Metaphern der Gewalt
Konzeptualisierungen von Terrorismus in den Medien vor und nach 9/11
1120
2013
978-3-7720-5518-8
978-3-7720-8518-5
A. Francke Verlag
Monika Schwarz-Friesel
Jan-Henning Kromminga
Gewalt- und Katastrophendarstellungen haben im öffentlichen Diskurs eine herausragende Stellung. Insbesondere der internationale islamistische Terrorismus ist seit den Anschlägen vom 11. September 2001 bis heute weltweit im Fokus der Medien und stellt eines der brisantesten, kontrovers diskutierten Themen in der Berichterstattung dar. Metaphern spielen bei der Darstellung und Vermittlung von Gewalt-, Bedrohungs- und Angstszenarien eine besondere Rolle, da sie über Analogien auf anschauliche Weise das schwer verständliche Phänomen des Terrorismus repräsentieren. Dieser interdisziplinäre Sammelband enthält Aufsätze, die das Verhältnis von Sprache, Kognition und Emotion bei der massenmedialen Berichterstattung über Gewalt und Terrorismus thematisieren. Aktuelle Ergebnisse der Kognitiven Medienlinguistik werden ebenso präsentiert wie Untersuchungen und Analysen aus der Kommunikations-, Medien und Politikwissenschaft.
<?page no="0"?> Metaphern der Gewalt Konzeptualisierungen von Terrorismus in den Medien vor und nach 9/ 11 Monika Schwarz-Friesel Jan-Henning Kromminga (Hrsg.) <?page no="1"?> Metaphern der Gewalt <?page no="3"?> Monika Schwarz-Friesel Jan-Henning Kromminga (Hrsg.) Metaphern der Gewalt Konzeptualisierungen von Terrorismus in den Medien vor und nach 9/ 11 <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8518-5 <?page no="5"?> Inhaltsverzeichnis Monika Schwarz-Friesel Metaphern der Gewalt - Konzeptualisierungen von Terrorismus in den Medien vor und nach 9/ 11 .....................................................................7 Wolf-Andreas Liebert Ultimatives Kunstwerk mit Todesfolge - Das 9/ 11-Blending Karlheinz Stockhausens im Pressegespräch am 16.09.2001............................ 25 Monika Schwarz-Friesel „Hydra, Krake, Krebsgeschwür, Sumpf, Killer-GmbH, Franchise- Unternehmen und Nebelwolke“ - Perspektivierung und Evaluierung von islamistischem Terrorismus durch Metaphern im deutschen Pressediskurs nach 9/ 11................................................................................... 51 Susanne Kirchhoff „Wie hat sich unsere Welt seither verändert? “ - Die Entwicklung metaphorischer Konstruktionen des Medienereignisses 9/ 11....................... 75 Jan-Henning Kromminga Wer wurde am 11.09.2001 angegriffen? - Opferperspektiven und Wir-Gruppen-Konstruktionen.................................................................. 93 Alexander Spencer Bilder der Gewalt: 9/ 11 in der Boulevardpresse ........................................... 111 Michael Nagel Distanz statt Nähe - Zur Darstellung von erschreckender Gewalt in der deutschen Presse des 17. und 18. Jahrhunderts.................................. 129 Heidrun Kämper Gewalt-Konzepte der späten 1960er Jahre am Beispiel ................................ 161 <?page no="6"?> Stephan Peters Schein-Evidenz als persuasive Strategie in der Berichterstattung zum 10. Jahrestag von 9/ 11 ............................................................................ 173 Matthias J. Becker Gewaltmetaphern im französischen Präsidentschaftswahlkampf 2011/ 12 ............................................................................................................ 197 Autorenangaben ............................................................................................. 215 Sachregister .................................................................................................... 217 <?page no="7"?> Monika Schwarz-Friesel Metaphern der Gewalt Konzeptualisierungen von Terrorismus in den Medien vor und nach 9/ 11 „Wir sehen die Natur, die Intelligenz, die menschliche Motivation oder die Ideologie nicht so, wie sie sind, sondern so, wie unsere Sprachen sie aussehen lassen. Unsere Sprachen sind unsere Medien. Unsere Medien sind unsere Metaphern. Unsere Metaphern erschaffen den Inhalt unserer Kultur.” (Postman 1985) 1 Einführung: Terrorismus und massenmedialer Diskurs Gewalt- und Katastrophendarstellungen haben im öffentlichen Diskurs eine herausragende Stellung. Insbesondere der internationale islamistische Terrorismus ist seit den Anschlägen vom 11. September 2001 auf das World Trade Center bis heute weltweit im Fokus der Medien und stellt (als 9/ 11 referenzialisiert) eines der brisantesten, kontrovers diskutierten Themen in der massenmedialen und gesellschaftspolitischen Berichterstattung dar (s. u.a. Greiner 2011). Neben den Bildern von Anschlagsszenarien vermitteln die Pressetexte mit ihrer jeweiligen Lexik und Informationsstruktur spezifische Sichtweisen auf das Phänomen des Terrorismus, lassen mentale Modelle entstehen, in denen die Akteure und ihre Taten, die Opfer und ihr Leid sowie die Gründe und Auswirkungen terroristischer Gewalt auf die eine oder andere Weise konzeptualisiert werden. Metaphern spielen bei der Darstellung und Vermittlung von Gewalt-, Bedrohungs- und Angstszenarien eine besondere Rolle, da sie über Analogien auf anschauliche Weise das schwer verständliche Phänomen des Terrorismus repräsentieren und zugleich über Perspektivierungen und Evaluierungen sehr spezifische Konzeptualisierungen erzeugen. Die linguistische Analyse der Berichterstattung zum Terrorismus, insbesondere zu den Metaphernkomplexen, ist daher nicht nur geeignet, die themenspezifische Behandlung dieser gesellschaftlichen Problematik im Spiegel der Sprache transparent zu machen, sondern auch Aufschluss über grundlegende Diskursstrategien und Verbalisierungsmuster zu Gewaltdarstellungen im öffentlichen Kommunikationsraum geben zu können. Diese Muster, Argumente und Strategien haben das persuasive Potenzial, Rezipienten(gruppen) in ihrer Sicht auf das Phänomen der terro- <?page no="8"?> Monika Schwarz-Friesel 8 ristischen Gewalt zu beeinflussen und auch das kollektive Bewusstsein ganzer Gesellschaften zu prägen. Der vorliegende Sammelband enthält Aufsätze, die die Interaktion von Sprache, Kognition und Emotion bei der massenmedialen Berichterstattung über Gewalt und (islamistischen) Terrorismus interdisziplinär thematisieren. Aktuelle Ergebnisse der Kognitiven Medienlinguistik 1 zu Metapherntypen sowie zur persuasiven Funktion bestimmter sprachlicher Mittel im Terrorismus- und Gewalt-Diskurs werden ebenso präsentiert wie Untersuchungen und Analysen aus der Kommunikations-, Medien- und Politikwissenschaft. Die Ausführungen dieses Einleitungsbeitrags skizzieren einige der grundlegenden und wichtigsten Aspekte des Themenkomplexes: Erörtert wird zunächst das Verhältnis von Sprache, Macht, Gewalt und Massenmedien vor dem Hintergrund von Kognitionslinguistik und korpusbasierter Diskurstheorie. Dann folgen kurze Erläuterungen zum Problem der Definition des Phänomens ‚Terrorismus‘ in der aktuellen kommunikationsorientierten Forschung. 2 Zur Macht der Sprache im öffentlichen Kommunikationsraum 2.1 Sprache, Macht und Gewalt Das Thema Sprache und Gewalt involviert allgemein stets zwei Dimensionen: Zum einen, die Darstellungsfunktion von Sprache betreffend, die Frage, wie mittels sprachlicher Strukturen Gewalt(akte) referenzialisiert, d. h. verbal repräsentiert und damit spezifisch symbolisiert werden. Es geht also um die Sprache über Gewalt. Zum anderen, die Appellfunktion betreffend, stellt sich aber auch die Frage, inwiefern die Sprache selbst ein Mittel zur Ausübung von Gewalt ist, d. h. Sprache als Gewalt. Um die Frage nach der Gewalt bzw. dem Gewaltpotenzial der Sprache zu beantworten, muss man kurz reflektieren, inwieweit Sprachverwendung an Macht gekoppelt ist. Macht wird hier in einem weiten Sinn als die Möglichkeit der Einflussnahme auf andere verstanden: „Influence is the capacity to control and modify the perceptions of others“ (MacMillan 1978). Die Verwendung von Sprache in interaktiven Kommunikationssituationen ist immer auch eine Form der 1 Diese Ergebnisse sind das Resultat eines von der DFG geförderten Forschungsprojekts zu „Aktuelle Konzeptualisierungen von Terrorismus - expliziert am Metapherngebrauch im öffentlichen Diskurs nach dem 11. September 2001“, das vom 01.11.2010 bis zum 31.07.2013 an der TU Berlin lief. Wissenschaftliche Mitarbeiter waren Jan-Henning Kromminga und Matthias Jakob Becker (denen ich für ihre Hinweise und kritischen Kommentare zu diesem Artikel danke). Die Analysen erfolgten im Rahmen der Kognitiven Medienlinguistik mittels korpusbasierter Untersuchungen zu 100.000 Pressetexten zu 9/ 11 und den nachfolgenden Jahren bis 2011. <?page no="9"?> Metaphern der Gewalt 9 Machtausübung (vgl. Castells 2009, s. auch Klein 2010). Macht wird hier im kognitionslinguistischen Sinne als mentale Macht verstanden, als die Möglichkeit, mittels sprachlicher Handlungen das Bewusstsein anderer Kommunikationsteilnehmer zu beeinflussen. Diese mentale Machtfunktion manifestiert sich besonders deutlich bei verbaler Gewalt: Macht und Gewalt sind zwar nicht gleichzusetzen, stehen aber in einem untrennbaren Verhältnis, denn Gewalt ist eine bestimmte Form möglicher Machtaktivitäten (s. Waldenfels 2000, zu Diskussionen über das Verhältnis von Gewalt und Sprache s. z. B. Erzgräber/ Hirsch 2001, Krämer 2007, Krämer/ Koch 2010). Der Begriff der Gewalt ist also keineswegs auf die physische Gewalt zu beschränken. Sprechhandlungen, die andere Menschen diffamieren, diskriminieren und ängstigen, sind nicht bloß verbale Aggressionen, es sind gewalttätige mentale Akte, da sie den Betroffenen Leid und Schaden zufügen. Wenn Gewalt ausgeübt wird, gibt es immer Täter und Opfer. Auch verbaler Gewalt ist eine Täter-Opfer-Struktur inhärent: Sprache wird dabei als Waffe benutzt, ist eine destruktive Form der geistigen Machtausübung. Sie erfolgt bewusst und intentional mit dem Ziel, den/ die Anderen zu verletzen, zu kränken, zu beleidigen, auszugrenzen oder zu verängstigen (s. hierzu Schwarz-Friesel/ Reinharz 2013: Kap. 3). So ist nicht nur die physische Gewalt des Terrorismus, die Menschen körperlichen Schaden zufügt oder Menschenleben zerstört, Gewalt, sondern auch die Angsterzeugung und Verunsicherung, die durch terroristische Anschläge oder ihre Ankündigung bzw. deren Antizipation zustande kommt, eine Form der kognitiven und emotionalen Gewalt 2 (s. Punkt 3.1 in diesem Aufsatz). Doch auch jenseits verbaler Gewalthandlungen zeigt sich das Machtpotenzial sprachlicher Äußerungen: So kurz oder so banal auch eine Äußerung sein mag, so gibt sie doch stets kognitive und/ oder emotionale Impulse bei den Kommunikationsteilnehmern, sowohl in der privaten als auch der öffentlichen Kommunikation. „Sei still“ oder „Ich mag dich“ können je nach Situation Unmut, Ärger, Freude oder Glück auslösen, in jedem Fall evozieren sie als mentale Signale eine Aktivität im Kopf der Rezipienten, zwingen das Bewusstsein, ohne dass dies kontrolliert oder verhindert werden kann, sich auf einen bestimmten Inhalt zu fokussieren (und sei es auch nur für sehr kurze Zeit). Sprachliche Äußerungen bewegen den Geist (im wörtlichen Sinn), aktvieren Kenntnisse, lösen mentale Prozesse aus, die oft nicht bewusst als Aktivität erfahren werden, dennoch eine Repräsentation im Gedächtnis hinterlassen oder zu einer assoziativen Aktivierungsausbreitung führen können. Empirisch-experi- 2 Kognition und Emotion sind nach neuesten Forschungsergebnissen nicht strikt zu trennen, sondern stehen in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis. Kognition, als die Gesamtheit der geistigen Aktivitäten, wird stets von emotionalen Strukturen und Prozessen, also Bewertungen, begleitet oder determiniert (s. Schwarz-Friesel 2 2013: Kap. 4). Entsprechend weisen Gedanken und Gefühle, beides mentale Repräsentationen, mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede auf. <?page no="10"?> Monika Schwarz-Friesel 10 mentelle neuro- und psycholinguistische Untersuchungen zur Bedeutungsaktivierung und -konstitution in Sprachrezeptionsprozessen belegen sehr eindrücklich, wie die Semantik von Wörtern und Sätzen oft unbemerkt kognitive Aktivitäten affiziert (s. z. B. Garrod ²2006, Müller/ Weiss 2009, Müller 2013), Assoziationen auslöst, Gefühle weckt und bestimmte mentale Modelle von der Realität entstehen lässt (s. zu einem Überblick z. B. Schwarz 3 2008: Kap. 5, sowie Schrott/ Jacobs 2011). In der Kognitionslinguistik 3 werden daher Äußerungen aus Produktionssicht als mentale Signale, aus Rezeptionssicht als Spuren gesehen. Beides trifft jeweils wechselseitig zu: Sprachliche Äußerungen sind Spuren der kognitiven und emotionalen Aktivität der Sprachproduzenten, die zugleich damit als kommunikativ Handelnde bewusstseinsstimulierende Signale an Sprachrezipienten geben. Diese verarbeiten die Äußerungen immer als Signale (die in ihrem Kognitionsgeschehen etwas auslösen) und als Spuren, aus denen sie Einstellungen, Kenntnisse etc. der Sprachproduzenten rekonstruieren. Kognitive Linguistik versteht sich somit als eine Straße in den Geist der Sprachbenutzer (wobei nicht nur kognitiv-emotionale, sondern auch situative und soziale Aspekte berücksichtigt werden 4 ). Der methodische Zugang ist empirisch ausgerichtet: Quantitative und qualitative Korpusanalysen sollen Aufschluss über Sprachverwendungsphänomene in Diskursen geben, die wiederum Einblick in zugrundeliegende mentale Strukturen und Prozesse gestatten. Dass sprachliche Konstruktionen konzeptualisierungskonstituierend sind, hat z. B. bereits Hannah Arendt herausgestellt, die für die Sphäre der politisch-ideologischen Phänomene die konstruktive Rolle der Sprache betont hat: „Und diese politischen Phänomene, im Unterschied zu den reinen 3 Der Name Kognitive Linguistik (KL) wird uneinheitlich verwendet. Sowohl die holistisch ausgerichtete Linguistik in Anlehnung an die Arbeiten von Langacker, Lakoff etc. bezeichnet sich als KL als auch die modular und formalistisch orientierte Linguistik in Anlehnung an Chomsky (vgl. Schwarz 3 2008: 47 f. und Schwarz-Friesel 2 2013). Ein dritter Ansatz etablierte sich in den 1990er Jahren in Deutschland als kritische Kognitive Linguistik (KKL; vgl. Schwarz-Friesel 2012, Kertész et al. 2012: 652). Diese KKL sieht sich als Teil der Kognitionswissenschaft und verknüpft damit ihr Erkenntnisinteresse, Aufschluss über die menschliche Sprache als einem kognitiven Kenntnis- und Verarbeitungssystem zu erlangen, mit dem allgemeinen Anliegen, den menschlichen Geist zu erforschen und zu verstehen. Methodisch zeichnet sie sich durch ein interdisziplinäres, empirisch ausgerichtetes Vorgehen aus, das sich auf natürliche Daten und Korpusanalysen stützt (vgl. u. a. Consten/ Loll 2012). 4 Hier überschneiden sich die Ziele von Kognitionslinguistik und Diskurstheorie maßgeblich. Zukünftig sollten daher beide Ansätze, insbesondere im Bereich der Korpuspragmatik (s. hierzu Bubenhofer/ Scharloth 2013, zur Diskursanalyse s. u. a. Kämper 2005, Warnke/ Spitzmüller 2008), stärker aufeinander bezogen werden, ihre jeweiligen Ergebnisse berücksichtigt werden. Das Studienprogramm Kognitive Medienlinguistik (an der TU Berlin) wird hierzu sicher beitragen. Kognitive Medienlinguistik verbindet theoretisch und methodisch kognitionswissenschaftliche und diskursanalytische Ansätze. <?page no="11"?> Metaphern der Gewalt 11 Naturerscheinungen, bedürfen der Sprache und der sprachlichen Artikulation, um überhaupt in Erscheinung zu treten; sie sind als politische überhaupt erst existent, wenn sie den Bereich des nur sinnfällig Sichtbaren und Hörbaren überschritten haben“ (Arendt 1963: 20). Im öffentlichen, massenmedialen Kommunikationsraum erhält die Machtfunktion der Sprache eine weitere, eine sozial breitere Dimension: Im institutionellen Diskurs können sprachliche Äußerungen das kollektive Bewusstsein großer Bevölkerungsgruppen beeinflussen und somit langfristig das kulturelle und kommunikative Gedächtnis einer Gesellschaft prägen (s. hierzu Punkt 2.2). Sprache kann als Persuasionsinstrument Menschen kognitiv wie emotional in ihren Meinungen, Einstellungen und Entscheidungen prägen. Sprache hat insofern Macht, als sie ein Instrument der Beeinflussung und Lenkung unserer Gedanken und Gefühle ist, weil durch sie Weltbilder konstruiert werden können, die bestimmte Handlungen nahelegen. Insofern ergibt sich als Konsequenz auch, Sprache als konstitutives Element zur Veränderung sozial-politischer Strukturen und Verhältnisse zu fokussieren. Am Fallbeispiel des Terrorismus-Diskurses kann man die realitätskonstituierende Funktion von Sprache und ihr persuasives Potenzial als öffentliches Kommunikationsmittel in der Gesellschaft exemplarisch transparent machen. 2.2 Massenmedien, mentale Modelle und Meinungssteuerung: Wie Texte kollektives Bewusstsein persuasiv lenken und prägen können Massenmedien stellen soziale Institutionen dar, sind also komplexe Systeme mit spezifischen Kommunikationsstrukturen, die in einer kontinuierlichen Wechselwirkung mit (politischen) Systemträgern sowie Bevölkerungsgruppen stehen. Die in jeder Medientheorie hervorgehobenen Merkmale des quantitativ großen Erreichbarkeitsradius sowie ihre allgemeine, d. h. öffentliche und freie Verfügbarkeit machen sie nach Luhmann (1975: 319) zu einem „Instrument der Sofort-Integration, der Herstellung gemeinsamer Aktualität“, zu Ver- und Übermittler der „Weltgesellschaft“. Institutionell wirken Massenmedien also flächendeckend meinungsbildendend und leitend, denn sie interpretieren, worüber sie berichten, fokussieren bestimmte Aspekte und (be)werten damit zugleich, sie erzeugen durch Perspektivierung und Auswahl von Informationen Konzeptualisierungen von Sachverhalten, setzen also Maßstäbe für den Einzelnen und die Gruppe. Was Luhmann „Hintergrundrealitäten“ genannt hat, entspricht in der Kognitionswissenschaft dem mentalen Modell. Ein mentales Modell ist die Repräsentation eines Gegenstandes oder Sachverhalts im Bewusstsein von Menschen. Mentale Modelle können ausschnittartig bestimmte Realitätsbereiche abbilden, sie können aber auch durch Hinzufügung, Verzerrung oder Re- Klassifikation eigene Realitäten darstellen, die nicht notwendigerweise <?page no="12"?> Monika Schwarz-Friesel 12 kompatibel mit der Wirklichkeit sind. Mentale Modelle sind sowohl Voraussetzung als auch Resultat von sprachlichen Kommunikationsprozessen: Aufgrund von Erfahrungen mit der Umwelt und Sozialisierungsprozessen haben Teilnehmer einer Gesellschaft mentale Weltwissensschemata im Langzeitgedächtnis gespeichert, die Realitätsausschnitte repräsentieren und Erwartungen steuern. Mentale Modelle sind somit sozial geprägte, kognitiv verankerte Glaubenssysteme, die die von einer Gesellschaft als allgemeingültig akzeptierten Annahmen über die Organisation der Welt repräsentieren. Als kollektive Hypothesen bestimmen sie maßgeblich die Aufnahme, Verarbeitung und Speicherung jeder weiteren Information, determinieren besonders Sprachrezeptionsprozesse (s. den Klassiker von Johnson-Laird 1983, aktuell s. Schwarz-Friesel 2 2013: Kap. 2.3). Spezifische Referenzialisierungen von Ereignissen erzeugen Konzeptualisierungen von EREIGNIS- SEN 5 (d. h. Vorstellungen von Ereignissen). Je nach Produzentenperspektive können über die massenmediale Berichterstattung und Kommentierung so Deutungen und Bewertungen vermittelt werden. Wie stark der ideologisch oder politisch geprägte Blickwinkel zu unterschiedlichen Referenzialisierungen desselben Ereignisses führen kann, zeigt im Diskurs zum islamistischen Terrorismus schon die Benennung der Täter als Gotteskrieger, Märtyrer, Freiheits- oder Widerstandkämpfer, Rebellen oder aus Opferperspektive als Terroristen, Verbrecher, Mörder. Der Sachverhalt ‚Zerstörung des WTC‘ kann als grauenhaftes Verbrechen gegen die moderne Welt negativ konzeptualisiert oder aus Täterperspektive positiv bewertet als glorreicher Erfolg heldenhafter Gotteskrieger verbalisiert werden. Solche Referenzialisierungen spiegeln nicht nur Evaluationen wider, sie erzeugen auch Feind- und Freundbilder, geben kausale Begründungen und legen (politische) Handlungskonsequenzen nahe (vgl. hierzu auch Weller 2002). Die Macht der Medien vollzieht sich folglich maßgeblich über die Sprache, d. h. die verbal repräsentierte und dadurch konstruierte Realitätsdarstellung. Sprache im öffentlichen Kommunikationsraum ist aber nicht nur Mittel der Informationsvermittlung, sie ist auch durch die mentale Modellerzeugung und deren Persuasionspotenzial Medium von sozialer Macht, da ihre Realitätsdeutungen zur Veränderung oder Stabilisierung gesellschaftlicher Prozesse beitragen können (vgl. auch Habermas 1970: 287, s. auch Geideck/ Liebert 2003). Wenngleich es keine spezifische Mediensprache gibt, so finden sich wiederkehrende Referenzialisierungs- und Argumentationsmuster in der massenmedialen Kommunikation (s. Bucher 1992, Musolff 1996, 2004, Schmitz 2004, Burger ³2005). Die Untersuchung dieser Sprachgebrauchsmuster hinsichtlich Lexik, Syntax, Stil, Implikationen etc. sowie semantisch-konzeptuell in Bezug auf deren realitätskonstituierende Funktion erfolgt in der Kognitiven Linguistik 5 Konzeptuelle Einheiten und Strukturen sind durch Majuskeln gekennzeichnet. <?page no="13"?> Metaphern der Gewalt 13 stets vor dem Hintergrund der folgenden Fragen: Welche Konzeptualisierungen werden dadurch erzeugt, welche Einstellungen lassen sich hinsichtlich der Sprachproduzenten rekonstruieren und wie wirken diese Äußerungen auf Rezipienten (bzw. wie ist das Wirkungspotenzial zu beschreiben)? Die Analyse medialer Texte ist also besonders geeignet, um die persuasive, d. h. die meinungsbeeinflussende Funktion der Sprache aufzuzeigen. Die zentrale Rolle der Massenmedien bei der kollektiven Bewusstseinssteuerung und Einstellungskonstruktion ist seit langem ein Thema in Medien-, Kommunikations- und Politikwissenschaft (s. hierzu die die Klassiker von Luhmann 1996 und Berger/ Luckmann 5 1980, die nicht nur die Omnipräsenz der massenmedialen Kommunikation sondern auch deren bewusstseins- und weltbildbestimmende Funktion fokussiert haben). Als grundlegende Annahme gilt, dass unsere gesamte globale Welt-Erfahrung durch die sozial vermittelte Berichterstattung gelenkt und geprägt wird, und die durch sie vermittelten Bewertungen nicht nur individuelle, sondern auch kollektive gesellschaftliche Konsequenzen haben können (vgl. auch Wilke 1998 und Wolf 1996). Entsprechend hat Foucault (1997, 1999), wie viele andere Medien- und Kommunikationswissenschaftler auch, im Rahmen seiner Diskurstheorie hervorgehoben, dass Medien niemals nur informieren (in-formieren), sondern auch formieren. Sie formen mit ihrer spezifischen Berichterstattung Bewusstseinsinhalte im Kopf der Rezipienten, steuern Meinungen und erzeugen Perspektiven auf Sachverhalte. Entsprechend verweist Searle (1997) darauf, dass mittels sprachlicher Symbolwelten nicht nur Vorstellungswelten, sondern ganze „institutionelle Tatsachen“ geschaffen werden. Dieser Vorgang lässt sich kognitionswissenschaftlich dadurch erklären, dass Medien mentale Modelle der Realität konstruieren und den Rezipienten als Evidenz präsentieren. Dabei bleibt der Faktizitätsanspruch unausgesprochen erhalten, d. h. es besteht die kollektive Erwartung, dass die Berichterstattung über Weltereignisse den Tatsachen entspricht. Die tatsächliche Konstruiertheit und Subjektivität der EREIGNIS-Darstellung wird daher gar nicht oder selten (bzw. in wissenschaftlichen Analysen) reflektiert. 3 Terrorismus als reales und diskursives Ereignis 3.1 Terrorismus und Gewalt-Konzeptualisierungen seit 9/ 11 Gewalt ist in der Kulturgeschichte (der Menschen) immer eine Konstante gewesen: Kriege, Konflikte, staatliche oder individuelle Verbrechen und Brutalitäten, Aggressionen diverser Art kennzeichnen seit Jahrhunderten/ Jahrtausenden die zwischenmenschliche Interaktion und die politische, wirtschaftliche und soziale Auseinandersetzung in Gesellschaften (s. hierzu auch Pinker 2011). Das Konzept GEWALT ist seit den beiden Weltkriegen und den Verbrechen im Holocaust im 20. Jahrhundert stark geprägt durch <?page no="14"?> Monika Schwarz-Friesel 14 die Komponente ‚Verbrechen gegen die Menschlichkeit‘. Durch dieses semantische Merkmal war auch das Konzept KATASTROPHE im kollektiven Gedächtnis des 20. Jahrhunderts charakterisiert (s. auch Hobsbawm 1994). Im 21. Jahrhundert rücken jedoch zunehmend gegenwarts- und zukunftsbezogene Krisen und Umweltereignisse (wie Klimawandel, atomare Bedrohung und Verseuchung, Erdbeben, Tsunamis sowie Bedrohung durch Terroranschläge) in den aktuellen Fokus der Katastrophen- und Gewaltkonzeptualisierungen (s. zur Gewaltsoziologie der Moderne auch Lenger 2013). Das Phänomen des modernen Terrorismus erhielt bereits in den 1970er Jahren Aufmerksamkeit und führte zu einer konzeptuellen Verschiebung bzw. Erweiterung um die semantische Dimension ‚politisch motivierte Gewalt gegen Staat und Zivilbevölkerung‘: In Deutschland prägte der RAF- Terrorismus sowie seine mediale Darstellung entsprechend die Konzeptualisierung von Terrorismus als KRIEG GEGEN DEN STAAT (s. Steinseifer 2011). Die Terroranschläge vom 11. September 2001 auf das WTC in New York, international als 9/ 11 bezeichnet, stellten in vielerlei Hinsicht eine Zäsur dar: 9/ 11 ließ ganz Amerika traumatisiert und die westliche Welt schockiert zurück, versetzte Millionen von Menschen in Angst und Sorge und veränderte maßgeblich das kollektive Bewusstsein hinsichtlich Ausmaß und Möglichkeiten von Terroranschlägen. Es gab zudem Auswirkungen globaler sozialpsychologischer Art: Unmittelbar nach 9/ 11 sahen sich z. B. weltweit Muslime aufgrund von Übergeneralisierungen und Kollektiv-Attribuierungen unter Generalverdacht 6 gestellt. Zugleich nahmen Verschwörungstheorien massiv zu: 9/ 11 wurde zum Anlass für die Verbreitung antisemitischer, anti-israelischer und anti-amerikanischer Verschwörungskonzepte, die bis heute fortwirken und im Internet kursieren (s. z. B. Schwarz-Friesel 2013). Die weltweite Bedrohung durch Terrorismus, insbesondere islamistischen Terrorismus, rückte in den Mittelpunkt zahlreicher Analysen und Untersuchungen zu Gründen, Begleiterscheinungen und Konsequenzen dieses Phänomens, u. a. wurde intensiv der Begriff des „neuen Terrorismus“ diskutiert. Zum Zeitpunkt von 9/ 11 gab es kein Bewusstsein für die internationale Gefahr des islamistischen Terrorismus, dessen Aktivitäten beschränkt auf Regionalkonflikte gesehen und dessen kommunizierte Gewaltphantasien und antiwestliche Rhetorik als bloße Propaganda betrachtet wurden (s. Steinberg 2005: 9 f.). Die terroristischen Anschläge von 9/ 11 jedoch veränderten diese Sichtweise gravierend. Der öffentliche Diskurs über internationalen Terrorismus und militanten Islamismus veränderte sich infolgedessen ebenso grundlegend und prägt bis heute viele gesellschaftliche Debatten über sicherheits-, 6 Zu islamophobischen Berichterstattungen oder Kommentaren kam es jedoch in den deutschen Mainstream-Medien nicht (s. Schwarz-Friesel in diesem Band). <?page no="15"?> Metaphern der Gewalt 15 innen- und außenpolitische Themen. Ob 9/ 11 realpolitisch eine entscheidende Wende, eine grundlegende Zäsur darstellte, und ob sich dadurch ein „neuer Terrorismus“ etablierte, wird bis heute in der Forschung kontrovers diskutiert (s. u. a. Hoffman 2002, 2006, Weimann 2006, Eisvogel 2007, Malthaner 2 2008 und Greiner 2011, die 9/ 11 als eine historische Zäsur sehen, während Waldmann 2007, 3 2011, Spencer 2006, 2010, Butter et al. 2011 keinen gravierenden historischen Einschnitt erkennen). Davon unabhängig bleibt zu konstatieren, dass 9/ 11 im öffentlichen Diskurs und nachfolgend im kollektiven Gedächtnis westlicher Gesellschaften als Zäsur bewertet wird, als ein radikaler Einbruch in und Angriff auf die zivile Lebenswelt (s. Schwarz-Friesel/ Kromminga 2013). Die Konzeptualisierung KRIEG GEGEN DIE WELT rückte in den Mittelpunkt des Bewusstseins. 3.2 Terrorismus als Ereignis und als diskursive Metapher Ein Blick auf die vorliegende Forschungsliteratur zum Phänomen des Terrorismus zeigt eine große Definitionsvielfalt (s. u. a. Weinberg et al. 2004, Lia/ Skjølberg 2004, Waldmann ²2005, Hoffman 2006, Imbusch 2006, Eisvogel 2007). Ein Merkmal jedoch ist konstant: Moderner Terrorismus involviert Gewalt und Gewaltandrohung. Terrorismus ist zunächst immer auf der realen, außersprachlichen Weltebene als Ereignis zu sehen, als eine Form der politisch bzw. ideologisch motivierten Gewaltanwendung gegenüber Menschen, Dingen und Einrichtungen, die neben der physischen Zerstörung und Beschädigung allerdings auch maßgeblich das Ziel hat, bei den Opfern Angst, Schrecken und Verunsicherung hervorzurufen, ihr Lebensgefühl ins Wanken zu bringen. „Das ist der ‚Sinn‘ des Terrors: Angst und Schrecken zu verbreiten, das Vertrauen der Menschen - den Zusammenhalt einer jeden Gesellschaft - zu zerstören. … Der Terror ist wie eine gigantische ‚Steuer‘, die seine Drahtzieher dem freien Gemeinwesen aufzwingen - mit den billigsten Mitteln. Die Strategen nennen es ‚asymmetrische Kriegführung‘.“ (Josef Joffe, Die Zeit, 17.04.2013, http: / / www.zeit.de/ 2013/ 17/ terroran schlag-boston) Neben der physischen Gewalttätigkeit, die zu Tod und Leid unschuldiger Menschen führt, gibt es somit immer auch die kognitive und emotionale Gewalt des Terrorismus. Seine Akteure verwenden mit ihren Botschaften an die (Welt-)Bevölkerung die mentale Macht, mittels Gewalt und Gewaltandrohung in das Bewusstsein von Menschen einzudringen, sie als potenzielle Opfer zu verängstigen, ihr emotionales Gleichgewicht und Sicherheitsgefühl zu zerstören. “Terrorism is a politically motivated tactic involving the threat or use of force or violence in which the pursuit of publicity plays a significant role” (Weinberg et al. 2004: 782). Dabei setzt der moderne Terrorismus <?page no="16"?> Monika Schwarz-Friesel 16 maßgeblich auf die mediale Vermittlung und Verbreitung seiner Botschaften (s. u. a. Weimann 2006). Wie das terroristische Gefahren- und Bedrohungspotenzial dann in den Medien thematisiert wird und welche spezifischen mentalen Modelle dabei vermittelt werden, wird von kommunikations-, medien- und sprachwissenschaftlichen Analysen dokumentiert. Auf der Diskursebene wird Terrorismus zum Medienereignis. Symbolischen Kommunikationstheorien und diskursorientierten Ansätzen zufolge ist Terrorismus entsprechend eine „Diskursstrategie oder Theaterinszenierung“ (vgl. Crelinston 1987a, 1987b, Jenkins 1978: 235, zit. n. Weimann/ Brosius 1988: 500), eine „kalkuliert inszenierte Kommunikationsstrategie“ (Frindte/ Haußecker 2010: 39) oder eine „Reihe von Medienereignissen“ (Steinseifer 2011). Diese Betonung von Terrorismus als ein diskursives Ereignis darf natürlich nicht dazu führen, das Phänomen des Terrorismus ausschließlich als Diskursstrategie oder massenmediale Inszenierung zu sehen. Terrorismus ist zuerst immer ein Ereignis in der realen Welt, das dann als EREIGNIS konzeptualisiert und als Ereignis 7 im Diskurs referenzialisiert wird. So bleibt die notwendige Unterscheidung zwischen externer Welt und kommunikativ-mentaler Konstruktion erhalten, die in diskursbasierten Definitionen zum Teil verschwimmt. Nur wenn wir die kommunikativen Handlungen und sprachlichen Manifestationen von Terrorismus betrachten, haben wir es mit Diskursereignissen zu tun. Die diskursive Behandlung von Terrorismus involviert prinzipiell zwei grundlegende Kommunikationsbereiche: zum einen die verbale Inszenierung durch die Terroristen selbst, die sich mittels spezifischer Botschaften wie Bekennerschreiben in die globale massenmediale Interaktion einschalten. Mit diesen Darstellungen werden wir uns jedoch in diesem Band nicht beschäftigen. Vielmehr geht es uns um die zweite Form des Diskurstyps zum Terrorismus, der Darstellung und Kommentierung terroristischer Anschläge, Motive sowie der akuten Bedrohung durch Terrorismus durch die Massenmedien. Hierbei stehen die metaphorischen Konstruktionen, die in der Presse benutzt werden, um Terrorismus zu definieren und zu beschreiben, im Mittelpunkt. Es geht (verkürzt ausgedrückt) um Terrorismus als Metapher, d. h. um die Referenzialisierung des Ereignisses Terrorismus als Terrorismus mittels metaphorischer Ausdrücke und seine dadurch vermittelten Konzeptualisierungen TERRORISMUS. Dass gerade Metaphern generell eine herausragende Relevanz im politischen Diskurs haben, da sie als sprachliche Konstruktionen Abstraktes und schwer Verständliches besonders anschaulich verbalisieren können, darüber besteht in der Forschung 7 Gemäß einer in der Kognitiven Linguistik und Kognitionswissenschaft üblichen Konvention werden Verweise auf konzeptuelle Einheiten in Majuskeln, auf verbale Einheiten dagegen kursiv gesetzt, um so auch formal den Unterschied zwischen sprachlichen und mentalen Phänomenen zu markieren. <?page no="17"?> Metaphern der Gewalt 17 Konsens (s. u. a. Musolff 1996, 2004, Geideck/ Liebert 2003, Spencer 2006, Kirchhoff 2010, Schwarz-Friesel/ Skirl 2011, Skirl/ Schwarz-Friesel 2 2013). Bislang lagen jedoch keine detaillierten oder korpusbasierten linguistischen Untersuchungen zu den Metaphern(komplexen) bezüglich des islamistischen Terrorismus vor. Diese Lücke will der vorliegende Band füllen. 4 Wesentliche Fragen des Sammelbandes und Zusammenfassungen der Beiträge In diesem Band werden schwerpunktmäßig die folgenden Fragen erörtert: 8 Mit welchen sprachlichen Mitteln und insbesondere mit welchen Metaphern wird das Phänomen des islamistischen Terrorismus nach 9/ 11 in der deutschen Presse dargestellt? Welche Konzeptualisierungen werden dabei vermittelt? Entspricht die Darstellung in den Massenmedien den Erkenntnissen der Terrorismusforschung? Wie ist das Emotionspotenzial massenmedialer Texte zum Terrorismus und dessen Bedrohungspotenzial sprachwissenschaftlich zu beschreiben? Welche Unterschiede weist die Berichterstattung zum islamistischen Terrorismus im Vergleich zu jener rund um den Terrorismus der RAF auf? Gibt es Gemeinsamkeiten mit anderen politischen Diskursereignissen? Inwiefern hat sich das verbal vermittelte Konzept von (terroristischer) Gewalt historisch im Diskurs verändert? Wolf-Andreas Liebert (Koblenz) geht in seinem Beitrag „Ultimatives Kunstwerk mit Todesfolge - Das 9/ 11-Blending Karlheinz Stockhausens im Pressegespräch am 16.09.2001“ auf die in einer Pressekonferenz (am 16.09.2001 in Hamburg) hervorgebrachten, medial und öffentlich kontrovers diskutierten („moralinfreien“) Äußerungen Karlheinz Stockhausens zu 9/ 11 als „dem ultimativen Kunstwerk“ ein und rekonstruiert anhand der Quellen und mit Hilfe der Blending Theory, wie der Künstler in seinem sog. „9/ 11-Monolog“ das Blending von Kunstwerk und Terrorakt zusammenführte bzw. sich nicht ausreichend von diesem distanzierte. Darüber hinaus vollzieht er die Ursachen der medialen Inszenierung desselben als einen „von Luzifer gesteuerten Verrückten“ nach, die im Zuge von Veränderungen an den Quellen, bspw. durch das Herauslösen bestimmter Blends („9/ 11 als Kunstwerk“) aus dem Kontext, zustande kamen. 8 Für Korrekturlesen und Hilfe bei der Erstellung der Druckvorlage zeichnen sich Matthias J. Becker, Maria Fritzsche, Gerrit Kotzur, Sabine Reichelt und Sara Neugebauer verantwortlich. Wir möchten Ihnen an dieser Stelle ganz herzlich danken. <?page no="18"?> Monika Schwarz-Friesel 18 Monika Schwarz-Friesel (Berlin) erläutert in ihrem Beitrag „Hydra, Krake, Krebsgeschwür, Sumpf, Killer-GmbH, Franchise-Unternehmen und Nebelwolke - Perspektivierung und Evaluierung von islamistischem Terrorismus durch Metaphern im deutschen Pressediskurs nach 9/ 11“ welche Metaphern-Typen zum einen unmittelbar nach 9/ 11 und zum anderen zehn Jahre nach dem Ereignis im deutschen Pressediskurs benutzt wurden, um das Phänomen des islamistischen Terrorismus darzustellen und zu charakterisieren. Vorgestellt werden die Ergebnisse einer umfangreichen Korpusstudie, die sich auf über 100.000 Texte aus der Mainstreampresse stützt. Es wird anhand spezifischer Perspektivierungs- und Evaluierungsmuster erörtert, inwiefern die Konzeptualisierungen, die sich aus diesen Sprachbildern ergeben, zu einer Intensivierung oder Relativierung bzw. Marginalisierung des Gefahrenpotenzials von Terrorismus führen können. Susanne Kirchhoff (Innsbruck) untersucht in ihrem Beitrag „‚Wie hat sich unsere Welt seither verändert? ‘ - Die Entwicklung metaphorischer Konstruktionen des Medienereignisses 9/ 11“ die Phasen der Medienberichterstattung zu 9/ 11 in den Zeitschriften Der Spiegel und Focus. Dabei geht sie auf die Rolle der Anschläge als ein besonderes, durch die gestalterischen Mittel der Liveness schnell interpretiertes Medienereignis ein, wobei im zeitlichen Verlauf verschiedene metaphorische Konstrukte relevant werden. So wird bspw. ein symbolischer Gehalt auf das WTC und die Form der Anschläge übertragen (Ästhetisierung) und 9/ 11 medial als Zeitenwende perspektiviert (Dramatisierung) - Interpretationen, die im Umkehrschluss Auswirkungen auf das Denken in der realen Welt haben. Darüber hinaus wird die mediale In- Beziehung-Setzung mit anderen Ereignissen betrachtet: Einerseits werden die Anschläge in Relation gesetzt mit vergangenen oder fiktiven, als Interpretationsfolien dienenden Szenarien wie Pearl Harbor oder der Apokalypse; andererseits finden sie im Sinne einer Ritualisierung und Historisierung als Metapher Verwendung, um auf die globale Finanzkrise oder die Umweltkatastrophe in Japan zu referieren. Jan-Henning Kromminga (Berlin) analysiert in seinem Beitrag „Wer wurde am 11.09.2001 angegriffen? - Opferperspektiven und Wir-Gruppen-Konstruktionen“, wie im 9/ 11-Diskurs die Frage beantwortet wird, wer bei den Anschlägen angegriffen wurde und wem die Anschläge galten. Die Zuschreibung der Opfer-Rolle findet auf verschiedenen Ebenen statt und umfasst teilweise sehr umfangreiche Wir-Gruppen-Konstruktionen, mittels derer auch deutschsprachige Textproduzenten die Opferperspektive einnehmen können. Zugleich wird hierüber das diskursprägende Konzeptualisierungsmuster der „Kampf der Kulturen“ thematisiert. Alexander Spencer (München) beschreibt in seinem Beitrag „Bilder der Gewalt: 9/ 11 in der Boulevardpresse“ die Verwendung von Metaphern im Rahmen des Terrorismusdiskurses in der deutschsprachigen Boulevardpresse und verweist auf die Wirkungsweise solcher sprachlichen Mittel, spezifi- <?page no="19"?> Metaphern der Gewalt 19 sche Vorstellungen zu etablieren und bestimmte politische Gegenmaßnahmen bei der Leserschaft akzeptabel erscheinen zu lassen. Dabei erläutert er die fünf in diesem Diskurs dominanten Konzeptbereiche KRIEG, VERBRE- CHEN, UNZIVILISIERTES BÖSES, NATURPHÄNOMEN und KRANK- HEIT, die entsprechende Inferenzen im Umgang mit diesen Erscheinungen aktivieren bzw. andere Handlungsoptionen wie etwa die der Kooperation in den Hintergrund treten lassen. Zudem wird die Frage nach Ursprung und Dominanz metaphorischer Konstruktionen sowie nach (bei der Untersuchung nachgewiesenen) Verschiebungen im Metapherngebrauch gestellt, wobei der Autor sowohl materialistische, kritische als auch konstruktivistische Ansätze als Erklärung nennt sowie den interessengeleiteten Einfluss politischer Eliten und Medien auf den Sprachgebrauch erwähnt. Einen Nutzen solcher Analysen sieht der Autor in der Ermittlung vernachlässigter Reaktionen auf den Terrorismus, was wiederum gängige Tabus in der politischen Praxis zu brechen vermag. Michael Nagel (Bremen) erläutert in seinem Beitrag „Distanz statt Nähe - Zur Darstellung von erschreckender Gewalt in der deutschen Presse des 17. und 18. Jahrhunderts“ das enge Verhältnis zwischen Presse und Terrorismus, welches bereits auf das 17. Jahrhundert zurückgeht. Beginnend mit einem begriffsgeschichtlichen Überblick zu Gewalt und Schrecken fügt er eine Unterscheidung zwischen legitimer Gewalt (bspw. kriegerisch ausgeübte Handlungen, welche der Abschreckung und nicht der Stimulierung eines allgemeinen Schreckens diente), Naturgewalt (als göttliches Zeichen) sowie innergesellschaftlicher Gewalt an, die allesamt für die Presse der damaligen Zeit erwähnenswert waren. Dabei stellt er fest, dass sich die Charakteristika der Berichterstattung derart ändern, dass Gewalt in der sog. Frühen Presse, welche sich an ein elitäres Publikum wandte, wesentlich nüchterner und nur mit den nötigsten Details beschrieben wurde, da atmosphärische Beschreibungen, eine Interpretation des Geschehens oder zu viel (Gefühls-)Nähe durch den Journalisten nicht erwünscht waren. Erst nach 1800 kann von einer unterstützenden Funktion der Presse hinsichtlich der medialen Verbreitung von Gewaltereignissen ausgegangen werden, eine Wende, die ggf. mit der Französischen Revolution zusammenfiel und für einen Kontrast hinsichtlich der Distanz/ Nähe des Betrachters zur Gewalt sorgte, dessen Deutlichkeit der Autor anhand von bildlichen Werken von Callot und de Goya hervorhebt. Heidrun Kämper (Mannheim) beschreibt in ihrem Aufsatz „Gewalt- Konzepte der späten 1960er Jahre am Beispiel“ jene Diskurse, die während der 68er-Bewegung von der studentischen Linken bezogen auf das Konzept GEWALT hervorgebracht wurden. Sie beschäftigt sich dabei also nicht mit der Perspektive der Medien, sondern derjenigen, die über die Anwendung von Gewalt als Option eigenen legitimen Handelns reflektieren. Dabei wird festgestellt, dass durch die semantisch offene Deutung dieses Konzepts Ge- <?page no="20"?> Monika Schwarz-Friesel 20 walt selbst mehr und mehr als eine legitime Strategie des Widerstandes diskursiv etabliert und damit zur Option demokratischen Handelns zugunsten grundlegender Veränderungen der Gesellschaft uminterpretiert wird. Basis für diese Diskursanalyse ist ein Korpus von themenkohärenten Texten, die damals von studentischen Gruppierungen in Umlauf gebracht wurden. Mit der Radikalisierung jener Bewegung nimmt auch die explizite Delegitimierung eines aggressiven Staates, ausgestattet mit einem unterdrückenden Machtmonopol, sowie die Legitimierung von (Gegen)Gewalt als ein von der Umwelt eingeforderter, gegen die eigentliche Gewalt erstgenannter Institutionen gerichteter Protestakt zu. Stephan Peters (Berlin) geht in seinem Beitrag „Schein-Evidenz als persuasive Strategie in der Berichterstattung zum 10. Jahrestag von 9/ 11“ auf Evidenz- Etablierungsstrategien ein. Trotz der Erkenntnis, dass Medien als interessengeleitete Akteure zu verstehen sind, erwarten ihre von der Berichterstattung abhängigen Konsumenten Objektivität und weisen oft nur wenig Sensibilität für Perspektivierungen und Evaluierungen auf. Um den Rezipienten von vorgenommenen Bewertungen zu überzeugen, kommen persuasive Strategien zum Einsatz, um schließlich ein hohes Persuasionspotenzial zu erreichen - darunter fällt das Erzeugen von Evidenz, wodurch der Rückgriff auf Argumentationen unnötig wird. Im Gegensatz zur erkenntnistheoretischen Definition von Evidenz, die ihm einen absoluten Wert zuspricht, ist hinsichtlich der Massenmedien aufgrund der Unmöglichkeit, objektiv abzubilden, sowie bestimmter Interessenlagen von einem „aufgeweichten“ Begriff von Evidenz, nämlich von einer Schein-Evidenz zu sprechen, deren sprachliche Inszenierung in diesem Aufsatz mit Rückgriff auf 68 Zeitungsartikel zum zehnten Jahrestag von 9/ 11 näher beleuchtet wird. In einer linguistischen Analyse beschreibt der Autor die Indikatoren dieser persuasiven Strategie - die Benennung von Sinneseindrücken am Ort des Geschehens (bspw. mittels Perzeptionsverben), der Rückgriff auf Kompetenz suggerierende Fachsprache sowie auf Autoritäten (mittels Zitaten) - und erläutert damit verbundene Evaluierungen des Referenzobjektes und potenzielle Emotionalisierungen des Rezipienten. Matthias J. Becker (Berlin) untersucht in seinem Beitrag „Gewaltmetaphern im französischen Präsidentschaftswahlkampf 2011/ 12“ die mittels Metaphern hervorgebrachten Konzeptualisierungen der französischen Parteien UMP und FN, die im Rahmen von Verlautbarungen während des Präsidentschaftswahlkampfes 2011/ 12 zum Thema Immigration in Umlauf gebracht wurden. Ziel dieser qualitativen Metaphernanalyse ist es, sprachwissenschaftlich nachzuvollziehen, ob und inwieweit es aus strategischen Gründen bei der UMP zu einer Umorientierung/ Radikalisierung hinsichtlich der Haltung gegenüber Immigranten und Immigrationspolitik kommt. Durch die Untersuchung von Äußerungen, in denen Metaphern mit dem Ursprungsbereich KRIEG und NATURGEWALT vorkommen, werden schließ- <?page no="21"?> Metaphern der Gewalt 21 lich Parallelen bzgl. Textweltmodellen, Perspektivierungen und Evaluierungen (Immigranten als dämonisierte Feinde und/ oder dehumanisierte Naturkatastrophen) sowie dem Text inhärenten Emotionspotenzial aufgedeckt. 5 Bibliographie Arendt, H., 1963. Über die Revolution. München: Piper. Berger, P. L./ Luckmann, T., 5 1980. Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a. M.: Fischer (= Fischer Taschenbücher 6623). Bubenhofer, N./ Scharloth, J., 2013. Korpuslinguistische Diskursanalyse. Der Nutzen empirisch-quantitativer Verfahren. In: Warnke, I./ Meinhof, U./ Reisigl, M. (Hg.), 2013. Diskurslinguistik im Spannungsfeld von Deskription und Kritik. Berlin: Akademie-Verlag (= Diskursmuster 1), 147-168. Bucher, H.-J., 1992. Informationspolitik in der Presseberichterstattung. Kommunikationsstrategien bei der Darstellung gesellschaftlicher Konflikte. In: Hess-Lüttich, E. W. B. (Hg.), 1992. Medienkultur - Kulturkonflikt. 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Kunst ist für ihn noch heute ausschließlich Ästhetisierung der Welt. Und er glaubt noch immer an die altbackene Idee der Avantgarde des 20. Jahrhunderts von der Tabula rasa. Auch hier sollte die Welt nach dem 11. September nicht mehr dieselbe sein wie davor. Wann, wenn nicht spätestens jetzt, ist eine Kunstauffassung, die zu solchen Schlussfolgerungen führt, nicht endgültig obsolet? Sie erklärt allerdings, warum Stockhausen künstlerisch, und damit wohl auch intellektuell, schon lange tot ist.“ (wbg (Autorenkürzel), taz, 2001) „Doch erst in jener berühmt gewordenen Pressekonferenz vom 16. September 2001, als der Komponist Karl Heinz [sic! ] Stockhausen die Attentate in 1 Zuerst möchte ich Monika Schwarz-Friesel für Ihre Einladung zur Tagung „Metaphern der Gewalt vor und nach 9/ 11“ danken, denn sonst wäre dieser Artikel nie entstanden. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Tagung haben viele Diskussionen angeregt, die in den Artikel eingegangen sind, z. B. ob hier ein Fall ähnlich dem des „Mescalero“ vorliege. Der dpa sei herzlich für ihre Überlassung der damaligen Pressmitteilung gedankt; ohne diese hätte der entscheidende Umschlag im medialen Diskurs über Stockhausens 9/ 11-Äußerungen nicht beschrieben werden können. Weiterhin danke ich Margarete Zander für Ihre Bereitschaft, über das Pressegespräch am 16.09.2001 Auskunft zu erteilen. Als Augenzeugin war sie in vielen Fällen meine letzte Instanz im Bereich der Quellen-Authentizität. Für die „moralinfreie“ Durchsicht danke ich Werner Moskopp, für Literaturhinweise Saul Newman. <?page no="26"?> Wolf-Andreas Liebert 26 den USA als ‚größtmögliches Kunstwerk‘ bezeichnete, als ‚Sprung aus der Sicherheit, aus dem Selbstverständlichen, aus dem Leben‘, brach sich eine erschreckende Mischung aus Anerkennung, luziferischer Begeisterung und Eifersucht auf die Terroristen Bahn.“ (Luca di Blasi, Die Zeit, 2003) Diese Zitate beziehen sich auf einen der einflussreichsten modernen Komponisten der jüngsten Musikgeschichte, Karlheinz Stockhausen (1928-2007). Ausgangspunkt war ein Pressegespräch zu einem Konzert Stockhausens am 16.09.2001 in Hamburg, bei dem gegen Ende die Anschläge vom 11.09.2001 thematisiert wurden. Was hatte Stockhausen gesagt, das von einem Tag auf den anderen sein öffentliches Bild von einer international anerkannten und ausgezeichneten Figur, einem Wegbereiter der elektronischen Musik und der Performance- Oper mit immensem Einfluss auf die Popkultur wie die Beatles 2 , Greatful Dead 3 , Frank Zappa, Kraftwerk und auch die Technokultur zu dem Bild eines geisteskranken Satansverehrers wandelte? Wie lässt sich dieser Prozess linguistisch beschreiben und bewerten? Welche Schlüsse allgemeiner Natur können gezogen werden, die die Verwendung von Metaphern für Terrorakte betreffen? Etwa auf die Möglichkeit an Trauerritualen nicht teilzunehmen oder auf die generellen Eigenschaften von Framesets? Zunächst soll dazu auf die Quellenlage eingegangen werden, auf das, was Stockhausen im Verlauf dieser Pressekonferenz am 16.09.2001 belegbar gesagt hat, und um welche Belege es sich hierbei handelt. Auf der Basis der Quellensichtung und -analyse sollen dann die Blendings der Umkonfigurierung eines mediatisierten Stockhausen rekonstruiert werden. Dies wird anhand der wichtigsten Reaktionen auf Stockhausens mediatisierte Aussagen geschehen. Dazu muss auf die Reaktion auf 9/ 11 eingegangen werden. Diese Reaktionen lassen sich in zwei große Kategorien einteilen, die Standardreaktion und die kritische Reaktion, die dann im Einzelnen erläutert werden. Abschließend sollen dann einige Konsequenzen gezogen werden, was die Analyse über die Metaphern und Blendings für Analysen in einem Kontext terroristischer Anschläge leisten kann und was nicht. 2 Blendingtheorie als konzeptioneller Rahmen Ziel dieser kurzen Abhandlung kann es nicht sein, ausführlich in die Metaphern- und Blendinganalyse einzuführen. Daher soll sich dieser Absatz auf 2 Karlheinz Stockhausen ist auf dem Cover des Albums Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band zu sehen (vgl. Griffiths 2009). 3 Mitglieder der Greatful Dead und von Jefferson Starship (damals Jefferson Airplane) besuchten Kompositionsseminare von Stockhausen. <?page no="27"?> Ultimatives Kunstwerk mit Todesfolge 27 einige Anmerkungen zur konzeptionellen Einbettung beschränken. Wenn im Folgenden von Metaphern- und Blendingtheorie ausgegangen wird, so beziehe ich mich im Wesentlichen auf den Ansatz von Fauconnier (2001) bzw. Fauconnier und Turner (2002). 4 Bei Metaphern denkt man zwar zunächst an die Cognitive Metaphor Theory (CMT) von Lakoff und Johnson (1980) 5 , tatsächlich kann aber davon gesprochen werden, dass die Blendingtheorie die CMT ablöst, da sie eine Vielzahl vergleichbarer metaphorischer wie nicht-metaphorischer Phänomene beschreiben kann, gerade auch, wenn es um einen Graubereich geht, in dem nicht einfach zu entscheiden ist, ob eine Metapher vorliegt oder nicht. Eine strukturelle Beschreibung in nuce: Während die CMT und verwandte Theorien davon ausgehen, dass eine Metapher eine gerichtete Relation von einem Herkunftsbereich („source domain“) auf einen Zielbereich („target domain“) darstellt, stellt dies bei der Blendingtheorie lediglich einen Spezialfall einer nicht-gerichteten Relation zwischen (mindestens) zwei Bereichen dar, die in einem 3. Bereich, dem „blended space“, eine Interaktion eingehen, aus der eigene, nicht auf die beteiligten Spenderbereiche („input spaces“) zurückführbare, semantische Strukturen hervorgehen (Emergenz). 6 Die Identifikation von Ähnlichkeiten wird schließlich in einem 4. Bereich, dem „generic space“, gestiftet. 7 Dadurch, dass eine source-to-target- Richtung nicht von vornherein angenommen, aber möglich ist, können eine Fülle von Phänomenen beschrieben werden, die in der CMT allenfalls „Grenzfälle“ wären; dies wird in der folgenden Analyse auch deutlich hervortreten. Die Blendingtheorie macht die CMT daher nicht ungültig, aber für die Theoriebildung doch überflüssig, da das, was mit der CMT beschrieben werden kann, auch mit der Blendingtheorie gelingt. Daher kann man aber auch durchaus noch von Metaphern in der CMT-Terminologie sprechen, wenn man weiß, dass Metaphern eine spezifische Form von Blendings darstellen und auch jederzeit mit Blendingkategorien beschrieben werden können. 4 Natürlich hat sich die Blendingtheorie seit diesen Publikationen dynamisch weiterentwickelt (vgl. z. B. Ehmer 2011). Die Grundkategorien sind aber nach wie vor gültig, so dass an dieser Stelle auf eine größere Darstellung dieses Zusammenhangs zu Gunsten der eigentlichen Stockhausen-Analyse verzichtet werden soll. 5 Vgl. dazu auch Liebert (1992). 6 Man könnte dies also als einen Rückgriff auf den Black’schen oder sogar Bühler’schen Metaphernansatz betrachten (vgl. dazu Liebert 2008). 7 Eine handlungsorientierte Sicht (Liebert 1997, 2005) entgeht der Gefahr, dass mit der Blendingtheorie naiv von präexistenten Gemeinsamkeiten zwischen zwei präexistenten Bereichen ausgegangen wird. <?page no="28"?> Wolf-Andreas Liebert 28 3 Das Pressegespräch am 16.09.2001 3.1 Zur Quellenlage Am 16.09.2001 fand ein Pressegespräch im Rahmen der Hamburger Musiktage statt. Auf den Musiktagen sollte Stockhausen mit einem Teil seines Hauptwerks, dem Opern-Zyklus „Licht“, gewürdigt werden. Im Vorfeld gab es dazu ein Pressegespräch für (Musik-)Journalisten. Von diesem Pressegespräch gibt es verschiedene Aufnahmen von Journalisten, u. a. einen Tonbandmitschnitt der Musikwissenschaftlerin Dr. Margarete Zander. 8 Von dieser Aufnahme wurde von der Zeitschrift MusikTexte eine neunseitige Transkription 9 erstellt und dort veröffentlicht. 10 3.2 Aufbau des Pressegesprächs Betrachtet man den Aufbau dieses 9-seitigen Transkripts (MusikTexte, 2001), dann geht es zunächst etwa sieben Seiten lang ausschließlich um das Werk von Stockhausen, insbesondere um den Kunstbegriff, den Religionsbegriff, aber sehr viel auch um technische Details der Aufführungspraxis. Dann kann gegen Ende der 8. Seite (MusikTexte, 2001, S. 76) ein thematischer Wendepunkt ausgemacht werden, indem das Thema 9/ 11 eingebracht wird. Dieser Übergang soll als „9/ 11-Einleitung“ bezeichnet werden. Daran schließt sich ein ununterbrochener, längerer Redebeitrag Stockhausens an, in dem er sich über die Anschläge vom 11. September 2001 und seinen Kunstbegriff auslässt, und der mit einer Pause endet. Dieser ununterbrochene Redebeitrag Stockhausens soll als „9/ 11-Monolog“ bezeichnet werden. Es folgt eine kurze Interaktion mit einem Journalisten. Dann versucht Stockhausen einen Themenwechsel, und als dies missglückt, leitet er unmittelbar 8 Frau Dr. Zander arbeitete im Auftrag des Norddeutschen Rundfunks (NDR). 9 Die Authentizität der Abschrift wurde mir von Frau Dr. Zander persönlich bestätigt. Die 9/ 11-Passage ist - leider ohne die 9/ 11-Einleitung - auch als Audiodatei verfügbar (Stockhausen 2001a), die aber nicht von Frau Dr. Zander, sondern von einer unbekannten Quelle stammt; wie eben erläutert, gab es damals verschiedene Mitschnitte. Diese Audiodatei ist praktisch wortwörtlich mit der Abschrift von MusikTexte (2001) identisch, so dass hier von einer authentischen Aufnahme ausgegangen werden kann. 10 MusikTexte merkt dazu an: „Der folgende Wortlaut des Pressegesprächs mit Karlheinz Stockhausen beim Hamburger Musikfest wurde aus der Aufzeichnung transkribiert, die Margarete Zander auf Minidisc aufgenommen und der Redaktion freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. Nicht alle Fragen der Journalisten lassen sich aus dieser Aufnahme genau rekonstruieren. Unwesentliche sprachliche Ungenauigkeiten wurden korrigiert, Hinzufügungen und Atmosphärisches wie Heiterkeit, Stille und Zögern in eckigen Klammern notiert“ (MusikTexte, 2001, S. 69). Die Hervorhebungen wurden wie in der schriftlichen Vorlage vorgenommen, d. h. der Text Stockhausens ist normal gesetzt, und die Journalistenfragen sind durch Fettsetzung hervorgehoben. Ein Fragerwechsel wird mit dem normal gesetzten Wort „Frage“ gekennzeichnet. <?page no="29"?> Ultimatives Kunstwerk mit Todesfolge 29 die Verabschiedungssequenz ein. Diese wird von ihm noch einmal durch einen Metakommentar unterbrochen, in dem er um die Nichtveröffentlichung der 9/ 11-Passage bittet, bevor das Gespräch dann offiziell beendet wird und mit einem Applaus schließt. Der letzte Teil soll als 9/ 11- Schlusssequenz bezeichnet werden, der gesamte Abschnitt von der 9/ 11- Einleitung bis zum Schluss soll als „9/ 11-Passage“ des Pressegesprächs bezeichnet werden. 3.3 Die 9/ 11-Passage 3.3.1 Die 9/ 11-Einleitung Die 9/ 11-Passage wird auf der 8. Seite des Pressegesprächs eingeleitet (MusikTexte, 2001, S. 76). Zunächst geht es wie auf den sieben Seiten zuvor um das Werk Stockhausens im Allgemeinen, Performancetechnik und dann spezifisch um den Opern-Zyklus „Licht“, der teilweise auf den Musiktagen aufgeführt werden sollte. Als Stockhausen die Hauptpersonen seiner Oper einführt - die biblischen Figuren Michael, Eva und Luzifer -, da ist es Stockhausen selbst, der den Bezug seiner fiktionalen Opernwelt zum aktuellen Politikgeschehen der Anschläge vom 11. September herstellt. Seine Motivation ist dabei zunächst legitimierender Natur. Er gibt Kritik an den als anachronistisch empfundenen, biblischen Figuren wider und verweist auf die provinzielle Beschränktheit dieser Haltung: (1) […] So, mit anderen Worten, da passiert also ein Weltzeitalter in einem Werk, das jetzt im Endeffekt dann achtundzwanzig Stunden dauert. Das ist ja also nichts im Vergleich zu den Themen, die darin vorkommen. Und zu den Zeitvorstellungen, die ständig ins Bewußtsein gerufen werden durch die Musik und durch das Erscheinen des heiligen Michael: „Ja um Gottes willen, was soll der denn hier in Europa und in Deutschland und so.“ Und der Eva, der Mutter des Lebens, und von Luzifer, dem Fürsten des Lichtes, der also die große Welt- oder kosmische Revolution hervorrief: „Der Stockhausen spinnt! “ Das sind natürlich Dimensionen, die passen nicht hierhin. Frage: Aber wenn man Sie so anschaut, fühlen Sie sich dabei ganz wohl. [Heiterkeit.] Ja sicher, warum nicht. (MusikTexte, 2001, S. 76, Herv. i. Orig.) Die unmittelbar sich anschließende Frage zum ontologischen Status seiner Opernfiguren Michael, Eva und Luzifer und zusammen mit dem Deutungsangebot, sie als kulturelle Symbole zu verstehen, wird von Stockhausen zurückgewiesen. Für Stockhausen stellen diese Figuren präsente Realitäten <?page no="30"?> Wolf-Andreas Liebert 30 dar, die für ihn unmittelbar wahrnehmbar und auch beschreibbar sind. Dabei bekennt er sich klar zu Michael und gegen Luzifer, macht dann jedoch klar, dass unabhängig von seiner Stellungnahme Luzifer dennoch existiere, wie man „in New York zur Zeit“ sehe, wo er „sehr präsent“ sei. Die Anschläge vom 11. September dienen ihm damit als Beleg für die Realität dieser Figuren: (2) Sind das denn für Sie eher Figuren aus einer gemeinsamen Kulturgeschichte ... Nein, nein! ... oder ist das [eine] materiale Erscheinung für Sie? Nein, nein! Ich bete jeden Tag zu Michael, aber nicht zu Luzifer. Also das habe ich mir versagt. Aber der ist sehr präsent, also in New York zur Zeit. Doch. Haben Sie Visionen von Engeln? Ja, gewiß. Wie sehen die aus? Nicht unähnlich dem, was Sie alle kennen, seit mehr als tausend Jahren in der Malerei und in der bildnerischen Kunst, ja und [zögert] manchmal auch in einem Menschen. (MusikTexte, 2001, S. 76, Herv. i. Orig.) Zunächst wird der Bezug auf 9/ 11 vom Fragesteller übergangen, jedoch von einer Nachfrage wieder aufgegriffen: (3) Frage: Jetzt ist der Name der Stadt doch gefallen, New York. In den Notizen zu „Hymnen“ schreiben Sie ja von einer musikalischen Hörbarmachung harmonischer Menschlichkeit, und Sie haben auch gerade von den Weltsprachen gesprochen, in denen Sie komponieren, für die Sie komponieren. Sie sprachen gerade von Luzifer in New York, ich habe Sie nicht falsch verstanden, glaube ich. Nein. Die Ereignisse der letzten Tage, wie berührt Sie das persönlich und vor allem, wie sehen Sie dann solche Notizen zur harmonischen Menschlichkeit in „Hymnen“, die ja auch aufgeführt werden, noch mal an? (MusikTexte, 2001, S. 76, Herv. i. Orig.) Diese Frage bietet dem Antwortenden an, persönliche Betroffenheit über die Anschläge vom 11. September 2001 auszudrücken, mithin die Standardreaktion als angemessenes emotionales und soziales Ausdrucksverhalten abzu- <?page no="31"?> Ultimatives Kunstwerk mit Todesfolge 31 rufen und dann in Kontrast zu der „Hörbarmachung harmonischer Menschlichkeit“ zu setzen. Mit dem Begriff „Standardreaktion“ soll eine ritualisierte Freund-Feind-Formierung der Gesellschaft in Bezug auf ein Ereignis, bei dem gezielt getötet wurde, angesprochen werden. In diesem Fall handelt es sich um die Anschläge vom 11. September 2001. Man kann die Standardreaktion im Foucault’schen Sinne als dispositive Anordnung der Gesellschaft in einer Bedrohungssituation verstehen. Anordnung bedeutet hier nicht nur, dass eine bestimmte Klasse von Aussagen erwartet, sondern auch, dass eine andere Klasse von Aussagen ausgeschlossen wird. Die schließt auch die Art und Weise ein, wie diese Aussagen gemacht werden müssen. Die Operationalisierung dieser Formierung wird medial durch die Präsentation von Beispielen bewerkstelligt, etwa Berichte über jubelnde Palästinenser als Beispiel für eine maximal unangemessene Reaktion, oder aber auch durch Fälle „ideologischer Zensur“, bei der undramatische Reaktionen von Betroffenen aus dem kollektiven Gedächtnis geschleust werden (Žižek 2004: 218, Fn. 8). Ein Komponist, der auf sein „Marketing“ bedacht wäre, würde eine solche Frage in diesem Sinne dankbar beantworten. Die Antwort, die Stockhausen auf diese Frage gibt, erfüllt die Standardreaktion jedoch in vielerlei Hinsicht nicht. Dies soll nun im Einzelnen ausgeführt werden. 