivischen Nähe zu den Klagepsalmen 1413 und Klageliedern wird in dieser Bibelparaphrase v. a. Ijob als unschuldig Leidender zum Typos Christi. Das Spektrum seiner seelischen Not reicht vom Verlassenwerden von den früheren Freunden über die mit scharfem Blick lauernden Feinde bis zum Verrat durch einen geliebten Menschen; 1414 dazu kommen physische Gewalt und Grausamkeit: Schläge, Stöße, Durst. In der Lesung erfährt das gezüchtigte Gottesvolk JHWH wie einen „Gegner“ und „Feind“ (vgl. Klgl 2,4f). Im Responsorium kehrt das Motiv von Gott, der „wie ein Feind schlägt“ (vgl. Jer 30,14 1415 ), in der Klage des Schuldlosen wieder: Wie die Tochter Zion/ Israel leidet Christus - er spricht mit der Stimme des unschuldig leidenden Ijob - von der Hand Gottes. Im biblisch-liturgischen Kontext deutet das unverständliche Leiden Ijobs die Ungeheuerlichkeit der Passion Jesu. Die Abgrenzung der 2. Lesung lässt sich nicht exakt bestimmen; gegen Ende von Klgl 2 wird Zion eindringlich aufgefordert, JHWH „am Tag und bei Nacht“ und „zu jeder Nachtwache“ (V. 18f) all die „Mädchen und jungen Männer“, „Priester und Propheten“, „Kind und Greis“, vor Augen zu halten, die „du erschlagen [hast] am Tag deines Zornes, geschlachtet, ohne zu schonen.“ (V. 20f). 1411 CAO IV, 328 Nr. 7313; CAO I, 172f; CAO II, 312f § 73. 1412 Der Herausgeber verweist hier anlässlich der in percutiens aufgeworfenen Frage nach der Rezeption von Sach 12,10 in Joh 19,37 auf seine in Buchform (H ESBERT , Problème) sowie in wesentlichen Auszügen als Artikelserie in der RGr 1934-1939 (wie Anm. 1440) erschienene umfassende Darstellung des Motivs der Durchbohrung des Gekreuzigten in der biblischen, patristischen, ikonographischen, liturgischen und musikalischen Tradition (H ESBERT , CAO IV, 328). 1413 Im darauffolgenden Nokturnpsalm Ps 37(38) etwa klagt der Psalmist in V. 12 amici mei et proximi mei adversus me adpropinquaverunt. 1414 Die Ich-Aussage quem diligebam hebt Judas als engen Freund Jesu hervor. Nur von vier Personen sagen die Evangelien, dass Jesus sie geliebt habe: von den Geschwistern Maria, Marta und Lazarus (diligebat autem Iesus Joh 11,5), vor allem aber denkt man an den Jünger aus der johanneischen Tradition, „den Jesus liebte“ (quem diligebat; Joh 13,23; 19,26; 21,7; 21,20). 1415 Vgl. Omnes amatores tui obliti sunt tui te non quaerent plaga enim inimici percussi te castigatione crudeli propter multitudinem iniquitatis tuae dura facta sunt peccata tua (Jer 30,14) <?page no="230"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 222 Die römischen Quellen und drei der sechs monastischen Handschriften im CAO (H, F, S) 1416 bieten daraufhin als Responsorium: fR 2 1417 Velum templi scissum est, Mt 27,51a; vgl. Lk 23,45b et omnis terra tremuit; vgl. Mt 27,51c latro de cruce clamabat, a dicens: Memento mei, Domine, dum b veneris in regnum tuum. Lk 23,42b V A Amen dico tibi, hodie mecum eris in paradiso. c (C a GBEM a VHRDFS) Lk 23,43b *Memento. (BEMVHRDFS) *Latro. (CG) V B Ait latro ad latronem: Nos quidem digna factis recipimus; hic autem quid fecit? (C b M b ) Lk 23,41a*; vgl. Mt 27,23b *Memento. V C Petrae scissae sunt et monumenta aperta sunt, et multa corpora sanctorum qui dormierunt surrexerunt. (L) Mt 27,51c.52 *Memento. a - C: clamavit b - L: cum c - S: paradisum fR 2 Der Vorhang des Tempels riss entzwei und die ganze Erde bebte: Der Räuber schrie vom Kreuz her 1418 und sprach: Gedenke an mich, Herr, wenn du in dein Königreich kommst. V A Amen, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein. *Gedenke. [*Der Räuber.] V B Es sagt der eine Räuber zum anderen: Wir erhalten ja, was unserer Taten würdig ist; dieser aber, was hat er getan? *Gedenke. V C Die Felsen zersprangen und die Gräber öffneten sich und die Leiber vieler Heiliger, die entschlafen waren, standen auf. *Gedenke. Das zur Gänze aus den Evangelien schöpfende Responsorium centonisiert Zitate aus der lukanischen und der matthäischen Passionstradition: Beide kennen den zerrissenen Tempelvorhang, doch überliefert Lukas dabei den Todesschrei Jesu (et velum templi scissum est medium et clamans voce magna Iesus ait, Lk 23,45b-46a), während im Responsorium der mitgekreuzigte Räuber aufschreit. 1419 Das ebenfalls nicht wörtlich (hic vero nihil mali gessit, Lk 23,42b), sondern als Frage formulierte nächste Zitat erinnert an die Frage des Pilatus quid enim mali fecit (Mt 27,23b). Die drei Verse setzen je eigene Akzente: A schließt mit der unerwarteten Heilsverheißung für den reuigen Verbrecher; B betont die Unähnlichkeit der drei Hingerichteten hinsichtlich ihrer Schuld/ Unschuld; C schildert die apokalyptischen Ereignisse beim Tod Jesu gemäß der matthäischen Tradition (Erdbeben, zerborstene Felsen, Gräberöffnung). 1416 Die drei übrigen (R, D, L) ziehen das nächste Responsorium fR 3 an zweite Stelle vor. 1417 CAO IV, 447 Nr. 7821; CAO I, 172f; CAO II, 312f § 73; nur S auch am Karsamstag CAO II, 319 § 74. 1418 Die Wendung de cruce in der Passion steht sonst nur im Zusammenhang mit descendere und der spöttischen Aufforderung, Jesu solle vom Kreuz steigen, um seine Macht zu beweisen (Mt 27,40.42; Mk 15,30.32). 1419 Bei Matthäus zerreißt der Vorhang erst nach dem Tod Jesu (Mt 27,51). <?page no="231"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 223 Spezielle Bezüge zur vorausgehenden Lesung sind der unsicheren Perikopierung wegen schwer auszumachen. Bestehen bleibt jedenfalls die schon erkennbar gewordene Analogie zwischen dem gerechtfertigten Leiden des Gottesvolkes und dem rechtfertigenden Leiden dessen, der es - am Kreuz - vertritt. 1420 Der letzte Lesungsabschnitt der 1. Nokturn endet mit Klgl 3,22. Wo genau die Perikope beginnt (ob das 2. Kapitel zu Ende gelesen wurde oder wo im 3. Kapitel die Lesung einsetzt), ist unklar. Man liest am Karfreitag also maximal das erste Drittel des 3. Kapitels. Subjekt der Klage ist nun nicht mehr die weibliche Gestalt der „Tochter Zion“, sondern eine männliche Figur, die dem Gottesknecht aus Deuterojesaja ähnelt: Er erfährt sich von Gott „getrieben und gedrängt“ (V. 2) wie von einem feindlichen Krieger (V. 12f); belauert, „zerrissen und zerfleischt“ wie von einem Raubtier (V. 10f); den offenkundig von Gott Verstoßenen ächten auch die Mitmenschen (V. 14). Der Verfolgte hat sein Vertrauen auf JHWH verloren; doch wissend, dass er keinen anderen Trost finden wird, ringt er sich zu neuer Hoffnung durch, denn „Die Huld des Herrn ist nicht erschöpft, sein Erbarmen ist nicht zu Ende.“ (V. 22) Auf die 3. Lesung, die am Ende einen Hoffnungsschimmer erkennen lässt, antwortet in allen römischen Quellen des CAO wie auch in den monastischen H, F und S das Responsorium: fR 3 1421 Vinea mea electa, a ego te plantavi; quomodo conversa es vgl. Jer 2,21ab (vgl. Jes 5,2) in amaritudine, b ut me crucifigeres et Barabbam dimitteres? vgl. Mt 27,26 V A Ego quidem plantavi te, vinea mea electa, c omne semen verum. (CGBEMHRDFS) Jer 2,21ab *Quomodo. V B Melius illi fuerat si natus non fuisset; vae homini illi per quem tradetur. (V) vgl. Mt 26,24c = V A in dR 10 + dR 11 *Ut me. a - D, F: Vineam meam electam b - C, B, H, R: amaritudinem c - G, S: bis hierher; B, H, D, F: vineam meam electam Mein erwählter Weinstock; ich habe dich gepflanzt. Wie bist du zur Bitternis geworden - dass du mich ans Kreuz schlägst und den Barabbas gehen lässt? V A Ich freilich habe dich gepflanzt, mein erwählter Weinstock, den ganzen wahren Samen. *Wie. V B Besser wäre es für jenen gewesen, wenn er nicht geboren wäre. Wehe jenem Menschen, durch den er ausgeliefert (werden) wird. *Dass du mich. Beide Texte - Lesung und Gesang - thematisieren die bitter gewordene Beziehung zwischen Gott und seinem Volk: Es hat seinen gänzlich guten Ursprung (semen verum) ins Schlechte verkehrt, und JHWH ist ihm darüber zum Feind geworden. Im Responsorium zeigt sich das Bildwort vom erwählten Weinstock Gottes, seiner „Edelrebe“ 1422 , die nun „zum Wildling entartet“ ist (conversa es in pravum vinea aliena, 1420 Siehe oben Kapitel 1.3.2.1, v. a. dR 1 . 1421 CAO IV, 463 Nr. 7887; CAO I, 172f; CAO II, 312f § 73. 1422 Die besondere Qualität der gepflanzten Weinsorte (Soreq) wird nur noch in Jes 5,2 („Lied vom Weinberg“) erwähnt; F ISCHER , Jeremia I, 167. <?page no="232"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 224 Jer 2,21bc), als bittere Realität der pervertierten Beziehung des Volkes zu Jesus: Am Ende will es den Schuldlosen - der selber der „wahre Weinstock“ ist (Joh 15,1) - anstelle des Verbrechers verurteilt sehen. Erst und nur im letzten Lesungsvers des Klageliedes klingen unvermutet eine leise Hoffnung und zaghaftes Vertrauen an; im Responsorium findet es kaum Widerhall: ein wenig vielleicht im Festhalten am guten Anfang in Vers A; gar nicht im (neuerlichen) Weheruf über den Verräter in Vers B. Das Stichwort „Bitternis“ weckt weitere Anklänge. Es ruft prophetische Gerichtsworte über das Volk in Erinnerung 1423 ; amaritudo assoziiert auch den bitteren Leidenskelch, den Jesus trinken muss, sowie 1424 den Schwamm mit Essig, der ihm als letzter Trank am Kreuz gereicht wird; am bittersten schmeckt wohl die Verkehrung der Liebe des Volkes in Hass, die dazu führt, den Gerechten und ehemals Geliebten zu verurteilen, den Verbrecher Barabbas aber freizugeben (Mt 27,17.20.21.26). Nicht ursprünglich, doch im Kontext des Karfreitags sind die Sprecher beider Texte ident: Sowohl in der dem Gottesknecht ähnelnden Leidensgestalt der Lesung - einem Mann, der um seines Volkes willen und mit ihm leidet - als auch im Ankläger des Responsoriums, der die Treulosigkeit seines Volkes tadelt, wird die Stimme Christi hörbar 1425 : als klagender Mensch und als tadelnder Gott. Als vox Christi ,von unten‘ und ,von oben‘ erheben beide Reden den Vorwurf, der Gerechte müsse leiden und seine Hingabe werde mit Ablehnung erwidert. Das liebevolle Tun JHWHs/ seines Christus und das herzlose Treiben des „verwandelten“ Volkes stehen einander gegenüber. Das Strafhandeln Gottes an seinem Volk aus der Lesung wird in dieser Perspektive zum Zulassen der Vernichtung des Gerechten, der sich mit den Schuldigen identifiziert hat. Zweite Nokturn In der 2. Nokturn am Karfreitag setzt man die Lesung aus dem Augustinus-Kommentar zu Ps 63(64) fort. Welche Abschnitte vorzutragen sind, geht aus den Quellen wiederum nicht hervor, 1426 naheliegend sind aber jene, in denen Augustinus sich auf Texte und Inhalte des Karfreitags bezieht: auf Ps 26(27),12 (Vigilpsalm der 1. Nokturn) und auf die Passionskapitel Lk 23 und (durchgängig prägend) Mt 26-27. Bei den Responsorien ist die Lage klarer: fast alle haben einen mehrheitlich belegten liturgischen Ort. Die V. 5-7 aus Ps 63(64) passen möglicherweise am besten in diese Nokturn. 1427 Sie geben Anlass zu Ausführungen über die vermeintliche Macht und das falsche Streben des Menschen; über sein irriges Wissen und seine Machenschaften, die er gegen den Arglosen heimlich plant und hinterrücks ausführt (vgl. V. 5f): Repente 1428 sagittabunt eum et non timebunt. O cor durum, occidere velle hominem qui mortuos suscitabat! Repente, id est insidiose, quasi inopinate, quasi non praevise. Similis enim nescienti erat inter ipsos Dominus ignorantes quid nesciret, et quid sciret, immo ignorantes eum nihil ne- 1423 Vgl. die Verwandlung des Rechts in Bitternis und jene der Frucht der Gerechtigkeit in Wermut bei Amos 6,12 (Vulgata: V. 13). 1424 Vorbereitet von Ps 68(69),22. 1425 Dass Christus JHWH-gleich sein Volk tadelt, ist auch in den Improperien des Karfreitags der Fall: Christus stellt seine Heilstaten an Israel während des Exodus in Ich-Rede den Qualen der Passion gegenüber. 1426 Die spätere Rezeption im BR 1658 sieht für den Karsamstag einige Sätze zu V. 7 vor. 1427 Drei Passagen einer längeren Auslegung der Folgeverse 8-11 über das Eingreifen Gottes, das die Feinde zu Fall bringt, könnten schließlich für Karsamstag geeignet gewesen sein. Die Zuordnung bleibt freilich hypothetisch. 1428 Vulgata: subito. <?page no="233"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 225 scire, et omnia scire, et ad hoc venisse ut illi facerent quod se potestate facere arbitrabantur. (Enarr. in ps. LXIII,7) 1429 Am Beispiel der verhetzten Menge, deren Beharren auf Bösem (vgl. V. 6) sie selbst in den Untergang reißt, sollen die Hörer lernen, die Bosheit nirgendwo anders zu suchen, zu bekämpfen und zu töten, als in sich selbst: Sed firmaverunt sibi sermonem malignum: Crucifige, crucifige! Repetitio, confirmatio est sermonis maligni. … Et illi qui firmaverunt sermonem malignum, dixerunt: Sanguis eius super nos, et super filios nostros! … Firmaverunt sermonem malignum, non Domino, sed sibi. Quomodo enim non sibi, cum dicunt: Super nos et super filios nostros? Quod ergo firmaverunt, sibi firmaverunt: qui ipsa vox est alibi: Foderunt ante faciem meam foveam, et inciderunt in eam. 1430 Dominum mors non occidit, sed ipse mortem; illos autem iniquitas occidit, quia noluerunt occidere iniquitatem. [9.] Prorsus, fratres, certum est: aut occidis iniquitatem, aut occideris ab iniquitate. Noli autem quaerere occidere iniquitatem tamquam aliquid extra te. Ad teipsum respice, vide, quid tecum pugnet in te; et cave ne expugnet te iniquitas tua, inimica tua, si interfecta non erit; ex te enim est, et anima tua adversus te rebellat, non aliud aliquid … (Enarr. in ps. LXIII,8.9) 1431 Auf die 4. Lesung mit ungefähr diesem Inhalt folgt in den behandelten Quellen (mit Ausnahme von D nach der 3. Lesung) das Responsorium: fR 4 1432 Tamquam ad latronem existis cum gladiis a comprehendere me; quotidie apud vos eram in templo docens, et non me tenuistis; Mt 26,55* et ecce flagellatum ducitis ad crucifigendum. vgl. Mt 20,19; Mt 27,26 V A Filius quidem hominis vadit, b sicut scriptum est de illo; c vae autem d homini illi per quem tradetur. e (CGBEMVHRFS) Mt 26,24ab = V A in dR 12 *Ad. (CBEMVHRFS) *Quotidie. (G) V B Cumque iniecissent manus in Iesum et tenuissent eum, dixit ad eos. (DL) vgl. Mat 26,50b iniecerunt et tenuerunt *Quotidie. a - F: + et fustibus b - G: bis hierher c - V, F: eo; H: Filius quidem hominis secundum quod definitum est vadit 1433 d - C, V: autem fehlt e - M, V: traditurus est fR 4 Wie zu einem Straßenräuber seid ihr herausgekommen mit Schwertern und Prügeln um mich zu fassen; täglich war ich bei euch und habe im Tempel gelehrt und ihr habt mich nicht ergriffen; nun aber führt ihr den Gegeißelten zur Kreuzigung. V A Der Menschensohn freilich geht seinen Weg, wie es von ihm geschrieben steht: Doch wehe jenem Menschen, durch den er ausgeliefert (werden) wird. *Zur. [*Täglich.] V B Als sie Hand an Jesus gelegt und ihn gefasst hatten, sagte er zu ihnen.*Täglich. Das Responsorium ergänzt den Vorwurf Jesu, den er bei seiner Gefangennahme an die Menge richtet - er wäre doch täglich unter ihnen gewesen und sie hätten ihn nicht ergriffen -, um die dritte Leidensankündigung: Er werde „den Heiden übergeben, damit er 1429 CChr.SL 39, 812,1-8 D EKKERS . 1430 Ps 56(57),7. 1431 CChr.SL 39, 812,18-813,6 D EKKERS . 1432 CAO IV, 429 Nr. 7748; CAO I, 172f; CAO II, 312f § 73. 1433 Lk 22,22a. <?page no="234"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 226 verspottet, gegeißelt und gekreuzigt wird“ (Mt 20,19a 1434 ). Im Responsorium agieren aber nicht „die Heiden“ (Pilatus und seine Soldaten), sondern das eigene Volk: Sie, „bei denen ich täglich war“, führen Jesus zur Geißelung und Kreuzigung (ducitis). In der liturgischen Feier ist die Kirche - Volk Jesu und aus den Heidenvölkern stammend - angesprochen, ihre Mitwirkung am Tod Jesu zu bedenken. Die augustinischen Ausführungen zu Ps 63(64),6f über die unselige Abwendung des Frevlers vom „Licht der Gerechtigkeit“, der in umso größeres Unrecht stürzt und schließlich in der Finsternis zugrundegeht, könnten Teil der 5. Lesung gewesen sein: Habet iustitiam quamdam lucem suam; perfundit et illustrat animam inhaerentem sibi; anima vero avertens se a luce iustitiae, quanto magis quaerit quod inveniat contra iustitiam, tanto plus a luce repellitur, et in tenebrosa demergitur. (Enarr. in ps. LXIII,11) 1435 Darauf folgt immerhin fünfmal im CAO (C, G, V, R, F) als 5. Responsorium (und in vier weiteren Codices B, E, M und H an 6. Stelle): fR 5 1436 Tenebrae factae sunt dum crucifixissent Iesum Iudaei; vgl. Mt 27,45a et circa a horam nonam, exclamavit b Iesus voce magna: Deus, Deus, c ut quid me dereliquisti? Mt 27,45b; Ps 21(22),2 Et inclinato capite, emisit d spiritum. Joh 19,30b tradidit Tunc unus ex militibus lancea latus eius perforavit, e et continuo exivit sanguis et aqua. f Joh 19,34 V A 1437 Et velum templi scissum est a summo usque deorsum, et omnis terra tremuit. 1438 (CGBEMVHRD b ) Mt 27,51bc = fR 2 * *Tunc unus. (CBEMVHRD) *Et inclinato. (G) V B Cum ergo accepisset acetum, dixit: Consummatum est. (D a F) 1439 Joh 19,30a *Tunc unus. (D) *Et inclinato. (F) 1440 a - V: Iudaeis; et circam (sic) b - G, B, R: exclamabat (B: korr. in exclamavit) c - B, R: meus d - V: tradidit e - M: aperuit f - C: bringt den Einschub et inclinato capite emisit spiritum; das Ende et continuo … entfällt fR 5 Finsternis brach herein, als sie Jesus kreuzigten. Und um die neunte Stunde brüllte Jesus laut auf: Mein Gott, was hast du mich verlassen? Und er neigte das Haupt und gab den Geist auf. Dann durchbohrte einer von den Soldaten mit der Lanze dessen Seite und sofort kamen Blut und Wasser heraus. 1434 Der hier nicht mehr zitierte, aber mitzuhörende V. 19b kündigt die Auferstehung am dritten Tag an. 1435 CChr.SL 39, 814,12-16 D EKKERS . 1436 CAO IV, 432 Nr. 7760; CAO I, 172f; CAO II, 312f § 73. 1437 V A wird in L als Antiphon zur Vesper gesungen mit V Postquam autem crucifixerunt (CAO III, 527 Nr. 5315; CAO II 317 § 73c). 1438 Et velum templi scissum est … et omnis terra tremuit entspricht dem ersten Teil von fR 2 . 1439 Die Verse V A und V B entsprechen den Vesperantiphonen fV2 und fV3. 1440 Die abweichenden gregorianischen Text- und Klanggestalten des in Rom in der Vigil sowie in Mailand und Benevent in den Laudes am Karfreitag gesungenen Responsoriums Tenebrae sowie dessen Wirkungsgeschichte hat H ESBERT , Répons, analysiert; die Textfassung der römischen Tradition folgt Joh 19,34, während in Mailand und Benevent - auf Basis eines interpolierten Evangelientextes nach Matthäus - die Durchbohrung des noch lebenden Gekreuzigten besungen wird. <?page no="235"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 227 V A Und der Vorhang des Tempels riss entzwei von oben bis unten, und es erbebte die ganze Erde. *Dann. *[…] V B Als er also den Essig genommen hatte, sagte er: Es ist vollbracht. *Dann. *[…] Das Responsorium centonisiert aus der markinisch-matthäischen und johanneischen Tradition die Ereignisse der Todesstunde Jesu: Sie findet in jener „Finsternis“ der Sünde und des Todes statt, die sich, in den Texten des Tages angekündigt, als Ausdruck auswegloser Enge und Verlassenheit allmählich gesteigert 1441 und jetzt ihren Höhepunkt erreicht hat; 1442 in ihr ertönt nach Mk und Mt der Todesschrei Jesu mit den Anfangsworten von Ps 21(22),2; die Rettungserfahrung am Ende des Psalms ist den Redaktoren der Evangelien wohl bewusst gewesen; auch nach Joh 19 ist das Sterben Jesu mehr als die bloße Aufgabe des Lebensgeistes, nämlich ein Akt der Übergabe an den Willen des Vaters (tradidit). Hier entspringt - in nachösterlicher Sicht - das sakramentale Leben der Kirche aus „Wasser“ und „Blut“ und gewinnt der soteriologische Schlüsselbegriff tradere eine ekklesiale Dimension, die auch in der matthäischen Version von der „Freigabe“ des Geistes Jesu (emisit spiritum in Mt 27,50) hörbar wird. Der Umfang der 6. Lesung aus dem Traktat zu Ps 63(64) bleibt Vermutung. Vorstellbar ist, dass folgender Gedanke zu V. 6-7a darin enthalten war, in dem Augustinus die willentliche Selbstauslieferung des Sehenden an die Blinden, die in ihrer eigenen Finsternis sich unentdeckt glauben, mit Jesu Menschsein um des Menschen willen begründet: 1443 Vide quid contingat animae malae: recedit a luce veritatis, et quia ipsa non videt Deum, putat se non videri a Deo. Sic et isti recendo ierunt in tenebras, ut ipsi non viderent Deum; et dixerunt: Quis nos videt? Videbat et ille quem crucifigebant; illi deficiendo, nec illum Filium, nec Patrem videbant. Si ergo et ille videbat, quare se patiebatur teneri ab eis, occidi ab eis? Quare si videbat, voluit consilia eorum praevalere in se? Quare! Quia homo erat propter hominem, et Deus latens in homine, qui venerat nescientibus exemplum fortitudinis dare; ideo ipse sciens omnia sustinebat. (Enarr. in ps. LXIII,12) 1444 Die freie Dichtung des folgenden Responsoriums beschließt in denselben Quellen wie zuvor die 2. Nokturn (C, G, V, R, F; in B, E, M sowie H, S zur 5. Lesung). Es dominiert einmal mehr die Tat des Judas: fR 6 1445 Barrabas latro dimittitur, et innocens Christus occiditur; vgl. Mt 27 nam et Iudas armiductor sceleris, qui per pacem didicit facere bellum, osculando tradidit Dominum Iesum Christum. vgl. Lk 22,48 V A Ecce turba et qui vocabatur Iudas venit; et dum appropinquaret ad Iesum. (CGEMVHD) Lk 22,47 = dR 12 * *Osculando. V B Verax datur fallacibus, Pium flagellat impius. (RFSL) = V A in dR 9 *Osculando. (RLF) 1441 U. a. in den Klageliedern und Ps 87(88). 1442 Im Johannesevangelium dauert die Finsternis bis zum Morgen der Auferstehung: die Frauen gehen zum Grab, als es noch finster war (tenebrae essent, Joh 20,1). 1443 Diese Überlegung geht jenem Abschnitt im Psalmentraktat unmittelbar voraus, den später das BR 1568 als patristische Lesung für den Karsamstag vorsieht. Sollte das eine ältere Leseordnung widerspiegeln, könnte die 6. Lesung am Karfreitag mit eben diesen Ausführungen geendet haben. 1444 CChr.SL 39, 814,11-14 D EKKERS . 1445 CAO IV, 41 Nr. 6159; CAO I, 172f; CAO II, 312f § 73. <?page no="236"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 228 *Nam et. (S) V C Melius illi erat, si natus non fuisset. (B) = V B in fR 31446 *Osculando. a - M: korr.: armis ductor; G: armis ductor; V: armis doctor; E, D, F, S, L: armis doctus; C: armidoctus b - B: sceleri c - L: impium 1447 fR 6 Barabbas, der Räuber, wird freigelassen und Christus, der Unschuldige, ermordet; denn Judas, der Anführer des Verbrechens, der es verstanden hat, durch den Frieden(skuss) 1448 Krieg zu führen, hat den Herrn Jesus Christus ausgeliefert, indem er ihn küsste. V A Da kam die Schar und er, der Judas hieß. Und als er sich Jesus näherte. *Indem er ihn küsste. V B Der Wahrhaftige wird den Falschen übergeben, den Frommen züchtigt der Gottlose. *Indem er ihn küsste. [*Denn.] V C Besser wäre es für jenen, wenn er nicht geboren wäre. *Indem er ihn küsste. Das Responsorium führt in der Person des Judas das Beispiel jener heimtückischen und verblendeten Menschen, von denen Ps 63(64) spricht und deretwegen die Erlösung notwendig wurde, vor Augen. Zugleich verengt es dessen weite Perspektive - in der die Hörer der Auslegung zur Selbstidentifikation aufgefordert waren - wieder auf die historische Figur des Verräters. Die Verse (V A zitiert aus dem Lk-Ev) bringen nichts Neues; sie wiederholen die Schändlichkeit und Verlorenheit des Verräters. Dritte Nokturn Für die Lesungen der 3. Nokturn greift man auf einige Verse aus Hebr 4-5* zurück. Um die erste Jahrtausendwende werden nur die Incipits angegeben (Hebr 4,11; 5,1; 5,11) 1449 , keine Perikopen. Als 7. Lesung kommt maximal Hebr 4,11- 16 (Kapitelende) in Frage. Sie beginnt mit einer Aufforderung, die keinen Aufschub duldet: „Bemühen wir uns also, in jenes Land der Ruhe zu kommen, damit niemand aufgrund des gleichen Ungehorsams zu Fall kommt. Denn lebendig ist das Wort Gottes, kraftvoll und schärfer als jedes zweischneidige Schwert; es dringt durch bis zur Scheidung von Seele und Geist, von Gelenk und Mark; es richtet über die Regungen und Gedanken des Herzens; vor ihm bleibt kein Geschöpf verborgen, sondern alles liegt nackt und bloß vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft schulden.“ (Hebr 4,11-13) Die „Ruhe“ Gottes steht für die Schöpfung und für das Eschaton, d. h. für die anfängliche Gutheit der Beziehung zwischen Gott und Mensch und für ihre endzeitliche Wiederherstellung. Die „Ruhe“ blieb dem Gottesvolk trotz des früheren Ungehorsams verheißen. Der Ernst der Situation liegt darin, dass Gottes Wort einst „viele Male“, jetzt „in dieser Endzeit aber durch den Sohn“ (Hebr 1,1f) ergangen ist. Er scheidet die Geister, und an ihm scheiden sich die Geister. 1450 Alle Quellen des Cursus Romanus im CAO sowie drei monastische Hss (H, R, F) bieten nach der 7. Lesung das Responsorium: 1446 Außerdem schon am Gründonnerstag: Teil von dR 4 sowie V A in dR 10 +dR 11 . 1447 Vgl. dR 11 ; dazu auch Anm. 599. 1448 Das Antonym beruht auf der Doppelbedeutung von pax für „Frieden“ und für „(Friedens-) Kuss“. 1449 OR 50,26. 1450 Die Folgeverse Hebr 4,14-16 führen sein Wirken als Hohepriester des Neuen Bundes näher aus. <?page no="237"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 229 fR 7 1451 Tradiderunt me in manus impiorum a , et inter inimicos proiecerunt me, et non pepercerunt animae meae; vgl. Mt 27,2 congregati sunt adversum me fortes, vgl. Mt 26,3 et sicut gigantes steterunt contra me. V A Astiterunt reges terrae et principes convenerunt in unum. (CBEMVHRDF) Ps 2,2a = f1N1 *Et sicut. (CGBEMHRD) *Congregati. (GVF) V B Alieni insurrexerunt in me, et fortes quaesierunt animam meam. (S) Ps 53(54),5 = f2N3 *Et sicut. a - E: iniquorum fR 7 Sie haben mich in die Hände der Gottlosen ausgeliefert und mich unter die Feinde geworfen. Sie haben mein Leben nicht verschont. Versammelt haben sich gegen mich die Starken. Und wie Kriegshelden sind sie gegen mich gestanden. V A Die Könige der Erde haben sich erhoben, und die Anführer sind übereingekommen. *Und wie. [*Versammelt haben sich.] V B Fremde haben sich gegen mich erhoben und Mächtige mir nach dem Leben getrachtet. *Und wie. Im Wortlaut frei, aber sprachlich von den Klagepsalmen (des Tages) geprägt und mit Mt 26,3 und 27,1f im Hintergrund, macht das Responsorium die Krisis deutlich und deckt die gegnerischen „Regungen und Gedanken des Herzens“ (vgl. Hebr 4,12) der „Starken“ auf: Sie (fortes sicut gigantes - Mt präzise principes sacerdotum et seniores populi) haben Jesus in die Hände des ,Heiden‘ Pilatus ausgeliefert (tradiderunt in manus impiorum - bei Mt tradiderunt Pontio Pilati). Die Absicht der „Starken“ äußert sich im „Nichtverschonen“ (non pepercerunt); dasselbe sagt später die 1. Laudesantiphon vom Handeln Gottes. 1452 Was die „Starken“ entscheidend zu vernichten meinten, war bei Gott längst eine Entscheidung zum Heil. Die alternativen Verse wiederholen zwei psalmogene Antiphonen der Karfreitagsvigil, wobei Ps 2,2a (Vers A) häufiger vorkommt und die christologisch interessantere Variante darstellt. 1453 Zur 8. Lesung liest man (den Incipits in OR 50 zufolge) aus dem Hebräerbrief ab Hebr 5,1 bis (maximal) V. 10. Unter Zitation von Ps 109(110),4 ist dort vom endgültig sühnenden hohepriesterlichen Handeln Jesu die Rede: als Dienst vor Gott, der ihn eingesetzt und vollendet hat, mit Verständnis für die Schwachen, in dem unter Tränen und Schreien gelernten Gehorsam, heilsam für alle, die ihm gehorchen. Alle Quellen im CAO kennen folgendes Responsorium. In allen römischen Codices sowie in H, R, F steht es an dieser Stelle: 1454 fR 8 1455 Iesum a tradidit b impius summis principibus sacerdotum et senioribus populi, c vgl. Mk 8,31; 14,43 1451 CAO IV, 435 Nr. 7773; CAO I, 172f; CAO II, 312f § 73. 1452 fL1 Proprio filio suo non pepercit Dominus … (Röm 8,32); eine Erfahrung, die auch die „Tochter Zion“ (Klgl 2,2.17) und Ijob machen (Ijob 16,14), deren Schicksal als Interpretament des Leidens Jesu dient. 1453 Siehe oben Kapitel 1.3.1.2. 1454 S und L vermerken es als 7. Responsorium; nur D in der 2. Nokturn zur 6. Lesung. 1455 CAO IV, 259 Nr. 7035; CAO I, 172f; CAO II, 312f § 73. <?page no="238"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 230 Petrus autem sequebatur a longe ut videret finem. Mt 26,58ac V A Et ingressus d Petrus in atrium principis sacerdotum. (CGBEMVHRDFS) Mt 26,58c *Ut videret. e V B Adduxerunt autem eum ad Caiapham, principem sacerdotum, ubi scribae et pharisaei convenerant. (L) Mt 26,57b *Petrus. a - C, M: Me b - M: tradet c - E, S: populis d - F + est e - G ohne * fR 8 Der Frevler hat Jesus an die höchsten Anführer der Priester und die Ältesten des Volkes verraten. Petrus aber folgte von ferne, um das Ende zu sehen. V A Und Petrus ging in den Hof des Hohepriesters. *Um zu sehen. V B Da führten sie ihn zu Kajaphas, dem Anführer der Priester, wo die Schriftgelehrten und Pharisäer zusammengekommen waren. *Petrus. Das Responsorium ruft über das Stichwort tradidit noch einmal den Verräter Judas (impius) in Erinnerung; danach Petrus, der wissen will, wie die Sache ausgeht. Die eigentlich handelnden Personen aber sind die Priesterschaft, die Schriftgelehrten und Pharisäer. 1456 Der breit belegte Vers A führt Petrus „in den Hof des Hohepriesters“. Vers B nennt seinen Namen ad Caiapham; zu ihm hat man Jesus gebracht, und dort sind auch die Schriftgelehrten und Pharisäer zusammengekommen, um über Jesus zu entscheiden. Im liturgischen Kontext steht der Hohepriester (princeps sacerdotum) im Zentrum: im Responsorium ist das Kajaphas, in der Lesung Christus - beide „aus den Menschen ausgewählt und für die Menschen eingesetzt.“ (Hebr 5,1) Doch konträrer könnte ihr Handeln nicht sein. Die 9. und letzte Lesung der Karfreitagsvigil beginnt bei Hebr 5,11 und bringt das Kapitel bis zum Ende (V. 14), eventuell darüber hinaus. Der Verfasser des Briefes bricht an dieser Stelle das christologische Thema ab, denn es ist „schwer verständlich zu machen, da ihr schwerhörig geworden seid.“ (V. 11b), und fährt fort: „Denn obwohl ihr der Zeit nach schon Lehrer sein müsstet, braucht ihr von neuem einen, der euch die Anfangsgründe der Lehre von der Offenbarung Gottes beibringt; Milch habt ihr nötig, nicht feste Speise. Denn jeder, der noch mit Milch genährt wird, ist unfähig, richtiges Reden zu verstehen; er ist ja ein unmündiges Kind; feste Speise aber ist für Erwachsene, deren Sinn durch Gewöhnung geübt ist, Gut und Böse zu unterscheiden.“ (Hebr 5,12-14) Der (aus der paulinischen Schule stammende? ) Brief richtet sich wohl ursprünglich an Judenchristen, die aufgrund der an Israel ergangenen Verheißung das Christusereignis verstehen sollten, aber mangelnde Einsicht zeigen. In der vorösterlichen Liturgie der Kirche trifft der Tadel die aktuell versammelte Feiergemeinde. Die Lesung hat eher mahnenden als Verkündigungscharakter und führt vor Augen, dass alle Menschen (auch die Getauften, in denen der Geist Gottes wirkt) 1457 - nicht anders als die Zeitge- 1456 Die markinische Tradition nennt diese Personengruppen (summis sacerdotibus, senioribus, scribis) zweimal: in der ersten Leidensankündigung (Mk 8,31) und bei der Schilderung von Verrat und Festnahme (Mk 14,43). 1457 Vgl. die 9. Vigillesung des Vortags 1 Kor 12,3; beide Lesungen halten unmissverständlich die Fehlbarkeit auch der Getauften fest. <?page no="239"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 231 nossen Jesu und der Apostel - unwissend, für Irrtum anfällig und der Schwachheit unterworfen bleiben (vgl. Hebr 5,2) und der Erlösung bedürfen. Auch das 9. Responsorium ist ähnlich breit bezeugt; im römischen Cursus sowie in den monastischen Hss H, R, F jeweils als letztes: 1458 fR 9 1459 Caligaverunt oculi mei a a fletu meo, vgl. Ijob 16,17 quia elongabitur b a me qui consolabatur me. vgl. Ps 68(69),21d; Klgl 2,12 Videte, omnes populi, si est dolor similis sicut dolor meus. c vgl. Klgl 1,18 = sL3 Klgl 1,12b = sL5 V O vos omnes qui transitis per viam, attendite et videte. Klgl 1,12a *Si est. d a - V: cum b - C, D, F, L: elongatus est; V: elongati sunt c - D: meis (sic) d - V: ohne * fR 9 Dunkel geworden sind meine Augen von meinem Weinen: denn fern von mir wird der sein (ist der gewesen), der mich tröstete. Schaut her, alle Völker: Ob ein Schmerz ist wie der meine. V O ihr alle, die ihr des Weges kommt, merkt auf und seht. *Ob. Das Responsorium wechselt von der Mahnrede wieder zur Klage. Im Rückgriff auf Klgl 2,12, klagt Christus (stellvertretend für das Volk); mit ihm auch die Kirche und alle, die sein Leiden mitansehen und betrauern. Einige prägnante Texte der vorösterlichen Tage lassen sich assoziativ ebenfalls leicht abrufen: Ps 87(88),19 über elongare (die entstandene Distanz zwischen Vertrauten und Freunden); Ps 68(69),21c und Klgl 2,12 über consolari (der vermisste Trost/ Tröster); auch Jes 51,3.12.19. Vom Weinen verschwollen (intumuit) und trüb/ dunkel (caligaverunt) sind auch das Antlitz und die Augen Hiobs facies mea intumuit a fletu et palpebrae meae caligaverunt. (Ijob 16,17) Ein zwingender Bezug zwischen 9. Lesung und ihrem Responsorium ist nicht erkennbar. Eher zieht der Gesang ein Fazit aus schon Gehörtem und kündigt Kommendes an: Klgl 1,12.18 prägen als wichtige Antiphonen die Laudes am Karsamstag. Darüber hinaus gibt es acht weitere vereinzelt bezeugte Vigilresponsorien für den Karfreitag (einige auch an anderen Tagen); drei davon nennt der im römischen Cursus älteste Textzeuge C (außer fR 1 -fR 9 ). Zur 2. Nokturn: fR 10 1460 Animam meam dilectam tradidi in manus iniquorum; a Jer 12,7b dedi et facta est mihi hereditas mea sicut leo in silva. b Dedit contra me vocem c Jer 12,8 adversarius, dicens: Congregamini et properate ad d devorandum illum. Jer 12,9b Posuerunt me in desertum e solitudinis, Jer 12,10b* dederunt 1461 1458 In der 3. Nokturn ebenfalls in D (als 7.) und in S (als 8. Responsorium); nur in L am Karsamstag (als 6.). 1459 CAO IV, 66 Nr. 6261; CAO I, 172f; CAO II, 312f § 73; nur L am Karsamstag CAO II, 319 § 74b. 1460 CAO IV, 24 Nr. 6101; CAO I, 172; CAO II, 313 § 73; E am Mittwoch der Hohen Woche CAO I, 165 § 71a; D am Palmsonntag CAO II, 292 § 68b. 1461 Auch Joel 1,7a posuit vineam meam in desertum … klingt mit, wo der „Weinstock“ (vgl. fR 3 ) die - wörtliche - „Verwüstung“ erfährt; auf Joel greift auch sR 2 V B zurück. <?page no="240"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 232 et luxit super me omnis terra: Jer 12,11* luxitque Quia non est inventus qui me agnosceret, et faceret bene. vgl. Jer 12,11b vgl. Ps 68(69),21d V Omnes inimici mei adversum me f cogitabant mala mihi, verbum iniquum mandaverunt adversum me. g1462 (CEF) Ps 40(41),8b.9a = V in dR 5 constituerunt *Quia. (CE) *Congregamini. (F) C: am Karfreitag; F: am Karfreitag als 9. von 10 Vigilresponsorien (noch vor dR 9 Caligaverunt) D: am Palmsonntag E: am Mittwoch der Hohen Woche a - F: impiorum b - D, F: silvam c - E: voces d - E: properate et (sic) e - E, D: deserto f - E bis hierher; C: adversus me g - F + dicentes fR 10 Mein kostbares Leben habe ich in die Hände der Frevler gegeben und wie der Löwe im Wald ist mir mein Erbteil geworden. Der Feind hat gegen mich die Stimme erhoben und gesagt: Versammelt euch und beeilt euch, ihn zu verschlingen. Sie haben mich in die Wüste der Einsamkeit gelegt und alle Welt hat über mich getrauert: Denn keiner wurde gefunden, der mich erkannt und (mir) rechtgetan (wohlgetan) hätte. V Alle meine Feinde planten Böses gegen mich. Unrechte Rede gaben sie gegen mich in Auftrag. *Denn. [*Versammelt.] Dieses Responsorium paraphrasiert einen Abschnitt aus der Klage JHWHs (Jer 12,7- 17) über sein rebellisches Volk („Erbteil“), das er zur Strafe der Verwüstung preisgegeben hat. 1463 Die gezielte Auswahl einzelner (Halb-) Zeilen oder Wortverbindungen erzählt die Geschichte des zur Öde gewordenen Landes 1464 am Karfreitag ,neu‘: In dieser Situation verschmelzen die Worte Gottes mit der Stimme Christi; die Klage des einen mit der Trauer des anderen über die Treulosigkeit „meines Hauses“; zugleich ist Christus selbst der verwüstete „Herzensliebling“ 1465 (dilectam animam meam), den Gott „preis[gegeben hat] in die Hand der Feinde“ (V. 7). Nicht, dass er den Zorn Gottes auf sich gezogen hätte; vielmehr trägt er die (Folgen der) Sünden seines Volkes. Etliche schon bekannte Stichworte und Motive sind in diesem Text versammelt: animam meam 1466 , manus 1467 , parcere 1468 ; Verbalformen wie posuerunt 1469 und insurrexerunt 1470 ; die Zusammenrottung der Gegnerschaft 1471 contra me/ adversarius 1472 und 1462 Am Palmsonntag (nur D) lautet der Vers Insurrexerunt in me (Ps 26[27],12 = f1N3; Ps 53[54],5 = f2N3) absque misericordia, et non pepercerunt animae meae (vgl. fR 7 ) mit *Quia. 1463 Vgl. dR 5, dem die Konfession des Jeremia (Jer 11,18-12,6) zugrunde liegt; beide Responsorien haben denselben Vers Ps 40(41),8f. 1464 Ein verwandtes Motiv (die Verwandlung in Bitternis) in fR 3 Vinea mea electa greift Jer 2,21 auf. 1465 So die EÜ im ersten Vers der Klage. 1466 Vgl. f2N1-3; f3N1 und f3N3 sowie dR 2 . 1467 Vgl. d2Nv; dR 6 . 1468 Vgl. fR 1 und fL1. 1469 Vgl. (inter iniquos) proiecerunt in fR 1 ; ähnliche Prädikate in fast allen Vigilantiphonen des Tages. 1470 Wörtlich auch in f1N3 und f2N3. 1471 Vgl. turba dR 2 ; consilium und concilium in dR 7 und dR 9 . Sie findet eine negative Fortsetzung in der unwürdigen Versammlung zum Herrenmahl in der 1. Lesung am Gründonnerstag 1 Kor 11,17- 22. <?page no="241"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 233 die Vereinsamung des Opfers deserto solitudinis 1473 ; das raubtierhafte 1474 (sicut leo in silva), mitleidlose (absque misericordia) Lauern der Feinde; die Metapher vom Erbteil (hereditas) wird am Karsamstag wieder aufgenommen und neu kontextualisiert. 1475 Das Verb tradere - ein Leitmotiv im vorösterlichen Offizium - begegnete bisher aktiv und passiv unterschiedlich nuanciert: übergeben und überlassen, überliefern und hingeben, preisgeben, verraten und ausliefern. 1476 Mit dem Zitat Jer 12,7-11.13 deutet das Responsorium die feindliche Preisgabe des „Erben“ als göttliche Tat: tradidi - hier vox Dei und vox Christi. Der zweite Teil des Responsoriums antizipiert die Situation nach Jesu Tod und Begräbnis (posuerunt me in desertum solitudinis): Da hat alle Welt „mich“ - vox Christi - beweint (luxit super me omnis terra), da keiner (gewesen) war, mich zu erkennen und mir Recht zu tun (me agnosceret, et faceret bene). 1477 Ebenfalls für die 3. Nokturn bietet nur Codex C einen theologisch ähnlich anspruchsvollen Text: fR 11 1478 Viderunt in quem transfixerunt; Joh 19,37b videbunt (< Sach 12,10b) et plangent super eum omnes tribus terrae, Mt 24,30 (< Sach 12,12a) dicentes: Vere Filius Dei erat iste. Mt 27,54c V In humilitate iudicium Dei sublatum est; generationem illius quis enarrabit? Apg 8,33 iudicium eius (< Jes 53,8a) = dDiv2 1479 * keine Angabe. fR 11 Sie haben auf den geschaut, den sie durchbohrt haben; und weinen werden über ihn alle Stämme der Erde und werden sagen: Wahrhaftig, er war Gottes Sohn. V In der Erniedrigung wurde das Urteil Gottes aufgehoben; sein Geschlecht/ seine Nachkommen, wer wird sie aufzählen können? Dieser Gesang centonisiert drei Schriftstellen aus dem Neuen Testament, die ihrerseits auf Prophetenworte aus Sacharja (Responsum) und Deuterojesaja (Vers) zurückgreifen, um christologische Schlüsselaussagen zu formulieren. Kleine Eingriffe in die neutestamentliche Textfassung aktualisieren deren theologische Deutungen aus der Sicht der Feiernden: Der Blick auf den „Durchbohrten“ (videbunt) ist für die Kirche, die auf den Gekreuzigten sieht, Wirklichkeit geworden (viderunt). Das Weinen der Völker der Erde steht noch aus (plangent omnes tribus terrae), bis zur Wiederkunft des Menschensohnes „auf den Wolken des Himmels“, der die Auserwählten „aus allen vier Windrichtungen zusammenführen“ wird (Mt 24,30f 1480 ). Wie im Prophetenwort wird 1472 Auch adversus/ adversum me in f2N3, dLv, dR 7 . 1473 Vgl. den Lesungsabschnitt der 1. Nokturn am Karfreitag Klgl 3,1-9 sowie fR 1 und fR 5 , aber auch dR 2 , dR 7 und dR 8 sowie Jes 53,9a: der Gottesknecht erhält sein Grab außerhalb der Gemeinschaft der Lebenden (V. 8) bei den „Ruchlosen“ und „Verbrechern“. 1474 Vgl. terribilibus oculis in fR 1 ; auch Klgl 3,10 (factus est mihi leo in absconditis), der unmittelbare Anschlussvers an die 3. Vigillesung am Karfreitag. Vor dem Hintergrund der wiederholten Mahnung Jesu an die Jünger, wachsam zu bleiben und in ihrer Schwäche gegen die drohende Versuchung anzubeten, darf auch die lauernde Bereitschaft des „wie ein brüllender Löwe“ umhergehenden Widersachers mitgehört werden, der „sucht, wen er verschlingen kann“ (1 Petr 5,8). 1475 In Ps 15(16) in der 1. Nokturn am Karsamstag. 1476 Allein im engen Kontext der 2. und 3. Nokturn: fR 6 (tradidit), fR 7 (tradiderunt) und fR 8 (tradidit). 1477 Vgl. sL2 Plangent eum quasi unigenitum (Sach 12,10). 1478 CAO IV, 458 Nr. 7866; CAO I, 172 § 73. 1479 Auch diese Antiphon gleichen Textes findet sich nur in C. 1480 Anspielung auf Sach 2,10. <?page no="242"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 234 „die Erde … an jenem Tag“ der Endzeit klagen (in die illa planget terra Sach 12,11.12a), den auch die Kirche erwartet. Das Bekenntnis der Völker - so das Responsorium - wird dasselbe sein wie das des römischen Hauptmanns und der Soldaten unter dem Kreuz: Wie sie an den Begleitumständen des Todes Jesu (Erdbeben, zerberstende Felsen, sich öffnende Gräber) seine Gottheit erkannt haben, so wird es auch mit dem „Zeichen des Menschensohnes am Himmel“ (Mt 24,30) sein, und die Völker werden sagen: „Wahrhaftig, er war Gottes Sohn! “ (Mt 27,54) Der Vers In humilitate rezipiert Jes 53,8a aus dem vierten Gottesknechttext in der Textversion der LXX 1481 , ersetzt aber die Verurteilung des Knechtes (iudicium eius) durch iudicium Dei. Nichtig (sublatum est) ist das Urteil der Menschen über den, der Gott war/ ist (gen. obj.); und: Gott hat seinen Richtspruch (über den Menschen) in der Erniedrigung seines Knechtes aufgehoben (gen. subj.). In C als einzigem Textzeugen im CAO steht als letztes Responsorium zur 3. Nokturn: fR 12 1482 Principes sacerdotum Mt 26,3* concilium fecerunt, ut Iesum dolo tenerent et occiderent. Dicebant autem: non in die festo, ne forte tumultus fieret in populo. Mt 26,4f V Omnes inimici mei adversus me cogitabant mala mihi, verbum iniquum mandaverunt adversum me. Ps 40(41),8b.9a = V in dR 5 = V A in fR 10 *Ut Iesum. fR 12 Die Hohepriester hielten Rat, wie sie Jesus mit einer List fassen und töten könnten. Sie sagten aber: nicht am Festtag, damit es im Volk keinen Aufruhr gibt. V Alle meine Feinde planten Böses gegen mich. Unrechte Rede gaben sie gegen mich in Auftrag. *Wie (sie) Jesus. Dieses Responsorium zitiert aus der Passion nach Matthäus und greift auf einen bereits bekannten Vers zurück. Einzig neu ist die politisch motivierte Sorge der Verantwortlichen, Jesus noch vor dem Feiertag zu verhaften, da sonst eine Volkserhebung zu befürchten wäre. Auch der römische Codex E nennt neben fR 1 -fR 9 zwei überzählige Responsorien; von den Quellen des CAO nur in E belegt ist dieses: 1483 fR 13 1484 Vadis propitiatus ad immolandum pro omnibus. vgl. 1 Kor 5,7; Röm 3,25 vgl. 1 Joh 2,2; 4,10 Non tibi occurrit Petrus, qui dicebat: Pro te moriar. vgl. Mt 26,35 Reliquit te Thomas, qui clamabat dicens: Omnes cum eo moriamur. vgl. Joh 11,16 Sed nullus ex ipsis, nisi solus duceris, qui castam me conservasti, Filius et Deus meus. V Venite et videte Deum et hominem pendentem in cruce. vgl. Ecce lignum 1485 *Qui castam. 1481 Rezipert in Apg 8,33; vgl. dDiv2; siehe oben Kapitel 1.3.1.1. 1482 CAO IV 357 Nr. 7434; CAO I, 172 § 73. 1483 In OR 50,27,38 (SSL 29, 253 A NDRIEU ) singt man dieses Responsorium zur Kreuzverehrung; jüngere Textzeugen aus dem 12.-14. Jh. bietet www.cantusdatabase.org.: ID 007816. 1484 CAO IV, 446 Nr. 7816; CAO I, 173 § 73. 1485 Gesang zur Kreuzverehrung: Ecce lignum crucis, in quo salus mundi pependit. Venite adoremus. <?page no="243"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 235 fR 13 Du gehst dahin, versöhnt 1486 , für alle geopfert zu werden. Es begegnet dir kein Petrus, der sagte: Ich werde für dich sterben. Verlassen hat dich Thomas, der doch ausrief: Lasst uns alle mit ihm sterben! Aber keiner von ihnen, sondern nur du allein wirst [zum Tod] geführt, der du mich keusch bewahrt hast, [mein] Sohn und mein Gott. V Kommt, und seht den Gott und Menschen am Kreuz hängen. *Der (du mich) keusch. In diesem dichterisch freien Responsorium 1487 wendet sich eine weibliche Stimme - sie ist über die Anrede filius und die Selbstbeschreibung castam als Mutter Jesu zu identifizieren 1488 -, an den, der, für alle Menschen „geopfert“, alle Menschen versöhnt hat. Sie beklagt die Abwesenheit der Jünger Jesu, namentlich Petrus und Thomas, deren wortgewaltige Bereitschaft, mit Jesus in den Tod zu gehen, sich nicht bewahrheitet. Der Verweis auf die einsame Hinwegführung Jesu (nisi solus duceris) mag die Feiernden zur Selbsterkenntnis bewegen und - in Verbindung mit dem Vers - zur Betrachtung der ungeheuerlichen Kreuzigung des Menschen Jesus, der zugleich Gott ist. Diesen Gesang nach Motiven der Johannespassion bietet nur E am Karfreitag: fR 14 1489 Ingressus Pilatus cum Iesu in praetorium, vgl. Joh 18,33 tunc ait illi: a Tu es Rex Iudaeorum? Respondit: b Tu dicis quia Rex sum. c vgl. Joh 18,37 Exivit ergo Iesus de praetorio, portans d coronam et vestem purpuream. vgl. Joh 19,5 Et cum indutus fuisset, exclamaverunt e omnes: Crucifigatur, quia Filium Dei se fecit. vgl. Joh 19,7 V Tunc ait illis Pilatus: Regem vestrum crucifigam? Responderunt f pontfices: g Regem non habemus nisi Caesarem. vgl. Joh 19,15 *Et cum. (BR) *Et clamabant. (E) E: am Karfreitag B: am Mittwoch der Hohen Woche R: Vespern vor Palmsonntag und Gründonnerstag a - E + et dixit ei b - E: respondens c - E + ego d - E + spineam e - E: purpuream qua indutus fuerat, et clamabant f - E: Respondentes g - R: pontifices fehlt; B: pontifices als Randnotiz fR 12 Pilatus ging mit Jesus ins Praetorium, dann sagte er zu ihm: Du bist der König der Juden? Er antwortete: Du sagst es, denn ich bin (ein) König. Jesu ging also aus dem Praetorium hinaus; er trug eine (Dornen-) Krone und ein purpurrotes Gewand. 1486 Dass Christus „versöhnt“ sei, ist in dieser Form keine biblische Aussage. Röm 3,25 ; 1 Joh 2,2; 4,10 bezeichnen ihn als „Versöhnung“. 1487 Der Text ist von dem byzantinischen Hymnendichter Romanos dem Meloden († Mitte 6. Jh.) inspiriert: H ESBERT , CAO IV, 446, mit Verweis auf ältere Literatur. 1488 Bei der Vorlage Canticum de virgine juxta crucem handelt es sich um eine Klage Mariens unter dem Kreuz, in der sie ihren Sohn, den Logos, bittet, ihr ein Wort zu schenken: Da verbum mihi, o Verbum, ne silentio me praetermittas, qui castam servasti me, filius ac Deus meus. (Analecta Sacra I, 101 P ITRA ). 1489 Ebd. 242 Nr. 6966; CAO I, 173 § 73; in R in den Vespern vor Palmsonntag CAO II, 290 § 67c und Gründonnerstag ebd. 302 § 72a; in B am Mittwoch der Hohen Woche CAO I, 166 § 71. <?page no="244"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 236 Und als er es angelegt hatte, schrieen alle: Er soll gekreuzigt werden, denn er hat sich selbst zum Sohn Gottes gemacht. V Darauf sagte Pilatus zu ihnen: Euren König soll ich kreuzigen? Die Priester antworteten: Wir haben keinen König außer dem Kaiser. *Und als. [*Und schrieen.] Die Paraphrase der johanneischen Passionserzählung bringt das von Pilatus geforderte Todesurteil zur Sprache. Es hängt an der Frage des Königtums Jesu: für Jesus die Wahrheit, für die Priesterschaft ein religiöser Skandal, für Pilatus eine politische Gefahr, bleibt dessen Entscheidung hier noch offen. Nur die römische Quelle V bietet zur 3. Nokturn zusätzlich das Responsorium: fR 15 1490 Multa egerunt Iudaei adversum Iesum a : Tradiderunt illum Pilato praesidi, Mt 27,2b crucifixerunt illum cum duobus latronibus. vgl. Joh 19,18 vgl. Apg 5,30; Lk 23,32 Confessus est latro: Novi te, Domine, ne perdas me propter mala quae egi, antequam spiritus meus exeat; iube delere peccata mea, quando te oportet iudicare duodecim nationes Israel. V Et respondens Iesus ad latronem, dixit: Amen, vgl. Lk 23,43a amen, dico tibi, hodie mecum eris in paradiso. Lk 23,43b *Confessus. a - auch: Iesus fR 15 Vieles haben die Juden gegen Jesus betrieben: Sie lieferten ihn dem Statthalter Pilatus aus, sie haben ihn mit zwei Verbrechern gekreuzigt. Der Räuber hat eingestanden: Ich habe dich erkannt, Herr, verdirb mich nicht des Bösen wegen, das ich getan habe, bevor ich mein Leben aushauche; befiehl, meine Sünden zu tilgen, (dann,) wenn du die zwölf Stämme Israels richten sollst. V Und Jesus antwortete dem Räuber: Amen, amen, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein. *Eingestanden hat. Das Responsorium stellt zunächst die hauptsächliche Schuld „der Juden“ am Kreuzestod Jesu fest (tradiderunt, crucifixerunt). Im Hauptteil erweitet es die im Lukasevangelium überlieferte Bitte des mitgekreuzigten Räubers zum quasi liturgischen Schuldbekenntnis samt Vergebungsbitte. Der biblische Vers zitiert die Zusage Jesu gemäß Lukas. Nur L bietet für die 2. Nokturn zwei Responsorien, die andere Quellen häufiger dem Palmsonntag (inklusive Vorabend) zuordnen; anstelle von fR 5 Tenebrae bringt L nach der 5. Lesung: fR 16 1491 Circumdederunt me viri mendaces, sine causa flagellis ceciderunt a me; vgl. Mt 27,26-28 sed tu, Domine defensor, vindica me. V Quoniam tribulatio proxima est, et non est qui adiuvet. Ps 21(22),12 *Sed tu. 1490 CAO IV, 296 Nr. 7185; CAO I, 173 § 73. 1491 CAO IV, 73 Nr. 6287; CAO II, 313 § 73; Passionssonntag/ Samstag vor Palmsonntag: CAO I, 154 § 66a; ebd. 160 § 67b; CAO II, 280 § 65b; ebd. 290 § 67c; Palmsonntag: CAO I, 161 § 68a; CAO II, 291 § 68a; ebd. 296 § 68d. <?page no="245"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 237 R, B: Vorabend Passionssonntag G, B, D: Samstag vor Palmsonntag E, M, V, H, D, S: Palmsonntag S: Vorabend Gründonnerstag a - S: ciciderunt (sic) fR 16 Verlogene Männer haben mich umringt und grundlos mit Geißeln geschlagen; aber du Herr (und) Beschützer, räche mich. V Denn die Drangsal ist nahe und niemand ist da, der hilft. *Aber du. Hier wird die Enge um Jesus spürbar: bedrängt und misshandelt ruft er Gott um Schutz an; mit Ps 21(22),7 bringt er seine Not und Verlassenheit ins Wort. Als zweite Eigenheit verschiebt L fR 6 Barabbas in die 1. Nokturn und bringt stattdessen nach der 6. Lesung einen ebenfalls am Palmsonntag breit belegten Gesang: fR 17 1492 Opprobrium factus sum nimis a inimicis meis; b viderunt me et moverunt capita sua. Ps 108(109),25 illis Adiuva me, Domine, Deus meus. Ps 108(109),26a V A Persequar inimicos meos et comprehendam illos, c et non convertar donec deficient. (CGBEVHRL) Ps 17(18),38 *Adiuva. (CGBEVRL) *Viderunt. (H) V B Insurrexerunt in me viri iniqui Ps 26(27),12b testes 1493 = f1N3* absque misericordia. (F) vgl. fR 10 (V B) *Adiuva. V C Locuti sunt adversum me lingua dolosa, et sermonibus odii circumdederunt me. (S) Ps 108(109),3ab = fv4 *Adiuva. C, G, B, V, H, R, F, S: am Palmsonntag E: am Dienstag der Hohen Woche L: am Karfreitag a - F: nimis fehlt b - E, L: inimici mei c - V: bis hierher; B: eos fR 17 Zur Schande bin ich meinen Feinden geworden; sie haben mich gesehen und ihren Kopf geschüttelt. Hilf mir, Herr, mein Gott! V A Ich werde meine Feinde verfolgen, sie ergreifen und nicht umkehren, bis sie weg sind. *Hilf. [*Sie haben gesehen.] V B Erhoben haben sich gegen mich unlautere Männer ohne Erbarmen. *Hilf. V C Sie haben gegen mich mit falscher Zunge gesprochen und mich mit hasserfüllten Reden umgeben. *Hilf. Dieser Psalmencento interpretiert die Passion Jesu in vertrauter Weise; ungewöhnlich ist die in Vers A 1494 geäußerte Aussicht auf Gerechtigkeit und den Triumph über die Feinde. Kleine Horen Im CAO findet sich nur in S eine Angabe zum Tagesoffizium. Wie am Gründonnerstag werden zur Prim, Terz, Sext und Non die ersten vier Responsorien ( dR 1 -dR 4 ) des Tages wiederholt. 1492 CAO IV, 330 Nr. 7325 § 73; in fast allen Quellen (C, G, B, V, H, R, F, S) am Palmsonntag CAO I, 160f § 68a; CAO II, 292 § 68b; E am Mittwoch der Hohen Woche CAO I, 165 § 70. 1493 Vgl. Ps 85(86),14a Deus iniqui insurrexerunt super me. 1494 Ps 17(18) spielt liturgisch sonst keine herausragende Rolle. <?page no="246"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 238 Die Versikel am Karfreitag sind erwartungsgemäß stark passionsbezogen; ein Einzelfall bleibt die soteriologische Deutung aus Röm 8,32. Die für diesen Tag gewählten Schriftlesungen der Vigil (Klgl 2-3 und Hebr 4-5) haben als ein gemeinsames Thema die Aufhebung der untauglich gewordenen religiöskultischen Institution. Die augustinische Homilie entfaltet anhand der bei Matthäus tradierten Selbstverfluchung der Menge, dass nicht nur Jesus Opfer der menschlichen Bosheit wird, sondern der Mensch sich dadurch selbst zu Fall bringt, und mahnt seine Hörer zur kritischen Selbsterkenntnis. In den meisten Responsorien - sie sind v. a. von den Passionserzählungen und vom Ijob-Buch inspiriert - brechen etliche Gegensätze auf: Licht/ Finsternis, Freigabe des Verbrechers/ Gefangennahme und Verurteilung des Guten, selbstverschuldetes/ unschuldiges Leid, Leiden unter Fremden/ Freunden; aber auch die selten einmütige Auflehung aller gegen den Herrn sowie dessen Bitterkeit über seine Erwählten kommt zum Ausdruck. Wie am Vortag (Judas) widmen sich einige überzählige Gesänge weiteren Einzelgestalten der Passion (Petrus, Pilatus, Räuber, andere Apostel). Die Rezeption im Breviarium Romanum 1568 Das Breviarium Romanum 1568 übernimmt am Karfreitag 1495 fast überall die Mehrheitstraditionen beider Cursus. Dennoch verändern einerseits die exakt perikopierten Lesungen, andererseits bestimmte, teils neue Verse die intertextuellen Bezüge und theologischen Implikationen der Responsorien. Erste Nokturn Die 1. Nokturn am Karfreitag bringt die drei Psalmen 2, 21(22) und 26(27). Der traditionelle Versikel wiederholt die 2. Antiphon: f1Nv = fv1 V Diviserunt sibi vestimenta mea Ps 21(22),19 = f1N2 R Et super vestem meam miserunt sortem. V Geteilt haben sie unter sich meine Kleider. R Und über mein Gewand das Los geworfen. Die Vigillesungen setzen die Lamentationen fort. 1496 Im Text der 1. Lesung von „Heth bis Lamech (sic)“ ( Klgl 2,8-12 ) dominiert das am Vortag genannte Motiv der Zerstörung des Heiligtums, das (über das Stichwort „Hand“) weitergeführt wird: „Zu schleifen plante der Herr die Mauer der Tochter Zion … und zog nicht die Hand zurück vom Vertilgen.“ (V. 8ab). Einige städtebauliche Begriffe (Wall, Mauer, Tore, Riegel) und Bildworte für ,unten‘ (Boden, Staub, Erde) führen das Ausmaß der Vernichtung der buchstäblich am Boden zerstörten Tochter Zion vor Augen. Was an ihr geschieht, kommt in einer Dynamik nach unten zum Ausdruck: schleifen, niedersinken, zerbrechen, am Boden sitzen, zu Boden senken, verstummen, ermatten, zusammenbrechen, ausgeschüttet sein; eindrucksvoll auch die Ausdrucksformen ihrer Trauer: Tränen, Staub auf dem Haupt, Trauerkleider, gesenkter Kopf und Blick. In der Szene sind viele versammelt: Könige, Fürsten, Völker und Propheten, die Tochter Zion und ihre Ältesten, Kind und Säugling mit ihren Müttern; nur JHWH ist fern. Er gibt keine Weisung, keine Offenbarung, keine Aussicht: nah ist er lediglich in all dem, was von seiner Hand (durch die Handgreiflichkeit der Feinde) erlitten werden muss. 1495 BR 1568, 351-355 (MLCT 3, 381-385 S ODI / T RIACCA ). 1496 Setzt aber an einer neuen Stelle ein; zwischen dem letzten Abschnitt am Gründonnerstag und dieser Lesung entfallen die Verse Klgl 1,16-22. <?page no="247"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 239 Auf die 1. Lesung folgt die Klage des Gekreuzigten im Responsorium fR 1 Omnes amici mei, jedoch mit V Inter iniquos proiecerunt me, et non pepercerunt animae meae 1497 und *Et. „Sie haben nicht verschont“ ist das Ergebnis der sich steigernden Aggression gegen das Leben des Gerechten (anima mea). 1498 Was das Responsorium hier als unseliges Treiben der Feinde resümiert (non pepercerunt), sagt die erste Laudesantiphon desselben Tages als Handeln Gottes aus: 1499 Er hat den eigenen Sohn nicht verschont (non pepercit), sondern für uns hingegeben. 1500 (Röm 8,32) Die 2. Lesung „Mem bis Sade“ (Fortsetzung: Klgl 2,13-18) sucht vergeblich Trostworte für die zu Tode Erschöpfte (V. 12f): ihre Propheten wussten, „nur Lug und Trug … Trug und Verführung“ (V. 14) zu künden, nicht aber die Schuld des Volkes aufzudecken; die Zuschauer „reißen ihr Maul auf“ und triumphieren lauthals (V. 15f); der Herr hat seinen Drohspruch vollzogen (V. 17) - dennoch: zu ihm allein kann Zion schreien, weinen und stöhnen (V. 18). Es folgt das Responsorium fR 2 Velum templi mit dem im CAO nur einfach bezeugten Vers C: Petrae scissae sunt, et monumenta aperta sunt, et multa corpora sanctorum, qui dormierant, surrexerunt und *Et omnis. Vom ursprünglichen Dialog zwischen Jesus und dem mitgekreuzigten Straßenräuber bleibt nur dessen Bekenntnis-Bitte übrig, allerdings ohne Antwort (Lk 23,42). Die beängstigend-außergewöhnlichen Ereignisse beim Tod Jesu - zerrissener Tempelvorhang, bebende Erde, gespaltene Felsen, geöffnete Gräber, auferstandene Entschlafene (Mt 27,51f) bilden jetzt den Hauptteil des Textes. Auch die in der Lesung (infolge der Kürzung) stärkere Konzentration auf bestimmte Aspekte verändert die Relation des Textes zu seinem Responsorium. Das physische und moralische Ende der Tochter Zion - todgeweiht und dem sich empörenden, überheblichen Gespött der Vorüberkommenden ausgeliefert - hat deutliche Ähnlichkeiten mit dem Szenario der Hinrichtung Jesu. 1501 Der Unterschied - das wird im Responsorium stärker betont als früher - liegt in den ungewöhnlichen Begleitumständen des Sterbens Jesu, die den Zugrundegerichteten als den „Herrn“ offenbaren. Von allen, die das sehen und erleben, trifft dennoch nur einen, den Verbrecher, die rettende Einsicht. 1502 Die 3. Lesung „Aleph bis Daleth“ (Neuanfang bei: Klgl 3,1-12 ) bringt den ersten Abschnitt aus dem dritten Klagelied. Darin erhebt nun eine männliche Gestalt Klage: JHWH hat ihn verfolgt, getrieben und gedrängt (V. 2), ausgezehrt und zerbrochen (V. 4), in der Finsternis eingeschlossen und verriegelt (V. 5.7.9), nahezu lebendig begraben - stumm und ohne jede Antwort auf sein Rufen (V. 8). Ein anderes Bild beschreibt die Jagd Gottes wie Raubtier und Jäger auf den Leidenden (V. 10-12). 1497 In der älteren Tradition gehört dieser Vers zu fR 7 . 1498 Vgl. die Prädikate in den meisten Antiphonen des Tages: Adstiterunt, convenerunt, insurrexerunt sowie quaerebant, quaerunt ut auferant, quaesierunt, occupaverunt animam meam in der 2. und 3. Nokturn am Karfreitag. 1499 Ähnliches geschieht in der theologischen Reflexion der Klagelieder. 1500 fL1 Proprio filio suo non pepercit Dominus sed pro nobis tradidit illum. 1501 Der Unterschied und zugleich die Gemeinsamkeit der Ursache ihres Leidens wurde bereits deutlich (vgl. 1. Lesung und dR 1 ). 1502 Bei Matthäus übernimmt der römische Hauptmann eine ähnliche Rolle (Mt 27,54). <?page no="248"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 240 Das Responsorium fR 3 Vinea mea hält dem menschlichen Jammer die Klage Gottes entgegen. Neu ist der (in den älteren behandelten Quellen nicht belegte) Vers: V Sepivi te, et lapides elegi ex te, et aedificavi turrim. Jes 5,2 V Ich habe dich eingezäunt, die Steine aus dir entfernt und (dir) einen Turm errichtet. [*Wie bist du.] Die Lesung schildert die von Gott verhängten Leiden; das Responsorium erzählt, wie es dazu kommen konnte, und von der enttäuschten Liebesbeziehung JHWHs zu seinem Volk. Durch den neuen Vers wird ein zweiter Referenztext 1503 erkennbar: Das „Weinberglied“ (Jes 5,1-7) erinnert an die sorgfältige Pflege (pflanzen, schützen, entsteinen, befestigen), die Gott seiner „Edelrebe“ (V. 2) angedeihen ließ; als der erwählte Weinstock trotzdem nur saure Beeren statt süßer Trauben hervorbringt (Jes 5,2c.4b) - sich verwandelt und bitter wird (conversa es in amaritudinem 1504 ) -, gibt JHWH ihn der Plünderung und Verödung preis. Unschwer ist in beiden Sprechern - dem Klagenden und dem Ankläger - vox Christi hörbar. Stärker als bisher tritt in beiden Texten das gemeinsame Motiv der „Finsternis“ hervor: explizit im Lesungstext (Klgl 3,2.6), implizit im weiteren Kontext des Weinbergliedes 1505 . Zweite Nokturn Auf die Psalmen 37(38), 39(40) und 53(54) der 2. Nokturn folgt der Versikel: f2Nv = fv2 V Insurrexerunt in me testes iniqui. Ps 26(27),12 = f1N3 R Et mentita est iniquitas sibi. V Erhoben haben sich gegen mich falsche Zeugen. R Und die Ungerechtigkeit hat sich selbst belogen. Die für die 2. Nokturn zusammengestellten Psalmen bringen in permanenter Steigerung die Gewalttätigkeit der Angreifer zum Ausdruck. 1506 Der Versikel greift auf eine Antiphon der 3. Nokturn vor. Sie weiß, dass die forcierte Aggression sich nur auf Lüge und Betrug gründet, die sich selbst überführen werden. Die 4. bis 6. Lesung stammen aus dem Psalmentraktat von Augustinus zu Ps 63(64),2 1507 protexisti me a conventu malignantium a multitudine operantium iniquitatem (V. 3 in heutiger Zählung), den die älteren Quellen schon für den Gründonnerstag vorsehen. Die 4. Lesung erhellt das darin anklingende Leiden vieler Märtyrer im Licht Christi, des caput martyrum. Der Menschensohn und Sohn Gottes, der die Macht hat, sein Leben hinzugeben und es wieder zu nehmen, ermutigt durch sein Wort und Beispiel: Protectus est a multitudine malignantium, protegente se Deo, protegente carnem suam ipso filio, et homine quem gerebat; quia Filius hominis est, et Filius Dei est; Filius Dei propter for- 1503 Bisher Jer 2,21. 1504 Vgl. die Verwandlung in den „Wildling“ und „entarteten Weinstock“ in Jer 2,21. 1505 Jes 5,1-7 ist die Einleitung zu einer größeren Komposition, zu der auch das „Gedicht von der [zum Gericht] ausgestreckten Hand“ JHWHs (Jes 5,25-29; 9,7-20; [10,4]) und das Motiv des Dunkels (Jes 5,30; 8,22) gehören; nach Z ENGER , AT 1399. Das Motiv der „Hand“ und der „Finsternis“ sind auch in den hier untersuchten Texten von Bedeutung. 1506 Nur die zweite Antiphon f2N2 (und ähnlich Versikel d1Nv) hofft auf den Untergang der Gewalttäter. 1507 CChr.SL 39, 809,1-12; 809,12-810,28; 810,4-25 D EKKERS . <?page no="249"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 241 mam Dei, Filius hominis propter formam servi, habens in potestate ponere animam suam, et recipere eam. Quid ei potuerunt facere inimici? (Enarr. in ps. LXIII,3) 1508 Im üblichen Responsorium fR 4 Tamquam übernimmt das BR 1568 den seltener belegten Vers B Cumque iniecissent manus in Iesum, et tenuissent eum, dixit ad eos mit den Repetenda *Quotidie. Gegenüber der älteren Tradition treten hier die Leidensangst und Gottesfurcht des Menschen Jesu zurück hinter seiner Macht als Gottessohn, dem Feinde nichts anhaben können (Lesung); Vers B artukuliert nur mehr den faktischen Schritt von non me tenuistis zu tenuissent eum; der Hinweis auf die Schriftgemäßheit des Leidens Jesu (Vers A) unterbleibt. Die 5. Lesung (weitere Psalm- Auslegung zu V. 2[3]) behandelt den Undank der „Schar der Bösen“, die Augustinus einfachhin mit „den Juden“ identifiziert (malignantium Iudaeorum): Sie hätten „wie im Fieberwahn“ (febre phrenetici) beschlossen, die zahllosen guten Taten des Heilands (medicus), der ihnen mehr missfiel als ihre eigenen Laster, „grausam“ und mit „einem ehrlosen Tod“ zu vergelten - nicht nur „um seine Geduld zu erproben“ (vgl. Weish 2,18-20), sondern um zu sehen, ob er sterben würde wie ein Mensch oder ob er doch größer sei als sie und von Gott gerettet würde: Pertulit omnes infirmos eorum, curavit omnes languidos eorum, praedicavit regnum caelorum; non tacuit vitia eorum, ut ipsa potius eis displicerent, non medicus a quo sanabantur; his omnibus curationibus eius ingrati, tamquam multa febri phrenetici, insanientes in medicum qui venerat curare eos, excogitaverunt consilium perdendi eum; tamquam ibi volentes probare utrum vere homo sit qui mori possit, an aliquid super homines sit, et mori se non permittat. (Enarr. in ps. LXIII,3) 1509 Darauf singt man das Responsorium fR 5 Tenebrae ; allerdings mit einem neuen Vers: V Exclamans Iesus voce magna, ait: Lk 23,46a Pater in manus tuas commendo spiritum meum. Lk 23,46b (< Ps 30[31],6a) V Jesus schrie mit lauter Stimme (und sagte): Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist. [*Und er neigte.] Das sehr dramatische Responsorium zitiert aus den Passionen nach Matthäus und Johannes. „Finsternis“ ist ein Leitmotiv in den Texten und Gesängen des Tages. 1510 Der neue Vers führt die Sterbeworte Jesu nach der lukanischen Tradition (Ps 30[31],6a in Lk 23,46a) ein und macht das Responsorium zur Evangelienharmonie, in der Jesu verzweifelt-verlassener Todesschrei (Ps 21[22],2 in Mt 27,46) nicht sein letztes Wort ist. Fast friedlich wirkt jetzt das Detail des sich im Sterben neigenden Hauptes Jesu (Joh 19,30) in den Repetenda. Die beiden vorausgehenden Lesungen haben die Frage nach der Gottheit Jesu aufgeworfen und ausdrücklich bejaht. Das Responsorium bestätigt die göttliche Souveränität selbst in der Todesstunde. Die 6. Lesung (ein etwas längerer Abschnitt des augustinischen Psalmentraktats zum Folgevers 3[4] ) entfaltet - teils in direkter Anrede Et vos, o Iudaei occidistis 1511 - eine Kollektivschuld des jüdischen Volkes an der Ermordung Jesu: Seine Tatwaffe sei die zum Schwert angespitzte Zunge gewesen, mit der es die Kreuzigung Jesu gefordert und Pilatus gezwungen habe, ihn zu verurteilen. Im Vergleich zu ihnen erscheint Pilatus als beinahe unschuldig (innocentior). Das letzte Responsorium der 2. Nokturn ist außergewöhnlich: fR 6(BR) = fR 10 Animam meam dilectam mit dem weniger häufig belegten Vers B Insurrexerunt in me absque 1508 Ebd. 809,5-10. 1509 Ebd. 809,17-810,24. 1510 Vgl. die dritte Lesung der Karfreitagsvigil. 1511 CChr.SL 39, 810,4,22 D EKKERS . <?page no="250"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 242 misericordia, et non pepercerunt animae meae und *Quia non. Besser als das frühere Mehrheitsresponsorium fR 6 Barabbas latro, das Judas als treibende Kraft des Verbrechens präsentiert (tradidit), passt es zum Duktus der 2. Nokturn im BR 1568: Es beschreibt die Hingabe Jesu als vollmächtiges und einvernehmliches Handeln von Vater und Sohn (tradidi). Dritte Nokturn Auf die drei Psalmen 58(59), 87(88) und 93(94) der 3. Nokturn folgt der Versikel: f3Nv = fv4 V Locuti sunt adversum me lingua dolosa. Ps 108(109),3 R Et sermonibus odii circumdederunt me. Et expugnaverunt me gratis. vgl. Ps 119(120),7b V Sie haben gegen mich mit falscher Zunge gesprochen. R Und mich mit hasserfüllten Reden umgeben. Und sie haben mich grundlos bekämpft. Gegenüber der Tradition ist das Responsum um den Stichos V. 3c erweitert, was die Unbotmäßigkeit des feindlichen Handelns noch unterstreicht. Die drei letzten Vigilpsalmen und -antiphonen am Karfreitag vermitteln Nähe und Ferne als gleichermaßen beängstigend: Die Angreifer kommen tödlich nahe, die Vertrauten und Freunde sind unerreichbar entzogen, jede Gemeinschaft ist zerstört. Obwohl physisch noch am Leben, erfährt sich das Opfer bereits „zu den Toten hinweggerafft“ (Ps 87[88],6), wo jede Hoffnung endet. Wie der Versikel zur 2. Nokturn enthält auch dieser einen Begriff aus dem Wortfeld „Lüge und Meineid (sprechen)“ (locuti sunt lingua dolosa); die Intrige ist ebenso sehr Selbstbetrug (mentita est sibi) wie haltlos (gratis); doch die Werkzeuge des Mundes - Lippen, Zunge, Rede - sind die eigentlich gefährlichen Waffen des Menschen. Zuletzt hat das die 6. Lesung zu Ps 63(64),3(4) dargelegt. „Das Wort“ ist freilich auch die Kraft Gottes. Davon ist in den letzten drei Lesungen der Karfreitagsvigil (Hebr 4-5) unter anderem die Rede. Die 7. Lesung Hebr 4,1-16 ist gegenüber der älteren Perikope (ab V. 11) eine Erweiterung; man liest nun das ganze Kapitel. So wird einerseits deutlicher, worin die Verheißung der „Ruhe Gottes“ 1512 besteht; im Kontext der antijüdisch zugespitzten Ausführungen allerdings auch, wer diejenigen sind, denen Gott „in seinem Zorn geschworen“ hat, dass sie „nicht hineingelangen sollen“ (V. 3.5); die Unterscheidung des Hebräerbriefes zwischen „jenen“ (Juden), die „früher die Freudenbotschaft empfangen haben, wegen ihres Ungehorsams [aber] nicht hineingekommen sind“ (V. 2.6) und „einigen“, die sich „also darum bemühen sollen“ (vgl. V. 11), erscheint schärfer. Jenes Wort, das jedes Geschöpf bis auf den Grund durchdringt und dem „wir Rechenschaft schulden“ (V. 13) identifiziert die Kirche mit dem in Christus Mensch gewordenen logos Gottes; 1513 derselbe Christus, in dem wir schwache und versuchbare Menschen „einen erhabenen Hohenpriester“ haben, der mitgefühlt hat, ohne zu sündigen, ist der Grund unserer Hoffnung: „Lasst uns also voll Zuversicht hingehen zum Thron der Gnade, damit wir Erbarmen und Gnade finden und so Hilfe erlangen zur rechten Zeit.“ (V. 14-16) 1514 1512 Das Motiv der „Ruhe (Gottes)“ kehrt am Karsamstag als zentrales Deutemotiv des Todes Jesu wieder. 1513 Vgl. Joh 1,3. 1514 Jesu Mitgefühl steht in krassem Gegensatz zum fehlenden Erbarmen seiner Verfolger in fR 6 . <?page no="251"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 243 Darauf singt man das übliche Responsorium fR 7 Tradiderunt me , auch hier mit dem nur einmal im CAO belegten Vers B Alieni insurrexerunt adversum me, et fortes quaesierunt animam meam. *Et sicut. 1515 Wieder spricht Christus in der 1. Person, aber am Zug sind diejenigen, die Jesus ausgeliefert haben (tradiderunt me): „Sie“ geben den Schuldlosen in die Hände der Gottlosen und (ver)werfen ihn unter die Sünder (manus iniquorum, inter iniquos); eine Übermacht - Starke/ Mächtige und Fremde (dreimal fortes, alieni) - ist gegen mich aufgestanden; sie hat sich gegen mich (zweimal adversum me, zweimal contra me) erhoben und mein Leben gefordert (quaesierunt animam meam). Im Bild einer aus den Mächtigen (des eigenen Volkes) und den Fremden ( den ,Heiden‘) gebildeten Streitmacht (sicut gigantes) sind ehemalige Gegner vereint. In erklärter Feindschaft gegenüber dem Gerechten machen sie gemeinsame Sache. 1516 Hier liegt der Schuld-Akzent nicht mehr primär oder gar ausschließlich auf „den Juden“, sondern schließt „die Fremden“ ein: „Sie“ (alle) haben „mich augeliefert“ (tradiderunt). 1517 Der 8. Lesungsabschnitt ( Hebr 5,1-7 ) erläutert den priesterlichen Opferdienst als Heilsinstitut Gottes: Israels Priester „aus den Menschen“ und „der Schwachheit unterworfen“, haben Verständnis für die Schwachen und Irrenden und bringen Sündopfer zur Versöhnung für sie und für sich selbst dar (V. 2) - doch niemals „eigenmächtig, sondern … von Gott berufen“ (V. 4). So verdankt sich auch das Paschamysterium Christi (Jesu Leben, Leiden, Sterben und seine Vollendung) einzig dem Wirken Gottes (V. 5- 7) - mögen die Feinde noch so mächtig scheinen. Der Rückgriff auf Ps 2 und Ps 109(110) macht die alleinige Berufung Jesu zum endgültigen Heilsmittler durch Gott deutlich: Er ist „mein Sohn, heute gezeugt“ (vgl. Ps 2,7 und Ps 109[110],3) und „Priester auf ewig nach der Ordnung Melchisedeks“ (Ps 109[110],4). Darauf antwortet das Responsorium fR 8 Iesum tradidit einmal mehr mit dem selteneren Vers B Adduxerunt eum autem ad Caiapham principem sacerdotum, ubi Scribae et Pharisaei convenerant und den Repetenda *Petrus , ernüchternd: Es beklagt nicht nur den Verrat eines einzelnen (tradidit impius), sondern macht das Versagen aller von Gott „aus den Menschen“ berufenen Priester offensichtlich. Die 9. und letzte Perikope am Karfreitag ( Hebr 5,8-14 ) deckt zuletzt den Anteil Christi am Heilsplan Gottes auf. Um zur Vollendung zu führen, muss der von Gott eröffnete Heilsweg zur Gänze gegangen werden: zuerst in dem „unter Leiden gelernten“ (vgl. V. 8) Gehorsam des Sohnes, dann im Glaubensgehorsam derer, für die er „Urheber des ewigen Heils geworden“ ist. 1518 Dem Hebräerbrief zufolge sind das „alle, die ihm gehorchen“ (V. 9). Die das Kapitel 5 abschließenden Verse wenden den Blick zurück auf 1515 Die Verse unterscheiden sich durch die Handelnden: reges terrae et principes (V A); alieni et fortes (V B). 1516 Vgl. die neue Freundschaft zwischen den Vollstreckern „An diesem Tag wurden Herodes und Pilatus Freunde; vorher waren sie Feinde gewesen.“ (Lk 23,12). 1517 Vgl. das Fazit des Paulus „Alle haben gesündigt und die Herrlichkeit Gottes verloren.“ (Röm 3,23); seine Schilderung liest sich wie ein Kommentar zu den bisherigen Beobachtungen „… wie es in der Schrift heißt: Es gibt keinen, der gerecht ist, auch nicht einen; es gibt keinen Verständigen, keinen, der Gott sucht. Alle sind abtrünnig geworden, alle miteinander taugen nichts. Keiner tut Gutes, auch nicht ein Einziger. Ihre Kehle ist ein offenes Grab, mit ihrer Zunge betrügen sie; Schlangengift ist auf ihren Lippen.“ (Röm 3,9-14). 1518 Das ist eine Ausweitung der an Israel ergangenen Heilsverheißung „für immer und ewig“ (Jes 45,17). <?page no="252"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 244 die schwache Gemeinde, die noch keineswegs „durch Gewöhnung geübt“ ist, „Gut und Böse zu unterscheiden“ (V.14). Das zugehörige Responsorium fR 9 Caligaverunt beschreibt die „gehorsam“ erduldeten Leiden Christi, die der hohe Preis der mühsam errungenen Hoffnung sind, im Anklang an korrespondierende Schriftstellen, 1519 v. a. aber im Bild der Tränen und Schmerzen der Tochter Zion (videte si est dolor sicut dolor meus Klgl 1,12b). Die Anrede O vos omnes (V. 12a) ist im Responsum durch omnes populi ergänzt, richtet sich also nicht mehr nur an die Vorübergehenden (qui transitis per viam), sondern an „alle Völker“. Dadurch erhält der Aufruf des Responsoriums einen der Lesung entsprechenden universalen Klang. 1520 Dennoch endet der Text in einsamer Trauer: Es ist dunkel geworden - bis in die vom Weinen getrübten Augen hinein. Laudes Der Versikel nach der Laudespsalmodie greift auf den 2. Laudespsalm zurück und setzt - wie die erste Laudesantiphon einen markanten Anfangsakzent - nun einen starken theologischen Schlusspunkt: fLv V Collocavit me in obscuris. Ps 142(143),3c = sv5 R Sicut mortuos saeculi. V Er hat mich in die Finsternis gestoßen. R Wie die Toten der Vorzeit. Die Rahmenaussagen der Laudes Proprio filio suo non pepercit (fL1) - Collocavit me in obscuris (fLv) halten das abgründige Leiden des Gerechten als Gottes Handeln fest. 1521 Was Menschen - Freund und Feind, Vertraute und Fremde, das Volk und seine Anführer, Juden und Römer, Sünder und Soldaten … - verursacht haben, macht JHWH zur Grundlage für die Erlösung aller. Finsternis ist ein, vielleicht das Hauptmotiv des Karfreitags. 1522 Sie umfängt alle: Die Trauer hat das Leben des leidenden Gerechten und der Seinen verdunkelt; am Ende findet er sich im abgründigen Dunkel des Totenreichs wieder. Erst recht aber ist die Welt finster geworden; schlimmer als das Dunkel des Anfangs, herrscht jetzt die ausweglose Finsternis der Sünde und des Todes. Die Hore schließt mit Christus factus est , und man singt bis mortem autem crucis . Vesper (und Komplet) Man rezitiert (sine cantu) die Vesper vom Vortag. Im Lesungsteil des Breviarium Romanum verstärkt sich durch geringfügige Veränderungen der übernommenen Tradition 1) das Motiv der Finsternis, 2) der Vorwurf Christi an die Seinen anhand der Person des Judas in deutlich antijüdischer Zuspitzung; 3) die universale Heilsbedeutung der Leiden Christi nach dem Heilsplan Gottes. 1519 Z. B. Ps 87(88),19 über elongare (die entstandene Ferne zwischen Vertrauten und Freunden); Ps 68(69),21 und Klgl 2,12 über consolari (den vermissten Trost/ Tröster), ähnlich auch Jes 51,3.12.19; caligaverunt und a fletu erinnern an Ijob 16,17. 1520 Eine ähnliche Tendenz zeigen fR 10 (alle Welt weint), Hebr 4,13 (alle Geschöpfe schulden Rechenschaft), fR 7 (das eigene Volk und die Fremden = alle haben gesündigt). 1521 Innerhalb der Hore kommt es mehrfach als (Bitte um) sein erbarmendes Gedenken zum Ausdruck: memento mei (fL3 und fL5); misericordiae memor eris (fL4). 1522 Vgl. fR 5 und fR 9 ; sowie in tenebrosis collocavit me quasi mortuos sempiternos (Klgl 3,6) aus der 3. Vigillesung des Tages. <?page no="253"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 245 1.3.2.3 Karsamstag Das Repertoire der liturgischen Gesänge ist am Karsamstag etwas weniger variantenreich, dadurch in manchem stabiler als an den Tagen zuvor. Die Anzahl der im CAO belegten Versikel (11) und Responsorien (12) ist deutlich geringer. Die Versikel Vigil (und Laudes 1523 ) Nur vier der elf Versikel sind in den behandelten Quellen am Karsamstag häufiger als ein- oder zweimal belegt; die ersten drei (gereiht nach Häufigkeit) haben einen einigermaßen stabilen Ort im Offizium: sv1 1524 V In pace in idipsum. Ps 4,9 = s1N1 R Dormiam a et requiescam. C, B, E, M, V; H, R, D, S, L a - L: obdormiam V In Frieden. R Werde ich (ent)schlafen und ruhen. Dieser Ruf ist mit insgesamt zehn Belegen in den Handschriften beider Cursus im CAO am breitesten bezeugt; mit einer Ausnahme steht er nach der Psalmodie der 1. Nokturn (in L nach der 2. Nokturn) und wiederholt deren erste Antiphon. sv2 1525 V In pace factus est locus eius. Ps 75(76),3 = s3N2 R Et in Sion habitatio eius. a B, E; H, R, D, S, L a - B: Et habitatio eius in Sion V Im Frieden ist sein Ort (bereitet). R Und auf dem Zion seine Wohnstatt. Dieser Versikel gehört in fünf monastischen Quellen des CAO sowie im römischen Codex B zur 3. Nokturn (in E zur 2. Nokturn). Er hält das Friedensmotiv aus der ersten und aus der hier wiederholten vorletzten Vigilantiphon des Tages präsent. sv3 1526 V Tu autem, Domine, miserere mei. Ps 40(41),11 R Et resuscita me, et retribuam eis. C, B; H, R V Du aber, Herr, hab mit mir Erbarmen. R Richte mich wieder auf, und ich werde es ihnen vergelten. Wo er im CAO vorkommt, beschließt dieser Ruf die Psalmodie der 2. Nokturn. Ps 40(41) gehört nicht zur Offiziumspsalmodie der Kartage, doch greifen manche liturgische Gesänge auf ausgewählte Verse daraus zurück. 