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Wort des lebendigen Gottes

Liturgie und Bibel

0613
2016
978-3-7720-5497-6
978-3-7720-8497-3
A. Francke Verlag 
Alexander Zerfaß
Ansgar Franz

"Von größtem Gewicht für die Liturgiefeier ist die Heilige Schrift". Diese Worte des Zweiten Vatikanischen Konzils heben einen liturgietheologischen Grundsatz heraus und markieren einen Eckpfeiler der durch das Konzil initiierten Liturgiereform. Im Blick auf das 50-jährige Konzilsjubiläum 2012-2015 unternimmt es der vorliegende Band, dieses Grundanliegen der Konzilsväter vor dem Hintergrund der bisherigen Erfahrungen aufs Neue zu bedenken und dem wechselseitigen Verhältnis von Heiliger Schrift und Liturgie als den Zentralorten des kulturellen Gedächtnisses des Christentums nachzugehen. Dazu wird das vielschichtige Beziehungsgeflecht zwischen Gottesdienst und Bibel aus liturgiewissenschaftlicher, exegetischer und homiletischer Perspektive aufgezeigt.

<?page no="0"?> ALEXANDER ZERFASS / ANSGAR FRANZ (HRSG.) Wort des lebendigen Gottes Liturgie und Bibel <?page no="1"?> Wort des lebendigen Gottes <?page no="2"?> PIETAS LITURGICA 16 Interdisziplinäre Beiträge zur Liturgiewissenschaft begründet von Hansjakob Becker herausgegeben von Ansgar Franz und Alexander Zerfaß Die Reihe »Pietas Liturgica« erscheint in Zusammenarbeit mit »KULTUR - LITURGIE - SPIRITUALITÄT e.V.« Interdisziplinäre Vereinigung zur wissenschaftlichen Erforschung und Erschließung des christlichen Gottesdienstes <?page no="3"?> ALExAnDER ZERFASS / AnSGAR FRAnZ (HRSG.) Wort des lebendigen Gottes Liturgie und Bibel <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen nationalbibliothek Die Deutsche nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Bistums Mainz und des Vereins KULTUR - LITURGIE - SPIRITUALITÄT e.V. © 2016 · narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de ISSn 1862-2704 ISBn 978-3-7720-8497-3 Titelabbildung: Exsultetrolle aus Fondi, 12. Jh., Paris, Bibliothèque nationale de France; Abbildung aus: G. Cavallo (Hg.), Exultet. Rotoli liturgici del medioevo meridionale, Rom 1994, 281. <?page no="5"?> Hansjakob Becker (© Bistum Mainz/ Blum) <?page no="7"?> Inhalt Vorwort ............................................................................................................ XI „Von größtem Gewicht für die Liturgiefeier ist die Heilige Schrift.“ Birgit J EGGLE -M ERZ „Gottesgaben zur Erneuerung des religiösen Lebens“. Die Synthese von Bibelbewegung und Liturgischer Bewegung bei Pius Parsch (1884-1954) ........................................................................... 1 Martin K LÖCKENER „Von größtem Gewicht für die Liturgiefeier ist die Heilige Schrift“ (SC 24). Kritische Bestandsaufnahme zu einem Grundanliegen des Konzils ....... 21 Alexander D EEG Heilige Schrift und Gottesdienst. Evangelische Überlegungen zur Bibel in der Liturgie - oder: SC 24 als ökumenisches Projekt ............ 49 „Aus ihr werden nämlich Lesungen vorgetragen und in der Homilie ausgedeutet …“ Reinhard M ESSNER Wortgottesdienst. Historische Typologie und aktuelle Probleme............................................ 73 Heinz-Günther S CHÖTTLER „Ex sacra Scriptura lectiones leguntur et in homilia explicantur“. Re-Inszenierung, Mimesis und offenes Ereignis ........................................ 111 Clemens L EONHARD Die Heiligkeit der Heiligen Schrift und Deutungen ihres Status im Rahmen des Synagogengottesdienstes und der Messliturgie ............. 149 Manfred O EMING Die verborgene Nähe. Zum Verhältnis von liturgischer und exegetischer Schrifthermeneutik (mit besonderer Berücksichtigung des Alten Testaments in der christlichen Predigt).................................................................................................... 181 <?page no="8"?> VIII „… aus ihr werden Psalmen gesungen …“ Hansjakob B ECKER „Cantando meditari“. Zur Bedeutung des Psalmengesangs im Wortgottesdienst der Messe .... 207 Harald B UCHINGER Psalmodie als Sakrament. Johannes Chrysostomus über den täglichen Abendpsalm 140(141) ........ 221 „… unter ihrem Anhauch und Antrieb sind liturgische Gebete, Orationen und Gesänge geschaffen worden …“ Albert G ERHARDS Bibel als Quelle und Prüfstein liturgischer Sprache ................................... 243 Annette A LBERT -Z ERLIK Rezeption biblischer Themen in Liturgie und Dichtung. Am Beispiel der Erzählung von den drei Jünglingen im Feuerofen (Dan 3) .............................................................................................................. 259 Ansgar F RANZ „… unter ihrem Anhauch sind liturgische Gesänge geschaffen worden …“ (SC 24). Das Beispiel der Sequenz Zima vetus expurgetur ........................................ 279 Alexander Z ERFASS Dank - Darbringung - Bitte. Eucharistisches Beten ‚unter dem Anhauch der Schrift‘ (SC 24) .............. 309 „… und aus ihr empfangen Handlungen und Zeichen ihren Sinn.“ Jürgen B ÄRSCH „… aus ihr empfangen Handlungen und Zeichen ihren Sinn“ (SC 24). Biblische Interpretamente liturgischer Symbole und Riten am Beispiel des Kommunionteils der römischen Messliturgie...................................... 335 Ludger S CHWIENHORST -S CHÖNBERGER Tempelmetaphorik in ausgewählten Antiphonen ..................................... 357 Inhalt <?page no="9"?> Inhalt IX „Um daher Erneuerung, Fortschritt und Anpassung der heiligen Liturgie voranzutreiben, muss jenes innige und lebendige Ergriffensein von der Heiligen Schrift gefördert werden, von dem die ehrwürdige Überlieferung östlicher und westlicher Riten zeugt.“ Ephrem L ASH Scripture in the worship of the Orthodox Church ..................................... 375 Michael P LATTIG „Vom Leben zur Bibel und von der Bibel zum Leben“ (C. Mesters). Bibel und Spiritualität in der Westkirche .................................................... 387 Anhang Hansjakob B ECKER „Dies große Wort, geschrieben weiß auf schwarz“. Patmos: Begegnungen mit der Bibel im Kontext von Kultur - Liturgie - Spiritualität ...................................................................................................... 419 Bibliographie Hansjakob Becker ................................................................... 489 Index ................................................................................................................. 499 <?page no="11"?> Vorwort Dieses Buch ist durch ein doppeltes Jubiläum motiviert. Es entstand zu großen Teilen im Jahr 2013, dem 50. Jahr nach der Promulgation der Liturgiekonstitution „Sacrosanctum Concilium“ durch das Zweite Vatikanische Konzil am 4. Dezember 1963. Inhaltlich greift es ein zentrales Anliegen dieses Dokuments und der darauf fußenden Liturgiereform auf: Neben der Schlüsselkategorie „Pascha-Mysterium“ und dem Leitkriterium der „tätigen Teilnahme“ durchzieht die Konstitution das Bestreben, die Rolle der Heiligen Schrift für die Feier der Liturgie angemessen zur Geltung zu bringen. Die entsprechenden Aussagen kulminieren in Artikel 24, der einerseits die unterschiedlichen Ebenen gottesdienstlicher Schriftrezeption benennt und andererseits das Gelingen jeder liturgischen Erneuerung an den „suavis et vivus sacrae Scripturae affectus“ bindet: „Von größtem Gewicht für die Liturgiefeier ist die Heilige Schrift. Aus ihr werden nämlich Lesungen vorgetragen und in der Homilie ausgedeutet, aus ihr werden Psalmen gesungen, unter ihrem Anhauch und Antrieb sind liturgische Gebete, Orationen und Gesänge geschaffen worden, und aus ihr empfangen Handlungen und Zeichen ihren Sinn. Um daher Erneuerung, Fortschritt und Anpassung der heiligen Liturgie voranzutreiben, muss jenes innige und lebendige Ergriffensein von der Heiligen Schrift gefördert werden, von dem die ehrwürdige Überlieferung östlicher und westlicher Riten zeugt.“ Dem Gehalt von SC 24 als Beitrag zum Konzilsjubiläum nachzugehen sowie Liturgie und Bibel als Zentralorte des kulturellen Gedächtnisses in ihrer wechselseitigen Verwiesenheit aufeinander zu erschließen, war die Absicht einer Studientagung der Interdisziplinären Vereinigung „Kultur - Liturgie - Spiritualität e.V.“, die vom 29. bis 31. März 2012 in Mainz stattfand. Als Kooperationspartner konnte die Akademie des Bistums Mainz „Erbacher Hof“, vertreten durch PD Dr. Ralf Rothenbusch, gewonnen werden. Für die fruchtbare Zusammenarbeit danken wir ihm von Herzen. Der vorliegende Band dokumentiert mit den Beiträgen von Martin Klöckener, Heinz-Günther Schöttler, Clemens Leonhard, Manfred Oeming, Albert Gerhards, Annette Albert-Zerlik, Jürgen Bärsch und Ludger Schwienhorst-Schönberger die während der Tagung gehaltenen Vorträge. Anstelle des Tagungsreferats „Anamnese: Schriftverkündigung als Vergegenwärtigung der Heilsgeschichte“ von Reinhard Meßner präsentieren wir grundsätzliche Überlegungen desselben Autors zu Fragen des Wortgottesdienstes, die er am 20.11.2015 im Kreise der Österreichischen Sektion der Arbeitsgemeinschaft katholischer Liturgiewissenschaftlerinnen und Liturgiewissenschaftler vorgetragen hat. Wie die Mainzer Tagung ist auch das Buch nach dem Wortlaut von SC 24 strukturiert, dessen einzelne Aussagen gleichsam kommentierend abgeschritten werden. <?page no="12"?> Vorwort XII Für die Buchpublikation treten zusätzliche Beiträge von Birgit Jeggle-Merz, Alexander Deeg, Harald Buchinger, Ansgar Franz, Alexander Zerfaß, Ephrem Lash und Michael Plattig hinzu, die gezielt Aspekte ergänzen, die bei der Tagung nicht eigens zur Sprache kommen konnten. Allen Autorinnen und Autoren gilt unser herzlicher Dank. Doch unser Buch ist nicht nur vom kirchengeschichtlich-epochalen Konzilsjubiläum bestimmt. Seine Erarbeitung fiel zusätzlich mit einem persönlichen Jubiläum zusammen, von dem aus ebenfalls eine enge Verbindung zum Thema des Bandes besteht. Am 29. Oktober 2013 feierte Prof. Dr. Dr. Hansjakob Becker, der von 1977 bis 2004 die Professur für Liturgiewissenschaft und Homiletik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz innehatte, seinen 75. Geburtstag. Ein Exemplar des zu diesem Zeitpunkt noch nicht ganz vollständigen Manuskripts konnte am 20. November 2013 im Rahmen des Dies academicus der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Mainz als Festgabe überreicht werden. Der Zusammenhang von Liturgie und Bibel darf als Lebensthema des Jubilars gelten. Seit Jahrzehnten setzt er sich mit der Heiligen Schrift in einer Tiefe auseinander, die ihresgleichen sucht: als Wissenschaftler akademisch, als Christ spirituell und als Mensch existentiell. Daher betrachten es die Herausgeber, die ihrem Doktorvater viel verdanken und zutiefst verbunden sind, als große Freude, ihm diesen Band zu widmen. So erscheint dieses Buch auch als rechter Ort, den vollständigen Entwurf der Leseordnung „Patmos“, an der Hansjakob Becker 25 Jahre lang gearbeitet hat, erstmals der Öffentlichkeit vorzustellen. Die Drucklegung des Bandes wurde vom Bistum Mainz mit einem großzügigen Zuschuss unterstützt, für den wir unserem Bischof, Herrn Karl Kardinal Lehmann, sehr dankbar sind. Die Anfertigung der Druckvorlage und die Erstellung der Register lagen in den kundigen Händen von Frau Dr. Andrea Klug, für deren unschätzbare Arbeit wir ihr zu großem Dank verpflichtet sind. Dem Francke-Verlag, namentlich Herrn Daniel Seger, danken wir für die gute Zusammenarbeit. Mainz, am 4. Dezember 2015 Die Herausgeber <?page no="13"?> „Von größtem Gewicht für die Liturgiefeier ist die Heilige Schrift.“ <?page no="15"?> „Gottesgaben zur Erneuerung des religiösen Lebens“ Die Synthese von Bibelbewegung und Liturgischer Bewegung bei Pius Parsch (1884-1954) Birgit Jeggle-Merz Die Leopoldskapelle im Kreuzgang des Stiftes Klosterneuburg birgt einen Schatz besonderer Güte: Nikolaus von Verdun fertigte 1181 im Auftrag von Propst Wernher (1168-1185) - so die Widmungsinschrift - 45 Emailtafeln, die zunächst als Schmuck der Kanzelbrüstung in der romanischen Stiftskirche von Klosterneuburg dienten, 1 dann aber 1330/ 1331 mit sechs zusätzlichen stilistisch angeglichenen Tafeln zu einem Flügelaltar zusammengesetzt wurden. 2 In künstlerischer und auch technischer Hinsicht gilt der Verduner Altar als ein Meisterwerk. Einmalig ist das inhaltliche Programm dieser Tafeln, die in drei waagerechten Zonen angeordnet sind und den Epochen der Heilsgeschichte entsprechen. In der oberen Reihe sind Szenen aus dem Alten Testament bis zur Übergabe der Zehn Gebote an Mose dargestellt (unter der Zeitangabe ante legem), die inhaltlich mit alttestamentlichen Szenen nach der Übergabe der Zehn Gebote (sub lege) korrespondieren, die sich in der unteren Reihe befinden. Zwischen den alttestamentlichen Tafeln ist eine auf das Alte Testament thematisch abgestimmte Szene aus dem Neuen Testament (sub gratia) eingeordnet. 3 So deutet das Alte Testament das Neue Testament. Die Tafeln sind jedoch nicht nur in den drei Reihen aufeinander bezogen, sondern auch durch das Kreuzigungsbild in der geometrischen Mitte innerlich strukturiert. „Der Künstler verbindet damit die Aussage, dass das Kreuz, das heißt die Lebenshingabe des Gottessohnes Jesus Christus für das Heil der Welt, der 1 Auf diesen ersten Funktionsort bezieht sich der Beitrag von Martina P IPPAL , Inhalt und Form bei Nicolaus von Verdun. Bemerkungen zum Klosterneuburger Ambo, in: Herbert B ECK - Kerstin H ENGEVOSS -D ÜRKOP (Hgg.), Studien zur Geschichte der europäischen Skulptur im 12./ 13. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1994, 367-380. 2 Zu Geschichte und Bildprogramm des Verduner Altars vgl. Floridus R ÖHRIG , Der Verduner Altar, Klosterneuburg, 8., neubearb. Aufl. 2004. 3 Vgl. Helmut B USCHHAUSEN , Der Verduner Altar. Das Emailwerk des Nikolaus von Verdun im Stift Klosterneuburg. Mit 52 Farbtafeln nach Aufnahmen von Ingrid S CHIND- LER und Wladimir N ARBUTT -L IEVEN , Wien 1980; Georg S AUER , Überlegungen zur Ikonographie und Theologie der Bildtafeln des Verduner Altars, in: Wiener Jahrbuch für Theologie 5 (2004), 37-46. <?page no="16"?> Birgit Jeggle-Merz 2 hermeneutische Schlüssel für das Verständnis der gesamten Heilsgeschichte ist.“ 4 So legen sich Altes und Neues Testament gegenseitig aus. Der Verduner Altar gilt als „vollkommenste künstlerische Umsetzung typologisch-geistiger Schriftauslegung“. 5 Aber er ist noch mehr: Der Altar ist ein besonderes Zeugnis für das Zueinander von Bibel und Liturgie, ist er doch nicht einfach nur ein Kunstwerk oder ein Ausstattungsgegenstand, sondern selbst „Liturge“ 6 , also ein Zeichensystem, eine „Sprache“ 7 der Liturgie. Man wird kaum in Stift Klosterneuburg leben, glauben und arbeiten können, ohne von diesem Altar und seiner Gesamtaussage beeindruckt zu werden. Es kommt daher wohl auch nicht von ungefähr, dass gerade in Klosterneuburg als besondere Ausprägung der Liturgischen Bewegung eine biblisch-liturgische Erneuerungsbewegung entstand, die unwiderruflich mit dem Namen des Klosterneuburger Chorherren Pius Parsch verbunden ist. Im Fokus der weiteren Überlegungen steht nicht das Lebenswerk dieses Protagonisten der Liturgischen Bewegung im deutschen Sprachgebiet. Die Würdigung von Person und Werk von Pius Parsch ist andernorts geschehen. 8 Hier soll ein Aspekt im Mittelpunkt stehen, der Pius Parsch gegenüber den anderen Vertretern der Liturgischen Bewegung auszeichnet: Es gelang ihm wie keinem anderen seiner Zeit, eine Synthese zwischen Liturgischer Bewegung und Bibelbewegung herzustellen, zweier Bewegungen, die nebeneinan- 4 Rudolf V ODERHOLZER , Aus-„Blick“: der Verduner Altar als vollkommenste künstlerische Umsetzung typologisch-geistiger Schriftauslegung, in: DERS ., Offenbarung, Tradition und Schriftauslegung. Bausteine zu einer christlichen Bibelhermeneutik, Regensburg 2013, 146-150, hier: 150. 5 V ODERHOLZER , Aus-„Blick“: der Verduner Altar (wie Anm. 4), 146. 6 Albert G ERHARDS , Der Kirchenraum als „Liturge“. Anregungen zu einem anderen Dialog von Kunst und Kirche, in: Franz K OHLSCHEIN - Peter W ÜNSCHE (Hgg.), Heiliger Raum. Architektur, Kunst und Liturgie in mittelalterlichen Kathedralen und Stiftskirchen (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 82), Münster 1998, 225-242. 7 Vgl. zu den „Sprachen“ in der Liturgie Karl-Heinrich B IERITZ , Liturgik, Berlin u.a. 2004, 42-46. 8 Vgl. z.B. Norbert H ÖSLINGER - Theodor M AAS -E WERD (Hgg.), Mit sanfter Zähigkeit. Pius Parsch und die biblisch-liturgische Bewegung (Schriften des Pius Parsch Instituts 4), Klosterneuburg 1979; Friedrich H EER , Pius Parsch. Erneuerer der Liturgie, in: Bruno M O- SER (Hg.), Große Gestalten des Glaubens. Leben, Werk und Wirkung, München 1982, 107-114; Floridus R ÖHRIG , Pius Parsch, Chorherr des Stiftes Klosterneuburg. Ein Leben für die Ehre Gottes in der Liturgie, in: Jan M IKRUT (Hg.), Faszinierende Gestalten der Kirche Österreichs, Bd. 3, Wien 2001, 225-249; Andrea G RILLO , Der Liturgiebegriff bei Pius Parsch und seine Stellung im Rahmen der Liturgischen Bewegung des 20. Jahrhunderts. Die „unaktuelle“ Aktualität einer pastoralen und „volkstümlichen“ Perspektive, in: Winfried B ACHLER - Rudolf R ACIK - Andreas R EDTENBACHER (Hgg.), Pius Parsch in der liturgiewissenschaftlichen Rezeption. Klosterneuburger Symposium 2004 (Pius Parsch Studien 3), Würzburg 2005, 191-212; Themenheft „Pius Parsch, Pionier liturgischer Erneuerung“, in: Heiliger Dienst 58 (2004), 97-188 (Heft 2); Rudolf P ACIK , Pius Parsch (1884-1954), in: Benedikt K RANEMANN - Klaus R ASCHZOK (Hgg.), Gottesdienst als Feld theologischer Wissenschaft im 20. Jahrhundert. Deutschsprachige Liturgiewissenschaft in Einzelporträts, Bd. 2 (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 98/ II), Münster 2011, 886-900. <?page no="17"?> „Gottesgaben zur Erneuerung des religiösen Lebens“ 3 der bestanden, aber kaum je so zusammenklangen wie im „volksliturgischen Apostolat“ in Klosterneuburg. „Für Pius Parsch ist das Festhalten an der Einheit von Bibel und Liturgie als Grundlage christlicher Frömmigkeit charakteristisch geworden“, urteilt ein ausgewiesener Kenner seines Werkes. 9 Die weiteren Überlegungen legen hier ihren Schwerpunkt. Wie kam es überhaupt dazu, dass Pius Parsch sein Herz der Bibel und der Liturgie verschrieb? Was intendierte er damit? Was war sein Ziel? Eine kurze Vergewisserung über die Eckdaten der Liturgischen Bewegung wie der katholischen Bibelbewegung im 20. Jahrhundert wird unumgänglich sein, um den Ansatz von Pius Parsch einordnen zu können. Da die von ihm gegründete Zeitschrift „Bibel und Liturgie“ als Nachrichtenorgan und Verbindungsglied zwischen den liturgisch bewegten Gemeinden und den Gruppen, die sich um ein erneuertes Verhältnis zu Bibel und Liturgie bemühten, verstanden wurde, gilt dieser besondere Aufmerksamkeit. Schließlich wird zu fragen sein, was von dem Ansatz einer Synthese von Bibel und Liturgie geblieben ist. 1 Pius Parsch - die Symbolfigur der biblisch-liturgischen Erneuerung: Der „Volksliturgiker“ und „Volksbibliker“ 10 Im Jahr 1904 trat Johann Parsch in das Augustiner-Chorherrenstift in Klosterneuburg ein und erhielt nach dem eben erst gewählten neuen Papst den Ordensnamen „Pius“. Für ihn bedeutete dieser Name Programm, denn - so wird er später rückblickend sagen - Pius X. verdanke er wesentliche Anregungen: den grundlegenden Gedanken der participatio actuosa, den Impuls, die Gläubigen zur häufigeren Kommunion zu führen, den Antrieb zum Bibelstudium und vor allem die Anregung, die Bibel dem ganzen Gottesvolk zu erschließen. 11 Dass er sich so intensiv der Heiligen Schrift und der Liturgie zuwandte, begründet er selbst vor allem biographisch: 9 Theodor M AAS -E WERD , Pius Parsch und die Liturgische Bewegung im deutschen Sprachgebiet, in: H ÖSLINGER - M AAS -E WERD (Hgg.), Mit sanfter Zähigkeit (wie Anm. 8), 79-119, hier: 103. 10 So Norbert H ÖSLINGER , Der Lebensweg von Pius Parsch, in: H ÖSLINGER - M AAS -E WERD (Hgg.), Mit sanfter Zähigkeit (wie Anm. 8), 13-78, hier: 38. Die Bezeichnung als „Volksliturge“ und „Volksbibliker“ weist schon darauf hin, dass es Parsch nicht vorrangig um eine wissenschaftliche Reflexion ging, sondern um die Einführung der Gläubigen in Liturgie und Bibel, um ihnen eine Erneuerung ihres christlichen Lebens zu ermöglichen. 11 Vgl. Pius P ARSCH , Volksliturgie. Ihr Sinn und Umfang, Klosterneuburg 1940, 2., veränderte Aufl. 1952 (Neuausgabe mit Vorwort und biographischem Überblick von Andreas R EDTENBACHER [Pius Parsch Studien 1], Würzburg 2004), 16 (Seitenangaben stets nach der Neuausgabe). „‚Volksliturgie‘ - dieses Wort tut einem feinfühligen Ohr weh, weil darin zweimal Volk vorkommt“ (a.a.O., 12). Aber Parsch, der sich für den Urheber dieses Begriffs hielt, beließ es bei dem Begriff, weil er „sich eingebürgert“ habe (ebd.). Der Begriff „Volksliturgie“ begegnet allerdings bereits bei Ignaz Heinrich von Wessenberg (1774-1860) (vgl. Erwin K ELLER , Die Konstanzer Liturgiereform des Ignaz Heinrich von Wessenberg, Freiburg i.Br. u.a. 1965, bes. die Kap. „Der deutsche Kirchengesang im Dienste der Volksliturgie“, 135-150, und „Volksliturgische Gestaltung der Meßfeier“, <?page no="18"?> Birgit Jeggle-Merz 4 „Ich erinnere mich: gleich in den ersten Tagen nach meinem Eintritt bat ich um einen Psalmenkommentar aus der Bibliothek. Es war mir nämlich unerträglich, Psalmen zu beten, ohne sie zu verstehen. So faßte mich sofort eine besondere Neigung zum Brevier. Diese steigerte sich im Laufe des Theologiestudiums derart, daß ich den Vorsatz faßte, einen Brevierkommentar zu schreiben, da ich in der ganzen Literatur keinen fand. […] Im Jahre 1905 war bei Herder das fünfbändige Werk: Wolter, Psallite sapienter, ein liturgischer Psalmenkommentar erschienen; 12 ich bezog das Werk in Lieferungen. Ich entsinne mich, daß ich das Buch mit einem wahren Heißhunger verschlungen habe.“ 13 So wurde das Fundament gelegt für das Engagement in biblisch-liturgischer Hinsicht. 14 Für Parsch gingen Bibel und Liturgie in eins. „Wir wissen, daß die Bibel zur Liturgie führt und umgekehrt. Mit Bibel oder Liturgie treten die Menschen in einen Bannkreis unserer großen Erneuerungsbewegung ein, die zurückfinden will zur Gemeinschaftshaltung der alten Kirche. Wer sich recht in die Bibel vertieft, nimmt allmählich Abschied von dem subjektiven und individualistischen Geist der Neuzeit und kann auf die Dauer nicht lange fern von der liturgischen Bewegung stehen.“ 15 Bibel und Liturgie sind demnach für ihn zwei Wege, die zu einem Ziel führen, nämlich zu einem Leben, das aus dem Glauben bestimmt ist. In einer Schrift, die als Frucht eines Seminars entstand, 16 finden sich zwei Sätze, die als eine Art Kompendium für die Bemühungen Pius Parschs gelten können. Zum einen: „Bibel und Liturgie sind zwei Gottesgaben, die in diesem Jahrhundert den Christen zur Erneuerung des religiösen Lebens gegeben sind.“ 17 Und: „Gottes Wort und Gottes Brot, Licht und Nahrung sind die zwei großen Er- 164-179) und Simon Thaddäus H EMMERLE , Christkatholische Volks-Liturgie: d.i. Gebets- Formularien und Gesänge zum gemeinschaftlich lauten Gebrauche des christlichen Volkes, bei der häuslichen Gottesverehrung in Familien und beim öffentlichen Gottesdienste in Kirchen, Nördlingen 1840. 12 Es handelte sich um die 3. Aufl. des 1871 erstmals erschienenen Psalmenkommentars von Maurus W OLTER , Psallite sapienter: „Psalliret weise! “. Erklärungen im Geiste des betrachtenden Gebets und der Liturgie. Dem Klerus und Volk gewidmet, 5 Bde., Freiburg i.Br. u.a. 3 1904-1907. 1905 erschien der zweite Band zu den Psalmen 36-71. 13 P ARSCH , Volksliturgie (wie Anm. 11), 16. Das Fundament seiner späteren liturgischen Überlegungen sollte das Studium des fünfzehnbändigen Werks von Prosper G UÉRAN- GER , Das Kirchenjahr (in autorisierter Übersetzung erschienen in Mainz 1874-1904) werden (vgl. ebd.). 14 Parsch berichtet, dass ihm im Winter 1915 während seiner Zeit als Feldkurat an der Ostfront bewusst wurde, wie wenig er Leben und Person Jesu kenne. Deshalb ließ er sich exegetische Literatur schicken und las die Evangelien (vgl. Pius P ARSCH , Wie halte ich Bibelstunde [Bibelbücher für Priester 1], Klosterneuburg 1951; Klosterneuburg, 2., erw. Aufl. 1957, 12 [zitiert wird im Folgenden nach der Ausgabe von 1957]). Es entspricht seiner Persönlichkeit, dass er gleich nach einer Umsetzung des Erarbeiteten suchte. So plante er, eine Evangelienharmonie als Hilfe für die Verkündigung zu verfassen (vgl. P ARSCH , Volksliturgie [wie Anm. 11], 17). 15 P ARSCH , Volksliturgie (wie Anm. 11), 570. 16 So H ÖSLINGER , Der Lebensweg von Pius Parsch (wie Anm. 10), 69. 17 P ARSCH , Wie halte ich Bibelstunde (wie Anm. 14), 53f. <?page no="19"?> „Gottesgaben zur Erneuerung des religiösen Lebens“ 5 neuerungsmittel der Christen.“ 18 Es geht ihm also um die Erneuerung des christlichen Lebens aus den beiden Quellen des Glaubens: der Bibel und der Liturgie. 19 Denn er sah das Christentum noch weitgehend in einer „alttestamentlichen Gebotsfrömmigkeit“ verhaftet. Doch das sei die „Haltung des Katechumenats und nicht des Gotteskindes […]. Das Vordringliche dieser gestrigen Frömmigkeit ist Pflicht, Gebot: Sonntagspflicht, Osterpflicht, Fastengebot, Gebetspflicht. Die meisten Christen kommen nicht zum freudigen Bewußtsein, daß sie Kinder im Hause Gottes sind und daß Gott ihr Vater ist, sie stehen ihr Leben lang unter dem Druck der Schuld, der Sündenfrucht.“ 20 Dem stellt er dezidiert sein Programm entgegen: „Das Gnadenleben muss wieder die Wesensmitte von Frömmigkeit und Seelsorge sein.“ 21 Über Bibel und Liturgie lernen der Christ und die Christin wieder, das zu sein, was sie sind: Kinder Gottes, die zum allgemeinen Priestertum des Volkes Gottes berufen sind. „Diese hohe Würde ist nicht ein Titel ohne Mittel; das Priestertum des Volkes verpflichtet und berechtigt zugleich zur aktiven Teilnahme an dem Kult.“ 22 Tätige Teilnahme ist die „wichtigste Quelle christlichen Lebens“ 23 und besteht zuvorderst aus dem Hören des Wortes Gottes und aus dem Empfang der Eucharistie: „Das Volk muß, wenn es wesensgemäß an der Messe teilnimmt, eine zweifache Kommunion empfangen: die Kommunion des Hörens und des Mundes. Das ist wesenhafte Aktivität an der Meßfeier.“ 24 18 A.a.O., 54. 19 Man muss sich vor Augen führen, wie das religiöse Leben im Vielvölkerstaat Österreich vor dem Ersten Weltkrieg aussah: Da war „eine, mit großem Aufwand und mit auch sehr starken Eindrucksmöglichkeiten zelebrierte, offizielle Staatsreligion, […] die selbstverständlich […] in der lateinischen Hochsprache des Abendlandes zelebriert wurde“ und daneben die sogenannte „außerordentliche Seelsorge“. „Das stand aber unvermittelt nebeneinander. Die Frömmigkeit der hohen Prälaten, die Frömmigkeit auch, die sich entfaltete bei Hof als Zeremoniell einer sich selbst als Vormacht des christlichen Abendlandes verstehenden Dynastie und die Frömmigkeit der kleinen Leute mit ihren Höhepunkten bei den Volksmissionen, bei den Einkehrtagen und dann immer wieder in den Sakramentsandachten, namentlich in Zeiten der Not, der Pest, der Türken, und natürlich in den auf Maria bezogenen Maiandachten der Volksfrömmigkeit. Dazu die Lokaltraditionen der Heiligenverehrung“ (Friedrich W EIGAND -A BENDROTH , Pius Parsch und die Erneuerung der Kirche im 20. Jahrhundert, in: Bibel und Liturgie 57 [1984], 139-147, hier: 139f). Das eigentliche Volk Gottes war sowohl von der Schrift als auch von der Liturgie der Kirche weit entfernt. 20 Pius P ARSCH , Christliche Renaissance. Referat auf dem Ersten Deutschen Liturgischen Kongreß in Frankfurt/ Main vom 20.-22. Juni 1950, in: Johannes W AGNER - Damasus Z ÄHRINGER (Hgg.), Eucharistiefeier am Sonntag. Reden und Verhandlungen des Ersten Deutschen Liturgischen Kongresses, Trier 2 1951, 183-195, hier: 185. Die volle Fassung dieses hier gekürzten Vortrags findet sich in: Bibel und Liturgie 17 (1949/ 50), 329-340. 21 P ARSCH , Christliche Renaissance (wie Anm. 20), 188. 22 A.a.O., 191. Rudolf Pacik weist zu Recht auf die sprachliche Parallele zu SC 14 hin (P A- CIK , Pius Parsch [wie Anm. 8], 891). 23 P ARSCH , Volksliturgie (wie Anm. 11), 53. 24 P ARSCH , Christliche Renaissance (wie Anm. 20), 192f. <?page no="20"?> Birgit Jeggle-Merz 6 Volksliturgische Erneuerung ist nach Pius Parsch „Pflege der Liturgie mit besonderer Berücksichtigung des Volkes zum Unterschied von der Erneuerung der streng klassischen Liturgie.“ 25 Alle Anstrengungen der folgenden Jahre sind auf die Verwirklichung seines volksliturgischen Apostolats ausgerichtet. 1919 begann er, Bibelstunden über das Leben Jesu zu halten, 1921 hielt er Einführungen in die Liturgie, 1922 feierte er in St. Gertrud die erste Gemeinschaftsmesse. 1925 gründete er einen eigenen Verlag, um dort ab 1926 die Zeitschrift „Bibel und Liturgie“ herauszugeben und seit 1928 die Wochenzeitschrift „Lebe mit der Kirche“. Eine umfangreiche Publikationstätigkeit entwickelte sich: Unterlagen für die Gemeinschaftsmesse, ein Volksmessbuch, Gesangbücher, verschiedene Schriftenreihen etc. 26 Die Auflagen vor allem der Kleinschriften gehen in die Zehntausende. Ihre Wirkung kann kaum überschätzt werden. 2 Zwei Bewegungen zur Erneuerung der christlichen Existenz und des kirchlichen Lebens Die Liturgische Bewegung und die katholische Bibelbewegung haben das gleiche Ziel: Es geht beiden um die Vertiefung des christlichen Glaubens und die Erneuerung der Kirche; in dem einen Fall durch eine Wiedergewinnung der Liturgie als Quelle des christlichen Lebens, in dem anderen durch eine Neubesinnung auf die Heilige Schrift. Bei Pius Parsch kam beides zusammen. 2.1 Die Liturgische Bewegung: Erneuerung der Kirche aus den Quellen der Liturgie „Die Liturgische Bewegung gehört zu den komplexesten Phänomenen der Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts.“ 27 Ihren Beginn im engeren Sinn mar- 25 P ARSCH , Volksliturgie (wie Anm. 11), 12. Hier setzt sich Parsch also bewusst von der Liturgischen Bewegung benediktinischer Prägung ab, obgleich er sich als „Schüler von Maria Laach“ sah (vgl. Pius P ARSCH , Die liturgische Aktion in Österreich, in: Bibel und Liturgie 4 [1929/ 30], 501-509, hier: 507). 26 Eine Aufstellung findet sich in P ARSCH , Volksliturgie (wie Anm. 11), 504-511, und in H ÖSLINGER - M AAS -E WERD (Hgg.), Mit sanfter Zähigkeit (wie Anm. 8), 322-329. Auf dem liturgischen Kongress in Antwerpen 1930 zieht Parsch eine vorläufige Bilanz seiner Arbeit in Österreich, vgl. P ARSCH , Die liturgische Aktion in Österreich (wie Anm. 25). 27 Albert G ERHARDS - Benedikt K RANEMANN , Einführung in die Liturgiewissenschaft (Einführung Theologie), Darmstadt 3 2013, 102. - Vgl. zur Geschichte der Liturgischen Bewegung u.a. Walter B IRNBAUM , Die katholische liturgische Bewegung. Darstellung und Kritik (Beiträge zur Förderung christlicher Theologie 30,1), Gütersloh 1926 (Neuauflage in: DERS ., Das Kultusproblem und die liturgischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts, Bd. 1: Die deutsche katholische liturgische Bewegung, Tübingen 1966); Waldemar T RAPP , Vorgeschichte und Ursprung der liturgischen Bewegung vorwiegend in Hinsicht auf das deutsche Sprachgebiet, Regensburg 1940 (Nachdruck Münster 1979); Theodor B OGLER , Liturgische Erneuerung in aller Welt. Ein Sammelbericht, Maria Laach 1950; Ferdinand K OLBE , Die liturgische Bewegung (Der Christ in der Welt 9,4), Aschaffenburg <?page no="21"?> „Gottesgaben zur Erneuerung des religiösen Lebens“ 7 kieren im 20. Jahrhundert zwei Ereignisse: Da ist zum einen Pius X., der in seinem Motu proprio mit dem Titel „Tra le sollecitudini“ vom 22. November 1903 28 den Begriff partecipazione attiva prägte, der zum Leitbegriff der Liturgischen Erneuerung im 20. Jahrhundert werden sollte. Und zum anderen ist zu verweisen auf das so genannte Mechelner Ereignis: Dom Lambert Beauduin rief auf dem Katholikentag am 23. September 1909 dazu auf, die Liturgie wieder allen Gläubigen zu öffnen. 29 Begeistert wurde dieser Impuls aufgenommen. Diese beiden punktuellen Ereignisse konnten nur deshalb so nachhaltig wirken, weil der Boden für diesen Aufbruch im 20. Jahrhundert lange Zeit vorbereitet worden war. Die Zeit für eine Rückbesinnung auf die Liturgie als Quelle von Spiritualität und christlichem Leben war einfach reif. Die Wurzeln der Liturgischen Bewegung reichen zurück bis in die Zeit der Reformation und der Katholischen Reform des 16. Jahrhunderts. Eine Verdichtung der Bemühungen um eine Wiedergewinnung der grundlegenden Bedeutung der Liturgie für das Leben der Kirche ist in der Aufklärung 30 und dann wieder im 19. Jahrhundert 31 zu konstatieren. Doch erst als „der Gedanke 1964; Arno S CHILSON , Die Liturgische Bewegung. Anstöße - Geschichte - Hintergründe, in: Klemens R ICHTER - Arno S CHILSON (Hgg.), Den Glauben feiern. Wege liturgischer Erneuerung, Mainz 1989, 11-48; DERS ., Restauration und Erneuerung. Ein Blick in den Ursprung und die erste Etappe der Liturgischen Bewegung, in: Erbe und Auftrag 67 (1991), 424-432. 28 Vgl. Papst P IUS X., Motu proprio über die Erneuerung der Kirchenmusik „Tra le sollecitudini“ (22.11.1903), in: Hans Bernhard M EYER - Rudolf P ACIK (Hgg.), Dokumente zur Kirchenmusik unter besonderer Berücksichtigung des deutschen Sprachgebietes, Regensburg 1981, 23-34, hier: 25; italienisches Original und lateinische Übersetzung in: Carlo B RAGA - Annibale B UGNINI (Hgg.), Documenta ad instaurationem liturgicam spectantia 1903-1963, Rom 2000, 32-67, hier: 34 (die lateinische Übersetzung schwächt interessanterweise das italienische partecipazione attiva zu activa communicatio ab). 29 Vgl. Balthasar F ISCHER , Das „Mechelner Ereignis“ vom 23. September 1909, in: Liturgisches Jahrbuch 9 (1959), 203-219. 30 Da sind insbesondere die Reformbemühungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts zu nennen, die sich vor allem um den Gebrauch der Landessprache in der Liturgie bemühten. Exemplarisch sei auf zwei Untersuchungen verwiesen: Benedikt K RANEMANN , Die Krankensalbung in der Zeit der Aufklärung. Ritualien und pastoralliturgische Studien im deutschen Sprachgebiet (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 72), Münster 1990; Hans-Joachim I GNATZI , Die Liturgie des Begräbnisses in der katholischen Aufklärung. Eine Untersuchung von Reformentwürfen im südlichen deutschen Sprachgebiet (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 75), Münster 1994. 31 Eher historisierende Züge tragen die Anstrengungen von Prosper Guéranger, Abt von Solesmes, der in Frankreich gegen alle neugallikanischen Varianten der Liturgie kämpfte und eine am Vorbild Roms orientierte einheitliche Liturgie anstrebte (vgl. zu seinem Lebenswerk Guy-Marie O URY , Dom Prosper Guéranger 1805-1875. Ein Mönch im Dienst für die Erneuerung der Kirche, Heiligenkreuz 2013). Zum Ende des 19. Jahrhunderts wird die Übersetzung des Missale Romanum durch den Benediktiner Anselm Schott bahnbrechende Wirkung zeitigen (vgl. dazu Angelus A. H ÄUSSLING , Einhundert Jahre „Schott“. Anselm Schott und sein Meßbuch, in: Erbe und Auftrag 59 [1983], 342-350). <?page no="22"?> Birgit Jeggle-Merz 8 an die Einbeziehung des Volkes in die Liturgie eine Rolle spielte, kann man von Liturgischer Bewegung im eigentlichen Sinn reden.“ 32 Nach Romano Guardini lassen sich vier Phasen der liturgischen Bewegung unterscheiden: 33 Im 19. Jahrhundert gilt es, das Wesentliche der Liturgie, das aus patristischer und hochmittelalterlicher Zeit überliefert wurde, in den liturgischen Büchern wiederzuentdecken und als hohes Gut schätzen zu lernen. Es folgt im akademischen und benediktinischen Umfeld eine Phase der Restauration mit dem Ziel, ein Idealbild der Liturgie der Kirche herauszukristallisieren und dieses in der Feier umzusetzen. Da das Volk von einem solchen auch elitären Blick auf die Liturgie weit entfernt war, bedurfte es einer weiteren Phase, die von den Zentren des volksliturgischen Apostolates - also von Pius Parsch - und von der Jugendbewegung 34 getragen wurde, um die Erneuerung des liturgischen Lebens in die Gemeinden hinein zu vermitteln. Eine vierte Phase - so Guardini - trat mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil ein, in einer Zeit, als die Frage nach der Liturgiefähigkeit des heutigen Menschen drängend wurde. 35 Nach 1940 geriet die Liturgische Bewegung in eine schwere Krise, 36 die schlussendlich zur Enzyklika Mediator Dei führte, in der Pius XII. zu den Anliegen der Liturgischen Bewegung positiv Stellung nahm. 37 Im Anschluss an den Pastoralliturgischen Kongress von Assisi 1956 bezeichnete er die Liturgische Bewegung sogar als „Durchgang des Heiligen Geistes durch seine Kirche“. 38 Kaum eine andere innerkirchliche, von unten gewachsene Bewegung kann sich einer derartigen Anerkennung durch das Lehramt rühmen. 32 Gottfried M ARON , Die römisch-katholische Kirche von 1870-1970, in: Kurt Dietrich S CHMIDT - Ernst W OLF (Hgg.), Die Kirche in ihrer Geschichte. Ein Handbuch, Bd. 4, Lieferung N 2, Göttingen 1972, N 197-N 323, hier: N 296. 33 Vgl. Arno S CHILSON , Romano Guardini - Wegbereiter und Wegbegleiter der liturgischen Erneuerung, in: Liturgisches Jahrbuch 36 (1986), 3-27. 34 Vgl. Franz H ENRICH , Die Bünde katholischer Jugendbewegung. Ihre Bedeutung für die liturgische und eucharistische Erneuerung, München 1968; Paul H ASTENTEUFEL , Jugendbewegung und Jugendseelsorge. Geschichte und Probleme der katholischen Jugendarbeit im 20. Jahrhundert, München 1962. 35 Vgl. Romano G UARDINI , Der Kultakt und die gegenwärtige Aufgabe der Liturgischen Bildung. Ein Brief, in: Liturgisches Jahrbuch 14 (1964), 101-106, hier: 106 (auch in: DERS ., Liturgie und liturgische Bildung [Romano Guardini Werke], Mainz u.a. 1992, 9-17, hier: 15); vgl. dazu: Birgit J EGGLE -M ERZ , Den heutigen Menschen im Blick. Wie Kirche liturgiefähig wird, in: Herder-Korrespondenz Spezial 1: „Wie heute Gott feiern? Liturgie im 21. Jahrhundert, April 2013, 5-9. 36 Vgl. Romano G UARDINI , Ein Wort zur liturgischen Frage, Mainz 1940. 37 Vgl. Theodor M AAS -E WERD , Die Krise der Liturgischen Bewegung in Deutschland und Österreich. Zu den Auseinandersetzungen um die „liturgische Frage“ in den Jahren 1939 bis 1944 (Studien zur Pastoralliturgie 3), Regensburg 1981. 38 Pius XII. sagte wörtlich: „Die Liturgische Bewegung ist wie ein Zeichen für die Fügungen der Vorsehung Gottes über unsere Zeit aufgeleuchtet, wie ein Hindurchgehen des Heiligen Geistes durch seine Kirche, um die Menschen den Geheimnissen des Glaubens und den Reichtümern der Gnade näher zu bringen, die aus der tätigen Teilnahme der Gläubigen am liturgischen Leben fließen“ (zitiert nach Reiner K ACZYNSKI , Theologischer Kommentar zur Konstitution über die heilige Liturgie Sacrosanctum Concilium, in: Peter <?page no="23"?> „Gottesgaben zur Erneuerung des religiösen Lebens“ 9 Für Parsch bestand das Ziel der Liturgischen Bewegung in der Erneuerung der Kirche: „Erneuerung deshalb, weil sie nicht etwas Neues einführt, sondern nur zurückkehren will zur Frömmigkeit der alten Kirche“, so führte er im Geleitwort zum ersten Heft der Zeitschrift „Bibel und Liturgie“ aus. 39 Für Parsch war klar, dass eine solche Erneuerung nur über die Hinwendung zur Heiligen Schrift und über die wirkliche Mitfeier der Liturgie der Kirche gehen kann. 40 Wie kaum ein anderer Pionier der Liturgischen Erneuerung im 20. Jahrhundert sah er, dass eine Reform der Liturgie unausweichlich war, will sie wirklich von den Menschen mitgefeiert werden können. Die größte Hürde zur tätigen Teilnahme sah er in der lateinischen Liturgiesprache. 41 2.2 Die Bibelbewegung: Begegnung mit Gott im Wort der Schrift In der katholischen Kirche kam es im 16. Jahrhundert nicht zu einem mit den Kirchen der Reformation vergleichbaren Bibelfrühling, im Gegenteil: Als Reaktion auf die Forderungen der Reformatoren war die beginnende Neuzeit geprägt von einer restriktiven Haltung gegenüber der Bibel und vor allem gegenüber der Lektüre der Schrift durch Laien. 42 Erst die großen Umwälzungen, die die Zeit zwischen Aufklärung und Romantik kennzeichneten, brachten zu Beginn des 19. Jahrhunderts Bewegung in die Frage um den Stellenwert der Schrift für das Leben der Kirche. Die Auseinandersetzungen um die politischen Verhältnisse in Folge der Französischen Revolution, die sich erst nach dem Ende des Wiener Kongres- H ÜNERMANN - Bernd-Jochen H ILBERATH [Hgg.], Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Bd. 2, Freiburg i.Br. u.a. 2004, 1-227, hier: 119). Dieses Wort vom Hindurchgehen des Heiligen Geistes durch seine Kirche fand Eingang in SC 43. 39 Pius P ARSCH , Zum Geleit, in: Bibel und Liturgie 1 (1926/ 27), Nr. 1, 1-2, hier: 1. 40 Vgl. Rudolf P ACIK , „Aktive Teilnahme“ - zentraler Begriff in Pius Parschs Werk, in: B ACHLER u.a. (Hgg.), Pius Parsch in der liturgiewissenschaftlichen Rezeption (wie Anm. 8), 31-52. 41 Vgl. z.B. P ARSCH , Christliche Renaissance (wie Anm. 20), 193: „Unter diesem Prinzip der aktiven Teilnahme [wird] mancher Brauch unserer Kirche in einem anderen Licht beurteilt werden wie früher, z.B. die lateinische Kirchensprache; gewiß hat diese große Vorteile als vinculum unitatis, als Ausdruck der Ecclesia catholica, als prägende Sprache des Dogmas. Jedoch als Sprache der aktiven Teilnahme des Volkes hat sie schwere Nachteile.“ 42 Vgl. Wolfgang B EILNER , Die Bibelbewegung. Ihre Geschichte, ihre Bedeutung für das Konzil und ihre bleibenden Anliegen für Gegenwart und Zukunft, in: Bibel und Liturgie 69 (1996), 136-139, hier: 136. - Paul IV. verfügte 1559 in Reaktion auf die Reformation, dass der Druck und Gebrauch von Bibeln in Landessprachen der Erlaubnis der römischen Inquisition bedürfe. Diese Bestimmung wurde 1564 durch seinen Nachfolger Paul V. insofern gelockert, als auch Ortspfarrer oder Beichtväter um die Erlaubnis zum Bibellesen für geeignete Laien beim Bischof oder bei der Inquisition ersuchen könnten. Alexander VII. erlaubte 1757 den Gebrauch kirchlich approbierter Bibelausgaben in den Landessprachen, was durch Benedikt XIV. 1758 dahingehend ergänzt wurde, dass diese Bibelausgaben mit Anmerkungen von Kirchenvätern und Theologen versehen sein müssen. Dann sei der Gebrauch von Bibelübersetzungen durch Laien zu empfehlen. <?page no="24"?> Birgit Jeggle-Merz 10 ses (1814/ 15) wieder beruhigten, die Zerstörung der kirchlichen Strukturen in der Säkularisation (1802/ 03) sowie die dadurch bedingte Not in der Seelsorge und die Auswirkungen der Aufklärung im Allgemeinen führten zu einer großen Verunsicherung der Bevölkerung. Vor diesem Hintergrund blühte eine Bibelbewegung auf mit dem Ziel, breite Bevölkerungsschichten mit der Heiligen Schrift vertraut zu machen. 43 Dies war überhaupt erst möglich geworden, da durch die Einführung der allgemeinen Schulpflicht nun ein steigender Anteil der Bevölkerung lesen konnte. Bevorzugtes und oft einziges Buch war das Neue Testament, mit dem man lesen lernte und das man immer wieder aufs Neue las. Als Frucht der Zuwendung zu den biblischen Sprachen in der Aufklärungszeit standen dafür zahlreiche Übersetzungen der ganzen Heiligen Schrift wie auch nur des Neuen Testamentes in die deutsche Sprache zur Verfügung. 44 Allerdings wuchsen schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Vorbehalte seitens der Päpste gegenüber der Verbreitung von volkssprachlichen Ausgaben der Bibel an Laien, so dass in evangelischen Kreisen vereinzelt sogar von einem „Bibelverbot“ in der katholischen Kirche die Rede war, 45 das es aber so weder generell noch partiell für das Alte Testament oder für Teile des Neuen Testaments gegeben hat. 46 „Anstelle von ‚Bibelverbot‘ sollte man […] sachgerechter vom Problem des ‚Laienzugangs zur volkssprachlichen Bibelübersetzung‘ sprechen.“ 47 Doch die Vorbehalte und das Misstrauen, mit dem die kirchlichen Autoritäten die Verbreitung und das Lesen der Bibel durch 43 Vgl. Peter S CHEUCHENPFLUG , Die Katholische Bibelbewegung im frühen 19. Jahrhundert (Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge 27), Würzburg 1997, 402-405. - Die Geschichte der Bibelbewegung in der evangelische Kirche zeigt in ihren Anfängen die Arbeit von Wilhelm G UNDERT , Geschichte der deutschen Bibelgesellschaften im 19. Jahrhundert (Texte und Arbeiten zur Bibel 3), Bielefeld 1987, auf. 44 Vgl. S CHEUCHENPFLUG , Die Katholische Bibelbewegung (wie Anm. 43), 406. Die Fülle der katholischen Bibelübersetzungen seit der Aufklärung ist bemerkenswert (vgl. Otto K NOCH - Klaus S CHOLTISSEK , Art. Bibel VIII. Bibelübersetzungen, in: Lexikon für Theologie und Kirche 3 2 [1994], 382-396, hier: 394). Zu den wichtigsten Bibelübersetzungen gehört die 1830 zum ersten Mal aufgelegte und mit zahlreichen Erklärungen versehene Übersetzung von Joseph Franz von Allioli (1793-1873). Vgl. G UNDERT , Geschichte der deutschen Bibelgesellschaften im 19. Jahrhundert (wie Anm. 43), 95-97. 45 Der Begriff „Bibelverbot“ tauchte erst um 1840 als Schlagwort protestantischer Katholizismuskritik auf. Vgl. Johann Jakob H ERZOG , Bibellesen der Laien und Bibelverbote in der katholischen Kirche, in: Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, Bd. 2 (1854), 201-208; 2. Aufl. 1878, 375-381; Georg (Christian) R IETSCHEL , Bibellesen und Bibelverbot, in: Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, 3. Aufl., Bd. 2 (1897), 700-713. Vgl. näherhin Wolfgang S UCKER , Art. Bibelverbot, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 1 (1957), 1224f. Interessanterweise findet sich in der Theologischen Realenzyklopädie und in der 3. Auflage des Lexikons für Theologie und Kirche das Lemma „Bibelverbot“ nicht mehr. 46 So Paul-Gerhard M ÜLLER , Die römisch-katholische Bibelbewegung und ihre Vorgeschichte, in: Teresa B ERGER - Erich G ELDBACH (Hgg.), Bis an die Enden der Erde. Ökumenische Erfahrungen mit der Bibel, Zürich u.a. 1992, 38-69, hier: 40. 47 A.a.O., 40f. <?page no="25"?> „Gottesgaben zur Erneuerung des religiösen Lebens“ 11 Laien betrachteten, können nicht übersehen werden. 48 Im katholischen Selbstverständnis ist fest verankert, dass allein das Lehramt über den „wahren Sinn“ und die Interpretation der Heiligen Schrift zu entscheiden hat. 49 Nachdem schon das Konzil von Trient dies deutlich unterstrichen hatte, 50 brachten die Päpste während des 19. Jahrhunderts mehrfach ihre Sorge zum Ausdruck, dass der direkte Zugang zum Bibeltext für jeden Christen und jede Christin mehr Schaden als Nutzen bringe. So vertrat Gregor XVI. in seiner Enzyklika Inter praecipuas machinationes vom 5. Mai 1844 die Position, die von den Bibelgesellschaften verbreiteten Bibelausgaben enthielten „aufgrund des Unverstandes oder Betrugs so vieler Übersetzer schwerste Irrtümer“. Die Bibelgesellschaften gewöhnten die Menschen daran, „für sich selbst ein freies Urteil über den Sinn der Schriften zu beanspruchen, die aufgrund der Lehre der Väter in der katholischen Kirche behüteten göttlichen Überlieferungen zu verachten und das Lehramt der Kirche selbst zurückzuweisen.“ 51 In seiner 48 So verfügt 1229 die Synode von Toulouse: „Wir verbieten auch, daß Laien die Bücher des Alten und Neuen Testamentes besitzen dürfen, außer dem Psalterium oder den Perikopen aus dem Brevier oder dem Stundenbuch der Heiligen Maria. Aber auch diese Bücher dürfen sie unter keinen Umständen in der landessprachlichen Übersetzung haben, das verbieten wir aufs strengste“ (Can. 14). Des Weiteren bestimmt die Synode von Tarragona 1234: „Niemand darf die Bücher des Alten und Neuen Testamentes in der Landessprache haben. Und wenn sie jemand hat, muß er sie binnen acht Tagen nach dieser Veröffentlichung dem Ortsbischof zum Verbrennen übergeben; wer das nicht tut, sei er Kleriker oder Laie, ist häresieverdächtig, bis er sich gereinigt hat“ (Can. 2). Zitate nach M ÜLLER , Die römisch-katholische Bibelbewegung und ihre Vorgeschichte (wie Anm. 46), 47; dort noch weitere Beispiele für Verbote landessprachlicher Bibeln durch das Lehramt. Vgl. zur Sache auch Otto B. K NOCH , Die Katholiken und die Bibel, in: Theologisch- Praktische Quartalschrift 136 (1988), 239-251. 49 Die katholische Kirche fasst das Zueinander von Kirche und Bibel in die Formel „Schrift und Tradition“, durch die deutlich wird - ohne dadurch den Primat der Schrift infrage zu stellen -, dass die Schrift selbst und der Kanon der Schrift im ekklesialen Prozess der ersten vier Jahrhunderte entstanden sind und daher auch nur in der Kirche und ihrer Tradition verstanden werden können. Vgl. dazu Karl L EHMANN , Von der Schriftwerdung des Wortes. Besinnung rund um das Wort Tradition, in: Winfried E ISELE - Christoph S CHAEFER - Hans-Ulrich W EIDEMANN (Hgg.), Aneignung durch Transformation. Beiträge zur Analyse von Überlieferungsprozessen im frühen Christentum, FS Michael Theobald (Herders Biblische Studien 74), Freiburg i.Br. u.a. 2013, 509-524; V ODERHOL- ZER , Offenbarung, Tradition und Schriftauslegung (wie Anm. 4). 50 Das Dekret über die Vulgata-Ausgabe der Bibel und die Auslegungsweise der Schrift des Konzils von Trient (DH 1506-1508) verfügt, „um leichtfertige Geister zu zügeln, daß niemand wagen soll, auf eigene Klugheit gestützt in Fragen des Glaubens und der Sitten, soweit sie zum Gebäude christlicher Lehre gehören, die heilige Schrift nach den eigenen Ansichten zu verdrehen und diese selbe heilige Schrift gegen jenen Sinn, den die heilige Mutter Kirche festgehalten hat und festhält, deren Aufgabe es ist, über den wahren Sinn und die Auslegung der heiligen Schriften zu urteilen, oder auch gegen die einmütige Übereinstimmung der Väter auszulegen, auch wenn diese Auslegungen zu keiner Zeit für die Öffentlichkeit bestimmt sein sollten“ (DH 1508). Das Erste Vatikanische Konzil bestätigte ausdrücklich diese Lehre, vgl. DH 3007. 51 DH 2771. <?page no="26"?> Birgit Jeggle-Merz 12 Enzyklika Qui pluribus vom 9. November 1878 bestärkte Pius IX. die ablehnende Haltung des Lehramtes gegenüber den Bibelgesellschaften, „die nicht aufhören, die entgegen den Richtlinien der heiligsten Kirche in alle möglichen Volkssprachen übersetzten und mit oft verkehrten Erklärungen belegten Bücher der göttlichen Schriften Menschen jeder Art, sogar ungebildeten, kostenlos auszuteilen, (ja) aufzudrängen, so daß alle unter Zurückweisung der göttlichen Tradition, der Lehre der Väter und der Autorität der katholischen Kirche die Worte des Herrn nach ihrem privaten Urteil auslegen, ihren Sinn verkehren und so in die größten Irrtümer fallen.“ 52 Die Verurteilung der Bibelgesellschaften fand Eingang in den Syllabus vom 8. Dezember 1864 und wurde in einem Atemzug mit Sozialismus, Kommunismus, geheimen und klerikal-liberalen Gesellschaften genannt. 53 Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts ist eine gewisse Öffnung und Veränderung der Sichtweise durch das Lehramt zu beobachten, die dann den Weg für eine katholische Bibelbewegung öffnete. Die Zäsur setzte Leo XIII. mit seiner Enzyklika Providentissimus Deus vom 18. November 1893, 54 die im Denzinger-Hünermann als „eine der ersten päpstlichen Stellungnahmen zur Problematik der modernen historisch-kritischen Exegese“ gewürdigt wird. 55 Der Papst wandte sich gegen Modernismus und Rationalismus in der Bibelauslegung, sprach sich aber explizit für die Förderung der katholischen Bibelarbeit in zeitgemäßer Form aus. Leo XIII. ließ weitere Maßnahmen zur Förderung der Bibel folgen: Mit der Apostolischen Konstitution Officiorum ac munerum vom 25. Januar 1897 regelte er die Bedingungen für den Gebrauch von Bibelübersetzungen, die der kirchlichen Approbation des zuständigen Ortsbischofs oder des Apostolischen Stuhls bedürften und adnotationes aus den Vätern oder von katholischen Gelehrten enthalten müssten. 56 1902 wurde in Rom die „Gesellschaft des hl. Hieronymus zur Verbreitung des heiligsten Evangeliums“ gegründet, die schon im ersten Jahr 180 000 italienischsprachi- 52 DH 2784. 53 DH 2918a. 54 DH 3280-3294. Der vollständige Text findet sich in: Sanctissimi Domini Nostri L EONIS P APAE XIII. allocutiones, epistolae, constitutiones, aliaque acta praecipua, Volumen V, Brügge 1898, 211-224. 55 Vgl. den erläuternden Kommentar durch die Herausgeber vor DH 3280. 56 Vgl. Constitutio Apostolica de prohibitione et censura liberorum Officiorum ac munerum (25. Januar 1897), in: Sanctissimi Domini Nostri L EONIS P APAE XIII. allocutiones, epistolae, constitutiones, aliaque acta praecipua, Volumen VI, Brügge 1900, 241-254. Diese Bedingungen für den Gebrauch von Bibelübersetzungen fanden Eingang in den Codex Iuris Canonici 1918, can. 1385; 1391; 1399; 1400. Die Grundüberzeugung, dass Bibel und Kirche zusammengehören, wird auch im nachkonziliaren Codex Iuris Canonici 1983 beibehalten. C. 825 bestimmt, dass die Bücher der Heiligen Schrift nur mit Erlaubnis des Apostolischen Stuhls oder der Bischofskonferenz herausgegeben werden dürfen. Übersetzungen in die Landessprachen bedürfen der Genehmigung durch dieselben kirchlichen Autoritäten. <?page no="27"?> „Gottesgaben zur Erneuerung des religiösen Lebens“ 13 ge Exemplare des Neuen Testaments verbreitete. 57 In das gleiche Jahr fällt die Errichtung der Päpstlichen Bibelkommission, damit die biblischen Studien „auspicio ductuque Sedis Apostolicae“ betrieben werden können. 58 Es folgte die Installierung des Päpstlichen Bibelinstituts am 7. Mai 1909 unter Pius X., der wiederholt den Besitz und das regelmäße Lesen der Heiligen Schrift, besonders des Neuen Testamentes, 59 empfahl. Mit seiner Enzyklika Spiritus Paraclitus 60 vom 15. September 1920 gab Benedikt XV. der Bibelbewegung in der katholischen Kirche zusätzlichen Auftrieb. Unter Verweis auf das weitverbreitete geistliche Buch „De imitatione Christi“ von Thomas von Kempen 61 empfahl er den katholischen Christen, sich vom Tisch des Brotes und dem Tisch des Wortes nähren zu lassen. 62 Im Unterschied zur Liturgischen Bewegung kann sich die Bibelbewegung zum Ende des 19. Jahrhunderts einer deutlichen amtskirchlichen Protektion erfreuen. Der Impuls durch die Amtskirche sei so bedeutsam gewesen, dass Gottfried Maron urteilt, die Bibelbewegung sei im Unterschied zur Liturgischen Bewegung von oben initiiert worden. „Was man als katholische ‚Bibelbewegung‘ bezeichnet hat, ist nicht in gleicher Weise wie die Liturgische Bewegung ‚von unten her‘ gewachsen, sondern steht mehr in Gefolge des Lehramtes.“ 63 „Den eigentlichen Umschwung in der Verhältnisbestimmung der katholischen Kirche zum Bibellesen und zur wissenschaftlichen Exegese“ brachte die zum 50jährigen Jubiläum von Providentissimus Deus Leos XIII. erschienene Enzyklika Divino afflante Spiritu vom 30. September 1943. 64 Mit 57 Vgl. Oskar K ÖHLER , Das Lehramt und die Theologie, in: Hubert J EDIN (Hg.), Handbuch der Kirchengeschichte, Bd. 6: Die Kirche der Gegenwart. Zweiter Halbband: Die Kirche zwischen Anpassung und Widerstand (1878 bis 1914), Freiburg i.Br. u.a. 1973, 316-344, hier: 340. 58 Vgl. Litterae Apostolicae quibus consilium instituitur studiis sacrae scripturae provehendis Vigilantiae studiique (30. Oktober 1902) in: Sanctissimi Domini Nostri L EONIS P A- PAE XIII. Allocutiones, epistolae, constitutiones, aliaque acta praecipua, Volumen VII, Brügge 1910, 156-161, hier: 156f. 59 Vgl. Enchiridion Biblicum. Documenta ecclesiastica sacram scripturam spectantia auctoritate pontificiae commissionis de re biblica edita, Rom u.a. 4 1961, Nr. 162-168. 60 Vgl. a.a.O., Nr. 440-495. 61 „De imitatione Christi“ erschien in der Erstauflage 1418, hatte aber starken Einfluss über die Neuzeit bis in die Moderne. Auch in Dei Verbum 21 kann man den Einfluss nachzeichnen. Vgl. Thomas von Kempen, Das Buch von der Nachfolge Christi, übers. v. Johann Michael S AILER , völlig neu bearb. v. Hubert S CHIEL , mit einer Einführung von Christian F ELDMANN (Kleine Bibliothek spiritueller Weisheit), Freiburg i.Br. u.a. 1999. 62 Vgl. dazu Otto K NOCH - Heinz S CHÜRMANN , Bibel und Seelsorge. Grundlage, Möglichkeiten und Formen biblisch bestimmter Seelsorge (Werkhefte zur Bibelarbeit 1), Stuttgart 1964, 78-81. 63 M ARON , Die römisch-katholische Kirche von 1870-1970 (wie Anm. 32), N 298. 64 P IUS XII., Über die zeitgemäße Förderung der biblischen Studien. Rundschreiben Papst Pius XII. Authentische deutsche Übersetzung [und] Anmerkungen von Herbert H AAG (Biblische Beiträge; H. 5), Niederbüren 1944. Vgl. dazu Karl P IEPER , Die neue Enzyklika Pius’ XII. über die zeitgemäße Förderung der biblischen Studien, in: Theologie und Glaube 99 (2009), 286-290. - „Eine gewisse Tragik liegt im Erscheinungsdatum, da durch <?page no="28"?> Birgit Jeggle-Merz 14 der zunehmenden Förderung der Bibelwissenschaften bewirkte die Bibelbewegung eine bewusste Hinwendung zur Heiligen Schrift im Religionsunterricht, in der Verkündigung und in der Spiritualität. Das Zweite Vatikanische Konzil erhob dann die Schrift zur Mitte der christlichen Existenz (DV 21-26). Pius Parsch profitierte in hohem Maß von dieser Wertschätzung der Heiligen Schrift in der katholischen Kirche. Seine eigene theologische Ausbildung war noch wenig von der inneren Kraft der biblischen Schriften geprägt gewesen, was er als großes Manko empfand. 65 Umso stärker war dann sein Impuls, eine Volksbibelbewegung ins Leben zu rufen mit dem Ziel, die Christen und Christinnen zum selbständigen und täglichen Bibellesen zu führen. 66 Die Bibel sollte zum Gemeingut des Volkes werden. Mit der Zeitschrift „Lebe mit der Kirche“ entwarf er 1935 ein ganzes Programm der Volksbibelbewegung: Bibelstunden, 67 Bibelpredigt, 68 Schulungen für den Klerus, 69 die Heilige Schrift als Quelle für den Religionsunterricht, Gründung des Vereins „Katholische Bibelbewegung“, 70 Herausgabe von für jedermann erschwinglichen Bibelausgaben usw. 71 Im Herbst 1950 gründete er das „Klosterneuburger Bibelapostolat“ und forcierte die ökumenische Ausrichtung der Bibelbewegung. 72 Die höchste Stufe des Bibelverständnisses ist für Pius Pasch erreicht, wenn das Gehörte zum geoffenbarten Wort Gottes wird: „Gott spricht zu mir, und seine Worte, seine Stimme ist aufgefangen in dem Körper des geschriebenen Buchstabens. Die Worte sind Leiber, hinter denen eine Seele lebt, zu dieser Seele muß ich vordringen. […] Immer mehr aufgeleuchtet ist mir die Sakramentalität des Wortes Gottes. Es ist auch eine Inkarnation Christi, des Logos, wenn Gott in der Schrift zu mir redet […]. Das war für mich die letzte große Entdeckung: die Bibel ist sakramental. Und ich kam zu ihr durch die Liturgie; diese hat ja seit jeher die Heilige Schrift als Symbol den wütenden zweiten Weltkrieg die Rezeption dieses so wichtigen kirchlichen Dokuments nur schleppend erfolgte“, so B EILNER , Die Bibelbewegung (wie Anm. 42), 137. 65 „Ich will auf meine Lehrer nicht Steine werfen, doch die Bibel wurde uns nicht nahegebracht. Meist war es reine und trockene Exegese“ (P ARSCH , Wie halte ich Bibelstunde [wie Anm. 14], 10). 66 Vgl. u.a. P ARSCH , Volksliturgie (wie Anm. 11), 413.479f. 67 Vgl. P ARSCH , Wie halte ich Bibelstunde (wie Anm. 14). 68 Vgl. Pius P ARSCH , Die liturgische Predigt. Wortverkündigung im Geiste der liturgischen Erneuerung, Bd. 1-10, Klosterneuburg 1948-1955. Die liturgische Predigt solle sich eng an den Schrifttext halten und so „als Höhepunkt der Vormesse“ als integrierendes Element der Messfeier wirken (vgl. DERS ., Volksliturgie [wie Anm. 11], 403). Vgl. auch den Beitrag von Andreas R EDTENBACHER , Die liturgische Predigt im Werk von Pius Parsch, in: Bibel und Liturgie 83 (2010), 170-181. 69 Vgl. Pius P ARSCH , Mit dem Klerus steht und fällt die Volksbibel, in: Bibel und Liturgie 19 (1951/ 52), 321-323. 70 Jede Bewegung bedürfe einer Organisation, so meinte Parsch, wenn sie auf Verbreitung angelegt sein will (vgl. Alois S TÖGER , Pius Parsch und die Bibelbewegung, in: H ÖSLIN- GER - M AAS -E WERD [Hgg.], Mit sanfter Zähigkeit [wie Anm. 8], 120-154, hier: 132). 71 Vgl. a.a.O., 128; P ACIK , Pius Parsch (wie Anm. 8), 894. 72 Vgl. Pius P ARSCH , Das Klosterneuburger Bibelapostolat, in: Bibel und Liturgie 18 (1950/ 51), 73-76. <?page no="29"?> „Gottesgaben zur Erneuerung des religiösen Lebens“ 15 Christi und die Verkündigung des Evangeliums als Wort Gottes erkannt und angesehen.“ 73 3 Die Zeitschrift „Bibel und Liturgie“: Das Organ der volksliturgischen Bewegung 1926 ist das Gründungsjahr der Zeitschrift „Bibel und Liturgie“, die als „erste liturgische Fachzeitschrift im deutschen Sprachgebiet“ 74 firmierte. Diese Aussage verwundert, ist doch der erste Jahrgang des „Jahrbuchs für Liturgiewissenschaft“ bereits 1921 erschienen. Während aber das Jahrbuch vor allem „dem Fortschritt der Forschung dienen will“, 75 ist „Bibel und Liturgie“ auf die Verbreitung der volksliturgischen Apostolats ausgerichtet. Die Zeitschrift trägt deshalb bis zum 24. Jahrgang (1956/ 57) den Untertitel „Blätter für volksliturgisches Apostolat“. 76 In diesem Sinn ist „Bibel und Liturgie“ die erste Zeitschrift im deutschen Sprachgebiet, die sich der Vermittlung der Anliegen der Liturgischen Bewegung in die Pastoral widmete. Im Geleitwort zum ersten Heft der neuen Zeitschrift vermerkt Parsch: „In ihrem Titel schon liegt ihr Programm: Bibel und Liturgie. Diese zwei lauteren Quellen christlicher Frömmigkeit waren bisher fast ganz verschüttet, sie sollen dem Volke wieder erschlossen werden.“ 77 Die Zeitschrift war zum einen Nachrichtenorgan und zum anderen Verbindungsglied zwischen den liturgisch bewegten Gemeinden und den Gruppen, die sich um ein erneuertes Verhältnis zu Bibel und Liturgie bemühten. Die Interessen und Wünsche, die von der Leserschaft an den Herausgeber herangetragen wurden, waren allerdings ausgesprochen disparat. Deshalb umriss Pius Parsch am Ende des ersten Jahrgangs nochmals das Ziel der neugegründeten Zeitschrift: Es sei eine liturgische Volkszeitschrift, kein Klerusblatt. Es sei auch keine Fachzeitschrift, sondern wolle manche Fragen auch populärwissenschaftlich behandeln; beim Laien werde allerdings eine gewisse liturgische Bildung vorausgesetzt. 73 P ARSCH , Volksliturgie (wie Anm. 11), 1. Aufl., 261. 74 H ÖSLINGER , Der Lebensweg von Pius Parsch (wie Anm. 10), 48. So auch Theodor M AAS - E WERD , Fünfzig Jahre „Bibel und Liturgie“, in: Gottesdienst 10 (1976), 154. Auch Rüpke vermerkt dies so (Ursula Irene R ÜPKE , Liturgische Zeitschriften und Reihen des deutschen Sprachgebiets im 20. Jahrhundert. Unter Berücksichtigung der liturgischen Bewegung und Reform im katholischen Raum [Veröffentlichungen der Arbeitsgemeinschaft katholisch-theologischer Bibliotheken 2], Paderborn 1974, 67). 75 So R ÜPKE , Liturgische Zeitschriften (wie Anm. 74), 40. 76 Dann wechselt der Untertitel in „Biblisch-liturgisches Werkblatt für Seelsorger und aktive Laien (25 [1957/ 58] - 41 [1968]). Ab dem Jahrgang 42 (1969) trägt Bibel und Liturgie den Untertitel „Biblisch-liturgische Quartalsschrift“. Die Untertitel wechseln noch weiter: Zunächst in „Bausteine für das Leben in Gemeinden“, dann „… in kulturellen Räumen“. 77 P ARSCH , Zum Geleit (wie Anm. 39), 1. <?page no="30"?> Birgit Jeggle-Merz 16 Schaut man die einzelnen Jahrgänge an, dann lassen sich diese Ziele in den verschiedenen Beiträgen verifizieren, denn die Hauptanliegen des volksliturgischen Apostolats kommen immer wieder vor: Tätige Teilnahme des Volkes an der Liturgie, Gestaltungsfragen der Liturgie, insbesondere der Osternacht, Bemühungen um eine Spiritualität, die sich aus dem Hören der Schrift und der Mitfeier der Liturgie nährt, und immer wieder Einführungen in die Bücher der Schrift. Für das 25-Jahr-Jubiläum fasst Parsch noch einmal seine Intention zusammen: „Bibel, Liturgie und Volk, das war von Anfang an unsere große Idee. Die Heilige Schrift muß wieder das große Erziehungs-, Lehr- und Lebensbuch der Christen werden. Die Liturgie muß wieder Gnadenquell und Frömmigkeitsstil der Kirche und aus ihrem fossilen Dasein herausgeholt werden. Doch wir betreiben keine wissenschaftliche Schriftexegese, auch keine Liturgiewissenschaft, obwohl wir diese hochschätzen und zur Grundlage machen; das Neue und bis dahin Unbekannte ist Volksliturgie und Volksbibel.“ 78 Es gelang Parsch, auch viele andere Protagonisten der liturgischen Erneuerungsbewegung aus dem deutschen Sprachgebiet zur Mitarbeit zu bewegen: Es finden sich immer wieder Beiträge u.a. von Ildefons Herwegen, von Odo Casel, Kunibert Mohlberg und Albert Hammenstede. Aber auch Namen wie Fridolin Stier, Karl Rahner, Heinrich Kahlefeld, Linus Bopp, Josef Könn und Michael Pfliegler sind vertreten. Die überwiegende Zahl der Beiträge stammt allerdings aus seiner Feder. Es galt, die praktische Arbeit „durch theoretische Darlegungen zu begleiten und damit auch zu rechtfertigen.“ 79 Zu den wiederkehrenden Themenbereichen gehören Kirchenjahr, Brevier, Kirchenmusik, Psalmenschule, Anregungen zur liturgischen Predigt, Liturgie und Unterricht, liturgische Zeitschriftenschau und kirchliche Kunst. Unter den Artikeln mit liturgietheologischem Inhalt finden sich zwar eine Reihe ausdrücklich pastoralliturgischer Beiträge, aber durchaus auch solche grundsätzlicher Natur, bei den biblischen Beiträgen werden hingegen annähernd ausschließlich praktische Materialien für die Bibelrunden geboten. Die Reichsschrifttumskammer verlangte 1939 die Reduzierung der Zeitschrift, 1941 erfolgte das Erscheinungsverbot. Im Jahr 1946 nahm Pius Parsch seine Arbeit dann wieder auf. Die Zeitschrift erschien zunächst unter dem Titel „Lebe mit der Kirche“, nannte sich aber ab 1949 dann doch wieder „Bibel und Liturgie“. 80 Nun durchzog die Beiträge von Pius Parsch ein zusätzliches Thema: die Gnadenwirklichkeit der Liturgie. In dieser Phase bekam auch die Bibel einen höheren Stellenwert in den einzelnen Jahrgängen. Es war die Zeit der Gründung des Klosterneuburger Bibelapostolats, das unermüdlich zur 78 Zitiert nach S TÖGER , Pius Parsch und die Bibelbewegung (wie Anm. 70), 132. 79 Norbert H ÖSLINGER , Die Zeitschrift „Bibel und Liturgie“, in: H ÖSLINGER - M AAS -E WERD (Hgg.), Mit sanfter Zähigkeit (wie Anm. 8), 240-263, hier: 240. 80 A.a.O., 242. Vgl. auch die Übersicht über die Jahrgänge von „Bibel und Liturgie“ bei R ÜPKE , Liturgische Zeitschriften (wie Anm. 74), Anhang. <?page no="31"?> „Gottesgaben zur Erneuerung des religiösen Lebens“ 17 intensiveren Beschäftigung mit der Bibel aufrief und zahlreiches Material für die praktische Bibelarbeit bereitstellte: „Die Christen sollen durch die persönliche Auseinandersetzung mit dem Wort Gottes zu einer neuen Haltung vor Gott kommen. Nur dann hat die liturgische Erneuerung einen Sinn gehabt, wenn die Menschen umdenken können, wenn sie den Geist der Bibel in sich aufnehmen, wenn ihre Frömmigkeit eine biblische Frömmigkeit ist.“ 81 Dafür nutzte Pius Parsch seine Zeitschrift, deren Herausgeber und Schriftleiter er bis zu seinem Tod blieb. 4 Was bleibt? Pius Parsch und die Synthese von Bibel und Liturgie heute Theodor Schnitzler würdigte Pius Parsch nach seinem Tod im Jahr 1954 mit ehrlichen Worten: „Seit Pius Parsch und zum Teil auch durch die von ihm ausgegangenen Anregungen ist die Liturgiewissenschaft in ihrer Entfaltung und in ihren Erkenntnissen erheblich fortgeschritten. Die Heortologie in Parschs Kalendern aus der Vorkriegszeit ist oft sehr überholt. Seine Meßerklärung kann nach dem Erscheinen von Jungmanns Missarum Sollemnia nur noch schwer bestehen. Doch lernen, immer wieder lernen müssen wir von Pius Parsch den Elan, die wissenschaftlichen Erkenntnisse in Verkündigung und Seelsorge umzumünzen.“ 82 Bleibt also nur die Ausrichtung seines volksliturgischen Apostolats auf die Praxis als Frucht seiner Arbeit? Das wäre nicht viel Ertrag für sein unermüdliches Schaffen. Doch die Würdigung ist mit dieser Einschätzung noch nicht zu Ende. Schnitzler führte weiter aus: „Ein letztes, wesentliches Erbe hinterläßt Pius Parsch. Er teilt mit dem heiligen Pius X. die Liebe zur Heiligen Schrift. Er verbindet das liturgische und das biblische Apostolat. In der Tat, wie es keine Liturgie ohne Schrifttexte geben kann, so kann es auch kein liturgisches Apostolat und keine liturgische Vertiefung geben ohne eine echte Bibelbewegung. Gerade dieses Anliegen des verstorbenen Liturgikers müßte sich die Gegenwart in noch höherem Maße zu eigen machen.“ 83 Diese Worte Schnitzlers fanden schnell Umsetzung: Das Zweite Vatikanische Konzil stellte das Verständnis sowohl der Schrift als auch der Liturgie auf eine neue, genauer: wiederentdeckte theologische Basis. In Art. 21 der Offenbarungskonstitution Dei Verbum wird das Wort Gottes in der Liturgie als 81 H ÖSLINGER , Die Zeitschrift „Bibel und Liturgie“ (wie Anm. 79), 244. 82 Theodor S CHNITZLER , Der Mensch und sein Werk. Pius Parsch und der heilige Pius X., in: Liturgisches Jahrbuch 4 (1954), 232-236, hier: 234. 83 A.a.O., 235f. <?page no="32"?> Birgit Jeggle-Merz 18 „Tisch des Wortes“ bezeichnet und damit in eine explizite sakramentale Analogie zum Verständnis des Herrenmahls als „Tisch des Leibes“ Christi gestellt. Andere Konzilstexte lassen erkennen, dass diese Bezugsetzung nicht ohne Absicht geschah. 84 Darin wird deutlich, dass in der Eucharistiefeier neben der Feier des eucharistischen Mahles auch die Verkündigung und das Hören des biblischen Wortes als ein „Ort“ der personalen Christusbegegnung begriffen werden kann. 85 Damit ist die Wortliturgie endgültig aus dem Gefängnis der reinen Vormesse herausgeführt worden. Gottesdienstformen, in denen das Wort Gottes ganz im Zentrum steht, wurden denkbar (SC 35,4) und firmierten im deutschen Sprachgebiet unter dem Titel „Wortgottesfeiern“ 86 ; die Problematik, die diese Feiern umgibt, wird zunehmend aufgearbeitet. 87 Heute ist der Grundsatz selbstverständlich, dass es keinen Gottesdienst geben kann ohne Wortverkündigung. Alle gottesdienstlichen Feiern haben einen unverzichtbaren Hauptteil, nämlich die Verkündigung des Wortes Gottes. Denn: „der Gottesdienst, der ganz aus dem Wort Gottes lebt, [wird] selbst zu einem neuen Heilsereignis“ (Pastorale Einführung in das Messlektionar 5). Das Hören des Wortes bildet daher auch das Fundament jeder gottesdienstlichen Handlung: Es führt den Christen zur Feier der Eucharistie („Tut dies zu meinem Gedächtnis“ [Lk 22,19]), zum Empfang der Taufe („Die sein Wort annahmen, ließen sich taufen“ [Apg 2,41]), es ruft zur Umkehr („Kehrt um und glaubt an das Evangelium“ [Mk 1,15]) und weckt die Sehnsucht, das ganze Leben von Gott umfangen zu wissen („Dein Wort ist Licht und Wahrheit, es leuchtet mir auf all meinen Wegen“ [Gotteslob, Nr. 687, und Katholi- 84 Vgl. besonders die Liturgiekonstitution Sacrosanctum Concilium 7, ebenso das Dekret über Dienst und Leben der Priester Presbyterorum Ordinis 18, sowie das Dekret über die zeitgemäße Erneuerung des Ordenslebens Perfectae Caritatis 6. 85 Vgl. dazu u.a. Otto N USSBAUM , Zur Gegenwart Gottes/ Christi im Wort der Schriftlesung und zur Auswirkung dieser Gegenwart auf das Buch der Schriftlesungen, in: Peter N EU - HEUSER (Hg.), Wort und Buch in der Liturgie. Interdisziplinäre Beiträge zur Wirkmächtigkeit des Wortes und Zeichenhaftigkeit des Buches, St. Ottilien 1995, 65-92. 86 Zu Wortgottesfeiern gibt es im deutschen Sprachgebiet mittlerweile verschiedene liturgische Bücher: Die Wortgottesfeier. Der Wortgottesdienst der Gemeinde am Sonntag. Vorsteherbuch für Laien, hg. vom Liturgischen Institut Zürich im Auftrag der deutschschweizerischen Bischöfe, Zürich 1997; Wort-Gottes-Feier. Werkbuch für die Sonn- und Festtage, hg. von den Liturgischen Instituten Deutschlands und Österreichs im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz, der Österreichischen Bischofskonferenz und des Erzbischofs von Luxemburg, Trier 2004; Versammelt in Seinem Namen. Tagzeitenliturgie - Wort-Gottes-Feier - Andachten an Wochentagen. Werkbuch, hg. von den Liturgischen Instituten Deutschlands, Österreichs und der Schweiz im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz, der Österreichischen Bischofskonferenz, der Schweizer Bischofskonferenz und des Erzbischofs von Luxemburg, Trier 2008. 87 Vgl. Benedikt K RANEMANN (Hg.), Die Wort-Gottes-Feier. Ein Herausforderung für Theologie, Liturgie und Pastoral, Stuttgart 2006; Birgit J EGGLE -M ERZ , Eine abgespeckte Eucharistiefeier? Überlegungen zur Grundstruktur einer Wort-Gottes-Feier, in: Bibel und Liturgie 85 (2012), 23-34; DIES ., Die Gegenwart Gottes im Wort feiern. Eine Gottesdienstform in Zeiten des Wandels, in: Bibel und Kirche 68 (2013), 87-93; Eberhard A MON - Benedikt K RANEMANN (Hgg.), Laien leiten Liturgie. Die Wort-Gottes-Feiern als Aufgabe und Herausforderung für die Kirche, Trier 2013. <?page no="33"?> „Gottesgaben zur Erneuerung des religiösen Lebens“ 19 sches Gesangbuch. Gesang- und Gebetbuch der deutschsprachigen Schweiz, Nr. 273, nach Ps 119,105]). Die Konzilsväter betonten: „Von größtem Gewicht für die Liturgiefeier ist die Heilige Schrift. Aus ihr werden nämlich Lesungen vorgetragen und in der Homilie gedeutet, aus ihr werden Psalmen gesungen, unter ihrem Anhauch und Antrieb sind liturgische Gebete, Orationen und Gesänge geschaffen worden, und aus ihr empfangen Handlungen und Zeichen ihren Sinn“ (SC 24). 88 Seit Dei Verbum und Sacrosanctum Concilium ist unbestreitbar, dass das Hören selbst schon ein geistlicher Akt ist, der den Hörenden und die Hörende ins Gebet, d.h. in das Gespräch mit dem redenden und durch sein Reden handelnden Gott führt. 89 Das Zweite Vatikanische Konzil hat damit das enge Verhältnis von Bibel und Liturgie, das Parsch in seinen Schriften unermüdlich herausstellte und in die Praxis gemeindlichen Lebens umzusetzen versuchte, bestätigt. Da erstaunt es, dass die Wortliturgie als Verkündigungsgeschehen erst in den letzten Jahren in den Focus der Liturgiewissenschaft gerückt ist. Die liturgietheologische Reflexion über das geistliche Grundgeschehen der Wortliturgie setzte schwerpunktmäßig erst nach der Reform der liturgischen Bücher ein. In der Quaestio „Wie das Wort feiern? Der Wortgottesdienst als theologische Herausforderung“ aus dem Jahr 2002 betonen die Herausgeber: „Wollte man die Themen aufzählen, die auf eine Agenda zukünftiger Aufgaben der Liturgiewissenschaft gesetzt werden müssten - die Untersuchung des Wortgottesdienstes mit seiner Geschichte, Theologie und Praxis müsste zweifellos aufgenommen werden. […] Ohne Zweifel hat die deutschsprachige Liturgiewissenschaft vor allem im Blick auf unterschiedliche Aspekte der Liturgie der Sakramente im 20. Jahrhundert Immenses geleistet. Doch was die Wortverkündigung angeht, besteht erheblicher Nachholbedarf.“ 90 Auch wenn an vielen Orten der wortgottesdienstliche Teil (vor allem der Sakramentenfeiern) mit viel Engagement vorbereitet wird, steht dieser Praxis nicht immer eine ähnlich fundierte theologische Reflexion gegenüber. 91 Das 88 Vgl. dazu Jürgen Bärsch, „Von größtem Gewicht für die Liturgiefeier ist die Heilige Schrift“ (SC 24). Zur Bedeutung der Bibel im Kontext des Gottesdienstes, in: Liturgisches Jahrbuch 53 (2003), 164-169. 89 Vgl. Birgit J EGGLE -M ERZ , „… er soll darin lesen sein Leben lang“ (Dtn 17,19). Lectio divina und Verkündigung des Wortes im Gottesdienst, in: Bibel und Liturgie 80 (2007), 251-259. 90 Benedikt K RANEMANN - Thomas S TERNBERG , Einführung, in: DIES . (Hgg.), Wie das Wort Gottes feiern? Der Wortgottesdienst als theologische Herausforderung (Quaestiones Disputatae 194), Freiburg i.Br. u.a. 2002, 7-14, hier: 7; vgl. auch Birgit J EGGLE -M ERZ , Wortgottesdienst: „colloquium inter Deum et hominem“ (DV 25) in vielfältiger Gestalt und Ausprägung, in: K RANEMANN (Hg.), Die Wort-Gottes-Feier (wie Anm. 87), 64-73. 91 Ausnahmen stellen die verschiedenen Veröffentlichungen von Hansjakob Becker und Ansgar Franz dar: Vgl. z.B. Hansjakob B ECKER , Die Bibel Jesu und das Evangelium Jesu. Ein konkreter Vorschlag zur Weiterführung der Reform des Wortgottesdienstes, in: Bibel und Liturgie 68 (1995), 186-194; Ansgar F RANZ (Hg.), Streit am Tisch des Wortes? Zur Deutung und Bedeutung des Alten Testaments und seiner Verwendung in der Liturgie <?page no="34"?> Birgit Jeggle-Merz 20 führt zur Einschätzung, dass der Auftrag der römischen Behörden aus dem Jahr 1970: „Der Wortgottesdienst ist mit besonderer Sorgfalt zu feiern“ 92 , im gewissen Sinn immer noch ein Desiderat darstellt. Kranemann und Sternberg schließen ihre Einführung folgerichtig auch mit den Worten: „Der Wortgottesdienst ist in seiner Vielfalt für die christliche Spiritualität der Gegenwart erst noch (wieder) zu entdecken.“ 93 Was für die Wortliturgie insgesamt zu sagen ist, trifft noch viel mehr für die übrigen Texturen der Liturgie zu: Hier ist kaum reflektiert, geschweige denn auch nur erfasst, an welchen Stellen welche biblischen Motive aufgegriffen, modifiziert oder in das liturgischen Gesamtgeschehen verwoben werden. Insbesondere für die lateinische Liturgie vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil kann dargelegt werden, wie viele Verknüpfungen in der Liturgie durch biblische Motive und Anspielungen hergestellt wurden. Es ist daher als ein wichtiges Charakteristikum für liturgisches Feiern überhaupt herauszustellen, dass die Liturgie die Verknüpfung von Bibel und Liturgie als Stilmittel einsetzt, um die Mitfeiernden im Verlauf des Kirchenjahres und der Tagzeitenliturgie immer tiefer im Gesamtgeschehen Liturgie zu verankern. Mit der muttersprachlichen Liturgie sind viele dieser Bezüge verloren gegangen. In der Aufdeckung und Bewusstmachung dieser Verknüpfungen liegt die Chance, den Mitfeiernden die Tiefe des gottesdienstlichen Geschehens neu zu erschließen. 94 Von dem Werk Pius Parschs mögen die meisten Einzelarbeiten heute keine große Bedeutung mehr haben, doch was bleibt, ist seine Erkenntnis, dass Bibel und Liturgie grundlegend aufeinander bezogen sind und der Mensch ohne Schrift nicht zum Glauben kommen kann, ebensowenig wie er im Glauben bleiben kann, wenn er diesen Glauben in der Begegnung mit Gott nicht feiert. (Pietas Liturgica 8), St. Ottilien 1997; darin: Hansjakob B ECKER , Wortgottesdienst als Dialog der beiden Testamente. Der Stellenwert des Alten Testaments bei einer Weiterführung der Reform des Ordo Lectionum Missae, 659-689; Ansgar F RANZ , Wortgottesdienst und Altes Testament. Katholische und ökumenische Lektionarreform nach dem II. Vatikanum im Spiegel von Ordo Lectionum Missae, Revised Common Lectionary und Four Year Lectionary. Positionen, Probleme, Perspektiven (Pietas Liturgica. Studia 14), Tübingen - Basel 2002. 92 Dritte Instruktion zur ordnungsgemäßen Durchführung der Konstitution über die heilige Liturgie „Liturgicae instaurationes“ vom 5.9.1970, Nr. 2a (Heinrich R ENNINGS [Hg.], Dokumente zur Erneuerung der Liturgie, Bd. 1: Dokumente des Apostolischen Stuhls 1963-1973, Kevelaer - Freiburg/ Schweiz 2 2002, 2171-2186, hier: 2175). 93 K RANEMANN - S TERNBERG , Einführung (wie Anm. 90), 10. 94 Diesem Anliegen dient das Projekt „Luzerner Biblisch-Liturgischer Kommentar zum Ordo Missae“, dessen erster Band im Oktober 2013 erscheint: Birgit J EGGLE -M ERZ - Walter K IRCHSCHLÄGER - Jörg M ÜLLER (Hgg.), Gemeinsam vor Gott treten. Die Liturgie mit biblischen Augen betrachten (Luzerner Biblisch-Liturgischer Kommentar zum Ordo Missae 1), Stuttgart 2013. Dieser Band bearbeitet den Eröffnungsteil der Eucharistiefeier. Bd. 2 zur Wortliturgie und zur Gabenbereitung folgt 2014, Bd. 3 zum eucharistischen Teil 2015. <?page no="35"?> „Von größtem Gewicht für die Liturgiefeier ist die Heilige Schrift“ (SC 24) Kritische Bestandsaufnahme zu einem Grundanliegen des Konzils Martin Klöckener „Von größtem Gewicht für die Liturgiefeier ist die Heilige Schrift. Aus ihr werden nämlich Lesungen vorgetragen und in der Homilie ausgedeutet, aus ihr werden Psalmen gesungen, unter ihrem Anhauch und Antrieb sind liturgische Gebete, Orationen und Gesänge geschaffen worden, und aus ihr empfangen Handlungen und Zeichen ihren Sinn. Um daher Erneuerung, Fortschritt und Anpassung der heiligen Liturgie voranzutreiben, muss jenes innige und lebendige Ergriffensein von der Heiligen Schrift gefördert werden, von dem die ehrwürdige Überlieferung östlicher und westlicher Riten zeugt.“ (SC 24) Das Zweite Vatikanische Konzil hat mit diesem Artikel der Liturgiekonstitution „Sacrosanctum Concilium“ eine neue Basis für das Verständnis der Heiligen Schrift im Leben der katholischen Kirche und speziell in der Liturgie gelegt und gleichzeitig eine Aufgabe ersten Ranges gestellt. Dieser Beitrag hat zum Ziel, die Bedeutung der Heiligen Schrift für die Liturgie darzulegen sowie eine kritische Bestandsaufnahme vorzunehmen, wie die Intentionen des Konzils verwirklicht worden sind. 1 Artikel 24 der Liturgiekonstitution „Sacrosanctum Concilium“ im Kontext der Konzilsaussagen Art. 24 der Liturgiekonstitution zählt zu den Kernaussagen, wenn es um die Vision des Zweiten Vatikanischen Konzils von der Reform der Kirche und einer erneuerten Liturgie geht, bei der die Frage nach dem Wesen des Gottesdienstes leitend ist. 1 Fünf Jahrzehnte nach Verabschiedung der Konstitution lohnt es sich, den Artikel von neuem zu lesen, auf seinen Inhalt im Kontext anderer Konzilsaussagen zu schauen und zugleich zu fragen, was aus der 1 Vgl. Martin K LÖCKENER , Die Vision einer lebendigen Liturgie, in: DERS . - Eduard N AGEL - Hans-Gerd W IRTZ (Hgg.), Gottes Volk feiert … Anspruch und Wirklichkeit gegenwärtiger Liturgie, Trier 2002, 9-36. <?page no="36"?> Martin Klöckener 22 konziliaren Vision geworden ist. Dabei werden uns einerseits die generellen Anliegen der Erneuerung der Liturgie beschäftigen, andererseits weitere Aussagen des Konzils zur Verbindung von Liturgie und Bibel. 1.1 „Inniges und lebendiges Ergriffensein von der Heiligen Schrift“ Der erste Satz des Artikels 24 kommt fast ein wenig apodiktisch daher, indem thesenartig ein offenbar allen bekannter und anerkannter Sachverhalt festgestellt wird. Die Aussage hatte im Blick auf die zur Konzilszeit geltenden liturgischen Feierordnungen noch mehr Brisanz in sich, als es heute auf den ersten Blick möglicherweise erscheinen mag. 2 Die nachgelieferte Begründung zielt auf die verschiedenen Vorkommen der Heiligen Schrift in der Liturgie ab, sei es direkt im verkündeten Wort und dessen Auslegung, sei es indirekt dadurch, dass bestimmte liturgische Texte, Gesänge, Handlungen und Zeichen auf einen biblischen Ursprung zurückgehen oder sich anderweitig darauf beziehen. 3 Doch geht das Konzil im letzten Satz des Artikels noch einen Schritt weiter: Die Erneuerung, der Fortschritt und die Anpassung der Liturgie, die das Konzil der Kirche als Aufgabe stellt, werden gewissermaßen vom „Ergriffensein von der Heiligen Schrift“ abhängig gemacht. Eine erneuerte Liturgie muss auf der Heiligen Schrift aufbauen; sie findet darin ein Kriterium für alle berechtigte und zielgerichtete Reform. Wenn wir diesen Satz mit unseren heutigen Hörgewohnheiten lesen, könnte der Eindruck entstehen, es ginge primär um eine individuelle Betroffenheit vom Wort Gottes, denn das in der Übersetzung gebrauchte Wort „Ergriffensein“ kann leicht als eine eher emotionale Bewegung im Leben der einzelnen Gläubigen verstanden werden; der lateinische Text spricht vom „suavis et vivus sacrae Scripturae affectus“. Doch verdeutlicht der Hinweis im folgenden Nebensatz, die Überlieferung östlicher und westlicher Riten bezeuge diesen „affectus“, dass in erster Linie an die Durchdringung der Kirche und ihrer ganzen Liturgie vom Wort der Heiligen Schrift gedacht ist. Man darf deshalb wohl zurecht folgern, dass in den Augen der Konzilsväter „von einer Förderung des biblischen Geistes und der biblischen Frömmigkeit […] eine verantwortbare Erneuerung der Liturgie weitgehend abhängig“ war. 4 2 Vgl. auch Herman S CHMIDT , Die Konstitution über die heilige Liturgie. Text - Vorgeschichte - Kommentar (Herder-Bücherei 218), Freiburg i.Br. u.a. 1965, 182: „Wer einigermaßen vertraut ist mit der Lage der römischen Liturgie und der Art, wie sie derzeit gefeiert wird, der wird das Herausstellen der Wortverkündigung eine der großen Errungenschaften der Konstitution nennen“. 3 Vgl. dazu auch Jürgen B ÄRSCH , „Von größtem Gewicht für die Liturgiefeier ist die Heilige Schrift“ (SC 24). Zur Bedeutung der Bibel im Kontext des Gottesdienstes, in: Liturgisches Jahrbuch 53 (2003), 222-241. 4 Reiner K ACZYNSKI , Theologischer Kommentar zur Konstitution über die heilige Liturgie Sacrosanctum Concilium, in: Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil 2, Freiburg i.Br. u.a. 2004, 1-227, hier: 90. <?page no="37"?> „Von größtem Gewicht für die Liturgiefeier ist die Heilige Schrift“ 23 1.2 „Ergriffensein von der Heiligen Schrift“ und die generellen Ziele der Liturgiereform Die Aussage ist weiterhin in den Kontext der allgemeinen Ziele des Zweiten Vatikanischen Konzils und seiner Liturgiereform einzuordnen. Man kann nicht oft genug den allerersten Satz des Konzils in Erinnerung rufen, wo die Gründe für eine umfassende Reform nicht nur in der Liturgie selbst, also liturgieimmanent verortet, sondern von übergreifenden Beweggründen her bestimmt werden. Die vier großen Ziele der ökumenischen Kirchenversammlung heißen: a) in geistlich-theologisch-ekklesiologischer Hinsicht Vertiefung des christlichen Lebens unter den Gläubigen insgesamt, b) in konstruktiver Auseinandersetzung mit den kulturellen, gesellschaftlichen und kirchlichen Wandlungen Anpassung der „dem Wechsel unterworfenen Einrichtungen“ an die „Notwendigkeiten unseres Zeitalters“, c) in ökumenischer Perspektive Förderung all dessen, „was immer zur Einheit aller, die an Christus glauben, beitragen kann“, und schließlich d) in missionarischer Ausrichtung Stärkung dessen, „was immer helfen kann, alle in den Schoß der Kirche zu rufen“ (SC 1). Eine liturgische Erneuerung, die zu einem wesentlichen Teil aus der Bibel gespeist wird, ist bleibend diesen übergreifenden Zielen verpflichtet; und auch die Feier der Liturgie mit ihrer biblischen Prägung hat zur Verwirklichung dieser Anliegen beizutragen. Die Liturgiekonstitution ist, gerade in ihrem ersten Kapitel, ein primär theologisch argumentierendes Dokument, auch wenn andere Gesichtspunkte mit einfließen. Dabei bauen zentrale liturgietheologische Aussagen zu einem beträchtlichen Teil auf einer biblisch begründeten Theologie auf und entfalten gleichzeitig fruchtbar die innige Verwobenheit von Liturgie und Bibel. Einige der großen theologischen Themen seien nur kurz angedeutet, ohne sie in diesem Rahmen weiter ausführen zu können: Dass die Liturgie Feier des Pascha-Mysteriums Jesu Christi ist (besonders Art. 5 und 6), Ort und Zeit der Gegenwart des auferstandenen und durch seinen Geist in der Kirche wirkenden Herrn (Art. 7), Aktualisierung des Heilswerkes Gottes an Mensch und Welt (besonders Art. 5 und 7), Dialog zwischen Gott und Mensch (besonders Art. 7), Vorwegnahme der himmlischen Liturgie (Art. 8) - diese Kerngedanken gründen zu einem wesentlichen Teil auf dem biblischen Fundament einer Theologie der Liturgie. Auch die Forderung nach voller, bewusster und tätiger Teilnahme aller Gläubigen an der Liturgie (besonders Art. 14) ist nicht nur rein pastoralen Anliegen geschuldet, sondern fußt mit ihrer letztlich tauftheologischen und ekklesiologischen Begründung gleichfalls auf biblischen Konzepten, wie sie sich in 1 Petr (besonders 2,4-5.9), aber auch in den Paulusbriefen finden. Wenn Art. 24 also von der Bedeutung der Heiligen Schrift für die Liturgie spricht, geht es nicht nur um einzelne Elemente und Gestaltungsformen, sondern zuerst um die theologische Grundlegung allen gottesdienstlichen Han- <?page no="38"?> Martin Klöckener 24 delns, und das über die Intensivphase der Liturgiereform in den ersten beiden nachkonziliaren Jahrzehnten hinaus als bleibende Aufgabe und Herausforderung. Schließlich ist der unmittelbare Kontext des Art. 24 für dessen richtige Einordnung aussagekräftig: Zuvor wird eine allgemeine Erneuerung der Liturgie nach den dargelegten primär liturgietheologischen Vorgaben angeordnet; dabei wird die Weisung formuliert, dass die dem Wandel unterworfenen Teile der Liturgie „sich im Laufe der Zeit ändern“ können oder sogar ändern müssen, „wenn sich etwas in sie eingeschlichen haben sollte, was der inneren Wesensart der Liturgie weniger entspricht oder wenn sie sich als weniger geeignet herausgestellt haben“ (SC 21). Die Konzilsväter waren davon überzeugt, dass in der Gestalt der römischen Liturgie zu Konzilsbeginn 1962 eine schwerwiegende rituelle Desintegration 5 bestand, die eine umfassende Reform verlangte. Beim damaligen Umgang mit der Bibel in der Liturgie war diese Desintegration besonders offenkundig, 6 weil weder die Auswahl der biblischen Perikopen noch die Art ihrer Verkündigung das „lebendige Ergriffensein“ der Kirche und der Gläubigen durch die Heilige Schrift in dem erforderlichen Maße ermöglichten. Unter den „Allgemeinen Regeln“ legt das Konzil im Übrigen die rechtliche Zuständigkeit für die Ordnung der Liturgie fest (Art. 22), fordert bei der Erneuerung den rechten Ausgleich zwischen Bewahrung der gesunden Überlieferung und dem berechtigten Fortschritt 7 und wünscht das organische Herauswachsen neuer Formen aus den bestehenden (Art. 23). Sodann folgt der hier interessierende Art. 24, an den sich sofort die Weisung anschließt, dass „die liturgischen Bücher […] baldigst revidiert werden“ sollen (Art. 25). Die folgenden Abschnitte bieten weitere Grundlagen für die generelle Erneuerung der Liturgie. So zeigt auch die Stellung des Art. 24 unter den „Allgemeinen Regeln“ der Konstitution auf ihre Weise, welch hohe Bedeutung die Konzilsväter einer adäquaten Gewichtung der Heiligen Schrift für die Feier der Liturgie beimessen. Der Artikel konnte nicht ohne weitreichende Konsequenzen für die gesamte Liturgiereform bleiben und damit genauso für die Liturgie in der Gegenwart, wie sie auf der Grundlage des Konzils gefeiert wird. 5 Vgl. zum Begriff Martin K LÖCKENER , Wie Liturgie verstehen? Anfragen an das Motu proprio „Summorum Pontificum“ Papst Benedikts XVI., in: DERS . - Benedikt K RANE- MANN - Angelus A. H ÄUSSLING (Hgg.), Liturgie verstehen. Ansatz, Ziele und Aufgaben der Liturgiewissenschaft, Freiburg/ Schweiz 2008 = Archiv für Liturgiewissenschaft 50 (2008), 268-305, hier: 301f. 6 Vgl. die anschaulichen Schilderungen von S CHMIDT , Konstitution (wie Anm. 2), bes. 187-189. 7 Dies auch unter Berücksichtigung neuerer Erfahrungen mit der Liturgie und ihrer schon unter Pius XII. unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg begonnenen Erneuerung. <?page no="39"?> „Von größtem Gewicht für die Liturgiefeier ist die Heilige Schrift“ 25 1.3 Weitere Konzilsaussagen zum inneren Zusammenhang von Liturgie und Heiliger Schrift Um den Zusammenhang von Liturgie und Heiliger Schrift geht es aber in der Liturgiekonstitution nicht nur im Art. 24. Wie schon gesagt, spielt dieser Konnex auch bei den theologischen Aussagen über die Liturgie eine entscheidende Rolle. In der Liturgie wird unter Wort und Zeichen vollzogen und je neu aktualisiert, was Gott in der Heilsgeschichte an Israel, seinem Volk der Erwählung, in Jesus Christus und in der Zeit der Kirche gewirkt hat und wirkt. Art. 5 der Konstitution unterstreicht nachdrücklich die Einheit der Heilsgeschichte von Altem und Neuem Bund, in der die Machterweise Gottes das „Werk der Erlösung der Menschen und der vollendeten Verherrlichung Gottes“ bewirken, das im Pascha-Mysterium Jesu Christi aufgipfelt. Damit ermöglicht die Liturgie in ihrer anamnetisch-epikletischen Ausrichtung, dass der in den Schriften des Alten und Neuen Testaments bezeugten Heilsgeschichte, an der die Kirche und die Menschen aller Generationen Anteil haben, gedacht wird und sie je neu auf ihre Weise die Gegenwart mit umschließt. Die Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus tritt in der Heiligen Schrift am deutlichsten auf die Kirche aller Epochen zu; deswegen ist die Bibel Maßstab und Quelle, aus der die Kirche, besonders in der Liturgie, immer wieder schöpfen muss; die Verkündigung des vergangenen und ins Heute hineingeholten Heilswerkes Gottes weist der Kirche zugleich die Wege, diesem göttlichen Heilswirken bis zur Vollendung treu zu bleiben. 8 Im Hintergrund für das adäquate Verständnis der Liturgie stehen aber noch weitere biblische Aussagen, in denen die Konzilsväter eine generelle Norm für die Liturgie sehen und die gleichzeitig die Rolle der Bibel in der Liturgie unterstreichen; die wichtigsten davon seien hier herausgegriffen. Im Art. 6 wird der christliche Gottesdienst, aufbauend auf Apg 2,41-47, von der Urkirche an charakterisiert: „Seither hat die Kirche niemals aufgehört, sich zur Feier des Pascha-Mysteriums zu versammeln, dabei zu lesen, ‚was in allen Schriften von ihm geschrieben steht‘ (Lk 24,27), die Eucharistie zu feiern, in der ‚Sieg und Triumph seines Todes dargestellt werden‘, und zugleich ‚Gott für die unsagbar große Gabe dankzusagen‘ (2 Kor 9,15), in Christus Jesus ‚zum Lob seiner Herrlichkeit‘ (Eph 1,12). All das aber geschieht in der Kraft des Heiligen Geistes.“ Dieser Aussage zufolge feiert die Kirche in der Liturgie gemäß der apostolischen Überlieferung seit neutestamentlicher Zeit unablässig das Pascha- Mysterium Jesu Christi, und zwar auf differenzierte Weise in allen liturgischen Ausdrucksformen. Beim Herrenmahl umfasst die Feier des Pascha- Mysteriums nicht nur die Eucharistie selbst, sondern ebenfalls die Lesung aus allen Schriften der Bibel, wobei in der liturgischen Tradition die alttestamentlichen Bücher oft, wenn auch nicht ausschließlich christologisch gelesen werden. Das alles geschieht - in Übereinstimmung mit dem doxologischen Grund- 8 Vgl. auch S CHMIDT , Konstitution (wie Anm. 2), 181. <?page no="40"?> Martin Klöckener 26 zug der Liturgie überhaupt - als Danksagung und Lobpreis an Gott. Dabei stellt der Konzilstext schließlich noch heraus, dass alles liturgische Handeln, die Lesung der Bibel eingeschlossen, „in der Kraft des Heiligen Geistes“ geschieht, wie es der nachösterlichen Situation der Kirche entspricht. Wenn Art. 7 der Liturgiekonstitution die Weisen der Gegenwart Jesu Christi in der Liturgie benennt, wird die liturgische Verkündigung der Heiligen Schrift eigens angeführt: „Gegenwärtig ist er [Christus, also der nachösterlich Erhöhte und im Geist bleibend Präsente] in seinem Wort, da er selbst spricht, wenn die heiligen Schriften in der Kirche gelesen werden.“ Papst Pius XII. hatte schon 1947 in seiner Enzyklika „Mediator Dei“ von den Gegenwartsweisen Christi in der Liturgie gesprochen, allerdings nicht die Verkündigung der Heiligen Schrift genannt, 9 so dass hier ein wirklich neuer Gedanke in die Lehre über den Gottesdienst eingebracht wird. Die biblische Verkündigung ist demnach ein wesentlicher Aspekt für die theologische Qualifizierung der Liturgie als Ort der wirkenden Gegenwart Jesu Christi; dieser ist es, der selbst handelt, wenn die Kirche sich zum Gottesdienst versammelt; der Verkündigungsvorgang ist einer der herausragenden Momente, wo sich die Christuspräsenz ereignet. 10 Noch anderweitig in der Liturgiekonstitution unterstreicht das Konzil die Bedeutung und Hochschätzung der Bibel. Unter den „Regeln aus dem belehrenden und seelsorglichen Charakter der Liturgie“ wird an erster Stelle im Art. 33 auf die Heilige Schrift rekurriert, wenn es heißt: Die Liturgie „birgt […] auch viel Belehrung für das gläubige Volk in sich. Denn in der Liturgie spricht Gott zu seinem Volk; in ihr verkündet Christus noch immer die Frohe Botschaft. Das Volk aber antwortet mit Gesang und Gebet. […] Daher wird […] beim Lesen dessen, ‚was zu unserer Belehrung geschrieben ist‘ (Röm 15,4), […] der Glaube der Teilnehmer genährt und ihr Herz zu Gott hin erweckt, auf dass sie ihm geistlichen Dienst leisten und seine Gnade reichlicher empfangen.“ Ähnlich wie im Art. 7 wird hier unterstrichen: In der Liturgie spricht Gott zu seinem Volk, verkündet Christus selbst das Evangelium. Hier wie auch an vielen anderen Stellen stützt sich das Konzil auf theologische Überzeugungen aus der Tradition. Die „Pastorale Einführung in das Messlektionar“ zitiert mehrere entsprechende Belege, so etwa Augustins Sermo 85, in dem er sagt: „Der Mund Christi ist das Evangelium. Er thront im Himmel, aber er hört 9 Vgl. „Mediator Dei“, Nr. 20, zitiert nach der Ausgabe: Unseres heiligen Vaters Pius XII. durch göttliche Vorsehung Papst Rundschreiben über die heilige Liturgie (20. November 1947: „Mediator Dei“), im Auftrag des Liturgischen Instituts hg. von Leo K OEP , Freiburg i.Br. u.a. 1948, 20-23; vgl. auch Josef Andreas J UNGMANN , Einleitung und Kommentar [zur Konstitution über die heilige Liturgie], in: Das Zweite Vatikanische Konzil. Konstitutionen, Dekrete und Erklärungen lateinisch und deutsch. Kommentare, Bd. 1 (Lexikon für Theologie und Kirche. Ergänzungsbände), Freiburg i.Br. u.a. 1966, 10-109, hier: 20f. 10 Vgl. auch Patrick P RÉTOT , Vatican II - nouvelle appréciation de la Parole de Dieu, in: Martin K LÖCKENER - Bruno B ÜRKI - Arnaud J OIN -L AMBERT (Hgg.), Présence et rôle de la Bible dans la liturgie, Fribourg 2006, 205-225. <?page no="41"?> „Von größtem Gewicht für die Liturgiefeier ist die Heilige Schrift“ 27 nicht auf, auf Erden zu sprechen.“ 11 Auch in mittelalterlichen Quellen ist diese Sicht präsent, etwa im Pontificale Romano-Germanicum, das in der Mitte des 10. Jahrhunderts in der Mainzer Abtei St. Alban erstellt wurde: „Es wird aber das Evangelium gelesen, in dem Christus mit seinem Mund zum Volk spricht, damit […] das Evangelium in der Kirche von neuem rufe, wie wenn Christus selbst zu seinem Volk sprechen würde.“ 12 Wenn die Schriften des Alten und Neuen Bundes verkündet werden, hört die Kirche nicht nur die Botschaft von der Heilsgeschichte Gottes mit den Menschen, sondern sie wird selbst mit in diese Heilsgeschichte hineingenommen, in der sich Gott auf vielfältige Weise seinem Volk geoffenbart hat. In dieser heilsgeschichtlichen Kontinuität steht nun das Volk Gottes, die Kirche, macht sich das zu eigen, was ihm von Gott selbst her zugesagt wird, und entdeckt in den biblischen Gestalten und Handlungsmodellen auch seine eigene Rolle in der Geschichte von Gott und Mensch. In seinem liturgietheologischen Ansatz spricht Angelus Häußling in diesem Zusammenhang von der „heilsgeschichtlichen Rollenidentifikation.“ 13 11 Augustinus, Sermo 85,1; zitiert in: Pastorale Einführung in das Messlektionar (fortan: PEML), Nr. 4, Anm. 10, zitiert nach: Dokumente zur Erneuerung der Liturgie, Bd. 2: Dokumente des Apostolischen Stuhls 4.12.1973-3.12.1983, übersetzt, bearbeitet und hg. von Martin K LÖCKENER - Heinrich R ENNINGS (†), Kevelaer - Fribourg 1997 (fortan: DEL 2), Dok. 244, Nr. 4055-4181, hier: 4060. Lateinischer Text: „os Christi, euangelium est. in caelo sedet: sed in terra loqui non cessat“ (Patrologia Latina 38, 520; hier zitiert nach: Corpus Augustinianum Gissense [CAG 2] [CD-ROM], hg. von Cornelius M AYER , Basel 2004). - Die „Pastorale Einführung in das Messlektionar liegt in lateinischer Fassung unter anderem vor in: Enchiridion documentorum instaurationis liturgicae, hg. von Reiner K ACZYNSKI . Bd. 2: 4.12.1973-4.12.1983, Rom 1988, Dok. 244, Nr. 4055-4181. Die deutsche Fassung findet sich in: Messlektionar für die Bistümer des deutschen Sprachgebietes. Authentische Ausgabe für den liturgischen Gebrauch, hg. im Auftrag der Deutschen und der Berliner Bischofskonferenz, der Österreichischen Bischofskonferenz, der Schweizer Bischofskonferenz sowie der Bischöfe von Luxemburg, Bozen-Brixen, Lüttich, Metz und Straßburg, Bd. 1: Die Sonntage und Festtage im Lesejahr A (Die Feier der heiligen Messe), Einsiedeln u.a. 1983, 11*-40*. Die vorgenannte Ausgabe in DEL 2, Dok. 244, Nr. 4055-4181, bietet ein ausführliches Literaturverzeichnis zum Dokument; Aktualisierungen der Literatur finden sich in: Dokumente zur Erneuerung der Liturgie, Bd. 3: Dokumente des Apostolischen Stuhls 4.12.1978-3.12.1993. Mit Supplementum zu Band 1 und 2, übersetzt, bearbeitet und hg. von Martin K LÖCKENER unter Mitarbeit von Guido M UFF , Kevelaer - Fribourg 2001 (fortan: DEL 3), S. 1100f. 12 So in der Messauslegung unter dem Titel: „Incipit expositio totius missae ex concordia scripturarum divinarum“, in: Pontificale Romano-Germanicum XCIV, 23 (Cyrille V OGEL - Reinhard E LZE , Le Pontifical romano-germanique du dixième siècle 1 [Studi e testi 226], Vatikanstadt 1963, 334f). Vgl. PEML 4, Anm. 10. 13 Zum theologischen Prinzip der „heilsgeschichtlichen Rollenidentifikation“ in der Liturgie vgl. Angelus A. H ÄUSSLING , Liturgie: Gedächtnis eines Vergangenen und doch Befreiung in der Gegenwart, in: DERS ., Christliche Identität aus der Liturgie. Theologische und historische Studien zum Gottesdienst der Kirche, hg. von Martin K LÖCKENER u.a. (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 79), Münster 1997, 2-10; DERS ., Die Übung der Tagzeiten in der Geschichte der Kirche, in: Tagzeitenliturgie in Geschichte und Gegenwart. Historische und theologische Studien, hg. von Martin K LÖCKENER (Li- <?page no="42"?> Martin Klöckener 28 In der Verkündigung der Heiligen Schrift als Wort Gottes, als Evangelium Jesu Christi geschieht keine neue Offenbarung, aber die Offenbarung Gottes ergeht je neu an die Menschen in ihrer Zeit, deutet ihr Leben unter dem Anruf Gottes und wird ihnen zur Norm der christlichen Existenz. Somit ist die liturgische Verkündigung der Heiligen Schrift auch in dieser Hinsicht ein theologisch hoch qualifizierter Akt. Der Art. 33 spricht schließlich von der Wirkung der Verkündigung. Der Zusammenhang von Liturgie und Glaube kommt dabei ins Spiel, einerseits der Glaube als Voraussetzung für die volle Teilnahme an der Liturgie, andererseits die Liturgie als Quelle des Glaubens, gerade durch die gottesdienstliche Verkündigung der Heiligen Schrift. Wenn von der „Erweckung des Herzens zu Gott hin“ gesprochen wird, die mit Hilfe der Liturgie, unter anderem durch die Verkündigung, geschieht, so geht es um die Ausrichtung des ganzen Lebens auf Gott hin; die Wirklichkeit Gottes unter den Menschen soll die gesamte menschliche Existenz durchdringen und im Leben des Einzelnen Raum greifen. Und wenn dann noch hinzugefügt wird, dass die Teilnehmer der Liturgie Gott „geistlichen Dienst leisten und seine Gnade reichlicher empfangen“, also in einen dialogischen Austausch mit Gott treten oder - besser - von ihm in diesen Dialog hineingenommen werden - denn Gott ist immer der Ersthandelnde -, so schließt der geistliche Dienst den Vorgang des Hörens des Wortes Gottes und die Antwort der Menschen darin ein, wird zum Moment des Empfangs der Gnade, also zur umfassenden Teilhabe am Mysterium Christi durch die Zuwendung von Gott her und die Rückwendung des Menschen auf Gott hin. So verstanden ist die Verkündigung der Heiligen Schrift in der Liturgie nicht nur Vorspiel oder Hinführung oder gar ein Nebenschauplatz zu den sakramentlichen Vollzügen, wie man es lange Zeit gesehen hat, 14 sondern das Hören des Wortes Gottes ist im vollen Sinn Gottesbegegnung, Christusbegegnung, ist heilstiftendes Eintreten in das Christus-Mysterium, das im Wort in der Mitte der Versammlung auf die Menschen zu tritt. Wir brauchen nicht im Detail auf die weiteren Artikel der Liturgiekonstitution einzugehen, die dieses Programm konkretisieren, etwa durch die Anweisung zur Neugestaltung und Ausweitung der Leseordnung, die Einführung der Predigt als liturgisches Element (beides Art. 35), die Unterstreichung der Zusammengehörigkeit von Wortgottesdienst und eucharistischem Teil der Messe, die mit einem Bild aus der Patristik als zwei Tische gelten, von denen den Gläubigen Christus im Wort und im Sakrament gereicht wird (vgl. Art. 48, 51 und 56), die Empfehlung eigener Wortgottesdienste (Art. 35,4), die Neuordnung der Schriftlesungen in der Tagzeitenliturgie (Art. 92) und bei turgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 100), Münster 2012, 52-68, hier: 61; DERS ., Die Bibel in der Liturgie der Tagzeiten, a.a.O., 91-110. 14 Vgl. noch den Untertitel des 1. Bandes des berühmten Messkommentars von Josef Andreas J UNGMANN , Missarum Sollemnia. Eine genetische Erklärung der römischen Messe, Wien 5 1962 (zuerst 1948), der lautet: „Messe im Wandel der Jahrhunderte, Messe und kirchliche Gemeinschaft, Vormesse“. <?page no="43"?> „Von größtem Gewicht für die Liturgiefeier ist die Heilige Schrift“ 29 anderen Feiern. Besonders das patristische Bild der Nahrung, die die Heilige Schrift für die Gläubigen bedeutet und die sie von den beiden Tischen empfangen, ist einprägsam. Mit solchen Aussagen war schon auf dem Konzil definitiv die nachtridentinische, oft in kontroverstheologische Argumentation und Profilierung verstrickte Bewertung des Wortes Gottes in der katholischen Kirche einschließlich der unzureichenden Verkündigung in der Liturgie vom Anspruch her überwunden. Die dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung „Dei Verbum“ bestätigt diese Sicht eindringlich, wenn es in Art. 21 heißt: „Die Kirche hat die Heiligen Schriften immer verehrt wie den Herrenleib selbst, weil sie, vor allem in der heiligen Liturgie, vom Tisch des Wortes Gottes wie des Leibes Christi ohne Unterlass das Brot des Lebens nimmt und den Gläubigen reicht. […] In den Heiligen Büchern kommt ja der Vater, der im Himmel ist, seinen Kindern in Liebe entgegen und nimmt mit ihnen das Gespräch auf. Und solche Gewalt und Kraft west im Worte Gottes, dass es für die Kirche Halt und Leben, für die Kinder der Kirche Glaubensstärke, Seelenspeise und reiner, unversieglicher Quell des geistlichen Lebens ist.“ Die Pastorale Einführung in das Messlektionar sollte später dazu ergänzen: „An beiden Tischen wird die Kirche geistlich genährt - an dem einen mehr, indem sie unterwiesen wird, an dem anderen vor allem, indem sie geheiligt wird. […] Hier wird die Heilsgeschichte in vernehmbaren Worten ausgerufen, dort wird dieselbe Heilsgeschichte unter den sakramentalen Zeichen der Liturgie vollzogen.“ 15 Auch aus dem Abstand von fünf Jahrzehnten muss man uneingeschränkt festhalten, dass das Zweite Vatikanische Konzil bezüglich des Verhältnisses von Bibel und Liturgie ein epochales Programm vorgegeben hat, epochal im Blick darauf, welchen Stellenwert die Verkündigung der Heiligen Schrift bis dahin in den liturgischen Büchern der römisch-katholischen Kirche hatte, epochal aber auch im Blick auf die Aufgabe, die der Kirche damit für die Zukunft gegeben wurde und die heute unverändert gilt: Schriftlesungen sind nicht einfach ein zu persolvierendes Rituselement, vielmehr muss die Verkündigung der Heiligen Schrift stets neu herausfordern, die Menschen wirklich ergreifen, ihre Teilnahme an der Liturgie, ihr Verständnis des Glaubens und ihre christliche Lebenshaltung und -praxis in einem prozessualen Geschehen vertiefen, fürwahr eine gewaltige Aufgabe. Das Zweite Vatikanische Konzil war nicht geschichtslos, sondern selbst in die Geschichte der Kirche, der Theologie und Liturgie eingebunden, Frucht zumeist langen und intensiven theologischen Denkens und kirchlicher Erfahrung. So soll im nächsten Abschnitt gefragt werden, welche Vorgeschichte die Sicht der Konzilsväter auf das Verhältnis von Bibel und Liturgie im 20. Jahrhundert hatte. 15 PEML 10 (DEL 2, 4066). <?page no="44"?> Martin Klöckener 30 2 Liturgisch-biblische Impulse seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts Zum 1. Oktober 1926 erschien im noch ziemlich frisch aufgebrochenen Geist der sogenannten „Liturgischen Bewegung“, die das Leben der Kirche und die theologische Arbeit nachdrücklich prägen und viele Entscheidungen des Zweiten Vatikanischen Konzils inspirieren sollte, im Chorherrenstift von Klosterneuburg in Österreich eine neue Zeitschrift mit dem Titel: „Bibel und Liturgie. Blätter für volksliturgisches Apostolat“. Als Herausgeber firmierte der Chorherr Pius Parsch. 16 Im deutschen Sprachgebiet begegnet damit, soweit bekannt, erstmals auf solch prägnante Weise das Begriffspaar und damit auch das theologische Programm „Bibel und Liturgie“. Pius Parsch schreibt diesbezüglich in seinem Geleitwort zum ersten Heft: „Was will sie [diese Zeitschrift] im besonderen? In ihrem Titel schon liegt ihr Programm: Bibel und Liturgie! Diese zwei lauteren Quellen christlicher Frömmigkeit waren bisher fast ganz verschüttet, sie sollen dem Volke wieder erschlossen werden. Das Buch der heiligen Schrift, vom Finger Gottes selbst geschrieben, wird wieder Erbauungs- und Betrachtungsbuch der Gläubigen werden; besonders das Jesusbild der Evangelien wird sich wieder tief in ihre Seele prägen. Und die Liturgie selbst - wir können sie kurz charakterisieren mit: leben und feiern, beten und opfern mit der Kirche und mit Christus; ja, das soll wieder unser gläubiges Volk lernen. […] Eine reiche, zum Teil ganz neue Welt wird sich da dem Laien erschließen.“ 17 Selbst wenn man heute einige Akzente anders setzen würde, bleibt das Grundanliegen des Programms, das Parsch hier skizziert, gültig. Bibel und Liturgie, die beiden wichtigsten Quellen christlichen Lebens, werden von ihm 16 Vgl. Norbert H ÖSLINGER , Ein Fünf-Dezennien-Spiegel. Ein Blick in die Vergangenheit von „Bibel und Liturgie“, in: 50 Jahre Bibel und Liturgie 1926-1976. Festnummer, Klosterneuburg 1976, 169-175. Zu Pius Parsch vgl. den Gedenkband: Norbert H ÖSLINGER - Theodor M AAS -E WERD (Hgg.), Mit sanfter Zähigkeit. Pius Parsch und die biblisch-liturgische Erneuerung (Schriften des Pius-Parsch-Instituts Klosterneuburg 4), Klosterneuburg 1979. - Knapp zur Liturgischen Bewegung allgemein vgl. Martin K LÖCKENER , Die katholische Liturgische Bewegung in Europa. 10 Thesen und Auswahlbibliographie, in: Bruno B ÜRKI - Martin K LÖCKENER (Hgg.), Liturgie in Bewegung - Liturgie en mouvement. Beiträge zum Kolloquium „Gottesdienstliche Erneuerung in den Schweizer Kirchen im 20. Jahrhundert“, 1.-3. März 1999 an der Universität Freiburg/ Schweiz - Actes du Colloque „Renouveau liturgique des Églises en Suisse au XX e siècle“, 1-3 mars 1999, Université de Fribourg/ Suisse, Freiburg/ Schweiz - Genève 2000, 25-32; siehe auch zahlreiche Beiträge in dem Sammelwerk: Martin K LÖCKENER - Benedikt K RANEMANN (Hgg.), Liturgiereformen. Historische Studien zu einem bleibenden Grundzug des christlichen Gottesdienstes (FS Angelus A. Häußling), Bd. 2: Liturgiereformen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 88/ II), Münster 2002. - Die Zeitschrift „Bibel und Liturgie“ besteht bis heute in Verantwortung des „Österreichischen Katholischen Bibelwerks“ fort; sie hat wohl den Untertitel und damit auch ihre Ausrichtung mehrmals gewechselt; derzeit lautet er: „… in kulturellen Räumen“. Vgl. dazu auch den Beitrag von Birgit Jeggle-Merz im vorliegenden Band. 17 Pius P ARSCH , Zum Geleit, in: Bibel und Liturgie 1 (1926/ 27), 1f. <?page no="45"?> „Von größtem Gewicht für die Liturgiefeier ist die Heilige Schrift“ 31 programmatisch zusammengeführt. Die anfangs noch unstrukturierten Bemühungen um eine Erneuerung des christlichen Lebens aus den Quellen des Glaubens, die allmählich unter den Begriffen „Liturgische Bewegung“ und „Biblische Bewegung“ 18 ein klareres Profil bekamen, verbunden mit der Jugendbewegung des frühen 20. Jahrhunderts und manchen ökumenischen Initiativen, gehen mit der Zeitschrift eine zukunftsweisende Liaison ein, die sich zu einer bedeutenden Herausforderung von Kirche und Theologie entwickeln sollte. Auch anderswo wurden die Impulse der Liturgischen Bewegung und der Biblischen Bewegung miteinander verbunden und intensiv gepflegt, so dass „Liturgie und Bibel“ fortan eine lebendige Thematik mit unterschiedlichsten Ausprägungen blieb. 19 Einige wenige Beispiele sollen dies verdeutlichen. Unter den Publikationen wurde ein Werk von Jean Daniélou, dem späteren Kardinal, zu einem Klassiker der Theologie: „Bible et liturgie. La théologie biblique des sacrements et des fêtes d’après les Pères de l’Église“, zuerst 1951 in der Reihe „Lex orandi“ erschienen. 20 Kurz nach der Erstausgabe kam eine englische Übersetzung heraus, 21 eine deutsche Fassung 1963. Diese führt - bemerkenswerterweise - die Titelworte in umgekehrter Reihenfolge an: „Liturgie und Bibel. Die Symbolik der Sakramente bei den Kirchenvätern“. 22 Zwei Jahre nach Daniélou, 1953, publizierte der Italiener Divo Barsotti seine Monographie „Il mistero cristiano e la parola di Dio“, 23 die ebenfalls rasch eine französische und deutsche Übersetzung erfuhr. 24 Die Arbeiten von Daniélou, Barsotti und anderer haben dazu beigetragen, dass das ohnehin 18 Vgl. Peter S CHEUCHENPFLUG , Art. Bibelbewegung, in: Lexikon für Theologie und Kirche 3 2 (1994), 402f (Lit.). Vgl. auch Martin K LÖCKENER , Die Dynamik von Liturgischer Bewegung und Liturgiereform. Theologisch-spirituelle Gemeinsamkeiten und Differenzen, in: DERS . - Benedikt K RANEMANN (Hgg.), Gottesdienst in Zeitgenossenschaft. Positionsbestimmungen 40 Jahre nach der Liturgiekonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils, Freiburg/ Schweiz 2006, 21-48, hier: 28f. 19 Auch in der deutschsprachigen Schweiz entstand eine liturgische Zeitschrift, die nach mehreren Wechseln ihres Titels von 1938 bis zu ihrer Einstellung 1949 den Namen trug: „Liturgisch-biblische Monatsschrift der Schweiz“. Sie gelangte jedoch nie zu echter Blüte und war nicht von nachhaltigem Einfluss. Vgl. Lukas S CHENKER , Die „liturgische Zeitschrift der Schweiz“ und die Benediktiner von Mariastein-Bregenz, in: Die Glocken von Mariastein 1983, H. 3, 68-75; Guido M UFF , Die Liturgische Zeitschrift der Schweiz, in: Martin K LÖCKENER - Arnaud J OIN -L AMBERT (Hgg.), Liturgia et Unitas. Liturgiewissenschaftliche und ökumenische Studien zur Eucharistie und zum gottesdienstlichen Leben in der Schweiz. Études liturgiques et œcuméniques sur l’Eucharistie et la vie liturgique en Suisse (FS Bruno Bürki), Fribourg - Genève 2001, 267-277. 20 Das Werk erschien als Band 11 von „Lex orandi“ und wurde in einer 2., durchgesehenen Auflage 1958 abermals herausgebracht (477 S.). 21 Vgl. The Bible and the Liturgy (Liturgical Studies 3), Notre Dame, Ind. 1956. 22 Erschienen: München 1963. 23 Firenze 1953. 24 Die französische Übersetzung hat gegenüber der italienischen Ausgabe verschiedene Ergänzungen: La parole de Dieu dans le mystère chrétien (Lex orandi 17), Paris 1954. Die deutsche Fassung trägt den Titel: Christliches Mysterium und Wort Gottes, Einsiedeln u.a. 1957. <?page no="46"?> Martin Klöckener 32 schon aufgeworfene Thema „Bibel und Liturgie“ breit und nachhaltig in der Theologie präsent geworden ist. Wiederum in Frankreich befasste sich der „Dritte nationale liturgische Kongress in Straßburg 1958“, veranstaltet vom Pariser Centre de Pastorale Liturgique, mit der Thematik „Bible et liturgie“. Ein Sammelband mit den Vorträgen wurde noch im selben Jahr, abermals in der Reihe „Lex orandi“, publiziert, dazu in deutscher Übersetzung. 25 Der bedeutende französische Liturgiewissenschaftler Aimé-Georges Martimort, damals Direktor des Pariser pastoralliturgischen Zentrums, bestimmt in seiner Einführung in den Kongress unter anderem das Verhältnis von Bibel und Liturgie, und fast gewinnt man den Eindruck, dass seine Worte bei der Ausarbeitung der Liturgiekonstitution als Quelle gedient haben könnten. „In der Liturgie spricht Gott durch die Bibel. Dort, wo wir uns jetzt befinden, ist kein liturgischer Fortschritt möglich ohne eine biblische Erziehung der Christen, denn es gibt keine Liturgie ohne die Bibel. Es ist ein Zeichen der Vorsehung, dass die Liturgische Bewegung von der biblischen Arbeit profitieren kann, die gleichzeitig geleistet worden ist. Um ehrlich zu sein, schien es zunächst, dass Bibliker und Liturgiker parallele Wege beschritten, die sich niemals treffen würden.“ 26 Aber glücklicherweise, so führt Martimort weiter aus, habe nach dem Zweiten Weltkrieg eine theologische Neubesinnung, nicht zuletzt auf Seiten des Lehramtes, stattgefunden, die Bibel und Liturgie von neuem zusammengeführt habe. 27 Diese Beispiele ließen sich beim Blick in die theologische und geistliche Literatur der damaligen Zeit um viele weitere vermehren; mit ihrer Hilfe wuchs auf breiter Basis, auch bei den Bischöfen und Konzilstheologen, ein neues Bewusstsein heran, worin die eigentlichen Quellen christlicher Existenz und allen theologischen Arbeitens bestehen. Solchermaßen vorbereitet konnten Bibel und Liturgie, je für sich, aber auch in ihrer gegenseitigen Bezogenheit aufeinander, zu zentralen Themen des Zweiten Vatikanischen Konzils wer- 25 Vgl. Pierre J OUNEL (Hg.), Parole de Dieu et liturgie. 3 e Congrès National du C.P.L. Le Congrès de Strasbourg (Lex orandi 25), Paris 1958. - Deutsche Ausgabe: Das Wort Gottes und die Liturgie. Aus dem Französischen übersetzt von Hilde H ERRMANN , Mainz 1960. 26 Übersetzung M.K. Das Originalzitat findet sich in: Aimé-Georges M ARTIMORT , Introduction au Congrès, in: Parole de Dieu et liturgie (wie Anm. 25), 11-15, hier: 13: „Dans la liturgie, Dieu parle par la Bible. Au point où nous en sommes, il n’y a pas de progrès liturgique possible sans une éducation biblique du chrétien, parce qu’il n’y a pas de liturgie sans la Bible. Or, providentiellement, le mouvement liturgique peut bénéficier du travail biblique accompli durant le même temps. A vrai dire, il a semblé d’abord que biblistes et liturgistes suivaient des voies parallèles destinées à ne se rencontrer jamais“. 27 Stärker auf das geistliche Leben der Christen aus den Quellen von Bibel und Liturgie ausgerichtet ist das Buch von Charles B URGARD , La bible dans la liturgie (Bible et vie chrétienne), Tournai u.a. 1958, dessen deutsche Ausgabe Die Bibel in der Liturgie 1963, also schon zu Konzilszeiten, vom Klosterneuburger Bibelapostolat herausgegeben wird. <?page no="47"?> „Von größtem Gewicht für die Liturgiefeier ist die Heilige Schrift“ 33 den, wie es zuerst die Liturgiekonstitution in ihrem Art. 24 und anderen Aussagen nachhaltig durchgeführt hat. 3 Die Bedeutung der Heiligen Schrift für die Liturgie in nachkonziliaren Dokumenten Die Konzilsaussagen sind die eine Seite; was daraus in der Folge wurde, ist die andere Seite der Fragestellung. Wie wurde der Satz „Von größtem Gewicht für die Liturgiefeier ist die Heilige Schrift“ in den weiteren Entscheidungen, zunächst der kirchenamtlichen Autoritäten, umgesetzt? Was wurde getan, damit das „innige und lebendige Ergriffensein von der Heiligen Schrift“ in größerem Maße als zuvor Wirklichkeit werden konnte? Aus den zahlreichen Dokumenten der nachkonziliaren Zeit wird hier eine Auswahl geboten. In mehreren Schritten gestattete der Apostolische Stuhl bereits ab 1964 Maßnahmen, durch die der Verkündigung des Wortes Gottes in der Liturgie mehr Gewicht zukam; teilweise wurde, auch im deutschen Sprachgebiet, schon eine reichere Perikopenauswahl eingeführt, und zwar sowohl in der Messe als auch bei bestimmten Sakramentenfeiern sowie im Stundengebet mit Beteiligung der Gemeinde. 28 Umfassend kamen die Visionen des Konzils bei der Reform des Messbuchs zum Tragen. In seiner Apostolischen Konstitution „Missale Romanum“ vom 3. April 1969 geht Papst Paul VI. ausführlich auf die Konzilsaussage zur Heiligen Schrift in der Liturgie ein und begründet die durchgeführten Reformen. Es lohnt sich, seine Worte von neuem zu lesen. Zunächst charakterisiert Paul VI. konkrete Schritte der Perikopenreform dahingehend, dass „auf diese Weise […] die Dynamik der Heilsgeschichte durch Gottes Offenbarungswort klarer ins Licht gerückt“ 29 wird. Diese liturgietheologische Sicht steht in Einklang mit den grundlegenden Artikeln der Liturgiekonstitution; in Übereinstimmung mit der Tradition der Kirche, besonders der Alten Kirche, engagiert sich Paul VI. für eine biblisch fundierte, heilsgeschichtlich orientierte Theologie der Liturgie. Anschließend spricht er von den Zielen der Neuordnung der biblischen Verkündigung in der Liturgie; auch dabei liegt er ganz auf der Linie des Konzils, äußert sich aber noch dezidierter: 28 Vgl. Hans Bernhard M EYER - Josef S CHERMANN , Der Gottesdienst im deutschen Sprachgebiet. Liturgische Dokumente, Bücher und Behelfe (Studien zur Pastoralliturgie 5), Regensburg 1982, hier: Nr. II 147-155, S. 273-277. Speziell betreffs des deutschen Sprachgebiets sei erwähnt, dass für eine erste reichere Leseordnung auf einer bestehenden Grundlage bereits Ende 1964 eine Genehmigung vom Apostolischen Stuhl erbeten wurde. 29 Hier zitiert nach: Dokumente zur Erneuerung der Liturgie, Bd. 1: Dokumente des Apostolischen Stuhls 1963-1973 und des Zweiten Vatikanischen Konzils, hg. von Heinrich R ENNINGS unter Mitarbeit von Martin K LÖCKENER , 2., erg. Aufl., Kevelaer - Fribourg 2002 (fortan: DEL 1), Nr. 1368. <?page no="48"?> Martin Klöckener 34 „Diese Neuordnungen zielen darauf hin, bei den Gläubigen jenes Verlangen nach dem Wort Gottes zu steigern, wodurch das Volk des Neuen Bundes unter Leitung des Heiligen Geistes zur vollkommenen Einheit der Kirche hingeführt wird. Wir hegen die feste Zuversicht, dass Priester und Gläubige sich aufgrund dieser Erneuerung besser für das Herrenmahl bereiten und durch größere Vertrautheit mit der Heiligen Schrift tiefer in das Verständnis des Gotteswortes eindringen. Die Heiligen Schriften sollen so - entsprechend den Mahnungen des Zweiten Vatikanischen Konzils - für alle zum gleichsam nie versiegenden Quell geistlichen Lebens, zur Grundlage der Glaubensunterweisung und zum Herzstück aller theologischer Lehre werden.“ 30 Durch die reichere und besser geordnete Schriftlesung soll also im ganzen Volk Gottes das Verlangen nach dem Wort Gottes wachsen und zur vollkommenen Einheit der Kirche beitragen; auch hier werden der Fortschritt der einzelnen Gläubigen bei der Vertrautheit mit der Heiligen Schrift und die Auswirkungen auf das kirchliche Leben insgesamt komplementär gesehen. Es geht nicht um ein Entweder - Oder, sondern um die individuelle Vertiefung des Glaubens aller Getauften und zugleich um die ekklesiale Relevanz. Die umfassendere und vertiefte Begegnung mit dem Gotteswort in der Liturgie darf auch nicht auf den Bereich der Liturgie beschränkt bleiben; sie soll das ganze geistliche Leben der Gläubigen prägen und darüber hinaus Katechese und Theologie bestimmen. Von der Liturgie ausgehend denkt Paul VI. damit gleichzeitig weit über die Liturgie hinaus. Mit dem „Ordo Lectionum Missae“ wurde 1969 die Neuordnung der Perikopen für die Messe durchgeführt, ein immenses Projekt, dessen Ergebnis man kaum hoch genug einschätzen kann, selbst wenn die Fachdiskussion inzwischen einzelne Probleme und Mängel zutage gefördert hat. 31 Die zweite Auflage des „Ordo Lectionum Missae“ von 1981 zeichnet sich, neben geringfügigen Änderungen bei den Perikopen, durch eine weithin neugefasste „Pastorale Einführung zum Messlektionar“ aus, die eine echte Theologie des Wortes Gottes und seiner liturgischen Verkündigung entwirft und sie geistlich erschließt. Dieses Dokument zählt zu den wirklich wichtigen nachkonziliaren Verlautbarungen; es akzentuiert stark die schon in den Konzilstexten, aber auch bei Papst Paul VI. ausgesprochene heilsgeschichtliche Linie der liturgischen Verkündigung; die Aktualisierung des Wortes Gottes in der Liturgie 30 DEL 1, 1368. 31 Vgl. unter den zahlreichen Untersuchungen besonders Elmar N ÜBOLD , Entstehung und Bewertung der neuen Perikopenordnung des Römischen Ritus für die Meßfeier an Sonn- und Festtagen, Paderborn 1986; Ansgar F RANZ (Hg.), Streit am Tisch des Wortes? Zur Deutung und Bedeutung des Alten Testaments und seiner Verwendung in der Liturgie (Pietas Liturgica 8), St. Ottilien 1997; Ansgar F RANZ , Wortgottesdienst der Messe und Altes Testament. Katholische und ökumenische Lektionarreform nach dem II. Vatikanum im Spiegel von Ordo Lectionum Missae, Revised Common Lectionary und Four Year Lectionary. Positionen, Probleme, Perspektiven (Pietas Liturgica. Studia 14), Tübingen u.a. 2002; K LÖCKENER u.a. (Hgg.), Présence et rôle de la Bible dans la liturgie (wie Anm. 10). <?page no="49"?> „Von größtem Gewicht für die Liturgiefeier ist die Heilige Schrift“ 35 kraft des Wirkens des Heiligen Geistes gibt der Kirche und der konkreten liturgischen Versammlung Anteil am verkündeten Heilswirken Gottes: „Der Gottesdienst, der ganz aus dem Wort Gottes lebt, [wird] selbst zu einem neuen Heilsereignis“, heißt es beispielsweise in Nr. 3. 32 Lebendige, wirksame Gegenwart Christi ereignet sich in der Verkündigung; das eine und selbe Mysterium Christi wird in den Schriften des Alten und Neuen Testaments proklamiert (Nr. 5). Die Hörer des Wortes werden selbst zu seinen Boten, indem sie auf die ihnen mögliche Weise an der Verkündigung teilhaben und durch das Zeugnis ihres Lebens dafür einstehen (vgl. Nr. 6 und 7). Ohne das vielfältige Wirken des Geistes im Vorgang der Verkündigung, beim Hören auf das Wort, bei dessen Umsetzung im Leben der einzelnen Christen wie der Kirche insgesamt kann das Wort nicht fruchtbar werden; durch den Beistand und die Eingebung des Geistes „wird das Wort Gottes zum Fundament des Gottesdienstes, zur Wegweisung und Quelle der Kraft für das ganze Leben“, so die „Pastorale Einführung ins Messlektionar“ (Nr. 9). Wenn das Konzil sagte, dass die Heilige Schrift „von größtem Gewicht für die Liturgiefeier“ ist, so wird hier das theologische Konzept entscheidend vorangebracht. 33 Nicht übergangen sei, dass die Schriftlesungen genauso wie die übrigen Lesungen in der Tagzeitenliturgie im selben Geist völlig neu geordnet wurden und eine reichere und passender ausgewählte Schriftlesung zum Tragen kam. Genauso ist für alle Sakramentenfeiern, Segnungen und andere Gottesdienste die Verkündigung der Heiligen Schrift zu einem unverzichtbaren Element geworden. Als Ergänzung zum achtbändigen Lektionar und Evangeliar stellt das zweibändige „Lektionar für Gottesdienste mit Kindern“ eine Besonderheit des deutschen Sprachgebiets dar; es wurde auf Grundlage des Kindermessdirektoriums (Nr. 43) 34 in den Jahren 1981 und 1985 herausgebracht und bietet eine Auswahl von besonders kindgerechten Perikopen für verschiedene Gottesdienstformen. 35 Damit soll den Kindern der Zugang zur Heiligen Schrift in der Liturgie erleichtert werden. 32 DEL 2, 4059. 33 Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass für das deutsche Sprachgebiet das Mess- Lektionar in einer ersten achtbändigen Ausgabe von 1969-1974 erschien, in einer Neuausgabe ebenfalls in acht Bänden von 1982-1986. Dazu kam 1985 ein Evangeliar, wie es in der Liturgiegeschichte der westlichen und östlichen Riten vielfach bezeugt ist und womit man die besondere Stellung, die dem Evangelium in der liturgischen Tradition immer zugekommen ist, herausheben möchte. 34 Das Direktorium empfahl: „Den Bischofskonferenzen wird nahegelegt, ein eigenes Lektionar für Kindermessen aufzustellen“ (DEL 1, 3157). 35 Vgl. Lektionar für Gottesdienste mit Kindern. Studienausgabe für die katholischen Bistümer des deutschen Sprachgebietes, im Auftrag der Internationalen Arbeitsgemeinschaft der Liturgischen Kommissionen im deutschen Sprachgebiet hg. von den Liturgischen Instituten Salzburg, Trier, Zürich (Pastoralliturgische Reihe in Verbindung mit der Zeitschrift „Gottesdienst“). Bd. 1: Kirchenjahr und Kirche, Einsiedeln u.a. 1981; Bd. 2: Lebenswelt des Kindes, Lebensordnung des Christen, biblische Gestalten als Zeugen des Glaubens, Einsiedeln u.a. 1985. Der Bibeltext ist weithin der von der Deutschen Bischofs- <?page no="50"?