3.3.2 Der 9/ 11-Monolog Während bis zu diesem Zeitpunkt über die Anschläge vom 11. September 2001 nur in Andeutungen gesprochen wurde („Luzifer“, „der ist sehr präsent“„in New York zur Zeit“, „Jetzt ist der Name der Stadt doch gefallen, New York.“, „Luzifer in New York“), setzt nach dieser Frage ein relativ langer Redebeitrag Stockhausens ein, der zuvor als 9/ 11-Monolog bezeichnet wurde. Dieser Monolog Stockhausens soll zunächst im Zusammenhang zitiert werden, bevor einige Stellen genauer untersucht werden. (4) Hm. Also was da geschehen ist, ist natürlich - jetzt müssen Sie alle Ihr Gehirn umstellen - das größte Kunstwerk, 11 was es je gegeben hat. Daß also Geister in einem Akt etwas vollbringen, was wir in der Musik nie träumen könnten, daß Leute zehn Jahre üben wie verrückt, total fanatisch, für ein Konzert. Und dann sterben. [Zögert.] Und das ist das größte Kunstwerk, das es überhaupt gibt für den ganzen Kosmos. Stellen Sie sich das doch vor, was da passiert ist. Das sind also Leute, die sind so konzentriert auf dieses eine, auf die eine Aufführung, und dann werden fünftausend Leute in die Auferstehung gejagt. In einem Moment. Das könnte ich nicht. Dagegen sind wir gar nichts, also als Komponisten. Ich meine, es kann sein, daß, wenn ich „Freitag“ aus „Licht“ aufführe, daß da ein paar Leute im Saal sitzen, denen das passiert, was ein alter Mann mir vorige 11 Hier Seitenwechsel von S.76 auf S. 77. <?page no="32"?> Wolf-Andreas Liebert 32 Woche gesagt hat, beim „Samstag“ nach der Aufführung: „Na, sagen Sie mal. Zweieinhalb Stunden, da waren doch diese unglaublich tiefen Klänge, die wie Wolken über uns schwebten und sich bewegten die ganze Zeit, die segelten und dazu dann ganz schnelle Schüsse von anderen Klängen - sagen Sie mal, was ist denn das für ein Orchester? “ Ich sage: „Gar keins.“ Sagt er: „Was? Wie haben Sie’s denn gemacht? Sie müssen das doch irgendwie machen! Wer spielt das? Wer hat das gesungen oder gespielt? “ Ich sage: „Niemand“. „Ja, wie denn? “ Ich sage: „Mit Generatoren und Synthesizern.“ Sagt er: „Was? Dann brauchen wir ja gar kein Orchester mehr! “ Ich sage: „Nein.“ Dann lief der raus, als ob der innerlich, im Geiste gestorben wäre. Ich weiß nicht, was jetzt passiert mit dem. Und es waren mehrere Damen, die dann zu mir kamen und sagten: „Sagen Sie mal, was haben Sie denn hier? “ Und ich sagte: „Das ist ein Mischpult“. „Ja, wie geht denn das überhaupt, da kommt das alles raus? “ Ich sage: „Ja.“ - „Ja, haben Sie auch eine Partitur? “ - „Ja.“ - „Kann ich die mal sehen? “ - „Ja.“ Das waren Damen so zwischen siebzig und achtzig auf einmal, das war wahrscheinlich Abonnementspublikum fürs Bach-Festival. Die standen um mich herum. Ich sage: „Gucken Sie her, Sie können Noten? “- „Ja, ja, wir können Noten lesen. Kann das jemand verstehen? “ Ich sage: „Ja, das kann jemand verstehen. Man muß das nur studieren“, und so. Das war eine Explosion wie für die Menschen in New York. Bum! Und ich weiß nicht, ob die jetzt woanders sind, die da plötzlich so schockiert waren. Also es gibt Dinge, die gehen in meinem Kopf vor sich durch solche Erlebnisse. Ich habe Wörter benutzt, die ich nie benutze, weil das so ungeheuer ist. Das ist das größte Kunstwerk überhaupt, das passiert. Stellen Sie sich mal vor, ich könnte jetzt ein Kunstwerk schaffen, und Sie wären alle nicht nur erstaunt, sondern Sie würden auf der Stelle umfallen. Sie wären tot und würden wiedergeboren, weil Sie Ihr Bewußtsein verlieren, weil das einfach zu wahnsinnig ist. Manche Künstler versuchen doch, über die Grenze des überhaupt Denkbaren und Möglichen zu gehen, damit wir wach werden, damit wir für eine andere Welt uns öffnen. Also, ich weiß nicht, ob das fünftausend Wiedergeburten gibt, aber irgend so etwas. [Fingerschnippen] Im Nu. Das ist unglaublich. (MusikTexte, 2001, S. 76/ 77) Dieser 9/ 11-Monolog bildet den Kern aller späteren Bezugnahmen und soll nun etwas näher betrachtet werden. Zunächst soll auf den Beginn eingegangen werden: (5) „Hm. Also was da geschehen ist, ist natürlich - jetzt müssen Sie alle Ihr Gehirn umstellen - das größte Kunstwerk, 12 was es je gegeben hat.“ (MusikTexte, 2001, S. 76/ 77) 12 Hier Seitenwechsel von S. 76 auf S. 77. <?page no="33"?> Ultimatives Kunstwerk mit Todesfolge 33 Die 9/ 11-Passage beginnt mit einer unspezifischen Bezugnahme auf die Anschläge vom 11. September 2001: „Also was da geschehen ist,“ deren Prädikation durch den drastischen Einschub „jetzt müssen Sie alle Ihr Gehirn umstellen“ unterbrochen und daher dramatisiert wird, bevor der Satz mit der Kategorisierung der Anschläge vom 11. September 2001 nicht nur als „Kunstwerk“, sondern gar „das größte Kunstwerk, was es je gegeben hat.“ abgeschlossen wird. Stockhausen bringt mit dieser Nominalprädikation die beiden Bereiche der terroristischen Anschläge und eines Kunstwerks in einen Denkzusammenhang, der in der damaligen Situation etwas so Ungeheuerliches hatte, dass der Blend „9/ 11 als Kunstwerk“ 13 aus dem Kontext dieses Gesprächs herausgelöst und als Input für den laufenden massenmedialen 9/ 11-Diskurs genommen wurde. Dieser „9/ 11 als Kunstwerk“-Blend war die Grundlage für die folgenden Stockhausen-Mediatisierungen, die aufgrund der Einpassung dieses Blends in bereits bestehende Frames des Diskurses entstanden und teilweise zu massiven Textänderungen der Quelle führten. Dazu wird später noch mehr zu sagen sein. Die Display-Phrase „jetzt müssen Sie alle Ihr Gehirn umstellen“ stellt eine metasprachliche Markierung dar, die das Folgende als außergewöhnlich ankündigt. Es handelt sich hierbei aber nicht um eine der allgemein konventionalisierten metasprachlichen Markierungen für figuratives Sprechen wie „könnte man vergleichen mit“ oder „bildhaft gesprochen“ (vgl. Drewer 2003). Dieser metasprachliche Ad-hoc-Kommentar ist zum einen sehr drastisch, da das „Umstellen des Gehirns“ auf eine außergewöhnliche Änderung des üblichen Denkens, sozusagen auf der Ebene der Hardware seiner Zuhörer, verweist. Zum anderen leistet diese Markierung gerade wegen ihrer Unkonventionalität nicht das, was konventionale Floskeln leisten, nämlich eine Verortung der Modalität als faktivisch, metaphorisch etc. (vgl. Liebert 2005: 209 ff.). Es bleibt an dieser Stelle offen, ob Stockhausen die Anschläge vom 11. September 2001 metaphorisch als Kunstwerk betrachtet, oder er sie als Kunstwerk subkategorisiert, sie also tatsächlich für eine Art Kunstwerk hält. So changiert bereits die erste Äußerung des 9/ 11-Monologs zwischen Faktizität und metaphorischem Als-ob. Mit dieser Analyse der ersten Zeilen offenbart sich damit auch, dass eine einfache Metaphernanalyse im Rahmen der CMT (Lakoff/ Johnson 1980) hier überfordert ist und der Blendinganalyse der Vorzug gegeben werden muss. Es wird später noch deutlicher gezeigt, dass Stockhausen nicht einfach einen Herkunftsbereich Kunst auf einen Zielbereich 9/ 11 oder allgemein terroristischen Anschlag projiziert, sondern dass er vielmehr manchmal über Kunst redet und sich dabei des Terrorframes bedient und 13 Da Metaphern lediglich einen Spezialfall von Blendings darstellen, spielt der Status, ob hier eine Metapher vorliegt oder nicht, für die Blendinganalyse keine Rolle. <?page no="34"?> Wolf-Andreas Liebert 34 manchmal über die Anschläge vom 11. September 2001 spricht und dabei auf seinen Kunstbegriff zurückgreift. Dies wird später noch auszuführen sein. Bei genauerer Betrachtung dieser Stelle muss noch ein weiterer Bereich als Input berücksichtigt werden: Stockhausens idiosynkratische Metaphysik: Wie eben ausgeführt, setzen die meisten Mediatisierungen an Stockhausens 9/ 11-Monolog bzw. seinem „9/ 11 als Kunstwerk“-Blend an und unterschlagen dabei den vorher aufgebauten metaphysischen Kontext. Dadurch kommt es zwangsläufig zu unterschiedlichen Interpretationen. Bezieht man nämlich die einleitenden Sätze Stockhausens mit ein, so wird zunächst eben der Bereich der Opernfiguren mit Stockhausens Metaphysik verknüpft und dieser Blend dann mit der realen Situation der Anschläge vom 11. September, so dass vor Stockhausens 9/ 11-Monolog bereits die Figur Luzifer als reale Präsenz in der realen Situation der Anschläge vom 11. September als komplexer Blend aufgebaut ist. Für die Beteiligten an dem Pressegespräch oder diejenigen, die die gesamte Abschrift gelesen haben, kommt daher der Kunst-9/ 11-Blend nicht unvermittelt, vielmehr stellt der Bereich Kunst einen weiteren Input für den bereits bestehenden Blend Luzifer als Urheber der Anschläge vom 11. September 2001 dar. Dadurch wird klar, dass Stockhausen in seiner Sichtweise, sowohl für seine Person als auch für seine Zuhörer, davon ausgegangen ist, dass es sich bei dem „Kunstwerk“ immer um ein von - dem von ihm abgelehnten - Luzifer verursachtes handelt. In seiner Stellungnahme vom 19.09.2001 interpretiert Stockhausen diese Stelle daher wie folgt: “At the press conference in Hamburg, I was asked if MICHAEL, EVE and LUCIFER were historical figures of the past and I answered that they exist now, for example Lucifer in New York. In my work, I have defined Lucifer as the cosmic spirit of rebellion, of anarchy. He uses his high degree of intelligence to destroy creation. He does not know love. After further questions about the events in America, I said that such a plan appeared to be Lucifer’s greatest work of art. Of course I used the designation ‚work of art‘ to mean the work of destruction personified in Lucifer. In the context of my other comments this was unequivocal. I cannot find a fitting name for such a ‚satanic composition‘. In my case, it was not and is not my intention to hurt anyone. Since the beginning of the attack onward I have felt solidarity with all of the human beings mourning this atrocity.” (Stockhausen 2001b) Stockhausens nachträgliche Interpretation zeigt, dass nur durch das Einbeziehen des metaphysischen Luzifer-Blendings eine Deutung entstehen kann, die zum einen den Als-ob-Charakter durch eine explizite metasprachliche Markierung klarer anzeigt („appeared to be“) und zum anderen den metaphysischen Input mit dem Kunstwerk-Input in einer Nominalgruppe überblendet: „Lucifer’s greatest work of art“ bzw. „satanic composition“, wobei <?page no="35"?> Ultimatives Kunstwerk mit Todesfolge 35 der Als-ob-Status des zuletzt genannten Ausdrucks durch die metasprachliche Markierung der einfachen Anführungszeichen klar angezeigt wird. 14 An dieser Stelle lohnt es sich, einen diskursiven Blick auf die ersten Presseberichte und offiziellen Stellungnahmen zu werfen, denn hier gibt es zu den später inkriminierten Verknüpfungen Stockhausens erstaunliche Ähnlichkeiten: So wird deutlich, dass die Standardreaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001 durchaus eine christliche Motivik ähnlich der in Stockhausens Oper „Licht“ beinhaltetet. George W. Bush sprach etwa vom Kampf von Gut und Böse und dass „Gott“ in dieser Sache „not neutral“ sei (Bush 2009: 73). Diese Motivik wurde zunehmend dichotomisiert, etwa durch George W. Bush, der am 16.09.2001, also am selben Tag wie Stockhausen, von einem „Kreuzzug“ (Bush 2001) sprach. 15 Ausgehend von den Hauptbetroffenen, den USA bzw. dem Präsidenten der USA, fand eine starke Freund-Feind-Polarisierung statt, die durch den religiösen Bereich christlicher Provenienz, insbesondere dem Kampf von Gut gegen Böse überblendet wurde. In seiner Rede vor dem Kongress am 20.09.2001 schloss George W. Bush entsprechend der Gut-Böse-Polarität Zwischentöne oder differenzierte Haltungen aus. Entweder man unterstützt die USA oder man ist Terrorist: 16 “And we will pursue nations that provide aid or safe haven to terrorism. Every nation, in every region, now has a decision to make. Either you are with us, or you are with the terrorists. From this day forward, any nation that continues to harbor or support terrorism will be regarded by the United States as a hostile regime.” (George W. Bush 2009: 69, Herv. von W.-A. L.) Nach dieser Äußerung hatten sich viele Intellektuelle ausdrücklich gegen diese religiös-polarisierende Haltung gestellt, was in den darauf folgenden Jahren zu einer Neuauflage der alten Intellektuellendebatte (Bering 1984) führte (di Blasi 2003). Auch das „Beeindruckt-Sein“ von den medial vermittelten Bildern der Anschläge im Sinne einer naiven Dewey’schen Erhabenheitsästhetik war durchaus legitim und wurde bereits am ersten Tag nach den Anschlägen geäußert: 14 Obwohl der gesamte Ausdruck „satanic composition“ durch die einfachen Anführungszeichen metasprachlich markiert ist, könnte man an dieser Stelle den unterschiedlichen Status der Konstituenten diskutieren, da ja der Luzifer-Bereich, der hier semantisch mit „satanic“ elaboriert wird, nach wie vor einen unklaren Status zwischen Faktizität und Als-ob behält, während vor allem der Kunstwerk-Input (der mit dem Ausdruck „composition“ ebenfalls semantisch ausgedehnt wird) als figurativ markiert wird. Leider kann diese Frage aus Platzgründen hier nicht weiter verfolgt werden. 15 Eine kritische Analyse aus US-amerikanischer Sicht findet sich bei Lakoff (2001). 16 Ähnlich hatte sich zuvor der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder geäußert: „Es hat zu gelten: Wer Terroristen hilft oder sie schützt, verstößt gegen alle fundamentalen Werte des Zusammenlebens der Völker.“ (Deutscher Bundestag, 2001, S. 18294) <?page no="36"?> Wolf-Andreas Liebert 36 „Das Unvorstellbare, die Horrorvision von Hollywood ist 2001 Wirklichkeit geworden. Keine Außerirdischen waren dafür nötig, sondern eine Handvoll irdischer Fanatiker waren genug.“ (Kai Diekmann, Bild, 12.09.2001) Auch während der Sondersitzung des Bundestages am 12.09.2001 wurden die medialen Bilder der Anschläge vom 11. September 2001 thematisiert (Deutscher Bundestag, 2001). So äußerte etwa Friedrich Merz (CDU): „Diese Fernsehbilder werden wir nicht vergessen.“ (Deutscher Bundestag, 2001, S. 18294) oder Peter Struck (SPD): „Die Bilder dieser nie geahnten Brutalität werden uns nicht mehr loslassen, sie werden uns unser ganzes Leben begleiten.“ (ebd.) Verschiedene Elemente wie die religiöse Motivik oder Ansätze einer Erhabenheitsästhetik finden sich also durchaus auch außerhalb der Äußerungen Stockhausens im Rahmen der Standardreaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001. Womit sich Stockhausen aus der 9/ 11-Standardreaktion ausschloss, und wozu es von ihm auch keine Stellungnahme gab, war, dass Stockhausen von einem nietzscheanischen Konzept jenseits von Gut und Böse ausgeht: Das Böse existiert in diesem Konzept nicht als Entität; das, was gemeinhin als „böse“ gilt, wird - wenn überhaupt - abstrakt als Prinzip der Zerstörung gesehen - was dann durchaus personal etwa als Luzifer konzeptualisiert sein kann. Wenn in dieser Sichtweise überhaupt von dem Bösen gesprochen werden kann, dann in den Worten Mephistopheles’ als „Ein Teil von jener Kraft, Die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“ 17 Schöpfung, bei Stockhausen als Michael realisiert, und Zerstörung, bei Stockhausen als Luzifer realisiert, sind in diesem Verständnis also Konstituenten der Welt. 18 Als solche können sie auch nicht besiegt werden, allerdings hat bei Stockhausen der Einzelne die Wahl, sich zum Schöpferischen zu bekennen und das Zerstörerische abzulehnen: „Ich bete jeden Tag zu Michael, aber nicht zu Luzifer. Also das habe ich mir versagt.“ (vgl. oben). Während solche künstlerischen oder philosophischen Reflexionen bereits in „ruhigen Zeiten“ für Unruhe und Kritik sorgen, 19 führt dies in Zeiten existenzieller manifester Freund-Feind-Formierung praktisch automatisch 17 Mephistopheles führt dies auf Nachfrage Fausts weiter aus: „Ich bin der Geist, der stets verneint! Und das mit Recht; denn alles, was entsteht, Ist wert, daß es zugrunde geht; Drum besser wär’s, daß nichts entstünde. So ist denn alles, was ihr Sünde, Zerstörung, kurz das Böse nennt, Mein eigentliches Element.“ (Online-Ressource der Hamburger Ausgabe. Verfügbar unter: http: / / www.zeno.org/ nid/ 20004852788) 18 Vgl. dazu auch die hinduistische Trinität von Brahma (Schöpfen) - Vishnu (Bewahren) - Shiva (Zerstören). 19 Mit Bezugnahme auf den zumeist geschätzten Mephistopheles wäre es eine interessante Untersuchung, ob es in den Jahren nach 2001 Faust-Inszenierungen gab, und ob die Anschläge vom 11. September 2001 in irgendeiner Weise ihren Niederschlag gefunden haben, z. B. mit Verweis auf 9/ 11 während der eben zitierten Sprechpassage. <?page no="37"?> Ultimatives Kunstwerk mit Todesfolge 37 zum Ausschluss aus dem „Wir“ der Standardreaktion und damit auch aus dem Kern der Gesellschaft. Ein Blending von Kunstwerk und Terrorakt und „moralinfreier“ Religiosität wäre also zu diesem Zeitpunkt bereits Anlass zum sozialen Ausschluss gewesen. Was dies nun intensiviert und bereits am ersten Satz von Stockhausens 9/ 11-Monolog frappierend ist, ist die große Wertschätzung oder besser gesagt, die fehlende Distanzierung, die Stockhausen gegenüber dem Blending Luzifer-Terroranschlag-Kunstwerk zeigt. Diese wird mit dem zweiten Satz noch gesteigert, der die Anschläge vom 11. September 2001 geradezu als künstlerische Utopie erscheinen lässt: (6) Daß also Geister in einem Akt etwas vollbringen, was wir in der Musik nie träumen könnten, daß Leute zehn Jahre üben wie verrückt, total fanatisch, für ein Konzert. Und dann sterben. [Zögert.] (MusikTexte, 2001, S. 77) Hier ist kein „Herkunftsbereich Kunst“ erkennbar, der auf den „Zielbereich Terror“ projiziert würde. Vielmehr entsteht hier ein Blend, in dem Kunst und Terror zu einer Einheit verschmelzen. Es besteht dadurch eine Reihe von syntaktischen und semantischen Ambiguitäten, die dieses Schillern bewirken. An dieser Stelle könnten bedeuten: Geister: a) Terroristen, b) Luzifer, c) Musiker in einem Akt: a) Terrorakt, b) künstlerische Performance vollbringen: a) Terrorakt, b) künstlerische Performance Leute: a) Terroristen, b) Musiker träumen: a) sich vorstellen, b) sich wünschen Die syntaktische Ambiguität dieses Satzes kann durch folgende Paraphrasen verdeutlicht werden: a) In der Musik ist Folgendes unvorstellbar/ unwünschbar: Musiker üben für ein Konzert zehn Jahre fanatisch, und diese Musiker sterben danach am Ende der Aufführung. b) Etwas Analoges in der Musik ist unvorstellbar/ unwünschbar: Terroristen üben zehn Jahre fanatisch für ihren Anschlag, wie Musiker für ein Konzert, und sterben nach dem Anschlag. Semantisch eindeutig sind hier lediglich die substantivischen Anker „Musik“ und „Konzert“ in den Ausdrücken: „Wir in der Musik“ und „für ein Konzert“, wobei bei Paraphrasenvariante b) eine Metaphorisierung von „Konzert“ vorliegen würde. In der unmittelbar darauf folgenden Äußerung spricht Stockhausen wiederum von den Anschlägen vom 11. September als von einem Kunstwerk. Diese Stelle klärt nun, dass er die Anschläge tatsächlich als eine Art Kunstwerk versteht, nicht im metaphorischen, sondern im faktischen Sinne: (7) Und das ist das größte Kunstwerk, das es überhaupt gibt für den ganzen Kosmos. Stellen Sie sich das doch vor, was da passiert ist. <?page no="38"?> Wolf-Andreas Liebert 38 Das sind also Leute, die sind so konzentriert auf dieses eine, auf die eine Aufführung, und dann werden fünftausend Leute in die Auferstehung gejagt. In einem Moment. Das könnte ich nicht. Dagegen sind wir gar nichts, also als Komponisten. (MusikTexte, 2001, S. 77) Um diesen Teil des 9/ 11-Monologs interpretieren zu können, muss zunächst kurz auf den Kunstbegriff Stockhausens als einem entscheidenden Input- Bereich für das Blending eingegangen werden. Stockhausen versteht sich als künstlerische Avantgarde. In diesem Konzept ist Kunst ständig auf der Suche nach ihren Grenzen. Die Sprengmetapher ist dabei eine beliebte Redefigur (vgl. etwa Pierre Boulez in Der Spiegel, 1967). In den seltensten Fällen ist diese Art von Kunst politisch, der Künstler ist, wenn man einen Ausdruck Jonathan Meeses (2012) übertragen will, „Ameise der Musik“. Als „Ameise der Musik“ widmet er sich unermüdlich und ausschließlich der Musik und ihrer Weiterentwicklung. 20 Das Ziel dieser Kunst ist ein Erwachen seiner in kulturellen Stereotypen gefangenen Rezipienten in einem plötzlichen Moment von Katharsis. In seinem 9/ 11-Monolog führt Stockhausen zwei Fallbeispiele an, was er darunter versteht, den Mann, der die Illusion von einem Orchester verlor, und die gebildeten, älteren Damen, die die Illusion verloren, sie könnten Noten lesen. Da diese Fallbeispiele für den Katharsisbegriff Stockhausens in seinem 9/ 11-Monolog großen Raum einnehmen, und oben bereits im Zusammenhang des 9/ 11-Monologs vollständig zitiert wurden, sollen sie hier nicht noch einmal aufgeführt werden. Nach der ausführlichen Beschreibung dieser beiden Beispiele für Katharsis im Verlaufe von Stockhausen-Performances wird das so profilierte Katharsiskonzept durch die folgende Äußerung mit dem Bereich 9/ 11 überblendet: (8) Das war eine Explosion wie für die Menschen in New York. Bum! Und ich weiß nicht, ob die jetzt woanders sind, die da plötzlich so schockiert waren. (MusikTexte, 2001, S. 77) Das Konzept der Katharsis bildet demnach einen wichtigen Doppel-Anker in den Bereichen „avantgardistisches Kunstwerk“ und „9/ 11“ und macht damit einen wesentlich Teil des generic space aus. Der Blend wird zunehmend elaboriert, Herkunfts- und Zielbereich wechseln miteinander ab, bzw. sind kaum noch auszumachen. Konnte man zu Beginn noch einen „9/ 11 als Kunstwerk“-Blend ausmachen, amalgamiert dies nun immer mehr zu einem „9/ 11-Avantgardekunst“- Blend. Dies zeigt sich auch darin, dass der generic 20 Diese ausschließliche Konzentration auf die Musik wird z. B. in einem frühen Interview mit Stockhausen im Jahr 1967 beschrieben: „Wir gingen hinaus in sein Studio. Bei mindestens 30° Hitze - es war der heißeste Tag im Sommer 1967 - arbeitete Stockhausen ohne Aufsehen nach einer graphischen Aufzeichnung unermüdlich mit seinen Bändern! Ein junger Amerikaner, David Johnson, half ihm dabei. Stockhausen schien seine Umwelt vergessen zu haben. Unbemerkt verließ ich nach etwa zwei Stunden den Raum.“ (Stürzbecher 1971: 65) <?page no="39"?> Ultimatives Kunstwerk mit Todesfolge 39 space zu vielen weiteren Entdeckungen von Ähnlichkeiten zwischen Stockhausens Kunstbegriff und den Anschlägen vom 11. September 2001 einlädt: Stockhausens avantgardistischer Kunstbegriff kommt gerade auch in seinem Hauptwerk, dem Opern-Zyklus „Licht“, zum Ausdruck, der in Teilen auf den Hamburger Musiktagen aufgeführt werden sollte. Zunächst ist bereits die Entstehungszeit lang, von 1977 bis 2005. Auch die Aufführungszeit überschreitet mit 48 Stunden Dauer jedes übliche Maß. Es gibt zudem einen enorm hohen technischen Aufwand, die Aufführungsorte sind teilweise in Hochhäusern, teilweise wird verteilt über vier fliegende Helikopter aufgeführt: Im so genannten „Helikopterquartett“ 21 spielen die Musiker, während sie in Helikoptern fliegen, und stehen nur über Funk in Verbindung. 22 Schließlich wird auch das Auditorium in neuer Art und Weise einbezogen, der normale Raum der Oper als Gebäude wird aufgehoben oder nur ein Teil des ganzen Spielfeldes. Deshalb gilt Stockhausen auch als Wegbereiter der performativen Oper. Behält man diesen Kunstbegriff im Gedächtnis, so wird die Basis deutlich, von der aus Stockhausen Gemeinsamkeiten zu den Anschläge vom 11. September 2001 entdecken kann. In den Medien wurde bereits in den ersten Tagen nach den Anschlägen ausführlich über Details wie den hohen Bildungsgrad der Attentäter und deren lange Vorbereitungszeit sowie die hochgradig organisierte Durchführung berichtet. Dies war im Diskurs also am Tag des Pressegesprächs am 16.09.2001 sehr aktuell und bekannt. Das Blending über den Katharsisbegriff wird in folgender Äußerung fortgeführt: 23 (9) Stellen Sie sich mal vor, ich könnte jetzt ein Kunstwerk schaffen, und Sie wären alle nicht nur erstaunt, sondern Sie würden auf der Stelle umfallen. Sie wären tot und würden wiedergeboren, weil Sie Ihr Bewußtsein verlieren, weil das einfach zu wahnsinnig ist. Manche Künstler versuchen doch, über die Grenze des überhaupt Denkbaren und Möglichen zu gehen, damit wir wach werden, damit wir für eine andere Welt uns öffnen. Also, ich weiß nicht, ob das fünftausend Wiedergeburten gibt, aber irgend so etwas. [Fingerschnippen] Im Nu. Das ist unglaublich. (MusikTexte, 2001, S. 77) 21 Das Helikopterquartett wurde auch nach Stockhausens Tod noch verschiedentlich aufgeführt; vgl. etwa Quartetto Arditti (2009). 22 An dieser Stelle sei noch einmal betont, dass es bei der Stockhausen-Oper „Licht“ nicht um Kulissen auf einer Opernbühne geht, sondern um reale Hubschrauber und reale Hochhäuser. 23 Später im Text soll auf den hier in Stockhausens Äußerung folgenden Topos der Ereignishaftigkeit, bei dem außergewöhnliche Ereignisse zu einem Verstummen, Stammeln oder einer neuen Sprache führen („Ich habe Wörter benutzt, die ich nie benutze, weil das so ungeheuer ist“), zumindest noch am Rande eingegangen werden. <?page no="40"?> Wolf-Andreas Liebert 40 Stockhausen entwickelt hier im blended space das katachrestische Bild eines gigantischen avantgardistischen Kunstwerks, in das eine Reihe von Eigenschaften der Anschläge vom 11. September integriert ist. Dabei ist der letzte Satz wiederum mehrdeutig. Er kann einerseits eine Eigenschaft dieses fiktiven 9/ 11-Avantgarde-Kunstwerks sein, diese Stelle lässt aber auch eine Lesart zu, in der Stockhausen mit dem pronominal gebrauchten „das“ auf die Anschläge vom 11. September 2001 referiert: „Also, ich weiß nicht, ob das fünftausend Wiedergeburten gibt, aber irgend so etwas.“ Auffällig ist an dieser Stelle - wie auch schon in Textauszug (7) „in die Auferstehung gejagt“ - das erneute Aktivieren eines quasireligiösen Frames mit den Ausdrücken „wiedergeboren“ und „Wiedergeburten“. Es handelt sich um den vorhin erwähnten, idiosynkratischen Metaphysik-Frame, der zu einer Überblendung von Stockhausens religiöser Wiedergeburtslehre mit der Katharsis im Kunstwerk, und dann mit den Anschlägen vom 11. September verwendet wird. In der metaphysischen Welt Stockhausens liegt die jeweilige Kausalität darin, dass das Grenzen überschreitende Kunstwerk zu einem Bewusstseinsverlust und einer geistigen Erneuerung führt und entsprechend der Anschlag, der die Grenzen normaler Anschläge, wie eben der 9/ 11-Anschlag, überschreitet, zu einer Wiedergeburt im Sinne von Stockhausens Metaphysik führen kann. 3.3.3 Die 9/ 11-Schlusssequenz Die darauf folgende Interaktion unterbricht auf der formalen Ebene den 9/ 11-Monolog Stockhausens und schließt ihn dadurch ab. Auf der semantischen Ebene setzt die Frage genau an der zunehmenden Verschmelzung von Kunstwerk und den Anschlägen vom 11. September an, wobei zum ersten Mal ein eindeutiger Begriff für die Anschläge genannt wird, nämlich „Verbrechen“: (10) Gibt es keinen Unterschied zwischen Kunstwerk und Verbrechen? Vielleicht, aber ... Natürlich! Der Verbrecher ist es deshalb, das wissen Sie ja, weil die Menschen nicht einverstanden waren. Die sind nicht in das Konzert gekommen. Das ist klar. Und es hat ihnen auch niemand angekündigt: „Ihr könntet dabei drauf gehen.“ Ich auch nicht. Also es ist in der Kunst nicht so schlimm. Aber was da geistig geschehen ist, dieser Sprung aus der Sicherheit, aus dem Selbstverständlichen, aus dem Leben, das passiert ja manchmal, so poco a poco auch in der Kunst, oder sie ist nichts. [Stille.] Sie sind alle ganz ernst auf einmal. Wo hat er mich hingebracht? Luzifer. Sind Sie denn Musiker? Selbst Musiker? Nein. <?page no="41"?> Ultimatives Kunstwerk mit Todesfolge 41 Naja. Ist das nicht ungeheuer, was mir da eingefallen ist auf einmal. Ist ja irre. Ich habe gesagt, zehn Jahre üben für ein Konzert, und das muß es sein. Und dann - weg. [Pause] Huuuh! Mehrere Stimmen: Huuuh! Schwere Kost. Benedikt Stampa: Schluck Wasser? (MusikTexte, 2001, S. 77, Herv. i. Orig.) Stockhausen grenzt hier unter dem Selektor Verbrechen sein fiktives Terrorkunstwerk ab („Der Verbrecher ist es deshalb, das wissen Sie ja, weil die Menschen nicht einverstanden waren. Die sind nicht in das Konzert gekommen. Das ist klar. Und es hat ihnen auch niemand angekündigt: ‚Ihr könntet dabei drauf gehen.‘ “), wobei es ihm sichtlich schwer fällt, die Bereiche aus dem Blend auseinander zu bringen („Vielleicht, aber ... “). In seinen metasprachlichen Kommentaren zeigt er weiterhin an, dass er von dem gemeinsamen Verständnis ausgeht, dass es von Beginn der 9/ 11-Passage an nie darum gegangen sei, Kunstwerk und Anschläge gleichzusetzen („Natürlich! “, „das wissen Sie ja“, „Das ist klar.“). Auch aus der Perspektive des Kunstbereichs grenzt er ab („Also es ist in der Kunst nicht so schlimm.“); die Abgrenzung gelingt aber nicht richtig, denn bei vielen Stellen bleibt unklar, ob sie zum Kunst- oder Terrorbereich attribuiert werden sollen wie zum Beispiel der Satz „Ich auch nicht“. Dass diese Ausführungen nicht zu einer klaren Abgrenzung führen, wird durch den nächsten Äußerungsteil verstärkt: Auf einer allgemeineren, „geistigen“ Ebene wird nun die Katharsis als verbindendes Moment wieder aufgegriffen als das, was den Terroranschlag mit einem Avantgardekunstwerk verbindet: „Aber was da geistig geschehen ist, dieser Sprung aus der Sicherheit, aus dem Selbstverständlichen, aus dem Leben, das passiert ja manchmal, so poco a poco auch in der Kunst, oder sie ist nichts.“ Auf dieser Ebene wird der Blend also aufrechterhalten. In der metareflexiven Reprise greift Stockhausen das Thema nach dem Aussprechen von Verabschiedungsformeln noch einmal auf und bittet darum, seine Ausführungen zu 9/ 11 nicht zu veröffentlichen; er bietet den anwesenden Journalisten sogar einen Ersatztext an, der aus journalistischer Sicht allerdings kaum konkurrenzfähig ist. Die metareflexive Reprise wird im Folgenden aus Platzgründen nicht weiter ausgeführt. 4 Das Rad des Diskurses Im Folgenden soll nun untersucht werden, wie der Kunst-Terror-Blend Stockhausens in die Öffentlichkeit gelangte und wie er dort aufgenommen wurde. Als zentrale Distributionsstelle hat sich dabei die dpa-Meldung vom <?page no="42"?> Wolf-Andreas Liebert 42 18.09.2001 erwiesen (dpa, 2001). Der Originaltext wurde mir dankenswerterweise von der dpa zur Verfügung gestellt. Die folgenden Zitationen erfolgen mit freundlicher Genehmigung der dpa. Betrachtet man die Interaktionsstruktur der 9/ 11-Schlusssequenz, so fällt eine Stelle auf, die die stärkste Veränderung erfahren hat, und auf die deshalb nun eingegangen werden soll. Insgesamt lässt sich sagen, dass es im medialen Raum kaum korrekte Zitierweisen aus der Aufnahme bzw. der relativ authentischen Abschrift der Tonbandaufnahme gibt. 24 Dies lässt sich auf eine gängige Praxis im Journalismus zurückführen, bei der Textänderungen von Zitaten im redaktionellen Bereich Usus sind und nicht sanktioniert werden. Solche kleineren Textänderungen finden sich auch beim Übergang von der Abschrift und der dpa-Meldung. Natürlich gibt es Kürzungen, aber auch eine Reihe von grammatisch motivierten Änderungen (z. B. „was“ in „das“ etc.), die hier aber ebenfalls außen vor bleiben sollen. Was hier in den Blick kommen soll, sind starke semantische Veränderungen, „Wissenstransformationen“. 25 Es soll hier zunächst der Teil der dpa-Meldung zitiert werden, der die massivste Veränderung zeigt. 26 „Auf die Rückfrage eines Journalisten, ob er Kunst und Verbrechen gleichsetze, antwortete Stockhausen: ‚Ein Verbrechen ist es deshalb, weil die Menschen nicht einverstanden waren. Die sind nicht in das „Konzert“ gekommen. Das ist klar. Und es hat ihnen niemand angekündigt, Ihr könntet dabei draufgehen. Was da geistig geschehen ist, dieser Sprung aus der Sicherheit, aus dem Selbstverständlichen, aus dem Leben, das passiert ja manchmal auch poco a poco in der Kunst. Oder sie ist nichts.“ Es folgte ein kurzes Stammeln Stockhausens: „Wo hat er mich hingebracht, Luzifer ... Ist das nicht ungeheuer, was mir da eingefallen ist auf einmal? ... ist ja irre. Wie gesagt: 10 Jahre Arbeit für ein Konzert und das muss es sein ... und dann: weg! ‘“ (dpa, 2001) Vergleicht man die dpa-Variante mit der Abschrift, so fällt eine Fülle von Unterschieden auf, die nicht nur in Kürzungen, sondern vor allem in Textzusätzen bestehen. Der folgende Abgleich zeigt, welche Textteile gekürzt, welche hinzugefügt wurden. Dabei werden Texttilgungen mit einem Minuszeichen, der Markierung der Textstelle in eckigen Klammern und einem Durchstreichen ( [Texttilgung]), Textzusätze durch ein Pluszeichen und der Markierung 24 Im wissenschaftlichen Bereich wird in der Regel aus MusikTexte (2001) zitiert. 25 Zu diesem Begriff vgl. Liebert (2002), ein verwandtes und damit kompatibles Konzept stellt der Transkriptivitätsansatz von Ludwig Jäger dar (vgl. z. B. Jäger et al. 2008, Jäger 2010). 26 Wie oben bereits ausgeführt, geschieht dies mit freundlicher Genehmigung der dpa. <?page no="43"?> Ultimatives Kunstwerk mit Todesfolge 43 der Textstelle durch geschweifte Klammern gekennzeichnet ( {Textzusatz}): 27 Textvergleich Tonbandabschrift Pressegespräch und dpa-Meldung [Gibt es keinen Unterschied zwischen Kunstwerk und Verbrechen? ] {Auf die Rückfrage eines Journalisten, ob er Kunst und Verbrechen gleichsetze, antwortete Stockhausen: } [Vielleicht, aber ... Natürlich! ] [Der Verbrecher] {Ein Verbrechen} ist es deshalb, [das wissen Sie ja], weil die Menschen nicht einverstanden waren. Die sind nicht in das Konzert gekommen. Das ist klar. Und es hat ihnen auch niemand angekündigt: „Ihr könntet dabei drauf gehen.“ [Ich auch nicht. Also es ist in der Kunst nicht so schlimm. Aber] was da geistig geschehen ist, dieser Sprung aus der Sicherheit, aus dem Selbstverständlichen, aus dem Leben, das passiert ja manchmal {auch}, [so] poco a poco [auch] in der Kunst, oder sie ist nichts. [(Stille.)] [Sie sind alle ganz ernst auf einmal. ] Wo hat er mich hingebracht? Luzifer. {...} [Sind Sie denn Musiker? Selbst Musiker? ] [Nein.] [Naja.] Ist das nicht ungeheuer, was mir da eingefallen ist auf einmal. {...} Ist ja irre. [Ich habe gesagt] {Wie gesagt}, zehn Jahre üben für ein Konzert, und das muß es sein. Und dann - weg. [(Pause) Huuuh! Mehrere Stimmen: Huuuh! Schwere Kost.] Markierungen von Texttilgungen: [Texttilgung] Markierungen von Textzusätzen: {Textzusatz} Die auffälligste Transformation in der dpa-Meldung ist, dass hier von einem „Stammeln“ gesprochen wird. Dieses Stammeln greift den zuvor diskutierten Ereignistopos auf und stellt Stockhausen als einen von Luzifer gesteuerten Verrückten dar, der nicht mehr Herr seiner Sinne ist. Hört man in die Aufzeichnung hinein, so lässt sich nichts finden, was dem auch nur nahe kommen würde. Zwar spricht Stockhausen teilweise engagiert und betont, aber immer kohärent und kontrolliert, zumeist in sehr sachlichem, fast kühlem Ton. In der dpa-Meldung wird jedoch genau diesem Urteil über die Äußerung als ein Stammeln besondere Authentizität verliehen. Zum einen ist die Bezeichnung „Stammeln“ und auch die Bewertung als „kurz“ nur von einem Augenzeugen oder einer Überprüfung der Audioaufnahme möglich. Weiter wird dies durch das Einfügen von drei Punkten „...“ an drei verschiedenen Stellen unterstützt. Man könnte hier an den Hinweis auf vorliegende Textkürzungen denken. Allerdings werden in diesem Fall die drei Punkte in Klammern gesetzt. Verglichen mit der Abschrift handelt es sich nur im ersten Fall tatsächlich um eine Textkürzung, die beiden folgenden Stellen sind 27 Um Eindeutigkeit herzustellen, wurden in der folgenden Darstellung parasprachliche Einheiten mit runden Klammern markiert. <?page no="44"?> Wolf-Andreas Liebert 44 Originaleinfügungen von dpa, denen weder Textkürzungen noch „stammelnde“ Passagen der Audioaufnahme gegenüberstehen. Gleichzeitig wirken sich die Kürzungen und Hinzufügungen massiv auf die Textkohäsion und -kohärenz aus. Der Satz der dpa-Meldung „Wo hat er mich hingebracht, Luzifer ...“ suggeriert ein kataphorisches Verständnis des Pronomens „er“, so als wäre mit „er“ Luzifer gemeint; zusammen mit den drei Punkten „...“ wirkt es, als würde Stockhausen stammelnd erkennen, was ihm Furchtbares von Luzifer eingegeben, wie er von ihm zum Werkzeug gemacht wurde. Auch die folgenden, teilweise elliptischen Sätze („Ist das nicht ungeheuer, was mir da eingefallen ist auf einmal? ... ist ja irre.“) unterstützen den Eindruck stammelnder Bestürzung und unkontrollierter Fremdsteuerung. Das Studium der Abschrift und der Audioaufnahme macht auch eine andere Lesart möglich, teilweise auch notwendig. Es wurde bereits gesagt, dass die Audioaufnahme die Lesart des Stammelns in keiner Weise unterstützt. Betrachtet man den eben besprochenen Satz im interaktionalen Frage- Antwort-Kontext, wie er in der Abschrift vorliegt, so liegt eher die Lesart nahe, dass mit dem Personalpronomen „er“ in der Frage: „Wo hat er mich hingebracht? “ der zuvor fragende Journalist gemeint ist, die Frage also nicht selbst-adressiert war. Diese Lesart wird durch das Einbeziehen der paraverbalen Ebene unterstützt: In der Aufnahme ist nach „Sie sind alle ganz ernst auf einmal“ ein in der Abschrift nicht notiertes verhaltenes Lachen des Publikums zu hören, das man als „Erleichterungslachen“ deuten kann (Erleichterung darüber, dass Stockhausen das Publikum in seiner Befindlichkeit direkt anspricht). Dieses Lachen aufgreifend, fragt Stockhausen dann fast neckend „Wo hat er mich hingebracht? “, macht dann eine kleine Pause, sagt dann zurückgenommen „Luzifer“, um dann den journalistischen Frager direkt anzusprechen: „Sind Sie denn Musiker? Selbst Musiker? “, woraufhin der Angesprochene die Frage verneinend beantwortet. Diese Lesart wird durch den interaktionalen Kontext und die Audioaufnahme gestützt, während die Lesart eines von Luzifer besessenen, stammelnden Musikers nur durch massive Kontextentfremdung und Textänderungen erreicht werden kann. Dabei ist nicht von einer mutwilligen Fälschung durch dpa auszugehen, sondern von einer Mischung aus Frameeffekt und Medienformatanpassung: Man liest bereits mit der Erwartung eines dem Wahnsinn nahen Musikgenies und sieht das dazu passende Medienformat. So wird aus einem reflektierenden Sprechen ein luziferisches Stammeln. Betrachtet man den diskursiven Prozess nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Wissenstransformationen, sondern auch als Transkriptionsphänomen (Jäger/ Stanitzek 2002, Jäger et al. 2008, Jäger 2010), dann ist der Ausgangspunkt das Pressegespräch am 16.09.2001 in einem durch die nur fünf Tage zurückliegenden Anschläge vom 11. September hochgradig politisch, religiös und existenziell aufgeladenen und polarisierenden Kontext. Dieses <?page no="45"?> Ultimatives Kunstwerk mit Todesfolge 45 Gespräch wurde von mehreren der anwesenden Journalisten, u. a. von der Musikwissenschaftlerin Dr. Margarete Zander auf Tonband aufgenommen und dem NDR zur Verfügung gestellt. Die Zeitschrift MusikTexte erstellte davon eine Abschrift. Die ist bis heute die einzig erhaltene authentische Abschrift des gesamten Pressegesprächs. Dann erscheint die Pressemeldung der dpa, die sich - wie eben besprochen - teilweise wörtlich mit der Abschrift deckt, aber aus einer anderen (unbekannten) Quelle gewonnen wurde. 28 In Bezug auf die Abschrift wird in der dpa-Meldung vieles ausgelassen und einiges neu hinzufügt. Stockhausen ist nun das verrückte, von Luzifer besessene Musikgenie. Diese dpa-Meldung ist schließlich die neue Quelle für die meisten Bezugnahmen im Mediensystem, auch international (vgl. z. B. die New York Times 2001, die als Quelle dpa über AFP nennt). Auch Autoren, die Stockhausen in Schutz zu nehmen versuchen, gehen von dieser Quelle und von dem Bild des wahnsinnig stammelnden Stockhausen aus (vgl. z. B. Theweleit ²2003). Daher kann die dpa-Meldung auch als hegemoniale Sekundärquelle bezeichnet werden, da diese im Diskurs wie eine Primärquelle genutzt wurde. 5 Deutungen Wenn man zunächst danach fragt, was Stockhausen zu diesen Äußerungen bewegt hat, so kann eine einfache Antwort lauten, er wollte die Relevanz und Aktualität seiner oft als anachronistisch verspotteten biblischen Opernfiguren Michael, Eva und Luzifer vorführen, bis ihm die verschiedenen Ähnlichkeiten aufgefallen sind, die vorhin im Rahmen des generic space beschrieben wurden und der unheilvolle Blend seinen Lauf nahm. 29 Man könnte auch an die so genannte „Mescalero-Affäre“ denken, bei der ein anonymer Schreiber, der sich erst im Jahr 2001 offenbarte (AP 2001), seiner „klammheimlichen Freude“ über den Buback-Mord der Roten Armee Fraktion Ausdruck gab (vgl. Brückner 1977); ebenfalls wäre hier die sogenannte Jenninger-Affäre zu nennen (vgl. Krebs 1993, Fludernik 2003). Bei genauerem Hinsehen treffen diese Fälle aber auf Stockhausen nicht zu. Sowohl beim Mescalero als auch bei Jenninger war die Positionierung innerhalb einer Freund-Feind-Anordnung zwar das Problem, aber während sich der Mescalero ja relativ klar positionierte, gelang bei Jenninger die Vermittlung der Positionierung nicht. Wie Eric Kluitenberg (2007: 84) bemerkt, handelt es sich im Falle des 9/ 11-Blends von Stockhausen nicht um ein Problem auf der ethischen Ebene, auch wenn diese in der Öffentlichkeit hauptsäch- 28 Angaben von Frau Dr. Zander im persönlichen Gespräch. 29 Psychologisierende Urteile wie eine Art von narzisstischer Kränkung über Terroristen, die die erfolgreicheren Künstler seien (Lorenz 2004: 9), oder „künstlerische Selbsterhöhung“ (Engelbert 2011: 26) scheiden für mich aus. <?page no="46"?> Wolf-Andreas Liebert 46 lich thematisiert wurde. Stockhausen nimmt vielmehr eine immoralistische Position jenseits der geforderten Freund-Feind-Anordnung ein. Dass dies für ihn im Rahmen seiner Individual-Metaphysik die natürliche Position darstellt, wurde vorhin ausführlich dargestellt. In der polarisierten Freund- Feind-Formation wurde er aber in dieser (ohnehin auch unter „besonnenen Umständen“ kaum zu vermittelnden Position) entweder pathologisiert oder als wahnsinniger in sich versponnener Künstler dargestellt. Stockhausens nietzscheanischer Standpunkt der Immoralität war meiner Ansicht nach der tiefere Grund für die öffentliche Verstörung. 30 Daher wurde auch Jean Baudrillard, der die USA sogar bezichtigte, selbst an den Anschlägen schuld zu sein, zugleich aber - so kann es zumindest der Unbedarfte lesen - die Gut- Böse-Dichotomie aufrechterhielt, ja sogar wie ein von seinem smarten Virus faszinierter Virologe die „Intelligenz des Bösen“ (Baudrillard ²2011: 18) erkunden wollte, nie in diesem Maße international gebrandmarkt. Zugleich war aber dieser Standpunkt jenseits der mächtigen diskursiven Formation auch der Grund für seine spätere Rehabilitierung, auch wenn 9/ 11, sein Name und sein Blending vom 16.09.2001 für immer als kollektive Erinnerung wiederholt werden wird. Denn genau durch dieses Außerhalb- Stehen hat er unmittelbar wesentliche Momente von 9/ 11 erfasst, die sich aber erst in den Jahren darauf als relevant erwiesen haben. So setzte eine wissenschaftliche Diskussion über die ästhetischen Aspekte von 9/ 11 ein (vgl. z. B. Fricke 2003, Fludernik 2003, Hoffmann 2006, Kluitenberg 2007), die sich auf Stockhausen - natürlich auch kritisch abgrenzend - bezogen hat; auch ein Theaterstück bekennt sich von Beginn an zu Stockhausens 9/ 11- Blend des ultimativen Kunstwerks (Lollike 2007), so dass man sagen kann, dass der ursprüngliche Schock über dieses Zusammendenken von Kunstwerk und Terror sich nach und nach in eine kollektive Reflexion verwandelt hat. Christel Fricke sagt dazu pointiert: „In diesem Konflikt zwischen Kunstschaffenden und der empörten Öffentlichkeit kann die philosophische Ästhetik nur den bescheidenen Versuch einer Vermittlung unternehmen. Sie kann zum einen analysieren, welche Mißverständnisse sich in diesem Konflikt offenbaren. Zum anderen kann sie versuchen zu erklären, was es heißt (und was es nicht heißt), über die Terrorattacken auf das World Trade Center ästhetisch zu reflektieren, um schließlich zu einer begründeten Einschätzung des ästhetischen Zeichenpotentials dieser Terrorattacken zu kommen, zu einer Antwort auf die Frage nach ihrem Status als Kunstwerke.“ (Fricke 2003: 5) Stockhausen hat mit seinem Blending auch eine Wahrheit getroffen, die Slavoj Žižek unter der Überschrift „Passion für das Reale“ fasst. Die „Passi- 30 Und nicht eine Verwechslung von politischem und künstlerischem Sprechen, wie Theweleit (²2003) und teilweise auch Kluitenberg (2007) mit Bezug auf Luhmann meinen. <?page no="47"?> Ultimatives Kunstwerk mit Todesfolge 47 on für das Reale“ ist nach Žižek eine im 20. Jahrhundert beginnende, antiutopisch ausgerichtete Politik der Sachlichkeit und des Realen, die jedoch ohne Inszenierungen nicht auskommt. Der Grad dieser Inszenierungen hat nach Žižek immer mehr zugenommen. Er nimmt hier u. a. Bezug auf die Terroranschläge der 70er und 80er Jahre - angeführt wird z. B. die Rote Armee Fraktion (RAF) -, bei denen er die Notwendigkeit ausmacht, den Anschlägen immer mehr den Charakter des Spektakulären und Theatralen zu geben, und dass diese Effekte den materialen Nutzen im Sinne einer veränderten Politik überwiegten. Insofern stellen die Anschläge vom 11. September 2001 einen „Höhepunkt“ aus brutaler Realität und zugleich größtmöglicher Inszenierung dar. In diesem Kontext versteht Žižek auch die Äußerungen Stockhausens: „Hier liegt auch der Moment der Wahrheit in Karl-Heinz [sic! ] Stockhausens provokativer Äußerung, die in die WTC-Türme einschlagenden Flugzeuge seien das ultimative Kunstwerk: Wir können den Einsturz des World Trade Centers als den abschließenden Höhepunkt der ‚Passion für das Reale’ der Kunst des 20. Jahrhunderts betrachten - die ‚Terroristen‘ selbst waren nicht vorwiegend auf den materiellen Schaden aus, sondern auf dessen spektakulären Effekt.“ (Žižek 2004: 20, Herv. i. Orig.) Stockhausens unbedachte und verletzende Äußerungen (und hier müsste man Äußerungen anderer Künstler wie Damian Hirst oder Anselm Kiefer anschließen) haben zu einem bis heute nicht abgeschlossenen Diskurs über die Ästhetik des Terrors, aber darüber hinaus auch über eine Ästhetik des Realen geführt. Die Irritation, die Stockhausens 9/ 11-Blend ausgelöst hat, ist bis heute nicht verarbeitet. Nach den nun über zehn Jahren der kollektiven Reflexion tritt auch die Produktivität dieser Irritation hervor. 6 Bibliographie 6.1 Quellenverzeichnis AP, 2001. „Mescalero“ gibt sich zu erkennen: Entschuldigung bei Buback-Sohn Anonymer Verfasser ist Klaus Hülbrock. In: Rhein-Zeitung, 28.01.2001. Verfügbar unter: http: / / archiv. rhein-zeitung.de/ on/ 01/ 01/ 28/ topnews/ mesc1.html. Bush, G. W., 2001. Remarks by the President Upon Arrival, 16.09.2001. Verfügbar unter: http: / / georgewbush-whitehouse.gov/ news/ releases/ 2001/ 09/ 20010916-2.html. Bush, G. W., 2009. Address To The Joint Session of the 107th Congress, Unites States Capitol Washington, D.C., September 20, 2001. In: Selected Speeches of President George W. Bush 2001-2008, Washington, D.C.: The White House, 65-73. Verfügbar unter: http: / / georgewbush-whitehouse.archives.gov/ infocus/ bushrecord/ docu ments/ Selected_Speeches_George_W_Bush.pdf. <?page no="48"?> Wolf-Andreas Liebert 48 Der Spiegel, 1967. 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September 2001 mental und 1 Diese Untersuchung wurde ermöglicht durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die das Projekt „Aktuelle Konzeptualisierungen von Terrorismus - expliziert am Metapherngebrauch im öffentlichen Diskurs nach dem 11. September 2001“ vom 01.10.2010 bis zum 31.07.2013 finanzierte. Mitarbeiter im Projekt waren Jan-Henning Kromminga und Matthias Becker sowie Sara Neugebauer (als studentische Hilfskraft), denen ich für ihre Arbeit sowie die Kommentare zu diesem Beitrag danke. Die Projektgruppe untersuchte mittels einer qualitativen und quantitativen Korpusanalyse im Rahmen der Diskurs- und Kognitionslinguistik, welche Rolle Metaphern beim Verständnis von und Umgang mit dem Thema des internationalen islamistischen Terrorismus in den Massenmedien spielen. Bislang sind in der Forschung nur einzelne Medien und relativ kurze Zeitabschnitte untersucht worden (s. z. B. Spencer 2010 zu Metaphern in der Bild und Kirchhoff 2010 zu Spiegel und Focus, Weller 2002 und Frindte/ Haußecker 2010 zu Fernsehberichten). Im Projekt wurden über 15 Jahre der Berichterstattung erfasst: Der Terrorismus-Diskurs kurz vor und unmittelbar nach 9/ 11 sowie zehn Jahre danach bis zur Ermordung Bin Ladens. Der Schwerpunkt lag auf differenzierten qualitativen Textanalysen, da quantitative Analysen lediglich Aufschluss über Verwendungshäufigkeiten geben, kognitionslinguistische Untersuchungen jedoch Einblick in die semantisch-konzeptuellen und kontextuell bestimmten Verbalisierungsmuster ermöglichen (s. auch Felder et al. 2012). <?page no="52"?> Monika Schwarz-Friesel 52 verbal zu bewältigen. Es wird dann erläutert, welche Typen von Metaphern besonders häufig im Diskurs benutzt wurden und wie die metaphorischen Deutungsmuster des islamistischen Terrorismus jeweils zu einer Intensivierung oder Relativierung des Gefühls der Bedrohung führen können. In diesem Zusammenhang wird diskutiert, inwieweit es dabei auch zu De- Realisierungen (Fehldeutungen und Falschdarstellungen) des Phänomens Terrorismus kommen kann (zur Definition von Terrorismus s. den Einführungsartikel in diesem Band). Die Analyse ist korpusbasiert: Aus einer Pressetext-Datenbank wurden mehr als 100.000 thematisch relevante Publikationen als Daten, d. h. als eine strategisch zusammengestellte, repräsentative Textsammlung, gesichert. Das Korpus umfasst den Zeitraum von 1993 bis 2011, wobei Presseartikel zum 11. September 2001 (mit ca. 35.000 Artikeln) einen großen Anteil ausmachen. Es wurde darauf geachtet, den medialen Diskurs in seinen verschiedenen Ausprägungen zu erfassen: Medien der Mitte wie Hamburger Abendblatt, Die Zeit und Der Tagesspiegel sind im Textkorpus ebenso vorhanden wie Boulevardmedien (Bild, B.Z. und Express) sowie Medien, die dem rechten (Handelsblatt, Focus, Die Welt) und dem linken Publikationsspektrum (taz und Frankfurter Rundschau) zuzuordnen sind. Die quantitativen und qualitativen Korpusanalysen helfen, die für einen bestimmten Diskurstyp oder -bereich typischen Charakteristika der Sprachverwendung transparent zu machen. Die Korpusanalyse der Texte unmittelbar nach 9/ 11 (aber auch der Texte im Laufe der vergangenen zehn Jahre) zeigt, dass die folgenden Metapherntypen besonders oft benutzt wurden: Natur(katastrophen)-Metaphern (Terrorismus als Flutwelle, Vulkanausbruch, Erdbeben), Krankheits- und Körpermetaphern (Terrorismus als Pest, Krebs, Virus) sowie Tier- und Fabelwesen-Metaphern (Terrorismus als Krake, Monster, Hydra, Spinne) etc. Ab 2004 rückt die Metaphorik des Franchising in den Mittelpunkt (die Terrorismus als Wirtschaftsunternehmen referenzialisiert). Die Semantik dieser Metaphern etabliert diskursiv bestimmte Konzeptualisierungen, die Wertungen des Bedrohungspotenzials von Terrorismus im öffentlichen Bewusstsein evozieren. Eine referenzielle Elaboration ist zu verzeichnen: Terrorismus wird nicht mehr eingegrenzt auf lokale Konflikte oder Gewalt gegen den Staat, sondern als Krieg gegen die Welt, gegen die Menschheit konzeptualisiert. Dadurch intensiviert sich das Gefühl des Bedrohungspotenzials. In den Jahren nach 9/ 11 finden sich allerdings auch Habitualisierungstendenzen sowie argumentative Relativierungen. 1.2 Perspektivierung und Evaluierung im Pressediskurs: Perspektivierung als kognitives und sprachliches Phänomen Menschliche Wahrnehmung ist immer subjektiv und erfolgt damit stets durch eine spezifische Perspektive, die eine Person, ein Objekt oder einen Sachverhalt vom Blickwinkel des Betrachters aus sieht. Perspektivierung ist <?page no="53"?> Perspektivierung und Evaluierung von islamistischem Terrorismus durch Metaphern 53 als ein grundlegendes Prinzip im kognitiven Verarbeitungsprozessor angelegt. Wahrnehmungen sind daher nie exakte Abbilder von Realität, sondern automatisch immer Deutungsmodelle, mentale Modelle von Realität. Auch in der sprachlichen Rezeption und Produktion spiegelt sich die Rolle perspektivierter Sicht- und Klassifikationsweisen wider (s. hierzu Schwarz- Friesel 2 2013: 214 f.). Texte werden aufgrund von spezifischen Vorkenntnissen sowie Einstellungen und mit einer gewissen Erwartungshaltung produziert und rezipiert (vgl. Köller 2004, s. zur Perspektivierung aus linguistischer Sicht auch Klein/ Stutterheim 2007 und Skirl 2012). Sprache zu benutzen, bedeutet, eine Auswahl (aus dem großen Repertoire an möglichen Einheiten und Strukturen) hinsichtlich Lexik und Syntax zu treffen. Ein Textproduzent hat vielfältige Möglichkeiten, seine Konzeptualisierung und seine Einstellung zu einem Sachverhalt zu versprachlichen. Durch den gezielten Einsatz spezifischer Wörter und informationsstruktureller Mittel kann er eine bestimmte Perspektive implizit (z. B. durch das Auslassen von anderen Informationen bei gleichzeitiger Fokussierung bestimmter Aspekte) oder explizit (mittels Bewertungen und emotionsausdrückenden Lexemen) vermitteln. 2 Eine perspektivierte Verbalisierung referenzialisiert 3 also nur bestimmte Aspekte eines Sachverhalts auf eine bestimmte Weise. Ob etwas bei der Verbalisierung ausgelassen wurde, kann letztlich nur durch die Berücksichtigung von Kontext- und Diskurswissen entschieden werden: Wenn z. B. als Gründe für Terrorismus Armut und mangelnde Bildung genannt werden, muss man wissen, dass hier Erkenntnisse der Terrorismusforschung nicht berücksichtigt wurden, die zeigen, dass auch reiche und gut gebildete Menschen terroristisch aktiv werden (s. hierzu Punkt 6). Im massenmedialen Diskurs finden sich nicht nur in den persönlichen Kommentaren von Journalisten, sondern auch in den Berichterstattungstexten, die nach den Kriterien der Objektivität und Faktizität ausgerichtet sein sollten, stark perspektivierte Darstellungen (s. hierzu auch Ferrari 2007, Stenvall 2008). In (1) und (2) wird eine spezifische Situation (Bilanzziehung zehn Jahre nach 9/ 11) durch die Anwendung verschiedener Typen von Ereignisdarstellungen (s. Bucher 1992: 268, s. auch Van Dijk 2006) jeweils spezifisch repräsentiert: (1) „Die USA sind stärker und al-Qaida ist auf dem Weg zur Niederlage“, sagte Obama in seiner wöchentlichen Rundfunkbot- 2 Neben der Lexik spielen syntaktische Strukturierung, Stilmittel, Unterspezifikation und textuelle Kohärenzrelationen eine wichtige Rolle bei der Perspektivierung (s. Schwarz-Friesel 2 2013: 214 ff., vgl. auch Klein/ Stutterheim 2007: 5 f.). In der Regel treten diese Strategien kombiniert auf. 3 Die folgende terminologische Differenzierung wird hier eingehalten: Konzeptualisierung meint die mentale Vorstellung, die geistige Repräsentation, die jemand von einem Objekt oder Sachverhalt hat; Referenzialisierung betrifft die verbale Umsetzung dieser Konzeptualisierung mittels spezifischer sprachlicher Mittel. <?page no="54"?> Monika Schwarz-Friesel 54 schaft am Samstag. Osama Bin Laden und weitere Qaida-Führer seien getötet, die US-Spezialkräfte gestärkt und die Sicherheit in den USA verbessert worden, sagte er. Auch die Zusammenarbeit mit den Alliierten und Partnern im Kampf gegen den Terrorismus sei enger. (Spiegel Online, 10.09.2011, http: / / www.spiegel. de/ politik/ ausland/ 0,1518,785563,00.html, letzter Zugriff: 12.09. 2011) In (1) erfolgt die Darstellung des Sachverhalts aus der Perspektive Barack Obamas, wobei die Strategie „Ereignisdarstellung durch einen Betroffenen“ kombiniert wird mit „Bericht durch politische Autorität“. Im Wechsel von direkter und indirekter Rede vermittelt der Journalist die Sichtweise und die Wertung Obamas, ohne diese zu kommentieren. Insgesamt entsteht ein mentales Szenario, das an die Emotion der Zuversicht gekoppelt ist. (2) 9/ 11 hat Amerika verändert. Ein letztes Mal bäumte sich die Supermacht auf und versuchte, die Welt mit Gewalt nach ihrem Bild zu formen. Nun wird Barack Obama als Präsident in die Geschichte eingehen, der zwei falsche Kriege beendet und den Niedergang der Nation verwaltet. (Spiegel Online, 11.09.2011, http: / / www.spiegel.de/ politik/ ausland/ 0,1518,785296,00.html, letzter Zugriff: 12.09.2011) In (2) dagegen findet sich eine „faktizierende Ereignisdarstellung“, die scheinbar Evidenz vermittelt (s. zur Schein-Evidenz Peters in diesem Band), da der Journalist meinungshinweisende Ausdrücke wie nach meiner Ansicht oder ich bin der Überzeugung auslässt und den Sachverhalt als Fakt darstellt. Da jedoch Quellenangaben zur Unterstützung der Aussagen fehlen, muss geschlossen werden, dass er aus seiner subjektiven Perspektive heraus berichtet und seine eigene Bewertung kundgibt. Die Phrase falsche Kriege gibt eine deutliche Evaluierung. Es wird insgesamt ein negativer Eindruck von Barack Obama vermittelt und der Niedergang der Nation prophezeit, also ein düsteres Untergangsszenario mit anti-amerikanischen Tönen evoziert. Beim Terrorismusdiskurs kann die Fokussierung der Opfer- oder der Täterperspektive jeweils zu sehr unterschiedlichen Referenzialisierungen führen (vgl. die Benennung der Akteure als Mörder oder als Freiheitskämpfer). Die Täter können zudem als Opfer konzeptualisiert und entsprechend dargestellt werden: (3) Terror ist die Waffe der Schwachen, der Ohnmächtigen. (Uri Avnery, taz, 14.09.2001) (4) Terrorismus bleibt die Waffe der Schwachen, der letzte Ausweg im Kampf gegen Unterdrückung. (Hamburger Abendblatt, 12.12.2001) <?page no="55"?> Perspektivierung und Evaluierung von islamistischem Terrorismus durch Metaphern 55 Und die Opfer (zu den Opfer-Referenzialisierungen s. Kromminga in diesem Band) können direkt oder indirekt als Täter im Sinne von politisch mitschuldigen Verursachern repräsentiert werden: (5) Durch diese Gewalt (Amerikas, Anm. MSF) werde der Hass und die Wut der Hilflosen gegen den Westen nur weiter verstärkt. (Der Tagesspiegel, 24.09.2001) (6) Und manche fragen, ob die USA nicht sogar mitschuldig sind, weil durch westliche Dominanz und Arroganz gerechtfertigte Ungerechtigkeiten den Boden für den Terror des 11. September bereiteten. (taz, 14.09.2002) Die Lesarten, die durch solche Texte aktiviert werden, beinhalten eine Relativierung der Schuld auf der Täterseite, indem sie soziale und moralische Motive zu Gunsten der Terroristen anführen und die Gewaltverbrechen somit kausal legitimieren (zur De-Realisierung von Terrorismus s. Punkt 6). 1.3 Metaphern und Evaluierung: Zur Relevanz des persuasiven Emotionspotenzials von Pressetexten „metaphors powerfully shape how we reason about social issues“ (Thibodeau/ Boroditsky 2011) Im öffentlichen Kommunikationsraum werden Metaphern oft benutzt, um Einstellungen und Bewertungen zu vermitteln: (7) Fundamentalistischer Terrorismus ist ein Krebsgeschwür im Islam. (FAZ, 17.09.2001) (8) Terrorismus ist das Krebsgeschwür der Menschheit. (Netzzeitung, 07.10.2001) Die metaphorischen Äußerungen von (7) und (8) etablieren ein mentales Modell, das eine spezifische Relation zwischen Konzept 1 (TERRORISMUS) und Konzept 2 (KREBSGESCHWÜR) etabliert, die gedeutet wird als ‚Konzept 1 ist wie Konzept 2 bezüglich der Merkmale Z‘. Der referenzielle Skopus ist jeweils anders: Bei (7) wird über die Semantik von Krebsgeschwür aktiviert, dass fundamentalistischer Terrorismus (wie) eine ernste, gefährliche Erkrankung im Islam ist. (8) dagegen zieht diese Analogie für einen weiteren Referenzbereich (Menschheit) und grenzt das Bedrohungspotenzial auch nicht auf den fundamentalistischen Islam ein. Bei beiden Äußerungen können (unbemerkt) konzeptuelle Merkmale wie ‚sich schnell ausbreitend‘, ‚Metastasen bildend‘, ‚für den Organismus oft tödlich‘ oder ‚un-‘ bzw. ‚schwer heilbar‘ inferiert werden. Metaphern spiegeln also nicht nur Konzeptualisierungen wider, sie konstituieren auch spezifische Konzeptualisierungen und verbinden dabei oft Perspektivierung und Evaluierung. Mit Evaluierung ist eine bestimmte Bewertung gemeint, die implizit oder expli- <?page no="56"?