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Die Saga von der Njálsbrenna und die Frage nach dem Epos im europäischen Mittelalter

0219
2014
978-3-7720-5496-9
978-3-7720-8496-6
A. Francke Verlag 
Alois Wolf

Diese Untersuchung geht aus komparatistischer Sicht der Frage nach, welche Rolle das Epos in den volkssprachlichen Literaturen des Mittelalters gespielt hat. Antike und Christentum botenhierfür beeindruckende Leitbilder, dazu kamen noch verschiedene einheimische Überlieferungen. In der ersten Hälfte der Studie geht es um die Lage in England und auf dem Kontinent (u. a. Beowulf, Chansons de geste, Rolandslied), im Anschluss daran zeigt der Autor, wie insbesondere das Nibelungenlied einem mittelalterlichen Epos am nächsten kommen dürfte. Die zweite Hälfte der Studie befasst sich schwerpunktmäßig mit der wohl berühmtesten Isländersaga, der Njáls saga (verfasst ca. 1280). Mit vergleichendem Blick auf das europäische Epos zeigt der Autor, dass der literarische Beitrag, den das mittelalterliche Island erbracht hat, ebenso als Bestandteil der europäischen Literatur zu würdigen ist wie das Mittelhochdeutsche und das Altfranzösische und weshalb die Njáls saga für sich beanspruchen kann, in einem umfassenden Prosawerk dem isländischen Hörer und Leser "epische Heimat" zu bieten.

<?page no="0"?> A. FRANCKE VERLAG TÜBINGEN Alois Wolf Die Saga von der Njálsbrenna und die Frage nach dem Epos im europäischen Mittelalter <?page no="1"?> Die Saga von der Njálsbrenna <?page no="2"?> Beiträge zur Nordischen Philologie Herausgegeben von der Schweizerischen Gesellschaft für Skandinavische Studien Redaktion: Jürg Glauser, Silvia Müller, Klaus Müller-Wille, Hans-Peter Naumann, Barbara Sabel, Thomas Seiler Beirat: Michael Barnes, François-Xavier Dillmann, Stefanie Gropper, Annegret Heitmann, Andreas G. Lombnæs Band 53 · 2014 A. FRANCKE VERLAG TÜBINGEN <?page no="3"?> A. FRANCKE VERLAG TÜBINGEN Alois Wolf Die Saga von der Njálsbrenna und die Frage nach dem Epos im europäischen Mittelalter <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Gedruckt mit Unterstützung der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften. © 2014 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de ISSN 1661-2086 ISBN 978-3-7720-8496-6 Umschlagbild: Aus der Njáls saga , AM 133 fol., Blatt 59 v. (Kálfalækjarbók, ca. 1350). Mit freundlicher Genehmigung von © Stofnun Árna Magnússonar í íslenskum fræðum, Reykjavík. Fotografin: Jóhanna Ólafsdóttir. <?page no="5"?> Vorwort ................................................................................................................................. VII Einleitung .................................................................................................................................. 1 Teil I: Das Epos auf dem Kontinent und in England ................................................. 3 Bibelepik ........................................................................................................................ 4 Hildebrandslied ............................................................................................................. 6 Waltharius ..................................................................................................................... 7 Ludwigslied ................................................................................................................. 11 Chansons de geste ....................................................................................................... 15 Annolied ...................................................................................................................... 16 Rolandslied und Wilhelmslied .................................................................................. 18 Artusroman ................................................................................................................ 23 Nibelungenlied ............................................................................................................ 26 Zusammenfassung .................................................................................................... 43 Teil II: Das Epos in Island ............................................................................................... 49 Isländersagas, Königssagas und Geschichtsschreibung ................................... 51 Egils saga ..................................................................................................................... 53 Gísla saga .................................................................................................................... 55 Njáls saga .................................................................................................................... 64 Laxdœla saga .............................................................................................................. 99 Grettis saga ............................................................................................................... 106 Literaturverzeichnis ........................................................................................................... 111 Abstract VI ................................................................................................................................. Inhaltsverzeichnis <?page no="6"?> The following study is based on the often observed premise that, having reached a certain stage of development, a people will strive towards expressing (apparently) important aspects of its own past in epic form, in the process translating its history into poetry. The European Middle Ages provided especially complex conditions for this phenomenon. Although they were firmly enfolded in the dominant traditions of Christian and antique learning - classical and biblical epic, respectively - different literary traditions nevertheless show tendencies towards individualised epic formats. This led to at times very distinct developments in the genre, such as the Anglo-Saxon epic or the great prose-epic that is the Njáls saga. The following study is, therefore, also an attempt at a comparative literary history of the Middle Ages. Die Redaktion dankt Frau Bettina Badertscher, BA, und Frau Dr. Anna Katharina Richter für die Aufbereitung des Manuskripts für den Druck und für zahlreiche Korrekturarbeiten sowie Frau Sarah Erni, MA, für die Übersetzung des Abstracts ins Englische. Abstract Redaktionelle Vorbemerkung <?page no="7"?> Vorliegende Untersuchung will aus komparatistischer Sicht der Frage nachgehen, welche Rolle das Epos in den volkssprachlichen Literaturen des Mittelalters gespielt hat. Antike und Christentum - Vergil und Juvencus - boten beeindruckende Leitbilder auf, dazu kamen einheimische Überlieferungen unterschiedlicher Art und Gewichtung. In der ersten Hälfte der Studie geht es um die Lage im Angelsächsischen und auf dem Kontinent, wobei die zum Teil gravierenden Unterschiede dargestellt werden und zu zeigen versucht wird, wie das Nibelungenlied einem mittelalterlichen Epos am nächsten kommen dürfte. Wenn die ganze zweite Hälfte auf die Njáls saga hin ausgerichtet ist, so hat das seinen Grund darin, dass der literarische Beitrag, den das mittelalterliche Island erbracht hat, eben als Bestandteil der europäischen Literatur zu würdigen ist wie das Mittelhochdeutsche und das Altfranzösische und nicht bloß als Refugium für Altgermanisches, wie das lange die deutsche Forschung bestimmte. Der Schwerpunkt der isländischen Literatur des Mittelalters liegt nicht dort! Mit Blick auf das Epos kann man sagen, dass die Njáls saga für sich beanspruchen kann, in höherem Maße als Chansons de geste oder selbst das Nibelungenlied in einem umfassenden Prosawerk dem isländischen Hörer und Leser im Vollsinn des Wortes epische Heimat zu bieten. Freiburg i. Br., im Dezember 2013 Alois Wolf Vorwort <?page no="9"?> Unsere Literaturgeschichten, soweit es das Mittelalter betrifft, leiden grundsätzlich unter ihrem Geburtsfehler der nationalsprachlichen Ausrichtung. Für die neuere Literatur mag das weniger gravierend sein, da die jeweiligen Einzelliteraturen bereits auf eine wohletablierte nationalsprachliche Entwicklung aufbauen konnten. Bei allen Unterschieden in den einzelnen sich erst entwickelnden Sprachräumen bildeten aber im Mittelalter Christentum und Latein - mit allem was damit zusammenhängt - die übergreifenden Voraussetzungen für die Entstehung von Literatur. Der nachstehende Versuch möchte am Beispiel unterschiedlicher mittelalterlicher Möglichkeiten im literarischen Umgang mit heroischen Überlieferungen und den zu beobachtenden Bemühungen um epische Gestaltung zeigen, welche Spielräume literarischer Gestaltung unter der übergreifenden christlich-lateinischen Kultur sich auftun konnten und in einzelnen Sprachgemeinschaften zu überraschend unterschiedlichen Erscheinungen führten. Unter dieser Fragestellung erweist sich die Einbeziehung Islands als besonders lehrreich. Diese Sprachgemeinschaft, die sich in einem literarischen Kraftakt in kurzer Zeit den Großteil der westeuropäischen Literatur aneignete - der deutschen Literatur darin in keiner Weise nachstehend - lieferte darüber hinaus Beiträge von erstaunlicher Originalität. Statt dies zu ignorieren oder in einen gesonderten Band auszulagern, sollte man es integrieren als Beitrag zu einer mediävistischen Literaturgeschichte. Auf bestimmten Kulturstufen einzelner Sprachgemeinschaften scheint sich, auch unter unterschiedlichen Bedingungen, das Bedürfnis zur Schaffung erzählerischer Werke, die wir Epen nennen, zu entwickeln, in denen diese Gemeinschaften versuchen, sich ihrer selbst bewusst zu werden, um dem Verfallensein an die Geschichtslosigkeit zu entgehen. Das geschieht in einer selektiven Vereinnahmung bestimmter Abschnitte der Vergangenheit, wobei bestimmte Ereignisse als besonders markant empfunden werden und an das Schicksal herausragender Personen in einem bestimmten Raum gebunden sind. Die Epen Homers sind Paradebeispiele, nicht minder die Aeneis, die durch den sendungsbezogenen Überbau zusätzlich im Bewusstsein der Gemeinschaft verankert war. 1 Die westeuropäische Welt war durch die ger- 1 Bei dieser annähernden Umschreibung möchte ich es bewenden lassen. Wenn Georg Lukács in seiner berühmten Abhandlung feststellt, dass von alters her es ein Wesenszeichen des Epos sei, dass sein Gegenstand kein persönliches Schicksal, sondern das einer Gemeinschaft sei, so ist das nur die halbe Wahrheit; Gemeinschaft und persönliches Schicksal schließen einander nicht aus. Die Begründung, die er anfügt, entzieht sich - wie Vieles in dieser Abhandlung - meiner Einsicht. Das Epos bedarf natürlich großer Einzelschicksale, die es in ein größeres Ganzes einbettet und dem Hörer und Leser dabei die Sicherheit vermittelt, irgendwie Teil dieses Ganzen zu sein. Vgl. Georg Lukács, Die Theorie des Romans, Berlin 1965, S. 64f. Nachstehende Betrachtung versteht sich auch als Ergänzung zu folgender Studie: Theodore M. Andersson, Early epic scenery. Homer, Vergil and the medieval legacy, Ithaca NY 1976. Einleitung <?page no="10"?> Einleitung 2 manische Völkerwanderung und die gleichzeitig einsetzende Imperialisierung des Christentums grundlegend verändert worden. Die neuentstehenden Sprachgemeinschaften mussten darin ihren Platz finden. Die germanischen Völker als Hauptträger in diesem großen Veränderungsprozess verfügten über Preis- und Heldenlieder, doch fehlen bekanntlich Hinweise auf das Vorhandensein umfangreicherer epischer Überlieferungen zur Vergewisserung der eigenen Vergangenheit auf breiterer Basis. Mit dem Eintritt in die lateinische Welt der bereits verchristlichten Spätantike taten sich neue Möglichkeiten auf. So entstand im 6. Jahrhundert das literarische genus der Stammesgeschichte, beginnend mit der Gotengeschichte des Jordanes - aufbauend auf Cassiodors opus, das nicht erhalten ist. Es sollte die Frankengeschichte Gregors von Tours folgen, dann Bedas Historia ecclesiastica gentis Anglorum, die Historia Langobardorum des Paulus Diaconus bis hin zu Saxos Gesta Danorum. Es wäre zu fragen, ob nicht die Historisierung der Vergangenheit dieser Stämme deren Episierung blockiert haben könnte. Diese geschichtlichen Darstellungen öffneten sich immer mehr hin zur Königsgeschichte, so - das Keltische betreffend - schon im Titel des Werks Galfreds von Monmouth: Historia regum Britanniae. Die Historisierung erfasste auch den Norden, so im 12. Jahrhundert in einer anonymen Historia Norvegiae und in der Historia de antiquitate regum Norvagensium. Beide Male ist die Hagiographie um Olaf den Heiligen daran beteiligt. Der Norden, unter isländischer Führung - worauf wir zurückkommen - vollzog dabei den folgenschweren Übergang zur Verwendung der Volkssprache. Neben der lateinischen Prosa der Stammesgeschichten stand den Trägern der Literarisierung der Volkssprachen, der spätantik-mittelalterlichen Geistlichkeit und den Mönchen, eine reiche großepische Tradition zur Verfügung in den Epen der Antike und seit dem 4. Jahrhundert auch im lateinischen Bibelepos. Mit der Bibeldichtung des spanischen Priesters Juvencus beginnt in der Geschichte des europäischen Epos eine neue Zeit, was im Deutschen mit Klopstocks ersten Messiasgesängen 1748 diesem Epos noch einen großen Triumph bescheren konnte, doch schon wenige Jahrzehnte später, als die weiteren Gesänge entstanden, kaum noch Beachtung fand. Hatten im Mittelalter, angesichts dieser mächtigen Tradition, wozu noch die profane antike Literatur zu bedenken ist - Ende des 12. Jahrhunderts konnte noch das antikisierende Epos Alexandreis erscheinen - spezifisch mittelalterliche Stoffe überhaupt eine Chance zu großepischer Würde aufzusteigen? Im Folgenden soll angedeutet werden, wie die Entwicklung verlief, im Angelsächsischen, im Galloromanischen, im Rechtsrheinischen und Altnordischen. (Das Irische bleibt mangels sprachlicher Kompetenz unberücksichtigt.) <?page no="11"?> Die fränkisch-burgundisch-gotische Einwanderung in der Völkerwanderungszeit hatte keine tabula rasa hinterlassen. Römische Verwaltung, Bildung - an die Stelle der heidnischen Präfekten traten die Bischöfe - waren in reduzierter Form immer noch präsent. So konnte um 500 Chlodwig in Reims vom dortigen Erzbischof getauft werden. Anders im ostgotischen Italien, wo zur gleichen Zeit der Arianer Theoderich die Macht übernahm, Altrömisches bewusst pflegte, doch der Assimilation reserviert gegenüberstand. In Gallien dürfte die Verschmelzung der Einwanderer mit der einheimischen Bevölkerung relativ problemlos verlaufen sein. Dieser Raum sollte dann auch zum geistig regsamsten des Mittelalters werden. In Britannien, seit 197 n. Chr. römische Provinz, war die Lage seit Abzug der römischen Truppen sicherlich prekärer für das römische Erbe und das Christentum, was nach Abhilfe verlangte, wozu es auch kam. Gregor der Große († 604) sandte um 596 Augustin, den Prior des Andreasklosters in Rom mit 40 Begleitern nach England zur Festigung des Glaubens und zur Bekehrung der eingewanderten Barbaren. Der rechtsrheinische Raum lag offenbar außerhalb des römischen Interesses. Das dürfte auch damit zusammenhängen, dass Papst Gregor, ein Stadtrömer, altrömischem Denken verbunden gewesen sein dürfte und somit großes Interesse daran hatte, Britannien als alten römischen Siedlungsboden in seine Bestrebungen einzubeziehen. Die rechtsrheinischen Gebiete verfügten nicht über eine vergleichbare noble Vergangenheit. 2 Jahrzehnte nach Augustin wurde der hochgebildete Theodor von Tarsus († 690) mit dem neapolitanischen Mönchen Hadrian ebenfalls von Papst nach Britannien entsandt und 668 zum Erzbischof von Canterbury ernannt. Das Wirken dieses Mannes wird sicherlich dazu beigetragen haben, die Literarisierung zu fördern. Das große spätantike Bibelepos des Juvencus war ihm natürlich vertraut, was nicht ohne Einfluss auf die angelsächsische epische Aneignung der Bibel auf der Grundlage der stabenden Langzeile gewesen sein dürfte. In seiner Historia ecclesiastica gentis Anglorum weist Beda mehrfach auf die literarische Bildung Theodors und Hadrians hin, betont deren Vertrautheit mit der weltlichen Literatur und berichtet vom großen Zulauf, dessen sich die Schule in Canterbury erfreute. Man kann also davon ausgehen, dass dies einen nachhaltigen Bildungsschub ausgelöst haben wird, was nicht ohne Folgen für die Literarisierung der 2 Alois Wolf, „Solaz nos faz antiquitas. Erwägungen zum Prolog des Alexanderliedes und zur Entwicklung volkssprachlicher Erzählweise“, in: German Narrative literature of the Twelfth and Thirteenth Centuries. Studies presented to Roy Wisbey on his Sixty-fifth Birthday, hg. von Volker Honemann et al. Tübingen 1994, S. 123-137. Teil I Das Epos auf dem Kontinent und in England <?page no="12"?> Teil I: Das Epos auf dem Kontinent und in England 4 angelsächsischen Volkssprache geblieben sein dürfte. Die ungewöhnlich reiche bibelepische Dichtung, die im Angelsächsischen entstand, mit der stabenden Langzeile als Entsprechung zum Hexameter der lateinischen biblischen und weltlichen Epen zeigt, dass infolge des erwähnten Bildungsschubs das Angelsächsische insgesamt als eposwürdig erachtet wurde, was wohl auch die altgermanischen Überlieferungen einschloss. Das würde erklären, dass es zur Entstehung des Großepos Beowulf kommen konnte, das man als weltliches Gegenstück zur Historia ecclesiastica der gens Anglorum betrachten könnte. Im Gegensatz zur Entwicklung auf dem Kontinent, wovon gleich die Rede sein wird und wo die Germanenstämme um ihre ‚mythische‘ Vor- und Frühgeschichte amputiert wurden, erhielt das Angelsächsische im Beowulf eine großepische Vorgeschichte wie die Griechen und Römer, die überdies mittels beachtlicher biblischer Signale erhellt erscheinen sollte. So heißt es schon V. 11-14 von Scyld: Þæt wæs gōd cyning! […] Þone God sende/ folce tō frōfre. In V. 17 wird der wuldres Wealdend erwähnt und in V. 72 erfährt man, dass Hrōðgār an alt und jung verteilt swylc him God sealde. 3 Damit hat es nicht sein Bewenden. Es geht um den Versuch, die heroische Vorzeit ansatzweise für das Christliche zu vereinnahmen. Ganz anders verlief die Entwicklung auf dem Kontinent. Im rechtsrheinischen Gebiet setzte zunächst die irische Mission ein, nur lose mit Rom verbunden, weil mehr dem typisch irischen Mönchsideal der peregrinatio verpflichtet. Das änderte sich mit dem steigenden Einfluss der angelsächsischen Kirche auf den nachmaligen deutschen Raum, wofür vor allem der Mönch und Abt Bonifatius († 754) steht, der schon früh versuchte, an der deutschen Nordseeküste zu missionieren. Er brach nicht im Auftrag des Papstes zu diesem Wirken auf wie Augustin und Theodor, sondern holte sich von sich aus den Auftrag vom Papst; dreimal war er in Rom! Dieser starke angelsächsische Einfluss blieb nicht ohne Wirkung auf die volkssprachliche und großepische Aneignung der Bibel im Altsächsischen. Die enge Verflechtung des sächsischen Raums zeigt sich auch darin, dass mit der sogenannten Genesis B ein altsächsischer Text ins Angelsächsische interpoliert werden konnte. Wie immer man zur lateinischen præfatio zum Heliand und zu den Versus de poeta steht, so unterstreicht die Übernahme der Caedmonlegende aus Bedas Kirchengeschichte diese engen Kontakte. Die præfatio zum Heliand weiß bekanntlich zu berichten, dass kein Geringerer als Ludovicus piissimus Augustus selbst die Abfassung einer volkssprachlichen Bearbeitung der Bibel betrieb und einen vir de gente Saxonum qui apud suos non ignobilis vates habebatur damit beauftragte, damit der populus theodica loquens lingua davon Kenntnis nehmen könne. Nicht zuletzt auch über Zentren wie Fulda, 744 von Bonifaz gegründet, rücken die Bibelwerke, Heliand, Genesis und Otfrids Evangelienbuch, 3 Beowulf. With the Finnesburg Fragment, hg. von C.L. Wrenn, London 1953. Bibelepik <?page no="13"?> Bibelepik 5 näher aneinander, wobei die Frage der zeitlichen Priorität umstritten ist. Die Literaturgeschichten pflegen beide Bestrebungen, die altsächsische und die althochdeutsche, nebeneinander abzuhandeln. Damit sollte man sich, vor allem mit Blick auf Otfrid, nicht begnügen. Bedenkt man die einmalige Anlage von Otfrids Werk, so springt der geradezu maßlose Anspruch, womit er seine Bibeldichtung präsentiert, ins Auge. Man kann sich schwer vorstellen, dass Otfrids Absicherung nach allen Seiten ins Leere hinein gesprochen sein könnte. So nehme ich an, dass er lingua germanica und theodisca auf penetrante Weise als fränkisch verstanden wissen wollte und dies mit der Rühmung des Fränkischen - Menschen und Land - verband. Seine fränkische Bibel sollte nicht nur den heiligen Text in der Volkssprache verfügbar machen; er wollte darüber hinaus seine fränkische Bibel zum fränkischen Nationalepos erheben. Dass dies ohne Seitenblick auf das Altsächsische gemeint war, wage ich bei der komplexen Anlage des Werkes zu bezweifeln. Das brächte auch etwas Dynamik in unsere Literaturgeschichten! Diese Verabsolutierung des Fränkischen unterschied sich grundsätzlich von der angelsächsisch-altsächsischen Linie der großepischen Aneignung der Bibel. Das gilt nicht nur für die intensive theologische Durchdringung des Erzählstoffes, was Haubrichs überzeugend herausgearbeitet hat, sondern auch für die sprachliche Gestaltung, die mit dem Endreim die epische Sprache von Grund auf veränderte. 4 Gegenüber der im Altenglischen und Sächsischen dominierenden stabenden Langzeile bahnte sich im galloromanisch-fränkischen Raum eine andere Entwicklung an. Das fränkische Idiom und das aus dem Vulgärlatein hervorgehende Altfranzösisch wurden in ihrer dichterischen Äußerungen von der christlichen Hymnentradition erfasst, wobei der Endreim immer mehr an Bedeutung gewann. Die von Otfrid ausführlich dargelegte Ausrichtung auf den Endreim bedeutete nicht nur die Abkehr vom germanischen Stabreimvers, sondern zugleich das Ersetzen der lateinischen sechs ziti des Hexameterverses durch die sechs ziti der Heilsgeschichte; eine zweifache Überbietung. Gelegentlich spürt man in Otfrids Versen auch noch den längeren epischen Atem der Langverszeile wie z.B. in der Verkündigungsszene im Evangelienbuch, wenn es vom Engel heißt: Floug er sunnun pad, sterrono straza,/ wega wolkono zi theru itis frono; / Zi ediles frouun, selbun sancta Mariun. Das war aber nicht das Hauptanliegen Otfrids. Gemessen an der Situation im Insularen und Altsächsischen bedeutet Otfrids Vorgehen einen radikalen Einschnitt, sowohl was die Form betrifft, den Endreim, als auch die Haltung gegenüber epischen Inhalten. Der Absolutheitsanspruch des Biblisch-Religiösen sollte die weitere Entwicklung im Galloromanisch-Fränkischen nachhaltig prägen. Dass es dann im Frühmittelhochdeutschen zu einer so reichen Entfaltung von Bibelepik kommen konnte - von der Wiener Genesis und den folgenden Bearbeitungen alttestamentlicher Stoffe hin zu Avas Leben Jesu und der Kunstprosa des St. Trudperter Hohenliedes - dürfte doch auch auf den massiven Einsatz Otfrids zurückzuführen sein. Im Galloromanischen steht dem nur die Clermonter Passion gegenüber. 4 Wolfgang Haubrichs, Geschichte der deutschen Literatur, Bd I, Teil 1: Die Anfänge, Frankfurt 1988. <?page no="14"?> Teil I: Das Epos auf dem Kontinent und in England 6 Geht man einige Jahrzehnte hinter Otfrid zurück, zeigen sich auf dem Kontinent auch andere Optionen in der Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Epischen. Führende Geister der damaligen Zeit scheint das umgetrieben zu haben, was von beachtlicher geistesgeschichtlicher Relevanz ist. So wurde in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts das Hildebrandslied schriftlich festgehalten, wenn auch fragmentarisch. In den 68 erhaltenen Versen, die vom tragischen Vater-Sohn-Kampf handeln, fällt dreimal der Name des großen Gotenkönigs neben dem Odoakers, dazu noch der Hinweis auf den Hunnenkönig. Das ist nicht fabulöse Vergangenheit. Bedenkt man, dass Karl der Große das Reiterstandbild Theoderichs - oder was man dafür hielt - nach Aachen transportieren ließ, so wird diese translatio auch der kollektiven Dietrich-memoria zugute gekommen sein. Nebenbei sei erwähnt, dass der Codex argenteus, die in Norditalien im Reich Theoderichs verfasste Version von Wulfilas Bibelübersetzung, vom Hl. Luitger um 795 ins Kloster Werden gebracht wurde. Am Hof war freilich die Rolle des Ketzers Theoderich nicht unumstritten. So ging kein Geringerer als Walahfrid Strabo in seiner Dichtung De imagine Detrice mit Theoderich ins Gericht. Man kann daraus ersehen, dass Sagen um diesen Herrscher sowohl in Literatenkreisen als auch in den volkssprachlichen Überlieferungen präsent waren. Auf dieses Nebeneinander ist zu achten bis hin zum Nibelungenepos. Das Hildebrandslied gehört zu den vielinterpretierten Texten des Mittelalters. Da es sich dabei um ein einmaliges Zeugnis aus der Frühzeit des deutschen Schrifttums handelt, neigte man dazu, in diesen Versen die unverfälschte Stimme des germanischen heroischen Ereignisliedes herauszuhören. Wie der Erzähler sich in Position setzt und Altverbürgtes verspricht - ik gihorta dat seggen - hört sich auch ganz authentisch an, doch was und wie er erzählt, erschöpft sich nicht in heroischer Typik. Wir wissen auch nicht genau, wie das germanische Heldenlied aussah; das Zeugnis der eddischen Lieder wird man nicht verallgemeinern dürfen. Darüber hinaus vernimmt man im Hildebrandslied neue Töne. So ist die Art, wie der Erzähler an das tragische Ereignis heranführt, eher die eines detailliert chronikalischen Berichts mit überraschenden Einblicken in menschliches Verhalten und Empfinden. Das ist nicht heroische Typik eines Ereignisliedes, sondern fast schon epische Breite. Der Text ist von Anfang an auf das Vater-Thema angelegt (vgl. V. 9 und 17), was kaum ein bevorzugtes Problem heroischer Dichtung gewesen sein dürfte. Stimuliert durch Hildebrands Frage, legt Hadubrand los und skizziert die Situation Dietrichs. Man erfährt auch, dass dieser Dietrich uuas so friuntlaos man (V. 24), 5 was man auf Dietrich und nicht auf Hildebrand beziehen muss. Wenn es dann von Dietrich heißt, dass ihm darba gistuontun fatereres mines (V. 23-24), so führt dieser Hinweis auf das ‚Vaterland‘ und damit auf die Vorstellung von Dietrichs Exil - wenn kein Schreibfehler vorliegt und frateres zu lesen wäre - über Heldenliedtypik hinaus. Man möchte dabei 5 Hildebrandslied, in: Althochdeutsches Lesebuch. Zusammengestellt und mit Wörterbuch versehen von Wilhelm Braune, fortgeführt von Karl Helm. 14. Aufl., Tübingen 1962, S. 84-85. Hildebrandslied <?page no="15"?> Hildebrandslied und Waltharius 7 an römisches patria-Denken erinnern, wie ja auch der Mythos von einer Rückkehr nach Italien ein Echo aus der Aeneis sein dürfte. Sogar die schlimme Lage der verlassenen Familie erweist sich als erwähnenswert (V. 20). Das Ganze entbehrt jeder Formelhaftigkeit, sogar im Hinweis auf die Kampfeslust des Vaters (V. 27). Von besonderer Bedeutung sind die Gottesanrufungen, die mit einem alten Heldenlied nichts zu tun haben und eher auf Rüdigers Äußerungen im Nibelungenepos vorausweisen. Überraschend viel Raum widmet das Lied dem Requisit Rüstung. Schon die Einleitung lenkt darauf hin und im zweiten Teil verstärkt sich das bis hin zur Frage, wer am Ende desero brunnono bedero uualtan wird (V. 62). Man fragt sich, ob es sich bei diesem Text um eine getreue Wiedergabe eines alten Heldenliedes handelt oder nicht eher um eine Auseinandersetzung mit alten Traditionen aus dem Geist der karolingischen Zeit. Diesem Geist ist auch im lateinischen Walthariusepos eine nun anders geartete breit angelegte Auseinandersetzung mit alten Überlieferungen zu verdanken. Wenn man das Hildebrandslied eher als Randerscheinung betrachten muss, so geht es im Waltharius um mehr - wie schon die Verwendung der lateinischen Hochsprache zeigt -, wobei auch der Unterschied zur angelsächsischen Kultur und deren Umgang mit heroischer Vergangenheit - so auch in den seriösen Waldere-Fragmenten - fassbar wird. Der Verfasser des Waltharius, ein Mönch, wendet sich an seine fratres mit einem Werk, das von germanischen Sagengestalten handelt. 6 Jahrzehnte früher hatte sich der Mönch Alkuin an die Mitbrüder des Klosters Lindisfarne gewandt und sie getadelt, weil sie dem Vortrag eines Heldenliedes über einen gewissen Ingeld zu lauschen pflegten. Der Walthariusdichter hatte seinen fratres etwas Anderes zu bieten. Als gebildeter Literat griff er mittels konsequent eingesetzter Cento-Technik und gravierenden Umdeutungen in die alten Sagen ein und entzog ihnen die seriöse Grundlage. Im kollektiven Bewusstsein konnten sie dadurch nicht ausgelöscht werden, erhielten aber einen anderen Stellenwert, was ihnen offenbar den Weg ins Hochliterarische erschwert haben dürfte, was sich erst im 12. Jahrhundert ändern sollte. Die altrömische und die frühchristliche Literatur bot sich dem belesenen Autor gleichsam als poetisches Ersatzteillager dar, aus dem man beliebig passende Verse entnehmen konnte. Mit diesem bloß dichtungstechnischen Aspekt musste es aber nicht sein Bewenden haben. Geschickt plazierte Zitate konnten neue Perspektiven eröffnen. Der Walthariusdichter machte reichlich Gebrauch davon und ließ konsequent die alten Sagen in neuem Licht erscheinen. Dass der Autor sich die Mühe 6 Karl Langosch, Waltharius, Ruodlieb, Märchenepen. Lateinische Epik des Mittelalters mit deutschen Versen, Darmstadt 1956. Sowie Alois Wolf, „Waltharius“, in: Killy Literaturlexikon, 2. Auflage, Berlin 2011, Sp. 118-122. Waltharius <?page no="16"?> Teil I: Das Epos auf dem Kontinent und in England 8 machte, fast 1500 wohlstilisierte Hexameter auf diesen Erzählstoff zu verwenden, bezeugt dessen Beliebtheit. Wie auch die beiden altenglischen Waldere-Fragmente belegen, muss es eine Walthersage gegeben haben. Die Waldere-Fragmente beziehen auch noch die Dietrichsage ein, was bei unserem Dichter fehlt. Im Gegensatz zu den Einsätzen heldenepischer Dichtungen wie ik gihorta dat seggen oder vergleichbaren Eingängen im Beowulf oder den eddischen Liedern setzt der Waltharius einen präzisen geographischen, historischen und völkerkundlichen Akzent und distanziert sich damit von der Unbestimmtheit der alten Sagen. Im Nibelungenlied wird dann der ungleich präzisere Raumbezug einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, dass aus den alten Sagen das große Epos werden konnte. Was im Waltharius dagegen auf diese präzise Fixierung folgt, macht die alten Sagen zum literarischen Spielmaterial und greift somit radikal in deren Substanz ein. Dass dies in einem umfassenderen epischen Rahmen geschah, lässt darauf schließen, dass der Dichter ahnte, es mit einem Erzählmaterial zu tun zu haben, dem seriöse epische Potenz innewohnte. Dem setzte er seine Version entgegen und legte die Messlatte sogleich hoch an mittels eines variierten Zitats aus dem 6. Buch von Vergils Aeneis, dem Epos schlechthin, stellte damit die alten Überlieferungen auf den Kopf und weckte Erwartungen. So erscheinen die Hunnen, angeführt von Attila, als non plus ultra an Macht, was der Dichter auch noch durch ein besonderes Zitat aus der Aeneis unterstreicht: Es heißt im Waltharius von ihnen Foedera supplicibus donans sternensque rebelles (V. 9), und er teilt ihnen eine über 1000-jährige Herrschaft zu. 7 Wie schon lange bemerkt, geht es um nicht mehr und nicht weniger als um die Inanspruchnahme der verheißungsvollen Aufforderung des Anchises an seinen Sohn im 6. Buch der Aeneis: tu regere imperio populos, Romane, memento […] parcere subiectis et debellare superbos (V. 851-853). 8 Was werden sich die fratres wohl gedacht haben bei dieser Deutung der Gottesgeissel, wo überdies Süddeutschland unter den Einfällen der Magyaren zu leiden hatte? Wenig später erfährt man, dass die Macht dieses übrigens gutmütigen Attila an der Kampfkraft Walthers hängt; und schließlich hält sich dieser als ohnmächtig geschilderte Attila nach dem Riesenbesäufnis mit beiden Händen den brummenden Schädel und das Getümmel in seinen Eingeweiden kontrastiert mit der amica silentia des flüchtigen Walther und seiner Begleiterin. Einen weiteren Eingriff in die Sagentradition leistete sich der Autor mit seiner penetranten Herabsetzung der Franken bis hin zu beutegierigen Wegelagerern. Festgemacht vor allem an König Gunther selbst. Nun ist es eine Konstante in der Sagenentwicklung, dass Gunther als Burgunder figuriert, angefangen bei Prosper Aquitanus im 5. Jahrhundert; die nordischen Quellen folgen, bis hin zum Nibelungenlied, wo er zwar Schwächen zeigt, im Schlusskampf aber seinen Mann stellt. Im Waltharius dagegen erscheint er, wie schon angedeutet bei seinem Vater als rex pavidus, infelix, demens, superbus, miser und caecus, und nicht nur das. Während er im nordischen Atlilied, das hier als treuer Zeuge der Überlieferung gelten kann, die 7 Waltharius (wie Anm. 6), S. 6f. 8 Zitiert nach der Ausgabe: Publius Vergilius Maro, Aeneis, hg. von Gian Biagio Conte, Berlin/ New York 2009 (Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana 2005). <?page no="17"?> Hildebrandslied und Waltharius 9 heroische Hortverweigerung mit dem Leben bezahlt, ist er im Waltherepos der Goldgierige, der dann als Beinamputierter den Kampfplatz verlassen muss. Wie verhält sich das zum Karls- und Frankenbild des Aachener Karlsepos, den Versen des Ermoldus Nigellus, zu Otfrids Evangelienbuch, zum Ludwigslied und zu den sich konstituierenden Chansons de geste, und der trojanischen Herkunft der Franken, die im Waltharius für Hagen beansprucht wird (V. 28)? In der Schilderung der zwölf Einzelkämpfe entfaltet sich dann die Variationskunst des Dichters. Ausgangspunkt ist die alte und entscheidende Hortfrage mit der heroischen Hortverweigerung, Glanzstück des Alten Atliliedes und noch im Nibelungenepos markanter Doppelpunkt am Schluss, worin aber der Hort dem Schwert Sigfrids Platz machen muss. Im Waltharius steht die Hortfrage unter dem moralischen Zeichen des Lasters der avaritia, V. 858, und die Kampfschilderung öffnet sich hin zur „Psychomachia“ des Prudentius. Der Dichter meidet jedoch ein schematisches Abhandeln der Laster, vielmehr unterscheidet sich jeder Kampf vom andern. Besonders variationsreich ist die Schilderung der Wunden, die Walther seinen Gegnern zufügt. Der Dichter kann dabei ausgiebig auf die römische Epik zurückgreifen. Die germanische Überlieferung kennt dieses detaillierte Beschreiben der Wunden nicht, was auch noch für das Nibelungenlied gilt, anders die Chansons de geste, die da in der altrömischen Tradition stehen. Eine wichtige Rolle spielt am Schluss der Dichtung die Vasallenthematik - nicht Teil der alten Sagen, wohl aber in Verbindung mit den sich konstituierenden Chansons de geste und dominant im Nibelungenlied. Der Autor scheute sich auch nicht, groteske Akzente in seinen Kampfschilderungen zu setzen, so im Versuch der Angreifer, mittels eines an einem Seil befestigten Dreizacks, der im Schild Walthers steckenbleibt, ihn niederzuwerfen. Selbst König Gunther beteiligt sich an diesem seltsamen Spektakel, das die Angreifer aber nur maßlos ins Schwitzen bringt. Dass Walther durch einen feindlichen Schwertstreich einige Haarlocken einbüßt, bringt das komische Thema der Kahlköpfigkeit ins Spiel. Das weist voraus auf das burleske Ende, wo dann die Gliedmaßen herumliegen und Hagens Auge in spätantiker epischer Manier noch im Sande blinzelt, und die ehemaligen Kämpfer ihre Witze reissen. Die Abwertung des Frankenkönigs setzt sich fort. Mit dieser abschließenden Sicht auf die Wunden der Beteiligten spielt der Verfasser das spätrömisch-manieristische Wühlen in grässlichen Details - man denke an Lukan - ins Heitere hinüber und erhärtet damit seine literarische Selbständigkeit. Dass sich ein begabter Autor wie der Dichter des Waltharius die Mühe machte, diesen volkssprachlich überlieferten Sagen soviel Sorgfalt angedeihen zu lassen, lässt den Schluss zu, dass es sich dabei um einen Erzählstoff von Prestige und Beliebtheit gehandelt haben muss - auch in gehobenen Kreisen. Wenn, wie oben angemerkt, Alkuin einst seine fratres in Lindisfarne bloß tadelte ob ihres Interesses an religiös irrelevanten germanischen Sagen über einen gewissen Ingeld, so hätte der Walthariusdichter mit seinem opus die direkte Konfrontation mit diesem Sagenerbe auf hohem Niveau und mit dem wirkungsvollen Mittel der Parodie gesucht. Indem er diese Sagen formal als Epos, als komisches Epos, darbot, nahm er ihnen die Möglichkeit epische Würde zu entfalten. Er wollte damit auch dem Publikum die <?page no="18"?> Teil I: Das Epos auf dem Kontinent und in England 10 Grundlage dafür entziehen, sich auf diese Sagengestalten, ihren Lebensraum und ihre Schicksale einzulassen und ein Gefühl des Verbundenseins zu entwickeln, wie es sich für ein Epos gehört. Der Walthariusdichter hatte, fest etabliert in seiner lateinischen Buchtradition, mit seiner Behandlung alter Sagenstoffe diesen praktisch die Eposwürdigkeit abgesprochen. Demgegenüber sollte aber la France aus den historischen karolingischen und nachkarolingischen Gegebenheiten heraus Neues bieten. Karlsmythos und Sarazenenkämpfe boten die stoffliche Grundlage. Wir gehen dann auf einen Vergleich zwischen dem sogenannten Aachener Karlsepos - noch zu seinen Lebzeiten entstanden - und der späteren Chanson de Roland - nicht minder ein Karlsepos - ein. Als Vollepos wird man die 576 Hexameter der lateinischen Dichtung nicht bezeichnen können; dazu reicht der Stoff nicht, doch enthält er ausreichende sprachlich epische Substanz. 9 Es geht um die Huldigung Karls des Großen, beginnend mit einem überschäumend panegyrischen Abschnitt, in dem die einmaligen Qualitäten Karls gerühmt werden und der nicht zufällig 100 Verse umfasst, die Vollkommenheit signalisierend: Karl als pharus Europae, als David, als victor, rex qui superat reges, rex justus, grammaticae doctor etc. Das kostbare Adjektiv pius (V. 27 und 97) macht ihn zum neuen Aeneas, wozu sich fügt, dass die auf diese Einleitung folgende Schilderung der Bautätigkeit Karls, die dem großartigen Ausbau Aachens zu einer roma seconda dient, an der Bautätigkeit des Aeneas in Karthago erinnert. Es folgt die ausladende Jagdszene, worin auch die Familie Karls entsprechend gewürdigt wird. In einer nächtlichen Vision erfährt Karl vom grausamen Schicksal des Papstes Leo in Rom, was ihn veranlasst, eine Delegation nach Italien zu schicken. Nebenbei wird auf den Sachsenkrieg angespielt (V. 336f); zu einer epischen Ausgestaltung des Kriegerischen kommt es aber nicht. Stattdessen wird der adventus des wunderbar geheilten Papstes in Paderborn mit allem Pomp erzählt. Mit dem großen Festmahl klingt die Dichtung aus. Der Verfasser lehnt es in der Einleitung ausdrücklich ab, sermone rudi (V. 89) diesem einmaligen Herrscher würdigen zu wollen. Gerade dazu wird es aber dann in der volkssprachlichen - also sermone rudi - Version der Chanson de Roland kommen, worin der Stoff um Karl zu einem mittelalterlichen Epos wurde. Mit Otfrids Evangelienepos war der sermo rudis literaturfähig und gleichsam in den Chor der heiligen Sprachen aufgenommen. Otfrid stand nicht allein mit seinem Bemühen. Das Westfränkische zog nach, zunächst noch im germanischen Idiom, im Ludwigslied, und dann im romanischen Sprachkleid in den entstehenden Chansons de geste. 10 In beiden Fällen ging es nicht mehr um die Vermittlung der Evangelien, sondern - in unterschiedlicher Dosierung - um Biblisierung profan kriegerischen Geschehens auf nationalfränkischem Hintergrund. Das Ludwigslied steht in einer aus dem nordfranzösischen Kloster St. Amand stammenden Handschrift und folgt, von derselben Hand geschrieben, als Ritmus teutonicus auf das französische Eulalialied, 9 Karolus magnus et Leo papa, in: Poetae latini aevi carolini, hg. von E. Dümmler, Berlin 1881 (Monumenta Germaniae Historica V: Poetarum latinorum medii aevi; Bd. I), S. 366-379. 10 Das Ludwigslied, in: Althochdeutsches Lesebuch (wie Anm. 5), S. 136-138. <?page no="19"?> Hildebrandslied und Waltharius 11 ebenfalls im Endreim abgefasst. Dieses Nebeneinander des ältesten französischen Denkmals mit dem althochdeutschen Text ist kein Zufall, sondern bezeugt die enge Verflechtung des Fränkischen mit dem Galloromanischen. In dem gut 100 Jahre nach dem Eulalialied entstandenen Lied auf die Heilige Fides, das in durchgereimten Laissen verfasst ist, heißt es, es sei a lei Francesca gedichtet. Im Jahre 881 besiegte der westfränkische König Ludwig III. bei Saucourt die Normannen. Im darauffolgenden Jahr starb er unter wenig erbaulichen Umständen. Das Lied zählt ihn noch unter die Lebenden, muss also unmittelbar nach dem Sieg entstanden sein. Es bestand also keine Möglichkeit zur Bildung einer heldenepischen Überlieferung auf mündlicher Basis; ein wichtiger Unterschied zu möglichen anderen dichterischen Reaktionen auf kriegerische Ereignisse ähnlicher Art. Das Ludwigslied entwirft ein besonderes Bild vom Kämpfen. Die 118 paarweise gereimten bzw. assonierenden Kurzverse treten an die Stelle der alten Stabreimtechnik. Schon vom Umfang her noch kein Epos, doch, wenn man an die späteren Chansons de geste denkt, ein möglicher Beitrag zur Entwicklung dieses großen literarischen genus. Der Übergang vom germanischen Idiom ins werdende Französisch war dabei nur eine Frage der Zeit. Im Ludwigslied geht es um die zukunftsweisende Integration eines kriegerischen Ereignisses aus realem fränkischem Erleben ins Religiöse. Das Politische, nun nicht auf Vorreden beschränkt wie bei Otfrid, sondern die Substanz der Dichtung betreffend, den Sieg des westfränkischen Königs Ludwigs III., verbindet sich mit dem Religiösen. Dieses überlagert, was an heldenepischer Erzählweise von der Sache her darstellbar und zu erwarten gewesen wäre. So gibt es keine Aufzählung der Krieger, keine martialischen Äußerungen vor dem Kampf, keine Rüstungsschilderung, wenn man von der Schwundstufe in V. 42 nam her skild indi sper absieht. Desgleichen fehlt eine richtiggehende Kampfschilderung; in V. 52 liegt nur ein magerer Rest vor: Suman thuruhsluog her, / Suman thuruhstah her. Dem Dichter kam es dagegen auf die religiöse Inszenierung des Kampfes an, wodurch jede mögliche profane Deutung von vornherein ausgeschaltet wurde. Das Umfeld des wohlkomponierten Textes ist in den politisch maßgebenden Kreisen zu suchen. Die Intention liegt darin, das Königtum Ludwigs unmittelbar aus der Gnade Gottes abzuleiten. Schon in den Einleitungsversen wird der Held des Liedes vom Dichter-Ich als kuning vorgestellt, der in einem besonderen Verhältnis zu Gott steht, die Wiederholung der Aussage - uueiz ih … Ih uueiz (V. 1-2) - unterstreicht das mittels des Chiasmus. Dem entspricht am Schluss die die Hörer vereinnahmende pluralische Aussage: Kuning unsēr sālīg (V. 57). In diesem präzise vereinnahmenden unsēr kann man das religiös-mittelalterliche Gegenstück zu dem allgemein gehaltenen ‚Identifizierungsangebot‘ großer weltlicher Epen sehen, worin man sich in einer bestimmten Vergangenheit irgend- Ludwigslied <?page no="20"?> Teil I: Das Epos auf dem Kontinent und in England 12 wie beheimatet wissen kann. Weiter heißt es zu Beginn, Gott selber habe sich als Ziehvater des künftigen Königs angenommen, ihn mit den entsprechenden virtutes ausgestattet und ihm den Thron hier in Vrankōn (V. 6) gegeben. Der Herrschaftsanspruch ist damit unangreifbar. Hinter den einfach formulierten Aussagen steht aber mehr; das Ludwigslied ist auch ein früher Beleg für diaphanes Schreiben. Im vorliegenden Fall liefert die Bibel das Bezugssystem, in dem Sein und Tun dieses fränkischen Königs ihre Würde erhalten. Daraus sind natürlich auch Rückschlüsse auf das anvisierte Publikum zu ziehen. Das Medium der Volkssprache deutet auf weltliche Adelskreise, wobei die starke und direkte religiöse Orientierung klarmacht, dass kein traditionelles Ereignis- oder Preislied zu erwarten sei. Die dahinterliegende zweite Aussageebene, das Biblische betreffend, appelliert vor allem an die Geistlichkeit, wobei man sich die beiden Bereiche als durchlässig vorstellen muss. Die Bibel, die die zweite Ebene bildet, spannt das Geschehen in einen heilsgeschichtlichen Rahmen ein, der vom Alten Testament bis zur Apokalypse reicht. Es beginnt mit der Anspielung auf das Buch der Könige: Gott verspricht David, sich seines Sohnes Salomon als Vater anzunehmen. David/ Salomon-Assoziationen waren für die Herrschaftsauffassung im Mittelalter fundamental, wie man auch aus Otfrid weiß. Hinter V. 9 des Ludwigsliedes steht die Vorstellung des Auf-die-Probe-Stellens, dem Alten Testament vertraut. Über die Franken kommt Unheil ob ihrer Sünden; die Analogie mit dem widerspenstigen Volk Israel stellt sich ein und wird durch den Hinweis auf Gottes Zorn und Erbarmen bekräftigt. Wie im Alten Testament redet Gott mit Ludwig, und dieser antwortet (V. 23ff). Mit dem Namen Christi (V. 20) wird das Neue Testament einbezogen. Genau in der Mitte des Liedes dürfte sich das bis zur Christusanalogie steigern. Die ersehnte und befreiende Ankunft Ludwigs erinnert an Christi descensus ad inferos, wo die Gerechten schon seit 5000 Jahren - dem entspricht im Lied Sō lango beidōn uuir thīn (V. 30) - des Erlösers harren und bei dessen Ankunft das canticum triumphale anstimmen: venisti desiderabilis quem expectabamus in tenebris. Die Anrede im Singular bei pluralischem Subjekt - frō mīn (V. 30)- zeigt das Formelhafte der Anrufung. Das Erheben der Fahne (V. 27) lässt an bildliche Darstellungen denken: Christus der Sieger entsteigt dem Grab und der Vorhölle mit erhobenem Banner. Man möchte vorausdenken an die große Bedeutung des Banners Oriflamme für die französische Nationalmystik ab dem Rolandslied. Das „Kyrie eleison“ wird zum Schlachtruf. Wenn Ludwig hier ther guoto (V. 31) genannt wird, hat das ebenfalls hohe religiöse Qualität. Der Siegeskampf gegen die Heiden erhält dann einen eschatologischen Akzent (vgl. Apokal. 19,15), wenn es heißt, dass Ludwig den Feinden skancta […] / Bitteres līdes (V. 54). Die vergleichbaren Avaren-, Magyaren- und Slawenkämpfe haben im Ostreich keine Spuren in der volkssprachlichen Dichtung hinterlassen. Pippins Sieg über die heidnischen Avaren im Jahr 796 wurde von einem Dichter in 45 lateinischen Versen besungen, die keinerlei heldenepische Ansätze oder Reste aufweisen. Die Untaten der Avaren werden angedeutet - fana Dei destruxerunt […] -, dann heißt es, dass Pippin unter dem Schutz der Apostel steht, an der Donau ein Lager errichtet und den Avarenschatz in Besitz nimmt. Mit einem Lob Pippins endet das Gedicht: vivat <?page no="21"?> Ludwigslied 13 rex Pippinus! Auch im Westreich wurden entsprechende Kämpfe gegen die Normannen und Sarazenen in lateinischer Sprache festgehalten, z.B. im Werk Abbos von St. Germain de Prés Bella Parisiacæ urbis aus der Zeit um 897. Wie das Ludwigslied, das in den Chansons de geste eine mächtige Fortsetzung finden sollte, zeigt, blieb es im Westen nicht beim Latein. Im Osten, wo die imperiale Idee das Nationale tranzendierte, scheint ein entsprechender volkssprachlicher politischer Resonanzboden gefehlt zu haben. Wo Otfrids Epos ausschließlich auf die Bibel setzt, öffnet sich also das Ludwigslied bereits den Taten eines zeitgenössischen nationalen Herrschers und nimmt diesen für die religiöse Sinngebung in Beschlag. Das Kriegerische im Sinn heldenepischer Heroik konnte sich in diesem Text noch nicht entfalten, bildete aber ein latentes Potential, dem sich die religiöse Orientierung dann nicht zu entziehen vermochte. Zwei patriotische epische Texte aus dem Englischen, die auf kriegerische Ereignisse der Jahre 937 und 991 aufbauen, Battle of Brunanburh (BofBr) und Battle of Maldon (BofM) zeugen davon. 