> Martin Klöckener 36 4 Ein neuer Impuls: Das nachsynodale Apostolische Schreiben „Verbum Domini“ Papst Benedikts XVI. Unter dem Datum vom 30. September 2010 hat Papst Benedikt XVI. das nachsynodale Apostolische Schreiben „Verbum Domini“ „über das Wort Gottes im Leben und in der Sendung der Kirche“ veröffentlicht, 36 das Frucht der Bischofssynode vom Jahre 2008 ist. 37 Es umfasst drei große Teile, von denen der zweite Teil, überschrieben mit „Verbum in Ecclesia“, das Wort Gottes im Leben der Kirche behandelt und dabei ausführlich die Liturgie mit einbezieht; ja, die Liturgie steht dort markant an erster Stelle und wird als „der bevorzugte Ort des Wortes Gottes“ bezeichnet. 38 Im Folgenden seien einige Gedanken herausgegriffen, die die Bedeutung des Wortes Gottes für die Liturgie der Kirche unterstreichen. Die Liturgie ist den Worten des Papstes zufolge „das bevorzugte Umfeld, in dem Gott in der Gegenwart unseres Lebens zu uns spricht - heute zu seinem Volk spricht, das zuhört und antwortet“ (VD 52). Das Wort Gottes entfaltet besonders in der Liturgie seine Kraft, weil es dort in der Gemeinschaft der Kirche nicht mehr nur als in der Bibel aufgeschriebener Buchstabe verbleibt, sondern im Vorgang der Verkündigung an die Öffentlichkeit tritt und zum wirkmächtigen, performativen Wort wird (vgl. VD 53). Noch weiter geht der Papst, wenn er in VD 52 zum rechten Verständnis der Heiligen Schrift im Leben der Kirche sagt: „Die Hermeneutik des Glaubens im Hinblick auf die Heilige Schrift [muss] ihren Bezugspunkt stets in der Liturgie haben.“ Hatte schon die Bischofssynode sich in ihren Propositiones auf die Konzilsaussagen zum Wort Gottes in der Liturgie bezogen, so baut hier auch Papst Benedikt auf der theologischen Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils auf, berückkonferenz 1979 herausgegebenen „Bibel für die Grundschule“ entnommen. - Die umfangreiche liturgisch-katechetische Hilfe zu diesen Lektionarsbänden trägt den Titel: Handbuch zum Lektionar für Gottesdienste mit Kindern, im Auftrag des Deutschen Katecheten-Vereins hg. von Ralph S AUER in Zusammenarbeit mit Valentin H ERTLE , München u.a. 1981/ 1985. 36 Vgl. Nachsynodales Apostolisches Schreiben Verbum Domini Seiner Heiligkeit Papst Benedikt XVI. an die Bischöfe, den Klerus, die Personen gottgeweihten Lebens und an die christgläubigen Laien über das Wort Gottes im Leben und in der Sendung der Kirche (30.9.2010), Vatikanstadt 2010; auch veröffentlicht in der Reihe Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls (fortan: VApS) 187. Das Schreiben wird im Folgenden mit „VD“ abgekürzt. 37 Vgl. dazu unseren Kommentar, auf den wir hier teilweise zurückgreifen: Martin K LÖ- CKENER , Bibel und Liturgie. Anmerkungen zu ihrer inneren Beziehung nach dem postsynodalen Schreiben „Verbum Domini“, in: Liturgisches Jahrbuch 62 (2012), 157-180; zuerst auf Italienisch erschienen unter dem Titel: „Bibbia e Liturgia” in den Kongressakten: Ascoltare, Rispondere, Vivere. Atti del Congresso Internazionale „La Sacra Scrittura nella vita e nella missione della Chiesa“ (Roma, 1-4 dicembre 2010), hg. von Federazione Biblica Cattolica durch Ernesto B ORGHI , Mailand 2011, 105-126. Eine vom Verfasser nicht autorisierte kürzere Fassung erschien zudem in: Rivista liturgica 99 (2012), 260-277. Französische Übersetzung der Originalfassung in: La Maison-Dieu 274 (2013), 17-51. 38 So der Titel des Abschnitts, der Nr. 52-71 umfasst (VApS 187, 87). <?page no="51"?> „Von größtem Gewicht für die Liturgiefeier ist die Heilige Schrift“ 37 sichtigt in großem Umfang die „Pastorale Einführung in das Messlektionar“ und führt einzelne Aspekte des Konzils und anderer lehramtlicher Verlautbarungen weiter. Er konkretisiert die Aussage unseres Art. 24 der Liturgiekonstitution, dass der Verkündigung der Heiligen Schrift in der Liturgie höchste Bedeutung zukommt, anhand ausgewählter Gottesdienstformen und bestimmter liturgischer Elemente. Ein wichtiger Gedanke ist dem Papst die Einheit von „Ritus und Wort“ (SC 35), von Wort Gottes und Sakrament, speziell in der Eucharistiefeier (vgl. VD 54), was, wie wir schon sahen, bei der Liturgiereform dazu geführt hat, dass es im Prinzip keine liturgische Feier der Kirche mehr gibt, in der nicht eine wenigstens kurze Lesung aus der Heiligen Schrift, gegebenenfalls ergänzt um eine Auslegung, ihren Platz hat. Papst Benedikt sagt diesbezüglich: „Der Wortgottesdienst ist ein entscheidendes Element bei der Feier eines jeglichen Sakramentes der Kirche“, denn „in der Beziehung zwischen Wort und sakramentalem Handeln zeigt sich in liturgischer Form das Gott eigene Wirken in der Geschichte durch den performativen Charakter des Wortes selbst.“ (VD 53) Das verkündete Wort ist also wirksames Wort, verkündet das Handeln Gottes in der Heilsgeschichte, lässt diese zugleich von neuem gegenwärtig werden und nimmt die feiernde Kirche und Gemeinde mit hinein. Es ist derselbe Christus, der zum einen zu seinem Volk spricht und damit kraft des Geistes wirkend gegenwärtig ist und der zum anderen als erster Liturge in den sakramentlichen Vollzügen handelt, sei es in der Taufe, sei es in der Eucharistie oder in anderen Feierformen. Die Einheit von Wort und Sakrament gehört für Papst Benedikt, auch hier die Lehre des Konzils und der nachfolgenden Reform bestätigend, in allen sakramentlichen Feiern der Kirche zu den Grundgegebenheiten; Wort und sakramentlicher Vollzug erhellen sich gegenseitig (vgl. VD 55) und vergegenwärtigen je auf ihre Weise das Pascha-Mysterium (vgl. VD 52, 55 und öfter). Das verkündete Wort Gottes verhilft dazu, das Leben, auch mit seinen Krisen, unter dem Anspruch des Wortes Gottes zu deuten und ihm Sinn zu geben, was der Papst anhand des Bußsakramentes und der Krankensalbung aufzeigt (VD 61). Die dort dargestellten theologischen Aussagen zum Zusammenhang von Wort und Sakrament können genauso auf andere gottesdienstliche Feiern übertragen werden. Für die Segnungen thematisiert der Papst es eigens, wenn er schreibt: „Die Segnung [erhält] als wirkliches heiliges Zeichen ihren Sinn und ihre Wirksamkeit aus der Verkündigung des Wortes Gottes“ (VD 63). 39 Allgemein kann, nicht zuletzt von den Sakramenten 39 Der Papst greift hier unter anderem auf die Praenotanda des Segensbuchs der katholischen Kirche De benedictionibus. Editio typica, Vatikanstadt 1984, Nr. 20-21 zurück, wo die Bedeutung der Verkündigung des Wortes Gottes nachdrücklich hervorgehoben wird. Es heißt dort: „20. Die Grundform einer Segnung besteht aus zwei Hauptteilen. Der erste ist die Verkündigung des Wortes Gottes, der zweite der Lobpreis der Güte Gottes und die Bitte um seine Hilfe […]. / 21. Der erste Teil hat den Zweck, die Segnung <?page no="52"?> Martin Klöckener 38 als Knotenpunkten der menschlichen Existenz ausgehend, so die Vertrautheit der Gläubigen mit dem Wort Gottes gefördert werden (vgl. VD 64). Andere wichtige Themen des Papstschreibens sind die Sakramentalität des Wortes Gottes, die erstmals in der Neufassung der „Pastoralen Einführung in das Messlektionar“ von 1981 zur Sprache kommt. Diese nennt als eine der Aufgaben des Vorstehers der Eucharistiefeier gegenüber den Gläubigen: „Er stärkt ihren Glauben an das Wort, das in der Eucharistiefeier durch das Wirken des Heiligen Geistes zum Sakrament wird.“ 40 Papst Benedikt stellt die Rede von der Sakramentalität des Wortes Gottes in „den sakramentalen Horizont der Offenbarung“ (VD 56) insgesamt und der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus. Das Kommen Jesu in diese Welt eröffnet dazu den Zugang; die Gegenwart Christi in der liturgischen Verkündigung und die daraus folgende verwandelnde Kraft, die dem Wort Gottes eignet, machen die Sakramentalität des Wortes Gottes aus. Denn, wie schon die „Pastorale Einführung in das Messlektionar“ sagt, ist diese Gegenwart nicht einfach passiv; als Gegenwärtiger will Christus selbst im Wort von den Gläubigen empfangen, aufgenommen werden und dadurch deren Leben verwandeln. Die Bedeutung des Wortes Gottes in der Verkündigung den Jahreszyklus hindurch wird auf Grundlage der bestehenden Leseordnung vom Papst ausführlicher dargelegt (vgl. VD 52). Das liturgische Jahr ist die Feier des Heils im Rhythmus der Zeit 41 mit dem Pascha-Mysterium Jesu Christi im Zentrum; dadurch, dass es im Laufe des Jahres in seinen verschiedenen Momenten und doch immer ganz begangen wird, erhalten die Gläubigen Anteil daran. Der Sonntag im Wochenzyklus und die Osterfeier im Jahreszyklus sind dabei zentral; aber auch die übrigen Tage, Zeiten und Gedächtnisfeiern des Christus-Mysteriums, der Märtyrer und Heiligen bekommen durch das jeweils verkündete Wort Gottes ihre eigene Prägung und verdeutlichen die Teilhabe am Pascha-Mysterium (vgl. VD 52; SC 102). 42 Ohne das Wort Gottes würde wirklich zu einem heiligen Zeichen zu machen, das seinen Sinn und seine Wirksamkeit aus der Verkündigung des Gotteswortes gewinnt. Die Mitte dieses ersten Teiles ist somit die Verkündigung des Wortes Gottes, auf die eine Einführung oder eine kurze Erklärung, eine Ansprache oder eine Homilie […] Bezug nehmen“. In Nr. 23 setzen die Praenotanda fort: „In den vorliegenden Feiern, auch in deren Kurzformen, dürfen die wichtigsten Teile, nämlich die Verkündigung des Wortes Gottes und das Gebet der Kirche, niemals fehlen“ (DEL 3, 4826-4827.4829). 40 PEML 41 (DEL 2, 4097). 41 Vgl. die den zeitlichen Rhythmen der Liturgie gewidmeten Bände des Handbuchs der Liturgiewissenschaft „Gottesdienst der Kirche“, die den gemeinsamen Obertitel tragen: „Feiern des Heils im Rhythmus der Zeit“, hier die Bände 5: Hansjörg A UF DER M AUR , Herrenfeste in Woche und Jahr, Regensburg 1983, und 6,1: Philipp H ARNONCOURT - Hansjörg A UF DER M AUR , Der Kalender. Feste und Gedenktage der Heiligen, Regensburg 1994. 42 Dies kommt auch anderwärts in PEML zum Ausdruck, besonders in Nr. 64-65 (DEL 2, 4120-4121) sowie im weiteren Aufbau dieses Dokuments. Vgl. auch, bezogen auf die Tagzeitenliturgie der Kirche, die entsprechenden Passagen in der Allgemeinen Einführung in das Stundengebet, Nr. 140-158 (DEL 1, 2393-2411). <?page no="53"?> „Von größtem Gewicht für die Liturgiefeier ist die Heilige Schrift“ 39 die zeitliche Struktur des liturgischen Jahres ihrer Grundlage beraubt. So prägt die Heilige Schrift in ihrer liturgischen Einbindung die Zeit der Menschen und der Kirche und trägt dazu bei, dass aus der neutralen Zeit für die Gläubigen eine „Christus-Zeit“ wird. Ausführlich behandelt der Papst, wiederum in Übereinstimmung mit Art. 24 der Liturgiekonstitution, die biblische Prägung der Liturgie insgesamt. Die Hermeneutik der Heiligen Schrift in der Liturgie wird thematisiert, bestimmte Fragen, die sich hinsichtlich des Schriftverständnisses stellen, angeschnitten, ohne sie alle in extenso behandeln zu können. Schließlich geht der Papst auf eher praktische Aspekte des adäquaten Umgangs mit der Heiligen Schrift in der Liturgie ein, die aber immer in ihrem theologischen Zusammenhang zu sehen sind. Unter den neueren Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls zum Verhältnis von Wort Gottes und Liturgie hat das nachsynodale Apostolische Schreiben „Verbum Domini“ einen besonderen Platz inne und verdient das weitere Studium. 5 Die Bedeutung der Heiligen Schrift im Gottesdienst heute: Exemplarische Konkretionen Nun erhebt sich aber doch die Frage: Was haben die Weisungen des Konzils und die darauf aufbauenden Reformen für unser Thema gebracht? Ist die hohe Bedeutung der Heiligen Schrift für die Liturgie richtig erfasst worden und wird sie adäquat umgesetzt? Ist es zum Ergriffensein der ganzen Kirche und der einzelnen Gläubigen durch die Heilige Schrift gekommen und kommt es je neu dazu, wenn die Heilige Schrift in der Liturgie verkündet wird? Im Folgenden möchte ich ausgewählte gottesdienstliche Handlungen skizzieren, um exemplarisch den Gewinn im Umgang mit der Heiligen Schrift in den aktuellen liturgischen Ordnungen zu verdeutlichen. Bewusst werden zunächst die positiven Aspekte thematisiert, ehe im nächsten Abschnitt kritische Anfragen formuliert werden. 5.1 Beispiel „Katechumenat“ Wenn jährlich in der Osternacht in vielen Diözesen und Pfarreien Erwachsene feierlich in die Kirche eingegliedert werden, geht dem ein in der Regel längerer, möglicherweise mehrjähriger Weg der Vorbereitung voraus. Dieser Katechumenat, 1972 gemäß Konzilsbeschluss unter Rückgriff auf altkirchliche Vorbilder wiederhergestellt, 43 sieht in einem stufenweisen Prozess ein lang- 43 Vgl. SC 64, dazu das liturgische Buch: Ordo initiationis christianae adultorum. Editio typica (Rituale Romanum), Vatikanstadt 1972; deutsche Ausgabe zuerst: Die Feier der Eingliederung Erwachsener in die Kirche nach dem neuen Rituale Romanum. Studienausgabe, hg. von den Liturgischen Instituten Salzburg, Trier, Zürich (Pastoralliturgische Reihe in Verbindung mit der Zeitschrift „Gottesdienst“), Einsiedeln u.a. 1975. Davon er- <?page no="54"?> Martin Klöckener 40 sames Hineinwachsen in christliches Leben und Glauben vor, in dem auch Liturgie und Bibel eng miteinander verzahnt sind. Bei den Katechumenatstreffen lernen die Taufbewerber unter anderem die Heilige Schrift kennen und werden allmählich mit ihr vertraut. 44 In den zahlreichen liturgischen Feiern, die teils im kleinen Kreis der Katechumenen, teils in der Öffentlichkeit der Gemeinde stattfinden, wird jenen, die anfanghaft glauben und sich um die Aufnahme in den Leib Christi bemühen, das Wort Gottes als das Wort des Lebens verkündet. Was in der Katechese Schritt für Schritt gehört, gelernt und zu verstehen gesucht wurde, wird in den liturgischen Feiern des Katechumenats proklamiert, am klarsten in der Osternacht selbst, in der die gesamte Heilsgeschichte von der Schöpfung über den Exodus und die prophetischen Verheißungen auf das Christus-Mysterium zuläuft. Wer auf diese Weise Christ wird, wird von den Anfängen seines Glaubensweges an begreifen: Das Wort Gottes ist Fundament allen Bemühens um den Glauben; es wird kraftvoll in der Liturgie verkündet und bestimmt von dort ausgehend das Leben der Kirche, des Volkes Gottes. Und dieser Glaube - erlernt, erfahren, gefeiert - wird mich auf Zukunft hin tragen. Wer hingegen vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil nach der Ordnung des „älteren Rituale“ 45 als Erwachsener Christ wurde, erhielt - normalerweise unter Ausschluss der Öffentlichkeit - zwar auch eine Reihe von Katechesestunden und lernte dort zentrale biblische Texte kennen; doch begegnete er nicht dieser umfassenden öffentlich-liturgischen Proklamation des Gotteswortes als Fundament seines christlichen Lebens, und schon gar nicht begegnete ihm das Wort Gottes in der Feier der Eingliederung selbst. Es mag heute verwundern, aber in der 1614 amtlich dekretierten liturgischen Form der Aufnahme Erwachsener in die Kirche, wie sie im Rituale Romanum bis zum letzten Konzil vorlag, war nicht eine einzige Schriftlesung für diesen Anlass vorgesehen. schienen mehrere weitere, jeweils bearbeitete Ausgaben, die die große Bewegung und Notwendigkeit von Erfahrungen für eine adäquate Liturgie in diesem Bereich dokumentieren. Die letzte Ausgabe wurde in zwei Bänden unter dem Titel veröffentlicht: Die Feier der Eingliederung Erwachsener in die Kirche, erarbeitet im Auftrag der Internationalen Arbeitsgemeinschaft der Liturgischen Kommissionen im deutschen Sprachgebiet (IAG). Manuskriptausgabe zur Erprobung, hg. von den Liturgischen Instituten Deutschlands, Österreichs und der deutschsprachigen Schweiz. Bd. 1: Grundform, Trier 2001; Bd. 2: In besonderen Situationen, Trier 2008. 44 Vgl. auch das gemeinsame Konzept und das mit katechetischen Modellen angereicherte Liturgiebuch, das vom Deutschen Liturgischen Institut und vom Deutschen Katechetenverein getragen wurde: Erwachsene fragen nach der Taufe. Eine katechetisch-liturgische Handreichung zur Gestaltung des Katechumenats, erarbeitet im Auftrag des Deutschen Liturgischen Instituts und der Zentralstelle Pastoral der Deutschen Bischofskonferenz, hg. von Ernst W ERNER , München 2000 (zuerst 1992). 45 So der unzureichende Begriff in „Summorum Pontificum“, Art. 9 § 1 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 178, 17). <?page no="55"?> „Von größtem Gewicht für die Liturgiefeier ist die Heilige Schrift“ 41 5.2 Beispiel „Firmung“ Wer etwa in der Osterzeit, die im Gedächtnis der Herabkunft des Heiligen Geistes an Pfingsten ihre Erfüllung und ihren Abschluss findet, zur Firmung hinzutritt, 46 wird das in der Regel im Rahmen einer Eucharistiefeier, bevorzugt am Sonntag, tun. In dieser werden dann die Schriftlesungen der Osterzeit oder - wenn die Firmung an einem Werktag stattfindet - aus den betreffenden Messen für Sakramentenfeiern vorgetragen. Damit verdeutlichen schon die Lesungen, dass die Firmbewerber bei der Ausgießung des Heiligen Geistes in die heilsgeschichtliche Kontinuität einbezogen werden, die das Wirken Gottes an seiner neutestamentlichen Gemeinde je neu mit dem Heute verbindet. Vergangenes wird in den Lesungen, die von der Auferstehung Christi, vom Werden der Kirche kraft des Wirkens des Geistes und der Geistbegabung der einzelnen Getauften sprechen, gegenwärtig; die Firmlinge unserer Zeit können sich mit den Menschen und Gestalten der Bibel identifizieren; die hier und heute auf das Wirken des Geistes in ihrem Leben Hoffenden werden zu Zeitgenossen der Glaubensbrüder und -schwestern in der Frühzeit der Kirche. Die biblische Verkündigung in der Liturgie gibt damit einen Interpretationsrahmen vor, der weitaus treffender ist als manche mühsam aufbereitete Firmkatechese. Der österliche Geist Jesu Christi wird die Firmlinge erfüllen; aus dem Pascha-Mysterium Jesu Christi heraus sollen sie ihr Leben in Zeit, Welt und Kirche inmitten ihrer Mitmenschen leben. Wer vor der nachkonziliaren Erneuerung des „Ordo confirmationis“ 47 nach dem Firmritus des Pontificale Romanum von 1595/ 1962 gefirmt wurde, nahm zwar an einer bischöflichen Liturgie mit zahlreichen rituellen Besonderheiten teil, die je nach Sichtweise höchst erbaulich wirkten oder vor Rätsel stellten, aber empfing die Firmung, ohne in der Sakramentenfeier irgendeine biblische Lesung gehört zu haben. Ja, ich möchte das Problem noch zuspitzen: Nicht nur die Firmungsliturgie kannte keine Schriftlesung, sondern im ganzen Pontificale der römisch-katholischen Kirche, das seit 1595 das weltweit verbindliche Buch für die bischöfliche Liturgie mit immerhin 120 verschiedenen Feierordnungen unterschiedlichster Art war, waren, abgesehen von den Psalmen, die aber nicht als Verkündigung, sondern als Gebet verstanden wurden, lediglich vier Schriftlesungen vorgesehen: eine im Ritus für die Glockenweihe und drei bei der Feier einer Diözesansynode, was man im Gesamtkonzept des Pontificale als historische Zufälligkeiten bewerten muss. Selbstverständlich war auch diese bischöfliche Liturgie in vielen ihrer Gebete, Formeln und Riten biblisch geprägt, aber es gab keine Verkündigung der Heiligen 46 Die Osterzeit wird hier gewählt, weil ihre Perikopenordnung besonders prägnant eine österliche Verkündigung vorsieht. 47 Vgl. Ordo confirmationis. Editio typica (Pontificale Romanum), Vatikanstadt 1971, 2 1973; deutsche Ausgabe: Die Feier der Firmung in den katholischen Bistümern des deutschen Sprachgebietes, hg. im Auftrag der Bischofskonferenzen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz und der Bischöfe von Bozen-Brixen und von Luxemburg, Einsiedeln u.a. 1973, letzter Nachdruck 2011. <?page no="56"?> Martin Klöckener 42 Schrift als eigenen gottesdienstlichen Vollzug. 48 Christus selbst bekam von der Kirche keinen Raum, um seine Frohe Botschaft den Menschen der Gegenwart zu verkünden. 5.3 Beispiel „Verkündigung der Heiligen Schrift in der Eucharistiefeier an den Sonntagen der Osterzeit“ Das Messlektionar sieht für die Sonntage der Osterzeit - exemplarisch sei das Lesejahr B herausgegriffen - eine Reihe von Perikopen vor, die einerseits die missionarische Kirche des Anfangs verkünden, die ihre Kraft aus der Auferstehung und Geistesgabe durch Jesus Christus erhält, andererseits Grundlagen des Zusammenlebens in einer christlichen Gemeinde darlegen. Die jeweils ersten Lesungen sind, wie generell in der Osterzeit, nicht dem Alten Testament, sondern der Apostelgeschichte entnommen. Hier tritt in besonderer Weise das Bekenntnis der ersten Zeugen für den auferstandenen Christus im Rahmen der Missionstätigkeit vor die Hörer hin, das der Grund allen apostolisch-missionarischen Wirkens ist, sowie das vielleicht ein wenig idealisierte, aber doch modellhafte Zusammenleben der Jünger in der Jerusalemer Urgemeinde. Bei den Psalmen in der Osterzeit handelt es sich in der Regel um Lobpsalmen auf Gott, der an den Menschen Heil wirkt und den Beter errettet. Die zweite Lesung stammt überwiegend aus dem 1. Johannesbrief und verkündet Christus als den Auferstandenen, als den, der die Liebe ist und auf den sich alles christliche Leben in der Gemeinde berufen darf. Das Halleluja wird verbunden mit einem zentralen Vers aus dem Evangelium; es kündet damit nicht nur in österlicher Freude das Wort Christi selbst an, sondern lenkt auch die Aufmerksamkeit für das Verständnis des Evangeliums. Dieses ist vorwiegend aus Johannes entnommen und deutet aus nachösterlicher Sicht das Leben, Sterben und Auferstehen Jesu, wobei gemäß der johanneischen Theologie der erhöhte Christus herausgestellt wird. Wer in der Zeit von Ostern bis Pfingsten allein an den Sonntagen und Festtagen die Eucharistie mitfeiert - die Werktage bringen wichtige Ergänzungen und Abrundungen -, bekommt ein wahres Spektrum österlicher Verkündigung zu hören, von dem ein österlich geprägtes Christentum kräftige Nahrung empfängt. Es ist erheblich reicher als im tridentinischen Missale, was nochmals gewichtiger ausfällt, wenn man die anderen beiden Lesejahre in den Vergleich mit einbezieht. Die biblische Verkündigung macht das Pascha-Mysterium Jesu Christi als das Zentrum des Glaubens bewusst, rückt den auferstandenen, erhöhten und in seiner Kirche bleibend gegenwärtigen Christus in die Mitte der Hörer und weist gleichzeitig Wege, wie heutige Existenz in der Welt nach dem Modell der neutestamentlichen Zeugen für Christus gelebt werden kann. 48 Vgl. K LÖCKENER , Bibel und Liturgie (wie Anm. 37), 165. <?page no="57"?> „Von größtem Gewicht für die Liturgiefeier ist die Heilige Schrift“ 43 5.4 Beispiel „Verkündigung in der Tagzeitenliturgie“ Die Leseordnung der Tagzeitenliturgie, die ebenfalls in der nachkonziliaren Liturgiereform grundlegend erneuert wurde, reichert mit ihrem Konzept die Verkündigung auf ihre Weise an. Dazu tragen die Kurzlesungen sowohl der Haupthoren Laudes und Vesper als auch der Kleinen Hore(n) im Laufe des Tages bei. Davon unabhängig sind die Schriftlesungen in der Lesehore; in der Osterzeit, auf die ich mich wieder exemplarisch beziehe, kommen in der ersten Jahresreihe lange Passagen aus dem 1. Petrusbrief (Osteroktav), aus der Offenbarung des Johannes und aus den drei Johannesbriefen zum Vortrag; in der zweiten Jahresreihe wird, mit einer Unterbrechung durch den Kolosserbrief (am 2. Sonntag der Osterzeit), im Prinzip die ganze Apostelgeschichte als österliche Schrift gelesen. Die Ausbreitung des Christentums in seinen Anfängen erscheint als Frucht der Auferstehung und der Geistsendung. Auch auf diese Weise eröffnet sich eine österliche Verkündigung, wie sie das vorkonziliare Brevier bei weitem nicht gekannt hat. 5.5 Beispiel „Schriftlesung bei Benediktionen“ Wer heute außerhalb einer anderen liturgischen Feier um eine eigene Segnung von Personen oder Sachen bittet, wird diese in der Regel unter Verwendung des „Benediktionale“, des kirchlichen Segensbuches, in einer kurzen oder auch umfangreicheren Feier erhalten. Das Segensbuch geht konsequent davon aus, dass zu jeder Segensfeier ein Wortgottesdienst gehört, in dem wenigstens ein kurzer Abschnitt aus der Heiligen Schrift verkündet wird. 49 Spätestens dieses Beispiel verdeutlicht das schon erwähnte „Grundgesetz“ liturgischen Feierns nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil: Auch in der kleinsten Feierform hat eine Lesung aus der Heiligen Schrift ihren Platz; mit der Schriftverkündigung unterstellen sich die Kirche als ganze und jedes einzelne ihrer Glieder immer neu und in allen Situationen des Lebens dem Wort Gottes. Anders sah dies in den vorkonziliaren Vorgängern des Benediktionale aus: Dort bestand eine Segnung normalerweise aus einigen knappen Formeln, einem Segensgebet und einem Kreuzzeichen, in der Regel ergänzt durch die Besprengung mit geweihtem Wasser, keine Deutung des Glaubens und Zusage des Heils aus dem Wort Gottes heraus. Wir dürfen als Fazit dieser exemplarischen Sichtungen festhalten: Die im Zuge der Liturgiereform revidierten liturgischen Bücher und Ordnungen 49 Vgl. die Pastorale Einführung, Nr. 25, in: Benediktionale, erarbeitet von der Internationalen Arbeitsgemeinschaft der Liturgischen Kommissionen im deutschen Sprachgebiet. Studienausgabe für die katholischen Bistümer des deutschen Sprachgebietes, hg. von den Liturgischen Instituten Salzburg, Trier, Zürich (Pastoralliturgische Reihe in Verbindung mit der Zeitschrift „Gottesdienst“), Freiburg i.Br. u.a. 2009 (zuerst 1978), 18; siehe auch die später veröffentlichte lateinische Ausgabe: De benedictionibus (wie Anm. 39), Nr. 20-21 (deutsche Übersetzung: DEL 3, 4826-4827). <?page no="58"?> Martin Klöckener 44 haben den vom Konzil gewollten, besonders in der Liturgiekonstitution ausgesprochenen Paradigmenwechsel beim Umgang mit der Heiligen Schrift in der Liturgie weithin angemessen durchgeführt. Damit hat die Liturgie ein in vielen Bereichen von mittelalterlichem Denken geprägtes Verständnis überwunden, in dessen Folge die Verkündigung zugunsten des heiligen Ritus zurückgetreten und in den sakramentlichen Feiern fast völlig verschwunden war; auch in der Eucharistiefeier war sie kaum mehr echte Verkündigung. Das individuelle Breviergebet oder das in Gemeinschaft vollzogene Chorgebet bot nachtridentinisch, mit Ausnahme der Nokturnen, nur noch Lesungsfragmente; im Übrigen blieb es Klerikern und Ordensleuten vorbehalten, so dass den Laien jahrhundertelang die Bibel auch in dieser Form der Liturgie kaum einmal zugänglich wurde. Hinzu kam, dass durch das immense Anwachsen des Heiligenkalenders seit der Kalenderreform nach dem Konzil von Trient und der daraus resultierenden sukzessiven Verdrängung der meisten Tagesformulare für Messe und Offizium durch die Commune-Texte beim Beginn des Zweiten Vatikanischen Konzils tatsächlich nur noch eine geringe Zahl von Schriftlesungen begegnete. Die liturgischen Reformen nach dem Konzil knüpfen wieder an die Liturgie der Alten Kirche an, in der der Verkündigung und Auslegung des Wortes Gottes ein großer Stellenwert beigemessen worden war. Vorbereitet in einem langen Prozess des Wachsens und Reifens, in dem die Zusammengehörigkeit von Bibel und Liturgie im Leben der Kirche von neuem bewusst wurde, haben die Konzilsväter die Voraussetzungen geschaffen, dass das „innige und lebendige Ergriffensein von der Heiligen Schrift“ (SC 24) durch die Liturgie von neuem Wirklichkeit werden konnte. So ist die Bibel wieder zum vorrangigen und - auch das gilt es festzuhalten - zum allein unverzichtbaren liturgischen Buch geworden. 6 Anfragen angesichts der pastoralliturgischen Praxis Trotz des großen Fortschritts seit dem Konzil ist ein Blick auf die Wirklichkeit der Schriftverkündigung in der Liturgie heute manches Mal recht ernüchternd. So sei dieser Beitrag mit einer kritischen Bestandsaufnahme, wie der Untertitel sagt, beschlossen. 1. Die Häufigkeit und der Umfang der Verkündigung der Heiligen Schrift ist durch die Liturgiereform erheblich ausgeweitet worden. Die Gläubigen begegnen in der Liturgie den Schriften des Alten und Neuen Testaments in weitaus größerem Maße als vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob es ausreichend gelungen ist, den Wert des Wortes Gottes und der Begegnung mit ihm in der Liturgie den Gläubigen zu erschließen. Denn eine größere biblische Textmasse allein sichert noch nicht, dass auch das „innige und lebendige Ergriffensein“ (SC 24) der Kirche und der einzelnen Gläubigen verwirklicht ist. <?page no="59"?> „Von größtem Gewicht für die Liturgiefeier ist die Heilige Schrift“ 45 2. Was von den einzelnen Gläubigen gesagt wurde, gilt auch für die Kirche als ganze: Das Konzil wollte, dass das Leben der Kirche klarer dem Anspruch des Wortes Gottes unterstellt werde. Es ist kritisch zu fragen, ob in den verschiedenen kirchlichen Lebensbereichen, in Pastoral, Verkündigung und anderswo, dem Wort Gottes nicht nur vom Anspruch her, sondern auch in der Realität diese zentrale Stellung zufällt. Müsste es, trotz aller erreichten Fortschritte, nicht deutlicher als Zentrum des kirchlichen Selbstverständnisses und Wirkens erscheinen? 3. Zu fragen ist, ob die heutige Liturgie hinreichend aus einem biblischen Geist und einer biblischen Frömmigkeit schöpft, die dann auch außerhalb der Liturgie das Leben mit bestimmen. Bleibt die Begegnung mit der Bibel nicht allzu oft allein auf die Liturgie beschränkt, so dass das Wort Gottes als Grundlage christlicher Spiritualität nicht im erforderlichen Maße seine lebensprägende Kraft entfalten kann? 4. Die theologischen Grundlagen der Liturgie, theologisch aussagekräftige Texte, Gesänge, Riten und andere Elemente werden nach meinen Erfahrungen den Gläubigen in der Liturgie selbst, aber auch außerhalb zu wenig erschlossen. Damit wird auch das biblische Fundament des gottesdienstlichen Handelns wenig bewusst gemacht und vertieft reflektiert. Die heilsgeschichtliche Verankerung des Lebens der Kirche, die besonders in der Liturgie zum Ausdruck kommt, sowie die eigene Teilhabe der Gläubigen daran wird dabei nur ansatzweise thematisiert. Hier eröffnen sich weite Aufgabenfelder für die liturgische Predigt und die Katechese. 5. Die liturgischen Handlungen selbst bringen in der konkreten Realisierung von Wort, Gesang und Ritus nicht immer in bestmöglicher Weise den Wert und die Bedeutung des Wortes Gottes zum Ausdruck. Die liturgische Inszenierung, der sachgerechte Umgang mit dem Wort Gottes unter Zeichen und Symbolen bis hin zum Buch der Bibel oder des Lektionars, dessen Gestalt, Gebrauch und Aufbewahrung sind zu überdenken. Hinsichtlich der ästhetischen Qualität ist das Niveau liturgischen Feierns nicht immer der Sache und der Botschaft, um die es geht, angemessen. 6. Der „Ordo Lectionum Missae“ ist eine große Errungenschaft, eines der wertvollsten Geschenke der Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils. Allerdings müssten manche in Fachdiskussionen aufgezeigten Probleme und Mängel auch von den zuständigen kirchlichen Autoritäten aufgegriffen und Verbesserungen zugeführt werden, was bisher nicht geschieht. 7. Im Blick auf die Veränderungen in der Pastoral in den deutschsprachigen Ländern muss sich die Kirche noch intensiver damit auseinandersetzen, welche Gestalt sie zukünftig ihrem Gottesdienst geben will. Welche Konsequenzen hat es, wenn ein in sich einigermaßen schlüssiges gottesdienstliches Gesamtkonzept, das in den meisten Gemeinden eine große Regelmäßigkeit gottesdienstlicher Feiern bis hin zur täglichen Messe kannte, zerbricht oder schon zerbrochen ist? Davon sind alle Bereiche von Liturgie und Pastoral betroffen, doch gilt auch hier die Frage: Welchen Platz und <?page no="60"?> Martin Klöckener 46 welche Form kann unter solchen Bedingungen die Verkündigung der Heiligen Schrift im Gottesdienst haben? Reicht die bestehende Leseordnung aus, um in solchen Situationen zunehmender Fraktionierung eine sinnvolle Verkündigung in der Liturgie zu gewährleisten? 8. Im deutschen Sprachgebiet besteht das Sonderproblem, dass an Sonntagen und Feiertagen die Heilige Schrift nicht im vorgesehenen Umfang, das heißt in drei Lesungen und dem Psalm, verkündet wird. Aus dem pastoralen Entgegenkommen, in Sondersituationen eine der drei Lesungen auslassen zu können, 50 ist fast flächendeckend ein Normalfall geworden, wobei auch der Psalm sehr oft verloren geht. Dadurch wird der innere Zusammenhang der Lesungen zerrissen, manchmal werden ganze biblische Bücher unterschlagen und der Reichtum der Schriftverkündigung gerade in den geprägten Zeiten von Advent, Weihnachtszeit, Fastenzeit und Osterzeit stark beschnitten. Im Blick auf die Bedeutung der Heiligen Schrift, auf die Kohärenz der Leseordnung und die gesamtkirchliche Praxis ist daran zu arbeiten, dass diese Gewohnheit umgekehrt wird. Oder ist das Faktum der verkürzten Leseordnung ein ernstzunehmendes Indiz dafür, dass die Beachtung der vollständigen Leseordnung den Großteil der Gläubigen und auch manche pastoral Verantwortlichen überfordert? Sollte das zutreffen, müssten freilich nochmals andere Wege einer biblischliturgischen Pastoral beschritten werden. 9. Das erheblich veränderte Teilnahmeverhalten vieler Gläubigen an der Liturgie, die keine Regelmäßigkeit mehr kennen, sondern nur zu besonderen Anlässen kommen, zieht leicht eine starke Personalisierung und Individualisierung des Gottesdienstes nach sich, gerade bei anlassbezogenen Liturgiefeiern wie Taufe, Erstkommunion, Trauung oder Begräbnis. Die sich hier eröffnende Spannung von Subjektivität und Objektivität der Liturgie betrifft auch die Auswahl der Schriftlesungen, bis hin dazu, dass man gelegentlich auf die Heilige Schrift verzichtet und sie durch andere mehr oder minder sinnvolle Texte ersetzt. Muss aber die Heilige Schrift nicht, wenn die Kirche der ihr vorgegebenen Botschaft Jesu Christi treu bleiben will, immer und unverzichtbar an erster Stelle stehen? Muss sie nicht sogar einen exklusiven Platz haben? Wie weit dürfen diesbezüglich gut gemeinte, pastoral begründete Kompromisse ad hominem gehen? 10. Die Gottesdienstform, die am meisten aus der Heiligen Schrift schöpft, ist die Tagzeitenliturgie. Diese bleibt fast überall ein Sondergottesdienst der Klöster und geistlichen Gemeinschaften. Nur in seltenen Fällen hat sie mit einer gewissen Regelmäßigkeit auch in den Pfarreien Heimat gefunden. Die Kirche, die für die Pastoral Verantwortlichen verschlafen dadurch in unverantwortlicher Weise nicht nur eine herausragende Quelle für die christliche Spiritualität aller Getauften, für das Leben der Gemeinden auch 50 „An Sonn- und Festtagen sind als Norm vor dem Evangelium zwei Lesungen vorgesehen. Wo aus pastoralen Gründen nicht beide vorgetragen werden können, ist es gestattet, eine von ihnen auszuwählen“ (Messbuch 2 1988, 334). <?page no="61"?> „Von größtem Gewicht für die Liturgiefeier ist die Heilige Schrift“ 47 in Notzeiten, wie wir sie angesichts all der Restrukturierungen erleben, sondern auch eine erstrangige Möglichkeit, die Getauften in einen lebendigen Kontakt mit der Heiligen Schrift zu bringen und sie daraus ihr Leben gestalten zu lassen. Dieses schwere liturgische und geistliche Defizit ist schnellstmöglich zu beheben; sachgerechte und bewährte Modelle dafür liegen schon seit längerem bereit. 51 11. Die Wort-Gottes-Feiern am Sonntag als Ersatz für die Eucharistiefeier offenbaren auf ihre Weise ein erhebliches Problem im Umgang mit dem Wort Gottes: Wenn die Gläubigen aller Erfahrung nach an Wort-Gottes- Feiern ohne Kommunionspendung deutlich weniger teilnehmen, als wenn die Kommunion gereicht wird, zeigt dies unter anderem, dass die erhoffte Wertschätzung des Wortes Gottes bei den meisten Gläubigen bisher nicht angekommen ist oder dass ihnen die sakramentale Christusbegegnung wichtiger ist, als dass Christus in seinem Wort zu ihnen spricht. 52 Ist dieses Faktum hinzunehmen, weil die katholische Kirche sich in Abgrenzung zu den Kirchen der Reformation immer als eine Kirche des Sakraments verstanden hat? Oder müssen die Bemühungen um ein vertieftes Verständnis des Wortes Gottes auch im Blick auf diese Situation intensiviert werden? Wenn ja, wie kann das realistischerweise geschehen? 12. Sind schon genügend Fortschritte in der Ökumene mit den Kirchen der Reformation, gerade bei der liturgischen Begegnung unter besonderer Akzentuierung der Heiligen Schrift, gelungen? Oder beschränkt man sich nach vielversprechenden Anfängen in den ersten Jahren nach dem Konzil inzwischen wieder allzu sehr auf das korrekte konfessionelle Nebeneinander in bleibender Abgrenzung? 13. Eine offene Frage ist schließlich, wie die Kirche mit der gewandelten Situation des Glaubens umgehen kann und soll. Die Entfremdung großer Teile der westeuropäischen Bevölkerung von der christlichen Tradition, die Bibel, ihre Botschaft und ihre Bilder eingeschlossen, führt zu einem religiösen Analphabetismus, gegen den es keine Patentrezepte gibt. Hat eine Intensivierung der liturgisch-biblischen Katechese angesichts dieser Situation überhaupt eine Chance? Welches sind die richtigen Wege? Wer sind die potentiellen Adressaten? Wie können diese Adressaten auch tatsächlich erreicht werden? 14. Die Wiederzulassung der tridentinischen Liturgie in ihrer letzten vorkonziliaren Fassung durch das Motuproprio „Summorum Pontificum“ Papst Benedikts XVI. (2007) ist nicht zuletzt wegen deren schwerwiegend defizitären Umgangs mit der Heiligen Schrift in hohem Maße unverständlich. 51 Exemplarisch verwiesen sei auf: Paul R INGSEISEN , Morgen- und Abendlob mit der Gemeinde. Geistliche Erschließung, Erfahrungen und Modelle (Gemeinde im Gottesdienst), Freiburg i.Br. u.a. 1994, Neuausgabe 2002, dazu die drei ergänzenden Bände für die Feier selbst, erschienen unter dem Titel Morgenlob - Abendlob mit der Gemeinde feiern, Planegg 2000-2004, jeweils separat als Buch für die liturgischen Dienste und für die Gemeinde. 52 Zweifellos spielen hierbei noch andere theologische und geistliche Motive eine Rolle. <?page no="62"?> Martin Klöckener 48 7 Schluss Die formulierten Fragen im Blick auf die pastoralliturgische Praxis können vielleicht, sollen aber auf keinen Fall entmutigen. Die Differenz zwischen theologisch begründetem Ideal und praktisch gelebter Wirklichkeit gehört zum menschlichen Leben. Diese Erkenntnis kann Gelassenheit bewirken; sie darf aber nicht dazu verleiten, bestehende Probleme zu verharmlosen; ebenso wenig ist jedoch eine einseitig pessimistische Sicht auf Kirche, Liturgie, Kultur und Gesellschaft, wie man sie in manchen kirchlichen Kreisen findet, gerechtfertigt. Die Konzilsväter und die Verantwortlichen der nachkonziliaren Reformkommissionen haben ein gut begründetes, der Sache nach ausgezeichnetes Programm beschlossen und verwirklicht; das gilt auch für die Bedeutung der Heiligen Schrift im Leben der Kirche und speziell in der Liturgie. Mit großem Optimismus hat man auf die - mitunter sehr anspruchsvolle - Umsetzung der Beschlüsse vertraut; sie bleiben bis heute eine gewaltige Herausforderung. Welche völlig neuen Fragen die Wandlungen in Kirche, Kultur und Gesellschaft nur wenige Jahrzehnte später aufwerfen sollten, war von den Konzilsvätern kaum zu erahnen. Die Kirche und die Theologie kommen nicht umhin, unbeirrt am Auftrag des Zweiten Vatikanischen Konzils festzuhalten. Denn er betrifft die Fundamente des Christseins. Erschließung und Vertiefung von Liturgie und Heiliger Schrift, und das in ihrer Bezogenheit aufeinander, bleiben unerlässlich. Der klassische Zusammenhang von Liturgie und Leben muss nicht zuletzt in diesem Bereich immer wieder neu, mit Geduld und Überzeugung aufgezeigt werden. Dafür braucht die Kirche, brauchen die Gemeinden exzellente Prediger, Mystagogen, Vorbilder im Glauben, die selbst diese Wege beschreiten und sie überzeugend verwirklichen. Und die Kirche braucht geistlich und theologisch gebildete Zeugen und Zeuginnen, die sich dafür einsetzen, dass in all den neuen Pastoral- und Strukturprogrammen Bibel und Liturgie wirklich einer der ersten Plätze zukommt. Solches lässt sich nicht erzwingen; die Geschichtsforschung hat gezeigt, dass wirkliche Reformen, die auch Mentalitäten verändern, auf eine longue durée angelegt sind und lange Zeiträume benötigen, bis sie sich nachhaltig durchsetzen. Der Einsatz für das „innige und lebendige Ergriffensein von der Heiligen Schrift“ wird auch für zukünftige Generationen eine große Aufgabe bleiben. <?page no="63"?> Heilige Schrift und Gottesdienst Evangelische Überlegungen zur Bibel in der Liturgie - oder: SC 24 als ökumenisches Projekt 1 Alexander Deeg 1 „Von größtem Gewicht für die Liturgiefeier ist die Heilige Schrift“ - oder: Luther hätte seine Freude gehabt Martin Luther hätte seine Freude gehabt, wenn er dabei gewesen wäre und gehört hätte, was die Konzilsväter in „Sacrosanctum Concilium“, dem ersten Dokument des Zweiten Vatikanischen Konzils, erkannt haben. In SC 33 heißt es: „In der Liturgie spricht […] Gott zu seinem Volk; in ihr verkündet Christus noch immer das Evangelium. Das Volk aber antwortet sowohl mit Gesängen als auch mit Gebet.“ Wahrscheinlich hätte sich Luther bei diesem Satz an seine Predigt vom 17. Sonntag nach Trinitatis 1544 erinnert, als er bei der Einweihung der Schlosskirche zu Torgau, des ersten protestantischen Kirchenneubaus, sagte, nichts anderes solle in diesem Haus (und damit im Gottesdienst) geschehen, „[…] dann das unser lieber Herr selbs mit uns rede durch sein heiliges Wort und wir widerumb mit jm reden durch Gebet und Lobgesang.“ 2 Dieser eher beiläufig geäußerte Satz machte in der Folge einige Karriere und wurde seit dem 19. Jahrhundert als „Torgauer Formel“ bezeichnet und immer wieder zitiert. Gottesdienst wird von Martin Luther als Gott-menschlicher Wort-Wechsel beschrieben, als Anrede durch den lebendigen Gott und Antwort durch den Menschen, wobei sich diese beiden Aspekte nicht auf einzelne liturgische Sprechakte aufteilen lassen, sondern das Ganze des Gottesdienstes beschrei- 1 Die folgenden Überlegungen gehen teilweise zurück auf meine 2010 angenommene und 2012 veröffentlichte Habilitationsschrift: Alexander D EEG , Das äußere Wort und seine liturgische Gestalt. Überlegungen zu einer evangelischen Fundamentalliturgik (Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie 68), Göttingen 2012. In diesem Buch finden sich ausführlichere Darlegungen zu zahlreichen der hier nur angedeuteten Überlegungen. 2 Martin Luther, Werke. Kritische Gesamtausgabe. Weimarer Ausgabe (im Folgenden: WA) 49, 588, 15-18. <?page no="64"?> Alexander Deeg 50 ben. Genau dies erklärt 1963 auch die katholische Kirche - und in derselben für Luther aus theologischen Gründen wichtigen Reihenfolge: erst die Rede Gottes, dann die Antwort des Menschen. Freilich ist damit für die Väter des Konzils nicht alles über den Gottesdienst gesagt, wie bereits der Vorsatz von SC 33 deutlich macht: „Obwohl die heilige Liturgie vor allem Verehrung der göttlichen Majestät ist, enthält sie auch viel Erziehung für das gläubige Volk […]“. Unter dem Leitwort „Erziehung“ („eruditio“) wird der Wortwechsel zwischen Gott und Mensch verhandelt und der Anbetung und Verehrung der göttlichen Majestät („cultus divinae maiestatis“) ergänzend zur Seite gestellt. „Cultus“ und „eruditio“ geraten damit in ein Spannungsfeld, das nun wiederum auch für den Gottesdienst der Reformation nur allzu charakteristisch ist. Vor allem Luthers „Deutsche Messe“ (1525/ 26) zeigt die Tendenz, den Erziehungsaspekt eher zu stark zu betonen und den Gottesdienst „glaubenspädagogisch“ zu funktionalisieren. 3 So schreibt Luther in den Erörterungen zur vorgeschlagenen Vaterunserparaphrase und Abendmahlsermahnung, vom Duktus der Ausführungen her aber durchaus übertragbar auf andere Teile des Gottesdienstes: „Denn es ist ja umd das volck zu leren und zu furen zuthun […].“ 4 Damit freilich erhält der Wort-Wechsel des Gottesdienstes einen deutlich anderen Akzent: Er wäre dann nicht mehr primär die Wechselrede der versammelten Gemeinde mit dem lebendigen Gott, sondern das Wort des liturgisch leitenden Geistlichen, das die anderen zu hören und zu lernen haben. Andererseits aber ist für Luther klar: Wenn Gott und Mensch in einen Wort-Wechsel treten, geschieht mehr als Erziehung zum Glauben und Lehre des Glaubens. Es ereignet sich das Wort, das Menschen als Sünder identifiziert (Gesetz) und das ihnen das Evangelium als Gottes Gerechtigkeit und iustitia aliena zuspricht. Dazu ist es für Luther entscheidend, dass sich die „Worte“, die im Gottesdienst zu sagen sind, die Worte der Gebete, der Lieder und auch die Worte der Predigt, auf die Worte der Bibel beziehen. „Sola scriptura“ ist auch ein liturgisches Prinzip. Denn ohne die materiale Externität der Heiligen Schrift würden Menschen auf ihre eigene Eingebung oder auf eine von außen verliehene Würde vertrauen. Für Luther sind so die Probleme der ‚Schwärmer‘ und der römischen Kirche bestimmt. Sie erkennen die Ver- 3 Karl-Heinrich B IERITZ , Gottesdienst als „offenes Kunstwerk“? Zur Dramaturgie des Gottesdienstes, in: DERS ., Zeichen setzen. Beiträge zu Gottesdienst und Predigt (Praktische Theologie heute 22), Stuttgart - Berlin - Köln 1995, 107-120, hier: 117; vgl. auch Michael M EYER -B LANCK , Liturgie und Liturgik. Der Evangelische Gottesdienst aus Quellentexten erklärt (Uni-Taschenbücher 3196), Göttingen 2 2009, 61, der die Veränderung der Abendmahlsliturgie in Luthers „Deutscher Messe“ wie folgt beschreibt: „Nicht mehr zwischen Priester und Gott, vermittelt über die heiligen Gaben im heiligen Geschehen, liegt das Zentrum der Messe - so dass die Gemeinde zuschauend daran Anteil hat. Das Zentrum liegt in der Kommunikation zwischen dem als Lehrer agierenden Pfarrer und der Gemeinde“. 4 WA 19, 97, 8f. Diese Aussage ist im originalen Kontext darauf bezogen, dass diese Teile des Gottesdienstes am besten immer in derselben Weise ausgeführt werden sollten; gleichzeitig aber machen sie auf das leitende Interesse Luthers aufmerksam. <?page no="65"?> Heilige Schrift und Gottesdienst 51 mittlung des Heils im Wort Gottes, das wiederum in, mit und unter dem Wort der Bibel und den Sakramenten (Taufe und Abendmahl) gegeben wird, nicht an, sondern vertrauen auf subjektiven Geistbesitz oder objektiv-kirchliche Amtsautorität. Gegenüber diesen beiden Extremen sucht Luther nach einem Mittelweg. In seiner Schrift „Von himmlischen Propheten“ aus dem Jahr 1525 (entstanden kurz vor seiner „Deutschen Messe“) greift er sowohl Andreas Karlstadt als auch die römische Kirche an und beschreibt beide, den ‚Schwärmer‘ und den Papst, als Extreme eines falschen Weges: „Wyr aber gehen auff der mittel ban […].“ 5 Aber auch in dieser Hinsicht hätte Luther seine Freude am Zweiten Vatikanischen Konzil gehabt. Denn in SC 24 erklären die Konzilsväter: „Von größtem Gewicht in der Feier der Liturgie ist die Heilige Schrift. Aus ihr werden nämlich Lesungen gelesen und in der Homilie ausgedeutet, Psalmen gesungen, aus ihrem Anhauch und Antrieb sind liturgische Bitten, Gebete und Gesänge ausgeschüttet worden, und aus ihr empfangen Handlungen und Zeichen ihre Bedeutung.“ Die ganze Liturgie - so ließe sich verkürzt sagen - wird beschrieben als ein Geschehen aus der Heiligen Schrift bzw. als ein Sprachgeschehen, das sich im Klangraum der Heiligen Schrift vollzieht. Es ist daher nur konsequent, dass die Konzilsväter gleich im Anschluss fordern: „Um daher für Erneuerung, Fortschritt und Anpassung der heiligen Liturgie zu sorgen, muss jenes innige und lebendige Gefühl für die Heilige Schrift gefördert werden, das die ehrwürdige Überlieferung sowohl der östlichen als auch der westlichen Riten bezeugt.“ An SC 24 wird exemplarisch deutlich, dass in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Bibelbewegung und Liturgische Bewegung in der katholischen Kirche zusammen gehören und miteinander zur Erneuerung des Gottesdienstes beigetragen haben. 6 Ganz ähnlich ließe sich auch die Reformation vor 500 Jahren als eine Bibelbewegung beschreiben, aus der unter anderem liturgische Konsequenzen folgten. Dass der ganze Gottesdienst als biblisches Wortgeschehen verstanden werden kann, hat sich seit Luthers Tagen als reformatorische Einsicht durchgehalten und wird immer wieder betont. So spricht etwa Götz Harbsmeier vom evangelischen Gottesdienst als „Wortgeschehen im Mittel des biblischen Textes“, 7 und Peter Cornehl formuliert: „Der Gottesdienst als Ort der öffentlichen Begegnung mit Gott ist auch der Ort der Begegnung mit der Bibel. […] Der Gottesdienst dient den Menschen 5 WA 18, 112, 33. 6 Vgl. Benedikt K RANEMANN , Bibel und Liturgie in Wechselbeziehung. Eine Perspektivensuche vor historischem Hintergrund, in: Bibel und Liturgie 80 (2007), 205-217, bes. 205f. 7 Götz H ARBSMEIER , Dass wir die Predigt und sein Wort nicht verachten. Eine Aufsatzsammlung zur Theologie und Gestalt des Gottesdienstes, München 1958, 125. <?page no="66"?> Alexander Deeg 52 dadurch, dass er sie einführt in den Lebensraum der Bibel und hilft, darin zu wohnen.“ 8 Luther hätte sich, so wage jedenfalls ich als evangelisch-lutherischer Theologe, der erst nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil geboren wurde, zu sagen, unter den Konzilsvätern wohlgefühlt. Nicht zuletzt hätte ihm wohl auch die grundlegende Ausrichtung der Liturgiereform gefallen. Es ging um eine Reform, die sich als kreatives und theologisch verantwortetes Geschehen aus der Tradition erweist, die das Bewährte und Überkommene so umformt, dass es in der heutigen Zeit gefeiert werden kann und dass die Reflexion über die Liturgie der Feierform entspricht (dass - anders formuliert - ‚theologia prima‘ und ‚theologia secunda‘ korrespondieren; vgl. dazu SC 1). Ganz ähnlich ging auch Martin Luther mit dem Gottesdienst der Kirche um (erneut anders als manche ‚Schwärmer‘, die zu weit radikaleren Neuausrichtungen tendierten). Insgesamt wäre es daher nicht falsch zu behaupten, dass rund 440 Jahre nach den entscheidenden Weichenstellungen der Reformationszeit auch die katholische Kirche eine vergleichbare Reform des Gottesdienstes/ der Liturgie vorgelegt hat. Auch Luther wollte damals (bereits 1523 in seiner Schrift „Von ordenung gottis diensts ynn der gemeine“), dass in jedem Gottesdienst gepredigt werde (vgl. dazu unten 2 und SC 52). Er wollte, dass die Gemeinde aktiv beteiligt ist - und nicht nur fremdsprachige Texte hört und den Priester von hinten sieht (vgl. das Konzilsleitwort der „participatio actuosa“ und dazu SC 11; 14; 48 9 ). Er wollte, dass die Bibel zum Mittelpunkt der Liturgiefeier wird - und dass die Wechselrede von Gott und Mensch den Gottesdienst bestimmt. Durch die Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils entwickelt die katholische Kirche - liturgiehistorisch gesprochen - eine eigene Form des nachkonziliar in aller Regel volkssprachlichen „Messtyps“, der für die lutherische Kirche bereits seit dem frühen 16. Jahrhundert charakteristisch ist. Diese These bedeutet nicht, dass nicht nach wie vor unterschiedliche Akzentsetzungen vorherrschen (vgl. den Vorsatz zu SC 33); diese These besagt aber, dass durch das Zweite Vatikanische Konzil ein Gottesdiensttyp geschaffen wurde, der - wie auch die evangelische Variante des Messtyps - im Wechselspiel von Wort und Ritus (vgl. SC 35) eine eigene Dramaturgie der liturgischen Inszenierung beschreitet. Wenn ich dies als evangelischer Theologe so schreibe, liegt mir nichts ferner, als in der Geste eines liturgischen Triumphalismus zu sagen: Seht, es hat nur etwas mehr als 400 Jahre gedauert - und schon habt ihr auch verstanden, was wir längst realisiert haben! Und ebenfalls liegt es mir fern, den katholi- 8 Peter C ORNEHL , Der Evangelische Gottesdienst. Biblische Kontur und neuzeitliche Wirklichkeit, Bd. 1: Theologischer Rahmen und biblische Grundlagen, Stuttgart 2006, 298 [die Hervorhebungen im Original wurden entfernt]. 9 Vgl. zur Bedeutung dieser Wendung Martin S TUFLESSER , Actuosa participatio. Zwischen hektischem Aktionismus und neuer Innerlichkeit. Überlegungen zur „tätigen Teilnahme“ am Gottesdienst der Kirche als Recht und Pflicht der Getauften, in: Liturgisches Jahrbuch 59 (2009), 147-186. <?page no="67"?> Heilige Schrift und Gottesdienst 53 schen Schwestern und Brüdern damit noch mehr Probleme zu bereiten, als sie durch die vielfältige Kritik an der Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils (nicht zuletzt seit dem Motu proprio „Summorum Pontificum“ aus dem Jahr 2007 zur beinahe uneingeschränkten Wiederzulassung der vorvatikanischen Liturgie) ohnehin haben. 10 Dass „Wittenberg“ den Sieg davon getragen habe, hatte ja auch - polemisch akzentuiert - Alfred Lorenzer in seinem Buch „Das Konzil der Buchhalter“ festgestellt und den Protestanten damals und den Katholiken heute die „Verschiebung der religiösen Erfahrungen weg vom Sinnlich-Präsentativen des alten Kults hin zur Intellektualität des Worts“ vorgeworfen. 11 Nicht darum also geht es. Vielmehr folgt aus der phänomenologischen Nähe der beiden Liturgiegestalten innerhalb der einen westlichen Liturgiefamilie, dass Liturgiewissenschaft am besten im Dialog erfolgt. So verstehen sich auch die folgenden evangelischen Reflexionen auf die Einsichten des Zweiten Vatikanischen Konzils. Sie setzen mit einem Schwachpunkt, schärfer formuliert: mit dem m.E. größten Problem des evangelischen Liturgieverständnisses ein. Dieses resultiert aus einer echten Leidenschaft des Reformators Martin Luther: aus seiner Predigtbegeisterung. Trotz der emphatischen Betonung der Zentralität der Heiligen Schrift droht die Dominanz der Predigt im Gottesdienst zu einer „Bibelverdunstung“ zu führen. Das klingt paradox, soll aber im Folgenden näher begründet werden. 2 Die Problematik der liturgischen Schriftverdunstung durch die Dominanz der Predigt Martin Luther war Schrifttheologe. Das biblische Wort war für ihn Motor der reformatorischen Entdeckungen und die alleinige Instanz, auf die sich Theologie argumentativ und Kirche lebendig gründen kann. Nicht nur durch die „Biblia Germanica“, Luthers Lebensprojekt der Übersetzung der Schrift ins Deutsche, wird diese Bedeutung der Heiligen Schrift für den Reformator sichtbar. Auch viele Einzelaussagen zeigen diese Hochschätzung. So legte er, um nur ein Beispiel zu nennen, in einer Predigt am zweiten Advent 1530 (10.12., nachmittags) Röm 15,4 aus: „Denn was zuvor geschrieben ist, das ist uns zur Lehre geschrieben, damit wir durch Geduld und den Trost der Schrift [wörtlich: Trost der Schriften (παρακλήσεως τῶν γραφῶν), AD] Hoffnung haben.“ 10 Vgl. Georgia M. K EIGHTLEY , „Summorum pontificum“ and the unmaking of the lay church, in: Worship 86 (2012), 290-310; vgl. auch Jörg N EIJENHUIS , Beobachtungen zur Wiederzulassung der vorkonziliaren Messe in der katholischen Kirche, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 52 (2013), 8-31. 11 Alfred L ORENZER , Das Konzil der Buchhalter. Die Zerstörung der Sinnlichkeit. Eine Religionskritik, Frankfurt a.M. 1988, 137. <?page no="68"?> Alexander Deeg 54 Er blickt in seiner Predigt auf die Angriffe von päpstlicher und ‚schwärmerischer‘ Seite und sagt: „Was aber habe ich? Ich hab nicht mehr denn das Buch, Papier und Tinte! Damit soll ich mich wehren und habe keinen andern Trost als dies papierne Buch.“ 12 Freilich ist es nicht das „papierne Buch“ an sich, das diesen Trost verheißt, sondern dessen Kraft, die von „Gott im Himmel“ kommt, die das Buch zum „mündliche[n] Wort“ verwandelt. 13 Neun Jahre nach dieser Predigt formuliert Luther seine Vorrede zum ersten Band der Deutschen Schriften (1539) und relativiert darin seine eigene theologische Arbeit zugunsten der herausgehobenen Bedeutung der Schrift. Er erklärt, er hätte es gerne gesehen, wenn seine Bücher untergegangen wären, damit allein die Heilige Schrift übrig bleibe. 14 Gleichzeitig ruft er in diesem Vorwort zur Meditation der Schrift auf - und das heißt: zur Wahrnehmung ihrer wörtlichen Materialität und verbalen Widerständigkeit. „Nicht allein im hertzen, sondern auch eusserlich die mündliche rede und buchstabische wort im Buch immer treiben und reiben, lesen und widerlesen, mit vleissigem auffmercken und nachdencken, was der heilige Geist damit meinet. […] Denn Gott will dir seinen Geist nicht geben on das eusserliche wort […].“ 15 Hier bindet Luther die Gabe des Geistes an „das eusserliche wort“ und versteht darunter die Worte des biblischen Kanons. Freilich hat er als Zielgruppe seiner Aussagen primär die Gebildeten in den Städten und vor allem die Theologen seiner Tage im Blick. Denn auffallend ist, wie anders Luther das verbum externum in liturgischem Kontext bestimmt. Im Gottesdienst müsse alles dafür getan werden, dass „gottis wort […] dasselb ym schwang gehe“, so schreibt Luther grundlegend bereits 1523 in seiner Schrift „Von ordenung gottis diensts ynn der gemeine“. 16 Allerdings bindet er Gottes Wort hier nicht an die Bibel, sondern an die Predigt. Wenn keine Predigt erfolgt, so soll auch nicht aus der Schrift gelesen werden: 17 „Darumb wo nicht gotts wort predigt wirt, ists besser, das man widder singe noch leße, noch zu samen kome.“ 18 Entsprechend bestimmt Luther in derselben Schrift auch den größten Missbrauch des Gottesdienstes in der Geschichte der Kirche: „das man gottis wort geschwygen hat, und alleyne geleßen und gesungen ynn den kirchen, das ist der 12 Martin Luther, Predigten auf Grund von Nachschriften Georg Rörers und Anton Lauterbachs, bearbeitet von Georg B UCHWALD , Bd. 2: Vom 16. Oktober 1530 bis zum 14. April 1532, Gütersloh 1926, 587 [die Hervorhebungen im Original wurden entfernt]. 13 A.a.O., 587. 14 Vgl. WA 50, 657, 1-11. 15 WA 50, 659, 22-25.32f. 16 WA 12, 36, 24f; vgl. ebd., 37, 27. 17 „[…] das die Christlich gemeyne nymer soll zu samen komen, es werde denn da selbs Gottis wort gepredigt und gebett, es sey auch auffs kurtzist“ (WA 12, 35, 20f). 18 WA 12, 35, 24f. <?page no="69"?> Heilige Schrift und Gottesdienst 55 ergiste mißbrauch.“ 19 Freilich ergibt sich diese Sicht Luthers auch aus dem Problem der Sprache: Die lateinische Lesung - gesungen vorgetragen - konnte von vielen Christenmenschen kaum verstanden werden. Doch an dieser Stelle (er schreibt 1523 und damit nach der Veröffentlichung seines Septembertestaments 1522) hätte Luther ja umso emphatischer die Lesung der verdeutschten Bibel einfordern können. Der tiefere Grund, warum er dafür nicht plädiert, sondern für die Predigt als ‚Gestalt des Wortes Gottes‘, liegt darin, dass Luther von der Mehrdeutigkeit der Bibel und von der Notwendigkeit der Eindeutigkeit der Zusage des Wortes Gottes weiß. 20 Immer wieder zeigt sich für den Reformator (nicht zuletzt durch seinen eigenen Klosterkampf, den er im späteren Rückblick auf den Kampf um die Auslegung von Röm 1,16f konzentriert): Aus den Unklarheiten der Auslegung und Wirkung des biblischen Wortes lässt sich die im Glauben notwendige Eindeutigkeit und Gewissheit nicht folgern: „Denn der glaube will […] Gottes wort haben, das da dürre heraus sage: So ists und nicht anders […].“ 21 Daher muss das äußere Wort an die Predigt gebunden werden, die die Vieldeutigkeit der Schrift in die Eindeutigkeit des Sünde aufdeckenden und Gnade zusprechenden Wortes verwandelt. Mit dieser Verschiebung weg von der materialen Gegebenheit des äußeren Wortes im gelesenen und gehörten Wort der Schrift hin zur Predigt als dem Wort der Auslegung und des Zuspruchs durch den amtierenden Geistlichen droht der Gottesdienst aber freilich (von Luther nicht bemerkt! ) neuerlich zum „Werk“ zu werden: zum Werk des auslegenden Predigers und der hörend-verstehenden Gemeinde. Gleichzeitig droht sich der Ausleger in eine Vermittlungsrolle zu drängen, die der des Priesters in der Römischen Messe mindestens gleichkommt. Er ist es, der der Gemeinde das weitergibt, was das gelesene Wort allein anscheinend nicht ausrichten kann. Er wird in seiner Predigt zum Mittler zwischen dem Wort der Schrift und der hörenden Gemeinde. 22 Faktisch ist es dann nicht das Wort der Schrift, dem Wirksamkeit/ „efficacia“ eignet und das entsprechend auch liturgisch inszeniert wird, sondern das Wort der Verkündigung des Predigers. Der Gemeinde fällt die Aufgabe zu, sich dieses Wort der Predigt verstehend anzueignen. Wollte man diese Problematik scharf auf den Punkt bringen, so ließe sich sagen: Die Predigt als Wort Gottes erledigt das Wort Gottes in der Bibel und macht dieses überflüs- 19 WA 12, 35, 11f. Vgl. dazu auch Karl-Heinrich B IERITZ , Daß das Wort im Schwang gehe. Lutherischer Gottesdienst als Überlieferungs- und Zeichenprozeß, in: DERS ., Zeichen setzen (wie Anm. 3), 82-106, hier: 83. 20 Vgl. Karl H OLL , Luthers Bedeutung für den Fortschritt der Auslegungskunst, in: DERS ., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. 1: Luther, Tübingen 7 1948, 544-582, bes. 551-555. 21 WA 18, 210, 5-7. 22 Vgl. B IERITZ , Daß das Wort im Schwang gehe (wie Anm. 19), 104, der den Prediger als „Pontifex“, als „unentbehrlichen Heilsmittler“ bezeichnen kann [Hervorhebung im Original]. <?page no="70"?> Alexander Deeg 56 sig! Oder: Das Prinzip solo verbo droht das Prinzip sola scriptura zu verdrängen! Damit aber ergibt sich die Spannung in Luthers Position zwischen emphatischem Bibelbezug im Ganzen seiner Theologie einerseits, faktischer Bibelverdunstung zugunsten der Predigt im Verständnis des Gottesdienstes andererseits. Dieses Problem lässt sich bereits im 16. Jahrhundert greifen: Die attraktive Predigt verschlingt in ihrer Dominanz die zwar theoretisch als unerlässlich betrachtete, immer wieder aber als mühsam, widerständig und schwierig erfahrene Bibel. Auf dem Weg in die Neuzeit und bis in die Gegenwart treten mindestens zwei Aspekte hinzu, die diese Problematik verschärfen. 3 Der „garstig breite Graben“ und die religiöse Individualisierung - oder: zwei Aspekte der neuzeitlichen Verschärfung des Problems 3.1 Der „garstig breite Graben“ und die Historisierung der Bibel Luthers Umgang mit der Bibel war davon geprägt, dass er die soteriologische Valenz des Bibelwortes unterstrich: „Das wort, das wort, das wort, hörestu du lügen geyst auch, das wort thuts, Denn ob Christus tausentmal fur uns gegeben und greutzigt würde, were es alles umb sonst, wenn nicht das wort Gottes keme, und teylets aus und schencket myrs und spreche, das soll deyn seyn, nym hyn und habe dyrs.“ 23 Auch wenn die Reformation unzweifelhaft am Beginn der Neuzeit steht, war die typisch neuzeitliche Tendenz zur Historisierung (der Tradition und auch der Bibel! ) bei Luther keineswegs greifbar. Es ist nicht der alte Text der Bibel, der mühsam aktualisiert werden muss, es ist die Heilige Schrift in ihrer durch den Geist gewirkten soteriologischen Bedeutung, die jetzt den Glauben wirkt. Von dieser Hermeneutik ist auch Luthers Predigtpraxis geprägt. So sagt er etwa in einer Weihnachtspredigt zu Lk 2: „[…] das Euangelium leret, das Christus sey umb unßer willen geporn und alle ding umb unßer willen gethan und geliden, wie hie der Engel auch [Luk. 2, 10. 11] sagt: Ich vorkundige euch eyne große frewde, die do haben werden alle leutt; denn heut ist euch geporn eyn seligmacher, der ist Christus der herr. Inn dißen wortten sihestu klar, das er unß geporn ist. [Luk. 2, 10] Er spricht nit schlecht hynn, Es sey Christus geporn, sondern: Euch, Euch ist er geporn. Item spricht nit: vorkundig ich eyn freud, ßondern: Euch, Euch vorkundige ich ein große freud.“ 24 23 WA 18, 202, 37-203, 2. 24 Weihnachtspostille, Auszug aus der Auslegung zu Lk 2,1-14 (WA 10, 1, 1, 58-95, hier: 71). <?page no="71"?> Heilige Schrift und Gottesdienst 57 Die hörende Gemeinde wird direkt in die Anrede des Engels eingezeichnet, eine historische Distanz liegt Luther fern. Ganz anders stellt sich die Bibel etwa für Gotthold Ephraim Lessing dar. In seiner Schrift „Über den Beweis des Geistes und der Kraft“ erhält das Adjektiv „historisch“ grundlegende epistemologische Bedeutung: „Ein andres sind Wunder, die ich mit meinen Augen sehe […], ein andres Wunder, von denen ich nur historisch weiß, daß sie andre wollen gesehn und geprüft haben.“ 25 In dieser Schrift spricht er von dem „garstige[n] breite[n] Graben“ zwischen uns und der Bibel - und hat mindestens drei Dimensionen dieses Grabens im Blick: Chronologisch ist, Lessing zufolge, zu fragen, wie etwas, das einst geschehen ist, heute für uns nach wie vor so von Bedeutung sein kann, dass es unser Verständnis von Wahrheit bestimmt. Grundlegender epistemologisch lautet die Frage: Wie kann etwas, das einmalig geschehen ist, zum Erweis für bleibend Gültiges werden? Er schreibt: „Zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten nie werden.“ 26 Schließlich gibt es eine existentielle Dimension des Grabens: Die Unterschiedlichkeit der Existenz von Menschen mache es grundsätzlich fraglich, inwieweit Vergangenes gegenwärtig noch relevant sein könne. Aufgrund dieser Historisierung im neuzeitlichen Umgang mit der Bibel (auf die die sogenannte historische Kritik auf ihre Weise reagiert; die fundamentalistische Behauptung ‚tatsächlicher‘ Wahrheit des in der Bibel Berichteten ist eine andere Reaktion auf dieselbe Wahrnehmung! ) steht der liturgische und homiletische Bibelgebrauch vor einem Problem. Homiletisch werden viele Predigten tendenziell zu Apologien, die mehr oder weniger verzweifelt versuchen zu zeigen, dass das ‚alte‘ Bibelwort mit unseren heutigen Lebenswirklichkeiten ‚noch‘ etwas zu tun hat und sich für diese ‚noch‘ als bedeutsam erweisen kann. Liturgisch lässt sich das Problem des neuzeitlich historischen Leitparadigmas und seines Umgangs mit der Bibel wohl am besten als drohender Verlust der grundlegenden Dimension der Anamnese beschreiben. Die Verschränkung der Zeiten, die Gleichzeitigkeit von erzählter Vergangenheit, erwarteter Zukunft und der Gegenwart der Feiernden, erscheint kaum noch erschwinglich. Auch Charles Taylor geht in seinem monumentalen Werk „Ein säkulares Zeitalter“ davon aus, dass eine der wesentlichen Verschiebungen auf dem Weg in die Neuzeit in der Veränderung der Zeitwahrnehmung gesehen werden muss. 27 Taylor zitiert Denis Diderot, den Zeitgenossen Lessings, um diese Verschiebung zu verdeutlichen: 25 Gotthold Ephraim Lessing, Über den Beweis des Geistes und der Kraft, in: DERS ., Die Erziehung des Menschengeschlechts und andere Schriften, Stuttgart 2005, 31-38, 32 [Hervorhebung AD]. 26 A.a.O., 34. 27 Vgl. Charles T AYLOR , Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt a.M. 2009, bes. 543-590. <?page no="72"?> Alexander Deeg 58 „[…] was ist unsere Dauer im Vergleich zur Ewigkeit der Zeit? […] Eine unbestimmte Reihe von winzigen Lebewesen in dem Atom, das in Gärung ist, und ebenso eine unbestimmte Reihe von winzigen Lebewesen in einem anderen Atom, das man Erde nennt. Wer kennt die Tiergeschlechter, die uns vorausgegangen sind, und wer die Tiergeschlechter, die den unsrigen folgen werden? “ 28 Der Mensch sieht sich, so Taylor, auf dem Weg in die Neuzeit zunehmend nicht mehr eingespannt als Gottes Geschöpf in die Schöpfung, sondern hineingeworfen in eine abstrakte „Ewigkeit der Zeit“, die sich evolutiv entwickelt und in der nicht damit zu rechnen ist, dass eine göttliche Heilszeit die linear voranschreitende Zeit trägt und erfahrbar unterbricht. Die „Ewigkeit“ werde nicht mehr als „etwas Gegenwärtiges“ empfunden. 29 Eine der Folgen sei, so Taylor, dass nun auch die Bibel mit dem Maßstab „historische[r] Exaktheit“ analysiert werde. Es werde berechnet, ob es so gewesen sein könne, wie die Bibel sagt. „So müsse es zum Beispiel ziemlich genau 1656 Jahre nach Erschaffung der Erde eine Sintflut gegeben haben. Andernfalls sei die Bibel ‚widerlegt‘.“ 30 Die historisierende Transformation des Zeitverständnisses macht liturgische Vollzüge nicht leicht, in denen Menschen gleichzeitig werden mit dem das Mahl einsetzenden Christus, mit dem sie jetzt anredenden Wort des Auferstandenen („Wort des lebendigen Gottes“), mit dem „Pascha- Mysterium“, von dem „Sacrosanctum Concilium“ grundlegend spricht (vgl. nur SC 5 u.ö.). Zugespitzt könnte m.E. sogar gefragt werden, ob die von Romano Guardini angefragte Liturgiefähigkeit des modernen Menschen vor allem als die Fähigkeit zu anamnetischer Zeiterfahrung bestimmt werden könnte (neben der von Guardini vor allem betonten Problematik des Verhältnisses von Körper und Geist, Äußerem und Innerem). 31 Verschiebungen der kulturellen Paradigmen lassen sich nicht durch eine einfache „Rolle rückwärts“ in jene Zeiten einer vermeintlich heilen Welt ‚reparieren‘, die vor diesen Transformationen liegen (das wäre das Problem des Fundamentalismus jeder Couleur! ). Das aber bedeutet, dass gegenwärtig mit diesen Verschiebungen umgegangen werden muss. Im Blick auf die Lesungen im Gottesdienst geschieht dies - jedenfalls evangelischerseits - seit einiger Zeit gerne so, dass den Lesungen Präfamina vorangestellt werden, die der Rezeption der folgenden Lesung durch die Gemeinde den Weg ebnen sollen. Darin liegt sicherlich die Chance, dass Barrieren des Verstehens abgebaut werden können. Die Gefahr freilich besteht darin, dass auch die Lesungen aus der Bibel in das ohnehin dominante homiletische Paradigma eingebaut und - 28 Denis Diderot, D’Alemberts Traum, in: ders., Philosophische Schriften, übers. v. Theodor L ÜCKE , Berlin 1961, 532 (hier zitiert nach T AYLOR ). 29 T AYLOR , Ein säkulares Zeitalter (wie Anm. 27), 553. 30 A.a.O., 556. 31 Vgl. Romano G UARDINI , Der Kultakt und die gegenwärtige Aufgabe der liturgischen Bildung. Ein Brief, in: Liturgisches Jahrbuch 14 (1964), 101-106, bes. 106; vgl. auch DERS ., Vom Geist der Liturgie, Freiburg i.Br. u.a. 1983, 73-85. <?page no="73"?> Heilige Schrift und Gottesdienst 59 je nach Qualität der Präfamina - sogar entwertet werden, weil das vermeintlich ‚Entscheidende‘ schon im Präfamen vorweg gesagt wird. 3.2 Die Schriftwerdung der Bibel im Gottesdienst und das Problem der Individualisierung der Bibelrezeption Bei der Bibel handelt es sich, das betonte auch Luther, um ganz und gar menschliche Worte. Wie Gott im Abendmahl präsent wird in der überaus irdischen Materie von Brot und Wein, so redet er in den überaus menschlichen Buchstaben der Bibel zu den heute Hörenden: „Das sind die größten Wunder, daß sich Gott so tief herniederläßt und senkt sich in die Buchstaben und spricht: Da hat mich ein Mensch gemalt mit Tinte und Feder. Trotz dem Teufel! Diese Buchstaben sollen die Kraft geben, die Menschen zu erlösen.“ 32 Der wesentliche Ort, an dem dies erfahren werden kann, ist für Luther der Gottesdienst - und in ihm, wie gesagt: die Predigt. Die Buchstaben der Bibel werden gleichsam zur „Heiligen Schrift“ in ihrer gottesdienstlichen Kommunikation. 33 Auch SC 7 betont die Vergegenwärtigung Christi aus dem Wort der Bibel heraus und formuliert: „Gegenwärtig ist er [Christus] in seinem Wort, da er ja selbst spricht, während die heiligen Schriften in der Kirche gelesen werden.“ Interessanterweise ist es in „Sacrosanctum Concilium“ aber die Lesung, nicht die Predigt, die aus der Bibel die Heilige Schrift macht. In der Entwicklung des Protestantismus ging die selbstverständliche Verbindung von „Schrift“ und „Gottesdienst“ mehr und mehr verloren. Die Bibel emanzipierte sich aus der gottesdienstlichen Rezeption und wurde zu etwas Eigenem: in der Aufklärung zum historischen Dokument, dem mit einiger Ehrfurcht, aber auch mit dem kritisch-unterscheidenden Blick des neuzeitlichen Subjekts zu begegnen sei, im Pietismus zum Buch zur persönlichen, subjektiven Erbauung. Martin Schuck schreibt zum Pietismus und zu seinem Umgang mit dem biblischen Wort: „Unter den Bedingungen neu entstandener Subjektivität, vermittelt als ‚Frömmigkeit‘, religiöse Innerlichkeit oder wie auch immer, war es […] nicht […] das verkündigte Wort im Gottesdienst, also nicht die Schriftauslegung in ihrer kerygmatischen Gestalt, sondern eben das Wort der Bibel, die individuelle Lesefrucht des Einzelnen, was den Glauben wirken sollte.“ 34 32 Luther, Predigten (wie Anm. 12), 588 [die Hervorhebung im Original wurde entfernt]. 33 Der evangelische Theologe Martin Schuck formuliert: „‚Schrift‘ ist eine theologische Kategorie und an den Gebrauch im Gottesdienst gebunden. Zu unterscheiden davon ist die ‚Bibel‘, mit deren Entstehung als selbständigem Medium ein Akt der Emanzipation aus dem gottesdienstlichen Geschehen einhergeht“ (Martin S CHUCK , Die Kirche des Wortes. Schriftauslegung im Protestantismus, in: Pfälzisches Pfarrerblatt, hier zitiert nach www.pfarrerblatt.de/ text_164.htm, Zugriff vom 01.06.2013). 34 S CHUCK , Kirche des Wortes (wie Anm. 33), 8 [Hervorhebung im Original]. <?page no="74"?> Alexander Deeg 60 Der unaufgebbare Konnex von Heiliger Schrift und Gottesdienst droht neuzeitlich zu zerbrechen. Dies zeigt sich etwa auch in der (protestantischen) kirchengeschichtlichen Forschung. Auch hier wurde die gottesdienstliche Schriftlesung kaum zum Gegenstand der Untersuchung, worauf Christoph Markschies aufmerksam gemacht hat. Markschies begründet dieses Defizit der Forschung einerseits mit der Schwierigkeit der Quellenlage, andererseits aber vor allem mit dem Desinteresse der (vor allem: protestantischen) Kirchengeschichtler am Gottesdienst. Dieser wurde ausgegrenzt, weil er „auch im protestantischen Christentum der Neuzeit eine äußerst begrenzte Rolle spielt“. 35 Protestantische Forscher rechnen seit dem Pietismus damit, „daß jeder halbwegs fromme Christ auch fleißig in seiner Bibel liest“ 36 - eine für weite Teile der Kirchengeschichte absolut anachronistische Vorstellung. Der übliche Punkt, an dem Christinnen und Christen der Bibel begegneten, war der Gottesdienst. Markschies betont: „[…] man kann hoffen, daß der zunehmende Einfluß der cultural studies auf die Erforschung der Geschichte des Christentums auch ein zunehmendes Interesse an den gottesdienstlichen Lesungen als einem Teil der Schrifthermeneutik mit sich bringt.“ 37 Die Schrift wandert in der Entwicklung des Protestantismus aus dem Gottesdienst aus und - seit dem Pietismus und der Aufklärung - in die individuell rezipierte oder wissenschaftlich exegesierte Bibel ein. Diese solchermaßen wahrgenommene Bibel ist es dann, die ihren Rückweg in den Gottesdienst antritt, wenn sie gegenwärtig in liturgischem Kontext gelesen wird. Ich übertreibe und beschreibe - entsprechend der Tendenzen in Aufklärung und Pietismus - zwei extreme Weisen des liturgischen Umgangs mit ihr: Entweder sie wird als alter, aber für die Gegenwart noch bedeutsamer Text in den Gottesdienst hineingeholt oder als ein Text, der für die individuelle Erbauung wichtige Aspekte bereitstellen kann. Was dabei verloren zu gehen droht, ist jene Externität, die durch den Rekurs auf das verbum externum eigentlich gegeben sein sollte. Interessant ist es, dass das Luthertum im 19. Jahrhundert demgegenüber den Weg ging, die prekär gewordene (und durchaus vermisste! ) Externität auf anderem Wege zu sichern: durch die Betonung des institutionellen Gegenübers von Predigtamt und Gemeinde. In Aufnahme von CA V („institutum est ministerium docendi evangelii et porrigendi sacramenta“ 38 ) und CA XIV (‚ordo ecclesiasticus‘ 39 ) wurde im 19. Jahrhundert heftig über die Frage disku- 35 Christoph M ARKSCHIES , Liturgisches Lesen und die Hermeneutik der Schrift, in: Peter G EMEINHARDT - Uwe K ÜHNEWEG (Hgg.), Patristica et Oecumenica (FS Wolfgang A. Bienert; Marburger Theologische Studien 85), Marburg 2004, 77-88, hier: 79. 36 A.a.O., 80; mit Verweis auf Adolf v. Harnacks 1912 entstandenes Buch „Über den privaten Gebrauch der Heiligen Schriften in der Alten Kirche“. 37 M ARKSCHIES , Liturgisches Lesen (wie Anm. 35), 88. 38 Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche (im Folgenden: BSLK) 58, 2f. 39 Vgl. BSLK 69. <?page no="75"?> Heilige Schrift und Gottesdienst 61 tiert, ob das öffentliche Predigtamt auf eine Stiftung Christi zurückzuführen sei oder nicht. Dieser Weg der Sicherung der Externität durch den Rekurs auf das - wie auch immer ‚eingesetzte‘ - Predigtamt wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts, verstärkt dann aber in den 1960er und 1970er Jahren, hinterfragt. Manfred Josuttis schreibt: „Aus der theologischen Einsicht, daß in der Predigt die Anrede Gottes erfolgt und daß der Glaube aus dem Hören kommt, [sollten] nicht unbedingt direkte institutionelle Konsequenzen gezogen werden, als ob das extra nos des Wortes gegenüber dem Glauben das Gegenüber von Amt und Gemeinde, monologischer Kanzelrede und schweigender Zuhörerschaft unbedingt erforderlich macht.“ 40 Diesem Widerspruch im Blick auf das Verhältnis von Amt und Gemeinde ist ein weiteres Gegenargument hinzuzufügen: Der Versuch der Sicherung der Externität durch die Betonung der Rolle des Predigtamtes führte letztlich wohl eher zur Steigerung der Bedeutung der Subjektivität des Predigers, nicht aber zu der Institutionalisierung jener Externität des Wortes, die theologisch gesucht werden müsste. 4 Ein dreifaches evangelisches Plädoyer zur Wiedergewinnung der Heiligen Schrift im Gottesdienst Die eben geschilderten evangelischen Schwierigkeiten im Umgang mit der „Heiligen Schrift“ im Gottesdienst sind keineswegs auf den evangelischen Kontext beschränkt. Die Umbrüche der Neuzeit sind, auch dies hat Charles Taylors „Säkulares Zeitalter“ gezeigt, zu einer neuen conditio humana in der ‚westlichen‘ Welt geworden. Allerdings werden die Probleme, die sich daraus für den (auch liturgischen und homiletischen! ) Umgang mit der Schrift ergeben, in einer Zeit, in der die „Moderne“ vielfach kritisiert wird und deren Einseitigkeiten durch postmoderne oder spätmoderne Hermeneutiken korrigiert werden, inzwischen vielfach thematisiert. Und es wird nach neuen liturgisch gangbaren Wegen einer Hinwendung zur Bibel gesucht, auf denen in ihr und durch sie Gottes lebendiges Wort erwartet werden kann. In dieser Hinsicht blicke ich auf drei Wege zur Wiedergewinnung der Heiligen Schrift im Gottesdienst, die ich im gegenwärtigen Protestantismus erkenne. Dabei blende ich jene Stimmen aus, die davon ausgehen, dass die Zentralität der Bibel sich einer im 16. Jahrhundert nachvollziehbaren, inzwischen aber überholten Weichenstellung verdankt. Am deutlichsten wird dieser Gedanke gegenwärtig von dem emeritierten Berliner Praktischen Theologen Klaus- Peter Jörns vertreten. In seinem Buch „Notwendige Abschiede“ fordert er u.a. den „Abschied von der Vorstellung, ein einzelner Kanon könne die universale 40 Manfred J OSUTTIS , Gottesdienst, in: Gert O TTO (Hg.), Praktisch-theologisches Handbuch, Stuttgart u.a. 2 1975, 284-308, hier: 285. <?page no="76"?> Alexander Deeg 62 Wahrnehmungsgeschichte Gottes ersetzen“. 41 Die „Wahrnehmungsgeschichte Gottes“ greife notwendig über das in der Bibel Erzählte hinaus. Aus diesem Grund, so Jörns in seiner liturgischen Konkretion „Lebensgaben Gottes feiern“, könnten und sollten auch „außerbiblische Lesungen“ Eingang in den christlichen Gottesdienst finden (etwa aus der altägyptischen Religion, aus dem Koran oder aus den Upanishaden). 42 Bei aller Bedeutung, die solche Texte für die eigene Frömmigkeit und für die theologische Diskussion gewinnen können, verkennt Jörns die theologische Begründung, die etwa Luther oder das Zweite Vatikanische Konzil herausgearbeitet haben, um die Zentralität der Bibel für die Liturgie zu untermauern. Stattdessen blicke ich auf drei Ansätze, wie evangelischerseits gegenwärtig eine liturgische Wiederentdeckung der Bibel als Heilige Schrift und als Grundlage und Ziel (die katholische Wendung culmen et fons [SC 10] ließe sich m.E. durchaus auch in dieser Hinsicht rezipieren) des Gottesdienstes gesucht wird. Es wird dabei deutlich, dass die These, wonach die evangelische Kirche (und vor allem: Liturgiewissenschaft) seit einigen Jahren zunehmend ‚katholischer‘ werde, nachdem die katholische Theologie (und vor allem: Liturgiewissenschaft) zuvor sichtbar ‚evangelischer‘ wurde, einiges für sich hat. 4.1 Die notwendige Selbstzurücknahme des Liturgen gegenüber der Bibel Der ehemalige Benediktinermönch aus Maria Laach Fulbert Steffensky, der 1969 zum Luthertum konvertierte und dann als Professor in Hamburg lehrte, tritt seit vielen Jahren für eine Neuentdeckung der Bibel ein und möchte die Bibel vor allem gegen den ‚Zugriff‘ des deutenden Geistlichen in Schutz nehmen. Die Bewegung, die sich in den Texten Steffenskys wahrnehmen lässt, spiegelt sich in kulturwissenschaftlicher Perspektive in den zahlreichen Versuchen, die ‚Werke‘ der Kunst dem Zugriff der deutenden Interpreten zu entreißen, um eine echte Begegnung mit ihnen neu zu ermöglichen. Jochen Hörisch mit seinem Buch „Wut des Verstehens“ und George Steiners Werk „Von realer Gegenwart“ ließen sich an dieser Stelle anführen. 43 Steffensky ärgert sich darüber, dass im evangelischen Gottesdienst „die Auslegung der biblischen Texte die Texte selbst überwuchert“ 44 - und damit der dominante Prediger und Liturg selbst allzu engagiert in Erscheinung trete. Er schreibt: 41 Klaus-Peter J ÖRNS , Notwendige Abschiede. Auf dem Weg zu einem glaubwürdigen Christentum, Gütersloh 3 2006 [inzw. auch 4 2008], 154-187 [Zweiter Teil; Kapitel 3]. 42 Vgl. Klaus-Peter J ÖRNS , Lebensgaben Gottes feiern. Abschied vom Sühnopfermahl: eine neue Liturgie, Gütersloh 2007, 208-233. 43 Vgl. Jochen H ÖRISCH , Die Wut des Verstehens, Berlin 2011 [Neuauflage]; vgl. George S TEINER , Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? , edition akzente, München - Wien 1990. 44 Fulbert S TEFFENSKY , Das Charisma der Kargheit und der Vorrang der Bibel, in: Angela B ERLIS - David P LÜSS - Christian W ALTI (Hgg.), GottesdienstKunst (Praktische Theologie im reformierten Kontext 3), Zürich 2012, 41-43, hier: 41. <?page no="77"?> Heilige Schrift und Gottesdienst 63 „Die Theologen gönnen den Texten selber wenig Stimme, dafür sich selbst umso mehr. Das Evangelium kommt immer schon als ausgelegtes, sozusagen gebrauchsfertiges. Ich bin immer schon verpflichtet auf die Auslegung der Exegetinnen und Exegeten. Es ist, als ob man den Texten nichts zutraut. Es ist, als sollte eine Shakespeareaufführung durch die Interpretation des Shakespearetextes ersetzt werden.“ 45 Stattdessen möchte Steffensky zurück zur Möglichkeit des Hörens, die er als „die älteste, die kräftigste und […] die demokratischste Form der Inszenierung“ beschreibt. 46 Es müsste so ein Beitrag geleistet werden zur „Entgötzung der Predigt, noch besser“ zur „Entgötzung der Pfarrerinnen und Pfarrer“. 47 Gerade so sei es möglich, dem evangelischen Klerikalismus zu entgehen, der durch die „liturgische Dauermoderation“ zustande komme und kräftig genährt werde. 48 „Kargheit, Langsamkeit und Leere“ 49 werden stattdessen empfohlen, ein neues Vertrauen in die Formeln, die tragen, und das Schweigen neben dem vielen Reden. Der Gottesdienst wird gegen den dominanten Zugriff der Pfarrerinnen und Pfarrer in Schutz genommen, die sich stattdessen neu als Diener des Wortes und damit in einer dem Wort bleibend untergeordneten Rolle verstehen sollen. 4.2 Die Wiedergewinnung der Ritualität des Umgangs mit der Bibel Weniger auf die pastoraltheologische und pastoralpsychologische Fragestellung, sondern vielmehr auf die liturgische Inszenierung der Lesungen im evangelischen Gottesdienst blickt der Erlanger Praktische Theologe Martin Nicol. Er versucht eine Wiedergewinnung des „Kultbuch[s] Bibel“ 50 und unterscheidet dabei „eine passive und eine aktive Ritualität des Bibelbuchs“. 51 Im einen Fall (passive Ritualität) ist die Bibel als das Buch im Blick, mit dem man im Gottesdienst umgeht, im zweiten Fall (aktive Ritualität) wird die Bibel zu dem Buch, das durch ihre Texte die Liturgie prägt. Nicol zeigt sich in seiner Liturgik verwundert über eine gewisse Lieblosigkeit im Umgang mit den Lesungen ausgerechnet in der „Kirche des Wortes“. Er schreibt: „Der Protestantismus hat Bedeutendes für die Verbreitung der Bibel und ihre Verwurzelung im Bewusstsein der einzelnen Gläubigen geleistet. Aber er hat selbst in seiner lutherischen Spielart keine Formen des liturgischen Umgangs mit der Bibel entwickelt, die denen anderer Konfessionen vergleichbar wären. Wir Protestanten können bislang nur davon reden, dass in der Heiligen Schrift 45 Ebd. 46 Ebd. 47 A.a.O., 42. 48 Ebd. 49 A.a.O., 43. 50 Vgl. Martin N ICOL , Weg im Geheimnis. Plädoyer für den Evangelischen Gottesdienst, Göttingen 3 2011, 135-161. 51 A.a.O., 144. <?page no="78"?> Alexander Deeg 64 Gottes Wort zur Geltung komme. Aller Welt zeigen können wir es nicht. Es fehlt an Ritualen.“ 52 Im Gegenteil spricht Nicol von „Unprofessionalität“ und „Respektlosigkeit“, die sich vielfach bei der Durchführung der Lesungen beobachten ließen. 53 Diesem protestantischen Defizit stellt Nicol Beobachtungen zur Lesepraxis in anderen liturgischen Traditionen gegenüber: die Gestaltung der Lesungen (und vor allem der Evangelienlesung) im Katholizismus, in der Orthodoxie sowie der Toraverlesung im jüdischen Synagogengottesdienst. 54 In diesen Traditionen gibt es außeralltägliche Gestaltungen des Buches, aus dem gelesen wird: die auf Pergament mit Hand geschriebene, nie mit dem Finger berührte und während der Aufbewahrung bekleidete Torarolle im Judentum, das geschmückte Evangeliar in der Orthodoxie und das besonders gestaltete und aufbewahrte Evangeliar im Katholizismus. In diesen Traditionen entwickelten sich und wurden bis in die Gegenwart Rituale bewahrt, die einen Umgang mit dem ‚Buch‘ (bzw. dem Evangeliar oder der Torarolle) zeigen, der dieses als ‚heiliges‘ Buch heraushebt aus den üblichen Büchern - oder umgekehrt formuliert: Die ‚Heiligkeit‘ konstituiert sich allererst in der besonderen Art und Weise des Umgangs mit dem Buch. Die beiden Sätze zeigen den von Nicol betonten rekursiven Zusammenhang von Heiligkeit und Art und Weise des Umgangs, von Heiligkeit und Materialität. An dieser Stelle sei auf protestantischer Seite schlicht ein Ausfall zu verzeichnen. Er hänge zusammen mit der in der Reformation aus Angst vor der ontologisierenden Fetischierung von ‚Gegenständen‘ eingespurten und neuzeitlich vertieften Geringschätzung des Äußeren gegenüber dem ‚Eigentlichen‘ und ‚Geistigen‘. Das gehörte Wort konnte dann als erheblich wichtiger erscheinen als sein materialer Träger - bis dahin, dass das üblicherweise gegenwärtig genutzte Lektionar optisch und ästhetisch sehr viel schlichter gestaltet ist, als dies die evangelischen Altarbibeln der vergangenen Jahrhunderte waren, und dass es viele Protestanten nicht ernsthaft stört, wenn die Lesung gar nicht aus einem Buch, sondern aus einem zur Vorbereitung auf die Lesung kopierten Zettel erfolgt. Das Problem der Integration der Lesungen in ein neuzeitliches Paradigma des Verstehens erkenne ich mit Nicol darin, dass die über das Verstehen hinausgehende „Präsenz“ faktisch aus der Erwartungshaltung der Gemeinde ausgeklammert wird. Die Lesung geschieht dann kaum noch in der (sakramentalen) Erwartung, in, mit und unter den Worten dieses Textes immer neu und immer wieder verschieden dem Wort zu begegnen, sondern wird eingeordnet in die Frage, was diese Lesung ‚mir‘ heute Neues, Interessantes, emotional oder kognitiv Bewegendes mitgeben könne. Die „Heiligkeit“ der Schrift wird zugunsten ihrer Funktionalität als ‚interessantes‘ bzw. ‚lebensdienliches‘ Buch zurückgedrängt (wobei die Adjektive ‚interessant‘ und ‚lebensdienlich‘ keineswegs pejorativ gehört werden dürfen! ). 52 A.a.O., 146. 53 A.a.O., 152. 54 Vgl. a.a.O., 144-146. <?page no="79"?> Heilige Schrift und Gottesdienst 65 Die Überlegungen Martin Nicols weiterführend habe ich von einer notwendigen kultischen Verfremdung des Wortes in den Lesungen gesprochen, die anzustreben sei, damit diese der Einlinigkeit und Eintönigkeit einer einseitig kognitiv verstehenden Rezeption entzogen und auf andere Weisen ihrer Rezeption hin geöffnet werden (ohne dabei das kognitive Verstehen und ggf. emotionale Miterleben auszuschließen). Ein anregendes Paradigma kann dazu die Lesung im Judentum sein. Dort werden die Lesungen durch den ‚Aufstieg‘ auf die Bima als Ort des Vortrags der Tora und durch die begleitenden Gebete liturgisch so gestaltet, dass das Geschehen der Offenbarung auf dem Berg Sinai neu präsent werden kann und soll. Gleichzeitig werden die Lesungen aus der Tora - wo immer dies möglich ist - kantillierend und (selbst in liberalen Gemeinden fast immer) auf Hebräisch vorgetragen (in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten ist, vor allem in den USA, sogar ein verstärkter Rückgriff auf die vor dem 19. Jahrhundert ausschließlich praktizierte hebräische Lesepraxis zu beobachten! ). Die Art und Weise der Gestaltung setzt so Akzente einer kultischen Verfremdung, die deutlich machen: Hier geschieht etwas anderes als das üblicherweise zwischen Menschen gewechselte Wort! Diese Hinweise auf die jüdische Lesepraxis bedeuten selbstverständlich nicht, dass damit ein Paradigma praktischer Gestaltung vorliegen würde, das nun eins zu eins auch im protestantischen Gottesdienst übernommen werden könnte und sollte. Dies würde nicht nur eine problematische Vereinnahmung des Judentums und seiner Praxis bedeuten, sondern zudem der Theologie der Lesungen im christlichen Gottesdienst kaum entsprechen können. Lesungen verweisen hier nicht zurück auf den Sinai, sondern sind christologisch als die Verbindung der hörenden Gemeinde mit dem inkarnierten Gotteswort zu verstehen. Das Wort der Lesung hat in dieser Hinsicht sakramentalen Charakter. In, mit und unter den alten und menschlichen Worten der Schrift gibt sich Gott selbst zu hören. Dieser theologischen Akzentuierung ist auch durch die Art und Weise der Gestaltung Rechnung zu tragen - womit auch eine Lesung vom Altar, wie sie lange im evangelischen Gottesdienst üblich war, - theologisch durchaus gute Gründe für sich geltend machen könnte. Darüber hinaus wäre mit Martin Nicol über eine „Lesungsbibel“ (kein Evangeliar, kein Lektionar! ) neu nachzudenken, um mit einem ästhetisch ansprechend gestalteten vollständigen Bibelbuch auf die Bedeutung der ganzen Bibel für die Gemeinde hinzuweisen. 55 Dieses müsste auch außerhalb seines Gebrauchs während der Verlesung einen Ort der würdevollen Aufbewahrung finden, von dem aus es zur Verlesung herbeigebracht und an den es anschließend wieder zurückgetragen wird. In Aufnahme von Anregungen aus dem katholischen Bereich spricht sich Nicol für ein „Logophoron“ als Ort der Lesungsbibel aus. 56 55 Vgl. a.a.O., bes. 159f. 56 Vgl. a.a.O., 160. <?page no="80"?> Alexander Deeg 66 Über Nicols Überlegungen hinausgehend frage ich, ob nicht auch die Stimm- und Sprachgestalt der Lesungen überdacht werden müsste. M.E. wären Wege der Verlangsamung (durch Pausen oder Wiederholung), der Verfremdung (durch unterschiedliche Stimmen oder unterschiedliche Orte im Raum) oder des Zusammenspiels von Musik und Stimme zu erwägen. Nicht zuletzt steht damit m.E. auch die Frage nach der Möglichkeit einer alternativen Weise des Vortrags der Lesungen im Raum. Es ist bezeichnend, dass die Überwindung der Kantillation als kultureller Fortschritt in der Zeit der Aufklärung gepriesen wurde und sich seither weitestgehend durchgesetzt hat. Ein etwas ausführlicheres Zitat aus einer 1786 erschienenen Schrift des Quedlinburger Pfarrers Johann August Ephraim Goeze (1731-1793) zeigt, wie es zur Abschaffung des gesungenen Vortrags kam und wie dies zunehmend zu einer ‚Homiletisierung‘ der Lesungen beitrug: „Den Anfang machte ich damit, daß ich die Episteln und Evangelia nicht mehr absang; sondern langsam, mit Anstand und Würde, vorlas. […] ich sagte vorher mit ein Paar Worten, warum ich es thaete, weil ich nun schon über 24 Jahre diese Texte gesungen haette; aber gewiß wüßte, wie meine Zuhörer merken müßten, daß sie gar nicht mehr darauf hörten und achteten, weil es ihnen zur Gewohnheit geworden - auch verschiedenen das Singen historischer Begebenheiten ekelhaft und anstößig wäre; so waere es ganz unnütze Zeremonie, und ich wollte einmal versuchen, ob ich diese Sache nicht auf eine bessere und nützlichere Art für sie einrichten könnte - auch für mich selbst, zur Beförderung meiner eigenen Andacht und Erbauung, die ich bey dem gewöhnlichen Absingen, welches mir öfter sehr laestig und beschwerlich geworden, so wenig, als sie, haette haben können. Nun war alles weit aufmerksamer, als vorher. Ich verlaß also […] die Epistel nicht nur langsam und mit Nachdruck vor, wo derselbe auf Wort und Sache hingehörte; sondern ich setzte oft, wo ich es nöthig fand, eine kurze Paraphrase und Application unter dem Lesen dazu, welches allgemeinen Beyfall fand. […] Eben so machte ich es auch mit dem Evangelio. - Ich hörte von keiner Unzufriedenheit, und Niemand murrete.“ 57 Wie vor mehr als 200 Jahren der Übergang von der Kantillation zur einfachen Verlesung als (damals willkommene! ) Verfremdung empfunden wurde, so könnte auch gegenwärtig im evangelischen Bereich der Weg einer neuerlichen Verfremdung der Lesungen im Wechselspiel von Stimme und Musik als hilfreich empfunden werden. Der einfache Rückweg zum kantillierenden Vortrag scheint mir dabei allerdings kaum geeignet. Denn auch für die liturgische Praxis gilt: Eine Rolle rückwärts in die vor-moderne Praxis bedeutet nicht die Lösung für gegenwärtige Probleme (ein Satz, der m.E. auch auf die problematischen Rückwege zur vorkonziliaren Messe im katholischen Bereich Anwendung finden kann). 57 Goeze, zitiert nach Wolfgang H ERBST , Evangelischer Gottesdienst. Quellen zu seiner Geschichte, Göttingen ²1992, 166f [Hervorhebungen im Original]. <?page no="81"?> Heilige Schrift und Gottesdienst 67 4.3 Der Gottesdienst als Klangraum der Heiligen Schrift Wenn, wie oben angedeutet, der Gottesdienst insgesamt als Klangraum der Heiligen Schrift verstanden werden kann, so stellt sich einerseits die Frage, welche Texte in diesem Klangraum explizit als Texte für Lesungen und Predigt zu hören sein sollen (1), andererseits die Frage, wie biblische Texte auch implizit den Gottesdienst prägen können (2). (1) In „Sacrosanctum Concilium“ wird die Aufgabe formuliert, „eine reichere, vielfältigere und passendere Lesung der Heiligen Schrift“ einzuführen (SC 35), bzw. - metaphorisch dicht und einprägsam formuliert -, „den Tisch des Wortes Gottes reicher“ zu bereiten und „die biblischen Schätze weiter“ zu öffnen (SC 51; vgl. für das Stundengebet auch SC 92a). Eine der sichtbaren Folgen des Zweiten Vatikanischen Konzils war die Herausgabe einer neuen Leseordnung (Ordo Lectionum Missae, 1969, 2 1981). Diese mutige Neuerung bedeutete die Aufgabe der bisherigen textlichen Prägung des Kirchenjahres in der ‚festlosen‘ Zeit und der Bindung an die - im evangelisch-lutherischen und unierten Bereich bewahrten - „alten“ Perikopen. Eindrucksvoll ist sicherlich, wie weitgehend Texte aufgenommen wurden, die bislang nicht vorkamen, und wie vor allem das Alte Testament grundlegend in die Struktur der Leseordnung einwanderte (mit einem Drittel der Lesetexte! ). Dass sich gerade an diesem Punkt zahlreiche weitere Diskussionen in den Folgejahren entzündeten, ist allgemein bekannt. 58 Im evangelischen Kontext hielt man - trotz einiger anderslautender Überlegungen - an der althergebrachten Leseordnung fest - und behielt somit im Bereich der EKU und VELKD die Leseordnung im Wesentlichen bei, die sich bis heute auf die (vermeintlich) ‚altkirchlichen‘ Evangelien- und Epistelreihen stützt. In den vergangenen Jahren wurden immer wieder Einwände gegen diese Perikopenordnung laut. Dass manche Textbereiche der Bibel zu intensiv vorkommen (etwa Episteltexte oder Texte aus dem Buch Deutero- oder Tritojesaja) und dafür andere Textbereiche beinahe vollständig außen vor bleiben (etwa die alttestamentliche Weisheit, aber auch weite Teile der Erzählüberlieferung und viele prophetische Texte), wurde als Problem erkannt. 2009 legte eine Arbeitsgruppe der „Konferenz Landeskirchlicher Arbeitskreise Christen und Juden“ (KLAK) ein Reformmodell vor, das eine Beibehaltung des geprägten Kirchenjahres, aber eine erneuerte, fünffache Struktur der Lesungen vorsieht. Es empfiehlt Lesungen aus Tora, Propheten, Schriften, Evangelium und Epistel. Damit soll die „ganze Bibel“ hörbar gemacht werden und für die Predigt eine Rolle spielen. Seit 2011 ist eine Arbeitsgruppe der EKD mit der Erstellung einer Perikopenrevision offiziell beauftragt, die dazu führen soll, dass das bisherige System beibehalten wird, dass aber vor allem der Anteil alttestamentlicher Texte um annähernd 58 Vgl. nur Ansgar F RANZ (Hg.), Streit am Tisch des Wortes? Zur Deutung und Bedeutung des Alten Testaments und seiner Verwendung in der Liturgie (Pietas Liturgica 8), St. Ottilien 1997. <?page no="82"?> Alexander Deeg 68 100% erhöht wird und weitere, bisher unberücksichtigte Texte aufgenommen werden. 59 (2) Aber auch implizit kann es gelingen, die Bibelbindung des evangelischen Gottesdienstes zu stärken und so einerseits die Verankerung der Gemeinde in jenem Wort zu ermöglichen, auf dem die Erwartung liegt, dass es sich immer neu als Gottes Wort erweisen möge, andererseits zu erreichen, dass die Gemeinde den Worten, Bildern und Geschichten der Bibel anders als in einem historisierenden bzw. individualisierenden Paradigma begegnet. Konkret geht es darum, mit der gemeinsamen Gebetssprache und der Sprache der Lieder in jenen Sprachraum einzuwandern, der durch die Bibel vorgegeben ist. 60 Nichts anderes war die Intention der Schweizer Reformatoren, allen voran Johannes Calvins, die den Psalter als Gebetbuch der Kirche wiederentdecken wollten. Und nichts anderes geschieht gegenwärtig an vielen Orten - unter anderem und besonders intensiv in den Niederlanden und in den USA. In den Niederlanden ist diese Erneuerung des Gebets und Gottesdienstes aus der Sprache der Bibel besonders mit dem Namen Huub Oosterhuis verknüpft. Auf ihn gehen die Impulse zurück, die inzwischen in das Programm der „Amsterdamer Theologie“ mündeten. Letztere bemüht sich, den Zusammenklang von Exegese, Poesie und Gesang zu erkunden und fruchtbar zu machen. Die Aufhebung der Trennung der wissenschaftlichen Disziplinen (hier Exegese, dort Liturgik! ) ist eine der entscheidenden Voraussetzungen für die „Amsterdamer Theologie“. Sie verhindert Kurzschlüsse auf beiden Seiten: So macht sie es unmöglich, dass die Exegese den „Sitz im Leben“ ihrer Texte im Gottesdienst und den liturgischen Schriftgebrauch von den Anfängen bis in die Gegenwart aus ihrer Forschung ausklammert. Gleichzeitig verhindert sie umgekehrt, dass die Liturgik sich nicht mehr an der Bibel orientiert, sondern stärker an der Frage, welche Art der Sprache gegenwärtig ‚populär‘ sei oder was man vom Reden der Kirche erwarte. Für Oosterhuis ist klar: „Die Bibel, in allen Tonarten gespielt und gesungen - das ist jene Kunst, die ‚Liturgie‘ genannt wird.“ 61 59 Vgl. dazu www.velkd.de/ Perikopenrevision.php. 60 Vgl. dazu auch Eberhard J ÜNGEL , Einheit und Vielheit der Kirche, in: Jürgen W ERBICK - Ferdinand S CHUMACHER (Hgg.), Weltkirche - Ortskirche. Fruchtbare Spannung oder belastender Konflikt? , Münster 2006, 143-159, hier: 158: „[…] biblische Texte sind existentiale Orte, an denen man […] sich aufhalten, hin und her gehen, Heimat gewinnen kann. Und in solcher durch das Leben der biblischen Texte gewährten Heimat beginnt man zu staunen über die in diesen Texten immer wieder aufleuchtende, ganz und gar nicht selbstverständliche und dennoch der ganzen Welt geltende Wahrheit des Evangeliums“. 61 Huub O OSTERHUIS , Im Vorübergehen, Freiburg i.Br. u.a. 1969, 141. <?page no="83"?> Heilige Schrift und Gottesdienst 69 5 SC 24 als gegenwärtiges ökumenisches Projekt SC 24 erscheint auch fünfzig Jahre nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil als richtungsweisende und unerledigte Aufgabe der Liturgiereform. Das jedenfalls sage und schreibe ich als evangelischer Theologe, der sich der Intention von SC 24 unbedingt anschließt, die Nähen zur eigenen Liturgiekonzeption wahrnimmt und Defizite sowie Probleme in der eigenen Tradition erkennt. Deshalb scheint mir eine Weiterarbeit an den genannten Fragen und Herausforderungen als ökumenisches und interdisziplinäres Projekt verheißungsvoll. Die Intention der (lutherischen) Reformation und die Intention von „Sacrosanctum Concilium“ weisen (nicht nur, aber vor allem auch) im Blick auf die Rolle der Bibel Nähen auf - und die Herausforderungen, vor denen wir stehen, betreffen katholische wie evangelische Liturgiewissenschaft und Gottesdienstgestaltende gleichermaßen. Dass sich katholische wie evangelische Liturgiewissenschaftler dabei zugleich in einen Austausch mit kulturwissenschaftlichen Überlegungen begeben können und sollten, liegt m.E. auf der Hand und setzt nur fort, was in den vergangenen Jahren bereits vielfach versucht wurde. So wurden und werden die Überlegungen des in Stanford lehrenden Literaturwissenschaftlers Hans Ulrich Gumbrecht seit einigen Jahren auch liturgiewissenschaftlich rezipiert. 62 Gumbrecht legte eine auf den ersten Blick verstörend dichotome, auf den zweiten Blick aber heuristisch hilfreiche Unterscheidung zweier unterschiedlicher kultureller Paradigmen vor und identifiziert eine in der Vormoderne greif- und beschreibbare „Präsenzkultur“ und eine typisch neuzeitliche „Sinnkultur“. Bezieht sich die Präsenzkultur auf den Körper im Raum, so die Sinnkultur auf den Geist in der Zeit. Geht die Präsenzkultur vom Ineinander von Form und Inhalt aus, so treten in der Sinnkultur Signifikant und Signifikat in einem Paradigma der Deutung auseinander. Als Paradigmen nennt Gumbrecht für die Präsenzkultur das Abendmahl, für die Sinnkultur die Parlamentsdebatte. Es liegt auf der Hand, dass sich die hermeneutischen Verschiebungen im Umgang mit der Bibel auf dem Weg in die Neuzeit auch als Verschiebungen von der Präsenzin die Sinnkultur deuten lassen. Und dass - mit Gumbrecht - gegenwärtig die Frage lauten muss, wie wir präsenzkulturelle Aspekte inmitten unserer sinnkulturell geprägten Lebensform entdecken können, damit wir das „Oszillieren zwischen Sinn und Präsenz […] erleben“. 63 Der Gottesdienst, wie ihn „Sacrosanctum Concilium“ entwirft und wie ihn bereits Luther intendierte, in seinem Wechselspiel von „Wort“ und „Ritus“ (vgl. SC 35) bietet m.E. exakt diese Möglichkeit und damit auch die 62 Vgl. Hans Ulrich G UMBRECHT , Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz (edition suhrkamp 2364), Frankfurt a.M. 2004; vgl. DERS ., Produktion von Präsenz, durchsetzt mit Absenz. Über Musik, Libretto und Inszenierung, in: Josef F RÜCHTL - Jörg Z IMMERMANN (Hgg.), Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens (edition suhrkamp 2196), Frankfurt a.M. 2001, 63-76. 63 G UMBRECHT , Diesseits der Hermeneutik (wie Anm. 62), 127. <?page no="84"?> Alexander Deeg 70 Chance, dass die Worte, Bilder und Geschichten der Bibel so inszeniert werden, dass die Überwindung sinnkultureller Engführungen möglich scheint. Dazu legt sich für evangelische wie katholische Liturgiewissenschaftler auch eine Wahrnehmung der jüdischen Liturgietradition und ein Austausch mit jüdischer Liturgiewissenschaft nahe - mit jener Tradition also, die schon länger als jede christliche Kirche eine Liturgie im Klangraum der Heiligen Schrift feiert. Nachdem zunächst im deutschsprachigen Judentum im 19. Jahrhundert die „Predigt“ neu entdeckt wurde, gab es auch dort eine Verschiebung hin zu einem zunehmend sinnkulturellen Zugang zum Gottesdienst - vor allem im reformorientierten Judentum. Schon einmal um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, dann aber vor allem in den vergangenen Jahren (und primär im US-amerikanischen Reformjudentum) wurde der Versuch unternommen, die Dimension des „Heiligen“ in der Liturgie neu zu entdecken und so auch den Umgang mit der Tora zu gestalten. 64 Hermeneutisch verbindet sich dies mit einer nach-modernen Wiederentdeckung der vor-modernen jüdischen Hermeneutik des Midrasch. Die Weise der Rabbinen, die Bibel zu lesen und dabei auf die Materialität des Textes akribisch genau zu achten und gleichzeitig die Pluralität der möglichen Textbedeutungen als kreatives Konstituens für die Auslegung im Blick zu behalten, erweist sich als gangbarer Weg zwischen den Polen einer liberalen Auflösung der Autorität der Tora und einem fundamentalistischen Beharren. 65 Es wäre m.E. das Beste, was aus der Erinnerung an fünfzig Jahre „Sacrosanctum Concilium“ folgen könnte: ein neues bibel-ökumenisches und kulturwissenschaftlich informiertes Ringen um das Verstehen der Bibel und um ihre liturgische Gestalt. So könnte auch der Weg hin zu „500 Jahren Reformation“ im Jahr 2017 bewusst als ökumenischer Lern- und Entdeckungsweg begangen werden - und sich die Liturgiewissenschaft (wieder einmal) als ökumenische Wegbereiterin erweisen. 64 Vgl. D EEG , Das äußere Wort (wie Anm. 1), 319-323. 65 Vgl. Alexander D EEG , Predigt und Derascha. Homiletische Textlektüre im Dialog mit dem Judentum (Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie 48), Göttingen 2006, bes. 289-358. <?page no="85"?> „Aus ihr werden nämlich Lesungen vorgetragen und in der Homilie ausgedeutet …“ <?page no="87"?> Wortgottesdienst Historische Typologie und aktuelle Probleme Reinhard Meßner Die Liturgiewissenschaft hat nicht die Aufgabe, Gottesdienste oder Gottesdienstformen zu kreieren, sie hat vielmehr Grundlagenreflexion zu betreiben. Beim hochaktuellen Thema „Wortgottesdienst“ hat eine solche Grundlagenreflexion, wie mir scheint, noch kaum begonnen. Dieser Beitrag ist in drei Abschnitte gegliedert: Nach einer Einleitung zur Terminologie folgen im Hauptteil einige Hinweise zu einer historischen Typologie des Wortgottesdienstes; im dritten Teil geht es dann um die aktuelle Praxis von Wortgottesdiensten oder Wort-Gottes-Feiern, speziell am Sonntag in den zunehmend häufigen Fällen, dass in bestehenden Gemeinden kein Priester verfügbar ist und deshalb keine Eucharistie stattfindet. 1 Zum Begriff „Wortgottesdienst“ Der Begriff „Wortgottesdienst“ stammt aus der evangelischen Liturgik, wo er - offensichtlich zunächst nur am Rande und ohne programmatische Bedeutung - seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verwendet wird. Der älteste mir bekannte Beleg stammt aus dem Jahr 1887. 1 Häufiger wird er seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts gebraucht, z. B. 1904 von Paul Drews 2 und 1905 von Rudolf Knopf 3 , jeweils ohne nähere Erklärung; er steht hier jedenfalls im 1 Heinrich Adolf K OESTLIN , Geschichte des christlichen Gottesdienstes. Ein Handbuch für Vorlesungen und Übungen im Seminar, Freiburg i. Br. 1887, 203 (zu Zwinglis Liturgiereform: „neben dem von der Abendmahlsfeier nunmehr geschiedenen Wortgottesdienst“). Den Beleg verdanke ich Frieder S CHULZ , Was ist ein Hauptgottesdienst? , in: DERS ., Synaxis. Beiträge zur Liturgik, hg. v. Gerhard S CHWINGE , Göttingen 1997, 123-133, hier: 130 Anm. 41. Ich habe selbst keine eigenen Nachforschungen zur Geschichte des Begriffs angestellt und folge neben Schulz den Angaben bei Jorg Christian S ALZMANN , Lehren und Ermahnen. Zur Geschichte des christlichen Wortgottesdienstes in den ersten drei Jahrhunderten (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 2. Reihe 59), Tübingen 1994, 3 Anm. 1. 2 Paul D REWS , Untersuchungen zur Didache, in: Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde des Urchristentums 5 (1904), 53-79, hier: 76.78.79. 3 Rudolf K NOPF , Das nachapostolische Zeitalter. Geschichte der christlichen Gemeinden vom Beginn der Flavierdynastie bis zum Ende Hadrians, Tübingen 1905, 227.231. Knopf <?page no="88"?> Reinhard Meßner 74 Zusammenhang der Diskussion über die ursprüngliche Gestalt des christlichen Sonntagsgottesdienstes, die seit dem 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart kontrovers geführt worden ist: 4 Gab es am Anfang eine Zweipoligkeit von Mahlfeier (Eucharistie, Brotbrechen) einerseits und einer Wortfeier andererseits, die in einem engen Zusammenhang mit dem jüdischen Synagogengottesdienst stand, welche dann ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts „Wortgottesdienst“ genannt worden ist? Diese These, im 19. Jahrhundert besonders detailliert von Theodosius Harnack begründet und ausgeführt 5 , zuletzt in der einschlägigen Studie über die frühe Geschichte des christlichen Wortgottesdienstes von Jorg Christian Salzmann 6 aufgenommen, war jahrzehntelang in Darstellungen der frühen Liturgiegeschichte die klar vorherrschende Annahme. Die Form der Messe, also der zweigeteilten Eucharistie mit Wortgottesdienst und Mahlfeier, entstand nach ihren Vertretern aus der Fusion zweier ursprünglich selbstständiger Gottesdiensttypen, deren einer „Wortgottesdienst“ genannt wird. Hier liegt der Ursprung des liturgiewissenschaftlichen Begriffs „Wortgottesdienst“ in der evangelischen Liturgik. Gemäß der anderen These, für die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem Oscar Cullmann eingetreten ist 7 , habe es seit den Anfängen eines christlichen Gottesdienstes eine integrierte Wort- und Mahlfeier gegeben, keinen eigenständigen Typ des Wortgottesdienstes neben dem eucharistischen Sakramentsgottesdienst. Es ist klar, dass die historische Hypothesenbildung mit gegenwartsbezogenen (und konfessionell bedingten) Fragestellungen zusammenhing und zusammenhängt, könnte doch die historische Annahme ursprünglich selbstständiger Wortgottesdienste die Praxis des Predigtgottesdienstes ohne Abendmahl als des regelmäßigen Sonntaghauptgottesdienstes stützen, die Annahme einer ursprünglichen integrierten Wort- und Mahlfeier die Forderung der allsonntäglichen Eucharistiefeier auch historisch begründen. Sprachlich kann man unter einem „Wortgottesdienst“ zweierlei verstehen. Entweder man begreift - stillschweigend - „Wort“ als „Wort Gottes“, dann ist ein Wortgottesdienst ein Gottesdiensttypus, dessen strukturbildendes Zentrum die Verkündigung des Wortes Gottes ist. Oder man nimmt - sprachlich ungezwungener, da der Begriff „Wortgottesdienst“ eindeutig aus den Bestandteilen „Wort“ und „Gottesdienst“ besteht - „Wort“ in einem weiteren Sinn, dann ist ein Wortgottesdienst jede Art von Gottesdienst, der ausschließspricht meist von der „Wortversammlung“, die bis zu Justin von der „Mahlversammlung“ getrennt gewesen sei. 4 Kompaktes und gutes Referat dieser Diskussion bei S ALZMANN , Lehren (wie Anm. 1), 3- 22. 5 Theodosius H ARNACK , Der christliche Gemeindegottesdienst im apostolischen und altkatholischen Zeitalter, Erlangen 1854. Harnack unterscheidet den „öffentlichen, homiletisch-didaktischen Gottesdienst“ von dem seiner Meinung nach ursprünglich davon getrennten „privaten, eucharistischen Gottesdienst“. 6 S ALZMANN , Lehren (wie Anm. 1). 7 Oscar C ULLMANN , Urchristentum und Gottesdienst (Abhandlungen zur Theologie des Alten und Neuen Testaments 3), Zürich 4 1962 (zuerst 1944). <?page no="89"?> Wortgottesdienst 75 lich oder zumindest gegenüber nonverbalen Handlungen sehr überwiegend von Wortgestalten (also verbalen Handlungen) geprägt ist; in diesem Sinn sind also etwa auch die Horen der Tagzeitenliturgie, die Andachten usw. Wortgottesdienste. In beiden Fällen handelt es sich beim Wortgottesdienst nicht um einen spezifischen liturgischen (rituellen) Typus, sondern um einen Oberbegriff, unter den man ganz unterschiedliche Gottesdiensttypen subsumieren kann. Schließlich kann man unter „Wortgottesdienst“ („liturgia verbi“ in SC 56 und im nachvatikanischen Missale Romanum) den ersten Teil der Messe verstehen, also den Lesegottesdienst als Teil der früher in der römischkatholischen Kirche so genannten Vormesse. In dieser speziellen Bedeutung scheint der Begriff in die römisch-katholische Theologie gelangt zu sein. Alle drei möglichen Begriffsbestimmungen werden - zumeist relativ unreflektiert - bis heute verwendet. Zwei je auf ihre Weise repräsentative Begriffsbestimmungen sollen das Gesagte illustrieren. 1930 erschien Walter Bauers berühmter, bis heute bei aller notwendigen Modifikation in der Fragestellung höchst lesenswerter Beitrag Der Wortgottesdienst der ältesten Christen 8 . Hier findet sich der Begriff also schon im Titel. Der Vortrag beginnt mit dem Satz, wohl der ersten Definition von „Wortgottesdienst“ überhaupt: „‚Wortgottesdienst‘ im Sinne unseres Themas ist ein Gottesdienst, der nicht von einer Handlung her seinen eigentlichen Inhalt gewinnt, in dem vielmehr das Wort herrscht.“ 9 Man kann natürlich darüber diskutieren, ob Wort und Handlung in diesem Satz sachgerecht einander gegenübergestellt sind, sind doch auch verbale Vollzüge im christlichen Gottesdienst Handlungen (verbale vs. nonverbale Handlungen). Es geht im vorliegenden Zusammenhang darum, dass der Autor unter „Wortgottesdienst“ im Prinzip alle gottesdienstlichen Akte versteht, die nicht Sakramentsgottesdienste sind, den Begriff also im Sinn der zweiten der oben genannten möglichen Bedeutungen nimmt. Ganz anders definiert ein prominenter römisch-katholischer Autor, Rupert Berger, in seinem weit verbreiteten Neuen Pastoralliturgischen Handlexikon von 1999, wenn er sub voce „Wortgottesdienst“ erklärt: „Gottesdienstliche Versammlung, in deren Mittelpunkt die Verkündigung des Wortes Gottes steht, selbständig abgehalten oder in Verbindung mit der Eucharistie als erster Hauptteil der Messe oder ähnlich als Teilstück einer sonstigen sakramentlichen Feier.“ 10 Hier liegt also der Akzent ganz deutlich auf der Verkündigung des Wortes Gottes; Wortgottesdienst ist Verkündigungsgottesdienst. Bis in den Wortlaut ganz ähnlich formuliert auch Franz Schneider im Artikel Wortgottesdienst - Wortgottesfeier in der dritten Auflage des Lexikons für Theologie und Kirche. 11 Der hier offensichtlich mit 8 Walter B AUER , Der Wortgottesdienst der ältesten Christen (Sammlung gemeinverständlicher Vorträge und Schriften aus dem Gebiet der Theologie und Religionsgeschichte 148), Tübingen 1930. 9 Ebd., 3. 10 Rupert B ERGER , Neues Pastoralliturgisches Handlexikon, Freiburg i. Br. u. a. 1999, 554. 11 Franz S CHNEIDER , Wortgottesdienst, Wort-Gottes-Feier, in: Lexikon für Theologie und Kirche 3 10 (2001), 1305f, hier: 1305: „W. dient als Bezeichnung für Gottesdienstformen, in <?page no="90"?> Reinhard Meßner 76 „Wortgottesdienst“ synonym verstandene Begriff „Wort-Gottes-Feier“ ist bekanntlich ziemlich rezenten Datums. Seine Verbreitung im theologischen und kirchlichen Sprachgebrauch begann wohl mit dem deutsch-schweizerischen Gottesdienstbuch für sonntägliche Wortgottesdienste, das 1997 unter dem Titel Die Wortgottesfeier erschienen ist 12 . Er geht letztlich wohl auf SC 35 zurück, wo von der wünschenswerten Förderung („foveatur“) einer „sacra verbi Dei celebratio“ die Rede ist. In der im Auftrag der deutschen Bischöfe erfolgten, daher offiziösen deutschen Konzilsübersetzung wird der lateinische Ausdruck mit „Wortgottesdienst“ wiedergegeben, aber „Wort-Gottes-Feier“ (bzw. „Feier des Wortes Gottes“) ist natürlich eine genauere Übertragung. Der erste Bestandteil dieses neuen Begriffs ist „Wort Gottes“ (+ „Feier“), nicht „Wort“ (+ „Gottesdienst“) wie bei „Wortgottesdienst“. Unter einer Wort- Gottes-Feier kann sinnvollerweise nur ein Verkündigungsgottesdienst verstanden werden, nicht jeglicher Gottesdienst, der ausschließlich oder weit überwiegend durch verbale Vollzüge geprägt ist. 2 Hinweise zu einer historischen Typologie des Wortgottesdienstes 2.1 Ansätze einer Typologie bei P. Bradshaw und R. Zerfaß Nicht nur die Begrifflichkeit, sondern vor allem auch die dahinterstehende Sache ist in der Liturgiewissenschaft - trotz häufiger Verwendung der Begriffe „Wortgottesdienst“ und jetzt auch „Wort-Gottes-Feier“ - noch wenig reflektiert. Bekannt geworden ist, auch über den englischen Sprachraum hinaus, der auch in französischer (nicht jedoch in deutscher) Übersetzung vorliegende einschlägige und wichtige Beitrag von Paul F. Bradshaw 13 über die unterschiedlichen Weisen der Schriftverwendung im Gottesdienst. Bradshaw unterscheidet zwischen anamnetischem („kerygmatic or anamnetic“), katechetischem („didactic“; im Deutschen sollte man das anders besetzte Wort „didaktisch“ vermeiden) und - was meines Erachtens von letzterem wohl nicht prinzipiell abzuheben ist - parakletischem („paracletic“) Schriftgebrauch. Beim anamnetischen Schriftgebrauch wird das Wort der Schrift rituell inszeniert, die Perikopen sind anlassbezogen ausgewählt; beim katechetisch-kerygmatischen Schriftgebrauch tritt die rituelle Ästhetik in den Hintergrund, das wichtigste Auswahlprinzip der Schriftlesung ist die lectio continua bzw. die Bahnlesung. deren Mittelpunkt die Verkündigung des Wortes Gottes steht und die entweder eine selbständige Feier bilden oder ein Teilstück einer (seit der Liturgiereform des Vat. II jeder) sakramentlichen Feier darstellen.“ 12 Die Wortgottesfeier. Der Wortgottesdienst der Gemeinde am Sonntag. Vorsteherbuch für Laien, hg. v. Liturgischen Institut Zürich im Auftrage der deutschschweizerischen Bischöfe, Freiburg/ Schweiz 1997. 13 Paul F. B RADSHAW , The Use of the Bible in Liturgy: Some Historical Perspectives, in: Studia Liturgica 22 (1992), 35-52; französisch: Perspectives historiques sur l’utilisation de la bible dans la liturgie, in: La Maison-Dieu 189 (1992), 79-104. <?page no="91"?> Wortgottesdienst 77 Den besten Ansatzpunkt für eine Reflexion der Sache und vor allem für die Herausarbeitung einer historischen Typologie des Wortgottesdienstes bietet meines Erachtens immer noch die Innsbrucker Dissertation von Rolf Zerfaß, die 1967 unter dem vielleicht nicht ganz glücklichen, weil gegenüber dem Inhalt des Buches zu engen Titel Die Schriftlesung im Kathedraloffizium Jerusalems 14 veröffentlicht worden ist. Diese von Josef Andreas Jungmann angeregte und betreute Dissertation steht in einer interessanten Wechselwirkung mit dem zumindest im deutschen Sprachraum bekanntesten Buch zum Thema „Wortgottesdienst“, nämlich Jungmanns in mehrere Sprachen übersetzter und daher weltweit rezipierter Schrift, die in der letzten Auflage von 1965 - unter dem Einfluss der Terminologie des Zweiten Vatikanischen Konzils - Wortgottesdienst im Licht von Theologie und Geschichte heißt 15 , während der Titel der ersten Auflage von 1939 (und noch der dritten von 1961) Die liturgische Feier gewesen war 16 . Die Dissertation von Zerfaß beginnt in ihrem ersten Satz mit einer Bezugnahme auf dieses Buch (auf die dritte Auflage von Die liturgische Feier, da die Dissertation 1962 eingereicht wurde) 17 ; sie ist nichts anderes als der Versuch einer partiellen historischen Aufarbeitung des von Jungmann postulierten und in der deutschsprachigen Liturgiewissenschaft wie auch in der Liturgiepraxis breit rezipierten „liturgischen Grundschemas“ (für nicht-sakramentlichen Gottesdienst) Lesung - Gesang - Gebet 18 . Dieses 14 Rolf Z ERFASS , Die Schriftlesung im Kathedraloffizium Jerusalems (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 48), Münster 1968. Der Titel der Einreichfassung von 1962 war umfassender: „Die Rolle der Lesungen im Gemeindeoffizium orientalischer Riten“. Erste Veröffentlichung der wichtigsten Ergebnisse: Rolf Z ERFASS , Die Rolle der Lesung im Stundengebet, in: Liturgisches Jahrbuch 13 (1963), 159-167. 15 Josef Andreas J UNGMANN , Wortgottesdienst im Lichte von Theologie und Geschichte, 4., umgearb. Aufl. der „Liturgischen Feier“, Regensburg 1965. Vgl. Jungmanns begeisterten Kommentar zu SC 35,4 (Einführung von Wortgottesdiensten): „Es hat damit eine Form liturgischer Feier von neuem in der Kirche Hausrecht erhalten, die in der Frühzeit der Kirche weithin Geltung besessen hatte und deren Formgesetze - Schriftwort, im Gesang beantwortet und im Gebet ausklingend - an vielen Stellen der Liturgie bis heute nachgewirkt haben“ (Josef Andreas J UNGMANN , [Kommentar zur] Constitutio de sacra liturgia, in: Das Zweite Vatikanische Konzil. Konstitutionen, Dekrete und Erklärungen lateinisch und deutsch. Kommentare, Bd. 1 [Lexikon für Theologie und Kirche. Ergänzungsbände], Freiburg i. Br. u.a. 1966, 10-109, hier: 40f). 16 Josef Andreas J UNGMANN , Die liturgische Feier. Grundsätzliches und Geschichtliches über liturgische Formgesetze, Regensburg 1939, 3 1961. Zur Wechselwirkung zwischen Jungmanns Buch und Zerfaß’ Dissertation vgl. ausführlich Rudolf P ACIK , „Last des Tages“ oder „geistliche Nahrung“? Das Stundengebet im Werk Josef Andreas Jungmanns und in den offiziellen Reformen von Pius XII. bis zum II. Vaticanum (Studien zur Pastoralliturgie 12), Regensburg 1997, 133-138. 17 Z ERFASS , Schriftlesung (wie Anm. 14), 1: „Vor einem Vierteljahrhundert hat ein schmales Bändchen aus der Feder J. A. Jungmanns eine Diskussion angestoßen, die sich inzwischen in etlichen Beschlüssen des Zweiten Vatikanischen Konzils niedergeschlagen hat und durch die nachkonziliaren Reformen neu und heftig in Gang gekommen ist: die Diskussion um die Grundstrukturen christlichen Wortgottesdienstes.“ 18 Vgl. J UNGMANN , Wortgottesdienst (wie Anm. 15), 54-67 (Kap. 4: „Das liturgische Grundschema“). <?page no="92"?> Reinhard Meßner 78 sollte nun von Zerfaß konkret im Teilbereich des östlichen Kathedraloffiziums aufgewiesen werden. Jungmann bezieht sich im Vorwort der Neubearbeitung seines Buches von 1965 auf die (damals noch nicht veröffentlichte) Dissertation von Zerfaß, wenn er sagt, dass seine 1939 in der Erstauflage vorgelegte These vom „liturgischen Grundschema“ einer „genaueren geschichtlichen Untersuchung“ bedürfe, die er selbst wegen anderer Aufgaben nicht habe durchführen können. „Schließlich gelang es mir aber, einen für die Aufgabe gut ausgerüsteten Schüler zu finden, der sich […] bereit fand, in seiner Doktordissertation das nicht sehr leichte Thema anzupacken.“ 19 Bei Jungmann muss freilich ein gewisses Missbehagen vorhanden gewesen sein, weil die Ergebnisse von Zerfaß ihm nicht so richtig in sein Konzept gepasst haben. 20 Die breit und überzeugend begründete Grundthese von Zerfaß besagt nämlich ziemlich genau das Gegenteil von dem, was Jungmann vertreten hatte. Hatte dieser - durchaus in Hinblick auf eine Reform des Stundengebets - im Sinn seines „Grundschemas“ gemeint, dass der Kern des Kathedraloffiziums (in deutlicher Unterscheidung vom monastischen Offizium) die Schriftlesung gewesen sei, ist seit der Arbeit von Zerfaß klar, dass - man müsste heute genauer sagen: nicht-psalmodische 21 - Schriftlesung nicht zur ursprünglichen Schicht des oder jedenfalls der meisten Traditionen des östlichen Kathedraloffiziums gehört. Für unsere Fragestellung ist ein anderer, freilich mit der Hauptthese eng zusammenhängender Aspekt der Arbeit zentral. Zerfaß unterscheidet, nach einem sehr detaillierten Durchgang durch die unterschiedlichen Wortgottesdienste in der Peregrinatio Egeriae 22 , zwei Grundtypen von Wortgottesdienst 23 19 Ebd., 8. 20 Dies spiegelt sich auch in Jungmanns Rezension des Buches (Zeitschrift für Katholische Theologie 90 [1968], 331-333), bes. in dem relativierenden Satz (332f): „So wertvoll also die uns in diesem Buch vorgelegte Entwicklung des ‚lesungsfreien‘ […] Wortgottesdienstes und Stundengebetes ist und sosehr diesem ein eigenständiger Wert im Leben der Kirche zuzuerkennen ist, so bleibt doch bestehen, daß die kirchliche Versammlung immer wieder den von der Verkündigung ausgehenden Wortgottesdienst fordert.“ Für den Hinweis darauf danke ich Rudolf Pacik. 21 Seit den Arbeiten von Jungmann und Zerfaß ist vor allem von Adalbert de Vogüé in einer Reihe von Arbeiten herausgestellt worden, dass die Psalmodie im Stundengebet, vor allem im monastischen Offizium, ursprünglich nicht Gebetsvollzug war, wie über Jahrhunderte hin als scheinbar selbstverständlich angenommen, sondern Schriftwort zur Meditation und als Anstoß zum Gebet. Vgl. zusammenfassend Adalbert de V OGÜÉ , Die Regula Benedicti. Theologisch-spiritueller Kommentar (Regulae Benedicti Studia. Supplementa 16), Hildesheim 1983, 165-179. Im Licht dieser wichtigen Neuerkenntnis müsste der von Zerfaß so genannte „latreutische Typ“ des Wortgottesdienstes noch differenzierter betrachtet werden. Vgl. die Bemerkungen von P ACIK , „Last des Tages“ (wie Anm. 16), 140-144. Es bedeutet übrigens auch, dass Jungmanns „liturgisches Grundschema“ sich eher am alten monastischen Offizium als am Kathedraloffizium aufweisen lässt. 22 Z ERFASS , Schriftlesung (wie Anm. 14), 4-37. Der Text ist heute für Leser aus dem deutschen Sprachraum am bequemsten zugänglich in der zweisprachigen Ausgabe: Egeria, Itinerarium. Reisebericht. Mit Auszügen aus Petrus Diaconus, De locis sanctis. Die heili- <?page no="93"?> Wortgottesdienst 79 (im weiteren Sinn des Wortes als vorwiegend verbal geprägter Gottesdienst verstanden). Den einen Grundtyp nennt er den „latreutischen“. Hier geht es also um die anabatische Richtung des Gottesdienstes von unten nach oben: Der Mensch wendet sich anbetend an Gott. Diese Art von Wortgottesdienst sieht er idealtypisch verwirklicht im Jerusalemer, dann aber auch in den meisten anderen östlichen Gestalten des Kathedraloffiziums. Davon im Typus deutlich zu unterscheiden, als zunächst völlig eigenständiger Wortgottesdiensttyp, ist nach Zerfaß ein „kerygmatischer“ Wortgottesdienst, der in der Peregrinatio Egeriae in unterschiedlichen Kontexten aufzuweisen ist: einerseits in kurzen Wallfahrtsgottesdiensten, wenn die Pilgerin samt ihrer Begleitung an einer heiligen Stätte betet, die entsprechende Schriftstelle liest - in der Regel eine Evangelienperikope, etwa am Berg Nebo aber auch einen alttestamentlichen Text (aus dem Deuteronomium), einen Psalm oder ein Canticum singt und noch einmal betet 24 ; sodann am Sonntag in der sogenannten Auferstehungsvigil am frühen Morgen, deren Kern die Verlesung des (Passionsund? ) Auferstehungsevangeliums durch den Bischof innerhalb der Schranken des heiligen Grabes darstellt 25 (die einschlägigen Forschungsergebnisse von Juan Mateos 26 lagen Zerfaß schon vor); schließlich in katechetischen Gottesdiensten speziell für die vorösterliche Quadragesima, bei Egeria in ihrer Existenz bezeugt 27 , im Armenischen Lektionar einige Jahrzehnte später auch im Perikopenbestand belegt 28 . All das nennt Zerfaß „kerygmatischen Wortgottesdienst“, also Verkündigungsgottesdienst. gen Stätten. Übersetzt und erklärt von Georg R ÖWEKAMP unter Mitarbeit von Dietmar T HÖNNES (Fontes Christiani [im Folgenden: FC] 20), Freiburg i. Br. u.a. 1995. 23 Z ERFASS , Schriftlesung (wie Anm. 14), 37f. 24 Etwa in Peregrinatio Egeriae 10,7 (FC 20, 164 R ÖWEKAMP ): „et facta est ibi [am Berg Nebo] oratio, lecta etiam pars quaedam Deuteronomii in eo loco, nec non etiam et canticus ipsius, sed et benedictiones, quas dixerat super filios Israhel. Et iterato post lectione facta est oratio.“ Hier findet Z ERFASS (ebd., 5) Jungmanns Grundschema verwirklicht. 25 Peregrinatio Egeriae 24,9-11 (FC 20, 232 R ÖWEKAMP ). 26 Juan M ATEOS , La vigile cathédrale chez Égérie, in: Orientalia Christiana Periodica 27 (1961), 281-312. 27 Peregrinatio Egeriae 27,6f (FC 20, 246-248 R ÖWEKAMP ): „Diebus vero quadragesimarum […] quarta feria ad nona in Sion proceditur iuxta consuetudinem totius anni et omnia aguntur, quae consuetudo est ad nonam agi, preter oblatio. Nam ut semper populus discat legem, et episcopus et presbyter predicant assidue. […] Sexta feria autem similiter omnia aguntur, sicut quarta feria.“ Hier ist also explizit nicht von Schriftlesung, sondern nur von Predigten die Rede, welche aber wohl mit Sicherheit einen Predigttext voraussetzen. 28 Athanase R ENOUX , Le codex arménien Jérusalem 121. II: Édition comparée du texte et de deux autres manuscrits. Introduction, textes, traduction et notes (Patrologia Orientalis 36/ 2), Turnhout 1971, 239-255 (Nr. XVIII-XXXII); vgl. ebd., 178f.185f. Es scheint, dass hier die Lesungen schon in die Vesper integriert sind. Vgl. Z ERFASS , Schriftlesung (wie Anm. 14), 61-65. <?page no="94"?