> Monika Schwarz-Friesel 56 zit sprachlich angezeigt wird. Evaluierungen erfolgen z. B. explizit mittels pejorativer Nomina, Adjektive oder Verben oder mittels E-Implikaturen (vgl. Bednarek 2006, Schwarz-Friesel 2 2013: 214 ff. und 187 f.). Bei (8) ergibt sich die Evaluierung aus der Übertragung der negativen Bewertung des Ursprungsbereichs, ausgedrückt durch Krebsgeschwür, auf den Zielbereich TERRORISMUS. Die Symbiose von Perspektivierung und Evaluierung, die sich kognitiv und sprachlich kaum strikt trennen lassen, trägt maßgeblich zum Emotionspotenzial 4 eines Textes bei. Insbesondere Kompositum- Metaphern wie Terror-Netz, Terrorgeflecht, Terrorwelle, Terror-GmbH, Terror- Krake, Terror-Hydra, Terror-Bestie, Terror-Geschwür, Terroristen-Krebsgeschwüre, Terrorismuspest, Terrorvirus, Terrorsumpf, Terror-Hölle, Terroristennester, die frequent im Terrorismus-Diskurs benutzt werden, vermitteln komprimiert perspektivierte und evaluierende Informationen. Dass bei der Metaphern- und Idiomverarbeitung auch automatisch und unbewusst nicht nur die übertragene, sondern auch die wörtliche Bedeutung der involvierten Wörter aktiviert wird (und dabei ihr Assoziations- und Inferenzpotenzial entfalten kann), zeigen neurolinguistische Untersuchungen (s. u. a. Pulvermüller 2005, Cappelle et al. 2010, Bohrn et al. 2012). Psycholinguistische Leseexperimente mit Texten, die jeweils verschiedene Metaphernkomplexe zur Beschreibung von Kriminalität (einmal als wildes Tier, ein anderes Mal als Virus bezeichnet) enthalten, zeigen, dass die Versuchspersonen, die nach dem Lesen Vorschläge machen sollen, wie Verbrechen reduziert werden könnten, mit der Tier-Variante eher dafür plädierten, die Kriminellen zu jagen, sie ins Gefängnis zu stecken und strengere Gesetze zu erlassen, während die Probanden der Virus-Gruppe meist vorschlugen, die Ursachen zu erforschen, Armut zu bekämpfen und die Bildung zu verbessern. Die Teilnehmer beider Gruppen gaben als Grund für ihre Entscheidung die Kriminalitätsstatistik im Text an, waren sich also der persuasiven Wirkung der Metapher nicht bewusst (Boroditsky 2011 und Thibodeau/ Boroditsky 2011, 2013). Im DFG-Forschungsprojekt wurde dieses Leseexperiment mit Texten repliziert, in denen Terrorismus einmal als Bestie, die jmd. mit ihren Krallen anfällt, und einmal als Virus, das ansteckend ist und jmd. infiziert, referenzialisiert wurde. Die Auswertung ergab allerdings, dass von beiden Gruppen 4 Das Emotionspotenzial eines Textes lässt sich mittels linguistischer Kategorien als textinhärente Eigenschaft beschreiben und ist abzugrenzen von der Emotionalisierung, dem individuellen Prozess, der durch einen Text ausgelöst werden kann. In kognitiven Emotionstheorien wird keine strikte Trennung von Emotion und Kognition vorgenommen, sondern eine wechselseitige Beeinflussung angenommen. Kognitive Prozesse zeichnen sich generell dadurch aus, dass sie eine bewertende Dimension beinhalten. Emotionale Einstellungen, konzeptuelle Bewertungsrepräsentationen hinsichtlich bestimmter Referenzbereiche, determinieren alle Kategorisierungs-, Entscheidungs- und Handlungsprozesse. <?page no="57"?> Perspektivierung und Evaluierung von islamistischem Terrorismus durch Metaphern 57 generell Maßnahmen zur Ursachenerforschung am häufigsten genannt wurden. Diejenigen Probanden, die Texte mit Bestien-Metaphern gelesen hatten, stimmten jedoch in einem Multiple-Choice-Fragebogen eher der Aussage zu, Terrorismus müsse mit allen militärischen Mitteln bekämpft werden. Die Leser des Textes mit der Virus-Metapher stimmten dagegen eher der Aussage zu, entscheidend sei die Aufklärung über Terrorismus. Nur ein Fünftel der Probanden verwies bei der Frage, wodurch die Idee zu den Maßnahmen komme, auf die Metaphern; d. h. die Mehrzahl war sich auch hier des persuasiven Potenzials dieser Sprachkonstruktionen nicht bewusst (s. Kromminga/ Marx 2013). Metaphern 5 sind folglich nicht nur die wichtigsten verbalen Mittel, um abstrakte und schwer fassbare Phänomene und Gegenstandsbereiche (wie kognitive und soziale Prozesse, Emotionen, technische Erneuerungen, Ideologien etc.) verständlich darzustellen und damit kognitiv zugänglich(er) zu machen. Sie haben auch persuasive 6 (und manipulative) Funktionen im alltäglichen und massenmedialen Diskurs: „Metaphor’s pragmatic characteristic is that it is motivated by the underlying purpose of persuading“ (Charteris-Black 2006: 15, s. auch Sopory/ Dillard 2002 und Cameron 2008). Metaphern eignen sich besonders als persuasive Mittel, da sie spezifische, meist ungewöhnliche Konzeptkonfigurationen abbilden, welche die Aufmerksamkeit der Rezipienten wecken und Vorstellungsbilder aktivieren (Skirl/ Schwarz-Friesel 2 2013). In der kognitiven Metaphernforschung ist es ein Desiderat, diese Funktionen von Metaphern, also ihr Wirkungspotenzial auf die Rezipienten zu analysieren und die zugrunde liegenden konzeptuellen Mechanismen zu erklären (s. auch Geideck/ Liebert 2003, Musolff 2004, Liebert 2008). In der massenmedialen Berichterstattung können die durch sie evozierten mentalen Modelle (zumeist unbewusst) maßgeblichen Einfluss auf kollektive Bewusstseins- und Meinungsbildungsprozesse nehmen und 5 Dass Metaphern weit mehr als nur Stilmittel sind, wurde vor allem von Lakoff und Johnson ausführlich in Metaphors We Live By (1980) erörtert. Metaphern werden als wichtige, nicht nur die gesamte Alltagssprache, sondern auch die Wahrnehmung und das Denken determinierende konzeptuelle Phänomene gesehen (s. Baldauf 1997, Kövecses 2002, Jäkel 2003, Lakoff/ Wehling 2008). Von diesem prominenten Ansatz der Conceptual Metaphor Theory (CMT) grenzt sich diese Untersuchung (aufgrund seiner theoretischen und methodischen Schwächen) jedoch ab und setzt andere Schwerpunkte: Erstens sind Metaphern sprachliche und keine konzeptuellen Konstruktionen (und inwieweit unsere Kognition äquivalente mentale, nicht-sprachliche Strukturen aufweist, ist bislang empirisch nicht hinreichend belegt), zweitens sollen Metaphernanalysen (zumal im politischen Kommunikationsraum) empirie- und datenorientiert sein, und nicht nur auf einzelne, womöglich konstruierte Beispiele zurückgreifen (s. hierzu auch Schwarz 3 2008, Schwarz-Friesel 2012 und Kertész et al. 2012). 6 Persuasive Strategien sind kommunikative Verfahrensweisen, die spezifisch rezipientenbeeinflussend, d. h. intentional auf eine bestimmte Wirkung ausgerichtet sind (s. Charteris-Black 2006, Dillard/ Miraldi 2008, Klein 2010). Zur Relevanz emotionsaktivierender Strategien in den Medien s. auch Nabi/ Wirth (2008). <?page no="58"?> Monika Schwarz-Friesel 58 damit auch (aufgrund der engen Wechselwirkung zwischen medial gesteuerten Bewertungskategorien und gesellschaftlichen Einstellungs- und Entscheidungsmustern) sozial-kognitive sowie politische Konsequenzen haben (s. Spencer und Becker in diesem Band). 2 9/ 11 als Zäsur und globale Katastrophe: Horrorfilm-Metaphern und die Semantik der Katastrophe im Terrorismus-Diskurs Die apokalyptisch anmutende Zerstörung von 9/ 11 brachte die bis dahin für die meisten Menschen weit entfernte und sehr abstrakte Dimension der terroristischen Bedrohung schlagartig ins kollektive Bewusstsein. Die eigene Lebenswelt ist plötzlich betroffen. Terrorismus, der bis zu diesem Zeitpunkt vor allem als Angriff auf den Staat(sapparat) und politische Institutionen wahrgenommen worden war (s. z. B. Steinseifer 2011), wird zu einem Krieg gegen die ganze Welt, der Radius terroristischer Gewalt dadurch ausgeweitet. In der massenmedialen Berichterstattung zu 9/ 11 rückt eine Terrorismus-Konzeptualisierung in den Fokus, in der der Angriff auf das westliche Lebens- und Sicherheitsgefühl dominiert. Das Ereignis 9/ 11 selbst wird in der Mehrzahl aller Pressetexte als Zäsur, als gravierender Wendepunkt, der „die weltpolitische Lage […] grundlegend geändert“ habe (s. z. B. Der Tagesspiegel, 18.09.2001 und 09.07.2005, Die Welt vom 10.12.2001, Handelsblatt vom 09.11.2001, Focus vom 29.12.2001), gesehen und beschrieben (s. hierzu auch Kirchhoff in diesem Band): (9) Nichts jedoch ist mehr wie es war. Dies gilt insbesondere für die Zäsur des 11. September 2001. (Die Welt, 26.09.2001) Diese Einschätzung findet sich auch retrospektiv, wie in (10), wo der unerwartete Einbruch der Gewalt am ersten Jahrestag nach den Anschlägen mit dem Ausbruch einer kollektiven lebensgefährlichen Krankheit in Analogie gesetzt wird, die den Schreiber und die gesamte Weltbevölkerung (wir alle) über Nacht befiel: Durch diese Verbindung von Individualisierung und generischer Referenz wird einerseits die persönliche Betroffenheit, andererseits die allgemeine Lage anschaulich akzentuiert. (10) Lieber 10. September, heute vor einem Jahr warst du der letzte unschuldige Tag. […] Es war der Tag, als wir noch nicht wussten, dass wir alle Krebs haben. Krebs ist eine Datumunabhängige Krankheit. Krebs ist eine lauernde Krankheit. Am 10. September bin ich ahnungslos ins Bett gegangen. Am nächsten Tag war ich krank. (Bild, 10.09.2002) Die USA selbst (und im Diskursverlauf nach 9/ 11 auch die gesamte zivile Welt) werden personifiziert als lebender Organismus repräsentiert, der körperlich und seelisch schwer verletzt wurde: <?page no="59"?> Perspektivierung und Evaluierung von islamistischem Terrorismus durch Metaphern 59 (11) Weltmacht ins Herz getroffen. (taz, 12.09.2001) (12) Der Terroranschlag traf nicht nur das Herz Amerikas, sondern auch die Nervenbahnen der Weltwirtschaft. (B.Z., 14.09.2001) (13) Denn die „Qualität“ des Terrors hat eine neue Stufe erreicht und ist bis ins Herz der Weltmacht USA vorgedrungen. (Der Tagesspiegel, 05.10.2001) (14) Die implodierten Türme des World Trade Centers haben ein Trümmergebirge geschaffen - und ein Loch in die amerikanische Psyche gerissen. (Der Tagesspiegel, 20.09.2001) Dass die Textproduzenten im Pressediskurs auffällig viele Metaphern benutzen, um 9/ 11, aber auch allgemein das Phänomen des islamistischen Terrorismus zu beschreiben, ist ein Indikator dafür, dass weder die Lexik der Alltagssprache noch des politischen Diskurses als hinreichend bzw. angemessen erachtet wird, die intensiven Eindrücke und Gefühle zu verbalisieren. Beim islamistischen Terrorismus handelt es sich generell um eine unbekannte und Angst einflößende Dimension im modernen Leben, die mit der Alltagssprache schwer zu fassen ist. Metaphern fungieren hier auch als Rationalisierungs- und Bewältigungsversuche, das Unbegreifliche begreifbar zu machen. Die irreale Dimension von 9/ 11 wird entsprechend oft durch die Analogiesetzung zu Filmen und Horror-Szenarien ausgedrückt: (15) Der Katastrophenfilm, den wir seit Mittwoch anschauen, kennt keine Helden, keinen Soundtrack, keine Erlösung. (Der Tagesspiegel, 13.09.2001) (16) Nun haben wir erfahren müssen, dass selbst die schaurigsten Geisterbahnen von der Realität noch übertroffen werden. (Die Welt, 13.09.2001) (17) Hatten wir das nicht schon in „Stirb Langsam“ gesehen? Oder war es „Godzilla“? (Die Welt, 14.09.2001) (18) Die Szenen sind ein Horror-Film. (Bild, 17.09.2001) (19) Welche Vorlage wird hier verfilmt? (taz, 18.09.2001) Durch die Konzeptualisierung TERROR ALS FILM wird das Realitätserleben mental verschoben in die Sphäre der Fiktion (vgl. Schwarz- Friesel/ Kromminga 2013). Dies zeigt die Schwierigkeit der Sprachproduzenten, das Ausmaß der Gewalt, den Einbruch des Schreckens in der realen Lebenswelt verankern zu wollen oder zu können. In Verbindung mit Lexemen aus dem religiösen Bereich wie „Hölle auf Erden“ (Frankfurter Rundschau, 08.09.2001), „Inferno“ (Tagesspiegel, 08.11.2001) und „Apokalypse“ (B.Z., 13.09.2011) wird der Eindruck des Irrealen noch verstärkt. <?page no="60"?> Monika Schwarz-Friesel 60 9/ 11 wird zudem durch spezifische Metaphernkonstruktionen als Katastrophe 7 referenzialisiert und mit Vulkanausbrüchen, Erdbeben und Flutwellen verglichen (s. z. B. Die Welt, 13.09.2001 und 18.09.2001, Handelsblatt, 13.09.2001): (20) Der Schock der Terrorwelle erschüttert Berlin. (Tagesspiegel, 13.09.2001) (21) …tanzen wir auf dem Vulkan, der schon ausgebrochen ist. (Frankfurter Rundschau, 27.10.2001) Zahleiche Konstruktionen wie „Terror-Welle“ (B.Z., 13.09.2001), „Schockwellen“ (Focus, 15.09.2001), „Ausbruch des Hasses“ (Der Tagesspiegel, 30.09.2001) etablieren im medialen Diskurs ein semantisches Feld, das die terroristische Gewalt als NATURKATASTOPHE 8 konzeptualisiert. Diese Naturkatastrophenmetaphern fokussieren semantisch allerdings über den Ursprungsbereich NATUREREIGNIS die Dimension des Unvermeidlichen, Nicht-zu-Verhindernden und des Ausgeliefertseins, da sich Naturkatastrophen der menschlichen Kontrolle entziehen, was realpolitisch betrachtet in Bezug auf Terrorismus nicht der Realität entspricht und de-realisierende Inferenzen ermöglicht, da Terroristen(vereinigungen) keine Naturphänomene sind. Das Emotionspotenzial solcher Metaphern ist aber sehr hoch, da ein Bedrohungsszenario gekoppelt an das Gefühl der Hilflosigkeit aktiviert wird. Das Naturkatastrophenszenario bringt auch die Komponente der Fragilität und der Vulnerabilität sowie das Risikobewusstsein zum Ausdruck: Die scheinbare Sicherheit der modernen und technisierten Welt erweist sich nach 9/ 11 (selbst für die Supermacht USA) als Trugschluss. Im 9/ 11-Diskurs spiegelt sich insgesamt über die Semantik von Film- und Naturkatastrophenmetaphorik die emotionale Betroffenheit wie auch die kognitive Fassungslosigkeit wider. Als signifikant zu konstatieren ist in diesem Zusammenhang, dass wir im Korpus keine Hinweise auf sogenannte islamophobische Tendenzen 9 in der massenmedialen Berichterstattung zu 9/ 11 gefunden haben: Die Pressetexte konzentrieren sich auf das Phänomen des islamis- 7 Zur Entwicklung des Katastrophendiskurses s. Lauer/ Unger (2008), die in ihrem Band zeigen, wie sich nach dem Erdbeben von Lissabon am 01.11.1755 im 18. Jahrhundert eine spezifisch moderne Katastrophensemantik herausbildete. Zur Gewaltdarstellung im 17. und 18. Jahrhundert s. Nagel in diesem Band. 8 Solche Metaphern werden jedoch nicht nur für die dramatischen Ereignisse von 9/ 11, sondern auch, um z. B. die angebliche Gefahr der „Überflutung“ durch Migranten im politischen Diskurs zu beschreiben, benutzt (s. hierzu Becker in diesem Band). 9 Die umfangreichen Textanalysen belegen somit eindrucksvoll, dass die in den letzten Jahren als sogenannte Islamophobie bezeichnete Furcht vor dem Islam zwar z. T. im Internet von privaten Usern, rechtspopulistischen Blogs und vereinzelt in Medien des extrem rechten Spektrums wie der Jungen Freiheit artikuliert wird, nicht jedoch im breiten gesellschaftlichen Diskurs bzw. massenmedialen Kommunikationsraum anzutreffen ist. S. hierzu auch Schwarz-Friesel/ Friesel (2012). <?page no="61"?> Perspektivierung und Evaluierung von islamistischem Terrorismus durch Metaphern 61 tisch-fundamentalistischen Terrorismus als eine von ideologisch besessenen Fanatikern praktizierte Gewalt, 10 ohne dabei übergeneralisierend Vorurteile auf alle Muslime oder die Religion des Islam zu übertragen. 9/ 11 löste also im Mediendiskurs keine Islamophobie aus. 3 Krankheits- und Körpermetaphern: Fokussierung und Intensivierung des Gefahren- und Bedrohungspotenzials Die in den Beispielen (7) und (8) bereits kurz erörterte Krankheitsmetapher der Art TERRORISMUS IST KREBS/ EIN KREBSGESCHWÜR findet sich in den Texten (nahezu aller Printmedien) besonders häufig artikuliert (s. auch Schwarz-Friesel/ Skirl 2011). Konstruktionen wie „Krebsgeschwür Terrorismus“ (Der Tagesspiegel, 13.09.2001), „Krebs mit vielen unsichtbaren Herden“ (Die Zeit, 04.10.2001), „Metastasen eines Krebsgeschwürs (Die Welt, 14.09.2002), „Metastasen des Terrors“ (taz, 08.04.2004), „das Krebsgeschwür hat Metastasen gebildet“ (Frankfurter Rundschau, 03.03.2004), „‚Krebs‘ mit Stumpf und Stiel“ (Die Welt, 22.09.2008) etablieren sowohl eine spezifische Perspektivierung (d. h. Terrorismus wird als spezifischer Krankheitsbefall referenzialisiert) als auch eine starke Evaluierung durch die semantischen Merkmale ‚gefährlich bzw. tödlich für den befallenen Organismus‘, ‚sich schnell ausbreitend‘, ‚schwer kontrollierbar‘. Das Emotionspotenzial ist sehr hoch, da konzeptuelle Komponenten wie ABSTOSSEND, ANGSTEINFLÖS- SEND, GRAUENERREGEND, HOFFNUNGSLOS, DEPRIMIEREND aktiviert werden. Krankheitsmetaphern treten gekoppelt an die Verwendung von Körpermetaphern auf, wobei die kollektive Verwundung der Opfer bzw. die Verwundbarkeit ihrer Institutionen, ihrer Lebenswelt und ihres Sicherheitsgefühls durch den Terrorismus und die Terrorgefahr fokussiert wird. (22) Der Feind agiert im Dunkeln. Er hat Krebszellen in vielen Staaten gebildet, wird von vielen Regimen unterstützt (und Amerika konnte einst noch nicht einmal Vietnam besetzen oder Saddam Hussein aus der Macht bomben). (Bild, 17.09.2001) (23) Wenn der Körper voller Metastasen ist, kann man die einzeln heraus operieren, aber eine Heilung gibt es nicht. (Die Welt, 13.03.2004) (24) Die Vereinigten Staaten sind krebskrank im Endstadium, verseucht von wuchernden islamistischen Zellen, die das Land, sei- 10 Die ideologische Dimension des islamistischen Terrorismus wird allerdings (insbesondere im linken Pressespektrum) z. T. marginalisiert und zu Gunsten von wirtschaftlichen Gründen in den Hintergrund gerückt (s. Punkt 6). <?page no="62"?> Monika Schwarz-Friesel 62 ne Freiheit, seine Verfassung, von innen heraus zerfressen. (Der Spiegel, 12.09.2011) (25) Al-Qaida ist kein Staat. Sie ist allenfalls ein Staat im Staat, sogar ein Staat in vielen Staaten, eine weltweite Terrororganisation mit immer mehr Metastasen in immer mehr Ländern. Ihre Anhänger führen Krieg mit Angst und Schrecken, ihre Selbstmordattentäter töten Frauen und Kinder, sie denken nicht an die Regeln von Den Haag oder Genf. (Focus, 09.05.2011) Die Intensivierung des Gefühls einer Gefahren- und Bedrohungslage kann auch durch die Virus-Metaphern erreicht werden, wobei semantisch und konzeptuell die hohe Ansteckungsgefahr, also die schnelle und diffuse, kaum zu kontrollierende Ausbreitung, im Mittelpunkt des mentalen Modells steht: (26) In diesem Sinn ist der Terrorismus überall, ist ein Virus als letztes Stadium der Globalisierung. (Frankfurter Rundschau, 02.03.2002) (27) Hier wird kein politischer Gegner, sondern ein heimtückisches Virus bekämpft. Es ist das Virus des neuen Jahrtausends. Das Virus des Terrors. Es operiert unsichtbar und unberechenbar. Es ist tödlich. Es wurde erwartet. Schon lange. (Der Spiegel, 11.07.2005) Die Konzeptualisierung TERRORISMUS ALS SCHWERE KRANKHEIT bietet den Rezipienten der Texte eine hohe Identifikationsbasis, denn sie knüpft unmittelbar an ihre Lebens- und Gefühlswelt 11 an: Die Furcht vor einer lebensbedrohlichen Erkrankung am eigenen Körper wird projiziert auf die Furcht vor dem Terrorismus. Das Inferenzpotenzial ergibt sich durch das Spektrum der konzeptuellen Elaboration der durch die Analogierelation miteinander kombinierten Konzepte. So lässt sich etwa über die Elaboration IST LEBENSGEFÄHRLICH die Forderung muss MIT ALLEN MITTELN BEKÄMPFT werden inferieren. In den Beispielen (23) und (24) wird jedoch diese mögliche Lesart bereits von den Textproduzenten negiert, da eine mögliche Lösung des Problems als nicht realisierbar konstatiert wird. Krebs- und Virus-Metaphern sind im Terrorismus-Diskurs zwischen 2001 und 2011 durchgängig und besonders frequent in allen Medien anzutreffen. Dabei können sie aber je nach Argumentationszusammenhang mit sehr unterschiedlichen Bewertungen und Maßnahmeforderungen verbun- 11 Dass im politischen Diskurs Äußerungen besonders persuasiv sind, wenn sie an Bekanntes und Vertrautes angeknüpft werden, z. B. im allgemeinen Zusammenhang mit Leben und Tod, hat auch Charteris-Black (2006: 10) betont. Umgekehrt können allerdings auch Bezüge auf Unerforschtes, per se Unheimliches persuasiv wirken; s. die Nebel- und Sumpf-Metaphern. <?page no="63"?> Perspektivierung und Evaluierung von islamistischem Terrorismus durch Metaphern 63 den werden (zu den spezifischen Metapherntypen in der Bild s. Spencer in diesem Band): (28) Diese islamistischen Fanatiker eint der Hass auf alles Westliche und vermeintliche Feinde des Islam, der immer wieder neu geschürt wird. Uns allen sollte das Mahnung genug sein, den Anti- Terror-Kampf mit großem Einsatz weiterzuführen - auch dort, wo das Krebsgeschwür des Terrors ungebremst wuchert. (Express, 03.11.2008) Während (28) die kollektive Bedrohung der Welt durch den islamistischen Fundamentalismus fokussiert und die Metapher des Krebsgeschwürs mit der Forderung nach ungebrochenen militärischen und polizeilichen Sicherheitsmaßnahmen verbindet, akzentuiert (29) mittels der Virus-Metapher perspektiviert die Auswirkungen durch (die als kontraproduktiv und schädlich evaluierten) Anti-Terror-Maßnahmen der westlichen Welt. Das pejorative Lexem Wahn im Kompositum Sicherheitswahn attestiert den (real und potenziell) Betroffenen eine mentale De-Realisierung. Dadurch verschmelzen im mentalen Textweltmodell von (29) Opfer- und Täterrollen. (29) Der Sicherheitswahn hat jetzt auch den CDU-Verteidigungsminister befallen. Der Virus, den Terroristen freisetzen, zeigt seine Wirkung: Angst, Panik und Zerstörung der demokratischen Grundlagen dieser Gesellschaftsordnung. Die Reaktion auf diesen Virus wäre genau umgekehrt, wenn Demokratie und Freiheit gestärkt statt abgebaut würden. (taz, 20.09.2007) Die durch die Krankheitsmetaphorik etablierte Konzeptualisierung von Terrorismus als einem im alltäglichen Leben anzutreffenden Phänomen (körperliche Schwächen, Erkrankungen und Schmerzen gehören per definitionem zur menschlichen Existenz) wird jedoch parallel in vielen Texten durch die zahlreichen Referenzialisierungen von TERRORISMUS ALS EI- NEM FABELTIER um die Dimension des Unwirklichen und Dämonischen ergänzt. (30) Denn der islamische Terrorismus ist eine Hydra mit vielen Köpfen. (Helmut Schmidt, Die Zeit, 31.10.2001) Das Wissen um die Unbesiegbarkeit dieses mythischen Ungeheuers intensiviert das Bedrohungsgefühl durch die real existierenden Terror-Organisationen: (31) Demonstrationen in vielen Teilen der Welt lassen befürchten, dass der Hydra des Terrors gerade neue Köpfe wachsen. Das ist eine schreckliche Vorstellung. Der Anschlag auf das World Trade Center hat uns auf grausame Weise den Grad der Verwundbarkeit unseres hochkomplexen Systems durch archaische Methoden vor Augen geführt. (taz, 20.10.2001) <?page no="64"?> Monika Schwarz-Friesel 64 (32) Da ist natürlich al-Qaida, die Hydra, der immer neue Köpfe wachsen, wenn ein Kopf - siehe Abu Mussab al-Sarkawi im Irak - abgeschlagen worden ist. (Der Spiegel, 04.09.2006) Angesichts eines quasi außerirdischen Feindes in Gestalt eines Ungeheuers aus der Sphäre der Mythologie, der trotz aller Gegenmaßnahmen ad infinitum Akteure für Gewaltattacken produziert und damit die Aura der Unbesiegbarkeit erhält, kommt die Hilflosigkeit der Opferseite besonders stark zum Ausdruck. Entsprechend zeigen sich in vielen Pressetexten im Laufe der Jahre nach 9/ 11 Habitualisierungstendenzen, die zumeist Resignation widerspiegeln: (33) Man wird sich gleichwohl in der Angst einrichten, man wird mit ihr leben wie mit einer Vergiftung des Alltags, mit einer störenden Einengung der Wahrnehmung, die nie ganz verschwindet. Und man gewöhnt sich zunehmend an dieses Mördervirus Terror, wie man sich an Aids gewöhnt hat. (Der Spiegel, 11.07.2005) (34) Sind die Bemühungen der USA also umsonst? Es gibt sicher Erfolge, aber eine Hydra ist nicht wirklich zu besiegen. (Der Spiegel, 06.12.2010) 4 Metaphern der Intransparenz: Terrorismus als Sumpf, Amöbe und Nebelwolke Die häufigen Nebel-, Sumpf-, Unsichtbarkeits- und Dunkelheitsmetaphern, in denen der Terrorismus als „gesichtsloser, staatenloser Feind“ (Frankfurter Rundschau, 13.09.2001), als „Gespenst“ (Focus, 22.10.2001, Die Welt, 14.09.2002, B.Z., 19.08.2006) oder als „Nebelwolke“ (FAZ, 15.09.2001, taz, 12.09.2002) charakterisiert wird, zeigen, dass auch unbekannte, unvertraute Sphären als Ursprungsbereiche in Metaphernkonstruktionen persuasiv und emotionsintensivierend eingesetzt werden können. Die Undurchschaubarkeit des Phänomens Terrorismus wird durch verschiedenste Metaphern der Intransparenz zum Ausdruck gebracht: Lexeme wie nichts, nirgendwo, Gesichtslosigkeit, Dunkelheit, Nebel, Morast sind in diesen Konstruktionen dominant. Die Dimension des Unheimlichen von Terrorismus wird dadurch hervorgehoben. (35) Die diabolische Unsichtbarkeit der Drahtzieher lässt selbst die Supermacht USA hilflos aussehen - erste Fahndungsergebnisse können das nicht kaschieren. […] Nun kommt der Feind aus dem Nichts […] (Focus, 15.09.2001) Besonders frequent ist die Sumpf-Metaphorik, der zufolge Terrorismus als trübe Brühe konzeptualisiert wird, aus der die gesichtslosen Täter kriechen: <?page no="65"?> Perspektivierung und Evaluierung von islamistischem Terrorismus durch Metaphern 65 (36) … für den von Fundamentalisten gewässerten Sumpf, aus dem der Terror kroch. (Frankfurter Rundschau, 22.12.2001) Sumpf aktiviert in diesem Kontext über die semantischen Merkmale ‚trübes Gewässer mit schlammigem Boden‘ Inferenzen wie ‚man kann darin versinken‘, ‚kann nicht eingesehen werden‘, ‚ist Ort, der gar nicht oder schwer erreicht werden kann‘. Damit geht zugleich eine Dehumanisierung des Terrorismus (u. a. auch ausgedrückt durch die viel benutzten Lexeme Krake, Schlange, Spinne, Ungeheuer, Gespenst) einher. (37) Es ist ein Chamäleon, eine Amöbe, die ständig Farbe und Form wechselt. (Der Spiegel, 24.09.2001) (38) Der Terror ist ein Gespenst […]. (Die Zeit, 13.09.2007) Das Feindbild wird geprägt von den Merkmalen ‚anonym‘ und ‚nicht fassbar‘: Die Un-Identifizierbarkeit und Nicht-Lokalisierbarkeit von Terroristen potenziert ihr Bedrohungspotenzial, lässt den Terrorismus als unheimliche Kraft erscheinen, von der jederzeit und ohne Vorwarnung Gewalt ausgehen kann: (39) Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Kalten Krieg hat demnach nun also der „Graue Krieg“ begonnen, der gegen den postmodernen Terrorismus. Hier aber kämpfen nicht mehr Nationen gegen Nationen, Armeen gegen Armeen. Vielmehr greift da ein „gesichtsloser, staatenloser Feind ohne jedes konventionelle Ziel an“. (Frankfurter Rundschau, 13.09.2001) Die Antizipation einer zukünftigen Situation als Bedrohung, Gefahr oder Unheil und die Ungewissheit der Bewältigung dieser Bedrohung sind charakteristisch für Angstemotionen (vgl. u. a. Ulich/ Mayring 2 2003: 163 f.). Während Furcht auf eine konkrete, offensichtliche Bedrohung durch reale Menschen oder Situationen bezogen ist, ist Angst eine Emotion, die sich auf eine unspezifische, globale Bedrohung bezieht. Die Metaphernkomplexe, die Terrorismus als gesichtslosen, nicht identifizierbaren Feind referenzialisieren, richten sich folglich auf die eher diffus gefühlte Angst. In (40) wird dies über die persuasive Strategie „Darstellung durch einen unmittelbar Betroffenen“ explizit vermittelt und das Bild des Krieges gegen die Welt reaktiviert: (40) „Ich habe keine Angst vor dem Krieg“, sagt ein Passant, „aber ich habe Angst vor dieser Art von Krieg. Wir kämpfen nicht gegen ein Land, sondern gegen eine schwer zu lokalisierende Organisation. Als wir gegen die Japaner und Deutschen zu den Waffen griffen, haben sich unsere Gegner nicht versteckt, sondern ihr Gesicht gezeigt. Jetzt ist alles so unklar.“ Der Terror ist so anonym wie diffus. Er ist so gespenstisch wie unberechenbar. <?page no="66"?> Monika Schwarz-Friesel 66 Diese Mischung erzeugt ein Grundgefühl der Angst. (Der Tagesspiegel, 13.09.2001) 5 Terrorismus als globales Netzwerk und Franchising- Unternehmen: Fokussierung der Strukturkomplexität und Handlungseffizienz Wird der islamistische Terrorismus unmittelbar nach 9/ 11 besonders häufig als NATURKATASTROPHE konzeptualisiert, die mit brachialer Gewalt unkontrolliert und entfesselt über die Welt kommt, rückt in den Folgejahren die diskursive Konzeptualisierung von Terrorismus als Wirtschaftsunternehmen in den Mittelpunkt. 12 Ein anderes mentales Deutungsmodell wird dadurch etabliert: Terrorismus erscheint nicht mehr als atavistische Urkraft oder irreale mythologische Figur, sondern als höchst strukturierte und effizient arbeitende Organisation, als wirtschaftliche Entität, die im Zeitalter von Technik und Internetkommunikation modern agiert. Lexeme, die dem Herkunftsbereich WIRTSCHAFTSUNTERNEHMEN zuzuordnen sind, wie GmbH, Firma, Holding, Filiale, Marke, Markenzeichen, Label, Franchise-Nehmer, Franchise-Partner, Franchise-System, Handelsketten, Geschäftsidee finden sich ab 2004 insbesondere in den metaphorischen Konstruktionen der Pressetexte von Spiegel, Le Monde diplomatique, Hamburger Abendblatt, Welt, Tagesspiegel, Zeit, Frankfurter Rundschau (am häufigsten in den beiden zuletzt genannten Zeitungen). Die Korpusanalyse belegt zudem, dass al-Qaida im Juli 2005, nach den Anschlägen in London, sowie im Mai 2011, nach der Ermordung Osama bin Ladens, besonders häufig als ein Wirtschaftsunternehmen mit einem Franchise-System referenzialisiert wird. 13 Bemerkenswerterweise findet sich dieser Metapherntyp 14 jedoch nicht in den Boulevardmedien (wo auch 10 Jahre nach 9/ 11 bevorzugt Krankheitsmetaphern verwendet werden). 12 Metaphern, mit denen Terrorismus als Netz oder als eine weit verzweigte Organisation beschrieben wird, finden sich bereits vor 9/ 11. Insbesondere die konventionelle Kompositum-Metapher Terrornetz wird im Diskurs frequent benutzt. Al-Qaida wird auch unmittelbar nach 9/ 11 schon als „eine weltweit verzweigte Terror-GmbH“ (Der Spiegel, 24.09.2001) bezeichnet. Die Unternehmensmetaphorik ist in diesem Zeitraum jedoch nur vereinzelt anzutreffen. In unserem Korpus findet sich die Terror-GmbH ausschließlich in den Artikeln des Spiegel am 15.09.2001 und am 24.09.2001 und die Kompositum-Metaphern Terrorfirma al-Qaida und Terror-Holding jeweils einmal im Focus (24.09.2001; 01.10.2001). 13 S. auch den Buchtitel „al-Qaida. Vom globalen Netzwerk zum Franchise-Terrorismus“ von Christina Hellmich (Darmstadt: Primus Verlag 2012). 14 Die meisten Unternehmensmetaphern referenzialisieren nicht Terrorismus per se als Gesamtphänomen, sondern die Terroristen, also die jeweiligen gewalttätigen Akteure bzw. deren Organisation al-Qaida. <?page no="67"?> Perspektivierung und Evaluierung von islamistischem Terrorismus durch Metaphern 67 (41) Al-Qaida als Franchise-System [Überschrift] (Die Welt, 09.07.2005) (42) Was ist al-Qaida? Es klingt zynisch, aber die meisten Experten sprechen von einer Art Franchise-Unternehmen. Also von einer Geschäftsidee wie bei McDonald’s. (Hamburger Abendblatt, 09.07.2005) (43) An die Stelle der alten, vertikal organisierten al-Qaida ist ein loses, horizontales Netzwerk aus Netzen getreten. (Die Zeit, 14.07.2005) (44) AQ ist mehr wie McDonald’s - ein weitverzweigtes Franchise, dessen Ableger lokal geführt werden. Siehe „AQ im Jemen“ oder „AQ auf der Arabischen Halbinsel“. (Der Tagesspiegel, 09.05.2011) Durch diese Metaphorisierung wird eine schwer zu bekämpfende Binnenstruktur al-Qaidas mit großer Handlungsautonomie und übergreifender Ideologie fokussiert, wobei dieser Organisationsform aufgrund ihrer vielen Ableger ein tendenziell hohes Bedrohungspotenzial zugeschrieben wird. (45) Al-Qaeda operiert längst ähnlich wie Handelsketten im Franchise-System - die in kleinen, unabhängigen Zellen agierenden Gewalttäter in Europa oder der islamischen Welt wissen nicht notwendigerweise voneinander. Es gibt keine hierarchischen Kommandoebenen, keine überregionalen Anführer, jedenfalls nicht in Europa. Die Mitglieder der jeweiligen Gruppen kennen sich vielfach seit Jahren. Deswegen sind sie kaum zu infiltrieren. (Frankfurter Rundschau, 16.07.2005) (46) Al-Qaida wurde zu einem Franchise-Unternehmen, bei dem jede lokale Terrorgruppe oder -zelle ihr Ding machte. (taz, 03.05.2011) (47) Al-Qaida hat sich in ein Franchise wie McDonald’s verwandelt. Ein Wesen ohne Hierarchie und Befehlsstränge lässt sich nicht enthaupten. Wer die AQ-Schule durchlaufen hatte, konnte eine „Filiale“ aufmachen - siehe „AQ im Jemen“ oder „AQ auf der Arabischen Halbinsel“. (Die Zeit, 05.05.2011) Hier findet sich, nur über eine andere Analogie ausgedrückt, die Konzeptualisierung der Intransparenz, d. h. des nicht lokalisierbaren, des schwer identifizierbaren und daher kaum zu bekämpfenden Feindes wieder. Zum Teil verschmelzen in den Pressetexten Metapherntypen wie in (47), wo Unternehmens- und Hydra-Metaphern argumentativ zusammengebracht werden, sowie (48) mit der Verbindung von Wirtschaftsmacht-Referenzialisierung und Krankheitsmetapher: <?page no="68"?> Monika Schwarz-Friesel 68 (48) Osama Bin Ladens globalisiertes Terrorunternehmen al-Qaida [sitzt in Wasiristan] wie ein bösartiges Geschwür, dessen Metastasen allmählich auch in die indische Gesellschaft eindringen. (Hamburger Abendblatt, 28.11.2008) 6 Diskursive De-Realisierung und Relativierung von Terrorismus(gefahr) Viele der bislang erörterten Metapherntypen in der Berichterstattung haben das Potenzial, die Angst vor dem Terrorismus und die Furcht vor Anschlägen zu intensivieren. Die Ergebnisse unserer Korpusanalyse machen aber deutlich, dass Metaphern keineswegs nur oder primär der dramatisierenden und emotionalisierenden Darstellung von Terror-Ereignissen und dem globalen Phänomen des islamistischen Terrorismus dienen. Signifikant ist, dass dies jedoch offensichtlich die typische und präferierte Auslegung für den Einsatz bildhafter und übertragener Sprachkonstruktionen ist, eventuell, weil diese Komponente der diskursiven Inszenierung und gefahrenintensivierenden Dramatisierung metaphorischer Äußerungen in der bisherigen Forschung betont wird (vgl. z. B. Stenvall 2003, 2007, Lakoff/ Wehling 2008, Bhatia 2009, Frindte/ Haußecker 2010, Ziem 2010). Ein eindrucksvolles Beispiel für die Präferenz dieser Standardannahme ist die (verzerrte und auf eben diesen Punkt konzentrierte) Thematisierung unserer Forschungsergebnisse durch die Medien: Aus einer Pressemitteilung der TU Berlin über erste Ergebnisse des DFG-Projekts „Aktuelle Konzeptualisierungen von Terrorismus - expliziert am Metapherngebrauch im öffentlichen Diskurs nach dem 11. September 2001“ wurde mehrheitlich allein die semantische Komponente der dramatisierenden Gefahreninszenierung durch Metaphern betont. Als Aufhänger diente den Meldungen die (von einem Nachrichtendienst konstruierte und von allen weiteren Agenturen und Foren ungeprüft übernommene) Schlagzeile „Forschung: Medien dramatisieren Terrorismus“ (vgl. http: / / kipa-apic.ch/ index.php? pw=&na=0,0,0,0,d&ki=235434). Dass es im Pressetext auch exponiert zu einem Verweis auf relativierende Funktion metaphorischer Konstrukte in bestimmten Argumentationszusammenhängen und deren marginalisierende De-Realisierungseffekte 15 kam, wurde nicht erwähnt. Während in den Boulevardmedien (Bild, B.Z. und Express) und Medien, die dem rechten Publikationsspektrum (Handelsblatt, Focus, Die Welt) zuzuordnen sind, generell Intensivierungen des Gefahrenpotenzials überwiegen, 15 De-Realisierung betrifft das Verhältnis von Sprache zu Welt und meint die realitätsverfälschende oder -verzerrende Darstellung eines Sachverhalts. De-Realisierung entsteht, wenn eine extrem einseitige Perspektivierung und Evaluierung hinsichtlich eines Ereignisses/ Zustandes etc. die Referenzialisierung determiniert. <?page no="69"?> Perspektivierung und Evaluierung von islamistischem Terrorismus durch Metaphern 69 lassen sich bei eher links ausgerichteten Medien (wie taz und Frankfurter Rundschau) auch viele Relativierungstendenzen in der Argumentation finden (oft in Verbindung mit einem impliziten oder expliziten Anti- Amerikanismus). Auch werden dort signifikant häufiger Terroristen als sozial Benachteiligte und politisch Unterdrückte referenzialisiert, wohingegen in Texten der Mitte-Rechts-Presse Terroristen als fundamentalistische verblendete Islamisten und Feinde der westlichen Welt dargestellt werden. Die Ideologie-Dimension von Terrorismus kommt hierdurch stärker zum Ausdruck. Insbesondere Pressetexte mit Sumpf-Metaphern 16 zeigen, wie derselbe Metapherntyp je nach Ko- und Kontext unterschiedliche Lesarten haben und über das Inferenzpotenzial geradezu konträre Deutungen evozieren kann. Dient die Sumpf-Metapher in (36) und anderen Stellen dem Ausdruck der Intensivierung des Unheimlichen, schwer zu Erfassenden und nicht zu Besiegenden von Terrorismus, findet sie sich auch frequent als ein Mittel der Relativierung (mit der eine De-Realisierung der Gründe von Terrorismus einhergeht): (49) Nach Ansicht von Heide Simonis bildet das Elend auf der Welt den Nährboden für Terrorismus. „Solange nicht Gerechtigkeit weitergegeben wird an die ärmsten Länder, wird der Sumpf nie trocken gelegt werden“, sagte die Kieler Ministerpräsidentin beim Kulturforum der SPD im CCH. (Hamburger Abendblatt, 13.09.2001) (50) Es gibt wohl keinen Zweifel daran, dass Armut, Ausbeutung, Unterdrückung und kulturelle Demütigung den Nährboden für die Entstehung und Unterstützung des Terrorismus schaffen. (Der Tagesspiegel, 05.10.2001) In den Beispielen (49) und (50) werden soziale und ökonomische Probleme als die konkreten Ursachen für Terrorismus genannt, Sumpf und Nährboden also als Areale repräsentiert, die durch die Beseitigung (Trockenlegung) von Armut, Unterdrückung und mangelnder Bildung aufgelöst werden können. Es wird also eine realistisch anmutende Problemlösung in Aussicht gestellt und damit eine Relativierung des realen Bedrohungspotenzials vorgenommen. Die Erklärung für (islamistischen) Terrorismus entspricht nicht dem Erkenntnisstand der internationalen Terrorismus-Forschung (die z. B. längst empirisch nachgewiesen hat, dass auch wohlhabende, nicht unterdrückte und gut gebildete Menschen Terroristen werden können; s. u. a. Li- 16 Die Gründe oder Ursachen eines Sachverhalts als dessen Nährboden oder Sumpf zu beschreiben, stellt eine konventionelle Metapher dar, die sich in verschiedenen Realisierungen häufig im Korpus finden lässt. <?page no="70"?> Monika Schwarz-Friesel 70 a/ Skjølberg 2004; Steinberg 2005), so dass diese Argumentationen als De- Realisierungen klassifiziert werden können. Auffällig ist, dass diese falschen Kausalerklärungen 17 nur selten von den Journalisten selbst artikuliert werden. Wesentlich häufiger wird die Sumpf- Konstruktion mit der Lesart, man könne Terrorismus weltweit beenden, wenn man Armut und Elend beseitige, durch Politikerzitate angeführt, also durch die persuasive Strategie „Bezug auf Autoritäten/ Experten“ vermittelt (s. auch (49)). (51) Ich sage: Der Nährboden für Gewalt kommt aus dem Umfeld derjenigen, die von den USA und ihrer einäugigen Nahostpolitik enttäuscht sind, und die ohne Perspektive in Armut, Elend und Unterdrückung leben und keine Chance auf Besserung haben. (Interview mit Vural Öger, Der Tagesspiegel, 01.10.2001) (52) Terror ist die Waffe der Schwachen, der Ohnmächtigen. Terroristen sind wie Moskitos - wenn man sie totschlägt, kommen neue. Um dem ein Ende zu setzen, muss man die Sümpfe trockenlegen. Und der größte Sumpf, der die Wut erzeugt, ist das Palästinaproblem. (Uri Avnery, taz, 14.09.2001) Durch eine Äußerung wie (52) kommt es zu einer multiplen De-Realisierung des Phänomens islamistischer Terrorismus. Die globale kausale Erklärung ist, wie oben erörtert, falsch und bietet den Rezipienten eine emotionale Identifikationsbasis mit den Tätern, da diese durch die Lexeme Schwache und Ohnmächtige als Opfer konzeptualisiert werden. Durch den Moskito- Vergleich 18 kommt es zudem zu einer Verharmlosung und Marginalisierung terroristischer Anschläge. Die Sumpf-Metapher erfolgt mittels einer referenziellen Verschiebung und inadäquaten De-Kontextualisierung, indem das Phänomen des islamistischen Terrorismus ursächlich als spezifisches Problem des Nahostkonflikts erklärt wird. Bei 9/ 11 und anderen Anschlägen spielte dieser Konflikt aber keinerlei Rolle. Die ideologische Dimension des islamistischen Terrorismus, der auf einem strikt manichäistischen Weltbild basiert, wird komplett ausgeblendet, stattdessen ein simplifizierendes Erklärungsmodell geboten, gekoppelt an die Auslegung, der Nährboden könne durch entsprechende Maßnahmen beseitigt werden. Durch solche „Experten-Zitate“ werden umstrittene bzw. bereits von der Forschung widerlegte Meinungen zu den Ursachen von Terrorismus in den Argumentationszusammenhang der Texte integriert, die zwar nicht der Realität, aber eventuell 17 Diese beinhalteten auch die in Punkt 1.2 erörterte Vermischung von Täter-und Opfer- Konzeptualisierungen, da den Opfern implizit die Schuld zugesprochen wird. 18 Terroristen, die gerade dreitausend Menschen umgebracht haben, mit Moskitos (lästigen, aber weitgehend ungefährlichen Insekten) zu vergleichen, verstärkt zusätzlich die Marginalisierung, die insgesamt durch die de-realisierenden Konstruktionen vollzogen wird. <?page no="71"?> Perspektivierung und Evaluierung von islamistischem Terrorismus durch Metaphern 71 dem Wunschdenken vieler Textproduzenten und -rezipienten entsprechen. Für den Verstand ist diese Lesart schneller und leichter zu akzeptieren, da sie an nachvollziehbare alltägliche Prozesse anknüpft. Dass Menschen anderen Menschen Gewalt antun allein aufgrund ihrer ideologischen Überzeugung, ist wesentlich schwerer zu begreifen und zu verarbeiten. 7 Fazit Das Gefahren- und Bedrohungspotenzial von Terrorismus wird im massenmedialen Pressediskurs mittels Metaphern unterschiedlich referenzialisiert, da diese je nach ihrer perspektivierenden und evaluierenden Semantik spezifische mentale Deutungsmodelle etablieren. Diese haben das Emotions- und Inferenzpotenzial, Furcht und Sorge beim Rezipienten auszulösen sowie bestimmte politische und militärische Handlungsoptionen als Lösungsstrategien und Gegenmaßnahmen nahezulegen. Viele Metaphern dienen also der Intensivierung des Gefühls von Gefahr und Bedrohung. Die gleichen Metaphern sind aber auch in Argumentationsketten zu finden, die Habitualisierungseffekte erkennen lassen und das Gefühl der Resignation zum Ausdruck bringen. Islamistischer Terrorismus erscheint in diesen Texten als unvermeidliche Geißel der modernen Zivilgesellschaften, die zwar hinzunehmen ist, deren Existenz aber die moderne Lebensweise nicht affizieren darf. Metaphern evozieren keineswegs, wie bislang mehrheitlich in der politischen Semantik und Diskursanalyse angenommen wurde, im politischen Diskurs ausschließlich martialische Handlungs- und Problemlösungsoptionen, sondern bringen oft auch zum Ausdruck, dass sich keine offensichtlichen Handlungsanweisungen und naheliegenden Maßnahmen gegen den Terror ergeben. Metaphorische Konstruktionen können zudem relativierende und derealisierende Funktionen haben, wenn sie mit einer entsprechenden Argumentation verknüpft werden. Sie bieten dann sozio-ökonomische Erklärungsmodelle für den ideologisch geleiteten islamistischen Terrorismus, die zwar nicht der Realität entsprechen, aber dem Rezipienten den Eindruck vermitteln, es gebe eine klare Vorgehensweise zur Überwindung des Problems. Es sind also nicht die Metaphern per se, die bestimmte Konzeptualisierungen mit intensivierenden oder marginalisierenden Wirkungen evozieren. Das jeweilige Bedrohungsszenario ergibt sich immer aus der Interaktion der Semantik der metaphorischen Konstruktion und der kontextuell bestimmten und perspektivierten Argumentation. Die dadurch im öffentlichen Kommunikationsraum vermittelten Orientierungs- und Bewertungskategorien können maßgeblichen Einfluss auf kollektive Bewusstseins- und Meinungsbildungsprozesse nehmen und auch sozial-kognitive sowie politische Konsequenzen haben. <?page no="72"?> Monika Schwarz-Friesel 72 8 Bibliographie Baldauf, C., 1997. Metapher und Kognition. Grundlagen einer neuen Theorie der Alltagsmetapher. Frankfurt a. M.: Lang. Bednarek, M., 2006. Evaluation in Media Discourse. Analysis of a Newspaper Corpus. London [et al.]: Continuum (= Research in Corpus and Discourse). Bhatia, A., 2009. The discourses of terrorism. In: Journal of Pragmatics 41, 279-289. 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Beobachter fühlten sich an Katastrophenfilme made in Hollywood erinnert, und in den Endlosschleifen der in die Türme des World Trade Centers stürzenden Flugzeuge entwickelte das Ereignis eine eigene schreckliche Ästhetik. Schnell war die Rede davon, dass nun eine „neue Zeit“ begonnen habe. Der Terrorismus entfaltete seine Wirkmacht nicht allein im terroristischen Akt, sondern auch in seinen an die Logik der Medien angepassten Inszenierungsstrategien. „9/ 11“ ist also auch und in besonderem Maße ein Medienereignis: Medien berichten nicht einfach über das Geschehen, ihre Berichterstattung ist selbst ein unabdingbarer Teil des Ereignisses: Die Strategie der Terroristen, die Aufmerksamkeitsregeln der Medien und die symbolische Kraft der Inszenierungslogik sind untrennbar miteinander verbunden. Um die Merkmale eines Medienereignisses zu beschreiben, verwendet Weichert (2003) ein Modell der Berichterstattungsphasen, die in Liveness, Ästhetisierung, Dramatisierung, Ritualisierung und Historisierung aufgeteilt werden. Der vorliegende Beitrag nutzt dieses Modell für eine Analyse der metaphorischen Konstruktionen von 9/ 11. Die Kombination von Phasenmodell und Metaphernanalyse bietet dabei die Möglichkeit, die verschiedenen Dimensionen der metaphorischen Konstruktionen von 9/ 11 analytisch zu fassen und ihre Entwicklung vom Augenblick des Live-Erlebens im Fernsehen bis zum ritualisierten Gedenken an den Jahrestagen zu verfolgen. Metaphern verfügen als Mittel der Bedeutungskonstruktion über eine kognitive und eine diskursive Dimension. Kognitive Metaphernanalysen gehen von einer grundlegenden Metaphorizität unseres Denkens aus und begreifen Metaphern daher als elementares Moment der Wirklichkeitskonstruktion: „the locus of metaphor is thought, not language, ... metaphor is a major and indispensable part of our ordinary, conventional way of conceptualizing the world, and ... our everyday behaviour reflects our metaphorical understanding of experience.“ (Lakoff 1993: 204, vgl. Lakoff/ Johnson 2003) <?page no="76"?> Susanne Kirchhoff 76 Diskursive Metaphernanalysen beruhen auf denselben Prämissen, betonen aber, dass Metaphern sowohl diskursiv geprägt als auch diskursprägend sind. Die wirklichkeitskonstituierende Leistung der Metapher ist daher nicht individuell, und jeder Diskurs verfügt über seine eigenen Metaphern (vgl. Hülsse 2003, Hülsse/ Spencer 2008: 578). Der Schwerpunkt der Analyse liegt dementsprechend auf dem Erscheinen von Metaphern in (insbesondere öffentlichen) Diskursen und den Regeln, nach denen sie hervorgebracht, weitergetragen und verworfen, gedeutet und aktualisiert werden. Für jede der im folgenden skizzierten Phasen des Medienereignisses 9/ 11 kann dementsprechend gefragt werden, welche metaphorischen Konstrukte dort erscheinen, welche Funktion(en) sie erfüllen und wie sich die durch Metaphern vorgenommenen Bedeutungszuschreibungen im Verlauf des Diskurses verändern. 2 Liveness und Ästhetisierung: Hochhäuser als Metaphern Auch wenn die Berichterstattung in Deutschland nicht unmittelbar mit dem Einschlag des ersten Flugzeugs in den Nordturm des World Trade Centers einsetzte, waren doch alle großen TV-Stationen live dabei, als die beiden Türme einstürzten. Einer der Gründe, warum Menschen sich dem Fernsehen insbesondere in Krisenzeiten zuwenden, liegt in seinen visuellen Möglichkeiten, eine Unmittelbarkeit des Erlebens zu suggerieren. „Liveness“ beschreibt die gestalterischen Mittel des Fernsehens, diese Authentizität herzustellen (Weichert 2003: 90 f.). Dazu gehören nicht nur die tatsächlichen Übertragungen während des Geschehens, sondern auch begleitende Kommentare und Ereignisbeschreibungen, Schaltungen zu Korrespondenten und Expertenbefragungen. Schließlich sorgten im Zusammenhang mit 9/ 11 auch die Wiederholungen und Zeitlupen dafür, dass das „Live“-Erleben über mehrere Stunden aufrecht erhalten wurde, zumal einige der Aufzeichnungen noch die Einblendung „live“ enthielten (Weichert 2003: 83). Eine Rekonstruktion der ersten Stunden der TV-Berichterstattung macht deutlich, wie schnell in dieser Phase der Liveness den Anschlägen - und insbesondere dem Angriffsziel in New York - eine symbolische Dimension zugeschrieben wurde. Bereits um 15.40 Uhr kommentierte RTL-Moderator Peter Kloeppel: „… diese beiden Türme galten immer auch als eines der besonders gefährdeten Ziele in den Vereinigten Staaten, weil sie natürlich auch in gewisser Weise ein Symbol waren für die Wirtschaftskraft der USA“ (zit. n. Weller 2002: 58). Hochhäuser sind ein fester Bestandteil der Ikonographie der Stadt New York (Dolkart 2003: 9). Sie sind Symbol des wirtschaftlichen und des technologischen Erfolgs, stehen darüber hinaus aber auch für den menschlichen Willen, für gesellschaftliche Werte, Lebensstile und Ideale (vgl. Wallerstein <?page no="77"?> „Wie hat sich unsere Welt seither verändert? “ 77 2002, Buttler 2003, Peters 2003, Viehoff/ Fahlenbach 2003, Kaplan 2006). Dies gilt insbesondere für das World Trade Center, das in herausgehobener Lage an der Spitze von Manhattan in unmittelbarer Nähe zur Freiheitsstatue erbaut worden war (vgl. Buttler 2003: 32-33). Eine Metaphernanalyse der Titelgeschichten von Focus und Der Spiegel vom 11. September 2001 bis zum „offiziellen“ Ende des Irakkriegs im Mai 2003 zeigt, dass schon in den ersten Ausgaben nach den Anschlägen diese Symbolik aufgegriffen wurde (Kirchhoff 2010: 203-206). Im Focus ist das World Trade Center die „Kathedrale der Marktwirtschaft“ (Focus, 15.09.2001, 24), im Spiegel eine „Ikone des selbstbewussten Kapitalismus“ und „der Spiegel, in dem sich die Vereinigten Staaten am liebsten erkannten“ (Der Spiegel, 15.09.2001, 18). Aber nicht nur das Gebäude, sondern auch die Stadt New York wurde metaphorisch aufgeladen: (1) Diese Stadt verkörpert alles, was die Welt an Amerika liebt und hasst. Sie ist der Inbegriff der Metropole und auch eine Projektionsfläche, aus der jeder lesen kann, was er will. Keine Stadt leuchtet heller. […] Keine huldigt dem Kapitalismus so unverfroren, nirgendwo sonst geht es so unverblümt um Macht und Geld. Und so ist sie eben auch ein Sinnbild für die Hybris, vergleichbar mit dem biblischen Babel, […]. (Der Spiegel, 22.10.2001, 137) Beide zusammen - Stadt und Hochhaus - fungieren als Symbole für die gesellschaftlichen Werte der Vereinigten Staaten, darüber hinaus ist New York die „exemplarischste Stadt der westlichen Welt“ (Focus, 15.09.2001, 24). James Rubin, ehemaliger Sprecher des amerikanischen Außenministeriums, erklärt noch am selben Tag in der BBC-Sendung Newsnight: „This was an attack on civilisation, the World Trade Center is the centre of Western civilisation where all the countries of the world trade in finance, industry, in all sorts of products. […] It is an attack on American symbols of power, but more importantly it is an attack on the civilised world ...” (zit. n. Palladino/ Young 2003: 196). Diese Interpretation findet sich ebenfalls bald in der deutschen Berichterstattung wieder, so etwa im Focus: (2) Diese Attacke galt nicht nur Amerika, es war ein Schlag gegen das Selbstverständnis der abendländischen Zivilisation. (Focus, 15.09.2001, 24) In der Phase der Liveness wird nicht nur der metaphorische Gehalt des Ereignisses durch die Berichterstattung bestätigt, sondern auch bereits gedeutet. Mit den Endlosschleifen der zusammenstürzenden Türme des World Trade Centers kommt bereits in den ersten Stunden nach den Anschlägen <?page no="78"?> Susanne Kirchhoff 78 eine weitere Phase des Medienereignisses hinzu (vgl. Weichert 2003: 92). In dieser Phase der Ästhetisierung entfaltet sich eine eigene Bildsprache mit griffigen Symbolen, die zum einen aus der Logik der Berichterstattung - den Kameraeinstellungen, Zeitlupen und Wiederholungen - entstehen. Zum anderen sind sie insbesondere an in der Fotografie oft bereits vorhandene Bildtraditionen angelehnt. So entstehen ikonische Bilder, die Beobachter unter anderem an die Ästhetik von Hollywood-Filmen erinnern (vgl. Seeßlen/ Metz 2002, Weller 2002: 56, Buttler 2003: 35 ff.). Verstörend wirkt auch die Erhabenheit der zerborstenen Ruine des World Trade Center, die in Fotos bewusst in Szene gesetzt wird. Besonders deutlich wird dies in einem Bild, das u. a. in einer Sonderausgabe des Time-Magazine erschienen ist und dessen Linienführung deutlich Caspar David Friedrichs „Das Eismeer“ widerspiegelt (vgl. Knape 2005: 251). Dieselbe Erhabenheit reproduziert bspw. Der Spiegel auf seinem Cover vom 22.10.2001, das die Überreste des Eingangsbereichs eines der beiden Türme zeigt, die scharfkantig in den Himmel ragen. Bekannt geworden sind auch die Fotos der Flagge-hissenden Feuerwehrmänner zwischen den Trümmern, die an Joe Rosenthals berühmtes Foto von Iwo Jima erinnern. Zusammenfassend spielen schon zu Beginn der Berichterstattung metaphorische Konstrukte im Diskurs über 9/ 11 eine wichtige Rolle. Die Anschläge entfalten ihre Wirkung als Medienereignis insbesondere durch den metaphorischen Gehalt des Geschehens, der in der „Liveness“ der Berichterstattung bereits aufgegriffen wird und eine an vorhandene visuelle Symbole angelehnte eigene Bildsprache entwickelt. Vor allem dem Einsturz des World Trade Centers wird eine symbolische Bedeutung zugeschrieben, es erfolgt eine diskursive Verständigung darüber, was dieses Symbol zu bedeuten habe. Dabei werden die Hochhäuser schnell als Metaphern für die USA, den Kapitalismus, den Lebensstil New Yorks und/ oder westliche Werte verstanden. Als eine Folge dieser Bedeutungskonstruktion etabliert sich in der Phase der Dramatisierung eine narrative Erzählstruktur, in der das Geschehen als „Zeitenwende“ dargestellt wird. 3 Dramatisierung: „Krieg“ und „Zeitenwende“ als Metaphern für 9/ 11 Die Phase der Dramatisierung ist durch einen narrativen Spannungsbogen gekennzeichnet, in dem die verschiedenen Akteure und ihre Handlungen in Kontrast zueinander gestellt werden (Weichert 2003: 93). Auch für diese Phase sind Metaphern von Bedeutung, weil sie Deutungsrahmen bereithalten, Akteure charakterisieren und Handlungslogiken nahe legen (vgl. Bertau 1996: 227 ff., Jäger/ Jäger 2007: 39 ff.). Eine zentrale Metapher, die in der Folge den medialen und politischen Diskurs mitbestimmen wird, ist die der <?page no="79"?> „Wie hat sich unsere Welt seither verändert? “ 79 „Zeitenwende“, die auf dem metaphorischen Basiskonzept der Zeit als einem linearen Prozess beruht: (3) Am 11. September 2001 ist eine neue, eine dunklere Zeit auf dem Planeten Erde angebrochen. (Der Spiegel, 15.09.2001, 20) (4) Der 11. September 2001 wird künftig zu jenen Daten gehören, die den Gang der Geschichte teilen: in ein Davor und ein Danach. (Focus, 15.09.2001, 24) Darüber hinaus stellt die permanente Berichterstattung, die die gewöhnlichen Programmstrukturen des Fernsehens nicht nur an diesem, sondern auch noch an den folgenden Tagen unterbricht, ebenso wie die umfangreichen Sonderseiten der Zeitungen und Magazine selbst eine Zäsur im Alltag der Medien dar. Sie bestärkt das Gefühl, dass etwas Außergewöhnliches geschehen sei, dass nichts mehr so sei, wie es einmal war. Die im vorangegangenen Abschnitt angesprochene Symbolkraft der Ereignisse wird durch das metaphorische Konzept der „Zeitenwende“ weiter erhöht. Ein weiteres Schlüsselkonzept, das sich ebenso schnell verbreitet, ist das des „Krieges“, bei dem es sich ebenfalls um eine Metapher handelt, denn weder entsprechen die Anschläge den gängigen Definitionen eines kriegerischen Aktes, noch ließe sich gegen „Terror“ Krieg führen (vgl. Norris et al. 2003, Steinert 2003, Edy/ Meirick 2007). Im deutschen Fernsehen ist es laut Weller (2002: 24 ff.) der ZDF-Experte und Leiter der Auslandsredaktion Dietmar Ossenberg, der die Ereignisse um 15.51 Uhr als erster als Krieg interpretiert: „Sie müssen sich vorstellen, was da heute passiert ist, ist Krieg, es ist Krieg im wahrsten Sinne des Wortes.“ (zit. n. Weller 2002: 62 f.) Oft sind es solche spontanen Äußerungen, die sich durch Wiederholung zu Deutungsmustern manifestieren, weil in der Berichterstattung in Echtzeit die bewusste Reflexion des Geschehens unmöglich wird (vgl. Virilio 1997: 18). Zwischen den verschiedenen Deutungsmustern, wie etwa „terroristischer Anschlag“ und palästinensischer „Racheakt“, 1 ist in diesem Zusammenhang die Kriegsdeutung von besonderer Relevanz, weil eine solche Metapher andere Handlungslogiken nach sich zieht. Anders als der terroristische Akt evoziert sie keine strafrechtliche, sondern eine militärische Reaktion. Der „Krieg gegen den Terror“ wird damit bereits früh sprachlich vorbereitet (vgl. Weller 2004, Kirchhoff 2010: 183 ff.). 2 1 So z. B. zeitgleich der als Nahost-Experte vorgestellte Andreas Cichowitz in der ARD (vgl. Weller 2002: 65). 2 Dies gilt auch für die Schlagzeilen deutscher, US-amerikanischer und internationaler Zeitungen am 12. und 13.09.2001, so z. B. „War at home“ (The Dallas Morning News/ USA); „Terror-Krieg gegen Amerika“ (Süddeutsche Zeitung), „Krieg gegen die Zivilisation“ (Rheinische Post), „Krieg gegen Amerika - Das trifft uns alle! “ (Blick/ Schweiz), „A Declaration of War“ (The Guardian/ UK), „Oorlog tegen US“ (Al- <?page no="80"?> Susanne Kirchhoff 80 Auch wenn in Deutschland die Handlungsweise der USA von den Anschlägen bis zum Irakkrieg 2003 zunehmend kritisch gesehen wird (vgl. Pohr 2005, Hülsse/ Spencer 2008), ist die Berichterstattung in den ersten Wochen doch von der Polarisierung zwischen den USA und Al Qaida sowie den Taliban gekennzeichnet. Exemplarisch steht dafür das Titelbild des Spiegels vom 15.10.2001: In der oberen Bildhälfte starten Kampfjets von einem nächtlich erleuchteten Flugzeugträger, in der unteren Bildhälfte schwenkt eine Gruppe Afghanen Holzstöcke und Fahnen, dazwischen leuchtet weiß auf schwarz der Titel: „Krieg der Welten“. Die oben zitierte Analyse von Focus und Der Spiegel zeigt, dass die von beiden Nachrichtenmagazinen verwendeten metaphorischen Konstruktionen Akteure, aber auch Orte, in binären Oppositionen zueinander positionieren, die entlang von Achsen wie hell/ dunkel, Zukunft/ Vergangenheit, Moderne/ Vormoderne, Stadt/ Natur strukturiert sind (vgl. dazu ausführlich Kirchhoff 2010: 211-273). New York wird als „ewige Zukunftsstadt“ (Focus, 15.09.2001, 24, s. oben) bezeichnet, deren Charakter dem ihrer Bevölkerung entspricht: (5) War es die finanzielle und politische Power der Stadt, die sie für Terroristen zur attraktivsten aller möglichen Zielscheiben prädestinierte - dann war es die gleiche Kraft, gepaart mit dem kämpferischen Überlebenswillen ihrer Bürger, die das Comeback vorantrieb. […] New York war immer eine internationale Stadt, errichtet auf dem Felsen von Manhattan, auf einer Völkerbasis und einem riesigen Pool unterschiedlicher Talente. Schon immer war die Stadt Durchlauferhitzer der internationalen Kommunikationsströme und Metropole des intellektuellen Kontaktsports. […] Nach New York kommen Menschen mit Feuer in den Augen, die sich und der Welt etwas zu beweisen haben. Die Hochhäuser der vertikalen und ersten globalen Stadt der Welt wurden mangels Platz zur Notwendigkeit und gleichzeitig zum Symbol der Ambitionen und Träume, die in den Himmel ragen. (Focus, 02.09.2002, 127 f.) Der modernen Stadt stehen der in Afghanistan befindliche „Steinzeitprophet“ (Der Spiegel, 02.09.2002, 94) Osama bin Laden und die „Steinzeitkrieger“ (Der Spiegel, 15.10.2001, 160) der Taliban gegenüber. Und wie die Stadt dient in diesem Fall die Natur dazu, den „Charakter“ der Bevölkerung zu beschreiben: (6) Ein leidiges Hindernis für Eroberer, für Verteidiger eine kaum einnehmbare Trutzburg; […] in sich tief und wild zerklüftet; die Gipfel schneebedeckt, alles andere zumeist kahles Gebirge mit gemeen Dagblad/ Niederlande), “Attacco all’America e alla civiltà” (Corriere della Sera/ Italien), “Wojna z USA” (Gazeta Wybororcz/ Polen) (vgl. Verlag Karl Müller 2002). <?page no="81"?> „Wie hat sich unsere Welt seither verändert? “ 81 nur wenigen grünen Tälern besiedelt von Stämmen, deren Bezeichnungen für die Nachbarn meist grässliche Schimpfwörter sind - der Hindukusch, Afghanistans Schicksalsmassiv, hat die Geschichte des Landes und das Leiden seiner Bewohner geprägt. (Der Spiegel, 01.10.2001, 152) Von besonderer Brisanz ist jedoch die religiöse Metaphorik, die die Berichterstattung durchzieht. Im vorangegangenen Abschnitt ist bereits auf Formulierungen wie „Babel“, „Kathedrale der Marktwirtschaft“ oder „Ikone des Kapitalismus“ hingewiesen worden, die das Ereignis quasi-religiös überhöhen. Darüber hinaus ist auch von einem „apokalyptischen Anschlag“ (Focus, 15.10.2001, 20) die Rede, der auf Geheiß eines „mörderischen Propheten vor einer Felswand in der Wüste“ (Der Spiegel, 15.10.2001, 159) verübt worden sei. 3 Die Eigenschaft der Metapher, Bedeutungszuschreibungen, Handlungslogiken und Akteursrollen zu implizieren, erzeugt eine narrative Struktur, die auf einen Antagonismus zwischen den USA/ dem „Westen“ und Al Qaida/ dem „Islam“ hinausläuft. 