Sprachliche Werturteile von Laien
Eine sozio-kognitive Analyse
0917
2014
978-3-7720-5521-8
978-3-7720-8521-5
A. Francke Verlag
Christina Cuonz
Laien sind sich einig: Es gibt schönere und weniger schöne Sprachen. Sprachliche Werturteile (ästhetischer und affektiver Art) sind ein integraler Bestandteil der metalinguistischen Alltagspraxis. Die vorliegende Studie untersucht empirisch breit gestützt, wie Laien in der Deutschschweiz und in der Romandie über Sprachen sprechen und diese konzeptualisieren. Evaluative Laienmetasprache wird einerseits auf quantitative Effekte und signifikante Einflussgrössen hin analysiert, andererseits werden kognitive Aspekte der metalinguistischen Praxis beschrieben. Davon ausgehend, dass evaluative Konzeptualisierungen von Sprachen in unterschiedlichen kognitiven Strukturen stattfinden, fokussiert die Studie u.a. auf kulturelle und metaphorische Modelle, Ideologien und Stereotypisierungen. Das Buch beantwortet Fragen der semantischen und pragmatischen Organisation diskursiver Spracheinstellungen und vermittelt die wichtigsten Argumente und Konzepte der direkten Spracheinstellungsforschung. Am Beispiel der Deutschschweiz und der Romandie wird gezeigt, wie soziale Beziehungen, Identitäten sowie Alteritäten über Sprachbewertungen ausgehandelt und reflektiert werden.
<?page no="0"?> A. Francke Verlag Tübingen Christina Cuonz Sprachliche Werturteile von Laien Eine sozio-kognitive Analyse <?page no="1"?> Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur Herausgegeben von Heike Behrens, Nicola Gess, Annelies Häcki Buhofer, Alexander Honold, Gert Hübner und Ralf Simon Band 93 <?page no="3"?> Christina Cuonz Sprachliche Werturteile von Laien Eine sozio-kognitive Analyse A. Francke Verlag Tübingen <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstü tzung des Max Geldner-Fonds der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel sowie des Dissertationenfonds der Universität Basel. © 2014 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany ISSN 0067-4508 ISBN 978-3-7720-8521-5 <?page no="5"?> Für meine Interviewpartnerinnen und Intervwiepartner <?page no="7"?> Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Herbstsemester 2011 von der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel im Fachbereich Allgemeine Sprachwissenschaft als Dissertation angenommen. Die mündliche Prüfung fand am 15. November 2011 statt. Während der Arbeit an der vorliegenden Dissertation wurde ich von zahlreichen Menschen in meinem akademischen und privaten Umfeld unterstützt. Ich bedanke mich zuvorderst bei Frau Prof. Dr. Annelies Häcki Buhofer, die mich als Betreuerin der Dissertation und Arbeitgeberin am Deutschen Seminar in Basel begleitet, unterstützt und gefördert hat. Weiterhin möchte ich meinem Zweitgutachter an der Universität Lausanne, Herrn Prof. Dr. Alexander Schwarz, für wertvolle Diskussionen und Denkanstösse danken. Im Rahmen eines von ihm initiierten und geleiteten Nationalfondsprojekts hatte ich die Möglichkeit, die Daten für diese Dissertation zu erheben und erste Ergebnisse zu diskutieren. Mein Dank gilt auch meiner Projektpartnerin in Lausanne, Frau Dr. Minoo Shahidi. Sie hat die von ihr quantifizierten Interviewdaten aus der Romandie für die statistische Analyse im Rahmen dieser Arbeit zur Verfügung gestellt. Prof. Dr. Miriam Meyerhoff danke ich für zahlreiche inhaltliche Anregungen während meines Forschungsaufenthals an der Universität Edinburgh. Dank gebührt ferner Herrn Michael Mittag für die Unterstützung bei der statistischen Analyse und Herrn Andreas Grossenbacher für die technische Unterstützung. Mein akademisches Umfeld in Basel und in Edinburgh war mir fachlich und persönlich stets eine grosse Hilfe und hat mich immer wieder motiviert: herzlichen Dank allen Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen und Freunden, den Mitgliedern des Forschungskolloquiums Linguistik in Basel sowie der Language in Context Research Group in Edinburgh. Dem Max Geldner-Fonds und dem Dissertationenfonds der Universität Basel sei für grosszügige Druckkostenzuschüsse herzlich gedankt. Ein herzliches Dankeschön allen Freunden, Verwandten und Bekannten, die mir bei der Stichprobenziehung geholfen haben. Sie haben ihre Familien und Freundeskreise grosszügig geöffnet und mich so in meiner Forschungstätigkeit unterstützt. Vielen Dank allen Gewährspersonen, die ich interviewen durfte. Besonders dankbar bin ich meinen Familien in der Schweiz und in Deutschland und meinen Freunden, die stets für mich da waren und sind. Mein grösster Dank gilt meinem Mann, Markus Peek. Bern, im Juni 2014 Christina Cuonz <?page no="9"?> Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Theoretische Einordnung der Forschungsarbeit . . . . . . . . . . . . . 2 1.2 Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 1.3 Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 I. Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 2. Sprachliches Werturteil: Phänomen der Laienmetasprache und Forschungsgegenstand der Laienlinguistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2.1 Verortung des Forschungsgegenstands in der Laienlinguistik 7 2.1.1 Evaluatives Sprechen über Sprachen als Alltagspraxis 7 2.1.2 Laienlinguistik: Geschichte der Disziplin und anfängliche Einwände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2.2 Metasprache und Sprachbewusstheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2.2.1 Sprachdaten und Typen metasprachlicher Daten . . . . 15 2.2.2 Sprachbewusstheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 2.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 3. Theoretische Fundierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 3.1 Untersuchte Wissensbestände: Konzeptualisierungen vs. Perzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 3.2 Konzepte der (Laien)Sprachbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 3.2.1 Spracheinstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 3.2.2 Stereotype, Vorurteile und Prototypen . . . . . . . . . . . . . . 41 3.2.3 Beliefs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 3.2.4 Sprachideologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 3.2.5 Kognitive Strukturen: kulturelle, metaphorische und metonymische Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 3.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 4. Konstruktion von Identitäten und Alteritäten in evaluativen metasprachlichen Äusserungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 4.1 Präliminaria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 <?page no="10"?> 4.2 Diskursive Identitäts- und Alteritätskonstruktionen: Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 4.2.1 Identität: Begriffsbestimmung und allgemeine Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 4.2.2 Sprachidentität - Identität durch Sprache . . . . . . . . . . . 77 4.2.3 Poststrukturalistisches Identitätsverständnis im sprachwissenschaftlichen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 4.2.4 Identitäts- und Alteritätskonstruktionen als Funktion evaluativer Äusserungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 4.3 Lokale, nationale und globale Identitäten und Alteritäten . . . 83 4.4 Linguistische Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 4.4.1 Beziehung zu Sprache: Expertise, Zugehörigkeitsgefühl und Vererbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 4.4.2 Linguistische Unsicherheit und linguistischer Selbsthass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 4.4.3 Passive und aktive linguistische Identität . . . . . . . . . . . 88 4.5 Methodologie der Identitätsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 4.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 5. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 5.1 Das ästhetische Sprachurteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 5.2 Das affektive Sprachurteil und affektive Faktoren bei der Sprachevaluation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 5.3 Spracheinstellungsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 5.3.1 Direkter vs. indirekter Zugang: Resultate zur Auswirkung der Methodenwahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 5.3.2 Direkter Zugang: Studien aus dem Ausland . . . . . . . . . 104 5.3.3 Deutschschweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 5.3.4 Romandie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 5.3.5 Deutschschweiz vs. Romandie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 5.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 II. Fragestellung und Empirie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 6. Forschungsdesign . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 6.1 Methodenkombination: Zielabsichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 6.2 Conversion Mixed Design nach Tashakkori und Teddlie . . . . 121 6.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 7. Datenerhebungskontext: die soziolinguistische Landschaft der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 7.1 Die viersprachige Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 7.2 Deutschschweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 X Inhaltsverzeichnis <?page no="11"?> 7.3 Französischsprachige Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 7.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 8. Theoriegeleitete, resultatebasierte Forschungsfragen und Hypothesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 8.1 Die Arbeitshypothesen der Sprachästhetikforschung und der Wahrnehmungsdialektologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 8.2 Genannte Sprachen und Begründungen: Häufigkeiten und Produktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 8.2.1 Laienlinguistisches Spektrum - Prinzip der Granularität (Spezifität) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 8.2.2 Urteilsbereitschaft und Urteilsproduktivität . . . . . . . . . 139 8.2.3 Urteilsbegründungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 8.2.4 Begründungsbereitschaft/ Begründungsproduktivität 141 8.3 Hypothesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 8.3.1 Vorbemerkung zur Hypothesenbildung und den untersuchten Variablen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 8.3.2 Exkurs: Kritik am strukturalistischen variablensoziologischen Forschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 8.3.3 Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 8.3.4 Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 8.3.5 Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 8.3.6 Sprachgebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 8.3.7 Sprachbiographie/ Kontaktsituation . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 8.4 Qualitative ex ante Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 8.4.1 Konstruktion von Identität und Alterität via Sprachurteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 8.4.2 Kognitive Strukturen: kulturelle, metaphorische und metonymische Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 8.4.3 Plurizentrizitätsbewusstsein und Laientaxonomie in der Deutschschweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 8.4.4 Metakommentare zu Urteilsfähigkeit und Urteilspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 8.4.5 Laienwahrnehmung von Urteilsentstehung, -wandel und -stabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 8.5 Qualitative Vertiefungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 8.5.1 Antwortverhalten beim negativen ästhetischen Urteil 179 8.5.2 Hochdeutsch in der Deutschschweiz . . . . . . . . . . . . . . . . 179 8.5.3 Englisch in der Generation der 40bis 50-Jährigen . . 180 8.5.4 Französisch vs. Englisch in der Deutschschweiz . . . . . 180 8.5.5 Bezugnahme auf den aktuellen Unterricht (Schülerinnen und Schüler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Inhaltsverzeichnis XI <?page no="12"?> 8.6 Induktive Kategorien und Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 8.6.1 Vermutete (projektive) Heterostereotype . . . . . . . . . . . . 181 8.6.2 Interlinguistische Vergleiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 8.6.3 Intralinguistische Vergleiche und Urteile über lektale Varietäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 8.7 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 9. Datenerhebungsmethode, Stichprobe und untersuchte Variablen 188 9.1 Teilstandardisiertes, semi-narratives Interview . . . . . . . . . . . . . . 188 9.1.1 Interview als Erhebungs- und Elizitierungsinstrument 188 9.1.2 Standardisierungskontinuum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 9.1.3 Problemfelder und Implikationen für die Dateninterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 9.2 Stichprobe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 9.2.1 Stichprobenziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 9.2.2 Stichprobengrösse und -beschaffenheit . . . . . . . . . . . . . . 196 9.2.3 Stichprobe für die quantitative Analyse . . . . . . . . . . . . . 198 9.2.4 Stichprobe für die qualitative Analyse . . . . . . . . . . . . . . 199 9.3 Pretest, Interviewleitfaden und Interviewvorgehen . . . . . . . . . 199 9.3.1 Pretest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 9.3.2 Interviewleitfaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 9.3.3 Interviewvorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 9.4 Lokalisierung der Variablen im Interview . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 9.4.1 Zielvariablen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 9.4.2 Einflussvariablen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 9.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 10. Datenanalysemethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 10.1 Quantitative Analyse des teilstandardisierten, seminarrativen Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 10.1.1 Quantifizierung des Interviewmaterials . . . . . . . . . . . . . 207 10.1.2 Reduktion der analyiserten Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . 209 10.1.3 Reduktion der Begründungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 10.1.4 Statistische Auswertungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 10.2 Qualitative Analyse des teilstandardisierten Interviews . . . . . 214 10.2.1 Transkription des Interviewmaterials . . . . . . . . . . . . . . . . 214 10.2.2 Qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring . . . . . . . . . . . . 215 10.2.3 Computer-unterstützte qualitative Datenanalyse (CAQDA) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 10.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 XII Inhaltsverzeichnis <?page no="13"?> III. Resultate und Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 11. Das laienlinguistische Argumentationsspektrum . . . . . . . . . . . . . . . 223 11.1 Genannte Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 11.1.1 Globale Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 11.1.2 Lieblingssprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 11.1.3 Schöne Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 11.1.4 Hässliche Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 11.2 Urteilsbereitschaft und Urteilsproduktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 11.3 Kategorisierte Urteilsbegründungen nach Urteilstypen . . . . . . 232 11.3.1 Begründungen im affektiven Urteilstyp . . . . . . . . . . . . . 235 11.3.2 Begründungen im positiven ästhetischen Urteilstyp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 11.3.3 Begründungen im negativen ästhetischen Urteilstyp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 11.4 Sprachspezifische Urteilsbegründungen: deskriptive Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 11.4.1 Sprachspezifische Urteilsbegründungen: deskriptive Analyse für das affektive Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 11.4.2 Sprachspezifische Urteilsbegründungen: deskriptive Analyse für das positive ästhetische Urteil . . . . . . . . . . 244 11.4.3 Sprachspezifische Urteilsbegründungen: deskriptive Analyse für das negative ästhetische Urteil . . . . . . . . . . 246 11.5 Sprachspezifische Urteilsbegründungen: statistische Analyse 249 11.5.1 Sprachspezifische Urteilsbegründungen: statistische Analyse für das affektive Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 11.5.2 Sprachspezifische Urteilsbegründungen: statistische Analyse für das positive ästhetische Urteil . . . . . . . . . . 251 11.5.3 Sprachspezifische Urteilsbegründungen: statistische Analyse für das negative ästhetische Urteil . . . . . . . . . . 252 11.6 Begründungsbereitschaft/ Begründungsproduktivität . . . . . . . 254 11.7 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 12. Sprachurteile und ihre Einflussgrössen: Auswertung der 20 Hypothesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 12.1 Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 12.1.1 Alter und Sprachkompetenz/ Aufenthalte . . . . . . . . . . . . 260 12.1.2 Alter und L1 (Hypothese 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 12.1.3 Alter und die Beurteilung von Englisch (Hypothese 2) 266 12.1.4 Alter und Urteilsproduktivität (Hypothese 3) . . . . . . . 267 12.1.5 Alter und Begründungsmuster (Hypothese 4) . . . . . . . 270 Inhaltsverzeichnis XIII <?page no="14"?> 12.2 Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 12.2.1 Geschlecht und Sprachkompetenz/ Aufenthalte . . . . . . 274 12.2.2 Geschlecht und Standardsprache (Hypothese 5) . . . . . 276 12.2.3 Geschlecht und die affektive Beziehung zu Fremdsprachen (Hypothese 6) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 12.2.4 Geschlecht und Urteilsproduktivität (Hypothese 7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 12.2.5 Geschlecht und Begründungsmuster (Hypothese 8) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 12.3 Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 12.3.1 Bildung und Sprachkompetenz/ Aufenthalte . . . . . . . . . 286 12.3.2 Bildung und Urteilsproduktivität (Hypothese 9) . . . . . 289 12.3.3 Bildung und Begründungsmuster (Hypothese 10) . . . 293 12.4 Sprachgebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 12.4.1 Sprachgebiet und Sprachkompetenz/ Aufenthalte . . . . 296 12.4.2 Sprachgebiet und Urteilsproduktivität . . . . . . . . . . . . . . . 298 12.4.3 Sprachgebiet und die Beurteilung von Schweizerdeutsch, Hochdeutsch und Französisch (Hypothesen 11, 11 a, 12, 13, 13 a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 12.4.4 Sprachgebiet und die Beurteilung weiterer Sprachen in den drei Urteilstypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 12.4.5 Sprachgebiet und Begründungsmuster . . . . . . . . . . . . . . 310 12.5 Sprachbiographie/ Kontaktsituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 12.5.1 Globale Sprachkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 12.5.2 L1 als Lieblingssprache (Hypothese 14) . . . . . . . . . . . . . 315 12.5.3 Muttersprache und die Beurteilung ausgewählter Sprachen in den drei Urteilstypen: Exakter Test nach Fisher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 12.5.4 Muttersprache und die Beurteilung ausgewählter Sprachen in den drei Urteilstypen: Varianzanalyse (Hypothese 15) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 12.5.5 Die Beurteilung von aktuell gelernten Schulsprachen (Hypothese 16) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 12.5.6 Art des Spracherwerbs und Beurteilung der betreffenden Sprache (Hypothese 17) . . . . . . . . . . . . . . . . 