1527 Im liturgischen Kontext wird die Bitte um Aufrichtung (resuscita) zur Bitte des Gekreuzigten um - neues - Leben. 1523 Einen eigenen Laudesversikel bieten H (sv5) und R (sv9); Codex L wiederholt in den Laudes den Versikel der 1. Nokturn (sv6). 1524 CAO IV, 490 Nr. 8099 § 74. 1525 Ebd. Nr. 8089 § 74. 1526 Ebd. 502 Nr. 8225 § 74. 1527 So dv1 auf V. 10 sowie in dR 5 , fR 10 und fR 12 auf V. 8f. <?page no="254"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 246 Nur zweifach im CAO in der 2. Nokturn belegt ist dieser gleich anlautende Versikel ohne Responsum: sv4 1528 Tu autem, Domine, susceptor meus es. Ps 3,4 G, V V Du aber, Herr, bist mein Beschützer. Ps 3 ist das Klagelied eines Einzelnen. Eine Besonderheit darin ist die Nennung des Wohnsitzes JHWHs: „von seinem heiligen Berg“ her kommt dem Beter Hilfe zu (V. 5). 1529 Der Berg ist ein wiederkehrendes Motiv in der Psalmodie der Kartage 1530 und als Ort der Einwohnung Gottes - zumal im Gottesdienst der Kirche - Symbol für Christus. Auch der Schlaf, aus dem der Beter wieder erwacht, weil der Herr ihn schützt (vgl. V. 6), ist der liturgischen Hermeneutik von Ps 4,9 ähnlich. 1531 Mit vier Belegen relativ häufig im CAO belegt ist außerdem nur noch für die 3. Nokturn (in H für die Laudes) am Karsamstag der Vers: sv5 1532 Collocavit me in obscuris. a Ps 142(143),3c = fLv R Sicut mortuos saeculi. C, E, M; H a - C, E: obscuro V Er hat mich in die Finsternis gestoßen. R Wie die Toten der Vorzeit. In jeweils nur einer der verwendeten Quelle bezeugt sind weitere fünf Versikel: sv6 1533 Sepulto Domino, signatum est monumentum. vgl. Mt 27,60.66b R Volventes lapidem ad ostium monumenti. L V Nachdem der Herr bestattet war, versiegelte man das Grab. R Sie wälzten einen Stein vor den Eingang des Grabes. L setzt diesen Versikel an den Anfang (1. Nokturn) und das Ende der Nacht- und Morgenhore. Er hält in Anlehnung an das Matthäusevangelium das Faktum des Todes Jesu fest. sv7 1534 Caro mea requiescet in spe. Ps 15(16),9 = s1N3 D Mein Fleisch/ Leib wird ausruhen in Erwartung. Als Abschluss der Psalmodie der 1. Nokturn und Wiederholung deren letzter Antiphon bringt der Versikel „ruhen/ Ruhe“ als Leitmotiv des Offiziums am Karsamstag in Erinnerung. Vergleichbares gilt für diesen Versikel: 1528 Ebd. Nr. 8226 § 75. 1529 Nach Z ENGER , AT 1042. 1530 Z. B. in den Pss 2, 14(15), 15(16), 23(24), 73(74). 1531 Ps 3,6 ist denn auch eine Vigilantiphon am Ostersonntag. In der Benediktsregel steht Ps 3 außerdem jeden Tag am Beginn der Vigil. Darüber hinaus bleibt die liturgische Verwendung von Ps 3 wenig prägnant. 1532 CAO IV, 479 Nr. 7989 § 74. Trient übernimmt diesen Versikel in den Laudes am Karfreitag (BR 1568, 355 [MLCT 3, 385 S ODI / T RIACCA ]). 1533 CAO IV, 500 Nr. 8196 § 74. 1534 Ebd. 478 Nr. 7982 § 74. <?page no="255"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 247 sv8 1535 Habitabit in tabernaculo tuo. Ps 14(15),1 = s1N2 R Requiescet in monte sancto tuo. S V Er wird wohnen in deinem Zelt. R Ausruhen wird er auf deinem heiligen Berg. sv9 1536 Ne derelinquas me, Domine Deus meus. Ps 26(27),9 1537 C V Verlass mich nicht, Herr, mein Gott. Vergeblich, weil zu spät, klingt dieser Bittruf am Morgen des Karsamstags. Codex C nennt ihn an erster Stelle (vor sv1) für die 1. Nokturn. Dieser oder ein ähnlicher Wortlaut findet sich in vielen Psalmen, u. a. im Vigilpsalm Ps 26(27),9 und hält an der Hoffnung gegen den Augenschein fest. sv10 1538 O mors, ero mors tua. Hos 13,14 = sL1 R Morsus tuus ero, inferne. R V O Tod, ich werde dein Tod sein. R Dein Stachel (Biss) werde ich sein, Unterwelt. Eine vollmächtige Verheißung ist das textgeschichtlich komplexe Hosea-Zitat in der paulinischen Rezeption von 1 Kor 15,54f. Christus kündigt hier seinen Triumph über Tod und Unterwelt an. Als erste Antiphon und Versikel in den Laudes bleibt mit dem Prophetenwort eine Schlüsselaussage der Karsamstagstheologie im Gedächtnis. Kleine Horen und Vesper Die behandelten Quellen machen dazu keine Angaben, außer den Tagescursus bis zur Non cum silentio zu beten (S). 1539 Die Vigillesungen und ihre Responsorien Am Karsamstag setzt man in der Vigil die Lesung aus den Klageliedern und dem augustinischen Psalmentraktat zu Ps 63(64) fort; in der 3. Nokturn sind als neutestamentliche Lesung(en) drei Abschnitte aus dem Hebräerbrief vorgesehen. Die 1. und (mit nur einer Ausnahme) die 2. Nokturn sind in den Quellen des CAO absolut stabil; in acht der zwölf Hss auch die 3. Nokturn; die übrigen zeigen nur unerhebliche Abweichungen, fallweise eine Ergänzung. Dementsprechend beschränkt sich die Zahl der belegten Responsorien am Karsamstag auf zwölf. Erste Nokturn Die drei Lesungsabschnitte der 1. Nokturn führen nach OR 50 die Lesung de Lamentationibus Hieremiae Prophetae des Vortags weiter usque ad finem ( Klgl 3,22-5,22 ), allerdings sine pronuntiatione Aleph, Beth. 1540 1535 Ebd. 489 Nr. 8084 § 74. 1536 Ebd. 495 Nr. 8145 § 74; in H auch am Montag p. a. § 38 und im Totenoffizium § 127. 1537 Vgl. u. a. Ps 69(70),9.18. 1538 CAO IV, 496 Nr. 8156 § 74. 1539 Codex R führt keinen eigenen Vers zu den Kleinen Horen an, aber schreibt Versus ut ad Matutinum in Sancta Nocte (CAO II, 320 § 74c); in R ist mit In Sancta Nocte die Weihnachtsvigil überschrieben (ebd. 62 § 19a); sollte tatsächlich sie (und nicht die Paschavigil, die keinen Titel hat) gemeint sein, müsste der Versikel Benedictus qui venit in nomine Domini. R Deus Dominus, et illuxit nobis (Ps 117[118],126a.127a) lauten und würde das lumen Christi der Osternacht mit dem in die Welt gekommenen Licht (vgl. Joh 1,9) der Weihnacht identifizieren. <?page no="256"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 248 Die 1. Lesung ab Klgl 3,22 (vielleicht bis zum Ende des Liedes) formuliert (bis V. 24) ein „Bekenntnis, welches sich durch Zuversicht und Hoffnung auszeichnet, sodass der Beter sein Leiden in Geduld ertragen kann.“ 1541 In der anschließenden Reflexion über das Leid hält er daran fest, dass „aus des Höchsten Mund das Gute wie auch das Böse“ - dieses aber als „Folgen seiner [des Menschen] Sünden“ - hervorgeht (V. 38f). Was Not tut, sind Umkehr (V. 40) und Vertrauen auf das „jeden Morgen“ neue Erbarmen JHWHs (V. 23); schließlich der Erweis der göttlichen Gerechtigkeit auch an den Feinden (V. 66). Darauf folgt im CAO in allen Quellen das Responsorium: sR 1 1542 Sepulto Domino, signatum est monumentum, a + ° vgl. Mt 27,60.66b = + sD1 = °sV6 volventes lapidem ad b ostium c monumenti,° ponentes milites qui custodirent illud. d + V A Ne forte veniant discipuli eius et furentur eum, et dicant plebi: Surrexit a mortuis. Mt 27,64bcd *Ponentes. V B Accedentes principes sacerdotum ad Pilatum ut iuberet custodiri sepulcrum: vgl. Mt 27,64a Ite, inquit, custodite sicut scitis. vgl. Mt 27,65b Illi autem abeuntes munierunt illud. vgl. Mt 27,66a *Ponentes. a - C: signatum est nomen tuum b - V, S: ab c - M, V, S: hostio (M korr. in hostium) d - B, L: illum; M, H, R: eum sR 1 Nachdem der Herr bestattet war, versiegelte man das Grab. Sie wälzten einen Stein vor den Eingang des Grabes und stellten Soldaten hin, es zu bewachen. V A Damit nicht vielleicht seine Jünger kommen, ihn stehlen und dem Volk sagen: Er ist von den Toten auferstanden. *Sie stellten. V B Die Anführer der Priester gingen zu Pilatus, damit er befehle, dass das Grab bewacht werde. Geht, sagte dieser, und bewacht es so, wie ihr es könnt. Sie aber gingen weg und sicherten es. *Sie stellten. In dem neutestamentlichen Cento aus Mt 27,60ff setzt die Priesterschaft bei Pilatus durch, das Grab Jesu unter Verschluss zu halten; das soll eine durch Diebstahl des Leichnams vorgetäuschte ,Auferstehung‘ verhindern. Beide Texte blicken auf das Ende; beide hegen positive oder negative Erwartungen. Der Leidende des 3. Klageliedes (hier vox Christi) wartet auf die „Huld des Herrn“ (Klgl 3,22); die Feinde Jesu fürchten, dass seine Wirkung auf die Menschen auch mit seinem Tod nicht endet. Ähnlich auch der Ort des Geschehens: „Sie stürzten in die Grube mein Leben und warfen Steine auf mich.“ (Klgl 3,53) Mit etwas anderen Worten: Sepulto Domino, signatum est monumentum, volventes lapidem ad ostium monumenti … In der 2. Lesung (in etwa das vierte Klagelied oder ein Abschnitt daraus) beschreibt ein kollektives „Wir“ das Elend Zions „im Stil der Totenklage [… ] im Gegensatz von 1540 OR 50, 28,2 (SSL 29, 260f A NDRIEU ). Die drei Lesungen wären also länger als an den Vortagen, sofern keine Verse ausgelassen wurden. 1541 Z ENGER , AT 1593. 1542 CAO IV, 404 Nr. 7640; CAO I, 174f; CAO II, 316f § 74. <?page no="257"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 249 einst und jetzt“. 1543 Es trifft als Sündenstrafe Männer und Frauen, Mütter und Kinder, Priester und Propheten. Doch ist ein Ende des Gerichts über die „Tochter Zion“ ebenso absehbar (Klgl 4,22) wie das kommende Gericht über die „Tochter Edom“ (V. 21.23). Einhellig im CAO antwortet darauf das Responsorium: sR 2 1544 Ierusalem luge, et exue a te vestibus iucunditatis: b induere cinere c et d cilicio, vgl. Jer 6,26a quia in te occisus est Salvator Israel. vgl. Mt 23,37; Offb 5,9c; sL2 V A Deduc quasi torrentem e lacrimas per diem et noctem, et non taceat pupilla f oculi tui. (GDFSL) Klgl 2,18bc *Quia. (GDSL) *Induere. (F) a - C: excute b - V, L: iucunditatem c - S: cinerem (m ausradiert) d - C: cum e - G: torrens f - L: pupillam V B Ululate pastores et clamate, aspergite vos cinere. (BHR) Jer 25,34a = sD2 * Quia. V C Montes Gelboe, nec ros nec pluvia super vos descendat. (CE) 2 Sam 1,21a veniant super vos * Quia. V D Plange quasi virgo, Joel 1,8a vgl. Jer 6,26a plebs mea; ululate pastores in cinere et cilicio. (M) vgl. Joel 1,13bc * Quia. V E Plauserunt super te manibus omnes transeuntes per viam, sibilaverunt et moverunt capita sua. (V) Klgl 2,15ab * Quia. sR 2 Jerusalem, trauere und zieh das Freudengewand aus; leg Asche und Bußkleid an, *denn in dir ist der Retter Israels hingeschlachtet worden. V A Wie einen Wildbach lass die Tränen strömen bei Tag und Nacht, und es versiege nicht dein Auge (Augapfel). *Denn. V B Heult, ihr Hirten, und schreit, bedeckt euch mit Asche. *Denn. V C Ihr Berge in Gilboa, weder Tau noch Regen falle auf euch. *Denn. V D Klage wie die Jungfrau, mein Volk; heult, ihr Hirten in Asche und Bußgewand. *Denn. V E Über dich klatschten alle in die Hände, die des Weges kamen. Sie zischelten und schüttelten ihren Kopf. *Denn. Während die 2. Lesung mit einer gewissen Nüchternheit das zu ertragende Los Zions schildert und zur Geduld rät, wendet sich das Responsorium direkt an die Stadt/ das Volk (Jerusalem) und ruft sie/ es auf, Trauer und Umkehrbereitschaft lautstark und augenfällig - in Tränen, Asche und Trauer-/ Bußkleid (statt Freudengewand) - zu äußern. Grund dafür ist die „in dir“ geschehene Ermordung des „Retters Israels“ - ein Hoheits- 1543 Z ENGER , AT 1595. 1544 CAO IV, 258 Nr. 7032, CAO I, 174f; CAO II, 316f § 74. <?page no="258"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 250 titel JHWHs 1545 , der hier auf Christus übergeht. Die alternativen Verse entfalten dies, durchwegs im Rückgriff auf prophetische und andere alttestamentliche Schriftworte, in zwei Richtungen: Der Mehrheitstext und Codex V bleiben bei Klgl 2 (Vers A, Vers E). Bei den anderen Versen steht der gewaltsame Tod von Menschen im Hintergrund: In Vers B die im Gericht „vom Herrn Erschlagenen“ (V. 33), um deretwillen die Hirten Klage erheben sollen (Jer 25,34); Vers C greift auf ein Wort aus der Totenklage Davids um Saul und Jonatan (2 Sam,1) zurück, die in den Bergen Gilboas von den Philistern erschlagen wurden; verbindend zwischen Responsum und Vers ist zudem der an den Ort der Ermordung erhobene Vorwurf; Vers D zitiert aus Joel 1, dem Aufruf zu einer Bußfeier anlässlich einer über das Volk verhängten Plage (mit Anklang an Jer 6, einer ähnlich lautenden Strafandrohung JHWHs an Jerusalem); dieser Vers stellt mit dem Responsum denselben Kausal- und Verbalzusammenhang zwischen plangere und occisus est her wie die zweite Laudesantiphon am Karsamstag. 1546 Die 3. Lesung liest das fünfte und letzte Klagelied vermutlich zur Gänze, jedenfalls aber bis zum Ende Klgl 5,22. Es ruft (im Gegensatz zu Klgl 4) JHWH ausdrücklich an („Herr, denk daran …“, V. 1) und endet mit der Bitte um Zuwendung, die erst Umkehr möglich machen wird und doch ungewiss ist: „Oder hast du uns denn ganz verworfen, zürnst du uns über alle Maßen? “ (V. 22) Als 3. Responsorium findet sich in allen behandelten Quellen an dieser Stelle: sR 3 1547 Plange quasi virgo, Joel 1,8a vgl. Jer 6,26a plebs mea; ululate pastores in cinere et cilicio; vgl. Joel 1,13bc quia veniet a dies Domini, Joel 1,15a; 3,4b prope est Zef 1,14a iuxta est magna Joel 2,11c; Zef 1,14a dies Domini magnus vgl. Jer 30,7a magna dies illa et amara valde. Joel 2,11d et terribilis valde Zef 1,14c vox diei Domini amara V A Ululate pastores et clamate, aspergite vos cinere. (DGEMVDFS) Jer 25,34a = sD2 = V B in sR 2 *Quia. V B Plauserunt super te manibus b omnes transeuntes per viam, sibilaverunt et moverunt capita sua. (BHR) Klgl 2,15ab = V E in sR 2 *Quia. V C Accingite vos, sacerdotes, et plangite ministri altaris. (L) Joel 1,13a plangite sacerdotes *Quia. a - S: venient b - R + suis sR 3 Klage wie die Jungfrau, mein Volk; heult, ihr Hirten in Asche und Bußgewand. Denn kommen wird der Tag des Herrn, groß und sehr bitter. V A Heult, ihr Hirten, und schreit, bedeckt euch mit Asche. *Denn. 1545 Vgl. u. a. Jes 34,3; 45,15 und Jer 14,8. 1546 sL2 Plangent eum quasi unigenitum, quia innocens Dominus occisus est. 1547 CAO IV, 347 Nr. 7387; CAO I, 174f; CAO II, 316f § 74. <?page no="259"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 251 V B Über dich klatschten alle in die Hände, die des Weges kommen. Sie zischelten und schüttelten ihren Kopf. *Denn. V C Gürtet euch, ihr Priester, und jammert, ihr Diener des Altares. *Denn. Abgesehen vom durchgängigen Klagemotiv ist hier der „Zorn (Gottes)“ ein Lesung und Responsorium verbindendes Element: Die zweifelnde Frage am Ende der Lesung („zürnst du uns über alle Maßen? “, Klgl 5,22) erhält im Responsorium seine Antwort im Verweis auf den „Tag des Herrn“ in Zef 1: „groß“, „bitter“ (V. 14) ist er, „jener Tag des Zornes und der Bedrängnis“ 1548 (V. 15) und bereitet allen Erdenbewohnern „ein schreckliches Ende“ (V. 18). Joel 2 und 3 schildern dies Domini tröstlicher als gewaltige Epiphanie, die zur Umkehr des Volkes führt und der schließlich die Geistausgießung (Kap 3) und das Völkergericht (Kap 4) folgen. In Jer 30 wird der „Tag des Herrn“ als ausdrückliche Trost- und Rettungsverheißung an Jakob (= Gottesvolk) offenbar, der zwar gezüchtigt, aber nicht vernichtet wird wie die anderen Völker (V. 11). Je nachdem welche Prophetie mitgehört wird, schillert der „bittere Tag des Herrn“ zum Gericht zwischen Vernichtung und Rettung. In allen prophetischen Texten (Zef, Joel, Jer) werden die „Hirten“ des Volkes, die „Priester und Diener des Altares“ zur Buße aufgerufen; ihre Verantwortlichkeit für die Untreue Zions (= Jerusalems = Jakobs) lässt sich mit der Rolle der (Hohe-)Priester und religiösen Führungselite bei der Hinrichtung Jesu in Analogie bringen; zugleich finden sie ihr ,Gegenbild‘ im hohepriesterlichen Christus des Hebräerbriefs, aus dem an den Kartagen gelesen wird. 1549 Zweite Nokturn Die älteren Quellen weisen für die 2. Nokturn pauschal „zum Tag passende Väterhomilien“ an. 1550 Bezüglich der entsprechenden Responsorien stimmen alle Quellen im CAO überein. Das 4. Responsorium (zur Väterlesung) lautet: sR 4 1551 Recessit Pastor noster, vgl. Sach 10,2 quia non est eis pastor fons aquae vivae vgl. Sach 14,8a; Jer 2,13a; 17,13 Ez 47,9; Joh 7,38; Offb 21,6 ad cuius transitum a sol obscuratus b est; Lk 23,45a nam et ille captus est, vgl. Mk 3,27 qui captivum tenebat primum hominem; vgl. Hebr 2,15; 1 Kor 15,22.45 hodie portas mortis et seras pariter Salvator noster disrupit. c vgl. Klgl 2,9; Ps 106(107),10.16 portas aereas et vectes ferreos V A Ante cuius conspectum d mors fugit, e ad cuius vocem mortui f resurgunt vgl. Joh 5,25.28 mortui audient vocem Filii Dei et qui audierint vivent; 1 Thess 4,16 vgl. 1 Kor 15,15.16.29.32b videntes autem g eum, portae mortis h confractae sunt. (CGBEMVHRDS) 1548 Er hat als Text der Sequenz Dies irae dies illa Ende des 14. Jhs. Eingang in die Totenliturgie gefunden. 1549 In den Vigillesungen der 3. Nokturnen am Karfreitag und Karsamstag. 1550 Z. B. OR 50, 28,2 (SSL 29, 261 A NDRIEU ). 1551 CAO IV, 375 Nr. 7509; CAO I, 174f; CAO II, 318f § 74. <?page no="260"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 252 *Hodie. (CGBMHRS) *Et seras. (EVD) V B Destruxit quidem claustra inferni, vgl. Klgl 2,9; Ps 106(107),10.16 et subvertit potentias i diaboli. (FL) vgl. Röm 6,9; 1 Kor 15,26; Hebr 2,14; 2 Tim 1,10 *Hodie. a - L: transitu b - S: obscuratum c - G, M, L: dirupit; R: destruxit d - D: conspectu e - V: fuit f - V: mortuis = korr. g - B: autem fehlt h - R: mortis portae i - F: potentiam sR 4 Fortgegangen ist unser Hirte, der Quell lebendigen Wassers, bei dessen Hinübergang (Hindurchgang) die Sonne sich verfinstert hat; es ist nämlich auch jener gefangen genommen, der den ersten Menschen gefangen hielt; zugleich hat heute unser Erlöser die Pforten und Riegel des Todes zerbrochen. V A Vor dessen Anblick der Tod entflieht, bei dessen Stimme erheben sich die Toten; als sie ihn sahen, sind die Pforten des Todes zerbrochen. V B Er freilich hat die Riegel der Unterwelt zerstört und die Macht des Teufels gebrochen (gestürzt). Das Responsorium setzt mit dem „Fortgehen“ des Hirten (recessit pastor) ein: Die bildhafte Umschreibung des Todes Jesu eröffnet die Möglichkeit seiner Deutung als Heilsereignis. Sie greift auf das biblisch-theologische Vokabular der Befreiungserfahrung Israels im Exodus und der Propheten zurück und liest es christlich neu: „Hirt“, „(lebendiges) Wasser“, „Hinüber-/ Hindurchgang“, „Gefangenschaft“ und „Pforten und Riegel (der Unterwelt)“. In kirchlicher Relecture ist der Exodus Vorausbild des transitus Christi vom Tod zum Leben und der endgültigen Erlösung (Herausführung) des Menschen aus der Knechtschaft der Sünde und des Todes. Jesu „Rückzug“ in den Tod 1552 (recessit) ist mehr als ein Fortgehen. Es ist das Hinabsteigen in die Unterwelt, dem eigentlichen Ort der Gefangenschaft des Menschen. 1553 Indem Christus deren Befestigung (portas, seras, claustra) zerbricht, entmachtet er Tod und Teufel (subvertit potentias diaboli Vers B), schlägt ihn in die Flucht und holt die Toten zurück ins Leben (mors fugit, mortui resurgunt Vers A): Damit steht und fällt der christliche Glaube, wie Paulus im 1. Korintherbrief unermüdlich wiederholt und konsequent zu Ende denkt: „Wenn Tote nicht auferweckt werden, dann lasst uns essen und trinken; denn morgen sind wir tot.“ (1 Kor 15,32b) Das in beiden Versen (A, B) eingetragene Kampfmotiv inklusive Flucht des Todes (Vers A) beim bloßen Anblick des Kommenden stellt nicht die älteste, sondern eine bereits entfaltete Version der Descensusvorstellung dar. 1554 Dasselbe gilt von der Anspielung auf die Fesselung des Starken und sei- 1552 Der erste „Rückzug“, die Flucht seiner Eltern, führte Jesus nach „Ägypten“ (recessit in Aegyptum, Mt 2,14); von dort aus nahm der Exodus seinen Anfang und hat JHWH Mose, „den Hirten seiner Schafe, aus dem Meer herausgeführt“ (Jes 63,11). 1553 Siehe oben f3N2 und s2N1 in Kapitel 1.3.1.2 und 1.3.1.3. 1554 Sie ist auch aus der christlich-gnostischen Literatur des 2. Jhs. bekannt; in den Oden Salomos etwa heißt es: „Die Scheol sah mich und ward schwach … Füsse [sic] und Haupt wurden ihm [dem Tod, Anm. d. V.] schlaff, denn er konnte mein Antlitz nicht ertragen.“ (Ode 42,11-13), zit. nach B IEDER , Höllenfahrt 178. <?page no="261"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 253 ner Identifizierung als „Teufel“ (Vers B), wodurch der Descensus Christi ad inferos zur Höllenfahrt und das Schattenreich der Scheol zur antichristlichen und widergöttlichen Sphäre wird. 1555 Den „seit Adam“ im Tod gefangenen Menschen sind die messianischen Erlösungsverheißungen des Deutero- und des Tritojesaja zugesagt; 1556 Christus, der „den Gefesselten die Befreiung“ bringt (Jes 61,1), hat sie eingelöst. Das Wortspiel von der Gefangennahme dessen, der selbst Gefangene hielt (captus est qui captivum tenebat), enthält eine Resonanz an Mk 3,27; zudem an Ps 67(68),7 und Eph 4,8f. Dem totgleichen Sünder wird Christus also zum göttlichen „Lebensquell“ (fons aquae vivae). Die prophetische Anspielung auf das Wasser ruft etliche Assoziationen hervor: alle, die den „Quell lebendigen Wassers“, verlassen (Jer 2,13) und sich von JHWH abgewandt hatten (recendentes), „werden in den Staub geschrieben“ (Jer 17,13); doch wird zu ihnen „am Tag für den Herrn … aus Jerusalem lebendiges Wasser fließen“ (Sach 14,1.8); v. a. der Durchzug Israels durchs Schilfmeer, aber auch die Tempelquelle (Ez 47,9) weisen auf die Rettung „im Wasser“ der Taufe hin. Darin stillt Christus den Durst nach Geist und Leben (vgl. Off 21,6) und macht die Gläubigen sich ähnlich, indem sie - wie er mit Heiligem Geist erfüllt -, diesen auch „ausströmen“. (vgl. Joh 7,38f) Etliche messianisch-eschatologische Schriftworte können in (recessit) pastor noster mitgehört werden: u. a. der düstere Befund über das exilierte Gottesvolk, vertrieben und elend, weil es sich auf „nichtige Träume und leeren Trost“ von Wahrsagern verließ, „denn es hatte keinen Hirten“ (Sach 10,2); 1557 tröstlicher ist JHWHs Urteil über die schlechten Hirten und die Proklamation seines Entschlusses, sich selbst um seine Herde zu kümmern, sie zurückzuholen „von all den Orten, wohin sie sich am dunklen, düsteren Tag zerstreut haben“ (Ez 34,5.8.12) und seinen „Knecht als Hirten und Herrscher über sie“ einzusetzen (servus meus David rex super eos et pastor unus erit, V. 24a); liturgisch steht dieser den schlechten und büßenden Hirten aus sR 3 (ululate pastores) gegenüber; als der johanneische „gute Hirt“ (Joh 10,2.11.14; v. a. Joh 5,25): Die Schafe, die auf seine Stimme hören (Joh 10,16 vocem meam audient), sind die Entschlafenen, die beim Klang seiner Stimme auf(er)stehen (ad cuius vocem mortui resurgunt). In diesem Responsorium ist die gesamte Heilsgeschichte vom Sündenfall über das Gründungsereignis der Volkwerdung im Exodus und seine sakramentale Vergegenwärtigung in der Kirche bis hin zur eschatologischen Einlösung der Gerichts- und Heilsprophetien und der Auferweckung der Toten präsentisch verdichtet. 5. Responsorium (zur Väterlesung) in allen Quellen des CAO: sR 5 1558 O vos omnes qui transitis per viam, attendite et videte si est dolor similis a sicut dolor meus. Klgl 1,12ab = sL5 V Attendite, universi populi, b et videte c dolorem meum. Klgl 1,18b = sL3 *Si est. (CGBEVHRDFSL) *Sicut. (M) a - L: similis fehlt b - V: populis c - R: et videte fehlt; G, V, D, L: bis hierher; F: populi, et contemplamini (bis hierher) 1555 Vgl. ebd. 186; 181. 1556 Z. B. Jes 49,9.24f. 1557 Vgl. den Vorwurf an die Propheten des Volkes in Klgl 2,14 (Vigillesung am Karfreitag). 1558 CAO IV, 325 Nr. 7303; CAO I, 174f; CAO II, 318f § 74. <?page no="262"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 254 sR 5 O, ihr alle, die ihr des Weges kommt, merkt auf und seht, ob ein Schmerz ist wie mein Schmerz. V Merkt auf, alle Völker, und seht meinen Schmerz. Das Responsorium wiederholt zwei Laudesantiphonen aus Klgl 1 und verbindet sie zu einem Aufruf, der den Schmerz des Leidenden (Christus) und seines Volkes (Kirche) von aller Welt und als alle Welt betreffend (universal) wahrgenommen wissen will. 6. Responsorium (zur Väterlesung) in allen behandelten Quellen (mit Ausnahme von L 1559 ): sR 6 1560 Ecce quomodo moritur iustus, et nemo percipit corde; et a viri iusti tolluntur; b et nemo considerat; a facie iniquitatis ablatus c est Iustus, vgl. Jes 57,1 1561 et erit in pace memoria d eius. vgl. Ps 111(112),7a V A In pace factus est locus eius, et in Sion habitatio eius. (CGBEMVHRDFS) Ps 75(76),3 = s3N2 = sv2 1562 *Et erit. V B Tamquam agnus tondentes se e obmutuit, et non aperuit os suum vgl. Jes 53,7c (Apg 8,32c); vgl. dL2; fR 4 ; sR 8 ; sR 9 ; de angustia et de iudicio sublatus est. (L) vgl. Jes 53,8a *Et erit. a - B, H, R: et fehlt b - G: et vir iniuste tollitur c - E, M, V, S: oblatus; B, H, R: sublatus d - E, V: memoriam e - ablatus, oblatus, sublatus erklärbar als Folge der kanonischen Textvarianten in Jes 53,7f und Apg 8,32f. sR 6 Seht, wie der Gerechte stirbt, und niemand nimmt es sich zu Herzen; und Gerechte werden dahingerafft, und keiner bedenkt es; aus dem Gesichtskreis des Bösen wurde der Gerechte entfernt und man wird seiner in Frieden gedenken. 1563 V A Im Frieden ist sein Ort (bereitet) und auf dem Zion seine Wohnstatt. *Und man wird. V B Wie ein Lamm vor seinen Scherern verstummt, tat auch er seinen Mund nicht auf; von Haft und Gericht ist er weggenommen worden. *Und man wird. Das Responsorium centonisiert einige alttestamentliche Schriftzitate, die bereits (teilweise auch mehrfach) liturgisch verwendet wurden und kombiniert deren Themen und Aussagen. Zunächst nimmt es das Motiv des „Anblicks“ aus sR 4 (ante conspectum eius, videntes eum) und des „Hinschauens“ aus sR 5 (attendite et videte) auf und führt sie verneint weiter (ecce; non percipit, non considerat; a facie malitae) .1564 Betrachtung verdient das Schicksal des leidenden Gerechten, der doch gerettet wird, indem er dem 1559 Es bietet an dieser Stelle fR 9 Caligaverunt. 1560 CAO IV, 155 Nr. 6605; CAO I, 174f; CAO II, 318f § 74. 1561 Vulgata: Iustus perit et nemo est qui recogitet in corde suo et viri misericordiae colliguntur quia non est qui intellegat a facie enim malitiae collectus est iustus. 1562 Vgl. auch s1N1 = sv1. 1563 A facie enim malitiae collectus est iustus (Jes 57,1) in der Vulgata kann zweifach verstanden werden: als Untat der Beseitigung des Gerechten aus dem „Gesichtskreis“ des Bösen oder als Hinwegnahme „angesichts“ des herrschenden oder kommenden Unrechts, um ihn davor zu bewahren; die deutsche EÜ „Weil das Unrecht herrscht, wird der Gerechte hinweggerafft“ lässt die Deutung offen. 1564 Vgl. die zum selben semantischen Feld gehörigen und im liturgischen Kontext essentiellen Prophetenworte aspectus eius in eo non est (Jes 53,2d in dR 3 ) und videbunt in quem transfixerunt (Sach 12,10b in sD3 und fR 11 ). <?page no="263"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 255 Einflussbereich („Gesichtskreis“) des Bösen entzogen wird (a facie malitiae ablatus) und man seiner „in Frieden“ gedenkt (in pace memoria Responsum und Repetenda; in pace locus Vers A), worin ein weiteres Hauptmotiv des Tages anklingt. Vers B bringt das Christologumenon vom „(geschlachteten) Lamm“ (agnus se obmutuit); die sprachliche Nähe des als rettend verstandenen (a facie malitiae) ablatus zu (de angustia et de iudicio) sublatus könnte in dem „von Haft und Gericht dahingerafften“ 1565 auch den am Ende rehabilitierten und „der Enge und Verurteilung enthobenen“ Gottesknecht erblicken lassen. Dritte Nokturn Die Lesungen der 3. Nokturn am Karsamstag sind dem Hebräerbrief entnommen und in Quellen wie dem PRG (OR 50) mit diesen Incipits angegeben: Hebr 9,11; 9,16; 10,1 . 1566 Zwar bleibt die tatsächliche Länge der Lesungen unbestimmt, doch liegt für die 7. Lesung Hebr 9,11-15 (Vers vor dem nächsten Incipit) nahe. Die 7. Lesung hat das einmalige und makellose Opfer Christi zum Inhalt, der „ein für alle Mal in das Heiligtum … mit seinem eigenen Blut hineingegangen“ ist (V.12) und dessen „Tod die Erlösung von den im ersten Bund begangenen Übertretungen bewirkt, damit die Berufenen das verheißene ewige Erbe erhalten.“ (V. 15) Darauf folgt einhellig (außer in L 1567 ) in den Quellen des CAO das 7. Responsorium: sR 7 1568 Aestimatus a sum cum descentibus (sic) in lacum; Ps 87(88),5a factus sum sicut homo sine adiutorio, inter mortuos liber. Ps 87(88),5b = s3N3 V A Et b sicut vulnerati dormientes c proiecti in monumentis, d quorum non es e memor amplius, et ipsi f de manu tua repulsi g sunt. (CGBEMVHRS) Ps 87(88),6 *Factus h . V B Posuerunt me in lacu inferiori, in tenebrosis et in umbra mortis. (DF) Ps 87(88),7 *Factus. a - M: Aextimatus; S: Extimatus b - V: Et fehlt c - S: dormientes fehlt d - B: monument; S: monumentum e - C, G, E, V, S: est f - E, M, H, R, S: + quidem g - M, H, S: expulsi h - G: ohne * sR 7 Ich wurde für einen von denen gehalten, die in die Grube (den See) gefahren sind; geworden bin ich wie ein Mensch ohne Beistand, (entlassen unter die Toten) frei unter den Toten. V A Und wie die tödlich Verletzten, die im Grab ruhen, derer du nicht weiter gedenkst und die von deiner Hand zurückgestoßen wurden. *Geworden. 1565 So übersetzt die EÜ. 1566 OR 50, 28,2 (SSL 29, 261 A NDRIEU ). 1567 Es nennt hier sR 6 Ecce quomodo. 1568 CAO IV, 14 Nr. 6075; CAO I, 176f; CAO II, 318f § 74. <?page no="264"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 256 V B Sie haben mich in den See der Unterwelt gestoßen, in die Finsternis und in den Schatten des Todes. *Geworden. Ungewöhnlich lang und exakt wörtlich ist das Zitat zweier Verse aus Ps 87(88), dem Psalm ohne Hoffnung. V. 5a - als letzte Nokturnantiphon noch im Gedächtnis - wird durch V. 6 oder V. 7 um je eine ,Ortsangabe‘ des Ausweglosigkeit ergänzt: Vers A spricht vom Grab, in dem die Toten sogar von Gott vergessen sind; Vers B von der Unterwelt, in der Finsternis und Todschatten herrschen. 1569 Die Spannung in der patristischen Auslegung, die Christi „Freisein unter den Toten“ (inter mortus liber) als menschliche Verlassenheit und göttliche Souveränität deutet, spiegelt sich in der Lesung mit ihrem Responsorium. Christus hat die Gott ,unzugänglichen‘ Orte (Grube, Grab, dunkle Wasser der Unterwelt) ebenso erreicht, wie er „durch das erhabenere und vollkommenere Zelt … in das Heiligtum hineingegangen“ ist (Hebr 9,11). Die 8. Lesung beginnt bei Hebr 9,16 und behandelt die heilsgeschichtliche Notwendigkeit des Todes Christi, denn „ohne dass Blut vergossen wird, gibt es keine Vergebung“ (V. 22). Auch am Ende des Kapitels wird das Fazit gezogen, dass „Christus ein einziges Mal geopfert [wurde], um die Sünden vieler hinwegzunehmen“ 1570 und bei seinem zweiten Kommen „die zu retten, die ihn erwarten“ (V. 28). Als 8. Responsorium bieten fast alle Quellen im CAO (nur S und G an 9. Stelle): sR 8 1571 Agnus Dei Christus immolatus est pro salute mundi. vgl. Joh 1,29; 1 Kor 5,7 Nam de parentis protoplasti a Fraude facta b condolens, Quando pomi c noxialis d Morte morsu e corruit, f Ipse lignum tunc notavit Damna ligni ut solveret. g vgl. Hymnus In honore Sanctae Crucis (2. Strophe) V A Christus factus est pro nobis oboediens h usque ad mortem, mortem autem crucis. (CGBEMVHRDF) Phil 2,8b *Quando. (EMHF) *Ipse lignum. (CRD) *Nam. (V) *Damna. (B) i V B Lustris j sex qui iam peractis k Tempus implens corporis, Se volente natus ad hoc Passioni deditus Agnus in cruce levatus Immolandus l stipite. m (SL) vgl. Hymnus In honore Sanctae Crucis (6. Strophe) *Nam. (S) *Damna. (L) a - C, E, V: protoplausti; L: de parente proteplausto; M: de parente protoplasto b - C, B, H, V, R: factor c - V: pomis 1569 Klgl 3,53 lapsa est in lacu vita mea et posuerunt lapidem super me verbindet beide Bilder: das Grab und die Chaoswasser der Unterwelt. 1570 Vgl. Jes 53,12. 1571 CAO IV, 16 Nr. 6065; CAO I, 176f; CAO II, 318f § 74; in H auch zur Kreuzverehrung CAO II, 316 § 73 (vgl. OR 50, 27,49 [SSL 29, 257f A NDRIEU ] und zum Fest Kreuzauffindung CAO II, 414 § 92b. <?page no="265"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 257 d - S: noxiali e - V: mortem ors; E: morti mors; G, B, M, H, R: morsu in mortem f - V: subcorruit; E: occubuit g - Abgesehen von erstem Satz besteht das Responsorium aus der 1. Strophe des Kreuz-Hymnus In honore Sanctae Crucis (= Pange lingua von Venantius Fortunatus, 6. Jh.) h - G: + Patri i - G: ohne * j - S: Luxtra k - S: peracta l - L: immolantus m - Dieser Vers entspricht der 6. Strophe des Kreuz-Hymnus In honore Sanctae Crucis (= Pange lingua von Venantius Fortunatus, 6. Jh.) sR 8 Christus, das Lamm Gottes, ist für das Heil der Welt geschlachtet. Denn mitleidig, weil der erstgeformte Vater betrogen worden war, als er durch den Biss in die verderbenbringende Frucht dem Tod verfiel, hat er selbst damals das Holz bezeichnet, damit es den Schaden des Holzes löse. V A Christus wurde für uns gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. *Als er. [*Selbst das Holz.] [*Denn.] [*Den Schaden.] V B Mit dreißig Jahren erfüllte er seine Zeit auf Erden (sein körperliches Dasein) und wurde - geboren, weil er sich diesem Leiden hingeben wollte - als Opferlamm an den Kreuzesstamm erhöht. [*Denn.] [*Den Schaden.] Beide Texte, Lesung und Responsorium, thematisieren das „(Lebens-) Opfer“ Christi zur „Vergebung der Sünden vieler“. Im Hebräerbrief ist es das Blut Christi, das reinigt und „die Erlösung von den im ersten Bund begangenen Übertretungen bewirkt“. Nur durch Christi Tod können „die Berufenen das verheißene ewige Erbe erhalten“ (V. 15) und wird jener Neue Bund (Jer 31,31) - in seinem Blut - geschlossen, der die Beziehung JHWHs zu seinem Volk und zu seiner Schöpfung endgültig wiederherstellt. Auf jenen Anfang nimmt auch das Responsorium Bezug: Als ,Ort‘ der Schuld und ihrer Tilgung nennt es „das Holz“. Vom Baumholz und seiner „verderblichen Frucht“ her nahm der Tod des ersten Menschen seinen Ausgang, vom Kreuzesstamm kommt durch Christus die Erlösung allen zu. Diese Parallelisierung und die Erwähnung des „erstgeformten Vaters“ (de parentis protoplasti, vgl. qui captivum tenebat primum hominem in sR 4 ) können als Anspielung auf 1 Kor 15,22 verstanden werden, wo dem Tod in Adam (als Sündenfolge) das Leben in Christus aufgrund seines Opfers gegenübersteht. Zur 9. (letzten) Vigillesung am Karsamstag liest man aus dem 10. Kapitel des Hebräerbriefes von der endgültigen Versöhnung des Menschen mit Gott. Nach dessen Willen „sind wir durch die Opfergabe des Leibes Jesu Christi ein für allemal geheiligt“ (V. 10). Da die Sünden vergeben sind, bedarf es keiner weiteren Opfer mehr. Darauf folgt in acht der zwölf verwendeten Codices als 9. Responsorium: sR 9 1572 Sicut ovis ad occisionem ductus est, Jes 53,7b ducetur vgl. dL2, dL5 et dum male tractaretur non aperuit os suum; vgl. Jes 53,7 (MT, LXX) traditus est ad mortem ut vivificaret populum suum. V A In pace factus a est locus eius, et in Sion habitatio eius. (C a BEVHRDF) Ps 75(76),3 = s3N2 = sv2 = V A in sR 6 *Traditus. (BEVHRDF) b 1572 Ebd. 409 Nr. 7661; CAO I, 176f; CAO II, 318f § 74. <?page no="266"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 258 V B Tradidit in morte animam, et inter sceleratos reputatus est. (G) Jes 53,12bc cum sceleratis *Ut vivificaret. V C Vadis propitiatus ad immolandum. b (C b ) 1573 vgl. 1 Kor 5,7 immolatus est a - R: bis hierher b - C: ohne * sR 9 Wie ein Lamm ist er zur Schlachtung geführt worden, und als er misshandelt 1574 wurde, tat er seinen Mund nicht auf. Er ist zum Sterben hingegeben (ausgeliefert) worden, damit er sein Volk neu belebe. V A Im Frieden ist sein Ort (bereitet) und auf dem Zion seine Wohnstatt. *Hingegeben (Ausgeliefert). V B Sein Leben hat er im Tod hingegeben, und ist unter die Verbrecher gezählt worden. *Damit er sein Volk. V C Du gehst, geneigt, als Opferlamm geschlachtet zu werden. Der Text interpretiert die Endgültigkeit der Erlösung durch das Opfer Christi, von der die Lesung spricht, erneut 1575 anhand von Jes 53 im Bild des fügsamen Lammes, das misshandelt und geschlachtet wird; er bekräftigt zudem, dass aus seinem Tod dem Volk Leben erwächst. Die alternativen Verse A und B verbinden damit ,örtliche‘ Angaben: „in Frieden, in Sion“ (Vers A) ist sehr viel häufiger als „unter den Verbrechern“ (Vers B); damit wird Christi Erhöhung zu Gott oder seine Entäußerung unter die Sünder betont; Vers C bezeugt den Opfergang „des Lammes“, indem er es/ Christus präsentisch akklamiert (vadis). Auch am Karsamstag gibt es über die dargestellten neun Responsorien hinaus in den römischen Codices C, E und M weitere Gesänge für die 3. Nokturn: sR 10 1576 Domine post passionem tuam et post disciplinorum fugam, Petrus plorabat, dicens: vgl. Mt 26,75 Latro te confessus est, vgl. Lk 23,42 et ego te negavi; vgl. Mt 26,70.72 mulieres te praedicaverunt, vgl. Mt 28,8 et ego timui. vgl. Joh 20,19 Putas iam vocabis me discipulum tuum ut iterum constituas me piscatorem fungi; vgl. Mt 4,19 sed repaenitentem suscipe me, Domine, et miserere mei. V Ego dixi in excessu meo: omnis homo mendax. Ps 115,2(116,11) *Sed repaenitentem. a - C: te fehlt b - C: + te c - E: vocaberis d - M: constitues e - E: piscatione f - M: fundi g - M: in excessu mentis meae h - H: ohne * 1573 Vgl. den vollständigen Text in fR 13 (CAO IV, 446 Nr. 7816 § 73). 1574 Der Masoretentext (und die darauf basierende deutsche EÜ) spricht in Jes 53,7a von Misshandlung; in der Vulgata ist von der freiwilligen (Selbst-)Darbringung des Gerechten (oblatus est quia ipse voluit) die Rede. Das Responsorium gibt mit dum male tractaretur die philologisch richtige Übersetzung wieder. 1575 Vgl. u. a. dL2 und dL5. 1576 CAO IV, 129 Nr. 6504; CAO I, 176f § 74. <?page no="267"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 259 sR 10 Herr, nach deinem Leiden und nach der Flucht der Jünger weinte Petrus und sagte: Der Räuber hat sich zu dir bekannt, und ich habe dich verleugnet; die Frauen haben dich verkündigt, und ich habe mich gefürchtet. Meinst du, du wirst mich nun als deinen Jünger berufen, damit du mich ein zweites Mal als Fischer Dienst zu tun bestellst? Aber meine Reue nimm an, Herr, und erbarme dich meiner. V In meiner Bestürzung habe ich gesagt: Jeder Mensch ist ein Lügner. *Aber meine Reue. Dieses seltene Responsorium formuliert ein Schuldbekenntnis des Petrus, die Frage nach seiner (weiteren oder bleibenden) Berufung sowie die Bitte um Annahme seiner Reue und um Erbarmen. Basierend auf drei in Mt 26 und 28 sowie Lk 23 überlieferten Szenen stellt Petrus das furchtlose Bekenntnis (confessus est, praedicaverunt) weit geringer geachteter Menschen (Räuber und Frauen) der eigenen ängstlichen Schwäche gegenüber (negavi, timui); dass er ein von Jesus selbst berufener Jünger ist, macht sein Versagen umso deutlicher und seine Schuld umso gravierender. Der „bestürzte“ Sprecher des im Vers zitierten Psalmwortes ist nicht eindeutig: Entweder gesteht Petrus ein, dass er - wie alle Menschen - den Psalmisten (Christus) enttäuscht hat, oder Christus sagt es über ihn. Nur in C ebenfalls zur 3. Nokturn (unter dem Titel responsoria unde supra): sR 11 1577 Scindite vestimenta vestra, et induimini saccis et plangite, vgl. 2 Sam 3,31 scindite, accingimini, plangite quia Princeps Ierusalem super montes eius interfectus est. vgl. 2 Sam 1,19 incliti Israel interfecti sunt Flete super eum, filii Israel, 2 Sam 1,14 super Saul flete filiae Israel quia non timuerunt occidere Christum Domini. vgl. Jer 36,24a 1578 V Ululate pastores et clamate, aspergite vos cinere. Jer 25,34a = sD2 = V B in sR 2 = V A in sR 3 sR 11 Zerreißt eure Kleider und legt Trauergewänder an und klagt, denn der Fürst (das Haupt) Jerusalems ist auf dessen Höhen getötet worden. Weint über ihn, ihr Söhne Israels, denn sie hatten keine Scheu, den Gesalbten des Herrn zu ermorden. V Heult ihr Hirten und klagt, bedeckt euch mit Asche. Ebenfalls ungewöhnlich ist der biblische Cento dieses Responsoriums aus zwei von David überlieferten Totenklagen. Der dreifache Aufruf, die Kleider zu zerreißen, Trauergewänder anzulegen und zu weinen, ist aus der Klage Davids um Abner, den Heerführer Sauls bekannt. 1579 Er starb nicht ehrenvoll im Kampf, sondern heimtückisch erstochen wie ein „schlechter Mensch“ und „wie man unter der Hand von Verbrechern fällt.“ (2 Sam 3,33.34) Dieser Aspekt von Abners Ende macht es zum Interpretament des gleichfalls unverdient ehrlosen Schicksals Jesu. Analog gilt das von den erschlagenen Helden Saul und Jonatan: Wie sie - „dein Stolz, Israel“ (vgl. 2 Sam 1,19) - 1577 Ebd. 401 Nr. 7627; CAO I, 176, § 74. 1578 Die Verbindung timere - scindere findet sich bei Jeremia anlässlich der provokanten Reaktion des Königs Jojakim auf die von Baruch/ Jeremia überbrachte Buchrolle, durch die JHWH das Volk zur Umkehr bewegen will; als der König sie erst anhört und dann stückweise verbrennt, reagiert keiner auf diesen Frevel Et non timuerunt neque sciderunt vestimenta sua … (Jer 36,24a) - ein der vernichtenden Zurückweisung Christi durch die Großen seines Volkes nicht unähnlicher Kontext. 1579 Vgl. sR 2 , das ebenfalls aus der Totenklage Davids um Saul und Jonatan in 2 Sam 1 zitiert hat. <?page no="268"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 260 wurde auch der „Fürst Israels“ und „Gesalbte des Herrn“ „auf den Höhen“ (super montes) getötet. Der Vers wiederholt die am Karsamstag bereits an anderer Stelle an die Großen des Volkes ergangene Aufforderung, Klage (und Umkehr) zu halten. Laudes Als Responsorium zu den Laudes (! ) bietet nur B: sR 12 1580 In pace in idipsum dormiam et requiescam. Ps 4,9 = s1N1 = sv1 V Si dedero somnum oculis meis, et palpebris meis dormitationem. 1581 Ps 131(132),4 *Dormiam. sR 12 In Frieden werde ich (ent)schlafen und ruhen. V Wenn ich meinen Augen Schlaf gegönnt habe und Schlummer meinen Lidern. Der Gesang zitiert je einen Vers aus Ps 4 und dem Wallfahrtslied Ps 131(132); letzterer beginnt mit dem Schwur Davids, die Lade Gottes nach Jerusalem zu überführen: Er wolle nicht ruhen, „nicht Schlaf den Augen gönnen, noch Schlummer den Lidern“ (V. 4), ehe nicht JHWH auf dem Zion seine Wohnstatt gefunden hätte. Die erste Verszeile des Responsums zitiert wörtlich Ps 4,9. Ihre Verbindung deutet den Tod Jesu (der hier spricht) zweifach: in der menschlichen Hoffnung auf Auferweckung aus dem Todes„schlaf“ (dormiam, dormitationem); zugleich als göttliche Einlösung des davidischen Versprechens durch Christus: er, der selber die Wohnstatt Gottes ist, ruht seinerseits „in“ Gott (in pace in idipsum). Dieser Schlüsselvers des Karsamstags vermittelt seine Aussage in jeglicher musikalischer Gestalt: als Antiphon (s1N1), als häufigster Versikel der 1. Nokturn (sv1) und als auch über das CAO hinaus selten bezeugtes 1582 Responsorium. Die für Karsamstag belegten Versikel sind überwiegend psalmogen; am häufigsten kommt die darin festgehaltene Hoffnung auf Frieden für den getöteten Gerechten zum Ausdruck. Das Drohwort aus Hos 13,14 gegen den personifizierten Tod ist im CAO einmal belegt. Dem klagenden Volk und seinen verantwortlichen Hirten empfehlen die Lesungen (Klgl 3-5) Umkehrbereitschaft und geduldige Hoffnung bis zum Gericht oder zur Rettung. Auch in den Responsorien dominieren Trauer und Schmerz; außerdem der Descensus Christi. Das dritte Motiv in den Lesungen (Hebr 9-10) und Responsorien ist das versöhnende Opfer des geschlachteten Lammes und Hohepriesters Christus, „damit er sein Volk belebe“ (Jes 53). Die Rezeption im Breviarium Romanum 1568 Die Feiergestalt des Karsamstags im BR 1568 1583 basiert wiederum auf der dargestellten Tradition, akzentuiert aber durch Umstellung oder Ergänzung manches etwas anders. 1580 CAO IV, 232 Nr. 6921; CAO I, 176 § 74b. 1581 Hier verweist H ESBERT auf seinen Artikel in RGr 13 (1905), 122-124 (CAO IV, 232). 1582 www.cantusdatabase.org.: ID 006921. 1583 BR 1568, 355-359 (MLCT 3, 385-389 S ODI / T RIACCA ). <?page no="269"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 261 Erste Nokturn Die drei Psalmen 4, 14(15) und 15(16) der 1. Nokturn am Karsamstag verbindet das Motiv des „Ruhens“, hier der Grabesruhe Jesu. Der Versikel affirmiert die Hoffnung auf ein Erwachen, indem er den Schlüsselvers Ps 4,9 wiederholt: s1Nv = sv1 V In pace in idipsum Ps 4,9 = s1N1 R Dormiam et requiescam. V In Frieden. R Werde ich (ent)schlafen und ruhen. Abgesehen von der wechselseitigen Deutung von Tod und Schlaf durch die Verwendung des Kompletpsalms Ps 4 am Morgen des Karsamstags erhält das durchgängige Leitwort „ruhen“ (requiescam/ requiescet/ requiescat) vom Vortag her 1584 eine heilsgeschichtlich-drängende Note: Wie der Hebräerbrief betont, gilt noch die Verheißung „in die (Sabbat)Ruhe Gottes“ (requiem eius) einzugehen, und niemand mehr - auch nicht, wer durch den früheren Ungehorsam „nicht hineingekommen ist“ (Hebr 4,6) - möge „heute“ dahinter zurückbleiben. 1585 Lesungen und Responsorien Auch am Karsamstag wird aus den Lamentationen gelesen. Die exakte Perikopierung der nicht mehr sehr umfangreichen Lesungen akzentuiert andere Inhalte als die Lektüre des gesamten Kapitels. Der Abschnitt der 1. Lesung ( Klgl 3,22-31 ) „Heth bis Caph“ ruft nach dem Strafhandeln JHWHs an Zion dem Beter die göttliche Trias Huld, Erbarmen und Treue als „meinen Anteil“ (pars mea) ins Gedächtnis (V. 22-24); dann ein dreifaches Gut: JHWH selbst ist gut/ der Gute (bonus est) für den, der auf ihn hofft; gut (bonum est) sind auch das Schweigen und das Joch von Jugend auf (V. 25-27); schließlich sind jene drei Haltungen gut (sedebit - tacebit, ponet in pulvere, dabit se - saturabitur), die „vielleicht“ eine Wendung bringen (V. 28-30): Trauer, Buße, und (Selbst-) Erniedrigung. - „Denn Gott verwirft nicht für immer.“ (V. 31) Nach der 1. Lesung singt man das Responsorium sR 1 = sR 9 Sicut ovis (das die Tradition meist der 3. Nokturn als letzten Gesang zugeordnet hat); dazu den weitaus selteneren Vers B Tradidit in mortem animam suam, et inter sceleratos reputatus est, der die Erniedrigung Christi betont, sowie *Ut vivificaret. Zwei für die Kartage bezeichnende Verszeilen aus dem vierten Gottesknechttext (Jes 53,7bc; Jes 53,12bc) 1586 bilden den Rahmen des Responsoriums. Die Gegenüberstellung Tod des Einen - Leben der Vielen (traditus est ad mortem ut vivificaret populum suum) assoziiert einerseits Jes 53,5b.11b; im kirchlichen Verständnis klingen hier auch die Paradoxa der paulinischen Soteriologie mit. 1587 Die Auslieferung des Lammes/ Gottesknechtes ist nicht bloß schicksalhaft, sondern als aktives Erdulden zu verstehen (traditus est - tradidit). Lesung und Responsorium gemeinsam ist das in der Erniedrigung geübte Schweigen. 1584 Sechsmal requiem in der ersten Nokturnlesung am Karfreitag (Hebr 4,1-15). 1585 Der Hebräerbrief zitiert und aktualisiert die Mahnung „Heute … verhärtet euer Herz nicht“ aus Ps 94(95),8 mehrfach in diesem Sinne (Hebr 3,8.15; 4,7); in der Feiersituation entspricht dem das liturgische „Heute“. 1586 Vgl. u. a. dL2 und dL5. 1587 Z. B.: Traditus est propter delicta nostra et resurrexit propter iustificationem nostram (Röm 4,25) Et sicut in Adam omnes moriuntur ita et in Christo omnes vivificabuntur (1 Kor 15,22). <?page no="270"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 262 Mit der 2. Lesung „Aleph bis Zain“ beginnt das vierte Klagelied ( Klgl 4,1-7 ). Der Abschnitt schildert den Fall der früher glücklichen, reichen und angesehenen Stadt Zion, die sich jetzt „im Unrat“ wälzt (V. 5) wegen der Schuld „meines Volkes, [größer] als die Sünde Sodoms“ (V. 6f). Darauf folgt die an dieser Stelle übliche Aufforderung, in der allerdings ein Wort verändert ist: sR 2 Ierusalem surge (statt: luge) , et exue te vestibus iucunditatis: induere cinere et cilicio, *Quia in te occisus est Salvator Israel. Dazu der im CAO am häufigsten belegte Vers A Deduc quasi torrentem lacrimas per diem et noctem, et non taceat pupilla oculi tui. sR 2 Jerusalem, steh auf (statt: weine) und zieh das Freudengewand aus … Das Responsorium benennt als jene „größere“ Schuld, auf die der letzte Vers der Lesung verweist (Klgl 4,6), die Ermordung des Retters Israels in ihrer Mitte (in te occisus est). 1588 Zion/ Jerusalem hat allen Grund zur Trauer. Dennoch soll sie aufstehen (surge) - vielleicht um in der Trauer einen wahrnehmbaren Akt der Umkehr zu setzen; die sprachliche Nähe zu Jes 60 und 61 erweckt eine vorsichtige Hoffnung auf künftiges Heil. 1589 Der 3. Lesungsabschnitt springt zu Klgl 5,1-16 . In der nicht mehr vollständigen Lektüre des fünften Klageliedes ist weniger das unrühmliche Schicksal der Fürsten, Ältesten und jungen Männer (V. 12-16) als vielmehr die Schändung der „Frauen [und] Jungfrauen in den Städten von Juda“ ein dramatischer Höhepunkt (V. 11 1590 ); dieses Motiv korrespondiert mit dem Responsorium sR 3 Plange quasi virgo; dazu wird der im CAO nur einmal belegte Vers C Accingite vos sacerdotes, et plangite ministri altaris und *Quia gesungen. Das Theologumenon vom bitteren, zornigen und/ oder rettenden „Tag des Herrn“ ist aus der gekürzten Lesung verschwunden. Zweite Nokturn Auf die drei Psalmen 23(24), 26(27), 29(30) der 2. Nokturn folgt der traditionelle Versikel: s2Nv = sv3 V Tu autem Domine miserere mei. Ps 40(41),11 R Et resuscita me, et retribuam eis. V Du aber, Herr, hab mit mir Erbarmen. R Richte mich wieder auf, und ich werde es ihnen vergelten. Jeder der drei Psalmen kennt eine Hoffnung: der Einzug des rex gloriae (Ps 23[24],7.9.10), die Güte des Herrn im Land der Lebenden (Ps 26[27],13), die Verwandlung der Klage in Freude (Ps 29[30],12). Der Versikel hält diese Stimmung unter Zuhilfenahme eines weiteren Psalmverses fest, der das Erbarmen Gottes (miserere mei) mit der Wiederaufrichtung des Beters (resuscita) und der Vergeltung an den Feinden (retribuam) verbindet. In der Feier des Karsamstag enthält er die Hoffnung Christi auf Auferstehung und Rehabilitierung. 1588 Nirgendwo anders hat das geschehen können (vgl. Jes 62,11; Sach 9,9; Offb 21,22-23; 22,3). 1589 Tritojesaja verheißt Jerusalem Wiederherstellung und Segen: Freude statt Trauer, Schmuck statt Schmutz, Freudenöl statt Trauergewand, Jubel statt Verzweiflung (Jes 60,1; 61,3ab). 1590 In den Brevier-Ausgaben vor 1910 endet die entsprechende Lesung mit eben diesem Vers (BR [rev. Nachdr. 1896], 322). <?page no="271"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 263 Lesungen und Responsorien Die mittleren drei Lesungen der Karsamstagsvigil setzen die Ausführungen zu Ps 63(64) fort; zunächst die 4. Lesung zu V. 7c accedet homo et cor altum, wo Augustinus die Notwendigkeit der Entäußerung Gottes in die Natur des Menschen, um diesen zu erlösen, entfaltet: Accessit ergo homo ad illas omnes passiones, quae in illo nihil valerent, nisi esset homo. Sed si ille non esset homo, non liberaretur homo. Accessit homo et cor altum, id est cor secretum, obiciens adspectibus humanis hominem, servans intus Deum, celans formam Dei, in qua aequalis est Patri, et offerens formam servi, qua minor est patre. (Enarr. in ps. LXIII,13) 1591 Darauf folgt das hier übliche Responsorium sR 4 Recessit pastor noster mit dem seltenen Vers B Destruxit claustra inferni et subvertit potentias diaboli und den (gegenüber der Tradition längeren) Repetenda *Nam . Im Kontext der eng perikopierten Lesung fällt das Zusammentreffen der Verbalformen accessit - recessit auf: in christlicher Relecture meinen sie die Menschwerdung (accessit homo), in der Christus seine Gottheit verbirgt, und sein Fortgehen in den Tod (recessit), in dem sich der göttliche Triumph über den Tod ereignen wird. Die 5. Lesung kommentiert anhand von V. 9a infirmatae sunt super eos linguae eorum die - ihre eigene falsche Absicht demaskierende - Forderung der Hohenpriester und Pharisäer nach einer dreitägigen Bewachung des Grabes Jesu: Schließlich habe „der Betrüger“ behauptet, er „werde nach drei Tagen auferstehen“ (Mt 27,63); Pilatus gibt dazu die Erlaubnis. Das Mehrheitsresponsorium nach der 5. Lesung beweint den Begrabenen und fordert die Vorübergehenden zur Anteilnahme auf sR 5 O vos omnes mit V Attendite universi populi, et videte dolorem meum mit *Si est. Die 6. Lesung malt unter Heranziehung von Ps 63(64),7b (defecerunt scrutantes scrutationes), jedoch über das Evangelium hinausgehend, die Maßnahmen gegen einen möglichen Betrug mit dem leeren Grab aus: zur Bewachung durch römische Soldaten kommt der betrügerische Bestechungsversuch an ihnen. Augustinus sinniert, die Soldaten seien, obwohl (infolge des Erdbebens keineswegs schlafende) Zeugen der Auferstehung, mit Geld dazu gebracht worden, den Diebstahl des Leichnams Jesu zu behaupten. „Geschlafen“ hätten nicht die Soldaten, sondern vielmehr die dem Irrtum verfallene „Verschlagenheit“ der jüdischen Autorität: Quid est, quod dixisti, o infelix astutia? Tantumne deseris lucem consilii pietatis, et in profunda versutiae demergeris, ut hoc dicas: Dicite quia vobis dormientibus venerunt discipuli eius, et abstulerunt eum. Dormientes testes adhibes; vere tu ipse obdormisti, qui scrutando talia defecisti. (Enarr. in ps. LXIII,15) 1592 Als 6. Responsorium antwortet darauf das in der Tradition übliche sR 6 Ecce quomodo wiederum mit dem rareren Vers B Tamquam agnus coram tondente se obmutuit, et non aperuit os suum; de angustia, et de iudicio sublatus est sowie *Et erit. Ein Bezug zur Lesung besteht insofern, als in beiden Texten von Unrecht am Gerechten bis in den Tod und darüber hinaus die Rede ist. Der Rückgriff auf Jes 53 im Responsorium impliziert auch jene Rehabilitierung, die der Versikel s2Nv am Beginn des Leseteils der 2. Nokturn anklingen ließ. 1591 CChr.SL 39, 815,6-12 D EKKERS . 1592 CChr.SL 39, 817,41-46 D EKKERS . <?page no="272"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 264 Dritte Nokturn Auf die drei Psalmen 53(54), 75(76) und 87(88) der 3. Nokturn folgt - in Wiederholung der 2. Antiphon - der gängige Versikel: s3Nv = sV2 V In pace factus est locus eius = Ps 75(76),3 = s3N2 R Et in Sion habitatio eius. V Im Frieden ist sein Ort (bereitet). R Und auf dem Zion seine Wohnstatt. Die zwei ersten Psalmen richten den Blick auf JHWH, der dem Gerechten dazu verholfen hat, auf seine Feinde herabzusehen (Ps 53[54],9) und den Mut der Fürsten und Könige der Erde zu brechen (Ps 75[76],13); als ,Gegenort‘ zum Totenreich, in dem sich der Gerechte - immer noch - erfährt (Ps 87[88],4-6), ruft der Versikel den Wohnort Gottes Salem/ Zion in Erinnerung: im liturgischen Kontext eine Verheißung an den „Freigegebenen unter den Toten“ (vgl. V. 6). Lesungen und Responsorien Für die letzten drei Lesungen der Karsamstagsvigil sind drei kurze Perikopen aus dem Brief an die Hebräer vorgesehen. Die 7. Lesung Hebr 9,11-15 thematisiert die reinigende Kraft des Blutes, nicht der Böcke und Stiere, sondern des Blutes Jesu Christi, das „unser Gewissen von toten Werken reinigt, damit wir dem lebendigen Gott dienen“ (V. 14). Auf die 7. Lesung folgt das im CAO nicht belegte, sondern erst in Quellen des 12. Jhs. greifbare Responsorium: 1593 sR 7(BR) = sR 13 Astiterunt reges terrae, et principes convenerunt in unum, adversus Dominum; et adversus Christum eius. Ps 2,2 = f1N1 = V A in fR 7 V Quare fremuerunt gentes, et populi meditati sunt inania? Ps 2,1 *Adversus. sR 13 Die Könige der Erde haben sich erhoben, und die Anführer sind übereingekommen gegen den Herrn und gegen seinen Gesalbten. V Warum haben die Heiden gemurrt und die Völker Nichtiges ersonnen? *Gegen. Die Wahl des schon im Neuen Testament zur Interpretation des Paschamysteriums herangezogenen und liturgisch im Weihnachtsfestkreis sowie in der Hohen Woche verorteten Ps 2 setzt hier einen ausdrücklichen christologischen Akzent. Das Responsum begegnet in den ältesten Quellen (des CAO) als Vers A von fR 7 ; hier wird es durch den 1. Psalmvers zu einem eigenen ,neuen‘ Responsorium erweitert. Die Aufeinanderfolge von Väterlesung, Psalmodie, Hebräerbrief-Perikope und Responsorium lässt die künftigen Machtverhältnisse ahnen: Den „Fürsten und Könige(n) der Erde“ - eben noch einmütig „gegen den Herrn und seinen Gesalbten“ (Ps 2,2) - „nimmt (er) den Mut“ (Ps 75[76],13); der von den Mächtigen beseitigte Christus wird „als Hohepriester“, dessen Tod die „Erlösung von den im ersten Bund begangenen Übertretungen bewirkt“ hat, der „Mittler eines neues Bundes“ (Hebr 9,11.15). 1593 Das kuriale Ordinale Innozenz % III. (13. Jh.) nennt Astiterunt bereits als erstes Responsorium der 3. Nokturn am Karsamstag (OrdInn (SpicFri 22, 260,22 VAN D IJK ). Die ältesten Textzeugen aus dem 12. Jh. stammen aus der Toskana; nach www.cantusdatabase.org.: ID 600155. <?page no="273"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 265 In der 8. Lesung Hebr 9,16-22 bleibt das Thema „Blut“ vorherrschend: Um heilswirksam zu werden, ist schon der Erste Bund „mit Blut in Kraft gesetzt worden“ und ohne Blut „gibt es keine Vergebung“ (V. 18.22). Das nächste Responsorium erscheint innerhalb der 3. Nokturn um einen Platz nach hinten verschoben: sR 8(BR) = sR 7 Aestimatus sum mit - wie meist - dem selteneren Vers B Posuerunt me in lacu inferiori, in tenebrosis, et in umbra mortis und *Factus sum. Lesung und Responsorium passen von daher weniger gut zueinander als bisher. Die im BR 1568 9. Lesung Hebr 9,23-28 bekräftigt die Einmaligkeit des Opfers Christi (vgl. V. 28). Der in der älteren Leseordnung (ab Hebr 10,1) entscheidende Hinweis auf das Ende der „alljährlich dargebrachten Opfer“ bleibt also trotz der Kürzung erhalten. Die Platzierung des früher allerersten Responsoriums hier nach der 9. Lesung sR 9(BR) = sR 1 Sepulto Domino lässt die beiden Texte - der eine soteriologisch, der andere narrativ - eher unvermittelt nebeneinander stehen; dazu gehört wiederum Vers B Accedentes principes sacerdotum ad Pilatum, petierunt illum , allerdings um mehr als die Hälfte des Textes gekürzt 1594 mit den Repetenda *Ponentes milites. Laudes Als Versikel nach der Laudes-Psalmodie sieht das Breviarium Romanum 1568 den in den behandelten Quellen unüblichen Ruf (dessen Responsum dort zudem fehlt) vor: sLv V Caro mea requiescet in spe. Ps 15(16),9c = s1N3 R Et non dabis sanctum tuum videre corruptionem. Ps 15(16),10b V Mein Fleisch/ Leib wird ausruhen in Erwartung. R Und du wirst deinen Heiligen nicht die Verwesung schauen lassen. Das Grab Jesu als realer Ort des Geschehens hat das vorletzte Wort: Wie der Lesungsteil dieser Nokturn an dem von den Soldaten bewachten Grab endet (sR 9 = sR 1 ) , so auch die Laudes bei den beim Grab sitzenden und weinenden Frauen (sLEv). Der Laudesversikel sLv wiederholt, ergänzt (um V. 10b) und affirmiert jedoch das „Ausruhen in der Hoffnung“ als das erste und letzte Leitmotiv des Karsamstags. Im Breviarium Romanum steht in den Versikeln der Nacht- und Morgenhore die Wendung zum Guten (Friede, Aufrichtung) im Vordergrund. Zugleich wird das Gericht an den Feinden und das Ungenügen der geistlichen Autoritäten akzentuiert, das die Entäußerung und Heilsmittlerschaft des geopferten Lammes notwendig gemacht hatte. 1.3.3 Gebete Den Hauptbestand des Offiziums bilden die Psalmen und andere biblische Texte und Gesänge. Sie sind strukturell, nicht aber hermeneutisch und funktional festgelegt. Fast jeder der Vollzüge - Psalmodie und Antiphonen, Versikel, Vätertexte und Responsorien - changiert zwischen Verkündigung, Meditation und Gebet und regt die Feiernden an, nach Disposition und Vermögen, zuzuhören, zu meditieren und/ oder zu beten. Jenseits der nicht objektivierbaren verinnerlichten Teilnahme wird der liturgisch geführte Dialog zwischen Gott und Mensch in der Dichotomie von Schriftwort und nichtbliblischem Sprechen erkennbar, in dem sich der heilsgeschichtliche An- und Zuspruch Gottes und dessen Annahme und ausdrücklicher Beantwortung in Akklamationen, Orationen und anderen Gebetsvollzügen der Feiernden ausdrückt: Sie äußern Anbetung, Zustimmung, Dank und erbitten die Aktualisierung des Heilshandelns Gottes 1594 Früher: Accedentes principes sacerdotum ad Pilatum ut iuberet custodiri sepulcrum: Ite, inquit, custodite sicut scitis. Illi autem abeuntes munierunt illud. <?page no="274"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 266 im Leben der Gläubigen. Obwohl die Gebetssprache der römischen Liturgie ebenfalls stark biblisch geprägt ist, sind ihre Formulierungen immer auch Ausdruck zeitgebundener Theologie und des damit einhergehenden kirchlichen Selbstverständnisses. Der Gebetsteil im Offizium der Kartage ist schlichter als üblich und an allen drei Tagen gleich: Auf das still gebetete Vaterunser folgt (ohne Gebetseinladung Oremus) nur noch die Oration Respice. Einige der behandelten Quellen beider Cursus bieten (ggf. in Verbindung mit dem Auslöschen der Lichter 1595 ) Einschübe in die Kyrielitanei am Ende der Laudes. 1.3.3.1 Tropen zur Kyrielitanei (Ad tenebrae faciendum) Einige Handschriften beider Cursus erweitern die Kyrielitanei der Laudes am Gründonnerstag und teilweise an den Kartagen um spezifische Christus-Akklamationen. 1596 Die teils biblisch inspirierten Anrufungen 1597 huldigen dem Kyrios Christus aus der nachösterlichen Perspektive der Erlösten und entfalten in relativen Anschlüssen und direkter Anrede, selten feststellend, die soteriologischen Aspekte seines Leidens: 1598 Kyr1 Jesu Christe qui passurus advenisti propter nos. vgl. Mt 17,12 B, M; R, D, S: Gründonnerstag S: auch Karsamstag H: Karsamstag Jesus Christus, der du gekommen bist, für uns zu leiden. Kyr2 Qui prophetice promsisti (sic) ero mors tua o mors. 1599 Hos 13,14 B, M, V; R, D, S: Gründonnerstag S: auch Karsamstag H: Karsamstag Der du durch den Propheten versprochen hast: Ich werde dein Tod sein, o Tod. Kyr3 Qui a expansis b in cruce manibus traxisti c omnia ad te secula. vgl. Joh 12,23 B, M, V; R, D: Gründonnerstag H, S: Karsamstag a - S: Que b - V: expassis c - V: trasisti Der du mit den am Kreuz ausgespannten Armen alle Welt an dich gezogen hast. 1595 Ausdrücklich vermerken das im Cursus Romanus die Codices M und V; im Cursus monasticus nur Codex S, wo man schon zum Benedictus damit beginnt. 1596 Derartige ,Füllungen‘ (farciturae) von Gesangsstücken sind ab dem 9./ 10. Jh. überaus häufig. Tropen und Sequenzen der Messfeier können hier nicht erörtert werden; im Offizium tropiert man außer der Kyrielitanei u. a. die Floskel Tu autem am Ende der Lesungen sowie Vigilresponsorien; nach Bäumer, Geschichte 292-296. Als frühen Zeugen einer variablen rein klanglichen (nicht aber textlichen) Erweiterung nennt H AUG , Tropus 897-916, Amalar, der ein „dreimal verschiedenes neuma“, freilich „nur im letzten Responsorium von Johanni und Weihnachten“ (ebd. 907f), und noch ohne Wiederholung von Melodiegliedern beschreibt. 1597 Die bis vor die erste Jahrtausendwende noch spontan als Verständnishilfe der gefeierten Heilsgeheimnisse in die Kyrielitanei einzufügenden Verse wurden bald danach fixer Bestandteil des liturgischen Formulars der vorösterlichen Tage; vgl. dazu die Untersuchung von R OCHA , Tropes 691- 702. 1598 CAO IV, 524f Nr. 8442-8449 § 72-§ 74. 1599 Dieses Zitat aus Hos 13,14 ist ein theologischer Schlüsseltext am Karsamstag. Siehe oben Kapitel 1.3.2.3. <?page no="275"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 267 Kyr4 Vita in ligno moritur vgl. 1 Petr 2,24 (zit. Jes 53,5c) infernus a est b morsus c expoliatus d . vgl. Hos 13,14 (in 1 Kor 15,55) M, V; R, D: Gründonnerstag B, S: Karfreitag S: auch Karsamstag H: Karsamstag a - V: infernu b - V, R: ex; D: et c - V, R: morsu; D: mors d - V: expoliatur; R: despoliatur; lugens spoliatur Das Leben stirbt am Holz, die Unterwelt ist ihres Stachels beraubt. Weniger verbreitet (nach CAO nur in den monastischen Hss D und S): Kyr5 Agno miti vgl. Jes 53,7 basia cui lupus dedit vgl. Lk 22,48 venenosa. vgl. Ps 139(140),4 D: Gründonnerstag S: Karfreitag und Karsamstag Dem sanften Lamm, dem der Wolf giftige Küsse gab. Wolf und Lamm sind ein Paar wie Frevler und Gerechter - in dieser Welt gehen sie nicht zusammen (vgl. Sir 13,21) und werden erst im eschatologischen Frieden gemeinsam wohnen und weiden (vgl. Jes 11,6; 65,25). Im Johannesevangelium ist der Wolf der Feind des guten Hirten Jesus, der Schafe reißt und die Herde auseinanderjagt (Joh10,12). Kyr6 Te qui vinciri voluisti vgl. Joh 18,12 (vgl. Gen 22,9) nosque a mortis vinculis eripuisti. vgl. Ps 139(140),4 D: Gründonnerstag S: Karfreitag und Karsamstag Der du eingewilligt hast, gefesselt zu werden, hast uns aus den Fesseln des Todes befreit. Nur einmal im CAO belegt ist die Akklamation: Kyr7 Qui latroni sero penitenti paradise ianuam aperuisti. vgl. Lk 23,43 B: Karsamstag Der du dem spät bereuenden Räuber die Tür zum Paradies geöffnet hast. In einigen römischen und monastischen Quellen wird auch Christus factus est in die Litanei integriert: 1600 Kyr8 Christus Dominus factus est obediens usque ad mortem, [mortem autem crucis.] vgl. Phil 2,8 Christus, der Herr, war gehorsam bis zum Tod [bis zum Tod am Kreuz]. Nur dieses Schriftwort wird „en manière de conclusion“ 1601 abschließend wiederholt. 1.3.3.2 Orationen Das Offizium schließt an den letzten drei Tagen vor Ostern jeweils mit folgender Oration ohne Einleitung und Schlussformel: Respice quaesumus, Domine, super hanc familiam tuam, pro qua Dominus noster Iesus Christus non dubitavit manibus traditum nocentium et crucis subire tormentum. 1600 Gründonnerstag (B, M, V, R, D, S), Karfreitag (S), Karsamstag (B, H, S). Die früheste Erwähnung dieses Gesanges in OR 23,1 ( SSL 24, 269 A NDRIEU ) ordnet kein Kyrie an, sondern nur Christus factus est pro nobis. 1601 H ESBERT , Graduel 245. <?page no="276"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 268 Wir bitten dich, Herr, sieh auf diese deine Familie herab, für die unser Herr Jesus Christus nicht gezögert hat, den Händen der Frevler ausgeliefert, die Marter des Kreuzes auf sich zu nehmen. Die explizite Antwort der Kirche auf das Gehörte ist eine an „den Herrn“ (Gott/ Vater) gerichtete Bitte: Er möge sie aufgrund des „für sie“ erbrachten Kreuzesopfers „unseres Herrn“ Jesus Christus (Gott/ Sohn) ansehen. „Diese deine Familie“ grenzt sich dabei von den „Frevlern“ ab, und diejenigen, welche sich dankbar hier und jetzt als Volk Gottes begreifen, lassen sich von den historischen Feinden Jesu unterscheiden. Dies verdunkelt freilich den soteriologischen Zusammenhang (pro qua) des Todes Jesu mit der Schuldverstrickung der Betenden, den der biblische Befund (etwa der Klagelieder) und dessen liturgische Kontextualisierung (z. B. in den Responsorien) sehr wohl herstellen. Sehr kurz fasst sich im vorösterlichen Offizium die an den Vater adressierte ausdrückliche Gebetsantwort. Die an Christus gerichteten akklamatorischen Huldigungsrufe haben Bekenntnischarakter. 1.3.4 Synthese: Liturgische Schriftrelecture als Quelle österlicher Theologie Die an den drei vorösterlichen Tagen auf ihre dreigliedrige Grundstruktur (Psalmodie mit Antiphonen, Lesungen mit Responsorien sowie Gebet) reduzierte Feiergestalt des Offiziums ist theologisch stringent und für die Theologie des Paschamysteriums überaus ergiebig. In besonderer Weise gilt das von der Nacht- und Morgenhore: Die Psalmen erschließen die in poetischer Gebetssprache verdichtete Unheils- und Rettungsgeschichte Israels/ Jesu: nicht als einmaliges historisches Ereignis, sondern als in mehrfacher alttestamentlicher Erfahrung und auf eigene Weise in der christlichen Relecture beständig aktualisiert und hermeneutisch angereichert. Alter monastischer Tradition folgend macht man sich durch Übung (meditatio und ruminatio) damit vertraut, um so in die Beziehung des Volkes/ Jesu mit seinem Gott/ und Vater einzutreten und an der ihm/ durch ihn gegebenen Verheißung teilzuhaben. Die Psalmen im Offizium sind nicht von vornherein als persönliches (oder gar privates) Gebet zu vollziehen, sondern sie führen zunächst die Feiernden in die ganze biblische Heilsgeschichte - die auch die ihre ist - ein und präzisieren das Verhältnis der Akteure zueinander: Für die Kirche ist Christus der exemplarische Beter (vox Christi und vox ecclesiae ad Patrem) - seltener auch Adressat (vox ecclesiae ad Christum) - der Psalmen, in denen sie zugleich das Mysterium Christi (und der Kirche) ,voraus-‘erkennt (vox de Christo/ de ecclesia). Im Deutehorizont der Psalmen wird das kirchlich gefeierte Heilsgeschehen gesamtbiblisch begreifbar; ihre zugleich vielschichtige und offene Hermeneutik macht es über verschiedene Bedeutungsebenen - anthropologisch, theologisch, christologisch, ekklesiologisch, soteriologisch etc. - zugänglich; schließlich gewinnt es im Mitvollzug an existentieller Tiefe. Die psalmogenen Antiphonen sowie jene anderer Herkunft, zumal die speziell gewählten, sind dafür der Schlüssel: Sie geben zunächst den in der liturgischen Situation intendierten Blickwinkel (einen von vielen möglichen) für den jeweiligen Psalm vor; in ihrer Abfolge bilden die Antiphonen überdies einen hermeneutischen ,roten Faden‘ durch die gesamte Psalmodie: Sie verflechten die Psalmen motivisch und in vielfältigwechselseitigen Bezügen eng und (gegebenenfalls anders als in ihrem kanonischen Kontext) so miteinander, dass sie den Feiernden ein mögliches, wenn auch nicht zwingendes, Interpretament des Christusereignisses bieten; wie in Knoten laufen in den Antiphonen die Fäden der anthropologischen, christologischen, soteriologischen, ekklesiologischen etc. Deutungsmuster zusammen. Über die Horen und über die Tage hin- <?page no="277"?> 1.3 Mysterium der Erlösung im Offizium 269 weg ,quergelesen‘, wird in ihnen das interpretatorische Gerüst der mehrtägigen kirchlichen Feier erkennbar. Ihre Theozentrik und weitgehend implizite Christologie freilich überlässt die konkrete heilsgeschichtliche Identifizierung und erst recht den Akt der persönlichen Identifikation damit den Feiernden: ihrer Bibelkenntnis, ihrer Fassungskraft, ihrer Spiritualität. Der Versikel am Übergang zum Lesungsteil bekräftigt eine aus der Psalmodie gewonnene Einsicht und bestimmt so die Perspektive auf die Lesungen, die nun explizit ,Wort Gottes‘ beider Testamente sowie etwas an Auslegung zu Gehör bringen. Die Responsorien nach jeder Lesung verarbeiten und deuten (,beantworten‘) diese durch weitere intertextuelle Bezüge (Bibelcentones, wobei der Wortlaut fallweise bewusst verändert wird), Neukontextualisierung und/ oder in freier Paraphrase/ Dichtung. Sie sind zugleich ein Kommentar zur Schrift und regen beispielhaft zur aktiven Rezeption des Gehörten und zur Identifikation mit dem liturgischen Geschehen an. Größte Bedeutung kommt im Offizium dem biblischen Wort zu (Psalmen, Lesungen): Es wird zugesprochen/ zugesungen, angehört und eingeübt und schrittweise in einen die ganze Schrift umfassenden Sinnzusammenhang gebracht (Antiphonen, Versikel, Responsorien). Der darin ergangene Zuspruch Gottes begründet erst die anbetende Glaubenszustimmung der Kirche, die sie im gemeinsamen Gebet (Oration) zum Ausdruck bringt. Die jede Hore abschließende Gebetsantwort fällt an den untersuchten Tagen schlicht aus. Die Auswahl und Zusammenstellung der Psalmen und Antiphonen in den theologisch höchst relevanten Nacht- und Morgenhoren ist in den ältesten untersuchten Quellen bis zur jüngsten Liturgiereform konstant dieselbe. Sie liefern nicht nur den quantitativ größten, sondern theologisch substantiellsten Beitrag zur Feier des Paschamysteriums im Offizium. Aufgrund der Stabilität der Überlieferung des psalmodischen und, kaum weniger, des Lesungsteils, ist ihre Theologie in der gesamten römischen Kirche für die Jahresfeier von Ostern prägend. An den untersuchten Tagen ebenfalls sehr stabil ist in den im CAO edierten Quellen beider Cursus das Repertoire an Vigilresponsorien für die jeweils 1. und 3. Nokturn. In der 2. Nokturn - entsprechend den weniger oder gar nicht festgelegten patristischen Lesungen - ist die Zuordnung innerhalb der Horen etwas flexibler; dennoch werden auch hier Mehrheitstraditionen erkennbar. Einzelne Codices belegen darüber hinaus weitere Responsorien für die Tageshoren und Vesper. Insgesamt bietet das CAO für je neun Gelegenheiten am Gründonnerstag 13 Gesänge, am Karfreitag sogar 17, am Karsamstag dagegen nur 11 Responsorien. Die Schriftlesungen stammen zwar immer aus denselben Büchern (Klgl, 1 Kor und Hebr), doch ändern sich die Auswahl und die Länge der Perikopen mit einer Tendenz zur Präzisierung und teils erheblichen Kürzung der Lesungen. Jeder Eingriff - ob auf der Textebene oder im Feierverlauf - verändert die Hermeneutik und bedeutet eine bewusste oder unbewusste Interpretation: Wird eine Lesung gekürzt, ergeben sich zu ihrem bisherigen Responsorium andere Bezüge als im ursprünglichen Kontext; ein ersetzter Responsorialvers verschiebt die Akzente etc. Die - theologisch verengende - Fokussierung auf einen Aspekt kann dennoch umso einprägsamer wirken. Die im Breviarium Romanum 1568 vorliegende reduzierte Textfassung wahrt häufig den Kern der ursprünglichen Aussage(n), präsentiert diese aber im Licht der Theologie ihrer Zeit. So werden etwa Moralisierung und antijudaistische Zuspitzungen als zwei im BR durchgängige Tendenzen erkennbar . <?page no="278"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 270 1.4 Zur Theologie und Spiritualität der vorösterlichen Tage im Offizium Ausgehend von der Darstellung und Interpretation der Feierverläufe im Offizium der vorösterlichen Tage sind die bisherigen Beobachtungen nun unter folgenden Aspekten zu ordnen, die einander bedingen und im liturgischen Vollzug nicht voneinander zu trennen sind: Wie lässt sich das theologische Proprium der einzelnen Tage beschreiben und in welchen Motiven kommt es charakteristisch zum Ausdruck (1.4.1-1.4.3)? Aus welchen Quellen und mit welcher Hermeneutik schöpfen die Theologie und Spiritualität dieser Tage (1.4.4)? Wie geschieht die kommunikative Vermittlung und Aneignung durch die Feiernden und welches Verständnis von Liturgie liegt ihr zugrunde (1.4.5)? 1.4.1 Hoher Donnerstag: Brüchige Beziehungen zwischen Gott und Mensch Die für das Offizium der Nacht- und Morgenhore am Gründonnerstag vorgesehenen Psalmen stammen aus dem (kurrenten) Wochenpsalter; nur ihre Antiphonen sind, psalmogen wie sonst auch, eigens für diesen Tag ausgewählte Texte. Die Psalmodie setzt mit der Erfahrung sozialer Entfremdung und gesellschaftlicher Gewalt ein; die weiteren Texte und Gesänge des Tages thematisieren die nach und nach scheiternden sozialen Beziehungen des Gerechten. Der „Eifer“ des Gerechten für Gott (zelus domus tuae) hat sie ausgelöst und bei den Mitmenschen, Nächsten und Fernstehenden, Irritation und Ablehnung hervorgerufen. Er hat sich nicht nur echte Feinde gemacht, auch die „Brüder“ verstehen ihn immer weniger. Einen ersten Zugang zum Text bietet die anthropologische Erfahrung, dass Glaube nicht einmal unter Gleichgesinnten bis ins Letzte kommunikabel ist; und dass ein über die ,Normalität‘ hinausgehendes Engagement gesellschaftlich als anstößig empfunden wird; insbesondere, wenn die kompromisslos gelebte Überzeugung Unrecht aufdeckt und die dafür Verantwortlichen in Frage stellt, ruft sie entsprechend scharfe Reaktionen hervor. Die theologische Deutung bringt die Gottesentfremdung („Sünde“) als doppelt tödliche Ursache für den Konflikt und seinen tödlichen Ausgang ans Licht: Sie tötet den Gottesfürchtigen, in letzter Konsequenz aber die Sünder. Das Leiden bis zum Tod, das der Schuldlose als Sündenfolge stellvertretend für „die Vielen“ auf sich nimmt, deckt diesen Zusammenhang auf. Seine Identifizierung mit dem „Gottesknecht“/ „Lamm“ vermittelt dennoch die Hoffnung auf Erlösung: Gott werde am Ende nicht nur „seinem Knecht“ Gerechtigkeit verschaffen, sondern durch ihn auch die Schuldigen versöhnen. Dass Gottes Aufstehen zum/ im Gericht die Feinde seines Volkes/ seines Gesalbten (Kollektive und Einzelpersonen aus der Heilsgeschichte Israels/ Passion) bezwingt und beschämt, den/ dem Gerettenen aber das Leben wiederherstellt, steht dazu nicht im Widerspruch, sondern ist dafür die Voraussetzung. Gott bleibt Subjekt des Handelns - erst recht dort, wo Lebensfeindlichkeit und Unrecht herrschen, die sonst niemand berichtigen („richten“) kann. Doch handelt und richtet Gott anders, als Menschen das erwarten. Obwohl der Psalmist/ der Gerechte/ Jesus das ,weiß‘, muss er mit aller Kraft um den Willen JHWHs/ des Vaters ringen. Die Lesungen und Responsorien gehen, mehr noch fühlen, dem zunehmend einsamen Leiden des Gerechten/ Jesu nach - seiner Enttäuschung, Traurigkeit und Angst -, vor dessen absehbarem Ende selbst die engsten Weggefährten zurückschrecken. Am Nichtverstehen, am Verrat, vor allem aber an der Angst zerbrechen alle menschlichen Beziehungen. Anders als die Feinde (und Freunde) bleibt „das Lamm“ dennoch mitleidig; es flieht nicht und bietet statt einer Gegenwehr die Hingabe seiner selbst mit <?page no="279"?