9/ 11 markiert in der Logik dieser Metapher den Beginn der Endzeit, und ein Krieg erscheint in diesem Weltuntergangsszenario nicht als eine Möglichkeit unter vielen, sondern als unausweichliche Evidenz. Der Analogieschluss verkürzt also zugleich die komplexe Argumentation für oder wider eine politische und/ oder militärische Reaktion auf eine griffige Formel. Zudem hat die auffällige, kulturell tief verwurzelte Metapher einen potenziell hohen Überzeugungscharakter, der die Legitimation einer militärischen Reaktion auf die Anschläge unterstützen kann. Die Metapher beinhaltet außerdem eine wirklichkeitskonstituierende Dimension, insofern als sie eine Interpretationsfolie für die Ereignisse liefert, die zudem den Charakter einer self-fulfilling prophecy annehmen kann. So wurde bspw. der „apokalyptische“ Konflikt zwischen den USA und Al Qaida sehr früh als ein Konflikt unterschiedlicher Wertesysteme und Religionen verstanden: (7) ‚Großer Gott, steh uns bei! ‘ titelte ‚Bild‘ mit sicherem Instinkt für die Tragweite des Geschehens. Denn um Gott könnte es gehen, wenn nun, ein Jahrzehnt nach dem Ende des Kalten Krieges, tatsächlich jener Krieg der Kulturen beginnen sollte, […] (Focus, 15.09.2001, 26) Gleichwohl bedeutet das Erscheinen von Metaphern wie „Armageddon“ oder „Apokalypse“ nicht, dass die handlungslogischen Ableitungen aus ihrem Gebrauch den Benutzern zwangsläufig bewusst sind oder dass die Adressaten die Implikationen vollständig erfassen und gegebenenfalls tei- 3 Auch dieses Deutungsmuster lässt sich auf internationalen Titelseiten finden, z. B. „Doomsday“ (Express & Star/ USA) und „Armageddon Now“ (Kommersant/ Russland) (zit. n. Verlag Karl Müller 2002: 14, 93). <?page no="82"?> Susanne Kirchhoff 82 len. Dennoch verweisen Metaphern auf die Art und Weise, wie ihre Benutzer der sie umgebenden Welt Sinn verleihen, welche Bedeutungen und Bewertungen sie Ereignissen zuschreiben und welche Lösungen für Probleme sie möglicherweise anstreben. Dabei fügen sich die in verschiedenen Formen sprachlich realisierten metaphorischen Konzepte „Zeitenwende“, „Krieg“ und „Apokalypse“ zu einem schlüssigen Gesamtbild, das die narrative Grundstruktur der Berichterstattung in den ersten Tagen und Wochen nach 9/ 11 durchzieht. Die (apokalyptischen) Anschläge, so besagt das Erzählmuster, hätten die Welt grundlegend verändert, weil nun ein Krieg nicht absehbaren Ausmaßes begonnen habe, dem ein religiös-kultureller Ton zugrunde liegt. Mit der Verfestigung solcher Deutungsmuster setzt die Phase der Ritualisierung ein. 4 Ritualisierung und Historisierung: 9/ 11 als Metapher für nachfolgende Ereignisse In der Phase der Ritualisierung haben sich Akteurskonstellationen und Deutungsmuster etabliert (Weichert 2003: 94). Dafür ist kennzeichnend, dass sich die Berichterstattung auf einzelne Bilder und Begriffe konzentriert, mit denen das Geschehene in verkürzender Weise interpretiert wird, wobei die Interpretation gleichzeitig als common sense gilt. Solche „rituellen Artefakte ersetzen vollkommen das originäre Geschehen, gewährleisten aber trotzdem noch Kontinuität der Berichterstattung. [...] Bilder, Symbole oder Mythen rekurrieren zwar noch im Kern auf das ursprüngliche Ereignis, repräsentieren aber im Grunde nur Bruchstücke seiner komplexen Zusammenhänge.“ (Weichert 2003: 95) Dasselbe gilt für die metaphorischen Bedeutungskonstruktionen auf Sprachebene, bei denen ebenfalls eine Wiederholung der immer gleichen Metaphern im medialen Diskurs beobachtet werden kann, während andere Konzepte wie z. B. das einer weltweit operierenden, modernen und effizienten „Terror-GmbH“ (Der Spiegel, 24.09.2001, 14) sich zu späteren Zeitpunkten in den beiden Nachrichtenmagazinen nicht mehr finden lassen. Die schnelle Verengung der metaphorischen Bedeutungskonstruktion im Diskurs auf einige wenige Konzepte ist aus einem Zusammenspiel der Eigenschaften von Mediendiskursen und von Metaphern erklärbar. Der Mediendiskurs ist ein zentraler Produzent von „Normalität“, weil er zum einen die in Spezialdiskursen produzierten Differenzierungsgewinne nivelliert und zugleich in der ständigen Wiederholung die Grenzen der Normalität verhandelt: „… das Spiel mit Grenzen, Provokation und Übertretung, provisorischer Normsetzung und symbolischer ‚Strafe’ scheint für die Medien ebenso kennzeichnend wie die Wiederkehr des Immergleichen, die unendlich-zyklische Bestätigung des Normalen zu sein.“ (Winkler 2004: 186, in <?page no="83"?> „Wie hat sich unsere Welt seither verändert? “ 83 Anlehnung an Link 1997) Metaphern, die in Mediendiskursen erscheinen und ausgetestet werden, sind ein Mittel der Erzeugung von Normalisierungseffekten. Insbesondere konventionelle Metaphern, die im alltäglichen Sprachgebrauch gut etabliert sind, erzeugen „selbstverständliche Wirklichkeit“ (Hülsse 2003: 223). Wenn beispielsweise Zeit als linear voranschreitender Prozess begriffen wird, dann ist leicht einsichtig, dass sie sich in unterscheidbare Abschnitte unterteilen lässt - und die Idee einer „Zeitenwende“ nach 9/ 11 kann zu einem hegemonialen Deutungsmuster werden. Auf das vorliegende Datenmaterial bezogen kann also argumentiert werden, dass durch den Gebrauch von metaphorischen Konzepten wie der „Zeitenwende“ nicht nur komplexe Ereignisse entdifferenziert werden. Die Alltagsvertrautheit der Metaphern und ihre ständige Wiederholung in Bezug auf 9/ 11 sorgen für einen Normalisierungseffekt in dem Sinne, dass das Geschehen tatsächlich im common sense als alles verändernd verstanden wird. In der Phase der Historisierung schließlich ist „der Vorhang des Dramas […] gefallen, dem Ereignis wird in dieser Phase ein Denkmal gesetzt.“ (Weichert 2003: 96) In der Medienberichterstattung bestehen solche Denkmäler insbesondere aus Jahresrückblicken, Sonderausgaben, DVD-Beilagen und natürlich der Berichterstattung zu den Gedenktagen. Dabei wird nicht nur das Vergangene zusammengefasst und reflektiert, seine Bedeutung wird darüber hinaus im Diskurs immer wieder aktualisiert, indem Bezüge zur Gegenwart hergestellt werden. Diese Funktion kann wiederum durch Metaphern übernommen werden, weil zum einen die Metaphern prinzipiell bedeutungsoffen sind, und weil zum anderen die (partielle) Übertragung der Konnotationen eines Gegenstandes auf einen anderen, die den Kern der Metapher bildet, immer eine Konstruktionsleistung bedeutet (vgl. Black 1983b: 409, Winkler 1997, Lakoff/ Johnson 2003: 244). So reduziert zwar die formelhafte Wiederholung bereits etablierter Metaphern das Gedenken auf kurze, griffige Formeln, zugleich beinhalten diese Metaphern aber Möglichkeitsspielräume, die Reflexionen über ihre eigene Angemessenheit erlauben. Für den vorliegenden Beitrag wurde daher die Metaphernanalyse der Nachrichtenmagazine Focus und Der Spiegel, die bereits den ersten Jahrestag der Anschläge umfasste, noch einmal um die Berichterstattung zum fünften und zehnten Jahrestag ergänzt 4 und für diese Jahrestage auf die an den be- 4 Zum fünften Jahrestag veröffentlicht Focus lediglich einen kurzen Artikel darüber, ob und wie Muslime in Deutschland des 11. September gedenken, Der Spiegel wiederholt längere Teile seines Beitrags vom ersten Jahrestag 2002 fast wortgleich, bringt aber ein Spiegel Spezial-Sonderheft heraus. Zum zehnten Jahrestag veröffentlicht Focus einen Gedenkbeitrag bereits in der Ausgabe vom 13. August, Der Spiegel zieht dagegen am 05. September eine Bilanz aus zehn Jahren deutscher Beteiligung am Afghanistankrieg. Beide Zeitschriften verlagern den Hauptteil der Berichterstattung in diesem Jahr in umfangreiche Online-Dossiers. <?page no="84"?> Susanne Kirchhoff 84 treffenden Tagen (oder am nächsten Erscheinungstag) veröffentlichten Beiträge von Die Zeit sowie die Tageszeitungen Bild, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung und taz ausgeweitet, wobei auch Online-Dossiers berücksichtigt wurden. An beiden Jahrestagen finden sich viele aus der ursprünglichen Berichterstattung vertraute Metaphern wieder, so etwa Konstruktionen des Ereignisses als Naturkatastrophe oder der Vereinigten Staaten und New Yorks als (verwundeter) Mensch (vgl. Kirchhoff 2010: 180 f., 218 ff.). 5 Gleiches gilt für einzelne Feindbildkonstruktionen wie die des Terrorismus als „Virus des 21. Jahrhunderts“ (Der Spiegel, 04.09.2006, 87) und für Hell/ Dunkel-Metaphern, z. B. in der Bezeichnung von Osama Bin Laden als „Schattenmann“, der dann mit dem „Alten vom Wandernden Berge“ (FAZ, 05.09.2006) verglichen wird (vgl. Kirchhoff 2010: 251 f., 258). Auffallend ist der Umgang mit den drei weiter oben thematisierten Metaphern der „Apokalypse“, des „Krieges“ und der „Zeitenwende“. Die Verwendung des Kriegsbegriffs als Krieg gegen Amerika oder Krieg gegen die Zivilisation, der dann in den „War on Terror“ mündet, ist bereits früh problematisiert worden. Dennoch wurde diese Metapher im Diskurs nicht verworfen, sondern erscheint weiterhin in unreflektierter Weise, so im Focus, der in seinem Hauptartikel 2011 zwar den Kriegsbegriff selbst nicht verwendet, aber in der Überschrift noch einmal den „Angriff auf Amerika“ beschwört und die USA „unter Feuer“ sieht (Focus, 13.08.2011, 46 f.). Im Online-Dossier der FAZ schreibt im selben Jahr Günther Nonnemacher: (8) [Die terroristischen Angriffe] sind zu Recht als ein Angriff auf die gesamte zivilisierte Welt begriffen worden, weil schnell klar wurde, dass dies die Kriegserklärung von Terroristen war, die sich nicht den Kampf für nationale Befreiung oder gegen soziale Ungerechtigkeiten auf die Fahnen geschrieben hatten.“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.09.2011) Im Spiegel, der in der Printausgabe zum zehnten Jahrestag eine kritische Bilanz des Afghanistankriegs bringt und Artikel zu 9/ 11 nur als Online- Dossier veröffentlicht, wird dagegen nun deutlich einschränkend von einem „Anschlag auf Gebäude und Menschen in den USA“ gesprochen (Der Spiegel, 05.09.2011, 75). Auch die Formel des „apokalyptischen Anschlags“ findet sich später wieder: (9) Das Minutenprotokoll der Apokalypse schockiert noch heute (Focus, 13.08.2011, 46) 5 So z. B. „Das Epizentrum des Terrorismus ist nicht kleiner geworden, es hat sich verbreitert“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.09.2011); „Schockwellen in Deutschland“ und „gedemütigte Großmacht“ (Focus, 13.08.2011, 51 ff.); „Nine-Eleven ist ein Symbol, die Kennmarke für eine Zeitenwende, die Amerika traumatisierte, die Welt veränderte und die Amtszeit George W. Bushs prägte“ (Der Spiegel, 04.09.2006, 74). <?page no="85"?> „Wie hat sich unsere Welt seither verändert? “ 85 (10) Wir wurden aus sicherer Distanz Zeugen einer apokalyptisch anmutenden Katastrophe. (Süddeutsche Zeitung, 10.09.2011) Gedenktage dienen nicht allein dazu, Vergangenes in der Erinnerung wachzurufen, diese Erinnerung wird dabei einer Aktualisierung von Bedeutungen unterzogen, indem in aller Regel die mittlerweile verstrichene Zeit bilanziert und/ oder die Gegenwart mit dem zurückliegenden Ereignis verglichen wird. Der „Kriegsbegriff“ würde sich bspw. für politische Reflexion anbieten, wird aber in den untersuchten Beiträgen nicht in dieser Weise aufgegriffen. Anders verhält es sich mit der Metapher der Zeitenwende, die tatsächlich in besonderem Maße dazu einlädt, über das Geschehene aus zeitlicher Distanz nachzudenken. An ihrer herausragenden Stellung in den Beiträgen der Zeitungen und Zeitschriften wird außerdem deutlich, dass sie nicht nur stabil im Diskurs über 9/ 11 verankert ist, sondern auch bewusst eingesetzt wird. Dafür spricht, dass sie in nahezu allen untersuchten Medien als thematisch strukturierendes Mittel eingesetzt wird. So versuchen die verschiedenen Artikel der Wochenend-Beilage der Süddeutschen Zeitung am 10./ 11.09.2011 Antwort auf die Frage zu geben: „Wie hat sich unsere Welt seither verändert? “ (Süddeutsche Zeitung, 10.09.2011). Ähnliche Gliederungsansätze finden sich zu diesem Jahrestag auch im Online-Dossier des Focus und im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Implizit trägt die Metapher eine Argumentationskette in sich. Wer rückschauend auf eine 2001 prognostizierte Zeitenwende blickt, muss fragen, was dafür spricht, dass sich New York, die USA und/ oder die Welt verändert haben und was nicht. Argumentationen dazu beziehen sich zum einen auf die politische Situation: (11) Als die Twin Towers einstürzten, wurde die Welt eine andere. […] Eigentlich war sofort klar, dass der ‚11. September‘ eine welthistorische Zäsur markierte. Amerika stürzte noch 2001 die Taliban-Regierung in Afghanistan; erstmals trat Deutschland, …, im Rahmen eines UN-Mandats zusammen mit rund vierzig anderen Ländern in einen Krieg im fernen Asien ein. Die Virulenz des ‚Clash of civilizations‘ (Samuel Huntington), von vielen geleugnet, war sichtbar geworden. (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.09.2011) Andere Beiträge gehen davon aus, dass das Leben an der Oberfläche gleich geblieben sei, dass 9/ 11 aber tiefer liegende Auswirkungen gehabt habe, so insbesondere auf Einstellungen und Ängste der Menschen: (12) Hat 9/ 11 die Welt also verändert? Amerika dauerhaft deformiert? Den Islamisten einen Sieg beschert? Oder wird der Anschlag als geschichtsveränderndes Ereignis überschätzt? Diese Fragen zeugen einerseits davon, wie überwältigend das Bedürfnis nach einem Abschluss, einer Bilanz ist. Andererseits ist diese <?page no="86"?> Susanne Kirchhoff 86 Debatte Beweis für das grundsätzliche Problem, das Amerika und all jene erfasst hat, die am 11. September vor zehn Jahren in Schockstarre verfallen sind. Die Buchhalter der Geschichte ignorieren den eigentlichen Charakter von 9/ 11, sie leugnen die Dimension der Angst, die sich in die Gesellschaften hineingefressen hat. (Süddeutsche Zeitung, 10.09.2011, 4) Dabei ist aber durchaus nicht eindeutig, wie weitreichend die Veränderungen seien. Während der im vorangegangenen zitierte Kommentar der Süddeutschen Zeitung die Idee einer Zeitenwende grundsätzlich bejaht, wird sie im folgenden Beispiel aus dem Focus mit denselben Argumenten relativiert: (13) Die Welt würde sich für immer verändern, wurde uns erzählt. Eine Zeitenwende. […] Fünf Jahre später müssen wir feststellen, dass die Ängste der Befragten durch den Schock des perfide für das Medienzeitalter inszenierten Terrorakts verstärkt worden sind. Dass sich in vieler Hinsicht weniger geändert hat, als wir erwartet hatten. […] Die Zeitenwende hat vor allem im Kopf Spuren hinterlassen. Was wir rational beurteilen können, hat sich seit 9/ 11 nur unwesentlich verändert. (Focus, 04.09.2006, 173 ff.) Während insbesondere konventionalisierte Metaphern wie die „Naturkatastrophe“ im Diskurs unreflektiert und, von den medialen Produktionsroutinen unterstützt, weiter getragen werden, ist es also anscheinend umgekehrt vor allem die „Zeitenwende“, die zur kritischen Selbstthematisierung einlädt. Über Weicherts Phasenmodell hinausgehend, zeigt sich die Historisierung von 9/ 11 jedoch nicht allein im rituellen Gedenken, sondern auch darin, dass das Geschehen selbst als Gradmesser und als Deutungsfolie für nachfolgende Katastrophen dient. Exemplarisch seien hier die 2008 einsetzende Finanzkrise und der durch eine Naturkatastrophe bedingte Unfall im japanischen Kernkraftwerk Fukushima 2011 genannt. Eine unsystematische Internetrecherche hat ergeben, dass in beiden Fällen 9/ 11 selbst zur Metapher für eine „Zeitenwende“ und für eine Katastrophe wird, deren langfristige Folgen kaum abzuschätzen sind. Eine in der tageszeitung am 21. September 2008 veröffentlichte Zeichnung des Karikaturisten Klaus Stuttmann zeigt, wie mehrere, mit dem Schriftzug „Bank“ versehene Flugzeuge in ein Hochhaus in Form des Dollarzeichens stürzen. Der dazugehörige Beitrag trägt den Titel „Ende einer Ära“ (vgl. Link 2009: 15). Die Blogger der Rhein- Zeitung halten den Sitz der Bank Lehman Brothers für den „Ground Zero der Finanzmärkte“ (Türk 2009). Berthold Kohler schreibt in einem Kommentar der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: (14) Das ist die Rhetorik des 11. Septembers. Die Welt werde nicht mehr so sein wie vor der Krise, sagte Bundesfinanzminister <?page no="87"?> „Wie hat sich unsere Welt seither verändert? “ 87 Steinbrück im Deutschen Bundestag. […] Die Krise hat noch weit größere Dimensionen als jene, die dem Anschlag auf die Zwillingstürme und ihrem Einsturz vor sieben Jahren folgte. […] Der amerikanische Kapitalismus brachte, weitgehend unbedrängt von staatlicher Kontrolle, seine eigenen Selbstmordattentäter hervor, deren Sprengsätze, die Derivate, selbst noch die Wirkung der fliegenden Bomben der Dschihadisten übertreffen. Nicht nur New York, die ganze Welt hat einen neuen ‚Ground Zero‘: Wall Street. (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.09.2008, 1) Für die Reaktorkatastrophe von Fukushima bürgert sich dagegen rasch das Kürzel „3/ 11“ ein, um nicht allein den Schrecken des Ereignisses, sondern insbesondere auch seine wirtschaftlichen, politischen und psychologischen Konsequenzen zu diskutieren. So beginnt z. B. die Talkshow von Anne Will am 21.03.2011 mit der Videoeinspielung: „Ground Zero Fukushima - Ein letztes Aufgebot von Ingenieuren und Feuerwehrleuten versucht trotz lebensgefährlicher radioaktiver Strahlung den Super-GAU doch noch zu verhindern.“ Danach wird die Opferbereitschaft der Katastrophenhelfer gelobt - ein Topos, der aus der Berichterstattung über 9/ 11 und speziell die New Yorker Feuerwehrleute ebenfalls bekannt ist. Der deutsche Umweltminister und seine Frau fühlen sich laut Spiegel an den 11. September 2001 erinnert: Auch Fukushima sei „ein Ereignis, das alles verändert hat“ (Der Spiegel, 14.03.2011, 124). Dass „3/ 11“ wie „9/ 11“ eine „Zeitenwende“ sei, die das Land in den folgenden Jahren bestimmen werde, glaubt auch die texanische Zeitung The Baptist Standard: (15) A Japanese Baptist leader predicted the March 11 earthquake and tsunami disaster would leave its mark on Japan the same way that America was changed after the terrorist attacks on 9/ 11. ‘3/ 11 will be etched on our heart and psyche just as 9/ 11 is imprinted on the American psyche,’ wrote Makoto Tanno, general secretary of the Japan Baptist Union. ‘The reasons are totally different, but it is a single event which determines how we as a nation will live for many years to come’. (Bob Allen, The Baptist Standard, 16.03.2011) In einem kanadischen Blog werden darüber hinaus die wirtschaftlichen Folgen des Bebens mit 9/ 11 verglichen: (16) Japan’s 9/ 11 - […] The earthquake, tsunami and Fukushima nuclear disaster pose far ranging humanitarian and economic challenges. These triple disasters will have a profound and far reaching impact. A number of Japanese are now referring to the March 11 th quake as Japan’s ‘3/ 11’: similar to how the 9/ 11 disaster permanently reshaped America in one defining moment. <?page no="88"?> Susanne Kirchhoff 88 What can we expect short and longer term? Post 3/ 11 trends are pointing towards a significant contraction to near term economic growth. (Shawn Lawlor, Canada World Today, 08.04.2011) Und eine in diversen Medien verbreitete Reuters-Meldung zitiert Adrian Foster von Radobank International mit den Worten „Tepco is the Ground Zero of the problem“ (Reuters, 28.03.2011). Fritz Göttler von der Süddeutschen Zeitung wiederum lehnt in seiner Rezension von Yuko Ichimuras Buch 3/ 11. Tagebuch nach Fukushima den Vergleich ab: „Die Katastrophe von Fukushima ist - anders als die von Tschernobyl und auch als der Terroranschlag vom 11. September in New York - bestimmt vom Clash der Informationen, der Fakten und virtuellen Impulse der neuen sozialen Netze“ (Süddeutsche Zeitung, 19.03.2012, 16). Auch im Fall von „3/ 11“ werden die Bedeutungsmöglichkeiten der Metapher und ihre Tragweite ausgelotet. Bereits Max Black (1983a: 69) hat in der Interaktionstheorie der Metapher darauf hingewiesen, dass in einem metaphorischen Satz das fokale Wort eine Bedeutung trägt, die weder genau der eigenen wörtlichen Bedeutung noch der des Substituts entspricht. Beide Teile der Metapher stehen vielmehr in einer Interaktionsbeziehung, in der beide die jeweilige Bedeutung des anderen bereichern und so einen Bedeutungsüberschuss produzieren. Bezogen auf die Vergleiche mit anderen Ereignissen stellt also nicht nur 9/ 11 einen Deutungsrahmen für Finanzkrise oder Reaktorkatastrophe bereit, sondern in der Verbindung der Ereignisse wird umgekehrt auch die Bedeutung dessen, was 9/ 11 „ist“, modifiziert und lebendig gehalten. Soweit der hier vorgestellte, kursorische Überblick eine Interpretation zulässt, scheinen diese Bedeutungsaktualisierungen aber bereits existierende Deutungen von 9/ 11 zu stabilisieren, vor allem die Wahrnehmung als eine außergewöhnlich große Katastrophe mit langfristigen, schwer absehbaren Folgen, als relevantes Ereignis im Rahmen nationaler Identitätskonstruktion, sowie als Beispiel für Solidarität und Hilfsbereitschaft. 5 Fazit Medienereignisse sind mit Blick auf ihre mediale Wirkung inszeniert und untrennbar mit der Berichterstattung über sie verbunden. Dennoch haben sie ihren Ursprung in der realen Welt und wirken auf diese zurück - unter anderem durch die Verwendung von Metaphern, die das Denken über ein Ereignis strukturieren, Geschehnisse bewerten und Handlungslogiken nahelegen. In den Phasen, die das Medienereignis 9/ 11 durchläuft, werden die verschiedenen Dimensionen der metaphorischen Konstruktionen im Diskurs über die Anschläge sichtbar - so wie Metaphern benutzt werden, um die <?page no="89"?> „Wie hat sich unsere Welt seither verändert? “ 89 Anschläge zu beschreiben, werden sie selbst im Mediendiskurs zur Metapher. 9/ 11 als Metapher: Erstens haben die Anschläge durch die Art des Angriffs und die Wahl der Ziele eine symbolische Dimension, die von den Medien schon im Moment der Liveness so aufgenommen und interpretiert wird. Die historische Zäsur, als die 9/ 11 häufig begriffen wurde, leitet sich weniger aus dem Geschehen selbst, als vielmehr aus der kalkulierten Symbolkraft ab. Metaphern für 9/ 11: Zweitens können wir in den Phasen der Ästhetisierung und der Dramatisierung beobachten, dass sich in der Medienberichterstattung bestimmte Deutungsmuster etablieren, die sich ihrerseits auf bereits existierende Deutungsschemata beziehen und so auf diskursiv etabliertes Wissen verweisen, etwa in metaphorischen Feindbildkonstruktionen oder der Wahrnehmung des Geschehens als „Apokalypse“ oder als neues „Pearl Harbor“. 9/ 11 als Metapher: So wie vorangegangene Ereignisse und existierende Deutungsmuster Interpretationsfolien für die Anschläge bereitstellen, kann aus der Distanz von zehn Jahren beobachtet werden, wie die Formel „9/ 11“ in den Phasen der Ritualisierung und Historisierung selbst als Metapher für andere Ereignisse in das kulturelle Zeichenreservoir Eingang gefunden hat: „Will 3/ 11 be Japan's 9/ 11? “ (Bob Allen, The Baptist Standard, 16.03.2011). 6 Bibliographie 6.1 Quellenverzeichnis Allen, B., 2011. Will 3/ 11 will be Japan's 9/ 11? 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In diesem Beitrag soll hingegen untersucht werden, wer oder was die von diesen Anschlägen Betroffenen sind und welche Verbalisierungen von Betroffenen sich in der medialen Berichterstattung finden lassen, d. h. wie die sprachliche Kodierung der Rolle der Anschlagsopfer abläuft. Ausgehend von empirischen Untersuchungen in einem umfangreichen Textkorpus zum öffentlichen deutschsprachigen Diskurs über islamistischen Terrorismus steht hier im Vordergrund, wer bei 9/ 11 angegriffen wurde. Allgemein betrachtet sind Anschläge Ereignisse, die von intentional handelnden Personen ausgelöst werden und die zugleich anderen Personen widerfahren. Es gibt stets Ziele, die getroffen werden sollen, und diese Ziele umfassende Gemeinschaften, auf die die Anschläge einwirken sollen. Diesen Gemeinschaften wird im Allgemeinen der Opferstatus zugesprochen. 1 Gemäß der Theorie der semantischen Rollen (vgl. Jackendoff 1983, von Polenz 2008) bedarf die Verbalisierung von Anschlagsereignissen eines „Patiens“, 1 Der Opferbegriff bedarf an dieser Stelle einer kurzen Erläuterung, da er im Deutschen verschiedene Verwendungsweisen und Bedeutungsinhalte, teilweise mit starken Konnotationen, aufweist (vgl. auch Botz 1998: 224). Die hier relevante Denotation ließe sich als „jmd., der durch jemanden oder etwas umkommt oder Schaden erleidet“ angeben. Da zugleich aber auch in einem weiteren Sinne Angehörige sowie v. a. die Gemeinschaften der direkt Geschädigten als Betroffene verstanden werden, ist es hier nötig, den Begriff zu erweitern und von unterschiedlichen Viktimitätsgraden auszugehen, um alle relevanten Konstruktionen von Opfer-Rollen und -Zuschreibungen fassen zu können. Für den konkreten Fall der 9/ 11-Anschläge sei aber mit Nachdruck betont, dass diese diskursiv-konstruktivistische Sicht keinesfalls dazu führen soll, das grausame Schicksal der rund 3.000 Todesopfer zu relativieren oder das Leid ihrer Angehörigen und der physisch, psychisch oder materiell Geschädigten zu schmälern. <?page no="94"?> Jan-Henning Kromminga 94 also bestimmter Entitäten, an denen die Anschläge verübt werden, denen die Anschläge widerfahren. Welche Ausdrücke diese Funktion im 9/ 11- Diskurs übernehmen und welche Referenzialisierungen dabei vorliegen, soll mithilfe einer statistisch fundierten Korpusuntersuchung eruiert und anschließend kritisch diskutiert werden. Referenzialisierungen sind das konkrete Ergebnis von Konzeptualisierungen und können spezifische Perspektivierungen und Evaluierungen enthalten (Schwarz 3 2008, Schwarz-Friesel 2 2013). Konzeptualisierungen sind dabei die komplexen mentalen Vorstellungen von Sachverhalten und bilden im weitesten Sinne diejenigen geistigen Einheiten, in denen unsere Welt- (Teil-)Ansichten gespeichert sind. Über die Auswahl bestimmter Ausdrucksvarianten, die immer eine spezifische Sichtweise repräsentieren und hier terminologisch als Perspektivierungen gefasst werden, werden mittels Sprache Bezugnahmen auf die Welt hergestellt, also Referenzialisierungen etabliert. Die manifesten sprachlichen Äußerungen sind folglich immer auch als Spuren der kognitiven und emotionalen Aktivitäten der jeweiligen Sprachbenutzer zu betrachten. Über die konkreten Verbalmanifestationen lassen sich Rückschlüsse ziehen auf die Konzeptualisierungen, mentalen Modelle und Werthaltungen der jeweiligen Produzenten (vgl. Schwarz 3 2008, Schwarz-Friesel 2 2013, s. auch Schwarz-Friesel in diesem Band). Zugleich ist zu beachten, dass sprachliche Äußerungen nie isoliert in Zeit und Raum stehen, sondern u. a. über thematische Bezüge Diskurse bilden. Diese vielfältigen Diskurse können zudem als der Ort gesellschaftlicher Bedeutungsproduktion angesehen werden (vgl. bspw. Fairclough 1995, Jäger 3 2001, Warncke 2007, Wodak/ De Cilia 2010, Kämper 2012). In diesem Sinne versteht sich der Aufsatz als ein Beitrag zur Analyse der diskursiven und emotiv-kognitiven Verarbeitung der Geschehnisse am 11. September 2001. 2 Empirische Untersuchung: eine quantitative und qualitative Korpusanalyse Im Rahmen des von der DFG geförderten Forschungsprojekts „Aktuelle Konzeptualisierungen von Terrorismus - expliziert am Metapherngebrauch im öffentlichen Diskurs“ wurde ein umfangreiches Untersuchungskorpus zusammengestellt. Es enthält über 100.000 Artikel aus verschiedenen deutschsprachigen Printmedien von 1993 bis 2011 mit thematischem Bezug zum islamistischen Terrorismus. Der zentrale Teilbereich des Korpus umfasst die Berichterstattung zu den Anschlägen vom 11. September 2001 mit rund 35.000 Artikel aus Die Zeit, Die Welt, Der Spiegel, Focus, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurter Rundn <?page no="95"?> Wer wurde am 11.09.2001 angegriffen? 95 schau, Der Tagesspiegel, Die Tageszeitung taz, Le monde diplomatique, Hamburger Abendblatt, Handelsblatt sowie den Boulevardzeitungen Bild, B.Z., Express. Diese Textsammlung bildet die Grundlage für die folgenden Ausführungen. Aus Praktikabilitätsgründen wurde jedoch für die empirische Untersuchung, die in diesem Aufsatz vorgestellt werden soll, ein deutlich kompakteres Unterkorpus erstellt. Dazu wurden aus zehn der oben genannten Publikationsmedien jeweils 25 Artikel zufällig ausgewählt, die alle zwischen dem 12. und 30.09.2001 erschienen sind, d. h. zwischen 9/ 11 und den militärischen Angriffen eines von den USA geführten Bündnisses auf die Taliban in Afghanistan. 2 Innerhalb dieser randomisierten Stichprobe wurden Vorkommenshäufigkeiten mithilfe des Konkordanzprogramms antconc ermittelt, quantitativ ausgewertet und extrapoliert. In einem ersten Arbeitsschritt wurde überprüft, welche Suchanfragen sich als sinnvoll erweisen. Eine naheliegende Option, um die Referenzausdrücke in der Patiens-Rolle in Satzkonstruktionen zur Verbalisierung der Anschläge identifizieren zu können, bestand in der Suche nach einschlägigen Prädikaten (angreifen, attackieren) und deren Konstituenten. Diese prädikative Kodierungsvariante findet sich jedoch im gesamten Untersuchungskorpus ebenso wie im Stichproben-Korpus überraschend selten (angreifen: 3 Hits, angegriffen: 6 Hits, attackier*: 2 Hits). Substantivische Kodierungsvarianten der Anschläge sind insgesamt deutlich häufiger. Dementsprechend wurden Nominalphrasen mit relevanten Präpositionalattributen extrahiert: Anschläge/ Angriffe/ Attacken auf/ gegen x . 3 Die in die Präpositionalphrasen eingebetteten Substantive wurden statistisch ausgewertet und bilden den eigentlichen Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit. Tabelle 1 zeigt die Suchergebnisse und ihre Vorkommenshäufigkeiten: 2 Der Beginn des Krieges in Afghanistan durch die US-angeführte sog. Operation Enduring Freedom am 07.10.2001 stellt den ersten großen Diskurseinschnitt nach 9/ 11 dar und bewirkt dementsprechend Veränderungen der dominanten Perspektivierungen und Evaluierungen der Anschläge. Bis zu diesem Zeitpunkt zeigt sich eine relativ stark ausgeprägte Homogenität in der Berichterstattung. 3 Die präpositionale Ergänzung „Angriffe in…“ wurde nicht untersucht, da hier nur eine Lokalbestimmung und keine Explikation der Patiens-Rolle vorliegt. Außerdem wurden die Suchanfragen selbstverständlich an die Modalitäten des Konkordanzprogramms angepasst, s. Tabelle 1. Der Asterisk dient als Wildcard für beliebige Zeichenfolgen, damit die Ergebnisse auch Komposita und flektierte Wortformen der Grundwörter umfassen. <?page no="96"?> Jan-Henning Kromminga 96 Suchanfrage Häufigkeit Ergebnis (folgende Nominalphrase) plus Trefferanzahl *angriff* auf 26 Amerika (13 Treffer), New York und Washington (3), die USA (1), das Welthandelszentrum (1), das Herz Amerikas (1), die Symbole amerikanischen Stolzes und amerikanischer Macht (1), das World Trade Center (1), zwei Ziele (1), die zivilisierte Welt (1), das freiheitliche Gesellschaftssystem (1), die Grundwerte menschlichen Zusammenlebens (1) *angriff* gegen 2 das World Trade Center (1 Treffer), die gesamte zivilisierte Welt (1) *anschl*g* auf 46 das World Trade Center (19 Treffer), die USA (9), das Pentagon (3), Amerika (2), das US-Verteidigungsministerium (2), die Weltmacht USA (1), die Vereinigten Staaten (1), das World Trade Center und das Pentagon (1), die beiden zentralen Symbole der USA (1), eines der Symbole Amerikas (1), die Twin Tower (1), ihr Finanzzentrum (1), das finanzielle Nervenzentrum des Landes (1), New York und Washington (1), die Freiheit (1), Frieden und Freiheit (1) *anschl*g* gegen 8 die USA (5 Treffer), Amerika (2), die Werte und Normen der Menschlichkeit (1) *attacke* auf 9 die USA (4 Treffer), Amerika (3), die Vereinigten Staaten (1), das Pentagon (1) *attacke* gegen 2 die USA (2 Treffer) 93 gesamt Tabelle 1: Suchergebnisse und Vorkommenhäufigkeiten Insgesamt wurden also 93 Textstellen, in denen verbalisiert wird, wer am 11. September 2001 angegriffen wurde, identifiziert. 4 Die aufgefundenen Nomi- 4 Insgesamt gab es im Stichproben-Korpus deutlich mehr Hits auf die Suchanfragen. Ausgewertet wurden nur diejenigen Textstellen mit entsprechendem Präpositionalattribut, in denen die 9/ 11-Anschläge referenzialisiert wurden, d.h. herausgelassen wurden solche Textstellen, in denen es um andere Anschläge/ Angriffe/ Attacken ging, s <?page no="97"?> Wer wurde am 11.09.2001 angegriffen? 97 nalphrasen innerhalb der Präpositionalphrasen wurden in einem weiteren Arbeitsschritt geordnet und drei konzeptuellen Ebenen zugeteilt: erstens der nationalen Ebene, die auch als die Default-Ebene beschrieben werden kann; zweitens einer subnationalen Ebene, die Gebäude und Städte beinhaltet, und drittens einer supranationalen Ebene, auf der Werte-Verbalisierungen und einzelstaatsübergreifende Gemeinschaften angesiedelt sind. Die folgende Tabelle 2 zeigt die relativen Häufigkeiten dieser Aktualisierungen, die im Anschluss kritisch diskutiert werden. Ebene 1 - national Ebene 2 - subnational Ebene 3 - supranational die USA (1+9+5+4+2 Treffer), Amerika (13+2+2+3 Treffer), di e Weltma cht USA (1 Treffer), die Vereinigte Staaten (1+1 Treffer) as World Trade Center (1+1+19 Treffer), New York und Washington (3+1 Treffer), das Pentagon (3+1 Treffer), das Welthandelszentrum (1 Treffer), das Herz Amerikas (1 Treffer), die Symbole a m e rik a ni s c h e n Stolzes und amerikanischer Macht (1 Treffer), zwei Ziele (1 Treffer), das World Trade Center und das Pentagon (1 Treffer), die beiden zentralen Symbole der USA (1 Treffer), eines der Symbole Amerikas (1 Treffer), die Twin Tower (1 Treffer), ihr Finanzzentrum (1 Treffer), das finanzielle Nervenzentrum des Landes (1 Treffer), die zivilisierte Welt (1 Treffer), das freiheitliche Gesellschaftssystem (1 Treffer), die Grundwerte menschlichen Zusammenlebens (1 Treffer), die gesamte zivilisierte Welt (1 Treffer), die Freiheit (1 Treffer), Frieden und Freiheit (1 Treffer), die Werte und Normen der Menschlichkeit (1 Treffer) 45 Textstellen von 93 = 48,4 % 41 Textstellen von 93 = 44,1 % 7 Textstellen von 93 = 7,5 % Tabelle 2: Relative und absolute Häufigkeiten geordnet nach konzeptueller Ebene oder in denen die Lexeme generisch oder unspezifisch verwendet wurden. Die drei Ziel-Wörter zusammengenommen haben in der Stichprobe 671 Vorkommen, die meisten aber ohne Präpositionalattribut. d n n <?page no="98"?> Jan-Henning Kromminga 98 3 Diskussion der Ergebnisse - Verschiedene Ebenen der Opfer- Referenzialisierungen 3.1 USA Die insgesamt deutlich frequentesten Ausdrücke sind USA (21 Vorkommen in der Stichprobe - für alle weiteren Häufigkeitsangaben vgl. Tabelle 2) und Amerika, siehe auch die beiden folgenden Textbeispiele (1) und (2), die zudem beide Artikelüberschriften darstellen: (1) Laurie Mylroie vermutet Saddam Hussein hinter den Anschlägen auf die USA (Die Zeit, 17.09.2001, Überschrift) (2) 5 ganz persönliche Betrachtungen zum Terroranschlag auf Amerika (Focus, 24.09.2001, Überschrift) Beide Ausdrücke können zudem in diesem Kontext als referenzidentisch und somit teilsynonym klassifiziert werden, ebenso wie der Ausdruck Vereinigte Staaten, der zusammen mit dem Kontinentaltoponym Amerika auch die deutsche Paraphrase der Vollform des Akronyms USA und damit des offiziellen Staatsnamens ergibt. NATO-Mitgliedsland referiert im gegebenen Kontext zusätzlich auf die gleiche Entität. (3) Als einen gefährlichen Störfaktor empfindet Syrien den Terroranschlag auf die Vereinigten Staaten. (Der Spiegel, 15.09.2001) (4) Schon die erste politische Reaktion der Nato auf den Terrorakt zeigt, wie anachronistisch die Verhältnisse geworden sind. Dass sie unverzüglich den militärischen Beistandsfall erklärt hat, demzufolge ein Angriff auf ein Mitgliedsland als einer auf alle gilt, ist mehr ein virtueller Akt als eine schon beim Wort nehmbare politische Entscheidung. (Frankfurter Rundschau, 15.09.2001) Dass Nationen oftmals als kollektive Akteure aufgefasst werden und ihnen dabei bestimmte Rollen zugeschrieben werden, ist nicht neu (vgl. Kirchhoff 2010: 211 ff.). Der weitere Diskurs zeigt das in Form vieler Personifizierungen der USA als handelndem Subjekt deutlich. Ebenso sind Solidarisierungen mit den USA im Diskurs direkt nach den Anschlägen sehr dominant. Sie äußerten sich zudem durch große Kundgebungen, Gedenkveranstaltungen etc. an vielen Orten der Welt. Die Bild druckt vom 13.09. bis zum 15.09.2001 eine Serie unter dem Titel „Jetzt sind wir alle Amerikaner, weil…“, in der Prominente und Bild-Leser positive Einstellungen, besondere Beziehungen und biographische, geschichtliche oder weltpolitische Verbindungen zu den USA mitteilen. Diese dienen selbstverständlich dem Ausdruck von Solidarität mit den USA, sind aber aus sozialkognitiver Sicht interessant, weil sie eigentlich die Konstruktion einer Ingroup explizieren und die Beteiligten sich als Mitglieder der Gruppe der Amerikaner ausweisen. Im Kontext ist <?page no="99"?> Wer wurde am 11.09.2001 angegriffen? 99 jedoch ersichtlich, dass damit keine Staatsangehörigkeitswechsel gemeint sind. Im 9/ 11-Diskurs direkt nach den Anschlägen zeigen viele Äußerungen eine große Homogenität. Diese umfasst neben der extrem negativen Evaluierung der Anschläge und sehr einheitlichen Verbalisierungen starker emotionaler Reaktionen wie Angst, Schrecken, Furcht (vgl. Schwarz- Friesel/ Kromminga 2013) auch eine empathische Anteilnahme am Leid vieler Amerikaner und die Herstellung einer positiven Einstellung zu den USA. 5 Die USA können als dominanter Filler der Position des Angegriffenen charakterisiert werden. Mit 48,4 % aller Vorkommen innerhalb der Stichprobe ist die Ebene des Nationalstaats diejenige mentale Kategorie, die in der Konzeptualisierung der ANSCHLAGSOPFER am häufigsten aktiviert wird. 3.2 World Trade Center und Pentagon Mit 44,1 % der ausgewerteten Textstellen sind die Verbalisierungen ebenfalls sehr zahlreich vertreten, in denen die Anschläge als Zerstörungsakte spezifischer Gebäude perspektiviert werden, eben des World Trade Centers und des Pentagon. (5) Schon vor dem Angriff auf das World Trade Center war der Börsenkurs von Accor aus Sorge um eine Flaute der US-Konjunktur gefallen. (Handelsblatt, 20.09.01) (6) Die verbleibenden Beamten aus Washington, so fürchten Beobachter, könnten unter dem schockierenden Eindruck des Anschlags auf das Pentagon bei Zusammenstößen mit Protestlern überreagieren. Von der Gefahr, dass das hochkarätige Finanz-Treffen zudem ganz andere und wesentlich gefährlichere Gegner als die Globalisierungskritiker mobilisieren könnte, mag erst gar niemand sprechen. (Frankfurter Rundschau, 15.09.2001) Beide Gebäudenamen weisen ebenfalls mehrere Synonyme auf, wie u. a. Twin Tower , Finanzzentrum, Welthandelszentrum oder das Verteidigungsministerium (zur jeweiligen Häufigkeit der Lexeme s. Tabelle 2). Auf dieser Ebene sind auch metaphorische Realisierungen zu finden: 5 Im Diskursverlauf ändern sich diese Haltungen jedoch entsprechend der groben politischen Orientierung der Publikationsmedien und beinhalten u. a. wieder antiamerikanische, respektive gegenüber den USA sehr kritische Positionen. Diese auch schon in Fußnote 2 angesprochene Thematik der Bewertung der USA und der USamerikanischen Außenpolitik nach 9/ 11 birgt viele für den weltpolitischen Gesamt- Diskurs aufschlussreiche Momente, ist aber für diesen Aufsatz unerheblich und soll deshalb an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden. s <?page no="100"?> Jan-Henning Kromminga 100 (7) Der Angriff auf das Herz der USA löst nicht nur Trauer und Entsetzen aus. In Lateinamerika ist auch klammheimliche Freude zu spüren. (Der Spiegel, 15.09.2001) (8) Was geschieht, so fragen sich die Experten, wenn der Terroranschlag auf das finanzielle Nervenzentrum des Landes die Stimmung kippen lässt? Wenn die Amerikaner, tief verunsichert von den Bildern einer in Rauch gehüllten Stadt, sich so verhalten, wie das Menschen in Krisenzeiten normalerweise tun? (Der Spiegel, 15.09.2001) Das World Trade Center und das Pentagon werden direkt nach 9/ 11 häufiger als Herz und Nervenzentrum charakterisiert. Beide Varianten können unter KÖRPERMETAPHORIK subsumiert werden und bilden das Konzeptualisierungsmuster ANSCHLAGSZIELE ALS (VITALE) ORGANE. Herzen und Nervenzentren sind absolut lebensnotwendige Organe, die im Organismus zentrale und essenzielle Aufgaben tragen und deren Verletzungen oft tödliche, zumindest aber sehr drastische Folgen nach sich ziehen. Diese Metaphorisierungen tragen demnach mit einem hohen Emotionspotenzial zu einer negativ intensivierenden Darstellung der 9/ 11-Anschläge bei (vgl. Schwarz-Friesel/ Kromminga 2013: 14, s. auch Schwarz-Friesel/ Skirl 2011). Zugleich sind diese Gewaltmetaphern kategorisierbar als Instanzen von einer NATIONEN ALS KÖRPER-Metaphorik, die im politischen Diskurs häufig ist und folgenreich eingesetzt wird (vgl. Musolff 2004, Kirchhoff 2010, Bougher 2012). Viermal werden außerdem die Städte, in denen die teilweise zerstörten Gebäude standen, genannt: (9) Das Ausmaß der Selbstmordanschläge auf New York und Washington stellt alles bisher Dagewesene weit in den Schatten ganz gleich, ob man einzelne Anschläge betrachtet oder die Gesamtzahl der Toten. (Die Zeit, 17.09.2001) New York und Washington werden zumeist als globale Metropolen sehr positiv evaluiert, respektive ihre große Bedeutung und Anziehungs- und Ausstrahlungskraft herausgestellt. Ähnlich funktionieren auch die Formulierungen, World Trade Center und Pentagon als Symbole, die in der Stichprobe dreimal, im Gesamt-Korpus aber durchaus zahlreich auftauchen: (10) [D]ieser Angriff auf die Symbole amerikanischen Stolzes und amerikanischer Macht […] (Frankfurter Rundschau, 15.09.2001) Diese metalinguistischen Kennzeichnungen dienen ebenfalls zur Hervorhebung der Signifikanz der Gebäude für die USA und verstärken somit den Schrecken und den Schock, der sich aus der plötzlichen Zerstörung dieser Gebäude für die meisten Zuschauer ergab. <?page no="101"?> Wer wurde am 11.09.2001 angegriffen? 101 3.3 Werte und Gemeinschaften Im Folgenden sollen diejenigen Textstellen, die der dritten, supranationalen Ebene zugeordnet wurden, vorgestellt werden: (11) Die Anschläge von New York und Washington waren Anschläge gegen die Werte und Normen der Menschlichkeit insgesamt, die überall auf der Welt gelten und gelten müssen. (Frankfurter Rundschau, 15.09.2001) (12) Vor dem DGB-Gebäude rief Schulte in einer kurzen Ansprache zur Solidarität mit dem amerikanischen Volk und zur Bekämpfung des Terrorismus auf. „Wer immer für diesen Anschlag auf Frieden und Freiheit verantwortlich ist, hat sich der schwersten Verbrechen schuldig gemacht und muss hart bestraft werden.“ (Die Welt, 14.09.2001) Es fällt zunächst auf, dass mit Werte und Normen der Menschlichkeit (11) und Frieden und Freiheit (12) substantivische Abstrakta in der Position der Anschlagsziele zu finden sind. Da allerdings nur Gegenständliches im engeren Sinne angegriffen werden kann, handelt es sich hier derart um semantische Irregularitäten, dass sortale Kombinationsbeschränkungen verletzt werden. Die Textstellen sind so zu verstehen, dass durch die genannten Abstrakta die Anschläge ex negativo charakterisiert werden. Menschlichkeit sowie Frieden und Freiheit stehen somit metonymisch für das Gegenteil von dem, was die terroristischen Handlungen ausdrücken. Bei den genannten Abstrakta handelt es sich außerdem um Hochwertwörter (vgl. Schröter/ Carius 2009: 24) beziehungsweise Miranda (Girnth 2002: 53), die gesamtgesellschaftlich positiv evaluiert werden. Mit der inhärenten stark negativen Evaluierung der Anschläge geht eine weitere Lesart einher, derzufolge die genannten Substantive charakteristische Merkmale der angegriffenen Gemeinschaften darstellen. Diesen wesenhaft menschlichen, freiheitlichen und friedliebenden Kollektiven wird damit der Status als Opfer der Anschläge zugewiesen. Deutlicher wird diese Lesart im folgenden exemplarischen Textausschnitt: (13) Er [Klaus Wowereit, Anm. JHK] nannte die Anschläge eine „Kriegserklärung gegen die zivilisierte Welt“, einen Angriff auf das freiheitliche Gesellschaftssystem, auf eine Werteordnung, der die Menschenrechte und die Würde des Menschen zugrunde liegen: „Auch wir wurden getroffen.“ (Der Tagesspiegel, 14.09.2001) Bei zivilisiert handelt es sich erneut um ein Hochwertwort, das im gegebenen Kontext eine spezifische Welt attribuiert, nämlich einen unbestimmten Teil der globalen Population, die das Merkmal ZIVILISIERTHEIT trägt. Das freiheitliche Gesellschaftssystem fungiert dabei ebenfalls als eine Personengrup- <?page no="102"?> Jan-Henning Kromminga 102 penbezeichnung mit positiver Bewertungszuschreibung. Durch das inklusive wir ordnet sich der Textproduzent selbst, respektive Klaus Wowereit und der ihn zitierende Journalist, 6 sowie die Angesprochenen dem Kollektiv der zivilisierten, freiheitlichen Menschen zu. Es finden also Wir-Gruppen- Konstruktionen statt (vgl. Tajfel 1981, Hausendorf 2000, Grad/ Rojo 2007), bei denen die Ingroup zugleich explizit aufgewertet wird. Die Verursacher der Anschläge werden im gleichen Prozess ausgegrenzt. 7 Die assertive Äußerung Auch wir wurden getroffen expliziert zudem, dass die so formierte Wir-Gruppe zugleich als ANSCHLAGSOPFER aufgefasst werden kann. Die Textproduzenten nehmen bezüglich 9/ 11 für sich und ihre Zuhörer die Opferperspektive in Anspruch. Zusätzlich wird zur Solidarität mit den USA und ihrer Bevölkerung aufgerufen (s. 12), die also weiterhin als primäres, aber nicht alleiniges Anschlagsopfer angesehen werden können, da nicht nur sie, sondern auch „Wir“ angegriffen wurden. Im Stichproben-Korpus findet sich interessanterweise aber ebenso eine Äußerung, in der einer solchen Hypertrophie der Opferrolle widersprochen und vielmehr die bereits thematisierte Formulierung der zerstörten Gebäude als Symbole verwendet wird (s. Punkt 3.2), vermittels derer nur die USA angegriffen wurden: (14) Hamburger Abendblatt: Ist der Angriff vom 11. September ein Angriff auf unsere Zivilisation? Peter Scholl-Latour: Es war ein Angriff auf die Symbole der amerikanischen Macht, das Pentagon, das die militärische Macht verkörpert, und das World Trade Center, das für den amerikanischen Kapitalismus steht. Das sind aus Sicht der Islamisten zwei durchaus klar definierte Ziele. (Hamburger Abendblatt, 23.09.2001) 6 Auffällig ist, dass Politiker diese Formulierungen, die auf Werte-Gemeinschaften referieren, gerne benutzen. Nicht-quantifizierte Korpusuntersuchungen stützen diese Beobachtung. Es lässt sich vermuten, dass dies mit der Sprecher-Position der Berufspolitiker und ihren standardmäßig genutzten persuasiven Strategien zusammenhängt. 7 Dieser auf den ersten Blick möglicherweise trivial wirkende Aspekt ist durchaus bedeutsam, wenn in Erwägung gezogen wird, dass die Anschlagsverursacher ja auch spezifische Gruppen-Zugehörigkeiten tragen und ganz andere, völlig unbeteiligte Mitglieder dieser (religiös, ethnisch o. a. definierten) Gruppen wiederum von Ausgrenzungen betroffen sein können. Dass Über-Generalisierungen und Kollektiv-Attribuierungen schnell zu Diskriminierungen führen können, ist seit langem bekannt. Diese finden sich auch im Diskurs über Terrorismus, vgl. exemplarisch: „Ziel der Rasterfahndung ist es in diesem Fall, unbekannte islamistische Extremisten und Terroristen, die im Verborgenen unter uns leben, zu identifizieren. Das ist eine zweifellos wichtige Aufgabe der Polizei zum Schutz von uns allen; da müssen alle rechtsstaatlichen Möglichkeiten ausgeschöpft werden. Anhand der bisherigen Ermittlungsergebnisse muss ein möglichst genaues Täterprofil erstellt werden, um dadurch zu einem "Raster" zu gelangen. Wenn also Erkenntnisse vorliegen, wonach Angehörige bestimmter ethnischer oder religiöser Gruppen zu den Tatverdächtigen gehören, dann gehören diese Angaben in das Raster, sonst hat die Rasterfahndung keinen Sinn.“ (B.Z., 01.10.2001) <?page no="103"?> Wer wurde am 11.09.2001 angegriffen? 103 Im Vergleich zu den vorherigen Textbeispielen findet hier eine relativierende Evaluierung der Anschläge statt, indem nicht nur die oben thematisierte Ausweitung der Opferperspektive angefochten, sondern auch im Modell einer anti-amerikanischen Argumentation den Anschlägen und der Zielauswahl Legitimität zugestanden wird. Diese Haltung Peter Scholl- Latours ist aber in der Berichterstattung direkt nach den Anschlägen eher marginal. Es dominieren Solidaritätsbekundungen mit den USA, stark negative Evaluierungen der Anschläge und explizite Distanzierungen von den Tätern. Die Erweiterung der Opferperspektive auf spezifische, diskursiv etablierte Ingroups, die diejenigen Merkmale tragen, die zu den terroristischen Akten komplementär stehen, ist eine weitere Strategie, die in der Stichprobe mit 7,5 % in nicht unerheblichem Maße vorkommt. Im Gesamt- Korpus steht diese Strategie mit einer weiteren Formulierung in engem Konnex, die im nächsten Punkt 3.4 diskutiert werden soll. 3.4 Anschlagsgeltung und der „Kampf der Kulturen“? Diese Tendenzen zur Konstruktion sehr umfangreicher, sozusagen hyperextensiver Kollektive zeigen sich noch stärker, wenn die Geltung der Anschläge betrachtet wird: Wem galt 9/ 11? (15) Diese Anschläge galten nicht Amerika allein, nicht dem Herzen der kapitalistischen Welt. Sie galten uns allen. (Die Welt, 19.09.2001) (16) Der Angriff galt nur vordergründig den USA, er galt der gesamten westlichen Zivilisation. Mindestens 100 Deutsche, mindestens sechs Berliner waren unter den Opfern. (Die Welt, 27.09.2001) (17) Die Terrorakte vom 11. September galten der ganzen zivilisierten Welt, und die Anschläge richteten sich nicht nur gegen Amerika. Und deswegen ist es so ungeheuer wichtig, dass wir uns alle gemeinsam zur Wehr setzen. (B.Z., 14.10.2001) Diese Textstellen, die dem Gesamt-Korpus und nicht dem Stichproben- Korpus für die empirische Untersuchung entnommen sind, enthalten solche verbalen Manifestationen, denzufolge die Anschläge nicht nur den USA, sondern über sie hinausgehend solchen Kollektivkonstruktionen galten, die die Textproduzenten und andere Diskursteilnehmer miteinschließen. In (15) wird dies ausformuliert durch die pronominale Phrase uns allen als Verbalisierung des Geltungsbereiches der Anschläge. Zusätzlich wird die oben thematisierte Körpermetaphorik verwendet und nun die USA ALS HERZ DER KAPITALISTISCHEN WELT konzeptualisiert. In (16) wird die Geltungsausdehnung mit der Herkunft der Todesopfer der Anschläge begründet und zugleich dieser Rekurs auf Staatsangehörigkeit (Deutsche) und Wohnbeziehungsweise Geburtsort (Berliner) der Getöteten als Instanziierungen einer westlichen Zivilisation vermittelt. Das Textbeispiel (17) zeigt die <?page no="104"?> Jan-Henning Kromminga 104 Explikation einer Handlungsaufforderung, die sonst zumeist über Implikaturen vermittelt wird, nämlich sich nicht nur gemeinsam als die bei 9/ 11 Angegriffenen zu fühlen, sondern sich auch gemeinsam zur Wehr zu setzen. Angesichts des Zeitpunkts ist ersichtlich, dass hier Zustimmung für die militärischen Aktionen in Afghanistan eingefordert wird, also die Angriffe auf die Taliban und dort postierte Al-Qaida-Kämpfer als notwendige und gemeinsame Reaktion auf 9/ 11 perspektiviert werden. (18) Amerika ist nicht allein verwundet worden. Es hat die westliche Welt, es hat uns alle getroffen. (Die Welt, 12.09.2001) Beispiel (18) verdeutlicht die Zuschreibung der Opferrolle an die als WEST- LICHE WELT konzeptualisierte Ingroup. Die Verwundung und das Getroffen- Sein intensivieren die Viktimisierung der Wir-Gruppe. Diese Diskursbeiträge stehen in großer Nähe zu dem Konzeptualisierungsmuster eines KAMPFES DER KULTUREN. Unter dieser von Samuel Huntington popularisierten und vielfach kritisierten Wendung (vgl. Huntington 1996, zur Kritik s. u. a. Ça lar 2002, Hesse 2002, Sen 2007, für eine kontroverse Aktualisierung der Thesen s. Tibi 1998) werden im Allgemeinen Prophezeiungen globaler Konflikte von sehr umfangreichen, aber in sich homogenen Gemeinschaften 8 verstanden, im Speziellen ein Konflikt zwischen dem Westen und dem Islam. Die beiden folgenden Belege stehen exemplarisch für diese Ansicht: (19) Stattdessen [statt Kommunikationsüberwachung als alleiniger Anti- Terror-Maßnahme, Anm. JHK] ist es nötig, ernsthaft die historischen, kulturellen, religiösen Welten zu begreifen, die dem Westen entgegengesetzt sind. Der „Clash of Civilizations“ (Samuel Huntington) ist blutige Realität. Die Nato, namentlich Deutschland, wird sich den neuen Bedrohungen stellen müssen, weit mehr als bisher. (Die Welt, 12.09.2001) (20) Eine italienische Journalistin erregte Aufruhr, als sie den Westen offen aufforderte, sich gegen Islamisten zu wehren, da nun die Entscheidung anstehe, „wir oder sie“. Welche Strategie sollte der westliche Kulturkreis verfolgen, um sich zu verteidigen? (Focus, 26.09.2001) In (19) wird der Zusammenstoß der Zivilisationen nicht nur als real dargestellt, sondern auch durch das zu einem enorm hohen Emotionspotenzial beitragende Adjektiv blutig als dramatisches, gewaltvolles Ereignis kategorisiert. Der Textproduzent in (20) lässt noch offen, auf welche Weise der Kulturkampf ausgetragen werden soll, und fragt explizit nach defensiven Handlungsoptionen. Grundlegend für das Abwägen verschiedener Verteidi- 8 Worin diese Gemeinschaften bestehen, wodurch sie sich bilden, wie kohärent sie agieren, ist bei Huntington uneindeutig bzw. ambivalent. <?page no="105"?> Wer wurde am 11.09.2001 angegriffen? 105 gungsstrategien sind die Konzeptualisierungen, die Wir-Gruppe sei zum einen ein von einheitlichen Interessen geleiteter Akteur und befinde sich zum anderen in der Position des Angegriffenen und fortgesetzt Bedrohten. Die von der italienischen Journalistin vorgebrachte Aufforderung zu militärischen Aktionen wird zwar distanzierend referiert, die anschließende Fragestellung verdeutlicht aber, dass die Präsuppositionen und Prämissen dieses imperativen Sprechakts, der Westen müsse sich verteidigen, weil er angegriffen und bedroht werde, gestützt werden. Die in Punkt 3.3 beschriebene Konstruktion einer positiv evaluierten, wesenshaft spezifische Werte teilenden Gemeinschaft, die bei den 9/ 11- Anschlägen angegriffen wurde, erweist sich als kompatibel mit der Konzeptualisierung einer WESTLICHEN KULTUR, die als Wir-Gruppe in einem Konflikt mit dem Islam stehe. 9 Selbstverständlich handelt es sich hierbei um stark abstrahierende und homogenisierende Gruppen-Konstruktionen, deren Erklärungsanspruch für real auftretende globale Konstellationen und Prozesse sehr zweifelhaft ist und nur im Rahmen einer politischen Positionierung aufrechtzuerhalten ist. Im 9/ 11-Diskurs ist jedoch auffällig, dass die Produktion einer kollektiven Identität selten reflektiert und die Existenz des Westens als Wir- Gruppe selten angezweifelt wird. 10 Auch wenn kein offener Konflikt zwischen dem Islam und dem Westen artikuliert wird, werden die hyperextensiven Kollektive hypostasiert. (21) Oberflächlich betrachtet hat die westliche Kultur den Rest der Welt infiltriert. Grundsätzlich jedoch unterscheiden sich westliche Vorstellungen ganz entscheidend von denen anderer Kulturen. (Die Welt, 22.09.2001) 9 „Der Westen“ ist zweifelsohne eine schillernde Konstruktion mit komplexen diskursiven Implikationen, die mannigfaltigen Perspektivierungen und Evaluierungen unterliegt. Hier ist nicht der Ort dieses Phänomen ausführlich zu diskutieren, das soll stattdessen im Rahmen eines Dissertationsprojekts geschehen; hier soll vielmehr der Konnex zwischen der mehrdimensionalen Konzeptualisierung der 9/ 11-Anschläge inklusive der Opferrollen-Zuschreibung und der Etablierung spezifischer Wir-Gruppen nachgezeichnet werden. 10 Bisher war die Rede nur von Gruppen-Konstruktionen und nicht von Identitätskonstruktionen. Das Verhältnis beider zueinander ist häufig unklar und wird in der Forschung nicht einheitlich behandelt (zu Identitätsbegriffen und -bildungsprozessen vgl. Tajfel 1981, Hall 1994, Grad/ Rojo 2008). Hier wird der Prozess der Gruppen- Konstruktion als elementar angesetzt, der selbstverständlich von der Formierung der personalen Identität abzutrennen ist, der Bildung kollektiver Identitäten jedoch immer vorausgeht. Kollektive Identitäten können dann als diejenigen Gruppen angesehen werden, die als signifikant erachtet und mit irgendeiner Form von Bedeutsamkeit aufgeladen werden; im Gegensatz zu jeder potenziell bildbaren, kontingenten Gruppe von Personen. <?page no="106"?> Jan-Henning Kromminga 106 (22) Das heißt, die westliche Zivilisation kann nicht darauf hoffen, dass die „Universalität“ der eigenen Werte sich durch den Globalisierungsprozess automatisch durchsetzt. Vielmehr muss sie sich auf einen intensiven Dialog mit den nicht-westlichen Kulturen des Islams, des Hinduismus und Chinas einstellen. (Handelsblatt, 25.09.2001) Die beiden Textbeispiele zeigen Personifizierungen der westlichen Kultur/ Zivilisation, die als handelnder, als infiltrierender, hoffender und einen Dialog führender Akteur charakterisiert wird. Diese Metonymien sind bereits in der Formulierung vom Kampf der Kulturen angelegt. Aus pragmatischer Perspektive betrachtet handelt es sich hierbei um eine Existenzpräsupposition, da eine sinnvolle Rezeption der Phrase Kampf der Kulturen, die man auch als ontologische Metapher (vgl. Lakoff/ Johnson 1980, Skirl/ Schwarz-Friesel 2 2013: 38) bestimmen kann, nur dann möglich ist, wenn die Existenz solcher Kulturen vorausgesetzt wird; andernfalls wird die Äußerung der Phrase unsinnig. Es kann festgehalten werden, dass im Diskurs über die 9/ 11-Anschläge solche kollektiven Identitäten produziert werden, die eine sehr weite Ausdehnung über große Teile der Menschheit haben und sich in das Konzeptualisierungsmuster global konfligierender, klar abgrenzbarer Personengruppen einfügen lassen. Sprachlich vermittelt wird die entsprechende Wir- Gruppe u. a. als westliche Kultur/ Zivilisation. Zugleich wird genau dieser Ingroup die Opferrolle zugeschrieben, indem ihr die Anschläge eigentlich galten, ihre Mitglieder sich also als die bei 9/ 11 Angegriffenen fühlen sollen. 4 Fazit In diesem Beitrag wurden spezifische Referenzialisierungen im deutschsprachigen Diskurs über die Terroranschläge vom 11. September 2001 im Hinblick auf die durch sie vermittelten Konzeptualisierungen untersucht. Anhand einer repräsentativen Korpusanalyse der medialen Berichterstattung nach 9/ 11 wurden die Verbalisierungen von Anschlagszielen und Viktimitätszuschreibungen ermittelt. Der Fragenkomplex „Wer wurde angegriffen? Was wurde getroffen? Wem galten die Angriffe? “ wurde in seinen verbalen Ausprägungen und Akzentuierungen elaboriert. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass am häufigsten die USA als die Angegriffenen und die als hoch signifikant perspektivierten Gebäude des World Trade Center und des Pentagon als die getroffenen Objekte genannt werden. Zahlenmäßig nicht unerheblich tauchen in der Opferrolle solche Gemeinschaften auf, die als einheitliche Träger positiv bewerteter Merkmale dargestellt werden und die die Diskursbeteiligten umfassen. Diese aufgewerteten Wir-Gruppen treten noch deutlicher in Erscheinung bei der diskur- <?page no="107"?> Wer wurde am 11.09.2001 angegriffen? 107 siven Verhandlung der Anschlagsgeltung. Hierbei wird differenziert zwischen Entitäten, die offensichtlich angegriffen und getroffen wurden, und solchen, bei denen dies zwar nicht der Fall ist, die aber trotzdem eine gewisse „Opfer“-Zuschreibung erhalten. Die Personen, die dem Geltungsbereich terroristischer Anschläge zugeteilt werden, sollen sich als die Angegriffenen empfinden, sich mit den direkt Betroffenen identifizieren, sich eindeutig und entschieden gegen Terroristen positionieren und sich mit den Gegenmaßnahmen des eigenen Kollektivs solidarisieren. Dies dient nicht nur der Vermittlung klarer Abgrenzungen zwischen Angegriffenen und Angreifern, sondern vor allem auch der Produktion und Zuteilung von Empathie entlang dieser Gruppengrenzen. 11 In der Diskursformation der Anschlagsgeltung finden sich Argumentationen, die dem Konzeptualisierungsmuster des KAMPFES DER KULTUREN entsprechen und die DIE WESTLICHE WELT als kollektives Selbst und als Anschlagsopfer charakterisieren. Die Thesen Samuel Huntingtons finden nicht erst 2001 Eingang in den kultur- und globalpolitischen Diskurs, sondern erleben seit ihrer Publikation 1996 jeweils im Anschluss an Aktionen islamistischer Terroristen, wie den Anschlägen auf US-Botschaften in Nairobi und Daressalam 1998, große mediale Resonanz. Der 11. September 2001 stellt jedoch in vielerlei Hinsicht ein besonderes Ereignis dar, in dessen Bewältigung die Annahme kulturell determinierter, feindseliger Menschheitsblöcke ganz neue Prominenz erlangt. Bemerkenswerterweise sind diese Annahmen mental robuster als die daraus abzuleitenden handlungsorientierten Schlussfolgerungen; auch wenn im Diskurs vor einer militärischen Eskalation gewarnt wird, bleibt die Etablierung homogener, identifizierbarer Konfliktparteien stabil. Die beschriebenen Phänomene weisen Interdependenzen auf und scheinen sich gegenseitig zu forcieren: Die diskursive Strategie der Ausdehnung der Opferperspektive auf spezifische Werte-Gemeinschaften, die zugleich zur negativ intensivierenden Bewertung der Anschläge beiträgt, findet Anknüpfungspotenzial an Konzeptualisierungen von jenen kollektiven Identitäten, die durch die Diskussion eines Kulturkampfes aktualisiert werden. Die kognitive Präsenz einer umfangreichen, aufgewerteten Ingroup in Ge- 11 Dass bei der Verarbeitung von Gewalthandlungen die Emotionalisierung von Personen dann stärker ist, wenn die Opfer zur eigenen Ingroup gezählt werden, und dementsprechend textuell oft eine Identifikationsbasis für Rezipienten hergestellt wird, bildet die Grundlage für verschiedene persuasive Strategien der (Massen-)Medien (vgl. hierzu auch Schwarz-Friesel 2 2013: 224 ff.). Am ersten Tag nach den 9/ 11-Anschlägen lautet die Überschrift des Kommentars des Bild-Chefredakteurs Kai Diekmann „Kriegserklärung an die Menschheit“ (Bild, 12.09.2001, Seite 1): Je größer die Gruppe der Angegriffenen, desto stärker werde die emotionale Reaktion innerhalb dieser Gruppe sein. <?page no="108"?