11 Geht es im Ludwigslied um den religiös verklärten Sieg des christlichen Herrschers, so zeigt die Battle of Maldon den heroischen Untergang des christlichen Heerführers Byrhtnod, was einen wichtigen Schritt in der erzählerischen Einverleibung bedeutete. Wie problematisch dem christlichen Mittelalter die religiöse Verarbeitung dieses schweren Brockens noch werden sollte, wird sich, siehe weiter unten, ansatzweise am Nibelungenepos zeigen und besonders klar und schmerzlich im Willehalm Wolframs bewusst werden. Im deutschsprachigen Osten des Reiches kam es zu keiner Weiterentwicklung des im Ludwigslied vorliegenden Ansatzes, wohl aber im romanischen Westen. Das leider nur kümmerlich überlieferte Fragment der Chanson Gormon et Isembart, das sich wie das Ludwigslied auf die Schlacht bei Saucourt bezieht, scheint bereits neben dem Religiösen auch dem Heroischen Raum gegeben zu haben, was sich rasch weiter entwickelte und verselbständigen konnte, wovon die frühe Wilhelmsepik und das Rolandslied zeugen. Das im Ludwigslied ausschließlich religiös gedeutete heroischkriegerische Geschehen reicherte sich um das Menschliche und ‚Nationale‘ an, wozu noch typisch mittelalterliche gesellschaftliche Probleme treten wie Vasallität, vor allem in den sogenannten Empörerepen; eine Entwicklung, die sich schon im Rolandslied andeutet. Als Kraftzentrum dieser neuen Entwicklung kristallisierte sich la France heraus. Das Besondere daran ist die Tatsache, dass dieser Sachverhalt nicht erst das Ergebnis neuzeitlicher historischer Deutung ist, sondern dem Selbstbewusstsein maßgebender Kreise der Westhälfte des alten karolingischen Reiches entstammt; der Osten hatte kein vergleichbares Selbstbewusstsein entwickelt. Im Deutschen, wo Otfrid seinen starken bibelepischen Akzent gesetzt hatte, kam es, wie weiter oben erwähnt, zu einer reichen erzählerischen Entfaltung biblischer Stoffe, was praktisch die sogenannte frühmittelhochdeutsche Literatur ausmacht. Von einem frühmittelhochdeutschen Epos kann man dabei aber nicht sprechen und die Auto- 11 Alois Wolf, Heldensage und Epos: zur Konstituierung einer mittelalterlichen volkssprachlichen Gattung im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Tübingen 1995 (ScriptOralia 68). <?page no="22"?> Teil I: Das Epos auf dem Kontinent und in England 14 ren verbanden damit auch keine derartigen Ansprüche; es ist erzählerische religiöse Unterweisung. Dieser Periode entspricht im Französischen die Inkubationszeit der Chansons de geste. Wie stark diese einseitige religiöse Orientierung der deutschen Literatur gegenüber der Entwicklung im Französischen war, kann man noch an der Bearbeitung der Chanson de Roland durch den Pfaffen Konrad erkennen, worin das Heroische weitgehend vom Religiösen überspült wird. Auch die vieldiskutierte Passage, wonach Konrad zunächst eine lateinische Version vorgelegt habe, erklärt sich vielleicht einfach dadurch, dass dies für den deutschen Geistlichen am nächsten lag. Kaum minder bedeutend als die religiöse Ausrichtung der entstehenden Literatur war der Einfluss der Antike. Die starke Bindung des galloromanischen Westens an die lateinische Bildungstradition, die durch die Wirren der Völkerungszeit erheblich geschwächt, aber nicht zerstört war, - man denke an den Dichterkreis an der Loire! 12 - bot eine gute Grundlage für einen literarischen Aufschwung im Westen, der sich zusehends in dem sich etablierenden altfranzösischen Idiom verwirklichte. Dabei spielte die Aneignung antiker Stoffe eine nicht geringe Rolle. Die deutsche Literatur folgte selektiv und mit zeitlichem Abstand. Von dieser Bindung an das westliche literarische Kraftfeld hat eine mediävistische Betrachtung der deutschen Literatur des Mittelalters auszugehen. Zu Beginn des 12. Jahrhunderts setzt mit Alberichs Alexanderdichtung die rasch anschwellende Rezeption maßgebender antiker Stoffe ein, und um die Jahrhundertmitte liegen bereits die großen antiken Romane vor - Theben, Eneas, Troja. Neben dieser extensiven volkssprachlichen Aneignung antiker Epen ist die latinisierende Beschäftigung mit der Antike nicht zu vergessen. So verfasste am Ende des Jahrhunderts Walter von Châtillon, der sich als neuer Vergil fühlt - wie man seiner an Vergil angenäherten Grabschrift entnehmen kann: Insula me genuit, rapuit Castellio nomen./ Perstrepuit modulis Gallia tota meis […] - das Epos Alexandreis, sozusagen als authentische Entsprechung zu Alberichs volkssprachlichen Versversuchen. 13 12 Reto R. Bezzola, Les origines et la formation de la littérature courtoise en occident, Paris 1958-1963. 13 Walter von Châtillon: Alexandreis: Das Lied von Alexander dem Großen. Übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Gerhard Streckenbach. Heidelberg 1990. Zur Grabinschrift Walters s. ebda., S. 21. <?page no="23"?> Chansons de geste 15 Etwa gleichzeitig mit Alberichs Alexander beginnen sich repräsentative Chansons de geste zu konstituieren und zur epischen Großform zu entfalten. Die Literaturgeschichten pflegen das in zwei getrennten Ordnern abzuheften und fragen kaum nach möglichen literarischen Beziehungen, Interferenzen, mehr oder weniger bewusstem Anlehnen oder Distanzieren. Ich kann mir schwer vorstellen, dass bei der literarischen Situation im Westen die neue volkssprachliche epische Großform, die auf keine einheimischen Vorbilder aufbauen konnte - wir gingen vom Ludwigslied aus - nichts mit dieser starken antisierenden Tendenz zu tun haben sollte. Von westgotischen Vorstufen, über die wir nichts wissen, ist nicht viel zu halten. Wie man auch beim Nibelungenepos sehen kann, helfen irgendwelche Liedtraditionen auch nicht weiter, wenn es um das Epos geht. Da ist im Epos die Hinordnung auf die große Schlacht, sei es um Troja, in Latium, in Roncesvalles und Aliscanz - oder in Etzels Halle und - wir fügen keck hinzu - die große brenna als Höhepunkt der Njáls saga. So setzte das Alte Wilhelmlied (La Chanson de Guillaume) zu Beginn nachdrücklich mit diesem Thema ein, die orible bataille en Aliscans! Dazu fragt der Dichter: Plaist vus oir de granz batailles e de forz esturs (V. 1). 14 Die sieben Jahre Krieg, die Karl durchstehen muss, lassen an die 10 Jahre trojanischen Kriegs denken - es geht auch da in erster Linie um die Schlacht! Ich verstehe das nicht als unverbindliche Nebenbemerkung. Die Trojapräsenz sollte man nicht unterschätzen, von der trojanischen Herkunft der Franken zu schweigen! Das Kurzepos Le charroi de Nîmes ist ohne die Kenntnis vom trojanischen Pferd nicht zu denken; dass dieses Vehikel durch die typischen französischen leeren Weinfässer ersetzt wird, passt ins Bild. Und Friedrich Ohlys Vermutung, die Wilhelm-Arabele-Thematik sei am trojanischen Krieg orientiert und greife die Helena- Paris-Menelaus-Thematik überbietend auf, sollte man nicht leichtfertig von der Hand weisen. Neben der Bibel war schließlich die Antike die Bildungsmacht schlechthin. Wie stark der Einfluss antiker Epen im einzelnen z.B. auf die Kampfschilderungen der Chansons de geste gewesen sein dürfte, wird uns noch beschäftigen. Konnten sich die im Westen einsetzenden einheimischen heroisch-christlichen Überlieferungen ungehindert entfalten und sogar in Konkurrenz treten zu den berühmten Epen der Antike, so war im Osten das literarische Umfeld für die alten heroischen Traditionen ungleich weniger günstig, wie man am Beispiel des Waltharius, siehe oben, sehen kann; umso bemerkenswerter dann der großepische Anspruch des Nibelungendichters! Wenn es im Rechtsrheinischen auch keine dem Galloromanischen vergleichbare römisch-lateinische Bildungstradition gab, so war die Dominanz der lateinischen Kultur kaum weniger stark. Das Annolied und die gut 100 Jahre jüngere Tristandichtung Gottfrieds sind repräsentative Zeugen hierfür, was vor allem für die Epik von Bedeutung ist. 14 La Chanson de Guillaume, hg. von Duncan McMillan, Bd. I, Paris 1949. Chansons de geste <?page no="24"?> Teil I: Das Epos auf dem Kontinent und in England 16 Das Annolied ist ein einmaliges Elaborat, das die Erwartungen, die man an eine Heiligenvita stellt, weit hinter sich lässt. 15 In einem doppelten weitausholenden Anlauf - zuerst biblisch und dann als gewaltiges Aufgebot an Antike mit Blick auf die Abfolge der Weltreiche - lenkt der Autor hin auf Köln und Bischof Anno, der im 33. Abschnitt, in Analogie zu Christi Lebenszeit, ins Geschehen eintritt. Der umfangreiche Prolog führt darauf hin. Uns betrifft der erste Teil (V. 1-8): Wir horten ie dikke singen Von alten dingen, Wi snelle helide vuhten, Wi si veste burge brechen, Wi sich liebin vuiniscefte schieden, Wi riche Künige al zegiengen. Nu ist ciht daz wir dencken Wi wir selve sülin enden. Verführt durch den scheinbaren Anklang an die über 100 Jahre jüngere Einleitungsstrophe des Nibelungenliedes glaubt man, darin eine Anspielung auf germanische Sagen sehen zu dürfen. Dass diese in Umlauf und beliebt waren, ist unbestritten, wie schon das frühe Zeugnis des Waltharius beweist, doch, beziehen sich die Prologverse des Annoliedes darauf? Viel eher als um germanische Sagen geht es bei diesen alten dingen um Antikes. In den germanischen Sagen ist nirgends vom spektakulären Zerstören fester Burgen die Rede. Das kann sich doch nur auf die Zerstörung Trojas beziehen. Und was die Trennung von vuiniscefte betrifft, bieten die germanischen Sagen kaum Nennenswertes; ganz anders die Aeneis mit der tragischen Geschichte von Dido und Aeneas. Und die riche Künige, die al zegiengen weisen auf die Idee von der Abfolge der großen Weltreiche hin. Dazu sind diese Angaben eingespannt in eine typisch christliche Denkfigur. Diese Denkfigur beruht bekanntlich auf dem spannungsvollen Verhältnis, das zwischen alt und neu gesehen wird, wie es in der Beziehung zwischen dem Alten und dem Neuen Testament gegeben ist. Dabei kommt es auf das nû an. Es sollen einem jäh die Augen aufgehen für das Eigentliche und für die Einsicht, dass das Bisherige sich als unzulänglich erweist. So sehen es Walther von der Vogelweide in seiner Elegie - nû bin ich erwachet […] - und Hartmann im Prolog zu seinem Gregorius. Das ungewöhnlich ausführliche Eingehen auf die Antike im Annolied illustriert dann diese Denkform, wenn es heißt, dass die römische Geschichte in die Christianisierung Kölns einmündet und die in Senti Petris gibote agierenden Glaubensboten mit beizzirem (wichtig der Komparativ! ) wige handelten als einst Caesar. Das Ganze gipfelt in Annos Wirken als Bischof von Köln. 15 Das Annolied, hg. von Martin Opitz MDCXXXIX , diplomatischer Abdruck besorgt von Walther Bulst, Heidelberg 1961. Annolied <?page no="25"?> Annolied 17 Ein Zeugnis anderer Art, dessen Aussagekraft man in diesem Zusammenhang kaum beachtet hat, bietet Gottfrieds Tristan. 16 In seiner Dichterschau sagt er, als Sprachrohr derer, die von Literatur etwas verstehen, über Heinrich von Veldeke: er inpfete daz erste ris/ in tiut[i]scher zungen (V. 4738f). Davon kann natürlich keine Rede sein. Diese überraschende Aussage kann sich nicht auf Heinrichs Servatius beziehen, sondern nur auf den antiken Roman Eneit. Gottfried ignoriert dabei souverän alles, was es bereits an deutscher Literatur gab. Erst mit der Aneignung der Antike beginnt, so Gottfried, die seriöse deutsche Literatur. In seinem eigenen Werk lässt er dann die Antike auch entsprechend zur Geltung kommen - freilich, um sich über sie zu erheben, über Heinrich von Veldeke hinausgehend. So findet sich bei ihm ein besonderer Musenanruf - hin zum wahren (! ) Helikon, Reinmar erscheint als neuer Orpheus, Walther als Sänger der Venus, Isolde überbietet Helena als neue Sonne und lässt die selbstmörderische Dido hinter sich. In der Minneklause ereignet sich das Mittelalterliche, Neue als Überbieten und Vollendung dessen, was die Antike nur schattenhaft zu leisten vermochte. Dabei kommt in konzentrierter Form die oben erwähnte Denkform zur Geltung, wenn es über die Minnegrotte heißt: swaz aber von der fossiure/ von alter aventiure/ vor hin ie was bemæret,/ daz wart an in bewæret./ diu ware wirtinne/ diu hæte sich dar inne/ alrerste an ir spil verlan: (V. 17225-31) Alt und bloß bemæret muss dem bewæret und ware weichen! Bei aller Übermacht der antiken Bildungstradition sollte aber das volkssprachliche Mittelalter seine eigene großepische Stimme zu Gehör bringen. Dasselbe Frankreich, das mit Alberichs Alexanderroman die volkssprachliche Literatur den epischen Stoffen der Antike auf breiter Basis öffnete, begann auch mit der Episierung der eigenen Vergangenheit in den sich konstituierenden Chansons de geste und gab damit den Hörern und Lesern potentiell die Möglichkeit, sich mit dem Erzählten irgendwie zu identifizieren, was bei den antiken Stoffen unmöglich war. Schon die Eingangsverse des Rolandslieds künden von diesem Inbeschlagnehmen der Vergangenheit, wenn es da heißt: Carles li reis, nostre emperere magnes (V. 1). 17 Das Alte Wilhelmslied steht dem nicht nach: Plaist vus oir de granz batailles e de forz esturs,/ De Deramed, uns reis sarazinurs,/ Cun il prist guere vers Lowis nostre empereur? (V. 1-3) 18 Das Nebeneinander - stofflich wie zeitlich - zweier unterschiedlicher Werke wie Chanson de Roland und Wilhelmslied ist aufschlussreich hinsichtlich der Möglichkeiten der Entstehung spezifisch mittelalterlicher Großepik. So ist das Rolandslied mit seinen 4000 Langversen ‚literarischer‘ als das gröber gestrickte Wilhelmslied, was sich schon in der Tmesis des Eingangsverses Carles […] magnes und in der Gliederung in vier konsequent aufeinander bezogene Großabschnitte zeigt, wie Martin de Riquer herausgearbeitet hat. So entspricht dem ersten Teil, dem Verrat Geneluns, der 16 Gottfried von Strassburg, Tristan und Isold, hg. von Friedrich Ranke, Berlin und Frankfurt/ Main 1949. 17 La Chanson de Roland, übersetzt von Hans-Wilhelm Klein, München 1963 (Klassische Texte des romanischen Mittelalters 3), Hervorhebung des Autors (A.W.). 18 La Chanson de Guillaume (wie Anm. 14), Hervorhebung des Autors (A.W.). <?page no="26"?> Teil I: Das Epos auf dem Kontinent und in England 18 Schlussteil mit der Verurteilung des Verräters und in der Mitte dem Untergang der fränkischen Nachhut der Sieg Karls über den Heidenherrscher. Blicken wir zurück auf das fränkische Ludwigslied. Der konkrete räumliche Hinweis hier in Vrankōn und auf Ludwig als „unserem König“ legte ansatzweise ein Gefühl der Identifizierung nahe, doch das trägt noch nicht. Das Kämpferische, Wesenselement des Heldenepischen, ist zugunsten der übermächtigen und dem Stoff aufgedrängten biblischen Grundierung in seiner Eigenständigkeit praktisch eliminiert. Dieser Weg sollte keine Zukunft haben, wie gerade die Chansons de geste zeigen, die auf derselben stofflichen Grundlage beruhen wie das Ludwigslied. Die über 200 Jahre jüngere Chanson de Roland, nicht minder religiös geprägt, zeigt ein anderes Bild. Die heldenepische Substanz kann sich darin voll entfalten und über die konsequent durchgezogene Bindung an la douce France sind gute Ansätze für die Herausbildung einer Art Nationalepos gegeben. Es fehlt zwar noch an gesellschaftlicher und menschlicher Fülle, doch gibt es dazu bereits wichtige Ansätze, so in der Einbeziehung des typisch mittelalterlichen Themas der Vasallität, was weder die antiken Epen noch die germanischen Überlieferungen kennen. Dass dann im Nibelungenepos die Problematik herre/ man eine so dominierende Rolle spielen konnte, hat doch wohl auch mit dem Geist zu tun, der in den Chansons de geste wirkt. Der Versuch, authentisch Heldenepisches ins Religiöse zu integrieren - bzw. umgekehrt - muss Dichter und Publikum umgetrieben haben. Ein wesentliches Element des Heroischen sind bekanntlich Vermessenheit, Hybris, Selbstüberschätzung. Der Dichter der Chanson de Roland hat sich bei seiner Darstellung Rolands erstaunlich weit darauf eingelassen, gipfelnd in der Szene, in der Roland und Olivier einander gegenübergestellt werden und Roland sich weigert, das Hornsignal zu geben. Roland reagiert rein weltlich: Que ço seit dit de nul hume vivant/ Ne pur paien que ja seie cornant./ Ja n’en avrunt reproece mi parent./ Quant jo serai en la bataille grant/ E jo ferrai e mil colps e set cenz/ De Durendal verrez l’acer sanglent. (V. 1074-79) 19 Ehre der Sippe und prahlerische Verkündigung. Kontrastierend dazu die realistische Feststellung Oliviers (V. 1082-87). Die Parallelszene in der anglischen Dichtung Battle of Maldon zeigt, dass breiteres Einverständnis in der westlichen Kultur geherrscht haben muss (s. dazu Fußnote 11). Das Alte Wilhelmslied, zeitlich nicht weit abliegend von der Chanson de Roland, ist ungleich weniger pointiert auf das Thema Vermessenheit ausgerichtet; es öffnet sich auch stärker der rauhen kriegerischen Realität und vertieft dadurch auch die religiöse Thematik. Die Situation ist die gleiche. Den Christen droht ein Angriff einer 19 La Chanson de Roland (wie Anm. 17). Rolandslied und Wilhelmslied <?page no="27"?> Rolandslied und Wilhelmslied 19 gewaltigen heidnischen Übermacht. Vivien, Wilhelms junger Neffe, wie Roland Karls Neffe ist - immer diese Neffen! - nimmt die Rolle Oliviers und - abgewandelt - auch die Rolands ein. Er erkennt die Gefahr und rät dringend, Verstärkung anzufordern mit Wilhelm an der Spitze, mit dem allein die Heiden zu besiegen wären. Nun verlässt man die hochgestochen aristokratische Szene, wo Roland sich in stolzer Ich-bezogener Heroik über Oliviers Rat erhebt. Die beiden Anführer der Christen, Tedbald und Esturmi, die sich dann dem Suff hingeben, lehnen Viviens Rat ab aus Eifersucht gegenüber Wilhelm, dem sie einen Sieg über die Araber nicht gönnen. Sie wollen also kämpfen. Angesichts der feindlichen Übermacht packt sie aber die Angst und sie fliehen schmählich, was der Dichter zum Anlass nimmt, eine derbburleske Episode einzufügen. (Das Heldenepos ist grundsätzlich offen für derartige Lockerungsübungen; man denke an Sigfrids Rauferei mit Alberich oder an Gunthers Hochzeitsnacht oder an Thersites bei Homer.) Der Dichter greift dabei auf die Parallelszene im Rolandslied zurück. Dort heißt es, dass Olivier vom Hügel steigt und angesichts der Heidenmacht seinen Rat gibt, den Roland heroisch in den Wind schlägt. Im Wilhelmslied steigt Tedbald vom Hügel und ruft die Franceis (! ) zur Flucht auf (V. 192-95): „[…] Alum nus ent pur noz vies garir! “ Man befindet sich in den Niederungen kriegerischer Wirklichkeit, wobei es beim einen der Saufbrüder sogar in die Hosen geht; bei dem übereilten Fliehen wird auch noch mit den Sporen ein Schaf mitgerissen, dessen Schädel dann am Sattel hängen bleibt (V. 245ff, V. 398ff). Diesem Ausflug ins Vulgär-Derbe steht das entgegen, was mit Vivien geschieht und in ihm vorgeht. Er fordert die Krieger, die nach der Flucht der beiden Feiglinge ohne Führer und Feldzeichen seien, auf, sich zurückzuziehen, da ihr unausweichlicher Tod nicht zu verantworten sei (V. 200f). Er selbst wolle bleiben, car a Deu l’ai pramis (V. 292) nicht zu fliehen. Statt Rolands hinausposaunter heroischer Ehre kommt sogleich Gott ins Spiel. Diese ungleichen Reaktionen, die aufeinander bezogen sind, erweisen sich als besonders aufschlussreich, denn sie betreffen den Kern dieser frühen Epik, die dabei ist, ihre Möglichkeiten auszuloten. So sieht man einerseits, dass es möglich war, Rolands profan heroische Reaktion zu artikulieren, unbeschadet des christlichen Kontexts und dazu Rolands Revokatio in der zweiten Hornsignalszene. Bei Vivien dagegen ist es der fast verzweifelte Versuch eines Autors, das Heroische aus dem bloß profanen Triumphalismus herauszulösen und von vorneherein und nicht erst in einer zweiten korrespondierenden Szene im Religiösen aufzuheben, wie unbefriedigend es auch anmuten mag, den Helden nun allein gegen Tausende von Feinden angehen zu lassen; eine forcierte Variante zum Märtyrertum, was wiederum dafür spricht, dass man auf dieser Entwicklungsstufe des einheimischen Epos um Lösungen bemüht war. Im Deutschen fehlen vergleichbare Zeugnisse für ein Ringen um das Heroische. Das Epos Aliscanz setzt ebenfalls mit der Episode vom bevorstehenden Untergang der christlichen Krieger und des jungen Helden ein. 20 Die Thematik heroischen Verhaltens hatte also hohe Aktualität. Wilhelm, heißt es, sucht das Schlacht- 20 Aliscans. Kritischer Text von E. Wienbeck, W. Hartnacke, P. Rasch, Genf 1974. Zitate aus dem Aliscanzepos im Folgenden beziehen sich auf diese Ausgabe. <?page no="28"?> Teil I: Das Epos auf dem Kontinent und in England 20 feld ab, um Vivien zu finden. Dieser, schwerverwundet, treibt dennoch die Gegner vor sich her (V. 67ff). Doch da taucht der heidnische Krieger Gorhant mit seinen Leuten auf; es sind eher Ungeheuer als Menschen, die unter furchtbarem Getöse herankommen (V. 82ff). - das typische Merkmal der Heiden. Für einen Augenblick weicht Vivien eine Lanzenlänge zurück (V. 85). Sogleich ist ihm bewusst, dass er damit seinen covenant gebrochen habe und bekennt Gott seine Schuld. Seine Heroik ist nicht profan-autonom wie die Rolands, sondern grundsätzlich nicht Ich-, sondern Gott-bezogen. Der Abstand zum Ludwigslied andererseits verdeutlicht, wie gleichsam unaufhaltsam diese entstehende Literatur an epischem Profil gewinnt. Vivien stürzt sich auf die Feinde und muss fürchterliche Hiebe einstecken, doch Gott lässt ihn am Leben, bis Willehalm den Sterbenden findet. Die Schilderung des Sterbens des jungen Helden wird zum Kernstück der Darstellung; es geht auch um ein urepisches Phänomen. Die Chanson de Roland zeigt sich dabei von der triumphalistisch hochgestochenen Seite. Roland stirbt nicht an Wunden, die ihm die Feinde zugefügt hätten, sondern an den Folgen seines Hornstoßes. Er bittet Gott um Rettung seiner Seele (V. 2389) und reicht ihm seinen Handschuh, den Seint Gabriël entgegennimmt; Seint Michel del Peril geleitet seine Seele ins Paradies. Der erste Teil des Alten Wilhelmlieds dagegen bietet einen in seiner rauhen Realistik erschütternden Bericht über Viviens Tod. Der Todwunde, dem die Eingeweide heraushängen, torkelt dahin, gestützt auf sein Schwert (V. 890f); man stelle sich vor, Durendal als Krückstock - undenkbar. Bei der Hinführung auf Viviens Tod evoziert der Dichter die Marter des Gekreuzigten und deren heilbringende Funktion. Zunächst betet Vivien zu Maria, sie möge bewirken, dass die Heiden ihn nicht töten (V. 813-16), bereut aber sofort diese Bitte als Torheit, denn Dampnedeu meimes nel fist (V. 820) und pur nus mort en sainte croiz soffri,/ Pur nus raindre de noz mortels enemis (V. 821f). Er weist es nun von sich, nicht den Tod erleiden zu wollen. Die Annäherung an Christi Marter setzt sich fort, wobei es zu direkten Christusanalogien kommt, wie Frappier schon vor Jahren bemerkt hat. 21 Vivien leidet furchtbar unter Durst, weit und breit keine Quelle, dazu hat er eine Wunde in der linken Seite, auf die zweimal verwiesen wird (V. 777 und V. 843). Mit eve salee (V. 852) will er den Durst löschen. Das bezieht sich auf den Stich in Christi Seite und auf den Schwamm mit Essig. Hierauf taucht ein barbarins (Berber) auf, versetzt ihm einen furchtbaren Hieb und die Heiden metzeln ihn nieder. Den Leichnam werfen sie neben einem Pfad unter einen Strauch, damit die Christen ihn nicht fänden. Der zweite Teil des Alten Wilhelmslieds wie auch das Aliscanzepos zeigen dann diese Sterbeszene in anderem Licht, was für die Entwicklung des Epos im Bereich der Chansons de geste aufschlussreich ist. Es geht dabei um das Herzstück heldenepischer Überlieferung - man denke an Gunnarr im Atlilied oder an den Tod Hagens im Nibelungenepos! Roland, der wie oben bemerkt, nicht von seinen Feinden getötet wird, stellt mit seinem Tod einen Höhepunkt heroischen Untergehens dar. Es zeugt von einer inneren Konsequenz in der mittelalterlichen Entwicklung dieser 21 Jean Frappier, Les chansons de geste du cycle de Guillaume d’Orange, Paris 1955, S. 196f. <?page no="29"?> Rolandslied und Wilhelmslied 21 Epik, dass man sich mit dieser Deutung des Sterbens des Helden nicht zufrieden gab. Der erste Teil des Alten Wilhelmsliedes ging mit seinen Analogien zum Kreuzestod bereits einen entscheidenden Schritt weiter in der religiösen Durchdringung des bloß Heroischen, blieb aber gleichsam noch auf halbem Weg stehen, indem die Schilderung des Sterbens selbst noch in der bloßen Feststellung der Tatsache verbleibt. Anders im zweiten Teil des Wilhelmliedes und im Aliscanzepos. Man erfährt, dass Wilhelm das Schlachtfeld nach Vivien absucht und wie er an den Ort kommt, wo der Sterbende liegt. Und da tut sich ein Bild religiöser Verklärung auf. Statt der ausgedörrten Landschaft, in der es keine funteine (V. 845) gibt, sondern nur verschmutztes Salzwasser, womit Vivien seinen Durst zu stillen versucht und sich dann auf schmerzliche Weise übergeben muss - man achte auf den Realismus - liegt nun der Sterbende an einem Teich bei einem Brunnen unter dem Laub eines großen Olivenbaumes. Er hat die weißen (! ) Hände gekreuzt über der Brust und es umgibt ihn ein süßer Duft, der Duft der Heiligkeit. Und wo es im ersten Teil des Liedes heißt, dass er aus mehr als zwanzig Wunden blutete (V. 859), wird nun exakt festgestellt, dass es fünfzehn sind (V. 1993, V. 2014), was an die Zahl 15 im Psalter denken lässt. Im Aliscanzepos (V. 10) ist von sieben Wunden die Rede. Da im zweiten Teil des Alten Wilhelmsliedes unmittelbar vor dem Tod Viviens auf die Marter des Gekreuzigten hingewiesen wird und auf den Lanzenstich des Longinus Que sanc e eve corut de sun lé (V. 2038-40), ist die Annäherung an die Wunden Christi - da sind es die heiligen fünf Wunden! - kaum zu leugnen. Wilhelm spendet dem Sterbenden noch die heilige Kommunion, worauf L’alme s’en vait, le cors i est remés (V. 2052). Bei aller Intensität des Religiösen erscheinen hier keine Engel, was, wie in der Chanson de Roland, das Sterben gleichsam theatralisch überhöhen könnte. Wilhelm, der den Leichnam mitnehmen möchte, muss wegen der Bedrohung durch die Heiden darauf verzichten und den Toten liegen lassen. Der zweite Teil des Wilhelmsliedes und das Aliscanzepos markieren auch einen Fortschritt im Erfassen bestimmter Bereiche des Menschlichen. Im Ludwigslied trat das Humanum zugunsten der total religiösen Deutung des Kampfgeschehens aus biblischer Sicht überhaupt nicht in den Gesichtskreis des Dichters. In der Chanson de Roland wird es weitgehend überlagert von der sieghaften Pose des Haupthelden. Die andeutungsweise am Kreuzestod orientierte Darstellung des Geschehens im Wilhelmslied öffnete über einen selektiven Blick für das Humanum in dessen Leidensfähigkeit, was zum Wesen des Epos gehört. Die Ilias latina, dem Mittelalter als Schullektüre vertraut und in vielen Handschriften überliefert, setzt mit dem Wort ira ein - dem Groll des Achilles. Vergil fragt in seiner Einleitung zur Aeneis nach der ira der Götter. Wilhelmslied und Aliscanz wollen vom großen Schmerz und der großen Schlacht künden: A icel jor, ke la dolor fu grans/ Et la bataille orible en Aliscans (V. 1f). Das Wilhelmslied erwähnt dann sogleich die schrecklichen Verluste, die Wilhelm dabei erlitt, vor allem mit Vivien le preuz,/ Pur qui il out tut tens al quor grant dolur (V. 8f). Die Fügung al quor grant dolur lässt vorausdenken an den herzenjâmer, der das Nibelungenepos erfüllen wird. Sollte da kein Zusammenhang bestehen? <?page no="30"?> Teil I: Das Epos auf dem Kontinent und in England 22 Ansätze zur Humanisierung, nicht zufällig in Verbindung mit der Sterbeszene, weist bereits die Chanson de Roland auf, wenn es dort auf geradezu rührende Weise um die Beziehung zwischen Roland, Olivier und Turpin geht. So, wenn der total erschöpfte Turpin mit dem Helm Wasser holen will und dabei zusammenbricht. Wird in der Vergegenwärtigung des qualvollen Sterbens Viviens das Epos auch zu einem Vermittler menschlichen Mitleidens, so darf man die grausamen Aspekte, die derselbe Themenkreis aufweist, nicht unterschlagen. So berichtet ein weiterer Text aus diesem Bereich, La chevalerie Vivien, dass Vivien von Wilhelm das Schwert empfängt und schwört, nie vor den Heiden zurückzuweichen. Dann bricht er auf, um la loi Deu essaucier (V. 49). 22 Das stellt sich dann so dar: sie [g]astent les terres as Turs et as Persans,/ Tuent le meres, s’ocient les enfens (V. 62f). Das liest sich wie eine Entsprechung zu einer Stelle aus dem Alten Testament. So spricht Jahwe Zebaot: […] nun ziehe hin und schlage Amalek […] schone seiner nicht, sondern töte Mann und Weib, Kind und Säugling. 23 An anderer Stelle erfährt man über Vivien, dass er sich der Besatzung eines Sarazenenschiffs bemächtigt, diese auf grausame Weise verstümmeln lässt und dem Heidenkönig zurückschickt: […] Tous .I. et .I. les a fait mahaignier: / L’un fist colper le brach et a l’autre le pié,/ L’autre a les iels crevés, l’autre a les nés trenchié,/ Le langue ou les orelles ont li auquant trenchié (V. 198-201, Manuscript de Boulogne). 24 Wie anders bekanntlich die Stimme Wolframs von Eschenbach in seiner Bearbeitung der Wilhelmsepik, wenn er die bekehrte Sarazenin und Gemahlin Willehalms sagen lässt, man dürfe doch die Heiden nicht wie Vieh abschlachten; sie sind schließlich Gottes Geschöpfe! Der epische Raum, in dem diese religiös durchtränkte Heroik spielt, ist über die realen und nahen Örtlichkeiten und die nicht minder realen Sarazenenkämpfe Teil der Welt von Dichter und Publikum. Das Thema Vasallität, das schon in der Chanson de Roland Feudalrealität der damaligen Zeit widerspiegelt, führt in der Wilhelmsepik noch tiefer in die Spannungen dieser mittelalterlichen Wirklichkeit hinein. Beides, der nahe reale Raum und die bei aller Stilisierung reale Feudalwelt werden dann im Nibelungenlied die Plattform des Geschehens bilden und die alten germanischen Überlieferungen ins große hochmittelalterliche Epos überführen. Das ist mehr als leicht höfische Übermalung, es rührt an die Substanz. 22 La chevalerie Vivien. Chanson de geste, hg. von A.-L. Terracher, Paris 1909. 23 Buch Samuel I, 15,1ff. 24 La chevalerie Vivien (wie Anm. 22). <?page no="31"?> Artusroman 23 Doch bevor wir darauf eingehen, ein Blick auf die nach Chansons des geste und antikem Roman dritte Säule der erzählerischen Großform im Französischen, den Artusritterroman und sein Verhältnis zum Epos. Mit den Chansons de geste hatte sich ein mittelalterliches Eposbewusstsein herausbilden können, da bei diesen Stoffen potentiell die nötige Identifizierungsmöglichkeit gegeben war, die bei den antiken Romanen fehlen musste. Doch wie verhielt es sich mit dem erzählerischen Potential der matière de Bretagne? Im arturischen Ritterroman, dieser Schöpfung Chrétiens, konnte sich ein zusehends maßgebender Teil der höfischen Elegie, die Klasse der chevaliers, wiederfinden. Man könnte darin einen weiteren Schritt im literarischen Selbstfindungsprozess des volkssprachlichen Mittelalters sehen. Ähnliches lässt sich zur gleichen Zeit in der Lyrik beobachten. Unbeeindruckt von der Bildungsmacht der Antike befreit sich die Troubadourdichtung mit ihrer Exaltation der fin’amors von Ovid, dem tenerorum lusor amorum und zugleich vom moralischen Verdikt der luxuria, und der Eros wird, weiter gestützt durch die Tristanminne, sich als wirksames Ferment in der Erzählliteratur erweisen. Die Öffnung gegenüber der seltsamen matière de Bretagne hätte sich darin erschöpfen können, ein spektakuläres Stoffgebiet zugänglich zu machen und weidlich auszuschlachten, wofür es auch Beispiele gibt. Diese materia gab aber vor allem den Anstoß dazu, der volkssprachlichen Literatur um 1200 neuen Sinn und Tiefgang zu verleihen. Wie man weiß, ist das das Verdienst Chrétiens de Troyes. Dieses ‚Wissen‘ gilt es aber immer wieder zu überdenken. Nun gibt es auch bei Chrétien Monster, groteske Abenteuer etc. Hinter dieser bloßen Kulisse geht es aber um mehr, um ein neues Bild von chevalierie, von chevalier, vom meilleur chevalier. Eine reale soziale Schicht von hoher gesellschaftlicher Relevanz rückt ins Zentrum anspruchsvoller literarischer Bestrebungen von überraschender ‚Nachhaltigkeit‘ und ausschließlich in der Volkssprache. Das Mittelalter kommt damit zu sich, emanzipiert sich literarisch mit neuen Mitteln und auf neuer Grundlage über das hinaus, was die Chansons de geste ihrerseits schon geleistet hatten. Chrétiens selbstbewusst kühne These von der dritten translatio als Ergänzung der translatio imperii und studii war dafür die feste Grundlage, indem sie ein konkret existierendes Phänomen - chevalerie und clergie - aufgriff und einen nicht minder realen Raum, la France, damit verband. Modisch gesagt, ein überzeugendes Identifizierungsangebot. 25 Stellt sich Chrétien damit auf eine Stufe mit den Chansons de geste aus Karls- und Wilhelmsepik? Auch da geht es um chevaliers, in der religiösen Durchdringung kann man das Wirken der clergie erkennen und la France ist geradezu massiv präsent, gestützt auf die realen Ortsangaben. In Chrétiens Werken liest sich das anders. Sein chevalier ist kein Krieger in einer Massenschlacht im realen Kampf gegen die Sarazenen, sein Lebensraum ist la forêt 25 Alois Wolf, „La douce France - Grundlage und Entfaltungsraum neuer literarischer ‚Wirklichkeit‘ im Mittelalter“, in: Volker Kapp und Werner Theobald (Hg.), Das Geheimnis der Wirklichkeit. Kurt Hübner zum 90. Geburtstag, Freiburg 2011, S. 253-291. Artusroman <?page no="32"?> Teil I: Das Epos auf dem Kontinent und in England 24 avantureuse, er ist als einzelner auf der ‚Suche‘, und die Religion gewinnt erst im Lauf der Entwicklung hin zu den Prosaromanen an Bedeutung. Die höfische Welt hinterlässt nur in stilisierten Hinweisen auf das Fest und das Turnier Spuren. Man hat es also mit fundamentalen Neuerungen zu tun. Es ergeben sich aber keine Überstimmungen mit der Erscheinung, die wir Epos zu nennen pflegen. Abgehoben von Antike und national-kriegerisch religiöser Verherrlichung entstand mit diesem Typ des chevalier eine neue erzählerische Wirklichkeit. Der moderne Begriff Fiktion greift dafür zu kurz, da er nicht unterscheidet zwischen ‚erfundenen‘ simplen Abenteuergeschichten und dem, wofür jene Erzähltradition steht, die Chrétien mit seinen ‚Erfindungen‘ initiierte. Halten wir uns an seine Terminologie. Im Prolog des Erec bezeichnet er sein neues Erzählwerk bekanntlich als molt bel conjointure. Im Prolog zum Karrenritterroman präzisiert er und spricht von matière und san und der Mühe des Dichters - painne et antancion. Auf diesen Dreiklang kommt es an, Fiktion oder Nichtfiktion verliert dabei an Bedeutung. Chrétiens Karrenritterroman ist ein überzeugendes Beispiel für dieses neue Literaturverständnis. Etwas frivol formuliert ließe sich sagen, dass die materia dadurch zum Spielball wird und erst zwischen san und künstlerischem Bemühen ihre wahre Gestalt und Aussagekraft gewinnt. Wie stark dieser Impuls war, lässt sich an den unterschiedlichen Rollen dieses neuen chevalier- Typs - nehmen wir Lancelot und Perceval - von Roman zu Roman bis hin zu den großen Prosawerken ablesen. Chrétien postuliert in seiner Translationsthese eine offenbar wesenhafte Verbindung von chevalerie und clergie. So selbstverständlich war das aber nicht. Man denke an satirische Dichtungen wie Phyllis und Flora und die darin sich äußernde Spannung zwischen miles und clericus, und die nova militia Bernhards von Clairvaux hat mit Chrétiens Rittertyp nichts gemein. Der betont als cavalier auftretende Troubador Wilhelm IX. von Aquitanien distanzierte sich noch scharf vom clericus und monachus. Jahrzehnte später sollte dann Chrétien am Hof der Marie de Champagne, der Urenkelin desselben Wilhelm die Verbindung von clergie und chevalerie zelebrieren und mit dieser ‚Versöhnung‘ die Literatur auf eine neue Grundlage stellen. Es wäre zu erwägen, ob nicht diese Literatur jene Funktion erfüllte, die bei Griechen und Römern dem großen Epos zukam. Der arturische Roman im weiteren Sinn, natürlich auch den Tristan einbeziehend, würde damit in Konkurrenz treten zu den Chansons de geste. Zunächst scheint es zwar, als böte der Roman mit seiner Hauptgestalt, dem individuellen chevalier auf seiner queste, in einer nicht realen Welt keinerlei Anbindungsmöglichkeiten an die eigene mittelalterliche Wirklichkeit. In Chrétiens erstem Artusritterroman Erec wird aber am Schluss in Verbindung mit Erecs Krönung mit einigem Nachdruck - fünfmalige Nennung - auf die Stadt Nantes verwiesen, gleichsam ein Nachhall der vielen realen Ortsangaben in den Chansons de geste; man denke nur an die vielen Belege für Aachen - Ais - in der Chanson de Roland. Der durchschlagende Erfolg dieses Romantyps in seinen anspruchsvollen Erscheinungsformen muss darauf zurückzuführen sein, dass darin etwas angesprochen wurde, was in den gröbergestrickten Chansons de geste nicht zur Geltung kam. Es war dies wohl das sich nun literarisch artikulierende Bewusstsein, dass das Humanum <?page no="33"?> Artusroman 25 sich nicht allein im Heroisch-Martialischen und in der Hinführung auf Heiligkeit erschöpfe. In der Troubadourlyrik zeigte sich bereits das latent vorhandene Humanisierungspotential. Wenige Jahrzehnte später setzt dann in der großen Erzählliteratur ein ebenfalls vom Eros getragener Emanzipierungsprozess ein. So präsentieren die Lais der Marie de France - immerhin dem englischen König gewidmet - unterschiedliche Typen von Liebenden, von den deux amants bis hin zu Lanval, wobei Religion und Moral keine Rolle spielen und der Schwank nicht mehr der bevorzugte literarische Lebensraum des Erotischen zu sein brauchte. Für das literarisch maßgebende Publikum könnte es wie eine Befreiung gewirkt haben, sich mit dem neuen Typ von chevalier, Lanval, Lancelot, Tristan … in eine neuerschlossene menschliche Innenwelt entführen zu lassen. Wenn die Troubadours in ihren Liedern fin’amors als Quelle alles Guten verherrlichen, so feiert die matière de Bretagne die Erfüllung der Liebe in ihrer Totalität. In immer neuen Variationen wird das von Roman zu Roman durchgespielt, vom Erec über Yvain, Lancelot hin zum Percevalroman, worin sich ein breiter Minnefächer auftut, konzentriert in der Blutstropfenepisode. Auch das, was den chevalier in besonderer Weise auszeichnet, das Kämpferische, prägt auch den Artusritterroman, doch wo das Kämpfen im Epos ein nicht zu hinterfragender Wesensbestandteil ist, wird es im Roman zum individuellen Problem des jeweiligen Ritters, von Kalogreant zu Parzifal/ Feirefiz oder bei Lancelot und Meleagant bis hin zu Dinadan, dem Freund Tristans, der sich über die Zweikampfideologie lustig macht; man braucht nicht bis zu Don Quijote zu gehen! 26 Mit dem arturischen chevalier als turnierhaftem Einzelkämpfer veränderten sich auch die Kampfschilderungen, die sich nun von denen in den antiken Epen und in Chansons de geste unterscheiden. Das bedeutet ein Zurückdrängen des Grässlichen beim Aufzählen der Einzelheiten der Verletzungen. Vom detaillierten Zufügen fürchterlicher Wunden bleibt nur der Schlagabtausch im Allgemeinen übrig, höchstens erfährt man von einem Lanzenstich in den Leib oder vom Kopfabschlagen und von großer Erschöpfung. Man halte Vivien dagegen mit seinen 15 Wunden, der sich mit heraushängenden Eingeweiden über das Schlachtfeld schleppt. In diesem Perspektivenwechsel bei den Kampfschilderungen sehe ich eine Folge der Humanisierungstendenz, die im 12. Jahrhundert immer mehr um sich greifen konnte. Für die Antike und die Chansons de geste bildeten Epos, große Schlacht und detailliertes Aufzählen der Verwundungen eine Einheit. Es wäre zu überlegen, ob nicht mit dem Erscheinen und Erfolg des Artusritterromans, der diese feste Bindung auflöste und andere Akzente setzte, eine neue erzählerische Großform zur Verfügung stand, die auf ihre Weise die Rolle des Epos ausfüllte. Was Homer und Vergil für die Antike, wäre dann Chrétien für das Hochmittelalter? Die hochmittelalterliche volkssprachliche Literatur ist ein Experimentierfeld. Der Ritterroman ist darin ein Produkt sui generis wie die Minnekanzone. Literaturtheo- 26 Eugène Vinaver, À la recherche d’une poetique médiévale, Paris 1970, S. 166f. <?page no="34"?> Teil I: Das Epos auf dem Kontinent und in England 26 rien dazu gab es nicht und es ist legitim, derartige Spekulationen anzustellen. Wir wollen uns aber mit der Fragestellung begnügen. Da ist ja noch das Nibelungenlied, das bei aller Durchschlagskraft des Ritterromans von der Vitalität des Epos im herkömmlichen Sinn zeugt. 27 Dass aus den historischen und religiösen Bedingungen der Zeit ein Epos wie das Rolandslied entstehen konnte, fügt sich ins Bild. Nicht so das Nibelungenlied. Was konnte einen Autor dazu bewegen, dem höfischen Publikum ein Werk wie dieses anzubieten? Scherers These von der antiwestlichen heroischen Alpenfestung Österreich, die immer noch in den Literaturgeschichten herumspukt, sollte man endlich ad acta legen. Von einer mehr oder weniger naiven Wiedergabe alter mæren kann ebenfalls keine Rede sein. Es ist, wie ich andernorts schon mehrfach betont habe, auf das Paar alt und nu in der ersten Strophe zu achten, womit angedeutet ist, dass der Dichter sich im Folgenden über das bisher Bekannte, die alten mæren, erhebt: muget ir nu wunder hœren sagen! Wie weiter oben dargelegt, liegt derselbe sprachliche Ductus vor wie im Prolog zum Annolied und in anderen vergleichbaren Aussagen. Das Annolied spricht von alten dingen und bezieht sich damit, wie erwähnt, auf Troja und die Antike. Nun wäre zu fragen, ob es sich bei den alten mæren, auf die der Nibelungendichter anspielt, ausschließlich um Nibelungisches handeln muss, das überboten werden soll, wie die zweite Halbstrophe nahelegt. Muss sich da der Begriff alt im bloß Chronologischen erschöpfen oder wäre er nicht zusätzlich aus dem typologischen Verhältnis zu verstehen. Gottfrieds Deutung der Minneklause böte einen guten Beleg hierfür, wenn es da heißt: […] swaz aber von der fossiure/ von alter aventiure/ vor hin ie was bemæret,/ daz wart an in (i.e. Tristan und Isolde) bewæret (V. 17225-28). (Wenn die späte Dietrichsepik von alten mæren spricht, so ist das nicht belastbar, da bloßes Zitat aus dem Nibelungenlied vorliegt.) Zu den im Folgenden zu erwähnenden Anleihen bei antiken Epen sei von der Einleitungsstrophe des Nibelungenliedes her an den Eingang der Aeneis erinnert. Die Rede von helden lobebæren und grôzer arebeit trifft auch auf Aeneas zu: arma virumque cano […] dazu der Hinweis auf die labores des Helden. Im deutschen Eneasroman ist, besonders aus dem Mund des Vaters Anchises, von grôzer arebeit - labores - die Rede. Die alten Nibelungensagen wissen kaum etwas über labores ihrer Helden! Auszugehen ist von der ungewöhnlich präzisen Einleitung, von der ersten und zweiten âventiure. So wird das burgundische Herrscherhaus mit seinen mächtigen Vasallen in seiner Wirklichkeit vorgestellt, wenn es heißt Ze Wormez bî dem Rîne si 27 Das Nibelungenlied, hg. von Helmut de Boor, Wiesbaden 1957. Ich beziehe mich auf meine einschlägigen Arbeiten, z.B. auf den Beitrag im Ausstellungskatalog, vgl. Alois Wolf, „Literarische Verflechtungen und literarische Ansprüche des Nibelungenliedes“, in: Joachim Heinzle et al. (Hg.), Die Nibelungen. Sage - Epos - Mythos, Wiesbaden 2003, S. 135-159. Nibelungenlied <?page no="35"?> Nibelungenlied 27 wonten mit ir kraft. Das sitzt. Zur selben Zeit beherrschte seit Galfreds Historia regum Britanniæ ein berühmter Hof die neue Erzählliteratur, der Hof des Königs Artus. Es ist für mich schwer vorstellbar, dass dem Nibelungendichter dies entgangen sein könnte. Bedenkt man die ungewöhnliche Wucht seiner Einführung dieser Fürsten bî dem Rîne, so liegt es doch nahe - bei der Überschaubarkeit des damaligen Literaturbetriebes - darin einen agonalen Bezug zum Hof des Königs Artus in den marktbeherrschenden Artusritterromanen zu sehen, wo aber dieser Hof, wie F.P. Knapp treffend formuliert hat, nur eine beliebig verschiebbare Kulisse darstellt. 28 Dem würde der Nibelungenepiker seinen Burgunderhof entgegensetzen als feste Größe. Damit verband er auch den Versuch, die alten Überlieferungen, über die er verfügte, durch eine Neudeutung als ebenbürtigen Beitrag in die neue zeitgenössische Literatur einzubringen. Gunthers fränkische (! ) Herrschaft wurde im Waltharius der Lächerlichkeit preisgegeben, nun ersteht sie in ihrer burgundischen Machtfülle und diese ist im entscheidenden zweiten Teil des Epos gegenwärtig bis hin zum Tod des exemplarischen Vasallen Hagen. Das, was der Dichter zu erzählen sich anschickt, ist also solide in der gesellschaftlichen Wirklichkeit des Hochmittelalters verankert und im realen Raum. Die Eddalieder, auch wenn man deren Sicht der Dinge nicht verabsolutieren darf, die Þidreks saga und der Waltharius sehen das anders. Diese Präsentation burgundischer Macht rechtfertigt den Anspruch eines großen Epos. Die Besonderheit der Anlage des Werkes springt ins Auge. Es liegt eine markante Zweiteilung vor, âventiure 1-19 und 20-39. Sollte es Zufall sein, dass diese weitgespannte Doppelanlage des Werkes, wofür es in der damaligen Literatur keine Entsprechung gibt, an die Struktur jenes Epos erinnert, das dem Mittelalter aus der Schulliteratur vertraut war, Vergils Aeneis, worin im Aufbau auf Odyssee und Ilias angespielt wird. Die erste Hälfte, bunter und abenteuerlicher, der zweite Teil kompakt auf die große Schlacht bezogen - Kampf um Latium, große Saalschlacht. Bedenkt man dann noch, dass der Schluss beider Werke eine höchst bedeutsame Gemeinsamkeit aufweist, auf die vor Jahrzehnten Werner Fechter aufmerksam gemacht hat, was von der Nibelungenforschung beharrlich ignoriert wird, so könnte das die vorliegenden Überlegungen stützen. 29 Beim abschließenden Kampf mit dem bereits wehrlosen Gegner erblickt Aeneas das Wehrgehenk des von Turnus erschlagenen Pallas und tötet ihn. Kriemhilt erblickt das Schwert Sigfrids an Hagens Seite - wie konnte es dahinkommen? - und enthauptet den Wehrlosen. Damit nicht genug. Schon zu Beginn klingt das Helena-Thema von der Gefährlichkeit der Schönheit an, das im Schlussteil seine furchtbare Verwirklichung erfährt. Die alten mæren wussten nichts davon. 30 Dazu kommt noch das Minnegespräch zwischen Kriemhilt und Mut- 28 Fritz Peter Knapp, „Der Artushof als Raumkulisse bei Wace, Chrétien des Troyes und dessen deutschen Nachfolgern“, in: Matthias Däumer et al. (Hg.), Artushof und Artusliteratur, Berlin 2010, S. 21-41 (Schriften der internationalen Artusgesellschaft 7). 29 Werner Fechter, Lateinische Dichtkunst und deutsches Mittelalter, Berlin 1964 (Philologische Studien und Quellen 23). 30 Joachim Heinzle, „Gnade für Hagen? Die epische Struktur des Nibelungenliedes und das Dilemma der Interpreten“, in: Fritz Peter Knapp (Hg.), Nibelungenlied und Klage: Sage und Geschichte, Struk- <?page no="36"?