326 12.5.7 Kenntnis der Sprache und Beurteilungstendenz . . . . . 329 12.5.8 Selbstdeklarierte quantitative Sprachkompetenz und Urteilssowie Begründungsproduktivität (Hypothesen 18, 19) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 12.5.9 Zusammenhang zwischen freiwillig gewählter Nähe (Kontakt) zu einer Sprache und der positiven Beurteilungen dieser Sprache (Hypothese 20) . . . . . . . 336 12.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 XIV Inhaltsverzeichnis <?page no="15"?> 13. Die Versprachlichung von Sprachevaluationen: Qualitative Analysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 13.1 Qualitative ex ante Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 13.1.1 Konstruktion von Identität und Alterität via Sprachurteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 13.1.2 Kognitive Strukturen: kulturelle, metaphorische und metonymische Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 13.1.3 Plurizentrizitätsbewusstsein und Laientaxonomie in der Deutschschweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 13.1.4 Metakommentare zu Urteilsfähigkeit und Urteilspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 13.1.5 Laienwahrnehmung von Urteilsentstehung, -wandel und -stabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 13.2 Qualitative Vertiefungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 13.2.1 Antwortverhalten beim negativen ästhetischen Urteil 391 13.2.2 Hochdeutsch in der Deutschschweiz . . . . . . . . . . . . . . . . 395 13.2.3 Englisch in der Generation der 40bis 50-Jährigen . . 398 13.2.4 Französisch vs. Englisch in der Deutschschweiz . . . . . 401 13.2.5 Bezugnahme auf den aktuellen Unterricht (Schülerinnen und Schüler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 13.3 Induktive Kategorien und Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 13.3.1 Vermutete (projektive) Heterostereotype . . . . . . . . . . . . 407 13.3.2 Interlinguistische Vergleiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 13.3.3 Intralinguistische Vergleiche und Urteile über lektale Varietäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 13.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 14. Diskussion und Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 14.1 Sprachliche Werturteile in der Laienmetasprache: Erkenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 14.1.1 Quantitative Effekte und signifikante Einflussgrössen: Variabilität in der Laienmetasprache . . . . . . . . . . . . . . . . 418 14.1.2 Qualitative Tendenzen: Versprachlichung, pragmatische und semantische Organisation von Evaluationen 421 14.1.3 Psychosoziale Aspekte: das attitudinale Klima in Intergruppenbeziehungen und Identitätskonstruktionen mittels evaluativer Äusserungen . . . . 423 14.1.4 Kognitive Aspekte: Kategorisierungen und Sprachbewusstheit in Sprachkonzeptualisierungen . . . . . . . . . 424 14.2 Die Hypothesen der Sprachästhetikforschung: eine Neueinschätzung unter Berücksichtigung evaluativer Sprachprofile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 Inhaltsverzeichnis XV <?page no="16"?> 14.3 Methodeneinschätzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 14.4 Ausblick und Forschungsdesiderata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 Appendix 1: Darstellung der qualitativen Stichprobe . . . . . . . . . . . . . 463 Appendix 2 Interviewleitfaden auf Hochdeutsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 Appendix 3: Kategorisierung der Begründungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 Appendix 4: Transkriptionsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 Appendix 5: Kodierleitfaden/ Kategoriensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 Appendix 6: Alphabetische Auflistung der genannten Sprachen . . 495 Appendix 7: Begründungen sprachspezifisch: affektives Urteil (Lieblingssprache) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 496 Appendix 8: Begründungen sprachspezifisch: positives ästhetisches Urteil (schöne Sprache) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504 Appendix 9: Begründungen sprachspezifisch: negatives ästhetisches Urteil (hässliche Sprache) . . . . . . . . . . . . . . . 512 Appendix 10: Resultate und Berechnungen zu den 20 Hypothesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 518 XVI Inhaltsverzeichnis <?page no="17"?> 1. Einleitung Es gibt leider noch kein Handbuch mit dem Titel „ Prinzipien der Sprachästhetik “ . Weinrich (2000: 11) [. . .] we think language attitudes are not merely theoretical constructs which are nice to investigate. They may have various consequences for the future of languages and language varieties namely whether they will maintain, lose, or strengthen their positions. Van Bezooijen (2002: 29) Sprachliche Werturteile (zum Beispiel affektiver oder ästhetischer Art) sind wenig erforscht, obwohl sie zu der metalinguistischen Alltagspraxis von Laien gehören. Ein Handbuch mit dem Titel Prinzipien der Sprachästhetik gibt es in der Tat nicht, was aber nicht heisst, dass sich bis dato niemand Gedanken darüber gemacht hätte, ob solche Prinzipien existieren. Mit Hilfe indirekter Methoden wurden Fragen zur Sprachästhetik in der Vergangenheit wiederholt angegangen. Mittels direkter Methoden, also anhand eines Korpus bestehend aus evaluativer Laienmetasprache, wurden affektive und ästhetische Sprachurteile meines Wissens jedoch bis heute nicht untersucht. Als Handbuch zu Prinzipien der Sprachästhetik ist auch die vorliegende Arbeit nicht zu verstehen. Sie versteht sich als Annäherung an evaluative Alltagskonzeptualisierungen in Form von diskursiven Spracheinstellungen mit dem Gegenstand Sprache oder mit anderen Worten als Annäherung an diskursive Spracheinstellungen und Sprachkonzeptualisierungen von Laien. Diskursive Spracheinstellungen sind zentrale Indikatoren für das attitudinale Klima innerhalb von und zwischen Sprachgebieten. Dieses Einstellungsklima zu erfassen und zu beschreiben ist nicht nur wesentlich, weil es direkte Konsequenzen für die Sprachen selbst hat (vgl. van Bezooijens Zitat), sondern auch weil davon ausgegangen wird, dass soziale Beziehungen unter anderem über Sprache und Sprachbewertungen ausgehandelt werden. Sprache ist nicht nur ein funktionales Kommunikationsmittel in Form eines komplexen Zeichensystems, sondern fungiert gleichzeitig als symbolisches Kapital und daher Lokus bedeutsamer Identitätsaushandlungen und -konstruktionen (vgl. Bourdieu, 1991; Gal, 1998; Pavlenko, 2002 a). Evaluative Laienmetasprache ist ein Teildiskurs zum Objekt Sprache, und damit ist sie eine sprachliche Praxis, die den Gegenstand, über den verhandelt wird, formt (vgl. Foucault, 1972; Pavlenko, 2002 a: 283). <?page no="18"?> Im Folgenden werden die theoretische Einordnung der vorliegenden Forschungsarbeit, ihre Zielsetzung sowie der Aufbau dieser Arbeit erläutert. 1.1 Theoretische Einordnung der Forschungsarbeit Als Forschungsgegenstand dienen in Interviews direkt geäusserte affektive und ästhetische Sprachurteile. Untersucht wird, wie Laien über Sprache sprechen und diese evaluativ konzeptualisieren (= Evaluationen in der Laienmetasprache). Damit ordnet sich die Forschungsarbeit in das Gebiet der Laienlinguistik ein, dessen primäres Forschungsinteresse die Beantwortung der Fragen ist, was Laien über Sprachen sagen, wie sie sich dabei äussern und welchen Prinzipien diese metasprachlichen Praktiken unterliegen. Weiter ordnet sich die Forschungsarbeit in die Soziolinguistik und die mit ihr verwandte Kognitive Soziolinguistik ein. Einerseits handelt es sich bei evaluativer Laienmetasprache um direkte, diskursive Spracheinstellungen ― die Einstellungsforschung ist zweifelsohne eines der Kerngebiete der Soziolinguistik. Die zusätzliche Einordnung in die Kognitive Soziolinguistik erfolgt, da Sprache im Rahmen des gewählten methodologischen Vorgehens von den Gewährspersonen als Beurteilungsobjekt konstruiert und konzeptualisiert wird. Evaluative Konzeptualisierungen von Sprachen finden in unterschiedlichen Einheiten kognitiver Strukturen statt (z. B. in kulturellen, metaphorischen und metonymischen Modellen, Ideologien und Stereotypisierungen). Die im Rahmen dieser Untersuchung behandelten Daten stammen aus der Schweiz, wo die Sprachsituation und Sprachen im Allgemeinen seit jeher rege verhandelt werden (vgl. Schwarz/ Shahidi/ Cuonz, 2006). Stotz (2006: 262) attestiert der Schweiz in jüngster Zeit sogar ein „ neues Bewusstsein “ , was Sprachfragen anbelangt: In Switzerland, there is a growing sense of urgency around language issues and a fresh awareness that issues of power, dominance and minorisation are at stake, and that linguistic capital mobilises power. Coray (2004: 439) sieht die Funktion der sprachrelevanten Diskurse in der Schweiz darin, dass das Selbstverständnis von Schweizerinnen und Schweizern sowie die nationale Kohäsion immer wieder neu ausgehandelt werden - sie spricht deswegen von identitätsstiftenden Krisendiskursen. Unter diesen Vorzeichen darf die komplexe soziolinguistische Landschaft der Schweiz als idealer Nährboden für eine Studie zu diskursiven Spracheinstellungen, Sprachkonzeptualisierungen und evaluativer Laienmetasprache betrachtet werden. 2 1. Einleitung <?page no="19"?> 1.2 Zielsetzung Die vorliegende Arbeit verfolgt vier Ziele: Erstens soll Laienmetasprache auf quantitative Effekte und Tendenzen hin untersucht werden. Das Interesse gilt signifikanten Zusammenhängen zwischen unterschiedlichen Einflussgrößen (in Form sozialer Dimensionen wie Geschlecht, Alter, Bildung oder Sprachgebiet) und sprachlichen Werturteilen. Zweitens soll die pragmatische und semantische Organisation diskursiver Spracheinstellungen (also die konkrete sprachliche Aushandlung und Artikulation ästhetischer und affektiver Sprachurteile) beschrieben werden. Drittens soll es der Arbeit gelingen, Aussagen über das attitudinale Klima zwischen der Deutschschweiz und der Romandie, wo die Daten herstammen, zu tätigen. Viertens sollen kognitive Aspekte der metalinguistischen Praxis wie zum Beispiel unterschiedliche Sprachbewusstheitsarten sowie Kategoriesierungspraktiken beschrieben werden. Um die genannten Forschungsziele zu erreichen, wurde ein methodenkombinierendes Forschungsdesign gewählt: Die Interviewdaten werden einerseits in quantifizierter Form in einem hypothetiko-deduktiven Verfahren statistisch ausgewertet, andererseits in Form von Transkriptionen einer qualitativen Inhaltsanalyse unterzogen. Zu den übergeordneten Zielen der vorliegenden Arbeit zählen die Sensibilisierung für die Stärken und Chancen der Methodenkombination sowie eine fundierte theoretische Reflexion empirischer Aspekte der Laienlinguistik und der soziolinguistischen Einstellungsforschung. 1.3 Aufbau der Arbeit Die Arbeit ist in drei Teile gegliedert: I. Theorie: In einem ersten Teil werden die zentralen theoretischen Grundlagen für die Auseinandersetzung mit dem Thema eingeführt. In Kapitel 2 erfolgen die Einordnung des Forschungsgegenstandes in der Laienlinguistik und eine theoretische Abhandlung zur Entstehungsgeschichte derselben. Ebenfalls wird das Verständnis des Terminus Metasprache erläutert sowie dessen Verbindung mit Fragen der Sprachbewusstheit aufgezeigt. In Kapitel 3 werden Konzepte der Laiensprachbetrachtung eingeführt. Diesen Ausführungen liegt die Annahme zu Grunde, dass sprachliche Werturteile nicht mit einem singulären Konzept erfasst werden können, da dies der Komplexität und Mehrdimensionalität dieser Entitäten nicht gerecht würde. Diskutiert werden einerseits Spracheinstellungen (insbesondere der Typ diskursive Spracheinstellung) und Sprachideologien, andererseits Konzepte wie Stereo- 1. Einleitung 3 <?page no="20"?> typ, Vorurteil und Prototyp sowie kognitive Strukturen wie kulturelle Modelle, metaphorische Modelle und metonymische Modelle. In Kapitel 4 wird dargelegt, inwiefern evaluative metasprachliche Äusserungen an der Konstruktion von Identitäten- und Alteritäten beteiligt sind oder diese reflektieren. Kapitel 5 stellt den Forschungsstand dar. II. Empirie: In Kapitel 6 wird das Forschungsdesign der Methodenkombination vorgestellt. Kapitel 7 thematisiert den Datenerhebungskontext, die soziolinguistische Landschaft der Schweiz. Eine theoretische Herleitung aller untersuchten Hypothesen sowie der qualitativen Fragestellung erfolgt in Kapitel 8. In Kapitel 9 wird das verwendete Datenerhebungsinstrument (teilstandardisiertes, semi-narratives Interview) präsentiert und kritisch eingeschätzt. Es erfolgen weiter Angaben zur Stichprobenziehung und die Verortung der untersuchten Einfluss- und Zielvariablen im Interviewleitfaden. Kapitel 10 behandelt die angewendeten Datenanalysemethoden: einerseits die schliessende Statistik der hypothetiko-deduktiven Analyse, andererseits die qualitative Inhaltsanalyse. III. Resultate und Diskussion: Die Resultate werden in drei Kapiteln präsentiert: Kapitel 11 widmet sich dem laienlinguistischen Argumentationsspektrum. Es geht um die Häufigkeiten bezüglich der in den Interviews genannten Sprachen und Begründungen, also um die inhaltlich-quantitative Seite evaluativer Laienmetasprache. In Kapitel 12 folgen die Auswertungen der aufgestellten Hypothesen mit dem Ziel, signifikante Einflussgrössen auf sprachliche Werturteile zu lokalisieren. Kapitel 13 widmet sich der konkreten Versprachlichung von sprachlichen Werturteilen mittels einer qualitativen Analyse. In Kapitel 14 werden die gezeigten Resultate kritisch eingeordnet und diskutiert. 4 1. Einleitung <?page no="21"?> I. Theorie <?page no="23"?> 2. Sprachliches Werturteil: Phänomen der Laienmetasprache und Forschungsgegenstand der Laienlinguistik Ziel dieses Kapitels ist die Verortung des Forschungsgegenstands - sprachliche Werturteile 1 , die in Interviews geäussert werden - in der sprachwissenschaftlichen Forschungslandschaft, konkret, in der Laienlinguistik. Hierfür wird das evaluative Sprechen über Sprachen durch Laien im Kontext der Metasprachenforschung thematisiert und die Verbindung zwischen metalinguistischer Praxis und Sprachbewusstheit erläutert. 2.1 Verortung des Forschungsgegenstands in der Laienlinguistik In Kapitel 2.1.1 werden schlaglichtartig einige Beispiele angeführt, die zu zeigen vermögen, dass linguistische Werturteile Phänomene der sprachlichen Alltagspraxis von Laien sind. Dadurch ordnen sie sich in die sprachwissenschaftliche Disziplin der Laienlinguistik ein, die in Kapitel 2.1.2 eingeführt wird unter Berücksichtigung anfänglicher Widerstände gegen das Forschungsprogramm. 2.1.1 Evaluatives Sprechen über Sprachen als Alltagspraxis Linguistische Werturteile existieren nicht nur in Form gezielt elizitierter Interviewpassagen wie in der vorliegenden Forschung, sie sind gleichzeitig und vielleicht viel mehr Phänomene der natürlichen gesprochenen und geschriebenen evaluativen Alltagsmetasprache: Menschen sprechen und schreiben über die Schönheit oder Hässlichkeit von Sprachen sowie über ihre affektive Beziehung, die sie zu Sprachen, Varietäten 2 oder Dialekten 1 Im Folgenden auch linguistische Werturteile genannt, was nicht implizieren soll, dass diese Werturteile von der Sprachwissenschaft selbst stammen. Linguistische Werturteile wird hier als Oberbegriff verwendet, der neben der im Rahmen dieser Forschungsarbeit untersuchten ästhetischen und affektiven Sprachurteile eine Reihe weiterer Sprachurteilstypen umfasst. Im Artikel Sociolinguistics and Linguistic Value Judgements (Trudgill/ Giles, 1976) werden beispielsweise nebst der ästhetischen Sprachurteile auch Urteile zu Adäquatheit und Korrektheit von Sprachen zu den linguistischen Werturteilen gezählt. 2 Der Terminus Varietät gehört zwar zu den Kardinaltermini der Soziolinguistik (vgl. Berruto, 2008: 189), dennoch existiert keine allgemeingültige Definition. Dovalil (2010: <?page no="24"?> pflegen. Anekdotisch illustrieren die folgenden Beispiele aus der Schweiz, dass ästhetische und affektive Sprachurteile in sehr unterschiedlichen Alltagsproduktionskontexten in Erscheinung treten: ● Unter dem Titel - der zugleich ein ästhetisches Sprachurteil darstellt - La dolce lingua: Die italienische Sprache in Geschichte, Kunst und Musik wurde im Landesmuseum in Zürich vom 16. Februar bis 29. März 2005 eine Ausstellung zur italienischen Sprache gezeigt. ● Im Zug klingelt ein Handy und ein Gespräch auf Albanisch beginnt. In einem Abteil hinter der telefonierenden Person raunt eine Frau ihrer Begleitung zu: „ Diese Balkansprachen klingen einfach nicht schön - so rau! “ ● Gleich mehrere ästhetische und affektive Sprachurteile, erneut zu Italienisch, finden sich im März 2008 in der von Mediaplanet produzierten Sonderbeilage Bella Italia in Tageszeitungen (vgl. Blau, 2008). Unter dem Titel Unsere wohlklingendste Landessprache folgt ein Artikel über Kultur und Sprache des Tessins, in dem folgende drei Zitate lokalisiert werden können [eigene Hervorhebung, C. C.]: Italienisch ist die dritte Landessprache der Schweiz, und viele halten sie für die schönste. [. . .] die Nordländer, die am liebsten ins Tessin in die Ferien fuhren und auch im Winter Sehnsucht nach der Sprache und der Fröhlichkeit empfanden. [. . .] die melodiöseste unserer Landessprachen besitzt viele Anhänger. ● Eine wahre Fundgrube für ästhetische und affektive Sprachurteile ist das virtuelle soziale Netzwerk Facebook: In der Facebook-Gruppe Sprichst Du Deutsch? - Do you speak German? findet sich eine 146 Einträge starke Diskussion lanciert durch die recht neutral gestellte Frage „ Klingt Deutsch schön oder hässlich? “ . Eine andere Gruppe trägt den Namen Deutsch ist KEINE hässliche Sprache! ! (German is NOT an ugly language! ) und impliziert damit, was die von ihr befürchtete Antwort auf die in der anderen Gruppe gestellte Frage ist. 45 f.) bietet neben einer Aufstellung von in der Vergangenheit erfolgten Varietätsdefinitionen folgenden Definitionsversuch: „ Eine Varietät ist eine kohärente (= als relativ homogen erscheinende und als relativ homogen wahrgenommene) Gesamtheit sprachlicher Elemente, die nach geographischen, sozialen oder im weiten Sinne nach soziopragmatischen Kriterien kookurrieren/ kovariieren, und die sowohl von der Gruppe der Benutzer selbst, als auch von außen als eigenständig wahrgenommen bzw. anerkannt wird. “ Grundsätzlich folge ich in analytischen Passagen im Rahmen dieser Arbeit den Klassifizierungen und Bezeichnungen, wie sie von Laien vorgenommen werden - also gemäss Maitz (2010: 66) subjektiven ( ‚ inneren ‘ ) Kriterien der Klassifikation, „ [. . .] mentale, kognitionsbzw. sozialpsychologische Größen wie etwa Intuition, Sprachbewusstsein, Sprecher- und Hörerurteil oder Wertung “ . In theoretischen Passagen verwende ich den Terminus Sprache, wenn nicht ferner spezifiziert, als Bezeichnung für ein Bündel aus Varietäten. 8 I. Theorie <?page no="25"?