> Jan-Henning Kromminga 108 stalt des Westens verstärkt wiederum die Emotionalisierung derjenigen, die sich zu dieser Gruppe mit Opferstatus hinzuzählen können. Es sollte deutlich geworden sein, dass die Konstruktion spezifischer Wir- Gruppen diskursprägend ist, diese explizit positiv evaluierten Ingroups die Leser deutschsprachiger Medien mit den Betroffenen der terroristischen Anschläge zusammenbringen und zur Solidarisierung beitragen sollen. Die freie, friedliche, zivilisierte Gemeinschaft der Angegriffenen wird im diskursiven Kontext als die westliche Welt identifiziert und funktional aufgewertet. Die Zuschreibung des Opferstatus spielt somit im Rahmen der kognitivemotiven Verarbeitung und Konzeptualisierung der 9/ 11-Anschläge eine eminent wichtige Rolle. 5 Bibliographie Botz, G., 1998. Opfer/ Täter-Diskurse. Zur Problematik des „Opfer“-Begriffs. In: Diendorfer, G. (Hg.), 1998. Zeitgeschichte im Wandel. 3. Österreichische Zeitgeschichtetage 1997. Innsbruck, Wien: Studien-Verlag, 223-236. Bougher, L., 2012. The Case for Metaphor in Political Reasoning and Cognition. In: Political Psychology 33, 1, 145-163. Ça lar, G., 2002. Der Mythos vom Krieg der Zivilisationen. Der Westen gegen den Rest der Welt. Münster: Unrast. Fairclough, N., 1995. Critical discourse analysis. The critical study of language. London: Longman Group. Girnth, H., 2002. Sprache und Sprachverwendung in der Politik. Eine Einführung in die linguistische Analyse öffentlich-politischer Kommunikation. Tübingen: Niemeyer (= Germanistische Arbeitshefte 39). Grad, H./ Rojo, L., 2007. Identities in discourse. 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Deutsche Satzsemantik. Grundbegriffe des Zwischen-den-Zeilen- Lesens. Berlin: de Gruyter. Waldmann, P., ²2005. Terrorismus. Provokation der Macht. Hamburg: Murmann. Warncke, I., 2007. Diskurslinguistik nach Foucault. Theorie und Gegenstände. Berlin, New York: de Gruyter. Wodak, R./ De Cilia, R., 2010. Diskurs - Politik - Identität. Tübingen: Stauffenburg. <?page no="111"?> Alexander Spencer Bild er der Gewalt: 9/ 11 in der Boulevardpresse 1 Einleitung Der Einfluss der Medien auf die öffentliche Meinung ist nicht nur wissenschaftlich, sondern auch in der politischen Praxis gerade bei gesellschaftlich und politisch relevanten Themen wie Terrorismus zunehmend anerkannt (Herron/ Jenkins-Smith 2006, Woods 2007). 1 Nichtsdestotrotz wurde die Rolle von Sprache und Diskurs in der Konstruktion des ‚Terroristen‘ durch politische Eliten hingegen bis vor kurzem nur selten adressiert (Jackson 2005, Jarvis 2009), während die linguistische Darstellung und Metaphorisierung von Terrorismus durch und in den Medien bislang beinahe gänzlich unbeachtet blieb (Hülsse/ Spencer 2008, Spencer 2010, Schwarz-Friesel/ Skirl 2011). Das folgende Kapitel fragt daher nach den Folgen gewisser Darbietungsformen von Wissen über Terrorismus in der größten Boulevardzeitung Deutschlands, der Bild, und untersucht, wie eine bestimmte Sprachwahl die öffentliche Wahrnehmung beeinflussen kann. Im Fokus steht hierbei die Metapher als linguistisches Stilmittel und es soll gezeigt werden, wie metaphorische Konstruktionen von Terrorismus nach 9/ 11 bestimmte Gegenmaßnahmen ermöglichen, während andere außer Acht gelassen werden, da sie unsinnig erscheinen. Aufbauend auf Ansätze der Kognitiven Linguistik wird im Folgenden eine Analyse der in der Bild-Zeitung im Zusammenhang mit Terrorismus verwendeten Metaphern durchgeführt und fünf verschiedene, konzeptuelle Verständnisformen identifiziert: Terrorismus als Krieg; Terrorismus als ein Verbrechen; Terrorismus als unzivilisiertes Böses; Terrorismus als natürlich sowie Terrorismus als eine Krankheit. Was hier aufgezeigt wird, ist, dass mediale Metaphern nicht nur Wirklichkeit beschreiben, sondern gleichzeitig aktiv an der Konstruktion eines Weltbildes teilnehmen, das wir wahrnehmen, reflektieren und auf das wir reagieren. Durch die Projektion von Verständnisinhalten eines bestimmten, konzeptuellen Sachbereiches, wie beispielsweise Krieg, auf einen anderen, wie Terrorismus, tragen Metaphern dazu bei, manche Maßnahmen gegen Terrorismus als angemessen erscheinen zu lassen, während andere als unangemessen oder irrelevant verworfen werden. 1 Teile dieses Beitrags sind erschienen in Spencer (2011). <?page no="112"?> Alexander Spencer 112 Im ersten Teil des folgenden Kapitels wird zunächst über den gebräuchlichen Begriff der Metapher in der Politikwissenschaft reflektiert, die Funktionen von Metaphern erläutert und darauf aufbauend die hier gewählte Methode der Metaphernanalyse näher ausgeführt. Im zweiten Teil wird diese Methode auf das empirische Beispiel des boulevardmedialen Diskurses in der Bild-Zeitung angewendet, wobei die fünf verschiedenen konzeptuellen Metaphern herausgearbeitet werden. Neben der Identifizierung und Darstellung dieser metaphorischen Konzepte sollen ergänzend mögliche Folgen der Nutzung dieser Metaphern aufgezeigt werden, da sie der Konstruktion von Wirklichkeit eine bestimmte Richtung geben und dadurch beitragen, dass manche Anti-Terror-Maßnahmen als geeigneter im Kampf gegen den Terrorismus angesehen werden als andere. Im dritten und letzten Teil schließlich soll kurz auf mögliche Erklärungen der unterschiedlichen Nutzung von Metaphern eingegangen werden. 2 Metaphernanalyse in der Politikwissenschaft Metaphernanalyse ist eine der in der Politikwissenschaft am häufigsten genutzten Methoden der Diskursanalyse und auch in den Internationalen Beziehungen wird ihr Nutzen zunehmend anerkannt (Chilton 1996a, Milliken 1996, Campbell 1998). So gibt es eine ganze Reihe von Analysen verschiedenster Themen der internationalen Politik wie beispielsweise zur Europäischen Integration (Chilton/ Ilyin 1993, Hülsse 2003, Drulák 2006), zur Einwanderungs- (O’Brian 2003, Charteris-Black 2006) und Sicherheitspolitik (Thronborrow 1993, Chilton 1996b). Die Grundidee der hier angewendeten Metaphernanalyse basiert auf einem kognitiv-linguistischen Verständnis von Metaphern, wie es prominent von George Lakoff und Mark Johnson (1980) formuliert wurde. Im Gegensatz zu einem rein rhetorischen Verständnis von Metaphern betont ein kognitiv-linguistisches die Wichtigkeit von Metaphern für unser Denken und Verstehen der Welt (Lakoff/ Johnson 1980: 297). Metaphern sind Hilfsmittel, um zu vereinfachen und um komplexen und verwirrenden Observationen Bedeutung zuzuweisen. Wie Lakoff und Johnson (1980) betonen, können Metaphern Menschen dazu bringen, einen konzeptionellen Erfahrungsbereich im Sinne eines anderen zu verstehen, indem sie Wissen über den ersten, vertrauten Bereich auf einen zweiten, abstrakteren Bereich übertragen. Auf diese Weise projizieren Metaphern einen Herkunftsbereich, zum Beispiel Krieg, auf einen Zielbereich, zum Beispiel Terrorismus, und lassen somit den Zielbereich in einem neuen Licht erscheinen. Hier müssen zwei Arten von Metaphern unterschieden werden: Konzeptionelle Metaphern und metaphorische Ausdrücke. Konzeptionelle Metaphern (wie TERRORISMUS IST KRIEG) beinhalten eine abstrakte Verbin- <?page no="113"?> Bilder der Gewalt: 9/ 11 in der Boulevardpresse 113 dung zwischen einem konzeptionellen Bereich und einem weiteren (Lakoff 1993: 208-209). Folglich bringen Konzeptionelle Metaphern uns quasi automatisch dazu, Wissen aus einem Herkunftsbereich auf einen anderen Zielbereich zu übertragen und anzuwenden (Kövecses 2002: 6). Konzeptionelle Metaphern müssen dabei nicht unbedingt direkt im Diskurs sichtbar sein; sie stellen vielmehr die konzeptuelle Basis oder Idee, die den Metaphorischen Ausdrücken zugrunde liegt (Charteris-Black 2004: 9). Metaphorische Ausdrücke hingegen sind die unmittelbar sichtbaren Metaphern, die direkt im Text zu finden sind. Insgesamt strukturieren Metaphern die Art, auf die Menschen bestimmte Phänomene definieren, und beeinflussen dadurch auch die Reaktion auf diese Phänomene (Lakoff 1992: 481, Chilton/ Lakoff 1999: 56). Metaphern limitieren und beeinflussen unsere Handlungsmöglichkeiten, da sie auf die Herausbildung grundlegender Annahmen und Einstellungen einwirken, von denen wiederum unsere Entscheidungen abhängen (vgl. Chilton 1996a, Milliken 1996, Mio 1997). Während manche glauben, dass durch Metaphernanalyse versteckte Interessen, Ideologien und Absichten aufgedeckt werden können (Fairclough 1992, Charteris-Black 2004), interessieren sich Andere mehr für die ‚Realitäten’ und Politiken, die aus dem Gebrauch bestimmter Metaphern folgen (Tonkiss 1998, Hülsse 2003, 2006). Bei der Annahme, dass Metaphern Politiken ‚verursachen’, ist jedoch Vorsicht geboten (Anderson 2004). Es ist quasi unmöglich, ‚Kausalität’ aufzuzeigen, und daher ist es unerlässlich zu betonen, dass Metaphern Politikmaßnahmen nicht in einem positivistischen Sinne verursachen (Beer/ Landtsheer 2004: 7). Somit können Metaphern auch nicht in einem klassischen Wirkungszusammenhang als abhängige und unabhängige Variablen systematisiert werden, sondern sie eröffnen und verschließen Handlungsmöglichkeiten (Shimko 1994: 665). Da Metaphern Realität in einer bestimmten Art und Weise konstruieren, definieren sie die Grenzen von „gesundem Menschenverstand“, die Grenzen von dem, was als möglich und logisch und was als unmöglich und absurd erachtet wird (Hülsse 2003: 225). 3 Konstruktion von Terrorismus in der Bild-Zeitung Während einige Metaphernanalysen sich hauptsächlich mit Diskursen politischer Eliten befassen (Hülsse 2003, Ferrari 2007), so interessieren sich andere überwiegend für mediale Diskurse (Pancake 1993, Flowerdew/ Leong 2007). Dieser Aufsatz wendet sich dem populären Diskurs in den Medien zu und analysiert zu diesem Zweck die deutsche Bild-Zeitung. Die zentrale Annahme dahinter ist, dass populäre Medien und insbesondere die Boulevardpresse Einsichten in ein sozial weit verbreitetes Verständnis von Terrorismus geben können. Da nur eine sehr begrenzte Zahl von Leuten Parla- <?page no="114"?> Alexander Spencer 114 mentsdebatten oder Politikerreden verfolgen, beziehen die meisten Menschen ihre Informationen über die Welt aus den Medien. Natürlich werden die Medien wiederum durch Äußerungen von Eliten beeinflusst, jedoch ist dieses Verhältnis reziprok und es wird weithin akzeptiert, dass besonders Zeitungen wie die Bild einen sehr großen Einfluss auf die öffentliche Meinung und die politische Agenda haben (Alberts 1972, Klein 2000). Insgesamt kann eine Metaphernanalyse des populären Mediendiskurses also als guter Indikator für das allgemein geteilte soziale Verständnis von politischen Phänomenen wie zum Beispiel Terrorismus angesehen werden. Die folgenden Abschnitte präsentieren die Ergebnisse einer Metaphernanalyse der Bild-Zeitung zwischen 2001 und 2005 und deuten an, wie Metaphern bestimmte Handlungsoptionen als logisch eröffneten, während sie andere als unsinnig verschlossen. Die Analyse konzentriert sich jeweils auf einen Zeitraum von einem Monat nach vier verschiedenen Terrorangriffen: der 11. September 2001, die Bombenangriffe auf Bali im Jahr 2002, die Anschläge auf die Züge in Madrid 2004 sowie die Selbstmordangriffe auf die Londoner U-Bahnen 2005. 2 Hierbei identifizierte die Analyse des Diskurses fünf verschiedene konzeptionelle Metaphern: TERRORISMUS IST KRIEG; TERRORISMUS IST VERBRECHEN; TERRORISMUS IST NATÜRLICH; TERRORISMUS IST UNZIVILISIERT UND BÖSE und TERRORISMUS IST KRANKHEIT. 3.1 Terrorismus als Krieg Im Diskurs wurde das Verständnis von Terrorismus als Krieg besonders nach 9/ 11 zu einer weit verbreiteten metaphorischen Konstruktion (Smith 2002). Außer den klassischen Ausdrücken wie „Krieg gegen den Terror“ findet man viele metaphorische Ausdrücke, die die Anschläge als Kriegshandlung begreifen. Hier wird zum Beispiel eine Verbindung zum 2. Weltkrieg hergestellt, indem 9/ 11 mit „Pearl Harbor“ (Bild, 12.09.2001, 1) verglichen wird (vgl. Weller 2005), oder die Attacken als „Kamikaze-Angriffe“ (Bild, 12.09.2001, 5) durch „Kamikaze-Attentäter“ (Bild, 13.09.2001, 4) metaphorisiert werden. Dieses Verständnis von Terrorismus als Krieg wird bei allen Ereignissen weiter verstärkt durch Metaphern, welche Terroristen als „Al Qaida-Krieger“ (Bild, 15.03.2004, 3) oder „Terror-Kommandos“ (Bild, 15.09.2001, 1) in einer „Terroristen Armee“ (Bild, 14.09.2001, 2 f.) konstruieren, die nicht nur aus „Soldaten“ (Bild, 08.10.2001, 3) sondern auch aus „kampferfahrenen“ (Bild, 15.09.2001, 5) „Veteranen“ (Bild, 14.09.2001, 2 f.) besteht. Die Anschläge werden als „Kriegserklärung“ (Bild, 25.09.2001, 2) an die westliche „Allianz“ (Bild, 25.10.2002, 2) verstanden. Analog dazu befindet man sich auf einem „Schlachtfeld“ (Bild, 14.10.2002, 8) oder in einem 2 Der Zeitrahmen von einem Monat wurde gewählt, da weitere Analysen über diesen Zeitrahmen hinaus keine neuen konzeptionellen Metaphern hervorbrachten. <?page no="115"?> Bilder der Gewalt: 9/ 11 in der Boulevardpresse 115 „Kriegsgebiet“ (Bild, 22.11.2003, 2). In der Manier eines Generals „kommandier[en]“ (Bild, 17.03.2004, 2) Osama bin Laden und seine „Terror-Strategen“ (Bild, 06.10.2001, 2), von „Kommandozentralen“ (Bild, 08.10.2001, 1) aus werden „Befehle“ (Bild, 13.09.2001, 4) an „Terror-“ (Bild, 28.09.2001, 2) oder „Kampftruppen“ (Bild, 25.10.2002, 2) gegeben. Er „kommandiert“ (Bild, 22.11.2003, 2) eine „Privat-Armee“ (Bild, 19.09.2001, 4), besitzt ein großes Waffen-„Arsenal“ (Bild, 19.09.2001, 2) und versteckt sich in „getarnte[n]“ (Bild, 21.11.2003, 10) „Stützpunkte[n]“ (Bild, 21.09.2001, 2) in Afghanistan. Alle diese metaphorischen Ausdrücke basieren auf der Konzeptionellen Metapher TERRORISMUS IST KRIEG. Laut Keith Shimko (1995: 79) sind die Gründe für die metaphorische Beliebtheit von ‚Krieg’ einfach: Erstens ist Krieg ein weit und einfach zugängliches Konzept, das jeder kennt. Zweitens ist ‚Krieg’ ein mehrschichtiges Phänomen, in dem es viele unterschiedliche Aspekte und Dimensionen gibt, entlang denen etwas wie Krieg sein kann. Welche Handlungsoptionen jedoch eröffnet nun dieses Verständnis von Terrorismus als Krieg? Ein Beispiel ist der finanzielle Aufwand; im Krieg werden viele Mittel in Kriegsanstrengungen investiert. Wie Susan Sontag (1989: 99) betont, ist Krieg eine der wenigen Aktivitäten, bei denen Staaten nicht so sehr auf die finanziellen Kosten achten. Krieg ist eine Ausnahmesituation, in der alles für den Sieg mobilisiert wird. Des Weiteren werden Kriege meist gegen eine andere Nation ausgetragen, die Sicherung und Befestigung der eigenen Grenzen in einer solchen Situation macht also Sinn. Bewohner des feindlichen Territoriums sind automatisch suspekt und werden anders behandelt als die eigene Bevölkerung. Der Ausnahmezustand von Krieg verlangt nach einer Reduzierung der Gewaltenteilung und es ist unausweichlich, dass bürgerliche Rechte zugunsten des Sieges eingeschränkt werden müssen (Shimko 1995). Eine Kriegsmetapher vereinfacht also den Sachverhalt, auf den sie projiziert wird; das Problem wird überschaubar, indem es darauf reduziert wird, den Feind zu besiegen und den Krieg zu gewinnen. Die Suche nach den zugrunde liegenden Ursachen wird diskreditiert und Kritik wird als unpatriotisch, feige und verräterisch verstanden (Hartmann-Mahmud 2002: 429). Die offensichtlichste Forderung dieser Art von Konstruktion ist eine militärische Reaktion (Simon 1987: 9). Wenn ein Land sich im Krieg befindet, muss es militärisch auf Angriffe reagieren, eine konzeptionelle Kriegsmetapher lässt also eine militärische Reaktion logisch erscheinen. Metaphorische Ausdrücke in der Bild wie ‚Terrorarmee’ oder ‚Soldat’ projizieren den Herkunftsbereich ‚Krieg’ auf den Zielbereich ‚Terrorismus’ und konstruieren dadurch den Konflikt mit Al Qaida als einen Krieg, der lediglich durch militärische <?page no="116"?> Alexander Spencer 116 Mittel, wie zum Beispiel den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan und die Operation Enduring Freedom, gewonnen werden kann. 3 3.2 Terrorismus als Verbrechen Eine zweite Konzeptionelle Metapher, die man in der Bild häufig findet, konstruiert Terrorismus als Verbrechen. Der Terrorist ist also nicht nur ein „Soldat“, sondern auch ein „Verbrecher“ (Bild, 08.07.2005, 3), und die „Al Qaida-Armee“ voller „Truppen“ ist auch eine „Bande“ (Bild, 08.07.2005, 4) voller „krimineller“ (Bild, 17.09.2001, 4) „Mörder“ (Bild, 12.03.2004, 1) oder „Killer“ (Bild, 14.07.2005, 8). Die „verbrecherischen Anschläge“ (Bild, 27.03.2004, 2) sind „mörderische“ (Bild, 08.07.2005, 2) „Verbrechen“ (Bild, 25.10.2002, 2), die nicht nur ein „Kriegsgebiet“, sondern auch einen „Mord“ (Bild, 23.10.2002, 7) -„Tatort“ (Bild, 14.10.2002, 9) hinterlassen. Verantwortlich für diesen „Terrormord“ (Bild, 07.04.2004, 1) sind nicht nur die „Kommandos“, sondern auch die „Täter“ (Bild, 12.09.2001, 1) und ihre „Komplizen“ (Bild, 19.07.2005, 6). Diese metaphorischen Ausdrücke projizieren den Herkunftsbereich VERBRECHEN auf den Zielbereich TERRORISMUS und lassen so den Terroristen in einem besonderen Licht erscheinen. Im Gegensatz zu Krieg ist Verbrechen etwas Alltägliches. Während Krieg einen Anfang und ein Ende hat, ist Verbrechen allgegenwärtig und eine Konstante in fast jeder Gesellschaft. Des Weiteren beinhaltet die Konstruktion von Terrorismus als Verbrechen automatisch ein normatives Urteil. Während das Existenzrecht eines militärischen Gegners prinzipiell anerkannt wird, so ist der Verbrecher immer illegitim (Kappeler/ Kappeler 2004: 176). Während der militärische Gegner uns durchaus ähnlich ist und bestimmte Kriegsregeln befolgt, so ist der Verbrecher hinterlistig. Der Verbrecher hingegen bricht Regeln und muss daher bestraft werden, die Konstruktion von Terrorismus als Verbrechen verlangt also nach juristischen Gegenmaßnahmen (Sederberg 1995: 299 f.). In anderen Worten: Die metaphorische Konstruktion von Terrorismus als etwas Verbrecherisches und dadurch Illegales in der Bild-Zeitung lässt juristische und gesetzliche Gegenmaßnahmen, wie beispielsweise die Sicherheitspakete I und II, angemessen erscheinen. 4 3.3 Terrorismus als natürliches Phänomen Die dritte Konzeptionelle Metapher, TERRORISMUS IST NATÜRLICH, mag zunächst weniger naheliegend erscheinen als die ersten beiden. Hier werden die terroristischen Angriffe als ein „Sturm“ (Bild, 11.10.2001, 1), also als na- 3 Für weitere Information über die militärische Anti-Terror Politik Deutschlands s. Katzenstein (2002), Hyde-Price (2003), Malthaner/ Waldmann (2003). 4 Für zusätzliche Informationen über die juristischen Anti-Terror-Maßnahmen in Deutschland siehe Hein (2004), Lepsius (2004), Beckmann (2007), Mauer (2007). <?page no="117"?> Bilder der Gewalt: 9/ 11 in der Boulevardpresse 117 türliche „Katastrophe“ (Bild, 15.03.2004, 2) metaphorisiert. Es wird von „Attentats-“ (Bild, 24.09.2001, 1) oder „Terrorwellen“ (Bild, 14.10.2002, 8) gesprochen, die nicht nur ein „Kriegsgebiet“ oder einen „Tatort“ hinterlassen, sondern eben auch eine „Katastrophenzone“ (Bild, 08.07.2005, 2). All diese Ausdrücke deuten auf eine Konstruktion, in der Terrorismus als ein natürliches, unausweichliches Phänomen verstanden wird (Lakoff/ Johnson 1980: 145 f., Pancake 1993). Wird Terrorismus beispielsweise als Welle metaphorisiert, dann sind Verhandlungen oder Waffenstillstände von vornherein unsinnig, da eine Welle nicht davon überzeugt werden kann, vom Auftreffen auf die Küste abzusehen. Da sie natürliche Ereignisse sind, sind sie unaufhaltbar, ob sie geschehen oder nicht, entzieht sich jeglicher Einflussnahme. Wenn Terrorismus als Welle verstanden wird, so verlieren die Gründe einer Terrorwelle an Wichtigkeit, da man die physikalischen Gesetze ihrer Entstehung sowieso nicht ändern kann. Es ist unumstritten, dass wir für diese Wellen nicht verantwortlich sind. Da man die Entstehung nicht verhindern kann, macht es bei einem solchen Verständnis von Terrorismus entweder Sinn, Küstenschutzmauern zu verstärken, oder sich auf das unausweichliche Eintreffen der Terrorwelle vorzubereiten, indem man Institutionen wie das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) 5 kreiert und Katastrophenschutzmaßnahmen implementiert, wie zum Beispiel das Gemeinsame Melde- und Lagezentrum (GMLZ), das sowohl Situationen bei Naturkatastrophen wie Überschwemmungen und Stürme aber auch bei terroristischen Angriffen analysiert (Bundesministerium des Innern 2005: 145-146). 3.4 Terrorismus als Unzivilisiertes Böses Als viertes findet man im Diskurs die Konzeptionelle Metapher und das Verständnis von TERRORIMUS IST UNZIVILISIERTES BÖSES. Hier wird der Terrorist zu einem „barbarischen“ (Bild, 15.03.2004, 3) „Bomben- Barbaren“ (Bild, 09.07.2005, 4) und Terrorismus insgesamt wird zur „Barbarei“ (Bild, 13.09.2001, 2), begangen durch „unmenschliche“ (Bild, 13.09.2001, 6) „Terror-Bestien“ (Bild, 14.09.2001, 1). Darüber hinaus wird der Terrorist nicht nur als eine „monströse“ (Bild, 12.09.2001, 6) „Hydra“ (Bild, 12.03.2004, 2) oder ein „Terror-Monster“ (Bild, 22.09.2001, 2) stilisiert, sondern als Inbegriff des „Bösen“ (Bild, 19.09.2001, 5). Der Terrorist wird zum „Teufel“ (Bild, 21.09.2001, 4), der „teuflische“ (Bild, 14.10.2002, 8) „Infernos“ (Bild, 08.07.2005, 2), „apokalyptische“ (Bild, 12.09.2001, 5) „Terror-Höllen“ (Bild, 15.10.2002, 1) oder gar die „Apokalypse“ (Bild, 17.09.2001, 4) selbst verursacht. 5 Siehe z. B. http: / / www.bbk.bund.de/ nn_402322/ DE/ 01__BBK/ BBK__node.html__ nnn=true [letzter Zugriff 23.03.2009]. <?page no="118"?> Alexander Spencer 118 Insgesamt ist die doppelte Konzeptionelle Metapher, die die Herkunftsbereiche ‚unzivilisiert‘ und ‚böse‘ auf den Zielbereich Terrorismus projiziert, nicht besonders überraschend, da das inhärente Phänomen des ‚othering’ von Feinden schon immer Teil von gewalttätigen Konflikten war (Weller 2001, Geis 2006). Aber welche Konsequenzen hat diese Art metaphorischer Ausdrücke? Zum einen schließt eine Konstruktion von Terroristen als „böse“ die Frage nach den Gründen ihrer Aktionen aus. Warum greifen Terroristen an? Die Antwort liegt in diesem Verständnis auf der Hand: Weil sie böse sind. Die Konstruktion von Terrorismus als das Böse marginalisiert somit die Forderungen und politischen Ziele der Gruppe. Die Gründe für Gewalt werden ausgeklammert, da „böse“ Terroristen nicht aus konkreten Motiven heraus angreifen, sondern lediglich aus Spaß am Töten. Das Böse wird zur ultimativen Begründung ihrer Taten und gleichzeitig zur Rechtfertigung extremer Gegenmaßnahmen (Sluka 2009: 145). Des Weiteren wird der Terrorist durch Metaphern wie „Monster“ oder „Bestie“ entmenschlicht und dadurch gewalttätige oder gar tödliche Maßnahmen gegen Terroristen legitimiert, da jeder seit seiner Kindheit weiß, dass das Töten von bösen Monstern etwas Heroisches ist (Ivie 2004: 80). Zudem stellt die Konstruktion von Terrorismus als das Böse eine klare Polarisierung dar, da es in diesem Konflikt nur zwei Seiten geben kann: gut und böse (Lazar/ Lazar 2004). Durch diese binäre Dichotomie wird man selbst automatisch zum Guten, und die Möglichkeit von Neutralität, die bei einer Metaphorisierung des Terroristen als Soldat noch gegeben wäre, wird ausgeschlossen. Akteure müssen sich im Konflikt für die eine oder andere Seite entscheiden (Ivie 2004). So wird auch das Verhandeln ebenso wie jeglicher Dialog mit dem ‚Bösen’ unmöglich, da bekannt ist, was passiert, wenn man einen Handel mit dem ‚Teufel’ eingeht (Abdel-Nour 2004). Dieser Prozess des ‘othering’ und der Polarisierung ist nicht nur Bestandteil der binären Struktur Gut - Böse, sondern auch der Dichotomie Zivilisiert - Barbarisch. Auch wenn Barbaren Menschen sein mögen, sind sie trotz allem minderwertig, weniger wissend und kompetent (Kappeler/ Kappeler 2004: 182). Sie sind primitiv und gewalttätig, Logik und Rationalität sind ihnen fremd, sie verstehen nur die Sprache der Gewalt (Salter 2002: 163). Vor allem aber sind Barbaren eines: nicht von hier! Sie sind von außerhalb, wie der griechische Ursprung des Wortes ‚Barbar’, barbaros, andeutet, sind sie fremd. So konstruieren Metaphern wie „barbarisch“ den Terroristen nicht nur als ‚other’, sondern explizit auch als ausländisch, ohne ihm dabei jedoch eine Nationalität zuzuweisen (Llorente 2002: 45). Es kann also argumentiert werden, dass solche Metaphern im Diskurs das Verständnis von Fremdheit aus dem Herkunftsbereich UNZIVILISIERT auf den Zielbereich TERRORISMUS projizieren und dadurch Gegenmaßnahmen wie strengere Grenzkontrollen, härtere Einwanderungsbestimmungen oder Anti-Terror-Gesetze, beispielsweise Teile des Deutschen Terroris- <?page no="119"?> Bilder der Gewalt: 9/ 11 in der Boulevardpresse 119 musbekämpfungsgesetzes von Januar 2002, die sich explizit auf Ausländer beziehen, logisch erscheinen lassen (Kruse et al. 2003, Diez/ Squire 2008). Sie erscheinen angemessen, die Barbaren vor den eigenen Toren zu halten. 3.5 Terrorismus als Krankheit Die fünfte Konzeptionelle Metapher konstruiert Terrorismus als Krankheit. Hier findet man im Diskurs Metaphern, die Terrorismus als „krank“ (Bild, 12.09.2001, 12), „wahnsinnig“ (Bild, 12.09.2001, 6) oder gar als „Pest“ (Bild, 16.03.2004, 2) beschreiben. Dadurch, dass der Terrorist als ein „irrer“ (Bild, 26.10.2002, 2) „Verrückter“ (Bild, 12.03.2004, 12) metaphorisiert wird, der in seinem „kranken Kopf“ (Bild, 20.03.2004, 12) „Terror-Irrsinn“ (Bild, 25.03.2004, 12) ausheckt, wird der Herkunftsbereich KRANKHEIT auf den Zielbereich TERRORISMUS projiziert. In diesem Zusammenhang argumentiert Ann Mongoven (2006: 413), dass die Assoziation von Terrorismus mit Krankheit dazu beigetragen hat, die hohe Zahl ziviler Opfer im Krieg gegen den Terror zu akzeptieren, da sie als Amputationen gesehen werden, die notwendig sind, um den Körper vor dem „bösartigen Tumor“ des Terrorismus zu schützen. Des Weiteren ist es naheliegend, dass man, ähnlich wie bei den Metaphern „unzivilisiert“ und „böse“, mit einer Krankheit wie dem „Wahnsinn“ bzw. Kranken, also „Wahnsinnigen“, nicht rational reden und verhandeln kann. Während Abmachungen wie zum Beispiel Waffenstillstandsabkommen oder Friedensverhandlungen mit einem als „Soldaten“ verstandenen Terroristen noch möglich sind, erscheinen solche Verhandlungen mit einem „Verrückten“ als sinnlos. Man kann einem Geisteskranken nicht trauen, egal ob es sich um einen „wahnsinnigen“ Soldaten oder einen „irren“ Verbrecher handelt. Wie eine psychologische Studie von Emily Pronin et al. (2006) gezeigt hat, neigen Leute weniger dazu, den Gebrauch von Diplomatie gegenüber Terroristen zu befürworten, wenn diese als irrational dargestellt werden. Zudem könnte man argumentieren, dass viele Krankheiten wie die „Pest“ ansteckend sind und dass Erkrankte daher isoliert und in Quarantäne untergebracht werden sollten, da jeglicher Kontakt mit dem „kranken“ Terroristen die Gefahr von Infektionen birgt (Zulaika/ Douglass 1996: 62). Insgesamt schließt also die Konstruktion von Terrorismus als etwas Krankes die Möglichkeit von Auseinandersetzung und Verhandlungen mit Terroristen, wie zum Beispiel das Versöhnungsangebot von Osama bin Laden im April 2004 6 , als unsinnig und gefährlich aus. 7 Passend dazu verkündete die Bundesregierung zu jener 6 Siehe http: / / news.bbc.co.uk/ 2/ hi/ middle_east/ 3628069.stm. 7 Agence France Press, ‘Germany rejects Bin Laden ‚truce’ offer’, 15.04.2004; Spiegel Online ‘Europa steht zusammen’, 15.04.2004; Frankfurter Rundschau, ‘Bin Laden bietet Frieden; Europäer weisen Angebot ab’, 16.04.2004. <?page no="120"?> Alexander Spencer 120 Zeit: „Mit Terroristen und Schwerverbrechern wie Osama Bin Laden kann es keine Verhandlungen geben“. 8 Abb. 1: Konzeptionelle Metaphern in der Bild 4 Trends und Verschiebungen im Metapherngebrauch Das Kernanliegen dieses Kapitels war es, die metaphorische Konstruktion von Terrorismus darzustellen und zu zeigen, welche Gegenmaßnahmen verschiedene Verständnisse von Terrorismus jeweils logisch und angebracht erscheinen lassen. Im Fokus standen die ‚Realitäten’, die aus einem bestimmten Metapherngebrauch folgen. Eine weitere, hoch interessante Frage, die weiterer Forschung bedarf, ist hingegen die nach dem Ursprung verschiedener Metaphern und den Gründen, warum bestimmte Konstruktionen andere dominieren. Wenn man sich für die ‚Folgen’ einer bestimmten Metapher anstelle einer anderen interessiert, dann ist der nächste logische Schritt der, zu fragen, woher diese Metaphern und die in ihnen enthaltenen Verständnisse kommen. In anderen Worten: Warum war die Konzeptionelle Metapher TERRORISMUS IST KRIEG dominanter als zum Beispiel TERRO- RISMUS IST GESCHÄFT? Oder warum gibt es eine Verschiebung im Ge- 8 Siehe ‘Keine Verhandlungen mit Terroristen’, http: / / archiv.bundesregierung.de/ bpaexport/ artikel/ 30/ 637330/ multi.htm [letzter Zugriff 23.02.2010]. <?page no="121"?> Bilder der Gewalt: 9/ 11 in der Boulevardpresse 121 brauch von TERRORISMUS IST KRIEG zu TERRORISMUS IST VERBRE- CHEN? Dieser Artikel kann nur eine spekulative Antwort geben, deren Hauptaufgabe es ist, weitere Forschung zu dem Thema zu provozieren. Auch wenn es schwierig oder gar unmöglich ist, spezifische Gründe für den Gebrauch einer bestimmten Metapher nachzuweisen, können drei mögliche Erklärungsrichtungen skizziert werden, welche die Unterteilung in materialistische, kritische und konstruktivistische Terrorismusforschung widerspiegeln. Ein materialistischer Erklärungsansatz im Rahmen der traditionellen Terrorismusforschung würde wahrscheinlich auf die ‚Realitäten’ deuten und argumentieren, dass eine Verschiebung im Metapherngebrauch die ‚Realität’ der Veränderung der Sachlage widerspiegelt, die von der Metapher beschrieben werden soll. Da Metaphern lediglich Realitäten reflektieren, sind Veränderungen im Diskurs das Resultat von wirklichen Veränderungen. Hier gilt es beispielsweise aufzuzeigen, dass der Terrorismus von Al Qaida sich ‚wirklich’ von einer militärischen zu einer kriminellen Bedrohung gewandelt hat (Hoffman 2004, Gunaratna 2006). Von einer konstruktivistischen Perspektive jedoch kann Diskurs nicht einfach Realität widerspiegeln, sondern Realität wird im Diskurs konstituiert. Das bedeutet jedoch nicht, dass keine Realität existiert, oder dass der Diskurs von der realen Welt unabhängig ist, sondern dass solche Realitäten interpretiert werden müssen, da sie nicht selber sprechen können. Eine zweite Erklärung für eine Verschiebung des Metapherngebrauchs würde womöglich auf die Interessen derer verweisen, die Metaphern nutzen. Hier wären also die Veränderungen nicht das Resultat veränderter Realitäten, sondern veränderter Interessen der einflussreichen politischen Eliten. Es müsste nachgewiesen werden, wie die politische Elite oder die Medien ihre metaphorische Sprache ändern, um die Öffentlichkeit zu manipulieren und ihre Interessen voranzutreiben (Drulák/ Königova 2007). Das beständige Nutzen oder Verändern von Metaphern, und damit das implizite Verbreiten bestimmter Verständnismuster, wäre ein expliziter Gebrauch von Macht um die Macht derjenigen, die solche Metaphern benutzen, zu erhalten oder zu vermehren. Metaphern werden also von Akteuren im Dienste eines bestimmten Zweckes genutzt. So hat in Bezug auf den „Krieg gegen den Terror“ eine Reihe von Autoren argumentiert, dass diskursive Mittel und Narrative durch konservative politische Eliten in den Vereinigten Staaten benutzt wurden, um ihre Interessen zu fördern (Jackson 2005, Jarvis 2009). Alternativ könnte eine solche Erklärung für den starken Gebrauch von Kriegsmetaphern nach 9/ 11 auch mit den finanziellen Interessen der Medien zu tun haben. Es könnte untersucht werden, ob der bewusste Gebrauch von Kriegsmetaphern in den Medien wie der Bild damit zu erklären <?page no="122"?> Alexander Spencer 122 ist, dass die Idee von „Krieg“ den Zeitungsverkauf stärker steigert als andere Verständnisse. Ein dritter möglicher Erklärungsansatz konzentriert sich weniger auf Akteure, sondern interessiert sich mehr für ‚Erfahrungen’. Hier entstehen oder verändern sich Metaphern, wenn die Inferenz der Projektion von Herkunftsauf Zielbereich durch physische und kulturelle Erfahrungen unterstützt wird (Ritchie 2003). Wie Chist’l de Landtsheer und Ilse de Vrij (2004: 166) betonen, entstehen Metaphern in einer Krise, weil sie ‘powerful agents of cognitive framing’ sind. So erschienen Kriegsmetaphern nach den Anschlägen des 11. September in Deutschland sinnvoll, da dieses Ereignis anscheinend viele Charakteristika mit der Erfahrung von Krieg in der Vergangenheit gemein hat. Die hohe Opferzahl, der Grad an Zerstörung oder der Gebrauch von Flugzeugen als ferngesteuerte Bomben begründen hier die Angemessenheit des Herkunftsbereichs KRIEG. Jedoch wirken Kriegsmetaphern über Zeit zunehmend unpassend in Bezug auf die Erfahrungen mit Terrorismus in Deutschland. Mit dem Ausbleiben weiterer mit 9/ 11 vergleichbarer Angriffe scheinen Erfahrungen von Krieg zunehmend ungeeignet, um Terrorismus zu konzeptionalisieren und zu verstehen. Metaphern des Verbrechens schienen besser geeignet, um die allgemeine Stimmung in Deutschland einzufangen. Anstatt Terrorismus als Krieg und somit als einen außergewöhnlichen Zustand mit hohen Opferzahlen und viel Zerstörung wahrzunehmen, wurde Terrorismus zunehmend als etwas Normales, jeder Gesellschaft Innewohnendes erachtet. Verbrechensmetaphern waren besser darin, die Ansicht zu erfassen, dass Terrorismus etwas Permanentes ist, was uns aber nicht immer kontinuierlich und unmittelbar tangiert. Der Unterschied zum ersten Erklärungsansatz, der auf ‚Realitäten’ basiert, ist, dass Metaphern hier keine exakte Reflexion von Ereignissen sind. Es gibt keine Eins-zu-eins-Beziehung oder absolute Deckungsgleichheit zwischen Realität und Metaphern, da wir physische Ereignisse nicht direkt beobachten können, sondern dies immer in einem bestimmten interpretativen Kontext und Diskurs passiert. Diskurs bringt uns dazu, Sachen in einer bestimmten Art und Weise zu sehen, jedoch ist Diskurs nicht unabhängig von empirischen Ereignissen. So hat beispielsweise das Ausbleiben eines 9/ 11 ähnlichen Terrorangriffs in Deutschland Auswirkungen auf den hiesigen Terrorismusdiskurs. Die Inferenzen einer Kriegsmetapher wurden nicht weiter durch physische und kulturelle Erfahrungen unterstützt. Die zentrale Idee dieses Erklärungsansatzes wäre, dass Erfahrungen empirischer Ereignisse Diskurse, sowie gleichzeitig Diskurse auch Erfahrungen beeinflussen; in anderen Worten bedingen sich Diskurse und Erfahrungen gegenseitig. <?page no="123"?> Bilder der Gewalt: 9/ 11 in der Boulevardpresse 123 5 Fazit Metaphern spielen in der diskursiven Konstruktion von Terrorismus eine zentrale Rolle und tragen somit auch zur Herausbildung gewisser Vorstellungen über die Reaktionen auf terroristische Phänomene bei. Hierbei kann zwar nicht im positivistischen Sinne von Metaphern als ‚Ursache’ gewisser Politikstrategien die Rede sein. Nichtsdestotrotz tragen bestimmte Metaphern dazu bei, dass manche Gegenmaßnahmen als angemessen wahrgenommen und andere als unpassend abgelehnt werden. Dieses Kapitel hat die Metaphernanalyse auf den Terrorismusdiskurs der Boulevardpresse in Deutschland angewendet und gezeigt, dass und wie die fünf prominentesten Konzeptionellen Metaphern Terrorismus als Krieg, Verbrechen, unzivilisiertes Böse, natürliches Phänomen sowie als Krankheit stilisiert haben und dadurch militärische, juristische und immigrationspolitische Maßnahmen ebenso wie Katastrophenreaktionspläne als angemessene Reaktionen auf Terrorismus erscheinen lassen, während beispielsweise Kooperation und Verhandlung als Handlungsoptionen abgelehnt werden. Hierbei macht vor allem das Aufzeigen von Unmöglichkeiten den Nutzen der Metaphernanalyse aus, da zunächst vernachlässigte Reaktionen auf Terrorismus aufgedeckt werden, welche Raum für Anschlussforschung bieten, die mit bislang geltenden Tabus bricht, wie zum Beispiel Kooperation und eventuelle Versöhnung mit Al Qaida (Renner/ Spencer 2012). Die Wahrnehmung von Terrorismus als soziale Konstruktion und eingedenk der Tatsache, dass es demnach keine extern und unabhängig existierenden Fakten über Terrorismus gibt, eröffnet die Möglichkeit, die Absurdität ‚undenkbarer’ Politikstrategien zu hinterfragen. 6 Bibliographie Abdel-Nour, F., 2004. An International Ethics of Evil? In: International Relations 18, 4, 425-439. Alberts, J., 1972. Massenpresse als Ideologiefabrik. Am Beispiel „Bild“. Frankfurt a. M.: Athenäum. Anderson, R., 2004. The Causal Power of Metaphor. Cueing Democratic Identities in Russia and Beyond. In: Beer, F./ De Landtsheer, C. (eds.), 2004. Metaphorical World Politics. East Lansing: Michigan State University Press, 91-108. Beckmann, J., 2007. Comparative Legal Approches to Homeland Security and Anti- Terrorism. Aldershot: Ashgate. Beer, F./ De Landtsheer, C., 2004. Metaphors, Politics, and World Politics. In: Beer, F./ De Landtsheer, C. (eds.), 2004. Metaphorical World Politics. 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Suchen „geläufige“, aus scheinbar egoistischeren Gründen verübte Verbrechen die Verborgenheit, so stellt für den „Erfolg“ des terroristischen Anschlags die öffentliche Beachtung eine conditio sine qua non dar. Erstmals tritt dieser sich in Tat und medialer Resonanz ergänzende Terrorismus in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, etwa seit den 1870er Jahren, auf den Plan und sucht seine Wirkung zu erzielen (Jensen 2004). Ob man als Vorbedingung bzw. notwendigen Schauplatz dafür ein demokratisches Staatswesen postulieren soll, wie Walter Laqueur es tut (Laqueur 1998: 13 ff.), erscheint zweifelhaft: Demokratische Gesellschaften sind und waren sicherlich anfälliger gegenüber terroristischen Aktionen als diktatorisch oder feudal bzw. monarchistisch beherrschte, aber zu den Aufsehen und Erschütterung erregenden terroristischen Anschlägen des späten 19. Jahrhunderts gehörten auch Attentate auf Kaiser und Könige, etwa die Ermordung von Zar Alexander II. am 13.03.1881 in Petersburg. Wie aber kam es damals zum Terrorismus mitsamt seiner medialen Ergänzung? In Gegnerschaft zu politisch-sozialen Rahmenbedingungen dieser Zeit in Europa - nach Land und Region verschieden - hatten sich zuvor extrem oppositionelle Ideen und Bewegungen gebildet, aus denen sich die Anhänger und Aktivisten des idealistisch-„altruistischen“, für ein vermeintlich höheres Ziel unternommenen Verbrechens rekrutierten (Jensen 2004: insbes. 119 ff.) - und von Anfang an ein starkes mediales Echo fanden. Offensichtlich schien die Presse, insbesondere die Massenpresse dieser Zeit, <?page no="130"?> Michael Nagel 130 bereit zu sein für ihren Part in dem nun beginnenden Wechselspiel zwischen der Schreckenstat - bzw. schrecklichen Bedrohung - einerseits und ihrer publizistischen Verbreitung andererseits. Indem sie ihr Publikum nah und intensiv an die sensationell dargestellte Untat heranführte, vermochte diese, über den realen, aber begrenzten „Erfolg“ hinaus, ihren Wirkungsradius zu vergrößern und auch dem weit entfernten Leser Furcht einzuflößen. Auf dieses (Mit-)Agieren der Presse konnten die damaligen Anfänger im terroristischen Gewerbe zählen. Hätten die Zeitungen ihre Anschläge gar nicht oder lediglich in knappen Randnotizen beachtet, so wären sie nicht nur enttäuscht, sondern vor allem wohl erstaunt gewesen - und hätten ihre neuartige Variante der politischen Aktion und „Aussage“ möglicherweise nicht weiter verfolgt. So aber verstanden italienische anarchistische Terroristen bereits am Ende der 1870er Jahre ihre Unternehmungen als „Propaganda der Tat“ (Hubac-Ochipinti 2007: insbes. 116 ff.). Entsprechend betonte der deutsche Anarchist Johann Most (1846-1906), „[…] daß es bei jeder That, welche die modernen Revolutionäre begehen, nicht auf diese selbst, sondern auf den propagandistischen Effekt, welcher damit erzielt werden kann, ankommt.“ (Most o. J.: 90) Die zeitgenössische Presse selber wusste offensichtlich um ihren Anteil an diesem Effekt; kritisch vermerkte die Kölnische Volkszeitung Ende des 19. Jahrhunderts: „Die verdorbenen Burschen wollen von sich reden machen und finden auch noch ein Echo.“ (nach Reichardt 2011) 1 Warum, und seit wann, war die Presse bereit für diesen ihren Part? Hätten bereits die Medien einer früheren Zeit die ihr im System des Terrorismus bis heute zugedachte Rolle ausfüllen können (oder wollen)? Mag diese Frage auf den ersten Blick müßig erscheinen, so erhält sie ihre Relevanz doch aus einer Kritik eben dieser Rolle: Es muss unzufrieden stimmen, dass Medien dem Terrorismus seinen Raum und Nachhall verschaffen und ihn so, nolens volens, stützen. Skeptisch sieht etwa Walter Laqueur diesen Zusammenhang: „Man hört manchmal, daß die Journalisten die besten Freunde der Terroristen seien, da sie ausführlich über deren Operationen berichten. […] der Gesellschaft wäre besser gedient, wenn sich die Berichterstattung nicht in Sensationsmache erschöpfen würde“ (Laqueur 1998: 54 f.). Eine solche Kritik wird nicht nur seitens der Sozial- und Geschichtswissenschaft geäußert, sondern gelegentlich auch vor einem weiteren Publikum: Eine enge, für Außenstehende undurchsichtige, gleichwohl beidseitig ertragreiche Interaktion zwischen Terrorismus und Medien stellt beispielsweise Friedrich Dürrenmatt in seiner Erzählung „Der Auftrag, oder Vom Beobachten des Be- 1 Ich danke Albert Gelver, der mich auf diesen schönen Artikel über den unschönen Zusammenhang zwischen terroristischen Aktivitäten und der Massenpresse des späten 19. Jahrhunderts aufmerksam gemacht hat. <?page no="131"?> Distanz statt Nähe 131 obachters der Beobachter. Novelle in vierundzwanzig Sätzen“ dar (Dürrenmatt 1986). Diese kritische Perspektive auf das Zusammenspiel zwischen Medien und Terrorismus wird an Genauigkeit und Tiefe gewinnen, wenn die heutigen Medien, oder die um 1870, als Ergebnis einer Entwicklung gesehen werden, die bereits eine geraume Zeit zuvor einsetzte, nämlich spätestens mit der ersten gedruckten Zeitung, die, nach heutigem Kenntnisstand, seit 1605 in der damals noch Freien Reichsstadt Straßburg einmal wöchentlich erschien (Weber 2005). Da in dieser früheren Zeit ein Terrorismus im heutigen Sinne, wie gesagt, noch nicht auftrat (Walter 1990), kann zur Diskussion der aufgeworfenen Frage ersatzweise die Einstellung der damaligen Presseerzeugnisse zu potenziell schreckeinflößender, teils auch politisch motivierter Gewalt betrachtet werden. Somit wäre nun zu fragen: Erscheint die diesbezügliche Berichterstattung bereits sensationsträchtig, weitläufig und emotional stimulierend oder gibt sie sich eher distanziert, nüchtern, sachlich informativ und knapp? Aus einem ersten punktuellen Überblick der medialen Darstellung einer sozusagen vorterroristischen Gewalt und Bedrohung seit den Anfängen der gedruckten Zeitung in Deutschland bis etwa zum Ausgang des 18. Jahrhunderts lässt sich als These formulieren: Die anfangs überwiegend von einer gesellschaftlichen Elite rezipierten Zeitungen des 17. und 18. Jahrhunderts pflegten bewusst eine relativ ausgewogene, sachliche und knappe Berichterstattung. Daher wäre ein Wechselspiel zwischen dem - ohnehin erst später auftretenden (s. o.) - Terrorismus bzw. abnormer politisch motivierter Gewaltausübung und den Medien, wie es seit ca. 1870 zu beobachten ist, noch nicht möglich. Diese These soll im Folgenden eher skizzenhaft-essayistisch als gründlich und umfassend diskutiert werden. Pressegeschichtliche Zusammenhänge und Entwicklungen können dabei nur punktuell angesprochen werden, ebenso, beim Blick auf das Publikum, sozial- und mentalitätsgeschichtliche Aspekte (Jäger 1997, Fischer et al. 1999, Stöber ²2005). Beabsichtigt ist nicht mehr als ein erster Schritt auf einem Weg, der lohnend erscheint, ihn einmal weiter und aufmerksamer zu gehen. 2 Das 17. und 18. Jahrhundert: Gewalt ist etwas Vertrautes, Gewalt ist etwas Schreckliches 2.1 Zum zeitgenössischen Verständnis von „Gewalt“ und „Schrecken“: Lexika und Wörterbücher im 18. und frühen 19. Jahrhundert Vor einem Blick auf die Darstellung von Gewalt und Schrecken in der Presse des 17. und 18. Jahrhunderts steht die Frage, wie diese beiden Phänomene von Zeitgenossen verstanden wurden. Ohne dies hier ausführlich diskutie- <?page no="132"?> Michael Nagel 132 ren zu können, kann man doch annehmen, dass der jeweilige gesellschaftliche Status eine entscheidende Rolle für die Erfahrung und Bewertung potentiell erschreckender Gewaltereignisse spielte. Einigermaßen repräsentativ für die diesbezüglichen Auffassungen in der Schicht der Gebildeten - zu denen in dieser Zeit die Redakteure und Leser der Zeitungen, teils auch anderer Pressegattungen zu zählen sind - dürften die entsprechenden Einträge in Lexika und Wörterbüchern der Zeit sein. Das umfangreichste deutsche Lexikon-Projekt des 18. Jahrhunderts, Johann Heinrich Zedlers zwischen 1731 und 1754 erschienenes „Grosses vollständiges Universal Lexicon aller Wissenschafften und Künste“ (Zedler), trennt bei der „Gewalt“ prinzipiell die rechtmäßige, nämlich „Potestas“, von der unrechtmäßigen, nämlich „Vis“ oder „Violentia“ (Zedler 10, 1735: Sp. 1377 ff., zu „Violentia“ und „Potestas“ vgl. Lorenz 2007: 16 ff., sowie Pröve 1997). Schreckeinflößend erscheint hier allein die zweite Variante als „Gewaltthätigkeit“ im eigentlichen Sinne: „Vis, dasjenige Verbrechen, wenn einer dem andern so wohl heimlich als öffentlicher Weise mit tödt- oder anderm schädlichen Gewehr überfället, und ihn dadurch wieder die Billigkeit in der Ruhe und Friede beleidiget.“ (Zedler 10, 1735: Sp. 1378) Auch der „Schrecken“, nämlich „Terror“, wird hier zweifach gesehen. Zum einen gilt er, mit Blick auf den Erlebenden bzw. Leidtragenden, als Empfindung, die vor allem „plötzlich und unvermuthet“ eintritt. Zum anderen erscheint er, mit Blick auf den aktiven Verursacher, als „Terror armorum“, als Androhung der „Gewaltthätigkeit“ (Zedler 35, 1743: Sp. 1111- 1114). Gut ein halbes Jahrhundert später bestätigt der Sprachforscher und Bibliothekar Johann Christoph Adelung die bei Zedler zu findende Auffassung von der ungesetzlichen „Gewaltthat“ als einer „[…] That […] welche mit unbefugter überlegener Gewalt vollbracht wird.“ (Adelung 1811: 654) Von „Terrorismus“ im engeren bzw. im heutigen Sinne ist hier verständlicherweise (s. o.) noch nicht die Rede. Ein Ausblick ins späte 19. Jahrhundert hinein zeigt, dass selbst der Brockhaus von 1886 sich in seinem einschlägigen Artikel nicht auf den damals bereits agierenden Terrorismus modernen Zuschnitts bezieht, sondern maßgeblich noch auf den „terreur“ der Französischen Revolution: Hier wird „Terrorismus“ als Schreckensherrschaft verstanden, „Terrorisieren“ demzufolge als ein blutig-gewalttätiges Regieren (Brockhaus 15, 1886: 574). Ohne an dieser Stelle näher auf den Zusammenhang zwischen den Lexika und der öffentlichen Meinung einer bestimmten Epoche eingehen zu wollen (Gelver 2012), lässt sich doch feststellen: Die bei Zedler und Adelung zu bemerkende Unterscheidung zwischen rechtmäßiger, daher vorhersehbarer und nicht erschreckender Gewalt einerseits und unvermutetem gewaltsamen Schrecken andererseits entspricht, mehr oder weniger, den gesellschaftlichen Konventionen und vermutlich auch dem Empfinden der Zeit. <?page no="133"?> Distanz statt Nähe 133 Auf beides ist nun kurz einzugehen, wobei die Kriegsgewalt später thematisiert wird. 2.2 Die legitime Gewalt der Obrigkeit Die Obrigkeit praktiziert zur Bestrafung devianter Personen und Gruppen u. a. Gewalt gegen die körperliche Unversehrtheit der Delinquenten: Folter, Hinrichtung. Diese Gewalt erscheint, in Abstufungen, mehr oder weniger grausam, gleichwohl, entsprechend dem Verständnis in Zedlers Lexicon (s. o.), legitim und nicht willkürlich, weil in Prozessordnungen nach Anlass, Ablauf und Dosierung festgelegt. So zählt bei Zedler die Folter, als „scharffe Frage“, zur rechtmäßig ausgeübten Gewalt. Hierzu ist allerdings zu bemerken, dass bereits vor dem Beginn des 18. Jahrhunderts Zweifel an der Legitimität der Folter aufkommen - beteiligt ist hier u. a. der gelehrte Jurist und Aufklärer Christian Thomasius mit seiner 1705 verfassten „Dissertatio de Tortura“ (Lieberwirth 1960); zu einer Publikation mit gleicher Stoßrichtung bereits im ausgehenden 16. Jahrhundert Vogel (1997) - und dass sie in Preußen von Friedrich Wilhelm I. stark eingeschränkt, nämlich im Einzelfall von seiner Genehmigung abhängig gemacht wurde, bis sie Anfang Juni 1740 auf Geheiß des soeben zur Regierung gelangten Friedrich II. aufgehoben wurde. Massenwirksam ritualisiert, dann häufig auch medial dargestellt und interpretiert, zeigt sich die „legitime“ grausame Gewalt in öffentlichen Hinrichtungen. Eine der im 18. Jahrhundert „populärsten“ ist die Exekution des einstigen Württembergischen Ministers und Hofagenten Josef Süß Oppenheimer am 14.02.1738 in Stuttgart - ein Ereignis übrigens, das bereits von Zeitgenossen als politisch motiviertes Fehlurteil erkannt wurde, genau besehen also ein illegitimer Justizmord. Gerade deshalb wurde das Spektakel wohl besonders aufwendig in Szene gesetzt (Gerber 1990). Diese Gewalt der Justiz war, jedenfalls in Friedenszeiten, vorhersehbar, an Ort und Zeit gebunden. Sie wandte sich, auch wenn es dem im Moment anwesenden und später davon lesenden Publikum dabei grausen mochte, doch nur gegen Einzelne oder kleinere Gruppen. Für diese sollte sie abschreckend wirken, hatte aber nicht das Potenzial zur Stimulierung eines allgemeinen Schreckens. <?page no="134"?> Michael Nagel 134 Abb. 1: Zeitgenössisches Flugblatt zur Hinrichtung Josef Süss Oppenheimers, aus: Anne von der Heiden: Der Jude als Medium. „Jud Süß“, Zürich, Berlin 2005, S. 32 2.3 Schreckliche Naturgewalten Beängstigender mochten die nicht vorhersehbaren gewaltsamen Strafen Gottes erscheinen, die jeden jederzeit und überall treffen konnten. Als schreckliche Naturereignisse mit zuweilen großer Zerstörungskraft kamen sie sozusagen aus heiterem Himmel und konnten erst im Nachhinein rationalisiert, d. h. religiös oder philosophisch gedeutet werden. Sie bildeten ein bedeutsames Thema der zeitgenössischen Flugblätter, also der illustrierten, ad hoc in teils großer Auflage vertriebenen populären Einblattdrucke, die jeweils nur ein einzelnes, außergewöhnliches Vorkommnis in Bild und Text darstellten (und insofern nicht der periodischen, universell berichtenden Presse zuzurechnen sind). Ein Schlüsselereignis dieser Art war das enorm zerstörerische Erdbeben von Lissabon vom 01.11.1755. Diese Katastrophe fand nicht nur ein breites Echo in den aktuellen Medien, sondern sie löste eine weiterführende literarische Diskussion aus, innerhalb derer sich auch Zweifel am Ertrag der Aufklärung insgesamt regten (Lauer/ Unger 2008, zur Medienrezeption insbes. Wilke 2008). <?page no="135"?> Distanz statt Nähe 135 Abb. 2: Explosion der Bremer „Braut“, Kupferstich 1739, Ausschnitt, in: Schwarzwälder 1995, 431. Weiter zurückliegende, hier willkürlich herausgegriffene Beispiele sind der Erdrutsch von Plurs - im Bergell, Engadin - vom 25.08.1618, der das Städtchen fast vollständig vernichtete, oder der Blitzeinschlag in die Bremer „Braut“ am 22.09.1739, der dieses Pulvermagazin der Hansestadt und viele umliegende Gebäude zerstörte (Schwarzwälder 1995: 431). Beide Ereignisse gingen in die Zeitungen und Flugblätter ein (Wahrhaffte Abbildung 1618), die Bremer Explosion gab darüber hinaus der Geistlichkeit Anlass weniger zu Trostals zu Mahn- und Strafpredigten (Denckmahl 1739) 2 . 2.4 Deviante innergesellschaftliche Gewalt Und schließlich zur innergesellschaftlichen Gewalt: Ähnlich unversehens wie die Heimsuchungen der Natur bzw. Gottes erschien das Wirken von einzelnen Verbrechern oder ganzen Banden, die vor allem außerhalb der befestigten Städte, auf dem Lande oder längs der Landstraßen, ihr Unwesen trieben. Auch hierüber wurde vor allem in Flugblättern bzw. sogenannten 2 Der Katalog der Bremensien der SuUB Bremen führt zahlreiche gedruckte Predigten zu diesem Anlass. <?page no="136"?> Michael Nagel 136 Neuen Zeitungen, teilweise auch in den eigentlichen Zeitungen, berichtet: Der Sachindex der am Institut Deutsche Presseforschung der Universität Bremen gesammelten Zeitungen des 17. Jahrhunderts - als weltweit umfangreichster Bestand - zeigt, dass hier, neben der großen Politik und kriegerischen Auseinandersetzungen, auch Verbrechen aller Art, einschließlich ihrer gewalttätigen Bestrafung, Beachtung fanden (Weber 1997, für das 18. Jahrhundert: Gerstenmayer 2012). Insbesondere waren hier aber die nicht periodischen, nur anlässlich besonders aufsehenerregender Begebenheiten gedruckten Neuen Zeitungen beteiligt, die als populäre Einblattdrucke mit Bild- und Textanteil in teils hoher Auflage ereignisnah hergestellt und vertrieben wurden (Pfarr 1994). Innergesellschaftliche Gewalt war vor dem 19. Jahrhundert, nach heutigem Maßstab, noch relativ stark verbreitet (Elias 1939). Mit der sukzessiven Etablierung und Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols nahm sie in Europa seit ca. 1700, insgesamt gesehen, ab (Knöbl 2006/ 7) 3 . Ebenso ging, bei zunehmender Säkularisierung, die Abhängigkeit, das Ausgeliefertsein an einen nicht ganz „zuverlässigen“, weil unberechenbaren, gelegentlich schrecklich strafenden Gott zurück. 3 Funktionen und Varianten von Gewaltbeschreibungen in der Presse des 17. und 18. Jahrhunderts 3.1 „Fromme“ Gewalt? Der militärische Kämpfer und Sieger von Gottes Gnaden Die - zumindest in der eigenen Auffassung und Darstellung - legitime und reguläre, von Staaten bzw. größeren politischen Parteien ausgeübte Gewalt beruft sich, etwa in Person der jeweiligen Regenten und Heerführer, häufig auf Gott. Hiervon berichten die Medien in zumeist formelhafter Darstellung; derartige Fürbitten und Rechtfertigungen sind offensichtlich bekannt und werden erwartet. Im Dreißigjährigen Krieg verfolgen sowohl die kaiserliche als auch die protestantische Partei, jeweils unter dem Schutz des Himmels, ein frommes Anliegen. Gleichwohl kann in derselben Zeitungsnummer, die das Erflehen oder gar die Erwartung des göttlichen Beistands vermeldet, recht irdisch auch von machtpolitischen Zielen die Rede sein (Weber 1999). Der himmlische Herrscher wird insbesondere unmittelbar vor und nach besonders gewaltsamen Ereignissen, Schlachten, Belagerungen und Erstürmungen also, angerufen. Anlässlich der - selbst für die damaligen Verhältnisse ungewöhnlich blutigen und grausamen - Eroberung von Magdeburg (vgl. Kaiser 1997) durch 3 Hier wird auf Langzeituntersuchungen zur Häufigkeit von Kapitalverbrechen u. a. in Deutschland und in den Niederlanden im Verlauf der Neuzeit verwiesen. <?page no="137"?> Distanz statt Nähe 137 die katholische Partei am 20. Mai 1631 wird wenig später in einer Münchner Zeitung gemeldet, „[…] daß Herr General Tylli [recte: Tilly]/ den 20. diß / ehe der Sturmb angefangen / ein gute zeit zuvor auf seine Knye nidergefallen / sein Gebett verricht / und Gott den Herrn umb sein hilff und gnad / demütig angerufen / darnach aber alles wol und fleissig angeordnet / und darauf im Namen Gottes den Generalsturmb fürgenommen […] Demnach aber durch die gnad Gottes die Statt deß andern Tags erobert worden / […].“ (Mercurij Ordinari Zeitung, München, 28.05.1631) Ob der als tief gläubig bekannte Generalissimus einem eigenen - ungeachtet der bevorstehenden, von ihm verantworteten Schreckenstaten gehegten - frommen Gefühl folgte oder seinen Soldaten, sozusagen über die Allianz mit dem Allmächtigen, Vertrauen und Mut einflößen wollte, bleibt ebenso offen wie die Frage, ob der Kniefall wirklich stattgefunden hat: Die Berufung auf himmlische Mächte gehörte und gehört beim Militär und teils auch in terroristischen Kreisen, von den Kreuzfahrern des Mittelalters bis zu den Dschihadisten von heute, zum Traditionsbestand. Die Meldung erschien - als einer von vielen Zeitungsberichten zu diesem zentralen Ereignis (Medick 1999: insbes. 381) - in einer Münchner Zeitung, also auf dem Gebiet der Kaiserlichen, ist aber nicht als pure Propaganda zu nehmen: Die frühe Presse, womit hier vor allem die Zeitungen des 17. Jahrhunderts gemeint sind, war, wie gesagt, für eine urteilsfähige gesellschaftliche Elite geschrieben. Bewusst verzichteten diese Blätter auf subjektiv-politische Interpretationen und wollten, nach der Devise „relata refero“, alleine die ihnen bekannt gemachten Ereignisse vermelden. Die im Verlauf des Dreißigjährigen Krieges gelegentlich bemerkbaren propagandistischen Einfärbungen (Behringer 1999: insbes. 73) verändern dieses Bild nicht maßgeblich (Weber 1999: 26, 30). Wesentlich ist in diesem Falle, dass, zumindest in der Darstellung der Zeitung, die kriegerisch ausgeübte Gewalt als legitim bezeichnet wurde. Indem auch ihre blutige und grausige Ernte als Teil eines göttlichen Planes verstanden werden konnte, mochte sie für Außenstehende, anders als für die unmittelbar Leidtragenden, an Schrecken verlieren. Möglicherweise hat bei der Wahrnehmung und Wirkung des medial Schrecklichen auch ein Gewöhnungseffekt eine Rolle gespielt: Im Verlauf des konfliktreichen 17. Jahrhunderts brachten deutsche Zeitungen Kriegsnachrichten auf zeitweilig bis zu zwei Dritteln ihres Umfanges (Pfarr 1994: 157) 4 . Für die in den Zeitungen nicht oder kaum zu findende Propaganda waren andere zeitgenössische Medien zuständig, die sich auch an ein weniger gebildetes Publikum richteten: Nahezu dreihundert Flugblätter aus dem protestantischen Lager thematisierten den fürchterlichen Untergang der Stadt Magdeburg bei der Erstürmung und der daraufhin ausgebrochenen Feuersbrunst, mit dem Tod von fast 15.000 ihrer Einwohner (Lahrkamp 4 Die Verf. stützt sich hier auf Wilke (1984). <?page no="138"?> Michael Nagel 138 1999: 19). Die unmittelbare Konfrontation mit der abstoßend und brutal dargestellten Gewalt des Gegners soll den Betrachter für die eigene Sache einnehmen. Dass die exzessiv in Bild und Text inszenierten grausigen Untaten des Feindes auch auf längere Sicht dem Zusammenhalt und der Selbstvergewisserung einer Partei dienen konnten (oder sollten), zeigt die an schreckensvollen Greueln reiche niederländische Flugblatt-Publizistik gegen die Spanier seit Beginn des Freiheitskampfes 1576 (Cilleßen 2006). Allerdings sollte man nicht pauschalisieren: In Einzelfällen erscheinen selbst die Flugblätter sachlich und ausgewogen in ihrem Urteil (Pfeffer 1993: 50 f.). 3.2 Extreme Gewalt wird nicht im Detail dargestellt Wenn die Zeitungen des 17. und überwiegend auch noch des 18. Jahrhunderts von ungewöhnlicher bzw. übermäßiger Gewalt berichten, werden dabei Grenzen eingehalten. Drastische Details kommen hier nicht zur Sprache, sondern es werden Formeln benutzt wie beispielsweise „nicht zu beschreiben“. Eine andere Variante ist die Auslagerung des Geschehens aus dem eigenen Kulturkreis: „wie bei den Türken“, oder auch „barbarisch“ lauten derartige Attribute. Wenn es die eigenen Truppen sind - wobei „eigen“ zu dieser Zeit nicht für eine „patriotische“ Einstellung steht, sondern lediglich für die Partei des Landesherrn und seiner Alliierten -, wenn es also die eigenen Truppen sind, die unter der Zivilbevölkerung marodieren, Bürger und Bauern grausam ausplündern, quälen, vergewaltigen und töten - wie in Grimmelshausens „Simplicius Simplicissimus“ beschrieben - dann haben sie „[…] also gehauset / daß es der Feind ärger nicht machen können.“ (Berliner titellose Zeitung, 1620: 14) 5 Nicht nur aufgrund der durch den geringen Umfang bedingten knappen Form, sondern auch in ihrer zurückhaltenden, schematisierenden Sprache unterscheiden sich die betreffenden Zeitungsmeldungen von den zeitgenössischen Schilderungen soldatischer Grausamkeit, die Grimmelshausen im „Simplicius Simplicissimus“ liefert (Grimmelshausen ³2010) - wobei selbst dieser die drastischen Gewaltszenen zu Anfang seiner Erzählung durch eine teils satirische, teils gewollt naive Perspektive abmildert: Den Krieg sieht er zwar grundsätzlich skeptisch, findet in dessen literarischer Verarbeitung aber auch abenteuerliche, sarkastisch-humoristische und pikareske Motive (Haberkamm 1998, vgl. dagegen Merzhäuser 1997). Die Formelhaftigkeit der Gewalt-Darstellung in den Zeitungen konnte möglicherweise einen Gewöhnungseffekt bewirken. Sie ließ dem zeitgenössischen Leser, so darf man annehmen, eine gewisse Distanz zum Geschehen. Die Zeitungsschreiber hatten nicht die Absicht, ihn, etwa durch die weitläu- 5 Ähnliche Formulierungen in Militär-Strafgerichtsprotokollen nach 1650 bei Lorenz (2007: 303). <?page no="139"?> Distanz statt Nähe 139 fige Ausbreitung von Details und Stimmungsbildern, emotional zu erschüttern; hierfür wurde seiner Vorstellungskraft keine Nahrung geliefert. 