> 1.4 Theologie und Spiritualität der vorösterlichen Tage im Offizium 271 „Leib und Blut“. Der Väterkommentar zu Ps 63(64),3 rät, nach dem Beispiel Christi und der Märtyrer, die Menschenfurcht durch Gottesfurcht zu überwinden. Im BR 1568 wird ein besorgter Unterton hörbar: Die Aufmerksamkeit richtet sich stärker als bisher auf die moralische Gefährdung und den Kampf des Einzelnen. In der Schwäche der Jünger wird die eigene Anfälligkeit erkennbar. Man kennt die Feinde und strebt zu den Guten. Die Väterlesung zu Ps 54(55),3 unterscheidet scharf: das abschreckende Beispiel des Judas, „der Juden“, „der Pharisäer“ und der ungläubigen „bösen Stadt“ vor Augen, ist der „Erprobung durch die Bösen“ standzuhalten, ohne sie zu hassen (vielleicht bekehren sie sich ja noch). Die angemahnte Gottesfurcht konkretisiert sich zur Furcht vor der Sünde - auch in der Warnung vor dem „unwürdigen“ Empfang der Eucharistie (1 Kor 11). Alles in allem ist der Gründonnerstag vom Offizium her von einem differenzierten Beziehungsgeschehen geprägt. Die Psalmodie/ Antiphonen und das erste Responsorium sind nicht zufällig theozentrisch ausgerichtet; in ihnen entfaltet der Gerechte/ der Sohn sein bedrängtes Dasein vor dem Angesicht Gottes/ des Vaters; auf ihre Beziehung kommt es an, denn alles andere - Gottesvolk, Familie, Weggefährtenschaft - trägt nicht mehr; auch dort, wo die Verfolger am Zug sind, adressiert sich die Klage deshalb nicht an sie, sondern an den, der retten kann, weil und indem er „richtet“. Die Beziehung zu den Feinden ist lebensbedrohlich ,eng‘ und gewalttätig; zu einer personalen Begegnung mit ihnen kommt es dennoch kaum, denn der Psalmist erfährt letztlich nicht sie als Subjekte des Handelns, sondern Gott. Die Responsorien beziehen die Feiernden - bisher stille Zeugen - ausdrücklich mit ein. Die Sprechrichtung ändert sich, und in dialogischen Sequenzen zwischen dem Gerechten/ Christus und Israel/ Kirche lernen sie den Heilszusammenhang beider Testamente: Ecce vidimus eum (die Kirche gesteht ein, den „Knecht Gottes“ zunächst verkannt zu haben) - Eram quasi agnus (Christus offenbart sich als „das Lamm“); sie hört die Sorge Jesu um den schwachen Glauben seiner Jünger als Aufforderung an sich sustinete, vigilate, orate, ebenso seine Trauer Tristis est anima mea und Enttäuschung über die Gefährten Una hora non potuistis vigilare mecum; insbesondere über einen „von euch“, den Schüler und Freund Judas, der das Unheil entscheidend weitertreibt: Unus ex discipulis meis, Amicus meus. Die Tageshoren bieten keine darüber hinausgehenden theologischen Perspektiven; ihre fast ausschließlich neutestamentlichen Antiphonen memorieren Einzelaspekte der Passion; bei Bedarf werden einige Vigil-Responsorien wiederholt. Die Vesper ist thematisch (Eucharistie, Verrat) vom abendlichen Hauptgottesdienst abhängig, gegebenenfalls auch Teil desselben. 1.4.1.1 Gericht Den psalmodischen Teil der Nacht- und Morgenhore am Gründonnerstag durchzieht zur Gänze die Motivik von Recht und Gerechtigkeit, Gericht und Rettung durch Gott. In kaum einer Vigilantiphon fehlt ein diesbezüglicher Hinweis: Angesichts der iniquitas der Feinde ist Gott der einzige Beistand/ Rechtsbeistand (adiutor), der sich den „Rechtsfall“ des unschuldig Verfolgten zum Anliegen macht (causa mea/ tua) und in seinem Richtspruch (iudicium) zu dessen Gunsten entscheiden wird, indem er ihn „herausreißt“ und „befreit“, die Feinde aber „beschämt“. Ihre Beurteilung als „Sünder“ (peccatores, impii) qualifiziert ihr Handeln als Feindschaft gegen Gott: indem sie sein Gesetz missachten, das den Schwachen schützen will; mehr noch, weil Gott sich mit den unschuldigen Opfern ihrer Gewalt - dem Psalmisten/ Jesus - identifiziert. Er wird in leidenschaftlichem Engagement für das Recht („Zorn“) dem Hilflosen beistehen und dem Unrecht („Sünde“) ein Ende setzen („richten“). Darin liegt auch - die einzige - Hoffnung für die Schuldigen, wie aus den Lesungen und deren Deutung in den Responsorien der 1. Nokturn ersichtlich wird. Denn Gott durchbricht den Teufelskreis von Sünde, Gewalt, Unrecht und Tod nicht nur zugunsten <?page no="280"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 272 der Opfer („Rettung“), sondern auch zugunsten der Täter („Strafe“). Die Klagelieder schildern nicht die Erfahrung unschuldigen Leidens (wie die Psalmen und das Ijob- Responsorium dR 8 ), sondern die aus dem eigenen unrechten Handeln erwachsene Not des Gottesvolkes. Im Gebet der Kirche wird die Klage darüber zum Eingeständnis ihrer und aller Menschen Schuld; das entwürdigte und trostlos verlassene Volk zum Symbol des in die Gottferne gestürzten Menschen, das/ der, auf sich allein gestellt, ohne Zukunft bleibt. Das Elend als von Gott verhängte „Strafe“ zu deuten, anerkennt (außer der eigenen zum Guten ohnmächtigen Schuld), dass Gott allein in dieser Situation handlungsfähig bleibt und sein Handeln hoffen lässt: dass er „im Zorn“ zugewendet bleibt und die Not zum Guten wenden („richten“) wird. Sein „Strafgericht“ dient nicht der (restrospektiven) Vergeltung, sondern es durchbricht das Unrecht und deckt den Unheilszusammenhang von Schuld und Not/ Sünde und Tod auf - prospektiv: um selbst einen Neuanfang zu setzen. Der findet gemäß der Verheißung und doch anders als erwartet statt: Als Gottesknecht/ Lamm nimmt der Schuldlose/ Christus die Stelle der Schuldigen ein: Er identifiziert sich mit ihnen (dR 3 und dR 5 ) und setzt sich „stellvertretend“ der todbringenden Konsequenz der Sündenschuld aus, um sie („für sie“) zu überwinden. In der biblischen Gebetssprache, v. a. der Psalmen, hält der Mensch - ob vermeintlich oder tatsächlich schuldlos leidend oder sich schuldig wissend - an seiner gefährdeten oder zerrütteten, vielleicht kaum mehr wahrnehmbaren Gottesbeziehung gerade dadurch fest, dass er sein Leid (wie alles andere auch) „von der Hand Gottes“ erfährt. Andernfalls wäre er ohne jede Hoffnung. 1602 Radikal verdichten das zwei Antiphonen am Karfreitag: im Festhalten an Gott, der den Beter allem Lebendigen entzogen hat (als wäre er bereits tot) und sich ihm nur mehr ebenso unerreichbar wie feindlich „nahe“ zeigt: Longe fecisti notos meos a me; traditus sum et non egrediabar (f3N2); mit der ersten Laudesantiphon am Karfreitag erkennt er in dem von Gott Ausgeliefertwordensein (traditus sum - tradidit) die Rettung für alle: Proprio filio suo non pepercit Dominus, sed pro nobis tradidit illum (fL1). Christologisch gelesen sprechen die Psalmen/ Antiphonen und die Lesungen/ Responsorien von der Identifikation des Vaters mit dem unschuldigen Sohn - in der Parteinahme für den/ für alle schuldigen Menschen. In der Rehabilitierung des Gottesknechtes/ Christi fallen die Rettung des Frommen (Psalmodie/ Antiphonie) und die Erlösung der Schuldigen (Lesungen/ Responsorien) in eins. Diesen eigentümlichen Richtspruch Gottes bekräftigt die erste Laudesantiphon iustificeris et vincas cum iudicaris. 1.4.1.2 Judas Die Psalmenrezitation überlässt es dem Beter/ der Beterin, ob und in welcher/ welchen der beteiligten (meist namenlosen) Personen - dem Gerechten, den Gegnern, den unverständigen Freunden und Vertrauten etc. - er sich erkennt. Die christologische Lesart der Psalmen in der Liturgie erlaubt zwar, in „Freund und Feind“ des Psalmisten/ Jesu konkrete Figuren der Heilsgeschichte auszumachen, doch geht es nicht um die historische Rollenverteilung im Drama der Passion, sondern um die Selbstidenti- 1602 Das Bekenntnis zu Gottes unumschränkter Herrschaft findet sich wiederholt im AT, u. a. im Gebet der Hanna („Der Herr macht tot und lebendig, er führt zum Totenreich hinab und führt auch herauf.“, 1 Sam 2,6; vgl. Weish 16,13); denselben tröstlichen Grundton vermittelt die weisheitliche Lebenserfahrung, „besser“ sei es, „in die Hände des Herrn zu fallen als in die Hände der Menschen.“ (Sir 2,18) Dass selbst die „Schatten“ Gott nicht entzogen sind, sondern von ihm gesucht und befreit werden, gehört - im Bild vom Descensus Christi - zum österlichen Kerygma. <?page no="281"?> 1.4 Theologie und Spiritualität der vorösterlichen Tage im Offizium 273 fikation der Feiernden. Deutlicher sind hier die Responsorien. Sie konkretisieren die Leiderfahrung des Psalmbeters im expliziten Rekurs auf die Evangelien (v. a. Mt 26). Allein sechs von 13 Responsorien stellen Judas, den Weggefährten, der zum Verräter wird, auf unterschiedliche Weise in den Mittelpunkt ihrer Interpretation der Heilsgeschichte. In seiner Person verschmelzen Freund und Feind, und er dient als tragisches Beispiel des von Anfang an verlorenen Sünders (melius illi erat si natus non fuisset). Wo Judas (ohne namentlich genannt zu sein) als „einer von meinen Jüngern“ und „mein Freund“ (vox Christi) in Erscheinung tritt (dR 4 ; dR 10 ), könnte sein Handeln zur Anfrage an alle werden, die heute den Anspruch stellen, „Jünger“ und „Freund“ Jesu zu sein. Sehr viel schwieriger ist das bei der aus Lk 22 zitierten an Judas gerichteten Frage Jesu nach dem verräterischen Kuss (dR 12 ); hier sind die Feiernden Zeugen einer Szene, die wenig mehr verlangt, als sich ,richtig‘ zu positionieren. Zwei weitere Gesänge - einer an Judas gerichtet (dR 9 ), der andere über ihn (dR 11 ) - gehen noch einen Schritt weiter: In scharfer, zu moralischer Entrüstung gesteigerter Abgrenzung von Judas (und den anderen beteiligten Sündern) klagen sie die Habgier des „miesen Händlers“ (mercator pessimus) an, der „das unschuldige Lamm“ Jesus um Geld verschachert hat. Nicht nur der identifikatorische Wert dieser die biblischen Aussagen tendenziös übersteigenden kirchlichen Dichtung ist fraglich. Das Ijob-Responsorium (dR 8 ) kündigt die Aufdeckung und göttliche Ahndung „seines [= des Frevlers] Unrechts“ (iniquitatem eius) „mit denen“ an, die sich den Plänen Gottes verweigern (scientiam viarum tuarum nolumus). Gegenüber der allgemeinen Formulierung in Ijob 20,27 ist im Responsorium jedoch eius durch Juda ersetzt. Diese Textveränderung betont nicht nur, was im liturgischen Kontext ohnehin naheliegt, nämlich die Gleichsetzung des Frevlers mit dem Verräter, sondern unterläuft - weil historisierend - auch die Aktualisierung der zweiten Zitathälfte (Ijob 21,14) für die Situation der Feiernden, die darauf zielt, nicht andere, sondern sich selbst für jene Sünder zu halten (vox ecclesiae, vox hominis). Noch einmal am Karfreitag begegnet Judas in einem Responsorium, in dem die Freilassung des Straßenräubers Barabbas zum Indiz für das unheilvoll pervertierte Rechtsempfinden des Gottesvolkes wird (fR 6 ), als Speerspitze des Verbrechens (armiductor sceleris); alternativ kann außerdem in fR 3 , fR 4 und fR 6 als Responsorialvers der Wehruf Jesu über den „besser nicht geborenen“ Verräter wiederholt werden. Die auffallende Präsenz, ja Dominanz der Person des Judas in den Texten und Gesängen des Gründonnerstagsoffiziums hat ihren Hauptgrund wohl im liturgischen „Heute“ seiner Tat. Insbesondere, dass er am Abschiedsmahl Jesu teilnimmt, obwohl er soeben dessen Verhaftung angebahnt hat, und Zugehörigkeit vorgibt, wo keine mehr besteht, kommt in den Responsorien in ,direkter Rede‘ Jesu zur Sprache. Die aus dem Erzählzusammenhang isolierten Herrenworte entfalten in ihrer liturgischen Vergegenwärtigung eine hohe Emotionalität und bewegen die Feiernden zur gefühlten Anteilnahme für Jesus und Parteinahme gegen Judas. Die daraus resultierende (,Un‘-) Beziehung der Kirche zu Judas war nicht das Ergebnis (anamnetischer) Selbsterkenntnis, sondern der (mimetischen) Fremdbeurteilung seiner Person, die in hymnischer Dichtung frei nach dem Evangelium noch gesteigert wurde: Als Hauptschuldiger am Leiden und Sterben des Herrn, den er perfide „verraten“ hat (tradidit), 1603 galt der ,auf ewig Verdammte‘ der Kirche die längste Zeit als Inbegriff dessen, was sie selber nicht ist. 1603 Der Vorwurf der Kollektivschuld „der Juden“ am Tod Jesu ist wohl älter als die ältesten greifbaren liturgischen Quellen; dass er aber über Jahrhunderte tradiert wurde und der christliche Antijudais- <?page no="282"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 274 Eine theologische Reflexion über das heilsgeschichtliche „Muss“ des Verrats, damit der Erlösungsplan Gottes erfüllt werde, hat in den Responsorien keinen Niederschlag gefunden. Die Liturgie als Begegnungsereignis zwischen Gott und Gottesvolk/ Kirche/ Mensch sieht indes keine Sprechakte vor, die über (abwesende) Dritte informierten oder zu urteilen hätten. Die Proklamation der Gottesrede, selbst die im Modus des Vorwurfs, der Klage und Anklage, des Droh- oder Gerichtswortes etc., ergeht an die aktuelle Versammlung. Aus der liturgischen Aktualisierung der biblischen Überlieferung muss deutlich werden, dass die Heilsgeschichte/ die Passion Jesu nicht erzählt wird, um aus ,historischen Fakten‘ Feindbilder oder Vorbilder (oder deren Idealtypen) zu extrahieren, sondern um ihre Hörer zu der Einsicht zu führen, dass hier und jetzt sie gemeint und involviert sind: Am Gründonnerstag - „das ist heute“ 1604 - in die Schwäche der Jünger und in ihren Glauben, in das Messias-Bekenntnis des Petrus und in sein Unverständnis für den Weg Jesu, in die Bereitschaft der Freunde für Jesus zu sterben und in die Leugnung, ihn überhaupt zu kennen; vielleicht sogar in die ängstliche Sorge der religiösen Autoritäten und in die skrupellose Karriereplanung der politischen Machthaber; und wohl auch in die (unbekannten) Absichten des von Jesus berufenen Weggefährten Judas und in die Tragik seiner verheerend großen Schuld. Den Feiernden bietet Judas, der „geborene Sünder“, „Freund“ und „Jünger Jesu“ ein Stück Wahrheit über sie selbst. 1.4.1.3 Eucharistie Die Feier der (Einsetzung der) Eucharistie ist nicht nur Inhalt des nachmittäglichen (bis abendlichen) Hauptgottesdienstes am Gründonnerstag und der ihm unmittelbar benachbarten Vesper, sondern auch ein in den Texten und Gesängen der Nacht- und Morgenhore wiederkehrendes Motiv. In der Psalmodie (per annum) und Antiphonie spielt das Mahl keine Rolle; als einzige Anspielung käme lediglich Ps 68(69),23 in Betracht. Die drei letzten Laudesantiphonen hingegen enthalten Formulierungen, die der christlich-kirchliche Beter eucharistisch assoziieren kann. 1605 Die Antiphon Exhortatus es in virtute tua et in refectione sancta tua, Domine zum AT-Canticum (Ex 15,1-21), das von der Befreiung aus tödlicher Bedrohung und der Hineinführung der Geretteten in die Gegenwart Gottes handelt, lässt sowohl eine paschale als auch eine sakramententheologische Neudeutung der wirkmächtigen Gottespräsenz im Exodusgeschehen (virtus/ refectio) zu: Gott hat sein Volk durch das Heilsgeheimnis des neuen Exodus, den Durchgang Jesu vom Tod zum Leben, erlöst („getröstet“), an dem es in den österlichen Sakramenten der Taufe und Eucharistie Anteil erhält. Die Selbstdarbringung (oblatio) des deuterojesajanischen Gottesknechtes, der „unsere Sünden“ getragen hat, interpretiert sodann die Hingabe Christi an den Vater (im Leben und Leiden bis zum Kreuzestod) um der Menschen willen; implizit also auch deren sakramentale Vergegenwärtigung in den eucharistischen Gaben von Brot und Wein. Der in der neutestamentlichen Benedictus-Antiphon am Ende der Laudes (sowie in etlichen Responsorien) erwähnte Verrat ereignet sich im zeitlichen und örtlichen Rahmen des Letzten Abendmahls; der darin ausgedrückte Beziehungsabbruch kontrastiert scharf die in den Einsetzungs-/ Deuteworten Jesu zugesprochene Beziehungsstiftung mus seit dem Mittelalter bis ins 20. Jh. hinein aus einer entsprechend inszenierten und rezipierten Liturgie Nahrung erhalten hat, ist nicht zu leugnen. 1604 Einschub ins eucharistische Hochgebet. 1605 Alle drei Antiphonen (dL4, dL5 und dLEv) siehe oben Kapitel 1.3.1.1. <?page no="283"?> 1.4 Theologie und Spiritualität der vorösterlichen Tage im Offizium 275 und ,bestätigt‘ via negativa den paulinischen Verweis auf das Bekenntnis zu Christus als Wirken des Geistes (7.-9. Vigillesung). Über die im BR 1568 um die Kritik am Gottesdienst der (korinthischen) Gemeinde erweiterte Perikope aus 1 Kor 11 ergeht schon am Morgen des Gründonnerstags die Aufforderung zur Gewissensprüfung an die Feiernden. 1.4.2 Karfreitag: Ende oder Rettung des Menschen? Am Karfreitag errreicht das einsame Leiden des Gerechten/ Jesu seinen tödlichen Höhepunkt. Die ausgewählten Psalmen bringen die Abgründigkeit seines gottverlassenen Sterbens und den Triumph der Mächtigen ohne Beschönigung zur Sprache. Zugleich wecken sie eine fast absurd anmutende, leise Hoffnung, Gottes größere Macht werde sich in der Ohnmacht seines Gesalbten, seine Verherrlichung in dessen Erniedrigung und Christi anderes Königtum („nicht von dieser Welt“) als wahr erweisen. Doch bleibt vorerst in Schwebe, ob und wem Gott sich „im Zorn“ entzogen hat; ob und wessen er - dennoch - rettend gedenken wird. Die Lesungstexte und Responsorien konfrontieren die Feiernden mit scharfen Kontrasten und mit den Paradoxa des göttlichen Handelns in einer pervertierten, unheilverstrickten Welt: Die Freunde fliehen, der todgeweihte Verbrecher bereut; der Unschuldige wird verurteilt, während man den Schuldigen entlässt; die Menschen sind „schwerhörig“ geworden und ihre Beziehung zu Gott „bitter“; die (Selbst-) Hingabe des Guten erscheint als Sieg des Bösen und die über den Gekreuzigten hereinbrechende Finsternis entlarvt die blinde Dunkelheit im Menschen. Ernsthafte Sorge um das „jetzt“ und endgültig ergehende Heilsangebot ist geboten. Die Fassung des BR 1568 unterstreicht das frühere Versagen des Gottesvolkes und die souveräne priesterliche Vollmacht Christi, dessen göttliche Geduld sich von „den Juden“ und „den Fremden“ gleichermaßen erproben ließ; es mahnt dazu, sich ohne Menschenfurcht an Jesu kraftvolles Wort und Beispiel zu halten. Tageshoren und Vesper behandeln Passion und den Kreuzestod Christi. Dennoch steht am Karfreitag nicht einseitig die Entäußerung des Sohnes in die conditio humana bis zum Tod (am Kreuz) im Zentrum, sondern auch seine Verehrung und Anerkennung als König und (am Kreuz) erhöhter Kyrios. 1.4.2.1 Die Feinde Die Gegner und Feinde des Gerechten, die trotz ihrer Machenschaften zunächst bisher blass geblieben sind, gewinnen am Karfreitag an Kontur: Könige und Fürsten (reges et principes), Sünder und Frevler (peccatores, impii) sind es in der Psalmodie, sowie die Mächtigen (fortes) im eigenen Volk und bei den Fremden (alieni); falsche Zeugen (testes inqui) und irgendwelche Schergen; in den Responsorien dann konkreter die gesellschaftliche Führungsschicht Israels (seniores populi) und das Volk (Iudaei), die Hohepriester (principes sacerdotum), Schriftgelehrten und Pharisäer (scribae et pharisaei); nicht zu vergessen die Hinterhältigen (insidiantes) - alle Feinde (omnes inimici) und: alle Freunde (omnes amici mei). Die Vigilantiphonen schildern die psychische und physische Gewalt gegen den Frommen durchgängig in Verbalformen der 3. Person Plural; 1606 ähnlich etliche Responsorien. Letztere identifizieren die (in den Psalmen noch nicht näher bestimmten) Tätergruppen mit den an der Passion Christi maßgeblich beteiligten Personen. Die Aggression dem Opfer gegenüber lässt sie über bestehende Unterschiede und Animositäten 1606 Die einzige Ausnahme im psalmodischen Teil ist die Antiphon Longe fecisti notos meos a me … (f3N2; vgl. Kapitel 1.4.1.1); sie richtet sich an Gott, dessen Handeln zwar ebenfalls als „feindlich“ erfahren wird, aber dennoch die einzige Hoffnungsperspektive bietet. In den Responsorien erscheint v. a. Judas als prominenter Einzeltäter (vgl. Kapitel 1.4.1.2). <?page no="284"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 276 hinwegsehen (z. B. Herodes und Pilatus) und eint sie in der Ablehnung. Theologisch relevant ist freilich die heilsgeschichtliche Dimension ihrer Einigkeit, die auch weitere Personen und Gruppen erfasst. In ihrer Gesamtheit machen sie in jeder Hinsicht ,alle‘ aus: Israel und die Heiden; das Gottes(fuß)volk samt seiner Führungselite; alle offenen und heimlichen Feinde und alle Freunde Jesu, die ihn verraten, verleugnen und verlassen. So unterschiedlich ihre Motive und das Ausmaß ihrer schuldhaften Beteiligung auch sind, alle Genannten müssen sich zu den „Sündern“ und „Frevlern“ zählen lassen. Exemplarisch tritt an ihnen zu Tage, was in christlicher Perspektive von jedem Menschen (vox de homine) - in der Liturgie von den Anwesenden (vox de ecclesia) - gilt. Die ,Feststellung‘ bestimmter Schuldiger führt in die Einsicht der Schuld aller und dient der Selbsterkenntnis der Feiernden. Ebenso werden sie auch die Bitte des Psalmbeters/ Christi, die Feinde und alle Sünder mögen von ihrem Tun verwirrt/ beschämt ablassen und zurückweichen (f2N2; auch d1N2), auf sich selbst beziehen. Ein Merkmal des „Frevels“ ist der Mangel an Verständigung. 1607 Bei all der feindseligen Umtriebigkeit findet kaum Kommunikation statt: Der Hilferuf des unter der Sünde Leidenden verstummt (zuletzt ist er in f3N1 hörbar); die von JHWH/ Christus an seine Erwählten/ Kirche (vinea mea) gerichtete Frage in Erinnerung ihrer ehemals glücklichen Beziehung (vox Christi/ ,von oben‘) erwartet keine Antwort mehr (fR 3 ); schließlich führt auch der Wortwechsel zwischen Pilatus und Jesus nicht zum Verstehen (fR 14 ). Zu der einzigen echten Begegnung kommt es zwischen zwei der drei Hingerichteten, die (wie die Aggressoren) ursprünglich nichts gemein haben und doch dasselbe gewaltsame Schicksal teilen: zwischen einem der beiden schuldigen und verurteilten Räuber (latro/ -nes) und Jesus, der sich unschuldig als todeswürdiger Verbrecher abstrafen lässt (tamquam ad latronem, fR 4 ). Diesen im Tod unkenntlich gemachten Unterschied erkennt nur jener Sünder, der die eigene Schuld nicht leugnet (oder abwälzt): nos quidem digna factis recipimus, hic autem quid fecit? (fL3). Er spricht die Wahrheit, aber nicht nur über sich selbst und den zweiten, reuelos bleibenden Verbrecher, sondern im Namen aller Menschen, deren Stelle Jesus in seinem schändlichen Sterben einnimmt. Aus dem paradigmatischen Bekenntinis und dem daraus entstehenden Dialog wird das admirabile commercium der Erlösung des Menschen ersichtlich: Der Gerechte harrt bis zuletzt bei dem Schuldigen in seiner existentiellen Not aus, damit der Mensch wieder bei ihm „im Paradies“ sein darf. Dieser Heilszusage an den exemplarischen Sünder geht die Bitte memento mei in regnum tuum (fL3, fL5; fR 2 ; vox ecclesiae/ vox hominis) voraus. Darin klingen zwei weitere den Karfreitag prägende Motive an: das Gedenken Gottes/ Christi und sein Königtum. 1.4.2.2 Gottes Gedenken im Zorn Die mehrfache Wiederholung der Bitte des Sünders um das Gedenken Jesu verdient Aufmerksamkeit. In den Laudes rahmt sie einen außergewöhnlichen Text (fL4), in dem vom Gedenken Gottes die Rede ist. Biblisches Sicherinnern („Gedenken“) ist gleichbedeutend mit Handeln und meint zumeist das rettende Eingreifen JHWHs an seinem/ für sein Volk. 1608 Die liturgische Kontextualisierung zieht über die Verknüpfung memento mei - memor eris - memento mei das Canticum Hab 3 als theologisches 1607 Das entspricht dem beobachteten sukzessiven Beziehungsverlust zwischen Gott und den Menschen (vgl. Kapitel 1.4.1). 1608 Vgl. z. B. Ex 6,5; Jes 43,25; Ps 113(115),20(12); 1 Sam 1,19; Jer 2,2; Lk 1,72 u. a. <?page no="285"?> 1.4 Theologie und Spiritualität der vorösterlichen Tage im Offizium 277 Interpretament der Kreuzigung Jesu heran: Sie ist gleichermaßen Gottes Zorngericht über den Menschen wie Epiphanie Gottes zu seiner Rettung; Zorn und Erbarmen Gottes, Verstörung und Glaubensgewissheit ereignen sich zugleich. Anschaulicher und wahrhaftiger könnten Gottes Auftreten gegen das Unrecht und die fragile Gottesbeziehung des Menschen nicht beschrieben werden. Ihr Ausgang hängt allein am „Gedenken“ JHWHs: Sich des Unrechts zornig erinnernd kommt er über die Erde, um, sich seines Erbarmens erinnernd, seinem Volk mit seinem Gesalbten Heil zu schaffen: egressus es in salutem populi tui in salutem cum christo tuo. (Hab 3,13) Der Zeuge des visionären Geschehens schwankt in seiner Schilderung zwischen Erschrecken und Zittern (conturbatus est/ dum conturbata fuerit … contremuerunt labia mea) und ruhiger Zuversicht (requiescam in die tribulationis); so auch der leidende Gerechte der Psalmen (vox Christi/ von unten) in der Nacht- und Morgenhore des vorösterlichen Offiziums (dL3; fL2, fL4; s1N1, s1N2, s1N3), den Gott doch „seinen eigenen Sohn“ und „seinen Gesalbten“ (fL1, f1N1), „meinen König“ und „Gebieter der Erde“ (Ps 2) nennt (vox de Christo/ von oben). 1.4.2.3 Passion Der Karfreitag - dem Gedächtnis des Leidens und Sterbens Jesu Christi am „Rüsttag“ (in parasceve) gewidmet - stellt sich von Morgen an als der Tag der Gottesfeinde und ihrer Anstrengungen adversum Dominum et adversum Christum eius dar, den „Gesalbten“ und „Sohn“ 1609 Gottes, seinen „König“ (Ps 2,2.7.6), unter dem Vorwand der Gotteslästerung zu beseitigen. Ein erschreckender „Wahrspruch“ insofern, als der Gerechte das Urteil an ihrer Stelle hört und sein Tod von Rechts wegen der ihre ist. Dies ist auch die Perspektive der liturgischen Versammlung. Schon der erste Psalm lässt weder einen Zweifel an der göttlichen Würde des Leidenden noch an der Blamage derer, die meinen, sich seiner Herrschaft entziehen zu können; er mahnt die Täter zur Einsicht und warnt vor dem Zorn des Herrn. Das Gebet der Kirche mit Christus kommt in den folgenden Klage- und Feindpsalmen an ein Ende, denn sie findet sich nicht an der Seite des Gerechten, sondern unter den Sündern/ Feinden; auch die Responsorien erlauben wenig Empathie; die Identifikationsfigur der Feiernden schlechthin ist der reuige Schächer. In diesem Horizont verstehen sich auch alle weiteren Texte und Gesänge des Offiziums. Sie stellen nicht das pure Leiden des Gerechten/ Christi vor Augen, sondern meditieren es anthropologisch-soteriologisch. Sie bringen das menschliche Tun in Relation zum Handeln Gottes: Im unschuldig Leidenden/ Sohn zeigen sich die Tödlichkeit der Sünde und die Ohnmacht derer, die ihr als Opfer und Täter ausgeliefert sind (Vigilpsalmodie); seine Hingabe an JHWH/ den Vater verbürgt dessen größere Macht und offenbart, dass er selbst ihn/ den Sohn um ihretwillen ausgeliefert hat (fL1). Die Lesungen und Responsorien ,kommentieren‘ die Passion überwiegend heilsgeschichtlich vor dem Hintergrund der Erwählung und ,Verbitterung‘ des Gottesvolkes (fR 3 ), seiner schmerzhaften Schuldeinsicht (fR 9 ) und späten Erkenntnis des Gottesknechtes/ des Lammes (dR 3 ; fR 7 , fR 11 , fR 13 ) sowie der Prophetie des Durchbohrten als „wahrhaftig Gottes Sohn“ (fR 11 ) und einzigen - von Gott eingesetzten - priesterlichen Heilsmittler. 1609 Dieser Titel wird in der alttestamentlich-jüdischen Tradition auf heilsgeschichtliche Einzelpersönlichkeiten und kollektiv auf das Gottesvolk sowie seine von Gott ,adoptierten‘ und ihm daher verantwortlichen Könige angewendet; letztlich aber auf den von den Propheten verkündigten Heilsbringer der Endzeit. <?page no="286"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 278 1.4.3 Karsamstag: Im Himmel, auf der Erde und unter der Erde Der Karsamstag beginnt „ruhig“: Nach seinem Leiden hat der Gerechte/ Gekreuzigte „Ruhe“ gefunden - den Psalmen nach „schläft“ er (und wird erwachen) nicht im Grab, sondern „im Land der Lebenden“ (und an anderen ,Orten‘ des Lebens: Zion, dem heiligen Berg etc.). Doch kennt er auch den ,Ort‘ des Todes: die Gottferne der Unterwelt, in die er gestürzt ist, um - „frei geworden unter den Toten“ - die Toten zu retten. An seinem Grab (dem letzten ,Ort‘ bei den Menschen) herrschen Trauer, Klage, Schmerz und Furcht vor dem angekündigten „Tag des Herrn“. In den Lesungen wandelt sich die Erwartung des Gerichts über die Sünde/ r zur Hoffnung auf die Vergebung durch das „am Holz“ (,Ort‘ der Sühne) vergossene Blut des Lammes/ des Hohepriesters Christus. Die biblischen Lesungen und Gesänge im BR 1568 stellen ergänzend die demütig-geduldige Bußbereitschaft des Sünders, dessen Schuld allein durch das Blut Christi vergeben worden ist, als angemessene und erforderliche Haltung vor Augen. Augustinus legt anhand von Ps 63(64) die Heilsnotwendigkeit der Entäußerung Christi in die conditio humana dar, deren Abgründigkeit er exemplarisch (und polemisch) an der Feindschaft „der Juden“ gegen Jesus festmacht. 1.4.3.1 An allen Orten seiner Herrschaft Geht man die Offiziumsgesänge und -texte des Karsamstags entlang, durchwandert man die Sphären des biblischen Weltbildes: „Himmel“, „Erde“ und „Unterwelt“, die zugleich die Koordinaten des menschlichen Daseins bilden: seine geschöpfliche Herkunft von Gott und usprüngliche Bestimmung zum Leben; seine durch die Sünde irdisch-gebrochene Existenz zum Tode; gefährdet, Gott für immer zu verlieren. Die Karsamstagspsalmodie führt den Beter auf der Spur des Frommen/ Christi in die Gegenwart Gottes/ ins Leben (Ruhe, Friede, Land der Lebenden; Zion, Zelt, heiliger Berg); danach zu den Toten (Unterwelt, Schatten, Grab, Finsternis, Vergessen) - also an jene ,Orte‘, die das irdische Dasein des Menschen in strenger Alternative determinieren: Gottnähe in einem gerechten Leben - Gottesverlust durch die Sünde; jedenfalls aber im physischen Tod. Das ändert sich im Da-wie-dort-sein des Gottesknechtes/ des Gekreuzigten, der „Erfolg hat“ 1610 : Sein Sturz in die Gottferne (s3N3) wird zum triumphalen Einzug (s2N1); derenÜberwindung (sL1) zur Grundlage seiner unumschränkten Herrschaft als rex gloriae über Lebende und Tot(geglaubt)e. Die anthropologisch-soteriologische Botschaft des psalmodischen Karsamstagsgeschehens ist ebenso individuell wie universal; sie umfasst in Christus die ganze Schöpfung. Dieselbe Heilstopografie bringt Phil 2,10, der Folgevers des an den Kartagen durchgängig präsenten Gesanges Christus factus (Phil 2,8[-9] 1611 ). In Fortsetzung von V. 9 … et dedit illi nomen quod est super omne nomen 1612 am Karsamstag formuliert der zweite Halbsatz die universale Anerkennung des in seiner Erniedrigung erhöhten Erlösers final: … ut in nomine Iesu omne genu flectat caelestium et terrestrium et infernorum. 1.4.3.2 Klage und Schmerz, Staunen und Erwartung Differenziert zeigen sich die in den vorösterlichen Offiziumstexten und -gesängen liturgisch erfahrbaren Stimmungen und Beziehungsebenen: Angst und Gottvertrauen in der theozentrischen Kommunikation des leidenden Gerechten/ Sohnes mit seinem Gott/ Vater am Gründonnerstag; Erschrecken über die explizit gottfeindliche und (zwischen-)menschliche Katastrophe am Karfreitag 1610 Vgl. Jes 52,13. 1611 V. 8 bis mortem wird am Gründonnerstag gesungen, bis crucis am Karfreitag; V. 9 propter quod et Deus … bis omne nomen am Karsamstag. 1612 In der Vulgata: … illum exaltavit et donavit illi nomen super omne nomen. <?page no="287"?> 1.4 Theologie und Spiritualität der vorösterlichen Tage im Offizium 279 Der Karsamstag ist von der (symbolisch an ,Orten‘ festgemachten) unüberbrückbaren Distanz zwischen Opfer und Tätern und ihrer Überbrückung bestimmt, von Trauer und Staunen: Trauer, aus kirchlicher Sicht mehr noch, Erschütterung und Reue über den (mitverschuldeten) Tod des Gerechten/ Christi; fast atemloses Staunen über seine Rettung, durch die er die - alle - Schuldigen erlösen wird/ erlöst hat. Während die Kirche die Vigilpsalmodie als staunende ,Ohrenzeugin‘ der Hoffnung Christi und seines prophetischen Drohwortes an den Tod (vox Christi, vox de Christo) vollzieht, kommt ihre eigene Situation und Verfassung in der Klage „wie um den einzigen Sohn“ (vox ecclesiae, vox hominis) in der Laudesantiphonie (sL2-sL5; sLEv) und den Responsorien theologisch reflektiert und emotional zum Ausdruck: unter ihnen erlaubt nur der Hiskija-Psalm, seiner aus Todesnot flehenden Antiphon wegen (sL4), den Feiernden das Gebet mit Christus; die übrigen Texte führen sie an das Grab Jesu, wo „die Frauen“ die letzte noch mögliche Nähe zu ihm in der Trauer um den für immer verloren Erkannten suchen; zugleich wird das Grab als der allen Sterblichen zukommende ,Ort‘ bewusst. Die in den Vigilpsalmen und -antiphonen aufgekeimte vorsichtige Erwartung, die in den Lesungen wiederkehrt - „vielleicht ist noch Hoffnung? “ (Klgl 3,29b) - und affirmiert wird, reduziert sich in den Laudes wieder auf die ernüchternde Erkenntnis des gegenwärtigen status quo der Menschheit. Es gibt also keine einfach-lineare liturgische Entwicklung von der Trauer über die bangende Erwartung hin zur Erlösungsgewissheit, sondern die Empfindungen schwanken und die Selbstidentifikation der Feiernden bleibt in Schwebe zwischen dem Wissen um die Verlorenheit in der Schuld und der staunenden Bezeugung nicht allein der Rehabilitierung des Gerechten, sondern der seinem Sterben - „vielleicht für alle“ - innewohnenden Hoffnung. 1.4.3.3 Christi descensus ad inferos Das Leben des Gerechten endet nicht im Grab. Diese biblische Zuversicht vermitteln die Psalmen, Antiphonen und Responsorien, insofern sie den friedvollen Heimgang des Unschuldigen in Gottes Gegenwart beschreiben (Vigilantiphonen); dass „unser Hirte“, in dem JHWH selbst sich um die Herde kümmern wollte, „weggegangen [ist]“ (sR 4 ), könnte allerdings die endgültige Trennung bedeuten. Bleibt die keineswegs unschuldige Menschheit mit sich allein am Grab Jesu zurück? Die biblischen Texte entwickeln ihr großes Hoffnungspotential für den/ alle Menschen in der liturgischen Relecture: Im ,Freigang‘ [des Getöteten] unter den Toten (s3N3) und im Einzug des Königs der Herrlichkeit (s2N1) lässt sich die soteriologische Dimension seines Endes erahnen. Die Vigilantiphonen beschreiben das dem Frommen/ Christus verheißene Schicksal weniger statisch-zuständlich, vielmehr als, wenn auch leise, Aktivität: (aus-)ruhen, in Frieden wohnen, Gutes sehen, frei (geworden) sein; sie vermitteln Gelassenheit, nicht Passivität. Deutlicher noch spricht sR 4 von sich zurückziehen/ weggehen, was Folgen für die Zurückgelassenen hat; höchstes Aufsehen erregt aber der Einzug des rex gloriae, wobei hier nicht nur und nicht primär an seinen Aufstieg zum Heiligtum Gottes zu denken ist. 1613 Die entschiedenste Deutung nämlich erfährt das selbstbestimmte Handeln des Gerechten im Christologumenon vom Hinabsteigen in die „unterste Tiefe“ (infernum), auch ,Hadesfahrt‘ oder ,Höllenfahrt‘ Christi. An dieser Stelle sind einige Beobachtungen und Ergebnisse der Forschung zur Herkunft und theologiegeschichtlichen Entwicklung der Descensus-Vorstellung summa- 1613 Vgl. Anm. 444. <?page no="288"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 280 risch festzuhalten, die zum Verständnis ihrer liturgischen Verankerung im Offizium des Karsamstags beitragen. 1614 Der Glaube an den Abstieg Christi in die Unterwelt ist in der frühchristlichen Literatur breit belegt; zu den liturgischen Zeugnissen gehören frühe Paschahomilien und Eucharistiegebete. Mitte/ Ende des 4. Jhs. wird die Auffassung dann als Glaubensartikel descendit ad inferos in der Synodalformel von Sirmium (359) und im Symbolum von Aquileia sowie im Apostolischen Glaubensbekenntnis rezipiert. Als Primärquellen seiner (der literarischen Rezeption wohl vorausliegenden) liturgischen Bezeugung sind die eucharistischen Hochgebete anzusehen, in denen des Descensus Christi als einer der Heilstaten Christi gedacht wird. 1615 1614 Zur soliden Erstinformation über die Wirkungsgeschichte der in den orientalischen Liturgien zentralen Vorstellung auch in westlichen Traditionen ist immer noch der Lexikoneintrag von C ABROL , Déscente, hilfreich; für exemplarische Beobachtungen über Abstieg (und Aufstieg) Christi als soteriologisches und baptismales Motiv in Ost und West vgl. R OUSSEAU , Descente. Die patristische Entwicklung hat zuletzt G OUNELLE , Descente, umfassend aufgearbeitet; die religionsphilosophische Studie zur Interpretation des Descensus von H ERZOG , Descensus, bildet einen forschungsgeschichtlichen Meilenstein. Die Ansichten darüber, ob es sich beim Descensus um eine genuin biblisch-christliche Vorstellung handelt oder ob und inwiefern er sich - inhaltlich oder seiner Gestalt nach - aus mythisch-paganen Wurzeln herleitet, gehen in der Forschung des 19./ 20. Jhs. stark auseinander. K ROLL , Gott, hat in seiner umfassenden Studie die Vielgestalt der Katabasismythen in den alten Hochkulturen des nahen und mittleren Ostens sowie in der Antike, im christlichen Altertum bis ins Mittelalter und im Judentum einer sorgfältigen philologischen Untersuchung unterzogen; er anerkennt nicht nur den zweifelsfrei originalen christlichen Erlösungsgedanken, sondern setzt auch das Motiv der Höllenstürmung - v. a. seiner liturgischen Präsenz wegen (vgl. Anm. 840) - „schon hart an der Schwelle des Urchristentums“ (ebd. 180) an; den Ursprung betreffend seien jedenfalls aus religionshistorischen Ähnlichkeiten oder der zeitlichen und örtlichen Einordnung von Traditionen allein noch keine Abhängigkeiten abzuleiten, vielmehr käme es auf die jeweilige „Ausprägumg des Gedankens“ an, „vor allem auf die Gestaltung durch das Wort, auf die Formulierungen, die den Motiven gegeben werden“ (ebd. 181). Gegen Herleitungsthesen etwa vom Orpheusmythos (z. B. von G ARDNER vertreten) oder vom babylonischen Ištar-Kult (u. a. B OUSSET , G UNKEL ) ebenfalls für die Eigenständigkeit des christlichen Abstiegsmotivs plädiert M AC C UL- LOCH , Harrowing, nicht zuletzt der biblisch geprägten Sprache und Übereinstimmung mit der jüdischen Vorstellungswelt wegen - „The doctrine was the result of the existing mental conceptions of the first believers, derived from their traditional beliefs and expectations“ (ebd. 322) -, räumt aber die mythologische Einfärbung und legendarische Ausgestaltung der ursprünglichen Hadespredigt Christi um der Befreiung der Toten willen ein. Überaus kritisch resümiert B IEDER , Vorstellung, die Entwicklungsgeschichte des christlichen Descensusmotivs: „So kam ins Credo der Kirche, was mit dem Credo der Urchristenheit innerlich im Widerspruch stand.“ (ebd. 195); nicht nur pagane Einflüsse (z. B. das Kampfmotiv), sondern auch innerkirchliche Prozesse schleichender Historisierung, Sakramentalisierung und Moralisierung des Christusereignisses sowie die Allegorisierung des Alten Testaments hätten letztlich aufgrund seiner „faktischen Bedeutsamkeit“ (ebd. 194) zur Dogmatisierung als ,Höllenfahrt‘ geführt, für die es keine biblische Grundlage gäbe. Hingegen meldet die jüngere bibeltheologisch-dogmatische Untersuchung des Glaubensartikels von V OGELS , Abstieg, „ganz allgemein das Bedenken“ gegen den „Quellenwert der so genannten Religionsgeschichte“ (ebd. 229) an; seine Argumentation gegen die daraus resultierenden Mythos-Theorien bemüht sich um die in 1 Petr 3,19 und 4,6 gründende Authentizität des christlichen Descensusglaubens; hier will der Autor u. a. das Proprium einer von Anfang an universalistisch angelegten Heilspredigt (nicht: Gerichtsansage) Christi aufzeigen. B ROX , Petrusbrief 182-189, erforscht in einem Exkurs „Zur Nachgeschichte von 1Petr 3,19f/ 4,6 (Der ,Höllenabstieg‘ Christi)“ das freilich auch ihm dünn scheinende biblische Fundament des Descensus-Motivs, v. a. aber seine theologiegeschichtlich erst eigentlich wirksam gewordene Rezeption in der Väterliteratur der ersten Jahrhunderte. M AAS , Gott, diskutiert in seiner Habilitationsschrift biblische, theologiegeschichtliche und hermeneutische Aspekte. Die Eigenart und Voraussetzungen der byzantinischen Osterfrömmigkeit hat S CHULZ , Höllenfahrt, untersucht. 1615 Die Bedeutung der Liturgie für die Geschichte der Descensus-Vorstellung betont G RILLMEIER , Gottessohn 80-100. Die heilsgeschichtliche Anamnese im Eucharistiegebet der sogenannten „Tra- <?page no="289"?> 1.4 Theologie und Spiritualität der vorösterlichen Tage im Offizium 281 Als Kern und ältestes Motiv des christlichen Descensus ad inferna 1616 unbestritten ist die ,Hadespredigt‘ Christi: 1617 das Hingehen (nicht: Hinabsteigen) zu den Ungehorsamen der Noah-Zeit, um ihnen zu predigen (1 Petr 3,19) und „auch Toten“ das Evangelium/ ihre Erlösung zu verkündigen (1 Petr 4,6). Die Hörer der Predigt sind „Gefangene“: Sünder und Tote. Die Rettung der alttestamentlichen Frommen hingegen bedarf keiner ,Spezialintervention‘; ihre Stellung in der Heilsökonomie und zu dem Erlöser, den sie selbst erwartet und verkündet haben, steht außer Zweifel. 1618 Die Frage nach der Vergebung ihrer Sünden mag sich dennoch gestellt haben und wurde in der patrologischen Literatur verarbeitet. 1619 Die schon im Schrifttum des 1. Jhs. einsetzende Reflexion über die Differenzierung der Adressaten der Predigt Christi - nur Gerechte, einige oder alle Sünder, alle Toten - und der ihnen eingeräumten Möglichkeiten - Bekehrung, Läuterung, sofortige oder spätere Befreiung - zeugt vom missionarischen Eifer, den heilsuniversalistischen Zu- und Anspruch des Evangeliums zur Geltung zu bringen. 1620 Die Heilsproklamation Christi hat, nicht anders als seine Predigt zu Lebzeiten, die Befreiung ihrer Hörer „im Gefängnis“ zum Ziel. Mit ihr verbindet sich als zweites Descensus-Motiv die Metapher von der machtvollen Überwindung und Öffnung (oder Zerstörung) der Pforten der Unterwelt, die alle im Tod Gefangenen herausgeben muss. Der bildhaft reich und dynamisch ausgestaltete ,Hadeskampf‘ wird gegen den räuberisch-gefräßigen „Rachen“ oder den personifizierten „Hades“, „Seelenfresser“, „Tod“ und „Teufel“ geführt und lässt sich auch mit der „Bindung des Starken“ (Mk 3,27) assoziieren. Dadurch wird der Sieg Christi, der im Kreuzestod errungen wurde, als universale Erlösung plastisch. In der weiteren Rezeption tritt das ursprüngliche und eher nüchterne Predigtmotiv hinter dem die Vorstellungskraft und das Erleben weit mehr inspirierende Kampfmotiv - in zahlreichen Entfaltungen von der ,Hadesberaubung‘ bis hin zum wahren ,Höllensturm‘ - zurück. Als ,Höllenfahrt‘ hat es die Liturgie in Oratiditio Apostolica“ (3. Jh.? ) 4 (FC 1, 224 G EERLINGS ) etwa formuliert unter Verwendung des Descensus-Motivs soteriologisch, Christus habe gelitten, „damit er den Tod aufhebe und die Fesseln des Teufels zerreiße, und die Unterwelt niedertrete und die Gerechten erleuchte und (der Unterwelt? ) ein Ende setze und die Auferstehung kundtue.“ K ROLL , Gott, meint gar, dass die „Einbegreifung ohne besondere Nennung der Hadesfahrt in der Liturgie überhaupt das Primäre“ und selbst ohne explizite Nennung jedes der christologischen Motive (Leiden, Sterben, Tod, Abstieg und Erhöhung Christi) in den „,Erinnerungen‘, bei denen nur in Abbreviatur gesprochen wird“, dem „religöse[n] Bewusstsein“ präsent sei (15f); die weitere theologisch-spekulative Durchdringung der sich aufdrängenden Probleme von Zeit, Ort, Ablauf und Wirkung des Descensus (v. a. in Verbindung mit Fragen der Christologie) habe allerdings weitgehend unter Absehung von der liturgisch-symbolischen Hermeneutik stattgefunden. 1616 Schon in den spätantiken Symbola ist bald auch personalisiert vom Descensus Christi ad inferos die Rede, wie er in der mittelalterlichen Doktrin zuletzt verbindliche Lehre wird; nach K EHL , Höllenabstieg 238. 1617 Demgegenüber sekundär sind die ephemer bleibende Verbindung mit der Taufe und das wirkungsgeschichtlich wesentlich erfolgreichere Kampfmotiv, das sich auch in den untersuchten Texten niederschlägt. 1618 Mt 8,11f; 22,32; 27,52; vgl. Hebr 11,40; 12,23 (dort ohne Predigt). 1619 B IEDER , Höllenfahrt 152, hält die sich mit der allmählich verdunstenden heilsökonomischen Zuordnung des alttestamentlichen und neutestamentlichen Gottesvolkes zur Erlösungstat Christi einstellende Sorge um das Schicksal der alttestamentlichen Gerechten für ein Hauptmotiv für die Entstehung des Dogmas. 1620 Vgl. Joh 5,25: Die (= alle) Toten hören die Stimme Christi, aber keine Predigt. <?page no="290"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 282 onen, Taufbekenntnissen, Exorzismen und Hymnen gefasst; nicht zuletzt auch in der Ostersequenz Victimae paschali laudes. 1621 Das Bedürfnis, Christi machtvolles Einfahren in die Unterwelt und seinen ,auf Leben und Tod‘ ausgetragenen Kampf um die Toten anschaulich und sinnlich zu durchleben, führte im Hochmittelalter zu ihrer regelrecht theatralischen, dramatisch-erlebnishaften Inszenierung in den so genannten Osterspielen. 1622 Sie bilden die volksfromme buchstäbliche ,Außenseite‘ (sie wurden allmählich aus dem Kirchenraum nach draußen verlegt) des von liturgischen Insidern (Klerus und Ordensleuten) vollzogenen Gottesdienstes der westlichen Kirche. Die Vätertheologie hat im Hinabsteigen Christi ad inferna einerseits seinen Tod als sterblicher Mensch gesehen; andererseits - und letztlich entscheidend - hat sie es zum Bildwort seines göttlichsouveränen Erlösungshandelns an allen Menschen, auch den Toten, geformt. Wirkmächtiger als das biblische Predigtmotiv hat sich dabei das Kampfmotiv des Descensus niedergeschlagen: Als ,Höllenfahrt‘ Christi zur Überwindung der lebensfeindlichen Mächte von Tod und Teufel hat der Descensus Christi seinen festen Platz in der theologischen Reflexion des Karsamstags gefunden. Die liturgische Interpretation des Descensus durch die Texte und Gesänge des Offiziums bringt eigene Facetten dieses Geschehens zum Leuchten. Ankunft und Herrschaftswechsel In der Vigilpsalmodie gibt es nur einen - ebenso diskreten wie klaren - Hinweis auf ein über die Ruhe in Gott und die Trauer am Grab hinausgehendes Geschehen: die Antiphon zu Ps 23(24) signalisiert das Kommen des rex gloriae und ruft „Torhäuptern“ und „ewigen/ uralten“ Pforten zu, sich vor ihm zu öffnen (adtollite, elevamini). Wohin der Einzug geht, wird nicht gesagt, aber er erfolgt ohne Gewaltanwendung; die Befestigungsanlage gewährt freien Zutritt, und der König nimmt das sich ihm aufgetane Reich - samt Einwohnern - in Besitz. Aber wer und wo sind sie? Aus dem liturgischen Kontext ergeben sich Assoziationen zur Deutung des Vorgangs und zur Identifikation der Beteiligten: als König ist der verfolgte Gerechte/ der gekreuzigte Messias und Sohn Gottes (f1N1, fL1)zu erwarten; der letzte seiner Herrschaft noch zu übergebende Ort ist das Totenreich, das er „gekreuzigt, gestorben und begraben“ - betreten hat (s3N3); es öffnet sich ihm auf bloßen Zuruf hin (s2N1); keiner der früheren Herrscher, nur der rex gloriae tritt in Erscheinung (Epiphanie). Gesichtslos bleiben auch die Bewohner, doch ist klar, dass der feierliche Einzug des Königs ihnen gilt. Der Descensus in Ps 23(24) ist als Advent des neuen Herrschers charakterisiert. 1623 Der König erwirbt neue Untertanen. - Ein Motiv aus der Befreiungserzählung Israels: JHWH löst die in Ägypten Versklavten aus, die dadurch sein Eigentumsvolk werden; im Exodus entzieht Gott die Hebräer der Herrschaft lebensfeindlicher Mächte und bindet sie als seine (Ange-)Hörigen an sich, um sie als „sein Volk“ durch Schilfmeer und Wüste ins verheißene Land zu führen. Der Herrschaftswechsel hat Israel seinerzeit den Auszug in die Freiheit gebracht. Insofern er im Einzug mitausgesagt ist, implizieren Psalm und Antiphon dieselbe Dynamik der Herausführung der Erworbenen: Als 1621 Mors et vita duello conflixere mirando: dux vitae mortuus, regnat vivus … tu nobis victor rex, miserere; vgl. seine lutherische Paraphrase in „Christ lag in Todesbanden“: „Es war ein wunderlich Krieg, da Tod und Leben rungen, das Leben behielt den Sieg, es hat den Tod verschlungen. Die Schrift hat verkündet das, wie ein Tod den andern fraß, ein Spott aus dem Tod ist worden.“; hier eine Umkehrung des älteren Bildes vom Todesrachen, der Christus verschlingt, aber als unverdaulich („wie Gift und Galle“) ausspeien muss. K ROLL , Gott 138 führt zudem Mors stupebit et Natura cum resurget creatura iudicanti responsura aus der Totensequenz Dies Irae an. 1622 Zur Entwicklung des Descensus vom dromenon zum dramatischen Spiel vgl. ebd. 149ff. 1623 Diese Deutung steht auch im Hintegrund der liturgischen Verwendung von Ps 23(24) im Advent. <?page no="291"?> 1.4 Theologie und Spiritualität der vorösterlichen Tage im Offizium 283 Ziel des Descensus zeichnet sich ihre Befreiung unter der Führung des rex gloriae als neuer Exodus vom Tod ins Leben ab. Ps 23(24),7.9 samt Antiphon (s2N1) vermittelt den Descensus Christi als herrschaftlichen Advent in einer bislang nicht betretenen Region und verbürgt die Freisetzung derer, die dort (zu) ihm gehören. Entäußerung in den Abgrund Ein zweiter Hinweis auf die Katabasis Christi ist der Antiphon zu Ps 87(88) Sine adiutorio, inter mortuos liber zu entnehmen (s3N3). Ps 87(88) ruft die gefährdete Existenz zum Tode des wahren Menschen Jesus in Erinnerung: Er ist gestorben und wie alle Toten, losgelöst von jeder Bindung und Beziehung, „frei“. Die patristische Interpretation sieht Jesus zwar in seiner Entäußerung bis zum Tod in diesem Sinn „ohne Beistand“ 1624 (ganz Mensch), entscheidend aber ist für sie Christi „Frei-sein“ von der Sünde und von der Knechtschaft des Todes (ganz Gott). Das ursprüngliche haltlosverlorene, totengleiche „Frei(geworden-)sein“ des Psalmisten (factus sum sicut homo) 1625 versteht sie als in göttlich-souveräne „Freiheit“ gewendet. 1626 Im liturgischen Kontext bleibt dieser Text doppeldeutig. Den Descensus als Entäußerung in die Abgründigkeit menschlichen Daseins bekräftigt auch der psychologisch-anthropologische Hinweis auf den „Abgrund“ im Inneren des Menschen (cor altum) 1627 ; und schließlich das Ende im „Grab“ (in lacu inferiori), in das alle Sterblichen hinuntersteigen (vgl. Ps 87[88],7+s3N3 und Jes 38+ sL4). Als einer der ihren und für einen von ihnen gehalten (cum descendentibus) ist der Gerechte/ Christus dorthin abgestiegen (sR 7 ). 1628 Kampf und Sieg Das Kampfmotiv des Descensus bleibt sporadisch und die Interpretation zurückhaltend. In der Psalmodie/ Antiphonie fehlt jeder direkte Hinweis auf eine dramatische Überwindung der Unterweltmächte; vielmehr ergeht eine Verheißung: O mors ero mors tua (sL1). 1629 Als bereits errungenen Sieg (captus est, disrupit; fugit, confractae sunt bzw. destruxit, subvertit in den alternativen Versen) schildert den Descensus Christi nur ein Responsorium (sR 4 ): der Tod ist geflohen, 1630 und (jener andere), der den Menschen in Knechtschaft hielt, gefangen genommen. 1631 Die gewaltsame Zerstörung seines befestigten Reiches (portas, seras; claustra) entspricht der von ihm über den Menschen ausgeübten Gewalt und bezeugt die vom Befreier für den Befreiten aufgewendete Mühe. Weit mehr als der Vorgang interessiert die Person dessen, an dem allein (pastor 1624 Das bringt auch die Antiphon Longe fecisti notos a me … (f3N2) zu diesem Psalm am Karfreitag zum Ausdruck. 1625 Vgl. Phil 2,7. 1626 Vgl. N ESMY , Tradition 476-487. 1627 In der Auslegung von Ps 63(64),7 in den Lesungen der 2. Nokturn. 1628 Das rettende Eingreifen JHWHs formuliert Ps 29(30),4 salvasti me a descendentibus in lacum; das Nichtbelassen des Frommen in der „Schar der Todgeweihten“ (EÜ) erklingt in der Osternacht als Jubelruf des Auferstandenen und zeichnet ihn vor allen Sterblichen aus. 1629 Erhellend dazu F ISCHER , Mors. 1630 Vgl. die Schilderung in Ode 42 der Oden Salomos; nach B IEDER , Höllenfahrt 178. 1631 Nach Hebr 2,14-15 „zerstört“ (in der EÜ: „entmachtet“) Christus durch seinen Tod „den Teufel“ ut per mortem destrueret eum qui habebat mortis imperium id est diabolum et liberaret eos qui timore mortis per totam vitam obnoxii erant servituti; vgl. Vers B in sR 4 subvertit potentias diaboli. <?page no="292"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 284 noster, fons aquae vivae, salvator noster) die (präsentisch formulierte) Erlösung, ja, die Erlösten selbst hängen: Die Toten erheben sich beim Klang seiner Stimme (ad cuius vocem mortui resurgent). 1632 In der Karsamstagsliturgie sind damit nicht die Verstorbenen gemeint, sondern die Lebenden, die ihre Hoffnung darauf setzen, der von Gott eingesetzte „König der Herrlichkeit“ (Ps 23[24]) werde um ihretwillen („für sie“) als „Freier unter den Toten“ (Ps 87[88]) in Gottes Kraft „dem Tod der Tod“ (Hos 13,14) gewesen sein. Das christliche Descensus-Motiv am Karsamstag hat keine Erlebnisqualität im Sinne der Schaulust an einem Kampf der Giganten. Es bringt die in jede Tiefe des irdischen Daseins reichende Bindung Gottes an den Menschen zum Ausdruck, zu dem Christus ins Leben und mit dem Christus in den Tod hinabgestiegen ist, um ihn in Herrlichkeit und Macht für sich und für das Leben in Gott zurückzugewinnen. 1.4.4 Bevorzugte theologische Quelle(n) und ihre Hermeneutik 1.4.4.1 Theologie und theozentrische Christologie aus den Psalmen und Propheten Das Offizium römischer und monastischer Prägung schöpft vorrangig aus der Theologie und Spiritualität der Psalmen. 1633 Das gilt gleichermaßen im Alltag wie an Festen, in den gepägten Zeiten und auch an den vorösterlichen Tagen. Dabei bleiben die Psalmen auch in der christologischen Lesart der liturgischen Rezeption weitgehend auf den Gott und Vater Jesu Christi als Adressaten ausgerichtet. Die aus der Offiziumspsalmodie genährte Frömmigkeit ist also durchwegs theozentrisch: Die Feiernden treten in die Beziehung des Sohnes zum Vater ein und üben sich darin ein. In den letzten Tagen der Hohen Woche dominiert der Hilferuf des Gerechten aus großer Bedrängnis mit der Bitte um Rettung. Aus dem Kontext wird klar, dass nicht der Schutz vor jeglicher Not und Gefahr an sich gemeint ist, sondern die Bewahrung in sehr konkreter Not und letztlich durch sie hindurch. Außer der radikalen Angewiesenheit in existentieller Not auf Gott kommt der prophetischen Klage über das herrschende Unrecht und der Gerichts- und Heilsverheißung durch die Propheten an das Gottesvolk Gewicht zu; die bevorzugte Sprechrichtung bleibt jedoch die Adressierung ad patrem. In diesen Texten kommen die verschiedenen Ebenen der einen Erfahrungs- und Beziehungsgeschichte Gottes mit dem Menschen/ seinem Volk zur Sprache. Im Horizont der Klagelieder (aber auch der Klage Ijobs oder der Confessiones Ieremiae) erkennen die Feiernden sich selbst/ den Menschen (Anthropologie) und die Beziehung (des unbegreiflichen) Gottes zu seiner Schöpfung (Theologie); die Bildrede von der Erwählung und Preisgabe seines Eigentums (Weinberg/ Heiligtum) zeigt die Tragweite ihrer Nähe und den Ernst der Entfremdung (Ekklesiologie); die Preisgabe seiner selbst/ des Sohnes im Gottesknecht/ Lamm und im Durchbohrten verheißt ihre Überwindung in der Wiederherstellung/ Neuschöpfung (Christologie/ Soteriologie). Aus den alttestamentlichen Laudescantica (Ex 15, Hab 3, Jes 38) etwa werden folgende theologische ,Eckdaten‘ der österlichen Erlösungsmysterien erkennbar: 1632 Vgl. Joh 5,25. 1633 Vgl. B UCHINGER , Steinbruch 22-31, sowie unter methodisch-hermeneutischer Perspektive: D ERS ., Hermeneutik 193-222. <?page no="293"?> 1.4 Theologie und Spiritualität der vorösterlichen Tage im Offizium 285 Gott handelt den Seinen zum Trost Ex 15 am Gründonnerstag schildert Israels Durchzug durch tödliche Gefahr, die Vernichtung der Bedrohung und Hinführung der Geretteten zu „deiner heiligen Wohnung“ (V. 13), zum „Berg deines Erbes; einen Ort, wo du thronst …“ (V. 17): zur Rettungserfahrung des Exodus gehören also Auszug, Durchzug und Einzug des Volkes unter der Führung/ in der Gegenwart Gottes. Er selbst hat (in „deiner Macht“ und „heiligen Ruhestätte“) - so die Antiphon - Israel/ die Kirche ermutigt und getröstet. An den erhöhten Herrn (kyrios/ Dominus) gerichtet, bekennt die Kirche die Auferweckung Christi („Wiederherstellung in Macht“) zu ihrem und der Welt Trost. Am Gründonnerstag (und im Vorfeld zur Paschavigil) ist der sakramententheologische Bezug zum panis refectionis und aqua refectionis - beide Sakramente realisieren in der Kraft des Geistes Gottes die Mysterien der Erlösung an den Gläubigen - unüberhörbar: Gott „tröstet“ und ermuntert sein Volk im Durchzug der Getauften mit Christus vom Tod zum Leben und durch seine hingebungsvolle Gegenwart „für uns“ in der Feier der Eucharistie. Gott zieht aus, seinem Volk/ seinem Gesalbten zu helfen In Hab 3 am Karfreitag steht der alleinige ,Ausgang Gottes‘ (egressus es) zur Rettung seines Volkes/ seines Gesalbten (V. 13) im Zentrum. Gott kommt „im Zorn“ über „die Erde“, über all jene, die darauf lauern, „in ihrem Versteck den Armen zu fressen“ (V. 12.14). Gottes Zorn richtet sich - im Canticum ist das vorausgesetzt - gegen asoziales Verhalten, Gewalt und Götzendienst im Gottesvolk und bei den Völkern 1634 und ist nicht von seinem rettenden „Gedenken“ und Erbarmen mit den unschuldigen Opfern und mit den Schuldigen zu trennen (V. 2). Im liturgischen Kontext ist Jesus „der Arme JHWHs“ der Psalmen, „der Gesalbte“ und „mein Sohn“ (Ps 2,7), der göttlich-souverän handelt: selbst ohne Schuld, zeigt er Erbarmen mit Schuldigen und Tätern, derer er rettend „gedenken“ wird; die Epiphanie seines Todes (und seiner Auferstehung) wird von entsprechenden Naturerscheinungen begleitet, die Christus als „den Heiligen“ offenbaren, der selbst auszog, sein Volk zu retten. Wie das geschieht, ist bestürzend und erschreckend. Preisgabe Vom Anbruch des Tages bis in die Nacht gibst du mich völlig preis (Jes 38,12c): Das Canticum Jes 38 am Karsamstag setzt mit der Klage eines Todgeweihten ein, der „hinab [musste] zu den Pforten der Unterwelt“ (V. 10). Er wendet sich an Gott, der „es selber getan hat“ (V. 15), und der gerade deshalb der einzige Adressat des Klägers bleibt. Neben zahlreichen Stichwortbezügen zu anderen Texten, v. a. Antiphonen, am Karfreitag und Karsamstag gibt es hier eine Parallele zu Ps 21(22), dessen Klage in die Verkündigung an das kommende Volk mündet und der Not und Rettung mit den Worten resümiert „denn er hat das Werk getan“ (V. 32). Beide Texte erfahren nicht erst die Errettung, sondern schon die ihr vorausgehende Preisgabe ins Leiden (bis zum Tod) als das auf Rettung zielende Handeln Gottes. Als sie sich abzuzeichnen beginnt, erkennt der Beter ihre Ursache: „… denn all meine Sünden warfst du hinter deinen Rücken.“ (Jes 38,17) Die christologische Interpretation des in Jes 38 beschriebenen Descensus eines Todkranken, dessen Heilung im Fortwerfen seiner Sünden durch Gott geschieht, stellt das Lamm/ den Gottesknecht vor Augen, das/ der die ihm fremde Sünde der Welt und ihre Krankheiten als die seinen auf sich genommen und ans Kreuz getragen hat, um sie dort zu vergeben und zu vernichten. 1634 Der Gerechte aber bleibt - da wie dort - am Leben (vgl. Hab 2,4). <?page no="294"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 286 Wie die Psalmen die Hingabe des Sohnes an den auch im Leiden festgehaltenen Willen des Vaters vermitteln, so erzählen auch die Cantica die tröstliche, irritierende und heilsame Rettungsgeschichte des Gottesvolkes/ der Völker in durchgehend christologisch-theozentrischer Perspektive. Insbesondere am Karfreitag, in tiefster Erniedrigung, zeigen sie Christus aber nicht als passiv Leidenden, sondern als den wahrhaft göttlichen Sohn in der Vollmacht und Herrlichkeit Gottes. 1.4.4.2 Christologische Relecture und ekklesiologische Aneignung in den Responsorien Die responsoriale Interpretation der vorgetragenen (Väterund) Schriftlesungen setzt explizit christologische Akzente und bezieht die Feiernden emotional noch stärker ein als die Psalmodie. Die Responsorien an den vorösterlichen Tagen stammen zu einem guten Teil aus den Passionserzählungen; wo sie alttestamentliche (meist typologische) Schriftworte rezipieren, verarbeiten sie diese - intertextuell, durch Interpolation, Bibelcento und -paraphrase oder poetisch frei - in der Zusammenschau beider Testamente. Die Gesänge profilieren die Christologie mit Blick auf die Erlösungslehre und auf das Selbstverständnis der Kirche; sie legen den Gläubigen die Schrift aus, mahnen, belehren, rügen oder trösten sie. Die Responsorien richten sich üblicherweise - in persona Christi oder erzählend de Christo - ad ecclesiam. Fallweise, vor allem im Modus der Klage und Selbstanklage, kommt die Kirche als ,Teilhaberin‘ an der Heilsgeschichte selbst zu Wort. Christus begegnet weithin als der (von Gott, von den Feinden, von Judas …) dem Leiden ausgelieferte Mensch, das aber an wenigen Stellen als auch selbstbestimmtes Handeln erkennbar wird: nämlich in der willentlichen Übereinstimmung Jesu mit dem Vater (dR 1 ) und in seinem Wort von der Selbsthingabe (tradidi animam meam, fR 10 ). Eine Besonderheit ist die gottgleiche Rede Christi aus dem ,Mund‘ JHWHs, der den erwählten, bitter gewordenen Weinberg tadelt (fR 3 ); ebenfalls singulär ist umgekehrt die einzige direkte Anrede Christi durch die Kirche Vadis propitiatus ad immolandum pro omnibus (fR 13 ), die sich gänzlich von ihm abhängig weiß. Die häufigen Possessivpronomina in einigen Responsorien am Gründonnerstag bringen insbesondere die enge Beziehung Christi zu seinen Jüngern/ Kirche, die seitens der Menschen gefährdet bleibt, zum Ausdruck und fördern die Identifikation und Selbstwahrnehmung der Feiernden: amicus meus, vinea mea; omnes amici mei, unus ex discipulis meis; aber auch omnes inimici mei; sowie vinea mea und (an Christus gerichtet) Deus meus am Karfreitag. Am Karsamstag formuliert die Kirche ihre Zugehörigkeit, ohne sie personal zu adressieren Pastor noster, Salvator noster. In dieser Situation ist/ scheint Christus entzogen: „hinunter“ zu denen, die auch (zu) ihm gehören: cum descentibus und inter mortuos. 1.4.5 Beobachtungen zur liturgischen Vermittlung und Aneignung der Feierinhalte Einige Bemerkungen dazu, wie sich die Heilsgeschichte/ der Glaube der Kirche den Feiernden im Vollzug des römischen/ monastischen Offiziums an den letzten Tagen der Hohen Woche vermittelt und wie sie daran teilhaben, sollen die Darstellung abschließen. Sie beschränken sich auf jene hermeneutisch-liturgietheologischen Prozesse, die aus den untersuchten Quellen als für diese Gottesdienstform charakteristisch hervorgehen. <?page no="295"?> 1.4 Theologie und Spiritualität der vorösterlichen Tage im Offizium 287 Obwohl essentiell muss an dieser Stelle der pauschale Hinweis auf die sinnlich-leiblichen Dimensionen liturgischen Handelns genügen: Stimme und Klang, Körperhaltungen und Bewegungen und der an diesen Tagen besondere Umgang mit dem Licht sind hier zu nennen. 1.4.5.1 Hören und Lernen Im römischen und monastischen Offizium machen - zumal in seiner reduzierten Gestalt an den letzten Tagen vor Ostern - die Psalmen und prophetischen Cantica und Lesungen, beides kanonisches ,Wort Gottes‘ (inklusive Auslegung), den weitaus größten Textanteil aus. Es bietet das unverzichtbare Fundament dafür, das Christusereignis von seinem Ursprung her, aus der Heilsverheißung an Israel zu verstehen. Das Offizium leitet in seinem ersten Teil zunächst zum Hören und Meditieren des Psalters an: Das bedeutet, sich in die Erfahrungswelt des biblischen Menschen/ des Gottesvolkes zu begeben, die gänzlich aus der Zugehörigkeit zu seinem Gott erwächst, der sie selbst begründet hat. Ihre Beziehung umgreift und durchdringt alle Lebenslagen, und jeder Fromme/ Israel pflegt sie, indem er/ es jederzeit zu Gott und von ihm spricht. Die tägliche kanonische Psalmenrezitation im Gottesdienst der Kirche tut das ,mit‘ Christus und auf ihn hin; sie lehrt und übt die Haltung des Frommen vor Gott gleichermaßen. Wo in der Liturgie darüber hinaus spezifisch christologische Inhalte in den Vordergrund treten, wie auch in der Hohen Woche, wird die Stimme Christi in den Psalmen (vox Christi) und die Prophetie seines Schicksals (oft vox de Christo) noch ,deutlicher‘ als sonst; die Kirche hört seine/ des „Frommen“, „Armen“ und verfolgten „Gerechten“ Klage explizit um ihres/ des Menschen Heiles willen; sie lernt, die darin vorgelebte Hingabe an den Vater ,nachzusprechen‘ und den Leidenden als den verheißenen König und Richter, Gesalbten und Sohn zu erkennen. Die im Psalter und den Prophetenbüchern durchbuchstabierte Rettungsgeschichte Israels/ Jesu ist nicht einfachhin und von vornherein die Geschichte der Feiernden. Vielmehr sind sie zunächst deren Hörer und (Ohren-)Zeugen, bevor sie Schritt für Schritt darin eintreten (und sie mit ihrer eigenen Geschichte zusammenbringen). Die Psalmen und Antiphonen disponieren dafür: Sie bieten theologische Zusammenhänge, ohne sie zu determinieren und Identifikationsmöglichkeiten, ohne zu vereinnahmen; sie bringen diejenigen Resonanzen zum Klingen, die der je eigenen Schriftkenntnis und Spiritualität der Feiernden entsprechen und gewähren ihnen soviel Distanz und Nähe, wie nötig ist, um sich in die Heilsgeschichte einzuhören und sie für sich zu erlernen. 1.4.5.2 Identifikation Biblische Texte zielen auf existentielle relecture. Das setzt Glauben(-serfahrung) voraus. Um die biblisch tradierte Heilsgeschichte als Geschichte der eigenen Erlösung zu erkennen, anzunehmen und zu beantworten, bedarf es einer gewissen Vertrautheit mit der Schrift und der Identifikation mit ihren Akteuren. Über die Schriftlesungen und ihre Auslegung hinaus fördert der liturgische Gebrauch der Bibel im Offizium den tagtäglichen Umgang mit der Schrift und die Horizontverschmelzung: diskret und nüchtern in den Identifikationsangeboten von Psalmodie und Antiphonen; direkter, teils auch emotionaler, in der exemplarischen Auslegung und Aneignung durch die Responsorien; in einem schlichten, ausdrücklichen Akt der Zustimmung in den Orationen. Aus diesem selbstverständlichen Umgang mit der Schrift formt und artikuliert die römische Liturgie das kirchliche Selbstverständnis der Feiernden ebenso wie er ihre persönliche Glaubensüberzeugung und Frömmigkeit zu prägen imstande ist. <?page no="296"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 288 1.4.5.3 Theologie im Schritttempo Die im Offizium vermittelte Theologie im Sinn von Gotteserkenntnis und -beziehung stellt sich nicht schlagartig ein, sondern entfaltet sich gemäß ihrer dreiteiligen liturgischen Inszenierung: Psalmodie/ Antiphonie (Zugang und Kontextualisierung) - Lesungen/ Responsorien (Explikation und Interpretation) - Oration (Implikation). Die Relation von Gotteswort und Menschenwort entspricht dem Anteil ihrer ursächlichen Beteiligung am Heilsgeschehen und ihrer Rolle als primär Handelnder und abgeleitet Handelnde der Liturgie. Und die Feiernden haben Zeit, von dem an sie ergehenden Zuspruch Gottes zur Glaubensantwort zu finden. Ebenfalls schrittweise geht die Einführung und Entwicklung essentieller theologischer (christologischer, ekklesiologischer, soteriologischer etc.) Aussagen unter Anwendung geeigneter sprachlicher Stilmittel vor sich. Leitmotive und Stichwortverknüpfungen etwa binden Inhalte zusammen: innerhalb einer Hore, zwischen Horen, manchmal auch von einem Tag zum nächsten; oder sie spiegeln mehrere Facetten desselben Motivs. Dass liturgisch exponiert platzierte Texte - dazu zählen ,erste‘ Antiphonen generell - nicht nur einzelne Tage prägen, sondern auch als hermeneutische Wegmarken durch die „liturgisch hochwertigen“ (Anton B AUMSTARK ) letzten Tage der Hohen Woche fungieren können, lässt sich sowohl an den jeweils ersten Nokturnantiphonen als auch den ersten Laudesantiphonen dieser Tage zeigen: Die Eröffnungsworte der Nokturnen am Gründonnerstag, Karfreitag und Karsamstag erzählen mittels dreier Psalmzitate das gesamte Geschehen aus der Perspektive Christi: Die ihn verzehrende Gottesnähe hat den Ärger der Sünder und Mächtigen erregt; sie verbünden sich gegen ihn (gegen Gott); er aber wird in Frieden sein. Theologisch gesprochen: An Christus offenbart sich die in letzter Konsequenz tödlich gestörte Beziehung des Menschen zu Gott -und, dass Gott sie retten kann. Wie das geschehen ist/ wird, kommt in den außergewöhnlichen ersten Laudesantiphonen der drei vorösterlichen Tage (die erste psalmogen, die beiden anderen aus dem Römerbrief und dem Hoseabuch) ins Wort: Jede für sich genommen trifft eine theologisch relevante Aussage: Gott richtet, Gott greift selbst ein „für uns“, Gott triumphiert. Jede Antiphon aber gewinnt von den anderen her an Bedeutungstiefe: Der Richtspruch Gottes, in dem er „siegen“ wird (vincas cum iudicaris), ergeht nicht (wie erwarten wäre) über den Menschen, sondern über den Tod. Er gibt nicht (wie zu erwarten wäre) den Menschen preis, sondern den Sohn; „für uns“ - an unserer Stelle und zu unseren Gunsten - wendet Gott die Hinrichtung des Sohnes (durch Menschen) zur Hingabe (seiner selbst). Die Einbettung in die ,langsame‘ theologische Entfaltung des gefeierten Christusereignisses aus der Heilsgeschichte Israels beugt jedem christologisierenden ,Kurzschluss‘ vor: Sie lässt nicht nur die Heilsökonomie Gottes als ungeteilte und unteilbare verstehen, sondern auch keinen Zweifel an ihrer Universalität. 1.5 Historisch-theologische Zwischenbilanz Im frühmittelalterlichen Offizium römisch-fränkischer Prägung werden die drei letzten Tage der Hohen Woche in Gestalt und Gehalt als Einheit erkennbar, wobei der Gründonnerstag als hybrider Termin Merkmale sowohl der Quadragesima als auch der Kartage aufweist. Von außerordentlicher Bedeutung sind die Nacht- und Morgenhore, deren rituell und hermeneutisch einprägsame Eigenheiten (Feier, Licht; Passionsbezug) bereits in den ältesten zugänglichen Quellen festgelegt und später getreu tradiert werden. Die Implementierung dieser anspruchsvollen Liturgie in einen neuen kulturellen Kontext verlangt Übersetzungsarbeit und Deutungshilfen, für die man ab dem Früh- <?page no="297"?> 1.5 Historisch-theologische Zwischenbilanz 289 mittelalter auf den nur bedingt geeigneten allegorischen Liturgiekommentar der karolingischen Theologie zurückgreift. Unbeschadet der franziskanischen Redaktion der liturgischen Bücher im 12./ 13. Jh., der weitreichenden Liturgiereform des Tridentinums und einiger neuzeitlicher Brevierreformen, bestätigen auch am Ende des 2. Jahrtausends im wesentlichen all jene Beobachtungen zur Feier des Offiziums an den drei vorösterlichen Tagen, die schon in den ältesten römisch-fränkischen Quellen gemacht werden konnten. Charakteristisch bleiben 1) die reduziert erscheinende (archaische) Feiergestalt des Offiziums: der Entfall oder stille Vollzug integrierender, später auch akkumulierter Elemente; 2) die von Gründonnerstag bis Karsamstag nahezu sakrosankt überlieferten Nacht- und Morgenhoren; der entsprechend geringe Stellenwert der übrigen, teils erst sekundär ausgebildeten Horen; 3) das weder in seiner Herkunft geklärte noch im liturgischen Vollzug gedeutete Lichtauslöschen in der Nacht- und Morgenhore, das dennoch als sinnlichansprechendes Element lückenlos tradiert wird. Abgesehen von 4) der Tendenz zur Verkürzung des Lesepensums bleibt das vorösterliche Offizium in seiner bisher skizzierten Gestalt nahezu unverändert bis zur Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils erhalten. Tiefgreifend ist die Wiederherstellung der Tagesstruktur durch den stimmigen Zeitansatz der Hauptgottesdienste sowie der Tagzeiten in der zweiten Hälfte des 20. Jhs. Für das Offizium hat sie den faktischen Entfall der Vesper am Gründonnerstag und Karfreitag zur Folge, was weniger innovativ ist als vielmehr der älteren Praxis entspricht. Das vorösterliche Offizium - es ist in der römisch-monastischen Tradition fast ausschließlich biblisch fundiert - entfaltet seine spezifische Hermeneutik und Vermittlung paschaler Theologie in der liturgischen Schriftrelecture der Psalmen und prophetischen Texte im Dialog mit den Passionserzählungen der Evangelien. Am Anfang der dreigliedrigen Feier steht die ,Einhörung‘ in die psalmodisch gefasste Heilserfahrung Israels und des Beters Jesus: Die dafür gewählten Psalmen sind gleichermaßen Identifikationsangebot für die Feiernden, an der Gebetsbeziehung Jesu zum Vater teilzunehmen, wie Deutungsangebot für sein Leiden, Sterben und Auferstehen abseits eines platten Erfüllungsschemas, vielmehr im Resonanzraum ihrer singulären oder auch mehrmaligen liturgischen Verwendung. Die tagesspezifischen Antiphonen sind weit mehr als Lese- und Intonationshilfe, nämlich konzentrierte Theologie. Die Überlieferung der Psalmen und Antiphonen - häufig in der Textgestalt des altrömischen Psalters oder der Vulgata - ist überaus stabil. Aus diesen Gesängen ist daher das liturgietheologische Proprium der vorösterlichen Tage zu erschließen. Die Psalmodie und die Antiphonen an den drei vorösterlichen Tagen führen den Feiernden die zerbrechliche Beziehung des Menschen zu Gott vor Augen. Dabei steht der konsequent gedachten conditio humana - das Eigentumsvolk ist schuldig geworden, der Freund zum Verräter und der Gerechte beseitigt - das richtend-rettende Handeln Gottes in Christus gegenüber - die Preisgabe und Selbsthingabe des Sohnes. Die Frage nach dem erwarteten Ende oder der unverhofften Rettung der Menschen bleibt vorerst offen; sie entscheidet sich definitiv am Schicksal Jesu. Sein Abstieg in den Tod macht auch die Unterwelt zum Ort seiner Gegenwart - und wie Himmel und Erde zu einem Ort seiner Herrschaft. Die in den überwiegend alttestamentlichen Gesängen und Texten vermittelte Theologie ist explizit theozentrisch; ihr entspricht eine Christologie von unten. Alleiniger Adressat des Beters und Subjekt des Handelns ist Gott/ der Vater: Er ist Urheber des Gerichts und der Rettung. Christus/ der Sohn hat sich mit den Schuldigen (Gottesvolk und Menschheit) identifiziert, deren Repräsentantin als Zeugin und Betroffene des Ge- <?page no="298"?> 1. Ein historisch-liturgietheologischer Aufriss 290 schehens die Kirche ist. Ihre in der Feier ausgedrückte Zuversicht ist dementsprechend zurückhaltend, staunend und erwartend. Die Abgründigkeit einer dunklen, unbegreiflich bleibenden Gotteserfahrung wird ebenso wenig negiert wie die Feindseligkeit der Menschen gegenüber dem Erlöser. Im Anschluss an die Schriftverkündigung und -meditation inklusive Auslegung (biblische Lesungen, Vätertexte) reformuliert die Kirche das Gehörte, meist unter Zuhilfenahme weiterer biblischer Assoziationen, ausnahmsweise auch dichterisch frei (Responsorien). Darin wird die Heilsbotschaft durchbuchstabiert und den Feiernden exemplarisch ausgelegt. Das liturgische Gebet an diesen Tagen ist kurz. Die Teilnahme an den gefeierten Heilsgeheimnissen beruht wesentlich auf dem Hören und Lernen der biblischen Verkündigung und der Identifikation mit dem Psalmbeter Jesus und anderen heilsgeschichtlichen Personen. Die langsame lineare Entfaltung des Erlösungsgeschehens gibt der anthropologischen und existentiellen Glaubenserfahrung der Gläubigen genügend Raum und ermöglicht ihnen ein Schritt für Schritt vertieftes Verständnis. <?page no="299"?> 2 Die aufgehobene Tradition: Gegenwärtige Feierordnungen Teil 2 widmet sich der Darstellung und theologischen Erschließung der nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil neugeordneten Stundenliturgie an den drei letzten Tagen der Hohen Woche. Es ist zu fragen, ob und wie die in Teil 1 dargelegte römische (und monastische) Tradition in heutigen approbierten Feierordnungen ,aufgehoben‘ ist: worin sie bewahrt wurde, aber auch, was man daraus aufgegeben hat und mit welchen theologisch-hermeneutischen Konsequenzen. Eigenheiten des Offiziums an den Tagen vor Ostern: Struktur und Prägekraft Im historisch-theologischen Durchgang in Teil 1 wurde ersichtlich, dass sich die in den ältesten Quellen greifbare Gestalt des Offiziums von Gründonnerstag bis Karsamstag auch im Mittelalter und bis in die Neuzeit weitgehend erhalten hat. Obwohl das Offizium über die Jahrhunderte hinweg ebenso schleichende Veränderungen erfahren hat wie manche gewollte Reform, verlangten die Rubriken an den untersuchten Tagen durchwegs und einhellig, bestimmte Elemente wegzulassen. Dadurch kamen die wesentlichen Vollzüge, Psalmodie/ Antiphonen sowie Schriftlesung/ Responsorien, theologisch prägnant zur Geltung. Erklären ließ sich diese Eigenheit der Feiergestalt mit dem Erhalt der allgemeinen älteren Praxis in „liturgisch hochwertiger“ Zeit, wobei das anfangs Alltägliche recht bald zum Spezifikum dieser Tage wurde. 1635 Die jüngeren Entwürfe der Tagzeitenliturgie haben dieses Proprium in unterschiedlichem Maße bewahrt und neu interpretiert. Das Offizium an den letzten Tagen der Hohen Woche hat sich zugleich als substantielle Quelle paschaler Spiritualität und Frömmigkeit gezeigt: Ihre liturgische Prägung erhielten der Donnerstag und Freitag der Hohen Woche im Zusammenspiel von Nacht- und Morgenhore des Offiziums und dem jeweiligen Hauptgottesdienst am Nachmittag oder Abend; am Karsamstag waren Vigil und Laudes (Trauermette) überhaupt der Gottesdienst des Tages. Die übrigen Horen spielten von Anfang an kaum eine Rolle. Erst die zeitliche Vorverschiebung der Hauptliturgien hat allmählich Freiraum und Bedarf an der ausgestalteten Feier von Tageshoren, Vesper und Komplet geschaffen. Im Zuge mehrfacher Reformen - zuletzt infolge des Zweiten Vatikanischen Konzils - hat sich im 20. Jh. das überkommene, markante Erscheinungsbild der Tagzeiten an den Kartagen und ihre Bedeutung für die Feier des paschale sacramentum differenziert. 1636 1635 Vgl. B AUMSTARK , Gesetz 1-2. Eine Systematisierung der dort formulierten ,gesetzmäßigen‘ Phänomene bietet K LÖCKENER , Auswirkungen; dass ihr mehrheitlich Beispiele aus den Hauptgottesdiensten zugrunde liegen, tut der grundsätzlichen Anwendbarkeit auf die Tagzeitenliturgie keinen Abbruch. 