> Reinhard Meßner 80 2.2 Die Grundtypen: anamnetischer, katechetischer und latreutischer Wortgottesdienst Diese Unterscheidung zweier Wortgottesdiensttypen ist nach wie vor - ein halbes Jahrhundert nach Abfassung der Arbeit - der beste Ansatz für eine historische Typologie des Wortgottesdienstes. Meines Erachtens sind allerdings diese beiden Typen noch weiter zu differenzieren, weil der von Zerfaß so genannte „kerygmatische Wortgottesdienst“ keinen einheitlichen Typus darstellt, sondern zwei ganz verschiedene Typen in sich vereint. Das bedeutet konkret: Man hat bei Zerfaß’ „kerygmatischen Wortgottesdiensten“ zu unterscheiden zwischen 1) „anamnetischen Wortgottesdiensten“ (entsprechend dem „anamnetischen Schriftgebrauch“ in der Terminologie von Bradshaw), bei denen die anlass-, orts- und / oder zeitbezogene Auswahl der Perikope(n) dem gottesdienstlichen Gedächtnis eines Geschehens zu einer bestimmten Zeit und - im Jerusalemer und palästinischen Kontext natürlich vor allem - an einem bestimmten Ort dient, und 2) „katechetischen Wortgottesdiensten“, also Gottesdiensten, die der Unterweisung dienen - das sind im spätantiken Jerusalem etwa die Wortgottesdienste an den Mittwochen und Freitagen der Quadragesima bzw. in der zweiten Woche an allen Werktagen von Montag bis Freitag. Diese beiden Typen - zu denen dann der Typus des „latreutischen Wortgottesdienstes“ hinzukommt, worunter die Horen der Tagzeitenliturgie und sonstige Gebetsgottesdienste zu verstehen sind - haben ganz unterschiedliche Funktionen und unterscheiden sich demgemäß auch in ihrer rituellen Ästhetik. Anamnetische Wortgottesdienste sind - über das Jerusalemer und palästinische Lokalkolorit, über die auf die heiligen Stätten bezogene Frömmigkeit, die sich nicht einfach an jeden beliebigen Ort verpflanzen lässt, hinaus - anlassbezogen im Sinn von festbezogen. Daraus entwickelt sich die Festliturgie, speziell auch das gerade im Westen in seiner Genese immer noch relativ wenig geklärte Festoffizium 29 . In diesen Wortgottesdiensten wird die Schriftperikope in den Formen ritueller Kommunikation inszeniert; sie ist - zusammen mit stark schriftbezogenen Gesängen - das ästhetische Medium, um einen Gedächtnisraum zu errichten, damit die Teilnehmer an diesem Wortgottesdienst - ob das nun Egeria mit ihrer Entourage ist oder die große Jerusalemer Gemeinde samt den vielen Festpilgern an den heiligen Stätten -selber Teil des Geschehens werden, das in ritueller Repräsentation durch die Schriftlesung (meistens eine Evangelienlesung) aufgerichtet wird. Eine ganz andere Funktion haben die katechetischen, also der Unterweisung dienenden Gottesdienste, bei denen auch die Lesungsauswahl anderen Prinzipien folgt (in der Regel lectio continua oder semi-continua, sehr gut nachweisbar am Jerusalemer Lesematerial im Armenischen Lektio- 29 Hier besteht noch erheblicher Forschungsbedarf. Einen Anfang machte Raymond L E R OUX , Aux origines de l’office festif: Les antiennes et les psaumes de Matines et de Laudes pour Noël et le 1 er janvier, in: Études Grégoriennes 4 (1961), 65-170. <?page no="95"?> Wortgottesdienst 81 nar 30 ); dazu kommt bei diesem Typus als zweites wesentliches Element die Predigt. Weitere gottesdienstliche - man kann hier mit Recht sagen: - Rahmenelemente mögen vorhanden sein, mögen aber auch fehlen; aus den ältesten Jerusalemer Quellen (Egeria und das Armenische Lektionar) lassen sich solche nicht nachweisen (was natürlich nicht heißt, dass es sie nicht gegeben hat), sie sind jedenfalls für den Gottesdiensttyp nicht charakteristisch. In den Jerusalemer Quellen belegt ist, dass in den quadragesimalen Werktagsgottesdiensten auf die doppelte (am Mittwoch) bzw. dreifache (am Freitag) alttestamentliche lectio semi-continua jeweils ein responsorisch gesungener Psalm folgt 31 , dessen Funktion mir bislang nicht ganz klar geworden ist 32 . Mehr an euchologischer und gesanglicher Rahmung lässt sich für diese Gottesdienste nicht erheben; eine solche ist aber für diesen Gottesdiensttyp nicht entscheidend und bildet allenfalls die gottesdienstliche Einbettung für die hier allein zentrale Unterweisung in Schriftlesung und Predigt. Anders ist es, wie gesagt, bei den anamnetischen Gottesdiensten: Hier ist die ästhetisch-rituelle Inszenierung auch der Schriftlesung das Entscheidende. Am besten lässt sich dies für das spätantike Jerusalem am speziellen Sonntagmorgengottesdienst (Mateos’ Jerusalemer Kathedralvigil bzw. Auferstehungsvigil) aufweisen, den es ja nicht nur in Jerusalem gegeben hat, sondern der in ähnlicher Weise auch für den antiochenischen Bereich in den Apostolischen Konstitutionen bezeugt ist 33 und der dann in Ost und West, hier vor allem mit der Benediktregel 34 und im benediktinischen Offizium, eine erhebli- 30 An den Mittwochen der Fastenzeit werden Exodus (1,1-5,3) und Joel (1,14-4,21; dazu am 6. Mittwoch Sach 9,9-16a) in Bahnlesung gelesen, an den Freitagen Deuteronomium (6,46-11,25), Hiob (6,2-21,34) und (Deutero-)Jesaja (Jes 40,1-47,4). Die einzelnen Perikopen s. bei R ENOUX , Codex (wie Anm. 28), 239-255. 31 R ENOUX , Codex (wie Anm. 28), 239-255. 32 R ENOUX , ebd., 179, bringt diesen Psalm mit der von Egeria bezeugten Prozession von Sion zur Anastasis in Verbindung, bei der „cum ymnis populus deducet episcopum usque ad Anastase“, wo die Vesper gefeiert wird (Peregrinatio Egeriae 27,6 [FC 20, 248 R ÖWEKAMP ]) - eine plausible Hypothese. 33 Apostolische Konstitutionen II 59,4 (Sources Chrétiennes 320, 326 M ETZGER ; eigene Übersetzung): „Wie will sich der vor Gott rechtfertigen, der an diesem Tag nicht herbeikommt, um das heilbringende Wort über die Auferstehung zu hören, (an dem Tag,) an dem wir auch stehend drei Gebete verrichten um des Gedächtnisses dessen willen, der nach drei Tagen auferstand? “ Zur Deutung auf eine sonntägliche Auferstehungsvigil vgl. M ATEOS , Vigile cathédrale (wie Anm. 26), 296-302; Z ERFASS , Schriftlesung (wie Anm. 14), 44-46. 34 Regula Benedicti 11: drei Cantica mit Alleluia, (4 Schriftlesungen mit Responsorien), Te Deum, (Auferstehungs-)Evangelium, verkündet vom Abt, Te decet laus. Vgl. M ATEOS , Vigile cathédrale (wie Anm. 26), 305f; Adalbert de V OGÜÉ , La règle de saint Benoît. Tome V: Commentaire historique et critique (Parties IV-VI) (Sources Chrétiennes 185), Paris 1971, 474-479; Chrysogonus W ADDELL , A ‚Third Nocturn‘ Office of the Resurrection, in: Liturgy. Cistercians of the strict observance 8 (1974), Nr. 3, 67-86 (http: / / cdm16259.contentdm.oclc.org/ cdm/ singleitem/ collection/ p15032coll3/ id/ 15/ rec/ 14; 12.01.2016). Im cursus Romanus wurde nur das Te Deum übernommen. <?page no="96"?> Reinhard Meßner 82 che Erfolgsgeschichte gehabt hat 35 . Ausgehend von der Auffassung des Sonntags als Wochenostern - im 4. Jahrhundert noch ein relativ junges, meines Wissens zuerst bei Eusebius belegtes Konzept 36 -, wird am frühen Sonntagmorgen anlassbezogen, also in diesem Fall sonntagsbezogen, die Schriftperikope ausgewählt, also eine Auferstehungsperikope - vielleicht auch, wie auf Grund der von Egeria geschilderten affektiven Reaktionen der Zuhörer 37 zumeist angenommen 38 , auch noch ein Teil des Passionsberichtes (einen Nachweis dafür gibt es allerdings nicht). Deutlich ist jedenfalls, für unsere Fragestellung entscheidend, die ästhetische Inszenierung dieser Evangelienperikope, die - das ist ein erstes hochwichtiges Element dieser Inszenierung - nicht irgendwo in der Anastasis-Rotunde, sondern im Heiligen Grab selbst verkündet wird (das ist in dieser Form natürlich spezielle Jerusalemer Lokaltradition). Bevor die Leute in die Anastasis-Kirche eingelassen werden, geht der Bischof schon in das Heilige Grab hinein 39 und verbirgt sich dort, um dann im gottesdienstlichen Vollzug die Rolle des Engels zu spielen, der den Frauen die Auferstehung verkündigt. Dann erst kommen die Leute herein, und das Evangelium von der Auffindung des leeren Grabes wird ästhetisch inszeniert. Dies geschieht zunächst einmal durch Licht: Die Lichter in der Kirche („infinita luminaria“) sind entzündet 40 , vermutlich, wie es Egeria für das tägliche Luzernar explizit bezeugt 41 , von dem im Heiligen Grab brennenden ewigen Licht. Es wird hell - entsprechend der Erzählung von der Auffindung des leeren Grabes am Sonntag in Mk 16,2: „als die Sonne aufging“ -, und der Bischof verkündet im Morgenlicht die Auferstehung. Über die genaue Art der Durchführung der Evangelienlesung bzw. -kantillation erfahren wir nichts 42 ; klar ist auf Grund der Schilderung der Reaktionen der Zuhörer, dass sie eine intensive affektive Wirkung hat („rugitus et mugitus … et tantae 35 Überblick bei Juan M ATEOS , L’Office dominical de la Résurrection, in: Revue du clergé africain 19 (1964), 263-288. 36 Eusebius, De solemnitate paschali 7 (Patrologia Latina 24, 701): ἡμεῖς δὲ […] ἐφ᾽ ἑκάστης Κυριακῆς ἡμέρας τὸ ἑαυτῶν Πάσχα τελοῦντες. 37 Peregrinatio Egeriae 24,10 (FC 20, 232 R ÖWEKAMP ): „Quod cum ceperit legi, tantus rugitus et mugitus fit omnium hominum et tantae lacrimae, ut quamvis durissimus possit moveri in lacrimis, Dominum pro nobis tanta sustinuisse.” 38 So ohne Einschränkung M ATEOS , Vigile cathédrale (wie Anm. 26), 290: „[…] elle comprenait aussi la Passion. C’était donc une lecture embrassant tout le mystère de la Rédemption: Passion - Mort - Résurrection du Sauveur.” 39 Peregrinatio Egeriae 24, 9 (FC 20, 232 R ÖWEKAMP ): „Mox autem primus pullus cantaverit, statim descendet episcopus et intrat intro speluncam ad Anastasim.“ 40 Ebd.: „Aperiuntur hostia omnia et intrat omnis multitudo ad Anastasim, ubi iam luminaria infinita lucent.“ 41 Peregrinatio Egeria 24,4 (FC 20, 228 R ÖWEKAMP ): „Lumen autem de foris non affertur, sed de spelunca interiori eicitur, ubi noctu ac die semper lucerna lucet, id est de intro cancellos.“ 42 Egeria sagt nur, dass der Bischof jetzt an den Eingang des Grabes tritt und aus einem Codex das Evangelium verliest; Peregrinatio Egeriae 24,10 (FC 20, 232 R ÖWEKAMP ): „Et […] prendet evangelium et accedet ad hostium et leget resurrectionem Domini episcopus ipse.“ <?page no="97"?> Wortgottesdienst 83 lacrimae“). Das kann also kein schlichtes, gar schlechtes Vorlesen gewesen sein, der Akt der Verkündigung ist offensichtlich rhetorisch hoch stilisiert, sicherlich in Form einer Kantillation. Die Schriftlesung im anamnetischen Wortgottesdienst richtet sich generell in erster Linie an den menschlichen Affekt und nicht unmittelbar an den Intellekt. Das zweite Element einer nonverbalen ästhetischen Inszenierung ist das Hineintragen von Weihrauch in das Heilige Grab 43 , entsprechend den Myrrhophoren, also den salben- und dufttragenden Frauen am Ostermorgen. In diesem anamnetischen Gottesdienst, in dessen Mittelpunkt die evangelische Schriftlesung steht, wird Heilsgeschehen durch die rituell-ästhetische Inszenierung repräsentiert, wird es zum real präsenten Ereignis in ritueller Mediation, was beim katechetischen Gottesdienst, wenn es da denn überhaupt geschieht, ganz untergeordnete, in der Regel gar keine Bedeutung hat. 2.3 Die Verschmelzung der Grundtypen: hybride Wortgottesdienste Höchst bedeutsam für eine historische Typologie des Wortgottesdienstes ist sodann die von Zerfaß im größten Teil seiner Dissertation für einige östliche Riten aufgezeigte liturgiegeschichtliche Entwicklung (die sich ähnlich aber nicht nur im Osten, sondern zumindest partiell auch im Westen nachweisen lässt), dass zwei ursprünglich klar voneinander geschiedene Grundtypen von Wortgottesdienst zu Mischtypen verschmelzen. 44 Latreutische Gottesdienste in Gestalt der Tagzeitenliturgie werden teils mit anamnetischen, teils mit katechetischen (also mit den beiden Typen des von Zerfaß so genannten kerygmatischen Wortgottesdienstes) zu hybriden Gottesdiensten verbunden. Das Ergebnis einer Verschmelzung von latreutischem und anamnetischem Wortgottesdienst ist etwa der Sonntagsorthros (Morgengottesdienst), der für die Spiritualität des Sonntags z. B. in der byzantinischen Tradition von erheblicher Bedeutung ist 45 . Die Integration der sonntäglichen Auferstehungsvigil in den ursprünglich davon unabhängigen, tagzeitenspezifischen, aber nicht sonntagsspezifischen Orthros lässt sich gut in den späteren Jerusalemer Quellen verfolgen, besonders im georgischen Kanonar. Aus diesem Prozess ist - nach der Übernahme der Jerusalemer bzw. der sabaitischen Tagzeitenliturgie in Byzanz - der heutige byzantinische Sonntagsorthros entstanden: 46 Sein 43 Ebd.: „ecce etiam thiamataria inferuntur intro spelunca Anastasis, ut tota basilica Anastasis repleatur odoribus.“ 44 Z ERFASS , Schriftlesung (wie Anm. 14), 56-106 (Jerusalem). 115-151 (byzantinischer Ritus). 151-173 (westsyrischer Ritus). 45 Vgl. Peter P LANK , Der Sonntag in den östlichen Kirchen. Österliches Erleben im Erhoffen, Hören und Schauen, in: Alberich M. A LTERMATT - Thaddäus A. S CHNITKER unter Mitarbeit von Walter H EIM (Hgg.), Der Sonntag. Anspruch - Wirklichkeit - Gestalt (FS Jakob Baumgartner), Würzburg - Freiburg/ Schweiz 1986, 175-186, bes. 179-181; Robert T AFT , The Liturgy of the Hours in East and West. Origins of the Divine Office and Its Meaning for Today, Collegeville 1986, 288f. 46 Grundlegend: Juan M ATEOS , Quelques problèmes de l’orthros byzantin, in: Proche- Orient Chrétien 11 (1961), 17-35.201-220; eine modifizierte Hypothese zur Genese des <?page no="98"?> Reinhard Meßner 84 tagesspezifisches Charakteristikum ist die Verkündigung des Auferstehungsevangeliums, die auch entsprechend gesanglich eingebettet ist 47 und ästhetisch inszeniert wird. Die Verbindung von latreutischem Gottesdienst (Stundengebet) mit einem katechetischen, also der Unterweisung dienenden Wortgottesdienst liegt in der byzantinischen (letztlich Jerusalemer) Vesper in der Fastenzeit vor. 48 Auch in diesem Fall bezeugen zunächst die Jerusalemer Quellen - hier wohl schon das Armenische Lektionar aus dem frühen 5. Jahrhundert -, wie die vom Stundengebet unabhängige Unterweisung, die nach Egeria im späten 4. Jahrhundert zur neunten Stunde des Tages und in Sion - nicht in der Anastasis, dem Ort der Tagzeitengottesdienste - stattgefunden hat, in die Vesper hineinwächst. Daher stammen die alttestamentlichen Schriftlesungen in der Vesper der Quadragesima im heutigen byzantinischen Horologion, also ein Element, das der ursprünglichen Kathedralvesper völlig fremd gewesen ist. Ähnliches gilt für die Vesper am Vorabend von Festen, wo eine Verschmelzung von früheren Vigillesungen mit dem Vespergottesdienst stattgefunden hat. Vor allem der hybride Sonntagmorgengottesdienst ist auch in anderen liturgischen Traditionen, wohl zumeist - wie in Armenien 49 - von Jerusalem übernommen, nachweisbar. Für die westlichen Liturgien ist hier vor allem die sonntagsspezifischen Teils auf der Grundlage neuerer Forschungen: Byron D. S TUHL - MAN , The Morning Offices of the Byzantine Rite: Mateos Revisited, in: Studia Liturgica 19 (1989), 162-183, hier: 168-171. Knappe, aber sehr substantielle Information bei Hans- Joachim S CHULZ , Liturgie, Tagzeiten und Kirchenjahr des byzantinischen Ritus, in: Wilhelm N YSSEN - Hans-Joachim S CHULZ - Paul W IERTZ (Hgg.), Handbuch der Ostkirchenkunde, Bd. II, Düsseldorf 1989, 30-100, hier: 61-63. Hilfreich ist die Übersicht über den komplizierten Aufbau des Orthros (Ferial- und Sonntagsorthros in Parallelspalten) bei T AFT , Liturgy of the Hours (wie Anm. 45), 279-282. 47 Vor allem durch die Auferstehungsevlogitaria (εὐλογητάρια ἀναστάσιμα) und die nach dem Oktoichos wechselnden Hypakoi vor dem Evangelium und den Auferstehungshymnus danach. Deutsche Übersetzungen: Mysterium der Anbetung. Göttliche Liturgie und Stundengebet der Orthodoxen Kirche, hg. v. Sergius H EITZ , übers. u. bearb. v. Susanne H AUSAMMANN - Sergius H EITZ , Köln 1986, 90f (Auferstehungsevlogitaria). 171f (Hypakoi). 96 (Auferstehungshymnus). Die Evlogitaria und die Hypakoi sprechen immer wieder von den Myrrhophoren, z. B.: „Was mischt ihr den Balsam mitleidsvoll mit Tränen, ihr Jüngerinnen? rief der im Grabe blitzende Engel den Myrrhenträgerinnen zu: Ihr seht das Grab und erkennet: Der Erlöser ist auferstanden aus dem Grabe“ (ebd., 90). Der Auferstehungshymnus bietet eine synthetische Paschatheologie: „Die Auferstehung Christi haben wir geschaut, so lasset uns anbeten den heiligen Herrn Jesus, der allein ohne Sünde ist. Vor Deinem Kreuze fallen wir nieder, o Christus, und Deine heilige Auferstehung besingen und verherrlichen wir.“ 48 Übersicht über den Aufbau der byzantinischen Vesper bei T AFT , Liturgy of the Hours (wie Anm. 45), 278f. 49 Vgl. Gabriele W INKLER , The Armenian Night Office II: The unit of psalmody, canticles and hymns with particular emphasis on the origins and early evolution of Armenia’s hymnography, in: DIES ., Studies in Early Christian Liturgy and Its Context (Variorum Collected Studies Series), Ashgate 1997, Nr. VI. <?page no="99"?> Wortgottesdienst 85 Benediktregel zu nennen. 50 Die Sonntagsvigil unterscheidet sich in der benediktinischen Tradition markant von der Ferialvigil, die in der Zwölfzahl der Psalmen einem vor allem aus Ägypten bekannten und durch die sogenannte Engelsregel 51 legitimierten monastischen Schema folgt. Am Sonntag schließt sich an die zwölf Psalmen der (später, noch nicht in der Regel) sogenannte dritte Nokturn an, dessen Kern - nach dem Gesang von drei alttestamentlichen Cantica, sicher nicht ohne Entsprechung zu den drei Psalmen und drei Gebeten der Jerusalemer Auferstehungsvigil - eine Evangelienlesung ist. Leider sagt der Regulator (also traditionell der hl. Benedikt) nicht, welches Evangelium gelesen wird. Seit den schriftlichen Quellen des Frühmittelalters ist es bekanntlich das Tagesevangelium der Messe, aber es spricht doch so gut wie alles dafür, dass im 6. Jahrhundert der Verfasser der Regel ein Auferstehungsevangelium gemeint hat. Diese Evangelienlesung wird entsprechend rituell-ästhetisch inszeniert. Erstens wird es vom Abt persönlich vorgetragen, welcher bekanntlich nach der Benediktregel die Verkörperung und der Stellvertreter Christi im Kloster ist. Das heißt: Christus selbst verkündet das Evangelium von der Auferstehung, während in Jerusalem der Bischof die Rolle des Engels am Ostermorgen innehatte, was doch nur unter der für Jerusalem spezifischen Gegebenheit des heiligen Grabes wirklich funktioniert. Zweitens wird in der benediktinischen Sonntagsvigil das Evangelium gesanglich markant eingerahmt: durch das Te Deum, in dem der österliche Sieg des „rex gloriae“ Christus besungen wird 52 , und das Te decet laus. Dieser anamnetische Wortgottesdienst als Teil der Sonntagsvigil ist in erster Linie sonntagsspezifisch, daneben aber doch auch tagzeitenspezifisch, da ja nach allen neutestamentlichen Evangelien die Frauen das leere Grab am Morgen gefunden haben. 2.4 Der Wortgottesdienst der Eucharistiefeier Besonderer und erneuter Aufmerksamkeit bedarf in einer liturgiewissenschaftlichen Grundlagenforschung zum Wortgottesdienst der Wortgottesdienst der Messe. Zerfaß konnte in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts noch schreiben, dass dieser eigentlich schon umfassend erforscht sei 53 , und 50 S.o. Anm. 34. 51 Zur pachomianischen Tradition von der Engelsregel und weiteren Zeugnissen für die Zwölfzahl der Psalmen vgl. Armand V EILLEUX , La liturgie dans le cénobitisme pachômien au quatrième siècle (Studia Anselmiana 57), Rom 1968, 324-339. Die bekannteste Stelle ist Palladius, Historia Lausiaca 32 (92 B UTLER ). Für die Rezeption im Westen grundlegend ist die Umbildung der Legende durch Cassian, De institutionibus coenobiorum II 5f (Sources Chrétiennes 109, 66-70 G UY ). Wie schon Veilleux angemerkt hat, würde eine eingehendere Studie zu diesem Material lohnen. 52 Die Schlüsselzeile für die kontextuelle Bedeutung des Te Deum vor dem Auferstehungsevangelium ist: „Tu devicto mortis aculeo, aperuisti credentibus regna caelorum.“ 53 Z ERFASS , Schriftlesung (wie Anm. 14), 1: „Während nun die Geschichte des Wortgottesdienstes innerhalb der Eucharistiefeier im wesentlichen als erforscht gelten kann …“. <?page no="100"?> Reinhard Meßner 86 dabei natürlich auf Josef Andreas Jungmanns Missarum Sollemnia verweisen 54 . Heute, ein halbes Jahrhundert später, würde ich demgegenüber sagen: Der Wortgottesdienst der Messe ist in vielfacher Hinsicht - bezüglich seiner Genese, seiner Typologie, der Perikopenauswahl usw. - nur scheinbar umfassend erforscht, oder deutlicher: noch alles andere als erforscht. Und vor allem: Er ist sicher nicht der Idealtyp von Wortgottesdienst überhaupt. Die für die Liturgiegeschichte so einschneidende Entwicklung der Eucharistie von der Gestalt eines christlichen Symposions, wie es etwa in 1 Kor 11 und 14 oder in der Didache bezeugt ist 55 , zur Gestalt der Messe mit den beiden Teilen Lesegottesdienst (oder eben Wortgottesdienst oder auch Katechumenenmesse) einerseits und Eucharistiefeier im engeren Sinn (der stilisierten Mahlfeier mit dem für den Gesamtgottesdienst zentralen eucharistischen Hochgebet über Brot und Kelch) andererseits liegt bis heute, oder heute wieder, im Dunkel der Geschichte verborgen. 56 Die - wie oben kurz referiert - ab dem 19. Jahrhundert stark mehrheitlich vertretene These, dass die ursprünglich selbstständige Mahlfeier, die natürlich am Abend, zur Zeit der Hauptmahlzeit stattgefunden hat, spätestens im 2. Jahrhundert mit einem aus der Synagoge stammenden morgendlichen, also sonntagmorgendlichen Lesegottesdienst oder eben Wortgottesdienst verschmolzen worden sei, lässt sich so - zumindest in der Einfachheit, wie sie vertreten worden ist - nicht mehr aufrecht erhalten 57 , auch wenn noch das letzte größere Buch über den frühchristlichen Wortgottesdienst, die Dissertation von Jorg Christian Salzmann 58 , im Wesentlichen zu diesem Ergebnis kommt. Aber dieses Buch ist in mancher Hinsicht problematisch, da der Autor viel zu wenig nach konkreten Gottesdiensten und ihren Abläufen fragt, sondern einfach alle neutestamentlichen und frühpatristischen Quellenbelege für die Wortverkündigung (die auch viel zu oft in 54 Josef Andreas J UNGMANN , Missarum Sollemnia. Eine genetische Erklärung der römischen Messe. Erster Band: Messe im Wandel der Jahrhunderte. Messe und kirchliche Gemeinschaft. Vormesse, Freiburg i. Br. 5 1962, Nachdr. Bonn 2003, 501-633 (unter dem Titel: „Der Lesegottesdienst“, freilich einschließlich des Allgemeinen Gebets). 55 Am ausführlichsten und in den historischen Grundlinien (nicht in den theologischen Interpretationen) überzeugend dargestellt von Matthias K LINGHARDT , Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft. Soziologie und Liturgie frühchristlicher Mahlfeiern (Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter 13), Tübingen 1996. 56 Einen Überblick auf dem neuesten Stand der Forschung gibt Paul F. B RADSHAW , Eucharistic Origins, Oxford 2004, zur Entstehung der Zweiteiligkeit von Wortgottesdienst und Mahlfeier bes. 64-75. Sehr empfehlenswert ist auch die knappere Darstellung von Clemens L EONHARD , Mahl V (Kultmahl) D. Christlich, in: Reallexikon für Antike und Christentum 23 (2010), 1067-1104. 57 Die Hauptgründe dafür sind die mittlerweile wohl kaum noch bestreitbare Tatsache, dass die ältesten christlichen Kultmahlfeiern in Gestalt eines (jüdisch-)hellenistischen Symposions gehalten worden sind, was in der älteren Forschung ganz außerhalb des Blickwinkels stand, sowie die wachsende Einsicht, dass wir über den Synagogengottesdienst bzw. die (verschiedenen) Praktiken in der Synagoge zur Zeit der ersten christlichen Gemeinden vielleicht noch weniger wissen als über den frühchristlichen Gottesdienst. 58 S ALZMANN , Lehren (wie Anm. 1). <?page no="101"?> Wortgottesdienst 87 scheinbarer Selbstverständlichkeit mit der Predigt identifiziert wird) sammelt und zu einem auf Grund des methodischen Vorgehens notwendigerweise schiefen Bild zusammenzufügen versucht. Es fehlt vor dem 4. und 5. Jahrhundert ganz einfach an genügend vielen und genügend zuverlässigen Belegen für Wortgottesdienste, entweder als selbstständige Wortgottesdienste katechetischen Typs oder als Bestandteil der Sonntagseucharistie; aus den wenigen vorhandenen Belegen kann man keine Gesamtentwicklung rekonstruieren. Irgendeinen genetischen Bezug des christlichen Wortgottesdienstes zur Synagoge dürfte es meines Erachtens immerhin doch geben. Gerard Rouwhorst hat in einem für das Thema hochwichtigen Beitrag 59 mit Recht auf die Tatsache hingewiesen, dass es die Praxis, regelmäßig - und zwar wöchentlich - öffentlich aus der Heiligen Schrift vorzulesen, in den spätantiken religiösen Gemeinschaften nur im Judentum und im Christentum gab. Also wird man irgendeine gegenseitige Beziehung zwischen jüdischem und christlichem Wortgottesdienst (hier im Sinn der Verkündigung des Wortes Gottes verstanden) kaum in Abrede stellen können. Aber wie genau diese Beziehung im Einzelnen ausgesehen hat, ist eine ganz andere Frage; es gibt auch wohl kaum einen vernünftigen Zweifel daran, dass die Herausbildung des christlichen Wortgottesdienstes in seiner Interdependenz zum jüdischen Synagogengottesdienst regional und zeitlich sehr diversifiziert verlaufen ist. Dieser Prozess wird sich auf der Basis der vorhandenen, für jüdischen wie christlichen Gottesdienst äußerst dürftigen Quellenlage wohl nicht mehr nachzeichnen lassen. Die Quellenzeugnisse für konkrete wortgottesdienstliche Strukturen - über vage Hinweise hinaus, dass Schrift gelesen oder dass verkündet wird - sind, wie schon gesagt, vor dem 4./ 5. Jahrhundert viel zu mager. Sicher wurde in christlichen Gemeinden von Anfang an die Schrift öffentlich, d. h. laut und samt einer gewissen Auslegung (durch Propheten oder Lehrer), gelesen, auch christliche Literatur vor ihrer Schriftwerdung 60 . In welchem Rahmen dies geschah, wissen wir so gut wie gar nicht; teilweise geschah es wohl beim christlichen Symposion, wofür es allerdings keine positiven Belege gibt, teilweise vielleicht in eigenen Versammlungen, die - wie die Toralesung in der Synagoge - eher den Charakter von gemeinsamen Studien- und Lehrveranstaltungen als von ritualisierten Gottesdiensten hatten, in judenchristlichen Gemeinden gewiss auch in den synagogalen Versammlungen am Sabbat. 61 Erste einigermaßen greifbare wortgottesdienstliche Strukturen finden sich in der bekannten Schilderung des Sonntagsgottesdienstes in der Apologie des 59 Gerard A. M. R OUWHORST , The Reading of Scripture in Early Christian Liturgy, in: Leonard V. R UTGERS (Hg.), What Athens Has to Do with Jerusalem. Essays on Classical, Jewish, and Early Christian Art and Archaeology (FS G. Foerster; Interdisciplinary Studies in Ancient Culture and Religion 1), Leuven 2002, 305-331. 60 Vgl. 1 Thess 5,27; Kol 4,16; Offb 1,3. 61 Vgl. die ausgezeichnete Darstellung bei Andrew B. M C G OWAN , Ancient Christian Worship. Early Church Practices in Social, Historical, and Theological Perspective, Grand Rapids 2014, 78-93. <?page no="102"?> Reinhard Meßner 88 Justin 62 , die im 2. Jahrhundert ganz vereinzelt dasteht, bei Tertullian, der in de anima 9 als Elemente eines offenbar sonntäglichen („inter dominica sollemnia“) Wortgottesdienstes scripturae, psalmi, allocutiones und petitiones aufzählt 63 , und in der schwer datier- und lokalisierbaren Stelle in der angeblichen Traditio Apostolica (am plausibelsten scheint mir doch das 3. Jahrhundert und der Osten), der gemäß es zumindest gelegentlich - offenkundig eher an Werktagen als am Sonntag - morgendliche katechetische, sicher nichteucharistische Gottesdienste unter der Verantwortung von Lehrern gegeben hat 64 . Das Faktum (nicht die konkrete Gestalt) selbstständiger Wortbzw. Predigtgottesdienste - im Kontext christlichen Schulbetriebs - mit lectio (semi-)continua ist für das Caesarea des 3. Jahrhunderts breit durch das einschlägige homileti- 62 Apologie 1, 67,3-5 (Patristische Texte und Studien 38, 129 M ARCOVICH ; eigene Übersetzung): „Man liest die Denkwürdigkeiten der Apostel oder die Schriften der Propheten vor, solange es die Zeit erlaubt. Wenn der Vorleser geendet hat, hält der Vorsteher eine Ansprache, durch die er zur Nachahmung all dieser schönen (Lehren) mahnt und ermuntert. Danach stehen wir alle zusammen auf und senden Gebete empor.“ Dies ist bekanntlich das erste Zeugnis für eine gottesdienstliche Verlesung der Evangelien (evtl. einer Evangelienharmonie). 63 De anima 9,4 (Corpus Christianorum. Series Latina 2, 792 W ASZINK ): „Est hodie soror apud nos revelationum charismata sortita, quas in ecclesia inter dominica sollemnia per ecstasin in spiritu patitur […]. Iamvero prout scripturae leguntur aut psalmi canuntur aut allocutiones proferuntur aut petitiones delegantur, ita inde materiae visionibus subministrantur.” 64 In der lateinischen Fassung und in den Versionen des alexandrinischen Sinodos ist vom Wortgottesdienst an zwei Stellen (fast wortgleich) die Rede, in den Kapiteln 35 und 41 (wo die lateinische Fassung nicht erhalten ist) nach der Einteilung von Botte (Bernard B OTTE , La Tradition Apostolique de saint Hippolyte. Essai de reconstitution [Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 39], Münster 1963, 82.88). Die kürzlich aufgefundene, aus dem Griechischen übersetzte äthiopische Version hat Bottes Kap. 35 nicht; der Beginn des Kapitels über die Gebetszeiten (Bottes Kap. 41) lautet hier etwa so (der äthiopische Text ist an manchen Stellen leider schwer zu verstehen): „Wenn es ein Wort der Unterweisung [wohl griech. κατήχησις] gibt, das vollbracht wird, soll er es [sc. gegenüber dem privaten Morgengebet] vorziehen, (dorthin) zu gehen. Dies alles gibt jeder sich selbst, dass das, was er bezüglich jedes Wortes hört, von Gott (ist). Durch das nun, was ihr gesehen habt in der Kirche, geht dann das Böse des Tages vorüber. Dies nun rechne sich der Gottesfürchtige als Verlust an, wenn sie ein Wort der Unterweisung sagen, dass er nicht anwesend ist. Und wenn es auch einer ist, der selber lesen kann, und es kommt ein Lehrer, versäume er nicht die Kirche, wenn eine Unterweisung ist, denn dann wird dem, der unterweist, gegeben, dass er das sagt, was allen von Nutzen ist. Und wenn du das gehört hast, was du nicht hoffst, indem der Geist es gibt, wirst du (davon) profitieren, und der Glaube wird stark durch das, was gesagt worden ist. Und in deinem Haus sag, was du gehört hast. Deshalb sei jeder bedacht auf die Kirche, wo der Geist in Überfluss da ist. Wenn es aber nicht ein Tag ist, an dem eine Unterweisung stattfindet, lese er doch in seinem Haus irgendein heiliges Buch, soviel es ihm möglich ist.“ Der äthiopische Text bei Alessandro B AUSI , La nuova versione etiopica della Traditio Apostolica: Edizione e traduzione preliminare, in: Paola B UZI - Alberto C AMPLANI (Hgg.), Christianity in Egypt: Literary Production and Intellectual Trends (FS Tito Orlandi; Studia Ephemeridis Augustinianum 125), Rom 2011, 19-69, hier: 58. <?page no="103"?> Wortgottesdienst 89 sche Schrifttum des Origenes belegt 65 , bei dem sich auch wenige mögliche (! ) Hinweise auf eine Verbindung von Wort- und Mahlfeier finden 66 . Die meines Erachtens einzige einigermaßen einschlägige Stelle im Neuen Testament ist 1 Tim 4,13 67 , wo der Adressat, also ein Episkop, der sicherlich schon als kirchlicher Amtsträger bezeichnet werden darf, ermahnt wird, der Anagnose, der Paraklese und der Lehre zu obliegen. Es geht bei der Anagnose also wohl kaum um seine private Schriftlesung, sondern um öffentliches Vorlesen (wohl vor allem des Alten Testaments, eventuell auch christlicher Schriften wie der Paulusbriefe), bei der Paraklese und Lehre um Schriftauslegung. Aber in welchem Rahmen sich das abgespielt hat, ob - für mich wenig wahrscheinlich - im Rahmen des eucharistischen Symposions oder in einem anderen gottesdienstlichen Rahmen, das wissen wir einfach nicht. Ich persönlich habe zwei Vermutungen über den Ursprung des Wortgottesdienstes der Eucharistiefeier. Einerseits scheint es mir nach wie vor am plausibelsten, dass es - örtlich und zeitlich gewiss sehr verschieden verlaufend - eine Kontamination, also ein Zusammenwachsen ursprünglich nichteucharistischer katechetischer Gottesdienste, die vielleicht anfangs am Sabbat gehalten wurden, mit der Eucharistie gegeben hat, als auf Grund des zahlenmäßigen Anwachsens der Gemeinden diese nicht mehr in Form eines Symposions gehalten werden konnte und zur Kommunion stilisiert wurde. 68 Andererseits - das ist die zweite Vermutung - könnte vielleicht doch auch ein narratives Element, nämlich die Erzählung der Passion Christi, schon zu den ältesten christlichen Kultmahlzeiten in ihrer symposialen Gestalt gehört haben. Helmut Koester hat in einigen interessanten, aber auf Grund der für den Historiker desaströsen Quellenlage letztlich doch spekulativ bleibenden Beiträgen 69 die Hypothese aufgestellt, dass der Ursprung des Passionsberichts, 65 Vgl. vor allem Antonio G RAPPONE , Annotazioni sul contesto liturgico delle omelie di Origene, in: Augustinianum 41 (2001), 329-362; Überblick bei S ALZMANN , Lehren (wie Anm. 1) 430-438. Nur mit Vorsicht zu genießen ist Pierre N AUTIN , Origène. Sa vie et son œuvre (Christianisme antique 1), Paris 1977, 391-401. 66 Dazu Harald B UCHINGER , Early Eucharist in Transition? A Fresh Look at Origen, in: Albert G ERHARDS - Clemens L EONHARD (Hgg.), Jewish and Christian Liturgy and Worship. New Insights into its History and Interaction (Jewish and Christian Perspectives Series 15), Leiden 2007, 207-227, hier: 211f. 67 πρόσεχε τῇ ἀναγνώσει, τῇ παρακλήσει, τῇ διδασκαλίᾳ. 68 Der an sich faszinierende Versuch von Clemens Leonhard, in den salutationes matutinae des Patrons durch seine Klienten den Ansatzpunkt für die Verschiebung der Eucharistie auf den Morgen und ihre Stilisierung zur Kommunion zu finden, überzeugt mich nicht. Gerade der Wortgottesdienst lässt sich auf diesem Weg nicht wirklich erklären. Vgl. Clemens L EONHARD , Morning salutationes and the Decline of Sympotic Eucharists in the Third Century, in: Zeitschrift für Antikes Christentum 18 (2014), 420-442. 69 Helmut K OESTER , The Memory of Jesus’ Death and the Worship of the Risen Lord, in: Harvard Theological Review 91 (1998), 335-350; DERS ., Jesus’ Presence in the Early Church, in: Cristianesimo nella Storia 15 (1994), 541-557; DERS ., Jesu Leiden und Tod als Erzählung, in: Rüdiger B ARTELMUS - Thomas K RÜGER - Helmut U TZSCHNEIDER (Hgg.), Konsequente Traditionsgeschichte (FS Klaus Baltzer; Orbis Biblicus et Orientalis 126), Freiburg/ Schweiz - Göttingen 1993, 199-204. <?page no="104"?> Reinhard Meßner 90 wie er in den kanonischen Evangelien verschriftet vorliegt, in der mündlichen Erzählung des Passionsgeschehens während der Mahlfeier liegt. Ich halte das für eine durchaus plausible Hypothese, auch wenn man keinen einzigen Beleg dafür anführen kann - was sollte sonst der „Sitz im Leben“ der Passionserzählung sein? Eine solche Narration könnte während des Essens - sozusagen anstelle des Tischgesprächs - stattgefunden haben oder beim eigentlichen Symposion während des Trinkens, wofür Paulus in 1 Kor 14,26 Gesang (ψαλμός), Lehre (διδαχή), Offenbarung (ἀποκάλυψις), Glossolalie und ihre Auslegung nennt, vor allem aber in V. 29-32 Prophetie (die möglicherweise dasselbe ist wie die ἀποκάλυψις in V. 26). Von Schriftlesung ist nicht die Rede. 70 Ein ähnliches Bild bietet Tertullian in apologeticum 39 am Ende des 2. Jahrhunderts für das christliche Symposion („cena nostra“, von Tertullian „Agape [dilectio]“ genannt) 71 , das wohl - mit einigen jüngeren Autoren 72 - als die zentrale eucharistische Kultmahlfeier der Gemeinde anzusehen ist. Er schreibt - ganz gemäß den antiken Tischsitten - vom Singen während des Symposions „de scripturis sanctis“ - also wohl Psalmenvortrag - „vel de proprio ingenio“, auch als Prüfung, dass man in einer „sobria ebrietas“ ist und nicht zu viel getrunken hat; von Schriftlesung verlautet auch an dieser Stelle nichts. Übrigens fehlen auch weithin frühe Belege für die gottesdienstliche Predigt; was später zur Predigt wurde, wurzelt wohl in symposialen Diskursen einerseits charismatisch-prophetischer, andererseits mehr lehrhafter Natur, wie sie in 1 Kor 14 belegt sind. 73 Die spätere Form der monologischen Predigt hat ihren Ursprung vermutlich einerseits im christlichen Schulbetrieb (Homilie), andererseits in der rhetorisch stilisierten Festpredigt, wie sie für die zweite Hälfte des 2. Jahrhunderts durch Melitos Paschahomilie bezeugt ist und die dann im 4. und 5. Jahrhundert ihre Blütezeit hat. 70 Dies ist natürlich nicht zu verallgemeinern, als ob es beim christlichen Symposion nie und nirgends Schriftlesung und -auslegung gegeben hat. Es gibt allerdings keine positiven Zeugnisse dafür. 71 Tertullian, Apologeticum 39,17f (Corpus Christianorum. Series Latina 1, 152f D EKKERS ): „Non prius discumbitur quam oratio ad Deum praegustatur; editur quantum esurientes capiunt; bibitur quantum pudicis utile est. Ita saturantur, ut qui meminerint etiam per noctem adorandum Deum sibi esse; ita fabulantur, ut qui sciant Deum audire. Post aquam manualem et lumina, ut quisque de scripturis divinis vel de proprio ingenio potest, provocatur in medium Deo canere; hinc probatur quomodo biberit. Aeque oratio convivium dirimit.“ 72 Dies wurde ausführlich argumentiert von Andrew M C G OWAN , Rethinking Agape and Eucharist in Early North African Christianity, in: Studia Liturgica 34 (2004), 165-176; vgl. weiters K LINGHARDT , Gemeinschaftsmahl (wie Anm. 55), 514-516; B RADSHAW , Eucharistic Origins (wie Anm. 56), 97-103; L EONHARD , Mahl (wie Anm. 56), 1082. 73 Zu den Anfängen christlicher Predigt (das Wort in einem sehr unspezifischen Sinn verstanden) vgl. M C G OWAN , Ancient Christian Worship (wie Anm. 61), 72-78.102-106. Die fast penetrante Selbstverständlichkeit, mit der etwa S ALZMANN , Lehren (wie Anm. 1) - als einer von vielen - annimmt, der Kern jedes frühchristlichen Wortgottesdienstes muss „die Predigt“ sein, stammt aus reformatorischen Vorstellungen von der rechten Gestalt christlichen Gottesdienstes. <?page no="105"?> Wortgottesdienst 91 Koesters Annahme einer mündlichen Erzählung der Passion beim Symposion passt übrigens durchaus auch zur Deutung, die Paulus der Herrenmahlfeier in 1 Kor 11,26 gibt: „sooft ihr nämlich dieses Brot esst und diesen Kelch trinkt, proklamiert ihr (καταγγέλετε) den Tod des Herrn, bis dass er kommt“. Diese feierliche Proklamation 74 muss ja auch irgendwie sprachlich realisiert worden sein, sicher vor allem im Gebet, aber das schließt ein zusätzliches narratives Element wohl nicht aus. Aus dieser mündlichen Passionserzählung könnte sich in einem Prozess, der sich auf Grund des Quellenmangels historisch nicht mehr rekonstruieren lässt, die bis heute sehr auffällige, in den letzten Jahrzehnten nicht selten kritisch ins Visier genommene 75 Sonderstellung der Evangelienlesung in der Eucharistiefeier herausgebildet haben, deren rituelle Inszenierung sich in allen Traditionen klar von der Ausführung der übrigen - altwie neutestamentlichen 76 - Schriftlesungen markant unterscheidet. Mir ist natürlich klar, dass diese Überlegungen weitgehend spekulativ sind. Treffen sie einigermaßen die historische Realität, wären in der Herausbildung des Wortgottesdienstes der Eucharistiefeier zwei Prozesse zusammen gelaufen: die Herausbildung eines anamnetischen Wortgottesdienstes in Form der mündlichen Passionserzählung, dann nach deren Verschriftlichung und Inkorporation in die Evangelienliteratur der Evangelienlesung innerhalb des Herrenmahls einerseits, die Fusionierung eines ursprünglich selbstständigen katechetischen Wortgottesdienstes synagogalen Typs - eventuell eines ursprünglichen christlichen Sabbatgottesdienstes - mit der zur Kommunion stilisierten Mahlfeier, die den Ansatz des anamnetischen Gottesdienstes in der Passionserzählung (und die Vorbzw. Frühformen des eucharistischen Hochgebets) in den neuen gottesdienstlichen Gesamtkontext mitgebracht hätte, andererseits. 77 Dies würde übrigens auch recht gut die Bedeutsamkeit der 74 Zur Bedeutung von καταγγέλειν vgl. Ofried H OFIUS , Herrenmahl und Herrenmahlsparadosis. Erwägungen zu 1 Kor 11,23b-25, in: DERS ., Paulusstudien (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 51), Tübingen 2 1994, 203-240, hier: 232-235. Vor dem Hintergrund des Sprachgebrauchs im Psalter resümiert er (233): „‚Verkündigen‘ aber meint dabei nicht ein Predigtgeschehen, sondern die feierliche liturgische Proklamation, den hymnischen Lobpreis Gottes und seines Heilshandelns.“ Das Wort sei in 1 Kor 11,26 auf die Eucharistiegebete zu beziehen (235). Dem würde ich prinzipiell zustimmen, aber das schließt nicht aus, dass die „feierliche liturgische Proklamation“ des Todes Christi auch in der Form der Narration der Passionsgeschichte während des Symposions erfolgt. 75 So z. B., auf hohem Niveau, von Benedikt K RANEMANN , Anmerkungen zur Dramaturgie des Wortgottesdienstes der Meßfeier, in: Ansgar F RANZ (Hg.), Streit am Tisch des Wortes? Zur Deutung und Bedeutung des Alten Testaments und seiner Verwendung in der Liturgie (Pietas Liturgica 8), St. Ottilien 1997, 759-768. 76 Es handelt sich also nicht, wie nicht selten unterstellt, um eine Abwertung des Alten Testaments. 77 Erst nach Abschluss des Manuskripts bin ich auf eine interessante kleine Studie aufmerksam geworden, in der eine vergleichbare Hypothese über einen doppelten Ursprung des Wortgottesdienstes der Eucharistie - im Symposion und in einer morgendli- <?page no="106"?> Reinhard Meßner 92 breit ausgebauten (Gesetz und Propheten) alttestamentlichen Schriftlesung im syrischen Liturgiebereich erklären, wo Interdependenzen zwischen jüdischem und christlichem Gottesdienst auch sonst vermehrt festzustellen sind 78 . Klar scheint mir, wie immer es um die Ursprünge bestellt gewesen ist, dass sich beim Wortgottesdienst der Eucharistiefeier im Lauf der Jahrhunderte ein ähnlicher Prozess abgespielt hat wie bei der Toralesung in der Synagoge. Ruth Langer hat in einem wichtigen Artikel diesen Prozess gleich im Titel From Study of Scripture to a Reenactment of Sinai genannt. 79 Die Toralesung im Synagogengottesdienst, ursprünglich eine Art gemeinsamen Schriftstudiums, ist durch ihre ästhetisch-rituelle Inszenierung zu einer gottesdienstlichen Repräsentation der Sinaioffenbarung geworden. Ähnliches gilt für die Evangelienlesung in der Eucharistiefeier: Durch sie wird Offenbarung inszeniert, in ihr geschieht aktuell Offenbarung. Nach dem Ordo Romanus I, dem ältesten Zeugnis für den Verlauf der Messe im römischen Ritus (um 700), wird vor Beginn der Messe das Evangelienbuch von einem Subdiakon auf den Altar gelegt, welcher damit symbolisch als himmlischer Thron identifiziert wird, auf dem Christus sitzt. 80 Für die liturgische Schriftlesung wird das Evangelienbuch dann von dort eingeholt und mit Leuchtern und Weihrauch zum Ambo geleitet. 81 Das heißt also: Christus wird von seinem himmlischen Thron eingeholt, und in der Lesung geschieht vom Himmel her die Offenbarung in der Evangelienlesung. 2.5 Das Allgemeine Gebet Schließlich ist im Zusammenhang des Wortgottesdienstes der Eucharistiefeier noch ein wichtiger Punkt zu vermerken: Völlig ungeklärt ist - zumindest für mich - die Genese des Allgemeinen Gebets. Heute beliebte theologische Interchen katechetischen Veranstaltung - vorgetragen wird: Alistair S TEWART -S YKES , The Domestic Origin of the Liturgy of the Word, in: Studia Patristica 40 (2006), 115-120. 78 Vgl. R OUWHORST , Reading of Scripture (wie Anm. 59). 79 Ruth L ANGER , From Study of Scripture to a Reenactment of Sinai: The Emergence of the Synagogue Torah Service, in: Worship 72 (1998), 43-67; vgl. ergänzend DIES ., Sinai, Zion, and God in the Synagogue: Celebrating Torah in Ashkenaz, in: Ruth L ANGER - Steven F INE (Hgg.), Liturgy in the Life of the Synagogue. Studies in the History of Jewish Prayer (Duke Judaic Studies Series 2), Winona Lake 2005, 121-159. 80 Ordo Romanus I 31 (Michel A NDRIEU , Les Ordines Romani du haut moyen âge II: Les textes [Ordines I-XIII] [Spicilegium Sacrum Lovaniense 23], Louvain 1948, 77): „Quo facto, acolytus defert evangelium usque ante altare <in presbiterio>, precedente eum subdiacono sequente, qui eum super planeta illius suscipiens, manibus suis honorifice super altare ponat.” 81 Ordo Romanus I 59-62 (ebd., 87-89): „[Diaconus] venit ante altare et, osculatis evangeliis, levat in manus suas codicem et procedunt ante ipsum duo subdiaconi regionarii levantes tymiamaterium de manu subdiaconi sequentis, mittentes incensum, et ante se habentes duos acolytos portantes duo cereostata; venientes ad ambonem dividuntur ipsi acolyti ante ambonem et transeunt subdiaconi et diaconus cum evangelia per medium eorum. […] Et […] diaconus in loco lectionis ascendit ad legendum et illi duo subdiaconi redeunt stare ante gradum discensionis ambonis.” <?page no="107"?> Wortgottesdienst 93 pretationen etwa im Sinn einer angeblichen Struktur des Wortgottesdienstes (oder des Gottesdienstes insgesamt) nach der Abfolge von Wort und Antwort (oder nach Jungmanns „liturgischem Grundschema“ von Lesung - Gesang - Gebet) leuchten mir keineswegs ein. Ich habe nie verstanden, warum ausgerechnet das Allgemeine Kirchengebet die Antwort auf das Wort der Heiligen Schrift sein soll. Wenn man schon - in der Reflexion über den Gottesdienst - eine Wort-Antwort-Struktur finden will, würde ich eher sagen: das Eucharistiegebet ist die geziemende Antwort auf die Verkündigung des Wortes Gottes, aber nicht das Allgemeine Gebet. Die Frage, ob das Allgemeine Gebet zum Wortgottesdienst gehört, ist nur eine - gewiss legitime - wissenschaftliche Ordnungsfrage. Man kann unter den Begriff „Wortgottesdienst“ alles subsumieren, was man will, solange es irgendwie sinnvoll ist. Historisch gesehen aber scheint mir eine einheitliche Genese eines Wortgottesdienstes, der aus den drei Grundelementen Schriftlesung, Predigt und Allgemeinem Gebet besteht, auch wenn die älteste Beschreibung eines derartigen Vorgangs in der Apologie des Justin 82 und wohl auch die Aufzählung bei Tertullian in de anima 9 83 genau diese drei Elemente umfassen, alles andere als selbstverständlich. Im Gegenteil: In den zeitlich nächsten Quellen aus der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts, den Apostolischen Konstitutionen - dazwischen fehlt es wieder einmal an detaillierten Nachrichten -, werden im 2. Buch die Schriftlesungen, die dort sehr (wie? ) zahlreich zu sein scheinen 84 , in größtmöglicher Knappheit aufgezählt; im 8. Buch wird nach knapper Aufzählung der Lesungen (Gesetz und Propheten, Epistel und Apostelgeschichte, Evangelium) 85 ein höchst umfangreicher Gebetsakt für die Katechumenen, die Energumenen, die Photizomenen und die Büßer, jeweils mit deren Entlassung, und darauf das Allgemeine Gebet, an dem nur die (zumindest potentiellen) Kommunikanten teilnehmen, nicht nur beschrieben, sondern auch im Wortlaut angegeben 86 . Und diese Formulare sind so oder jedenfalls so ähnlich wohl auch tatsächlich gebraucht worden, denn nicht nur strukturelle, sondern auch wörtliche Anklänge daran finden sich noch heute im byzantinischen Ritus. Andere östliche Traditionen (etwa 82 Wie Anm. 62. 83 Wie Anm. 63. 84 Apostolische Konstitutionen II 57,5-7 (Sources Chrétiennes 320, 312-314 M ETZGER ). Genannt werden Lesungen aus Mose, Josua, den Königsbüchern, der Chronik und der Rückkehr aus dem Exil, Job, Salomo und den sechzehn Propheten, dann die Psalmen, die Apostelgeschichte und die Paulusbriefe, schließlich die Evangelienlesung. Ob hier tatsächlich 12 Lesungen vorausgesetzt sind? Eher wohl die Reihe alttestamentliche Lesung - Psalm - Apostelgeschichte - Epistel - Evangelium. Vgl. die Bemerkungen von M ETZGER , Sources Chrétiennes 329, 82 mit weiterer Literatur. Auf das Allgemeine Gebet (nach der Entlassung der Katechumenen und Büßer, wohl jeweils mit Gebet für diese) spielt dann II 57,14 (Sources Chrétiennes 320, 316 M ETZGER ) an. 85 VIII 5,11 (Sources Chrétiennes 336, 150 M ETZGER ). 86 VIII 6,1-11,6 (ebd., 150-174). <?page no="108"?> Reinhard Meßner 94 die ostsyrische 87 oder die alexandrinische und dann koptische 88 ) weisen andere Sprachformen des Allgemeinen Gebets auf. Mir scheint es ein erstrangiges Desiderat der liturgiehistorischen Forschung, den Ursprüngen, den Sprachformen und der kontextuellen Stellung des Allgemeinen Gebets in der Eucharistiefeier und anderen Gottesdienstformen wie vor allem der Tagzeitenliturgie nachzugehen. Über das Allgemeine Gebet und seine verschiedenen Formulare in den lateinischen Riten gibt es die bekannte, ausgezeichnete Arbeit von Paul De Clerck 89 , der am Ende seines Buches eine vergleichbare umfassende Studie für die östlichen Riten als dringendes Desiderat nennt 90 . Eine solche Arbeit gibt es leider bis heute nicht. Eines der wesentlichen Ergebnisse De Clercks ist, dass fast alle Formen des lateinischen Allgemeinen Gebets ursprünglich Übersetzungen aus dem Griechischen gewesen sind, damit also der Ursprung des Allgemeinen Gebets im Osten zu suchen ist. Zur historischen und genetischen Fragestellung kommt die sachliche: Welche theologische Stellung hat das Allgemeine Gebet im Wortgottesdienst? Hängt dies mit einer historischen Typologie des Wortgottesdienstes zusammen? Wir haben uns wohl zu selbstverständlich daran gewöhnt, die Schriftlesungen (samt dem Psalm), die Predigt und das Allgemeine Gebet als den Wortgottesdienst der Messe zu bezeichnen. Zwingend ist das keineswegs. Man kann genauso gut sagen: Lesung und Predigt sind der Lese- und Predigtgottesdienst, und das Allgemeine Gebet ist ein ganz eigenständiger Abschnitt der Liturgie. Es gibt ja auch viele Gelegenheiten in alter und neuer Zeit, wo das Allgemeine Gebet überhaupt nicht mit Lesung und Predigt, sondern mit anderen Gottesdiensten verbunden ist. 2.6 Der Predigtgottesdienst Meine letzte Bemerkung zur historischen Typologie des Wortgottesdienstes betrifft den Predigtgottesdienst. 91 Wie gesagt, ist der Typus des selbstständi- 87 Liturgies Eastern and Western […]. Ed. with introduction and appendices by Frank E. B RIGHTMAN , Vol. I: Eastern Liturgies, Oxford 1896, 263-266. 88 Ebd., 158f (griechische Prosphonesen). 160f (die „drei Gebete“ für die Kirche, den Patriarchen und die ortskirchliche Versammlung). 89 Paul D E C LERCK , La „prière universelle“ dans les liturgies latines anciennes. Témoignages patristiques et textes liturgiques (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 62), Münster 1977. 90 Ebd., 314. 91 Zum Predigtgottesdienst vgl. vor allem Eberhard W EISMANN , Der Predigtgottesdienst und die verwandten Formen, in: Karl Ferdinand M ÜLLER - Walter B LANKENBURG (Hgg.), Leiturgia. Handbuch des evangelischen Gottesdienstes, Bd. 3: Gestalt und Formen des evangelischen Gottesdienstes II. Der Predigtgottesdienst und der tägliche Gottesdienst, Kassel 1956, 1-97. Diese Studie ist bis heute unerreicht, dies gilt auch für die neuere Gesamtdarstellung von Eberhard W INKLER , Der Predigtgottesdienst, in: Hans-Christoph S CHMIDT -L AUBER - Michael M EYER -B LANCK - Karl-Heinrich B IERITZ (Hgg.), Handbuch der Liturgik. Liturgiewissenschaft in Theologie und Praxis der Kirche, 3., vollständig neu bearb. u. erg. Aufl. Göttingen 2003, 247-267. <?page no="109"?> Wortgottesdienst 95 gen anamnetischen Wortgottesdienstes im Lauf der Liturgiegeschichte in der Regel mit latreutischen Gottesdiensten verschmolzen worden, woraus das Festoffizium entstanden ist. Eine der wenigen wirklich innovativen Ausprägungen eines neuen Gottesdiensttypus, die die westliche Kirche nach der Spätantike hervorgebracht hat, ist der spätmittelalterliche und - davon abhängig - der reformatorische Predigtgottesdienst. Dieser ist tatsächlich ein eigenständiger Typ von Gottesdienst, der sich in seiner im Einzelnen variablen Struktur, in der sparsamen Ritualisierung, in der gottesdienstlichen Ästhetik markant von anderen Typen des Wortgottesdienstes unterscheidet. 92 „Wortgottesdienst“ ist, wie schon gesagt, ja kein besonderer liturgischer Typus, sondern ein Oberbegriff für in ihrer Funktion, vor allem aber auch in ihrer konkreten Gestalt ganz verschiedene gottesdienstliche Typen. Der Predigtgottesdienst ist in fast idealtypischer Reinheit ein Wortgottesdienst katechetischen Typs; sein Ursprung ist die Predigt in der Messe, die zunächst liturgisch umrahmt, dann samt dieser liturgischen Rahmung aus der Messe herausgenommen und verselbständigt worden ist. Für den Predigtgottesdienst bezeichnend ist die örtliche Konzentration auf die Kanzel als den ihm eigenen gottesdienstlichen Ort, der im Mittelalter für diese Art von Gottesdienst neu geschaffen worden ist. Das liturgische Personal ist - wieder im Sinn der Konzentration - reduziert, insofern das einfache Gegenüber von Prediger - im Spätmittelalter häufig der städtisch bestellte Prädikant, nicht der Pfarrer - und Gemeinde charakteristisch ist; weitere gottesdienstliche Rollen sind nicht vorgesehen, zumindest nicht notwendig. Die liturgische Ausgestaltung ist schlicht und flexibel: Zu Predigttext und Predigt als dem Gottesdienstkern treten katechetische Elemente und das Gemeindelied. Eberhard Weismann, der die grundlegende und nach mehr als einem halben Jahrhundert immer noch weitaus beste Abhandlung über den Prädikanten- oder Predigtgottesdienst verfasst hat, hat den Predigtgottesdienst mit seiner strengen Konzentration auf Predigttext und Predigt mit Recht eine offene Form genannt. 93 Die - in diesem Fall zutreffend so zu nennenden - gottesdienstlichen Rahmenelemente, also die bekannten katechetischen Predigtannexe (Glaubensbekenntnis, Vater Unser, Dekalog, eventuell Ave Maria), die Offene Schuld mit Generalabsolution, eine volkssprachige Gestalt des Allgemeinen Gebets und das deutschsprachige Kirchenlied, das hier seit dem Spätmittelalter beheimatet ist 94 , sind um den Kern in freier und flexibler Auswahl und Anordnung gelagert. Schließlich ist der Predigtgottesdienst, natürlich abgese- 92 Vgl. dazu W EISMANN , Predigtgottesdienst (wie Anm. 91), 2-5 („Der Predigtgottesdienst als Typus“). 93 Ebd., 3: „Gegenüber der festen, von den Jahrtausenden geprägten Form der Messe haben wir es im Predigtgottesdienst mit einer grundsätzlich offenen Form zu tun. Die zur Predigt hinzutretenden Stücke sind mehr oder weniger lose gruppiert und variieren bei den einzelnen Kirchen oft beträchtlich in der Reihenfolge.“ 94 Zum mittelalterlichen Predigtlied vgl. Johannes J ANOTA , Studien zu Funktion und Typus des deutschen geistlichen Liedes im Mittelalter (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 23), München 1968, 64-77. <?page no="110"?> Reinhard Meßner 96 hen vom Kirchenlied, auf Grund seiner Funktion ein gesprochener Gottesdienst, da er ja der Unterweisung dient; dies unterscheidet ihn ganz deutlich von der Messe (auch von der lutherischen Messe), die - man vergleiche nur Luthers Deutsche Messe - mit Ausnahme der Predigt und (in der lutherischen Messe) der Abendmahlsvermahnung in allen Teilen gesungener Gottesdienst ist. Dieser im Spätmittelalter entstandene, wirklich eigenständige Typus des Predigtgottesdienstes hat in der neuzeitlichen römisch-katholischen Kirche keine große Erfolgsgeschichte gehabt, weil er ja in der Schweiz und im südwestdeutschen Bereich von den Reformierten und den Lutheranern als sonntäglicher Hauptgottesdienst übernommen worden ist. Aber in der reformierten und in Teilen der lutherischen Kirche (wie in Württemberg) ist er bis heute ein durchaus markanter Gottesdiensttyp, wenngleich er wohl durch die liturgiegeschichtlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte und durch das von der Annahme einer allen Hauptgottesdiensten vermeintlich gemeinsamen vierteiligen Struktur 95 geprägte „Evangelische Gottesdienstbuch“ mit seinem Baukastenprinzip deutlich an seinem gegenüber der lutherischen Messe eigenständigen Profil verloren hat. (Ob das ein großer Fortschritt ist? ) Jedenfalls liegt auch und gerade angesichts der aktuellen Problematik des Wortgottesdienstes in der gegenwärtigen römisch-katholischen Kirche mit dem Predigtgottesdienst ein ausgebildeter Gottesdiensttyp vor, den man nicht neu erfinden muss. Es spricht ganz sicher gar nichts dagegen, ihn auch in römisch-katholischen Gemeinden des 21. Jahrhunderts - natürlich nicht anstelle der Eucharistie, sondern zu bestimmten Gelegenheiten neben ihr in voller Eigenständigkeit - neu zu beleben, zumal er als offene Form vielfältiger konkreter Gestaltungen fähig ist. 3 Zur aktuellen Praxis von Wortgottesdiensten oder Wort-Gottes-Feiern 3.1 Das Problem: sonntäglicher Wortgottesdienst als Eucharistieersatz Was folgt aus dem Gesagten für die aktuelle Problematik des Wortgottesdienstes in der römisch-katholischen Kirche? Leider ist die kirchlich-pastorale Diskussion, aber vielfach auch die liturgiewissenschaftliche Reflexion auf den Wortgottesdienst und sind in der Folge die Versuche zu konkreter Gestaltfindung von Anfang an - das bedeutet hier präzise: seit dem Zweiten Vatikani- 95 Grundlegend war das sogenannte „Strukturpapier“ der Lutherischen Liturgischen Konferenz: Versammelte Gemeinde. Struktur und Elemente des Gottesdienstes. Zur Reform des Gottesdienstes und der Agende. Vorgelegt von der Lutherischen Liturgischen Konferenz, Hamburg o. J. [1974]. Vgl. dazu aus der Feder eines der führend an diesem Kompromisspapier Beteiligten: Frieder S CHULZ , Die Struktur der Liturgie. Konstanten und Varianten, in: DERS ., Synaxis. Beiträge zur Liturgik, hg. v. Gerhard S CHWINGE , Göttingen 1997, 134-154 (ursprünglich in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 26 [1982], 78-93). <?page no="111"?> Wortgottesdienst 97 schen Konzil - völlig einseitig an Situationen des Priestermangels und damit an sonntäglichen Gottesdiensten für den Fall, dass keine Eucharistie möglich ist, orientiert gewesen. Die umfassendere ekklesiologische, pastorale und kirchenstrukturelle Problematik, um die es hier letztlich geht, kann in diesem Beitrag nicht breiter ausgeführt werden. 96 Als sehr grundsätzliche kirchenstrukturelle, aber gewiss auch ekklesiologische Implikationen enthaltende Problemanzeige ist aber zumindest zu konstatieren, dass der (wirkliche oder angebliche) Mangel an Priestern allzu selbstverständlich anhand der kontingenten und längst nicht mehr dem gegenwärtigen historischen Kontext der Kirche in Mittel- und Westeuropa entsprechenden posttridentinischen Kirchenstruktur und damit am Ideal einer flächendeckenden Pfarrseelsorge im Sinn umfassender pastoraler Versorgung der einzelnen Gläubigen identifiziert wird, die sonntäglichen Wortgottesdienste ohne Priester damit zur Aufrechterhaltung einer absterbenden bzw. weitgehend schon abgestorbenen kirchlichen Realität eingeführt und verbreitet werden. Der im europäischen Kontext seit Jahrzehnten zu beobachtende säkulare historische Wandel des kirchlichen Lebens wird kaum positiv zu gestalten und zu steuern versucht 97 und jedenfalls in der gottesdienstlichen Praxis nicht wirklich ernst genommen. Für unsere engere Thematik entscheidend ist: Man hat es sich auf Grund der Ausgangslage, nämlich der krampfhaften Aufrechterhaltung eines pfarrlichen und soweit möglich gottesdienstlichen Status quo und in der Folge dessen auf Grund der Orientierung an der Sonntagsmesse, die in sogenannten Notfällen durch einen möglichst ähnlichen Gottesdienst ersetzt werden sollte 98 , erspart, einen ästhetisch eigenständigen Gottesdiensttyp zu entwickeln, man hat sowohl in offiziellen Verlautbarungen als auch - wichtiger - in der gottesdienstlichen Wirklichkeit den selbstständigen Wortgottesdienst als sonntäglichen Hauptgottesdienst am Wortgottesdienst der Eucharistiefeier 96 Beachtliche grundsätzliche Überlegungen bringt Georgios Z IGRIADIS , Wort-Gottes-Feiern am Sonntag. Symptom einer Grundlagenkrise, in: Internationale Katholische Zeitschrift Communio 44 (2015), 441-447. Eine breitere Ausführung dieser Skizze wäre höchst wünschenswert, eine Diskussion jedenfalls lohnend. 97 Vgl. dazu schon 1972, also vor über vierzig Jahren (! ) das im Zusammenhang mit der Würzburger Synode entstandene, aber wenig beachtete, jedenfalls nicht ernst genommene Büchlein von Karl R AHNER , Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance (Herder-Bücherei 446), Freiburg i. Br. u. a. 1972 u. ö., passim, grundsätzlich zur Notwendigkeit rechtzeitiger Zukunftsplanung 55f. 98 So programmatisch der Beschluss „Gottesdienst“ der Würzburger Synode der Bistümer der BRD, wo (2.4.3) von „Wort- und Kommuniongottesdiensten“ gesprochen wird. Und: „Für die Gestaltung dieser Versammlungen […] empfiehlt es sich, die dafür möglichen Elemente der Meßfeier zu übernehmen.“ Das Gotteslob 1975 Nr. 370 nennt einen solchen Gottesdienst „Kommunionfeier“ (! ); man könne ihn auch „als Wortgottesdienst mit anschließender Kommunion bezeichnen“. Ganz anders das Gotteslob 2013 Nr. 668 („Die Wort-Gottes-Feier“), wo von einer allfälligen Kommunionspendung überhaupt keine Rede ist - ein erfreulicher Fortschritt gegenüber dem Vorgängerbuch, allerdings wohl mit wenig praktischen Auswirkungen. <?page no="112"?> Reinhard Meßner 98 ausgerichtet. Das gilt schon für die einschlägige Aussage des Zweiten Vatikanischen Konzils. Der Absatz 4 von SC 35 ist während des Konzils von - zunächst argentinischen - Bischöfen in das Schema hineinreklamiert (und dann relativ problemlos in den Text der Konstitution aufgenommen) worden genau für Situationen schwerer Zugänglichkeit von Priestern 99 (wobei wenigstens anzumerken ist, dass Priestermangel im lateinamerikanischen oder im afrikanischen Kontext etwas ganz anderes bedeutet als das, was derzeit in Mitteleuropa als solcher diagnostiziert wird). Ohne Übertreibung kann man sagen: Die ganze Diskussion seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil und so gut wie alle nachfolgenden Versuche der Gestaltung derartiger sonntäglicher Wortgottesdienste oder Wort-Gottes-Feiern stehen von vornherein unter der Hypothek, dass diese Feiern ein Surrogat für die sonntägliche Eucharistiefeier sein sollen 100 . Konkretisiert wurde SC 35,4 dann 1964 in der ersten Instruktion zur Durchführung der Liturgiekonstitution Inter oecumenici, die in drei knappen Absätzen (Nr. 37-39) einige Grundregeln für die Gestaltung der vom Konzil angeregten „celebrationes verbi Dei“ gibt und das seither nie wirklich bestrittene, aber sachlich höchst fragwürdige, zumindest jedoch einer eingehenden Reflexion und Diskussion bedürftige Prinzip aufstellt, dass in diesen Feiern die Lesungen der Sonntagsmesse zu verwenden sind. 101 Damit sind die sonntäglichen Wort-Gottes-Feiern, vor allem, aber nicht nur wenn sie - wie jedenfalls in praxi weitestgehend üblich - mit einer Kommunionspendung verbunden sind, nichts anderes als eine neue Variante einer „missa sicca“, also einer 99 Knappe Information und einige Quellenverweise bei Reiner K ACZYNSKI , Theologischer Kommentar zur Konstitution über die heilige Liturgie Sacrosanctum Concilium, in: Peter H ÜNERMANN - Bernd Jochen H ILBERATH (Hgg.), Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Bd. 2: Sacrosanctum Concilium. Inter mirifica. Lumen gentium, Freiburg i. Br. u. a. 2004, 1-227, hier: 104f. 100 So ist es ja letztlich nur eine Widerspiegelung der Praxis, wenn etwa im „Aufruf zum Ungehorsam“ der österreichischen Pfarrer-Initiative vom 19. Juni 2011 der befremdliche Satz steht: „Wir werden künftig einen Wortgottesdienst mit Kommunionspendung als ‚priesterlose Eucharistiefeier‘ ansehen und auch so nennen“ (http: / / www.pfarrerinitiative.at/ index1.htm; 08.01.2016). Dies ist leider nicht der einzige Unsinn, durch den die Pfarrer-Initiative sich mit ihren teilweise ja durchaus berechtigten Anliegen selbst diskreditiert. Hier täte gründlichere theologische Reflexion, nicht nur bessere Medienwirksamkeit not. 101 „37 Wo kein Priester zur Verfügung steht, soll an Sonntagen und an gebotenen Feiertagen, wenn keine Möglichkeit gegeben ist, die Messe zu feiern, nach dem Urteil des Ortsordinarius die Feier von Wortgottesdiensten gefördert werden. […] Dieser Wortgottesdienst habe in etwa die Form eines Wortgottesdienstes in der Messe: Im allgemeinen lese man, und zwar in der Muttersprache, die Epistel und das Evangelium aus der Tagesmesse. […] 38 Es empfiehlt sich, auch die Wortgottesdienste, die an den Vorabenden höherer Feste, an einigen Wochentagen der Advents- und der Fastenzeit sowie an Sonntagen und Feiertagen zu fördern sind, nach der Art des Wortgottesdienstes der Messe zu gestalten […].“ <?page no="113"?> Wortgottesdienst 99 Messe ohne Hochgebet. 102 Vergleichbare Gottesdienste gab es gelegentlich schon im 16. Jahrhundert in lutherischen Kirchen, die die evangelische Messe als sonntäglichen Hauptgottesdienst haben. Gemäß dem (in sich ja ganz richtigen) Prinzip, dass das Abendmahl nur gefeiert wird, wenn Kommunikanten da sind, wurde etwa nach Bugenhagens Braunschweiger Kirchenordnung von 1528 beim Fehlen von Kommunikanten nicht ein Predigtgottesdienst gehalten, dessen Rezeption sich im Luthertum auf den südwestdeutschen Bereich beschränkte, sondern die Messe ohne Abendmahl, aber mit Präfation und Sanctus (und Agnus Dei). 103 Weitere Verbreitung fand dieser defiziente Gottesdiensttyp seit dem 19. Jahrhundert durch die Preußische Agende. 104 Dieser lutherischen bzw. unierten Praxis zum Verwechseln ähnlich ist eine sonntägliche Wort-Gottes-Feier nach dem deutsch-österreichischen Buch Wort-Gottes-Feier 105 , das zwar kein offizielles liturgisches Buch ist, aber doch, weil im Auftrag der Deutschen und der Österreichischen Bischofskonferenz und des Erzbischofs von Luxemburg herausgegeben, eine Art offiziösen Status hat, wenn das hier vorgesehene neue Gebetselement „Sonntagslob“ verwendet wird, das in den meisten Textfassungen so endet, als ob das Sanctus 102 Zur „missa sicca“ grundlegend: Johannes P INSK , Die Missa Sicca, in: Jahrbuch für Liturgiewissenschaft 4 (1924), 90-118. Interessanterweise und wohl nicht ohne Anlass steht im (deutschsprachigen) Wikipedia-Artikel „Missa sicca“ folgender Satz: „Die nach der durch das Zweite Vatikanische Konzil erneuerten Liturgie heute möglichen Wort- Gottes-Feiern, mancherorts mit anschließender Kommunionausteilung, sind nicht als Replik einer Missa Sicca zu verstehen.“ 103 Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, hg. v. Emil S EHLING , fortgeführt vom Institut für evangelisches Kirchenrecht der EKD zu Göttingen, VI/ 1: Niedersachsen: Die Welfischen Lande. 1. Halbband: Die Fürstentümer Wolfenbüttel und Lüneburg mit den Städten Braunschweig und Lüneburg, Tübingen 1955, 442: „Wen neyne communicanten synt, so schal me dat sacramente nicht handelen […]. Doch wille wy singen, beden, dankseggen, lesen unde lesen horen unde predigen unde predigen horen des hilgen dages, alse Christene scholen nach aller wise, alse de messe bescreven is vor der predige. Na der predige mit gewonliken misseklederen schal gesungen werden de prefatie, Sanctus, düdesche Pater noster, Christe du lam, eyne düdesche sundagecollecte unde de letste segeninge.“ Vgl. Johannes H. B ERGSMA , Die Reform der Messliturgie durch Johannes Bugenhagen (1485-1558), Kevelaer - Hildesheim 1966, 202-204, auch zu den (besseren) Lösungen für diesen Fall in Bugenhagens späteren Kirchenordnungen. 104 Synoptische Darbietung der Agende von 1822 und der revidierten Fassung von 1895 in: Wolfgang H ERBST (Hg.), Evangelischer Gottesdienst. Quellen zu seiner Geschichte, 2., völlig neubearb. Aufl. von „Quellen zur Geschichte des evangelischen Gottesdienstes“, Göttingen 1992, 172-185. Präfation und Sanctus (1822: 176, es folgt das Fürbittgebet; 1895: 178f) gehören zur „Liturgie zum Hauptgottesdienst an Sonn- und Festtagen und zur Abendmahlsfeier“ (1822); das Abendmahl beginnt, wenn es stattfindet, erst nach dem Segen. In der Fassung von 1895 sind Präfation und Sanctus in einem Hauptgottesdienst ohne Abendmahl fakultativ. Einführende Informationen zur Preußischen Agende bei Alfred N IEBERGALL , Agende, in: Theologische Realenzyklopädie 1 (1977), 755-784; 2 (1978) 1-91, hier: 55-60. 105 Wort-Gottes-Feier. Werkbuch für die Sonn- und Festtage, hg. v. den Liturgischen Instituten Deutschlands und Österreichs im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz, der Österreichischen Bischofskonferenz und des Erzbischofs von Luxemburg, Trier 2004. <?page no="114"?> Reinhard Meßner 100 zu singen wäre: „Wir […] stimmen freudig ein in das Lied der himmlischen Chöre, die das Lob Deiner Herrlichkeit singen“ 106 - jeder römisch-katholische Christ, der öfter die Sonntagsmesse mitfeiert, erwartet sich an dieser Stelle den Gesang des Heilig, heilig, heilig, als Gesang vorgesehen ist aber das Gloria in excelsis Deo (bzw. eines seiner Surrogate; in Advent und Quadragesima das Te decet laus). Bei allen durchaus anzuerkennenden programmatischen Aussagen, die sonntägliche Wort-Gottes-Feier sollte keinesfalls mit der Sonntagsmesse zu verwechseln sein 107 , fehlt es bei so gut wie allen literarisch zugänglichen Gestaltungen, speziell auch bei den offiziösen Büchern, auch dem deutschschweizerischen - dessen eben erschienene letzte Auflage von 2014 108 in dieser Hinsicht immerhin einen, wenn auch nur graduellen, Fortschritt in Hinblick auf die ästhetische Eigenständigkeit der Wort-Gottes-Feier darstellt 109 - am Mut oder an der Phantasie zu innovativen Gestaltgebungen, die sich nicht am Wortgottesdienst der Messe orientieren. Zur Vorgabe, in sonntäglichen Wort-Gottes-Feiern die - im deutschen Sprachraum bekanntlich von Anfang an in der Messe nur sehr selektiv rezipierte - Leseordnung des Messlektionars zu nehmen, treten als Gestaltungsprinzip, das auch in den Praenotanda der offiziösen Bücher namhaft gemacht wird 110 , abstrakte Schemata hinzu, nämlich Jungmanns Grundschema Lesung 106 Wort-Gottes-Feier (wie Anm. 105), 60 (Form A). Weiters: „Wir […] stimmen ein in den Lobgesang der himmlischen Chöre“ (ebd., 173 [Form B] = GL 2013 Nr. 670,9); „Wir […] stimmen ein in das Loblied der himmlischen Chöre“ (ebd., 179 [Form D]); „stimmen wir ein in den Lobgesang der himmlischen Chöre“ (ebd., 181 [Form E]); „und vereinen uns mit den Chören des Himmels zu deinem Lobgesang“ (ebd., 185 [Form G]). Die einschlägigen Lobgebete im deutschschweizerischen Buch von 2014 (s. u. Anm. 108) sind hier deutlich besser. 107 Vgl. Wort-Gottes-Feier (wie Anm. 105), 16f: „Die hier vorgelegten Modelle möchten jede Verwechslung mit der Eucharistiefeier ausschließen und versuchen deshalb, der Wort- Gottes-Feier in der Abfolge wie in der Gestalt der einzelnen Elemente ein eigenständiges Profil zu geben. So kann nicht der Eindruck entstehen, die Wort-Gottes-Feier sei der erste Teil der Messfeier, der die Mahlfeier fehlt.“ 108 Die Wort-Gottes-Feier am Sonntag, hg. v. Liturgischen Institut in Freiburg im Auftrag der Bischöfe der deutschsprachigen Schweiz, Freiburg/ Schweiz 2014, 2 2015. Vgl. die Würdigungen von Gunda B RÜSKE , Wort Gottes feiern - ein neues liturgisches Buch, in: Schweizerische Kirchenzeitung 182 (2014), 657-659; DIES ., Schwierige Wortkommunion, in: Herder-Korrespondenz 69 (2015), 312-315; Eduard N AGEL , Gottes Gegenwart im Wort ernst genommen, in: Gottesdienst 49 (2015), 4f. 109 So auch, wohl etwas zu optimistisch, N AGEL , ebd., 5: „Vergleicht man das neue Buch mit seinem Vorgänger von 1997 und dem deutsch-österreichischen Pendant von 2004, so ist eine klare Entwicklung zu erkennen von einer Notlösung in Form eines etwas erweiterten Wortgottesdienstes der Eucharistiefeier über eine stärkere Profilierung der Wort- Gottes-Feier als eigenständiger Gottesdienstform zu einer vom Glauben an die Gegenwart Gottes in seinem Wort her konzipierten und rituell konsequent durchgestalteten Form.“ 110 Wort-Gottes-Feier (wie Anm. 105), 21: „Das liturgische Prinzip von Wort und Antwort prägt deshalb die Grunddramaturgie der Wort-Gottes-Feier.“ Voraus geht ein einschlägiges Zitat aus SC 33. Vgl. auch ebd., 13f („Gott und Mensch im Dialog“). Wort-Gottes- <?page no="115"?> Wortgottesdienst 101 - Gesang - Gebet sowie die in der deutschsprachigen Liturgiewissenschaft vor allem von Emil Joseph Lengeling propagierte 111 Auffassung von Liturgie als Dialog zwischen Gott und Mensch. Wort-Gottes-Feiern sind demgemäß nach dem Prinzip von Wort und Antwort gestaltet: Auf das Wort Gottes folgt die Antwort der Gemeinde im Gebet und in nonverbaler Zeichenhandlung. Derlei Schemata können gewiss für die theologische Reflexion über die Liturgie nützlich sein, eine Grundlage für eine geeignete ästhetische Gestaltung eines eigenständigen Gottesdiensttyps „Wortgottesdienst“ oder „Wort- Gottes-Feier“ sind sie nach meiner Überzeugung aber nicht. So sind etwa im deutsch-österreichischen Buch Wort-Gottes-Feier einige mögliche verbale und nonverbale Antwortelemente aufgezählt 112 , aus denen man nach Belieben auswählen kann. 113 Eine in sich stimmige gottesdienstliche Struktur wird sich auf der Basis dieses Baukastenprinzips wohl nur selten ergeben. Es geht an dieser Stelle nicht um Einzelkritik. 114 Das allen Detailfragen der Gestaltung zugrunde liegende Problem ist der nicht nur sachlich höchst problematische, sondern auch pragmatisch-pastoral reichlich naive Ansatzpunkt, dass ein sonntäglicher Wortgottesdienst oder eine Wort-Gottes-Feier Surrogat der Sonntagseucharistie sein soll, bis wieder ein Priester da ist und dann wieder die Messe gefeiert werden kann. 115 In ekklesiologischer Perspektive ist Feier am Sonntag (wie Anm. 108), 21 (Nr. 69): „Die Abfolge von Wort und Antwort, die die Feier im Ganzen bestimmt, […]“. 111 Vgl. Emil Joseph L ENGELING , Liturgie - Dialog zwischen Gott und Mensch, hg. u. bearb. v. Klemens R ICHTER , Freiburg i. Br. u. a. 1981, bes. 26-33. Lengeling ist freilich vielfach etwas simplistisch rezipiert worden, sein Grundanliegen ist unanfechtbar. 112 Wort-Gottes-Feier (wie Anm. 105), 26-28 (Nr. 23-31): Glaubensbekenntnis, Predigtlied, Taufgedächtnis, Schuldbekenntnis und Vergebungsbitte, verschiedene Segnungen, Friedenszeichen, (Geld-)Kollekte. Ebd., 37 (Nr. 68): „Aus den in Nr. 24-29 aufgeführten Antwortelementen kann ausgewählt werden.“ Warum ausgerechnet (neben dem „Friedenszeichen“, das weder als Gebetsabschluss dient noch als auf die Eucharistie hinführendes Zeichen der Versöhnung und dessen Bedeutung und Funktion mir deshalb nicht wirklich schlüssig scheint) die Kollekte an Sonntagen niemals ausfallen soll, bleibt mir rätselhaft. 113 Durch größere Konzentration zeichnet sich in diesem Punkt das deutschschweizerische Buch von 2014 aus, wo zwischen der Verehrung des Wortes Gottes, der Überreichung eines biblischen Wortes und dem Taufgedächtnis gewählt werden kann. Doch gerade diese Zeichenhandlungen, die der Entlastung des Gottesdienstes von einseitigem Verbalismus dienen sollen, erwecken den Eindruck des krampfhaft Gesuchten, Konstruierten. 114 So könnte man sich z. B. beim Element „Verehrung des Wortes Gottes“ (Wort-Gottes- Feier [wie Anm. 105] 31 [Nr. 46]. 200, hier auch als ein mögliches „Antwortelement“ bezeichnet, während es in der Aufzählung in Nr. 24-31 fehlt), fragen, ob es ein sinnvoller ritueller Akt ist, wenn die Teilnehmer des Gottesdienstes in der Art einer Kommunionprozession nach vorn treten und sich vor dem aufgeschlagenen Buch verneigen oder es mit der Hand berühren. Ist das eine Art Kommunionersatz wie die mittelalterliche Elevation? Ähnlich auch im deutschschweizerischen Buch von 2014 (Wort-Gottes-Feier am Sonntag [wie Anm. 108], 69f). 115 Vgl. die französische Bezeichnung solcher Sonntagsgottesdienste als „assemblées dominicales en l’attente du prêtre“. Besonders deutlich ist diese völlig unrealistische Erwartung in der Enzyklika „Ecclesia de eucharistia“ Johannes’ Pauls II. (2003) ausgesprochen <?page no="116"?> Reinhard Meßner 102 damit das Verhältnis von Kirche und Eucharistie auf den Kopf gestellt. Etwas überspitzt gesagt, aber wohl doch auf den Punkt gebracht: Nicht die Eucharistie erbaut Kirche bzw. Gemeinde als Kirche an einem bestimmten Ort in Gemeinschaft mit allen anderen Ortskirchen in der Welt, sondern eine anscheinend rein (kirchen-)soziologisch aufgefasste Gemeinde ist auf Grund ihrer historisch-kontingenten Etablierung als Pfarrei in ganz anderen historischen Kontexten einfach da und feiert - unter anderem - auch Sonntagsgottesdienst, (relativ) egal in welcher Gestalt. Liturgisch ist mit diesen den Wortgottesdienst der Messe kopierenden Wort-Gottes-Feiern in der römisch-katholischen Kirche eine zweite Form des Sonntagshauptgottesdienstes als Surrogat der Eucharistie entstanden, die sich in immer mehr Gemeinden etabliert 116 , nicht selten auch noch durch das ideologische Argument gestützt, dass mit dieser Form des Gottesdienstes Kirchenleitung oder kirchliche Verantwortung durch Laien gestärkt werden könne. 117 Der Gottesdienst wird damit zum Feld kirchlicher Machtspiele - eine der Folgen der in der gegenwärtigen römisch-katholischen Theologie völlig unzulänglichen Reflexion auf das kirchliche Amt bzw. die kirchlichen Ämter. 3.2 Positive Funktion sonntäglicher Wortgottesdienste Nach meiner Überzeugung können sonntägliche Wortgottesdienste - der Begriff jetzt im weiten Sinn verstanden, also nicht Wort-Gottes-Feiern, die sich am Wortgottesdienst der Messe orientieren - als tatsächlich selbstständige und nicht als Eucharistiesurrogat fungierende Gottesdienste nur dann etabliert und auch gottesdiensttheologisch sinnvoll konzipiert werden, wenn sie erstens eine gegenüber der Eucharistie eigenständige und positive Funktion haben und sich zweitens in ihrer Gestalt, in der rituellen Ästhetik und Performance vom Wortgottesdienst der Eucharistiefeier so klar wie nur möglich unterscheiden. Wie schon angemerkt, wird in den Praenotanda der offiziösen Bücher durchaus programmatisch die Absicht bekundet, dass die Wort- Gottes-Feier nicht mit dem Wortgottesdienst der Eucharistiefeier zu verwechseln sein darf, aber die Ergebnisse sind in dieser Hinsicht alles andere als überzeugend. Man übernimmt dann doch die Leseordnung für die Messe, man übernimmt die messspezifische rituelle Inszenierung der evangelischen (Nr. 32): „Derartige Lösungen müssen aber als bloß vorläufig betrachtet werden, solange die Gemeinde auf einen Priester wartet.“ Dem Grundanliegen der Enzyklika, das sich in ihrem Initium manifestiert, ist allerdings uneingeschränkt zuzustimmen. 116 B RÜSKE , Schwierige Wortkommunion (wie Anm. 108), 313: „In der Schweiz […] kamen im Jahr 2012 auf 2300 Messen am Sonntag etwa 300 sonntägliche Wort-Gottes-Feiern.“ Die Zahl letzterer ist tendenziell zweifellos stark steigend. 117 So auch die m. E. richtige Diagnose von Z IGRIADIS , Wort-Gottes-Feiern (wie Anm. 96), 441f: „Die Wort-Gottes-Feier hat sich verselbständigt, sie wird zunehmend als Feierform eigener Art mit einem Eigenrecht verstanden, die am Sonntag in Parallele zur Eucharistie tritt“, die „faktisch als gleichberechtigte Form die Eucharistie ersetzt“. <?page no="117"?> Wortgottesdienst 103 Schriftlesung mitsamt der Evangelienprozession 118 und dem Alleluia-Gesang, man übernimmt auch eucharistiespezifische Eröffnungsriten 119 wie das Kyrie eleison usw., alles überdeutliche Anzeichen für die Surrogatfunktion dieser Gottesdienste. Die liturgiehistorische Voraussetzung für diese fragwürdige Entwicklung ist der so gut wie vollständige Verlust sonntäglicher nichteucharistischer Gottesdienste nicht anstelle der Messe, sondern zusätzlich zum eucharistischen Hauptgottesdienst seit einem guten halben Jahrhundert. Bis in die Fünfzigerjahre des 20. Jahrhunderts bestand der Sonntagsgottesdienst in einer römischkatholischen Pfarrkirche nicht nur aus Messen - davon eine „missa cantata“ (oder „missa sollemnis“ [Hochamt]) als Hauptgottesdienst -, sondern zumindest auch aus der Nachmittagsandacht, mancherorts in Form einer deutschen Vesper, jedenfalls aus einem gottesdienstlichen Element, das mit der Tagzeitenliturgie in einem engeren oder lockereren Zusammenhang stand. Abendmessen waren bekanntlich bis in die Fünfzigerjahre über viele Jahrhunderte verboten. Die Zulassung der Abendmesse, die ja in mancher Hinsicht durchaus zu begrüßen ist - es gibt keinen vernünftigen Grund, warum man eine Messfeier nicht nach zwölf Uhr beginnen sollte -, hat dann aber zu einer Art von eucharistischem Exzess in der römisch-katholischen Kirche geführt. Die Sonntagnachmittagsandachten, in deren Zentrum meist der eucharistische Segen stand und die man in der damaligen Form ganz sicher nicht wieder beleben kann und sollte, wurden fast überall durch Abendmessen ersetzt. Diese sind inzwischen weitgehend wieder gestrichen worden - nicht nur wegen der markant geringeren Zahl der Priester. Aber damit ist schließlich eine gottesdienstliche Leerstelle entstanden. 120 Der Sonntag hat einiges von seinem gottesdienstlichen Profil eingebüßt: Es gibt nur mehr die Messe oder eine Mehrzahl von Messen, die - ein ziemlich rezentes und bedenkliches Phänomen - völlig gleichwertig und gleichartig gestaltet sind, meist in Form einer - traditionell gesprochen - „missa lecta“ („stille Messe“, nun aber elektronisch verstärkt) mit Liedeinlagen (also die „Betsingmesse“ aus der liturgierechtlichen Situation der Liturgischen Bewegung). Damit wird das eindeutige Signal gegeben, dass die Sonntagsmesse nicht das ekklesial grundlegende, weil Kirche aufbauende Ereignis ist, sondern ein pastorales Angebot - wie es im paternalistischen kirchlichen Jargon der letzten Jahrzehnte heißt - für die 118 Im deutschschweizerischen Buch von 2014 tritt an die Stelle der Evangelienprozession eine Prozession mit dem Lektionar (bzw. einer Lesebibel) vor allen Schriftlesungen (Wort-Gottes-Feier am Sonntag [wie Anm. 108], 41-43). Dies ist immerhin ein Schritt in die richtige Richtung, die Wort-Gottes-Feier gegenüber dem Wortgottesdienst der Eucharistie ästhetisch eigenständig zu profilieren. Doch auch das bleibt grundsätzlich im Rahmen eines Imitats des Wortgottesdienstes der Messe. 119 Auch hier stellt das deutschschweizerische Buch von 2014 einen Fortschritt dar; die Eröffnungsriten sind vor allem durch ein Litaneigebet eigenständig gegenüber der Messe profiliert. 120 Dies gilt noch viel mehr für Werktage, wo offenbar nach dem Prinzip Messe oder gar nichts verfahren wird. <?page no="118"?> Reinhard Meßner 104 einzelnen Christen, das sie möglichst bequem wahrnehmen sollen (jedenfalls die immer kleiner werdende Zahl derer, die das noch wollen), ähnlich wie Kinovorstellungen vom Nachmittag bis zum späten Abend als Angebot an unterschiedliche Publikumsschichten stattfinden. Welchen Stellenwert könnten nun in Zukunft sonntägliche Wortgottesdienste - wieder im weiteren Sinn des Wortes verstanden - in römisch-katholischen Gemeinden haben, jenseits der fragwürdigen Alternative: Eucharistie oder ihr Surrogat? Grundsätzlich gilt: Solche Gottesdienste dürfen nicht an das Fehlen eines Priesters gebunden sein, sondern sind als Teil des sonntäglichen Gottesdienstes prinzipiell in allen Gemeinden einzuführen, als eigenständige Gottesdienste und die Eucharistie ergänzend, nicht als ihr Ersatz, wie ja auch die frühere Segensandacht am Nachmittag oder die (deutsche) Vesper organischer Bestandteil des Sonntagsgottesdienstes gewesen ist. 121 In Gemeinden, in denen keine Eucharistie möglich ist, würde dann dennoch ein Teil des regulären Sonntagsgottesdienstes gefeiert; das Fehlen der Eucharistie wird allerdings nicht durch einen angeblichen Ersatzgottesdienst überspielt. An einem kleinen Beispiel verdeutlicht: In einer priesterlosen Gemeinde wird nicht die Christmette durch eine Wort-Gottes-Feier ersetzt - nach meiner Überzeugung ein liturgisches Unding -, sondern es findet eine feierliche Christvesper statt, die - nimmt man die liturgischen Bücher ernst - ohnedies ganz wesentlich zum kirchlichen Gottesdienst am Weihnachtsfest gehört (wie man das macht, mag man von evangelischen Gemeinden lernen). 3.3 Die Gestalt sonntäglicher Wortgottesdienste Wie in diesem Beispiel schon impliziert: Der Ausgangspunkt für eine mögliche, gegenüber den gängigen Wort-Gottes-Feiern befriedigendere Gestalt solcher sonntäglicher Wortgottesdienste ist nicht der Wortgottesdienst der Messe - dieser ist die für die Eucharistie spezifische Gestalt eines Wortgottesdienstes -, sondern das Stundengebet. Im deutsch-österreichischen Buch 121 Genau in diese Richtung weist die leider wohl singuläre Anordnung, die Bischof Josef Homeyer in seinem Aufsehen erregenden Fastenhirtenbrief des Jahres 2000 für die Diözese Hildesheim gegeben hat: „Wort-Gottes-Feiern - also ohne Kommunionfeier - sollen vorrangig als Bereicherung des liturgischen Lebens - aber eben nicht als Ersatz für die Eucharistiefeier - regelmäßig gefeiert werden, insbesondere an den Sonntagen der Advents- und der Bußzeit, an Hochfesten und bei besonderen Anlässen“ (zugänglich unter http: / / www.downloads.bistum-hildesheim.de/ 1/ 10/ 1/ 97564004130694122893.pdf, hier: S. 9; 08.01.2016). Ebenso wegweisend ist der Hinweis für die Gestaltfindung: „Dabei gilt es, an die alten kirchlichen Wort-Gottes-Feiern im Stundengebet (Laudes und Vesper), aber auch an die reiche Tradition der Andachten (Kreuzweg-, Rosenkranz-, Herz-Jesu-, Marienandacht) neu anzuknüpfen“ (ebd., 8). Wie sich diese verbindliche Regelung im Bistum konkret ausgewirkt hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Im jüngsten „Erlass zu Wort- Gottes-Feiern an Sonn- und Feiertagen“ von Bischof Norbert Trelle (15. Mai 2013) wird - wie in den anderen deutschen Diözesen im Anschluss an die von der Deutschen Bischofskonferenz aufgestellten „Allgemeinen Kriterien“ - der Wort-Gottes-Feier die Funktion eines Ersatzgottesdienstes für die Eucharistie zugewiesen (Kirchlicher Anzeiger für das Bistum Hildesheim vom 31.05.2013, 62f). <?page no="119"?> Wortgottesdienst 105 Wort-Gottes-Feier werden in einer nicht ganz durchsichtigen Systematik unter „Feier-Formen“ - wofür? - die Tagzeitenliturgie 122 (an erster Stelle! ) und die Wort-Gottes-Feier genannt. Allerdings empfiehlt sich nach diesem Buch erstere „vor allem auch am Sonntag neben der Feier der Eucharistie bzw. der Wort- Gottes-Feier“ 123 , welche also auch hier in scheinbarer Selbstverständlichkeit zum Eucharistieersatz erklärt wird. Im Hauptteil des Buches finden sich konsequenterweise auch nur für sie konkrete Gestaltungsvorschläge. Tatsächlich ist nach meiner Überzeugung die Tagzeitenliturgie - tatsächlich neben und nicht anstelle der Eucharistie - und nicht die Wort-Gottes-Feier der geeignete Ansatzpunkt für einen sonntagsspezifischen Wortgottesdienst. Ein solcher wäre entsprechend der oben entwickelten Typologie in der Terminologie von Rolf Zerfaß ein latreutischer Wortgottesdienst, der aber - im Sinn einer sinnvollen Verschmelzung zweier Typen - durch anamnetischen Schriftgebrauch sonntagsspezifisch gestaltet wird. In einem solchen Wortgottesdienst hätte auch ein in der Wort-Gottes-Feier kontextuell eher künstlich eingebundenes und das eucharistische Hochgebet evozierendes Element wie das Sonntagslob 124 einen durchaus sinnvollen Ort. Ein derartiger Wortgottesdienst, der zugleich tagzeitenwie tagesspezifisch ist, der den latreutischen und den anamnetischen Gottesdiensttyp miteinander verbindet, wäre eine römisch-katholische Analogie zum byzantinischen Sonntagsorthros. Etwas Ähnliches findet sich freilich auch im nachvatikanischen Stundenbuch, nämlich in der zur Vigil erweiterten Lesehore, in der sich an die normale Lesehore vom Tag drei alttestamentliche Cantica (wie im benediktinischen dritten Nokturn der Sonntagsvigil), an den Sonntagen (mit Ausnahme der Sonntage in der Quadragesima) ein Auferstehungsevangelium und das Te Deum (das auch im cursus Romanus zur Sonntagsvigil gehört) anschließen. 125 Doch dürfte dieser Gottesdienst für den regelmäßigen Vollzug in der Gemeinde wohl weniger geeignet sein. 122 Ziemlich realitätsfremd mutet freilich die Feststellung an: „In vielen Gemeinden wird die gemeinsame Feier der Tagzeitenliturgie wieder entdeckt“ (Wort-Gottes-Feier [wie Anm. 105], 16). Die „vielen Gemeinden“ sind mir jedenfalls in Österreich - in Deutschland dürfte es kaum anders sein - bisher ganz verborgen geblieben. 123 Ebd., 15 (Hervorhebung von mir). 124 Eine erste kritische liturgiewissenschaftliche Reflexion auf dieses völlig neue Gebetselement findet sich bei Benedikt K RANEMANN , Das „Lob- und Dankgebet“ in der sonntäglichen Wort-Gottes-Feier. Zu Genese, Struktur und Theologie eines neuen Gebetselements, in: Benedikt K RANEMANN - Thomas S TERNBERG (Hgg.), Wie das Wort Gottes feiern? Der Wortgottesdienst als theologische Herausforderung (Quaestiones disputatae 194), Freiburg i. Br. u. a. 2002, 205-233. Ein Vergleich mit dem „Lobpreis“, der fester Bestandteil der Grundstruktur ist, im deutschschweizerischen Buch von 2014 würde sich lohnen (und wohl im Wesentlichen zugunsten des deutschschweizerischen Buchs ausfallen). 125 Sonntagsspezifische Elemente finden sich auch sonst in den Horen: der Ps 118 (117) am 1. und 3. Sonntag in der Tageshore, am 2. und 4. Sonntag in den Laudes, der Gesang der Jünglinge im Feuerofen (Dan 3,57-88 am 1. und 3. Sonntag, Dan 3,52-57 am 2. und 4. Sonntag) als traditionelles alttestamentliches Sonntagscanticum der Laudes, an allen Sonntagen die neutestamentlichen Cantica Phil 2,6-11 in der ersten Vesper und Offb <?page no="120"?> Reinhard Meßner 106 Die Erarbeitung konkreter, gemeindegemäßer Gottesdienstgestalten ist keine liturgiewissenschaftliche Aufgabe. Grundsätzlich gilt: Für den Zeitansatz gibt es naturgemäß zwei Möglichkeiten, einen abendlichen und einen morgendlichen. Man kann am Vorabend einen sonntagsspezifisch erweiterten Vespergottesdienst feiern, anstelle einer Vorabendmesse, soweit es eine solche in der Gemeinde noch gibt, aber nicht als ihr Ersatz bzw. Surrogat, sondern als eigenständige gottesdienstliche Feier, die neben der und zusammen mit der Eucharistie das spirituelle Profil des Sonntags wesentlich mit prägt, die jedenfalls auch musikalisch anspruchsvoll und deshalb ansprechend gestaltet sein müsste. Dasselbe ist natürlich - entsprechend dem Zeitansatz der früheren Nachmittagsandacht - am späten Nachmittag des Sonntags möglich. Alternativ (oder auch ergänzend) dazu kann man einen nichteucharistischen Morgengottesdienst - in freier, gemeindegemäßer Variation der Sonntagslaudes - sonntagsspezifisch gestalten; hier bietet sich nicht nur von der Tradition, sondern vor allem von der Sache her an, ein Auferstehungsevangelium als anamnetisches Element zu wählen. Die Reihe der acht Auferstehungsevangelien für die zur Vigil erweiterte Lesehore deckt den gesamten Bestand der einschlägigen neutestamentlichen Perikopen ab. Schließlich gibt es noch eine ganz anders gelagerte Möglichkeit für einen sonntäglichen Wortgottesdienst, nämlich die Anknüpfung an den spätmittelalterlichen und reformatorischen Prädikantenbzw. Predigtgottesdienst, etwa an den Sonntagen der Quadragesima. Dabei müsste man sich aber ganz klar vor Augen stellen, dass das ein Gottesdiensttyp ist, in dessen Zentrum die Predigt steht 126 und nicht die rituell inszenierte Schriftlesung. Der Kern ist der Predigttext und die Predigt, dazu gibt es Gesang und einen flexiblen, eher bescheidenen euchologischen Rahmen. Ein solcher Gottesdienst setzt mit absoluter Notwendigkeit die Verfügbarkeit von Personen voraus, die die entsprechende Fähigkeit zu predigen haben - eine erhebliche Herausforderung an die Auswahl und Ausbildung von Wortgottesdienstleitern. 19,1-7 (mit Ausnahme der Sonntage der Quadragesima, wo es durch das passionsbezogene Stück 1 Petr 2,21-24 ersetzt wird) in der zweiten Vesper sowie die Hymnen zur Lesehore an den Sonntagen im Jahreskreis „Das ist dein Tag, Herr Jesus Christ“ am 1. und 3. Sonntag und „Heil dem Tage, der unsre Tage krönt“ am 2. und 4. Sonntag sowie das Te Deum in der Lesehore des Sonntags (außer in der Quadragesima). 126 Die Predigt spielt im deutsch-österreichischen Buch Wort-Gottes-Feier offenbar eine eher untergeordnete Rolle, wenn es heißt: „Im Anschluss an die Schriftlesung(en) folgen in der Regel Auslegung und Deutung“ (Wort-Gottes-Feier [wie Anm. 105], 25 [Nr. 21]; Hervorhebung von mir). „Auslegung und Deutung“, wofür als mögliche Formen Predigt (Homilie) - mit eigener Beauftragung -, Lesepredigt, Dialogpredigt, Glaubenszeugnis, geistlicher Impuls und bildliche und musikalische Elemente aufgezählt werden (ebd., 25f), sind also kein integrierender Bestandteil dieser Gottesdienstform. Es handelt sich bei der Wort-Gottes-Feier in der Konzeption dieses Buches damit um etwas ganz anderes als bei einem Predigtgottesdienst. <?page no="121"?> Wortgottesdienst 107 3.4 Die Problematik der Kommunionspendung Ein wirklich eigenständiger Wortgottesdienst in welcher konkreten Gestalt auch immer, ob als Predigtgottesdienst oder als sonntagsspezifische Ausgestaltung einer Hore der Tagzeitenliturgie würde auch der von der Sache her untragbaren Verbindung der Kommunionspendung mit der Wort-Gottes- Feier ein Ende setzen, einer Praxis, die bei realistischer Einschätzung auf längere Sicht zum Verlust der Eucharistie in der römisch-katholischen Kirche führen kann 127 . Die diözesanen Ordnungen sind in diesem Punkt bei Unterschieden im Detail tendenziell im deutschen Sprachraum gegenüber der Kommunionspendung kritisch. 128 Dies gilt auch für die offiziösen liturgischen Bücher für die Wort-Gottes-Feier. 129 Faktisch wird, wie immer die diözesane 127 So auch, m. E. keineswegs unrealistisch übertrieben, Z IGRIADIS , Wort-Gottes-Feiern (wie Anm. 96), 446f: „Sie [gemeint ist die Wort-Gottes-Feier als Eucharistiesurrogat überhaupt] bedeutet in einem ersten Schritt, dass der Sonntag von der Feier der Eucharistie gelöst wird, und in einem zweiten, dass die sakramentale Feier der Eucharistie, wenn sie gerade am Sonntag, dem Tag, an dem sie ihren Ursprung hat, nicht notwendig gefeiert werden muss, an sich obsolet ist.“ 128 In Deutschland liegen den diözesanen Ordnungen „Allgemeine Kriterien für die Wort- Gottes-Feiern am Sonntag“ der Deutschen Bischofskonferenz aus dem Jahr 2006 zugrunde, wo es unter Nr. 6 heißt: „In der Regel findet in der Wort-Gottes-Feier keine Spendung der hl. Kommunion statt. Über Ausnahmen von dieser Regel entscheidet der Ortsbischof“ (zitiert aus: Oberhirtliches Verordnungsblatt. Amtsblatt für das Bistum Speyer 99 [2006], Nr. 4, 83). In der Erzdiözese Paderborn etwa wird diese Bestimmung so konkretisiert: „Ausnahmen bilden gegebenenfalls Gottesdienstgemeinden wie in Krankenhäusern oder Altenheimen“ (Kirchliches Amtsblatt für die Erzdiözese Paderborn 149 [2006], Stück 6, 72). Ähnlich, aber in ihrer Weitschweifigkeit Unsicherheit verratend, lautet in diesem Punkt die „Rahmenordnung für Sonntagsgottesdienste ohne Priester“ der Österreichischen Bischofskonferenz von 2010: „Da bei der Wort-Gottes-Feier keine Bereitung und Wandlung der eucharistischen Gaben erfolgen kann, wird die Wort-Gottes- Feier in der Regel ohne Kommunionspendung gefeiert. Wird innerhalb einer Wort- Gottes-Feier die Kommunion ausnahmsweise ausgeteilt, muss der Zusammenhang mit einer vorausgehenden Messe deutlich werden. Zur Einhaltung und Förderung der […] Unterscheidung zwischen Wort-Gottes-Feier und Feier der Heiligen Messe ist also - abgesehen von den offiziell erlaubten und genehmigten Ausnahmen - eine Kommunionausteilung nicht vorgesehen und nicht vorzusehen“ (Amtsblatt der Österreichischen Bischofskonferenz Nr. 51 vom 15. Mai 2010, II.1). Eigene Wege geht schon seit Jahrzehnten die Diözese Innsbruck mit der kurios anmutenden Richtlinie aus dem Jahr 2008: „Ziel [! ! ! ] ist es, wenn es von der Zahl der Mitfeiernden möglich ist und keine schwerwiegenden pastoralen Gründe dagegen sprechen, einen Wortgottesdienst mit Kommunionspendung nur dann zu feiern, wenn am gleichen Sonn- oder Feiertag (inkl. Vorabend) in der Pfarrgemeinde keine Eucharistiefeier möglich ist“ (Diözesanblatt der Diözese Innsbruck 83 [2008], Nr. 8, Pkt. 81). Der Hintergrund dieses eigenartigen Satzes ist die bischöfliche Förderung der Verbindung der Kommunionspendung mit dem Wortgottesdienst seit den Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts. 129 Wort-Gottes-Feier (wie Anm. 105), 32f (Nr. 51): „Die Wort-Gottes-Feier hat in sich ihren eigenen theologischen Wert und bedarf nicht der hinzugefügten Kommunionspendung. […] Wird aus schwerwiegenden pastoralen Gründen die Wort-Gottes-Feier mit einer Kommunionspendung verbunden, muss der Zusammenhang mit einer vorausgehenden Messfeier deutlich werden.“ Dazu ist zweierlei anzumerken. Erstens: Durch das allge- <?page no="122"?> Reinhard Meßner 108 Regelung aussieht, wohl in der weitaus überwiegenden Zahl der sonntäglichen Wortgottesdienste die Kommunion gespendet. 130 Diese falsche Praxis wird sich gewiss nicht per Dekret aufheben bzw. ändern lassen, es bedarf dafür zunächst eines ganz neuen Umgangs mit der Eucharistie. Die von der Eucharistie getrennte Austeilung der Kommunion ist ja nur ein Zeichen - ein Alarmzeichen - dafür, dass in der römisch-katholischen Kirche fünfzig Jahre nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil mit der Eucharistie immer noch so umgegangen wird wie vor 100 Jahren, konkret: dass die Gemeindekommunion immer noch ein Einschub in die Messe ist. Die früher, nach den Kommuniondekreten Pius’ X., von der Messe getrennte Kommunionspendung an die (einzelnen) Gläubigen („Abspeisung“) wurde im Zug der nachvatikanischen Reform zeitlich in die Messe hineingenommen, aber nicht wirklich in sie integriert. Die eucharistietheologisch absurde Praxis einer Konsekration auf Vorrat und entsprechend die Austeilung vorkonsekrierter Hostien an zumindest einen größeren Teil der Gläubigen ist auf breiter Basis überhaupt erst nach der (natürlich höchst erfreulichen) Etablierung der häufigeren Kommunion im 20. Jahrhundert entstanden. Zuvor war es allen Beteiligten klar, dass konsekrierte Hostien nur für die Kranken- und Sterbekommunion, nicht für die Kommunion in einer späteren Messe aufzubewahren sind. 131 Die jahrhundertelang auf römisch-katholischer Seite nicht hinterfragte, sachlich äußerst probgenwärtige Gerede von „pastoralen Gründen“ (deren Existenz und Dringlichkeit keineswegs bestritten werden soll) scheinen sich Autoren wie Rezipienten kirchlicher Texte offensichtlich von vornherein der Aufgabe entbunden zu fühlen, derlei Gründe auch konkret zu benennen oder Argumente vorzubringen. Die Redeweise von „(dringlichen) pastoralen Gründen“ ist längst zu einer unerträglichen, alles zulassenden, völlig inhaltsleeren Phrase geworden. Zweitens: Das gut gemeinte Anliegen, den Zusammenhang der Kommunionspendung im Anschluss an die Wort-Gottes-Feier mit einer Eucharistiefeier verbal zu markieren (zur konkreten Ausführung: ebd., 65) führt sich angesichts der unbedachten Massenkonsekrationen in der gegenwärtigen römisch-katholischen Kirche selbst ad absurdum. Um unter diesen Voraussetzungen dem Anliegen gerecht zu werden, müsste der Pfarrer Buch darüber führen, in welchen Eucharistiefeiern die vielen Hostien im Ziborium konsekriert worden sind. Deutlicher das deutschschweizerische Buch von 2014 (Wort-Gottes-Feier am Sonntag [wie Anm. 108], 17 [Nr. 37]): „Die Wort- Gottes-Feier wird deshalb sinnvollerweise ohne Kommunionspendung gehalten“; noch deutlicher das Geleitwort der Bischöfe (ebd., 3): „Sie wird deshalb ohne Kommunion begangen.“ Im Buch selbst findet sich keine gottesdienstliche Ordnung für die Kommunionspendung. 130 Verlässliche Zahlen gibt es nicht. Vgl. B RÜSKE , Schwierige Wortkommunion (wie Anm. 108), 313: „Nicht repräsentative Umfragen in Deutschland, Österreich und der Schweiz sowie zahlreiche Hinweise von Einzelpersonen legen den Schluss nahe, dass etwa 80 bis 90 Prozent aller Wort-Gottes-Feiern mit Kommunionspendung durchgeführt werden.“ 131 Vgl. die Daten bei Peter B ROWE , Wann fing man an, die in einer Messe konsekrierten Hostien in einer anderen Messe auszuteilen? , in: DERS ., Die Eucharistie im Mittelalter. Liturgiehistorische Forschungen in kulturwissenschaftlicher Absicht, hg. v. Hubertus L UT- TERBACH - Thomas F LAMMER (Vergessene Theologen 1), Münster 2004, 383-393 (zuerst 1938 erschienen), mit dem Nachweis, dass es sich um ein Phänomen der späten Neuzeit handelt, das sich erst durch die häufigere Kommunion im 20. Jahrhundert zum Normalfall entwickelte. <?page no="123"?> Wortgottesdienst 109 lematische, historisch der Vervielfachung der „missa specialis“ („Privatmesse“) erwachsene schultheologische Zweiteilung der Eucharistie in (Mess-) Opfer, aus dem eigene Gnadenfrüchte zu requirieren sind, und Sakrament, das - außer vom Priester - meist in Form der „geistlichen Kommunion“ bzw. eines Kommunionersatzes empfangen wurde, ist damit in liturgische Realität umgesetzt worden, im Sinn einer Zweiteilung der Eucharistie in Konsekration (für die und für die allein zur Validität des Vollzugs ein Priester nötig ist) und Kommunion. Am Zweiten Vatikanischen Konzil wurde das Problem zwar angesprochen, aber das von Sache her Selbstverständliche - dass eucharistisches Hochgebet und Kommunion einen einzigen, unteilbaren Akt bilden - wurde dann in SC 55 doch nur „sehr empfohlen“ („valde commendatur“). Ganz ähnlich heißt es im Messbuch: „Es ist wünschenswert [„valde optandum est“], daß für die Kommunion der Gläubigen die Hostien möglichst in jeder Messe konsekriert werden“ (AEM 56h), ähnlich wie auch die von der Sache her selbstverständliche Kommunion der ganzen Gemeinde unter beiderlei Gestalt im selben Artikel von SC - vor dem Hintergrund jahrhundertelanger Kelchverweigerung an die Laien kann man hier noch sagen: wenigstens - als Konzession („concedi potest“) traktiert wird. Dieser Aussagen, die ja immerhin in die richtige Richtung weisen, ungeachtet, wird bis heute völlig gedankenlos die Kommunion an die Gläubigen aus dem (übervollen) Tabernakel gespendet. Es fehlt bei (fast) allen Beteiligten - Priestern und Laien - auch nur der Ansatz eines Bewusstseins, dass hier ein Problem vorliegt, übrigens auch ein nicht ganz unerhebliches ökumenisches Problem (vor allem, aber nicht nur im Gespräch mit den reformatorischen Kirchen). Die Verbindung der vom Eucharistiegebet (also traditionell gesprochen: von der Konsekration) losgelösten Kommunionspendung mit einer Wort- Gottes-Feier, nur die logische Konsequenz dieses so fragwürdigen Umgangs mit der Eucharistie, ist in der Verselbstständigung der sonntäglichen 132 Gemeindekommunion von der Eucharistie ein liturgiehistorischer Rückschritt um viele Jahrzehnte. Doch solange sich in der Praxis der Kommunionspendung in der Messe nichts ändert, wird sich auch die Verbindung der Kommunion mit dem Wortgottesdienst nicht beseitigen lassen. Es geht letztlich darum, das, was vom Zweiten Vatikanischen Konzil (und natürlich auch schon davor und danach) zumindest angedacht worden ist, auch in der gottesdienstlichen Erfahrung zu etablieren: dass die Eucharistie in ihrer Einheit von Wortverkündigung, eucharistischem Hochgebet als geistigem Opfer und gemeinsamer, egalitärer 133 Teilhabe an Christi Leib und Blut in der Kommunion das zentrale Kirche aufbauende, sie in ihrer katholischen, raum- und 132 Kommunionfeiern für ganze Gemeinden gab und gibt es, etwa in der byzantinischen Präsanktifikatenliturgie, als Besonderheit aliturgischer (! ) Tage. Das ist insofern fast das Gegenteil einer sonntäglichen Kommunionspendung an eine Gemeinde außerhalb der Eucharistie. 133 D. h. gegenüber verbreiteter römisch-katholischer Unsitte zumindest zweierlei: keine Selbstbedienung bei der Kommunion durch Priester und vor allem die selbstverständliche Kelchkommunion für die ganze Gemeinde. aus der <?page no="124"?> Reinhard Meßner 110 zeitenübergreifenden und damit auch den einzelnen Ort und die einzelne Gemeinde am Ort transzendierenden Fülle immer neu manifestierende Ereignis ist und nicht der pastoralen Versorgung („Abspeisung“) einzelner Gläubiger dient. <?page no="125"?> „Ex sacra Scriptura lectiones leguntur et in homilia explicantur“ Re-Inszenierung, Mimesis und offenes Ereignis Heinz-Günther Schöttler Der Gottesdienst bzw. die Liturgie ist ein komplexes Geflecht unterschiedlicher Sprachspiele mit je eigenen (Spiel-) Regeln. 1 Die Orationen aus dem römischen Messbuch etwa, die vorgetragen, und die Lieder, die gesungen werden, haben ihr je eigenes Sprachspiel, und bei den Letztgenannten wäre noch weiter zu differenzieren nach der Herkunft der Texte und der Farbe ihrer Melodien und Formen ihrer Rhythmen. Die artifizielle Kommunikationsform der liturgischen Dialoge wiederum etabliert eine ganz eigene Welt, anders als die im selben Gottesdienst von einem dieser Dialogpartner an anderer Stelle gemachten ‚Vermeldungen‘, die nicht selten Einblicke in höchst banale Welten mitten im Ästhetischen der himmlischen Liturgie freigeben. Die Fürbitten wiederum spielen aktuelle Lebenswelten und -schicksale in den Gottesdienst ein. Und auch die Predigt hat ihr eigenes Sprachspiel usw. Von diesem komplexen Geflecht lebt der Kommunikationsprozess der Liturgie, der auch deshalb ein komplexer ist, insofern er als Gotteskommunikation die zusammengerufenen Menschen mit Gott und untereinander verbindet und sie zu einem Leben ‚vor Gott‘ ermutigt. Die derzeitige heftige Diskussion um die Neuübersetzung des lateinischen Messbuchs ins Englische und Deutsche 2 zeigt auf 1 Der Begriff „Sprachspiel“ ist hier im pragmatischen Verständnis des späten Ludwig Wittgenstein (1889-1951) als Handlung in Lebenskontexten gebraucht und meint, „dass das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform. […] Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“ (Ludwig W ITTGENSTEIN , Philosophische Untersuchungen [1945; veröffentlicht: 1953], Teil I, § 23 u. § 43, in: DERS ., Schriften, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1963, 278-544, hier: 300.311). Vgl. Erik S TENIUS - Frank S CHLEGEL , Art. Sprachspiel, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 9 (1995), 1534- 1536 (Lit.! ). Wittgensteins Überlegungen wurden weiterentwickelt in der Sprechakttheorie, bes. von John Langshaw A USTIN (1911-1960; vgl. bes.: How to do things with Words [1955/ 1962], dt.: Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart 2 2002) und John Rogers S EARLE (geb. 1932; vgl. bes.: Speech Acts [1969], dt.: Sprechakte [Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft Sonderausgabe], Frankfurt a.M. 2003). 2 Vgl. Martin S TUFLESSER , Die Tücken des Übersetzens. Was von den Diskussionen über das neue englische Messbuch zu lernen wäre, in: Herder Korrespondenz 67 (2013), 291- 295. <?page no="126"?> Heinz-Günther Schöttler 112 ihre Weise die aktuell-akute Relevanz der Sprachspiele: Sie können als ‚linguistische Tätigkeiten‘ der Gottesdienst feiernden Gemeinde verstanden werden. In diesem kommunikativen Gesamtereignis ‚Gottesdienst‘ werden - wie das Konzil sagt - „aus der Heiligen Schrift Lesungen vorgetragen und in der Homilie ausgelegt“ (SC 24). 3 Damit ist der Dienst der Lektorin bzw. des Lektors aufgerufen, der schon früh in der Kirche bezeugt ist, erstmals bei Justin in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts, 4 aber schon bald im Zuge der Ontologisierung und Sazerdotalisierung des kirchlichen Einheitsamtes hierarchisch degradiert 5 und vom ursprünglich dem Bischof vorbehaltenen Dienst der Schriftauslegung im Gottesdienst (Predigt) getrennt wurde. Im Mittelalter wurde der Dienst ganz vom hierarchischen Amt aufgesogen. Vom Zweiten Vatikanum als „Laien“-Dienst wiederhergestellt 6 , geschieht heute viel, dass dieser Dienst gut ausgeübt wird: Lektorinnen und Lektoren werden biblisch 3 „Ex [sacra Scriptura] enim lectiones leguntur et in homilia explicantur“. Vgl. dazu Jürgen B ÄRSCH , „Von größtem Gewicht für die Liturgiefeier ist die Heilige Schrift“ (SC 24). Zur Bedeutung der Bibel im Kontext des Gottesdienstes, in: Liturgisches Jahrbuch 53 (2003), 222-241. 4 Justin (um 100 bis um 165), Apologia I, 67,4 (ἀναγνώστης), dann auch bei Tertullian (um 150 bis um 220) und Origenes (um 185 bis um 253) bezeugt. 5 Die „Traditio apostolica“ (frühes 3. Jh.) notiert ausdrücklich, dass der Lektor ohne Handauflegung des Bischofs eingesetzt wird: „Der Lektor [ἀναγνώστης] wird eingesetzt, indem der Bischof ihm das Buch überreicht, ohne dass er dabei geweiht wird“ (Traditio apostolica 11; dt. Übers. von Wilhelm G EERLINGS [Fontes Christiani 1], Freiburg i.Br. u.a. 2000, 242f). Die Lapidarität dieser Bemerkung zeigt, dass der Dienst zu Beginn des 3. Jahrhunderts bereits voll installiert ist; vgl. G EERLINGS , Einleitung zur Traditio Apostolica, a.a.O., 172f). 6 Nach can. 230 § 1 CIC/ 1983 kann der liturgische Dienst des Lektors auf Dauer nur an männliche Laien übertragen werden; nur Männer können eine förmliche rituelle bischöfliche Beauftragung zum Lektorat empfangen. Das Motu Proprio „Ministeria quaedam“ von Papst Paul VI. [1972] dekretiert in Nr. 7: „Institutio Lectoris et Acolythi, iuxta venerabilem traditionem Ecclesiae, viris reservatur“ (vgl. auch can. 1035 § 1). „Dies ist abgesehen von der Frage der Weihe die einzige Norm im CIC, in der der Frau ein Recht verweigert wird, das dem Mann zugestanden wird“ (Reinhild A HLERS , Die rechtliche Grundstellung der Christgläubigen, in: Joseph L ISTL - Heribert S CHMITZ [Hgg.], Handbuch des katholischen Kirchenrechts, Regensburg 2 1999, 220-232, hier: 222). Wenn, was der Normalfall ist, Frauen im Gottesdienst die Lesungen vorlesen, so üben sie diesen „wahrhaft liturgischen Dienst“ (SC 29: verum ministerium liturgicum) ohne förmliche Beauftragung aus: aufgrund von Taufe und Firmung (vgl. auch can. 230 §§ 2 u. 3). Die Kirchen des Ostens kennen das Amt des ἀναγνώστης als eine formelle Beauftragung durch den Bischof mit Handauflegung, kreuzförmigem Haarschneiden und Gebet. Diese nicht-sakramentale Weihe beauftragt zum rezitativen Vorsingen der Epistel während der Göttlichen Liturgie oder zum Vortragen der alttestamentlichen Prophetenlesungen in den Vespern vor Feiertagen. Dieser Dienst kann aber auch ohne formelle bischöfliche Beauftragung von Frauen wie Männern wahrgenommen werden, was den Normalfall darstellt; vgl. Martin P ETZOLT , Art. Lektor II., in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart 5, Tübingen 4 2002, 258. <?page no="127"?> „Ex sacra Scriptura lectiones leguntur et in homilia explicantur“ 113 und rhetorisch geschult 7 ; ihnen wird zur liturgischen Präsenz verholfen, und mancherorts werden sie sogar in mehr oder weniger die Phantasie anregende liturgische Kleidung gesteckt. Dem vorgegebenen, oben zitierten Satz aus SC 24 folgend, hat mein Beitrag zwei Teile: Der erste Teil behandelt den Vortrag der biblischen Lesungen und schaut zunächst darauf, wie Islam und Judentum die Bedeutung, die sie ihren Heiligen Schriften zuschreiben, liturgisch inszenieren. Der zweite, kürzere Teil meines Beitrags beleuchtet den Kommunikationsprozess der biblischen Botschaft in der Predigt vor dem Hintergrund der kanonisch-rezeptionsästhetischen LesArt der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments und der Beschreibung der Predigt mit einer Metapher Umberto Ecos, nämlich als ‚offenes Kunstwerk‘. Dieser abschließende Teil vertieft die im ersten aufgerufenen Fragen nach der Auslegung der Heiligen Schriften und ihren hermeneutischen Regeln in literaturwissenschaftlicher und kanonisch-theologischer Perspektive. 1 Mehr als Vorlesen: Re-Inszenierung des Anfangs Was wird hier eigentlich ‚gespielt‘, wenn im Gottesdienst Lesungen aus der Heiligen Schrift vorgetragen werden? Was ereignet sich eigentlich, wenn ein Lektor bzw. eine Lektorin an den Ambo tritt und eine „Lesung aus dem Buch Exodus“ oder eine „Lesung aus dem Ersten Brief des Apostels Paulus an die Korinther“ oder - nach römisch-katholischer liturgischer Vorschrift - der Priester bzw. Diakon „aus dem Heiligen Evangelium nach Matthäus“ vorliest? Traditional würde man sagen, dass hier eine/ r der Gemeinde einen biblischen Abschnitt (Perikope) vorliest, über den anschließend gepredigt wird, und dass zu diesem Vortrag - wie schon angedeutet - ein gutes Vorlesen gehört, bei dem der bzw. die Vortragende den Text soweit für sich erschlossen hat, dass der Sinn des über die Medien Schrift und Sprache mündlich Kommunizierten von den Hörerinnen und Hörern erfasst werden kann. Wenn es das, nur das wäre, könnte man auch an der entsprechenden Stelle der Liturgie eine Stille inszenieren, in der jede und jeder die entsprechende Lesung, etwa aus dem „Schott“, für sich liest, intensiv liest und vielleicht sogar besser verstünde als bei manchem Vortrag durch einen lector oder eine lectrix. Dabei wäre gutes Vorlesen allein schon sehr viel, wenn ich mir die Vorlesepraxis in unseren Gottesdiensten anhöre. Manchmal habe ich den Eindruck, dass über einen fremden Text gepredigt wird, obwohl doch die 7 Vgl. dazu etwa Martina B LASBERG -K UHNKE , „Geeignet und gut vorbereitet …“. Zur Bedeutung der LektorInnen (-Schulung) für die Verkündigung biblischer Texte im Gottesdienst, in: Bibel und Liturgie 80 (2007), 260-263; Marion und Alexander M AIER , Mystagogie und Theologie. Reflexionen im Hinblick auf ein Anforderungsprofil für die Ausbildung von Wortgottesdienstleitern und -leiterinnen, in: Bibel und Liturgie 85 (2012), 108-116 (Lit.). <?page no="128"?> Heinz-Günther Schöttler 114 Lesung(en) und das Evangelium eben erst vorgelesen wurden, aber so, dass der Sinn des Textes dabei mehr oder weniger auf der Strecke bleibt. Aber unabhängig davon: Ist die lectio sacrae scripturae im Gottesdienst wirklich eine lectio, eine Lesung? Der Vortrag von Lesungen und Evangelium im Gottesdienst ist weit mehr als das! Es geht beim Vorlesen aus der Heiligen Schrift im Gottesdienst um mehr, um viel mehr als ‚nur‘ um Vorlesen. Das liturgisch inszenierte Ereignis des Vorlesens aus der Heiligen Schrift ist zunächst ein Hörereignis: Gottes Wort trifft, durch die Leseordnung der Kirche vorgegeben und damit in gewisser Weise auch ‚unberechenbar‘, d.h.: nicht aufgrund aktuell bedingter gefälliger, passender Auswahl, auf die Gemeinde, ist also widerständig und herausfordernd und will gehört werden. So gesehen ist die lectio sacrae scripturae als Offenbarungsgeschehen zu verstehen. Bevor ich diesen Gedanken weiter ausführe, möchte ich zunächst zwei aufschlussreiche Beobachtungen aus Islam und Judentum mitteilen. Dann werden (Rück-) Fragen im Blick auf den christlichen Gottesdienst formuliert. 1.1 Koran-Rezitation: Mimesis des initialen Offenbarungsgeschehens Das Verbalnomen qurʾān [Koran] ist von dem arabischen Verb qaraʾa - „laut lesen, rezitieren“ abgeleitet und bedeutet „Rezitation“ bzw. „das zu Rezitierende“. 8 Schon früh sollte das Verb bzw. das davon abgeleitete Nomen qurʾān die Standardbezeichnung für die Kommunikation der göttlichen Botschaft werden. Mit qurʾān ist also eigentlich der Vortrag bzw. die Lesung dessen gemeint, was in dem dann auch „Koran“ genannten Buch als Mittel der Überlieferung aufgeschrieben ist. 9 Das, was aufgeschrieben ist, das materielle Schriftstück also, wird al-kitāb (= das Buch) bzw. muṣḥaf (= Codex) genannt 10 und ist von qurʾān zu unterscheiden: „The written text is always secondary - a support to the orally transmitted text, not a determinant of it.“ 11 Seinem 8 Vgl. Alford T. W ELCH , Art. al-Ḳurʾān, in: The Encyclopaedia of Islam, New Edition, Bd. 5, Leiden 1986, 400-429, hier: 400f. Für die freundliche Beratung in islamwissenschaftlichen Fragen danke ich Stefan Zinsmeister, München. 9 Ein verbindlicher schriftlicher Text des Koran wurde erst mit der Kairoer Standardausgabe von 1923/ 24 erstellt. Allerdings ist die Bedeutung von qurʾān bereits im Koran selbst schwankend. Meist bezeichnet qurʾān die „Rezitation“, und das ist auch die früheste und ursprüngliche Bedeutung, manchmal aber wird qurʾān auch als Bezeichnung des Buches gebraucht. Vgl. dazu besonders die sehr differenzierte Untersuchung von Andreas K ELLERMANN , Die „Mündlichkeit“ des Koran. Ein forschungsgeschichtliches Problem der Arabistik, in: Beiträge zur Geschichte der Sprachwissenschaft 5 (1995), 1-33, sowie William Albert G RAHAM , The Earliest Meaning of „Qurʾān“, in: Die Welt des Islam 23/ 24 (1984), 361-377. 10 Zu weiteren Bezeichnungen vgl. W ELCH , Art. al-Ḳurʾān (wie Anm. 8), 400f. 11 William A. G RAHAM - Navid K ERMANI , Recitation and aesthetic reception, in: The Cambridge Companion to the Qurʾan, hg. von Jane Dammen M C A ULIFFE , Cambridge 2006, 115-141, hier: 116; vgl. auch: William A. G RAHAM , Beyond the written word. Oral aspects of scripture in the history of religion, Cambridge 1987; Angelika N EUWIRTH , Vom Rezitationstext über die Liturgie zum Kanon. Zu Entstehung und Wiederauflösung der <?page no="129"?> „Ex sacra Scriptura lectiones leguntur et in homilia explicantur“ 115 eigentlichen Charakter nach ist der Koran also kein „Buch aus Papyrus“ (Sure 6,7), kein Buch zum Lesen, sondern zum Hören bei öffentlicher Rezitation, gleichsam eine ‚Text-Ton-Hybride‘, insofern die Verkündigung des Koran von Anfang an in einem Kantilenen-Vortrag erfolgt und seine Publikation als (liturgische) Rezitation seiner Veröffentlichung als Text vorausgegangen ist. 12 Ruth Finnegan beschreibt die ‚Grauzone‘ zwischen rein mündlicher Überlieferung und schriftlicher Fixierung mit drei auch für die ‚Mündlichkeit‘ des Koran aufschlussreichen Aspekten: die formalen Charakteristika, Textsorten, von Finnegan „composition“ genannt, die Dynamik zwischen schriftlicher und mündlicher Überlieferung („tradition“) und die jeweilige Aktualisierung („performance“). 13 Auf den letztgenannten Aspekt, hier also die je neue Rezitation des Koran im rituellen Kontext nach bestimmten Regeln, 14 kommt es mir im Folgenden an. „Nach islamischer Überzeugung erschließt sich der unvergleichliche Rang des Koran im ästhetischen Erleben“; 15 er „kommt zu seiner wesentlichen Gestalt in der Rezitation“. 16 „For Muslims, the Qurʾan is not only a much-recited sacred text; it is ‘the reciting’ (al-qurʾan). Specifically, it is God’s ‘reciting’, his verbatim speech, his eternal, uncreated word. As such, it has been the medium par excellence of divine-human encounter for Muslims of all times, places and persuasions. It mediates the presence of God, just as it does his will and blessing. The revelations to Muhammad were from the outset intended to be rehearsed and recited - first by the Prophet who received them, then by his followers. They were given as an audible text, not as ‘a writing on parchment’ (Sura 6: 7). The Qurʾan has always been primarily recited, oral scripture and secondarily inscribed, written scripture, and thus its spiritual and aesthetic reception as the most beautiful of all texts has been linked with its orality. Tradition ascribes to the Prophet the dictum: ‘You can return to God nothing better than that which came from him, namely the recitation (al-Qurʾan).’ Accordingly, every generation of Muslims has scrupulously memorised, recited and transmitted the Qurʾan as scripture, psalter, prayerbook and liturgical text all in one.“ 17 Surenkomposition im Verlauf der Entwicklung eines islamischen Kultus, in: Stefan W ILD (Hg.), The Qurʾān as Text, Leiden 1996, 69-107. 12 Vgl. Angelika N EUWIRTH , Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang, Berlin 2010, Kap. VI. 13 Ruth F INNEGAN , Oral Poetry. Its Nature, Significance and Social Context, Cambridge (GB) 1977; Neuauflage 1979. 14 Über die Regeln der Rezitation informiert konzise K ELLERMANN , Die „Mündlichkeit“ (wie Anm. 9), 18-24. 15 Hans Z IRKER , Einleitung, in: Der Koran. Übersetzt und eingeleitet von Hans Z IRKER , Darmstadt 4 2013, 7-11, hier: 10. 16 Hans Z IRKER , Der Koran. Zugänge und Lesarten, Darmstadt 2 2012, 61. 17 G RAHAM - K ERMANI , Recitation (wie Anm. 11), 115. Zum Folgenden vgl. bes. diesen Beitrag sowie Navid K ERMANI , Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran, München 1999, 171-232; Heidy Z IMMERMANN , Tora und Shira. Untersuchungen zur Musikauffassung des rabbinischen Judentums (Publikationen der Schweizerischen Musikforschen- <?page no="130"?> Heinz-Günther Schöttler 116 In diesem Zusammenhang ist besonders auf Sure 96 zu verweisen, die in der islamischen Tradition als die Sure gilt, die dem Propheten als erste offenbart wurde, also die Berufung Muḥammads darstelle; mit dieser Sure habe demnach die koranische Offenbarung begonnen. 18 Die Sure beginnt nach der einleitenden Basmala mit einer Aufforderung zur Rezitation: „Rezitiere [iqraʾ von √ qaraʾa] im Namen deines Herrn“ (Sure 96,1.3). 19 Nach Angelika Neuwirths Kommentar richtete sich diese Aufforderung an den Verkünder selbst, der aber exemplarisch für alle Frommen steht, so dass die Aufforderung „zugleich als universaler liturgischer Ausdruck gelten kann. […] Es geht hier […] um die Projektion eines liturgischen Leseszenarios: Der Verkünder wird angewiesen, eine Lesung zu vollziehen.“ 20 Dahinter steht die Vorstellung, dass - wie in der Erstoffenbarung des Koran - gleichsam eine Textvorlage als himmlische Urschrift (vgl. die Bezeichnung umm al-kitāb - „Mutter des Buches“) rezitiert wird, die nicht visuell, sondern auditiv übermittelt wird (vgl. Sure 96). 21 Der Koran konstituiert sich also, ungeachtet seiner Verschriftlichung, erst in der Rezitation, seiner Realisierung als Sprechakt vor Hörern, 22 die man als eine „textual community“ bezeichnen könnte, die sich gleichsam um den Heiligen Text je neu gruppiert (s. dazu unten). Ein von Geburt an Blinder, der den Koran-Text nie hat sehen können, wäre also der geeignete Rezitator, das geeignete Medium, den geoffenbarten Text in einer rituell vollgültigen Weise vorzutragen. 23 den Gesellschaft, Serie II/ 40), Bern - Berlin u.a. 2000, 126-135 („Exkurs 3: Koranrezitation“). 18 So schon Ibn ʿAbbās (7. Jh.), ein Cousin Muḥammads, und der Koranexeget Muğāhid ibn Ğabr (gest. 722), ein Schüler von Ibn ʿAbbās; vgl. Adel Theodor K HOURY , Der Koran. Übersetzung und wissenschaftlicher Kommentar, Bd. 12, Gütersloh 2001, 497; Angelika N EUWIRTH , Der Koran, Bd. 1: Frühmekkanische Suren, Berlin 2011, 269. 19 Arab.: „Iqraʾ bi-smi“. Qaraʾa wird hier meist mit „Trage vor“ übersetzt; vgl. etwa K ER- MANI , Gott ist schön (wie Anm. 17), 172f; Z IRKER , Der Koran. Zugänge (wie Anm. 16), 109f; N EUWIRTH , Der Koran (wie Anm. 18), 267f. Anders Christoph L UXENBERG , Die syro-aramäische Lesart des Koran. Ein Beitrag zur Entschlüsselung der Koransprache, Berlin 3 2007, 313-316.331-334: Er versteht seiner Hermeneutik entsprechend, also im Rückgriff auf das Syro-Aramäische und hier insbesondere mit Bezug auf die geprägte alttestamentliche Wendung הוהי םשׁב ארק [„den/ im Namen YHWHs anrufen“] das einleitende „iqraʾ bi-smi“ als Aufforderung zum Gebet. Qaraʾa wäre demnach term. techn. für „beten, Gottesdienst halten“. Aufgrund der weiteren Deutung im syro-aramäischen Horizont versteht er die gesamte Sure als Aufforderung zur Teilnahme am Gottesdienst. Zur Kritik vgl. N EUWIRTH , Der Koran (wie Anm. 18), 267. 20 N EUWIRTH , Der Koran (wie Anm. 18), 267. 21 Vgl. ebd.; vgl. auch a.a.O., 258f (zu Sure 87,18f; vgl. auch 53,36f). 22 Vgl. K ELLERMANN , Die „Mündlichkeit“ (wie Anm. 9), 15, auch wenn Kellermann den Begriff „Sprechakt“ (noch) nicht in dem dezidierten Sinne der Sprechakt-Theorie Austins und Searles zu verstehen scheint: „Der Koran konstituiert sich als Text ungeachtet seiner Verschriftlichung erst im Vortrag, seiner Realisierung als Sprechakt vor Hörern“. 23 Dafür signifikant ist, dass nach einer Erhebung aus dem Jahr 1962 ein nicht unbedeutender Anteil der Koranrezitatoren in Ägypten Blinde waren; vgl. Morroe B ERGER , Islam in Egypt Today. Social and Political Aspects of Popular Religion, Cambridge 1970, 12. Vgl. <?page no="131"?> „Ex sacra Scriptura lectiones leguntur et in homilia explicantur“ 117 Besonders Angelika Neuwirth hat darauf hingewiesen, dass hinter der lauten und öffentlichen Rezitation des Koran [qiraʾat al-qurʾān] die Vorstellung steht, dass in diesem akustischen Erlebnis das entscheidende Hör- Ereignis des Anfangs re-inszeniert wird: das Sprechen Gottes und das Hören Seines Wortes. 24 Jede individuelle oder kollektive Rezitation ist daher Re- Inszenierung des Offenbarungsereignisses vom Anfang, insofern sich in diesem physisch-akustischen Akt der Empfang des Wortes Gottes mimetisch nachvollzieht. „Das Ritual der Koranlesung besteht im persönlichen Nacherleben des Offenbarungsaktes, wobei nicht nur ein ‚initialer Sprechakt‘, sondern auch die Einstellung des Empfängers und zukünftigen Tradenten zum offenbarten Gotteswort nachvollzogen wird - und das ist viel mehr, als schriftlich repräsentiert werden könnte.“ 25 Der Rezitierende sieht sich über seinen Lehrer, den šayḫ, in einer auf den Propheten zurückgeführten Tradentenkette stehend, also gleichsam in Sukzession zum Propheten. Die Mündlichkeit, die trotz der Verschriftlichung durch die Rezitation inszeniert wird, hat die Funktion, „einen personal vermittelten Rückgang auf die initiale unmittelbare Sprechsituation“ 26 zu inszenieren, also je neu an den Ursprung (principium 27 ) anzuknüpfen. Die Rezitation des Textes, der womöglich noch durch Unterlegung mit einer Kantilene angemessen vermittelt wird, ist allerdings nicht spezifisch islamisch, sondern Teil der Formensprache der pluralen Kulturen im antiken Entstehungsmilieu des Koran. Wer den Koran rezitiert - der Engel Gabriel, Muḥammad oder ein Rezitator heute -, hat also nicht einfach Worte auf den Lippen. Es ist vielleicht so, wie es Muḥammad ʿAbduh (1849-1905) 28 sagt, Koran-Exeget und Reformer des ägyptischen Islam und ab 1899 Großmufti von Ägypten: dazu auch unten zur Frage, ob ein Blinder zur Tora-Vorlesung aufgerufen werden kann (s.u. Anm. 58). 24 Vgl. Angelika N EUWIRTH , „Nicht östlich und nicht westlich“ - Koranische Zeugnisse zu „Offenbarung“ und „Offenbarungen“ - europäisch gelesen, in: Erwin D IRSCHERL - Christoph D OHMEN (Hgg.), Glaube und Vernunft. Spannungsreiche Grundlage europäischer Geistesgeschichte (Forschungen zur europäischen Geistesgeschichte 9), Freiburg i.Br. u.a. 2008, 394-417, hier: 409-411; DIES ., Re-Inszenierung des Anfangs durch Rezitation. Eine Koranbetrachtung aus europäischer Sicht, in: Bibel und Liturgie 82 (2009), 31- 44, hier: 35f; DIES ., Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang, Berlin 2 2010, 168-174. 25 K ELLERMANN , Die „Mündlichkeit“ (wie Anm. 9), 25. 26 Konrad E HLICH , Text und sprachliches Handeln. Die Entstehung von Texten aus dem Bedürfnis nach Überlieferung, in: Jan A SSMANN - Aleida A SSMANN - Christof H ARDMEI- ER (Hgg.), Schrift und Gedächtnis. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation (Archäologie der literarischen Kommunikation 1), München 1983, 24-43, hier: 40. 27 S. dazu unten die Unterscheidung zwischen „initium“ und „principium“. 28 Vgl. Rotraud W IELANDT , Offenbarung und Geschichte im Denken moderner Muslime, Wiesbaden 1971, 49-72. <?page no="132"?