3.3 Die nüchterne Nachricht und der objektive Stil 3.3.1 Die Erwartung des Publikums Warum eine solche relativ nüchterne und distanzierte mediale Darstellung von Gewalt, die für die unmittelbar Beteiligten im Moment des Geschehens doch Schrecken genug birgt? Der Grund dafür ist kaum in einer Phantasielosigkeit oder unzureichenden Sprachbeherrschung bei den Zeitungsschreibern des 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts zu suchen. Es sind dies gebildete Männer, Posthalter und Drucker-Verleger meist, die sich dem Anlass entsprechend auszudrücken wissen: Martin Welke weist in seinen detailreichen Recherchen zum „Erfinder“ der gedruckten Zeitung, Johann Carolus, auf dessen akademische Qualifikation hin (Welke 2008) und korrigiert damit ein früheres Urteil von den Zeitungsmachern des 17. Jahrhunderts, das diese lediglich als „Handwerker“ des neuen Mediums verstand, die selber nicht dem akademischen Milieu zugehört hätten (Weber 2005: 9). Ihre sprachliche Distanz entspringt also, so muss man annehmen, nicht einem Unvermögen, sondern sie ist bewusst eingesetzt mit dem Ziel, für ein gesellschaftlich elitäres Publikum ein reines Nachrichtenblatt zusammenzustellen, das auf vergleichsweise geringem Raum - lediglich vier Seiten im kleinen Quartformat waren der Standard für eine einzelne Zeitungsnummer im 17. Jahrhundert - die jeweils getroffene Auswahl zeitgeschichtlich bedeutsamer Meldungen in einer dem beabsichtigten Informationsgehalt gemäßen möglichst dichten Diktion präsentiert. Für Ausschmückungen, seien sie beschönigend oder beängstigend, war hier ebenso wenig Platz wie für längere Kommentare oder Wertungen. Die Sprache war „faktenorientiert“ und „ereignisbezogen“ (Fritz/ Straßner 1996: 51); die kommentierenden und bewertenden Anteile waren knapp gehalten und führen nicht zu dem Eindruck einer Tendenz oder Parteilichkeit des jeweiligen Blattes. . Ausführliche Urteile und Kommentare dagegen waren einer anderen Gattung der periodischen Presse vorbehalten, die im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts entstand (Weber 1994) und dann im Verlauf des 18. Jahrhunderts eine bemerkenswerte Karriere machte: der politischhistorischen Zeitschrift. Zeitschriften erschienen jedoch in größeren Zeitabständen als die zunächst mindestens einmal, im Laufe des 17. Jahrhunderts dann oft mehrmals wöchentlich gedruckten Zeitungen. Ihrer mangelnden Aktualität wegen waren auch sie kaum zur Vermittlung von Schrecken und Furcht im Zusammenhang der vermeldeten Ereignisse geeignet. Eine knappe und sachliche Darstellung erwarteten bis weit in das 18. Jahrhundert hinein die Leser von ihrer Zeitung. Sie wollten sich bei der Ab- <?page no="140"?> Michael Nagel 140 wägung und Deutung der darin berichteten Ereignisse des eigenen Verstandes „ohne Leitung eines anderen“ (Kant 1784: 481) bedienen. An einer vorgefertigten Interpretation war ihnen ebenso wenig gelegen wie an einer vom Journalisten herbeigeführten gefühlsmäßigen Nähe zu den vermeldeten Vorfällen. Zum Publikum der Zeitungen - nicht unbedingt aller anderen zeitgenössischen Pressegattungen - zählten, wie bereits erwähnt, die tatsächlichen und möglichen Mitwirkenden am politischen Geschehen, an den Regierungs- und Verwaltungsgeschäften. Diese benötigten, um in ihrem Bereich angemessen agieren und reagieren zu können, zuverlässige Informationen, Zeitungen also, welche ihnen einen unvoreingenommenen und unverstellten Blick auf die darin beschriebene politisch-gesellschaftliche Wirklichkeit boten. Der nüchterne Bericht erschien auch dann, oder gerade dann, ratsam, wenn es um Gewalt und Schrecken ging. So sehen es jedenfalls, wie nun in knapper Form ausgeführt werden soll, namhafte Zeitungstheoretiker dieser Zeit. 3.3.2 Sachlicher oder packender, knapper oder weitläufiger Stil? Zeitungstheoretiker des 17. und 18. Jahrhunderts Schon bald, nachdem die gedruckte Zeitung zunächst von Straßburg, dann bald auch von anderen Städten aus ihren Weg in die Welt nahm, machten sich interessierte Zeitgenossen Gedanken über das neue Medium. Zu den Vor- und Nachteilen der, wie gesagt, zuerst wochenweise, dann bald häufiger, ab 1650 teilweise bereits täglich gedruckten Blätter sind aus dem 17. und 18. Jahrhundert Beiträge überliefert, die sowohl von Gelehrten als auch von literarisch versierten Gebildeten stammen. Wie äußerte man sich hier, im Zusammenhang der Erörterungen über angemessenen Stil, Nachrichtenauswahl etc., zur Darstellung und Rezeption von potenziell erschreckender, auch kriegerischer Gewalt? Für einen 1755 nur mit seinem Kürzel zeichnenden Ratgeber zum „nützlichen Gebrauche der gelehrten und politischen Zeitungen“ (H., J. G., 1755) floriert die Presse besonders in Kriegszeiten: „[…] im Krieg ist es ohne dieß leicht, ein Blatt Neuigkeiten zu liefern […] Wir geben zu, daß niemals ein größrer Haufe Menschen seine Neugierde blicken lässet, als wenn ein Krieg entstehet […].“ (ebd.: 19) So sei der Krieg „[…] diese so fruchtbare Mutter der Zeitungen.“ (ebd.: 21) 6 Allerdings missbilligt der ungenannte, möglicherweise in Leipzig ansässige Verfasser einen geschäftlichen Erfolg, der sich auf die grausige Darstellung gründet: „Die Erfahrung lehret es, daß ein Verleger bey dergleichen Zeitläuften die Anzahl seiner Exemplare verdoppeln, und sich gleichwohl des besten Abganges getrösten darf […] als wenn 6 In der Tat erfährt die frühe Zeitungspresse ihre erste Blüte im Dreißigjährigen Krieg (Weber 1999). <?page no="141"?> Distanz statt Nähe 141 nirgends etwas merkwürdiges, als im Kriege, vorgienge, und Würgen und Metzeln der gröste Ruhm des menschlichen Geschlechtes wäre.“ (ebd.: 141 f.) Die blutigen Einzelheiten der gewaltsamen Auseinandersetzung sollen weniger interessieren als ihr Verlauf im Großen und Ganzen: „[…] so ist die Anzahl der getödeten und verwundeten das geringste, womit er [der Zeitungsschreiber] seinen Leser unterhält.“ (ebd.: 23) Entsprechend solle auch der Leser keine Schreckensdetails in seiner Zeitung erwarten: „Will er Mährchen hören, so sind nicht ordentliche Zeitungen, sondern Mordgeschichte nach seinem Geschmack.“ (ebd.: 70) 7 Überhaupt müsse er selber eine gewisse Reife und Urteilskraft mitbringen, wolle er die Zeitung mit Gewinn lesen und nicht etwa mit nachteiligen Folgen: „Ich habe in meinen jüngeren Jahren redliche Bürger gekannt, die vor Furcht zitterten, wenn sie aus den Zeitungen erzählen höreten, daß die französische Armee über den Rhein gegangen wäre. Sie wurden durch dergleichen Nachrichten so betäubt, daß sie Abends ehe sie schlafen giengen, ihre Thüren fleißiger, als sonsten, verriegelten und erst etlichemale um ihr Haus herum giengen, um zu sehen, ob sich kein Franzos irgendwo versteckt hätte. Diese ehrlichen Leute verstunden nicht, daß ein weiter Weg von dem Rheine an, bis in die Mitte des deutschen Reiches ist […]“ und sie hatten den Grundsatz „[…] alles, was gedruckt ist, ist wahr; […].“ (ebd.: 74) Hier wird der 1697 beendete Pfälzische Krieg gemeint sein, dessen schreckensvolle Grausamkeiten gegen die zivile Bevölkerung der betroffenen Gebiete zwar über Generationen im dortigen kollektiven Gedächtnis blieben, der aber in der „Mitte des Deutschen Reiches“ - gemeint ist wohl der Leipziger Raum - nur die Unvernünftigen in Schrecken versetzen konnte. Im Unterschied zu solchen Toren könne der vernünftige Leser jedoch von seiner Zeitung profitieren; es würde „[…] der Hausvater gewiß sein Haus verwahren, wenn er in der Zeitung lieset, daß sich in der Nachbarschaft starke Diebesbanden zeigen […].“ (ebd.: 95) Furcht und Sorge sind angebracht, sobald das Übel nicht nur vorgestellt wird, sondern näher rückt und selbst erfahrbare Wirklichkeit werden könnte. Andere Verfasser wenden sich an die Adresse der Zeitungsmacher. Geht es um den Stil ihrer Berichte, so ist das unstatthafte, allzu überbordende Ausschmücken und Kommentieren ein Hauptthema. Der Staatsrechtler Martin Schmeitzel fragt 1723 in einer einschlägigen Abhandlung, „[…] Ob ein Gazettier nur referiren oder auch raisonniren solle und könne? “ (Schmeitzel 1723: 18). Auf die gebotene Knappheit der Darstellung verweist 1723 auch der Coburger Amtmann und Literat Georg Paul Hönn: „Zeitungs- Schreiber betrügen: 1) Wenn sie zu denen von andern Orten her erhaltenen Relationibus aus eigenem Gehirn noch ein mehrers ohne Grund darzu thun 7 Das mündlich überlieferte „Märchen“ gilt hier, im skeptischen Urteil der Aufklärung, als eine unwahre, wertlose, nur den Ungebildeten faszinierende Erzählung. <?page no="142"?> Michael Nagel 142 […] 2. Wenn sie eine Begebenheit, welche sich an einem anderen Orte zugetragen haben soll, ohne Noth vielfältig wiederholen […].“ (Hönn 1761) Und wenn schon von üblen Taten und böser Gewalt berichtet werden muss, weil solches nun einmal in der Wirklichkeit geschieht, so soll der Zeitungsmacher die gerechte und strenge Ahndung hervorheben und sich nicht in Details der Missetat verlieren auf eine Art, die Übelgesinnte gar zur Nachahmung reizen könnte. Der vielseitig tätige Literat Kaspar (von) Stieler mahnt zum Ende des 17. Jahrhunderts in einer umfangreichen Betrachtung zur richtigen Gestaltung und Rezeption der Zeitung: „Nun ist nicht zu leugnen / daß in den Zeitungen nicht allein von Ehebruch / Hurerey / Kindermord / Diebstal / Todtschlag / Verräterey / und wie diß alles künstlich vollbracht worden und vertuschet werden wollen / gemeldet werde : Es wird darinnen oft von einem verübten Bubenstück berichtet und die Art und Weise / wie solches angefangen und vollendet sey / so ümständlich beschrieben / daß / wer zu Bösem geneiget / daraus völligen unterricht haben kann / dergleichen auch vorzunehmen […] wie die Zeitungen nicht ermangeln / […] bald die allerschärfste Rache der Obrigkeit / und einen elenden Ausgang solcher Leute Verbrechen anzufügen.“ (Stieler 1695: 61) Kaspar Stieler erkennt eine Sensationslust auch beim gebildeten Publikum: Es scheint ihm nicht immun gegen die Faszination des Schreckens. Die Zeitungen seien dafür jedoch nicht verantwortlich, denn sie würden sich auf diesem Gebiet vergleichsweise zurückhalten: „Wenn auch gleich in den Zeitungen ein widriges und unangenehmes gemeldet wird; so bedenke man doch / daß man oft eine gemalte Tafel / worinnen Brand und Mord vorgestellet werden / ja so andächtig und genau ansiehet als ein Triumf-Bild / und sie deshalber nicht verwirft / weil sie Wunden / Blut / Glut und Tod / gleich denen Abbildungen der Schiffbrüche / und / die das wütende Meer verschlinget / oder: wann in den Trauer-spielen die Ketten rasseln / die Köpfe springen und die Unschuld gefoltert und getödtet wird.“ (ebd.: 21) Mit diesem grell gezeichneten Katalog von Schreckensvermittlern außerhalb der Presse unterstreicht der Verfasser seine Skepsis gegenüber sensationell aufgebauschten Gewaltdarstellungen. Dass eine gute Zeitung nicht alles in gleichem Umfang bringe, sondern eine - unparteiische - Auswahl des Berichtenswerten zu treffen wisse, betont auch der Staatsrechtler und Regierungsbeamte Johann Peter (von) Lud(e)wig 1705 (Ludwig 1705). Er befürchtet allerdings eine abnehmende Qualität, einen Verlust an Sachlichkeit und Objektivität bei der Zeitung, weil diese inzwischen auch in Kreisen kursieren würde, die zu einem reifen Urteil nicht fähig seien und so desto offener für die aus bestimmter Absicht unternommene gefühlsmäßige Einfärbung von Nachrichten: „So ist im Gegentheil der schädliche Vorwitz in diesen Dingen so weit kommen / daß nun fast kein Handwercks Mann der des lesens und schreibens kundig ist / sich findet / der nicht auch gern wochentlich seine Zeitungen lesen sollte. <?page no="143"?> Distanz statt Nähe 143 Dadurch dann nicht allein viel Zeit / dem gemeinen Wese zum Abbruch / liederlich verdorben; sondern auch Gelegenheit zu allerhand unnützen und ungebührlichen auch öffters in der Republique schädlichen discursen und urtheilen gemacht wird. Und eben deßwegen haben Staatskundige vor dienlich befunden / dergleichen öffentlich Gazetten in schwürigen Zeiten nach dem Wind des gemeinen Volcks einzurichten / und entweder dadurch / wie Nero durch Anzündung der Stadt Rom / dem Volck eine andre Materie zu besorgen oder zu reden verursachen, oder auch selbigen mit Freud / Traurigkeit / Furcht oder Hoffnung / nachdem es der Zweck eines Regenten erfordert / einzunehmen.“ (ebd.: 95) Hier unterscheidet der Verfasser offensichtlich zwischen einer sachlichinformativen, und vor allem neutralen, „Qualitätspresse“ und zweitklassigen Blättern, welche die Emotionen eines minder verstandeskräftigen Publikums entfachen und zielgerichtet kanalisieren. 3.4 Gewalt und Schrecken in der Presse des 17. und 18. Jahrhunderts: ein Zwischenfazit Die Presse vor 1800 ist noch nicht reif dafür, einem Terrorismus nach heutigem Verständnis zu sekundieren; die Zeitungen des 17. und 18. Jahrhunderts verschaffen ihrem Publikum noch keine unmittelbare Nähe zur schreckenerregenden Gewalt. Ihr stilistisches Repertoire, welches sich wiederum aus ihrem funktionalen Zusammenhang und damit auch den Erwartungen der Leserschaft ergibt, ist hierzu (noch) nicht hinreichend. Dies ist, wie gesagt, nicht als Unvermögen der Zeitungsmacher zu sehen, könnten diese doch für einen dramatischeren Ausdruck Anleihen etwa bei der Erzählliteratur oder dem mit schreckensvollen Grausamkeiten wohlversehenen Drama der Zeit machen (Beise 1997), wenn sie dies für angebracht hielten. Vielmehr handelt es sich hier, wie die zeitungstheoretische Diskussion vor und nach 1700 zeigt, um ein bewusst gewähltes Verfahren der Distanz und Nüchternheit gegenüber den vermeldeten Ereignissen allgemein und dem Gewaltsam-Schrecklichen insbesondere. 4 Exkurs: Zivilisierte Gewalt und rohe Gewalt, Distanz und Nähe: Bilder des Krieges bei Jacques Callot (1626) und Francisco Goya (1810-1812) 4.1 Beispiele illustrierter Gewalt 1626 und 1810-1812 Schreckliche Gewalt wird nicht nur verbal dargestellt, sondern auch bildlich. So liegt die Frage nahe, welche bildlichen Gewaltdarstellungen die Publizistik vor dem 19. Jahrhundert ihrem Publikum bot. Bestätigen diese die im Text der Zeitung vermittelte Distanz zwischen Geschehen und Leser? Die <?page no="144"?> Michael Nagel 144 Zeitungspresse vor 1800 verwendete allerdings in der Regel noch keine Illustrationen (Barret 1978, Macias 1990) - im Unterschied zu anderen Pressegattungen des 17. und 18. Jahrhunderts - und kann somit zur Untersuchung bildlicher Gewaltdarstellungen nicht herangezogen werden. Stattdessen sollen an dieser Stelle zwei Beispiele der Schilderung kriegerischer Gewalt in der bildenden Kunst vorgestellt werden, die aus unterschiedlichen Epochen stammen: In die Zeit der Frühen Presse fällt die graphische Befassung von Jacques Callot (1592-1635) mit dem Dreißigjährigen Krieg, und zu Beginn des 19. Jahrhunderts setzt sich Francisco Goya (1746-1828) künstlerisch mit dem Französischen Revolutionskrieg auf spanischem Territorium auseinander. Aus dem Schaffen von Callot interessiert hier die 1626 entstandene großformatige Radierung „Die Belagerung von Breda“, von Goya der Zyklus „Desastres de la Guerra“, zwischen 1810 und 1812 als Radierungen und in Aquatinta ausgeführt. Zu Anliegen, Verfahren und Ergebnis dieses Exkurses aus dem Areal der Pressegeschichte heraus ist vorab einschränkend zu bemerken: Beide Werke bzw. Werkfolgen sollen hier lediglich knapp und punktuell, unter dem Aspekt der Gewaltdarstellung und insbesondere der Nähe oder Distanz des Betrachters dazu, betrachtet werden. Aus dem Resultat ist keine generelle Aussage über die Thematisierung von Gewalt in der jeweils zeitgenössischen Kunstepoche abzuleiten. Ebenso wenig kann daraus auf eine bestimmte Einstellung des jeweiligen Publikums gegenüber tendenziell schreckeneinflößenden Gewaltdarstellungen geschlossen werden. Der kurze Ausflug in Einzelbeispiele der bildenden Kunst zweier Epochen kann lediglich die für die Zeitungspresse gestellte Frage nach der möglichen Distanz oder Nähe des Betrachters zur Gewalt aus einem anderen medialen Zusammenhang heraus anschaulich ergänzen. 4.2 Jacques Callot: Die Belagerung von Breda, Radierung 1626 Hier handelt es sich um eine bereits von Zeitgenossen als überragendes Meisterwerk der Kriegsgraphik anerkannte Monumental-Radierung (aus sechs Einzelblättern zusammengesetzt), die in ca. 450 Exemplaren gedruckt wurde. Thema ist die 1624/ 25 stattfindende Belagerung der niederländischen befestigten Stadt Breda durch eine spanisch-flandrische Armee, eine Episode aus dem langen Krieg zwischen Spanien und den Vereinigten Provinzen der Niederlande - damals am Rande des Dreißigjährigen Krieges -, die europaweit große Beachtung erfuhr und von namhaften zeitgenössischen Künstlern ins Bild gesetzt wurde. Callots Radierung war ein Auftragswerk der Statthalterin der Spanischen Niederlande, Infantin Isabella Clara Eugenia, und kann auch aus diesem Grunde - ebenso wie andere Bilder von kriegerischer Gewalt - nicht als vollkommen realitätsentsprechend oder neutral gelten. Gleichwohl ist der hier vermittelte ungewöhnlich detail- <?page no="145"?> Distanz statt Nähe 145 reiche Blick über das spanische Heerlager und die Belagerungsanlagen hinweg, mit zahlreichen Rand- und Nebenschauplätzen, Gruppen- und Einzelepisoden des soldatischen Treibens, sichtlich um Objektivität bemüht und nicht durchweg Propaganda. Für die Frage, wie Callot den Betrachter hier an das Thema „Gewalt“ heranführt, erscheint insbesondere ein Beitrag von Beate Engelen relevant, die das Werk in der Methodik der historischen Bildkunde untersucht hat (Engelen 2008). Demnach zeigt sich hier eine zweifache Einstellung des Künstlers zur Gewalt: Zum einen stellt er eine legitime, geordnete, sozusagen „zivilisierte“ Gewalt dar, die, im Sinne der später in Zedlers Lexikon benannten „Potestas“ (s. o.), einem überlegten Plan und straffen Kommando folgt (Zeitgenossen und zumal die Auftraggeberin wussten, dass damit der spanische Befehlshaber Ambrosio Spinola gemeint war): Die spanischen Einheiten sieht man hier teilweise in Reih und Glied, das Feldlager im Vordergrund und die Belagerungseinrichtungen sind wohlgeordnet, die Disziplin der Truppe ist im Ganzen gewährleistet, auch dank einer effektiven Militärjustiz. Diese zeigt Callot - als Detailszene - anhand der durchaus grausam-schrecklichen Bestrafung eines Missetäters am Wippgalgen. Als historisch verbürgte, erfolgreiche Aktion der Spanier dokumentiert er in einem anderen Ausschnitt die Kaperung von Nachschub-Booten des Feindes, die diszipliniert und ohne Greueltaten vor sich geht. Zum anderen montiert Callot einige Szenen einer ungeordneten, rohen, dem Betrachter missfälligen Gewalt in seine große Radierung hinein: Man erblickt hier tumultuarische, individualistische Kämpfe zwischen Bauern und Soldaten, Plünderungen durch marodierende Angehörige der Truppe, Überfälle auf Zivilisten, an denen ebenfalls spanische Soldaten der flandrischen Armee beteiligt sind, die sozusagen aus dem Ruder gelaufen sind. Diese wüste, willkürliche und erschreckende Gewalt ist offensichtlich die Kehrseite der ersten Variante, also der „sinnvollen“, regulierten Gewalt, die das Werk insgesamt dominiert. Die Tatsache, dass Krieg und Gewalt hier nicht durchweg negativ erscheinen, fällt möglicherweise mit zwei zeitgenössischen Auffassungen zusammen, die beides als unvermeidlich ansehen: Einerseits sind sie von Gott gesandt als Prüfung und als Sündenstrafe. Andererseits, in einer irdischen Perspektive, deuten damalige Gesellschaftstheoretiker den Sinn der Kriegsgewalt in ihrer Funktion der - gelegentlich kulminierenden - Kanalisierung von stets vorhandener innergesellschaftlicher Gewalt, mit der Ausrichtung auf einen äußeren Feind hin (Hale 1971: 26). Wird hier, unter Berufung auf Autoren der Antike und die Bibel, die individuelle Veranlagung zur Gewalt auch unterschiedlich gesehen - „determined or conditioned? “ (ebd.: 16) -, so plädieren selbst die Utopisten eines dauerhaft friedlichen Zusammenlebens dafür, sich für den Fall des Kampfes zu wappnen. <?page no="146"?> Michael Nagel 146 Abb. 3: Die geregelte, disziplinierende Gewalt der Militärjustiz: Bestrafung eines marodierenden Soldaten am Wippgalgen, Detail aus Jacques Callots „Belagerung von Breda“ (1626) Für denjenigen, der, geplant oder überraschend, seinen Anteil am gewaltsamen Ereignis hat, kommt es vor allem darauf an, sich dabei kontrolliert, ethisch-ritterlich zu verhalten; dies gilt insbesondere für die in führender Position Beteiligten. Gewaltausübung ist also auf das „Notwendige“ zu reduzieren; am Schluss einer erfolgreichen Belagerung sollte beispielsweise eine geordnete Übergabe der Stadt stehen und keine Erstürmung mit anschließendem Massaker an den Einwohnern (Engelen 2008: 141). Jacques Callot plädiert in seiner „Belagerung von Breda“, wie auch in anderen Kriegsillustrationen, offensichtlich für die distanzierte und abwägende Perspektive auf eine im Idealfall nicht blindwütig, sondern zu Recht ausgeübte Gewalt. Sein 1633 fertiggestellter Kupferstich-Zyklus „Les Miseres et les Malheurs de la Guerre“ unterscheidet in ähnlicher Weise zwischen der rohen, zügellosen und sadistischen Gewalt marodierender Soldaten gegen die Zivilbevölkerung und der anschließenden zwar ebenfalls grausamen, aber gerechten und notwendigen Bestrafung der Missetäter durch die Militärjustiz. Auch in diesem Zyklus lässt sich als Botschaft erkennen: Wer Gewalt ausübt, sei es als „Violentia“ oder „Potestas“, soll daran denken, dass er in <?page no="147"?> Distanz statt Nähe 147 jedem Falle vor Gott einst Rechenschaft darüber ablegen muss (Knauer 1997: insbes. 97 ff.) und selbst auf Erden schon für begangenes Unrecht belangt werden kann (Choné 1999: insbes. 422 ff.). Jacques Callot habe sich, so Angelika Lorenz, in seinen graphischen Darstellungen von Krieg und Gewalt „[…] das höfische Prinzip der Affektkontrolle, der kühlen Distanziertheit […] in perfektionistischer Weise zu eigen gemacht“ (Lorenz 1998: 216): Der Betrachter soll nicht in den Schrecken hineingezogen und davon über Gebühr ergriffen werden, sondern den Überblick - im Sinne des Wortes - bewahren können. Dies entspricht dem Standpunkt der Zeitungstheoretiker vor und nach 1700, und auch in der Gestaltung der Frühen Presse finden sich Parallelen dazu. Ein bezeichnendes Beispiel ist die als illustratives Element in den Zeitungen und Zeitschriften des 17. und 18. Jahrhunderts zentrale Figur des geflügelten Götterboten Mercurius, der als - oft auch titelgebender - Nachrichtensammler und überbringer nicht inmitten des Treibens, sozusagen als „embedded journalist“, sondern aus ferner, erhöhter Warte das Treiben der Welt registriert und vermeldet (Weber 1994). - <?page no="148"?> Michael Nagel 148 Abb: 4: Mercurius, der Götterbote, Nachrichtensammler und -bringer, beobachtet von oben: Titelblatt Nr. 20, 1615, des Wolfenbütteler Aviso <?page no="149"?> Distanz statt Nähe 149 4.3 Francisco Goya: „Desastres de la Guerra“, 1810-1812 Nur knapp, als Kontrast zur Darstellung von Gewalt und Schrecken bei Jacques Callot, soll hier auf eine modernere Variante der bildlichen Auseinandersetzung mit diesen beiden Phänomenen eingegangen werden. Zwischen 1810 und 1812 schuf Francisco Goya die insgesamt 82 Radierungen seines Zyklus „Desastres de la Guerra“, deren Aussage zu Schrecken und Gewalt hier kurz betrachtet werden soll. Der Vergleich zwischen diesen beiden Protagonisten der graphischen Gewalt-Darstellung wurde bereits an anderer Stelle unternommen (Reuter 2004: 191 ff., Cornew 1998). Im Zusammenhang der hier diskutierten Thematik liegt er insbesondere nahe wegen seiner Parallelen zur medialen Vermittlung von Grausamkeit und Schrecken. Während Jacques Callot in Abbildungen des Kriegsgeschehens eine Unterscheidung zwischen sinnvoller und roher Gewalt trifft und dem Betrachter einen distanzierten und souveränen Blick auf beide Varianten ermöglicht, zeigt Francisco Goya gut hundertachtzig Jahre später in seinen schlaglichtartigen, zu einem Gutteil realistisch anmutenden Abbildungen vom spanischen Kriegsschauplatz eine ungeheuerliche, sadistisch-brutale Gewalt, wie sie meist von Soldaten der französischen Besatzungsarmee, teilweise aber auch von spanischen Aufständischen - Männern wie Frauen - ausgeübt wird, Resultat und Indikator eines Scheiterns von Vernunft und Ethik. Zum Realitätsgehalt dieser Bilder: Vermutlich hat Goya nicht alle der von ihm dargestellten Szenen tatsächlich miterlebt. Die gleichwohl zu beobachtende Präsenz und Unmittelbarkeit der Darstellung deuten für Werner Hofmann bereits auf die „[…] Optik der Photographie und der Filmkamera […]“ hin (Hofmann 1980: 121). Die Drastik der grausamen Szenen, das Arrangement der darin Verstrickten und der Einsatz weiterer künstlerischer Mittel beunruhigen und verstören den Betrachter nachhaltig, also in einer Weise, die über den Moment des Anblicks hinausreicht: Die These von Jörg Jochen Berns, dass Schreckbilder, sozusagen qua definitionem wegen des für den Schreck konstitutiven Moments der Überraschung, ledglich für den ersten Moment ihrer - erstmaligen - Betrachtung Wirkung zeigen könnten (Berns 2010), erscheint hier entkräftet, ebenso das Urteil von Werner Hofmann, dass Goya bei diesen Bildern die „[…] Blicksteuerung […] schnell und kühl fokussiert und so bei aller Nähe nie die sachliche Distanz des Reporters preisgibt. Auch das wüsteste Geschehen steht im Licht nüchterner Feststellung“ (Hofmann 2003: 206): Für die Perspektive und Arbeitsweise des Künstlers klingt dies plausibel, für die Wirkung auf den Betrachter jedoch nicht, denn diese Anblicke führen direkt in das schreckliche Geschehen hinein; eine reflektierende Wahrnehmung von außen ist hier nicht mehr möglich. Der distanzierte Blick geht unter anderem deshalb verloren, weil Goya die künstlerischen Konventionen der Kriegs- und Schlachtenmalerei, insbesondere den planvollen, <?page no="150"?> Michael Nagel 150 sozusagen historiographischen Überblick über das Gesamtgeschehen, durchbricht: Er lässt jeweils nur wenige Täter und Opfer des Schreckens groß im Vordergrund seiner Bilder agieren (Reuter 2004: 187 ff., insbes. 193) und „[…] hebt die Distanz auf“, wie auch Hofmann an anderer Stelle bestätigt (Hofmann 1980: 121, ähnlich Bozal 1983: 207). Dies geschieht auf eine so eindringliche, verstörende Weise, dass der historisch-politische Kontext in den Hintergrund tritt, ja austauschbar wird. Dieses Fehlen eines historischerzählerischen Bezugsrahmens trägt zur Unsicherheit und zum nachhaltigen Schrecken des Betrachters bei. Vermitteln Callots Kriegs-Zyklus und seine „Belagerung von Breda“ in ihrer planvoll angelegten Komposition und ihrem kohärent erzählerischen Duktus, trotz ihrer schreckensvollen Einzelepisoden, die Sicherheit einer letztlich zum gerechten Abschluss kommenden Narratio von der Überwindung der „Violentia“ durch die „Potestas“, so verweigern Goyas jeweils isoliert für sich stehende Einzeldarstellungen dem Zuschauer die tröstliche Einbettung in eine erzählerische Struktur, vom positiven Ausgang ganz zu schweigen. Abb. 5: Francisco Goya: Esto es peor / Das ist schlimmer, Los Desastres Bl. 37. Die hier erreichte unvermittelte Konfrontation mit dem Schrecklichen macht Goya mit seinen 1812 abgeschlossenen „Desastres“ einerseits zu einer Ausnahmeerscheinung in seiner Zeit, zu einem Avantgardisten (auch wenn er <?page no="151"?> Distanz statt Nähe 151 als solcher vom damaligen Publikum wohl nur bedingt wahrgenommen wurde, denn der Bilderzyklus durfte aus politischen Gründen - mangels Parteinahme fügte er sich nicht in das spanisch-nationale Narrativ der anschließenden Restaurationsepoche - erst Jahrzehnte nach seiner Entstehung an die Öffentlichkeit gelangen). Andererseits steht der Zyklus für einen damaligen, nicht nur im künstlerischen Bereich stattfindenden Wandel in der Darstellung und Rezeption des gewalttätigen Schreckens wie überhaupt der dunklen Seiten menschlichen Handelns und Empfindens. Die intensivere Thematisierung seelischer Erfahrungen, dabei auch die Distanzlosigkeit und das Ausgeliefertsein gegenüber starken äußeren Eindrücken und der eigenen Gefühlswelt, insbesondere die Öffnung gegenüber dem Grauenhaften, finden ihre Entsprechung beispielsweise in der romantischen Literatur. Es wäre verwunderlich, wenn die Presse, als Spiegel und Gestalterin der öffentlichen Meinung ihrer Zeit, sich hiervon hätte freihalten können. 5 Der Schrecken rückt näher: Szenen der Französischen Revolution in der Zeitung In der deutschen Presse bahnt sich die Annäherung an den Schrecken unter anderem mit der Rezeption der Französischen Revolution an, über die die gebildete deutsche Öffentlichkeit durch zahlreiche Übersetzungen, Berichte und insbesondere die Presse aktuell und umfassend unterrichtet war (Reichardt 1992: 91 ff.). Schaute der damalige Zeitungsleser zur blutigen Endzeit des „terreur“, zwischen dem 01.07. und dem 15.08.1794, in seinen „Hamburger Correspondenten“ - mit vollem Titel „Staats=u. Gelehrte Zeitung Des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten“, im folgenden: „HC“ -, damals das beste und verbreitetste deutsche Blatt (Böning/ Moepps 1996: Bibl. Nr. 90, Böning 2013), so wurde er mit einer intensiven Darstellung der politisch motivierten Gewaltexzesse konfrontiert. Zwar finden sich in den fortlaufenden Berichten aus Paris noch sachlich-formelhaft erscheinende Angaben etwa zur Anzahl der täglich Guillotinierten, gelegentlich bzw. in Auswahl mit Angabe von Namen und Stand, im Stil eher der Frühen Presse. Hinzu treten nun aber atmosphärische Schilderungen, die den Leser dicht an das grauenvolle Ereignis heranführen. Am 01.07.1794 meldet die Zeitung: „[…] den 12ten [Juni] sind 17 und den 13ten 23 Personen hingerichtet worden. Die Executionen werden jetzt nicht mehr auf dem Revolutionsplatz, sondern am äußersten Ende der Vorstadt St. Antoine […] verrichtet. Man hatte anfangs den Platz bey der Bastille am Eingang dieser Vorstadt gewählt, aber da er mit Häusern ringsum eingeschlossen ist, so befürchtete man, die Menge des Bluts, das täglich vergossen wird, möchte die Luft anstecken, und wählte deshalb einen ganz freyen Ort.“ (HC, 1794, Nr. 104, 1. Juli) <?page no="152"?> Michael Nagel 152 In derselben Nummer wird von den insgesamt 42 Hinrichtungen des 16.06. berichtet. Eine Gruppe der Exekutierten sei vom Tribunal beschuldigt worden, „[…] daß sie die Mitglider des Wohlfahrts-Ausschusses hätten ermorden, ihnen das Herz aus dem Leibe reißen, es braten und essen, und die vornehmsten Mitglieder des gedachten Ausschusses in eine mit Nägeln gespickte Tonne hätten stecken wollen.’“ Vom Sturz Robespierres am 27.07.1794 wird erstmals berichtet in der Nr. 128 vom 12.08. Bei dieser Gelegenheit findet sich auch eine erste kritische Analyse des „terreur“, die den schreckensvollen Charakter dieser Herrschaft hervorhebt, um ihren - unvermeidlich ebenfalls gewaltsamen - Abschluss als notwendig und legitim darzustellen: „Welches Volk konnte auch wohl barbarisch genug seyn, um täglich mit kaltem Blute aus den elendesten Bewegungsgründen eine Menge alter und junger Personen aufopfern zu sehen, deren ganzes Vergehen darin bestand, daß sie von vornehmer Geburt oder begütert waren? So groß auch die Furcht ist, welche in diesem Augenblick alle Franzosen, die Eigenthum besitzen, die in ihren Häusern entwaffnet, oder in den unzähligen Bastillen, welche Frankreich bedecken, gefangen sind, gleichsam zusammendrückt; so machen doch das Jammergeschrey des einen Theils, und die Verzweiflung des andern, Eindruck auf jeden Mann aus der Nation, der sein Herz noch nicht allen Empfindungen verschlossen hat. Aus dieser Lage der Sache entstanden Veränderungen in der allgemeinen Meinung, welche die Patronen des Revolutions-Gouvernements mit Entsetzen wahrnahmen; aber sie ließen sich doch dadurch nicht ausser Fassung bringen. Ueberzeugt, auf eine schreckliche Art den Tod zu leiden, wenn sie die Revolutions Macht aus den Händen entwischen ließen, verdoppelten sie Macht und Verwegenheit, um sie immer dauernder zu machen. Ihre beiden großen Triebfedern waren der Krieg und die Guillotine. […] Natürlich konnte diese schreckliche Vergießung von Menschenblut nicht lange mehr dauern.“ (HC, 1794, Nr. 128, 12. August) Weitläufig wird drei Tage später von der Exekution Robespierres und seiner Anhänger am 28.07.1794 berichtet. Von Schrecken und Grausamkeiten ist hier wenig die Rede, der Leser wird nun in ein anders gestimmtes Paris mitgenommen: „Noch nie waren zu Paris bey einer Hinrichtung […] so viele Menschen versammelt gewesen […] Frauen, Kinder, Greise - kurz, ganz Paris war auf den Beinen. Auf allen Gesichtern sah man Freude und Entzücken über die Bestrafung der nun enthüllten Tyrannen.“ (HC, 1794, Nr. 130, 15. August) Diese Schilderungen sind in ihrer Ausführlichkeit und Diktion darauf angelegt, den Leser emotional zu stimulieren. Von der Distanz der Frühen Presse zum berichteten Ereignis, von ihrer trockenen und sachlichen Wiedergabe allein des Faktischen, ist hier wenig geblieben. Ob es allerdings, über diese Beobachtung hinaus, tatsächlich die Zeit der Französischen Re- <?page no="153"?> Distanz statt Nähe 153 volution war, die einen Wendepunkt im Stil der Zeitungsberichterstattung mit sich brachte, dies müsste systematischer und breiter erforscht werden. 6 Distanz und Nähe zum Schrecken: Ausblick Dass die innergesellschaftliche Gewalt sich schon im Verlauf des 18. Jahrhunderts verringerte, wurde bereits festgestellt; ebenso ging nach den Napoleonischen Kriegen die direkte oder indirekte Konfrontation mit militärischer Gewalt prägnant zurück. Dabei soll der Schrecken der Kriege des 18. und 19. Jahrhunderts nicht kleingeredet werden; ein bekanntes Beispiel ist die an grausigen Details reiche Erinnerung Ulrich Bräkers an die Schlacht von Lobositz am 01.10.1756 (Bräker 1789/ 2000: 463 f., vgl. auch Lorenz 2012). Gleichwohl tritt der wirklich erfahrbare, aus bedrohlicher Gewalt rührende Schrecken ab 1815 in den Hintergrund. Wird die Gesellschaft, werden die Zeitungsleser mit dem tatsächlichen bzw. rational erzielten Gewinn von Sicherheit anfälliger für den Schrecken der lediglich als Möglichkeit bestehenden, der unerwarteten, in der Vorausschau befürchteten Gewalt? „Du bebst vor allem, was nicht trifft“, erkennt Goethe im „Faust“ eine pessimistische Disposition, die das Schreckliche jederzeit und überraschend hereinbrechen sieht. Diese unerwartete Gewalt braucht nicht manifest zu werden und kann gerade deshalb Wirkung zeigen. Erlebt wird die Furcht vor einer Heimsuchung, die sich zu einer anderen Zeit und andernorts zwar gezeigt hat, die aber für die eigene Lebenswelt lediglich als Möglichkeit gegeben ist: „Die Sorge nistet gleich im tiefen Herzen, Dort wirket sie geheime Schmerzen, Unruhig wiegt sie sich und störet Lust und Ruh; Sie deckt sich stets mit neuen Masken zu, Sie mag als Haus und Hof, als Weib und Kind erscheinen, Als Feuer, Wasser, Dolch und Gift; Du bebst vor allem, was nicht trifft, Und was du nie verlierst, das mußt du stets beweinen.“ (Goethe, J.W., Faust 1, Kap. 4) Die Erzeugung und Ausgestaltung dieser Furcht, dieses Schreckens obliegt, neben der mündlichen Mitteilung, den Medien. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wird das „andernorts“ der dort genannten Schauplätze näher an den Zeitungsleser heranrücken: Mit der Eisenbahn - in Europa seit den 1830er Jahren - und dem Telegrafen - in Europa ab ca. 1850, nach Übersee ab 1866 - verkürzt sich nun der Abstand zwischen Ereignis und Meldung. Für mehr als zwei Jahrhunderte zuvor war diese zeitliche Distanz zuverlässig durch die Frequenz und Geschwindigkeit des Postnetzes vorgegeben, wie es zur Zeit der ersten gedruckten Zeitung, also 1605, bereits reichsweit ausgebaut <?page no="154"?> Michael Nagel 154 war. Am Entstehen der Zeitungspresse war dieses Postnetz maßgeblich beteiligt, denn es beförderte einerseits die Nachrichten - als Briefe von Korrespondenten - zu den Zeitungsmachern und andererseits die daraus zusammengestellten Zeitungen zu den Abonnenten (Kutsch/ Weber ²2010). Nun war die Geschwindigkeit der Nachrichtenübermittlung auf diesem Wege, bis zur Einführung der Eisenbahn, auf maximal ca. 100 km innerhalb von 24 Stunden begrenzt (Weber 2008, Kranhold ²2010). Dies konnte dem damaligen Zeitungsleser einen Abstand zum Ereignis suggerieren: Das Furchtbare geschah in der Ferne und blieb dort. Verstören konnte es in der Nähe wenig; es mochte sogar zum Gegenstand einer nicht erschreckten, sondern harmlosen Unterhaltung werden, wie sie Goethes „Osterspaziergänger“ führen: „Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen, Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, Wenn hinten, weit, in der Türkei, Die Völker aufeinander schlagen.“ (Faust 1, Vor dem Tor, Osterspaziergang) Die Zeitung, die den Stoff für ein solches Gespräch bereitstellt, wirkt in ihrer raum-zeitlichen und stilistischen Distanz zum berichteten Ereignis noch nicht beunruhigend. Die Leserschaft kann sich hier über Schreckliches informieren, ohne davon auf irrationale Weise erschüttert zu werden. Als Bühne terroristischer Taten hätte eine solche Presse nicht getaugt. Was könnte sich hieraus für den aktuellen Umgang der Medien, insbesondere der Zeitung, mit dem Terrorismus ergeben? Natürlich würde ein Blatt im Stil des 17. und 18. Jahrhunderts dem heutigen Publikum, um dessen Aufmerksamkeit mittlerweile eine Reihe weiterer Medien mit zusehends emotional stimulierenden Inhalten und Formen konkurrieren, nicht mehr genügen. Zudem gibt es in der jüngeren Geschichte des Journalismus Beispiele auch für die letztlich positive Auswirkung von gefühlsmäßig anrührenden Schilderungen kriegerischer Gewalt. So erwuchs die zunehmende Kritik am Vietnamkrieg in den USA seit den späten 1960er Jahren nicht zuletzt aus einer bisher nicht gekannten subjektiv-engagierten Zeitungsberichterstattung von Journalisten vor Ort über die Greuel des Feldzuges (Santos 2009: 17) - eher Goya als Callot, wenn man so will -, deren Legitimität als Gegenstimme zur damaligen Propaganda der amerikanischen Regierung zu Recht betont wird. Überhaupt könne das journalistische Gebot der distanzierten Objektivität bei der Konfrontation mit Gewalt an seine Grenzen kommen: „By blindly obeying the journalistic mandate to remain neutral, we often fail to absorb the tragic proportions of a violent event.“ (ebd.: 3) Kritisch sieht eine Protagonistin im Werk der Schriftstellerin Gila Lustiger diejenige Zeitungslektüre, welche den Leser in unbeteiligter Contenance belässt: „Die Zeitung, habe ich vor kurzem gedacht, während ich meinen Vater Zeitung lesen sah, zertrampelt Tag für Tag das Gefühl mit ihrer zurückhaltenden, kaltblütigen Ausgeglichenheit. Und gerade da, wo sie Leid am präzisesten beschreibt, zerstört sie es rücksichtslos. Die Zeitung, habe ich <?page no="155"?> Distanz statt Nähe 155 schon immer gedacht, ist hoffnungslos falsch, denn sie rettet eine übersättigte, zeitungslesende Gesellschaft vor schneidendem Schmerz, und nur aus einem Grund wird sie gelesen: damit man gemütlich, enthaltsam und vernünftig das menschliche Leid erträgt.“ (Lustiger 2005: 22). Noch kritischer wäre allerdings die Zeitung bzw. das Medium zu sehen, das sich aus ökonomischen Erwägungen bedenkenlos in den Dienst der euphemistisch so bezeichneten „Propaganda der Tat“ (Hubac-Ochipinti 2007) stellte, indem sie deren begrenztes Schreckenspotenzial über Gebühr vergrößerte. Angebracht wäre in diesem Falle statt dessen, selbst gegen die Erwartungen des Publikums (Seaton 2005) und seine - bereits von Kaspar Stieler 1695 beobachtete - Empfänglichkeit für Gewaltdarstellungen: Distanz statt Nähe. 7 Bibliographie Adelung, J. C., 1811. Grammatisch-critisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart. Teil 2. Wien: Pichler. Barret, A., 1978. 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Auf dieser Kundgebung wurde gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze demonstriert. Krahl entfaltet hier ein Gewalt-Konzept, das sich auf Staat und Gesellschaft bezieht einerseits (Volksverhetzung der Bild-Zeitung, Vorbereitung der Notstandsdiktatur), auf Formen des Widerstands gegen dieses als Gewalt bezeichnete Handeln andererseits (Notwehr und Widerstand). Damit sind die beiden prinzipiellen Gewalt-Dimensionen des politischen Diskurses der späten 1960er Jahre bezeichnet: Der Wirklichkeitsausschnitt ‚Gewalt’ wird aus unterschiedlichen Perspektiven konstituiert, entsprechend gegensätzlich fallen die Bewertungen aus. 1 Wohl kaum ein anderes Segment des die späten 1960er Jahre prägenden Diskurses ist daher so von Kontroversität der Diskursbeteiligten und von Heterogenität des Diskursgegenstands gekennzeichnet wie dieses. Das Gewalt-Segment stellt sich als ein Aspekt des Demokratie-Diskurses der späten 1960er Jahre dar, ja Demokratie und Gewalt sind Ende der 1960er Jahre zwei semantisch aufeinander bezogene Konzepte. Oskar Negt, einer der am Protestdiskurs Beteiligten, weist in Bezug auf die studentische Widerstandsbewegung dem Thema dasselbe Gewicht zu wie dem der Demokratie. „Das Thema ‚Demokratie’ steht - neben dem der Gewalt - im Mittel- 1 Ingrid Gilcher-Holtey beschreibt insofern Gewalt als „Trumpf in der politischen Auseinandersetzung. Über die Zuschreibung von Gewalt werden politische Kämpfe ausgetragen: Situationen und Ereignisse dramatisiert und skandalisiert, aber auch Abgrenzungen und Ausschließungen vorgenommen.“ (Gilcher-Holtey 2006: 201) <?page no="162"?> Heidrun Kämper 162 punkt von Aktionen und Ideen, um die 68 gekämpft wird“ (Negt ³2001: 135). Diskurs- und konzeptgeschichtlich können wir entsprechend sagen: Das Thema ‚Demokratie’ steht mit dem Segment ‚Gewalt‘ im Zentrum des Protestdiskurses und die lexikalische Verdichtung dieses Diskurses, Gewalt, erfährt dementsprechend spezifische diskurssemantische Ausdeutungen. Dass nicht nur der Staat, sondern auch die studentische Protestbewegung der späten 1960er Jahre in den Kontext des Gewalt-Diskurses gerückt wird, ist bekannt: Beiträge und Vorträge Ende der 1960er Jahre heißen Das Problem der Gewalt in der Opposition (Herbert Marcuse), Politik und Gewalt (Oskar Negt), Probleme der Gewalt und Gegengewalt (Peter van Spall), Die Auferstehung der Gewalt (Heinz Grossmann/ Oskar Negt), 1967-1969 Gewalt und Gegengewalt (Klaus Schroeder/ Siegward Lönnendonker). Gewaltreflexionen wie diese und ihre diskursive Dichte dokumentieren: Gewalttätiges Handeln gehört nicht zu den revolutionären Gewissheiten der Diskursbeteiligten, die Ausdeutung des Leitworts Gewalt steht mithin zur Disposition, und das heißt, das Gewaltkonzept und seine semantische Bestimmung sind Gegenstand eines entsprechenden diskursiven Segments. 2 Diejenigen, die sich in kritischer Haltung mit der Bundesrepublik und ihrer Gesellschaft politisch auseinandersetzen, lassen sich nach zwei Hauptgruppen unterscheiden, die der intellektuellen und die der studentischen Linken. Sie führen einen agonalen Diskurs um ein Konzept von Gewalt, das die studentische Linke legitimiert als einen Aspekt von praktizierter radikaler Demokratie, das die intellektuelle Linke im Gegenteil als ihrem Demokratiekonzept widersprechend versteht. Das Thema Gewalt, das Konzept GEWALT und das Leitwort Gewalt zieht mithin eine Trennlinie der Diskursbeteiligten und ihrer prinzipiellen Positionen - bei aller sonstigen politischen Nähe: „Nicht wenige meiner Impulse sind denen der Jugend in der Gegenwart verwandt, Sehnsucht nach dem Besseren, nach der richtigen Gesellschaft, mangelnde Anpassung an das Bestehende. Auch teile ich die Bedenken gegen die Bildungsarbeit an Schulen, Hochschulen und Universitäten. Der Unterschied betrifft das Verhältnis zur Gewalt, die in ihrer Ohnmacht den Gegnern gelegen kommt. Offen zu sagen, die fragwürdige Demokratie sei bei allen Mängeln immer noch besser als die Diktatur, die ein Umsturz heute 2 Der folgende Beitrag steht im Kontext eines von der DFG geförderten Forschungsprojekts, dessen Ergebnisse als ‚Aspekte des Demokratiediskurses der späten 1960er Jahre‘ dargestellt sind (Kämper 2012). Der Fokus des Erkenntnisinteresses dieser Studie ist auf den Beitrag des kritischen Diskurses der späten 1960er Jahre zur sprachlichen Demokratiegeschichte des 20. Jahrhunderts gerichtet, genauer: auf die Fundierung eines konsequenten Demokratiekonzepts durch die Kritische Theorie, auf die Rezeption (Aneignung und Radikalisierung) dieses Konzepts durch die studentische Linke, sowie auf die diskursiv repräsentierte Kommentierung dieser Rezeption durch die intellektuelle Linke. <?page no="163"?> Gewalt-Konzepte der späten 1960er Jahre am Beispiel 163 bewirken müßte, scheint mir jedoch um der Wahrheit willen notwendig zu sein.“ (Horkheimer 1968: 349) Der folgende Beitrag thematisiert einen Gewaltaspekt aus der Innenperspektive der studentischen Beteiligten, der politisierten Aktivisten in den späten 1960er Jahren. Mit dieser Perspektive beziehe ich mich also nicht auf Gewalt- Konzepte, die die Gewalt der Anderen kommentieren oder bewerten - also nicht auf die Perspektive der Medien und deren Konzeptualisierung von Widerstandshandlungen der Protestbewegung. Sondern wir rekonstruieren Gewalt-Konzepte derjenigen, die über ihre Anwendung als Praxis oder als Option eigenen legitimen politischen Handelns reflektieren - auf die Konzeption der studentischen Beteiligten m. a. W. Damit geht es also auch nicht um medial etablierte metaphorische Gewalt-Konzepte, sondern um solche, die vielmehr mit der Gewalt der Medien das eigene widerständige Handeln begründen. 2 Zugang Das Erkenntnisziel der Untersuchung steht im Kontext des Zusammenhangs von Sprache und Gesellschaft und der diskursiven Repräsentation dieses Verhältnisses. In diesem Sinn ist die folgende Untersuchung diskursanalytisch angelegt, d. h. ihr liegt ein Korpus themenkohärenter Texte der wesentlich am Diskurs beteiligten studentischen Gruppierung zugrunde. 3 Themenkohärent bedeutet: Die Texte thematisieren einen Gegenstand, in unserem Fall den Gegenstand GEWALT, dominant und seriell. Die Diskursbeteiligten, die Vermittlungsinstanzen zwischen Sprache und Wissen, sind in unserem Fall die am Diskurs der späten 1960er Jahre wesentlich beteiligten studentischen Linken. Eine Relation zwischen den Diskursbeteiligten und der sprachlichen Konstitution des Diskursthemas besteht insofern, als die Perspektivengebundenheit der Diskursbeteiligten weltbild- und einstellungsprägend ist. 4 Gegenstand der Untersuchung ist die diskursive Bedeutungskonstituierung des im Protestdiskurs der späten 1960er Jahre zentralen Konzepts GE- WALT aus der Perspektive der studentischen Akteure. Wir verstehen unter Konzepten komplexe mentale Strukturen, die in Hierarchien bzw. Netzen Bedeutungswissen strukturieren. Insofern ist ein Konzept ein, einen Bedeu- 3 Zur Theorie und Methode des Zugangs vgl. ausführlich Kämper (2012: Kap. 3, 19 ff.). 4 In diesem Sinn konstituieren Warnke/ Spitzmüller Diskursgemeinschaften als „Gruppierungen, die innerhalb des Diskurses mehr oder weniger ähnlichen diskursiven Praktiken verpflichtet sind bzw. sich als Kollektiv zu erkennen geben“. Sie seien als „dynamisch vernetzte Gebilde“ zu verstehen sowie als „Resultate (gleichermaßen dynamischer) Identitätszuschreibungen …, deren sprachliche Aushandlung soziolinguistisch beschrieben werden kann“ (Warnke/ Spitzmüller 2008: 34). <?page no="164"?> Heidrun Kämper 164 tungszusammenhang stiftendes netzartiges und/ oder hierarchisches mentales Gebilde. Es wird lexikalisch-semantisch repräsentiert, verweist also auf Wortkörper, bündelt Bedeutungen, ist also eine semantische Sammelkategorie, die lexikalisch komplex repräsentierte Bedeutungsaspekte integriert, und ist Ergebnis von Kontextualisierungen (vgl. Leinfellner 1992, Aitchison 1997, Langacker 1997, Schwarz 3 2008). Bedeutungskonstitution (meaning construction) 5 als kontextbestimmte diskursive Konzeptualisierung (conceptualization) ist die Leitidee dieser Analyseperspektive. 6 Wir beschreiben die Bedeutungskonstitution von GEWALT im Zeichen offener und geschlossener Semantik. Offene Semantik meint: Ausdrucksprinzip ist Ambiguität und Vagheit. Geschlossene Semantik meint: Ausdrucksprinzip ist Eindeutigkeit. Diese Beschreibung rekonstruiert zunächst eine konzeptuelle Klimax, nachgewiesen im Sinn von Stationen einer Konzeptgenese. Eine funktionale Bewertung der Befunde im Sinn einer Selbstlegitimierung schließt sich an. In der abschließenden Zusammenfassung verdichten wir das Gewaltkonzept der studentischen Linken hinsichtlich seiner semantischen Struktur. 3 Konzeptklimax Unsere Ausgangsthese lautet: GEWALT im politischen Diskurs der studentischen Protestbeteiligten ist ein komplexes Konzept, das sich im Sinn einer semantischen Klimax darstellen lässt. Diese Klimax reicht von der Problematisierung gewaltlosen Widerstands über das Konzept der reaktiven Gewalt bis zum offenen Aufruf zu Gewalt. Das zeitliche Kontinuum dieser semantischen Klimax bildet die Zeit zwischen dem 02.06.1967 (Tod Ohnesorgs) und dem 04.11.1968 („Schlacht am Tegeler Weg“). In dieser Phase lassen sich vier Stationen der Gewaltkonzipierung unterscheiden - exemplarisch nachweisbar in zentralen Texten der Akteure. 3.1 Erste Station: unbewaffnete Leiber „Unsere Gewalt gegen die unmenschliche Staatsmaschine, gegen die Manipulationsinstrumente ist die organisierte Verweigerung. Wir stellen uns mit unseren unbewaffneten Leibern, mit unserem ausgebildeten Verstand den unmenschlichsten Teilen der Maschinerie entgegen, machen die Spielregeln nicht mehr mit, greifen vielmehr bewußt und direkt in unsere eigene Geschichte ein, werden die Räder der Vorurteile, Halbwahrheiten und Mordberichte zum Stillstand bringen“ (Dutschke 1967: 258). 5 “Meaning construction is an on-line mental activity whereby speech participants create meanings in every communicative act on the basis of underspecified linguistic units.” (Radden et al. 2007b: 3) 6 Vgl. dazu u. a. Nuyts (1999), Hübler (2001), Radden et al. (2007a). <?page no="165"?> Gewalt-Konzepte der späten 1960er Jahre am Beispiel 165 Insofern Gewalt eine Handlung bezeichnet, lassen sich die in diesem Zitat benannten Handlungsbezeichnungen organisierte Verweigerung und machen die Spielregeln nicht mehr mit sozusagen als Synonyme von Gewalt verstehen, so wie es Dutschke ja auch in der Gleichung unsere Gewalt ist … ausdrückt. Diese Selbstzuweisung der Rolle ‚unbewaffnete nicht gewalttätige Demonstranten’ motiviert also dieses Diskurssegment und lässt darauf schließen, dass Gewaltlosigkeit im Jahr 1967 noch ein selbstverständlicher Modus politischen Handelns ist. Es ist das seit Mitte des 19. Jahrhunderts bekannte Modell des zivilen Ungehorsams (civil disobedience) des US-Amerikaners Henry David Thoreau, das Dutschke unter sein Konzept der Gewaltlosigkeit fasst. Was auffällt, ist die fehlende Bereitschaft, Gewalt explizit und eindeutig abzulehnen, die Kategorie Gewalt zu vermeiden. Stattdessen fasst man die semantische Extension so weit wie möglich, bedacht darauf, dieses Reizwort - genauer: seine Ausdrucksseite - zu bewahren, als wolle man unter allen Umständen vermeiden, durch den Gebrauch entsprechenden Vokabulars, den Eindruck einer irenischen Haltung hervorzurufen. Die Kategorie der offenen Semantik meint in diesem Kontext: Es bleibt semantisch ambig, wie Formeln wie greifen bewußt in unsere Geschichte ein oder machen die Spielregeln nicht mehr mit zu deuten sind. 3.2 Zweite Station: Propaganda der Tat Wenn der tabubrechende Gewaltdiskurs einen datierbaren Beginn hat, dann ist dies der 05.09.1967. In dem so genannten Organisationsreferat, das Rudi Dutschke gemeinsam mit Hans-Jürgen Krahl verfasst hatte und das Dutschke an diesem Tag in der Frankfurter Mensa vorträgt, rufen die Autoren zur Propaganda der Tat auf, eine Parallelbildung zu der Formel Propaganda der Schüsse, die Che Guevara geprägt hat und mit der er sich auf die Befreiungskämpfe der Dritten Welt bezieht. Unbewaffnete Leiber als Symbol für Gewaltlosigkeit wird also hier ersetzt durch die Formel Propaganda der Tat: „Die ‚Propaganda der Schüsse‘ (Che) in der ‚Dritten Welt‘ muß durch die ‚Propaganda der Tat‘ in den Metropolen vervollständigt werden, welche eine Urbanisierung ruraler Guerilla-Tätigkeit geschichtlich möglich macht. Der städtische Guerillero ist der Organisator schlechthinniger Irregularität als Destruktion des Systems der repressiven Institutionen.“ (Dutschke/ Krahl 1967: 290) Die Parallelisierung, die einen Gegensatz zwischen Schüsse und Tat suggerieren soll, und damit zwischen Gewalttätigkeit und Gewaltlosigkeit, ist eine Legitimationshandlung, denn der entscheidende Ausdruck ist vervollständigen. Insofern ist diese obskure Proposition mit Gewalt bezeichnenden Ausdrücken instrumentiert: Mit irreguläre Aktionen, Irregularität und Destruktion des Systems der repressiven Institutionen referieren die Autoren auf widerständisches Handeln, das mit Urbanisierung ruraler Guerilla-Tätigkeit eine ebenso <?page no="166"?> Heidrun Kämper 166 dunkle wie abwegige Verdichtung erfährt - Camouflage durch extensiven Gebrauch exklusiver Fremdwörter heißt hier das Prinzip einer Semantik, die nicht mehr offen ist, einer Extension, deren Fokus schmaler wird - Gewalt gerät zu einem Element des Widerstands, das nicht mehr verneint wird, Gewalt wird als auf eigenes widerständisches Handeln referierender Ausdruck enttabuisiert. Insofern kommt dieser Text „einer Legitimation potentiell terroristischer Gewalt“ nicht nur „bedenklich nahe“ (Klimke 2007: 130), sondern überschreitet die Grenze. 3.3 Dritte Station: Vom Protest zum Widerstand Die Semantik schließt sich weiter mit der berühmten und viel verwendeten Formel vom Protest zum Widerstand (Titel eines Aufsatzes von Ulrike Meinhof vom April 1968) - etwaige Ambitionen gewaltfreien politischen Handelns werden hier endgültig verabschiedet: Protest ist, wenn ich sage, das und das paßt mir nicht. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, dass das, was mir nicht paßt, nicht länger geschieht (Meinhof 1968). Gewalt bedeutet auch hier die Überschreitung der Grenze, die zwischen verbalem Protest und physischem Widerstand verläuft, Gewalt also entspricht hier einem Konzept physischen Widerstands und legitimen Ausdrucks politischen Protests. „Steine sind geflogen, die Fensterscheiben vom Springerhochhaus in Berlin sind zu Bruch gegangen, Autos haben gebrannt, Wasserwerfer sind besetzt worden, eine BILD-Redaktion ist demoliert worden, Reifen sind zerstochen worden, der Verkehr ist stillgelegt worden, Bauwagen wurden umgeworfen, Polizeiketten durchbrochen.“ (Meinhof 1968) Verschlüsselung, Euphemisierung und Implizitheit sind keine sprachlichen Strategien mehr, mit denen man Gewaltaffirmationen unsichtbar zu machen sucht. 3.4 Vierte Station: neue Phase der Militanz Schließlich die sog. „Schlacht am Tegeler Weg“ vom 04.11.1968, die die Beteiligten selbst als endgültigen Tabubruch verstehen. 130 Polizisten wurden z. T. schwer verletzt und man hat den Ausgang als Sieg über die Polizei gefeiert. In einer Diskussion, die am 6. Dezember im Republikanischen Club in Berlin stattfand, hat man diese Aktion am Tegeler Weg, vom Tegeler Weg, vor dem Landgericht, diese Tegeler-Weg-Aktion oder Landgerichtsaktion unter dem Zeichen von GEWALT problematisiert: Was ist das Gewalt repräsentierende Moment dieser Demonstration, inwiefern hat man mit ihr eine neue Phase der Militanz erreicht? Es ist die Tatsache, dass Steine, statt der ursprünglich geplanten Farbeier flogen. Es sei die Eigendynamik, die die Demonstration in ihrem Verlauf erhalten habe (in der Tat ist das Werfen von Steinen nur zu erklä- <?page no="167"?> Gewalt-Konzepte der späten 1960er Jahre am Beispiel 167 ren aus dem Verlauf der Aktion selbst) und die zu dieser Eskalation führte: mit dem gewaltsamen Widerstand [ist] eine neue Qualität erreicht worden. Diese Situationsanalyse hebt man ins Grundsätzliche, sucht die Legitimation theoriebeflissen mit der Marxschen Kategorie emanzipatorischer Gewalt, 7 problematisiert den Mechanismus höheren Gegendrucks bei gesteigertem Druck, 8 um schließlich mit dem Argument Tabubruch die Anwendung von Gewalt, zu der man sich nunmehr explizit und ohne versuchte Camouflage bekennt, zu rechtfertigen. Legitimationsgrund ist wie stets die staatliche Gewaltanwendung, aus der man, das staatsrechtlich legitimierte besondere Gewaltmonopol ignorierend, ein eigenes Recht zur Gewalt ableitet. In diesem Sinn argumentiert der an der Diskussion teilnehmende Johannes Agnoli: „was wir in Deutschland wieder zerschlagen müssen: Nämlich der [! ] Gedanke, daß nur die staatliche Gewaltanwendung legitim ist. Wir dürfen nicht vergessen, dass am Tegeler Weg einer [! ] der interessantesten und schwerwiegendsten deutschen Tabus gebrochen wurde, daß nämlich Demonstranten in Deutschland nie militant werden dürfen gegen die Polizei.“ Im weiteren Verlauf führt Agnoli dieses Argumentationsmuster weiter aus: „im Bewusstsein der Öffentlichkeit in Deutschland wie in den Forderungen der Politiker ... verbietet sich die Methode der Gewalt nur für die Außerparlamentarische Opposition, für den demokratischen Protest, auf alle Fälle für sozialistische Umwälzungsversuche. Sie versteht sich aber von selbst für die Polizei, für die Richter, die unverhältnismäßig hohe Strafen willkürlich verhängen - oder für Ordnungsbürger, die neuerdings die Anweisung zur Gewalt sogar als Verfassungstext unter dem Arm tragen dürfen.“ (Über Demonstration und Gewalt 1968) Damit spielt Agnoli auf den Artikel 20 der Notstandsgesetze an. Der diesem Artikel neu hinzugefügte Absatz, der das Widerstandsrecht regelt, 9 wird als Aufforderung „zu Pogrom und Terror“ (Weigt 1968: 42) verstanden. Agnoli schließt mit dem Bild: Es ist schlicht die Infamie der konstituierten Ordnung zu 7 „ […] wir [müßten] schon darüber diskutieren [...], ob nicht in ganz kleinem Raum und in einer ganz kleinen Aktion, die nur erste Ansätze zum gewaltsamen Widerstand gezeigt hat, ob nicht da diese [von Marx beschriebenen] emanzipatorischen Ansätze von Gewalt realisiert worden sind.“ (Über Demonstration und Gewalt 1968) 8 „Wenn wir meinen, daß wir die Formen der gewaltsamen Aktionen steigern können, so müssen wir uns darüber im klaren sein, daß dann auch eine Eskalation der Repression eintreten wird. [...] Dann werden die Leute [...] für ein oder mehrere Jahre im Gefängnis sitzen, und dann ist einfach der Ofen aus.“ (Über Demonstration und Gewalt 1968) 9 Die neue Bestimmung lautet: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ (17. Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes vom 24. Juni 1968, verkündet am 27. Juni 1968 [„Notstandsgesetze“]) <?page no="168"?> Heidrun Kämper 168 nennen, dass sie mit der Feuerwaffe in der Hand ihre Gegner zur Gewaltlosigkeit auffordert (Über Demonstration und Gewalt 1968). Diese Diskussion vom Ende des Jahres 1968 repräsentiert einen diskursiven Meilenstein. Sie markiert das Ende der konzeptuellen Entwicklung von anfänglicher Tabuisierung unter dem Zeichen von Gewaltlosigkeit über die Relativierung bezüglich Gewalt gegen Sachen hin zur Brechung des Tabus mit dem Argument legitimierter Gewaltanwendung. Wir haben die Konzeptualisierung von GEWALT durch die studentische Linke als einen Prozess rekonstruiert, der von einer offenen zu einer geschlossenen Semantik verläuft, von semantischer Ambiguität zu semantischer Eindeutigkeit. ‚Offene Semantik‘ ist die sprachlich-konzeptuelle Entsprechung der Handlungspraxis der studentischen Linken, die sich „im Grenzbereich von Legalität und Illegalität“ bewegte (Gilcher-Holtey 2006: 212) - Aufruf bzw. Propagierung von Gewalt bedeutet so gesehen natürlich die Überschreitung der Grenze zur Illegalität und damit die Vereindeutigung, also die Schließung des studentischen Gewaltkonzepts. 4 Funktion: Selbstlegitimierung Die Haltung, mit der die studentische Linke über ihre mehr oder weniger gewalttätigen Protest- und Widerstandsformen spricht, ist die der Selbstlegitimierung. Die sich hier manifestierende binäre Weltsicht, die lediglich die Zustände mächtig oder schwach kennt und daraus unrecht und recht ableitet, ist die Einstellungsgrundlage, auf der die studentische Linke der späten 1960er Jahre den Wirklichkeitsausschnitt GEWALT und das semantische Konzept Gewalt selbstlegitimierend konstituiert. Diese Selbstlegitimierung realisieren die Akteure mit folgenden Mustern: Argumentationsfolie ist erstens der moralische Anspruch, im Recht zu sein, gestützt von dem Anspruch verfassungsrechtlich legitimierter Handlungen etwa einer Meinungsäußerung. Das Gewaltkonzept der studentischen Linken scheint - aus ihrer Perspektive - zuallererst ein moralisch motiviertes Konzept zu sein. Moral trägt die Bewegung. 10 Mit dieser Legitimation verschafft sie sich das Widerstandspotenzial, das sie benötigt, um ihre selbstgestellte Aufgabe, die sie massenhafte Aufklärung nennt, erfül- 10 Exemplarisch die Aussage von Detlef Claussen: „Um der Kompromißlosigkeit der staatlichen und inneruniversitären Gewalten nicht weichen zu müssen, so hat sich gezeigt, muß zu dem ersten konstitutiven Element der plebiszitären Diskussion ein zweites hinzutreten, auf das Oskar Negt hingewiesen hat: eine kompromißlose Moral. Wenn es heute Mode geworden ist, den Studenten Eskapismus vorzuwerfen, muß man darauf antworten, daß ohne diese Moral, die sich an den heroischen Kämpfen der Guerilleros in der Dritten Welt orientiert, es zu den Massenmobilisierungen nach dem Mordversuch an Rudi Dutschke und zum Kampf gegen die Notstandsgesetze gar nicht gekommen wäre.