> Teil I: Das Epos auf dem Kontinent und in England 28 ter Ute, in dem sich, wie man seit langem weiß, die entsprechende Szene zwischen Lavinia und Amata aus der Aeneis/ Eneit widerspiegelt. De facto eine geballte Ladung großepischer Signale, was eine Nobilitierung der alten mæren bedeutet und einen entsprechenden Anspruch. Denkt man noch an Sigfrids teilweise Unverwundbarkeit und seine Qualität als Schnellläufer, wovon nordische Quellen nur südliche Reflexe aufweisen, so ergänzt dies das Bild. Nimmt man die erste âventiure in dieser Weise zur Kenntnis - und was anders sollte man tun? - so käme man nicht auf die Idee, dass es im weiteren Verlauf, wie in den eddischen Liedern, um die Abenteuer eines Drachentöters gehen könnte. Und im Nibelungenlied spielt Sigfrid dann auch als Drachentöter keine Rolle. Seine Rolle ist die des geliebten Gemahls der Kriemhilt. Die zweite âventiure, die den männlichen Protagonisten in seinem höfisch-niederländischen Umfeld, das weit weniger beeindruckend vorgeführt wird, vorstellt, ist ein weiteres wichtiges Indiz. Die weibliche Gestalt hat also eindeutig den Vorrang. Erst in Hagens Fensterschau, aus zweiter Hand, erfährt man etwas über den Drachentöter, was in den alten mæren Grundbestand war. Die Strophen 21ff. klammern das aus. Der Widerspruch mit dem, was Hagen zu berichten weiß, braucht nicht zu beunruhigen; mittelalterliches Erzählen muss nicht moderner Logik gehorchen. Die Handlungsführung selbst weist dann ebenfalls Merkmale auf, die man kaum in den alten Überlieferungen finden würde und worin sich der Dichter in erster Linie an große Epen anlehnt und nicht an den zeitgenössischen Ritterroman. Da ist die spannungsvolle Anlage des entscheidenden zweiten Teils. Gegen Ende des ersten Teils erfährt man, dass Kriemhilt sich mit ihren Brüdern aussöhnt, Hagen aber von der Versöhnung betont ausgeschlossen bleibt, womit Erwartungsdruck aufgebaut ist, den es einzulösen gilt, denn man wartet gespannt darauf, wann endlich es zur abschließenden Konfrontation kommen wird. Der Bogen reicht von Str. 1115 bis zum Schluss (Str. 2367ff). Ein vergleichbarer Spannungsbogen trägt die Handlung im zweiten Teil der Aeneis, wo man sich fragt, wann denn endlich nach dem Eintreffen des Eneas in Latium es zum abschließenden Kampf mit Turnus kommt. Ein weiteres strukturierendes Element aus epischer Tradition verbindet das Nibelungenepos mit dem Rolandslied, wenn es darum geht, deutlich markiert, die schrittweise Dezimierung der Krieger, hier der Franken, dort der Nibelungen, vorzuführen und zu zeigen, dass einer im Tod triumphierend übrigbleibt. Weitere Parallelen mit Chansons de geste sollte man nicht einfach auf Polygenese abschieben. Die ablehnende Haltung Hermann Schneiders gegenüber den Forschungen Friedrich Panzers hat da Vieles blockiert! Über das Bemühen, mittels struktureller Parallelen die alten Sagen einzubinden in größere literarische Zusammenhänge und sie damit aufzuwerten und vom Stigma bloßer Mündlichkeit zu befreien, hinaus holte der Dichter sich auch Anregungen zur Gestaltung einzelner Szenen und Episoden. Schon im relativ bunten ersten Teil setzte er in diesem Sinn neue Akzente, einmal im Streit der Königinnen und dann tur und Gattung, Heidelberg 1987 (Passauer Nibelungengespräche 1985), S. 257-276, hier S. 267ff. <?page no="37"?> Nibelungenlied 29 beim Tod Sigfrids. Dem geht voraus die Schilderung der Vermählung Siegfrids und Gunthers. Erstere vollzieht sich im höfischen Rahmen, wenn man vom anfänglichen polternden Auftritt Sigfrids in Worms absieht und ist nur getrübt durch die unheilvollen Tränen der Prünhilt über die vermeintlich unstandesgemäße Ehe Kriemhilts. Bei der Schilderung der Werbung Gunthers zollte der Autor dem schwankhaften Brautwerbungsschema seinen Tribut und verband damit wohl auch eine Abwertung. Es geht da um das Spektakel auf Island, um Sigfrids Rauferei mit Alberich und Gunthers schmähliche Hochzeitsnacht. Damit ist aber das Spektakuläre gleichsam ‚abgehakt‘, und mit der 14. âventiure betritt man das seriöse großepische Terrain, um dieses auch nicht mehr zu verlassen. Da ist der Streit der Königinnen vor der Kulisse des realen Doms zu Worms, womit der rheinische Schauplatz nachdrücklich vergegenwärtigt wird. (Man vergleiche damit den Zank der beiden Frauen beim Haarewaschen im Rhein, wovon die V lsunga saga berichtet.) Was folgt, ist die großangelegte Darstellung der Ermordung Sigfrids, die die restlichen âventiuren des ersten Teils mit den Vorbereitungen und Folgen füllt, was die Bedeutung der abenteuerlichen Elemente dieses Teils zusätzlich schmälert und erkennen lässt, worum es dem Dichter geht. Die nordischen Texte, die altes Überlieferungsgut wiedergeben, machen dagegen kurzen Prozess. 31 Der Prosaeinschub im Brot af Sigurðarkviðo in der Lieder-Edda erwähnt nur: En sumir segia svá, at þeir dræpi hann inni í rekkio sinni, sofanda. En þýðverskir menn segia svá, at þeir dræpi hann úti í skógi. (Aber einige erzählen es so, daß sie ihn drinnen in seinem Bett erschlagen hätten, schlafend. Aber deutsche Männer erzählen es so, daß sie ihn draußen im Wald erschlagen hätten.) 32 Von der Fastunverwundbarkeit wissen diese Quellen nicht; im Nibelungenlied berichtet auch Hagen nichts darüber. Erst aus Kriemhilts Mund ist auf beklemmende Weise davon die Rede. Nur die Þiðreks saga hat ein verworrenes Echo davon, wenn es dort heißt, dass Högni seinen Speer mit beiden Händen fasst und mille herða Sigurði svein leggr (zwischen die Schultern von Sigurd dem Jungen sticht). Im Brot af Sigurðarkviðo antwortet H gni auf die Frage der Guðrún nach ihrem Gemahl: „Sundr h fom Sigurð sverði h gginn […].“ („In Stücke haben wir Sigurd mit dem Schwert gehauen […].“) 33 Dieses Entzweischlagen passt aber gar nicht zum Tod auf der Jagd; es liegt da die Kontamination mit einer anderen Version vom Tod Sigurds vor, worüber die späte V lsunga saga und Snorri berichten und wonach Gutormr Sigurd im Bett tötete, worauf der Sterbende ihn mit dem Schwert entzweischlug, so dass die eine Körperhälfte innerhalb der Türschwelle, die andere außerhalb zu Boden fiel. (Sehr „alt“ hört sich das nicht an und die Forschung sollte den obligaten Ehrentitel „altes“ Sigurdlied aufgeben! ) Es war ein genialer Einfall des Nibelungendichters, das in der Überlieferung schwer fassbare Motiv von der kleinen verwundbaren Stelle im Rücken Sigfrids zu 31 Vgl. Edda. Die Lieder des Codex Regius nebst verwandten Denkmälern, hg. von Gustav Neckel. I. Text. 5., verbesserte Auflage von Hans Kuhn, Heidelberg 1983, S. 201. 32 Brot af Sigurðarkviðo, in: Klaus von See et al. (Hg.): Kommentar zu den Liedern der Edda. Bd. 6: Heldenlieder. Heidelberg 2009, S. 190. 33 Brot af Sigurðarkviðo (wie Anm. 32), S. 164. <?page no="38"?> Teil I: Das Epos auf dem Kontinent und in England 30 einer ergreifenden Schlüsselszene seiner Neufassung des alten Stoffes zu machen. Die Mordintrige, die er hierzu aufbaut, verstrickte ihn zwar, nach modernen Maßstäben, in darstellerische Schwierigkeiten; für den Interpreten aber auch ein Fingerzeig dafür, was ein mittelalterlicher Autor sich und seinem Publikum ‚zumuten‘ konnte. Diese Holprigkeiten sind einfach hinzunehmen. Dem steht ungleich Wichtigeres gegenüber. Der Verfasser vermag eine unheilsschwangere Atmosphäre zu schaffen. Kriemhilt hat Sorge, dass von der beleidigten Prünhilt Unheil ausgehen könnte. Sie hat bereut, Sigfrid hat sie auch bestraft. Statt der arroganten Burgunderprinzessin vom Streit vor dem Wormser Dom steht nun eine von Sorge und Reue geprägte Frau vor uns. Sie beschwört Hagen, der ja ihr mâg sei, Sigfrid in seine Obhut zu nehmen, gibt das Geheimnis preis und besiegelt damit seinen Tod. Diese zutiefst tragische Komponente in die alte Sage hineingetragen zu haben, ist nicht hoch genug einzuschätzen. Der das Epos konstituierende Spannungsbogen, die Konfrontation Kriemhilts mit Hagen, der die Grundlage des zweiten Teils des Epos bildet, ist damit grundgelegt, und seine Elemente sind Minne und Vasallität. Wie in den übrigen verfügbaren Quellen ist das gestörte Verhältnis zu Prünhilt Grund für die Ermordung Sigfrids. Machtprobleme treten demgegenüber zurück. In den nordischen Quellen ist Brynhildr die treibende Kraft. Noch bei Snorri heißt es in den Skáldskaparmál zum Tod Sigurds: Eftir þat eggjaði hon Gunnar ok Högna at drepa Sigurð (Danach stachelte sie [Brynhildr] Gunnarr und Högni auf, Sigurd zu töten.) 34 Im Nibelungenlied steht nur die weinende Prünhilt vor uns, Sigfrid kann sich rechtfertigen, doch Prünhilts Tränen fließen weiter. Es ist Hagen, der sich der Sache annimmt und gelobt, Rache zu nehmen (Str. 863f), Prünhilt wird zur Nebenfigur; eine Gewichtsverlagerung von der tatsächlich Betroffenen hin zum exemplarischen Vasallen Hagen. Mit dem Zurückdrängen Prünhilts verliert im Nibelungenlied das Motiv der Vergeltung für die erfahrene Beleidigung an Bedeutung, das Thema Verrat tritt immer mehr an dessen Stelle und verändert damit das gesamte Gefüge des Epos. Nun kennen die alten Sagen mit Bezug auf Gunnarr und das Gold das Motiv der verräterischen Einladung, was der Nibelungendichter dann im zweiten Teil auch beanspruchen wird. Dem steht im ersten Teil der Verrat der Burgunder an Sigfrid gegenüber, in dessen Zentrum der Vasall Hagen steht. Für Vasallität und Verrat bietet auch das Rolandslied ein berühmtes Beispiel, wodurch der bloße Kampf der Christen gegen die Sarazenen eine feste Verankerung in der Feudalrealität der Zeit erfuhr. Die Grenzen sind klar gezogen und Genelun wird von Pferden in Stücke gerissen als adäquate Strafe für Verrat. Im Nibelungenepos stellt sich das Problem ungleich komplexer dar. Hagen übt nicht Verrat gegenüber seinem Feudalherrn, er verrät Sigfrid (Str. 905), und am Schluss wird nicht er in Stücke gehauen, sondern Kriemhilt. Aufgrund meiner komparatistischen Sicht auf die hochmittelalterliche Literatur möchte ich einen direkten Zusammenhang zwischen den beiden Texten nicht ausschließen, wichtiger aber ist die Tatsache, dass der Nibelungenepiker mit 34 Edda Snorra Sturlusonar, hg. von Guðni Jónsson, Reykjavík 1949, S. 161. Deutsche Übersetzung aus: Die Edda des Snorri Sturluson, ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Arnulf Krause, Stuttgart 1997, S. 150. <?page no="39"?> Nibelungenlied 31 dieser gravierenden Gewichtverlagerung die alten Sagen auf bedrängende Art zu aktualisieren verstand. Statt des angeblich drohenden Kampfes kommt es zur Jagd in den Vogesen; wiederum das Bemühen um die solide Verankerung im realen rheinischen Raum. Dass dabei nicht alles stimmt, hat nicht viel zu bedeuten; ebensowenig, dass auf Sigfrids Jagdkleid sich offenbar keine Bezeichnung der verwundbaren Stelle befindet. Wichtiger ist, dass der Dichter acht Strophen auf die Abschiedsszene verwendet (Str. 918ff), um die von bösen Ahnungen gequälte Kriemhilt zu zeigen. In bewusstem Kontrast zum folgenden unheilvollen Geschehen bietet dann der Dichter zunächst die heitere Jagdszene mit burlesk-spielmännischem Einschlag, um dann Sigfrids Ermordung als umso brutaleres Ereignis erscheinen zu lassen. Dass Hagens Intrige - das Umdirigieren der Weinfässer und die Geschichte mit dem Wettlauf zum Brunnen - alles hoffnungslos durcheinanderbringt, ist ein sicheres Indiz für spätes Neukonzipieren. Wichtiger ist das Dekor, worin Sigfrids Tod eingebettet wird. Die alten Sagen kümmern sich darum nicht, doch bei unserem Dichter wird daraus die Darstellung eines locus amoenus: Brunnen, Linde, Blumen. Der Brunnen hat es dem Dichter besonders angetan. Schon Str. 917 weist er darauf hin: z’einem kalten brunnen verlôs er sît den lîp. Bei der Schilderung von Sigfrids Sterben kommt er achtmal darauf zurück (Str. 969ff). Beim Faktum der Ermordung bleibt es also nicht, es wird eingebettet in die minnigliche locus-amoenus-Szenerie. Als ‚Verhöfischung‘ sollte man das nicht abtun; dieser bloß kosmetische Begriff ist ohnehin zu meiden! Eine Parallele zu dieser Schilderung von Sigfrids Tod sehe ich in der oben erwähnten Entwicklung der Darstellung des Sterbens des jungen Vivien in der Wilhelmsepik. Dort geht es um Religion und Heiligkeit wie hier um die Minne. Der erste Teil des Alten Wilhelmliedes würde dem kargen Brot af Sigurðarkviðo entsprechen. Die Sarazenen töten Vivien und werfen den Leichnam beiseite. Im zweiten Teil des Alten Wilhelmsliedes, wie oben erwähnt, und im Aliscanzepos dagegen das völlig andere Bild: In der Chanson de Guillaume findet Wilhelm Vivien sur un estanc,/ A la funteine dunt li duit sunt bruiant,/ Desuz la foille d’un oliver mult grant./ Ses blanches mains croisies sur le flanc (V. 1988-1991). Vivien stirbt im Geruch der Heiligkeit. Sigfrids letzte Worte gelten seiner holden triutinne (Str. 996). Friedrich Panzer hatte bemerkt, dass zwischen Sigfrids Tod und dem Rolands ebenfalls eine Beziehung bestehen dürfte. Beide gehen mittels eines nicht adäquaten Gegenstands auf den Gegner los, Roland mit seinem Horn, Sigfrid mit dem Schild und beide Male fallen dabei die Edelsteine zur Erde (Str. 985). 35 Ist das Zufall? Mit den beiden Schwerpunkten Minne und Vasallität - Letztere hier nicht unproblematisch - endet der erste Teil des Epos. Der Schluss des zweiten Teils und damit des Epos im Ganzen, weist dieselbe Doppelspitze auf, doch nun mit der Problematisierung der exzessiven Minne, zusätzlich belastet durch die vom Stoff erzwungene Einbeziehung des Hortthemas. 35 Friedrich Panzer, Das Nibelungenlied, Stuttgart 1955. <?page no="40"?> Teil I: Das Epos auf dem Kontinent und in England 32 Schon im ersten Teil verbindet sich die Aufwertung der alten Sagen zum großen Epos mit einer durchgehenden Humanisierungstendenz, gestützt auf die Identität stiftende feste Verankerung des Geschehens im vertrauten realen Raum. Im zweiten Teil, dem Hauptteil, erfasst diese Tendenz das zentrale Sujet großer traditioneller Epik, die Kampfschilderung. Von der bewussten Auseinandersetzung mit diesem Kernbereich der Epik ist auszugehen. Wenn Chrétien in seinem ersten Artusritterroman stolz ankündigt, aus diffusen Erzählungen eine molt bel conjointure zu traire, so gilt das nicht minder für den Nibelungenepiker im Verhältnis zu seinen Quellen. Das literarhistorische Ghetto alter mæren, in das man ihn einzuschließen pflegt, ist zu sprengen. Humanisierung bedeutet im Nibelungenlied nicht nur, dass im grausamen Kampfgeschehen über das bloße Heroisieren hinaus vereinzelt Zeichen tiefer Menschlichkeit sichtbar werden wie etwa bei Rolands Tod. Im Nibelungenlied zieht sie sich wie ein roter Faden durch die Schilderung der Kämpfe. Setzen wir beim Scharmützel mit Gelfrat ein. Der bayrische Markgraf Gelfrat und Hagen, der dessen Fährmann erschlagen hat, stehen einander gegenüber. Keine Reizrede vor dem Kampf, sondern ein sachlicher Bericht Hagens über den Vorfall (Str. 1603ff). Es folgt der typisch ritterliche Zweikampf, Hagen fliegt sogar aus dem Sattel und ruft seinen Bruder Dankwart um Hilfe. Die Bayern müssen schließlich fliehen, von einer Verfolgung sieht man ab. Vier tote Burgunder und etwa 100 erschlagene Bayern sind die Bilanz. Weniger blutrünstig geht es kaum! Mit dem Eintreffen der Wormser in Passau und der Weiterfahrt setzt sich die Humanisierung in großem Stil fort, gestützt auf die fast aufdringliche Verankerung im realen donauländischen Raum, der ein überzeugendes episches ‚Identifizierungsangebot‘ dargestellt haben muss - ungleich intensiver als die isolierten Ortsnamen in Chansons de geste. Rüdigers Bechelaren wird zur Schlüsselstelle, von der aus die alten Sagen neuen Sinn und Würde erhalten. Die übliche Formel vom „Idyll von Bechelaren“ wird diesem Zusammenhang nicht gerecht. Die Zwischenstation in Passau fügt sich ins Bild, worauf der Empfang der Burgunder/ Nibelungen in Bechelaren erfolgt. Davor liegt die seltsame Eckewart-Episode, deren mythische bzw. historische Hintergründe Friedrich Panzer gründlich durchleuchtet hat. Seine Beobachtungen seien mit Blick auf die Epos-Thematik ergänzt. Altnibelungischer Bestand ist diese Episode nicht. Der Dichter, im Bemühen ein Epos zu schaffen, war wohl auch bemüht, bei aller Einbettung des Geschehens in die donauländische Wirklichkeit von der Schilderung des gewaltigen Untergangsszenarios einen leicht verfremdenden halbmythischen Akzent zu setzen, um eine gewisse epische Distanz gegenüber dem Stoff herzustellen. Eckewart ist überdies in unverbrüchlicher Treue Kriemhilt verbunden, was das Mythische wiederum relativiert. In der Bechelarenepisode werden die Weichen gestellt für die Neuorientierung hin auf die Schlacht, worauf es in der großen Epik ankommt, von der Zerstörung Trojas über die Saalschlacht (! ) am Schluss der Odyssee bis hin zum Rolandslied. Die karge Kernepisode von der heroischen Hortverweigerung mit anschließendem Saalbrand und Tötung Atlis ist alles, was die alte Überlieferung zu bieten hatte. Wie es <?page no="41"?> Nibelungenlied 33 um erweiternde Zwischenglieder in der Sagenentwicklung bestellt ist, wissen wir nicht. In der Bewahrung des alten Motivbestands - Hortverweigerung und verräterische Einladung - ist zwar Altes präsent, doch vor allem als Rohstoff für das Neue. So wird die traditionelle Freund/ Feind-Front aufgebrochen in einer tragischen Humanisierung der alten Fabel, wenn nun Freunde und engste Verwandte einander gegenüberstehen. Mit den feindlichen Brüdern im Thebenroman ist das nicht zu vergleichen! Auszugehen ist von der Tatsache, wie der Epiker auf den abschließenden Vernichtungskampf hinführt und diesen gestaltet, wobei den Proportionen unsere Aufmerksamkeit zu gelten hat: wieviel Raum gewährt er dem martialischen Schlagabtausch und wieviel dem Humanum! Auf die Bechelarenepisode folgt als weiteres Glied in der Hinführung auf den Endkampf der Empfang am Hof Etzels. Die Schilderung des Abschieds von Bechelaren unterstreicht das Anliegen des Dichters, die Hinordnung des Geschehens auf die menschlichen Bindungen und die Festlegung auf den Raum - Osterrîche und Worms bî dem Rîne, womit sich der Kreis schließt - siehe erste âventiure - und das Donauland seinen Platz neben dem Rheinland erhält und die Identifizierungsmöglichkeit verstärkt. Die Ankunft am Etzelhof führt zu einer Verdichtung wesentlicher Erzählstränge. Zwei volle âventiuren verwendet der Dichter darauf, etwa 100 Strophen. Die Kampfschilderung lässt auf sich warten. Das geht weit über das hinaus, was z.B. die Thidrekssaga zu bieten hat, von den übrigen nordischen Quellen zu schweigen. Zu Rüdiger, der schon in der den zweiten Teil einleitenden âventiure einen großen Auftritt hatte, treten nun mit schwächerem Profil Hildebrand und Dietrich hinzu. Der Dichter vereinnahmt damit die im Südosten vorherrschende Amelungensage. Geht man vom Nibelungenlied aus, so würde man annehmen, dass die burgundischen Sagen im Südosten bestens bekannt waren. Es überrascht nun, dass einschlägige Quellen zwar die Beliebtheit von Carmina über Rüdiger und die Amelungen im Donauraum bezeugen, nichts aber über einen gewaltigen Auftritt der Nibelungen verlauten lassen. So z.B. bei Metellus von Tegernsee in seinen Quirinalien aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, oder 100 Jahre früher im Bericht über die Freizeitbeschäftigung des Bischofs Gunther vom Bamberg auf seinen Gütern in Kärnten. Ein Schluss e silentio, aber immerhin! 36 Ein seltsamer Befund, was dadurch erhärtet wird, dass Heinrich von Veldeke bei seiner Schilderung der Rüstung des Eneas vergleichsweise die Schwerter Haltecleir und Durendart aus dem Rolandslied und drei aus der Dietrichssage erwähnt: Eckesas, Mimink und Nagelrink (V. 5692ff) und kein Wort über Siegfrids Schwert verliert. Und selbst die österreichische Dichtung Helm- 36 Wilhelm Grimm, Die deutsche Heldensage. 4. Auflage. Unter Hinzufügung der Nachträge von Karl Müllenhoff und Oskar Jähnicke aus der Zeitschrift für Deutsches Altertum, Darmstadt 1957, S. 49 (im Abschnitt Nr. 31 über Metellus von Tegernsee): quos orientis habet regio,/ flumine nobilis Erlafia,/ carmine Teutonibus celebri,/ inclita Rogerii comitis/ robore seu Tetrici veteris. Dem Bischof von Bamberg wirft sein Scholasticus vor, sich auf seinen österreichischen Gütern zu sehr mit der Dietrichsage zu beschäftigen, anstatt die Kirchenväter zu studieren. <?page no="42"?> Teil I: Das Epos auf dem Kontinent und in England 34 brecht von Wernher dem Gärtner, die penibel aufzählt, was an der aufwendig gestickten Haube an Anspielungen zu sehen ist, nennt Troja, Eneas, Roland, Helche, Dietrich, Witich (V. 42ff). Kein Wort über die Nibelungen. Man fragt sich, war die Hereinholung der rheinischen Nibelungen ins Donauland etwa der Versuch, diesen prestigiösen Sagenstoff dort ‚heimisch‘ zu machen? Die auffallende Intensität, mit der der Autor dabei verfährt, könnte das vermuten lassen; mit Konsequenzen für die Literaturgeschichte! Die frühen altnordischen Quellen ignorieren andererseits die Amelungensage. Neben Hildebrand und Dietrich wird vorsorglich auch der Heißsporn Wolfhart eingeführt (Str. 1719), desgleichen kommt aber auch der burgundische Volker zu Wort, was vorausdeutet und das Übergewicht der Wormser unterstreicht. Der Empfang ist auf drei Stufen angelegt: Begrüßung durch Dietrich von Bern, durch Kriemhilt und schließlich Empfang bei König Etzel. Der Schwerpunkt liegt bei Kriemhilt und Hagen, wobei es zu einer zunehmenden Verdichtung kommt, ausgelöst vom Hinweis auf die Gefahr, die von der untröstlichen Kriemhilt ausgeht. Die klare Entsprechung zum ersten Teil des Epos liegt auf der Hand. Dort ging die Gefahr von den Tränen der beleidigten Prünhilt aus und führte zur Ermordung Sigfrids, nun sind es die Tränen der untröstlichen Kriemhilt, und die führen zur Vernichtung der Burgunder. Hier wie dort ist Hagen, der Vasall, die Schlüsselfigur. Er gewinnt immer mehr Profil, sein Auftritt erfüllt die Hunnen mit Staunen und Schrecken. Das Mittelstück, Kriemhilt und Hagen gewidmet, gleicht einem Diptychon und stellt ein Paradebeispiel mittelalterlicher Kompositionsweise dar, die von neuzeitlicher Ästhetik, die aufs Organische abzielt, nicht erfasst wird. Zwei grundverschiedene Bilder von Kriemhilt, wobei der Dichter die erwähnte Dreistufigkeit der Empfangsszene durchbricht, stehen da nebeneinander, was an die Erzähltechnik der französischen Laisses similaires denken lässt, wobei dieses zweite Kriemhiltbild, das nun die 29. âventiure füllt, die gesamte Empfangsszene beherrscht. Zuerst ist von ihrem Hass und valschem muot die Rede. Ihre diskriminierende Begrüßung veranlasste Hagen, sich den Helm fester zu binden (Str. 1737). Die Bevorzugung Gîselhers wird dann im Kampfgeschehen auf ergreifende Weise wirksam werden, was zeigt, wie durchdacht Vieles ist. Neben dem Hauptthema, Kriemhilts Liebe, das hinter ihrem leit steht, war da noch das unbequeme alte Motiv vom Goldhort zu ‚bewältigen‘. Die eine Seite des Diptychons zeigt nun eine Kriemhilt, die abrupt Hagen nach dem Goldhort fragt, was Hagens Selbstheroisierung provoziert und Kriemhilt in einem schlechten Licht zeigt, was dazu führt, dass Dietrich sie als vâlandinne bezeichnen kann (Str. 1748). Für mittelalterliche Kompositionstechnik keineswegs so deplaziert, wie es uns erscheinen mag. Am Schluss des Epos, bei der entscheidenden Konfrontation mit Hagen, wird Kriemhilt ebenfalls, wie wir sehen werden, die Hortfrage stellen und wiederum als vâlandinne bezeichnet werden, doch das letzte Wort liegt da bei ihrer Liebe zu Sigfrid, der im Schwert an Hagens Seite präsent ist. Bei der ersten Begrüßung am Hof kann Kriemhilt nur, swinde blicke (Str. 1749) auf ihre Feinde werfend, den Platz verlassen. Wie anders die zweite Tafel des Diptychons. In der Einleitungsstrophe dieser 29. âventiure schiebt nun der Epiker das alles <?page no="43"?> Nibelungenlied 35 resolut beiseite, was die folgende Szene - auf die alles angelegt ist - stören könnte; König Etzel muss noch warten! Diese âventiure, die also den Kern der neugestalteten Ankunftsszene am Hofe Etzels bildet, enthält in konzentrierter Form das, worauf es dem Epiker bei seiner Neugestaltung der alten mæren ankommt. Es ist das Humanum in einer ganz besonderen Ausprägung als Minne und Kriegertum. Dabei zeichnet sich aber bereits eine bedeutsame Verschiebung des Schwerpunkts zu Letzterem ab, denn Volker tritt an Hagens Seite und das Thema Kriegerfreundschaft - gipfelnd dann in der Rüdigerszene - wird sich auf Kosten der problematisierten Minne entfalten können. Die Einleitungsstrophe der 29. âventiure liest sich wie ein Neueinsatz innerhalb der Schilderung der Ankunftsszene. Sie zeigt überraschenderweise die beiden, Hagen und Volker, wie sie auf einer Bank im Hof Platz nehmen; eine mehr als ungewöhnliche Position, von der die alten mæren nichts wussten. 37 Dazu bedurfte es eines Anstoßes von außen. Nun hat schon vor Jahrzehnten Marianne Wynn auf die frappierende Ähnlichkeit dieser Szene mit einer nicht minder zentralen Episode der Wilhelmsepik aufmerksam gemacht, was die Nibelungistik beharrlich ignoriert. In der Wilhelmsepik postiert sich Wilhelm auf einer Bank im königlichen Palais in Paris, das Schwert übers Knie und fordert mit diesem Rechtsgestus vom pflichtvergessenen König und der Königin, der Schwester Wilhelms - auch da die verwandtschaftlichen Bindungen! - Rechenschaft und Unterstützung im Kampf gegen die Sarazenen. Es ist eine rauhe gewaltsam einseitige Szene. Der Nibelungenepiker übernimmt nur den beeindruckenden Rahmen. Es entsteht Neues im Einklang mit der Humanisierungstendenz unsres Epikers. Von feudalrechtlicher Pflicht kann keine Rede sein. Dem imponierenden Vasallen Hagen steht nun Kriemhilt nicht, wie kurz zuvor, als bös keifende Vettel gegenüber, sondern als hohe schmerzerfüllte Frau und Königin. Gegenüber der Wilhelmsepik sind die Rollen vertauscht. Das zentrale Motiv, der Schwertgestus, erhält eine neue Funktion. Nun fordert da die Königin Rechenschaft vom Mörder ihres Gatten (Str. 1789), mit der Macht ihres hunnischen Aufgebots, doch daraus wird ein Kompliment gegenüber der Kampfkraft der Burgunder, denn Kriemhilt verlangt erhebliche Verstärkung, dazu unterbricht sie ihren Auftritt, um als Königin, under krône (Str. 1770), die Stiege herabzuschreiten. Dabei kein Wort über den Goldhort! Der Hinweis darauf, dass der galante Spielmann Volker der Königin die schuldige Reverenz erweisen will, was Hagens heroische Reaktion provoziert, zeigt, wie durchdacht das Ganze ist. Hagens Verachtung gegenüber den Hunnen, vorbereitet durch Kriemhilt (Str. 1767ff), lässt erkennen, wie sehr dem Dichter an der Heroisierung der Burgunder gelegen war. Über die Heroisierung hinaus ist diese Szene mit ihrer unvergesslichen Emotionalität auch eine der großen Errungenschaften der hochmittelalterlichen Dichtung. Man muss sich fragen, ob die Germanistik, die sich 1968 die ästhetische Sensibilität hat austreiben lassen, dafür noch ein Organ besitzt. Mit sicherem Blick hat der Epi- 37 Marianne Wynn, „Hagen’s Defiance of Kriemhilt“, in: Medieval German Studies Presented to Frederick Norman by his Students, Colleagues and Friends on the occasion of his retirement, London 1965, S. 104-114. <?page no="44"?> Teil I: Das Epos auf dem Kontinent und in England 36 ker das emotionale Potential erkannt, das in Hagens Schwertgestus lag. Dieses Schwert, in der Wilhelmsepik ein bloß rechtliches Requisit, wird nun, wie dann am Schluss des Epos, zu einem machtvollen Dingsymbol, in dem der tote Geliebte präsent ist. Von dieser Waffe lässt der Dichter eine Faszination ausgehen, der er sich gleichsam selbst nicht entziehen kann (Str. 1783f): Der übermüete Hagene leit’ über sîniu bein/ ein vil liehtez wâfen, ûz des knopfe schein/ ein vil liehter jaspes, grüener danne ein gras./ wol erkandez Kriemhilt, daz es Sîfrides was. Dô si daz swert erkande, dô gie ir trûrens nôt./ sîn gehílze daz was guldîn, diu scheide ein porte rôt./ ez mante si ir leide: weinen si began./ ich wæne, ez hete darumbe der küene Hagene getân. In zwei Strophen kann sich dieses liehte wâfen verselbständigen und zu visueller Unwiderstehlichkeit verdichten, was den Dichter selbst noch einholt, wenn er am Beginn der zweiten Strophe schon mit dem temporalen dô auf die Wiedergabe des weiteren Geschehens einschwenken will; doch da sind das guldîne gehílze und die scheide ein porte rôt, die ihn nicht loslassen. Angesichts dieser machtvollen dinghaften Präsenz des ermordeten Geliebten versteht man Kriemhilts Handeln bis hin zum verzweifelten Ende. Der Dichter versäumt es aber nicht, diesem leit der Kriemhilt Hagen als den küenen gegenüberzustellen, den er eingangs noch als übermüete bezeichnet hatte. Es zeigt sich darin die unauflösbare Ambivalenz, die der Dichter in dieser Gestalt zu verkörpern verstand. Hagens ergreifendes Schuldbekenntnis (Str. 1790f): ich binz aber Hagene, der Sîfriden sluoc […] ich hân es alles schulde […] ich hân iu leides vil getân fügt sich in diesen Zusammenhang. Dem in diesen zwei Schwertstrophen vergegenwärtigten toten Geliebten folgen zwei Strophen, die die Gegenseite in Szene setzen, nun nicht mehr Hagen allein, sondern Volker an dessen Seite. Der Fiedelbogen des Spielmanns - wie immer man zu der Metapher stehen mag - wird zum Schwert, nun als Symbol der Kampfkraft der Kriegerfreunde. Die Mannen Kriemhilts ziehen ab, es bleibt das hochgemute Kriegerfreundespaar, was sich schon am Schluss der Str. 1785 angekündigt hat. Die Waagschale neigt sich immer mehr der Kriegerfreundschaft und damit auch dem vorbildlichen Vasallentum zu auf Kosten von Kriemhilts minne und herzenjâmer (Str. 1799ff). Nach dieser autoritativen Feststellung durch den Autor rückt nun endlich der königliche Hof in den Blick, was eben zugunsten der beiden Krieger ausgeblendet worden war. Die Begrüßung durch Etzel schließt ab, von Kriemhilt, immerhin Königin und Etzels Gemahlin, keine Rede mehr. Das Kernpersonal erweitert sich mit der Erwähnung Irnfrits, Hawarts und Irings. Von Rüdiger heißt es, dass er Gîselher zum König geleitet (Str. 1804). Gîselher gewinnt an Bedeutung, indem es, nun in Verbindung mit Hagen, durch Gîselhers Äußerung über Kriemhilt und seine bösen Ahnungen zu einem kurzen vorausdeutenden Intermezzo sentimentaler Menschlichkeit kommt (Str. 1827f). Dabei wird es nicht bleiben; es ist dies keine isolierte Randbemerkung, wenn wir etwas vorausblicken. Nach Ausbruch der Kämpfe und unmittelbar, bevor Kriemhilt die Halle in Brand stecken lässt, stellt der Dichter die beiden Geschwister einander direkt gegenüber (Str. 2101ff). Es geht <?page no="45"?> Nibelungenlied 37 ihm also vorrangig darum, das grausame Kampfgeschehen mit Menschlichkeit zu durchdringen. Mit diesem Einschub offenbart der Dichter, dass er eine besondere Vorstellung vom heroischen Epos hatte. Es folgt der zweite Versuch der Mannen Kriemhilts, die Feindseligkeiten zu eröffnen, doch da ist erneut die epische Retardierungstechnik am Werk und ermöglicht die Schilderung einer besonders packenden Episode. Es geht um die Nachtwache Hagens und Volkers. Die Einbettung in die nächtliche Szenerie tut ein Übriges. Das Zeitsignal, das diese âventiure einleitet, ist wortwörtlich aus Chansons de geste übernommen: Der tac der hete nu ende und nâhet’ in diu naht (Str. 1818) - li jor va a declin si aprocha la nuit! Hinter diesen und ähnlichen ausladenden Hinweisen auf Abend oder Morgen steht letztlich die Epik der Antike. Die dritte und letzte Stufe im Geschehensablauf bis zum Ausbruch der Kämpfe ist besonders aspektreich orchestriert. Die einleitenden Strophen (1849f) sind, in Entsprechung zum Beginn der 30. âventiure, dem Tagwerden gewidmet, worauf der Hinweis auf den Kirchgang folgt. Dabei wird die dafür angemessene Kleidung zum Anlass auf Kampf einzustimmen, denn Hagen sorgt für das Anlegen der Rüstung (Str. 1852ff), was er mit der Aufforderung zu gottesfürchtigem Verhalten verbindet und zugleich vor Kriemhilts Heimtücke warnt. Kriemhilt versinkt immer mehr ins Negative, je näher man dem Ende kommt. Nun führt der Dichter mit Hagens religiösen Hinweisen die Religion als Kraft vor dem Untergang ein. Was bisher an Religiösem zur Sprache kam, bewegte sich im konventionellen Bereich, wenn wir von Kriemhilts Reaktion auf Sigfrids Tod absehen. Die Forschung hat immer wieder versucht, mit Hagens Intervention ins Reine zu kommen, für neuzeitliches Empfinden eine Monstrosität, doch das hat wenig zu besagen, vielmehr ist dies eine Aufforderung, das Mittelaltergemäße darin zu sehen und zu akzeptieren, dass ein derartiges Nebeneinander von echter Religiosität und extremer Heroik, ja Brutalität, kompositorisch kein Problem war. Die Aufwertung der kriegerischen Burgundervasallen war, vor allem gegen Schluss hin, das Hauptanliegen des Dichters. Ihm gelingt es dann auch, was eine wesentliche erzählerische Errungenschaft darstellt, eine Stimmung elektrisierender Gereiztheit zu schaffen, die zur Entladung drängt. Vor Ausbruch der Feindseligkeiten baut der Dichter ein urepisches Element ein, wonach der Held selbst durch sein Verhalten an seinem eigenen Untergang mitwirkt - so Gunnarr in der Atlakviða oder Byrhtnod in der Battle of Maldon. Wie wir sehen werden, weiß auch die Njáls saga um diesen Aspekt des Heroischen, wenn sie darstellt, wie Gunnarr das Abkommen bricht und heimkehrt. Die entgeisterte Reaktion seines Bruders zeigt, dass da etwas Ungewöhnliches geschieht. Im Nibelungenlied zeichnet sich das schon bei der Ankunft der Burgunder am Etzelhof ab, in der Episode von der heroischen Nachtwache setzte sich das fort, intensiviert durch direkte Hinweise auf den vil starken übermuot (Str. 1865). So lassen die Burgunder, wie der Dichter eigens anmerkt, den Hunnenkönig bewusst im Unklaren über den wahren Sachverhalt, so dass die Katastrophe ihren Lauf nehmen wird. Ihr Untergang ist also auch irgendwie ihr Werk. Zum Eklat kommt es dann, wenn Volker ohne jeden Grund beim Turnier nach dem Kirchgang ostentativ den hunnischen Galaritter <?page no="46"?> Teil I: Das Epos auf dem Kontinent und in England 38 niedersticht (Str. 1886ff). Etzel als vorbildlicher Gastgeber kann gerade noch das Ärgste verhindern (Str. 1897f), doch nun schaltet sich Kriemhilt ein und das Unheil nimmt seinen Lauf. Hildebrand und Dietrich weigern sich, ihr zu Diensten zu sein, bei Blœdelîn hat sie aber Erfolg (Str. 1903). Damit tritt man in die Schlussphase ein. Vier âventiuren, über 200 Strophen, hat der Dichter auf das Ausgestalten des Retardierens verwendet und dadurch den zweiten Teil des Epos wieder in zwei etwa gleichlange Teile gegliedert, einmal vom Aufbruch in den Osten bis zum Ausbruch der Feindseligkeiten, âventiure 20 bis 31, und dann die Kämpfe bis zum Schluss, âventiure 32 bis 39. Man achte auf die Proportionen! Der Dichter nutzt diese Strukturierung, um das betroffene Personal, das sich zusehends erweitert, auf differenzierte Weise in Szene zu setzen, wie das in dieser Bewusstheit und Breite in vergleichbaren großepischen Texten nicht angestrebt oder gar verwirklicht ist. Nun zur Schilderung der Kämpfe, der Hauptattraktion eines Großepos. Auch da fällt die Tendenz zur Gliederung auf. Das Hauptaugenmerk des Dichters liegt weniger beim großen Massaker als bei der eindringlichen Schilderung der Einzelkämpfe und vor allem der Redeszenen. Unser Dichter verteilt das Geschehen auf zwei getrennte Schauplätze; Kriemhilt hatte ja veranlasst, die knehte separat unterzubringen. Das verschaffte dem Dichter die nötige Atemluft für die Konzentration auf den Hauptkampf in der Königshalle. Man erkennt das Bemühen des Dichters zu gliedern, zu gewichten und auch den Raum - denken wir an die ‚schreckliche Stiege‘ - wirkungsvoll einzusetzen. Auf eine detaillierte Kampfschilderung auf dem ersten Schauplatz lässt er sich nicht ein, sondern beschränkt sich auf das Nötigste. Dankwart enthauptet Blœdelîn, die knehte der Burgunder wehren sich auch mit Bänken und Schemeln. Bei der großen Kampfschilderung unterscheidet er sich gegenüber Vergil, Lukan, Walter von Châtillon und den Chansons de geste. Die erwähnten großen Epen schwelgen darin, Lesern und Hörern ein gerütteltes Maß an Grässlichkeiten zuzumuten - Schädelspalten im Detail, Hervorquellen der Eingeweide, Verspritzen des Gehirns, Herausspringen der Augen nach einem Hieb auf den Schädel, Anschwellen der Flüsse wegen des Blutbades, und dass abgeschlagene Organe ihre angeborene Funktion noch eine Weile ausüben können etc. In der Saalschlacht am Schluss der Odyssee muss man sogar hinnehmen, dass dem unsympathischen, aber harmlosen Ziegenhirten die Geschlechtsorgane abgerissen werden und man sie den Hunden zum Fraß vorwirft! Auch der Verfasser des lateinischen Pseudo-Turpin im Codex Calixtinus steht dem nicht nach und kann nicht genug daran kriegen, das Hinmetzeln von Tausenden von Sarazenen hervorzuheben und stellt z.B. beim Kampf Karls mit Aigolandus fest: Tanta sanguinum effusio die illa agitur, quod victores usque ad bases in sanguine natabant. 38 Der Nibelungenepiker erzählt dagegen, wie sich bestimmte Menschen in dieser fürchterlichen Tragödie verhalten. Was er dabei an unterschiedlichen Reaktionen der Betroffenen herauszuarbeiten vermag, stellt eine unvorhersehbare Bereicherung der epischen Kampfschilderungen dar. Für eine rasende vertierte Meute, wie man 38 Historia Karoli Magni et Rotholandi ou Chronique du Pseudo-Turpin, hg. von C. Meredith-Jones, Genf 1972, S. 143. <?page no="47"?> Nibelungenlied 39 formuliert hat, war da kein Bedarf. Wenn ein Kämpfer mit einem Eber verglichen wird, so ist das bekanntlich eine gängige epische Metapher für Mut und Kampfkraft und wenn es heißt, dass Etzel aufatmet, weil er dem tíuvél - Volker - entrann, so wird deshalb auch Volker nicht zum Leibhaftigen (Str. 2001); übrigens verwendet Dietrich dasselbe Bild, um Wolfhart zurechtzuweisen (vgl. Str. 1993). Und was das Bluttrinken betrifft, so erklärt der Dichter, dass der, der Blut getrunken hat, dâ von gewan vil krefte (Str. 2117). Das deckt sich mit dem entsprechenden Hinweis im Handbuch des deutschen Aberglaubens. Mit dem blutüberströmten Dankwart, Hagens Bruder, der dem ersten rasch erzählten Massenkampf entkommen konnte und die Stiege zur Königshalle hinaufstürmt, ist man beim Hauptschauplatz und damit beim großen Schlusskampf angelangt. Dieser gliedert sich, wie gesagt, in zwei Teile von ungleichem Gewicht. Da ist das wüste Getümmel in der Halle, vergleichbar dem Kampf Blœdelîns mit Dankwarts Mannen. Es geht nun darum, die anonyme Masse der Hunnenkrieger auszuschalten, um Raum zu gewinnen für den Hauptteil, die großen Einzelkämpfe und deren Umfeld. Schon im ersten Abschnitt, mit dem Erscheinen Dankwarts, tritt das Massaker als solches zurück hinter eindrucksstarken Einzelszenen. Da ist die Tötung Ortliebs (Str. 1961), ein blutiges Detail, gewiss, doch darin erschöpft sich das nicht, denn es geht ja um die Einbeziehung Kriemhilts, der damit neues Leid zugefügt wird. Dann werden die einzelnen Burgunderkrieger vorgestellt, neben Hagen, Dankwart und Volker und vorsorglich vorausweisend auch Gîselher, Kriemhilts Lieblingsbruder! Von Hagen heißt es, dass er wüeten begann und so manegen helm brach (Str. 1980f). Das wird aber nur behauptet und nicht im Einzelnen vorgeführt, also eine grundsätzliche Abkehr von epischer Praxis! 39 Der Dichter sah seine Aufgabe woanders. Immer wieder wird der realräumliche Hintergrund betont. So wird mehrfach auf Burgonden hingewiesen, Gunther ist der vogt von Rîne (Str. 1968) und es ist von den recken von dem Rîne die Rede (Str. 1976). Dem steht der vogt von Berne gegenüber, der künec der Amelunge (Str. 1981), der ritter […] ûz Amelunge lant (Str. 1983). Dieser Dietrich wird in ein zweifelhaftes Licht gerückt (Str. 1983ff). So bittet Kriemhilt ihn um Hilfe, doch was antwortet der künec der Amelunge: „Wie sol ich iu gehelfen […] nu sorge ich umbe mich.“ (Str. 1984). Schließlich dann doch ein sachter Versuch: „Daz will ich versuochen, ob ich íu gehelfen kann“ (Str. 1986)! Dreimal fällt das wichtige Wort helfe, was die Ohnmacht des Amelungenfürsten unterstreicht. Das lässt vorausdenken an den Schluss des Epos. Dietrich hat alle Mühe die abgekämpften Burgunder, Gunther und Hagen, zu bezwingen, übergibt sie Kriemhilt und verlässt weinend die Szene! 39 Statt im Nibelungendichter einen Mann am Werk zu sehen, der nichts anderes im Sinne hatte, als eine rauschhafte Blutorgie voller Grässlichkeiten vorzuführen - wie das die marktbeherrschende Deutung zu werden scheint - sollte man auf die anderen epischen Werke blicken, wo es diese Grässlichkeiten en masse gibt und keine Rüdigerszene und kein Gespräch Gîselhers mit seiner Schwester. Wenn es dann heißt - Hagen und Volker halten sich vom Kampf fern aus anderen Gründen als Achilles -, dass Rüdiger des muotes ertobete (Str. 2206), wie er die Stiege hinaufstürmt, so wird damit einfach seine Kampfkraft betont. <?page no="48"?> Teil I: Das Epos auf dem Kontinent und in England 40 Die Einbeziehung Dietrichs ins Geschehen bewirkt eine Unterbrechung des Hallenkampfes. Gunther bietet buoze und suone an. Die Freundschaft mit Dietrich wird besiegelt und sogleich der edel Rüedegêr einbezogen (Str. 1996). Ein deutlicher Fingerzeig auf das Kommende, das dann umso tragischer erscheint, wenn die beiden in den Kampf eingreifen müssen. Hagen und Volker, die seit der 29. âventiure im Vordergrund stehen, beherrschen auch den Rest dieser âventiure (Str. 1999ff), was ebenfalls auf den Schluss des Epos vorausverweist wie die Erwähnung des Heißsporns Wolfhart auf Seiten der Amelungen. Der Epiker bereitet über den Einsatz der wichtigsten Personen das Ende vor. Die großen Epen der Antike und die Chansons de geste sehen in der aufwendigen Schilderung der großen Schlacht ihr Hauptanliegen. Beim Nibelungenepiker gewinnt man den Eindruck, dass er sich diesem gattungsbedingten ‚Zwang‘ nur halbherzig unterwarf und seine Energie auf die Herausarbeitung dessen verwandte, was außerhalb des Massengeschehens vor sich ging. In der Odyssee ist nach Beendigung des Gemetzels im Saal das Epos zu Ende, im Nibelungenepos ist mit der hemdsärmeligen Beseitigung der Leichen die große Saalschlacht zu Ende, doch nun folgt erst das Eigentliche, die Einzelkämpfe an der Stiege, und es setzt sich die gründliche Neuorientierung der epischen Kampfschilderung durch, wobei mehr geredet als gekämpft wird, vom Beschreiben furchtbarer Wunden ohnehin keine Rede. Man blicke nur auf die große Szene in der 36. âventiure, worin die Burgunder dem hunnischen Herrscherpaar gegenübergestellt werden und es zu dem ergreifenden Wortwechsel mit Kriemhilt kommt, in dessen Zentrum der unschuldige Gîselher steht. Das fällt auch quantitativ ins Gewicht. Neben dem leit der Kriemhilt wird aber nun die bedingungslose Treue der Könige gegenüber ihrem man, Hagen, zum entscheidenden Movens des Geschehens. Vorbildliches Vasallentum gegen Kriemhilts Minne. Die folgende âventiure stellt dann Rüdiger ins Zentrum. Was Rüdiger betrifft, erlaube ich mir auf meine älteren Arbeiten zu verweisen, besonders auf meinen Beitrag zum großen Ausstellungskatalog. 40 Der Rüdiger-Erzählstrang verdichtet sich zum Höhepunkt der neuen nibelungischen Darstellung großer Kämpfe, was dazu beiträgt, die alten mæren zum hochmittelalterlichen Epos zu nobilitieren. Rüdigers Verhalten ermöglicht die ganz und gar unvorhersehbare ritterliche Reaktion Hagens, die Waffen schweigen zu lassen, dem sich Volker anschließt - und bereitet so den packenden Schluss des Epos vor, der nicht zuletzt in der Apotheose Hagens liegt. Aber da war noch das Glanzstück der alten Sagenüberlieferung, die heroische Hortverweigerung, wovon die Atlakviða zeugt. Den Drachenkampf, ebenfalls eine Hauptattraktion der alten Sagen, konnte der hochmittelalterliche Epiker weitgehend ignorieren. An der heroischen Verweigerung der Herausgabe des Goldhorts führte kein Weg vorbei. Die kompositorischen Schwierigkeiten, die sich der Dichter damit auflud, konnte er als mittelalterlicher Epiker offenbar in Kauf nehmen; ein Lehrstück für mittelalterliche Kompositionsweise! 40 Vgl. oben, Anm. 27. <?page no="49"?> Nibelungenlied 41 Im Verlauf des Epos zog der Goldhort nur punktuell das Interesse auf sich. Mit der Ankunft der Burgunder am Hof Etzels ändert sich das, eher gewaltsam nach modernem Empfinden. So kommt es zu der überraschenden Frage Kriemhilts nach dem Goldhort, die von Hagen abgeschmettert wird, wie oben dargelegt. In Entsprechung dazu geht es in der anschließenden âventiure um ein anderes wesentliches Requisit - das in den alten Sagen fehlte - um Sigfrids Schwert und damit um den Geliebten selbst. Am Schluss des Epos wird nun das, was vorher auf die âventiuren 28 und 29 auseinandergelegt war, in zwei Strophen zusammengefasst, ein klares Indiz für bewusste Komposition (Str. 2371f): Hagens Bekenntnis und Kriemhilts verzweifeltes und zugleich überwältigendes Sichklammern an Sigfrieds Schwert und die anschließende Tötung Hagens mit diesem Schwert. Doch damit ließ es der Epiker nicht bewenden. Seine neue Nibelungenbotschaft, König Etzel in den Mund gelegt und Hildebrands Schwert anvertraut, war Rühmung Hagens und Verurteilung Kriemhilts, was er in der Schlussstrophe besiegelt und als gültige Fassung der Nibelungensage beansprucht: daz ist der Nibelunge nôt (Str. 2379)! Wenn Etzel, dem durch Hagen furchtbares Leid zugefügt wurde, diesem Krieger, der im Dienst seiner Herren zu allem bereit ist, als den allerbesten degen rühmt, muss die Überlegung erlaubt sein, ob in dieser Situation diese Fügung nur aus sich heraus zu verstehen sei oder ob nicht viel eher eine überbietende Anspielung vorliegen könnte. Zur gleichen Zeit nämlich hat sich im arturischen Roman die Vorstellung vom meilleur chevalier durchgesetzt. Solche und ähnliche Einzelbeobachtungen, die die amtliche Nibelungenphilologie ignoriert, könnten wesentlich dazu beitragen, unser Bild von der damaligen Literatur zu beleben. Mit der konsequenten Ausrichtung des Geschehens auf das vorbildliche Vasallentum - herre/ man - hin löst sich der Dichter vom Rittertyp der Artusromane los, was ihn nicht hindert, gelegentlich die Begriffe ritter/ ritterschaft zu verwenden. Grundsätzlich geht es um den man, unterstrichen durch kostbare Begriffe wie recke und degen. Dieser Konzentration auf das Vasallentum verdanken wir, als besondere Überraschung, die Rüdigerepisode, womit der Dichter, wie ich meine, auch eine ‚politische‘ Botschaft verbunden haben dürfte. Rüdiger kommt schließlich als gebrochener Mann seiner Vasallenpflicht nach, doch nun verstößt ausgerechnet Hagen, der man schlechthin, dagegen; mit verheerenden Folgen für seine herren - Rüdiger tötet Gernot! Der rheinische Hagen, der durch diese noble Geste über sich hinauswächst, verneigt sich damit vor dem donauländischen Vasallen Rüdiger. Sollten darin Staufer und Babenberger so etwas wie ihr gemeinsames heroic age erkennen und würdigen? Was das bedeuten könnte, wird uns noch bei der abschließenden Frage beschäftigen, wie der Dichter sein Epos verstanden wissen wollte. Die zwei Pole, die der Neufassung der alten Sagen ihre Orientierung geben, sind also Minne und Vasallität, in der ersten âventiure breit dargelegt, in den Schlussstrophen wirkungsvoll zusammengefasst. Die Waage hat sich nun endgültig der Vasallität zugeneigt. Kriemhilt, die vâlandinne - obgleich vil edelez wîp - wird im Gegensatz zu Hagen hingerichtet, wie weiter oben mit Blick auf Geneluns Hinrichtung angedeutet wurde. Der leicht verächtlich frauenfeindliche Ton in den Worten Etzels, <?page no="50"?