1636 Intensiver als frühere Reformen unterzieht die Liturgiereform des zweiten Vatikanischen Konzils Verständnis und Vollzüge ihrer Gottesdienste einer historisch-kritischen Prüfung; dass sich auch an den letzten Tagen vor Ostern „eine Reihe frühzeitlicher Spuren über die Erneuerung hinübergerettet“ hat (K LÖCKENER , Auswirkungen 395), gilt für die Hauptliturgien, für das Offizium hingegen nur sehr eingeschränkt. <?page no="300"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 292 Reformen des 19./ 20. Jahrhunderts 1637 Insbesondere die von der Liturgischen Bewegung als unstimmig kritisierte frühmorgendliche Osternachtfeier am Karsamstag gab Anlass zu einer Reform der Karwoche, die Pius XII. 1946 beauftragte. Die Erprobungsphase für die nächtliche Feier der Paschavigil (seit 1951/ 52 ad experimentum erlaubt) wurde zunächst für drei Jahre verlängert und deren allgemeine Wiederherstellung schließlich in dem Dokument zum neuen Ordo Hebdomadae Sanctae Maxima redemptionis nostrae mysteria (1955/ 56) festgeschrieben. Zeitgerechtes Feiern (veritas horarum) wurde dann auch ein wesentliches Prinzip der im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils erneuerten Tagzeitenliturgie. Diese jüngste Liturgiereform hat das gesamte Offizium als „das öffentliche und gemeinsame Gebet des Volkes Gottes“ 1638 neu geordnet und ihm mit dem Titel Liturgia Horarum eine qualifizierte Bezeichnung gegeben, die sowohl die liturgische Versammlung als auch den dialogischen Charakter von Liturgie impliziert. Die deutsche Übersetzung „Die Feier des Stundengebetes. Stundenbuch“ vermittelt diesen doppelten Anspruch nicht adäquat. 1639 Für die monastische Praxis wurde die Rahmenordnung des Thesaurus Liturgiae Horarum Monasticae erlassen. 1640 Die behandelten Bücher Die darzustellenden Bücher repräsentieren einerseits die erneuerte römische Praxis (Liturgia Horarum [deutsch Stundenbuch] 1974 [1978]) andererseits - exemplarisch - einen neugewachsenen Zweig der monastischen Tradition (Benediktinisches Antiphonale [vormals Deutsches Antiphonale] Münsterschwarzach 1996 [1969-1974]). Die Entstehungszeit beider Feierordnungen, der Liturgia Horarum und des deutschen Stundenbuchs sowie der ebenfalls richtungsweisenden Erstfassung des Benediktinischen Antiphonale, liegt in den 70-er Jahren des 20. Jhs. Die Herausgabe der neuen Bücher in ihrer lateinischen und/ oder deutschen Fassung erfolgte nicht in einem Wurf, sondern in mehreren Arbeits- und Publikationsphasen und erstreckte sich über etliche Jahre, manchmal Jahrzehnte. Während noch grundlegend an den Psalmenverteilungen und Leseordnungen, an den Übersetzungen und Vertonungen etc. gearbeitet wurde, kam es bereits zu ersten Überarbeitungen. Die dazustellenden liturgischen Bücher 1641 verwenden unterschiedliche Psalterübersetzungen, Psalmenverteilungen und Antiphonen sowie teils neue Responsorien 1637 Die letzte Liturgiereform basiert auf den seit Pius X. gesetzten Reformschritten und den Erneuerungsimpulsen der Liturgischen Bewegung. Die Umstände, Abläufe und Ergebnisse der jüngsten Etappe der Erneuerung nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat umfassend B UGNINI , Liturgiereform, dokumentiert. 1638 Allgemeine Einführung in das Stundengebet 1 (StB I, 25*). 1639 De facto bleibt die Wiedergewinnung der Stundenliturgie als (täglicher) Gottesdienst der Kirche („öffentliches Gebet“), der auch als „Quelle der Frömmigkeit und Nahrung für das persönliche Beten“ (Sacrosanctum Concilium 90 [ 2 LThK 12 (1986 [= 1966]) 80f]) erfahrbar wird, in den Gemeinden bis heute ein Desiderat, was freilich nicht nur der deutschen Bezeichnung zuzuschreiben ist; immerhin aber ließe „Stunden- “ oder „Tagzeitenliturgie“ als korrekte und sachgerechte Übersetzung von liturgia horarum keinen Zweifel am grundsätzlich gemeindlichen Vollzug dieser Gottesdienstform. 1640 1977 approbiert und im selben Jahr veröffentlicht in Not. 13 (1977) 157-191. 1641 Ein kurzer Überblick über die Entstehungsgeschichte wird jeweils am Anfang des betreffenden Kapitels gegeben. <?page no="301"?> 2.1 Die erneuerte Liturgia Horarum (1974/ 78) 293 und Gebete. Die Auswahl der Lesungen (für Lesehore/ Vigilien) stellt einen Sonderfall dar: In den Büchern der römischen Tradition ist sie in der lateinischen Liturgia Horarum anders geregelt (einjähriger Lesezyklus) als im deutschen Stundenbuch (zweijähriger Lesezyklus 1642 ). Auch die beiden monastischen Ordnungen unterscheiden sich: Das Benediktinische [Deutsche] Antiphonale bietet weder eine eigene Auswahl noch bevorzugt es eine bestimmte Leseordnung, sondern verweist pauschal auf die gängigen Möglichkeiten; 1643 für die Trauermetten der Kartage freilich hat Münsterschwarzach einen undatierten (vermutlich 1969-1970) Faszikel mit den (teils kantillierten) Lesungen für den Eigengebrauch erstellt, der aber nicht publiziert wurde. Das Monastische Lektionar (zum Monastischen Stundenbuch) enthält in vier Bänden die Texte aus Jahr I des zweijährigen Zyklus im deutschen Stundenbuch. 1644 2.1 Die erneuerte Liturgia Horarum (1974/ 1978) Zu der (1970 promulgierten), ab 1971 herausgebrachten vierbändigen lateinischen Editio typica der erneuerten Liturgia Horarum iuxta ritum romanum 1645 erschien parallel zunächst eine zweibändige deutsche Studienausgabe 1646 samt vorläufigem Lektionar (1970-1974); sie wurde nach Fertigstellung des letzten von 16 Lektionarsfaszikeln (1978-1980) durch die authentische Ausgabe für den liturgischen Gebrauch der dreibändigen Feier des Stundengebetes. Stundenbuch (1978) 1980 definitiv ersetzt. Das Exzerpt Karwoche und Osteroktav aus dem Stundenbuch enthält das vollständige Stundengebet inklusive Lesungen und Responsorien der Lesehoren/ Vigilien. Damit finden weniger geübte Einzelbeter und Gemeinden einen leichteren Zugang zu dieser Gottesdienstform. Angesichts der immer noch geringen gemeindlichen Verankerung der Tagzeitenliturgie mag der pastorale Nutzen zunächst das liturgietheologische Manko eines Plenarbuchs aufwiegen, das freilich dem Prinzip der Rollenteilung in der gottesdienstlichen Versammlung zuwiderläuft und die Aufmerksamkeit der Feiernden auf das subjektive Mitlesen vorgetragener Texte statt auf das dialogische Hinhören lenkt. Der Auszug Trauermetten in der Karwoche (1980) 1647 aus dem Antiphonale zum Stundengebet - dem Rollenbuch des Kantors und der Gemeinde (nicht des Vorstehers und der Lektoren) in der zum Singen eingerichteten Version der deutschen Stundenliturgie 1648 - ermöglicht den liturgischen Gesang in der vom Konzil gewünschten gemeindlichen Feier: 1642 Dieser ist allerdings kein Eigenentwurf, sondern folgt dem römischen Konzept jenes alternativen zweijährigen Zyklus (von Schriftlesungen), der für die lateinische Ausgabe als eigene Publikation geplant war, bisher aber nicht umgesetzt wurde. 1643 „Diese Texte können leicht dem Missale, einem Stundenbuch oder einem Lektionar entnommen werden.“ (Antiphonale I, 7). 1644 Näheres dazu siehe unten im jeweiligen Kapitel zur Auswahl der Lesungen (2.1.1.3, 2.2.2 und 2.3.1.3). 1645 Editio typica altera 1985-1987. 1646 Unter dem Titel: Neues Stundenbuch. Ausgewählte Studientexte für ein künftiges Brevier. 1647 Mit Erscheinen des Buches wurde auch eine Musik-Kassette mit den Gesängen der Trauermetten angeboten. 1648 Die Vertonung von Godehard J OPPICH und Rhabanus E RBACHER OSB entspricht den auch im Benediktinischen Antiphonale von Münsterschwarzach prägenden Prinzipien der „Deutschen Gregorianik“ (s. u. Kapitel 2.2 mit Anm. 1753). <?page no="302"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 294 „Am Karfreitag und Karsamstag soll, wenn möglich, vor den Laudes die Lesehore öffentlich und gemeinsam mit der Gemeinde gefeiert werden.“ (Allgemeine Einführung in das Stundengebet 210) 1649 Denn nicht weniger als sonst gilt an den drei letzten Tagen vor Ostern: „Überdies ist vorzuziehen, daß man das Stundengebet im Chor oder in Gemeinschaft singt, soweit das möglich ist.“ (Sacrosanctum Concilium 99) 1650 Anders als die Textversionen der LH und StB räumt das Antiphonale zum Stundenbuch mit folgender Rubrik die Feier einer gesungenen „Trauermette“ - bestehend aus Lesehore und Laudes 1651 - schon am Gründonnerstag 1652 ein: „Will man bereits am Donnerstag in der Karwoche eine ,Trauermette halten, so läßt man den Laudes die gesungene Feier der Lesehore vorangehen.“ 1653 Die Responsorien nach 1. und 2. Lesung der Lesehore werden in diesem Fall vom Freitag genommen. 1654 Die sonst an Sonn- und Festtagen fakultative Erweiterung der Lesehore um drei alttestamentliche Cantica und eine Evangeliumslesung ist erst für den Karfreitag und Karsamstag vorgesehen, wobei die Cantica an beiden Tagen dieselben sind. 1655 Im Buchauszug Karwoche und Osteroktav ist die Möglichkeit der erweiterten Lesehore nicht gegeben. Die Drei Österlichen Tage „Die Drei Österlichen Tage vom Leiden, vom Tod und von der Auferstehung beginnen mit der Abendmahlsmesse des Gründonnerstags: sie haben ihren Mittelpunkt in der Osternacht und schließen mit der Vesper am Ostersonntag.“ (Grundordnung des Kirchenjahres 19) 1656 Entsprechend dieser Reformulierung des Triduum Paschale gilt der Gründonnerstag - wie schon in den ältesten Quellen - bis zur Non als Wochentag der Quadragesima: Die Psalmodie der Tagzeiten folgt dem neuen vierwöchigen Schema (hier: Do der 2. Woche), wobei in der Lesehore auch die Psalmen und Antiphonen vom Freitag der 3. Woche verwendet werden können. Die weiteren Texte und Gesänge sind Eigengut der Hohen Woche: Kreuz-Hymnen, Antiphonen, Versikel, Lesungen, Responsorien, Preces und Orationen. Da die Feier vom Letzten Abendmahl am Nachmittag/ Abend stattfinden soll, entfällt die im Buch enthaltene Vesper im Normalfall; den Tagesschluss bildet die vom Sonntag nach der 2. Vesper entlehnte Komplet. Für Karfreitag und Karsamstag gibt es in allen Horen eine eigene Psalmenauswahl mit Antiphonen sowie die übrigen Eigentexte bis zur Non; die Lesehoren beider Tage sind (wie an Sonn- und Festtagen üblich) zur Vigil erweiterbar. Wie am Vortag entfällt auch am Karfreitag die Vesper wegen der nachmittäglichen Feier vom Leiden und Sterben Christi; in der Komplet (wiederum vom Sonntag nach der 2. Vesper) ersetzt man das Responsorium durch den Gesang Christus factus est. Die Vesper am Karsamstag ist regulär zu feiern; an diesem Abend entfällt die Komplet zugunsten der Paschavigil. Die früher gar nicht oder wenig feierlich als Wiederholung vom Vortag vollzogenen Horen Vesper (HoDo, KarFr) und Komplet (KarSa) sind heute liturgisch konsequent reine ,Ersatz‘-Gottesdienste: 1649 StB I, 89*. 1650 2 LThK 12 (1986 [= 1966]) 84f. 1651 In der direkten Aufeinanderfolge beider Horen entfällt der Hymnus der Laudes (AntStB 302). 1652 Ebd. 299-303. 1653 Ebd. 299; kommentarlos und selbstverständlich in Trauermetten 3-20. 1654 AntStB 312f (Trauermetten 10-12). 1655 AntStB 314; 333 (Trauermetten 31-34; 53-55). 1656 Messbuch 80*. <?page no="303"?> 2.1 Die erneuerte Liturgia Horarum (1974/ 78) 295 „Wer an der Abendmahlsfeier des Gründonnerstags oder an der Feier vom Leiden und Sterben Christi am Karfreitag teilnimmt, betet die Vesper des betreffenden Tages nicht.“ Und: „Die Komplet am Karsamstag beten nur die, die nicht an der Osternachtfeier teilnehmen.“ (Allgemeine Einführung in das Stundengebet 209; 211) 1657 Dennoch erhielten sie Eigentexte und wurden zu vollständigen Horen ausgebaut. Hatte das Proprium der vorösterlichen Tage bisher gerade in einer archaischen Feiergestalt Ausdruck gefunden, geht die erneuerte Liturgie hier andere Wege. Um vollwertige Horen auch an den drei Tagen vor Ostern zu schaffen, füllte man die durch die traditionsgemäßen verbalen Streichungen allzu reduziert erscheinende Feierstruktur auf und ergänzte die ,fehlenden‘ Elemente: Eröffnungs- und Schlussversikel, Invitatorium, Hymnen, Doxologie, Kurzlesungen, Vaterunser und Preces. Einzig das „Halleluja“ entfällt laut Rubriken vom Aschermittwoch bis zur Osternacht. 1658 Heute zeigen sich die Tagzeiten an den außergewöhnlichen Tagen vor Ostern also in ihrer weitgehend gewöhnlichen und alles in allem auch einheitlichen Gestalt. 1659 Strukturell und inhaltlich haben die Hauptvollzüge in der geltenden Ordnung ähnliches Gewicht wie die übrigen Elemente in Summe: Eröffnungsversikel ggf. Invitatorium Hymnus Psalmodie + Doxologie ggf. Versikel Lesung oder Kurzlesung + Responsorium/ Versikel ggf. Bitten/ Fürbitten ggf. Cantica und Evangelium (+ Te Deum) ggf. Vaterunser Oration Schlussversikel Die Psalmodie/ Antiphonen sowie Lesungen und Reponsorien (der Nacht- und Morgenhore) sind die schriftbezogenen und somit wichtigsten theologischen Quellen. Auf Grundlage der Tradition und im Vergleich mit ihr bleiben sie der primäre Gegenstand der Untersuchung. Die Hymnen und Kurzlesungen haben an den vorösterlichen Tagen in der römischen Tradition keinen Anhaltspunkt; vielmehr waren sie an diesen Tagen seit den frühesten greifbaren Anfängen ausdrücklich nicht Teil des Offiziums 1660 . Heu- 1657 StB I, 89*. 1658 Die jüngste Reform hat die mit zahlreichen, teils mehrmals täglich wiederholten Gebeten (Pater noster, Ave Maria, Credo; Absolutionen, Benediktionen etc.) überladenen Horen entschlackt und die wiedergewonnene schlanke und stringente Form zur einheitlichen Norm der Feiergestalt gemacht. Während die erneuerte Stundenliturgie im Alltag generell leichter zu vollziehen ist, präsentiert sie sich gerade an den Kartagen üppiger als früher. 1659 In dieser Hinsicht hat das Baumstarksche Gesetz seine Wirkung verloren. Möglicherweise erschien die konsequente Aufwertung der Tagzeitenliturgie gegenüber der Bewahrung der Sondergestalt der Trauermetten vor allem mit Blick auf die mit dem Stundengebet wenig bis nicht vertrauten Gemeinden als das größere Gut. 1660 Schon am Gründonnerstag gilt: Non dicatur lectio (OR 50, 25,6; 106 [SSL 29, 188; 227 A NDRI- EU ]); hymnus et capitulum non dicuntur (BR 1568, 350, 2335 [MLCT 3, 380 S ODI / T RIACCA ]). Die Hymnen werden überhaupt erst sehr spät (ab dem 12. Jh.) in die römische Liturgie aufgenommen (vgl. P ASCHER , Stundengebet 102). <?page no="304"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 296 te hingegen prägen diese und andere Texte und Gesänge die Theologie der Tagzeitenliturgie auch an den letzten Tagen der Hohen Woche. Die Vespern am Gründonnerstag und Karfreitag ebenso wie die Komplet am Karsamstag gehören heute explizit nicht zur intendierten Vollgestalt kirchlichen Feierns. 1661 Sie bieten ein theologisches ,Konzentrat‘ der Hauptliturgien des Tages und sind hier nur eingeschränkt von Interesse. In der ansonsten unspezifischen Komplet (vom Sonntag nach der 2. Vesper) wird an den drei vorösterlichen Tagen lediglich das Responsorium durch Christus factus est ersetzt. 2.1.1 Auswahl, Rezeption und Neukontextualisierung der römischen Tradition Die deutschsprachige Feier des Stundengebetes. Stundenbuch (1978) basiert auf der lateinischen Liturgia Horarum iuxta ritum romanum. Editio typica (1974). Auf den ersten Blick fällt die erhebliche Kürzung der erneuerten Stundenliturgie gegenüber der Tradition auf; zugleich die Anreicherung mit neuen oder an diesen Tagen neuen Elementen. 1662 Doch ist das Zueinander von alt und neu mehr als die Summe der reduzierten und/ oder neugeschaffenen Texte und Gesänge. Die Einbettung der aus der Tradition stammenden Elemente in einen neuen Kontext bringt diese selbstverständlich auch anders akzentuiert als bisher zum Tragen. Außer dem Charakter der Horen, der liturgischen Zeiten und Feste sowie dem geistlichen Wohl der Gläubigen gilt die Maßgabe der Tradition als wichtiges Kriterium der Neuordnung. 1663 Im Folgenden wird untersucht, wie und mit welchen theologischen Implikationen sie in den heutigen Kontext eingebracht wurde. Die Darstellung orientiert sich wiederum an den elementaren Vollzügen der Psalmrezitation, der Schriftlesung und der Gebetsantwort sowie an deren (neuem) Verhältnis zueinander. 2.1.1.1 Psalmodie und Antiphonen Die Liturgia Horarum verwendet den Text des von der Kommission für die Nova- Vulgata 1969 herausgegebenen Liber psalmorum. 1664 Die Einheitsübersetzung bieten das deutsche Stundenbuch und die Ausgabe für die Karwoche und Osterzeit, die für jeden Tag alle Texte und Gesänge jeder Hore in der Reihenfolge ihre Vollzugs enthält, und somit einen praktischen Feierbehelf ohne Notwendigkeit des Hin- und Herblätterns darstellt. Zum Singen ist weder die lateinische noch die deutsche Textausgabe eingerichtet, obwohl geltender Ordnung zufolge der Gesang des Stundengebetes „besser seinem Wesen“ entspricht und daher allen, die es „im Chor oder sonst gemeinsam verrichten, nachdrücklich empfohlen“ wird; zumal „vor allem die Psalmen, Cantica, Hymnen und Antwortgesänge“ ihren „volleren Sinn erst im Gesang [empfangen]“. 1665 Um den direkten Vergleich mit den aus der Tradition übernommenen Texten zu erleichtern, werden die Antiphonen hier lateinisch angeführt; die in der Liturgia Horarum (und im Stundenbuch) ergänzten Überschriften und neutestamentlichen Zitate, die 1661 Vgl. Allgemeine Einführung in das Stundengebet 209 und 211 (StB I, 89*). 1662 Die Einführung einer grundlegend neuen Psalmenverteilung (Vierwochenpsalter) und das Abrücken vom kurrenten Psalter sind zwei Maßnahmen, die sich auch in der Feiergestalt der Tagzeiten an den letzten Tagen der Hohen Woche niederschlagen. 1663 Vgl. z. B. Sacrosanctum Concilium 91 und 109 ( 2 LThK 12 [1986 [= 1966]] 82f; 92f u. ö.). 1664 Sie hat das seit 1945 verwendete Psalterium Pianum ersetzt; zur Problematik der liturgischen Verwendung moderner lateinischer Versionen vgl. B UCHINGER , Hymnus 342-354. 1665 Allgemeine Einführung in das Stundengebet 268f (StB I, 101*). <?page no="305"?> 2.1 Die erneuerte Liturgia Horarum (1974/ 78) 297 das christologische Verständnis der Psalmen 1666 und das Gebet der Gläubigen fördern sollen 1667 , in Abhebung davon und der leichteren Lesbarkeit wegen auf Deutsch. 1668 Alle Psalmen im Wochenpsalterium haben außer dem Titel, der auf Gattung, Wortsinn und Sitz im Leben hinweist, derartige „Kernsprüche“ (B UGNINI ) als Lese- und Verständnishilfen erhalten. 1669 Liturgisch ist der Gründonnerstag 1670 der unauffälligste der drei Tage; andererseits steht nur an diesem Tag die Wahl der Psalmen für die Lesehore frei. Die Psalmodie kann „vom Tag“ (Do der 2. Woche) genommen werden: HoDo Psalm(en) Titel (dt.) Kernspruch (dt.) Antiphonen traditioneller Ort Lesehore Ps 43(44), 2-9, 10-17, 18-26 In Kriegsnot All das überwinden wir durch den, der uns geliebt hat. (Röm 8,37) Salvasti nos Dne, et in nomine tuo confitebimur in saeculum. (vgl. V. 8a.9b) Dox Parce, Dne, et ne des hereditatem tuam in opprobrium. (Joel 2,17b*) vgl. Vigil- Responsorium: 1. So/ Quadr. 1671 Dox Exsurge, Dne, et redime nos propter misericordiam tuam. (vgl. V. 26) Dox Aus dem hier vorgesehenen Ps 43(44) - einem Volksklagelied - zitiert schon Paulus, um der bedrängten Gemeinde eine zuversichtliche Hoffnung zu geben: „Wir werden behandelt wie Schafe, die man zum Schlachten bestimmt hat“ (V. 23 zitiert in Röm 8,36). Während diese Klage im Psalm zu der drängenden Frage „Wach auf! Warum schläfst du, Herr? “ (V. 24a) führt, kann Paulus bereits auf den gekreuzigten und erhöhten Christus verweisen: „All das überwinden wir durch den, der uns geliebt hat.“ (Röm 8,37) - Dasselbe tut der Kernspruch zu Ps 43(44). 1666 „Ungeachtet mancher gekünstelter Deutungen, hörten die Väter und die Liturgie im allgemeinen mit Recht in den Psalmen Christus zum Vater rufen oder den Vater zum Sohn sprechen. Darüber hinaus erkannten sie in ihnen die Stimme der Kirche, der Apostel und Märtyrer. Diese Form der Auslegung galt auch im Mittelalter. Viele damals geschaffene Psalterhandschriften legten dem Beter durch die Überschriften, die sie den einzelnen Psalmen gaben, den christologischen Sinn nahe.“ (Allgemeine Einführung in das Stundengebet 109 [StB I, 66f*]). 1667 Vgl. B UGNINI , Liturgiereform 557f; vgl. Allgemeine Einführung in das Stundengebet 111 (StB I, 67f*). 1668 Die Unterschiede zwischen der lateinischen und der fallweise geringfügig erweiterten deutschen Textfassung werden nicht im Detail berücksichtigt. 1669 Daraus wird ersichtlich, dass das Buch für den lesenden Einzelbeter und seinen individuellen Gebrauch konzipiert ist. Federführend bei der Einführung der Untertitel, damit der Beter nicht mit den Psalmen und Antiphonen, die zu deren christlicher Interpretation „nichts beitragen“ konnten, „allein gelassen“ werde, waren F ISCHER , Psalmen 121-137 (hier 121) und André R OSE , Sous-titres 679-690. 1670 LH II, 348-353; 354-356 (= StB II, 203-206; 207-209 [= Karwoche 145-172; 173-182]). Alle drei Textausgaben machen eine Zäsur vor der Vesper des Hohen Donnerstags. 1671 In ieiunio et fletu orabant sacerdotes dicentes parce domine parce populo tuo et ne des hereditatem tuam in perditionem; nach www.cantusdatabase.org.: ID 006910. <?page no="306"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 298 Wie der in drei Abschnitte unterteilte Ps 43(44) stammen auch die Antiphonen aus dem Wochenpsalter. Die erste Antiphon zitiert aus V. 8f, die letzte den abschließenden V. 26; indem sie darin nomen tuum durch misericordiam tuam ersetzt, geht freilich die Stichwortverknüpfung (in nomine tuo - propter nomen tuum) der beiden psalmogenen Antiphonen verloren. Die mittlere Antiphon greift auf Joel zurück, der die Priester zur Fürsprache für das Volk aufruft. Im Auszug Karwoche und Osteroktav aus dem deutschen Stundenbuch findet sich nur diese eine Variante aus dem Wochenpsalter, und zwar ohne Hinweis auf die Alternative, obwohl für die Lesehore am Gründonnerstag sowohl in der LH als auch StB gilt: „Psalmen und Antiphonen können auch vom Freitag der 3. Woche genommen werden.“ (Rubrik zur Lesehore am Donnerstag der Hohen Woche) 1672 In der vollständigen Ausgabe der Liturgia Horarum hingegen geben sowohl die lateinische als auch die deutsche Rubrik beide Möglichkeiten an, da wie dort aber nur die Seitenzahl für die Psalmodie und Antiphonen vom Freitag der 3. Woche; sie scheinen also eher diese Wahl nahezulegen. Ps 68(69) vom Freitag der 3. Woche samt 2. Antiphon knüpft an die Tradition an; alle übrigen Psalmen und Antiphonen (mit einer einzigen Ausnahme), die Titel und Kernsprüche an diesem Tag sind neu: HoDo Psalmen/ Cantica Titel (dt.) Kernsprüche (dt.) Antiphonen traditioneller Ort Invitatorium Ps 94(95) Aufruf zum Lob des Herrn Ermahnt einander jeden Tag, solange es noch heißt: Heute! (Hebr 3,13) Christum Dnm pro nobis tentatum et passum, venite, adoremus. täglich Dox Lesehore Ps 68(69), 2-13 14-22 30-37 Gebet aus großer Angst Sie gaben ihm Wein zu trinken, der mit Galle vermischt war. (Mt 27,34) Laboravi clamans dum spero in Deum meum. (V. 4) Ps: Vigil HoDo Dox Dederunt in escam meam fel et in siti mea potaverunt me aceto. (V. 22) Ant.: PalmSo/ Hohe Woche Dox Quaerite Dnm, et vivet anima vestra. (V. 33b) Ant.: Mi/ Do per annum Dox 1672 StB II, 203; lat. LH II, 348. <?page no="307"?> 2.1 Die erneuerte Liturgia Horarum (1974/ 78) 299 HoDo Psalmen/ Cantica Titel (dt.) Kernsprüche (dt.) Antiphonen traditioneller Ort Laudes Ps 79(80) Gottes Weinstock Amen! Komm, Herr Jesus! (Offb 22,20) Vide Dne et considera quoniam tribulor. (Klgl 2,20; 1,11) Velociter exaudi me. (Ps 68,18b) Ant.: Di der Hohen Woche Dox Ps: Wochenpsalter/ Do Jes 12 Der Jubel des geretteten Volkes Wer Durst hat, komme zu mir, und es trinke, wer an mich glaubt. (Joh 7,37b.38a) Ecce Deus salvator meus; fiducialiter agam, et non timebo. (V. 2a) Ant.: Laudes per annum Dox Ps 80(81) Gottes Bundestreue Seht zu, dass keiner von euch ein schlechtes, ungläubiges Herz hat. (Hebr 3,12) Cibavit nos Dns ex adipe frumenti et de petra melle saturavit nos. (V. 17) 1673 Fronleichnam (cibavit eos) Dox Benedictus Desiderio desideravi hoc Pascha manducare vobiscum antequam patiar. (Lk 22,15) Dox Kl. Horen Ps 118(119)* AntT: Ante diem festum Paschae, sciens Iesus quia venit hora eius, cum dilexisset suos, in finem dilexit eos. (Joh 13,1) Di und Do der Hohen Woche Dox AntS: Sicut novit me Pater, et ego agnosco Patrem, et animam meam pono pro ovibus meis. (Joh 10,15) Weißer So AntN: Mihi vivere Christus est, et mori lucrum; gloriari me oportet in Cruce Dni mei Jesu Christi. (Phil 1,21; vgl. Gal 6,14) Bekehrung Pauli Ps 55(56) Trost und Vertrauen Hier wird Christus in seiner Passion dargestellt. (Hieronymus) AntT, AntS oder AntN Dox Ps 56(57) Wach auf, meine Seele Dieser Psalm besingt Christus in seiner Passion. (Augustinus) AntT, AntS oder AntN Dox Am Karfreitag 1674 bieten sowohl die lateinische als auch die deutsche Ausgabe des Stundenbuchs die Psalmen ohne Titel und Leseanweisung, 1675 immer aber mit Doxologie: 1673 Dort statt „nos“: illos. 1674 LH II, 357-378 (= StB II, 209-228 [= Karwoche 183-218]). 1675 Ausnahme ist der Invitatoriumpsalm, der auch an diesem Tag aus dem Ordinarium genommen wird (LH II, 820 [= StB II, 558f oder 573f [= Karwoche 253f]]). <?page no="308"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 300 KarFr Psalmen/ Cantica Titel Kernsprüche Antiphonen traditioneller Ort Invitatorium Ps 94(95) Aufruf zum Lob des Herrn Ermahnt einander jeden Tag, solange es noch heißt: Heute! (Hebr 3,13) Christum, Dei Filium, qui suo nos redemit sanguine,venite, adoremus. Dox Lesehore Ps 2 Astiterunt reges terrae et principes convenerunt in unum adversus Dnm et adversus Christum eius. (V. 2) Psalmen und Antiphonen: Vigil/ KarFr Dox Ps 21(22)* Diviserunt sibi vestimenta mea, et super vestem meam miserunt sortem. (V. 19) Dox Ps 37(38) Vim faciebant, qui quaerebant animam meam. (V. 13 1676 ) Dox Laudes Ps 50(51) Proprio filio suo non pepercit Deus, sed pro nobis omnibus tradidit illum. (Röm 8,32) Laudes/ KarFr Dox Hab 3* Iesus Christus dilexit nos, et lavit nos a peccatis nostris in sanguine suo. (Offb 1,5b) Dox Ps 147(148) Crucem tuam adoramus Dne, et sanctam resurrectionem tuam laudamus et glorificamus: ecce enim propter lignum venit gaudium in universo mundo. Kreuzerhöhung Dox Bened. Posuerunt super caput eius causam ipsius scriptam: Iesus Nazarenus, Rex Iudaeorum. (Mt 27,37) Ant.: Bened./ KarFr Dox Kl. Horen Ps 39(40)* AntT: Erat hora tertia, et crucifixerunt Iesum. (vgl. Mk 15,25) Psalmen: Vigil/ KarFr Dox AntS: Hora sexta tenebrae factae sunt per totam terram usque in horam nonam. (Lk 23,42) AntN: Hora nona exclamavit Iesus voce magna dicens: Deus meus, Deus meus quare dereliquisti me? (vgl. Mk 15,34) Ps 53(54)* AntT, AntS oder AntN Dox Ps 87(88) AntT, AntS oder AntN Dox 1676 In der Nova-Vulgata lautet der Vers allerdings Et laqueos posuerunt, qui quaerebant animam meam (V. 13); dadurch ist die Antiphon nicht mehr als psalmogen erkennbar. <?page no="309"?> 2.1 Die erneuerte Liturgia Horarum (1974/ 78) 301 Ebenso am Karsamstag: 1677 KarSa Psalmen/ Cantica Titel Kernsprüche Antiphonen traditioneller Ort Invitatorium Ps 94(95) Aufruf zum Lob des Herrn Ermahnt einander jeden Tag, solange es noch heißt: Heute! (Hebr 3,13) Christum Dnm pro nobis passum et sepultum, venite, adoremus. Dox Lesehore Ps 4 In pace in idipsum dormiam et requiescam. (V. 9) Vigil/ KarSa Dox Ps 15(16) Caro mea requiescet in spe. (V. 9) Dox Ps 23(24) Elevamini portes aeternales, et introibit Rex gloriae. (V. 9) Dox Laudes Ps 63(64) Plangent eum quasi unigenitum (Sach 12,10c), quia innocens Dns occisus est. Ant.: Laudes/ Kar- Sa Dox Jes 38* A porta inferi erue Dne animam meam. Laudes/ Kar- Sa Dox Ps 150 Ego fui mortuus, et ecce sum vivens in saecula saeculorum, et habeo claves mortis et inferni. (Offb 1,18) Dox Bened. Salvator mundi, salva nos; qui per crucem et sanguinem tuum redemisti nos, auxiliare nobis, te deprecamur, Deus noster. Kreuzerhöhung (und Kreuzauffindung) Dox Kl. Horen Ps 26(27) AntT: Credo videre bona Dni in terra viventium. (Ps 26,13) Psalmen und Antiphonen: Vigil/ KarSa Dox AntS: Dne abstraxisti ab inferis animam meam. (Ps 29,4) AntN: In pace factus est locus eius, et in Sion habitatio eius. (Ps 75,3) Ps 29(30) AntT, AntS, oder AntN Dox Ps 75(76) AntT, AntS, oder AntN Dox 1677 LH II, 379-400 (= StB II, 228-243 [= Karwoche 219-252]). <?page no="310"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 302 KarSa Psalmen/ Cantica Titel Kernsprüche Antiphonen traditioneller Ort Vesper Ps 115(116) O mors, ero mors tua; morsus tuus ero, inferne. (Hos 13,14) Ant.: Laudes/ Karsa Ps: Vesper/ HoDo Dox Ps 142(143) Sicut fuit Ionas in ventre ceti tribus diebus et tribus noctibus, ita erit Filius hominis in corde terrae. (Mt 12,40) Ps: Laudes am KarFr Dox Phil 2* Solvite templum hoc, dicit Dns, et post triduum reaedificabo illud. Hoc autem dicebat de templo corporis sui. (Joh 2,19.21) Ant.: Mo der 4. Wo in der Quadragesima Dox Der Hohe Donnerstag - ein besonderer Tag? Am Gründonnerstag sind (wie auch sonst üblich) alle Horen mit Psalmtiteln und Kernsprüchen ausgestattet, während sie am Karfreitag und Karsamstag fehlen. Dieses Signal hebt den gewöhnlichen Wochentag von den Kartagen ab. Seit der Neuordnung im Zuge der Liturgiereform verläuft die Zäsur zwischen Wochentag und Österlichem Tag vor der Abendmahlsfeier, die das Triduum eröffnet; wird ,ersatzweise‘ die Vesper gebetet, bleibt der Charakter des Wochentags erhalten, obwohl sie in den liturgischen Büchern als erste Hore der „Drei Österlichen Tage vom Leiden, vom Tod und von der Auferstehung des Herrn“ angeführt ist. 1678 Gründonnerstag als schlichten Wochentag bis zum Abend bestätigen in der Lesehore der fakultative Ps 43(44), der sogar die Wochentagsantiphonen (statt der am Gründonnerstag üblichen Eigenantiphonen) behält, und der heutige Vesperspalm Ps 71(72): In der Tradition Teil der Donnerstagsvigil per annum (und damit des noch ,wochentägigen‘ Gründonnerstags) gehört er auch in der Liturgia Horarum zum Donnerstag, ist aber in die Vesper (2. Woche) gewandert. Was also auf den ersten Blick wie die Rezeption eines traditionellen Gründonnerstagspsalms an einem neuen Ort aussieht, bestätigt freilich nur die konsequente Beibehaltung des (neuen) Wochentagschemas. Das gilt auch für den heutigen Laudespsalm Ps 79(80), der sowohl im römischen Wochenpsalter als auch im geltenden Vier-Wochen-Psalter am (zweiten) Donnerstag und von daher auch in der Hohen Woche vorgesehen war/ ist. 1679 Die Gestalt des Gründonnerstags geht hier mit der Tradition konform. Zwei Besonderheiten des ansonsten gewöhnlichen Tages entsprechen ebenfalls der älteren Praxis: die tagesspezifischen Antiphonen zu dem nun zweigeteilten Ps 71(72), die der Wochentagsvesper einen außergewöhnlichen Klang geben; sowie der „Antiphon“ genannte, von Tag zu Tag textlich erweiterte Gesang Christus factus est 1678 Die vom Sonntag entlehnte Komplet bietet allerdings die Psalmtitel und Kernsprüche. 1679 Bei einer Psalmenverteilung nach dem kurrenten Psalter ergibt sich die Zuordnung der Vigilpsalmen 79(80) und 80(81) für Mitte/ Ende der Woche von selbst. Die LH folgt dem Prinzip der aufsteigenden Psalmenreihe nicht, platziert diese Psalmen aber ebenfalls am Donnerstag (Laudes). <?page no="311"?> 2.1 Die erneuerte Liturgia Horarum (1974/ 78) 303 („Christus war für uns gehorsam …“) anstelle des Responsoriums ab der Vesper (in den Laudes, in der Vesper und in der Komplet bis zum Karsamstagabend). 1680 Die Ambivalenz des Gründonnerstags - als Wochentag und zugleich Auftakt zum Triduum - zeigt sich auch in der Wahlmöglichkeit der Psalmodie für die Lesehore: Ps 43(44) bildet strikt den Wochentag ab, während die Alternative Ps 68(69) zwar einen ehemaligen Wochentagspsalm bietet, der im neuen Kontext aber bereits die Ausnahme darstellt. In beiden Fällen sind spezielle Antiphonen vorgesehen. Kein Unterschied zwischen einzelnen Tagen der Hohen Woche wird im Vollzug des Gloria Patri erkennbar. Die Doxologie ist - im auffälligen Gegensatz zur Tradition - jedem Psalm und Canticum in allen Horen von Gründonnerstag bis Karsamstag beigegeben. 1681 Rezeption Von den in der Tradition speziellen Antiphonen am Gründonnerstag haben sich die psalmogene Antiphon Ps 71(72),12 d2N1 Liberabit 1682 Dominus („Er rettet den Gebeugten …“) nach dem zweiten Teil des Psalms und die Antiphon zum Magnificat dC1 Cenantibus illis („Während des Mahles …“) erhalten; beide allerdings in der Vesper und so der Wirklichkeit des Feierns de facto entzogen. Die übrigen Antiphonen sind entweder Neuschöpfungen oder teils aus dem größeren Kontext der Hohen Woche, teils von anderen passenden Festen entlehnt. Auch am Karfreitag stammen drei von vier Vesperantiphonen (z. T. neu kontextualisiert) aus der Tradition, kommen aber ebenfalls nur ausnahmsweise zum Tragen: sL3 Attendite universi populi („Ihr Völker alle …“) und fL2 Anxiatus est in me („Mein Geist verzagt in mir …“) aus den Laudes; fV2 Cum accepisset („Jesus nahm von dem Essig …“) aus der (monastischen) Vespertradition. Generell ist die Traditionsdichte am Karfreitag größer als am Vortag: die zur Vigil erweiterte Lesehore besteht aus drei traditionellen Vigilpsalmen und Antiphonen (f1N1, f1N3, f2N1); mit der ersten und letzten Laudesantiphon (fL1 und fC1) sowie dem Canticum Hab 3 bleiben zusätzlich drei markante Texte/ Gesänge am früheren Ort erhalten; drei weitere Vigilpsalmen, darunter der verzweifelte Ps 87(88), prägen heute die Mittagshore; sie wurden aber mit neuen, an die Passionschronologie angelehnten Antiphonen ausgestattet. Noch deutlicher ist der Befund am Karsamstag: Mit Ausnahme von Ps 14(15), Ps 53(54) und des auf den Vortag verschobenen Ps 87(88) sind alle Vigilpsalmen mit ihren originalen Antiphonen über den Tag verteilt: s1N1, s1N3, s2N1 in der Vigil; s2N2, s2N3 und s3N2 in den Kleinen Horen; außerdem in den Laudes sL2 und sL4 zum Canticum Jes 38. Die theologische Schlüsselantiphon O mors, ero mors tua („O Tod, ich bin dein Tod …“) sL1 aus den Laudes hat in der neuen Vesper vor Anbruch der Paschavigil 1683 einen theologisch stimmigen Ort gefunden. 1680 Vgl. dazu H ESBERT , Graduel 241-255. 1681 Die Rubrik „Das Ehre sei dem Vater wird am Schluss aller Psalmen und Cantica gebetet, wenn es nicht anders vermerkt ist“ (StB II, 618; lat. LH II, 842) kommt insofern nicht zum Tragen, als sich an den vorösterlichen Tagen kein derartiger Vermerk findet. In der Kurzfassung für die Karwoche und Osteroktav ist die Doxologie sogar ausdrücklich bei jedem Psalm/ Canticum angegeben. 1682 Bis auf Codex F, der ebenfalls die futurische Form schreibt, bieten die älteren Quellen Liberavit (CAO III, 318 Nr. 3624 § 72). 1683 Bis zur Reform gab es keine Vesper am Karsamstag; vielmehr wurde die erste Vesper vom Ostersonntag in die vorgezogene Auferstehungsfeier am Morgen des Karsamstags integriert. <?page no="312"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 304 Einbußen Das von der Reform gewünschte Durchschnittsmaß von drei Psalmen (oder Psalmabschnitten à 10-12 Verse) 1684 pro Hore hat den Verlust des Großteils der jeweiligen Psalmodie mit sich gebracht; einige der verbliebenen Psalmen sind zudem nicht vollständig, einzelne Verse fehlen. Das gilt bedauerlicherweise auch von dem am Gründonnerstag einzigen aus der Tradition rezipierten und seinerzeit die Hohe Woche durchwegs prägenden Ps 68(69), der - obwohl keineswegs überlang - dennoch nicht zur Gänze rezitiert wird; es fehlen die Verse 23-29. Der Verschnitt des im Mk- und Mt-Evangelium überlieferten Sterbepsalms Jesu Ps 21(22) in der Lesehore/ Vigil am Karfreitag - auch hier wird der letzte Teil (V. 24- 32) weggelassen - ist schlichtweg unverständlich. Von den Cantica in den Laudes ist Ex 15 1685 (,Moselied‘) samt seiner bemerkenswerten Antiphon Exhortatus es am Gründonnerstag verschwunden; es wurde durch Jes 12 ersetzt. Auch die zum Canticum am Karfreitag (Hab 3) theologisch beziehungsvolle Antiphon Dum conturbata (fL4) wurde gestrichen und durch eine neutestamentliche Antiphon ersetzt. Damit sind zwei heute als „schwierig“ 1686 geltende Theologumena verschwunden: das Vernichtungshandeln Gottes an den Feinden sowie sein gerechter (= Gerechtigkeit schaffender) Zorn angesichts des herrschenden Unrechts; ebenfalls preisgegeben wurde damit freilich das Vertrauen auf das rettende Gedenken Gottes - selbst, „wenn du zürnst“ (vgl. Hab 3,2d) -, was letztlich auch der Bitte des mit Jesus gekreuzigten Verbrechers, der eine gerechte Strafe erleidet („Herr, denk an mich“, fL3, fL5), den Boden entzieht. Am Karfreitag und Karsamstag hat die Aufteilung der früheren Vigilpsalmodie auf das Stundengebet des ganzen Tages zwar etliche Psalmen und Antiphonen bewahrt. Aus pastoraler Sicht ließe sich einwenden, dass diese einprägsamen Texte den Gemeinden dennoch faktisch abhanden gekommen sind, da weder Mittagshore noch Vesper in derselben Weise eingeführt sind wie die Trauermetten, die sich großen Zuspruchs erfreuen. Altes und Neues im neuen Kontext Alle drei Tage bieten ein vollständiges Stundengebet mit allen Elementen und Vollzügen, die auch sonst dazugehören - ein gravierender Unterschied zur bisherigen Tradition. Mehr noch: Die Antiphonen zum Invitatorium - als jeweils erste Gesänge haben sie eine hermeneutisch nicht unerhebliche Stellung - wurden aufeinander abgestimmt und laden wiederholt zur Verehrung Christi ein, der „für uns versucht“ wurde, „gelitten“ hat, „begraben“ wurde und uns „mit seinem Blut erlöst“ hat. Sie bilden von Gründonnerstag bis Karsamstag eine Art Refrain: Christum Dominum pro nobis tentatum et passum, venite, adoremus. Christum, Dei Filium, qui suo nos redemit sanguine,venite, adoremus. Christum Dominum pro nobis passum et sepultum, venite, adoremus. Gründonnerstag: Ps 68(69) - fakultativ in der Lesehore - erscheint mit drei neuen psalmogenen Antiphonen: Die ersten zwei bringen vox Christi zu Gehör; es wird aber nicht mehr der „Eifer für dein Haus“ (V. 10), d. h. die Gottesbeziehung des Psalmis- 1684 Vgl. B UGNINI , Reform 538. 1685 Zugleich auch der kantorierte letzte Abschnitt der 2. Lesung der Osternacht (Messlektionar I, 151). 1686 Diese sowohl theologisch als auch pastoral begründete Einschätzung hatte teils die Dezimierung um einzelne Verse, teils die Eliminierung ganzer Psalmen aus der Tagzeitenliturgie zur Folge (vgl. Anm. 1687). <?page no="313"?> 2.1 Die erneuerte Liturgia Horarum (1974/ 78) 305 ten, als Begründung für die Verfolgung akzentuiert, sondern die Erschöpfung des Leidenden: „Ich bin müde vom Rufen …“ (V. 4); „Sie gaben mir Galle als Speise …“ (V. 33b). Die dritte Antiphon bezieht die Hörenden und Feiernden mit ein: „Ihr, die ihr Gott sucht: Euer Herz lebe auf.“ Die gestrichenen Verse 23-29 enthalten die offenbar als anstößig empfundenen Bitten des Psalmisten um Vergeltung an den Verfolgern. 1687 In den Laudes stehen gemäß der neuen Psalmenverteilung am Gründonnerstag die Psalmen und das AT-Canticum der 2. Woche: Ps 79(80), Ps 80(81) und Jes 12. Die Gesänge erbitten das Kommen Gottes zur Aufrichtung seines Volkes in der jubelnden und vertrauensvollen Erinnerung an sein früheres Heilshandeln. Alle haben spezielle, nichtpsalmogene Antiphonen: Die Antiphon zu Ps 79(80) formuliert das Flehen des Beters (vide - exaudi), der Kernspruch ergänzt aus der Offenbarung die altkirchliche Bitte um die endzeitliche Wiederkunft Christi (veni). Der österliche Gehalt des Verses „Deine Hand schütze den Mann zu deiner Rechten, den Menschensohn, den du für dich groß und stark gemacht.“ (V. 18) bleibt unausdrücklich. Jes 12,1-6 hat mit dem früheren Canticum Ex 15,1-21 das zentrale Bekenntnis „Meine Stärke und mein Lied ist der Herr. Er ist für mich zum Retter geworden.“ (Ex 15,2; Jes 12,2) gemeinsam. Das neue Canticum ist praktischerweise kürzer und enthält keine Feindaussagen über die Heerscharen des Pharao wie das Lied des Mose. 1688 Ps 80(81) besingt den Exodus und die Speisung in der Wüste. Die von Fronleichnam entlehnte Antiphon Cibavit eos greift dieses Motiv auf und aktualisiert - mit Blick auf die zu feiernde Einsetzung der Eucharistie - das dortige eos zu nos: „Mit bestem Weizen nährt uns der Herr und sättigt uns mit Honig aus dem Felsen.“ Der Kernspruch zu Ps 80(81) mahnt die Kirche, mehr als die Väter in der Wüste „gläubig zu sein“. Gleichfalls zum eucharistischen Inhalt des Tages passend zitiert die Antiphon zum Benedictus aus der lukanischen Abendmahlserzählung Desiderio desideravi. Die Mittagshore folgt mit dem Wochentagsabschnitt aus Ps 118(119)* sowie den Pss 55(56) und 56(57), die gemäß der Empfehlung der Kernsprüche als Prophetie der Passion Christi gehört werden sollen. Die Antiphonen sind unterschiedlicher Herkunft: Sie stammen vom Dienstag der Hohen Woche (Terz), vom Weißen Sonntag (Sext) sowie vom Fest Pauli Bekehrung (Non) und finden in der Mittagshore des Gründonnerstags einen neuen liturgischen Ort. Ihre ungewöhnliche Zusammenstellung nennt die Bedingungen der Erlösung: die freie und liebende Selbsthingabe Christi für „meine Schafe“, der sich allezeit in unangreifbar inniger Nähe zum Vater weiß; sie wird denen zum „Gewinn“, die sich mit Paulus „des Kreuzes meines Herrn Jesu Christi“ rühmen. Die Vesper bewahrt Ps 71(72) zweigeteilt samt seiner (jetzt 2.) Antiphon Liberabit (V. 12), dessen Verwendung jedoch nicht spezifisch für die Hohe Woche war/ ist, sondern ebenso dem früheren wie dem jetzigen Wochentagsschema entspricht. Da diese Hore am Gründonnerstag normalerweise entfällt, spielt der Psalm faktisch keine Rolle mehr. Falls die Vesper doch gebetet wird, stehen die Zeichen schon am Gründonners- 1687 „Diese Textauslassungen erfolgten wegen gewisser psychologischer Schwierigkeiten“, die man bei heutigen Beterinnen und Betern befürchtete (Allgemeine Einführung in das Stundengebet 131 (StB I, 72*) (vgl. Anm. 1686). 1688 In der geltenden römischen Ordnung hat Ex 15 (gekürzt und unvollständig) seinen Ort in den Laudes am Samstag der 1. Woche (LH II, 929f [= StB II, 709]) und in der Lesehore am Ostersonntag (LH II, 402f [= Karwoche 271f]); auch hier ohne Feindaussagen und ohne den Verweis auf die ebenfalls singende Mirjam. <?page no="314"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 306 tag auf Sieg, den drei neutestamentliche Texte für Christus und seine Heiligen antizipieren: „Christus, der Erstgeborene von den Toten und Herrscher über die Könige der Erde hat uns zu einem Königreich gemacht für seinen Gott und Vater.“ (1. Ant.); und „Die Heiligen haben gesiegt durch das Blut des Lammes und durch ihr Wort und ihr Zeugnis.“ (3. Ant.); zum Canticum Offb 11,17f; 12,10b-12a, in dem es heißt: „Jetzt ist er da, der rettende Sieg …“ (V. 10). Die aus der Tradition übernommene Antiphon Cenantibus illis zum Magnificat mag denen, die nicht an der Abendmahlsfeier teilnehmen, das Abschiedsmahl Jesu wenigstens in Erinnerung rufen. Die Psalmodie und die Antiphonen am Karfreitag meditieren in Vigil und Laudes wie bisher anhand der christologisch gefüllten Psalmen Pss 2, 21(22) und 87(88) die Passion Jesu als Rettungshandeln Gottes. Zwei Faktoren verschieben dennoch die Akzente: Zum einen werden dafür häufiger als früher neutestamentliche Texte herangezogen; vox Christi (oder vox de Christo) wird dadurch gewissermaßen lauter, unüberhörbar. Zum anderen kürzt man längere Psalmen. Besonders gravierend ist das Fehlen des gesamten letzten Abschnitts (V. 24-32 ) von Ps 21(22). Davon ausgehend, dass die kanonische Deutung des Todes Jesu (Mk; Mt), die Jesus den eröffnenden Klageschrei (V. 2) in den Mund legt, den ganzen Psalm im Blick hat, ist dieser auch für die vergegenwärtigende Feier des Paschamysteriums konstitutiv. Mit der Kürzung verengt sich die Perspektive auf das historische Faktum der Kreuzigung, während die in den letzten Versen ausgesagte und ekklesiologisch höchst relevante Universalität des Heilsgeschehens nicht zur Sprache kommt: „Die ihr den Herrn fürchtet, preist ihn, ihr alle vom Stamm Jakobs, rühmt ihn; erschauert alle vor ihm, ihr Nachkommen Israels! Denn er hat nicht verachtet, nicht verabscheut das Elend des Armen. Er verbirgt sein Gesicht nicht vor ihm; er hat auf sein Schreien gehört. Deine Treue preise ich in großer Gemeinde; ich erfülle meine Gelübde vor denen, die Gott fürchten. Die Armen sollen essen und sich sättigen; den Herrn sollen preisen, die ihn suchen. Aufleben soll euer Herz für immer. Alle Enden der Erde sollen daran denken und werden umkehren zum Herrn: Vor ihm werfen sich alle Stämme der Völker nieder. Denn der Herr regiert als König; er herrscht über die Völker. Vor ihm allein sollen niederfallen die Mächtigen der Erde, vor ihm sich alle niederwerfen, die in der Erde ruhen. [Meine Seele, sie lebt für ihn; mein Stamm wird ihm dienen.] Vom Herrn wird man dem künftigen Geschlecht erzählen, seine Heilstat verkündet man dem kommenden Volk; denn er hat das Werk getan.“ (Ps 21[22],24-32) Andere Verse wurden offenbar nicht der Textmenge wegen entfernt, sondern weil sie als vox Christi (und vox ecclesiae) unpassend erscheinen. So fehlt in Ps 53(54) in der Mittagshore nur die Feindbitte „Auf meine Gegner falle das Unheil zurück. Weil du treu bist, vernichte sie! “ (V. 7); und in Ps 39(40): „In Schmach und Schande sollen alle fallen, die mir nach dem Leben trachten. Zurückweichen sollen sie und vor Scham erröten, die sich über mein Unglück freuen. Vor Schande sollen alle schaudern, die zu mir sagen: ,Dir geschieht recht.‘“ (V. 15f) Die Tilgung von V. 15 hat eine doppelte Folge: Sie nimmt dem Psalmtext jenen Aspekt der Gerechtigkeit, der den Feinden ihren Irrtum aufdeckt (und den derart „Beschämten“ die Chance zur Umkehr offenhielte? ). Mit V. 15 verzichtet man zugleich auf die am Karfreitag traditionelle vox Christi-Antiphon (f2N2) zu Ps 39(40) und ,korrigiert‘ dessen Hermeneutik: Gott wirkt die Rettung des Gerechten unter Ausschluss seiner Feinde. Eine vertane Chance zur Identifikation, zumal die Feiernden am Abend mit der Vesper-Antiphon Cum inimici essemus dazu eigeladen werden, sich als frühere Feinde Gottes zu begreifen. <?page no="315"?> 2.1 Die erneuerte Liturgia Horarum (1974/ 78) 307 Der ehemals in den Vigilien beider Kartage verortete Ps 87(88), dessen traditionelle Antiphonen den Psalmbeter Christus - wahrer Mensch und wahrer Gott - in auswegloser Gottferne (V. 9 in f3N2) und als souveränen ,Freigänger‘ unter den Toten (V. 5f in s3N3) zeigen, steht heute in der Mittagshore (Non) des Karfreitags; die Antiphon beschränkt ihre Deutung auf den Hinweis, Jesus sei „In der neunten Stunde“ gestorben. Auf die soteriologische 1. (alte) und 2. (neue) Laudesantiphon (pro nobis tradidit - dilexit nos/ lavit nos a peccatis) antwortet die neue 3. Antiphon zu Ps 147(148) dankbar mit der anbetenden Verehrung des Kreuzes (Crucem tuam adoramus). Sie ersetzt nun die Bitte des noch unerlösten Schächers (Memento mei), die in die Sext zu Ps 53(54) 1689 verschoben wurde. Die nur ausnahmesweise zu betende Vesper versammelt einige Elemente aus der Tradition: eine Laudesantiphon (Anxiatus est) vom Tag samt ihrem Psalm 142(143), eine Laudesantiphon vom Karsamstag (Attendite) mit dem gängigen Vesperpsalm 115[116]) sowie die Antiphon zum NT-Canticum Cum accepisset Iesum - hier als ,ersatzweises‘ Gedächtnis der Todesstunde Jesu im Falle, dass die Feier vom Leiden und Sterben Christi nicht mitgefeiert wird. Die Antiphon zum Magnificat Cum inimici essemus („Wir waren Gottes Feinde …“) ist neu und zitiert Röm 5,10. Die Außerordentlichkeit des Heilshandelns Gottes in der von Jesus gelebten und geforderten Feindesliebe hat durch die Universalisierung der Feindschaft zwar umfassende Bedeutung gewonnen, die aber durch die konsequente Entfernung aller Feindpassagen aus den Psalmen merkwürdig blass und abstrakt bleibt. Psalmodie und Antiphonen am Karsamstag schöpfen überwiegend aus der Tradition. Neu ist die 3. Laudesantiphon zu Ps 150: Sie greift das Descensusmotiv des vorausgehenden Textes a porta inferi erue auf und bestimmt es sogleich als Sieg Christi habeo clavis mortis et inferni, der am frühen Morgen seinen Triumph verkündet: Ego fui mortuus, et ecce sum vivens in saecula saeculorum … (Offb 1,18). Die Benedictusantiphon Salvator mundi (eine Leihgabe der Kreuzfeste) endet mit dem Hilferuf der „durch dein Kreuz und dein Blut“ Erlösten um Rettung. Die am Karsamstag reguläre Vesper mit der Psalmodie vom Vortag bietet eigene Antiphonen. Nicht mehr Angst und Trauer beherrschen am Abend der Ostervigil das Geschehen, sondern Vollmacht und Prophetie: im Drohwort gegen den letzten Feind ,Tod‘ (vormals: Laudes) O mors, ero mors (Hos 13,14) zu Ps 142(143); danach führen zwei neue biblische Antiphonen zu Ps 115(116) und Phil 2,6-11 das Motiv der drei Tage (und Nächte) als das Interpretament österlicher Auferstehungshoffnung ein: Jona als Typos des im Grab ruhenden Menschensohnes (vgl. Mt 12,40) und die Auferweckung/ Auferstehung Jesu im Bild des wiedererrichteten Tempels (vgl. Joh 2,19-21). Die Cantica für die Vigilien beider Kartage 1690 aus Jer 14*, Ez 36* 1691 und Klgl 5* mit je einer spezifischen Antiphon für Karfreitag und Karsamstag sind neu. Sie knüpfen das Netz der alttestamentlichen Bezüge dichter, vor deren prophetischem Hintergrund die Tagesevangelien aus den Passionserzählungen (bis zur Kreuzigung am KarFr; die 1689 Ohne die getilgte Bitte „Vernichte sie! “ (V. 7) steht der Psalm nicht mehr in Spannung zu der in der Antiphon mitschwingenden Vergebungsbereitschaft Jesu. 1690 Die Zuordnung erfolgt nicht exklusiv für diese Tage, vielmehr stehen diese Texte an allen Sonntagen der Quadragesima inklusive Palmsonntag als Vigilcantica zur Wahl, mit je eigenen Antiphonen für die Fastenzeit, für Palmsonntag, Karfreitag und Karsamstag. 1691 Ez 36* muss neben drei weiteren Schriftlesungen im Offizium am Ostersonntag von denen gelesen werden, die nicht an der Paschavigil teilgenommen haben. <?page no="316"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 308 Grablegung am KarSa) gelesen werden. Anders als die Psalmen behalten die Cantica an diesen Tagen ihre Titel und Kernsprüche. Die Texte folgen der Logik: Klage infolge von Schuld - Zuspruch neuen Lebens - Bitte um Erneuerung; die intertextuellen Zitate (Kernsprüche) stellen sie ins Licht Christi: in ihm ist das Reich Gottes gekommen - in ihm ist Gott bei seinem Volk - in seinem Todesleiden wird unser Tod in sein Leben verwandelt. Die Antiphonen stammen aus dem traditionellen Repertoire der Hohen Woche: Vigil- Cantica Titel Kernsprüche Antiphonen traditioneller Ort Jer 14,17b-21 Prophetenklage über Jerusalem Das Reich Gottes ist nahe. Bekehrt euch und glaubt an das Evangelium. (Mt 1,15) KarFr: Aperto militis lancea latere crucifixi Dni, exivit sanguis et aqua in redemptionem salutis nostrae. 1692 (vgl. Joh 19,34*) KarSa: Dum tribularer, clamavi ad Dnm de ventre inferi, et exaudivit me. (vgl. Jona 2,3*) 1693 KarFr Kreuzverehrung KarSa: Di der Hohen Woche Dox Ez 36,24-28 Verheißung eines neuen Lebens Sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein. (Offb 21,3) Klgl 5,1-7. 15-17. 19-21 Gebet in der Not Immer tragen wir das Todesleiden Jesu an unserem Leib, damit auch das Leben Jesu an unserem Leib sichtbar wird. (2 Kor 4,10) In der lateinischen LH ist die an den Kartagen fakultativ zur Vigil erweiterbare Lesehore 1694 der einzige Ort, an dem sich die früher für die ganze Hohe Woche und besonders die letzten Tage konstitutive Lesung aus den Klageliedern als Canticum erhalten hat. 1695 Im deutschen StB ergibt sich am Karsamstag eine Doppelung zur Vigillesung im Jahr I, die insofern glücklich sein mag, als die Lesung das 5. Klagelied in voller Länge bringt; im Canticum dagegen wurde der Text um die redundanten Konkretionen des irdischen Elends (Fremdherrschaft, Gewalt, Hunger, Vergewaltigung, Zwangsarbeit) gekürzt und lenkt den Blick auf das radikal anders geartete Todesleiden Jesu, dessen Heilsamkeit im Kernspruch und der Antiphon von Karfreitag ins Zentrum gerückt wird. Warum freilich der einzelne V. 18 getilgt wurde, obwohl er im Bild des zerstörten Heiligtums ein wichtiges Interpretament des Todes Jesu bereithält, ist schwer nachvollziehbar. Dass die generell eingeführten Kernsprüche und Titel nur bei der Psalmodie an den Kartagen wegfallen, wäre, wenn überhaupt, eine äußerst schwache Reminiszenz an das Baumstark‘sche Gesetz. Sie 1692 Der volle Text dieser Antiphon zur Kreuzverehrung lautet: Dum fabricator mundi mortis supplicium pateretur in cruce clamans voce magna tradidit spiritum et ecce velum templi divisum est monumenta aperta sunt; terraemotus enim factus fuerat magnus quia mortem filii dei clamabat mundus se sustinere non posse aperto ergo militis lancea latere crucifixi domini exivit sanguis et aqua in redemptionem salutis nostrae. O admirabile pretium cuius pondere captivitas redempta est mundi tartarea confracta sunt claustra inferni aperta est nobis ianua regni; CAO III, 177 Nr. 2453 § 73. 1693 Vulgata: clamavi de tribulatione mea ad Dominum et exaudivit me de ventre inferni clamavi et exaudisti vocem meam (Jona 2,3bc). 1694 Der Buchauszug für die Karwoche und Osteroktav bietet diese Möglichkeit erst gar nicht an. 1695 LH II, 1731f (= StB II, 1461f). <?page no="317"?> 2.1 Die erneuerte Liturgia Horarum (1974/ 78) 309 geht in der komplettierten Horenstruktur, den neuen Leseanweisungen (Titel, Kernspruch) beim neu eingeführten Invitatorium und den Vigil-Cantica sowie durch die Doxologie nach jedem Psalm (oder Psalmabschnitt) und Canticum an allen drei vorösterlichen Tagen unter. 1696 2.1.1.2 Versikel, Lesungen und Responsorien Ante lectiones dicitur versus, qui orationem convertat a psalmodia ad auditionem verbi Dei. Hic versus indicatur ante priorem lectionem. (aus dem Ordinarium, Ad Officium Lectionum) Der vor der ersten Lesung zu sprechende oder zu singende Versikel führt „das Gebet“ von der Psalmodie zum Hören des Wortes Gottes über. 1697 Er entscheidet darüber, was im Gedächtnis zu behalten ist, und stellt die hermeneutische Weiche für das Verständnis des Kommenden. An allen drei vorösterlichen Tagen, also auch am Gründonnerstag, sind die Versikel Eigentexte. Zwischen Psalmodie und Lesungen stehen in der Lesehore/ Vigil folgende Rufe: 1698 Vigil-Versikel im BR 1568 Vigil- Versikel in der LH (lat.) im StB (dt.) Herkunft Avertantur retrorsum Deus meus eripe Exsurge Domine HoDo V Cum exaltatus fuero a terra. R Omnia traham ad meipsum. V Wenn ich von der Erde erhöht bin. R Werde ich alle an mich ziehen. Joh 12,32 Diviserunt sibi Insurrexerunt Locuti sunt KarFr V Insurrexerunt in me testes iniqui. R Et mentita est iniquitas sibi. V Falsche Zeugen stehen gegen mich auf. R Die Bosheit lügt gegen sich selbst. Ps 26(27),12 In pace inidipsum Tu autem Domine In pace factus KarSa V Iudica causam meam, et redime me. R Propter eloquium tuum vivifica me. V Herr, verschaffe mir Recht, und erlöse mich. R Nach deiner Weisung erhalte mein Leben. Ps 118(119), 154 Der neue nichtpsalmogene Versikel am Gründonnerstag bringt einen völlig anderen Sprechakt zum Ausdruck als bisher. Adressat und Textpragmatik haben sich verändert: Aus dem Gebet um Hilfe wurde eine vollmächtige Heilsverheißung; der Text wendet sich nicht an den Vater, sondern an die Kirche, mehr noch, an die Welt; nicht das angesprochene Gegenüber soll handeln (sich abwenden, zurückweichen), sondern das „Ich“ Christi selbst schafft universales Heil, indem er die Distanz überwindet und „alles (omnia) an mich zieht“. Zur kollektiven Wir-Klage in Ps 43(44) verhält sich der Versikel wie ein Zuspruch des angerufenen Trösters, während im Sprecher des fakultativen Ps 68(69) der spätere Retter erkannt werden kann. Die Lesungen sollen ,unter dem Kreuz‘ als dem Ort der Verherrlichung von Vater und Sohn sowie der Einheit zwischen Gott und Mensch gehört werden. Der aus der Tradition übernommene psalmogene Versikel am Karfreitag deckt die Lüge - das falsche Zeugnis gegen Jesus, aber auch den der Lüge inhärenten Selbstbetrug - als tödliche Bedrohung auf; am Karsamstag steht die Bitte um Gerechtigkeit und 1696 Die einzige Ausnahme (oder nur ein Druckfehler? ) ist in dem Faszikel Karwoche und Osteroktav die Komplet am Karfreitag, bei deren Ps 90(91) die übliche Angabe „Ehre sei dem Vater. Wie im Anfang.“ fehlt (Karwoche 217). 1697 Hier wird entweder vorausgesetzt, die Psalmen wären einfachhin Gebet, oder es ist lediglich der Übergang von einem Abschnitt der Liturgie (des „Gebetes“) zum nächsten gemeint. 1698 Die Versikel zwischen Laudespsalmodie und Benedictus (keine Kurzlesung, kein Hymnus an den drei Tagen) Homo pacis meae (HoDo), Collocavit (KarFr) und Caro mea requiescet (KarSa) wurden aufgegeben, Lesung und Hymnus aber restituiert. <?page no="318"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 310 (Neu-)Belebung (im StB der „Erhalt“ des Lebens durch den Tod hindurch) als Leitgedanke über den als „Weisung“ zu hörenden Lesungen. Bezüglich der Leseordnung für die neugeschaffene Lesehore, die (wie an Sonntagen und Festen) am Karfreitag und Karsamstag zur Vigil erweitert werden kann, unterscheiden sich die lateinische Vorlage und ihre deutschsprachige Fassung markant: Die Liturgia Horarum (LH) bietet einen einjährigen, das deutschsprachige „Stundenbuch“ (StB) einen zweijährigen Lesezyklus, 1699 d. h. für Jahr I und Jahr II unterschiedliche Texte. An den vorösterlichen Tagen sehen die lateinische und die deutschen Ordnungen durchwegs andere biblische Lesungen vor; 1700 die patristischen Lesungen stimmen in der LH und im StB Jahr I überein. 1701 Für Jahr II bringt das StB eine eigene Auswahl an Schriftlesungen und Texten geistlicher Schriftsteller: Vigillesungen im BR 1568 Lesungen Lesehore/ Vigil in der LH (lat.) im StB (dt.) Jahr 1 Jahr 2 Klgl 1,1-5; 6-9; 10f HoDo Hebr 4,14-5,10 Klgl 2,10- 22 1702 Jer 15,10-21 Augustinus zu Ps 54(55),2 Ex homilia Melitonis Sardiani episcopi in Pascha (Nr. 65-71) = Melito Ephräm d. Syrer (Loblied auf den Abendmahlsaal) od. Romano Guardini (Getsemane, aus: Der Herr) 1 Kor 11,17-22; 23-26; 27- 34 Klgl 2,8-11; 12-15; 3,1-9 KarFr Hebr 9,11-28 Klgl 3,1-33 Jer 16,1-15 Augustinus zu Ps 63(64),2 Ex catechesibus sancti Ioannis Chrysostomi episcopi (Cat. 3,13-19) = Chrysostomus Leo d. Gr. (Aufruf zur Kreuzesnachfolge) Hebr 4,1-15; 4,16-5,3; 5,4-10 Evangelium (aus der Passion nach Mt, Mk oder Lk) Klgl 3,22-30; 4,1-6; 5,1-11 KarSa Hebr 4,1-13 Klgl 5,1-22 Jer 20,7-18 Augustinus zu Ps 63(64),7 Ex antiqua homilia in sancto et magno Sabbato = Pseudo- Epiphanius Melito v. Sardes (Die österliche Verkündigung Christi) od. Leo d. Gr. (Aus einer Predigt über die Passion des Herrn) Hebr 9,11-14; 15-18; 19-22 Evangelium (Grablegung nach Mt, Mk oder Lk) Entsprechend differieren in beiden Büchern die Responsorien zu den Vigillesungen. In der LH und im Jahr I im StB ist die Zahl neuer und alter Gesänge etwa gleich, im Jahr 1699 Er bietet die Schriftlesungen eines alternativen Lesezyklus, der als 5. Band der LH geplant war (vgl. Institutio generalis de Liturgia Horarum, Nr. 145 [1971]), aber bisher nicht erschienen ist; er sollte außerdem Psalmenorationen und Quellenangaben enthalten. Die patristischen Lesungen mussten erst zusammengestellt werden und berücksichtigen auch deutschsprachige Autoren; vgl. R ICHTER , Reform 62 sowie B UGNINI , Liturgiereform 566-578. 1700 Die Evangelienlesungen in den zur Vigil erweiterten Lesehoren hingegen sind gleich. 1701 Die patristischen Texte dienen entweder der Exegese der 1. Lesung oder sie vertiefen die Spiritualität der Zeiten und Feste; nach K LÖCKENER , Lesungen 277. 1702 Die Lesung der (nahezu vollständigen) Klagelieder beginnt im Lektionar des Stundenbuchs schon am Dienstag der Hohen Woche (StB Lektionar II/ 1, 180-182 [= Karwoche 82f). <?page no="319"?> 2.1 Die erneuerte Liturgia Horarum (1974/ 78) 311 II im StB überwiegen die neuen oder liturgisch neu verorteten Responsorien. Sie stellen und erfüllen den Anspruch, auf die jeweilige Lesung einzugehen: Responsorien in der LH im StB Jahr I im StB Jahr II HoDo 1. L R Christum, cum esset Filius Dei, didicit ex iis passus est oboedientiam; *et factus est omnibus obtemperantibus sibi causa salutis aeternae. V In diebus carnis suae preces cum clamore valido offerens, exauditus est pro sua reverentia. *Et. (Hebr 5,8-9) R Weine, mein Volk wie eine Jungfrau; ihr Hirten, heult in Asche und Bußgewand, *denn gekommen ist der Tag des Herrn, groß und bitter über die Maßen. V Fürchtet euch, ihr Priester, und weint, ihr Diener des Altares; bestreut euch mit Asche. *Denn. (sR 3 ) R Jerusalem, du tötest die Propheten und steinigst, die zu dir gesandt sind. *Wie oft habe ich deine Kinder sammeln wollen, und du hast nicht gewollt. V Du hast deinen Nacken versteift und auf meine Worte nicht hören wollen. *Wie oft. 1703 (Mt 23,37) 2. L R Omnes peccaverunt = (Röm 3,23-25a; Joh 1,29b) R Alle haben gesündigt und die Herrlichkeit Gottes verloren. Ohne eigenes Zutun werden sie gerecht, dank seiner Gnade durch die Erlösung in Jesus Christus. *Ihn hat Gott dazu bestimmt, Sühne zu leisten mit seinem Blut, Sühne, wirksam durch den Glauben. V Seht das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt. * Ihn. (Röm 3,23-25a; Joh 1,29b) R Erkennt im Brot den Herrn, der am Kreuze hing, im Kelch das Blut, das aus seiner Seite strömte. *Nehmt und esst den Leib Christi! Nehmt und trinkt das Blut Christi! V Der Herr stiftete dieses Sakrament als Denkmal seines Leidens, als Erfüllung der alten Zeichen, als größtes der von ihm gewirkten Wunder. *Nehmt. (vgl. verba testamenti) KarFr 1. L R Sicut ovis = StB (Jahr II) (sR 3 ) R Der Gerechte kommt um, und niemand nimmt es sich zu Herzen; die Frommen schwinden dahin, und niemand achtet darauf. Ja, der Bosheit wegen wird der Gerechte hinweggenommen, *um einzugehen zum Frieden. V Wie ein Schaf vor dem Scherer verstummt, tat er seinen Mund nicht auf: durch Gewalt und Gericht wurde er hinweggenommen. *Um. (sR 6 ) R Wie ein Lamm, das man zur Schlachtbank führt, ist der Herr geworden. Er verstummte und tat seinen Mund nicht auf. Sein Leben gab er in den Tod, *um sein Volk zu erlösen. V Er gab sein Leben dahin und wurde unter die Verbrecher gerechnet. *Um. (sR 3 ) 2. L R Non corruptibilibus = (1 Petr 1,18) R Ihr wurdet nicht um einen vergänglichen Preis erkauft, nicht um Silber und Gold, sondern mit dem kostbaren Blut Christi, des Lammes ohne Fehl und Makel. *Durch ihn haben wir alle in dem einen Geist Zugang zum Vater. V Das Blut Jesu, des Sohnes Gottes, reinigt uns von der Sünde. *Durch. (1 Petr 1,18) R Alle haben gesündigt und die Herrlichkeit Gottes verloren. Wir werden gerecht, dank seiner Gnade durch die Erlösung in Jesus Christus. *Ihn hat Gott dazu bestimmt, Sühne zu leisten mit seinem Blut. V Wie in Adam alle sterben, so werden in Christus alle lebendig gemacht. *Ihn. (Röm 3,23-25a; Joh 1,29b) 1703 Antiphon vom Stephanusfest: CAO III, 302 Nr. 3480 § 20; www.cantusdatabase.org.: ID 003480. <?page no="320"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 312 Responsorien in der LH im StB Jahr I im StB Jahr II KarSa 1. L R Sepulto Domino, signaverunt monumentum, volventes lapidem ad ostium monumenti, *Ponentes milites, qui custodirent illum. V Accedentes principes sacerdotum ad Pilatum petierunt illum. *Ponentes. (sR 1 ) R All meine Freunde haben mich verlassen, und die mir nachstellen, haben mich überwältigt; den ich liebte, der hat mich verraten. *Mit wutentbranntem Blick schlugen sie grausam auf mich ein und tränkten mich mit Essig. V Wie einen Verbrecher stießen sie mich aus und schonten mich nicht. *Mit. (fR 1 ) R Ich hörte das Flüstern der Vielen: 1704 „Zeigt ihn an! “ Meine nächsten Bekannten warten darauf, dass ich stürze. *Doch der Herr steht mir bei. V Ich höre das Zischen der Menge, sie sinnen darauf, mir das Leben zu rauben. *Doch. (Jer 20,10; Ps 30[31],14) 2. L R Recessit pastor noster = (sR 4 ) R Unser Hirte ging dahin, der Quell lebendigen Wassers. Bei seinem Hingang hat sich die Sonne verfinstert. Gefesselt ist, der den ersten Menschen gefangenhielt. *Heute hat unser Erlöser die Pforten und Riegel des Todes alle zerbrochen. V Vor seinem Anblick flüchtet der Tod, auf seinen Ruf erstehen die Toten. Die Pforten des Todes zerbarsten, da sie ihn schauten. *Heute. (sR 4 ) R Verschlungen ist der Tod vom Sieg. Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist die Stachel? *Gott sei Dank, der uns den Sieg geschenkt hat durch Jesus Christus unseren Herrn! V Ich lege mich nieder und schlafe ein, ich wache wieder auf, denn der Herr beschützt mich. *Gott. (1 Kor 15,54f; Ps 3,6) Von den überkommenen Schriftlesungen beider Testamente übernimmt die Liturgia Horarum die neutestamentlichen Vigillesungen aus dem Hebräerbrief (Karfreitag und Karsamstag) und verteilt sie in veränderter Perikopierung und Abfolge auf alle drei Tage: Gründonnerstag: Hebr 4,14-5,10 (zuletzt im Breviarium Romanum: Hebr 4,16-5,3; 5,4-10: 8./ 9. Vigillesung/ KarFr) Karfreitag: Hebr 9,11-28 (BR: Hebr 9,11-14; 15-18; 19-22: 7.-9. Vigillesung/ KarSa) Karsamstag: Hebr 4,1-13 (BR: Hebr 4,1-15: 7. Vigillesung/ KarFr) Die (teilweise) Lesung aus den Klageliedern verlegt die LH auf Donnerstag, Freitag und Samstag der 23. Woche im Jahreskreis. Mit der Streichung der Perikopen am Gründonnerstag, Karfreitag und Karsamstag gibt die LH nicht nur einen für diese Tage bislang konstitutiven alttestamentlichen Text auf, sondern auch dessen gattungsgemäße und die Trauermetten von jeher kennzeichnende Vortragsweise als kantillierte Lesung. 1705 Die Schriftlesungen der LH für die Lesehore (HoDo) und Vigilien (KarFr/ KarSa) nehmen eine rein neutestamentliche Perspektive ein; durch den Wegfall der früheren Lesung aus 1 Kor (HoDo) dominiert an allen drei Tagen der Hebräerbrief, der ab dem 1704 Vgl. den ab dem 12. Jh. belegten Responsorialvers Audivi contumelias multorum et terrores in circuitu dicentium am Mittwoch oder Donnerstag der Hohen Woche; nach www.cantusdatabase.org.: ID 006660za. Der heutige Text verbindet das Zitat aus Jer 20,10f mit Ps 30(31),14. 1705 Damit bleibt ein Schlüsseltext des Triduums all den Gläubigen entzogen, die zwar an den Trauermetten teilnehmen, nicht aber das tägliche Stundengebet pflegen, zumal dieses auch selten öffentlich gefeiert wird. <?page no="321"?> 2.1 Die erneuerte Liturgia Horarum (1974/ 78) 313 5. Sonntag der Quadragesima in (nicht lückenloser) Bahnlesung gelesen wird; daraus stammen außerdem der tägliche Kernspruch zum Invitatorium Ps 94(95) und das 1. Reponsorium am Gründonnerstag. 1706 Auch vier der sechs Responsorien - u. a. das traditionelle sR 1 Sepulto Domino - basieren auf neutestamentlichen Schriftstellen; sR 4 Recessit pastor noster verbindet alt- und neutestamentliche Anklänge; sR 9 Sicut ovis greift auf Jes 53 zurück. Eine größere Breite als in den Jahrhunderten vor der jüngsten Reform bieten die neugeordneten Väterlesungen . 1707 An den vorösterlichen Tagen wurde der augustinische Psalmentraktat im Sinne der älteren Rubriken, die allgemein „passende Väterhomilien“ anweisen, durch mehrere Autoren ersetzt. Die LH und Jahr I im StB stimmen hierin überein. Die patristischen Texte stellen an den untersuchten Tagen, obwohl schriftbezogen, stärker theologische als exegetische Überlegungen an; zudem bringen sie einige der an anderer Stelle reduzierten alttestamentlichen Bezüge in die Feier ein. In der am Gründonnerstag gelesenen Passage der Osterhomilie des Melito († vor 190) erläutert dieser die Erlösung durch die Identifikation Christi mit dem leidenden Menschen, „in einem Leib, der dem Leiden ausgesetzt war“: „Getötet wie ein Schaf“ hat er „uns wie aus einem Ägypten aus dem Dienst der Welt“ und „aus der Knechtschaft des Teufels wie aus der Hand des Pharao“ gerettet. Angekündigt hat sich „das Paschamysterium, das Christus ist“, im Leiden seiner heilsgeschichtlichen Vorläufer: „Er ertrug in vielen vieles: Er wurde in Abel gemordet. In Isaak wurden ihm die Füße gefesselt, in Jakob musste er auswandern. In Josef wurde er verkauft, in Mose ausgesetzt, im Lamm geschlachtet, in David verfolgt, in den Propheten geschmäht …“ (Melito v. Sardes, Osterhomilie; ÜS nach StB) 1708 Der Abschnitt aus der Katechese „Über die Kraft des Blutes Christi“ von Johannes Chrysostomus († 407) in der Karfreitagsvigil deutet den rettenden Blutanstrich am Türsturz der Israeliten als Vorausbild für das eucharistische „Blut des Herrn auf den Lippen der Glaubenden“; wie das Wasser der Taufe hat es seinen Ursprung aus der Seite des Gekreuzigten genommen und „baut“ die Kirche auf. Kraft ihrer sakramentalen Teilhabe an Christus werden die Gläubigen neu, als Glieder des Leibes Christi, geschaffen: „Aus seiner Seite nämlich baute Christus die Kirche, wie aus der Seite Adams Eva, die Gattin, kam. Dafür ist auch Paulus Zeuge, wenn er sagt: ,Wir sind Glieder seines Leibes‘, von seinem Gebein genommen, womit er die Seite meint. Denn wie Gott aus der Seite des Adam die Frau schuf, so gab uns Christus aus seiner Seite Wasser und Blut, wodurch die Kirche erbaut werden sollte. Wie Gott die Seite öffnete, während Adam im Schlaf ruhte, so schenkte er uns jetzt nach dem Tode Christi aus seiner Seite das Wasser und das Blut.“ (Johannes Chrysostomus, Katechese über „Die Kraft des Blutes Christi“; ÜS nach StB) 1709 1706 Ebenso alle Kurzlesungen des Tages: der Laudes (Hebr 2,9b-10), der Kleinen Horen (Hebr 4,14- 15; 7,26-27; 9,11-12) und der Vesper (Hebr 13,12-15). 1707 Als „ganz erheblich“ bewertet L ENGELING , Lesungen, den in der Revision der Leseordnung erzielten Fortschritt - ungeachtet der Frage der „theologische[n] und spirituelle[n] Eignung für Menschen von heute“ (ebd. 242). Diesem positiven Befund schließt sich K LÖCKENER , Lesungen 275 hinsichtlich der generellen Vielfalt der Lesungen, der stärkeren Repräsentanz östlicher Autoren sowie der Aufnahme von Texten aus anderen Epochen als der patristischen, grundsätzlich an; den in der Liturgiekonstitution geäußerten Anspruch des Konzils, im Stundengebet allen Gliedern der Kirche geistliche Nahrung zu bieten (vgl. Sacrosanctum Concilium 84, 87, 90, 100 [ 2 LThK 12 (1986 [= 1966]) 76f; 78f; 80f; 86f]), sieht er bezüglich der Lesehore keineswegs als erfüllt (vgl. Allgemeine Einführung in das Stundengebet 55 [StB I, 52*]). 1708 Nr. 65-71; SC 123, 95-101 (zit. nach LH II, 349 = StB Lektionar II/ 1, 191f [= Karwoche 152f; 526]). 1709 Cat. 3,13-19; SC 50, 174-177 (zit. nach LH II, 363f = StB Lektionar II/ 1, 195f [= Karwoche 191f; 526]). <?page no="322"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 314 Die in den biblischen und patristischen Lesungen und ihren Responsorien wiederkehrenden Motive „Priestertum“ (Christi), „Lamm“ und „Blut“ profilieren die Heilsbotschaft der Hohen Woche unter dem Aspekt des den Menschen rettenden und bleibend versöhnenden Selbstopfers Christi. Am Gründonnerstag wiederholt das erste Responsorium die letzten Verse der vorangehenden Perikope aus dem Hebräerbrief von der universalen Heilsmittlerschaft des Hohenpriesters Jesus Christus: … et factus est omnibus obtemperantibus sibi causa salutis aeterna (Hebr 5,8f). Der Schlüssel zum Heil liegt im Gehorsam des Sohnes, der im Glaubensgehorsam der Erlösten Entsprechung findet. Wie die 2. Lesung ausführt, wurde Christus „zum Schlachten geführt wie ein Lamm und getötet wie ein Schaf“ und hat „unsere Seelen mit seinem eigenen Geist und die Glieder unseres Leibes mit seinem Blut“ besiegelt. „Er ist das Paschalamm unseres Heils.“ - das nicht auf Zutun von Menschen dargebracht wurde, sondern dank der Bestimmung Gottes, wie das Responsorium ergänzt: quem proposuit Deus propitiationem per fidem in sanguine ipsius. Weiterhin über die erlösende „Kraft des Blutes Christi“ (2. Lesung), des Hohepriesters und Lammes, meditieren beide Vigillesungen und Responsorien am Karfreitag : Christus pontifex per proprium sanguinem introivit semel in sancta … secundo apparebit exspectantibus se, in salutem (Hebr 9,12); oder in den Worten des 1. Responsoriums: Sicut ovis ad occisionem ductus est … ut vivificaret populum suum. Das 2. Responsorium verdichtet drei Schriftzitate zu dem definitiven Heilswort an die Feiernden redempti estis … pretioso sanguine quasi Agni immaculati Christi. 1710 … Sanguis Iesu Christi Filii Dei emundat nos ab omni peccato. Die Texte und Gesänge am Karsamstag sprechen von Ruhe und Schlaf, von Schweigen und Einsamkeit; zugleich sind sie von Aktivität durchdrungen. Der Hebräerbrief mahnt, „besorgt“, danach zu trachten, in die „Ruhe Gottes“ zu gelangen, und im traditionellen Responsorium von der Grablegung Sepulto Domino ,sorgen‘ die Gegner Jesu für die Bewachung des Grabes, um ihn für immer ,ruhig‘ zu stellen. Das entscheidende Ereignis aber führt die patristische Lesung aus: Gott ist „für kurze Zeit in Schlaf gesunken“, um alle die aufzuwecken, „die seit unvordenklicher Zeit schlafen“. Christi Abstieg in die Unterwelt dient der Suche nach dem erstgeschaffenen Menschen - Adam und Eva - „wie nach dem verlorenen Schaf“. Ihm gegenüber begründet Christus das Wunder seiner Befreiung als Konsequenz der Innigkeit und untrennbaren Einheit zwischen Gott und Mensch: „ ,Wach auf, Schläfer, und steh auf von den Toten, und Christus wird dein Licht sein! ‘ Ich habe dich nicht geschaffen, damit du im Gefängnis der Unterwelt festgehalten wirst. … Ich bin das Leben der Toten. Steh auf, mein Geschöpf, steh auf, meine Gestalt, nach meinem Abbild geschaffen! Erhebe dich, lass uns weggehen von hier! Du bist in mir und ich in dir, wir sind eine unteilbare Person. Deinetwegen wurde ich dein Sohn, ich, dein Gott … Für dich, den Menschen, bin ich ein Mensch geworden ,ohne Hilfe, frei unter den Toten‘ … Ich entschlief am Kreuz, und die Lanze durchbohrte meine Seite, für dich, denn im Paradies fielst du in Schlaf und brachtest aus deiner Seite Eva hervor. Meine Seite heilt die Wunde deiner Seite. Mein Schlaf wird dich aus dem Schlaf der Totenwelt herausführen.“ (Pseudoepiphanius, Homilie am großen und heiligen Sabbat, ÜS nach StB) 1711 So zart hier die Begegnung zwischen Schöpfer und Geschöpf stattfindet, so gewaltsam schildert das traditionelle 2. Responsorium Recessit pastor noster die Gefangensetzung 1710 Dasselbe Wort in seinem größeren Kontext ist die Kurzlesung in der Vesper am Karsamstag (1 Petr 1,18-21). 1711 PG 43, 439; 451; 462f (zit. nach LH II, 383-385 = StB Lektionar II/ 1, 199f [= Karwoche 225f; 525]). <?page no="323"?> 2.1 Die erneuerte Liturgia Horarum (1974/ 78) 315 und endgültige Entmachtung des Todes: portas et seras Salvator noster disrupit … destruxit claustra … subvertit potentias diaboli. Die Väterlesungen aller drei Tage betonen die Identifikation Christi mit dem Menschen sowie dessen Herkunft von Gott und seine Rückführung zu ihm. Die Mühen der Erlösung - gefasst in der Motivik Blut/ Leiden, Opfer(-lamm)/ verlorenes Lamm und Gehorsam/ Sühne - durchziehen die Gesänge und Texte am HoDo und KarFr, während am Karsamstag in den Motiven Ruhe vom Leid (im psalmodischen Teil) und Heilsamkeit des Leidens Christi (im Lesungsteil), hauptsächlich aber im Descensus, die Vollmacht des Erlösers zutage tritt. Beides, die Duldsamkeit Christi und sein Triumph, bewirkt die Neuschaffung des Menschen, die im sakramentalen Leben der Kirche (Taufe und Eucharistie) schon Wirklichkeit (geworden) ist. In der LH kehrt der Gesang Christus factus est zweimal täglich am Morgen und Abend wieder, 1712 wobei der Text am Karfreitag bis mortem autem crucis und am Karsamstag bis zum Schluss quod est super omne nomen erweitert wird. Die stetige Wiederholung hält die drei Tage über sowohl Grund und Ziel (pro nobis) als auch die Einheit des sacramentum paschale in Erniedrigung, Tod und Erhöhung Christi präsent. Christus factus est ist einer der wenigen Texte, in denen auch vor der jüngsten Reform das Kreuz thematisiert wurde. In der heutigen Feierordnung der LH steht das Kreuz freilich nicht nur zwischen den Zeilen und als Fazit am Ende einer Hore; da in der Hohen Woche (fakultativ schon in der 5. Woche der Quadragesima) jede Lesehore, Laudes und Vesper mit einem Kreuzhymnus beginnt, ist das Kreuz Christi nahezu allgegenwärtig. Die Lesezyklen I und II für Lesehore und Vigil im Stundenbuch J AHR I: Die deutschsprachige Fassung des Stundenbuchs bewahrt im Jahr I die an den vorösterlichen Tagen traditionelle Lesung aus den Klageliedern in der Lesehore/ Vigil, 1713 wählt aber andere und wieder längere Abschnitte als im Breviarium Romanum vor der jüngsten Reform: Gründonnerstag: Klgl 2,10-22 (BR: Klgl 2,8-11; 12-15: 1./ 2. Vigillesung/ KarFr) Karfreitag: Klgl 3,1-33 (BR: Klgl 3,1-9; Klgl 3,22-30: 3. Vigillesung/ KarFr u. 1./ KarSa) Karsamstag: Klgl 5,1-22 (BR: Klgl 5,1-11: 3. Vigillesung/ KarSa) In jeder der Lesungen erhebt eine andere Symbolfigur ihre Stimme: Am Gründonnerstag beklagt die „Tochter Zion“ (vox ecclesiae) die Folgen ihrer Schuld, und das (am Karsamstag traditionelle) Responsorium sR 3 Plange quasi virgo entspricht dem mit der Aufforderung, zu weinen und den Tag des Zornes Gottes zu fürchten. Am Karfreitag klagt der „Mann, der Leid erlebt hat durch die Rute seines Grimms“ (Klgl 3,1); das Responsorium sR 6 Ecce quomodo moritur iustus erkennt in diesem Leidenden vox Christi und betrauert den Tod des Gerechten. Am Karsamstag erbittet laut Überschrift „der Prophet“ (vox Christi hominis) die gottgewirkte Umkehr des Volkes, damit „unsere Tage werden wie früher“ (Klgl 5,21); er muss aber offenlassen, ob das, sollte Gott „über alle Maßen“ zürnen (V. 22), über- 1712 Die Rubriken spiegeln drei historisch gewachsene Unstimmigkeiten wider: ein Graduale im Offizium; ein Graduale mit Vers, der aber nicht als solcher gekennzeichnet wird; ein Graduale, das als „Antiphon ohne Psalm“ die responsoria brevia in Laudes und Vesper ersetzt; nach H ESBERT , Graduel 253. 