> Heinz-Günther Schöttler 118 „Wenn ich den Koran höre oder ihn rezitiere, meine ich im Augenblick der Offenbarung zu sein, und der Gesandte spricht aus, was ihm herabgesandt wurde beziehungsweise was Gabriel ihm herabgebracht hat.“ 29 Mit dieser Aussage steht Muḥammad ʿAbduh in einer langen Tradition; einige weitere Zeugnisse seien angeführt. Bei Ibn al-Farrāʾ (gest. 1066), der in Bagdad als einer der führenden Gelehrten der hanbalitischen Tradition des sunnitischen Islam wirkte, heißt es: „Gott selbst rezitiert durch die Zunge eines jeden, der den Koran rezitiert. Wenn man der Koranrezitation eines Rezitators zuhört, hört man sie von Gott.“ 30 Muslim ibn Maymūn al-Ḫawwāṣ (9. Jh.) beschreibt das hier Gemeinte im Paradigma der mystischen Versenkung, als eine dreifache Steigerung: „Ich rezitierte den Koran, aber fand darin keine Süße. Also sagte ich zu mir selbst: Rezitiere, wie wenn der Gesandte Gottes selbst [sc. Muḥammad] mich ihn hören ließe. Da kam die Süße. Dann wollte ich mehr davon, und ich sagte mir: Rezitiere, wie wenn Gabriel ihn mich hören ließe, da er ihn auf den Propheten herab brachte. Da steigerte sich seine Süße. Dann sagte ich mir: Rezitiere ihn, wie wenn Gott selbst ihn mich hören ließe. Da kostete ich seine Süße ganz und gar.“ 31 Ob also der Engel Gabriel, der Prophet Muḥammad oder ein gewöhnlicher Muslim in der Kette dieser Sprechakte bis heute: Sie alle sind Medium des Wortes Gottes. Noch weiter geht Muḥyiddīn Abū ʿAbd Allāh Muḥammad ibn ʿAlī ibn Muḥammad ibn al-ʿArabī al-Ḥātimī al-Ṭāʾī (1165-1240), der große muslimische Dichter und sufische Mystiker, kurz: al-ʿArabī genannt: 32 29 Zitiert nach: K ERMANI , Gott ist schön (wie Anm. 17), 218. 30 Zitiert nach: a.a.O., 222. 31 Zitiert nach: a.a.O., 218. 32 Al-ʿArabī (zu unterscheiden von dem Religionsgelehrten Abū Bakr Muḥammad ibn al- ʿArabī aus Sevilla [1076-1148]) wurde 1165 im andalusischen Spanien geboren, verließ 1201 Spanien und kam 1223 über Mekka nach Damaskus, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 1240 lebte. In seinem berühmtesten Gedicht „Die Religion der Liebe“, in dem die Halbzeile „Mein Glaube ist die Liebe“ (wörtlich: „Ich bekenne die Religion der Liebe“: adīnu bi-dīni l-ḥubbi) zentral ist, lässt al-ʿArabī die mystische Gottesliebe alle Einzelreligionen übersteigen: „Mein Herz hat angenommen jegliche Gestalt: / für die Gazellen Weideplatz, für Mönche Kloster, / den Götzen Tempelbau, dem Pilgerkreis die Kaʾba, / Schrifttafeln für die Tora, Seiten dem Koran. / Mein Glaube ist wie die Liebe: wo die Karawane / auch hinziehen mag, ist Liebe meine Religion“ (Verse 13-15; dt. Übertragung aus: Das Wunder von al-Andalus. Die schönsten Gedichte aus dem Maurischen Spanien. Aus dem Arabischen und Hebräischen ins Deutsche übertragen und erläutert von Georg B OSSONG , München 2005, 151; vgl. auch Georg B OSSONG , Das Maurische Spanien. Geschichte und Kultur, München 2 2010, 102-104). „Der mystische Weg ist nicht an eine bestimmte Religion gebunden; Judentum (Tora), Christentum (Kloster), Islam (Kaʾba und Koran), ja selbst Heidentum (Tempelbau) und Animismus (Weidegrund) sind in der universalen Religion der Liebe aufgehoben“ (B OSSONG , Wunder, 301f). <?page no="133"?> „Ex sacra Scriptura lectiones leguntur et in homilia explicantur“ 119 „Erneuerung der Offenbarung (muğaddidu l-inzāl) ist auf den Herzen derer, die den Koran rezitieren. Wann immer man ihn rezitiert, erneuert sich die Herabsendung (tanazzul) von Gott, dem Weisen und Gepriesenen. Die Herzen der Rezitierenden sind der Thron, auf den Er sich setzt, wenn Er solcherart hinab kommt.“ 33 Mit Navid Kermani können wir zusammenfassen, „dass Gott selbst es ist, der spricht, wenn der Koran rezitiert wird, und dass in jeder Rezitation die initiale Kommunikationssituation zwischen Gabriel und Mohammed nacherlebt werden kann. […] Hören, Sprechen und Memorieren des Koran erinnern nicht bloß an das Initialereignis der eigenen Heilgeschichte; vielmehr handelt es sich um mimetische Akte, in denen der Gläubige die Offenbarungssituation nacherlebt. […] Die Teilnehmer sind angehalten, sich emotional in die Offenbarungssituation hineinzuversetzen und sich ihrer eigenen Position in einer Kette von Vortragakten, die auf Gottes Ansprache an Gabriel zurückgehen, bewusst zu sein.“ 34 In dieser liturgisch-inszenatorischen Sinnfigur wandelt sich das zeitliche „initium“, also der ‚Anfang, der vergeht‘, der Anfang, der in Zeit und Raum abgeschlossen ist und zurückgelassen wird, zum „principium“, das, insofern es den Grund des Nachfolgenden bildet, ein ‚mitlaufender Anfang‘ ist, der all diesem Nachfolgenden gleich nahe bleibt. 35 An dieser Stelle sei auf zwei prekäre Aspekte hingewiesen, die im Kontext dieser theologisch-rituellen Sinnfigur, die die Oralität im Umgang mit dem Koran zu verstehen sucht, ‚lauern‘: 1. Den Koran zu memorieren und ihn mündlich rezitieren zu lernen, verlangt eine große Disziplin, die nicht selten zur Disziplinierung und Indoktrinati- 33 Zitiert nach: K ERMANI , Gott ist schön (wie Anm. 17), 225. Dass es natürlich wie im ‚wirklichen‘ Glaubensleben ist, weiß al-ʿArabī auch: „Aber nicht jeder Vortragende ist sich Seines Herabkommens (nuzūl) bewusst, weil sein Geist mit seinem natürlichen Zustand beschäftigt ist. In diesem Fall kommt der Koran versteckt hinter dem Vorhang seiner Persönlichkeit auf ihn herab und erzeugt keinen Genuss (iltidād). Dies ist gemeint, wenn der Prophet sagt, dass unter den Nachkommenden solche sein werden, denen der Koran in der Kehle stecken bleibt, wenn sie ihn rezitieren. Ein solcher Koran kommt auf die Zungen, nicht auf die Herzen herab“ (zitiert nach: a.a.O., 225f). 34 Vgl. a.a.O., 218.225. 35 Die lateinische Sprache unterscheidet „initium“, den zeitlichen Anfang, von „principium“, dem Ursprung und Grund. „Initium“ bezeichnet den Beginn, den Anfangspunkt, der durch das Nachfolgende verdrängt wird (Gegensatz: exitus, finis), „principium“ den Teil des Ganzen, der den übrigen Teilen vorangeht und den Grund des Nachfolgenden bildet (Gegensatz: extremum); vgl. Karl Ernst G EORGES , Kleines deutsch-lateinisches Handwörterbuch, Hannover - Leipzig 7 1910; Nachdruck Darmstadt 1999, Sp. 103 (s.v. „Anfang“). Zur erzählphilosophischen Figur des „mitlaufenden Anfangs“ vgl. Hubertus H ALBFAS , Religion (Themen der Theologie), Stuttgart 1976, 50-60. Man vgl. dazu das rhetorisch-hermeneutische Signal in Gen 1,1 ( תישׁארב / ἐν ἀρχῇ / In principio), aber auch ἐν ἀρχῇ in Joh 1,1, womit Gen 1,1 aufgenommen wird; vgl. dazu Heinz-Günther S CHÖTT- LER , Kirche, die über den Jordan geht? , in: Bibel und Liturgie 84 (2011), 169-184, hier: 176. <?page no="134"?> Heinz-Günther Schöttler 120 on missbraucht wird, etwa in Medresen (Koranschulen, von arab.: madrasa). Darauf hat u.a. Nasr Hamid Abu Zaid (1943-2010) aus eigener bitterer Erfahrung hingewiesen. 36 2. Damit einher geht nicht selten, dass die komplexe Hermeneutik der beschriebenen theologischen Sinnfigur auf ein ‚schlichtes‘ instruktionstheoretisches, verbalinspiratorisches Offenbarungsparadigma reduziert wird, ohne Brechung(en) durch hermeneutisch begründete Auslegungsregeln und kritische Rezeptionsästhetik: mit den bekannten fundamentalistischen Verengungen - bis heute. 37 Es kann hier nicht auf die theologischen Unterschiede im Offenbarungs-, Inspirations- und Schriftverständnis im Christentum und im Islam eingegangen werden, 38 auch nicht auf die unterschiedliche (Rezeptions-) Ästhetik in Christentum und Islam. 39 Wie auch immer, die eingangs gestellte Frage sei an dieser Stelle fokussiert: Könnte in dem Sinne, wie die Koran-Rezitation als Nachvollzug der initialen Sprechsituation zwischen dem Engel Gabriel und Muḥammad, als Re-Inszenierung des Offenbarungsgeschehens des Anfangs - jetzt in der Rhetorik der christlichen Dogmatik gesprochen - einen quasi ‚sakramentalen‘ Charakter hat, 40 auch die „lectio sacrae scripturae“ im christlichen 36 Vgl. Nasr Hamid A BU Z AID , Der Koran. Gott und Mensch in Kommunikation, in: DERS ., Gottes Menschenwort. Für ein humanistisches Verständnis des Koran, Freiburg i.Br. u.a. 2008, 122-158, hier: 147. Abu Zaid war ägyptischer Literatur- und Islamwissenschaftler, der seit 1995 im niederländischen Exil leben musste und seit 2004 den Ibn-Rushd- Lehrstuhl für Humanismus und Islam an der University for Humanistics in Utrecht innehatte. 37 Vgl. W IELANDT , Offenbarung (wie Anm. 28), bes. 156-160. Eine differenzierte Sicht auf den Koran, was die Möglichkeit seiner Auslegung betrifft, gibt Z IRKER , Der Koran. Zugänge (wie Anm. 16), 191-207. Im Vorgriff auf den folgenden Abschnitt sei darauf hingewiesen, dass das liberale Judentum in dem traditionalen Text beim Hochheben und Zeigen (Elevation) der Tora-Rolle („Dies ist die Lehre, die Mose den Kindern Israels vorgelegt hat [Dtn 4,44] auf Befehl des Ewigen durch Mose [Num 9,23]“) das Zitat Num 9,23 auslässt, „um einem wortwörtlichen Verständnis der Offenbarung entgegenzuwirken“ (Jonah S IEVERS , „Und wieder stehen wir am Sinai“. Die Tora-Lesung im jüdischen Gottesdienst, in: Bibel und Liturgie 85 [2012], 103-108, hier: 107). Der Text zur Elevation ist unten Kap. 1.4.6 ganz zitiert. Der liberale Siddur תולפתה רדס [sedær hatepillôt] fügt stattdessen Dtn 33,4 an: „Mose hat uns die Thora übergeben, den Erbbesitz der Gemeinde Jakobs“ (Das jüdische Gebetbuch, hg. von Jonathan M AGONET in Zusammenarbeit mit Walter H OMOLKA . Übersetzung aus dem Hebräischen von Annette B ÖCKLER , Bd. I: Gebete für Schabbat, Wochentage und Pilgerfeste, Gütersloh 1997, 106f). Zur Geschichte dieses Gebets vgl. Ruth L ANGER , Sinai, Zion, and God in the Synagogue. Celebrating Torah in Ashkenaz, in: DIES . - Steven F INE (Hgg.), Liturgy in the Life of the Synagogue. Studies in the History of Jewish Prayer (Duke Judaic Studies 2), Winona Lake (IN/ USA) 2005, 121-159, hier: 149 (Anm. e). 38 Vgl. Z IRKER , Der Koran. Zugänge (wie Anm. 16), 69-117 („Offenbarung als Kommunikation“); K ERMANI , Gott ist schön (wie Anm. 17), 212-232, sowie die einschlägigen Handbücher. 39 Vgl. bes. G RAHAM - K ERMANI , Recitation (wie Anm. 11). 40 Vgl. K ERMANI , Gott ist schön (wie Anm. 17), 225, der hier in einem größeren Rahmen die katholische Messe und die Rezitation des Koran vergleicht. Zur Sakramentalität des Wortes Gottes in der christlichen Theologie vgl. Heinz-Günther S CHÖTTLER , „Unser <?page no="135"?> „Ex sacra Scriptura lectiones leguntur et in homilia explicantur“ 121 Gottesdienst zu verstehen sein, dass sie nämlich mehr ist als ein Vortrag und in erster Linie ein Hör-Ereignis, das mit dem lateinischen terminus technicus „lectio“ nur ungenügend beschrieben ist? - Zwei m.E. aufschlussreiche Beobachtungen seien noch mitgeteilt: 1. Das arabische Wort „Koran“ entspricht dem von der gleichen gemeinsemitischen Wurzel abgeleiteten (arab.: qaraʾa; hebr.: ארק / q-r-ʾ) 41 und grammatikalisch analog gebildeten hebräischen Verbalabstraktum א ָ ר ְ ק ִ מ / miqrʾā, wie es in Neh 8,8 gebraucht wird: die vorgelesene Tora. 42 So wird dann im Hebräisch der beiden Talmudim und der Midraschim miqrʾā - in der Bedeutung ähnlich changierend wie der Gebrauch des Wortes „Koran“ - sowohl für den Gegenstand des Lesens, das ‚Buch‘, als auch für das Vorlesen selbst, 43 also auch für die Rezitation der Tora gebraucht. 2. Das Wort „qurʾān“, das in vorkoranischer Zeit nicht belegt ist, sondern erst im Koran selbst, ist mit großer Sicherheit eine Parallelbildung zu syrisch „qeryānā“ („Schriftlesung, Rezitation“), also ein aus der christlichen Liturgie entlehnter Begriff. 44 Für den Zusammenhang, der sich hier zeigt, wäre ein interdisziplinäres Forschungsprojekt (liturgie-geschichtlich, islamwissenschaftlich, religionsgeschichtlich etc.) aufschlussreich. 1.2 Tora-Lesung: realisierendes Zeichen der Zuwendung Gottes zu seinem Volk Israel Die im vorausgegangenen Abschnitt beschriebene Sinnfigur fasst der islamische Gelehrte Abū ʿAlī al-Ğubbāʾī (um 848 bis um 915) in eine vom Koran bzw. von der Bibel inspirierte Metaphorik: Wer eine Koranrezitation höre, der höre Gott wie Mose am Sinai. 45 Damit ist die bereits oben eingeführte Sinnfi- Manna ist das Wort Gottes.“ (Origenes) - Überlegungen zur Sakramentalität des Wortes Gottes, zur Dignität der Wort-Gottes-Feier und zur Symbolik der Fronleichnamsprozession, in: Bibel und Liturgie 85 (2012), 83-102. 41 Die Wurzel ist in allen semitischen Sprachen außer im Äthiopischen belegt. 42 Vgl. Hedwig L AMBERTY -Z IELINSKI , Art. Das Nomen miqrāʾ, in: Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Bd. 7 (Stuttgart u.a. 1993), 144f, hier: 145. Vgl. dazu auch ב ארק im Sinne von „lesen in“ bzw. „vorlesen“ aus einer Rolle: Dtn 17,19; Jer 36,6.8.10.13.14; Hab 2,2; Neh 8,3.8.18; 9,3; 2 Chr 34,18. 43 Vgl. Wilhelm B ACHER , Die exegetische Terminologie der jüdischen Traditionsliteratur, 2 Teile [1899/ 1905], Nachdruck: Hildesheim - Zürich - New York 1990, Bd. 1, 117-121 [Tannaiten]; Bd. 2, 119f [Amoräer]; Jacob L EVY , Wörterbuch über die Talmudim und Midraschim, 4 Bde., Berlin 2 1924; Nachdruck: Darmstadt 1963, hier: Bd. 3, 228-230; Gustav H. D ALMAN , Aramäisch-Neuhebräisches Handwörterbuch zu Targum, Talmud und Midrasch [ 3 1938], Nachdruck: Hildesheim - Zürich - New York 1997, s.v. (S. 250); Chanoch A LBECK , Einführung in die Mischna [hebr.: 1960], dt. Übers. in: Studia Judaica 4, Berlin - New York 1971, 332 (s.v.). 44 Vgl. W ELCH , Art. al-Ḳurʾan (wie Anm. 8), 400 (dort auch Quellen und weitere Literatur). 45 Vgl. K ERMANI , Gott ist schön (wie Anm. 17), 222. Abū ʿAlī Muḥammad ibn ʿAbd al- Wahhāb al-Ğubbāʾī gehörte zur Schule der Mutaziliten, einer rationalistisch ausgerichteten Schule, die im 8. bis 9. Jahrhundert einflussreich war. Al-Ğubbāʾī wirkte im Iran (Basra). Seine Werke sind alle verloren, so dass man seine Lehre nur noch aus anderen Quellen rekonstruieren kann, so auch die hier bezogene Metapher. <?page no="136"?> Heinz-Günther Schöttler 122 gur des ‚mitlaufenden Anfangs‘ aufgerufen, die besonders im B e kŏl-dȏr wādȏr des Pessach-Seders einspielt wird, und zwar durch die gleichsam hermeneutische Rhetorik des „Als-Ob“, 46 die bereits in der Mischna belegt ist: 47 „In jedem einzelnen Geschlecht [b e kŏl-dôr wādôr] ist jede und jeder 48 verpflichtet, sich selbst so zu sehen, als ob [וּלּ ִ א ְ כ / k e ʾillû] sie/ er selbst aus Ägypten ausgezogen wäre. Denn es wird gesagt: ‚Du sollst deinem Kind an jenem Tag folgendes erzählen: Das geschieht um dessentwillen, was der Herr für mich getan hat, als ich aus Ägypten ausgezogen bin‘ [Ex 13,8]. Nicht nur unsere Vorfahren hat der Heilige - gesegnet sei Er - erlöst, sondern auch uns mit ihnen. Denn es wird gesagt: ‚Er hat uns von dort herausgeführt, um uns in das Land zu bringen, das er unseren Vorfahren zu geben geschworen hat.‘ [Dtn 6,23]“ 49 „This passage expresses the ultimate goal of the Seder.“ 50 Hier geht es um mehr als Erinnerung; es geht um Vergegenwärtigung und Aktualisierung der Exodus-Erfahrung, die durch die Hörerlenkung, „sich so zu sehen, als ob“, aufgerufen wird. 51 46 Vgl. Achim B ARSCH , Art. Fiktion/ Fiktionalität, in: Ansgar N ÜNNING (Hg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze - Personen - Grundbegriffe, Weimar 4 2008, 201f (Lit.! ). Zum „Als-Ob“ immer noch grundlegend: Hans V AIHINGER , Die Philosophie des als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit aufgrund eines idealistischen Positivismus, Leipzig 1 1911; Nachdruck der 9./ 10. Aufl. 1927: Aalen 1986. 47 Der folgende Text steht bis zum Zitat Ex 13,8 (einschließlich) in mPesach X,5. 48 „[N]ote that the text does not say that ‘every Jews’ must see him - or herself as having come out of Egypt, but rather ‘every one’ or ‘every individual’. The Hebrew word is adam, which is, first, gender neutral and, second, means simply a person, a human being. The liberation from Egypt has universal significance that extends way beyond Jewish history. That is why the exodus theme has been taken up by oppressed peoples everywhere on earth. That explains why there are Haggadot that tell the story of other communities’ liberation from their own oppression - black Haggadot, feminist Haggadot, secular Israeli Haggadot, and the rest“: Neil G ILLMAN , in: Lawrence A. H OFFMAN - David A RNOW (Hgg.), My People’s Passover Haggadah, 2 Bde., Woodstock (Vermont/ USA) 2008, hier: Bd. 1, 79; vgl. a.a.O., 92. 49 Übers. und kursiv: HGS. 50 David A RNOW , in: H OFFMAN - A RNOW (Hgg.), My People’s Passover Haggadah (wie Anm. 48), 77. 51 David A RNOW sagt zu diesem „Als-Ob“ in seinem Midrasch-orientierten Kommentar zur Pessach-Haggada: „This radical idea of reliving the Exodus experience is never found explicitly in the Bible. Although it is not cited as a proof text, this idea may also be based on Deuteronomy 29: 1, ‘Moses summoned all Israel and said to them: You have seen all that Adonai did before your very eyes in the Land of Egypt, to Pharaoh and to all his courtiers and to his whole country’; after all, the generation of the Exodus had died out by the end of the wandering and did not literally see God’s wonders in Egypt. Thus, this might be imagined as meaning that this generation must see itself as if it has seen these things, and all generations must follow this practice“ (in: H OFFMAN - A RNOW [Hgg.], My People’s Passover Haggadah [wie Anm. 48], Bd. 2, 78f). Vgl. auch Johannes F ÖRST - Heinz-Günther S CHÖTTLER , Erzählen: erinnern und entwerfen. Ein nachmetaphysischer Diskurs über Gott und die Menschen, in: Bernhard L AUX (Hg.), Heiligkeit und Menschenwürde. Hans Joas’ neue Genealogie der Menschenrechte im theologischen Gespräch, Freiburg i.Br. u.a. 2013, 181-207, hier: 199. <?page no="137"?> „Ex sacra Scriptura lectiones leguntur et in homilia explicantur“ 123 Solcherart memoria (hebr.: ןוֹר ָ כ ִ ז / zikkârôn oder ר ֶ כֵ ז / zekær; griech.: ἀνάμνησις - Anamnese) 52 ist auch das Ziel des Seder K e riat ha-Torah [ ר ֶ ד ֵ ס ַ ה ת ַ אי ִ ר ְ ק תּ ה ָ רוֹ ], der Ordnung der Tora-Lesung, eines zentralen Teils der jüdischen Liturgie, den Jonah Sievers als „Re-Inszenierung des Sinai- Erlebnisses“ beschreibt und unter die Überschrift „Und wieder stehen wir am Sinai“ 53 stellt. Die rituell-liturgische Inszenierung der Tora im jüdischen Gottesdienst 54 verfolgt zwar eine ähnliche Intention, wie sie in der Rezitation des Koran zum Ausdruck gebracht wird, die Mimesis 55 des initialen Offenbarungsgeschehens wird aber nicht wie im Islam (primär) von der Oralität getragen, sondern von der liturgischen Performance des Seder K e riat ha-Torah, der Tora-Lesung selbst und den diese begleitenden Texten. In der Bezeichnung K e riat [ha-Torah] für das öffentliche Vorlesen der Tora im Gottesdienst steckt die gleiche gemeinsemitische Wurzel wie in dem Wort „Koran“ (s.o. zu arab.: qaraʾa) zur Bezeichnung der auswendig vorgetragenen Koran-Rezitation. 56 Die Tora aber darf im Gottesdienst nicht auswendig aus dem Gedächtnis vorgetragen werden; das Vorlesen selbst muss ein wirkliches Lesen sein. 57 52 Vgl. dazu in biblischer Perspektive: Willy S CHOTTROFF - Karl Theodor K LEINKNECHT , Art. Gedächtnis, in: Neues Bibel-Lexikon 1, Zürich 1991, 753-755; in christlich-liturgischer Perspektive vgl. Reinhard M ESSNER , Einführung in die Liturgiewissenschaft (Uni- Taschenbücher 2173), Paderborn 2 2009, 204-206 (Lit.! ); aus speziell jüdischer Sicht vgl. Lawrence A. H OFFMAN , Remembering [zekher] the Temple according to Hillel, in: H OFFMAN - A RNOW (Hgg.), My People’s Passover Haggadah (wie Anm. 48), Bd. 2, 126f; sowie Jan A SSMANN , Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien (Beck’sche Reihe 1375), München 3 2008. 53 S IEVERS , „Und wieder stehen wir am Sinai“ (wie Anm. 37), 104. Der Titel zitiert die jüdische Theologin Judith Plaskow (geb. 1947), die eine Neukonstruktion des Exodus- Paradigmas in jüdisch-feministischer Perspektive unter diesen Titel gestellt hat: Judith P LASKOW , Und wieder stehen wir am Sinai. Eine jüdisch-feministische Theologie, Luzern 1992; engl. Originaltitel: Standing again at Sinai. Judaism from a feminist perspective, San Francisco u.a. 1990. 54 Im Folgenden beziehe ich mich auf den traditionellen aschkenasischen Ritus. 55 Griech.: μίμησις; lat.: imitatio; gemeint ist sowohl die Nachahmung als auch die liturgisch-rituelle Darstellung. Zum Verständnis des Mimesis- und Anamnesebegriffs im liturgischen Kontext, hier in christlicher Sicht, vgl. die Leipziger Dissertation: Olaf R ICH- TER , Anamnesis - Mimesis - Epiklesis. Der Gottesdienst als Ort religiöser Bildung (Arbeiten zur Praktischen Theologie 28), Leipzig 2 2006, 145-275 (Lit.! ). Für problematisch halte ich an dieser liturgiewissenschaftlichen Untersuchung, dass sie den Gottesdienst zu sehr als ‚Bildungsveranstaltung‘ auffasst; aber vielleicht ist diese Kritik meiner anderen konfessionellen Formatierung geschuldet. 56 Die Wurzel q-r-ʾ hat im Hebräischen ein breites Bedeutungsspektrum: von „schreien, rufen“ über „[aus einer Rolle/ einem Buch] lesen, beten“ bis hin zu „singen“ und Schreien von Tieren (z.B. „krähen“). In Bezug auf die Tora bezeichnet ארק / q-r-ʾ bereits in der Bibel das öffentliche Vorlesen derselben, so explizit z.B. Neh 8f; vgl. Frank-Lothar H OSS- FELD - Hedwig L AMBERTY -Z IELINSKI , Art. qārāʾ als lesen, in: Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament 7, Stuttgart u.a. 1993, 133-136; Hedwig L AMBERTY -Z IELINSKI , Art. Das Nomen miqrāʾ (wie Anm. 42), 145; so auch im Aramäisch-Hebräischen von Targum, Talmud und Midrasch; vgl. L EVY , Wörterbuch (wie Anm. 43), Bd. 4, 367f.378f. 57 Dafür beruft man sich auf den Talmud, wo die als pleonastisch empfundene Formulierung von Ex 34,27 („Und YHWH sprach zu Mose: Schreib dir diese Worte auf, denn auf- <?page no="138"?> Heinz-Günther Schöttler 124 Darauf, dass die Tora zu lesen ist, verweist auch die jiddische Bezeichnung ןענעייל -„leinen“ für die besondere Weise, die Tora in der traditionellen Weise zu kantillieren (s. u.). Das Wort geht auf lateinisch legere - „(vor-) lesen“ zurück und gehört zu dem kleinen romanischen Anteil am Jiddischen. 58 grund dieser Worte schließe ich einen Bund mit dir und Israel.“) so gedeutet wird: „Worte, die [sc. am Sinai] schriftlich [gegeben wurden], darfst du nicht mündlich [d.h. auswendig] vortragen; Worte, die [sc. am Sinai] mündlich [gegeben wurden], darfst du nicht schriftlich weitergeben“ (bGittin 60b; ähnlich: pMegilla 4,74d,19f; vgl. auch: bTemura 14b; Exodus Rabba 47,3; Tanḥuma, Wa-yera 5 [25a]; Tanḥuma, Ki Tissa 34 [127a]; Tanḥuma B[uber], Wa-yera 6 (44a/ b); Tanḥuma B[uber] Ki Tissa 18 [59a/ b]; Pesqita Rabbati 5 [14a/ b]). Oder: „Selbst, wenn jemandem die Tora so geläufig wäre wie Esra, darf er sie dennoch nicht auswendig vortragen, sondern [muss sie] vorlesen, wie es bei Baruch geschrieben steht: ‚[Jeremia] sprach [ ארק / q-r-ʾ, hier im Sinn von „diktieren“] alle diese Worte zu mir, und ich schrieb sie mit Tinte auf die Buchrolle‘ [Jer 36,18]“ (pMegilla 4,74d,50; dt. Übers. nach Frowald G. H ÜTTENMEISTER , in: Talmud Yerushalmi, Bd. 2: Megilla - Schriftrolle, Tübingen 1987, 138). Vgl. Jacob Nahum E PSTEIN , Mavo lenosah ham-Mišna, 2 Bde., Tel Aviv 2 1964, 694-697 [= Bd. 2]. Maimonides (Mosche ben Maimon; gest. 1204) scheint eine andere Auffassung zu haben (vgl. Responsa Peʾer ha- Dor Nr. 9). Nach dem „Schulchan Aruch“ von Joseph Karo (1488-1575) kann ein Blinder nicht zur Tora aufgerufen werden: „Ein Blinder liest nicht vor, weil es verboten ist, auch nur einen Buchstaben [sc. der Tora] nicht aus der Schrift zu lesen“ (Orach Chajim § 139,3). Die 1864 von Salomon Ganzfried (1804-1886) herausgegebene Bearbeitung und Kurzfassung „Kizzur Schulchan Aruch“ entscheidet anders, mit der Begründung, dass „heutzutage“ ja nicht der Aufgerufene mehr selbst lese, sondern der Vorleser stellvertretend für ihn (Kap. 23, § 17; dt. Übers. von Selig B AMBERGER , verbesserter Nachdruck [hebr.-dt.], Basel 2001, 131). Zur weitverzweigten rabbinischen und zur aktuellen halachischen Diskussion vgl. Martin S. C OHEN - Michael K ATZ (Hgg.), The Observant Life. The Wisdom of Conservative Judaism for Contemporary Jews, New York 2012, 842-845. 58 Vermittelt über provenzalisch „leyre“, altfranzösisch „lire“ und/ oder spanisch „lejere“; vgl. Alfred K LEPSCH , Westjiddisches Wörterbuch. Auf der Basis dialektologischer Erhebungen in Mittelfranken, 2 Bde., Tübingen 2004, 915 (Lemma „lejenen“). Einen Vorschlag für eine semitische Etymologie hat Carl Theodor W EISS vorgelegt: Das Elsässer Judendeutsch, etymologisch berichtigt von Julius E UTING , Straßburg 1896, 28 (Nr. 227). Das Verbum „leinen“ sei aus einem Missverständnis einer Targum-Stelle zu Gen 3,15 entstanden. Die These von Weiß stützt sich auf den sogenannten Fragmenten-Targum (früher Jeruschalmi II genannt; Edition und engl. Übers.: Michael L. K LEIN , The fragment-Targums of the Pentateuch. According to their Extant Sources [Analecta Biblica 76], Rom 1980, 2 Bde.). Der Targum liegt in fünf Rezensionen vor (vgl. Uwe G LESSMER , Einleitung in die Targume zum Pentateuch [Texts and Studies in Ancient Judaism 48], Tübingen 1995, 119-132). Zu Gen 3,15 findet sich die Wendung אתירואב ןייעל - l e ʿajjên b e ʾôraj e tʾā - „um in der Lehre [= Tora] zu studieren“ (so in Ms Bibliothèque nationale Paris Hébr. 110; in Ms Biblioteca Apostolica Vaticana Ebr. 440 in der Schreibvariante ןייעל תיירואב - l e ʿajjên b e ʾôraj e tā). ןיעל sei, so die These von Weiß, fälschlicherweise als Verb aufgefasst worden, das den Tora-Vortrag bezeichne. Der Vorschlag ist höchst artifiziell und dürfte nicht zutreffen. Lexikologisches: aramäisch ןיע - „in Augenschein nehmen, betrachten, prüfen, nachdenken, nachforschen“, verbum denominativum von ן ִ י ַ ע - „Auge“, hier: Infinitiv Pael mit Präposition l e (vgl. L EVY , Wörterbuch [wie Anm. 43], Bd. 3, s.v. ןי ֵ י ַ ע [S. 641]); aramäisch: ָ י ְ רוֹא א / א ָ ת ְ י ַ רוֹא - „Lehre, Belehrung; Gesetzesrolle [= Tora]“, von aram. √ ירי - „[be-] lehren, unterweisen“ (entspricht hebr. הרי , wovon tȏrāh abgelei- <?page no="139"?> „Ex sacra Scriptura lectiones leguntur et in homilia explicantur“ 125 Anders als in der islamischen Liturgie, in der der Koran als Buch beim gottesdienstlichen Vortrag nicht benutzt wird und dieses, „außer dass es in Moscheen auf einem eigenen ‚Thron‘ (kursī) ausgelegt ist und insgesamt ehrfurchtsvoll behandelt wird“, 59 kein Gegenstand liturgischer Rituale ist, 60 ist der Seder K e riat ha-Torah eine fein ziselierte 61 Inszenierung der Exodus- Erzählung und ihrer Texte - und nicht nur dieser - und lässt schon vom Visuellen her den Empfang der Tora am Sinai, wie es der Exodus-Narrativ 62 erzählt, nachbzw. miterleben. Dafür exemplarisch nur ein paar Hinweise: - Die Tora-Rolle(n) werden in einem Schrank aufbewahrt, der „heilige Lade“ [ ֶ ד ֹ ק ַ ה ןוֹר ֲ א שׁ / ʾarȏn ha-kodæš] genannt wird - wie jener ‚Kasten‘, in dem gemäß dem Exodus-Narrativ die Gebote Gottes aufbewahrt werden („Bundeslade, Lade Gottes“). - Ein Vorhang hängt vor (dem Schrein mit) den Tora-Rollen - wie der in Ex 26,31-33 erzählte Vorhang ת ֶ כ ֹ ר ָ פ, „Parochet“ genannt, der im Zeltheiligtum des Exodus-Narrativs das Allerheiligste mit der Lade abtrennt. - Die Bima, das erhöhte Vorlesepult, auf dem die Tora-Rolle liegt, ruft die Erinnerung an den Sinai, den Berg der Offenbarung, inmitten der Gemeinde wach. - Der Aufruf zur Tora-Lesung wird „Alijah“ (הָ י ִ לֲ ע / ʿalijāh, „Aufstieg“) genannt, „and we think ourselves […] as replicating the act of receiving the Torah, climbing the bimah the way Moses climbed Mount Sinai“. 63 Aber nicht nur die zur Tora Aufgerufenen, auch alle Anwesenden „sollen dem Vortrag folgen, ‚als ständen sie beim Sinai und vernähmen die Offenbarung aus Gottes Mund‘“. 64 - Nach der Lesung wird die handgeschriebene Tora-Rolle hoch emporgehoben und weit aufgerollt mit der Schriftseite nach allen Seiten gezeigt (Elevation), tet ist! ), hier: mit Präposition b e (vgl. L EVY , Wörterbuch [wie Anm. 44], Bd. 1, s.v. אָ י ְ רוֹא / א ָ ת ְ י ַ רוֹא [S. 46f]; ירי [S. 266]). 59 Z IRKER , Der Koran. Zugänge (wie Anm. 16), 61f. 60 Vgl. Josef W. M ERI , Art. Ritual and the Qurʾān, in: The Encyclopaedia of the Qurʾān, Bd. 4, Leiden 2004, 484-498. 61 Vgl. Peter VON DER O STEN -S ACKEN - Chaim Z. R OZWASKI (Hgg.), Die Welt des jüdischen Gottesdienstes. Feste, Feiern und Gebete (Veröffentlichungen aus dem Institut Kirche und Judentum 29), Berlin 2009, 195. 62 Zum Exodus als Narrativ vgl. grundsätzlich: F ÖRST - S CHÖTTLER , Erzählen (wie Anm. 51). 63 Lawrence A. H OFFMAN , The Reading of the Torah. Retelling the Jewish Story in the Shadow of the Sinai, in: DERS . (Hg.), My People’s Prayer Book. Traditional Prayers, Modern Commentaries, Bd. 4: Seder Kʾriat Hatorah (The Torah Service), Woodstock (Vermont/ USA) 2000, 1-18, hier: 12. 64 Simon Philip D E V RIES , Jüdische Riten und Symbole, Wiesbaden 1981, 23. Die halben Anführungszeichen markieren kein Zitat im Zitat, sondern stehen im Original als ‚ganze‘ Anführungszeichen, womit De Vries das ‚Als-Ob‘ kennzeichnet (s.o.). De Vries, 1870 geboren, war 48 Jahre lang Rabbiner von Haarlem in den Niederlanden (bis 1940), 1944 im KZ Bergen-Belsen umgekommen. <?page no="140"?> Heinz-Günther Schöttler 126 so dass die ganze Gemeinde die Schrift sehen kann - wie Mose die Tora dem Volk am Sinai präsentiert und vorgelesen hat (vgl. Ex 19,7f; 24,3-8). 65 Die ganze Ordnung der Tora-Lesung ist so gestaltet und die sie begleitenden Texte sind so formuliert, dass sich die Vorstellung der Besteigung des Sinai, der Offenbarung der Tora und des Abstiegs vom Offenbarungsberg darin einstellt sowie die Vorstellung des Wüstenzugs mit der mitziehenden Lade und der Tora, wenn die Tora-Rolle in einer Prozession durch die Gemeinde zur Bima getragen wird. 66 Diese (nicht nur) liturgische Mimesis ist bereits innerbiblisch narrativ inszeniert, etwa wenn in Ex 40,34-38, dem Abschluss und Höhepunkt des Exodus-Buches, erzählt wird, dass YHWH Besitz vom Zeltheiligtum ergreift, und dies ganz so erzählt wird, wie zuvor in Ex 24,15- 18 sein Kommen auf den Sinai erzählt worden war, so dass Benno Jacob in seinem Kommentar mit Recht schreibt: „Damit ist das Heiligtum sichtlich ein Sinai geworden […], ein wandernder Sinai.“ 67 Das Zeltheiligtum ist also innerbiblisch, knapp gesagt, einerseits die narrativ-fiktionale theologische Inszenierung des realen Tempels, umgekehrt ist der reale Tempel auf dem Zion über seine narrative Inszenierung im Zeltheiligtum mit dem Sinai ‚zurück‘verbunden. Dazu kommt die große prophetische eschatologische Vision Jes 2,1-5/ Mi 4,1-4: Die Völker kommen zum Zion, dem Berg YHWHs, weil vom Zion die Tora ausgeht. 68 Nicht von ungefähr also bringen das Gebet und der 65 Die die Elevation begleitenden Texte, eine Reihe von Schriftzitaten, sind unten am Schluss von Kap. 1.4.6 abgedruckt. 66 „The introductory and concluding prayers for taking the Torah out of the ark, and for returning it there, are like liturgical bookends: The introduction can be thought of as ‘setting the stage’ for a sacred drama that is about to unfold. We are about to receive Torah as if standing again on Sinai. A series of short prayers alternately praise God’s might and mercy, both of which are evident in the gift of Torah. A kabbalistic insertion combines these two attributes of God, after which we take the Torah in hand, as if from Sinai, and, holding it, affirm God in three proclamations, including the Shʾma. Praising God further, we march the Torah to the reader’s desk. The conclusion, too, is a combination of diverse material, with the twin theme of rejoicing in Torah and praising God, at which time, our drama of Sinai completed, the Torah scroll is restored to its place in the ark of God“ (H OFFMAN , The Reading of the Torah [wie Anm. 63], 14). 67 Benno J ACOB , Das Buch Exodus, hg. im Auftrag des Leo Baeck Instituts von Shlomo M AYER , Stuttgart 1997, 1032 (kursiv im Original). 68 Nach Ludger Schwienhorst-Schönberger meint tôrāh hier „nicht die priesterliche Einzelweisung, sondern JHWHs Willenskundgabe in einem umfassenden Sinn. Die Tora ist hier die Tora vom Sinai“ (Ludger S CHWIENHORST -S CHÖNBERGER , Zion - Ort der Tora. Überlegungen zu Mi 4,1-3, in: Ferdinand H AHN u.a. [Hgg.], Zion - Ort der Begegnung [FS Laurentius Klein; Bonner Biblische Beiträge 90], Bodenheim 1993, 107-125, hier: 118). Rainer Kessler und Willem A.M. Beuken bestreiten in ihren Kommentaren, dass in Jes 2 und Mi 4 mit tôrāh die Tora (der Pentateuch) gemeint sei, und übersetzen tôrāh deshalb hier mit „Weisung“, „Unterweisung [der Völker]“ (vgl. Rainer K ESSLER , Micha [Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament], Freiburg i.Br. u.a. 1999, 185; Willem A.M. B EUKEN , Jesaja 1-12 [Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament], Freiburg i.Br. u.a. 2003, 92f). Jedenfalls fehlt an beiden Stellen zwar der Artikel bei tôrāh, aber Schwienhorst-Schönbergers Argumente sind nicht einfach von der Hand zu weisen. Wie auch immer: Insofern Jes 2,3/ Mi 4,2 im Kontext der K e riat ha-Torah gesprochen <?page no="141"?> „Ex sacra Scriptura lectiones leguntur et in homilia explicantur“ 127 Lobspruch zur Öffnung des Tora-Schreins und Aushebung der Schriftrolle die drei Aspekte ‚Sinai‘, ‚Tora‘ und ‚endzeitlicher Zion‘ in der vergegenwärtigenden Feier als Erinnerung der Herkunft und Zusage der Zukunft zusammen: „Und es geschah [י ִ ה ְ י ַ ו], wenn die Lade aufbrach, sprach Mose: ‚Erhebe dich, Ewiger, damit deine Feinde sich zerstreuen, damit deine Hasser vor dir fliehen.‘ [Num 10,35] ‚Denn von Zion geht die Tora aus und das Wort des Ewigen von Jerusalem.‘ [Jes 2,3 = Mi 4,2] Gelobt sei, der in seiner Heiligkeit seinem Volk Israel die Tora gegeben hat.“ Ruth Langer hat ausführlich beschrieben, wie sich die Tora-Lesung von einer einfachen Zeremonie in der frühen Zeit der Synagoge (vgl. etwa mSota 7,7f; vgl. mJoma 7,1) besonders seit dem Mittelalter zu jener komplexen symbolhaften liturgischen Inszenierung des Seder K e riat ha-Torah entwickelt hat. 69 Langer fasst ihre Untersuchung so zusammen: „By the sixteenth century, Ashkenazi Jews had universally added verses that stated explicitly that the Torah reading connects the community to the ideal moments in the history of Torah, its proclamations from Sinai and Zion. Finally, under the influence of Lurianic kabbalah 70 this became a liturgy that expressly makes the current synagogue ritual into a moment of equivalent revelation or immediate interaction with the Divine. […] Ashkenazi Jews today have received a liturgy that encourages them to experience the presence of God, not just through the proclamation of the Torah text, but also through the very presence of the Torah scroll in the synagogue. This is both an anamnetic experience that allows Jews today to stand again at Sinai and Zion and an experience that takes place fully in the present. Jews do not just remember times when God was easily and obviously present in their midst; God is today present and accessible through the medium of His Word, the Torah.“ 71 wird, wird tôrāh in der liturgischen Inszenierung (Re-Inszenierung der Sinai-Offenbarung) und angesichts der Tora-Rolle natürlich als Sinai-Tora rezipiert. Der ‚Sitz in der Liturgie‘ gibt einem biblischen Text auch einen neuen Sinn, bzw. es wachsen ihm neue Bedeutungsaspekte zu; davon lebt die Liturgie! „In its liturgical context, ‘ark’ refers to the housing of the Torah scrolls, and must be seen in the broader context of the biblical quotation that follows (‘Torah shall come from forth Zion’)“ (Marc B RETTLER , Removing the Torah from the Ark, in: H OFFMAN [Hg.], Prayer Book [wie Anm. 63], 50.52-54, hier: 53). 69 Vgl. hierzu Ruth L ANGER , From Study of Scripture to a Reenactment of Sinai. The Emergence of the Synagogue Torah Service, in: Worship 72 (1998), 43-67; wieder abgedruckt in: Journal of Synagogue Music 31 (Fall 2006), 104-125; DIES ., Celebrating the Presence of the Torah. The History and Meaning of Reading Torah, in: H OFFMAN (Hg.), Prayer Book (wie Anm. 63), 19-27; DIES ., Sinai (wie Anm. 37). Vgl. auch Daniel L ANDES , The Theory and Halakhah of Reading Torah, in: H OFFMAN (Hg.), Prayer Book (wie Anm. 63), 29-39, hier: 29-32; Annette B ÖCKLER , Jüdischer Gottesdienst. Wesen und Struktur, Berlin 2002, 106-117. 70 Anm. HGS: vgl. Gerold N ECKER , Einführung in die lurianische Kabbala, Frankfurt a.M. - Leipzig 2008. 71 L ANGER , Sinai (wie Anm. 37), 159. <?page no="142"?> Heinz-Günther Schöttler 128 Joseph Ber Soloveitchik (1903-1993), einer der bedeutendsten orthodoxen Talmud-Kenner und jüdischer Philosoph, einfach „The Rav“ genannt, versteht die Tora-Lesung ausdrücklich als Mimesis der Sinai-Theophanie: „a new giving of the Torah, the amazing standing under the mountain that burned with fire. […] The experience of revelation returns and is repeated each time we take out the Torah“ 72 (vgl. Ex 19,18; 20,18). Ruth Langer formuliert: „The contemporary synagogue community personally encounters Torah in its ideal roles: as the revealing voice of God at Sinai. […] In many conceptions, not only does the Torah scroll mediate God’s presence, but its words themselves even embody the Divine.“ 73 Ich habe oben nur andeuten können, dass der Seder K e riat ha-Torah auch Aspekte einer Mimesis des Wüstenzugs in das Land der Verheißung mit der Lade im Zeltheiligtum als Zeugnis und Bekenntnis der Gegenwart und Nähe Gottes in und bei seinem Volk einschließt, was ebenfalls bereits innerbiblisch narrativ inszeniert ist, etwa wenn in Ex 34,34f, wie die Verbformen zeigen, 74 die Exodus-Erzählung nicht fortgeführt wird, sondern das Erzählte auf Zukunft hin ausgerichtet und ins Generelle des je zu Wiederholenden gewendet wird: „[D]er Gottesdienst Israels, der den Bund und die Gegenwart Gottes weiter in die Zukunft vermittelt, [ist bleibend], und mit ihm bleibt die Offenbarung des Mose, die Tora, für alle nachkommenden Generationen.“ 75 Auf den Punkt gebracht: Die Schriftrolle enthält nicht nur Zeichen, sondern ist selbst Zeichen und hat als Tora-Rolle performative Valenz; man kann von ‚cultural performance‘ sprechen! 1.3 Die Kantillation der Tora - ein performatives Singen Der traditionelle, gesungene Vortrag der Tora im jüdischen Gottesdienst, die Kantillation, ist in den jüdischen Quellen ab dem 2. Jahrhundert n.d.Z. breit belegt, aber älter. Hieronymus bezeugt die Praxis um 400 n.d.Z. für Bethlehem, wenn er mit dem ihm eigenen abschätzigen Unterton Juden gegenüber 76 72 Joseph B. S OLOVEITCHIK , Ish ha-halakhah, galui ve-nistar [hebr.], Jerusalem 1979, 227f; hier zitiert aus: L ANDES , The Theory (wie Anm. 69), 29. 73 L ANGER , Sinai (wie Anm. 37), 121. 74 In Ex 34,34f „wird die Erzählung (Narrativ) nicht fortgeführt, sondern eine generelle Aussage für die Zukunft formuliert (Infinitiv + jiqtol + w e qatal + w e qatal)“: Christoph D OHMEN , Exodus 19-40 (Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament), Freiburg i.Br. u.a. 2004, 363 (Anm. zu 34,34f). Entsprechend übersetzt Dohmen: „(34) Wenn Mose aber vor JHWH kommen wird, um mit ihm zu sprechen, wird er die Decke, bis er herausgehen wird, ablegen. Er wird herausgehen und den Israeliten sagen, was ihm befohlen worden ist, (35) und die Israeliten werden das Gesicht des Mose sehen, wie die Haut des Gesichtes des Mose strahlt. Mose wird die Decke [wieder] über sein Gesicht legen, bis er kommen wird, um mit ihm zu sprechen“. 75 D OHMEN , Exodus 19-40 (wie Anm. 74), 399 (kursiv: HGS); vgl. a.a.O., 374f. 76 Obwohl Hieronymus engen Kontakt mit Juden hatte, weil er bei ihnen Hebräisch und das Alte Testament verstehen lernte, ist und bleibt er ihnen gegenüber feindlich eingestellt: „Wenn es [überhaupt] sinnvoll ist, Menschen zu hassen und irgendeinen Menschenschlag zu verabscheuen, so habe ich einen seltsamen Widerwillen gegen Beschnittene; denn bis heute verfolgen sie unseren Herrn Jesus Christus in den Synagogen des <?page no="143"?> „Ex sacra Scriptura lectiones leguntur et in homilia explicantur“ 129 schreibt, dass diese die Tora „herunterleiern“ (decantare), wenn sie sie in der Synagoge studieren. 77 Allerdings scheint sich die Bemerkung des Kirchenvaters nicht auf den Gottesdienst, sondern auf das (gemeinsame) Tora-Studium in der Synagoge zu beziehen. Die Tora-Kantillation, zunächst mündlich tradiert, ist seit der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends für einen Teil der jüdischen Tradition durch den Masoretischen Text mit seinen Artikulationszeichen, Akzenten und anderen Kantillationszeichen (hebr.: םי ִ מ ַ ע ְ ט / ṭ e ʿamîm) bis zu einem gewissen Maß reguliert. Da die etwa vierzig Teamim in verschiedenen Traditionen musikalisch unterschiedlich realisiert werden, herrscht trotz der Festlegung bis heute eine breite kulturell bedingte Vielfalt. 78 Der eigentliche Grund für den musikalischen Vortrag ist nicht mehr eindeutig auszumachen. Nach landläufiger Meinung ist die Kantillation ihrem Entstehungsmilieu geschuldet, wäre also dem deklamatorischen Stil der öffentlichen Vortragsweise in der orientalischen Antike nachgebildet. Andere sehen in ihr eine spezielle Adaption paganer antiker Melodik. Wieder andere Satans“ (Hieronymus, epistula 84,3; dt. Übers.: Heinz S CHRECKENBERG , Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte und ihr literarisches und historisches Umfeld [Europäische Hochschulschriften XXIII/ 172], Bd. 1: 1.-11. Jh., Frankfurt a.M. u.a. 4 1999, 333). 77 Hieronymus schreibt dies zu Jes 58,2: „Sie suchen mich Tag für Tag; denn sie wollen meine Wege erkennen. Wie ein Volk, das Gerechtigkeit übt und das Recht seines Gottes nicht verlassen hat, so fragen sie mich nach den Satzungen der Gerechtigkeit, es gefällt ihnen, wenn Gott sich nähert“. Der Vers drückt in der Gestalt einer Gottesrede aus, dass sich Israel zwar um Umkehr zu YHWH bemüht, YHWHs Hilfe aber auszubleiben scheint - ein für den Judenfeind Hieronymus ‚willkommener‘ Schriftvers, wie seine Auslegung zeigt: „Dies passt insbesondere zu den Juden, die an einzelnen [per singulos dies] Tagen in die Synagogen rennen [currere] und das Gesetz Gottes studieren, weil sie wissen wollen, was Abraham, Isaak und Jakob und die übrigen Heiligen getan hätten, und die Bücher der Propheten und Moses aus dem Gedächtnis immer wiederholen, indem sie die göttlichen Gebote herunterleiern [decantare], worauf man Folgendes treffend beziehen kann [adaptare]: ‚Die Bösen werden mich suchen und nicht finden‘ [Spr 1,28b LXX]“ (Com. in Isaiam XVI, zu Jes 58,2; Patrologia Latina 24, 561C; Corpus Christianorum. Series Latina 73A, 660). Für das abschließende Zitat (vgl. auch Hos 5,6; Am 8,12) wählt Hieronymus weder den Masoretischen Text noch seine eigene lateinische Übersetzung (vgl. Vulgata), die dem Masoretischen Text folgt („mane consurgent, et non invenient me“ [Patrologia Latina 28, 1310]), wo in Spr 1,28 nur von „sie“ die Rede ist, was sich auf die „Spötter“ in 1,22 bezieht. Der Kirchenvater folgt der Textversion der Septuaginta. Damit kann er die Juden explizit als „mali“ („Böse“) qualifizieren und ihnen mit seiner Auslegung von Jes 58,2 veräußerlichte, vergebliche Frömmigkeit vorwerfen. 78 Vgl. hierzu etwa Eric W ERNER , A Voice Still Heard. The Sacred Songs of the Ashkenazic Jews, University Park 1976 (Pennsylvania/ USA), 64-87; Reinhard David F LENDER , Der biblische Sprechgesang und seine mündliche Überlieferung in Synagoge und griechischer Kirche (Quellenkataloge zur Musikgeschichte 20), Wilhelmshaven 1988, 23-79; Amnon S HILOAH , Jewish Musical Traditions, Detroit 1992, 87-109. Konzis informieren über dieses differenzierte ‚Feld‘: Avigdor H ERZOG , Art. Masoretic Accents (Musical Rendition), in: Encyclopaedia Judaica, 2. Aufl., Detroit u.a. 2007, Bd. 13, 656-664; Hanoch A VENARY , Art. Bible Reading by Chant, in: a.a.O., Bd. 14, 645f. Die Kunst der Kantillation und ihre Praxis werden an Beispielen anschaulich dargestellt in: Z IMMERMANN , Tora und Shira (wie Anm. 17), bes. 109-224. <?page no="144"?> Heinz-Günther Schöttler 130 führen ganz pragmatisch mnemotechnische und/ oder rhetorische Gründe 79 an. Der jüdische Musikethnologe Curt Sachs (1881-1959) ordnet sie dem primordialen logo-genen (‚wortgeborenen‘) Musikstil zu. 80 Danach wäre die Tora-Kantillation ein auf Sprache bezogener und durch sie generierter musikalischer Ausdruck. Der jüdische Musikwissenschaftler Abraham Zvi Idelsohn (1882-1938) meint, die Kantillation sei eingeführt worden, „to arouse the interest of the hearers through the setting of the text to music. […] A deep understanding can be achieved only by singing the Torah (naturally, in the traditional tunes), and ‘whoever intones the Holy Scriptures in the manner of secular song abuses the Torah’ (bSanhedrin 101a).“ 81 Ismar Elbogen nennt in seinem Standardwerk zum jüdischen Gottesdienst (1931) als Absicht der Kantillation, „sinngemäß und eindrucksvoll den Text wiederzugeben“. 82 Vermutlich treffen verschiedene Aspekte zu, und diese sind Teil der Formensprache des antiken Entstehungsmilieus. Wie auch immer: Für unsere Fragestellung ist weniger die historische Entstehungsgeschichte von Bedeutung, weniger, aus welchen funktionalen Gründen kantilliert wurde (Verstehbarkeit etc.); entscheidend ist, wie die Kantillation in der jüdischen Tradition gedeutet wird. Das hat Karl Grözinger in seiner Monographie über „Musik und Gesang in der Theologie der frühen jüdischen Literatur“ mit vielen Belegen anschaulich dargestellt. 83 Neben Forderungen, die Tora sei mit angenehmer Stimme vorzutragen, dass sie die Herzen anrühre, 84 oder der extremen These, dass eine nicht gesungene Tora keine Heilkraft zum Leben entfalte, 85 ist besonders und beispielhaft auf drei eng zusammenhängende Gedanken der Tradition zu verweisen. 79 „[G]ewissermaßen der Lautsprecher der alten Zeit“: Jacques H ANDSCHIN , Art. Akzent, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart 1, Kassel u.a. 1951, 260-266, hier: 264. 80 Im Unterschied zu ‚melo-gener‘ Musik, die von melodischen Gestaltungsprinzipien bestimmt ist, und patho-gener Musik, die sehr unmittelbar aus dem ‚instinktiven‘ emotionalen Empfinden des Sängers kommt. Vgl. Curt S ACHS , Die Musik der Alten Welt in Ost und West. Aufstieg und Entwicklung [1943], übers. von Helga K YRITZ und Jürgen E LSNER , hg. von Jürgen E LSNER unter Mitarbeit von Gerd S CHÖNFELDER , Berlin 1968, bes. 38f; vgl. auch: 71-85. 81 Abraham Zvi I DELSOHN , Jewish Music in its Historical Development [1929], New York 3 1975, 35f. 82 Ismar E LBOGEN , Der jüdische Gottesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung [ 3 1931], Nachdruck: Hildesheim - Zürich - New York 1995, 502. 83 Karl Erich G RÖZINGER , Musik und Gesang in der Theologie der frühen jüdischen Literatur. Talmud, Midrasch, Mystik (Texte und Studien zum antiken Judentum 3), Tübingen 1982, 107-119 („Gesang und Gegenwart Gottes - die Torakantilene“). Dort finden sich auch die im Folgenden zitierten bzw. bezogenen Belege. 84 Vgl. z.B. Hohelied Rabba 4,11. Nach Raschi (1040-1105) z.B. soll derjenige, der aus der Tora vorliest, seine „Stimme würzen, parfümieren, dass sie die Herzen anzieht“ (Rabbi Schlomo ben Jizchak, Kommentar zum Talmud, hier: bTaanit 16a; zitiert nach G RÖZIN- GER , Musik und Gesang [wie Anm. 83], 278). Vgl. den patristischen Grundsatz „canere non solum voce sed etiam corde“ (seit dem 3./ 4. Jh.). 85 bMegilla 32a: „Rabbi Schefatja sagte, Rabbi Jochanan hat gesagt: Jeder, der [sc. die Tora] ohne Melodie [ המיענ / n e ʿîmāh] liest/ vorträgt [ ארק ] und ohne Gesang [ ה ָ ר ְ מ ִ ז / zim e rāh] <?page no="145"?> „Ex sacra Scriptura lectiones leguntur et in homilia explicantur“ 131 1. In dem spätantik-frühmittelalterlichen Midrasch Mekhilta de Rabbi Simeon wird im Namen Rabbi Aqibas (um 50 bis 135) die Auffassung vertreten, dass auch die Melodie der Tora-Kantilene am Sinai geoffenbart worden sei (Mekh Sh 19,19). Diese wäre demnach integraler Teil der Tora selbst und die Tora-Kantillation hätte eine theologische Würde, fern jeder pragmatischfunktionalen Begründung. 2. Damit, dass die Tora (beim nächtlichen Studium) gesungen werde, reihe sich der Sänger in den Chor der Engel im Himmel ein und seine Stimme dringe hinauf. 86 Die jüdische Mystik des Mittelalters wird diesen Gedanken breit entfalten. 87 3. Der Tora-Kantillation gilt die Verheißung der Gegenwart Gottes über bzw. inmitten seines Volkes in besonderer Weise, was für das Tora-Studium überhaupt gilt: „Toravortrag in diesem Sinne ist erst in zweiter Linie Unterweisung Gottes für den Menschen, er ist vielmehr Toravortrag, dem Gott lauschen soll, ein gesungenes Gotteslob.“ 88 Heidy Zimmermann hat in ihrer judaistisch-musikwissenschaftlichen Baseler Dissertation 89 am Beispiel des Meeresliedes am Schilfmeer (Ex 15), „Schirah“ [ ה ָ ר ִ שׁ / širāh] genannt, aufgezeigt, dass und wie speziell die Kantillation die Tora-Lesung zur Sprechbzw. Sing-Handlung werden lässt. Tora-Kantillation ist also ein performatives Geschehen. Im Sinne der bereits eingangs erwähnten Sprechakttheorie John L. Austins und im Anschluss an Karl Erich Grözinger 90 fasst Heidy Zimmermann die Tora-Kantillation als „performatives Musizieren“ auf. Indem ein Tora-Abschnitt in der Textgemeinschaft („textual community“) 91 intoniert wird, wird die kultische Handlung der Tora-Lesung vollzogen die Mischna lernt [ הנש ], über den sagt die Schrift: ‚Und auch ich habe ihnen Satzungen gegeben, die nicht gut für sie waren‘ [Ez 20,25a]. Dem widersprach Abaje: Weil jemand es nicht versteht, die Stimme angenehm zu erheben, beziehst du auf ihn: ‚Vorschriften, durch die sie nicht leben werden‘ [Ez 20,25b]? “ Zur Übersetzung von הנש vgl. B ACHER , Die exegetische Terminologie (wie Anm. 43), I, 194; A LBECK , Einführung (wie Anm. 43), 1f. - Wörtliche Parallele in dem außerkanonischen Talmud-Traktat Masseket Soferim 3,10 (Edition: Michael H IGGER , Masseket soferim, New York 1937; Nachdruck: Jerusalem 1970, 129; dt. Übers.: Der Traktat der Schreiber [Sopherim]. In Auswahl übersetzt von Hans B ARDTKE , in: Wissenschaftliche Zeitschrift Leipzig 3 [1953/ 54], 31-49, hier: 36). 86 So etwa Raschis Kommentar zu bAvoda Zara 3b und bHagiga 12b. 87 Eine aufschlussreiche Stelle aus dem Sohar (Sohar ḥadash, bereshit 13a-b) ist bei G RÖZINGER , Musik (wie Anm. 83), 115f, zitiert und kommentiert. 88 G RÖZINGER , Musik (wie Anm. 83), 119. Dass es in dieser Frage auch gegensätzliche Positionen gab, belegt ein Zitat aus dem Midrasch Kohelet Rabba (Endredaktion 6.-8. Jh.), das G RÖZINGER , ebd., abschließend anführt: „‚Besser ist es, auf das Schelten der Weisen zu hören‘ [Koh 7,5] - das sind die Prediger - ‚als auf den Gesang der Toren‘ [Koh 7,5] - das sind die Targum-Rezitatoren -, die ihre Stimme mit Gesang erheben, um sie das Volk hören zu lassen“ (KohR 7,5). 89 Z IMMERMANN , Tora und Shira (wie Anm. 17). 90 Vgl. G RÖZINGER , Musik (wie Anm. 83), 335f. 91 Zimmermann rekurriert hier auf eine Denkfigur, die der kanadische Historiker und Literaturwissenschaftler Brian Stock (geb. 1939) zunächst im Blick auf sogenannte häretische Bewegungen des Mittelalters entwickelt hat (vgl. Brian S TOCK , Textual Communities, in: DERS ., The Implications of Literacy. Written Language and Models of Interpreta- <?page no="146"?> Heinz-Günther Schöttler 132 und die hörende Gemeinde unter den Zuspruch und Anspruch der Tora gestellt, 92 so dass im Anschluss an Max Haas hier von einer „chant community“ 93 gesprochen werden kann. Mit „textual bzw. chant community“ ist eine Gemeinschaft bezeichnet, deren Zusammenhalt auf einer autoritativen Schrift beruht, hier auf der als von Gott geoffenbarten Tora, die identitätsdefinierende Bedeutung hat, insofern sie das Leben der Gemeinschaft, das kultischrituelle Leben wie das Alltagsleben, umfassend bestimmt und regelt. Dazu gehört nicht zuletzt auch ein eigenes Schriftsystem des ‚Heiligen Textes‘, auf das Heidy Zimmermann besonders rekurriert, nämlich der Masoretische Text mit seinen die Kantillation regulierenden Artikulationszeichen, Akzenten etc. (hebr.: teʿamim). 94 Umgekehrt ist die „textual bzw. chant community“ aber auch eine Interpretationsgemeinschaft, insofern sie die Tora im Hinblick auf die Gruppenidentität mit spezifischer Bedeutung versieht. 95 So verstanden ist tion in the Eleventh and Twelfth Centuries, Princeton 1983, 88-240), die aber dann verallgemeinert auch auf andere Gruppierungen angewandt wird (vgl. etwa A SSMANN , Religion [wie Anm. 52], 91f). 92 Vgl. Z IMMERMANN , Tora und Shira (wie Anm. 17), 353f. 93 Haas entwickelt diese Sinnfigur von Austins Sprechakt-Theorie her und analog zur Denkfigur der „scientific community“ (Thomas Kuhn) im Blick auf einen Bereich, der dem von Zimmermann aufgerufenen vergleichbar ist: die Überlieferung des altrömischen Chorals. Damit ist angesprochen, dass in der Liturgie musikalische Handlungen vollzogen werden, wobei es die Mitglieder der chant community sind, die ermessen können, ob ein Gesang seine Funktion erfüllt. Vgl. Max H AAS , Mündliche Überlieferung und altrömischer Choral. Historische und analytische computergestützte Untersuchungen, Bern u.a. 1962, hier: 40f.48-51 u.ö. 94 Zur sozialen Bezogenheit von Texten vgl. auch Philip C. S TINE , Writing and Religion, in: Hartmut G ÜNTHER - Otto L UDWIG (Hgg.), Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch, 1. Halbband, Berlin 1994, 604-610. 95 Vgl. Brian S TOCK , Listening for the Text. On the Uses of the Past, Baltimore - London 1990, 142-158; DERS ., Textual Communities (wie Anm. 91), 88-90. - Ein anschauliches und instruktives Beispiel für diesen hermeneutisch wechselseitigen Prozess, dass und wie Interpretationsgemeinschaften die Deutung ihrer Heiligen Schrift regulieren und umgekehrt in dieser Deutung ihre Identität finden bzw. stabilisieren - mit der darin begründeten unterschiedlichen Auslegung ein und derselben Schrifttexte, hat der 1928 in Berlin geborene amerikanische jüdische Religionsphilosoph Michael Wyschogrod für die für das Christentum signifikante theologische Sinnfigur der Inkarnation gegeben: „Rationalistisch eingestellte Theologen [erwecken] zu oft den Anschein, dass das Judentum a priori der Fleischwerdung widerspricht, als ob der jüdische Philosoph irgendwie im Voraus bestimmen könnte, was Gott gerade tun oder nicht tun kann, was Ihm möglich oder unmöglich ist, was Seine Würde zulässt oder nicht. In Wahrheit verhält es sich natürlich so, dass man sich schwerlich irgendetwas vorstellen könnte, was dem authentischen jüdischen Glauben fernerläge als Gott von irgendeinem fremden Beziehungspunkt aus Vorschriften zu machen, sondern im Gegenteil gehorsam auf Gottes freie Entscheidungen zu hören, von denen keine vom Menschen vorgeschrieben oder gar vorweggenommen werden kann. Wenn das Judentum die Fleischwerdung nicht annehmen kann, so darum, weil es diese Geschichte nicht hört, weil das Wort Gottes, so wie es vom Judentum gehört wird, ihm das nicht sagt, und weil der jüdische Glaube das nicht bezeugt. Und wenn die Kirche die Fleischwerdung annimmt, so nicht darum, weil sie irgendwie entdeckte, dass solch ein Ereignis - die Natur Gottes oder des Seins, die Realität oder ir- <?page no="147"?> „Ex sacra Scriptura lectiones leguntur et in homilia explicantur“ 133 die Tora-Kantillation ein kommunikatives Ereignis zwischen Gott und Mensch. „Hat der Mensch die Anrede Gottes vernommen, sei sie in direkter Offenbarungsrede, in einer sichtbaren Gotteserscheinung, in einer Wunder- oder Rettungstat oder als im Gottesdienst seine Taten und Worte erinnernde und wiederholende Liturgie und Predigt geschehen, d.h., hat er sie als auf sich bezogen und ihn meinend erkannt und anerkannt, so ist er mit Gott in Kommunikation getreten und nun seinerseits zur aktiven Kommunikation in der Antwort und Anrede Gottes gerufen.“ 96 1.4 Perspektiven für das Verständnis des christlichen Gottesdienstes Reinhard Meßner kommt in seiner „Einführung in die Liturgiewissenschaft“ zu folgendem Ergebnis: „Die theologische Bedeutung der rituellen Inszenierung des Wortgottesdienstes ist noch wenig reflektiert.“ 97 Ich hoffe, dass meine Beschreibungen der islamischen und jüdischen Tradition im Horizont der christlichen Reflexion zunächst gleichsam ‚an Ort und Stelle‘ aus sich heraus die angemahnte Reflexion angeregt haben. Nun bin ich kein Liturgiewissenschaftler und möchte mich deshalb vor der versammelten liturgischen Fachwelt nicht allzu weit vorwagen in den Reflexionsraum über die christliche Liturgie, sondern nur noch, Stichworte aus den vorangegangenen Kapiteln aufnehmend, andeuten, welche liturgiewissenschaftlichen Perspektiven sich nach meinem Urteil im Rekurs auf die Koran-Rezitation, die Tora-Lesung und -Kantillation eröffnen. 98 gendetwas anderes vorausgesetzt - stattzufinden hätte, sondern weil sie hört, dass dies Gottes freie und gnädige Entscheidung war - eine vom Menschen nicht vorherzusagende Entscheidung. Seltsam genug: In diesem Lichte gesehen, kann die Gegensätzlichkeit zwischen Judentum und Christentum zwar nicht aufgelöst, aber in einen Zusammenhang gebracht werden, innerhalb dessen es um einen Unterschied des Glaubens in Hinblick auf das freie und souveräne Handeln des Gottes Israels geht“ (Michael W YSCHO- GROD , Warum war und ist Karl Barths Theologie für einen jüdischen Theologen von Interesse? , in: Evangelische Theologie 34 [1974], 222-236, hier: 226). Den hier zitierten Gedanken hat W YSCHOGROD weiter ausgeführt in: Inkarnation aus jüdischer Sicht, Evangelische Theologie 55 (1995), 13-28. Ebenso perspektivisch und für unsere Fragestellung erhellend hat W YSCHOGROD das Thema „Auferstehung“ behandelt in: Peter VON DER O STEN -S ACKEN - DERS ., Auferstehung Jesu im jüdisch-christlichen Dialog. Ein Briefwechsel, in: Evangelische Theologie 57 (1997), 196-209. 96 G RÖZINGER , Musik (wie Anm. 83), 336. 97 M ESSNER , Einführung (wie Anm. 52), 186 (s. die a.a.O., 186f angegebene Literatur). 98 Mit dem bisher und in diesem Abschnitt Gesagten ist indirekt eine Frage aufgerufen, die z.Zt. heftig diskutiert wird, ob nämlich Judentum, Christentum und Islam sogenannte ‚Buchreligionen‘ seien. Darauf kann ich hier nicht näher eingehen. Soviel aber sei gesagt: Der im 19. Jahrhundert gebildete Begriff ‚Buchreligion‘, der sich in gewisser Weise in der koranischen Qualifizierung der Juden und Christen und anderer als „Leute [Besitzer] des Buches“ (ahl l-kitāb) widerspiegelt, wird in der aktuellen Diskussion unterschiedlich gebraucht: religionsphänomenologisch, kulturwissenschaftlich, offenbarungstheologisch etc. Nicht selten dient die Ablehnung der Bezeichnung des Christentums als ‚Buchreligion‘ auch dazu, die Relevanz der Bibel in der katholischen Kirche zugunsten der Tradition zu relativieren. In christomonistischer Verengung wird gerne das Christentum als <?page no="148"?> Heinz-Günther Schöttler 134 Mein Ziel ist es nicht, den Wortgottesdienst bzw. die Wort-Gottes-Feier zu ‚revolutionieren‘; ich habe nicht vordergründig die liturgie-praktische Inszenierung im Blick. Mit geht es darum, im Blick auf das islamische und jüdische Verständnis der jeweiligen Heiligen Schrift und insbesondere im Blick auf die liturgische Inszenierung des Seder K e riat ha-Torah zu einem vertieften Verständnis des Eigenen zu führen: bei denen, die das Wort Gottes hören und feiern, bei denen, die es liturgisch inszenieren und - last, but not least - bei denen, die über die Liturgie der Kirche wissenschaftlich reflektieren. Selbst wenn die liturgische Praxis gleich bliebe, würde der so verfremdete Blick auf das Bekannte die Grundhaltung, in und aus der heraus das Wort Gottes vorgelesen, gehört und gefeiert wird, ändern und die Liturgie mit vertieftem Bewusstsein feiern und erfahren lassen, wenn denn dieser verfremdende Blick auch kommuniziert würde. 1.4.1 Die Bibel-Lesung im Gottesdienst ist mehr als ein akustisches Ereignis, mehr als Information, auch mehr als ein Kommunikationsgeschehen: Sie ist Re-Inszenierung bzw. Mimesis des initialen Offenbarungsgeschehens. Die in der Wort-Gottes-Feier und in der Eucharistie-Feier gleichermaßen 99 um das Wort 100 versammelte christliche Gemeinde ist unter dessen Zu- und Anspruch gestellt - ganz im Sinne einer Textgemeinschaft („textual community“), in der sich je neu ein wichtiger wechselseitiger Prozess ereignet: Vom Wort Gottes her erfährt die Gemeinde entscheidende Impulse für ihre Identität und umgekehrt versieht sie das Wort Gottes im Hinblick auf die Gruppenidentität mit spezifischen Bedeutungen. Nun ist die Rede vom Zu- und Anspruch des Wortes Gottes selbstverständlich und wäre eigentlich nicht der Rede wert. Insofern aber die im Gottesdienst um das Wort Gottes versammelte Gemeinde ekklesiale Interpretationsgemeinschaft in actu ist, wird deutlich, dass dieser Zu- und Anspruch weder einem assertorischen Gestus noch einer moralisierenden Rhetorik in der Verkündigung geschuldet ist bzw. diesen geschuldet ‚Glaube an Jesus Christus‘ vom Judentum als ‚Buchreligion‘ abgesetzt, was theologisch nicht zutrifft und ebenso unfruchtbar wie hermeneutisch allzu simpel ist. Ich schließe mich der differenzierten Position Erwin D IRSCHERL s an, dass „das Christentum eben auch (nicht nur) Buchreligion [ist]“ (in: DERS ., Rezension des Jahrbuchs für Biblische Theologie 12 [1997; erschienen: Neukirchen-Vluyn 1998], in: Bibel und Kirche 55 [2000], 48). Das ist keine ‚unsichere‘ Position (so: Rudolf V ODERHOLZER , Liest Du noch oder glaubst Du schon? Überlegungen zur Benennung des Christentums als „Buchreligion“, in: Trierer Theologische Zeitschrift 121 [2012], 101-111, hier: 105), sondern theologischhermeneutisch begründet und angemessen. Wie verfangen Voderholzer in einem Antagonismus Christentum vs. Judentum ist, zeigt seine Auslegung von Joh 8,1-11 a.a.O., 106. Zur Auslegung dieser nicht ursprünglich zum Joh.-Ev. gehörenden Perikope verweise ich ausdrücklich auf Klaus W ENGST , Das Johannesevangelium, Bd. 1, Stuttgart 2 2004, 313-320. 99 Vgl. dazu S CHÖTTLER , „Unser Manna ist das Wort Gottes“ (wie Anm. 40), bes. 92-95. 100 Symbolisiert in der ganzen Bibel, nicht in einem Lektionar oder gar in einem auf das Neue Testament reduzierten Evangeliar! Vgl. dazu Heinz-Günther S CHÖTTLER , Die Bibel kanonisch lesen - auch in der liturgischen Leseordnung, in: Bibel und Liturgie 84 (2011), 112-127, hier: 122f. <?page no="149"?> „Ex sacra Scriptura lectiones leguntur et in homilia explicantur“ 135 werden darf. Der Zu- und Anspruch des Wortes Gottes kommt von und aus diesem selbst, insofern es performatives Sprechen Gottes ist (s.u.). Der amerikanische Literaturwissenschaftler Stanley Eugene Fish (geb. 1938) beschreibt die „interpretive community“ so: „If what follows is communication or understanding, it will not be because he and I share a language, in the sense of knowing the meanings of individual words and the rules for combining them, but because a way of thinking, a form of life, shares us, and implicates us in a world of already-in-place objects, purposes, goals, procedures, values, and so on; and it is to the features of that world that any words we utter will be heard as necessarily referring.“ 101 Diese literatur- und kulturwissenschaftliche Denkfigur wäre, was ich hier nicht weiter entfalten kann, ekklesiologisch und inspirationstheologisch weiterzudenken. 102 Hinweisen möchte ich, diesen Aspekt abschließend, auf Pirke Abot („Sprüche der Väter“): 101 Stanley Eugene F ISH , Is There a Text in this Class? The Authority of Interpretive Communities, Cambridge (Mass./ USA) - London 1 1980; 12 2003, 303f. Auch wenn Fish, der das literaturwissenschaftliche Konzept „Interpretationsgemeinschaft“ vornehmlich entwickelt hat, seine These(n) ziemlich zugespitzt formuliert, worin er m.E. mit Recht kritisiert wurde, so ist das Konzept doch eine plausible und erhellende Sinnfigur auch zum Verständnis der „Kirche“ als Interpretationsgemeinschaft: „Bedeutung ist für Fish weder die Eigenschaft eines statischen und stabilen Textes noch das Eigentum völlig freier und unabhängiger Leser, sondern vielmehr das Ergebnis der Tätigkeit einer Interpretationsgemeinschaft, die die Aktivitäten des individuellen Rezipienten ebenso steuert wie sie dessen Lektüreprozess prägt. Dabei bezieht sich der Begriff Interpretationsgemeinschaft weniger auf eine Gruppe von Individuen, die sich auf eine bestimmte Lesart geeinigt hätten, als auf ein Bündel von verbreiteten Rezeptionsstrategien, die allen Angehörigen der jeweiligen Interpretationsgemeinschaft gemein sind. Interpretative Leseakte sind demnach immer schon in sprachliche und institutionelle soziale Konventionen eingebettet, die ihnen vorausgehen und sie bestimmen. Situation und gesellschaftlicher Rahmen determinieren den Prozess des Lebens, so dass für Fish weder der Text noch der Leser dominiert, sondern die Interpretationsstrategie der jeweiligen Interpretationsgemeinschaft“ (Heinz A NTOR , Art. Interpretationsgemeinschaft, in: N ÜNNING [Hg.], Metzler Lexikon [wie Anm. 46], 329f). 102 Zur kanontheologischen Rezeption der Sinnfiguren „textual community“ und „interpretive community“ siehe auch unten 2.1. Vgl. des Weiteren: Hans Reinhard S EELIGER - Martin H AILER - Maijastina K AHLOS - Michael S AUTER , Art. Interpretationsgemeinschaft(en), in: Oda W ISCHMEYER u.a. (Hgg.), Lexikon der Bibelhermeneutik, Berlin - New York 2009, 296-299 (Lit.! ); Francis S CHÜSSLER F IORENZA , Die Kirche als Interpretationsgemeinschaft. Politische Theologie zwischen Diskursethik und hermeneutischer Rekonstruktion, in: Edmund A RENS (Hg.), Habermas und die Theologie. Beiträge zur theologischen Rezeption, Diskussion und Kritik der Theorie kommunikativen Handelns, Düsseldorf 2 1989, 115-144; Christoph S CHWÖBEL , Gott in Beziehung. Studien zur Dogmatik, Tübingen 2002, 430f („Kirche als Interpretationsgemeinschaft“); Birgit R OMMEL , Ekklesiologie und Ethik bei Stanley Hauerwas. Von der Bedeutung der Kirche für die Rede von Gott, Münster 2003, 96-135; Ulrich L UZ , Die Bedeutung der Kirchenväter für die Auslegung der Bibel. Eine westlich-protestantische Sicht, in: James D.G. D UNN - Hans K LEIN - Ulrich L UZ - Vasile M IHOC (Hgg.), Auslegung der Bibel in orthodoxer und westlicher Perspektive. Akten des west-östlichen Neutestamentler/ innen-Symposiums von Neamt vom 4.-11. September 1998 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen <?page no="150"?> Heinz-Günther Schöttler 136 „Rabbi Nehorai sagt: Lass dich an einem Ort nieder, wo die Tora gelernt wird, und meine nicht, dass sie dir hinterherläuft, denn nur durch Mitlernende bleibt die Tora in deiner Hand. ‚Verlasse dich nicht auf deine eigene Einsicht‘ [Spr 3,5].“ (mPirke Abot 4,14) 1.4.2 Ist die Lesung (aus) der Bibel im Gottesdienst Re-Inszenierung des initialen Offenbarungsgeschehens, dann wird deutlich, dass es sich dabei um mehr, ja um alles andere handelt als um einen rhetorischen Vollzug mithilfe der Kulturtechnik des Lesens und Vorlesens. Dieser mimetische Akt, den die Re-Inszenierung des Offenbarungsgeschehens darstellt, ist es, der lectrix und lector höchste theologische Dignität verleiht. Aus diesem Bewusstsein heraus und in dieser Haltung können Frauen und Männer im Gottesdienst aus der Heiligen Schrift vorlesen! 1.4.3 Im Vortrag der Lesung ereignet sich performatives Sprechen 103 , das in der liturgischen Symbolik darzustellen wäre: dass Gottes Wort nicht nur vorgelesen wird, sondern Gott in seinem Wort, das vorgelesen wird, handelt, so wie es auf der ersten Seite der Tora םי ִ הלֺ ֱ א ר ֶ מאֹ י ַ ו - י ִ ה ְ י ַ ו heißt: „Und Gott sprach: - Und es wurde“, oder in Jes 55,10f: „[…] so geschieht es mit meinem Wort, das von meinem Mund ausgeht: Es kehrt nicht leer [ ם ָ קי ֵ ר / rêqām - wirkungslos] zu mir zurück, ohne dass es bewirkt [ השׂע / ʿ-ś-h], was ich wollte, und gelingen lässt [ חלצ / ṣ-l-ḥ], wozu ich es ausgesandt habe“? Gottes Wort wirkt, wozu es ausgesandt ist, 104 und wenn es im Gottesdienst vorgelesen wird, dann sendet er sein Wort aus! 1.4.4 Welche Bedeutung kommt bzw. käme im Horizont der genannten Aspekte der in der Praxis weitgehend verloren gegangenen spezifischen Kantillation der Bibel-Lesungen im christlichen Gottesdienst zu - jenseits aller traditionalen pragmatisch-rhetorischen Gründe, die die Kantillation funktional auch hat(te)? Ist sie Steigerung der Feierlichkeit, „Proklamation des Wortes“ 105 , Feier des Wortes, „Verfremdung gegenüber alltäglicher Rede, wo- Testament 130), Tübingen 2000, 29-52, hier: 44f („Die Auslegung der Bibel ist ein kommunikativer Prozess in einer Interpretationsgemeinschaft“); Christiane T IETZ , Kanon und Kirche, in: Bernd J ANOWSKI (Hg.), Kanonhermeneutik. Vom Lesen und Verstehen der christlichen Bibel (Theologie Interdisziplinär 1), Neukirchen-Vluyn 2007, 99-119. 103 Das Nachsynodale Apostolische Schreiben „Verbum Domini“ über das Wort Gottes im Leben und in der Sendung der Kirche von Papst Benedikt XVI. (2010) spricht vom „performativen Charakter des Wortes selbst“ („indoles performativa ipsius Verbi“; kursiv im Original; dt. Übers. hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz [Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 187], Bonn 2010, Nr. 53 [S. 90]), entwertet die Aufnahme dieser Vorstellung aus der Sprechakttheorie aber gleichzeitig, indem es sie benutzt, das ‚Wort‘ gegen das ‚Sakrament‘ auszuspielen. Dabei spricht Benedikt in demselben Schreiben in Nr. 56 vom sakramentalen Charakter des Wortes Gottes (s.u.). 104 Vgl. Klaus B ALTZER , Deutero-Jesaja (Kommentar zum Alten Testament X/ 2), Gütersloh 1999, 609-612. 105 Franz Karl P RASSL , Art. Kantillation, in: Lexikon für Theologie und Kirche 3 5, Freiburg i.Br. u.a. 1996, 1204. <?page no="151"?> „Ex sacra Scriptura lectiones leguntur et in homilia explicantur“ 137 durch die Lesungen als Gottes Wort kenntlich gemacht werden“ 106 sollen? 107 Könnte mit Blick auf die oben referierten drei Deutungen in der jüdischen Tradition der überlieferten und/ oder einer modifizierten, d.h. von der jeweiligen Gottesdienstsprache her logo-gen konzeptionierten 108 , Kantillationsweise im christlichen Gottesdienst (wieder) eine ähnliche Funktion zukommen wie der Tora-Kantillation? Ich nenne nochmals die beiden hierfür zentralen Stichworte: Kantillation stiftet in der Textgemeinschaft Identität und unterstreicht, dass die Bibel-Lesung ein performatives Geschehen ist, ‚opus Dei‘ eben. Das Erbe der Synagoge besteht also in mehr, als dass die christliche Kantillation in der Kantillation der Synagoge geschichtlich ihre Wurzeln hat. 1.4.5 Die Tora-Lesung, ja die Tora selbst, ist, das hat unsere Untersuchung der Liturgie des Seder K e riat ha-Torah gezeigt, realisierendes Zeichen der Zuwendung Gottes zu seinem Volk Israel. Denn die Tora „ist kein leeres Wort [ ק ֵ ר ר ָ ב ָ ד־אֹ ל / loʾ-dābār req - kein wirkungsloses Wort] für euch, sondern euer Leben, und durch dieses Wort werdet ihr lange leben in dem Land, in das ihr über den Jordan ziehen werdet, um es in Besitz zu nehmen“ (Dtn 32,47; vgl. auch Dtn 4,32-40). An das bereits oben zitierte Prophetenwort Jes 55,10f, mit der für unsere Fragestellung an entscheidendem Punkt übereinstimmenden Wortwahl [ √ קיר - r-j-q] und Rhetorik, dass nämlich Gottes Wort nicht leer/ wirkungslos ist, sei hier nochmals eigens erinnert (‚performatives Sprechen‘). Die Bezeichnung ‚realisierendes Zeichen‘ ist der Rhetorik christlicher Sakramententheologie entlehnt. Könnte, den Begriff „Sakramentalität“ nicht christlich-katholisch oder gar christologisch enggeführt, vielmehr in einem weiten, allgemeinen Sinn gebraucht, nämlich zur Bezeichnung einer wirksamen Vergegenwärtigung des Heilshandelns Gottes, und zwar in einem rituell-realsymbolischen Handeln (in) der Interpretationsgemeinschaft sichtbar, und ohne den jüdischen Glauben begrifflich verfremden oder gar christlich vereinnahmen zu wollen, die K e riat ha-Torah in einem analogen Sinne sakramental genannt werden? Und was bedeutete dies für die christliche Frage 106 M ESSNER , Einführung (wie Anm. 52), 186; vgl. a.a.O., 189. 107 Vgl. Markus E HAM , Kantillation, in: Harald S CHÜTZEICHEL (Hg.), Die Messe. Ein kirchenmusikalisches Handbuch, Düsseldorf 1991, 203-206; Rudolf P ACIK , Die Kantillation - liturgisch gesehen, in: Eduard N AGEL (Hg.), Studien und Entwürfe zur Messfeier. Texte der Studienkommission für die Meßliturgie und das Meßbuch, Freiburg i.Br. u.a. 1995, 149-154; DERS ., Die Kantillation - gehobene Vortragsweise des Wortes, in: Heiliger Dienst 56 (2002), 277-281. 108 Vgl. dazu etwa Rudolf P ACIK , Dem Wort verpflichtet. Zum Problem der Kantillation, Gottesdienst 20 (1981), 153-155, sowie die praktischen Durchführungen: Liturgisches Institut Trier (Hg.), Regelbuch für die Orations- und Lektionstöne in deutscher Sprache, erarbeitet von Erhard Q UACK und Fritz S CHIERI , Freiburg 1969; Website „Kantillationen“ von Pater Erwin B ÜCKEN SJ: www.thehomepagefactory.de/ kantill/ index.htm. Das Ende des vergangenen Jahrhunderts vielfach angekündigte „Handbuch der liturgischen Kantillation in deutscher Sprache. Die Orations- und Lektionstöne“ ist nach meiner Recherche (immer noch) nicht erschienen. <?page no="152"?> Heinz-Günther Schöttler 138 nach der Sakramentalität des Wortes Gottes, die jüngst im Nachsynodalen Apostolischen Schreiben „Verbum Domini“ von 2010 so positiv behandelt wurde? 109 1.4.6 Es soll abschließend nicht unerwähnt bleiben: Unser fokussierter Blick auf die liturgische Inszenierung der Tora im jüdischen Gottesdienst und das Verständnis der Tora-Lesung bzw. -Kantillation als Mimesis des initialen Offenbarungsgeschehens hat allein schon deutlich gezeigt, dass die Tora „im jüdischen Erleben der höchste Ausdruck für die Erfahrung göttlicher Liebe“ ist. Sie ist „die Gnaden- und Liebesoffenbarung Gottes.“ 110 Die judenfeindliche christliche Stereotype vom ‚lastenden Gesetz‘ und die antithetische Gegenüberstellung von Gesetz und Evangelium stellten „immer schon a priori ein Missverständnis der jüdischen Position“ 111 dar. 112 Dass Tora - jetzt in christlicher Terminologie gesprochen - Gnade ist, kommt wohl am Besten in den Texten und Gebeten der jüdischen Liturgie selbst als authentischer Stimme jüdischen Glaubens und Selbstverständnisses zum Ausdruck, weshalb ich abschließend nur noch auf die Siddurim als authentische Äußerung des jüdischen Glaubens verweisen kann. Stellvertretend seien hier die Worte zitiert, die die Elevation der Tora-Rolle (s.o.) begleiten, eine Reihe von Schriftstellen, jetzt mit neuem ‚Sitz in der Liturgie‘: 109 Erstmals wird in einem offiziellen kirchlichen Dokument in der „Pastoralen Einführung in das Messlektionar“ (1981) von der Sakramentalität des Wortes Gottes (Nr. 41) gesprochen: „[…] das Wort, das in der Eucharistiefeier durch das Wirken des Heiligen Geistes zum Sakrament wird“ (dt. Übers. abgedruckt in: Die Messfeier. Dokumentensammlung. Auswahl für die Praxis [Arbeitshilfen 77], hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 11 2009, 191-241, hier: 203). Allerdings bindet der Kontext diese Aussage noch denkbar eng, zu eng, an die Eucharistiefeier. Das Nachsynodale Apostolische Schreiben „Verbum Domini“ von 2010 geht da einen entscheidenden Schritt weiter, wenn Benedikt XVI. schreibt: „Christus, der unter den Gestalten von Brot und Wein wirklich gegenwärtig ist, ist auf gleiche Weise [simili modo] auch in dem Wort gegenwärtig, das in der Liturgie verkündigt wird“: Papst Benedikt XVI., Nachsynodales Apostolisches Schreiben „Verbum Domini“ über das Wort Gottes im Leben und in der Sendung der Kirche von 2010, Nr. 65 (kursiv: HGS); dt. Übers. (wie Anm. 103), 95. Die Aussage steht unter der Überschrift „Die Sakramentalität des Wortes“. Vgl. dazu S CHÖTTLER , „Unser Manna ist das Wort Gottes“ (wie Anm. 40), bes. 92-95. Ich habe hier die offizielle dt. Übers. nach dem maßgeblichen lateinischen Text präzisiert. Die offizielle Übers. gibt „simili modo“, sakramententheologisch abschwächend, mit „in analoger Weise“ wieder; so auch die französische, englische, italienische, portugiesische und spanische Übersetzung. Für die Bedeutung von „simili modo“ im Kirchenlatein sei auf den Messkanon verwiesen: „Simili modo postquam cenatum est, accipiens et hanc praeclarum Calicem in […] manus suas […].). 110 Raphael Jehuda Zwi W ERBLOWSKY , Trennendes und Gemeinsames, in: Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden. Handreichung Nr. 39 für Mitglieder der Landessynode, der Kreissynoden und der Presbyterien in der Evangelischen Kirche im Rheinland, Düsseldorf 1980; 2 1985, 29-43, hier: 36.39. 111 Raphael J. Zwi W ERBLOWSKY , Tora als Gnade, in: Kairos 15 (1973), 156-163, hier: 163. 112 Vgl. dazu bes. Heinz-Günther S CHÖTTLER , „… Ich sage euch dazu“ - Der matthäische Jesus, die Tora und wir Christen, in: Bibel und Liturgie 86 (2013), 30-43. <?page no="153"?> „Ex sacra Scriptura lectiones leguntur et in homilia explicantur“ 139 „‚Dies ist die Tora, die Mose den Kindern Israel vorgelegt hat, auf Geheiß Gottes durch Mose.‘ [Dtn 4,44] ‚Ein Baum des Lebens ist sie für die, die an ihr festhalten, und glücklich, wer sich auf sie stützt.‘ [Sprüche 3,18] ‚Ihre Wege sind lieblich und all ihre Pfade Friede.‘ [Sprüche 3,17]‚ Länge der Tage ist in ihrer Rechten, in ihrer Linken Reichtum und Ehre.‘ [Sprüche 3,16] ‚Dem Ewigen hat es gefallen um seiner Gerechtigkeit willen: Er macht groß die Tora und überaus herrlich.‘ [Jesaja 42,21]“ 113 1.4.7 Bei unseren bisherigen Überlegungen stellt sich folgerichtig die Frage, wie Auslegungen der jeweiligen Heiligen Schriften zustande kommen bzw. hermeneutisch und methodisch reguliert sind. Es geht um die Frage der Rezeption der im religiösen Leben und in der Liturgie so herausragend und als gleichsam ‚heilig‘ inszenierten Texte. Die Frage stellt sich auch für das Christentum, und ihre Beantwortung bewegt sich innerhalb einer Spannbreite, die zwischen einer Hermeneutik eines wortwörtlichen Verständnisses und einer kritischen und gegenwartsbezogenen Rezeption liegt. Damit ist ein weiter Fragehorizont aufgerufen, der mit den genannten Sinnfiguren der „textual“ und „interpretive community“ bereits bearbeitet wurde und im Folgenden unter dem literaturwissenschaftlichen Stichwort ‚Rezeptionsästhetik‘ weitergeführt wird - ohne die Absicht einer umfassenden Bearbeitung dieser komplexen Frage. 2 Mehr als Auslegung - Predigt als offenes Ereignis Im Horizont der beschriebenen jüdischen und islamischen Sinnfiguren, die die Frage nach der Offenbarung in der jeweilig gelebten Zeit reflektieren, und der facettenreichen liturgischen Inszenierung des Wortes Gottes, ja ‚Performance‘ im Sinne der Sprechakttheorie, soll nun abschließend noch, der am Anfang zitierten Vorgabe aus SC 24 entsprechend, nach der Predigt gefragt werden. Wird in der Predigt wirklich die Heilige Schrift ausgedeutet? So ist es die traditionale Auffassung, dass der theologische und kirchlich zuverlässige Fachmann dem Volk predigt, die Bibel ausdeutet, erklärt. In der römischkatholischen Kirche ist die Eucharistiefeier der vornehmliche Ort der Predigt, und hier ist die Predigt - ideologisch verengt - dem ordinierten, in der Regel unverheirateten Mann reserviert, 114 so dass andere genuine Erfahrungen, die neben der unverheirateten Männerwelt mit dem Wort Gottes auch gemacht werden, erst gar nicht zur Sprache kommen - vielleicht ja auch nicht so sehr zur Sprache kommen sollen? Aber vielleicht liegt der Fortschritt des eingangs 113 Dt. Übers. nach: VON DER O STEN -S ACKEN - R OZWASKI (Hgg.), Die Welt (wie Anm. 61), 197. 114 Vgl. dazu Heinz-Günther S CHÖTTLER , „Invited to Preach to the People“ (Origen). A Theological Plea for „Lay“ Preaching in the Catholic Church, in: Walter H OMOLKA - DERS . (Hgg.), Rabbi - Pastor - Priest. Their Roles and Profiles Through the Ages (Studia Judaica 64), Berlin - Boston 2013, 277-302. <?page no="154"?> Heinz-Günther Schöttler 140 zitierten Konzilssatzes ja auch darin, dass die biblische Predigt überhaupt erst diesen Stellenwert in der katholischen Kirche erhalten hat. Dezidiert heißt es in „Dei Verbum“: „Jede kirchliche Predigt muss sich wie die christliche Religion selbst von der Heiligen Schrift nähren und sich an ihr ausrichten“ (DV 21). Wie auch immer. Was geschieht eigentlich in der Predigt? Eine Perikope, d.h. ‚ein kleines Stückchen Bibel‘, wird ausgelegt - hoffentlich, wenn die Perikope nicht als assoziatives ‚Sprungbrett‘ dient, als Stichwortgeber dafür, den Gedanken, den der Prediger auch ohne die Schriftstelle hatte, vorzutragen. Worin besteht eigentlich der Bibelbezug der Predigt? Auf jeden Fall macht eine Erklärung, eine Ausdeutung der Schrift im Sinne einer „explicatio“ (SC 24) noch keine Predigt aus. Eine „explicatio“ können ja auch und vielleicht besser der exegetische Vortrag, die Erwachsenenkatechese oder der schulische Religionsunterricht sein. Deshalb nochmals: Was macht die biblische Predigt aus? 2.1 Die Wiederentdeckung des Kanon An dieser Stelle muss zunächst darauf verwiesen werden, dass die Exegese in den letzten fünfundzwanzig Jahren die kanonische Struktur der Bibel als den Schlüssel zum theologischen Verständnis der zwei-einen christlichen Bibel neu entdeckt hat. Das bedeutet nicht nur einen Paradigmenwechsel in der Exegese, sondern eine neue Herausforderung für die Predigt und die Homiletik. Was Martin Buber (1878-1965) für die Bibel Israels schreibt, gilt auch für die christliche Bibel in ihrer Zwei-Einheit: Die Bibel „will als Ein Buch gelesen werden“ 115 . Für dieses Verständnis der Bibel als einer Ganzheit schaue man etwa auf den kanonischen Rahmen, den Gen 1-3 und Offb 21-22 um die zweieine christliche Bibel bilden. 116 Diese Einheit verdankt sich dem einen ‚Autor‘: „Nicht ist der eine Geist im Gesetz und den Propheten und ein anderer in den Evangelien und in den Aposteln. Es ist vielmehr ein und derselbe Geist, der im Alten und Neuen Testament die göttlichen Schriften formulierte“, sagt Cyrill von Jerusalem (um 313-386/ 87) in seinen Katechesen (17,5; vgl. 4,16; 16,4). Allerdings darf die kanonische Ganzheit und Einheit der Bibel nicht so missverstanden werden, als erhalte die als Altes Testament rezipierte Bibel Israels ihren Sinn erst durch das Neue Testament und eine christologische Deutung. Das Verhältnis der beiden Testamente zueinander darf hermeneutisch nicht retrospektiv reguliert werden, sondern muss ohne Entwertung der 115 Martin B UBER , Zur Verdeutschung der Preisungen [1936], in: DERS ., Werke, Bd. 2: Schriften zur Bibel, München - Heidelberg 1964, 1115-1166, hier: 1159. 116 Vgl. hierzu bes. Thomas H IEKE - Tobias N ICKLAS , „Die Worte der Prophetie dieses Buches“. Offenbarung 22,6-21 als Schlussstein der christlichen Bibel Alten und Neuen Testaments gelesen (Biblisch-Theologische Studien 62), Neukirchen-Vluyn 2003. <?page no="155"?> „Ex sacra Scriptura lectiones leguntur et in homilia explicantur“ 141 Bibel Israels in ihrem Eigenwert bestimmt werden. 117 Insofern nur beide Teile zusammen die „Biblia“/ „die Bibel“ (als Singular-Substantiv und Eigenname) genannt werden, stehen sie auf Augenhöhe. Der biblische Kanon ist kein „von vielen Zufällen bestimmtes Konglomerat unterschiedlicher Texte aus dem alten Israel und der frühen Kirche, ohne Bedeutung für das Verständnis der in ihm zusammengefassten Texte“, 118 sondern seiner Komposition wohnt eine theologische Intention inne. Selbst die Reihenfolge der einzelnen ‚Bücher‘ im biblischen Kanon, genauer: in den verschiedenen Kanonkonzeptionen der Septuaginta oder des Masoretischen Textes in Verbindung mit dem Neuen Testament, 119 ist relevant für das theologische Verständnis der einzelnen Kanonteile (Tora, Schriften und Propheten) und der einzelnen ‚Bücher‘. Insofern der Kanon also der primäre Kontext eines jeden Bibeltextes ist, können einzelne Schriftstellen nicht aus dem gegebenen kanonischen Zusammenhang herausgelöst und ohne diesen ausgelegt werden. „Erst der Sinn, den die biblischen Texte innerhalb der Einheit der Schrift gewinnen, ist ihr inspirierter […] Sinn.“ 120 Von daher ist der elektivperikopierende Modus, in dem unsere Leseordnung das Alte Testament und auch das Neue Testament einspielt, theologisch höchst problematisch. 121 Georg Steins stellt die kanonische Lektüre der Heiligen Schrift mit Recht nachdrücklich in den Kontext der Kirche als Wachstumsort des Kanon und als Text- und Interpretationsgemeinschaft: 122 117 Vgl. dazu ausführlich: Heinz-Günther S CHÖTTLER , Preaching the Hebrew Bible. A Christian Perspective, in: Alexander D EEG - Walter H OMOLKA - Heinz-Günther S CHÖTTLER (Hgg.), Preaching in Judaism and Christianity. Encounters and Developments (Studia Judaica 41), Berlin - New York 2008, 155-174; DERS ., Christliche Predigt und Altes Testament. Versuch einer homiletischen Kriteriologie, Ostfildern 2001, bes. 459-462. 118 Georg S TEINS , Der Bibelkanon - Schlüssel zur Bibelauslegung. Ein Paradigmenwechsel in der Exegese, in: Pastoraltheologie 95 (2006), 329-334, hier: 329. 119 Zum unterschiedlichen Arrangement der Schriften Israels in der jüdischen und christlichen Bibel und zur damit zusammenhängenden Frage nach den Kanon-Gestalten vgl. Günter S TEMBERGER - Ingo B ALDERMANN (Hgg.), Zum Problem des biblischen Kanons (Jahrbuch für Biblische Theologie 3), Neukirchen-Vluyn 1988; Peter B RANDT , Endgestalten des Kanons. Das Arrangement der Schriften Israels in der jüdischen und christlichen Bibel (Bonner Biblische Beiträge 131), Berlin - Wien 2001; H IEKE - N ICKLAS , „Die Worte der Prophetie dieses Buches“ (wie Anm. 116), 113-124, sowie Erich Z ENGER u.a., Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart 8 2012, 22-36. 120 Georg B RAULIK , Die Tora als Bahnlesung. Zur Hermeneutik einer zukünftigen Auswahl der Sonntagsperikopen, in: Reinhard M ESSNER - Eduard N AGEL - Rudolf P ACIK (Hgg.), Bewahren und Erneuern. Studien zur Meßliturgie (FS Hans Bernhard Meyer SJ; Innsbrucker Theologische Studien 42), Innsbruck - Wien 1995, 50-76, hier: 58 (kursiv: HGS). 121 Ich müsste an dieser Stelle auf die Insuffizienz unserer Leseordnung zu sprechen kommen, was ich hier nicht tun kann. Vgl. Ansgar F RANZ , Wortgottesdienst der Messe und Altes Testament. Katholische und ökumenische Lektionarreform nach dem II. Vatikanum im Spiegel von Ordo Lectionum Missae, Revised Common Lectionary und Four Year Lectionary: Positionen, Probleme, Perspektiven (Pietas Liturgica. Studia 14), Tübingen - Basel 2002. 122 Zu „textual community“ und „interpretive community“ s.o. Abschnitte 1.3 und 1.4.1. <?page no="156"?> Heinz-Günther Schöttler 142 „[D]er Bibelkanon [ist] nicht nur ein spätes und den biblischen Texten gegenüber äußerliches Phänomen […]. Pointiert formuliert: Die Bibeltexte werden nicht zum Kanon, sondern sie entstehen als Kanon, das heißt: Sie schälen sich schon lange vor einem ‚offiziellen‘ Kanonabschluss als Texte heraus, in denen sich eine Glaubensgemeinschaft über ihre Gotteserfahrungen austauscht und als Glaubensgemeinschaft identifiziert. Der historisch-kritischen Exegese verdanken wir die wichtige Einsicht, dass die biblischen Texte im Horizont neuer Erfahrungen fortgeschrieben und so aktuell gehalten wurden. Das ist der kanonische Prozess, der irgendwann ein Ende findet, wenn die Gemeinschaft ihre Identität stabilisieren muss, um in den geschichtlichen Veränderungen nicht unterzugehen. Von diesem Zeitpunkt an geschieht die Aktualisierung außerhalb des kanonischen Leittextes, und zwar in jeder Predigt, in jedem Kommentar und in jeder Unterrichtsstunde. Bibel und Glaubensgemeinschaft gehören also vom Ursprung her zusammen. In diesem Umgang einer Gruppe von Menschen mit ‚heiligen‘ Texten ereignet sich Inspiration, geschieht Offenbarung. […] Die Bibel ist das Lebens- und Glaubensbuch des Gottesvolkes, sie ist so entstanden und sie wird so richtig verstanden. Diese Einsicht hat weit reichende Konsequenzen für das Geschäft der Bibelauslegung. […] Wir stehen heute als Leserinnen und Leser […] dem vielstimmigen und vielsinnigen Großtext ‚Bibel‘ [gegenüber]. Dieser wirkt nicht zuerst durch seine einzelnen Teile, sondern als Ganzheit und in Einheit. […] Der Kanon ist daher als der erste Kontext zur Geltung zu bringen, natürlich nicht im Sinne der Entstehung, sondern für die Lektüre.“ 123 Dieser kanonische Horizont ist nicht nur für das „Geschäft“ der Bibelauslegung zu beachten, sondern auch und besonders für die Inszenierung der Bibel in der Liturgie der Kirche und für die Predigt mit der Bibel. Deshalb ist in der liturgischen Leseordnung von der Perikopierung, jener aus dem Kontext herausgelösten, exegetisch noch so bedachtsam abgegrenzten, Textfragmentierung gänzlich Abschied zu nehmen, aber auch von einer Perikopierung, die das Alte Testament nur im Licht des Neuen sieht, mag die Auswahl der alttestamentlichen Perikopen - wie in der derzeit geltenden Leseordnung - in der vertikalen Struktur thematisch auch noch so überlegt reguliert sein. Einen Vorschlag für eine neue sonntägliche Leseordnung habe ich im Anschluss an Georg Braulik unter dem Titel „Die Bibel kanonisch lesen - auch in der liturgischen Leseordnung“ publiziert. 124 Für die Predigt bedeutet dies, dass sie u.a. die Aufgabe hat, diese kanonische Resonanz, in der und in die hinein sie auszulegen ist, in den Hörern zu erzeugen und damit auf ihre Weise die Hörerinnen und Hörer als Text- und Interpretationsgemeinschaft im beschriebenen Sinn zu bilden bzw. zu stärken, so dass sie immer lebensdienlicher das ‚große Haus‘ der Heiligen Schrift bewohnen. 123 S TEINS , Bibelkanon (wie Anm. 118), 330-332. 124 S CHÖTTLER , Die Bibel kanonisch lesen (wie Anm. 100), 112-127. <?page no="157"?> „Ex sacra Scriptura lectiones leguntur et in homilia explicantur“ 143 2.2 Die Entdeckung der Leser und Hörer Eng mit diesem Aspekt der Wiederentdeckung des Kanon ist ein zweiter Paradigmenwechsel verbunden, der sowohl für die Exegese als auch für die Predigt bzw. das Predigtverständnis entscheidend ist: die Rezeptionsästhetik, die die Beziehungen zwischen dem Text und seinen Lesern, also die Wirkung eines Textes im Fokus hat. Die Frage nach der ästhetischen Wahrnehmung und Wirkung, die die Schriftauslegung und die Homiletik heute entscheidend bestimmt, wurde angestoßen und vorangetrieben durch die differenzierten Diskussionen, die seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts innerhalb der Literaturwissenschaft (Umberto Eco, geb. 1932; Hans Robert Jauß, 1921-1997; Wolfgang Iser, 1926-2007) 125 und der philosophischen Hermeneutik (Hans-Georg Gadamer, 1900-2002) 126 geführt worden sind und u.a. in der Theologie, nicht nur in der Exegese, sondern auch in der Homiletik und Religionspädagogik, fruchtbar wurden. 127 Eine historisch-kritische Auslegung, die bis vor kurzem ein „Monopol“ 128 auf die Auslegung biblischer Texte beanspruchte, fragt nach einem ursprünglichen Sinn der Texte, d.h. nach der Intention ihrer Autorinnen und Autoren sowie nach dem Sinnpotential, das die ersten Leserinnen und Leser aus den biblischen Texten heraushörten, und setzt dies mit der Bedeutung des Texts gleich. Der Autorintention und den ersten Leserinnen und Lesern, d.h. den ersten Rezipientinnen und Rezipienten, kommt zwar eine bleibend privilegierte Rolle für die Auslegung der Heiligen Schriften zu; als notwendige Ergänzung dazu tritt aber seit etwa 20 Jahren verstärkt eine leserbzw. leseorientierte Auslegung, die danach fragt, was ein biblischer Text bei den Leserinnen und Lesern bewirkt - zu allen Zeiten und heute („Auslegungsgeschichte“, „Wirkungsgeschichte“). Im Akt des Lesens bzw. Hörens wird der 125 Grundlegend bleiben: Umberto E CO , Das offene Kunstwerk (1962) (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 222), Frankfurt a.M. 9 2002; Hans Robert J AUSS , Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 955), Frankfurt a.M. 1977; 2 1997; Wolfgang I SER , Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung (Uni- Taschenbücher 636), München 1976; 4 1994, bes. 175-355. Repräsentativ ist (immer noch) der von Rainer W ARNING herausgegebene Sammelband „Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis“ (Uni-Taschenbücher 303), München 1975; 4 1994. 126 Hans-Georg G ADAMER , Wahrheit und Methode, Tübingen 1960 u.ö. 127 Zur Bedeutung der Rezeptionsästhetik für Schriftauslegung und Schriftverständnis, für Predigt und Unterricht vgl. Heinz-Günther S CHÖTTLER , „Die göttlichen Worte wachsen, indem sie gelesen werden“ (Gregor der Große). Rezeptionsästhetik und Schriftauslegung, in: DERS ., „Der Leser begreife! “ Vom Umgang mit der Fiktionalität biblischer Texte (Biblische Perspektiven für Verkündigung und Unterricht 1), Münster 2006, 13-33. Vgl. auch Erich G ARHAMMER - Heinz-Günther S CHÖTTLER (Hgg.), Predigt als offenes Kunstwerk. Homiletik und Rezeptionsästhetik (Ökumenische Studien zur Predigt 1), München 1998. 128 Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation der Bibel in der Kirche [1993], hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 115), Bonn 2 1993, 115. <?page no="158"?> Heinz-Günther Schöttler 144 Sinn eines Textes neu entfaltet. Papst Gregor der Große († 604) formuliert dies in seinen Ezechiel-Homilien (I, 7, 8) so: „Wie viel ein jeder Heilige aus der Heiligen Schrift gewinnt, ebenso viel gewinnt diese Heilige Schrift bei ihm selbst. […] Die göttlichen Worte wachsen, indem sie gelesen werden [divina eloquia cum legente crescunt], denn jeder begreift sie um so tiefer, je mehr er sich in sie vertieft.“ 129 Die Metapher von den beim Lesen in der Text- und Interpretationsgemeinschaft ‚wachsenden‘ Texten der Heiligen Schrift wäre offenbarungs- und inspirationstheologisch, aber auch ekklesiologisch weiterzudenken und könnte helfen, das immer noch konfliktive Spannungsfeld zwischen wissenschaftlicher Schriftauslegung, durchaus auch in der Predigt, und kirchlichem Lehramt ‚entspannter‘ und produktiver für beide Seiten zu gestalten. Vornehmlich drei Faktoren spielen bei der Entfaltung des Sinnpotentials des biblischen Textes eine Rolle: 1. die Bedingtheiten der unverwechselbaren Biographien der aktuellen Leser und Leserinnen, 129 Zur modalen Konstruktion in der deutschen Übersetzung siehe S CHÖTTLER , „Die göttlichen Worte wachsen, indem sie gelesen werden“ (wie Anm. 127), 23 Anm. 23. Eine ähnliche Aussage findet sich in Gregors „Moralia in Job“: „Die Heilige Schrift […] wächst gewissermaßen, indem sie gelesen wird“ - „Scriptura sacra […] aliquomodo cum legentibus crescit“ (XX, 1,1). - Die Entdeckung der Rezeptionsästhetik darf nicht dazu dienen, eine christozentrische Vereinnahmung der Bibel Israels/ des Alten Testaments (wieder) stark zu machen (so z.B. Rudolf V ODERHOLZER , „Die Heilige Schrift wächst irgendwie mit den Lesern“ [Gregor der Große]. Dogmatik und Rezeptionsästhetik, in: Münchener Theologische Zeitschrift 56 [2005], 162-175, bes. 167-174). Dazu habe ich an anderem Ort ausführlich das hermeneutisch Notwendige gesagt: siehe Heinz-Günther S CHÖTTLER , Christliche Predigt und Altes Testament (wie Anm. 117), 440-521, bes. 459-462.486f. Vgl. auch: Päpstliche Bibelkommission, Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel [2001] (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 152), Nr. 22 (dt. Übers. hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2001). Ob die ‚berühmte‘ Formel „Quidquid recipitur, ad modum recipientis recipitur“ (dt.: „Was auch immer aufgenommen wird, wird gemäß der Art und Weise des Aufnehmenden aufgenommen.“) von Thomas von Aquin (vgl. etwa: De veritate 12,6 ad 4; Summa theologiae I, q. 75a 5 crp; q. 76a, 2 arg. 3, q. 79a 6 crp; u.ö.) die Rezeptionsästhetik vorwegnimmt, wie oft behauptet wird, wäre noch genauer zu untersuchen. Dass in der Formulierung des Aquinaten zweimal das Verb „recipere“ vorkommt, sagt noch wenig. Das scholastische, im Anschluss an den Neuplatonismus formulierte Axiom will „den Anspruch der Bibel, ‚secundum dicentem deum‘ zu reden, und den Mangel des endlichen Menschen, die Wahrheit des Geoffenbarten nicht unmittelbar und vollkommen zu begreifen, [vermitteln]“ (Hans Robert J AUSS , Art. Rezeption/ Rezeptionsästhetik, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 8, 996-1004, hier: 997). Thomas versteht also die Bedingungen und Modalitäten der Begegnung mit dem Heiligen Text, um die es in unserer Frage geht, als etwas, was den Menschen in seiner Erkenntnismöglichkeit einschränkt. Bei unserer Frage nach den Bedingungen und Modalitäten der Begegnung mit dem biblischen Text ist aber eben gerade nicht auf die Beschränktheit der menschlichen Erkenntnismöglichkeit abgehoben und wird gerade eben nicht der Mangel in der menschlichen Erkenntnismöglichkeit reguliert. Im Gegenteil! <?page no="159"?> „Ex sacra Scriptura lectiones leguntur et in homilia explicantur“ 145 2. deren kontextuelle Einbindung in eine z.B. konfessionell oder kulturell geprägte Text- und Interpretationsgemeinschaft und 3. die unterschiedlichen geschichtlichen Rezeptionen der Texte (Auslegungs- und Wirkungsgeschichte). Dieser rezeptionsästhetische Ansatz bringt die kreative und produktive Rolle des Lesers und der Leserin zur Geltung, so dass Wolfgang Iser vom „impliziten Leser“ spricht und damit die in den Text eingeschriebene Leserrolle bezeichnet, die ein konkreter Leser einnehmen muss, um das vom Text angebotene Sinnpotential zu realisieren. Die Rezeptionsästhetik versteht den Text als ein Netzwerk (lat.: textum - „Gewebe“, „Teppich“) von Signalen und Appellstrukturen, die an den Rezipienten gerichtet sind. Sie fragt nach der Art und Weise der Wahrnehmung literarischer Texte und nach ihrer Wirkung auf den Leser und die Leserin. Bei der Wahrnehmung des Textes, d.h. bei der Frage, wie einer bzw. eine den Text liest, ist das Ich des Lesenden Subjekt; bei der Frage, wie der Text auf den Lesenden wirkt, ist der Text Subjekt im Rezeptionsprozess. Beides findet ineinander verwoben und reziprok statt, ohne identisch zu sein. Diese Spannung aus autonomem Text und Lektüreprozess macht deutlich und verständlich, wie es zu unterschiedlichen Wahrnehmungen und Wirkungen von Texten kommen kann. Erst im Prozess des Lesens wird also durch die Interaktion mit dem Leser und der Leserin ein Text ‚vollendet‘. Umberto Eco sagt deshalb, dass der Autor dem Leser und der Leserin „ein zu vollendendes Werk“ übergibt und spricht vom „offenen Kunstwerk“, 130 inso- 130 „Der Künstler, so kann man sagen, bietet dem Interpretierenden ein zu vollendendes Werk: Er weiß nicht genau, auf welche Weise das Werk zu Ende geführt werden kann, aber er weiß, dass das zu Ende geführte Werk immer noch sein Werk, nicht ein anderes sein wird, und dass am Ende des interpretativen Dialogs eine Form sich konkretisiert haben wird, die seine Form ist, auch wenn sie von einem anderen in einer Weise organisiert worden ist, die er nicht völlig vorhersehen konnte: denn die Möglichkeiten, die er dargeboten hatte, waren schon rational organisiert, orientiert und mit organischem Entwicklungsdrängen begabt. […] Offenheit und Dynamik eines Kunstwerks bestehen […] im Sich-verfügbar-Machen für verschiedene Integrationen, konkrete produktive Ergänzungen, die es von vornherein in den Spielraum einer strukturellen Vitalität einfügen, die dem Werk eignet, auch wenn es nicht abgeschlossen ist, und die sich durchsetzt auch bei verschiedenen und vielfachen Ausführungen. […] Die Vielzahl der Ausführungsmöglichkeiten gründet […] in der komplexen Natur sowohl der Person des Interpreten wie des auszuführenden Werkes. […] ‚Alle Interpretationen sind endgültig in dem Sinne, dass jede von ihnen für den Interpreten das Werk selbst ist, und vorläufig in dem Sinne, dass jeder Interpret weiß, dass seine Interpretation vertiefungsbedürftig ist. Als endgültige sind die Interpretationen parallel zueinander, so dass eine die anderen ausschließt, ohne sie doch zu negieren‘ [Luigi P AREYSON , Estetica - Teoria della formatività (1954), Bologna 2 1960, 194]. Diese vom theoretischen Standpunkt der Ästhetik aus gemachten Feststellungen sind anwendbar auf jedes Kunstphänomen, auf Werke aus allen Zeiten; doch ist es nicht unwichtig, festzuhalten, dass nicht zufälligerweise gerade heute die Ästhetik eine Problematik der ‚Offenheit‘ gewahrt und entwickelt“: Umberto E CO , Das offene Kunstwerk (wie Anm. 125), 55-59. Vgl. auch DERS ., Einführung in die Semiotik [1968] (Uni-Taschenbücher 105), München 9 2002, 145-167. <?page no="160"?> Heinz-Günther Schöttler 146 fern die Texte bewusst interpretationsbedürftig und -fähig sind, was also keine Mangelerscheinung oder Ausdruck fehlender Erzählkunst, sondern in semiotischer wie theologischer Hinsicht die Voraussetzung ihrer Relevanz ist. Texte müssen möglichst offen strukturiert sein, ergänzungsbedürftig, mehr-deutig, „inszeniert-ambiguitär“ sein; nur so können die Hörerinnen und Hörer etwas entdecken, was vorher nicht offenkundig war. Das Gegenteil bezeichnet Eco als „geschlossene Form“. Wilfried Engemann hat von „obturierten“, d.h. „abgedichteten“ Predigten gesprochen, die den Hörerinnen und Hörern nichts mehr zu denken geben: Sie sind „dumm“, und sie „verdummen“. 2.3 Predigen - ein offener Prozess 131 Was ich hier über die Text-Rezeption gesagt habe, gilt mutatis mutandis für die Predigt als Kommunikationsereignis und Rezeptionsgeschehen. Pointiert gesagt: Jede und jeder hört in diesem Verständnis ihre/ seine je eigene Predigt. Mit Umberto Eco, als ‚Predigthelfer‘ 132 in Dienst genommen, formuliert: Der Prediger übergibt dem Hörer/ der Hörerin ein zu vollendendes Werk. Die Predigt ist weder das Manuskript des Predigers, noch das, was der Prediger auf der Kanzel resp. am Ambo spricht. Die Predigt ist ein „aure-dit“, ein „mit dem Ohr Gehörtes“. 133 Und wie schon die Tora und die vier Evangelien ‚offene‘ Erzählungen sind, 134 offen in das jeweilige Leben der Hörerinnen und Hörer, der synchronen Gemeinschaft der Kirche hinein, so soll es auch die Predigt sein: ein offenes Kunstwerk. Die Predigt entsteht im Prozess des Hörens des Textes, den die Predigerin/ der Prediger vorträgt, kommuniziert; sie entsteht in den Hörerinnen und Hörern, in jeder und jedem Einzelnen. Für Prediger und Predigerinnen heißt dies: - Die Predigt darf und muss nicht schon alles „wissen“, sondern will dazu befähigen, ermächtigen und ermutigen, in Auseinandersetzung mit den biblischen Texten unter den Bedingungen des Glaubens heute den je eigenen Weg der Gott-Suche - säkular gesprochen: der Sinn-Suche - zu gehen. 135 131 Vgl. hier bes. Heinz-Günther S CHÖTTLER , Predigt als Schriftauslegung - oder: Die Predigt entsteht in den Hörerinnen und Hörern, in: Theologische Quartalschrift 186 (2006), 248-261. 132 Zu dieser (nicht mehr so) überraschenden kirchlichen ‚Indienstnahme‘ des Bologneser Semiotikers und Schriftstellers vgl. Henning S CHROER s Aufsatz „Umberto Eco als Predigthelfer? “, in: Evangelische Theologie 44 (1988), 58-63. 133 Ein von Wilfried Engemann gebildeter Neologismus analog zu „manu-script“ („mit der Hand geschrieben“; gebildet aus dem Ablativ zu „auris“ und dem Passiv von „audire“); vgl. Wilfried E NGEMANN , Einführung in die Homiletik (Uni-Taschenbücher 2128), Tübingen - Basel 2002, 172. 134 Vgl. Heinz-Günther S CHÖTTLER , Von der Offenheit der Heiligen Schriften. Eine kanon-theologische Beobachtung mit homiletischen Anmerkungen, in: DERS ., „Der Leser begreife! “ (wie Anm. 127), 34-64. 135 Vgl. dazu Heinz-Günther S CHÖTTLER , Suchen - nicht finden! Die Offenheit der Glaubensgestalt, in: DERS ., „Der Leser begreife! “ (wie Anm. 127), 65-91. <?page no="161"?> „Ex sacra Scriptura lectiones leguntur et in homilia explicantur“ 147 - Die Predigt muss nicht die Antworten schon parat haben und darf Fragen nicht nur als rhetorisch-didaktisches Mittel kennen, sondern soll die Fragen und den Zweifel - selbst am tradierten Glauben - als das, was sie sind, würdigen: als Wege des Glaubens, Versuche, im Vertrauen auf Gott den Weg zu finden … - Die Predigt darf nicht Glauben, zumal einen kirchlich formatierten Glauben, einfachhin voraussetzen wie „vom Himmel gefallene Wahrheiten“ 136 , eine nicht zu unterschätzende „Verführung“ katholischer Predigt. Die Predigt soll einen Suchraum eröffnen, der das akute und prekäre Leben mit seinen atemberaubenden Gleichzeitigkeiten - auch in den Gestalten des Glaubens und Kirche-Seins - partiell abbildet; kurzum: interpretatorische Spielräume eröffnen, ohne in Beliebigkeit zu verfallen. - Die Predigt soll ambiguitär-offen sein, offen zum Weiterdenken und -leben der Botschaft der Heiligen Schrift im eigenen alltäglichen Leben. Solchermaßen offen zu predigen, ist zuerst eine Frage an den Glauben der Predigerin, des Predigers selbst und ihre/ seine Persönlichkeit. Es gilt, diese Offenheit als Predigerin, als Prediger auszuhalten und zu leben und in der Predigt formal und inhaltlich abzubilden, ganz im Sinne einer kritischen Rhetorik 137 . Für die Predigthörerinnen und -hörer heißt dies, nicht Eindeutigkeit, geschweige denn doktrinale Bestimmtheit zu erwarten, sondern die „Lücken“, die sich in der Predigt auftun und die die „Lücken“ und Fragen des biblischen Textes selbst widerspiegeln, mit dem eigenen Leben und Glauben zu „bewohnen“ und in den „Grenzen der Interpretation“ (Umberto Eco), die nicht zuletzt durch die Eingebundenheit in die Text- und Interpretationsgemeinschaft gegeben sind, ihre je eigene, sie betreffende Deutung zu suchen. In diesem Horizont gewinnt die Gemeinschaft, die wir theologisch ‚Kirche‘ nennen, eine neue Bedeutung als Freiheitsraum, in dem sich die ‚alte‘ Frage nach dem Verhältnis von Schrift und Tradition auch im Predigtvollzug neu stellt. 136 Metapher aus dem 22. verurteilten Satz des Lehrschreibens „Lamentabili“ von Papst Pius X. aus dem Jahr 1907 (DH 3422); vgl. dazu S CHÖTTLER , a.a.O., 68-70. 137 Vgl. dazu immer noch wichtig: Walter J ENS , Die christliche Predigt. Manipulation oder Verkündigung? , in: DERS ., Republikanische Reden (Suhrkamp Taschenbuch 512), Frankfurt a.M. 1979, 13-32. <?page no="163"?> Die Heiligkeit der Heiligen Schrift und Deutungen ihres Status im Rahmen des Synagogengottesdienstes und der Messliturgie Clemens Leonhard 1 Vorbemerkung zur Methode Vor der Bearbeitung der hier gestellten Aufgabe ist zu bedenken, warum jüdische und christliche Liturgien verglichen werden sollen und wer sie vergleicht. Ein Besuch einer Sabbatvormittagsliturgie durch Christinnen und Christen ohne inhaltliche Vorbereitung würde vermutlich in vielen Fällen zur Einschätzung führen, dass sich hier praktisch keine Vergleichspunkte zu einem katholischen Sonntagsgottesdienst ergeben. Ein Blick in die gemeinsame Geschichte von Judentum und Christentum legt jedoch einen solchen Vergleich schon deshalb nahe, weil sich die beiden sehr unterschiedlichen Rituale offenbar aus einem gemeinsamen Anfang entwickelt haben. Bei jeder Analyse von Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten dürfen daher die folgenden zwei Aspekte nicht außer Acht gelassen werden. Erstens haben sich - wie eben angedeutet - die beiden Religionen über fast zwei Millennien aus Praxis und Theorie der Religionen des östlichen Mittelmeerraums entwickelt. Auch in den Epochen, in welchen sich im historischen Rückblick zwei unterschiedliche Gruppen ausmachen lassen, war die Grenze zwischen diesen beiden nie undurchdringlich, so dass Konvertitinnen und Konvertiten sowie Interessenten und Interessentinnen Informationen über Ritualelemente und deren Deutungen vermitteln konnten. Das Wissen über den jeweils anderen konnte zu Imitation, invertierter Imitation oder Polemik, vielleicht auch Versuchen des bewussten Übersehens führen. Zweitens lebten und leben Juden und Christen auch nach dem ersten Jahrhundert n.Chr. in denselben Gesellschaften und Kulturen. Sie partizipierten an den meisten Aktivitäten ihrer Umwelt. Ihr Vollzug von Liturgien und das Sprechen darüber stehen daher nicht nur zueinander in je nach Epoche mehr oder weniger enger Beziehung, sondern sind auch weiterhin vom selben Hintergrund abhängig. Die Annahme einer klaren Trennung der beiden Ritualtraditionen ist daher einerseits eine unsachgemäße Fiktion. Dasselbe gilt für die Konstruktion von jüdischer und christlicher Liturgie in totaler Alterität. Andererseits ist die Annahme einer überzeitlichen Identität von Ritualen, die sich nach Gestalt <?page no="164"?> Clemens Leonhard 150 und Funktion auseinanderentwickelt haben, auf der Basis von Gemeinsamkeiten in früheren Epochen unzulässig. Die Forschung der beiden Liturgietraditionen ist herausgefordert, die Details der Gemeinsamkeiten und Unterschiede und die Gründe für Ähnlichkeit und Unähnlichkeit herauszuarbeiten. Die folgenden Überlegungen werden aus einer christlichen Perspektive unternommen. Sie sind daher asymmetrisch. Die Teilnahme an jüdischen Liturgien als Gast kann durch die Lektüre von Texten unterstützt werden, führt aber nie zu einer Vertrautheit mit Ritualen und Deutungen, die durch das alltägliche Leben in dieser Tradition erworben wird. Neben das grundsätzliche Interesse, jüdische Rituale ansatzweise zu verstehen, tritt im folgenden Essay immer der Blick auf christliche Phänomene. Jener Blick impliziert auch immer ein Interesse an der Gestaltung christlicher Praxis. Es muss dennoch in jedem Fall versucht werden, jüdische Rituale nicht als letztlich nicht zu deutende, amorphe Objekte ethnologischer Neugier oder aus einem bloßen Interesse für etwas Anderes zu betrachten - etwas Anderes, dem dann christliche Gottesdienste als angeblich bestens verständliche (und damit intellektuell eher gerechtfertigte) Praxis gegenübergestellt werden könnten. Das Nachdenken über Liturgien hat in unterschiedlichen Formen auf Seiten des Judentums eine lange und reiche literarische Geschichte, die sich vor der Geschichte der christlichen Liturgiedeutungen keinesfalls verstecken muss. Der folgende Essay versucht, an jüdische und christliche Liturgien möglichst dieselben Fragen zu stellen und (etische) Beobachtungen des Außenseiters mit (emischen) traditionellen Deutungen der Insider zu verbinden. Die Andersartigkeit der jüdischen Liturgien, in denen Texte aus denselben Textkorpora verwendet werden wie in der katholischen Liturgie, hilft nebenbei, die Selbstverständlichkeit und Banalität der christlichen Selbstbetrachtung zu brechen und einen kritischeren Blick auf die eigene Überlieferung und Praxis zu werfen. Das Interesse des vorliegenden Sammelbandes zielt auf das Verstehen von Liturgien um die Lesung der Heiligen Schrift und die Darstellung und Herstellung von Heiligkeit in diesem Zusammenhang. Damit ist das Materialobjekt der folgenden Überlegungen angedeutet: Christliche und jüdische Gottesdienste haben gemeinsam, dass in ihnen kanonische Schrifttexte vorgetragen werden. Die wichtigste Fragestellung der folgenden Überlegungen ist: Was tut die Liturgie mit der Heiligen Schrift? Implizit ergeben sich auch Beobachtungen zur umgekehrten Frage: Was tut die Heilige Schrift mit der Liturgie? Der vorliegende Essay folgt dem Ablauf des jüdischen Sabbatvormittagsgottesdienstes und verweist auf Ähnlichkeiten und Unterschiede in der katholischen Liturgie der Messe, deren Kenntnis vorausgesetzt wird. 2 Heilige Texte Woher wissen wir, dass ein Text heilig ist und ein anderer nicht - dass ein Text „Wort des Herrn“ (Grundordnung des Römischen Messbuchs, Nr. 128) <?page no="165"?> Die Heiligkeit der Heiligen Schrift 151 oder „Wort des lebendigen Gottes“ ist und ein anderer nicht? Woran lässt sich die Heiligkeit eines Textes ablesen? Eine erste, die christlichen und jüdischen Liturgien verbindende Eigenschaft ist deren Einsatz von kanonischen neben nicht-kanonischen Texten im selben Ritual. Dieser Umstand ist nicht banal. Wäre eine der beiden Liturgien vollständig und ausschließlich aus Bibeltexten aufgebaut - ein Ideal, dem karäische Liturgien nahe kommen - könnte zwar die Frage gestellt werden, ob die jeweilige Liturgie unterschiedliche Wertungen in den Kanon einträgt, nicht aber wie sich im Ritual die Heiligkeit eines Textes zeigt. Wenn es sich bei der Heiligkeit um literarische Eigenschaften des Textes handelte, müssten sich literarische Kriterien anführen lassen, die dessen Heiligkeit anzeigen oder an denen sich ablesen lässt, dass er „Wort des lebendigen Gottes“ ist. Man könnte nach diesem Modell einerseits Eigenschaften eines Bible-Speak erheben und viele neue heilige Texte herstellen und andererseits Menschen, die nicht an die Heiligkeit des Textes glauben, mit Argumenten der Literaturkritik überzeugen. Dass dieses Unternehmen nicht gelingen kann, zeigt sich schon daran, dass es des Hinweises auf Kanongrenzen bedarf, um Texte als heilig oder nicht heilig zu klassifizieren. Die heute üblichen Kanonlisten sind so eindeutig wie arbiträr und damit von der die Listen erlassenden Autorität, nicht von Eigenschaften der Texte, die darin enthalten sind, abhängig. Es gibt z.B. keine an den Texten ablesbaren, literarischen Gründe, warum manche Texte der bei Qumran gefundenen Bibliotheken nicht Teile des Kanons sind. Erst im historischen Rückblick auf den Umgang mit den Texten zeigt sich, welche dieser Texte als heilig betrachtet wurden. Nachdem eine bestimmte religiöse Autorität oder Gemeinschaft mehr oder weniger diskursiv reflektiert eine Gruppe von Texten als heilig betrachtet, kann die Heiligkeit dieser heiligen Schriften in Liturgien inszeniert werden. Ein Blick in die Geschichte der Heiligkeit der Heiligen Schrift zeigt, dass sich diese Heiligkeit dem totalitären Zugriff der Dogmatik und Fundamentaltheologie entzieht. Dasselbe gilt für die Inszenierung dieser Heiligkeit in der Liturgie. Heiligkeit bleibt diffus. Es lässt sich zum Beispiel wissen, dass das Jeremiabuch zur Heiligen Schrift gehört. Ohne einen weiteren Willkürakt einer späteren, religiösen Autorität lässt sich aber nicht begründen, warum die alten griechischen, die lateinischen oder die hebräischen Fassungen des Buches heiliger sein sollen und ob Heiligkeit auch für eine moderne Übersetzung gelten kann. Die Heiligkeit des Jeremiabuches wird in denjenigen Liturgien inszeniert, wo ein Stück Text dieses Buches feierlich vorgelesen wird. Für Hörerinnen und Hörer des deutschen Textes ist in dieser Feier unerheblich, welche antiken Quellen ihm zugrunde liegen. Im Raum der Liturgie ist das Jeremiabuch Heilige Schrift. Auch wenn eine Woche später der Vortrag einer anderen Übersetzung vorgeschrieben ist, so bleibt doch das Jeremiabuch Heilige Schrift. Nach der Lesung spricht der Lektor oder die Lektorin in der katholischen Liturgie: „Wort des lebendigen Gottes“ oder „Wort des Herrn“. Diese Handlung deutet an, dass die Qualität des soeben vorgetragenen Textes nicht evi- <?page no="166"?> Clemens Leonhard 152 dent ist, sondern der Vergewisserung bedarf. Irgendjemand muss den Unterschied zwischen heilig und profan machen, ihn festsetzen. Die Heiligkeit dieses Textes ist dann vorerst gesichert. Sie bleibt aber prekär. Zumindest dann, wenn die entsprechende Lesung wieder vorgesehen ist, wird dasselbe Ritualelement die Heiligkeit desselben Textes erneut bestätigen. Die Liturgien der katholischen Kirche beschäftigen sich unablässig mit der Bestätigung der Heiligkeit von repräsentativen Textausschnitten der Heiligen Schrift. Der Unterschied ist innerhalb der Feier der Liturgie evident. Nach nichtbiblischen Texten, wie z.B. dem Tagesgebet, wird nicht „Wort des Herrn“ gesagt. Es handelt sich bei der Feststellung des Unterschieds in jedem Fall um eine menschliche Setzung, eine Handlung. Sie findet im Raum der Kirche und im Rahmen eines gut bekannten Rituals statt. Dort wird die Heiligkeit der Heiligen Schrift selbstverständlich auch dargestellt, wenn der Lektor oder die Lektorin diese Formel ersatzlos streicht. Es kommt auf den Rahmen an, nicht auf einzelne Worte. Nicht einmal das einzelne Ritual als Vollzug stellt die Heiligkeit der Heiligen Schrift her, sondern der Habitus der Katholikinnen und Katholiken, die regelmäßig in dieser oder einer ähnlichen Form die Heiligkeit der Schrift feiern, bestätigt die Schrift in dieser Eigenschaft. Die Liturgie ist in ihrer Handlungsdimension entscheidend für die Frage nach der Heiligkeit der Heiligen Schrift. Zur Beantwortung der Frage, wie man wissen kann, dass die Heilige Schrift „Wort des lebendigen Gottes“ oder „Wort des Herrn“ ist, bleibt kein anderer Weg als das Mitfeiern einer konkreten Liturgie. Der Zugang zur Macht, Liturgie auf sozial wirksame Weise gestalten zu lassen und zu interpretieren, ist daher beschränkt bzw. umstritten. Mit der Bereitstellung einer Kanontheorie können historische Fälle analoger Handlungen reflexiv bearbeitet werden. Die Erstellung einer Übersetzung kann eines der Objekte, die in der Handlungssequenz eine wichtige Rolle spielen, bereitstellen. Sie bleiben aber sekundär gegenüber der eigentlichen und wiederholten Inszenierung der Heiligkeit des Textes. Außerhalb der Liturgie lässt sich über diese Heiligkeit des Textes erbittert streiten. Wer allerdings mit Dutzenden von anderen Christinnen und Christen nach der Lesung „Dank sei Gott“ geantwortet hat, war Teil der praktischen Inszenierung der Heiligkeit dieses Textes. Er oder sie kann der praktischen und öffentlichen Unterstützung dieser Inszenierung nur entfliehen, indem er oder sie die Teilnahme an der Liturgie aufgibt. 1 Die immer wiederkehrende Inszenierung der Heiligkeit der Heiligen Schrift nimmt auch die an dieser Inszenierung beteiligten Menschen so regelmäßig wie öffentlich in die Pflicht, wenn es um die Anerkennung dieser Heiligkeit geht. Obwohl das Nachdenken über Liturgien diesem Handeln gegenüber sekundär ist, hat das liturgische Handeln auch Konsequenzen für Denken und Tun außerhalb der Liturgie. Umgekehrt werden die Handlungen durch jenes Denken und Tun beeinflusst. Insofern ist die 1 Vgl. zum theoretischen Hintergrund Roy A. R APPAPORT , Ritual and Religion in the Making of Humanity, Cambridge u.a. 1999, Kapitel 3. <?page no="167"?> Die Heiligkeit der Heiligen Schrift 153 (nicht-liturgische) Betrachtung dessen, was in der Liturgie mit diesem Text getan wird, legitimer Teil des Fragens nach der Heiligkeit heiliger Schriften. Die Weisen der Inszenierung dieser Heiligkeit sind mannigfaltig. Durch die zum Teil über mehrere Jahre hinweg gestaltete Ordnung der Perikopen in Judentum und Christentum oder durch die über Wochen hinweg organisierte Psalmenrezitation in manchen Formen des Stundengebets werden massive Unterschiede zwischen der Heiligen Schrift und anderen Texten dargestellt und hergestellt. Die folgenden Überlegungen zur Inszenierung der Schriftlesung konzentrieren sich dagegen auf weit verbreitete Formen einzelner liturgischer Feiern und nicht die Konstruktion einer jahresübergreifenden Gesamtdarstellung von Texten oder einem solchen Beziehungsgeflecht von Textausschnitten. 2 3 Bibeltexte im Sabbatvormittagsgottesdienst 3.1 Bibeltexte vor der Toralesung Bei der Teilnahme an einem Synagogengottesdienst am Sabbat Vormittag lassen sich Elemente des ritualisierten Umgangs mit dem Bibeltext beobachten, aus denen die folgenden Beispiele stammen. Der Chazan kann den Gottesdienst mit dem Gesang eines kurzen Florilegiums von Bibelversen beginnen - Ma Tovu. 3 Im jüdischen Gebetbuch finden sich viele Florilegien dieser Art. Sie zeigen zunächst, dass es heute keine klare Grenze zwischen Bibelrezitation und Gebet gibt. Im Fall der Rezitation ganzer Kapitel des Psalmenbuchs 4 bleibt die Ambiguität zwischen dem Vortrag eines fremden Textes und dem zum Zweck des persönlichen Gebets angeeigneten Bibeltext bestehen. In Ma Tovu wird diese Mehrdeutigkeit getilgt. Hier ist 2 Fragen der Bahnlesung der Tora im Lesesystem der katholischen Sonntagsgottesdienste und des anamnetischen Charakters der Bahnlesung der Tora in den jüdischen Liturgien sind in Clemens L EONHARD , Torah als Bahnlesung in der katholischen Messe. Zu Ähnlichkeit und Differenz, Nähe und Distanz zwischen Judentum und Christentum, in: Reinhold B OSCHKI - Albert G ERHARDS (Hgg.), Erinnerungskultur in der pluralen Gesellschaft. Neue Perspektiven für den christlich-jüdischen Dialog, Paderborn u.a. 2010, 291- 302, bearbeitet. 3 Als Textgrundlage dient eine leicht kommentierte Ausgabe des Sabbatgottesdienstes, die Avigdor S HINAN (Hg.), Siddur Avi Chai. Bd. 1: Yom Hashabat Beveit Hakneset (hebräisch), Jerusalem 1999, publiziert hat. Die Ausgabe hat neben den prägnanten Kommentaren von S HINAN den Vorteil einer sehr übersichtlichen und redundanten Präsentation der Texte. Die in diesem Essay besprochenen Texte sind aber in allen gängigen Ausgaben eines aschkenasischen Siddur zu finden. Ma Tovu: S HINAN , Siddur 103: Num 24,5; Ps 5,8; 26,8; (95,6 umgestaltet von „wir“ auf „ich“); 69,14. 4 Z.B. in den Psalmenabschnitten des Morgengebets: S HINAN , Siddur (wie Anm. 3), 148- 156 (incl. Florilegia); oder den Sabbatpsalmen, 129-146. Die „Kapitel des Psalmenbuchs“ oder Psalmen sind bis auf kleine Unschärfen in den Traditionen identisch. Wenn es sich nicht um Florilegia handelt, werden ihre Textgrenzen in den jüdischen Liturgien dargestellt. <?page no="168"?> Clemens Leonhard 154 sogar ein Halbvers der Psalmen in die Ich-Form umformuliert und damit das Psalmtextflorilegium gegen den Bibeltext dem persönlichen Gebet angenähert. Wendungen aus der Bibel finden sich auch sonst oft in den Gebeten. Die Morgenbenediktionen beginnen z.B. mit einer Anspielung auf Job 38,36. Solche Versatzstücke biblischer Formulierungen geben dem Gebetbuch ein biblisches Flair und stellen gleichzeitig dessen wichtigstes Instrument intertextueller Verweise dar. Liturgische Sprache in der jüdischen und christlichen Liturgie ist immer in ihrer Nähe und Distanz zu Bibeltexten positioniert. Die massive Verwendung biblischer Metaphorik und sprachlicher Eigenheiten von quellennahen historischen Übersetzungen beanspruchen mehr oder weniger Anteil an der von der Heiligen Schrift getragenen Legitimität (vor allem, wenn sie dem alltäglichen Sprachgebrauch fremd sind). Die relative Distanz mancher liturgischer Texte zur Bibel wird in der Liturgie dadurch inszeniert, dass der Vortrag bestimmter Textgattungen zu bestimmten Zeiten durch Handlungen, Gesten und Deuteworte besonders gestaltet wird. Über die Ebene der Sprache legt sich eine Schicht im Detail mehr oder weniger interpretierbarer Handlungselemente. Der Kommunionvers der katholischen Messe veranschaulicht die hier angedeutete Differenz. Kommunionverse sind zwar Bibeltext. Ihr Vortrag, ihre Position im Ritual und die Reaktion der Gemeinde zeigen aber, dass sie anders behandelt und verstanden werden als der Vortrag des Evangeliums, auch wenn die Kommunionverse aus demselben literarischen Corpus, nämlich den Evangelien, stammen. Die Rezitation des Kommunionverses inszeniert diesen nicht als Heilige Schrift, obwohl die Mitglieder der feiernden Gemeinde diesen Text als Teil des Evangeliums erkennen können. Weder die katholischen Liturgien noch die Liturgien des Judentums bedienen sich daher einer auch nur ansatzweise kohärenten Zeichensprache zur Hervorhebung all ihrer Elemente in Bezug auf die Zugehörigkeit zur Heiligen Schrift - nämlich zur Inszenierung der Heiligkeit der Heiligen Schrift. Das zeigt sich klar an der Verwendung von Bibeltexten in den Abschnitten der jüdischen Liturgie vor der Feier der Tora- und Haftaralesung. Schon zu Beginn der jüdischen Liturgie finden sich viele Bibeltexte als sinnvoll abgegrenzte Perikopen, nicht nur als Florilegia. Von einer Lesung der Bibel im Sinn der Toralesung etwas später in derselben Liturgie kann aber auch dort nicht die Rede sein. Wer sich während der Stille am Anfang des Sabbatmorgengottesdienstes mit seinem oder ihrem Gebetbuch beschäftigt, findet dort sogar Texte aus der Tora wie die Aqeda (die Perikope über die „Bindung Isaaks“ 5 ) und die Anordnung der täglichen Opfer. Diese Texte sind in ein Netzwerk von Gebeten und Zitaten aus der rabbinischen Literatur eingebettet. Am äußeren Verhalten der Gottesdienstteilnehmer lässt sich auch nicht ablesen, ob sie gerade ein Stück standardisierten Gebets lesen, über rabbinische Rekonstruktionen der Tempelliturgie nachdenken oder eine Passage aus der Tora studieren. Höhere oder geringere Bedeutung eines Textes 5 Gen 22,1-19: S HINAN , Siddur (wie Anm. 3), 113f. <?page no="169"?> Die Heiligkeit der Heiligen Schrift 155 oder so etwas wie dessen Heiligkeit werden in diesem Abschnitt des Gebets eben nicht inszeniert. Das Qadish schließt diesen Teil des Gottesdienstes ab 6 und vereint die Anwesenden wieder zum Vollzug eines gemeinsamen Textes. An den Rubriken zeigt sich, dass das Qadish den Gottesdienst gliedert. Es wird an verschiedenen Stellen von unterschiedlichen Rollenträgern in der Liturgie rezitiert und ist kein biblischer Text. Wie unten zu zeigen ist, kommt gerade dem Qadish in der Reflexion über die Liturgie eine wichtige Funktion zu, die man als Beobachter der Liturgien eher der Amida oder der Toralesung zugeschrieben hätte. Darauf folgt, wie bereits angedeutet, die Rezitation einer Serie von Kapiteln des Psalmenbuchs und (weiterer) Bibelflorilegien, wobei der Chazan immer nur den Schluss eines Abschnitts und den Anfang des nächsten laut spricht. Die oft hohe Geschwindigkeit der Rezitation setzt eine ausgezeichnete Kenntnis des hebräischen Texts voraus. Darauf folgt (nach Nishmat Kol Chay, 7 das die Abschnitte der Psalmtextrezitation abschließt, sowie Qadish) die Einleitung in den Abschnitt des Shma Israel. 8 Die Rezitation der Kapitel des Psalmenbuchs ist ein relativ junges Element der Standardliturgie. 9 Ihre Anwesenheit kann in mehrfacher Hinsicht gedeutet werden. Manche wurden ohne Kontinuität, aber in Wiederaufnahme von Bräuchen des Tempels oder einfach aufgrund der Überschriften der Kapitel in die Liturgie aufgenommen. 10 Als solche war die jeweilige Bedeutung der Psalmtexte irrelevant. Es ging um eine mimetische Brücke zur Tempelliturgie. Die Psalmen werden schnell gelesen, nicht gesungen und demnach auch nicht als Lieder im modernen Sinn verstanden. Dagegen gibt der liturgische Vollzug keine Hinweise darauf, ob die Psalmenabschnitte als Privatgebete angeeignet werden sollten oder als Bibeltext zur weiteren Betrachtung gelesen werden. Im Morgengebet wird zweimal und im Nachmittagsgebet einmal Ps 6 S HINAN , Siddur (wie Anm. 3), 128f. 7 S HINAN , Siddur (wie Anm. 3), 160ff. 8 S HINAN , Siddur (wie Anm. 3), 166. 9 Vgl. Günter S TEMBERGER , Psalmen in Liturgie und Predigt der rabbinischen Zeit, in: DERS ., Judaica Minora I. Biblische Traditionen im rabbinischen Judentum (Texts and Studies in Ancient Judaism 133), Tübingen 2010 (Originalpublikation 1998), 221-233, und Johann M AIER , Zur Verwendung der Psalmen in der synagogalen Liturgie (Wochentag und Sabbat), in: Hansjakob B ECKER - Reiner K ACZYNSKI (Hgg.), Liturgie und Dichtung. Ein interdisziplinäres Kompendium I. Historische Präsentation (Pietas Liturgica 1), St. Ottilien 1983, 55-90. 10 Vgl. S TEMBERGER , Psalmen (wie Anm. 9), 222 und 230 zur Vorstellung, dass die Rezitation der Psalmen, die zum Opfer im Tempel gesungen wurden, das Opfer in der rabbinischen Gegenwart ersetzt. Im Traktat Sofrim schließt der folgende Text eine Liste von Angaben über die Rezitation von Psalmen ab: „Wer in diesen nicht erfahren ist, sage ‚Ich will dir danken, Herr, von ganzem Herzen‘ (Ps 9,2), und es genügt“. Der vielleicht sogar erst mittelalterliche Text (vgl. Debra Reed B LANK , It’s time to take another look at „our little sister“ Soferim, in: Jewish Quarterly Review 90 [1999], 1-26) rechnet nicht mit einer weiten Verbreitung der Kenntnis des Psalmenbuchs. <?page no="170"?