> Teil I: Das Epos auf dem Kontinent und in England 42 dass Hagen von eines wîbes handen sterben musste, ist in die Beurteilung der Szene einzubeziehen und es drängt sich der Schluss auf, dass die Minne, diese einmalige Errungenschaft der volkssprachlichen Literatur des Hochmittelalters, einer strengen Prüfung unterzogen wird. Für die Troubadours war fin’amors fons de bontat cà tot lo mon illuminat - was direkt an Boethius anschließt. Reinmar und Walther rühmen wîp und wîbes namen und für Wolfram hât Minne ûf erden hûs und ze himile ist reine vor got ir geleite. An reine fehlte es Kriemhilt nicht und doch wird sie zur vâlandinne. Neigt der Nibelungenepiker in seiner Darstellung dessen, was die Minne an Zerstörerischem anrichtet, nicht doch dem damals gängigen Klerikerdictum zu, wonach der amor huius mundi finem amarum habet? Wir lassen es dabei bewenden. Der Dichter hat den Abschluss des Werkes dem zweiten Pol, der Vasallität, anvertraut, was sich in der Handlungsführung vor allem seit der 29. âventiure immer deutlicher abzeichnete. Hagen, der in Str. 2368 nachdrücklich auf seine herren verweist, präsentiert sich in seiner Hortverweigerung als Vasall und der Anblick des abgeschlagenen Hauptes sînes herren (Str. 2370), stimuliert ihn zu seiner Formulierung der Hortverweigerung. Hagen evoziert das Herrschaftsgebiet - Burgonden - und die kostbaren Namen seiner Herren und stellt die Verbindung her zu dem, was in der ersten âventiure über die Macht der Burgunder in Worms am Rîne aufgebaut worden war. 41 Man kann darin nur eine beeindruckende Huldigung des Autors sehen und den Ausdruck seines Stolzes auf solche Ahnen, was im Tod des vorbildlichen Vasallen erhärtet wird. Man hat es dabei mit realen räumlichen Gegebenheiten zu tun und es fragt sich doch, was das für Dichter und Hörer damals bedeutet haben mag. Das gilt auch für das Donauland und insbesondere für Bechelaren. Die mittelalterliche Neigung, an Großes in der Vergangenheit anzuknüpfen, ist bekannt, man denke nur an die These von der trojanischen Abstammung der Franken. Das Rheinland war um diese Zeit - siehe Otto von Freising - die Machtbasis der Staufer. Über den altnibelungischen Namen Burgund ergab sich die Möglichkeit der Anbindung an früheres großes Geschehen. Kaiser Friedrich I. hatte 1156 Beatrix von Burgund geheiratet und sich dann in Burgund krönen lassen. Für das österreichische Donauland ist keine sagenhistorische Nibelungenüberlieferung belegt; im Südosten dominierte, siehe oben, die Dietrichsage mit ihrem freundlichen Attilabild. Dazu gab es feste Beziehungen zwischen Rhein und Donau. 1156 erließ Friedrich I. das privilegium minus, das den österreichischen Markgrafen Heinrich zum Herzog erhob und ihn mit außerordentlichen Privilegien ausstattete, was die engen Beziehungen der beiden Herrscherhäuser festigte. Dass Friedrich beim 3. Kreuzzug den Landweg durch Österreich wählte und es in Ungarn noch zur Verlobung seines Sohnes kam, aus der dann nichts wurde, wird erheblichen Eindruck hinterlassen haben. Das alles ist seit langem bekannt. Die Forschung wirkt wie gelähmt, doch es dürfte sich lohnen, darüber nachzudenken. Dass die Burgunder, wie auch Rüdiger, untergehen, ist alles andere als ein Makel. Solche Krieger zu seinen - wie vage auch immer - Vorfahren zu zählen, war für die 41 Heinz Thomas, „Die Staufer im Nibelungenlied“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 109 (1990), S. 321-354. <?page no="51"?> Nibelungenlied 43 burgundischen Staufer wie für die Österreicher ein Ruhmestitel. Mit dieser Ansippung der Nibelungensagen an die Wirklichkeit des Hochmittelalters und der literarischen Ausgestaltung zu einem großen Epos hatte der Osten gegenüber dem französischen Westen mit dessen Chansons de geste und der Artusdichtung gleichgezogen. Das bedeutet auch eine Aufwertung der alten Sagen, wenn man ihnen eine derart wichtige Rolle im ‚Ahnenpass‘ der rheinischen Burgunder und der donauländischen Österreicher zuschreiben konnte. Nun hatte im Epyllion Waltharius die Nibelungensage schon einmal literarisches Niveau erreicht, sogar auf lateinisch, freilich um den Preis parodiert zu werden und als Unterhaltungsstoff für Gebildete zu dienen. Den Nibelungensagen war damit gleichsam der Weg zu einer anspruchsvollen Literarisierung verbaut. Dabei sollte es aber nicht bleiben. Im 12. Jahrhundert im Zuge der raschen Auffächerung der literarischen Palette erhielt auch dieser Stoff seine seriöse Literarisierungschance. Der Nibelungenepiker hat diese Chance genützt, indem er es verstand, sich von der wesenhaften Bindung an die mündliche Überlieferung zu lösen und sich im literarischen Bereich umzusehen. Blicken wir zusammenfassend zurück und heben wir über das Dargelegte hinaus die Schwerpunkte hervor. Abschließend werden wir die Frage stellen, was dem Autor als Ziel seiner Darstellung der Nibelungensagen vorschwebte. Blicken wir zurück und setzen wir bei dem an, was die führende französische Literatur damals kennzeichnete. Die sich schon im Ludwigslied abzeichnende Herausbildung eines bestimmten Territoriums als eines auch literarisch bedeutsamen Raumes - ze Vrankōn, la France, nicht den Osten des karolingischen Reiches erfassend - bot eine günstige Voraussetzung für die Entstehung eines im National-Religiösen gründenden Großepos. Man hat es da mit dem eigenen realen Raum zu tun, mit den nicht minder realen Menschen, der eigenen Welt zugehörig: Roland, Wilhelm, Karl etc., dazu nicht minder naheliegend der religiöse Konflikt mit den Sarazenen, gipfelnd jeweils in der großen Schlacht. Es fehlt also nichts zu einem religiös-nationalen Epos Frankreichs, all dies sogar unmittelbarer packend als das ferne Geschehen der Ilias oder der Aeneis für die Menschen der Antike. Nun gibt es meines Wissens keine direkten Aussagen der literarisch Interessierten des 12. Jahrhunderts zu ihrem Verhältnis zu den Chansons de geste und der Frage nach einem ‚Eposgefühl‘ dieser Menschen. Was uns aus der literaturwissenschaftlichen Perspektive als besonders eposverdächtig erscheinen mag, muss es für die damaligen Dichter und deren Publikum nicht unbedingt auch gewesen sein. Man kommt dem Problem wohl näher, wenn man von der französischen Literaturszene des 12. Jahrhunderts ausgeht, die neben der im Mündlichen wurzelnden Chansons de geste-Tradition vor allem auf die literarische Aneignung der prestigiösen Bildungsstoffe der Antike - beginnend mit dem Zusammenfassung <?page no="52"?> Teil I: Das Epos auf dem Kontinent und in England 44 Alexanderstoff - ausgerichtet war. Wie stark die Bindung an die literarische Übermacht der Antike war, kann man z.B. an der großen Romelegie Hildeberts von Tours aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts sehen oder an der Tatsache, dass gegen Ende des Jahrhunderts, wie erwähnt, Walter von Châtillon mit seinem antikisierenden Epos Alexandreis dieser Gestalt der Antike das gab, was ihr die Antike selbst versagt hatte. Das Vergangenheitsabbild, das der Autor aber entwirft, ist nicht das eines Epos. So mischt sich Alttestamentliches und Christliches ein und der Autor scheut sich auch nicht, massiv Kritik an Zuständen in der Kirche anzubringen wie in seinem Poem Propter Sion non tacebo. Die für ein Epos wichtige Kompaktheit wird also immer wieder aufgebrochen. War also für die Literaturkreise des romanischen Westens das Phänomen Epos damit ein für allemal mit der Antike besetzt? Tatsächlich beschritt die volkssprachliche Literatur Frankreichs gegen Ende des 12. Jahrhunderts auch einen neuen und authentisch mittelalterlichen Weg, in der neuen Großform des höfischen Romans. Chrétien de Troyes, der sich wie seine Landsmännin Marie de France von der Bearbeitung lateinischer Literatur abwandte, stellte die volkssprachliche Literatur auf die neue, mittelalterliche Grundlage. Gemäß seiner Translationsthese, gründend auf der Einheit von chevalerie und clergie, die im Gegensatz zu Griechenland und Rom in la France endgültig verankert sei, verlieh er dieser Einheit die vornehme antike Ahnenschaft, die aber erst nun in seinem Romanwerk ihre überbietende Erfüllung findet, wenn z.B. Piramus, der tragisch Liebende der Antike hinter dem chevalier als perfektem Liebendem zurücktreten muss. Das Erregende daran ist, dass er dem Wirken dieser Einheit von chevalerie und clergie nicht die mündlich tradierte authentisch französische Tradition der Chansons de geste zuordnete, sondern diesen Bereich ostentativ ignorierte und sich der matière de Bretagne zuwandte und die entsprechende erzählerische Großform schuf, den höfischen Artusroman als molt bel conjointure. Hat damit Chrétien die französische Literatur seiner Zeit und der folgenden Jahrzehnte von der erzählerischen Großform, die wir Epos zu nennen pflegen, verabschiedet? Für das fruchtbare genus der Chansons de geste mit seiner grundsätzlichen Affinität zum Genus Epos bedeutet Chrétiens Leistung zwar keineswegs den Todesstoß - da war ja schließlich schon das Rolandslied - doch dann lief der höfische Roman den mündlich überlieferten Ansätzen zu den Chansons de geste den Rang ab. Demgegenüber wartete die deutsche Literatur des Hochmittelalters mit einer Überraschung auf, indem sie alte nibelungische mündliche Überlieferungen zu dem mittelalterlichen Epos zusammenfasste, von dessen Gewicht u.a. auch die zahlreichen Handschriften zeugen. Das, was der Nibelungenepiker mit seinem Werk vorhatte, sollte sich von den Epen der Antike und den Chansons de geste unterscheiden. Das betrifft vor allem die Kampfschilderung als Kernstück dieser Epen, deren Autoren nicht müde wurden, die zugefügten Wunden in allen Varianten und Einzelheiten auszumalen. Auch Walter von Châtillon, der gelehrte Zeitgenosse des Nibelungenepikers, eiferte in seiner Alexandreis seinen großen antiken Vorbildern nach und ließ die Krieger in den grässlichen Wunden herumwühlen. Der Nibelungenepiker, der es ebenfalls mit der <?page no="53"?> Zusammenfassung 45 Schilderung einer großen Schlacht zu tun hat, löste sich davon los und ging einen eigenen Weg. So hätte er die Vernichtung in einem Nebengebäude untergebrachten knehte der Burgunderkönige zum Anlass nehmen können, eine detaillierte Schilderung dieses Massakers zu liefern, stattdessen erfährt man nur, dass Dankwart Blœdel î n enthauptet und es im Saal zu einem wüsten Getümmel kommt; von Wunden etc. keine Rede. Bloß 29 Strophen, die 32. âventiure füllend, werden darauf verwendet. Nur in Str. 1945 heißt es von Dankwart ganz allgemein: hey waz er tiefer wunden durch die helme sluoc! In der Hauptschlacht, dem Kampf in Etzels Halle, setzt sich das fort. Mit Hagens Tötung des Etzelsohnes beginnt es, doch man erfährt nichts über Schädelspalten, Hirnverspritzen, Gedärmöffnen, etc. Worauf es bei dieser Kampfschilderung ankommt, ist die Profilierung der Hauptgestalten und das geschieht vor allem im Gespräch. Dabei geht es nicht nur um die männlichen kämpferischen Protagonisten, sondern nicht zuletzt um die Frauengestalt, Kriemhilt, die schon zu Beginn als Hauptgestalt eingeführt worden war. Weder die Aeneis noch die Chansons de geste hatten da Gleichwertiges zu bieten. Ein radikaler Eingriff in die altnibelungische Tradition war es auch, Sigfrid so ostentativ ins zweite Glied zurückzuschieben. Dazu wird von diesem vil edel magedîn (Str. 2) gesagt, dass der juncvrouwen tugende zierten anderiu wîp (Str. 3) - fast ein Affront gegenüber wîp - immerhin: wîp, wie reine ein nam! Mit dem Hinweis auf die Gefährlichkeit der Frauenschönheit, was man mit Heinzle als die ‚Helena-Formel‘ bezeichnen kann, wird auf einen großen literarischen Hintergrund verwiesen, doch wo die antike Helena keinerlei Anteil am Geschehen hat, wird Kriemhilt zur treibenden Kraft bis in den furchtbaren Untergang hinein und das edele wîp wird im selben Atemzug zur vâlandinne, im Eneasroman ist es der Teufel, der viant, der Dido in den Selbstmord triebt, im Nibelungenlied wird die Frau selbst zur Teufelin! Mit dem Hinweis auf die sogenannte mittelalterliche Frauenfeindlichkeit wird man aber dem Frauenbild des Nibelungenliedes nicht gerecht, abgesehen davon, dass nicht der leiseste luxuria-Verdacht aufkommen kann. Dann hat man ja die unvergesslichen Bilder von dieser Frau: Als Liebende an der Seite des ermordeten Geliebten, als alternde Witwe im verweinten Alltagskleid vor Rüdiger und als imponierende Königin, under krône, die die Treppe herabschreitet, um ihrem Todfeind gegenüber zu treten. Das Ganze, wie weiter oben ausgedrückt, auch ein typisch mittelalterliches Kompositionsproblem, das Teil mittelalterlicher Literaturästhetik ist. Als bloße Interjektion wird man den Hinweis auf vâlandinne nicht abtun können. Kommt damit ein religiöses Moment ins Spiel? In der Nibelungenüberlieferung fehlt dafür jeder Ansatz. Spürte der Dichter in seinem Bemühen, ein großes mittelalterliches Epos zu schaffen, die Notwendigkeit, entsprechende religiöse Maßstäbe einzuführen? Dass damit vielleicht das ganze epische Gefüge ins Rutschen kam - aus moderner Sicht - musste ihn nicht unbedingt belasten. Der repräsentative Kirchgang im Dom zu Worms ist freilich nicht viel mehr als religiöse Kulisse für den verhängnisvollen Streit der Königinnen. Die ergreifende Szene nach der Ermordung Sigfrids dient in erster Linie der Darstellung des Schmerzes, der schließlich die Katastrophe auslösen und jedes Verzeihen ausschließen wird. Nicht einmal Gîselher, Kriemhilts Lieblingsbruder, wird <?page no="54"?> Teil I: Das Epos auf dem Kontinent und in England 46 Kriemhilts gnadenlose Versteinerung in ihrem Schmerz lockern können. Wollte der Dichter damit indirekt ausdrücken, dass eine derartige Verabsolutierung des Schmerzes Schuld bedeuten und sogar ein vil edel wîp zur vâlandinne wandeln kann? Doch wie sind Religion und Gott in ein Epos einzubringen, dem es nicht um den Kampf mit Glaubesfeinden geht? Der Dichter des Nibelungenliedes entwickelte diese Thematik aus bestimmten Personen und deren Reaktionen heraus und macht dies zum Herzstück der großen Schlussepisode der Schlacht in Etzels Halle. Es beginnt mit Hagens Aufforderung zum Gottesdienstbesuch, was man noch als konventionell abtun kann. Doch dann platziert der Dichter mitten in die Kampfschilderung hinein die Rüdigerszene, die die 37. âventiure füllt und 100 Strophen umfasst. (Zum Vergleich, das einleitende Gemetzel, das mit der Vernichtung der knehte der Burgunder endet, tat er mit 50 Strophen ab! ) Diese Szene, die in ihrer Einmaligkeit kaum zu überschätzen ist, verändert auch die Typik der großen epischen Kampfschilderung. Auf breiter Basis bereitet der Dichter das völlig Unerwartete vor, indem er aus Rüdigers heillosem Dilemma Hagens Schildbitte, Rüdigers Schildgabe und Hagens Abstinenz vom Kampf hervorgehen lässt. Da sind zuerst die Tränen Rüdigers ob der Katastrophe, dann sein aus der Wilhelmsepik entlehnter Fausthieb, der den schmähenden Hunnen niederstreckt, als Vorbereitung auf das lange Gespräch mit dem hunnischen Herrscherpaar, worin ihm seine Pflichtenkollision bewusst gemacht wird. Es stellt sich ihm nun das Problem der diffidatio. Er begnügt sich aber nicht mit der bloß feudalrechtlichen Seite des Problems, die schon im Rolandslied spürbar wird und worauf Panzer am Beispiel der Chansons von Renaus de Montauban mit Nachdruck hingewiesen hat. Der Nibelungenepiker lässt seinen Rüdiger verzweifelt ausrufen: daz ich die sêle vliese, des enhân ich niht gesworn (Str. 2150). Mit dem Begriff sêle geht es um ein Herzwort der Religion und damit wird die rechtliche Problematik religiös überhöht. Eine Interjektion ist das nicht! Das führt zur anschließenden großen Klage (Str. 2153f), worin nun unmittelbar Gott angerufen wird. Ist das Nibelungenlied doch nicht so religionslos wie Goethe meinte? Rüdiger will auf seine Stellung am Hof verzichten und will ûf mînen füezen in daz ellende gân (Str. 2157), Etzel lehnt das ab und will im Gegenzug Rüdigers Stellung noch erhöhen. Schließlich beugt sich Rüdiger der Staatsraison, greift zu den Waffen und nähert sich der ‚schrecklichen Stiege‘. Dass der Dichter an dieser Stelle nicht vergisst, Gîselher einzubeziehen, verdichtet das humane Geflecht. Indem der Dichter aber nun ausgerechnet den kaltblütigen Mörder Sigfrids und vorbildlichen Vasallen Hagen in den Mittelpunkt des Geschehens rückt und ihn nun die Vasallenpflicht gegenüber seinen Burgunderherren seinerseits verletzen lässt, bereitet u.a. die dann König Etzel in den Mund gelegte Rühmung Hagens als besten degen vor. Mit Hagens Schildbitte, die das Kampfgeschehen stoppt und mit Rüdigers Schildgabe wird wiederum Gott ins Geschehen einbezogen (Str. 2195ff). Diese Anrufungen kann man nicht als Floskeln abtun, es geht doch darum zu zeigen, wie in dieser extremen Situation für diese Krieger Gott selbstverständliche Bezugsgröße ist. (Nebenbei sei erwähnt, wie wirkungsvoll der Dichter sein Leitwort gabe, geben zur Verdichtung der Szene einsetzt.) Es folgt der Kampf <?page no="55"?> Zusammenfassung 47 Rüdigers, und da greift nun der Dichter auf das entsprechende epische Muster zurück: […] des muotes er ertobete (Str. 2206). Auch da ist dann von einer Blutorgie keine Rede. Die Stiege, der räumliche Mittelpunkt des schrecklichen Geschehens, wird durch das Gespräch zwischen Hagen und Rüdiger aber auch zu einem Ort ergreifender Menschlichkeit, wenn es in klarer räumlicher Fixierung in Str. 2192 heißt: dô rief vil lûte Hagene von der stiegen her zetal […] , so dass ausgerechnet an dieser Stelle Schwertbitte und Schwertgabe möglich werden und das Morden unterbrochen werden kann. Das führt zu einem Seitenblick auf die Raumgestaltung in anderen Epen, der Antike, in Chansons de geste und in der Alexandreis. Man vermisst hier ein klares Raumgefühl. Das Gemetzel verliert sich in totaler Unübersichtlichkeit. Räumliches wird nur zusammenhanglos und punktuell fassbar. Selbst die Halle, in der die Freier der Penelope abgeschlachtet werden, kennt keine dem Nibelungenepos vergleichbare klar räumliche Strukturen, was diese - wie im Fall der Stiege - gleichsam zu Mitspielern macht. Blicken wir von der das Kampfgeschehen beherrschenden Rüdigerepisode noch einmal und abschließend auf die Schlussszene, die Hortverweigerung in ihrer hochmittelalterlichen Verwirklichung. Es geht nun nicht mehr nur um den Goldhort, sondern auch um das Schwert Sigfrids, und es ist zu fragen, ob nicht das alte Motiv der Hortverweigerung dazu da ist, auf das Neue, Sigfrids Schwert, hinzuführen? Bei der Schilderung der Ankunft der Burgunder am Hunnenhof wurden, wie weiter oben dargelegt, diese zwei mächtigen Dingsymbole auf zwei getrennte âventiuren verteilt, die 28. und die 29., ohne dass ein Zusammenhang hergestellt würde; ein deutliches Signal für einen späten Eingriff in den Ablauf des Geschehens. Sigfrids Schwert in der 29. âventiure strahlt dabei unvergleichlich heller als der Goldhort in der vorausgehenden. In der Schlussszene des Epos werden nun beide Symbole miteinander verbunden und gleichsam zu Akteuren, die die Handlung bestimmen, wobei immerhin das Schwert - und somit Minne und Herzenjammer - das Schlusssignal setzt (Str. 2372). Doch da ist noch Gott in Hagens Hortverweigerung und da sind noch die Burgunder - letzeres schlägt den Bogen zurück zur ersten âventiure - und da ist die vâlandinne (Str. 2371). Man wird Hagens Berufung auf Gott nicht überbewerten wollen, doch sie ist nun einmal da und man kann darin eine Fortsetzung dessen sehen, was in der Rüdigerepisode aufgebrochen ist. Diese Einbeziehung Gottes geschieht auf dem Höhepunkt des nibelungischen Geschehens, der Hortverweigerung. In der Atlakviða heißt es in Str. 27: Rín skal ráða/ rógmálmi skatna (der Rhein soll verfügen/ über das Streit-Erz der Männer). 42 Nun, im Epos die Verlagerung von der konkreten Örtlichkeit - Rhein - ins Innermenschliche und Religiöse, wie immer letzteres zu bewerten ist. Die alte Sage wird damit abschließend ins hochmittelalterliche Lebensgefühl eingebettet und aufgewertet, was einem hochmittelalterlichen Epos nur angemessen sein konnte. 42 Atlakviða in grœnlenzka, in: Klaus von See et al. (Hg.): Kommentar zu den Liedern der Edda. Bd. 7: Heldenlieder. Heidelberg 2012, S. 297. <?page no="56"?> Teil I: Das Epos auf dem Kontinent und in England 48 Um Absicht des Dichters und Stellung des Nibelungenliedes als Epos innerhalb der hochmittelalterlichen Literatur zu erfassen, ist es vor allem nötig, vom Hochmittelalter und der verfügbaren Literatur auszugehen und nicht - mehr oder weniger unterschwellig - auf das Germanische zu rekurrieren, dazu sind die literarischen Anspielungen und Anleihen, die der Dichter in reichem Maße vornimmt, nicht nur gelegentlich zu registrieren, sondern ernst zu nehmen und zu deuten, da man davon ausgehen kann, dass der Dichter wusste, was er wollte und welche Ansprüche er damit erhob. Fassen wir das Wichtigste zusammen: Da ist die markante Zweiteilung des Werks mit ihrer klaren Verteilung der Gewichte, die âventiure 1 bis 19 mit ihrem bunteren Geschehen und dann die âventiure von 20 bis zum Schluss mit ihrer einheitlichen Linie auf den großen Kampf hin, der ganz und gar personalisiert ist durch die Ausrichtung auf die Konfrontation Kriemhilt/ Hagen. Das Ganze eingeleitet durch das Minnegespräch zwischen Kriemhilt und Ute und einmündend in die abschließende Tötung des wehrlosen Hagen/ Turnus. Ich kann aus dieser konsequenten Neuorientierung der alten Sagen - wozu ja noch manche Einzelheiten kommen - nur den Schluss ziehen, dass der Nibelungendichter sein Nibelungenepos als hochmittelalterliche Entsprechung zu Vergils Aeneis verstanden wissen wollte, nicht als Reichsepos, sondern als das Minne- und Vasallenepos aus der Feudalwirklichkeit heraus und verankert im realen Raum - am Rhein, in Passau und Bechelaren. Die substantiellen Anleihen bei den Chansons de geste trugen zur Vermittelalterlichung bei. Eingerahmt das Ganze durch die selbstbewusste Ankündigung in der ersten Strophe muget ir nu wunder hœren sagen und die kategorische Schlussaussage daz ist der Nibelunge liet/ nôt. Ich könnte mir von dieser Deutung eine heilsame Auflockerung unserer Literaturgeschichten versprechen, die sich ja meist damit begnügen, die entstehenden Gattungen nebeneinander abzuhandeln. Man lasse sich von Gottfrieds Dichterschau leiten. Gottfried lässt darin die deutsche Literatur mit der Eneit Heinrichs von Veldeke beginnen, der daz erste rîs in tiutscher zungen impfete. Er geht also von der Antike aus. Die frühe und primitive Alexanderdichtung ignoriert er. Mit Heinrichs Werk ist er bei der Aeneis. Der Nibelungenepiker würde dem auf seine Weise nicht nachstehen. Das Nibelungenlied blieb als Epos im Vollsinn des Wortes ein Einzelfall. Schon die Kudrundichtung bleibt weit unter Eposniveau und in der Dietrichsepik vollzog sich eine weitere Zerfaserung der alten Sagensubstanz; von einzelnen Szenen abgesehen geht es um bloßen Unterhaltungsstoff. Die Chanson de geste-Tradition dagegen bewahrte in viel höherem Maße den Sinn für echt Episches. Bezeichnend für das europäische Hoch- und Spätmittelalter ist nun die Tatsache, dass der Artusritterroman eine unerwartete Vitalität entwickelte. Zwar gab es auch da, wie zu erwarten, das Absinken ins Triviale, daneben aber entstanden z.B. in den großen Prosaromanen - Lancelot, Perlesvaus etc. - Werke von hohem Rang. Im französisch dominierten Mittelalter lief also der Roman - der Artusritterroman - dem heroischen Epos den Rang ab. <?page no="57"?> Wenn wir uns nun der Njáls saga zuwenden, so deshalb, weil ich meine, dass in diesem Werk die Möglichkeiten, die im genus Epos liegen, besonders umfassend ausgeschöpft wurden. Der heroische Überschuss dieser Gattung wird darin auf Menschenmaß zurückgeführt, zugunsten einer tiefgreifenden Einbeziehung gesellschaftlich-menschlicher Fülle und darin integriert. In diesem Sinne zögere ich nicht, im Untergang der Njálssippe in der abschließenden Katastrophe der brenna die Entsprechung zur großen Schlacht der heroischen Epen zu sehen, doch nun eben nicht extrem heroisierend abgehoben, sondern eingebunden ins Gemeinwesen der eigenen Frühzeit und dieses in seiner realen menschlichen Fülle erfassend. Gehen wir dem im Folgenden nach. Das Fehlen einer mediävistisch orientierten Literaturgeschichtsschreibung, bedingt durch die nationalsprachige Ausrichtung der Philologien, macht sich auch mit Blick auf die vorliegende Fragestellung unangenehm bemerkbar. Was die mittelalterliche Literatur Islands betrifft, kommt erschwerend hinzu, dass forschungsgeschichtliche und ideologische Vorurteile einer zutreffenden Beurteilung im Wege standen und stehen. So pflegt die Germanistik die Bedeutung Islands, ausgehend vom Nibelungenlied, als Schatzhaus für altgermanische Überlieferungen zu betrachten und ignoriert mit dieser archaisierenden Sicht, die nur einen Bruchteil der isländischen Literatur des Mittelalters erfasst, das Europäische und spezifisch Isländische daran. Auf Island, um 870 entdeckt und rasch besiedelt - soweit es besiedelbar war - wurde um 930 das Allthing eingerichtet und dem ganzen Land eine einheitliche Rechtsordnung gegeben -, ohne Exekutive, was die Durchführung der Gerichtsbeschlüsse den Betroffenen überließ und zu den vielen Fehden führte. Um 1000 wurde ohne größere Probleme das Christentum eingeführt, um 1056 bereits ein Bischofsitz errichtet, dem bald ein zweiter im Norden der Insel folgt und 1133 wurde zu Thingeyrar ein Benediktinerkloster eröffnet und die Basis für eine erstaunlich intensive Literarisierung gelegt. Das Tor zur Europäisierung Islands war geöffnet und die rege und mobile Einwandererbevölkerung machte auch Gebrauch davon. Schon im materiellen Bereich war man ja aufgrund der kargen Natur des Landes in Vielem vom Ausland abhängig. Dem entsprach im Geistigen eine große Offenheit gegenüber den westeuropäischen literarischen Errungenschaften; auch das Latein bildete keine Hürde. Dieser Offenheit, die im 13. Jahrhundert - auch gefördert durch den norwegischen Hof - zu einer großzügigen Übersetzertätigkeit vor allem aus dem Französischen führte, steht eine ungewöhnlich stark ausgeprägte isländische Eigenentwick- Teil II Das Epos in Island <?page no="58"?> Teil II: Das Epos in Island 50 lung gegenüber, deren Medium die Prosa sein sollte und deren Movens die Historie. Die Isländer kannten und pflegten zwar auch die altgermanischen Götter- und Heldenlieder mit ihren stabgereimten Langzeilenversen, doch abgesehen von einigen Ansätzen zu Neufassungen altheroischer Stoffe wie z.B. in den Atlamál und den Gudrunliedern erwies sich diese Tradition nicht mehr als zukunftsfähig, schon gar nicht für die Erfassung nordisch-isländischer Sujets. Dazu kam, dass die Domäne der poetischen Gestaltung von der extrem subtilen Skaldenkunst beherrscht wurde, wodurch sich eine völlig neue Situation ergab. Die skaldische Strophe ist ihrem Wesen nach absolut unepisch. Die beiden poetischen Adern, die austrocknende Tradition in den alten Langzeilen und die neue Form, die Skaldik, fielen also für die Herausbildung einer tragenden epischen Diktion aus. Von der Skaldik sollten aber wertvolle Nebenwirkungen ausgehen. Die Skaldik ist betonte Individualkunst, sie ist an namentlich bekannte Individuen gebunden, noch dazu praktisch ausschließlich an Isländer, da diese nach einem kurzen norwegischen Vorspiel die Führung übernahmen. Der Skalde, wenn er die komplexe Sprache der kenningar beherrschen wollte, musste sich in Mythologie und Heldensage auskennen und trug somit dazu bei, dass dieses Wissen erhalten blieb. Das Prestige der Skalden war groß, was man auch daran sehen kann, welche Rolle sie am norwegischen Hof spielen konnten, vor allem auch in Verbindung mit der Verehrung des Hl. Olaf; man denke an die Glælognskviða des Þorarinn loftunga oder gar an Geisli des Einarr Skúlason. Die isländischen Skalden stellten also eine wichtige Verbindung zum norwegischen Königshof her, was der Bedeutung der Königsgeschichte zugutekam, wofür die Geschichte Olafs des Heiligen († 1030) die Hauptstütze bilden sollte. Die Kunst der Skalden hat sicherlich dazu beigetragen, isländisches Selbst- und Eigenständigkeitsbewusstsein zu stärken, was der literarischen Erschließung des ‚Isländischen‘, wozu es in den Sagas kam, nur förderlich sein konnte. Das Schicksal des heiligen Königs Olaf - und damit auch die Königsgeschichte überhaupt - blieb nicht allein den Skalden überlassen. Die Historiographie - im Zentrum die Olafssaga - wurde zum Mittelpunkt von Snorris historiographischem Schaffen, der Heimskringla, dem Grundlagenwerk der norwegischen Königsgeschichte. Das Medium war Prosa. Snorris Werk ist durch und durch Historiographie und kein Epos. Die sich herausbildenden Sagas hingegen, diese unköniglichen Spiegelungen des kargen isländischen Gemeinwesens, verließen die Bahn der etablierten Historiographie. Ihr Betätigungsfeld waren Einzelschicksale einer begrenzten Zeitspanne, was auch dem Fehlen einer größere Zeiträume umgreifenden ‚Geschichte‘ angemessen war. Die begrenzte Zeitspanne konnte auch dadurch zu einem epischen Raum werden - söguöld. <?page no="59"?> Isländersagas, Königssagas und Geschichtsschreibung 51 Bevor wir darauf eingehen, wie dieser Raum gefüllt wurde, vergegenwärtigen wir uns, wie stark im Norden der historisierende Impuls gewesen sein muss. So begnügte sich Snorri nicht damit, eine Heiligenvita Olafs etwas historisch auszugestalten. Er griff weit aus und stellte die gesamte norwegische Geschichte dar, poetische Quellen wie das Ynglingatal auswertend und führte die Darstellung herauf bis ins Hochmittelalter. Der historisierende Impuls sollte sogar aus autobiographischer Sicht die Gegenwart des ausgehenden 12. Jahrhunderts erfassen in der Sverris saga, die der isländische Abt Karl Jónsson mit Sverrir selbst verfasste. Dass dieser abenteuerliche norwegische Herrscher, der sich an die Macht geputscht hatte, seine eigene Saga der Feder eines Isländers anvertraute, lässt tief blicken. In den Sagas sollte diese Kompetenz den isländischen Landsleuten selbst zugutekommen. Die im Jahre 1000 erfolgte friedliche Übernahme des Christentums durch das Allthing zeigt einerseits die Bedeutung dieser einmaligen Institution als Kernbereich des sich konstituierenden Gemeinwesens - was uns besonders beschäftigen wird -, macht andererseits auch deutlich, dass es aus dieser Geisteshaltung heraus den Isländern fern lag, ihre eigene Vergangenheit zu verteufeln. Gute Voraussetzungen für die nun entstehenden Isländergeschichten. Voraussetzung auch dafür, sich nicht mit chronikalischem Beschreiben zu begnügen, sondern sich eine repräsentative und unverwechselbare eigene Frühzeit zu schaffen. Damit nähern wir uns unserer Frage nach einem isländischen Epos. Die Königsgeschichte mit ihren Abläufen durch die Jahrhunderte hindurch blieb Historie; die sich herausbildenden isländischen Sagas, die nur den kurzen Zeitraum, die söguöld, zu bewältigen hatten, standen vor anderen Herausforderungen. Es genügte im Laufe der Entwicklung offenbar nicht, über einzelne Begebenheiten und Schicksale zu berichten, sondern diese Frühzeit als solche in den Blick zu nehmen und sich anhand prägender Einzelschicksale ihrer zu vergewissern. Man stelle Egils saga, Laxdœla, Gísla saga und Njála nebeneinander. Da stellt sich doch die Frage, dass die jeweiligen Verfasser nicht nur Erzählstoff registrierten, sondern bewusst ihr Bild von der Vergangenheit Islands und seiner Menschen ihren Landsleuten darbieten wollten. Die Literaturgeschichten fragen nicht energisch genug, was die einzelnen Erzähler mit ihrem Werk wollten. Der historisierende Einsatz erfolgte zunächst, wie zu erwarten, in lateinischer Sprache. So wird bekanntlich vom Priester Sæmundr dem Weisen († 1133) berichtet, dass er sich in lateinischer Sprache über die norwegischen Könige und Island geäußert habe. Seine Schriften sind nicht erhalten - der Aufschwung der volkssprachlichen Literatur hat sie wohl überflüssig gemacht. Man kann diese Werke in eine Reihe stellen mit den Stammes- und Volksgeschichten. Sæmunds jüngerer Zeitgenosse, der Priester Ari der Weise († 1148), bedient sich dann bereits der Volkssprache in seiner Darstellung isländischer Frühgeschichte, in deren Mittelpunkt die Annahme des Christentums steht. Anregungen dürfte er aus Bedas Historia ecclesiastica gentis Anglorum geschöpft haben, worin es ebenfalls um das Christentum ging. Genealogische Dichtungen und Preislieder aus der heidnischen Zeit, wo- Isländersagas, Königssagas und Geschichtsschreibung <?page no="60"?> Teil II: Das Epos in Island 52 für es auf dem Kontinent keine Entsprechungen gibt, standen als weitere Quellen zur Verfügung. Nicht minder wichtig und einmalig als Aris Íslendingabók ist das Buch von der Landnahme (Landnámabók), an dessen Abfassung Ari mitbeteiligt gewesen sein dürfte. Beide Schriften haben nichts Vergleichbares auf dem Kontinent. Sie sollten sich als wegweisend für die weitere Entwicklung der Literatur Islands erweisen, vor allem weil es darin um den einstaklingur geht, um das unverwechselbare Individuum, den einzelnen Isländer, der in bedrängender Weise in seiner Eigenart präsent ist. 43 Man erfährt Genaueres darüber, woher ein bestimmter namentlich genannter Auswanderer kam, wie es um seine Familienverhältnisse bestellt war, wo er sich niederließ, wozu noch einzelne erwähnenswerte Umstände treten konnten. Dabei handelte es sich nicht um ganz ferne Menschen, sondern um nahe Familienangehörige, in deren Besitz die jeweiligen Bauernhöfe sich noch befanden. Der entstehenden Literatur stand somit ein konkretes Personenreservoir besonderer Art zur Verfügung, worüber nicht einmal die Chansons de geste verfügten, ganz zu schweigen von der Artusdichtung. Beide Werke, Íslendingabók und Landnámabók, zeugen von einem ungewöhnlich starken isländischen Selbstbewusstsein. Die beginnende Schreibezeit ruhte also bereits sicher in ihrer ‚Islandità‘, worauf die nun einsetzenden literarischen Bestrebungen aufbauen konnten. Es ist symptomatisch, dass das erste Wort in Aris Schrift „Isländer“ lautet - Íslendingabók gørða ek […] (Das Isländerbuch verfaßte ich). 44 Norwegen als Auswanderungsland erhält natürlich seinen Platz, es geht aber um Island. Schon nach wenigen Seiten ist man beim Allthing mit seinen Regelungen von Rechtsstreitigkeiten. Auf dem Thing wird auch die Annahme des Christentums beschlossen. In der Njála, in der die frühe isländische Literatur gipfelt, wird diese Thingbezogenheit dem reichgefächerten isländischen Geschehen Halt verleihen. In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts regte sich auch in Norwegen das Interesse an Geschichtsschreibung. So schrieb der Mönch Theodoricus eine Historia de 43 In seiner isländischen Kulturgeschichte hebt Nordal die Bedeutung des einzelnen als einstaklingur hervor am Beispiel des Skalden Egill. Vgl. Sigurður Nordal, Íslenzk menning, Reykjavík 1942, S. 163ff. Ein Beispiel aus der Laxdœla saga mag das unterstreichen. Es geht um die Reaktion Kjartans gegenüber den drohenden Bekehrungsmaßnahmen des Königs Olaf. Als Abschluss einer dreifach gestuften Gesprächsabfolge legt Kjartan los: Engis manns nauðungarmaðr vil ek vera […] meðan ek má upp standa ok vápnum valda (Laxdœla saga, hg. von Einar Ól. Sveinsson, Reykjavík 1934 (Íslenzk fornrit V), S. 119. Deutsche Übersetzung (hier und in folgenden Zitaten aus der Laxdœla saga) in: Laxdœla saga. Die Saga von den Leuten aus dem Laxardal. Herausgegeben und aus dem Altisländischen übersetzt von Heinrich Beck, München 1997, S. 104: „Unter keines Mannes Gewalt werde ich mich begeben […] solange ich aufrecht stehen und meine Waffen gebrauchen kann“). Das ist dem Stil der Laxdœla entsprechend etwas grell überzeichnet, zeigt aber umso deutlicher dieses Individualitätsbewusstsein. Ein diskreterer Verfasser hätte auf den Nachsatz vápnum valda verzichtet. Die Haltung des Verfassers der Njála sticht wohltuend davon ab. 44 Íslendingabók. Landnámabók. Fyrri hluti, hg. von Jakob Benediktsson, Reykjavík 1968 (Íslenzk fornrit I, 1), S. 3. Deutsche Übersetzung aus: Islands Besiedlung und älteste Geschichte, übertragen von Walter Baetke, hg. von Felix Niedner (Thule Altnordische Dichtung und Prosa 23), Darmstadt 1967, S. 43. <?page no="61"?> Isländersagas, Königssagas und Geschichtsschreibung 53 antiquitate regum norwagiensium und wohl um die gleiche Zeit entstand eine Historia Norvegiae. Von besonderem Interesse, auch wegen der Verwendung der Volkssprache, ist die erwähnte autobiographische Sverris saga aus dem ausgehenden 12. Jahrhundert. Von Snorris umfassender Darstellung der norwegischen Königsgeschichte von den mythischen Ursprüngen bis hin zur Sverris saga - weit über 1000 Seiten - kann nur ein kräftiger Anstoß ausgegangen sein, in voller Breite auch auf die Verhältnisse in Island einzugehen. An einer Stelle in der Heimskringla entschuldigt sich Snorri auch gleichsam dafür, den Isländern zu viel Aufmerksamkeit gewidmet zu haben. Dieser Anstoß könnte auf die Geschichte vom Skalden Egill zutreffen. 45 Die beiden Stränge, Skaldendichtung und Prosa der Königsgeschichte, die die frühe isländisch-norwegische Literatur prägen, bündeln sich exemplarisch in dieser Saga. Man erlebt, wie der Isländer noch eng an die norwegische Königsgeschichte gebunden ist und zugleich, wie er sich davon zu lösen vermag und sich in seiner Eigenständigkeit behauptet. Das Phänomen Egils saga gewänne noch an Brisanz, wenn man Snorri Sturluson als Verfasser ansehen könnte, wofür es auch gute Gründe gibt. Mütterlicherseits stammte Snorri von Egill ab, dazu lebte er längere Zeit auf Egils Hof in Borg und war selbst ein Vertreter der Skaldenkunst. So faszinierend die Egils saga auch sein mag, ein Epos ist sie nicht, wie auch die norwegische Königsgeschichte Snorris keines ist. Zu der umfassenden Darstellung des Einzelschicksals Egils - immerhin 300 Seiten umfassend - musste im Laufe der Entwicklung der Sagas etwas hinzutreten. Dies wurde, wie gezeigt werden soll, erreicht in der Njáls saga aus dem Ende des 13. Jahrhunderts. Diese Saga ist das vollwertige isländische Gegenstück zur norwegischen Königsgeschichte, wie sie in der Heimskringla vorliegt - aber als Prosaepos. Darin kämpft nicht mehr ein einzelner Isländer gegen die norwegische Königsmacht an - Letzterer bedarf es nicht mehr -, sondern das isländische Gemeinwesen als solches, mit sich selbst beschäftigt, steht zur Disposition. Dass zur gleichen Zeit dieses isländische Gemeinwesen dem norwegischen Königreich einverleibt werden sollte, ist eine seltsame Koinzidenz. Die isländischen Sagas im engeren Sinn, wie sie ab der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstehen und sich zu einer eigenen literarischen Gattung entwickeln, sollten sich nicht bloß mit dem chronikhaften Registrieren von Isländern der Frühzeit begnügen. Vielmehr kam es dazu, dass einzelne Autoren mit wachsender Intensität sich die Frage stellten, unter welchen Vorstellungen diese eigenen Vorfahren lebten, was sie bewegte, wie sie mit ihren Daseinsbedingungen umgingen und wie diese Frühzeit zu beurteilen sei. Von Saga zu Saga bildeten sich dabei unterschiedliche Vergangenheitsbilder heraus, die die Autoren ihren Zeitgenossen nahebringen wollten, wohl auch mit entsprechendem Anspruch und um sich von anderen Unternehmen dieser 45 Egils saga Skalla-Grímssonar, hg. von Sigurður Nordal, Reykjavík 1933 (Íslenzk fornrit II). Egils saga <?page no="62"?> Teil II: Das Epos in Island 54 Art abzuheben; mit bloßer skemmtun ist es dabei nicht getan. Als Manifestation und Stärkung des isländischen Selbstbewusstseins sind diese Sagas ebenfalls nicht zu unterschätzen; Vergleichbares bietet auf dem Kontinent nur das La France-Bewusstsein (siehe dazu oben, Fußnote 25). Sigurður Nordal reihte, wohl zu Recht, die Egils saga unter die erste Gruppe der Isländersagas ein. 46 Unter den sechs von ihm genannten frühen Sagas befinden sich Skaldengeschichten, was darauf hindeutet, dass die Isländergeschichten die Königssagas voraussetzten, um sich dann davon zu emanzipieren. Die Egils saga kann dafür als Kronzeuge auftreten. Während die isländischen Skalden am norwegischen Hof erschienen, um sich vom König belohnen zu lassen für einen erfolgreichen Vortrag, wobei wie im Fall Olafs des Heiligen ein privilegiertes Verhältnis entstehen konnte, stehen sich in der Egils saga der isländische Bauer und Skalde und der norwegische König auf Augenhöhe gegenüber, und Egill bietet dem König die Stirn. Das isländische Gemeinwesen, konzentriert im Thing, spielt dabei noch keine Rolle; es geht ausschließlich um das außergewöhnliche Individuum, das sich mit imponierender Rücksichtslosigkeit durchzusetzen vermag. Der alte Egill hat sogar die Absicht, auf dem Allthing Münzen auszustreuen, um sich dann daran zu delektieren, wie die Thingteilnehmer einander beim Aufsammeln in die Haare geraten würden in einem heillosen Durcheinander. In der Njáls saga, dieser Thingssaga schlechthin, wird das isländische Gemeinwesen mit seiner wichtigsten Institution in einem anderen Licht erscheinen, was zur Identifizierung einlädt und somit Eposfunktion erfüllen wird. Egils saga und Njála umspannen einen weiten Bogen, innerhalb dessen sich das breite Spektrum der isländischen Sagas entfaltet. Die Literaturgeschichten, so z.B. Sigurður Nordal, beschränken sich meist darauf, diese Werke in eine chronologische Abfolge zu bringen, was nichts über die Intention und den Rang der einzelnen Saga aussagt. Man sollte beim Versuch, die Sagas zu gliedern, vielmehr auch danach fragen, ob der jeweilige Verfasser sich damit begnügte, eine mehr oder weniger interessante Geschichte aus der isländischen Frühzeit zu erzählen, oder ob es ihm darauf ankam, an Hand solcher Geschichten eine Vorstellung davon zu vermitteln, was seiner Ansicht nach das Dasein der Menschen dieser Frühzeit bewegte. Dabei kam es zu sehr unterschiedlichen Vergangenheitsbildern. Stellt man Egill, Gísli, Grettir, Kjartan/ Bolli und Gunnarr nebeneinander, so treten die jeweiligen Vergangenheitsbilder in aller Schärfe hervor, woraus zu ersehen ist, mit welcher Intensität die Schreibezeit um die Erschließung ihrer Frühzeit bemüht war. Bevor wir darauf eingehen, ein Blick auf eine Saga, die ein anderes Bild vom Isländer der Frühzeit entwirft als die Egils saga und über das Register der leiseren Töne verfügt, die Gísla saga, eine der ergreifendsten Isländergeschichten. 46 Sigurður Nordal, Litteraturhistorie B. Norge og Island. Uppsala 1953, S. 241ff. <?page no="63"?> Gísla saga 55 Die Gísla saga, die nur ein Drittel des Umfangs der Egils saga aufweist, ist unspektakulärer angelegt, obgleich es da auch Mord und Totschlag gibt. 47 Sie bedarf auch keines königlichen Gegenspielers mehr, Gíslis Gegner ist das Schicksal. Gísli und seine Familie bilden den Handlungsraum, denn wie kaum in einer anderen Saga kommt es auf die Familie an. Der Familienmensch Gísli, der sich auch aufs Versemachen versteht, ist ein tüchtiger Handwerker und, wie sich zeigen wird, auch ein tapferer Kämpfer. Die Saga vermeidet aber eine zu billige Idealisierung ihres Helden. Wie er z.B. ohne Vorwarnung den Liebhaber seiner Schwester aus Gründen der Familienehre erschlägt oder die Eitelkeit seines Sklaven Þórðr ausnützt - er tauscht mit ihm sein prächtiges Kleid - um sein eigenes Leben zu retten, ist kein Ruhmesblatt, spricht aber für den Autor und das genus Saga! Das norwegische Vorspiel hat keine Beziehung mehr zur Königsgeschichte. Die Sippe Gíslis verlässt nach gewalttätigen Auseinandersetzungen Norwegen, und der Autor verlässt seinerseits die historische Ebene der ĺslendingabók und der Landnámabók. Man tritt in die Welt der Saga ein, deren Leitthema das Wirken des Schicksals sein wird, die Ohnmacht des Betroffenen und dessen Verhalten in diesem frühzeitlichen Kraftfeld. Die ersten vier Kapitel, die von der Zeit in Norwegen und der Ansiedlung auf Island handeln, verbleiben im sachlichen Stil der Landnámabók und ähnlicher Darstellungen, doch das, was man erfährt, lässt aufhorchen. Es heißt da, dass die eben Eingewanderten reiten til várþings eitt vár með fjóra tigu manna, ok váru allir í litklæðum („sie [ziehen] eines Frühjahrs mit vierzig Mann zum Frühjahrsding und waren alle in bunten Kleidern“), 48 dazu wird der Name Vésteinn, Gíslis Schwager, genannt. An diesem ‚erregenden Moment‘ hängt alles Weitere und die Saga kann beginnen. Mit diesem beeindruckend inszenierten Auftritt auf dem Thing wollten die Einwanderer sich gleichsam von vorneherein absichern. Es wird aber, wie sich zeigen wird, das Gegenteil erreicht. Damit ist die Grundtendenz dieser Saga angedeutet, die darin liegt, dem Leser am Beispiel Gíslis vorzuführen, dass menschliches Bemühen, Unheil aufzuhalten, sich als vergeblich erweist - typisch für die vorchristliche Epoche Islands, die noch von heidnischer Düsternis überschattet war. Dazu erfährt man, dass die eigentliche Aufgabe der Thingversammlung, Rechtsfragen zu klären, die Gíslisippe offenbar nicht interessiert. Sie muss durch einen Anstoß von außen dazu gebracht werden und es ist Gísli, der seine Leute auffordert: „G ngum þá til dóma“ („Dann laßt uns zu den Verhandlungen gehen“). 49 Das führt aber nur dazu, dass ihr Auftreten, hvé skrautligr flokkr þeira var (wie prunkvoll ihr Aufzug sei), 50 47 Vestfirðinga s gur, hg. von Björn K. Þórólfsson und Guðni Jónsson, Reykjavik 1943 (Íslenzk fornrit VI). Gísla saga Súrssonar, ebda., S. 1-118. 48 Gísla saga Súrssonar (wie Anm. 47), S. 19. Deutsche Übersetzung (für dieses und alle folgenden Zitate aus der Gísla saga) aus: Die Saga von Gisli Sursson. Aus dem Altisländischen übertragen und erläutert von Franz B. Seewald. Stuttgart 1976, S. 37. 49 Gísla saga, S. 20 (Die Saga von Gisli, S. 37). 50 Gísla saga, S. 21 (Die Saga von Gisli, S. 38). Gísla saga <?page no="64"?> Teil II: Das Epos in Island 56 Aufsehen erregt. Das führt zur Frage, wie lange wohl bei diesem yfirgangr (Überheblichkeit) 51 der Zusammenhalt dieser mächtigen Gruppe dauern werde. Ein Außenstehender mit dem für solche Rollen bezeichnenden Namen Gestr meint, in drei Jahren werde sich das anders darstellen. Drei Angaben sind festzuhalten: vera í litklæðum, vera skrautligr, dazu yfirgangr! Gísli will verhindern, dass die Voraussage eintritt; er bereitet die Etablierung einer Blutsbrüderschaft vor, um ein Auseinanderbrechen der Großfamilie zu verhindern - und erreicht das Gegenteil. Þorgrímr wird sich nämlich weigern einbezogen zu werden, da ihn mit Vésteinn nichts verbinde - beide Schwäger Gíslis! Das Unheil wird dann auch seinen Lauf nehmen, und Gísli, der bemüht ist, es aufzuhalten, wird seinen Teil daran haben, da er dann der Rachepflicht gegenüber dem ermordeten Vésteinn nachkommen muss. Es geht also nicht nur um die simple Moral, dass arrogantes Auftreten, wenn man es so deuten darf, Unheil provozieren kann. Der Verfasser machte daraus ein anrührendes Bild aus dem Übergang Islands vom Heidentum zum Christentum. Gemessen an den kargen Informationen über einzelne Isländer bei Ari und in der Landnámabók vollzieht sich in den Sagas ein vertieftes Eingehen auf die einzelnen Menschen. Das zeigt sich schon eindrucksvoll in der frühen Egils saga. Die jüngere Gísla saga eröffnet nun auch tiefere Einblicke ins Innere der Menschen der Sagazeit. So lässt der Verfasser nach dem erfolglosen Versuch, die Großfamilie zusammenzuschweißen, Gísli sagen: „Nú fór sem mik grunaði […] get ek ok, at auðna ráði nú um þetta.“ („Nun ist es gekommen, wie mir schwante […]. Ich vermute auch, dass das Schicksal seine Hand im Spiel hat.“) 52 Diese Einsicht bewirkt aber keineswegs Tatenlosigkeit seitens Gíslis. Als Gísli und Vésteinn sich nach dem obligaten Auslandsaufenthalt trennen, weil Gísli heimkehren will, schmiedet er eine Münze in zwei Teilen, die genau ineinander passen und übergibt die eine Hälfte Vésteinn als Erkennungszeichen und Warnung, wenn Gefahr droht. Dabei spricht Gísli: „[…] mér segir svá hugr um, at vit munim þurfa at sendask á milli“ („Mir aber sagt meine Ahnung, daß wir es [die beiden Teile der Münze] uns werden zuschicken müssen“). 