1713 B AUMGARTNER , Karsamstag hingegen beklagt die Karsamstagsperikope als „eine unbegreifliche Wahl, denn sie bricht die in den drei Psalmen vorbereitete Steigerung jäh ab“, während die römische LH mit Hebr 4 „die Linie großartig weiter[ziehe]“ (8). <?page no="324"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 316 haupt noch möglich sein kann. Das gleichfalls aus der Tradition stammende Responsorium sR 1 Omnes amici mei ahnt den Grund des Zornes in der Sünde „aller Freunde“ des Gerechten, die ihn im Stich ließen, misshandelten und aus ihrer Gemeinschaft „wie einen Verbrecher“ ausstießen. Diese Auswahl von Schriftworten für die Lesehore/ Vigil hat im gerechten Zorn Gottes das auffälligste und allen Lesungen gemeinsame Motiv. Die Väterlesungen und Responsorien sind im Jahr I dieselben wie in der LH. J AHR II: Für das Jahr II ist die Zusammenstellung der Lesungen für Lesehore/ Vigil ganz neu. Die biblischen Lesungen stammen aus dem Buch Jeremia: Gründonnerstag: Jer 15,10-21 (2. Konfession des Jeremia) Karfreitag: Jer 16,1-15 (Die Einsamkeit des Propheten als Zeichen für Israel) Karsamstag: Jer 20,7-18 (5. Konfession des Jeremia) Als nichtbiblische 2. Lesung kann am HoDo und KarSa eine Väterhomilie (ggf. ein moderner theologischer Text) gewählt werden; für KarFr ist immer der Aufruf zur Kreuzesnachfolge (Leo d. Gr.) vorgesehen. Die Konfessionen des Jeremia bringen das Ringen des Propheten - hier vox Christi - um den göttlichen Auftrag und sein Leiden daran zur Sprache. In der 1. Lesung aus Jer 15,10-21 am Gründonnerstag erinnert der Beter Gott daran, dass er seinetwegen „mit aller Welt in Zank und Streit“ liege (V. 10): „Du weißt es, Herr, denk an mich, und nimm dich meiner an! Nimm für mich Rache an meinen Verfolgern! Raff mich nicht hinweg, sondern schieb deinen Zorn hinaus! Bedenke, dass ich deinetwillen Schmach erleide. Kamen Worte von dir, so verschlang ich sie; dein Wort war mir Glück und Herzensfreude, denn dein Name ist über mir ausgerufen, Herr, Gott der Heere. Ich sitze nicht heiter im Kreis der Fröhlichen; von deiner Hand gepackt sitze ich einsam, denn du hast mich mit Ingrimm erfüllt.“ (V. 15-17) Daraufhin nennt Gott die Bedingung dafür, trotz seines Zornes weder die Verfolger noch den Propheten zu vernichten, sondern mit ihm auch das störrische Volk zu retten: „Bekehrst du dich, lasse ich dich umkehren, dann darfst du wieder vor mir stehen … Jene sollen sich dir zuwenden, du aber wende dich ihnen nicht zu. Dann mache ich dich für dieses Volk zur festen, ehernen Mauer.“ (V. 19f*) Die Perikope endet mit der Rettungsverheißung „Ja, ich befreie dich aus der Faust des Tyrannen“ (V. 21b). Das vom Fest des Protomärtyrers Stephanus entlehnte Responsorium „Jerusalem, du tötest“ (Ierusalem Ierusalem quae 1714 ) antwortet mit dem zornigtraurigen Vorwurf Jesu an Jerusalem, die zu ,ihr‘ gesandten Propheten nicht hören zu wollen und zu töten; es ,weiß‘ also, dass Gott den Propheten/ Jesus nicht vor dem Tod bewahren, sondern aus dem Tod erretten wird. Das als 2. Lesung zur Wahl stehende „Loblied auf den Abendmahlssaal“ (Ephräm d. Syrer † 373) akzentuiert den Tag eucharistisch: Es besingt den Raum als den Ort, in dem „zwei Pascha“, das „Lamm, das nicht vergeht“, und das „vergängliche Lamm“ einander gegenüberstehen, und wo an Judas zuletzt auch die „neue Trennung“ offenbar wird, wenn im Gericht „der Sohn der Finsternis“ und „seine Verwandten, die Böcke, getrennt [werden] von den Lämmern des Lichts.“ Wie dieser erste und abschließende Gedanke der Homilie dienen auch die weiteren alttestamentlichen Anspielungen der Abgrenzung vom Früheren durch Überbietung im Neuen: der Tempel Salomos wird ebenso „verachtet“ wie der Palast des Herodes; und der im Abendmahlssaal aufgestellte Tisch übertrifft die Tische „selbst im Zelt des Allerheiligsten“, denn er ist „Altar“, 1714 CAO III, 302 Nr. 3480 § 20; www.cantusdatabase.org.: ID 003480 (vgl. Anm. 1703). <?page no="325"?> 2.1 Die erneuerte Liturgia Horarum (1974/ 78) 317 der Saal seine „Kirche“. Die Fußwaschung legt Ephräm tauftheologisch als Einigung in Christus aus: „Selig bist du, o Raum! … Die Serafim erschauderten, da sie den Sohn sahen, wie er das Linnenkleid um seine Hüfte legte und die Füße im Becken wusch, auch den Schmutz des Diebes, der ihn verriet. Unser Herr reinigte den Körper der Brüder im Becken, das ein Symbol der Eintracht ist. Symbolisch wurde auch das Glied abgetrennt, das sich selber abschnitt, sich selber preisgab. Im Schoß des Taufwassers hat Christus uns auf neue Weise zusammengefügt. Seien wir nicht getrennte Glieder, die gegen sich selber disputieren, ohne zu merken, dass sie mit ihrer Liebe streiten! “ (Ephräm der Syrer, Hymnus, ÜS nach StB, II) 1715 Die Eucharistie hingegen wird in kultischen Kategorien beschrieben: Christus, das „Lamm“, das „gebrochene Brot“ und die „gekelterte Traube“, ist „Opfer und Opferpriester“, „Priester und Opferspeise“, „wahrer Altar und Erstling der Altäre“. Das neutestamentliche Responsorium „Erkennt im Brot den Herrn“ paraphrasiert die verba testamenti und mahnt zur gläubigen Anerkennung sowie zum Empfang des Leibes und Blutes Christi als „Erfüllung der alten Zeichen“. Es kann als 2. Lesung auch das Kapitel „Getsemane“ von Romano Guardini († 1968) gelesen werden. Darin steht jener andere Ort im Zentrum, den Jesus nach dem Mahl aufgesucht hat und wo er die „tiefste Einheit“ mit dem „von Gott wegverlorene[n] und verworfene[n] Mensch[en]“ erleidet: „Vielleicht dürfen wir sagen, dass in der Stunde von Getsemane jenes Wissen um die Menschenschuld und Menschenverlorenheit sich vor dem Angesicht des Vaters, der ihn zu ,verlassen‘ begann, in seiner letzten Schärfe aufgerichtet hat. … Das war die Stunde von Getsemane: dass Jesu Menschenherz und -geist in die letzte Erfahrung dessen eintrat, was die Sünde vor dem richtenden und rächenden Antlitz Gottes bedeutet. Dass sein Vater von ihm forderte, er solle diese Sünde als die seine aufnehmen. Und dass er, wenn man so sagen darf, den Zorn des Vaters wider die Sünde gegen sich, der sie auf sich genommen, gerichtet sah und die Abwendung des ihn ,verlassenden‘ heiligen Gottes erfuhr …“ (Romano Guardini) 1716 Das Responsorium bleibt dasselbe. Die 1. Lesung aus Jeremia 16,1-15 am Karfreitag schildert die dem Propheten auferlegte Einsamkeit als Zeichen des verheerenden Gerichts über „die Söhne und Töchter, die an diesem Ort geboren werden“: „Denn ich habe diesem Volk mein Heil entzogen - Spruch des Herrn -, die Güte und das Erbarmen. … Seht, jeder von euch folgt dem Trieb seines bösen Herzens, ohne auf mich zu hören. Darum seht, es werden Tage kommen - Spruch des Herrn -, da sagt man nicht mehr: So wahr der Herr lebt, der die Söhne Israels aus Ägypten heraufgeführt hat! , sondern: So wahr der Herr lebt, der die Söhne Israels aus dem Nordland und aus allen Ländern, in die er sie verstoßen hatte, heraufgeführt hat. Ich bringe sie zurück in ihr Heimatland, das ich ihren Vätern gegeben habe.“ (V. 5b.12b.14.15) Zugleich kündigt er die spätere Heimholung der Verstoßenen „aus dem Nordland und aus allen Ländern“ an. Von ihrer Rettung durch Christus singt das Responsorium sR 9 Sicut ovis, der „unter die Verbrecher gerechnet“ ihr Schicksal geteilt hat, „um sein Volk zu erlösen“. 1717 Die 2. Lesung aus einer Predigt Leos d. Gr. († 461) mahnt „alle Gläubigen und die gesamte Kirche“ zur „Anteilnahme am Kreuz Christi“ und rät dazu, sich in der Versuchung „mit Christi Kreuz [zu] wappnen“: 1715 Hymnus (de Crucifixione) 3, 3-14 (B ECK , Lobgesang 55ff) (StB Lektionar II/ 2, 200f [= Karwoche 156f; 525]). 1716 G UARDINI , Herr 463f (StB Lektionar II/ 2, 202f [= Karwoche 157-159; 526]). 1717 Die LH ordnet dieses Responsorium der Lesung Hebr 9,11-28 am Karfreitag zu: Die Reinigung und Erlösung von den Sünden geschieht durch das Blut des Hohepriesters und Lammes Jesus Christus. <?page no="326"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 318 „Wie es die Pflicht jeder Zeit ist, fromm zu leben, so ist es auch die Pflicht jeder Zeit, das Kreuz zu tragen. Mit Recht ist für jeden einzelnen von seinem Kreuz die Rede, denn jeder trägt es auf besondere Weise und in besonderem Maß … ,Wenn das Begehren des Fleisches sich gegen den Geist richtet‘, dann wird die vernünftige Seele durch den Schutz des Kreuzes unterwiesen und lässt sich nicht dazu verleiten, in die schädlichen Lüste einzuwilligen; denn sie wird durch die Nägel der Enthaltsamkeit und die Furcht Gottes durchbohrt …“ (Leo der Große, Predigt über die Passion des Herrn, ÜS nach StB) 1718 Wie das Responsorium „Alle haben gesündigt …“ reflektiert, gründet die Verpflichtung der Gläubigen zur Kreuzesnachfolge in der todbringenden Schuld aller Menschen „in Adam“ und der lebendigmachenden Erlösung aller Menschen „in Christus“, den „Gott dazu bestimmt [hat], Sühne zu leisten mit seinem Blut.“ Die unerträgliche Qual des Propheten (vox Christi) enthüllt die 5. Konfession des Jeremia als 1. Lesung am Karsamstag (Jer 20,7-18). So mühsam sich der Bedrängte zur Hoffnung aufrafft - „Ich werde deine Rache an ihnen erleben, denn dir habe ich meine Sache anvertraut“ (V. 12b) - so rasch bricht sie wieder zusammen. Zumal da er sein Leiden als von Gott verursacht erfährt („du hast mich gepackt und überwältigt“, V. 7*), scheint sein Leben ohne Hoffnung und Sinn zu sein: „Verflucht sei der Tag, an dem ich geboren wurde; der Tag, an dem meine Mutter mich gebar, sei nicht gesegnet. Verflucht der Mann, der meinem Vater die frohe Kunde brachte … Warum denn kam ich hervor aus dem Mutterschoß, um nur Mühsal und Kummer zu erleben und meine Tage in Schande zu beenden? “ (V. 14-15a.18) Das Responsorium „Ich hörte das Flüstern …“ zitiert aus demselben Text: Die Mordlust der „Vielen“, ja selbst der „nächsten Bekannten“, die sehen wollen, wie der Gerechte zugrunde geht, setzt dem Leidenden (Christus) zu. Die Repetenda „doch der Herr steht mir bei“ versuchen eine Antwort auf die zuletzt gestellte Frage. So hält das Responsorium letztlich am Vertrauen fest. Als 2. Lesung kann zwischen zwei Väterhomilien gewählt werden. Im letzten Abschnitt aus der Osterpredigt des Melito von Sardes († vor 190) verkündet Christus dem Menschen die österlichen Heilstaten, die er - der wegen des „Leidenden“, „Gefangenen“, „Verurteilten“ und „im Grabe Liegenden“, selbst zu einem leidenden Mensch geworden, „gefesselt“, „gerichtet“ und „begraben“ war - für ihn gewirkt hat: „,Ich habe den Verurteilten befreit. Ich habe den Toten lebendig gemacht. Ich wecke den Begrabenen auf. Wer will mir widersprechen? ‘ Ich bin der Christus, sagt er, ich habe den Tod vernichtet und über den Feind triumphiert. Ich habe die Unterwelt mit Füßen getreten, den Starken gefesselt und den Menschen entrissen zur Höhe des Himmels. Ich, so sagt er, ich selbst, der Christus … Ich bin eure Vergebung, ich bin das Pascha des Heils. Ich bin das Lamm, das für euch geschlachtet wurde, ich bin euer Lösegeld, euer Leben, eure Auferstehung, ich bin euer Licht, euer Heil, euer König. Ich führe euch empor zu den Höhen des Himmels; ich werde euch erwecken durch meine Rechte, ich werde euch den Vater im Himmel zeigen …“ (Melito v. Sardes, Osterhomilie; ÜS nach StB) 1719 Im Responsorium „Verschlungen ist der Tod …“ stimmt die Kirche in den Siegesgesang Christi mit Dank an den Vater ein; dass der irdische Tod für die Gläubigen seinen Schrecken verloren hat, macht das Psalmzitat im Vers deutlich: „Ich lege mich nieder und schlafe ein, ich wache wieder auf, denn der Herr beschützt mich.“ (Ps 3,6) Sie teilen jene Hoffnung auf das Leben, die am Morgen des Karsamstags in Ps 4,9 als vox Christi erstmals hörbar wurde. Anders die Auswahllesung mit einem weiteren Abschnitt aus der Predigt Leos d. Gr. vom Vortag: Seine Betrachtung der Teilnahme am Leiden Christi, um mit ihm 1718 Nr. 47, Cap. 1; PL 54, 294ff; vgl. CChr.SL 138A, 274f (zit. nach StB Lektionar II/ 2, 206f [= Karwoche 195f; 526]). 1719 Nr. 100-104; SC 123, 120ff (zit. nach StB Lektionar II/ 2, 210f [= Karwoche 229f; 526]). <?page no="327"?> 2.1 Die erneuerte Liturgia Horarum (1974/ 78) 319 verherrlicht zu werden, mündet in einer ernsten Warnung. Wohl habe die Teilhabe „bei allen Kindern der Kirche“ in der Taufe - die „gleichsam die Erddecke von einem Grabe entfernt“ - zum neuen Leben begonnen, doch müsse „die ganze Lebenszeit … ein beständiges Tragen des Kreuzes sein“, um sie „durch Taten [zu] vollenden“: „Obgleich nämlich durch die Macht des Leidens Christi dem starken und grausamen Feinde (unseres Geschlechtes) die ,Gefäße der alten Erbeutung‘ entrissen wurden und ,der Herrscher dieser Welt‘ über die Herzen der Erlösten keine Gewalt mehr hat, verfolgt er doch die Menschen selbst nach ihrer Rechtfertigung immer noch mit seiner alten Bosheit. Auf mancherlei Art greift er die an, in denen er nicht mehr herrscht, um nachlässige und sorglose Seelen aufs neue mit noch grausameren Banden an sich zu ketten, um sie aus dem Paradies der Kirche zu vertreiben und sie zu Genossen seiner Verdammnis zu machen.“ (Leo der Große, Predigt über die Passion des Herrn, ÜS nach StB 1720 ) Wer fürchtet, vom rechten Weg abzukommen, nehme also „Zuflucht zum Kreuz des Herrn und kreuzige sein sündhaftes Wollen und Wünschen auf dem Baum des Lebens.“ Auch auf diese mahnend-besorgte Lesung folgt - eher entlastend - das Responsorium vom Sieg über den Tod. Rezeption Von den früheren responsoria prolixa aus der Vigil haben fünf Gesänge vom Karsamstag und einer vom Karfreitag Eingang in die LH und ihr deutschsprachiges Pendant (StB) gefunden: sie machen knapp die Hälfte der heutigen Responsorien aus und sind auf die drei Leseordnungen ungleich (maximal 4 Gesänge) verteilt. Auf eine biblische Lesung (aus den Klageliedern, dem Propheten Jeremia oder dem in alttestamentlichen Kategorien formulierten Hebräerbrief) folgt meist ein Text mit starkem Bezug zum Alten Testament, während die nicht-biblischen Lesungen (Homilien u. a.) primär mit neutestamentlichen Schriftstellen verknüpft werden: Responsorien im BR 1568 Lesungen in der LH (lat.) Lesungen im StB (dt.) Responsorien Jahr I Jahr II LH StB Jahr I StB Jahr II dR 1 In monte dR 2 Tristis est dR 3 Ecce vidimus HoDo Hebr 4,14- 5,10 Klgl 2,10- 22 Jer 15,10-21 Hebr 5,8.9.7 sR 3 + V A Mt 23,37* vgl. Jer 19,15 dR 4 Amicus dR 5 Iudas dR 6 Unus ex Melito v. Sardes Ephräm d. Syrer oder Romano Guardini Röm 3,23-25; Joh 1,29 Mystagogie der verba testamenti dR 7 Eram quasi dR 8 Una hora dR 9 Seniores fR 1 Omnes amici fR 2 Velum templi fR 3 Vinea mea KarFr Hebr 9,11-28 Klgl 3,1-33 Jer 16,1-15 sR 9 + V B sR 6 + V B sR 9 + V B = LH fR 4 Tamquam fR 5 Tenebrae fR 6 Animam Chrysostomus Leo d. Gr. 1 Petr 1,18f; Eph 2,18; 1 Joh 1,7 vgl. Röm 3,23-25; 1Kor15,22 fR 7 Tradiderunt fR 8 Iesum tradidit fR 9 Caligaverunt Evangelium (aus der Passion nach Mt, Mk od. Lk) 1720 Nr. 70, Cap. 4; PL 54, 382f (zit. nach StB Lektionar II/ 2, 211f [= Karwoche 230f; 526]). <?page no="328"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 320 Responsorien im BR 1568 Lesungen in der LH (lat.) Lesungen im StB (dt.) Responsorien Jahr I Jahr II LH StB Jahr I StB Jahr II sR 9 Sicut ovis sR 2 Ierusalem sR 3 Plange KarSa Hebr 4,1-13 Klgl 5,1-22 Jer 20,7-18 sR 1 + V B (gekürzt) fR 1 + V aus BR 1568 Jer 20,10* Ps 30(31),14 Jer 20,11 sR 4 Recessit sR 5 O vos omnes sR 6 Ecce quomodo Pseudoepiphanius Melito v. Sardes oder Leo d. Gr. sR 4 + V B sR 4 + V A 1 Kor 15,54f. 57; Ps 3,6 sR 13 Astiterunt sR 7 Aestimatus sR 1 Sepulto Evangelium (Grablegung nach Mt, Mk od. Lk) Die LH und das StB (Jahr I) übernehmen an den vorösterlichen Tagen mit nur zwei Ausnahmen traditionelle Responsorien vom Karsamstag, v. a. die aus der Matthäuspassion und prophetische Texte. Im neuen Leseteil von Jahr II im StB hat sich davon nur Sicut ovis/ „Wie ein Lamm …“ am Karfreitag erhalten; ebenfalls alt ist die dort als 1. Responsorium am Gründonnerstag platzierte Stephanus-Antiphon. Alle übrigen Responsorien in den drei Ordnungen sind neu und verarbeiten überwiegend soteriologisch markante Zitate aus der Briefliteratur des Neuen Testaments. Ihre affirmativ erlösungschristologischen Aus- und Zusagen des Heils erweitern und verändern den Modus der Aneignung des Gehörten durch die Feiernden; sie ergänzen die älteren hauptsächlich typologischen und narrativen Responsorien durch explizit theologischreflexive Gesänge. Einbußen Einen schwer auszugleichenden Verlust stellt in der Lesehore/ Vigil der LH die Streichung der kantillierten Lesung aus den Klageliedern an allen drei vorösterlichen Tagen dar, die als einfache Lesungen in den Jahreskreis ausgelagert wurden. Die im StB (I + II) an diesen Tagen gestrichenen Lesungen aus dem Hebräerbrief sind auch an ihrem neuen liturgischen Ort (Quadragesima/ Hohe Woche) im engeren zeitlichen Kontext erhalten und bleiben außerdem in einigen weiteren Texten von Gründonnerstag bis Karsamstag präsent. Die eucharistiebezogene Lesung aus 1 Kor 11 über die rechte Feier der Herrenmahles ist nicht nur vom Gründonnerstag, sondern wie der ganze Paulusbrief aus dem Lesehorenplan der LH überhaupt verschwunden. 1721 Allein schon der erforderlichen Kürzung der Horen wegen konnte nur ein Bruchteil der 41 in den untersuchten Quellen belegten (und der 27 im Breviarium Romanum 1568 enthaltenen) Vigilresponsorien in die geltenden Bücher übernommen werden; zudem wollte man neue Gesänge einführen. Die Auswahl der tradierten Responsorien erfolgte in Übereinstimmung mit den maßgeblichen theologischen Erkenntnissen ihrer Zeit und gemäß den Prinzipien der erneuerten Liturgie: Verzichtbar erschienen von daher sämtliche Responsorien des Gründonnerstags, die den auf Judas zugeschnittenen Verrat zum Inhalt haben; zugleich - eng damit verknüpft - die narrativen Szenen während des Abendmahles und später im Garten; bis auf ein einziges auch alle Responsorien vom Karfreitag, die das Handeln der Feinde Jesu (Gruppen und einzelner Personen) aus den 1721 Vgl. L ENGELING , Lesungen 240. 1 Kor 11,17-26.33 gehört in der neuen Wochentagsordnung der Messe zum Montag der 24. Woche im Jahreskreis (Jahr II). Abgesehen davon stammen noch einige Kurzlesungen im Stundengebet des Osterfestkreises aus diesem Brief, keine aber aus Kapitel 11. <?page no="329"?> 2.1 Die erneuerte Liturgia Horarum (1974/ 78) 321 Passionserzählungen, die Prophetien seines Leidens oder die psalmodisch-prophetische Klage Christi verarbeiten. Altes und Neues im neuen Kontext Obwohl Judas heute völlig in den Hintergrund tritt, bleibt sein Treuebruch thematisch erhalten; er wird allerdings als eine allen Menschen gemeinsame Schuld aufgedeckt und das Erschrecken über die Tat des Einzelnen weicht der theologisch-reflexiven Selbsterkenntnis „Alle haben gesündigt“; in diese Richtung weist auch das aus der Tradition (KarFr) rezipierte Responsorium Omnes amici mei am Karsamstag (LH und StB Jahr I). Das einzige eucharistiebezogene Responsorium „Erkennt im Brot den Herrn …“ ist neu und nicht narrativ, sondern mystagogisch formuliert (StB Jahr II). Die in der Reform nach dem üblichen Horenschema ergänzten Kurzlesungen (Kapitel) in den Laudes, Kleinen Horen und in der Vesper haben an den vorösterlichen Tagen kein Pendant in der Tradition. Sie bilden eine gewisse Ergänzung der insgesamt reduzierten biblischen Lesungen und liefern ihren Beitrag zur theologischen Hermeneutik dieser Tage. Motive und Gedankengänge aus einem biblischen Buch/ Brief werden dabei aber nicht mehr im Zuge einer längeren Lesung (also in ihrem umfassenden Kontext) entfaltet, sondern als Kernaussagen isoliert und über den Tag verteilt: 1722 Hore Kurzlesungen/ Kapitel (LH = StB) HoDo Laudes Hebr 2,9b-11 Resp. Redemisti nos Dne + Doxologie Kleine Horen T: Hebr 4,14f S: Hebr 7,26f N: Hebr 9,11f [Vesper] [Hebr 13,12-15] [Christus factus … mortem] KarFr Laudes Jes 52,13-15 Christus factus … crucis Kleine Horen T: Jes 53,2f S: Jes 53,4f N: Jes 53,6f [Vesper] [1 Petr 2,21-24] [Christus factus … crucis] KarSa Laudes Hos 6,1-3a Christus factus … nomen Kleine Horen T: 1 Joh 1,8f S: 1 Joh 2,1b-2 N: 1 Joh 2,8b-10 Vesper 1 Petr 1,18-21 Christus factus … nomen Die Kurzlesungen am Gründonnerstag aus dem Hebräerbrief thematisieren die gottgewollte Vollendung Christi in Leiden und Tod zur Heiligung des Menschen (Laudes) durch Christus, den mitfühlenden und sündenlosen Hohenpriester der künftigen Güter (Kleine Horen). Der in der Vesper gegebene Hinweis auf das außerhalb der Stadt vergossene Blut Christi und die Mahnung, Gott allezeit das Opfer des Lobes darzubringen, gilt denen, die dieses Opfer nicht in der „Eucharistie“ der Abendmahlsfeier vollziehen. 1722 Dies entspricht ihrem Genus, „eine bestimmte Wahrheit oder Mahnung … nach Art eines Mottos oder auch der biblischen Losung prägnant in Verstand und Herz zu rufen.“ (L ENGELING , Lesungen 241). <?page no="330"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 322 Das einzige responsorium breve dieser Tage in den Laudes vom Gründonnerstag übernimmt aus einem früheren Vigilresponsorium von Allerheiligen den ersten Teil Redemisti nos domine deus in sanguine tuo ex omni tribu et lingua et populo et natione. 1723 Es hält die Universalität des Paschamysteriums Christi fest. Ab der Vesper am Gründonnerstag ersetzt in den Laudes und Vespern bis Karsamstag der Gesang Christus factus est alle Responsorien. Die erste Kapitellesung in den Laudes am Karfreitag antizipiert den sicheren Erfolg des Gottesknechtes, bevor in den Kleinen Horen sein Leiden - das in Wahrheit das unsere ist - zur Sprache kommt. Die Einladung zur Nachfolge bringt wiederum die Kurzlesung der Vesper - gesetzt den Fall, man hat nicht an der Feier vom Leiden und Sterben Christi teilgenommen. Am Karsamstag stehen Lesungen aus Hosea, 1 Joh und 1 Petr im Zentrum: Hos 6,1-3 enthält den ersten Hinweis auf die Dauer bis zur erwarteten Wiederherstellung: „nach zwei Tagen gibt er uns das Leben zurück, am dritten Tag richtet er uns wieder auf.“ (V. 2) 1724 Dem Aufruf, „nach der Erkenntnis des Herrn zu streben“ (Hos 6,3), entspricht die in den Kleinen Horen angemahnte Selbsterkenntnis und Sündeneinsicht (1 Joh). Die Vesperlesung (1 Petr) schließt mit der Gewissheit, „mit dem kostbaren Blut Christi, des Lammes ohne Fehl und Makel“ aus der früheren „sinnlosen“ Lebensweise losgekauft worden zu sein. Hier schließt sich über das „Blut Christi“ der Kreis zum Responsorium der Laudes am Gründonnerstag Redemisti nos. In den Kleinen Horen haben die Versikel nach den Kurzlesungen eine ähnliche Funktion wie in anderen Horen die Responsorien: Sie interpretieren das Gehörte mithilfe biblischer (ggf. anderer) Assoziationen und ordnen es ein. Mit Ausnahme von Collocavit me sind es an den vorösterlichen Tagen neue Rufe, die aber zum traditionellen Repertoire der Kartage und der Kreuzfeste gehören: Kleine Horen Versikel in der LH (= StB) Herkunft traditioneller liturgischer Ort HoDo nach: Hebr 4 T: V Oblatus es quia ipse voluit. R Et non aperuit os suum. Jes 53, 7ad HoDo (Antiphon) Hebr 7 S: V Vere languores nostros. R Et iniquitates nostras ipse portavit. Jes 53,4a HoDo (Resp.Vers in dR 3 ) Hebr 9 N: V Adoremus crucis signaculum. R Per quod salutis sumpsimus sacramentum. Kreuzerhöhung/ Kreuzauffindung (Antiphon) 1723 Der vollständige Text lautet Redemisti nos domine deus in sanguine tuo ex omni tribu et lingua et populo et natione et fecisti nos deo nostro regnum et sacerdotes et regnabunt super terram; nach www.cantusdatabase.org.: ID 007514. 1724 Ihm folgen in der Vesper zwei ähnliche Schriftworte als Antiphonen: vom Verweilen des Jona im Bauch des Fisches (Jona 2,1) und das Herrenwort von der Wiedererrichtung des zerstörten „Tempel seines Leibes“ (Joh 2,19). <?page no="331"?> 2.1 Die erneuerte Liturgia Horarum (1974/ 78) 323 Kleine Horen Versikel in der LH (= StB) Herkunft traditioneller liturgischer Ort KarFr Jes 53 T: V Adoramus te, Christe, et benedicimus te. R Quia per crucem tuam redemisti mundum. Kreuzerhöhung/ Kreuzauffindung S: V Memento mei, Domine. R Dum veneris in regnum tuum. Lk 23,42b KarFr (Antiphon) N: V Collocavit me in obscuris. R Sicut mortuos saeculi. Ps 142(143),3c KarFr (auch KarSa) (Versikel) KarSa 1 Joh 1 T: V Non relinques animam meam in inferno. R Nec dabis sanctum tuum videre corruptionem. Ps 15(16),10a Vigilpsalm 1 Joh 2 S: V Dominus mortificat, et vivificat. R Deducit ad inferos, et reducit. 1 Sam 2,6 1 Joh 2 N: V Sepulto Domino, signaverunt monumentum. R Ponentes milites qui custodirent illud. vgl. Mt 27,60.66b KarSa (Antiphon, Versikel, Responsorium) 2.1.1.3 Gebet Der Gebetsanteil in der LH und im StB hat sich durch die jüngste Reform in der Tradition beispiellos vergrößert: Eröffnungsrufe, Hymnen, ggf. Bitten/ Fürbitten und Vaterunser 1725 sowie die Doxologie nach allen Psalmen und Cantica durchziehen die Horen vom Anfang bis zur abschließenden Oration mit Gebetselementen. Hymnen Die Hymnen in den Horen der letzten vorösterlichen Tage stellen ein Novum in der Liturgiegeschichte dar; entsprechend dem üblichen Tagzeitenschema stehen sie am Anfang jeder Hore nach den gleichfalls vorgesehenen psalmodischen täglichen Eröffnungsrufen (und in der Lesehore nach Ps 94[95]). 1726 Die Auswahl der Hymnen ist in der LH und im deutschen StB nicht ident. Abgesehen von der unterschiedlichen Strophenaufteilung (LH: Lesehore: 1.-3. u. 5.-6.; Laudes: 7.-10. Strophe; StB: Lesehore: 1.-3. u. 5.-7.; Laudes: 8.-10. Strophe von Pange lingua gloriosi) kennt nur die lateinische LH eigene Hymnen für den Karsamstag, in denen bereits stärker die Erlösungshoffnung hervortritt; im StB hingegen werden auch an diesem Tag unverändert die Kreuzhymnen der Karwoche wiederholt. Speziell ist in beiden Ordnungen der eucha- 1725 Im römischen Offizium wurde es still gebetet. 1726 Eine Analyse der Kreuzhymnen bietet VAN T ONGEREN , Exaltation, der sich seinerseits auf S ZÖVÉRFFY , Use 187-199 beruft. <?page no="332"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 324 ristische Hymnus für die Vesper am Gründonnerstag. Während die LH auch in den Kleinen Horen während der ganzen Quadragesima passionsspezifische Hymnen vorsieht, sind diese im StB unspezifisch; keinen besonderen Hymnus bieten LH und StB erwartungsgemäß für die Komplet. Mo - Do der Hohen Woche KarFr KarSa Ad Officium lectionis Pange lingua, gloriosi 1727 Pange lingua, gloriosi Christe, caelorum Domine Lesehore Preise, Zunge, und verkünde Preise, Zunge, und verkünde Preise, Zunge, und verkünde Ad Laudes matutinas En acetum, fel, arundo 1728 En acetum, fel, arundo Tibi redemptor omnium Laudes Heilig Kreuz, du Baum der Treue Heilig Kreuz, du Baum der Treue Heilig Kreuz, du Baum der Treue Ad Tertiam Dei fide, qua vivimus Salva, Redemptor Salva, Redemptor Terz Komm, Heil’ger Geist vom ew’gen Thron (od.: O Geist, vom Vater ausgesandt) Komm, Heil’ger Geist vom ew’gen Thron (od.: O Geist, vom Vater ausgesandt) Komm, Heil’ger Geist vom ew’gen Thron (od.: O Geist, vom Vater ausgesandt) Ad Sextam Qua Christus hora sitiit Crux mundi benedictio Crux mundi benedictio Sext O Gott, du lenkst mit starker Macht (od.: Du starker Lenker) O Gott, du lenkst mit starker Macht (od.: Du starker Lenker) O Gott, du lenkst mit starker Macht (od.: Du starker Lenker) Ad Nonam Ternis ter horis numerus Per crucem, Christe, quaesumus Per crucem, Christe, quaesumus Non Du starker Gott, der diese Welt (od.: Schon neigt der Tag) Du starker Gott, der diese Welt (od.: Schon neigt der Tag) Du starker Gott, der diese Welt (od.: Schon neigt der Tag) Ad Vesperam O memoriale mortis* (Vexilla regis) Auctor salutis unice Vesper Denkmal, das uns mahnet* (Der König siegt, sein Banner glänzt) Der König siegt, sein Banner glänzt Ad Completorium Christe, qui splendor Christe, qui splendor (Christe, qui splendor) Komplet Bevor des Tages Licht vergeht (od.: Gott, dessen Wort die Welt erschuf) Bevor des Tages Licht vergeht (od.: Gott, dessen Wort die Welt erschuf) (Bevor des Tages Licht vergeht od.: Gott, dessen Wort die Welt erschuf) * Mo - Mi der Hohen Woche: Vexilla regis/ Der König siegt, sein Banner glänzt Im Feierverlauf verändern sich dadurch die theologischen Akzente gegenüber der Tradition in zweifacher Hinsicht eklatant: Das Kreuz - im römischen Offizium nur an wenigen Stellen, und dort im Kontext der Passion narrativ erwähnt, nicht aber als Heilszeichen thematisiert - wird zu einem durchgängigen Hauptmotiv der Hohen Woche und, nahezu gleichförmig, auch der drei vorösterlichen Tage. Und: Die anbetende Verehrung (Akklamation) des Kreuzes steht jeweils am Anfang des Tages, das (hym- 1727 Von Venantius Fortunatus († 600/ 610). 1728 = letzte Strophe von Pange lingua; 2. Strophe: Crux fidelis. <?page no="333"?> 2.1 Die erneuerte Liturgia Horarum (1974/ 78) 325 nische) Gebet hat also weniger Antwortcharakter als vielmehr das erste Wort jeder Tagzeit. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die wiederholte refrainartige Aufforderung zur Anbetung in der Invitatoriumsantiphon venite adoremus und in der 3. Laudesantiphon am Karfreitag Crucem tuam adoramus. Orationen Für die Orationen greift die Liturgia horarum am Karfreitag auf das traditionelle Gebet Respice zurück, während sie für Gründonnerstag und Karsamstag andere Gebete einführt. Am HoDo: Am Tag: Deus, quem diligere et amare iustitia est, ineffabilis gratiae tuae in nobis dona multiplica, et, qui fecisti nos in morte Filii tui sperare quae credimus, fac nos, eodem resurgentem, pervenire quo tendimus. Qui tecum. 1729 Gott, es ist würdig und recht, dich über alles zu lieben. Mehre in uns den Reichtum deiner Gnade. Durch den Tod deines Sohnes lässt du uns erhoffen, was wir glauben. Gib, dass wir durch seine Auferstehung erlangen, was wir ersehnen. Darum bitten wir durch ihn, Jesus Christus, deinen Sohn, unseren Herrn und Gott, der in der Einheit des heiligen Geistes mit dir lebt und herrscht in alle Ewigkeit. Amen. [In der Vesper: Deus, qui ad gloriam tuam et generis humani salutem Christum esse voluisti summum aeternumque sacerdotem, praesta ut populus, quem sanguine suo tibi acquisivit, ex eius memorialis participatione, virtutem crucis ipsius capiat et resurrectionis. Per Dominum.] [Allmächtiger Gott, zu deiner Ehre und zum Heil der Menschen hast du Christus als ewigen Hohenpriester eingesetzt. Er hat dir durch sein kostbares Blut ein heiliges Volk erworben. Gib, dass wir das Gedächtnis deines Sohnes in Ehrfurcht feiern und die Kraft seines Kreuzes und seiner Auferstehung empfangen. Darum bitten wir durch ihn …] In der Komplet 1730 : Visita, quaesumus, Dne, habitationem istam, et omnes insidias inimici ab ea longe repelle; angeli tui sancti habitant in ea, qui nos in pace custodiant, et benedictio tua sit super nos semper. Per Christum. Herr und Gott, kehre ein in dieses Haus und halte alle Nachstellungen des Feindes von ihm fern. Deine heiligen Engel mögen darin wohnen und uns im Frieden bewahren. Und dein Segen sei über uns allezeit. Darum bitten wir durch Christus, unseren Herrn. Amen. Am KarFr: In der Lesehore: Respice quaesumus, Dne, super hanc familiam tuam, pro qua Dns noster Iesus Christus non dubitavit manibus traditum nocentium et crucis subire tormentum. Qui tecum. Herr, unser Gott, sie herab auf deine Familie, für die unser Herr Jesus Christus sich willig den Händen der Frevler überliefert und die Marter des Kreuzes auf sich genommen hat. Darum bitten wir durch ihn, der in der Einheit des Heiligen Geistes mit dir lebt und herrscht in alle Ewigkeit. Amen. In Laudes und Vesper: … … Er, der in der Einheit des Heiligen Geistes mit dir lebt und herrscht in alle Ewigkeit. Amen. 1729 Die Oration gehört seit der ältesten greifbaren Sakramentartradition zum Palmsonntag; nach B RU- YLANTS , Oraisons 74. 1730 Im Ordinarium an Hochfesten (außer am Sonntag). <?page no="334"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 326 In den Kleinen Horen: … … Er, der mit dir lebt und herrscht in alle Ewigkeit. Amen. In der Komplet: siehe oben. Am KarSa: Am Morgen und Abend: Omnipotens sempiterne Deus, cuius Unigenitus ad inferior terrae descendit, unde et gloriosus ascendit, concede propitius, ut fideles tui, cum eo consepulti in baptismate, ipso resurgente, ad vitam proficiant sempiternam. Qui tecum. Allmächtiger, ewiger Gott, dein eingeborener Sohn ist in das Reich des Todes hinabgestiegen und von den Toten glorreich auferstanden. Gib, dass deine Gläubigen, die durch die Taufe mit ihm begraben wurden, durch seine Auferstehung zum ewigen Leben gelangen. Darum bitten wir durch ihn, der in der Einheit des Heiligen Geistes mit dir lebt und herrscht in alle Ewigkeit. Amen. Zu den Kleinen Horen: … Qui vivit. Darum bitten wir durch ihn, Christus, unseren Herrn. Amen. In der Komplet: siehe oben. Die Gebete an den letzten Tagen der Hohen Woche halten zentrale sakramententheologische Inhalte fest: Am Gründonnerstag sind das in der Liturgia Horarum die Einsetzung des Hohepriesters Christus (Priestertum), der Erwerb des Volkes durch sein Blut (Konstituierung der Kirche) sowie die Feier und den ehrfürchtigen Empfang der Eucharistie. Am Karsamstag stellt die Oration bereits in nachösterlicher Perspektive den Triumph Christi über den Tod und die Teilhabe der Getauften daran vor Augen. Am Karfreitag erbittet die Kirche gemäß der Tradition die Anerkennung Gottes als „seine Familie“, für die Christus den qualvollen Kreuzestod auf sich genommen hat. Die feine Unterscheidung zwischen jenen, die sein Leiden verursacht haben (Frevler), und denen, für die Christus das auf sich genommen hat (Familie), regt kaum zur Identifikation mit den Sündern an. Angesichts der stellvertretend getragenen Schuld des Gottesvolkes - damals wie heute - und der Schuld der Vielen - damals wie heute - wirkt das eher befremdlich. 2.1.2 Theologische Quellen und ihre Hermeneutik 2.1.2.1 Das Paschamysterium im Neuen Testament Die Liturgia Horarum versteht sich als „Gebet der Kirche mit Christus und zu Christus“. 1731 Sie nimmt an jenem himmlischen Lobgesang teil, den Christus „in die Verbannung dieser Erde“ mitgebracht hat und der seither „im Herzen Christi in menschlichen Worten erklingt“; obwohl sie die Gebetspraxis des „frommen Israeliten“ würdigt, steht ihr dabei weniger der jüdische Psalmenbeter Jesus vor Augen als der vom Himmel gekommene „Hohepriester des neuen und ewigen Bundes“. 1732 Die explizit christologische Hermeneutik schlägt sich in einem sich stetig dessen versichernden Umgang mit den alttestamentlichen Texten, v. a. den Psalmen, nieder - „erst ein Schatten jener Fülle der Zeit, die in Christus, dem Herrn, angebrochen ist“ 1733 . Zunächst kommt den Psalmen und Prophetentexten in der neuen Gestalt der Horen im Verhältnis zu den ergänzten und übrigen Elementen schon allein infolge der Kürzungen sehr viel weniger Gewicht als bisher zu. Sodann bleibt kaum ein alttestamentlicher Text für sich, 1731 Allgemeine Einführung in das Stundengebet 2 (StB I, 26*). 1732 Ebd. 3-4 (ebd. 26*-28*). 1733 Ebd. 101 (ebd. 63*). <?page no="335"?> 2.1 Die erneuerte Liturgia Horarum (1974/ 78) 327 d. h. ohne neutestamentlichen Kommentar, stehen. An den untersuchten Tagen umreißen die Invitatoriumsantiphonen, wie alle weiteren Gesänge und Texte zu verstehen sind: Christus Dominus - pro nobis tentatum et passum; suo nos redemit sanguine; pro nobis passum et sepultum. Etwa die Hälfte der biblischen Lesungen/ Kapitel und Responsorien stammt aus dem Neuen Testament; um den christlichen Sinn des Gefeierten überzeugend herauszuarbeiten, greift man außer auf die Passionserzählungen und den Hebräerbrief, u. a. auf einschlägige Stellen aus dem johanneischen Textcorpus und der neutestamentlichen Briefliteratur zurück. 2.1.2.2 Verheißung, Erfüllung und kirchliche Reflexion Neben psalmodischen, prophetischen und narrativen Antiphonen begegnen in der LH/ im StB theologisch reflexive Aussagen, v. a. in den Kernsprüchen, aber auch in einzelnen Antiphonen und Gesängen 1734 : Mihi vivere Christus est (Non, HoDo); ecce enim propter lignum … (Laudes, KarFr), … exivit sanguis et aqua in redemptionem salutis nostrae (Vigilcantica, KarFr); Omnes peccaverunt … (Resp. nach der 1. Lesung, HoDo, LH/ StB/ I = Resp. nach der 2. Lesung, KarFr StB/ II); „Der Herr stiftetet dieses Sakrament als Denkmal seines Leidens …“ (Resp. nach der 2. Lesung, HoDo, StB/ II); Non corruptibilibus … (Resp. nach der 2. Lesung, KarFr, LH/ StB/ I). Sie dienen der katechetischen Bekräftigung und Erläuterung der staurologischen Soteriologie der vorösterlichen römischen Tagzeitenliturgie. 2.1.3 Theologische Akzente Das theologische Profil der römischen Stundenliturgie an den letzten Tagen der Hohen Woche entsteht aus einem ähnlichen Mechanismus von Isolation und Neukontextualisierung traditioneller Elemente, wie er allgemein für den liturgischen Gebrauch biblischer Texte festgestellt worden ist. 1735 Die erneuerte Liturgia Horarum setzt klare christologische Akzente. 2.1.3.1 Christologie „Gemäß der Schrift“ Obwohl sich insbesondere am Karfreitag und Karsamstag alttestamentliche Antiphonen und Responsorien in beachtlicher Zahl erhalten haben, erfüllen sie in der erneuerten Feiergestalt eine andere Funktion als bisher, da sie von Anfang an im österlichen Licht wahrgenommen werden. Ihre hermeneutische Offenheit auf das Christusereignis hin dient primär dem Aufweis seiner Bezeugung in der Schrift: Anstatt der heilsgeschichtlichen Grundlegung und Verwurzelung des Paschamysteriums Christi in der Glaubensgeschichte Israels nachzuspüren und dessen Bedeutung aus ihren Voraussetzungen heraus zu erschließen, ist der kirchliche Beter bereits heilsgewiss. Er führt sich zwar in ,historischer Rückschau‘ das Ringen Christi um den Heilsplan Gottes vor Augen, steht aber schon unter dem sicheren Zuspruch der Erlösung. Weniger die göttliche Mühe um die Rettung rührt ihn an als die Ermahnung, sie nicht zu verspielen. Neben den Psalmen und alttestamentlichen Ankündigungen des Leidens Christi und seiner Wiederherstellung aus den Gottesknechttexten, Sacharja, Hosea, Joel u. a., wird Christus zum Propheten seiner selbst, der den dreitägigen Verbleib im Innern der Erde nach dem Beispiel des Jona und die Wiedererrichtung des Tempel seines Leibes proklamiert 1734 In gewisser Weise zählen dazu auch die poetisch-theologischen Verdichtungen der Hymnen. 1735 Vgl. B UCHINGER , Hermeneutik, im Anschluss an G ERHARDS , Psalmen. <?page no="336"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 328 und ins Werk setzt, um „von der Erde erhöht, alle an mich [zu] ziehen“. Die heilsgeschichtliche Anamnese der vorösterlichen Liturgia Horarum entbirgt die eschatologische Dimension der österlichen Verheißungen und Erfahrungen beider Testamente: Das Kommen JHWHs zur Rettung seines Volkes erfüllt sich in Christi Kommen zu den Seinen am Ende der Zeit (Offb 22,20) und das prophetische Drohwort an Tod und Unterwelt bewahrheitet sich in der Schlüsselgewalt des Auferstandenen (Offb 1,18). Christus, wahrer Gott Christus triumphiert über den Tod in Vollmacht. So vermittelt die Liturgia Horarum sein erlösendes Handeln - nicht das des leidenden Gerechten der Psalmen, sondern das des kerygmatischen Christus. 1736 Exemplarisch zeigen dies die neuen Antiphonen der Kleinen Horen am Gründonnerstag und, auf etwas andere Weise, eine neue Laudesantiphon am Karsamstag. Beide zeichnen sich durch pointierte Ego-Aussagen aus: Zur Sext am Hohen Donnerstag: Sicut novit me Pater, et ego agnosco Patrem, et animam meam pono pro ovibus meis (Joh 10,15). Wie die Terz zuvor das Wissen Jesu (sciens Iesus) um das Kommen „seiner Stunde“ (Joh 13,1) erwähnt, soll an dieser Stelle sein Wissen um die Einheit mit dem Vater (auch im kommenden Leiden) festgehalten werden. Der göttlichen Gewissheit entspricht die Glaubensgewissheit der Feiernden: Zur Non ist der Beter angehalten, sich mit Paulus des Kreuzes Jesu Christi zu rühmen - wissend, dass Christus für ihn das Leben ist. In den Laudes am Karsamstag: Ego fui mortuus, et ecce sum vivens in saecula saeculorum, et habeo claves mortis et inferni (Offb 1,18); die darauffolgende Antiphon antwortet dem Sprecher mit der Anrede Salvator mundi, salva nos …, Deus noster. Häufiger als in der Tradition spricht Christus als der eigentlich Wirkende: pono, agnosco, ero, sum vivens, habeo claves, reaedificabo. Unter der christologischen Hermeneutik der Liturgia Horarum und in ihrem besonderen liturgischen Kontext lassen sich ursprünglich nur von Gott aussagbare Handlungszuschreibungen - selbst in alttestamentlichen Texten - auf Christus übertragen: Er hat (in der Wüste/ beim Abendmahl) gespeist und gesättigt, er hat zu den Toten geführt und wieder herauf; er macht tot und lebendig. Zeigt Gott sich als primäres Subjekt des Handelns wie in der traditionellen 1. Laudesantiphon am Karfreitag Proprio filio suo non pepercit, platziert die LH ergänzend dazu eine Christusantiphon zu Hab 3 (! ), die den Sohn nicht als passives ,Opfer‘ Gottes erscheinen lässt und Gottes zornige Rettungsepiphanie zwischen Theologie und Christologie deutet: Iesus Christus dilexit nos, et lavit nos a peccatis nostris … (Offb 1,5b). An vielen Stellen lassen die Hoheitstitel Jesu keinen Zweifel an seiner Göttlichkeit. Christum Dominum (an allen Tagen zum Invitatoriumspsalm) stellt hier die hermeneutische Weiche: Vor dieser explizit christologischen Anrede und in Kombination mit den neutestamentlichen Kernsprüchen zur Interpretation der Psalmen werden auch Deus meus, Dominus und Deus salvator meus zum Christusbekenntnis. Die Psalmodie ist in diesem Kontext vor allem als vox ecclesiae ad Christum oder, zumeist, de Christo zu hören. Die Einheit des Paschamysteriums Die Texte und Gesänge der erneuerten Liturgia Horarum sind so gewählt, dass sie dem als Fehlentwicklung anzusehenden faktischen Zerfall der Einheit des Leidens, Sterbens und der Erhöhung Christi und der historisierenden Zuordnung von Einzelas- 1736 B AUMGARTNER , Karsamstag 12, dazu uneingeschränkt positiv: „Der Große Samstag, wirklich ein fester Bestandteil des Triduum paschale, atmet durchgehend Siegesgewißheit, viel stärker, als es im ehemaligen Brevier der Fall war.“ <?page no="337"?> 2.1 Die erneuerte Liturgia Horarum (1974/ 78) 329 pekten zu den Tagen des Triduum bewusst gegensteuern. Das ,Wissen‘ um die Unteilbarkeit des Erlösungsgeschehens, das selbstverständlich die nachösterlich-kirchliche Perspektive auszeichnet, affirmieren sie durch die verbale Omnipräsenz des Sieges Christi. Hinsichtlich der Beziehung zwischen Gott und seinem Volk/ seiner Schöpfung vermittelt er, bis in die Betrachtung des Leidens hinein, die Sicherheit des guten Ausgangs. Die Fragilität von Beziehung(en) oder die not-wendende Hoffnung auf Heilung, wo Brüche erlitten wurden/ werden, erscheint immer schon durch das ein für alle Mal erlangte Heil eingeholt. 2.1.3.2 Soteriologie Die in Christus allen Menschen geschenkte Erlösung verdankt sich seiner Lebenshingabe. Dafür stehen in der LH/ im StB die zwei soteriologischen Hauptmotive vom „Blut Christi“ und vom „Kreuz“. Das Blut Christi Die Rede vom Blut Christi kehrt nahezu in jeder Hore der untersuchten Tage wieder: Am Gründonnerstag steht die Metaphorik vom Essen und Trinken im Vordergrund (und die des Paschalammes im Hintergrund), wobei Gift und Essig, die dem leidenden Erlöser gereicht werden, in schärfstem Gegensatz zu der von ihm dargebrachten Speise und seinem Trank stehen. Das vergossene Blut Christi/ des Lammes ist Thema der Kapitel in den Kleinen Horen sowie ggf. in der Vesper (Hebr 7; 9; Vesper: Hebr 13) - dort gar als Siegesproklamation der Heiligen/ Märtyrer Sancti vicerunt propter sanguinem Agni … - und im 2. Responsorium von LH und StB/ I (Hebr 5). Hauptsächlich aber ist an diesem Tag die eucharistische Gabe im Blick, wie das 2. Responsorium im StB/ II deutlich macht: „Erkennt im Brot den Herrn, der am Kreuze hing, im Kelch das Blut, das aus seiner Seite strömte. Nehmt und esst den Leib Christi, nehmt und trinkt das Blut Christi! “ An den Kartagen ist dann das am Kreuz vergossene Blut Christi Gegenstand der Betrachtung in den Väterlesungen und im Hebräerbrief (nur LH); in den Gesängen verbindet sich das Blut-Motiv häufig mit redimere (oder einem sinnverwandten Ausdruck): schon am Gründonnerstag im responsorium breve der Laudes Redemisti nos, Domine, in sanguine tuo; am Karfreitag stellt es den Leitgedanken zum Invitatoriumspsalm qui suo nos redemit sanguine dar und kehrt in der sakramententheologisch konnotierten Antiphon zu den Vigilcantica exivit sanguis et aqua in redemptionem salutis nostrae wieder; die Laudesantiphon zu Hab 3 erklärt das mit lavit nos a peccatis nostris in sanguine suo; die jeweiligen 2. Responsorien der lateinischen und deutschen Feierordnung formulieren redempti estis pretioso sanguine und Sanguis Iesu Christi Filii Dei emundat nos ab omni peccato sowie per redemptionem quae est in Christo Iesu, quem proposuit Deus propitiationem per fidem in sanguine ipsius. Am Karsamstag verblasst das Motiv weitgehend, die Kurzlesung aus 1 Petr 1 in der letzten Hore des Tages vor Anbruch der Paschavigil kommt freilich noch einmal darauf zu sprechen und hält eindringlich fest: Scitote quod … redempti estis … pretioso sanguine quasi Agni immaculati Christi. Mehrere Sprachbilder veranschaulichen das Erlösungsgeschehen: am Gründonnerstag steht die Teilhabe am eucharistischen Blut Christi (=Hingabe seiner selbst) im Zentrum; sie verheißt denen, die sich hingegeben haben und hingeben, Teilhabe auch an seinem Sieg über den Tod. Die Kartage machen die Erlösung als Versöhnung zwischen Gott und Mensch begreiflich, die sie kultisch als „Reinigung“/ „Abwaschen“ von Sünde(n) und als „Sühne/ Sündopfer“ des Hohepriesters Christus beschreiben; <?page no="338"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 330 oder - nach dem Vorbild des Exodus - als bleibende Zugehörigkeit zu Christus durch „Loskauf“. Das Kreuz Das Kreuz spielt in den Texten und Gesängen der nachvatikanischen Liturgia Horarum ebenfalls eine dominante Rolle. Dazu tragen insbesondere die Hymnen bei, die das Kreuz in allen Facetten seiner Grausamkeit, mehr noch aber seiner Heilsamkeit besingen. Einen Höhepunkt bildet hier die akklamatorische Verehrung und Anbetung des Kreuzes als Grund für die „Freude der ganzen Welt“ in den Laudes am Karfreitag - sie hält den narrativen Antiphonen von der Passion zum Benedictus und in den Kleinen Horen die am Kreuz Jesu errungene Erlösung entgegen. In der Benedictusantiphon am Karsamstag verbindet sich mit der Erwähnung des Kreuzes die - an Christus als Salvator mundi und Deus noster gerichtete - Bitte der per crucem et sanguinem tuum Erlösten um Beistand und Heil. Ein eucharistisch konnotiertes ,Vorecho‘ der Aufforderung zur Kreuzverehrung ist im Versikel der Non am Gründonnerstag hörbar Adoremus crucis signaculum per quod salutis sumpsimus sacramentum; ein Nachklang davon im Versikel zur Terz am Karfreitag Adoramus te, Christe, … quia per crucem tuam redemisti mundum. Christus, wahrer Mensch Zu der für die Liturgia Horarum insgesamt charakteristischen Christologisierung von oben gehört auch die - freie - Entäußerung Gottes ins Menschsein und seine Solidarität mit dem Menschen im ,Sohn‘. Der Gesang Christus factus est (Phil 2,8f) ruft das mehrmals täglich in Erinnerung; ähnlich auch die Lesungen aus dem Hebräerbrief an den drei vorösterlichen Tagen (nur in der lateinischen LH 1737 ). Deutlich wird, dass nicht Menschen den Gerechten/ Gesalbten Gottes erniedrigen (können), sondern dass er sich - Gott in Vollmacht - selbst erniedrigt hat. Die Väterlesungen an den drei Tagen reflektieren die Identifikation Christi mit dem Menschen als Schlüssel zu dessen Erlösung: Sie nimmt ihren Anfang lange vor der Menschwerdung und solidarisiert sich mit allen unschuldigen Opfern, die ihrerseits zu heilsgeschichtlichen Vorläufern Christi im Leiden werden; letztlich sucht sie - vox Christi - „mein Geschöpf und Abbild“, um „das Leben der Toten“ zu sein. Die Sünden- und Strafgeschichte, die der leidende Gerechte stellvertretend trägt, tritt demgegenüber zurück, sie klingt nur in den Responsorien nach der biblischen Lesung am Karfreitag (sR 6 und sR 9 ) und in den Versikeln (HoDo) und Kapiteln (KarFr) der Kleinen Horen aus dem 4. Gottesknechttext an (Jes 53,2-7). Nur im StB/ I ist das Motiv durch die Vigillesungen aus den Klageliedern sowie beide Responsorien am Gründonnerstag (Bußmotiv in sR 3; die dem Lamm aufgeladene Sünde der Welt in Omnes peccaverunt/ „Alle haben gesündigt“) stärker ausgeprägt. Universalität Die in der Liturgia Horarum vermittelte Heilszusage gilt allen Menschen und ist universal. Gegenüber mancher Väterlesung in der älteren Tradition ist sie über jeden antijudaistischen Verdacht erhaben. Die personalisierten Feinde Jesu sind aus den Feiern verschwunden und die Gegner nur noch in den 3. Person/ Plural-Verbformen und Kollektiven (testes iniqui; reges et principes) der traditionellen Antiphonen und Responsorien erkennbar. Vielmehr steht fest: Omnes peccaverunt und cum inimici essemus (in der ,ersatzweisen‘ Vesper am Karfreitag) und „All meine Freunde haben mich verlas- 1737 Dort beginnt man mit der Lesung aus dem Hebräerbrief bereits am 5. Sonntag der Quadragesima/ Passionssonntag (LH II, 266ff). <?page no="339"?> 2.1 Die erneuerte Liturgia Horarum (1974/ 78) 331 sen“ (fR 1 , nur in StB/ I, KarSa) - „Alle“ (= „die Vielen“; d. h. auch „wir“) waren Sünder und Feinde Gottes. Deshalb sind auch alle Menschen ex omni tribu et lingua et populo et natione im Blut Christi erlöst worden (responsorium breve in den Laudes, HoDo), der, „von der Erde erhöht“, alle an sich ziehen wird Omnia traham ad meipsum (Vigilversikel, HoDo), und „die Welt“ als Ganze (mundum) erlöst hat (Terzversikel, KarFr). Die einzigen Sünder, die direkt benannt oder angesprochen werden, sind „meine Freunde“ und „meine nächsten Bekannten“ sowie das halsstarrige „Jerusalem“ - anders gesagt: „mein Volk“ (vox Christi), das im liturgischen Kontext die versammelte Gemeinde meint. 2.1.3.3 Ekklesiologie Die Kirche findet sich in den vorösterlichen Texten und Gesängen und in den Kommentaren dazu (Titel, Kernsprüche) in zahlreichen Hortativen zur „vollen, bewussten und tätigen Teilnahme“ 1738 aufgerufen, die vor allem die Erkenntnis Gottes, aber auch das kirchliche Selbstverständnis und Handeln im Glauben vertieft. 1739 Der anthropologische Zugang über die persönliche Erfahrung von Schuld, Leiden, Tod, Klage und Hoffnung hingegen wird weniger erschlossen. Glaubenseinsicht „Seht zu, dass keiner von euch ein ungläubiges Herz hat“ fordert der Kernspruch zu Ps 80(81) am Gründonnerstag und: Quaerite Dominum (3. Ant. dazu); die Antiphon zur Non desselben Tages bekräftigt mit dem paulinischen Zitat aus Gal 6,14 jenen vorbildlichen Glauben, der weder an Kreuz noch Tod irre wird, im Gegenteil, sich des Kreuzes Christi zu rühmen weiß. Zu „erkennen“ (Imperativ) sei der Gekreuzigte in den eucharistischen Gaben von Brot und Wein (2. Resp./ StB/ II, HoDo); derselbe wird in direkter Gebetsanrede als salvator mundi und Deus noster (Benedictusantiphon, KarSa) angesprochen. Das rettende Handeln Christi an der Kirche - dafür stehen exemplarisch an den drei Tagen folgende Heilstaten: cibavit et saturavit nos (HoDo) 1740 ; nos redemit, dilexit nos et lavit nos a peccatis; emundat nos (KarFr). Redemisti nos (HoDo, KarSa) - begründet und nährt ihren Glauben. Diese aus der Feier des Paschamysteriums Christi gestärkte Heilsgewissheit der Gläubigen kommt in ihrem unaufhörlichen Lobpreis, in der Verehrung und Anbetung des gekreuzigten und auferstandenen Erlösers zum Ausdruck: benedicimus, adoramus, laudamus, glorificamus; im Modus der Bitte hingegen am Karsamstag salva nos. Glaubenszeugnis Der Vollzug der Tagzeitenliturgie an den letzten Tagen der Hohen Woche steht außerdem unter der täglich wiederholten Aufforderung des Hebräerbriefs: „Ermahnt einan- 1738 Die in der Liturgiekonstitution als handlungsleitendes Motiv für die angestrebte Erneuerung der Liturgie an vielen Stellen erkennbar wird (Sacrosanctum Concilium 14, 19, 21, 26, 27, 30, 50, 79, 114, 121, 124). 1739 Ein gewisser Widerspruch ergibt sich aus der Tatsache, dass die Liturgia Horarum keineswegs überall und selbstverständlich in der liturgischen Versammlung gefeiert wird, obwohl das Konzil die gemeinschaftliche Feier (wenn auch eher der Kleriker und Ordensleute als der ganzen Gemeinde) befürwortet (Sacrosanctum Concilium 99; 100; vgl. Allgemeine Einführung in das Stundengebet 207 [StB I, 89*]) und die Feier der Lesehore und Laudes an den untersuchten Tagen ausdrücklich wünscht (210 [Ebd.]). 1740 Bei Wahl der Wochenpsalmodie am HoDo heißt es schon in der ersten Antiphon der Lesehore Salvasti nos et in nomine tuo confitebimur in saeculum; in der dritten (im Kontext eher, aber nicht eindeutig an den Vater adressiert): Exsurge, Domine, et redime nos. <?page no="340"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 332 der - heute! “ (Ant./ Inv.). Daraus wird eine geradezu drängende verantwortliche Sorge der (idealiter gemeinschaftlich feiernden) Gläubigen umeinander spürbar. Sie wird nicht müde, zum Christuslob einzuladen venite, adoremus u. a. und konkretisiert sich in der Teilnahme daran. Das einmütige Bekenntnis zu Christus stellt nicht nur die angemessene existentielle Antwort der einzelnen Feiernden an Gott/ Christus dar, sondern ist auch Selbstvergewisserung der Kirche und Glaubenszeugnis vor der Welt. Aus der empfangenen Teilhabe an Christus erwachsen die Aufgabe und Befähigung zur Umkehr und Nachfolge. Darauf machen etwa die wiederkehrenden Kernsprüche der an allen drei Tagen gleichbleibenden Vigilcantica aufmerksam, besonders das Zitat aus 2 Kor 4,10 zum Canticum Klgl 5*. 2.1.4 Vermittlung und Aneignung der Feierinhalte 2.1.4.1 Durch die Kirche Mit der jüngsten Liturgiereform hat sich die Feiergestalt der Liturgia Horarum generell und an den untersuchten Tagen spezifisch gegenüber der bisherigen Feierform verändert, was sich v. a. im Umgang mit dem Psalter in zweierlei Hinsicht bemerkbar macht. Erstens hat das tragende Gerüst dieser Gottesdienstform, die Psalmodie, eine qualitative Festlegung erfahren: Zwar ist auch die erneuerte Tagzeitenliturgie selbstverständlich nicht ohne alttestamentliche Fundierung denkbar, doch soll erklärtermaßen „das Gebet [der Psalmen] in christologischem Sinn“ und „im Licht der neutestamentlichen Offenbarung“ 1741 vollzogen werden. Dabei stellt nicht das christologische Verständnis der Psalmen an sich eine Neuerung dar - es ist sowohl aus der neutestamentlichen relecture als auch der Patristik vertraut -, jedoch ihre Determinierung, die zudem durch zusätzliche Elemente gefördert wird. Zweitens machen die Psalmen einen quantitativ weit geringeren Anteil als bisher aus: nicht nur in absoluten Zahlen (von ca. 15 Psalmen in der Nacht- und Morgenhore der vorösterlichen Tage auf vier bis maximal sechs), sondern auch in Relation zu den übrigen Wort- und Gesangselementen. Das grundsätzliche Anliegen, die Psalmen im Gottesdienst der Kirche „zu christlichen Gebeten zu machen“ 1742 und die dezimierte Psalmodie haben den liturgisch zurückzulegenden Glaubensweg der Feiernden verkürzt, vereinfacht, und von der ersten Antiphon am Gründonnerstag an, durch affirmativen Zuspruch ,gesichert‘. Die lehrende, und erwünschtermaßen die versammelt feiernde Kirche ist als Empfängerin und Vermittlerin der Mysterien stark gemacht: Ihre paränetisch-theologische Interpretation rahmt und begleitet das gesamtbiblisch tradierte Heilsgeschehen; ihr Bekenntnis will zur Zustimmung bewegen. Die Aneignung des zu Feiernden erfolgt (auch in der persönlichen Lektüre) wenigstens in der Bejahung der verkündeten und ausgelegten Botschaft; in der liturgischen Versammlung geschieht sie außerdem im tätigen Mitvollzug der Verherrlichung Gottes, wozu die Kirche die Feiernden unermüdlich aufruft: venite, adoremus. 2.1.4.2 Im Dialog Christus und die Kirche Das für das römische Offizium dieser Tage bis zur letzten Reform typische Zwiegespräch zwischen Gott und seinem leidenden Frommen/ Christus (vox Christi ad patrem) hat dem direkten Zuspruch Christi an die Kirche/ die Welt (vox Christi ad ecclesiam) und ihrem Bekenntnis zum Erlöser aller (vox ecclesiae de Christo/ ad Christum) weitgehend Platz gemacht. Die in der Tagzeitenliturgie dargestellte Beziehung ist primär die zwischen Christus und der Kirche, die nicht nur Zeugin des Dialoges Sohn - Vater, sondern selbst involvierte Adressatin des Heilsgeschehens ist. Von Anfang an und durchgängig ist Christus als erhöhter Herr präsent, der auch im Leiden seine göttliche Souveränität behält . Selbst die aus der Tradition übernommenen Psalmen und An- 1741 Allgemeine Einführung in das Stundengebet 111 (StB I, 67f*). 1742 Allgemeine Einführung in das Stundengebet 110 (ebd. 67*). <?page no="341"?> 2.1 Die erneuerte Liturgia Horarum (1974/ 78) 333 tiphonen, die dem Opfer des feindlichen Handelns Stimme verleihen, erscheinen in diesem Kontext weniger hilflos klagend als nahezu vorwurfsvoll, die Hoheit Christi verkannt und verletzt zu haben. Nicht ganz unabhängig davon verliert sich die Feindproblematik, die der zu Unrecht Verfolgte immer wieder in der Klage zu Gott aufgeworfen hatte (vox Christi/ vox hominis ad patrem). 1743 Offenkundig und in vieler Hinsicht glücklich stellt die Gottesfeindschaft (weder als gen. subj. noch als gen. obj.) keine adäquate Kategorie für die Beurteilung einzelner Menschen als Sünder mehr dar. Zugleich ist Gott als Anwalt, der sich Unrecht ,persönlich‘ nahegehen lässt, und damit seine Anfragbarkeit um Gerechtigkeit, aus der offiziellen Liturgie der Kirche und aus dem Erfahrungshorizont der Gläubigen verschwunden. 1744 Der veränderten Sprechrichtung/ den neuen Adressaten entspricht der Rollenwechsel Christi vom Verfolgten zum Retter. Er selbst spricht „allen“ (auch denen, die ihn leiden lassen, 2. Ant./ Lesehore, HoDo) ein anderes Schicksal zu als in der Tradition: Stand dort die an JHWH gerichtete Bitte um Trennung zwischen Gerechten und Ungerechten und deren beschämtes Zurückweichen Avertantur retrorsum et erubescant, qui cogitant mihi mala (d1N2), verheißt der heutige Vigilversikel die in Christus alle vereinende ,Gegen‘bewegung Omnia traham ad meipsam. „Ermahnt einander“ Auch die horizontale Dimension des liturgisch geführten Dialogs ist unter ekklesiologischem Aspekt nochmals gesondert zu bemerken. Selbst der individuelle Beter der Liturgia Horarum liest an jedem Morgen der vorösterlichen Drei Tage die Mahnung, im Glauben umeinander Sorge zu tragen, und am Gründonnerstag ausdrücklich nochmals, zuzusehen, dass keiner ungläubig sei (Kernsprüche/ Inv. und 3. Ps). Er ist also, obwohl im Gebet für sich, ausdrücklich in die Gemeinschaft der Kirche gestellt und in die Verantwortung für sie genommen. In der liturgischen Versammlung entfällt dieser Aufruf wohl, doch steht auch in der gemeinschaftlichen Feier jene gegenseitige Aufforderung am Anfang (Ant./ Inv.), die nicht nur eine Versammlung voraussetzt, sondern diese in der anbetenden Verehrung Gottes gerade konstituiert (… venite adoremus u. a.); dazu kommen explizite Hinweise auf das Glaubenszeugnis (z. B. gloriari me oportet) in der Gemeinde/ Gemeinschaft der Heiligen (Sancti vicerunt … propter verbum et testimonium sui) und die Ermahnung, die sakramentale Gegenwart des Herrn zu erkennen (nur StB/ II: „Erkennt, nehmt und esst“, Resp./ HoDo; ähnlich 2. Lesung/ KarFr). Sie bezieht sich wohl nicht nur generell auf die Eucharistiefeier, sondern sehr konkret auf die Teilnahme an der Feier vom Letzten Abendmahl am selben Tag und ihre Deutung vom Kreuzesopfer Christi her. 2.1.4.3 Theologie aus dem Zusammenklang vieler Elemente Theologische Verdichtung Nach Maßgabe des Liturgischen Kalenders feiert auch die erneuerte Liturgia Horarum die „Drei Österlichen Tage vom Leiden, vom Tod und von der Auferstehung des Herrn“ als Einheit und „Höhepunkt des ganzen Kirchenjahres“ (GOK 18). Sie korrigiert die historisch gewachsene und bis zur Reform (vor allem, aber nicht nur, in den Hauptgottesdiensten) wahrnehmbare gesonderte Zuordnung der Aspekte des Leidens, Sterbens, Begrabenseins und der Auferstehung zu einzelnen Tagen, und hält an jedem der untersuchten Tage das ganze Paschamysterium Christi im Bewusstsein der Gläubigen. 1743 Sie steht im Einklang mit den liturgietheologischen Prinzipien der Reform und hat zur konsequenten Streichung aller inkriminierten Passagen aus den Psalmen und Cantica geführt (vgl. Allgemeine Einführung in das Stundengebet 131 [ebd. 72*]). 1744 Weder aber ist dadurch die anthropologische Erfahrung von Feindschaft und Verfolgung aus der Welt geschafft, noch damit allein dem Jesuanischen Gebot der Feindesliebe schon Genüge getan. <?page no="342"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 334 Gemäß der vom Konzil formulierten liturgietheologischen Prämissen ist jede gottesdienstliche Feier „Werk Christi, des Priesters, und seines Leibes, der die Kirche ist“ (Sacrosanctum Concilium 7) 1745 und bewirkt die „Heiligung des Menschen und die Verherrlichung Gottes“ (10) 1746 . „Besonders im Vollzug des Stundengebetes“ setzt Christus, der „Hohepriester des Neuen und Ewigen Bundes“, die „priesterliche Aufgabe [cf. den göttlichen Lobgesang zu singen] durch seine Kirche fort; sie lobt den Herrn ohne Unterlass und tritt bei ihm für das Heil der ganzen Welt ein“ (83) 1747 . Der Herr, dem sie lobsingt, ist freilich, an gleicher Stelle wie der Vater, weitgehend Christus selbst. Desgleichen findet sich die der Liturgie innewohnende „Anbetung der göttlichen Majestät“ und „Belehrung der Gläubigen“ (33) 1748 im Stundengebet der Tage vor der Paschavigil in hohem Maße verwirklicht. Sie greift dafür ebenso häufig auf das Neue Testament wie auf alttestamentliche Texte zurück und stellt ein dichtes Netz an intertextuellen Bezügen her. Sie folgen weitgehend dem liturgisch legitimen, hermeneutisch aber allein unzureichenden Schema von Verheißung und Erfüllung in christologisch-ekklesiologischer Zuspitzung. Die Auswahl einiger Antiphonen quer durchs Kirchenjahr (nicht nur, naheliegend, der Kreuzfeste, sondern von Fronleichnam, Allerheiligen, Bekehrung des Apostels Paulus, vom Palmsonntag und Weißen Sonntag) bettet die vorösterlichen Tage über Querverbindungen zu weiteren Festen in einen größeren Kontext ein. 1749 Ergänzend zur Anamnese der in Christus eingelösten Heilsverheißung Gottes tritt neben die Paränese der Gläubigen vereinzelt auch die theologische (Selbst-)Reflexion im Rückgriff auf die neutestamentliche Briefliteratur: 1750 der Tradition entsprechend vor allem in den Lesungen aus dem Hebräerbrief und in der 1. Laudesantiphon am Karfreitag (Röm 8,32); neuerdings auch unter Zitation von Röm 3, 1 Kor 15, Phil 1, Gal 6, Eph 2 sowie 1 Joh 1; 2. Die Kurzlesung der Vesper aus 1 Petr am Karsamstag fasst Proklamation, Heilszuspruch und Mahnung theologisch reflektiert zusammen: „Ihr wisst, dass ihr aus eurer sinnlosen, von den Vätern ererbten Lebensweise nicht um einen vergänglichen Preis losgekauft wurdet, nicht um Silber oder Gold, sondern mit dem kostbaren Blut Christi, des Lammes ohne Fehl und Makel. Er war schon vor der Erschaffung der Welt dazu ausersehen und euretwegen ist er am Ende der Zeiten erschienen. Durch ihn seid ihr zum Glauben an Gott gekommen, der ihn von den Toten auferweckt und ihm die Herrlichkeit gegeben hat, sodass ihr an Gott glauben und auf ihn hoffen könnt.“ (1 Petr 1,18-21) Wiederholung Ein die untersuchten Tage verbindender roter Faden wird durch die Wiederholung bestimmter Motive erkennbar: auffallend oft ist vom Kreuz, vom Blut Christi und von seinem Priestertum als den Bedingungen der Erlösung die Rede. In der Wahrnehmung nicht zu unterschätzen ist außerdem die trinitarisch-doxologische Bekräftigung nach jedem einzelnen Psalm und Canticum. In anderen Fällen (z. B. bei den Invitatoriumsantiphonen) wird eine Aussage wiederholt und zugleich mit einem anderen Aspekt desselben Geschehens verknüpft: Auch hier basiert die Gesamtdeutung auf dem Prinzip der - sukzessive angereicherten - Wiederholung: tentatum et passum - suo nos redemit sanguine - passum et sepultum oder: Christus ist Dominus - Dei Filius - Dominus. 1745 2 LThK 12 (1986 [= 1966]) 20f-22f. 1746 Ebd. 24f. 1747 Ebd. 74f. 1748 Ebd. 38f. 1749 Es entspricht dies durchaus der Gesamtkonzeption des Liturgischen Jahres in der Konzilskonstitution, die nach dem Sonntag und den Herrenfesten sowie einem Hinweis auf Maria die Feste der „Heiligen, die mit Christus gelitten haben und mit ihm verherrlicht sind“, den Gläubigen beispielhaft vor Augen stellt (Sacrosanctum Concilium 104 [ebd. 88f]). 1750 Die Erzählung beschränkt sich weitgehend auf die Lesung der Passionen in der Vigil; narrative Antiphonen und Responsorien sind selten. Ausdrücklich beachtet wird die veritas horarum durch die neuen Antiphonen aus dem Mk-Ev und Lk-Ev zur hora tertia, sexta und nona am Karfreitag. <?page no="343"?> 2.1 Die erneuerte Liturgia Horarum (1974/ 78) 335 2.1.5 Synthese: Die römische Tagzeitenliturgie vom Hohen Donnerstag bis Karsamstag in der erneuerten Liturgia Horarum Die erneuerte römische Liturgia Horarum wird dem an sie gestellten Anspruch einer traditionsverbundenen Reform an den vorösterlichen Tagen insofern gerecht, als sie bei der Psalmenauswahl - dem eigentlichen hermeneutisch-theologischen Fundament der Feier - weitgehend auf die älteren Vorgaben zurückgreift. Zugleich nimmt sie mit der Auffüllung der traditionell reduzierten Feiergestalt zu einer vollen, der üblichen Form der nachkonziliar erneuerten Tagzeitenliturgie entsprechenden Hore - inklusive aller bisher ausgelassenen Elemente - einen strukturell und inhaltlich weitreichenden Eingriff vor: 1) Die schlichte Gliederung in psalmodischen Teil, Lesungsteil und Gebetsteil ist nicht mehr erkennbar. 2) In dem deutlich komplexeren neuen Kontext spielt die - außerdem stark gekürzte - Psalmodie eine weitaus geringere Rolle als bisher. Erkennbar werden die theologischen Anliegen der Liturgiereform: die Einheit des Paschamysteriums, die konzeptuelle Abgrenzung des Triduum von Gründonnerstag/ Vorabend bis inklusive Osternacht und die Dialogizität gottesdienstlichen Handelns. Das theologische Proprium der einzelnen Tage entsteht im Zusammenspiel etlicher in diesen speziellen Feiern bisher unbekannter Elemente mit einigen Charakteristika aus der Tradition. Hier sind die Einbußen ebenso von Bedeutung wie die Einführung neuer Themen. Auffällig ist die gegenüber der Tradition sehr akzentuierte Beschreibung des österlichen Erlösungsgeschehens in kultischen Kategorien (Reinigung, Sühne, Sündopfer, Loskauf) sowie die Entfaltung der Blut-Thematik. Neu ist auch die Dominanz des Kreuzes als Heilssymbol, das in den älteren Quellen de facto nicht vorkommt. Die alleinige Heilsvermittlung durch den Hohepriester Christus, die laut Hebräerbrief den menschlichen Kult beendet hat, erfährt durch die neu eingeführte Anamnese der Übergabe des Priesteramtes als zusätzlichem Feierinhalt in der Abendmahlsmesse eine Relativierung. Die ambivalente Rolle der Jünger wird zudem durch die Entfernung der Judas-Thematik positiv geglättet. Aber auch das Feindhandeln und die ,dunklen‘ Seiten Gottes treten stark zurück. Subjekt des Handelns ist in der Liturgia Horarum primär Christus, der (nach-)österliche Sieger. Auch in seiner Entäußerung bleibt er der Erlöser in Vollmacht. Das anthropologische Moment liegt vor allem in der heilbringenden solidarischen Identifikation Christi mit dem Menschen und weniger in dem damit verbundenen Leiden und Scheitern. Der liturgische Dialog findet nicht wie zuvor zwischen Vater und Sohn, sondern zwischen Christus und der Kirche statt. Eklatant ist die hermeneutische Verschiebung zugunsten der neutestamentlichen Offenbarung. Die alttestamentlichen Gesänge und Texte werden ihr eingepasst und ,problematische‘ Stellen bei Bedarf auch durch Verschnitt geglättet. Der Verlust an impliziten und damit offenen Identifikationsangeboten infolge der starken Kürzung im psalmodischen Teil wird durch ein umso dichteres Netz an eindeutigen neutestamentlichen Bezügen kompensiert. Sie vermitteln Glaubensgewissheit. Ein Anliegen der Liturgiereform war die Wiederherstellung der theologischen Einheit des Paschamysteriums auch auf der Ebene der Feier. Die darin angestrebte Anamnese aller Dimensionen des Erlösungsmysteriums - von der Schöpfung über das Leiden und Sterben Christi bis zu seiner Auferstehung und eschatologischen Wiederkunft - schlägt sich als ,Gleichzeitigkeit‘ zahlreicher Aspekte in den strukturell und inhaltlich ungemein verdichteten Horen nieder. Das in aller Komplexität leitende Prinzip der expliziten hohen Christologie gewährleistet die Deutlichkeit und Verständlichkeit des Gefeierten, wenn auch nicht immer die Subtilität seiner Vermittlung. <?page no="344"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 336 Die Wechselbezüge der Texte und Gesänge sind eng und werden den Gläubigen erklärend, ermunternd und mahnend nahegebracht; ob sie und welche davon als existentiell bedeutsam erkannt werden, hängt wie früher von der Fähigkeit der Feiersubjekte ab (Bibelkenntnis, Disposition etc.). Auch das macht einen Teil des spirituellen Reichtums aus, der weder theoretisch-reflexiv, noch im Feiervollzug je zur Gänze auszuloten ist. Die Kirche ist Adressatin und als Vermittlerin der - unmissverständlich universal verstandenen - Heilsbotschaft stark gemacht. 2.2 Das Benediktinische Antiphonale Das „Benediktinische Antiphonale I-III“ (1996) wird von den Herausgebern der Abtei Münsterschwarzach als „unsere Applicatio der Rahmenordnung des Thesaurus Liturgiae Horarum Monasticae“ 1751 vorgestellt. Die Vorgängerausgaben der Jahre 1969 bis 1974 1752 - in diesen Jahren geschah die eigentlich bahnbrechende Erneuerung der Tagzeitenliturgie - wurden bis in die 90-er Jahre zwar mehrfach revidiert, aber nicht mehr wesentlich verändert. Die Neuausgabe (1996) beabsichtigt, „das heute und jetzt Erreichbare und Verantwortbare zu tun, um die gesungene Feier des Gotteslobs in der Muttersprache zu ermöglichen“ 1753 , was auch die Allgemeine Einführung in das Stundengebet als wesensgemäßen Vollzug „nachdrücklich“ empfiehlt (AES 268) 1754 . 2.2.1 Psalmodie und Antiphonen: Ein Bruch mit der Tradition? Die Textfassung der Psalmen und Cantica des Benediktinischen Antiphonale (BA) entstand zwischen 1986 bis1990 mit dem Ziel, „hohe philologische und exegetische Verläßlichkeit und möglichst gute Singbarkeit“ 1755 zu gewährleisten. 1756 Die Psalmenverteilung folgt dem von Notker F ÜGLISTER erarbeiteten Schema 1757 und ist Teil von 1751 1977 approbiert und im selben Jahr veröffentlicht in Not. 13 (1977) 157-191. 1752 Deutsches Psalterium für die Sonntage und Wochentage im Kirchenjahr (Hg. F ÜGLISTER , Notker, Münsterschwarzach, 1969), in dessen Begleitheft Zum Entwurf eines deutschen monastischen Offiziums der Autor Prinzipien und Kriterien der Neuordnung darlegt. 1969 wurden auch Die Trauermetten der Karwoche erarbeitet und erstmals in neuer Form deutschsprachig gefeiert; es folgte eine erste eigene Psalmenübersetzung und die Komposition deutscher Antiphonen ab 1970; mit dem Erscheinen des Vigiliars 1974 war die erste Phase des Münsterschwarzacher Experiments abgeschlossen. Das 1972-1975 herausgebrachte dreibändige Deutsche Antiphonale. Für Sonntage und Wochentage des Kirchenjahres lieferte sowohl die Grundlage für das Antiphonale zum Stundenbuch (1979), die zum Singen eingerichtete deutschsprachige Version der römischen Liturgia Horarum, als auch für das 1996 erschienene Benediktinische Antiphonale I-III, das zudem eine neue, besser singbare Psalmenübersetzung erhielt (bisherige Letztfassung); vgl. dazu das Vorwort in Antiphonale I, 3-11). Einen Einblick in diese Umbruchszeit aus erster Hand samt Dokumentation der genannten Entwicklungen bietet auch der Erfahrungsbericht „Monastische Tagzeiten im Wandel. Die Situation in den schweizerischen Benediktinerklöstern vor und nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil“ von Georg H OLZHERR OSB, in K LÖCKENER / B ÜRKI , Tagzeitenliturgie 128-151 (hier 141-142). 1753 Rhabanus E RBACHER OSB im Vorwort, der gemeinsam mit Godehard J OPPICH und Roman H OFER OSB die maßgebliche musikalische und redaktionelle Arbeit geleistet hat (Antiphonale I, 3); vgl. E RBACHER , Modell. 1754 StB I, 101*. 1755 Antiphonale I, 7. 1756 Begonnen hatte sie mit der 1981 von der Salzburger Äbtekonferenz in Auftrag gegebenen Arbeit an einem neuen „Singpsalter für das gemeinsame Stundengebet“; seit 2003 liegt der Münsterschwarzacher Psalter auch als eigenständige Publikation vor. 1757 Schema B im Thesaurus (vgl. Not. 13 [1977] 161). <?page no="345"?> 2.2 Das Benediktinische Antiphonale 337 dessen umfassendem Entwurf zur Erneuerung des Stundengebets, „der die Zahl, den Umfang und teilweise auch den Aufbau der Horen neu konzipierte - im Respekt vor den Werten einer kostbaren Tradition, aber auch im Blick auf die Gegebenheiten der Gegenwart und in Sorge um die Wahrhaftigkeit unseres Betens.“ 1758 Zu dieser Tradition, an der sich das Benediktinische Antiphonale vorrangig orientiert, gehört wesentlich der gregorianische Choral. Die wissenschaftliche Neuentdeckung seiner ursprünglich am Wort (nicht am Schönklang) orientierten und daher nicht-äqualistischen Singweise hat die Vertonung der deutschsprachigen Texte dahingehend befördert, ihnen nicht konkrete (mit der lateinischen Rhetorik entstandene) Melodien, sondern vielmehr deren Gestaltungsprinzipien zugrundezulegen und der deutschen Sprache gemäß anzuwenden. Die der Tradition gegenüber bestehende Verpflichtung kommt im BA weniger im direkten Anschluss an die letzte Fassung des Tradierten oder in der Übernahme bestimmter Einzelelemente zum Ausdruck. Vielmehr ist ihre umfassende Kenntnis eine entscheidende Grundlage für fundierte und angemessene Schlussfolgerungen für die Gegenwart, die im Neuentwurf des BA ebenso traditionsverbunden wie innovativ konkretisiert wurde. Die römische Liturgie in ihrer überkommenen Gestalt bildet somit kaum mehr den rezeptionsästhetischen Resonanzraum für den heutigen Vollzug der Tagzeitenliturgie und kann jedenfalls nicht als solcher vorausgesetzt werden. Produktionsästhetisch ist die Neuordnung hingegen in eben diesem Klangraum verortet: Sie ist unbedingt vor dem Hintergrund der Tradition zu sehen und aus dem vertrauten Umgang mit ihr erwachsen. Querverweise auf die römische Liturgie beziehen sich deshalb im Folgenden wie bisher generell auf die Feierpraxis vor der letzten Reform. Die an den untersuchten Tagen strikt auf Psalmodie - Lesungen/ Responsorien - Oration reduzierte Feierstruktur geht mit der ältesten Tradition konform und bewahrt die ursprüngliche, einfache Form: „Die Gebetszeiten beginnen unmittelbar mit der Antiphon zum ersten Psalm und schließen mit der Oration. Es entfallen alle Doxologien, die Benediktionen, das gesungene Vaterunser und die Einleitungs- und Schlußformeln der Orationen. In allen Horen entfällt der Hymnus. In der Vigil wird kein Invitatorium, in den Laudes kein Responsorium und kein Versikel, in der Mittagshore kein Responsorium gesungen.“ 1759 Diesem Verlauf folgt die Darstellung der Gesänge und Texte (wie oben in 1.3). Das inhaltliche Proprium der einzelnen Tage kommt in diesem Neuentwurf freilich anders als bisher zum Tragen. Gegenüber der (undatierten; ca. 1969) Erstfassung Die Trauermetten in der Karwoche zeigt die Feiergestalt der Nacht- und Morgenhore im Benediktinischen Antiphonale (1996) geringfügige Änderungen, deren eine die Responsorien betrifft: Die ältere Fassung hat für jede Nokturn ein bestimmtes Responsorium prolixum aus der Tradition festgelegt: 1758 Antiphonale I, 3. Die Vorarbeiten Zum Entwurf eines deutschen monastischen Offiziums reichen bereits in die Jahre vor der Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils zurück, das ihn als Schema B in den Thesaurus Liturgiae Horarum Monasticae aufgenommen hat. Das umfassende Konzept ordnet nicht nur den Wochenpsalter neu, sondern verleiht auch den Festtagen und Festzeiten sowohl durch die Platzierung ausgewählter Psalmen und Cantica als auch durch die Zuordnung bestimmter biblischer Bücher und Lesungen ein klares theologisches Profil; das gilt auch von den letzten Tagen der Hohen Woche. Umfassend dazu siehe die gesammelten Studien und Aufsätze von B RAULIK , Psalmen. 1759 Aus der einführenden Bemerkung im Auszug für die letzten drei Tage der Hohen Woche BA Stundengebet 6. <?page no="346"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 338 Hore Gründonnerstag Karfreitag Karsamstag Lesung Respons. Trad. Lesung Respons. Trad. Lesung Respons. Trad. 1. Nokturn Klgl In monte dR 1 Klgl Omnes amici fR 1 Klgl Plange quasi virgo sR 3 2. Nokturn Jes Tristis est dR 2 Jes Ecce vidimus dR 3 Sach Ierusalem, surge sR 2 3. Nokturn Hebr Iudas mercator dR 11 1 Kor Tenebrae fR 5 Hebr O vos omnes sR 5 Das jüngere Vigiliar Antiphonale I bietet pro Nokturn wahlweise zwei deutschsprachige Responsorien, die sich auch im Auszug für Gründonnerstag bis Ostersonntag (BA Stundengebet) finden. Letzterer enthält im Anhang außerdem eine Zusammenstellung gregorianischer Gesänge zur Wahl. Eine zweite Neuerung wurde mit der Festlegung auf vier Psalmen statt der früheren fünf psalmodischen Einheiten (zu denen auch das täglich wechselnde AT-Canticum zählte, das an dieser Stelle heute fehlt) in den Laudes vorgenommen. 