“ (Claussen 1968: 8) <?page no="169"?> Gewalt-Konzepte der späten 1960er Jahre am Beispiel 169 len, vor allem aber, um dem als übermächtig und gewaltbereit verstandenen Staat Widerstand leisten zu können: „Die radikalen Aktionen schaffen erst die Basis massenhafter Aufklärung. Unbewaffnet einer hocharmierten Staatsgewalt gegenüberzustehen ohne eine rigorose Moral würde der Protest schnell zusammenbrechen! Die kompromißlose Moral erweist sich als die Keimzelle des Widerstands für Studenten und Schüler.“ (Claussen 1968: 8) Es ist diese Selbsteinschätzung, die die Bewertungsgrundlage bildet, wenn es gilt, den Gewaltvorwurf abzuwehren oder auch sich zu Gewalt zu entschließen. Mit dem Anspruch einer kompromißlosen Moral als Handlungsmotiv entlastet man sich und legitimiert widerständisches Handeln, mit diesem Anspruch scheint das Gewaltkonzept im Sinn von ‚konkrete physische Gewalt’ approbiert. Das Konzept der strukturellen, manifesten oder latenten Gewalt des Staates stützt dieses Legitimationskonstrukt. Insofern ist man durchaus überzeugt von der potenziellen bzw. situationellen Notwendigkeit revolutionärer Gewalt. Der agonale Diskurs um Gewalt als legitimes Mittel des politischen Kampfes findet auf der Folie einer Legitimität schaffenden bzw. Legitimität absprechenden Interpretation statt: Wann ist Gewalt revolutionär und also legitim? Ihre ethische Selbstgewissheit fördert die studentische Linke in diesem Zusammenhang sprachlich mit Legitimationsformeln, die auf die Wirkung semantischer Musterbrüche setzt: Sie argumentiert mit Gewalt fordernden Momenten als emanzipatorische Praxis und unterscheidet die illegitime Gewalt des Staates und der Gesellschaft - die sie reaktionäre Gewalt, unterdrückende Gewalt, Gewalt der Aggression nennt - von der legitimen Gewalt des politischen Widerstands - die sie progressive Gewalt (Negt 1968: 20), revolutionäre, befreiende Gewalt (Untergang der BILD-Zeitung 1968: 41) nennt. Verstärkt wird diese Binarität zweitens durch Auto- und Heterostereotype, die ein David-und-Goliath-Muster realisieren - schwach und stark, wehrlos und bewaffnet, gewaltlos und gewaltbereit: die Macht einer relativ kleinen Gruppe kann sich nur in der Form der Gewaltlosigkeit äußern. Das schließt Gegengewalt gegen technische Werkzeuge, z.B. Wasserwerfer, nicht aus. (Weigt 1968: 20) Eine weitere lexikalische Verdichtung erfährt diese semantische Strategie der Selbstlegitimierung drittens mit dem zentralen Leitwort Gegengewalt. Insbesondere der, moralisch entlastende, Topos der Gegengewalt repräsentiert die Vorstellung eines Reiz-Reaktions-Mechanismus: Gegengewalt wird semantisch repräsentiert zum einen durch die Zuschreibung des schlecht bewerteten Gewaltbegriffs unbegründeter und unerlaubter Aggression, wenn der Staat als Akteur erscheint - diese Gewalt ist immer initiativ; zum anderen durch die Zuschreibung des gut bewerteten Gewaltbegriffs der legitimierten herausgeforderten Gegengewalt, wenn eigenes politisches <?page no="170"?> Heidrun Kämper 170 Handeln den Gegenstand der Aussage darstellt - diese Gewalt ist immer reaktiv, in der Formulierung des ‚Revolutionslexikons‘: „jeder nicht ins System integrierten Opposition wie der APO [stellt sich] die Frage der Gewalt, denn ihre Aktionen treffen notwendig auf die Staatsmacht. Insofern versteht die APO ihre Maßnahmen als Gegengewalt gegen die etablierten Herrschaftsmächte (Establishment), zu denen z.B. auch das vom Springer-Konzern ausgeübte Meinungsmonopol gehört. Gegengewalt kann aber nach allen bisherigen verantwortlichen Äußerungen von Seiten der APO nur gegen Sachen, nicht gegen Personen angewendet werden.“ (Weigt 1968: 20 f.) 5 Zusammenfassung Die studentische Linke belegt Formen politischen Handelns semantischdiskursiv mit dem Ziel der Legitimierung von widerständischen verbalen und auch jeglichen nonverbalen Praktiken. Insofern das Gewalt-Segment im Kontext des Demokratie-Diskurses realisiert wird, versucht die studentische Linke Demokratie als ein Modell aktiver Teilhabe zu etablieren. GEWALT thematisiert die studentische Linke (in einer spezifischen, semantisch offenen Ausdeutung) als legitime Strategie widerständischen demokratischen Handelns. So wird der Handlungsmodus GEWALT von der studentischen Linken als demokratische Option diskursiv etabliert. Unter Einbeziehung der auf Staat und Gesellschaft bezogenen Dimension (auf die wir nicht eingegangen sind) können wir als dichotome Konzeptstruktur festhalten: Gewalt beziehen die hoch politisierten studentischen Diskursbeteiligten der späten 1960er Jahre zum einen auf den Staat und sein Handeln. Sie bezeichnen in dieser Lesart kalkuliert diffus die Eigenschaft der Staatsmacht im Sinn von ‚Aggression, unberechtigter körperlicher und seelischer Zwang, mutwillige Gefährdung bzw. Verletzung von Leib und Leben’. 11 Gewalt wird in diesem Sinn auch als überstaatliches Phänomen verstanden im Sinn von ‚Aggressivität der Gesellschaft und ihrer Institutionen, insbesondere der Medien; Unmenschlichkeit des Systems; Zwang und Druck ausübende Bürokratie; Repression‘. Dieser das staatliche und gesellschaftliche Handeln delegitimierenden Lesart stellen die studentischen Diskursbeteiligten gegenüber die auf ihr eigenes Handeln bezogene Lesart ‚aktives widerständisches Handeln zum mehr oder weniger aggressiven Ausdruck von Protest‘. Insbesondere bezeichnen sie damit als legitim konzipierte Widerstandsformen der Unterdrückten und Benachteiligten mit dem Ziel grundlegender gesellschaftlicher 11 „ Alle bisherigen menschlichen Gesellschaften beruhen in mehr oder weniger großem Maße auf Gewalt. Staat als Herrschaftsinstrument und Ordnungsmacht kann letzten Endes nur mit Hilfe von Justiz, Polizei und Militär existieren.“ (Weigt 1968: 20) <?page no="171"?> Gewalt-Konzepte der späten 1960er Jahre am Beispiel 171 Veränderungen, oder, vor allem mit der Zusammensetzung Gegengewalt ‚von der Gegenseite herausgeforderte, den Akteuren aufgezwungene Form widerständischer, protestierender Akte‘. 12 6 Bibliographie 6.1 Quellenverzeichnis Claussen, D., 1968. Einleitung. In: Claussen, D./ Dermitzel, R. (Hg.), 1968, 7-20. Claussen, D./ Dermitzel, R. (Hg.), 1968. Universität und Widerstand. Versuch einer Politischen Universität in Frankfurt. Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt. Dutschke, R., 1967. Zum Verhältnis von Organisation und Emanzipationsbewegung - Zum Besuch Herbert Marcuses. In: Kraushaar, W. (Hg.), 2003, 255-260. Dutschke, R./ Krahl, H.-J., 1967. Organisationsreferat auf der XXII. Delegiertenkonferenz des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes. In: Kraushaar, W. (Hg.), 2003, 287-290. Horkheimer, M., 1968. Vorwort zur Neupublikation seiner Aufsätze aus der „Zeitschrift für Sozialforschung“. In: Kraushaar, W. (Hg.), 2003, 348-350. Krahl, H.-J., 1968. Römerbergrede. In: Krahl, H.-J., 1971, 149-154. Krahl, H.-J., 1971. Konstitution und Klassenkampf. Zur historischen Dialektik von bürgerlicher Emanzipation und proletarischer Revolution. 3. Aufl. 1977. Frankfurt a. M.: Neue Kritik. Kraushaar, W. (Hg.), 2003. 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Tübingen: Niemeyer. 12 Die lexikalisch-semantischen Ergebnisse der Studie zum Demokratisierungsdiskurs der späten 1960er Jahre sind in einem Diskurswörterbuch dargestellt, das online zugänglich ist (vgl. Protestdiskurs: http: / / www.owid.de/ wb/ disk68/ start.html). Die oben formulierte komprimierte Konzeptdarstellung ist eine Zusammenfassung des Artikels Gewalt in diesem Diskurswörterbuch (vgl. Artikel Gewalt: http: / / www.owid.de/ artikel/ 402057? module=disk68&pos=3). <?page no="172"?> 172 Artikel Gewalt. Verfügbar unter: http: / / www.owid.de/ artikel/ 402057? module= disk68&pos=3. Gilcher-Holtey, I., 2006. Transformation durch Subversion: Die Neue Linke und die Gewaltfrage. In: Anders, F./ Gilcher-Holtey, I. (Hg.), 2006. Herausforderungen des staatlichen Gewaltmonopols. Recht und politisch motivierte Gewalt am Ende des 20. Jahrhunderts. Frankfurt a. M., New York: Campus, 198-220. Hübler, A., 2001. Das Konzept „Körper“ in den Sprach- und Kommunikationswissenschaften. 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Radden, G./ Köpcke, K.-M./ Berg, T./ Siemund, P. (eds.), 2007a. Aspects of Meaning Construction. Amsterdam: Benjamins. Radden, G./ Köpcke, K.-M./ Berg, T./ Siemund, P., 2007b. The construction of meaning in language. In: Radden, G./ Köpcke, K.-M./ Berg, T./ Siemund, P. (eds.), 2007a, 1-15. Schwarz, M., 3 2008. Einführung in die Kognitive Linguistik. Dritte, vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Tübingen, Basel: Francke (= UTB 1636). Warnke, I./ Spitzmüller, J. (Hg.), 2008. Methoden der Diskurslinguistik. Sprachwissenschaftliche Zugänge zur transtextuellen Ebene. Berlin, New York: de Gruyter. <?page no="173"?> Stephan Peters Schein-Evidenz als persuasive Strategie in der Berichterstattung zum 10. Jahrestag von 9/ 11 1 Einleitende Bemerkungen: Medienrealität und Persuasionsintention Stellt der Terrorismus eine Bedrohung für unser Leben dar? Diese Frage stellt sich auch noch zehn Jahre nach den Anschlägen auf das World-Trade- Center am 11.09.2001. In den Massenmedien findet sich gerade zum Jahrestag eine Vielzahl an Artikeln, die mit stark evaluierenden und z. T. emotionalisierenden Darstellungen und Einordnungen Einfluss auf das öffentliche Meinungsbild nehmen. (1) Da niemand weiß, welche Gefahren den Bürgern drohen, weil niemand ermessen kann, wie groß die Gefahren sind, weil kein Mensch bestimmen kann, wann, wo und wem Gefahren drohen, lässt sich naturgemäß nicht sagen, welche Grundrechtseingriffe zur Abwehr dieser Gefahren in welchem Umfang geeignet, geboten und erforderlich sind. (Frankfurter Rundschau, 10.09.2011, 8) Dass die Medien als interessengeleitete Akteure zu verstehen sind, die sich innerhalb und nicht außerhalb der Gesellschaft befinden, ist in der Medienwissenschaft hinlänglich dargestellt worden: „Ihre Aufgabe besteht darin, die Stimuli und Ereignisse in der sozialen Umwelt zu selektieren, zu verarbeiten, zu interpretieren. Auf diese Weise nehmen sie Teil am kollektiven Bemühen, eine Realität zu konstruieren und diese - durch Veröffentlichung - allgemein zugänglich zu machen, so daß eine gemeinsame Basis für soziales Handelns (sic! ) entsteht“ (Schulz 1989: 142). Das ohnehin illusorische Ziel der Objektivität 1 im Journalismus ist der bewussten Stellungnahme gewichen, nicht zuletzt um den mannigfaltigen Anforderungen hinsichtlich zu leistender Kritik und Kontrolle, Bildung, Sozialisation, Integration und Unterhaltung (vgl. Russ-Mohl 2 2010: 21-28) genügen zu können. 1 „Im Fall der Beschreibung bezeichnet Objektivität die Übereinstimmung mit einer Sache oder einem Ereignis ohne eine Wertung oder subjektive Verzerrung“ (Burkhardt 2009: 88). Dissonanzen zwischen äußerer Realität und Medienrealität sind jedoch natürlich und unausweichlich, da Medienprodukte - aus menschlicher Hand produziert - immer „den elementaren humanen Wahrnehmungsrestriktionen und -variabilitäten“ ausgesetzt sind (vgl. Früh 1994: 56). <?page no="174"?> Stephan Peters 174 Bei der Themenwahl spielt in den Massenmedien der Nachrichtenwert 2 eine entscheidende Rolle. Beim Thema Terrorismus kann von einer hohen emotionalen Involviertheit auf Rezipientenseite ausgegangen werden (vgl. Schwarz-Friesel/ Skirl 2011, Schwarz-Friesel/ Kromminga 2013), die sich aus der Konzeptualisierung TERRORISMUS ALS DOPPELTE BEDROHUNG speist: zum einen als Bedrohung für das westliche Lebensideal im Schutz rechtstaatlicher Ordnung und zum anderen als spürbare Lebensgefahr durch mögliche Anschläge und Attentate. Durch die Berichterstattung werden diese Ängste beim Rezipienten stetig aktualisiert, wodurch das Thema eine gewisse Relevanz behält und im Zirkelschluss wieder entsprechend frequent von den Massenmedien bedient werden kann. Ob es dabei inhaltlich zu einer bewussten Verzerrung kommt, also eine drastische Abweichung von der Realität angestrebt wird, wird im Rahmen dieses Artikels weder untersucht noch unterstellt. Mit jeder Darbietung geht ohnehin „Deutung, Perspektive, […] Konstruktion und Erfindung“ einher (vgl. Schmitz 2004: 17). In diesem Zusammenhang scheint lediglich problematisch, dass die Mehrzahl der Medienkonsumenten nicht sensibel für die Perspektivierungen und Evaluierungen in der Berichterstattung scheint, da die Massenmedien sie selbst nicht als solche herausstellen. Die Leser und Fernsehzuschauer erwarten nach wie vor eine objektive Darstellung der Ereignisse und Entwicklungen (vgl. Burkhardt 2009), auf die sie als Laien angewiesen sind. Dadurch entsteht eine Abhängigkeit von der medialen Berichterstattung, die intentional von massenmedialen Institutionen genutzt werden kann, um bestimmte Einstellungen - bspw. bzgl. des Terrorismus wie in (1) - beim Rezipienten zu formen und zu festigen. 3 Um den Rezipienten von den gegebenen Bewertungen zu überzeugen, werden persuasive Strategien eingesetzt. 2 Der Nachrichtenwert eines Themas ergibt sich zum einen aus dessen Aktualität und zum anderen aus dem Wissens-, Unterhaltungs- und Nutzwert (Russ-Mohl 2 2010: 128 ff.). Eine hohe Nachfrage auf Rezipientenseite liegt natürlich auch im wirtschaftlichen Interesse der Medienbetreiber, für die der Nachrichtenwert also auch die Auflage, Einschaltquoten oder Klicks bestimmt (vgl. Donsbach et al. 2009: 17 f.). 3 Nichtsdestotrotz übernimmt der Rezipient immer eine aktive Rolle. Das gilt für den Textverstehensprozess (vgl. Schwarz-Friesel 2 2013: 32) genauso wie für die letztliche Übernahme von dargebotenen Konzepten. So obliegt es immer noch dem Rezipienten, die vorgegebenen Themen zu interpretieren und in seine Welt einzuordnen (vgl. Früh 1994: 52). Durch die Monopolstellung der Massenmedien und mit Hilfe persuasiver Strategien wird die konstruierte Medienrealität vom Publikum allerdings leicht als „real“ angesehen, weil die beschriebenen Gegenstände und Sachverhalte für die Rezipienten nicht selbst erfahrbar sind und die Massenmedien dadurch zur „primären“ Informationsquelle werden. Die massenhafte Veröffentlichung lässt die Themen schließlich zu „sozialen Tatsachen“ werden, „die als Erwartungsgröße auch das eigene Denken und Handeln vor allem beim Umgang mit anderen beeinflußt“ (Früh 1994: 57). <?page no="175"?> Schein-Evidenz als persuasive Strategie 175 2 Schein-Evidenz als persuasive Strategie Persuasive Strategien sind als „kommunikative Verfahrensweisen [zu definieren], die spezifisch rezipientenbeeinflussend, d. h. intentional auf eine bestimmte Wirkung ausgerichtet sind“ (Schwarz-Friesel 3 2013: 225). Sie unterscheiden sich wesentlich nach den verschiedenen Bereichen, in denen sie Anwendung finden (vgl. bspw. Janich 5 2010 für die Werbung, Bucher 1992 für die Politik oder Moilanen/ Tiittula 1994 für die Presse). Das liegt darin begründet, dass die Wirkungsintention wie auch die rhetorischen Anforderungen divergieren. Für den Bereich der Presse, um den es in diesem Artikel gehen soll, dient die Einteilung nach Klein (1994) als Ausgangspunkt, wie sie im Wesentlichen durch Schwarz-Friesel ( 2 2013: 225 f.) bestätigt wurde. Klein beschreibt die persuasiven Strategien zur Absicherung von Bewertungen, welche er als „positive oder negative Stellungnahmen zu Sachverhalten und Personen, zu Dingen oder zu Handlungen“ verstanden wissen möchte (Klein 1994: 3). Er deutet mit seiner Aufstellung die Bandbreite unterschiedlicher persuasiver Strategien an, mit denen eine erfolgreiche Persuasion beim Leser entsprechender Presseberichte erzielt werden kann. Ob die Persuasion tatsächlich glückt, lässt sich natürlich nicht an der Textoberfläche festmachen. Ähnlich dem Emotionspotenzial als Texteigenschaft und der Emotionalisierung als Prozess, sollte man Persuasion als einen textexternen Prozess auffassen, der durch die Rezeption von Texten mit entsprechendem Persuasionspotenzial evoziert werden kann. Persuasive Strategien werden folglich eingesetzt, um ein hohes Persuasionspotenzial zu erzielen, womit die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Persuasion steigt. Klein deckt dabei sicherlich nicht alle möglichen Strategien ab und bleibt zudem in seiner Ausführung an der Oberfläche, wenn es um die (sprachliche) Ausgestaltung der einzelnen Strategien geht, doch soll sein Klassifikationsvorschlag dennoch als Ausgangspunkt für diesen Artikel dienen, da sich dort ein erster Hinweis auf das Erzeugen von Evidenz als eine persuasive Strategie findet. Klein (1994: 8) sieht Evidenz als „einen Erkenntniszustand, der einer Argumentation gerade nicht mehr bedarf. Und es ist ein routinemäßig angewandter Kniff medienerfahrener Polit-Profis, eine Position dadurch gegen Argumentation zu immunisieren, daß man sie für ‚evident‘ erklärt, für ‚selbstverständlich‘ oder ‚ganz und gar selbstverständlich‘ […]“. Überdies kennzeichnet Klein das Erzeugen von Evidenz als suggestives Verfahren in Kontrast zu den argumentativen Verfahren, vermutlich da es für diese Strategie keine argumentative Grundlage gibt. 4 Ein Sachverhalt wird in den 4 Diese Unterscheidung zwischen den (lauteren) argumentativen und den (verwerflichen) suggestiven Verfahren der Persuasion ist immer noch weit verbreitet (s. auch Kolmer/ Rob-Santer 2002), obwohl sie nach kognitionswissenschaftlicher Erkenntnis nicht mehr angemessen ist. Stattdessen wird heutzutage immer wieder die enge Ver- <?page no="176"?> Stephan Peters 176 Medien lediglich als evident erklärt. Klein zufolge ist es also ganz eindeutig, dass diese Strategie gerade in der professionellen Kommunikation angewandt wird. Worin aber genau die persuasive Kraft von Evidenz besteht, wird erst ersichtlich, wenn man sich dem Terminus aus der Philosophie nähert: „Gemäß der Etymologie bedeutet Evidenz, was ‚offenkundig‘ ist (evidentia) bzw. was ‚klar und deutlich‘ vor Augen steht (enargeia). Diese Bedeutungsbestimmung beruht in ihrem Kern auf Visualität: Was evident ist, kann man ‚sehen‘ (videre). 5 Damit liefert die Etymologie des Evidenzbegriffs ein Modell für die Gewissheit des Denkens: Man weiß etwas mit Sicherheit, weil man es gesehen hat“ (Kamecke 2009: 11). Der Mensch ist auf seine Sinneswahrnehmung angewiesen. Vertraut er dieser nicht, muss er alles in Zweifel ziehen. Die Evidenz wird so zum stärksten Argument, beschreibt sie doch „die Einsicht [in einen Sachverhalt] ohne methodische Vermittlung“ (Mittelstrass 1995: 609). Der direkte, unmittelbare Zugang zur Erkenntnis wird gleichsam zur „immanenten Legitimation von Urteilen“ (Halbfass 1972: 829). Wenn die Evidenz doch immer an die subjektive Wahrnehmung eines einzelnen Individuums gekoppelt ist, wie lässt dies verallgemeinerbare und objektive Schlüsse zu? Nach Baumgartner (1999) gehören beide Teile untrennbar zur Evidenz: „Evidenz weist einen objektiven, sachlichen (Sachverhaltsevidenz) und einen subjektiven, persönlich einsichtigen Pol (Intuitionsevidenz) auf. Nur wenn beide zusammen gegeben sind, formen sie Evidenz“ (Baumgartner 1999: 167). Dadurch wird die Evidenz zur direkt ersichtlichen, augenscheinlichen Tatsache, die für alle Menschen verbindlich ist. Alles andere ist nicht „evident“ im eigentlichen Wortsinne. Aus philosophischer Sicht ist Evidenz also ein absoluter Wert. Besitzt etwas Evidenz, so werden weitere Beweise oder Belege hinfällig oder wie Brentano (1962: 144) sagt: „Bei Evidenz ist Irrtum ausgeschlossen.“ In dieser absoluten Wahrheit liegt das enorme und unbezweifelbare persuasive Moment. Auch in der Philosophie ist das Konzept der Evidenz umstritten: „Der Begriff ist notwendig, weil er einen letzten Haltepunkt nicht mehr hinterfragbarer Sicherheit postuliert, ohne den weder die Erkenntnis wahrer Sachverhalte noch das philosophische Denken überhaupt konsistent funktionieren können. Er ist zugleich problematisch, weil selten genau bestimmt werden kann, wo sich dieser Haltepunkt befindet“ (Kamecke 2009: 11). bindung zwischen kognitiven und emotiven Elementen in der Sprachverarbeitung betont (vgl. Schwarz 3 2008: 208-238), so dass insbesondere die argumentativen Verfahren als „pseudo-rational“ angesehen werden können (Schwarz-Friesel 2 2013: 225). 5 So wird der Begriff der Evidenz auch insbesondere im Zusammenhang mit visuellen Medien verhandelt, vgl. bspw. den Sammelband „Evidenz und Täuschung. Stellenwert, Wirkung und Kritik von Bildern“ von Hofer/ Leisch-Kiesl (2008). <?page no="177"?> Schein-Evidenz als persuasive Strategie 177 Dadurch, dass nur selten exakt bestimmt werden kann, was evident ist, findet gerade im Alltag eine Aufweichung statt. Besonders deutlich wird dies im Sprachgebrauch, dem zufolge etwas auch mehr oder weniger evident sein kann, Evidenz gewissermaßen zu einem skalaren (und nicht absoluten) Wert verkommt. 6 Also lässt sich Evidenz relativ frei zuweisen, ohne verbindliche Kriterien. Das machen sich auch die Medien zunutze, wenngleich sie nach enger Definition gar nicht in der Lage sind, das Augenscheinliche und das unmittelbar Ersichtliche zu vermitteln. Sie können ihre Realitätskonstruktion immer nur mittelbar (durch sich selbst) darstellen. Das, was dabei als vermeintliche Tatsache vorgelegt wird, ist für den Rezipienten eben nicht (mehr) tatsächlich ersichtlich und somit nur eine scheinbare Begebenheit aus einer konstruierten Medienwelt. Da die Massenmedien also nicht in der Lage sind, die Realität objektiv abzubilden (und dies auch nicht wollen), soll in Bezug auf die Darstellung mittels der Medien nicht mehr von Evidenz, sondern von Schein-Evidenz die Rede sein. Schein-Evidenz meint das Vorgeben einer Evidenz hinsichtlich eines bestimmten Sachverhalts, unabhängig von dem (nicht zu bestimmenden) Wahrheitsgehalt. „[Schein-] Evidenz wäre so verstanden möglicherweise eine Zeigehandlung, die mediengestützt (wenn nicht gar medienspezifisch) eine Art von Wahrheitsbeweis mit dem Medium im Medium herstellt“ (Nohr 2004: 9). Dass dies ohne weiteres möglich ist, liegt an den unklaren Kriterien einer Evidenz und den damit verbundenen Interpretationsmöglichkeiten. 3 Schein-Evidenz in der Textanalyse In diesem Artikel soll nun untersucht werden, wie sich das theoretische Konstrukt der Schein-Evidenz sprachlich manifestiert. Damit gehen drei Hypothesen einher: Erstens, Schein-Evidenz lässt sich sprachlich inszenieren. Zweitens, Schein-Evidenz verfügt über ein hohes Persuasionspotenzial, das drittens, entsprechend von den Massenmedien intentional genutzt wird. Bisher wurde theoretisch erläutert, worin das Persuasionspotenzial einer solchen Strategie liegen könnte und welches Interesse die Massenmedien haben könnten, es für ihre Darstellung zu instrumentalisieren. Um diese Thesen aber letztlich zu verifizieren sowie genau zu analysieren, wie sich Schein-Evidenz sprachlich konstituieren lässt, wurde die Berichterstattung zum zehnten Jahrestag der Anschläge auf das World-Trade-Center untersucht. Das Korpus umfasst alle Artikel, die dazu im September 2011 in den Zeitungen bzw. Zeitschriften BZ, Die Zeit, Der Spiegel und Frankfurter Rund- 6 So lässt sich laut Duden das Adjektiv evident auch in Komparativ (evidenter) und Superlativ (am evidentesten) setzen (vgl. Duden Online 2012). <?page no="178"?> Stephan Peters 178 schau veröffentlicht wurden. Insgesamt handelt es sich dabei um 68 Artikel 7 , die untersucht wurden. 3.1 Evidentialität als Teil der Schein-Evidenz In einem ersten Schritt sollte die Analyse von dem Konzept der Evidenz ausgehen. Zwar erfährt der Begriff Evidenz in der Linguistik bisher keine genauere Betrachtung, doch spielt er gleichsam unweigerlich in den grammatischen Aspekt der Evidentialität hinein. Zunächst ist aber klarzustellen: „Linguistic Evidentiality has nothing to do with providing proof in court or in argument, or indicating what is true and what is not, or indicating one’s belief. All evidentiality does is supply the information source […]” (Aikhenvald 2004: 4). Evidentialität ist also eine „semantisch-pragmatische Beschreibungsperspektive, welche sich auf die Herkunft des Wissens eines Sprechers über die Geltung des durch seine Äußerung ausgedrückten Sachverhaltes in der aktuellen Sprechsituation bezieht: Evidentialitätsunterschiede in der Bedeutung von Sätzen beziehen sich auf die Quelle der Information, aus welcher der Sprecher Kenntnis über eine Proposition erlangt hat“ (Fries 2011: o. S.). Weiterhin unterteilt sich Evidentialität in direkte und indirekte Evidentialität. Direkte Evidentialität wird dann ausgedrückt, wenn der Sprecher das Geschehen mit seinen eigenen Sinnen verfolgt hat, während er bei indirekter Evidentialität nicht selbst Zeuge wurde. Besteht die indirekte Evidentialität in Schlussfolgerungen, so spricht man von inferentieller Evidentialität, beruht sie auf Hörensagen durch Dritte, so wird der Terminus quotative Evidentialität verwendet (vgl. De Haan 2001: 3). Von Evidenz würde man nur im Falle der direkten Evidentialität sprechen können, da hier der Sprecher selbst das Geschehen unmittelbar wahrgenommen hat. Für ihn wäre es dann in der Tat evident. Alles weitere sind Ausweitungen, die eine semantische Abschwächung bedeuten, die es im Fall der Evidenz nicht gibt. Dennoch können sie für das Konzept der Schein-Evidenz relevant sein, das - wie beschrieben - von einer Aufweichung des philosophischen Begriffs Evidenz ausgeht. Im Deutschen ist die Markierung von Evidentialität optional. Hinweise geben Evidentialitätsmarker als „grammatical categories/ grammaticalized expressions, who restricts the term ‚evidentials‘ to linguistic expressions representing ‚a special grammatical phenomenon‘“ (Diewald/ Smirnova 2010: 40). Eine ausführliche Liste der Evidentialitätsmarker des Deutschen findet sich bei Socka (2008). An dieser Stelle soll nur auf solche eingegangen 7 Bei der Quellenangabe zu den Korpusbeispielen wird wie folgt vorgegangen: Name der Zeitung/ Zeitschrift, Erscheinungsdatum, Seite. Durch nachträgliche Unterstreichungen sollen bestimmte sprachliche Phänomene hervorgehoben und so das Verständnis gesichert werden. <?page no="179"?> Schein-Evidenz als persuasive Strategie 179 werden, die im Korpus frequent aufzufinden sind und mutmaßlich eine Verbindung zur Schein-Evidenz aufweisen: Zunächst sind die so genannten Hypothesenindikatoren zu nennen. Dabei handelt es sich um Modalwörter, deren Bedeutung sich „auf Grund von äußeren Wahrnehmungen oder erkenntnismäßig zu erschließenden Bedingungen“ explizieren lässt (Helbig/ Helbig 1990: 176). Im Korpus ließ sich insbesondere das Modalwort offenbar mit regelmäßiger Häufigkeit finden, seltener auch offensichtlich. (2) Einer geregelten Arbeit ist Samir M. offenbar nicht nachgegangen. Seine Tage verbrachte er meistens in der Ar-Rahman-Moschee in der Tromsöer Straße. Während der Fastenzeit schlief er sogar in der Moschee. (BZ, 09.09.2011, 8) (3) Der Fall scheint in das Muster früherer Festnahmen zu passen. Der mutmaßliche Attentäter ist offenbar ein relativ spontan radikalisierter Muslim mit US-Pass. (Frankfurter Rundschau, 30.09.2011, 9) (4) Die Israelis, die offensichtlich nicht so sehr an Diplomatie interessiert waren, lösten das Problem militärisch. (Der Spiegel, 26.09.2011, 94) Neben den Hypothesenindikatoren gibt es die Gewissheitsindikatoren, die auf inferentieller Ebene einen Sachverhalt als Tatsache ausweisen. Gewiss fungiert als ein solcher, während die Modaladverben wirklich und tatsächlich außerdem einen Gegensatz zu der bisherigen Berichterstattung ausdrücken können. Sie bekunden eine starke Evaluation, indem sie sich „direkt auf die Wirklichkeit und auf Tatsachen“ beziehen. In den Beispielen (5) bis (7) sind sie als Satzadverbien sogar an den Satzanfang gestellt, wodurch sie wesentlichen Einfluss auf die Textinterpretation nehmen. (5) Die zweite Antwort ist die „Asymmetrie der Interessen“. Gewiss wird die Sicherheit Hindelangs auch am Hindukusch verteidigt, wie einst Verteidigungsminister Peter Struck dozierte. Dazwischen aber klafft eine gewaltige geografische und psychische Distanz. (Die Zeit, 08.09.2011, 1) (6) Den muslimischen Führern Amerikas wurde versprochen, dass niemand in der Regierung die Absicht habe, Islam und Extremismus irgendwie leichtfertig zu vermischen. Und wirklich besuchte Bush bald eine Moschee und nannte den Islam eine Religion des Friedens, was mehr war, als von ihm zu erwarten gewesen wäre. (Der Spiegel, 12.09.2011, 114) (7) Das Kindermalbuch „We Shall Never Forget 9/ 11: The Kids Book of Freedom“ von Wayne Bell will jetzt kleinen Amerikanern die Ereignisse spielerisch begreifbar machen. In patriotisch triefenden Sätzen und simplen Zeichnungen, die farbig ausgemalt werden kön- <?page no="180"?> Stephan Peters 180 nen, versucht es auf 36 Seiten, die Ereignisse vom 11. September bis zur Tötung Bin Ladens zu erklären. […] Tatsächlich können Kinder das Buch noch so farbig bemalen, wie sie wollen - die Sichtweise bleibt schwarzweiß. (Der Spiegel, 12.09.2011, 37) Natürlich in (8) und (9) wirkt hingegen stark evaluierend, indem es Zusammenhänge als naturgegeben und damit unumstößlich ausweist: (8) Natürlich hat sich die Welt in den zehn Jahren nach den Anschlägen der al-Qaida in Amerika verändert. Wer aber vor einem Jahrzehnt unter dem Eindruck der verbrecherischen Terroristen-Wucht in Untergangsstimmung verfiel, wer dachte, der Islamismus würde siegen, wer befürchtete, die freie Welt wäre zu schwach, um Antworten zu finden, irrte. (BZ, 12.09.2011, 6) (9) Natürlich gibt es Gründe für diese Widerstandskraft des Rechts. Zuerst und vor allem: Deutschland wurde von al-Qaida nicht direkt attackiert, auch weil Polizei und Geheimdienste mehrere Anschlagspläne verhindern konnten. Das machte es sehr viel leichter, maßvoll und prinzipienfest zu agieren. (Die Zeit, 08.09.2011, 12) An diesen Stellen wird deutlich, warum eine eindeutige Trennung zwischen evidentialen und epistemischen Modalen in der Linguistik umstritten ist, wenngleich die Unterscheidungsmerkmale theoretisch formuliert werden können: „Grob gesagt, besteht der Unterschied darin, daß es bei ersterer [epistemischen Modalen] um die Einstellung des Sprechers zum Wahrheitsgehalt der Proposition geht, mit Evidenzmarkern hingegen auf die Quelle der Information verwiesen wird“ (Mendoza 2008: 8). Der Sprecher drückt mittels Evidentialität etwas ganz anderes aus als durch die Verwendung von epistemischen Modalen. 8 Praktisch gestaltet sich die genaue Trennung zwischen Evidentialität und Epistemizität jedoch schwieriger, da „evidentielle Bedeutungen in den meisten indoeuropäischen Sprachen (auch im Deutschen) typischerweise durch sprachliche Mittel ausgedrückt werden, die auch epistemische Modalität markieren können“ (Socka 2008: 377). Dieser Umstand wird besonders bei der Verwendung von scheinbar und angeblich ersichtlich, die zwar allgemein zu den Evidenzmarkern im Deutschen gezählt werden, aber neben dem Verweis auf eine fremde Quelle für die Proposition (indirekt evidentiell), zugleich eine Nicht-Übereinstimmung mit dieser (epistemisch) ausdrückt (vgl. Wiemer 2006: 61). (10) Der 11. September ist ein dunkler Tag in der Geschichte, ein schlimmes Verbrechen, für das Osama bin Laden den Islam missbrauchte. Trotzdem ist dies kein Grund, selbst die Gesetze zu bre- 8 Für eine fundierte Diskussion zur Trennung von evidentieller und epistemischer Modalität sei an dieser Stelle auf De Haan (1999) verwiesen. <?page no="181"?> Schein-Evidenz als persuasive Strategie 181 chen, scheinbar Verdächtige zu foltern und ohne Prozess zu inhaftieren. (Die Zeit, 08.09.2011, 12) (11) Die USA, das ist eine traurige Mitteilung, befinden sich seit zehn Jahren im Modus des Krieges. Im Land selbst, in New York, war davon die längste Zeit nicht weiter viel zu merken. Aber jetzt, seit einem Jahr, seit der falschen Debatte über ein angeblich falsches Islam-Zentrum, ist sichtbar geworden, wie der Dauerstress der Terrorabwehr am ganzen Land genagt hat. Wie Errungenschaften des Rechtsstaats preisgegeben wurden. Wie der Terror die Debatten regiert. Das Land braucht Frieden, zehn Jahre danach; er ist außer Sicht. (Der Spiegel, 12.09.2011, 114) Auch durch die Verwendung von Modalverben kann eine deutliche Evaluation der gegebenen Proposition stattfinden. „[They] spell out the different degrees of doubt or certainty the speaker has concerning the factuality of the propostion“ (Diewald/ Smirnova 2010: 83). Müssen drückt dabei am stärksten Faktizität aus, einen hohen „Sicherheitsgrad eines Urteils“. Darin besteht auch die Verbindung zur Evidentialität, die jedoch rein auf Inferenzen beruht: Aus dem Gebrauch des deutschen Modalverbs müssen „ergeben sich hörerspezifische Implikaturen […], dass der Sprecher für die Behauptung, für die Zuweisung eines hohen Faktizitätsgrades ‚Gründe‘ (= Evidenzen) hat, und ferner, dass der Sprecher die Proposition aus diesen ‚Gründen‘ schlussfolgert“ (Smirnova 2006: 96 f.). In der Sprachentwicklung wurden diese Implikaturen zunehmend zu inhärenten Bedeutungskomponenten, so dass müssen heute zum grammatischen Inventar der Evidentialität des Deutschen zu zählen ist (vgl. Socka 2008: 379). In ähnlichem Maße gilt das auch für sollen, allerdings ist dabei der Grad der Sicherheit im Verhältnis zu müssen geringer, sodass auch in geringerem Maße Schein-Evidenz vermittelt wird: (12) Cheney: […] Ich habe dazu schon in den frühen neunziger Jahren als Verteidigungsminister Reden vor unseren Nato-Partnern gehalten. Einer muss die Führung übernehmen, und das sind meist die Vereinigten Staaten von Amerika. (Der Spiegel, 26.09.2011, 94) (13) Drei Al-Qaida-Terroristen sollen einen Anschlag zum zehnten Jahrestag des Angriffs auf das World Trade Center planen. Einer sei aus Pakistan angereist, meldet die „New York Times“. (BZ, 11.09.2011, 64) Mittels sollen bezieht sich der Autor auf eine künftige Handlung oder Entwicklung. Damit schlägt sollen auf semantischer Ebene eine Brücke zu den kommissiven Sprechakten. Zwar lassen sich im Korpus primär assertive Sprechakte nachweisen, doch finden sich darüber hinaus auch Formulierungen mittels drohen, dessen evidentielle Komponente sich laut Diewald (2004: 238-250) wie folgt paraphrasieren lässt: „Aufgrund von nicht weiter spezifi- <?page no="182"?> Stephan Peters 182 zierten Evidenzen vermute ich, dass p“. Drohen impliziert zudem immer eine negative Bewertung. (14) Das afghanische Debakel wird nicht beendet sein, wenn die USA und ihre Verbündeten Ende des Jahres 2014 ihre Kampftruppen - wie derzeit geplant - abgezogen haben werden. Eher droht ein Bürgerkrieg auszubrechen als eine Phase der Ruhe. Auch der Irak wird auf absehbare Zeit ein instabiles Land bleiben. (Frankfurter Rundschau, 10.09.2011, 6) (15) Der Mann, den die Amerikaner vor knapp drei Jahren als Gegenentwurf zur [sic! ] George W. Bush, als Hoffnungsträger für die innere Versöhnung und den Wiederaufstieg der USA zum Präsidenten gewählt haben, droht bereits zu scheitern. (Frankfurter Rundschau, 10.09.2011, 6) Auf weitere sprachliche Merkmale, die im Zusammenhang mit Evidentialität und Schein-Evidenz stehen, stößt man, wenn man den engen Begriff der Evidentialitätsmarker pragmatisch erweitert. Aikhenvald (2004) spricht dabei von evidentiality strategies (hier: evidentielle Strategien), d. h. „categories and forms which acquire secondary meanings somehow related with information source [...]. They are distinct from evidentials proper, whose primary - and not infrequently exclusive - meaning is information source” (Aikhenvald 2004: 105). Im Verlaufe einer Sprachentwicklung können evidentielle Strategien als Vorläufer von Evidentialitätsmarkern betrachtet werden, die irgendwann grammatikalisiert werden und nur noch die Quelle der Information anzeigen, bis sie im letzten Schritt obligatorisch werden. Damit öffnet Aikhenvald nun den Begriff der Evidentialität für alle Sprachformen, die (auch sekundär) einen Rückbezug auf die Quelle für das Gesagte ausdrücken. Diese können sich auf morphologischer, lexikalischer oder syntaktischer Ebene befinden. Im Deutschen sind bspw. die Sätze darunter zu fassen, die direkte Sinneseindrücke bezeichnen (Diewald/ Smirnova 2010: 44 f.). Im Korpus finden sich dazu Beispiele mit den perzeptiven Verben sehen, hören und riechen: (16) Aus meinem Fenster in Manhattan sehe ich das Loch in der Skyline, wo das World Trade Center stand. Ich lebe im Fadenkreuz jedes Verrückten und jedes Terroristen irgendwo auf der Welt. Ganz bewusst flogen die Attentäter vom 11. September zwei der vier entführten Flugzeuge nach New York. (Die Zeit, 08.09.2011, 10) (17) Die Stickerinnen sieht man nicht, sie arbeiten eine Etage höher. Man hört auch keine Geräusche. Während der Arbeit wird nicht gesprochen, nur für die stündlichen Gebete unterbrechen sie ihr Schweigen. (Die Zeit, 15.09.2011,17) (18) 1,8 Millionen Tonnen Schutt sind abgetragen, auf Staten Island, der Insel vor Manhattan, auf winzigste Fundstücke untersucht, sortiert, <?page no="183"?> Schein-Evidenz als persuasive Strategie 183 katalogisiert. Uhren, Kreditkarten, Brieftaschen, Eheringe, Helme, Schuhe finden die Helfer, 130 000 Erinnerungsstücke, manche riechen noch nach Kerosin. (BZ, 11.09.2011, 24) Vor allem das Sehen hat eine enge Verbindung zur Evidenz im etymologischen Sinne (s. unter 2). Dazu lassen sich auch Formulierungen mittels sichtbar und scheinen zählen. Häufig werden Konstruktionen mit dem Verb aussehen oder dem Adverb sichtbar gewählt, um personenunabhängige Objektivität zu suggerieren. Weiter objektiviert werden die Wahrnehmungen mittels des Modalitätsverbs scheinen. Auch hier gibt es eine visuelle Evidenz, die jedoch keine eindeutigen Urteile zulässt. „Seine Bedeutung lasse sich folglich mit ‚aufgrund visueller Information vermute ich, dass p‘ paraphrasieren“ (Socka 2008: 380). (19) Die Versammelten sehen aus, wie man sich vor Jahren die ersten Mitglieder des einst von Präsident Baschar al-Assad gegründeten Computerclubs vorgestellt hätte: Bundfaltenhosen, brave Hemden, kantige Hornbrillen, die Haare nicht zu kurz, aber erst recht nicht zu lang. (Der Spiegel, 12.09.2011, 14) (20) Ein ökumenischer Gottesdienst in der St.-Hedwigs-Kathedrale beschloss am Abend die offiziellen Gedenkfeiern. In seiner Ansprache mahnte der evangelische Bischof Markus Dröge alle Religionen, soziale Ungerechtigkeiten zu beseitigen. „Der 11. September hat den Graben sichtbar werden lassen zwischen dem reichen, mächtigen, irgendwie christlichen Westen und dem, was man islamische Welt nennt.“ (BZ, 12.09.2011, 6) (21) Die Bluttat zeugt von einer größeren Auseinandersetzung: vom Kampf des russischen Premiers Wladimir Putin gegen jene in der islamischen Welt, die mit radikalen tschetschenischen Untergrundkämpfern sympathisieren, sie finanzieren und ihnen Unterschlupf gewähren. Der Regierungschef will einen weiteren Zerfall Russlands um jeden Preis verhindern. Systematisch scheinen Agenten russischer Geheimdienste eine Todesliste abzuarbeiten. (Der Spiegel, 26.09.2011, 93) Insgesamt ist davon auszugehen, dass gerade die Beschreibung von Sinneswahrnehmungen besonders geeignet ist, um Schein-Evidenz zu erzeugen, da durch sie das Geschehen den Anschein unmittelbarer und unverfälschter Darstellung erlangt. Wenn etwas sichtbar ist, ist es nicht mehr streitbar. Auch andere Sinne (auditiv, gustatorisch, olfaktorisch, taktil) sind denkbar, wurden aber in der Berichterstattung deutlich seltener genutzt. Das visuelle Empfinden bleibt primär, wird jedoch meistens sprachlich objektiviert um- <?page no="184"?> Stephan Peters 184 gesetzt. 9 Da es sich hierbei um keine grammatikalisierten Formen handelt, sind sie lediglich als evidentielle Strategien zu klassifizieren. Die aufgezeigten sprachlichen Mittel der Evidentialität unterstützen den Eindruck von Schein-Evidenz, indem sie den Grad der Gewissheit von Informationen darstellen und erhöhen. Natürlich ist immer noch zwischen Evidentialität und (Schein-)Evidenz zu unterscheiden. Deshalb argumentiert De Haan in Rückbezug auf Friedman (1999) dafür, „that much of what is commonly called evidential is not actually evidential in the sense that the statement is based on some kind of evidence, but rather on whether the speaker has personally confirmed the action or not” (De Haan 2001: 12). Dennoch scheint ein Zusammenhang gegeben, der sich wie folgt beschreiben lässt: Anhand der Evidentialen lehnt der Autor die Verantwortung dafür ab, dass seine Äußerung der Wahrheit entspricht, indem er sich explizit auf die Quelle seiner Äußerung bezieht (vgl. De Haan 1999: 17 f.). Wie auch bei der (Schein-)Evidenz können die Journalisten bewusst die Verantwortung für den Wahrheitsgehalt ihrer Äußerung ablehnen, da sie schließlich von etwas „Evidentem“ berichten, das (theoretisch! ) nicht der Evaluierung seitens der Journalisten bedarf. Sie berufen sich auf das Augenscheinliche. Auch das macht die Schein-Evidenz in der Presse so beliebt bei den Journalisten und möglicherweise entsprechend persuasiv in Bezug auf die Rezipienten. 3.2 Substrategie: Kompetenz suggerieren Als evident kann jemand einen Sachverhalt nur darstellen, wenn er genaue Kenntnis über diesen besitzt. Im eigentlichen Wortsinn muss er ihn dazu selbst wahrgenommen haben. Im Fall der Schein-Evidenz scheint aber auch der Umweg möglich, dass man jemandem vertraut, der sich einen Sachverhalt aufgrund seines Wissens erschließen kann. Diese Person hat dann die Fähigkeit, das Evidente zu erkennen und mitzuteilen. Man könnte dies als eine Form der inferentiellen Evidenz 10 beschreiben. Zu diesem Zweck wird das notwendige Fachwissen von Seiten der Massenmedien inszeniert. Sie stellen sich selbst als Experten dar, dem der Rezipient vertrauen können soll. Ein sprachliches Mittel dazu stellt die Verwendung von Fachsprache dar. Der Technolekt unterscheidet sich von der Gemeinsprache insbesondere durch den Fachwortschatz. Die Fachtermini besitzen den Vorteil, dass sie aufgrund ihrer genauen Definition Gegenstän- 9 Eine andere Interpretation wäre, dass die Medien nicht selbst vor Ort waren und deshalb auf objektivierende Formulierungen zurückgreifen. Die notwendigen Informationen für die Beschreibung können sie schließlich ebenso über andere Berichte sowie aus Bildern oder Videos erlangt haben. 10 Dafür ist eine Erweiterung bzw. Aufweichung der Definition des Evidenz-Begriffs notwendig. <?page no="185"?> Schein-Evidenz als persuasive Strategie 185 de oder Sachverhalte sehr exakt beschreiben können und somit einer effektiven und präzisen Kommunikation dienen (vgl. Liimatainen 2008: 27 f.). Dabei ist jedoch zu beachten, dass der Leser als Laie wahrscheinlich nicht über dieses Vokabular verfügt. Es dennoch (im Übermaß) zu benutzen, würde ihn sowohl verwirren als auch verprellen (Stichwort: Fachchinesisch). Vermutlich wurden deshalb im Korpus lediglich Lexeme der gehobenen Standardsprache identifiziert, die wahrscheinlich unlängst zum Wortschatz des interessierten Lesers gehören. (22) Nur haben beide Einsätze nicht gehalten, was sie versprochen haben. Warum nicht? Drei Antworten. Die erste ist eine alte: die „asymmetrische Kriegführung“, die den Schwächeren favorisiert und den Stärkeren neutralisiert. In der klassischen Schlachtordnung Armee gegen Armee triumphieren die hoch trainierten Truppen des Westens in ein paar Wochen - siehe Afghanistan und Irak. (Die Zeit, 08.09.2011, 1) (23) Das zentrale Bild dieses Konspirationsromans ist ein Keller im neuen Gebäude One World Trade Center, genannt „Das Paradies“. Dort gibt es eine Anlage für das Waterboarding von Terrorverdächtigen. (Die Zeit, 08.09.2011, 63) (24) An die Macht gekommen, hat offenbar der damalige Präsident Putin persönlich die Ausweitung der Todeszone beschlossen. (Der Spiegel, 26.09.2011, 93) (25) Als die Mörder im Staatsdienst aufflogen und festgenommen wurden, griff Putin persönlich zum Telefon, um in Katar ihre Freilassung durchzusetzen. 2006 brachte er, wie wenige Jahre zuvor sein Gegenspieler George W. Bush, ein Gesetz durch, das sein Vorgehen legalisierte und russischen Geheimdiensten und Sondereinheiten erlaubt, Terroristen im Ausland zu töten. Der Befehl zur Liquidierung bleibt dem Präsidenten vorbehalten. (Der Spiegel, 26.09.2011, 93) So lassen sich im Korpus Fremdwörter (23), Komposita (24) oder Bezeichnungen für komplexe Konzepte (22) nachweisen, die den Autoren als Experten auf dem Gebiet des Terrorismus auszeichnen sollen. Neben der Fachsprache fallen weitere semantische Wortfelder ins Auge, die einen Bezug zu der persuasiven Strategie der Schein-Evidenz aufweisen. Semantische Wortfelder werden hier als komplexe wortartübergreifende Wissensstrukturen gefasst, die als Informationen über einen bestimmten Erfahrungsbereich im LZG abgespeichert sind (Schwarz/ Chur 5 2007: 62). Aus den Wortfeldern der Wissenschaft (viele Disziplinen, wie die Politikwissenschaft, Rechtswissenschaft oder Kulturwissenschaft, werden explizit genannt) und darunter insbesondere der Mathematik lassen sich im Korpus oft gebündelt Ausdrücke finden. <?page no="186"?> Stephan Peters 186 (26) Unter dem Dach des Interkulturellen Rats setzen sich die Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Stiftungen für die Verbesserung des Miteinanders der Religionen ein. Ihr Fazit ist klar: „Gewalttaten sind durch nichts zu rechtfertigen. Sie lassen sich mit den Grundwerten unserer Religionen nicht vereinbaren.“ (Frankfurter Rundschau, 12.09.2011, 11) (27) Nach dem christlichen Glauben setzt Vergebung Reue voraus. Es ist eine traurige Erkenntnis, dass es die nicht gibt in diesem Falle. Jeder Glaube kann pervertieren. Welche Schlüsse aus 9/ 11 ziehen Sie als Theologe [Frage gestellt an Peter Hinze, CDU Politiker und früherer evangelischer Pfarrer]? (BZ, 11.09.2011, 26) (28) Damit aber tut man den Religionen unrecht. Es ist nicht zu bestreiten, dass sich in den heiligen Büchern Christen, Juden und Muslimen Geschichten von ungeschminkter Gewalt finden. Aber sie rechtfertigen keine Gewalt, sie mahnen uns zu einer ständigen Prüfung und Interpretation: Vor welchem zeitgeschichtlichen Hintergrund entstanden diese Schriften, worin besteht ihre bleibende Bedeutung und wie können wir sie neu verstehen? (BZ, 08.09.2011, 18) (29) 1,8 Millionen Tonnen Schutt sind abgetragen, auf Staten Island, der Insel vor Manhattan, auf winzigste Fundstücke untersucht, sortiert, katalogisiert. (BZ, 11.09.2011, 24) (30) Die Autoren der ARD-Dokumentation, Stefan Aust und Detlev Konnert, bleiben unsichtbar. Ihr Film, den die ARD am Sonntagabend ausstrahlt, hat einen anderen Schwerpunkt und will eine Bilanz der Weltpolitik der vergangenen zehn Jahre sein. Die These der Autoren: Osama bin Laden hat die westlichen Demokratien in eine Falle gelockt. (Frankfurter Rundschau, 01.09.2011, 36) Gerade die Wissenschaft wird mit einer kompetenten fachlichen Auseinandersetzung in Verbindung gebracht. In dieser Hinsicht könnte man eventuell von einer Wissenschaftshörigkeit sprechen: Der Laie vertraut dem Gelehrten, der aufgrund seines Wissens eine fundierte Meinung äußern kann; der Laie gibt darüber seine eigene Meinung auf. Unter den Wissenschaften im Allgemeinen spielt im Korpus insbesondere die Mathematik eine wesentliche Rolle. Nicht nur durch die Angabe konkreter Zahlen, sondern auch mittels entsprechender Lexik kann eine Genauigkeit suggeriert werden, die in Verbindung mit mathematischer Wahrheit gesehen werden kann. (31) War es die Sache wert? Für den Terror auf jeden Fall, denn noch nie haben so wenige mit so dürftigen Mitteln so vielen so großen Schaden zugefügt. Allein das neue US-Heimatschutzministerium kostet 55 Milliarden im Jahr. Und wie beziffern wir den Verlust der Frei- <?page no="187"?> Schein-Evidenz als persuasive Strategie 187 heiten zu Hause - durch Überwachung, Rechtsbeugung und Angst? (Die Zeit, 08.09.2011, 1) (32) Ein Komitee aus Kongressmitgliedern beider Parteien hat vorgerechnet, dass private Dienstleister allein in Afghanistan und im Irak zwischen 31 und 60 Milliarden Dollar verschwendet haben. „Der unsachgemäße Einsatz von privaten Sicherheitsunternehmen hat immer wieder die außenpolitischen Ziele des Landes untergraben“, heißt es in seinem Bericht. (Die Zeit, 08.09.2011, 36) Der Wunsch nach Exaktheit drückt sich ansonsten insbesondere in dem übermäßigen Gebrauch von Zahlen in der Berichterstattung aus. Dabei ist nur schwerlich anzunehmen, dass die exakte Zahl als solche einen hohen Informationswert für den Durchschnittsleser besitzt, zumal es sich oftmals um Werte handelt, welche die Vorstellungskraft bei Weitem übersteigen dürften. Es ist daher davon auszugehen, dass gerade durch Zahlen eine mathematische Schärfe suggeriert werden soll, die keinerlei Interpretationsspielraum lässt. Eine Zahl ist ein Fakt und damit unangreifbar. Die Nähe zur Schein-Evidenz ist somit deutlich gegeben. Außerdem dient auch sie als Beleg für eine ausreichende Kenntnis auf dem jeweiligen Gebiet. (33) Nach einer Studie des FiscalPolicy Institute entfielen im Jahr 2007 auf ein Prozent der New Yorker 45 Prozent des Einkommens. Der Tagesverdienst der 34500 Haushalte an der Spitze ist größer als das durchschnittliche Jahreseinkommen der zehn Prozent New Yorker am unteren Ende der Skala. (Die Zeit, 08.09.2011, 10) (34) Privatfirmen bilden Spione im Irak aus, sammeln Informationen in Afghanistan und beschützen CIA-Chefs bei ihren Besuchen im Ausland. Sie befragen Gefangene, bewachen Überläufer und analysieren Terrornetzwerke. Laut Schätzungen der Washington Post sind 265000 der rund 854000 Personen mit Zugang zu den Top-Secret- Bereichen der Regierung Angestellte privater Unternehmen. (Die Zeit, 08.09.2011, 36) (35) Um Punkt 14.46 Uhr (8.46 Ortszeit) legte sich dann eine geradezu unheimliche Stille über die Metropole. Der Verkehr in New York stand still, die Menschen senkten den Blick. Mit einer Schweigeminute wurde an den Einschlag des ersten Flugzeugs in den Nordturm des World Trade Center vor zehn Jahren gedacht. (BZ, 12.09.2011, 4) Genaue Angaben zeugen von Gewissheit und schaffen Sicherheit. Unterstützend könnte zudem die Unterstellung von Wissenschaftlichkeit wirken, die bei der Erhebung der Werte möglicherweise vom Leser intuitiv vorausgesetzt wird. Dadurch wird zugleich das Vorgehen der Massenmedien bei Informationsbeschaffung wie -aufbereitung als wissenschaftlich (objektiv) und methodisch vertrauenswürdig legitimiert. Durch die Zahlen können die <?page no="188"?> Stephan Peters 188 Medien in jedem Fall ihre Kenntnis über das genaue Ausmaß demonstrieren und darüber wiederum ihren Expertenstatus untermauern. Das verbindet diese Ausprägung der Bezifferung mit den bereits zuvor genannten, die sich unter der Substrategie „Kompetenz suggerieren“ zusammenfassen lassen. 3.3 Substrategie: Auf Autoritäten berufen „Auf Autoritäten berufen“ nennt Klein (1994: 6 f.) die persuasive Strategie, die Zustimmung beim Rezipienten erwirken soll, indem ein kompetenter Fürsprecher für eine dargestellte Position präsentiert wird. Sie kann gerade dadurch wirken, dass sie argumentativ-rational scheint, doch dabei im hohen Maße auf die gefühlsmäßige Zustimmung beim Rezipienten abzielt. Dieser vertraut schlichtweg auf die Meinung einer anderen Person oder Institution, die er für angemessen kompetent und glaubwürdig hält. Insofern handelt es sich auch hierbei um eine Form der inferentiellen Schein- Evidenz. Im Vergleich zur zuvor genannten Substrategie beanspruchen die Medien hier nicht Kompetenz für sich, sondern für Dritte, die sie in den Dienst ihrer Evaluation stellen. Dabei ist nämlich zu bedenken, dass natürlich auch die Autoritäten und ihre Meinungen von den Medien ausgewählt und entsprechend platziert werden. Es wird nur der Realitätsausschnitt gewählt, welcher der Meinung der Journalisten entspricht und somit ihre Konzeptualisierung unterstützt. Die Autoritäten können dabei helfen, Schein-Evidenz zu kreieren, indem sie für den Rezipienten ein hohes Maß an Kompetenz und Glaubwürdigkeit repräsentieren, dem er nicht widersprechen kann oder will. Für den Rezipienten dienen Autoritäten als eine Art kognitive Entlastung, indem sie ihm die eigene kritische Auseinandersetzung mit einem undurchsichtigen Gegenstand abnehmen. Die Autorität bedeutet für den Autoritätsgläubigen Sicherheit (vgl. Sofsky/ Paris 1994: 37). Ist das Vertrauen den Autoritäten gegenüber groß genug, verzichtet er ggf. auf weitere Fakten oder Beweise. In dem Fall kann mittels Autorität eine Schein-Evidenz erzeugt werden. Laut Lexikon der Politikwissenschaften (Nohlen/ Schultze 2002: 58) bezeichnet der Terminus Autorität (lat. auctoritas: Ansehen, Geltung) „den als rechtmäßig anerkannten Einfluß - oder auch die ‚bejahte Abhängigkeit‘ von - einer Person, Gruppe oder sozialen Institution“. Wer in diesen Status einer Autorität erhoben wird, obliegt der Presse, die sie ausgewählt hat. Im Korpus zeigt sich, dass dabei einzelne Personen benannt oder in ihrer Funktion dargestellt werden, ganze Institutionen ins Feld geführt werden oder mittels intertextueller Verweise gearbeitet wird. (36) „Die amerikanische Außenpolitik ist im Laufe des letzten Jahrzehnts im Grunde privatisiert worden“, urteilt Allison Stanger, Professorin für Politikwissenschaft und Ökonomie an der Middlebury Universi- <?page no="189"?> Schein-Evidenz als persuasive Strategie 189 ty. Die Autorin des Buches One Nation under contract („Eine Nation under Vertrag“) beschäftigt sich seit Jahren mit den privaten Dienstleistern im Verteidigungs- und Sicherheitsgewerbe. (Die Zeit, 08.09.2011, 36) (37) Mathias Bröckers, der führende 9/ 11-Paranoiker hierzulande, hat auf den Import der Verschwörungstheorien ein Geschäftsmodell aufgebaut. Zum Jubiläum der Anschläge legt er seine Zweifel an der offiziellen Version zusammen mit Christian C. Walther neu auf. Die beiden Autoren behaupten, sie würden nur Fragen stellen. (Die Zeit, 08.09.2011, 63) (38) Drei Al-Qaida-Terroristen sollen einen Anschlag zum zehnten Jahrestag des Angriffs auf das World Trade Center planen. Einer sei aus Pakistan angereist, meldet die „New York Times“. Bürgermeister Michael Bloomberg sagte: „Die Stadt nimmt jede Drohung ernst.“ Dennoch forderte er die Menschen auf, sich nicht beeindrucken zu lassen und ihren normalen Alltag zu leben, stieg selber in einen U-Bahn-Wagen und fuhr demonstrativ einige Stationen mit. (BZ, 11.09.2011, 64) Gerade im Fall von Wissenschaftlern (36) wird dadurch die Kompetenz unterstrichen, dass ihr Tätigkeitsfeld möglichst detailliert expliziert wird. Im Fall von Politikern reicht zumeist die Nennung des Amtes (38) und bei Vertretern aus der Wirtschaft oder Gesellschaft (37) wird auf ihre Stellung hingewiesen. Zu unterscheiden von den personengebundenen Autoritäten sind die Institutionen. Im Gegensatz zu den Einzelpersonen bedürfen sie keiner Legitimation, da sie per definitionem mit dem jeweiligen Bereich betraut sind. Dafür wurden sie geschaffen, als „verhaltensregulierende und Erwartungssicherheit erzeugende Regelsysteme“ (Nohlen/ Schultze 2002: 58). In Form von sozialen, staatlichen oder kirchlichen Einrichtungen dienen sie dem Wohl und Nutzen des Einzelnen oder der Allgemeinheit. Daraus erwächst die Vermutung, dass gerade Institutionen besonders geeignet sind, um Schein-Evidenz herzustellen, da sie, unabhängig von einer Person und deren Einschätzung, im größeren Maße Objektivität zu suggerieren vermögen. Andererseits wird dem Rezipienten durch diese Entpersonalisierung die Identifizierungs- und Empathiegrundlage entzogen, was vermutlich ebenfalls Einfluss auf das Persuasionspotenzial nimmt. (39) Deutsche Spitzenpolitiker haben zum Jahrestag des 11. September die Terroranschläge als „zutiefst inhuman“ und als Attacke auf die Freiheit weltweit verurteilt. (Frankfurter Rundschau, 12.09.2011, 5) (40) Nach Angaben des US-amerikanischen Forschungsinstituts Just Foreign Policy ist die Zahl der Irakerinnen und Iraker, die seit Beginn der US-Invasion im März 2003 ihr Leben verloren haben, mindes- <?page no="190"?> Stephan Peters 190 tens zehnmal höher als die Angaben, die normalerweise von US- Medien gemacht werden, und stellen nach Ansicht des Instituts sogar den Genozid in Ruanda in den Schatten. (Frankfurter Rundschau, 13.09.2011, 19) (41) Die „Washington Post“ hat im vergangenen Jahr in einer beeindruckenden Fleißarbeit nachgezeichnet, wie der innere und äußere Sicherheitsapparat der USA seit 9/ 11 um- und ausgebaut wurde. Die Zeitung berichtete, dass im vergangenen Jahrzehnt für die Zwecke des Anti-Terror-Kampfs und des Heimatschutzes 263 neue Behörden geschaffen wurden und dass heute insgesamt 1271 Regierungsorganisationen mehr oder minder direkt mit dem Schutz des Landes vor Attentaten betraut seien. (Der Spiegel, 12.09.2011, 114) Es kann sich nicht nur auf Personen oder Institutionen bezogen werden, sondern auch auf andere Texte, die eine gesellschaftliche Relevanz besitzen. Darunter fallen Untersuchungen, Schreiben von Autoritäten oder gar Gesetze. In Form von Berichten und Studien (s. auch Bsp. (33)) können so komplexe Zusammenhänge dargestellt und bewertet werden. (42) Ein Komitee aus Kongressmitgliedern beider Parteien hat vorgerechnet, dass private Dienstleister allein in Afghanistan und im Irak zwischen 31 und 60 Milliarden Dollar verschwendet haben. „Der unsachgemäße Einsatz von privaten Sicherheitsunternehmen hat immer wieder die außenpolitischen Ziele des Landes untergraben“, heißt es in seinem Bericht. (Die Zeit, 08.09.2011, 36) (43) „Terrorismus kann unter keinen Umständen gerechtfertigt werden“, heißt es in einem Brief von Papst Benedikt XVI. an den Erzbischof von New York, Timothy Dolan. Dass die Attentäter des 11. September vorgegeben hätten, im Namen Gottes zu handeln, mache die „Tragödie dieses Tages“ noch schlimmer. Der Papst rief zur Achtung der Menschenrechte auf. (Frankfurter Rundschau, 12.09.2011, 5) Zur Sicherstellung des Status als Autorität lässt sich bei den Berichten oft ein Verweis auf die Quelle (ein Komitee aus Kongressmitgliedern beider Parteien, Papst Benedikt XVI) ausmachen. Dabei handelt es sich um Autoritäten oder Institutionen, die über die notwendige Kompetenz für die gewählten Darstellungen verfügen. Somit ist bei den intertextuellen Verweisen immer zu berücksichtigen, ob sie wirken, weil die Texte, auf die sie verweisen, selbst gesellschaftlich akzeptiert sind, oder weil diese durch eine Autorität legitimiert werden. Meistens stehen die Äußerungen der Autoritäten in direkter (43, 42) oder indirekter Rede (42), durch welche ihre Evaluierung dargestellt wird. In diesen Redebeiträgen treten die Meinungen und Einstellungen der zitierten Personen zum Sachverhalt in den Vordergrund und sollen somit den Rezi- <?page no="191"?> Schein-Evidenz als persuasive Strategie 191 pienten überzeugen. Mainguenau betont, dass insbesondere die Verwendung von referierter Rede Möglichkeiten der medialen Steuerung bietet, die vielen Rezipienten vermutlich nicht bewusst sind. Für sie wirkt die referierte Rede wahrscheinlich objektiver und auf diese Weise evidenzfördernd. „Die indirekte Rede impliziert dagegen eine ganz andere Vorgehensweise. Während die direkte Rede die Worte eines anderen Sprechaktes wiederholt […], ist die indirekte Rede nur dem Sinn nach einer Redeerwähnung, nämlich als ‚Übersetzung‘ der wiedergegebenen Äußerung“ (Mainguenau 2000: 107). Hier tritt der Journalist stärker zum Vorschein und lässt seine Interpretation des Gesagten einfließen. Möglicherweise ist die persuasive Kraft in Bezug auf die Schein-Evidenz vermindert im Vergleich zur direkten Rede. In jedem Fall ist bei der Substrategie „Auf Autoritäten berufen“ sowohl die Autorität selbst als auch ihre Darstellung genau zu betrachten. Die Unterschiede ergeben sich aus der Art der Autorität (Person, Institution, intertextueller Verweis), ihrem sozialen Status und ihrer Darbietung der Evaluierung in der Proposition. 4 Fazit: Die persuasive Kraft der Schein-Evidenz Würde man der Betrachtung des Persuasionspotenzials die Definition von erkenntnistheoretischer Evidenz zugrunde legen, so wäre der Sachverhalt eindeutig: Entweder etwas ist evident oder es ist nicht evident. Und ist es evident, so bedarf es keiner weiteren Ausführung. Damit wäre von einem hohen Persuasionspotenzial auszugehen, ansonsten nicht. Bei der Schein- Evidenz muss diese enge Definition aufgeweicht werden, da nichts tatsächlich evident sein kann, so wie es in der Presse dargestellt wird - und dennoch kann auch hier von einem Persuasionspotenzial ausgegangen werden. Der Eindruck von Evidenz ergibt sich im Wesentlichen aus der dargestellten Unmittelbarkeit. Unmittelbar ist etwas nur, wenn man es selbst wahrnehmen kann, weil man persönlich vor Ort ist. Scheinbar unmittelbar ist es noch, wenn die Medien vorgeben, es selbst gesehen zu haben und diese Eindrücke nun an den Rezipienten weitergeben. Dies geschieht vorwiegend über die explizite Beschreibung des Sinneseindruckes (s. unter 3.1). Die persuasive Strategie der Schein-Evidenz darauf zu begrenzen, würde allerdings zu kurz greifen. Die Substrategien „Auf Autoritäten berufen“ (s. unter 3.3) und „Kompetenz suggerieren“ (s. unter 3.2) können zum Persuasionspotenzial beitragen. Diese wirken über den Umweg, dass sie die Massenmedien als entsprechend kompetent und somit in der Lage herausstellen, das Evidente zu erkennen. Da dies aber in der Definition der Evidenz nicht möglich ist, wurde in diesem Artikel der Begriff der Schein-Evidenz eingeführt. Dieser meint die mediale Persuasion durch das Erzeugen von scheinbarer Evidenz. Der Unterschied zwischen den beiden genannten Substrate- <?page no="192"?