53 Das lässt an das ahnungsvolle mik grunaði denken, und beides öffnete den Blick ins menschliche Innere. Auch dieses Mittel, die Medaille als Erkennungszeichen, wird sich als nutzlos erweisen für den Entschluss Vésteins. Gíslis Bemühen lässt auf eine mögliche Gefährdung Vésteins schließen, wofür man außer Þorgíms Weigerung, Blutsbrüderschaft zu schließen, noch keine konkreten Anhaltspunkte hat. Dem Verfasser lag daran, am Schicksal Gíslis zu zeigen, was einen Menschen der Frühzeit bewegte und was dabei an menschlichem Potential zur Geltung kommen konnte. Dieses Eingehen auf das Fühlen eines Vorfahren der nicht fernen Vergangenheit sucht man in der Literatur des Kontinents vergebens. Geradezu ein Gütesiegel der Sagas ist es ja, dass sich die Autoren nicht anmaßen zu wissen, was in den Menschen vorgeht; man hält sich vielmehr streng an das, was von außen erkennbar 51 Gísla saga, S. 21 (Die Saga von Gisli, S. 38). 52 Gísla saga, S. 24 (Die Saga von Gisli, S. 39). 53 Gísla saga, S. 28-29 (Die Saga von Gisli, S. 42). <?page no="65"?> Gísla saga 57 ist an innerer Bewegung. Die Gísla saga durchbricht immer wieder dieses ‚Gesetz‘, was ihr eine besonders eindringliche menschliche Tonalität verleiht. Nach Gíslis Rückkehr von seiner Auslandsfahrt treffen auch sein Bruder Þorkell und sein Schwager Þorgrímr auf Island ein. Der Verfasser betont auffällig, dass verðr þar fagnafundr (und es gab ein freudiges Wiedersehn), 54 doch unmittelbar darauf kommt es zu dem verhängnisvollen Gespräch zwischen Gíslis Gemahlin Auðr und Þorkels Ehefrau Ásgerðr, das Þorkell zufällig mithört. Dies abrupte Aufeinanderfolgen von negativen Gegebenheiten auf das Positive lässt sich immer wieder beobachten, nicht nur in der Gísla saga. Diese Darstellungsweise ist symptomatisch für die Sicht auf die Vergangenheit, indem sie gleichsam von einer wesenhaften Bedrohtheit des Menschen der Frühzeit ausgeht. Bei diesem Gespräch geht es um ein Liebesverhältnis Vésteins mit Ásgerðr. Gíslis Gattin macht dabei eine gute Figur. Þorkell quittiert das Gehörte mit ein paar Versen, die Unheilvolles ahnen lassen. Ásgerðr, recht oberflächlich, nimmt das auf die leichte Schulter - sie werde das schon zu regeln wissen mit ihrem Mann! Auðr, die Schwester Vésteins, berichtet ihrem Mann. Gísli reagiert auf seine fatalistische Weise: „[…] þat mun fram koma, sem auðit verðr.“ („und was geschieht, das ist vorherbestimmt.“) 55 Dem noch nicht heimgekehrten Vésteinn droht also Gefahr. Die heimliche Ermordung, zu der es dann auch kommt, wird die Unheilslawine in Gang setzen. Es muss auffallen, mit welcher Sorgfalt, Ausführlichkeit und wie spannungsweckend der Erzähler verfährt, um auf die Ermordung Vésteins hinzuführen. An diesem Punkt des Geschehensablaufs führt der Erzähler eine unheilvolle Gestalt ein, den zauberkundigen Þorgrímr nef und aktiviert damit Unheilspotential, wobei eine Rückbindung an das norwegische Vorspiel und die Vorgängergeneration hergestellt wird, was den Unheilsradius erweitert. Gísli, der gleichnamige Onkel unseres Haupthelden, hatte mit dem Schwert Grásíða, das ihm der Sklave Kolr widerwillig geliehen hatte, einen Berserker, der die Familie drangsalierte, getötet und wollte nun diese besondere Waffe behalten. Im Streit mit Kolr töteten die beiden einander und das Schwert zerbrach, war damit also gleichsam unschädlich gemacht, es blieb aber im Familienbesitz, denn bei der Erbteilung, die Gísli dann mit seinem Bruder vornimmt, beansprucht Þorkell die Bruchstücke für sich, was nichts Gutes ahnen lässt! Der üble Þorgrímr nef schmiedet daraus eine Art Spieß, somit ist die Unheilswaffe wieder einsatzbereit. Der Erzähler kann sich nicht genug tun mit dem Ausbreiten der Einzelheiten dieses Umschmiedens. Þorgrímr - Gíslis Schwager - und Þorkell schließen sich mit dem Zauberer ein und var þat alg rt at kveldi (das war am Abend fertig), 56 was das Gruselige noch unterstreicht. Im Anschluss daran erfährt man von der Rückkehr Vésteins. Das Szenario ist komplett, die Unheilswaffe liegt bereit und prompt kommt es zur Ermordung Vésteins. Was dabei der Autor aufbietet, um diese Tat entsprechend zu inszenieren - im wahrsten Sinn des Wortes - gibt der Gísla saga eine Sonderstellung. Da diese Sage zu den kürzeren gehört, hat dieser erzählerische Aufwand umso mehr Gewicht. Dem Ver- 54 Gísla saga, S. 29 (Die Saga von Gisli, S. 42). 55 Gísla saga, S. 34 (Die Saga von Gisli, S. 45). 56 Gísla saga, S. 38 (Die Saga von Gisli, S. 47). <?page no="66"?> Teil II: Das Epos in Island 58 fasser war dabei offenbar besonders daran gelegen, herauszuarbeiten, wie es bei den Vorfahren der heidnischen Zeit um die Entscheidungsfreiheit bestellt war. Für die Intensität der Auseinandersetzung mit der eigenen Frühzeit eine wichtige Quelle. Von Gísli heißt es, dass er die große winterliche veizla (Gasterei) vorbereitet, obgleich er seit seinem Aufenthalt in Dänemark lét af blótum, also keine heidnischen Opfer mehr darbrachte. 57 Auðr, Vésteins Schwester, hätte gerne, dass ihr Bruder bei diesen Festlichkeiten dabei wäre, was Gísli, wiederum ahnungsvoll, ganz anders sieht: „Annan veg er mér þetta gefit, því at ek vilda gjarna gefa til, at hann kœmi hér nú eigi.“ („Darüber denke ich nun ganz anders. Ich gäbe gerne noch etwas dazu, daß er jetzt nicht herkäme! “) 58 Auf das folgt die erwähnte Grásíða-Episode und im Anschluss daran kommt die Nachricht, dass Vésteinn sich auf dem Weg zu Gíslis Hof befinde. Man achte darauf, wie hier alles Schlag auf Schlag aufeinander folgt und einzutreten droht, was Gísli abwenden möchte. Gísli, der Mann zwischen den Zeiten, gibt bei allem Fatalismus nicht auf und will alles tun, um zu verhindern, dass Vésteinn nach dem fatalen Gespräch der Frauen anwesend sei. Es folgt die beispiellose Schilderung eines atemberaubenden Wettlaufs - im wahrsten Sinn des Wortes - mit dem Schicksal, der im letzten Augenblick noch zum Erfolg zu führen scheint und dann doch zu nichts führt. Gísli schickt zwei Knechte aus - sie tragen bezeichnenderweise die stabenden Phantasienamen Hallvarðr und Hávarðr - die Vésteinn entgegenreiten sollen, um ihn davon abzuhalten auf Gíslis Hof zu kommen. Als Beweis dient die halbe Erkennungsmünze, die Gísli einst geschmiedet hatte. Es kommt zu einer minuziösen Schilderung des Weges. Die Knechte verfehlen zunächst den Ankömmling, korrigieren ihren Irrtum, treiben ihre Pferde bis zur Erschöpfung an und renna þá af hestunum ok kalla (springen sie von den Pferden und rufen) 59 - als äußerstes Mittel. Und tatsächlich, Vésteinn vernimmt ihr Schreien und hält inne. Man atmet auf, doch es kommt anders. Dieser ungewöhnliche erzählerische Aufwand kann doch nur den Zweck haben, das Gewicht der folgenden Entscheidung zu erhöhen. Das Erkennungszeichen, die halbe Münze, erhärtet die Verlässlichkeit der Botschaft Gíslis. Bevor man Vésteins Antwort erhält, heißt es hann […] roðnar mj k (er wurde ganz rot), 60 ein Zeichen hoher innerer Erregung, und dann die Antwort, die den ganzen Aufwand zunichtemacht: „Satt eitt segi þit,“ segir hann, „ok mynda ek aptr hafa horfit, ef þit hefðið hitt mik fyrr, en nú falla v tn ll til Dýrafjarðar, ok mun ek þangat ríða, enda em ek þess fúss.“ („Es stimmt, was ihr sagt, und ich wäre auch umgekehrt, wenn ihr mich früher getroffen hättet. Aber nun fallen schon alle Wasser zum Dyrifjord, und auch ich werde dahin reiten - es zieht mich nun einmal dahin.“) 61 De facto könnte er natürlich immer noch umkehren, doch da ist etwas, was es ihm unmöglich macht und ihn zwingt, wie die Gewässer nun in die andere Richtung hinabzustürzen. Und Vésteinn bekennt sich außerdem dazu, er sei þess fúss - erpicht da- 57 Gísla saga, S. 36 (Die Saga von Gisli, S. 46). 58 Gísla saga, S. 37 (Die Saga von Gisli, S. 46). 59 Gísla saga, S. 39 (Die Saga von Gisli, S. 48). 60 Gísla saga, S. 40 (Die Saga von Gisli, S. 48). 61 Gísla saga, S. 40 (Die Saga von Gisli, S. 48). <?page no="67"?> Gísla saga 59 rauf! Dem Zwang folgt also die Entscheidung, Vésteinn beugt sich nicht nur diesem Zwang! Blicken wir auf Gunnarr in der Atlakviða. Er nimmt die verräterische Einladung an und besiegelt damit seinen Untergang. Nichts Äußeres, wie Vésteins Gewässer, zwingt ihn, es ist allein der ‚Zwang‘ der Heroik. Der Hinweis auf die Atlakviða hat seinen Sinn, Gísli selbst wird sich darauf beziehen. Dazu bietet sich ein Blick auf die berühmte Episode von der Umkehr Gunnars von Hlíðarendi an, wo die unheilvolle Entscheidung ebenfalls durch einen naturhaften Zusammenhang provoziert wird. Wir kommen darauf zurück. Vésteinn kehrt also nicht um und sogleich verdichten sich Unheilssignale und Warnungen. So wird nun mehrfach auf das auffällige Erscheinungsbild Vésteins hingewiesen, wie er daherreitet í blári kápu ok […] reið við hrynjandi (er hatte einen schwarzen Mantel um, […] und ritt mit einem klingenden Zaum), 62 was an das erwähnte nicht heilvolle Auftreten der Gísli-Sippe auf dem Thing denken lässt. Dazu erfährt man von Leuten, die von drohender Gefahr reden und fragt sich, woher die das wissen. Das braucht aber nur ein neuzeitliches Gemüt zu stören, viel wichtiger ist, dass damit Signale gesetzt werden, die auf Unheil deuten. Vésteinn ist nun bei Gísli angekommen, und der sucht seinen Bruder Þorkell auf, um ihm die Gastgeschenke Vésteins zu übergeben. Þorkell verweigert die Annahme, was den Autor zur Bemerkung veranlasst, dass þykkir honum um allt einn veg á horfask (und es schien ihm [Gísli], daß sich alles in einer Richtung bewege). 63 Wiederum dieses fatalistische Leitmotiv, wobei der Autor erneut die für den Sagastil typische Festlegung auf die bloß äußere Wahrnehmung innerer Vorgänge durchbricht und zu wissen beansprucht, was in den Menschen vorgeht. Mit der nun folgenden Schilderung der ungewöhnlichen Umstände der Ermordung Vésteins wollte der Autor die Lage der Menschen der Frühzeit in ihrer Ausgeliefertheit an archaische Gesetze und an das Schicksal vor Augen führen. Ein nächtliches Unwetter reisst die Dächer weg und bedroht die Heuvorräte. Vésteinn will mithelfen, doch Gísli lehnt ab. Offenbar eine dieser Vorsichtsmaßnahmen Gíslis, die dann das Gegenteil bewirken. Vésteinn und seine Schwester bleiben im Hause zurück. Vésteinn liegt wach, als vor Tagesanbruch jemand eindringt und ihm einen Spieß durch die Brust stößt, was er mit der sagahaften trockenen Bemerkung quittiert: „Hneit þar.“ („Der saß! “) 64 Er will aufstehen und stürzt tot zu Boden. Der Mörder bleibt phantomhaft. An den Reaktionen Gíslis und seiner Gattin zeigt der Verfasser nun, wie sehr die Blutrache das Dasein dieser Menschen bestimmte. Selbst noch das umfassende Gesamtgemälde isländischer Frühzeit, die Njáls saga, wird davon geprägt sein. Auðr will verhindern, dass ihr Gatte in den Blutrachemechanismus hineingezogen wird und verlangt vom furchtsamen Knecht Þórðr den Spieß aus der Wunde zu ziehen und sich somit zum Rachevollzug zu verpflichten, doch da kommt Gísli und nimmt das auf sich, zieht den Spieß heraus, verbirgt die blutige Waffe in einer Schublade, er 62 Gísla saga, S. 41 (Die Saga von Gisli, S. 49). 63 Gísla saga, S. 42 (Die Saga von Gisli, S. 50). 64 Gísla saga, S. 43 (Die Saga von Gisli, S. 51). <?page no="68"?> Teil II: Das Epos in Island 60 wird sie ja dann selbst verwenden, und lässt sich dann am Bettrand nieder. Vor Jahren hat Siegfried Beyschlag auf das typisch Sagahafte dieser Bewegung hingewiesen. Der Autor sagt hier nicht, was in Gísli vorgeht; er vertraut es dieser „nebensächlichen“ Geste an, die mehr sagt als Worte. Er gibt damit zu verstehen, dass Gísli - eingebunden in die isländische Frühzeit - der Verpflichtung zur Rache fraglos nachkommen wird, dies aber bereits aus einer gebrochenen Haltung heraus geschieht. Eine ähnliche humanisierende Tendenz offenbart der Autor auch am Verhalten der unmittelbar betroffenen Frauengestalt. Auðr ist nicht mehr die typische archaische Hetzerin. Noch die Njála wird sich mit diesem Frauentyp auseinanderzusetzen haben. Wenn Auðr den völlig ungeeigneten Versuch macht, dem unbeteiligten und ängstlichen Þórðr die Rachepflicht zu übertragen, so hat das wenig zu tun mit einer zu erwartenden feierlichen ‚Weihe‘ zum Rachevollzug. Das Gespräch zwischen Gísli und seinem Bruder im Anschluss an das Begräbnis weist in dieselbe Richtung, wenn Þorkell zweimal die fast modern anmutende Frage stellt: „Hversu bersk Auðr af um bróðurdauðann? “ („Wie trägt es Aud, daß ihr Bruder tot ist? “) 65 Und wenn Gísli darauf antworten kann „hon bersk af lítt, ok þykkir mikit“ („Sie trägt es tapfer, so nah es ihr geht.“); 66 Gíslis Strophe Hylr á laun und líni […] (Hüllt unters Linnen still […]) 67 bekräftigt diesen Einblick ins Innere. Der Mord an Vésteinn bleibt auf den engsten Kreis beschränkt, die Öffentlichkeit, das Thing, nimmt kaum Anteil. Die Schilderung von Vésteins Ermordung wird abgeschlossen durch eine seltsame Episode. Eine Magd, von Gísli ausgeschickt, überbringt die Nachricht von der Ermordung Vésteins an den Hof Þorgíms. Þorkell, der Vésteinn gegenüber Groll hegen musste wegen der Liebesaffäre, meint, das habe wenig Bedeutung. Þorgrímr reagiert korrekt. Das Ganze ist eigenartig martialisch eingerahmt: Þorgrímr nef mit der Axt in der Hand und Þorkell mit Schwert, spannenlang aus der Scheide gezogen. Sagt das etwas aus über den Mörder? Auch die übrigen Mannen in Waffen. Alles bleibt aber im Bereich der Sippe; selbst beim Begräbnis spielt die Öffentlichkeit keine Rolle. Die Schilderung der entsprechenden nächtlichen Ermordung Þorgríms hat nichts ihresgleichen in der Sagaliteratur und kontrastiert mit der Tötung Vésteins. Gísli hat sich ans Lager seiner Schwester und ihres Gatten herangepirscht. Er tastet herum und tekr á brjósti (berührt Thordis an der Brust) 68 seiner Schwester mit kalter Hand. Þórdís hält dies für eine Geste ihres Gatten - hon hugði (sie hatte geglaubt), 69 wie der Autor zu wissen vermeint! Die Kälte der Hand evoziert für den Leser eher Leichenkälte. Die beiden schlafen wieder ein, Gísli wärmt seine Hand und berührt nun Þorgrímr, was dieser offenbar für einen Annäherungsversuch hält - ein sacht erotischer Unterton ist kaum zu leugnen. Doch statt einer Liebkosung durch seine Frau widerfährt ihm der tödliche Stich mit Grásíða. Im Gegensatz zur Tötung 65 Gísla saga, S. 46 (Die Saga von Gisli, S. 53). 66 Gísla saga, S. 46 (Die Saga von Gisli, S. 53). 67 Gísla saga, S. 47 (Die Saga von Gisli, S. 53). 68 Gísla saga, S. 53 (Die Saga von Gisli, S. 60). 69 Gísla saga, S. 53 (Die Saga von Gisli, S. 60). <?page no="69"?> Gísla saga 61 Vésteins ist aber nun von dieser Unheilswaffe keine Rede mehr, sie wird einfach entfernt. Ist damit der unheilvolle Rachemechanismus durchbrochen? Man fragt sich, was der Autor mit der außerordentlichen fast peniblen Ausführlichkeit der Vorbereitungen von Gíslis Mordtat bezwecken wollte. Manches dabei entzieht sich unserer Einsicht. Er wollte wohl zeigen, dass Gísli mit seiner sorgfältigen Planung und Durchführung seiner Tat unbedingt zu verhindern suchte, dass sie aufgeklärt würde, somit weiteres Unheil abgewendet werden könnte. Sein Kalkül scheint auch aufzugehen, doch da ist der Grabhügel Þorgríms! Die Ermordung Þorgríms stellte eine Art Gleichgewicht her und brachte das gestörte Verhältnis der Brüder wieder einigermaßen in Ordnung, so dass Gísli sagen konnte „at nú sé okkart vinfengi sem þá, er bezt hefir verit“ („daß es um unser beider Freundschaft wieder stünde wie in unsrer besten Zeit“). 70 Doch der Zauberer Þorgrímr nef ist noch da. B rkr, der Bruder des ermordeten Þorgrímr, veranlasst den Zauberer, dass er seiddi seið (einen Zauber bestellte), 71 der bewirken solle, dass dem Mörder keine Unterstützung nützlich sein würde. Dann wendet sich der Sagaautor dem Grabhügel Þorgríms zu, dessen Südseite immer schneefrei blieb, weil Gott Freyr, dessen großer Verehrer Þorgrímr war, nicht wollte, dass zwischen ihnen Frost herrsche - at frøri á milli þeira (daß es zwischen ihnen fröre). 72 Damit kommt eine mythische Komponente ins Spiel, die es zu beachten gilt, wenn dann der Grabhügel ins Gesichtsfeld rückt. Gísli gelingt es, den bösen Zauberer zu beseitigen, und die Familien haben die gewohnten Spiele aufgenommen. Alles scheint wieder in normalen Bahnen zu verlaufen. Während einer Spielunterbrechung bessert Gísli ein Spielutensil aus und horfir á hauginn Þorgríms (dabei wandte er sich Thorgrims Hügel zu). 73 Der Anblick dieses ungewöhnlichen Grabhügels veranlasst ihn, eine Strophe zu zitieren, was er æva skyldi (niemals hätte sollen), 74 wie es ganz und gar unsagahaft heißt. In dieser Strophe, skaldisch verschlüsselt, verrät sich nämlich Gísli als Mörder Þorgríms. Geht von diesem Grabhügel, ausgezeichnet durch die Beziehung zum Gott Freyr, gleichsam ein Zwang aus, vergleichbar dem, der von den hinabstürzenden Gewässern bei Vésteins Entschluss ausging oder was Gunnarr in der Njála beim Anblick der Landschaft die berühmten Worte sagen lässt: „F gr er hlíðin […]“ („Wie schön ist die Halde! “)? 75 Wir werden darauf zurückkommen. Wie dem auch sei, die letzte Entscheidung über Gíslis Schicksal wird dann doch eindeutig beim Menschen liegen, bei Gíslis Schwester Þórdís, der Gattin des Ermordeten, die die Strophe entschlüsselt und den Inhalt preisgibt, worauf bezeichnenderweise Gísli erneut mit einer 70 Gísla saga, S. 56 (Die Saga von Gisli, S. 63). 71 Gísla saga, S. 56 (Die Saga von Gisli, S. 63). 72 Gísla saga, S. 57 (Die Saga von Gisli, S. 63). 73 Gísla saga, S. 58 (Die Saga von Gisli, S. 64). 74 Gísla saga, S. 58 (nicht übersetzt in der verwendeten dt. Ausgabe, vgl. Die Saga von Gisli, S. 64). 75 Brennu-Njáls saga, hg. von Einar Ól. Sveinsson, Reykjavík 1954 (Íslenzk fornrit XII), S. 182. Deutsche Übersetzung (für dieses und alle folgenden Zitate aus der Njáls saga) aus: Njals saga. Die Sage von Njal und dem Mordbrand. Herausgegeben und aus dem Altisländischen übersetzt von Hans- Peter Naumann. Münster 2005 (Skandinavistik Sprache - Literatur - Kultur 3), S. 128. <?page no="70"?> Teil II: Das Epos in Island 62 Strophe reagiert. Zwei Wendepunkte, die über Leben und Tod entscheiden, sind also jeweils mit einer skaldischen Strophe verbunden, was sie heraushebt und zugleich das besondere Gewicht der skaldischen Strophe erweist. Das einemal spielt über dem unter dem Schutz des Gottes Freyr stehende Grabhügel Mythisches herein als wirkende Macht, das anderemal die alte heldenepische Überlieferung mit ihren Verhaltensweisen, worauf wir gleich näher eingehen werden. Die Gísla saga entwirft damit ein eindringliches Bild von den Vorfahren aus der isländischen Frühzeit, leistet damit einen Beitrag zur ‚Erhellung‘ dieser Zeit aus der Sicht des 13. Jahrhunderts und füllt damit die knappen Erwähnungen einzelner namentlich genannter Vorfahren bei Ari und in der Landnámabók mit Leben. Bemerkenswert ist, wie vor allem Gísli als Mensch dabei fassbar wird. B rkr, der neue Gatte von Gíslis Schwester, ist zutiefst betroffen vom Tod seines Bruders und der Tatsache, dass es keine Genugtuung für diese Tat gab. Er macht sich nun auf den Weg til bús síns (trifft Anstalten für die Einrichtung seiner neuen Wirtschaft und für das gesamte Hauswesen). 76 Þórdís geleitet ihn hinaus. Nun will B rkr wissen, warum sie nach den Spielen svá ógl ð fyrst á hausti (so unfroh damals im Herbst) 77 gewesen sei (man achte auf die Jahreszeit; haust deutet auf Unheil hin! ). Wie die beiden am Grabhügel Þorgríms vorbeikommen, bleibt Þórdís brüsk stehen und gesteht ihrem Mann, dass Gísli der Mörder sei. Der Grabhügel veranlasst ihr ruckartiges Stehenbleiben und bewirkt das fatale Geständnis, wie vorher, als der Anblick des Grabes Gísli zur Rezitation der verhängnisvollen Strophe veranlasst hatte. Die Erzählung ist an einem entscheidenden Punkt angelangt; es geht um die Pflicht, Rache zu nehmen für die Tötung Þorgríms. In der heldenepischen Überlieferung ist das die Stunde der Frau, die als die Hetzerin schlechthin die Männer zur Rache aufstachelt. Noch die Njála wird sich, wie wir sehen werden, mit diesem Frauentyp - der isländischen Frühzeit zugehörig - auseinandersetzen müssen. Þórdís verrät also den Namen des Mörders ihres Gatten, vollzieht aber keine hv t (Aufhetzung) - es geht um ihren Bruder! B rkr reagiert typisch für eine hv t, wenn es heißt er verðr ákafliga reiðr (maßlos erregt). 78 Þorkell relativiert die Aussage seiner Schwester - wenn wir der Handschrift Y folgen - und fügt hinzu „opt eru k ld kvenna ráð“ („Oft sind kalt der Weiber Räte! “), 79 wobei das Adverb opt das Apodiktische der sprichwörtlichen Äußerung ebenfalls relativiert! Die altheroisch kompakte hv t- Szene beginnt sich also aufzulösen. Þorkell, der B rkr begleitet, entfernt sich unter einem Vorwand und berichtet Gísli, dass er als Mörder entlarvt sei, da seine Schwester rannsakat vísuna (die Strophe herausgekriegt) habe. 80 Gísli schweigt auf das hin; er versinkt also in Schweigen und erst aus diesem vielsagenden Schweigen steigt die Strophe auf, in der er das Verhalten seiner Schwester am vergleichbaren Verhalten der nibelungischen Guðrún misst, die ihren Gatten opferte, um die Brüder zu rä- 76 Gísla saga, S. 60 (Die Saga von Gisli, S. 66). 77 Gísla saga, S. 61 (Die Saga von Gisli, S. 66). 78 Gísla saga, S. 61 (Die Saga von Gisli, S. 66). 79 Gísla saga, S. 61 (Die Saga von Gisli, S. 67). 80 Gísla saga, S. 61f (Die Saga von Gisli, S. 67). <?page no="71"?> Gísla saga 63 chen. Für sich selbst nimmt Gísli diese altheroische Haltung nicht mehr in Anspruch, wenn er konstatiert, dass seine Schwester ihm hefir […] gefit […] dauðaráð. 81 Das ist nicht nibelungische Heroik, sondern Resignation. Der Autor sieht also das Dasein seiner Vorfahren eingebettet in Mythos und Heroik und zeigt das an diesem Einzelschicksal. Ihm lag daran, eine Atmosphäre schicksalhafter Ausweglosigkeit zu schaffen, was sich auch in der Verwendung des Begriffs gæfumaðr (Mensch, der Glück hat) äußert. So heißt es zweimal, dass Gísli zwar tüchtig war, aber kein gæfumaðr, was abschließend eingeschränkt wird zu eigi í llum hlutum gæfumaðr (wenn er auch nicht in allem ein Mann des Glückes war). 82 Extrem ist diese Ausrichtung auf ógæfa (Glücklosigkeit) in der Grettis saga; bei Egill spielt das keine Rolle. Der Autor der Gísla saga traute aber seinen Gestalten zu, gegen das Unausweichliche anzugehen und bei all diesen Zwängen ein hohes Maß an anspruchsvoller Menschlichkeit zu entwickeln. Als Beispiel dafür, wie sehr dem Autor daran lag, auch diesen Aspekt frühzeitlichen Daseins herauszuarbeiten, sei an die Schilderung von Gíslis heroischem Untergangskampf erinnert, bei dem Gíslis Gattin tatkräftig Anteil nimmt, was Gísli zu der fast ‚modernen‘ Feststellung veranlasst: „Þat vissa ek fyrir l ngu, at ek var vel kvæntr, en þó vissa ek eigi, at ek væra svá vel kvæntr sem ek em.“ („Das wußte ich schon sehr lange, daß ich gut beweibt war, aber das wußte ich doch nicht, daß ich so gut beweibt war, wie ich’s bin! “). 83 Der Autor zeigt dann eine Þórdís, die den Tod ihres Bruders rächen will, doch eben nicht mehr aus dem altheroischen Pathos des Atliliedes heraus. Þórdís ist nun im isländischen bäuerlichen Alltag angekommen, wenn sie feststellt: „Gráta mun ek Gísla, bróður mínn“ („Weinen wird ich um Gisli, meinen Bruder“) 84 und versucht, Eyjólf zu erstechen. Wir halten hier inne. Wenn es abschließend heißt, dass Gíslis Gattin Auðr in Dänemark Christin wird, aber nicht zurückkehrt, so hat das, wie in anderen Sagas auch, keinen Einfluss mehr auf das Geschehen. Erst die Njála wird versuchen, diesem stereotypen Anhängsel episches Leben einzuhauchen. Die Isländer hatten im Hochmittelalter innerhalb kurzer Zeit ein großes Quantum volkssprachlicher Literatur hervorgebracht, auch wenn wir nur auf die isländischnordischen Stoffe achten, wozu noch die Aneignung südlicher Werke in voller Breite kommt. Beim Nordischen im engeren Sinn stehen die norwegische Königsgeschichte und im 13. Jahrhundert die Sturlunga saga im Vordergrund, was geschlossene Quantitäten betrifft. Aus beiden entstand aber kein einheimisches Epos. Bei der großen Königsgeschichte, gipfelnd in Snorris Heimskringla, stand dem u.a. die Hagiographie - Óláfr helgi - im Wege und bei der Sturlunga saga die zu große Wirklichkeitsnähe. Doch da waren die rasch sich entwickelnden Sagas über die eigenen 81 Gísla saga, S. 62 (In der dt. Ausgabe nicht übersetzt, gemeint ist: seine Schwester habe etwas getan [indem sie die Strophe herausbekommen hatte], was den Tod - nämlich seinen eigenen - zur Folge hat). 82 Gísla saga, S. 115 (Die Saga von Gisli, S. 106). 83 Gísla saga, S. 112 (Die Saga von Gisli, S. 103). 84 Gísla saga, S. 116 (Die Saga von Gisli, S. 106). <?page no="72"?> Teil II: Das Epos in Island 64 Vorfahren der isländischen Frühzeit, einer Epoche die offenbar im kollektiven Bewusstsein als Gründerzeit des neuen Gemeinwesens empfunden wurde. Sie erwies sich als eposträchtige Zeit, in die zu versenken der Selbstvergewisserung diente, wofür bei anderen germanischen Stämmen die Grundlagen fehlten. Die Sagas stellen bekanntlich ein Novum in der Literaturgeschichte dar. Wir setzten mit der Egils saga ein, die von einem prominenten isländischen Vorfahren handelt und noch wesenhaft an die Königsgeschichte gebunden ist, in ihrer Eigenständigkeit sich aber schon davon emanzipiert. Es sollte eine lange Reihe von Darstellungen isländischer Einzelschicksale aus der Frühzeit folgen, woraus wir stellvertretend die Gísla saga herausgegriffen haben, die nur noch eines kurzen norwegischen Vorspiels bedurfte ohne Bindung an die Königsgeschichte. Gegen Ende des Jahrhunderts kulminierte diese auf die volle literarische Durchdringung der eigenen isländischen Frühzeit ausgerichtete Erzählform in dem über 450 Seiten umfassenden opus magnum der Njáls saga. Bei diesem Umgang hätte man erwarten können, dass der norwegischen Königsgeschichte mehr Raum gegönnt würde. Für den Verfasser war aber der norwegische Ausgangspunkt offenbar kein Problem mehr. Sein Blick war ganz auf das isländische Gemeinwesen der Frühzeit gerichtet. Dieses Werk, das innerhalb der Sagaliteratur und darüber hinaus nicht seinesgleichen hat, erfüllt m.E. die Erwartungen, die wir an ein großes Epos zu stellen pflegen in höherem Maße als etwa der Beowulf, das Rolandslied oder sogar das Nibelungenlied, was im Folgenden zu zeigen versucht werden soll. Von einem Nationalepos zu sprechen wie bei la douce France in den Chansons de geste, wäre angesichts der politischen Unbeträchtlichkeit Islands übertrieben, obgleich nicht auszuschließen ist, dass dieses überdimensionierte Werk auch in einem bewussten Spannungsverhältnis zur norwegischen Königsgeschichte zu sehen sei; immerhin griff ja um 1260 der norwegische König nach Island, das sich sehr wohl als eigenständig empfand. Die Isländer um diese Zeit waren die Fehden der Sturlungazeit leid und sicherlich nicht unzufrieden mit dem Anschluss an Norwegen; an einem beeindruckenden Dokument ihrer Identität sollte es aber nicht fehlen. Die Njála war so ein Dokument. Die Njáls saga, die sich an Umfang und Perspektivenreichtum von den ‚normalen‘ Sagas abhebt, setzt wie diese ein - hét maðr […] (ein Mann hieß) 85 - damit wird versichert, dass das, was folgen wird, dem bekannten fruchtbaren Wurzelgrund altisländischer Überlieferungen entstammt. Diese traditionelle Einführung erschöpft sich aber nicht in ihrer Stereotypik, denn mit dieser Namensnennung tut sich ein weiter Horizont auf, das Thing, und damit das isländische Gemeinwesen der Frühzeit mit seinen Menschen und Problemen, was dann auch tatsächlich den Mittel- 85 Brennu-Njáls saga, S. 5 (Njals saga, S. 7) (wie Anm. 75). Njáls saga <?page no="73"?> Njáls saga 65 punkt dieser Saga bilden wird. M rðr Gígja Sighvatsson, dieser maðr, ist nämlich ein bedeutender málafylgjumaðr (ausgezeichnter Rechtsbeistand) und l gmaðr (in gesetzlichen Angelegenheiten so beschlagen), und es geht um l gligir dómar (rechtsgültige Urteile). 86 Mit diesem präzise erweiterten Horizont ist ein handlungsmäßiges Umfeld gegeben, das potentiell Aktionsraum eines Epos sein kann. Dazu kommt es in dieser Einleitung zu einem erregenden Moment, das Spannung und Erwartung wecken musste und Großepisches evozierte, im Hinweis darauf, dass Frauenschönheit Quelle von Unheil sein kann. Der Verfasser erwähnt dies nicht nur nebenbei, sondern im Rahmen einer kleinen eindrucksvollen Szene. Eben hat er eine zweite bedeutende Person ins Geschehen eingeführt, einen gewissen H skuldr, und berichtet, dass dieser mit seinem Bruder Hrútr beisammensitzt. Seine Tochter Hallgerðr ist ebenfalls anwesend, ein hübsches Kind, wie es heißt, fríð sýnum ok mikil vexti ok hárit svá fagrt sem silki ok svá mikit, at þat tók ofan á belti (sie war hübsch und groß gewachsen, ihr Haar glänzte wie Seide und war so lang, daß es ihr bis über die Taille fiel). 87 H skuldr fragt nun seinen Bruder, ob er nicht auch finde, dass das Kind außergewöhnlich hübsch sei: „Þykki þér eigi f gr vera? “ („Ist sie nicht schön? “). 88 Hrútr aber schweigt, und erst als H skuldr insistiert, antwortet er: „Ærit f gr er mær sjá, ok munu margir þess gjalda“ („Sicher, das Mädchen ist schön, und manch einer wird es zu spüren bekommen“) 89 und fügt noch hinzu: „en hitt veit ek eigi, hvaðan þjófsaugu eru komin í ættir várar“ („Doch ich weiß nicht, woher die Diebesaugen in unsere Familie kommen“). 90 Bedeutsames Schweigen vor einer schicksalsschweren Aussage ist uns - siehe oben - auch in der Gísla saga begegnet. Hrúts Äußerung lässt an die antike Helena denke, deren Schönheit Unheil über Griechen und Trojaner brachte. Über die Trójumanna saga u.a. war dem Norden dieser Stoff vertraut. Es stellt sich in diesem Zusammenhang eine seltsame Koinzidenz ein, die das Nibelungenepos aus dem Südosten mit der Njáls saga im äußersten Nordwesten verbindet. Beide Werke stellen das kommende Geschehen unter die fatale ‚Helena-Formel‘, wie Heinzle es genannt hat. Beim Nibelungenlied dürfte diese Ansippung an das große Vorbild den großepischen Anspruch des Werkes nicht unerheblich erhöht haben. Der Autor verbindet mit dem Hinweis auf die Gefährlichkeit von Frauenschönheit noch etwas moralisch Belastendes, wenn Hrútr von Hallgerðs þjófsaugu spricht. Äußert sich darin die vielberufene mittelalterliche Frauenfeindlichkeit? Aber da ist ja noch die resolute, doch rechtschaffene Gattin Njáls! Das zweite Kapitel der Njála führt im Anschluss an die Aussagen über M rðr auf das Thing, das sich in dieser Saga als der Mittelpunkt des isländischen Gemeinwesens herausstellen wird. Auf dem Thing rät H skuldr seinem Bruder, um die Hand der Tochter M rðs, Unnr, anzuhalten, eine gute Partie. Die Verhandlungen verlaufen auch erfolgreich, in einem halben Jahr soll Vermählung sein. Man verlässt das 86 Brennu-Njáls saga, S. 5 (Njals saga, S. 7). 87 Brennu-Njáls saga, S. 6 (Njals saga, S. 7). 88 Brennu-Njáls saga, S. 7 (Njals saga, S. 7). 89 Brennu-Njáls saga, S. 7 (Njals saga, S. 7). 90 Brennu-Njáls saga, S. 7 (Njals saga, S. 7). <?page no="74"?> Teil II: Das Epos in Island 66 Thing. Nun kommt die Nachricht vom Tod des Bruders Hrúts in Norwegen und dass sein Erbe dort in Gefahr sei. Die typisch bäuerlichen Erbstreitigkeiten werden dann weiteren Zündstoff liefern. Die Vermählung wird verschoben, Hrútr bricht auf nach Norwegen. In der Egils saga, in der ebenfalls Rechtsfragen eine Rolle spielen, ist noch die Königsgeschichte als solche präsent in den beeindruckenden Gestalten von Haraldr hinn hárfagri (Harald Schönhaar) und Eiríkr Haraldarson blóðøx (Erich Blutaxt). In der Njála hat sich das verschoben. Gunnhildr konungamóðir (Gunnhild Königinmutter) ist an die Stelle der Könige getreten und das überdies eher in einem anekdotisch-schwankhaften Zusammenhang. Sie macht Hrútr sofort zu ihrem Geliebten und sorgt nebenbei dafür, dass seine Erbansprüche in seinem Sinn geregelt werden. Hrútr will dann heimkehren. Er leugnet gegenüber Gunnhildr, dass er auf Island eine Braut hat. Gunnhildr, die von sich behaupten kann, dass sie á svá mikit vald (so viel Macht) 91 über ihn, sagt voraus, dass er und seine Braut keine Erfüllung in der Ehe finden werden, was dann auch tatsächlich eintritt. Bei dieser Szene ist zu beachten, was man m.E. kaum bedacht hat, dass der Autor ein neues Bild von Gunnhildr entwirft, indem er sie humanisiert und sentimentalisiert, statt sie, wie noch in der Egils saga als böse Zauberin darzustellen; nur der Hinweis, dass sie Macht über Hrútr habe und ihre Voraussage deuten noch darauf hin. Gunnhildr spannt einen Goldring um Hrúts Hand und umarmt ihn zum Abschied. Dieses Abweichen vom üblichen Bild der Gunnhildr ist ein Indiz dafür, wie in dieser Saga die Sicht auf die Frühzeit und deren Personal sich differenziert und aufhellt. Die Ehe Hrúts mit Unnr wird auch prompt getrennt, was zu rechtlichen Problemen - Regelung von Vermögensfragen - führt. Der Autor schwenkt dann über zu der nun schon herangereiften Hallgerðr. Neben ihrer äußeren Erscheinung - ungewöhnliche Schönheit, schlanker Wuchs, herrliches Haar - erfährt man auch etwas über ihren Charakter: rlund ok skaph rð (eine verschwenderische Natur mit starkem Eigenwillen), 92 was aber im Rahmen des Normal-Menschlichen verbleibt. Ihr Vertrauter allerdings, Þjóstólfr, ein Totschläger und Bösewicht, übrigens kein gebürtiger Isländer, hat auf Hallgerðr einen schlechten Einfluss - at hann væri engi skapbœtir Hallgerði ([man sagte,] daß er Hallgerðs Charakter kaum mildern würde). 93 Mit Nachdruck legt der Autor als Geschehensraum das Menschliche fest und hält übertrieben Fornaldarsagahaftes energisch fern. Er überlässt das Böse nicht bequem dem Magischen, sondern sieht es als Möglichkeit der menschlichen Natur. Was nun folgt, bis hin zum Schluss, steht unter dem Kompositionsprinzip der Steigerung und rückt die isländische Frühzeit in ein besonderes Licht, was deren Aufwertung befördert und worin nicht zuletzt die raison d’être der eigenständigen Gattung der Saga liegen dürfte. Der Verfasser geht nun auf Hallgerðr ein. Es ergibt sich die Aussicht auf eine eheliche Verbindung. Als Freier wird ein gewisser Þorvaldr eingeführt, eigentlich eine gute Partie, nur sein Jähzorn wird vorsorglich vermerkt. 91 Brennu-Njáls saga, S. 21 (Njals saga, S. 16). 92 Brennu-Njáls saga, S. 29 (Njals saga, S. 22). 93 Brennu-Njáls saga, S. 30 (Njals saga, S. 22). <?page no="75"?> Njáls saga 67 Hallgerðs Vater bringt die Verhandlungen zum Abschluss, leider über den Kopf seiner Tochter hinweg, was sie tief verletzt. Bei den Ehen, um die es nun gehen wird, ist das Gesetz der Steigerung offenkundig, gestützt durch die epische Dreizahl. Mit dieser Steigerung verbindet sich auch eine Differenzierung im Menschlichen. In der Welt der Saga sind Mord und Totschlag nichts Ungewöhnliches und setzen oft die Handlung in Gang. Demgegenüber ist in der Njála die eher weniger spektakuläre Ohrfeige, psychologisch verständlich eingesetzt, dreimal das entscheidende Element im Geschehen. Die nicht minder folgenschwere Feindschaft zwischen Hallgerðr und Bergþóra, der Gattin Njáls, wird dann auf einen noch weniger spektakulären Anlass zurückgehen. Die erste Ehe der Hallgerðr steht nicht nur psychologisch unter einem ungünstigen Stern; es gibt da noch Reste eines archaisch-mythisch geprägten Vergangenheitsbildes, verkörpert im üblen Þjóstólfr und dem zauberkundigen Svanr, einem Verwandten Hallgerðs. Beide freunden sich an und beim Vermählungsgelage tuscheln sie so sehr miteinander, dass es auffällt. Hallgerðs provokative Lustigkeit lässt ebenfalls nichts Gutes ahnen. Eine gespannte Atmosphäre, die der Autor zu vermitteln weiß. Über die Verschwendungssucht Hallgerðs kommt es zu dem fatalen Wortwechsel mit ihrem Gemahl, was zur deftigen Ohrfeige führt. Es heißt nun, dass Hallgerðr sat úti (vor dem Haus [saß]); 94 sie ist zutiefst niedergeschlagen. In dieser nebensächlich scheinenden Feststellung des vera úti dürfte mehr stecken. Mit Frauen, die sich in dieser vera-úti-Situation befinden, scheint es eine besondere Bewandtnis zu haben, worin archaische Vorstellungen wirksam sein dürften. Auch die eddische Dichtung weiß davon. So sucht Odin in der V luspá die V lva auf, die (Str. 28) Ein sat hon úti (Allein saß sie draußen), 95 um wichtige Kunde von ihr zu erhalten. Und von Brynhildr heißt es in der Sigurðarkviða in skamma (Str. 6) ebenfalls: Ein sat hon úti und über das Schicksal Sigurðs befindet: „Hafa skal ek Sigurð / - eða þó svelti! […]“ (Allein saß sie draußen […] „Haben muß ich Sigurd/ - oder sonst möge er sterben! […]“). 96 Bei Hallgerðr geht es um Leben oder Tod ihres Gatten. Aus dieser Position heraus vollzieht sie de facto gegenüber ihrem Vertrauten Þjóstólfr eine hv t - Aufhetzung. Þjóstólfr versteht sofort, dass er den Backenstreich rächen muss und es fällt auch das entsprechende Wort hefna (rächen). 97 Mit hefna ist ein Stichwort gefallen, das die Handlung beherrschen wird bis - ironischerweise - hin zu den letzten Worten Njáls, der zeitlebens gegen den Rachegeist angegangen ist. Nun lehnt er das Angebot Flosis, das brennende Haus zu verlassen ab, denn er sei maðr gamall ok lítt til búinn at hefna sona minna ([ich bin] ein alter Mann und tauge schwerlich dazu, 94 Brennu-Njáls saga, S. 34 (Njals saga, S. 25). 95 Edda. Die Lieder des Codex Regius (wie Anm. 31), S. 7. Deutsche Übersetzung aus: Die Götterlieder der Älteren Edda. Übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Arnulf Krause. Stuttgart 2006, S. 17. 96 Sigurðarkviða in skamma, in: Klaus von See et al. (Hg.): Kommentar zu den Liedern der Edda. Bd. 6: Heldenlieder, Heidelberg 2009, S. 330. 97 Brennu-Njáls saga, S. 34 (Njals saga, S. 26). <?page no="76"?> Teil II: Das Epos in Island 68 meine Söhne zu rächen). 98 Man geht kaum fehl, wenn man die Njáls saga liest als die grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen Rache, worin der christliche Verfasser das Problem der frühen isländischen Gesellschaft sah. Er widmete darum auch der hv t besondere Aufmerksamkeit als Domäne der Frauen Hallgerðr, Bergþóra und Hildigunnr. Þjóstólfr zieht mit seiner Axt, die das dominierende Dingsymbol der Þjóstólfr- Szenen ist, los und erschlägt Hallgerðs Gatten. Hallgerðr schickt den Täter zu ihrem Onkel, dem zauberkundigen Svanr, und verhindert so die Bestrafung des Täters. Die Parallelszene, die aus der zweiten - nun aber glücklichen Ehe hervorgeht, ist in das gleiche Gerüst eingebettet wie die eben besprochene, intendiert aber zugleich die Loslösung davon; ein beachtlicher erzählerischer Kunstgriff. Hallgerðs zweite Vermählung steht unter einem günstigen Stern. Hallgerðr ist damit einverstanden, Glúmr zu heiraten, und das Paar lebt in sehr gutem Einvernehmen. Der Ehe entspringt auch eine Tochter, die Þorgerðr genannt wird, womit über Hallgerðs Vorfahren eine Beziehung zu Sigurðr Fáfnisbani hergestellt wird - eine Konzession an die heldenepische Tradition. Inzwischen erfährt man, dass der üble zauberkundige Svanr beim Fischen ertrunken sei. Er soll in einen Berg eingetreten sein, wo er empfangen wurde; noch ein mythischer Rest. Bedenklich allerdings, dass Hallgerðr diesen Verlust sehr bedauert; aber immerhin, ein Bösewicht weniger, bleibt noch Þjóstólfr. H skuldr hat ihn verjagt, doch Hallgerðr will ihn aufnehmen, allerdings nicht ohne die Zustimmung ihres Mannes, denn, wie sie betont, es sei „Vel um ástir okkrar“ („Ja, wir lieben uns“). 99 Sie umarmt ihren Mann und erhält die Zustimmung. Glúmr und Þjóstólfr geraten natürlich bald aneinander, worüber Glúmr seiner Gattin berichtet - das Ganze also betont in realistisch-alltägliches Licht getaucht! Hallgerðr nimmt Þjóstólfr in Schutz, es entwickelt sich ein Wortwechsel, der mit einem Backenstreich endet. Nun zeigt sich aber die humane Hallgerðr, wenn es heißt Hon unni honum mikit (Sie liebte ihn sehr). 100 Doch da taucht Þjóstólfr auf und erfährt, was Hallgerðr widerfuhr, von der aber nun keine Aufhetzung - hv t - ausgeht, im Gegenteil. Dessen bedarf es nun auch nicht mehr, das Böse hat sich verselbständigt. Þjóstólfr gekk í braut ok glotti við (ging weg und grinste höhnisch) 101 - ein unheilvolles Grinsen. Er tötet Glúmr und kehrt mit seiner blutigen Axt, die diesen Abschnitt als Symbol beherrscht, zurück. Hallgerðr schickt den Mörder zu ihrem Onkel Hrútr, der ihn auch prompt erschlägt. Damit ist dieser Bösewicht auch liquidiert und man könnte sagen, dass nun die unheilvollen Reste aus der archaisch-mythischen Welt beseitigt seien und die Bahn frei ist für Neues, in dessen Licht der Autor nun die isländische Frühzeit getaucht sehen will. Unheil und das Böse sind aber mit dieser Humanisierung Hallgerðs und der Liquidierung des typischen Bösewichts nicht aus der Welt geschafft. Es wird nun darum gehen, das Böse als integrierenden Bestandteil der frühisländischen Gesellschaft darzustellen und sich damit auseinanderzuset- 98 Brennu-Njáls saga, S. 330 (Njals saga, S. 228). 99 Brennu-Njáls saga, S. 46 (Njals saga, S. 34). 100 Brennu-Njáls saga, S. 48 (Njals saga, S. 35). 101 Brennu-Njáls saga, S. 48 (Njals saga, S. 36). <?page no="77"?> Njáls saga 69 zen. Eben diese Hallgerðr wird daran Anteil haben, etwa in Verbindung mit dem eitlen Sigmundr, oder der heimtückische M rðr Valgarðsson, ein normales Glied der Thinggemeinschaft. Für eine zu erwartende dritte eheliche Verbindung Hallgerðs scheinen nun die Voraussetzungen nicht ungünstig zu sein. Prompt folgt auch die Einführung entsprechender neuer Hauptpersonen, wobei der Autor auf eine breite mündliche Überlieferung aufbauen und mit entsprechender Aufmerksamkeit des Publikums rechnen konnte; es geht um Gunnarr und Njáll. Die Verbindung mit dem bisher Erzählten ergibt sich zwanglos, da Gunnarr als Verwandter der Unnr in deren Rechtsstreit einbezogen werden kann. Die Tötung der beiden Ehemänner hatte noch nicht zu einer Einbeziehung des Things geführt, was sich nun ändern wird mit Gunnarr und Njáll. Mit dem Thing gerät dann auch immer mehr das isländische Gemeinwesen der Frühzeit in den Mittelpunkt des Geschehens. Diese Erweiterung des Horizonts bildet die Grundlage dafür, dass aus einer bloßen individuellen Isländersaga das Epos werden konnte. Der Rechtsstreit wird zugunsten Unnrs gelöst, nicht ganz ohne Njáls Kniffe und Gunnars Drohung mit Zweikampf. Auf das letztlich gütliche Ende der Affäre fällt allerdings ein Schatten, denn Hrútr sagt voraus - das gehört zu seiner Rolle -, dass Gunnarr für seine erfolgreiche Intervention letztlich übel belohnt werde, was Gunnarr mit heroischem Gleichmut quittiert: „Ferr þat sem má“ („Es kommt, wie es kommen muß“). 102 Die Thingöffentlichkeit reagiert positiv; Menn ríðu heim nú af þinginu, ok hafði Gunnarr ina mestu sœmð af málinu. (Nun ritten die Leute vom Thing heim, und Gunnar gewann durch den Ausgang der Sache hoch an Ansehen.) 103 Gunnarr beansprucht keine Belohnung seitens Unnr, hofft aber, wenn nötig, auf Unterstützung seitens ihrer Familie. Was unmittelbar darauf folgt, lässt in dieser Hinsicht nichts Gutes ahnen. Dabei geht es aber nicht um dumpfe Schicksalsverfallenheit, sondern um menschliche Verhaltensweisen. Im nächsten Kapitel wird nämlich der Personenkreis im negativen Sinn erweitert. Es tritt ein gewisser Valgarðr ins Geschehen ein. Unnr heiratet ihn, wie es offenbar missbilligend heißt án ráði allra frænda sinna (ohne die Zustimmung aller ihrer Verwandten). 104 Dieser Valgarðr var maðr grályndr ok óvinsæll (der Mann war verschlagen und unbeliebt). 105 Dieser Ehe entsprang ein Sohn namens M rðr. Von ihm heißt es hann var slœgr maðr […] ok illgjarn (er war ein Heimtücker und zog hinterhältig seine Fäden); 106 er wird Gunnarr übel mitspielen. Wiederum nicht bloße Schicksalsverfallenheit, sondern menschliche Bosheit als Element der Frühzeit. Unmittelbar darauf folgt das Gegenbild; die Sippe Njáls mit ihrem Umfeld wird ins Geschehen eingeführt. Unter den Söhnen Njáls wird Skarpheðinn herausgehoben. Damit sind Grundlagen aus dem rein Menschlichen gelegt und der Autor kann auf einen neuen typischen Sagaerzählstrang überleiten, die Ausfahrt des Isländers nach 102 Brennu-Njáls saga, S. 67 (Njals saga, S. 47). 103 Brennu-Njáls saga, S. 68 (Njals saga, S. 47). 104 Brennu-Njáls saga, S. 70 (Njals saga, S. 48). 105 Brennu-Njáls saga, S. 70 (Njals saga, S. 48). 106 Brennu-Njáls saga, S. 70 (Njals saga, S. 48). <?page no="78"?> Teil II: Das Epos in Island 70 Norwegen. Der Autor weicht aber dabei von der üblichen Typik ab. Ein Norweger, der bei Gunnarr den Winter verbracht hat, will ihn dazu bewegen, at hann skyldi fara utan (ins Ausland zu fahren). 107 Gunnarr zeigt seltsamerweise dafür kein Interesse. Er sucht Njáll auf und will erfahren, ob diese Ausfahrt ráðligt (vernünftig) 108 sei, was Njáll bejaht. Dieses ungewöhnliche Desinteresse Gunnars an der üblichen Ausfahrt des Isländers muss doch etwas bedeuten, auch wenn man nicht das Gras wachsen hört. Gunnarr gewinnt auch dadurch eine Sonderstellung als überzeugter Isländer. Das lässt vorausdenken an seine Weigerung, auch nur drei Jahre ins Exil zu gehen und Island zu verlassen. Es muss auch auffallen, dass das übliche Ziel der Ausfahrt, der norwegische Hof, nur kurz erwähnt wird; festgehalten wird nur der Tod Gunnhilds - eine positive Tatsache. Man kann darin eine weitere Distanzierung von der norwegischen Königsgeschichte sehen. Man erfährt stattdessen von erfolgreichen Kämpfen zur See, wobei Gunnarr die durch seiðr (Zauber) aufgeladene Waffe eines gewissen Hallgrímr erbeutet, einen atgeirr (Hauspieß), 109 in dem es syngr […] áðr hátt (erklingt der Spieß vorher laut), 110 bevor ein Totschlag folgt, ein typischer archaisierender ‚Tribut‘ an Publikumserwartungen, vergleichbar der Waffe Grásiða der Gísla saga. Gegenüber besiegten Gegnern verhält sich Gunnarr großherzig, ist nicht beutegierig und rät ihnen fara til fóstrjarða sinna (in ihre Heimat zurückzufahren). 111 Mit diesem Begriff rechnet man in diesem Kontext nicht; seine Verwendung zeugt m.E. wiederum von der ‚Heimatverbundenheit‘ Gunnars und es fällt einem wiederum seine Weigerung ein, Island zu verlassen, wobei er sogar den Rechtsbruch in Kauf nimmt. Die germanische Überlieferung kennt m.E. noch kein Äquivalent zu fóstrjörð; dies setzt altrömisches Patria-Denken voraus. Siehe dazu oben zum Hildebrandslied (V. 24). Bei der Schilderung von Gunnars Treiben in den dänisch-südschwedischen Gewässern spielt in veredelter Form und unter Ausblendung brutaler Exzesse Fornaldarsagahaftes herein wie schon in der Egils saga, dort mit aller Brutalität. Gunnars Ruhm führt ihn schließlich an den dänischen (! ) Hof Harald Gormssons. Der König bietet ihm sogar kvánfang ok ríki mikit (eine Heirat und eine Herrschaft) 112 an, doch Gunnarr lehnt ab, denn er will fyrst til Íslands (zuerst nach Island) 113 reisen! Der König sagt voraus: „Þá munt þú aldri aptr koma til vár“ („Dann wirst du nie wieder vor uns treten“). 114 Gunnarr überlässt das wiederum dem Schicksal: „Auðna mun því ráða, herra“ („Darüber bestimmt das Schicksal, Herr“)! 115 Mit reichen Gaben ausgestattet, verlässt er den dänischen Hof. Norwegen bleibt nicht gänzlich ausgeblendet. Auf der Rückreise macht Gunnarr auf Vorschlag seines Begleiters Station beim Jarl 107 Brennu-Njáls saga, S. 74 (Njals saga, S. 50). 