> ● Im Kabarettprogramm Soleil - La Leçon de Géographie wird Schweizerdeutsch aus der Sicht der Figur Marie-Thérèse Porchet aus der Romandie (verkörpert durch den Kabarettisten Joseph Gorgoni) beschrieben: „ Les bourbines 3 parlent une langue que personne ne comprend apart eux. Ça s ’ appelle le suisse allemand. C ’ est un peu comme l ’ Allemand mais craché. “ Schweizerdeutsch wird zur Belustigung des Publikums (sowohl in der Deutschschweiz als auch in der Romandie) im intralinguistischen Vergleich mit Hochdeutsch ästhetisch negativ evaluiert und als regelrecht ausgespuckte Sprache beschrieben. Ob solche linguistischen Werturteile in der alltäglichen Sprachpraxis geäussert oder in semi-narrativen Interviews elizitiert werden, es handelt sich beide Male um evaluatives Sprechen über Sprache: Damit ordnen sich ästhetische und affektive Sprachurteile in das Forschungsgebiet der Folk Linguistics ein, dessen Forschungsgegenstand von Niedzielski/ Preston (2000: 301) folgendermassen definiert wird: [. . .] in the world outside of linguistics, people who are not professional students of language nevertheless talk about it. Such overt knowledge of and comment about language by nonlinguists is the subject matter of folk linguistics. It is language about language, and it is just as much a metalanguage as the linguist ’ s. 2.1.2 Laienlinguistik: Geschichte der Disziplin und anfängliche Einwände Dem oben scheinbar so selbstverständlich geäusserten Zitat aus dem Jahr 2000 geht eine längere Etablierungsphase der Disziplin Laienlinguistik 4 3 In der Romandie verwendeter umgangssprachlicher Ausdruck für Deutschschweizer. 4 In dieser Arbeit wird der Begriff Laienlinguistik als Pendant zum Englischen Folk Linguistics verwendet. Es ist anzunehmen, dass sich dieser Terminus in deutschsprachigen Forschungsarbeiten durchsetzen wird - auch mangels adäquater Alternativen. Verwendet wird der Begriff in neuester Zeit beispielsweise in wahrnehmungsdialektologischen Arbeiten (einer Subdisziplin der Laienlinguistik) etwa von Anders (z. B. 2010). In deutschen Forschungsarbeiten sind Verbindungen mit dem Wortteil Alltag in laienlinguistischen Arbeiten häufig (z. B. Alltagsdialektologie als Synonym für Laiendialektologie oder für Wahrnehmungsdialektologie (vgl. Andres/ Hundt/ Lasch, 2010). Nicht zu verwechseln sind die beiden Termini Laienlinguistik (= Folk Linguistics) und Laien- Linguistik. Letzterer ist ein von Antos (1996) geprägter Terminus und umschreibt „ [. . .] eine an die breite Öffentlichkeit gerichtete praxisorientierte Sprach- und Kommunikationslehre zur Lösung muttersprachlicher Probleme. Sie ist eine für und bisweilen auch von (gebildeten) Laien betriebene handlungsorientierte Thematisierung des Gebrauchs von Sprache in Kommunikation in Form von bestimmten Publikationen und Lehrangeboten [. . .]. “ Einer der bekanntesten Laien-Linguisten dieser Tage dürfte demgemäss Bastian Sick sein, der Verfasser der Sprachkolumne „ Zwiebelfisch “ in der Online Ausgabe der Zeitschrift SPIEGEL, die als Taschenbuch zum Bestseller wurde (2004). M. E. ist die Laien-Linguistik als Subdisziplin der Laienlinguistik zu verstehen und 2. Sprachliches Werturteil 9 <?page no="26"?> voraus, in der sich mitunter durchaus kritische Stimmen vernehmen lassen. Als Ursprung des Forschungsgebiets gilt der Vortrag von Hoenigswald bei der UCLA Sociolinguistics Conference im Jahr 1964, der 1966 als Artikel mit dem Titel Proposal for the Study of Folklinguistics in einem Tagungsband erschienen ist (Hoenigswald, 1966). Hoenigswald schreibt, dass sich in anderen Wissenschaften (er nennt inter alia Medizin, Botanik und Geschichte) längst ein Interesse für populäre Auffassungen von Nichtspezialisten entwickelt habe und dass daraus eigenständige Forschungsbereiche entstanden seien - nicht so in der Sprachwissenschaft, wo eine solche Tendenz noch nicht festzustellen sei (ibid. 17). Den Grund dafür sieht Hoenigswald in den Anstrengungen der Linguistik, vor den Unzulänglichkeiten des Laiendiskurses zu warnen. Er beschreibt in der Folge mögliche Interessensgebiete einer Folk Linguistics sowie die dazu nötigen Vorkenntnisse der untersuchten Sprache und Sprachgemeinschaft - der Artikel schliesst mit dem heute bestens bekannten und für die Laienlinguistik noch immer programmatischen Satz (ibid. 20): [. . .] we should be interested not only in (a) what goes on (language), but also in (b) how people react to what goes on (they are persuaded, they are put off, etc.) and in (c) what people say goes on (talk concerning language). It will not do to dismiss these secondary and tertiary modes of conduct merely as sources of error. Bevor ich auf die drei in obigem Zitat dargestellten Zugänge zu Sprachdaten (a-c) eingehe (vgl. Kap. 2.2), möchte ich kurz bei der im letzten Satz getätigten Aussage verweilen und die Einwände gegen den laienlinguistischen Forschungsansatz thematisieren. Die im Zitat erwähnten und nicht länger einfach als Fehlerquellen abzustempelnden Konzepte sekundäre und tertiäre Reaktion auf Sprache (secondary and tertiary response) wurden 1944 von Leonard Bloomfield geprägt. Bei sekundären Reaktionen handelt es sich ganz allgemein um Aussagen über Sprachen. Diese stammen einerseits von der Sprachwissenschaft selbst „ [. . .] the most important are those which are made in the systematic study of language - the utterances, above all, which, recorded in books and essays, embody the past results of linguistic science “ (ibid. 45). Andererseits gehören dazu auch jene Aussagen über Sprachen, die in einem nicht-wissenschaftlichen Kontext getätigt werden, etwa Kommentare zu Fehlern oder schlechter Grammatik in vom Standard abweichenden Dialekten (ibid.). Bloomfield beschreibt die Produktionsweise solcher sekundärer Reaktionen ausführlich und betont das emotionale Moment beim sollte auch in diesem Kontext erforscht werden. Von den in diesem Kapitel im Folgenden noch beschriebenen drei Einwänden gegen die Laienlinguistik (Armseligkeit der Daten, angenommene Unzugänglichkeit der Daten sowie die Unterscheidung zwischen Laien und Experten) ist in dieser Subdisziplin sicherlich letzterer am bedeutsamsten. Einige Sprachwissenschaftler haben sich mit dieser Problematik in Bezug auf Sick bereits auseinandergesetzt (vgl. Meinunger, 2008; Schümann, 2007; Schneider, 2008). 10 I. Theorie <?page no="27"?> Sprechen über Sprachen. Auch wenn sich der negative Unterton in Bloomfields Beschreibung nicht überhören lässt, vermittelt die folgende Passage doch einen wichtigen Aspekt des metasprachlichen Laiendiskurses: Menschen sprechen gerne über Sprachen - es ist eine vergnügliche Praxis. The speaker, when making the secondary response, shows alertness. His eyes are bright, and he seems to be enjoying himself. No matter how closely his statement adheres to tradition, it proffers it as something new, often as his own observation or as that of some acquaintance, and he is likely to describe it as interesting. If he knows that he is talking to a professional student of language, he first alleges ignorance and alludes modestly to the status of his own speech, but then advances the traditional lore in a fully authoritative tone. The whole process is, as we say, pleasurable. (Bloomfield, 1944: 48) Wenn solche populären Statements über Sprache, die aus wissenschaftlicher Perspektive oftmals nicht haltbar sind, von Linguistinnen und Linguisten kommentiert respektive korrigiert werden (gemäss Bloomfield folgt der Linguist dabei seinem natürlichen Impuls und „ tries to enlighten the speaker “ (ibid. 49)) ergibt sich das, was Bloomfield tertiäre Reaktionen nennt: eine fast feindliche und ärgerliche Beteuerung der sekundären Reaktion durch den Laien. Einar Haugen schreibt später in der Diskussion zu Hoenigswalds Artikel, dass die negative Einstellung Bloomfields zu diesen sekundären und tertiären Reaktionen von Laien sehr einflussreich war: „ [. . .] people were going around using ‚ tertiary reaction ‘ as pejorative term [. . .] “ (Haugen, Diskussion zu Hoenigswald, 1966: 21). Dies ist sicherlich einer der Gründe, weshalb die Etablierung der Laienlinguistik als Forschungsdisziplin nicht schon früher erfolgt ist und mehr als dreissig Jahre verstreichen mussten, bis sich eine breitere Forschungsgemeinschaft des Themas annahm. Zwei weitere Problembereiche der Laienlinguistik, beziehungsweise Einwände dagegen, zeichneten sich ebenfalls früh ab. Wirkungsvoll begegnet wurde auch ihnen erst in den 90er Jahren (vgl. Niedzielski/ Preston, 2000: 3). Es handelt sich bei diesen Einwänden einerseits um den Vorwurf der Armseligkeit der Daten und andererseits um die angenommene Unzugänglichkeit der Daten. Die Armseligkeit des Laienvokabulars und somit laienlinguistischer Daten wird in Labovs Diskussionsbeitrag zu Hoenigswalds Artikel thematisiert (Labov, Diskussion zu Hoenigswald, 1966: 23). Labov bezieht sich insbesondere auf die terminologische Schwäche von Laien im phonologischen Bereich und nennt das Vokabular „ poverty-stricken “ (ibid.). Als Beispiel wird die zu häufige Verwendung des Terminus nasal (der auch bei Beschreibungen nicht nasaler Sprechweisen zum Einsatz kommt) angeführt. Niedzielski/ Preston (2000: 3 f.) akzeptieren zwar Labovs Feststellung, dass die phonologische laienlinguistische Terminologie in der anglo-amerikanischen Tradition recht dürftig ist, machen aber klar, dass dies kein Grund zur Aufgabe oder Gar-Nicht-Erst-Aufnahme des Forschungsbereichs ist. Sie werfen Labov vor, dass er der Laienterminologie in anderen linguistischen Gebieten ausserhalb der Phonologie keine Beachtung schenkt und nennen als 2. Sprachliches Werturteil 11 <?page no="28"?> Beispiele Morphologie, Lexikon, Semantik und Grammatik (ibid. 4). Da erwartet wird, dass ästhetische Sprachurteile mitunter phonologisch motiviert sind, ist der Labovsche Einwand für die vorliegende Arbeit natürlich relevant. Allerdings spricht Labov in seiner Ausführung erst einmal ausschliesslich von Englisch als Objekt der Evaluierung: Ob die phonologische Alltagsterminologie für andere Sprachen ebenso armselig ist, ist Gegenstand dieser Untersuchung. Die Unzugänglichkeit der Daten (vgl. ibid. 7 ff.) als zweites Problemfeld im Zusammenhang mit der Etablierung der Laienlinguistik wird in Kapitel 2.2.2 zur Sprachbewusstheit noch eingehend thematisiert. Kurz lässt sich zusammenfassen, dass die Befürchtung besteht, dass viele der Phänomene, an denen die linguistische Forschung interessiert ist, Laien nicht bewusst sind; sie werden diese also nicht artikulieren. Ich möchte diesen beiden Problembereichen einen dritten anfügen. Es handelt sich dabei um die Frage, wer die Laien in einer Laienlinguistik sind und ob die Unterscheidung zwischen Laien und Professionellen beziehungsweise Expertinnen und Experten überhaupt gerechtfertigt und sinnvoll ist und nicht eher ein Produkt elitären Denkens und Dünkels. Einar Haugen (Haugen, Diskussion zu Hoenigswald, 1966: 26) verfasst ein gewitztes Statement bezüglich der Gegenüberstellung der Terme folklore (Folkloristik) und science (Wissenschaft). In unserer Kultur (gemeint ist unter anderem die Wissenschaftskultur) sei ersterer Begriff (Folkloristik) gleichzusetzen mit falschen Annahmen und letzerer (Wissenschaft) mit richtigen Annahmen; er schliesst: „ This is probably part of our scientific folklore. “ Was Haugen damit in einer ironischen Brechung deutlich macht, ist die Tatsache, dass der Charakter wissenschaftlicher linguistischer Befunde tendenziell folkloristischer wird (d. h. mit dem jeweils aktuellen Stand des Wissens nicht mehr übereinstimmend), je weiter man in der Geschichte der Linguistik zurückgeht. Generell stellt sich die Frage, inwiefern sich der metasprachliche Diskurs der Linguistik als Wissenschaft vom Bereich der Folk Linguistics überhaupt trennen lässt und ob diese Trennung in allen Fällen adäquat ist. Dieses Problems nimmt sich Brekle (1986: 73 f.) in seinem Artikel Einige neuere Überlegungen zum Thema Volkslinguistik an. Brekle (1985: 145) definiert Volkslinguistik als „ [. . .] all jene sprachlichen Ausdrücke und Äusserungen [. . .], die ihrerseits auf Sprachliches referieren oder die metakommunikativ fungieren [. . .]. “ Diese Definition lässt folgenden Schluss zu: Wer auch immer metakommunikativ tätig wird (Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftler eingeschlossen), liefert Daten für die volkslinguistische Forschung. Unter Anwendung dieses Ansatzes lässt sich die Volkslinguistik aber nur schwerlich als sprachwissenschaftliche Subdisziplin verstehen. Brekle fragt sich in der Folge, ob Experten aus dem Bereich der Volkslinguistik komplett eliminiert werden sollten, hält dies aber für keinen gangbaren Weg, denn Expertenwissen dringt in viele Bereiche ein und lässt sich deswegen „ nicht fein säuberlich von ‚ volkslinguistischen ‘ Fähigkeiten “ trennen (Brekle, 1986: 74). Alltagsweltliches Reflektieren und Sprechen über Sprache findet 12 I. Theorie <?page no="29"?> nie in einem nicht-professionellen Vakuum statt - wie also definiert die Laienlinguistik, von wem die von ihr untersuchten Daten stammen? Niedzielski/ Preston (2000: 301, vgl. Zitat oben) behelfen sich mit mehreren sprachlichen Wendungen, um klarzustellen, von wem die Sprachdaten ihrer Folk Linguistics stammen. Sie sprechen nicht nur von der „ world outside of linguistics “ , sondern auch von Menschen, „ who are not professional students of language “ (ibid.) und allgemeiner von Nicht-Linguisten. Garrett (2010: 179) verwendet in Anlehnung an Niedzielski/ Preston ebenfalls den Terminus Nicht-Linguisten (definiert als Personen, die nicht formal ausgebildete Experten oder Expertinnen im untersuchten Gebiet sind). Diese terminologischen und definitorischen Kunstgriffe sind in der empirischen Praxis m. E. nur bedingt nützlich. In der von mir verwendeten und unter anderem nach Bildungsstufen stratifizierten Stichprobe ist zwar klar, dass der Gärtner, der während der obligatorischen Schulzeit den obligatorischen Französischunterricht während eines Jahres besucht hat und ansonsten über keine sprachliche Ausbildung verfügt, als Nicht-Linguist oder linguistischer Laie im Sinne der obigen Definitionen bezeichnet werden darf. Anders verhält es sich jedoch beispielsweise mit Sekundarlehrerinnen und -lehrern, die eine Fremdsprache unterrichten und daher mindestens eine Sprache studiert haben. Diese haben Linguistik als Teilfach einer allgemein philologischen Ausbildung studiert und es wäre nicht korrekt, sie als linguistische Laien zu bezeichnen. Diese Gruppe aber aus der Stichprobe auszuschliessen ist nicht wünschenswert, da sie in einem für die sprachwissenschaftliche Forschung relevanten angewandten Bereich arbeiten und ihre Einstellungen gerade deswegen von Interesse sind. Abhilfe bei dieser Problematik schafft letztlich die Auffassung davon und Sensibilisierung dafür, dass die Bedeutungsrelation der Termini Nicht-Linguist/ Nicht-Linguistin und Linguist/ Linguistin nicht komplementär ist, sondern dass die Termini durch ein Kontinuum verbunden sind. Zu bedenken ist im Übrigen, dass auch professionelle Linguistinnen und Linguisten (im Sinne von in der Linguistik wissenschaftlich tätigen Menschen) nicht nur in beruflichen Kontexten über Sprache reden, sondern auch in Kontexten, in denen diese professionelle Identität nicht oder vermindert aktiviert ist. Auch von Linguistinnen und Linguisten sind ästhetische und affektive Sprachurteile zu vernehmen 5 . Fazit dieser Überlegungen ist, dass die Stichprobenziehung bei empirischen laienlinguistischen Studien mit der nötigen Sorgfalt beschrieben werden muss. Die Verteilung auf dem Kontinuum Nicht-Linguist/ Linguist muss deutlich ersichtlich werden, damit die 5 Selbst linguistische Publikationen sind im Übrigen nicht gefeit davor, dass sich sprachliche Werturteile einschleichen - Wardhaughs (1988: 213) Ausführungen zu Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern, die Hochdeutsch sprechen, entsprechen m. E. nicht einer neutralen Beschreibung der diglossischen Sprachpraxis: „ When the Swiss speak Standard German, they are also likely to sound formal and bookish because of their unfamiliarity with its nuances. “ 2. Sprachliches Werturteil 13 <?page no="30"?> Interpretierbarkeit der Daten im Rahmen der Laienlinguistik gewährleistet ist (vgl. zur verwendeten Stichprobe Kap. 9.2). Zum Abschluss der Thematisierung von Einwänden gegen die Laienlinguistik werde ich die beiden mir bekannten Quellen aufzeigen, die sich spezifisch gegen die Erforschung ästhetischer Sprachurteile aussprechen beziehungsweise dieser jegliche Relevanz absprechen 6 . Rund vierzig Jahre vor Hoenigswalds bahnbrechenden Überlegungen schreibt der Deutsche Sprachwissenschaftler Karl Vossler 7 (1925: 149), dass die Frage, ob es Sprachen gibt, die schöner oder hässlicher sind als andere, gegenstandslos ist, da sie aus einem Unverständnis für diese Sprachen heraus resultiert: Kurz, was man nicht erklären kann, sieht man als schön oder häßlich an. Darum wird von der grammatischen Forschung alle ästhetische Beurteilung der einzelnen Sprachen als Laiengerede abgelehnt. Dieses „ Laiengerede “ hat keinen Platz in der sprachwissenschaftlichen Forschung, da diese gemäss Vossler Sprache als „ [. . .] zweckmässiges System oder gar als einen Mechanismus von Ausdrucksmöglichkeiten verstehen will “ (ibid.) - für die „ Launen des Geschmacks “ (ibid.) hat sich die Wissenschaft nicht zu interessieren. Kurz vor der Publikation von Hoenigswalds Artikel schreibt André Martinet (1974: 46 [1965]) in einer Abhandlung mit dem Titel Peut-on dire qu ’ une langue est belle? das Folgende: Rien n ’ est plus étranger aux préoccupations du linguiste contemporain, lorsqu ’ il s ’ attache à dégager les traits caractéristiques d ’ une langue, que la question de savoir si cette langue est belle ou laide. Auch nach dem Erscheinen von Hoenigswalds Artikel lassen sich noch kritische Stimmen vernehmen, die Fragen der Sprachästhetik ebenfalls ausserhalb des Betätigungsfeldes der Sprachwissenschaft verorten: Marina Yaguello (1988: 137) stellt genauso wie Vossler und Martinet die Frage nach dem Sinn von Überlegungen zur Sprachästhetik und kommt zu keinem positiven Ergebnis: Peut-on dire qu ’ une langue est belle? La question n ’ a pas grand sens pour un linguiste - elle échappe en tout cas au champ de ses recherches - , mais il n ’ est pas interdit pour autant de se la poser. Den zitierten Aussagen Vosslers, Martinets und Yaguellos muss heute dezidiert widersprochen werden: Die Frage nach der Schönheit und Hässlichkeit von Sprachen entzieht sich nicht länger dem Forschungsgebiet der Sprachwissenschaft. Die Etablierung der Laienlinguistik als sprachwissenschaftliche Disziplin mit ihren eigenen innovativen Methoden (vgl. Kap. 3.1) und ihrem soliden theoretischen Unterbau erlaubt und fordert heute die 6 Ähnliche Zitate zur Erforschung affektiver Sprachurteile sind mir nicht bekannt. 7 Diese Quelle verdanke ich dem Manuskript zur Antrittsvorlesung von Frau Prof. Trudel Meisenburg, Universität Osnabrück (2001). 14 I. Theorie <?page no="31"?> Erforschung des metasprachlichen Diskurses von Nicht-Linguisten und Nicht-Linguistinnen - die Erforschung dessen also, was von Vossler so abschätzig „ Laiengerede “ genannt wurde. Heute gilt gerade die Diskrepanz zwischen Laienauffassungen und sprachwissenschaftlichen Erkenntnissen und Annahmen als wertvoller Wissensbestand. Insbesondere für Menschen, die in angewandten Gebieten tätig sind (Lehrpersonen, Akteure und Akteurinnen der Bildungs- und Sprachenpolitik) ist es entscheidend zu wissen, was nicht-spezialisierte Personen glauben. Sie können dann realistisch und erfolgreich planen und eingreifen (Preston, 1999: xxiv). Wie in Kapitel 5 gezeigt wird, stellt die Erforschung ästhetischer und affektiver Sprachurteile als Phänomen der Laienmetasprache ein Forschungsdesiderat innerhalb der Laienlinguistik dar. 2.2 Metasprache und Sprachbewusstheit In den folgenden beiden Kapiteln wird das evaluative Sprechen über Sprachen im Kontext der Metasprachenforschung erläutert: In Kapitel 2.2.1 wird aufgezeigt, wie sich metasprachliche Forschungsdaten in die sprachwissenschaftliche Forschung allgemein einordnen lassen, und es werden drei Typen von Metasprache vorgestellt, von denen zwei in der vorliegenden Forschungsarbeit untersucht werden. In Kapitel 2.2.2 folgt eine Erklärung des Zusammenhangs zwischen Metasprache und Sprachbewusstheit, in der auch terminologische Probleme angesprochen werden. 