1760 Gründonnerstag Karfreitag Karsamstag nach 1969 Fassung 1996 nach 1969 Fassung 1996 nach 1969 Fassung 1996 Ps 38(39) Ps 38(39) Ps 50(51) Ps 50(51) Ps 79(80) Ps 85(86) Ant. V. 7 Ps 37(38),1-15 Ps 37(38) Ps 6 Ant. V. 9 Ps 37(38),16-23 Ant. Lk 23,42 Ps 42(43) Ps 42(43) Ps 16(17) Ps 16(17) Ps 115(116B) Ps 115(116B) Ps 139(140) Ps 139(140) Ps 141(142) Ps 141(142) Ps 56(57) Ps 56(57) Ps 27(28) Ps 27(28) Ps 146 (147) Ps 146 (147) Benedictus Benedictus Benedictus Benedictus Benedictus Benedictus Die Laudes an den vorösterlichen Tagen zeigen im heutigen Benediktinischen Antiphonale (1996) somit dieselbe Struktur wie an jedem Tag. 2.2.1.1 Hoher Donnerstag Vigil Bereits in der Nacht- und Morgenhore 1761 sieht das F ÜGLISTER -Schema eine tages- und horenspezifische Psalmodie vor, wodurch der Gründonnerstag theologisch aufgewertet wird. 1762 Für jede der drei Nokturnen am Gründonnerstag, Karfreitag und Karsamstag wurde ein passender längerer Psalm gewählt. Erste Nokturn d1N Das Herz bebt mir in der Brust; die Schrecken des Todes überfallen mich. Alter Tradition entsprechend beginnt die Vigil unmittelbar mit der Antiphon zu Ps 54(55) 1763 , hier V. 5. 1760 Die benediktinische Ordnung (Ps-Ps-Ps-Ps-CAT-Ps) wurde gemäß der fünfteiligen Laudesstruktur im Füglister-Schema (Ps-Ps-Ps-CAT-Ps) bereits um eine Einheit reduziert und damit der römischen Tradition - auch an den vorösterlichen Tagen - angeglichen; im Zuge der jüngsten Reform erfuhr letztere eine weitere Reduktion (Ps-CAT-Ps). 1761 Antiphonale I, 189-199; 199-205 (= BA Stundengebet 7-18; 18-25). 1762 Anders in der Liturgia Horarum, die den Beginn der Drei Österlichen Tage gemäß der Grundordnung des Kirchenjahres Nr. 19 erst mit der Abendmahlsmesse (ggf. ersatzweise der Vesper) ansetzt. 1763 Die im Buch angegebene, heute übliche Zählung (in Klammern) entspricht dem hebräischen Psalter. Der leichteren Vergleichbarkeit wegen wird die doppelte Angabe wie bisher beibehalten. <?page no="347"?> 2.2 Das Benediktinische Antiphonale 339 In Ps 54(55) klagt ein Einzelner über die ihm unausgesetzt widerfahrende Gewalt. An Orten des Lebens, die üblicherweise Sicherheit bieten - die befestigte Stadt, der Marktplatz und die Häuser der Menschen -, herrscht für ihn größere Bedrohung als in der lebensfeindlichen Umgebung der Wüste; in der ausgesetzten Situation des Beters böte diese mehr Schutz als die Nähe von Menschen, die zu Todfeinden geworden sind (V. 8.10.12.16). Am schlimmsten ist die Erfahrung, dass selbst der früher im Glauben eng verbundene Freund sich gegen den Psalmisten wendet und sogar Hand an ihn legt (V. 14.21). Der Beter gönnt sich keine Ruhepause und bestürmt Gott am Morgen, Mittag und Abend mit seiner Klage (V. 18); doch behält er die Zuversicht, dass Gott den Gerechten nicht verlassen und die Gewalttäter vernichten wird (V. 23f). 1764 Dem hebräischen Text zufolge lautet die Übersetzung der letzten beiden Verse im BA: „ 23 Wirf deine Last auf den Herrn,/ Er selber wird für dich sorgen. Niemals lässt er den Gerechten wanken. 24 Denn du, o Gott, wirfst sie hinab in den gähnenden Abgrund./ Gewalttätige und Betrüger erreichen nicht die Hälfte ihrer Tage. Ich aber, ich setze auf dich mein Vertrauen.“ 1765 Gottes Sorge für den Gerechten ist also nicht abstrakt, sondern konkretisiert sich darin, dass er die Macht der Gewaltmenschen bricht. Einige Stellen, nicht nur aus den Passionserzählungen der Evangelien, finden im Schicksal des in Ps 54(55) Klagenden eine Entsprechung: die tödliche Bedrohung Jesu, die von den Mächtigen der Stadt (Jerusalem) ausgeht (V. 10-12; vgl. Mk 14,1; Mt, 21,10; 26,4; 27,1; Lk 22,2; Apg 4,27) die Enttäuschung über den Verrat durch den Freund (V. 14f; vgl. Mt 26,15.23; Lk 22,5; Joh 1,11; 13,2.21.27); die Todesangst (V. 6; vgl. Mk 14,33; Joh 12,27); schließlich das Vertrauen des Gerechten, der seine „Last auf den Herrn“ wirft (V. 23; vgl. 1 Petr 5,7), der seine gewalttägigen und betrügerischen Feinde - letztlich das „Tier“ und die „falschen Propheten“ - in die „Unterwelt“ und den „gähnenden Abgrund“ stürzt (V. 16.24; vgl. Offb 19,20; 20,10). Die Offenbarung verbindet die Zuflucht in der Öde zudem mit der Flucht der schwangeren Frau vor den Nachstellungen „der Schlange“ in die „Wüste“ (V. 8; vgl. Offb 12,14). Hieronymus zitiert zu V. 5 die Worte Jesu: „Meine Seele ist zu Tode betrübt“ (Mk 14,34; Mt 26,38) und merkt an, dass Christus in seiner als Mensch erlittenen Todesangst 1766 (vgl. V. 5) göttliche Tröstung durch den Engel erfahren habe (Lk 22,34). 1767 In kirchlicher Hermeneutik erklingt in Ps 54(55) die Stimme Christi. Doch auch der Freund, der zum Verräter wurde, nimmt in Judas Gestalt an: Ihn trifft die Folge der eigenen Tat: Judas, der „Betrüger“, erreicht „nicht die Hälfte“ seiner Tage (V. 24). 1768 Der Passionsbezug bestimmt wohl auch die Verwendung von Ps 54(55) im Vier- Wochenpsalter der römischen Liturgia horarum am Freitag der 4. Woche in der Leseho- 1764 Nach Z ENGER , AT 1101. 1765 In der EÜ sind V. 23 und 24 vertauscht, sodass die Feindaussage nicht mehr bedeutungsvoll zwischen den Vertrauensaussagen steht - die Vernichtung der Feinde ist eine konkrete Folge der Sorge Gottes um den Gerechten -, sondern der Psalm mit der Bekräftigung der heilsgewissen Beziehung des Beters zu seinem Gott endet, in der die Feinde keinen Platz mehr haben. 1766 So auch Hilarius, nach N ESMY , Tradition 238. 1767 Ebd. 1768 Als Prophetie des Verrates (V. 13-15), die vox Christi über Judas klagen hört „linder als Öl sind seine Worte, und sind doch gezückte Dolche“ (V. 22b) ist Ps 54(55) sowohl im Jerusalem des 4./ 5. Jhs. als auch in der koptischen Tradition Bestandteil der frühmorgendlichen Gründonnerstagsliturgie; nach R OSE , Psaumes 113. Wegen seiner Anspielung auf die Mittagszeit (V. 18) hat Ps 54(55) in der byzantinischen Tagzeitenliturgie seinen Ort in der Sext (ebd. 98.101). <?page no="348"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 340 re (Wochenpascha). 1769 Dieser in den Kleinen Horen am Mittwoch der 2. Woche verwendete Psalm 1770 fällt somit auch in die Hohe Woche. 1771 Im Benediktinischen Antiphonale begegnet Ps 54(55) nicht nur am Gründonnerstagmorgen, sondern im Wochenpsalter jeden Donnerstag in der Mittagshore. 1772 Antiphon und Psalm lassen die Feiernden das angstvolle Erschrecken Jesu spüren, der das tödliche Unheil, das sich in Jerusalem über ihm zusammenzieht, in seiner ganzen Tragweite erkennt; sie werden Zeugen seiner Erschütterung darüber, dass „mein Freund und mein Vertrauter“ (V. 14) zum „Betrüger“ wird und mit den „Gewalttätigen“ (V. 24) gemeinsame Sache macht; aber auch des Vertrauens auf den Herrn, der den Gerechten nicht wanken lassen wird (V. 23f). Die Versikel aller Nokturnen sind psalmogen. Hier wird Ps 54(55),1 wiederholt. Das Vertrauen, in dem der Psalm endet, macht die Bitte des Anfangs nicht entbehrlich: V Vernimm, o Gott, mein Beten. R Verbirg dich nicht vor meinem Flehen. Zweite Nokturn d2N O Herr, ich vertraue auf dich. Mein Gott bist du. In deinen Händen ruht mein Geschick. Es folgt der vermutlich aus unterschiedlichen Vorlagen redigierte dreiteilige Ps 30(31): eine Bitte um Rettung mit begründetem Vertrauensbekenntnis und einem die Rettung antizipierenden Dankversprechen (V. 2-9); ein Klagegebet in dramatischer, dem Jeremia-Buch verwandter Sprache (V. 10-19); das hymnische Danklied des Geretteten vor der Gemeinde der Gottesfürchtigen (V. 20-25). 1773 Die Antiphon zu Ps 30(31) zitiert fast wörtlich V. 15-16a, das Vertrauensbekenntnis des Beters aus dem Mittelteil des Psalms, das seinen Bitten um ein Ende der Not vorausgeht. In der christlichen Tradition zählt Ps 30(31) zu jenen vier Psalmen, die schon auf kanonischer Ebene als Prophetien der Passion und der Auferweckung Jesu rezipiert werden und sich als Zitat oder Anspielung in den Passionserzählungen wiederfinden. 1774 Das Lukas-Ev überliefert 30(31),6 als Sterbewort Christi 1775 („In deine Hände lege ich [voll Vertrauen] meinen Geist“, Lk 23,46) 1776 . Außerdem lassen sich noch einige weitere Anklänge einzelner Psalmverse im Neuen Testament feststellen: die seelische Erschütterung Jesu beim Gebet im Garten vor der Festnahme (Joh 12,27; vgl. V. 10) und die schmerzliche Entfremdung von den Mitmenschen (Lk 23,34.49; vgl. V. 12); aber auch die (in Christus) erschienene „Güte Gottes“, die alle rettet, die sich „bei dir bergen vor allen Menschen“ (vgl. Tit 3,4f; vgl. V. 20) oder die paulinische Mahnung an die Korinther, „stark und unverzagt“ auf den Herrn zu hoffen (vgl. 1769 StB III, 663-665; an den Freitagen der 1. bis 3. Woche stehen an vergleichbarer Stelle die Passionspsalmen Ps 34(35), Ps 37(38) und Ps 68(69); nach H UONDER , Liturgia 103. 1770 StB III, 384-386. 1771 StB II, 772-774 (LH II, 989-991 [= Karwoche 132-134]). 1772 Antiphonale II, 107f. 1773 Vgl. H OSSFELD / Z ENGER , Psalmen II, 193. 1774 Ps 21(22), Ps 30(31), Ps 34(35) und Ps 68(69); nach R OSE , Psaumes 109f. Letzterer Psalm eröffnet in der lateinischen Tradition die Vigil am Gründonnerstag (siehe oben Kapitel 1.3.1.1 d1N1). 1775 Mt 27,46 legt Jesus mit Ps 21(22),2 den Schrei der Gottverlassenheit in den Mund. Dieser Psalm wird sowohl von den Synoptikern (Mk 15,22-32; Mt 27,33-36; Lk 23,44-49) als auch im Johannesevangelium (Joh 19,24) im Kontext der Passion rezipiert. 1776 Vgl. „Und er neigte das Haupt und gab seinen Geist auf.“ (Joh 19,30). <?page no="349"?> 2.2 Das Benediktinische Antiphonale 341 1 Kor 16,13; vgl. V. 25). Der Hebräerbrief spielt auf das flehentliche Rufen des Gehorsamen an, der Erhörung findet (V. 23 in Hebr 5,7). Die Vätertheologie schließt sich der passionstypologischen Auslegung einhellig an. Die für die Antiphon gewählten Verse 15f sind darin aber kaum von Bedeutung. 1777 Die römische Liturgie hatte Ps 30(31) nicht in die Jahresfeier von Ostern integriert, 1778 rezitierte dessen V. 1-6 aber täglich - heute jeden Mittwoch - in der Komplet. 1779 Zwei seiner Verse haben eine besondere Wirkungsgeschichte im römischen Offizium: V. 2 im Te Deum, das - auch im Benediktinischen Antiphonale 1780 - der Sonntagsvigil und feierlichen Anlässen vorbehalten ist; V. 6 im Responsorium der Komplet als tägliche ars moriendi 1781 - so auch am Gründonnerstag und Karfreitag. 1782 Mit derselben Intention der Einübung des Sterbens ,mit Christus‘ ist Ps 30(31),6 im Wochenpsalter des Benediktinischen Antiphonale im täglichen Komplet-Responsorium vorgesehen; 1783 der ganze Psalm außerdem in der Freitagskomplet als Feierelement des Wochenpascha. 1784 Mit der Antiphon zu Ps 30(31) hat sich der Psalmbeter neu orientiert. Die Hinwendung zu JHWH bietet den einzigen echten Ausweg: Nicht Furcht soll ihn bestimmen, sondern die Beziehung zu seinem Gott, dem er sich anvertraut hat. Das Beben vor den auf ihn einstürzenden Todesschrecken weicht der Zuversicht auf JHWH, in dessen Händen das Geschick des Beters in Wahrheit „ruht“. Als Versikel folgen die V. 17a.16b, die die angeklungene Hoffnung unterstreichen: V Lass leuchten über deinem Knecht dein Antlitz. R Entreiß mich der Hand meiner Feinde. Dritte Nokturn d3N O Gott, mein Gott, bleib mir nicht ferne! Eile und komm mir zu Hilfe! Die 3. Nokturn beginnt mit Ps 70(71); dazu V. 12 als Antiphon. Dieser Psalm beklagt die einsame und angefeindete Situation des alt gewordenen Beters und ist im Rückblick auf dessen langes Leben komponiert: Eine eindringliche Schilderung der gegenwärtigen Not, aus der die Antiphon stammt, steht dabei im Zentrum; gerahmt wird sie von zwei Vertrauensäußerungen - Frucht einer lebenslangen Beziehung zu Gott - sowie von eröffnenden Bitten und einem abschließenden Dankversprechen. Das Unglück des Beters und die Gerechtigkeit Gottes sind die den Anfang und das Ende bestimmenden Motive des Textes. 1785 1777 Cyrill von Alexandrien etwa erklärt, unter „mein Geschick“ seien die „Güter der Verheißung“ zu verstehen; nach N ESMY , Tradition 131. 1778 In der Jerusalemer Liturgie hingegen hat Ps 30(31) seinen Ort apte diei et loco zwischen der sechsten und neunten Stunde am Nachmittag des Karfreitags, wenn „aus den Psalmen gelesen wird, wo auch immer einer etwas über die Passion sagt“ (Id est ita legitur primum de psalmis, ubicumque de passione dixit, E GERIA , Itinerarium, 37,5 [FC 20, 274f R ÖWEKAMP ]). In der koptischen Liturgie rezitiert man ihn am Gründonnerstag zur Mittagsstunde, um „des Komplotts gegen den Gerechten“ zu gedenken; wegen V. 6 auch am Karfreitag zur elften Stunde des Tages. Byzanz und Rom kennen keine entsprechende liturgische Verwendung von Ps 30(31); nach R OSE , Psaumes 110. 1779 Stundenbuch III, 711f; vgl. P ASCHER , Stundengebet 90f. 1780 Antiphonale I, 434-437. 1781 Nach P ASCHER , Stundengebet 90f; im heutigen Stundenbuch III, 695; 699; 704; 708; 712; 715; 720f. 1782 Siehe oben Kapitel 1.3.1.1 dK und 1.3.1.2 fK. 1783 Antiphonale III, 227. 1784 Ebd. 342-344. 1785 Nach Z ENGER , AT 1118-1119. <?page no="350"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 342 Ohne wörtlich aus Ps 70(71) zu zitieren, ist in den neutestamentlichen Schriften Jesus in seinem Leiden immer wieder ähnlich charakterisiert wie der Beter dieses Psalms: belauert und ausgeliefert (V. 10.4 vgl. Mt 26,4; 27,1; Mk 14,41), abgeschrieben, verlassen und gezeichnet (V. 11.7; vgl. Mt 27,46.49; Mt13,57; 1 Kor 4,9) und dann herausgeführt „aus den Tiefen der Erde“, „getröstet“ und wieder „zu Ehren“ gebracht (V. 20f; vgl. Apg 2,31; 2 Kor 7,6). Ps 70(71) kann auch im Hintergrund des Römerbriefs (Röm 3,21) vermutet werden, der „das Psalmwort pragmatisch in eine Heilsprophetie transformiert.“ 1786 Ähnliches gilt von den „großen“ Taten Gottes, die wie der Psalmist auch Maria besingt (V. 19; vgl. Lk 1,49). 1787 Die patristische Auslegung versteht Ps 70(71) durchwegs als vox Christi: Auferweckt von den Toten, kündet er die Gerechtigkeit Gottes; mit Christus tun dies auch die Apostel und die Kirche (vox ecclesiae); dagegen sind alle, die Jesu Verderben suchten, gescheitert und beschämt. V. 12 erfährt keine besondere Auslegung, abgesehen von der Erklärung, es habe sich hier keineswegs die Gottheit von Christus „entfernt“, aber sein Vorauswissen um die Wirksamkeit des göttlichen Beistands. 1788 In der römischen Liturgie erklingt Ps 70(71) am frühen Morgen des Gründonnerstags als gewöhnlicher Vigilpsalm, doch mit passender, eigens gewählter Antiphon (V. 4). 1789 Im Wochenpsalter des Benediktinischen Antiphonale gehört Ps 70(71) in die 1. Nokturn am Montag. 1790 Im Feierverlauf der Vigil des Gründonnerstags schlägt die Stimmung des Beters mit dieser letzten Antiphon erneut um: In großer Gefahr hatte er erst seine Angst geäußert und sich dann im Vertrauen auf seinen Gott festgemacht; jetzt entringt sich ihm ein Hilfeschrei. Diese Gebetsdynamik vermittelt, dass die Situation sich einerseits zuspitzt, andererseits Zuversicht spürbar bleibt. Ps 70(71) entsteht aus einer zwar bedrängten, letztlich aber geborgenen Gottesbeziehung „von Jugend auf“ (V. 6). In eigener Weise gilt das von Christus, der nicht altersbedingt, sondern als Opfer von Gewalt ans Ende seines Lebens gelangt ist. Der Versikel (Ps 70[71],5a2*) erneuert die Bitte der Antiphon und des vorhergehenden Versikels: V Mein Gott, befreie mich aus der Hand des Frevlers. R Reiß mich heraus und rette mich. Laudes Zur Psalmodie dL1 Ich bin verstummt, tu meinen Mund nicht auf; denn du hast alles über mich gefügt. Die Laudes 1791 dieses Tages beginnen mit Ps 38(39); dazu wurde V. 10 als Antiphon gewählt. Ps 38(39) ist ein individuelles Klagelied, in dem sich Gebet und weisheitliches Nachdenken über die Vergänglichkeit des Lebens mischen. Im Grübeln über das unabwendbare Ende seines Daseins ringt sich der Psalmist dazu durch, auf diesen Gott, 1786 H OSSFELD / Z ENGER , Psalmen II, 302. 1787 Ebd. 1788 „Sa providence et l’éfficacité de son secours“ (Theodoret, zit. nach N ESMY , Tradition 365). 1789 Siehe oben Kapitel 1.3.1.1 d1N3. 1790 Antiphonale I, 482f. 1791 Ebd. 199-205 (= BA Stundengebet 18-25). <?page no="351"?> 2.2 Das Benediktinische Antiphonale 343 der sein Leben begrenzt und mit Mühsal - Krankheit, sozialer Isolation, Spott, Leiden an eigener Schuld - beschwert hat und dem er ausgeliefert ist, dennoch sein Vertrauen zu setzen; er erbittet nicht die Rettung vor dem Tod, sondern darum, all das richtig verstehen zu können. Der vierteilige Psalm enthält die Schilderung großer Not, die Bitte um Belehrung, ein Vertrauensbekenntnis (daraus stammt die Antiphon) und anstelle des üblichen Dankversprechens den merkwürdig ambivalenten Schluss, der Gott um seine rettende Zuwendung und um die Abwendung seines „strafenden Auge[s]“ bittet, um selbst „heiter blicken“ zu können. 1792 Zur Deutung des christlichen Lebens rezipieren die neutestamentlichen Briefe die Motive der Flüchtigkeit irdischen Daseins und des Fremdseins: „Rauch“ seien die Gläubigen wie alle Menschen, „Fremde“, „Gäste“ in dieser Welt (vgl. V. 6-12 in Jak 4,14; vgl. V. 13b in 1 Petr 2,11; Hebr 11,13). In V. 10 bescheidet sich ein Mensch, dessen Argumente vor Gott und den Gegnern verbraucht sind, und der schweigt, um nicht zu sündigen (V. 2.10). Eine ähnliche Haltung nimmt der Gottesknecht (Jes 53,7) ein, und Jesus vor seinen Anklägern (vgl. Mk 14,61; Lk 23,9) - zuletzt auch vor dem Vater, in dessen Willen er sich fügt (vgl. Lk 22,42; Joh 12,27). Das Verstummen des Psalmisten deuten die Kirchenväter in Zusammenhang mit dem vorausgehenden Bußpsalm Ps 37(38), in dem der Beter sich selbstverschuldet als krank, beladen, isoliert und kommunikationsunfähig erfährt („taub“ und „stumm“), aber sein Leiden durch die grundlose Feindschaft übermächtiger Gegner noch verschlimmert wird. 1793 Das Schweigen in Ps 38(39),2f meine den Verzicht des Psalmisten auf eine Erwiderung im Bösen, die Gleiches mit Gleichem vergilt (vgl. 1 Petr 3,9; 1 Kor 4,13) 1794 , und werde entweder aus Einsicht in die eigene Schuld geleistet 1795 oder nach dem Vorbild des Erlösers (vgl. 1 Petr 2,23) mit jenem guten Gewissen, das es nicht nötig hat, sich mit Worten zu verteidigen. 1796 Bekräftigt wird das in V. 10: Der Beter spricht zu niemandem mehr außer zu seinem Gott. 1797 Weder in den ostkirchlichen Liturgien noch in der lateinischen Tradition spielt Ps 38(39) eine nennenswerte Rolle. Im Wochenpsalter des Benediktinischen Antiphonale eröffnet er die Psalmodie der Donnerstagsvigil; 1798 seine Verwendung am Gründonnerstag hat kein Vorbild in den Traditionen der Kirche. Auf den Hilfeschrei der 3. Nokturn folgt nun Schweigen. Der Beter nimmt sein Schicksal an, das nicht der Mensch, sondern Gott „über mich“ verfügt hat. Dieses Zugeständnis verleiht seiner Resignation vor dem Unvermeidlichen etwas von Einverständnis. dL2 Was bist du so betrübt, meine Seele, und was tobst du in mir? Der zweite Laudespsalm am Gründonnerstag ist der kurze Ps 42(43) mit V. 5a als Antiphon. Er kann entweder als dritte Strophe des Klagepsalms Ps 41(42) 1799 angesehen werden oder, gemäß der hebräischen Textüberlieferung, als eigener Psalm. 1800 1792 Nach Z ENGER , AT 1082; vgl. H OSSFELD / Z ENGER , Psalmen I, 247. 1793 Z. B. Eusebius und Ambrosius; nach N ESMY , Tradition 163. 1794 Cyrill von Alexandrien und Athanasius, ebd. 1795 Eusebius und Athanasius, ebd. 1796 Ambrosius, ebd. 1797 Cyrill von Alexandrien, ebd. 164. 1798 Antiphonale I, 552f. 1799 Auch die beiden ersten Strophen schließen mit dem Text der Antiphon: Ps 41(42),6a.12a; die Themen (Sehnsucht nach der Nähe Gottes und Feindbedrängnis) bleiben dieselben. <?page no="352"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 344 Der Beter von Ps 41(42) befindet sich an einem doppelt lebensfeindlichen Ort: in der ersten Strophe „lechzt“ und „dürstet“ er in der Wüste der Gottferne - wofür er auch noch verhöhnt wird -, in der zweiten Strophe begraben ihn die „Wellen und Wogen … deiner Wasser“. 1801 In Ps 42(43) erbittet der Psalmist von Gott, seinen Rechtsstreit mit einem „treulosen Volk“ und dem „Mann des Trugs und Unrechts“ (V. 2) zu entscheiden, und danach um Weggeleit zum „heiligen Berg“ (V. 3), an dem der Beter seinem Gott endlich nahe sein darf. Die Evangelien schildern den Anfang des Leidensweges Jesu in Anspielung auf Ps 42(43),5, „meine Seele ist zu Tode betrübt“ (Mt 26,38) 1802 , weshalb er die Jünger bittet, mit ihm zu wachen und zu beten. Nach seinem Leiden ist Christus als Hohepriester „ein für alle Mal in das Heiligtum hineingegangen“ (Hebr 9,12; vgl. V. 4). In der patristischen Auslegung von Ps 42(43) dominiert die Christologisierung ,von oben‘: Christus ist das Licht und die Wahrheit und der Weg, auf dem Israel und die Heiden zum Heil gelangen werden 1803 : Er selbst wird sie zu seinem heiligen Berg, also in den Himmel, führen. 1804 Augustinus rät dem über seine Schuld betrübten und unruhigen Beter (V. 5), er solle sich als Sünder bekennen und auf Christus als seine Gerechtigkeit und Rechtsprechung hoffen, der alle durch die Sünde entstandenen Verwundungen an sich getragen hat. 1805 Die Bitte um Rechtsbeistand (V. 1) aus Ps 42(43) war in der römischen Liturgie 1806 bereits als Introitus Iudica me et discerne am Passionssonntag 1807 und Graduale Discerne am Mittwoch danach 1808 sowie in den Laudes am Mittwoch der Hohen Woche zu hören gewesen. 1809 Im Wochenpsalter des Benediktinischen Antiphonale ist Ps 42(43) Teil der dienstäglichen Mittagshore. 1810 Seine Verwendung am Gründonnerstag stellt eine Neuerung dar. Die zweite Laudesantiphon am Gründonnerstag wendet den Blick nach innen. Dort zeigt sich, wie sehr die „Seele“ unter der ruhig gewordenen, „verstummten“ Oberfläche „tobt“. Das Schweigen des Beters heißt nicht, dass er im Innersten nicht aufgewühlt wäre. Die nächste Antiphon deutet den inneren Kampf des Leidenden, der sich nach der bergenden Gegenwart Gottes sehnt, als Ringen um dessen - unergründlich anderen - Willen. dL3 Mein Vater, wenn es nicht möglich ist, dass dieser Kelch vorübergehe, so geschehe dein Wille. 1800 Nach Z ENGER , AT 1087. 1801 Aufgrund der Symbolik von Durst und Wasser, dem ambivalenten lebensrettenden und tödlichen Element, wurde Ps 41(42) in der lateinischen Tradition zu einem der wichtigsten Taufpsalmen. 1802 Vgl. Mk 14,34; Joh 12,27. 1803 Origenes, Eusebius, Cyrill von Alexandrien, Augustinus; nach N ESMY , Tradition 185. 1804 Athanasius, ebd. 1805 Ebd. 1806 V. 3 („Licht“ und „Berg“) begegnet in der byzantinischen Feier der Verklärung Christi; nach R O- SE , Psaumes 236. 1807 AMS 232 § 67a. 1808 Ebd. 235 § 69a. 1809 CAO III, 153 Nr 2252 § 70. Im Kirchweihordo begleitet die Antiphon Introibo das Emporsteigen des Bischofs zum „Altar Gottes“ (CAO III, 290 Nr. 3388 § 114; § 127). Wesentlich jünger als die Tagzeitenliturgie am Gründonnerstag, aber im zweiten Jahrtausend für die priesterliche Spiritualität prägend ist die Verwendung dieses Textes als Begleitgebet für den Gang zum Altar. 1810 Antiphonale II 94f. <?page no="353"?> 2.2 Das Benediktinische Antiphonale 345 Erstmals an diesem Morgen wird ein Psalm - Ps 115(116B) 1811 - von einer passionsbezogenen, nicht-psalmogenen Antiphon (Mt 26,42) gerahmt. V. 10, mit dem Ps 115(116B) beginnt, setzt die in Ps 114(116A) erfahrene Befreiung voraus 1812 und fasst die Erkenntnis des Beters zusammen: sein unbeirrtes Festhalten an JHWH hat ihm Rettung gebracht, während sich der Umgang mit Menschen als trügerisch erwiesen hat. Das Neue Testament rezipiert Ps 114-115(116) zur Argumentation theologisch brisanter Aussagen: 1813 In seinem ersten öffentlichen Auftreten bekennt Petrus vor seinen jüdischen Glaubensbrüdern Jesus, den Gekreuzigten, „den Gott vor euch beglaubigt“ und „von den Wehen des Todes befreit und auferweckt hat“ (Apg 2,22.24; vgl. 114[116A],3); an anderer Stelle rechtfertigt Paulus seinen Verkündigungsdienst unter Berufung auf die Leidensgemeinschaft mit Christus und zitiert wörtlich „Doch haben wir den gleichen Geist des Glaubens, von dem es in der Schrift heißt ,Ich habe geglaubt, darum habe ich geredet.‘“ (Ps 114[116B],10a in 2 Kor 4,13); im Römerbrief zieht Paulus denselben Psalm zum Aufweis der einzig verlässlichen Treue Gottes angesichts der Gebrochenheit des Menschen heran: „Gott soll sich als der Wahrhaftige erweisen, jeder Mensch aber als Lügner“ (Röm 3,4; vgl. Ps 115[116B],11): Denn selbst wer nicht arglistig betrügt, wird die Hoffnung, er könne sich selbst oder einen anderen retten, enttäuschen und als trügerische „Lüge“ entlarven müssen. Die eucharistische Deutung des „Kelch[es] des Heiles“ (V. 13) durch die paulinische und die synoptischen Abendmahlstraditionen 1814 liegt ebenso nahe wie die Assoziation mit dem heilbringenden Leidenskelch, den zu trinken „mir der Vater gegeben hat“ (Joh 18,11; vgl. Mk 14,36; Mt 26,39). Der in Erfüllung des göttlichen Willens (Hebr 10,7; vgl. V. 14) zur Selbsterniedrigung bereite Gehorsam Christi (Phil 2,7; vgl. V. 16) klingt in der Treue des in Schande und Todesnot geratenen Beters von Ps 116B(115) an, dessen im Tod vergossenes „kostbares“ Blut nicht ohne Wirkung bleibt (Hebr 12,24; vgl. V. 15); er ist auch der Gerettete, in dessen Gemeinschaft die Kirche ihr Opfer des Lobes darbringt (Hebr 13,15; Joh 17,4; vgl. V. 17f). Die patristische Auslegung von Ps 114-115(116), nimmt - ausgenommen die Interpretation des „Kelches“ als Symbol für das im Gehorsam angenommene Leiden Jesu - vor allem den glaubenden Menschen in den Blick. Der Psalmist und der in der Nachfolge Christi stehende Gläubige erfährt die „gute Pädagogik“ Gottes 1815 ; und auch die „unbesiegten Märtyrer“ 1816 , die Gottes Wohltaten mit der Ganzhingabe ihres Lebens und dem Opfer des Lobes vergelten. 1817 Die lateinische Liturgie platziert Ps 114-115(116) in der Vesper am Gründonnerstag und - mangels eines eigenen Formulars - auch in der nicht ursprünglichen Vesper am Karfreitag. 1818 1811 Das Benediktinische Antiphonale führt die Gliederung in Ps 114(116A) und Ps 115(116B) ohne Nummerierung der Verse ein. Die Darstellung behält die übliche fortlaufende Verszählung bei. 1812 Im MT schließt V. 10f im Rückblick auf die Rettungserzählung (V. 1-9) diese zugleich ab. 1813 Zur Bedeutung von Ps 114-115(116) im Alten und Neuen Testament sowie in der patristischen und in der liturgischen Rezeption siehe auch oben Kapitel 1.3.1.1 dV1. 1814 1 Kor 10-11; Mt 26,27; Lk 22,20. 1815 „Croire d’abord, einseigner ensuite, et s’humilier.“ (Origenes, zit. nach N ESMY , Tradition 640). 1816 Cassiodor, Hieronymus, ebd. 641; 643. 1817 Origenes, ebd. 642. 1818 Siehe oben Kapitel 1.3.1.1 und 1.3.1.2 dfV1. <?page no="354"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 346 Der dem Passionsevangelium Mt 26,42 entnommene Text dieser dritten Laudesantiphon am Gründonnerstag im BA wird in der römischen Liturgie am Palmsonntag zur Communio gesungen: Pater si non potest hic calix transire, nisi bibam illum: fiat voluntas tua. 1819 Der Empfang des eucharistischen Kelches verbindet sich mit dem Gedächtnis des Leidens„-kelches“ Christi. 1820 Dieselben Bezüge zwischen Antiphon und Psalm bestehen über das Stichwort „Kelch“ als Symbol des Leidens (Mt 26,42) und als Symbol des Heiles (Ps 115[116B],13). Dazu zeigt Ps 115(116B) die Ereignisse der anbrechenden Nacht an: den Verrat („die Menschen lügen alle“, V. 11), die kommenden Demütigungen („Ich war zutiefst erniedrigt“, V. 10) und den kostbaren Tod des Gottesknechtes („teuer ist in den Augen des Herrn der Tod seiner Frommen“, V. 15); aber auch die bevorstehende Osterfreude („Gelöst hast du meine Fesseln“; „vor seinem ganzen Volk“, V. 17.18). Die im 3. Laudespsalm Ps 115(116B) angekündigte Dankliturgie korrespondiert mit dem Hauptgottesdienst am Abend des Gründonnerstags: Der positiv konnotierte „Becher der Rettungen“ 1821 (V. 13) - ob nun der mit Wein gefüllte Festbecher oder eine Trankopferspende gemeint gewesen sein mag 1822 - ist hier Interpretament des Segensbechers der Eucharistie. Der heutige Kehrvers zum Psalm in der Abendmahlsmesse Ps 115(116B), „Der Kelch, den wir segnen, gibt uns Gemeinschaft im Blute Christi“ 1823 , deutet den Festbecher ausdrücklich als Communio der Feiernden, als ihre gemeinsame „Teilhabe am Blut Christi“ (1 Kor 10,16). Das Zitat aus Mt 26,42 in der morgendlichen Antiphon vergegenwärtigt den „Kelch“ in der Dimension des Leidens und Sterbens Christi. Im Wochenpsalter des BA ist Ps 114-115(116) als vierter Psalm in der zweiten Vesper vom Sonntag vorgesehen. 1824 dL4 Deine Liebe, o Gott, ist größer als der Himmel, und deine Treue reicht bis zu den Wolken. Der Text dieser vierten Laudesantiphon ist psalmogen, zitiert jedoch nicht aus dem darauf folgenden Ps 56(57), sondern aus dem literarisch eng verwandten Ps 107(108),5 1825 : Inhaltlich wie Ps 56(57),11 („Denn deine Liebe reicht bis zum Himmel und deine Treue bis zu den Wolken“), steigert Ps 107(108),5 die Aussage zu „Deine Liebe … ist größer als der Himmel.“ Ps 56(57) ist ein ,Gebetsformular‘ für viele konkrete Situationen von Anfeindung und Bedrohung“ 1826 und besteht aus der Bitte eines Einzelnen um Rettung mit Vertrauensbekenntnis (V. 2-4), einer Schilderung der Not (V. 5-7) und einem Lob- und Dankversprechen (V. 8-12). 1827 1819 AMS 250 § 73b. 1820 Dazu kann entweder Ps 21(22) - die Passion bleibt im Vordergrund - oder Ps 115(116B),10-19 (die Dankliturgie) gesungen werden: in diesem Fall tritt auch die Heilsbedeutung der Hingabe Christi stärker ins Bewusstsein; ebd. 88f § 73b. 1821 So übersetzen H OSSFELD / Z ENGER , Psalmen III, 292. 1822 Vgl. Ebd. 299. 1823 Gotteslob 176,5; vgl. Messlektionar I, 123. 1824 Antiphonale III, 259f. 1825 Ps 107(108) kompiliert Ps 56(57),8-12 mit Ps 59(60), 7-14; nach H OSSFELD / Z ENGER , Psalmen III, 162. 1826 Z ENGER , AT 1103. 1827 Ebd. <?page no="355"?> 2.2 Das Benediktinische Antiphonale 347 Im Neuen Testament erfahren weder Ps 56(57) noch Ps 107(108) eine relecture. Einige Kirchenväter hören in Ps 56(57) die Stimme des in die conditio humana entäußerten Christus: 1828 Durch Leiden und Tod gehe er der „Morgenröte“ (V. 9b), seiner Auferstehung, entgegen. 1829 Vergleichbares gilt für Ps 107(108), in dem vor allem die dem Menschen entsprechende Haltung der Bereitschaft zum Gotteslob (V. 2) anhand des exemplarischen Menschen Jesus dargelegt wird. 1830 In der römischen Liturgie finden sich zu Beginn der Quadragesima gehäuft Psalmen der Gattung „individuelle Klage“, darunter auch Ps 56(57),2.4 als Graduale Miserere mei Deus am Aschermittwoch. 1831 Darüber hinaus bleibt dieser Psalm sowohl in der lateinischen Tradition als auch in der byzantinischen Liturgie ohne nennenswerte Verwendung. 1832 Die Platzierung dieses in der Tradition eher unauffälligen Psalms 56(57) samt Antiphon am Hohen Donnerstag erscheint zunächst passend, nicht zwingend. Auch sein angestammter Ort in den Mittwoch-Laudes (3. Psalm) 1833 stellt keine besonderen inhaltlichen Bezüge her. Doch wird in der Zusammenschau der vier Antiphonen der Morgenhore eine Bewegung erkennbar: Im Wechsel der Possessivpronomina von „mein“ („meinen Mund“/ 1. Ant., „meine Seele“/ 2. Ant., „mein Vater“/ 3. Ant.) zu „dein“ („dein Wille“/ 3. Ant., „deine Liebe“/ 4. Ant.) vollzieht sich die allmähliche Hinwendung des Beters/ Christi zu seinem Gott/ Vater; als überwinde er seine Angst im Absehen von sich selbst und im Aufblick zu dem, der größer und weiter ist als „die Himmel“. Zum Canticum dBen Geopfert, weil er selbst es wollte, trug er selber unsere Sünden. Das neutestamentliche Canticum Benedictus wird am Gründonnerstag von einer Antiphon aus dem vierten Gottesknechttext begleitet, Jes 53,7.11 in der Vulgatafassung. Dieser Text stammt aus der lateinischen Tradition und steht dort an vergleichbarer Stelle: in Verbindung mit den täglichen Pss 148-150 beschließt er ebenfalls am Hohen Donnerstag die Laudespsalmodie. 1834 Nach den drängend-appellativen Texten - in allen anderen Antiphonen ruft ein namenloses Ich zu einem Du - stellt die Antiphon den ursächlichen Zusammenhang mit der Situation der Feiernden her: Der im Feierverlauf der Nacht- und Morgenhore intensiv geführte Dialog des leidenden Beters, in dem die Feiernden den jesajanischen Gottesknecht und in ihm vox Christi hören, ist aus „unserer“ Sündenschuld erwachsen und dennoch uneingeschränkt freiwillige Tat des Knechtes/ Christi, „weil er selbst es wollte“. 1835 1828 Hilarius und Eusebius sehen ihn als „l’Humble parfait“, nach N ESMY , Tradition 245. 1829 Ebd. 249. 1830 Vgl. ebd. 591. 1831 AMS 237 § 37b. 1832 Nur V. 6 aus Ps 107(108) erklingt im Prokimenon zu Himmelfahrt; nach ROSE, Psaumes 131. 1833 Antiphonale I, 544f. 1834 Oblatus est quia ipse voluit … et iniquitates eorum ipse portabit (Jes 53,7a.11c). Siehe oben Kapitel 1.3.1.1 dL5. 1835 Antiphonen in der dritten Person/ Sg. (vox ecclesiae de Christo) sind, anders als im römischen Offizium, an den untersuchten Tagen im BA sehr selten; vielmehr nimmt diese Feierordnung Christus vor allem als innigen Psalmbeter (vox Christi ad patrem) wahr. Bei den wenigen Ausnahmen handelt es sich immer um theologische, christologische oder soteriologische Gipfelaussagen an prominenter Stelle (meist zum NT-Canticum der Laudes), die entweder aus der römischen Tradition <?page no="356"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 348 Sofort darauf folgt, lateinisch oder deutsch gesungen, die Antiphon (Phil 2,8): dAnt Christus factus est pro nobis obediens usque ad mortem. Mittagshore dMh1 Siehe, ich komme! Deinen Willen zu tun, ist mir Freude, und deine Weisung ist in meinem Herzen. Der erste der drei Psalmen der Mittagshore 1836 ist Ps 39(40) mit der Antiphon V. 8a.9. Im Benediktinischen Antiphonale begegnet dieser Psalm mit derselben Antiphon üblicherweise am Donnerstag als vierter Vesperpsalm. 1837 Im Horizont der Feier des Wochenpascha steht er dort für „den Dank für die frühere Rettung, die Bereitschaft zum ,Opfer‘, das in der Erfüllung von Gottes Willen liegt, und zuletzt das Leiden unter Sündenlast und Feindbedrängnis. Die Abfolge dieser Einzelmomente entspricht zugleich den Ereignissen, die mit dem Gründonnerstag verbunden sind“. 1838 Am Gründonnerstag ist Ps 39(40) auf den Mittag vorverlegt. 1839 Die römische Tradition hatte Ps 39(40) für die Vigil am Karfreitag gewählt 1840 , dessen dortige Antiphon Confundantur (V. 15) freilich einen anderen Akzent setzt als hier (V. 8f): Die Bitte um die Entmachtung der Feinde ist durch die innige Willensübereinstimmung mit JHWH ersetzt. Die Antiphon nimmt das Motiv des Gehorsams, ein Hauptmotiv dieser Tage, aus der Morgenhore auf. Was dort von Christus ausgesagt wurde (obediens usque ad mortem 1841 ), wird nun wieder in der dialogischen Gebetssprache der bisherigen Antiphonen als vox Christi hörbar: Auch in „Leiden ohne Zahl“ (V. 13) bleibt es „mir Freude, deinen Willen zu tun“ (V. 8a). dMh2 Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir; höre, o Herr, meine Stimme. Zu den folgenden Pss 128(129) und 129(130) bildet V. 2 aus letzterem Psalm die gemeinsame Antiphon. Beide Psalmen sind Wallfahrtslieder. Gattungstypisch ist darin häufig die kollektive Stimme „Israels“ zu hören (Ps 129[128]); oder aber ein einzelner Beter weitet, wie in Ps 129(130), das persönliche Gebet (V. 1-6) auf die Gemeinschaft aus (V. 7f), und fordert dazu auf, es ihm gleichzutun. 1842 Das Neue Testament bezieht sich weder ausdrücklich auf einen dieser Texte noch zitiert es daraus. Dennoch klingen zwei in Ps 129(130),7f zentrale theologische Aussagen in den Evangelien sowie im Römerbrief an: Die Sündenvergebung allein durch Gott („bei dir“, V. 4) verwenden die Schriftgelehrten gegen Jesus, der einen Gelähmten mit den Worten heilt: „Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.“ (Mk 2,9) Schon vor der Geburt Jesu verkündigt ein Engel Josef im Traum die für Israel erhoffte umfassende Erlösung; deshalb solle er dem Kind den Namen Jesus geben, denn es werde sein Volk von seinen Sünden retten (Mt 1,21; vgl. Tit 2,14); Paulus spricht von übernommen (Jes 53,7.11, Sach 12,10 und Röm 8,32) oder in deren Stil neu formuliert wurden (Joh 3,16; 13,31f und Röm 6,4). 1836 Antiphonale II, 38-42 (= BA Stundengebet 25-29). 1837 Antiphonale III, 321-323. 1838 B RAULIK , Feier 195. 1839 Die Vesper entfällt an diesem Tag. 1840 In der lateinischen Tradition steht dieser Psalm am Karfreitag. Siehe oben Kapitel 1.3.1.2 f2N2. 1841 Phil 2,8. 1842 Nach Z ENGER , AT 1190-1191. <?page no="357"?> 2.2 Das Benediktinische Antiphonale 349 der Rechtfertigung aller Sünder aus der Gnade Gottes „durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist“ (Röm 3,24; vgl. Röm 5). Patristische Auslegungen von Ps 128(129) identifizieren die Kirche mit dem „von Jugend auf“ bedrängten Israel (V. 1), ohne das erstberufene Volk zu enteignen: Vielmehr bestehe in den Heiligen, die Unrecht erlitten haben (wie Abel, Enoch, Noah, Abraham, das ganze Volk Israel und Mose), die Kirche schon seit langem auf Erden. 1843 Israel solle nicht verzweifeln, denn Gott lasse nicht zu, dass das Volk seiner Bezeugung („peuple témoin“) jemals zerstört würde; 1844 Israels Zeugnis sei den Christen zur Mahnung, Christus aber werde den Sieg davontragen. 1845 Der „gepflügte Rücken“ wird passionstypologisch auf die Geißelung Jesu gedeutet 1846 ; zugleich bezeichne er „Arglist, Betrug und Treulosigkeit“, die dem Erlöser „hinterrücks“, durch Freund und Feind, zugefügt wurde; 1847 für die Gläubigen aber bedeute er, zu „vergessen, was hinter uns liegt“ (Phil 3,13). 1848 V. 4b 1849 lesen manche Väter als Gericht an jenen „Halsstarrigen“ (cervices) 1850 , die Christus unter sein sanftes Joch bringe, damit aus den Verfolgern Prediger würden 1851 ; andere übersetzen mit „Fesseln“ (vincula) oder „Ketten“ (catenas). 1852 „Zion“/ Israel ist für die Kirchenväter ein Bild für die Kirche 1853 ; Zion als heiliger Berg und Ort des Tempels ist Typos für Christus, der selbst Ort der Gegenwart und Einwohnung Gottes ist (vgl. Hebr 12,22). 1854 Die Preisgabe des Heiligtums in die Zerstörung meint in christlicher relecture den Kreuzestod Christi und begründet seine paschatheologische Verwendung am Gründonnerstag. 1855 Ps 129(130) gilt den Kirchenvätern als Ruf „aus der Tiefe“ des Herzens: Märtyrer 1856 und Gerechte 1857 , die Seelen der Betrübten 1858 und die Sünder rufen mit diesen Worten; der weinende Petrus, nachdem er Jesus verleugnet hat; der Zöllner, der beim Gebet im Tempel nicht aufzusehen wagt; und der vom Fisch verschluckte Jona - sie alle schreien aus der Tiefe ihrer Herzensnot. 1859 Schließlich verkündigt der Psalm Christus, der selbst „die Vergebung“ Gottes ist (V. 4; vgl. 1 Joh 2,2). 1860 1843 Augustinus; nach N ESMY , Tradition 710. 1844 Origenes, Chrysostomus, ebd. 710f. 1845 Athanasius, ebd. 1846 Origenes, Chrysostomus, ebd. 1847 Dieselben, ebd. 1848 Hilarius, ebd. 1849 Die EÜ und die Übersetzung im Benediktinischen Antiphonale sprechen an dieser Stelle vom Zerschlagen der „Stricke“; in der Vulgata: cervices. 1850 „Nuques raides“ (Cassiodor und Hilarius, zit. nach N ESMY , Tradition 712). 1851 Cassiodor, ebd. 1852 Hieronymus, ebd. 1853 Ders., ebd. 1854 Hilarius, ebd. 1855 Vgl. die Hermeneutik von Ps 73(74) am Gründonnerstag in der Tradition. Siehe oben Kapitel 1.3.1.1. 1856 Athanasius, N ESMY , Tradition 714. 1857 Theodoret, ebd. 1858 Chrysostomus, ebd. 1859 Cassiodor, ebd. 1860 In dieser Auslegung von V. 4 sind sich die Väter einig; vgl. Origenes, Athanasius, Chrysostomus, Cassiodor, Hilarius, Hieronymus, Augustinus, Gregor d. Gr., ebd. <?page no="358"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 350 Es gehe darum, selbst Jakob/ „Israel“ zu werden, der Gott geschaut hat (Gen 32,29.31); und wie er das Geschöpf zu überschreiten, und Stufe um Stufe emporzusteigen in der klaren und einfachen Erkenntnis dessen, der alles erschaffen hat. 1861 Einen besonderen Ort in der römischen Liturgie 1862 hatte Ps 128(129) im Tractus Saepe (V. 1) am Passionssonntag. 1863 Ps 129(130) - einer der sieben altkirchlichen Bußpsalmen 1864 - wurde in der römischen Messpsalmodie als Tractus De profundis (V. 1) am Sonntag Septuagesima 1865 sowie im Offizium für die Verstorbenen 1866 gesungen. Die Hoffnung auf Erbarmen (V. 7) bestimmte dessen Gebrauch als Vesperantiphon am Weihnachtstag 1867 ebenso wie in der Liturgie der Büßerrekonziliation am Gründonnerstag. 1868 Im BA stehen die Psalmen 128(129) und 129(130) auch in der Wochenordnung in der Mittagshore am Donnerstag. 1869 In Kombination mit den für Gründonnerstag eigens zusammengestellten Psalmen und Antiphonen bereiten sie das Kommende vor: Der Tag geht zur Neige, der Sturz des gehorsamen und vertrauensvollen Beters/ Christi in die Tiefe der hereinbrechenden Nacht zeichnet sich ab. Vesper Das Benediktinische Antiphonale kennt am Hohen Donnerstag keine Vesper. 1870 Komplet dK Mit Leid ist meine Seele gesättigt, dem Totenreich ist mein Leben nahe. Anders als in der mittelalterlichen Tradition, die an diesem Tag die Komplet 1871 in ihrer üblichen Form, aber in Stille vorsieht, 1872 schließt der Tag im BA mit einer außergewöhnlichen Klage. Ps 87(88) gehört zur Gattung der individuellen Klagepsalmen, unterscheidet sich aber von den meisten dadurch, dass er nicht zwischen seelischem Schmerz, handfester Bedrohung durch die Feinde und der theologischen Dimension des Leidens differenziert, sondern „Feind-Klage und Gott-Klage sind hier so verschmolzen, dass Gott der Feind des Beters ist, dessen Treiben beklagt wird, während andere Feinde fehlen.“ 1873 Außerdem formuliert der Text nur eine einzige schwache Bitte (V. 3), während das übliche Dankversprechen oder ein Ausdruck des Vertrauens oder gar der Gewissheit, erhört zu werden, fehlen. Im Wochenpsalter gehört Psalm 87(88) in die 1. Nokturn am Freitag 1874 und damit zur Feier des Wochenpascha. 1861 Gregor d. Gr., ebd. 718. 1862 Gleichfalls passionstypologisch ist seine Verwendung in der Mailänder Liturgie am Karsamstag; nach R OSE , Psaumes 256. 1863 AMS 244 § 67a. 1864 Ps 6; Ps 31(32); Ps 37(38); Ps 50(51); Ps 101(102); Ps 129(130); Ps 142(143). 1865 AMS 244 § 34. 1866 CAO III, 477 Nr. 4899 § 127; § 146. 1867 Ebd. 56 Nr. 1466 § 19. 1868 Pontificale Romanum 1595/ 96, 550-568 (hier 551) (MLCT 1, 555-573 S ODI / T RIACCA , hier 556). 1869 Diese umfasst fünf Psalmen, darunter einen Abschnitt aus dem langen Gesetzespsalm 118(119)*; Pss 54(55), 128(129), 129(130), 130(131). 1870 Das entspricht der ältesten Praxis in den Ordines Romani; auch die liturgia horarum sieht heute die Feier der Vesper nur für Personen vor, die nicht an der Feier vom Letzten Abendmahl teilnehmen. 1871 Antiphonale III, 122-123 (= BA Stundengebet 29-30). 1872 Siehe oben Kapitel 1.3.1.1. 1873 Z ENGER , AT 1137. 1874 Antiphonale I, 578f. <?page no="359"?> 2.2 Das Benediktinische Antiphonale 351 Die liturgische Tradition hat Ps 87(88) am Karfreitag und Karsamstag zur Deutung der totalen Verlassenheit des Gekreuzigten und seines Abstiegs zu den Toten verwendet. 1875 Die Vorverlegung von Ps 87(88) mit V. 4 als Antiphon in die Nacht des Hohen Donnerstags - das Abschiedsmahl ist vorüber, die Nacht des Verrats angebrochen, die Jünger schlafen - macht die ausgesetzte Beziehung Jesu zu seinem Vater zum eigentlichen Ereignis. Bevor noch die Feinde Hand an ihn legen, gefährden die nächtliche Einsamkeit und Antwortlosigkeit den Beter, in Verzweiflung und Gottferne zu stürzen. War seine Seele zuvor betrübt und aufgewühlt gewesen, 1876 so ist sie jetzt „mit Leid gesättigt“ und er selbst „dem Totenreich nahe.“ Die kosmische Nacht, in die die Kirche mit Christus betend eintaucht, gleicht der Dunkelheit, die jede todgeweihte Existenz umfängt. Dem Menschensohn ist sie zur Gewissheit geworden. 2.2.1.2 Karfreitag Vigil Erste Nokturn f1N Herr, Herr, wie lange noch? Entreiße den Löwen mein Leben! Die Psalmodie der Nacht- und Morgenhore 1877 des Karfreitags eröffnet das individuelle Klagegebet Ps 34(35). In den mit zahlreichen Bildern aus der Kriegs- und Jagdmetaphorik angereicherten drei Redegängen (V. 1-10.11-18.19-28) bringt der Psalmist seine Bedrängnis vor, hauptsächlich die „Rechtsnot von Verleumdung und Falschanklage bei Gericht“ 1878 , und schließt jeweils mit einem Lobversprechen. Die Antiphon macht V. 17 zum Leitgedanken der Klage: Wird Gott denn so lange zuwarten, bis die Gegner den Armen, wie wilde Tiere ihre Beute, zerrissen haben? Die Abschiedsreden Jesu bringen Ps 34(35),19 als Erfüllungszitat für den grundlosen Hass der Welt auf Christus und die Seinen (Joh 15,25; vgl. Ps 68[69],5). Auch eine zweite neutestamentliche Anspielung auf Ps 34(35) lässt sich in einen engen Zusammenhang mit Ps 68(69) bringen: 1879 Das vermeintlich gottgefällige Handeln des „verstockten“ Israel werde ihm selbst und den Gegnern „zur Schlinge und zur Falle“ (Röm 11,9; vgl. V. 8 und Ps 69[68],24). Weitere Bezüge sind möglich, aber wenig spezifisch: der Jubel „meiner Seele“ über Rettung und Retter (V. 9; vgl. Lk 1,46); die Anrede „mein Gott und mein Herr“, mit der Thomas den Auferstandenen bekennt (V. 9; vgl. Joh 20,28); die „zähneknirschende“ Empörung über den Psalmbeter, die auch die Rede des Stephanus bei seinen Zuhörern hervorruft (V. 16; Apg 7,54). Den Kirchenvätern gilt Ps 34(35) gemeinhin als Prophetie der Leiden Christi, der darin seine Verfolger in ihrem üblen Treiben dem Gericht des Vaters überantwortet. 1880 Ferner beobachten sie Analogien zu Ps 21(22), z. B. das Motiv der „Löwen“ (V. 17; vgl. Ps 21[22],14.22) oder das Versprechen, Gott „in großer Gemeinde“ zu preisen (V. 18; vgl. Ps 21[22],26); 1881 insbesondere V. 17 lasse Staunen über die Langmut Gottes und dieselbe Ungeduld erkennen, wie die Bitte Jesu in den Ab- 1875 Siehe oben Kapitel 1.3.1.2 f3N2 und 1.3.1.3 s3N3. 1876 Siehe oben dL2. 1877 Antiphonale I, 205-217; 217-224 (= BA Stundengebet 31-44; 44-52). 1878 Z ENGER , AT 1075. 1879 Die Motivwelt des in der römischen Tradition ersten Vigilpsalms am Hohen Donnerstag ist der von Ps 34(35) eng verwandt. Siehe oben Kapitel 1.3.1.1 d1N1. 1880 Rupert v. Deutz; nach N ESMY , Tradition 143. 1881 Eusebius, ebd. 145. <?page no="360"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 352 schiedsreden „Vater, verherrliche mich jetzt bei dir …“ (V. 17; vgl. Joh 17,5). 1882 Im Psalm klage der Sohn Gottes; doch beklage auch der Vater sein Land und Erbteil, das sich „gegen mich [wandte] wie ein Löwe im Wald“ (V. 17; vgl. Jer 12,8). 1883 Im christologisch ,von oben‘ interpretierten Vers (V. 27) sei Christus selbst die von Gott ersehnte („meine“ 1884 ) Gerechtigkeit. 1885 In der römischen Liturgie 1886 schöpfen Introitus Iudica Domine nocentes (V. 1- 3) 1887 , Graduale Exsurge Domine et intende (V. 23.3) 1888 und Communio Erubescant et conturbentur (V. 26) 1889 am Montag der Hohen Woche aus Ps 34(35); außerdem das Graduale Ego autem (V. 13.1.2) 1890 am Dienstag. Im BA ist Ps 34(35) üblicherweise in der Mittagshore am Samstag zu singen 1891 - kein prominenter Ort, aber stimmig im Rahmen der Feier des Wochenpascha. Die Nacht der Depression ist durchschritten, Jesus - verraten, verhaftet, verleugnet, verhört - ein Todeskandidat. Physisch und psychisch in die Enge getrieben, entringt sich dem Verfolgten, der keine Worte mehr hatte („deine Schrecken machen mich stumm“ 1892 Ps 87[88],17), jetzt ein neuerlicher Hilferuf, mehr noch ein ungeduldiger Appell an Gott, endlich einzugreifen und Recht zu schaffen. Das Rettungshandeln Gottes beschwört auch der Versikel (V. 23): V Steh auf, o Herr, tritt ein für mein Recht. R Mein Gott, führe du meine Sache. Zweite Nokturn f2N Ich halte Ausschau nach einem, der mit mir fühlt, nach einem, der tröstet - und finde keinen. In der 2. Nokturn des Karfreitags folgt nun Ps 68(69). Sowohl das Neue Testament als auch die Väter haben ihn als Prophetie des Leidens Christi verstanden. 1893 Das BA verlegt Ps 68(69) an den vorösterlichen Tagen an einen anderen liturgischen Ort als in der Tradition vorgesehen und formuliert, angelehnt an V. 21 1894 („Ich hoffte auf Mitleid - doch vergebens, auf Tröster, doch fand ich keinen“), eine neue Antiphon. Das liturgische „Heute“ verlangt eine Aktualisierung und setzt den Vers ins Präsens. Das verleiht dem Text einen verletzlichen Klang und macht seine Verschie- 1882 Ders., ebd. 1883 Athanasius, ebd. 1884 Auf Textbasis der Vulgata: exultent et laetentur qui volunt iustitiam meam … qui volunt pacem servi eius. In der Version der EÜ und des BA („… die wünschen, dass ich im Recht bin … er will das Heil seines Knechtes“) ist dieser christologische Bezug kaum herstellbar. 1885 Cyrill von Alexandrien; nach N ESMY , Tradition 145. 1886 Auch nichtrömische Liturgien verwenden diesen Psalm im Kontext des Passionsgedächtnisses am Karfreitag: die Jerusalemer Liturgie am Nachmittag, die Kopten am Morgen, und die byzantinische Liturgie in der Terz sowie als zweites Prokimenon in der Vesper; nach R OSE , Psaumes 110f. 1887 AMS 232 § 74. 1888 Ebd. 236 § 74. 1889 Ebd. 249 § 74. 1890 Ebd. 235 § 75. 1891 Antiphonale II, 122-124. 1892 In der EÜ: „vernichten mich“. 1893 Das hat sich in der liturgischen Verwendung niedergeschlagen: Die römische Liturgie hat zu diesem Psalm, der als Teil der kurrenten per annum-Psalmodie am Donnerstagmorgen noch keine Besonderheit darstellt, eine eigene Antiphon gewählt: Zelus domus tuus (V. 10) eröffnet das Offizium am Gründonnerstag. Damit ist ein ebenso diskreter wie klarer Hinweis auf die kommende Passion gegeben. Siehe oben Kapitel 1.3.1.1 d1N1. 1894 Bisher V. 10; wie Anm. 1893. <?page no="361"?> 2.2 Das Benediktinische Antiphonale 353 bung in die 2. Nokturn des Karfreitags nachvollziehbar: Der angefeindete unglückliche Beter reklamiert nicht mehr das Verdienst seines Eifers für Gott (V. 10), sondern ist nur noch ein verlassener, erschöpfter Mensch. Es geht nicht mehr um die Anerkennung hoher Ziele oder den Einsatz für sie, sondern um bloße Mitmenschlichkeit, um jenes Mitgefühl, das der Beter/ Jesus Zeit seines Lebens anderen entgegengebracht hatte. Man fühlt sich an die Frage Jesu nach der Heilung der zehn Aussätzigen erinnert: „Ist keiner umgekehrt, um Gott zu ehren, außer diesem Fremden? “ (Lk 17,17) - „… und finde keinen.“ Trauer und Enttäuschung sprechen aus diesen Worten. Ps 68(69) steht auch im Wochenpsalter in der Freitagsvigil (Wochenpascha). 1895 Nach der Zuspitzung des Textes auf die Verlassenheit des Beters in der Wiederholung der Antiphon erinnert der Versikel (V. 8) - ähnlich wie die frühere Antiphon V. 10 - doch noch einmal daran, wie sehr er sich mit seinem Gott identifiziert und sich für das Recht JHWHs stark gemacht hatte: 1896 V Herr, deinetwegen trage ich Schmach. R Und Schande bedeckt mein Antlitz. Dritte Nokturn f3N Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Als letzter Vigilpsalm an diesem Morgen erklingt mit Ps 21(22) und V. 2 als Antiphon der Karfreitagspsalm schlechthin. Im Wochenpsalter steht er ebenfalls am Freitag, aber in der Mittagshore. 1897 Die den Feiernden vertrauten Sterbeworte Christi (Mk 15,34; Mt 27,46) prägen in der römischen Tradition v. a. den Passionssonntag sowie Palmsonntag und Karfreitag. 1898 Als Nokturnpsalm hatte Ps 21(22) bis zur Liturgiereform V. 19 als Antiphon bei sich, die den Gekreuzigten - schriftgemäß - in der aller Herrlichkeit und jeder Menschenwürde „entkleideten“ Entäußerung zeigt. 1899 Der Schrei der Gottverlassenheit „Mein Gott, mein Gott …“ erklingt als Antiphon zum dritten Nokturnpsalm unerwartet früh. Er steht nicht erst am Ende der sich über Stunden hinziehenden Tragödie, sondern stellt die verzweifelnde Frage - warum? wozu? - schonungslos früh. Auf die Bitte um Rettung und die traurige Enttäuschung der ersten zwei Antiphonen folgt jetzt die drängendste Frage nach dem Plan Gottes. Trotz der in V. 2 drohenden Gottferne endet Ps 21(22) nicht so, wie er beginnt. Rezitiert man ihn bis zum Ende, kommt schon am Karfreitagmorgen Jesu Tod als jene „die Enden der Erde“ umgreifende Heilstat Gottes vor Augen, von der „man dem kommenden Geschlecht erzählen [wird] …: Er hat s getan“ (V. 32). Sowohl die abschließende Wiederholung der Antiphon (V. 2) als auch der darauffolgende Versikel (V. 12) halten indessen wach, dass sich diese Hoffnung erst noch bewähren muss: V Mein Gott, bleib mir nicht fern. R Die Not ist nahe und niemand kann helfen. 1895 Antiphonale I, 580-582. 1896 Im Versikel der vorausgehenden Nokturn war umgekehrt die Identifikation Gottes mit seinem Frommen erbeten worden: Gott möge sich den Rechtsfall des Beters zum Anliegen machen. 1897 Antiphonale II, 114-116. 1898 Siehe oben Kapitel 1.3.1.2. 1899 Ebd. f1N2. <?page no="362"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 354 Laudes Zur Psalmodie fL1 Seinen Sohn, seinen Einzigen, hat Gott nicht geschont; sondern für uns alle hat er ihn hingegeben. Die Eröffnung der Laudes 1900 folgt der älteren Tradition: 1901 Das neutestamentliche Zitat aus dem Römerbrief (Röm 8,32) steht damals wie heute in Verbindung mit Ps 50(51) und enthält die soteriologische Kurzformel des ganzen Paschamysteriums: Gott für uns. Der Bußpsalm 50(51) hat seinen angestammten Ort in den Laudes - früher täglich, im BA heute am Samstag 1902 - behalten. Nicht nur sprachlich, auch theologisch stellt diese Antiphon in der bisherigen Feier eine Zäsur dar. 1903 Erneut tritt die betende Kirche aus ihrer Rolle als teilnehmende, aber nicht selbst handlungsfähige Ohrenzeugin der dramatischen Zwiesprache Jesu mit dem Vater heraus und formuliert an dieser Stelle ihr zweifaches Bekenntnis: das zur eigenen menschlichen Schuld und das zur rettenden Selbsthingabe Gottes. fL2 Wie ein Lamm, das man zur Schlachtbank führt, ist der Herr geworden: er verstummte und tat seinen Mund nicht auf. Die zweite Laudesantiphon am Karfreitag greift ebenfalls auf den Bestand der lateinischen Tradition zurück, hier auf das prominente Zitat aus dem vierten Gottesknechttext (Jes 53,7), das schon in der Apostelgeschichte christologisch rezipiert wird (Apg 8,32). Während das römische Offizium dieses Prophetenwort mit dem üblichen Laudespsalm 89(90) rezitierte, 1904 rahmt es im BA den Bußpsalm Ps 37(38), der in der Tradition zur Vigilpsalmodie des Karfreitags gehört. 1905 Wohl auch vor diesem Hintergrund hat das BA Ps 37(38) ebenfalls in der Freitagsvigil platziert. 1906 In beiden Psalmen ist vom „Zorn“ Gottes über „unsre“ und „meine“ Sündenschuld die Rede (Ps 89[90],7-11; Ps 37[38],2-6.19) - dies ist die Last, die der Gottesknecht zu tragen hat. Ein Nachklang aus den Laudes vom Vortag wird hörbar: Bereits am Gründonnerstagmorgen hatte der Beter von Ps 38(39) seine Zustimmung zu all dem gegeben, was da kommen würde: „Ich bin verstummt, tu meinen Mund nicht auf; denn du hast alles über mich verfügt.“ (V. 10) 1907 ; wie mühsam er sich diese Einwilligung abringen werden müsse, ging aus dem Folgevers hervor: „Nimm weg von mir deine Plage! Ich vergehe unter dem Angriff deiner Hand.“ (Ps 38[39],11) Das am Karfreitag in der Gottesknecht-Antiphon „Wie ein Lamm …“ (Jes 53,7) wiederkehrende Motiv „verstummen/ den Mund nicht auftun“ bindet Ps 37(38) an Ps 38(39),10 vom Vortag zurück und deutet das Einverständnis klarer. Jetzt zeigt sich das Ausmaß der Bereitschaft für den göttlichen Heilswillen, die am Gründonnerstag mehrfach zum Ausdruck gekommen 1900 Antiphonale I, 217-224 (= BA Stundengebet 44-52). 1901 Siehe oben Kapitel 1.3.1.2 fL1. 1902 Antiphonale I, 619f. 1903 Vgl. die Antiphon aus Jes 53 zum Canticum in den Laudes am Gründonnerstag dC. 1904 Siehe oben Kapitel 1.3.1.1 dL2. 1905 Siehe oben Kapitel 1.3.1.2 f2N1. 1906 Antiphonale I, 583f. 1907 Diesen traditionell unauffälligen Ps 38(39) hat das BA den Kartagen neu zugeordnet. Siehe oben dL1. <?page no="363"?> 2.2 Das Benediktinische Antiphonale 355 war: 1908 Nicht irgendein Mensch erwartet seiner Sünden wegen das von Gott verfügte Ende; es ist „das Lamm“, das sich mit der Welt identifiziert und unter ihrer Sündenlast (= „Meine Sünden wachsen mir über den Kopf“, V. 5) verstummt ist. Sein Schweigen aber ist nicht dumpfe Ergebung. In Ps 37(38) ringt es mit Gott um sein Leben: „züchtige mich nicht“ (V. 2) und „in der Qual meines Herzens brülle ich auf“ (V. 9) 1909 , denn „ich bin in Angst … Eile mir zu Hilfe, Herr du mein Heil.“ (V. 19.23) fL3 Bewahre mich vor den Händen der Frevler! Rette mich, o Herr, vor dem Mann der Gewalt! Ps 139(140), traditioneller Vesperpsalm am Donnerstag (benediktinisch 1910 ) oder Freitag (römisch) 1911 , kommt im vorösterlichen Offizium auch an den Kartagen zum Einsatz. 1912 Im Füglister-Schema hat Ps 139(140) seinen fixen Ort in der Vesper am Dienstag. 1913 Im vorhergehenden Ps 37(38) hatte sich der Beter mit der schuldig gewordenen Menschheit solidarisiert. An seine letzte Bitte „Eile mir zu Hilfe“ (V. 23) schließt nun Ps 139(140) an. Die psalmogene Antiphon (V. 5 1914 ) benennt - nach Krankheit und sozialer Ächtung - eine neue Dimension der Sünde: die Gewaltbereitschaft der Mitmenschen. Gegen einen Unschuldigen gerichtet, ist sie Frevel an Gott, der deshalb handeln muss (vgl. V. 9.13): War Gott bisher nahezu allein Handelnder - selbst als Urheber des von ihm verhängten Unheils -, treten in der Antiphon „der Frevler“ und der „Mann der Gewalt“ (V. 5; vgl. V. 2.12) ausdrücklich als Täter auf den Plan. Sein/ ihr „hochmütiges“, „überhebliches“ Tun (vgl. V. 6.9) bestimmt das Geschehen. Umso drängender wird der Appell des „Armen und Elenden“, des „Gerechten und Redlichen“ (vgl. V. 13f) um Rettung. fL4 Ihm vertraut mein Herz, er ist mein Helfer. Darum jubelt mein Herz; mit meinem Lied will ich ihm danken. Die Verwendung von Ps 27(28) samt seiner Antiphon V. 7c als letztem Laudespsalm am Karfreitag ist eine in der Tradition vorbildlose Neuerung des BA, das ihn im Wochenpsalter der Vesper am Montag zuordnet. 1915 Als Hilferuf in Todesnot gehört Ps 27(28) zur Gattung der Klage- und Bittgebete eines Einzelnen und enthält die üblichen Elemente Anrufung, Schilderung der Not, Bitten um das Ende der Not, Lob und Dankversprechen. Das „Sich-Hineinbeten in die Erhörungsgewissheit“, also das Vertrauen des Beters, ist der Anfang seiner Rettung. 1916 Das Neue Testament enthält einzelne Anklänge an die Vergeltungsthematik von Ps 27(28), u. a. in 2 Tim 4,14; Offb 20,12; 22,12, bezieht sich aber nirgends ausdrücklich auf diesen Psalm oder einen seiner Verse. 1908 Siehe oben dC und dMh1. 1909 Den inneren Kampf spiegelt auch die zweite Laudesantiphon am Gründonnerstag wider „Was bist du so betrübt, meine Seele, und was tobst du in mir? “ Siehe oben dL2. 1910 RB 18,12 (104f S TEIDLE ). 1911 Nach P ASCHER , Stundengebet 91. 1912 Siehe oben Kapitel 1.3.1.1 dV3. 1913 Antiphonale III, 289f. 1914 Die Tradition verwendet nur V. 5b als Antiphon. Siehe oben Anm. 1912. 1915 Antiphonale III, 278. 1916 Nach Z ENGER , AT 1067. <?page no="364"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 356 Der deutschen Textfassung von V. 7c „darum jubelt mein Herz, mit meinem Lied will ich ihm danken“ liegt der Masoretentext zugrunde. Der griechischen Übersetzung der LXX zufolge müsste V. 7c(d) lauten: „mein Fleisch wird wieder erblühen und willig werde ich ihn preisen“ - für Hieronymus (et refloruit caro mea) 1917 ein Bild der Auferstehung Christi. 1918 Ps 27(28) knüpft mehrfach an die bisherigen Themen an und führt sie - durch die Wahl von V. 7 als Antiphon - zuversichtlich weiter: Obwohl die mehrfach erbetene Vergeltung an den Feinden („Vergilt ihnen … wende ihr Tun zurück auf sie selber“, V. 4) aussteht, ist Hilfe nahe; Jubel und Dank kündigen sich an. Auch das Stichwort „stumm“ aus der zweiten Laudesantiphon kehrt wieder. Allerdings ist diesmal nicht der Beter verstummt (er ruft! ), sondern scheinbar sein Helfer, der doch nicht weiter „schweigen“ darf: „Bleibst du mir stumm, gleiche ich denen, die hinuntersteigen zur Grube.“ (V. 1) Ohne Entsprechung in den liturgischen Traditionen beschließt Ps 27(28) die Morgenhore des Karfreitags überraschend optimistisch. Außer der zuversichtlichen Antiphon trägt dazu auch der aus dem sonntäglichen Te deum 1919 vertraute Vers „Rette dein Volk und segne dein Erbe! Weide und trage sie in Ewigkeit! “ (V. 9) bei. Er verleiht diesem Psalm - vox Christi im Abstieg „zur Grube“ (V. 1) - eine ungewöhnlich hymnische Klangfarbe. Zum Canticum fBen Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn dahingab; damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben. Die zweite und letzte neutestamentliche Antiphon des Tages zitiert - ebenfalls ohne Vorbild in der Tradition - Joh 3,16. Damit schlägt sie den Bogen zurück zur ersten Laudesantiphon, die den Willen des Vaters bereits ähnlich formuliert: „Seinen Sohn, seinen Einzigen, hat Gott nicht geschont; sondern für uns alle hat er ihn hingegeben.“ (Röm 8,32) Nun wird offenbar, dass diese Hingabe in der Liebe zur Welt gründet; zugleich, wohin jenes „für uns“ führen wird: „damit alle, die glauben, nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben.“ (Joh 3,16) Der göttliche Heilswille bedarf einer Zustimmung, die, obwohl im Leiden schwer geprüft, nicht zurückgenommen wird. Das Ringen des Sohnes um den Gehorsam durchzieht den Gründonnerstag und Karfreitag: Sein erklärtes Einverständnis, die auferlegte Last zu tragen („weil er selbst es wollte, trug er selber unsere Sünden“, dBen), mag in der Nacht der Anfechtung und Entfremdung vom Vater (Ps 87[88], dK) fraglich geworden sein. Es sind aber sowohl das Schweigen des Leidenden (fL2) als auch seine Zuversicht (fL4) vom Heilswillen Gottes für ihn, für uns und für alle, die an den „einzigen Sohn“ glauben, umfangen (fL1, fBen). Darauf folgt sofort, lateinisch oder deutsch gesungen, die erweiterte Antiphon (Phil 2,8): fAnt Christus factus est pro nobis obediens usque ad mortem, mortem autem crucis. 1917 Vulgata (ps. iuxta LXX); vgl. Vulgata (ps. iuxta hebr.): gavisum est cor meum et in cantico meo confitebor illi. 1918 Nach N ESMY , Tradition 124. 1919 Antiphonale I, 434-437. <?page no="365"?> 2.2 Das Benediktinische Antiphonale 357 Mittagshore fMh1 Wie lange noch, o Herr? Willst du für immer mich vergessen? Wie lange noch verbirgst du mir dein Antlitz? Drei kurze Psalmen in kanonischer Reihenfolge - Pss 10(11), 11(12) und 12(13) - stehen im Benediktinischen Antiphonale an jedem Freitag in der Mittagshore. 1920 Am Karfreitag 1921 fällt sie in die Zeit der Kreuzigung und der letzten qualvollen Stunden im Leben Jesu. Die gemeinsame Antiphon stammt aus Ps 12(13),1. Diese drei Psalmen gehören zur vermutlich spätexilisch redigierten Gruppe der „armentheologischen“ Psalmen (Pss 3-7.8.11-14), die angesichts gesellschaftlicher und individueller Gewalt gegen die Schwachen die Hoffnung auf die göttliche Gerechtigkeit teilen: Sie wird denen das Gericht bringen, die andere systematisch ihrer Rechte berauben, den ohnmächtigen Opfern aber Rettung. 1922 Das Neue Testament rezipiert oder zitiert diese Psalmen nicht ausdrücklich, doch enthält es Anklänge an die Motive „Thron“ und „Gericht“ aus Ps 10(11): Das Schwurverbot „beim Himmel“ begründet Jesus in der Bergpredigt damit, dass der Himmel der „Thron Gottes“ sei (Mt 5,34; vgl. V. 4). In der apokalyptischen Vision vom endzeitlichen Gericht werden vor dem, der „auf dem Thron saß“, die Frevler und Gefolgsleute des „Tieres“ mit „Feuer und Schwefel gequält“ (Offb 4,2; 14,10; vgl. V. 4.6). Im Osterfestkreis der römischen Liturgie erklingt Ps 10(11) mit der Antiphon Dominus in templo sancto tuo (V. 5) in der Vigil zu Christi Himmelfahrt; 1923 die bittendanklagende Frage aus Ps 12(13),3-6 im Responsorium Usquequoque exaltabitur am Passionssonntag. 1924 Der Beter der drei Psalmen, hier vox Christi, durchlebt ein breites Spektrum von Emotionen: Er hält seine Hoffnung auf den „prüfenden und gerechten Herrn“ gerichtet (vgl. Ps 10[11],5.7), der sein Eingreifen ankündigt („Jetzt stehe ich auf“ - vox Dei - Ps 11[12],6) und bekräftigt seine Zuversicht, „möge auch Gemeinheit obenauf sein bei den Menschen.“ (V. 9) Er erfährt sich angefochten („wie lange noch? “ (Ps 12[13], 2) und ringt sich zur Heilsgewissheit durch, „weil er mir Gutes getan hat“ (V. 6). fMh2 Mein Gott, ich rufe, doch du schweigst. Meine Rettung bleibt fern, so laut ich auch schreie. Wie im Wochenpsalter am Freitag 1925 bildet Ps 21(22) auch am Karfreitag den anderen Teil der Mittagshore, wird hier aber den Pss 10(11), 11(12) und 12(13) nachgestellt. So kann Ps 21(22) an diesem Tag zur Todesstunde Jesu (Non) gebetet werden, während er an gewöhnlichen Freitagen zur Sext gehört und die Pss 10(11), 11(12) und 12(13) zur Non. 1920 Antiphonale II, 118-129. Ihre Verwendung am Karfreitag wirkt auf die Feier des Wochenpascha zurück. 1921 Antiphonale II, 42-47 (= BA Stundengebet 53-57). 1922 Nach H OSSFELD / Z ENGER , Psalmen I, 89. 1923 CAO III, 172 Nr. 2410 § 93; vereinzelt auch zu Kirchweih § 114 (H); § 127 (V, R). Die byzantinische Liturgie singt Ps 10(11) mit Blick auf den Tempelgang am 2. Februar. Das prophetische Wort nunc exsurgam aus Ps 11(12),6 wird sowohl im Mailänder Karsamstagsoffizium als auch in der orthodoxen und in der koptischen Auferstehungsliturgie verwendet (nach R OSE , Psaumes 162; 118; 124). 1924 CAO IV, 445 Nr 7811 § 66; vereinzelt (B, R, S) auch am Palmsonntag: § 68; nur in S auch von Montag bis Mittwoch der Hohen Woche: § 69-71. 1925 Antiphonale II, 114-116. <?page no="366"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 358 In der heutigen Ordnung sind am Palmsonntag nach der ersten Lesung (,Antwortpsalm‘) einige Verse aus Ps 21(22) vorzutragen. 1926 Dass Ps 21(22) am Karfreitag zweimal erklingt (f3N, fMh2), zeichnet ihn als kanonisch legitimiertes Interpretament des Kreuzestodes Christi aus. 1927 Doch das Gebet des Leidenden wiederholt sich nicht einfach, vielmehr steigert sich seine Not, wie die beiden psalmogenen Antiphonen zeigen: Schreit der Beter am Morgen noch um eine Antwort, „warum“ und „wozu“ 1928 er die furchtbare Gottverlassenheit zu ertragen habe (V. 2), ist am Mittag gewiss, dass die Antwort ausbleiben wird: „… doch du schweigst.“ (V. 3) Vesper Weder am Gründonnerstag noch am Karfreitag wird eine Vesper gefeiert. 1929 Komplet fK Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist. Die am Karfreitag nicht ursprüngliche Komplet endet auch in der Neuordnung des BA schlichter als gewöhnlich: 1930 Nicht nur der Hymnus entfällt, sondern auf die Psalmodie folgt sofort die Oration. 1931 Man singt Ps 30(31) mit dem Sterbewort Jesu aus Lk 23,46 (V. 6a) als Antiphon. Nach Maßgabe des Lukasevangeliums wird V. 6 von den Kirchenvätern trinitätstheologisch, soteriologisch und pneumatologisch ausgelegt: als Mysterium der innigen Nähe zwischen Vater und Sohn (vgl. Joh 14,10) zur Rettung der Welt; 1932 als Offenbarung Christi, des Sohnes, zur Verherrlichung des Vaters; 1933 als vertrauensvolle Hingabe des Entschlafenen, wissend, dass er den Heiligen Geist als Beistand für alle „Söhne seiner Neuerschaffung“ erworben habe. 1934 In der römischen Tradition hat Ps 30(31) seinen Ort in der täglichen Komplet (ars moriendi), im kurrenten Psalter der Benediktsregel gehört er in die Sonntagsvigil. Das F ÜGLISTER -Schema verortet Ps 30(31) nicht nur am Karfreitag, sondern an jedem Freitag in der Komplet und macht ihn so zum Bestandteil der Feier des Wochenpascha. 1935 Im Hauptgottesdienst der gegenwärtigen Ordnung werden einige Verse aus Ps 30(31) nach der ersten Lesung gesungen. 1936 1926 Messlektionar I, 98. 1927 Gleiches gilt vom lukanischen Sterbepsalm Jesu Ps 30(31) in Lk 23,46, der im BA ebenfalls zweimal gesungen wird. Siehe unten fK. 1928 Die hebräische Fragepartikel lama hat sowohl eine retrospektive als auch eine prospektive Konnotation. 1929 Siehe oben Anm. 1870. 1930 Antiphonale III, 124-126 (= BA Stundengebet 58-60). 1931 Dies kommt dem üblichen monastischen Brauch (Eröffnung, Schuldbekenntnis mit Vergebungsbitte, Psalmodie, Hymnus, Oration, Segen, marianische Antiphon) grundsätzlich näher als der römischen Komplet, die vor der Oration ein Kapitulum mit Responsorium und das Nunc Dimittis einschiebt, die sie aber an den vorösterlichen Tagen ebenfalls reduziert. Das BA bietet generell beide Varianten (Antiphonale III, 226-228), am Karfreitag aber die kurze Form. 1932 Ambrosius; nach N ESMY , Tradition 130. 1933 Beda Venerabilis, ebd. 1934 „Fils de sa régéneration“ (Rupert von Deutz, zit. ebd.). 1935 Antiphonale III, 342-344. Bezeichnenderweise rahmt ihn dort die österlich-hoffende Antiphon „Lass dein Antlitz über mir leuchten, in deiner Liebe rette mich.“ (V. 17) 1936 Messlektionar I, 128; vgl. die Verwendung von Ps 21(22) am Palmsonntag ebenfalls im Kontext der Verlesung der Passion (Anm. 1926). <?page no="367"?> 2.2 Das Benediktinische Antiphonale 359 Ps 30(31) war bereits am Gründonnerstag in der Vigil mit der psalmogenen Antiphon „O Herr, ich vertraue auf dich. Mein Gott bist du! In deinen Händen ruht mein Geschick.“ (V. 15f) gesungen worden. 1937 Das kanonische Übergabewort Jesu in der Komplet am Karfreitag bekräftigt die auch im Sterben und in der Nacht des Todes tragfähige Vertrauensbeziehung zwischen Sohn und Vater. 2.2.1.3 Karsamstag Vigil Erste Nokturn s1N Herr, du hast es gesehen, o schweige nicht, bleibe nicht ferne! O Herr, erhebe dich und nimm dich unser an! Die Psalmodie der Nacht- und Morgenhore 1938 am Karsamstag beginnt im BA mit Ps 73(74). Mit ihm klingt, wenn auch sehr schwach, die Tradition an. 1939 Sehr viel stärker freilich ist der Rückbezug zu Ps 34(35), dessen V. 22f die außergewöhnliche Antiphon dazu bilden. 1940 Ihr Text schließt unmittelbar an das Geschehen vom Vortag an, wo ihr Herkunftspsalm - das Klagelied eines Einzelnen - in der Nokturn als vox Christi hörbar gewesen war: „Du hast es gesehen, Herr, so schweige nicht! Herr, bleib mir nicht fern! Wach auf! - Steh ein für mein Recht! “ (V. 22-23a) Der Sprecher dieser Worte ist am Morgen des Karsamstags verstummt. Wer aber klagt dann? Ein geringfügiger Eingriff in den Text, der „mein“ zu „uns(er)“ verändert, formuliert hier erstmals eine vielstimmige Bitte: „Nimm dich unser an! “ (vgl. V. 23) Hier erheben die Zeugen und Mit-Betroffenen des Geschehens ihre Stimme, hier bittet das Gottesvolk/ die Kirche für sich und die Menschheit. Ebenso fleht der dazugehörige Ps 73(74) in ,eigener Sache‘ für „die Schafe deiner Weide“ und für „deine Gemeinde“ (V. 2), deren Heiligtum und „Wohnung deines Namens“ (V. 7) - Zion/ Christus - verwüstet und zerstört daliegt. Das Drama des Karfreitags ist nicht die Tragödie eines Einzelnen, sondern darin entscheidet sich das Schicksal der ganzen Schöpfung. Dass die Gläubigen sich das Psalmwort Christi aneignen dürfen, gründet in der Identifikation Jesu mit der leidenden und erlösungsbedürftigen Menschheit. Indem die Kirche mit Christus betet, nimmt sie sein Gebet „für sie“, d. h. stellvertretend und zu ihren Gunsten gesprochen, an. Christus, der schuldlos leidende Gerechte, hatte den Vater um Beistand gebeten („Steh ein für mein Recht“, Ps 34[35],23) und ihm seinen Rechtsfall und zuletzt sich selbst („meinen Geist“) im Sterben überantwortet. 1941 Das Gottesvolk/ die Kirche setzt Christi Gebet fort („führe deine Sache“, Ps 73[74],22a) 1942 und bestürmt Gott um Soli- 1937 Antiphonale I, 192-194 (BA Stundengebet 11-13). Siehe oben d2N. 1938 Antiphonale I, 224-235; 235-242 (= BA Stundengebet 61-73; 73-81). 1939 Ps 73(74) gehört zur nicht tagesspezifischen römischen Psalmodie der Nacht- und Morgenhore am Gründonnerstag (= Ferialpsalmodie), deren psalmogene Antiphonen (dort: V. 22a Exsurge, Domine, et iudica causam meam) immerhin speziell für den Tag ausgewählt sind. Siehe oben Kapitel 1.1.3.1 d2N3. 1940 Er gehört weder zum römischen noch zum monastischen Repertoire der vorösterlichen Tage, eröffnet aber in der Neuordnung des BA den Karfreitag. Siehe oben f1N. 1941 Mit diesen Worten hatte die Komplet am Karfreitag geendet, fK. 1942 Vgl. oben Kapitel 1.3.1.1 d2N3; Ps 73(74) hat nach F ÜGLISTER seinen liturgischen Ort üblicherweise in der 2. Nokturn am Dienstag. <?page no="368"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 360 darität mit „deinen Elenden und Armen“ (V. 21). JHWH möge seinen/ „deinen Namen“ (V. 10.18.21), d. h. sein Da-sein-für-sie, wiederherstellen. Die Brutalität, mit der im Psalm die Schändung und Verwüstung des Heiligtums, der „Wohnung deines Namens“ (V. 7) geschildert ist, wird in der christlichen Feier des Jahrespascha zum Gleichnis für Jesu gewaltsamen, grausamen Tod. Doch so anmaßend der Versuch, JHWHs Gegenwart im Tempel durch die Brandschatzung und Schleifung des Heiligtums auszulöschen, so blind und vermessen ist die Absicht, den logos Gottes durch Mord zum Schweigen zu bringen - „Ein törichtes Volk lästert deinen Namen.“ (V. 18) Der Versikel (V. 10) greift das identifikatorische Moment auf und ruft Gott an, endlich um seiner selbst willen zu handeln: 1943 V Wie lange, o Gott, soll der Gegner noch höhnen? R Darf der Feind deinen Namen lästern für immer? Zweite Nokturn s2N Erhebe dich, Herr, sei Zion gnädig! Ja, es ist Zeit, dass du dich seiner erbarmst; wahrlich, jetzt ist die Stunde gekommen. Für die 2. Nokturn am Karsamstag sieht das BA den hier ungewöhnlichen Ps 101(102) vor, eine individuelle Klage von „höchster Dramatik“ 1944 mit V. 14 als Antiphon. Eine Besonderheit dieses Psalms ist der längere Abschnitt über das künftige Erbarmen Gottes mit Zion in der Mitte des Textes. Gerahmt wird der Psalm von dem in starken Bildern geschilderten persönlichen Unglück des Beters. 1945 V. 14 verrät Ungeduld und „verspricht die unmittelbar bevorstehende Wende im Geschick Zions“. 1946 Der Hebräerbrief übernimmt (unter anderen alttestamentlichen Stellen) Ps 101(102),26-28 in wörtlicher Zitation, um die sogar die Engel übertreffende Größe Jesu als des Sohnes Gottes aus der Schrift zu belegen (Hebr 1,10-12). An anderer Stelle bezeugt er - ähnlich wie der Psalm von JHWH („Du aber bist und deine Jahre enden niemals“, V. 28) - die Ewigkeit des Sohnes („derselbe gestern, heute und in Ewigkeit“, Hebr 13,8). Ansonsten bleibt die Rezeption im Neuen Testament eher unspezifisch. 1947 Die Kirchenväter sehen den unglücklichen Beter von Ps 101(102) als eine schillernde Persönlichkeit. Er ist für sie Typos des Armen der Seligpreisungen 1948 und lässt prophetisch die Gemütsverfassung des leidenden und „euretwegen“ arm gewordenen Christus (vgl. 2 Kor 8,9) nachempfinden 1949 , der sich das Elend des Gottesvolkes betend zu eigen macht („mein Gebet“; V. 2) 1950 : zum einen das Unglück der Juden, die „alles verloren haben“ 1951 ; zum anderen die Not der armen, Christus dienenden Kir- 1943 Vgl. den Versikel nach der 1. Nokturn am Karfreitag, der Gott „mein Recht“/ „meine Sache“ anvertraut hatte. 1944 Z ENGER , AT 1151. 1945 Nach ebd.; vgl. Ps 89(90), einen thematisch verwandten, aber als kollektive „Wir-Klage“ formulierten Psalm, den die römische Tradition als Laudespsalm am Hohen Donnerstag verwendet. Siehe oben Kapitel 1.3.1.1 dL2. 1946 H OSSFELD / Z ENGER , Psalmen III, 45. 1947 Vgl. auch Mt 24,35; Mk 13,31; Offb 20,11 und 21,1; 1 Petr 1,25. 1948 Eusebius; nach N ESMY , Tradition 547. 1949 Augustinus, ebd. 547f. 1950 Athanasius, ebd. 547. 1951 Eusebius und Athanasius, ebd. 549. <?page no="369"?> 2.2 Das Benediktinische Antiphonale 361 che 1952 ; allgemein das Unglück des Menschen, dessen Leben „arm, ohne Glanz, finster“ zu nennen sei. 1953 Die reichhaltige Bilderwelt des Psalms inspirierte die Kirchenväter zu einer differenzierten Auslegung. 1954 Alles in allem verstehen sie Ps 101(102) als Gebet des in der Nachfolge seines Herrn „armen“ Christenmenschen. 1955 V. 14, im BA die zweite Antiphon am Karsamstag, richtet den Blick auf Zion, das für die Väter ein Vorausbild der Kirche ist: bei ihrer Errichtung zur „Zeit der Gnade“ 1956 , d. h. zur „Zeit deiner [Christi] Ankunft“ 1957 , ebenso wie in der Bedrängnis ihres Exils. 1958 Die Verbannung voll Erbarmen zu beenden, dränge nunmehr die Zeit. 1959 Seltener ist die ausdrückliche Verknüpfung von V. 14 mit der Auferstehung Christi. 1960 „Zions Steine“ (V. 15) seien die „lebendigen Steine“ der Getauften, 1961 aus denen die Kirche erbaut sei. Denn die nach dem Exil wiedererrichtete Stätte der Einwohnung JHWHs (vgl. V. 16) sei zwar von den Nachbarvölkern bewundert worden, doch habe die im Psalm verheißene Bekehrung „der Völker“ (V. 16f) erst mit der Inkarnation angefangen und ziele auf die Unterwerfung aller. 1962 Erst dann werde sich Gott in seiner Herrlichkeit sehen lassen. 1963 Christologisch verstanden heißt das: Während Christus bei seinem ersten Kommen „Zion“ = die Kirche erbaut habe, „ohne dass wir ihn in Schönheit und Pracht gesehen“ hätten, 1964 werde man ihn bei seiner zweiten Ankunft in Herrlichkeit schauen. 1965 - Dies sei der Christen wegen aufgeschrieben, jenes universalen Geschlechtes, „das kommen wird und als neugeschaffenes Volk den Herrn lobpreise.“ (V. 19) 1966 Die Not des Armen (V. 2-12) wird häufig christologisch ,von unten , teils auch passionstypologisch gedeutet. Beim Wiederaufbau Zions aber, an dessen Ruinen („Steinen“) „das Herz deiner Knechte“ hänge (V. 13-19), sei Christus der Bauherr. 