108 Brennu-Njáls saga, S. 74 (Njals saga, S. 50). 109 Brennu-Njáls saga, S. 80 (Njals saga, S. 53). 110 Brennu-Njáls saga, S. 80 (Njals saga, S. 53). 111 Brennu-Njáls saga, S. 81 (Njals saga, S. 54). 112 Brennu-Njáls saga, S. 82 (Njals saga, S. 55). 113 Brennu-Njáls saga, S. 82 (Njals saga, S. 55). 114 Brennu-Njáls saga, S. 82 (Njals saga, S. 55). 115 Brennu-Njáls saga, S. 82 (Njals saga, S. 55). <?page no="79"?> Njáls saga 71 Hákon. Es wird angemerkt, dass Gunnarr Gefallen an Bergljót, einer Verwandten des Jarls fand, und dieser es nicht ungern gesehen hätte, dass Gunnarr um die Hand des Mädchens anhielte. Diese Andeutungen - mehr ist es nicht - sind auf Kjartans seriöse Romanze mit Ingibj rg, der Schwester König (! ) Olafs und auf Hrúts derbes Verhältnis zur geilen Gunnhildr zu beziehen. Vom Jarl reichlich mit Mehl versorgt - auf Island hatte es ein Missjahr gegeben - kehrt Gunnarr heim. Es ist - Kalkül des Verfassers - Zeit des Allthings. Dieses rückt nun immer mehr in den Mittelpunkt, da man nun in die entscheidende Phase des Sagageschehens eintritt, was der Autor mit besonderer Sorgfalt registriert. Er bescheinigt Gunnarr und seinem Bruder, dass sie ihren Hausleuten gegenüber freundlich auftreten und keinerlei Arroganz erkennen lassen. Dann heißt es, was ebenfalls positiv zu vermerken ist, dass Gunnarr sogleich seinen Freund Njáll aufsucht. Njáll will nicht zum Thing reiten und rät auch Gunnarr davon ab; er würde dort viel beneidet werden, worauf Gunnarr entgegnet, er wolle mit jedermann in Frieden leben. Gunnars Bruder aber ermuntert ihn, zum Thing zu reiten, denn „mun þar vaxa sœmð þín við“ („Dein Ansehen wird dort noch wachsen“), 116 was Gunnarr aber offenbar nicht so sehr interessiert, denn er will dort finna góða menn (mit guten Leuten zusammen[zu]kommen) 117 - doch wen findet er dort? Hallgerðr! Der Hinweis auf góða menn ist derart überdeutlich auf die Grundthematik des Werkes bezogen, dass Gunnarr zum Sprachrohr des Autors wird; dazu wird nicht minder überdeutlich seine friedliche Sinnesart herausgestellt, wodurch die altheroische Tradition, ein Gütesiegel der Frühzeit, deren Vertreter Gunnarr ist, in neuem Licht erscheinen kann. Auch das ein Beitrag zur Gestaltung der eigenen Frühzeit im Epos. Die Begegnung mit Hallgerðr wird betont als Schlüsselszene dargestellt, wobei auf auffällige Weise das ‚Äußere‘ zur Geltung kommt - ein bezeichnendes Indiz für Denken und Empfinden mittelalterlicher Menschen im Allgemeinen. Das imponierende Auftreten Gunnars und seiner Leute auf dem Thing wird positiv vermerkt, vielleicht ein Hinweis auf die Gísla saga, wo in der Voraussage des Gestr ein Schatten auf Gísli und seine Gruppe fiel. Es folgt nun die Begegnung Gunnars mit Hallgerðr. Von Gunnarr heißt es, er begibt sich herab vom l gberg (Gesetzesfelsen). 118 Von einem Mitwirken an Regelung von Rechtsfragen ist keine Rede. Hallgerðr ist wichtiger! Gunnarr begegnet einer Gruppe von Frauen, alle vel búnar (vornehm gekleidet). 119 An ihrer Spitze befand sich jene, er bezt var búin (am besten gekleidet) 120 und die begrüßte sogleich Gunnar und verwickelt ihn djarfliga (geradeheraus) 121 in ein Gespräch über seine Auslandsfahrt. Der Autor gibt dazu eine ungewöhnlich ausführliche Beschreibung ihres Äußeren, ihrer kostbaren Kleidung und ihrer Haarpracht; letzteres hat ja Leitmotivqualität. In Entsprechung dazu das nicht minder 116 Brennu-Njáls saga, S. 84 (Njals saga, S. 57). 117 Brennu-Njáls saga, S. 84 (Njals saga, S. 57). 118 Brennu-Njáls saga, S. 85 (Njals saga, S. 57). 119 Brennu-Njáls saga, S. 85 (Njals saga, S. 57). 120 Brennu-Njáls saga, S. 85 (Njals saga, S. 57). 121 Brennu-Njáls saga, S. 85 (Njals saga, S. 58). <?page no="80"?> Teil II: Das Epos in Island 72 imponierende Erscheinungsbild Gunnars. Er trägt das Prunkgewand, das Haraldr konungr Gormsson gaf honum (ihm Harald Gormsson geschenkt hatte) 122 und hat hringinn á hendi, Hákonarnaut (den Ring von Hakon am Arm). 123 Dieses Insistieren auf der äußeren Pracht dürfte kaum der bloßen Freude am Dekorativen dienen, vielmehr ist an christlich-mittelalterliche Einschätzung äußeren Glanzes als gefährliches Blendwerk zu denken. Dazu die Eile, der Gunnarr verfällt, wie er um Hallgerðs Hand anhält. Hallgerðs Bemerkung, „en mannv nd mun ek vera“ („aber ich würde ihn [einen Heiratsinteressenten] mir gut aussuchen“), 124 trägt ebenfalls zur Aufladung der Szene bei. Eine direkte unheilvolle Vorausdeutung fehlt, desgleichen ein Kommentar des Autors. Der Autor meidet zunächst eine plumpe unheilvolle Festlegung der Zukunft Gunnars als Ehemann der Hallgerðr, ein Zeichen beachtlicher ästhetischer Sensibilität, was der Besonderheit des Schicksals Gunnars entspricht. Spannung ist aber aufgebaut. Das anschließende Gespräch zwischen Gunnarr und Hallgerðs Vater H skuldr und ihrem Onkel Hrútr führt nach der ungewöhnlich glanzvollen Szene mit Hallgerðr und ihren Frauen auf den Boden der bäuerlichen Wirklichkeit zurück. Im ersten Kapitel wollte H skuldr von seinem Bruder erfahren, ob er nicht auch von der Schönheit Hallgerðs beeindruckt sei. Nun tritt Gunnarr hinzu und hält um Hallgerðs Hand an. H skuldr reagiert positiv mit einer kleinen Einschränkung ef þér er þat alhugat (falls es dir Ernst damit ist), 125 was aber nicht weiter präzisiert wird. H skuldr wendet sich nun an seinen Bruder - in Entsprechung zum Gespräch im ersten Kapitel der Saga. Hrútr konstatiert zunächst, dass die beiden grundverschieden seien, Gunnarr ein rechtschaffener tüchtiger Mann, Hallgerðr dagegen blandin mj k (doch wie es mit ihrem Charakter steht, ist zweifelhaft) 126 und fügt hinzu, er wolle Gunnarr nicht hintergehen. (Gunnars Misstrauen gegenüber den beiden, sie seien wegen des Erbstreits gegen eine Ehe Gunnars mit Hallgerðr, wird von Hrútr ausgeräumt. Ein nebensächlicher Hinweis, der aber die Wirklichkeitsdichte dieser Saga unterstreicht.) Hrútr klärt nun Gunnarr schonungslos über Hallgerðs Charakter auf - allt um skaplyndi Hallgerðar ófregit (Ungefragt [erzählt] Hrut dem Gunnar, wie es sich mit Hallgerd verhält), 127 was aber Gunnarr nicht von seinem Vorhaben abbringt. Nun geht es auch nicht so sehr um die Schönheit Hallgerðs, sondern um die þjófsaugu (Diebesaugen); eine gravierende Verlagerung gegenüber Helena und Kriemhilt! Hrútr muss das hinnehmen, indem er konstatiert „[…] ykkr er báðum girndarráð“ („daß ihr beide auf diese Ehe brennt“). 128 Von diesem Begriff könnte viel abhängen. Baetkes Wörterbuch zur altnordischen Prosaliteratur übersetzt mit „Liebesheirat“. Das ist romantisch sentimental und verfehlt wohl den Sinn der Passage. Anders Cleasby/ Vigfusson mit ihrer 122 Brennu-Njáls saga, S. 85 (Njals saga, S. 58). 123 Brennu-Njáls saga, S. 85 (Njals saga, S. 58). 124 Brennu-Njáls saga, S. 85f (Njals saga, S. 58). 125 Brennu-Njáls saga, S. 86 (Njals saga, S. 58). 126 Brennu-Njáls saga, S. 86 (Njals saga, S. 59). 127 Brennu-Njáls saga, S. 87 (Njals saga, S. 59). 128 Brennu-Njáls saga, S. 86f (Njals saga, S. 59). <?page no="81"?> Njáls saga 73 Übersetzung ‚mad with love‘. Man muss sich fragen, ob der Sagaautor damit nicht doch im europäischen Mittelalter angekommen ist? Sinnliche Liebe als Gier und damit als Quell des Unheils, wie sich herausstellen würde? Doch, wie weit trägt das in dieser Saga? Es könnte an die Substanz der Njála gehen, es wäre aber verfehlt, aus ihr ein bloßes Moralexempel zu machen. Die auffallende Diskretion, mit der der Autor über eine mögliche erotische Verblendung Gunnars hinweggeht, weist daraufhin, dass er von ihm den Makel sündhaften erotischen Verhaltens fernhalten wollte. Gunnarr sucht nach dem Thing sogleich Njáll auf, ein positives Signal, doch Njáll ist deprimiert über Gunnars Entschluss - hann tók þungt á kaupum hans (Die Nachricht machte ihn sehr betroffen.) 129 und macht die unheilvolle Voraussage: „Af henni mun standa allt it illa, er hon kemr austr hingat“ („Von ihr wird alles mögliche Unheil ausgehen, wenn sie zu uns in den Osten kommt“). 130 Hrútr hatte sich bloß negativ über Hallgerðs Charakter geäußert, Njáls Aussage, gemäß dem Prinzip der Steigerung, ist umfassender. Gunnarr kontert mit der Versicherung „Aldri skal hon spilla okkru vinfengi“ („Unsere Freundschaft wird sie niemals zerstören“). 131 Verbindet man Njáls Voraussage mit Hrúts Feststellung über girndarráð Gunnars und Hallgerðs, so ergäbe sich punktuell - wenn nicht mehr - die Einsicht, dass eben nach mittelalterlicher Sicht der amor huius mundi ins Verderben führt. Amor stünde also gegen vinfengi. Im Verlauf der Handlung spielt amor aber keine Rolle im Gegensatz zu vinfengi, die großartig obsiegt; ein Ruhmestitel, den der Autor seinen Landsleuten der Frühzeit verleiht und somit einen wesentlichen Beitrag dazu leistet, diese Saga - über alle anderen hinaus - zum isländischen Epos zu machen. Das Thema von der Fragwürdigkeit der Frauenschönheit in Verbindung mit der möglichen Abwertung des Eros wird nun eingebettet in die offenbar wichtigere Auseinandersetzung mit dem Phänomen Rache. Bemerkenswert dabei ist, dass das, was zu Rachetaten führt, jeweils auf die Bosheit des einzelnen Menschen zurückgeht, auf Hallgerðr und dann auf M rðr, worauf in einem dritten Anlauf mit Flosi sich eine neue Perspektive eröffnet. Die dumpfe Macht des bloß Schicksalhaften würde damit in den Hintergrund treten; auch das ein wesentlicher Beitrag zur ‚Vergangenheitsbewältigung‘. Gunnars Vermählung, von ihm großzügig organisiert, wird in einer Nebenhandlung von einem Ehekrach überschattet. Ein Verwandter Gunnars, Þráinn, von dem es heißt, dass er seine Frau nicht liebt, vergafft sich in Hallgerðs minderjährige Tochter, trennt sich von seiner Frau und heiratet das Mädchen. Über die Vermählung Gunnars verlautet nichts Negatives. Im Gegenteil, es heißt abschließend durchaus positiv, Hallgerðr tók við búráðum ok var fengs m ok atkvæðamikil (Hallgerd übernahm den Haushalt auf Hlidarendi. Sie hielt auf Aufwand und schaltete mit fester Hand.) 132 Auch ihre Tochter erwies sich als gute Hausfrau. Der Autor vermeidet also 129 Brennu-Njáls saga, S. 87 (Njals saga, S. 59). 130 Brennu-Njáls saga, S. 87 (Njals saga, S. 59). 131 Brennu-Njáls saga, S. 87 (Njals saga, S. 59). 132 Brennu-Njáls saga, S. 90 (Njals saga, S. 61). <?page no="82"?> Teil II: Das Epos in Island 74 eine Schwarz-Weiß-Zeichnung und lässt es beim Vermählungsfest eben nicht zu einem Eklat kommen, der die Unheilslawine in Gang setzen würde. Er vermeidet diesen Kurzschluss und setzt stattdessen neu ein. Es kommt zum üblichen winterlichen Gelage. Njáll ist an der Reihe, Gunnarr und Hallgerðr nehmen daran teil. Es kommt zu einem Wortwechsel zwischen Hallgerðr und Bergþóra, der Gemahlin Njáls. Aus diesem banalen Zank um die Sitzordnung wird der Autor nun die Tragödie Gunnars und der Njálssippe herausentwickeln. Die Saga bleibt damit betont im Zwischenmenschlichen, es gibt keinerlei ahnungsvolle Hinweise auf das Wirken unheilvoller Schicksalsmächte, ganz zu schweigen von einer eventuellen Einflüsterung des Teufels. Es muss ohnehin auffallen, dass bei der literarischen ‚Aufarbeitung‘ der isländischen Frühzeit in den Sagas der Teufel keine Rolle spielt! In der Gísla saga löst ebenfalls ein Wortwechsel zweier Frauen, allerdings intim und nur zufällig belauscht, das Unheil aus, doch da geht es immerhin um Liebe und eheliche Treue. In der Njála heißt es nur, dass Bergþóra Hallgerðr ihren Platz am Tisch zugunsten ihrer Schwiegertochter streitig macht und sich durchsetzt mit den Worten „Ek skal hér ráða“ („Hier bestimme ich! “). 133 Wie sie dann das Waschbecken herumreicht, wird sie von Hallgerðr ob ihrer missgestalteten Fingernägel und der Bartlosigkeit ihres Mannes geschmäht, was Bergþóra mit dem Hinweis kontert, dass Hallgerðs Gatte Þorvaldr einen Bart hatte, was sie aber nicht daran hinderte, seinen Tod zu verursachen. Hallgerðr ist empört und verlangt von Gunnarr, dem tüchtigsten Mann auf Island, wie sie betont, diesen Affront zu rächen, was Gunnarr zurückweist und die Freundschaft mit Njáll beschwört. Was wie ein bloßer Ehekrach aussieht, wird zu einer Schlüsselstelle in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, denn nun brechen Totschlag und Rache in die Welt Gunnars und Njáls herein. Der Reaktion Gunnars kommt besondere Bedeutung zu, denn sie ist so angelegt, dass sie einen größeren Zusammenhang evoziert. Es handelt sich dabei um eine ins häusliche verlagerte Variante eines altheroischen Verhaltensmusters, um die Hetzszene, in der eine Frauengestalt einen Mann aufhetzt, Rache zu nehmen, wobei auch dessen Leben auf dem Spiel steht. Man kennt dieses Handlungsmodell der hetzenden Frau aus den eddischen Liedern, z.B. aus der Sigurðarkviða in skamma, der Guðrúnarhv t, den Hamðismál. Auch die Laxdœla saga greift dieses altheroische Modell auf. Nicht so die Njála. Gunnarr lehnt sich vehement dagegen auf und verwendet für den Mann, der sich aufhetzen lässt, sogar den abwertenden Begriff eggjanarfífl („Ich habe keine Lust, mich durch deine Hetzerei zum Narren machen zu lassen! “). 134 Eine starke Distanzierung vom altheroischen Muster, die die Sonderstellung der Njála innerhalb der Sagaliteratur untermauert. Ein Blick auf die anspruchsvolle Laxdœla saga bietet sich an. Das altheroische Muster ist - bei aller ‚Modernität‘ dieser Saga - noch durchaus verbindlich. Bolli fügt sich der hv t seiner Gattin Guðrún. Er bereut zwar sogleich, was zum einem, im Verglich zur Njála noch unbewältigten, Nebeneinander von Archaisch und Christlich führt. Angesichts dieses Sachverhalts fragt man sich, ob nicht bei dieser 133 Brennu-Njáls saga, S. 91 (Njals saga, S. 62). 134 Brennu-Njáls saga, S. 91 (Njals saga, S. 62). <?page no="83"?> Njáls saga 75 unterschiedlichen Sicht auf die Vergangenheit eine bewusst kritische Bezugnahme auf die Laxdœla saga besteht; das würde auch unser Bild von den Sagas etwas stärker akzentuieren. Vor dem Untergang der Njálssippe, wie wir sehen werden, kommt es zu einer packenden und erfolgreichen Hetzszene, die das altheroische Muster in neue Zusammenhänge rückt. Der Hinweis auf die Bartlosigkeit Njáls wird sich zu einem Leitmotiv entwickeln, das für den Ablauf des Geschehens mitentscheidend sein wird. Die Einführung von Rache und Hetzerin ist als erzählerisches Programm zu verstehen, das nun die Hauptlinie der Saga bilden wird und worin sich des Autors Sicht auf die Vergangenheit niederschlägt. Schon angesichts des im bloßen Umfang der Saga implizierten Anspruchs muss man dieser Problemstellung und deren erzählerischer Bewältigung die gebührende Aufmerksamkeit schenken. Der Erzähler setzt mit besonderer Sorgfalt das Prinzip der Steigerung ein, wobei zusehends die Thingöffentlichkeit an Bedeutung gewinnt, was hinsichtlich des isländischen Selbstverständnisses und mit Blick auf das genus Epos die Sonderstellung dieser Saga mitbegründet. Entscheidend wird die abschließende Einbeziehung der Religion sein. Es ergibt sich also eine durchdachte und komplexe Gliederung des gewaltigen Stoffes. Aus dem Zank der beiden Frauen kommt es zu Totschlag und Rache, was sich in dreifach gesteigerter Stufung vollzieht und in gekonnter Variation bewältigt wird; zuerst betrifft es Sklaven, dann Freigelassene und schließlich Freie, was die Spannung bezüglich des Kommenden erhöht. Die Hauptbetroffenen, Gunnarr und Njáll, sind aber zum Erstaunen der Thingöffentlichkeit, die noch in Passivität verharren kann, in der Lage, den Rechtsfall unter sich zu lösen, was zeigt, dass der Autor es den Vorfahren zutraut, derart gravierende Probleme ohne Einsatz von Gewalt zu lösen; auch das Schicksal spielt dabei keine Rolle. Doch der verderbliche Automatismus von Totschlag und Rache kann nur gestoppt, aber noch nicht überwunden werden. Dennoch, es ist dies bereits ein gewichtiger Beitrag zur ‚Humanisierung‘ der Frühzeit. Bei Gunnarr taucht nun ein gewisser Sigmundr auf, eine glänzende Erscheinung, dazu noch Skalde. Sein Begleiter, Skj ldr, ist ein übler Kerl, was bereits eine Belastung darstellt. Gunnarr warnt Sigmundr vor frameggjan Hallgerðar (sobald meine Frau Hallgerd zu irgendetwas anstachelt), 135 was dieser positiv zur Kenntnis nimmt. Hallgerðr überhäuft Sigmundr mit ihren Gunsterweisen und gewinnt in ihm ein willfähriges Werkzeug für ihre Rachepläne. Die altheroisch-schicksalhafte hv t verändert sich hier und wird psychologisiert zu einer Art Dienstleistung, wo bei den vorausgehenden Aufhetzungen das Archaische noch durchschimmern konnte, z.B. im Motiv der Erregung. Vor der brenna wird es, mit Hildigunnr und Flosi, noch einmal zu einer spektakulären hv t kommen, worin Archaisches und Christliches auf geradezu abenteuerliche Weise miteinander verbunden werden. Hallgerðr will Rache nehmen für den Tod des üblen Brynjólfr, der in einem fairen Kampf von Þórðr, dem fóstri (Ziehvater) der Njálssöhne, getötet worden war. Sigmundr und Skj ldr 135 Brennu-Njáls saga, S. 106 (Njals saga, S. 73). <?page no="84"?> Teil II: Das Epos in Island 76 nutzen feige ihre Überzahl aus und erschlagen Þórðr. Nun sind die Njálssöhne unmittelbar in den Rachemechanismus einbezogen. Auf die Warnung Þráins, dass der Tod des Þórðr gerächt werde, meinte Hallgerðr, ob das etwa karl inn skegglausi (der alte Mann ohne Bart) 136 - also Njáll - leisten könne, worauf Þráinn auf die Söhne Njáls verwies; somit ist nun die Njálssippe unmittelbar betroffen und das markiert die neue und entscheidende Stufe im Geschehen, an dessen Ende die Njálsbrenna steht, auf die alles angelegt ist, wie es sich für das Epos gehört, und die die isländische Gesellschaft im Kern erschüttern wird. Der feige Totschlag durch Sigmundr und Skj ldr kann von Gunnarr und Njáll noch gütlich geregelt werden und selbst Skarpheðinn, der kämpferischste der Njálssöhne ist bereit, diese Lösung zu akzeptieren; er lässt aber keinen Zweifel daran, dass „en ef til verðr n kkut með oss, þá munu vér minnask á inn forna fjandskap“ („aber falls noch mehr auf uns zukommt, wollen wir uns an die alten Schandtaten erinnern“). 137 Dieser Fall wird auch eintreten. Erzählerisch gekonnt, legt der Autor nun eine Pause ein, stellt also so etwas wie menschliche Normalität her, indem wir erfahren, dass Gunnarr versucht, Sigmundr zu überzeugen, sich verantwortungsbewusst zu verhalten und sich vor Spott und Hohn zu hüten, was Sigmundr auch zusagt. Man erfährt dann, dass geschwätzige Landstreicherinnen, die vom Njálshof herkommen, bei Hallgerðr auftauchen, die sich in Gesellschaft vieler Frauen und Sigmunds befindet. Hallgerðr will nun wissen, was Njáll und seine Söhne machen. Von Njáll berichten die Schwatzweiber: „Stritaðisk hann við at sitja“ („Er strengte sich mit dem Stillsitzen an“), 138 was herabsetzend dessen Friedfertigkeit illustriert. Ganz anders das Bild seiner wehrhaften Söhne: Skarpheðinn schärft seine Axt, Grímr skepti spjót (schäftete einen Spieß), Helgi hnauð hjalt á sverð (hämmerte einen Griff ans Schwert), und H skuldr treysti mundriða í skildi (nietete an einer Schildfessel). 139 Das Geschehen tritt nun in die neue und entscheidende Phase ein, indem der Horizont sich weitet und zunächst die Njálssippe als Ganzes und immer weitere Teile der isländischen Gesellschaft zu Trägern der Handlung werden. Über das Schicksal des Einzelhelden Gunnarr hinaus entsteht ein umfassendes Bild der isländischen Frühzeit mit dem Anspruch einer gültigen Zusammenschau über das hinaus, was andere Isländersagas im Einzelnen dazu zu bieten hatten. Den Anstoß zur Problematisierung der Vergangenheit gaben Hrúts Bemerkungen zu Hallgerðr, doch dann geht es zusehends um mehr als um Hallgerðs Schönheit und Diebsaugen. Der Schwerpunkt verschiebt sich auf die Männer, wobei die Ehre zur maßgebenden Größe wird. Hallgerðr will seltsamerweise von den Schwatzweibern noch erfahren, was die Hausleute Njáls treiben. Der moderne Leser wird nicht mit dieser Frage rechnen, dem Autor aber war es wichtig, das mit dieser Frage dann verbundene Neue in die Handlung einzuführen. Hallgerðr erfährt, dass einer der Knechte Mist ausbreitet auf 136 Brennu-Njáls saga, S. 107 (Njals saga, S. 74). 137 Brennu-Njáls saga, S. 111 (Njals saga, S. 77). 138 Brennu-Njáls saga, S. 112 (Njals saga, S. 78). 139 Brennu-Njáls saga, S. 112 (Njals saga, S. 78). <?page no="85"?> Njáls saga 77 der Hofwiese, um deren Ertrag zu fördern. Hallgerðr meint dazu, Njáll täte gut daran, den Mist auf seine Wangen aufzutragen, dann wäre er bärtig wie andere Männer auch. Man sollte darum Njáll karl inn skegglausa (den Alten ohne Bart) 140 nennen und seine Söhne die Mistbärtler, taðskegglinga, 141 und sie fordert Sigmundr auf, das in Verse zu fassen. Die Einbeziehung der Skaldik in die Schmähung erhöht natürlich ihre Schlagkraft. Gunnarr, der gerade eintritt, bekommt alles mit, ist reiðr mj k (aufs Äußerste aufgebracht) und sagt Sigmunds, des Dichters, Tod voraus. Die Landstreicherinnen kehren zum Hof Njáls zurück und berichten dort. Der Autor betont, dass dies ungefragt - ofregit - und á laun, 142 also heimlich, geschieht. Im bewussten Kontrast dazu reagiert Bergþóra, die der Autor zum Mittelpunkt einer Hetzszene macht, wodurch die Njálssöhne zur Rache aufgestachelt werden. Die hv t-Szenen bei Hallgerðr erweisen sich im Vergleich dazu als Vorspiel. Die Verlagerung des Typs der hetzenden Frau von der negativ gesehenen Hallgerðr auf die resolute und rechtschaffene Gattin Njáls zeigt, wie ernst es dem Verfasser war, diesen wichtigen Aspekt der stark altheroisch geprägten Frühzeit nicht nur mit einer Hallgerðr in Verbindung zu bringen; auch das ein Beitrag zu seinem Bemühen, der eigenen Vergangenheit gerecht zu werden. Blicken wir von da aus dann voraus auf den Schlussteil der Saga, so treffen wir dort auf die dritte hetzende Frau. Zurück zur hv t der Bergþóra. Über eine Seite verwendet der Erzähler auf die Schilderung und präsentiert dabei ein Prachtstück sagagemäßen Erzählens, was die Wichtigkeit dieser Episode besiegelt und die Unwiderstehlichkeit dieser hv t vor Augen führt. Die Njálssippe sitzt beim Essen, da platzt Bergþóra herein mit der Kunde von der Schmähung und sie wendet sich an alle ihre Söhne: „Þér synir mínir eiguð allir eina gj f saman“ („Ihr, meine Söhne, habt ein Geschenk gemeinsam erhalten“), 143 nämlich den Titel Mistbärtler. Am Schluss der Episode - Njáll sieht, wie seine Söhne bewaffnet das Haus verlassen - stellt er fest gegenüber seiner Frau: „Úti váru synir þínir med vápnum allir“ („Alle deine Söhne waren draußen mit ihren Waffen“). 144 Es schließt sich damit ein Bogen und innerhalb dieses Rahmens vollzieht sich die hv t, wobei es auf die meisterhaft gestaltete Diskrepanz zwischen den bewusst verharmlosenden Äußerungen Skarpheðins gegenüber seiner hetzenden Mutter und dem, was den Gebärden und der Körpersprache anvertraut ist, ankommt: „Gaman þykkir kerlingunni at, móður várri,“ segir Skarpheðinn ok glotti við, en þó spratt honum sveiti í enni, ok kómu rauðir flekkar í kinnr honum … Grímr var hljóðr ok beit á v rrinni […] („Es scheint der Alten Spaß zu machen, unsrer Mutter,“ sagte Skarphedin, und er grinste dabei, doch brachen ihm Schweißperlen aus der Stirn und seine Wangen bekamen rote Flecken […] Grim saß still da und biß sich auf die Lippe.) 145 Das Ziel der Rachehandlung wird am Schluss genannt: víg Sigmundar (die 140 Brennu-Njáls saga, S. 113 (Njals saga, S. 79). 141 Brennu-Njáls saga, S. 113 (Njals saga, S. 79). 142 Brennu-Njáls saga, S. 114 (vgl. Njals saga, S. 79: „ungebeten und im Geheimen“). 143 Brennu-Njáls saga, S. 114 (Njals saga, S. 79). 144 Brennu-Njáls saga, S. 115 (Njals saga, S. 80). 145 Brennu-Njáls saga, S. 114 (Njals saga, S. 79). <?page no="86"?> Teil II: Das Epos in Island 78 Erschlagung Sigmunds)! 146 Der Heftigkeit der Äußerungen Bergþóras - hon […] geisaði mj k (sie spuckte Gift und Galle) 147 - entspricht Njáls warnende Stimme: „[…] jafnan orkar tvímælis, þó at hefnt sé“ („und oft bleiben Zweifel, ob man am Ende durch Rache gewinnt“). 148 Njáls Skepsis ist zunächst unbegründet, denn selbst diese großangelegte Racheaktion gegen Sigmundr und Skj ldr erweist sich als beherrschbar. Gunnarr kümmert sich nicht um die Sticheleien Hallgerðs. Er arrangiert sich sogleich mit Njáll und das Thing, das in voller Besetzung tagt, wird weiter nicht bemüht; dazu bekräftigen Njáll und Gunnarr ihre Freundschaft, von der es heißt ok váru jafnan vinir (und blieben für immer Freunde). 149 Angesichts der Thingöffentlichkeit wird damit ein weiteres Anliegen dieser Saga, die vorbildliche Freundschaft, als hoher Wert der Frühzeit zuerkannt. Mit der in der Thingöffentlichkeit bereinigten Angelegenheit ist nun auch die gesamte Njálssippe als vollwertiger Partner in die Handlung integriert und gewinnt darin immer mehr an Bedeutung. Der Blick kann sich nun wieder auf Gunnarr richten, dessen erzählerisches Schicksal in die entscheidende Phase eintritt. Die Racheprobleme können nicht mehr nur zwischen den beiden Freunden geregelt werden, sondern die Thingöffentlichkeit bestimmt das Bild der isländischen Frühzeit, wie das in den übrigen Isländersagas nicht so der Fall ist und was nicht zuletzt die Sonderstellung der Njála und ihren großepischen Anspruch begründet. Der Autor versammelt das entsprechende Personal. Da sind Gizurr und Geirr als Vertreter des Rechts und der Öffentlichkeit: Þeir Gizurr fylgðusk at hverju máli (Gizur der Weiße und Geir unterstützen sich in jeder Angelegenheit). 150 Dazu der schon erwähnte üble M rðr Valgarðsson, von dem es heißt: hann fundaði mj k Gunnar (Er steckte voller Mißgunst gegen Gunnar). 151 Schon im ersten Kapitel war mit den Diebsaugen Hallgerðs, deren Herkunft Hrútr sich nicht erklären konnte, das latent Böse erfahrbar geworden. Mit dem Hinweis auf die Bosheit des M rðr verlässt man nun den Bereich des Familiären. Das unerklärbare Böse und das dadurch verursachte Unheil greifen um sich. Dabei ergeben sich, wenn wir weiter vorausblicken, bemerkenswerte Unterschiede zwischen dem Untergang Gunnars und dem der Njálssippe, die zeigen, wie differenziert der Autor die Vergangenheit zu sehen imstande war. Auf diese Unterschiede soll nun eingegangen werden und wir überschlagen das Gros des Textes, das dem vorausgeht. Gunnarr wird bei all seiner Friedfertigkeit immer tiefer in gefährliche Rachesituationen hineingezogen, immer weitere Kreise sind betroffen und über die beiden - Gunnarr und Njáll - hinaus gewinnt die Thingöffentlichkeit immer mehr an Gewicht. Der Handlungsstrang, der zum Untergang Gunnars führt, muss in der mündlichen Überlieferung eine solide Basis gehabt haben mit Schwerpunkt auf der Heroi- 146 Brennu-Njáls saga, S. 115 (Njals saga, S. 80). 147 Brennu-Njáls saga, S. 114 (Njals saga, S. 80). 148 Brennu-Njáls saga, S. 114 (Njals saga, S. 80). 149 Brennu-Njáls saga, S. 118 (Njals saga, S. 83). 150 Brennu-Njáls saga, S. 119 (Njals saga, S. 83). 151 Brennu-Njáls saga, S. 119 (Njals saga, S. 83). <?page no="87"?> Njáls saga 79 sierung, wie man das auch aus anderen Sagas kennt. Aus der Art, wie Gunnarr im 19. Kapitel ins Geschehen eingeführt wird, geht auch hervor, dass es sich bei ihm um den großen epischen Helden handeln wird, was sich dann ja auch bestätigt. Der Autor begnügt sich aber nicht mit einer simplen Heroisierung; ihm geht es vielmehr darum, das Bild des Helden zu differenzieren im Sinn einer konsequenten Humanisierung. Der holzschnitthaft typische Held heldenepischer Tradition wird überwunden, wenn Gunnarr sich fragen kann „hvárt ek mun því óvaskari maðr en aðrir menn sem mér þykkir meira fyrir en ðrum m nnum at vega menn“ (ob ich weichlicher bin als andre, weil es mir schwerer fällt als andren, Menschen totzuschlagen). 152 Für den exemplarischen Helden wird also das Töten zu einem Problem; der Autor lässt damit die noch heidnische Frühzeit in neuem Licht erscheinen. Er legt noch eins nach, wenn etwas später Gunnarr bekennt „Sáttgjarn hefi ek jafnan verit“ („Versöhnungsbereit bin ich immer gewesen“). 153 Egill kannte solche Skrupel nicht, vom brutalen Achilles, der noch die Leiche Hektors herumschleift, zu schweigen. Der Autor der Njála greift also radikal in die Substanz altheroischer Dichtungstradition ein und distanziert sich damit auch vom Tenor der meisten Sagas. Man muss sich dabei doch fragen, wie das an die harten Kämpfertypen gewohnte Publikum auf diese Abkehr vom altheroischen Heldenideal reagiert hat. Nicht minder wichtig als die Schilderung der Kämpfe sind die damit verbundenen Rechtshändel; eine Schwerpunktverlagerung, wodurch das öffentliche Leben der frühen Isländer mit dem Schicksal des einzelnen ‚Helden‘ gleichzieht, was nicht ohne Folgen für Wesen und Funktion dieser Saga innerhalb der bereits gut etablierten Literaturgattung Isländersaga bleiben konnte. So wird Gunnarr durch den Ehezwist zwischen Hrútr und Unnr von Anfang an in einen solchen Rechtsfall hineingezogen, was sich fortsetzt im Streit zwischen Bergþóra und Hallgerðr und schließlich in der Otkell-Episode Gunnarr selbst betrifft. Man muss sich also gedulden, bis es endlich zum ersten Totschlag Gunnars kommt. Dazu ist neben Gunnarr der weise Njáll, der keine Waffe benützt, erzählerisch nicht minder bedeutsam. In der Njála geht es also auch darum, den ‚Helden‘ als wesentlichen Bestandteil des frühen isländischen Gemeinwesens neu zu sehen. Wie die von Hallgerðr und Bergþóra verursachten Gewalttaten und Racheakte ist auch der Untergang Gunnars konsequent und weitausholend auf Steigerung angelegt, gekrönt von einem einmaligen Höhepunkt. Wenden wir uns diesem zu. Der Autor zieht unterschiedliche Erzählfäden zusammen zu einem komplexen Gewebe, das die Grundlage bildet für diesen Höhepunkt, mit dem man nicht rechnet - nicht einmal der Betroffene selbst, Gunnarr, wie sich zeigen wird. Es wird enger um ihn, wobei es aber Njáll immer wieder gelingt, die Rechtsstreitigkeiten in friedliche Bahnen zu lenken. So sucht Gunnarr nach dem Beginn seiner Kämpfe seinen Freund Njáll auf und fragt, wie es nun weitergehen werde. Der rechtskundige Freund, der auch in die Zukunft blickt, sagt voraus, dass die Thingverhandlungen Gunnars Ansehen steigern werden, aber „Mun þetta upphaf vígaferla þinna.“ (Damit wird für dich 152 Brennu-Njáls saga, S. 139 (Njals saga, S. 98). 153 Brennu-Njáls saga, S. 145 (Njals saga, S. 101). <?page no="88"?> Teil II: Das Epos in Island 80 eine Zeit der Totschläge beginnen.“) 154 Gunnarr erbittet nun von Njáll heilræði n kkur (hilfreichen Rat). 155 Njáll sagt voraus, dass Gunnarr ein hohes Alter erreichen werde, wenn er es vermeide, mehrere Familienmitglieder in direkter Linie zu töten und ein Abkommen zu brechen, das góðir menn (gutgesinnte Männer) 156 geschlossen hätten. Letzteres kann Gunnarr mit guten Gründen ausschließen. Es geht also um die Einsicht in die Zukunft und da liegt es nahe, die stark zukunftsorientierte Gísla saga in die Betrachtung einzubeziehen. Diese Saga zeigt mit großer Anteilnahme den ‚Helden‘ in seinem Wissen um seine Ohnmacht gegenüber dem Walten des Schicksals. Die Njála hat sich mit diesem düsteren Bild vom Menschen der Frühzeit nicht abgefunden. Dass zwischen beiden exemplarischen Bildern der Frühzeit kein Zusammenhang bestehen soll, leuchtet mir nicht ein. Der Verfasser der Njála hat hier m.E. nachdrücklich in die Diskussion der Isländer um ihre Frühzeit eingegriffen. Mit seinem umfassenden Epos hat er seiner Sicht auch die nötige Autorität verliehen. In dieser Sicht wird die Zukunft nicht so sehr als Raum konzipiert, in dem vor allem ein blindes Schicksal Anteil hat. Der Autor führt dann eine weitere Differenzierung ein, die das Töten mehrerer Familienmitglieder in direkter Linie betrifft. Dass es in der Njála dazu kommt, wird nicht auf das Wirken des Schicksals zurückgeführt, sondern auf die Bosheit eines bestimmten Menschen, des üblen M rðr, der schon vorsorglich eingeführt worden ist. M rðr rät Þorgeirr, dafür zu sorgen, dass Gunnarr im Kampf einen derartigen Totschlag begehen muss. (Der Autor versäumt es allerdings, den Leser darüber zu informieren, wie M rðr zu diesem Wissen kam! ) Gunnarr muss dann zur bloßen Selbstverteidigung einen solchen Totschlag begehen, so dass nur noch die zweite Bedingung Njáls übrig bleibt, der Bruch eines Abkommens. Da freilich liegt einzig und allein die Entscheidung beim Betroffenen selbst, weder Schicksal noch menschliche Bosheit haben damit zu tun. Damit gewinnt der Mensch der Frühzeit eine besondere Würde und Verantwortlichkeit, was weit darüber hinausgeht, was Landnámabók und die meisten Sagas dazu zu sagen haben; vor allem die fatalistische Gísla saga wäre da zu nennen. Der Anspruch, den das Epos an die Menschengestaltung stellt, dürfte da zur Geltung kommen. Gunnarr kann von sich sagen, dass ihm der Bruch einer getroffenen Abmachung nicht zuzutrauen sei. Der böse M rðr hat erreicht, dass Gunnar ein weiteres Familienmitglied töten muss. Njáll gelingt es aber auf dem Thing, ein für Gunnarr günstiges Urteil durchzusetzen; nur für drei Jahre müsse er ins Exil gehen. Njáll sagt mit auffallendem Nachdruck, „at þar liggr við líf þitt, ef þú heldr eigi þá sætt, sem g r er“ („daß dein Leben daran hängt, wenn du den Vergleich nicht hältst, der geschlossen wird“), 157 worauf Gunnarr nicht minder nachdrücklich antwortet: „Hvergi ætla ek mér,“ segir Gunnarr, „af at bregða […]“ („Ich denke nicht daran, ihn zu brechen“, sagt Gunnar) 158 und 154 Brennu-Njáls saga, S. 139 (Njals saga, S. 98). 155 Brennu-Njáls saga, S. 139 (Njals saga, S. 98). 156 Brennu-Njáls saga, S. 139 (Njals saga, S. 99). 157 Brennu-Njáls saga, S. 177 (Njals saga, S. 125). 158 Brennu-Njáls saga, S. 177f (Njals saga, S. 125). <?page no="89"?> Njáls saga 81 wiederholt das beim Verlassen des Things. Das Adverb hvergi wird sich als Schlüsselwort dieses entscheidenden Erzählabschnitts erweisen, was die Durchdachtheit des Ganzen erweist. Nun kommt es zu der mit Recht berühmtesten Passage der altisländischen Literatur. Gunnarr trifft mit seinem Bruder alle Vorbereitungen zur Abreise, nimmt Abschied und - kehrt um. Von der Deutung dieser vielinterpretierten Stelle hängt viel ab - auch für unsere Fragestellung bezüglich Epos. Beim Hinabreiten zum Schiff stolpert Gunnars Pferd, er fällt aus dem Sattel, sein Blick wird zurückgelenkt auf den Abhang und die Äcker, was Gunnarr zu seiner berühmten Äußerung veranlasst: „F gr er hlíðin, svá at mér hefir hon aldri jafnf gr sýnzk, bleikir akrar ok slegin tún, ok mun ek ríða heim aptr ok fara hvergi.“ („Wie schön ist die Halde! So schön habe ich sie noch nie gesehen: die gelben Felder und das gemähte Wiesland. Ich kehre um und fahre nirgends hin! “) 159 Sein Bruder, zutiefst betroffen, distanziert sich von Gunnarr und besteigt das Schiff; er will nie mehr nach Island zurückkehren. Auch diese Reaktion zeigt, dass sich höchst Ungewöhnliches ereignet. Schon der Sturz vom Pferd lässt nichts Gutes ahnen, wie man von vergleichbaren Anlässen - etwa dem Sturz des Königs Haraldr harðráði vor der Schlacht bei Stamford Bridge - weiß. Wir konzentrieren uns im Folgenden auf die Interpretation, die Lars Lönnroth in seinem hervorragenden Buch über die Njála vorgelegt hat. 160 Ausgehend von der durch Sveinsson nachgewiesenen Parallele in der Alexanders saga betrachtet er diese Passage als grundsätzliche Kritik des Verfassers am Verhalten Gunnars aus christlicher Sicht als eine Form der Weltverfallenheit und Arroganz. Für Alexander trifft das zweifellos zu, wenn es da heißt: At komannda morne gengr konungr áfiall eitt hátt oc ser þaðan yfir landet. Þar matte hann alla vega sia fra ser fagra vollo bleika akra stora scoga […] oc er konungr ser yfir þessa fegrð alla þa mælir hann […] Þetta riki […] ætla ec mer sialfum. (Am folgenden Morgen besteigt der König einen hohen Berg und schaut über das Land. Da konnte er überallhin schöne Flächen, hellgelbe Felder und große Wälder erblicken […] und wie der König all das Schöne sieht, […] da sagt er: Dieses Herrschaftsgebiet werde ich mir aneignen […]). 161 Dahinter steht vernehmlich die biblische Szene von der Versuchung Jesu durch den Satan in der Wüste. Es gibt aber keinen Zweifel daran, dass Gunnarr sich wie ein Anti-Alexander verhält und damit ist einer etwaigen christlich-moralischen Verurteilung seines Verhaltens der Boden entzogen. Alexander will Besitz ergreifen, Gunnarr kehrt um und zurück zu dem, was ohnehin sein Eigen ist. Es heißt: Honum varð litit upp til hlíðarinnar […] (Da fiel sein Blick auf die Anhöhe); 162 es wird ihm also etwas zuteil, der Blick auf Landschaft und Äcker und tún (Wiesland). Dieser Anblick ist so beeindruckend, dass Gunnarr sich apodiktisch äußert: fara hvergi, und dieses hvergi sogleich wieder- 159 Brennu-Njáls saga, S. 182 (Njals saga, S. 128). 160 Lars Lönnroth, Njálssaga. A critical introduction. Berkeley 1976, S. 150ff. 161 Isländischer Text zitiert nach: Alexanders saga. Islandsk oversættelse ved Brandr Jónsson. Hg. von Kommissionen for Det Arnamagnæanske Legat, Kopenhagen 1925, S. 14, Z. 25-30. Deutsche Übersetzung vom Autor (A.W.). 162 Brennu-Njáls saga, S. 182 (Njals saga, S. 128). <?page no="90"?> Teil II: Das Epos in Island 82 holt „Hvergi mun ek fara“ („Nein, ich werde nicht fahren“)! 163 Man hat dieses Leitwort im Ohr aus seinen harschen Äußerungen über einen eventuellen Vertragsbruch, also in einem außerordentlich positiven Zusammenhang, was dieses erneute hvergi aufwerten muss. Es ist auch auf ein weiteres unscheinbares Adverb zu achten - aldri (noch nie, niemals). Es geht also um etwas Einmaliges, das bisher nicht bewusst war. Man vergleiche Vésteins verhängnisvolle Entscheidung, nicht umzukehren. Da geht von der Außenwelt eine bannhafte Wirkung aus. Vésteinn folgt den ins Tal hinabstürzenden Gewässern und somit in den Untergang. Gunnarr entscheidet sich zu bleiben. Auch für ihn bedeutet das schließlich Untergang, doch nicht naturhaftem Zwang folgend, sondern eigenem Entschluss. Aus dem Bewusstsein der Schönheit seines Lebensraumes entscheidet er sich zur Heimkehr und nicht aus dem Ausgeliefertsein an die hinabstürzenden Gewässer. Gunnarr als Mensch der isländischen Frühzeit wird in der Njála durch seinen Entschluss gleichsam zum Isländer schlechthin, und damit erhärtet der Autor mit seiner Saga den Anspruch, das Islandepos vorzulegen, während viele der übrigen Sagas bloß Geschichten von Isländern sind. Für Lönnroth ist Gunnarr aufgrund seines seltsamen Verhaltens und seiner Äußerung „a proud man“, der sich „foolish“ verhalte, wenn er „encounters the kind of seductive challenge“, die sich einst mit Hallgerðr bot und nun mit der Schönheit der hlíð. Dieser „temptation“ kann er nicht widerstehen. Die Gleichsetzung der gefährlichen Schönheit der Hallgerðr mit der des heimatlichen Abhangs ist geistreich und verlockend, doch da ist die Frage, warum sich der Stolz Gunnars nicht schon beim Abschiednehmen zeigte und er erst nach dem Sturz vom Pferd und dem Blick zurück der ‚Versuchung‘ erliegt. Vielmehr erkennt doch Gunnarr erst mit diesem Blick zurück, was er an seiner ‚Heimat‘ hat; von „deceptive promise of continued prosperity and happiness“ kann doch keine Rede sein. Übrigens trifft es ja nicht zu, dass man vor dem 19. Jahrhundert nichts von „noble nationalism“ gewusst hätte. Die Óláfs saga helga Snorris, in der die Norwegische Königsgeschichte gipfelt, weist in der Schilderung vom bevorstehenden Untergang des Königs eine vergleichbare schauhafte ‚Heimatszene‘ auf. Óláfr ist dabei, nach Norwegen zurückzukehren. Er kommt von Osten über das Gebirge und ist entgegen seiner Gewohnheit auffallend still: Var hann hljóðr, mælti ekki við menn (war er ganz still und redete mit niemandem), 164 worauf der Bischof nach dem Grund seines ungewöhnlichen Verhaltens fragt. Der König antwortet með áhyggju mikilli: „Undarliga hluti hefir borit fyrir mik um hríð. Ek sá nú yfir Nóreg, er ek leit vestr af fjallinu. Kom mér þá í hug, at ek hafða margan dag glaðr verit í því landi. […]“ (mit großer Nachdenklichkeit: „Seltsame Dinge sind mir eine Weile vor Augen gekommen. Ich blickte nun hin über Norwegen, als ich im Westen der Berge Ausschau hielt. Da wurde mir bewusst, wie glücklich ich so manchen Tag in diesem Land gewesen bin“). 165 In der Strophe, die der 163 Brennu-Njáls saga, S. 182 (Njals saga, S. 128). 164 Snorri Sturluson, Heimskringla II: Óláfs saga helga , hg. von Bjarni Aðalbjarnarson, Reykjavík 1945 (Íslenzk fornrit XXVII), S. 351. Deutsche Übersetzung vom Autor (A.W.). 165 Heimskringla II (wie Anm. 164), S. 351. Deutsche Übersetzung vom Autor (A.W.). <?page no="91"?> Njáls saga 83 Skalde Sigvatr nach seiner Heimkehr von Rom auf seinen gefallenen König gedichtet hat und worin die norwegische Natur zum Toten in engster Beziehung gesehen wird, findet dieses norwegische Heimatgefühl ergreifenden Ausdruck: Hó þóttu mér hlæja, h ll um Nóreg allan - fyrr vask kendr á kn rrum - klif, meðan Óláfr lifði. Nú þykki mér miklu - mitt stríð er svá - hlíðir - j furs hylli varðk alla - óblíðari síðan. 166 In freier Wiedergabe der komplexen Skaldenstrophe etwa wie folgt: „Die hohen schienen mir zu lachen, die steilen in ganz Norwegen - früher ward ich viel gesehen auf den Schiffen (des Königs) - die Klippen, solange Olaf lebte. Nun scheinen mir um vieles - so ist mein Schmerz - die Berghänge - ich verlor (durch den Tod) des Fürsten ganze Huld - unfreundlicher seitdem.“ 167 Dieser nicht selbstverständlichen Einbeziehung Norwegens - sogar seiner Landschaft - hat ihre Entsprechung im Selbstverständnis der Menschen als Norweger, wie die berühmte Szene vor der Seeschlacht bei Svolder zeigt. Óláfr Tryggvason beurteilt die heraussegelnden feindlichen Flotten. Die der Dänen und Schweden werden als nebensächlich abgetan, doch angesichts der Schiffe des Jarl Eiríkr Hákonarson sagt er: „[…] oss er ván snarprar orrostu af því liði. Þeir eru Norðmenn, sem vér erum.“ („Und von der Schar haben wir schlimmen Streit zu erwarten! Das sind Norweger wie wir! “) 168 Zurück zu Gunnarr. Da ist die ungewöhnlich harsche moralische Reaktion seines Bruders Kolskeggr. Die Distanzierung von seinem Bruder verbindet sich mit dessen seltsam überflüssiger Distanzierung von Island „[…] at ek ætla mér ekki at sjá Ísland“ („daß ich nicht daran denke, Island je wiederzusehen“). 169 Das Einhalten des Abkommens ist für ihn wichtiger als die Verbundenheit mit Island. Ist Kolskeggr also noch kein richtig sesshafter Isländer? (Dass Gunnarr es dann sogar ablehnt, sich nach Westisland zurückzuziehen, wie Olaf Pfau ihm rät, mag eine Konzession an mündliche Überlieferungen sein.) Mit Sicherheit kann man sagen, dass dadurch, dass ausgerechnet der edle und treue Gunnarr vertragsbrüchig werden konnte, Island - die hlíð, die Äcker und das tún - an Eigenständigkeit und Unverwechselbarkeit gewinnt und die Routine der problemlosen Ausfahrt und des wikingerhaften Herumschweifens durchbrochen wird. Von Kolskeggr heißt es, dass er in Dänemark getauft wird. In einer Traumvision erfährt er, dass er guðs riddari (ein Ritter Got- 166 Zitiert nach Klaus von See, Skaldendichtung. Eine Einführung, München und Zürich 1980, S. 72. 167 Deutsche Übersetzung in: von See, Skaldendichtung, S. 72. 168 Snorri Sturluson, Heimskringla I: Óláfs safa Tryggvasonar, Reykjavík 1941 (Íslenzk fornrit XXVI), S. 357. Deutsche Übersetzung aus: Snorri Sturluson, „Heimskringla“. Sagen der nordischen Könige, hg., übersetzt und kommentiert von Hans-Jürgen Hube, Wiesbaden 2006, S. 204. 169 Brennu-Njáls saga, S. 183 (Njals saga, S. 128). <?page no="92"?> Teil II: Das Epos in Island 84 tes) 170 werden soll, worauf er nach Miklagarð (Byzanz) aufbricht und dort h fðingi fyrir Væringjaliði (Befehlshaber in der Varägergarde) 171 wird. Die übliche abschließende Reise in den Süden wird also von Gunnarr ferngehalten; die mündliche Überlieferung hatte da auch kräftig vorgearbeitet, doch darüberhinaus wird durch die betont scharfe Unterscheidung im Verhalten der beiden Brüder betont, dass Gunnarr eben noch ganz der isländischen Frühzeit angehört, während bei seinem Bruder die Saga auf das übliche mittelalterlich christliche Ende einschwenkt. Zu dem Island der Njála gehören nicht nur Gunnars hlíð, die Äcker und das tún, sondern auch das isländische Gemeinwesen und dessen Mittelpunkt, das Thing. Im zweiten Teil der Saga, der Schilderung des Untergangs der Njálssippe kommt das voll zum Tragen und bestimmt Standort und Perspektive der Saga. Das hängt auch damit zusammen, dass nun die isländische Gesellschaft ins Kraftfeld des Christentums eintritt. In Gunnars humanisierender Ablehnung leichtfertigen Tötens vernimmt man einen Vorklang dazu wie auch im relativ ritterlichen Verhalten der Gegner Gunnars, die sich weigern, Feuer an das Anwesen Gunnars zu legen. Sein Schicksal vollzieht sich aber noch im leicht idealisiert dargestellten altheroischen Muster. Zu Gunnars Entschluss zur Heimkehr und damit zum Bruch des Abkommens und zum Untergang tritt dann als entscheidendes Element Hallgerðs Weigerung, eine Strähne ihres prachtvollen Haares zur Ausbesserung der Bogensehne zur Verfügung zu stellen - ihre Rache für die Ohrfeige. Das besiegelt Gunnars Untergang, womit auch die Dreizahl der unglücklichen Ehen Hallgerðs erfüllt ist. Ausschlaggebend sind jeweils die Entscheidungen der beteiligten Menschen und nicht so sehr das Schicksal. Auch darin spürt man bereits das Moderne. Der Untergang der Njálssippe in der brenna vollzieht sich im Gegensatz dazu nicht mehr im hellen Licht idealisierter Heroik. Nun tritt das Böse in einer Weise ins Geschehen ein, die in der Geschichte von Gunnarr eher nur latent vorhanden war - in der Gestalt des M rðr. So erfährt man, dass M rðr bereits Christ ist, ja sogar seinen Vater zu bekehren versucht, was misslingt. Typisch für des Autors Darstellungsweise heißt es in unmittelbarem Anschluss daran, dass dieser M rðr Böses im Schilde führt, indem er - mit Erfolg - versucht, zwischen H skuldr und den Njálssöhnen Zwietracht zu säen. Dieser neuen Form des Bösen - sündhaft im christlichen Sinn - steht die nicht minder neue Form des Guten in der Lichtgestalt H skulds gegenüber. In dieser Verschiebung spiegeln sich, wie man gesehen hat, auch Reaktionen auf Zustände der allerjüngsten Vergangenheit, der sogenannten Sturlungazeit. Wir setzen an einem wichtigen Punkt des Geschehens im zweiten Teil ein. Die Njálssöhne werden in eine verhängnisvolle Auseinandersetzung mit einem gewissen Þráinn hineingezogen, der ihnen auf ihrer Auslandsfahrt übel mitgespielt hatte. Diese Auslandsfahrt ermöglichte auch die Einführung einer neuen Gestalt, des Kári S lmundarson, der auf ihrer Seite in einen Kampf eingreift. Dieser Kári ist kein Isländer, er stammt vielmehr ór Suðreyjum (von den Hebriden). 172 Er kommt also von 170 Brennu-Njáls saga, S. 197 (Njals saga, S. 137). 171 Brennu-Njáls saga, S. 197 (Njals saga, S. 137f). 172 Brennu-Njáls saga, S. 204 (Njals saga, S. 142). <?page no="93"?> Njáls saga 85 außen und wird Anteil daran haben, dass schließlich der alte heillose Rachezwang der Versöhnung weichen muss. Der Zwist mit Þráinn, der diesen das Leben kostet, wird gründlich vorbereitet und auf breiter Basis die Thingöffentlichkeit einbezogen. Zunächst stellt der Autor in einer sich steigernden Dreierstufung die immer heilloser werdende Situation dar. So erfährt man zuerst, dass Ketill, der Bruder des Þráinn, sich bei Njáll aufhält. Es wird ihm nahegelegt, mit seinem Bruder zu sprechen. Dieses Gespräch nimmt keinen positiven Verlauf. Von Ketill heißt es nur, en hann kvekz fátt mundu herma af orðum þeira (aber er wollte die Unterhaltung mit seinem Bruder nicht groß wiedergeben), 173 was nichts Gutes verheißt. Der rechtskundige Njáll schlägt vor, möglichst viele Leute in diese Affäre einzubeziehen, um Zeugen zu haben, wenn es zu üblen Beleidigungen kommen sollte. Hierauf wird ein zweiter Versuch unternommen, mit Þráinn ins Gespräch zu kommen. Diesmal ist Kári, der mit den Njálssöhnen verschwägert ist, der Vermittler. Er hat ebensowenig Erfolg wie Ketill; die wörtliche Wiedergabe des Eindrucks des Gesprächs verstärkt diesen Eindruck, wenn Kári meint: ekki herma mundu orð þeira (er wolle ihre Unterredung nicht wiederholen). 