> Clemens Leonhard 156 145 (mit Ps 85,5; 144,15 davor) rezitiert - vermutlich weil der Talmud feststellt, dass jemand, der diesen Abschnitt dreimal am Tag spricht, Anteil an der kommenden Welt haben wird. 11 In ähnlicher Weise bleibt auch die Rezitation des Shma Israel mehrdeutig. Das Shma Israel ist Bibeltext, der mit Ausnahme der ersten Zeile 12 sitzend und leise gelesen werden soll. Manche Beter schirmen die Augen mit der Hand ab, 13 um sich entweder besser auf den Text konzentrieren zu können oder zumindest die Konzentration auf das Rezitieren des Textes als ritualisiertes Handeln zu vollziehen. Diese Ritualisierung deutet an, dass das Shma Israel von Individuen wahrgenommen, vielleicht studiert wird, in keinem Fall jedoch irgendjemandem verkündet werden soll. Die Selbstreferentialität des Shma Israel kann innerhalb der christlichen Liturgien mit dem Verständnis des Einsetzungsberichts der Eucharistiefeiern verglichen werden, nicht aber mit dem katholischen Wortgottesdienst. Der Einsetzungsbericht ist wie auch das Shma Israel kein Bekenntnistext. Wenn man ihn nicht als Hinweis auf den korrekten Umgang mit dem Gesetz überhaupt interpretiert, ordnet der Text des Shma Israel an, als Text „beim Aufstehen“ und „beim Schlafengehen“ rezitiert zu werden (Dtn 6,4-9). Das tun die Beter denn auch in diesem Augenblick - sie rezitieren „diese Worte“ am Morgen genauso wie sie sie später auch am Abend rezitieren werden (wobei es ausführliche Regeln dazu gibt, wie das Shma Israel auch privat im Kontext des Aufstehens und Niederlegens zu rezitieren ist). Dazu kommen die Abschnitte aus der Tora, aus denen das Gebot hervorgeht, Tallit und Tfillin mit den Kapseln, die ebenfalls den Text dieser Worte enthalten, 14 (an Wochentagen) zu tragen (Dtn 11,13-21). Bei der Passage der Tora, die das Tragen der Schaufäden anordnet, halten manche Beter die Fäden in der Hand bzw. küssen sie oder führen sie zu den Augen: „[…] ihr sollt sie sehen und euch an alle Gebote erinnern […]“. 15 Dass das Shma Israel an anderen Stellen der Liturgie und in theologischen Überlegungen eine wichtige Rolle spielt, kommt in der Inszenierung der Liturgie nicht zum Tragen. 11 bBer 4b. Der Talmud leitet den Schluss u.a. aus Überlegungen darüber ab, warum die Zeile, die mit „n-“ beginnen sollte, im Akrostichon des Textus receptus fehlt. 12 Vgl. Shulchan Aruch OH 61.4. 13 Shulchan Aruch OH 61.5. S HINAN , Siddur (wie Anm. 4), 174 Anm. „[…] Das Bedecken der Augen hilft den Betern alle Kräfte ihres Geistes zu konzentrieren. Die Verlängerung der Rezitation des Wortes ‚Einer‘ gibt ihnen Zeit, um die volle Bedeutung dieser Konzentration zu erfassen“. Vgl. auch bBer 13b. Shulchan Aruch OH 61.24 reflektiert die Vorstellung mancher, dass das Shma in der biblischen Kantillation zu rezitieren ist. OH 62.2 stellt zwar fest, dass das Shma in allen Sprachen rezitiert werden kann, warnt aber gleich vor Bedeutungsverfälschungen. Die Kommentare sind skeptisch in dieser Frage. 14 Günter S TEMBERGER , Der Dekalog im frühen Judentum, in: DERS ., Judaica Minora I (wie Anm. 9; Originalpublikation 1998), 145-158, hier: 149. Manche Tfillin aus Qumran enthalten zwar den Dekalog, nicht aber das Shma Israel. 15 Num 15,37-41 und vgl. Shulchan Aruch OH 61.25. <?page no="171"?> Die Heiligkeit der Heiligen Schrift 157 Unmittelbar an die Brakha nach dem Shma Israel schließt sich die Amida (das „Achtzehngebet“) an. 16 Sie besteht nur zu einem geringen Teil aus Bibelzitaten. Die Rezitation der Qedusha (Jes 6,3; Ez 3,12; [und Ps 146,10]) sowie des Priestersegens (Num 6,24-26) wird im Ritual durch Handlungselemente und Gesten massiv hervorgehoben. Sie werden allerdings besonders im Hinblick auf den Priestersegen als Teile eines mimetischen Rituals interpretiert. Die Mitglieder der Gemeinde, die aus priesterlichen Familien stammen (Kohanim sind), treten (in unterschiedlichen Strömungen des Judentums zu verschiedenen Gelegenheiten) hervor und segnen die Gemeinde in Erinnerung an die analoge Handlung und mit denselben biblischen Worten, die auch ihre Vorfahren im Tempel benutzt haben. Die Inszenierung hebt an diesen Stellen daher nicht den Bibeltext hervor, sondern der Bibeltext ist Teil eines Handlungselements. Die Inszenierung deutet an, dass die Funktion der Kohanim entbehrlich ist. Sie singen die einzelnen Worte des Segens dem Chazan nach. Wenn keine Kohanim anwesend sind, rezitiert der Chazan den Priestersegen alleine. Die Amida (das Achtzehngebet), die stehend und zunächst von allen leise gesprochen wird, ist ein unverzichtbares Element des Gottesdienstes. Der Umstand, dass Teile von ihr (außer beim Abendgebet) im Anschluss an die „geflüsterte“ (belachash) Rezitation der Einzelnen Beter vom Chazan gesungen werden, bei manchen Gelegenheiten dabei der Toraschrein geöffnet wird, die Beter sich erheben und wieder setzen, etc. legt Beobachtern nahe, dass der Text eine besondere Bedeutung haben muss. Am Sabbat kann auch das Zitat von Ex 31,16f als Teil der mittleren Brakha der Amida gesungen werden. Hier werden zwei Verse der Tora als Einsetzung des Sabbats hervorgehoben. Die gegenüber der Rezitation des Shma Israel reichere Ritualisierung der Rezitation der Amida müsste andeuten, dass die Amida heiliger sei als das Shma Israel. Insider und Insiderinnen könnten allerdings auf eine eher emische Perspektive hinweisen und erklären, dass dieser Schluss nicht zulässig ist, weil die Ritualelemente der Rezitation von Shma Israel und Amida die relative Heiligkeit von Bibeltext gegenüber Gebetstexten einfach nicht thematisieren. Die Elemente der Ritualisierung haben andere Ziele und nicht die Funktion, diesen Unterschied darzustellen oder zu untermauern. 3.2 Toralesung Erst nach diesen Abschnitten der Liturgie wird die Lesung von Tora und Haftara gehalten. 17 Bei der Toralesung steht zwar ohne Zweifel die Tora im Zentrum der Inszenierung. Eine eher etische Beobachtungsperspektive hält jedoch die Ambiguität offen, ob es um die konkrete Tora-Rolle oder um den 16 S HINAN , Siddur (wie Anm. 3), 180ff. 17 S HINAN , Siddur (wie Anm. 3), ab 215. Der aschkenasische Ritus der Toralesung wurde von Ruth L ANGER , Sinai, Zion, and God in the Synagogue: Celebrating Torah in Ashkenaz, in: DIES . - Steven F INE (Hgg.), Liturgy in the Life of the Synagogue. Studies in the History of Jewish Prayer, Winona Lake 2005, 121-159, maßgeblich analysiert. <?page no="172"?> Clemens Leonhard 158 abstrakten, in ihr geschriebenen Text der Tora in dessen mündlicher Verlautbarung oder um beides geht. Gelegentlich wird vor der Toralesung der Toraschrein bereits mehrmals geöffnet und geschlossen, ohne dass auch nur ein einziges Wort aus einer der Rollen vorgelesen worden wäre. Die bloße Anwesenheit der verhüllten Torarollen hat daher liturgische Funktionen. Die Lesung der Tora wird durch den Gesang eines Florilegiums eingeleitet. 18 Vor dem Ausheben der Torarollen selbst wird allerdings Num 10,35 (mit Jes 2,3) gesungen: „Wenn die Lade aufbrach, sagte Mose: Steh auf, Herr, dann zerstreuen sich deine Feinde, dann fliehen deine Gegner vor dir. Denn von Zion kommt die Weisung des Herrn, aus Jerusalem sein Wort.“ 19 In der darauf folgenden Prozession trägt der Chazan die Torarolle (eventuell zusammen mit einem zweiten Träger einer weiteren Rolle [selten noch weiterer Rollen], wenn es von der Struktur der Lesungen erforderlich ist) durch die Gemeinde. Die Mitglieder der Gemeinde deuten einen stilisierten Kuss der Rolle(n) an. 20 Die Prozession mit den Torarollen lädt zu mehreren Deutungen ein. Eine mimetische Deutung ist aufgrund von Num 10,35 vorgegeben. Sie wird im liturgischen Text mit dem Weg der Bundeslade verglichen. Das Öffnen der Torarolle wird von eigens dazu bestimmten Mitgliedern der Gemeinde vollzogen, die die Rimonim (verzierte Aufsätze auf die Griffe der Torarolle), Toraschild und Toramantel verstauen und die Mapa (Torawimpel) aufrollen, damit sie am Ende der Lesung wieder zum Zusammenbinden der Torarollen zur Verfügung stehen. Trotz des hohen Marktwerts einer Torarolle gehen die Handlungen, die hier vollzogen werden, über einen sorgfältigen Umgang mit einem Wertgegenstand hinaus. Neben ihren banalen Funktionen (damit aus der Rolle gelesen werden kann, muss sie ausgepackt, geöffnet etc. sein) legen diese Handlungen eine Deutung der Ehrfurchtsbezeugung gegenüber dem heiligen Text und/ oder seinem Träger, der Rolle samt ihrer Umhüllung, nahe. Zur Toralektüre wird nur eine Rolle aus Pergament verwendet, die von einem Spezialisten unter Einhaltung besonderer Vorschriften abgeschrieben wurde. Zur Herstellung der Torawimpel werden in manchen Bereichen (reich verzierte) Beschneidungswindeln verwendet. Während der gesamten Manipulation der Torarolle wird deren Pergament nie direkt berührt. Der Leser zeigt mit einem Zeigestab auf die zu lesende Stelle. Das zur Lesung aufgerufene Gemeindemitglied berührt die Rolle bei der Kolumne, wo die Lesung beginnt, mit den Schaufäden (und küsst sie). Die Liturgie inszeniert die Spannung zwischen Nähe und Distanz zur Tora. Sie wird gelesen, ins Volk getragen, geküsst (aber nur in stilisierter Weise), 21 gleichzeitig aber im Toraschrein 18 Dtn 4,35; Ps 86,8; 145,13; 10,16; 93,1; Ex 15,18; Ps 29,11; 51,20. 19 Der universalistische Kontext von Jes 2,3 wird in der intertextuellen Ambiguität offen gelassen und nicht explizit gemacht. 20 Sie berühren den Toraschild mit einem Zipfel des Tallit und küssen den Tallit. Während der Prozession werden ein Florilegium aus 1 Chr 29,11; Ps 99,5.9 und weitere Gebete und Schriftverse gesungen. 21 Vgl. auch L ANGER , Sinai, Zion, and God (wie Anm. 17), 155 und 157 Anm. c. <?page no="173"?> Die Heiligkeit der Heiligen Schrift 159 verwahrt, sorgfältig eingehüllt, nicht direkt berührt. Das ostentative Nicht- Berühren der Torarolle inszeniert den kanonischen Status des Textes, der auf ihr geschrieben ist, weil in der rabbinischen Literatur dieser kanonische Status damit umschrieben wird, dass die Berührung des Textes die Hände verunreinigt. 22 Die Frage, worin sich die Heiligkeit der Tora zeigt, kann aus der Beobachtung der Liturgie so beantwortet werden: indem sorgfältig vermieden wird, ihre rituelle Höchstform - das auf Pergament geschriebene Original der Torarolle - zu berühren; indem sie herumgetragen, stilisiert geküsst wird etc. Die Lektüre des Toraabschnitts wird als kommunales Ereignis gefeiert. Neben dem Chazan und den Personen, die die Aufgaben haben, die Rolle zusammenzurollen und anderen, benötigt man am Sabbat sieben Leser (in Reformgemeinden auch Leserinnen), die zur Lektüre der Tora aufgerufen werden und vor und nach der Lesung eine Brakha rezitieren. 23 Die Brakha thematisiert die Erwählung Israels durch die Gabe der Tora. Um den Anschein zu vermeiden, dass die Brakha aus der Torarolle gelesen wird, kann an manchen Orten das Schriftbild der Rolle während der Gebete, die über der offenen Rolle gesprochen werden, bedeckt werden. Nachdem der Chazan stellvertretend für das zur Lesung aufgerufene Gemeindemitglied den jeweiligen Teil des Toraabschnitts kantilliert hat, spricht er ein Gebet für den Aufgerufenen, den er auch dazu einladen kann, Verwandte und Freunde zu nennen, die er besonders der Fürsorge Gottes empfehlen will (Incipit der Gebete: Mi sheberakh). Teilnehmer am Gottesdienst der Toralesung können den Text aus einer gedruckten Ausgabe der Tora während der Lesung mitverfolgen. Wenn sich der Vorleser in der Vokalisation (die in der Torarolle nicht eingetragen ist) irrt, korrigieren sie ihn sorgfältig und laut. Dieses Ritualelement deutet an, dass es nun nicht um die Verlesung der Tora aus einer wertvollen Rolle als heiligem Buch, sondern um den Text als abstraktere Größe geht. Die Tora wird im Raum der Gemeinde proklamiert. Die Proklamation muss korrekt sein. Die liturgische Bibellektüre ist bei Juden und Christen an Kennerinnen und Kenner der Texte gerichtet. Die Gemeinden werden hier nicht über den Inhalt des Textes informiert. Idealer, aber nicht notwendiger Weise verstehen ihre Mitglieder den Text. Der Brauch, die Korrektheit der Rezitation aus der Torarolle durch das Mitlesen in anderen Bibelausgaben sicherzustellen, inszeniert den in allen in der Gemeinde aufgeschlagenen Textausgaben enthal- 22 Die rabbinische Literatur kennt zwei Wendungen, mit denen die Zugehörigkeit zu den Heiligen Schriften ausgedrückt werden kann: sie „verunreinigen die Hände“ und „sie sind im Heiligen Geist gesagt“. Vgl. Günter S TEMBERGER , Entstehung und Auffassung des Kanons im rabbinischen Denken, in: Judaica Minora I (wie Anm. 9; Originalpublikation 2004), 69-87, hier: 72-75. 23 Vgl. L ANGER , Sinai, Zion, and God (wie Anm. 17), 126 Anm. 9 im Verweis auf die Diskussion in Ruth L ANGER , To Worship God Properly. Tensions between Liturgical Custom and Halakhah in Judaism (Monographs of the Hebrew Union College 22), Cincinnati - Ohio 1998, 24-27. 41-45. <?page no="174"?> Clemens Leonhard 160 tenen Text als Heilige Schrift. Die jüdischen Hörer des Wortes Gottes, die sich in den Vortrag einmischen, sind gleichzeitig Leser des Wortes Gottes. (In aschkenasischen Gemeinden) wird nach Abschluss der Toralektüre die Torarolle vor der Gemeinde erhoben. 24 Die Gemeinde singt „Das ist die Tora, die Mose den Israeliten vorgelegt hat […]“. 25 Die Tora und ihre Würde werden im konkreten Vollzug mit einer konkreten Rolle gefeiert. Auch hier darf man eine entfernt mimetische Anspielung erkennen. Sie zeigt sich in den Kommentaren zur Liturgie, kaum im Ritual selbst. Die erhobene Rolle bzw. der in ihr geschriebene Text ist die Tora, die Mose den Israeliten am Sinai vorgelegt hat. Damit kommt ein Deutungselement des gesamten Rituals der Toralektüre ins Spiel, das schon im Jerusalemer Talmud anklingt. Die öffentliche Lesung ist auch eine Proklamation der Tora als des Grundgesetzes, auf dem die Identität des Volkes Israel basiert. Als solche erinnert das gedeutete Ritual an die erste und ursprüngliche Proklamation dieses Gesetzes, an dessen Gabe am Sinai. Wenn der Begriff sehr weit gefasst wird, kann man mit Ruth Langer auch von einem „reenactment“ des Sinaiereignisses in der Liturgie der Toralesung sprechen. Zum Sinai kommt aber die Erinnerung an das „Ausgehen“ der Tora von Jerusalem als der Fortsetzung des Sinaiereignisses 26 und die Wanderungen der Tora in der Bundeslade. Die Tora bewegt sich vom Sinai mit dem Volk Israel. 27 Das subjektive Erinnern des Sinaiereignisses wird allerdings nur in der lurianischen Kabbala als Erfüllung eines Gebots aufgefasst. 28 Die Lektüre der Tora wird in der Spätantike bereits sehr vorsichtig und verhalten in diese Richtung gedeutet. Die rabbinischen Regeln zur Toralektüre entfernen diese damit in kleinen Schritten von ihrem ursprünglichen Hintergrund der Bearbeitung eines Studienabschnitts im Lehrhaus. Bis ins 18. Jahrhundert dauert ein langer Prozess, der das Ritual der Toralektüre zu einer Andeutung der Repräsentation der eben erwähnten Stationen der Geschichte der Tora mit dem Volk Israel macht. 29 Der Jerusalemer Talmud bringt eine Beispielerzählung (yMeg 4.1 74d): Rabbi Schmuel bar Rav Jitshak betrat eine Synagoge. Da stand einer und übersetzte (die Toralesung in die Volkssprache) angelehnt an eine Säule. Er sagte 24 Die Gemeinde soll drei Spalten des Textes sehen können: Ruth L ANGER , From Study of Scripture to a Reenactment of Sinai. The Emergence of the Synagogue Torah Service, in: Journal of Synagogue Music 31 (2006), 104-125, hier: 119; vgl. Traktat Sofrim 14.8 und L ANGER , Sinai, Zion, and God (wie Anm. 17), 144. 25 Dtn 4,44 und einen Teil von Num 9,23. S HINAN , Siddur (wie Anm. 3), 226. Es folgt das Florilegium Spr 3,18.17.16; Jes 42,21; L ANGER , Sinai, Zion, and God (wie Anm. 17), 151. 26 L ANGER , Sinai, Zion, and God (wie Anm. 17), 121, vgl. 130f für die Problematik der nicht eindeutigen Symbolisierung der liturgischen Handlungen, die in der Kommentartradition anerkannt wird, und die Betonung von Stationen der Geschichte der Tora nach dem Sinaiereignis. 27 A.a.O., 139f. 28 A.a.O., 130 Anm. 25. 29 A.a.O., bes. 122. <?page no="175"?> Die Heiligkeit der Heiligen Schrift 161 zu ihm: Das ist dir verboten, denn sie wurde „in Schrecken und Furcht“ (vgl. Ex 19,16) gegeben. So müssen auch wir uns ihr gegenüber in Schrecken und Furcht verhalten. „Schrecken und Furcht“ erinnert an die Gefühle und die Haltung des Volkes Israel während der Theophanie am Sinai. Das Volk steht am Fuß des Berges, während Mose das Gesetz empfängt. Der Übersetzer der Tora repräsentiert in der Liturgie den Empfänger der Tora am Sinai. Hier zeigt sich, wie zurückhaltend die mimetischen Elemente eingesetzt werden. Der Babylonische Talmud geht einen Schritt weiter (bMeg 21a): (Mischna: Was die Estherrolle betrifft, kann der Vorleser stehen oder sitzen. […]) (Babylonischer Talmud: ) Eine tannaitische Tradition: Was in Bezug auf die Torarolle nicht so ist. Woher ist das (aus der Schrift) abzuleiten? Rabbi Abbahu sagte: Ein Schriftvers sagt: „und du (nämlich Moses) stehe hier mit mir“ (nämlich Gott; Dtn 5,28). Wenn das nicht genauso in der Schrift selbst geschrieben wäre, könnte man es in keinem Fall so sagen: (es ist offenbar so) als ob der Heilige - gepriesen sei er - (nämlich Gott am Sinai) gestanden wäre. Beim Toravortrag muss der Vorleser stehen. Diese Haltung drückt den Respekt vor dem Text aus und gibt ihm die Möglichkeit, seine Stimme besser zu entfalten. Lassen sich darin mimetische Komponenten finden? Wer den Text des babylonischen Talmuds kennt, kann mit dem Stehen des Toralesers verschiedene Assoziationen verbinden. Derjenige, der die Tora vorliest, steht wie Gott, der sie Mose übergibt. 30 Der Vortrag der Tora soll daher nicht Information der Gemeinde über ihren Inhalt sein. Es handelt sich um eine Andeutung des Sinaiereignisses. Die Verbindung des Sinaiereignisses mit der Toralesung bleibt aber implizit. 31 Die Gemeinde selbst sitzt während der Toralesung (außer bei der Rezitation des Dekalogs an den Sabbaten, an denen der Dekalog Teil des Wochenabschnitts ist, und am Wochenfest, dem Fest der Gabe der Tora, wo das Stehen mimetisch gedeutet werden kann). Grob-mimetische Handlungen oder Haltungen werden somit vermieden. Jeder einzelne Vollzug einer Toralesung deutet vorsichtig den Ursprung der Würde des Volkes Israel an. Dennoch verschiebt die Kommentartradition der frühen Neuzeit das Ritual langsam in die Richtung der Inszenierung der Offenbarung der Tora an jeden einzelnen Teilnehmer der Liturgie. 32 Die Toralesung (und die Lesung der Haftara) haben mit christlicher Lesepraxis gemeinsam, dass sie kantilliert werden (kann). Es geht bei der Kantillation nicht um eine Erleichterung des Textverständnisses. Für moderne Hörgewohnheiten behindert die Kantillation das Verständnis. So ist die Kantillation zu einem Ritualelement geworden, das den besonderen Status dieses 30 L ANGER , Study of Scripture (wie Anm. 24), 111. 31 A.a.O., 124, zum Problem der sehr vorsichtigen Sinaianamnese. 32 Vgl. L ANGER , Sinai, Zion, and God (wie Anm. 17), bes. 129f. 145. <?page no="176"?> Clemens Leonhard 162 Textes andeutet. Kein anderer Text wird in der Lebenswirklichkeit der feiernden Gemeinden auf diese Weise vorgetragen. Das Ritual schließt zwar die Toralektüre in großer Feierlichkeit (und mit der kürzeren Form des Qadish) ab. Gegen seine eigene Inszenierung dieses Abschlusses soll aber eine enge Beziehung zwischen Tora und Haftara (Prophetenlesung) aufscheinen. 33 Deswegen wird der Leser der Haftara nach Abschluss der Toralesung aufgerufen. Die Lesung der Haftara inszeniert eine Hierarchie der Heiligkeit zwischen der Tora und anderen Bibeltexten, die als solche und gemäß dem Jahreszyklus geordnet vorgetragen werden. Die übrigen Bibeltexte wie Psalmen sind vom Wochenzyklus abhängig oder werden überhaupt als täglicher Bestandteil des Gebets betrachtet. Die Lesung der Haftara wird zwar wie die Toraabschnitte von jenem wochenübergreifenden System bestimmt. Zu ihrer Lesung werden aber nicht mehrere Gemeindemitglieder aufgerufen. Sie wird aus einem einfachen Buch und keiner Rolle gelesen. Nach den Lesungen wird die Torarolle in einer erneuten Prozession wieder zum Toraschrein gebracht. Manche der dabei rezitierten Bibelverse beziehen sich wie schon beim Ausheben der Rolle auf die Wanderung der Bundeslade. 34 Die Rezitation von Ps 29 35 ist an dieser Stelle besonders interessant, weil dieses Kapitel der Psalmen siebenmal die Wortfolge „Stimme Gottes“ enthält. Nach dem Qadish schließt die Amida des Musaf an. 4 Beobachtungen und Vergleichspunkte 4.1 Bibeltext und Tempelliturgie Auf der Basis der Klassifikation, die Paul Bradshaw für die Bibellektüre im Gottesdienst vorgeschlagen hat, kommt zunächst die anamnetische Kategorie als Zweck der Toralesung in Frage. 36 Das betrifft vor allem die Konstruktion der Lesezyklen im Judentum. An Festen beeinflussen die jeweiligen Festthemen die Auswahl des Toraabschnitts und der Haftara. Der einjährige Lesezyklus inszeniert unter anderem das Haqhel, 37 das Gebot die gesamte Tora jedes siebte Jahr zum Laubhüttenfest dem Volk vorzutragen. Anamnese ist im 33 S HINAN , Siddur (wie Anm. 3), 226 Anm. 34 Die Prozession und Rückstellung der Torarolle(n) wird u.a. mit der Rezitation von Bibeltexten begleitet: Ps 148,13f - (Lied) - Ps 29; Num 10,36; Ps 132,8-10; Spr 4,2; 3,18.17; Klgl 5,21. 35 S HINAN , Siddur (wie Anm. 3), 237f. 36 L ANGER , Study of Scripture (wie Anm. 24), 110. Paul F. B RADSHAW , The Use of the Bible in Liturgy: Some Historical Perspectives, in: Studia Liturgica 22 (1992), 35-52. 37 Dtn 31,12: „Versammle das Volk - die Männer und Frauen, Kinder und Greise, dazu die Fremden, die in deinen Stadtbereichen Wohnrecht haben -, damit sie zuhören und auswendig lernen und den Herrn, euren Gott, fürchten und darauf achten, dass sie alle Bestimmungen dieser Weisung halten“. Vgl. L EONHARD , Torah als Bahnlesung (wie Anm. 2). <?page no="177"?> Die Heiligkeit der Heiligen Schrift 163 Sinn von Paul Bradshaw ein Gestaltungsprinzip der Liturgie und bedeutet dabei nicht, dass sich die individuellen Gottesdienstteilnehmer an irgendetwas erinnern müssen. Die Toralektüre kann weiters mit der rabbinischen Theorie vom Ersatz des Vollzugs der derzeit unmöglichen Elemente der Tempelliturgie durch das Studium der auf diese Elemente bezogenen Gesetze der Tora assoziiert werden. 38 Neben dieser Vorstellung steht von Anfang an die Alternative des Ersatzes der Tempelliturgie durch das Gebet der Amida. 39 Das Morgengebet mit dem Musaf am Sabbat tritt als Ganzes an die Stelle des Vormittagsopfers und des Zusatzopfers im Tempel. Das Studium der Bibeltexte wird in diese Liturgie integriert. Moderne Ausgaben des Siddur legen die Inszenierung dieses Aspekts des Torastudiums nicht nahe - zumindest nicht für die feierliche Toralesung. Sie stellen den Betern allerdings im Vorspann zur öffentlichen Liturgie die Studientexte der Aqeda und des Tamidopfers zur Verfügung. Die Gebete, die diese Texte rahmen, thematisieren die Frage nach dem Ersatz der Opfer durch das Torastudium. 40 Die Rahmengebete der feierlichen, öffentlichen Toralektüre betonen die mimetischen Aspekte der Gabe der Tora am Sinai und der Wanderung des Volkes mit der Bundeslade. Sobald es zur Toralektüre kommt, haben Beter, die dem Siddur folgen, bereits diejenigen Texte der Tora studiert, die auch aufgrund ihres Inhalts einen Ersatz der Tempelliturgie darstellen. 4.2 Doxologische Bibellektüre und ästhetische Kontinuität Gelegentlich muss die Verwendung der Bibeltexte mehr oder weniger Bradshaws doxologischem Zweck zugeordnet werden. Zumindest darf diese Kategorie als Sammelbecken für all jene Fälle gelten, wo sich keine Funktion der Lektüre in ihrer gegenwärtigen Inszenierung ausmachen lässt, wie zum Beispiel die Lektüre der Psalmen in der jüdischen Liturgie und in der Geschichte des monastischen Stundengebets. Die bloße Existenz der Kategorie des doxologischen Zwecks der Bibellektüre warnt gleichzeitig davor zu glauben, dass sich für jedes Stück Bibeltext in einer Liturgie ein Zweck finden lässt. Für die mittelalterliche, lateinische Liturgie des Stundengebets haben die Texte der Psalmen trotz ihrer langen christlichen Interpretationsgeschichte an sich wenig Aussagekraft, so dass sie durch Antiphon und Doxologie für die christliche Liturgie anschlussfähig gemacht werden müssen. Allein die Vorstellung, dass alle 150 Psalmen in einem bestimmten Zeitabschnitt rezitiert werden müssen, legt nahe, dass die Bedeutung der je einzelnen Zeile eines Psalms gegenüber der Bearbeitung des gesamten Corpus als Corpus unerheblich ist. 38 Clemens L EONHARD , Als ob sie vor mir ein Opfer dargebracht hätten. Erinnerungen an den Tempel in der Liturgie der Synagoge, in: Albert G ERHARDS - Stephan W AHLE (Hgg.), Kontinuität und Unterbrechung. Gottesdienst und Gebet in Judentum und Christentum (Studien zu Judentum und Christentum), Paderborn u.a. 2005, 107-122. 39 L EONHARD , Opfer (wie Anm. 38) und bBer 26b. 40 L EONHARD , Opfer (wie Anm. 38). <?page no="178"?> Clemens Leonhard 164 Die in Systemen der Tarifbuße gelegentlich angebotene Umwandlung von Fastenübungen in das Beten von Psalmen 41 zeigt ein analoges Verständnis des Bibeltextes. Dieselbe Beobachtung stellt im Bereich des Wortgottesdienstes der katholischen Messe vor allem den so genannten Antwortpsalm in Frage, dessen Problematik Ansgar Franz bearbeitet hat. 42 Die Grundordnung des Römischen Messbuchs (GORM) meint, dass er „große liturgische und pastorale Bedeutung hat, weil er die Betrachtung des Wortes Gottes fördert“ (Nr. 61), wobei nicht angedeutet wird, warum und wie das durch diese Form von Text an dieser Stelle geschehen kann. Es kann bei der Einführung der Rezitation bestimmter Texte in die Liturgie immer Interessen und damit Zwecke gegeben haben. Die Texte können aber noch lange rezitiert werden, wenn jene Interessen und Zwecke irrelevant geworden oder vergessen sind 43 - auch dann noch, wenn sie dem Weltbild der betenden Gemeinschaft eigentlich nicht mehr entsprechen. Das Vaterunser ist ein Beispiel eines Bibeltextes, der mit einem sehr konkreten Zweck in die Messliturgie eingeführt wurde. 44 Um der Zeile „vergib uns unsere Sünden“ willen, kam seine Rezitation vor der Kommunion am Ende der Antike und damit zu einer Zeit auf, da es noch keine Möglichkeit des kurzen Rituals der Beichte gab. Heute hat das Vaterunser die Funktion einer Bitte um Sündenvergebung per definitionem verloren, weil diese im Sakrament der Buße gefeiert werden muss. Dennoch wurde es auch in der jüngsten Liturgiereform der katholischen Kirche nach seiner tausendfünfhundertjährigen Geschichte nicht abgeschafft und wartet neben anderen Apologien („Herr, ich bin nicht würdig“, „Schau nicht auf unsere Sünden“) als erratischer Block zwischen eucharistischem Hochgebet und Kommunion auf gelehrte Interpretationen seiner Funktion. Es kann daher auch Zweck der Bibellektüre sein, die Identität des Rituals an sich dadurch zu bewahren, dass man seine Gestalt möglichst intakt überliefert und vollzieht. Der Inhalt von Bibeltexten, die in dieser Liturgie enthalten sind, ist in diesem Rahmen zwar bedeutungslos. Sie erfüllen aber den Zweck, einen ästhetischen Beitrag zur erfahrbaren Integrität und Kontinuität ihres liturgischen Rahmens zu leisten. Semantische Analysen der liturgischen Texte reflektieren daher nicht notwendig Absichten der Beter und Beterinnen, nicht einmal die Absichten derjenigen Beter und Beterinnen, die dafür verantwortlich sind, dass jene Texte in die Liturgie kamen. Wenn in der jüdi- 41 Reinhard M ESSNER , Feiern der Umkehr und Versöhnung, in: DERS . - Reiner K ACZYNSKI , Sakramentliche Feiern I/ 2 (Gottesdienst der Kirche 7,2), Regensburg 1992, 14-240, hier: 165. 42 Ansgar F RANZ , Der Psalm im Wortgottesdienst. Einladung zur Besichtigung eines ungeräumten Problemfeldes, in: Bibel und Liturgie 68 (1995), 198-203. 43 Vgl. L ANGER , Sinai, Zion, and God (wie Anm. 17), 122 Anm. 2. Z.B. S HINAN , Siddur (wie Anm. 3), 217, und für das Shma Israel im Kontext der Tora-/ Haftaralektüre vgl. L ANGER , Study of Scripture (wie Anm. 24), 120f. 44 Robert F. T AFT , The Lord’s Prayer in the Eucharistic Liturgy: When and Why? , in: Ecclesia Orans 13 (1997), 137-155. <?page no="179"?> Die Heiligkeit der Heiligen Schrift 165 schen Liturgie ein Abschnitt der Psalmen rezitiert wird, weil dieser Text z.B. nach Ausweis seiner Überschrift schon vom Tempelpersonal rezitiert wurde, kann in einer gelehrten Interpretation auch eine Bedeutung der konkreten Worte geschaffen werden. Der Textblock wird aber rezitiert, weil er in einer als normativ betrachteten Epoche der Liturgiegeschichte zu einer bestimmten Gelegenheit rezitiert wurde, und nicht weil er diese oder jene Bedeutung hat. Wenn für in die Liturgie aufgenommene Texte anschließend Ätiologien erstellt werden, so zeigt sich deren Evidenz nur in einem Kommentar, nicht aus einer Analyse der Liturgie selbst. Jüdische und christliche Liturgien pflegen die Rezitation von Texten der Heiligen Schrift zu unterschiedlichen Zwecken, zum Teil zum Lob Gottes, zum Teil ohne ersichtliche Funktion. Letztere Fälle der Rezitation lehnen sich aber legitimer Weise auch an die Kategorie des Lobes Gottes im weitesten Sinn an. Die Bewahrung und Pflege einer bestimmten ästhetischen Gestalt der Liturgie dient auch dem Lob Gottes durch sein Volk. 4.3 Worte als Prozesse und heilige Dinge Das Öffnen des Toraschreins und die mannigfaltigen Ritualelemente, die sich um den korrekten bzw. ehrenden Umgang mit der Torarolle gezeigt haben, weisen darauf hin, dass Bibeltexte in Liturgien auch eine Funktion haben, die nur in ihrer Präsenz als Gegenstand gründet. Die konkrete Handhabung der Rollen macht dabei deutlich, dass es höchstens nebenbei um die Bewahrung eines Kunstwerks geht. Wenn über die Liturgie oder die Torarollen reflektiert wird, kann die Ambiguität, die durch die Liturgie hergestellt wird, teilweise (nämlich nur emisch) disambiguiert werden. In der talmudischen Erzählung vom Martyrium des Rabbi Chananja Ben Teradjon wird erzählt, dass die Buchstaben von der Rolle wegflogen, während die Römer ihn in eine Torarolle eingewickelt verbrannten (bAZ 18a). Andere Texte der rabbinischen Literatur sind nicht so zuversichtlich und debattieren die Frage, unter welchen Umständen und aus welchen Gründen man welche Sorte von Rollen aus einem brennenden Haus retten muss. 45 Andererseits verdankt die moderne Forschung einen der größten Schätze an mittelalterlichen Handschriften der Tatsache, dass Kairoer Juden während einiger Jahrhunderte Schriftstücke jeglicher Art in der heute so genannten Kairoer Geniza 46 ablegten, anstatt sie anderweitig zu verwenden oder zu vernichten. Torarollen werden auch heute begraben und nicht entsorgt, wenn sie nicht mehr lesbar sind. Die zu jeder Zeit diffuse und reflexiv nicht einholbare Vorstellung der Heiligkeit Heiliger Schrift bezieht sich somit nicht nur auf den akustischen Ton des verkündeten Textes, sondern auf konkrete Objekte. Die jüdische Liturgie inszeniert daher die Torarolle als beson- 45 S TEMBERGER , Entstehung und Auffassung (wie Anm. 22), 78f. 46 Vgl. für den rabbinischen Hintergrund S TEMBERGER , Entstehung und Auffassung (wie Anm. 22), 79. <?page no="180"?> Clemens Leonhard 166 deren Gegenstand, der einen Teil seines Status behält, auch wenn er seinen Zweck, dass aus ihm ein bestimmter Text gelesen werden kann, nicht mehr erfüllt. Zu den von Bradshaw vorgelegten Zwecken der Bibelverwendung (strenggenommen nicht der Bibel-Lektüre) wäre als weiteres Element somit die stumme Manipulation des Trägers bestimmter Bibeltexte hinzuzufügen, ja sogar ein betontes Nicht-Lesen des heiligen Texts. 47 Einerseits ist diese Manipulation nötig, weil ohne eine solche Manipulation von Gegenständen die Wichtigkeit der bloßen Anwesenheit des Textes nicht erfahrbar wäre. Der Einwand, dass es sich hier um eine unerwünschte Verdinglichung des Wortes Gottes handle, verkennt eine wichtige Funktion ritualisierten Handelns in diesem Kontext. Es ist nicht möglich, das Wort Gottes selbst zu ehren, da man weder eine Stimme Gottes hören kann noch gelehrt wird, dass die Bibel von ihm wörtlich diktiert wurde. Es bedarf daher der Repräsentation des Wortes Gottes. Ein Buch oder eine Rolle lässt sich im Gegensatz zu einem Text als abstrakte Größe schmücken und in der christlichen und jüdischen Liturgie in Prozessionen, eventuell auch durch besonders gekleidetes und ausgewähltes Personal herumtragen, beweihräuchern etc. Andererseits bewirkt der Einsatz des heiligen Textes als stummes Objekt nicht nur die Darstellung seiner Heiligkeit, sondern die dargestellte Heiligkeit entfaltet ebenso eigene Wirkungen in der feiernden Gemeinde. Angesichts des geöffneten Toraschreins werden bestimmte Gebete gesprochen. Über der Torarolle werden im Rahmen der Liturgie der Toralesung Abschnitte mit dem Incipit Mi sheberakh (Gebete in entfernter Analogie zu den Fürbitten des Wortgottesdienstes in der katholischen Kirche) gesprochen. 48 Steven Fine hat gezeigt, wie die Anwesenheit der Torarollen seit der Spätantike die Heiligkeit des Synagogengebäudes bewirkt. 49 Die lege artis hergestellte Torarolle wird durch Rituale zur Heiligen Schrift und sie ist als Heilige Schrift Quelle von Heiligkeit, auch wenn aus ihr gerade nicht vorgelesen wird. Die Mehrdeutigkeit Heiliger Schrift als Grundlage zur Verlesung ihres Inhalts und gleichzeitig als Trägerin einer diffusen Heiligkeit geht nicht nur in der Betrachtung der Heiligkeit des Synagogengebäudes auf nicht erschöpfend zu beschreibende Weise über die Torarolle hinaus. Immerhin interpretiert man schon in Qumran die deuteronomischen Anweisungen als Gebot zur 47 Einen Gelehrten, der seine Gelehrsamkeit ohne eigenes Verschulden vergessen hat, darf man nicht verspotten/ verachten, bMen 99a. Auch wenn die Worte der Tora (talmudo) aus diesem Menschen nicht mehr abrufbar sind, so bleibt doch - in der hier vielleicht vorausgesetzten, allerdings nicht explizit gemachten - Metaphorik das für sie benützte Gefäß geehrt. 48 L ANGER , Sinai, Zion, and God (wie Anm. 17), Kap. III zum 17. und 18. Jh. und den Kommentaren zur Liturgie: Wenn die Torarolle auf dem Lesetisch liegt, seien die Tore des Himmels geöffnet und damit der günstigste Augenblick zur Formulierung von Bittgebeten. Text: S HINAN , Siddur (wie Anm. 3), 229ff. 49 Steven F INE , This Holy Place. On the Sanctity of the Synagogue during the Greco-Roman Period (Christianity and Judaism in Antiquity 11), Notre Dame, IN 1998. <?page no="181"?> Die Heiligkeit der Heiligen Schrift 167 Herstellung von Textamuletten. 50 Als Bibeltext, der in der Synagogenliturgie mehrmals zitiert wird, kommt auch das Shma Israel auf dem Goldamulett aus Halbturn (sein Fundort im Osten Österreichs) vor. Im Grab eines Kindes aus dem zweiten oder dritten Jahrhundert nach Christus fand sich in einer Silberkapsel als Amulett ein Goldblättchen mit einer griechischen Umschrift der ersten Zeile des Shma Israel. 51 Es handelt sich um die älteste Spur des Judentums in der Region, wobei nicht geklärt werden kann, ob sich die Träger des Amuletts als Juden verstanden haben oder das Amulett ohne besonderes Interesse an seinem Inhalt, aber mit gewiss nicht geringerem Interesse an seiner Wirkung gekauft haben - zum Beispiel in der nahegelegenen und internationalen Militärstadt Carnuntum. 52 Was das Christentum betrifft, zeigt sich ein analoger Umgang mit dem Johannesprolog, der nicht nur als Schlussevangelium seit dem 13. Jahrhundert am Ende der römischen Messe vor dem Auszug des Priesters aus der Kirche gelesen wurde. Der Johannesprolog ist oft als aufgeschriebener Text in Amuletten seit dem Mittelalter und in seiner Funktion als konkretes Heilmittel gegen verschiedene Krankheiten seit der Antike belegt. 53 Debra Reed Blank beobachtet die rabbinischen Vorstellungen einer Gott beschwichtigenden Wirkung des Gebets, näherhin der Zeile „Amen. Sein großer Name sei gepriesen“, die ins Qadish einging. 54 Manche Kreise konnten somit einem jungen und inhaltlich sehr schlichten Kurztext eine entscheidende Wirkung zuschreiben, die man als nicht involvierter Beobachter viel eher 50 Liste in S TEMBERGER , Dekalog im frühen Judentum (wie Anm. 14). Vgl. auch Hanan E SHEL - Rivka L EIMAN , Jewish Amulets Written on Metal Scrolls, in: Journal of Ancient Judaism 1 (2010), 189-199, hier: 195 Anm. 37. Auch die Grundlage für den Brauch der Anbringung einer Mezuza gehört in diese Kategorie: „These defixiones […] were hidden intentionally in various places, such as tombs, or gates of hippodromes, in accordance with the particular curse“ (a.a.O., 194f). Auch der älteste (wenn auch sehr fragmentarisch) erhaltene Textträger des Priestersegens, Num 6,22-27, ist ein Silberamulett, auf dem allerdings noch mehr Text steht als nur der Priestersegen. Vgl. Gabriel B ARKAY , The Priestly Benediction of the Silver Plaques from Ketef Hinnom in Jerusalem, in: Tel Aviv 19 (1992), 139-192; Gabriel B ARKAY - Andrew G. V AUGHN - Marilyn J. L UNDBERG - Bruce Z UCKERMAN , The Amulets from Ketef Hinnom: A New Edition and Evaluation, in: Bulletin of the American Schools of Oriental Research 334 (2004), 41-71. 51 Die erste Zeile des Shma Israel ist auch nach dem spätmittelalterlichen Shulchan Aruch (OH 60.5, 63.4) der Teil des Textes, der mit voller Intention und Konzentration rezitiert werden muss. 52 Vgl. Klaus D AVIDOWICZ - Armin L ANGE , A Jewish Magic Device in Pannonia Superior? , in: Journal of Ancient Judaism 1 (2010), 233-245. 53 Adolf J ACOBY , Art. Johannesevangelium, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens 4 (1931/ 1932), 731-733. 54 Vgl. bBer 3a. Debra Reed B LANK , The Medieval French Practice of Repeating „Qaddish“ and „Barekhu“ for Latecomers to Synagogue, in: Ruth L ANGER - Steven F INE (Hgg.), Liturgy in the Life of the Synagogue. Studies in the History of Jewish Prayer (Duke Judaic Studies Series 2), Winona Lake 2005, 73-94, analysiert den gaonäischen bzw. mittelalterlichen Brauch, bestimmte Elemente des Morgengebets für Mitglieder der Gemeinde, die zu spät gekommen sind, zu wiederholen, und die Legitimation dieses Brauchs mit einem heute unverständlichen Ausdruck aus der Mischna. <?page no="182"?> Clemens Leonhard 168 in den wichtigen Traditionstexten wie dem Shma Israel oder der Amida, vielleicht auch der Toralektüre gesucht hätte - eine Wirkung, die man als moderner Beobachter vielleicht überhaupt nicht in der Liturgie gesucht hätte und die man in ihren Texten auch nicht findet, weil die Texte selbst nicht darüber informieren, wie sie wirken. Für das erste Qadish, das in der Liturgie rezitiert wird, muss daher nach einem mittelalterlichen Zusatz zur antiken Liste derjenigen Ritualelemente, die einen Minjan (im Mittelalter: die Anwesenheit von zehn Männern) erfordern, dieses Quorum der Beter erfüllt sein. 55 Blank schließt: „The irony of this system is, of course, that the formula for effecting communitas, for elevating the status of the underling, is neither the Shema itself (classically regarded as a creedal affirmation) nor the Amidah (wherein one has audience with the King), nor the Torah-reading (which reenacts revelation), but two generic doxological responses that are in themselves completely empty of meaningful contextual reference. Most interesting, neither originates as statutory prayer, but both acquire remarkable liturgical importance over time, in a kind of liturgical overcompensation.“ 56 Die Analyse liturgischer Handlungen und Texte kann zwar zu Vorstellungen über eine Hierarchie wichtiger Ritualelemente, die irgendwann gedacht wurde, gelangen. Diese Hierarchie kann aber durch die Weiterentwicklung des Nachdenkens über die Liturgie und kleine Veränderungen unterlaufen oder ergänzt werden. Wer erlebt hat, dass man auch heute in einer kleinen Gemeinde vor dem ersten Qadish und nicht vor der Toralektüre auf einen zehnten Mann wartet, kann die Macht dieser Veränderungen ahnen. Die soziale Wirkung eines in der Liturgie rezitierten Texts ist an sich davon unabhängig, ob er aus der Bibel stammt oder nicht. Den Einsatz des Trägers eines Teils der Bibel als wirkmächtiges Objekt kennt auch die katholische Liturgie. 57 Abgesehen vom feierlichen Hereintra- 55 B LANK , Medieval French Practice (wie Anm. 54), 91: Zusatz zur Liste der Mischna (mMeg 4.3) in Sofrim. Traditionell erfordern die Stammgebete etc. die Anwesenheit von 10 (jüdischen) Männern, was in Reformgemeinden Frauen einschließen kann. Eine jüngere egalitäre Entwicklung erfordert 10 Männer und 10 Frauen als Quorum. Ansonsten müssen die Gebete in ihrer Fassung für die individuelle (private) Rezitation gesprochen werden. Blank weist auch auf die aschkenasische Tradition hin, die Gebetseinladung vor dem liturgischen Block des Shma Israel nach der Amida für Gemeindemitglieder zu wiederholen, die zu spät gekommen sind. „By responding to the Barekhu, the worshipers become members of the minyan, granting a certain degree of efficacy to their prayers. The latecomer who misses Barekhu thus stands outside the prayer community. The Ashkenazi practice of repeating the Barekhu has a retroactive effect: the latecomer who responds to this repeated Barekhu after the Amidah is transformed into a de facto member of the minyan, thereby gaining the benefit of the others’ prayers! “ (a.a.O., 93). 56 B LANK , Medieval French Practice (wie Anm. 55), 94. 57 Die Heiligkeit der Bücher kann auch durch ritualisiertes Handeln im Alltag dargestellt werden. So empfahlen zum Beispiel die Bischöfe der USA vor der Einführung der neuen englischen Übersetzung des Messbuchs, dass man die alten Messbücher zusammen mit den Leichen frommer Menschen begraben oder verbrennen und die Asche auf einem <?page no="183"?> Die Heiligkeit der Heiligen Schrift 169 gen des Evangeliars spielt dieses Buch als stummes, aber wirkmächtiges Objekt eine wichtige Rolle bei der Ordination des Bischofs, wo es aufgeschlagen, mit dem Text nach unten und damit in dieser Situation per definitionem nicht lesbar, über den Kopf des Kandidaten gehalten wird. Es kann auch vom Bischof in festlicheren Feiern zur Erteilung des Segens an das Volk verwendet werden (GORM 175). Das Überreichen einer Bibelübersetzung ist Teil verschiedener kirchlicher Ernennungsrituale. Einzelne Menschen können so in den Besitz von mehreren solchen Büchern gelangen, ohne dass sie diese je aufschlagen, geschweige denn lesen müssen. Sobald die beiden Kategorien der Traditionsbildung und der Verwendung als Sachobjekt innerhalb eines Rituals erkannt sind, treten sämtliche Bibeltexte, die im Ritual vorkommen, in die nicht auflösbare Ambiguität ihrer Wirkung zwischen inhaltlicher Verkündigung und stummer Präsenz eines Textes. Dazwischen sind viele Abstufungen erkennbar. Während die Kantillation des Textes sein Verständnis bloß erschwert, kann die Verkündigung in einer Fremdsprache dieses schon verhindern und sie damit der sprachlosen Manipulation eines heiligen, aber bedeutungslosen Objekts annähern. Die grundsätzliche Mehrdeutigkeit des Rituals hält die Frage offen, ob die Heiligkeit der Schrift der Liturgie ihre Würde verleiht oder ob das ritualisierte Handeln der Liturgie erst den Text und/ oder seinen Träger heilig macht. Der reflektierende Diskurs darüber kann sich für eine der Richtungen entscheiden und die emische Perspektive der Teilnehmer und Teilnehmerinnen am Gottesdienst beeinflussen. Er kann aber nicht verhindern, dass im Vollzug des Rituals selbst oder aus einer etischen Perspektive diese Frage ungeklärt bleibt. Für christliche Parallelen zur mimetischen und anamnetischen Ausgestaltung des Rituals der Toralektüre ist der Umgang mit dem Evangeliar zwar kein illegitimer Vergleichspunkt. Ruth Langer verweist aber auf eine viel interessantere Berührung zwischen aschkenasischem Judentum und dem Christentum dieser Regionen im Hochmittelalter und damit auf einen wesentlich nützlicheren Vergleichspunkt seit dieser Zeit. Das feierliche Erheben der Torarolle und die Ausgestaltung des Toralesungsrituals fällt in die Epoche, in der im lateinischen Christentum die Realpräsenz Christi in der konsekrierten Hostie massiv thematisiert wird und zu vielen Adaptationen des Rituals der Messe führt. Parallel zu dieser Entwicklung und möglicherweise sogar als Antwort auf sie wird die Toralesung zur Feier der Realpräsenz Gottes im Volk Israel gedeutet: „The ‚real presence‘ of God in the host for Christians increasingly finds its parallel in Jewish interaction with the Torah scroll.“ 58 kirchlichen Friedhof beisetzen sollte: How to Dispose of Old Copies of the Sacramentary, in: United States Conference of Catholic Bishops. Newsletter. Committee on Divine Worship 47 (March-April 2011), 14 (pdf) http: / / www.usccb.org/ about/ divine-worship/ newsletter/ (eingesehen am 18.02.2012). 58 L ANGER , Sinai, Zion, and God (wie Anm. 17), 139 Anm. 44; vgl. auch L ANGER , The Presence of God in Jewish Liturgy, in: Teresa B ERGER - Bryan S PINKS (Hgg.), The Spirit in Worship and Worship in the Spirit, Collegeville 2009, 25-39. Ein Aspekt der Interpretation der Liturgie als Herstellung von Gottespräsenz ist hier ausgeblendet. Vgl. Uri E HR- <?page no="184"?> Clemens Leonhard 170 Diese Entwicklung erklärt auch die intensivere Inszenierung der Torarolle als Objekt gegenüber der Lesung des Textes der Tora als Prozess. Damit fällt ein Unterschied zwischen christlicher und rabbinischer, gottesdienstlicher Lektüre auf. Schon frühe Deutungen und die späteren Texte der Liturgie der Toralesung spielen mit mimetischen Elementen. Sie verbinden die Lesung mit einem Ursprungsereignis auf dem Weg des Volks Israel in das Verheißungsland. Für den christlichen Wortgottesdienst wurde keine derartige Legitimitätskonstruktion entwickelt. Er hatte es auch nicht nötig, weil der Wortgottesdienst als bloßer Vorspann zur Eucharistiefeier betrachtet wurde. Die mit Ruth Langer oben angedeutete Ausgestaltung des Rituals der Toralesung fand außerdem (nur etwas weniger als) ein Jahrtausend nach der Entstehung des christlichen Wortgottesdienstes statt. Von ihrer liturgischen Gestalt her sind die Lesungen von Tora und Haftara mit dem Wortgottesdienst zu vergleichen. Von ihrer Funktion im Gottesdienst her müssten die Lesungen von Tora und Haftara mit der Eucharistiefeier verglichen werden. Aus der Perspektive der jüdischen Theologin Ruth Langer ist somit die Toralektüre mit der Eucharistiefeier innerhalb der Messe zu vergleichen, nicht mit dem Wortgottesdienst. Diese Perspektive entspricht exakt der katholischen Interpretation und Wertung von Wortgottesdienst und Eucharistiefeier. Die Eucharistiefeier und nicht der Wortgottesdienst ist Zentrum der Feier der Gegenwart Christi in der Liturgie. Wenn die Frage nach der Heiligkeit gestellt wird, kommt dem Wort Gottes eine bestenfalls sekundäre Rolle zu. 4.4 Die Heiligkeit der Heiligen Schrift und die Gegenwart Christi in der Liturgie In den eben skizzierten Hintergrund fügt sich die autoritative Interpretation von Sacrosanctum Concilium 7 nahtlos ein. Dieser Text ist an sich in seiner hohen Ambiguität wie viele Konzilstexte für ein breites Spektrum an Interpretationen offen. Er wird in der katholischen Kirche gelegentlich dafür herangezogen, eine hohe Wertschätzung des Wortgottesdienstes zu verteidigen. Diese kirchliche Wertschätzung basiert auf Auffassungen über die Heiligkeit der Heiligen Schrift, insofern sie in Gottesdiensten als heilige Schrift inszeniert wird. Die folgenden Überlegungen zeigen, dass diese Interpretation gegenüber der herrschenden kirchlichen Hermeneutik nicht vertreten werden kann oder aber als Innovation und Gegenmodell gegen die autoritativen Auffassungen vertreten werden muss. SC 7 bringt eine Liste von Handlungen (inklusive Worten, insofern sie Handlungen sind) der Liturgie, in denen Christus gegenwärtig ist: LICH , The Nonverbal Language of Prayer. A New Approach to Jewish Liturgy (Translated by Dena O RDAN ), Tübingen 2004 (hebräisch: 1999). Haltung und Gestik beim Rezitieren der Amida werden als Antwort auf die besondere Präsenz Gottes (und der Engel) während des Gebets verstanden. Damit ist nicht nur der Text Tora ein Träger und Indikator der Realpräsenz Gottes, sondern auch dieses besondere Gebet, das im Gegensatz zur Toralektüre mündlich ist. <?page no="185"?> Die Heiligkeit der Heiligen Schrift 171 „[…] Gegenwärtig ist er im Opfer der Messe sowohl [1] in der Person dessen, der den priesterlichen Dienst vollzieht […] wie [2] vor allem unter den eucharistischen Gestalten. Gegenwärtig ist er mit seiner Kraft [3] in den Sakramenten, so dass, wenn immer einer tauft, Christus selber tauft. Gegenwärtig ist er in seinem Wort [4], da er selbst spricht, wenn die heiligen Schriften in der Kirche gelesen werden. Gegenwärtig ist er schließlich [5], wenn die Kirche betet und singt […].“ 59 Die Ziffern sind hier in den Text zur Erhöhung der Übersichtlichkeit eingefügt. Sie deuten aber bereits an, dass dieses Stück Konzilstext mindestens auf dreierlei Weise gelesen werden kann. Erstens kann es sich um eine Aufzählung von vollkommen gleichwertigen Gegenwartsweisen Christi in der Liturgie handeln. Zweitens könnte die Reihung der Elemente 1 bis 5 oder drittens der Elemente 5 bis 1 eine jeweils aufsteigende Wertigkeit implizieren. Vor dem Hintergrund der Tradition der katholischen Kirche wäre dieser Text undenkbar als Hierarchisierung der Gegenwartsweisen Gottes in aufsteigender Richtung der Elemente 1 bis 5. Dann wäre das informelle Gebet dreier Christinnen und Christen höherwertig als die Realpräsenz Christi in den eucharistischen Gestalten. Erstaunlich wäre auch, wenn hier eine Aufzählung gleichwertiger Elemente vorläge. Förderer von Wort-Gottes-Feiern an Sonntagen (an denen in derselben Gemeinde keine Messe gefeiert wird) könnten sich dann auf diesen Text berufen und der Gegenwart Christi in den konsekrierten Gaben die gleichwertige Gegenwart in seinem Wort gegenüberstellen. Wenn diese Interpretation legitim wäre, stünde einer aktiven Verbreitung dieser Feierform nichts im Wege. Als Exkurs ist hier anzumerken, dass sich der Konzilstext durch den Aufruf von Assoziationen an den Hebräerbrief auf eine platonisierende Liturgieinterpretation stützt: „Mit Recht gilt also die Liturgie als Vollzug des Priesteramtes Jesu Christi; durch sinnenfällige Zeichen wird in ihr die Heiligung des Menschen bezeichnet und in je eigener Weise bewirkt und vom mystischen Leib Jesu Christi, d.h. dem Haupt und den Gliedern, der gesamte öffentliche Kult vollzogen.“ Der nächste Abschnitt (8) ist noch klarer: „In der irdischen Liturgie nehmen wir vorauskostend an jener himmlischen Liturgie teil, die in der heiligen Stadt Jerusalem gefeiert wird, zu der wir pilgernd unterwegs sind […].“ In diesem System, wie es z.B. Joannes Chrysostomos und Theodor von Mopsuestia entwickelt haben, ist weder eine Hierarchisierung noch ein Gegeneinander-Ausspielen der Gegenwartsweisen Christi denkbar. Die irdische, eucharistische Liturgie ist bloßes Abbild der himmlischen Wirklichkeit. Durch dieses Abbild ist Christus gegenwärtig. Die Leichtigkeit, mit der in diesem Denksystem von der Gegenwart Christi in der Liturgie gesprochen werden kann, ist jedoch mit der Realität des landläufigen Verständnisses von Amt und Sakrament in der katholischen Kirche nicht vereinbar. Zitationen der beiden Gelehrten der Antike in kirchlichen Stellungnahmen zur Eucharis- 59 http: / / www.vatican.va/ archive/ hist_councils/ ii_vatican_council/ documents/ vat-ii_const_19631204_sacrosanctum-concilium_ge.html (eingesehen 29.10.2013). <?page no="186"?> Clemens Leonhard 172 tie sind prinzipiell darauf zu prüfen, ob sie die Autorität dieser Theologen in Anspruch nehmen, ohne die Konsequenzen einer Übernahme ihres Denkens zu akzeptieren. Sacrosanctum Concilium 7 forderte demnach sofort offizielle Klärungen heraus. Spekulationen über eine Gleichwertigkeit der Gegenwartsweisen Christi in der Liturgie aufgrund von SC 7 sind spätestens seit der Eucharistieenzyklika Mysterium Fidei von Paul VI. obsolet. 60 Paul VI. zeigt deutlich, dass die Abfolge der Elemente in SC 7 als Hierarchie verstanden werden muss, und dass es sich um eine absteigende Hierarchie handelt. Christus ist vor allem im Priester, dann auch in den konsekrierten Gaben präsent. Paul VI. bedient sich der folgenden rhetorischen Strategie zur Interpretation des Konzilstexts. Zuerst erweitert er die Liste der Gegenwartsweisen Christi in seiner Kirche weit über SC 7 hinaus. Christus sei in Werken der Barmherzigkeit und zwar auch als Subjekt dieser Werke (§ 36), in der Predigt (§ 37) 61 und im Leitungsamt der Kirche (§ 38) gegenwärtig. Was hier in einer Enzyklika über die Eucharistie als Ergänzung und Bekräftigung von SC 7 erscheinen mag, hat eigentlich den Zweck, die Liste von SC 7 obsolet zu machen. Auf dem Konzil wurde noch darum gerungen, die Predigt als Ort der Christusgegenwart in die Liste aufzunehmen. Den Konzilsvätern ging es um Gegenwartsweisen Christi in der Liturgie. Wenn diesen Gegenwartsweisen Christi in jeder Handlung der Kirche ein paar Jahre später auch die Werke der Barmherzigkeit und der Dienst des Herrschens hinzugefügt werden, ist die Kategorie „Gegenwart Christi“ ubiquitär. Die rhetorische Wucht des Ansatzes zeigt sich vor allem in der Vorstellung einer Gegenwart Christi in Werken der Barmherzigkeit. Sie widerspricht diametral der Endzeitrede von Matthäus 25. Dort leistet der oder die Arme (Nackte, Kranke et al.) den Dienst der Christusrepräsentanz zugunsten der Christinnen und Christen, denen diese Christusrepräsentanz die Möglichkeit gibt, richtig zu handeln. 62 Wer das Kapitel des Matthäusevangeliums kennt, kann diese Christusrepräsentanz für seine oder ihre Lebenswelt decodieren. 60 http: / / www.vatican.va/ holy_father/ paul_vi/ encyclicals/ documents/ hf_p-vi_enc_ 03091965_mysterium_ge.html (eingesehen 24.03.2012). § 40 wird von Johannes Paul II. in seiner Enzyklika Ecclesia de Eucharistia 15 zitiert (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 159, 15f). 61 Vgl. Reiner K ACZYNSKI , Theologischer Kommentar zur Konstitution über die heilige Liturgie Sacrosanctum Concilium, in: Peter H ÜNERMANN - Bernd Jochen H ILBERATH (Hgg.), Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Freiburg i.Br. u.a. 2004, 1-227, hier: 67 schon im Verweis auf AG 9. 62 Vgl. weitere Überlegungen zu dieser Frage und deren Beziehung zur Liturgie bei Clemens L EONHARD , Die Fußwaschung am Gründonnerstag. Probleme und Zukunftschancen eines ästhetisch berührenden Rituals, in: Guido S CHLIMBACH - Stephan W AHLE (Hgg.), Zeit - Kunst - Liturgie. Der Gottesdienst als privilegierter Ort der Ästhetik, Aachen 2011, 106-114. Udo F. S CHMÄLZLE hat in verschiedenen Publikationen auf diese Frage aufmerksam gemacht, z.B.: Charismen teilen in überschaubaren Räumen. Woran orientieren sich die diözesanen Umstrukturierungsmaßnahmen, in: Herder-Korrespondenz 61 (2007), 175-179. <?page no="187"?> Die Heiligkeit der Heiligen Schrift 173 In den Werken der Barmherzigkeit offenbart sich Christus im Armen der Kirche, und es offenbart nicht die Kirche Christus gegenüber den Armen. Paul VI. ist hier freilich kein Fehler unterlaufen. Die Enzyklika will feststellen, dass „Christuspräsenz“ eine Banalität kirchlichen Handelns ist. Wenn Christus allerdings in der Herrschaft der Kleriker über einander und über die Laien genauso wie durch die Arbeit jeder Amtsstelle der Caritas präsent ist, hat Christuspräsenz in der Verlesung des Wortes Gottes, im Gebet der Gläubigen oder in der Predigt keine politische Brisanz mehr. Was ist dann aber über die Gegenwart Christi im Priester und in den konsekrierten Gaben zu sagen? Paul VI. fährt fort (§ 39): „Darüber hinaus - und zwar auf eine höherwertige Weise [sublimiore quidem modo] - ist Christus seiner Kirche gegenwärtig, wenn sie das Meßopfer in seinem Namen darbringt; und er ist bei ihr, wenn sie die Sakramente spendet. […] Daß aber die Sakramente Taten Christi sind, der sie durch Menschen spendet, weiß jeder.“ Im Folgenden wird die Gegenwart Christi in seinem Wort nicht mehr erwähnt. § 40 ergänzt: „Diese Gegenwart wird ‚wirklich‘ genannt, nicht im ausschließenden Sinn, als ob die anderen nicht ‚wirklich‘ wären, sondern in einem hervorhebenden Sinn [per excellentiam], weil sie wesentlich [substantialis] ist, wodurch der ganze und unversehrte Christus, Gott und Mensch, gegenwärtig wird.“ Damit ist deutlich geworden, dass SC 7 in der kirchlichen Hermeneutik als hierarchische und in der Wertigkeit absteigende Auflistung der Gegenwartsweisen Christi verstanden werden muss. Das Konzil (SC 7) vermeidet hier die klassische Terminologie der „Realpräsenz“, die Paul VI. an dieser Stelle wieder eingeführt wissen will. Im Gebet dreier Christinnen kann Christus eigentlich nicht in derselben Weise als „realpräsent“ erkannt werden wie in den konsekrierten Hostien. Paul VI. gibt an dieser Stelle die Vorstellung der „Realpräsenz“ als unterscheidende Kategorie auf. „Realpräsenz“ Christi findet sich demnach überall im Handeln der Kirche. Wenn „Realpräsenz“ zu einer so allgemeinen Kategorie geworden ist, muss der Papst eine zusätzliche terminologische Trennwand einziehen, um die Realpräsenz Christi im Gebet der Gläubigen oder der Lesung der Heiligen Schrift gegenüber der Realpräsenz Christi im Priester und in den konsekrierten Gaben abwerten zu können. Das gelingt mit dem an scholastische Terminologie angelehnten Substanzbegriff. Damit ist Christus überall im kirchlichen Handeln „wirklich“ (real) präsent, aber im Priester und in den konsekrierten Gaben darüber hinaus der Substanz nach. Die substanzhafte Realpräsenz im Priester und in den Gaben ist eine „höherwertige Weise“. Damit ist impliziert, dass die Gegenwart Christi im Wort der Heiligen Schrift innerhalb der Liturgie in einer niedrigeren Weise besteht als im Priester und in den Gaben. Obendrein ist Realpräsenz Christi im Wort der Heiligen Schrift auf derselben Ebene zu sehen wie Realpräsenz Christi im Betrieb einer karitativen Einrichtung. Was die Heilige Schrift betrifft, führt Paul VI. noch eine weitere Korrektur von SC 7 ein. In seiner Aufzählung der Gegenwartsweisen Christi in der Liturgie erwähnt er die Heilige Schrift nur im Kontext der Predigt und schränkt <?page no="188"?> Clemens Leonhard 174 sie hier auf das Evangelium ein (§ 37) 63 . SC 7 hatte noch von den „Heiligen Schriften“ (sacrae Scripturae) gesprochen. Aus seinem Interesse an der Korrektur von SC 7 kann nicht geschlossen werden, dass Paul VI. alttestamentlichen Lesungen den Status der „Heiligen Schrift“ absprechen wollte. Es ist aber offensichtlich, dass er in Bezug auf die Debatte um die Gegenwart Christi in der Liturgie zumindest einen rhetorischen Akzent auf die dem Diakon und Priester vorbehaltene Lesung aus den Evangelien setzen will. Ein theologisches Gespräch mit Vertretern und Vertreterinnen des Judentums über die Realpräsenz Christi und Gottes in den Liturgien muss daher auch aus katholischer und nicht nur jüdischer theologischer Perspektive die Eucharistiefeier mit der Toralektüre vergleichen und nicht den Wortgottesdienst. Die Christusrepräsentation betrifft in diesem Vergleich daher den Priester und die konsekrierten Gaben auf der einen Seite und die Torarolle in der Liturgie der Toralesung auf der anderen. Der Vergleich von Evangeliar und Torarolle oder gar Vollbibel (bzw. Lektionar) und Torarolle ist nutzlos. Die Hagbaha, die Erhebung der Torarolle nach der Toralesung hat ihr theologisches (und wie angedeutet wahrscheinlich sogar ihr historisches) Pendant nicht im Erheben des Evangeliars nach dem Vortrag des Evangeliums, sondern in der Elevation der Hostie nach der Rezitation des Einsetzungsberichts. Analog ist auch über Elemente der Architektur zu sprechen. 64 Konsequenterweise sind Toraschrein und Tabernakel zu vergleichen. Bei beiden Schränken handelt es sich mutatis mutandis um Aufbewahrungsorte des Allerheiligsten. Der Toraschrein hat in Bezug auf das Evangeliar oder das Lektionar auch kein Pendant in den katholischen Kirchen. Trotz SC 7 hat sich in der Kirchenarchitektur nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil kaum ein Evangeliar- oder Bibelschrein analog zu Tabernakel und Toraschrein entwickelt. Dabei zeigen die bei Kirchenrenovierungen sogar neu eingerichteten Schreine für die Aufbewahrung der heiligen Öle, dass die katholische Kirche sich keineswegs von einer dinglichen Frömmigkeit und einer Pluralität heiliger Orte im Kirchenraum verabschiedet. Im Rahmen des Kongresses, der diesem Band zugrunde liegt, fand eine Vigilfeier in der Mainzer Karmeliterkirche statt. Bei der Neugestaltung dieses Kirchenraumes 2009/ 2010 wurde hier tatsächlich ein Aufbewahrungsort für die Schrift geschaffen, der an der Schwelle zwischen Schiff und Chorraum dem Tabernakel gegenübersteht. Beide Aufbewahrungsorte sind in der künstlerischen Gestaltung aufeinander bezogen, wobei jedoch der Tabernakel höher ist. Selbst wo also ein Aufbewahrungsort des Wortes existiert, wird auch die Architektur zur Abwertung der Gegenwart Christi im verlesenen Wort der Heiligen Schrift in Dienst genommen. 63 „Auf eine andere Weise zwar, aber ganz wirklich ist er seiner Kirche gegenwärtig, wenn sie predigt, da das Evangelium, das verkündet wird, das Wort Gottes ist, und nur im Namen und in der Autorität Christi, des fleischgewordenen Wortes Gottes, unter seinem Beistand, verkündet wird, damit ‚eine Herde sicher geborgen unter einem Hirten sei‘“. 64 Vgl. L ANGER , Sinai, Zion, and God (wie Anm. 17). <?page no="189"?> Die Heiligkeit der Heiligen Schrift 175 Debatten über Ritual und Architektur lassen ahnen, dass die Gegenwart Christi im Wort der in der Liturgie konkret verlesenen Bibeltexte und im Priester bzw. in den eucharistischen Gaben in einem Verhältnis der Konkurrenz gesehen wird. Diese Konkurrenz ist theoretisch nicht verständlich. Wenn die Opposition in die Differenz von Priester und Laie übersetzt wird, wird ihre Problematik aber deutlicher. Die Rivalität zwischen Wort-Gottes-Feiern und Sonntagsmessen stellt das ausschließliche Privileg der Priester auf die Feier der Eucharistie zwar nicht infrage. Die Wort-Gottes-Feiern bekräftigen es de facto, weil sie die Unersetzbarkeit des Dienstes der Priester inszenieren. Der Grad ihrer Akzeptanz bildet aber ab, ob in Analogie zur Praxis der reformierten Kirchen auch eine katholische Existenz bei seltenerer als wöchentlicher Feier der Eucharistie möglich sein könnte. Es geht daher nicht um eine Konkurrenz der Formen der Realpräsenz Christi in der Liturgie, sondern um die Frage, ob es zur Gewohnheit werden darf, dass Laien den Vorsitz bei den zentralen liturgischen Feiern ihrer Gemeinden übernehmen. Wer diese scharfe Konkurrenz und ihre Gründung im Amtsverständnis der katholischen Kirche nicht sieht, möge sich deren Wirkung im folgenden Gedanken- oder gar Praxisexperiment vor Augen führen. Man bitte Priester, am Sonntag an einer Wort-Gottes-Feier (ohne Kommunionausteilung) und in einer Gemeinde, in der in jener Woche keine Messe mehr gefeiert wird, teilzunehmen. Die zu erwartenden Antworten - keineswegs nur der Priester, sondern auch vieler Gemeindemitglieder - wären ein Beleg dafür, dass Paul VI. sich gegen SC 7 durchgesetzt hat. Die Gegenwart Christi im Wort der Heiligen Schrift ist bestenfalls dann überhaupt einen Gedanken wert, wenn die „höherwertigen“ Weisen seiner Gegenwart nicht zugänglich sind. Diese Überlegungen sind unmittelbar in die Grundfrage des vorliegenden Bandes nach der Heiligkeit der Heiligen Schrift zu übersetzen. In der Liturgie mit ihrem kirchenpolitischen und interpretatorischen Umfeld wird Heiligkeit von Dingen und Handlungen inszeniert. Alle Details stimmen darin überein, dass die Heiligkeit der Heiligen Schrift auf einem niedrigeren Niveau steht als die Heiligkeit des Priesters während der Eucharistiefeier und die Heiligkeit von Brot und Wein, nachdem er über ihnen den Einsetzungsbericht rezitiert hat. 4.5 Inszenierung von hierarchischen Beziehungen zwischen den Bibeltexten Erst die Einführung einer großen Fülle von alttestamentlichen Lesungen in die Messliturgie zusammen mit der Bekräftigung der Regel, dass nur das Evangeliar, nicht aber ein Lektionar (GORM 120) beim feierlichen Einzug erhoben mitgetragen wird, haben die gegenüber dem tridentinischen Missale neue Situation geschaffen, dass die Inszenierung der Liturgie einen Unterschied zwischen alt- und neutestamentlichen Lesungen und dem Evangelium herstellt. In einer Sonntagsliturgie, in der die neutestamentliche, nichtevangelische Lesung ausgelassen wird, könnte sogar als Grund dieses Unterschieds auf eine Differenz zwischen Altem und Neuem Testament geschlossen wer- <?page no="190"?> Clemens Leonhard 176 den. Durch Handlungselemente des Rituals, die sich auf das Buch als Ding beziehen (erhoben Herein- und Hinaustragen, auf dem Altar Ablegen, Inzensieren, Küssen, Bekreuzigen, Erheben, darüber hinaus: besondere Ausgestaltung des Einbands und größeres Format), die Rezitationsweise des Textes (gelesen/ gesungen, mit/ ohne besonderer Ein- und Ausleitung), die Haltung der Hörerinnen und Hörer (sitzend/ stehend), den klerikalen Status und die liturgische Kleidung des Personals, das den Text vortragen darf (Laien, auch Frauen als Lektorinnen und Lektoren gegenüber Diakon, Priester und Bischof als ausschließlichen 65 Lesern des Evangeliums während der Messe), wird der Unterschied zwischen den anderen Lesungen und dem Vortrag des Evangeliums massiv inszeniert. Wenn gelegentlich vorgeschlagen wird, statt des Evangeliars eine Vollbibel im Gottesdienst einzusetzen und mit denselben Ritualelementen zu begleiten, die normalerweise das Evangeliar betreffen, wird zwar das Problem der Differenzierung zwischen Altem und Neuem Testament aufgehoben. Es stellt sich aber die weitere Frage, warum im Raum der Liturgie Text herumgetragen wird, der dort nie gebraucht wird. Die katholische Liturgie inszeniert keine Theorie über einen bestimmten Kanon, so dass der feierliche Transport des ungelesenen Gesamttextes als solcher eine bestimmte Bedeutung hätte. Die Kirchen blicken im Gegenteil auf Jahrhunderte einer Tradition zurück, die sich zum Zweck der Gewinnung von Normen genauso wie zur Legitimierung von dogmatischen Lehrsätzen nur eines sehr kleinen Ausschnitts aus diesem Kanon bedient und den Rest ignoriert oder als irrelevant ablehnt. Der feierliche Transport von Lektionar und Evangeliar ist die dem katholischen Umgang mit dem Textinhalt dieser Bücher einzig angemessene Darstellung der Heiligkeit der Heiligen Schrift. In der jüdischen Liturgie hat die Prozession mit den Torarollen einen anderen Status, weil dort grundsätzlich die ganze Tora vorgetragen wird. 66 Der Vortrag der ganzen Tora hat nicht nur den Effekt, dass sich Menschen, die sich mit den Lesungstexten auseinandersetzen, in ihrem Leben viele Male den gesamten Pentateuch studiert haben. Die Darstellung der Tora als ganze ist auch Ausdruck der Würde Israels, das die Tora von Gott empfangen und angenommen hat und die Verpflichtung eingegangen ist, all ihre Gebote zu halten. Im Blick auf das Judentum muss sich die katholische Tradition Rückfragen gefallen lassen, wenn sie liturgisch die ganze Bibel als Heilige Schrift inszeniert. 65 Vgl. aber zur Erweiterung des Kreises auf Lektorinnen des Evangeliums in besonderen Situationen: Hansjakob B ECKER , Diakoneninsignien bei der Jungfrauenweihe. Zum Ordo Consecrationis Virginum proprius Monialium Ordinis Cartusiensis, in: Winfried H AU- NERLAND - Otto M ITTERMEIER - Monika S ELLE - Wolfgang S TECK (Hgg.), Manifestatio Ecclesiae. Studien zu Pontifikale und bischöflicher Liturgie (FS Reiner K ACZYNSKI ), Regensburg 2004, 261-272 + Abb. 1-4, hier: 269. 66 Die Frage wird in L EONHARD , Torah als Bahnlesung (wie Anm. 2), ausführlicher bearbeitet. <?page no="191"?> Die Heiligkeit der Heiligen Schrift 177 Wie die christlichen Liturgien kennt auch die jüdische Liturgie (genauso wie die Strategien zur Gewinnung und Begründung halakhischer Urteile) eine in der Liturgie inszenierte Binnendifferenzierung im Kanon. Sie werden vor allem nach der Art der Kantillation, der Gestaltung des Textträgers und dem Umgang mit ihm, der Abfolge in der Liturgie, der Perikopierungstechniken und durch eigene Brakhot unterschieden. In der Liturgie der Toralesung haben zwar Nachkommen von Priestern oder Leviten den Ehrenvorzug, dass sie zuerst zur Toralesung aufgerufen werden. 67 Ansonsten stellt die Grundform der jüdischen Liturgie Gemeindehierarchien nicht dar. Die relative Heiligkeit von Tora und Haftara wird daher nicht durch die Qualität des Personals, das die Lesung vornimmt, inszeniert. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Liturgien der katholischen Kirche vom System der jüdischen Liturgie. Das Zeichensystem der katholischen Liturgie ist tief in den hierarchischen Strukturen dieser Kirche verwurzelt. Die besondere Heiligkeit von Gegenständen und Ritualelementen wird unter anderem darüber kommuniziert, dass die Handhabung oder der Vollzug Priestern (Bischöfen) vorbehalten sind. Der katholischen Liturgie steht daher ein sehr effektives und anschauliches Zeichensystem zur Darstellung von Heiligkeit zur Verfügung. Analog zum Thema des vorhergehenden Abschnitts wäre eine dem katholischen Zeichensystem entsprechende Implementierung von SC 7 und seiner Aussage über die Gegenwart Christi im Wort der Heiligen Schrift die Einführung der Vorschrift, dass die öffentliche Lektüre von Bibeltexten im Raum der Liturgie ausschließlich dem Priester und Bischof vorbehalten ist. Solange Diakone das Evangelium und Frauen und Männer im Laienstand die Lesungen vortragen dürfen, fällt dieser Aspekt des Zeichensystems der katholischen Kirche aus. Die Laiendienste von Lektorin und Lektor mögen als Aufwertung des Laienstandes gedeutet werden. Sie machen aber im katholischen Zeichensystem gleichzeitig den geringeren Status der nichtevangelischen Lesungen anschaulich und erfahrbar. Nur wenn analog zur Feier der Eucharistie auch die feierliche Lesung von Bibeltexten ausschließlich den hohen Amtsstufen vorbehalten ist, kann die theoretisch behauptete Aufwertung und erhöhte Anerkennung der Heiligkeit des Wortes Gottes in der Liturgie und im spontanen Empfinden der Gemeinden Fuß fassen. Priesterlose Wort-Gottes-Feiern wären dann nicht (wie in der Gegenwart) bloß unerwünscht, weil sie als Konkurrenz zur Messe wahrgenommen werden, sondern einfach unmöglich, weil die für die Durchführung notwendigen Personen nicht anwesend sind. 67 Shulchan Aruch OH 135.3. <?page no="192"?> Clemens Leonhard 178 5 Zusammenfassungen, Beobachtungen, Konsequenzen Die in diesem Essay zusammengestellten Überlegungen lassen sich in den folgenden Thesen zusammenfassen. 1. Bibeltexte kommen in der Liturgie an vielen Stellen in unterschiedlich ritualisierter Form vor. Die Inszenierung macht die Heiligkeit der Heiligen Schrift unbezweifelbar. Die Mehrdeutigkeit liturgischen Handelns stellt aber sicher, dass die Grenzen zwischen Herstellung und Darstellung der Heiligkeit der Heiligen Schrift unklar bleiben. Die Feier der Liturgien (als Praxis und nicht als Rede über Praxis) und die Heiligkeit der Heiligen Schrift bleiben aufeinander verwiesene, nicht-reduzierbare Kategorien. 2. Juden und Christen inszenieren die Heiligkeit der Heiligen Schrift in ihren Liturgien. Dies kann durch große, Jahre übergreifende Lesesysteme oder auch durch den Vollzug der konkreten Lesungen in einer einzigen Liturgie geschehen. In den konkreten Liturgien hat nicht nur der vorgetragene Text, sondern auch sein Trägermaterial (Buch, Rolle, Zettel, Bildschirm etc.) eine wichtige Funktion. Die Handhabung der stummen Träger des Textes (Prozession, Erheben, Küssen, Über-den-Weihekandidaten-Halten etc.) stellt dessen Heiligkeit her und setzt sie voraus (s. Punkt 1). 3. Juden und Christen deuten die Abstufung der Heiligkeit innerhalb des Kanons der Heiligen Schriften auf mannigfaltige Weise an. Im Synagogengottesdienst des Sabbatvormittags und in der katholischen Messliturgie werden Differenzen im Kanon ähnlich inszeniert (das Trägermaterial und die Manipulation desselben, Kantillationsweisen, Position in der Feier, Aufwand der Begleitrituale etc.). Ein wichtiger Unterschied zwischen den beiden hier verglichenen Religionen bzw. Konfessionen ist der Grad der Differenzierung ritueller Handlungen aufgrund des Personals, das sie ausführen darf. Den Kohanim und Leviten werden in der jüdischen Liturgie nur mehr sehr wenige Privilegien eingeräumt. Sobald das Quorum erfüllt ist, kann die Liturgie auch ohne Kohanim und Leviten gefeiert werden. Der Chazan liest die Tora nicht deswegen, weil nur er es darf, sondern weil und wenn er es am besten kann. In der katholischen Kirche wird die Abstufung heiliger Handlungen und Gegenstände durch die ausschließliche Verknüpfung von Handlungen mit bestimmten Amtsträgern anschaulich gemacht. Auf diese Weise ist die Differenz zwischen den Evangelien und den übrigen Texten der Bibel in jeder Messliturgie genauso wie die Differenz zwischen den Worten der Heiligen Schrift und den konsekrierten Gaben sichtbar. 4. Die Heiligkeit der Heiligen Schrift kann im Blick auf deren Inszenierung in der Liturgie und ihre Interpretation mit dem Kriterium der Gegenwart Gottes oder Christi durch die Worte der Lesungen diskutiert werden. In diesem Horizont hat Ruth Langer darauf aufmerksam gemacht, dass die jüdische Toralektüre mit der Eucharistiefeier (und nicht mit dem katholischen Wortgottesdienst) zu vergleichen ist. Diese beiden Ritualelemente eröffnen den Raum zum vergleichenden Gespräch über die Gegenwart Gottes beziehungsweise Christi in den Liturgien. 5. Bei aller Freiheit in der Inszenierung, die durch den Aufwand an nicht normierten Gestaltungselementen sinnenfällige Akzentverschiebungen in der Fei- <?page no="193"?> Die Heiligkeit der Heiligen Schrift 179 er der Messe eintragen kann, bleibt besonders die Frage der Auswahl des Personenkreises, dem die liturgische Lektüre bestimmter Texte vorbehalten ist, zur Darstellung der Heiligkeit der Heiligen Schrift bestehen. Die Tatsache, dass die Feier der Eucharistie den Vorsitz eines Priesters oder Bischofs voraussetzt, führt zusammen mit den gegenwärtigen Debatten über Wort-Gottes- Feiern am Sonntag zu einer unbezweifelbaren und konkret erfahrbaren Höherbewertung der Gegenwart Christi im Priester und in den konsekrierten Gaben gegenüber seiner Gegenwart in der Heiligen Schrift. Die Eucharistieenzyklika von Paul VI. zieht hier gegen den Platonismus von Sacrosanctum Concilium 7 und 8 gerichtete Denkkategorien ein. Es lohnt sich in diesem Kontext nicht, über Begriffe wie „Realpräsenz“ und „Substanz“ nachzudenken. Die Einführung der Begriffe „hervorhebend“ bzw. „höherwertig“ sind ausreichende Hinweise darauf, worum es geht. Paul VI. etabliert Vergleichbarkeit und Hierarchie unter den Gegenwartsweisen Christi in der Kirche. Im konkreten Leben der Kirche sind die praktischen Konsequenzen auf Schritt und Tritt erfahrbar. 6. Gegenteilige Behauptungen bzw. eine dieser Hierarchie der Gegenwartsweisen Christi widersprechende Auslegung von Sacrosanctum Concilium 7 können mit zwei Gedankenexperimenten ad absurdum geführt werden. Wenn erstens die Gegenwart Christi in seinem Wort in der katholischen Kirche tatsächlich so hoch einzuschätzen wäre wie seine Gegenwart im Priester und in den konsekrierten Gaben, müsste ein Priester eine Wort-Gottes-Feier in jeder Gemeinde ohne Sonntagsmesse selbstverständlich und ohne Protest von Seiten der Gemeinde und des Priesters mitfeiern können. Wenn zweitens die Kirche die Gleichwertigkeit der Gegenwartsweisen Christi ernstnähme, müsste der Vortrag der Bibeltexte im Raum der Liturgie ausnahmslos dem Priester und Bischof vorbehalten sein. Eine solche Regelung wäre durch kirchliche Gesetzgebung möglich. Die praktische Absurdität beider Gedankenexperimente macht die großen Differenzen in der Inszenierung der Abstufung der beiden diskutierten Heiligkeiten in der katholischen Kirche anschaulich. 7. Diese selbstverständlich in den Habitus der Katholikinnen und Katholiken eingeschriebene Differenz der Heiligkeit erklärt auch andere Eigenschaften von Liturgie und Kirchenraum beziehungsweise Synagoge. Dem Toraschrein entspricht bei aller Unähnlichkeit im Hinblick auf die Inszenierung von Heiligkeit der Tabernakel. Katholikinnen und Katholiken knien vor dem Tabernakel, niemals aber vor einem Lektionar. Ein analog aufwendig gestalteter Aufbewahrungsort für die Bücher, aus denen die Lesungen vorgetragen werden, hat sich nicht entwickelt. Der Lesetisch in der Synagoge hat daher sein funktionales Pendant im Altar der Kirchen, nicht im Ambo. 8. Neben den hier angedeuteten funktionalen Ähnlichkeiten hilft der Blick auf die jüdischen Liturgien auch, Differenzen in den Liturgien der christlichen Kirchen wahrzunehmen. Hier öffnet sich eine breite Palette an Kategorien (Amtsträger, Häufigkeit der Feier der Eucharistie, Einladung von Nicht- Mitgliedern der Konfession oder Religion zum Empfang eucharistischen Brots und Weins etc.) für innerchristliche, ökumenische Gespräche, die im vorliegenden Essay ausgeblendet wurden. Das Nachdenken über die Heiligkeit der <?page no="194"?> Clemens Leonhard 180 Heiligen Schrift und ihre Relativität im Kontext der Liturgie öffnet auch solche Perspektiven. 9. Für das Gespräch innerhalb der katholischen Kirche gilt weiterhin das Desiderat einer Vermeidung von Stellvertreterdebatten. Es sollte über die Zukunft der institutionellen Beziehungen zwischen Priestern und Laien und nicht über Förderung oder Verbot von Wort-Gottes-Feiern am Sonntag gesprochen werden. Gegenüber Katholikinnen und Katholiken, die sich an die Feier der Messe als Teil ihres Lebens gewöhnt haben, möge derzeit nicht von einer Ähnlichkeit der Heiligkeit des Wortes Gottes und der Gegenwart Christi in der Lesung der Heiligen Schrift mit der Gegenwart Christi durch den Priester und die konsekrierten Gaben - und schon gar nicht von einer analogen Würde der Toralesung im Judentum und der Lesungen in der katholischen Kirche - gesprochen werden. Solche Vergleiche sind unzulässig, solange kirchliches Handeln und Sprechen außerhalb und innerhalb der Liturgie, explizit und implizit das Gegenteil voraussetzen. Bevor in diesem Feld Positionen und Ängste offen angesprochen werden, werden Überlegungen über Liturgie und Heiligkeit der Heiligen Schrift nicht weiterkommen. <?page no="195"?> Die verborgene Nähe Zum Verhältnis von liturgischer und exegetischer Schrifthermeneutik (mit besonderer Berücksichtigung des Alten Testaments in der christlichen Predigt) Manfred Oeming Wie verhalten sich antike Ursprungsintention eines Textes und seine gegenwärtige Rezeption in der gottesdienstlichen Praxis der Kirche zueinander? Was tun, wenn der historische Sinn und moderne Verwendung weit voneinander abzuweichen scheinen? Insbesondere alttestamentliche Texte können in historisch-kritischer Perspektive eine ganz andere Bedeutung bekommen, als ihnen in der kirchlichen Benutzung traditionell zugeschrieben wurde und wird, denn sie sind ursprünglich an Israel gerichtet und nicht an eine weltweite, Völker umspannende Kirche. Muss man also ein schlechtes intellektuelles Gewissen haben, wenn man diese Texte z.B. als Weissagungen auf Christus verwendet, oder kann man hermeneutisch verantwortliche Regeln entwickeln, die einem den liturgischen Gebrauch der Texte ermöglichen? Das geschilderte Problem ist für mich ein existentielles: Ich war über sechs Jahre als Vikar und Pfarrer an der Kreuzkirche in Bonn und als Privatdozent an der Universität Bonn mit beiden Aspekten gleichzeitig intensiv befasst. Auch als Professor für alttestamentliche Theologie an der Universität Heidelberg (seit 1996) und als Universitätsprediger an der Peterskirche (1997-2002) hat mich die Thematik beschäftigt, und ich versuche, das vielfach umstrittene Verhältnis immer wieder zu bedenken, auch in hermeneutischen Seminaren „Altes Testament predigen“. Das Verhältnis von exegetischer historischer Sinnermittlung biblischer Texte einerseits und der Verwendung der gleichen biblischen Texte im Kontext der Liturgie, d.h. in Schriftlesung und Predigt, Gebet und Gesang andererseits ist in der Geschichte der Hermeneutik, das ist hinreichend bekannt, zunehmend problematisch geworden und steckt gegenwärtig in einer schweren Krise. 1 Die universitäre Theologie und kirchliche Praxis haben sich leider zunehmend voneinander getrennt. Man kann heute durchaus von einer massiven Spannung, wenn nicht sogar von einer institutionalisierten 1 Vgl. Manfred O EMING , Exegetische Forschung und keine kirchliche Praxis? Gedanken zur Krise der Predigt alttestamentlicher Texte, in: DERS . - Walter B OËS (Hgg.), Alttestamentliche Wissenschaft und kirchliche Praxis (FS Jürgen Kegler), Münster 2009, 85-98. <?page no="196"?> Manfred Oeming 182 Diastase sprechen. Daher versuchen auf der einen Seite diejenigen, die eine traditionelle kirchliche Auslegung zurückersehnen, das Recht und die Würde der historischen Bibelwissenschaft zu bestreiten. 2 Auf der anderen Seite versuchen diejenigen, die allein den historisch-kritisch ermittelten Sinn als relevant erachten, den kirchlichen Gebrauch als illegitim und unaufgeklärt abzuwerten. 3 Beides in einer befriedigenden hermeneutischen Theorie zu verbinden, ist ein seit langem diskutiertes und wahrlich nicht einfach zu lösendes Problem, sondern wird von beiden Seiten misstrauisch beäugt. Christlich predigende Alttestamentler erscheinen als „Schizophrene“. Um es aber vorweg kurz anzudeuten, ich meine, dass die historische Exegese gerade ergibt, dass die biblischen Texte ursprünglich auf Predigt hin verfasst wurden. Daher ist nach meinem Urteil, das unten auch an drei knappen Beispielen begründet werden wird, das Auseinandertreten, ja Auseinanderreißen von Ursprungssinn und christlich-liturgischer Rezeption schlicht unvernünftig und unwissenschaftlich. Wenn aber existierende Tatbestände nicht vernünftig sind, dann sind sie meistens historisch zu erklären. Deshalb ist es zunächst sinnvoll, sich die inneren Gründe klarzulegen, die zu diesem Spannungsverhältnis geführt haben. 1 Die geistesgeschichtlichen Faktoren, die zu einer bewusst eindimensionalen Sinnermittlung führten Gegenüber den altkirchlichen und mittelalterlichen Auslegungstraditionen, die in den Ostkirchen sehr viel stärker weiterwirkten, ergaben sich in den 2 Mit besonders pauschalen Verurteilungen arbeitet z.B. Klaus B ERGER . In seiner bislang letzten Abrechnung mit der universitären Bibelwissenschaft „Die Bibelfälscher. Wie wir um die Wahrheit betrogen werden“, München 2013, klagt er die Bibelforschung an, am beklagenswerten Zustand der Kirche schuld zu sein. Wenn es darum gehe, die Gottheit Jesu zu erfassen, strotze sie vor Denkverboten, Ignoranz und philosophischen Moden. Sie entwickle entmythisierende Deutungen des wahren historischen Geschehens, die ans Märchenerzählen grenzten, und betreibe auf diese Weise ungewollt das Geschäft der Atheisten: Sie verstelle den Weg zum Glauben, indem sie Jesus auf einen normalen Menschen reduziere. Berger hält eine angeblich neue (in Wahrheit reichlich reaktionäre) „Exegese der Zukunft“ dagegen: Jesus war kein Gutmensch, Gesundbeter und sanftmütiger Weisheitslehrer, sondern lebendiger Gott, der Fleisch geworden, d.h. Teil unserer Geschichte geworden ist. Die Predigt müsse biblisch werden, d.h. vor allem mit vielen Wundern und apokalyptischen Realitäten rechnen. Das war sie aber doch schon immer! 3 Besonders radikal z.B. Gerd L ÜDEMANN , Altes Testament und christliche Verkündigung. Versuch der Aufklärung, Springe 2006. Lüdemann will aufzeigen, dass die historische Kritik „bewiesen“ habe, dass der Gebrauch des AT durch das NT ein glatter Missbrauch sei. Das AT stehe allein für sich, es gehöre ausschließlich den Juden; jede Verbindung zu Christus sei wissenschaftlich widerlegt. Die Alttestamentler an den christlichen Fakultäten wüssten das auch und sollten - wie es einst Julius Wellhausen vorbildlich getan hat - endlich aus den christlich-theologischen Fakultäten austreten. Zum Glück (und zu Recht) rechnet mich Lüdemann zu denjenigen, die Gläubigkeit und historische Kritik „im Übermaß“ vermengen (172f). <?page no="197"?> Die verborgene Nähe 183 westlichen Kirchen mit dem Anbruch der Neuzeit radikale hermeneutische Umbrüche. Nach meinem Urteil waren es fünf geistesgeschichtliche Faktoren, welche die Entwicklung einer modernen westlichen Hermeneutik bestimmt haben, die unsere gegenwärtige Situation bestimmt. 4 1.1 Die Reformation Paradigmatisch lässt sich der tiefe Wandel im Umgang mit der Heiligen Schrift am sogenannten „Turmerlebnis“ Martin Luthers verdeutlichen: 5 In der Vorrede zur Ausgabe seiner Opera Latina von 1545 schrieb der Reformator rückblickend: „Ich konnte den gerechten, die Sünder strafenden Gott nicht lieben, im Gegenteil, ich hasste ihn sogar. Wenn ich auch als Mönch untadelig lebte, fühlte ich mich vor Gott doch als Sünder und mein Gewissen quälte mich sehr. Ich wagte nicht zu hoffen, dass ich Gott durch meine Genugtuung versöhnen könnte. Und wenn ich mich auch nicht in Lästerung gegen Gott empörte, so murrte ich doch heimlich gewaltig gegen ihn. Als ob es noch nicht genug wäre, dass die elenden und durch die Erbsünde ewig verlorenen Sünder durch das Gesetz […] mit jeder Art Unglück beladen sind, musste denn Gott auch noch durch das Evangelium Jammer auf Jammer häufen und uns durch das Evangelium seine Gerechtigkeit und seinen Zorn androhen? So wütete ich wild und mit verwirrtem Gewissen, jedoch klopfte ich rücksichtslos bei Paulus an. Da erbarmte sich Gott meiner. Tag und Nacht war ich in tiefe Gedanken versunken, bis ich endlich den Zusammenhang der Worte beachtete: »Die Gerechtigkeit Gottes wird in ihm (im Evangelium) offenbart, wie geschrieben steht: Der Gerechte lebt aus dem Glauben.« Da fing ich an, die Gerechtigkeit Gottes als eine solche zu verstehen, durch welche der Gerechte als durch Gottes Gabe lebt, nämlich aus dem Glauben. Ich fing an zu begreifen, dass dies der Sinn sei: durch das Evangelium wird die Gerechtigkeit Gottes offenbart, nämlich die passive, durch welche uns der barmherzige Gott durch den Glauben rechtfertigt, wie geschrieben steht: »Der Gerechte lebt aus dem Glauben.« Da fühlte ich mich wie ganz und gar neu geboren, und durch offene Tore trat ich in das Paradies selbst ein. Da zeigte mir die ganze Schrift ein völlig anderes Gesicht. Ich ging die Schrift durch, soweit ich sie im Gedächtnis hatte, und fand auch bei anderen Worten das gleiche, z.B.: »Werk Gottes« bedeutet das Werk, welches Gott in uns wirkt; »Kraft Gottes« - durch welche er uns kräftig macht; »Weisheit Gottes« - durch welche er uns weise macht. Das gleiche gilt für »Stärke Gottes«, »Heil Gottes«, »Ehre Gottes«. Mit so großem Hass, wie ich 4 Für die Ostkirchen und große Teile der Pfingstkirchen gilt das Folgende nur eingeschränkt. 5 Umstritten ist in der Forschung, wann genau sich dieser reformatorische Durchbruch vollzog (ca. 1515-1518) und/ oder ob sich hinter dem Bericht ein länger andauernder Prozess verbirgt, vgl. besonders zum Letzteren Volker L EPPIN , Martin Luther, Darmstadt 2006, der aufzuzeigen sucht, dass sich hier kein plötzliches Erlebnis, sondern ein allmähliches Herauswachsen aus mittelalterlichen Traditionen vollzogen hat, das im Rückblick dann aber angemessen als Neuerung gedeutet wird. <?page no="198"?> Manfred Oeming 184 zuvor das Wort »Gerechtigkeit Gottes« gehasst hatte, mit so großer Liebe hielt ich jetzt dies Wort als das allerliebste hoch. So ist mir diese Stelle des Paulus in der Tat die Pforte des Paradieses gewesen. Später las ich Augustins Schrift »Vom Geist und vom Buchstaben«, wo ich wider Erwarten darauf stieß, dass auch er »Gerechtigkeit Gottes« in ähnlicher Weise auslegt als eine Gerechtigkeit, mit der Gott uns bekleidet, indem er uns gerecht macht. Und obwohl dies noch unvollkommen geredet ist und nicht alles deutlich ausdrückt, was die Zurechnung betrifft, so gefiel es mir doch, dass (hier) eine Gerechtigkeit Gottes gelehrt werde, durch welche wir gerecht gemacht werden. Durch diese Überlegungen besser gerüstet, fing ich an, den Psalter zum zweiten Male auszulegen. Das wäre ein großer Kommentar geworden, hätte ich das angefangene Werk nicht liegenlassen müssen.“ 6 Was Luther hier beschreibt, ist ein grundlegendes und paradigmatisches Erfahren von historischer Exegese. So wie Menschen neue Kontinente entdecken können, so ist der Bibelwissenschaft die Entdeckung von bislang verschüttetem Textsinn, eben des Evangeliums von der rettenden Gerechtigkeit Gottes, möglich. Wenn man in freier, von der Überlieferung nicht „vorgespurter“, nicht kontrollierter und nicht tabuisierter Begegnung mit dem biblischen Text dessen wahren Sinn herausfindet, dann führt dies zur Erkenntnis der erlösenden Wahrheit („durch offene Tore trat ich in das Paradies selbst ein“), aber auch zu theologischer Sachkritik. Bekannt sind Luthers polemische Kampfparolen von der Tora als „der Juden Sachsenspiegel“ oder vom Jakobusbrief als einer „strohernen Epistel“ der Werkgerechtigkeit, welche zeigen, wie sehr Luther von der Sache, vom Zentrum her auch Kritik üben konnte, sogar an der Schrift selbst. Unter dem Leitmotto „Sola scriptura! “ (wobei nicht die ganze Schrift, sondern der Kanon im Kanon gemeint war) wurde die im Urtext studierte Bibel zum alleinigen Kriterium der theologischen Wahrheit. Dabei konnte es gleichzeitig zu einer kritischen Prüfung, Herabstufung und in manchen Fällen sogar Verwerfung von kirchlicher Dogmatik kommen. So hat Luther weder den Zölibat anerkannt noch die Siebenzahl der Sakramente akzeptiert, weil sie von der Heiligen Schrift nicht bezeugt sind. 1.2 Der Humanismus und die Renaissance Mit der theologischen Wende und Umwertung trat im 16. Jahrhundert vor allem an den westlichen Universitäten eine neue Auffassung davon, was Geisteswissenschaft überhaupt zu sein hat, auf die Bühne: Wer wissenschaftlich historisch arbeiten will, muss zurück „ad fontes! “, d.h. zurück zum Original, zu den Ursprachen. Der Humanismus und die Renaissance haben hier Außerordentliches geleistet, indem sie Texteditionen hervorbrachten, zum einen von den antiken Klassikern wie Platon und Aristoteles, zum anderen aber auch durch Editionen der biblischen Urtexte wie etwa Erasmus von 6 Nach Heiko Augustinus O BERMAN , Die Kirche im Zeitalter der Reformation (Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen 3), Neukirchen-Vluyn 1981, 209-210. <?page no="199"?> Die verborgene Nähe 185 Rotterdams griechisches Neues Testament (Basel 1516). Das Studium der Ursprachen Hebräisch und Griechisch wurde für Theologen verpflichtend, die Philologie wurde zur Leitwissenschaft, der exakte Vergleich der überlieferten Handschriften zum Forschungsauftrag. Man wollte herausbekommen, was genau die biblischen Autoren zu sagen hatten und sich nicht mehr auf die Vulgata des Hieronymus verlassen müssen, zumal sich dieser auf unklare Textvorlagen stützt und selbst manche persönlichen Tendenzen erkennen lässt. 1.3 Die Aufklärung Das 18. Jahrhundert brachte eine weitere kopernikanische Wende des Denkens im Westen hervor. Die von Kant so benannte Aufklärung war daran interessiert herauszufinden, was der Vernunft entspricht, die sich nunmehr als alleiniges Wahrheitskriterium durchsetzte. Um herauszufinden, was an der Bibel dem Maßstab der Rationalität standhalten konnte bzw. um die Bibel vor dem völligen Wertverlust zu bewahren, kam man zur Unterscheidung von ewigen Vernunftwahrheiten und bloßen historischen Zufallstatsachen. Der Ewigkeitswert der Bibel lag vor allem im Bereich des Moralischen, etwa in der Idee der Gerechtigkeit, der Gleichheit, der Menschenliebe. Allerdings wurde gerade nach dem Kriterium der hohen Moral (bzw. dessen, was man im 18. Jahrhundert als solche verstand) scharfe Kritik an der Bibel geübt, ganz besonders am Alten Testament. Als ein Beispiel skizziere ich Hermann Samuel Reimarus (1694-1768) und seine moralisierende Betrachtung Abrahams. In seiner „Apologie“ 7 greift Reimarus die ethische Qualität Abrahams entschieden an und empört sich über die Moral der Erzväterzeit. Für ihn ist Abraham primär daran interessiert, reich zu werden; 8 nur deswegen ist er aus Ur weggezogen, nur deswegen hat er im Lande Kanaan und Ägypten geschickt operiert. Besonders vier Erzählungen bilden den Stein des Anstoßes: das Schicksal der Hagar (Gen 16 und 21), die Gefährdung der Ahnfrau (Gen 12 und 20), die Geschichte von Lot und seinen Töchtern (Gen 19) sowie die Opferung Isaaks (Gen 22). Zum einen ist Abraham für Reimarus eine Memme, die ganz unter dem Pantoffel Saras steht: „Soll er eine Magd zur Beyschläferin nehmen: gut, er legt sich zu ihr. Soll er sie wegjagen, wohl, er läst sie, ungeachtet ihrer Schwangerschaft, in die dürre Einöde lauffen, wenn sie auch verschmachten sollte. Soll er sie wieder annehmen und bey ihr schlafen: wie sie befehlen, Madame“ (230). Aber es kommt noch viel schlimmer. Die Sexualmoral Abrahams und besonders Saras ist für Reimarus äußerst problematisch. Er rekonstruiert aus den Texten, dass Abraham sich von Sara zu einem Partnertausch überreden lässt, der nicht nur Sara das ersehnte Kind verschaffen soll, weil ein anderer Mann zumal aus adeligem Geblüt ihre Fruchtbarkeit befördern 7 Hamburg 1978 (! ) erstmals vollständig publiziert, nachdem Lessing nur „Fragmente eines Ungenannten“ zugänglich gemacht hatte. 8 „Alle seine Handlungen gehen ja dahin, sich einen besseren Wohnsitz und Reichtümer zu erwerben, und dazu allerwerts Gelegenheit zu suchen“ (226). <?page no="200"?> Manfred Oeming 186 könne, sondern Abraham solle davon auch finanziell gut profitieren. 9 Die so von Sara initiierten „niederträchtigen Schandthaten“ (230) laufen für Abraham auf Zuhälterei hinaus. Sara muss sich jeweils für mehrere Monate im Harem des Pharao bzw. Abimelechs befunden haben, weil sonst die göttlichen Plagen gar nicht als solche erkannt werden können. Dass die Frauen im Hause Abimelechs mit anhaltender Unfruchtbarkeit geschlagen sind (Gen 20,17f), das kann erst nach einigen Monaten auffallen. Die vielen Geschenke und die tausend Silberstücke (Gen 12,16; 20,14-16), die Abraham von den Liebhabern der Sara bekommt, sind nach Reimarus klarer Beweis, dass Sara sehr wohl mit diesen Männern geschlafen hatte und zwar nicht, weil sie genötigt worden wäre, sondern weil sie es auch selbst intensiv wollte. Der aufklärerische Gipfel der „Detektivarbeit“ des Reimarus ist seine Berechnung, dass Sara nicht von Abraham, sondern von Abimelech geschwängert wurde (vgl. 234-236). Da die drei Männer Abraham verheißen hatten, seine Frau werde in einem Jahr einen Sohn gebären, Sara aber sogleich nach den Ereignissen um Sodom und Gomorra im Harem Abimelechs weilte (Gen 20), und zwar für mehrere Monate, kann es nur der König von Gerar gewesen sein, der Isaak gezeugt hat. Dieses fremde Kind - so lässt Reimarus durchblicken - hat Abraham dann auch loswerden wollen und es - angeblich auf göttlichen Befehl - beinahe umgebracht; in letzter Minute hätte er aber Gewissensbisse bekommen (238f). Was für ein Geschlecht die Erzväter darstellen, wird sodann an Lot und seinen Töchtern deutlich. Wenn sich Lot schon in so einem Lasterpfuhl wie Sodom freiwillig angesiedelt hat, kann er selbst auch nicht viel besser gewesen sein. Die „unnatürliche Geilheit“ (243) der Stadtbewohner Sodoms und Gomorras findet sich auch bei Lots Töchtern. Auch sie konnten „ihre Geilheit so wenig bändigen, dass sie auch ihren eigenen Vater durch Völlerey zur Blutschande zu reizen verabredeten; gleich als ob sonst kein Mensch mehr in der Welt wäre, mit welchem sie eine ehrliche Ehe hätten eingehen können, wenn sie nur etwas gewartet hätten. Die frischen Strafgerichte über Sodom hatten ihnen folglich keinen Eindruck gemacht, dergleichen viehische Laster zu verabscheuen“ (244). Vor dem kritischen moralischen Urteil des Reimarus erweist sich Abraham cum suis als ein schwächlicher, schändlicher Lügner, Zuhälter und raffgieriger Geschäftsmann, der mit seiner Triebhaftigkeit und der seiner Frau stark überfordert ist. Daher „können wir Abraham nicht für einen Boten der Offenbarung des Neuen Testaments oder einer seligmachenden Religion halten“ (226), er ist „ein schlechtes Exempel“ (236). Mit diesen Ausführungen hat Reimarus einen latent schwelenden Krisenherd zu einem offenen Feuer auflodern lassen. 10 So sehr man die Aufklärung auch heftig kritisieren muss, Reimarus hat die Texte 9 „Was hat die kinderbegierige hysterische Sara nun noch für Auswege übrig? Keinen, als dass sie es einmal mit anderen Männern versuche“ (229). 10 Von der „Apologie“ des Reimarus bis zur Berliner Sportpalastrede von Reinhold Krause, wo die Abrahamerzählungen als „Viehtreiber- und Zuhältergeschichten“ angeprangert werden, war es eine logische Entwicklung, deren grausame Folgen uns allen vor Augen stehen. <?page no="201"?> Die verborgene Nähe 187 durchaus sehr genau gelesen und sich nicht durch dogmatische Skrupel von unangenehmen Konsequenzen abschrecken lassen. Freilich wird von diesem frühen Beispiel her deutlich, dass und warum die historisch-kritische Betrachtung in den Kirchen von Anfang an auf Ängste, Misstrauen und Ablehnung stieß. 1.4 Die Romantik Die Romantik des 19. Jahrhunderts mit ihrer Verehrung des Ursprünglichen, Einfachen und Volkstümlichen hat teils im Gegenschlag zu Aufklärung und dürrem Begriffsidealismus, teils aber auch in Fortführung von deren Frageintentionen der rein historischen Betrachtung der Tradition und damit auch der Bibel Bahn gebrochen. Es entstand ein differenziertes ideographisches Wahrnehmungsvermögen. 11 Diese Individualisierung der „Volksseelen“ verband sich einerseits mit einer großen Verehrung des Ursprünglichen, noch Unverdorbenen, von aller Kultur und Zivilisation Unberührten, Natürlichen und Menschlichen; andererseits schwelgte man im Gefühl geistlichen Fortschritts und glaubte, Gottes Pädagogik in der Weltgeschichte erkennen zu können. Mit diesem sich anbahnenden „rein“ historischen Denken war die Entdeckung und Auslotung der Kategorie des individuellen Autors verknüpft. Man erkannte, dass jede Schrift durch das geistige Erleben eines Individuums einen bestimmten Aussagewillen hat und in einer singulären Gedankenwelt abgefasst ist. Die großen Individuen wurden als Genies verehrt. Alles Dogmatische, alles verstiegen Philosophische sollte abgestreift und das wahre Leben dieser reinen Seelen freigelegt werden. Der wichtigste Theoretiker der neuen „Autor-Hermeneutik“ ist Daniel Ernst Friedrich Schleiermacher. 12 Schleiermacher unterscheidet zwischen zwei verschiedenen Grundformen des Verstehens: Das grammatische Verstehen versucht Unklarheiten durch komparativisches Verstehen zu beseitigen, d.h. sprachliche Äußerungen durch philologische Analyse objektiv und intersubjektiv nachvollziehbar auf ihre Struktur hin zu beleuchten. Von ganz anderer Natur ist das psychologische Verstehen; es erfordert ein Sich-Hineinversetzen in den Autor. Ein Genie kann nur von einem kongenialen Geist verstanden werden. Deswegen ist nach Schleiermacher nicht jedem jedwedes Verstehen möglich; zwar gibt es verwandte Seelen, die einander ohne weiteres verstehen; in anderen Fällen ist es aber auch möglich, dass einem Leser ein bestimmter Autor verschlossen bleiben muss. Mit dieser Konzeption von kongenialem Verstehen als Hineindenken und Hineinleben in die individuelle Persönlichkeit des Autors entdeckt Schleiermacher, dass es ein Moment des methodisch nicht Berechenbaren im Verstehen gibt. Er gesteht zu, dass nicht allein durch grammatische Erschließung oder durch 11 Vgl. besonders die Frühromantik bei Johann Gottfried Herder, der die „Stimmen der Völker“ (1778/ 79) einfühlsam voneinander abgehoben hatte. 12 Vgl. von Manfred F RANK herausgegeben und eingeleitet: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiermachers (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 211), Frankfurt a.M. 1977. <?page no="202"?> Manfred Oeming 188 „Zusammenstellung und Abwägung minutiöser geschichtlicher Momente“, sondern durch „das Erraten der individuellen Kombinationsweise eines Autors“ psychologisches Verstehen ermöglicht wird. Diese sich im unsicheren Bereich bloßen Erahnens und Erratens bewegende Interpretation ist „mehr divinatorisch“ und entsteht dadurch, „daß der Ausleger sich in die ganze Verfassung des Schriftstellers möglichst hineinversetzt“. 13 Weil jedes tiefere Verstehen auf das Wagnis angewiesen bleibt, Intentionen und Motive des Autors erahnen und auch erraten zu können, muss man von vornherein davon ausgehen, „daß sich das Mißverstehen von selbst ergibt und das Verstehen auf jedem Punkt muß gewollt und gesucht werden“ 14 . Dazu bedarf es eines individuellen Erkenntnisorgans, des „Sinns und Geschmacks“, die allein bestimmte Wirklichkeitsbereiche erfassen können. Nach dieser Sicht ist eine Spezialisierung auch in der Bibelwissenschaft unvermeidlich; für den Laien, der wenig von der Seele des Autors weiß, ist die Bibel - wie jede wertvollere Literatur - nicht leicht erschließbar. Es genügt auch nicht, Objektives zu rekonstruieren, man muss auch Subjektives psychologisch nacherleben. 1.5 Der Historismus In die nahezu entgegengesetzte Richtung verlief die Entwicklung der Hermeneutik an den Universitäten. In Konkurrenz zur aufkommenden Naturwissenschaft suchten auch die geistesgeschichtlichen Disziplinen, ihr Daseinsrecht im Konzert der Fakultäten zu rechtfertigen. Der Historismus des 19. Jahrhunderts stellte die Einsicht in die jeweils historisch sehr unterschiedlichen Vorstellungswelten vergangener Zeiten ins Zentrum der Forschung. Der Historiker Leopold von Ranke entwickelte aus seiner Forschungspraxis heraus die folgenden theoretischen Postulate: Historische Forschung muss grundsätzlich unparteiisch sein, der Ausleger muss seine eigenen Wertüberzeugungen vollständig hintansetzen und sich ganz und gar auf den Standpunkt seiner Quellen begeben. Er muss auf jedwede persönliche Stellungnahme verzichten und einzig objektiv rekonstruieren, „wie es eigentlich gewesen ist“. Stärker theoretisch und systematisch hat Johann Gustav Droysen in seiner „Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte“ (1857) die methodischen, systematischen und darstellungstechnischen Probleme der Geschichtswissenschaft entfaltet. Im Gegensatz zum erklärenden Vorgehen der Naturwissenschaften gilt: Nachdem die Heuristik das historische Material gesichtet und die Kritik die Echtheit untersucht und das Material in eine zeitliche Ordnung gebracht hat, geht es der Interpretation darum, die je einmalige Vergangenheit „nach ihrem eigenen Maße zu messen“. 15 Dabei sind nach Droysen vier Stufen der Interpretation zu unterscheiden: 13 Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, 318f (wie Anm. 12) (Hervorhebung M.O.). 14 A.a.O., 92. 15 Droysen, Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, hg. von Rudolf H ÜBNER , München u.a. 2 1943, 156. <?page no="203"?> Die verborgene Nähe 189 1. die pragmatische Interpretation; sie soll sachliche Zusammenhänge zwischen den lückenhaften Quellen herstellen, indem sie mittels Auswahl, Analogie und Korrelation sachgemäß Kontexte schafft, die den Quellen nicht unmittelbar zu entnehmen sind; 2. die Interpretation der Bedingungen; sie soll die Gegebenheiten von Raum und Zeit sowie von technischer Leistungsfähigkeit untersuchen; 3. die psychologische Interpretation; sie soll die großen historischen Persönlichkeiten in ihren Eigenarten darstellen; 4. die Interpretation der Ideen; sie soll die übergreifenden ethischen und politischen Systeme, Ideale und Ideen der verschiedenen Zeiten erfassen. Das Ziel all dieser Interpretationsbemühungen ist es nicht, „Gesetze“ aufzustellen, sondern sich gleichsam dem jeweiligen historischen Phänomen anzuschmiegen, es das sein zu lassen, was es von sich aus ist. Historisch denken heißt aus der Gegenwart herauszugehen und ganz in die Welt der Autoren einzutauchen. Fazit 1 Die moderne westliche Bibelwissenschaft entstand seit dem 16. Jahrhundert über mehrere Jahrhunderte als Verbindung von Motiven aus Reformation, Humanismus, Aufklärung, Romantik und Historismus und erreichte ihren Höhepunkt im 19. und 20. Jahrhundert, nicht zuletzt an deutschsprachigen Universitäten in Gestalt von Forschern wie Julius Wellhausen, Hermann Gunkel oder Martin Noth, Albert Schweitzer, Rudolf Bultmann oder Gerd Theißen. Ihre Methoden waren im Kanon der historisch-kritischen Exegese der Bibel vereint: - die Erhebung des einen, wahren, d.h. des ursprünglichen Sinnes des Textes zu seiner Entstehungszeit (Textkritik, Literarkritik, Redaktionsgeschichte); - der Vergleich mit anderen Texten aus der Zeit ohne Rücksicht auf Kanongrenzen; - der religionsgeschichtliche Vergleich mit den Kulturen der Umwelt; - die freie, kritische Beurteilung des Wertes der Texte. Die historisch-kritische Exegese, die in jedem exegetischen Proseminar gelehrt und in jedem theologischen Examen geprüft wird, gilt mit Recht als Kennzeichen und Maßstab von Bibelwissenschaft überhaupt. 2 Hermeneutische Einsichten der Gegenwart, die zu einer Rehabilitierung der mehrdimensionalen Sinnsuche führten Allerdings hat auch die historisch-kritische Exegese - wie jede Wissenschaft - eine lebendige Geschichte. Sie muss ihr Instrumentarium permanent verfeinern und sich - ihrer eigenen Schwächen eingedenk - immer weiter zu entwickeln suchen. Die Disziplin, die sich dieser Aufgabe annimmt, ist die biblische <?page no="204"?> Manfred Oeming 190 Hermeneutik. Hermeneutik ist kein hochspezieller Zweig der Philosophie, sie ist vielmehr eine Grundlagenwissenschaft, eine Art Kritik der historischen Vernunft, eine kritische Erkenntnistheorie oder eine Wissenschaftstheorie aller Geisteswissenschaften, insbesondere aber auch der wissenschaftlichen Exegese der Bibel. Hermeneutik denkt systematisch darüber nach, wie man sicher sein kann, dass man einen Text auch wirklich verstanden und nicht missverstanden hat. Das Missverstehen stellt sich nämlich meistens zuerst ein und erst allmählich das wirkliche Verstehen. Adäquates Verstehen muss mühsam erarbeitet werden. Die Frage, wer einen Text richtig versteht und wer ihn missversteht, ist dabei stets sehr umstritten. Feindliche Lager ringen miteinander und machen sich gegenseitig das Feld streitig. Ich will im Folgenden meine eigene biblische Hermeneutik 16 in knappen Grundzügen vorstellen (für Einzelheiten und umfangreiche bibliographische Angaben muss ich auf dieses Werk verweisen). Sie basiert auf einer Analyse der Grundstruktur des Verstehens überhaupt, welche zur Theorie vom hermeneutischen Viereck führt. Im Prozess des Verstehens der Bibel - wie auch jedes anderen Buches - sind immer vier Faktoren involviert: 1. ein Autor, der aus seiner Welt heraus etwas Verstandenes oder Erlebtes mit bestimmten Interessen ausdrücken will; 2. der Text, der über die Zeiten hinweg zumindest partiell festhält, was ein Autor ausdrücken wollte; 3. ein Leser, der - indem er sich mit dem Text und seiner Welt befasst - Kontakt aufnimmt zum Autor und seiner Welt. Dabei ist zunächst unsicher, ob es dem Leser in einer völlig veränderten Welt gelingt, das vom Autor vermittels des Textes Ausgedrückte sinngemäß zu reaktualisieren oder ob er u.a. auf Grund des historischen Grabens oder seiner völlig anders gelagerten Interessen und seines stark gewandelten Weltbildes die schriftlich fixierte Lebensäußerung missverstehen muss und sie für seine Zwecke umwandelt; 4. die Sache, auf die Autor als auch Text als auch Leser rekurrieren. Will man das Verhältnis dieser vier Faktoren prinzipiell erfassen, dann muss man mit der Pluralität jedes Pols rechnen. Schematisch lässt sich das folgendermaßen veranschaulichen: 16 Vgl. Manfred O EMING , Biblische Hermeneutik (Einführungen), Darmstadt 4 2013. <?page no="205"?> Die verborgene Nähe 191 Die Sache und ihre Welt Der Autor und seine Welt Die Leser und ihre Welten Die Texte und ihre Welten Abb. 1: Das hermeneutische Viereck Die eingezeichneten Pfeile sollen deutlich machen, dass es im Verstehen eine Dynamik gibt: In der immer wieder neuen Bewegung von einem Pol zum anderen vertieft sich das Verstehen; der Terminus ‚hermeneutischer Zirkel‘ sollte daher besser durch ‚hermeneutische Spirale‘ ersetzt werden. Zugleich wird deutlich, dass es zwischen Autor und Rezipienten keine direkte Verbindung geben kann: Verstehen ist nur mittelbar über das Medium Sprache 17 möglich. In jedem Falle aber ist ein gemeinsamer Bezug von Autor und Rezipient auf die Sache als gemeinsam erschlossener Welt notwendig. Diese logische Grundstruktur ist für die nachfolgenden Ausführungen bestimmend. Mit Hilfe unseres Theorems vom hermeneutischen Viereck lassen sich die neuen, alternativen Methoden der Bibelauslegung im 20. und 21. Jahrhundert sinnvoll ordnen und darstellen. 2.1 Die Autoren und ihre Welten Um einen biblischen Text zu verstehen, müssen wir versuchen, in die Zeit und Welten der damaligen Autoren zurück zu gelangen. Das ist - wie oben beschrieben - die Zielsetzung der klassischen historisch-kritischen Methode, die, in den Grundzügen gut 200 Jahre alt, gegenwärtig zunehmend verfeinert wird. Sie will aus der Gegenwart zurück in die Vergangenheit und die damalige Sinnwelt erfassen. Dazu muss sie zunächst die hebräische und griechische Sprache nach Semantik und Syntax untersuchen, wobei der Computer kräftig mithelfen kann. Sodann muss sie die vorhandenen Handschriften miteinander vergleichen, die in digitaler Form zunehmend zugänglich gemacht werden: Welcher handschriftliche Text ist der älteste (Textkritik)? Sodann fragt sie: Welche Eigenarten weist dieser älteste Text auf? Ist er sprachlich, gedanklich, logisch aus einem Guss, oder muss man annehmen, dass in ihm verschiedene Autoren zu Wort kommen? Ist es möglich und plausibel, 17 „Sprache“ ist nicht auf Texte fixiert; es gibt auch nonverbale Sprachen, z.B. der Gestik und Mimik, der künstlerischen Symbole, der Musik oder der Blumen. Auch archäologische Hinterlassenschaften sprechen eine eigene Sprache. <?page no="206"?> Manfred Oeming 192 ihn in Schichten zu zergliedern bzw. seine Wachstumsringe zu analysieren? Wer hat ihn verfasst und komponiert (Literarkritik und Redaktionsgeschichte)? An wen ist er ursprünglich adressiert (historischer Ort)? In welchem gesellschaftlichen Kontext wurde er verwendet (Formgeschichte)? Welche theologischen Vorstellungskomplexe werden herangezogen (Traditionskritik)? Die moderne Hermeneutik hat gegenüber diesen klassischen Fragestellungen einige weitere Einflüsse aufgenommen: - Was will der Text erreichen, und wer hat einen materiellen Vorteil, wenn der Text umgesetzt wird? Diese ideologische Analyse hat vor allem die sachgemäßen Theorien von Karl Marx aufgenommen. Die Frage nach den theologischen Traditionen wird ergänzt durch die Untersuchung der Sozialgeschichte und der politisch-ökonomischen Funktion von Texten: Welche Machtverhältnisse und Herrschaftsstrukturen stabilisiert ein Text? Welche politischen Aktionen legitimiert er? - Um zu verstehen, ob diese Texte auf eine reale Welt verweisen oder aber fiktiv sind und aus einer ganz anderen Zeit stammen, ist man primär auf die Hilfe der Archäologie angewiesen, die in zunehmendem Maße Informationen über die Welt, aus der die biblischen Texte stammen, bereitstellt. Sie belegen oder widerlegen die Existenz vieler in den Texten angesprochener Verhältnisse in der Realität. - Auch sind die Erkenntnisse der modernen Individualpsychologie für das Verständnis der biblischen Autoren hilfreich. Der Umgang mit den elterlichen Autoritäten, das Erleben der eigenen Sexualität oder die Macht der Aggressionen im Umgang mit Feinden, das alles prägt die Texte mit und verdient eine sorgfältige Analyse. Textkritische, historische, archäologische, wirtschaftgeschichtliche, ideologische oder psychologische Aufklärung erschließt immer noch nicht den ganzen Sinn des Textes. Es wäre eine massive Überschätzung zu glauben, dass wissenschaftliche Exegese mit der historisch-kritischen Auslegung identisch wäre. 2.2 Der Text und seine Welten Die neuere Philosophie hat deutlich werden lassen, welche Macht die Sprache darstellt: Sein, das gedacht werden kann, begegnet im Modus der Sprache. Daher hat man im Gefolge des Strukturalismus auf die Erforschung der biblischen Textwelt großen Wert gelegt. Semantik, Semiotik und Ästhetik spielen eine wichtige Rolle, um den Mikrokosmos der Texte zu erkunden. Eine besondere Bedeutung hat dabei die so genannte kanonische Schriftauslegung von Brevard Childs 18 erlangt. Sie begreift die Texte als ein geschlossenes Kunstwerk; durch Aufdeckung der intertextuellen Vernetzungen sowohl 18 Vgl. als pars pro toto Brevard S. C HILDS , Die Theologie der einen Bibel, 2 Bde., Freiburg i.Br. u.a. 1994/ 1996 (aus dem Amerikanischen übers. von Christiane und Manfred O EMING ). <?page no="207"?> Die verborgene Nähe 193 innerhalb der Testamente als auch und besonders durch Erforschung der subtilen Bezüge zwischen Altem und Neuem Testament wird die Einheit der Bibel - trotz aller historischer Differenzen - wieder erkennbar. 2.3 Die Rezipienten und ihre Welten Die größte Revolution in der modernen Hermeneutik ist die Entdeckung des Lesers. Die Rekonstruktion der Bedeutung der jeweiligen Rezipienten und ihrer Welten im Prozess jedes Verstehens eines Textes ist in den letzten fünf Jahrzehnten explosionsartig erfolgt. Drei Philosophen möchte ich dabei besonders hervorheben: Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode (1960) Dieses Buch entfaltet eine Theorie der Wirkungsgeschichte: „Der wirkliche Sinn eines Textes“ ist keineswegs der, den der „Verfasser“ intendierte oder den „sein ursprüngliches Publikum“ (280f) herauslas; er entfaltet sich vielmehr erst schrittweise, im Durchgang durch verschiedene, jeweils historisch standortgebundene Sinn-Entwürfe, noch konkreter: durch eine (tendenziell unendliche) Reihe von Interpretationen hindurch, die ihrerseits - direkt oder indirekt - auch den gegenwärtigen Interpretationsansatz mitbestimmen. „Der zeitliche Abstand […] läßt den wahren Sinn, der in einer Sache liegt, erst voll herauskommen. Die Ausschöpfung des wahren Sinnes aber, der in einem Text oder einer künstlerischen Schöpfung gelegen ist, kommt nicht irgendwo zum Abschluß, sondern ist in Wahrheit ein unendlicher Prozeß“ (282). Umberto Eco, Das offene Kunstwerk (1962) und Lector in fabula (1987) Ecos grundlegende textpragmatische Beobachtung lautet: Jeder Text ist notwendigerweise „mit Leerstellen durchsetzt, mit Zwischenräumen, die ausgefüllt werden müssen“. 19 Jede sprachliche Äußerung enthält semantische Unschärfen, Unklarheiten und Mehrdeutigkeiten, die der Leser jeweils auffüllen muss. Eco spricht von „Ambiguität“, die es zu disambiguieren gelte. Das ist die Aufgabe des Lesers. Die Doppeldeutigkeit bzw. Mehrdeutigkeit verdeutlicht Eco gerne an Beispielen wie etwa folgendem: „Carlo schläft zweimal in der Woche mit seiner Frau. Luigi auch.“ 20 Wenn ein Autor einen Text erst einmal produziert hat, führt dieser sozusagen ein Eigenleben. Der Autor kann nicht mehr kontrollieren, bis zu welchem Punkt seine Aussagen eindeutig sind und ab wo es auf die Produktivität des Lesers entscheidend ankommt. In jedem Falle hat jeder Text eine Dimension, wo die Mitarbeit des Lesers nicht mehr gelenkt wird, sondern „wo sie sich in ein freies Abenteuer der Interpretation verwandeln muß“. 21 In der Nachschrift zu „Der Name der Rose“ kann 19 Umberto E CO , Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, München u.a. 1987, 63. 20 A.a.O., 110. 21 A.a.O., 71 (Hervorhebung M.O.). <?page no="208"?> Manfred Oeming 194 Eco formulieren: „Nichts ist erfreulicher für den Autor eines Romans, als Lesarten zu entdecken, an die er selbst nicht gedacht hatte und die ihm von Lesern nahegelegt werden. Als ich theoretische Werke schrieb, war meine Haltung gegenüber den Rezensenten die eines Richters: Ich prüfte, ob sie mich verstanden hatten, und beurteilte sie danach. Mit einem Roman ist das ganz anders. Nicht daß man als Romanautor keine Lesarten finden könnte, die einem abwegig erscheinen, aber man muß in jedem Fall schweigen und es anderen überlassen, sie anhand des Textes zu widerlegen. Die große Mehrheit der Lesarten bringt jedoch überraschende Sinnzusammenhänge ans Licht, an die man beim Schreiben nicht gedacht hatte. Was heißt das? […] Es zählt nicht, was ich im Nachhinein sage, der Text ist da und produziert seine eigenen Sinnverbindungen […]. Der Autor müßte das Zeitliche segnen, nachdem er geschrieben hat. Damit er die Eigenbewegung des Textes nicht stört.“ 22 „Ein Erzähler darf das eigene Werk nicht interpretieren, andernfalls hätte er keinen Roman geschrieben, denn ein Roman ist eine Maschine zur Erzeugung von Interpretationen.“ 23 Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz (1972; frz. 1967) sowie Grammatologie (1983; frz. 1967) Danach gibt es keine Gegenwart des absoluten Grundes, keine Gleichzeitigkeit der Vergangenheit, keine Identität von Signifikant und Signifikat. Die Interpretation steht vor dem Befund, dass es keine Eindeutigkeit, sondern nur eine Pluralität der Sinndimensionen gibt. Jeder Text, auch die kanonischen Texte, haben zahlreiche Unklarheiten und Mehrdeutigkeiten. Fast einer jeden Lektüre oder Interpretation gehen andere Lektüren und Interpretationen voraus, die - ihrerseits historisch gebunden - unterschiedliche Aspekte des Textes ins Licht rücken können. In manchmal kühner Kreativität werden intertextuell-assoziativ Lesarten entwickelt, die überraschende Bedeutungszusammenhänge herstellen. Dekonstruktivismus fordert vom Leser Ambiguitätstoleranz, Differenzsensibilität und freie Selbstzurücknahme. Diese postmodernen Rezeptionsästhetiken verlegen die Sinnproduktion zunehmend in den Verantwortungsbereich des Lesers, der mit dem Textmaterial frei und kreativ umgehen soll. Auch die immer neuen Kontextualisierungen in der Kunstgeschichte machen deutlich, welches enorme Sinnpotential in den Texten verborgen liegt. Das rezente Hilfsmittel, um solche Bedeutungsfüllen zu erforschen, ist das Internet. Der sprichwörtliche „kabbalistische Drift“ des Dekonstruktivismus ergibt sich rasch, wenn man sieht, wie die Bibeltexte hier in die Welt der Leser eingebaut werden. Sonderformen des leserorientierten Verstehens sind sogenannte engagierte Hermeneutiken, welche mit Recht bestimmte Gruppen- oder Geschlechterinteressen in den Prozess der Bibellektüre einbringen: Der hermeneutische Fe- 22 Nachschrift zu Der Name der Rose, München 1984, 11-14. 23 A.a.O., 10. <?page no="209"?> Die verborgene Nähe 195 minismus registriert aufmerksam die Art und Weise, wie Frauen in den Texten portraitiert werden. Dabei misstraut er den Texten, weil er methodisch den Verdacht hat, dass die Rolle der Frau in den Texten systematisch negativ verzerrt ist. Im Kontext der Befreiungstheologie wird nach der Kraft der Bibel zur Veränderung der Gesellschaft gefragt. Befreiungstheologie ist sehr praktisch orientiert. Sie sucht in der Bibel konkrete Handlungsanweisungen für Menschen, v.a. der Unterschicht. Tiefenpsychologie will aufzeigen, dass die biblischen Autoren über eine erstaunlich tiefe intuitive Einsicht in das seelische Wesen des Menschen verfügen. Sie sprechen in Gestalt von Erzählungen Erfahrungen an, die jeder Mensch machen kann, ja machen muss. Das Nachfühlen der biblischen Erzählungen tut der Seele gut. Gnothi seauton - „erkenne dich selbst! “ Demnach sind biblische Figuren symbolische Verschlüsselungen von Entwicklungswegen, welche der Mensch gehen muss, um zu sich selbst zu kommen. 2.4 Die Sache und ihre Welten Dieser Pol des hermeneutischen Vierecks wird am meisten vernachlässigt. Viele westliche Wissenschaftler meinen, gerade im Namen der Wissenschaft könne man über diesen Pol keine Aussagen machen. Ob die Sache, um die es in der Bibelwissenschaft geht, nämlich Gott und seine Offenbarung in Jesus Christus, wahr ist oder nicht, habe mit dem Verstehen an sich nichts zu tun. Das sei eine Frage der Metaphysik, nicht der Kommunikation. Ich halte das aber für einen Irrtum. Man hat einen Text nicht verstanden, wenn man sich um die Frage herumdrückt, ob das in der Kommunikation Vermittelte auch wirklich zutrifft, ob hinter den Worten auch eine Realität steht, ob die Vorstellung ein Fundament in der Sache hat. Ich intendiere eine „dogmatische“, philosophische Auslegung der Texte. Diejenige Hermeneutik, die am stärksten danach gefragt hat, ob ein Text der Sache angemessen ist, ist die „Marburger Hermeneutik“ von Rudolf Bultmann. Sein Programm hatte den etwas schwierigen Titel: Entmythologisierung. Damit ist gemeint, dass es nicht darauf ankommt, das überholte Weltbild, das die Texte beinhalten, festzuhalten. Die Wirklichkeit Gottes liegt nicht in der Vergangenheit, nicht in der Gegenwart, sondern primär in der Zukunft. Fazit 2: Ein Plädoyer für die „multiplicity of approaches“ Unsere Überlegungen wollten zum einen deutlich machen, wie die westliche, universitäre historisch-kritische Methode entstand, nämlich als Synthese der großen hermeneutischen Entdeckungen (wie z.B. der Kraft des Individuums zur Unterscheidung von Wahrheit und bloßer Tradition, der Bedeutung des einmaligen geschichtlichen Originals, der Kraft der autonomen Vernunft und der filternden Bedeutung des Zeitenabstandes). Zum anderen sollte klargelegt werden, dass und warum es auch in der gegenwärtigen westlichen Hermeneutik nicht nur eine einzige Methode, sondern eine Fülle von Formen der <?page no="210"?> Manfred Oeming 196 Schriftauslegung geben muss! „Ganzheitliches Verstehen der Bibel“ als Forschungsideal ist nur in der Synopse der in sich spannungsreichen Facetten der Exegese möglich: autororientierte, textorientierte, leserorientierte und an der Sache orientierte Methoden gehören in einer modernen Hermeneutik zusammen. Die Einbeziehung aller Pole des hermeneutischen Vierecks erfordert von den Exegetinnen und Exegeten eine vielseitige Ausbildung und die Bereitschaft und Fähigkeit zu interdisziplinärer und ökumenischer Zusammenarbeit. Ein Einzelner kann die ganze Breite nicht mehr bewältigen. Was man für eine verantwortliche Hermeneutik dringend braucht, ist Kooperation. Aber vermutlich reicht noch nicht einmal die Kooperation der unterschiedlichen Fächer an einer Universität aus. Was wir brauchen, ist eine Kooperation der Universitäten und Kirchen. Was wir brauchen, ist eine gepflegte internationale, interdisziplinäre und interreligiöse Kooperation. Gegenüber der neuzeitlichen Begeisterung für die Entdeckung des einen, allein selig machenden Sinnes, nämlich des Ursprungssinnes, lehrt die neue Hermeneutik eine Wertschätzung der Sinnfülle. 24 Dabei spielt sowohl die altkirchliche als auch die jüdische Exegese eine Rolle. 25 3 Die verborgene Nähe von exegetischer und liturgischer Hermeneutik: Die mehrdimensionale Sinnhaftigkeit schon im Ursprungssinn Reformation, Humanismus, Renaissance, Aufklärung, Romantik und Historismus haben auf je verschiedene Weise geradezu ein Gegeneinander von liturgischer und exegetischer Schrifthermeneutik erzeugt. Die analytisch differenzierenden Methoden der historisch-kritischen Bibelwissenschaft erheben seit mehr als 100 Jahren einen Absolutheitsanspruch gegenüber synthetisierenden, auf das Existenzielle abzielenden Rezeptionsformen. Heute stehen liturgische und exegetische Schrifthermeneutik vielfach in einem sehr spannungsreichen Verhältnis, was zu einer praktischen Bedeutungslosigkeit der Exegese führt. 26 „Die Bibelwissenschaften spielen in den prinzipiellen Reflexionen der 24 Vgl. z.B. Ludger S CHWIENHORST -S CHÖNBERGER , Wiederentdeckung des geistigen Schriftverständnisses. Zur Bedeutung der Kirchenväterhermeneutik, in: Theologie und Glaube 101 (2011), 402-425. 25 Vgl. z.B. Manfred O EMING , Lob der Vieldeutigkeit. Erwägungen zur Erneuerung des Verhältnisses jüdischer und christlicher Hermeneutiken, in: Trumah. Jahrbuch der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg 9 (2000), 125-145. 26 Die Gründe für diese Probleme sind vielgestaltig: Die Texte haben z.B. auf Grund archäologischer Forschungen ihre Verwurzelung in der realen Geschichte verloren und tragen deutlich fiktionalen Charakter. - Die Einleitungswissenschaft ist in Dutzende von hochspekulativen Hypothesen zerfallen. - Der jüdisch-christliche Dialog hat uns gelehrt, dass wir den Juden ihre Heilige Schrift nicht wegnehmen dürfen. Christologisieren ist out. Die liturgische Praxis hängt an älteren hermeneutischen Schlüsseln wie Weissagung und Erfüllung, Typologie, Gesetz und Evangelium, die aber wissenschaftlich problematisch <?page no="211"?> Die verborgene Nähe 197 Praktischen Theologie keine erkennbare Rolle […]. Die Beziehung zwischen Praxis bzw. PT und Exegese stellt sich also einerseits als ein ungestörtes Nebeneinander dar, kann aber andererseits auch zu aggressiven Ausfällen führen.“ 27 Die innere Nähe von wissenschaftlicher Exegese und liturgischem Schriftgebrauch ist verschüttet und muss erst wieder „ausgegraben“ werden. Dies kann hier nur knapp in Gestalt von Thesen geschehen; für weitere Erläuterungen darf ich jeweils auf ausführliche Publikationen verweisen: These 1 Die Bibel ist wissenschaftlich betrachtet ein Wort von Menschen. „Wir haben diesen Schatz in irdenen Gefäßen“, konstatiert Paulus zu Recht (2 Kor 4,7). Es gibt keine Möglichkeit, die Bibel objektiv als Wort Gottes auszuweisen. Sie ist unhintergehbar ein Buch, das mit den Mitteln historischer Wissenschaft zu untersuchen ist. These 2 Die Bibel als Wort Gottes zu erkennen, das auch heute noch gilt und in allen Formen der Verkündigung zugesprochen werden kann, darf und soll, ist eine subjektive Einsicht im Glauben. Wenn ich erkenne, dass die Botschaft des Alten und Neuen Testaments von Gericht und Gnade, von Schuld und Vergebung der Schuld mich und mein Leben betrifft, mich trägt und mich verändert, dann wird das historische Dokument der Religionsgeschichte zu einem ‚Wort Gottes‘ für mich. Damit es zu einer solchen Applikation kommen kann, braucht es die Hilfe des Heiligen Geistes (gratia spiritus sancti applicatrix). Dieser Vorgang ist aber nicht nur Mirakulöses oder Irrationales. Es geht darum, dass die alten Traditionen als etwas begriffen werden, was mit der eigenen Existenz zu tun hat. „Lobe den HERRN, meine Seele, und was in mir ist, seinen heiligen Namen! Lobe den HERRN, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat: der dir alle deine Sünde vergibt und heilet alle deine Gebrechen, der dein Leben vom Verderben erlöst, der dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit, der erscheinen. - Hörererwartungen und Hörerbedürfnisse sind wichtiger als wissenschaftliche Exaktheit u.a.m. 27 Helmut S CHWIER , Praktische Theologie und Bibel. Die Rolle von Bibel und Exegese in der derzeitigen Standortbestimmung der Praktischen Theologie, in: Evangelische Theologie 61 (2001), 340-353, hier: 349. Statt gegenwärtiger Namen ein historisches Beispiel: „Mir genügt es, die Einsicht zu erzeugen, dass die alten hermeneutischen Methoden, die am Nachthimmel unserer Theologie noch vielfach gespenstisch spuken, wesenlose Schemen sind, dass wir zur Aneignung der Schriftworte andere und bessere Mittel gebrauchen müssen, als die Alte Kirche, dass auch uns gesagt ist: pflüget ein Neues, und säet nicht unter die Hecken“ (Adalbert M ERX , Eine Rede vom Auslegen - ins besondere des Alten Testaments, Halle 1879, ein Heidelberger Vertreter der Schleiermacher’schen Hermeneutik, wonach über das philologisch-grammatische und das historische Verstehen hinaus eine psychologische Einfühlung in das Seelenleben der biblischen Autoren notwendig ist). <?page no="212"?