2.2.1 Sprachdaten und Typen metasprachlicher Daten Hoenigswalds Aussage, dass die Sprachwissenschaft nicht nur Interesse daran haben sollte, was passiert in der Sprache (a), sondern auch daran, wie Menschen darauf reagieren (b) sowie was sie darüber sagen, was passiert in der Sprache (Sprache über Sprache) (c), dient als Grundlage der schematischen Dreiecksdarstellung, wie sie in frühen Werken der Laienlinguistik verwendet wurde (vgl. Preston, 1998/ 1999; Niedzielski/ Preston, 2000) und in neueren kognitivistisch geprägten Ansätzen Prestons modifiziert verwendet wird (vgl. Preston, 2011). Die Dreiecksdarstellung dient grundsätzlich dazu, die Laienlinguistik und die Erforschung von Laienkommentaren über Sprache in die sprachwissenschaftliche Forschungslandschaft einzuordnen (Preston, 1998: 87). 2. Sprachliches Werturteil 15 <?page no="32"?> a c b Was Leute sagen Was Leute sagen über 1) Was gesagt wird (a) 2) Wie dies getan wird (a‘) 3) Wie sie darauf reagieren (b) 4) Warum sie sagen, was sie sagen (b‘ & c‘) Wie Leute auf das Gesagte reagieren a‘ - Zustände und Prozesse, welche a lenken b‘ & c‘ - beliefs, Einstellungen & Strategien, welche b & c lenken Abb. 1: Drei Zugänge zu Sprachdaten (Preston 1999: xxiii). [Eigene Übersetzung, C. C.] In den drei Ecken des Dreiecks befinden sich die drei unterschiedlichen Typen von Sprachdaten, die sprachwissenschaftlich behandelt werden können; die Spiegelpunkte der drei Ecken stellen jeweils die Erklärungsebenen dar, die bei der Interpretation der Sprachdaten aktiviert werden. Im Folgenden werden die drei Eckpunkte sowie die entsprechenden Spiegelpunkte erläutert: (a) Traditionelle linguistische Studien, die mit herkömmlichen Sprachdaten arbeiten, sind in der oberen Ecke (a) des Dreiecks platziert: Hier geht es um die Erforschung von Sprachproduktion (und -rezeption) und ihrer Variation in Disziplinen wie der Konversationsanalyse oder der Soziolinguistik. (a') In (a') wird die Erklärungsebene von (a) dargestellt: Es geht darum, die kognitiven Prozesse zu identifizieren, die den Sprachgebrauch, wie er in (a) vorliegt, steuern und beeinflussen. 16 I. Theorie <?page no="33"?> (b) Die Sprachdaten, die in (b) vorliegen, sind das Resultat indirekter Spracheinstellungsforschungen, es handelt sich um „ covert responses to language samples “ (Preston, 1998: 88), die zum Beispiel aus Matched- Guise-Experimenten resultieren 8 . (b') Die Daten aus (b) werden erneut durch eine Erklärungsebene (b') ergänzt: Es wird nach den Prinzipien gesucht, die die vorliegenden Evaluationen steuern. Preston (1999: xxiv) nennt historische Beziehungen zwischen Gruppen, psychosoziale Assoziationen sowie Werte, beliefs und kulturelle Stereotype als Erklärungsoptionen. (c) In dieser Ecke sind die Laienlinguistik und ihre Subdisziplin die Wahrnehmungsdialektologie angesiedelt (zur Wahrnehmungsdialektologie vgl. Kap. 5.1). Im Gegensatz zur Ecke (b), wo indirekte Reaktionen auf Sprachen und Varietäten als Daten fungieren, handelt es sich in Ecke (c) um direkte Reaktionen und Kommentare von Laien. In einer späteren Publikation bezeichnen Niedzielski/ Preston (2007: 2) die Verbindung zwischen b und c (dann als b1-bn gekennzeichnet) als „ continuum of consciousness “ . Die Verbindung zwischen dem „ folk linguistic corner “ c und der Erklärungsebene (c') ist noch direkter als zwischen (b) und (b'): Offene, direkte Kommentare zu Sprachen lassen direkter auf die ihnen zu Grunde liegenden beliefs schliessen als indirekte Kommentare (Preston, 1998: 88). Ästhetische und affektive Sprachurteile, wie sie in den Interviews im Rahmen dieses Forschungsprojekts elizitiert werden, sind in dieser Ecke des Dreiecks angesiedelt beziehungsweise eindeutig auf dem c-Teil des Kontinuums. Es handelt sich um direkte, bewusst getätigte Kommentare zu Sprachen. Im oben skizzierten Dreieck lokalisiert Preston (1998: 85 ff.) zusätzlich drei Typen von Metasprache, von denen Typ 1 und 3 für die vorliegende Forschungsarbeit relevant sind. Metasprache 1: Als Metasprache 1 werden die offenen Kommentare zu Sprache bezeichnet, die in (c) angesiedelt sind. Die untersuchten Sätze oder Konversationen haben Sprache zum Thema und es handelt sich dabei um bewusste Thematisierungen von Sprache. Ästhetische und affektive Sprachurteile sowie die dazugehörigen Begründungen sind diesem Metasprache- Typ zuzuordnen. 8 Den Gewährspersonen werden unterschiedliche Sprachstimuli vorgespielt, die zuvor von einer Einzelperson generiert wurden. Die Gewährspersonen glauben mehrere Sprecher zu evaluieren, reagieren aber tatsächlich immer auf den gleichen Sprecher, der unterschiedliche Sprachen oder Dialekte vorspricht. Oftmals erfolgt die Beurteilung über ein semantisches Differenzial, wo bei Gegensatzpaaren (wie z. B. schön-hässlich oder klangvoll-klanglos) graduell abgestuft angegeben werden kann, wie gut einem ein eben gehörter Sprachstimulus gefällt. Wenn Gewährspersonen auf die unterschiedlichen Stimuli unterschiedlich reagieren, sollte dies ausschliesslich linguistischen Unterschieden zuzuschreiben sein (vgl. Lambert et al., 1960). Wenn bei der Produktion der Audiostimuli mehrere Sprecher zum Einsatz kommen, spricht man von Verbal-Guise. 2. Sprachliches Werturteil 17 <?page no="34"?> Metasprache 2: Im Gegensatz dazu wird Metasprache 2, die in (a) lokalisiert ist, meist unbewusst und automatisch verwendet. Metasprachliche Wendungen des Typs 2 beziehen sich zwar auf Sprache, die Sprache selbst ist aber nicht das Thema der Äusserungen. Es handelt sich dabei beispielsweise um Verben wie sprechen oder sagen. Eine ähnliche Differenzierung zwischen unterschiedlichen Metasprachentypen wird von Jaworski/ Coupland/ Galasinski (1998) im Band Metalanguage. Social and Ideological Perspectives vorgenommen, in dem Prestons Artikel erschienen ist. Die Definition von Metasprache als „ language about language “ (ibid. 4) genügt im Kontext der soziolinguistischen Erforschung von Metasprache nicht. Daher wird folgende Differenzierung vorgeschlagen. „ Language in the context of linguistic representations and evaluations “ is a better short-hand, pointing to a shared assumption that, for the analysis of language use in social life, we need to engage explicitly with a „ meta “ component, a set of social and cognitive processes „ alongside “ or „ about “ the forms and substances of speech, writing or other symbolic material. Diese Definition greift zwei für diese Forschungsarbeit zentrale Punkte auf. Einerseits umfasst der Terminus linguistic representation potenziell nicht nur die Art und Weise, wie über Sprachen gesprochen wird, wie diese metasprachlich repräsentiert werden, sondern auch die dadurch erlaubten Rückschlüsse auf die mentale Repräsentation von Sprachen bei den Gewährspersonen. Denn es gilt: Wenn Menschen über Sprachen sprechen, müssen diese (oder die thematisierten linguistischen Phänomene) auf irgendeine Art und Weise mental repräsentiert sein (vgl. dazu die Ausführungen zum Unterschied zwischen den beiden Wissensbeständen Konzeptualisierung und Perzept in Kap. 3.1). Andererseits wird der evaluative Charakter von Metasprache, aufgegriffen. Obwohl ich nicht damit einverstanden bin, dass Metasprache des Typs 1 immer wertend ist, trifft die Definition auf sprachliche Werturteile, wie sie hier untersucht werden, natürlich zu. Metasprache 3: Der dritte von Preston definierte Typ umfasst nicht metasprachliche Äusserungen im eigentlichen Sinne. Es handelt sich dabei nämlich um die Erklärungsebene (b' & c'), um die Entität also, der die direkten Kommentare des Typs 1 unterliegen. Die Erforschung von Metasprache 3 ist nicht ganz einfach, da es sich dabei um lediglich indirekt zugängliche Daten handelt, die erst durch spezifische Analysetechniken zu Tage gefördert werden können. Dazu schlägt Preston Analysetechniken der inhaltsorientierten Diskursanalyse vor (vgl. Preston, 1993; 1994) wie etwa die Analyse von Präsuppositionen, Diskursmarkern, Anaphern sowie Analysen unter Verwendung der vantage theory (vgl. MacLaurey, 2002). Das Forschungsprojekt zu ästhetischen und affektiven Sprachurteilen klammert diesen Metasprachentyp selbstverständlich nicht aus, verwendet jedoch abweichende Analyseansätze. In einer strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse werden kognitive Strukturen - also kulturelle, metaphorische und metonymische Modelle - 18 I. Theorie <?page no="35"?> analysiert, die von der evaluativen Laienmetasprache abgeleitet werden können (vgl. Kap. 3.2.5 für eine theoretische Einführung; Kap. 8.4.2 zur qualitativen Fragestellung zu den Modellen sowie Kap. 13.1.2 für Resultate). Mit dem Forschungsdesign, das hier zur Anwendung kommt (vgl. Kap. 6 zur Methodenkombination), folge ich hingegen wieder Preston, der sowohl das Sammeln und Analysieren von Metasprache-1-Instanzen als auch die vertiefende Interpretation dieser im Sinne des Typs 3 von Metasprache fordert (Preston, 1998: 94 f.): While I value the collecting of Metalanguage 1 comments and attitudinal responses to language, I believe that such investigations ought to lead to the underlying folk beliefs speakers of a language have about the nature of the object itself (what I am calling Metalanguage 3). [. . .] Perhaps a more intensive investigation of discourses about language itself will eventually allow us to expose the cognitive models the folk use in reasoning about language. In diesem Sinne argumentiert auch Cameron (1998: 319), wenn sie sagt, dass Untersuchungen zu Metasprache beides umfassen müssen „ the implicit and the explicit ways in which people define what language is, what it is for, and what it is worth. “ Während Metasprache 1 zu der expliziten Definitionsweise gehört, entspricht Metasprache 3 dem, was Cameron mit implizierter Definitionsweise meint. Nicht nur soziolinguistische Phänomene wie Sprachwandel, Sprachloyalität, Sprachverlust oder Sprachkontakt sollten als aussagekräftige Indikatoren zur Interpretation der Sprachsituation in unterschiedlichen Ländern dienen. Der metalinguistische Diskurs sollte ebenso berücksichtigt werden, denn er widerspiegelt nicht nur die Sprachsituation, er gestaltet sie auch aktiv mit - Sprache wird durch die Debatte über sie verändert (Blommaert, 1999: 435). Ähnlich argumentieren Jaworski/ Coupland (1998: 3); die Autoren schreiben nicht nur, dass metalinguistische Daten zum Verständnis beitragen, wie soziale Gruppen Sprachen und Kommunikation allgemein bewerten und einschätzen, sie gehen ebenfalls davon aus, dass das Reden über Sprache nicht ohne Wirkung bleibt, dass die metalinguistische Praxis Einfluss auf unser Denken und unsere Handlungen hat: Metalinguistic representations may enter public consciousness and come to constitute structured understandings, perhaps even ‚ common sense ‘ understandings - of how language works, what it is usually like, what certain ways of speaking connote and imply, what they ought to be like. That is, metalanguage can work at an ideological level, and influence people ’ s actions and priorities in a wide range of ways, some clearly visible and others much less so. [Eigene Hervorhebung, C. C.] 2. Sprachliches Werturteil 19 <?page no="36"?> 2.2.2 Sprachbewusstheit Die Begriffe Metasprache und Sprachbewusstheit sind sich semantisch sehr nahe und werden teilweise sogar synonym verwendet. Da in dieser Forschungsarbeit beide Termini für unterschiedliche Konzepte zum Einsatz kommen, soll an dieser Stelle definiert werden, worauf in der vorliegenden Forschungsarbeit mit diesen Begriffen referiert wird. Weiter gilt es die beiden Termini Sprachbewusstheit und Sprachbewusstsein zu differenzieren. Unter Metasprache wird in der vorliegenden Arbeit Metasprache des Typs 1 verstanden und nicht ein mit Sprachbewusstsein respektive Sprachbewusstheit konkurrierendes Konzept. Sprachbewusstsein und Sprachbewusstheit werden als Voraussetzung für metasprachliche Äusserungen des Typs 1 aufgefasst. Was aber ist der Unterschied zwischen Sprachbewusstsein und Sprachbewusstheit? Eine Differenzierung der beiden Begriffe findet sich bei Spitta (2001). Zu Recht stellt sie „ inhaltliche Unbestimmtheiten bzw. Verschwommenheiten im Bedeutungsspektrum “ der Begriffe fest (ibid. 2). In Tabelle 1 werden die Ausführungen Spittas zu den beiden Begriffen zusammengetragen (ibid. 3 ff.). Dabei ist zu beachten, dass Spitta, wie in diesem Forschungsgebiet üblich, aus einer didaktisch-pädagogischen Perspektive argumentiert (konkret erforscht sie die Rechtschreibebewusstheit respektive das Rechtschreibebewusstsein im schulischen Kontext). M. E. steht das Problemlösen und die Zielorientiertheit daher zu stark im Vordergrund: Ein Nachdenken und Reflektieren über Sprache und ihre Funktionsweise muss nicht zwingend nur dann stattfinden, wenn die Sprachbenutzer auf eine Irritation oder ein Problem in der Sprachverwendung stossen oder mit diesem Nachdenken gezielt etwas erreichen wollen. Tab. 1: Differenzierung der Begriffe Sprachbewusstsein und Sprachbewusstheit nach Spitta (2001). Sprachbewusstsein Sprachbewusstheit ● Sprachbewusstsein funktioniert ohne Sprachbewusstheit. ● Sprachbewusstheit setzt Sprachbewusstsein voraus. ● „ Deutlich enger mit der sprachlichen Intuition, dem Sprachgefühl als Ausdruck des unbewusst gespeicherten Netzwerkes von sprachlichen Kategorien und Regelsystemen, verbunden. “ (ibid. 4) ● Systematischer und abstrakt ausgerichteter Prozess. (ibid. 3) ● „ Drückt sich spontan in einem Problemlösungsverhalten aus, bei dem eine Person im Prozess der Sprachproduktion quasi automatisch eine ● Setzt eine „ willentliche Reflexion über den Aufbau und die Funktionsprinzipien von Sprache in Gang sowie über die eigene kognitive Aktivität, um bewusst und dies reflektierend 20 I. Theorie <?page no="37"?> Sprachbewusstsein Sprachbewusstheit sprachliche Aktivität zur Problemlösung initiiert. “ (ibid. 4) Lösungsprozeduren einsetzen zu können. “ (ibid. 3) ● Eher gefühlsbasiert (ibid. 6) ● Phänomen des Intellekts (ibid. 7) In der vorliegenden Forschungsarbeit wird der Terminus Sprachbewusstheit verwendet, da den untersuchten Sprachdaten (den ästhetischen und affektiven Sprachurteilen und ihren Begründungen) eine willentliche Reflexion vorausgeht. Das Englische Pendant zum Begriff Sprachbewusstheit ist language awareness, ein Forschungsgebiet, das in den 80er Jahren etabliert wurde (vgl. Hawkins, 1984). Die Forschung zu language awareness beschäftigt sich seit Beginn hauptsächlich mit pädagogischen Fragen, etwa derjenigen nach der Rolle expliziten Wissens über Sprache beim Erwerb und bei der Vermittlung von Fremdsprachen (Coupland/ Jaworski, 1998: 23). Mit dem Artikel Whaddayaknow? : The Modes of Folk Linguistic Awareness nimmt Preston (1996 a) das Konzept auf und führt es der Laienlinguistik zu, indem er eine Taxonomie der Arten von Sprachbewusstheit entwirft, die auf Laienkommentare angewendet werden kann. Im Zentrum der Überlegungen steht die Feststellung, dass laienlinguistische Sprachbewusstheit nicht nur eine Frage des Grades der Bewusstheit ist, sondern auch eine Frage der Art der Sprachbewusstheit und deren Ausprägung (Niedzielski/ Preston, 2000: 24). Im Folgenden wird die Taxonomie der Arten und Ausprägungen von Sprachbewusstheit, die in Laienkommentaren zum Ausdruck kommen kann, aufgezeigt: Tab. 2: Arten und Ausprägungen von Sprachbewusstheit nach Preston (1996 a: 40 ff.). [Eigene Übersetzung, C. C.]. Art der Sprachbewusstheit Ausprägungen Verfügbarkeit: Nicht alle linguistischen Merkmale einer Sprache sind gleich zugänglich für Nicht- Linguisten, das heisst, nicht alle Aspekte werden von ihnen (gleich spontan) thematisiert. a) nicht verfügbar: Einige Themen werden von Laien unter keinen Umständen thematisiert (z. B. phonologische Charakteristika von Akzenten). b) verfügbar: Gewisse Themen werden dann diskutiert, wenn sie vom Forschenden eingeführt werden (z. B. von der Norm abweichende syntaktische Strukturen). c) suggestibel: Diese Themen werden zwar selten spontan diskutiert, es bedarf aber keiner ausführlichen Beschreibung und Einführung durch die Forschenden, damit sie diskutiert werden. 2. Sprachliches Werturteil 21 <?page no="38"?> Art der Sprachbewusstheit Ausprägungen d) alltäglich: Themen, die häufig in laienlinguistischen Diskussionen (auch ausserhalb des Forschungskontexts) vorkommen. Korrektheit: Laienkommentare können aus wissenschaftlicher Perspektive von unterschiedlicher Korrektheit sein. a) korrekt: Die Aussagen sind auch aus wissenschaftlicher Perspektive korrekt. b) nicht korrekt: die Aussagen sind aus wissenschaftlicher Perspektive nicht korrekt. Spezifität 9 : Ein linguistisches Objekt kann mehr oder weniger detailliert erfasst und beschrieben sein. a) global: Ein Akzent wird zum Beispiel global thematisiert, auch wenn phonologische Details nicht genannt werden können. b) spezifisch: Beschreibungen können spezifisch sein; in der vorliegenden Studie etwa die Festmachung eines ästhetisches Urteils an einem einzelnen Phonem (vgl. Kap. 11.3.3 das Phonem/ x/ für die Begründung negativer ästhetischer Urteile). Kontrolle/ Wiedergabe: Laien sind mehr oder weniger fähig, eine Sprache oder Varietät (oder einzelne Aspekte) wiederzugeben. a) Wiedergabe möglich: Laien können die thematisierte Varietät oder den thematisierten Aspekt davon wiedergeben. b) Wiedergabe nicht möglich: Die Wiedergabe der thematisierten Varietät oder des thematisierten Aspekts davon ist nicht möglich. Die aufgezeigten Arten von Sprachbewusstheit (Verfügbarkeit, Korrektheit, Spezifität, Kontrolle/ Wiedergabe) funktionieren relativ unabhängig voneinander. So kann ein Informant etwa einen Akzent imitieren (die Wiedergabe ist also möglich im Sinne davon, dass sie stattfindet), die Imitation ist aber komplett inakkurat. Die meisten der oben angeführten Ausprägungen sind als Kontinua zu verstehen (Preston, 1996 a: 41 ff.). Dafür, dass eine bestimmte Art der Sprachbewusstheit in einer bestimmten Ausprägung aktiviert wird, sind unterschiedliche Faktoren verantwort- 9 In Kapitel 8.2.1 wird das Konzept Grad der Granularität verwendet. Dieses ist verwandt mit der von Preston definierten Sprachbewusstheitsart Spezifität. Beim Prinzip der Granularität geht es um die Frage, wie fein respektive grob Wahrnehmungen kategorisiert und konzeptualisiert werden. Dies muss nicht unbedingt im Inneren einer Varietät passieren, sondern kann sich auch auf die Benennung von Sprachen, Varietäten und Dialekten selbst beziehen (Englisch ist beispielsweise weniger spezifisch als Amerikanisches Englisch. Die Bezeichnung Amerikanisches Englisch weist somit einen höheren Granularitätsgrad auf). 22 I. Theorie <?page no="39"?