1967 Das „kommende Geschlecht“ wird primär ekklesiologisch verstanden: „die Gefangenen“ und „die Kinder des Todes“ meine die Märtyrer 1968 , und „die Erde“, auf die der Herr herabblickt, das ganze Menschengeschlecht. 1969 (V. 20f) Die V. 20-23 werden ,von oben‘ christologisiert: Der wiederkommende universale Herrscher (V. 22f) sei der erhöhte Herr Jesus Christus. 1970 1952 „Le peuple humble, serviteur du Christ“ (Rupert von Deutz, zit. ebd. 548). 1953 Eusebius; v. a. Cassiodor; ebd. 548f. 1954 Aufgeschlüsselt wird sie ebd. 549-551. 1955 Nach R OSE , Psaumes 114. 1956 Vgl. Gal 4,4 bei Augustinus sowie 2 Kor 6,2 (Jes 49,8) bei Cassiodor; nach N ESMY , Tradition 551. 1957 Athanasius, ebd.; so auch Hieronymus; nach R OSE , Psaumes 115. 1958 Damit kann sowohl die Zeit der Verfolgung als auch die verbleibende Zeitspanne bis zur Parusie gemeint sein. 1959 Origenes; auch Theodoret, nach N ESMY , Tradition 551. 1960 „Le temps de prendre Sion en pitié est celui de la résurrection du Christ“ (Eusebius, zit. nach R OSE , Psaumes 115). 1961 Origenes zitiert 1 Petr 2,5; nach N ESMY , Tradition 552. 1962 Eusebius und Athanasius, ebd. 1963 Vgl. Hebr 2,8 bei Theodoret, ebd. 1964 Augustinus, ebd. 1965 Origenes, ebd. 1966 Origenes, Athansius, Theodoret, ebd. 1967 Augustinus, ebd. 1968 Augustinus und Cassiodor, ebd. 553. 1969 Hesychius, ebd. 1970 Ders., ebd. <?page no="370"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 362 Die Klage Jesu, des leidenden Psalmisten, setze in V. 24 neu ein: „Er brach mir die Kraft auf dem Weg, verkürzte meine Tage.“ - So werde sich in der Schwachheit Christi seine Kraft (= die Kraft Gottes) erweisen. 1971 Die Kirche folge ihrem Herrn auf dem Weg dieser Macht, also des Leidens, und ertrage es „in seinem Namen in der Hoffnung auf den Sieg“. 1972 Im Bekenntnis zum Herrn, der in Ewigkeit „derselbe bleibt“ (vgl. V. 28), folgt die patristische Interpretation wieder der Christologisierung ,von oben‘: Was sie vom Vater sagt, bekennt sie vom Sohn. Die christologische Auslegung von Ps 101(102) durch die Kirchenväter bleibt aufgrund des mehrmaligen Perspektivenwechsels weniger prägnant als dessen ekklesiologische Deutung. Die liturgische Verwendung hingegen hört Ps 101(102) konsequent als Stimme des leidenden Christus. Im römischen Ritus ist die ganze Eucharistiefeier am Mittwoch der Hohen Woche von Ps 101(102) geprägt: V. 2f erklingt im Offertorium Domine exaudi, 1973 V. 2-5.14 als Tractus Domine exaudi 1974 und V. 11-14 in der Communio Potum meum; 1975 V. 14 hat also traditionell einen prominenten liturgischen Ort in der Messpsalmodie an den vorösterlichen Tagen, während er im Offizium dieser Tage nicht vorkommt. 1976 Die Verwendung von Ps 101(102) in der Komplet am Donnerstag im Wochenpsalter (Wochenpascha), 1977 v. a. aber in der Morgenhore am Karsamstag zeigt sich vor diesem Hintergrund also ebenso traditionsgebunden wie innovativ. Im neuen Kontext der Offiziumstexte und -gesänge des Karsamstags gewinnt der liturgisch alte Ps 101(102) ein charakteristisches theologisches Profil. Zionstypologie: Psalm 101(102) nimmt zunächst das Motiv des zerstörten Heiligtums (Zion/ Christus) aus Ps 73(74) auf. Die Antiphon knüpft mit ähnlichen Worten („Erhebe dich, Herr, sei Zion gnädig! “ 1978 , V. 14a) an die Bitte der 1. Nokturn an. Ihr bekräftigender Appell („Ja, es ist Zeit, dass du dich seiner erbarmst“, V. 14b) kann als Bitte für den unschuldigen Gekreuzigten gehört werden; weit mehr noch aber für das Gottesvolk (Israel/ Kirche), das sich selbst der Gegenwart seines Gottes beraubt hat. Es hat allen Grund, um die Wiedererrichtung des Heiligen bei sich, in dem es auch selbst wiederhergestellt wird, zu bitten. Das Psalmwort „Der Herr hat Zion erbaut“ (V. 17a 1979 ) darf die Kirche als symbolisch-sakramentaler Ort der Nähe Gottes auf sich beziehen, insofern und weil sie sich vom auferweckten/ auferstandenen Christus „erbaut“ weiß. 1971 Athanasius, Eusebius, Cassiodor, ebd. 1972 Cassiodor, ebd. 1973 AMS 245 § 76. 1974 Ebd. 235 § 76. 1975 Ebd. 251 § 76. 1976 Auch nicht-römische Liturgien verorten Ps 101(102) oder einzelne Verse als Leidensprophetie im Kontext der Karwoche: Auf V. 2-12 trifft man in Mailand am Karsamstag und bei den Kopten am Mittwoch und Karfreitag; auf V. 14 als Ankündigung der Auferstehung in der Mailänder Liturgie ebenfalls am Karsamstag und in der byzantinischen Osterliturgie. In letzterer hat Ps 101(102),12- 13 seinen Ort in der Totenliturgie und in den Laudes am Samstag; nach R OSE , Psaumes 114-118. 1977 Antiphonale III, 328-330. 1978 In der EÜ nicht im Imperativ, sondern futurisch formuliert: „Du wirst dich erheben … dich erbarmen.“ 1979 In der EÜ präsentisch-futurisch: „Denn der Herr baut Zion wieder auf.“ <?page no="371"?> 2.2 Das Benediktinische Antiphonale 363 In diesem Sinne erbittet auch der Versikel aus Ps 50(51),20 die Erneuerung der Begegnungsmöglichkeit mit dem Höchsten: in seinem Heiligtum, in seinem Heiligen/ Christus und in seinem Volk/ der Kirche: V In deiner Huld, o Herr, erweise dich an Zion gnädig. R Lass neu erstehen Jerusalems Mauern. Weitere Beobachtungen zur Hermeneutik von Ps 101(102) Darüber hinaus fällt die Ähnlichkeit einerseits etlicher Motive, andererseits der Funktionalität von Ps 101(102) und Jes 38,10-20 (Hiskija-Psalm) in ihrem jeweiligen liturgischen Kontext auf. Schon in den ältesten Quellen spielt Jes 38 eine hermeneutische Schlüsselrolle in den Laudes am Karsamstag 1980 und hat diese auch in der erneuerten Liturgia Horarum/ im deutschen Stundenbuch behalten. 1981 Das Benediktinische Antiphonale hingegen verwendet an den untersuchten Tagen weder Jes 38,10-20 1982 noch ein anderes alttestamentliches Canticum, sondern ausschließlich Psalmen. Doch kommt am Morgen des Karsamstags in der F ÜGLISTER -Ordnung Ps 101(102) eine hermeneutisch ähnlich große Bedeutung zu wie vordem Jes 38,10-20, das mittels zahlreicher Metaphern und Stichwortverknüpfungen mit den anderen Texten und Gesängen der Kartage die theologischen Akzentuierungen des lateinischen Offiziums gesammelt und verdichtet hatte. 1983 In der deutschsprachigen Neuordnung leistet das auf vergleichbare Weise Ps 101(102). - Das Worumwillen der Rettung In beiden Texten schreckt der Beter vor der Erfahrung zurück, dass sein Leben vor der Zeit zu Ende gehen soll: Hiskija erkrankt tödlich; der Psalmist verfällt seelisch und körperlich - zur Freude seiner Feinde. Die Vulgata verwendet jeweils die Wendung in dimidio dierum meorum, was das Benediktinische Antiphonale konkordant mit „Mitte meiner Tage“/ „aus meiner Tage Mitte“ übersetzt. 1984 Die verbleibende - zu kurze - Lebensspanne heißt im Psalm wörtlich „das Wenige meiner Tage“ (paucitatem dierum meorum, V. 24), bei Jesaja „Rest meiner Jahre“ (residuum annorum meorum, V. 10). Auf sein Gebet hin werden Hiskija fünfzehn Jahre hinzugegeben (Jes 38,5); der Psalmist weiß sich ,auf Dauer‘ erhört (V. 29). 1985 Die Rettung des Beters/ Hiskijas betrifft die Nachfolgenden, „das Geschlecht, das kommen wird, damit ein neugeschaffnes Volk den Herrn lobpreise“ (scribantur haec in generationem alteram et populus qui creabitur laudabit Dominum, Ps 101[102],19); auch Hiskija meint „der Vater verkündet den Kindern deine Treue“ (pater filiis), denn nur „der Lebende“ (vivens vivens) könne auf Gott hoffen, ihm die Ehre geben und ihn preisen, „wie ich es heute tue“ (Jes 38,19). 1980 Siehe oben Kapitel 1.3.1.3 sL4. 1981 LH II, 387 (= StB II, 232 [= Karwoche 234f]). 1982 Im BA in den Laudes des Totenoffiziums (Antiphonale I, 825). 1983 Siehe oben Kapitel 1.3.1.3. 1984 Die EÜ schreibt in Ps 101(102),25 für diese Phrase „in der Mitte meines Lebens“; bei Jes 38,10 aber „In der Mitte meiner Tage“. Dadurch geht die wörtliche Assoziation beider Texte verloren. 1985 Die Erwähnung der Nachkommen gilt als „gattungstypisch[er] Ausdruck der Erhörungsgewissheit“, Z ENGER , AT 1153. <?page no="372"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 364 Ps 101(102) Vulgata Ps 101(102) BA Jes 38,10-20 Vulgata Jes 38,10-20 BA 24 respondit ei in via virtutis suae paucitatem dierum meorum nuntia mihi 25 ne revoces me in dimidio dierum meorum in generationem et generationem anni tui 24 Er brach mir die Kraft auf dem Wege, verkürzte meine Tage 25 So spreche ich: Mein Gott, nimm mich nicht fort aus meiner Tage Mitte! Deine Jahre währen durch alle Geschlechter 10 ego dixi in dimidio dierum meorum vadam ad portas inferi quaesivi residuum annorum meorum 10 Ich sagte: In der Mitte meiner Tage muss ich dahingehn, ich bin entboten zu den Toren der Unterwelt für den Rest meiner Jahre 18 quia non infernus confitebitur tibi neque mors laudabit te non expectabunt qui descendunt in lacum veritatem tuam 18 Denn die Unterwelt kann dich nicht rühmen, der Tod kann dich nicht loben. Wer in die Grube fuhr, hofft nicht auf deine Treue. 19 scribantur haec in generationem alteram et populus qui creabitur laudabit Dominum 19 Geschrieben werde das für ein Geschlecht, das kommen wird, damit ein neu geschaffnes Volk den Herrn lobpreise 19 vivens vivens ipse confitebitur tibi sicut et ego hodie pater filiis notam faciet veritatem tuam 19 Der Lebende, nur der Lebende preist dich wie ich es heute tue. Der Vater verkündet den Kindern deine Treue … 22 ut adnuntiet in Sion nomen Domini et laudem suam in Hierusalem 22 damit man auf dem Zion verkünde den Namen des Herrn und in Jerusalem seinen Lobpreis - Umstände der Rettung Ps 101(102) lässt auch Ps 68(69) 1986 anklingen, dessen innere Entwicklung der von Ps 101(102) ähnlich ist. Außer der gemeinsamen Bitte, der Herr möge sein „Antlitz nicht abwenden“ und den Beter „rasch erhören“, wiederholen sich die Motive „Zeit/ Stunde des Erbarmens“, „(sicher) wohnen/ Heimat haben“ sowie wiederum „Zion“ und „die Kinder seiner Knechte“. Die Dringlichkeit „Ja, es ist Zeit; jetzt ist die Stunde gekommen“ (V. 14b.c) verbindet Ps 101(102) auch mit der letzten Antiphon des Tages. 1987 1986 Siehe oben f2N und Kapitel 1.3.1.1 d1N1. 1987 Siehe unten sCalt. Vgl. „Die Stunde ist gekommen; jetzt wird der Menschensohn den Sündern ausgeliefert.“ (Mk 14,41 par) „Das ist eure Stunde. Jetzt hat die Finsternis die Macht.“ (Lk 22,53) und zahlreiche weitere Belege im Johannesevangelium; vgl. auch „Die Stunde ist gekommen, aufzustehen vom Schlaf. Denn jetzt ist das Heil uns näher als zu der Zeit als wir gläubig wurden.“ (Röm 13,11). <?page no="373"?> 2.2 Das Benediktinische Antiphonale 365 Ps 101(102) Vulgata Ps 101(102) BA Ps 68(69) Vulgata Ps 68(69) BA 3 non avertas faciem tuam a me in quacumque die tribulor … velociter exaudi me 3 Verbirg nicht dein Antlitz vor mir am Tag der Not … eile und hilf mir 18 et ne avertas faciem tuam a puero tuo quoniam tribulor velociter exaudi me 18 Verbirg dein Antlitz nicht vor deinem Knecht, denn mir ist angst; eile, erhöre mich. 14 tu exsurgens misereberis Sion quia tempus miserendi eius quia venit tempus 14 Erhebe dich, Herr, sei Zion gnädig! Ja, es ist Zeit, dass du dich seiner erbarmst; wahrlich, jetzt ist die Stunde gekommen. 14 ego vero orationem meam ad te Domine tempus beneplaciti Deus in multitudine misericordiae tuae exaudi me in veritate salutis tuae 14 Ich aber, ich bete zu dir, Herr, zur Zeit der Gnade: O Gott erhöre mich in deiner großen Huld, kraft deiner rettenden Treue 29 filii servorum tuorum habitabunt et semen eorum in saeculum dirigetur 29 Die Kinder deiner Knechte werden sicher wohnen, ihr Geschlecht wird vor deinem Antlitz bestehen. 36 quoniam Deus salvam faciet … et inhabitabunt ibi et hereditate adquirent eam 37 et semen servorum eius possidebunt eam et qui diligunt nomen eius habitabunt in ea. 36 Denn Gott wird Zion retten … Man wird dort wohnen und das Land besitzen, 37 die Nachkommen seiner Knechte werden … Heimat darin haben, die ihn lieben. - Die Sterbepsalmen Jesu Von der Feier des Karfreitags sind die Pss 21(22) und 30(31), die Sterbeworte Jesu, geläufig. Über die gattungsgemäße Wendung „Wende/ Neige dein Ohr und eile mir zu Hilfe“ (Ps 101[102],3; Ps 30[31],3) hinaus fällt wiederum die Aussicht für die Nachkommen auf: für „das kommende/ künftige Geschlecht“ und für das Volk, das „neu geschaffen“ (Ps 101[102]) bzw. erst „geboren“ wird (Ps 21[22]). Die Kirche versteht darunter die Getauften. Ps 101(102) Ps 21(22) Ps 30(31) 3 … Neige dein Ohr mir zu am Tag meiner Not! Neige dein Ohr mir zu am Tag, da ich rufe, eile und hilf mir. 3 Neige dein Ohr mir zu, eile doch, mich zu entreißen! 19 Geschrieben werde das für ein Geschlecht, das kommen wird, damit ein neugeschaffnes Volk den Herrn lobpreise. 32 Vom Herrn wird man dem kommenden Geschlecht erzählen, dem Volk, das erst geboren wird … verkünden. - Gottes Handeln im Leid Ein Hauptmotiv in den Klagepsalmen ist die Verfolgung durch Feinde, die teils als Folge der eigenen Sünden angesehen wird, teils unschuldig erlitten wird. Immer aber richtet der Psalmist sein Gebet an Gott, von dem allein Gerechtigkeit und Erbarmen zu erhoffen ist. Das gilt bis in jene extreme Situation hinein, in der Gott selbst als feind- <?page no="374"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 366 lich erfahren wird 1988 und gerade deshalb der einzig mögliche Adressat der Bitte um Hilfe und Erlösung bleibt, denn „Er hat’s getan.“ - Das Schlusswort von Ps 21(22) verkündet nicht nur die Rettung als Werk Gottes (V. 32b), sondern auch den Leidensweg, der bis dahin zurückzulegen war: „… du legst mich in den Staub des Todes“ (V. 16); ähnlich in Ps 101(102): „du hobst mich auf und warfst mich zu Boden“ (V. 11b). Selbst der von Vertrauen geprägte Ps 30(31) kennt ein Moment der Unsicherheit „Ich aber sprach in meiner Bestürzung: Ich bin verstoßen aus deinen Augen! “ (V. 23), und im Hiskija-Psalm heißt es: „Er hat es ja selber getan! “ (V. 15b) Ps 101(102) Ps 21(22) Ps 30(31) Jes 38 (Hiskija-Psalm) 11b … du hobst mich auf und warfst mich zu Boden. 32b … Er hat’s getan. 23b Ich bin verstoßen aus deinen Augen! 15b Er hat es ja selber getan! Gott selbst hat gehandelt. Dieser Gewissheit kann sich der Beter der Morgenhore am Karsamstag nicht entziehen. In der christologischen relecture der Psalmen stellt sich die Frage nach dem Ursprung menschlichen Leidens und nach Gott als dessen Sinnstifter verschärft. - Urheber der Erlösung Die Psalmen geben darauf keine abschließende Antwort, sie halten lediglich daran fest, dass Gott sich finden lässt „am Tag meiner Not“ (Ps 101[102],3). Sofern Leiden und Sterben zum Leben gehören, wird Gott davor nicht kapitulieren. Sein wirkmächtiges Handeln endet nicht diesseits der Todesgrenze, sondern erweist sich erst im Tod als eigentlich Not-wendend. Sein Schutz bewahrt die Gläubigen nicht vor Not und Tod, aber er bewahrt sie darin. 1989 Damit überwinden die Psalmen die Kluft der Angst vor dem Gottesverlust im Tod und äußern Vertrauen darauf, dass Gott auch dort handlungsmächtig bleibt, wo er nach menschlichem Ermessen nicht zu finden wäre - letztlich in der Unterwelt, dem theologischen Ort des Karsamstags. - Heils- und Unheilsorte Von der Topografie in Ps 101(102) - besonders von „Zion“, dem Ort der Gegenwart Gottes im Heiligtum (Tempel/ Christus) und im Gottesvolk (Israel/ Kirche) - war schon die Rede. Jes 38,10-20 nennt Orte des Lebens („Haus des Herrn“; „Land der Lebenden“, V. 20.11) und Orte der Lebensfeindlichkeit und Gottferne („Unterwelt“ und „Grube“, V. 10.17.18). Auf der „Erde“, seiner vorläufigen Heimstatt („Zelt“, „Hütte“, V. 12), durfte der Mensch vor Gottes Angesicht in Gemeinschaft leben („Menschen sehen“, „den Herrn schauen“, V. 11f). Für den von Gott „zu Boden“ Geworfenen verliert der vertraute Lebensraum seine soziale und theologische Lebensqualität und wird zur „Wüste“ und „Ruine“ (Ps 101[102],7.11). 1988 In letzter Konsequenz führt das Ps 87(88) vor Augen; vgl. dK sowie f3N2 und s3N3. 1989 Vgl. Origenes und Eusebius, nach N ESMY , Tradition 548. <?page no="375"?> 2.2 Das Benediktinische Antiphonale 367 Ps 101(102) Jes 38,10-20 7 … in der Wüste, … in öden Ruinen, … auf dem Dach 10 … zu den Toren der Unterwelt 11 … warfst mich zu Boden 11 … schauen im Lande der Lebenden … bei den Bewohnern der Erde 12 … meine Hütte … wie ein Hirtenzelt 17 … vor der Grube der Vernichtung bewahrt 18 … die Unterwelt kann dich nicht rühmen, der Tod dich nicht loben, wer in die Grube fuhr, hofft nicht … 14 … sei Zion gnädig 20 … im Hause des Herrn 17 … hat Zion erbaut 20 … von seiner heiligen Höhe … hin zur Erde 22 … auf Zion verkünde … und in Jerusalem 24 … auf dem Wege 26 … die Erde und die Himmel 29 … vor deinem Antlitz bestehen Beide Texte stellen die Sphären des Todes und des Lebens einander in topografischen Bildern gegenüber; dazu kommt die noch unentschiedene Situation des Beters. In Ps 101(102) steht die positive Zionsthematik im Vordergrund, in Jes 38,10-20 überwiegen, trotz der abschließenden Aussicht auf die glückliche Rückkehr ins „Haus des Herrn“, die Todesbilder. Sowohl Ps 101(102) als auch Jes 38,10-20 schildern die Not bildhaft und ausdrucksstark. 1990 Die detaillierten Vogelmetaphern in Ps 101(102),7f haben die Kirchenväter zur Auslegung angeregt: Wie der „einsame Vogel auf dem Dach“ leben auch Dohle und Eule allein und ständiger Gefahr ausgesetzt; 1991 häufig „verirrt“ an Stätten, an denen es kein Leben mehr gibt. Hiskija macht sich wie die Vögel lautstark bemerkbar: „Ich gurre wie die Taube, zwitschere wie eine Schwalbe.“ (Jes 38,14a) 1992 - Universale Erlösung Das Klagegebet des zu Tode erkrankten Königs Hiskija beschreibt ein Einzelschicksal; freilich wird der Vater seine Rettung den Kindern weitererzählen (vgl. Jes 38,20). Der ebenfalls individuell formulierte Klagepsalm 101(102) hat demgegenüber eine weitere, ja universale - ekklesiologische - Perspektive: Er zielt auf die Versammlung aller Völker und Königreiche in Zion/ Jerusalem, „um dem Herrn zu dienen“ (V. 23). Dritte Nokturn s3N Meine Leuchte lässt du strahlen; in mein Dunkel bringst du, o Gott, das Licht. Als dritten Nokturnpsalm singt man Ps 17(18) mit V. 29 1993 als Antiphon. Ps 17(18) ist ein Danklied des Königs 1994 für Rettung und Sieg und einer der längsten Gesänge im Psalter. Den ältesten Kern dieses mehrfach redigierten Textes bildet vermutlich die Er- 1990 Z. B. V. 10b-11, die den Durst und die Seelennot des Gekreuzigten auszudrücken scheinen „… und [ich] mische meinen Trank mit Tränen wegen deiner Wut und deines Zornes; denn du hobst mich auf und warfst mich zu Boden.“ - Dieses Schicksal ereilt üblicherweise die Feinde Gottes. 1991 Vgl. Origenes, der dem „Spatz“ der LXX das Adjektiv „ängstlich“ verleiht; ebd. 549. 1992 Vgl. Vulgata: sicut pullus hirundinis sic clamabo meditabor ut columba adtenuati sunt oculi mei …; auch der MT bietet diesen Vers. <?page no="376"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 368 zählung von Kampf und Sieg des Königs mit der Hilfe Gottes, dessen Theophanie in kriegerischer Metaphorik geschildert wird (V. 31-48). 1995 Ihr wurde später die nicht königsspezifische Rettungserzählung (V. 5-20) vorangestellt - „Der königliche ,Retter‘ muss vorher selber ,gerettet‘ werden“ 1996 - und durch ein Mittelstück ergänzt, das die Reflexion des Beters über die Gründe seiner Rettung enthält, die er in seiner Treue zu Gott („Gerechtigkeit“) erkennt. Das Neue Testament zitiert Ps 17(18),50 im Römerbrief, um das Lob des Beters „inmitten der Nationen“ 1997 auch den Heiden in den Mund zu legen (Röm 15,9). Weitere Anspielungen auf die Umstände des Todes und der Errettung Jesu lassen sich motivisch mit Ps 17(18) in Verbindung bringen: die bei der Kreuzigung über die Welt hereinbrechende Finsternis (V. 12; vgl. Mk 15,23 parr), 1998 die aber nicht das Ende bedeutet, denn „Gott [] hat ihn von den Wehen des Todes befreit …“ (Apg 2,24; vgl. V. 5f), weshalb er nun sagen kann „Ich war tot, doch nun lebe ich (,der Herr‘) in alle Ewigkeit“ (Offb 1,18a; vgl. V. 47). Die Kirchenväter legen diesen „messianischen“ 1999 Psalm als ganzen typologisch sowohl auf Christus hin aus als auch auf die Kirche 2000 : Er enthält den Abstieg des „eingeborenen Sohnes“ und seine Erhöhung; den Sieg über „die Dämonen“ und die „Berufung der Völker“. 2001 Er spricht „nach Menschenart“ von Christus und erklingt zugleich als „Lied, das die Gläubigen Christus darbringen, der sie von der Tyrannei des Fürsten dieser Welt befreit hat“. 2002 V. 29 beschreibt die conditio humana: Was im Menschen dunkel ist, wird vom gerechten Gott, dem Auge („meine Leuchte“) derer, „die im Licht der Wahrheit baden“, erhellt (V. 29); sie bringen alle ihre Werke und ihre innere Finsternis an „diesen Tag“, damit sie darin hell werden. 2003 In christlicher Lesart wendet sich der Psalmist hier also an Christus, „das Wort Gottes, der das wahre Licht ist“, das alle Menschen erleuchtet (Joh 1,9). 2004 Die römische Messpsalmodie 2005 verwendet Ps 17(18),48f im Graduale Eripe me am Passionssonntag, 2006 die V. 48f.2f als Introitus Liberator meus am Mittwoch da- 1993 Vgl. Ijob 22,29. 1994 2 Sam 22 zitiert ihn fast wörtlich als Dankgebet Davids, des exemplarischen Gerechten und Königs. In christlicher Relecture ist David Typos Christi. 1995 Vgl. Ps 2,1-9 und Ps 109(110),5f; nach Z ENGER , AT 1055-1057. 1996 Ebd. 1055. 1997 In der EÜ: „vor den Völkern“. 1998 Die existentielle Bedeutung der kosmischen Symbolik von Licht und Finsternis für den Menschen muss nicht eigens erklärt werden. Im biblischen Sprachgebrauch steht sie unzählige Male für die erwartete, vermisste, ersehnte heilsame Gegenwart Gottes oder umgekehrt, für die letztlich tödliche Erfahrung der Gottferne. 1999 Eusebius, nach N ESMY , Tradition 76. 2000 Augustinus, ebd. 2001 Cyrill von Alexandrien (vgl. auch Athanasius), ebd. 2002 Ders., ebd. 2003 Vgl. Mk 4,22; Eph 5,11-13; Origenes, ebd. 79. 2004 Eine mittelalterliche Auslegung liest aus V. 29 eine grundsätzliche Wahrheit über das Verhältnis von Altem (Typos) und Neuem Testament (Wahrheit): „Im Strahl des wahren Lichts werden auch die Schatten des Gesetzes weniger undurchdringlich und bald ganz von seiner Klarheit durchdrungen sein.“ (Balduin von Canterbury, zit. ebd.). 2005 Die byzantinische Liturgie hingegen gebraucht mit Blick auf die Geistsendung V. 9-13 (Theophanie) im Morgengottesdienst in der Pentekoste, sowie V. 11 zu Himmelfahrt; in Mailand wird das Luzernar der Sonntagsvesper mit Ps 17(18),29 eröffnet; nach R OSE , Psaumes 132; 129; 99. <?page no="377"?> 2.2 Das Benediktinische Antiphonale 369 nach 2007 sowie die V. 5-7 im ausgedehnten Osterfestkreis als Introitus Circumdederunt schon am Sonntag Septuagesima. 2008 Im BA steht der ganze Ps 17(18) für gewöhnlich in der 1. Nokturn am Sonntag. 2009 In der Morgenhore des Karsamstags hingegen entfallen die optimistische Selbsteinschätzung des Beters (V. 21-28) sowie die Vergeltung an den Feinden (V. 38-46). Eine solche Kürzung ist für die Psalmenverwendung im F ÜGLISTER -Schema untypisch 2010 - und umso erstaunlicher, als die darin reklamierte Gerechtigkeit des Psalmbeters wie auch die Unterwerfung der Feinde nach christlicher Auffassung wohl nur Christus, dem „König und Gesalbten“ Gottes, zusteht. 2011 Sollte die bewusste Übergehung dieser traditionell siegerchristologisch rezipierten Psalmverse die österliche Erfüllung des Textes hintanhalten, um an dieser Stelle nicht vorwegzunehmen, was ,noch nicht‘ entschieden ist? Einzelne Verse stehen immerhin pars pro toto: „… er befreite mich, denn er hatte an mir Gefallen.“ (V. 20b, die ,Vorbemerkung‘ zu den fehlenden V. 21-28) und „Gott - er gewährte mir Vergeltung, er hat mir die Völker unterworfen … ja, du erhebst mich über meine Gegner …“ (V. 48.49b, die den kampftheologischen Abschnitt beschließen). 2012 Die vielen Ebenen existentiellen Dunkels wie Verfolgung, Schmerz, Verlassenheit, Sünde und Schuldverstrickung, schuldloses Leiden, Todesangst und Todesnot machen diesen Text zu einem vielstimmigen Gebet um Erleuchtung und Leben: das des Gerechten/ Christi 2013 und mit ihm auch der Getauften, der Armen und Leidenden, aller Menschen, ja schließlich der ganzen Schöpfung. Demgegenüber sind die Finsternis und andere bedrohliche Naturphänomene in V. 12-17 kein Ausdruck von Gottferne, sondern hier geradezu eine Weise der Erscheinung Gottes und seiner tätigen Präsenz. In dem am Karsamstag verkürzten Psalmtext verschieben sich die Akzente zugunsten des alleinigen Rettungshandelns JHWHs an seinem Gerechten, dessen Todesnot das zornig-gefährliche Eingreifen Gottes hervorruft - „Er griff herab aus der Höhe und fasste mich, zog mich heraus aus gewaltigen Wassern. Er entriss mich meinem mächtigen Feind.“ (V. 17-18b) Energisch, fast gewaltsam, ist diese Bewegung und das genaue Gegenteil der Erfahrung des vorausgehenden Psalms („du hobst mich auf und warfst mich zu Boden.“ Ps 101[102], 11b). Dort hatte der Herr „von seiner heiligen Höhe herabgeschaut … zur Erde“ (V. 20); hier nun „neigte [er] den Himmel und fuhr hernieder“ (Ps 17[18],10 ). In beiden Fällen handelt Gott am Schreckensort - sei es in der Leere und Öde menschlicher Verlassenheit, sei es in der Unterwelt - und „in der Finsternis“. Nach der drängenden kollektiv formulierten Bitte um Erbarmen mit dem zerstörten „Zion“/ Jerusalem (Christus) und „uns“ (Israel/ Kirche) und der Klage über das eigene Schicksal hat die dritte Antiphon nun Subjekt und Thema gewechselt: Der Sprecher, 2006 AMS 235 § 67a. 2007 Ebd. 232 § 70. 2008 Ebd. 231 § 34. 2009 Antiphonale I, 449-452. 2010 Er bietet im Übrigen den vollständigen Psalter und nahezu unverschnittene Psalmen; vgl. F ÜGLIS- TER , Mut 186-200. 2011 So sehen es auch viele Kirchenväter, allen voran Origenes; nach N ESMY , Tradition 78. 2012 Diese Verse gewährleisten trotz der gravierenden Textkürzung die Einheit des Paschamysteriums; zugleich kann der theologische Eigenwert des Karsamstags schrittweise entfaltet werden, ohne das Heilsereignis in eine historisierende Heilschronologie aufzulösen. 2013 In der Osternacht wird er selbst als „das Licht“ akklamiert; von ihm erleuchtet soll die Kirche „das Licht der Welt“ sein (vgl. Mt 5,14; Joh 8,12; 9,5; 12,46). <?page no="378"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 370 der zuletzt verstummt war, ergreift das Wort. Er wendet sich von neuem an Gott, an sein Du, jetzt aber erstmals „strahlend“ vor Zuversicht und der Nähe Gottes gewiss, getragen von großer Hoffnung auf ein sicheres Ende seiner Lebensfinsternis. 2014 Mehr noch, er geht daran, Gott für seine nicht ausbleibende Rettung zu danken. In die am Karfreitag über Mensch und Welt gekommene Dunkelheit bricht mit dieser Antiphon ein Hoffnungsschimmer ein. Der Psalm erzählt die Wendung des Geschehens, wie das Opfer sie erfährt: Die Täter können ihm nichts mehr anhaben, aber auch die Klage derer, die sein Unglück mitangesehen hatten, liegt hinter ihm. Der Beter steht an der Schwelle zu etwas Neuem, wie der Versikel aus Ps 141(142),8a 2015 ergänzt: V Führe mich heraus aus dem Kerker. R Damit ich deinen Namen preise. Laudes Zur Psalmodie sL1 Gott der Scharen, richte uns wieder auf! - Lass dein Angesicht leuchten, dann sind wir gerettet! Die Laudes am Karsamstag 2016 eröffnet Ps 79(80), eine gleichermaßen eindringliche Klage über Israel wie gleichzeitige Bitte für das Gottesvolk als den „Weinberg“ JHWHs. 2017 Die für die Liturgie gewählte Antiphon Ps 79(80),4.8.20 rahmt den Psalm nicht nur, sondern erklingt darin auch dreimal als stetig wiederholte, insistierenddrängende Bitte: „Die Metapher vom leuchtenden Angesicht JHWHs drückt also wie das Angesicht des Menschen Freude und Wohlwollen aus, zugleich aber bewirkt dies, insofern es Gottes Angesicht ist, Mitteilung von konkreten Heilsgaben.“ 2018 Wie die jesajanische Bildrede vom sorgsam gepflegten, dann aber aus Enttäuschung der Verwüstung preisgegebenen Weingarten (Jes 5,1-7) 2019 beschreibt hier Ps 79(80) anschaulich die Liebesbeziehung Gottes zu seinem Volk, die nötigenfalls auch das Gericht und einen Neuanfang einschließt. Die Metapher begegnet - vor diesem Hintergrund - auch in neutestamentlichen Gleichnisreden von Gott, dem „Winzer“, der zunächst Arbeiter, dann Gesandte und schließlich seinen Sohn und Erben in seinen „Weinberg“ schickt, um die „Früchte“ einzufordern (vgl. Mk 12,1-12 par) sowie in der Selbstprädikation Christi als „Weinstock“, dem die Jünger/ Gläubigen wie „Rebzweige“ verbunden sind (vgl. Joh 15,1-17). Als „Hirte Israels“ (Ps 79[80],2) offenbart sich Jesus, der als „guter Hirt“ sein Leben für die Schafe hingibt (Joh 10,4.11; vgl. V. 2). „Erschienen“ ist im „Menschensohn“ der, „der über den Kerubim thront“; er ist „gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren war“ und hat „die Vollmacht […], hier auf der Erde Sünden zu vergeben“ (Lk 19,10; Mt 9,6; vgl. V. 2.18); derselbe ist zum „Zankapfel“ geworden und zum „Zeichen, dem widersprochen wird“ (Lk 2,34; vgl. V. 7). 2014 Vgl. Anm. 1998. 2015 Psalm 141(142), schon in der römischen Tradition Teil des Offiziums der Kartage, kehrt in den anschließenden Laudes des Karsamstags wieder. 2016 Antiphonale I, 235-242 (= BA Stundengebet 73-81). 2017 Die Zerstörung des Nordreichs Israel durch die Assyrer war dafür wohl der historische Anlass; nach Z ENGER , AT 1130. 2018 H OSSFELD / Z ENGER , Psalmen II, 461. 2019 Das so genannte Weinberglied spiegelt die Erfahrung von Verlust, Dezimierung und Vernichtung der Treuen im Gottesvolk in der theologischen Reflexion des Protojesaja; vgl. auch die Klage Gottes über sein Land (Jer 12,10). <?page no="379"?> 2.2 Das Benediktinische Antiphonale 371 Die Kirchenväter verstehen Ps 79(80) als Prophezeiung der Menschwerdung und Ankunft des Messias, des „guten Hirten“ Jesus Christus 2020 und den von seinen Brüdern misshandelten „Josef“ (V. 2b) als seinen Typos. 2021 Der „Weinstock“ meine Israel/ die Synagoge, 2022 aber auch die Kirche 2023 und Christus selbst. 2024 Das „Angesicht“ des Vaters (V. 4.8.20) sei der Sohn. 2025 Auch im Menschen müsse, von „einem Strahl deiner Weisheit“ erleuchtet, „dein Bild, das du uns eingeprägt hast, nicht mehr dunkel bleiben“; es werde „von neuem Glanz erfüllt in mir sichtbar. Sollte es aber geschehen, dass ich es entstelle, stelle du es wieder her, der du es geformt hast.“ 2026 Nur wenige Psalmen sind in der römischen Tradition liturgisch so prominent wie Ps 79(80) im Advent: 2027 Im Offizium zitieren die Responsorien Aspiciens a longe und Obsecro, Domine am ersten Adventsonntag V. 2; 2028 Veni Domine V. 3 am dritten 2029 , Non discedimus V. 19f am vierten Sonntag 2030 im Advent. Auch die Messpsalmodie dieser Wochen ist durchwegs von Ps 79(80) geprägt: am 3. Adventsonntag erklingt V. 2f im Graduale Qui sedes 2031 , V. 3 im Alleluja Excita Domine 2032 ; ebenfalls V. 2f im Tractus Qui regis in den Gradualien Excita Domine und Domine Deus (V. 20.3) am Quatembersamstag 2033 ; an diesem Tag sowie am 4. Adventsonntag singt man V. 2-4 im Introitus Veni et ostende; 2034 schließlich V. 2f im Graduale Hodie scietis in der Weihnacht. 2035 In Übereinstimmung mit dieser Tradition platziert auch das BA Ps 79(80) bevorzugt als ersten Vigilpsalm am ersten Sonntag im Advent (mit V. 2f als Antiphon). 2036 Außerdem verwendet es denselben Psalm explizit paschatheologisch als Vigilpsalm am Samstag im Rahmen der Feier des Wochenpascha (mit V. 19 als Antiphon) 2037 und samt seinem expliziten ,Refrain‘ (V. 4.8.20) als ersten Laudespsalm am Karsamstag. 2038 Dadurch stellt die Neuordnung Ps 79(80) in das Koordinatenfeld von Krippe, Kreuz und Parusie. Sie macht den mit adventlich-eschatologischer und österlicher Heilserwartung aufgeladenen Psalm zu einem liturgischen Interpretament des einen ungeteilten Heilsgeschehens in Christus von der Menschwerdung über das strahlend überwundene Kreuz bis zur Offenbarung des Auferstandenen am Ende der Zeiten. 2020 U. a. Eusebius; nach N ESMY , Tradition 436. 2021 Ders., Origenes u. a., ebd. 436-440. 2022 Dies., Athanasius, Gregor von Nazianz, Theodoret; ebd. 438. 2023 Hieronymus, ebd. 2024 Cassiodor, ebd. 2025 Origenes sowie Cyrill von Alexandrien und Hieronymus; ebd. 437f. 2026 Augustinus bringt hier den Menschen ins Spiel, dessen Gottebenbildlichkeit im Licht des göttlichen Antlitzes neu hervortrete und Gottes Bild wieder erkennen lasse; ebd. 438. 2027 Im byzantinischen Ritus steht V. 3 („erwecke deine Macht“) im sonntäglichen Morgengottesdienst für die Auferstehung; nach R OSE , Psaumes 124. 2028 CAO IV, 32 Nr. 6129; 326 Nr. 7305 § 1. 2029 Ebd. 448 Nr. 7824 § 6. 2030 Ebd. 306 Nr. 7227 § 8. 2031 AMS 238 § 4. 2032 Ebd. 240 § 4. 2033 Ebd. 244; 236; 235 § 7b. 2034 Ebd. 234 § 7a und § 7. 2035 Ebd. 236 § 8. 2036 Antiphonale I, 17f. 2037 Ebd. 615f. 2038 Ebd. 235f (= BA Stundengebet 73f). <?page no="380"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 372 Am Karsamstag weckt Ps 79(80) die adventliche Erinnerung an die Entäußerung des Sohnes bei seinem ersten Kommen in die Welt und verheißt sein „gewaltiges“ Erscheinen/ Wiederkommen, um „uns“ aufzurichten und zu retten. Liturgische Sprecherin dieses Psalms ist die Kirche, die sich ohne ihren getöteten „Hirten“ (V. 2) verloren weiß. In den Bildern vom Hirten und vom Tränenbrot/ -trank kehren zwei Motive wieder, die aus den Nokturnen des Karsamstagmorgens bereits bekannt sind; dazu die Schilderung des verwüsteten, niedergebrannten Eigentums Gottes - auch dies ein Symbol des Gekreuzigten. 2039 Auch Ps 79(80) erhebt (An-)Klage, Gott selbst habe die Vernichtung als Strafgericht über sein Volk herbeigeführt, weshalb auch nur er es retten kann und wird. Das Gottesvolk erbittet Schutz für den „Mann deiner Rechten“, den „Menschensohn, den du dir großzogst“ (V. 18) und hofft, „dann“ 2040 - durch ihn und mit ihm - „am Leben“ zu bleiben (V. 19). sL2 Meine Zuflucht bist du, o Herr, mein Anteil im Lande der Lebenden. Es folgt Ps 141(142) mit V. 6bc als Antiphon. 2041 Dieser Hilferuf ist aus der römischen Tradition als Vesperpsalm am Hohen Donnerstag und Karfreitag bekannt 2042 und gehört im Wochenpsalter des BA zur Freitagsvesper (Wochenpascha). 2043 Die am Morgen des Karsamstags gewählte Antiphon ist neu 2044 und setzt einen anderen, positiven Akzent. Sie nimmt ein Stichwort aus dem vorausgehenden Psalm 79(80),19 auf: „Du wirst uns beleben“ war dort als Hoffnung der klagenden Gemeinde Gottes formuliert worden. Hier ist nun wieder der „Menschensohn“ als Stimmführer der zuvor Bestraften am Wort: Selbst unschuldig hat er das Verhängnis der Schuldigen zum eigenen Schicksal gemacht und nimmt wie sie seine Zuflucht zum Herrn, der „mein Anteil im Lande der Lebenden“ ist (Ps 141[142],6c). - Dieser „Anteil“ ist für „die Gerechten“ (V. 8c) in christlicher Lesart Teilhabe am Erbe des Sohnes: 2045 Sie „scharen sich um mich, weil du mir Gutes tust.“ (V. 8d) Insbesondere die V. 8 und 6 können im Kontext der Kartage sowohl ,von unten‘ als auch ,von oben‘ christologisiert werden: Christus ist nicht nur Fürsprecher und Wortführer des kirchlichen Betens, sondern zugleich ihr Adressat (vox ecclesiae de Christo/ ad Christum). Vox Christi ,von unten‘ war mit dem Zitat Ps 141(142),8a („Führe mich heraus aus dem Kerker.“) bereits im Versikel der 3. Nokturn des Tages zu hören gewesen. Der Kerker als Ort der Unfreiheit und des Leidens (ggf. bis zum Tod) steht am Karfreitag bildlich für die Gefangenschaft des Sünders im Reich des Todes/ der Unterwelt, in dem alles und alle zugrunde gehen. Als tröstlichen Gegen-Ort dazu nennt die Antiphon das „Land der Lebenden“. Mit Ps 141(142),8a.6a verheißt die Liturgie am Karsamstag den Feiernden einen neuen Exodus: den Durchgang vom Tod zum Leben. 2039 Ps 73(74),1 sowie V. 3-9 und Ps 101(102),10. 2040 Vgl. das „Jetzt“ aus s2N. 2041 Was V. 6a ankündigt, wird nicht dem Wortlaut nach wiederholt, sondern liturgisch eingelöst: „Herr, ich schreie zu dir …“. 2042 Siehe oben Kapitel 1.3.1.1 dV5 und 1.3.1.2 fV1 (V. 5a). 2043 Antiphonale III, 335. 2044 In der römischen Tradition Considerabam ad dexteram et videbam, et non erat qui cognosceret me (V. 5a). Dieser Intention entspricht Ps 68(69),21 „Ich halte Ausschau nach einem, der mit mir fühlt, nach einem, der tröstet - und finde keinen.“ (f2N). 2045 In Anspielung auf die Taufe als Teilhabe an Christus sprechen die neutestamentlichen Briefe mehrfach vom Geist Christi als „Anteil“ am verheißenen Heil und Erbe: 2 Kor 1,22; 5,5; Eph 1,14. <?page no="381"?> 2.2 Das Benediktinische Antiphonale 373 sL3 Dein Antlitz werde ich schauen, und wenn ich erwache, satt mich sehn an deiner Gestalt. Der dritte Laudespsalm am Karsamstag ist Ps 16(17) mit V. 15 als Antiphon. Dieses Gebet eines Verfolgten appelliert an Gottes Gerechtigkeit. Der Beter beteuert - ähnlich wie Ijob - seine Unschuld und erbittet vom königlichen Richter ein gerechtes Urteil über sich und die Feinde. Sie lauern dem auf, der sich nichts zuschulden kommen ließ, bewaffnet wie Krieger und wie gierige Löwen ihrer Beute. Der letzte Vers, hier die Antiphon, drückt die Zuversicht des Beters aus, im Gericht Gottes zu bestehen und sein „Angesicht schauen“ zu dürfen. Das Neue Testament bezieht sich nicht ausdrücklich auf diesen Psalm; doch die endzeitliche Verheißung, „die Knechte Gottes und des Lammes … werden ihm dienen [und] sein Angesicht schauen“ verwendet dasselbe Motiv der Begegnung im Blick (Offb 22,3f; vgl. V. 15). Die christologisch-ekklesiologische Väterauslegung von Ps 16(17) bleibt knapp: vox Christi in seiner Passion und vox ecclesiae in ihrer Bedrängnis seien hier zu hören; 2046 und: „wann immer der Psalmist von seiner Unschuld und Reinheit spricht, spricht Christus.“ 2047 Die liturgische Verwendung von Ps 16(17) ist wenig signifikant, häuft sich aber in der vorösterlichen Zeit: am Donnerstag der 1. Woche der Quadragesima zitiert das Graduale Custodi me die V. 8.2; 2048 am Freitag der zweiten und Dienstag der dritten Woche der Quadragesima schöpfen die Introiten Ego autem (V. 15.1) und Ego clamavi (V. 6.8) 2049 daraus. Mit Ps 16(17) kommt im Karsamstagsoffizium des BA ein in christlich-liturgischer Hermeneutik bisher unauffälliger Text zum Einsatz. Im Wochenpsalter beschließt er in der Komplet am Sonntagvorabend (Wochenpascha) die Psalmenreihe Pss 14(15), 15(16) und 16(17). 2050 Die ersten zwei Psalmen gehören traditionell zur Karsamstagsvigil 2051 und thematisieren das von JHWH geschenkte Lebensglück in der Topographie vom „heiligen Berg“ (Ps 14[15],1) und „schönen Land und Erbe“ 2052 (Ps 15[16],6), wo man „den Herrn beständig vor Augen“ hat, „vor dessen Angesicht … Freude in Fülle“ herrscht (V. 8.11). Das BA ergänzt im Wochenpsalter den kanonisch folgenden Ps 16(17), der die Motivik des Schauens aufgreift (V. 2.8.15) und um einen wesentlichen Aspekt ergänzt: „wenn ich erwache…“ (V. 15) - Darin liegt jene österliche Hoffnung verborgen, die sowohl in der kosmischen Nacht auf den Sonntag als auch im Todesdunkel am Karsamstagsmorgen den Glauben an die Auferstehung trägt. Die wiederholte Bitte, Gottes „Antlitz 2053 schauen“ zu dürfen, nachdem die „Ausschau“ nach Mitgefühl und Hilfe bei den Menschen erfolglos geblieben war, 2054 mün- 2046 Augustinus, Hieronymus und Rupert von Deutz; nach N ESMY , Tradition 74. 2047 Eusebius, ebd. 2048 AMS 231 § 51. 2049 Ebd. § 55. 2050 Antiphonale III, 251-254. 2051 Siehe oben Kapitel 1.3.1.3 s1N2 und s1N3. 2052 Es sind dies die Gegenorte zur Gottferne in der Unterwelt/ Grube (Ps 15[16],10). 2053 Gott möge sein Antlitz zuwenden, nicht abwenden und verbergen, sondern es leuchten lassen (Versikel in der 2. Nokturn am Gründonnerstag; außerdem fMh1, s1N, s3N, sL1 u. ö.); doch noch ist das Antlitz des Beters mit Schmach bedeckt (Versikel in der der 2. Nokturn am Karfreitag). 2054 Vgl. f2N. <?page no="382"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 374 det in die Hoffnung des Beters auf „Sättigung“, d. h. auf die konkrete und erfahrbare „Manifestation seiner Rettung“. 2055 sL4 Jerusalem, der Herr wird dich neu errichten. Er wird heilen; er verbindet deine Wunden. Die Laudespsalmodie am Karsamstag schließt mit Ps 146(147A) und einer Antiphon in Anlehnung an die V. 2f: Wo der Psalm den Wiederaufbau der Stadt und die Versorgung der Wunden der „Versprengten Israels“ verheißt, spricht die Antiphon die Betenden direkt an: „dich“ wird der Herr neu errichten und „deine“ Wunden verbinden; und: Er wird - nicht nur dich, sondern alle und alles? - heilen. Ps 146(147A) gehört als erster Teil eines Doppelhymnus zu den letzten fünf Hallel- Psalmen des Psalters. 2056 Er thematisiert den Wiederaufbau Zions und die Heilung der Exilierten, erschöpft sich aber nicht in einem historisch einmaligen Ereignis, sondern verharrt in der Erwartung seiner eschatologischen Vollendung. 2057 Von der im Psalm ausgesagten Obsorge Gottes für alle Geschöpfe spricht auch das Neue Testament: Gott ernährt „die Raben“ (Lk 12,24; vgl. V. 9), er schenkt „Regen und fruchtbare Zeiten“ (Apg 14,17; vgl. V. 8) und benennt „jedes Geschlecht im Himmel und auf Erden“ (Eph 3,15; vgl. V. 4). V. 2f von der endzeitlichen Heilung Jerusalems und seiner Wiedererrichtung als Stätte der Sammlung Israels/ der Erwählten lässt sich auf die Schriftworte der Evangelisten über den Tod Jesu „um die versprengten Kinder Gottes wieder zu sammeln“ (Joh 11,52), über die Zusammenführung der Auserwählten bei seiner Wiederkunft (Mt 24,31), über die von Christus „auf diesen Felsen“ erbaute Kirche (Mt 16,18) sowie auf die Selbstoffenbarung Jesu als messianischer Geistträger und Heiland der „Zerschlagenen“ (Lk 4,18) beziehen. Die patristische Auslegung kommentiert Ps 146(147A) auf dieser Basis ausführlich. 2058 Sie sieht die Verheißung, JHWH werde sein Volk aufbauen und heilen (V. 2f), in der Kirche anfanghaft eingelöst: Gott werde das himmlische Jerusalem neu erbauen (V. 2), um Israel aus der Zerstreuung zu sammeln; 2059 doch seien „einige aus eigenem Verschulden nicht aus der Gefangenschaft zurückgekehrt, sondern zögen das Land der Pilgerschaft der Heimat vor.“ 2060 In seinem irdischen Leben sei Christus in „das Jerusalem, das seine Propheten tötet, eingezogen; die Freude über seinen Triumph aber herrschte im anderen Jerusalem“. 2061 Der Herr, „der Jerusalem erbaut, indem er die Versprengten sammelt, die Stücke der zerbrochenen Herzen aufklaubt und zusammenfügt“, wolle die Völker der Erde in heiliger Einigung als „die von ihm Auserwählten aus allen vier Windrichtungen zusammenführen, von einem Ende des Himmels bis zum andern“ (Mt 24,31). 2062 Der Sammlung (der Völker) in der Heiligen Stadt gehe deren Aufbau voraus: Sie erstehe schon „heute bei uns“ (der Kirche) durch das Werk 2055 Vgl. die Metaphorik von Licht und Geleit, Dürsten und Lechzen in Ps 42(43) sowie die in Vs 3 gestellte Frage „wann darf ich … Gottes Antlitz schauen? “; wie „Sättigung“ das Erfüllungsbild zur Entbehrung, so sei „beim Erwachen“ die Antwort auf die Sehnsucht und Frage nach Gott, so J ANOWSKI , Konfliktgespräche 96. 2056 Der zweite Teil ist Ps 147(147B). 2057 Nach Z ENGER , AT 1214. 2058 Die längeren französischen Zitate zur Auslegung von V. 2f bei N ESMY , Tradition 782-784, werden hier paraphrasiert und kursorisch zusammengefasst. 2059 Chrysostomus, Hilarius, Augustinus u. a., ebd. 2060 Theodoret, ebd. 783. 2061 Hilarius, ebd. 2062 Cassiodor, ebd. <?page no="383"?> 2.2 Das Benediktinische Antiphonale 375 des Glaubens und der Hoffnung; denn das Erbarmen Gottes „erbaut uns“ (die Gläubigen) „durch die Gnade seiner Rechtfertigung“. 2063 Doch „ziehen wir aus der Ferne, gejagt von der Sünde, ins ewige Jerusalem im Himmel, wo die Engel wohnen; Gott, der die Stadt baut, sieht unsere Pilgerfahrt; er sammelt das versprengte Israel, teils gefallen, teils verirrt. Gott hat ihre Irrfahrt voll Erbarmen gesehen; er hat die gesucht, die ihn nicht suchten, und diesen Gefangenen seinen Sohn als Retter gesandt: Er hat sterbliches Fleisch angenommen, um uns mit seinem Blut zurückzukaufen …“. 2064 Der Heilkunst Gottes - wie der des barmherzigen Samariters (Lk 10,25-37) - bedürfen „die Kranken, nicht die Gesunden“ (vgl. Mt 9,12) 2065 ; nur er könne, wie V. 3 verheißt, Leben und Trost schenken (vgl. Röm 4,17 und 2 Kor 7,6). 2066 Das Neue Jerusalem, in dem alle Gebrechen beseitigt sind, sei schon da und werde doch erst „wie im Spiegel und rätselhaft“ (vgl. 1 Kor 13,12) von uns bewohnt. 2067 Wer aber die Heilung der Herzen begehre, der beeile sich, das seine zu zerbrechen, damit er durch die Sorge des himmlischen Arztes vollkommen genese. 2068 Gott nämlich verachte die gebrochenen Herzen nicht (vgl. Ps 50[51],19), sondern heile sie; die stolzen Herzen aber breche er - vielleicht um auch sie, erst gebrochen, schließlich zu heilen. 2069 In der römischen Liturgie spielt Ps 146(147A) keine hermeneutisch exponierte Rolle. Seines eschatologischen Gehalts wegen beschließt Pss 146-147(147A,B) im Benediktinischen Antiphonale die Sonntagslaudes. 2070 Seine Verwendung am Karsamstag wahrt nicht nur den Lob-Charakter der Hore, sondern bringt die sich anbahnende Osterfreude an diesem Tag schon zum Greifen nahe. Da nur der erste Abschnitt des zweiteiligen Psalms erklingt, endet der Hymnus aber nicht in Gewissheit, sondern voll Vertrauen „auf seine Güte“ (V. 11). Zum Canticum sBen Sie schauen auf zu dem, den sie durchbohrten; sie halten Klage wie um den einzigen Sohn. Als Antiphon zum Benedictus erklingt das aus der römischen Tradition rezipierte Zitat aus Sach 12,10bc 2071 vom heilsamen Aufblick zum „Durchbohrten“, dessen Verszeile „Sie schauen auf zu dem, den sie durchbohrten“ im Johannesevangelium beim Tod Jesu als ,Erfüllungszitat‘ eingeführt wird (Joh 19,37b). Wie an den Vortagen resümiert auch am Karsamstag ein Prophetenwort das Geschehen in der für die römische Liturgie charakteristischen, nüchtern-konstatierenden Weise (3. Person/ Pl). 2072 Sofort darauf folgt wiederum, nun aber vollständig mit Vers, die Antiphon: sAnt Christus factus est pro nobis obediens usque ad mortem, mortem autem crucis. V Propter quod et Deus exaltavit illum, et dedit illi nomen, quod est super omne nomen. 2063 Hilarius, ebd. 2064 Augustinus, ebd. 2065 Eusebius, ebd. 783. 2066 Chrysostomus, ebd. 2067 Hilarius, ebd. 783f. 2068 Cassiodor, ebd. 784. 2069 Augustinus, ebd. 2070 Antiphonale I, 468f. 2071 In der römischen Tradition war das Prophetenwort am Karsamstagmorgen zweimal zu hören gewesen: die Verszeile Sach 12,10c als zweite Laudesantiphon; V. 10bc zu einer der Kleinen Horen, eventuell zur Sext; siehe oben Kapitel 1.3.1.3 sL2 und sD3. 2072 Siehe oben dBen Jes 53,7.11; vgl. auch fBen Joh 3,16 sowie sL1 Röm 8,32. <?page no="384"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 376 Mittagshore sMh1 Ich vertraue auf Gott und fürchte mich nicht. Was können Menschen mir antun? Die Mittagshore 2073 beginnt mit Ps 55(56) samt psalmogener Antiphon V. 5bc.12. Im Zentrum des Psalms steht die Notschilderung des Beters, dessen Verderben übermächtige Gegner im Sinn führen und täglich vorantreiben. Die psalmimmanente Wiederholung von V. 5bc = V. 12 stabilisiert das Gebet im Vertrauen. Es enthält außerdem die Motive vom Zorn Gottes über die Frevler und ihrem Zurückweichen „am Tag, da ich rufe“ (V. 10). 2074 Die neutestamentlichen Schriften beziehen sich nicht ausdrücklich auf Ps 55(56), etwa um die Anfeindung Jesu zu illustrieren; die dem Psalm eigene „Gebetsdynamik, die den Beter den (für die Klagepsalmen typischen) Weg vom ,Tod‘ zum ,Leben‘ führen will“ 2075 , lässt sich dennoch als Interpretament des Lebens und Leidens Jesu verstehen: Die „Tag für Tag … meine Worte [verdrehn], lauern und spähen, genau auf meine Schritte [achten] und mir nach dem Leben [trachten]“ gleichen jenen Gegnern Jesu, die ihm „eine Falle stellen“ wollen (Mk 10,2 par; Mk 12,13 parr) und „nach einer Möglichkeit [suchten], ihn umzubringen“ (Mk 11,18; 14,1; Lk 22,2); die schließlich „den Sohn Gottes mit Füßen getreten, das Blut des Bundes […] verachtet und den Geist der Gnade geschmäht haben“ (Mk 11,18; Lk 19,47; Joh 5,18; 7,1.20; 8,37; Hebr 10,29; vgl. V. 2.6.7). Dennoch sollen die Jünger sich nicht vor denen fürchten, „die den Leib töten, die Seele aber nicht töten können“ (Mt 10,28; vgl. V. 5.12); denn mit Jesus werden sie „nicht in der Finsternis umhergehen, sondern […] das Licht des Lebens haben“ (Joh 8,12; vgl. V. 14). Auch die Kirchenväter lesen Ps 55(56) versweise christologisch, ekklesiologisch und anthropologisch neu; ihre Deutung ist vielschichtig. So erzähle der Psalm im Leiden Christi 2076 zugleich vom Rückruf und der Wiederherstellung des Menschengeschlechts. 2077 Nicht nur „die Menge“ vergreife sich an Jesus (Lk 4,30; Mk 15,11.15) 2078 , sondern „der Mensch“ - insofern er „Fleisch“, d. h. dem Tod und „Mörder von Anbeginn“ verfallen sei 2079 (vgl. V. 2.5.12 2080 ) - wurde dem „Mann, der guten Samen auf seinen Acker säte“, zum Feind (vgl. Mt 13,28) 2081 . Daher kann nur Christus, der „Fleisch gewordene“ einzig Sündenlose, mit Recht sagen quid faciat mihi caro? (V. 5c). 2082 Mit Christus dürften auch die Gläubigen gegen jeden Ankläger Gott „für uns“ wissen (vgl. Röm 8,31). 2083 Als „Unterworfener“ (bekehrter Frevler; vgl. V. 8.10) 2084 ist der aus der Macht des Todes zurückgekaufte Mensch dem Leben zu- 2073 Antiphonale II, 47-50 (= BA Stundengebet 81-84). 2074 Beide begegnen nicht nur im Psalter häufig, sondern waren auch im römischen Offizium der vorösterlichen Tage anzutreffen (z. B. am Gründonnerstag in den Psalmen 68[69] und 69[70] + d1N2; in Ex 15, Hab 3 etc.). Die erneuerte Liturgia Horarum ist hier sehr viel zurückhaltender und hat die Themen Zorn und Feinschaft an manchen Stellen bewusst gestrichen, u. a. die V. 23-29 aus Ps 68(69) am Gründonnerstag; siehe oben Kapitel 2.1.1.1. 2075 Z ENGER , AT 1103. 2076 Origenes; auch Hilarius und Hieronymus; nach N ESMY , Tradition 242. 2077 „Le rappel et la restauration du genre humain“ (Gregor von Nyssa, zit. ebd.). 2078 Hieronymus sieht auch die verfolgte Kirche mitgemeint, ebd. 2079 Gregor von Nyssa, ebd. 243. 2080 In der Vulgata (sg.): homo (V. 2.11c); caro (V. 5). 2081 Augustinus; nach N ESMY , Tradition 242. 2082 Origenes, ebd. 2083 Eusebius, ebd. 2084 Origenes, Augustinus, ebd. 243. <?page no="385"?> 2.2 Das Benediktinische Antiphonale 377 rückgegeben: In Christus, „dem Licht der Lebenden, der durch sein Kommen in die Welt alle Menschen erleuchtet“ (vgl. V. 14d), werde er dem Herrn gefallen. 2085 Die römische Liturgie verwendet Ps 55(56),2.4 als Gradualgesang Miserere mei Deus am Aschermittwoch. 2086 Gemäß der patristischen Auslegungstradition von Ps 55(56) auf die conditio humana ist der Rückgriff auf diesen Text in der Liturgie des Karsamstags ebenso stimmig wie seine sonstige Verwendung in der Samstagsvigil: 2087 Das Deutungspotential dieses Psalms für die Passion Jesu ist von soteriologischer Relevanz für alle Menschen, eben für ,den‘ Menschen. sMh2 Herr, unser Gott, wende doch unser Geschick! Der zweite psalmodische Abschnitt der Mittagshore am Karsamstag besteht aus den Psalmen 119(120), 123(124) und 125(126), gerahmt von der gemeinsamen Antiphon Ps 125(126),4a. Alle drei Psalmen zählen zu den Wallfahrtspsalmen, die Zion/ Jerusalem als „Ort des dort gegenwärtigen und von dort ausgehenden Segens“ zum Thema haben. 2088 Je fünf der insgesamt 15 Psalmen bilden eine Untergruppe von Klagepsalmen, Lobpsalmen und Schilderungen der von Zion her gesegneten Lebenswelt. Ein gemeinsames Kennzeichen besteht in der Bewegung „von der Peripherie zum Zentrum“: 2089 Der Beter erfährt sich am Rande der bewohnbaren Lebenswelt und erhofft sich vom Sitz Gottes her Segen und Leben. Obwohl keiner dieser Psalmen im Neuen Testament rezipiert wird, können sich Christen in der Welterfahrung dieser Texte wiederfinden, 2090 wie auch die Kirchenväter an den „Gradualpsalmen“ einiges exegetisches Interesse zeigen: 2091 Der mittlere hoffnungsvoll-dankbare Ps 123(124) sei der „Gesang der Glieder Christi“ (vox ecclesiae), deren „Stimme in diesem Chor [der Erwählten Gottes] nicht fehlt“. 2092 Ps 125(126) beschreibe die Gefangenschaft und Entfremdung des Menschen, der - ehemals „Bürger Jerusalems“, dann „verkauft unter die Sünde“ - heimatlos geworden sei. 2093 Die Antiphon V. 4a bedeute in christlicher Relecture die Abwendung jenes tödlichen Schicksals, das der Verfall an die Sünde mit sich gebracht hat. 2094 Im zweiten und dritten Psalm der Mittagshore ist vom „Wasser“ die Rede: der „Wildbach“ und die „wilden und wogenden Wasser“ (Ps 123[124],4f) seien Symbol der Versuchungen, 2095 und Anspielung auf den Untergang der Ägypter beim Exodus (Ex 14,28); 2096 auch Chiffre für den gewalttätigen Zorn der Widersacher und für den 2085 Gregor von Nyssa, ebd. 244. 2086 AMS 237 § 37b. 2087 Antiphonale I 608f. 2088 Z ENGER , AT 1183; es sind das die Psalmen 119(120) - 133(134). 2089 Ebd. 2090 Ein Beispiel dafür ist Ps 119(120); siehe oben Kapitel 1.3.1.1 und 1.3.1.2 dfV2. Ein neutestamentlicher Anklang an Ps 123(124),4 mag in jenem „Strom von Wasser“ erkennbar sein, den die apokalyptische Schlange hervorbringt, um die Frau in den Fluten fortzureißen. (Offb 12,15); ein anderer an Ps 125(126),5 in der Seligpreisung der Trauernden aus der Bergpredigt (Mt 6,21). 2091 Vgl. Anm. 2090. 2092 Augustinus, nach N ESMY , Tradition 693. 2093 Ders., ebd. 698. 2094 Vgl. Hilarius, ebd. 700. 2095 Origenes, ebd. 695. 2096 Augustinus, ebd. <?page no="386"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 378 „Strom der Übel“, aus dem der Herr getrunken habe (vgl. Ps 109[110],7); 2097 nicht zuletzt Typos des Taufwassers, das „wie ein Strom unsere Sünden fortschwemmt“. 2098 Die „Trockentäler“ 2099 (Ps 125[126],4) bezeichneten „die (Heiden-)Völker“, die noch „aus der Gefangenschaft heimkehren“ müssten 2100 sowie diejenigen (unter den Juden), „die Gefangene in Babylon geblieben sind“. Die liturgische Verwendung dieser Psalmen ist bis auf Ps 119(120) unerheblich. Aus ihm stammt das Graduale Ad Dominum am Freitag in der 2. Quadragesimawoche (V. 1f) 2101 ; und man rezitiert den Psalm ggf. in der Vesper am Hohen Donnerstag und ihrer Wiederholung am Karfreitag. 2102 Gemäß benediktinischer Tradition sind die Gradualpsalmen auch im F ÜGLISTER - Schema den kleinen Horen zugeordnet; die Psalmen aus der Mittagshore am Karsamstag üblicherweise der Non: Ps 119(120) am Montag; Ps 123(124) am Dienstag; Ps 125(126) am Mittwoch. 2103 Für die Mittagshore des Karsamstags im Benediktinischen Antiphonale wurde aus jeder der drei Untergruppen von Psalmen (Klage, Lob, Leben vom Zion her) einer ausgewählt. Ihre Abfolge lässt folgende Bewegung nachvollziehen: der individuelle Hilferuf Ps 119(120) mündet mit Ps 123(124) in den Dank für die Befreiung des Gottesvolkes und rekapituliert abschließend den ,österlichen‘ Durchgang von der Trauer zur Freude in Ps 125(126). Die Antiphon Ps 125(126),4a verbindet die drei Psalmen zu einer schlichten Bitte voll Hoffnung, doch ohne Siegesgewissheit. Im liturgischen Kontext spricht hier der Mensch, sprechen alle Menschen, dessen/ deren Schicksal sich in „Zion“ - in der Person Jesu Christi - entscheidet. Die Vesper Zur Psalmodie sV1 Meine Seele gibst du nicht preis der Unterwelt; deinen Heiligen lässt du nicht schauen die Grube. Die Vesper am Karsamstag 2104 beginnt mit dem aus dem römischen Karsamstagsoffizium bekannten Psalm 15(16). 2105 Das BA sieht ihn im Wochenpsalter in der Sonntagskomplet vor. 2106 Als Antiphon steht hier allerdings V. 10, nicht wie früher Caro mea requiescet in spe (V. 9). 2107 In ihrer dialogischen Ausdrucksweise („meine Seele - du“, „du - deinen Heiligen“) ähnelt die neue Antiphon den meisten im BA für die Kartage ausgewählten Antiphonen, die sich unaufhörlich an Gott wenden und ihn um sein Eingreifen anrufen. Auch die in Ps 15(16) ausgedrückte Hoffnung auf Rettung kann sich erfüllen, weil und indem Gott am Beter handelt („gibst du“, „lässt du“). Schon die traditionelle Antiphon Caro mea … (V. 9) hatte die Feiernden angeleitet, im Mitsprechen der vox 2097 Cassiodor, ebd. 2098 Athanasius, ebd. 700. 2099 In der EÜ: „versiegte Bäche“. 2100 Origenes, ebd. 2101 AMS 234 § 51. 2102 Siehe oben Kapitel 1.3.1.1 und 1.3.1.2. 2103 Antiphonale II, 90; 98; 104. 2104 Antiphonale III, 126-132 (= BA Stundengebet 85-91). 2105 Siehe oben Kapitel 1.3.1.3 s1N3. 2106 Antiphonale III, 253. Er steht dort zwischen seinen Nachbarpsalmen Ps 14(15) und Ps 16(17). 2107 Dieser hatte die zuversichtliche (liturgisch: vorösterliche) Aussicht des Beters auf die ganzleibliche Wiederherstellung ins Zentrum gerückt. <?page no="387"?> 2.2 Das Benediktinische Antiphonale 379 Christi die eigene Auferstehungshoffnung zu bekunden. Dass diese sich nicht erst am Ende der Zeiten erfüllt, sondern für die Getauften schon angefangen hat, darf in der präsentischen Formulierung der neuen Antiphon mitgehört werden. Sie bezieht die Betenden in das Handeln des Vaters am Sohn ein. Die psalmogene Antiphon „Meine Seele gibst du nicht preis der Unterwelt; deinen Heiligen lässt du nicht schauen die Grube“ zitiert V. 10 nicht wörtlich (dort: „Denn du gibst mich nicht preis der Unterwelt“ 2108 ), sondern ersetzt „mich“ durch „meine Seele“. „Seele“ verwendet die Übersetzung sowohl für näfäsh/ psych'/ animam meam (V. 10) als auch für kabod/ gloria und gl@ssa/ lingua (V. 9b). V. MT LXX Vulgata EÜ BA (Ps) BA (Ant) 9 \^ \_ `\ { | } € ‚ „ „}† cor lingua (iuxta LXX) gloria (iuxta hebr.) caro Herz Seele Leib Herz Seele Leib 10 ‡ˆ‰ Š‹ Ž animam meam mich mich meine Seele ’ “ ”• sanctum tuum deinen Frommen deinen Frommen deinen Heiligen „Seele“ konnotiert in der deutschen Sprache weder die „Ehre“ 2109 des Menschen (nach MT) noch seine Fähigkeit zur Sprache und Antwort als Dialogpartner Gottes („Zunge“, nach LXX). „Meine Seele ist fröhlich“ lässt eher an einen Beter mit heiterem Gemüt denken. Dennoch bleibt die ganzheitliche Perspektive von V. 9 prinzipiell erhalten: Auch die deutschsprachige Trias „Herz - Seele - Leib“ muss nicht verschiedene Teile im oder am Menschen meinen 2110 , sondern beschreibt den Menschen als gottbezogen hinsichtlich seines Willens und seiner Einsicht und in seiner Lebendigkeit, andererseits als weltbezogen-sterbliches Geschöpf. Die Abhängigkeit von Gott und die Fähigkeit auf Gott hin machen seine Lebenswirklichkeit aus („mich“, V. 10). Im zweiten Halbvers der Antiphon wird deutlich, dass nicht die Rettung einer körperlosgeistigen Seele gemeint ist, sondern die Rettung all dessen, was das Sein und Da-Sein des Heiligen/ Frommen ausmacht: Er ist lebendige Gottesgabe (animam meam/ näfäsh) und er ist der Geheiligte durch sein aus der Gnade Gottes gelebtes „frommes“ Leben (sanctum tuum/ chassid). In der Liturgie am Karsamstag ist Ps 15(16),10a zunächst als intime Anrede und Vertrauensäußerung des gekreuzigten Sohnes an den Vater hörbar (vox Christi). Die Selbstbeschreibung des Psalmisten im zweiten Halbvers - hier: Selbstoffenbarung Christi - wird zum Bekenntnis der Kirche zu Christus, „deinem Heiligen“ (vox ecclesiae de Christo). Von ihm erhoffen die Getauften - die sich mit Christus als „deine Heiligen“ 2111 verstehen dürfen -, er werde auch ihr Leben nicht im Tod enden lassen (vox ecclesiae ad Christum). 2108 Abgesehen von „Grab“ (EÜ) statt „Grube“ (BA) entspricht diese Wortwahl der Einheitsübersetzung. 2109 So übertragen B UBER / R OSENZWEIG , Preisungen 25. Kabod/ gloria meint jene „Herrlichkeit und Ehre“, mit der Gott sein Geschöpf „gekrönt“ hat (vgl. Ps 8,6). 2110 Allerdings evoziert der Begriff „Seele“ im westlichen Denken häufig die mit dem biblischen Verständnis nicht kongruente Vorstellung einer vom Leib gesonderten Entität. 2111 Vgl. die paulinische Anrede der Gemeinden (z. B. Röm 1,7; 2 Kor 1,1; Phil 1,1 u. a.). <?page no="388"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 380 Die Antiphonen in der Tagzeitenliturgie der Kartage nennen wiederholt metaphorische Orte. 2112 In Ps 15(16),10 bezeichnen „Unterwelt“ und „Grube“ jenes bloße Vegetieren, das nicht mehr „Leben“ genannt werden kann. Es stellt nicht nur die letzte Station im Sinne irdischer Vergänglichkeit dar, sondern - erschreckender noch - eine Sphäre der Entzogenheit, des Nicht-da-seins Gottes. 2113 In einem derart lichtlosen Gefängnis ,unter Tag‘ kann nichts leben oder gedeihen; es erlaubt keine Bewegung mehr, geschweige denn ein Entkommen. - Diesem Nicht-Lebensraum stellt V. 11 den „Weg zum Leben“ gegenüber, eine zweite Ortsmetapher, die den Beter nicht festsetzt, sondern zur Bewegung auffordert. Dieser „Weg“ ist Symbol einer Beziehung, die sich „im Gehen“ 2114 erfahren lässt. Ihn zu beschreiten bedeutet, JHWH ,leibhaftig‘ zu suchen („mir vor Augen“; „mir zur Rechten“ [V. 8]) und in seiner Gegenwart zu verweilen. Das „liebliche Land“ und „Erbe“ (V. 6) zu erlangen, heißt: Leben zu finden „vor deinem Angesicht“ und „zu deiner Rechten“ (V. 11). In der christlichen Liturgie am Vorabend der Osternacht stellt Psalm 15(16) eine Einladung an die Feiernden dar, durch die Taufe und aus ihr lebend, Christus als dem „Weg zum Leben“ (vgl. Joh 14,6) zu folgen: „mit ihm begraben“ zu werden, um „mit ihm auch in seiner Auferstehung vereint [zu] sein“ (Röm 6,4f) - als „Erben Gottes und Miterben Christi“ (Röm 8,17). sV2 Ich werde schauen Gottes Güte im Lande der Lebenden. Als zweiter Vesperpsalm folgt Ps 26(27), der im römischen Offizium am Karfreitag und am Karsamstag gesungen wird; 2115 dazu die traditionelle Karsamstagsantiphon (V. 13). 2116 Im Wochenpsalter hat er seinen Platz in der Freitagsvesper. 2117 Sprecher des Psalms sind im liturgischen Kontext des Karsamstags Christus und mit ihm die Kirche: vox Christi, dessen Gottvertrauen sich bewährt hat, ist zum Grund ihrer Zuversicht geworden (vox ecclesiae). Ps 25(27),13 stellt mit dem „Land der Lebenden“ den Antitopos zur lichtlosen „Unterwelt“ und beengenden „Grube“ der vorangegangenen Antiphon Ps 15(16),10 dar: Der „Weg zum Leben“ kommt im „Land der Lebenden“ (V. 13) an sein Ziel; im „Haus des Herrn“ (V. 4b) und in „seinem Zelt“ (V. 5b.6b); in „seinem Tempel“ (V. 4c), und „unter seinem Dach“ (V. 5a), wo der Herr, mir „Heimstatt gibt“ (vgl. V. 10). Beide Psalmen sind motivisch einerseits örtlich, andererseits durch den Gesichtssinn verknüpft: Gott, der selbst „mein Licht“ ist (V. 1), wird sich - endlich - sehen lassen als „Freundlichkeit“ und „Güte“ (V. 4c.13). Wie der Beter zuletzt Gott „beständig vor Augen“ hatte, fährt er auch jetzt fort, „dein Antlitz [zu] suchen“ (V. 8), das Gott ihm nicht verbergen möge (V. 9). Das Moment der Gefährdung, das nicht erst der Trennung von Gott, sondern schon dem Unterwegssein mit Gott innewohnt, bleibt bestehen: Trotz der wiedergewonnenen Lebensperspektive ist der „Tag des Unheils“ (V. 5a) noch nicht vorüber; drohte zuvor die Auslieferung an die lebensfeindliche „Unterwelt“, fürchtet der Beter nun, „der Gier 2112 Vgl. Ps 101(102); siehe oben 2. Nokturn. 2113 Hier „verbirgt“ sich Gott nicht nur temporär, sondern an diesen ,Orten‘ (unter diesen Gegebenheiten) scheint die Wirklichkeit des Gottesnamens JHWH („Ich-bin-da“) an ihr Ende zu kommen. Ist ein solcher ,Ort‘ überhaupt denkbar? Die Psalmen jedenfalls fürchten ihn. 2114 Im Übrigen „geht“ auch Gott an der Seite des Beters (V. 8; in der EÜ: „steht“), nach Z ENGER , AT 1053. 2115 Siehe oben Kapitel 1.3.1.2 f1N3 und 1.3.1.3 s2N2. 2116 Am Karfreitag ist V. 12 die Antiphon. 2117 Antiphonale III, 336f. <?page no="389"?> 2.2 Das Benediktinische Antiphonale 381 der Bedränger preis[gegeben]“ zu werden (V. 12). In dieser Gefahr bittet er erneut darum, „mir deinen Weg“ und „ebenen Pfad“ zu weisen (V. 11). Der Psalm endet mit der (Selbst-)Aufforderung zum geduldigen, unverdrossenen „Harre[n] auf den Herrn.“ (V.14) sV3 Nur eine Weile ist der Herr im Zorn, doch seine Güte will das Leben. Kehrt am Abend auch Weinen ein - am Morgen ist’s Jubel. Auch den dritten Vesperpsalm Ps 29(30) - im BA sonst ,Oster-‘psalm der Sonntagslaudes 2118 - übernimmt die Neuordnung aus der römischen Karsamstagsliturgie. 2119 Wie früher in den Nokturnen folgen nun in der Vesper die Pss 15(16), 26(27) und 29(30) in aufsteigender Reihung aufeinander. 2120 Der letzte Psalm erhält mit V. 6 (anstelle von bisher Domine, abstraxisti ab inferis animam meam, V. 4) eine neue Antiphon. In ihr steht die Hoffnung auf Veränderung im Zentrum. Mit den V. 6a.7b (im Psalm wörtlich „nur einen Augenblick ist er im Zorn … - bis zum Morgen ist’s Jubel“) verankert sich der Beter/ Christus - dann mit ihm die Feiernden - in der zuletzt formulierten Aussicht auf „Gottes Güte … im Lande der Lebenden“ (Ps 26[27],13) und spitzt sie zu dem Bekenntnis zu: „seine Güte will das Leben.“ Dies ist die tröstliche Botschaft beim Anbruch der Nacht, in der die Verwandlung von Weinen in Jubel stattfindet, und der Beter nicht am „Zorn“ Gottes und der eigenen Trostlosigkeit zugrunde geht. Sie trägt ihn durch bis zum Morgen, an dem offenbar wird, dass nichts so bleibt, wie es ist, und nichts so ist, wie es scheint. Hier gewinnt nicht nur wie bisher der Sprecher, sondern auch der Adressat von Ps 29(30) ein zunehmend klar christologisches Profil: „der Herr“ ist JHWH, wenn Christus an ,seinem‘ Karsamstag ad patrem betet; in der Osternacht singen denselben Psalm die Getauften ihrem zum Vater erhöhten Herrn (ad Christum), denn „du zogst mich empor aus der Tiefe … hast mich heraufgeholt … mich zum Leben gerufen“ (V. 1.3). 2121 Alter und neuer Antiphon ist die Dynamik der Rettung gemeinsam, die als Verwandlung „bis zum Morgen“ erfahren wird, doch blickt der ältere Text (abstraxisti V. 4) bereits darauf zurück, während V. 6 „nur eine Weile …“ den Durchgang vom Abend zum Morgen, von der Trauer zur Freude, erst noch zu gehen hat. sV4 Ihr uralten Pforten, weitet euch! Der König der Herrlichkeit will Einzug halten. Die Vesperpsalmodie schließt mit Ps 23(24), einem hermeneutisch überaus ergiebigen Psalm, den die römische Tradition ebenfalls für den Karsamstag vorgesehen hatte; beibehalten wird auch die psalmogene Antiphon V. 7.9. 2122 Die reiche liturgische Verwendung von Ps 23(24) 2123 zur Deutung christologischer Festinhalte kommt auch in der Neuordnung zum Tragen: Das BA platziert ihn - außer als Invitatoriumspsalm am Donnerstag 2124 - v. a. in den Vigilien des Weihnachtsfest- 2118 Antiphonale I, 467f. 2119 Siehe oben Kapitel 1.3.1.3 s2N3. 2120 Der dort zwischen Ps 15(16) und Ps 26(27) stehende Ps 23(24) ist im BA nachgestellt; siehe unten sV4. 2121 Messlektionar I, 153. 2122 Siehe oben Kapitel 1.3.1.3 s2N1. 2123 Ebd. 2124 Antiphonale I, 550f. <?page no="390"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 382 kreises (Weihnachten, Weihnachtsoktav und Epiphanie) 2125 und in der Vesper am Karsamstag. Hier lässt Ps 23(24) Christus noch deutlicher als zuletzt als Subjekt des Handelns hervortreten. Der „König der Herrlichkeit“, nach dem der Psalm zweimal rhetorisch fragt, ist JHWH-König und - für die Kirche - Christus, der „stark und gewaltig im Kampf“ (V. 8) den Tod besiegt (hat): Ihm muss das „Reich des Todes“ (Ps 29[30],4) seine Pforten öffnen; nicht um ihn wie alle früher Eintretenden ins Nicht-Leben aufzunehmen, sondern um von ihm als „Segensbereich des Zionsgottes“ 2126 in Besitz genommen zu werden. „Des Herrn“ ist nicht nur „die Erde“ und der „Berg des Herrn“, die Ps 23(24),1.3 als Orte des Lebens besingt, sondern im descensus Christi ad inferos fortan auch die lebensfeindliche Schattenwelt. Die ansonsten weitgehend innovative Psalmenverteilung im BA greift für die Vesperpsalmodie am Karsamstag ausdrücklich auf vier Vigilpsalmen der römischen Tradition dieses Tages zurück. Sie übernimmt grundsätzlich deren aufsteigende Ordnung Pss 15(16), 26(27), 29(30), macht aber bei Ps 23(24) eine Ausnahme. Erster und dritter Psalm erhalten andere psalmogene Antiphonen als bisher, die sie im neuen Kontext theologisch eigens nuancieren: Tradition (Vigil) Aussage BA (Vesper) Aussage Ps 4 Ps 14(15) Ps 15(16) röm. Ps 15(16) BA Ant.: Caro mea requiescet in spe. Hoffnung auf sicheren Ort (= Ziel des Weges zum Leben) Ant.: Meine Seele gibst du nicht preis der Unterwelt; deinen Heiligen lässt du nicht schauen die Grube. Hoffnung auf Bewahrung und Entrinnen aus dem Tod (= Weg zum Leben) Ps 23(24) (der Weg führt über den) Abstieg in die Unterwelt siehe unten Ps 26(27) Hoffnung auf das Land der Lebenden Ps 26(27) Hoffnung auf das Land der Lebenden Ps 29(30) Ps 29(30) Ant.: Domine abstraxisti ab inferis animam meam. Dank für die Rettung aus der Unterwelt Ant.: Nur eine Weile ist der Herr im Zorn, doch seine Güte will das Leben. Kehrt am Abend auch Weinen ein - am Morgen ist‘s Jubel. Aussicht, durch denTod hindurch zum Leben zu gelangen Hoffnung der Weinenden Dank für die Bewahrung in der Unterwelt Ps 23(24) (Begründung: ) weil der König der Herrlichkeit in sie eingegangen und sie in Besitz genommen hat Ps 53(54) Ps 75(76) Ps 87(88) 2125 Ebd. 68; 86f; 113f. 2126 Z ENGER , AT 1063. Die EÜ übertitelt Ps 23(24) mit „Der Einzug des Herrn in sein Heiligtum“. <?page no="391"?> 2.2 Das Benediktinische Antiphonale 383 Mit reduzierten Mitteln (vier statt früher neun Psalmen) bleibt dennoch ein Herzstück der Karsamstagstheologie erhalten. Der Abstieg Christi in die „Unterwelt“ (descensus) bildet den Rahmen und das durchgängige Thema: Der Wider-Ort zum Leben muss dem Leben Raum geben, wodurch der Schreckensort seinen tödlichen Schrecken verliert. Das ist mehr, als der Beter erhofft hatte. Darin erreicht die noch nicht restlos eingelöste Verheißung von „Güte“ und „Leben“ in Ps 26(27),13 (u. ö.) sowie in der Antiphon zu Ps 29(30),6 ihren letzten Sinn. Ps 29(30) ist über die bisherige Hoffnung einen Schritt hinausgegangen: Gott rettet nicht nur im Verschonen, er bewahrt in der Not. Er selbst wird sie in Freude verwandeln - durch den Sohn, der sich in sie entäußert hat. Ps 23(24) verheißt, dass der descensus Christi zum Triumphzug wird. Der letzte Gottesdienst vor Anbruch der Ostervigil entlässt die Feiernden mit einem Blick in die „Hölle“ 2127 und kündigt ihre heilbringende Kapitulation vor dem „König der Herrlichkeit“ an. Zum Canticum sMagn Sind wir mit Christus im Tod begraben, so werden wir auch leben mit ihm. oder sMagn/ alt Jetzt ist der Menschensohn verherrlicht, und Gott ist verherrlicht in ihm. Und Gott wird ihn bald verherrlichen. Die erste von zwei möglichen Antiphonen zum neutestamentlichen Canticum Magnificat paraphrasiert Röm 6,4.8. Sie legitimiert das Mitbeten der Kirche mit vox Christi und setzt einen soteriologisch-tauftheologischen Akzent, indem sie die Feiernden ausdrücklich als Teilhaber am Schicksal Jesu identifiziert: Sein „Abstieg zum Grab“ (Ps 29[30],10), sein „Einzug“ durch die „uralten Pforten“ in die Scheol und seine Erhöhung zum „Berg des Herrn“ (Ps 23[24],7.9.3) symbolisiert ihren eigenen Durchgang vom Tod zum Leben. Die Getauften sind ihn bei ihrer Taufe gegangen, die Taufbewerber gehen ihn in der Osternacht, wenn sie „in das Paschamysterium Christi eingefügt“ 2128 werden. Die Antiphon kürzt das Paulus-Zitat um dessen erklärende Erwähnung „durch die Taufe“; sie setzt diesen Zusammenhang als bekannt voraus. Das Paschamysterium Christi als Durchgang vom Tod zum Leben nimmt die Existenz des Menschen radikal ernst: Der in der Taufe (Auferstehung) geschenkten neuen Lebensweise in Christus geht seine Entäußerung voraus in „das [Leben] eines Menschen wie ein Sklave (der Sünde)“ (Phil 2,7), das im Tod endet. Alternativ zu Röm 6 kann zum Magnificat die Antiphon von der Verherrlichung des Vaters im Sohn (Joh 13,31f) gesungen werden. Im Johannesevangelium spricht Jesus diese Worte, nachdem Judas die Mahlgemeinschaft verlassen hat und es „Nacht“ geworden ist (V. 30). - „Jetzt“ 2129 findet die „Verherrlichung“ statt, Jesu Erhöhung am Kreuz, und „bald“ 2130 seine Erhöhung zu Gott: in der Nacht des Verrates; in der Finsternis, die mit der Kreuzigung über das Land hereinbricht; in der Nacht der Verlassenheit von Gott und Mensch am Kreuz und in der Todesnacht, die Jesus am Ende umfängt. „Bald“ wird seine Verherrlichung sie ergreifen und verwandeln. 2131 2127 Siehe unten Kapitel 2.2.2. 2128 Vgl. Sacrosanctum Concilium 6 ( 2 LThK 12 [1986 [= 1966]] 20f). 2129 Vgl. das „Jetzt“ in Ps 101(102),14 s2N; wie Anm. 1987. 2130 In der Vulgata: et continuo clarificabit eum. 2131 „… die Nacht [selbst] wird meine Erleuchtung“ - das Exsultet der Paschavigil besingt die Erleuchtung der Nacht und zitiert Ps138[139],12b.11b: Et nox sicut dies inluminabitur et nox inluminatio in deliciis meis. <?page no="392"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 384 Die gesamte liturgische Feier des Paschamysteriums findet in der existentiellen „Nacht“ der Sünde und des Todes statt, in die hinein Christus „jetzt“ verherrlicht ist und „bald“ verherrlicht werden wird. 2132 Auf die Antiphon folgt nur noch die Oration. Die Komplet Die Komplet entfällt. 2.2.1.4 Die Versikel In den Trauermetten des BA treten infolge der strukturellen Reduktion die Versikel stärker für sich hervor als im komplexeren täglichen Feierverlauf. Jeweils zwischen Psalmodie und Lesungsteil dienen die kurzen responsorialen Rufe als vergewissernde Wegmarken: Sie orientieren den Feiernden mit Christus ad patrem und prägen essentielle Motive ein. HoDo Vernimm, o Gott, mein Beten. Verbirg dich nicht vor meinem Flehen. Ps 54(55),1 Lass leuchten über deinem Knecht dein Antlitz. Entreiß mich der Hand meiner Feinde. Ps 30(31),16f Mein Gott, befreie mich aus der Hand des Frevlers. Reiß mich heraus und rette mich. Ps 70(71),5.2 KarFr Steh auf, o Herr, tritt ein für mein Recht. Mein Gott, führe du meine Sache. Ps 34(35),23 Herr, deinetwegen trage ich Schmach. Und Schande bedeckt mein Antlitz. Ps 68(69),8 Mein Gott, bleib mir nicht fern. Die Not ist nahe und niemand kann helfen. Ps 21(22),12 KarSa Wie lange, o Gott, soll der Gegner noch höhnen? Darf der Feind deinen Namen lästern für immer? Ps 73(74),10 In deiner Huld, o Herr, erweise dich an Zion gnädig. Lass neu erstehen Jerusalems Mauern. Ps 50(51),20 Führe mich heraus aus dem Kerker. Damit ich deinen Namen preise. Ps 141(142),8 Bipolare Wortwiederholungen (Antlitz: leuchten lassen - mit Schande bedeckt, dein Name: lästern - preisen) und antithetische Verknüpfungen (Gott - Feinde, Rechtssache - Schmach, Zion - Kerker) verweisen auf den dramatischen Ernst des Geschehens und halten seinen Ausgang offen. 2.2.1.5 Zur Rezeption der lateinischen Tradition Da die Psalmenverteilung im BA an den untersuchten Tagen substantiell neu ist, ist die Rolle der Tradition generell anders zu bewerten als etwa für die Liturgia Horarum, die weitgehend eine Kürzung der bisherigen Feiergestalt darstellt. Während dort die inhaltlichen Akzentverschiebungen durch die Auswahl überkommener Elemente und ihre durchgängige Einbettung in den neuen Kontext von Interesse war, finden sich im F ÜGLISTER -Schema nur wenige, theologisch aufschlussreiche Antiphonen an geeigne- 2132 Der nächtliche Zeitansatz der Ostervigil und ihr Feiern von der Finsternis ins Licht bringen das leibhaftig zur Erfahrung. <?page no="393"?> 2.2 Das Benediktinische Antiphonale 385 ter Stelle platziert. Unter den rezipierten Psalmen sind Ps 21(22) und Ps 87(88) selbsterklärend; die übrigen neun Psalmen passen sowohl sprachlich als auch theologisch in das neue Konzept. HoDo Psalmen Antiphonen röm./ monast. Tradition Vigil I Ps 54(55) Das Herz bebt mir in der Brust, die Schrecken des Todes überfallen mich. V. 5 II Ps 30(31) O Herr, ich vertraue auf dich. Mein Gott bist du! In deinen Händen ruht mein Geschick. V. 15.16a II I Ps 70(71) O Gott, mein Gott, bleib mir nicht ferne! Eile, und komm mir zu Hilfe! V. 12 Vigil HoDo Laudes Ps 38(39) Ich bin verstummt, tu meinen Mund nicht auf; denn du hast alles über mich gefügt. V. 10 Ps 85(86) 2133 Bitte um Hilfe Am Tag der Drangsal will ich zu Dir rufen, und Du wirst mich erhören, denn groß ist Dein Erbarmen. V. 7 Ps 42(43) Was bist du so betrübt, meine Seele, und was tobst du in mir? V. 5a Ps 115(116B) Mein Vater, wenn es nicht möglich ist, dass dieser Kelch vorübergehe, so geschehe dein Wille. Mt 26,42 Ps 56(57) Deine Liebe, o Gott, ist größer als der Himmel, und deine Treue reicht bis zu den Wolken. Ps 107(108),5 Benedictus Geopfert, weil er selbst es wollte, trug er selber unsere Sünden. Jes 53,7a.11c (Vulgata) vgl. dL2 Christus factus est pro nobis obediens usque ad mortem. Phil 2,8 Mittagshore Ps 39(40) Siehe, ich komme! Deinen Willen zu tun, ist mir Freude, und deine Weisung ist in meinem Herzen. V. 8a.9 Vigil KarFr Ps 128(129) Ps 129(130) Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir, höre, o Herr, meine Stimme. Ps 129(130),1. 