174 Die Situation bei Þráinn hat sich dazu ins Martialische verändert. 15 streitbare Männer befinden sich auf seinem Hof, darunter besonders üble Kerle wie Hrappr und Feinde der Njálssöhne. Überdies heißt es, dass Þráinn besonders arrogant auftritt: Er var skrautmenni mikit ok reiði jafnan í blári kápu […] gyldan hjálm (gab viel auf ein prachtvolles Äußeres und trug auf seinen Ausritten stets einen blauen Mantel. Er hatte einen vergoldeten Helm auf […]). 175 Das lässt nichts Gutes ahnen. Es kommt nun - unter diesen Voraussetzungen - zum dritten Versuch, mit Þráinn über die Angelegenheit während der Auslandsfahrt ins Gespräch zu kommen, und nun sind es die Njálssöhne selbst, die sich auf den Weg machen. Es kommt zu einem geschickt aufgebauten verbalen Schlagabtausch zwischen den Njálssöhnen und dem versammelten Gefolge Þráins. Auf Seiten der Njálssöhne profiliert sich immer mehr Skarpheðinn, in dem der Autor das altheroische Ethos der Frühzeit verkörpert sieht, bis er in der brenna ebenfalls in die neue christliche Welt hineingenommen wird. Þráinns Leute verweigern den Ankömmlingen den Gruß, was Skarpheðinn seinerseits zu einer sarkastischen Begrüßung herausfordert: „Allir sé vér velkomnir“ („Willkommen, wir alle! “). 176 Dass dann Hallgerðr, die mit ihrem neuen Liebhaber, Hrappr, ebenfalls zugegen ist, den Disput eröffnet, ist ein Hinweis darauf, dass der zweite Teil der Saga mit der Gunnarssaga verbunden ist. Es geht dem Autor eben um ein großes einheitliches Werk. Mit Hallgerðr ist auch die Schmähung Njáls und seiner Söhne - Bartlosigkeit und Mistbärtlinge - zwanglos gegeben und kann den Höhepunkt des Streits bilden mit den entsprechenden Folgen. Wie differenziert der Autor verfährt, erkennt man daran, dass Þráinn sich an dieser Schmähung nicht beteiligt, ja sogar: hann þekti menn af orðum þessum (er versuchte, seine Leute zum 173 Brennu-Njáls saga, S. 226 (Njals saga, S. 158). 174 Brennu-Njáls saga, S. 227 (Njals saga, S. 159). 175 Brennu-Njáls saga, S. 227 (Njals saga, S. 159). 176 Brennu-Njáls saga, S. 228 (Njals saga, S. 160). <?page no="94"?> Teil II: Das Epos in Island 86 Schweigen zu bringen). 177 Abschließend ist zu sagen, dass Njáls Kalkül, eine möglichst breite Öffentlichkeit einzubeziehen, aufgeht, denn die Kunde von diesem Streit zieht weite Kreise: Nú verðr umrœða mikil um deild þeira, ok þóttusk allir vita, at eigi mundi svá búit sjatna (Nun wurden ihre Zwistigkeiten weit und breit beredet, und alle waren überzeugt, daß es dabei nicht bleiben würde). 178 Die Njálssöhne lassen natürlich diese neuerliche Schmähung nicht auf sich sitzen. Die kurze Lagebesprechung nach der Rückkehr der Njálssöhne fasst die Situation und das, was zu erwarten ist, zusammen, wobei jeder der Hauptbeteiligten den für ihn typischen Beitrag leistet. Njáll, der friedfertige Rechtskundige, will wissen: „Nefnduð þér n kkura vátta at orðunum? “ („Habt ihr für die Beschimpfung Zeugen? “), was auf die Regelung in der Öffentlichkeit des Things abzielt. Dem setzt Skarpheðinn entgegen: „[…] vér ætlum ekki at sœkja þetta nema á vápnaþingi“ („wir haben nicht vor, die Sache anders als mit Waffen auszutragen“) 179 - also ein ‚Thing‘ anderer Art. Es schaltet sich noch Bergþóra ein und stachelt ihre Söhne auf, indem sie ihnen indirekt den Vorwurf der Feigheit macht, was Kári als völlig überflüssig zurückweist. Abschließend heißt es, dass sie alle in aller Heimlichkeit beraten: tala þeir lengi hljótt, allir feðgar ok Kári (sprachen sie lange leise miteinander, Njal und seine Söhne und Kari). 180 Es wird betont, dass Njáll daran teilnimmt. Das wird sich auf fatale Weise ändern und stellt ein nicht unwichtiges Begleitthema dar. Tenor bei dieser Auseinandersetzung mit Þráinn ist erneut die Schmähung Njáls und seiner Söhne - karl inn skegglausi und taðskegglingar -, was zurückverweist auf Hallgerðr und Sigmundr und ausschlaggebend sein wird bei der Njálsbrenna. Die Ehre wird also zusehends neben der Rachethematik zum Markenzeichen der isländischen Frühzeit. Im weiteren Handlungsverlauf spielen wiederum die Klatschweiber eine Rolle, wodurch die Öffentlichkeit ins Geschehen einbezogen wird. Sie berichten Bergþóra, dass Þráinn mit seinem Gefolge unterwegs sei und heben sein arrogantes Auftreten hervor und dass Njáll und seine Söhne geschmäht wurden. Bergþóra bespricht sich in aller Heimlichkeit und nun ohne Beisein Njáls mit ihren Söhnen. Es folgt der Auszug der Njálssöhne, die sich an Þráinn rächen wollen. Sie greifen also das zweite Mal zu den Waffen. Die Szene ist parallel zu der ersten angelegt, als sie Sigmundr erschlugen. Die Axt des Skarpheðinn bildet jedesmal das dinghafte Symbol. Njáll hört nun wieder, wie Skarpheðinn nach ihr greift, geht hinaus und fragt seine Söhne nach ihrem Vorhaben. Diesmal erfährt man auch etwas über ihre ungewöhnlich glanzvolle Ausrüstung, die der des Þráinn in keiner Weise nachsteht. Solche ‚Äußerlichkeiten‘ haben etwas zu bedeuten. Bei Sigmundr und Þráinn kündigt sich damit nichts Heilvolles an; denken wir auch zurück an Vésteins Ritt, der ihn in den Untergang führen sollte. Wollte der Verfasser damit in erster Linie den Njálssöhnen nur einen glänzenden Auftritt gönnen? Skarpheðinn erschlägt Þráinn auf spektakuläre Weise. Im Gegensatz zum Kampf gegen Sigmundr fallen auf diesen düstere Schatten 177 Brennu-Njáls saga, S. 229 (Njals saga, S. 161). 178 Brennu-Njáls saga, S. 229 (Njals saga, S. 161). 179 Brennu-Njáls saga, S. 229 (Njals saga, S. 161). 180 Brennu-Njáls saga, S. 229 (Njals saga, S. 161). <?page no="95"?> Njáls saga 87 in Form von Vorausdeutungen Njáls und es fragt sich, ob nicht auch das ungewöhnlich glanzvolle Auftreten der Njálssöhne auf Untergangsbezogenheit hinweist, denn die Tötung Þráins, so gerechtfertigt sie auch ist, ist die Voraussetzung für kommendes Unheil. Beim dritten und letzten bewaffneten Auszug der Njálssöhne, der der verhängnisvollen Tötung H skulds gilt, erfährt man nichts über ihr Auftreten. Der Autor tut das ungewöhnlich kurz ab: […] ok tóku þeir Njálssynir þá vápn sín (Die Njalssöhne […] nahmen ihre Waffen). 181 Das muss genügen. Nun geschieht aber etwas Unvorhersehbares, was u.a. die einmalige Stellung der Njála in der Sagaliteratur ausmacht. Es geht ja um die Überwindung des Rachedenkens. Der Autor setzt an der Wurzel an, bei dem, der nach dem hergebrachten Ehrenkodex in erster Linie an der Rache gelegen sein muss, bei Þráinns Sohn H skuldr. Nun konnte der Totschlag Þráins dank des Entgegenkommens der Angehörigen und Njáls gemäß dem Gesetz - sem l g stóðu til (nach dem Gesetz) 182 - mit der entsprechenden Summe des Wergelds abgegolten werden, doch Njáll wollte sicher gehen, indem er das herkömmliche l ǫ g-Denken durch eine Geste der Menschlichkeit überhöhte. Er nimmt H skuldr, den Sohn des Erschlagenen, in seine Familie als Ziehsohn auf, um den Rachegeist endgültig zu bannen. In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass man kurz darauf erfährt, dass das Christentum im Norden Einzug hält; Njáls Entschluss also gleichsam eine Vorwegnahme christlicher Ideen darstellt. Kein Wunder, dass dann Njáll und die Seinen auch sogleich die neue Lehre annehmen. Njáls Entschluss zur Adoption H skulds bedeutet, dass der Autor bereits der heidnisch-isländischen Frühzeit ein christliches Experiment zutraute. Es scheint auch zu gelingen. Die Njálssöhne nehmen H skuldr freundlich auf ok gerðu honum allt til sóma (und erwiesen ihm jeden Gefallen), 183 und Njáll selbst lässt ihm seine ganze väterliche Zuneigung angedeihen. Gemäß seiner Erzählweise führt der Autor in unmittelbarem Anschluss daran die Person ein, die Njáls großen Friedensplan zum Scheitern bringen wird, Flosi. Er wird den entscheidenden Anteil an der Njálsbrenna haben, aber auch an der endgültigen Versöhnung am Schluss. Dann betritt eine weitere Figur die epische Bühne, Flosis Nichte Hildigunnr - ihr Name, wie der H skulds, ist im Gegensatz zu Flosi in keiner anderen Quelle belegt. Darf man daraus schließen, dass es zu H skuldr und Hildigunnr keine nennenswerte mündliche Überlieferung gab und somit der Einsatz dieser beiden Schlüsselgestalten also eine Phantasieleistung des Autors war? Die krasse Gegensätzlichkeit ihrer Charaktere - extrem altheroisches Rachedenken bzw. nicht minder radikale christliche Versöhnungsbereitschaft - lässt tatsächlich nicht viel Raum für Verankerung in der historischen Wirklichkeit. Hildigunnr wird H skulds Gattin. Njáll gelingt es, für H skuldr ein Godenamt einzurichten, was zusätzlich die Lage stabilisiert. Alles ist auf bestem Weg, doch die Dämonen der Frühzeit sind noch nicht endgültig gebannt, auch wenn eine weitere Totschlagsaffäre, ausgelöst durch die Tötung des unehelichen Sohns Njáls durch 181 Brennu-Njáls saga, S. 280 (Njals saga, S. 193). 182 Brennu-Njáls saga, S. 236 (Njals saga, S. 166). 183 Brennu-Njáls saga, S. 237 (Njals saga, S. 167). <?page no="96"?> Teil II: Das Epos in Island 88 Angehörige Þráins das Verhältnis der Njálssippe zu H skuldr, dem Sohn Þráins, nicht zu trüben vermag. Die aus der Frühzeit ererbte Last der Racheproblematik verbindet sich, wie erwähnt, mit einer neuen Sicht auf das Böse, was mit dem Übergang zum Christentum zusammenhängt. Der Autor schiebt einen langen Abschnitt - gut 20 Seiten - über die Annahme des Christentums ein, was von vielen Interpreten als Kompositionsfehler vermerkt wird. In dem breitangelegten Prosaepos ist aber reichlich Platz dafür und außerdem ist zu bedenken, dass für den Autor die Annahme der neuen Religion ein derart kapitales Ereignis gewesen sein muss, dass er sich genötigt sah, ausführlich darauf einzugehen, für das Anliegen, der Schaffung eines identitätsstiftenden Epos, geradezu eine Notwendigkeit. Überdies ist unseres Autors Kristniþáttr ins Geschehen und in die Personenkonstellation integriert. Wie nämlich viele Isländer sich kritisch zum Religionswechsel in Norwegen äußern, at slíkt væri mikil firn at hafna fornum átrúnaði (was für ein unerhörter Frevel es sei, sich vom alten Glauben abzuwenden), 184 ist es nicht zufällig Njáll, der sich ahnungsvoll für den neuen Glauben ausspricht und auch sogleich mit seiner Sippe den neuen Glauben annimmt. In Anschluss daran heißt es bezeichnenderweise, dass Valgarðr und sein Sohn M rðr gingu mj k í móti trú (eiferten sehr gegen den Glauben). 185 (Im vorliegenden Text kommt es zu einem Widerspruch, was die Haltung des M rðr betrifft, denn an späterer Stelle erfährt man, dass er seinem Vater rät, das Christentum anzunehmen, was dieser vehement ablehnt und die christlichen Symbole vernichtet.) Valgarðr, der von einer Ausfahrt zurückkommt, erfährt, dass H skuldr, der neue Gode, dieses Amt auf Kosten M rðs erhalten hat und rät seinem Sohn, sich bei den Njálssöhnen einzuschmeicheln und sie aufzustacheln, H skuldr zu töten, was dann deren Untergang herbeiführen werde. M rðr, obgleich nun Christ, wird den Plan seines heidnischen Vaters ausführen. Wie wir sehen werden, wird auch der bewusste Christ Flosi unchristlich handeln. Für den Autor war das wohl symptomatisch für die Übergangszeit und es spiegelt sich darin auch die jüngste isländische Zeitgeschichte mit ihren fatalen Aktionen christlicher Zeitgenossen. Festzuhalten ist aber, dass der infame Plan zur Vernichtung der Njálssippe vom alten Heiden Valgarðr stammt. Er sagt zu seinem Sohn, wenn die Njálssöhne tot seien, könnte er die Führung im Bezirk übernehmen. Das lässt direkt an die Machtkämpfe der Sturlungazeit denken! Die Njálssöhne haben Þráinn, H skulds Vater, getötet. H skulds Pflicht wäre es, gemäß dem alten Rachegedanken, sich zu rächen, was dem vorbildlichen Christen ganz und gar fern liegt; nicht so für Skarpheðinn, der den Einflüsterungen M rðs erliegen wird. Neu prallt hier auf Alt und dabei ist besonders bemerkenswert, dass in diesem Zusammenprall das Wesen des Altheidnisch-Heroischen sich zum Schlechteren verändert. Am Verhalten Skarpheðins und dann Flosis wird das vorgeführt. M rðr macht sich auch an H skuldr heran, um ihn gegen die Njálssöhne aufzuhetzen, scheitert aber an dessen vorbildlich christlicher Einstellung, die in dem Be- 184 Brennu-Njáls saga, S. 255 (Njals saga, S. 177). 185 Brennu-Njáls saga, S. 261 (Njals saga, S. 180). <?page no="97"?> Njáls saga 89 kenntnis gipfelt: „þá vil ek hálfu heldr þola dauða af þeim en ek gera þeim n kkut mein“ („da würde ich viel lieber den Tod durch sie erleiden wollen als ihnen Schaden antun“). 186 So wird es auch kommen. Bei einem Besuch H skulds und seiner Gattin Hildigunnr bei Flosi ist die Rede davon, dass sich die Beziehung zu den Njálssöhnen verschlechtert hätten. Flosi rät H skuldr, nicht heimzukehren, sondern sich andernorts niederzulassen, was H skuldr ausschlägt. Bei dieser Weigerung schwingt auch bei H skuldr noch ein altheroischer Ton mit, wenn er sagt, man könnte dann meinen, „at ek flýja þaðan fyrir hræzlu sakir […]“ („daß ich aus Angst von dort fliehen würde“) 187 und er kehrt heim. Flosi gibt ihm zum Abschied eine skarlatsskikkju (Scharlachmantel), 188 ein kostbares Kleidungsstück. Nun liegen nicht nur in der Njála kostbare Kleider, Arroganz und Tod oft nahe beisammen. Bei H skuldr kann aber von provozierendem Auftreten keine Rede sein. Dieser skikkja wird eine andere Funktion zukommen. Es handelt sich auch um ein Geschenk Flosis, und es wird sich erweisen, dass dieses Geschenk gleichsam Macht über ihn gewinnen wird. Die bösen Einflüsterungen M rðs bleiben nicht ohne Wirkung auf die Njálssöhne. Sie glauben seinen Verdächtigungen und ziehen aus, H skuldr zu töten, um einem Racheakt zuvorzukommen. Dieser dritte Auszug der Njálssöhne zu einer Gewalttat, nach der Tötung Sigmunds und dann Þrains, unterscheidet sich von diesen darin, dass es dort um berechtigte Ansprüche ging und es zu einem fairen Kampf kam. Wozu es nun kommt, ist nicht mehr altheroischer Totschlag, sondern heillos sündhaftes Tun. Dementsprechend ändern sich auch die Umstände. Bergþóra fragt ihren Mann, was denn ihre Söhne wohl planten. Njáll erwidert, er wisse es nicht und das bedeute nichts Gutes: „Ekki em ek í ráðagerð með þeim“, segir Njáll, „sjaldan var ek þá frá kvaddr, er in góðu váru ráðin“ („Ich bin in ihre Pläne nicht eingeweiht“, sagt Njal, „aber ich war selten ausgeschlossen, wenn sie Gutes zu beratschlagen hatten.“) 189 Beim Auszug der Söhne liegt wiederum der Akzent auf der Vollzähligkeit - alle, allir! Man tritt nun in die vorbereitende Phase des großangelegten Schlussabschnitts des Geschehens ein, worauf die Saga von Anfang an angelegt ist. Es zeigt sich nun, dass in dem neuen christlichen Umfeld, wofür H skuldr steht, die altheroische Ethik sich auflöst, die bei Gunnars Untergang noch intakt war. Es wird erzählt, dass H skuldr aufwacht, sich ankleidet - auch die kostbare skikkja anlegt. Er geht aufs Feld um zu säen. Die skikkja ist für diese bäuerliche Tätigkeit natürlich kein adäquates Kleidungsstück; sie wird sich als machtvolles Dingsymbol erweisen, von dem Kraft ausstrahlt; H skuldr hält zwar in der einen Hand noch das Schwert, im Ganzen aber geht es um das Bild vom friedlichen Sämann. Die Njálssöhne stürmen auf ihn ein - wiederum heißt es allir, so als wollten sie alle schuldig werden. Unvorstellbar, dass ausgerechnet der altheroische Recke Skarpheðinn die Parole ausgegeben hätte, dass sie alle auf den einen losgehen sollten. Er führt dann auch den entscheidenden Schlag, was H skuldr in Analogie zu Jesu Worten wie folgt quittiert: 186 Brennu-Njáls saga, S. 278 (Njals saga, S. 191). 187 Brennu-Njáls saga, S. 279 (Njals saga, S. 192). 188 Brennu-Njáls saga, S. 279 (Njals saga, S. 192). 189 Brennu-Njáls saga, S. 280 (Njals saga, S. 193). <?page no="98"?> Teil II: Das Epos in Island 90 „Guð hjálpi mér, en fyrirgefi yðr! “ („Möge Gott mir helfen und euch vergeben! “), 190 worauf [h]ljópu þeir þá at honum allir ok unnu á honum (Da drangen auch die übrigen auf ihn ein und verwundeten ihn zu Tode.) 191 Der Autor konstatiert bloß dieses feige unritterliche Verhalten, das so ganz dem Wesen Skarpheðins widerspricht. Das hängt auch mit dem lapidaren Sagastil zusammen, doch das genügt nicht. Skarpheðinn derart aus der Rolle fallen zu lassen, ist nur zu verstehen als Annäherung an das blindwütige Rasen heidnischer Verfolger, wie man das aus der Märtyrerliteratur kennt. Dass der Autor diesen erzählerischen Bruch in der Darstellung Skarpheðins vornehmen konnte, zeigt, wie sehr ihm daran lag, dem Neuen, das H skuldr vertritt, auf der Gegenseite das Entsprechende entgegenzusetzen - das Böse. Diese Entheroisierung wird sich in der brenna entfalten und die ehrenwerte altheroische Sicht auf die Racheproblematik als unzulänglich erweisen. Njáls Reaktion ist dann auch dementsprechend unheilvoll, wenn er auf die Frage, was nun passieren werde, in wohlstilisierter Dreierabfolge mit wichtigem Einsatz erwidert: „Dauði minn“, segir Njáll, „ok konu minnar ok allra sona minna.“ („Mein Tod“, sagt Njal, „und der meiner Frau und aller meiner Söhne.“) 192 Der Autor kommentiert das noch, indem er feststellt: Sjá einn hlutr var svá, at Njáli fell svá nær, at hann mátti aldri ókl kkvandi um tala. (Es gab nichts, was Njal so naheging wie diese eine Sache, daß er nie ohne Tränen darüber sprechen konnte.) 193 An späterer Stelle wird er das präzisieren, wenn er sagt: „[…] at ek unna meira H skuldi en sonum mínum, ok er ek spurða, at hann var veginn, þótti mér sløkkt it sœtasta ljós augna minna, ok heldr vilda ek misst hafa allra sona minna ok lifði hann“ („[…] daß ich Höskuld mehr liebte als meine eigenen Söhne, und als ich erfuhr, daß er erschlagen war, schien mir das süßeste Licht meiner Augen erloschen, und ich hätte lieber alle meine Söhne hergegeben, wenn er noch am Leben wäre.“) 194 Mit der Tötung H skulds ergibt sich also eine neue Situation, die das Bild von der isländischen Frühzeit gründlich verändert. Nun schwenkt die Erzählung hinüber zu Hildigunnr, der Gemahlin des Ermordeten. Sie erwacht, vermisst ihren Gemahl und klagt über „harðir […] draumar“ („Schwer habe ich geträumt“). 195 Es wird dann der Leichnam des Getöteten entdeckt und über einen Viehhüter erfährt man, dass Skarpheðinn den Totschlag für sich beansprucht habe. Im Gegensatz zu ihrem Gatten verkörpert Hildigunnr - die Frauengestalt - das altheroische Gesicht der Frühzeit in voller Schärfe, wie man ihrer ersten Äußerung entnehmen kann, wenn sie sagt: „Karlmannligt verk væri þetta, […] ef einn hefði at verit“ („Eine mannhafte Tat wäre es gewesen, […] wenn einer allein sie vollbracht hätte“). 196 Mit diesem Einblenden einer typisch altheroischen Reaktion verbindet der Autor die Einbeziehung 190 Brennu-Njáls saga, S. 281 (Njals saga, S. 193). 191 Brennu-Njáls saga, S. 281 (Njals saga, S. 193). 192 Brennu-Njáls saga, S. 281 (Njals saga, S. 194). 193 Brennu-Njáls saga, S. 281 (Njals saga, S. 194). 194 Brennu-Njáls saga, S. 309 (Njals saga, S. 213). 195 Brennu-Njáls saga, S. 282 (Njals saga, S. 194). 196 Brennu-Njáls saga, S. 282 (Njals saga, S. 194). <?page no="99"?> Njáls saga 91 des christlichen Reliquienkults. Weil das, modern gesehen, zu unlösbaren Widersprüchlichkeiten führt, ist es umso aufschlussreicher für die Absicht des Erzählers. Hildigunnr nimmt die blutverkrustete skikkja des Ermordeten, trocknet damit alles auf, scharrt die Blutkrusten zusammen und legt die kostbare skikkja in eine Truhe. In Verbindung mit dem als betont heiligmäßig geschilderten märtyrerhaften Tod H skulds bewegt man sich mit dieser Geste seiner Gattin im Bereich der Heiligen- und Märtyrerverehrung und des Reliquienkults, der des Dinghaften bedarf. Wie die resolut-wehrhafte Hildigunnr dann diese ‚Reliquie‘ einsetzen wird, markiert einen Höhepunkt des Werkes im Versuch, Altheroisches und Christliches in Verbindung zu bringen. Nicht minder wichtig ist in diesem Zusammenhang nun die besonders massiv einbezogene Öffentlichkeit, was das Thing in den Mittelpunkt des Interesses rücken wird. Die Ermordung H skulds spurðisk um allar sveitir ok mæltisk illa fyrir (wurde in allen Landesteilen ruchbar und hart verurteilt). 197 Dieser Kasus betrifft also ganz Island; das Großepos wird damit seinem identitätsstiftenden Anspruch gerecht. Wie wichtig der Autor die Thingöffentlichkeit nimmt, zeigt sich an der Ausführlichkeit, mit der er darauf eingeht - etwa 60 Seiten verwendet er darauf, einmalig in der Geschichte der isländischen Sagas. Alles läuft auf die Katastrophe der Njálsbrenna hinaus, worin für den Autor aus seiner Sicht - so darf man annehmen - die isländische Frühzeit zu Ende ging und die neue Zeit anbrach. Dass ihn dabei die Flugumýrarbrenna aus der jüngsten Zeitgeschichte inspiriert haben dürfte, liegt nahe. Wollte er damit seinen Zeitgenossen einen Spiegel vorhalten, indem er einerseits am Verbrechen der Njálsbrenna nichts beschönigte, andererseits aber seiner Zeit eindringlich vor Augen führte, wie die Landsleute der Frühzeit es vermochten, mit dieser Katastrophe umzugehen, was dieser Frühzeit Größe verlieh, die die Njála in den Rang eines Islandepos erhebt. Die Sturlunga saga bietet, verglichen damit, nur nackte chronikalische Fakten über die brutalen Feindseligkeiten der Sturlungazeit. Das durchgehende Thema, sagten wir, ist die Problematik der Rache. Im Zwist zwischen Hallgerðr und Bergþóra ist das angelegt, zieht weitere Kreise in der Einbeziehung der Njálssippe und wird nun abschließend auf den entscheidenden Punkt geführt in der Rache für den auf schmähliche Weise getöteten vorbildlichen Christen H skuldr. Erschwerend kommt dazu, dass für diese vorbeugende Tat kein Grund bestand, was ebenfalls die Unzulänglichkeit des alten Rachedenkens offenbart. Durch die in H skuldr personifizierte neue christliche Zeit gerät das altheroische Wertesystem ins Wanken. Das wird besonders krass - und nicht psychologisch überzeugend - am Beispiel Skarpheðins vorgeführt. Dieser Verzicht auf psychologische Stimmigkeit ist ein starkes Indiz dafür, dass im Umfeld des frommen H skuldr das Böse eine neue Qualität gewonnen hat, was der Autor nur zu konstatieren vermag. Im Verhalten Flosis, wie wir sehen werden, wird sich das verdeutlichen. Skarpheðinn entspricht auf Seiten der Frauengestalten Hildigunnr, die Gattin des Getöteten. In ihr konzentriert sich das mit Frauen und Rache verbundene 197 Brennu-Njáls saga, S. 283 (Njals saga, S. 195). <?page no="100"?> Teil II: Das Epos in Island 92 Thema der Aufhetzung der Männer zum Totschlag. In der Njála ist es an drei (! ) Frauengestalten gebunden, an Hallgerðr, Bergþóra und nun an Hildigunnr. Die hv t (Aufhetzung) Letzterer ist von anderer Qualität als die bisherigen: Die Gattin H skulds wird sich nicht mit Worten begnügen, sie setzt als machtvolles Dingsymbol die blutverkrustete skikkja ein, der sich der Aufzuhetzende nicht entziehen kann. Es bedarf nun noch einer neuen Person, das ist Flosi, der Onkel der Hildigunnr. Flosi ist schon vorsorglich eingeführt worden. Das geschah bezeichnenderweise im unmittelbaren Anschluss an die Szene, in der H skuldr, der dann Flosis Nichte Hildigunnr heiraten wird, von Njáll als Ziehsohn adoptiert wurde. Flosi ist zutiefst betroffen vom Tod H skulds, er ist erfüllt von áhyggju ok reiði, ok var hann þó vel stilltr (nimmt es mit großer Betroffenheit und Zorn auf, blieb aber dennoch beherrscht). 198 Die Betonung dieses Wesenzuges - vera vel stilltr - hat ihre Funktion im weiteren Geschehen; sie weist voraus auf die Szene mit Flosis Nichte Hildigunnr und steht in einer seltsamen Spannung zu seinem Verhalten auf der entscheidenden Thingverhandlung und bei der Njálsbrenna. Sie ist ein weiterer Beleg für die weitgespannte treffende Wortwahl, was literarische Komposition voraussetzt und mündlich formelhafter Überlieferung nicht zuzutrauen ist. Mit Flosi ist nun auch der Osten Islands ins Geschehen einbezogen. Nach dem Tod H skulds will Flosi at þeir skyldi fj lmenna mjök til þings (daß sie mit großem Aufgebot zum Thing kommen sollten); 199 es ist also gleichsam ganz Island von diesem Ereignis betroffen, was den Anspruch des Werkes unterstreicht. Der Autor legt ein breites Fundament für die Thingversammlung, auf der das Schicksal der Njálssippe besiegelt wird, indem er beide Parteien ausführlich in ihrer jeweiligen Besonderheit vorführt. Zur einen Partei: Flosi berät sich mit Freunden, wobei die außerordentliche Besonnenheit der Beteiligten auffällt. Es ist keine Rede von Rache, vielmehr herrscht bei aller Trauer die Absicht Unheil zu vermeiden. So rät ein gewisser Runólfr Flosi: „[…] gefir ró reiði ok takir þat upp, at minnst vandræði hljótisk af“ („daß du deinen Zorn zügelst und die Sache so behandelst, daß am wenigsten Unheil daraus erwächst“). 200 Flosi unterstützt Runólfr, lässt aber offen, dass es schlimm enden könnte. Die folgende Szene, es ist mehr als ein bloßes Gespräch, steht denn auch im offenen Gegensatz dazu. Es geht nun um die Begegnung Flosis mit seiner Nichte, der Gemahlin des Getöteten. Nebenbei bemerkt, ist auch hier die Technik des unmittelbaren Aufeinanderfolgens gegensätzlicher Positionen als ein weiteres literarisches Strukturelement der Njála zu beobachten. Hildigunnr bereitet Flosi einen großen Empfang; gut zwei Seiten verwendet der Autor auf diese Schlüsselszene und gibt damit zu verstehen, dass sie entscheidend sein wird und nicht das vorausgehende kurze Gespräch der beiden besonnenen Männer. Flosi wehrt sich gegen diesen unangemessenen Aufwand, indem er sagt, er wolle nur eine Kleinigkeit essen und dann weiterreiten. Es kommt anders. Die Macht des archaischen Rachedenkens setzt sich durch. Damit tritt man in die abschließende Phase der Auseinan- 198 Brennu-Njáls saga, S. 287 (Njals saga, S. 197). 199 Brennu-Njáls saga, S. 287 (Njals saga, S. 198). 200 Brennu-Njáls saga, S. 289 (Njals saga, S. 199). <?page no="101"?> Njáls saga 93 dersetzung mit diesem Problem der Frühzeit ein. Die Schilderung des folgenden Auftritts ist ein Höhepunkt der Sagaliteratur. Die Begrüßung weckt schon die Aufmerksamkeit, wenn Hildigunnr ihren Onkel ungewöhnlich feierlich - fast klerkamál (d.h. in sakraler/ liturgischer Sprache) - anspricht: „[…] er nú fegit hjarta mitt tilkvámu þinni“ („Mein Herz freut sich über dein Kommen! “). 201 Nach dem Essen - hier wäre noch auf die Symbolik des zerschlissenen Handtuchs einzugehen - tritt Hildigunnr vor Flosi hin, streicht sich das Haar aus dem Gesicht und weint. Flosi weiß, dass sie góðan mann (einen guten Mann) 202 beweine und setzt damit einen für die Njála wichtigen Begriff ein. Er gibt damit auch zu verstehen, dass sein Sinn auf Versöhnung gerichtet ist, was sich sogleich konkretisiert, wenn er auf Hildiguns Frage, mit welcher Unterstützung seinerseits sie rechnen könne, antwortet, dass er dem Gesetz entsprechend handeln und ein friedliches Abkommen - sætt - unterstützen werde, das góðir menn ausgehandelt hätten, sodass „vér sém vel sœmðir“ („er [i.e. der Vergleich] für uns höchst ehrenvoll ausfällt“). Blenden wir zurück zu Gunnarr, der Njáll gegenüber versicherte, er wolle auf dem Thing góðir menn treffen! Den Worten Flosis setzt nun Hildigunnr in effektvoller Spitzenstellung entgegen: „Hefna mundi H skuldr þín, ef hann ætti eptir þik at mæla.“ („Höskuld würde Blutrache für dich nehmen, wenn er die Mordklage zu führen hätte.“) 203 - was natürlich keineswegs der Sinnesart H skulds entsprechen würde. Die hetzende Frau setzt sich mit ihrem archaischen Rachedenken über die neue Wirklichkeit hinweg und wird Erfolg haben. Sie holt die skikkja hervor, in der H skuldr ermordet wurde, geht þegjandi (schweigend) 204 auf Flosi zu - das bedeutsame Schweigen deutet auf Entscheidendes hin - und wirft sie über ihn, so dass das verkrustete Blut herunterrieselt. Sie weiht ihn damit gleichsam der Rache. Er wird sich dem auch nicht entziehen können. Um dieser Racheweihe Nachdruck zu verleihen, beschwört sie auch noch den christlichen Gott - und „[…] allra krapta Krists þíns“ („bei […] allen Wunderzeichen deines Christus“), 205 damit Flosi zur Rache fähig werde - andernfalls würde er ja zum níðingr (ehrlosen Lumpen) 206 werden. Diese groteske Vermischung heidnisch-archaischen Rachedenkens mit dem neuen Gottesbild war also für den Autor durchaus eine Möglichkeit, den Übergang zur neuen Religion in der isländischen Frühzeit zu kennzeichnen. Flosi ist entsetzt, greift zu der bewährten Fügung köld eru kvenna ráð und weist auf die unheilvollen Folgen des Racheszenarios hin. Flosis Gesicht wird dabei zum Spiegel dessen, was er empfindet: hann var í andliti stundum rauðr sem blóð, en stundum f lr sem gras, en stundum blár sem hel (daß er im Gesicht bald rot wie Blut, bald fahl wie Gras, bald schwarz 201 Brennu-Njáls saga, S. 289f (Njals saga, S. 199). 202 Brennu-Njáls saga, S. 291 (Njals saga, S. 200). 203 Brennu-Njáls saga, S. 291 (Njals saga, S. 200). 204 Brennu-Njáls saga, S. 291 (Njals saga, S. 200). 205 Brennu-Njáls saga, S. 291 (Njals saga, S. 201). 206 Brennu-Njáls saga, S. 291 (Njals saga, S. 201). <?page no="102"?> Teil II: Das Epos in Island 94 wie Hel [Göttin der Unterwelt in der nordischen Mythologie] wurde). 207 Vergleichbares merkt der Autor bei Skarpheðinn an. Eine Szene aus der dem Norden wohlvertrauten Sage vom Untergang der Nibelungen sei herangezogen, aus der Guðrúnarhv t und den Hamðismál, worin eingebettet in Unheilsatmosphäre das altheroische Rachedenken in seiner Unerbittlichkeit zum Ausdruck kommt, zugleich aber in seiner zerstörerischen Kraft. Da ist die rachedürstende Frauengestalt Guðrún, die ihre Söhne aufhetzt, ihre Schwester zu rächen. Hamðir, keineswegs rachegierig verweist auf den Tod Sigurds. Das mächtige Dingsymbol fehlt ebenfalls nicht; es sind die blutigen Bettlaken, die drei Verse in Anspruch nehmen! Nun zur Gegenpartei. Njáll und Skarpheðinn entsprechen Flosi und Hildigunnr. Njáll fragt Skarpheðinn: „Hverja ráðagerð hafið þér nú fyrir […]? “ („Was habt ihr euch nun vorgenommen“). 208 Njáll bekennt sich feierlich zu seinen Söhnen und will auf dem Thing seine Autorität zu ihren Gunsten einsetzen „[…] því at þat er sómi minn at skiljask eigi við yður mál, meðan ek lifi.“ („weil es für mich Ehrensache ist, euch nicht im Stich zu lassen, so lange ich lebe.“) 209 Das deutet voraus, dass das bisher nicht konfliktfreie Verhältnis zwischen Vater und Söhnen sich im Bewusstsein der Zusammengehörigkeit auflösen wird in der brenna. Das Hauptthema der brenna, die Rache, lähmt also nicht das Interesse des Autors an den Schicksalen der beteiligten Menschen. Er nimmt vielmehr dieses Hauptthema zum Anlass, weitere menschliche Schicksale einzubeziehen und diese Fäden zusammenzuziehen in seinem großen altisländischen Humangewebe. Skarpheðinn begibt sich auf Bundesgenossensuche, Vater Njáll reitet zum Thing. Skarpheðinn, dessen Reputation durch die unfaire Ermordung gelitten hat im Bewusstsein der Hörer und Leser, bekommt nun Gelegenheit, vor dem Untergang seine altheroische Haltung bestätigen zu können, doch nicht nur das! In der Katastrophe der Njálsbrenna führt der Autor sein Grundproblem, die Rache, das Problem der Frühzeit, einer Lösung zu. Mit Recht hat man, wie erwähnt, diese brenna mit einem besonderen Scandalon der isländischen Zeitgeschichte, der Flugumýrarbrenna, in Verbindung gebracht. Man sollte aber auch die altgermanische Überlieferung einbeziehen. So gipfelt die Atlakviða in der großartig barbarischen Schilderung der Vernichtung von Atlis Halle im Feuer - Guðrúns Rache für den Tod ihrer Brüder. Auch für die Njálsbrenna ist letztlich eine Frauengestalt verantwortlich - Hildigunnr als isländische Guðrun Gjúkadóttir! Für den Autor der Njála wird aber, im Gegensatz zur Atlakviða, die brenna nicht Gegenstand schauriger Bewunderung, sondern Anlass das Menschentum der Frühzeit zu vergegenwärtigen. Nicht zu übersehen ist dabei die Öffentlichkeit. Alle, die auf dem Thing etwas zu sagen haben, sind aufgeboten und kommen aus unterschiedlichen Landesteilen zum Thing. Vor Beginn der Verhandlungen wird Njáll gefragt, wie er die Lage einschätze. Er antwortet „Heldr þungt, því at mik uggir, at hér muni eigi gæfumenn hlut at eiga.“ 207 Brennu-Njáls saga, S. 292 (Njals saga, S. 201). 208 Brennu-Njáls saga, S. 295 (Njals saga, S. 203). 209 Brennu-Njáls saga, S. 295 (Njals saga, S. 203). <?page no="103"?> Njáls saga 95 („Ich habe schwere Bedenken, denn ich fürchte, daß hier Leute verwickelt sind, denen das Glück nicht hold ist.“) 210 Njáll führt damit einen Begriff ein, der das nun folgende Geschehen auf dem Thing in ein typisch sagahaft unheilvolles Licht tauchen wird, man denke an die Gísla saga oder an Grettir. Diese ‚Konzession‘ an typisch archaische Vorstellungen zur Orchestrierung der beginnenden Untergangsschilderung zeigt, wie bemüht der Autor war, ein möglichst umfassendes Bild zu bieten, was für die Vorstellungswelt dieser Menschen bedeutsam war. So führt er nun als Leitthema die Idee der ógæfa ein und verbindet sie mit Skarpheðinn, der noch am tiefsten in der archaisch-heroischen Welt verwurzelt ist, woraus man erkennen kann, welche Bedeutung der Autor dieser Welt zuerkannte. Die Bundesgenossensuche, zu der es nun kommt und die ihrerseits die Thingöffentlichkeit als entscheidenden Faktor der Gesamthandlung bestätigt, führt das auf überraschend eindrucksvolle Weise vor und ist die angemessene Vorbereitung der Thingverhandlung, die den Untergang der Njálssippe besiegeln wird. Im Anschluss an die pessimistische Äußerung Njáls über die ógæfumenn folgt ein rascher Blick auf die Gegenpartei, auf Flosi und einen gewissen Hallr, der sich mit großem Gefolge aus dem Osten des Landes eingefunden hat. Er var vitr maðr ok góðgjarn (war ein kluger und wohlmeinender Mann) 211 und tritt für Versöhnung ein. Auch Flosi äußert sich nicht aggressiv, legt sich aber nicht fest. Nach Verbündeten gefragt, nennt er M rðr - ein schlimmes Vorzeichen, was Hallr auch entsprechend kommentiert. Der für die erzählerische Vergegenwärtigung der Frühzeit wesentliche Gesichtspunkt der Heroisierung vor dem Untergang wird in der Njála nicht so sehr an der kämpferischen Leistung festgemacht wie bei Gísli, Grettir, Kjartan oder Gunnarr, sondern vollzieht sich im Rahmen der Bundesgenossensuche somit in der konsequenten Einbindung in die Thingöffentlichkeit. Es bedarf dabei keinerlei Gewalttat - wie dann auch der Untergang in der brenna ohne spektakuläre Waffentaten ablaufen wird. In einer sechsstufigen Abfolge wird die Bundesgenossensuche vorgeführt. Das altheroische Muster von der Erhöhung des Helden vor seinem Untergang gewinnt dabei, konzentriert auf Skarpheðinn, eine neue Dimension, indem sie sich innerhalb der gesellschaftlichen Kontakte im Rahmen der Thingversammlung abspielt. Ásgrímr und Njáll beraten sich und dann bricht Ásgrímr mit den Njálssöhnen zur Bundesgenossensuche auf. Dass Njáll nicht daran teilnimmt, ist kein gutes Zeichen, verschafft aber Skarpheðinn den nötigen Entfaltungsraum, auf den es ankommt. Ob man der ungewöhnlich heftigen Bewegung Ásgríms - Þá spratt Ásgrímr upp (Dann stand Asgrim plötzlich auf) 212 - Bedeutung beimessen soll, bleibe offen. Die erste Station ist bei Gizurr, der Beistand zusagt, was rasch abgetan ist. Beim zweiten Versuch holt sich Ásgrímr eine Absage; der Gefragte will sich aus diesen Streitigkeiten heraushalten, lenkt aber den Blick auf Skarpheðinn und dessen offenbar ungewöhnliche Erscheinung. Es geht nun darum, das Unheilvolle, das Skarpheðinn umgibt, 210 Brennu-Njáls saga, S. 296 (Njals saga, S. 204). 211 Brennu-Njáls saga, S. 297 (Njals saga, S. 205). 212 Brennu-Njáls saga, S. 297 (Njals saga, S. 205). <?page no="104"?> Teil II: Das Epos in Island 96 immer stärker hervortreten zu lassen bis hin zum Untergang in der brenna, wobei darauf zu achten ist, welche Verschiebungen sich ergeben können; auf die wird es ankommen, denn sie zeigen, wie differenziert der Autor die altheroische Tradition betrachtet. Leitmotiv ist die mythische Vorstellung von der ógæfa. Skarpheðinn fühlt sich provoziert und reagiert entsprechend, worauf man sich zum Goden Snorri begibt, der sie wiederum freundlich empfängt, bezeichnenderweise - als Gode! - auf die Probleme hinweist, die die Ausweitung dieses Rechtscasus für die anderen Landesteile nach sich ziehen würde. Er verspricht aber, die Gegenpartei nicht zu unterstützen. Dann fällt Snorris Blick auf Skarpheðinn. Er ist von dessen Erscheinung beeindruckt und spricht ihm die gæfa ab, was Skarpheðinn zu der Äußerung veranlasst, Snorri möge lieber seinen Vater rächen als Voraussagen über ihn zu äußern. Snorri lässt sich aber nicht provozieren. Es wird immer deutlicher, dass zur Heroisierung vor dem Untergang auch die Provokation des eigenen Untergangs gehört. Bei der vierten Station setzt sich das fort, worauf der Gang zu Guðmundr dem Mächtigen folgt, der sich wohlwollend äußert, aber ebenfalls auf die unheilvolle Gestalt Skarpheðins hinweist: „Ok er þó maðrinn ógæfusamligr“ („Und dennoch ist das Glück nicht mit diesem Mann“), 213 was diesen zu kritischen Bemerkungen veranlasst, was aber ohne Folgen bleibt. Bei der sechsten und letzten Station kommt es dann zum Eklat. Im Ganzen geht es also um eine differenzierte Erzählphase, die nicht ihresgleichen hat und durch die weitgespannte Einbeziehung der Wirklichkeit des Things sowohl hinsichtlich des Vergangenheitsbilds der Islendingasögur als auch der altheroischen Überlieferungen ein Novum darstellt mit besonderem epischem Anspruch. Der Autor bereitet diese Erzählphase gründlich vor. Þorkell hákr, der Unterstützung bringen soll, vertritt die Ljósvetningaleute; er hat im Ausland Ruhm erworben und wird als kappi mikill (gewaltiger Haudegen) 214 bezeichnet. Ásgrímr bittet Skarpheðinn, sich nicht in die Verhandlungen einzuschalten. Auf diese Bemerkung hin bietet der Erzähler ein ungewöhnlich martialisches Bild von Skarpheðinn, ein deutlicher Hinweis! Skarpheðinn zeigt sein typisches Grinsen. Seine Waffe, die Axt, darf nicht fehlen; Skarpheðinn wird sogleich auf sie verweisen. Dazu erlebt man die reale Öffentlichkeit des Things, wenn Þorkell die Frage in den Mund gelegt wird, ob denn Guðmundr inn ríki Hilfe zugesagt habe, was verneint werden muss, worauf Þorkell ebenfalls Unterstützung verweigert, da er nicht „[…] fylgja at r ngu máli“ („unrecht Tun unterstützen“) 215 will. Doch dann apostrophiert er Skarpheðinn und das bedeutet das Ende der Bundesgenossensuche. Diese Konfrontation gipfelt in der Heroisierung Skarpheðins, dessen Axt über das Schwert Þorkels triumphiert; dieser muss sein Schwert einstecken, was ihm weder vorher noch nachher passierte. Die Waffen werden dabei gleichsam zu Wesenheiten, was altheroischer Sehweise entspricht. Nicht minder wichtig erscheint dem Autor die Realität des Things, indem er nochmals Guðmundr zu Wort kommen lässt, der nun, nach der missglückten Bundesgenossensuche Unterstützung zusagt. 213 Brennu-Njáls saga, S. 302 (Njals saga, S. 208). 214 Brennu-Njáls saga, S. 303 (Njals saga, S. 209). 215 Brennu-Njáls saga, S. 304 (Njals saga, S. 210). <?page no="105"?> Njáls saga 97 Es beginnen die Thingverhandlungen, bei denen der ganze þingheimr (Thingvolk), 216 wie es treffend heißt, Anteil nimmt. Der Autor legt im einzelnen dar, wie sehr sich diese Menschen der Frühzeit um eine friedliche Beilegung des Konflikts bemühen. Der Hauptbeteiligte, Flosi, erweist sich als sehr schwierig, die Aussichten verdüstern sich: ok þótti óvænliga horfa (und alles sah sehr düster aus)! 217 Den Höhepunkt bildet die ergreifende Versöhnungsrede Njáls, die in der weiter oben bereits herangezogenen Aussage gipfelt, dass mit der Tötung H skulds „þótti mér sløkkt it sœtasta ljós augna minna“ („schien mir das süßeste Licht meiner Augen erloschen“), gefolgt von der eigentlich ungeheuerlichen Feststellung: „ok heldr vilda ek misst hafa allra sona minna ok lifði hann.“ („und ich hätte lieber alle meine Söhne hergegeben, wenn er noch am Leben wäre.“)! 218 Auf das hin heißt es sogar, dass Flosi svaraði þá llu vel ok hét þó eigi (antwortete ihnen entgegenkommend, versprach aber nichts.) 219 Es wird viel verhandelt, und schließlich will auch Flosi den Spruch góðra manna akzeptieren. Man einigt sich auf ein extrem hohes Wergeld und allir sv ruðu vel (Alle äußerten sich befriedigt) 220 - also auch Flosi. Njáll bedankt sich für das erzielte Abkommen, doch da steht Skarpheðinn daneben þagði ok glotti við (sagte kein Wort und grinste). 221 Das Geld wird zusammengehäuft, und Njáll legt zum Überfluss noch silkislœður ok bóta (einen Seidenmantel und ein paar Stiefel) 222 drauf, kostbare Kleidungsstücke, die - wie Sveinsson anmerkt - sowohl von Männern als auch von Frauen getragen werden konnten. Und nun geschieht das Unerwartete, der Bruch des Abkommens provoziert durch Flosi, der scheinheilig fragt, wer denn diese Kleidungsstücke getragen habe und antwortet auf die entsprechende Intervention Skarpheðins, dass dies wohl sein Vater, karl inn skegglausi, gewesen sei, von dem man nicht wisse, ob er ein Mann oder Weib sei. Dieser Rückbezug auf die Schmähung Njáls durch Hallgerðr und Sigmundr ist für Skarpheðinn unerträglich und entsprechend fällt seine Antwort aus. Flosi wirft das angesammelte Geld über den Haufen, will keinen penning annehmen, sondern hefna (Blutrache nehmen für) 223 H skuldr. Damit ist das Leitwort gefallen, das alte Rachedenken setzt sich durch. Die Teilnehmer am Thing konstatieren, dass „miklir ógæfumenn“ („große Unglücksraben“) 224 am Werk waren. Njáll, zutiefst deprimiert, sagt Unheil für alle Beteiligten voraus. Skarpheðinn widerspricht, denn seiner Ansicht nach hat die Gegenseite keine rechtliche Grundlage, gegen sie vorzugehen: „þeir megu aldri sœkja oss at landsl gum“ („sie können uns nach dem Landrecht nichts anhaben“) 225 - er denkt also noch in den Kategorien der alten Gesellschaft. 216 Brennu-Njáls saga, S. 307 (Njals saga, S. 212). 217 Brennu-Njáls saga, S. 307 (Njals saga, S. 212). 218 Brennu-Njáls saga, S. 309 (Njals saga, S. 213). 219 Brennu-Njáls saga, S. 309 (Njals saga, S. 213). 220 Brennu-Njáls saga, S. 312 (Njals saga, S. 215). 221 Brennu-Njáls saga, S. 312 (Njals saga, S. 215). 222 Brennu-Njáls saga, S. 312 (Njals saga, S. 216). 223 Brennu-Njáls saga, S. 314 (Njals saga, S. 217). 224 Brennu-Njáls saga, S. 314 (Njals saga, S. 217). 225 Brennu-Njáls saga, S. 314f (Njals saga, S. 217). <?page no="106"?> Teil II: Das Epos in Island 98 Die Ausführlichkeit der Schilderung dieses Rechtskasus - einmalig in der Sagaliteratur - muss den Zeitgenossen des Dichters das Island der Frühzeit in einer Weise vergegenwärtigt haben, die die Identifizierung mit diesem Land und seiner Vergangenheit überzeugend besiegelte. Unheilvolles Geschehen beruht also auf zwei Rechtsbrüchen. Gunnarr bricht das Abkommen, Flosi ebenfalls. Gunnarr bezahlt mit dem Tod, Flosi nicht mehr; er tritt in die neue Zeit ein. In beiden Fällen gibt etwas ‚Äußerliches‘ bei diesen Rechtsbrüchen den Ausschlag, bei Gunnarr die fegurð der bäuerlich-isländischen Landschaft, bei Flosi das kostbare Kleidungsstück. Der Unterschied zwischen diesen beiden Rechtsbrüchen, in Begründung wie in den Folgen, ist hinsichtlich der Vergegenwärtigung der isländischen Frühzeit besonders aussagekräftig. Der Rechtsbruch Gunnars wirft kaum einen Schatten auf ihn, ungeachtet der Äußerungen seines völlig verstörten Bruders. Gunnarr ist dann auch völlig ungebrochen das heroische Ende gegönnt im alten Glanz. Flosis Rechtsbruch dagegen, in der schändlichen Schmähung Njáls - gerade Njáls! - ist moralisch verwerflich und das sind auch die Folgen, die nicht minder schändliche brenna. Dies stellt, extrem formuliert, gleichsam den moralischen Bankrott der ausgehenden altheroischen Frühzeit dar, beginnend mit der Tötung H skulds. Aber da ist das heiligmäßige Sterben H skulds und da ist Njáls Tod und der Tod Skarpheðins. In dem Umfeld Njáls gewinnt die isländische Übergangszeit eine neue Würde, in die auch Skarpheðinn einbezogen werden kann und die im Christlichen wurzelt. So wenn er - gegen besseres Wissen - dem Rat des Vaters, sich ins Haus zurück zu ziehen, folgt. Und da sind die zwei Kreuzzeichen, die sich Skarpheðinn vor dem Sterben eingebrannt hat. Im Mittelpunkt aber steht der Leichnam Njáls, von dem Hjalti sagen wird, dass er „engan dauðs manns líkama sét hafi jafnbjartan“ („so strahlend, wie ich es noch nie an einem toten Menschen gesehen habe“); 226 was alle für stór jartegn (ein großes Wunder) 227 halten. Der Autor vergisst aber das Altheroische nicht ganz. Da ist Njáls Aussage, bevor er sich ins Haus begibt, um dort zu sterben und sich weigert, Flosis Angebot des freien Abzugs anzunehmen: „Eigi vil ek út ganga, því at ek em maðr gamall ok lítt til búinn at hefna sona minna, en ek vil eigi lifa við sk mm.“ („Ich bin ein alter Mann und tauge schwerlich dazu, meine Söhne zu rächen. Und in Unehre will ich nicht leben.“) 228 Dass der friedliche Njáll hier das fatale Wort hefna in den Mund nimmt, rundet die Gesamthematik des Werkes mit einem heroischen Akzent ab. Desgleichen vollzieht Skarpheðinn eine subtile Heroisierung seines unkriegerischen Vaters, wenn er dessen Sterben wie folgt kommentiert: „Nú mun faðir minn dauðr vera, ok hefir hvárki heyrt til hans styn né hósta“ („Nun dürfte mein Vater tot sein, und man hat von ihm weder Stöhnen noch Husten gehört“)! 229 Und da ist, neben Skarpheðins Kreuzmarke, seine Axt, die er vor dem Sterben noch in den Bal- 226 Brennu-Njáls saga, S. 343 (Njals saga, S. 237). 227 Brennu-Njáls saga, S. 342 (Njals saga, S. 217). 228 Brennu-Njáls saga, S. 330 (Njals saga, S. 228). 229 Brennu-Njáls saga, S. 331 (Njals saga, S. 229). <?page no="107"?