> Manfred Oeming 198 deinen Mund fröhlich macht, und du wieder jung wirst wie ein Adler. […] Barmherzig und gnädig ist der HERR, geduldig und von großer Güte. Er wird nicht für immer hadern noch ewig zornig bleiben. Er handelt nicht mit uns nach unsern Sünden und vergilt uns nicht nach unsrer Missetat. Denn so hoch der Himmel über der Erde ist, lässt er seine Gnade walten über denen, die ihn fürchten. So fern der Morgen ist vom Abend, lässt er unsre Übertretungen von uns sein.“ (Ps 103,1-5.8-12) Wenn es zu dem Umschlag kommt, dass nicht ich den Text auslege, sondern der Text mich, wenn es zu der Einsicht und dem Gefühl kommt: Tua res agitur! , wenn es zu der persönlichen Begegnung mit dem biblischen Wort Gottes kommt, das selbst Person ist: Jesus Christus, dann vollendet sich die historische Sinnerschließung. These 3 Intensive historische Analytik ist eine Hilfe, ein intellektuell reines Gewissen zu bekommen, wenn man Texte, besonders alttestamentliche, scheinbar gegen den Sinn verwendet, den sie ursprünglich hatten, und sie im christlichen Gottesdienst betet oder predigt. Sorgfältige Exegese zeigt nämlich, dass die Texte schon in sich selbst eine Bewegung haben, die über die Situation der Erstverwendung hinausdrängt. Drei Beispiele einer „liturgischen Sinnverwandlung“ sollen diese zentrale These belegen: Jes 9,1-6 ist Predigttext für Heilig Abend „Das Volk, das im Dunkel lebt, sieht ein helles Licht; über denen, die im Land der Finsternis wohnen, strahlt ein Licht auf. Du erregst lauten Jubel und schenkst große Freude. Man freut sich in deiner Nähe, wie man sich freut bei der Ernte, wie man jubelt, wenn Beute verteilt wird. Denn wie am Tag von Midian zerbrichst du das drückende Joch, das Tragholz auf unserer Schulter und den Stock des Treibers. J EDER S TIEFEL , DER DRÖHNEND DAHERSTAMPFT , JEDER M ANTEL , DER MIT B LUT BEFLECKT IST , WIRD VERBRANNT , WIRD EIN F RASS DES F EUERS . Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns geschenkt. Die Herrschaft liegt auf seiner Schulter; man nennt ihn: Wunderbarer Ratgeber, Starker Gott, Vater in Ewigkeit, Fürst des Friedens. Seine Herrschaft ist groß, UND DER F RIEDE HAT KEIN E NDE . Auf dem Thron Davids herrscht er über sein Reich; ER FESTIGT UND STÜTZT ES DURCH R ECHT UND G ERECHTIGKEIT , jetzt und für alle Zeiten. Der leidenschaftliche Eifer des Herrn der Heere wird das vollbringen.“ Im Text selbst ist eine Fortschreibung feststellbar: 28 Ursprünglich handelt es sich um eine Weissagung auf Hiskija, der im Zeitalter der assyrischen Besatzung des Nordreiches der notleidenden Bevölkerung im Jahre 722 v.Chr. als Hoffnungsträger porträtiert wird, der mit Gottes Hilfe das Joch der Deporta- 28 Zur neueren Jesajaforschung vgl. z.B. Konrad S CHMID , Jesaja 1-23 (Zürcher Bibelkommentare), Zürich 2011; zum Predigttext speziell Manfred O EMING , Christvesper - 24.12.1999: Jes 9,1-6, in: Göttinger Predigtmeditationen 53 (1999), 35-40. <?page no="213"?> Die verborgene Nähe 199 tion und Zwangsarbeit abstoßen wird (Text normal gedruckt). Der Text wird aber in exilischer Zeit ca. 550 v.Chr. fort- und umgeschrieben, v.a. durch eine Ausweitung des Adressatenkreises auch auf die judäische Gola (kursiv), auch durch unklare bzw. weiträumige Formulierungen („das Volk, das im Dunkel lebt“). Sie soll eine große Wende erwarten, so wie sie beim zweiten Jesaja ausgiebig entfaltet wird. Schließlich erfolgt ca. um 250 v.Chr. eine protoapokalyptische Universalisierung (in Kapitälchen gesetzt): Jeder Stiefel, der dröhnend daherstampft, jeder Mantel, der mit Blut befleckt ist, wird verbrannt werden, wird ein Fraß des Feuers werden (V. 4). Hier wird eine Art neue Schöpfung ohne militärische Gewalt erwartet. Die Königsideologie mit den Inthronisationsnamen, die sich ursprünglich auf einen neu geborenen Davididen bezog, wird nun zum Programm einer noch ausstehenden Zukunft Gottes. Im Laufe des Fortschreibungsprozesses wird ein Trostwort an das Nordreich zu einem weltumspannenden pazifistischen Messianismus ausgebaut. In dieser Form wird er zum Weihnachtstext, der das Wesen und Wirken Jesu Christi aufdeckt. Die liturgische Verwendung in der Weihnachtsnacht nimmt also die Bewegung, die im Text selbst feststellbar ist, auf und schreibt sie auf die Gegenwart der gottesdienstlich versammelten Weihnachtsgemeinde hin weiter. Das ist keine Gewalt oder unaufgeklärte Willkür, sondern tieferes Verstehen. Ps 121,7f „Der HERR behüte dich vor allem Übel, er behüte deine Seele. Der HERR behüte deinen Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit! “ Die sog. „Wallfahrtspsalmen“ sind vielfach deutbar: 29 z.B. als Lieder auf den Stufen des Tempels, 30 als Lieder auf der Pilgerfahrt oder als spiritueller Aufstieg zu Gott im Gebet. 31 Z.B. deutet sie Klaus Seybold 32 als Sammlung von „Volksliedern“, die bei der Wallfahrt gesungen und dann im Tempel depo- 29 Vgl. den exzellenten Forschungsüberblick, Die Komposition des sog. Wallfahrtspsalters, in: Frank-Lothar H OSSFELD - Erich Z ENGER , Psalmen 101-150 (Herders Theologischer Kommentar zum AT), Freiburg i.Br. u.a. 2008, 391-407. 30 Hermann Michael N IEMANN , Stufen und Treppen in der Levante, in der Bibel - und in den Wallfahrtspsalmen? Studien zur altorientalischen und israelitischen Gebetsliteratur, in: Alexandra G RUND - Annette K RÜGER - Florian L IPPKE (Hgg.), Ich will dir danken unter den Völkern: Studien zur israelitischen und altorientalischen Gebetsliteratur (FS Bernd Janowski), Gütersloh 2013, 491-518, der auf die Stufen am Tempelgebäude deutet. 31 Für eine Deutung, die „eng mit dem inneren Heiligtum und der Tempelsymbolik verbunden war“ Friedhelm H ARTENSTEIN , Das Angesicht JHWHs. Studien zu seinem höfischen und kultischen Bedeutungshintergrund in den Psalmen und in Exodus 32-34 (Forschungen zum Alten Testament 55), Tübingen 2008, 215f. Zur historischen Einordnung vgl. Oliver D YMA , Die Wallfahrt zum Zweiten Tempel. Untersuchungen zur Entwicklung der Wallfahrtsfeste in vorhasmonäischer Zeit (Forschungen zum Alten Testament II/ 40), Tübingen 2009. 32 Klaus S EYBOLD , Die Wallfahrtspsalmen. Studien zur Entstehungsgeschichte von Psalm 120-134 (Biblisch-theologische Studien 3), Neukirchen 1978; DERS ., Die Redaktion der Wallfahrtspsalmen, in: Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 91 (1979), 247- 268. <?page no="214"?> Manfred Oeming 200 niert wurden; die Herausgeber des Psalters haben sie überarbeitet und daraus ein Symbol des Lebens gemacht. Die symbolische Dimension 33 wird den Psalmen nicht aufgenötigt, sondern im Prozess der Psalterendredaktion wurden die einzelnen Lieder, die ursprünglich vielleicht Gesänge von einfachen Pilgern aus dem Norden nach Jerusalem hin darstellten, zu Chiffren für menschliche Existenz. Die Sammlung und die Komposition der Lieder gibt ihnen einen tieferen Sinn als jenen, den sie als Einzelteile, die teilweise sehr schlicht und volkstümlich waren, besaßen. Wenn nun ein christlicher Prediger diese Pilger-Worte im Rahmen der Beerdigungsliturgie anwendet und mit ihnen den Sarg auf seinen letzten Weg von der Friedhofskapelle zum Grab hin verabschiedet, in der Hoffnung, dass dieser Weg mit Gott weitergehen wird, dann missbraucht er den Text keineswegs! Der exegetisch ermittelte Prozess der existentialen Interpretation im Psalter selbst wird vielmehr sachgemäß weitergeführt. Ein letztes Beispiel: Ijob 19,25f „Aber ich, ich weiß: Mein Löser lebt, und [selbst wenn] er sich als der letzte aus dem Staub erhebt. Und nachdem meine Haut [so] zerschlagen ist, will ich doch aus meinem Fleisch heraus Gott schauen.“ Über die ursprüngliche Intention des Textes gibt es eine umfangreiche Diskussion, die hier im Einzelnen keine Rolle zu spielen braucht. 34 Man deutet den goel z.B. auf eine himmlische Helferfigur, die für Ijob gegen Gott eintreten wird, eine Art Staatsanwalt, der als Gegenspieler zum Satan aus Kap. 1+2 Ijob im himmlischen Gericht Recht erschaffen wird (vgl. den Fürbittengel Ijob 33,23ff). Die m.E. wahrscheinlichste Deutung ist diejenige, dass Hiob annimmt, noch zu seinen Lebzeiten, noch vor seinen Tod (in seinem Fleisch) Gott selbst als seinen Löser, d.h. als denjenigen zu sehen, der ihn ins Recht setzen wird. Diese Hoffnung erfüllt sich auch in Ijob 38-41, was Ijob selbst feststellt: „Vom Hörensagen nur hatte ich von dir vernommen; jetzt aber hat mein Auge dich geschaut. Darum widerrufe ich und atme auf, in Staub und Asche“ (42,5f). Diese ursprünglich wohl rein innerweltliche Hoffnung Ijobs ist aber vieldeutig formuliert und wird schon in den alten Übersetzungen tendenziell ins Postmortale transzendiert. In der wohl bekanntesten Rezeption von Ijob 19,26 33 Ludger S CHWIENHORST -S CHÖNBERGER , „Zum Haus des Herrn wollen wir gehen“. Psalm 122 - Ursprüngliche Bedeutung und geistiger Sinn, in: Nikodemus C. S CHNABEL (Hg.), Laetare Jerusalem. Festschrift zum 100jährigen Ankommen der Benediktinermönche auf dem Jerusalemer Zionsberg (Jerusalemer Theologisches Forum 10), Münster 2006, 104- 120. 34 Vgl. neben den Kommentaren z.B. Theresia M ENDE , „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“ (Ijob 19,25), in: Trierer Theologische Zeitschrift 99 (1990), 15-35; Rainer K ESSLER , „Ich weiß, daß mein Erlöser lebet“ - Sozialgeschichtlicher Hintergrund und theologische Bedeutung der Löser-Vorstellung in Hi 19,25, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 89 (1992), 139-158. <?page no="215"?> Die verborgene Nähe 201 in Händels Messias wird eine Verbindung zum Christusgeschehen direkt gezogen. LXX Hieronymus (Vulgata) Arie 40 aus Händels „Messias“ 25 oi=da ga.r o[ti ave,nao, j ev stin o` evklu,ein me me, llwn evpi. gh/ j 26 avnasth,sai to. de, rma mou to. avnatlw/ n tau/ ta para. ga.r kuri,ou tau/ ta, moi sunetele, sqh . 25 scio enim quod redemptor meus vivat et in novissimo de terra surrecturus sim 26 et rursum circumdabor pelle mea et in carne mea videbo Deum. Ich weiß, dass mein Erlöser lebt und dass er am jüngsten Tage auf der Erde stehen wird; und wenn auch Würmer diesen Körper zerstören, werde ich in meinem Fleische Gott sehen. Nun aber ist Christus auferstanden von den Toten, der Erstgeborene jener, die schlafen. 25 Denn ich weiß, dass der immerwährend ist, der mich befreien wird auf der Erde. 26 Meine Haut, die solches geduldig ertrug, möge er auf(er)stehen lassen. Denn vom Herrn ist dies für mich vollbracht. (LXX Deutsch) 25 Denn ich weiß, dass mein Erlöser lebt und dass er mich am Ende von der Erde auferstehen lassen wird, 26 und ich werde wieder mit meiner Haut bekleidet werden, und in meinem Fleisch werde ich Gott schauen. Ein offener Text, der in seiner hebräischen Urgestalt schon rätselhaft ist, wird im Zuge der Übersetzungs- und Rezeptionsgeschichte auf die Transzendenz und die Sphäre des Postmortalen hin geöffnet. Wenn Händel ihn direkt mit Christus füllt, dann ist das nicht reine Gewalt. Seit der Alten Kirche, auf zahlreichen Grabinschriften und vor allem in Kirchenliedern wird Ijob als Prophet der postmortalen leiblichen Auferstehung verstanden. Das Verhältnis von Ursprungstext, Textfortschreibung und Rezeptionsgeschichte ist nicht so klar abgrenzbar, wie man in der historisch-kritischen Forschung gedacht hat und denkt. Die Grundstrukturen der Rezeptionsgeschichte sind im Text selbst vorgezeichnet: immer wieder neu wird älteres Material auf aktuelle Verwendung hin fortgeschrieben, wenn er nicht schon ursprünglich latent so gemeint war. These 4 Wenn man die an den drei Beispielen gewonnenen Einsichten in einen weiteren Kontext stellt, dann zeigt sich: Das NT tut dem AT mitnichten Gewalt an, sondern steht im Rahmen und im Kontext der antiken Methoden als vollkommen „normal“ da. 35 Der Fehler der modernen historisch-kritischen Wissenschaft besteht darin, dass sie sich aufgrund ihrer großen Meriten um das 35 Manfred O EMING , Zwischen „Judaizein“ und Antijudaismus - Wie das Neue Testament mit dem Alten Testament hermeneutisch umgeht, in: Evangelium und Wissenschaft 34 (2013), 12-29. <?page no="216"?> Manfred Oeming 202 Verstehen der Bibel selbst absolut setzt. Das ist hermeneutisch trotz aller verdienstvollen Aufklärung letztlich doch naiv. Das, was wir wirklich brauchen, ist sowohl ein Bemühen um den Text in seinen historischen Ursprüngen, die sich meistens schon als polyvalent und polysemantisch erweisen, als auch eine rezeptionsgeschichtliche Aufklärung! Die Anwendung des Textes auf immer neue Situationen ist nichts Sekundäres, sondern findet sich sehr häufig in den Texten selbst angelegt. Wir brauchen eine moderne Hermeneutik, welche die Vielbedeutsamkeit der Texte begreift und aufschließt und Brücken zwischen Exegese und Liturgie neu zu schlagen in der Lage ist. Dabei kommen sowohl die altkirchlichen als auch die jüdischen Traditionen zu neuem Recht. 36 These 5 Wenn man die Frage stellt, warum gewisse Texte im Kanon der Heiligen Schriften stehen und manche nicht, dann ist dies nach meinen Untersuchungen 37 nicht eine Frage des Zufalls, der Macht oder allein der priesterlichen Interessen. Die Bildung des Kanons kann daher keinesfalls als individuelle Leistung gelten, sondern muss für das AT als das Ergebnis eines viele Jahrhunderte langen Erschließungs-, Deutungs- und Selektionsprozesses der Gemeinde(n) begriffen werden. Die Einsicht in die Nichtrekonstruierbarkeit der vielfädigen Kanonentstehung im Detail zwingt dazu, sich von einem individualistischen Denken zu lösen und die Entstehung des Kanons - zumindest tendenziell - stärker „demokratisch“ zu denken. Der Gebrauch (oder Nicht- Gebrauch) in den unendlich vielen Gottesdiensten der Ökumene mit Lesungen und Predigten entschied über kanonisch oder nicht-kanonisch. These 6 Die wissenschaftliche Exegese ergibt, dass die Texte der Bibel gerade auch des Alten Testaments aus dem liturgischen Gebrauch hervorgegangen sind und im Grunde selbst Predigten sind. Das so genannte historische Interesse aller Texte steht weit hinter dem kerygmatischen. Was z.B. für Texte der Urgeschichte nahezu evident ist, gilt auch für weitestgehend alle Teile der Geschichtsschreibung. Wer z.B. die Erzählung von David und Goliath liest, sollte hier nicht geschichtliche Informationen über das 10. Jahrhundert suchen, sondern theologische Bekenntnisse über die Macht Gottes und seines Namens JHWH. Selbst vermeintlich blutleere Listen und Genealogien können im Kern theologischen Honig enthalten. 38 „Das hat für die historisch-kritische Erforschung der Propheten zur Folge, dass sie nicht in literarkritischen Hypothe- 36 Vgl. z.B. Manfred O EMING , Biblische Hermeneutik, Darmstadt 4 2013. 37 Vgl. Manfred O EMING , Das Hervorwachsen des Verbindlichen aus der Geschichte des Gottesvolkes. Grundzüge einer prozessual-soziologischen Kanon-Theorie, in: Zeitschrift für Neues Testament 12 (2003), 52-58. 38 Vgl. Manfred O EMING , Das wahre Israel. Die genealogische Vorhalle 1 Chr 1-9 (Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament 120), Stuttgart 1991. <?page no="217"?> Die verborgene Nähe 203 sen oder textkritischen Operationen allein stecken bleibt, sondern bis zur Sache der Texte vorstößt, die dann wiederum nach neuer Predigt ruft, weil sie in der Predigt eigentlich erst zum Ziel des Verstehens kommt.“ 39 Der hermeneutische Zirkel von gottesdienstlicher Predigt und wissenschaftlicher Erforschung biblischer Texte kam auch bei Gerhard von Rad zur Geltung, am schönsten wohl in seinem Aufsatz über „Die Predigt des Deuteronomiums und unsere Predigt“ aus dem Jahr 1961 40 . Der Reiz dieses Aufsatzes liegt in der Grenzüberschreitung des Alttestamentlers zum Neuen Testament und des Exegeten zu ‚unserer Predigt‘. Für Gerhard von Rad ist das Deuteronomium ein homiletisches Vorbild, von dem es zu lernen gilt, das überkommene Gotteswort an eine veränderte Gegenwart zu richten. Der besondere Ort, an dem die Predigt des Deuteronomiums sich befinde, sei zwischen Verheißung und Erfüllung, nämlich zwischen der Verheißung Gottes, das Volk Israel in das Land Kanaan zu führen, und der tatsächlichen Erfüllung dieser Verheißung. „Bis jetzt seid ihr noch nicht zur Ruhe und zum Erbbesitz gekommen“ (12,9). Genau in diesem Zwischenzustand, in den so viele andere Götter einzudringen und das Volk Israel von seinem Gott abzubringen versuchen, hat die Predigt des Deuteronomiums ihren spezifischen Ort und ihre spezifische Qualität als ‚Paraklese‘. Es ist eine ebenso mahnende wie ermutigende Rede, den schon ergangenen Indikativ des Heils nicht aus dem Sinn zu lassen, sondern ihn ‚heute‘ neu zu ergreifen: „Heute, so ihr seine Stimme hört, verstockt euer Herz nicht! “ 41 Das, was Gerhard von Rad für das Deuteronomium aufgezeigt hat, gilt m.E. für alle Teile der Bibel. Es zeigt sich uns am Ende, dass wissenschaftliche Exegese und liturgische Verwendung sehr nahe Verwandte sind! Denn die Texte, in ihrem Gesamtzusammenhang verstanden, sind selbst aus liturgischen Kontexten hervorgegangen und für liturgische Verwendung geschaffen und finden erst darin ihre Vollendung, dass diese Bewegung vom Damals zum Heute erkannt, aufgenommen und vollzogen wird. 39 Christian M ÖLLER , Die „große Zeit“ der Theologischen Fakultät in Heidelberg, in: O EMING - B OËS (Hgg.), Alttestamentliche Wissenschaft (wie Anm. 1), 128-133, hier: 128. Vgl. Ernst F UCHS , Die der Theologie durch die historisch-kritische Methode auferlegte Besinnung, in: DERS ., Gesammelte Aufsätze Bd. 2, Tübingen 1960, 219-237; „Die historisch-kritische Methode der Auslegung neutestamentlicher Texte hat ihren Dienst dann getan, wenn sich aus dem Text die Nötigung zur Predigt ergibt“ (a.a.O., 226). 40 Gerhard VON R AD , Gesammelte Studien zum Alten Testament Bd. 2, München 1973, 154-164. 41 Christian M ÖLLER , Die homiletische Hintertreppe, Göttingen 2007, 12. <?page no="219"?> „… aus ihr werden Psalmen gesungen …“ <?page no="221"?> „Cantando meditari“ Zur Bedeutung des Psalmengesangs im Wortgottesdienst der Messe * Hansjakob Becker In memoriam Günter Stachel „Immer noch reizen sie Poeten und Sprachliebhaber zu neuen Übersetzungen und Weiterschreibungen; immer noch inspirieren sie Musikschaffende zu neuen Kompositionen; und bis heute werden Psalmen in aller Welt in vielen Sprachen gesungen, gebetet, rezitiert - von Juden und Christen […]. Sehr früh schon hat der Umgang mit den Psalmen die gottesdienstlichen Versammlungen und die persönliche Frömmigkeit, aber auch das theologische Erkennen geprägt. Später, in den Klöstern, wurde der Psalter zur Sprachschule für Theologie und Spiritualität: Man sang und betete die Psalmen, sie wurden meditiert und studiert. Jahrhundertelang blieb das so. Noch Martin Luthers Theologie ist ohne diesen Hintergrund nicht zu verstehen. Für ihn waren die Psalmen die ‚kleine biblia‘, die er in seinen Psalmliedern auch der christlichen Gemeinde in den Mund legte.“ 1 1 Psalter „Wenn man die Psalmen Davids singt, ist es, als wenn man alle Bücher der Heiligen Schrift lesen würde.“ 2 * Der Beitrag ist zuerst erschienen in: Robert S CHELANDER - Martin S CHREINER - Werner S IMON (Hgg.), Meditatio. Beiträge zur Theologie und Religionspädagogik der Spiritualität (FS Günter Stachel; Forum Theologie und Pädagogik 4), Münster: LIT Verlag 2002 (€ 30,90), 131-143. Der Wiederabdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des LIT Verlages. Wenige Details wurden für den vorliegenden Band angepasst und aktualisiert. 1 Christa R EICH , Hebräische Psalmen, in: Hansjakob B ECKER - Ansgar F RANZ - Jürgen H ENKYS - Hermann K URZKE - Christa R EICH - Axel S TOCK (Hgg.), Geistliches Wunderhorn. Große deutsche Kirchenlieder, München 2001, 14-17, hier: 15. 2 Johannes von Dara, zitiert bei Hansjakob B ECKER , ‚Du bist mein Atem, wenn ich zu dir bete‘. Anregungen zur Erneuerung des täglichen Gebetes, in: Ulrich W ILLERS (Hg.), Beten: Sprache des Glaubens - Seele des Gottesdienstes. Fundamentaltheologische und liturgiewissenschaftliche Aspekte (Pietas Liturgica 15), Tübingen - Basel 2000, 489-505, hier: 499. <?page no="222"?> Hansjakob Becker 208 Die Psalmen Davids, das ist zunächst der Psalter 3 , ein Buch also, „in Qumran, im Neuen Testament und in den Zeugnissen des hellenistischen Judentums das bestbekannte und meistzitierte Buch des Alten Testaments“. 4 Was war der Sitz im Leben dieses Buches? Der Psalter war nicht das Gesangbuch des Zweiten Tempels und nicht das der Synagoge, und weder in Qumran noch in den frühen christlichen Gemeinden hatte er einen Platz im Gottesdienst. Der Psalter war zunächst „der Grundtext der persönlichindividuellen Frömmigkeit“. 5 Als Meditationsbuch wurde er kanonisch und erst als kanonischer Text liturgisch. Über die meditativen Traditionen des frühen Judentums und Christentums wissen wir wenig. Die Technik der Meditation mit Hilfe auswendig aufgesagter Texte in Gestalt eines halblauten, rhythmischen Singsangs „muß für die frommen Juden und Christen der Zeit Jesu ebenso selbstverständlich gewesen sein wie für den Muslim heute noch das ständige Drehen des 33perligen Rosenkranzes, wobei er die hundert Namen Gottes aufsagt.“ 6 Auch die „‚meditatio‘ der Mönche in ihren Höhlen und Zellen war leises Murmeln von Texten, während man, sich wiegend, hockte und Schilfmatten flocht. Man ‚meditierte‘ auch, indem man Bibeltexte murmelte […]. Sogar der (stets auswendige) Psalmenvortrag des ‚Lesers‘ bei der Gebetsversammlung, dem alle sitzend lauschten, konnte ‚meditatio‘ genannt werden. Auch wenn man in dieser Technik stets ein und denselben biblischen Satz wiederholte, war das ‚meditatio‘.“ 7 Als „die freie persönliche Meditationspraxis der Mönche sich durch eine stärker ritualisierte Gemeinschaftsgestalt des Meditierens, den Beginn des monastischen Stundengebets, ergänzte […], war es zunächst selbstverständlich, daß man zumindest beim nächtlichen Offizium einfach den Psalter weiter entlangging. War man bei Ps 150 angelangt, begann man wieder mit Ps 1, unter Umständen im gleichen Gottesdienst.“ 8 Das Tagzeitengebet der ägyptischen Mönche besteht ausschließlich aus zwölf Psalmen, die wie die zwölf Lesungen der Ostervigil im Dreischritt von hören - schweigen - beten meditiert werden; 9 die zwei sich anschließenden Lesungen sind fakultativ und dienen dem Auswendiglernen der Heiligen Schrift. 3 Zum Ganzen: Erich Z ENGER (Hg.), Der Psalter im Judentum und Christentum (FS Norbert Lohfink; Herders Biblische Studien 18), Freiburg i.Br. u.a. 1998. 4 Norbert L OHFINK , Psalmengebet und Psalterredaktion, in: Archiv für Liturgiewissenschaft 34 (1992), 1-22, hier: 3 [Nachdruck unter dem Titel: Der Psalter und die Meditation. Zur Gattung des Psalmenbuches, in: DERS ., Im Schatten deiner Flügel. Große Bibeltexte neu erschlossen, Freiburg i.Br. u.a. 1999, 143-162.266]. 5 A.a.O., 4. 6 A.a.O., 6. 7 A.a.O., 5-6. 8 A.a.O., 6. 9 Vgl. Ansgar F RANZ , Der Psalm im Wortgottesdienst. Einladung zur Besichtigung eines ungeräumten Problemfeldes, in: Georg S TEINS (Hg.), Leseordnung. Altes und Neues Testament in der Liturgie (Gottes Volk. Bibel und Liturgie im Leben der Gemeinde, Reihe S, Lesejahr B 1997), Stuttgart 1997, 138-146, hier - mit Bezugnahme auf Johannes Kassian: 140-141. <?page no="223"?> „Cantando meditari“ 209 Indem Benedikt diese in das nächtliche Stundengebet integriert, wird aus den zwölf Psalmenlesungen eine aus zwölf fortlaufenden Psalmen bestehende, den Lesungen vorangehende Psalmodie. Aber auch hier bleibt der Vorrang des auf eine Woche verteilten Psalters erhalten. 10 Stundengebet ist zu allererst Meditation des Psalters. 2 Psalm „Wo der Gott Israels begegnet, da sind Poesie und Musik nie fern.“ 11 Während für das Stundengebet der Mönche die Verwendung des ganzen Psalters typisch ist, wird der Gottesdienst der Gemeinden durch die Auswahl einzelner Psalmen bestimmt, angefangen von der Tagzeitenliturgie 12 über die Feier der Sakramente 13 bis hin zum Wortgottesdienst der Messe, auf den sich die folgende Untersuchung beschränkt. Das Zweite Vatikanische Konzil hat „den Tisch des Wortes Gottes reicher gedeckt“ und „die Schatzkammer der Bibel weiter geöffnet“. 14 Dabei hat das Alte Testament eine beachtliche Aufwertung erfahren. In der Gestaltung der Formulare ist die nachkonziliare Liturgiereform auf den Typ des Wortgottesdienstes zurückgekommen, der uns schon in der patristischen Zeit begegnet: An Sonntagen und Hochfesten kommen grundsätzlich eine Lesung aus dem Alten Testament (Π = prophetia), ein Psalm (Ψ = psalmus), eine Epistel (A = apostolus) und das Evangelium (E = evangelium) zum Vortrag. 15 AT NT Lesung Gesang + Lectio + + Psalmus + + Apostolus + Halleluja + + Evangelium + 10 Regula Benedicti XI,11-12; XVIII,22-25 (Sources Chrétiennes 182 D E V OGÜÉ ). Zum Ganzen vgl. Angelus A. H ÄUSSLING , Christliche Identität aus der Liturgie. Theologische und historische Studien zum Gottesdienst der Kirche, hg. von Martin K LÖCKENER - Benedikt K RANEMANN - Michael B. M ERZ (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 79), Münster 1979, 334-344, hier: 338-339. 11 Rolf G EISSLER , zit. bei R EICH , Hebräische Psalmen (wie Anm. 1), 15-16. 12 Für die Vesper z.B. Ps 141 und Ps 104. 13 Für die christliche Initiation z.B. Ps 23 und Ps 42/ 43, für die Kommunion z.B. Ps 34. 14 Sacrosanctum Concilium 51. 15 Hansjakob B ECKER , Wortgottesdienst als Dialog der beiden Testamente. Der Stellenwert des Alten Testamentes bei einer Weiterführung der Reform des Ordo Lectionum Missae, in: Ansgar F RANZ (Hg.), Streit am Tisch des Wortes? Zur Deutung und Bedeutung des Alten Testaments und seiner Verwendung in der Liturgie (Pietas Liturgica 8), St. Ottilien 1997, 659-692 [Kurzfassung unter dem Titel: Die Bibel Jesu und das Evangelium Jesu. Ein konkreter Vorschlag zur Weiterführung der Reform des Wortgottesdienstes, in: S TEINS (Hg.), Leseordnung (wie Anm. 9), 103-113]. <?page no="224"?> Hansjakob Becker 210 Der der Predigt vorausgehende Teil des Wortgottesdienstes besteht, einschließlich der das Evangelium präludierenden Akklamation des Halleluja, aus fünf Elementen; vier von ihnen sind biblische Texte (ΠΨAE), drei davon Lesungen im strengen Sinn des Wortes (ΠAE). Zwar ist auch der Psalm (Ψ) als biblischer Text eine Lesung 16 , jedoch wird er aufgrund seines poetischen Charakters und seiner musikalischen Realisierung im Lektionar als Gesang bezeichnet. Von der Struktur her zeichnet sich der vatikanische Typ des Wortgottesdienstes durch Abwechslung der Gattungen von Lesung und Gesang sowie durch Ausgewogenheit in der Zahl der altbzw. neutestamentlichen Texte aus, wobei in deren Abfolge eine Steigerung festzustellen ist, die in der rituellen Auszeichnung des Evangeliums ihren Höhepunkt findet. 17 3 Psalmodie „Wer Psalmen […] singen will, lernt, in Wahrhaftigkeit auf das Wort zu achten. Er lernt hören.“ 18 „Einstimmen […]. Ich finde meine eigene Stimme getragen vom Zusammenklang der anderen Stimmen, der entweder für mich ausspricht, was ich (noch) nicht selbst sagen kann, oder mir hilft auszusprechen, was ich erst im Begriffe bin zu begreifen […]. Einstimmen […]. Mit den aktuellen Versammelten und den früheren Generationen, die so ihren Glauben bekannt haben […]. Einstimmen […]. Die Erfahrung des Eingravierens des Glaubens in unser Denken, Fühlen und Wollen - eine Erfahrung, von der sich dann sagen lässt, dass wir sie in ihren mannigfachen Aspekten erst nachträglich und fragmentarisch einholen: Wenn uns irgendwann die Logik einer Glaubensaussage aufgeht, die uns das Lied auf die Lippen gelegt hat; wenn wir die Tiefe eines Verses in einer bestimmten Lebenssituation emotional ausloten, […] von der wir zuvor ‚nur‘ gesungen haben.“ 19 Von seiner Funktion im Ganzen her ist der Psalm zunächst nur ein Text unter anderen. Im Blick auf die bei der vatikanischen Reform intendierte inhaltliche Kohärenz und Konsonanz aller Teile des Wortgottesdienstes 20 , die „in einer Spannung zueinander stehen, sich wechselseitig herausfordern und so erhel- 16 Vgl. F RANZ , Psalm (wie Anm. 9), 142. 17 Benedikt K RANEMANN , Anmerkungen zur Dramaturgie des Wortgottesdienstes der Meßfeier, in: F RANZ (Hg.), Streit (wie Anm. 15), 759-768. 18 Christa R EICH , Evangelium: Klingendes Wort. Zur theologischen Bedeutung des Singens, Stuttgart 1997, 43. 19 Bernd W ANNENWETSCH , Singen und Sagen. Das Lied als Quelle und Gestalt von Theologie; unveröffentlichtes Typoskript eines Referates des Graduiertenkollegs „Geistliches Lied und Kirchenlied“ der Universität Mainz anlässlich der Tagung „Mystik im Kirchenlied“, Görlitz, September 2001. 20 Vgl. Adrien N OCENT , Eine ‚kleine Geschichte am Rande‘. Zum Lektionar für die Meßfeier der ‚gewöhnlichen‘ Sonntage, in: F RANZ (Hg.), Streit (wie Anm. 15), 649-657. <?page no="225"?> „Cantando meditari“ 211 len“ 21 sollen, gewinnt er jedoch, durch seine poetische Sprache, seine musikalische Form und nicht zuletzt durch die meditative Wiederholung des Kehrverses, eine verstärkte Bedeutung: Er ist ‚Antwortpsalm‘ nicht nur im aufführungstechnischen, sondern auch im inhaltlichen Sinn. 22 Für den Vortrag der Psalmen bietet die Liturgie verschiedene Weisen an: Im psalmus directaneus wird der Psalm ohne Kehrvers gesungen - entweder durch den Vorsänger (Solopsalmodie) oder die Gemeinde (wechselchörige Psalmodie) - sei es auswendig, sei es unter Zuhilfenahme von Büchern. Im psalmus responsorialis kommt zum Text des Psalms eine nach jedem Vers von Allen eingeschobene Anti-phon (Responsum/ Kehrvers) hinzu. 23 Schon im jüdischen Gottesdienst beheimatet, ist responsoriale Psalmodie „die älteste Weise, die Psalmen unter Beteiligung der Gemeinde zum Klingen zu bringen. Der Psalm erklingt in seiner ihm gemäßen Weise, in vollem Wortlaut und mit Hilfe eines musikalischen Modells, das nach den ältesten Tonmodellen der Psalmodie, den drei ‚Urmodi‘ 24 gestaltet ist. Eine Einzelstimme bringt ihn zum Klingen […]. Der kurze Ruf, den die Gemeinde […] auf jeden Psalmvers antwortet, ist dem jeweiligen Psalm entnommen. In ihm erklingt ein zentrales Wort des Psalms. Die Gruppe hat kein Buch in der Hand und liest nicht mit. Sie hört den Ruf und singt ihn nach. Sie hört die Psalmverse und antwortet mit dem Ruf. Fortlaufender Psalm und gleich bleibender Ruf geraten in einen spannungsvollen Wechsel, das Hören wird intensiver, der Ruf vertieft die Konzentration.“ 25 Im Wortgottesdienst hat sich die responsoriale Psalmodie mit Recht durchgesetzt. Äußerst einfach zu handhaben, belässt sie dem Psalm seinen Verkündigungscharakter und beteiligt doch alle singend am Vortrag: Die Gemeinde ist ganz Ohr und zugleich ganz Stimme; actuosa und meditativa participatio bilden eine abwechslungsreiche Einheit. Dabei kommt dem dank seiner textlichen Kürze und melodischen Schlichtheit von der Gemeinde auswendig gesungenen Kehrvers eine entscheidende Rolle zu. Das über Psalm und Psalmodie Gesagte soll im Folgenden an einem Messformular der Leseordnung ‚Patmos‘ 26 veranschaulicht werden. 21 Alex S TOCK , Typologische Exegese. Zur visuellen Pfingsttheologie des Heilsspiegels, in: Rolf Z ERFASS - Herbert P OENSGEN (Hgg.), Die vergessene Wurzel. Das Alte Testament in der Predigt der Kirchen, Würzburg 1990, 149-173, hier: 173. 22 Vgl. F RANZ , Psalm (wie Anm. 9), 138-146. 23 Die Pastorale Einführung in das Meßlektionar (PEM) gemäß der Zweiten Authentischen Ausgabe des Ordo Lectionum Missae (1981) 20 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 43, Bonn o.J., 16). 24 Godehard J OPPICH - Christa R EICH - Johannes S ELL (Hgg.), Preisungen. Psalmen mit Antwortrufen, Münsterschwarzach ³2005, 275-282. 25 A.a.O., 4-5. 26 B ECKER , Wortgottesdienst (wie Anm. 15), 659-689. Der hier auf die Sonntage nach Pfingsten beschränkte Entwurf einer ökumenischen Leseordnung ist inzwischen für das gesamte Kirchenjahr fertig gestellt und in diesem Sammelband S. 419ff enthalten. <?page no="226"?> Hansjakob Becker 212 1. Sonntag im Advent Lesejahr D Formular Kommentar L ESUNG (Jes 21,11-12) Aus dem Buch Jesaja 11 Aus Seïr ruft man mir zu: Wächter, wie lange noch dauert die Nacht? Wächter, wie lange noch dauert die Nacht? 12 Der Wächter antwortet: Es kommt der Morgen, es kommt auch die Nacht. Wenn ihr fragen wollt, kommt wieder, und fragt! Unter den Adventslesungen der orientalischen, lateinischen und reformatorischen Tradition nicht bezeugt, 27 gehört das kleine Stück zu den rätselhaftesten des ganzen Jesajabuches. Darin liegt seine Stärke. Im Zentrum steht die Frage an den Wächter, wie lange die Nacht noch dauere. Die Wiederholung lässt die Ungeduld erkennen, mit der der Anbruch des Morgens erwartet wird. „Die Frage nach dem Ende der Nacht muß […] als Frage nach dem Ende der Not, die Antwort als Hinweis darauf verstanden werden, daß diese zwar […] gewiß endet, der Zeitpunkt aber noch nicht abzusehen ist.“ 28 A NTWORTPSALM Kehrvers (Ps 130,5.6) 27 Eine handschriftliche Zusammenstellung der Quellen findet sich bei den Schemata des Coetus de lectionibus missae. Zur lateinischen Tradition, einschließlich der neogallikanischen Liturgien: Gaston F ONTAINE , L’Avent dans les Lectionnaires latins des origines à nos jours, unveröffentlichte Dissertation am Institut Catholique de Paris, 3 Bde., Paris 1979, hier: Bd. 3, 1027-1118. Zu den Perikopenordnungen des 20. Jh.: Ansgar F RANZ , Wortgottesdienst der Messe und Altes Testament. Katholische und ökumenische Lektionarreform nach dem II. Vatikanum im Spiegel von Ordo Lectionum Missae, Revised Common Lectionary und Four Year Lectionary. Positionen, Probleme, Perspektiven (Pietas Liturgica. Studia 12), Tübingen 2002. Zur christlichen Deutung des Textes vgl. Heinrich S CHLIER , Er ist dein Licht. Besinnungen, Freiburg i.Br. u.a. 1977, 9-25. Eine mehrstimmige Vertonung von Antoine Oomen findet sich bei Huub O OSTERHUIS , Du Atem meiner Lieder. Hunder Lieder und Gesänge, hg. von Cornelis K OK , Freiburg i.Br. u.a. 2009, 178-179 (Nr. 82 Wie weit ist die Nacht). Erwähnt sei auch die Vertonung der Stelle in Felix Mendelssohn-Bartholdys Symphonie Nr. 2 ‚Lobgesang‘ (hier in Zusammenhang mit Röm 13,11-14! ), sowie in Frank Martins Oratorium ‚In terra pax‘; vgl. Sönke R EM- MERT , Bibeltexte in der Musik. Ein Verzeichnis ihrer Vertonungen, Göttingen 1996, 106. 28 Otto K AISER , Der Prophet Jesaja (Das Alte Testament Deutsch 18), Göttingen 1973, 105- 108, hier: 107-108; vgl. auch Hans W ILDBERGER , Jesaja (Biblischer Kommentar Altes Testament X/ 2), Neukirchen 1978, 787-796. Für exegetische Hinweise danke ich Kollegen Hermann-Josef Stipp. <?page no="227"?> „Cantando meditari“ 213 Psalm 130 29 1 Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir: * 2 Herr, höre meine Stimme! Wende dein Ohr mir zu, * achte auf mein lautes Flehen! 3 Würdest du, Herr, unsere Sünden beachten, * Herr, wer könnte bestehen? 4 Doch bei dir ist Vergebung, * damit man in Ehrfurcht dir dient. 5 Ich hoffe auf den Herrn, / es hofft meine Seele, * ich warte voll Vertrauen auf sein Wort. 6 Meine Seele wartet auf den Herrn * mehr als die Wächter auf den Morgen. Mehr als die Wächter auf den Morgen * 7 soll Israel harren auf den Herrn. Denn beim Herrn ist die Huld, * bei ihm ist Erlösung in Fülle. 8 Ja, er wird Israel erlösen * von all seinen Sünden. Psalm 130, der sechste Bußpsalm, begegnet in der Liturgie unter verschiedenen Aspekten: Er ist der Psalm der Vergebung (Begräbnis, Totenoffizium), der Psalm der Erlösung (Weihnachtsvesper) und der Psalm der Erwartung (Advent bzw. Voradvent). 30 Der Psalm 31 besteht aus drei ‚Strophen‘: In der ersten (1-4) ruft der Beter aus der Tiefe seiner Schuld zu Gott, in der zweiten (5-6) erzählt er von seiner Hoffnung auf dessen Wort, in der dritten (7-8) fordert er Israel auf, sich an seiner Erfahrung zu orientieren und von Gott Vergebung und Erlösung zu erwarten. Die im Zentrum des Psalms stehenden „Verben des Wartens und Hoffens auf JHWH haben formgeschichtlich ihren Ort im Vertrauensbekenntnis […]. Dass der Psalmist in der zweiten Strophe die Gebetsform verlässt […] unterstreicht einmal mehr, dass nicht ein bestimmtes notvolles Ereignis im Vordergrund steht, sondern die Existenz des Menschen als solche in ihrer Verwiesenheit auf Gott hin reflektiert wird […]. Die Sehnsucht der Wächter in der Nacht […] erscheint dem Psalmisten […] als […] Bild seiner eigenen Sehnsucht nach JHWH […]. Das Bild lebt […] von der Gewissheit, dass der Morgen tatsächlich anbrechen wird. Diese Gewissheit ist der Grund für das Sichausstrecken der Wächter auf den Morgen hin.“ 32 Indem der Beter seine Erfahrungen auf Israel überträgt, wird der Psalm „in eine endgültige und umfassende Heilserwartung hineingestellt“. 33 29 Psalmodie: J OPPICH - R EICH - S ELL , Preisungen (wie Anm. 24), 279 (Tafel der Psalmodietöne). 30 Carl M ARBACH , Carmina scripturarum scilicet antiphonas et responsoria ex sacro scripturae fonte in libros liturgicos sanctae ecclesiae romanae derivata, Straßburg 1907, 238- 239. 31 Franz S EDLMEIER , ‚Bei dir, da ist Vergebung, damit du gefürchtet werdest‘. Überlegungen zu Psalm 130, in: Biblica 73 (1992), 473-495; Erich Z ENGER , Ich will die Morgenröte wecken. Psalmenauslegungen, Freiburg i.Br. u.a. 1991, 174-179; vgl. auch Hansjakob B ECKER , Aus tiefer Not schrei ich zu dir, in: B ECKER - F RANZ - H ENKYS - K URZKE - R EICH - S TOCK (Hgg.), Geistliches Wunderhorn (wie Anm. 1), 124-134. 32 S EDLMEIER , Bei dir, da ist Vergebung (wie Anm. 31), 492-494.487. 33 A.a.O., 494. <?page no="228"?> Hansjakob Becker 214 E PISTEL (Röm 13,11-14) Aus dem Brief des Apostels Paulus an die Römer Schwestern und Brüder! 11 Bedenkt die gegenwärtige Zeit: Die Stunde ist gekommen, aufzustehen vom Schlaf. Denn jetzt ist das Heil uns näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden. 12 Die Nacht ist vorgerückt, der Tag ist nahe. Darum lasst uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts. 13 Lasst uns ehrenhaft leben wie am Tag, ohne maßloses Essen und Trinken, ohne Unzucht und Ausschweifung, ohne Streit und Eifersucht. 14 Legt (als neues Gewand) den Herrn Jesus Christus an. Der Text, der bei der Bekehrung Augustins eine entscheidende Rolle spielt, 34 gehört zu den klassischen Adventslesungen und ist in der römischen Liturgie mit dem 1. Adventssonntag verbunden. Die Paränese aus dem Römerbrief 35 leitet aus der Zeitansage der vorgerückten Nacht die Aufforderung ab, vom Schlaf aufzustehen und sich durch Werke des Lichtes, d.h. der Liebe (vgl. Röm 13,8-10), auf den anbrechenden Tag vorzubereiten. R UF VOR DEM E VANGELIUM (Mt 25,6) 36 Halleluja - Halleluja - Halleluja Um Mitternacht erscholl der Ruf: Seht, der Bräutigam kommt! Auf, ihm entgegen: Christus, dem Herrn! Halleluja - Halleluja - Halleluja 34 Confessiones 8,12,29 (Corpus Christianorum. Series Latina 27: V ERHEIJEN ); Hans Urs von B ALTHASAR , Aurelius Augustinus. Die Bekenntnisse, Einsiedeln ²1988, 207-208. 35 Vgl. Dieter Z ELLER , Der Brief an die Römer (Regensburger Neues Testament), Regensburg 1984, 214-221. 36 Melodie: Liturgische Institute Salzburg, Trier, Zürich (Hgg.), Antiphonale zum Stundengebet, Freiburg i.Br. u.a. 1979, 610. <?page no="229"?> „Cantando meditari“ 215 E VANGELIUM (Mt 25,1-13) + Aus dem heiligen Evangelium nach Matthäus In jener Zeit sprach Jesus zu seinen Jüngern: 1 Mit dem Himmelreich wird es sein wie mit zehn Jungfrauen, die ihre Lampen nahmen und dem Bräutigam entgegengingen. 2 Fünf von ihnen waren töricht, und fünf waren klug. 3 Die törichten nahmen ihre Lampen mit, aber kein Öl, 4 die klugen aber nahmen außer den Lampen noch Öl in Krügen mit. 5 Als nun der Bräutigam lange nicht kam, wurden sie alle müde und schliefen ein. 6 Mitten in der Nacht aber hörte man plötzlich laute Rufe: Der Bräutigam kommt! Geht ihm entgegen! 7 Da standen die Jungfrauen alle auf und machten ihre Lampen zurecht. 8 Die törichten aber sagten zu den klugen: Gebt uns von eurem Öl, sonst gehen unsere Lampen aus. Das am Ende des Voradvents stehende Gleichnis von den zehn Jungfrauen verbindet die Freude der Hochzeit mit dem Ernst des Gerichtes. 37 Die Figur des Bräutigams ist im Alten Testament eine Metapher für Gott, und die Hochzeitsfeier wird im Frühjudentum zum Bild für die Herrlichkeit der Endzeit. Die Hauptperson der Erzählung ist der Bräutigam, der in allen drei Szenen handlungsbestimmend ist, zunächst als Erwarteter, dann als Kommender und endlich als Angekommener. Die eine Hälfte der Jungfrauen macht am Anfang einen Fehler, der sich allerdings erst in der Folge als solcher herausstellt und am Ende den Ausschluss vom Hochzeitsmahl zur Folge hat: Sie meinen zu wissen, wann der Bräutigam kommt, und glauben, über sein Kommen verfügen zu können. Aber wann der Bräutigam kommt, hängt von ihm allein ab, und nicht von denen, die ihn abholen. „Darum waren sie zwar bereit, als er nach ihrer Meinung kommen sollte, aber nicht bereit, als er tatsächlich kam.“ 38 Diese falsche Sicht wird erzählerisch durch das Verhalten der Jungfrauen ohne Öl dargestellt. 39 37 Hans W EDER , Die Gleichnisse Jesu als Metaphern. Traditions- und redaktionsgeschichtliche Analysen und Interpretationen (Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments 120), Göttingen 1978, 239-235; Ulrich L UZ , Das Evangelium nach Matthäus (Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament I/ 3), Zürich - Düsseldorf - Neukirchen-Vluyn 1997, 465-492 (Wirkungsgeschichte! ); Meinrad W ALTER , ‚Wachet auf, ruft uns die Stimme! ‘ Philipp Nicolai und Johann Sebastian Bach als Ausleger des Gleichnisses von den klugen und törichten Jungfrauen, in: Friedhelm B RUSNIAK - Renate S TEIGER (Hgg.), Hof- und Kirchenmusik in der Barockzeit. Hymnologische, theologische und musikgeschichtliche Aspekte. Tagungsbericht der 13. Arolser Barock- Festspiele 1998, Sinzig 1999, 247-267. Nachdruck (ohne Anmerkungen) unter dem Titel ‚Wachet auf, ruft uns die Stimme! ‘ Musikalische Mystik bei Bach, in: DERS ., Erschallet, ihr Lieder, erklinget, ihr Saiten! Johann Sebastian Bachs Musik im Jahreskreis, Zürich - Düsseldorf 1999, 209-227; vgl. auch Ansgar F RANZ , Wachet auf, ruft uns die Stimme, in: B ECKER - F RANZ - H ENKYS - K URZKE - R EICH - S TOCK (Hgg.), Geistliches Wunderhorn (wie Anm. 1), 154-166. 38 W EDER , Gleichnisse (wie Anm. 37), 244. 39 A.a.O., 246-247. <?page no="230"?> Hansjakob Becker 216 9 Die klugen erwiderten ihnen: Dann reicht es weder für uns noch für euch; geht doch zu den Händlern und kauft, was ihr braucht. 10 Während sie noch unterwegs waren, um das Öl zu kaufen, kam der Bräutigam; die Jungfrauen, die bereit waren, gingen mit ihm in den Hochzeitssaal, und die Tür wurde zugeschlossen. 11 Später kamen auch die anderen Jungfrauen und riefen: Herr, Herr, mach uns auf! 12 Er aber antwortete ihnen: Amen, ich sage euch: Ich kenne euch nicht. 13 Seid also wachsam! Denn ihr wisst weder den Tag noch die Stunde. 4 Anti-Phon Ein oftmals wiederholtes Wort sammelt den Geist. 40 Wenn es im Wortgottesdienst nicht nur um eine Addition von Texten, sondern um eine Integration von Themen geht, dann bedarf es motivischer Signale, mit deren Hilfe die Hörer den in den Lesungen anklingenden inhaltlichen Zusammenhang wahrnehmen können. Der Vertiefung dieses Leitmotivs dient in besonderer Weise die Wiederholung des Kehrverses. 41 Hier kommt ein Grundgedanke des Psalms zur Sprache, 42 und zugleich wird eine Brücke geschlagen von der Thematik der alttestamentlichen Lesung zur Epistel und zum Evangelium: Als klingende Verdichtung des Psalms ist der Kehrvers zugleich Mittelpunkt des ganzen Wortgottesdienstes. Textlich kurz, musikalisch schlicht, 43 thematisch auf die 40 Nach Johannes Klimakos, zit. bei B ECKER , Du bist mein Atem (wie Anm. 2), 500. 41 PEM 21. 42 Bei der Formulierung des Kehrverses ist darauf zu achten, dass dieser bei seiner Wiederholung sich nicht sprachlich mit den Versen des Psalms reibt. 43 Es genügt nicht, irgendeine Singweise zu erfinden, die austauschbar und insofern beliebig ist. Je sensibler bei der Gestaltung eines Kehrverses auf Sprachmelodie und Gestimmtheit des Textes sowie auf die Eigenart von Tonräumen und Tonschritten geachtet wird, desto unverwechselbarer und einprägsamer wird ein Ruf. <?page no="231"?> „Cantando meditari“ 217 übrigen Texte abgestimmt, 44 muss der Kehrvers über den Gottesdienst hinaus theologisch wie spirituell Wesentliches zur Sprache bringen und sich als Begleiter im Alltag bewähren: Als Psalter en miniature sollte das Buch der Kehrverse ein Vademecum spirituale sein, mit dessen Hilfe man den Glauben und das geistliche Leben par coeur lernen kann. Betrachtet man die Texte des oben als Beispiel angeführten Wortgottesdienstes, so stellt man fest, dass in allen die Nacht 45 eine wichtige Rolle spielt: ‚Nacht‘ als Zeit der Frage bei Jesaja, des Wartens im Psalm, des Aufstehens bei Paulus und des Entgegengehens bei Matthäus. Auch wenn dieses zentrale Wort im Unterschied zu Lesung, Epistel und Evangelium im Psalm selbst nicht ausdrücklich vorkommt, so ist doch die Sache in der Person des auf den Morgen wartenden Nachtwächters vorhanden. In jedem Fall darf das Schlüsselwort ‚Nacht‘ im Kehrvers nicht fehlen. Dabei bringt das betont an den Anfang gestellte ‚ganz‘ die Länge der Nacht (Jes 21,11) und die Sehnsucht nach dem Morgen (Ps 130,6) zur Sprache. Die Ersetzung des Nomens ‚Herr’ durch das Pro-nomen der zweiten Person dient der Aneignung des Textes: Der Sänger muss selbst einsetzen, wer der ist, auf den seine Seele die ganze Nacht wartet, und er wird angeleitet, diesen Erwarteten, so wie es der erste Teil des Psalms tut, anzusprechen. Aus der Aussage (Ps 130,5-6) wird ein Gebet, in dem Liebe (Hld 3,1) und Sehnsucht (Jes 26,9), aber auch Frage und Klage bis hin zur Anklage mitschwingen: Wie lange noch? (Ps 13,2-3) - Warum? (Ps 22,2). 5 Meditation Meditieren: Sich einüben in den Klang des lebendigen Wortes 46 „Die Psalmen geben den so grundlegenden und bleibenden Erfahrungen der Gottesferne Ausdruck, der Not, Gottes Handeln und Nichthandeln nicht zu verstehen, mit den Reaktionen der Klage, des verzweifelten Schreis aus der Not der Ohnmacht bis hin zum Fluch, Reaktionen, die allein hier noch gegen den Trend der Liturgie zur Perfektion geäußert werden können - und die doch auch im Gottesdienst von Menschen vor Gott Ausdruck finden müssen, einfach weil auch sie Wahrheit unserer Existenz sind.“ 47 44 Ein nicht auf die konkreten Texte abgestimmter Kehrvers ist kontraproduktiv, da er thematisch und motivisch in eine falsche Richtung weist und diese durch die Wiederholung noch betont. 45 Hansjakob B ECKER , Poesie - Theologie - Spiritualität. Die benediktinische Komplet als Komposition, in: Hansjakob B ECKER - Reiner K ACZYNSKI (Hgg.), Liturgie und Dichtung. Ein interdisziplinäres Kompendium (Pietas Liturgica 2), St. Ottilien 1983, 857-901, hier: 890. 46 J OPPICH - R EICH - S ELL , Preisungen (wie Anm. 24), 5. 47 H ÄUSSLING , Christliche Identität (wie Anm. 10), 7. <?page no="232"?> Hansjakob Becker 218 Auch von Ps 130 und dem diesen Klage- und Vertrauenspsalm verdichtenden Kehrvers gilt: „Die Not des Beters besteht in der Abwesenheit Gottes“ 48 , die die Mystiker als ‚dunkle Nacht‘ 49 und Martin Buber als ‚Gottesfinsternis‘ bezeichnet haben. Die „Erfahrung, überhaupt keine religiöse Erfahrung zu machen, also von so etwas wie Gott nicht berührt, nicht getroffen und schon gar nicht verwandelt zu werden“, diese „Erfahrung des Nichts“ ist die „Grunderfahrung unseres Zeitalters“ und die „Grundlage aller Formen des modernen Nihilismus“. Sie taucht auf „nicht nur im Zusammenhang des Denkens […], sondern auch […] in ausgesprochen religiösem Kontext“. 50 So spricht Therese von Lisieux davon, dass, wenn sie an Gott denke, Finsternis sie umgebe, die das Herz ermüde: „[…] alles ist entschwunden! Suche ich Ruhe für mein durch all die Finsternis ringsum ermattetes Herz in der Erinnerung an das lichtvolle Land, nach dem ich mich sehne, so verdoppelt sich meine Qual; die Stimme der Sünder annehmend, scheint die Finsternis mich zu verhöhnen und mir zuzurufen: ‚- Du träumst von Licht, von einer mit lieblichsten Wohlgerüchen durchströmten Heimat, du träumst von dem ewigen Besitz des Schöpfers all dieser Wunderwerke, du wähnst eines Tages den Nebeln, die dich umfangen, zu entrinnen! Nur zu, nur zu, freu dich über den Tod, der dir geben wird nicht, was du erhoffst, sondern eine noch tiefere Nacht, die Nacht des Nichts.“ 51 Dabei „ist das Ni ch t s zu erfahren, etwas ganz anderes […], als überhaupt n i ch t zu erfahren. Wer das Nichts erfährt, der macht wirklich eine Erfahrung, ihm begegnet etwas, was ihn betrifft, erschüttert und verwandelt […]. Wo wir dieses Nichts […] anzublicken wagen, da können wir etwas spüren und erfahren von Unendlichkeit und Unbedingtheit […]. Das Nichts schweigt, ja es ist das Schweigen selbst, obwohl es uns bewegt und erschüttert. Dieses Schweigen aber ist in höchstem Maße zweideutig […]. Es gibt merkwürdige und wichtige Zeugnisse dafür, dass die Erfahrung des Nichts und des Dunkels sich in eine religiöse Erfahrung verwandeln und umwenden kann, in das Vertrauen auf den dunklen Gott.“ 52 So hat auch das Dunkel seine Kehrseite: „Ich sagte zu meiner Seele: Sei still - laß das Dunkel kommen über dich. Es wird sein die Dunkelheit Gottes.“ 53 48 S EDLMEIER , Bei dir, da ist Vergebung (wie Anm. 31), 486. 49 Vgl. Mariano D ELGADO - Günter S TACHEL , Die Quelle, auch wenn es Nacht ist. Die mystischen Gedichte des Johannes vom Kreuz - neu übersetzt, in: Christ in der Gegenwart 47 (1995), 430; Gotthard F UCHS (Hg.), Die dunkle Nacht der Sinne. Leiderfahrung und christliche Mystik, Düsseldorf 1989. 50 Bernhard W ELTE , Das Licht des Nichts. Von der Möglichkeit neuer religiöser Erfahrung, Düsseldorf 1980; vgl. B ECKER , Poesie (wie Anm. 45), 894-895. 51 Therese vom Kinde Jesu, Selbstbiographische Schriften. Authentischer Text, Einsiedeln - Trier 11 1988, 221. 52 W ELTE , Licht (wie Anm. 50), 43-46. 53 Thomas Stearns E LIOT , Four Quartets, London 1957, 27, zit. bei W ELTE , Licht (wie Anm. 50), 53. <?page no="233"?> „Cantando meditari“ 219 Man kann den Morgen nicht machen, sein Kommen nicht beschleunigen, man kann ihn nur er-warten. Wer sich der Nacht aussetzt, der bekommt ihre Dunkelheit und ihr Nicht-enden-Wollen am eigenen Leib zu spüren. Aber: Alle Nacht hat ein Ende, mehr noch: ‚die Mitte der Nacht ist der Anfang des Tages’. 54 Der Kehrvers Die ganze Nacht warte ich auf dich ist ein biblisches Wort, das in seiner Unscheinbarkeit ganz dem entspricht, was Kassian über das Glutgebet sagt: „Diese […] Formel soll das Gemüt unablässig festhalten, bis es, durch ihre unaufhörliche Anwendung und stete Pflege gestärkt, den Reichtum und Besitz der vielen Gedanken gänzlich verwerfe und so durch die strenge Armut dieses Verses zu jener Seligkeit des Evangeliums […] gelange, die unter allen Seligkeiten die erste ist. ‚Selig‘, sagt er ja, ‚sind die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich‘. (Mt 5,3)“ 55 Wo ein solches Glutgebet singend verinnerlicht wird, wird eine Grundhaltung des Glaubens eingeübt: Glaube als „Feststehen in dem, was man erhofft, Überzeugtsein von Dingen, die man nicht sieht“ (Hebr 11,1), Hoffen und Warten - auch und gerade in der Nacht. 54 Osterbrief 1985, zit. bei Hansjakob B ECKER , ‚Eine Nacht der Wache für den Herrn? ‘ Die Paschavigil als Ursprung und Vollgestalt des christlichen Stundengebetes, in: Martin K LÖCKENER - Heinrich R ENNINGS (Hgg.), Lebendiges Stundengebet. Vertiefung und Hilfe, Freiburg i.Br. u.a. 1989, 462-491, hier: 486-487. 55 Collationes X,11 (Sources Chrétiennes 54 P ICHERY ); Emmanuel VON S EVERUS , Das Glutgebet. Zwei Unterredungen aus der sketischen Wüste. Aus dem Lateinischen des Johannes Kassianus ausgewählt, übertragen und kurz erläutert (Alte Quellen neuer Kraft), Düsseldorf 1966, 87-88. <?page no="235"?> Psalmodie als Sakrament Johannes Chrysostomus über den täglichen Abendpsalm 140(141) Harald Buchinger 1 Einleitung Psalmodie ist ein Grundelement fast jeder Form von Tagzeitenliturgie; der Vollzug der Psalmen variiert aber in Gestalt, Funktion und Verständnis entsprechend den Grundtypen des täglichen Gottesdienstes: 1 Während die fortlaufende Rezitation mehrerer Psalmen in ihrer kanonischen Reihenfolge ohne besondere Rücksicht auf Inhalt oder Gattung des Einzelpsalms traditionell als Charakteristik des monastischen Stundengebets gilt, 2 ist die Tagzeitenliturgie der Gemeinden von der Auswahl charakteristischer Psalmen vor allem für Morgen und Abend als Angelpunkte im Rhythmus der Zeit geprägt. Seit im 4. Jahrhundert die Quellen zu fließen beginnen, bezeugen zahlreiche patristische 1 Reinhard M ESSNER , Einführung in die Liturgiewissenschaft (Uni-Taschenbücher 2173), Paderborn 2 2009 (vgl. 1 2001), 227-301, bietet einen exzellenten Überblick mit Bibliographie der älteren Literatur, von der hier nur die unüberholte Darstellung von Robert T AFT , The Liturgy of the Hours in East and West. The Origins of the Divine Office and Its Meaning for Today, Collegeville, MN 1986, genannt werden soll, weiters die Kontroverse um das Profil der Grundtypen spätantiker Tagzeitenliturgie und ihrer charakteristischen Situationen: Paul F. B RADSHAW , Cathedral vs. Monastery. The Only Alternatives for the Liturgy of the Hours? , in: J. Neil A LEXANDER (Hg.), Time and Community (FS Thomas Julian Talley), Washington, D.C. 1990, 123-136; DERS ., Cathedral and Monastic: What’s in a Name? , in: Worship 77 (2003), 341-353; Robert F. T AFT , Cathedral vs. Monastic Liturgy in the Christian East: Vindicating a Distinction, in: Bollettino della Badia Greca di Grottaferrata 3. Ser. 2 (2005), 173-219. Zu den verschiedenen Dimensionen der Psalmodie in der Spätantike vgl. z.B. Paul B RADSHAW , From Word to Action. The Changing Role of Psalmody in Early Christianity, in: Martin R. D UDLEY (Hg.), Like a Two-Edged Sword (FS Donald Gray), Norwich 1995, 21-37, und Robert F. T AFT , Christian Liturgical Psalmody: Origins, Development, Decomposition, Collapse, in: Harold W. A TTRIDGE - Margot E. F ASSLER (Hgg.), Psalms in Community. Jewish and Christian Textual, Liturgical, and Artistic Traditions (Society of Biblical Literature Symposium Series 25), Atlanta 2003, 7-32. 2 Zur Differenzierung des Bildes hat jüngst Stig Simeon R. F RØYSHOV , The Cathedral- Monastic Distinction Revisited. Part I: Was Egyptian Desert Liturgy a Pure Monastic Office, in: Studia Liturgica 37 (2007), 198-216, beigetragen. <?page no="236"?> Harald Buchinger 222 Dokumente die tägliche Verwendung etwa von Ps 62(63), 50(51) und 148-150 am Morgen, während sich Ps 140(141) aufgrund der Verquickung von Gebet und Abendopfer in Vers 2 seit den ältesten Zeugnissen als Abendpsalm par excellence darstellt. 3 In den überkommenen liturgischen Ordnungen sind häufig beide Formen der Psalmenverwendung kombiniert; 4 der Pensumspsalmodie monastischen Typs kommt dabei quantitativ das Übergewicht zu, während die Reste der häufig, mitunter täglich wiederkehrenden Psalmen mancherorts im Laufe der Zeit beinahe zur Unkenntlichkeit geschrumpft sind. Das berühmteste Beispiel dafür ist zweifellos der Abendpsalm 140(141), der in der römischen und monastischen Tradition des westlichen Mittelalters seit dem Ausgang der Spätantike nur mehr als Versikel überlebt hat und von der jüngsten Reform des römischen Ritus tragischerweise just in einer Epoche abgeschafft wurde, in der man die Tagzeitenliturgie als Vollzug der Gemeinde wiederentdeckt hat. Die Grundtypen der Tagzeitenliturgie unterscheiden sich nicht nur in der Auswahl, sondern auch in der Hermeneutik der Psalmen: Eine Fülle von strukturellen und terminologischen Indizien macht deutlich, dass Psalmodie in monastischen Quellen der Spätantike nicht unmittelbar als Gebet verstanden wurde, 5 sondern als „wiederkäuende“ (ruminatio) „Meditation“ hermeneutisch zwischen der Lesung und dem Gebet angesiedelt war; in der scheinbar unvermittelten Abfolge des biblischen Psalters wären die Psalmen - Texte völlig unterschiedlicher Gattung, Stimmung und Bedeutung - in der Rezitation currente Psalterio denn auch unmöglich als persönlicher Gebetsvollzug anzueignen. 3 Literarisch verknüpft schon Origenes, De oratione 12, 2 (Die Griechischen Christlichen Schriftsteller 2, 325, 13 K OETSCHAU ), Ps 140(141) mit der dritten der täglichen Gebetszeiten; die ältesten liturgischen Zeugnisse stammen allerdings erst aus dem 4. Jahrhundert: vgl. z.B. die durch den Index von T AFT , Liturgy (wie Anm. 1), erschlossenen Belege; zu Johannes Chrysostomus s. a.a.O., 42-44. 4 In der byzantinischen Vesper ist die hybride Struktur evident; für den Westen vgl. die richtungsweisende Analyse von Hansjakob B ECKER , Zur Struktur der „vespertina synaxis“ in der Regula Benedicti, in: Archiv für Liturgiewissenschaft 29 (1987), 177-188, dem Fragen der liturgischen Psalmodie immer ein besonderes Anliegen waren, weshalb ihm die Ausführungen zum täglichen Abendpsalm zur Freude gereichen mögen - ad multos annos! 5 Klassisch vgl. z.B. Adalbert DE V OGÜE , Psalmodie et prière. Remarques sur l’office de S. Benoît, in: Collectanea Cisterciensia 44 (1982), 274-292; DERS ., Psalmodier n’est pas prier, in: Ecclesia Orans 6 (1989), 7-32; DERS ., Le Psaume et l’oraison. Nouveau florilège, in: Ecclesia Orans 12 (1995), 325-349. Dass die monastische Praxis vielleicht mit der impliziten Intention der biblischen Psalterredaktion konvergiert, hat zuerst Norbert L OHFINK , Psalmengebet und Psalterredaktion, in: Archiv für Liturgiewissenschaft 34 (1992), 1-22, argumentiert und seitens der Liturgiewissenschaft u.a. Angelus A. H ÄUSSLING , Die Psalmen des Alten Testaments in der Liturgie des Neuen Bundes, in: Klemens R ICHTER - Benedikt K RANEMANN (Hgg.), Christologie der Liturgie. Der Gottesdienst der Kirche - Christusbekenntnis und Sinaibund (Quaestiones Disputatae 159), Freiburg i.Br. u.a. 1995, 87-102, rezipiert; vgl. auch z.B. M ESSNER , Einführung (wie Anm. 1), 239-246. <?page no="237"?> Psalmodie als Sakrament 223 Auch in Schlüsselzeugnissen der gemeindlichen Tagzeitenliturgie ist die Bipolarität von Psalmodie und Gebet makro- und mikrostrukturell zu beobachten. 6 Zugleich sprechen viele Texte davon, dass die charakteristischen Psalmen des Morgen- und Abendgottesdienstes wegen inhaltlich einschlägiger Schlüsselverse spezifisch ausgewählt wurden und somit wesentlich offener für die Aneignung als Ausdruck authentischen Betens waren als die unterschiedslose Psalmenrezitation des monastischen Stundengebets. Einer der vielzitierten Belege für die Psalmenverwendung der gemeindlichen Tagzeitenliturgie bringt darüber hinaus besonders schön die Auffassung von der Wirksamkeit des Wortes Gottes in diesem Vollzug zum Ausdruck: Wenn Johannes Chrysostomus in seiner Erklärung von Ps 140(141) dem täglichen Gesang dieses Psalms sündenvergebende Wirkung zuspricht, versteht er Psalmodie letztlich als Sakrament. Da dieser aufgrund seiner liturgie- und theologiegeschichtlichen Bedeutung zu Recht vielzitierte Text offenbar in keiner modernen Übersetzung vorliegt - eine Aufgabe, die schon angesichts seines Umfangs auch im gegebenen Kontext nicht geleistet werden kann -, lohnt sich eine kursorische Lektüre ausgewählter Schlüsselpassagen als Beitrag zum Thema „Wort des lebendigen Gottes - Liturgie und Bibel“. 7 Die Psalmenerklärungen des Johannes Chrysostomus (Clavis Patrum Graecorum 4413) werden traditionell in die Zeit seiner Tätigkeit als Presbyter in Antiochien vor 397 datiert. Ob es sich bei den ἑρμηνεῖαι um tatsächlich gepredigte Homilien handelt, ist umstritten, auch wenn neben der obligaten Doxologie auch der paränetische Ton der Auslegung von Ps 140(141), wiederholte Anreden des Auditoriums und anscheinend situativ-rhetorische Bemerkungen 8 an mündlichen Vortrag denken lassen. Die näheren Umstände 6 Besonders deutlich ist die Bipolarität von Psalmodie und Gebet z.B. in der detaillierten Beschreibung der Jerusalemer Tagzeitenliturgie durch Egeria, Itinerarium 24f (Fontes Christiani [im Folgenden: FC] 20, 224-236 R ÖWEKAMP ), zu konstatieren. 7 Edition: Patrologia Graeca (im Folgenden: PG) 55, 426-442; die Paragrapheneinteilung entspricht nicht der inneren Struktur des Textes und wird darum hier ignoriert: Abschnitt α umfasst nicht nur die Einleitung, sondern auch einen Teil der in Spalte 428 oben beginnenden Einzelauslegung von V. 1, deren erster Auslegungsgang durch den Beginn von β zerrissen wird; ebenso beginnt γ nicht mit der Auslegung von V. 2 in Spalte 430 oben, sondern ist unmotiviert einige Zeilen weiter eingeführt, und auch δ beginnt wenige Sätze vor dem klar markierten Ende der Auslegung von V. 2 und dem Beginn der Interpretation von V. 3 (Spalte 432) usw. Für Hinweise zur Übersetzung danke ich Michael Margoni-Kögler. Der Text wird in allen seriösen Standardwerken zur Tagzeitenliturgie zitiert; grundlegend bleibt daneben Reiner K ACZYNSKI , Das Wort Gottes in Liturgie und Alltag der Gemeinden des Johannes Chrysostomus (Freiburger Theologische Studien 94), Freiburg i.Br. u.a. 1974, hier v.a. 103f; weiters vgl. z.B. Paul B RADSHAW , The Emergence of Penitential Prayer in Early Christianity, in: Mark J. B ODA - Daniel F ALK - Rodney A. W ER- LINE (Hgg.), Seeking the Favor of God. 3: The Impact of Penitential Prayer beyond Second Temple Judaism (Society of Biblical Literature. Early Judaism and Its Literature 23), Atlanta, GA 2008, 185-196, hier: 189. 8 Vgl. etwa das unten zitierte Ende der Einleitung PG 55, 428. <?page no="238"?> Harald Buchinger 224 der Entstehung und Redaktion der erhaltenen Psalmenerklärungen sind ebenso unklar wie auch ihre Überlieferungsgeschichte Gegenstand laufender Forschungen bleibt. 9 Die Auslegung des Chrysostomus umfasst den ganzen Psalm; für die Tagzeitenliturgie ist aber vor allem der Anfang von Interesse: eine allgemeine Einleitung (PG 55, 426-428) über Verwendung und Verständnis des Psalms mit seinem charakteristischen Vers 2 sowie die Erklärung dieses Verses (PG 55, 428-432); diese Abschnitte sollen im Folgenden vorgestellt werden. Der Rest des Textes ist liturgisch weniger ergiebig, auch wenn die überproportional umfangreiche, moralisch ertragreiche Auslegung der Verse 3 und 4 über das Hüten der Zunge einen beiläufigen Hinweis auf den Empfang der Eucharistie enthält (PG 55, 432-439). Der Kommentar zu den teilweise recht kryptischen Versen 5 bis 10 fällt überhaupt relativ knapp aus (PG 55, 439-442). Methodisch ist bemerkenswert, dass der Prediger nicht nur bei diesen textkritisch bekanntlich schwierigen Versen, sondern schon ab dem zweiten Vers des Psalms (PG 55, 430) regelmäßig als ἕτερος und/ oder ἄλλος Übersetzungsvarianten zitiert, die allerdings nur zum Teil bestimmten hexaplarischen Versionen zugewiesen werden können. 10 2 Zur Einleitung der Erklärung: Der tägliche Abendpsalm und seine Wirkung Die Einleitung zur Auslegung von Ps 140(141) ist ganz von dessen liturgischer Verwendung in der Tagzeitenliturgie geprägt: Johannes Chrysostomus beginnt mit der Beobachtung, dass zwar „sozusagen alle die Worte dieses Psalms kennen und jedes Lebensalter hindurch in der Psalmodie vollziehen (διὰ πάσης ἡλικίας διατελοῦσι ψάλλοντες); den Sinn des Gesagten aber kennen sie nicht“ (PG 55, 426). Es sei tadelnswert, dass diejenigen, „welche täglich psallieren und mit dem Mund die Worte vortragen, die Bedeutung der Sinngehalte (τῶν νοημάτων τὴν δύναμιν), die in den Worten enthalten sind, nicht suchen.“ Das sei wie klares Wasser sehen und nicht trinken, auf eine Wiese gehen und keine Blume mitnehmen, bei einem verborgenen Schatz sitzen oder einen versiegelten Geldbeutel umhertragen; „ihr aber verbringt (die Zeit) vom ersten Jugendalter bis zum letzten Greisenalter mit der Übung dieses Psalms (ὑμεῖς δὲ ἐκ πρώτης ἡλικίας εἰς ἔσχατον γῆρας τοῦτον μελετῶντες τὸν ψαλμὸν διατελεῖτε), indem ihr nur die Worte kennt […]. Und keiner wurde von Neugier dazu gereizt, zu lernen, was das Gesagte sei; er suchte es nicht und er forschte nicht danach.“ Dabei könne man nicht einmal „sagen, dass der Psalm 9 Neben den patrologischen Standardwerken vgl. Marie-Josèphe R ONDEAU , Les commentaires patristiques du Psautier (III e -V e siècles). 1: Les travaux des Pères grecs et latins sur le Psautier. Recherches et bilan (Orientalia Christiana Analecta 219), Rom 1982, 126-131, und Wendy M AYER , The Homilies of St John Chrysostom - Provenance. Reshaping the Foundations (Orientalia Christiana Analecta 273), Rom 2005, 361-363 u.ö. 10 Fridericus F IELD , Origenis Hexaplorum quae supersunt, Oxford 1875, 2, 296-298. <?page no="239"?> Psalmodie als Sakrament 225 alle zum Schlafen gebracht hat, weil er klar ist; auch hat nicht das, was auf der Hand liegt, die Untersuchung sein lassen; denn er (sc. dieser Psalm) ist unklar und angetan, einen aufzuwecken, der nicht tief schläft, oder vielmehr auch einen, der schläft.“ Was würden denn die Verse 4-6 bedeuten? „Aber obwohl so viel unklar ist, durchlaufen die vielen (den Psalm) einfach wie irgendein Lied (ὥσπερ τινὰ ᾠδὴν ἁπλῶς παρατρέχουσιν οἱ πολλοί)“ (PG 55, 427). Angesichts der Einstimmigkeit der erhaltenen Zeugnisse ist die regelmäßige Verwendung des ganzen Psalms 140(141) im täglichen Gottesdienst nicht verwunderlich; 11 es ist aber hervorgehoben worden, dass die ganze Gemeinde als Subjekt der alltäglichen Psalmodie angesprochen wird, an der sie sich offenbar nicht bloß wie an seltener vorgesehenen Psalmen mit einem Kehrvers beteiligte. 12 Bemerkenswert ist auch die Behauptung des Johannes Chrysostomus, es sei „nicht einfach so von den Vätern angeordnet worden, dass dieser Psalm jeden Abend gesagt werde, und auch nicht bloß wegen des einen Ausdrucks, der sagt: ,Das Erheben meiner Hände (sei wie) ein Abendopfer‘ (Ps 140[141],2). Denn auch andere Psalmen enthalten diesen Ausdruck, so wie jener, der sagt: ,Abends und morgens und mittags werde ich erzählen und verkündigen‘ (Ps 54[55],18), und wiederum: ,Dein ist der Tag, und dein ist die Nacht‘ (Ps 73[74],16), und wiederum: ,Am Abend wird sich Weinen niederlegen, und zum Morgen ist es Jubel‘ (Ps 29[30],6); und man könnte viele Psalmen finden, die zur Abendzeit passen. Nicht deswegen also haben die 11 S.o. Anm. 3. Gewöhnlich im Umfeld von Antiochien lokalisiert und in die Epoche des Johannes Chrysostomus datiert wird das Zeugnis der Apostolischen Konstitutionen 2, 59, 2 (Sources Chrétiennes [im Folgenden: SC] 320, 324 M ETZGER ; eine Zufügung gegenüber dem Vorbild in der Didaskalie: F UNK 170f); vgl. auch 8, 35, 2; 38, 1 (SC 336, 246. 250: ἐπιλύχνιος ψαλμός/ ὀρθρινός) über die Verwendung der Psalmen 140(141) und 62(63). Ob das Zitat von Ps 140(141) in der traditionell nach Konstantinopel lokalisierten Hom 22, 3 in Hebr (PG 63, 158) die Verwendung dieses Psalms auch in der dortigen Tagzeitenliturgie bezeugt, diskutiert K ACZYNSKI , Wort (wie Anm. 7), 70, Anm. 26; zu den eucharistischen Implikationen der Stelle vgl. Frans V AN DE P AVERD , Zur Geschichte der Messliturgie in Antiocheia und Konstantinopel gegen Ende des vierten Jahrhunderts. Analyse der Quellen bei Johannes Chrysostomos (Orientalia Christiana Analecta 187), Rom 1970, 472f. Die nach M AYER , Homilies (wie Anm. 9), 470, eindeutig nach Antiochien gehörende Hom 16, 9 in Mt (PG 57, 251) zu Mt 5,23f („[…] dann komm und bring deine Gabe dar“) zitiert Ps 140(141),2 gemeinsam mit Ps 49(50) 23.14 als Beleg dafür, dass die Aufforderung der Bergpredigt, sich vor dem Gang zum Altar zu versöhnen, nicht nur für die Initiierten, sondern auch für die Nicht-Initiierten gelte; „Auch diese ,bringen‘ nämlich ,eine Gabe‘ und ein Opfer ,dar‘; ich meine Gebet und Almosen“. Ein Zusammenhang mit dem liturgischen Vollzug dieser Psalmen wird dabei freilich nicht hergestellt. Anders in Hom 73(74),3 in Mt (PG 58, 676), wo Chrysostomus Ps 140(141),2 in einer Paränese über das Verhalten in der Kirche zitiert und dabei das Auditorium darauf verweist, „was du in der Psalmodie sagst (τί ψάλλων λέγεις)“ - eine Bestätigung der Angabe der Homilie zu Ps 140(141), dass dieser Psalm von der ganzen Gemeinde gesungen wurde. 12 K ACZYNSKI , Wort (wie Anm. 7), 101-108, hier v.a. 103f.108; 258; V AN DE P AVERD , Geschichte (wie Anm. 11), 117f: „Demnach wurden die Psalmen 62 und 140 beim Morgen- und Abendgebet nach der Weise der psalmodia in directum ausgeführt, oder vielleicht nach der wechselchörigen Vortragsweise“. <?page no="240"?> Harald Buchinger 226 Väter diesen Psalm bestimmt, sondern sie haben angeordnet, dass er als ein Heilmittel gesagt werde, das rettet und von Sünden reinigt (ὥς τι φάρμακον σωτήριον καὶ ἁμαρτημάτων καθάρσιον), damit wir, so viel wir uns auch während der ganzen Länge des Tages zufügen - auf dem Markt, zu Hause, oder wo auch immer wir uns aufhalten -, dieses, wenn wir zum Abend gekommen sind, durch diesen geistgewirkten Gesang 13 ablegen; ein Heilmittel ist er nämlich, der all dies wegnimmt“ (PG 55, 427). Nicht das bloße Motiv des Abends ist also für Chrysostomus der Grund, warum dieser Psalm als täglich gleichbleibender Bestandteil des Abendgottesdienstes ausgesucht wurde, sondern seine heilende und sündenvergebende Funktion. Dasselbe Potential schreibt der Prediger anschließend - etwas bemüht - auch dem Schlüsseltext der anderen Kardinalhore des Tages zu: „Ein solcher ist auch der Morgenpsalm (ὁ ἑωθινὸς ψαλμός)“, wobei der Singular die auch in anderen Quellen reichlich belegte prominente Stellung von Ps 62(63) als Morgenpsalm par excellence verdeutlicht: „Nichts hindert nämlich, auch an diesen kurz zu erinnern“ (auch wenn der tägliche Morgenpsalm der Gemeinde eigentlich genauso vertraut sein sollte wie der Abendpsalm); dass die von den ersten Versen von Ps 62(63) ausgedrückte Gottessehnsucht vergebende Wirkung haben soll, bleibt freilich mehr Behauptung als Begründung und macht damit umso deutlicher, wie sehr diese Idee Voraussetzung und nicht Ergebnis der Erklärung des Chrysostomus ist: „Wo Gottesliebe ist, verschwindet alles Übel; wo Gottesgedenken ist, dort ist Vergessen von Sünden und Wegnahme von Bösem.“ Wenn die Rezitation der Psalmen von Abend- und Morgengottesdienst Rettung, Heilung und Sündenvergebung bewirkt, kommt der Psalmodie sakramentale Funktion zu; Tagzeitenliturgie ist Teil der Paenitentia quotidiana, in der sich die Wirksamkeit des Wortes Gottes entfaltet. 14 Dass diese Deutung weder in dem einen noch in dem anderen zitierten Psalm einen festen Anhaltspunkt hat, illustriert umso klarer, wie überzeugt Chrysostomus von seiner Auffassung ist. 15 Mit dem Ausblick auf den Morgengottesdienst schließt der Prediger die Einleitung: „Damit wir nicht, indem wir von dem lassen, was in Händen ist, 16 13 ἐπῳδή - ein biblisch nicht belegter Terminus - kann einfach eine Art Gesang oder auch schon spezifisch den Psalm als biblisches Canticum meinen; vielleicht schwingt in der Wortwahl aber auch noch die ursprüngliche Konnotation als „Zaubergesang“, „Beschwörung“, also jedenfalls eines wirksamen Sprechakts, mit; vgl. Geoffrey W.H. L AMPE (Hg.), A Patristic Greek Lexicon, Oxford 1961, 544. 14 Vgl. K ACZYNSKI , Wort (wie Anm. 7), 257: „Es geht dabei […] nicht um die schweren Verbrechen, für die ein eigenes kirchliches Bußverfahren nötig ist“. Vgl. auch Reinhard M ESSNER , Feiern der Umkehr und Versöhnung, in: DERS . - Reiner K ACZYNSKI , Sakramentliche Feiern I/ 2 (Gottesdienst der Kirche 7/ 2), Regensburg 1992, 9-240, hier: 78-80. 15 Vgl. auch B RADSHAW , Emergence (wie Anm. 7), 189: „It does not seem likely that this explanation for the choice of these psalms is historically accurate. […] Hence Chrysostom’s interpretation looks very much like reading his own spirituality into the rite“. 16 Die Stelle setzt voraus, dass der Prediger den auszulegenden Text wörtlich „in Händen“ hält; es handelt sich also um eine textgebundene exegetische Homilie. Angesichts des <?page no="241"?> Psalmodie als Sakrament 227 Nebensächliches einführen, verweisen wir den Hörer auf das über jenen (Psalm) Gesagte 17 und halten uns nun an das Vorliegende“ (PG 55, 427f). 3 Zur Einzelauslegung von Ps 140(141),2: Abendopfer und Weihrauch Auf die Auslegung des ersten Verses, „Herr, ich habe zu dir gerufen, erhöre mich“, mit allgemeinen Erwägungen über das Gebet und seine Erhörung (PG 55, 428f) folgt der für die Verwendung in der Vesper charakteristische Vers 2, „Mein Gebet werde geleitet (Varianten: hingestellt, bereitet) wie Weihrauch vor dir, das Erheben meiner Hände als Abendopfer“. Die Auslegung folgt der klassischen Methode spätantiker christlicher Exegese: Im ersten Schritt versichert sich der Prediger der auszulegenden Textbasis, indem er das Lemma zitiert und hexaplarische Varianten vor allem für das gebrauchte Verb (κατευθυνθήτω, ταχθήτω, ἑτοιμασθήτω) und für die Terminologie des Abendopfers (θυσία ἑσπερινή, δῶρον ἑσπέρας, προσφορὰ ἑσπερινή) aufzählt; sodann bietet er eine historische Sacherklärung, auch wenn sich diese nicht nur auf das Alte Testament stützt. Als Hintergrund für die Erläuterung des Abendopfers beschreibt Chrysostomus zunächst den Jerusalemer Tempel: „Zwei Altäre (βωμός, in der Bibel selten für die Altäre des Jerusalemer Tempels gebraucht 18 ) gab es einst, einen aus Kupfer verfertigten und einen aus Gold. Und der eine war beinahe öffentlich, den Opfertieren der ganzen Masse bestimmt, der andere lag im Tempelinnern (ἐν τοῖς ἀδύτοις, ein nichtbiblischer Begriff) und innerhalb des Vorhangs (vgl. Ex 36-38).“ In weiterer Folge gibt er die hier nicht weiter zu diskutierenden Maße von 40 mal 20 Ellen (vgl. Ez 41,2) für das Heiligtum (ναός) an, wovon 10 Ellen hinter dem Vorhang das „Allerheiligste“ ausmachten, das Äußere aber nur „das Heilige“ (Ex 26,33 etc.). Die Funktion des Allerheiligsten beschreibt Chrysostomus in enger und charakteristischer Anlehnung an Hebr 9,3-5.7: „Dort hinein ging allein der Hohepriester einmal im Jahr, dort lag auch die Lade und die Cherubim; dort stand auch der goldene Altar, dorthin wurde auch die Räucherpfanne (θυμιατήριον 19 ) gebracht, die für nichts anderes verfertigt war als allein für das Räucherwerk; das geschah aber einmal im Jahr.“ regelmäßigen Verweises auf hexaplarische Varianten mag man an eine entsprechend angereicherte Handschrift denken. 17 Die angesprochene Auslegung von Ps 62(63) ist nicht erhalten - ein Argument dafür, dass die Serie von Psalmenerklärungen ursprünglich umfangreicher gewesen sein muss. 18 Johan L UST - Erik E YNIKEL - Katrin H AUSPIE , A Greek-English Lexicon of the Septuagint 1, Stuttgart 1992, 85. 19 θυμιατήριον ist ein im Alten Testament seltenes Wort (vgl. nur 2 Chr 26,19; Ez 8,11; 4 Makk 7,11), wird aber von Hebr 9,4 für die Ausstattung des Allerheiligsten gebraucht. Die anderen Versionen verwenden den Begriff allerdings etwas häufiger, Symmachus und Theodotion auch in Ex 30,1: Edwin H ATCH - Henry A. R EDPATH , A Concordance to the Septuagint and the Other Greek Versions of the Old Testament (Including the Apocryphal Books), Oxford 1897 (Ndr. Graz 1975), 1, 660. <?page no="242"?> Harald Buchinger 228 Die Angaben über den Brandopferaltar und das tägliche Opfer (Ex 29,38-42; vgl. Lev 6,2; Num 28,3-8) sind allgemeiner: „Im äußeren Heiligtum aber war der kupferne Altar, und jeden Abend wurde ein Lamm gebracht und verbrannt; das wurde ,Abendopfer‘ genannt. Es gab nämlich auch ein Morgen (-opfer), und zweimal am Tag mußte zum Heiligtum hin der Altar brennen, abgesehen von den anderen Opfertieren, die vom Volk dargebracht wurden. Das war für die Priester Gebot und Gesetz […]. Dass das geschehe, wurde von Gott als Gesetz gegeben, der durch das Geschehen deutlich machte, dass man ihn fortwährend (διηνεκῶς) verehren müsse, sowohl wenn der Tag beginnt, als auch wenn er zum Ende kommt“ (PG 55, 430). Der Begriff θυσία ἑσπερινή kommt freilich in der Tora nicht vor, auch wenn er in anderen Teilen der Bibel gelegentlich verwendet wird (neben Ps 140 [141],2 vgl. allerdings nur Esra 9,4f und Dan 9,21), ἑωθινή ist überhaupt kein Begriff der biblischen Opferterminologie, und auch διηνεκῶς wird im Alten Testament nicht für das „immerwährende“ (Tamid-) Opfer gebraucht, wohl aber im Hebräerbrief sowohl für den biblischen Kult (Hebr 10,1) als auch für Christus (Hebr 7,3; 10,12.14); ebenso entstammt auch die anschließende inhaltliche Funktionsbestimmung dieses immerwährenden Opfers in der Sache nicht der Bibel, auch wenn sie als Teil der historisch-sachlichen Erklärung die exegetische Voraussetzung für die Deutung des Abendpsalms durch Chrysostomus darstellen soll: „Dieses Opfer (θυσία […] και θῦμα) also war immer annehmlich (εὐπρόσδεκτος, ein neutestamentlicher Begriff: 2 Kor 6,2; 8,12; Röm 15,16.31; in Verbindung mit θυσία nur in 1 Petr 2,5 belegt - Chrysostomus trägt also eine metaphorische Interpretation des Neuen Testaments in die Sacherklärung des Alten ein, auch wenn es ihm gerade nicht auf die Metaphorisierung ankommt); das (Opfer) für die Sünden hingegen war einmal annehmlich, einmal nicht annehmlich: Entsprechend der Disposition derer, die es darbrachten, wurde auch jenes zur Tugend oder zur Bosheit. Was dagegen nicht für die Sünden anderer dargebracht wurde, sondern Gesetz des Opferdienstes und Weise der Verehrung war (ἱερουργίας νόμος ἦν καὶ θεραπείας τρόπος; ἱερουργία wird in der Bibel nur in 4 Makk 3,20, θεραπεία nur in Joel 1,14; 2,15 für den Gottesdienst gebraucht), war ganz und gar annehmlich.“ Dass die Wirkung des Sündopfers zum Unterschied vom immerwährenden Opfer von der Disposition des Darbringenden abhänge, hat keine Basis im biblischen Text, auch wenn der Prediger davon überzeugt scheint; 20 so fasst er 20 Der Kommentar des Diodor von Tarsus zu Ps 140(141),2 und die aus dem Kommentar des Išoʿdad von Merw zu rekonstruierende Auslegung des Theodor von Mopsuestia zur Stelle dokumentieren, dass die Auffassung, die Wirksamkeit des Abendopfers sei zum Unterschied von jener des Sündopfers nicht von der Disposition des Darbringenden abhängig, im antiochenischen Milieu des späteren 4. Jahrhunderts offenbar allgemein verbreitet war; vgl. Clemens L EONHARD , Išoʿdad’s Commentary on Psalm 141,2. A Quotation from Theodore of Mopsuestia’s Lost Commentary, in: Studia Patristica 35 (2001), 449-457, mit englischer Übersetzung beider Quellen, nach dem unpublizierten griechischen Text des Diodor und dem syrischen Text des Išoʿdad (Corpus Scriptorum Christianorum Orientalium 433 = Subsidia 185, 186f V AN DEN E YNDE ). <?page no="243"?> Psalmodie als Sakrament 229 den ersten Gang der Sacherklärung zusammen, um daraus im dritten, zunächst nur knapp durchgeführten exegetischen Schritt die moralische Aktualisierung für sein Auditorium abzuleiten: „Dieser (sc. der Psalmist) bittet also, dass sein Gebet so werde wie jenes Opfer (θῦμα), das von keiner Befleckung des Darbringenden besudelt ist, wie jener reine und heilige Weihrauch (θυμίαμα; vgl. Ex 30,35 21 ). Durch seine Bitte belehrt er auch uns, unsere Gebete rein und wohlriechend (εὐώδης) zu machen. So ist nämlich die Gerechtigkeit, wie denn die Sünde übelriechend ist. Deswegen sagte auch derselbe, um deren üblen Geruch anzuzeigen: ,Denn meine Gesetzlosigkeiten sind mir über den Kopf gewachsen, wie eine schwere Last sind sie zu schwer für mich geworden. Es stinken und faulen meine Wunden.‘ (Ps 37[38],5f)“ (PG 55, 430). Der zweite Auslegungsgang von Ps 140(141),2 bezieht sich auf weitere Elemente des biblischen Textes, „Weihrauch“ (θυμίαμα) und das „Erheben der Hände“, ist aber zugleich durchgängig von moralischer Allegorese bestimmt und greift nur kurz auf Elemente der historisch-sachlichen Erklärung zurück: „Wie nun der Weihrauch schon von sich aus gut und wohlriechend ist (εὐώδης; das in der Bibel seltene Adjektiv wird - anders als das sehr häufige Nomen εὐωδία; vgl. Ex 29,41 etc. - nicht für das tägliche Opfer verwendet), aber doch dann am stärksten seinen Wohlgeruch (εὐωδία) zeigt, wenn er mit Feuer zusammenkommt, so ist auch das Gebet zwar schon für sich schön; schöner und wohler riechend wird es aber, wenn es mit heißer und glühender Seele emporgesandt wird, wenn die Seele Räucherpfanne wird und ein kräftiges Feuer entzündet“ (PG 55, 431). Die als dritter, kurzer Schritt am Ende des ersten Auslegungsganges nur indirekt eingeführte Paränese wendet sich nun abschließend erstmals in der Erklärung des vorliegenden Verses zum direkten Imperativ: Weihrauch werde nur auf gut durchgeglühte Kohlen gelegt; „das mach auch du auf dem Verstand: Zuerst zünde ihn mit dem Eifer (προθυμία) an, und dann leg das Gebet darauf.“ Wenn ausgehend von Ps 140(141),2 sowohl das Gebet wie Weihrauch werden solle als auch das Erheben der Hände wie ein Abendopfer, bedeutet das nach der vorher entfalteten Argumentation, dass „beide annehmlich sind“. Das sei aber nur möglich, „wenn beide rein und beide makellos sind: sowohl die Zunge als auch die Hände“ - für Chrysostomus ein willkommener Ausgangspunkt für hier nicht im Detail zu reproduzierende Ausführungen über die Forderung moralischer Reinheit, damit Hände und Mund Räucherpfanne würden (PG 55, 431). Eine exegetische Frage, die sich der schrittweisen Auslegung stellt, beantwortet Chrysostomus zunächst recht nonchalant, um dann doch noch eine Deutung zu bieten: „Und weswegen sagt er nicht ,Morgen‘-, sondern ,Abend‘- (Opfer)? Auch das scheint mir unterschiedslos gesagt zu sein. Wenn er nämlich ,Morgen‘- (Opfer) sagte, würde der Übereifrige fragen, weswegen 21 Dass Weihrauch (θυμίαμα) καθαρός und ἅγιος sei, ist vielleicht von Ex 30,35 bestimmt, wo die drei Lexeme aufeinander bezogen sind. <?page no="244"?> Harald Buchinger 230 er nicht ,Abend‘- (Opfer) sagt. Wenn aber einer ohne (? ) übergroße Neugier 22 hören wollte, (ist zu sagen), dass zwar das ,Morgen‘- (Opfer) das ,Abend‘- (Opfer) erwartet; wenn dagegen das ,Abend‘- (Opfer) geschehen ist, hat es den Opferdienst (ἱερουργία) vollendet“, womit auch der Kult (λατρεία) des Tages abgeschlossen sei (PG 55, 431). Abschließend fragt der Prediger noch, „Aber was will auch das ,Erheben der Hände‘ beim Gebet? “ Auch dafür hat er eine moralische Antwort parat: 23 „Weil diese vielfachem Übel dienen“, deren Aufzählung hier nicht wiederholt werden muss, „deshalb werden wir angewiesen, sie zu erheben, damit der Gebetsdienst für sie zur Fessel vor dem Bösen wird und zur Befreiung vom Bösen: damit du, wenn du rauben oder übervorteilen oder einen anderen schlagen willst, dich erinnerst, dass du sie fürsprechend zu Gott senden und durch sie jenes geistige Opfer (vgl. 1 Petr 2,5) emporsenden wirst […]“. Wieder mündet die Paränese in einen Imperativ: „Reinige sie also durch Almosen, Menschenfreundlichkeit, Fürsorge für Bedürftige, und so bringe sie zum Gebet.“ Selbstverständlichkeiten des äußeren Vollzugs berechtigen zum Schluss a minori ad maius: „Wenn du nämlich nicht gestattest, dass sie ungewaschen zum Gebet erhoben werden, 24 wieviel mehr solltest du nicht unberechtigt sein, sie mit Sünden zu beflecken? […] Mit ungewaschenen Händen zu beten, ist nicht derart unziemlich; sie mit unzähligen Sünden besudelt herbeizubringen, das zieht viel Zorn auf sich.“ Geradezu palindromisch kommt Chrysostomus auch auf den zuvor gemeinsam mit den Händen unter den Anspruch der Reinheit gestellten Mund zurück: „Das folgern wir auch für Mund und Zunge und wollen ihn rein von Bosheit halten und so das Gebet darbringen.“ Auch diese Ermahnung illustriert er mit einem Schluss vom äußeren auf das moralische Verhalten: „Wenn einer nun ein goldenes Gerät hat, wird er es nicht wegen des hohen Werts seines Materials nicht zu einem wertlosen Dienst gebrauchen? Wieviel mehr werden wir, die wir Münder haben, die wertvoller sind als Gold und Perle, nicht unberechtigt sein, sie mit schamlosen Obszönitäten, Schmähungen und Schimpfen zu besudeln? “ Nachdem schon die Rede vom Mund und das Motiv des Goldes frühere Themen aufgegriffen haben, schließt Johannes Chrysostomus den Auslegungsgang zu Ps 140(141),2 mit einer schönen Inklusion zum Anfang, indem er die Beschreibung des einstigen Tempels in einem letzten geistigen Ausle- 22 Es ist textkritisch nicht sicher, ob der Text hier ἀπολυπραγμόνως oder genau im Gegenteil πολυπραγμονέστερον lautet. 23 Auch in Hom 4, 5 ad populum Antiochenum de statuis (PG 49, 67) zitiert Chrysostomus Ps 140(141),2 im Zusammenhang einer moralischen Paränese, die einzelnen Glieder des Körpers als „Waffen der Gerechtigkeit, aber nicht der Sünde“ (vgl. Röm 6,13) zu erweisen (PG 49, 66); vom Gebet ist in diesem Zusammenhang nicht die Rede. 24 V AN DE P AVERD , Geschichte (wie Anm. 11), 19f: „Das Waschen der Hände geschieht nicht nur mit Rücksicht auf die Kommunion, die man auf die Hände empfing, sondern auch im Hinblick auf das Gebet, das mit ausgestreckten Händen verrichtet wurde“; zur Händewaschung vor dem Gebet vgl. z.B. Emmanuel V ON S EVERUS , Gebet I, in: Reallexikon für Antike und Christentum 8 (1972), 1134-1258, hier: 1226-1228, sowie K ACZYNSKI , Wort (wie Anm. 7), 77. <?page no="245"?> Psalmodie als Sakrament 231 gungsschritt mit Paulus christologisch-ekklesiologisch übersteigt und diese allegorisch-aktualisierende Deutung zugleich in einem Imperativ auf den Hörer und die Hörerin anwendet: „Bring deine Räucherpfanne (θυμιατήριον) nicht auf einem kupfernen Altar (βωμός) und nicht auf einem goldenen dar, sondern in dem, der kostbarer ist als jener, im geistgewirkten Heiligtum (ἐν ναῷ πνευματικῷ; vgl. 1 Kor 3,16? ). Jener nämlich hat eine unbelebte Materie; in dir aber wohnt Gott (vgl. 2 Kor 6,16), und du bist Glied und Leib Christi (vgl. 1 Kor 6,15; 12,12.27; Röm 12,5)“ (PG 55, 432). 4 Aus der weiteren Auslegung: Eine Anspielung auf den Kommunionempfang Von der weiteren Auslegung des Psalms ist nur eine relativ marginale Anspielung auf den Kommunionempfang in der langen Erklärung des anschließenden, für moralische Paränese ergiebigen Verses 3 („Stelle, Herr, eine Wache vor meinen Mund“) 25 von liturgischem Interesse: „Bedenke, dass dies das Glied ist, durch das wir mit Gott Umgang haben (ὁμιλοῦμεν), durch das wir den Lobpreis emporschicken (εὐφημίαν ἀναφέρομεν 26 ); dies ist das Glied, durch das wir das schauererregende Opfer empfangen (τὴν φρικτὴν θυσίαν ὑποδεχόμεθα). Die Gläubigen wissen, wovon die Rede ist“ 27 (PG 55, 433). 5 Zusammenfassung Exegesegeschichtlich ist die Erklärung von Ps 140(141),2 ein methodisches Musterbeispiel patristischer Schriftauslegung: Nach der Vergewisserung über den auszulegenden Text einschließlich textkritischer Varianten bietet Chrysostomus eine historische Sacherklärung des alttestamentlichen Phänomens, auch wenn er dieses nicht nur im Lichte allgemeiner Kultterminologie, sondern auch der neutestamentlichen Rezeption vor allem im Hebräerbrief, aber auch zum Beispiel in 1 Petr 2,5 erschließt und somit zumindest für biblisch informierte Ohren bereits in der historisch-sachlichen Interpretation auch 25 Aus ähnlichen paränetischen Gründen und ohne liturgischen Bezug zitiert Chrysostomus Ps 140(141),2-3 auch in seiner Taufkatechese 1=2/ 1, 17 (FC 6/ 1, 178 K ACZYNSKI ). 26 Das semantisch nuancenreiche Nomen εὐφημία firmiert nicht im „Verzeichnis der wichtigsten griechischen Wörter“ der umfassenden Untersuchung von V AN DE P AVERD , Geschichte (wie Anm. 11), 557; vgl. aber L AMPE (Hg.), Patristic Greek Lexicon (wie Anm. 13), 578 mit Verweis auf „Chrys.sac.5.7 (p.136.8; 1.419 B )“ in der Bedeutung „acclamation“. 27 Zu Gestalt - Empfang des Leibes Christi auf die Rechte, Kuss und Genuss, sodann Trinken aus einem einzigen Kelch - und Verständnis des Kommunionempfangs durch die Gläubigen bei Johannes Chrysostomus vgl. V AN DE P AVERD , Geschichte (wie Anm. 11), 385-395, und Robert F. T AFT , A History of the Liturgy of St. John Chrysostom. Volume VI: The Communion, Thanksgiving, and Concluding Rites (Orientalia Christiana Analecta 281), Rom 2008, 213f; 235-237 etc. <?page no="246"?> Harald Buchinger 232 metaphorische Resonanzen anklingen lässt. Im dritten Schritt folgt die paränetische Aktualisierung für das Auditorium in Form jener anthropologischen Allegorese, die schon im biblischen Vergleich des Gebets mit Weihrauch und des Erhebens der Hände mit dem Abendopfer angelegt ist und im vierten Schritt in den direkten Imperativ mündet; 1 Petr 2,5 mit seiner kultmetaphorischen Ekklesiologie und die paulinische Rede von den Christen als Tempel und Leib Christi sind wichtige Intertexte dieser abschließenden Anwendung. Liturgiehistorisch bezeugt schon die Einleitung zur ganzen Homilie die auch sonst breit belegte Verwendung von Ps 140(141) als Abend- und Ps 62(63) als Morgenpsalm der Tagzeitenliturgie in Antiochien; bemerkenswert ist der Hinweis darauf, dass die ganze Gemeinde psalliert und sich nicht etwa nur durch einen Kehrvers an der Psalmodie beteiligt. Theologisch bedeutsam ist die Erklärung, durch den Gesang dieser Psalmen würden die Sünden des Tages getilgt; es handelt sich um eine Auffassung, die umso klarer der Überzeugung des Chrysostomus entspringt, als sie nicht wirklich aus dem biblischen Text zu gewinnen ist. Der Tagzeitenliturgie Bußcharakter zuzuschreiben, lag im Zug der Zeit und war wohl auch ein Grund für die seit dieser Epoche - wenn auch nicht im Antiochien des Chrysostomus - bezeugte Verbreitung von Ps 50(51) als Morgenpsalm; 28 auch die Dimension der Versöhnung wird gelegentlich angesprochen. 29 Der Psalmodie selbst wird freilich nirgends so deutlich die sakramentliche Wirkung der Sündenvergebung zugeschrieben wie in der vorliegenden Homilie zum täglichen Abendpsalm 140(141), welcher nach Johannes Chrysostomus von den Vätern angeordnet wurde, damit er „als ein Heilmittel gesagt werde, das rettet und von Sünden reinigt“ (PG 55, 427) - ein Höhepunkt der altkirchlichen Auffassung von der Wirksamkeit des Wortes Gottes. 30 28 Vielzitiert ist die - ohne Bezug auf bestimmte Psalmen formulierte - Aufforderung von Johannes Chrysostomus in der Taufkatechese 8=3/ 7, 17f (FC 6/ 2, 480 K ACZYNSKI ) zur Teilnahme an der Tagzeitenliturgie, insbesondere um „jeden Abend beim Herrn um die Vergebung zu bitten (τὴν συγγνώμην αἰτεῖν)“; für weitere Texte vgl. M ESSNER , Feiern (wie Anm. 14), sowie B RADSHAW , Emergence (wie Anm. 7), in Rückgriff auf T AFT , Liturgy (wie Anm. 1). Ps 50(51) war natürlich auch wegen V. 17 („Herr, öffne meine Lippen …“) für den Tagesbeginn prädestiniert; Geschichte und Motive seiner Integration in das Morgengebet werden kontrovers diskutiert und können hier nicht weiter erörtert werden. 29 Basilius von Caesarea nennt in seiner längeren Regel, Quaestio 37, 4 (PG 31, 1016 A), neben Dank und Bekenntnis auch die Versöhnung mit Gott durch das Gebet (ἐξιλεουμένων ἡμῶν διὰ τῆς προσευχῆς τὸν Θεόν) als Motive des monastischen Abendgebets, ohne freilich auf die spezifische Psalmodie zu sprechen zu kommen; vgl. aber T AFT , Liturgy (wie Anm. 1), 84-87, zur inhaltlichen Nähe zu Johannes Chrysostomus und zur gemeindlichen Tagzeitenliturgie: „these Basilian ascetics celebrated matins and vespers in imitation of the cathedral offices, adding to them terce, sext, none, and later compline, as well as […] a mesonyktikon“ (a.a.O., 84). 30 Für Chrysostomus vgl. K ACZYNSKI , Wort (wie Anm. 7), 103 sowie 253-257, mit zahlreichen Belegen und ausführlicher Diskussion über die Art der durch das Wort Gottes zu vergebenden Sünden; s.o. Anm. 14. <?page no="247"?> Psalmodie als Sakrament 233 Anhang Johannes Chrysostomus, Aus der Auslegung von Ps 140(141) (PG 55, 426-428; 430-432) [426] Τούτου τοῦ ψαλμοῦ τὰ μὲν ῥήματα ἅπαντες, ὡς εἰπεῖν, ἴσασι, καὶ διὰ πάσης ἡλικίας διατελοῦσι ψάλλοντες· τὴν δὲ διάνοιαν τῶν εἰρημένων ἀγνοοῦσιν. [427] Ὅπερ οὐ μικρὸν εἰς κατηγορίας λόγον, τὸ καθ’ ἑκάστην ἡμέραν ψάλλοντας, καὶ διὰ στόματος τὰ ῥήματα προφέροντας, μὴ ζητῆσαι τῶν νοημάτων τὴν δύναμιν τῶν ἐναποκειμένων τοῖς ῥήμασιν. Ἀλλ’ ὕδωρ μέν τις διαυγὲς καὶ καθαρὸν ὁρῶν, οὐκ ἂν ἀνάσχοιτο μὴ προσελθεῖν, καὶ ἅψασθαι, καὶ πιεῖν· καὶ εἰς λειμῶνά τις συνεχῶς εἰσιὼν, οὐκ ἂν ὑπομείνειε μὴ συλλέξας τι τῶν ἀνθῶν ἐξελθεῖν· ὑμεῖς δὲ ἐκ πρώτης ἡλικίας εἰς ἔσχατον γῆρας τοῦτον μελετῶντες τὸν ψαλμὸν διατελεῖτε, τὰ ῥήματα εἰδότες μόνον, καὶ παρακάθησθε θησαυρῷ συνεσκιασμένῳ, καὶ βαλάντιον περιφέρετε ἐσφραγισμένον, καὶ οὐδὲ ὑπὸ πολυπραγμοσύνης παρωξύνθη τις μαθεῖν, τί ποτέ ἐστι τὸ λεγόμενον· οὐκ ἐζήτησεν, οὐκ ἠρεύνησε. Καίτοι γε οὐδὲ ἐκεῖνο ἔστιν εἰπεῖν, ὅτι σαφής τις ὢν ὁ ψαλμὸς πάντας εἰς ὕπνον ἤγαγε, καὶ οὐκ ἀφῆκε ζητῆσαι τὸ προχείρως κείμενον. Καὶ γάρ ἐστιν ἀσαφὴς, καὶ ἱκανὸς διεγεῖραι τὸν μὴ σφόδρα καθεύδοντα, μᾶλλον δὲ καὶ τὸν καθεύδοντα. Τί γάρ ἐστι τὸ, Μὴ ἐκκλίνῃς τὴν καρδίαν μου εἰς λόγους πονηρίας; τί δὲ τὸ, Παιδεύσει με δίκαιος ἐν ἐλέει, καὶ ἐλέγξει με; Τὸ δὲ μετὰ τοῦτο, εἰπέ μοι, οὐκ ἔστι παντὸς ζόφου ζοφωδέστερον; Ὅτι [426] Die Worte dieses Psalms kennen sozusagen alle und vollziehen sie jedes Lebensalter hindurch in der Psalmodie; den Sinn des Gesagten aber kennen sie nicht. [427] Ebendas ist nicht gering zum Tadel anzurechnen, dass diejenigen, welche täglich psallieren und mit dem Mund die Worte vortragen, die Bedeutung der Sinngehalte, die in den Worten enthalten sind, nicht suchen. Aber wird einer, der klares und reines Wasser sieht, nicht innehalten, um hinzuzutreten, es zu berühren und zu trinken? Und wird einer, der ununterbrochen auf eine Wiese geht, es ertragen, sie zu verlassen, ohne etwas von den Blumen gesammelt zu haben? Ihr aber verbringt (die Zeit) vom ersten Jugendalter bis zum letzten Greisenalter mit der Übung dieses Psalms, indem ihr nur die Worte kennt, und sitzt bei einem verborgenen Schatz und tragt einen versiegelten Geldbeutel herum, und keiner wurde von Neugier dazu gereizt, zu lernen, was denn das Gesagte sei; er suchte es nicht, und er forschte nicht danach. Dabei kann man nicht sagen, dass der Psalm alle zum Schlafen gebracht hat, weil er klar ist; auch hat nicht das, was auf der Hand liegt, die Untersuchung sein lassen: Denn er ist unklar und angetan, einen aufzuwecken, der nicht tief schläft, oder vielmehr auch einen, der schläft. Was heißt denn das „Neige mein Herz nicht zu Worten der Bosheit“ (Ps 140[141],4), was auch das „Der Gerechte wird mich in Erbarmen züchtigen und mich tadeln“ (V. 5)? Das danach folgende, sag mir, ist es <?page no="248"?> Harald Buchinger 234 ἔτι καὶ ἡ προσευχή μου ἐν ταῖς εὐδοκίαις αὐτῶν. Κατεπόθησαν ἐχόμενα πέτρας οἱ κριταὶ αὐτῶν. Ἀλλ’ ὅμως τοσούτων ὄντων ἀσαφῶν, ὥσπερ τινὰ ᾠδὴν ἁπλῶς παρατρέχουσιν οἱ πολλοί. Ἀλλ’ ἵνα μὴ τὴν κατηγορίαν ἐπὶ πλεῖον ἐπιτείνοντες, φορτικὸν τὸν λόγον ἐργασώμεθα, φέρε δὴ πρὸς τὴν ἔρευναν τῶν εἰρημένων βαδίσωμεν. nicht dunkler als alles? „Denn noch ist auch mein Gebet in ihrem Wohlgefallen; ihre Richter haben verschluckt, was etwas von Felsen hat“ (V. 5f). Aber obwohl so viel unklar ist, durchlaufen die vielen (den Psalm) einfach wie irgendein Lied. Aber damit wir nicht, indem wir den Tadel zu sehr überspannen, die Rede beschwerlich machen, lass uns zur Erforschung dessen schreiten, was gesagt ist. Ἀλλὰ προσέχετε μετὰ ἀκριβείας· οὐδὲ γὰρ ἁπλῶς οἶμαι τὸν ψαλμὸν τοῦτον τετάχθαι παρὰ τῶν πατέρων καθ’ ἑκάστην ἑσπέραν λέγεσθαι, οὐδὲ διὰ τὴν μίαν λέξιν τὴν λέγουσαν· Ἔπαρσις τῶν χειρῶν μου θυσία ἑσπερινή. Ἐπεὶ καὶ ἄλλοι ψαλμοὶ ταύτην ἔχουσι τὴν λέξιν, ὥσπερ ἐκεῖνος ὁ λέγων, Ἑσπέρας καὶ πρωῒ καὶ μεσημβρίας διηγήσομαι καὶ ἀπαγγελῶ. Καὶ πάλιν, Σή ἐστιν ἡ ἡμέρα, καὶ σή ἐστιν ἡ νύξ. Καὶ πάλιν τὸ, Ἑσπέρας αὐλισθήσεται κλαυθμὸς, καὶ εἰς τὸ πρωῒ ἀγαλλίασις· καὶ πολλοὺς ἂν εὕροις τις ψαλμοὺς ἐπιτηδείους τῷ καιρῷ τῆς ἑσπέρας. Οὐ διὰ τοῦτο γοῦν τοῦτον τὸν ψαλμὸν ἐτύπωσαν οἱ πατέρες, ἀλλ’ ὥς τι φάρμακον σωτήριον καὶ ἁμαρτημάτων καθάρσιον ἐνομοθέτησαν λέγεσθαι, ἵν’ ὅσαπερ ἂν προστριβώμεθα δι’ ὅλου τοῦ μήκους τῆς ἡμέρας, ἢ ἐν ἀγορᾷ, ἢ ἐν οἰκίᾳ, ἢ ὅπου δήποτε δια τρίβοντες, ταῦτα ἐλθόντες εἰς τὴν ἑσπέραν, διὰ τῆς ἐπῳδῆς ταύτης ἀποδυσώμεθα τῆς πνευματικῆς. Φάρμακον γάρ ἐστιν ἁπάντων τούτων ἀναιρετικόν. Aber merkt genau auf: Es scheint mir, dass nicht einfachhin von den Vätern angeordnet wurde, dass dieser Psalm jeden Abend gesagt werde, und auch nicht bloß wegen des einen Ausdrucks, der sagt: „Das Erheben meiner Hände (sei wie) ein Abendopfer“ (V. 2); denn auch andere Psalmen enthalten diesen Ausdruck, so wie jener, der sagt: „Abends und morgens und mittags werde ich erzählen und verkündigen“ (Ps 54[55],18), und wiederum: „Dein ist der Tag, und dein ist die Nacht“ (Ps 73[74],16), und wiederum: „Am Abend wird sich Weinen niederlegen, und zum Morgen ist es Jubel“ (Ps 29[30],6); und man könnte viele Psalmen finden, die zur Abendzeit passen. Nicht deswegen also haben die Väter diesen Psalm bestimmt, sondern sie haben angeordnet, dass er als ein Heilmittel gesagt werde, das rettet und von Sünden reinigt, damit wir, so viel wir uns auch während der ganzen Länge des Tages zufügen - auf dem Markt, zu Hause, oder wo auch immer wir uns aufhalten -, dieses, wenn wir zum Abend gekommen sind, durch diesen geistgewirkten Gesang ablegen; ein Heilmittel ist er nämlich, der all dies wegnimmt. Τοιοῦτός ἐστι καὶ ὁ ἑωθινὸς ψαλμός· οὐδὲν γὰρ κωλύει ἐν βραχεῖ κἀκείνου ἐπιμνησθῆναι. Τὸν Von solcher Art ist auch der Morgenpsalm; nichts hindert nämlich, auch an diesen kurz zu erinnern. Er entzündet <?page no="249"?> Psalmodie als Sakrament 235 πόθον γὰρ ἀνάπτει τὸν πρὸς τὸν Θεὸν, καὶ διεγείρει τὴν ψυχὴν, καὶ σφόδρα πυρώσας, καὶ πολλῆς ἐμπλήσας ἀγαθότητος καὶ ἀγάπης, οὕτως ἀφίησι προσελθεῖν. Ἴδωμεν δὲ καὶ πόθεν ἄρχεται, καὶ τί διδάσκει ἡμᾶς· Ὁ Θεὸς, ὁ Θεός μου, πρὸς σὲ ὀρθρίζω. Ἐδίψησέ σε ἡ ψυχή μου. Ὁρᾷς πῶς πεπυρωμένης δείκνυσι ψυχῆς ῥήματα; Ἔνθα δὲ ἀγάπη Θεοῦ, πάντα οἴχεται τὰ πονηρά· ἔνθα μνήμη Θεοῦ, ἐνταῦθα ἁμαρτημάτων λήθη, καὶ κακῶν ἀναίρεσις. Οὕτως ἐν τῷ ἁγίῳ ὤφθην [428] σοι, τοῦ ἰδεῖν τὴν δύναμίν σου, καὶ τὴν δόξαν σου. Τί ἐστιν, Οὕτως; Μετὰ τοῦ πόθου, φησὶ, τούτου, μετὰ τῆς ἀγάπης ταύτης, ὥστε ἰδεῖν σου τὴν δόξαν, ἣν πανταχοῦ τῆς γῆς ἔστιν ἰδεῖν. Ἀλλ’ ἵνα μὴ τὸ ἐν χερσὶν ἀφέντες, τὸ πάρεργον ἐπεισαγάγωμεν, παραπέμψαντες τὸν ἀκροατὴν εἰς τὰ ὑπὲρ ἐκείνου εἰρημένα, τῶν προκειμένων νῦν ἁψώμεθα. nämlich die Sehnsucht nach Gott und weckt die Seele ganz auf, und nachdem er heftig entflammt und mit viel Güte und Liebe erfüllt hat, lässt er so hinzutreten. Schauen wir also auch, womit er anfängt und was er uns lehrt: „Gott, mein Gott, zu dir hin wache ich frühe. Meine Seele dürstete nach dir“ (Ps 62[63],2). Siehst du, wie er die Worte einer entflammten Seele zeigt? Wo Gottesliebe ist, verschwindet alles Übel; wo Gottesgedenken ist, dort ist Vergessen von Sünden und Wegnahme von Bösem. „So erscheine ich vor dir im Heiligtum [428], um deine Macht und Herrlichkeit zu sehen“ (V. 3). Was heißt „so“? Mit dieser Sehnsucht, sagt er, mit dieser Liebe, dass ich „deine Herrlichkeit sehe“, die man überall auf der Erde sehen kann. Damit wir aber nicht, indem wir von dem lassen, was in Händen ist, Nebensächliches einführen, verweisen wir den Hörer auf das über jenen (Psalm) Gesagte und halten uns nun an das Vorliegende. Τί δέ φησιν οὗτος; Κύριε, ἐκέκραξα πρὸς σὲ, εἰσάκουσόν μου. […] Was sagt nämlich dieser (Psalm)? „Herr, ich habe zu dir gerufen, erhöre mich“ (Ps 140[141],1). [… Es folgt die Auslegung von V. 1.] [430] Κατευθυνθήτω ἡ προσευχή μου, ὡς θυμίαμα ἐνώπιόν σου. Ἕτερος, Ταχθήτω ἡ προσευχή μου, ὡς θυμίαμα ἔμπροσθέν σου. Ἄλλος, Ἑτοιμασθήτω. Ἔπαρσις τῶν χειρῶν μου θυσία ἑσπερινή. Ἄλλος, Δῶρον ἑσπέρας. Ἕτερος, Προσφορὰ ἑσπερινή. [430] „Geleitet werde mein Gebet wie Weihrauch vor dein Angesicht.“ Ein anderer (in der Hexapla zitierter Übersetzer): „Hingestellt werde mein Gebet wie Weihrauch vor dir.“ Ein anderer: „Bereitet …“. „Das Erheben meiner Hände als Abendopfer.“ Ein anderer: „… (als) Gabe des Abends“, ein anderer: „… Abenddarbringung“ (Ps 140 [141],2). Τί διδάξαι βουλόμενος ἡμᾶς ὁ προφήτης περὶ θυσίας ἑσπερινῆς διαλέγεται; Δύο βωμοὶ τὸ παλαιὸν ἦσαν, εἷς μὲν ἀπὸ χαλκοῦ κατεσκευασμένος, ἕτερος δὲ Was sagt der Prophet, um uns über das Abendopfer zu belehren? Zwei Altäre gab es einst, einen aus Kupfer verfertigten und einen aus Gold. Und der eine war beinahe öffentlich, den <?page no="250"?> Harald Buchinger 236 χρυσοῦς. Καὶ ὁ μὲν πάνδημος ἦν σχεδὸν, προκείμενος τοῖς ἱερείοις τοῖς τοῦ πλήθους παντὸς, ὁ δὲ ἐν τοῖς ἀδύτοις ἀπέκειτο καὶ τοῦ καταπετάσματος ἔνδον. Μᾶλλον δὲ ὥστε σαφέστερα γενέσθαι τὰ λεγόμενα ἡμῖν, εἰς ἀρχὴν τὸν λόγον ἀναγαγεῖν πειρασόμεθα. Ναὸς ἦν παρὰ Ἰουδαίοις τὸ παλαιὸν τεσσαράκοντα μὲν πηχῶν τὸ μῆκος, τὸ δὲ πλάτος εἴκοσι. Τούτου τοῦ μήκους δέκα ἀφελὼν πήχεις ἀπέλαβεν ἔνδον διὰ τοῦ καταπετάσματος, καὶ τὸ ἀπειλημμένον ἐκαλεῖτο Ἅγια ἁγίων, τὸ δὲ ἔξω, Ἅγια μόνον. Καὶ χρυσῷ πάντα κατελάμπετο. Τινὲς δὲ καὶ τὴν δοκὸν ἐκείνην τὴν ἄνω χρυσήλατον ἔλεγον εἶναι.Ἔνθα ὁ ἀρχιερεὺς μόνος εἰσῄει ἅπαξ τοῦ ἐνιαυτοῦ, ἐκεῖ καὶ ἡ κιβωτὸς ἔκειτο, καὶ τὰ Χερουβίμ· ἐκεῖ καὶ ὁ βωμὸς εἰστήκει ὁ χρυσοῦς, ἔνθα τὸ θυμιατήριον προσεφέρετο, εἰς οὐδὲν ἕτερον παρεσκευασμένος, ἀλλ’ ἢ πρὸς τὸ θυμίαμα μόνον. Τοῦτο δὲ ἐγίνετο ἅπαξ τοῦ ἐνιαυτοῦ. Opfertieren der ganzen Masse bestimmt, der andere lag im Tempelinnern und innerhalb des Vorhangs (vgl. Ex 36-38). Damit aber noch klarer werde, was uns gesagt wird, versuchen wir die Rede zum Anfang hinaufzuführen: Bei den Juden gab es einst einen Tempel, der eine Länge von vierzig Ellen und eine Breite von zwanzig hatte (vgl. Ez 41,2); von dieser Länge nahm das Innere zehn Ellen weg und schloss es durch den Vorhang ein, und das Eingeschlossene wurde „Allerheiligstes“ genannt, das außen dagegen nur „Heiliges“ (vgl. Ex 26,33 etc.; Hebr 9,2f). Und alles leuchtete von Gold. Einige aber sagten, dass auch jener Balken oben aus Gold war. Dorthin ging allein der Hohepriester einmal im Jahr (vgl. Hebr 9,7); dort lag auch die Lade und die Cherubim; dort stand auch der goldene Altar, dorthin wurde auch die Räucherpfanne gebracht, die für nichts anderes verfertigt war als allein für das Räucherwerk (vgl. Hebr 9,3-5); das geschah aber einmal im Jahr. Ἐν τῷ ναῷ οὖν τῷ ἔξω ὁ χαλκοῦς ἦν βωμὸς, καὶ καθ’ ἑκάστην ἑσπέραν ἐφέρετο ἀμνὸς καὶ κατεκαίετο. Τοῦτο ἐκαλεῖτο θυσία ἑσπερινή· ἦν γὰρ καὶ ἑωθινὴ, καὶ δὶς τῆς ἡμέρας εἰς τὸν ναὸν τὸν βωμὸν καίεσθαι ἔδει, ἐκτὸς τῶν ἄλλων ἱερείων τῶν παρὰ τοῦ λαοῦ προσαγομένων. Τοῦτο γὰρ τοῖς ἱερεῦσιν ἐπίταγμα καὶ νόμος ἦν, ὥστε οἴκοθεν καὶ παρ’ ἑαυτῶν, ὅταν μηδεὶς προσέφερεν, ἕνα ἑωθινὸν καὶ ἕνα ἑσπερινὸν ἀμνὸν καταθύειν καὶ κατακαίειν· καὶ ἡ μὲν ἐκαλεῖτο θυσία ἑωθινὴ, ἡ δὲ ἑσπερινή. Τοῦτο δὲ ὑπὸ τοῦ Θεοῦ Im äußeren Heiligtum aber war der kupferne Altar, und jeden Abend wurde ein Lamm gebracht und verbrannt; das wurde „Abendopfer“ genannt. Es gab nämlich auch ein Morgen (-opfer), und zweimal am Tag musste zum Heiligtum hin der Altar brennen, abgesehen von den anderen Opfertieren, die vom Volk dargebracht wurden. Das war für die Priester Gebot und Gesetz, aus Eigenem und von ihnen selbst, wenn niemand darbrachte, ein Morgen- und ein Abendlamm zu opfern und zu verbrennen; und das eine wurde Morgenopfer genannt, das andere Abend (-opfer) (vgl. Ex 29,38- <?page no="251"?> Psalmodie als Sakrament 237 νενομοθέτητο γίνεσθαι, δηλοῦντος διὰ τοῦ γινομένου, ὅτι διηνεκῶς αὐτὸν θεραπεύεσθαι χρὴ, καὶ ἀρχομένης καὶ τελευτώσης ἡμέρας. 42; Lev 6,2; Num 28,3-8). Dass das geschehe, wurde von Gott als Gesetz gegeben, der durch das Geschehen deutlich machte, dass man ihn fortwährend verehren müsse, sowohl wenn der Tag beginnt, als auch wenn er zum Ende kommt. Αὕτη τοίνυν ἡ θυσία εὐπρόσδεκτος ἦν ἀεὶ, καὶ τὸ θῦμα τοιοῦτον· τὸ δὲ ὑπὲρ ἁμαρτημάτων ποτὲ μὲν εὐπρόσδεκτον ἦν, ποτὲ δὲ οὐκ εὐπρόσδεκτον, ἀπὸ τῆς διαθέσεως τῶν προσφερόντων πρὸς ἀρετὴν ἢ κακίαν τοῦτο κἀκεῖνο γινόμενον· ὅπερ δὲ οὐχ ὑπὲρ ἁμαρτημάτων ἑτέρων προσεφέρετο, ἀλλ’ ἱερουργίας νόμος ἦν καὶ θεραπείας τρόπος, πάντως εὐπρόσδεκτον ἦν. Diese Opferung also und dieses Opfer war immer annehmlich (vgl. 1 Petr 2,5); das für die Sünden hingegen war einmal annehmlich, einmal nicht annehmlich: Entsprechend der Disposition derer, die es darbrachten, wurde auch jenes zur Tugend oder zur Bosheit. Was dagegen nicht für die Sünden anderer dargebracht wurde, sondern Gesetz des Opferdienstes und Weise der Verehrung war, war ganz und gar annehmlich. Ἀξιοῖ τοίνυν οὗτος οὕτω γενέσθαι αὐτοῦ τὴν εὐχὴν ὡς ἐκεῖνο τὸ θῦμα τὸ οὐδεμιᾷ κηλῖδι τοῦ προσάγοντος μολυνόμενον, ὡς ἐκεῖνο τὸ θυμίαμα τὸ καθαρὸν καὶ ἅγιον. Διὰ δὲ τὸ ἀξιοῦν καὶ παιδεύει καθαρὰς ἡμᾶς ποιεῖσθαι τὰς εὐχὰς καὶ εὐώδεις. Τοιοῦτον γὰρ ἡ δικαιοσύνη· ὥσπερ οὖν ἡ ἁμαρτία δυσώδης. Διὸ καὶ τὴν δυσωδίαν αὐτῆς παραδηλῶν αὐτὸς οὗτος ἔλεγεν· Ὅτι αἱ ἀνομίαι μου ὑπερῆραν τὴν κεφαλήν μου, ὡσεὶ φορτίον βαρὺ ἐβαρύνθησαν ἐπ’ ἐμέ. Προσώζεσαν καὶ ἐσάπησαν οἱ μώλωπές μου. Dieser (sc. der Psalmist) bittet also, dass sein Gebet so werde wie jenes Opfer, das von keiner Befleckung des Darbringenden besudelt ist, wie jener reine und heilige Weihrauch (vgl. Ex 30,35). Durch seine Bitte belehrt er auch uns, unsere Gebete rein und wohlriechend zu machen. So ist nämlich die Gerechtigkeit, wie denn die Sünde übelriechend ist. Deswegen sagte auch derselbe, um deren üblen Geruch anzuzeigen: „Denn meine Gesetzlosigkeiten sind mir über den Kopf gewachsen, wie eine schwere Last sind sie zu schwer für mich geworden. Es stinken und faulen meine Wunden“ (Ps 37[38],5f). <?page no="252"?> Harald Buchinger 238 Ὥσπερ οὖν τὸ θυμίαμα καὶ καθ’ ἑαυτό ἐστι καλὸν [431] καὶ εὐῶδες, τότε δὲ μάλιστα ἐπιδείκνυται τὴν εὐωδίαν, ὅταν ὁμιλήσῃ τῷ πυρί· οὕτω δὴ καὶ ἡ εὐχὴ καλὴ μὲν καὶ καθ’ ἑαυτήν· καλλίων δὲ καὶ εὐωδεστέρα γίνεται, ὅταν μετὰ θερμῆς καὶ ζεούσης ψυχῆς ἀναφέρηται, ὅταν θυμιατήριον ἡ ψυχὴ γένηται καὶ πῦρ ἀνάπτῃ σφοδρόν. Οὐδὲ γὰρ τὸ θυμίαμα τῆς ἐσχάρας μὴ προαναφθείσης ἐπετίθετο, ἢ τῶν ἀνθράκων μὴ διακαιομένων. Τοῦτο καὶ σὺ ἐπὶ τῆς διανοίας ποίησον· πρότερον ἄναψον αὐτὴν τῇ προθυμίᾳ, καὶ τότε ἐπιτίθει τὴν εὐχήν. Εὔχεται τοίνυν τὴν μὲν εὐχὴν αὐτοῦ γενέσθαι ὡς θυμίαμα, τὴν δὲ ἔπαρσιν τῶν χειρῶν ὡς θυσίαν ἑσπερινήν. Ἀμφότερα γὰρ εὐπρόσδεκτα. Πῶς δ’ ἂν γένοιτο τοῦτο; Εἰ ἀμφότερα εἴη καθαρὰ, εἰ ἀμφότερα εἴη ἄμωμα, ἥ τε γλῶττα καὶ αἱ χεῖρες, αἱ μὲν πλεονεξίας καὶ ἁρπαγῆς ἐκκεκαθαρμέναι, ἡ δὲ πονηρῶν ῥημάτων ἠλευθερωμένη. Ὥσπερ γὰρ θυμιατήριον οὐδὲν ἔχειν ἀκάθαρτον χρὴ, ἀλλ’ ἢ πῦρ καὶ θυμίαμα· οὕτω καὶ τὴν γλῶτταν μὴ προφέρειν κεκηλιδωμένον ῥῆμα, ἀλλ’ ἢ ἁγιωσύνην, καὶ εὐφημίαν· οὕτω καὶ τὰς χεῖρας θυμιατήριον γίνεσθαι. Ἔστω τοίνυν θυμιατήριόν σου τὸ στόμα, καὶ σκόπει μὴ κόπρου αὐτὸ ἐμπλήσῃς. Τοιοῦτοι οἱ τὰ αἰσχρὰ φθεγγόμενοι καὶ ἀκάθαρτα ῥήματα. Wie nun der Weihrauch schon von sich aus gut [431] und wohlriechend ist, aber doch dann am stärksten seinen Wohlgeruch zeigt, wenn er mit Feuer zusammenkommt, so ist auch das Gebet zwar schon für sich schön; schöner und wohler riechend wird es aber, wenn es mit heißer und glühender Seele emporgesandt wird, wenn die Seele Räucherpfanne wird und ein kräftiges Feuer entzündet. Der Weihrauch wird nämlich nicht aufgelegt, wenn nicht das Kohlebecken vorher angezündet wurde und die Kohlen nicht durchgeglüht sind. Das mach auch du auf dem Verstand: Zuerst zünde ihn mit dem Eifer an, und dann leg das Gebet darauf. Er (sc. der Psalmist) betet also, dass sein Gebet „wie Weihrauch“ werde, das „Erheben der Hände wie ein Abendopfer“. Beide sind nämlich annehmlich. Wie soll das aber geschehen? Wenn beide rein und beide makellos sind: sowohl die Zunge als auch die Hände; letztere gereinigt von Habsucht und Raub, erstere befreit von bösen Worten. Wie aber eine Räucherpfanne nichts Unreines haben darf, sondern nur Feuer und Weihrauch, so darf auch die Zunge kein beschmutztes Wort hervorbringen, sondern nur Heiligung und Lob. So müssen auch die Hände Räucherpfanne werden. Es sei also dein Mund eine Räucherpfanne; und schau, dass du ihn nicht mit Mist vollmachst. Von solcher Art sind diejenigen, welche schändliche und unreine Worte von sich geben. Καὶ τίνος ἕνεκεν οὐκ εἶπεν Ἑωθινὴ, ἀλλ’ Ἑσπερινή; Ἐμοὶ μὲν ἀδιαφόρως εἰρῆσθαι καὶ τοῦτο δοκεῖ. Καὶ γὰρ εἰ εἶπεν ἑωθινὴν, ὁ περίεργος ἠρώτησεν ἂν, τίνος ἕνεκεν οὐκ εἶπεν ἑσπερινήν; Εἰ δέ Und weswegen sagt er nicht „Morgen-“ sondern „Abend-“ (Opfer)? Auch das scheint mir unterschiedslos gesagt zu sein. Wenn er nämlich „Morgen-“ (Opfer) sagte, würde der Übereifrige fragen, weswegen er nicht „Abend-“ <?page no="253"?> Psalmodie als Sakrament 239 τις ἀπολυπραγμόνως βούλοιτο ἀκούειν [varia lectio: πολυπραγμονέστερον ἐξετάσαι βουληθείη], ὅτι ἡ μὲν ἑωθινὴ ἀναμένει τὴν ἑσπερινήν· ἡ δὲ ἑσπερινὴ γενομένη τὴν ἱερουργίαν ἐπλήρωσε, καὶ οὐκ ἔστιν ἀτελεστέρα πως ἔτι τῆς ἡμέρας λοιπὸν ἡ λατρεία, ἀλλὰ ἀπηρτίσθη, καὶ τέλος ἔλαβεν. (Opfer) sagt. Wenn aber einer ohne übergroße Neugier hören wollte [Variante: übereifrig forschen wollte], (ist zu sagen), dass zwar das „Morgen-“ (Opfer) das „Abend-“ (Opfer) erwartet; wenn dagegen das „Abend-“ (Opfer) geschehen ist, hat es den Opferdienst vollendet, und der Kult des Tages ist auf keine Weise unvollendet, als ob noch etwas übrig wäre, sondern er ist abgeschlossen und hat ein Ende genommen. Ἀλλὰ γὰρ τί βούλεται καὶ τῶν χειρῶν ἡ ἔκτασις ἐν τῇ εὐχῇ; Ἐπειδὴ πολλαῖς πονηρίαις διακονοῦνται αὗται, οἷον πληγαῖς, φόνοις, ἁρπαγαῖς, πλεονεξίαις, δι’ αὐτὸ μὲν οὖν τοῦτο κελευόμεθα αὐτὰς ἀνατείνειν, ἵνα ἡ τῆς εὐχῆς διακονία δεσμὸς αὐταῖς γένηται τῆς κακίας, καὶ ἀπαλλαγὴ τῆς πονηρίας, ἵν’ ὅταν μέλλῃς ἁρπάζειν ἢ πλεονεκτεῖν ἢ τύπτειν ἕτερον, ἀναμνησθεὶς ὅτι ταύτας μέλλεις ἀντὶ συνηγόρων πρὸς τὸν Θεὸν πέμπειν, καὶ διὰ τούτων τὴν θυσίαν ἀναπέμπειν ἐκείνην τὴν πνευματικὴν, μὴ καταισχύνῃς αὐτὰς, καὶ ἀπαῤῥησιάστους ἐργάσῃ τῇ διακονίᾳ τῆς πονηρᾶς ἐργασίας. Κάθαιρε τοίνυν αὐτὰς ἐλεημοσύνῃ, φιλανθρωπίᾳ, προστασίᾳ δεομένων, καὶ οὕτως αὐτὰς εἰς εὐχὴν ἄγε. Εἰ γὰρ ἀνίπτους αὐτὰς οὐκ ἐπιτρέπεις εἰς εὐχὴν ἐπαίρεσθαι, πολλῷ μᾶλλον ἁμαρτήμασιν οὐκ ἂν εἴης δίκαιος αὐτὰς μιαίνειν. Εἰ τὸ ἔλαττον δέδοικας, πολλῷ μᾶλλον τὸ μεῖζον φρῖξον. Τὸ μὲν γὰρ ἀνίπτοις χερσὶ προσεύχεσθαι, οὐ τοσοῦτον ἄτοπον· τὸ δὲ καταῤῥυπωθείσας αὐτὰς μυρίοις ἁμαρτήμασι προσάγειν, τοῦτο πολλὴν φέρει τὴν ὀργήν. Aber was will auch das „Erheben der Hände“ beim Gebet? Weil diese vielfachem Übel dienen, wie Prügeln, Mord, Raub und Habgier, deshalb werden wir angewiesen, sie zu erheben, damit der Gebetsdienst für sie zur Fessel vor dem Bösen wird und zur Befreiung vom Übel: damit du, wenn du rauben oder übervorteilen oder einen anderen schlagen willst, wenn du dich erinnerst, dass du sie fürsprechend zu Gott senden und durch sie jenes geistige Opfer (vgl. 1 Petr 2,5) emporsenden wirst, sie nicht schändest und völlig unfrei machst durch den Dienst am bösen Geschäft. Reinige sie also durch Almosen, Menschenfreundlichkeit, Fürsorge für Bedürftige, und so bring sie zum Gebet. Wenn du nämlich nicht gestattest, dass sie ungewaschen zum Gebet erhoben werden, wieviel mehr solltest du nicht unberechtigt sein, sie mit Sünden zu beflecken? Wenn du das Geringere fürchtest, schaudere vielmehr vor dem Größeren. Mit ungewaschenen Händen zu beten, ist nicht derart unangebracht; sie mit unzähligen Sünden besudelt herbeizubringen, das zieht den großen Zorn auf sich. <?page no="254"?> Harald Buchinger 240 Τοῦτο καὶ ἐπὶ στόματος καὶ γλώττης λογιζώμεθα, καὶ ἄβατον αὐτὸ τῇ πονηρίᾳ τηροῦντες, οὕτω [432] τὴν προσευχὴν προσάγωμεν. Εἰ γὰρ χρυσοῦν τις σκεῦος ἔχων, οὐκ ἂν ἕλοιτο εἰς ἄτιμον αὐτῷ χρήσασθαι διακονίαν διὰ τὸ πολύτιμον τῆς ὕλης· πολλῷ μᾶλλον οἱ χρυσοῦ καὶ μαργαρίτου τιμιώτερα στόματα ἔχοντες, οὐκ ἂν εἴημεν δίκαιοι ταῖς ἀναισχύντοις αὐτὰ καταῤῥυπαίνειν αἰσχροῤῥημοσύναις, καὶ λοιδορίαις, καὶ ὕβρεσιν. Οὐκ ἐν χαλκῷ προσάγεις βωμῷ τὸ θυμιατήριον, οὐδὲ ἐν χρυσῷ, ἀλλ’ ἐν τῷ τούτου τιμιωτέρῳ, ἐν ναῷ πνευματικῷ. Ἐκείνῳ μὲν γὰρ ἄψυχος ἡ ὕλη· ἐν σοὶ δὲ ὁ Θεὸς ἐνοικεῖ, καὶ μέλος εἶ τοῦ Χριστοῦ καὶ σῶμα. Das folgern wir auch für Mund und Zunge und wollen ihn rein von Bosheit halten und so [432] das Gebet darbringen. Wenn einer nun ein goldenes Gefäß hat, wird er es nicht wegen des hohen Werts seines Materials nicht zu einem wertlosen Dienst gebrauchen? Wieviel mehr werden wir, die wir Münder haben, die wertvoller sind als Gold und Perle, nicht unberechtigt sein, sie mit schamlosen Obszönitäten, Schmähungen und Schimpfen zu besudeln. Bring deine Räucherpfanne nicht auf einem kupfernen Altar und nicht auf einem goldenen dar, sondern in dem, der kostbarer ist als jener, im geistgewirkten Heiligtum (vgl. 1 Kor 3,16). Jener nämlich hat eine unbelebte Materie; in dir aber wohnt Gott (vgl. 2 Kor 6,16), und du bist Glied und Leib Christi (vgl. 1 Kor 6,15; 12,12.27; Röm 12,5). <?page no="255"?> „… unter ihrem Anhauch und Antrieb sind liturgische Gebete, Orationen und Gesänge geschaffen worden …“ <?page no="257"?> Bibel als Quelle und Prüfstein liturgischer Sprache Albert Gerhards Dass die Hl. Schrift in der christlichen Liturgie eine zentrale Rolle spielt, versteht sich von selbst. 1 So dient sie als Textlieferant für die offizielle Liturgie der römischen Kirche. Lesungen, Psalmen und Cantica, Antiphonen, Responsorien, Akklamationen entstammen zum größten Teil wörtlich der Bibel, und die anderen Gattungen wie Gebete, Hymnen und Lieder und nicht zuletzt die Predigt sind mehr oder weniger stark von der Bibel inspiriert. 2 Allerdings ist die Bibel nicht einfach als ein Reservoir anzusehen, das für den liturgischen Gebrauch je nach Bedarf anzuzapfen ist. Viele biblische Stücke beider Testamente entstammen bereits der Liturgie des Judentums bzw. der sich formierenden Christenheit. Bevor es schriftliche Fixierung gab, gab es mündliche Weitergabe u.a. durch liturgische Praxis. Einziger literarischer Fixpunkt der Gottesdienste in der frühen Christenwie Judenheit waren die Schriften, aus denen im Gottesdienst der Synagoge und der Kirche vorgelesen wurde. Die Entwicklung der liturgischen Textgattungen lief from freedom to formula, 3 wobei „Freiheit“ nicht mit Willkür zu verwechseln ist. Um die Normativität der Schrift in Bezug auf die liturgische Sprache geht es in den folgenden Überlegungen. 1 Die 1926 gegründete österreichische Zeitschrift „Bibel und Liturgie“ zeigt schon im Titel die Orientierung des durch Pius Parsch repräsentierten Zweiges der Liturgischen Bewegung an der Bibel. Vgl. dazu den Beitrag von Birgit J EGGLE -M ERZ in diesem Band. 2 Vgl. Albert G ERHARDS , Der Schriftgebrauch in den altkirchlichen Liturgien, in: Georg S CHÖLLGEN - Clemens S CHOLTEN (Hgg.), Stimuli. Exegese und ihre Hermeneutik (FS Ernst Dassmann; Jahrbuch für Antike und Christentum. Ergänzungsband 23), Münster 1996, 177-190; DERS ., Schriftgebrauch im Gottesdienst. Zur Bewertung der Rolle des Gottesdienstes in den Überlegungen des Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen unter besonderer Berücksichtigung des Alten Testaments, in: Ansgar F RANZ (Hg.), Streit am Tisch des Wortes? Zur Deutung und Bedeutung des Alten Testaments und seiner Verwendung in der Liturgie (Pietas Liturgica 8), St. Ottilien 1997, 491-503. 3 Vgl. Allan B OULEY , From Freedom to Formula. The Evolution of the Eucharistic Prayer from Oral Improvisation to Written Texts, Washington 1981; dazu: Achim B UDDE , Die ägyptische Basilios-Anaphora. Text - Kommentar - Geschichte (Jerusalemer Theologisches Forum 7), Münster 2004, 546-552. <?page no="258"?> Albert Gerhards 244 1 Theologische Vorüberlegungen zum Sprechen in der Liturgie: Aussagen der Liturgiekonstitution Zur Eigenart der biblischen Religionen gehört das Verlesen der Heiligen Schriften in der gottesdienstlichen Versammlung. Dies mag zunächst primär aus didaktischen Motiven heraus geschehen sein; mit der Zeit kommen aber auch andere hinzu, die den Charakter des nun entstehenden Wortgottesdienstes bestimmen, insbesondere kerygmatisch-anamnetische, parakletische und doxologische Motive, um eine Klassifizierung von Paul Bradshaw aufzugreifen. 4 Der Wortgottesdienst war also von Anfang an vieldimensional. Die Engführung des westlichen Verständnisses der Liturgie auf den kultischlatreutischen Charakter hat die ursprüngliche, in den Ostkirchen bis heute geläufige Sicht der Liturgie als gott-menschlichen Synergismus weithin vergessen lassen. 5 Die gesonderte Behandlung von Messopferlehre und Sakrament der Kommunion in der theologischen Systematik trug das Ihre dazu bei, um die göttliche und die menschliche Seite strikt voneinander zu trennen. Die Liturgiekonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils 6 hat in verschiedener Hinsicht zur Wiederentdeckung eines umfassenderen Verständnisses verholfen. Dieses besteht im Wesentlichen in der Vorrangigkeit des göttlichen Handelns, gegenüber dem das menschliche Tun antwortenden Charakter hat. Darauf deutet die Metapher von den beiden Tischen hin: 7 SC 51: „Auf dass den Gläubigen der Tisch des Gotteswortes reicher bereitet werde, soll die Schatzkammer der Bibel weiter aufgetan werden, so dass innerhalb einer bestimmten Anzahl von Jahren die wichtigsten Teile der Heiligen Schrift dem Volk vorgetragen werden.“ Wenn Gottes Wort Vorrang hat, dann hat dies auch Auswirkungen auf das Sprechen im Gottesdienst. Dies kommt bereits an früherer Stelle von SC zum Ausdruck: 8 4 Vgl. Paul F. B RADSHAW , The Use of the Bible in Liturgy. Some Historical Perspectives, in: Studia Liturgica 22 (1992), 35-52; dazu: Albert G ERHARDS - Benedikt K RANEMANN , Einführung in die Liturgiewissenschaft, 3., vollst. überarb. Aufl., Darmstadt 2013, 162-164. 5 Vgl. Albert G ERHARDS , Glaubensentwicklung und liturgische Feier - Anfragen und ökumenische Perspektiven, in: Internationale Kirchliche Zeitschrift 103 (2013), 31-52. 6 Vgl. zum Folgenden: Reiner K ACZYNSKI , Theologischer Kommentar zur Konstitution über die heilige Liturgie Sacrosanctum Concilium, in: Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil Bd. 2, Freiburg i.Br. u.a. 2004, 1-227; Albert G ER - HARDS , Gipfelpunkt und Quelle. Intention der Liturgiekonstitution Sacrosanctum Concilium, in: Jan-Heiner T ÜCK (Hg.), Erinnerung an die Zukunft. Das Zweite Vatikanische Konzil, Freiburg i.Br. u.a. 2., aktual. und erw. Aufl. 2013, 127-146. 7 Vgl. K ACZYNSKI , Theologischer Kommentar (wie Anm. 6), 126-128; dazu: Stephan W AH- LE , Von der Vormesse zur Liturgie des Wortes, in: DERS . - Helmut H OPING - Winfried H AUNERLAND (Hgg.), Römische Messe und Liturgie in der Moderne, Freiburg i.Br. u.a. 2013, 346-377, bes. 348-351. 8 Vgl. K ACZYNSKI , Theologischer Kommentar (wie Anm. 6), 90; Jürgen B ÄRSCH , „Von größtem Gewicht für die Liturgiefeier ist die Heilige Schrift“ (SC 24). Zur Bedeutung der Bibel im Kontext des Gottesdienstes, in: Liturgisches Jahrbuch 53 (2003), 222-241. <?page no="259"?> Bibel als Quelle und Prüfstein liturgischer Sprache 245 SC 24: „Von größtem Gewicht für die Liturgiefeier ist die Heilige Schrift. Aus ihr werden nämlich Lesungen vorgetragen und in der Homilie ausgedeutet, aus ihr werden Psalmen gesungen, unter ihrem Anhauch und Antrieb sind liturgische Gebete, Orationen und Gesänge geschaffen worden, und aus ihr empfangen Handlungen und Zeichen ihren Sinn. Um daher Erneuerung, Fortschritt und Anpassung der heiligen Liturgie voranzutreiben, muss jenes innige und lebendige Ergriffensein von der Heiligen Schrift gefördert werden, von dem die ehrwürdige Überlieferung östlicher und westlicher Riten zeugt.“ In der Phase der liturgischen Erneuerung wurde oft so getan, als sei die hohe Einschätzung der hl. Schrift eine Erfindung des II. Vatikanums gewesen. Die letzte Aussage von SC 24 deutet aber darauf hin, dass die Konzilsväter sehr wohl um die enge Verbindung von Bibel und Liturgie in den verschiedenen Traditionen der Kirche wussten. Diese war in der klassischen römischen Liturgie vielfältiger als in den gängigen Gemeindegottesdiensten der Gegenwart. Darauf ist noch zurückzukommen. Hier geht es darum festzuhalten, dass die Normativität der Bibel für das Sprechen in der Liturgie theologisch bedingt ist: Menschliches Sprechen als antwortendes Handeln hat Maß zu nehmen an der Art und Weise, wie Gott sich im Menschenwort ausgedrückt hat. Intertextualität von Bibel und Liturgie ist also nicht nur ein historisches Faktum und ein philologisches Betätigungsfeld, sondern eine theologische Aufgabe: Die Bibel ist neben vielem anderen auch die Sprachlehre des Gebets. 9 Mehr noch: Im Verkündigen der Heiligen Schriften geschieht die Vergegenwärtigung des sich offenbarenden Gottes (vgl. SC 7), dessen Wort bewirkt, was es beinhaltet: „Darum danken wir Gott unablässig dafür, dass ihr das Wort Gottes, das ihr durch unsere Verkündigung empfangen habt, nicht als Menschenwort, sondern - was es in Wahrheit ist - als Gottes Wort angenommen habt; und jetzt ist es in euch, den Gläubigen, wirksam.“ (1 Thess 2,13) Damit ist die Intertextualität von Bibel und Liturgie, von Wort und Antwort, eine theologische Gegebenheit. Wer im Gottesdienst das Wort ergreift, muss vom Wort Gottes durchdrungen sein. Freilich bleibt auch hier die Vermittlung entscheidend: Gottes Wort im Menschenwort braucht glaubhafte Verkündigerinnen und Verkünder und den Adressaten entsprechende Ausdrucksgestalten. Hier geht es z.B. um die Frage der angemessenen Bibelübersetzung für die Liturgie, deren Wortlaut und Sprachduktus Auswirkungen auf alle Bereiche des liturgischen Sprechens hat. 9 Vgl. Richard S CHAEFFLER , Kleine Sprachlehre des Gebets, Einsiedeln 1988; DERS ., Das Gebet und das Argument. Zwei Weisen des Sprechens von Gott. Eine Einführung in die Theorie der religiösen Sprache, Düsseldorf 1989; dazu: Thomas D EUTSCH , Perspektiven des Dialogs. Überlegungen zur theologischen Relevanz der Gebetslehre Richard Schaefflers, in: Bernd I RLENBORN - Christian T APP (Hgg.), Gott und Vernunft. Neue Perspektiven zur Transzendenzphilosophie Richard Schaefflers (Scientia & Religio 11), Freiburg i.Br. - München 2013, 284-300; Stefan W ALSER , Der doxologische Aspekt der Gebetslehre Richard Schaefflers, in: a.a.O., 301-320. <?page no="260"?> Albert Gerhards 246 Wenn wir das bisher Gesagte mit den zentralen liturgietheologischen Aussagen von SC in Beziehung setzen wollen, so ist danach zu fragen, wie der Konzilstext die untrennbare Einheit des göttlichen und menschlichen Zusammenwirkens im liturgischen Geschehen zum Ausdruck bringt und welche Konsequenzen dies für die liturgische Sprache hat. Hier ist ein Blick auf Artikel 11 der Liturgiekonstitution von Interesse. 10 Er nimmt Bezug auf die vorhergehende Aussage von der Liturgie als „Gipfel und Quelle“ aller Lebensvollzüge der Kirche, wo die Heiligung des Menschen und die Verherrlichung Gottes in Christus geschieht (SC 10), Ziel allen Tuns der Kirche. Der Abschnitt lautet: SC 11: „Damit aber dieses Vollmaß der Verwirklichung erreicht wird, ist es notwendig, dass die Gläubigen mit recht bereiteter Seele zur heiligen Liturgie hinzutreten, dass ihr Herz mit der Stimme zusammenklinge und dass sie mit der himmlischen Gnade zusammenwirken, um sie nicht vergeblich zu empfangen. Darum sollen die Seelsorger bei liturgischen Handlungen darüber wachen, dass nicht bloß die Gesetze des gültigen und erlaubten Vollzugs beachtet werden, sondern auch dass die Gläubigen bewusst, tätig und mit geistlichem Gewinn daran teilnehmen.“ Hier kommt zum ersten Mal im Konzilstext (von insgesamt 28 Mal) das Wort (tätige) Teilnahme vor. Im Folgenden wird der Begriff weiter entfaltet. Schon hier wird deutlich, dass es dem Konzil nicht um ein bloß äußerliches Tun ging. Wer die himmlische Gnade nicht vergeblich empfangen will (vgl. 2 Kor 6,1), muss mit ihr zusammenwirken (cooperare). Es ging dem Konzil aber auch nicht um ein bloß innerliches Tun, wie das Zitat aus der Benediktusregel vom Zusammenklang von Herz (eigentlich: Geist) und Stimme verdeutlicht, wörtlich: das In-Einklang-bringen (accomodare). Dass dies alles gelingt, ist keine Privatangelegenheit des einzelnen Gläubigen, sondern hat Relevanz für die Kirche, wie aus dem Zusammenhang hervorgeht. 11 Diese beiden Voraussetzungen konstituieren die Liturgiefähigkeit des Gläubigen: die anthropologische der natürlichen, leib-geistigen Harmonie und die theologische der übernatürlichen, gnadenhaften Harmonie, um im musikalischen Bild zu bleiben. Sie bilden gleichsam die beiden Brennpunkte einer Ellipse. Diesen beiden Polen entsprechen die beiden Kategorien der Liturgiekonstitution, die P. Angelus Häußling schon vor vielen Jahren als die zentralen identifiziert hat: die participatio actuosa, plena, conscia, fructuosa als „formales“ Kriterium auf der einen und das mysterium paschale Christi als „materiales“ Kriterium auf der anderen Seite. Auf Seiten des „göttlichen“ Pols geht es um die Heilsgegenwart des Paschamysteriums in der liturgischen Feier, wie sie vor allem in der Mysterientheologie Odo Casels formuliert wurde und in deren Rezeption jahrhunderte- 10 Vgl. G ERHARDS , Gipfelpunkt und Quelle (wie Anm. 6), 132-136. 11 Partizipation ist wesentlich ein Geschehen in einem qualifizierten Raum, und somit ist liturgische Ästhetik eine Ästhetik der Gestalt; vgl. dazu: Albert G ERHARDS - Andreas P OSCHMANN (Hgg.), Liturgie und Ästhetik, Trier 2013. <?page no="261"?> Bibel als Quelle und Prüfstein liturgischer Sprache 247 lange Aporien überwunden werden. Dies ist gewissermaßen das opus operatum. Der andere Pol, der „menschliche“ des opus operantis oder besser operantium, ist dem Konzil aber nicht minder wichtig, geht es ihm ja nicht um die Gnade an sich, sondern um ihren fruchtbaren Empfang durch die Glieder der Kirche. Dies ist aber - und das unterscheidet SC von älteren lehramtlichen Äußerungen - kein primär privatfrommer, sondern ein gemeinschaftlich-ekklesialer Akt. Es ist zudem ein Akt nicht nur geistiger, sondern geistig-leiblicher communio: mentem suam voci accomodent. Das Zusammenklingen von Geist (Herz) und Stimme und das Zusammenwirken mit der himmlischen Gnade haben nicht nur für den einzelnen Christen, sondern für die ganze Kirche Relevanz. Dies ergibt sich wiederum aus SC 10, wo es um die „größte Wirksamkeit“ geht. Die participatio - vielleicht besser mit Teilgabe als mit Teilnahme zu übersetzen - ist bezogen auf das Mysterium paschale, insofern dieses die Mitte der Verkündigung und Liturgie bildet. Die vom Mysterium paschale, vom Ostermysterium, vorgezeichnete Bewegung ist aber zunächst die der Erniedrigung (vgl. Phil 2,6-10). Stephan Winter hat dies liturgieästhetisch reflektiert: „Der ästhetische Zugang zur göttlichen Transzendenz beruht unabdingbar auf der Inkarnation, auf der Kenosis Gottes, die in letzter Konsequenz ans Kreuz führt.“ 12 Das aber hat Auswirkungen auf die Sprache der Liturgie. Sie ist Teil des ästhetischen Zugangs auf der inkarnatorischen Spur der Kenosis, hier in Form des (katabatisch) verkündigten Christusmysteriums. In diesem kommunikativen Geschehen werden die Teilnehmenden am Gottesdienst befähigt (fons) zur Antwort (participatio actuosa). Ihr vom Gotteswort im Menschenwort inspiriertes Antworten in unterschiedlichen (anabatischen) Formen ist Vorwegnahme endzeitlicher communio, die ihren Ausdruck findet in der Verherrlichung Gottes als Ziel des ganzen Tuns der Kirche (culmen). 