2a Komplet Ps 87(88) Mit Leid ist meine Seele gesättigt, dem Totenreich ist mein Leben nahe. V. 4 Vigil KarFr KarSa 2133 Die hier kursiv gesetzten Angaben stammen aus einem undatierten Münsterschwarzacher Feierfaszikel, der bis in die frühen 90-er Jahre in klösterlichem Gebrauch stand und fünf (statt heute vier) Laudespsalmen anführt. Wie in der erneuerten Liturgia Horarum sind darin die Psalmen mit Titeln versehen, die den Feiernden als Verständnishilfe dienen. Die unterschiedliche Hermeneutik solcher Leseanweisungen für die Psalmodie sei an diesem Beispiel gezeigt: „Gottes Weinstock“ (LH, vgl. EÜ) oder „Der verwüstete Weinstock“ (BA). <?page no="394"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 386 KarFr Psalmen Antiphonen röm./ monast. Tradition Vigil I Ps 34(35) Herr, Herr, wie lange noch? Entreiße den Löwen mein Leben! V. 17* II Ps 68(69) Ich halte Ausschau nach einem, der mit mir fühlt, nach einem der tröstet - und finde keinen. V. 21b Vigil HoDo II I Ps 21(22) Mein Gott, mein Gott! Warum hast du mich verlassen? V. 2a Vigil KarFr Laudes Ps 50(51) Seinen Sohn, seinen Einzigen, hat Gott nicht geschont; sondern für uns alle hat er ihn hingegeben. Röm 8,23 Laudes KarFr Ps 37(38) Ps 37(38),1-15 In Schuld Wie ein Lamm, das man zur Schlachtbank führt, ist der Herr geworden: er verstummte und tat seinen Mund nicht auf. vgl. Jes 53,7 Ps: Vigil KarFr Ant: Laudes HoDo Ps 37(38),16-23 Vertrauen Gedenke meiner, mein Herr und mein Gott, wenn Du kommen wirst in Dein ewiges Reich. Lk 23,42 Ant: Laudes KarFr Ps 139(140) Bewahre mich vor den Händen der Frevler! Rette mich, o Herr, vor dem Mann der Gewalt! V. 5a Ps 27(28) Ihm vertraut mein Herz, er ist mein Helfer. Darum jubelt mein Herz; mit meinem Lied will ich ihm danken. V. 7bc Benedictus Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn dahingab; damit alle, die an ihn glauben, nicht verlorengehen, sondern das ewige Leben haben. Joh 3,16 Christus factus est pro nobis obediens usque ad mortem. Phil 2,8 Mittagshore Ps 10(11) Ps 11(12) Ps 12(13) Wie lange noch, o Herr? Willst du mich für immer vergessen? Wie lange noch verbirgst du mir dein Antlitz? Ps 12(13),2 Ps 21(22) Mein Gott, ich rufe, doch du schweigst. Meine Rettung bleibt fern, so laut ich auch schreie. V. 3 Vigil KarFr Komplet Ps 30(31) Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist. Lk 23,46; vgl. V. 6a <?page no="395"?> 2.2 Das Benediktinische Antiphonale 387 KarSa Psalmen Antiphonen röm./ monast. Tradition Vigil I Ps 73(74) Herr, du hast es gesehen, o schweige nicht, bleibe nicht ferne! O Herr, erhebe dich und nimm dich unser an! Ps 34(35),22f Vigil HoDo II Ps101(102) Erhebe dich, Herr, sei Zion gnädig! Ja, es ist Zeit, dass du dich seiner erbarmst; wahrlich, jetzt ist die Stunde gekommen. V. 14 III Ps 17(18) Meine Leuchte lässt du strahlen; in mein Dunkel bringst du, o Gott, das Licht. V. 29 Laudes Ps 79(80) Gott der Scharen, richte uns wieder auf! - Lass dein Angesicht leuchten, dann sind wir gerettet! V. 8 Ps 6 In der Zeit der Prüfung Weichet von mir, die ihr Unrecht tut! Mein Weinen hat der Herr gehört. V. 9 Ps 141(142) Meine Zuflucht bist du, o Herr, mein Anteil im Lande der Lebenden. V. 6b Ps 16(17) Dein Antlitz werde ich schauen, und wenn ich erwache, satt mich sehn an deiner Gestalt. V. 15 Ps 147 A Jerusalem, der Herr wird dich neu errichten. Er wird heilen; er verbindet deine Wunden. vgl. V. 2f Benedictus Sie schauen auf zu dem, den sie durchbohrten; sie halten Klage wie um den einzigen Sohn. Sach 12,10 Laudes KarSa Christus factus est pro nobis obediens usque ad mortem. Phil 2,8 Mittagshore Ps 55(56) Ich vertraue auf Gott und fürchte mich nicht. Was können Menschen mir antun? V. 5b.12 Ps 119(120) Herr, unser Gott, wende doch unser Geschick! Ps 125(126),4 Ps 123(124) Ps 125(126) Vesper Ps 15(16) Meine Seele gibst du nicht preis der Unterwelt; deinen Heiligen lässt du nicht schauen die Grube. vgl. V. 10 Vigil KarSa Ps 26(27) Ich werde schauen Gottes Güte im Lande der Lebenden. V. 13 Vigil KarSa Ps 29(30) Nur eine Weile ist der Herr im Zorn, doch seine Güte will das Leben. Kehrt am Abend auch Weinen ein - am Morgen ist s Jubel. V. 6 Vigil KarSa Ps 23(24) Ihr uralten Pforten, weitet euch! Der König der Herrlichkeit will Einzug halten. V. 7.9 Vigil KarSa Magnificat Sind wir mit Christus im Tod begraben, so werden wir auch mit ihm leben. vgl. Röm 6,4 oder: Jetzt ist der Menschensohn verherrlicht, und Gott ist verherrlicht in ihm. Und Gott wird ihn bald verherrlichen. Joh 13,31f <?page no="396"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 388 Das psalterium currens wurde in den gegenwärtigen Feierordnungen prinzipiell und fast zur Gänze aufgegeben, 2134 was die nach den gewünschten Kriterien stimmige Zusammenstellung der Psalmen 2135 erleichtert hat. Das im BA daraus neu gewobene Netz hermeneutischer Bezüge bedient sich vergleichbarer Mittel (Stichwortverkettung, Motiventwicklung) wie die biblische Psalterredaktion, die jedoch als solche faktisch nicht mehr zum Tragen kommt. Am Karsamstag findet ein zusammenhängendes ,Stück‘ Vigil-Psalmodie aus der Tradition - vier Psalmen, 2136 davon zwei samt Antiphonen - in die Vesper vor Anbruch der Paschavigil Eingang. Die Antiphonen zum ersten und dritten Psalm sind neu: Das Leitwort requiescere aus der früheren Antiphon (V. 9) zu Ps 15(16) hat in der von Dynamik gekennzeichneten Neuordnung keine Bedeutung mehr, während die ,Ort‘sangabe in V. 10 („Unterwelt“, „Grube“) den stark akzentuierten Descensus Christi illustriert. Für die Wahl von V. 6 (statt V. 4 mit der Stichwortverknüpfung über animam meam) zu Ps 29(30) in der Vesper mag die Erwähnung des Abends eine Rolle gespielt haben. Außerdem ist auch hier die erhoffte Veränderung (der Zorn weicht der Güte, der Abend dem Morgen, das Weinen dem Jubel) zentral. Ebenfalls als Antiphonen erhalten bleiben zwei markante Prophetenworte: Die Typologie des schweigenden Opferlammes (V. 7a.b) aus Jes 53,7 am Karfreitag 2137 , die in einer neuen Antiphon bereits am Gründonnerstag ausdrücklich als freiwillige Selbstdarbringung Christi interpretiert wird (V. 7a.11c) 2138 , sowie Sach 12,10 (die Klage um den Durchbohrten). 2139 Alle drei fallen gegenüber den anderen, dialogisch geprägten Antiphonen, als bekenntnishafte Aussagen von Christus (vox ecclesiae de Christo) an bevorzugten liturgischen Orten auf: am Gründonnerstag und Karsamstag zum Benedictus, am Karfreitag zum 2. Laudespsalm. Aus dem Neuen Testament stammen zwei funktional vergleichbare Antiphonen: Am Karfreitag wird zum Benedictus eine neue Antiphon aus Joh 3,16 gesungen. Mit dem traditionellen Zitat aus Röm 8,23 zum ersten Laudespsalm rahmt sie die Morgenhore und formuliert das theozentrisch-soteriologische Bekenntnis der Kirche (vox ecclesiae de Deo): Seinen Sohn, seinen Einzigen, hat GOTT nicht geschont; sondern für uns alle hat er ihn hingegeben. Also hat GOTT die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn dahingab; damit alle , die an ihn glauben, nicht verlorengehen, sondern das ewige Leben haben. Die wechselseitige Interpretation beider Antiphonen räumt angesichts des unverständlichen und skandalösen Geschehens des Kreuzestodes Jesu jeden Zweifel aus: Gott hat gehandelt; sein Handeln ist Selbsthingabe im einzigen Sohn; für uns, d. h. um allen, die glauben, göttliches Leben zu schenken. Gott hat sich aus Liebe zur Welt verausgabt (nicht geschont). 2134 Das gilt sowohl für die römische Liturgia Horarum als auch für Schema B im Thesaurus für den monastischen Gebrauch. Nur die Psalmen der Mittagshore und der 2. Sonntagsvesper (Wochenpsalter) stehen im BA in der kanonischen Reihenfolge. 2135 Für die monastische Neuordnung vgl. F ÜGLISTER , Entwurf 8-11 (s. Anm. 1752). 2136 Diese bleiben auch in der Lesehore und Mittagshore der Liturgia Horarum am Karsamstag erhalten. 2137 Siehe oben fL2. 2138 Siehe oben dBen. 2139 Siehe oben sBen. <?page no="397"?> 2.2 Das Benediktinische Antiphonale 389 Die über diesen Sonderfall der Vesper hinaus im BA rezipierten traditionellen Psalmen haben mit einer Ausnahme neue psalmogene Antiphonen; Ps 21(22) je eine eigene für Vigil und Lesehore. Bei Ps 73(74) hat man die frühere Antiphon (V. 22) gegen die einzige nicht-psalmogene Antiphon Ps 34(35),22f ausgetauscht. Psalmen traditionelle Antiphonen Verse neue Antiphonen Ps 15(16) Caro mea requiescat in spe. 9 10 Meine Seele gibst du nicht preis der Unterwelt; deinen Heiligen lässt du nicht schauen die Grube. Ps 21(22) Diviserunt sibi vestimenta mea et super vestam meam miserunt sortem. 19 2a Mein Gott, mein Gott! Warum hast du mich verlassen? 3 Mein Gott, ich rufe, doch du schweigst. Meine Rettung bleibt fern, so laut ich auch schreie. Ps 23(24) Elevamini portae aeternales et introibit Rex gloriae. 7.9 7.9 Ihr uralten Pforten, weitet euch! Der König der Herrlichkeit will Einzug halten. Ps 26(27) Credo videre bona Domini in terra viventium. 13 13 Ich werde schauen Gottes Güte im Lande der Lebenden. Ps 29(30) Domine abstraxisti ab inferis animam meam. 4 6 Nur eine Weile ist der Herr im Zorn, doch seine Güte will das Leben. Kehrt am Abend auch Weinen ein - am Morgen ist s Jubel. Ps 37(38) Vim faciebant qui quaerebant animam meam. 13 ----- Wie ein Lamm … (Jes 53) Ps 39(40) Confundantur et revereantur qui quaerunt animam meam ut auferant eam. 15 8.9 Siehe, ich komme! Deinen Willen zu tun, ist mir Freude, und deine Weisung ist in meinem Herzen. Ps 68(69) Zelus domus tuae comedit me, et opprobria exprobrantium tibi ceciderunt super me. 10 21b Ich halte Ausschau nach einem, der mit mir fühlt, nach einem der tröstet - und finde keinen. Ps 70(71) Deus meus, eripe me de manu peccatoris. 4 12 O Gott, mein Gott, bleib mir nicht ferne! Eile, und komm mir zu Hilfe! Ps 73(74) Exsurge, Domine, et iudica causam meam. 22 Ps 34(35) Herr, du hast es gesehen, o schweige nicht, bleibe nicht ferne! O Herr, erhebe dich und nimm dich unser an! Ps 87(88) Longe fecisti notos meos a me; traditus sum et non egrediabar. 9 4 Mit Leid ist meine Seele gesättigt, dem Totenreich ist mein Leben nahe. Factus sum sicut homo sine adiutorio, inter mortuos liber. 5f Damit sind aus den Antiphonen, nicht aber aus den Psalmen, die deskriptiven Feindaussagen inklusive der Gottesvorwurf in Ps 87(88),9a getilgt und durch Beziehungsaussagen oder, seltener, durch Selbstreflexion ersetzt. Sie spiegeln ein breites Spektrum an positiven und negativen Emotionen, formulieren aber keinen Vergeltungswunsch. Die einzige Frevler-Antiphon zu Ps 139(140),5a fL4 erbittet Schutz, nicht Rache. Sprecher der Psalmen ist am Gründonnerstag und Karfreitag primär der Gerechte/ Christus, am Karsamstag das Gottesvolk/ die Kirche. Einmal ist sie selbst Adressatin einer Heilszusage: „Jerusalem, der Herr wird dich neu errichten“ sL4; und in einem <?page no="398"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 390 zweiten Fall - ganz zuletzt - heißt es über sie: „Sie schauen auf zu dem, den sie durchbohrten, sie halten Klage …“ sBen. 2.2.2 Lesungen und Responsorien Das Benediktinische Antiphonale enthält zwar die Kurzlesungen, Benediktionen und Orationen, bietet jedoch keine eigene Leseordnung für die Vigil, 2140 sondern empfiehlt die Entnahme der Lesungen aus „dem Missale, einem Stundenbuch oder einem Lektionar.“ 2141 In dem 1969 für die Trauermetten der Kartage erstellten Faszikel mit den teilweise gesungenen Vigillesungen für den Eigengebrauch in der Abtei Münsterschwarzach waren folgende Schriftstellen vorgesehen: 1969 Gründonnerstag Karfreitag Karsamstag 1. Nokturn (gesungen) Klgl 1,1-8.11.12 Klgl 3,1-18 Klgl 3,22-33.40-42 2. Nokturn Jer 15,15-21; 20,7-13 2142 Jes 52,13-53,12 Sach 12,9-11; 13,1f; 14,3-9 3. Nokturn Hebr 4,14-5,10; 7,25-27 1 Kor 1,18-31 Hebr 9,11-28 Diese Ordnung wird in der Praxis flexibel gehandhabt; seit 1996 wird folgende Auswahl gelesen und bei Bedarf erweitert. 2143 Die Prophetenlesungen sind gestrichen, die biblischen Lesungen der 1. und 2. Nokturn zugeordnet, und für die 3. Nokturn sind heute theologische Texte (ggf. mit Wahlmöglichkeit) vorgesehen: 2144 1996 Gründonnerstag Karfreitag Karsamstag 1. Nokturn (gesungen) Klgl 1,1-8.11.12 Klgl 3,1-18 Klgl 3,22-33.40-42 2. Nokturn Hebr 4,14-5,10; 7,26-27 1 Kor 1,18-31 Hebr 9,11-15.24-28 3. Nokturn Kirchl. Schriftsteller: kompilierter Text oder K. Rahner, Gebete des Lebens 89-93 Kirchl. Schriftsteller: Text nach F. Wulf, Karfreitag als Gedenktag und als Feier 2145 Vätertext: Aus einer Homilie des Bischofs Epiphanios am großen heiligen Sabbat oder Kirchl. Schriftsteller: J. Ratzinger, Hinabgestiegen in das Reich des Todes oder ein anderer Text aus J. Ratzinger, Meditationen zur Karwoche 2140 Desgleichen weder Bitten/ Fürbitten (sie entfallen an den untersuchten Tagen) noch Tagesgebete. 2141 Antiphonale I, 6. Da die Vigillesungen im BA nicht festgelegt sind, wurden die Versikel in dieser Darstellung der Psalmodie als Zusammenfassung zugeordnet. 2142 Vgl. die Auswahl im deutschen StB, das im Jahr II die biblischen Lesungen der Lesehore aller drei Tage aus Jer wählt und am Gründonnerstag Jer 15,10-21 vorsieht. 2143 Briefliche Mitteilung von P. Rhabanus E RBACHER vom 31. 12. 2011. 2144 Vgl. die 2. Lesungen in den Lesehoren der Liturgia Horarum; am Karsamstag ist in der lateinischen Ausgabe und im deutschen Stundenbuch (Jahr I) ebenfalls die Epiphanios zugeschriebene Homilie vorgesehen. 2145 In: GuL 47 (1974), 85-87. <?page no="399"?> 2.2 Das Benediktinische Antiphonale 391 Der Sonderband des BA Das Stundengebet vom Gründonnerstag bis zum Ostersonntag (2001) empfiehlt nur die jeweils erste kantillierte Nokturnlesung aus den Klageliedern, und überlässt die übrigen zwei Lesungen der eigenen Wahl. 2146 In der 1. und 3. Nokturn (heute: in der 1. und 2.) greift man auf die traditionellen biblischen Bücher zurück (Klgl, 1 Kor und Hebr) und wählt daraus Kapitel ähnlichen Umfangs wie in der römischen Letztfassung des BR 1568, aber anderer Perikopierung aus. Im ersten Korintherbrief liest man aus Kapitel 1 (statt wie bisher aus Kap. 11-12). In der 2. Nokturn bietet die älteste Leseordnung von Münsterschwarzach Abschnitte aus den Prophetenbüchern Jer, Jes und Sach, aus denen auch die Laudesantiphonen stammen. Es wurden in den Vigilien also ausschließlich biblische und mehrheitlich alttestamentliche Lesungen vorgetragen. Die gegenwärtige Praxis geht wieder mit den frühesten Quellen konform, die außer Schriftstellen auch „passende Homilien“ anordnen. Die deutschsprachigen Responsorien sind teils neue, teils sprachlich und musikalisch adaptierte Gesänge aus der Tradition. Für jede Nokturn werden alternativ ein responsorium breve (R a ) und ein responsorialer Gesang (R b ) angeboten. Im Anhang findet sich außerdem - nur im Sonderband 2147 - eine Auswahl der lateinischen responsoria prolixa aus der Tradition. 2148 Da die Vigillesungen mit Ausnahme der Lamentationen keiner Vorgabe folgen, besteht kein zwingender Zusammenhang mit den Responsorien. Sie können vielmehr nach Maßgabe der sprachlichen und gesanglichen Möglichkeiten gewählt werden. Die folgende Darstellung bringt die im BA/ Sonderband publizierte Feierordnung und schließt daran einige Beobachtungen zur Zusammenstellung und Kontextualisierung der Lesungen in der früheren und gegenwärtigen Praxis in Münsterschwarzach an. 2.2.2.1 Hoher Donnerstag Vigil und Laudes Inhalt der empfohlenen kantillierten Vigillesung aus dem ersten Klagelied ( Klgl 1,1- 8.11f ) ist die Trauer der „einst so volkreichen Stadt“, jetzt aber ihrer Sünden wegen entehrten und einer verlassenen Witwe gleichen „Frau Zion“. Gott hat sie mit außerordentlichem Schmerz geschlagen „am Tag seines glühenden Zornes“ (V. 12). Den Zusammenhang zwischen Verfehlung und Sündenfolge anerkennt Zion als Ausdruck der Gerechtigkeit Gottes. Das neutestamentliche Responsorium nach dem Vorbild von Tristis est anima (dR 2 , Nr. 22 im Anhang) stellt Jesus als den das Leid der Sündenlast tragenden Gerechten vor Augen: dR1 a Die Stunde ist gekommen: Mt 26,45b * jetzt wird der Menschensohn überliefert in die Hände der Sünder. V Meine Seele ist zu Tode betrübt, bleibt hier und wacht mit mir. Mt 26,38 2146 BA Stundengebet 13; 17 u. ö. 2147 BA Stundengebet 130-147. 2148 Es sind dies: dR 1 , dR 2 , dR 3 , dR 5 , dR 6 ; fR 1 , fR 2 , fR 3 , fR 5 ; sR 3 , sR 4 , sR 5 , sR 9 ; außerdem zwei weitere Responsorien vom Palmsonntag (bzw. aus der Hohen Woche) Insurrexerunt in me und Attende, Domine, ad me. In dem älteren undatierten Textheft (nach 1969 und vor 1996, siehe oben 2.2.1.4) sind von Gründonnerstag bis Karsamstag ohne Wahlmöglichkeit folgende responsoria prolixa vorgesehen: dR 1 , dR 2 , dR 11 (Iudas mercator); fR 1 , dR 3 , fR 5 ; sR 3 , sR 2 , sR 5 . <?page no="400"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 392 Der alternative Gesang wendet sich außerdem in direkter Anrede bittend (V. 1) und tadelnd (V. 3) an die Jünger: dR1 b R Meine Seele ist betrübt bis zum Tod. Bleibt hier und wacht mit mir. Mt 26,38 Wachet und betet, damit ihr nicht in Versuchung fallt! Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. R Mt 26,41 Die Stunde ist gekommen, in welcher der Menschensohn überliefert wird in die Hände der Sünder. R Mt 26,45c Wie könnt ihr nur schlafen und euch ausruhn? - Seht doch, der mich verrät, ist nahe. R Mt 26,45b.46b Die ältere 2. Lesung verbindet zwei Abschnitte aus Jer 15 und Jer 20 (Konfession des Jeremia), in denen der Prophet um Schonung vor dem Zorn Gottes fleht, da er doch um „deinetwillen“ Schmach und Leid ertrage, sich dann aber an der Aussicht der göttlichen Vergeltung an den Feinden aufrichtet, der den Frommen prüft und den Armen rettet. 2149 Dass nicht alle Geprüften wie der Prophet und Menschensohn willig standzuhalten vermögen, scheint das Responsorium zu bestätigen. In der heutigen Textauswahl liest man an dieser Stelle die frühere 3. Nokturnlesung Hebr 4-5*, die dazu auffordert, sich „mit Zuversicht“ dem Hohepriester Christus, der - da er selbst „unter Schreien und Tränen“ den Gehorsam lernte - „mit unserer Schwäche mitfühlen“ kann, und „allzeit lebt, um für sie [die Geretteten] einzutreten“, anzuvertrauen. Die zweiten Responsorien lassen aus dieser Lesung v. a. „Mitgefühl“ und „Schwäche“, ev. auch die Tränen (der Reue) nachklingen, die vom Unvermögen des Menschen und seiner Erlösungsbedürftigkeit zeugen. Das Responsorium nach der zweiten Vigillesung verbindet Elemente aus Una hora (dR 6 , Nr. 86 im Anhang) und In monte oliveti (dR 1 , Nr. 23 im Anhang): dR2 a Könnt ihr nicht eine Stunde mit mir wachen? vgl. Mk 14,37 * Steht auf und betet, damit ihr nicht in Versuchung fallt! Lk 22,46b V Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Mt 26,41b Der responsoriale Gesang entfaltet die drohende Glaubensschwäche anhand der Treueschwüre des Petrus: dR2 b R In dieser Nacht, noch ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen. Mt 26,34 Herr, und wenn auch alle irre werden an dir - ich werde es nie und nimmer! R Mt 26,33 Herr, und wenn ich sterben müsste mit dir - niemals werde ich dich verleugnen! R Mt 26,35 Herr, ich bin bereit, mit dir sogar ins Gefängnis, ja in den Tod zu gehen! R Lk 22,33 Die ersten beiden Responsorien stellen die Person Jesu und seine Beziehung zu den Freunden in den Mittelpunkt, deren guter Wille zur Nachfolge größer scheint als ihre Fähigkeit dazu. Wird dieselbe Lesung aus dem Hebräerbrief wie ehedem von einem der folgenden Responsorien ,kommentiert‘, bleiben insbesondere die Leiden des göttlichen Sohnes „in den Tagen seines Fleisches“ - flehentliche Bitten, lautes Schreien, Tränen und Angst - vor Augen. In beiden heute als 3. Lesung wahlweise gebrauchten spirituell-theologischen Texte verschiedener, nicht näher genannter Autorenschaft 2150 (A) oder von Karl Rahner (B) kehrt das eucharistische Thema wieder, das zwar in der Tradition gängig, im älteren Entwurf aus Münsterschwarzach aber nicht mehr 2149 Eine ähnliche Überlegung zum Motiv der Erprobung des Gerechten durch Böses/ die Bösen stellt Augustinus in seinem Kommentar zu Ps 54(55),1 an, die das BR 1568 als 2. Vigillesung am Gründonnerstag bietet. Siehe oben Kapitel 1.3.2.1 Rezeption, 2. Nokturn. 2150 U. a. von Aemiliana L ÖHR (ohne nähere Angabe). <?page no="401"?> 2.2 Das Benediktinische Antiphonale 393 Gegenstand der Trauermette am Gründonnerstag gewesen war: in Text A erscheint es einerseits in Verbindung mit der Selbstpreisgabe in die „armselige[n] Hände“ der Menschen im gebrochenen Brot, andererseits mit der willentlichen Auslieferung an Verräter und Verleugner - auch diese traditionellen Motive aus dem Kontext des Abendmahles sind gegenüber 1969 neu eingeführt - in der „Unbedingtheit seiner vollkommenen Hingabe“. 2151 Text B versteht die Eucharistie als Hilfe zum Verständnis der sakramentalen Gegenwart Christi in den Gläubigen und zu ihrer Stärkung in der Nachfolge, „wenn deine Ölbergnot auf mich fällt … und der Engel uns, wie dir, den Kelch reicht“. 2152 Er endet mit der Bitte um Erbarmen und Beistand Christi, um dann den Kelch trinken zu können, „so dass deine Stärke in unserer Schwachheit siegt“. 2153 Die Lesung wurde wohl mit Bedacht dem folgenden Responsorium vorgeordnet. Dem traditionellen Responsorium In monte oliveti (dR 1 , Nr. 23 im Anhang) nachempfunden ist: dR3 a Abba, mein Vater, dir ist alles möglich. Mk 14,36 * Vater, nimm diesen Kelch von mir! V Sein Schweiß war wie Blut, das auf die Erde rann. Und er betete in seiner Angst: Lk 22,44 Oder man singt: dR3 b R Vater, nimm diesen Kelch von mir! Doch nicht mein Wille geschehe, sondern der deine. Lk 22,42 Jesus fiel auf sein Angesicht und betete: Lass doch die Stunde an mir vorübergehen - Abba, mein Vater, dir ist alles möglich! R vgl. Mk 14,35b.36a Sein Schweiß war wie Blut, das auf die Erde rann. Und er betete in seiner Angst noch drängender: R Lk 22,44 Jesus fand seine Jünger schlafend. - Er ging von ihnen weg und betet zum drittenmal: R vgl. Mk 14,37.39.40 Beide Responsorien centonisieren aus den Evangelien nach Markus und Lukas das einsame Gebet Jesu, der in Todesangst vor dem kommenden Leiden um den Willen des Vaters ringt. 2154 Nach der Laudespsalmodie folgt die Kurzlesung Jer 11,21.18-20 von der Mordabsicht der „Männer von Anatot“ gegen den Propheten, der „im Namen des Herrn“ Unliebsames verkündet und „wie ein argloses Lamm zur Schlachtbank geführt“ werden soll, Gott aber „meine Sache anheimgestellt“ hat. Das Prophetenschicksal ist hier Typologie der Passion Jesu. Mittagshore Die Mittagshore beginnt mit der freudig-zuversichtlichen Gehorsamskundgabe des bedrängten Psalmisten. Die Kurzlesung aus dem Ijob-Buch ( Ijob 16,9-13.16 ) kontrastiert sie mit der verstörenden Erfahrung, dass Gott selbst den Klagenden „in die Hände der Frevler [stößt]“ und ihn „zur Zielscheibe für sich aufgestellt“ hat, um ihn zu durchbohren und „meine Galle auf die Erde“ zu schütten. Dem Tode nahe ruft er „aus der Tiefe“ (Ps 129[130]) in der Hoffnung auf Erlösung. 2151 Wie Anm. 2150. 2152 R AHNER , Gebete. Die in Münsterschwarzach verwendete Ausgabe war mir nicht zugänglich, daher kann der genaue Umfang nicht dokumentiert werden (vgl. Anm. 2143). 2153 Eine Reminiszenz an die Lesung aus dem Hebräerbrief (Hebr 4,14-5,10; 7,26-27). 2154 Weniger die Angst des Menschen als den Gehorsamsakt gegenüber dem göttlichen Willen bringt dR 1 (basierend auf Mt 26) zur Geltung. <?page no="402"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 394 2.2.2.2 Karfreitag Vigil und Laudes Im Abschnitt aus dem dritten Klagelied ( Klgl 3,1-18 ) erfährt sich der „unter der Rute seines Zornes“ Leidende von Gott in die Finsternis getrieben und eingeschlossen, dem Gespött des eigenen Volkes preisgegeben, verstoßen und ohne „Vertrauen auf den Herrn“. Danach folgt in Anlehnung an Omnes amici mei (fR 1 , Nr. 20 im Anhang), jedoch mit anderen Versen: fR1 a All meine Freunde haben mich verlassen, vgl. Ijob 19,14; vgl. Mt 26,56 * der, den ich liebte, hat mich verraten. Ijob 19,19; vgl. Mt 26,21 V Erbarmt euch ihr, meine Freunde, erbarmt euch, denn Gottes Hand hat mich getroffen. Ijob 19,21 V Gott hat meine Brüder von mir entfernt und meine Bekannten mir entfremdet. Ijob 19,13; vgl. Ps 87(88),9 In beinahe direkter Fortführung des Hauptmotivs vom Vortag - Gott selbst handelt im Tun der Feinde, seiner Handlanger, am Leidenden - beklagt Ijob/ Christus den Verlust seiner freundschaftlichen und familiären Bindungen. Dass Menschen sich seiner erbarmen sollen, wenn Gott es nicht tut, wirkt nahezu verzweifelt. Obwohl es naheliegt, die Klage Ijobs über den Verrat (vox Christi) als Anspielung auf Judas zu hören, mag, zumal durch die vorherrschende Theozentrik, sogar die Identifikation des „geliebten Verräters“ ein wenig offener bleiben. Denn während Judas nirgendwo sonst im Chorgebet erwähnt wird, ist Gott gerade als der in seinem Handeln unverständlich gewordene Vertraute und eigentlicher Ursprung des Geschehens allgegenwärtig. Auch der alternative neutestamentliche Gesang nach dem Joh-Ev bleibt auf der zwischenmenschlichen Beziehungsebene. Er artikuliert - mit Anklängen an Ingressus Pilatus (fR 14 , nicht im Anhang enthalten) - in Dialogform den Versuch des Pilatus, sich der Forderung der Hohepriester und der aufgebrachten Menge zu entziehen. Seine letzte Frage enthält die Wahrheit über den Todeskandidaten: fR1 b R Er ist des Todes schuldig. Ans Kreuz mit ihm! Mt 26,22; Joh 19,6 Welche Anklage bringt ihr gegen diesen Menschen vor? Was hat er denn Böses getan? R Joh 18,29; vgl. 19,23 Ich bringe ihn zu euch heraus, denn ihr sollt wissen, dass ich keine Schuld an ihm finde. - Seht, welch ein Mensch! R Joh 19,4f Seht, euern König! - Soll ich euren König kreuzigen? R Joh 19,14f Die 2. Nokturnlesung (Jes 52,13-53,12) in der älteren Münsterschwarzacher Leseordnung stellt angesichts des verstörenden Schicksals des Gottesknechtes die längst brennende Frage „Wer versteht, was Gott tat? “ 2155 (Jes 53,1b). Gerahmt wird die Lesung des ganzen 4. Gottesknechttextes von der Verheißung des glücklichen Ausgangs für den Knecht und seine Nachkommen: „die Vielen“ und „die Empörer“. Das erste der zur Wahl stehenden Responsorien wiederholt dieses Motiv. Der zweite - neutestamentliche - Gesang sieht im Verhalten derer, die den Gekreuzigten verachten, denselben Irrtum jener, die den Gottesknecht „für nichts“ hielten, während der mit Jesus verurteile Übeltäter sich radikal auf Jesu Willen, „für die Schuldigen“ einzutreten, einlässt. Heute liest man statt Jesaja die (aus der 3. Nokturn vorgezogene) Perikope 1 Kor 1,18-31 von der „Torheit“ des Kreuzes, die es den Menschen eher verächtlich und ärgerlich als kraftvoll und rettend erscheinen lässt. Beide Gesänge formulieren daraufhin die strenge Alternative von Ablehnung und Glauben: In dem fast staunenden Eingeständnis in Responsorium ( a ), der Gottesknecht habe „unsere“ 2155 In der EÜ: „Der Arm des Herrn - wem wurde er offenbar? “. <?page no="403"?> 2.2 Das Benediktinische Antiphonale 395 Krankheit, Schmerzen, Verbrechen und Wunden getragen, muss die frühere Fehleinschätzung („wir meinten, Gott habe ihn gestraft“, Jes 53,4b) mitgehört werden; in ( b ) steht der ungläubigen Verkennung durch „die Leute/ Führer“ die Bitte um Gedenken (= Rettung) des mitgekreuzigten Verbrechers gegenüber. Nach der 2. Lesung (vgl. Ecce vidimus, dR 3 , Nr. 26 im Anhang): fR2 a Unsere Krankheit hat er getragen, Jes 53,4 * und unsere Schmerzen lud er auf sich. V Er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen, durch seine Wunden sind wir geheilt. Jes 53,5 V Er trug die Sünden von vielen und trat für die Schuldigen ein. Jes 53,12b Oder: fR2 b R Jesus, gedenke meiner, wenn du in dein Reich kommst. Lk 23,42 Zusammen mit Jesus wurden zwei Räuber gekreuzigt, einer zur Rechten und einer zur Linken, Jesus aber in der Mitte. - Der eine von den Räubern rief: R Lk 23,33; Joh 19,18 Die Leute, die vorübergingen, schüttelten den Kopf und höhnten: Rette dich doch selbst, wenn du Gottes Sohn bist, und steig herab vom Kreuz! - Der Räuber aber rief: R Mt 27,39f Die Führer des Volkes lachten über ihn und sagten: Andern hat er geholfen, sich selber helfen kann er nicht. Er hat auf Gott vertraut, der soll ihn retten; er reiße ihn heraus, wenn er an ihm Gefallen hat. - Der Räuber aber rief: R Mt 27,41-43; vgl. Lk 23,35 Die früher erst nach dem jesajanischen Gottesknechttext vorgetragene 3. Nokturnlesung (1 Kor 1,18- 31) hatte mit ihm die Frage nach der Unbegreiflichkeit des Handelns Gottes gemeinsam („denn das Wort vom Kreuz ist denen, die verloren gehen, Torheit; uns aber, die gerettet werden, ist es Gottes Kraft.“), dessen anderen Willen und andere Weisheit sie am Kreuz Christi erläutert. Das Responsorium ( a ) interpretiert das Schwache und Niedrige, das „gar nichts gilt“ in der Welt, mit dem Gebet des Todgeweihten in der äußersten Gottferne. Der zweite Gesang stellt dem Nicht-Erkennen der göttlichen Weisheit durch die „Weisen, Schriftgelehrten und Wortgewaltigen“ die An-Erkennung des göttlichen Sohnes durch einen Fremden (den römischen Besatzungssoldaten) gegenüber. Der heute zur 3. Lesung verwendete geistliche Text nach Friedrich Wulf meditiert das Kreuz als notwendiges Ende und Begräbnis (der eigenen Kräfte), um überhaupt erst der zukünftigen Voll- Endung in Christus glauben zu können. Dieser Glaube ereigne sich „wesentlich“ darin, die - hier nicht theologisch, sondern als allgemein menschliche Erfahrung formulierte -„Rätselhaftigkeit des Daseins“ und „Undurchschaubarkeit des Schicksals“ im „Licht des Kreuzestodes zu interpretieren“, der im Ende auch die Vollendung verheißt. In dem betenden Doppelruf der Sterbeworte Jesu aus Ps 21(22),2 und Ps 30(31),6 zwischen Verzweiflung und Gottvertrauen seien letztlich, „alle Gebetsrufe der Christenheit enthalten.“ 2156 Nach der 3. Lesung: fR3 a Mit Leid ist meine Seele gesättigt, Ps 87(88), 4 = dK * dem Reich der Toten ist mein Leben nahe. V Mein Vertrauter ist nur noch die Finsternis. O Herr, warum verbirgst du mir dein Antlitz? Ps 87(88), 19.15 V Du brachtest mich in die unterste Grube, in abgrundtiefe Finsternis. Ps 87(88), 7 2156 Nach W ULF , Karfreitag 85-87. Siehe oben Anm. 2145. <?page no="404"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 396 Oder: fR3 b R Wahrlich, dieser Mensch war Gottes Sohn. Mk 15,39b Finsternis brach herein über die ganze Erde. Die Sonne verlor ihren Schein. Und Jesus stieß einen lauten Schrei aus und gab den Geist auf. - Als der Hauptmann ihn auf diese Weise sterben sah, bekannte er und sprach: R Mk 15,33.37.39a Der Vorhang des Tempels riss mitten entzwei, von oben bis unten. Und es bebte die Erde. - Als der Hauptmann das Erdbeben wahrnahm, erschrak er und sprach: R Mk 15,38: Mt 27,51.54 Felsen zerbarsten und Gräber taten sich auf. - Als der Hauptmann sah, was geschah, pries er Gott und sagte: R Mt 27,51.52.54 Die Responsorien greifen über das Stichwort „Finsternis“ die Situation des ausweglosen Dunkels ( a ) sowie der Verfinsterung des irdischen Daseins im Tod ( b ) auf und halten der „von Angst und Ratlosigkeit geschüttelt[en]“ Welt das Bekenntnis zweier biblischer Zeugen - des Psalmisten und des Hauptmanns - entgegen. Die Wahl des Responsum in fR3 b stellt nicht allein die Offenbarung des Sohnes in den Vordergrund, auch nicht ihre erschreckenden Begleitumstände, sondern, dass sie im Menschen Glauben bewirkt. Auf die Psalmen der Laudes, in denen die Feindbedrängnis übergroß wird, folgt die Kurzlesung aus Hosea ( Hos 6,1-3 ). Sie wendet sich Gott zu (Selbstaufruf zur Umkehr und zum eifrigen Streben nach der Erkenntnis Gottes in seinem Tun, das nicht Not, sondern Heil zum Ziel hat), der „uns … nach zwei Tagen … am dritten Tag“ zum Leben aufrichten wird. Mittagshore Zwischen dem ungeduldigen Ruf „Wie lange noch? “ zum ersten Teil der Psalmodie und dem Sterbepsalm Jesu Ps 21(22) steht eine Kapitellesung aus Amos ( Am 5,18.20; 8,9f ). In ihr dominiert die Rede von der Finsternis, die „am Tag des Herrn“ über die Erde hereinbricht, der „euer Fest in Trauer [wie um den einzigen Sohn] und eure Lieder in Totenklage“ verwandelt und ein „Ende voll Bitterkeit“ bereiten wird. Eine warnende Vision, gleichermaßen Typos und Antitypos des Pascha Christi. 2.2.2.3 Karsamstag Vigil und Laudes Die Lesung aus dem dritten Klagelied ( Klgl 3,22-33.40-42 ) setzt einige Verse nach dem Abschnitt vom Vortag fort. Sie ringt sich zum Schuldeingeständnis und zur Umkehr durch im Vertrauen auf das größere Erbarmen Gottes. Tränen der Reue und der Klage dürfen fließen, wozu die Neufassung von Ierusalem luge (sR 2 , nicht im Anhang enthalten) auffordert: sR1 a Jerusalem, klage und weine: * Israels Heiland wurde gemordet in dir. vgl. Mt 23,37; Offb 5,9c V Wie einen Bach lass deine Tränen strömen, und gönne deinen Augen keine Ruhe. Klgl 2,18bc V Steh auf und klage bei Nacht, stöhne und schreie laut zum Herrn. Klgl 2,19a.18a V Wie Wasser schütte dein Herz aus vor dem Antlitz des Herrn. Klgl 2,19b <?page no="405"?> 2.2 Das Benediktinische Antiphonale 397 Der alternative Responsorialgesang verarbeitet dasselbe Thema etwas erweitert: sR1 b R Jerusalem! Jerusalem! In dir wurde gemordet der Heiland Israels. vgl. Mt 23,37; Offb 5,9c Wie einen Bach lass deine Tränen strömen bei Tag und bei Nacht, und gönne deinen Augen keine Ruhe. R Klgl 2,18f Steh auf und klage bei Nacht, stöhne und schreie! Wie Wasser schütte dein Herz aus vor dem Antlitz des Herrn. R Lege das Kleid der Trauer an, wälze dich im Staub, halte bittere Klage - wie um den einzigen Sohn. R Jer 6,26 (= sR 2, 2. Stichos); vgl. Sach 12,10 Die 2. Nokturnlesung (Sach 12,10f; 13,1.7-9; 14,3-9) in der Münsterschwarzacher Eigenordnung enthält die Prophetie der Trauer und des Jammers Jerusalems/ des Gottesvolkes um „den Durchbohrten“ sowie der Geistausgießung und Epiphanie des Herrn, bei dessen Kommen nach der Schlacht „am Abend Licht sein [wird]“ und lebendige Wasser strömen und sein Königtum und die Einzigkeit seines Namens offenbar werden. Im Gottesdienst der Kirche antizipiert dieser Text die Paschavigil: das Aufgehen des lumen Christi nach der siegreichen Überwindung von Kreuzestod und Höllendunkel und die Teilhabe der in seinem Namen ins Taufwasser Getauchten an der Neu-Belebung und Erleuchtung durch seinen Heiligen Geist. Die hohepriesterliche Selbstdarbringung Jesu Christi, in dessen Blut der neue Bund geschlossen ist zur „Rettung derer, die ihn erwarten“, ist Thema der früheren 3. und heutigen 2. Nokturnlesung (Hebr 9,11-28). Sie entfaltet das Paschamysterium Christi bundestheologisch, soteriologisch und eschatologisch-universal. Die Responsorien führen in die von Trauer, Schmerz und Totenklage bestimmte Gegenwart zurück, in der noch kaum Hoffnung erkennbar wird. Der Gesang nach der 2. Lesung basiert auf O vos omes (sR 5 , Nr. 32 im Anhang), das er um zwei neue Verse erweitert: sR2 a Ihr alle, die ihr des Weges kommt: Klgl 1,12 * schauet doch, und seht meinen Schmerz! V Gleicht denn ein Schmerz meinem Schmerz, dem Schmerz, mit dem der Herr mich geschlagen? V Hört, wie ich stöhne! Ich habe keinen Tröster. Klgl 1,21a V Ich klage ohne Ende, und mein Herz ist krank. Klgl 1,22c Darüber hinaus bringen im alternativen Gesang zwei Motive aus Klgl 2 und Klgl 5 die Gottferne in der Klage über das Ende von Gottesdienst und Festesfreude zum Ausdruck: sR2 b R Schauet doch, und seht meinen Schmerz, den Schmerz, mit dem der Herr mich geschlagen! Klgl 1,12 Gehäuft ist auf die Tochter Juda Jammer über Jammer. Auf Zion sind Festtag und Sabbat vergessen. R Klgl 2,5c.6b Hört, wie ich stöhne; ich habe keinen, der mich tröstet. Ich seufze ohne Ende, und mein Herz ist krank. R Klgl 1,21a.22c Des Herzens Freude ist dahin, in Totenklage ist der Reigentanz verwandelt. Die Krone unsres Hauptes ist gefallen. R Klgl 5,15.16a; vgl. Am 8,10 Die frühere 3. Vigillesung aus dem Hebräerbrief findet in den Responsorien nur wenig Widerhall, außer eventuell über das Motiv des Hineingehens an zwei Orte, die gegensätzlicher nicht sein könnten: ins Heiligtum und in die Sphäre des Todes. Der erste der drei gegenwärtig alternativ verwendeten Texte, die Epiphanios zugeschriebene Homilie am großen heiligen Sabbat, schließt an die Tradition, „eine passende Homilie“ zu lesen, an. Aus dieser Predigt (A) stammt das Motiv des verlorenen Schafes, das in beide Responsorien als Interpretation des Descensus eingetragen wurde. Die theologischen Texte von Joseph R ATZINGER meditieren den Descensus Christi in das Reich des Todes als Überwindung der tiefsten Furcht des Menschen vor <?page no="406"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 398 Abwesenheit, „seitdem das Niemandsland der Einsamkeit bewohnt wird von Ihm“ (B) 2157 oder den Karsamstag als „auf unheimliche Weise unser[en] Tag“, dessen Gottesfinsternis und Schweigen Gottes - das Sterben Gottes im Zertrümmern seines Bildes in uns - wir brauchen, „um wieder den Abgrund seiner Größe zu erfahren und den Abgrund unserer Nichtigkeit, der sich auftun würde, wenn er nicht wäre“ (C). 2158 Die Responsorien nach der 3. Lesung rezipieren Motive aus Recessit pastor noster (sR 4 , Nr. 33 im Anhang). Neu gegenüber der Tradition ist die Verknüpfung des Descensus mit der Suche nach dem verlorenen Schaf, wodurch der Hirte als ebenso zugewendet wie entzogen erfahren wird: sR3 a Heute stieg der Erlöser hinab zu den Toten; 1 Petr 3,19; 4,6 * des Todes Pforten barsten, als sie ihn schauten. V Ins Grab stieg der Hirte hinab, um das verlorene Schaf zu suchen. Lk 15,4 V Gefesselt hat er den Starken, der Adam gefangenhielt. vgl. Mk 3,27; Hebr 2,15; vgl. 1 Kor 15,22.45.47 V Sein Erscheinen jagte den Tod in die Flucht, und die Begrabenen erweckte sein Ruf. vgl. Joh 5,25.28 Der responsoriale Gesang rahmt das Kampfmotiv (Überwindung des Todes) durch die Suche nach dem Verlorenen und einen abschließenden Blick auf die Herausführung der Befreiten: sR3 b R Heute hat unser Erlöser die Pforten und Riegel des Todes zertrümmert. vgl. Klgl 2,9 Unser Hirte ging dahin, das Schaf, das verloren war, zu suchen. Er stieg hinab in das Grab des Todes, um den Starken zu fesseln, der Adam gefangenhielt. R Lk 15,4 vgl. Mk 3,27; Hebr 2,15; vgl. 1 Kor 15,22.45 Sein Erscheinen jagt den Tod in die Flucht, sein Ruf erweckt die Toten: Die Pforten des Todes barsten, als sie ihn schauten. R vgl. Joh 5,25.28 Entmachtet hat er den Satan, zerstört die Verließe des Todes. Er hat den Kerker aufgesprengt und die Gefangenen befreit zum Leben. R vgl. Jes 61,1; Hebr 2,15; vgl. Ps 106(107),10.16 Dan 9,16-19 als Kurzlesung in den Laudes stellt den ursächlichen Zusammenhang zwischen der Sünde des Volkes und seiner Verwüstung im „grimmigen Zorn“ her und appelliert an Gottes Barmherzigkeit um seiner selbst/ seines Namens willen. Es erbittet Vergebung „unserer Sünden und … der bösen Taten unserer Väter“, deretwegen „dein Heiligtum“ und die Stadt, „die deinen Namen trägt“, in Trümmern liegen. „Jetzt“ möge Gott handeln, „um seines Namens willen“, denn „deine Stadt und dein Volk, sie tragen ja deinen Namen.“ Mittagshore Nach der Vertrauenskundgabe in Ps 55(56) kündigt sich die Hoffnung auf eine Schicksalswende sowohl in der Kurzlesung Am 9,11-13 als auch im zweiten Teil der Psalmodie, die mit der Antiphon Ps 125(126),4a endet, an. „Wie in den Tagen der Vorzeit“ verheißt die Lesung den Wiederaufbau der „zerfallenen Hütte Davids“ und der „ver- 2157 R ATZINGER , Meditationen. Wie Anm. 2152. 2158 Ebd. 20-21. <?page no="407"?> 2.2 Das Benediktinische Antiphonale 399 wüsteten Städte“ aus ihren Trümmern und die endgültige Einpflanzung des Volkes („nie mehr werden sie ausgerissen“) in „dem Land, das ich ihnen gegeben habe“. Vesper Die Kurzlesung aus Jes 51,9-11 will den „Arm des Herrn“ erwecken, auf dass er - wie beim Exodus an „den Geschlechtern der Vorzeit“- in der bevorstehenden Ostervigil an den Gläubigen/ Getauften, die Heimkehr der Befreiten, den Durchzug der Erlösten, und die Verwandlung des Kummers in Freude und Wonne wirken möge. Als einziges Kapitel dieser Tage hat Jes 51 ein Responsorium und ein Versikel bei sich. Die genannten Extreme (Höhe, Tiefe, Himmel, Hölle, Tod und Leben) und das Erschrecken der lebensfeindlichen Mächte veranschaulichen den endgültig unumschränkten Herrschaftsbereich des Höchsten. srV Das Tor der Schrecken tut sich auf: * die Mächte der Hölle erschaudern beim Anblick des Höchsten. V Der über die Himmel regiert, steigt hinab in die Tiefe des Abgrunds. vgl. Sir 24,5 2159 V Der Herr macht tot und lebendig. R Er führt zu den Toten hinab und führt auch herauf. 2.2.3 Gebete Das kirchlich formulierte Beten beschränkt sich an den vorösterlichen Tagen auf zwei knappe Orationen ohne Gebetseinladung und Schlussformel. Das Gebet Respice wird am Gründonnerstag und Karfreitag 2160 in der Nacht- und Morgenhore sowie in den Mittagshoren gesprochen: „Wir bitten dich, Herr, unser Gott, schau hernieder auf diese deine Familie, für die unser Herr Jesus Christus sich willig den Händen der Frevler ausliefern ließ und die Marter des Kreuzes auf sich nahm.“ Folgende Oration spricht man in allen Horen am Karsamstag: „Allmächtiger Gott, in frommer Sehnsucht erwarten wir die Auferstehung deines Sohnes und bitten dich: Lass uns mit ihm zur Herrlichkeit der Auferstehung gelangen.“ Die in der traditionellen Oration Respice erklingende Bitte, von Gott angesehen („berücksichtigt“) zu werden, fügt sich stimmig in die neue Feierordnung des Benediktinischen Antiphonale; weniger hingegen die Selbstidentifikation der Kirche als „deine Familie“ in ihrer distanziert wirkenden Abhebung von den kaum fassbaren, jedenfalls aber in ,den anderen‘ auszumachenden „Frevlern“. Sprachlich und inhaltlich betont schlicht ist die Bitte der Feiernden um Teilhabe an der erwarteten (Feier der) Auferstehung Christi am Karsamstag. 2159 Dort spricht die göttliche Weisheit, die aus dem Mund des Höchsten hervorging „Den Kreis des Himmels umschritt ich allein, in der Tiefe des Abgrunds ging ich umher“ (Sir 24,3a). 2160 An diesen Tagen findet auch die Komplet in gewohnter, etwas reduzierter Weise statt: bestehend aus Schuldbekenntnis samt Vergebungsbitte, Psalm + Antiphon und der traditionellen unspezifischen Oration: „Herr und Gott, kehre ein in dieses Haus und halte alle Nachstellungen des Feindes von ihm fern. Deine heiligen Engel mögen darin wohnen und uns in Frieden bewahren. Und dein Segen sei allezeit über uns.“ <?page no="408"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 400 2.2.4 Theologische Akzente der Neuordnung 2.2.4.1 Personalität und anthropologischer Erfahrungshorizont Die erneuerte Tagzeitenliturgie von Gründonnerstag bis Karsamstag im Benediktinischen Antiphonale präsentiert sich als überaus dynamische und beziehungsorientierte Feier. Ohne Umschweife eröffnet sich dem Beter „das ringende, oft genug verwirrte, zerschlagene, einsame Herz des jüdischen Rabbi Jesus“ 2161 , der - in unverständliches Leiden geraten und den sozialen wie physischen Tod vor Augen - in der Sprache der Psalmen vor seinem Gott und Vater klagt und betet. Der Sohn betet zum Vater Die Antiphonie und Psalmodie - jeweils aus wenigen traditionellen und mehrheitlich neugewählten Psalmen zusammengestellt - erklingt bis zur Komplet am Karfreitag primär als vox Christi ad patrem, am Karsamstag betet Israel/ vox ecclesiae. Die Mehrheit aller Antiphonen richtet sich bittend, manchmal fordernd an das Du Gottes, um ihn endlich („jetzt“) zum Handeln zu bewegen. In ihnen kämpft der Ich-Beter um seine Beziehung zu Gott (am Karsamstag das Gottesvolk). In anderen Antiphonen reflektiert er seine Erfahrungen im Selbstgespräch und bringt widerstreitende Gefühle - Angst, Vertrauen, Trauer, Resignation, Hoffnung etc. - zum Ausdruck. 2162 Der dritte, sehr sparsam eingesetzte Typ von Antiphon ist die bekenntnishafte Aussage von Gott sowie die typologische Prophetie über Christus oder, am Karsamstag, über die Kirche (de patre/ de Christo/ de ecclesia). Außer fBen (Joh 3,16) und sMag (Röm 6,4 oder Joh 13,31f) stammen sie aus der Tradition. Nur in der Psalmodie/ Antiphonie des Karsamstags - an den anderen Tagen bleibt Christus ganz Mensch - gehen die Christologisierung von unten und von oben stellenweise ineinander über: Die Kirche betet mit Christus und zu ihm; sie adressiert sich an den Vater und meint zugleich den erhöhten Herrn/ Sohn. Ebenfalls an diesem Tag richten sich außerdem eine Verheißung an das Volk Gottes sowie eine Aufforderung an die Unterwelt/ die Toten, sich dem Kommen Gottes anzuvertrauen/ zu unterwerfen. Die in den gewählten Psalmen und Antiphonen maßgebliche Beziehung ist die des Menschensohnes zu seinem Gott und Vater. Allein auf ihn ausgerichtet erhofft der Beter alles von Gott und nimmt alles von ihm an. Diesem Vorbild folgt auch das psalmodische Wir-Gebet der Kirche am Karsamstag. Die Lebensbezüge des Beters Die als Vigillesung empfohlene traditionsgemäße Kantillation der Klagelieder - sie betrauern die verlorene Gottesnähe - und die neuen Kurzlesungen 2163 in den Laudes und Mittagshoren sowie in der Vesper am Karsamstag bieten ausschließlich alttestamentliche Schriftstellen, meist prophetischen Inhalts. Ausgehend von der exemplarischen Gebetserfahrung des Einzelnen oder des Kollektivs erschließen diese Texte das zeichenhafte, manchmal dunkle Handeln Gottes an seinem Volk, zu dem sich auch die Feiernden zählen: Sie bringen zur Sprache, dass Gottes Wahrheit den abgewandten Menschen verwundet und ihm zur Finsternis, Trauer, Totenklage und Bitterkeit („Gericht“) wird (Hos 5; Am 5); ebenso, dass Gott das Schicksal des Gerichteten wendet 2161 So emphatisch Anselm G RÜN in seiner Hinführung (BA Stundengebet 3). 2162 Die Beziehung zu den Verfolgern spielt hingegen in den Antiphonen kaum eine Rolle, was einen markanten Unterschied zur Antiphonie der früheren römischen Tradition darstellt. 2163 Sie umfassen an diesen Tagen im Schnitt immerhin rund 100 Wörter. <?page no="409"?> 2.2 Das Benediktinische Antiphonale 401 und ihm Heilung, Aufrichtung und Leben schafft, weil sein Name (Ich - für euch) das verheißt (Dan 9; Am 9). Am Gründonnerstag schildern die Kapitellesungen in Weiterführung der Psalmodie das Leiden des Propheten unter der Last des göttlichen Auftrags (Jer 11) sowie seines von Gott kommenden Schmerzes, den Menschen nicht lindern oder stillen können (Ijob 16) - zwei Aspekte, unter denen auch das Leiden des Menschensohnes Jesus an seinem Gott und seinen Mitmenschen zu begreifen ist. Die weiteren Vigillesungen sind im BA freigestellt. In Münsterschwarzach liest man neutestamentliche und nicht-biblische Texte mit deutlichen Bezügen zu den Responsorien. Damit bleibt die wünschenswerte Abstimmung beider Elemente aufeinander gegeben, wobei heute die Lesungen passend zu den Responsorien ausgewählt werden und nicht wie früher umgekehrt. Prinzipiell stehen die Responsorien im BA für sich. Es liegt in der Kompetenz der Hörer, Bezüge zu den frei gewählten Lesungen zu erkennen oder für sich herzustellen, doch verhelfen die Gesänge auch unabhängig davon zu einem vertieften Verständnis des Gefeierten. Die stilistisch den lateinischen responsoria prolixa ähnlichen Responsorien ( a ) werden, sofern sie nicht ohnehin aus dem Neuen Testament schöpfen, als vox Christi oder vox de Christo gehört, der hier hauptsächlich zu den Jüngern/ den Gläubigen, seltener zu Gott, spricht. Besonders die neuen responsorialen Gesänge ( b ) lassen dialogisch oder in direkter Rede die neutestamentlichen Zeugen der Passion zu Wort kommen, die die Feiernden zur Identifikation und Selbsterkenntnis anregen: Ihnen gilt die Bitte Jesu um Mitgefühl, Gebet und Wachsamkeit, aber auch sein Vorwurf. Sie spüren die Angst aus Jesu Worten und wissen, dass wohl auch sie wie die Jünger geschlafen hätten. Sie schwören mit Petrus Treue und müssen eingestehen, untreu zu werden. Sie hören die Ankläger und den Richter des verkannten Königs Jesus und bekennen sich selbst als mitschuldig. Sie bitten als zu Recht Verurteilte um Jesu Gedenken und bekennen ihn als den Sohn Gottes. Am Karsamstag beklagen sie den getöteten Heiland Israels. Sie wissen sich gesucht wie das verlorene Schaf und wie Adam zum neuen Leben befreit. Die Texte und Gesänge der drei Tage thematisieren die personalen Lebensbezüge des Beters, wobei jeweils bestimmte Aspekte dominieren: So wird am Gründonnerstag die Beziehung des Frommen zu Gott und zu seinen engsten Vertrauten erkennbar; am Karfreitag die Relation zu den Angehörigen seines Volkes, zu Fernstehenden, Fremden und Feinden. Den Karsamstag prägen einerseits die Klage und der Schmerz über den Entzogenen (Beziehungsverlust); andererseits das Descensus-Motiv, in dem die Beziehung Gottes zur Schöpfung ,neu‘ geschaffen wird: im Kampf und Sieg über Tod und Hölle und in der Rettung und Herausführung des gefangenen Menschen. Wie die personale Gebetssprache der Psalmodie sind auch die Lesungen und Responsorien überwiegend appellativ, dialogisch oder paränetisch. Nur wenige Antiphonen, Texte oder Gesänge halten den heilsgeschichtlichen Ertrag des Geschehens in ,objektiven‘ Formulierungen fest. Identifikation aus Erfahrung Die Aneignung der Feierinhalte erfolgt unabdingbar im Horizont der Glaubenserfahrung des Beters und seiner persönlichen Gottesbeziehung. Wo die Christologie der patristisch geprägten kirchlichen Psalmenrezeption und -auslegung weder selbstverständlich noch allgemein vorauszusetzen ist, erschließt sich die Bedeutung der Psalmen für die jährliche Osterfeier wesentlich über ihren anthropologischen Erfahrungswert, den sie nicht zuletzt auch für den - exemplarischen - Menschen Jesus hatten. Die Gottesbeziehung des Psalmisten kommt in den gewählten Texten häufig in der Metaphorik der Sinneswahrnehmung zum Ausdruck: Gott hört, wenn der Beter ruft und sieht auf ihn. Der Beter weiß sich im Dunkel, will aber „nicht die Grube“, sondern „Gutes“, ja <?page no="410"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 402 schließlich Gott selbst schauen, der (im) Licht ist. Dass Gott sein Angesicht zuwendet, es nicht verbirgt, sondern „leuchten“ lässt, wird ihn retten. Doch wird er seinerseits den Blick erheben, um Gottes Antlitz zu „schauen“, d. h. ihm zu begegnen? Mit der ersehnten Rechtfertigung des Beters vor seinen Feinden „beim Erwachen“ verbindet sich die Hoffnung auf eine personale Beziehung zu seinem Retter: „Satt mich sehn an deiner Gestalt“ - das übersteigt selbst die Erfahrung irdisch Liebender, die sich deutschem Sprachgebrauch zufolge üblicherweise gerade nicht aneinander sattsehen können. Die Feier der Morgenhore am Karsamstag verheißt mit dieser Antiphon mehr als das nackte Überleben, mehr noch als eine offizielle Rehabilitierung, nämlich die Begegnung zwischen rettendem Gott und gerettetem Geschöpf in der intimen Nähe von Angesicht zu Angesicht. Personal ist auch die im Benediktinischen Antiphonale vermittelte Soteriologie: Gott selbst „erhebt sich“, er „kommt“, „nimmt sich an“ und „bleibt nicht ferne“ etc., um seinen Frommen/ Christus zu retten und sein Volk/ die Menschheit/ Kirche zu erlösen, „damit alle, die an ihn glauben, nicht verlorengehen, sondern das ewige Leben haben“. Dementsprechend überwiegt die anthropologische Christologie ,von unten‘ weitaus die auch am Karsamstag verhalten bleibende Christologie ,von oben‘. 2164 Die gefeierten Heilsgeheimnisse erschließen sich über dasselbe und bewährte Medium wie bisher: in der Psalmodie und besonders der Antiphonie sowie in den Lesungen und Responsorien. Komplementär zur römischen Tradition, die die Feiernden hauptsächlich durch das Zu- und Hinhören lehrt, finden die Gläubigen im BA über den Gesichtssinn einen existentiellen Zugang: 2165 in der Ausschau mit Christus nach dem Tröster und Retter und in der Wahrnehmung der Mitmenschen, ihrem Urteil, ihrem Hin- oder Wegsehen; im Aufblick zu Christus, der „in Gottes Gestalt war“ (Phil 2,6), dem Durchbohrten und Höchsten, bei dessen Anblick alle lebensfeindlichen Mächte erschaudern, der sich aber den zum neuen Leben Erwachenden zeigt. 2.2.4.2 Theozentrik Die Unbegreiflichkeit Gottes Die Tagzeitenliturgie im BA ist wie die Offiziumstradition römischer und monastischer Prägung nahezu uneingeschränkt theozentrisch. Gott wird als Urheber all dessen angesprochen, was geschieht, auch wenn es schwer erträglich ist, und dem Beter/ den Feiernden Sinn und Zusammenhänge kaum begreifbar sind. Der abgründigen Erfahrung der Psalmen und Prophetentexte wird am Höhepunkt der Not diese theologische Letztbegründung gegeben: „So sehr hat Gott die Welt geliebt …“ (Joh 3,16, fBen). Im liturgischen Kontext des Karfreitags interpretiert sie die Hingabe des Sohnes durch den Vater (Röm 8,23, fL1). 2166 Am Gründonnerstag vermitteln die Psalmodie sowie die Kurzlesungen aus Jeremia und Ijob jene Unbegreiflichkeit des Handelns Gottes, die auch Jesus zur Prüfung wird: 2164 Hier unterscheiden sich Liturgia Horarum und Benediktinisches Antiphonale gravierend voneinander; siehe oben Kapitel 2.1.3.2. 2165 Die Psalmen verdichten die Wahrnehmungen der beiden gottgeschaffenen und gottfähigen Organe Auge und Ohr zu Gebet, wobei „keine der beiden Fähigkeiten einen Vorrang vor der anderen [hat]“. (J ANOWKSI , Konfliktgespräche 96). 2166 Vgl. die Antiphon zum Canticum in der Liturgia Horarum, die ebenfalls eine Deutung von Röm 3,28 bietet. Dort allerdings ist das Subjekt der göttlichen Liebe nicht der Vater, sondern der Sohn (Offb 1,5b), was dem christologischen Gesamtkonzept dieser Feierordnung entspricht. <?page no="411"?> 2.2 Das Benediktinische Antiphonale 403 Gottes Zorn, die Auslieferung Schuldiger und Unschuldiger an die Feinde, der drohende soziale und physische Tod. Bis in die jüngste Zeit gibt es an diesem Tag im BA keine eucharistische Thematik; auch der gegenwärtig in Münsterschwarzach gelesene Rahner-Text stellt nur eine schwache Assoziation dazu her. Um seines Namens willen Am Karfreitag ist in den Kurzlesungen aus Hosea und Amos einerseits von der Zusage der Aufrichtung und des neuen Lebens „am dritten Tag“ die Rede, andererseits vom Tag des Herrn, an dem aus Licht Finsternis wird, und aus dem Fest Trauer. Der Karsamstag verheißt mit den Prophetien aus Daniel, Amos und Jesaja die gegenläufige Verwandlung zum Guten. Die Schicksalswende ereignet sich in der Wiedererrichtung und Neupflanzung des Volkes, in Befreiung, Erlösung und Rückkehr, in Freude und Wonne (statt Kummer und Seufzen). Sie geschieht um Gottes/ deines Namens willen und ist sein Werk: „Um deiner selbst willen, lass dein Angesicht leuchten … neige dein Ohr und höre! Öffne deine Augen und sieh; höre doch und vergib, merke auf und handle, zögere nicht länger; wach auf, du Arm des Herrn und wappne dich! “ (Dan 9,17-19; Jes 51,9) Im Hintergrund bleiben die Verfolger und Täter, deren Aktivitäten in der lateinischen Tradition zur Illustration der Gefährdung des Frommen/ des Heiligen unter den Frevlern/ Sündern sehr viel größeres Gewicht hatten. Der Abstieg des Höchsten Nur am Karsamstag, an dem die Kirche gewissermaßen das Beten übernimmt, verfließen die Grenzen zwischen strikter Theozentrik und Christologie von oben: Der von den Gläubigen adressierte göttliche „Herr“ ist Vater und Sohn. Das gilt von der Psalmodie ebenso wie vom Motiv des Descensus, den die Responsorien der 3. Nokturn und das responsorium breve der Vesper als dynamisch-personales Ereignis schildern, das an allen aus der Tradition bekannten Heils- und Unheilsorten stattfindet: Es beinhaltet den Kampf (Fesselung des Starken, Vertreibung des Todes; Entmachtung Satans; sogar die Pforten bersten beim Kommen Gottes) und die Rettung (Suche nach dem verlorenen Schaf, durch Zuruf erweckte Tote, Befreiung der Gefangenen); die göttliche Epiphanie in der Unterwelt („Der über die Himmel regiert, steigt hinab in die Tiefe des Abgrunds“), führt zu ihrer kampflosen Kapitulation, Öffnung und königlichen Einnahme. Die Responsorien besingen den vollmächtigen Sieg des „Erlösers“ und „Hirten“, des „Höchsten“, der „über die Himmel regiert“, über Sünde und Tod; der Versikel bekräftigt die Macht „des Herrn“ über Tod und Leben. Die christliche Rezeption hat hier die alttestamentlichen JHWH-Attribute auf Christus übertragen. 2.2.4.3 Zion: Symbol Christi und der Kirche Am Karsamstag bleibt der leidende Gerechte/ Gekreuzigte im Bild des verwüsteten Heiligtums präsent. Insbesondere die in Ps 73(74) genannte „Stätte deiner Gegenwart“, „die Wohnung deines Namens“ und „dein Heiligtum“, versteht die Kirche als Symbol für Christus; seine „lärmende“ Zertrümmerung, Brandschatzung und Entweihung aber als Bild seines gewaltsamen Todes. Die Klage über Zion/ Jerusalem erklingt am Karsamstag als Totenklage um den Gekreuzigten - und als Klage über das mit seinem Schicksal verbundene Geschick der Beter (Klgl 2,18 in sR1 a+b ; Klgl 1,12.21 in sR2 a+b ). Der Anspruch der Widersacher „Wir zerstören alles“ (Ps 73[74],8) ist ein Wahrspruch über die universale Bedeutung des Sterbens Jesu, in dem tatsächlich für die Mensch- <?page no="412"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 404 heit alles auf dem Spiel steht. Letztlich aber wird Gott dem Treiben der Frevler „ein Ende machen“ (vgl. V. 11 2167 ) - und nicht sie ihm. Die Rede vom (Berg) Zion steht in Ps 101(102) nicht im Vordergrund, doch gibt der Blick auf den erbarmenden Weltenherrscher „der Not eines Einzelnen und seiner Hoffnung auf Rettung einen Ort in der Geschichte Gottes mit dem Zion und mit der Völkerwelt.“ 2168 Erst die Wahl der Antiphon (V. 14) - und nach dem Psalm noch einmal der Versikel (Ps 50[51],20) - rückt das Erbarmen Gottes mit Zion als die eigentliche Hoffnung des Beters ins Zentrum. Jedes ihrer Worte lässt andere christologische, ekklesiologische und soteriologische Aspekte österlicher Lebenserwartung aufleuchten: Der Zuruf „Erhebe dich, Herr (Gott)“ kann an Christus gerichtet „Steh auf (von den Toten, Christus) und sei Zion (der Kirche) gnädig“ gehört werden (= Auferstehungschristologie von oben, Soteriologie). An der „gnädigen“ Wiedererrichtung Zions, des geschändeten (Heiligtum des) Sohnes (= Auferweckungschristologie von unten), hängt das Schicksal Zions, des verlorenen Gottesvolkes (Soteriologie, Ekklesiologie) und, wie der Psalm in V. 16 weiter ausführt, „der Völker“ (Universalität). „Jetzt ist die Stunde gekommen“ assoziiert die erbarmende Tat Gottes mit der Verherrlichung des Sohnes (Joh 12,23): mit seiner Erhöhung am Kreuz, der die Erhöhung zum Vater und die aus dem Tod ins Leben folgt. Für die Gläubigen der „gegenwärtigen Zeit“ heißt das sehr konkret: „Die Stunde ist gekommen, aufzustehen vom Schlaf.“ (Röm 13,11) 2.2.4.4 Lineare Theologie Trotz erheblicher Kürzungen im Umfang des psalmodischen Teils bilden die Psalmen (und einige Prophetentexte) die Basis für die Theologie der Tagzeitenliturgie an den vorösterlichen Tagen. Sie ist von daher nicht nur ebenso strikt schriftbezogen und theozentrisch wie in der römisch-monastischen Tradition, sondern entfaltet sich auch ähnlich linear und in einer gewissen Langsamkeit: Sie setzt bei der Gebetserfahrung des leidenden Gerechten/ Christus an und verweilt bei seinen Nöten und Hoffnungen, bevor sie mit ihm oder über ihn zu einer tieferen Einsicht des göttlichen Heilsplanes gelangt. In den entsprechenden prophetischen oder neutestamentlichen Antiphonen artikuliert sich die im Glauben der Kirche bereits eingelöste österliche Hoffnung. Diese steht jedoch während der Feier nicht jederzeit und einfachhin abrufbar im Raum, sondern sie stellt sich erst nach längerem Ringen ein oder blitzt fallweise fast überraschend auf. Die hier ,linear‘ genannte Theologie ist also weder eindimensional noch im strengen Sinn bloß vor-österlich. Vielmehr korrespondiert die liturgische Feiererfahrung mit der persönlichen Glaubenserfahrung der Feiernden und bietet ihnen infolge ihrer hermeneutischen Offenheit mehrere Ebenen der Identifikation, ohne auch schon deren Ergebnis festzustellen. 2167 In der EÜ: „Warum ziehst du die Hand von uns ab, hältst deine Rechte im Gewand verborgen? “ 2168 Z ENGER , AT 1153. <?page no="413"?> 2.2 Das Benediktinische Antiphonale 405 2.2.5 Synthese: Die monastische Tagzeitenliturgie vom Hohen Donnerstag bis Karsamstag im Benediktinischen Antiphonale Der dem Benediktinischen Antiphonale zugrundeliegende „Entwurf eines deutschen monastischen Offiziums“ von Notker F ÜGLISTER stellt auf den ersten Blick einen veritablen Bruch mit der Tradition dar: In der neuen Psalmenverteilung sind die älteren Vorgaben - auch an den untersuchten Tagen - kaum mehr erkennbar; auch die Antiphonen an diesen Tagen haben, mit einigen Ausnahmen, kein historisches Vorbild. Die Feierstruktur der benediktinischen ,Trauermetten‘ ist der römischen Tradition dennoch eng verwandt: Sie beschränkt sich an den vorösterlichen Tagen auf die elementaren Vollzüge des Offiziums (hier: des Chorgebetes) und lässt die einleitenden und abschließenden Formeln, das Invitatorium, die Doxologie und die Hymnen entfallen. Abgesehen von der Kürzung der Horen entspricht das der bis ins 20. Jh. tradierten Feierpraxis. Die Psalmen und Antiphonen bilden wie früher den größten Textanteil der Nacht- und Morgenhore und sprechen ohne zusätzliche Verständnishilfen für sich. Auch in der gänzlich erneuerten Auswahl und Zusammenstellung behalten sie von daher ihre theologisch-hermeneutische Hauptrolle. Die aus der Psalmodie zu erschließende Theologie weist große Kontinuität zur Tradition auf und stimmt gleichermaßen mit den Anliegen der Liturgiereform überein. Die wiedererinnerte Dialogizität gottesdienstlichen Feierns etwa ist den Psalmen inhärent und schlägt sich umso deutlicher in den neuen Antiphonen nieder: die meisten sind dramatische Appelle an das ,Du‘ Gottes, von dem allein der bedrängte Beter alles erwarten darf, weil Gott sich mit dem Armen identifiziert und das Unrecht „um seines Namens willen“ beenden wird. Einige selbstreflexive Antiphonen lassen die innere Entwicklung, die Ängste und Hoffnungen des Leidenden, nachvollziehen. Die wenigen, im kirchlichen Feiern auf Christus bezogenen, Prophetenworte sowie die sparsam platzierten dogmatisch-bekenntnishaften Aussagen aus der Tradition stehen - wie unverhofft erlösende Einsichten - jeweils erst am Ende eines vorausgehenden längeren Prozesses des Nachdenkens und Ringens. Die schon für das römische Offizium charakteristische Theozentrik und Christologisierung ,von unten‘ sind im Benediktinischen Antiphonale sprachlich sehr dynamisch, emotional und personal formuliert. Während die Feiernden in der älteren Tradition phasenweise in einiger Distanz und Ungewissheit hinsichtlich des Geschehens zwischen Vater und Sohn zu verharren hatten, sind sie in der neuen Ordnung von der ersten Antiphon an existentiell involviert. „Beziehung“ - gefährdet, abgebrochen, erneuert und wiederhergestellt - ist das bestimmende Moment in den meisten Texten und Gesängen. Der Zugang zum Paschamysterium eröffnet sich aufgrund der anthropologischen Erfahrung personaler Begegnung und Identifikation und findet zwischen allen Beteiligten statt: Gott - Mensch, Vertraute - Fremde, Israel - Völker, Freund - Feind. Sie ist zudem sinnlich und kommunikabel: Im Rufen und Hören, vor allem aber im Blick (Angesicht) und im Schauen ereignet sich die ersehnte Erlösung. Die Kantillation der Klagelieder als jeweils erste Lesung an allen drei Tagen wird als Empfehlung beibehalten. Sie bringen die schwer belastete Beziehung zwischen Gott und seinem exilierten Volk zur Sprache; ohne die Ursachen und die Konsequenzen ihrer Entfremdung zu beschönigen, ringen sie um ein Verständnis des Zornes Gottes, um Einsicht in die Schuldverstrickung des Menschen, um Umkehr - und eine zaghafte Hoffnung auf Rettung. In der Dynamik von Verbannung, Heimkehr und Neuerrichtung des biblischen Gottesvolkes und seines Heiligtums (Jerusalem/ Zion) - Typos für Christus und mit ihm <?page no="414"?> 2. Gegenwärtige Feierordnungen 406 für die Kirche als universalem und ultimativem Ort der Begegnung zwischen Gott und Mensch - findet nicht nur die soteriologische Verheißung, sondern auch das ekklesiologische Selbstverständnis der Feiernden einen starken Ausdruck: Die in der römischen Tradition teils schuldbewusst-passive, teils staunende ,Ohrenzeugin‘ der Heilsgeschichte, in der heutigen Tagzeitenliturgie aber umso nachdrücklicher in die Verantwortung berufene Bekennerin ,Kirche‘ findet ihre Identität im darniederliegenden Jerusalem/ Zion, dem „jetzt“ Erlösung widerfährt: Weder in Überbietung noch in Abgrenzung von Israel, sondern in Identifikation mit ihm nimmt die Kirche an der biblisch ergangenen Verheißung teil und wird als heimgeführte Frau, wiedererrichtete Stadt Gottes und neugepflanzter Weinberg Gottes zum Heilszeichen für die Vielen und für alle. Die Theologie der vorösterlichen Tagzeiten erschließt sich nicht zur Gänze sofort, sondern sie entfaltet sich ähnlich langsam und schrittweise wie in der Tradition. 2.3 Zwischenbilanz zur Gegenwart Da die bisherigen Einzelbeobachtungen bereits an den jeweiligen Kapitelenden zusammengefasst und als Zwischenergebnisse präsentiert wurden, genügt es hier, als deren kurzes Fazit den markant hervortretenden Unterschied im Umgang mit der Tradition in den untersuchten gegenwärtigen Feierordnungen festzuhalten: Etwas zwiespältig bleibt die Rezeption der älteren Vorgaben in der Liturgia Horarum, die sich einerseits in formaler Kontinuität zur römischen Tradition versteht, andererseits deren Hermeneutik durch eigene Akzente und neue Themen in der Substanz stark modifiziert. Der völlig neue Wurf des Benediktinische Antiphonale steht in offensichtlicher materialer Diskontinuität zur römischen Tradition und bewahrt doch konsequent essentielle Merkmale, u. a. die relative Langsamkeit der theologischen Entwicklung; zugleich lassen sich auch hier neue Akzentuierungen ausmachen, etwa eine durch Kollektivierung des zionstheologischen Messiastypos bedingte stark ekklesiologische Dimension. <?page no="415"?> 3 Ergebnis Um das eingangs formulierte Vorhaben dieser Studie einzulösen, die Theologie der Tagzeitenliturgie an den Tagen von Gründonnerstag bis Karsamstag anhand ihrer Gesänge und Texte aus dem Feierverlauf zu erschließen, bedurfte es mehrerer methodischer Schritte. Ihr inhaltlicher Ertrag wurde in den vorausgehenden Binnenzusammenfassungen resümiert und muss hier nicht mehr im einzelnen wiederholt werden. Aus der Darstellung der ältesten erhaltenen, bis ins 20. Jh. auch in den monastischen Klöstern überaus stabil tradierten römischen Feiergestalt wurde die formalstrukturelle und, davon mitbestimmt, die elementare inhaltliche Bedeutung der Psalmodie und der Antiphonen deutlich, die für das Offizium als ursprünglich anzusehen ist und in der „liturgisch hochwertigen Zeit“ (Anton B AUMSTARK ) der letzten Tage der Hohen Woche die Jahrhunderte überdauert hat; weiters die Besonderheit der Lesungen in Verbindung mit ihren Responsorien. Die Hermeneutik der Gesänge und Texte war umso prägnanter, als man die übrigen Elemente des Offiziums an besagten Tagen entfallen ließ; der gleichfalls nur an diesen Tagen praktizierte nonverbale Ritus des Lichtauslöschens erfuhr keine liturgische Deutung, wurde aber namengebend (Tenebrae). Die Psalmen und biblischen Lesungen insbesondere der Nacht- und Morgenhore eröffneten den Feiernden den weiten Horizont alttestamentlicher Verheißung als heilsgeschichtlich-theologisches Referenzsystem für das an den vorösterlichen Tagen entfaltet gefeierte Leiden und Sterben Jesu. Trotz der in den Quellen festzustellenden Zäsur vor der Osternacht blieb das Leiden des Gerechten/ die Passion Jesu in der Zusammenschau beider Testamente keineswegs ohne österliche Hoffnung. Die mehrheitlich kanonisch fundierten, teils frei-assoziativen Responsorien knüpften die intertextuellen Fäden sodann noch dichter: Ihre dezidiert christliche Interpretation diente der existentiellen Aneignung des Gehörten durch die Gläubigen. Die in liturgische Gebetssprache gefasste Bekenntnisantwort der Kirche hingegen blieb an diesen Tagen äußerst knapp. Indem die Kirche den Psalmbeter mit Jesus identifiziert nahm und nimmt sie an seinem Gebet zum Vater teil. Basierend auf der jeweiligen biblischen Textgestalt wurden einige bereits im Neuen Testament, in der patristischen Auslegung und in der Liturgie explizit christologisch ,gefüllte‘ Psalmen zur Interpretation der christlich gefeierten Heilsmysterien herangezogen. Schriftkenntnis, kirchliche Hermeneutik und liturgische Resonanzen konstituierten somit die kirchliche wie auch die individuelle Feiererfahrung. Die Untersuchung zweier gegenwärtiger Ordnungen, der römischen Liturgia Horarum (LH) und des Benediktinischen Antiphonale (BA), hat als weiteres Ergebnis spezifische Veränderungen und aufschlussreiche inhaltliche Akzentverschiebungen gegenüber der Tradition aufgezeigt, die sich aus den unterschiedlich konzipierten Feierstrukturen ergeben. Beide Erneuerungen streben ein ausgewogenes Verhältnis von Kontinuität und Innovation an. Traditionsgemäß ist im ersten Fall die Übernahme bestimmter Gesänge und Texte, während die Komplettierung der Horenstruktur kein historisches Vorbild hat (LH). Im anderen Fall wird die traditionelle Feiergestalt mit ihrem Fokus auf der Psalmodie beibehalten, allerdings auf Basis einer völlig neuen Psalmenverteilung (BA). In beiden Ordnungen hat man sowohl den psalmodischen als auch den Lesungsteil stark gekürzt, allerdings nicht mit demselben Resultat. In Kombination mit der Einführung zahlreicher - an diesen Tagen - neuer Elemente führt die materiale Kürzung der Psalmodie in der Liturgia Horarum zu einem signifikanten Bedeutungsverlust der <?page no="416"?> 3. E–gebnis 408 Psalmen und zu ihrer christozentrischen Akzentuierung ,von oben‘. Strukturell wie inhaltlich begegnet sie der Gefahr partikulierender Tendenzen sowie eines psychologisierend-historisierenden Nachvollzugs mit der wiederholten Affirmation der Einheit des Paschamysteriums und seines sieghaften Ausgangs. Dadurch gewinnt jede einzelne Hore den Charakter einer ekklesiologisch-soteriologischen Selbstvergewisserung auf einem hohen theologischen Niveau. In der traditionsgemäß reduzierten Feiergestalt des Benediktinischen Antiphonale wiederum bleiben die hermeneutische Hauptrolle und die Theozentrik der überwiegend ,von unten‘ christologisierten Psalmen erhalten, die sowohl schrift- und liturgiekundige als auch theologisch weniger versierte Gläubige mit den anthropologischen, theologischen und soteriologischen Feierinhalten in Berührung zu bringen vermögen. Die Herstellung einfacher wie komplexer Bezüge bedarf des Zusammenspiels von objektiv-liturgischen Vorgaben mit der individuellen Feierkompetenz der Gläubigen. Die kommunikativen Mittel der Heilszusage (Teilgabe) und ihrer Annahme durch die Feiernden (Teilnahme) zeigen sich in den untersuchten Gottesdiensten differenziert. Sie spiegeln unterschiedliche liturgietheologische Konzepte wider. Nicht nur in dieser Hinsicht wurde und wird die Einbettung kirchlichen Feierns in den Horizont zeitgenössischer Theologie spürbar. Für die drei letzten Tage der Hohen Woche ist das insofern bemerkenswert, als die nahezu sakrosankte Tradierung der Feiergestalt der Nacht- und Morgenhore die längste Zeit hindurch keine substantiellen Veränderungen zugelassen hatte. Die dennoch unter dem Einfluss zeitbedingter Theologie und Spiritualität ausgeformten lokalen Eigenheiten und Sonderbräuche haben sich daher überwiegend an den Rändern der Liturgie niedergeschlagen, kaum jemals aber den Kern der Feiern tangiert. Die reformorientierte zeitgenössische Theologie des 20. Jhs. hingegen zeigt sich nicht in ephemeren Phänomenen, sondern im Zentrum der Feiern, die sie von Grund auf erneuert hat. Der als Zielsetzung dieser Untersuchung erfragte liturgietheologische Beitrag der Tagzeitenliturgie zur Jahresfeier des Paschamysteriums lässt sich angesichts der Vielfalt liturgischer Ordnungen innerhalb der römischen und monastischen Tradition heute nicht mehr als ein einziger bestimmen. Vielmehr sind, in Abhängigkeit von der jeweils zugrundegelegten Feierordnung, eigenständige und theologisch differenzierte Beiträge auszumachen: Das traditionelle römisch-monastische Offizium und die nach der jüngsten Liturgiereform erneuerte römische Liturgia Horarum sowie das exemplarisch dargestellte Benediktinische Antiphonale (Schema B im Thesaurus Liturgiae Horarum Monasticae) bringen nicht nur einzelne theologische, christologische, ekklesiologische und soteriologische Facetten der österlichen Mysterien zum Leuchten. Das aus ihnen erkennbare theologische Proprium jedes der drei Tage steht in Korrespondenz zu den Hauptliturgien am Gründonnerstag und Karfreitag, erfährt aber in jeder Feierform eigene Nuancierungen. Die untersuchten Gottesdienste bieten also sehr unterschiedlich akzentuierte, in sich stimmige Entfaltungen paschaler Theologien. Die systematische Reflexion der darin artikulierten Aspekte liturgischer Christologie, Theologie, Ekklesiologie, Soteriologie und Anthropologie wäre für die dogmatische Theologie ebenso dringend wie vielversprechend; nicht zuletzt mit Blick auf pastorale Konsequenzen, da auch die Feierordnungen sich je anderer Weisen der liturgischen Vermittlung und Aneignung durch die Gläubigen bedienen. Diese Vielfalt sensibilisiert für Gestalten und Ausdrucksformen der Tagzeitenliturgie wie überhaupt des gottesdienstlichen Handelns. In jedem Fall kann aus ihrem Reichtum für eine theologisch, spirituell und existentiell vertiefte Feier der Jahresfeier von Ostern geschöpft werden. <?page no="417"?> Abkürzungsverzeichnis Die Verwendung der Abkürzungen erfolgt nach: S CHWERTNER , Siegfried M., 2 IATG. Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete. Berlin: de Gruyter, 2 1992. außer: HFQ = Historische Forschungen und Quellen MLCT = Monumenta Liturgica Concilii Tridentini Kurzzitation der verwendeten Quellen und Literatur AES = Allgemeine Einführung in das Stundengebet AMS = Antiphonale missarum sextuplex Antiphonale I-III = Benediktinisches Antiphonale AntMon = Antiphonale Monasticum pro diurnis horis AntStB = Antiphonale zum Stundenbuch BA = Benediktinisches Antiphonale BA Stundengebet = Benediktinisches Antiphonale. Das Stundengebet vom Gründonnerstag bis zum Ostersonntag (Auszug aus BA) BR 1568 = Breviarium Romanum ex decreto SS. Concilii Tridentini restitutum. Editio princeps (1568) BrQu = Breviarium Romanum a Francisco Cardinali Quignonio CAO = Corpus Antiphonalium Officii CerB = Ceremoniale Basiliensis episcopatus HS I, II = S CHMIDT , Hebdomada Sancta (I: documenta; bibliographia; II: fontes; commentarius) Karwoche = Auszug aus: Die Feier des Stundengebetes LH = Liturgia Horarum LibAnt = Antiphonale sacrosanctae romanae ecclesiae pro diurnis horis LibOAnt = Liber de ordine antiphonarii LibOff = Liber officialis LitKW = Die Liturgie der Karwoche lateinisch und deutsch mit Erklärungen im Anschluß an die Meßbücher von Anselm Schott OSB LOCl = Liber tramitis aevi Odilonis abbatis LORh = Der Rheinauer Liber ordinarius LOsD = The first Ordinary of the Royal Abbey of St.-Denis in France LOTr = Der älteste Liber Ordinarius der Trierer Domkirche OffMiss = Officium et Missae ultimi tridui Majoris Hebdomadae juxta ritum monasticum OHS = Ordo hebdomadae sanctae instauratus. Editio typica 1956: zitiert nach S CHMIDT , HS I, passim. OOLt = Bernhardi cardinalis et Lateranensis ecclesiae prioris Ordo officiorum ecclesiae Lateranensis OR = Ordo Romanus OrdEx = Ordinale Exoniense = Exeter OrdHay = Sources of the Modern Roman Liturgy. The Ordinals by Haymo of Faversham and Related Documents OrdInn = The Ordinals of the Papal Court from Innocent III to Boniface VIII and related documents OSS = Ordo sabbati sancti quando vigilia paschalis instaurata peragitur 1952: zitiert nach S CHMIDT , HS I, 118-180. RB = Regula Benedicti: s. Die Benediktsregel S.R.C., decr. = Decretum generale S. R. C., Maxima redemptionis nostrae 1955: zitiert nach S CHMIDT , HS I, 222-225. StB I, II = Die Feier des Stundengebetes (I: Advent und Weihnachtszeit; II: Fastenzeit und Osterzeit) <?page no="418"?> Abkürzungsverzeichnis 410 Untersuchte Gesangs- und Textelemente d = Gründonnerstag f = Karfreitag s = Karsamstag XX = in der römischen Tradition XX = im Benediktinischen Antiphonale Ant = Antiphon N = Nokturn 1N, 2N, 3N = 1., 2., 3. Nokturn 1N1, 1N2, 1N3 = 1. Nokturn: 1., 2., 3. Antiphon d1N1, d1N2, d1N3 = Gründonnerstag: 1. Nokturn: 1., 2., 3. Antiphon (analog für die anderen Tage) f1N, f2N, s3N = Antiphon der 1., 2., 3. Nokturn am Gründonnerstag, Karfreitag und Karsamstag etc. L = Laudes (dL, fL, sL) dL, fL, sL = Laudes am Gründonnerstag, Karfreitag, Karsamstag dL1, fL2, sL3 = 1., 2., 3. Laudesantiphon am Gründonnerstag, Karfreitag, Karsamstag etc. Ben = Benedictus fBen, fBen = Antiphon zum Benedictus am Karfreitag (analog für die anderen Tage) D = Tageshoren Mh = Mittagshore V = Vesper dV, fV = Vesper am Gründonnerstag, Karfreitag Magn = Magnificat dMagn, dMagn = Antiphon zum Magnificat am Gründonnerstag (analog für die anderen Tage) dMagn/ alt = alternative Antiphon zum Magnificat Kyr = Einschub in die Kyrielitanei Div = diverse (Antiphonen) v = Versikel d1Nv = Versikel am Gründonnerstag in der 1. Nokturn (analog für die anderen Tage und Nokturnen) Lv = Laudesversikel R = Responsorium (dort V: Responsorialvers) oder Responsum dR, fR, sR = Responsorien am Gründonnerstag, Karfreitag und Karsamstag Sonstige Abkürzungen EÜ = Einheitsübersetzung Hs(s) = Handschrift(en) HoDo = Hoher Donnerstag KarFr = Karfreitag KarSa = Karsamstag LH = Liturgia Horarum LXX = Septuaginta MT = Masoretentext Vulgata = Biblia Sacra Vulgata <?page no="419"?> Bibliographie Quellen: Liturgische und patristische Dokumente A BATE , Giuseppe, Il primitivo Breviario francescano (1224-1227): MF 60 (1960) 47-240 + 4 Tafeln. Amalarii episcopi opera liturgica omnia. (Hg. H ANSSENS , Johannes Michael; StT 138- 140), Città del Vaticano: Biblioteca Apostolica Vaticana, 1948-1950. Analecta Hymnica. (Hg. B LUME , Clemens / D REVES , Guido Maria): - Tropi Graduales. Tropen des Missale im Mittelalter (2. Folge) (Hg. B LUME , Clemens; AHMA 49), Leipzig: Reisland, 1906. - Hymnographi Latini. 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