> lich (ibid. 46 ff.). Ohne auf Details eingehen zu wollen, sei hier erwähnt, dass für den US-amerikanischen Kontext insbesondere normative, präskriptive Vorstellungen von Laien über die korrekte Verwendung von Sprache als zentraler Faktor genannt werden (ibid. 54 ff.). Relativ unerforscht, aber nicht minder bedeutsam, ist die Darstellung von Sprachen und Varietäten in den Medien. Ebenfalls als Faktor werden die so genannten folk culture artifacts (also Erzeugnisse der Populärkultur) zu einzelnen Dialekten oder Varietäten ins Feld geführt: Diese werden meist mündlich weitergegeben und gepflegt (das in Kapitel 2.1.1 genannte Kabarettprogramm von Joseph Gorgoni ist ein Beispiel dafür). Dass ein bestimmtes linguistisches Phänomen einer Gewährsperson so bewusst ist, dass sie es thematisiert (unabhängig davon, welcher Art und welcher Ausprägung die Sprachbewusstheit im entsprechenden Fall ist), hängt generell davon ab, dass das Phänomen für die Person salient ist, dass es also ihre Aufmerksamkeit erregt (über welche Quelle auch immer) (vgl. Niedzielski/ Preston, 2007: 3). Man kann davon ausgehen, dass es linguistische Einheiten gibt, die grundsätzlich eher wahrgenommen werden, und andere, deren bewusste Wahrnehmung weit seltener vorkommt (vgl. Silverstein, 2001 [1981]), was bereits unter der Sprachbewusstseinsart Verfügbarkeit thematisiert wurde. Interessant wird es dann, wenn die Frage gestellt wird, weshalb einige Einheiten eher salient sind als andere. Gerade bei linguistischen Werturteilen kann Salienz von Stereotypen und Vorurteilen herrühren beziehungsweise in diesen begründet sein (Preston, 1996 a: 47). Es wird sogar angenommen, dass linguistische Phänomene, die Laien bewusst sind, stärker von soziokulturellen Faktoren abhängen als von ausschliesslich linguistischen (ibid. 72). Gal (1998: 326) ist überzeugt, dass Ideologien dabei, dass eine linguistische Einheit als salient wahrgenommen wird, eine entscheidende Rolle spielen. Salienz sowie Variation bei Salienz sind keineswegs arbiträr, sondern bedürfen einer Erklärung und können gemäss Gal (ibid.) auch erklärt werden, wenn mehr über die zu Grunde liegende Sprachideologien bekannt ist, die der Motor sind im Prozess des Salient-Werdens; sie schreibt: „ [. . .] different ideologies recognize or highlight different units of language as salient and as indicative of speaker ’ s identities. “ Als eine der Hauptaufgaben der Sprachideologieforschung (vgl. Kap. 3.2.4) definiert sie daher Folgendes: Es müssen die semiotischen Prozesse erfasst werden, die dafür verantwortlich sind, dass „ chunks “ (Brocken) von linguistischem Material wahrgenommen werden (z. B. stellvertretend für die sozialen Gruppen, die sie verwenden) (ibid.). Preston (1996 a) ist diesbezüglich eher pessimistisch und schreibt, dass es letztlich nur schwer nachzuvollziehen ist, wie linguistische Fakten bestimmten Gewährspersonen so sehr bewusst werden, dass sie von diesen thematisiert werden (ibid. 47): In fact, I believe that the straight path from linguisic facts (of any sort, at any level) to report is a very rocky one, impeded by the nature of communication itself. 2. Sprachliches Werturteil 23 <?page no="40"?> Zum Abschluss soll noch einmal betont werden, was auch von Niedzielski/ Preston immer wieder hervogehoben wurde (z. B. 2000: 24), nämlich dass die Korrektheit der Aussage von Nicht-Linguisten den Wert laienlinguistischer Daten keineswegs ausmachen (und die Nicht-Korrektheit diesen Wert im Gegenzug keineswegs schmälert), denn es gilt: „ When people characterise (however generally, however badly) linguistic facts, we cannot say they are ‚ unaware ‘„ (Preston, 1996 a: 45). 2.3 Zusammenfassung Linguistische Werturteile, wie sie im Rahmen dieser Forschungsarbeit gezielt elizitiert werden, gehören zur sprachlichen Alltagspraxis von Laien. Somit können sie als Forschungsgegenstand in die linguistische Disziplin der Laienlinguistik (folk linguistics) eingeordnet werden. Diese propagiert die Untersuchung dessen, was Nicht-Linguistinnen und Nicht-Linguisten über Sprache sagen und wissen. Die Laienlinguistik konnte sich als eigenständige Disziplin erst Anfang der 90er Jahre etablieren, nachdem in den 60er und 80er Jahren ihre Möglichkeiten aber auch Unzulänglichkeiten ausführlich erörtert worden waren. Zu den Kritikpunkten gehörten damals die Armseligkeit der Daten sowie deren Unzugänglichkeit (bei beiden geht es darum, dass die Art und Weise, wie Laien über Sprachen reden, als inadäquat oder zu wenig detailreich empfunden wird). Wer in einer Laienlinguistik als Experte und wer als Laie fungiert, ist eine weitere heikle Frage, der sich die Laienlinguistik stellen muss. Im Rahmen der vorliegenden Studie werden die beiden Begriffe nicht als komplementär, sondern als durch ein Kontinuum verbunden, aufgefasst. Im Zusammenhang mit den hier untersuchten affektiven und ästhetischen Sprachurteilen werden Sprachdaten erhoben, die als bewusste Reaktionen von Laien auf Sprachen, Varietäten und Dialekte gewertet werden können. Es handelt sich in der Terminologie Prestons (1998) um Metasprache des Typs 1. Wenn diese metasprachlichen Instanzen mittels einer qualitativen Inhaltsanalyse auf die ihnen zu Grunde liegenden beliefs untersucht werden, erhält man gemäss Preston Daten des Typs Metasprache 3. Metasprachliche Äusserungen des Typs 1 (linguistische Werturteile sowie die Begründungen dafür) setzen voraus, dass die Gewährspersonen über ein gewisses Mass an Sprachbewusstheit verfügen. Sie müssen bereit sein, über Sprache zu reflektieren und ihre Reflexionen im Interview zu versprachlichen. Sprachbewusstheit kann unterschiedlicher Art sein und unterschiedlich ausgeprägt sein - die folgenden Arten können differenziert werden: Verfügbarkeit, Korrektheit, Spezifität (auch Grad der Granularität) sowie Kontrolle/ Wiedergabe. Diese Arten treten relativ unabhängig voneinander und in unterschiedlicher Ausprägung auf. Hinsichtlich der Sprachbewusstheit ist die Frage zentral, wann ein linguistisches Merkmal salient genug ist, dass es von Laien 24 I. Theorie <?page no="41"?> thematisiert wird, und was zu dieser Salienz führt. Die hier angestellten Überlegungen weisen in die Richtung, dass Salienz nicht ausschliesslich mit den linguistischen Faktoren selbst zusammenhängt, sondern von sozialen Faktoren und Sprachideologien beeinflusst wird (wenn bestimmte linguistische Merkmale zum Beispiel ganze Sprechergruppen repräsentieren). Für den metasprachlichen Datensatz, der hier untersucht wird, muss festgehalten werden, dass allfällig fehlende Korrektheit der darin getätigten Aussagen von Laien dessen Wert keineswegs schmälert, denn: Wann immer Laien über Sprache sprechen, sind sie sich der Sprache bewusst. 2. Sprachliches Werturteil 25 <?page no="42"?> 3. Theoretische Fundierung Die theoretische Fundierung der Arbeit verfolgt zwei Ziele: In Kapitel 3.1 werden die Wissensbestände, die bei Laien bei der Produktion von evaluativer Metasprache aktiviert werden (d. h. Konzeptualisierungen), spezifiziert sowie vom Wissensbestand Perzept abgegrenzt. In Kapitel 3.2 wird die Frage beantwortet, wie der Wissensbestand Konzeptualisierung konzeptuell aufgefasst werden kann und in welchen (sprach)wissenschaftlichen Theorien er sich verorten lässt. 3.1 Untersuchte Wissensbestände: Konzeptualisierungen vs. Perzepte Die von Preston (2010 a) vorgenommene Unterscheidung zwischen den beiden Datenproduktionsquellen Perzept (percept) und Konzeptualisierung (concept) spielt eine wesentliche Rolle bei der Definition des zu untersuchenden Phänomens und der dazu konvenablen Datenerhebungsmethode. Perzepte und Konzeptualisierungen sind zwei unterschiedliche, wenn auch sehr nahe miteinander verwandte Datenproduktionsquellen respektive Wissensbestände, die während der Datenerhebung bei den Gewährspersonen aktiviert werden. Perzeptionsstudien fokussieren auf die Reaktion von Gewährspersonen auf reale Audiodaten, die durch die Versuchsleitung kontrolliert zur Verfügung gestellt werden. Studien hingegen, die sich mit laienlinguistischen Konzeptualisierungen befassen, konfrontieren Gewährspersonen mit Aufgaben oder Fragen, für die diese auf ihre inneren Ressourcen zurückgreifen. Berthele (2010 a: 245) spricht von insgesamt drei unterschiedlichen Wissensbeständen, welche die Forschung etwa im Rahmen der Wahrnehmungsdialektologie berücksichtigen muss und nennt nebst Perzept und Konzeptualisierung den Typ Ideologien, kulturelle Modelle. Definiert werden die drei Typen folgendermassen (ibid.): Perzepte - Sprachliche Merkmale, die Menschen bei sich selbst oder bei anderen SprecherInnen wahrnehmen und die sie potenziell der Konstruktion von mentalen Modellen zuführen können, Konzeptualisierungen - metonymische, metaphorische und propositionale kognitive Strukturen; Kategorisierungen von Elementen der realen oder vorgestellten Welt, <?page no="43"?> Ideologien, kulturelle Modelle - Einstellungen und Überzeugungen zu kausalen, finalen und ästhetischen Zusammenhängen. 10 Die vorliegende Forschungsarbeit befasst sich überwiegend mit Wissensbeständen des zweiten (Konzeptualisierungen) und dritten (Ideologien, kulturelle Modelle) Typs. Den Gewährspersonen werden keine linguistischen Daten vorgespielt und daher müssen sie sich beim Auswählen und Beurteilen von Sprachen auf ihre inneren Ressourcen besinnen. Damit ist die Studie methodologisch mit Studien der traditionelleren Wahrnehmungsdialektologie verwandt (Preston, 2010 a: 1): When I say that much PD [Perceptual Dialectology, eigene Anmerkung, C. C.] has stressed the conceptual world, I mean that in it respondents have been presented with tasks in which they rely primarily on inner resources. 11 Der erste von Berthele genannte Typ (Perzepte) darf aber nicht gänzlich ausgeklammert werden: Perzeptionen und Konzepte lassen sich nie gegenseitig vollkommen ausschliessen (ibid. 2): The conceptual world that some PD studies try to access cannot avoid perceptions, which are provided by the respondent and cannot be controlled or often even elicited by the researcher. Im Rahmen der vorliegenden Forschungsarbeit bedeutet dies, dass Menschen bestimmte Sprachen natürlich vor dem Interview wahrgenommen haben (Perzepte) und mentalen Modellen über Sprachen zugeführt haben und dass diese Erfahrungen in die Beurteilungen einfliessen, ohne dass sie kontrolliert werden können. Neben der Unterscheidung zwischen internen Konzepten und externen Perzepten als Produktionsquellen für die Daten (production sources) ist auch die Unterscheidung zwischen bewussten und unbewussten Sprachbetrachtungen (language regard types) zweckvoll (vgl. Preston, 2010 a). Bei bewussten Sprachbetrachtungen sind sich die Befragten im Klaren darüber, was das Thema der Befragung ist, dass es um ihre Einstellungen oder wie in der vorliegenden Arbeit um ihre ästhetischen und affektiven Urteile geht. Sie wählen bewusst Inhalte aus ihren inneren Ressourcen, die sie kommunizieren wollen und halten andere unter Umständen ebenso bewusst zurück. Bei unbewussten Sprachbetrachtungen wissen die Informantinnen und Infor- 10 Dieser Typ ist weitgehend kongruent mit dem von Preston definierten Metasprachentyp 3 (vgl. Kap. 2.2.1). 11 Ein Beispiel für Aufgaben, bei denen befragte Personen auf ihre inneren Ressourcen zurückgreifen, ist die in der Wahrnehmungsdialektologie populäre Methode der handdrawn maps (die Befragten bekommen eine minimal detaillierte Landkarte und werden dazu aufgefordert, Sprachregionen einzuzeichnen und manchmal auch, diese zu kommentieren). Hier werden interne Konzepte der Personen elizitiert (Preston, 2010 a: 1); die Technik versucht die konzeptuelle innere Welt der Informantinnen und Informanten zu erschliessen. 3. Theoretische Fundierung 27 <?page no="44"?> manten nicht genau, worin das Erkenntnisinteresse und der Fokus der Datenerhebung bestehen und worüber sie letztlich Auskunft geben. Es kann sich hier freilich auch um Forschungsdesigns handeln, bei denen vorgesehen ist, durch eine vertiefende Analyse der bewusst kommunizierten Inhalte auf zurückgehaltene Information zu schliessen (siehe dazu Punkt 4 „ intern, unbewusst “ folgend). Aus der Kombination der beiden Produktionsquellen extern vs. intern mit den beiden Sprachbetrachtungstypen bewusst vs. unbewusst ergibt sich eine Matrix aus vier möglichen Kombinationen, die methodologisch unterschiedlich erforscht werden müssen (die folgende Aufstellung sowie die meisten genannten Literaturbeispiele sind Preston (2010 a) entnommen). Für die vorliegende Studie sind die beiden Typen intern bewusst sowie intern unbewusst relevant - zur Übersicht und Abgrenzung werden hier alle vier Typen vorgestellt: 1. Extern, bewusst (bewusste Perzepte): Hier kommt oftmals die Matched-Guise- Technik zur Anwendung: Die Gewährspersonen werden mit realem Sprachmaterial konfrontiert und zum Beispiel dazu aufgefordert, die geographische und/ oder demographische Herkunft der Sprechenden zu lokalisieren (vgl. z. B. Plichta/ Preston (2005) für Gewährspersonen aus Michigan, die amerikanische Samples einordnen; Montgomery (2006) für Nordengland, Gooskens (2005) zur Rolle von Intonationscharakteristika bei der Identifikation von norwegischen im Vergleich zu niederländischen Dialekten). Es ist gemäss Preston bei diesem Typ jedoch nie auszuschliessen, dass sich bei der Beurteilung unbewusste Faktoren unter die bewussten mischen. 2. Extern, unbewusst (unbewusste Perzepte): Genauso wie im Typ extern, bewusst kommt hier oftmals die Matched-Guise-Technik zur Anwendung (vgl. Fussnote 8); allerdings werden die Gewährspersonen hier zusätzlich absichtlich in die Irre geführt, damit sie unbewusst agieren. Niedzielski (1999) beispielsweise unterbreitet ihren Informantinnen und Informanten aus dem südlichen Michigan synthetische Tokens des Worts „ last “ : einmal ein typisch lokales Token, einmal ein Token, wie es in verschiedenen amerikanischen Varietäten vorkommt, und einmal ein hyperstandardisiertes Token. Die Gewährspersonen hören zuerst das lokale Token und im Anschluss daran alle drei und werden gebeten, das zuerst gehörte einem der darauf folgenden zuzuordnen. Dabei notiert Niedzielski auf das Blatt, auf dem die Gewährspersonen ihre Beobachtungen festhalten, einmal gross „ Canadian “ und einmal gross „ Michigan “ (so dass diese meinen, das erste Token werde von einer Person aus Kanada respektive einer Person aus Michigan gesprochen). Was nun passiert: Die Informantinnen und Informanten ordnen das Token richtig zu, wenn „ Canadian “ darauf steht, bevorzugen jedoch das hyperstandardisierte Token, wenn „ Michigan “ auf dem Blatt steht, was gemäss Preston damit zu erklären ist, 28 I. Theorie <?page no="45"?> dass die Ideologie korrektes Englisch wird in Michigan gesprochen hier aktiviert wird. 3. Intern, bewusst (bewusste Konzepte): Die Gewährspersonen werden dazu aufgefordert, Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen ihrem eigenen und fremden Dialekten auf einer Karte einzuzeichnen zum Beispiel mit Pfeilen zu Regionen, die sie als ähnlich einschätzen und mit schwarzen Linien zwischen Regionen, die unterschiedlich sind (vgl. Kremer (1999) für die niederländisch-deutsche Grenzregion oder Mase (1999) für Japan). Die handgezeichneten Karten werden ebenfalls zum internen und bewussten Typen gezählt, denn sie elizitieren nicht nur Konzepte zu Dialektgebieten, sondern auch Meinungen über die Sprecherinnen und Sprecher und die betreffenden Varietäten (vgl. z. B. Preston (1996 b) für Amerika; Hofer (2004) für die trinationale Region Basel; Anders (2008, 2010) für das Obersächsische). Eine weitere Technik ist die Imitationsaufforderung: Gewährspersonen werden dazu aufgefordert, einen fremden Dialekt oder eine fremde Varietät zu imitieren. So erhobene Daten geben Aufschluss darüber, wie Menschen fremde Dialekte und Varietäten wahrnehmen (vgl. z. B. Preston (1992) für europäisch-amerikanische und afro-amerikanische Imitationen der jeweils anderen Gruppe und für standardnahe Varietäten regionalgeprägter Sprechenden im deutschen Kontext Purschke (2008). 4. Intern, unbewusst (unbewusste Konzepte): Preston (2009: 21) schreibt über diesen Typ: „ This is perhaps the most mysterious of the modes. How can we get respondents to use their own resources yet tap their subconscious? “ Es wurde bereits festgehalten, dass auch im Typ extern, bewusst unbewusste Prozesse in den erhaltenen Daten reflektiert werden - im internen, unbewussten Typen geht es explizit darum, solche Daten direkt zu elizitieren (und sie eben nicht als Beiprodukt zu erhalten). Wie werden solche Daten also elizitiert? Wenn mit Informantinnen und Informanten über Sprache gesprochen wird, ist das Resultat ein metasprachlicher Datensatz, der mehrheitlich dem bewussten Typen zugerechnet werden kann. Dieser Datensatz kann innere Konzepte enthalten (wenn die Gewährspersonen die Gesprächsthemen selbst wählen können) oder externe Perzepte (wenn den Gewährspersonen Themen und Beispiele vorgelegt bzw. vorgespielt werden). Wann also handelt es sich um den internen UND unbewussten Typen und wie kommt man an solche Daten? Die Antwort ist: Dann, wenn man zu verstehen versucht, was jenseits des Gesagten passiert, was von den Gewährspersonen präsupponiert wird. Es geht also darum, den unbewussten Diskurs herauszufiltern und daraus Sprachideologien, Meinungen zu Sprachen sowie (mentale) Sprachmodelle abzulesen. Diese internen, unbewussten Konzepte können mit dem in Kapitel 2.2.1 vorgestellten Metasprachentyp 3 in Verbindung gebracht werden und die dort genannten Analysetechniken können zum Einsatz kommen, um diese Konzepte zu Tage zu fördern. 3. Theoretische Fundierung 29 <?page no="46"?> Die vorliegende Studie ist dem 4. Typen (intern, unbewusst) zuzuordnen, wenn die Interviews qualitativ interpretiert werden, und wenn dieser qualitative Ansatz zu verstehen versucht, was jenseits des Gesagten vorgeht (also latente Sinnstrukturen oder kognitive Strukturen aufdeckt). In ihrem quantitativen Ansatz (bei dem die Interviewdaten quantifiziert und statistisch ausgewertet werden) ist die Studie dem 3. Typen (intern, bewusst) zuzuordnen. Es wird genau das interpretiert, was die Informantinnen und Informanten bewusst zu Protokoll geben über ihre inneren Konzepte - hier wird keine zweite Ebene des Verstehens angestrebt wie in der qualitativen Analyse (vgl. Kap. 6 zum Forschungsdesign). Preston sieht seine Matrix notabene nicht als Abgrenzung von Produktionsquellen (intern, extern) und Sprachbetrachtungstypen (bewusst, unbewusst), die im Forschungsalltag so trennscharf vorgenommen werden kann. Bei der Datenerhebung sind immer gleichzeitig bewusste und unbewusste Prozesse der Gewährspersonen aktiviert - die Daten, die erhoben werden, können sogar innerhalb eines Typen widersprüchlich sein, kurz (ibid. 24): [. . .] I do not believe we can get at a real language attitude (or ideology, or folk concept, e. g., Coupland 2007: 99) any more than we can get at so-called authentic samples of speech. Language regard is surely as various as language performance, and, like performance, stems from a reservoir (i. e., a repertoire) of various (and conflicting and changing) cultural beliefs about language and language variety. Die logische Folge ist, dass wahrnehmungsdialektologische sowie laienlinguistische Studien idealiter die ganze Palette an empirischen Möglichkeiten berücksichtigen und nicht lediglich isolierte, singuläre Formen der Sprachbetrachtung (ibid.). Es liegt jedoch auf der Hand, dass die finanziellen Möglichkeiten und die Zeitressourcen der allermeisten Forschungsprojekte es nicht zulassen, Experimente und Datenerhebungen in allen vier beschriebenen Typen durchzuführen und zu vergleichen. Prestons Aufforderung sollte m. E. dahingehend verstanden werden, dass Resultate aus Studien, die andere Kombinationen aus Produktionsquelle und Sprachbetrachtungstyp verwenden als die eigene, bei der Einordnung und Interpretation der erhobenen Daten berücksichtigt werden müssen (vgl. Kap. 5 zum Forschungsstand; Kap. 8.3 für eine theoretische Herleitung der Hypothesen sowie Kap. 8.4 für eine theoretische Herleitung der qualitativen Forschungsfragen). Ebenso wichtig ist in diesem Kontext, dass in Forschungsprojekten zur Laiensprachbetrachtung grundsätzlich deklariert wird, welche Art von Daten mit der verwendeten Datenerhebungsmethode erhalten, analysiert und interpretiert wird (vgl. Kap. 3.2 für eine konzeptuelle Einordnung der Daten sowie Kap. 9 zum Interview als Datenerhebungsinstrument). 