13 2 Bibel und liturgische Sprache - zur Intertextualität Im Folgenden geht es darum, das Verhältnis von Bibel und liturgischer Sprache näher zu bestimmen. Dabei sind die unterschiedlichen liturgischen Weisen der Intertextualität zu beachten. 14 Im Wortgottesdienst der sonn- und festtäglichen Messe findet sich die Textabfolge von atl. Lesung, Psalm, ntl. Lesung, Halleluja-Ruf und Evangelium. Eine solche Struktur ist keineswegs 12 Stephan W INTER , Gestaltwerdung des Heiligen. Liturgie als Ort der Gegenwart Gottes, in: Edmund A RENS (Hg.), Gegenwart. Ästhetik trifft Theologie (Quaestiones Disputatae 246), Freiburg i.Br. u.a. 2012, 149-176, hier: 160; vgl. Albert G ERHARDS , Liturgie und Partizipation, in: Kunst und Kirche 75 (2012), 42-46. 13 Vgl. den Versuch einer graphischen Darstellung dieser Aussagen in: G ERHARDS , Gipfelpunkt und Quelle (wie Anm. 6), 136. 14 Vgl. zum Folgenden: G ERHARDS - K RANEMANN , Einführung (wie Anm. 4), 165f. <?page no="262"?> Albert Gerhards 248 belanglos, sondern bringt die Schriften der Bibel mit ihren beiden Teilen im Kontext der Liturgie in einen Dialog. Die aufeinander abgestimmten Texte aus AT und NT befragen und kommentieren sich gegenseitig. 15 Eröffnungsvers, Psalm und Halleluja-Ruf eröffnen einen bestimmten Verstehenshorizont. Hier handelt es sich um innerbiblische Intertextualität im Kontext der Liturgie. Man kann zudem einen Dialog zwischen biblischem Text und „liturgischem“ Text beobachten, wenn eine Oration, ein Hochgebet, ein Kirchenlied etc. einen biblischen Text einspielt, also Text im Text spricht und so wiederum ein neues Textgebilde entsteht. Das Kirchenlied „Es ist ein Ros entsprungen“ (16. Jahrhundert) verdeutlicht das: „Es ist ein Ros entsprungen / aus einer Wurzel zart, / wie uns die Alten sungen, / aus Jesse kam die Art, / und hat ein Blümlein bracht, / mitten im kalten Winter, / wohl zu der halben Nacht.“ Hier klingen deutlich atl. und ntl. Texte aus Jes 11,1-2, Lk 1,31-33 und Röm 15,12 an, die die Bedeutung des Liedes konstituieren. Der biblische Text wird in ein Lied eingelesen und im neuen Kontext, zumeist in der Liturgie des Weihnachtsfestkreises, rezipiert. 16 Schließlich macht Intertextualität auf den Dialog zwischen verschiedenen Liturgiefeiern aufmerksam, der über biblische Texte ermöglicht wird. Für die Cantica Benedictus, Magnificat und Nunc dimittis sowie das in der Eucharistie erklingende Gloria hat Norbert Lohfink aufgezeigt, dass die Texte im Lukasevangelium eng durch Stichworte - „punktuelle Wortbezüge“ - wie durch ihren inneren Zusammenhang miteinander verbunden sind und dadurch nachdrücklich und in Fülle messianische Hoffnung ausdrücken. Diese tragen sie in den christlichen Gottesdienst ein und eröffnen dadurch neue polyphone Bedeutung. 17 Der theologische Bogen zwischen den Texten durchwirkt von der Liturgie her den Tageslauf. Die folgenden Überlegungen beziehen sich auf eine von dem Literaturwissenschaftler Gérard Genette entwickelte Typologie solcher Transtextualität, die Gunda Brüske erstmals auf die Liturgie angewendet hat: 18 15 Vgl. Hansjakob B ECKER , Wortgottesdienst als Dialog der beiden Testamente. Der Stellenwert des Alten Testamentes bei einer Weiterführung der Reform des Ordo Lectionum Missae, in: F RANZ (Hg.), Streit am Tisch des Wortes? (wie Anm. 2), 659-689. 16 Vgl. zur Textgeschichte und -interpretation: Hansjakob B ECKER , Es ist ein Ros entsprungen, in: Hansjakob B ECKER u.a. (Hgg.), Geistliches Wunderhorn. Große deutsche Kirchenlieder, München 2001, 135-145. 17 Vgl. Norbert L OHFINK , Das Alte Testament und der christliche Tageslauf. Die Lieder in der Kindheitsgeschichte bei Lukas, in: DERS ., Im Schatten deiner Flügel. Große Bibeltexte neu erschlossen, Freiburg i.Br. u.a. 1999, 218-236, bes. 235. 18 Vgl. Gunda B RÜSKE , Lesen als Wiederkäuen: Lectio divina, Liturgie und Intertextualität. Zugleich ein Beitrag zur Hermeneutik liturgischer Texte, in: Erbe und Auftrag 78 (2002), 94-103; dazu G ERHARDS - K RANEMANN , Einführung (wie Anm. 4), 165f. <?page no="263"?> Bibel als Quelle und Prüfstein liturgischer Sprache 249 Intertextuell: Die Rezitation biblischer Texte in der Liturgie, sei es als Lesung, Lied oder Gebet, sowie die Zitation und Anspielung. Unter Anspielung versteht Genette eine Aussage, „deren volles Verständnis das Erkennen einer Beziehung zwischen ihr und einer anderen voraussetzt, auf die sich diese oder jene Wendung des Textes bezieht, der ja sonst nicht ganz verständlich wäre.“ 19 Das lässt sich auf die Komplexität biblischer Anspielungen in der Liturgie übertragen, insbesondere in liturgischen Gebeten und Gesängen. Anspielungen setzen eine gute Kenntnis der Quellentexte voraus, was bei heutigen Rezipienten das Verständnis mitunter erschwert. So erkennen selbst Theologen mitunter nicht mehr die biblischen Anspielungen in Präfationstexten, deren Sprachduktus sie deshalb als „nicht mehr zeitgemäß“ abtun. Paratextuell: Damit wird das Verhältnis des einzelnen Textes und der ihn rahmenden Texte bzw. des Ganzen, das das literarische Werk bildet, bezeichnet. Genette sieht in diesem Verhältnis „zweifellos einen privilegierten Ort der pragmatischen Dimension des Werkes […], d.h. seiner Wirkung auf den Leser“. 20 Solche Textbeziehung kann man beispielsweise zwischen Psalm und Antiphon, zwischen Lesungen und Evangelium und den sie rahmenden Texten, zwischen Lesung und Sakramentsgeschehen beobachten. Hier stellt sich die Frage, inwieweit die biblischen Texte die liturgische Sprache in deren Umfeld prägen. Hypertextuell: Damit kann die Transformation oder Nachahmung biblischer Texte etwa im Kirchenlied bezeichnet werden. Ein Text (Hypertext) wird von einem früheren Text (Hypotext) abgeleitet, überlagert ihn und erinnert an ihn, wie man etwa für das Gloria mit Blick auf Lk 2,14 feststellen kann. Auch diese Textbeziehung ist für das Verhältnis von Bibel und liturgischer Sprache von großer Relevanz. In der Folge oder in der Art der Bibel zu formulieren, gibt dem liturgischen Text eine besondere Dignität und Autorität. Metatextuell: So nennt man den Kommentar zu einem Text. Der Hinweis auf die Predigt zum biblischen Text liegt nahe. Architextuell: Hier handelt es sich um gattungsbezogene Relationen zwischen Texten. „Das Wissen um die Gattungszugehörigkeit eines Textes lenkt und bestimmt […] in hohem Maß den ‚Erwartungshorizont‘ des Lesers und damit die Rezeption des Werkes.“ 21 Die Einleitung einer Lesung („Lesung aus dem Buch Deuteronomium / aus dem Brief des Apostels Paulus an …“) und des Evangeliums („Aus dem heiligen Evangelium nach …“) weist auf die „Gattung“ und damit auf die Bedeutung des Textes im Gesamt der Liturgie hin und kann die Rezeption beeinflussen. Dass man einen Psalm singt und nicht wie eine Lesung spricht, lenkt, auch wenn die Gattung unausgesprochen bleibt, die Rezeption der Mitfeiernden. 19 Gérard G ENETTE , Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Aus dem Französischen von Wolfram B AYER - Dieter H ORNIG (Aesthetica), Frankfurt a.M. 1993, 10. 20 A.a.O., 11. 21 A.a.O., 14. <?page no="264"?> Albert Gerhards 250 Die Bibel bestimmt inhaltlich und formal die Liturgie, wie die Liturgie die Rezeption der Bibel mitbestimmt. Insofern ist Intertextualität ein wechselseitiges Geschehen. Nun geht es in diesem Zusammenhang um die Bewegungsrichtung von der Bibel zur Sprache der Liturgie als Quelle und Prüfstein. Die Vielschichtigkeit des Einflusses biblischer Texte auf liturgische Texte wurde schon angesprochen. Dies gilt mutatis mutandis für alle Textsorten der Liturgie, für die geprägten Formen und Formeln wie für die frei formulierten Elemente wie Einführungen, „Monitionen“, Predigten. Im Folgenden soll anhand konkreter Beispiele das Verhältnis in Bezug auf den Sprechakt und die Inhalte des Sprechens in der Liturgie weiter differenziert werden. Dabei wird methodisch zwischen „Quelle“ und „Prüfstein“ unterschieden, wobei de facto die Grenzen fließend sind. 3 Die Bibel als Quelle liturgischer Sprache - Beispiele 3.1 Die Bibel konstituiert Sprache in der Liturgie Nicht das Sprechen, sondern das Verstummen ist die natürliche Reaktion des Menschen, der vor das Angesicht Gottes tritt und sich als Sünder erfährt. Daher bedarf es immer wieder einer neuen Befähigung und Legitimation, das Wort an Gott zu richten. Dies betrifft insbesondere die Tagzeitenliturgie. Zu Beginn eines jeden Tages bildet beim Invitatorium das erste ausgesprochene Wort Ps 51(50),17: 22 Domine, labia mea aperies - et os meum annuntiabit laudem tuam. Gott lässt sich nennen (Domine), das Folgende bezieht sich auf die Befähigung zum Sprechen, die Aufhebung des Verstummens - um das zu tun, was die höchste Bestimmung für den religiösen Menschen ist: Gott die Ehre zu geben. Dies geschieht explizit im folgenden „Gloria Patri“. Damit wird jeden Tag von Neuem die Sprachfähigkeit des Beters konstituiert. Auch die Eröffnung der einzelnen Horen der Tagzeitenliturgie besteht aus einem Psalmzitat, hier aus Ps 70(69),2, das ein Bekenntnis der eigenen Unzulänglichkeit darstellt: Deus, in adiutorium meum intende - Domine, ad adiuvandum me festina. Das Bibelzitat ist hier die Vergewisserung, dass das Tun - die Liturgia horarum - gelingen möge. Schließlich sei auf die Psalmoration verwiesen, die das dritte Element in dem Dreischritt Psalm - Stille - Gebet, eine Variante des von Josef Andreas 22 Vgl. G ERHARDS - K RANEMANN , Einführung (wie Anm. 4), 168f; zum Psalmengebrauch der römischen Liturgie insgesamt: Albert G ERHARDS , Die Psalmen in der römischen Liturgie. Eine Bestandsaufnahme des Psalmengebrauchs in Stundengebet und Meßfeier, in: Erich Z ENGER (Hg.), Der Psalter in Judentum und Christentum (FS Norbert Lohfink; Herders Biblische Studien 18), Freiburg i.Br. u.a. 1998, 355-379. <?page no="265"?> Bibel als Quelle und Prüfstein liturgischer Sprache 251 Jungmann so genannten „Liturgischen Schemas“, darstellt. 23 Sie setzt ursprünglich gemäß der alten monastischen Tradition den Vollzug des Psalms „in directum“ voraus, als (katabatischen) Lesetext. Die Stille (unter Niederwerfen) bildet den Raum des (diabatischen) Meditierens, während das Gebet das (anabatische) Antworten auf das verkündigte und angeeignete Gotteswort darstellt. Dies geschieht nach den oben beschriebenen Weisen der Intertextualität. Dass die Psalmen hier eine herausragende Stellung einnehmen, kommt nicht von ungefähr. Angelus A. Häußling sieht im gottesdienstlichen Gebrauch speziell der Psalmen eine Rollenidentifikation in weitestem Umfang. „Sie gelten in der Tradition des Gottesvolkes als Dichtung des Königs David, des von Jahwe Erwählten und zum Anführer des Gotteslobes Berufenen, zugleich aber auch des sündigen Menschen und in Reue und Umkehr erneut Begnadeten. Es gibt, wenn ich recht sehe, keinen anderen Grund, der den so intensiven Gebrauch der Psalmen in der Liturgie der Kirche rechtfertigt, wenn nicht auf die Möglichkeit aufmerksam gemacht wird, im Sprecher der Psalmen sich selbst in gleichem Geschick von Unheil und Heil wiederzufinden und darin sich selbst zu verstehen.“ Als Beispiel führt Häußling Ps 51(50) an, der als biographischer Psalm Davids nach tiefer Schuld und Begnadung mit Vers 17 den Beginn eines jeden Tages im kirchlichen Stundengebet bildet. „Es ist freilich nicht nur David allein, den wir, unsere Situation des Heiles aus Unheil identifizierend, in den Psalmen zitieren. Es ist auch Jesus selbst, dessen Wort und Rolle wir hier übernehmen.“ Häußling bezieht sich hier auf die in den Evangelien überlieferten Sterbeworte Jesu Ps 22(21),2 bei Markus und Matthäus bzw. Ps 31(30),6 bei Lukas. „Seitdem ist Psalmengebet nicht das Sprechen irgendwie frommer Sätze vor Gott, sondern eine Rollenidentifikation des Christen mit seinem Christus, angefangen von Stephanus, der, wie Jesus Psalmen betend, stirbt (Apg 7,5), bis zum noch künftigen Notschrei des letzten Christgläubigen in den unausweichlichen Nöten vor dem letzten Kommen des Herrn.“ 24 In diesem Sinn kann man von der konstitutiven Bedeutung der Schrift für die Sprache in der Liturgie sprechen. Ohne die Bibel - speziell ohne den Psalter - bliebe die Liturgie sprachlos. 23 Vgl. Albert G ERHARDS , Logike latreia - oblatio rationabilis (Röm 12,1). Wie vernünftig ist der Gottesdienst der biblischen Religionen? , in: Görge K. H ASSELHOFF - Michael M EYER - B LANCK (Hgg.), Religion und Rationalität (Studien des Bonner Zentrums für Religion und Gesellschaft 4), Würzburg 2008, 131-145; wieder abgedruckt in: DERS ., Erneuerung kirchlichen Lebens aus dem Gottesdienst. Beiträge zur Reform der Liturgie (Praktische Theologie heute 120), Stuttgart 2012, 276-286. 24 Angelus A. H ÄUSSLING , Gedächtnis eines Vergangenen und doch Befreiung in der Gegenwart, in: DERS ., Christliche Identität aus der Liturgie. Theologische und historische Studien zum Gottesdienst der Kirche, hg. von Martin K LÖCKENER - Benedikt K RANE- MANN - Michael B. M ERZ (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 79), Münster 1997, 2-10, hier: 7f. <?page no="266"?> Albert Gerhards 252 Auch in der klassischen römischen Messliturgie bildet (in der Regel) die Bibel den Auftakt. Während heute meist mit einem Kirchenlied „zum Warmsingen“ begonnen wird, das aber nicht selten antwortenden Charakter hat und an dieser Stelle oft deplatziert wirkt, hat der Introitus (im Messbuch nur als Eröffnungsvers rudimentär enthalten) die Aufgabe, mit den Worten oder aus dem Geist der Bibel (oft mit charakteristischen Abweichungen) die Ouvertüre des Gottesdienstes, das Thema des Tages zu vollziehen. 25 Hierzu zwei prominente Beispiele: 1. Der Introitus der Abendmahlsmesse am Gründonnerstag als Introitus der Osternacht: Nos autem gloriari oportet in cruce Domini nostri Iesu Christi; in quo est salus, vita et resurrectio nostra: per quem salvati, et liberati sumus. „Wir aber müssen uns rühmen im Kreuz unseres Herrn Jesus Christus, in dem uns Heil, Leben und Auferstehung ist und durch das wir erlöst und befreit sind.“ Der Text nimmt Bezug auf Gal 6,14. In der Vulgatafassung lautet er: Mihi autem absit gloriari, nisi in cruce Domini nostri Iesu Christi, per quem mihi mundus crucifixus est, et ego mundo. „Mir aber liegt es fern, mich zu rühmen, außer im Kreuz unseres Herrn Jesus Christus, durch das mir die Welt gekreuzigt ist, und ich der Welt (gekreuzigt bin).“ Der liturgische Text formuliert die biblische Textvorlage in eine soteriologische Aussage um. Andreas Odenthal deutet den Introitus folgendermaßen: „Die ‚fremden Erfahrungen‘ des Jesus von Nazareth, sein Leiden, sein Kreuz, seine Auferstehung, werden in symbolischer Verdichtung feiernd vergegenwärtigt und auf die versammelte Gemeinde bezogen, die mit diesem Introitus die Feier des Jahrespascha beginnt und hierdurch sakramental verwandelt wird. Damit ist die Gemeinde eingeladen zu der ‚symbolischen Erfahrung‘, das Wir des Introitus mit dem eigenen Leben zu füllen, mit den eigenen Leid- und Todeserfahrungen und den Hoffnungen, die ein Menschenleben begleiten. Auch die großen Ereignisse der Weltgeschichte, die humanitären Katastrophen und ihre vielen Opfer, die Sehnsucht vieler Generationen nach einer besseren Welt, die Hoffnung auf Erlösung dürfen in die ‚fremden Erfahrungen‘ des Glaubens und seine Verheißungen eingebracht werden. Es geht damit um die Grunderfahrungen menschlicher Existenz, um Tod und Leben, die im Lebensschicksal Jesu Christi zur Sprache kommen, also im Medium des Glaubens Horizont und Form finden, verwandelt werden und zugleich ihre eschatologische Ausrichtung erhalten. Das alte Bekenntnis des Paulus wird ‚jetzt‘, in der Feier der Kirche, reale Gegenwart, die Differenz der Zeiten über- 25 Vgl. Reinhard M ESSNER , Einige Defizite in der Performance der Eucharistie, in: W AHLE - H OPING - H AUNERLAND (Hgg.), Römische Messe (wie Anm. 7), 305-345, hier: 339-345. <?page no="267"?> Bibel als Quelle und Prüfstein liturgischer Sprache 253 wunden.“ 26 Der Liturgie geht es hier also nicht um eine wörtliche Zitation der biblischen Aussage, sondern um die Darstellung ihrer Erfüllung. 2. Der Introitus vom Ostersonntag: Resurrexi et adhuc tecum sum. Posuisti super me manum tuam: mirabilis facta est scientia tua. „Ich bin auferstanden und (immer) bei dir. Du hast deine Hand auf mich gelegt: wunderbar wurde (für mich) deine Erkenntnis.“ Das Material ist Psalm 139(138) entnommen (Ps 138,18.5.6 Vulg.). Der Beginn (Vers 18) lautet dort: exsurrexi, et adhuc sum tecum. Allein die Änderung von zwei Buchstaben genügt, um aus einem Psalmzitat den Introitus von Ostern zu formulieren: exsurrexi - resurrexi. Daran schließt der Psalmvers an (V. 1-2): Domine, probasti me, et cognovisti me … Hier bildet der Bibeltext die materielle Vorlage, erfährt aber eine semantische Veränderung. Doch bietet der Assoziationsspielraum des Psalms die Möglichkeit einer christologischen Deutung, so dass das Bibelwort die Ouvertüre des Osterhochamtes bildet und gleichsam das Sprachspiel für die Liturgie vorgibt: kein triumphalistischer Osterjubel, sondern Identifikation mit dem Auferstandenen, der seinem Erwecker begegnet: „Deine Erkenntnis wurde zu wunderbar für mich“ (v. 6). Auch das nur von Priester und Ministrant vollzogene Stufengebet der älteren Form der Liturgie mit seinem Introituspsalm (Ps 42 Vulg.) hatte eine legitimierende Funktion. Ursprünglich wurde nur der vierte Vers „Introibo ad altare Dei, ad Deum qui laetificat iuventutem meam“ gesprochen. 27 Allerdings überwog mit der Zeit das auf Jes 6,5 fußende Motiv des Unwürdigseins, das im „Rheinischen Messordo“ zu den zahlreichen Apologien führte, die den alten Ordo Missae überwucherten. 28 Eine weitere liturgisches Sprechen konstituierende Funktion eines Bibelworts ist die der Ouvertüre christlicher Hymnen, womit diesen gleichsam die Legitimation erteilt wird. Dies betrifft insbesondere das Gloria mit seinem Initium aus dem Lukasevangelium: 29 26 Andreas O DENTHAL , Die Feier des Pascha-Mysteriums als „sinngebender Interpretationsrahmen“. Symboltheoretische Überlegungen zum gregorianischen Introitus „Nos autem gloriari oportet“ im Hinblick auf eine „aktive Sprachkompetenz“ der feiernden Gemeinde, in: Liturgisches Jahrbuch 56 (2006), 54-77, hier: 65. 27 Vgl. Josef Andreas J UNGMANN , Missarum Sollemnia I, Wien 5 1962, 380-383. Jungmann zieht eine Parallele zu anderen legitimierenden Psalmzitaten, so das „Lavabo“ bei der Händewaschung und das „Dirigatur“ bei der Inzens (vgl. a.a.O., 380). 28 Vgl. Andreas O DENTHAL , „Ante conspectum diuinae maiestatis tuae reus assisto“. Liturgie- und frömmigkeitsgeschichtliche Untersuchungen zum „Rheinischen Messordo“ und dessen Beziehungen zur Fuldaer Sakramentartradition, in: DERS ., Liturgie vom Frühen Mittelalter zum Zeitalter der Konfessionalisierung (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation / Studies in the Late Middle Ages, Humanism and the Reformation 61), Tübingen 2011, 16-49. 29 Vgl. Albert G ERHARDS - Friedrich L URZ , Das Gloria - die „Große Doxologie“, in: Bert G ROEN - Benedikt K RANEMANN (Hgg.), Liturgie und Trinität (Quaestiones Disputatae 229), Freiburg i.Br. u.a. 2008, 211-230. <?page no="268"?> Albert Gerhards 254 Lateinischer Text Ökumenischer Text Gloria in excelsis Deo et in terra pax hominibus bonae voluntatis (Lk 2,14) Laudamus te benedicimus te adoramus te glorificamus te gratias agimus tibi propter magnam gloriam tuam (Ant. Bangor: misericordiam tuam) Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen seiner Gnade. Wir loben dich, wir preisen dich, wir beten dich an, wir rühmen dich und danken dir, denn groß ist deine Herrlichkeit Auch das Te Deum ist in diesem Zusammenhang zu nennen, insofern ihm in einigen Überlieferungszweigen ein Auftakt vorangestellt ist: Laudate pueri dominum (Ps 112,1 Vulg.) - Te Deum laudamus. 30 3.2 Die Bibel bildet das Material liturgischer Sprache Die Bibel bildet vom Textvolumen her den Hauptbestandteil der römischen Liturgie, insbesondere der Gesänge. Zwar gab es immer wieder Versuche, die Anteile freier Dichtung zu erhöhen, etwa durch Tropierung und durch Sequenzen, doch wurden diese Elemente bei Liturgiereformen aus unterschiedlichen Gründen meist wieder zurückgedrängt. Biblisch bezeugte Formeln und Textpassagen behaupten sich durch die ganze Geschichte hindurch. An erster Stelle sind die beiden kurzen, aber höchst bedeutenden Akklamationen 31 zu nennen, die in unserer Liturgie unübersetzt aus der Ursprache des AT übernommen wurden: Amen und Halleluja. Das Amen ist das Gemeinde-konstituierende Element schlechthin, es fungiert als Abschluss der Doxologien, als Ratifizierung und Bekräftigung von Rechtsprüchen, Verfluchungen und Segnungen. In der Bibel kommt das Wort in unterschiedlichsten Zusammenhängen vor, nicht zuletzt in Jesusworten: „Amen, ich sage euch …“. Das Halleluja - eigentlich ein Imperativ „Lobet Gott“ - wird zum Synonym für das Gotteslob insgesamt sowie zum Titel der letzten Psalmen im Psalmenbuch, die in Ps 150 aufgipfeln, wo vom Gotteslob aller atmenden Wesen die Rede ist. Wohl nicht von ungefähr taucht das Gotteslob aller lebendigen Wesen in der Ge- 30 Vgl. Albert G ERHARDS , Te Deum Laudamus - Die Marseillaise der Kirche? Ein christlicher Hymnus im Spannungsfeld von Liturgie und Politik, in: Liturgisches Jahrbuch 40 (1990), 65-79; DERS . - Friedrich L URZ , Te deum laudamus, in: Lexikon für Theologie und Kirche³ 9 (2000), 1306-1308. 31 Vgl. Angelus A. H ÄUSSLING , Akklamationen und Formeln, in: Rupert B ERGER u.a., Gestalt des Gottesdienstes. Sprachliche und nichtsprachliche Ausdrucksformen (Gottesdienst der Kirche. Handbuch der Liturgiewissenschaft [GdK] 3), Regensburg 1987, 220- 239; Albert G ERHARDS , Akklamationen im Eucharistiegebet. Funktion und Gestalt im Liturgievergleich, in: Hans-Jürgen F EULNER - Elena V ELKOVSKA - Robert F. T AFT (Hgg.), Crossroad of Cultures. Studies in Liturgy and Patristics in Honor of Gabriele Winkler (Orientalia Christiana analecta 260), Rom 2000, 316-329. <?page no="269"?> Bibel als Quelle und Prüfstein liturgischer Sprache 255 heimen Offenbarung, Offb 5,13, wieder auf, in der großen Doxologie nach der Inthronisation des Lammes. Das Halleluja kehrt ebenfalls in der Apokalypse wieder, und zwar gegen Ende des Buchs, wo vom Jubel im Himmel die Rede ist (Offb 19,1-10). Auch andere zentrale Akklamationen der christlichen Liturgie sind biblisch fundiert. In erster Linie ist das Trishagion/ Sanctus zu nennen, das in unterschiedlicher Form in Jes 6,3 und Offb 4,8 biblisch bezeugt ist. 32 Der Rekurs auf die „himmlische Liturgie“ gibt den Akklamationen ihren überzeitlichen Wirklichkeitsgehalt. Messliturgie und Tagzeitenliturgie sind weitgehend biblisch geprägt. 33 Das Textmaterial der Antiphonie sowie der Responsorien 34 entstammt größtenteils der Hl. Schrift, etwa das Responsorium der Komplet: In manus tuas Domine … (Ps 30,6). Die Psalmen und Cantica werden ebenfalls aus AT und NT übernommen. Daneben gibt es Annexe oder Embolismen aus der Bibel. So ist die dritte Strophe des Te Deum eine Centonisation aus Psalmzitaten, 35 die in fast identischer Form das Gloria der byzantinischen Morgenliturgie ergänzt (Psalmenkathisma). 36 Biblische Zitate kommen in liturgischen Gebeten und Gesängen vor, so die „Einsetzungsberichte“ mit Schriftzitaten in den Eucharistie- und Weihegebeten oder im Exsultet: „Dies ist die Nacht, von der geschrieben steht: ‚und die Nacht - wie der Tag wird sie leuchten‘, und: ‚die Nacht ist meine Erleuchtung, sie wird mir zur Wonne‘“ (Ps 138[139],12.11). 37 Solche Zitate bilden den „locus theologicus“ der Gebete, insofern sie das Tun der Kirche auf göttliche Stiftung rückbeziehen. 38 3.3 Indirekte Zitate und Reminiszenzen Das weite Feld der indirekten Bezugnahmen auf die Bibel in liturgischen Texten kann hier nur grob abgesteckt werden. Allgemein gilt: Die Gebetstexte der Liturgien in Ost und West sind geprägt durch biblische Zitate oder Reminiszenzen. Dies gilt insbesondere für die Euchologie der liturgischen Festzeiten. In Bezug auf die Orationen der Osternacht haben die Alttestamentler 32 Vgl. Albert G ERHARDS , Crossing borders. The Kedusha and the Sanctus. A case study of the convergence of Jewish and Christian liturgy, in: DERS . - Clemens L EONHARD (Hgg.), Jewish and Christian liturgy and worship (Jewish and Christian Perspectives Series 19), Leiden 2007, 27-40. 33 Vgl. Balthasar F ISCHER , Formen der Verkündigung, in: GdK 3 (Anm. 31), 77-96. 34 Vgl. DERS . - Helmut H UCKE , Poetische Formeln, in: GdK 3 (Anm. 31), 180-219. 35 Vgl. oben Anm. 30. 36 Vgl. oben Anm. 29. 37 Übersetzung: Norbert L OHFINK , Das Exsultet deutsch. Kritische Analyse und Neuentwurf, in: Georg B RAULIK - DERS ., Osternacht und Altes Testament (Österreichische Biblische Studien 22), Frankfurt a.M. u.a. 2003, 83-120, Text 118-120; vgl. Albert G ERHARDS , Das Exsultet - Die Ouvertüre der Osternachtsliturgie, in: Arbeitsstelle Gottesdienst 23 (2009), 10-24. 38 Vgl. Albert G ERHARDS , Anaphora, in: Lexikon für Theologie und Kirche³ 1 (1993), 595- 596. <?page no="270"?> Albert Gerhards 256 Georg Braulik und Norbert Lohfink die biblischen Bezüge transparent gemacht, 39 der Dogmatiker Alex Stock hat insbesondere die poetische Kraft der in den liturgischen Texten verwendeten biblischen Bilder hervorgehoben. 40 Biblische Bilder werden in liturgischen Texten reichlich verwendet. Auf ein einziges sei hingewiesen: die Inthronisation des Lammes und sein Sitzen ad dexteram Patris. Das Bild der Inthronisation zur Rechten des Herrschers ist in der Antike verbreitet. 41 In der Messliturgie heißt es explizit im Gloria „du sitzest zur Rechen des Vaters“ und im Credo „er sitzt zur Rechten des Vaters“. Der biblische Bezug ist der Vers aus Ps 110(109),1: Dixit dominus domino meo, sede a dextris mei, der aufgrund seiner reichen Zitation im Neuen Testament als Eröffnungspsalm der zweiten Sonntagsvesper zu Recht eine privilegierte Stellung in der römischen Liturgie hat. 42 4 Die Bibel als Prüfstein liturgischer Sprache Aus dem Vorherigen ergibt sich neben der Quellenfunktion eine weitere Funktion biblischer Sprache in der christlichen Liturgie. Die Bibel stellt zugleich einen Prüfstein, ein Kriterium für angemessene Gottesrede dar. Freilich bedarf es dazu einer entsprechenden Hermeneutik, um nicht einem fundamentalistischen Biblizismus zu erliegen. 43 Es gilt, das biblisch Gemeinte zu eruieren und auf die jeweilige liturgische Sprache anzuwenden. Am eindeutigsten liegt die Funktion des Kriteriums christlichen Betens in der Bergpredigt mit der Rede vom rechten Beten (Mt 5,5-15) und der Übergabe des Vaterunsers vor: „So sollt ihr beten …“ (V. 9). Dabei stellt Jesus Ausschlusskriterien auf: nicht wie die Heuchler und nicht wie die Heiden! Bei Lukas bitten die Jünger ihren Rabbi Jesus: „Herr lehre uns beten, wie schon Johannes seine Jünger beten gelehrt hat“ (Lk 11,1). Auch indirekt bildet die Schrift einen Prüfstein liturgischer Sprache z.B. in den Gebeten, die auf die Schriftverkündigung folgen: die Psalmoration nach dem Psalm im Stundengebet oder das Allgemeine Gebet am Ende des Wortgottesdienstes. Hier muss sich die Gebetssprache an dem soeben Gehörten 39 Vgl. B RAULIK - L OHFINK , Osternacht (wie Anm. 37). 40 Vgl. Alex S TOCK , Liturgie und Poesie. Zur Sprache des Gottesdienstes, Kevelaer 2010; DERS ., Orationen übersetzen. Regeln und Vorschläge, in: W AHLE - H OPING - H AUNER- LAND (Hgg.), Römische Messe (wie Anm. 7), 419-427. Zur Problematik der Übersetzung liturgischer Texte vgl. auch: Benedikt K RANEMANN - Stephan W AHLE (Hgg.), „… Ohren der Barmherzigkeit“. Über angemessene Liturgiesprache (Theologie kontrovers), Freiburg i.Br. u.a. 2011. 41 Vgl. Albert G ERHARDS , Antike Bilder der himmlischen Thronzeremonie und ihr Fortleben im christlichen Gottesdienst, in: Astrid S TEIN -W EBER - Thomas A. S CHMITZ u.a. (Hgg.), Bilder der Antike (Super alta perennis. Studien zur Wirkung der klassischen Antike 1), Göttingen 2007, 161-173. 42 Vgl. Diana G ÜNTNER , Das Gedenken des Erhöhten im Neuen Testament. Zur ekklesialen Bedeutung des Gedenkens am Modell des Psalms 110 (Benediktbeurer Studien 6), München 1998; dazu G ERHARDS , Psalmen (wie Anm. 22). 43 Vgl. oben Anm. 2. <?page no="271"?> Bibel als Quelle und Prüfstein liturgischer Sprache 257 messen lassen. Auch der Embolismus, das Schriftzitat in den Hochgebeten, hat die Funktion eines Kriteriums angemessener liturgischer Sprache. Dazu zählen der „Einsetzungsbericht“ im Hochgebet wie der „Taufbefehl“ im Taufwasserweihegebet. Die angebliche Ferne zur biblischen Sprache war einer der Gründe bei der Liturgiereform, dem Canon Romanus andere Hochgebete zur Seite zu stellen, die u.a. stärker an biblische Redeweise angelehnt sind. 44 Insbesondere das vierte Hochgebet ist reich an biblischen Bezügen und Bildern. 45 5 Resümee Die Bibel determiniert liturgische Sprache in allen ihren Dimensionen. Liturgie ist allerdings nicht Text, sondern Textvollzug, viva vox Evangelii. Damit stellt sich die Frage immer wieder neu, wie das Wort Gottes in der Liturgie Gestalt annehmen kann in Verkündigung, Meditation und Gebet. 46 Dies zu beantworten ist eine bleibende Aufgabe für alle Ebenen von Theorie und Praxis. Die geschichtlichen Zeugnisse der Liturgie können dabei den Maßstab bilden für heutige Formgebungen. Zu den großen Ausprägungen der abendländischen Liturgie zählt die nur scheinbar unscheinbare benediktinische Komplet, deren Komposition vor allem aus Schriftelementen und wenigen Elementen der liturgischen Tradition Hansjakob Becker vor 30 Jahren vorbildlich erschlossen hat als eine „eigen-artige Hore“, die, „wie keine andere den Charakter des persönlichen Gebetes bewahrt“ hat. 47 Die Sprache der Liturgie, die hier ganz biblisch bestimmt ist, wird in der täglichen Einübung zur Sprache des Herzens im Sinne der Regel des Hl. Benedikt, dass Herz/ Verstand und Stimme zusammenklingen müssen. 48 Die Liturgiekonstitution legt Wert auf die hier intendierte Tiefendimension der „tätigen Teilnahme“ (SC 11): Die Gottesbeziehung der einzelnen ist auf die communio der Kirche hingeordnet, deren Wirk- und Erfahrungsort die gott-menschliche communicatio der Liturgie ist. 49 44 Vgl. demgegenüber aber den Versuch einer Rehabilitierung des „vergessenen“ Canon Romanus: Peter E BENBAUER , Der Canon Romanus und die neuen Hochgebete, in: W AHLE - H OPING - H AUNERLAND (Hgg.), Römische Messe (wie Anm. 7), 396-416. 45 Hier löste der Bezug auf das Alte Testament freilich eine heftige Kontroverse über vermeintliche oder tatsächliche christliche Vereinnahmung der Erwählung Israels aus; vgl. Daniela K RANEMANN , Israelitica dignitas? Studien zur Israeltheologie Eucharistischer Hochgebete (Münsteraner Theologische Abhandlungen 66), Altenberge 2001. 46 Vgl. Albert G ERHARDS , Dem Wort Gottes Gestalt geben. Heutige Anfragen an tradierte Formen des Wortgottesdienstes, in: Benedikt K RANEMANN - Thomas S TERNBERG (Hgg.), Wie das Wort Gottes feiern? Der Wortgottesdienst als theologische Herausforderung (Quaestiones Disputatae 194), Freiburg i.Br. u.a. 2002, 146-165. 47 Hansjakob B ECKER , Poesie - Theologie - Spiritualität. Die benediktinische Komplet als Komposition, in: DERS . - Reiner K ACZYNSKI (Hgg.), Liturgie und Dichtung. Ein interdisziplinäres Kompendium, Bd. 2 (Pietas Liturgica 2), St. Ottilien 1983, 857-901, hier: 859. 48 Mens concordet voci: Regula Benedicti 19. 49 Vgl. G ERHARDS , Gipfelpunkt und Quelle (wie Anm. 6), 133-136. <?page no="273"?> Rezeption biblischer Themen in Liturgie und Dichtung Am Beispiel der Erzählung von den drei Jünglingen im Feuerofen (Dan 3) Annette Albert-Zerlik „Befreie, Herr, deinen Diener […], wie du die drei Jünglinge aus dem brennenden Feuerofen […] befreit hast! “ So lautet die Bitte eines alten Gebetes, mit dem die Kirche Sterbende begleitet. 1 Doch wer kennt noch die Geschichte von den drei Jünglingen im Feuerofen? Obwohl diese in altkirchlicher Zeit bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts allgemein bekannt, ja eine der wichtigsten überhaupt war, ist sie heute weitgehend in Vergessenheit geraten - Anlass, sich näher mit der Wirkungsgeschichte dieses Textes aus dem dritten Kapitel des Danielbuches zu befassen. 2 Auf der Grundlage einiger exegetischer Informationen (1) richtet sich der Blick auf die Verwendung der Erzählung in Liturgie und Dichtung (2). Ergänzend werden zu den dort vorgefundenen Deutungen einige Beispiele aus der Ikonographie vorgestellt. Im dritten Schritt geht es um die Frage nach der gegenwärtigen Bedeutung von Dan 3 im kirchlichen und kulturellen Raum (3). 1 Zu diesem Gebet s.u. 2.1.3. 2 Die Wirkungsgeschichte von Dan 3 wurde bisher nur selten behandelt. Studien existieren v.a. zur Rezeption in Antike und Spätantike. Hervorzuheben ist Friederike Maria K ULCZAK -R UDIGER u.a., Art. Jünglinge im Feuerofen, in: Reallexikon für Antike und Christentum 19 (2001), 346-388. Der Artikel enthält eine reiche Bibliographie und gibt einen hervorragenden Überblick über Quellen und Deutungen, insbesondere in Bezug auf das rabbinische Judentum sowie die christliche Patristik. Mit der altkirchlichen Kunst und theologischen Deutung beschäftigen sich Ernst D ASSMANN , Sündenvergebung durch Taufe, Buße und Märtyrerbitte in den Zeugnissen frühchristlicher Frömmigkeit und Kunst (Münsterische Beiträge zur Theologie 36), Münster 1973 sowie Hans Reinhard S EELIGER , Palai martyres. Die Drei Jünglinge im Feuerofen als Typos in der spätantiken Kunst, Liturgie und patristischen Literatur, in: Hansjakob B ECKER - Reiner K ACZYNSKI (Hgg.), Liturgie und Dichtung. Ein interdisziplinäres Kompendium, Bd. 2 (Pietas Liturgica 2), St. Ottilien 1983, 257-334. <?page no="274"?> Annette Albert-Zerlik 260 1 Biblische Grundlage 3 Die Erzählung von den drei Jünglingen spielt zur Zeit des Exils. Viele Angehörige der jüdischen Oberschicht sind nach Babylon deportiert worden, so auch Daniel und seine drei Freunde, die aufgrund ihrer herausragenden Fähigkeiten am Hof des Herrschers Nebukadnezar hohe Ämter bekleiden. Eines Tages lässt der König ein riesiges, ca. 30 m hohes, goldenes Standbild anfertigen. Aus dem ganzen Land werden alle wichtigen Staatsdiener herbeigerufen, um vor der Statue niederzufallen. Wer sich weigert, dem droht die qualvolle Hinrichtung in einem „glühenden Feuerofen“. Die Freunde Daniels, die mit hebräischen Namen Hananja, Asarja und Mischael heißen, lehnen es jedoch ab, das Götzenbild anzubeten, da sie der Überzeugung sind, dass ihr Gott der einzige ist, dem Verehrung gebührt. Es kommt zur Anklage und zum Verhör. Trotz der wiederholten Androhung des Feuertodes bleiben sie standhaft, auch unter Einbeziehung der Möglichkeit, dass Gott sie nicht retten wird. Die Folge ist ihre Hinrichtung: Gefesselt und vollständig bekleidet wirft man die drei in den Ofen, der - so wird eigens betont - siebenmal stärker als sonst geheizt ist, so dass die herausschlagenden Flammen die Vollstrecker des Urteils töten. Doch das Unglaubliche geschieht: Die drei gehen betend und singend in den Flammen umher und mit ihnen eine vierte Gestalt, die sie vor den Flammen bewahrt. Als Nebukadnezar dies sieht, erschrickt er. Tief beeindruckt ruft er die drei Männer heraus und bekehrt sich zum Gott Israels. Bis in die Gegenwart regt diese Begebenheit zu künstlerischem Ausdruck an. Der farbige Holzschnitt von Thomas Zacharias aus dem Jahr 1964 (Taf. 1) stellt eine Art Momentaufnahme dar, in der Nebukadnezar (unten) und die Statue (oben) eine vertikale Achse bilden. Erkennbar ist, dass sowohl dem König als auch dem Standbild die Massen zu Füßen liegen. Als erstes zieht jedoch der Ofen mit den drei aufrecht und frei stehenden Männern den Blick des Betrachters auf sich - ein Bild von bleibender Aktualität. 4 Die Geschichte erscheint im ersten Teil des Buchs Daniel innerhalb eines Blocks mit Erzählungen über Daniel und seine Freunde am babylonischen Königshof. Der zweite Teil umfasst überwiegend Visionen Daniels, Vorhersagen über den Verlauf der Weltgeschichte. Das Buch, das zur Literaturgattung der Apokalyptik gehört, hat erst spät, um 165 v.Chr., die Form gefunden, mit der es in den hebräischen Bibelkanon eingegangen ist. Dennoch erweckt es den Eindruck, als sei es bereits in der Exilszeit (Ende 6. Jh.) entstanden, insbe- 3 Aus der Fülle der exegetischen Kommentare seien exemplarisch die folgenden genannt: Klaus K OCH , Daniel (Biblischer Kommentar - Altes Testament 22), Neukirchen-Vluyn 2005, 244-375; Dieter B AUER , Das Buch Daniel (Neuer Stuttgarter Kommentar - Altes Testament 22), Stuttgart 1996, 91-108; John Joseph C OLLINS , Daniel. A Commentary on the Book of Daniel (Hermeneia), Minneapolis 1993, 176-208; Ernst H AAG , Daniel (Neue Echter Bibel - Kommentar zum Alten Testament 30), Würzburg 1993, 32-42. 4 Vgl. Folkert D OEDENS - Günter L ANGE - Thomas Z ACHARIAS (Hgg.), Farbholzschnitte zur Bibel von Thomas Zacharias. Interpretationen und Unterrichtspraxis mit bildnerischer Kunst, München 1973, 78-80. <?page no="275"?> Rezeption biblischer Themen in Liturgie und Dichtung 261 sondere aufgrund der Fiktion, Daniel selbst sei der Autor, der in Ich-Form von seinen Visionen berichtet. Der Sinn dieses Vorgehens besteht darin, die Juden des 2. Jahrhunderts, die unter massiven Verfolgungen durch die hellenistischen Herrscher litten, in ihrer Glaubenstreue zu unterstützen. Zum einen dienten dazu die Prophezeiungen Daniels, die den Lesern aus der Perspektive der babylonischen Unterdrückung den Heilsplan Gottes enthüllten, der sich bis in deren Gegenwart und darüber hinaus in die Zukunft erstreckte. Zum anderen sollten die Erzählungen den bedrängten Menschen die Haltungen der Standhaftigkeit und Hoffnung vermitteln, indem ihnen beispielsweise die drei Jünglinge als Vorbilder vor Augen gestellt wurden. Die Einheitsübersetzung bietet folgende Struktur des dritten Daniel- Kapitels: Erzählung (3,1-23) Errichtung des Standbildes Verleumdung Verhör Bestrafung Bußgebet des Asarja (3,24-45) Erzählung (3,46-50) Eingreifen des Engels Lobgesang der drei Jünglinge (3,51-90) Erzählung (3,91-97) Rettung Anerkennung der Macht Gottes Zum einen besteht Dan 3 aus erzählenden Passagen, die ursprünglich in aramäischer Sprache verfasst sind (3,1-23.91-97). Zum anderen weist das Kapitel zwei in sich geschlossene poetische Stücke auf, das „Bußgebet des Asarja“ (3,24-45) und den „Lobgesang der drei Jünglinge“ (3,51-90), die durch eine Erzählnotiz vom Eingreifen des Engels (3,46-50) verbunden sind (schattiert). Es handelt sich dabei um sekundäre, griechischsprachige Einfügungen in den Erzählverlauf, die in den Übersetzungen der Septuaginta und des Theodotion und daran anknüpfend in lateinischen beziehungsweise katholischen Bibeln sowie der Einheitsübersetzung aufgenommen wurden. 5 Dagegen enthalten die hebräische Bibel sowie die reformatorischen Übersetzungen das dritte Daniel-Kapitel ohne die Zusätze. Das „Gebet des Asarja“ und der „Gesang der Jünglinge“ wurden sicher nicht eigens für Dan 3 verfasst. Speziell letzterer ist aufgrund seiner Struktur 5 Exegetische Studien zu den griechischen Zusätzen: z.B. Ernst H AAG , Das Sühnopfer der Gotteszeugen nach dem Asarjagebet des Buches Daniel, in: Trierer Theologische Zeitschrift 116 (2007), 193-220; Martin M ARK , Der Lobgesang der drei jungen Männer, in: Trierer Theologische Zeitschrift 107 (1998), 45-61; Ernst H AAG , Die drei Männer im Feuerofen nach Dan 3,1-30, in: Trierer Theologische Zeitschrift 96 (1987), 21-50; Klaus K OCH , Deuterokanonische Zusätze zum Danielbuch (Alter Orient und Altes Testament 38, 1+2), Neukirchen-Vluyn 1987. <?page no="276"?> Annette Albert-Zerlik 262 nur als gesungenes Stück vorstellbar, das seinen ursprünglichen Sitz im Gottesdienst hatte. Mit Blick auf die weiteren Ausführungen des vorliegenden Beitrags wird es im Folgenden in lateinischer und deutscher Übersetzung präsentiert. 6 Vulgata Einheitsübersetzung 52 Benedictus es, Domine, Deus patrum nostrorum, et laudabilis et superexaltatus in saecula; Gepriesen bist du, Herr, du Gott unserer Väter, gelobt und gerühmt in Ewigkeit. et benedictum nomen gloriae tuae sanctum et superlaudabile et superexaltatum in saecula. Gepriesen ist dein heiliger, herrlicher Name, hoch gelobt und verherrlicht in Ewigkeit. 53 Benedictus es in templo sanctae gloriae tuae et superlaudabilis et supergloriosus in saecula. Gepriesen bist du im Tempel deiner heiligen Herrlichkeit, hoch gerühmt und verherrlicht in Ewigkeit. 54 Benedictus es in throno regni tui et superlaudabilis et superexaltatus in saecula. Gepriesen bist du, der in die Tiefen schaut und auf Kerubim thront, gelobt und gerühmt in Ewigkeit. 55 Benedictus es, qui intueris abyssos sedens super cherubim, et laudabilis et superexaltatus in saecula. Gepriesen bist du auf dem Thron deiner Herrschaft, hoch gerühmt und gefeiert in Ewigkeit. 56 Benedictus es in firmamento caeli et laudabilis et gloriosus in saecula. Gepriesen bist du am Gewölbe des Himmels, gerühmt und verherrlicht in Ewigkeit. 57 Benedicite, omnia opera Domini, Domino, laudate et superexaltate eum in saecula. Preist den Herrn, all ihr Werke des Herrn; lobt und rühmt ihn in Ewigkeit! 58 Benedicite, caeli, Domino, laudate … Preist den Herrn, ihr Himmel; lobt … 59 Benedicite, angeli Domini, Domino, laudate … Preist den Herrn, ihr Engel des Herrn; lobt … 60 Benedicite, aquae omnes, quae super caelos sunt, Domino, laudate … Preist den Herrn, all ihr Wasser über dem Himmel; lobt … 61 Benedicat omnis virtus Domino, laudate … Preist den Herrn, all ihr Mächte des Herrn; lobt … 62 Benedicite, sol et luna, Domino, laudate … Preist den Herrn, Sonne und Mond; lobt … 63 Benedicite, stellae caeli, Domino, laudate … Preist den Herrn, ihr Sterne am Himmel; lobt … 64 Benedicite, omnis imber et ros, Domino, laudate … Preist den Herrn, aller Regen und Tau; lobt … 6 Die Verse 54f und 77f in der Übersetzung der Vulgata erscheinen in der Einheitsübersetzung in umgekehrter Reihenfolge. <?page no="277"?> Rezeption biblischer Themen in Liturgie und Dichtung 263 Vulgata Einheitsübersetzung 65 Benedicite, omnes venti, Domino, laudate … Preist den Herrn, all ihr Winde; lobt … 66 Benedicite, ignis et aestus, Domino, laudate … Preist den Herrn, Feuer und Glut; lobt … 67 Benedicite, frigus et aestus, Domino, laudate … Preist den Herrn, Frost und Hitze; lobt … 68 Benedicite, rores et pruina, Domino, laudate … Preist den Herrn, Tau und Schnee; lobt … 69 Benedicite, gelu et frigus, Domino, laudate … Preist den Herrn, Eis und Kälte; lobt … 70 Benedicite, glacies et nives, Domino, laudate … Preist den Herrn, Raureif und Schnee; lobt … 71 Benedicite, noctes et dies, Domino, laudate … Preist den Herrn, ihr Nächte und Tage; lobt … 72 Benedicite, lux et tenebrae, Domino, laudate … Preist den Herrn, Licht und Dunkel; lobt … 73 Benedicite, fulgura et nubes, Domino, laudate … Preist den Herrn, ihr Blitze und Wolken; lobt … 74 Benedicat terra Dominum, laudet et superexaltet … Die Erde preise den Herrn; sie lobe und rühme … 75 Benedicite, montes et colles, Domino, laudate … Preist den Herrn, ihr Berge und Hügel; lobt … 76 Benedicite, universa germinantia in terra, Domino, laudate … Preist den Herrn, all ihr Gewächse auf Erden; lobt … 77 Benedicite, maria et flumina, Domino, laudate … Preist den Herrn, ihr Quellen; lobt … 78 Benedicite, fontes, Domino, laudate … Preist den Herrn, ihr Meere und Flüsse; lobt … 79 Benedicite, cete et omnia quae moventur in aquis, Domino, laudate … Preist den Herrn, ihr Tiere des Meeres und alles, was sich regt im Wasser; lobt … 80 Benedicite, omnes volucres caeli, Domino, laudate … Preist den Herrn, all ihr Vögel am Himmel; lobt … 81 Benedicite, omnes bestiae et pecora, Domino, laudate … Preist den Herrn, all ihr Tiere, wilde und zahme; lobt … 82 Benedicite, filii hominum, Domino, laudate … Preist den Herrn, ihr Menschen; lobt … 83 Benedicite, Israel, Domino, laudate … Preist den Herrn, ihr Israeliten; lobt … 84 Benedicite, sacerdotes Domini, Domino, laudate … Preist den Herrn, ihr seine Priester; lobt … 85 Benedicite, servi Domini, Domino, laudate … Preist den Herrn, ihr seine Knechte; lobt … <?page no="278"?> Annette Albert-Zerlik 264 Vulgata Einheitsübersetzung 86 Benedicite, spiritus et animae iustorum, Domino, laudate … Preist den Herrn, ihr Geister und Seelen der Gerechten; lobt … 87 Benedicite, sancti et humiles corde, Domino, laudate … Preist den Herrn, ihr Demütigen und Frommen; lobt … 88 Benedicite, Anania, Azaria, Misael, Domino, laudate … Preist den Herrn, Hananja, Asarja und Mischaël; lobt … quia eruit nos de inferno et salvos fecit de manu mortis et liberavit nos de medio fornacis ardentis flammae. Denn er hat uns der Unterwelt entrissen und aus der Gewalt des Todes errettet. Er hat uns aus dem lodernden Ofen befreit, uns mitten aus dem Feuer erlöst. Der Gesang setzt sich aus zwei Teilen zusammen: - Der erste (3,52-56) ist ein Lobpreis, der sich direkt an Gott richtet. Der Aufbau der Verse folgt einem gleichbleibenden Schema: Jede erste Hälfte wird mit der Preisung Benedictus es (Gepriesen bist du …) begonnen und in der zweiten Hälfte durch einen sich leicht variierenden Kehrvers weitergeführt. - Der zweite Teil (3,57-88) besteht aus einer langen Reihe parallel gestalteter Aufforderungen zum Lob, jeweils eingeleitet mit dem Imperativ Benedicite (Preist …). Im Unterschied zum Benedictus ist die Sprechrichtung horizontal, denn nun werden die Werke der Schöpfung angeredet: die des Himmels, der Natur, der Erde mit all ihren Geschöpfen bis hin zu den Menschen und den speziell genannten drei Jünglingen. Der Wortlaut der zweiten Vershälfte wiederholt sich stereotyp. Damit liegt, wie schon beim ersten Teil, eine Kehrversstruktur vor, die auf einen liturgischen Vollzug im Wechsel von Vorsänger und Gemeinde schließen lässt, noch vor Einfügung des Gesangs in den aramäischen Bibeltext. 2 Liturgie und Dichtung Bei der Frage nach der Wirkungsgeschichte des dritten Daniel-Kapitels ist der Blick zuerst auf die Liturgie zu richten, da diese einer der Hauptorte ist, an dem biblische Texte rezipiert werden. Die Erzählung von den drei Jünglingen findet Verwendung in drei wesentlichen gottesdienstlichen Vollzügen: als Lesung in der Osternacht, als Gesang im Morgenoffizium und als Gebet im Sterberitus. 2.1 Liturgische Verwendungskontexte 2.1.1 Ostervigil Grundlegend ist der Gebrauch von Dan 3 am Höhepunkt des Kirchenjahres, in der Osternacht. Das ist nachweisbar seit dem 4. Jahrhundert der Fall, und zwar in nahezu allen Riten des Ostens und Westens. Diese herausragende <?page no="279"?> Rezeption biblischer Themen in Liturgie und Dichtung 265 Bedeutung zeigt sich beim Blick auf die Auswahl der alttestamentlichen Lesungen für die Ostervigil in den verschiedenen Riten 7 : Morgenland Abendland Jerusalem (5. Jh.) 8 Byzanz (8. Jh.) 9 Spanien (11. Jh.) 10 Gallien (7./ 8. Jh.) 11 Rom (8. Jh.) 12 I Gen 1-3 Gen 1 Gen 1-2 Gen 1 II Gen 22 Jes 60 Gen 2-3 Gen 5 III Ex 12 Ex 12 Jes 55 Gen 7-8 Gen 22 IV Jona 1-4 Jona 1-4 Gen 5-8 Gen 22 Ex 14 V Ex 14-15 Jos 5 Ex 13-15 Gen 27 Jes 54 VI Jes 60 Ex 13-15 Gen 22 Ex 12 Bar 3 VII Ijob 38 Weish 3 Dtn 31-32 Ex 13-15 Ez 37 VIII 2 Kön 2 1 Kön 17 Gen 27 Ez 37 Jes 4 IX Jer 38 Jes 61-62 Ex 12 Jes 1-5 Ex 12 X Jos 1 Gen 22 2 Chr 34-38 Jos 3-4 Jona 3 XI Ez 37 Jes 61 Ez 37 Jona 1-3 Dtn 31 XII Dan 3 2 Kön 4 Dan 3 Dan 3 Dan 3 XIII Jes 63-64 XIV Jer 38 XV Dan 3 - Unter den meist zwölf Lesungen gibt es solche, die in allen beziehungsweise fast allen Riten vorkommen. Ihre Themen sind die Schöpfung (Gen 1), die Bindung Isaaks (Gen 22), die Pesachfeier und der Vorübergang des Engels (Ex 12), der Durchzug durch das rote Meer (Ex 14-15), Jona sowie die drei Jünglinge im Feuerofen (Dan 3). So unterschiedlich die Inhalte sind: 7 Vgl. Anton B AUMSTARK , Nocturna laus. Typen frühchristlicher Vigilienfeier und ihr Fortleben vor allem im römischen und monastischen Ritus (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 32), Münster 1957, 46f. Nachstehende Tabelle wurde in Anlehnung an folgenden Beitrag erstellt: Ansgar F RANZ , Bibel und Liturgie (Vortrag), Katholische Bibelföderation, Rom 2005, online zugänglich: http: / / www.c-b-f.org/ deiverbum/ Paper/ Panels/ Franz_dt.pdf (Zugriff 19.01.2013). 8 Vgl. Athanase R ENOUX (Hg.), Le codex arménien Jérusalem 121.II (Patrologia Orientalis 36, 168), Turnhout 1971, 299-307 (Altarmenisches Lektionar). 9 Vgl. B AUMSTARK , Nocturna laus (wie Anm. 7), 46. 10 Vgl. Fray Justo P ÉREZ DE U RBEL (Hg.), Liber Commicus 2 (Monumenta Hispaniae Sacra - Serie litúrgica 3), Madrid 1955, 355-388 (Lektionar von Silos). 11 Vgl. Pierre S ALMON (Hg.), Le lectionaire de Luxeuil (Paris, ms. lat. 9427). Edition et étude comparative (Collectanea Biblica Latina 7), Rom 1944, 97-116 (Lektionar von Luxeuil). Die ersten beiden Positionen bleiben unbesetzt, da die Handschrift nicht vollständig erhalten ist. 12 Vgl. Hansjörg A UF DER M AUR , Feiern im Rhythmus der Zeit I: Herrenfeste in Woche und Jahr (Gottesdienst der Kirche 5), Regensburg 1983, 92f. <?page no="280"?> Annette Albert-Zerlik 266 Alle Texte stimmen darin überein, dass sie von der Rettung durch Gott, dem Weg vom Tod zum Leben erzählen. - Dan 3 bildet immer den Abschluss. In der Alten Kirche fungierte der „Lobgesang der Jünglinge“ nämlich als Begleitgesang zum Einzug der Neugetauften vom Baptisterium in die Kirche am Ende des alttestamentlichen Lesungsteils. Hieran zeigt sich, dass man, wie auch mehrere patristische Zeugnisse belegen, zwischen Dan 3 und der in der Osternacht vollzogenen Taufe einen theologischen Zusammenhang sah: Das standhafte Märtyrerbekenntnis und die Rettung der drei Männer sollten die Neugetauften am Anfang ihres neu eingeschlagenen Weges ermutigen. 13 Was den Vollzug der Lesung angeht, so ist davon auszugehen, dass Dan 3 insgesamt zum Vortrag kam, also einschließlich der beiden poetischen Zusätze, die schon früh musikalisch besonders gestaltet wurden, so in der ältesten Jerusalemer Ostervigil, die maßgeblich die anderen Liturgien beeinflusst hat. 14 Beim Blick auf die römische Liturgie fällt allerdings auf, dass im Tridentinischen Ritus die Lesung von Dan 3 ohne Canticum vorgesehen ist. Jedoch war dies sicher nicht der ursprüngliche Zustand, wie ein weiterer, typisch römischer Verwendungskontext zeigt: die viermal im Jahr gefeierte Quatembervigil. Nach dem Vorbild der Osternacht hat auch sie einen alttestamentlichen Lesungsteil, der fünf Lesungen enthält. Wiederum bildet Dan 3 den Abschluss, hier aber mit dem Gesang der Jünglinge. Daraus ergibt sich - gestützt durch die Traditionen von Benevent und Mailand -, dass die Dan 3- Lesung in Verbindung mit dem Canticum ehemals auch in der römischen Osternacht vorgesehen war. 15 2.1.2 Morgenoffizium Der zweite Ort, an dem Dan 3 eine Rolle spielt, ist das Morgenoffizium des Stundengebetes. Hier finden allerdings nur die aus dem Gesamtkapitel herausgelösten poetischen Stücke Verwendung: das „Bußgebet des Asarja“ und der „Lobgesang der Jünglinge“. Beide sind Bestandteile von feststehenden Gesangsreihen, die sich aus mehreren Cantica (in der ostkirchlichen Liturgie bezeichnet als „Oden“) zusammensetzen. Diese psalmähnlichen Lieder des Alten Testamentes, zu denen zum Beispiel auch das Mose- und das Jonalied gehören, stammen aus dem Kontext der Osternacht-Lesungen 16 und erklingen 13 Vgl. S EELIGER , Palai martyres (wie Anm. 2), 328f. Die Deutung von Dan 3 in Bezug auf die Taufe zeigt beispielhaft der 8. Hymnus de navitate von E PHRÄM D . S YRER , abgedruckt a.a.O., 312. 14 Vgl. Heinrich S CHNEIDER , Die biblischen Oden im christlichen Altertum, in: Biblica 30 (1949), 28-65, hier: 38f; DERS ., Die biblischen Oden in Jerusalem und in Konstantinopel, in: a.a.O., 433-452, hier: 435; K ULCZAK -R UDIGER u.a., Jünglinge (wie Anm. 2), 366f. 15 In Mailand verschob man die Lesung von Dan 3 auf den Karfreitag, „während die Osternacht nur das Canticum bewahrte“. K ULCZAK -R UDIGER u.a., Jünglinge (wie Anm. 2), 368. 16 Vgl. a.a.O., 369. <?page no="281"?> Rezeption biblischer Themen in Liturgie und Dichtung 267 auf die Wochentage verteilt im Morgenoffizium. 17 Unter ihnen nimmt in allen östlichen und westlichen Liturgien der „Lobgesang der drei Jünglinge“ eine besondere Stellung ein. Das zeigen exemplarisch die byzantinische und die römische Morgenhore: - Im byzantinischen Orthros kommt der „Gesang der drei Jünglinge“ tagtäglich vor, während die anderen Stücke der Canticareihe bestimmten Wochentagen zugeordnet sind. - In den römischen Laudes ist er zwar nicht täglich vorgesehen, dafür aber an hervorgehobener Stelle, nämlich an jedem Sonntag, also in der wöchentlichen Auferstehungsfeier, und von da aus auch an den Festtagen. Anders als die übrigen Cantica dient das aus Dan 3 der tagtäglichen beziehungsweise sonntäglichen Anamnese des österlichen Geschehens. Mit jedem Vollzug wird die ganze Rettungserzählung von Dan 3 wachgerufen und mit ihr die Verbindung zur Ostervigil hergestellt. Hierbei spielen hinzugedichtete Kehrverse eine wichtige Rolle, denen an späterer Stelle besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden soll. 18 2.1.3 Sterbeliturgie Das Beispiel der drei Jünglinge ist auch bei der Begleitung Sterbender präsent, und zwar in einem der ältesten römischen Gebete der Commendatio animae (Empfehlung der Seele), in der Libera-Litanei. Nach einer Einleitung mit der Bitte um die Aufnahme des Sterbenden (Suscipe) folgt eine Reihe parallel formulierter Bitten, jeweils mit Libera (Befreie/ Rette) beginnend, wie die folgende Übersicht der Paradigmen zeigt: 19 Libera, Domine, animam servi tui (ancillae tuae), sicut liberasti Henoch et Eliam de communi morte mundi Noe de diluvio Abraham de Ur Chaldaeorum Hiob de passionibus suis Isaak de hostia, et de manu patris sui Abrahae Lot de Sodomis, et de flamma ignis Moysen de manu Pharaonis regis Aegyptorum Danielem de lacu leonum Tres pueros de camino ignis ardentis, et de manu regis iniqui 17 Einen Überblick über die verschiedenen Traditionen bietet Markus J ENNY , Art. Cantica, in: Theologische Realenzyklopädie 7 (1981), 624-628. 18 S.u. 2.2. 19 Die schematische Übersicht folgt der Fassung des Gebetes im Rituale Romanum Pauli V. iussu editum, Rom 1614. Sie orientiert sich an der Darstellung bei F RANZ , Bibel und Liturgie (wie Anm. 7). Zur Tradition des Gebetes vgl. Henri L ECLERCQ , Art. Oratio cypriani, in: Dictionnaire d’archéologie chrétienne et de liturgie 12,2 (1936), 2324-2345; Joseph N TEDIKA , L’évocation de l’au-delà dans la prière pour les morts. Étude de patristique et de liturgie latines. IV e - VIII e s. (Recherches africaines de théologie 2), Louvain - Paris 1971, 72-83; S EELIGER , Palai martyres (wie Anm. 2), 295-306. <?page no="282"?> Annette Albert-Zerlik 268 Susannam de falso crimine David de manu Regis Saul, et de manu Goliae Petrum et Paulum de carceribus Et sicut […] Theclam virginem et martyrem tuam de tribus atrocissimis tormentis liberasti … Durch die bloße Nennung des Namens einer biblischen Gestalt - die christliche Märtyrerin Thekla kommt erst später dazu - zusammen mit einer Reminiszenz an die Notsituation, aus der Gott diese jeweils befreite, scheint dem Sterbenden jeweils die ganze Geschichte auf, so auch die aus Dan 3. Auffallend ist, dass einige der Paradigmen im Rahmen des Lesungsteils der Ostervigil ebenfalls eine Rolle spielen: die Rettung von Noah (Gen 5), Isaak (Gen 22), Mose und dem Volk Israel (Ex 14) sowie den drei Jünglingen (Dan 3). Der an Ostern mittels der verschiedenen Rettungserzählungen vergegenwärtigte Transitus vom Tod zum Leben wird also nicht nur im Morgengebet der Tagzeitenliturgie ins Bewusstsein gerufen, sondern auch und gerade in der Phase des individuellen Übergangs von der irdischen Existenz zu Gott. Grundsätzlich kommt dem Typos der drei Jünglinge eine besondere Stellung zu, denn die Erzählung begegnet den Christen am österlichen Höhepunkt des Jahres, am Morgen eines jeden Tags beziehungsweise Sonntags und schließlich am Abend des Lebens. Eine moderne Zusammenschau der Befreiungsparadigmen bietet das 1968 geschaffene Triptychon von Franz Nagel (Taf. 3) in der Kirche „Verklärung Christi“ in Schongau/ Lech. 20 Wie die Osternacht im Zyklus des Kirchenjahres, so nimmt dieses Altarbild im Raum der Kirche eine zentrale Stellung ein. Und entsprechend der hervorgehobenen Rolle, die die Erzählung von den drei Jünglingen in den verschiedenen liturgischen Vollzügen spielt, fällt deren Darstellung im Vergleich zu den anderen Bildern durch die rote Farbgebung besonders ins Auge. 2.2 Liturgische Dichtung Schon der biblische Text von Dan 3 und die darin integrierten poetischen Stücke sind kunstvolle literarische Werke. Besonders aufschlussreich sind jedoch die zu letzteren hinzugedichteten, nichtbiblischen Kehrverse, die Antiphonen im westkirchlichen beziehungsweise Troparien im ostkirchlichen Morgenoffizium. Vielleicht ist man auf den ersten Blick geneigt, diese textlichmusikalischen Mikrogebilde als nebensächliche Zutat beiseite zu legen. Die nähere Beschäftigung mit ihnen ermöglicht jedoch interessante Einblicke in die theologischen Deutungsweisen von Dan 3 in den jeweiligen liturgischen Kontexten. Um das reichhaltige Material einzugrenzen, konzentrieren sich die 20 Zum Werk des Künstlers vgl. Gebhard S TREICHER , Franz Nagel 1907-1976. Malerei im Kirchenraum. Bemerkungen zum Rang einiger Hauptwerke des Münchener Monumentalmalers, in: Das Münster. Zeitschrift für christliche Kunst und Kunstwissenschaft 1 (1981), 1-16. <?page no="283"?> Rezeption biblischer Themen in Liturgie und Dichtung 269 folgenden Untersuchungen auf die lateinischen Antiphonen zum sonntäglichen Canticum der römischen Tradition. 21 Da musikologische Analysen den hier möglichen Rahmen überschreiten würden, liegt der Schwerpunkt auf der textlichen Seite. Entsprechend der Beobachtung, dass sich viele Texte anhand der Merkmale „Lobpreis“, „Bekenntnis“ oder „Feier“ charakterisieren und kategorisieren lassen, sollen nun repräsentative Beispiele aus diesen drei Gruppen vorgestellt werden. 2.2.1 Lobpreis Antiphonen, deren Hauptmotiv der Lobpreis ist, knüpfen in der Regel an den „Gesang der drei Jünglinge“ an, indem sie daraus ein wörtliches oder leicht variiertes Zitat aufnehmen. Der nachstehende Text, der die Einmütigkeit der drei Singenden betont (ex uno ore), geht von Vers 3,51 22 aus, der den Gesang einleitet: Tres ex uno ore clamabant in camino ignis et psallebant; Benedictus Deus. 23 Die Drei riefen aus einem Munde im Feuerofen und sangen: Gepriesen sei Gott. Manche Antiphonen nehmen die spezielle Funktion wahr, zum Gesang des Canticums einzuladen, zum Beispiel: Trium puerorum cantemus hymnum, quem cantabant in camino ignis, benedicentes Dominum. 24 Lasst uns den Lobgesang der drei Jünglinge singen, den sie im Feuerofen sangen, den Herrn preisend. Das Invitatorium, das ebenfalls an 3,51 anknüpft, fordert zunächst die Versammelten in WIR-Form auf, das Canticum zu singen. 25 Der sich anschließen- 21 Grundlage ist die Edition René-Jean H ESBERT (Hg.), Corpus antiphonalium officii III. Invitatoria et antiphonae (Rerum ecclesiasticarum documenta. Seria maior, Fontes 9), Rom 1968. Zu den lateinischen Antiphonen liegen nur wenige Studien vor. Zu nennen sind: Ruth S TEINER , Antiphons for the Benedicite at Lauds, in: DIES ., Studies in Gregorian Chant (Variorum Collected Studies Series 651), 1. Chants (Plain, Gregorian, etc.), Aldershot, Hampshire (GB) - Brookfield, Vermont (USA) 1999, 1-17; DIES ., The Canticle of the three children as a Chant of the Roman Mass, in: a.a.O.., 81-90. Auf dieser Basis entstand die Diplomarbeit von Angelika B RODHERR , Der Gesang der Drei Jünglinge im Feuerofen. Die biblische „lectio cum cantico“ Dan 3 im Spiegel der Laudes Antiphonen der lateinischen Liturgie, Diplomarbeit an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Wintersemester 2006/ 07. 22 Tunc hi tres, quasi ex uno ore, laudabant et glorificabant et benedicebant Deo in fornace … (Da lobten, verherrlichten und priesen die Drei aus einem Mund Gott im Feuer …). 23 H ESBERT , Corpus antiphonalium (wie Anm. 21), Nr. 5176. Ähnlich die Antiphon „Mitten im Feuer sangen die Drei und riefen wie aus einem Mund: Gepriesen sei Gott“: Liturgische Institute Trier - Salzburg - Zürich (Hgg.), Antiphonale zum Stundengebet, Münsterschwarzach 5 1987, 744. Vgl. hierzu Christa R EICH , „… dein ist die Herrlichkeit“, in: Zeitschrift der Gemeinsamen Arbeitsstelle für gottestdienstliche Fragen der EKD 17 (02/ 2003), 8; DIES ., Mitten im Feuer sangen die Drei, in: Evangelium: Klingendes Wort. Zur theologischen Bedeutung des Singens, Stuttgart 1997, 230-233. 24 H ESBERT , Corpus antiphonalium (wie Anm. 21), Nr. 5191. <?page no="284"?> Annette Albert-Zerlik 270 de Relativsatz stellt sodann eine Verbindung zur übrigen Erzählung her, wodurch den Singenden deutlich werden kann, dass sie hier und jetzt in das Lob der drei Männer von damals einstimmen. Das aber heißt, mit ins Feuer zu gehen und die eigene Existenz aus dieser Perspektive wahrzunehmen. 2.2.2 Bekenntnis Antiphonen mit dem Merkmal „Bekenntnis“ thematisieren und interpretieren Aspekte des Glaubens ausgehend von Dan 3. Besonders auffallend sind die Deutungen zur Identität des Adressaten, an den die Jünglinge ihr Lob richten (1), sowie zum Verständnis der vierten Gestalt im Ofen (2). (1) Der Adressat des Lobgesangs Caminus ardebat septies quam solebat; et pueri tui, Domine, in medio psallebant. Ananias dicebat: Sanctus Deus; Azarias psallebat: Sanctus fortis; Misael voce magna clamabat: Sanctus et immortalis, miserere nobis. 26 Der Ofen brannte siebenmal [so stark] wie er es sonst zu tun pflegte, und deine Jünglinge, Herr, sangen inmitten Psalmen. Hananja sang: Heiliger Gott; Asarja psalmodierte: Heiliger Starker; Mischael rief mit lauter Stimme: Heiliger und Unsterblicher, erbarme dich unser. Die außerordentlich kunstvolle Gestaltung des Textes ist unübersehbar. Sie zeigt sich zunächst anhand der Kombination der aus dem biblischen Text übernommenen Zahlen „sieben“ und „drei“. Erstere veranschaulicht die Stärke des Feuers: Caminus ardebat septies quam solebat (3,19), während sich die zweite aus den drei nacheinander genannten Männern ergibt. Des Weiteren fallen die unterschiedlichen Kommunikationssituationen auf: Auf der Ebene der Gegenwart wenden sich die aktuell Versammelten an den „Herrn“ und gedenken in Form einer Aussage der Situation im Feuerofen. Hierzu zitieren sie, nun im Rückblick auf die Vergangenheit, die Anrufungen der drei Jünglinge an Gott. Der Inhalt dieser wörtlichen Rede weicht jedoch völlig von dem des biblischen Gesangs ab. Veranlasst durch die Dreizahl hat man das Trishagion auf die Jünglinge verteilt: „Heiliger Gott / Heiliger Starker / Heiliger und Unsterblicher, erbarme dich unser.“ Anhand des Bibeltextes scheint klar zu sein, dass sich die verschiedenen Attribute auf Gott beziehen. Ausgehend von der Deutungsgeschichte des Trishagion 27 muss jedoch die Frage nach dem Adressaten in der Antiphon neu gestellt werden. Die Akklamation hat wahrscheinlich ihren Ursprung in Syrien und ist zum ersten Mal auf dem Konzil von Chalcedon (451) bezeugt. In der östlichen Liturgie spielt sie eine große Rolle, aber auch in der westlichen, insbesondere als Bestandteil der Improperien des Karfreitags. Nach der ältesten 25 Im Tridentinischen Ritus ist die Antiphon zum Benedicite, das sich an jede Sonntagsmesse anschließt, vorgesehen. 26 H ESBERT , Corpus antiphonalium (wie Anm. 21), Nr. 1755. 27 Vgl. Peter P LANK , Das Trishagion: Gotteslob der Engel und Zankapfel der Menschen, in: Kirche im Osten 35 (1992), 111-126. <?page no="285"?> Rezeption biblischer Themen in Liturgie und Dichtung 271 syrischen Auffassung ist der Adressat durchgängig Christus, ein Verständnis, das auch im Abendland vorherrscht, wie es vor allem die Verwendung im Rahmen der Kreuzverehrung zweifelsfrei belegt. 28 Eine andere Auffassung findet sich in der byzantinischen Tradition. Sie interpretiert das Trishagion trinitarisch: Mit jeder Akklamation ist jeweils eine der göttlichen Personen gemeint. Zur Deutung des Adressaten in der vorliegenden Antiphon besteht also die Wahl zwischen Christus oder Vater, Sohn und Geist. Die Entscheidung darüber muss jedoch offen bleiben, denn trotz der Dominanz der christologischen Deutung im Westen sind byzantinische Einflüsse in Texten liturgischer Dichtung nicht auszuschließen. Im Unterschied dazu stellt das folgende byzantinische Troparion einen eindeutigen Bezug zu den drei göttlichen Personen beziehungsweise zur Trinität her: „Preiset, ihr Jünglinge, die mit der Dreiheit ihr teilet die Zahl, Gott, den Schöpfer und Vater. Besinget in Hymnen das Wort, das herabstieg und in Tau verwandelte Feuer. Und erhebet über alles den allheiligen Geist, der Leben darreicht allen in die Aeonen.“ 29 Die Anrede mit dem attributiven Nebensatz zeigt, dass die Jünglinge selbst mit ihrer Dreizahl die drei göttlichen Personen spiegeln, eine Auffassung, die sich schon bei vielen Kirchenvätern findet. 30 Aber sie sind nicht nur Bild der Trinität, sondern auch ein Vorbild rechtgläubigen Betens, indem sie ihren Lobpreis an Vater, Sohn und Geist richten. Insofern sie das gemeinsam tun, stellen sie nicht nur die drei göttlichen Personen einzeln dar, sondern auch deren Einheit. (2) Die vierte Gestalt im Feuerofen In der Bibel finden sich zwei Bezeichnungen zur Identität der vierten Gestalt im Ofen, die die drei Jünglinge vor dem Feuer bewahrt hat: „Engel des Herrn“ (3,49f.95) und „Göttersohn“ (3,92), wobei letztere Nebukadnezar verwendet, als er außer den drei Männern einen weiteren im Feuer umhergehen sieht. Ambulant in camino ignis pueri tres, et inter illos Deus erat Rex, et dicebant: Deum Regem habemus. 31 Im Feuerofen wandeln die drei Jünglinge, und unter ihnen war Gott, der König, und sie sangen: Wir haben Gott als König. 28 Vgl. a.a.O., 121. 29 Johannes M ADEY (aus dem Nachlass von Kilian K IRCHHOFF ), Es preise alle Schöpfung den Herrn. Hymnen aus dem Wochenlob der byzantinischen Kirche, Münster 1979, 546. 30 Zum Beispiel bezeichnet Zeno von Verona die drei Jünglinge als trinitatis sacramento praemuniti. Vgl. Patrizia C ARMASSI , „Mysterium magnum factum est in Babylonia“. Ausführungen zum Ambrosianischen Fest der Drei Jünglinge und seine patristischen Hintergründe, in: Ecclesia Orans 15 (1998), 323-402, hier: 333f. 31 H ESBERT , Corpus antiphonalium (wie Anm. 21), Nr. 1362. <?page no="286"?> Annette Albert-Zerlik 272 Abweichend vom biblischen Text identifiziert die Antiphon den vierten als „Gott, den König“ und bekräftigt dies durch das Bekenntnis der drei Jünglinge in wörtlicher Rede, das den grundlegenden Gedanken der Herrschaft Gottes akzentuiert, mit dem Asarja sein Bußgebet beschließt: „Sie sollen erkennen, dass du allein der Herr und Gott bist, ruhmreich auf der ganzen Erde“ (3,45). Aber wie lässt sich das Verständnis des Vierten als „Gott König“ mit den biblischen Benennungen „Engel des Herrn“ beziehungsweise „Göttersohn“ in Einklang bringen? Es spricht sehr viel dafür, dass die Antiphon gemäß einer geläufigen patristischen Auslegung mit dem im Feuer anwesenden „Gott“ den Sohn Gottes, Christus, meint. Den Anlass bietet die Bezeichnung „Göttersohn“, die in der griechischen Übersetzung des Theodotion als υἱὸς θεοῦ (Sohn Gottes) wiedergegeben ist. 32 Der Titel „König“, mit dem die Antiphon die Macht gegenüber dem weltlichen Herrscher Nebukadnezar betont, ist auch für Christus nicht ungewöhnlich. Ausgehend von seiner Verwendung als Gottesprädikat im Alten Testament findet er sich an mehreren Stellen des Neuen Testamentes, so zum Beispiel, als Jesus gegenüber Pilatus auf sein Königtum verweist (Mt 27,11 parr; Joh 18,37), vor allem auch in Offb 19,6, wo Christus als König und Herrscher bezeichnet wird. 33 Die Annahme, dass mit Deus Rex tatsächlich Christus gemeint ist, bestärken andere, parallel gestaltete Antiphonen, zum Beispiel: Ambulant in camino ignis pueri tres, et in medio eorum Filius Dei, et hymnum Deo dicebant, alleluia. 34 Im Feuerofen wandeln die drei Jünglinge (umher), und in ihrer Mitte der Sohn Gottes, und sie sangen Gott den Lobgesang, alleluia. Hier ist offensichtlich, dass der Vierte als Christus, als filius dei, Sohn des einen Gottes, identifiziert wird. 35 Die wirkungsgeschichtliche Bedeutsamkeit dieser Interpretation zeigt sich anhand vieler ikonographischer Darstellungen, wie zum Beispiel die in einer mittelalterlichen Armenbibel (Abb. 1): 32 Vgl. K ULCZAK -R UDIGER u.a., Jünglinge (wie Anm. 2), 364f. 33 Vgl. Offb 1,5: „Er ist der treue Zeuge, der Erstgeborene der Toten, der Herrscher über die Toten, der Herrscher über die Könige der Erde“. 34 H ESBERT , Corpus antiphonalium (wie Anm. 21), Nr. 1361. 35 Vgl. das oben zitierte Troparion „Preiset, ihr Jünglinge“, in dem vom „Wort“ die Rede ist, das ins Feuer hinabstieg und dieses in Tau verwandelte (2.2.2 [1]). <?page no="287"?> Rezeption biblischer Themen in Liturgie und Dichtung 273 Abb. 1: Biblia pauperum, Tegernsee, um 1340: Bayerische Staatsbibliothek München, Clm 19414, fol. 159v (nach: Uwe S TEFFEN , Feuerprobe des Glaubens. Die drei Männer im Feuerofen, Stuttgart 1969, 33 [Bild 4]). 2.2.3 Feier Wie Antiphonen, die an Festen des Kirchenjahrs erklingen, den spezifischen Festgedanken im Spiegel von Dan 3 zur Sprache bringen, zeigen zwei exemplarische Texte zum Palmsonntag (1) und zu Ostern (2). (1) Palmsonntag Cum angelis et pueris fideles inveniantur, triumphatori mortis clamantes: Hosanna in excelsis. 36 Mit den Engeln und den Jünglingen sollen Gläubige gefunden werden, die dem Todesüberwinder zurufen: Hosanna in der Höhe. Auffallend sind die im Text genannten drei Gruppen der angeli (Engel), der pueri (Kinder/ junge Männer) und der fideles (Gläubigen), deren Ziel es ist, dem Triumphator über den Tod Hosanna in excelsis zuzurufen. Mehrere Ebenen lagern sich hier übereinander: - Zunächst erinnert der Text an die Situation im Feuerofen, indem er aus dem Gesang des Benedicite die angeli (3,59) und die pueri (3,51.88), also die drei Jünglinge 37 , nennt. - Daneben ist der Bezug zum Palmsonntag unverkennbar. Die Antiphon nimmt die Szene des Einzugs Jesu in Jerusalem auf (vgl. Mt 21,15). Dort jubeln die Kinder, in der Vulgata bezeichnet als pueri, Jesus mit Hosanna zu: 36 H ESBERT , Corpus antiphonalium (wie Anm. 21), Nr. 1974. 37 Der Begriff pueri findet sich mehrfach in Dan 1, in Bezug auf die drei jungen Männer in 1,17. Biblia Pauperum, Tegernsee (um 1340) <?page no="288"?> Annette Albert-Zerlik 274 Videntes autem principes sacerdotum et scribae […] pueros clamantes in templo et dicentes osanna Filio David indignati sunt. 38 - Neben der Zeitebene der Vergangenheit der beiden biblischen Ereignisse, die wie Folien übereinander geschoben sind, bringt die Antiphon zugleich die Gegenwart zum Ausdruck, indem die fideles, also die aktuell versammelten Gläubigen, in den Jubel der angeli und der pueri einbezogen werden. - Die Antiphon eröffnet jedoch noch eine weitere Perspektive: die der Zukunft. Das Lob der Gläubigen, das mit dem der Engel und dem der drei Jünglinge beziehungsweise der Jesus zujubelnden Kinder zusammenklingen soll, kann nämlich, die Vollendung antizipierend, auf der Ebene der himmlischen Liturgie gesehen werden, wie sie das Eucharistiegebet zum Ausdruck bringt: Am Ende der Präfation wird nach dem Vorbild von Offb 4-5 zum Lob mit den Engeln aufgerufen, das in das Sanctus mit dem Ruf Hosanna in excelsis mündet: Cum quibus (sc. angelis) et nostras voces ut admitti jubeas, deprecamur, supplici confessione, dicentes: Sanctus […] Hosanna in excelsis. 39 Auf höchst kunstvolle Weise verdichtet der knappe Text der Antiphon mehrere Zeitschichten: Die sich wechselseitig interpretierenden biblischen Ereignisse des Alten und des Neuen Testamentes werden auf die Situation der Gläubigen bezogen und vergegenwärtigt. Zugleich erscheinen Vergangenheit und Gegenwart im Licht der Vollendung. (2) Ostern Redemptor noster surrexit de sepulchro, qui liberavit tres pueros de camino ignis, alleluia. 40 Unser Erlöser ist aus dem Grab erstanden, der die drei Jünglinge aus dem Feuerofen befreit hat, alleluia. Der Text verknüpft die Ereignisse „Auferstehung aus dem Grab“ und „Befreiung aus dem Feuer“ miteinander. Dies geschieht zum einen durch die inhaltliche Parallelisierung der Vorgänge, zum anderen durch das bezüglich der beiden Situationen selbe Referenzobjekt: Sowohl bei seiner Auferstehung als auch bei der Rettung der drei Jünglinge ist Jesus der Hauptakteur. Zugleich kommt die aktuelle Bedeutung des Geschehens in den Blick. Erlösung wurde nicht nur den drei Jünglingen, sondern wird auch den Gläubigen in der Gegenwart zuteil, denn der damalige Befreier ist auch „unser“ Erlöser. Wie zu den drei Männern steigt Christus zu allen anderen Menschen hinab ins Feuer, wird solidarisch mit denen, die dem Tod ausgeliefert sind, und befreit sie - eine Dynamik, die an das zentrale Osterbild der Ostkirche, die 38 „Als nun die Hohenpriester und die Schriftgelehrten […] die Kinder im Tempel rufen hörten: Hosanna dem Sohn Davids! , da wurden sie ärgerlich […]“ (Einheitsübersetzung). 39 „Mit ihnen (sc. den Engeln) laß, so flehen wir, auch uns einstimmen und voll Ehrfurcht bekennen: Heilig […] Hosanna in der Höhe“. Römischer Kanon, Gewöhnliche Präfation, in: Anselm S CHOTT , Das Meßbuch der heiligen Kirche, Freiburg i.Br. u.a. 43 1937, 399. 40 H ESBERT , Corpus antiphonalium (wie Anm. 21), Nr. 4589. <?page no="289"?> Rezeption biblischer Themen in Liturgie und Dichtung 275 Anastasis, erinnert. Mit dem Abstieg Jesu in die Unterwelt, aus der er die Gefangenen befreit, wird der spirituelle Sinn der christologischen Deutung des Vierten im Ofen deutlich. Die Abbildung aus dem Chludov-Psalter (9. Jh.) zeigt die Solidarität des auferstandenen Christus - erkennbar am weißen Gewand - mit den ins Feuer Geworfenen (Taf. 2). 3 Gegenwärtige Bedeutung Je bewusster man die Erzählung von den drei Jünglingen in ihrer wirkungsgeschichtlichen Bedeutung wahrnimmt, desto überraschter ist man, dass sie heute im kirchlichen Raum allenfalls ein Schattendasein fristet, denn sie kommt nur noch an marginalen Punkten der Liturgie vor. 41 Entscheidend für diese Entwicklung war die Reform der Ostervigil durch Pius XII. im Jahr 1951, die - das sei vorausgeschickt - hinsichtlich der Wiederherstellung des nächtlichen Zeitansatzes nicht hoch genug geschätzt werden kann. Jedoch kam es im Bereich der Vigillesungen zu einem folgenschweren Einschnitt: Mit dem Ziel, den alttestamentlichen Lesungsteil zu verkürzen, hat man neben sieben anderen Perikopen die Schlusslesung Dan 3 gestrichen - unwiederbringlich, so wie es aussieht, denn auch im Zuge des Zweiten Vatikanums wurde sie nicht wieder eingeführt. Abgesehen von diesem Verlust zeigt sich vor allem mit Blick auf die vor der Reform Pius’ XII. liegende Zeit eine nur schwer nachvollziehbare Unsensibilität. Nur sechs Jahre, nachdem die Öfen der Konzentrationslager erloschen waren, war der biblische Text verschwunden, der mit dem zentralen Bild des Feuerofens so markant wie kein anderer die Geschichte der Widerständigen, Verfolgten und Hingerichteten zeitenübergreifend erzählt. Wiederbelebungen gingen und gehen jedoch von unerwarteter Seite aus: Während Dan 3 aus dem kirchlich-kollektiven Gedächtnis ins Abseits geraten ist, lässt sich ein gesteigertes Interesse außerhalb der kirchlichen Grenzen beobachten. Die Geschichte selbst scheint in ihrer Bildhaftigkeit und ihrer paradigmatischen Aussagekraft so stark zu sein, dass sie in der Nachkriegszeit und bis heute zu vielfältigen künstlerischen Verarbeitungen anregt. Im Bereich der Musik schuf Karlheinz Stockhausen die elektronische Komposition „Gesang der Jünglinge“, die in engem Bezug zu seinem künstlerischen Selbstverständnis steht: „Vergesse man nicht, daß die 2jährige Realisationsarbeit von 1954 bis 1956 eine einzigartige Zeit jubelnden Gotteslobes und ich selbst ein ‚Jüngling im Feuerofen‘ war‘.“ 42 Diese Identifikation erklärt er an anderer Stelle damit, „dass jemand ganz klar seinen Weg geht, ganz egal, was die andern gegen ihn sagen“. 43 Zehn Jahre später verarbeitete Benjamin 41 Vgl. S EELIGER , Palai martyres (wie Anm. 2), 257f. 42 Karlheinz S TOCKHAUSEN , Musik und Sprache im Gesang der Jünglinge, in: Stockhausen. Elektronische Musik 1952-1960, Compact Disc 3 - Textheft, Kürten 2001, 73. 43 www.beckmesser.de/ komponisten/ stockhausen75.html (Zugriff 10.01.2006). <?page no="290"?> Annette Albert-Zerlik 276 Britten den Stoff in einer „Kirchenparabel“ mit dem Titel „The Burning Fiery Furnace“ (op. 77). 44 Auf dem Gebiet der Literatur ist beispielsweise das 1951 erschienene Drama von Carl Zuckmayer zu nennen, „Der Gesang im Feuerofen“ 45 , in dem die Situation der drei Jünglinge auf das gewaltsame Ende einer Gruppe junger Menschen der Résistance (1943) übertragen wird. Zwei Beispiele aus der Lyrik vermitteln einen Eindruck von der bleibenden Aktualität der Geschichte angesichts konkreter Verfolgung. Eine Passage aus dem Gedicht „Else Lasker-Schüler“ (1962) von Johannes Bobrowski lautet: In Mielce das Haus Gottes brennend, über die Flammen hinauf die Stimme, eine Stimme, aber aus hundert Mündern, aus der Erstickung. Wie sagt man: im Feuerofen erhob sich das Lob Gottes - wie sagt man? Ich weiß nicht mehr … 46 Angesichts der grausamen Realität des brennenden Gotteshauses erinnert sich der Sprecher an die Männer im Feuerofen. Er versucht, den Schrei der Erstickenden in die biblische Hoffnungssprache zu übersetzen: „Wie sagt / man: im Feuerofen / erhob sich das Lob / Gottes …“. Er fragt sich erneut: „Wie sagt man? “ Aber die Antwort lautet: „Ich weiß nicht mehr …“. Die Sprache der Bibel ist ihm zur Fremdsprache geworden, die Traumatisierung ist zu groß … Das zweite Gedicht von Christine Busta (1981) sieht in der Geschichte von den drei Jünglingen eine Hoffnungsperspektive: Als man sie in den Ofen warf, sangen die Jünglinge im Feuer, überliefert die Bibel. Pablo Neruda berichtet: Als man Nazim Hikmet, den Dichter, in eine Jauchengrube stieß, begann er aus dem Unrat zu singen. Die Schergen sind immer schlecht beraten, manchmal auch die Verfolgten. Doch der Gesang behält recht. 47 44 Libretto: William P LOMER ; Uraufführung 9. Juni 1966. 45 Carl Z UCKMAYER , Der Gesang im Feuerofen, Frankfurt a.M. 1951. 46 Johannes B OBROWSKI , Schattenland Ströme. Gedichte, Stuttgart 1962, 55f. 47 Christine B USTA , Wenn du das Wappen der Liebe malst … Gedichte, Salzburg 1981, 120. <?page no="291"?> Rezeption biblischer Themen in Liturgie und Dichtung 277 Tafeln Taf. 1: Thomas Zacharias, Die drei Jünglinge im Feuerofen, Farbholzschnitt, 1964 (nach: Folkert D OEDENS - Günter L ANGE - Thomas Z ACHARIAS [Hgg.], Farbholzschnitte zur Bibel von Thomas Zacharias. Interpretationen und Unterrichtspraxis mit bildnerischer Kunst, München 1973, Bildanhang o.S.). © VG Bild-Kunst, Bonn 2013. Taf. 2: Chludov-Psalter (9. Jh.), Moskau Hist. Mus. Cod. 129 (nach: Marfa Vjaceslavna S CEPKINA , Miniatjury chludovskoj psaltyri. Greceskij illjustrirovannyj kodeks IX veka, Moskau 1977 [Kyrillische Schrift], 160). <?page no="292"?> Annette Albert-Zerlik 278 Taf. 3: Franz Nagel, Altarbild „Triptychon der Errettung“ in der Kirche „Verklärung Christi“ in Schongau/ Lech, 1968 (Foto: Helmut Bernhardt). <?page no="293"?> „… unter ihrem Anhauch sind liturgische Gesänge geschaffen worden …“ (SC 24) Das Beispiel der Sequenz Zima vetus expurgetur Ansgar Franz Kirchenlieder sind elementare Lebensäußerungen der christlichen Gemeinde (Eph 5,19; Kol 3,16) 1 . Als liturgische Ausdrucksmittel und als sprachliche sowie musikalische Kunstwerke haben sie wie eine Ellipse zwei Brennpunkte: die Heilige Schrift und die jeweilige Lebenswirklichkeit des Menschen. Beides gilt es miteinander zu vermitteln: Kirchenlieder haben die Wirklichkeit des Menschen möglichst präzise zu erfassen und verändernd oder bewahrend zu gestalten. Sie dürfen nicht, wie Kurt Marti formuliert, „‚zeitlos‘ und ‚unversehrt‘ an der versehrten Gegenwart und ihren brennenden Fragen vorbeiplätschern“. 2 Kirchenlieder sind ein wichtiges Medium, dieser Lebenswirklichkeit in der Liturgie Raum zu geben; sie sind, wie Angelus Häußling formuliert, jene Elemente, die den Gottesdienst je und je ‚modern‘ machen, indem sie die Erfahrungen der Zeitgenossen zu Wort kommen lassen. 3 Die Perspektive, in der die Gegenwart zu Wort kommt, ist die der biblischen Botschaft. Sie deutet und gestaltet die Wirklichkeit im Licht der Offenbarung des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs, des Vaters Jesu Christi. 4 - Blickt man von diesen eher theoretischen Überlegungen auf konkrete Beispiele, so zeigt sich, dass 1 Eph 5,19: „Lasst in eurer Mitte Psalmen, Hymnen und Lieder erklingen, wie der Geist sie eingibt. Singt und jubelt aus vollem Herzen zum Lobe des Herrn“; Kol 3,16: „Singt Gott in eurem Herzen Psalmen, Hymnen und Lieder, wie der Geist sie eingibt, denn ihr seid in Gottes Gnade“. 2 Kurt M ARTI , grenzverkehrt. ein christ im umgang mit kultur literatur und kunst, Neukirchen 1970, 134. 3 Vgl. Angelus A. H ÄUSSLING , Hymnus, II. Liturgisch: 1. In der Westkirche, in: Lexikon für Theologie und Kirche³ 5 (1997), 361-366, hier: 362: Der Hymnus der Tagzeitenliturgie sei jenes Element, das „die immer neuen Erfahrungen mit Gott ins Wort bringt und somit den Gottesdienst je und je ‚modern‘ macht. So intensiv wie sonst an keiner Stelle der Liturgie spiegelt der Hymnus das Ausgreifen der religiösen Erfahrung, den Wandel der Stile und des Geschmacks, den Konnex mit der zeitgenössischen Kultur überhaupt wider“. 4 Vgl. zum Themenbereich Kirchenlied und Bibel Ansgar F RANZ , Schriftgemäßheit als Anspruch an das Kirchenlied, in: Heiliger Dienst 55 (2001), 21-36; DERS ., Kirchenlied und Heilige Schrift, in: Theologie der Gegenwart 48 (2004/ 5), 275-280. <?page no="294"?> Ansgar Franz 280 beides, Bibel und Lebenswirklichkeit, in höchst unterschiedlichen Intensitäten Kirchenlieder bestimmen. Es gibt Exemplare, bei denen eine gefühlte Lebenswirklichkeit sehr dominant hervortritt, während von einem „Anhauch der Bibel“ kaum mehr etwas zu spüren ist; und andere, die vordergründig an den ‚brennenden Fragen vorbeizuplätschern‘ scheinen und bei denen der „Anhauch der Bibel“ so stark ist, dass er schon fast an ein pfingstliches Brausen erinnert. Ein solches Exemplar ist die Ostersequenz des Adam von Sankt Viktor Zima vetus expurgetur. Zima vetus expurgetur gehört zu den Sequenzen neueren Typs, die ab dem 11. Jahrhundert entstehen. Gegenüber der ursprünglichen Gattung sind diese „jüngeren“, „regulären“ Sequenzen durch Reim und Versrhythmus geprägt und müssen nicht notwendigerweise Textierungen vorliegender Melodien sein. 5 Ihr Verfasser Adam von St. Viktor († um 1146) ist neueren Forschungen zufolge 6 mit dem in einer zeitgenössischen Urkunde als Unterzeichner auftretenden „Adam Praecentor“ von Notre-Dame 7 identisch; einen Großteil seines Lebens arbeitete er für die Pariser Abtei Saint-Victor. In der Forschung wird er als ein Dichter gerühmt, „der in reiner, klarer, frei bewegter Sprache und in mühelosen Reimen die Festbezüge [seiner liturgischen Dichtungen] […] zu Bildern von zum Teil hoher Poesie erhebt.“ 8 Die seit Mitte des 19. Jahrhunderts geführte Diskussion um die Frage, welche der allesamt anonym überlieferten Sequenzen der viktorinischen Tradition tatsächlich von Adam stammen, ist mit der 2008 erschienenen großen und großartigen Studie von Jean Grosfillier zu einem gewissen Abschluss gekommen; 9 bereits Alanus ab 5 Zur Entwicklung der Gattung „Sequenz“ vgl. Lori K RUCKENBERG , Sequenz, in: Musik in Geschichte und Gegenwart 2 (im Folgenden: MGG 2 ), Sachteil Bd. 8 (1998), 1254-1286 (Literatur! ), zum neueren Typ speziell: 1275-1282. Clemens B LUME und Henry M. B ANNIS- TER nennen in der Einleitung zu Analecta Hymnica 54 als charakteristische Eigentümlichkeiten der ‚Sequenzen zweiter Epoche‘: „1. Regelrechter, auf dem natürlichen Wortakzent (nicht auf der Quantität der Silben) beruhender Rhythmus, so daß der Versakzent ausnahmslos mit der gewöhnlichen Wortbetonung harmoniert; 2. innerhalb des Verses eine gleichmäßige Zäsur, die mit dem Wortschlusse zusammenfällt; 3. reiner, mindestens zweisilbiger Reim“ (Analecta Hymnica 54,VI). 6 Vgl. Margot F ASSLER , Who was Adam of St. Victor? The Evidence of the Sequence Manuscripts, in: Journal of the American Musicological Society 37 (1984), 233-269; DIES ., Adam von St. Viktor, in: MGG 2 Personenteil Bd. 1 (1999), 113f. 7 Als Praecentor („Vorsänger“) hatte Adam neben administrativen Pflichten die Hauptverantwortung für den liturgischen Gesang der Kathedrale. 8 Günter B ERNT , Adam von Saint-Victor, in: Lexikon des Mittelalters 1 (1999), 110f, hier: 110. 9 Jean G ROSFILLIER , Les séquences d’Adam de Saint-Victor. Étude littéraire (poétique et rhétorique). Textes et traductions, commentaires (Bibliotheca Victorina 20), Turnhout 2008; Grosfillier unterscheidet zwischen einer „Attribution très vraisemblable“ (33 Sequenzen), „peu probable“ (11 Sequenzen), „incertaine“ (9 Sequenzen) und dreier weiterer Sequenzen, die zwar nicht in den vom ihm als Quellen zugrunde gelegten viktorinischen Gradualia erscheinen, die aber „très probablement“ von Adam verfasst seien; vgl. a.a.O., 865-868. <?page no="295"?> „… unter ihrem Anhauch sind liturgische Gesänge geschaffen worden …“ 281 Insulis († 1202) bezeugt Adams Autorenschaft für die uns interessierende Ostersequenz Zima vetus expurgetur. 10 1 Der Text 11 und seine Grundstruktur 1,1 Zima uetus expurgetur, Der alte Sauerteig sei weggeschafft, 1,2 ut sincere celebretur damit in Reinheit mag gefeiert werden 1,3 nova resurrectio. die neue Auferstehung. 1,4 Hec est dies nostre spei, Dies ist der Tag unserer Hoffnung, 1,5 huius mira uis diei dieses Tages Kraft ist wunderbar 1,6 legis testimonio. nach dem Zeugnis des Gesetzes. 2,1 Hec Egyptum spoliavit Dieser Tag hat Ägypten beraubt 2,2 et Hebreos liberauit und die Hebräer befreit 2,3 de fornace ferrea. aus dem eisernen Ofen. 2,4 Hiis in arto constitutis Als sie in Bedrängnis waren, 2,5 opus erat seruitutis bestand ihrer Knechtschaft Werk 2,6 lutum later palea. in Lehm und Ziegelstein und Spreu. 3,1 Iam diuine laus uirtutis, Jetzt soll das Lob göttlicher Wunderkraft, 3,2 iam triumphi, iam salutis jetzt soll des Triumphes, der Errettung 3,3 uox erumpat libera. Stimme ausbrechen frei: 3,4 Hec est dies quam fecit Dominus, Dies ist der Tag, den der Herr gemacht hat, 3,5 dies nostri doloris terminus, der Tag, das Ende unserer Schmerzen, 3,6 dies salutifera. der heilverleihende Tag. 4,1 Lex est umbra futurorum, Das Gesetz ist ein Schatten des Künftigen, 4,2 Christus finis promissorum Christus das Ziel des Verheißenen, 4,3 qui consummat omnia. er, der alles erfüllt. 4,4 Christi sanguis igneam Christi Blut hat die flammende 4,5 hebetauit rumpheam Schwertklinge stumpf gemacht 4,6 amota custodia. und die Wächter entfernt. 5,1 Puer, nostri forma risus, Der Knabe ist unseres Lachens Vorbild, 5,2 pro quo ueruex est occisus, für den der Widder getötet wurde, 5,3 uite signat gaudium. er bezeichnet die Freude des Lebens. 5,4 Ioseph exit de cisterna, Joseph kommt aus der Zisterne: 5,5 Ihesus redit ad superna Christus kehrt zum Himmel wieder 5,6 post mortis supplicium. nach der Todesqual. 10 Vgl. unten S. 299. 11 Der Text folgt der kritischen Edition von G ROSFILLIER , Séquences (wie Anm. 9), 320-325; die Übersetzung stammt von Günter B ERNT und ist der Beilage der Langspielplatte Gregorianische Gesänge III: Sequenzen, capella antiqua München, Choralschola Konrad Ruhland, RAC Corporation 1982, entnommen; lediglich in v 7,6 ist mit Grosfiller „hospes“ statt „hostis“ zu lesen und entsprechend zu übersetzen. <?page no="296"?> Ansgar Franz 282 6,1 Hic drachones Pharaonis Hier wird die Schlange Pharaos verschlungen 6,2 dracho uorat, a drachonis von jener Schlange, die von der Schlangen 6,3 immunis malicia. Bosheit frei ist. 6,4 Quos ignitus uulnerat, Die die feurige Schlange verwundet, 6,5 hos serpentis liberat sie befreit der ehernen 6,6 enei presentia. Schlange Gegenwart. 7,1 Anguem forat in maxilla Der Schlange Kiefer durchsticht 7,2 Christus hamus et armilla; Christus, der Angelhaken und der Ring. 7,3 in cauernam reguli, In das Schlupfloch des Basilisken 7,4 Manum mittit ablactatus, steckt das kleine Kind die Hand, 7,5 et sic fugit exturbatus und so flieht, hinausgejagt, 7,6 uetus hospes seculi. der alte Gast der Welt. 8,1 Irrisores Helysei, Die den Elischa verhöhnten, 8,2 dum conscendit domum Dei, da er zum Haus des Herrn hinaufgeht, 8,3 zelum calui sentiunt. spüren des Kahlen Zorn. 8,4 Dauid arepticius, David im Irresein, 8,5 hyrcus emissarius der Bock, der fortgeschickt wird, 8,6 et passer effugiunt. und der Sperling, sie entkommen. 9,1 In maxilla mille sternit Mit dem Kinnbacken streckt Simson tausend nieder 9,2 et de tribu sua spernit und mit einer seines Stammes 9,3 Samson matrimonium. verschmäht er die Heirat. 9,4 Samson Gaze seras pandit Simson öffnet Gazas Tore, 9,5 et asportans portas scandit trägt die Tore fort und steigt 9,6 montis supercilium. auf des Berges Gipfel. 10,1 Sic de Iuda leo fortis, So hat der starke Löwe von Juda 10,2 fractis portis dire mortis, die Tore des grimmigen Todes zerbrochen, 10,3 die surgens tercia, als er am dritten Tage auferstand 10,4 Rugiente uoce Patris beim Brüllen des Vaters, 10,5 ad superne sinum matris und in den Schoß der himmlischen Mutter 10,6 tot reuexit spolia. reiche Beute heimgebracht. 11,1 Cetus Ionam fugitiuum, Der Walfisch hat den flüchtenden Jona, 11,2 ueri Ione signatiuum, der den wahren Jona bezeichnet, 11,3 post tres dies reddit uiuum nach drei Tagen lebend zurückgegeben 11,4 de uentris angustia. aus der Enge des Bauches. 11,5 Botrus Cypri reflorescit, Wieder blüht die Cyprustraube, 11,6 dilatatur et excrescit, sie weitet sich und wächst, 11,7 Synagoge flos marcescit der Synagoge Blüte dorrt, 11,8 et floret Ecclesia. und es blüht die Kirche. <?page no="297"?> „… unter ihrem Anhauch sind liturgische Gesänge geschaffen worden …“ 283 12,1 Mors et uita conflixere, Tod und Leben haben gekämpft, 12,2 resurrexit Christus uere Christus ist wirklich auferstanden, 12,3 et cum Christo surrexere und erstanden sind mit Christus 12,4 multi testes glorie. viele Zeugen seiner Herrlichkeit. 12,5 Mane nouum, mane letum Der neue Morgen, der frohe Morgen 12,6 uespertinum tergat fletum, mag die Tränen des Abends trocknen, 12,7 quia uita uicit letum, denn das Leben hat den Tod besiegt: 12,8 tempus est leticie. es ist die Zeit der Freude. 13,1 Ihesu uictor, Ihesu uita, Jesus, Sieger, Jesus, Leben, 13,2 Ihesu uite uia trita, Jesus, gebahnter Weg zum Leben, 13,3 cuius morte mors sopita, durch dessen Tod der Tod entschläft, 13,4 ad paschalem nos inuita lade uns zum österlichen 13,5 mensam cum fiducia. Tisch mit Zuversicht. 13,6 Viue panis, uiuax unda, Lebensbrot, lebendiger Quell, 13,7 uera uitis et fecunda, wahrer, fruchtbarer Weinstock, 13,8 tu nos pasce, tu nos munda, nähre uns, reinige uns, 13,9 ut a morte nos secunda dass uns vom zweiten Tod 13,10 tua saluet gratia. deine Gnade errette. Aufgrund sprachlicher, motivischer und thematischer Beobachtungen lässt sich die Sequenz in drei Teile gliedern: 12 - Teil 1 reicht von Strophe 1-3 und umfasst 18 Verse. Er besteht aus einem großen Lobpreis auf die Auferstehung, die in der liturgischen Feier (celebrare) vergegenwärtigt (hec est dies; iam) und deshalb als noua resurrectio bezeichnet wird. Dabei wird mit dem Stichwort testimonium legis (v 1,6 als Verweis auf v 4,1: lex est umbra futurorum) das Thema des 2. Teils angekündigt. - Teil 2 reicht von Strophe 4-11 und umfasst 50 Verse. Er ist eine überbordende Auflistung von Schriftbeweisen für die Auferstehung Christi. Mit spürbarer Lust werden in immer neuen Anläufen nicht weniger als 13 alttestamentliche Exempla präsentiert, die wie eine „Wolke von Zeugen“ (Hebr 12,1) die noua resurrectio verbürgen. - Teil 3 reicht von Strophe 12-13 und umfasst in auffälliger Parallele zu Teil 1 ebenfalls 18 Verse. Auch inhaltlich bestehen enge Verbindungen zur liturgischen Anamnese am Beginn des Hymnus: Der Schlussteil rühmt den Transitus Christi und seiner Zeugen vom Tod zum Leben und mündet in ein preisendes und bittendes Gebet an den Ihesus uictor. Wer die Dichtung des Adam von Sankt Viktor wiederholt aufmerksam hört oder liest, erkennt immer deutlicher ein dichtes Gewebe kontextueller und intertextueller Stränge und Fäden, unterschiedlich nach Länge und Farbe und 12 Vgl. G ROSFILLIER , Séquences (wie Anm. 9), 171: „La séquence est divisée en trois parties: un exorde (de la première à la quatrième strophe) met en place les thèmes; il est suivi d’un développement (de la cinquième à la onzième strophe) qui rassemble les diverses références à l’Ancien Testament annonciatrices du miracle pascal, et d’une péroraison (douzième et treizième strophe), avec une adresse au Christ (treizième strophe)“. <?page no="298"?> Ansgar Franz 284 Beschaffenheit, das im hohen Maße fasziniert: Phänomene auf der phonologischen Ebene wie etwa die Häufung charakteristischer Konsonant-Vokal- Folgen 13 , der ohne Anstrengung fließende Reim und das den Sprachfluss leitende wechselnde Metrum; auf der semantischen Ebene die absichtsvoll gesetzte Wiederholung bestimmter Begriffe und die kunstvolle Verknüpfung der Motive; 14 auf der kontextuellen Ebene die konsequente Situierung der Sequenz in die liturgische Feier und der virtuose Umgang mit biblischen Stoffen und deren Auslegungstraditionen. Der vorliegende Beitrag muss sich darauf beschränken, unter dem Aspekt ‚Liturgie und Bibel‘ die gottesdienstliche Dimension (Teile 1 und 3) zu beschreiben und speziell die im großen Mittelteil der Sequenz präsentierten alttestamentlichen Exempla auf dem Hintergrund der Bibel und ihrer altkirchlichen und mittelalterlichen Auslegungsgeschichte zu entschlüsseln. Hinsichtlich der poetischen, rhetorischen und kompositorischen Dimensionen sei auf die ältere Literatur und im Besonderen auf die grundlegende Untersuchung von Jean Grosfillier verwiesen. 15 2 Die Anamnese der Auferstehung in der liturgischen Feier Die Strophen 1-3 und 12-13 Auffällig ist in den ersten 18 Versen der Sequenz (Str. 1-3) die hohe Rekurrenz von Lexemen, die den gegenwärtigen, liturgisch gefeierten (celebrare) Festtag bezeichnen: 3x „iam“ (3,1-2), 2x 3x „dies“ bzw. „hec [dies]“ (1,4-5; 2,1; 3,4-6). Diese liturgischen ‚Zeitangaben‘ müssen als sprachliche Signale für die anamnetische Dimension der Liturgie gehört werden, in der die Sequenz ihren Sitz im Leben hat: Heute ist der Tag der Auferstehung (hec est dies), und darum muss jetzt (iam) das Lob erklingen. Der Inhalt der Anamnese und damit der Grund für das Lob sind die Auferstehung Christi (v 1,3), die Befrei- 13 Auffällig ist die Folge „vi“ in v 12,7; 13,1-2.4-6; s.u. S. 288. 14 Vgl. die Verknüpfung der Teile 1 und 3; s.u. S. 287. 15 G ROSFILLIER , Séquences (wie Anm. 9); zu Zima vetus expurgetur vgl. speziell die Seiten 61-63.171-182.320-325.596-616; vgl. weiterhin Josef S ZÖVÉRFFY , Die Annalen der lateinischen Hymnendichtung. Ein Handbuch, Bd. II: Die lateinischen Hymnen vom Ende des 11. Jahrhunderts bis zum Ausgang des Mittelalters, Berlin 1965, 103-120; Franz W ELL- NER , Adam von Sankt Viktor. Sämtliche Sequenzen, lateinisch und deutsch, München 1955 (speziell die Anhänge 1-3 zum Sequenzenstil Adams von Sankt Victor [335-349], zur Textkritik und Echtheitsfrage [351-362] und zur Singweise [362-381]); Eckhard H E- GENER , Studien zur ‚zweiten Sprache‘ in der religiösen Lyrik des zwölften Jahrhunderts. Adam von St. Victor, Walter von Châtillon (Beihefte zum Mittellateinischen Jahrbuch 6), Wuppertal 1971; zu der musikalischen Dimension vgl. K RUCKENBERG , Sequenz (wie Anm. 5), und die dort angegebene Literatur; hinsichtlich des eher losen Wort-Ton- Verhältnisses vgl. die Einschätzung von B ERNT , Adam von Saint-Victor (wie Anm. 8), 110: „Adams Sequenzen waren in erster Linie Sprachkunstwerke; ihre Melodien wurden z.T. älteren Sequenzen entlehnt oder an anderen Orten sehr früh durch andere ersetzt“. <?page no="299"?> „… unter ihrem Anhauch sind liturgische Gesänge geschaffen worden …“ 285 ung der Hebräer aus der Knechtschaft (vv 2,1-6) und das Heil der Menschen (vv 1,4; 3,5: noster). Strophe 1: Der alte Sauerteig und die neue Auferstehung Die Sequenz beginnt mit der paulinischen Relecture der alttestamentlichen Vorschriften zur Feier des Pascha: „Schafft den alten Sauerteig weg, damit ihr neuer Teig seid. Ihr seid ja schon ungesäuertes Brot (expurgate vetus fermentum ut sitis noua consparsio sicut estis azymi); denn als unser Paschalamm ist Christus geopfert worden. Lasst uns also das Fest nicht mit dem alten Sauerteig feiern, nicht mit dem Sauerteig der Bosheit und Schlechtigkeit, sondern mit den ungesäuerten Broten der Aufrichtigkeit und Wahrheit (sed in azymis sinceritatis et veritatis).“ (1 Kor 5,7-8 EÜ) 16 Die schon von Paulus im spirituellen Sinn verstandene Mahnung in Ex 12: „Es soll kein Sauerteig mehr in euren Häusern sein“ 17 ist gleichsam die Eingangsschwelle, die man überschreiten muss, will man an der Feier der noua resurrectio teilhaben. Der zweite Teil der Strophe beleuchtet schlaglichtartig das eine große Thema der Sequenz: Der Ostertag ist der dies nostre spei (1,4). Diese Hoffnung gründet in der vergangenen (Str. 2 und 12) und in der noch ausstehenden Heilsgeschichte (Str. 3 und 13) sowie in dem testimonium legis (Str. 5-11): „Denn alles, was geschrieben ist, ist zu unserer Belehrung geschrieben, damit wir […] aus der Schrift die Hoffnung haben“ (Röm 15,4). Strophe 2: Die Befreiung aus der Knechtschaft dieser Welt Die 2. Strophe benennt als Inhalt der Anamnese („Hec [dies]“) die Befreiung der Hebräer aus der Knechtschaft Ägyptens. 18 An der konkreten Wortwahl 16 Deutsche Zitate aus der Bibel folgen im Allgemeinen der Übersetzung der Vulgata nach Augustin Arndt (Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments. Mit dem Urtexte der Vulgata, übersetzt von Augustin A RNDT , Regensburg - Rom - New York - Cincinnati 1910). Wird aus der Einheitsübersetzung zitiert, wird dies eigens gekennzeichnet (EÜ). 17 Vgl. Ex 12,15: „Septem diebus azyma comedetis, in die primo non erit fermentum in domibus vestris, quicumque comederit fermentatum peribit anima illa de Israhel a primo die usque ad diem septimum“; vgl. auch Dtn 16,3. 18 Sprachlich findet sich eine erstaunlich enge Parallele zwischen der 2. Strophe der Sequenz und einer Osterpredigt eines Ps-Augustinus (Belgicus): „[…] hodie christus resurrexit a mortuis primitiae dormientium. […] Haec est enim dies in qua spoliatur aegyptus hebraei liberantur de fornace ferrea quibus in arido constitutis opus erat seruitutis lutum later et palea in medio terrae“ (Sermo 12 [Armand Benjamin C AILLAU - D.B. S AINT -Y VES , S. Aurelii Augustini Hipponensis episcopi operum supplementum [II], Paris 1836, 183). Der Text ist Teil einer Predigtsammlung, die erst nach 1168 zusammengestellt wurde; das sagt zwar nicht viel über das Alter der einzelnen Predigten, aber es scheint aufgrund der unterschiedlich hohen „Memorabilität“ der beiden Genres eher wahrscheinlich, dass der Prediger die Sequenz im Ohr hatte als der Sequenzendichter die Predigt. <?page no="300"?> Ansgar Franz 286 sind verschiedene Aspekte auffällig: Die Redeweise, Ägypten sei „beraubt“ (spoliare) worden, muss nicht nur den Umstand meinen, dass die Israeliten beim Auszug Geräte aus Silber und Gold von den Ägyptern mitnahmen (Ex 12,36: „et spoliaverunt Aegyptios“), sondern verweist innerhalb der Sequenz auf v 10,6, wo es von dem „Löwen“ Christus heißen wird, er habe die Tore des Totenreiches zerbrochen und „reiche Beute“ (tot spolia) zum Himmlischen Jerusalem gebracht. Von dort aus gesehen ist „Ägypten“ in Strophe 2 nicht als geographischer Ort zu verstehen, sondern als Bedingung menschlicher Existenz, die sich mit der Auferstehung Christi grundlegend geändert hat. 19 Drastisch wird diese Existenz mit dem Schicksal der drei Jünglinge aus dem Danielbuch (fornax) 20 identifiziert sowie mit der Trias lutum, later, palea beschrieben, die zunächst auf die vom Pharao verfügten grausamen Arbeitsbedingungen verweist, 21 im übertragenen Sinn aber das Leben des Menschen unter der Knechtschaft Satans meint, nämlich „den Schlamm des Fleisches, die Spreu dieser Welt, den Backstein, das ist die Härte des Teufels.“ 22 Strophe 3: Der heilverleihende Tag Die Befreiung aus dieser Existenzweise (2,2: „liberauit“) drängt hier und heute zu einem triumphierenden, mit freier Stimme (3,3: „uox libera“) vorgebrachten Lob. Der Beginn des zweiten Teils der Strophe zitiert Ps 117(118), 19 Vgl. G ROSFILLIER , Séquences (wie Anm. 9), 173, der aufgrund einer Lektüre dieses Abschnittes nach dem vierfachen Schriftsinn zu einem analogen Ergebnis kommt: „Ce peuple prisonnier, attaché à servitude humiliante, c’est l’image de la condition humaine“. 20 Vgl. Dan 3; vgl. auch Dtn 4,20: „Vos autem tulit Dominus et eduxit de fornace ferrea Aegypti“. 21 Die Vulgata verwendet in Ex 5,7 die Begriffe later, palea und stipula: „[Dixitque Pharao: ] Nequaquam ultra dabitis paleas populo ad conficiendos lateres sicut prius sed ipsi vadant et colligant stipulam et mensuram quos prius faciebant inponetis super eos nec minuetis quicquam vacant enim et idcirco vociferantur dicentes eamus et sacrificemus Deo nostro.“ Die Verbindung lutum und later findet sich in Ex 1,14: „Perducebant vitam eorum operibus duris luti et lateris omnique famulatu quo in terrae operibus premebantur“. 22 Vgl. etwa Thomas von Chobham († 1233/ 6), Sermo 6 (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis [im Folgenden: CChr.CM] 82A,68 M ORENZONI ): „Moyses ait […]: Domine, seruire fecerunt populum tuum in luto et latere et palea. In luto carnis, in palea mundi, in latere, id est duritia diaboli“; Wilhelm von Auvergne, Sermo 320 (CChr.CM 230A,674 M ORENZONI ): „Sicut fuit populus Dei in seruitute sub Pharaone in Egypto, sic et modo et seruiunt in luto spurcissimo luxuriosi, in latere auari et cupidi et in paleis superbi“; vgl. auch eine Predigt aus Grandmont zum Fest des heiligen Stephanus: „Filii namque Israel in Aegypto seruierunt regi Pharaoni inuiti in luto et latere et paleis. Per regem uero Pharaonem, intellegemus diabolum cui hodie in luto et latere et paleis seruiunt multi sub habitu religionis, et qui fastidientes manna in deserto reuertuntur ad pepones et allia Aegypti“ (Scriptores ordinis Grandimontensis, Sermones duo de beato Stephano 1 [CChr.CM 8,507 B ECQUET ]). <?page no="301"?> „… unter ihrem Anhauch sind liturgische Gesänge geschaffen worden …“ 287 den klassischen Osterpsalm aller christlichen Liturgien: 23 „Dies ist der Tag, den der Herr gemacht hat, lasst uns frohlocken und fröhlich an ihm sein“ (v 24). Innerhalb der hymnologischen Tradition markiert der Psalmvers den Auftakt des ältesten lateinischen Paschahymnus, nämlich „Hic est dies verus Dei“ des Ambrosius von Mailand († 397). 24 Für den Mailänder Bischof ist „der Tag, den der Herr gemacht hat“, einzig der Tag der Auferstehung Christi; denn obwohl Gott doch alle Tage geschaffen hat, ist dieser eine ganz besonders hervorgehoben, weil an ihm die Sünde hinweggenommen wurde. 25 Die Sequenz des Adam von Sankt Victor zieht in der Wiederaufnahme des dies in den folgenden Versen den Tag der Auferstehung Christi und der Aufhebung der Sünde weiter aus bis zum letzten, zum Jüngsten Tag: „Der Tag, das Ende unserer Schmerzen, / der heilverleihende Tag“ (v 3,5-6). Die Verse verweisen auf die Offenbarung des Johannes: „Da hörte ich eine starke Stimme im Himmel rufen: Jetzt ist das Heil (salus) und die Kraft und das Reich unserem Gotte geworden, und die Macht seinem Gesalbten. Denn hinab geworfen ist der Ankläger unserer Brüder, der sie vor unserem Gott verklagte Tag und Nacht.“ (Offb 12,10) „Und Gott wird alle Tränen von ihren Augen abtrocknen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Trauer, noch Klage, noch Schmerz (dolor) wird mehr sein; denn das erste ist dahingegangen.“ (Offb 21,4) Die liturgische Feier des Ostertages vergegenwärtigt nicht allein die im Kontinuum der Zeit bereits vergangenen Tage der Befreiung Israels und der Auferstehung Christi, sondern nimmt auch den noch ausstehenden Jüngsten Tag vorweg. Der Ostertag ist darum, wie es in v 1,4 heißt, der „Tag unserer Hoffnung“. Die letzten 18 Verse (Str. 12-13), die nach dem umfangreichen Mittelteil die Sequenz beschließen, knüpfen in inhaltlicher und formaler Hinsicht an die ersten 18 Verse (Str. 1-3) an: resurgere / surgere (12,2-3) nehmen die noua resurrectio (1,3) auf; fletus (12,6) verweist auf dolor (3,5); saluare (13,10) auf salus (3,2) und salutiferus (3,6); die Zeitangaben mane (12,5), uespertinum (12,6) und tempus (12,8) auf dies (3,4-6); mensa (13,5) und panis (13,6) stehen in antithetischer Parallele zu zima uetus (1,1). Die im Eingangsteil auffälligen Dreierstruk- 23 Vgl. André R OSE , Les Psaumes. Voix du Christ et de l’Église, Paris 1981, 120: „Le grand psaume de Pâques, présent dans tous les rites, est le Psaume 117.“ 24 Vgl. zu dem Hymnus Alexander Z ERFASS , Mysterium mirabile. Poesie, Theologie und Liturgie in den Hymnen des Ambrosius von Mailand zu den Christusfesten des Kirchenjahres (Pietas Liturgica. Studia 19), Tübingen - Basel 2008, 211-298, speziell: 232- 237. 25 Ambrosius von Mailand, Explanatio psalmorum XII 43,6,2 (Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum [im Folgenden: CSEL] 64,263 P ETSCHENIG - Z ELZER ): „In ipso enim die Christus hominibus resurrexit et ideo specialiter de ipso dictum est: Hic est dies quem fecit Dominus, exsultemus et laetemur in eo. cum igitur omnes dies Deus fecerit, hic tamen diei prae ceteris divini operis praerogativa delata est, quo peccatum omne sublatum est“. <?page no="302"?> Ansgar Franz 288 turen finden sich auch hier: 3x erfolgt die Anrufung Ihesus (13,1-2), verbunden mit den 2x 3 großen Bildworten uictor, uita, uia 26 (13,1-2) und panis, unda, uitis (13,6-7) sowie den drei Deprekativen inuita, pasce, munda (13,4.8). Die Entfaltung der liturgischen Dimension, die den Beginn der Sequenz charakterisierte, wird im Schlussteil weitergeführt und in der Gebetsanrufung vollendet. Strophe 12: Der siegreiche Transitus War v 3,4 „Hec est dies, quam fecit Dominus“ eine Anspielung an den Pascha-Hymnus des Ambrosius von Mailand, so ist v 12,1-2: „Mors et uita conflixere / resurrexit Christus uere“ eine Aufnahme der Ostersequenz des Vipo von Burgund († nach 1046). 27 Die zusammen mit Christus auferstandenen „Zeugen seiner Herrlichkeit“ (v 12,4) sind nach dem im Nikodemusevangelium entworfenen Szenarium die von dem Sieger über den Tod befreiten Stammeltern und deren Nachfahren, die bis dahin in der Hölle gefangen gehalten wurden. 28 Die Bezeichnung „testes gloriae“ spielt zum einen auf Ps 23(24),7-10 an, der innerhalb der im Nikodemusevangelium geschilderten dramatischen Ereignisse eine besondere Rolle spielt, 29 zum anderen könnte sie sich im Speziellen auf die im Mittelteil genannten Exempla beziehen, die 26 Zur phonetischen Bedeutung der Silbe „vi“ (auch in 12,7: „vita vicit“) vgl. G ROSFILLIER , Séquences (wie Anm. 9), 61f. 27 Victimae paschali laudes 2b.4b: „Mors et vita duello / conflixere mirando […]. Scimus Christum surrexisse / a mortuis vere“ (Analecta Hymnica 54,12). 28 Nikodemusevangelium 5/ 21 (3); 8/ 24 (1-2) (Christoph M ARKSCHIES - Jens S CHRÖTER [Hgg.], Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, Bd. 1, Tübingen 2012, 259f): Nachdem der Herr die Tore der Unterwelt zerschlagen und die eisernen Querbalken zerbrochen hat, wurden „die gefesselten Toten alle von ihren Banden gelöst und wir mit ihnen. […]. Der König der Herrlichkeit [streckte] seine rechte Hand aus, ergriff den Urvater Adam und richtete ihn auf. Dann wandte er sich auch zu den übrigen und sprach: ‚Her alle zu mir, die ihr durch das Holz, nach dem dieser griff, sterben mußtet! Denn seht, ich erwecke euch alle wieder durch das Holz des Kreuzes.‘ Darauf ließ er sie alle hinaus. […] Der Heiland [segnete] den Adam, indem er das Kreuzzeichen auf seine Stirn machte. Und so tat er es auch bei den Patriarchen, Propheten, Märtyrern und Vorvätern. Dann stieg er mit ihnen aus der Unterwelt empor“. 29 Vgl. Nikodemusevangelium 5/ 21 (1) (a.a.O., 259): „Während Satan und Hades so miteinander sprachen, ertönte wie Donner eine gewaltige Stimme: ‚Öffnet, ihr Herrscher, eure Tore, gehet auf, ewige Pforten! Einziehen wird der König der Herrlichkeit! ‘ (Ps 23,7.9 LXX). Als Hades das hörte, sprach er zu Satan: ‚Geh hinaus, wenn du kannst, und tritt ihm entgegen! ‘ Satan ging nun hinaus. Dann befahl Hades seinen Dienern: ‚Verrammelt gut und kräftig die ehernen Tore, schiebt die eisernen Riegel vor, behaltet meinen Besitz in der Gewalt, steht gerade und schaut nach allem! Denn kommt er herein, wird Wehe über uns kommen.‘ […] Da erscholl wieder eine Stimme: ‚Öffnet die Tore! ‘ Als Hades die Stimme zum zweiten Mal hörte, verhielt er sich wie ein Ahnungsloser und fragte: ‚Wer ist dieser König der Herrlichkeit? ‘ (Ps 23,8.10 LXX). Die Engel des Herrn erwiderten: ‚Ein mächtiger und gewaltiger Herr, ein Herr, machtvoll im Kriege! ‘ (Ps 23,8 LXX). Und zugleich mit dem Bescheid wurden die ehernen Tore zerschlagen und die eisernen Riegel zerbrochen und die gefesselten Toten alle von ihren Banden gelöst und wir mit ihnen“ (zur Fortsetzung der Szene s. Anm. 28). <?page no="303"?> „… unter ihrem Anhauch sind liturgische Gesänge geschaffen worden …“ 289 ebenfalls als „Beute“ (10,6) 30 aus der Gefangenschaft des Todes befreit werden, die aber schon zu Lebzeiten „Zeugen der Herrlichkeit“ Christi waren: Isaak, Joseph, Elischa, David, Samson, Jona. Der zweite Teil der Strophe spiegelt mit Ps 29(30),6: „ad vesperum demorabitur fletus et ad matutinum laetitia“, dem klassischen Osterpsalm der altkirchlichen Jerusalemer Liturgie, 31 im Übergang vom Abend zum Morgen, vom Weinen zum Lachen den siegreichen Transitus vom Tod zum Leben: „uita uicit letum: tempus est leticie“ (12,7-8). 32 Strophe 13: Der Tisch, der Tod und die Gnade Das Gebet, mit dem die Sequenz ihren Höhepunkt und Abschluss erreicht, ist zweigeteilt: Der dreifachen Anrufung des Namens Ihesus ist eine relativische Prädikation (cuius) beigeordnet, auf die die Bitte (inuita) folgt; dann setzt das Gebet wieder an mit einer dreifachen Anrufung, - nun aber nicht des Namens, sondern in Form dreier biblisch qualifizierter Bildworte (panis, unda, uitis) -, auf die unmittelbar eine doppelte Bitte folgt (pasce; munda), die mit einem abschließenden Finalsatz (ut) begründet wird. In beiden Teilen ist deutlich die Struktur römischer Orationen zu erkennen. Das Gebet bündelt die Themen und Motive der gesamten Sequenz und speist in die Sinnstruktur des Textes eine Fülle biblischer Bezugsstellen ein. Die den beiden ersten Anrufungen des Jesus-Namens 33 beigestellten Substantive uictor und uita verweisen über v 12,7 „uita uicit“ hinaus auf den Mittelteil der Sequenz, dessen Exempla jeweils den Sieg des Lebens über den Tod bezeugt haben. Das der dritten Anrufung beigeordnete uia, zusammen mit uita eine Selbstbezeichnung Jesu in Joh 14,6, 34 kann im Kontext der Sequenz auf v 4,4-6 bezogen werden: Der Weg zum Baum des Lebens (uia ligni uitae), den die Cherubim bewachen, 35 ist für die Menschen wieder zugänglich geworden, da sich das Kreuz selbst als Lebensbaum erwiesen hat. Die Bitte um Einladung an die mensa paschalis meint im liturgischen Kontext, in dem die Sequenz gesungen werden will, ganz konkret die Feier der Eucharistie. In ihr wird sowohl das Paschamahl der Befreiung aus Ägypten (v 2,1-6) gegenwär- 30 Vgl. u. S. 302-304 zu Strophe 10. 31 Vgl. Reinhard M ESSNER , Einführung in die Liturgiewissenschaft (Uni-Taschenbücher 2173), Paderborn u.a. 2 2009, 324. 32 G ROSFILLIER , Séquences (wie Anm. 9), 179, weist darauf hin, dass in den Strophen 2-4 und 12-13 jeweils Aspekte dieses Transitus benannt werden: uetus - nouus (Str. 2); seruitus - liberatio (Str. 3); promissio - consummatio (Str. 4); uesper - mane, fletum - letitia (Str. 12); mors - uita (Str. 13). „Il y a au cœur de l’exposé l’idée de passage - c’est l’un des sens du mot pascha -, passage d’un état à l’autre, d’un ‚avant‘ à un ‚apres‘, qui s’opère ce jour-là“. 33 Vgl. Mt 1,21: „pariet autem filium et vocabis nomen eius Iesum ipse enim salvum faciet populum suum a peccatis eorum“. 34 „Dicit ei Iesus: Ego sum via et veritas et vita, nemo venit ad Patrem nisi per me.“ 35 Gen 3,24. <?page no="304"?> Ansgar Franz 290 tig als auch das eschatologische Mahl der Vollendung im neuen Jerusalem (v 3,5-6). 36 Der zweite Teil des Gebetes zitiert in den Anrufungen drei große johanneische Bilder, die an das Motiv der Speisung anknüpfen und die enge Verbindung zwischen Christus und den zum Tisch des Herrn Geladenen deutlich machen: panis (Joh 6,35), unda (Joh 4,13f), uitis (Joh 15,1-5). 37 Die beiden Bitten „tu nos pasce“ und „tu nos munda“ scheinen im Spiegel zweier großer Psalmen formuliert (Ps 22[23] und Ps 50[51]) 38 , die erste verbleibt in dem am Ende der Sequenz akzentuierten Motivfeld Speisung, während die zweite speziell auf deren Anfang zurückverweist (v 1,1: „zima uetus expurgetur“), aber auch an die in den Exempla (hyrcus, passer) deutlich werdende reinigende, sündentilgende Kraft des Kreuzestodes Christi erinnert. Die ersehnte Wirkung der Bitten ist die eschatologische Errettung vor dem „zweiten Tod“ 39 durch die Gnade. Mit den Stichworten mors und gratia sind die beiden Hauptkoordinaten genannt, zwischen denen der ganze Text der Sequenz ausgespannt ist. 3 Die Wolke von Zeugen. Die Strophen 4-11 Strophe 4a: Die leuchtenden Schatten Mit Strophe 4 beginnt der Mittelteil der Sequenz. Das in v 1,6 angekündigte testimonium legis soll im Folgenden in seinem ganzen Reichtum entfaltet werden. Zuvor steht die hermeneutische Vergewisserung, dass der lex - verstanden als pars pro toto für alle alttestamentlichen Schriften - dieser Zeugnischarakter auch zukommt: „Das Gesetz ist ein Schatten des Künftigen, Christus das Ziel des Verheißenen, er, der alles erfüllt“ (v 4,1-3). Die konkrete Wortwahl zitiert eine Fülle neutestamentlicher Bezugsstellen: Von dem Gesetz als umbra futurorum sprechen Hebr 10,1 („Denn das Gesetz enthält nur den Schatten der künftigen Güter, nicht die Gestalt der Dinge selbst“) und Kol 2,17 („Das alles ist nur ein Schatten von dem, was kommen wird, die Wirklichkeit aber ist Christus“); Paulus bezeichnet Christus als finis (Ende, Ziel) legis in Röm 10,4, 40 während consummare der klassische Terminus der Schrifterfüllung im Munde Jesu ist: 36 Die Bitte, zum Paschamahl hinzutreten zu dürfen cum fiducia, ist (samt dem Reimwort gratia in v 13,10) ein Echo aus Hebr 4,6: „adeamus ergo cum fiducia ad thronum gratiae ut misericordiam consequamur et gratiam inveniamus in auxilio opportuno“. 37 Durch die Alliteration der beigeordneten Adjektive vivus, vivax, verus entsteht ein Rückbezug zu den Nomen der ersten Anrufung victor, vita, via (v 13,1-2). 38 Vgl. Ps 22(23),1f: „Dominus reget me et nihil mihi deerit / in loco pascuae ibi me conlocavit super aquam refectionis educavit me“; Ps 50(51),4: „amplius lava me ab iniquitate mea et a peccato meo munda me“. 39 Vgl. Offb 2,11; 20,14. 40 „Finis enim legis Christus ad iustitiam omni credenti“; zu Christus als dem Ziel der Verheißungen vgl. auch 2 Kor 1,20; Apg 13,32. <?page no="305"?> „… unter ihrem Anhauch sind liturgische Gesänge geschaffen worden …“ 291 „Als Jesus wusste, dass nun alles vollbracht (consummata) war, sagte er, damit sich die Schrift erfülle (consummaretur): Mich dürstet. […] Als Jesus von dem Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht (consummatum est).“ (Joh 19,28.30 EÜ) 41 Der etwas abwertende Tonfall gegenüber dem „Gesetz“, den man aus den neutestamentlichen Briefen heraushören mag, ist in der Sequenz an dieser Stelle nicht zu vernehmen - sie wird ja in den folgenden Strophen die „Schatten“ mit großer Entdeckerlust, Sammelleidenschaft und Liebe zum Detail zu einem vielfarbigen (und gar nicht schattenhaft grau in grau gehaltenen) Mosaik zusammenfügen, das im Licht Christi auf wunderbare Weise erglänzt. Strophe 4b: Das blutstumpfe Schwert Der parallele zweite Teil der Strophe verdichtet das letzte Wort Jesu consummatum est zu einem Bild, das die Wirkkraft seines Todes in seiner Universalität fassen will: die Flammenschwerter der nach Gen 3,24 den Zugang zum Baum des Lebens bewachenden Cherubim werden durch das am Kreuz vergossene Blut ‚stumpf‘, unbrauchbar und damit ungefährlich gemacht. 42 Strophe 5a: Der lachende Isaak Die lange Reihe der Exempla wird eröffnet mit der Bindung Isaaks (Gen 22), die sicherlich eines der ältesten und verbreitetsten christlichen „Gleichnisse“ (Hebr 11,17f) für Tod und Auferstehung Christi ist. 43 Dabei hat der anstelle des Knaben geopferte Widder eine besondere Bedeutung, wie Caesarius von Arles († 542) erklärt: 44 41 Vgl. auch Lk 18,31: „Adsumpsit autem Iesus duodecim et ait illis: ecce ascendimus Hierosolyma et consummabuntur omnia quae scripta sunt per prophetas de Filio hominis“. 42 Ein analoger Gedanke findet sich bei Hieronymus († 420), Epistula 60,3 (CSEL 54,552 H ILBERG ): „Flammea illa rumphea, custos paradisi, et praesidentia foribus Cherubin Christi restincta et reserata sunt sanguine“; in der Sequenz ist das Sprachbild durch das Verb hebetare (stumpf machen) konziser als bei Hieronymus. Vgl. auch die Ostersequenz Adams Mundi renovatio 4,1-7 (G ROSFILLIER , Séquences [wie Anm. 9], 318f; Analecta Hymnica 54,224), wo das Bild der Cherubimschwerter ebenfalls verarbeitet wird: „Vita mortem superat, / Homo iam recuperat, / Quod prius amiserat, / Paradisi gaudium, / Viam praebet facilem / Cherubin, versatilem / Amovendo gladium“. 43 Vgl. z.B. Dorothea F ORSTNER , Die Welt der christlichen Symbole, Innsbruck - Wien - München 4 1982, 301f. 44 Caesarius von Arles, Sermo 84,5 (Corpus Christianorum. Series Latina [im Folgenden: CChr.SL] 103,347 M ORIN ): „Quod autem aries occisus est, et Isaac non est occisus, ideo factum est, quia Isaac figura et non veritas erat: in ipso enim designatum est, quod postea in Christo completum est. Videte deum magna cum hominibus pietate certantem: Abraham mortalem filium non moriturum obtulit deo, et deus inmortalem filium pro hominibus tradidit morti. Potest tamen de beato Isaac et de illo ariete etiam sic intellegi, ut in beato Isaac significata sit divinitas, in ariete Christi humanitas; et quia in passione non divinitas sed humanitas crucifixa creditur, ideo non Isaac sed aries inmolatur: dei enim unigenitus offertur, et virginis primogenitus inmolatur“. <?page no="306"?> Ansgar Franz 292 „Dass aber der Widder getötet wurde, und Isaak nicht getötet wurde, ist deshalb geschehen, weil Isaak die figura und nicht die veritas war: In ihm war nämlich bezeichnet, was später in Christus erfüllt ist. Seht, wie Gott durch große Liebe mit dem Menschen wetteifert: Abraham hat seinen sterblichen Sohn Gott dargeboten, obwohl er nicht sterben sollte, und Gott hat seinen unsterblichen Sohn für die Menschen in den Tod gegeben. Man kann jedoch den seligen Isaak und jenen Widder auch so verstehen, dass in dem seligen Isaak die Gottheit, in dem Widder die Menschheit Christi bezeichnet ist; und da wir glauben, dass in der Passion nicht die Gottheit, sondern die Menschheit gekreuzigt wurde, deshalb wird nicht Isaak, sondern der Widder geopfert: Der Eingeborene Gottes wird dargeboten, der Erstgeborene der Jungfrau wird geopfert.“ Die Sequenz braucht gar nicht den Namen „Isaak“ zu nennen, sondern kann ihn mit der biblischen (risus) 45 und patristischen Etymologie (risus vel gaudium) 46 umschreiben, denn durch die pointierte Charakterisierung des Knaben als „nostri forma risus“ und „gaudium uite“ wird unmissverständlich auf Christus verwiesen; so heißt es etwa in einem Apokalypsekommentar des 8. Jahrhunderts ausdrücklich: „Isaak bedeutet Christus, der uns die himmlische Freude verschafft hat.“ 47 Strophe 5b: Der befreite Josef Das zweite Exemplum ist Josef, der Christus bezeichnen kann, „weil ihn der Vater mehr als alles andere liebte und liebt“ 48 (vgl. Gen 37,3). Wie sein gewaltsames Herabstürzen in die Zisterne den Abstieg Christi in die Unterwelt bedeutet, so bezeichnet sein Herausgezogenwerden die Rückkehr Christi aus der Hölle; 49 in diesem Sinne deutet die Sequenz den Aufstieg Josefs aus der Zisterne als Erhöhung Christi, als reditus ad superna. 50 45 Gen 21,6: „Dixitque Sarra: risum fecit mihi Deus quicumque audierit conridebit mihi“; vgl. Gen 18,12.15. 46 Vgl. etwa Hieronymus, Liber interpretationis hebraicorum nominum (CChr.SL 72,7 L AGARDE ): „Isaac risus vel gaudium“. 47 Beatus von Liébana († nach 798), Commentarius in Apocalypsin 2, prologus 2, hg. von Henry A. S ANDERS (Papers and Monographs of the American Academy in Rome 7), Rom 1930, 109: „Isaac Christus significavit, qui nobis gaudium caeleste fecit“. 48 Richard von St. Viktor († 1173), Allegoriae in Vetus Testamentum (Patrologia Latina [im Folgenden: PL] 175,651): „Joseph designat Christum, quem Pater prae omnibus dilexit et diligit“. 49 Vgl. Caesarius von Arles, Sermo 89,2 (CChr.SL 103,366 M ORIN ): „Ioseph exutus tunica mittitur in cisternam, id est, in lacum; et Christus expoliatus carne humana descendit in infernum. Ioseph posteaquam de cisterna levatur, Ismahelitis, id est gentibus, venditur; et Christus postea quam de inferno regreditur, ab omnibus gentibus fidei commercio conparatur“. 50 Zu superna vgl. Joh 8,23: „(Iesus) dicebat eis: Vos de deorsum estis, ego de supernis sum“. <?page no="307"?> „… unter ihrem Anhauch sind liturgische Gesänge geschaffen worden …“ 293 Strophe 6: Die Schlange und die Schlangen Mit den Begriffen dracho, serpens, anguis und regulus werden verschiedene biblische Fäden miteinander verknüpft und kunstvoll zu einer Bilderfolge verwoben, die noch die ganze nächste Strophe bestimmt. Der erste Strang ist aus dem 7. Kapitel des Buches Exodus herausgelöst, das die Verhandlungen von Mose und Aaron mit dem Pharao erzählt. Als Zeichen ihres göttlichen Auftrags wirft Aaron seinen Stab zu Boden, und der Stab verwandelt sich in eine Schlange. Doch die vom Pharao herbeigerufenen Wahrsager und Zauberer tun ein Gleiches, auch ihre Stäbe verwandeln sich in Schlangen („dracones“). „Doch Aarons Stab verschlang die Stäbe der Wahrsager“ (Ex 7,12). Nach Isidor von Sevilla († 636) bedeutet dieses Verschlingen, dass Christus mit seinem eigenen Tod am Kreuz den Stachel des Todes vernichtet habe: 51 „Der Stab des Mose, in eine Schlange verwandelt, verschlang die Stäbe der Zauberer; Christus, nachdem er die Würde seiner Herrlichkeit abgelegt hatte, wurde gehorsam bis zum Tod (vgl. Phil 2,8), und durch diesen leiblichen Tod verzehrte er den Stachel des Todes, wie der Prophet bezeugt: ‚Ich werde dein Tod sein, o Tod, ich werde dein Biss sein, o Totenreich‘.“ (Hos 13,14) Der Sequenz scheint der draco als Exemplum für Christus im Hinblick auf Off 12,9 52 wohl etwas kühn, weshalb sie ihn ausdrücklich als „dracho […] a drachonis immunis malitia“ (v 6,2-3) charakterisiert. Der zweite biblische Strang verknüpft die Schlange des Aaron mit der Schlange des Mose und die Schlangen der ägyptischen Zauberer mit den Giftschlangen, die während der Wüstenwanderung in das Lager der Israeliten einfallen. Auf Geheiß Gottes fertigt Mose eine eherne Schlange und richtet sie zum Zeichen auf. „Wenn die, die gebissen wurden, sie anblickten, wurden sie geheilt“ (Num 21,9) 53 . Die christologische Deutung dieser Szene gibt schon Jesus selbst: „Und wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muß der Menschensohn erhöht werden, damit jeder, der (an ihn) glaubt, in ihm das ewige Leben hat“ (Joh 3,13f). Augustinus bezeichnet es in seinem Psalmenkommentar als ein „magnum sacramentum“, dass die von den Schlangen Gebissenen wiederum durch einen Blick auf eine Schlange gerettet werden. Denn dieser Blick meine nichts anderes als den Glauben daran, dass der Tod 51 Isidor von Sevilla, Mysticorum expositiones sacramentorum seu Quaestiones in vetus testamentum, In exodum 11,4 (PL 83,291): „Virga enim Moysi, in draconem conversa, magorum absorbuit virgas; et Christus post gloriae suae dignitatem factus est obediens usque ad mortem, et per ipsam mortem carnis consumpsit aculeum mortis, attestante propheta: Ero mors tua, o mors, ero morsus tuus, inferne“. 52 „Et proiectus est draco ille magnus serpens antiquus qui vocatur Diabolus et Satanas qui seducit universum orbem proiectus est in terram et angeli eius cum illo missi sunt“ (Off 12,9). 53 „Fecit ergo Moses serpentem aeneum et posuit pro signo quem cum percussi aspicerent sanabantur.“ <?page no="308"?> Ansgar Franz 294 Christi vom Tode retten könne. 54 Caesarius von Arles spannt einen weiten Bogen von der ehernen Schlange in der Wüste bis zurück zur teuflischen Schlange im Paradies: „Da der Tod (mors) vom Biss (a morsu) seinen Namen hat und er das Menschengeschlecht durch den Biss der alten Schlange befallen hat, und weil der Tod nicht anders als durch den Tod besiegt werden konnte, deshalb hat Christus den Tod auf sich genommen, damit der zu Unrecht erlittene Tod den zu Recht erlittenen Tod besiegen könne und die zurecht Schuldigen befreite, während er selbst ungerechterweise für sie getötet würde. […] Die ans Holz gehängte eherne Schlange besiegte die Gifte der lebenden Schlangen: Christus wurde am Kreuz aufgehängt, und im Tod machte er die alten Gifte des Teufels unschädlich und befreite alle, die von ihm durchbohrt waren.“ 55 Strophe 7: Der verborgene Angelhaken und das kaum entwöhnte Kind Die Drohung Gottes an seine Widersacher, sie dadurch zu bändigen, dass er ihnen einen Ring durch die Nase ziehen oder einen Haken durch die Kinnbacken schlagen werde, ist ein mehrfach gebrauchtes Bild in den alttestamentlichen Schriften. 56 Die konkrete Begrifflichkeit der Verse unserer Sequenz und damit der dritte Strang der Schlangen-Exempla nimmt speziell die in der Rezeptionsgeschichte berühmt gewordene Frage Gottes an Hiob auf: „Kannst du den Leviathan mit dem Angelhaken (hamus) herausziehen und mit dem Strick seine Zunge binden? Kannst du einen Reif durch seine Nase ziehen oder mit einem Ring (armilla) seinen Kiefer (maxilla) durchbohren? “ (Ijob 40,20). Ausgehend von der Überzeugung des Paulus, dass das Kreuz Christi über die Unheilsmächte dieser Welt triumphiert habe, wurden die Hiob-Verse in der Alten Kirche zu einer dramatischen Szene entwickelt. Die göttliche Natur Christi wurde als Angelhaken gedeutet, der unter dem ‚Köder‘ des Menschenleibes Christi für den Tod (Leviathan) verborgen war. Der Tod verschlingt nun auf einem seiner täglichen Raubzüge auch den scheinbar wehr- 54 Augustinus, Enarrationes in psalmos 73,5 (CChr.SL 39,1008 D EKKERS - F RAIPONT ): „Ideo etiam cum a serpentibus in deserto morderentur et necarentur, praecepit Dominus Moysi, ut serpentem aeneum exaltaret in eremo, et admoneret populum, ut quisquis a serpente morsus esset, illum intueretur, et sanaretur. Sic et fiebat; sic et homines a uenenis, morsi a serpentibus, sanabantur intuendo serpentem. Sanari a serpente, magnum sacramentum! quid est, intuendo serpentem sanari a serpente? Credendo in mortuum saluari a morte“. 