> Stephan Peters 192 gien besteht nun darin, dass im Fall der Suggestion von Kompetenz eben diese direkt von den Massenmedien beansprucht wird, während im Fall der Berufung auf Autoritäten die Kompetenz den Autoritäten unterstellt wird. Erst in einem zweiten Schritt wird die Kompetenz der Autoritäten dann von Seiten der Medien in Form der dargestellten Positionierung instrumentalisiert. Die persuasive Strategie der Schein-Evidenz erhöht zum einen das Persuasionspotenzial des gesamten Textes; zum anderen sind Evaluierungen z. T. sehr eng mit einzelnen sprachlichen Mitteln verwoben. Bspw. werden Bewertungen als Fakten inszeniert, so dass sich die enge Verbindung, der Fakt ist die Evaluation und vice versa, nicht mehr auflösen lässt (s. Bsp. (7) oder (39)). Auch durch Modalwörter wird sowohl eine evidentielle als auch eine epistemische Aussage getroffen (s. Bsp. (13)). Dadurch kann die Schein- Evidenz sowohl zur Absicherung expliziter als auch impliziter Evaluierungen dienen. Verbunden sind die Evaluierungen oftmals mit einem hohen Emotionspotenzial, wie schon das eingangs gezeigte Beispiel (1) angedeutet hat. Die Emotionen, die dabei vorwiegend evoziert werden sollen, sind ANGST, PANIK, TRAUER oder WUT. Damit sollen die Rezipienten von der Dramatik der Lage und der Gefahr durch den Terrorismus überzeugt werden. (44) Die Hybris, weder an die Grenzen der eigenen Verfassung noch ans Völkerrecht gebunden zu sein, drückte sich bald in den frisierten Beweisen für Massenvernichtungsmittel im Irak, in der Legitimierung der Folter und der Aushöhlung des Rechtsstaats aus. [Der Historiker Bernd] Greiner erzählt die beklemmende Geschichte des Verlusts von Maß und Moral in der Politik, flankiert durch eine Politik der Angst, die die Schockstarre des 11. September hemmungslos ausbeutete. (Die Zeit, 08.09.2011, 63) Hier wirkt die Schein-Evidenz gerade durch den Ausdruck von Gewissheit. Ist etwas gewiss, so wird die Bedrohung real und die Konsequenzen unausweichlich. Das kann das Emotionspotenzial zusätzlich erhöhen. Darüber hinaus lässt sich in Bezug auf die sprachlichen Mittel zur Erzeugung von Schein-Evidenz eine Verbindung zu zahlreichen Evidentialitätsmarkern sowie evidentiellen Strategien postulieren. In ihrer Funktion, die Quelle der Äußerung zu explizieren, können sie auch zur Schein-Evidenz beitragen. Bei den evidentiellen Strategien zur direkten Evidentialität findet sich eine enge Beziehung zur Beschreibung der Wahrnehmung mittels Perzeptionsverben, während „Auf Autoritäten berufen“ hauptsächlich quotative Evidentialität nutzt und „Kompetenz suggerieren“ vornehmlich via inferentieller Evidentialität installiert wird. Diese Ergebnisse sind allerdings nur als Hinweise zu begreifen, die erst im Zusammenspiel mit weiteren sprachlichen Mitteln die Schein-Evidenz bilden, die wiederum erst mit den <?page no="193"?> Schein-Evidenz als persuasive Strategie 193 übrigen persuasiven Strategien das Persuasionspotenzial eines Textes bestimmen. Im Rahmen dieses Artikels musste immer wieder auf das schwierige Verhältnis zwischen Evidenz, wie sie in der Wissenschaftstheorie definiert wird, und ihrer Umsetzung als persuasive Strategie hingewiesen werden. Möglicherweise sollte man hier sogar von dem Terminus der (Schein-) Evidenz abrücken, um keine Fehlschlüsse zu begünstigen. Wesentlich scheint jedoch, dass die Schein-Evidenz den Massenmedien eine wesentliche Möglichkeit bietet, den Rezipienten von einer gegebenen Realitätskonstruktion zu überzeugen. Allein das sollte für Linguisten, Medien- und Kognitionswissenschaftler Grund genug sein, sich weiter mit diesem Gegenstand auseinanderzusetzen. 5 Bibliographie Aikhenvald, A. Y., 2004. Evidentiality. New York: Oxford University Press. Baumgartner, W., 1999. Evidenz. In: Prechtl, P./ Burkhard, F.-P., 1999. Metzler Philosophie Lexikon. Begriffe und Definitionen. Stuttgart: Metzler, 167-169. Brentano, F., 1962. Wahrheit und Evidenz. Hamburg: Meiner. Bucher, H.-J., 1992. Informationspolitik in der Presseberichterstattung: Kommunikationsstrategien bei der Darstellung gesellschaftlicher Konflikte. In: Hess- Lüttich, E. W. B. (Hg.), 1992. Medienkultur - Kulturkonflikt. 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Mit Verve setzt auch der Präsident auf die Mobilmachung der Angst - gegen eine Überflutung durch illegale Zuwanderer, gegen Unterwanderung durch islamische Immigranten, gegen kulturelle Überfremdung, Kriminalität und Terrorismus“. Auch von Politikern wird diese Annäherung wahrgenommen. Eva Joly, Europaabgeordnete der Grünen, sagt dazu: „Nicolas Sarkozy semble décidé à doubler Madame Le Pen“ [...] en „surfant“ avec „son principal porte-parole, Claude Guéant“, „sur des thèmes sulfureux: identité nationale, chasse aux Roms, dénonciation de l'immigration non contrôlée et stigmatisation de l'islam“ [„Nicolas Sarkozy scheint entschlossen, Madame Le Pen zu doubeln“ [...], indem er zusammen mit „seinem ersten Regierungssprecher Claude Gue ant auf unheimlichen Themen ‚herumsurft’: nationale Identität, Jagd auf Roma, Denunziation der unkontrollierten Einwanderung und Stigmatisierung des Islam“] (www.lexpress.fr, 05.04.2011). 1 Diese fragwürdige Strategie erkannte die politologische Forschung schon Jahre zuvor. Florence Haegel, Mitarbeiterin am Institut d’études politiques in Paris, bemerkt: „Die von Nicolas Sarkozy anlässlich des Präsidentschaftswahlkampfs 2007 geforderte Strategie bestand darin, die gemäßigte Rechte zu radikalisieren, um die so genannte radikale Rechte zu schwächen“ (Haegel 2011: 7). Um diese Beobachtungen zu verifizieren, gilt es im Zuge einer kognitionslinguistischen Untersuchung herauszustellen, mit welchen sprachlichen 1 Diese und alle folgenden Übersetzungen wurden vom Autor vorgenommen. <?page no="198"?> Matthias J. Becker 198 Mitteln, genauer: mit welcher Metaphorik der FN und die UMP im Zuge des letzten Präsidentschaftswahlkampfes im europäischen Nachbarland gerade zum Thema Immigration operierten, um damit ihren Zielen bei den Wahlen näher zu kommen. Falls dem so ist, müssen parallel verlaufende Konzeptualisierungen des Referenzobjektes durch beide Parteien nachvollzogen werden können. Es bleibt hierbei zu untersuchen, inwieweit durch die verwendete Sprache dämonisierende Perspektivierungen und abwertende Evaluierungen von Immigration und Immigrationspolitik bei beiden Parteien vorliegen, wobei davon ausgegangen wird, dass sich die UMP - wenn auch mittels relativierender und/ oder weniger eindeutiger Verbalisierungen - an den Darstellungsformen des FN orientiert. Dies würde bedeuten, dass bei einer Analyse der Metaphernverwendung dieselben zugrunde liegenden Ursprungsbereiche, die zu einer spezifischen Perspektivierung des Zielbereiches beitragen, identifiziert werden können. Bei einem hier vorliegenden intendierten Rückgriff auf Metaphern ist davon auszugehen, dass dies auf der Ebene der politischen Sprache mit dem Ziel einer spezifischen Emotionalisierung des Lesers erfolgt. Bei vorliegenden Quellen wäre anzunehmen, dass dies in Form einer emotionsgesteuerten Distanzierung gegenüber der Immigration und ihren Protagonisten geschieht. 2 Metaphernanalyse in der Kognitiven Linguistik 2.1 Sprache als Spur zur Konzeptualisierung des Fremden Diese Ausarbeitung ist von der kognitionslinguistischen Textanalyse geprägt, in der Texte „hinsichtlich ihrer Referenz und ihrer Informationsstrukturierung mit dem Ziel untersucht [werden], die Konzeptualisierungsstrukturen der Sprachproduzenten zu rekonstruieren“ und damit „die Intention ihrer Verfasser (sowie das Persuasionspotenzial in Bezug auf die Rezipienten) transparent zu machen“ (Schwarz 3 2008: 233). Für die Rekonstruktion der Einstellungen innerhalb der französischen Parteien bzw. ihrer Verantwortlichen als Produzenten dieser Verbalisierungen zur Immigration spielt ihr (metaphorischer) Sprachgebrauch eine entscheidende Rolle. Mit der Verwendung von Sprache wird Denken sichtbar. Doch durch die spezifischen Verbalisierungsformen erfolgt ebenso eine Einflussnahme auf die außersprachliche Wirklichkeit durch den Sprachproduzenten (vgl. Schwarz- Friesel/ Kromminga 2013). Diese Wirklichkeit erhält gewiss ihren Status als Bezugssystem mit Orientierungsfunktion aufrecht, jedoch können Textwelten klar von dieser abweichen und sind vorrangig von Perspektive und Wertung des Produzenten abhängig. Indem Sprache Dinge in der außersprachlichen Wirklichkeit benennt und beschreibt, bildet sie einerseits ab, doch durch Referenzialisierung (Nennung und Prädikation) verfügt sie andererseits über die Eigenschaft, die Konzeptualisierung der Wirklichkeit durch <?page no="199"?> Gewaltmetaphern im französischen Präsidentschaftswahlkampf 2011/ 12 199 den Produzenten einzubeziehen (vgl. Schwarz-Friesel/ Kromminga 2013, s. Schwarz-Friesel in diesem Band). Perspektivierung und Evaluierung sind omnipräsente Erscheinungen der Sprache: „Es liegt in der Natur der Sprache, dass wir aufgrund der ihr innewohnenden Perspektivierungen, Ein- und Zusammenordnungen nicht interessenlos und wertneutral auf die Gegebenheiten unserer Welt Bezug nehmen können“ (Lehr 2006: 192). Dies findet sich nicht nur in Alltagssprache und Literatur, sondern charakterisiert insbesondere den politischen Diskurs, der mit einem persuasiven und ggf. emotiven Potenzial aufgeladen und damit imstande ist, den Rezipienten nachhaltig zu beeinflussen (vgl. Schwarz-Friesel 2 2013: 225, s. auch Peters in diesem Band). Gerade bei parteilichen Wahlkampferklärungen ist davon auszugehen, dass die Wahl der Lexeme durch den Produzenten intentional gesteuert und kalkuliert wird. Ziel ist die Übernahme der Konzeptualisierung hinsichtlich des geschilderten Problems durch den Adressaten der Botschaft. Hier kann die kontinuierlich ablaufende spezifische Perspektivierung und ggf. negative Evaluierung eines Sachverhalts mit einem entsprechenden Emotionspotenzial zur Folge haben, dass sich beim Rezipienten aufgrund von klaren, durch professionelle Sprachverwendung konstituierten Bildern sowie durch das permanente Rekurrieren auf selbige eine korrespondierende emotionale Grundhaltung als feste Einstellung zu dem Thema etabliert. Beim vorliegenden Thema ist es wie gesagt wahrscheinlich, dass die in den Medien kontinuierlich realisierte Darstellungsweise der Immigration zu einer sich ausbreitenden Evozierung negativer Gefühle in der französischen Wählerschaft gegenüber Einwanderern beiträgt und entsprechende Haltungen in der Öffentlichkeit festigt. Dies wird in Punkt 3 anhand einer mit Beispielen veranschaulichten Korpusanalyse noch erläutert. 2.2 Metaphern im politischen Diskurs: Zur Relevanz von dämonisierender Sprachverwendung Lange Zeit galt es auch in der sprachwissenschaftlichen Forschung als erwiesen, dass es sich bei Metaphern vorrangig um ein stilistisch-rhetorisches Mittel, eine sich durch Besonderheit auszeichnende sprachliche Zutat handelt - diese Annahme wurde von den Wissenschaften seit Aristoteles aufrecht erhalten (vgl. Pielenz 1993: 11). Im Rahmen der kognitiv ausgerichteten Metaphernforschung ändert sich dies hingegen grundlegend: Die Metapher wird nicht mehr als ein Element der Ausschmückung, sondern als Ausdruck einer grundlegenden kognitiven Fähigkeit des Menschen betrachtet. Erwähnenswert für diese grundsätzliche Umorientierung ist an dieser Stelle das für die Cognitive Metaphor Theory (CMT) grundlegende Werk von Lakoff/ Johnson (2003), fortgesetzt in Arbeiten bspw. von Gibbs (2011a und b) oder Musolff (2004, 2011). Anders als in deren Arbeiten wird hier jedoch <?page no="200"?> Matthias J. Becker 200 betont, dass Metaphern als sprachliche und nicht als mentale Konstrukte zu betrachten sind. Eine Metapher ist ein spezifischer Fall nicht-wörtlichen Sprachgebrauchs in einer Kommunikationssituation: Der gemeinte Ausdruck wird nicht in seiner lexikalischen Bedeutung verwendet (Skirl/ Schwarz-Friesel 2 2013: 3). Es erfolgt die Etablierung einer Ähnlichkeits- oder Analogiebeziehung zwischen einem Gegenstand, der lexikalisch gekennzeichnet wird, und einem anderen, auf den sich dieser Ausdruck mittels der Metapher bezieht. Konzepte werden zu einer Einheit verknüpft, wobei neue sprachliche Ausdrucksmittel entstehen. Eben aus diesem Grund lassen sich mittels der Metapher grundlegende Konzeptualisierungsmuster der Kognition veranschaulichen (vgl. Schwarz 3 2008: 67). Sie erlaubt es, das nur schwer Greifbare sowie komplexe und abstrakte Sachverhalte konzeptuell fassbar zu machen und sog. „lexikalische Lücken“ (Skirl/ Schwarz-Friesel 2 2013: 34) zu schließen. Infolge der Verknüpfung werden bestimmte Eigenschaften eines Ursprungsbereiches (oder Spenderkonzeptes) auf einen Zielbereich (oder Empfängerkonzept) übertragen. In diesem Transfer, bei dem emergente Merkmale entstehen (Schwarz 3 2008: 70, vgl. auch Skirl 2009), offenbart sich die realitätskonstituierende Funktion der Metapher - neue Formen von Wirklichkeit treten in Erscheinung (Kirchhoff 2010: 115). Die Konzeptkonfiguration, welche sich durch die Kopplungen formiert, basiert auf dem Prinzip „Highlighting and Hiding“ (vgl. Lakoff/ Johnson 2003: 10), was bedeutet, dass sie gemäß ihrer Systematik bestimmte Merkmale eines Konzepts stärker zum Vorschein bringt und andere verdunkelt, wodurch wiederum die Perspektive auf den metaphorisch dargestellten Gegenstand verschoben wird. Im Allgemeinen haben (gerade lexikalisierte) Metaphern eine „diskursstabilisierende Funktion“ (Kirchhoff 2010: 126), weil durch sie ein standardisierter Bedeutungstransfer realisiert und gewohnheitsmäßiges Denken bestätigt werden kann. Gerade indem Metaphern Leitvorstellungen und Meinungsnormen einer Kultur widerspiegeln, sind sie als wirkungsvolle und unauffällige Basis „eingeübter Denkmuster“ (Pielenz 1993: 115) besonders bedeutungsschwer. Eine Untersuchung dieser sprachlichen Formen kann somit über das Selbstverständnis und die Überzeugungen einer Kultur aufklären. Auf bestimmte Themengebiete in Politik und Medien kann ohne Verwendung von Metaphern gar nicht mehr rekurriert werden - Metaphern liefern hier „ein entsprechendes Erklärungs- und Handlungsmodell“ mit einer „schon zwanghafte[n] Bildhaftigkeit“ (Girnth 2002: 58). Man denke allein an die Metapher von der Dritten Welt, aber auch der Migrationsdiskurs mit seiner Überschwemmungs- und Eindämmungsmetaphorik (die sich auch in den hier vorliegenden Texten häufig findet, s. Punkt 3.3) bezeugt eine entsprechende Konstanz im Sprachgebrauch (vgl. auch Böke 1997 und Schröter/ Carius 2009): <?page no="201"?> Gewaltmetaphern im französischen Präsidentschaftswahlkampf 2011/ 12 201 „Gespräche vor allem mit dem südlichen Nachbarn Mexiko, von wo der Zustrom legaler und illegaler Einwanderer am größten ist, sind seit den Terroranschlägen vom September 2001 nicht vorangekommen“ (www.faz.net, 09.01.2004) „Flüchtlingswelle auf Lampedusa. [...] Allein in der Nacht auf Sonntag kamen fast 1100 Menschen an. Ein Ende der Flüchtlingswelle ist nicht abzusehen [...]” (www.sueddeutsche.de, 14.02.2011) Darüber hinaus stellt gerade der politische Diskurs jene Sphäre dar, in welcher die Metapher ob ihrer Wirkungsweise Ergebnis intentionaler Verwendung ist, was bedeutet, dass ihr eine strategische Funktion anheimfällt. So dient sie der Vereinfachung komplexer Sachverhalte, also der Explikation des Referenzobjektes sowie seiner Evaluation, woraus Persuasion und schließlich eine häufig daran anschließende Emotionalisierung des Rezipienten erreicht werden kann (Skirl/ Schwarz-Friesel 2 2013: 61 ff., vgl. auch Schwarz-Friesel/ Skirl 2011). Kirchhoff (2010: 134) nennt in Bezug auf die Funktionen zudem den „Argumentationsersatz“, die „Abgrenzung von anderen“ und die „Legitimierung der eigenen Position“. Für eine Analyse politischen Sprachgebrauchs bieten sich Metaphern an, da sich im Rahmen einer Betrachtung der Übertragungsbeziehung zwischen den unterschiedlichen Vorstellungs- oder Gegenstandsbereichen die Frage aufdrängt, zwischen welchen Bereichen eine solche Beziehung regelmäßig (aber auch vereinzelt) etabliert wird, „aus welchem Vorstellungsbereich der metaphorisierte Ausdruck stammt und welche Aspekte eines Sachverhalts durch die Metaphorisierung hervorgehoben bzw. ausgeblendet werden“ (Schröter/ Carius 2009: 44). Die dominierenden metaphorischen Felder geben insofern Auskunft über die mit den Metaphern in Verbindung gebrachten Vor- und Einstellungen in einem politischen Lager - schließlich handelt es sich um sprachliche Spuren mentaler Konzeptrelationen, wodurch sie einen Blick auf das hinter der Sprache verborgene Denken gestatten. Im vorliegenden Fall muss folglich der Aspekt interessieren, in welcher Form die beiden Parteien UMP und FN Immigration problematisieren und welche Schlüsse sich hieraus ziehen lassen. Ebenso haben diese sprachlichen Mittel eine erhebliche Wirkung auf den Rezipienten bzw. die Gesellschaft. Metaphorische Äußerungen weisen das Potenzial auf, eine dem Rezipienten nicht immer bewusste Konstituierung oder auch Veränderung von Perspektiven sowie Wertungen zu aktuellpolitisch relevanten Themen herbeizuführen. So können von Seiten des Rezipienten mühelos bspw. Szenarien der Gefahr inferiert und „ein Modell des berichteten Ereignisses“ (Wagner 2003: 310) entwickelt werden, woraus die Emotionalisierung desselben erfolgt. Gerade im Hinblick auf Abstrakta wie die Außenpolitik, die Sicherheit eines Landes oder auch die Identität und Fragen der Legitimität einer Minderheit im eigenen Land können Meta- <?page no="202"?> Matthias J. Becker 202 phern den Verstehens- und Interpretationsprozess maßgeblich lenken und dauerhaft verändern. Die der Untersuchung zugrunde liegenden Korpora setzen sich aus sämtlichen offiziellen Verlautbarungen zusammen, die von beiden Parteien im Zeitraum von Dezember 2010 bis Januar 2012 zu diesem Thema veröffentlicht wurden. Diese Erklärungen wurden als Texte auf den Internetseiten www.frontnational.com, www.immigration.gouv.fr, www.projet-ump.fr und www.u-m-p.org archiviert und konnten dort während des Untersuchungszeitraumes mittels Stichwortsuche chronologisch geordnet abgerufen und der Untersuchung zugeführt werden. Insgesamt handelt es sich um 189 themenspezifische Texte, die während des Wahlkampfes von beiden Parteien in Umlauf gebracht wurden. Um eine qualitative Analyse der Metaphern realisieren zu können, wurden die Ursprungsbereiche der in ihrer Verwendungsfrequenz dominanten Metaphern erfasst und eine entsprechende Kategorisierung der Äußerungen vorgenommen. Zudem ist die Metapher genau zu beschreiben, ihre textuelle Einbettung (Ko- und Kontext) zu bestimmen und jene die Metaphernverwendung begleitenden sprachlichen Funktionen, Strategien und Wirkungen zu interpretieren. Die in beiden Korpora erarbeiteten Ergebnisse wurden in einem Folgeschritt miteinander verglichen. Um trotz der fremdsprachigen Texte möglichst realistische Aussagen treffen zu können, wurden die Beobachtungen mit einer Umfrage in Form von Interviews verknüpft, die offenlegen sollte, welche Assoziationen die vorliegende Wortwahl der Parteien bei 20 Franzosen auslöst bzw. welche Konzepte in Verbindung mit bestimmten Formulierungen bei ihnen aktiviert werden sowie welche Emotions- und Implikaturpotenziale vorliegen. 3 Analyse der dominanten Gewaltmetaphern im Wahlkampfdiskurs Mit Blick auf die Verwendung von Gewaltmetaphorik können in den beiden genannten Korpora u. a. die folgenden Ursprungsbereiche nachgewiesen werden: KRIEG (IMMIGRATIONSPOLITIK ALS KRIEG/ KAMPF und IM- MIGRATION ALS FEIND) und NATURGEWALT. 2 In der Mehrzahl der Wahlkampferklärungen wurden Metaphern aus entsprechenden Konzeptbereichen verwendet, wobei zugunsten einer Intensivierung der Argumentation mitunter Metaphern verschiedener Konzeptbereiche kombiniert wurden. 2 Es liegen weitere Konzeptbereiche wie bspw. KRANKHEIT/ VIRUS oder UNTER- NEHMEN vor, die aber aus Platzgründen nicht erörtert werden können. <?page no="203"?> Gewaltmetaphern im französischen Präsidentschaftswahlkampf 2011/ 12 203 3.1 IMMIGRATION ALS KRIEG Im gesamten Untersuchungszeitraum stehen Metaphern mit dem Konzeptbereich KRIEG/ KAMPF unverkennbar im Vordergrund. Auch wenn die Konzeptualisierung von Politik als Krieg - „politics as war“ (Kövecses 2002: 62) - in der Forschung zum Metapherngebrauch in der politischen und medialen Sprache schon immer beobachtet werden konnte, gestattet dieser häufige Metapherngebrauch einen vielsagenden Einblick in die Ansichten und Einstellungen beider Parteien zu jener Politik, die sich der Zuwanderung und Integration widmet. Es liegen in beiden Korpora Äußerungen vor, die sich einerseits auf den Zielbereich IMMIGRATIONSPOLITIK als auch IMMIGRATION beziehen, weshalb es naheliegt, dieses wichtige Kapitel gemäß diesen Konzeptbereichen zu unterteilen. Im Korpus des FN tritt eine entsprechende Konzeptkombination regelmäßig auf, bei welcher Merkmale vom konkreten Konzept KRIEG/ KAMPF auf das abstrakte Konzept EINWANDERUNGSPOLITIK übertragen werden. (1) Marine Le Pen qui entend mener une lutte énergique contre l’immigration clandestine [...]. [Marine Le Pen, die einen energischen Kampf gegen die illegale Einwanderung zu führen beabsichtigt [...].] (FN, 25.11.2011) Unter Verwendung des Lexems lutte (attribuiert mit dem verstärkenden Adjektiv energique) wird die vom FN und seiner explizit erwähnten Vorsitzenden erzielte Einwanderungspolitik näher charakterisiert. Kein anderes Lexem findet in den FN-Verlautbarungen eine dermaßen inflationäre Verwendung: (2) Lutte contre l’immigration clandestine, qui doit être ramenée à zéro. [Kampf gegen die illegale Einwanderung, die auf Null heruntergefahren werden muss.] (FN, 09.01.2012) (3) La lutte contre les violences réclame des actes, et non des mots. [Der Kampf gegen die Gewalttätigkeiten fordert Handlungen und keine Worte.] (FN, 08.12.2011) (4) Pourquoi l’UMPS a lamentablement échoué dans la lutte contre l’insécurité ? [Warum ist der UMPS [UMP & PS (Parti Socialiste), M. B.] im Kampf gegen die Unsicherheit jämmerlich gescheitert? ] (FN, 09.01.2012) (5) Mettre des policiers en civils dans la rue pour lutter contre l’insécurité [...]. [Polizisten in Zivil auf der Straße postieren, um die Unsicherheit zu bekämpfen [...].] (FN, 07.12.2011) Ziel eines Kampfes ist hier zwar nicht immer die Immigration, allerdings sind dies durchgängig Texte, die im Ressort Immigrationspolitik zu finden <?page no="204"?> Matthias J. Becker 204 sind. Zudem wird im Kotext permanent auf die Parallelität von Immigration und Unsicherheit angesprochen, s. auch folgendes Beispiel: (6) La carte de l’insécurité recoupe largement celle de l’immigration [...]. [Die Karte der Unsicherheit deckt sich weitgehend mit jener der Einwanderung [...].] (FN, 20.11.2011) Als gleichfalls unterstützend für die Etablierung eines Kriegsszenarios ist folgende Äußerung zu lesen: (7) La reconquête des « territoires perdus de la République » [...]. [Die Rückeroberung der „verlorenen Gebiete der Republik“ [...].] (FN, 28.11.2011) In diesem Beispiel werden mit der Metapher reconquête eindeutige Merkmale aus dem Konzeptbereich KRIEG in den Diskurs eingeführt. Es geht um Rückeroberung, wobei mit den sog. verlorenen Gebieten (gemäß Kotext der Quelle) öffentliche Gelder gemeint sind, die bisher für Asylprogramme eingesetzt werden. Symbolwörter wie république (aber auch démocratie, laïcité und nation) treten kontinuierlich in den Texten und vor allem in den Titeln der Erklärungen auf, um an die Gesinnung des FN zu erinnern und problemlos an die republikanische Tradition Frankreichs anknüpfen zu können, u. a. indem idealistische Formeln aus der Französischen Revolution verwendet werden. Omlor (2011: 147) betont, dass der FN die unter Marine Le Pen eingeführte „Strategie der Entdiabolisierung [...] über die stark demokratisch und republikanisch akzentuierte Ausrichtung“ seiner selbst vollziehe. Der Verweis auf (abstrakte) Autoritäten in Form von durchweg positiv besetzten Institutionen wie der Republik oder Demokratie ist eine persuasive Strategie politischen Sprachgebrauchs (Schwarz-Friesel 2 2013: 225). Sobald sich der FN in die Verteidigerrolle dieser Werte begibt oder mitsamt denselben einen Opferstatus angesichts einer unbekannten Macht einnimmt, gewinnt sein Standpunkt an Attraktivität selbst für einen Rezipienten mit abweichenden politischen Überzeugungen. Die ausgleichende Verwendung solcher Symbolwörter erweist sich für den FN als äußerst nützlich - schließlich werden die auf sie bezogenen positiven Evaluationen des Rezipienten auf den zweiten, jenen des nötigenfalls aggressiven Kampfes, übertragen, da dieser als notwendig für den Erhalt der Werte beschrieben wird. Bemerkenswert ist, dass in diesem Korpus kaum eine immigrationspolitisch bezogene Äußerung, die auf Metaphern zurückgreift, Eigenschaften eines anderen Ursprungsbereiches transferiert. Folglich ist von einem den Großteil der FN-Erklärungen umspannenden Konzeptualisierungsmuster zu sprechen, welches von kämpfenden Handlungen ausgehend diese Politik perspektiviert. Das komplexe Problem der Zuwanderung und Integration (vor allem Angehöriger nicht europäischer Kulturen) wird durch Bilder einer Zerreißprobe für Volk und Staat dramatisiert; der Diskurs wird von keiner detaillierten oder auf Vernunft gründenden Erörterung aktueller <?page no="205"?> Gewaltmetaphern im französischen Präsidentschaftswahlkampf 2011/ 12 205 Probleme getragen. Aufgrund der stetig erkennbaren de-realisierenden Perspektivierung und intensivierenden Evaluierung all jener Aspekte, die mit Immigration zu tun haben, sind diese Texte mit einem außerordentlich hohen Persuasions-, Emotions- und Implikaturpotenzial aufgeladen. Der Produzent verlangt vom Rezipienten eine ihn unterstützende Handlungsbereitschaft, begleitet von der inneren Überzeugung, dass es hier um das Überleben der eigenen Kultur und existenzielle Nöte geht. Auch die UMP verwendet Metaphern des Ursprungsbereiches KRIEG/ KAMPF in einer hohen Dichte, um diesen Zielbereich zu konzeptualisieren: (8) Il faut lutter contre l’immigration irrégulière [...]. [Wir müssen gegen ordnungswidrige Einwanderung kämpfen [...].] (UMP, 06.07.2011) Beispiele mit dieser Wortwahl und der gleichen lexikalisch-syntaktischen Struktur treten im Korpus durchgängig auf, beziehen sich allerdings i. d. R. eindeutig auf den Zielbereich ILLEGALE EINWANDERUNG (bzgl. legaler Einwanderung spricht die UMP eher von Eindämmung bzw. Beherrschung, s. Punkt 3.3). Der Produzent hält folglich durch seine intentional getroffene Wahl sprachlicher Mittel den (nicht weiter explizierten) Angriff auf/ Kampf gegen diese Form der Einwanderung für legitim. Eine entsprechende Wortwahl findet sich ebenso in Titeln und Untertiteln und erfährt damit in den Verlautbarungen eine hervorgehobene Position. So lautet der Titel einer 22seitigen Erklärung, in der Vergangenheit und Zukunft der Einwanderungspolitik erläutert werden: (9) Pacte républicain. Les défis de l’immigration [Pakt der Republik. Die Herausforderungen der Zuwanderung] (UMP, 06.07.2011) oder die Überschrift einer zentralen Verlautbarung: (10) Renforcer l’intégration et mener une lutte déterminée contre l’immigration illégale [Die Integration stärken und einen entschiedenen Kampf gegen die illegale Einwanderung führen] (UMP, 24.11.2011). Hier ein Beispiel aus dem Pacte républicain: (11) 100 000 étrangers qui tentaient d’entrer sur le territoire sans visa ont été refoulés [...]. [100.000 Ausländer, die versuchten, ohne Visum in das Land einzudringen, wurden zurückgedrängt [...].] (UMP, 06.07.2011) In diesem Beispiel inferiert der Rezipient bei der Verbmetapher refouler das Bild feindlicher Linien, auch wenn der Produzent dies nicht explizit erwähnt. Allein durch die Verwendung dieses Verbes, aber auch des Substantivs territoire sowie die quantitative Benennung der Ausländer (welches das <?page no="206"?> Matthias J. Becker 206 Bild eines Heeres hervorruft) werden letztgenannte als feindliche Macht perspektiviert und somit dämonisiert. Die intendierte Emotionalisierung des Rezipienten basiert ebenso bei Texten der UMP auf Gefühlen des Bedrohtwerdens. Durch eine umfassende Untersuchung der Kriegsmetaphorik in beiden Korpora zeigte sich schließlich, dass die Erklärungen der Parteien parallel verlaufende, häufig auftretende Konzeptkombinationen und Argumentationsketten aufweisen. Einwanderungs- und Integrationspolitik auf diese Weise zu beschreiben, impliziert, dass der Produzent beim französischen Wähler die Haltung evozieren will, in Bezug auf das Phänomen Immigration läge tatsächlich ein Kriegszustand vor, angesichts dessen mittels kämpferischer und gar erobernder Maßnahmen entschlossen vorgegangen werden müsse. Die dämonisierende Darstellungsweise dieses Themas gepaart mit einer hohen Emotionalisierung des Rezipienten ist Grundlage für das persuasive Potenzial der Texte. Die Konstituierung von Kriegsszenarien wirft - auch ohne u. U. detaillierte Beschreibung des Feindes - eine negative Bewertung jener, die solche Handlungen notwendig werden lassen. Der alarmierte Rezipient entwickelt das Bedürfnis nach entschieden umgesetzten Maßnahmen gegen den Ausgangspunkt der verbalisierten Gefahr, die Immigranten. 3.2 IMMIGRATION ALS FEIND Wenn eine Minderheit wie in diesem Falle jene der Einwanderer selektiv verallgemeinernd beschrieben, d. h. die Zuschreibung ihrer grundlegenden Eigenschaften danach bemessen wird, welche Vergehen sich einzelne Einwanderer zuschulden kommen lassen, so liegt eben dieser Fall bei der Konzeptualisierung des Zielbereiches IMMIGRATION/ IMMIGRANT(EN) durch den FN vor. Ausschreitungen in Marseille im Jahr 2011 gestatteten der Partei, ausgehend von punktuellen Ereignissen ein kriminelles Potenzial von Immigranten im ganzen Land auszumachen. Ein Beispiel für die in Bezug auf Marseille getätigten Äußerungen ist: (12) Explosion de l’insécurité à Marseille [...] les difficultés liées à une ville pauvre, qui souffre de 50 ans d’immigration et de tradition de banditisme. [Explosion der Unsicherheit in Marseille [...] die Schwierigkeiten für eine mittellose Stadt, die seit 50 Jahren unter der Einwanderung und der Tradition des Banditentums leidet.] (FN, 09.08.2011) In diesem Textausschnitt ist von Unsicherheit die Rede, die sich in Marseille explosionsartig ausweitet. Hinter dieser Erscheinung verbergen sich Immigranten, denen undifferenziert und verallgemeinernd genannte Eigenschaften zugewiesen werden. Die Darstellungsform lässt kaum den Schluss zu, dass von Menschen die Rede ist. Abwertungsformen bei der Beschreibung <?page no="207"?> Gewaltmetaphern im französischen Präsidentschaftswahlkampf 2011/ 12 207 von Immigranten variieren zwischen dehumanisierender wie in (12) und betont dämonisierender Darstellung - wie auch im folgenden Beispiel: (13) les milliers de clandestins ne sont que les éclaireurs d’une nouvelle vague migratoire gigantesque [...]. [Tausende von illegalen (Einwanderern) sind nur Späher/ die Vorhut einer neuen gigantischen Einwanderungswelle [...].] (FN, 01.02.2011) In den FN-Texten ist dies einer der wenigen sprachlichen Hinweise, dass sich hinter dem Phänomen der Einwanderung tatsächlich Menschen verbergen. Sobald aber von Menschen gesprochen wird, geschieht dies mit Hilfe wertender Attribute, die auf deren kriminellen Status verweisen. Es erfolgt eine Kollektiv-Attribuierung, wobei lediglich negative Evaluationen aller Immigranten den Diskurs dominieren. Das Zahlwort milliers beschreibt die Einwanderer als im ganzen Land massenhaft auftauchende Erscheinung - eine dämonisierende Darstellungsweise, die Bedrohung vermittelt. Außerdem kommt es zu Kollektiv-Attribuierungen: Individuen gehen in einer Masse auf, werden zu Partikeln einer Bewegung. Die daraus folgende Emotionalisierung des Lesers, geprägt von der Vorstellung des Eintreffens unzähliger unterspezifizierter, nicht als Menschen erkennbarer Elemente im eigenen Land, erweckt in ihm das Bedürfnis nach Schutz, der ihm wiederum vom FN in Form einer repressiven Politik, eines lutte énergique (s. (1)), geboten wird. Durch entsprechende de-realisierende Konzeptualisierungen verschafft sich der FN ganz neue Handlungsoptionen. Die UMP verwendet zur Beschreibung der Immigration bzw. ihrer Akteure eine weniger abwechslungsreiche, neutralere Lexik. Nichtsdestotrotz bleibt auch die UMP eine differenzierte Auseinandersetzung mit Immigranten schuldig. Bei legalen Formen der Einwanderung spricht die Partei durchgängig (und dehumanisierend) von Strömen, Ressourcen etc. (s. Punkt 3.3), im Falle illegaler Formen hingegen häufig von Individuen, wobei Aspekte der Kriminalität in den Vordergrund treten. Immigranten als mafieux und esclavagistes oder eben immigrés/ immigrants, versehen mit dem Attribut clandestins [geheim, illegal], darzustellen, formt den generellen Parteijargon: (14) la dure réalité induite par l’immigration clandestine : esclavagisme moderne, prostitution, fraudes sociales, délinquance [...]. [die sich aus illegaler Einwanderung ableitende harte Realität: moderner Menschenhandel, Prostitution, sozialer Betrug, Kriminalität [...].] (UMP, 28.09.2011) Es bleibt festzustellen, dass Immigranten in beiden Korpora als ein feindliches Phänomen konzeptualisiert werden, welches in seiner Entwicklung zwei Richtungen einschlagen kann. Die erste Richtung ist der Weg der Unterwanderung und Bekämpfung westlich-moderner Werte, die zweite hingegen liegt in einer Anpassung und Annahme der bestehenden Regeln und Prinzipien, was eine Lenkung durch den Staat ermöglicht. Der FN entschei- <?page no="208"?> Matthias J. Becker 208 det sich für erste Form, indem sich die französische Nation gemäß seiner Darstellung mit destruktiven Kräften konfrontiert sieht, denen sie sich wie im Kriegsfall entgegenzustellen hat. Auf den Zielbereich IMMIGRATION werden Merkmale des Ursprungsbereiches FEIND übertragen, wodurch die Akteure, die immigrés, auf eine dämonisierend-delegitimierende Weise als Feinde perspektiviert und evaluiert werden. Begünstigt dadurch kann sich ein Wir-Gefühl zwischen FN und Wählerschaft durch die kontinuierlich vorgenommene binäre Kodierung von Fremden und Franzosen bzw. der Republik etablieren. Im Falle der UMP bleibt die Fokussierung auf Immigration als Kriegsgegner relativ nüchtern und konzentriert sich auf den Bereich der Illegalität, der vorrangig mit menschlichen Handlungsträgern besetzt wird. Die Einwanderung als solche erfährt wiederum selten eine stigmatisierende Darstellung. Die immigration als Bewegung, als Ressource, die es ökonomisch zu nutzen gilt, steht hier im Vordergrund. Die innere Haltung der Beteiligten, grundsätzlich ihr Dasein als Menschen mit bestimmten Bedürfnissen wird nicht thematisiert, sondern sie werden entsprechend ihrer Kontrollierbarkeit und Funktionalität bewertet. 3.3 IMMIGRATION ALS NATURGEWALT In vielen Diskursen, innerhalb derer es um Phänomene geht, die in einer nicht zu bewältigenden, unkontrollierbaren Intensität auftauchen, werden (i. d. R. lexikalisierte) Metaphern mit dem Ursprungsbereich NATURGEWALT verwendet (vgl. auch Schwarz-Friesel/ Kromminga 2013). Eine der wichtigsten Substantivmetaphern dieser Domäne ist der Strom. Beide Parteien nutzen dieses sprachliche Bild über den gesamten Diskurs hinweg regelmäßig und in hervorgehobenen Positionen, um den Zielbereich IMMIGRATION zu perspektivieren. Die Strategie des FN, der sich der Metaphern mit diesem Ursprungsbereich eindeutig seltener bedient als jener mit dem Ursprungsbereich KRIEG/ KAMPF, scheint schnell nachvollziehbar: Bei der Perspektivierung eines Ereignisses mittels einer Metaphorik, bei der Merkmale einer Naturgewalt übertragen werden, ist der Handlungsspielraum desjenigen, der mit dem Phänomen konfrontiert wird, ganz anders gestaltet als bei Metaphern, die Merkmale aus kriegerischen Auseinandersetzungen transferieren. Im letzten Fall besteht die Option, sich zur Wehr setzen und bestenfalls den Feind besiegen zu können. Eine politische Problemstellung jedoch als Flutwelle zu metaphorisieren impliziert, dass man ihr in vielen Fällen wehrlos ausgeliefert ist und folglich über keine Handlungsoptionen verfügt (vgl. Kirchhoff 2010: 180 f.). Äußerst selten wird der Politik im FN-Korpus und dann nur mittels unkonkreter Lexik wie stopper les flux migratoires ein Handlungsspielraum eingeräumt. Angesichts der Entschlossenheit des FN, der Immigration energisch entgegenzutreten, würde es zu einem konzeptuellen <?page no="209"?> Gewaltmetaphern im französischen Präsidentschaftswahlkampf 2011/ 12 209 Bruch und zu Konflikten im Diskursstrang kommen, wenn diese Partei konsequent auf Metaphern mit dem Ursprungsbereich NATURGEWALT zurückgreifen würde. Insofern werden entsprechende Metaphern in einem geringeren Maße als bei der UMP verwendet, sind aber dennoch regelmäßig Teil der Argumentation: (15) La France est confrontée à des flux migratoires massifs et incontrôlés [...]. [Frankreich wird mit massiven und unkontrollierten Zuwanderungsströmen konfrontiert [...].] (FN, 26.11.2011) Frankreich wird konfrontiert mit Strömen, nimmt also eine passive Rolle ein. Im Gegensatz dazu wird der Zuwanderungspolitik der UMP mittels Verben wie maîtriser [meistern, beherrschen] oder réguler [regulieren] ein größerer Handlungsspielraum zugesprochen - beide Lexeme tauchen jedoch im FN- Korpus jeweils nur einmalig auf. Wenn Frankreich massiven Einwanderungsströmen ausgesetzt ist - und es gibt in den FN-Erklärungen kaum sprachliche Bilder, wie mit diesen Herausforderungen konsequent umgegangen werden kann - so evoziert dies beim Rezipienten Gefühle von Ohnmacht, Unsicherheit und Angst angesichts der aktivierten Konzepte von Überflutung, Zerstörung und dauerhaftem Verlust. Solche Texte sind mit einem extrem hohen Emotionspotenzial aufgeladen. Mittels Verbmetaphern wie déferler [branden] oder submerger [überschwemmen] werden die Folgen der Immigration als omnipräsente Bedrohung evaluiert. Durch die regelmäßige Evozierung dieser Gefühle kann es zu festen Einstellungen beim Rezipienten und folglich zu einem emotionalen Automatismus führen, der immer dann einsetzt, wenn von Zuwanderung die Rede ist (Schwarz-Friesel 2 2013: 230 f.). Entgegen der Konzeptualisierung des FN werden von der UMP in Form genannter Verben Handlungsoptionen angesichts von Naturgewalten verbalisiert und folglich als mögliche politische Praxis in Erwägung gezogen: (16) nous maîtrisons les flux d'immigration. [wir bändigen die Einwanderungsströme.] (UMP, 17.01.2012) Was auf den ersten Blick einer Abgrenzung vom FN-Standpunkt, immer wieder dogmatisch von einer demographischen Katastrophe zu sprechen, gleichzukommen scheint, offenbart sich jedoch bei näherer Betrachtung mehr und mehr lediglich als eine relativierende Darstellungsweise derselben Einstellung. Die Perspektivierung der Immigration als Strom, auf den man lenkend einwirken muss, entspricht ebenso einer dämonisierenddehumanisierenden Strategie. Dämonisierend deshalb, weil im Falle einer ausbleibenden Lenkung (gemäß UMP) oder einem Strömungsstopp (gemäß FN) sich eine Katastrophe abzeichnen würde; dehumanisierend, weil die Immigranten als Elemente einer Naturgewalt als lediglich passive Partikel in einer massenhaften, zu kontrollierenden Bewegung perspektiviert werden. Der Mechanismus dieser Strategie, ausgelöst durch solche Szenarien bedienende Metaphern, liegt auf der Hand: Sobald von Strömen und Über- <?page no="210"?> Matthias J. Becker 210 schwemmungen die Rede ist, wird der Rezipient wenig Veranlassung finden, in seinem Textweltmodell die Präsenz von Menschen anzunehmen. Diese Konzeptualisierung etabliert neben o. g. Emotionalisierung jene unbedingte Zustimmungsbereitschaft, welche vor allem der FN für seine politische Praxis (die durch Kriegs-/ Kampfmetaphorik verbalisiert wird) benötigt. Ein feiner Unterschied liegt folglich im konkreten Umgang mit dem Phänomen: Während die UMP von möglichen Regulierungen der Naturgewalt spricht, fordert der FN Schritte, um die Quelle des Problems, nämlich die Einwanderung selbst, zum vollständigen Versiegen zu bringen - ein Arrangement mit dem Phänomen scheint tabu. Die UMP räumt sich hingegen Handlungsoptionen ein, sobald die von ihr vorgeschlagene Zuwanderungspolitik eine Eindämmung der Ströme vornimmt und diese ggf. für das Land nutzbar macht, ein Aspekt, der das negative Emotionspotenzial dieser Textstellen senkt. Nichtsdestotrotz greifen hier wie beim FN die Prozesse der Dehumanisierung, durch welche die Menschen dahinter nicht mehr erkennbar sind. Sie werden als solche durch die Kodierung als natürliche Erscheinung (u. U. mit globalem Ausmaß) nicht mehr erkennbar, also der Tatbestand de-realisiert. Dies fördert die Zustimmungsbereitschaft von Seiten des Rezipienten: Die Notwendigkeit, Naturereignisse zu beherrschen und zu regulieren, ist leichter zu vermitteln als das gewalthafte, stark machtausübende Kontrollieren von Menschengruppen. Eine separat ablaufende Konzeptualisierung der UMP im Verhältnis zum FN kann also nur bedingt festgestellt werden, da der Katastrophismus letzterer partiell nachgezeichnet wird. Die Evaluierung der Zuwanderung als gefahrenreiches Naturphänomen erfolgt, wenn auch in verschiedenen Intensitäten, bei beiden Parteien. Nur werden als Reaktion auf diese Szenarien divergierende Perspektiven für die Betroffenen aufgezeigt und somit deutliche Unterschiede hinsichtlich des Emotionspotenzials erkennbar. 4 Fazit und Ausblick Die Ausführungen machen Folgendes deutlich: Während die Metaphernverwendung zum Konzeptbereich KRIEG beim FN stark dominiert, insbesondere dort, wo dämonische Eigenschaften der Immigration heraufbeschworen werden, liegt bei der UMP das Gewicht auf einer relativ variantenreichen Perspektivierung der Immigrationspolitik als Krieg führende bzw. kämpfende Partei. Bzgl. der Immigration trennt die UMP in vielen Fällen zwischen legaler (die i. d. R. als ein zu kontrollierendes Naturereignis beschrieben wird) sowie illegaler Immigration (die es wie bei einem Feind zu bekämpfen bzw. zu bestrafen gilt). Ihre Darstellungsweise verläuft also im Verhältnis zum FN differenzierter, auch wenn sie jede Form von <?page no="211"?> Gewaltmetaphern im französischen Präsidentschaftswahlkampf 2011/ 12 211 Einwanderung als potenziell gefährlich einstuft. Ihre Stellung als Regierungspartei sowie jene von Medien und Opposition erhobenen Vorwürfe, sie orientiere sich am extremistischen Diskurs des FN, können als Begründung für den Bruch in den Perspektivierungen dieser Sachverhalte gelten. Die Konzeptualisierung der Immigration durch den FN ist hingegen als einseitig-pauschale Perspektivierung zu bestimmen. Seine Haltung, diese uniform abzulehnen und sich regelmäßig über eine Differenzierung zwischen legaler und illegaler Immigration hinwegzusetzen, erhärtet den Vorwurf, er etabliere mittels Metaphorik noch stärker die Stigmatisierung des Fremden in der französischen Öffentlichkeit. Die konsequente Nennung des nationalen Erbes sowie die Forderung nach seiner Verteidigung, auf welche insbesondere der FN fortwährend und dramatisierend rekurriert, dient als Legitimierung seiner brisanten Einstellungsformeln. Klare Parallelen in den Perspektiven finden sich bei beiden Parteien allerdings in Bezug auf den beworbenen Aktionismus, ihre politische Praxis, sowie hinsichtlich der dehumanisierenden und (auch bei der UMP häufig realisierten) dämonisierenden Beschreibung der Immigration (insbesondere durch die teilweise Gleichsetzung selbiger mit Formen von Kriminalität) sowie der intentional evozierten Emotionalisierung des Rezipienten in Form von Angst und dem Bedürfnis nach Schutz und Verteidigung. Bedingt durch ihre handlungsorientierte Programmatik, ihrer sich selbst zugesprochenen Fähigkeit, der impliziten Handlungsaufforderung in den Texten gerecht werden zu können, betreiben beide Parteien Eigenwerbung, indem sie eine dieser Gefühlswelt entsprechende Politik umzusetzen propagieren. Die dämonisierende und dehumanisierende Darstellung der Immigration, die hier durch Metaphern mit dem Konzeptbereich KRIEG realisiert wird, findet sich ebenso bei der metaphorisch realisierten Perspektivierung der Immigration als ein Naturereignis. Bei beiden Parteien werden - wenn auch in unterschiedlichem Umfang - solche Metaphern verwendet, die spezifische Teilkonzepte vom Bereich NATURGEWALT aktivieren. Allerdings liegt erneut eine Abweichung im Hinblick auf den Zielbereich vor: Während sich der FN erneut vorrangig auf eine metaphorisch realisierte, detaillierte Beschreibung der Immigration einlässt und die Folgen derselben für das als ohnmächtiges Opfer perspektivierte Frankreich dramatisierend hervorhebt, konzentriert sich die UMP auf die Skizzierung einer eindämmendregulierenden Politik. Sie betont die Notwendigkeit eines rationalkontrollierenden Umgangs mit einer zeitlosen Naturerscheinung, die u. U. bedrohliche Folgen für das ganze Land haben kann. Damit räumt sich die UMP im Vergleich zum FN einen größeren Handlungsspielraum ein. Nichtsdestotrotz liegen auch bei Beschreibungen der Regierungspartei dehumanisierende und damit de-realisierende Prozesse vor: Die Darstellung als Naturgewalt lässt den Menschen dahinter verschwinden und stellt die wirklichen Ausmaße der Einwanderung verfremdet dar. Insofern kommt es <?page no="212"?> Matthias J. Becker 212 nur bedingt und vordergründig, mittels einer teils sachlich-relativierenden Bewertung der Immigration, zur Distanzierung gegenüber den pauschal abwertenden Strategien des FN. Beide Parteien weisen eine klare Parallelität in der Metaphernverwendung auf. Die dominanten Szenarien des FN werden in vielen Fällen, wenn auch nicht mit gleicher Gewichtung und Komplexität, von der ehemaligen Regierungspartei Frankreichs übernommen. Immigranten erfahren oft eine dämonisierende und durchgängig eine dehumanisierende Perspektivierung. Die daraus resultierende und konsequent vorgenommene negative Evaluierung dieser Minderheit bestätigt eine nur geringe Entfernung der UMP von der eindeutigen Ablehnung der Immigration durch den FN. All dies erfolgt erwartungsgemäß relativierend, indem Immigranten bei der UMP seltener explizit erwähnt werden. Es sorgen aber spezifische Perspektivierungen der Immigrationspolitik für die Etablierung eines adäquaten, nämlich gefahrvollen Szenarios beim Rezipienten, wodurch die UMP wiederum auf keine explizit verbalisierte Dämonisierung der Immigration angewiesen ist. Bei der Analyse aller Textbeispiele ist bei beiden Parteien flächendeckend aufgefallen, dass mit der Verwendung von Metaphern in den meisten Fällen eine Emotionalisierung des Rezipienten in Form von Angst, Ohnmacht, beizeiten auch Wut bezweckt wird, was ebenso bei Interviews mit Muttersprachlern entsprechend bestätigt wurde. Dies hat zur Folge, dass eine indifferente bis ablehnende Haltung gegenüber Immigranten und ihren Problemen evoziert wird. Für eine Fortsetzung von Analysen der politischen Sprache Frankreichs und insbesondere der UMP wäre es sinnvoll, Verlautbarungen der Parteien vor und nach den Wahlen im Hinblick auf die verbalisierten Konzeptualisierungen diachron zu untersuchen. Gerade in Bezug auf die UMP wäre es interessant zu erforschen, wodurch ihr sprachliches Verhältnis zum FN in der Zeit zwischen den Wahlkämpfen bestimmt wird, ob sich die Ausrichtung der Metaphernverwendung verschiebt, nachdem eine strategisch bedachte Notwendigkeit einer solchen Annäherung ausbleibt. Im Hinblick auf den FN würde ein Vergleich mit der politischen Sprache nationalistischer Parteien in ganz Europa vielversprechende Ergebnisse hervorbringen und ggf. komplexere Studien zu etwaigen Gemeinsamkeiten im Hinblick auf das Metaphernarsenal sowie die dahinter liegenden dominanten Konzepte zutage fördern. 5 Bibliographie 5.1 Quellenverzeichnis Die Korpora der beiden Parteien sind auf folgenden Webseiten zugänglich: FN: http: / / www.frontnational.com <?page no="213"?> Gewaltmetaphern im französischen Präsidentschaftswahlkampf 2011/ 12 213 UMP: http: / / www.immigration.gouv.fr; http: / / www.projet-ump.fr; http: / / www.u-mp.org Lexpress.fr, 05.04.2011. 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Schwarz-Friesel, M./ Kromminga, J.-H., 2013. 9/ 11 als globale Katastrophe: Die sprachlich-kognitive Verarbeitung des 11. September 2001 in der Berichterstattung deutscher Medien. In: Sprachtheorie und germanistische Linguistik 23, 1, 1-22. Schwarz-Friesel, M./ Skirl, H., 2011. Metaphors for Terrorism in German Media Discourse. Purdue University Libraries. Verfügbar unter: http: / / docs.lib.purdue.edu/ cgi/ viewcontent.cgi? article=1038&context=revisioning. Skirl, H., 2009. Emergenz als Phänomen der Semantik am Beispiel des Metaphernverstehens. Emergente konzeptuelle Merkmale an der Schnittstelle von Semantik und Pragmatik. Tübingen: Narr (= Tübinger Beiträge zur Linguistik 515). Skirl, H./ Schwarz-Friesel, M., 2 2013. Metapher. Heidelberg: Winter (= Kurze Einführungen in die germanistische Linguistik: KEGLI 4). Wagner, F., 2003. Metaphernszenarien in der Zwangsarbeiter-Kontroverse. In: Geideck, S./ Liebert, W.-A. (Hg.), 2003. Sinnformeln. Linguistische und soziologische Analysen von Leitbildern, Metaphern und anderen kollektiven Orientierungsmustern. Berlin, New York: de Gruyter, 309-322. <?page no="215"?> Autorenangaben Matthias J. Becker, M.A., arbeitet zur Zeit an seinem Promotionsvorhaben zur kognitionslinguistischen Analyse antisemitischer Äußerungsformen in deutschen und britischen Internetforen. Er ist an der TU Berlin im Lehrbetrieb sowie als wissenschaftlicher Mitarbeiter in den Projekten „Aktueller Antisemitismus in Deutschland“ und „Aktuelle Konzeptualisierungen von Terrorismus“ tätig. Heidrun Kämper, Prof. Dr., ist Professorin an der Universität Mannheim und leitet am Institut für Deutsche Sprache, Mannheim, den Arbeitsschwerpunkt „Sprachliche Umbrüche des 20. Jahrhunderts“. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u. a. Sprachgeschichte des 20. Jahrhunderts, Sprache und Politik, Diskursgeschichte und Lexikografie. Zur Zeit leitet sie das interdisziplinäre Kooperationsprojekt „Demokratiegeschichte des 20. Jahrhunderts als Zäsurgeschichte“. Susanne Kirchhoff, Dr., ist als Kommunikationswissenschaftlerin in der Abteilung Journalistik des Fachbereichs Kommunikationswissenschaft an der Universität Salzburg tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Journalismusforschung, Medien und Krieg und Metapherntheorien. 2010 ist ihre Dissertation „Krieg mit Metaphern. Mediendiskurse über 9/ 11 und den 'War on Terror'“ erschienen. Zur Zeit arbeitet sie als Projektmitarbeiterin in einem Forschungsprojekt über den Wandel des Journalismus in Österreich. Jan-Henning Kromminga, M.A., ist Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Germanistik der Universität Bern (Schweiz). Nach Studienaufenthalten und Lehrtätigkeiten in Johannesburg (Südafrika) und Oslo (Norwegen) promoviert er derzeit zu der „Konstruktion der Wir-Gruppe im ‚Kampf der Kulturen‘ - Das Konzept der westlichen Welt“. Er war Lehrbeauftragter an der TU Berlin und Wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt „Aktuelle Konzeptualisierungen von Terrorismus“. Wolf-Andreas Liebert, Prof. Dr., ist Sprach- und Kulturwissenschaftler und arbeitet seit 2002 als Professor für Germanistische Linguistik an der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kulturwissenschaftliche Linguistik, insbesondere Wissenschaftssprache und ihre Popularisierung, Metapherntheorie sowie Kulturen selbstermächtigter Religiosität. Weitere Informationen unter: http: / / www.unikoblenz.de/ ~liebert <?page no="216"?> Autorenangaben 216 Michael Nagel, Prof. Dr., ist Mitarbeiter des Forschungsinstitutes „Deutsche Presseforschung“ an der Universität Bremen, Leiter des Referats „Deutschjüdische Presse“. Forschung und Lehre vor allem in diesem Bereich sowie zur allgemeinen Presse insbesondere des 18. Jhdts., zum Antisemitismus in der historischen deutschen Presse, zur deutschen Literatur insbesondere des 18. und 19. Jhdts., zur historischen Kinder- und Jugendliteratur, zum deutsch-jüdischen Kinder- und Jugendbuch seit der Aufklärung, zur deutsch-jüdischen Bildung seit der Haskala, zu Kulturgeschichte und kommunikativen Aspekten des mündlichen Erzählens. Stephan Peters, M.A., war Wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFGgeförderten Projekt „Rhetorik der Verunsicherung. Muster negativer Affektstrategien und ihre persuasive Funktion“ im Rahmen des Exzellenzclusters „Languages of Emotions“. Er ist Lehrbeauftragter am Institut für Sprache und Kommunikation der TU Berlin und arbeitet für Non-Profit-Organisationen. Monika Schwarz-Friesel, Prof. Dr., ist Sprach- und Kognitionswissenschaftlerin und leitet seit 2010 das Fachgebiet Allgemeine Linguistik an der Technischen Universität Berlin. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören der verbale Antisemitismus, Metaphern im Diskurs sowie die Interaktion von Sprache, Kognition und Emotion. Sie ist Autorin und Herausgeberin zahlreicher Fachbücher und Artikel zu diesen Themen (u.a. Kognitive Linguistik, dritte Auflage 2008; Aktueller Antisemitismus, 2010; Sprache und Emotion, zweite Auflage 2013; Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert (mit J. Reinharz, 2013). Alexander Spencer, Dr., ist Akademischer Rat a.Z. und Habilitand am Lehrstuhl für Global Governance and Public Policy am Geschwister-Scholl- Institut für Politikwissenschaft, Ludwig-Maximilians-Universität München. Seine Forschungsschwerpunkte sind Internationale Beziehungen (IB), private Gewaltakteure, konstruktivistische IB-Theorie, Diskursanalyse sowie Medien und Pop-Kultur. Zu seinen Veröffentlichungen zählen Artikel in Zeitschriften wie Security Dialogue, Foreign Policy Analysis und Zeitschrift für Internationale Beziehungen, sowie verschiedene Monographien und Herausgeberschaften. <?page no="217"?> Sachregister 9/ 11 7, 14f., 30ff., 44, 75, 93ff., 106f., 173 als Angriff auf die Welt 15 als Katastrophe 14, 84 als Kunstwerk 33ff., 37ff. als Medienereignis 16, 75, 88ff. als Metapher 86ff. als Zäsur 14f., 58, 75, 79, 85 Ästhetik der Anschläge 46, 75, 77f. Bilder der Anschläge 36, 78 Analogie 55, 62, 200 Angst 15, 61, 65, 99, 192, 209 Apokalypse 59, 84, 117 Ästhetisierung 76ff. Bedrohungsgefühl 15f., 52, 55, 61, 65, 174, 192, 209 Betroffenheit 30f. Bewusstsein, kollektives 11, 71 Berichterstattung der Boulevardmedien 52, 66, 111, 112ff. des Fernsehens 76 der Massenmedien 12, 52, 57, 66, 173, 176, 184 Binäre Opposition 31, 35f., 46, 80f., 118, 168, 169, 208 Blend 33 Blending-Theorie 26, 27, 33ff. Cognitive Metaphor Theory 27, 57, 75, 112, 199 Dämonisierung 46, 117ff., 199, 206, 207, 209ff., 212 Dehumanisierung 65, 206f., 209ff., 212 Demokratie 161f., 204 De-Realisierung 52, 63, 68ff., 205, 210 Deutungsmuster 12, 66, 78, 79 Diskurs 44, 76, 82, 94, 112 , 122, 163 Distanz/ Nähe 153, 155 Dramatisierung 68 Emotionspotenzial 17, 56, 60, 61, 100, 104, 143, 155, 192, 199, 209, 212 Ereignisdarstellung 54, 75, 88ff. Ethik/ Moral 37, 46, 55, 101, 146, 149, 168, 169 Evaluierung 12, 55f., 94, 174, 190, 192, 199, 212 Evidenz 175ff., 178, 193 Evidentialität 178, 184 Schein-Evidenz 54, 177, 181, 182, 184, 185, 191 Faktizität 33, 54, 181 Fiktion 59 Freund-Feind-Konstruktion 31, 35, 36f., 118 Fukushima 87ff. Historisierung 75, 83 Hochwertwort 101 Gewalt 8ff., 13f., 15, 132ff., 149, 161, 165 diachrone Entwicklung 131ff. extreme 138 fromme 136 Gegengewalt 169f. Gewaltlosigkeit 165 Illustration 143ff. Legitimität 133, 135, 137, 166, 168, 169 progressive 169 reaktionäre 169 Schrecken 14, 99, 143, 153 verbale 7, 8ff., 11, 16, 118, 133f., 143 Vertrautheit 143, 153 zivilisierte 145 Gruppen-Konstruktion 102ff. <?page no="218"?> Sachregister 218 Identitätskonstruktion 88, 105, 106, 163, 197, 201 Ideologie 15, 69, 70 Immigration als Feind 206 als Krieg 203 als Naturgewalt 208 Implikatur 56, 181, 192, 202, 205, 208 Inferenz 56, 62, 65, 184 Inszenierung 16, 47, 68, 75, 88, 138, 184 Intensivierung 62, 68, 100 Islamismus 63, 69, 70, 81, 104 Islamophobie 14, 60f. „Kampf der Kulturen“ 104ff., 106 Katastrophe 14, 60, 86, 117, 134 Katharsis 38f. Kognitive Linguistik 10, 27, 111 Kollektiv-Attribuierungen 14, 101, 102, 207 Konstruktivismus 83, 111, 120, 121, 177 Konzeptualisierung 53, 94, 163f., 198, 211 von Terrorismus 16, 62, 79, 114, 116f., 117, 119, 132, 174 Korpusanalyse 10, 52, 94f., 163, 177f., 202 „Krieg gegen den Terror“ 79f., 95, 115, 122 Kunst 25ff., 143ff. Leseexperimente 56f. Liveness 76 Macht 8ff., 11f., 15ff., 168 der Sprache 8ff., 11, 12, 114ff., 123, 153ff. Medienkritik 41ff. Medienlinguistik 13, 75, 174 Metapher 7, 16f., 27, 57, 83, 88, 99, 112f., 120ff., 199f. Kompositumsmetaphern 56 konzeptionelle Metapher 112f. Metaphernkomplexe 57, 65 Militanz 166ff. Modell, mentales 11f., 53, 55, 57, 63, 66, 71, 75, 94, 103, 170, 176, 201, 210 New York 80, 100 Normalisierung 83 Ohnmacht 70, 162, 168, 209, 212 Opfer 9, 54, 93ff., 106 Osama bin Laden 66 Othering 118 Perspektivierung 11, 52f., 94, 163, 174, 199 Persuasion 11, 55, 56, 175, 201 Persuasionspotenzial 7, 175, 192 persuasive Strategie 57, 65, 102, 174, 175, 184, 188, 209f. Pentagon 99 Phasenmodell 76ff. Politik 112ff. der Internationalen Beziehungen 112 politischer Diskurs 16, 62, 100, 105, 122, 198, 199, 204, 212 politisches Handeln 113, 122f., 169f. Präsupposition 106 Presse 7, 28, 129ff., 150, 175 Propaganda der Tat 155, 165 Protest 162, 166 Referenzialisierung 12, 53, 94, 198 Relativierung 68f. Religiöse Metaphorik 34ff., 81f. Ritualisierung 75, 82 Semantik geschlossene 164, 168 offene 164, 168 semantische Felder 114ff. Sprechakt 102, 105, 181 Standardreaktion 30ff. Symbole, kulturelle 29, 34f., 76f., 100, 102 Täter 9, 39, 54 Täter-Opfer-Konzeptualisierung 54f., 63, 70, 93 <?page no="219"?> 219 Terrorismus als Kommunikationsstrategie 16, 75, 129 als mediales Ereignis 16, 75ff., 129ff., 130f. als reales Ereignis 13 alter/ neuer 14, 15, 45, 129 USA 58, 81, 98f., 103, 106 Verunsicherung 9, 15, 64, 150, 165, 204, 206, 209 Wahlkampf 197, 199, 212 Westen 63, 81, 104ff. Widerstand 164, 166 Wir-Gruppen 102, 208 World Trade Center 77f., 99 Hochhäuser als Metapher 76 Zeitung 131, 139, 140, 147, 153f. Sachregister <?page no="220"?> Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de JETZT BES TELLEN! Monika Schwarz-Friesel Sprache und Emotion UTB M 2. ak alisier e nd erwei er e age 201 XIV, 410 Seiten D 24,99 SFr 4,70 ISBN 978-3-8252-4039-4 Emotionen sind für das menschliche Leben und Erleben konstitutive Phänomene: Sie bestimmen maßgeblich unsere Bewusstseins-, Denk- und Handlungsprozesse. Mittels der Sprache werden Emotionen ausgedrückt und benannt, geweckt, intensiviert oder generiert. Das vorliegende Buch zeigt, wie vielfältig die sprachlichen Möglichkeiten sind, unserer Gefühlswelt Ausdruck zu verleihen. Emotion wird zunächst als mehrdimensionales Kenntnis- und Bewertungss stem de niert und es wird ein integrativer Ansatz vorgestellt, demzufolge Sprache, Kognition und Emotion relevante Schnittstellen haben. Anhand innovativer Fallstudien werden die textuellen Manifestationen zentraler Gefühle erörtert, die eine besonders intensive Symbiose von Emotion und Sprache aufweisen: Angst, Trauer, Liebe, Verzweiflung und Hass. Die euau age wurde ergänzt und umfassend aktualisiert. <?page no="221"?> Gewalt- und Katastrophendarstellungen haben im öffentlichen Diskurs eine herausragende Stellung. Insbesondere der internationale islamistische Terrorismus ist seit den Anschlägen vom 11. September 2001 bis heute weltweit im Fokus der Medien und stellt eines der brisantesten, kontrovers diskutierten Themen in der Berichterstattung dar. Metaphern spielen bei der Darstellung und Vermittlung von Gewalt-, Bedrohungs- und Angstszenarien eine besondere Rolle, da sie über Analogien auf anschauliche Weise das schwer verständliche Phänomen des Terrorismus repräsentieren. Dieser interdisziplinäre Sammelband enthält Aufsätze, die das Verhältnis von Sprache, Kognition und Emotion bei der massenmedialen Berichterstattung über Gewalt und Terrorismus thematisieren. Aktuelle Ergebnisse der Kognitiven Medienlinguistik werden ebenso präsentiert wie Untersuchungen und Analysen aus der Kommunikations-, Medien- und Politikwissenschaft.