30 I. Theorie <?page no="47"?> 3.2 Konzepte der (Laien)Sprachbetrachtung In Kapitel 3.2 geht es nicht länger ausschliesslich um die Wissensbestände, die bei den Gewährspersonen aktiviert werden, wenn sie urteilen, sondern darum, wie die geäusserten linguistischen Werturteile konzeptuell einzuordnen sind. Ich gehe davon aus, dass kein Einzelkonzept dem Konstrukt linguistisches Werturteil in metasprachlichen Äusserungen gerecht wird, daher ist hier nicht das Ziel, sich auf ein isoliertes Konzept festzulegen, sondern eine Reihe von Konzepten aufzuzeigen, die anwendbar sind. Unterstützt wird die Annahme, dass kein Einzelkonzept dem hier untersuchten Konstrukt gerecht wird, durch die kognitionswissenschaftliche Erkenntnis (vgl. Dirven/ Frank/ Pütz, 2003: 4 f.), dass Konzeptualisierungen (als Wissensbestandstyp) nur schon in unterschiedlichen Einheiten konzeptueller Strukturen stattfinden und operieren, z. B. in Stereotypen, kognitiven Modellen, Kategorien oder Prototypen. Als Hyperonym für die hier behandelten wissenschaftlichen Konzepte bietet sich der Terminus language regard an, da er die ganze Bandbreite an möglichen Reaktionen von Laien auf Sprache umfasst, also sowohl bewusste Kommentare und Reaktionen auf Sprache als auch unbewusste Reaktionen - und nicht zu vergessen, das Kontinuum zwischen den beiden Polen (vgl. Niedzielski/ Preston, 2007: 5). Es sei hier an das in Kapitel 2.2.1 skizzierte Dreieck zu den Sprachdaten linguistischer Forschung erinnert: Das beschriebene Kontinuum verläuft von der laienlinguistischen Ecke c (offene, direkte Kommentare zu Sprachen, Metasprache des Typs 1) zu Ecke b, die von Methoden der Sozialpsychologie geprägt ist (indirekte Kommentare und Reaktionen, zum Beispiel Einstellungsforschung unter Anwendung der Matched-Guise-Technik). Die im Folgenden thematisierten Konzepte lassen sich unter den Oberbegriff (Laien)Sprachbetrachtung 12 fassen. In den einzelnen Kapiteln werden die behandelten Konzepte definiert und es wird jeweils geschildert, weshalb ein bestimmtes Konzept mit den hier untersuchten sprachlichen Werturteilen in Zusammenhang gebracht wird. Allen Konzepten gemein ist, dass sie Reaktionen auf oder den Umgang mit Sprachen und Varietäten bezeichnen oder diesen zu Grunde liegen. Diese 12 Ich verwende den Begriff Sprachbetrachtung als Übersetzung des Terminus language regard: Die deutsche Übersetzung ist nicht unproblematisch, da der Begriff Sprachbetrachtung bereits im didaktischen Zusammenhang verwendet wird. Sprachbetrachtung im Sinne Bredels (2007: 22) beinhaltet beispielsweise Tätigkeiten, bei denen die Sprache gezielt zum Gegenstand der Aufmerksamkeit im Unterricht wird. Bei der Sprachbetrachtung im Sprachunterricht geht es zwar um metalinguistisches Bewusstsein und die Artikulation desselbigen, das andere Ende des oben genannten Kontinuums (also die unbewusste Reaktion auf Sprache) wird aber nicht explizit eingeschlossen. Mangels einer alternativen Übersetzung, die genauso treffend das englische Pendant wiedergeben würde, wird hier der Begriff Laiensprachbetrachtung explizit im Sinne Prestons verwendet. 3. Theoretische Fundierung 31 <?page no="48"?> Reaktionen werden entweder über metasprachliche Äusserungen des Typs 1 direkt artikuliert oder es kann über gezielte Analysen dieses Metasprachentyps darauf geschlossen werden. Die folgenden Konzepte werden im Zuge der theoretischen Fundierung behandelt: Spracheinstellungen (vgl. Kap. 4.2.1), Stereotype, Vorurteile und Prototypen (vgl. Kap. 4.2.2), Beliefs (vgl. Kap. 4.2.3), Sprachideologien (vgl. Kap. 4.2.4), kognitive Strukturen (kulturelle, metaphorische und metonymische Modelle) (vgl. Kap. 4.2.5). Die Konzepte liegen semantisch teilweise dicht beisammen oder weisen deckungsgleiche Aspekte auf, so dass ihre konzeptuelle Trennschärfe nicht immer gegeben ist. Ziel der folgenden Ausführungen ist weniger eine konsequente definitorische Abgrenzung der einzelnen Konzepte als eine konzeptuelle Annäherung an den untersuchten Gegenstand. Bei allen Konzepten interessieren diskursive methodologische Zugänge sowie Zugänge, die die emische Perspektive einnehmen und damit den Grundsätzen der laienlinguistischen Methodologie entsprechen. 3.2.1 Spracheinstellungen 3.2.1.1 Definition und Forschungsgebiete Der Terminus Einstellung bezeichnet ein Konzept, das aus der Sozialpsychologie stammt (Allport, 1954; für aktuelle Ansätze vgl. Albarracín/ Johnson/ Zanna, 2005) und in Form der Spracheinstellung zu den Kernkonzepten der Soziolinguistik gehört (Garrett, 2010: 19). Das Konzept wird trotz oder vielleicht gerade wegen seiner interdisziplinären Verbreitung nicht einheitlich definiert. In unterschiedlichen Definitionen werden unterschiedliche Aspekte des Konstrukts ins Zentrum gerückt. Grundsätzlich folge ich Albarracín et al. (2005: 5), die den Terminus Einstellung folgendermassen definieren: [. . .] the term attitude is reserved for evaluative tendencies, which can both be inferred from and have an influence on beliefs, affect, and overt behaviour. Dass ein Individuum evaluative Tendenzen oder Orientierungen gegenüber jeglicher Art von sozialen Objekten haben kann, liegt auf der Hand: Sprachen sind nur ein Beispiel, politische Positionen, Kunst oder Lebensstilfragen sind andere. Bei Spracheinstellungen kann differenziert werden, welche sprachlichen Objekte Gegenstand von Einstellungen sind. Die hier verwendete Übersicht stammt von Vandermeeren (2008: 1324): 1. Dialekte, regionale Stile 2. Ethnisch geprägte Stile/ Ethnolekte (z. B. Black English) 3. Zweit-/ Fremdsprachen 4. Aus Konvergenzprozessen resultierende Stile, gemischte Stile, Lingua Franca 5. Geschlechts- und Altersspezifische Stile 6. Phonetisch/ lexikalisch/ paralinguistisch diversifizierte Stile 32 I. Theorie <?page no="49"?> Ein zentrales Element der zitierten hier verwendeten Definition ist der Input- Output-Charakter von Einstellungen (vgl. Garrett, 2010: 21). Einstellungen sind nicht einfach nur begründet in und ableitbar von sozialen Aktionen, Wissensbeständen und Gefühlen, sie beeinflussen diese auch. Allgemein gilt: „ [. . .] an attitude can be both a predisposing factor and an outcome “ (Lasagabaster, 2008: 400). Aus diesem Grund werden Einstellungen zum Beispiel in der Zusatzspracherwerbsforschung eingehend als Einflussfaktor für den Erfolg der Lernenden untersucht. Dass positive Einstellungen zur Zielsprache das Lernen derselben erleichtern, ist ein wenig überraschendes übergeordnetes Forschungsergebnis (vgl. ibid. 403). Wie eng Einstellungen mit anderen affektiven Variablen, die beim Sprachenlernen bedeutsam sind, zusammenhängen (z. B. Motivation, Persönlichkeitsmerkmale der Lernenden, Angstgefühle), wird in der angewandten Linguistik seit mehr als 50 Jahren diskutiert 13 . Aber nicht nur in der Zweit- und Zusatzsprachenforschung spielen Spracheinstellungen eine zentrale Rolle. In jüngster Zeit wird der Schnittstelle zwischen Einstellungen, Sprachrezeption sowie Sprachproduktion vermehrt Beachtung geschenkt 14 . Beispielsweise wird untersucht, inwiefern die wechselseitige Verständlichkeit von Sprachvarietäten mit der tatsächlichen phonetischen linguistischen Distanz zwischen diesen zusammenhängt sowie mit Einstellungen gegenüber diesen (vgl. Gooskens 2007, Ausführungen dazu in Kap. 5.1). Die Wahrnehmungsdialektologie (vgl. Preston, 1999; Long/ Preston, 2002) interessiert sich seit Längerem für den Zusammenhang zwischen Einstellungen und Sprachproduktion: Damit Laien Sprachen und Varietäten direkt metasprachlich bewerten können, müssen sie diese erst bewusst wahrnehmen (vgl. dazu die Ausführungen in Kap. 2.2.2 zu Sprachbewusstheitsarten und -ausprägungen). 3.2.1.2 Die innere Struktur von Einstellungen Zur inneren Struktur von Einstellungen finden sich zahlreiche Ausführungen (für eine Übersicht vgl. Fabrigar/ MacDonald/ Wegener, 2005). Lange Zeit dominierte das Dreikomponentenmodell (Rosenberg/ Hovland, 1960) die Diskussion. Dieses geht davon aus, dass sich Einstellungen aus einer kognitiven, einer affektiven und einer konativen Komponente zusammensetzen. Die kognitive Komponente beinhaltet Gedanken und beliefs - also das Wissen, das eine Person über ein Objekt zu haben glaubt oder effektiv hat. Die affektive 13 Massgeblich geprägt wurde dieser Diskurs durch Wissenschaftler um Gardner (vgl. für eine Meta-analyse der Studien von Gardner et al.: Masgoret/ Gardner, 2003; für einen Überblick über aktuelle Forschungstendenzen z. B. Dörnyei, 2003). 14 An der Universität Leuven wurde im April 2009 ein Workshop zum Thema „ Production, Perception, Attitude “ durchgeführt, der sich dieser Schnittstelle annahm. Der Workshop wurde von den Universitäten Leuven, Nijmegen und Groningen im Rahmen des Forschungsprogramms The Interaction Between Intelligibility, Attitude, and Linguistic Distance organisiert. Ein Tagungsband wird voraussichtlich als Spezialausgabe der Zeitschrift Dialectologia erscheinen. 3. Theoretische Fundierung 33 <?page no="50"?> Komponente betrifft Gefühle gegenüber dem Einstellungsobjekt. Die konative Komponente bezeichnet die Bereitschaft zu einem bestimmten Verhalten, das mit dem Einstellungsobjekt in Zusammenhang steht (vgl. Baker, 1992: 12). Das Dreikomponentenmodell wird mittlerweile kritisch diskutiert, da sich Einstellungen nicht so einfach nach diesen drei Komponenten sezieren lassen. Diskutiert wird etwa, dass es sich dabei nicht unbedingt um Komponenten von Einstellungen handelt, sondern eher um Auslöser (trigger) oder Ursachen (causes) derselben (Garrett, 2010: 23). Vermutlich greift aber auch dies zu kurz, da der Input-Output-Charakter von Einstellungen zu wenig berücksichtigt wird. Daher folge ich auch bezüglich der inneren Struktur von Einstellungen Albarracín et al. (2005: 3), die zu den von ihnen „ Konstrukte “ (und nicht Komponenten) genannten Elementen Affekt, belief und Verhalten festhalten: Each of these individual phenomena is central to the dynamic forces that form and transform existing attitudes. Similarly, attitudes have reciprocal impact on affects, beliefs, and behaviours. Eine Einstellung setzt sich also nicht einfach aus den Elementen Affekt, Belief und Verhalten zusammen, sondern ist eine separate Entität, die aus diesen Elementen gespeist wird und diese im Gegenzug ebenfalls speist. Fabrigar/ MacDonald/ Wegener (2005: 82) schreiben, eine Einstellung sei „ [. . .] a general evaluative summary of the information derived from these bases [Affekt, Verhalten und Kognition, eigene Anmerkung, C. C.]. “ 3.2.1.3 Empirische Zugänge zu Einstellungen Insgesamt können drei verschiedene Forschungszugänge zu Spracheinstellungen unterschieden werden (vgl. Garrett/ Coupland/ Williams, 2003; Garrett, 2008; Garrett, 2010): 1. Behandlung in der Gesellschaft (societal treatment approach): Untersucht wird, wie Sprachen und Sprachvarietäten in der Gesellschaft behandelt respektive verhandelt werden. Zu diesem Zweck kann beispielsweise eine Inhaltsanalyse öffentlicher Dokumente (etwa politische Vorstösse, Lehrpläne oder Leserbriefe) erfolgen. 2. Direkter Zugang (direct approach): Mittels Interviews oder Fragebogen werden bei diesem Zugang gezielt Äusserungen über Einstellungen elizitiert. 3. Indirekter Zugang (indirect approach): Die Gewährspersonen sind sich nicht bewusst, dass sie bezüglich ihrer Einstellungen beobachtet werden oder sie werden sogar gezielt in die Irre geführt (vgl. Niedzielski, 1999 und Kap. 3.1). Die wohl am häufigsten mit dem indirekten Zugang assoziierte Methode ist die Matched-Guise-Technik (vgl. Fussnote 8) 15 . 15 Die Unterscheidung zwischen direktem und indirektem Zugang entspricht Prestons Unterscheidung zwischen bewussten und unbewussten Sprachbetrachtungstypen (vgl. Kap. 3.1). 34 I. Theorie <?page no="51"?> Alle drei Zugänge wurden in der Vergangenheit in sprachwissenschaftlichen Einstellungsuntersuchungen praktiziert. Die Vor- und Nachteile jedes einzelnen wurden dabei ausgelotet und thematisiert. Kolde (1981: 350 f.) sieht den direkten Zugang beispielsweise kritisch. Er begründet dies unter anderem damit, dass Einstellungen gegenüber Sprachen und ihren Sprechenden ein „ tabuisierter Bereich “ sind und sich die methodischen Mängel der direkten Befragung daher gravierender auswirken als bei anderen Themenbereichen und die Resultate zusätzlich verzerren (ibid. 351) (vgl. Kap. 9.1.3 zu den spezifischen Problemen des Interviews als Datenerhebungsmethode). Garrett (2008: 1254) wägt die Vor- und Nachteile des direkten und des indirekten Zugangs folgendermassen gegeneinander ab: One might argue that a strength of ‚ conceptual ‘ presentations [direkte Zugänge, eigene Anmerkung, C. C.], therefore, is that they do not rely on listeners identifying a voice in the way that the researchers intend. Instead, the identification is done for the informant (thus making vocal representation anyway unnecessary). But this brings with it the difficulty of knowing what speech features (if any) respondents are associating with the labels they are given, and where they locate such varieties on their mental maps [. . .]. 16 Im nachfolgenden Kapitel geht es nicht darum, einen der Zugänge prinzipiell zu favorisieren, sondern den gewählten kritisch einzuordnen. Es handelt sich dabei um den direkten Zugang. 3.2.1.4 Diskursive und interaktionale (Sprach)Einstellungsforschung Der direkte, diskursanalytische Zugang zu Einstellungen wurde Ende der Achzigerjahre insbesondere vom Diskursanalytiker und Soziologen Jonathan Potter sowie der Sozialpsychologin Margaret Wetherell propagiert (Potter/ Wetherell, 1987). Die Autoren schildern ihren Ansatz folgendermassen (ibid. 55): [. . .] the discourse approach shifts the focus from a search for underlying entities - attitudes - which generate talk and behaviour to a detailed examination of how evaluative expressions are produced in discourse. Es handelt sich um eine sozial-konstruktivistische Perspektive auf Einstellungen beziehungsweise evaluative Äusserungen, die - im Gegensatz zur mentalistischen Perspektive - Einstellungen nicht als „ underlying mental 16 Garrett bezieht sich hier auf direkte Methoden, bei denen vorgegeben wird, über welche Sprachen, Varietäten oder Dialekte gesprochen werden soll. Beim Interview bestimmen ausschliesslich die Gewährspersonen selbst, worüber sie sprechen wollen. Das von Garrett geschilderte Problem, dass man nicht weiss, welche spezifischen Eigenschaften die Gewährspersonen mit den verwendeten Labels assoziieren, stellt sich aber gleichermassen. 3. Theoretische Fundierung 35 <?page no="52"?> constructs “ (Potter, 1998: 251) auffasst 17 , sondern auf die Praxis der Evaluation von Objekten in spezifischen Kontexten fokussiert. In der sprachlichen Interaktion werden nicht nur die Objekte selbst konstruiert, sondern auch die soziale Welt, in der sich ein Individuum bewegt (vgl. Hyrkstedt/ Kalaja, 1998: 347). Hervorgehoben werden von Potter/ Wetherell (1987) hauptsächlich drei attitudinale Phänomene, die mit dem diskursiven, interaktionalen Zugang 18 ergründet werden können und die die herkömmliche (mentalistisch oder behavioristisch geprägte) Einstellungsforschung (i. e., Matched-Guise-Ansätze) nicht oder nicht genügend erfassen kann (ibid. 43 ff.): Erstens werden im Diskurs Berichte über Einstellungen in ihrem komplexen (Äusserungs)Kontext erfasst. Zum Beispiel kann eine evaluative Aussage an Bedingungen geknüpft sein: Eine bestimmte Sprache wird etwa dann nicht als schön empfunden, wenn sie mit einem Akzent gesprochen wird. Zweitens zeigt die Diskursanalyse, dass evaluative Äusserungen durch grosse Variabilität gekennzeichnet sind: Die Berichte der Gewährspersonen von Potter/ Wetherell (ibid. 49) beispielsweise sind nicht konsistent und kohärent; teilweise widersprechen sich Gewährspersonen innerhalb weniger Turns im Gespräch selbst. Der Konflikt zwischen der mentalistischen Auffassung von Einstellungen (die diese als relativ stabile psychologische Konstanten begreift) und der diskursorientierten Auffassung, die Variabilität in evaluativen Aussagen aufdeckt, wird an dieser Stelle deutlich. Potter/ Wetherell (ibid.) begegnen diesem Konflikt sehr direkt: We do not intend to use the discourse as a pathway to entities or phenomena that lie ‚ beyond ‘ the text. Discourse analysis does not take for granted that accounts reflect underlying attitudes or dispositions and therefore we do not expect that an individual ’ s discourse will be consistent and coherent. Rather, the focus is on the discourse itself how it is organized and what it is doing. In Anbetracht des spezifischen Forschungsanliegens der diskursiven Psychologie und der Einstellungsforschung ist diese Aussage nachvollziehbar, sie wird m. E. aber dem Potenzial der (inhaltsorientierten) Diskursanalyse im sozialwissenschaftlichen Kontext nicht gerecht: Gewiss ist die Aufgabe der 17 Nach mentalistischer Auffassung haben Einstellungen die Eigenschaft, dass sie sich nicht direkt beobachten lassen, da es sich um latente Konstrukte handelt (vgl. Lasagabaster, 2008). Beobachtet werden können lediglich Manifestationen von Einstellungen. 18 Der diskursive Zugang zu Spracheinstellungen ist nicht in allen Fällen interaktionistisch-konstruktivistisch (also mit einem klaren Fokus auf der Analyse der Interaktion). Tophinke/ Ziegler (2006: 216) zählen auch einen eher inhaltsanalytischen Ansatz zu den diskursiven Zugängen. Hier wird auf das Individuum als Mitglied einer Sprachgemeinschaft fokussiert. Als thematischen Schwerpunkt solcher Analysen begreifen Tophinke/ Ziegler (ibid.) den Zusammenhang zwischen Sprachen und Identität (vgl. dazu Kap. 4). Der hier gewählte Zugang hat eher inhaltsanalytischen als interaktionistischen Charakter: Die Rolle der interviewenden Person wird keiner eingehenden Analyse unterzogen. 36 I. Theorie <?page no="53"?