55 Caesarius, Sermo 112,1 (CChr.SL 103,462 M ORIN ): „Et quia mors a morsu nomen accepit, et generi humano morsu antiqui serpentis acciderat, et mors nisi a morte superari non poterat, ideo mortem christus sustinuit, ut iniusta mors iustam vinceret mortem, et liberaret reos iuste, dum pro eis occidebatur iniuste. […] Serpens aeneus in ligno positus venena vivorum serpentium superavit: et christus in cruce suspensus et mortuus antiqua diaboli venena restrinxit, et omnes qui ab eo percussi fuerant liberavit“. 56 Vgl. 2 Kön 19,28 (gegen Hiskia); Ez 29,3-4 (gegen den Pharao); 38,4 (gegen Gog); Jes 37,29 (gegen Hiskia). <?page no="309"?> „… unter ihrem Anhauch sind liturgische Gesänge geschaffen worden …“ 295 losen, am Kreuz hängenden Menschenleib Christi, bleibt aber an dem unwissentlich mitverschlungenen Angelhaken, der göttlichen Natur, hängen und geht elend zugrunde. In den Moralia Gregors des Großen († 604) liest sich das so: „Der Leviathan wurde mit der Angel gefangen, weil er […] nach dem Köder des Fleisches unseres Erlösers schnappte, wobei ihn der Stachel der Gottheit durchbohrte. Gleich einem Angelhaken hielt dieser nämlich den Rachen des Verschlingenden fest, da die Lockspeise des Fleisches, die der Verschlinger begehren sollte, sich daran offen darbot, während die Gottheit, die den Feind töten sollte, zur Zeit der Passion verborgen war.“ 57 In der hymnologischen Tradition wird das Motiv zum ersten Mal von Ambrosius von Mailand in seinem Pascha-Hymnus Hic est dies verus dei verwendet (v 7,1): „Hamum sibi mors devoret“. 58 Als vierter Strang wird in die Schlangen-Passage das Bild hineingewoben, das bei der Ankündigung des messianischen Reiches in den Schriften des Jesaja zu finden ist: „Der Säugling spielt vor dem Schlupfloch der Natter, das Kind streckt seine Hand in die Höhle der Schlange (et in cauerna reguli qui ablactatus fuerit manum suam mittet)“ (Jes 11,8). „Wer ist denn dieser kaum Entwöhnte (ablactatus), wenn nicht der Herr selbst? “, fragt Gregor der Große in seinen Moralia. Denn ausgehend von der Bildrede Jesu über die Rückkehr der unreinen Geister in Mt 12,43-45 59 ist die „Höhle der Schlange“ ja nichts anderes als die Herzen der Sünder, in denen sich der Teufel häuslich eingerichtet hat, weshalb ihn die Sequenz für heutige Hörer etwas überraschend als „uetus hospes seculi“ 60 bezeichnet. Darum kann Gregor fortfahren: 57 Gregor der Große, Moralia 33,9,17 (CChr.SL 143B,1687 A DRIAEN ): „Sed leuiathan iste hamo captus est, quia in redemptore nostro dum […] suos escam corporis momordit, diuinitatis illum aculeus perforauit. Quasi hamus quippe fauces glutientis tenuit, dum in illo et esca carnis patuit, quam deuorator appeteret, et diuinitas passionis tempore latuit, quae necaret“. 58 Vgl. dazu Z ERFASS , Mysterium mirabile (wie Anm. 24), 287-291. 59 „Cum autem inmundus spiritus exierit ab homine ambulat per loca arida quaerens requiem et non invenit, tunc dicit revertar in domum meam unde exivi et veniens invenit vacantem scopis mundatam et ornatam. tunc vadit et adsumit septem alios spiritus secum nequiores se et intrantes habitant ibi et fiunt novissima hominis illius peiora prioribus.“ 60 Die Lesart „hospes“ ist gegenüber „hostis“ die ursprünglichere, vgl. G ROSFILLIER , Séquences (wie Anm. 9), 323; zum Zeugnis der Handschriften vgl. Analecta Hymnica 54,299. Dass die Sünde oder ein unreiner Geist in einem Menschen zu Gast (hospes) sein kann oder Herberge (hospitium) genommen hat, ist eine geläufige, eben auf Mt 12,43-45 zurückgehende Ausdrucksweise, vgl. etwa Ambrosius, Apologia David altera 11,58 (CSEL 32/ 2,399 S CHENKL ): „Quis est iste hospes nisi miserabile peccatum? etenim culpa in hunc mundum tamquam hospes intrauit, aliena nostrae et peregrina naturae“; Hieronymus, Commentarii in prophetas minores. In Abacuc 2,3,10-13 (CChr.SL 76A,641f A D- RIAEN ): „Caput, ut dixi, principem huius mundi accipiamus et domum ipsius, mundum, omnemque animam peccatoris, in qua diabolus habebat hospitium“. <?page no="310"?> Ansgar Franz 296 „Seine Hand also streckte der Herr in das Schlupfloch der Natter und der Schlange, als er die Herzen der Sünder mit göttlicher Macht festhielt; und so ergriff er die Schlange oder Natter, das bedeutet, er nahm den Teufel gefangen, damit dieser auf seinem heiligen Berg, der die Kirche ist, die auserwählten Gläubigen nicht mehr schädigen könne.“ 61 Strophe 8a: Der glatzköpfige Elischa Im Zweiten Buch der Könige (2 Kön 2,23f) wird vom Propheten Elischa folgende etwas skurrile Begebenheit erzählt: „Während er [Elischa] den Weg [nach Bet-El] hinaufstieg, kamen junge Burschen aus der Stadt und verspotteten ihn: Sie riefen ihm zu: Kahlkopf, komm herauf! Kahlkopf, komm herauf! Er wandte sich um, sah sie an und verfluchte sie im Namen des Herrn. Da kamen zwei Bären aus dem Wald und zerrissen zweiundvierzig junge Leute.“ Die Qualität des Elischa als Exemplum für den leidenden Christus liegt in der Verspottung (illudere) 62 sowie in der etymologischen Verwandtschaft zwischen der Kahlköpfigkeit des Propheten (calvus) und dem Ort der Kreuzigung (Calvaria). 63 Augustinus erklärt darum in seinem Psalmenkommentar, dass die Bären die Knaben auf Geheiß des Propheten „non tam crudeliter quam mystice“ verschlungen hätten, 64 denn das Ereignis sei eine Prophetie auf den Herrn Jesus Christus: „Jener ist nämlich von den spottenden Juden wie ein Kahlkopf (calvus) verspottet worden, da er an dem Ort Calvaria gekreuzigt wurde.“ 65 61 Gregor der Große, Moralia in Iob 17,32, 51 (CChr.SL 143A,882 A DRIAEN ): „Manum ergo suam dominus in foramine reguli atque aspidis misit, quando iniquorum corda diuina potestate tenuit; et comprehensum exinde aspidem uel regulum, id est captiuum diabolum traxit, ut in monte sancto eius quod est ecclesia, electis fidelibus non noceret“. 62 Vgl. 2 Kön 2,23: „ascendit autem inde Bethel cumque ascenderet per viam pueri parvi egressi sunt de civitate et inludebant ei dicentes ascende calve ascende calve“ und die Verspottung Christi durch die Soldaten in Mt 27,30f: „et expuentes in eum acceperunt harundinem et percutiebant caput eius et postquam inluserunt ei exuerunt eum clamydem et induerunt eum vestimentis eius et duxerunt eum ut crucifigerent“ sowie durch die Hohenpriester und Schriftgelehrten in Mt 27,41: „similiter et principes sacerdotum inludentes cum scribis et senioribus dicentes alios salvos fecit se ipsum non potest salvum facere si rex Israhel est descendat nunc de cruce et credemus ei“. 63 Mt 27,33: „Ut venerunt in locum qui dicitur Golgotha quod est Calvariae locus“. 64 Vgl. Augustinus, Enarrationes in psalmos 46,2 (CChr.SL 38,530 D EKKERS - F RAIPONT ). 65 Vgl. Augustinus, Enarrationes in psalmos 84,2 (CChr.SL 39,1162 D EKKERS - F RAIPONT ): „Quomodo in Regnorum libro caluum Elisaeum irriserunt pueri, dicebantque post illum: Calue, calue, processerunt ursi de silua, et comederunt pueros male ridentes, et plangendos a parentibus suis. Significauit hoc factum prophetia quadam, futurum Dominum nostrum Iesum Christum. Ille enim a Iudaeis irridentibus uelut caluus irrisus est, quia in Caluariae loco crucifixus est“. Bei Isidor von Sevilla bekommt die Allegorie einen noch deutlicheren antijüdischen Akzent, insofern aus den Bären zwei römische Kaiser geworden sind, vgl. Allegoriae quaedam sanctae Scripturae: Ex Veteri Testamento 98 (PL 83,113): „Pueri qui, insultantes Elisaeo, clamabant: Ascende, calve, ascende, calve, et <?page no="311"?> „… unter ihrem Anhauch sind liturgische Gesänge geschaffen worden …“ 297 Strophe 8b: Der verrückte David, der „Bock der Verstoßung“ und der Sperling Der zweite Teil der Strophe vereint drei weitere Exempla, die sich heutigen Hörern nicht unmittelbar erschließen dürften. Alle drei werden gemeinsam unter das Verb effugere gefasst; es geht also bei allen dreien um ein Entkommen, eine Befreiung. Der „verrückte David“ (David arepticius) spielt auf den Titulus von Ps 33(34) an, 66 der sich wiederum auf eine Erzählung aus 1 Sam 21 bezieht. Auf seiner Flucht vor Saul kommt David zu Achisch, dem König von Gat. Doch die Diener des Königs erkennen David, so dass dieser um sein Leben fürchten muss. „Darum verstellte er sich vor ihnen und tat in ihrer Gegenwart so, als sei er wahnsinnig; er kritzelte auf die Flügel des Tores und ließ sich den Speichel in den Bart laufen. Achisch sagte zu seinen Dienern: Seht ihr nicht, dass der Mann verrückt ist? Warum bringt ihr ihn zu mir? Gibt es bei mir nicht schon genug Verrückte, so dass ihr auch noch diesen Mann zu mir herbringt, damit er bei mir verrückt spielt? Soll der etwa auch noch in mein Haus kommen? Darum ging David von dort weg und brachte sich in der Höhle von Adullam in Sicherheit.“ (1 Sam 21,14-22,1 EÜ) Die patristische und mittelalterliche Allegorese kennt hier verschiedene Wege der Deutung. Eine Möglichkeit ist, die Erzählung als einen „typus dominicae passionis“ 67 zu verstehen; dabei spielt die Namensänderung von „König Achisch“ (1 Sam 21) zu „Abimelech“ (Ps 33) eine besondere Rolle, denn „Abimelech“ bedeute „patris mei regnum“. Christus habe sich vor dem Königreich seines Vaters, d.h. dem jüdischen Volk, wahnsinnig gestellt, indem er Knechtsgestalt annahm und gehorsam war bis zum Tod am Kreuz. Und so wie Abimelech den David ziehen ließ, habe sich auch das jüdische Volk Christus nicht zugewandt, worauf dieser durch die Apostel auf die Heiden zugegangen sei. 68 invasi ab urso perierunt, indicant populum Judaeorum, qui puerili stultitia deriserunt Christum in loco Calvariae crucifixum, et capti a duobus ursis, id est, Tito et Vespasiano, interierunt“. 66 Ps 33(34),1: „David cum inmutavit vultum suum coram Abimelech et dimisit eum et abiit“. Das in der patristischen Literatur und in der Sequenz verwendete Adjektiv „arrepticius“ lässt sich in der Vulgata nicht nachweisen. 67 Vgl. etwa Ambrosius Autpertus († 784), Expositio in Apocalypsin 3,5 (CChr.CM 27,243 W EBER ): „David, quando commutauit uultum suum coram Abimelech […] uel cetera tamquam more insanientis exercens, typum dominicae passionis expressit“. 68 Vgl. ebd.: „Cum ergo mutato nomine, pro Achis Abimelech posuit, legentem utique admonuit, ex ipsius interpretatione nominis, latens altius penetrare mysterium. Abimelech enim interpretatum dicitur patris mei regnum. Tunc itaque Dei Filius, Deus ac Dominus Iesus Christus, coram regno Patris sui, id est, Iudaeis uultum suum commutauit, quando in forma serui humilis apparens factusque oboediens usque ad mortem, mortem autem crucis, quod proprie tympano figuratur, diuinitatis suae claritatem illis abscondit, carnemque crucifigendam praebuit. Unde et per Esaiam dicitur: Uidimus <?page no="312"?> Ansgar Franz 298 Eine andere Deutung der Erzählung schlägt Isidor von Sevilla vor: Er stellt den „wahnsinnigen David“ in eine Linie mit 1 Kor 1,22ff: „Denn die Juden fordern Zeichen, die Griechen suchen Weisheit: Wir aber verkünden Christus, den Gekreuzigten, den Juden ein Ärgernis, den Heiden aber eine Torheit, den Berufenen dagegen, Juden wie auch Griechen, Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit, weil das Törichte, das von Gott kommt, die Weisheit der Menschen übertrifft, und das Schwache, das von Gott kommt, stärker ist als die Menschen. - Man soll [bei David] also nicht so sehr auf den Speichel achten, sondern achte darauf, warum er über den Bart läuft. Wie nämlich der Speichel die Schwachheit bezeichnet, so zeigt sich im Bart die Kraft. Also verbarg er [Christus] seine Kraft durch seinen schwachen Leib, und was äußerlich schwach war, das wurde im Speichel dargestellt; innen aber wurde die göttliche Kraft wie durch einen Bart bedeckt.“ 69 Der verrückt erscheinende, in Wirklichkeit aber kluge David ist ein Exempel für den äußerlich schwach erscheinenden, in Wahrheit aber in der Kraft Gottes starken Gekreuzigten. Wieder eine andere Deutung findet sich bei Augustinus; er akzentuiert in der David-Erzählung vor allem das Entkommen aus der Todesgefahr und dürfte daher am meisten zum Verständnis der Sequenz beitragen (v 8,6: „effugiunt“). „Saul“, so erklärt er in seinem Kommentar zu Ps 51, bedeute die Preisgabe an den Tod. „Aber (David) wurde nicht getötet, ebenso wenig wie Isaak, obwohl auch er die Passion des Herrn vorbildete; und dennoch wurde das Vorbild nicht ohne Blut ausgeführt, dort (durch das Blut) jenes Widders, hier (durch das Blut) des Opferpriesters Achimelech. Denn es war nicht nötig, dass sie getötet würden, da sie ja damals auch nicht auferstehen sollten; aber indem er deren Leben aus Todesgefahr befreite, wahrlich durch das vergossene Blut, dadurch bezeichnete Jesus besser die Auferstehung, die solcherart in jenen vorgebildet wurde, da sie dem wahren Herrn vorbehalten war.“ 70 eum, et non erat ei aspectus, despectum et nouissimum uirorum, uirum dolorum, et scientem ferre infirmitatem, et quasi absconditus uultus eius et despectus, unde nec reputauimus eum. Dimisit autem Abimelech Dauid, et abiit, quia uidelicet Christus a Iudaeis minime receptus, ad gentes cum Apostolis transiuit“. 69 Vgl. Isidor, Mysticorum expositiones sacramentorum seu Quaestiones in Vetus Testamentum, In Regum I, 16 (PL 83,403): „Judaei signa petunt, et Graeci sapientiam quaerunt; nos autem praedicamus Christum crucifixum, Judaeis quidem scandalum, gentibus autem stultitiam; ipsis vero vocatis Judaeis, et Graecis, Christum Dei virtutem, et Dei sapientiam, quia quod stultum est Dei sapientius est hominibus, et quod infirmum est Dei fortius est hominibus (1 Kor 1,22-25). - Non tantum salivae attendantur, sed attende quia super barbam decurrunt. Quomodo enim in salivis infirmitas, sic in barba virtus ostenditur. Texit ergo virtutem suam corpore infirmitatis suae, et quod forinsecus infirmabatur tanquam in saliva apparebat; intus autem divina virtus tanquam barba tegebatur“. 70 Augustinus, Enarrationes in psalmos 51,5 (CChr.SL 39,626 D EKKERS - F RAIPONT ): „non est autem occisus, sicut nec isaac, cum et ipse passionem domini figuraret; nec tamen sine sanguine figura transacta est, uel ibi illius arietis, uel hic achimelech sacerdotis. <?page no="313"?> „… unter ihrem Anhauch sind liturgische Gesänge geschaffen worden …“ 299 Die beiden folgenden Exempla, der hyrcus emissarius und der passer, gehen auf zwei im Buch Leviticus geschilderte Eliminationsrituale zurück: Das Ritual für den Versöhnungstag (Lev 16,1-34) und die Reinigungsriten für die vom Aussatz Geheilten (Lev 14,1-32). 71 Beim großen Versöhnungsritual am Jom Kippur werden nach dem Brandopfer zwei Ziegenböcke („hircos“) vor den Eingang des Offenbarungszeltes gestellt. Durch Los wird entschieden, welcher der beiden „für den Herrn“ und welcher „für Asasel“ bestimmt ist. Der Bock für den Herrn wird von Aaron als Sündopfer geschlachtet, der für Asasel „soll lebend vor den Herrn gestellt werden, um für die Sühne zu dienen und zu Asasel in die Wüste geschickt zu werden“ (Lev 16,10). Die Vulgata bezeichnet den letztgenannten als hyrcus/ caper emissarius. 72 Eine ähnliche Doppelung der Opfertiere sieht das Reinigunsritual für vom Aussatz Geheilte vor: „Und der Herr redete zu Mose und sprach: Das ist die zu beobachtende Weise, wenn ein Aussätziger gereinigt werden soll: Man soll ihn zum Priester führen, dieser soll aus dem Lager hinausgehen; und wenn er findet, dass der Aussatz geheilt ist, soll er dem, der gereinigt wird, befehlen, zwei lebende Sperlinge (duos passeres), die man essen darf, und Zedernholz, Karmosinwolle und Ysop für sich darzubringen. Sodann soll er ihn einen von den Sperlingen in ein irdenes Gefäß über fließendem Wasser schlachten lassen; den anderen aber, den lebenden, soll er samt dem Zedernholz und dem Karmosin und Ysop in das Blut des geschlachteten Sperlings tauchen, und alsdann den zu Reinigenden damit sieben Mal besprengen, damit er gesetzlich rein werde. Den lebenden Sperling aber soll er freilassen, damit er ins Weite fliege.“ (Lev 14,1-7) Beide Rituale sind in der patristischen und mittelalterlichen Literatur auf unterschiedliche Weise allegorisch gedeutet worden. 73 Den Sinn der Exempel im Kontext der Sequenz erschließt der flämische Zisterzienser Alanus ab Insuneque enim occidi oportuit eos, quos tunc resurgere non oportebat; sed eorum uitam a mortis periculo, uerumtamen effuso sanguine, liberans iesus resurrectionem potius significabat, quae hoc modo in illis figurabatur, quia uero domino seruabatur“. 71 Ein analoges Reinigungsritual wird im nachfolgenden Abschnitt Lev 14,33-57 für den Aussatz an Häusern vorgeschrieben. 72 „[Aaron] duos hircos stare faciet coram Domino in ostio tabernaculi testimonii mittens super utrumque sortem unam Domino et alteram capro emissario. Cuius sors exierit Domino offeret illum pro peccato, cuius autem in caprum emissarium statuet eum vivum coram Domino ut fundat preces super eo et emittat illum in solitudinem“ (Lev 16,7-10). 73 Tertullian, Adversus Marcionem 3,7,7 (CChr.SL 1,517 K ROYMANN ) sieht in dem verfluchten, bespuckten, gedemütigten und mit Sünden beladenen hircus emissarius ein „insigne dominicae passionis, alter uero pro delictis oblatus et sacerdotibus templi in pabulum datus secundae repraesentationis argumenta signabat, qua delictis omnibus expiatis sacerdotes templi spiritalis, id est ecclesiae, dominicae gratiae quasi uisceratione quadam fruerentur, ieiunantibus ceteris a salute“. - Rupert von Deutz hingegen bezieht in seiner Schrift De gloria et honore filii hominis super Mattheum 11 (CChr.CM 29,356f H AACKE ) ausgehend von den Passionsberichten den geopferten Bock auf Christus, den freigelassenen auf Barrabas. <?page no="314"?> Ansgar Franz 300 lis, der sich in seinen Distinctiones dictionum theologicalium ausdrücklich auf die 8. Strophe von Zima vetus expurgetur beruft: „Verstoßen wird der Bock genannt, weil im Alten Testament am 10. Tag des Monats September zwei Böcke vor den Priester geführt wurden; einer von ihnen wurde für die Sünden geopfert, an der Stirn des anderen aber wurde ein Schriftstück angebracht, das die Sünden des Volkes enthielt, von denen das Volk glaubte, sie seien nachgelassen. Mit dem hyrcus emissarius wird die göttliche Natur Christi bezeichnet, die ganz unverletzt blieb; in jenem Bock, der geopfert wurde, wird die menschliche Natur erkannt, die gelitten hat. So heißt es in der Prosa des Meisters Johannes Adam: Zyma vetus expurgetur (…) Hircus emissarius et passer effugiunt. Unter dem Sperling, der frei gelassen wurde, ist die göttliche Natur Christi, unter dem, der geopfert wurde, die menschliche Natur zu verstehen.“ 74 Die Deutung der Tierpaare aus Lev 14 und 16 verläuft also in Analogie zu der Deutung Isaaks und des Widders in Gen 22. Strophe 9: Der starke Samson Die in den Kapiteln 13-16 des Richterbuchs erzählten Geschichten des Helden Samson bieten der allegorischen Exegese eine Fülle von Anknüpfungspunkten, in ihm eine figura „unseres Erlösers“ zu sehen: 75 Die wunderbar durch einen Engel angekündigte Geburt (Ri 13,1-3), sein Name, der „Sonne“ bedeutet und auf die wahre Sonne Jesus Christus hinweist, 76 die Homophonie zwischen dem „nazareus Dei“ Samson (Ri 13,5) und dem „Iesus Nazarenus“ (Joh 19,19), 77 sein siegreicher Kampf mit dem Löwen (Ri 14,5-9), der zum festen Repertoire der Biblia Pauperum gehört 78 und Christi Sieg über Teufel und Tod bezeichnet. Die Sequenz hebt drei weitere Taten hervor: Die Weigerung 74 Alanus ab Insulis, Distinctiones dictionum theologicalium (PL 210,779): „Emissarius dicitur hircus, unde in Veteri Testamento duo hirci decima die mensis Septembris adducebantur sacerdoti; quorum unus pro peccato offerebatur, fronti vero alterius apponebatur charta continens populi peccata quae populo credebantur esse dimissa. Per hircum emissarium divina Christi natura significatur, quae in nullo laesa fuit; per illum qui immolabatur, humanitas intelligitur quae passa fuit; unde in prosa magistri Joannis [Adami]: Zyma vetus expurgetur, (…) Hircus emissarius, Et passer effugiunt. Per passerem qui emittebatur divina Christi natura, per illum qui immolabatur natura humana intelligitur“. 75 Vgl. zum Folgenden Isidor v. Sevilla, Mysticorum expositiones sacramentorum seu Quaestiones in Vetus Testamentum. In librum Iudicum 8 (PL 83,389). 76 Vgl. auch die Ostersequenz Adams Ecce dies celebris 5,4-6: „Samson dictus sol eorum, / Christus lux est electorum, / quos illustrat gratia“ (G ROSFILLIER , Séquences [wie Anm. 9], 304; Analecta Hymnica 54,218). 77 Vgl. Mt 2,23: „Et veniens habitavit in civitate quae vocatur Nazareth ut adimpleretur quod dictum est per prophetas quoniam Nazareus vocabitur“. 78 Vgl. z.B. die Armenbibel des Serai (Rotulus Seragliensisi 52), hg. von Adolf D EISSMANN - Hans W EGENER , Berlin 1934, Tafel 26 (Christus in der Vorhölle); den Heilsspiegel (Speculum humanae salvationis), hg. von Horst A PPUHN (Die bibliophilen Taschenbücher 267), Dortmund 1981, Kapitel 27/ 29 (Christus überwindet den Tod), Tafel c. <?page no="315"?> „… unter ihrem Anhauch sind liturgische Gesänge geschaffen worden …“ 301 Samsons, eine Israelitin zu heiraten, um stattdessen um eine Philisterin zu werben (Ri 14,1-4), bereitet das Motiv ‚Kirche und Synagoge‘ in Strophe 11 vor, denn im allegorischen Verständnis meint die Wahl der heidnischen Philisterin die Berufung der Kirche „ex gentibus“. 79 In eine ähnliche Richtung geht die Deutung des Caesarius von Arles hinsichtlich der Kinnbacke des Esels, mit der Samson tausend Gegner niederstreckt (Ri 15,14-17): Im Zusammenhang mit der Absage an den Satan bei der Feier der Initiation identifiziert er den Esel mit den Heiden; 80 vor der Ankunft Christi seien diese vom Teufel zerfleischt worden und wie die trockenen Kinnbacken eines Esels gewesen. Durch die Hand Christi aber seien sie nun so erstarkt, dass sie die gegnerischen Mächte überwinden könnten: „Facti sumus arma iustitiae deo.“ 81 Die dritte Heldentat Samsons, sein kraftvoller Ausbruch aus dem tödlichen Gefängnis Gaza (Ri 16,1-3), gehört ebenfalls zum Standardrepertoire der mittelalterlichen Exempla. In einer Predigt über die Auferstehung Christi sagt Gregor der Große: „Das bezeichnen gut im Buch der Richter die Taten jenes Samson, dessen Kommen, als er in die Stadt der Philister Gaza ging, von den Philistern unverzüglich bemerkt wurde; sie umgaben die Stadt sofort mit Belagerungsringen, stellten Wächter auf und freuten sich, den so starken Samson schon gefangen zu haben. Doch wir wissen ja, was Samson tat. Um Mitternacht hob er die Tore der Stadt aus und stieg auf den Gipfel des Berges empor. Wen, meine geliebten Brüder, bezeichnet jener Samson durch diese Tat, wen, wenn nicht unseren Erlöser? Was meint denn Gaza anderes als die Hölle? Was wird denn mit den Philistern anderes bezeichnet als der Unglauben der Juden? Als sie den Herrn tot und seinen Leib schon in das Grab gelegt sahen, stellten sie sofort Wachen auf, und sie freuten sich, dass sie den, der als Urheber des Lebens gestrahlt hatte, in das Gefängnis der Unterwelt eingeschlossen gefangen hatten, wie Samson in Gaza. Um Mitternacht aber brach Samson nicht nur aus, sondern hob auch die Tore aus, wie auch unser 79 Vgl. etwa Isidor, Mysticorum expositiones sacramentorum seu quaestiones in vetus testamentum. In librum Iudicum 8,3 (PL 83,389): „Hic vere Nazaraeus, et sanctus Dei, in cuius similitudinem ille nazaraeus est nuncupatus. Iste ergo cum tenderet ad ministerium nuptiarum, leo rugiens occurrit ei. Sed quis primus erat in Samson obvium leonem necans, cum petendae uxoris causa ad alienigenas tenderet, nisi Christus, qui Ecclesiam vocaturus ex gentibus, vincens diabolum, dicit: Gaudete, quia ego vici mundum? “; vgl. auch Augustinus, Enarrationes in psalmos 80,11 (CChr.SL 39,1126 D EK- KERS - F RAIPONT ). 80 Ausgangspunkt ist hier Jes 1,3: „Cognovit bos possessorem suum et asinus praesepe domini sui“, wobei das Rind Israel und der Esel die Heiden bezeichnet. 81 Caesarius von Arles, Sermo 119,4 (CChr.SL 103,499 M ORIN ): „Quod vero de maxilla cadaveris asini mille viros prostravit, in asino populus gentium figuratus est; sic enim de Iudaeis et gentibus scriptura dicit: Cognovit bos possessorem suum, et asinus praesepe domini sui (Jes 1,3). Omnes enim gentes ante adventum Christi a diabolo laceratae quasi ossa arida cadaveris asini dispersa iacebant; sed ubi verus Samson Christus advenit, sanctis eas suis manibus adprehendit, et ad manus suae potentiae revocavit, et ex ipsis suos vel nostros adversarios superavit: et qui prius exhibebamus membra nostra diabolo, unde nos ipsos occideret, adprehensi a Christo, facti sumus arma iustitiae deo“. <?page no="316"?> Ansgar Franz 302 Erlöser, als er vor dem Morgenlicht auferstand, nicht nur frei aus der Hölle ausbrach, sondern auch das Gefängnis der Unterwelt zerstörte. Er hob die Tore aus und stieg den Gipfel des Berges empor, da er ja durch seine Auferstehung das Gefängnis der Unterwelt aufgehoben hat und durch seine Himmelfahrt in das Himmelreich eingegangen ist.“ 82 Strophe 10: Der auferweckte Löwe Das Motiv der zerbrochenen Tore wird in Strophe 10 aufgenommen („sic“) und weitergeführt im Bild des vom Schlafe auferweckten und seine Beute heimbringenden Löwen. Die Vulgata-Fassung des Jakobssegens über Juda in Gen 49,9: „Ein junger Löwe ist Juda. Zur Beute bist du heraufgestiegen, mein Sohn. Du ruhst gelagert wie ein Löwe und wie eine Löwin. Wer wird dich erwecken? “ 83 bietet der patristischen Schriftauslegung verschiedene Stichworte (praeda, ascendere, requiescere, suscitare), um den „Löwen aus Juda“ mit Christus selbst zu identifizieren, was freilich schon die Offenbarung des Johannes vorgibt: „Gesiegt hat der Löwe aus dem Stamm Juda, der Sproß aus der Wurzel Davids; er kann das Buch und seine sieben Siegel öffnen“ (Offb 5,5). Die Sequenz deutet das Ruhen des jungen Löwen weniger als Todesschlaf, sondern eher - in Fortführung des Samson-Exempels - als machtvolle Befreiungstat (v 10,2: „fractis portis dire mortis“). Die Schilderung der Auferweckung am dritten Tag durch das Brüllen des Vater-Löwen verknüpft prophetische Bildsprache von dem über das Unrecht erzürnten und nun Gericht haltenden Gott („Dominus de Sion rugiet“) 84 mit der Vorstellung aus dem 82 Gregor der Große, Homiliae in evangelia 2,21 (CChr.SL 141,178 E TAIX ): „Quod bene in libro Iudicum Samson illius facta significant, qui cum Gazam ciuitatem Philistinorum fuisset ingressus, Philistei ingressum eius protinus cognoscentes, ciuitatem repente obsidionibus circumdederunt, custodes deputauerunt et Samson fortissimum se iam comprehendisse gauisi sunt. Sed quid Samson fecit agnouimus. Media nocte portas ciuitatis abstulit et montis uerticem ascendit. Quem, fratres carissimi, hoc in facto, quem nisi Redemptorem nostrum Samson ille significat? Quid Gaza ciuitas nisi infernum designat? Quid per Philisteos nisi Iudaeorum perfidia demonstratur? Qui cum mortuum Dominum uiderent, eiusque corpus in sepulcro iam positum, custodes illico deputauerunt, et eum qui auctor uitae claruerat, in inferni claustris retentum, quasi Samson in Gaza se deprehendisse laetati sunt. Samson uero nocte media non solum exiit, sed etiam portas tulit, quia uidelicet Redemptor noster ante lucem resurgens, non solum liber de inferno exiit, sed ipsa etiam inferni claustra destruxit. Portas tulit et montis uerticem subiit, quia resurgendo claustra inferni abstulit et ascendendo caelorum regna penetrauit“. Bemerkenswert ist auch die poetische Fassung des Exemplum bei dem wortgewandten Cluniazenser Bernhard von Morlaix († nach 1150), De trinitate et de fide catholica carmen, v. 1079-1082 (hg. von Katarina H ALVARSON [Studia Latina Stockholmiensia 11], Stockholm 1963, 38): „Mors mortis mortem moriendo mortificauit. / Mortua mordentem morsu mordendo momordit. / Iam Samson Gazam, iam Tarthara Christus adiuit. / Et Samson Gaze, portas baratri tulit auctor“. 83 „Catulus leonis Iuda, a praeda fili mi ascendisti, requiescens accubuisti ut leo et quasi leaena. Quis suscitabit eum? “ 84 Amos 1,2; Joel 3,16; vgl. Jer 25,30: „Dominus de excelso rugiet“. <?page no="317"?> „… unter ihrem Anhauch sind liturgische Gesänge geschaffen worden …“ 303 Physiologus, wonach die Löwin ihr Junges tot zur Welt bringt und bei ihm wacht, „[…] bis der Vater kommt am dritten Tag, ihm ins Gesicht bläst und es so weckt. So hat auch unser Gott, der Allherrscher, der Vater aller, am dritten Tage seinen eingeborenen Sohn, der vor aller Schöpfung war, unseren Herrn Jesus Christus von den Toten auferweckt. Schön hat es Jakob gesagt: ‚Er legt sich nieder wie ein Löwe und schläft wie ein Löwenjunges. Wer wird ihn wecken? ‘“ 85 Das Motiv der Beute aus Gen 49,9 wird auf der Grundlage der paulinischen Relecture von Ps 67(68),19 86 : „Auffahrend in die Höhe führte er die Gefangenschaft gefangen“ (Eph 4,8) 87 gedeutet als Befreiung des in der Unterwelt gefangenen Menschengeschlechts. 88 Diese „spolia“, wie es in der Sequenz mit Rückbezug auf v 2,1 („Hec [dies] Egyptorum spoliauit“) heißt, werden von dem Löwen in den Schoß der himmlischen Mutter, d.h. in das himmlische Jerusalem, 89 heimgeführt. 90 Die Szene, die in der Befreiung Christi auch die Befreiung des Menschengeschlechts verankert, ist speziell im Nikodemusevangelium (4. Jh.) detailreich und dramatisch ausgemalt worden 91 und hat eine starke Wirkungsgeschichte entfaltet. Schon in Verbindung mit dem Löwen-Motiv findet sich die Vorstellung etwa bei Rufinus von Aquileia († 411/ 12): „Ich glaube, dass man den Löwen auf folgende Weise verstehen muss: der Tod Christi war eine Niederwerfung der Dämonen und ein Triumph: denn die 85 Physiologus. Naturkunde in frühchristlicher Deutung, aus dem Griechischen übers. und hg. von Ursula T REU , Hanau 1981, 6; zum Physiologus allgemein vgl. Gerhard L ADNER , Handbuch der frühchristlichen Symbolik. Gott, Kosmos, Mensch, Stuttgart - Zürich 1992, 117-128. 86 „Ascendisti in altum cepisti captivitatem accepisti dona in hominibus.“ 87 „Propter quod dicit: ascendens in altum captivam duxit captivitatem dedit dona hominibus.“ 88 G ROSFILLIER , Séquences (wie Anm. 9), 176, sieht eine besondere Bedeutung darin, dass in v 10,6 das Verb nicht wie in den vorausgehenden und nachfolgenden Strophen im Präsens, sondern im Perfekt steht: „Dans ce […] passage, il est remarquable que ce soit le seul endroit où l’usage du présent de l’indicatif est interrompu au profit du passé (reuexit). La permanence des signes, qui sont depuis toujours dans l’histoire du monde, est opposée à l’acte unique de la Résurrection du Christ. C’est comme si l’ensemble du domaine prophétique était donné hors du temps, ou plutôt en dehors de toute référence chronologique, mais seulement dans un rapport de signifiant à signifié. Les signes successifs ou simultanés sont dans l’avant de l’événement unique (la résurrection du Christ). Celui-ci est donné au temps du passé qu’on appelle le parfait, parce que l’événement est achevé, accompli (perfectum). On le voit, rien n’est gratuit, tout est concerté dans cette écriture poétique“. 89 Vgl. Gal 4,26: „illa autem quae sursum est Hierusalem libera est quae est mater nostra“. 90 Vgl. die Ostersequenz des Victoriners Salve, dies, dierum gloria 1,6-8: „[Salve, dies,] In qua Christus infernum spoliat, / Mortem vincit et reconciliat / Summis ima“ (G ROSFILLIER , Séquences [wie Anm. 9], 310; Analecta Hymnica 54,222). 91 S.o. Anm. 28 u. 29. <?page no="318"?> Ansgar Franz 304 ganze Beute, die jener gegnerische Löwe angegriffen hatte, 92 indem er den Menschen niederstreckte und unterwarf, hat dieser unser Löwe befreit. Als er endlich aus der Unterwelt zurückkehrte und in den Himmel aufstieg, führte er die Gefangenschaft gefangen.“ 93 Strophe 11a: Der wahre Jona Im Matthäusevangelium antwortet Jesus auf die Forderung der Schriftgelehrten, er möge ein Zeichen dafür geben, dass seine Vollmacht tatsächlich von Gott stamme (vorausgegangen war der Streit, ob er nicht die Dämonen mit Beelzebul austreibe): „Diese böse und treulose Generation fordert ein Zeichen, aber es wird ihr kein anderes gegeben werden als das Zeichen des Propheten Jona. Denn wie Jona drei Tage und drei Nächte im Bauch des Fisches war, so wird auch der Menschensohn drei Tage und drei Nächte im Innern der Erde sein. Die Männer von Ninive werden beim Gericht gegen diese Generation auftreten und sie verurteilen; denn sie haben sich nach der Predigt des Jona bekehrt. Hier aber ist einer, der mehr ist als Jona.“ (Mt 12,39-41 EÜ) Ausgehend von dieser Selbstbezeichnung Jesu wird in der frühchristlichen Kunst die Walfisch-Episode des Jonabuches (2,1-11) eine der am häufigsten dargestellten Erlösungsszenen überhaupt. 94 Die patristische Exegese findet neben dem von Jesus selbst angekündigten Zeichen noch eine Reihe weiterer Entsprechungen zwischen dem alttestamentlichen Jona und dem „wahren Jona“ (v 11,2). Beispielhaft sei hier auf Ambrosius von Mailand verwiesen, der neben dem christologischen Aspekt auch die soteriologische Dimension der Jona-Geschichte betont: „Wie nämlich Jona im Schiff schlief und in aller Seelenruhe schnarchte, ohne zu fürchten, ertappt zu werden, so schlief auch unser Herr Jesus Christus, der jene Figur im Mysterium seines Todes erfüllt hat, zur Zeit des Evangeliums im Schiff; und wie jener drei Tage und drei Nächte im Bauch der Walfisches war, so blieb auch der Menschensohn bei seiner leiblichen Passion drei Tage und drei Nächte im Herz der Erde. Als er dann vom Tode erwachte und den Schlaf seines Leibes abschüttelte, um zur Errettung aller aufzuerstehen, besuchte er seine Jünger. Er ist also der wahre Jona, der sein Leben als Erlösung für uns 92 Vgl. 1 Petr 5,8: „Sobrii estote vigilate quia adversarius vester diabolus tamquam leo rugiens circuit quaerens quem devoret“. 93 Rufinus, De benedictionibus patriarcharum 1,6 (CChr.SL 20,194 S CIMONETTI ): „Vt leo autem hoc modo debere intellegi arbitror: mors christi oppressio et triumphus daemonum fuit: omnem namque praedam, quam leo ille contrarius inuaserat, prostrato homine et deiecto, hic leo noster eripuit. Denique rediens ab inferis et ascendens in altum captiuam duxit captiuitatem“. 94 Vgl. z.B. L ADNER , Handbuch (wie Anm. 85), 148. Zu der Jona-Typologie in der Väterliteratur vgl. das umfangreiche Standardwerk von Yves-Marie D UVAL , Le livre de Jonas dans la littérature chrétienne grecque et latine. Sources et influence du Commentaire sur Jonas de saint Jérôme, 2 Bde., Paris 1973. <?page no="319"?> „… unter ihrem Anhauch sind liturgische Gesänge geschaffen worden …“ 305 dahingegeben hat. Deswegen also wurde er ergriffen und ins Meer geworfen, um von dem Walfisch aufgenommen und verschlungen zu werden, und als er sich im Bauch befand, hat er dessen Innereien geleert. Von welchem Walfisch ist hier die Rede? Höre auf Hiob, der sagt: Derjenige, der es vermag, den großen Walfisch gefangen zu nehmen (Ijob 3,8). Wer das ist, verstehst du, wenn du liest, dass unser Herr Jesus Christus die Gefangenschaft gefangen nahm. Als nämlich der Widersacher und Feind besiegt war, war das für uns, die wir gefangen waren, der Anfang der Freiheit, durch Christus.“ 95 Strophe 11b: Die blühende Traube „Eine Cyprustraube in den Weinbergen Engaddis ist mir mein Geliebter! “, schwärmt gleich zu Beginn des Hohenliedes die Braut Sulamith. 96 Die Exegese der Alten Kirche sieht darin eine Liebeserklärung der Kirche zu ihrem Bräutigam Christus und verbindet sie häufig mit dem Bericht über die Aussendung und Rückkehr der Kundschafter ins Gelobte Land, von der im Buch Numeri erzählt wird: 97 „Mose sandte sie aus, das Land Chanaan zu erforschen […]. Und sie zogen hinauf nach Süden und kamen nach Hebron […]. Als sie nun bis zum Traubenbach kamen, schnitten sie eine Rebe mit ihrer Traube ab, welche zwei Männer an einer Stange trugen; auch nahmen sie einige von den Granatäpfeln und Feigen dieses Ortes mit, der Neheleskol, das ist Traubenbach, genannt wird, darum weil die Söhne Israels eine Traube von dort weggetragen haben.“ (Num 13,18.23-25) Auf altchristlichen Sarkophagen ist das Motiv der Traube „ein Hinweis auf das Land der Verheißung, in das der Verstorbene eingegangen ist. Dort findet er Christus, der einst seine Arme gleich Ranken am Kreuzesstamm ausspann- 95 Ambrosius, Explanatio psalmorum XII 43,85 (CSEL 64,322f P ETSCHENIG ): „Sicut enim Ionas dormiebat in naui et stertebat securus quasi non metuens deprehendi, ita dominus noster Iesus Christus, qui figuram illam sacramento suae mortis impleuit, tempore euangelii in naue dormiuit, et sicut ille tribus diebus et tribus noctibus fuit in uentre ceti, ita filius hominis tribus diebus et tribus noctibus fuit in corde terrae in sui corporis passione. qui ubi se excitauit a morte et somnum sui corporis relaxauit, ut pro salute resurgeret uniuersorum, discipulos uisitauit. hic est ergo uerus Ionas, qui obtulit animam suam redemptionem pro nobis. propterea ergo sublatus et missus est in mare, ut exciperetur et deuoraretur a ceto, quo intra aluum ceti positus eius interiora uacuaret. de quo ceto hoc dictum sit, audi Iob dicentem: qui habet, inquit, magnum cetum captiuum reddere. quis iste est, utique cognoscis, cum legeris, quod dominus noster Iesus Christus captiuam duxerit captiuitatem; deuicto enim aduersario et inimico nos, qui captiui eramus, coepimus libertatem possidere per Christum.“ 96 Hld 1,13: „Botrus cypri dilectus meus mihi in vineis Engaddi.“ 97 Alanus ab Insulis meint in seinen Distinctiones dictionum theologicalium, es gebe viele Gründe, warum Christus mit einer Traube vergleichbar sei; als ersten nennt er den Bezug zu Num 13: „Dicitur Christus in Canticis: Botrus Cypri dilectus meus mihi, id est comparabilis botro propter multiplices rationes sed causas. Dicitur uva, unde in Numeris dicitur de exploratoribus: Botrum tulerunt in phalange“ (PL 210,722). <?page no="320"?> Ansgar Franz 306 te und sich der Welt als jene große Frucht darbot, die alle Süßigkeit enthält.“ 98 Für Isidor von Sevilla hat Christus zum Heil der Menschen sein Blut am Holz des Kreuzes vergossen wie eine Traube ihren Wein, der nun der Kirche zum Trank dargereicht wird. 99 Diese Traube, so die Sequenz in v 11,5-6 mit einem Wechsel von der Fruchtzur Pflanzenmetaphorik, 100 „blüht wieder auf, weitet sich und wächst“ (reflorescit, dilatatur et excrescit) und wird so ausdrücklich zum Exempel für die Auferstehung. Auch diese Akzentuierung findet sich bei den Zeitgenossen des Viktoriners. So deutet Rupert von Deutz in seinem Liber de divinis officiis den nach Süden gerichteten Marschweg der Kundschafter als Hinweis auf die altissima resurrectio der wahren Sonne Christus, wobei er den beiden Männern, die die Traube an einer Stange tragen, eine besondere Deutung gibt: „Die Kundschafter des Glaubens stiegen nach Süden hinauf, das ist da, wo die wahre Sonne Christus durch seine höchste Auferstehung aufgegangen war, und sie haben uns die Traube mit ihrem Rebzweig herbeigebracht, die von zwei Männern mit einer Stange getragen wurde, das ist Christus selbst, von dem die Braut im Hohenlied sagt: ‚Eine Cyprustraube ist mir mein Geliebter.‘ Zwei Männer, sage ich, tragen sie mit einer Stange, das bedeutet aufgehängt an das Holz des Kreuzes in der Wirklichkeit seines Leibes, in dem er auferstand. Diesen Aufgehängten tragen zwei Männer, das bedeutet zwei Völker, das jüdische und das der Heiden, und wie derjenige von den Traubenträgern, der vorausgeht, (die Traube) zwar trug, wegen des zugewandten Rückens aber nicht sah, der Nachfolgende jedoch sie trug und auch sah, so trägt das vorausgehende jüdische Volk das Zeugnis des Leidens und der Auferstehung Christi zwar in seinen Schriften, aber mit abgewandtem Herzen, es glaubt nicht und versteht daher auch nicht; der Nachfolgende aber, das heißt die Heiden, trägt nicht nur, sondern sieht auch, denn was er liest, versteht er glaubend und verstehend glaubt er.“ 101 98 F ORSTNER , Symbole (wie Anm. 43), 176. 99 Isidor, Mysticorum expositiones sacramentorum seu Quaestiones in Vetus Testamentum. In Numeros 15,9 (PL 83,346): „Hic est autem botrus qui effusus in salutem nostram, vinum sanguinis sui crucis contritione profudit, atque expressum passionis suae calicem Ecclesiae propinavit. […] botrum constat figuram Salvatoris ostendere, quemadmodum in Canticis canticorum Ecclesia de Christo dicit: Frater meus ut botrus Cypri […]“. 100 Diese Inkonsequenz im Bildbereich soll die beiden folgenden Verse (11,7-8) vorbereiten. 101 Rupert von Deutz, Liber de divinis officiis 8 (CChr.CM 7,267 H AACKE ): „Ascenderunt fidei exploratores ad meridiem id est ubi eleuatus erat uerus sol christus per altissimam resurrectionem et attulerunt nobis botrum cum palmite suo quem portant duo uiri in uecte id est ipsum christum cui dicit sponsa in canticis: botrus cypri dilectus meus mihi. Portant inquam in uecte duo uiri id est pendentem in ligno crucis cum ueritate corporis in quo resurrexit. Hunc enim susceptum portant duo uiri id est duo populi iudaicus atque gentilis et sicut anterior ex eis qui botrum ferebant portabat quidem sed auerso dorso non uidebat posterior autem et portabat et uidebat sic anterior populus iudaicus testimonia passionis et resurrectionis christi portat quidem in scripturis sed auerso corde non credit atque ideo non intelligit posterior autem id est gentilis et portat et uidet quia quod legit credens intelligit intelligens credit“. <?page no="321"?> „… unter ihrem Anhauch sind liturgische Gesänge geschaffen worden …“ 307 Diese literarisch zwar originelle, theologisch aber windige Auslegung scheint im Hintergrund der Sequenz zu stehen, wie die beiden den Mittelteil beschließenden Schlussverse vermuten lassen müssen. Die in dem vorausgegangenen Samson-Exempel angedeutete „Enterbungstheorie“ 102 tritt nun in dem verbreiteten, wirkungsgeschichtlich belasteten und heute inakzeptablen Bild von der welkenden Synagoge und der blühenden Kirche deutlich zutage (v 11,7-8): „Synagoge flos marcescit / et floret Ecclesia“. Überblickt man den Mittelteil der Sequenz, so sieht man nicht weniger als 13 Exempla für den Auferstandenen und „Zeugen seiner Herrlichkeit“, die wie Perlen auf eine Kette gereiht sind: Isaak und Josef (Str. 5), die Schlange (Str. 6), der Angelhaken und das Kind (Str. 7), Elischa, David, der Bock und der Sperling (Str. 8), Samson (Str. 9), der Löwe (Str. 10), Jona und die Traube (Str. 11). Alle bezeugen in jeweils unterschiedlicher Akzentuierung den Transitus vom Tod zum Leben, von der Gefangenschaft zur Befreiung, von der Niederlage zum Sieg, von der Verspottung zur Verherrlichung, von der Erniedrigung zur Erhöhung. Die Versuche, in der Abfolge der Exempla ein bestimmtes Strukturprinzip zu entdecken, sind bisher zu keinem überzeugenden Ergebnis gekommen. 103 Weder orientiert sich die Abfolge an der kanonischen Anordnung der biblischen Bücher noch ist eine zwingende textinterne Logik zu erkennen. Nur selten gibt es syntaktische Signale wie das „sic“, das Strophe 9 und 10 verbindet und eine Analogie zwischen den Stadttoren Gazas und den Toren des Todes herstellt, oder eine Stichwortverbindung wie das Schlangen-Motiv, das die Strophen 6 und 7 verknüpft. Es ist also möglicherweise gerade nicht eine planvolle Abfolge, in der der Sinn der Aufzählung steckt, sondern vielleicht im Gegenteil, allein die schiere und wahllose Fülle der Zeugen ist es, die die Auferstehung zur Evidenz bringen soll und die den ‚Tag, den der Herr gemacht hat‘ zu einem Tag des Jubels werden lässt. Unübersehbar dagegen ist ein Ordnungsprinzip der gesamten Sequenz, das sich zwischen der Makrostruktur der drei Hauptteile und der Mikrostruktur des Strophen- und Versaufbaus sozusagen auf einer mittleren Ebene manifestiert, nämlich die Aufnahme ritueller Elemente der Messliturgie, in der die Sequenz ihren gottesdienstlichen Platz hat. Die paulinische Forderung „zima uetus expurgetur“ kann als Mahnung zur Vorbereitung auf die Feier gelesen werden (Str. 1a), die mit dem Lobpreis des Festtages und der Erinnerung an die Festgeheimnisse beginnt (Str. 1b-3). Die lange Reihe des Exempla erfüllt die Funktion der Schriftverkündigung und -deutung (Str. 4-11). Auf das Glaubensbekenntnis „resurrexit Christus uere“ (Str. 12) folgt das Gebet (Str. 13), das deutlich durch eucharistische Motive charakterisiert ist (mensa paschalis, panis, unda, vitis, pascere). 102 Vgl. v 9,2-3: „et de tribu sua spernit / Samson matrimonium“. 103 Vgl. H EGENER , Studien zur ‚zweiten Sprache‘ (wie Anm. 15), 112f; G ROSFILLIER , Séquences (wie Anm. 9), 176f. <?page no="322"?> Ansgar Franz 308 Heutige Hörer oder Leser können der Sequenz aus dem 12. Jahrhundert sicherlich nicht mehr mit derselben Unmittelbarkeit und Vorbehaltlosigkeit begegnen wie die (gebildeten) Zeitgenossen des Viktoriners. Bibelverständnis und Kirchenbild (gerade auch im Verhältnis zur ‚Synagoge‘) haben sich gewandelt. Dennoch bleibt Zima vetus expurgetur ein faszinierendes Zeugnis dafür, wie der ‚Anhauch der Bibel‘ zu Poesie wird. Und wie jede Poesie stellt sich auch die Dichtung des Adam von Sankt Viktor den von Marti geforderten „brennenden Fragen“ 104 um Unterdrückung und Befreiung, um Leben und Tod. Es geht immer um’s Ganze. 104 S.o. S. 279. <?page no="323"?> Dank - Darbringung - Bitte Eucharistisches Beten ‚unter dem Anhauch der Schrift‘ (SC 24) Alexander Zerfaß Der Zusammenhang zwischen Heiliger Schrift und eucharistischem Hochgebet ließe sich lohnend unter vielerlei Hinsicht studieren, etwa im Blick auf biblische Zitate und Anspielungen in den einzelnen Eucharistiegebeten oder auf die Verwurzelung des Eucharistiegebets in der Tradition alttestamentlichjüdischen Betens. Die vorliegende Untersuchung wählt einen anderen Ansatzpunkt: Sie geht von der These aus, dass sich für die heute im römischen Ritus gebräuchlichen Eucharistiegebete ein gemeinsamer Grundduktus benennen lässt, der paulinische Theologie ins Gebet nimmt. Dieser Duktus zielt auf die Vergegenwärtigung des Christusereignisses, der Pro-Existenz „bis zum Tod am Kreuz“ (Phil 2,8) und der darin liegenden Botschaft von der Auferstehung, einerseits im Modus von Danksagung und Lobpreis (Anamnese), andererseits auf der - im Hochgebet verbal reflektierten - Ebene des Handelns als Leib Christi (Darbringungsaussage), zu dem die Gemeinde durch das Wirken des Heiligen Geistes befähigt ist (Epiklese). Die folgenden Ausführungen nehmen Bezug auf den Grundbestand des erneuerten Messbuchs, also die zur häufigeren Verwendung vorgesehenen Hochgebete I-IV. Aus im Einzelnen zu erläuternden, nicht zuletzt in der Geschichte der Liturgiereform liegenden Gründen bahnt das Eucharistiegebet der so genannten Traditio Apostolica den Anweg. 1 Das Modellgebet der so genannten Traditio Apostolica Über das Zustandekommen der neuen Hochgebete berichtet Johannes Wagner, der Vorsitzende des mit der Revision des Ordo Missae betrauten Coetus X des Consilium ad Exsequendam Constitutionem de Sacra Liturgia. 1 Die entscheidenden Weichenstellungen erfolgten demnach bei den Versammlungen des Coetus im Januar und März 1967, als Entwürfe der späteren Hochgebete II-IV 1 Zur Zusammensetzung des Coetus vgl. Johannes W AGNER , Mein Weg zur Liturgiereform 1936-1986. Erinnerungen, Freiburg i.Br. u.a. 1993, 96. <?page no="324"?> Alexander Zerfaß 310 erstellt wurden. 2 War zunächst an eine textliche Überarbeitung des Canon Romanus gedacht gewesen, 3 so hatten die sich damit verbindenden Schwierigkeiten und Widerstände Papst Paul VI. im Sommer 1966 zu der Entscheidung bewogen, den Canon unverändert zu belassen und ihm Alternativformulare zur Seite zu stellen. 4 Den neuen Hochgebeten, die schließlich am 23. Mai 1968 von der Ritenkongregation neben zunächst acht neuen Präfationen veröffentlicht wurden und seit dem 15. August desselben Jahres in Gebrauch sind, 5 liegt bis zu einem gewissen Grad ein einheitliches Aufbauschema zugrunde. 6 Dieses orientiert sich strukturell weniger am Canon Romanus als am Duktus vor allem der antiochenisch-westsyrischen Hochgebetstradition, 7 verbindet jedoch die von dorther rührenden Grundoptionen mit bestimmten typisch römischen Charakteristika - mit dem, was nach damaligem Reflexionsstand als „genius Romanus“ galt. 8 Eine besondere Rolle spielte in diesem Zusammenhang das Eucharistiegebet der so genannten Traditio Apostolica, das in Kapitel 4 dieser Kirchenordnung im Kontext der Bischofsweihe referiert wird. Die Protagonisten der Liturgiereform gingen dem damaligen Forschungskonsens entsprechend 9 davon aus, mit der TA ein Werk des Hippolyt von Rom und folglich mit dem 2 Vgl. a.a.O., 97-99. Die hier genannte Jahreszahl 1965 ist im Licht der vorangehenden Seiten und von Annibale B UGNINI , Die Liturgiereform 1948-1975. Zeugnis und Testament (ital. 1983), deutsche Ausgabe hg. von Johannes W AGNER unter Mitarbeit v. François R AAS , Freiburg i.Br. u.a. 1988, 480-482, sowie Piero M ARINI , La riforma della preghiera eucaristica dopo il concilio, in: Ecclesia Orans 16 (1999), 163-167, hier: 163, zu korrigieren. 3 Vgl. Johannes W AGNER , Neue eucharistische Hochgebete, in: Gottesdienst 2 (1968), 97- 99, hier: 98. 4 Vgl. B UGNINI , Liturgiereform (wie Anm. 2), 481. 5 Vgl. Heinrich R ENNINGS - Martin K LÖCKENER (Hgg.), Dokumente zur Erneuerung der Liturgie, Bd. 1: Dokumente des Apostolischen Stuhls 1963-1973, Kevelaer - Freiburg/ Schweiz 2 2002, Randnr. 1032. 6 Vgl. dazu Bruno K LEINHEYER , Erneuerung des Hochgebets, Regensburg 1968, 34-36; Josef S CHMITZ , Die Struktur der neuen eucharistischen Hochgebete, in: Otto N USSBAUM (Hg.), Die eucharistischen Hochgebete II-IV. Ein theologischer Kommentar (Reihe Lebendiger Gottesdienst 16), Münster 1971, 7-28, hier: 7-11; B UGNINI , Liturgiereform (wie Anm. 2), 482f; Winfried H AUNERLAND , Das eine Herrenmahl und die vielen Eucharistiegebete. Traditionen und Texte als theologische und spirituelle Impulse, in: DERS . (Hg.), Mehr als Brot und Wein. Theologische Kontexte der Eucharistie, Würzburg 2005, 119- 144, hier: 125-127. Einen ausführlichen Kommentar zu den Hochgebeten II-IV bietet Enrico M AZZA , The Eucharistic Prayers of the Roman Rite (ital. 1984), New York 1986, 88- 190. 7 Zur Struktur der Anaphoren antiochenischen Typs vgl. Enrico M AZZA , La structure des anaphores alexandrine et antiochienne, in: Irénikon 67 (1994), 5-40, hier: 22-32. 8 Vgl. B UGNINI , Liturgiereform (wie Anm. 2), 482-488. 9 Dieser Konsens war freilich nicht unwidersprochen; vgl. z.B. Hieronymus E NGBERDING , Das angebliche Dokument römischer Liturgie aus dem Beginn des dritten Jahrhunderts, in: Miscellanea liturgica in honorem L. Cuniberti Mohlberg, Bd. 1 (Bibliotheca Ephemerides Liturgicae 22), Rom 1948, 47-71. <?page no="325"?> Dank - Darbringung - Bitte 311 darin enthaltenen Hochgebet ein Zeugnis römischen eucharistischen Betens aus dem frühen dritten Jahrhundert vor sich zu haben. 10 Cipriano Vagaggini eröffnet die Quellensammlung, die er seinen eigenen - für die spätere Fixierung der Eucharistiegebete III und IV höchst bedeutsamen 11 - Hochgebetsentwürfen voranstellt, mit der TA und bemerkt dazu: „Lo studio delle anafore deve partire da quella d’Ippolito che presenta, per quanto possiamo conoscerla, la struttura comune dell’anafora dell’antica Chiesa prima dello sviluppo dei gruppi differenziati, avvenuto dal secolo IV in poi.“ 12 Vor dem Hintergrund dieser Einschätzung Vagagginis überrascht es nicht, dass sich nicht nur Hochgebet II als „eine Anpassung des Textes von Hippolyt an einige später gewordene Grundelemente des Römischen Kanons“ 13 darstellt, sondern dass auch der Gedankengang der Hochgebete III und IV sich, mit bedeutenden Variationen, auf der Grundlage des im Licht des „genius Romanus“ revidierten Aufbaus des Hochgebetes der TA entfaltet. 14 Zwar lassen sich nach dem heutigen Stand der Forschung weder Vagagginis Sicht auf einen vermeintlich universalen Urtyp eucharistischen Betens in den ersten drei Jahrhunderten 15 noch die Zuschreibung der TA an Hippolyt 10 Vgl. z.B. Josef Andreas J UNGMANN , Missarum Sollemnia. Eine genetische Erklärung der römischen Messe, 2 Bde., Freiburg i.Br. 5 1962 (Ndr. Bonn 2003), 1,36f; Bernard B OTTE , La Tradition apostolique de Saint Hippolyte. Essai de reconstitution, hg. von Albert G ER - HARDS unter Mitarbeit v. Sabine F ELBECKER (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 39), 5., verb. Aufl. Münster 1989, XIII-XIX; W AGNER , Mein Weg (wie Anm. 1), 97; zurückhaltender Louis B OUYER , Eucharistie. Théologie et spiritualité de la prière eucharistique, Tournai 1966, 158-168.187-191. 11 Bei Hochgebet III handelt es sich de facto um „den verkürzten, durch die Diskussion des Coetus adaptierten Entwurf Vagagginis“ (W AGNER , Mein Weg [wie Anm. 1], 99); vgl. den „Canone B“ bei Cipriano V AGAGGINI , Il canone della messa e la riforma liturgica (Quaderni di Rivista Litugica 4), Turin 1966, 100-106. Der Entwurf von Hochgebet IV wurde, erkennbar auf der Basis von Vagagginis „Canone C“ (a.a.O., 110-120), am Ende des Treffens des Coetus X in Nemi im März 1967 von Wagner und Vagaggini fertiggestellt (vgl. W AGNER , Mein Weg [wie Anm. 1], 99). 12 V AGAGGINI , Il Canone (wie Anm. 11), 15. 13 Vgl. W AGNER , Mein Weg (wie Anm. 1), 97. 14 Vgl. Joseph G ELINEAU , New Models for the Eucharistic Prayer as Praise of All the Assembly, in: Studia Liturgica 27 (1997), 79-87, hier: 80: „The Roman Canon, at the same time venerated and criticized, was not retained as the model for the new eucharistic prayers that were to be created. The only model envisaged was that of a unified discourse of the Antiochian type. For all the consulting experts the eucharistic prayer contained in the Apostolic Constitutions [es müsste heißen: Apostolic Tradition; A.Z.] and attributed to Hippolytus of Rome served as an undisputed reference. In this way the group of eucharistic prayers created after Vatican II, official and unofficial, used this single model as a reference“ (Hervorhebung im Original). 15 Zur Pluriformität eucharistischen Betens in der Alten Kirche vgl. Paul B RADSHAW , Introduction: The Evolution of Early Anaphoras, in: DERS . (Hg.), Essays on Early Eastern Eucharistic Prayers, Collegeville/ Minnesota 1997, 1-18; Reinhard M ESSNER , Grundlinien der Entwicklung des eucharistischen Gebets in der frühen Kirche, in: Albert G ERHARDS - Heinzgerd B RAKMANN - Martin K LÖCKENER (Hgg.), Prex Eucharistica. Volumen III: Stu- <?page no="326"?> Alexander Zerfaß 312 von Rom 16 halten. Insofern bezeugt die TA, deren Gattung ‚Kirchenordnung‘ die Fixierung eines ‚Autors‘ schon prinzipiell erschwert und die Zusammenstellung chronologisch, eventuell sogar geographisch heterogenen Materials erlaubt, 17 nur einen unter mehreren möglichen Typen altkirchlicher Eucharistiegebete. Während also mit der neueren Forschung festzuhalten ist, dass Herkunft und Datierung der Anaphora unklar sind, 18 können die gelegentlich vorgetragenen Argumente gegen die literarische Einheitlichkeit des Gebets nicht überzeugen. 19 Zieht man die archaischen Züge der Christologie 20 und dia. Pars prima: Ecclesia antiqua et occidentalis (Spicilegium Friburgense 42), Freiburg/ Schweiz 2005, 3-41. 16 Einen vorzüglichen Überblick über die Einleitungsfragen zur TA und die damit verbundene Forschungsgeschichte geben Paul B RADSHAW - Maxwell E. J OHNSON - L. Edward P HILLIPS , The Apostolic Tradition. A Commentary, Minneapolis/ Minnesota 2002, 1-16. Vgl. ferner Bruno S TEIMER , Vertex Traditionis. Die Gattung der altchristlichen Kirchenordnungen (Beihefte zur Zeitschrift für die Neutestamentliche Wissenschaft 63), Berlin - New York 1992, 28-48; Christoph M ARKSCHIES , Neue Forschungen zur sogenannten „Traditio Apostolica“, in: Robert F. T AFT - Gabriele W INKLER (Hgg.), Acts of the International Congress „Comparative Liturgy Fifty Years after Anton Baumstark (1872-1948)“ Rome, 25-29 September 1998 (Orientalia Christiana Analecta 265), Rom 2001, 583-598; John F. B ALDOVIN , Hippolytus and the Apostolic Tradition: Recent research and commentary, in: Theological Studies 64 (2003), 520-542. 17 Vgl. S TEIMER , Vertex Traditionis (wie Anm. 16), 45. 18 Vgl. z.B. Marcel M ETZGER , La prière eucharistique de la prétendue Tradition Apostolique, in: G ERHARDS u.a. (Hgg.), Prex eucharistica III (wie Anm. 15), 263-280, hier: 266: „[…] peut être considéré comme un témoin des usages euchologiques admis au 3 e siècle dans des communautés de Syrie“; Matthieu S MYTH , L’anaphore de la prétendue « Tradition Apostolique » et la prière eucharistique romaine, in: Recherches de Science Religieuse 81 (2007), 95-118, hier: 116: „on peut situer sans guère de risque la rédaction finale […] dans la première moitié du IV e siècle, quelque part entre l’ouest d’Antioche et la Palestine, ou peut-être plus au nord en direction de l’Asie mineure“. Alistair S TEWART -S YKES hält am römischen Ursprung der TA fest und schreibt sie einer „Hippolytean School“ des 3. Jahrhunderts zu: Traditio Apostolica. The Liturgy of Third-century Rome and the Hippolytean School or Quomodo historia liturgica conscribenda sit, in: St. Vladimir’s Theological Quarterly 48 (2004), 233-248. 19 Vgl. Gerard R OUWHORST , The Roots of the early Christian Eucharist: Jewish Blessings or Hellenistic Symposia? , in: Albert G ERHARDS - Clemens L EONHARD (Hgg.), Jewish and Christian Liturgy and Worship. New Insights into its History and Interaction (Jewish and Christian Perspectives Series 15), Leiden - Boston 2007, 295-308, hier: 299 („I am rather sceptical about attempts to split the text into older and younger sections“), der jedoch das ganze Gebet für einen späten Zusatz zur TA hält. - Die einzige Passage, die in der Tat eindeutig zu literarkritischen Operationen einlädt, ist die Schlussdoxologie, deren dynamische Grundstruktur (Modell: ‚Ehre dem Vater durch den Sohn im Heiligen Geist‘) in der lateinischen Übersetzung offenkundig im Licht der arianischen Auseinandersetzungen in Richtung des additiven Modells (‚Ehre dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist‘) überarbeitet - genauer gesagt: ergänzt ist, da nun beide Formen nebeneinander stehen bzw. ineinander verschränkt sind. Die dadurch entstandene logische Inkohärenz („durch deinen Knecht Jesus Christus, durch den dir Herrlichkeit und Ehre [ist], dem Vater und dem Sohn mit dem Heiligen Geist, in deiner heiligen Kirche“) lässt zwingend vermuten, dass diese Fassung das Ergebnis eines den ursprünglichen Duktus verunklärenden Wachstumsprozesses ist. <?page no="327"?> Dank - Darbringung - Bitte 313 die wiederholt beschriebene gedankliche und motivische Nähe des anamnetischen Abschnitts zu frühen Paschahomilien 21 in Betracht, scheint das Hochgebet tatsächlich in das dritte Jahrhundert zu verweisen. 22 Die TA bezeichnet es - der liturgischen Praxis zumal der vorkonstantinischen Zeit entsprechend - ausdrücklich als Modellgebet, nicht als wörtlich zu verwendendes Gebetsformular. 23 Dass dieser Hinweis auf den Modellcharakter des Eucharistiegebets in TA 9 unabhängig vom Kontext der Bischofsweihe gegeben wird, spricht gegen eine besondere Abstimmung des Gebets auf diesen Verwendungszusammenhang. 24 Im Rahmen des vorliegenden Beitrags für die Suche nach dem Grundduktus des eucharistischen Hochgebets den Ausgang bei TA 4 zu nehmen, kann sich zusammenfassend auf eine doppelte Begründung berufen: - Das Eucharistiegebet der TA diente bei der Liturgiereform als ein wichtiger Bezugspunkt für die Schaffung der neuen, heute verwendeten Hochgebetstexte. 20 So etwa die Bezeichnung als puer (παῖς); vgl. dazu unten Anm. 29 sowie Jeremy D RIS- COLL , Uncovering the dynamic lex orandi - lex credendi in the anaphora of the Apostolic Tradition of Hippolytus, in: Ecclesia Orans 18 (2001), 327-364, hier: 338. 21 Vgl. dazu ausführlich Enrico M AZZA , The Origins of the Eucharistic Prayer (ital. 1992), Collegeville/ Minnesota 1995, 102-149. 22 Gegenargumente, die bestimmte Züge der Anaphora der TA für Eucharistiegebete des 3. Jahrhunderts ausschließen wollen (z.B. die Zitation des Einsetzungsberichts oder die Form der Epiklese), verfangen aufgrund der dürftigen Überlieferungslage nicht. Exemplarisch für die Problematik entsprechender Argumentationen ist der Kommentar von B RADSHAW - J OHNSON - P HILLIPS , die einerseits feststellen: „With the exception of the prayer texts in Didache 9 and 10 and some brief invocations over food in early apocryphal literature […] no extant eucharistic prayers can be dated with any certainty before the fourth century“, andererseits aber argumentieren: „if this prayer [d.h. die Anaphora der TA] does belong to the third century in its present form, it is very advanced for its age, having some features that are otherwise first encountered only in the fourth century or later“ (Apostolic Tradition [wie Anm. 16], 44). Dass die wenigen Quellen „that are often thought to have roots in this earlier period“ (also vor dem 4. Jahrhundert; die Autoren nennen den Straßburg-Papyrus und die Anaphora von Addai und Mari) „manifest a number of significant differences from this text“ (gemeint ist TA 4; Zitat ebd.), muss nicht gegen das Alter des Hochgebets der TA sprechen - zumal, wenn man die dekonstruktive Tendenz neuerer liturgiegeschichtlicher Forschung ernst nimmt: „Man wird sich […] mit der Kenntnisnahme einer nicht verrechenbaren Vielfalt von Anfängen begnügen müssen“ (Reinhard M ESSNER , Über einige Aufgaben bei der Erforschung der Liturgiegeschichte der frühen Kirche, in: Martin K LÖCKENER - Benedikt K RANEMANN - Angelus A. H ÄUSSLING [Hgg.], Liturgie verstehen. Ansatz, Ziele und Aufgaben der Liturgiewissenschaft = Archiv für Liturgiewissenschaft 50 [2008], 207-230, hier: 216). Dass das Eucharistiegebet der TA nicht Bestandteil der Vielfalt euchologischer Ausdrucksformen des 3. Jahrhunderts sein könne, lässt sich in Anbetracht der Quellenlage nicht bündig argumentieren, ohne dass dabei neue liturgiehistorische Axiome an die Stelle der gerade dekonstruierten gesetzt würden. 23 TA 9 (B OTTE , Tradition apostolique [wie Anm. 10], 28). 24 Gegen Kurt K ÜPPERS , Die literarisch-theologische Einheit von Eucharistiegebet und Bischofsweihegebet bei Hippolyt, in: Archiv für Liturgiewissenschaft 29 (1987), 19-30, bes. 26-28. <?page no="328"?> Alexander Zerfaß 314 - Die zitierte Annahme Vagagginis im Sinne einer Korrektur des ihr zugrunde liegenden liturgiegenetischen Modells variierend kann zumindest festgehalten werden, dass dem Eucharistiegebet der TA ein hoher heuristischer Wert zukommt. Es erweist sich nämlich als einfache Ausprägung eines Grundtyps, der auch späteren entfalteten Anaphoren unterschiedlicher Ritenfamilien - einschließlich des Canon Romanus, dort jedoch in charakteristischer Weise akzentuiert - zugrunde liegt. 25 Der Text des Eucharistiegebets der TA ist nicht im griechischen Original überliefert, sondern nur in der spätantiken lateinischen Übersetzung des Palimpsests von Verona sowie in einer äthiopischen Übersetzung 26 aus dem 13. Jahrhundert, die auf ältere sahidische und arabische Übersetzungen zurückgeht. Darüber hinaus existieren stark überarbeitete und erweiterte Fassungen im achten Buch der Apostolischen Konstitutionen sowie im Testamentum Domini. 27 Im Folgenden wird die lateinische Version (Palimpsest von Verona) nach der Edition Bottes 28 - jedoch mit eigener, die grammatikalische Struktur verdeutlichender Interpunktion - einer wörtlichen Arbeitsübersetzung gegenübergestellt. Gratias tibi referimus, deus, per dilectum puerum tuum Iesum Christum, Wir sagen dir Dank, Gott, durch deinen geliebten Knecht 29 Jesus Christus, 25 Daraus kann freilich keine Generalthese abgeleitet werden, als ob an TA 4 schlechthin die Grundstruktur des Eucharistiegebets erhoben werden könne. So zeigt Winkler, dass in vielen orientalischen Anaphoren bzw. deren mutmaßlich frühesten Fassungen, aber auch in manchen nicht-römischen lateinischen Hochgebeten nach dem Einsetzungsbericht keine Darbringungsaussage folgt: Gabriele W INKLER , Ein Beispiel liturgievergleichender Untersuchung. Philologische und strukturelle Anmerkungen zur Erforschung der Anamnese in den westlichen und östlichen Riten, in: Theologische Quartalschrift 177 (1997), 293-305; DIES ., Zur Erforschung orientalischer Anaphoren in liturgievergleichender Sicht I: Anmerkungen zur Oratio post Sanctus und Anamnese bis Epiklese, in: Orientalia Christiana Periodica 63 (1997), 363-420, hier: 363-398.419f. 26 Edition mit deutscher Übersetzung: Hugo D UENSING , Der aethiopische Text der Kirchenordnung des Hippolyt (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-historische Klasse 3,32), Göttingen 1946, 20-25. Auf eine weitere, bislang unpublizierte altäthiopische Übersetzung weist M ESSNER , Über einige Aufgaben (wie Anm. 22), 208 Anm. 6, hin. 27 Vgl. die Synopse in englischer Sprache bei B RADSHAW - J OHNSON - P HILLIPS , Apostolic Tradition (wie Anm. 16), 38-41. 28 B OTTE , Tradition apostolique (wie Anm. 10), 12-16. 29 Die Junktur „dilectum puerum“ scheint auf Mt 12,18a anzuspielen (ἰδοὺ ὁ παῖς μου ὃν ᾑρέτισα, ὁ ἀγαπητός μου; Vulgata: ecce puer meus quem elegi dilectus meus; die altlateinische Überlieferung zu Mt ist noch nicht aufgearbeitet), wo Jes 42,1, der Auftakt des ersten Gottesknechtsliedes, zitiert wird. Dieser Zusammenhang berechtigt zur Übersetzung von „puer“ mit „Knecht“. Ansgar F RANZ , „Werdet, was ihr seht, und empfangt, was ihr seid: Leib Christi“. Die Feier der Eucharistie als Ort der Gemeinschaft mit Gott und den Geschwistern, in: Reinhard G ÖLLNER (Hg.), Gott erfahren. Religiöse Orientierung durch Sakramente (Theologie im Kontakt 13), Münster 2005, 57-71, hier: 63, sieht damit gleich zu Beginn einen Hinweis auf die Passion als „das zentrale Thema des Gebetes“. - Bei der Durchsicht der altlateinischen Übersetzungszeugnisse für die Gottes- <?page no="329"?> Dank - Darbringung - Bitte 315 quem in ultimis temporibus misisti nobis salvatorem et redemptorem et angelum voluntatis tuae, den du uns in den letzten Zeiten gesandt hast als Retter und Erlöser und Boten deines Willens, qui est verbum tuum inseparabile, der dein (von dir) untrennbares Wort ist, per quem omnia fecisti - et beneplacitum tibi fuit -, durch den du alles geschaffen hast - und es gefiel dir gut -, misisti de caelo in matricem virginis (den du) vom Himmel in den Schoß einer Jungfrau gesandt hast quique in utero habitus incarnatus est et filius tibi ostensus est, ex spiritu sancto et virgine natus, und der im Leib getragen Fleisch annahm und den du als deinen Sohn offenbart hast, geboren aus dem Heiligen Geist und der Jungfrau, qui voluntatem tuam conplens et populum sanctum tibi adquirens extendit manus, cum pateretur, ut a passione liberaret eos, qui in te crediderunt, der deinen Willen erfüllend und dir ein heiliges Volk erwerbend die Hände ausbreitete, als er litt, um die vom Leiden zu befreien, die an dich geglaubt haben, qui, cumque traderetur voluntariae passioni, ut mortem solvat et vincula diabuli dirumpat et infernum calcet et iustos inluminet et terminum figat et resurrectionem manifestet, accipiens panem gratias tibi agens dixit: „Accipite, manducate, hoc est corpus meum, quod pro vobis confringetur“; similiter et calicem dicens: „Hic est sanguis meus, qui pro vobis effunditur. Quando hoc facitis, meam commemorationem facitis.“ der, als er sich aus freiem Willen dem Leiden auslieferte, um den Tod zu lösen und die Fesseln des Teufels zu zerreißen und die Unterwelt niederzutreten und die Gerechten zu erleuchten und eine Grenze zu setzen und die Auferstehung kundzutun, das Brot nahm und dir mit den Worten Dank sagte: „Nehmt, esst, das ist mein Leib, der für euch zerbrochen werden wird“; ähnlich auch den Kelch, indem er sagte: „Das ist mein Blut, das für euch vergossen wird. Sooft ihr dies tut, tut ihr mein Gedächtnis.“ Memores igitur mortis et resurrectionis eius offerimus tibi panem et calicem gratias tibi agentes, quia nos dignos habuisti adstare coram te et tibi ministrare. Eingedenk also seines Todes und seiner Auferstehung bringen wir dir das Brot und den Kelch dar, dir Dank sagend, dass du uns für würdig erachtet hast, vor dir zu stehen und dir (als Priester) 30 zu dienen. knechtslieder zeichnet sich die Tendenz ab, dass puer parallel zu LXX παῖς geht, während an den Stellen, wo LXX δοῦλος übersetzt, lateinisches servus überwiegt (vgl. beispielhalber zu Jes 42,1: Vetus Latina 12/ 2,967-971 Gryson). 30 Vgl. B RADSHAW - J OHNSON - P HILLIPS , Apostolic Tradition (wie Anm. 16), 48: „On the basis of the readings in the Ethiopic, Apostolic Constitutions, and Testamentum Domini, both Connolly and Botte judged that the original Greek verb translated in the Latin as ‘minister’ had been ἱερατεύειν, ‘to exercise the priesthood.’“. Dabei wird die Wendung in der Regel als bezogen auf „the ministry of the whole priestly people of God“ verstanden. <?page no="330"?> Alexander Zerfaß 316 Et petimus, ut mittas spiritum tuum sanctum in oblationem sanctae ecclesiae. Und wir bitten, dass du deinen heiligen Geist auf die Darbringung der heiligen Kirche sendest. In unum congregans des omnibus, qui percipiunt, sanctis in repletionem spiritus sancti ad confirmationem fidei in veritate, ut te laudemus et glorificemus per puerum tuum Iesum Christum, per quem tibi gloria et honor, patri et filio cum sancto spiritu, in sancta ecclesia tua et nunc et in saecula saeculorum. Amen. In eins versammelnd gebest du allen Heiligen, die sie empfangen, zur Erfüllung mit dem Heiligen Geist zur Bestärkung des Glaubens in der Wahrheit, damit wir dich loben und verherrlichen durch deinen Knecht Jesus Christus, durch den dir Herrlichkeit und Ehre (ist) [dem Vater und dem Sohn mit dem Heiligen Geist] 31 in deiner heiligen Kirche jetzt und in Ewigkeit. Amen. Der Aufbau des Gebets ist deutlich dreiteilig. 32 Der erste, umfangreichste Abschnitt, der grammatikalisch ein einziges fortlaufendes Satzgefüge darstellt, ist eine Danksagung („gratias tibi referimus“) für das vergangene (das Tempus ist durchgängig Perfekt) Heilshandeln Gottes. Als Mittler dieser Danksagung an den Vater erscheint Christus („per puerum tuum Iesum Christum“), der sich zugleich auch als ihr Gegenstand erweist, insofern alle Einzelaussagen des anamnetischen Teils als Relativsätze auf ihn bezogen sind. 33 Der erste Relativsatz nennt überschriftartig 34 die eschatologische 35 Sendung Christi und bezeichnet ihn mit drei biblisch gefüllten Titeln als Retter 36 , Erlöser 37 und Boten des göttlichen Willens 38 . 31 Vgl. oben Anm. 19. Vgl. die äthiopische Fassung: „[…] durch deinen Sohn Jesus Christus, durch den dir Preis und Kraft ist in der heiligen Kirche […]“ (D UENSING , Der aethiopische Text [wie Anm. 26], 25). 32 M AZZA , Origins (wie Anm. 21), 153-176, stellt die dreiteilige Struktur in die Traditionslinie der jüdischen Birkat ha-Mazon und parallelisiert sie mit dem Aufbau des judenchristlichen Eucharistiegebets in Didache 10 (Dank - Dank - Bitte). Dabei setzt er voraus, dass die Darbringungsaussage des zweiten Abschnitts („memores … offerimus“) das Ergebnis einer sekundären Erweiterung der ursprünglichen Danksagung für den gegenwärtigen Vollzug sei (in der vorliegenden Fassung partizipiale Nebenaussage „gratias agentes“). 33 Die stark christologische Prägung des gesamten Gebets kommt auch in seiner Rahmung durch die Formel „per (dilectum) puerum tuum Iesum Christum“ zum Ausdruck: Sowohl die Danksagung, von der es ausgeht, als auch der Lobpreis, auf den es abzielt, sind durch Christus vermittelt. 34 Vgl. Cesare G IRAUDO , La struttura letteraria della preghiera eucaristica. Saggio sulla genesi letteraria di una forma. Toda veterotestamentaria - b e raka giudaica - anafora cristiana (Analecta Biblica 92), Rom 1981, 294: „Anticipazione tematica della cristologia storica“. 35 Vgl. 1 Petr 1,20: „Er war schon vor der Erschaffung der Welt dazu ausersehen [zum Loskauf der Christen durch sein kostbares Blut; vgl. 1,18f], und euretwegen ist er am Ende der Zeiten [Vulg: novissimis temporibus] erschienen“; Gal 4,4: „Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn […]“. 36 Vgl. Lk 2,11; Joh 4,42 sowie zahlreiche Belege in den Pastoralbriefen und in 2 Petr. <?page no="331"?> Dank - Darbringung - Bitte 317 „Auf die drei großen Namen folgen die drei großen ‚Etappen‘ der Heilsgeschichte: Schöpfung, Menschwerdung, Erlösung.“ 39 Jeder dieser drei Stationen sind zwei Relativsätze gewidmet, 40 wobei der Umfang sich von Station zu Station steigert. Bei der ersten Etappe wird mit dem Johannesprolog auf die Schöpfungsmittlerschaft des göttlichen Wortes abgehoben, 41 während die Aussagen zur Inkarnation die Jungfrauengeburt akzentuieren. 42 Schon durch den deutlich erweiterten Umfang, verbunden mit erhöhter syntaktischer Komplexität, gibt sich die die Passion betreffende Passage als Höhepunkt und Zentrum der heilsgeschichtlichen Anamnese zu erkennen. Nach Art des Johannesevangeliums wird die Willenseinheit zwischen Vater und Sohn betont, indem die Leidenshingabe einerseits als Erfüllung des göttlichen Willens („voluntatem tuam conplens“), andererseits als freiwillig („voluntariae passioni“) bezeichnet wird. Durch sein Leiden, als er am Kreuz die Arme ausbreitete, erwarb Christus für Gott ein heiliges Volk 43 und befreite die Glaubenden vom Leiden: Seine stellvertretende Lebenshingabe überwindet den Tod, was in sechs Bildern entfaltet wird, die dem Vorstellungskomplex des descensus, des Hinabstiegs in das Reich des Todes, entnommen sind. 44 Dabei geht es in den ersten drei Bildern um den „dreifache[n] Sieg Christi über die drei Mächte der Tiefe: den Tod, den Teufel und den Hades“, 45 während die zweite Tria- 37 Zum biblischen Hintergrund dieses Christustitels (vgl. z.B. Mk 10,45; Eph 1,7; 1 Petr 1,18) und der damit verbundenen Bildlichkeit vgl. Alexander Z ERFASS , Mysterium mirabile. Poesie, Theologie und Liturgie in den Hymnen des Ambrosius von Mailand zu den Christusfesten des Kirchenjahres (Pietas Liturgica. Studia 19), Tübingen - Basel 2008, 84f. 38 D RISCOLL , Uncovering (wie Anm. 20), 340f, sieht hierin eine Anspielung auf Jes 9,5 LXX: μεγάλης βουλῆς ἄγγελος; zu altlateinischen Übersetzungen dieses Verses mit „angelus“ vgl. Vetus Latina 12/ 1,293-296 Gryson. F RANZ , Werdet, was ihr seht (wie Anm. 29), 63, bezieht die Wendung auf die johanneischen Aussagen über Christus als „Bote, der vom Himmel herabgekommen ist, um den Willen dessen zu tun, der ihn gesandt hat (Joh 4,34; 5,30; 6,38)“. 39 F RANZ , Werdet, was ihr seht (wie Anm. 29), 63. 40 Vor „misisti de caelo in matricem virginis“ ist das fehlende Relativpronomen zu ergänzen, wie der folgende Anschluss mit „quique“ („und der“) beweist. 41 Vgl. Joh 1,1.3. Die Bedeutung und sogar die grammatikalische Zuordnung von „et beneplacitum tibi fuit“ sind umstritten (vgl. D RISCOLL , Uncovering [wie Anm. 20], 343f); es könnte sich um eine Anspielung auf die Formel „er sah, dass es gut war“ des Schöpfungsberichts Gen 1 handeln. 42 Die Wendung „in utero habitus“ bezieht sich auf Mt 1,18 (Vulg: in utero habens de spiritu sancto) und Mt 1,23 (Vulg: ecce virgo in utero habebit). 43 Vgl. 1 Petr 2,9: „Ihr aber seid […] ein heiliger Stamm, ein Volk, das sein besonderes Eigentum wurde [Vulg: gens sancta, populus adquisitionis] […]“. 44 Eine eingehende Auslegung der Bilder im Vergleich mit einer ähnlichen Passage in der Paschahomilie des Melito von Sardes bietet Alois G RILLMEIER , Der Gottessohn im Totenreich. Soteriologische und christologische Motivierung der Descensuslehre in der älteren christlichen Überlieferung, in: DERS ., Mit ihm und in ihm. Christologische Forschungen und Perspektiven, Freiburg i.Br. u.a. 2 1978, 76-174, hier: 90-100. 45 A.a.O., 91. <?page no="332"?> Alexander Zerfaß 318 de „die sieghaften Folgen für die Menschen“ 46 ausmalt. Die Theologie des descensus basiert auf verschiedenen neutestamentlichen Anknüpfungspunkten 47 und ist seit der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts breit bezeugt. 48 Sie verleiht den soteriologischen Dimensionen der Auferstehungsbotschaft eine besondere Dramatik und Anschaulichkeit, was wiederholt zu narrativen Ausgestaltungen einlud, deren bedeutendste sich im apokryphen Nikodemusevangelium findet. Unter den sechs im Hochgebet der TA verwendeten Bildern für die in der Unterwelt vollbrachte Befreiungstat Christi zog die Wendung „terminum figat“ besondere Aufmerksamkeit der Forschung auf sich. 49 Am meisten überzeugt die Interpretation Grillmeiers im Sinne der oben vorgeschlagenen Übersetzung „eine Grenze zu setzen“: „Die Grenze wird dem Tod gesetzt, und dies durch die Auferstehung Christi. Wie sie auch immer aufzufassen ist oder verstanden wurde, mehr im räumlichen oder mehr im zeitlichen Sinn, sicherlich ist sie ein Ausdruck des Glaubens an Christi Sieg über die Mächte der Unterwelt. Die Christen sind sich freilich bewusst, daß die feindliche Macht nicht einfach vernichtet ist, sondern nur beschränkt und abgegrenzt wurde. Der Unterwelt wird eine gewisse Macht belassen, sie bleibt eine geschichtliche Größe, aber eingeengt auf einen engen Raum, gebannt hinter eine feste Grenze, die nicht mehr überschritten werden kann.“ 50 Der gesamte anamnetische Abschnitt gipfelt im Einsetzungsbericht, der wie alle vorangehenden Aussagen als Relativsatz dem Hauptsatz „gratias tibi referimus“ untergeordnet ist. Im Gedankengang des Hochgebets trägt er eine doppelte Funktion, indem er einerseits die stellvertretende Befreiungstat abschließend in der Selbstinterpretation Jesu verankert („pro vobis“ 51 ) und zugleich als Stiftungsgedächtnis das Tun der Gemeinde legitimiert. Letzteres zeigt die doppelte Stichwortverknüpfung, die die sich anschließende Darbringungsaussage an die Abendmahlsanamnese zurückbindet. Die Gemeinde sagt Gott Dank („gratias tibi agentes“), wie Jesus Gott Dank sagte („gratias tibi agens“). In der Darbringung vollzieht sich eben jenes Gedächtnis („memores […] offerimus“), auf das der Wiederholungsauftrag Jesu zielt („meam commemorationem facitis“). Worin besteht aber der vergegenwärtigende Charakter der Darbringung, die den zweiten Abschnitt des Hochgebetes bildet? Der Text setzt offenkundig - anders als die spätere westkirchliche Tradition - keine „Wandlung“ der eucharistischen Gaben durch die Rezitation der Verba Testamenti voraus. Seit frühester Zeit war es den Christen selbstverständlich, von der realen Gegen- 46 A.a.O., 94. 47 Besonders 1 Petr 3,19; 4,6; Apg 2,27-31; Mt 12,40; 27,52f; Röm 10,7; Kol 1,18; Eph 4,9. 48 Für exemplarische Belege sowie Literaturhinweise vgl. Z ERFASS , Mysterium mirabile (wie Anm. 37), 114-116. 49 B RADSHAW - J OHNSON - P HILLIPS , Apostolic Tradition (wie Anm. 16), 47f, referieren diverse Übersetzungsvorschläge. 50 G RILLMEIER , Der Gottessohn im Totenreich (wie Anm. 44), 96f. 51 Vgl. 1 Kor 11,24; Lk 22,19f. <?page no="333"?> Dank - Darbringung - Bitte 319 wart Christi bei der Feier der Eucharistie, näherhin in den eucharistischen Gaben auszugehen. 52 Unter den Voraussetzungen des in der Spätantike verbreiteten platonischen Weltbildes setzte dies jedoch keine auf einen bestimmten Zeitpunkt fixierbare „Wandlung“ im Sinne der scholastischen Transsubstantiationslehre voraus. 53 Vielmehr konnten die Gaben gleichzeitig als Brot und Wein und - vermittelt durch das Eucharistiegebet als Ganzes 54 - als Realsymbol von Leib und Blut Christi verstanden werden, wobei entsprechend der Ontologie der platonischen Ideenlehre im Abbild das Abgebildete real gegenwärtig ist, 55 ja letztlich die Seinsqualität des sinnlich Wahrnehmbaren überhaupt nur in der Anteilhabe am Urbild besteht. Dementsprechend changiert bereits die Formulierung des Brotwortes im Einsetzungsbericht der TA zwischen den Ebenen des materiellen Brotes und des Leibes Christi im Sinne seiner personalen Ganzhingabe. Denn das Wort „confringetur“ 56 stellt einerseits ein kontrastierendes Zitat von Ex 12,46 dar, wo vom Pesachlamm die Rede ist, dem kein Knochen gebrochen werden darf, 57 und verweist damit auf Christus als das wahre Pesachlamm 58 , das am Kreuz geschlachtet wird. Gleichzeitig bezieht es sich konkret auf den Vorgang des Brotbrechens (beim 52 Vgl. etwa die Brotrede in Joh 6 oder die Emmauserzählung Lk 24. Dabei betont die Brotrede besonders den Charakter der personalen Begegnung im Empfang der eucharistischen Gaben (Joh 6,56: „Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der bleibt in mir und ich bleibe in ihm.“). Die Emmauserzählung lässt die Dialektik von Gegenwart und Entzogenheit hervortreten (Lk 24,30f: „Und als er mit ihnen bei Tisch war, nahm er das Brot, sprach den Lobpreis, brach das Brot und gab es ihnen. Da gingen ihnen die Augen auf und sie erkannten ihn; dann sahen sie ihn nicht mehr.“). 53 Vgl. dazu Alexander G ERKEN , Theologie der Eucharistie, München 1973, 61-95. 54 Vgl. etwa Justins Rede von der „durch ein Gebetswort“ (δι’ εὐχῆς λόγου; zur Übersetzung dieser Wendung vgl. Klaus G AMBER , Zur Textgeschichte des römischen Canon Missae, in: DERS ., Sakramentarstudien und andere Arbeiten zur frühen Liturgiegeschichte [Studia Patristica et Liturgica 7], Regensburg 1978, 43-100, hier: 57, gegen Franz-Josef D ÖL- GER , ICQUS , in: Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde 23 [1909], 3-112. 145-182; 24 [1910], 51-89, hier: 23 [1909], 73f; gemeint ist damit nach M ESSNER , Grundlinien [wie Anm. 15], 26, „das Eucharistiegebet im ganzen“) ‚eucharistierten‘ Nahrung (εὐχαρισϑεῖσαν τροφήν) in Apologie 1,66,2 (Patristische Texte und Studien 38,127 Marcovich); ähnlich 1,67,5 (a.a.O., 129). 55 Dieses Verständnis wird im zum Quam oblationem des römischen Canon analogen Passus des mit diesem verwandten Hochgebets ausdrücklich gemacht, das Ambrosius in De sacramentis 4,5,21 zitiert: „Dicit sacerdos: ‚Fac nobis‘, inquit, ‚hanc oblationem scriptam, rationabilem, acceptabilem, quod est figura corporis et sanguinis domini nostri Iesu Christi. Qui pridie quam pateretur […]‘“ (Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 73,55 Faller). 56 Bereits in der Textüberlieferung des paulinischen Einsetzungsberichts findet sich eine um das Partizip κλῶμενον erweiterte Lesart; vgl. Jacob K REMER , Der Erste Brief an die Korinther (Regensburger Neues Testament), Regensburg 1997, 243. 57 Vgl. K ÜPPERS , Einheit (wie Anm. 24), 22. 58 Vgl. 1 Kor 5,7. <?page no="334"?> Alexander Zerfaß 320 Abendmahl wie beim eucharistischen Mahl), der damit wiederum als „Bildhandlung auf die Passion Christi“ 59 hin transparent wird. Die Vergegenwärtigung von Tod und Auferstehung Christi („Memores igitur mortis et resurrectionis eius“) - wobei die Auferstehung gleichsam die Kehrseite des Heilstodes ist 60 - vollzieht sich also in den stiftungsgemäßen Wort- (Danksagung) und Handlungsvollzügen. Auf der Ebene der Handlungen bedarf jedoch der Akt der Darbringung noch einer vertieften Betrachtung. Als Objekt der Darbringung werden Brot und Wein benannt („offerimus tibi panem et calicem“). Inwiefern aber kann die Darbringung von Brot und Wein als Erfüllung des Gedächtnisauftrags aufgefasst werden? Inwiefern kann es überhaupt noch eine derartige Darbringung geben, nachdem doch der Hebräerbrief unter Verweis auf das eine und einzige Opfer des Kreuzes den radikalen Bruch des Christentums mit dem vorchristlichen Opferwesen, mit jeder Form von Sachopfern erklärt? 61 Nachdem er diesen Gedanken breit entfaltet hat, setzt derselbe Hebräerbrief in seinem Schlussteil aber doch wieder ein doppeltes Opfer der Christen voraus (Hebr 13,15f): „Durch ihn [Christus] also lasst uns Gott allezeit das Opfer des Lobes (ϑυσίαν αἰνέσεως) darbringen, nämlich die Frucht der Lippen, die seinen Namen preisen. Vergesst nicht, Gutes zu tun und mit anderen zu teilen (εὐποιΐας καὶ κοινωνίας); denn an solchen Opfern hat Gott Gefallen.“ Man könnte sagen, der anamnetische Abschnitt des Eucharistiegebets realisiere das Lobopfer, indem er das Christusereignis danksagend gegenwärtig setzt. Die zweite Art von Opfer: „Gutes tun“ und „mit Anderen teilen“, hat ihren Ort zunächst im Alltag, nimmt aber bei der Feier der Eucharistie in der Gabenbereitung symbolisch Gestalt an. 62 Indem die Darbringungsaussage des Hochgebets diesen Zusammenhang in ausdrücklichem Rückbezug auf den Einsetzungsbericht verbal festhält, wird deutlich: Auch dieser Vollzug ist eine Vergegenwärtigung des Kreuzesopfers, der aus Liebe frei gewählten Selbst- 59 Jürgen B ÄRSCH , „… aus ihr empfangen Handlungen und Zeichen ihren Sinn“ (SC 24). Biblische Interpretamente liturgischer Symbole und Riten am Beispiel des Kommunionteils der römischen Messliturgie (im vorliegenden Band), 347. 60 Dies wird besonders deutlich z.B. im Philipperhymnus, der die Erniedrigung „bis zum Tod am Kreuz“ mit der Erhöhung „über alle“ zusammenbindet (Phil 2,8f), oder im Johannesevangelium, das den Tod Christi doppelsinnig als „Erhöhung“ (am Kreuz und zum Vater) bezeichnet (Joh 3,14; 8,28; 12,32-34). 61 Vgl. z.B. Hebr 9,9-12: „Das ist ein Sinnbild, das auf die gegenwärtige Zeit hinweist; denn es werden Gaben und Opfer dargebracht, die das Gewissen des Opfernden nicht zur Vollkommenheit führen können; es handelt sich nur um Speisen und Getränke und allerlei Waschungen, äußerliche Vorschriften, die bis zu der Zeit einer besseren Ordnung auferlegt worden sind. Christus aber ist gekommen als Hoherpriester der künftigen Güter; und durch das erhabenere und vollkommenere Zelt, das nicht von Menschenhand gemacht, das heißt nicht von dieser Welt ist, ist er ein für allemal in das Heiligtum hineingegangen, nicht mit dem Blut von Böcken und jungen Stieren, sondern mit seinem eigenen Blut, und so hat er eine ewige Erlösung bewirkt“. 62 Vgl. z.B. August J ILEK , Das Brotbrechen. Eine Einführung in die Eucharistiefeier (Kleine Liturgische Bibliothek 2), Regensburg 1994, 135-170. <?page no="335"?> Dank - Darbringung - Bitte 321 hingabe an Gott und den Nächsten 63 - in diesem Fall eine Vergegenwärtigung durch Nachfolge. 64 Vor Gott zu stehen („adstare coram te“) und ihm als Priester zu dienen („ministrare“), bedeutet also, sich dem Priestertum Christi anzugleichen, das in der Selbsthingabe besteht. 65 Von dieser Selbsthingabe als existentieller Haltung spricht Paulus in Röm 12,1: „Angesichts des Erbarmens Gottes ermahne ich euch, meine Brüder, euch selbst als lebendiges und heiliges Opfer (ϑυσίαν ζῶσαν ἁγίαν) darzubringen, das Gott gefällt (εὐάρεστον τῷ ϑεῷ); das ist für euch der wahre und angemessene Gottesdienst (τὴν λογικὴν λατρείαν ὑμῶν).“ Die logike latreia, der logos-gemäße, Christus-gemäße Gottesdienst findet, wie der Kontext bei Paulus deutlich zu erkennen gibt, durchaus nicht nur, ja nicht einmal primär in der Feier der Liturgie statt. Er ereignet sich im gesamten Lebensvollzug - dort, wo Christen ‚sich nicht dieser Welt angleichen‘ (12,2), sondern als Glieder des Leibes Christi in Demut und Liebe einander dienen (12,3-8). In der eucharistischen Liturgie jedoch verdichtet sich diese Haltung zeichenhaft in der Darbringung von Brot und Wein durch die Gläubigen. 66 Der dritte und letzte Abschnitt des Eucharistiegebets ist die zweigeteilte Epiklese, die Bitte um die Herabsendung des Heiligen Geistes auf die dargebrachten Gaben und auf diejenigen, die sie empfangen. Auf diese Weise werden die Gläubigen ‚in eins versammelt‘ („in unum congregans“). Diese For- 63 Zur Kategorie des Opfers als Interpretament des Kreuzestodes Jesu im Neuen Testament vgl. Ruben Z IMMERMANN , Die neutestamentliche Deutung des Todes Jesu als Opfer. Zur christologischen Koinzidenz von Opfertheologie und Opferkritik, in: Kerygma und Dogma 51 (2005), 72-99. 64 Vgl. Hans-Joachim S CHULZ , Ökumenische Aspekte der Darbringungsaussagen in der erneuerten römischen und in der byzantinischen Liturgie, in: Archiv für Liturgiewissenschaft 19 (1978), 7-28, hier: 16: „Brot und Wein sind nicht bloße Materie, sondern die lebenserhaltenden Gaben Gottes, durch deren Darbringung an Gott und Spende für die Brüder der Mensch sein Leben Gott weiht und Selbstlosigkeit bekundet, um so die Haltung zu verwirklichen, die nicht nur Nachahmung der Abendmahlshandlung des Herrn, sondern zugleich auch Nachfolge in seiner Selbsthingabe bedeutet“ (Hervorhebungen im Original). 65 Vgl. D RISCOLL , Uncovering (wie Anm. 20), 355: „The Lord offered himself; the community now gives thanks that it can offer itself together with the Lord“. Ebd., Anm. 70: „This idea of participation is «hidden», as it were, in the text of this anaphora, which speaks simply of offering the bread and the cup. The bread and the cup are a «sacrament» of this participation (sacraments hide as well as reveal)“. 66 Der gedankliche Zusammenhang ist gut zusammengefasst bei Richard D. M C C ALL , The Shape of the Eucharistic Prayer: An Essay on the Unfolding of an Action, in: Worship 75 (2001), 321-333, hier: 328: „The eucharistic prayer, then, is an anamnetic action of the Christian community by which the people recall God’s acts of salvific love in the death and resurrection of Jesus Christ and by that anamnesis are authorized (because God is faithful to his acts) and enabled (because Christ’s self-offering is made as the single essential human act) to offer themselves (symbolically through their praise and thanksgiving and their bread and wine) as Christ offered himself. By adopting this radical posture of self-sacrificial openness, they become the place in which the Holy Spirit prays in concrete terms for the continued action of God in the world“. <?page no="336"?> Alexander Zerfaß 322 mulierung ist im Licht der paulinischen Eucharistietheologie zu deuten, der zufolge die Teilhabe am eucharistischen Leib Christi die Einheit des ekklesialen Leibes Christi konstituiert. 1 Kor 10,16f: „Ist der Kelch des Segens, über den wir den Segen sprechen, nicht Teilhabe am Blut Christi? Ist das Brot, das wir brechen, nicht Teilhabe am Leib Christi? Ein Brot ist es. Darum sind wir viele ein Leib; denn wir alle haben teil an dem einen Brot.“ Auch dass es der Geist ist, der den Einzelnen in die Kirche als Leib Christi einfügt und die Einheit dieses Leibes trägt, ist paulinische Theologie (1 Kor 12,12f.27). Zielpunkt der Kommunikantenepiklese im Hochgebet der TA ist die Bestärkung des Glaubens in der Wahrheit („ad confirmationem fidei in veritate“), der letztlich ins Gotteslob mündet („ut te laudemus et glorificemus“). 2 Die Hochgebete II, III und IV Ein Vergleich des Hochgebets der TA mit dem auf seiner Grundlage entwickelten Hochgebet II des Missale Romanum 1970 gibt deutlich zu erkennen, welche Vorentscheidungen an die Seite der altkirchlichen Vorgaben treten oder diese auch modifizieren: Hochgebet der TA Hochgebet II im MR 1970/ 2002 Einleitungsdialog gratias referimus Christus Retter, Erlöser, Bote a) Schöpfung b) Menschwerdung c) Befreiung dem Leiden ausgeliefert sechs Bilder Verba testamenti memores offerimus petimus a) Gabenepiklese b) Kommunikantenepiklese Doxologie + Amen Einleitungsdialog Präfation (gratias agere) 67 Christus a) Schöpfung Erlöser, Retter b) Menschwerdung c) Befreiung - zwei Bilder Sanctus Gabenepiklese Verba testamenti (Wandlung) Akklamation „Deinen Tod …“ memores offerimus Kommunikantenepiklese Fürbitten (Kirche, Verstorbene, alle) Doxologie + Amen Gegenüber dem Hochgebet der TA treten in der Prex eucharistica II drei Elemente neu hinzu: das Sanctus, seit dem 4./ 5. Jahrhundert regelmäßiger Be- 67 Die nach dem Vorbild der TA gestaltete, an sich feststehende Präfation kann auch durch andere Präfationen ersetzt werden, vor allem solche, „die das Heilsmysterium zusammenfassend darstellen, wie etwa die allgemeinen Präfationen“ (Grundordnung des Römischen Messbuchs [GORM] 365b). <?page no="337"?> Dank - Darbringung - Bitte 323 standteil aller Hochgebetstraditionen, 68 die Akklamation „Geheimnis des Glaubens“, die im Zuge der Liturgiereform nach ostkirchlichem Vorbild in alle römischen Hochgebete eingefügt wurde, 69 sowie ein Block von Fürbitten (Interzessionen), der in den neuen Hochgebeten im Stil der Anaphoren antiochenischen Typs im Schlussteil des Gebets angesiedelt ist. Im Canon Romanus verteilen sich die Interzessionen auf zwei Passagen in beiden Hälften des Textes (die Teile Te igitur bis Hanc igitur bzw. Memento etiam und Nobis quoque peccatoribus). Die Interzessionen des Canon Romanus lassen, zumindest in der lateinischen Fassung, deutlicher als die meisten entsprechenden Formulierungen der neuen Hochgebete erkennen, dass es zunächst nicht um Fürbitten geht („offere pro“ im Sinne von ‚zugunsten von‘), sondern um das Beten in Gemeinschaft mit den räumlich nicht anwesenden Gliedern der Kirche („offere pro“ im Sinne von ‚anstelle von‘, d.h. in der Konsequenz ‚in Gemeinschaft mit‘). 70 Einen markanten Unterschied zwischen Hochgebet II und seiner altkirchlichen Vorlage stellt darüber hinaus die Spaltung der ursprünglichen Doppelepiklese dar. Die Gabenepiklese steht nun, verknüpft mit einer Wandlungsbitte, unmittelbar vor dem Einsetzungsbericht, während die Kommunikantenepiklese am alten Ort verbleibt. Diese Umstellung reflektiert einerseits das im Mittelalter fixierte Verständnis der Verba Testamenti als Wandlungsworte. 71 Unter diesen Umständen geht die Gabenepiklese dem Konsekrationsmoment 68 Vgl. Robert T AFT , The Interpolation of the Sanctus into the Anaphora: When and where? A Review of the Dossier, in: Orientalia Christiana Periodica 57 (1991), 281-308; 58 (1992), 83-121; Bryan D. S PINKS , The Sanctus in the Eucharistic Prayer, Cambridge 1991; Gabriele W INKLER , Das Sanctus. Über den Ursprung und die Anfänge des Sanctus und sein Fortwirken (Orientalia Christiana Analecta 267), Rom 2002; Paul B RADSHAW - Maxwell E. J OHNSON , The Eucharistic Liturgies. Their Evolution and Interpretation, Collegeville/ Minnesota 2012, 111-121. 69 Vgl. Andreas H EINZ , Anamnetische Gemeindeakklamation im Hochgebet, in: DERS . - Heinrich R ENNINGS (Hgg.), Gratias agamus. Studien zum eucharistischen Hochgebet (FS Balthasar Fischer), Freiburg i.Br. u.a. 1992, 129-147, hier: 129f. 70 Dazu ausführlich Reinhard M ESSNER , Unterschiedliche Konzeptionen des Meßopfers im Spiegel von Bedeutung und Deutung der Interzessionen des römischen Canon missae, in: Albert G ERHARDS - Klemens R ICHTER (Hgg.), Das Opfer. Biblischer Anspruch und liturgische Gestalt (Quaestiones Disputatae 186), Freiburg i.Br. u.a. 2000, 128-184, hier: 160-173. 71 Zum theologiegeschichtlichen Hintergrund vgl. G ERKEN , Theologie der Eucharistie (wie Anm. 53), 97-125. Im Blick auf Ambrosius von Mailand, der unter den Kirchenvätern gemeinhin als Kronzeuge für ein Verständnis der im Hochgebet zitierten Verba Testamenti als Konsekrationsmoment herangezogen wird, stellt Taft klar: „Ambrose is not speaking of the words as a ‘formula.’ Not until the 12th century do the scholastics formulate the thesis that the Words of Institution are the essential ‘form of the sacrament’ which alone effect the consecration of the bread and wine.“ Ambrosius „obviously attributes the efficacy of Jesus’ words not to the prayer of the priest, but to the indefectible effectiveness of the Word of God, as is perfectly clear in his De sacramentis IV, 4.14-17“: Robert F. T AFT , Mass without the consecration? The historic agreement on the Eucharist between the Catholic Church and the Assyrian Church of the East promulgated 26 october 2001, in: Worship 77 (2003), 482-509, hier: 504.505 (Hervorhebung im Original). <?page no="338"?> Alexander Zerfaß 324 sinnvollerweise voraus. Zum anderen handelt es sich ausdrücklich um eine Angleichung an den Canon Romanus, 72 dessen Abschnitt Quam oblationem nach damaligem Reflexionsstand eine präkonsekratorische Epiklese (wenn auch ohne Nennung des Heiligen Geistes) darstellte, sodass die zweigeteilte Epiklese als Ausdruck des „genius Romanus“ - in diesem Fall der alexandrinischen Tradition verwandt - erschien. 73 Tatsächlich jedoch besitzt der Canon Romanus im Supplices te rogamus eine hinsichtlich Stellung und Funktion zum Hochgebet der TA analoge Doppelepiklese, allerdings in der Tat ohne die Erwähnung des Geistes: Im Unterschied zu den gängigen Epiklesen ist hier nicht von der Abwärtsbewegung des Heiligen Geistes die Rede, sondern von der Aufwärtsbewegung zum himmlischen Altar. 74 Nicht nur für die Epiklese, sondern auch für die Darbringungsaussage zeitigt das Verständnis der Verba Testamenti als Wandlungsworte schwerwiegende hermeneutische Konsequenzen, denn gemäß scholastischer Transsubstantiationslehre sind Brot und Wein, die in der Logik des Hochgebets der TA als Ausdruck der Selbsthingabe der Gläubigen fungierten, zum Zeitpunkt der Darbringungsaussage substantialiter gar nicht mehr vorhanden. Insbesondere Hochgebet IV zieht daraus eine deutliche Konsequenz, indem es „seinen Leib und sein Blut“ 75 als Objekt der Darbringung bezeichnet. 76 Auf einer bestimmten, für die Eucharistietheologie seit dem Mittelalter hoch bedeutsamen Verständnisebene kommt unter diesen Voraussetzungen nur Christus selbst als Subjekt der Darbringung in Frage bzw. der Priester, der ‚in persona Christi‘ das Messopfer darbringt. 77 Man wird nicht fehlgehen, hierin eine Wurzel des sakramententheologischen wie liturgie- und frömmigkeitspraktischen Auseinanderfallens von Messopfer und Sakrament der Eucharistie sowie der weitgehenden Trennung der Vollzugsformen von Klerus und Gemeinde im Mittelalter zu erblicken. 72 Vgl. B UGNINI , Liturgiereform (wie Anm. 2), 483. 73 Vgl. J UNGMANN , Missarum Sollemnia (wie Anm. 10), 2,238-242. Die Problematik dieser Sichtweise arbeitet Reinhard M ESSNER , Einige Probleme des eucharistischen Hochgebets, in: DERS . - Eduard N AGEL - Rudolf P ACIK (Hgg.), Bewahren und Erneuern. Studien zur Meßliturgie (FS Hans Bernhard Meyer SJ; Innsbrucker Theologische Studien 42), Innsbruck - Wien 1995, 174-201, hier: 184-189, auf. 74 Vgl. S CHULZ , Ökumenische Aspekte (wie Anm. 64), 22f; Reinhard M ESSNER , Die Meßreform Martin Luthers und die Eucharistie der Alten Kirche. Ein Beitrag zu einer systematischen Liturgiewissenschaft (Innsbrucker Theologische Studien 25), Innsbruck - Wien 1989, 89-91. 75 Die Feier der Heiligen Messe. Meßbuch für die Bistümer des deutschen Sprachgebietes. Authentische Ausgabe für den liturgischen Gebrauch, Teil II: Das Meßbuch deutsch für alle Tage des Jahres außer der Karwoche, Einsiedeln u.a. ²1988, 508. 76 Kritisch dazu M ESSNER , Einige Probleme (wie Anm. 73), 197f; Martin S TUFLESSER , Memoria Passionis. Das Verhältnis von lex orandi und lex credendi am Beispiel des Opferbegriffs in den Eucharistischen Hochgebeten nach dem II. Vatikanischen Konzil (Münsteraner Theologische Abhandlungen 51), Altenberge 1998, 349f. 77 Vgl. M ESSNER , Einige Probleme (wie Anm. 73), 196. <?page no="339"?> Dank - Darbringung - Bitte 325 Jedoch sind die Hochgebetstexte selbst, der klassische ebenso wie die neuen, in diesem Punkt wesentlich differenzierter. Die direkt auf die Darbringungsaussage folgende Kommunikantenepiklese von Hochgebet IV lautet: „Respice, Domine, in Hostiam, quam Ecclesiae tuae ipse parasti, et concede benignus omnibus qui ex hoc uno pane participabunt et calice, ut, in unum corpus a Sancto Spiritu congregati, in Christo hostia viva perficiantur, ad laudem gloriae tuae.“ 78 „Sieh her auf die Opfergabe, die du selber deiner Kirche bereitet hast, und gib, daß alle, die Anteil erhalten an dem einen Brot und dem einen Kelch, ein Leib werden im Heiligen Geist, eine lebendige Opfergabe in Christus zum Lob deiner Herrlichkeit.“ 79 Die eucharistische Opfergabe wird von zwei Richtungen her bestimmt: einerseits von der Heilsgeschichte her („die Opfergabe, die du selber deiner Kirche bereitet hast“: die Hingabe des Sohnes), andererseits von der Selbsthingabe der Gläubigen her, die in der Kommunion zum Leib Christi auferbaut und als solcher zur „lebendigen Opfergabe in Christus“ werden. Unverkennbar spielt die Wendung „lebendige Opfergabe“ auf Röm 12,1 an, jene Kernaussage zur Selbsthingabe der Christen, die oben bereits angesprochen wurde. In ähnlicher Weise verfährt Hochgebet III, das Darbringungsaussage und Kommunikantenepiklese gleichsam ineinander verflicht: „Memores igitur, Domine, eiusdem Filii tui salutiferae passionis necnon mirabilis resurrectionis et ascensionis in caelum, sed et praestolantes alterum eius adventum, offerimus tibi, gratias referentes, hoc sacrificium vivum et sanctum. „Darum, gütiger Vater, feiern wir das Gedächtnis deines Sohnes. Wir verkünden sein heilbringendes Leiden, seine glorreiche Auferstehung und Himmelfahrt und erwarten seine Wiederkunft. So bringen wir dir mit Lob und Dank dieses heilige und lebendige Opfer dar. Respice, quaesumus, in oblationem Ecclesiae tuae et, agnoscens Hostiam, cuius voluisti immolatione placari, concede, ut qui Corpore et Sanguine Filii tui reficimur, Spiritu eius Sancto repleti, unum corpus et unus spiritus inveniamur in Christo. Schau gütig auf die Gabe deiner Kirche. Denn sie stellt dir das Lamm vor Augen, das geopfert wurde und uns nach deinem Willen mit dir versöhnt hat. Stärke uns durch den Leib und das Blut deines Sohnes und erfülle uns mit seinem Heiligen Geist, damit wir ein Leib und ein Geist werden in Christus. Ipse nos tibi perficiat munus aeternum, […].“ 80 Er mache uns auf immer zu einer Gabe, die dir wohlgefällt, […].“ 81 In der eigentlichen Darbringungsaussage („memores … offerimus“) evoziert wiederum ein Zitat von Röm 12,1 („dieses heilige und lebendige 82 Opfer“) die 78 Missale Romanum ex decreto sacrosancti oecumenici Concilii Vaticani II instauratum auctoritate Pauli PP. VI promulgatum Ioannis Pauli PP. II cura recognitum, editio typica tertia 2002, reimpressio emendata, Vatikanstadt 2008, 595. 79 Meßbuch 1988, 508; Hervorhebungen im Original. 80 Missale Romanum 2002/ 8, 587f. 81 Meßbuch 1988, 496; Hervorhebungen im Original. <?page no="340"?> Alexander Zerfaß 326 Selbsthingabe der Gläubigen als die logike latreia. Gleichzeitig wird „die Gabe deiner Kirche“ als Vergegenwärtigung des Kreuzesopfers, der Selbsthingabe Christi, ausgewiesen. 83 Im Anschluss an die Kommunikantenepiklese mit ihrer Bitte um die Einung des Leibes Christi wird der Gedanke, dass der Lebensvollzug der Gläubigen selbst die Opfergabe ist, erneut aufgenommen. Die deutsche Fassung greift dabei durch den hinzugefügten Gliedsatz „die dir wohlgefällt“ nochmals deutlich auf Röm 12,1 zurück. So wird deutlich, dass auch die neuen Hochgebete an dem Grundverständnis der Darbringungsaussage festhalten, wie es sich anhand des Hochgebets der TA entwickeln ließ. 84 Gleichzeitig vermitteln sie es mit den hermeneutischen Vorgaben, die sich aus dem westkirchlichen Verständnis der Verba Testamenti ergeben. Gerade die Hochgebete III und IV führen so zwei Aussagereihen zu einer theologischen Synthese: Es geht um die Selbsthingabe des Leibes Christi, des Hauptes - in der Vergegenwärtigung seines geschichtlichen Kreuzestodes und der in ihm kulminierenden Pro-Existenz - und der Glieder, die sich dem Haupt in der existentiellen Haltung der Selbsthingabe an Gott und den Nächsten anschließen, einer Haltung, die sich liturgisch in der Gabendarbringung manifestiert. Mit unterschiedlichen Akzentuierungen 85 bewegen sich die neuen Hochgebete im Rahmen des anhand der TA beschriebenen Grundduktus, ergänzt und variiert durch die genannten römischen Spezifika und zusätzlichen Elemente. 3 Hochgebet I: Der Canon Romanus Auch im Canon Romanus lässt sich die vom Hochgebet der TA her bekannte Struktur nachweisen, obwohl sie hinter den markanten Eigenheiten dieses 82 Aus unerfindlichen Gründen vertauscht die deutsche Fassung, anders als die lateinische, die Reihenfolge der Adjektive gegenüber der paulinischen Vorlage. 83 S TUFLESSER , Memoria Passionis (wie Anm. 76), 341, weist zu Recht darauf hin, dass die die lateinische Vorlage erweiternde deutsche Formulierung „sie stellt dir das Lamm vor Augen“ theologisch besonders gut gelungen ist. Im Blick auf den gesamten Passus äußert sich S TUFLESSER , a.a.O., 340-342, jedoch kritisch. 84 Das Konzil hatte in SC 48 betont: Die Christen „sollen Gott danksagen und die unbefleckte Opfergabe darbringen nicht nur durch die Hände des Priesters, sondern auch gemeinsam mit ihm und dadurch sich selber darbringen lernen. So sollen sie durch Christus, den Mittler, von Tag zu Tag zu immer vollerer Einheit mit Gott und untereinander gelangen, damit schließlich Gott alles in allem sei“. Die zitierten Passagen der Hochgebete III und IV setzen dieses Programm gleichsam in Gebetssprache um. 85 Hochgebet III weiß sich in der Tradition des Canon Romanus besonders dem Opfergedanken verpflichtet. Hochgebet IV ist nach orientalischem Vorbild gestaltet und zeichnet sich durch eine weit gespannte, in der feststehenden Präfation mit einem Schöpfungslob beginnende und das ausgedehnte Postsanctus einschließende, die gesamte Heilsgeschichte umfassende Anamnese aus. <?page no="341"?> Dank - Darbringung - Bitte 327 Gebets, das zudem das Ergebnis einer komplexen Textgeschichte darstellt, 86 auf den ersten Blick stark zurücktritt. Hochgebet der TA Hochgebet I (Canon Romanus) Einleitungsdialog gratias referimus Christus Retter, Erlöser, Bote a) Schöpfung b) Menschwerdung c) Befreiung dem Leiden ausgeliefert sechs Bilder Verba testamenti memores offerimus petimus a) Gabenepiklese b) Kommunikantenepiklese Doxologie + Amen Einleitungsdialog Präfation (gratias agere) Sanctus Bitte um Annahme der Gaben [Te igitur] Gedächtnis der Lebenden [Memento Domine] Gemeinschaft m. d. Heiligen (Liste) [Communicantes] Bitte um Annahme der Gaben [Hanc igitur] Bitte um Wandlung der Gaben [Quam oblationem] Verba testamenti [Qui pridie] memores offerimus [Unde et memores] Bitte um Annahme der Gaben [Supra quae] rogamus [Supplices] a) Gabenepiklese b) Kommunikantenepiklese Gedächtnis der Verstorbenen [Memento etiam] Gemeinschaft mit den Heiligen (Liste) [Nobis quoque] Doxologie + Amen Zu den Spezifika des Canon Romanus, verglichen mit anderen klassischen Anaphoren zumal orientalischer Provenienz, gehören folgende Merkmale: 87 - Der anamnetische Abschnitt ist kein feststehender Bestandteil des Textcorpus, sondern wechselt kirchenjahreszeitlich bzw. anlassbezogen. Die damit einhergehende signifikante Verkürzung dieses Abschnitts, verbunden mit der durch das Sanctus als die in der lateinischen Tradition einzige Akklamation bedingten Zäsur, führte im liturgischen Bewusstsein, in der Buchpraxis (Kanonbild) und in der theologischen Reflexion zur Abspaltung der Präfation vom ‚eigentlichen‘ Canon. Demgegenüber betont das gegenwärtige Messbuch sachgerecht, dass die Präfation selbstverständlich integraler Bestandteil des Hochgebets ist. 88 Der Einsatz wechselnder Präfationen wurde auch für Hochgebet III sowie fakultativ für Hochgebet II übernommen. - Der Opfergedanke erhält insbesondere durch die wiederholten Opferannahmebitten einen besonderen Akzent. Dabei kann, wie im Supra quae, sowohl auf vorchristliche römische Sakralsprache („propitio ac sereno vultu 86 Vgl. dazu z.B. Leo E IZENHÖFER , Te igitur und Communicantes im römischen Messkanon, in: Sacris Erudiri 8 (1956), 14-75; G AMBER , Zur Textgeschichte (wie Anm. 54); Bryan D. S PINKS , The Roman Canon Missae, in: G ERHARDS u.a. (Hgg.), Prex eucharistica III (wie Anm. 15), 129-143, hier: 131-137. 87 Das Fehlen einer ausdrücklichen Geist-Epiklese, deren Funktion jedoch durch das Supplices abgedeckt wird, sowie das Vorhandensein zweier Blöcke von Interzessionen wurden bereits genannt. 88 Vgl. GORM 79.148. <?page no="342"?> Alexander Zerfaß 328 respicere“ 89 ) als auch auf die Opfer des Ersten Bundes (Abel, Abraham, Melchisedech) positiv zurückgegriffen werden. Inhaltlich beziehen sich die Opferaussagen, wie Reinhard Meßner gezeigt hat, 90 zunächst auf die aus Hebr 13,15f bekannten Opfer des Christen, das Lobopfer („sacrificium laudis“) 91 und die in Brot und Wein symbolisierte Selbsthingabe 92 , erhalten aber, speziell im zweiten Teil des Gebets, durch die konsekratorische Hermeneutik der Verba Testamenti zusätzliche christologische Sinndimensionen. Sie können als besondere Entfaltung der Darbringungsaussage verstanden werden. Auch hier gilt, was oben zu den neuen Hochgebeten gesagt wurde: Recht verstanden besteht zwischen beiden Ebenen kein Widerspruch; vielmehr konvergieren die Verständnisse in der Selbsthingabe des Leibes Christi. „Diese Liturgie beruht auf der durchlittenen Passion eines Menschen, der freilich mit seinem Ich in das Mysterium des lebendigen Gottes selbst hineinreicht - ‚Sohn‘ ist. So kann sie nie bloße actio liturgica sein. Ihre Herkunft trägt ihre Zukunft auch in dem Sinn in sich, daß Stellvertretung die Vertretenen in sich aufnimmt, ihnen nicht äußerlich bleibt, sondern sie selber formt. Die Gleichzeitigkeit mit dem Pascha Christi, die sich in der Liturgie der Kirche ereignet, ist ja auch eine anthropologische Realität. Die Feier ist nicht nur Ritus, nicht nur liturgisches ‚Spiel‘, sie will ja logike latreia sein, ‚Logisierung‘ meiner Existenz, die innere Gleichzeitigkeit zwischen mir und der Hingabe Christi. […] Die Liturgie verweist in der Tat auf den Alltag, auf mich in meiner persönlichen Existenz. Sie zielt, wie noch einmal Paulus in dem erwähnten Text sagt, darauf hin, daß ‚unsere Leiber‘ (das heißt unsere leibhaftige irdische Existenz) ‚lebendiges Opfer‘ werden, geeint dem ‚Opfer‘ Christi (Röm 12,1). Nur so erklärt sich die Dringlichkeit der Annahmebitten […]. Eine Theologie, die die jetzt bedachten Zusammenhänge nicht sieht, kann das nur als widersprüchlich oder als Rückfall ins Vorchristliche ansehen, denn Christi Opfer ist ja längst angenommen. Ja, aber es ist als Stellvertretung nicht zu Ende. Das Semel (einmal) will sein Semper (immer) erreichen. Dieses Opfer ist erst ganz, wenn die Welt Raum der Liebe geworden ist […]. Darum beten wir in den Annahmebitten, daß Stellvertretung Wirklichkeit werde und uns ergreife. […].“ 93 Es geht „darum, daß wir uns in dieses Sein ‚für‘ aufnehmen lassen […]“. 94 - Die besondere Deutung der Verba Testamenti in der Tradition der lateinischen Kirche mag bereits die Ausbildung der vielfach beschriebenen symmetrischen Strukturen im textus receptus des Canon Romanus 95 begünstigt 89 Missale Romanum 2002/ 8, 577. 90 Vgl. M ESSNER , Unterschiedliche Konzeptionen des Meßopfers (wie Anm. 70), 128-160. 91 So ausdrücklich im Memento Domine: Missale Romanum 2002/ 8, 572. 92 Will möglicherweise die Wendung „hostiam sanctam“ (a.a.O., 576) in der Darbringungsaussage (Unde et memores) auf Röm 12,1 anspielen? 93 Joseph R ATZINGER , Der Geist der Liturgie. Eine Einführung, Freiburg i.Br. u.a. 6 2002, 51. 94 A.a.O., 52. 95 Vgl. z.B. Thomas S CHUMACHER , Die Feier der Eucharistie. Liturgische Abläufe - geschichtliche Entwicklungen - theologische Bedeutung, München 2009, 76-78. <?page no="343"?> Dank - Darbringung - Bitte 329 haben. Dennoch wird eine auf den ‚Wandlungsmoment‘ fixierte Interpretation - eine Verkürzung, der die scholastische Sakramententheologie nicht immer entgangen ist und die auch die eucharistische Frömmigkeit seit dem Hochmittelalter stark geprägt hat - dem Gebet nicht gerecht. „Das Ziel der Eucharistie […] ist unsere eigene Umwandlung, so daß wir mit Christus ‚ein Leib und ein Geist‘ werden (1 Kor 6,17).“ 96 Entsprechend weist Meßner die im Supplices te rogamus erbetene eschatologische Kommuniongemeinschaft am himmlischen Altar als den inneren Zielpunkt des Canon Romanus aus. 97 - Dass eine Fixierung auf die ‚Konsekrationsformel‘ nicht angemessen ist, zeigt nicht zuletzt die im Jahr 2001 durch die Glaubenskongregation formulierte Anerkennung der ostsyrischen Anaphora von Addai und Mari, „die man seit undenklichen Zeiten ohne den Einsetzungsbericht verwendet“ 98 . Wenn auch diese Entscheidung konkret im Blick auf die pastorale Situation unierter Ostsyrer getroffen wurde, ist sie dennoch „für Verständnis und Vollzug der Eucharistie in den anderen Kirchen anregend. Das Gebet ruft in Erinnerung, dass die Einsetzungsworte aus theologischen und liturgiedramaturgischen Gründen nicht verabsolutiert und vor allem nicht aus dem Kontext des Eucharistiegebetes isoliert werden dürfen“, welches „als Ganzes Konsekrationsgebet“ ist. 99 4 Ergebnis Zusammenfassend lässt sich das Eucharistiegebet als Entfaltung paulinischer Theologumena beschreiben. 100 Die anamnetischen Teile des Hochgebets vergegenwärtigen lobpreisend und danksagend die Heilsgeschichte mit deutlich christologischem Fokus. Dies gilt nicht nur für das Hochgebet der TA, sondern auch für die gegenwärtig verwendeten Hochgebete, namentlich für die anamnetische Formel der Darbringungsaussage, für die feststehenden anamnetischen Teile von Hochgebet II (Präfation) und IV (Präfation und Postsanctus), aber auch für die wechselnden Präfationen zu den Hochgebeten I und III 101 . Dabei wird nicht nur „des heilschaffenden Handelns Gottes in der Vergangenheit (vor allem der Mysterien des Todes und der Auferstehung Christi)“ gedacht, sondern „zuweilen auch, theologisch hochbedeutsam, der noch ausständigen, eschatologischen Vollendung: die Zukunft wird in die Gegenwart der Liturgiefeier hereingeholt, der Gottesdienst wird zum locus eschato- 96 R ATZINGER , Geist der Liturgie (wie Anm. 93), 75. 97 Vgl. M ESSNER , Unterschiedliche Konzeptionen des Meßopfers (wie Anm. 70), 157f. 98 Päpstlicher Rat zur Förderung der Einheit der Christen, Richtlinien für die Zulassung zur Eucharistie zwischen der chaldäischen Kirche und der assyrischen Kirche des Orients (20.07.2001), in: L’Osservatore Romano 47/ 2001, 9. 99 H AUNERLAND , Das eine Herrenmahl (wie Anm. 6), 122f. 100 Zum Zusammenhang zwischen dem paulinischen Herrenmahl und den Hochgebeten der durch die Anaphora der TA (und die heutigen Preces eucharisticae) vertretenen Traditionslinie vgl. M ESSNER , Grundlinien (wie Anm. 15), 18-22. 101 Vgl. Missale Romanum 2002/ 8, 518-567; Meßbuch 1988, 354-461. <?page no="344"?> Alexander Zerfaß 330 logicus.“ 102 Dies geschieht ausdrücklich etwa in den anamnetischen Wendungen der Darbringungsaussagen der Hochgebete III und IV, die auch auf die Parusie Bezug nehmen, sowie in der Akklamation „Deinen Tod, o Herr, verkünden wir“. Damit wird markiert, dass sich die eucharistische Anamnese nicht nur rückwärts auf den Abendmahlssaal und das in ihm symbolisch vorweggenommene Passionsgeschehen erstreckt, sondern auch nach vorne auf das eschatologische Festmahl ausgreift. Diese dreipolige Zeitstruktur ist bereits in der Formulierung angelegt, die Paulus unmittelbar an seinen Einsetzungsbericht anschließt. 103 1 Kor 11,26: „Denn sooft ihr von diesem Brot esst und aus dem Kelch trinkt [Gegenwart], verkündet ihr den Tod des Herrn [Vergangenheit], bis er kommt [Zukunft].“ Das klassische Adjektiv „memores“ der Darbringungsaussage bündelt die vorangegangene Christusanamnese als Wortvollzug und lässt sie in die einen Handlungsvollzug reflektierende Formulierung „offerimus“ münden: „dieses Gedenken besteht konkret im gottesdienstlichen »Tun« (ποιεῖν), welches in der Darbringung besteht (offerre in - typisch christlicher - kultischer Bedeutung als Übersetzung des griechischen προσφέρειν): Die Kirche bringt das ihr eigene Opfer dar, nicht ein blutiges Opfer, das Versöhnung schafft, sondern - als Konsequenz des einzigen versöhnenden Opfers Christi am Kreuz - die λογικὴ θυσία, das geistgewirkte Opfer des Gebets und des Lobpreises (das »reine Opfer« der Endzeit in Mal 1,11) und der in den Gaben Brot und Wein symbolisierten eigenen Lebenshingabe (Darbringung von Brot und Kelch).“ 104 Diese Lebenshingabe, die sich im Alltag bewähren muss - wovon Paulus in Röm 12,1 spricht -, geht ein in die Selbsthingabe Christi, die insofern nicht nur in der Danksagung, sondern auch durch die Darbringung vergegenwär- 102 M ESSNER , Einige Probleme (wie Anm. 73), 192. 103 Vgl. dazu Reinhard M ESSNER , Die Kirche an der Wende zum neuen Äon. Vorüberlegungen zu einer Theologie der eucharistischen Anamnese, in: Silvia H ELL (Hg.), Die Glaubwürdigkeit christlicher Kirchen. Auf dem Weg ins 3. Jahrtausend (FS Lothar Lies), Innsbruck - Wien 2000, 209-238, hier: 224f: „Die Kirche steht also zwischen den Zeiten der antizipatorischen Vollendung der Geschichte in Christus - der historischen Zeit seines Todes - und der öffentlichen Manifestation der Zeitenfülle durch seine Parusie. Das Gedenken (anamnesis: 1 Kor 11,25) besteht also aus Vergangenheits- und Zukunftsanamnese. Es ist jedoch für das rechte Verständnis der eucharistischen Anamnese sehr zu beachten, daß Paulus nicht einfach meint, daß das Herrenmahl im (geschichtlichen) Interim zwischen Tod Jesu und seiner Wiederkunft stattfindet, sondern daß sie letztere symbolisch antizipiert. […] Sie gedenkt des Ursprungsereignisses, der zukünftigen Weltvollendung, indem sie des Todes Christi gedenkt, durch den die Welt schon im Modus der Antizipation vollendet ist“. 104 M ESSNER , Einige Probleme (wie Anm. 73), 192. Zur Theologie der Darbringungsaussage vgl. ferner zusammenfassend Achim B UDDE , Die Darbringung im Gedankengang des Eucharistischen Hochgebetes. Eine entwicklungsgeschichtliche Skizze, in: G ERHARDS - R ICHTER (Hgg.), Das Opfer (wie Anm. 70), 185-202. <?page no="345"?> Dank - Darbringung - Bitte 331 tigt wird. So erweist sich die eucharistische Liturgie beispielhaft als „Vollzug des Priesteramtes Jesu Christi“, in dem „vom mystischen Leib Jesu Christi, d.h. dem Haupt und den Gliedern, der gesamte öffentliche Kult vollzogen“ wird (SC 7). Dabei fällt die anabatische, auf Gott und - im Sinne des Doppelgebots der Liebe - den Nächsten bezogene Bewegung mit der katabatischen zusammen, durch die „die Heiligung des Menschen bezeichnet und […] bewirkt“ wird (ebd.): Die feiernde Gemeinde ist Zeitgenossin der Heilsgeschichte, tritt in die Geschichte als Raum der Gottesbegegnung ein. Wenn in der eucharistischen Darbringung der ganze Leib Christi, das Haupt und die Glieder, handelt, so ist die Einheit des ekklesialen Leibes Christi vom Geist getragen (1 Kor 12) und wird in der Teilhabe am eucharistischen Leib je neu konstituiert (1 Kor 10,16f). Insofern konvergieren Gaben- und Kommunikantenepiklese in ihrer Ausrichtung auf das doppelte Wandlungsgeschehen, das die eucharistische Liturgie als Handeln des Leibes Christi ausweist. Dass die Kommunikantenepiklese, häufig verbunden mit der ausdrücklichen Bitte um die Einheit des Leibes, 105 erst nach der Darbringungsaussage folgt, steht zu dieser Deutung insofern nicht im Widerspruch, als die Kommunion die besonders dichte Darstellung und Realisierung des Leibes Christi ist, dem die Gläubigen bereits durch die Taufe eingegliedert wurden (1 Kor 12,13). So ist bereits die Gabendarbringung, auch in der dem Eucharistiegebet vorausgehenden rituellen Form, Handeln des Leibes Christi, Sich-Hineingeben in die Selbsthingabe Christi. 106 Sie bringt die logike latreia (Röm 12,1), den Christus-förmigen Gottesdienst des Alltags, realsymbolisch zum Ausdruck. 105 Vgl. dazu Anton T HALER , Die Epiklese in der Eucharistiefeier, in: Liturgisches Jahrbuch 46 (1996), 178-199, hier: 195f. 106 Vgl. Michael K UNZLER , Gabenbereitung oder Opferung? Ein Vergleich der Gabenbereitung in der abendländischen Eucharistiefeier mit der byzantinischen Proskomidie zur Klärung der Frage nach dem Opfercharakter der Messe, in: Theologie und Glaube 99 (2009), 92-113, hier: 102: „Das Bereitstellen dieser Gaben, auch im liturgischen Vollzug durch die Gläubigen selbst, zeigt die Bereitschaft der Menschen an, in diese Opferbewegung Christi einzutreten“. <?page no="347"?> „… und aus ihr empfangen Handlungen und Zeichen ihren Sinn.“ <?page no="349"?> „… aus ihr empfangen Handlungen und Zeichen ihren Sinn“ (SC 24) Biblische Interpretamente liturgischer Symbole und Riten am Beispiel des Kommunionteils der römischen Messliturgie Jürgen Bärsch Für die Heilig Geist-Kirche in Emmerich am Niederrhein hat der Künstler Waldemar Kuhn einen Altar geschaffen, der aus zwei parallel angeordneten und aufeinander bezogenen Altarblöcken besteht. Während von dem einen Altar in der Messfeier Gottes Wort verkündet wird, wird am anderen Altar die Eucharistie gefeiert. 1 So sollte in der Liturgie sichtbar werden, was das Zweite Vatikanische Konzil im Bild von den zwei Tischen ausgedrückt hat: „Die Kirche hat die Heiligen Schriften immer verehrt wie den Herrenleib selbst, weil sie, vor allem in der heiligen Liturgie, vom Tisch des Wortes Gottes wie des Leibes Christi ohne Unterlass das Brot des Lebens nimmt und den Gläubigen reicht.“ 2 Man mag über die Gestaltungslösung in der Emmericher Kirche geteilter Meinung sein, sie stellt jedenfalls nicht nur die theologische Aufwertung der 1 Die Kirche wurde 1963-1966 nach Plänen des Münsteraner Architekten Dieter G. Baumewerd errichtet. Vgl. Heinrich J ANSSEN - Udo G ROTE (Hgg.), Zwei Jahrtausende Geschichte der Kirche am Niederrhein, Münster 1998, 578-580 (Lit.); Udo G ROTE - Reinhard K ARRENBROCK (Hgg.), KirchenSchätze. 1200 Jahre Bistum Münster 1. Kirchen, Münster 2005, 247-249. 2 II. Vatikanum, DV 21 (ähnlich in der Pastoralen Einführung in das Messlektionar 10 [Dokumente zur Erneuerung der Liturgie, Bd. 2: Dokumente des Apostolischen Stuhls 4.12.1973-3.12.1983, hg. von Martin K LÖCKENER - Heinrich R ENNINGS (im Folgenden: DEL 2), Kevelaer - Freiburg/ Schweiz 1997, 4066]); vgl. dazu die Kommentare von Joseph R ATZINGER u.a., Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum, in: Lexikon für Theologie und Kirche Ergbd. 2 (1967), 497-583, hier: 571-573; Helmut H OPING , Theologischer Kommentar zur Dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum, in: Peter H ÜNERMANN - Bernd Jochen H ILBERATH (Hgg.), Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil 3, Freiburg i.Br. u.a. 2005, 695-831, hier: 801-803. - Zur Sache vgl. auch Hanns Peter N EUHEU- SER , Das Bild vom Tisch des Wortes und des Brotes. Kernaussagen der Liturgiekonstitution zum Verhältnis von Wortliturgie und Eucharistiefeier, in: DERS . (Hg.), Wort und Buch in der Liturgie. Interdisziplinäre Beiträge zur Wirkmächtigkeit des Wortes und Zeichenhaftigkeit des Buches, St. Ottilien 1995, 133-169. <?page no="350"?> Jürgen Bärsch 336 Schrift im katholischen Gottesdienst nachdrücklich vor Augen, sie weist vor allem markant auf die inneren Bezüge zwischen dem Wort Gottes und der Liturgie, zwischen Schriftverkündigung und Eucharistiefeier hin: „Was vom Gottesdienst gilt, kann auch vom Wort Gottes ausgesagt werden. In beiden wird das Mysterium Christi vergegenwärtigt und in je eigener Weise ständig weitergeführt.“ 3 Diese Gegenwart des auferstandenen und erhöhten Herrn ereignet sich in besonderer Weise in der Liturgie, in der das Offenbarungswort der Schrift und das sakramentliche Geschehen miteinander verbunden sind. Explizit bestimmt das Konzil diese Zweipoligkeit für die Eucharistie: „Die beiden Teile, aus denen die Messe gewissermaßen besteht, nämlich Wortgottesdienst und Eucharistiefeier, sind so eng miteinander verbunden, dass sie einen einzigen Kultakt ausmachen.“ 4 Diese Bestimmung will offenkundig nicht nur eine äußere Struktur verdeutlichen, sie weist vielmehr hin auf die innere Verwiesenheit von Schrift und sakramentlicher Feier. Weil die Liturgie neben ihren verbal-musikalischen Dimensionen als ein komplexes Zeichen- und Symbolgeschehen beschrieben werden kann, darf man vermuten, dass auch den liturgischen Symbolen und Riten biblische Interpretamente zugrunde liegen. Tatsächlich entfaltet sich die konziliare Aussage, „von größtem Gewicht für die Liturgiefeier ist die Heilige Schrift“, u.a. in die biblisch begründete Relevanz der liturgischen Zeichen und Handlungen. 5 Dies soll hier am Beispiel der Riten des Kommunionteils der römischen Messliturgie etwas näher vorgestellt werden. Einführend sind einige knappe Überlegungen zu den biblisch-theologischen Konnotationen der Zeichengestalt christlicher Liturgie anzustellen, um dann nach dem liturgietheologischen Verhältnis von Schrift und Ritus, Wortgottesdienst und sakramentlicher Symbolhandlung zu fragen. Von da aus sollen die Kommunionriten 3 Pastorale Einführung in das Messlektionar (im Folgenden: PEM) 5 (DEL 2, 4061). 4 II. Vatikanum, SC 56; die Konzilsaussage zitierend greift die Allgemeine Einführung in das Römische Messbuch diesen Gedanken auf und verbindet sie mit dem Bild vom „Tisch des Gotteswortes und des Herrenleibes“. Allgemeine Einführung in das Römische Messbuch (im Folgenden: AEM) 8 (vgl. Grundordnung des Römischen Messbuchs [im Folgenden: GORM] 28). 5 II. Vatikanum, SC 24; vgl. dazu die Kommentare von Emil Joseph L ENGELING , Die Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils über die heilige Liturgie. Lateinischdeutscher Text (Reihe Lebendiger Gottesdienst 5/ 6), Münster 2 1965, 56f; Josef Andreas J UNGMANN , Konstitution über die heilige Liturgie, in: Lexikon für Theologie und Kirche Ergbd. 1 (1966), 9-109, hier: 35; Reiner K ACZYNSKI , Theologischer Kommentar zur Konstitution über die heilige Liturgie Sacrosanctum Concilium, in: Peter H ÜNERMANN - Bernd Jochen H ILBERATH (Hgg.), Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil 2, Freiburg i.Br. u.a. 2004, 1-227, hier: 90. Vgl. auch Jürgen B ÄRSCH , „Von größtem Gewicht für die Liturgiefeier ist die Heilige Schrift“ (SC 24). Zur Bedeutung der Bibel im Kontext des Gottesdienstes, in: Liturgisches Jahrbuch 53 (2003), 222-241. <?page no="351"?> „… aus ihr empfangen Handlungen und Zeichen ihren Sinn“ 337 näher betrachtet werden, allerdings konzentriert auf die beiden zentralen eucharistischen Symbolhandlungen, das Brotbrechen und die Kommunion. 1 Biblisch-theologische Konnotationen der Zeichengestalt christlicher Liturgie Das erste Formular des Sakramentengebetes der Taufliturgie beginnt mit dem Lobpreis Gottes: „Wir preisen dich, allmächtiger ewiger Gott.“ 6 Und sogleich wird angeschlossen, was der erste Grund der Kirche ist, Gott so lobpreisend anzusprechen: „Mit unsichtbarer Macht wirkst du das Heil der Menschen durch sichtbare Zeichen.“ 7 In dieser Aussage wird ein Zentralmotiv sakramentlicher Feiern angesprochen. Denn es ist charakteristisch für die Liturgie, dass sich die personale, gnadenhafte Zuwendung Gottes wie auch die latreutisch-anbetende Antwort der Kirche „durch sinnenfällige Zeichen“ ausdrückt. Bekanntlich hebt die Liturgiekonstitution an prominentem Ort, im zentralen Artikel 7, diese symbolisch-zeichenhafte Dimension des Gottesdienstes hervor: „Mit Recht gilt also die Liturgie als Vollzug des Priesteramtes Jesu Christi; durch sinnenfällige Zeichen wird in ihr die Heiligung des Menschen bezeichnet und in je eigener Weise bewirkt und vom mystischen Leib Jesu Christi, d.h. dem Haupt und den Gliedern, der gesamte öffentliche Kult vollzogen.“ 8 Die gott-menschliche Begegnung, die sich in der Liturgie vollzieht, die Heilszuwendung Gottes und die Anbetung der Kirche, ereignet sich nicht anders als „durch sinnenfällige Zeichen“. 9 Das ist zunächst schon schöpfungstheologisch verständlich. Gott nimmt die Gaben seiner Schöpfung zu eigen, um durch sie und mit ihnen sein Heil zu wirken. Bei der Taufe zum Beispiel geschieht das vor allem im Wasserbad und in der Ölsalbung. Die zeichenhafte Dimension der Liturgie ist bereits deshalb unverzichtbar, weil der Mensch ein geistbegabtes Leib-Seele-Wesen ist, das nur über den leiblichen Ausdruck in Beziehung treten, empfangen und geben kann. Damit ist die conditio humana, sind die Geschöp