> Njáls saga 99 ken gerammt hatte und die nun auf den nicht minder heroischen Þorgeirr skorargeirr übergehen wird. In Káris Racheaktionen lebt dann das Alte nochmals auf, doch schließlich kommt es zur Bußfahrt nach Rom, und es wird die Versöhnung zwischen Flosi und Kári besiegelt. Káris Vermählung mit Hildigunnr schließt den Kreis. Dem modernen Leser mag dies wie ein christliches Notdach über einer altheroischen Ruine erscheinen, doch man tut gut, goethezeitliche Kompositionsprinzipien nicht zu verabsolutieren. Der Verfasser der Njáls saga begnügte sich nicht damit, etwas s gulegt über einzelne Menschen der isländischen Frühzeit zu berichten, er wollte diese Frühzeit in der entscheidenden Phase des Übergangs zum Christentum auf eine Weise vergegenwärtigen, die es seinen Landsleuten und Zeitgenossen ermöglichte, sich der Besonderheit ihres Landes bewusst zu werden und sich eingebettet zu wissen in der Totalität eines Großepos. Was die Heimskringla für Norwegen als Königsgeschichte leistete, war die Njáls saga für die Isländer als Islandepos. Vergleichbares an Lebensfülle und Wirklichkeit hat die mittelalterliche Literatur des Kontinents nicht aufzuweisen. Betrachten wir abschließend zwei weitere umfangreiche Sagas, die Laxdœla saga und die Grettis saga, 230 mit Blick auf das Epos, was die Sonderstellung der Njála verdeutlichen wird. Es wird sich auch zeigen, dass sich im 13. Jahrhundert die isländischen Sagas zusehends zu einem Medium entwickelten, in dem versucht wurde, mit wachsender Bewusstheit die eigene Frühzeit erzählerisch differenziert zu ‚bewältigen‘ und nicht bloß Informationen über Besiedlung etc. zu liefern. Aus literarhistorischer Sicht ist die bloße Tatsache zu würdigen, dass es überhaupt im 13. Jahrhundert auf Island zu dem sich rasch entfaltenden Genus der Islendingasögur kommen konnte, das auf vielfältige Weise und mit unterschiedlicher Schwerpunktbildung auf die eigene Frühzeit einging, wie schon unser Überblick über die Egils saga und die Gísla saga erkennen ließ. Die Laxdœla saga und die Grettis saga reichern dieses Tableau bedeutsam an. Die Literaturgeschichte sollte diese unterschiedlichen literarischen Bemühungen um die eigene Frühzeit nicht nur registrieren, da doch anzunehmen ist, dass die Autoren Interesse daran hatten, ihr jeweiliges Vergangenheitsbild zur Geltung zu bringen. Bei diesen durchdachten und dann in vielen Fällen auch ausführlichen Darstellungen der eigenen Frühzeit, die zum Teil weit über das hinausgehen, was mündliche Überlieferungen zu bieten hatten, wie substantiell diese von Fall zu Fall auch sein mochten, ist doch nachdrücklich zu fragen, was diese Autoren bewogen hat, nicht nur Überlieferungen festzuhalten, sondern daraus ein bestimmtes Bild von der Vergangenheit und dem 230 Laxdœla saga, hg. von Einar Ól. Sveinsson, Reykjavík 1934 (Íslenzk fornrit V). Grettis saga Ásmundarsonar, hg. von Guðni Jónsson, Reykjavík 1936 (Íslenzk fornrit VII), Nachdruck 1954. Laxdœla saga <?page no="108"?> Teil II: Das Epos in Island 100 Verhalten der Vorfahren zu machen. Dabei kam es zu sehr unterschiedlichen Deutungen der Faktoren, die das Dasein und Handeln dieser Menschen bestimmten. Nun gibt es in einzelnen Sagas gelegentlich Hinweise auf andere Sagas - so erwähnt die Grettis saga z.B. die Laxdœla -, Ansätze zu kritischen Bemerkungen gibt es aber nicht. Die oft stark von einander abweichenden Bilder der Vergangenheit wurden offenbar problemlos hingenommen. Für Autoren und Publikum war also der Rahmen der Vergangenheitsdarstellung weit genug gespannt; ein Grettir hatte darin genau so Platz wie ein Njáll. Auch die Einbeziehung des Problems Heidentum/ Christentum führte zu keinerlei Divergenzen. So ist auch von religiösen Eiferern keine Rede und z.B. in der Grettis saga ist der Priester problemlos in die abenteuerliche Geschichte Grettirs integriert wie König Olaf; ein extremes Beispiel ist auch die ‚hetzende‘ Frauengestalt Hildigunnr in der Njála - wie oben dargelegt. Für diese Einstellung ist schon die Annahme der neuen Religion durch die Isländer maßgebend geworden, bei der gleichsam der Hausverstand die Leitlinie vorgab. Das bot gute Voraussetzungen für eine breit angelegte und relativ tolerante Sicht auf die Vergangenheit, in der Platz für sehr Unterschiedliches sein konnte. Der Vielfalt der Perspektiven der einzelnen Sagas kam das zu Gute, wie ja auch Skaldik und die Bewahrung der Götterlieder - beides typisch für Island - davon profitierten. Wenden wir uns abschließend der Laxdœla saga und der Grettis saga zu. Es ist aufschlussreich zu sehen, welche Probleme in diesen anspruchsvollen Texten im Mittelpunkt stehen und wie die Autoren damit umgehen. Die Laxdœla ging sehr bewusst ihren Weg und wartete mit eigenen Lösungen auf. Wie diese zu beurteilen sind, wird auch im Hinblick auf die Njála zu erörtern sein. Beiden Sagas gemeinsam ist die offenbare Tendenz zu einer anspruchsvollen Beschäftigung mit der isländischen Frühzeit. Man begnügte sich nicht damit, mündliche Überlieferungen, mehr oder weniger ausgestaltet, bloß zu registrieren, wobei sich allerdings gleich zu Beginn der Darstellung erhebliche Unterschiede zwischen den Sagas zeigen. Da die Njála jünger sein dürfte als die Laxdœla saga, stellt sich die Frage, wie es um die jeweiligen Vergangenheitsbilder bestellt ist, auch wenn es in der Njála keine direkte Bezugnahme auf die Laxdœla gibt. Es ist durchaus zu überlegen, ob nicht der Verfasser der Njála auch aufgrund seiner Quellenlage über das hinausgehen wollte, was die Laxdœla zu bieten hatte, indem er deren Bemühen um das komplexe Einzelschicksal der Guðrún und Kjartans auf der Basis des Epos weiterentwickelte zum isländischen Gesamtbild. Wo die Njála gleich zu Beginn mit Hrúts Hinweis auf Hallgerðr ein erregendes Zeichen setzt und dann zielgerichtet einen Aktionsraum auflädt und Nebensächliches meidet, bietet die Laxdœla saga auf den ersten fast hundert Seiten eher das Bild eines erweiterten Landnámabók-Szenarios. Dieses vorwiegend historisierende Interesse zieht sich dann durch die Saga in antiquarisierenden Hinweisen wie nú […] Dieser ungewöhnlich ausführlichen und problemlosen Einleitung kann man entnehmen, dass für den Autor Mythisch-Unheilvolles nicht so sehr Bestandteil seines Vergangenheitsbildes war. Es geht um die einzelnen Menschen als solche; das Gemeinwesen, vertreten im Thing, tritt nicht in seinen Gesichtskreis. Das Zurück- <?page no="109"?> Laxdœla saga 101 treten außermenschlicher Mächte, Zauber, Schicksal zeigt sich auch darin, dass bestimmte ‚belastete‘ Gegenstände wie das Schwert Fótbítr an Bedeutung verlieren und eher als Relikte zu bewerten sind als gestaltende Faktoren. Beim Bemühen des Autors, die Menschen und deren Verhalten in den Mittelpunkt zu stellen, zeigt sich in der Laxdœla ein Doppelaspekt, einerseits die schon lange erkannte Tendenz zu mittelalterlicher Verhöfischung, was vor allem die männliche Hauptgestalt, Kjartan, betrifft und andererseits die fast nibelungische Frauengestalt Guðrún; eine Quadratur des Kreises, die bezeichnendes Licht wirft auf die literarische Szenerie Islands im 13. Jahrhundert. Der Autor der Njála, wie wir gesehen haben, setzte sich dann seinerseits mit Heroik und Rache als Problemen des isländischen Gemeinwesens auf breiter Basis auseinander und führt vor, wie den Menschen der Frühzeit die Bewältigung dieses Problems gelang. Er vertraute die Lösung dieses Problems der neuen christlichen Generation an, Flosi und Hildigunnr. Aus moderner Sicht mag das zu kompositorischen Komplikationen führen und unbefriedigend erscheinen, ist aber gerade deshalb aufschlussreich mit Blick auf das, was ein isländischer Autor des 13. Jahrhunderts seinen Landsleuten der Frühzeit zutrauen konnte. Was in der Njála schließlich zu vereinigen war, klafft in der Laxdœla - verkörpert in Kjartan und Guðrún - noch auseinander; ein Indiz dafür, dass der Verfasser sich auf Neuland begab, wo der Autor der Njála dann schon ein kompakteres Bild der Vergangenheit darbieten konnte, das von gelungener Überwindung des Gegensatzes zwischen Heroik/ Rache und Christentum kündete. Mythisch-Magisches hält der Verfasser der Laxdœla saga von den Hauptgestalten fern. Das zeigt sich schon bei der Waffe Fótbítr, wogegen das Schwert bzw. der Spieß Grásíða der Gísla saga in dieser Hinsicht noch ungleich stärker unheilvoll belastet ist. In der Laxdœla verliert damit auch das Schicksalhafte an Bedeutung zugunsten des Humanums, eines Humanums, das wie auch in der Gísla saga auf wenige Personen beschränkt ist und das isländische Gemeinwesen als Ganzes noch nicht in den Blick nimmt. Diese unterschiedliche Belastung der Frühzeit in diesen besonders hochwertigen Sagas stellt einen wichtigen Gesichtspunkt dar. So spielen in der Laxdœla auch Begriffe wie gæfa, ógæfa, ógæfumenn kaum eine Rolle. Anders verhält es sich mit dem ebenfalls mit der Frühzeit verbundenen Konzept der Heroik. Es ist zu fragen, wie der Verfasser der Laxdœla als Isländer des 13. Jahrhunderts im Vergleich mit anderen Sagamännern damit umging. An zwei Hauptgestalten, einer männlichen und einer weiblichen, setzt er sich damit auseinander. Die Art, wie er verfährt, lässt eine nicht unbedeutende Reduktion des Heroischen erkennen oder dessen Verdünnung, wogegen dann die Njála in voller Breite und Tiefe sich diesem Problem als Zentralproblem der Frühzeit stellt und somit ein anderes Bild dieser Zeit entwirft. Die verfügbare mündliche Überlieferung spielt da natürlich auch mit, entscheidend ist aber die Perspektive des jeweiligen Autors. Was die Heroik im Bezug auf Kjartan betrifft, kann man eine Art Verflachung feststellen, in der längst zu Recht erkannten Verhöfischung, was als Versuch zu werten ist, die Frühzeit in neuem Licht erscheinen zu lassen, und auf diesen Versuch kommt es an, wenn man die literarische Szene Islands in den Blick nimmt. Die ge- <?page no="110"?> Teil II: Das Epos in Island 102 stalterischen Grenzen dieses Versuchs werden im Vergleich mit der Njála - man denke an die brenna-Episode - deutlich und lassen ihn als plakativ erscheinen. Es zeigt sich schon bei der Schilderung des Auftretens Kjartans am norwegischen Hof, wo er schließlich, wie zu erwarten, zu hohen Ehren gelangt. Diese Episode, auf die wir bereits oben in Verbindung mit der Frage nach dem einstaklingr-Bewusstsein hingewiesen haben, ist aber auch im Zusammenhang mit der Heroisierungsthematik zu sehen, auf die der Autor nicht verzichten durfte und wollte; es ging ja schließlich um Kjartan. Angesichts des gewaltsamen Vorgehens des norwegischen Königs in seinen Christianisierungsbestrebungen lässt es der Autor zu einem abrupten - wie gleichsam vorgefertigen - heroischen Auftrumpfen Kjartans kommen: „Engis manns nauðungarmaðr vil ek vera“, segir Kjartan, „meðan ek má upp standa ok vápnum valda; þykki mér þat lítilmannligt, at vera tekinn sem lamb ór stekk eða melrakki ór gildru; þykki mér hinn kostr miklu betri, ef maðr skal þó deyja, at vinna þat n kkut áðr, er lengi sé upp haft síðan.“ „Unter keines Mannes Gewalt werde ich mich begeben“, sagt Kjartan, „solange ich aufrecht stehen und meine Waffen gebrauchen kann. Es schiene mir auch von der Art kleiner Leute zu zeugen, wie ein Lamm aus der Hürde oder ein Fuchs aus der Falle geholt zu werden. Besser scheint mir zu sein, wenn man schon sterben soll, etwas zu vollbringen, was lange nachlebt.“ 231 Mit der Abwertung dessen, was er als lítilmannligt bezeichnet, nimmt Kjartan für sich die stórmennska in Anspruch, dieses imponierende Männlichkeitsideal, das die Sagas in den Menschen der Frühzeit verkörpert sehen wollten. Man kann darin die stark idealisierende Tendenz erkennen als nicht unwesentlichen Impuls zur literarischen Ausgestaltung der eigenen Frühzeit. Kjartan trägt dann etwas dick auf, wenn er von seiner Absicht spricht at brenna konunginn inni (den König in seinem Hause verbrennen), 232 was Bolli konsequent auch gleich als nicht lítilmannligt (kleiner Leute Art) kommentiert. Grelle Töne dieser Art finden sich in der Njála nicht. Taten brauchen allerdings in der Laxdœla diesem zu perfekten heroischen Credo nicht zu folgen, da sich ja alsbald eine enge Freundschaft zwischen Kjartan und dem König entwickelt. Auch nach der Rückkehr nach Island erwartet den Hörer/ Leser statt Kunde von kämpferischen Taten die leicht anrüchige Episode von Kjartans Blockade der hygienischen Einrichtungen der Bolli-/ Guðrún-Partei. (Hierfür muss es eine starke mündliche Tradition gegeben haben, da ein Autor kaum auf diese seltsame Idee verfallen wäre.) Die Guðrún-Partei zeichnet sich durch fragwürdige Eigentumsdelikte aus, und Zwist über Landkauf erhöht die Spannung. Zu Mord und Totschlag kommt es aber zunächst nicht, das Thing, dieses Herzstück der Njála, spielt keine Rolle. Die Tötung Kjartans hängt auch nur vordergründig mit diesen Zwistigkeiten 231 Laxdœla saga, hg. von Einar Ól. Sveinsson, Reykjavík 1934 (Íslenzk fornrit V), S. 119. Deutsche Übersetzung (für dieses und alle folgenden Zitate aus der Laxdœla saga) aus: Laxdœla saga. Die Saga von den Leuten aus dem Laxardal, herausgegeben und aus dem Altisländischen übersetzt von Heinrich Beck, München 1997, S. 104. 232 Laxdœla saga, S. 119 (Laxdœla saga. Die Saga…), S. 104. <?page no="111"?> Laxdœla saga 103 zusammen, vielmehr mit der nibelungischen Eifersucht. Das Moment des Heroischen wird also praktisch vom Mann auf die Frau verlagert, die Guðrún der Laxdœla wird zur nibelungischen Brynhildr, wenn der Autor Guðrún nach der Tötung Kjartans in ihrem hochkonzentrierten Gespräch mit Bolli sagen lässt: „[…] er mér þykkir mest vert, at Hrefna mun eigi ganga hlæjandi at sænginni í kveld.“ („was mir am besten erscheint, daß nämlich Hrefna heute abend nicht lachend zu Bett gehen wird.“) 233 Die Strophen 8 und 30 der Sigurðarkviða in skamma bieten sich zum Vergleich an. Diese Übereinstimmung mit der eddischen Nibelungenüberlieferung wird sich aber als gebrochen erweisen, lässt aber erkennen, wie wichtig für bestimmte Sagaverfasser diese Annäherung der Menschen der isländischen Frühzeit ans Altheroische gewesen sein muss. Wo die Laxdœla sich mit der eben dargelegten Thematik begnügt, es also gleichsam beim Zitat bewenden lässt, führt dann die Njála darüber eine Grundsatzdiskussion, die sich durch das ganze Werk zieht. Ist die Reaktion Guðrúns auf die Kunde vom Tod Kjartans auch von altnibelungischer Härte geprägt, Bollis Antwort liegt ebenfalls auf dieser Linie, so sackt diese fast altheroische Szene dann ab ins ‚Ganzgewöhnliche‘ eines häuslichen Zwists, wenn es heißt: Guðrún fann þá, at Bolli reiddisk, ok mælti: „Haf ekki slíkt við, því at ek kann þér mikla þ kk fyrir verkit; þykki mér nú þat vitat, at þú vill ekki gera í móti skapi mínu.“ (Gudrun bemerkte da, daß Bolli zornig war, und sprach: „Sag das nicht, denn ich bin dir sehr dankbar für deine Tat. Ich glaube nun zu wissen, daß du nichts gegen meinen Willen unternimmst.“) 234 Im Gegensatz zur weiblichen Hauptgestalt gibt es bei Kjartan keinerlei Annäherung an Nibelungisches. Er wird viel mehr fast ins Märtyrerhafte stilisiert, indem es heißt, dass er die Waffe wegwirft und sich dem Tod preisgibt. Die Saga hält dann noch verschiedene Ereignisse aus Guðrúns Leben fest. Schließlich heißt es: Nú tekr Guðrún mj k at eldask ok lifði við slíka harma, sem nú var frá sagt um hríð. Hon var fyrst nunna á Íslandi ok einsetukona. (Gudrun begann nun sehr zu altern und lebte weiter mit dem Kummer, von dem im Vorangegangenen erzählt wurde. Sie war die erste Nonne und Einsiedlerin auf Island.) 235 Kurz darauf erfährt man: ok er þat s gn manna, at hon yrði sjónlaus. Guðrún andaðisk at Helgafelli (und die Leute sagen, daß sie schließlich erblindete. Sie starb auf Helgafell und fand dort auch ihre Ruhe.) 236 Zwischen diesen beiden Passagen schiebt der Autor einen umfangreichen Abschnitt ein. Man erfährt darin aber nichts über ihre religiöse Einstellung und wie es dazu kam. Stattdessen geht es nachdrücklich um ihr Verhältnis zu ihren Männern. In der zweimaligen Frage Bollis geht es um das Verb unna (lieben), das ins Sentimentale weist; dabei kommt es auf die gekonnte Stilisierung an, die die Bedeutung des Gesagten unterstreicht. Bolli will erfahren: „Hverjum hefir þú manni mest unnt? “ („Welchen Mann hast Du am meisten geliebt? “) 237 Der Akzent 233 Laxdœla saga, S. 154f (Laxdœla saga. Die Saga…), S. 132. 234 Laxdœla saga, S. 155 (Laxdœla saga. Die Saga…), S. 132. 235 Laxdœla saga, S. 228 (Laxdœla saga. Die Saga…), S. 192. 236 Laxdœla saga, S. 228f (Laxdœla saga. Die Saga…), S. 193. 237 Laxdœla saga, S. 228 (Laxdœla saga. Die Saga…), S. 192. <?page no="112"?> Teil II: Das Epos in Island 104 liegt auf mest. Die Antwort ist von packender Sagahaftigkeit: „Þeim var ek verst, er ek unna mest.“ („Dem fügte ich Schlimmstes zu, den ich am meisten geliebt habe.“) 238 De facto wird mit dieser herausgehobenen und die Saga abschließenden Episode die Minne zum durchgehenden Thema erhoben. Die Njála, die mit dem Einsatz der Helena-Formel - Schönheit der Hallgerðr als Unheilsquelle - ebenfalls die Minne als Zentralthema zu favorisieren scheint, wird sich nicht darauf beschränken. Auch die männliche Hauptgestalt, Kjartan, ist von der Minne betroffen. Neben Guðrún geht es andeutungsweise auch um Ingibj rg, die Schwester des Königs Óláfr Tryggvason. Die Freundschaft zwischen Kjartan und Bolli verschärft die Problematik, wenn es heißt, dass Bolli und Kjartan unnusk mest (liebten sich am meisten), 239 und wenn man im selben Atemzug erfährt, dass Kjartan und Guðrún oft beisammen sind. Die enge Freundschaft der Väter, Óláfr und Ósvífr, verdichtet das menschliche Netz. In diesem dichten Kontext fällt nun eine Äußerung, die Grundsätzliches über die Perspektive der Laxdœla saga verrät. Vater Óláfr spricht mit Kjartan über dessen Besuche bei Guðrún. Es ist ihm das offenbar nicht ganz geheuer, obgleich er anerkennen muss, dass Guðrún „ein er svá kvenna, at mér þykki þér fullkosta“ („und sie allein für die hielte, die ganz zu dir paßte“). 240 Doch dann folgt aber: „Nú er þat hugboð mitt, en eigi vil ek þess spá, at vér frændr ok Laugamenn berim eigi allsendis gæfu til um vár skipti.“ („Es ist eine Ahnung, aus der ich jedoch keine Vorhersage machen will, daß unsere Verwandten und die Leute von Laugar kein dauerhaftes Glück verbinden wird.“) 241 Óláfr will seine Vorahnungen nicht als Prophezeihung verstanden wissen, aber immerhin, das Schicksalswort gæfa ist gefallen - wenn auch nur andeutungsweise. Der Autor nimmt also eine ungleich ‚modernere‘ Position ein als die Verfasser der Gísla saga oder gar der Grettla. Diese diskret geäußerte Distanzierung von einer festen Prophezeihung ist sehr aufschlussreich, bedeutet sie doch nichts mehr und nichts weniger als eine Abkehr von dem typischen Vergangenheitsbild, das geprägt ist von unausweichlicher Schicksalsverfallenheit. So treffen z.B. die Voraussagen eines Gestr oder Glámr unaufhaltsam ein. Die Njála wird dann auch über die modern anmutende Auflockerung verfügen, wenn man an das Zukunftswissen Njáls denkt, das eine mechanische Festlegung des Kommenden meidet. Ich sehe darin einen nicht unwesentlichen Beitrag zur ‚Bewältigung‘ der isländischen Frühzeit durch die Sagaautoren. Die Njála wird die Tendenz der Verlagerung vom ausgweglosen Walten des Schicksals hin zur Entscheidung der Menschen auf breiter Basis weiterführen. Kjartan respektiert die Ansicht des Vaters, meint aber, at þetta myndi betr takask (daß er auf besseren Fortgang hoffe). 242 Diese konzentrierte Episode wird komplettiert durch den Hinweis, dass Kjartan immer von Bolli begleitet wird. Das Geschehen in der Laxdœla liegt also ganz und gar in den Händen der Beteiligten. In diesem Zusammenhang noch ein Blick auf den erotischen 238 Laxdœla saga, S. 228 (Laxdœla saga. Die Saga…), S. 193. 239 Laxdœla saga, S. 112 (Laxdœla saga. Die Saga…), S. 98. 240 Laxdœla saga, S. 112 (Laxdœla saga. Die Saga…), S. 99. 241 Laxdœla saga, S. 112 (Laxdœla saga. Die Saga…), S. 99. 242 Laxdœla saga, S. 112 (Laxdœla saga. Die Saga…), S. 99. <?page no="113"?> Laxdœla saga 105 Nebenschauplatz, den norwegischen Hof. Es geht dabei um den Gunnhildr- Komplex. In der Egils saga spielt die erotische Gier der konungamóðir (Königinmutter) keine Rolle; da geht es nur um die böse Zauberin, die aber gegenüber dem Dichter Egill den Kürzeren zieht. In der Njála dagegen wird das aufgegriffen, in der Episode mit Hrútr, aber des Bösen entkleidet und somit schon humanisiert. Magisches wirkt nur noch nach im Bann, den Gunnhildr über Hrúts künftig eheliche Verbindung auf Island ausspricht. Von Gunnarr selbst wird das ferngehalten, der norwegische Hof spielt für ihn keine Rolle. Die Laxdœla deutet das typische Gunnhildr-Erlebnis um in Kjartans Romanze mit der schönen Ingibj rg, der Schwester des Königs Óláfr. Das fügt sich nahtlos in das bewusst stärker geglättete Vergangenheitsbild dieser Saga. Ob der Autor damit auch beabsichtigte, Bollis ‚Verrat‘ an Kjartan zu entschuldigen, sei dahingestellt. Auf eine entsprechende Anspielung Bollis bei dessen Trennung von Kjartan antwortet Letzterer: „Haf ekki slíkt við, en bera skaltu frændum várum kveðju mína ok sá vinum.“ („Rede nicht dergleichen, und bringe meine Grüße unseren Verwandten und auch den Freunden.“) 243 Der Verfasser der Laxdœla saga mit ihrer Konzentration auf das Problem der Hauptgestalten wollte kein Epos schreiben. Er blieb im Rahmen der Individualgeschichte ausgewählter Personen und leistete darin seinen besonderen Beitrag zum Bild der isländischen Vergangenheit. Die Probleme der isländischen Gesellschaft in ihrer Ganzheit nahm er nicht in den Blick. So wird auch z.B., wie erwähnt, nur nebenbei registriert, dass Guðrún einsetukona wird und es gibt keine Hinweise darauf, was das für sie bedeutete. Man vergleiche damit die Gestalt des Flosi in der Njála, an der die schmerzliche Spannung zwischen Alt und Neu eindrucksvoll vorgeführt wird. Mag der abschließende Hinweis in der Njála auf die Pilgerfahrt in den Süden wie ein Appendix anmuten, so zeigt sich auch darin und in der abschließenden ehelichen Verbindung Káris mit Hildigunnr die Entwicklung von der bloßen Isländersaga zum Islandepos. 243 Laxdœla saga, S. 126 (Laxdœla saga. Die Saga…), S. 110. <?page no="114"?> Teil II: Das Epos in Island 106 Abschließend ein Blick auf die Grettis saga, die allein schon vom Umfang her sich zur Beurteilung anbietet. Verglichen mit der Njála ist sie deren absolutes Gegenteil, was die Frage aufwirft, ob nicht da doch ein Zusammenhang bestehen könnte. Nun ist anzunehmen, dass die Grettis saga jünger ist als die Njála, ein Eingehen Letzterer auf Erstere also auszuschließen ist. Aber da ist die mündliche Überlieferung, die im Fall der Grettis saga besonders reich und nachhaltig gewesen sein dürfte und dem Autor der Njála sicherlich nicht unbekannt war. Dazu kommt, dass der Verfasser der Grettis saga, wenn man die Anlage betrachtet, eher ein bloßer Kompilator einer reichen Überlieferung als ein strukturierender Autor war, so dass es nicht abwegig sein dürfte anzunehmen, dass der Dichter der Njála sich mit seinem eigenen Vergangenheitsbild auch von verbreiteten Überlieferungen à la Grettla unterscheiden und ein differenziertes und umfassenderes Bild von den Menschen der Frühzeit entwerfen wollte. Wo die Njála schon auf den ersten Seiten die Weichen stellt für das Kommende, enthalten die ersten 13 Kapitel der Grettla nichts, was für das Künftige von Bedeutung wäre. Erst mit der Erwähnung der Geburt des Helden beginnt das Geschehene, das sich ausschließlich auf das Leben dieses einzelnen Menschen konzentriert. Das Leitthema besteht darin, zu zeigen, dass der Held reyna afl (Kraft erproben) will. Im Vergleich zur Njála ist das ostentativ wenig. Interessant dabei, dass vor allem zu Beginn der Laufbahn Grettirs dessen unangenehme Eigenschaften hervorgehoben werden und durchgehend sein ofsi (Übermut) negativ vermerkt wird. Dieser Aspekt wird mit solcher Penetranz verfolgt, dass man sich bei aller Bewunderung für diesen heldenhaften Menschen fragt, ob nicht da aus christlicher Sicht ein gleichsam typisches Bild von einem Menschen gezeigt wird, der doch noch, bei aller konventionellen Christlichkeit, die diese Saga bereits kennzeichnet, mit seiner Überheblichkeit in der mythischen Düsternis der Frühzeit lebte - gleichsam als eine Art caveat. Es ist aber festzuhalten, dass es nicht zu einer direkten Warnung vor superbia kommt. Die Njála hatte da schon längst aufklärend eingegriffen. Die Betonung der ungewöhnlichen körperlichen Überlegenheit des Helden färbt auch auf viele andere Gestalten dieser Saga ab. Immer wieder heißt es von neu ins Geschehen eintretenden Männern, dass sie über ungemeine Körperkraft verfügten; gleichsam ein Gütesiegel der frühzeitlichen Isländer. Bei Grettir zeichnet sich das schon in früher Jugend ab. Ein markantes Beispiel ist der Ringkampf mit dem etwas älteren und sehr starken Auðunn. Schon dieses frühe Kräftemessen gewinnt in dieser Saga hohe Bedeutung. Grettir unterliegt noch, doch er quittiert seine Niederlage mit der hochkarätigen, sagagemäßen Aussage: „Þræll einn þegar hefnisk, en argr aldri.“ („Ein Knecht nur rächt sich gleich, ein Feigling nie.“) 244 Der junge Grettir ist natürlich weder Sklave noch Feigling und bereitet mit seiner Äußerung eine ausgedachte, fast feierliche Rache eines heroischen Menschen vor. Diese sprichwörtliche Äußerung ist 244 Grettis saga Ásmundarsonar (wie Anm. 230), S. 44. Deutsche Übersetzung (für dieses und alle folgenden Zitate aus der Grettis saga) aus: Die Saga von Grettir, aus dem Altisländischen übersetzt und kommentiert von Hubert Seelow, Düsseldorf/ Köln 1974, S. 41. Grettis saga <?page no="115"?> Grettis saga 107 in diesem Kontext freilich deplaziert, bezieht sie sich doch auf einen seriösen Rachekasus, rührt somit an die Substanz altisländischen Rachedenkens und wertet diese Rauferei über Gebühr auf. In der Njála war diese einseitige Ausrichung auf die körperliche Überlegenheit schon einer differenzierteren Sicht gewichen, was sich pointiert an dem einen Haupthelden, Gunnarr, zeigt, ganz zu schweigen vom weisen Njáll. Eine Kraftprobe besonderer Art bot sich im Kampf mit dem Wiedergänger Glámr, der dem Geschehen über die bloße Kraftprobe hinaus eine mythische Perspektive eröffnete, die das Leben des Helden von Grund auf veränderte und dem Humanum Raum gab, worin sich dann auch die Leidensfähigkeit des Helden offenbaren konnte und die Tragfähigkeit menschlicher Beziehungen, vor allem im Familiären, erweisen sollte. Über drei Seiten verwendet der Autor auf die Schilderung dieses Kampfes und des teuer erkauften Sieges. Wo die Njála ihr vielschichtiges Geschehen fast ausschließlich der Verantwortlichkeit der beteiligten Menschen anvertraut, macht die Grettla ein unheimliches ins Mythische weisendes Ereignis zum Knackpunkt der Saga. Die Njála hat z.B. nur in der Nebenepisode von Gunnars Erscheinen in seinem Grabhügel einen mythischen Rest, was aber ohne Einfluss auf das Geschehen bleibt, eine Art Konzession an das Publikum, das mit mythischen Elemente rechnete? Nun, die Grettis saga erfüllte derartige Erwartungen auf beeindruckende Weise. Nicht minder wichtig als der Kampf Grettirs selbst ist dessen Einbettung. Dabei kommt dem besondere Bedeutung zu, was ich vor Jahren mit dem Begriff „wirkende Außenwelt“ zu umschreiben versuchte als wesentliches Element der noch mythisch fundierten archaischen Lebenswelt. Der Wiedergänger Glámr muss erfahren, dass er im innerhäuslichen Bereich unterliegen dürfte und versucht nun, den Gegner ins ungeschützte Freie zu zerren, unter das fahle Mondlicht und die dahinziehenden Wolkenfetzen: Nú í því er Glámr fell, rak skýit frá tunglinu, en Glámr hvessti augun upp í móti […] „Þá legg ek þat á við þik, at þessi augu sé þér jafnan fyrir sjónum […]“ (Jetzt in dem Augenblick als Glam fiel, zog eine Wolke vom Mond weg. Glam aber schaute mit durchdringendem Blick auf […]. „Dann verfluche ich dich dazu, daß du immer diese Augen vor dir siehst […]“). 245 Alles werde für Grettir eine unheilvolle Entwicklung nehmen, er werde geächtet werden und die Einsamkeit nicht ertragen können; ógæfa ok hamingjuleysi (Mißgeschick und Unglück) 246 werden sein Leben bestimmen und ihn schließlich til dauða draga (zum Tode ziehen). 247 Diese wichtigen Begriffe, die die Njála von ihren Frühzeitmenschen bereits fernzuhalten vermochte, erweisen hier erneut ihre Macht, was an die Gísla saga denken lässt und die Sonderstellung der Njála unterstreicht. Das Unheil, das nun unaufhaltsam ins Dasein Grettirs einbricht, bewirkt aber, dass über die Darstellung des bloßen Kräftemessens hinaus auch das Menschliche stärker hervortreten kann, wobei vor allem das Verhältnis zur Mutter humanisierend wirkt. Wir überschlagen Manches. Grettir muss nun erfahren, dass sein Vater ge- 245 Grettis saga, S. 121 (Die Saga von Grettir, S. 99). 246 Vgl. Grettis saga, S. 121 (Die Saga von Grettir, S. 99). 247 Grettis saga, S. 121 (Die Saga von Grettir, S. 99). <?page no="116"?> Teil II: Das Epos in Island 108 storben ist, dass man seinen Bruder Atli ermordet hat und dass er selbst geächtet ist. Als nicht unwichtig ist festzuhalten, dass bei dieser Ächtung das Thing nur eine nebensächliche Rolle spielt; verglichen mit der Njála eine andere Welt, in der sich diese Frühzeitmenschen bewegen. Grettir nimmt zu diesen drei Unheilsbotschaften mittels einer Skaldenstrophe Stellung: Allt kom senn at svinnum, skeð mín, bragar tíni, f ǫ ður skal drengr af dauða drjúghljóðr ok svá bróður; þó skal margr í morgin mótrunnr Heðins snótar, brjótr, of slíkar sútir, sverðs, daprari verða. Auf einmal kam alles zum klugen Vortragenden des Gedichts; meine Ächtung; der Mann soll auch sehr still sein wegen dem Tod des Vaters und des Bruders; doch mancher Baum des Treffens des Mädchens Hedins wird morgen trauriger werden über solche Schmerzen, Brecher des Schwertes. 248 Die anspruchsvolle Versform verleiht der Aussage zusätzliches Gewicht. Man denke an Gíslis ‚Nibelungenstrophe‘, die ebenfalls an einem Wendepunkt des Geschehens - Verrat der Schwester - eingesetzt wird. Der praktische Verzicht der Njáls saga auf Strophen mag an der Überlieferung liegen, ist aber auch ein willkommenes Indiz dafür, dass diese Saga fest in der Welt der Prosa verankert ist. Grettirs Strophe ist, wie es sich gehört, auf die beiden Hälften, je vier Verse angelegt. Die zweite Hälfte ist als Überbietung der ersten Hälfte gedacht, wie das einleitende þó skal ankündigt. Der bitteren Einsicht, ausgedrückt in der Intensivform drjúghljóðr am Schluss der ersten Hälfte, entspricht am Schluss der zweiten Hälfte der überbietende Komparativ daprari, nun auf andere Menschen bezogen, die seine Kampfkraft spüren werden. Dieser Doppelaspekt ist ein guter Spiegel dessen, worum es in dieser Saga geht: Leiderfahrung und imponierende Waffentaten. Grettir, zurückgekehrt von seiner verhängnisvollen Ausfahrt, bei der es zu der fatalen húsbrenna gekommen war, und der nun von seiner Ächtung erfahren muss, sucht seine Mutter auf; Frauen wird in den Sagas ohnehin Wichtiges anvertraut. Grettirs Verhältnis zu seinem Vater war kühl; nicht so das zu seiner Mutter. Schon bei seiner Ausfahrt heißt es, dass sie sich seiner annimmt, indem sie ihm in einer kleinen Abschiedsszene eine kostbare Waffe, das Schwert J kulsnautr, übergibt und meint, er werde es brauchen können, denn es sei sigrsælt (es brachte […] Sieg). 249 Dieses Schwert wird zwar dann bei einem Kampf erwähnt, spielt aber weiter keine 248 Grettis saga, S. 147 (Die Saga von Grettir, S. 120). 249 Grettis saga, S. 49 (Die Saga von Grettir, S. 45). <?page no="117"?> Grettis saga 109 Rolle, und Grettir gibt es seinem Bruder Atli, es erweist sich also als totes Motiv. Bezeichnend für die Erzählweise des Autors ist es aber, dass er sich offenbar nichts von dem entgehen lassen will, was für die Ausgestaltung der Frühzeit charakteristisch sein könnte. In der Begegnung, zu der es nun kommt, erscheint die Mutter als leidgeprüfte Frau, die schonungslos ihre Lage darstellt: „en svipul verðr mér sonaeignin; er sá nú drepinn, er mér var þarfastr, en þú útlægr g rr ok óbótamaðr, en inn þriði er svá ungr, at ekki má at hafask“ („doch vergänglich ist für mich der Besitz von Söhnen; der ist jetzt erschlagen, der mir am nützlichsten war, und du bist geächtet worden und man braucht keine Buße für dich zu bezahlen, und der dritte ist so jung, daß er nichts ausrichten kann“). 250 Diese Szene mit der Mutter, die die Ächtungszeit einleitet, erhält eine Entsprechung in der letzten Begegnung Grettirs mit seiner Mutter, die das tragische Ende einleitet. Grettir kann Einsamkeit und Dunkelheit nicht mehr ertragen. Guðmundr inn ríki rät ihm nun, auf dem der Küste vorgelagerten Felseneiland Drangey Zuflucht zu suche, das nur mittels einer Leiter zu ersteigen sei und somit Sicherheit biete. Grettir will diesem Rat auch folgen, sucht aber noch seine Mutter auf, was der Autor zu einer großen Szene ausgestaltet, in der Wesentliches der Saga auf einprägsame Art und Weise zur Geltung kommt. Im Mittelpunkt dieser abschließenden heroisierenden Szene steht dann auch die Mutter. Damit reiht sich die Grettis saga ein in die Tradition, die der Frau eine bevorzugte Stellung neben dem männlichen Helden zuweist. Die altheroischen Nibelungenfrauen Guðrún und Brynhildr zeugen davon und noch Gíslis Rühmung seiner resoluten Ehefrau vor seinem Tod ist eine rührende häusliche Variante davon. Grettir bekennt, dass er es nicht mehr ertragen kann „at vera einn saman“ („allein zu sein“). 251 Es geht um das bedrückende Erleben des Ausgeliefertseins - keine Rede mehr von reyna afl. Ein leidensfähiger Mensch steht vor uns. Grettirs Geständnis, er könne nicht mehr ohne Begleiter auskommen, erfährt man noch aus dem Mund des Autors. Die Antwort Illugis erfolgt in direkter Rede und man tritt in die Szene ein. Keine billige Heroik, sondern echte Bruderliebe bestimmt Illugis Entschluss. Grettir ist beglückt, will Illugis Angebot aber nur annehmen, wenn es auch die Mutter annimmt, die nun das Wort hat. Mit wenigen packenden Worten geht sie auf ihre Situation ein. Doch um Grettir zu helfen, nehme sie es auf sich „[…] at sjá á bak ykkr báðum sonum mínum“ („euch, meine beiden Söhne, fortgehen zu lassen“). 252 Sie stattet ihre Söhne mit dem Nötigsten aus, begleitet sie hinaus und verkündet ihre schicksalhaften Abschiedsworte. Wiederum geht es um „synir mínir tveir“ („meine zwei Söhne“). 253 Sie betont, dass ihre Söhne „vápnbitnir munu þit verða“ („ihr werdet von Waffen verletzt werden“), 254 ein heroisierender Moment, worauf Grettir entsprechend antworten kann. Die Warnung vor böser Zauberei beschließt ihre Rede 250 Grettis saga, S. 153 (Die Saga von Grettir, S. 124). 251 Grettis saga, S. 222 (Die Saga von Grettir, S. 176). 252 Grettis saga, S. 223 (Die Saga von Grettir, S. 177). 253 Grettis saga, S. 223 (Die Saga von Grettir, S. 177). 254 Grettis saga, S. 223 (Die Saga von Grettir, S. 177). <?page no="118"?> Teil II: Das Epos in Island 110 und es folgt ein Satz, der sich wie eine Nebenbemerkung anhört und der doch diese große Szene auf unvergessliche Weise nahebringt und humanisiert. Es heißt da: En er hon hafði þetta mælt, grét hon mj k (Und als sie das gesagt hatte, weinte sie sehr.) 255 Eine Bemerkung, die gerade durch ihre Kargheit den Reichtum dieser Prosa offenbart. Das letzte Wort hat - der Anlage des Werkes entsprechend - Grettir. Er sagt zum Abschied: „Grát þú eigi, móðir; þat skal sagt, at þú hafir sonu átt, en eigi dœtr, ef vit erum með vápnum sóttir, ok lif vel ok heil.“ („Weine nicht, Mutter; das soll gesagt werden, daß du Söhne gehabt habest, und nicht Töchter, wenn wir mit Waffen angegriffen werden, und lebe wohl und glücklich.“) 256 Zu Beginn von Grettirs Laufbahn hatte ihm seine Mutter noch als besondere Waffe das Schwert J kulsnautr überreicht, was sich, wie gesagt, allerdings als totes Motiv herausstellte, also eher als Konzession an Erwartungen des Publikums zu werten ist. Eine Annäherung an den Typ der hetzenden Frau wird ganz vermieden, statt dessen Tränen. Bei der Schilderung von Grettirs Untergang zieht der Autor viele Register, was an der sicherlich reichen mündlichen Überlieferung liegt, darüber hinaus aber auch seine Erzählhaltung illustriert, Zauberei spielt dabei eine entscheidende Rolle. Die Njála hatte dessen nicht mehr bedurft. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit und ohne jede Problematisierung gehört zum Vergangenheitsbild der Grettla auch die neue Religion. Der Priester ist einfach da. Selbst die Ohnmacht Olafs des Heiligen angesichts des verhängnisvollen Auftritts des rätselhaften piltr (Knaben), dessen Intervention das Schicksal Grettirs bestimmt, wird bloß registriert. Es fehlt auch jeder Hinweis darauf, dass das Tun Grettirs, das weitgehend auf reyna afl abzielt, als Hybris verdächtigt würde. Was lässt sich aus diesen Bemerkungen zur Grettis saga hinsichtlich der Gattungsfrage Epos sagen? Die Grettis saga bleibt im Rahmen einer einsträngigen spannenden Geschichte, menschlich durchaus anrührend, worin aber die isländische Frühzeit nur einen zeitlichen Rahmen bildet. Zuvor hatte schon der Autor der Njála die isländische Frühzeit als großen humanen Handlungsraum konzipiert, in dessen Daseinsfülle sich die Isländer des ausgehenden 13. Jahrhunderts eingebettet fühlen konnten - eben im Epos. 255 Grettis saga, S. 224 (Die Saga von Grettir, S. 177). 256 Grettis saga, S. 224 (Die Saga von Grettir, S. 177). <?page no="119"?> Alexanders saga. Islandsk oversættelse ved Brandr Jónsson. Herausgegeben von Kommissionen for Det Arnamagnæanske Legat. Kopenhagen 1925. Aliscans. Kritischer Text von E. Wienbeck, W. Hartnacke, P. Rasch. Genf 1974. Atlakviða in grœnlenzka, in: Klaus von See et al. (Hg.): Kommentar zu den Liedern der Edda. Bd. 7: Heldenlieder. Heidelberg 2012. Beowulf. With the Finnesburg Fragment. Herausgegeben von C.L. Wrenn. London 1953. Brennu-Njáls saga. Herausgegeben von Einar Ól. Sveinsson. Reykjavík 1954 (Íslenzk fornrit XII ). Brot af Sigurðarkviðo, in: Klaus von See et al. (Hg.): Kommentar zu den Liedern der Edda. Bd. 6: Heldenlieder. Heidelberg 2009. Das Annolied. Herausgegeben von Martin Opitz MDCXXXIX , diplomatischer Abdruck besorgt von Walther Bulst. Heidelberg 1961. 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Zur schwedischen Literatur der Kriegs- und Nachkriegszeit. 1984, 278 Seiten Band 14 Hans Joerg Zumsteg: Olav Duuns Medmenneske-Trilogie. 1984, 304 Seiten <?page no="123"?> Band 15 Festschrift für Oskar Bandle. Zum 60. Geburtstag am 11. Januar 1986. Herausgegeben von Hans-Peter Naumann unter Mitwirkung von Magnus von Platen und Stefan Sonderegger. 1986, 316 Seiten Band 16 Bjørnstjerne Bjørnsons Briefwechsel mit Deutschen. Herausgegeben von Aldo Keel. I. Teil: 1859-1898. 1986, 414 Seiten Band 17 Bjørnstjerne Bjørnsons Briefwechsel mit Deutschen. Herausgegeben von Aldo Keel. II. Teil: 1899-1909. 1987, 330 Seiten Band 18 Andreas Heusler an Wilhelm Ranisch. Briefe aus den Jahren 1890-1940. In Zusammenarbeit mit Oskar Bandle herausgegeben von Klaus Düwel und Heinrich Beck. 1989, 739 Seiten Band 19 Nordische Romantik. Akten der XVII. Studienkonferenz der International Association for Scandinavian Studies 7-12. August 1988 in Zürich und Basel. 1991, 528 Seiten Band 20 Stefanie Würth: Elemente des Erzählens. Die þættir der Flateyjarbók. 1991, 170 Seiten Band 21 Susan Brantly: The Life and Writings of Laura Marholm. 1991, 206 Seiten Band 22 Thomas Seiler: På tross av - Paal Brekkes Lyrik vor dem Hintergrund modernistischer Kunsttheorie. 1993, 193 Seiten Band 23 Karin Naumann: Utopien von Freiheit. Die Schweiz im Spiegel schwedischer Literatur. 1994, 226 Seiten Band 24 Wilhelm Friese: Halldór Laxness. Die Romane. Eine Einführung. 1995, 164 Seiten Band 25 Stephen N. Tranter: Clavis Metrica: Háttatal, Háttalykill and the Irish Metrical Tracts. 1997, 226 Seiten Band 26 Stefanie Würth: Der „Antikenroman“ in der isländischen Literatur des Mittelalters. Eine Untersuchung zur Übersetzung und Rezeption lateinischer Literatur im Norden. 1998, 294 Seiten Band 27 Wolfgang Behschnitt: Die Autorfigur. Autobiographischer Aspekt und Konstruktion des Autors im Werk August Strindbergs. 1997, 325 Seiten Band 28 Hans-Peter Naumann / Silvia Müller (Hrsg.): Hochdeutsch in Skandinavien. Internationales Symposium, Zürich 14.-16. Mai 1998. 2000, 254 Seiten <?page no="124"?> Band 29 Bettina Baur: Melancholie und Karneval. Zur Dramatik Cecilie Løveids. 2002, 234 Seiten Band 30 Uwe Englert: Magus und Rechenmeister. Henrik Ibsens Werk auf den Bühnen des Dritten Reiches. 2001, 368 Seiten Band 31 Oskar Bandle: Schriften zur nordischen Philologie. Sprach-, Literatur- und Kulturgeschichte der skandinavischen Länder. Herausgegeben von Jürg Glauser und Hans-Peter Naumann. 2001, 638 Seiten Band 32 Jürg Glauser / Barbara Sabel (Hrsg.): Skandinavische Literaturen in der frühen Neuzeit. 2002, 350 Seiten Band 33 Susanne Kramarz-Bein: Die Þiðreks saga im Kontext der altnorwegischen Literatur. 2002, 396 Seiten Band 34 Astrid Surmatz: Pippi Långstrump als Paradigma. Die deutsche Rezeption Astrid Lindgrens und ihr internationaler Kontext. 2005, 618 Seiten Band 35 Iris Ridder: Der schwedische Markolf. Studien zu Tradition und Funktion der frühen schwedischen Markolfüberlieferung. 2002, 276 Seiten Band 36 Barbara Sabel: Der kontingente Text. Zur schwedischen Poetik in der Frühen Neuzeit. 2003, 171 Seiten Band 37 Verschränkung der Kulturen. Der Sprach- und Literaturaustausch zwischen Skandinavien und den deutschsprachigen Ländern. Zum 65. Geburtstag von Hans-Peter Naumann herausgegeben von Oskar Bandle, Jürg Glauser und Stefanie Würth. 2004, 582 Seiten Band 38 Silvia Müller: Schwedische Privatprosa 1650-1710. Sprach- und Textmuster von Frauen und Männern im Vergleich. 2005, 370 Seiten Band 39 Klaus Müller-Wille: Schrift, Schreiben und Wissen. Zu einer Theorie des Archivs in Texten von C.J.L. Almqvist. 2005, XII, 510 Seiten Band 40 Jürg Glauser (Hrsg.): Balladen-Stimmen. Vokalität als theoretisches und historisches Phänomen. 2012, 195 Seiten Band 41 Anna Katharina Richter: Transmissionsgeschichten. Untersuchungen zur dänischen und schwedischen Erzählprosa in der frühen Neuzeit. 2009, X, 327 Seiten Band 42 Jürg Glauser / Anna Katharina Richter (Hrsg.): Text - Reihe - Transmission. Unfestigkeit als Phänomen skandinavischer Erzählprosa 1500-1800. 2012, 319 Seiten <?page no="125"?> Band 43 Lena Rohrbach: Der tierische Blick. Mensch-Tier-Relationen in der Sagaliteratur. 2009, XII, 382 Seiten Band 44 Andrea Hesse: Zur Grammatikalisierung der Pseudokoordination im Norwegischen und in den anderen skandinavischen Sprachen. 2009, 254 Seiten Band 45 Jürg Glauser / Susanne Kramarz-Bein (Hrsg.): Rittersagas. Übersetzung, Überlieferung, Transmission. 2014, 274 Seiten Band 46 Klaus Müller-Wille (Hrsg.): Hans Christian Andersen und die Heterogenität der Moderne. 2009, 241 Seiten Band 47 Oskar Bandle: Die Gliederung des Nordgermanischen. 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Zur Darstellung und Funktion des Fremden in den originalen Riddarasögur. 2013, 260 Seiten Band 53 Alois Wolf: Die Saga von der Njálsbrenna und die Frage nach dem Epos im europäischen Mittelalter. 2014, VIII, 113 Seiten <?page no="126"?> Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de JETZT BES TELLEN! Jürg Glauser / Susanne Kramarz-Bein (Hrsg.) Rittersagas Übersetzung, Überlieferung, Transmission Beiträge zur Nordischen Philologie 45 2014, VIII, 273 Seiten, €[D] 39,00 / SFR 50,70 ISBN 978-3-7720-8357-0 Als Rittersagas (riddarasögur) bezeichnet man Erzählungen der h schen Dichtung Frankreichs, die im auf des 13. Jahrhunderts in die altnorwegische und altisländische S rache übersetzt und auch in den skandina ischen iteraturen während des Mittelalters sehr beliebt wurden. In diesem Band behandeln renommierte internationale Mediävisten aus den Disziplinen Skandinavistik und Keltologie unterschiedliche Aspekte der Übersetzungs- und Überlieferungsprozesse, die sich mit den Rittersagas und ihren Adaptionen in der ostnordischen iteratur verbinden. Im Mittelpunkt der Studien stehen unter anderem Fragen nach den Netzwerken und Verbreitungsmustern, den Manuskriptgrundlagen sowie allgemein der Transmission dieser Erzählungen. Texte, die besonders untersucht werden, sind etwa die altschwedischen Eufemiavisor, die Karlamagnús saga, eine umfangreiche Kompilation von chansons de geste über Karl den Großen, die altnorwegische Übertragung der Erzählungen von Marie de France (Strengleikar) oder die Geschichte von den Sieben weisen Meistern. <?page no="127"?> Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de JETZT BES TELLEN! Thomas Seiler (Hrsg.) Skandinavischiberoamerikanische Kulturbeziehungen Beiträge zur Nordischen Philologie 50 2013, VIII, 231 Seiten, €[D] 39,00 / SFr 50,70 ISBN 978-3-7720-8480-5 Zum ersten Mal überhaupt werden in diesem Band die vielfältigen historisch-kulturellen, literarischen und populärkulturellen Beziehungen zwischen Spanien/ Südamerika und den skandinavischen Ländern beleuchtet. In der Imagination der Nordländer gilt Spanien aufgrund seines maurischen Erbes und seiner peripheren Lage als Ort des radikal Fremden, der sich einem Verständnis weitgehend entzieht und dessen Fremdheit auch das Identitätsgefühl des Beobachters erschüttert. Spanien nahm in nordischer Optik überdies eine Schlüsselstellung ein, wenn es darum ging, Fragen der aufkommenden Moderne zu diskutieren. Für die Spanier waren die nordischen Länder eine terra incognita, die als weißer Fleck auf der Landkarte mit den fantastischsten Vorstellungen angereichert wurde. Die Skandinavier galten als in jeder Beziehung maßlos und barbarisch. Theoretisch fundiert wurde diese Einschätzung mit den klimatischen Verhältnissen sowie dem Abfall vom rechten (katholischen) Glauben. Die Beiträge dieses Bandes analysieren die wechselvolle Geschichte gegenseitiger Imagination und produktiver Missverständnisse. <?page no="128"?> Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de JETZT BES TELLEN! Hendrik Lambertus Von monströsen Helden und heldenhaften Monstern Zur Darstellung und Funktion des Fremden in den originalen Riddarasögur Beiträge zur Nordischen Philologie, Band 52 2013, 2 0 Seiten €[D] 49,00/ SFr 1,50 ISBN 978-3-7720-8486-7 In den originalen Riddaras gur, die sich im spätmittelalterlichen Island großer Beliebtheit erfreuten, erleben reisende Ritter Abenteuer in exotischer Ferne. Sie kämpfen gegen ngeheuer, treten in ettstreit mit selbstbewussten Mädchenk nigen und kommen auf ihren Reisen bis nach Indien oder Afrika. Immer wieder stehen dabei Begegnungen mit dem Fremden im Vordergrund mal als monstr ser erausforderer, mal als (Zerr-)Spiegel des ritterlichen elden. Der vorliegende Band untersucht solche Begegnung narratologisch auf verschiedenen Ebenen, von der räumlichen Situierung über Aspekte des Monstr sen bis hin zur Dekonstruktion von Gender-Konventionen. Dabei wird deutlich, dass die Grenzen zwischen eld und Monster nur scheinbar klar gezogen sind. Ein K nigssohn kann zum bestialischen erwolf werden oder eine ,unzüchtige Trollfrau sich als elferin des elden erweisen. Es entstehen Grauzonen und neindeutigkeiten, die den Leser herausfordern und unter der Ober äche der ritterlichen Abenteuerwelt die stets aktuelle Frage nach der Identität von Eigenem und Fremdem aufwerfen. <?page no="129"?> Diese Untersuchung geht aus komparatistischer Sicht der Frage nach, welche Rolle das Epos in den volkssprachlichen Literaturen des Mittelalters gespielt hat. Antike und Christentum boten hierfür beeindruckende Leitbilder, dazu kamen noch verschiedene einheimische Überlieferungen. In der ersten Hälfte der Studie geht es um die Lage in England und auf dem Kontinent (u.-a. Beowulf , Chansons de geste , Rolandslied ), im Anschluss daran zeigt der Autor, wie insbesondere das Nibelungenlied einem mittelalterlichen Epos am nächsten kommen dürfte. Die zweite Hälfte der Studie befasst sich schwerpunktmäßig mit der wohl berühmtesten Isländersaga, der Njáls saga (verfasst ca. 1280). Mit vergleichendem Blick auf das europäische Epos zeigt der Autor, dass der literarische Beitrag, den das mittelalterliche Island erbracht hat, ebenso als Bestandteil der europäischen Literatur zu würdigen ist wie das Mittelhochdeutsche und das Altfranzösische und weshalb die Njáls saga für sich beanspruchen kann, in einem umfassenden Prosawerk dem isländischen Hörer und Leser „epische Heimat“ zu bieten. Alois Wolf ist emeritierter Professor für Germanische Philologie der Universität Freiburg im Breisgau. Forschungen u.-a. zur hochmittelalterlichen Minneliteratur und zur Heldendichtung.