> Diskursanalyse, den Diskurs selbst zu analysieren, wie er organisiert und strukturiert ist; warum sie dabei aber zu Phänomenen, die jenseits des Gesagten liegen, prinzipiell nicht vordringen kann oder will, ist nicht ganz schlüssig. Es ist zwar fraglich, ob diese zu Grunde liegenden Phänomene tatsächlich als Einstellungen bezeichnet werden können, oder ob es sich dabei nicht eher um kognitive Strukturen (kulturelle, metaphorische sowie metonymische Modelle) oder auch um beliefs handelt (zu beliefs vgl. Kap. 3.2.3, zu kognitiven Strukturen vgl. Kap. 3.2.5), sicher ist jedoch, dass es Techniken gibt, um diese aufzuspüren. An dieser Stelle sei an die Ausführungen zum Metasprachentyp 3 (vgl. Kap. 2.2.1) erinnert und Prestons Aufforderung, gerade diesem Beachtung zu schenken. Als drittes der attitudinalen Phänomene, die über den diskursiven Zugang besonders gut erfasst werden können, wird die Konstruktion des evaluierten Objekts im Diskurs genannt. Unterschiedliche Gewährspersonen werden das Bezugsobjekt ihrer ästhetischen und affektiven Werturteile unterschiedlich schildern. Potter/ Wetherell (ibid. 54) machen geltend, dass die Diskursanalyse es erst ermöglicht, die spezifische Konstruktion eines Beurteilungsgegenstands durch die Gewährspersonen zu erfassen, und dass in der Folge weniger abstrakte und idealisierte Objekte evaluiert werden. Ich gehe davon aus, dass es in der evaluativen Laienmetasprache einerseits in der Tat zu sehr spezifischen Formulierungen kommt (im Sinne einer hohen onomasiologischen und konzeptuellen Granularitätsstufe bei der Benennung und Beschreibung der beurteilten Sprachen und Varietäten), dass Laien Sprachen aber in vielen Fällen gleichwohl als abstrakte und idealisierte Objekte im Gespräch konstruieren (vgl. zur Laien-Wahrnehmung von Sprache als eine „ idealized abstraction “ Niedzielski/ Preston, 2000: 18 ff. und 41). Gerade hinsichtlich ästhetischer Sprachurteile ist der Aspekt der Konstruiertheit des beurteilten Gegenstandes essenziell; so betont zum Beispiel Piecha (2002: 56), dass das ästhetische Objekt immer als ein Konstrukt der betrachtenden Person verstanden werden muss: Die hier vertretene These ist [. . .], dass ästhetische Objekte in besonderer Hinsicht Konstruktionen des Betrachters sind und damit zwangsläufig relational sein müssen. Zunächst sind sie, wie alle Wahrnehmungsgegenstände, aufgrund von Erfahrungen konstruiert und bewertet. Darüber hinaus sind sie [. . .] durch ihre Betrachtung als „ ästhetisch “ stärker an das wahrnehmende Subjekt gebunden als „ gewöhnliche “ Wahrnehmungsobjekte. Damit können unterschiedliche Interpretationen durchaus unterschiedliche ästhetische Objekte erzeugen. 19 In der Sprachwissenschaft wurde der diskursive Zugang zu Spracheinstellungen inter alia von Giles/ Coupland (1991) vorgeschlagen - der Zugang 19 Die hier angesprochene enge Verknüpfung des ästhetischen Urteils mit dem Wesen der urteilenden Person wird in der vorliegenden Forschung im Zusammenhang mit der Konstruktion von Identitäten und Alteritäten mittels des ästhetischen Sprachurteils aufgenommen (vgl. Kap. 4.2.4). 3. Theoretische Fundierung 37 <?page no="54"?> wird von den Autoren als Ergänzung zu traditionelleren Zugängen und nicht als neue singuläre Herangehensweise verstanden. Über Spracheinstellungen wird gesagt, dass „ [they] are assumed to be inferred by means of constructive, interpretive processes drawing upon social actors ’ reservoirs of contextual and textual knowledge [. . .] “ (ibid. 53). Im Zentrum des Erkenntnisinteressens dieses Zugangs steht der Prozess der Bedeutungsgenerierung. M. E. dürfen die unterschiedlichen Zugänge als sich komplementierend betrachtet werden. Die Wahl des einen impliziert keineswegs automatisch die Auffassung, dass ein anderer inadäquat wäre. Hyrkstedt/ Kalaja (1998: 345) sind eine Ausnahme in der linguistischen Einstellungsliteratur, wenn sie die Ersetzung des Matched-Guise-Zugangs durch diskursanalytische Studien fordern. Dennoch verdienen zumindest einige der Kritikpunkte, die die Autorinnen bezüglich indirekter Einstellungserhebungsmethoden äussern, Beachtung. Diese werden hier kurz erläutert insbesondere zum Zwecke, die spezifischen Stärken des diskursiven Zugangs deutlich zu machen (ibid. 346). Es folgt jeweils zuerst ein von Hyrkstedt/ Kalaja vorgebrachter Kritikpunkt und im Anschluss eine darauf bezogene Methodenreflexion hinsichtlich der vorliegenden Arbeit: ● Sind die unter Laborbedingungen im Experiment generierten Resultate tatsächlich auf reale Situationen generalisierbar, also valide und reliabel? Im Gegensatz zu Matched-Guise-Experimenten, die gewöhnlich in Räumlichkeiten einer Forschungsinstitution durchgeführt werden, finden Interviews in alltäglicheren Situationen statt (im Falle dieser Forschung: Zugfahrt, Restaurants, bei Gewährspersonen zu Hause). Nichtsdestoweniger stellt aber auch die Interviewsituation keine Alltagsinteraktion dar, da zum Beispiel das turn-taking Recht ungleichmässig verteilt ist (vgl. Kap. 9.1.3). ● Die Gewährspersonen werden aufgefordert, ihre Reaktionen in Dimensionen auszudrücken, die zuvor von den Forschenden festgelegt werden. Obwohl die verwendeten Adjektivpaare auf semantischen Differenzialen oder Likert-Skalen heute normalerweise in qualitativen Pretests erhoben werden, lassen sie praktisch keinen Raum für den Ausdruck individueller Reaktionen. Hier bieten offene Interviewfragen eindeutig den Vorteil, dass die Gewährspersonen selbst bestimmen, wie sie ihre Evaluationen versprachlichen möchten. Durch die spezifischen Fragen werden aber ebenfalls Dimensionen vorgegeben, innerhalb derer sich die Antworten bewegen sollen - es wird nach schönen und hässlichen Sprachen gefragt - spätestens bei der Urteilsbegründung aber operationalisieren die Gewährspersonen diese Dimensionen individuell. ● Das Ankreuzen ein und desselben Feldes auf einer Skala (semantisches Differenzial oder Likert-Skala) durch zwei verschiedene Gewährspersonen bedeutet nicht zwingend, dass die betreffenden Personen die 38 I. Theorie <?page no="55"?> Skalen gleich interpretieren. Die Methode bietet Einzelpersonen darüber hinaus keinen Raum für Variabilität in den Antworten 20 . Im Interview können Gewährspersonen detailliert schildern, wie ihre Evaluation zu verstehen ist (ob sie beispielsweise an eine Bedingung geknüpft ist, ob sie in Abgrenzung zu einer entgegengesetzten Evaluation zu verstehen ist etc.). Liebscher/ Dailey-O ’ Cain (2009) bieten im Artikel Language Attitudes in Interaction die bis dato aktuellste Einschätzung des diskursiven respektive interaktionalen Zugangs zu Spracheinstellungen. Sie anerkennen, dass die Matched-Guise-Technik geeignet ist, latente Einstellungen indirekt zu erfassen, mögen dies dem diskursiven Zugang aber nicht grundsätzlich absprechen und unterscheiden sich so signifikant von Potter/ Wetherell. Zur Unterstützung ihrer Aussage nennen sie unterschiedliche Analysetechniken, die angewendet werden können: inhaltsorientierte Analysen, turn-interne semantische und pragmatische Analysen sowie Interaktionsanalysen. Genau wie Giles/ Coupland fassen auch Liebscher/ Dailey-O ’ Cain (ibid. 217) Spracheinstellungen als in der Interaktion konstruiert und verhandelt auf. Daraus folgt natürlich erstens, dass mit der Konstruktion von Spracheinstellungen im Gespräch interaktionale Ziele verfolgt werden können, und zweitens, dass Spracheinstellungen kontextabhängig sind - dies gemäss den Autorinnen sogar gleich doppelt (ibid.): [T]hey emerge within the context of the interactional structure, and they are expressed under the influence of the situational context, which includes both larger ideologies present in a culture and the immediate context of the interactants and how they are seen by others. Tophinke/ Ziegler (2006: 206) propagieren den diskursiven Ansatz insbesondere mit dem Argument, dass der Genese von Spracheinstellungen sowie ihren sozialen Bedingungsfaktoren mehr Beachtung geschenkt werden sollte und das Interesse nicht allein der Bestandaufnahme vorhandener Spracheinstellungen bei Individuen und Gruppen gelten sollte. Die Autorinnen sprechen von einem nötigen Paradigmenwechsel in der Einstellungforschung: Die Spracheinstellung soll nicht länger ausschliesslich als Explanans für Sprachverhalten begriffen werden, sondern als „ Explanandum sui generis “ (ibid. 221). Die sprachwissenschaftlichen Studien, die den diskursiven und/ oder interaktionalen Zugang wählen, sind bis dato nicht besonders zahlreich (vgl. Liebscher/ Dailey-O ’ Cain, 2009). Nicht alle Studien, die ihn wählen, sind ferner mit der hier vorliegenden zu vergleichen, da nicht alle mit teilstan- 20 Innovative Ansätze hinsichtlich der Begrenzung dieser Problematik finden sich z. B. bei Redinger/ Llamas (2009), die anstelle von Likert-Skalen magnitude continua vorschlagen, die es den Gewährspersonen erlauben, auf einem Kontinuum zwischen zwei Polen die Stelle selbst zu definieren, wo ihre Reaktion platziert ist. 3. Theoretische Fundierung 39 <?page no="56"?> dardisierten, semi-narrativen Interviews arbeiten. So analysieren Hyrkstedt/ Kalaja (1998) in Finnland nicht mündlichen Diskurs, sondern schriftliche Antworten und Stellungnahmen von Schülerinnen und Schülern auf einen Leserbrief, der die Verbreitung von Englisch in Finnland kritisiert. Winter (1992) untersucht kürzere Kleingruppengespräche (vier Teilnehmer) zu Sprachpolitik und -planung in Australien. Vergleichbar mit der hier vorliegenden Studie ist Riehls (2000 a) Forschungsarbeit zu Spracheinstellungen und Stereotypen im Diskurs. Als Datengrundlage dienen ihr 50 leicht strukturierte Interviews mit Gewährspersonen aus unterschiedlichen Regionen Deutschlands (vgl. zu dieser Studie Kap. 5.3.2). Diskursive, interaktionale Zugänge zu Spracheinstellungen betonen die Kontextabhängigkeit von Einstellungen sowie deren Konstruktion und Verhandlung in der Interaktion. In Kritik geraten Studien dieser Art dann, wenn sie es versäumen, eben diesen Kontext gründlich zu beleuchten und die erhobenen Daten tatsächlich unter Berücksichtigung der spezifischen Gegebenheiten zu analysieren 21 . Die ausführliche Schilderung des Interviews als Datenerhebungsinstrument in der vorliegenden Arbeit ist im Lichte dieser Überlegung zu verstehen (vgl. Kap. 9). 3.2.1.5 Zusammenfassung und Fazit Bei der Verwendung des Terminus Spracheinstellung im Zusammenhang mit der vorliegenden Forschungsarbeit ist Zurückhaltung geboten. Der diskursive Zugang erlaubt die Erfassung evaluativer Äusserungen im Interviewkontext. Diese sind auf keinen Fall gleichzusetzen mit Einstellungen als psychologische Konstanten, wie sie von der mentalistischen Einstellungsforschung definiert werden. Eine artikulierte Meinung korrespondiert nicht unbedingt mit der ihr zu Grunde liegenden Einstellung (Garrett, 2010: 32) - im besten Fall besteht zwischen diesen beiden Entitäten (der psychologischen Konstante und der evaluativen Äusserung) eine relativ direkte Verbindung, diese darf aber nicht automatisch angenommen werden. In Anlehnung an Baker (1992) schlägt Garrett (2010: 32) daher vor, zwischen Einstellung und Meinung (opinion) zu unterscheiden 22 . Während Einstellungen latent sind und sowohl in nonverbalen als auch verbalen Prozessen zum Ausdruck kommen können, sind Meinungen diskursiver Natur und stets verbalisiert. Richtig ist, im Kontext der vorliegenden Arbeit entweder von evaluativen metasprachlichen Äusserungen zu sprechen oder von diskursiven Spracheinstellungen respektive von Meinungen. 21 Dies war einer von Tore Kristiansens Kritikpunkten bezüglich diskursiver Spracheinstellungsstudien, die er in seiner Funktion als Diskussionsleiter im Rahmen des Workshops „ New Approaches in the Study of Language Attitudes “ anlässlich des Sociolinguistics Symposium 18 in Southampton äusserte. 22 Vgl. dazu auch Kolde (1981: 337). 40 I. Theorie <?page no="57"?> 3.2.2 Stereotype, Vorurteile und Prototypen Genau wie bei der zuvor thematisierten Einstellung handelt es sich auch beim Stereotyp ursprünglich um ein Konzept der Sozialpsychologie. Bevor wir uns der Stereotypendefinition und -auffassung der sprachwissenschaftlichen Forschung 23 zuwenden, wird kurz erläutert, wie das Konzept (und das verwandte Konzept Vorurteil) von der Sozialpsychologie verstanden wird. Ein Unterkapitel widmet sich weiter dem ebenfalls verwandten Konzept Prototyp. 3.2.2.1 Stereotyp: Sozialpsychologische Definition Der Terminus Stereotyp taucht zum ersten Mal in einer medienwissenschaftlichen Arbeit auf: Walter Lippmann (1922) verwendet den Begriff in seinem Werk Public Opinion für mentale Bilder, die über soziale Gruppen bestehen. Der Terminus ist der Sphäre der Druckplattenherstellung entliehen und bezeichnete da „ fest miteinander verbundene Druckzeilen im Gegensatz zu beweglichen Lettern “ (Bußmann, 2002: 650 f.), also zwei Entitäten, die miteinander verkoppelt oder assoziiert sind, wie eben die soziale Gruppe und das Bild, das von ihr existiert. Verbindungen dieser Art entstehen durch soziale Kategorisierungsprozesse: Menschen werden sozialen Gruppen zugeordnet, da sie mit den Mitgliedern dieser Gruppe gewisse Eigenschaften teilen oder zu teilen scheinen (vgl. Garrett, 2010: 32). Solche Kategorisierungen helfen, die soziale Umgebung zu strukturieren, indem diese schematisiert (in Kategorien eingeteilt und organisiert) und auf diese Weise vereinfacht wird (Deschamps/ Devos, 1998: 4). Damit solche Kategorisierungen funktionieren, muss der Fokus klar auf den geteilten Eigenschaften liegen; allfällige interindividuelle Unterschiede müssen daher bis zu einem gewissen Grad ausgeblendet werden (ibid). Während bei Allport (1954: 191) das Resultat dieser Vereinfachungsprozesse noch einigermassen negativ als „ exaggerated belief associated with a category “ beschrieben wird, betonen aktuelle Stereotypendefinitionen den ökonomischen Umgang mit kognitiven Ressourcen, den diese Prozesse erlauben (vgl. Kristiansen, 2003 und 2008 wie im Folgenden ausgeführt) - so schreiben etwa Bourhis/ Maass (2008: 1567) über den Kategorisierungsprozess: In everyday life, the categorization process allows people to segment the world so as to impose a structure which is meaningful emotionally and economical cognitively. [Eigene Hervorhebung, C. C.] Stereotype (respektive die ihnen zu Grunde liegenden Kategorisierungsprozesse) helfen nicht nur bei der Integration und Organisation neuer 23 Es handelt sich in der folgenden Ausführung um den Stereotypenbegriff der Soziolinguistik und der Konversationsanalyse und nicht um den Stereotypenbegriff der lexikalischen Semantik, der von der Erkenntnis- und Sprachphilosophie Putnams (1975) inspiriert ist (vgl. z. B. Klein, 1998; Geeraerts, 2008). 3. Theoretische Fundierung 41 <?page no="58"?> Informationen, sie kommen auch beim Abrufen von Informationen zum Einsatz (vgl. Augoustinos/ Walker, 1995: 208 f.). Angesichts oben genannter Stereotypendefinitionen stellt sich folgende Frage: Werden Stereotype und die ihnen zu Grunde liegenden Kategorisierungsprozesse von einem sozialen oder kulturellen Kollektiv geteilt oder handelt es sich dabei um individuelle Prozesse, die ein Mensch unabhängig von seiner Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe und Kultur vollzieht? Ich folge zur Beantwortung dieser Frage Augoustinos/ Walker (1995: 210), die davon ausgehen, dass Stereotype und Stereotypisierungen 24 inhärent sozial und geteilt sind: Sie beziehen sich auf soziale Kategorien (soziale Gruppen) und sind damit sozial in ihrer Natur. Zudem können sie von den Angehörigen der gleichen Kultur für gewöhnlich zumindest identifiziert werden und dürfen daher als potenziell geteilt betrachtet werden. Dennoch muss unterschieden werden zwischen sozialen und individuellen Stereotypen, denn die Tatsache allein, dass jemand fähig ist, ein bestimmtes Stereotyp zu identifizieren oder reproduzieren, impliziert nicht automatisch, dass diese Person selbst an das betreffende Stereotyp glaubt. 3.2.2.2 Stereotyp, Vorurteil und Diskriminierung: die Beschreibung von Intergruppenbeziehungen und ihre Bedeutung für die soziale Identität Die Konzepte Stereotyp, Vorurteil und Diskriminierung sind nahe verwandt, indem ihnen allen psychologische Prozesse zu Grunde liegen, die in der Beziehung zwischen sozialen Gruppen wirken. Bourhis/ Maass (2008: 1588) schreiben, dass Stereotype und Vorurteile das Klima von Intergruppenbeziehungen sowohl repräsentieren als auch reflektieren. Die Differenzierung der drei Konzepte wird nicht immer klar vollzogen und manchmal werden die Begriffe Stereotyp und Vorurteil fälschlicherweise synonym verwendet. Die Begriffe werden im Folgenden voneinander abgegrenzt. Grundsätzlich gilt, dass Prozesse in Intergruppenbeziehungen aus kognitiver, affektiver und konativer Sicht beschrieben werden können; diese Dreiteilung findet sich wieder in den drei Begriffen Stereotyp (= kognitiv), Vorurteil (= affektiv) und Diskriminierung (= konativ). 1. Stereotyp (= kognitiv): Ottati et al. (2005: 727) definieren Stereotype als im Gedächtnis gespeicherte kognitive Repräsentationen von sozialen Gruppen. Hierbei spielen die bereits erwähnten Kategorisierungsprozesse, bei denen eine soziale Gruppe mit bestimmten Eigenschaften oder Verhaltensweisen assoziiert wird, eine zentrale Rolle. Die Definition von Augoustinos/ Walker (1995: 208) zielt in die gleiche, kognitiv geprägte Richtung und macht deutlich, dass Stereotype nicht nur selbst kognitiver 24 Unter Stereotypisierung wird der Prozess der Aktivierung und Verwendung von Stereotypen verstanden (vgl. Augoustinos/ Walker, 1995: 210). 42 I. Theorie <?page no="59"?> Art sind, sondern darüber hinaus kognitive Prozesse mitgestalten: „ [. . .] a stereotype is a cognitive structure with a mental life. “ 2. Vorurteil (= affektiv): Das Konzept Vorurteil bezieht sich auf die affektive Komponente in Innergruppenbeziehungen und wird definiert als „ [. . .] a negative affective reaction, evaluation, or attitude toward a group “ (Ottati et al., 2005: 727). Augoustinos/ Walker (1995: 230) machen ferner deutlich, dass es sich bei Vorurteilen um eine Untergruppe von Einstellungen handelt: Immer dann, wenn das Einstellungsobjekt eine soziale Gruppe ist, kann von Vorurteilen gesprochen werden. Vorurteile müssen keineswegs immer negativ sein, auch wenn die oben genannte Definition das suggeriert. Allerdings beschäftigt sich die sozialpsychologische Forschung in der Tat mit Vorliebe mit negativen Vorurteilen (etwa in der Rassismusforschung) (vgl. ibid.). 3. Diskriminierung (= konativ): Wenn Intergruppenbeziehungen bezüglich des Verhaltens der Gruppen untereinander beschrieben werden, kommt das konative Konzept Diskriminierung ins Spiel. Hier geht es um negative Verhaltensweisen der Mitglieder einer Gruppe gegenüber den Mitgliedern einer anderen (Ottati et al., 2005: 727). Die drei genannten Spielarten von Intergruppenbeziehungen können alle dem so genannten intergroup bias unterliegen. Dabei handelt es sich um eine systematische Tendenz, die Gruppe, der man selbst angehört (ingroup), sowie ihre Mitglieder, positiver zu bewerten als Gruppen, denen man selbst nicht angehört, und ihre Mitglieder (outgroup) (vgl. Hewstone et al. 2002: 576). Das als ingroup favouritism bekannte Phänomen ist zwar weit verbreitet, sollte aber nicht als universell gültig betrachtet werden, da es kontextabhängig ist (z. B. vom Grad des Zugehörigkeitsgefühls eines Mitglieds zu einer Gruppe). Die kognitiven, affektiven und konativen Prozesse in Intergruppenbeziehungen sind, obwohl sozial in ihrer Art, für Identitätsprozesse und -konstruktionen von Individuen hoch relevant - dann nämlich, wenn nicht allein die individuelle Identität eines Menschen berücksichtigt wird, sondern genauso seine soziale Identität. Als soziale Identität eines Menschen wird derjenige Teil seines Selbst-Konzepts verstanden, der im Wissen um seine Gruppenzugehörigkeit besteht. Dazu gehört auch die emotionale und evaluative Signifikanz, die dieser Gruppenzugehörigkeit beigemessen wird (vgl. Tajfel, 1978: 63). Menschen kategorisieren also nicht nur andere Menschen in soziale Gruppen, sie vollziehen auch eine Selbst-Kategorisierung. Worchel et al. (2000: 34) beschreiben die Funktion dieser Selbst-Kategorisierung folgendermassen: Because of their relevance for the self-concept, social categories serve not only cognitive functions, but also motivational ones. An individual may gain or ensure a positive self-concept via identification with social categories and subsequent social comparisons reflecting the fact that his or her own category is positively distinct from corresponding other ones. 3. Theoretische Fundierung 43 <?page no="60"?> Abermals werden zum Zwecke der Kategorisierung Vereinfachungen der komplexen Realität vorgenommen: Damit eine Person sich selbst als Mitglied einer bestimmten sozialen Gruppe wahrnehmen kann, muss sie auf diejenigen Eigenschaften fokussieren, die sie gemeinsam hat mit den Gruppenmitgliedern und nicht auf die Heterogenität innerhalb der Gruppe (vgl. Marques et al., 1998: 126 f.). Dieser Prozess ist in Form der self-stereotyping hypothesis beschrieben worden (Brown/ Turner, 1981; vgl. Marques et al., 1998: 127). Individuen sind also sowohl Subjekte von Kategorisierungen (sie ordnen sich selbst sozialen Gruppen zu und manifestieren und konsolidieren so ihre soziale Identität) als auch Objekte von Kategorisierungen (sie werden von anderen kategorisiert) (vgl. Deschamps/ Devon, 1998: 4). Als übergeordnetes Prinzip dieses doppelten Kategorisierungsprozesses gilt: [. . .] group representations correspond to prototype-like representations, because intergroup similarities and intragroup differences are irrelevant in intergroup situations. (Marques et al., 1998: 127) 25 Ammon (1995: 215) führt nebst dem Autostereotyp (Selbst-Kategorisierung) und dem Heterostereotyp (ein Subjekt wird von Mitgliedern einer outgroup kategorisiert) eine dritte Art des Stereotyps ein: das vermutete Heterostereotyp 26 . Dabei handelt es sich um die Annahme einer sozialen Gruppe bezüglich ihrer Charakterisierung und Wahrnehmung durch andere soziale Gruppen. Genauso wie Auto- und Heterostereotyp nicht kongruent sein müssen, müssen Heterostereotyp und vermutetes Heterostereotyp keineswegs übereinstimmen. In welcher Beziehung stehen Stereotype und die zuvor thematisierten Einstellungen? Hofer (1997: 81) schreibt, dass Einstellungen, wenn sie besonders ausgeprägt und in einer Gemeinschaft besonders homogen und deutlich sind, zu Stereotypen gerinnen. Das Bild des Gerinnens suggeriert eine chronologische Abfolge und eine Veränderung des Aggregatzustandes ein und desselben Materials. M. E. trifft diese Beschreibung dann zu, wenn spezifiziert wird, dass es sich bei diesem Material um die kognitive Dimension von Einstellungen handelt. Jedoch ist dies nicht die einzige mögliche Art des Verhältnisses zwischen Einstellungen und Stereotypen. Garret (2010: 32) zum Beispiel argumentiert in die entgegengesetzte Richtung, dass nämlich Stereotype für die Formung kognitiver Prozesse bei Spracheinstellungen mitverantwortlich sind. Beim Einstellungsobjekt muss es sich also um eine soziale Gruppe handeln, damit das Konzept Stereotyp aus der Perspektive der Sozialpsychologie zur Anwendung kommen kann. Ferner muss es sich um kognitive Einstellungsdimensionen handeln. Tentativ kann man von 25 Marques et al. (ibid.) halten fest, dass diese Auffassung das simultane Auftreten von Inter- und Intragruppenprozessen impliziert, dass dies jedoch nicht immer so eindeutig zutrifft. 26 Bei Kolde (1981: 50) findet sich für das gleiche Phänomen der Terminus projektives Heterostereotyp. 44 I. Theorie <?page no="61"?> einem wechselseitigen Austausch zwischen Einstellungen und Stereotypen ausgehen. Stereotype sind an der Formierung von Einstellungen beteiligt und Einstellungen wiederum können zu Stereotypen gerinnen. Wenn wir uns mit affektiven Einstellungsdimensionen (gegenüber sozialen Gruppen) befassen, handelt es sich dabei, wie oben deutlich gemacht, um Vorurteile und nicht um Stereotype. Intergruppenprozesse sind in der vorliegenden Arbeit unter anderem von Interesse, weil die Stichprobe zwei regionale soziale Gruppen umfasst (es wurden Personen aus der Deutschschweiz und Personen aus der Romandie befragt, also aus den beiden grössten Sprachregionen der Schweiz). In Kapitel 3.2.2.3 wird auf die Möglichkeit hingewiesen, dass Sprachen indexikalisch für ihre Sprechenden stehen können: In diesem Fall können linguistische Werturteile gleichzeitig Urteile über Sprechergruppen sein. 3.2.2.3 Die Rolle der Sprache bei der Stereotypisierung und linguistische Stereotypendefinition Der Beitrag der Sprache zur Konstruktion, Verbreitung und Erhaltung von Stereotypen ist vielfältig. Drei Mechanismen, mit denen Sprache an der Konstruktion und Bewahrung von Stereotypen und Vorurteilen beteiligt ist, werden im Folgenden erläutert (vgl. Bourhis/ Maass, 2008: 1588 f.): 1. Eine Person sprechen zu hören, ihren spezifischen Akzent oder Dialekt wahrzunehmen, kann Stereotype und Vorurteile bei den Rezipienten hervorrufen. Matched-Guise-Experimente zielen darauf ab, dass soziale Kategorisierungen vorgenommen werden, die ausschliesslich auf Perzepten beruhen (ein Stimulus veranlasst Hörerinnen und Hörer dazu, die sprechende Person als gebildet oder ungebildet einzuschätzen oder Aussagen über ihre Ethnizität zu machen). Irvine/ Gal (2000: 37) nennen es einen soziolinguistischen Allgemeinplatz, dass linguistische Formen (Sprachen, Varietäten, Dialekte) soziale Gruppen indexieren können: As part of everyday behaviour, the use of a linguistic form can become a pointer to (index of) the social identities and the typical activities of speakers. Dieser erste Mechanismus wird später im Rahmen der Ausführungen zum linguistischen Stereotyp detailliert behandelt. 2. Sprache fungiert als primäres Trägermedium von Stereotypen: Über Sprache werden Stereotype nicht nur definiert, sondern auch kommuniziert und bewertet (vgl. Maass/ Arcuri, 1996: 193; zur Rolle von Stereotypen in argumentativen Alltagsinteraktionen vgl. Quasthoff, 1998). Bourhis/ Maass (2008: 1594) beschreiben die diskursive Konstruktion von Stereotypen folgendermassen: Given that discourse can maintain and transmit positive in-group and negative out-group perceptions, group members can use harmful speech to bolster their own group and differentiate themselves from disparaged or rival out-groups. 3. Theoretische Fundierung 45 <?page no="62"?> 3. Einzelne sprachliche Zeichen können mentale Gruppenrepräsentationen auslösen im Sinne von Konzepten, die dadurch aktiviert werden (ibid. 1595): [. . .] language shapes thought process, memory, and responses by automatically activating mental representations even where people may be totally unaware of this mechanism. Als mögliche Auslöser von mentalen Repräsentationen werden zum Beispiel Labels für soziale Kategorien wie Jude, Frau, Schwarze(r), oder Betagte genannt (ibid. 1594). Dieser Mechanismus ist für die vorliegende Studie bedeutsam, da nicht mit Stimuli (Perzepten) gearbeitet wird: Die Gewährspersonen greifen auf ihre eigenen Konzepte zurück und führen selbst Sprachlabels ein, die - ähnlich der Labels für soziale Kategorien - mentale Repräsentationen auslösen können. Zum Beispiel antwortet jemand auf die Frage, welche Sprache am schönsten sei, mit dem Label Italienisch. Dieses aktiviert, folgt man Bourhis/ Maass, mentale Repräsentationen (einerseits über die Sprache und mutmasslich andererseits auch über die Sprechenden als soziale Gruppe). Der erste beschriebene Mechanismus entspricht dem, was in der Soziolinguistik unter einem linguistischen Stereotyp verstanden wird: Varietäten, Akzente, Dialekte oder Stile können beim Hörer Vorstellungen bezüglich der Gruppenzugehörigkeit der Sprechenden auslösen beziehungsweise soziale Kategorisierungen aktivieren. Linguistische Stereotype aktivieren demzufolge metonymisch soziale Stereotype, die mit einer bestimmten Gruppe assoziiert werden (Kristiansen, 2003). Kristiansen (ibid: 80) definiert linguistische Stereotype folgendermassen - der Stereotypisierungsvorgangs wird in dieser Definition im Geist des Hörers lokalisiert, was den bereits erwähnten kognitiven Charakter von Stereotypen verdeutlicht: Let us tentatively describe linguistic stereotypes as linguistic forms (or patterns) which in the mind of the hearer show an exceptionally high degree of awareness of the relation they bear to a particular social categorization. Die gängige Auffassung, dass es sich bei linguistischen Stereotypen um verzerrte und unpräzise Wahrnehmungen handelt, wird bei Kristiansen gezielt in den Hintergrund gerückt; vorgeschlagen wird stattdessen eine positive Interpretation linguistischer Stereotype (ibid. 80 f. sowie 2008: 61): Die Stereotype, die sich auf eine bestimmte sprachliche Varietät beziehen, scheinen oftmals sehr unpräzise, übertrieben und übermässig simplifiziert im Vergleich mit dem, was die Sprechenden der Varietät selbst wahrnehmen von ihrer eigenen oder „ realen “ Varietät. Dem externen Hörer jedoch dient gerade diese vereinfachte und verkürzte Wahrnehmung als kognitive Orientierungshilfe, die es erlaubt, die Sprechenden rasch einzuordnen (ibid. 82). Soziale und linguistische Stereotype ermöglichen also den ökonomischen Umgang mit kognitiven Ressourcen - aber nicht nur das - sie erlauben überhaupt erst ein 46 I. Theorie <?page no="63"?> Sich-Zurechtfinden in einer überaus komplexen sozialen und linguistischen Umwelt: Without social and linguistic stereotypes, the enormous and overwhelming amount of social and linguistic data we encounter could probably not be systematized and reduced to manageable proportions, the categorizations we effect of human beings and their social relationships would have to rely exclusively on nonlinguistic symbolic modes, and unknown speakers could hardly be, at least tentatively, categorized taking their speech patterns as a basis. (ibid. 81) Die Funktionalität von Stereotypen ist, folgt man diesen Ausführungen, also auch dann gegeben, wenn diese inhaltlich nicht ganz akkurat und präzise sind. Der Grad der Akkuratesse und Spezifität in der Sprachwahrnehmung muss aber (wie zuvor in Kapitel 2.2.2 zu Sprachbewusstheit) auch hier berücksichtigt werden, dann erst kann nämlich die Frage beantwortet werden, wo denn eigentlich die Grenzen zwischen den Phänomenen stereotypisierte Wahrnehmung, Laienwahrnehmung und realer Akzent (respektive dessen Beschreibung) verlaufen, denn die vereinfachte Beschreibung einer Varietät oder eines Akzents muss nicht zwingend Stereotypencharakter haben. Kristiansen kommt zum Schluss (ibid. 83), dass die drei Phänomene in der Literatur offenbar nach Grad ihrer Akkuratesse verwendet und organisiert werden. Wenn die Wahrnehmung von Laien als sehr unpräzise eingestuft wird und deutlich von den Befunden der sprachwissenschaftlichen Dialektologie abweicht, wird oftmals von Stereotypen gesprochen; wenn die Beziehung zwischen nichtprofessioneller Wahrnehmung und der Auffassung professioneller Sprachwissenschaftler enger ist, von Laienwahrnehmung. Den „ realen “ Akzent zu beschreiben ist augenscheinlich der Sprachwissenschaft selbst vorbehalten. Die Wahrnehmungsdialektologie widmet sich als Disziplin dem Unterschied zwischen Laienwahrnehmung und Befunden der Dialektologie (vgl. ibid.). Die vorliegende Studie zu affektiven und ästhetischen Sprachurteilen bewegt sich im Spannungsfeld zwischen linguistischen Stereotypen und Laienwahrnehmungen. 3.2.2.4 Prototyp: Definition Auch wenn die Prototypentheorie überwiegend mit der Theorie der Wortsemantik assoziiert wird, ist sie zunächst einmal ganz grundsätzlich eine allgemeine Kategorisierungstheorie (vgl. Kleiber, 1993: 6). Die zentrale Idee der Prototypentheorie, die ihren Ursprung in den Arbeiten der Psychologin Eleanor Rosch hat, betrifft die innere Struktur von natürlichen Kategorien, die in einfachen Worten folgendermassen beschaffen ist: Es finden sich darin ein Prototyp (der klarste Fall, das beste Beispiel) sowie nichtprototypische Mitglieder, die graduell geordnet sind, von besseren Beispielen zu schlechteren Beispielen (Rosch, 1975: 545). Prototypikalitätseffekte sind folglich prinzipiell für jedes theoretische Konstrukt, das sich durch ein Bündel von Eigenschaften 3. Theoretische Fundierung 47 <?page no="64"?> auszeichnet, denkbar (vgl. Taylor, 1995: 259). Können Prototypen noch genauer definiert werden als mit den Aussagen: „ klarster Fall, bestes Beispiel “ ? Taylor (ibid. 59) unterscheidet zwei Arten, den Terminus Prototyp zu verstehen, eine konkretere (a.) und eine abstraktere (b.): a. Ein Prototyp ist ein zentrales Mitglied oder eine Gruppierung zentraler Mitglieder einer Kategorie. b. Ein Prototyp ist eine schematische Repräsentation des konzeptuellen Kerns einer Kategorie: „ [. . .] we would say, not that a particular entity is the prototype, but that it instantiates the prototype “ (ibid.). In der folgenden Definition Langackers (1987: 371) wird nicht nur eine Aussage über den Prototyp selbst getätigt, sondern auch allgemeiner über seine Bedeutung für den Kategorisierungsprozess: A prototype is a typical instance of a category, and other elements are assimilated to the category on the basis of their perceived resemblance to the prototype; there are degrees of membership based on degrees of similarity. Geeraerts (1989: 592 f.) lokalisiert vier Eigenschaften von Prototypikalität, wobei beide Aspekte von Langackers Definition thematisiert werden: die Beschaffenheit des Prototyps selbst sowie die Prozesse der Kategorisierung (vgl. für ähnliche Auflistungen Mangasser-Wahl (2000: 15) sowie Lewandowska-Tomaszczyk (2007: 145)). 1. Prototypische Kategorien können nicht einfach mit Hilfe eines Sets von Kriterien (Attributen), welche die darin enthaltenen Elemente zu erfüllen haben, definiert werden. 2. Prototypische Kategorien weisen eine Familienähnlichkeitsstruktur auf: „ [. . .] their semantic structure takes the form of a radial set of clustered and overlapping meanings “ (Geeraerts, 1989: 592). Die Vertreter einer Kategorie müssen also nicht alle eine bestimmte Eigenschaft teilen, sondern können durch das von Wittgenstein (1953) am Beispiel der Spiele eingeführte Prinzip der Familienähnlichkeit verbunden sein. Die Mitglieder einer Familie zeichnen sich dadurch aus, dass sie durch Bündel von sich überlappenden Bedeutungen verbunden sind. 3. Die Mitglieder einer Kategorie können jeweils mehr oder weniger typische Vertreter dieser Kategorie sein. Nicht jedes Mitglied einer Kategorie ist gleich repräsentativ für die Kategorie. Dass eine Kategorie aus zentralen und eher peripheren Vertretern besteht, konnte empirisch nachgewiesen werden, zum Beispiel über die Reaktionszeit bei richtig-falsch- Aufgaben, der Beurteilungen der Adäquatheit von Beispielen oder der Generierung von Beispielen durch Gewährspersonen (vgl. Lewandowska-Tomaszczyk, 2007: 145). 4. Die Ränder von prototypischen Kategorien sind verzerrt - prototypische Kategorien verfügen also nicht über klar definierte Grenzen: Es gibt Mitglieder, die typischer für die Kategorie sind als andere (vgl. Punkt 48 I. Theorie <?page no="65"?> 3) und bei einigen mag sogar der Mitgliederstatus als solcher unklar sein (ibid.). Die graduell organisierte Zugehörigkeit von Elementen zu einer Kategorie, die in Punkt 3 und 4 zum Ausdruck gebracht wurde, wird durch die Sprache reflektiert: Es stehen uns eine Reihe von Ausdrücken zur Verfügung, mit denen der Grad der Zugehörigkeit eines Elements zu einer Kategorie sprachlich zum Ausdruck gebracht werden kann. Diese Ausdrücke werden bei Lakoff (1972) hedges (Hecken) genannt (vgl. Taylor, 1995: 76). Beispielsweise kann die Aussage, dass Element x der Kategorie y angehört so modifiziert werden, dass x den Status eines Elements in der Peripherie hat (Element x ist eine Art y). Bevor auf den Unterschied zwischen Stereotypen und Prototypen eingegangen wird, wird ein zentrales Elemente der Prototypentheorie aufgegriffen, das im Rahmen dieser Arbeit relevant ist. Es handelt sich dabei um ein Merkmal natürlicher Kategorien, nämlich die von Rosch vorgeschlagene vertikale Kategorisierungsachse 27 . Auf dieser Achse wird die interkategorielle Strukturierung organisiert (vgl. Kleiber, 1993: 29). Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass ein Element potenziell mehreren Kategorien angehören kann und vorgeschlagen wird eine Kategorienstrukturierung mit drei Ebenen (Rosch et al. 1976, vgl. Kleiber 1993: 59): Tab. 3: Vertikale Kategorisierungsachse. Übergeordnete Ebene Tier Obst Basisebene Hund Apfel Untergeordnete Ebene Boxer G. Delicious Zu den drei Ebenen ist festzuhalten, dass die Basisebene die privilegierte Ebene darstellt: Sie geniesst kognitive Priorität (ibid.) respektive ist sie kognitiv salient (Taylor, 1995: 48). Was bedeutet das? Beispielsweise kann festgestellt werden, dass die Begriffe der Basisebene in einer höheren Frequenz auftreten als die Begriffe der übergeordneten und der untergeordneten Ebene - sie werden in Standardsituationen verwendet. Kleiber (1993: 59) nennt folgendes Beispiel: Man sagt eher „ Auf dem Dach sitzt ein Vogel “ als „ Auf dem Dach sitzt ein Tier “ oder „ Auf dem Dach sitzt ein Rotkehlchen “ . Die Begriffe der Basisebene sind konzeptuell weniger vage und differenzierter als die Begriffe der übergeordneten Ebene (Taylor, 1995: 50). Des Weiteren teilen die Elemente der Basisebene eine ähnliche globale 27 Die horizontale Kategorisierungsachse beschreibt im Gegensatz dazu die intrakategorielle Strukturierung (also die Struktur im Inneren einer Kategorie mit dem Prototypen und den graduell nach ihrer Zugehörigkeit zur Kategorie organisierten weiteren Elementen) (vgl. Kleiber, 1993: 29). 3. Theoretische Fundierung 49 <?page no="66"?> Form. Es existiert „ [. . .] ein einfaches gedankliches Bild, das für die ganze Kategorie gilt [. . .] “ (Kleiber, 1993: 62). Aus diesem Grund können die Elemente der Basisebene besonders schnell identifiziert werden - sie sind nicht nur kognitiv salient, sondern auch perzeptiv. 3.2.2.5 Konzeptuelle Abgrenzung: Stereotyp vs. Prototyp Sowohl Stereotype als auch Prototypen sind das Resultat von Kategorisierungsprozessen. Bei beiden Prozessen spielt der ökonomische Umgang mit kognitiven Ressourcen eine zentrale Rolle: Es geht darum, die unüberschaubare Masse an Wissen und Information zu organisieren und strukturieren. Beide Male werden Objekte kategorisiert und beide Male fragen wir, wie die Kategorien zu Stande kommen und wie sie beschaffen sind. Was ist also der Unterschied zwischen einem Prototyp und einem Stereotyp? Eine mögliche Antwort findet sich bei Kristiansen (2003: 99): Don ’ t we tend to talk about prototypes in the sense of cognitive reference points when it comes to the categorization of our physical environment (natural objects and artefacts) where the visual perceptual system and basic attributes such as overall shape and gestalt perception are operative? Stereotypes, on the other hand, are often applied to social subschemas (as, for instance, subcategorizations of human beings and their social relationships: working mother, housewife mother, Muslim, Christian, socialist, Swedish, Mexican), where visual differences gradually fade out, become less distinctive and need support from other - now much more relevant - propositional dimensions. In der vorliegenden Forschungsarbeit sind die Kategorisierungsobjekte Sprachen, Varietäten und Dialekte, wie sie von den Befragten im Interview genannt und konzeptualisiert werden. In diesem Fall werden beide Theorien, die Stereotypentheorie und die Prototypentheorie, benötigt, denn es handelt sich um komplexe Beurteilungsobjekte, die hier kategorisiert werden - sie können weder eindeutig zu den natürlichen Objekten noch eindeutig zu den sozialen Subschemas, die bei Kristiansen genannt werden, gezählt werden: Einerseits kann Sprachmaterial nämlich als akustisches Zeichen aufgefasst werden, das eine (akustische) Gestalt hat und als Objekt der physikalischen Umwelt auditiv wahrgenommen werden kann. Diese Eigenschaften sprechen für eine Verankerung in der Prototypentheorie. Diese kann zum Erkenntnisgewinn beitragen, indem gefragt wird, wie Sprachen, Varietäten und Dialekte von Laien benannt und kategorisiert werden (hier nach ästhetischen und affektiven Kriterien) und wie diese Kategorien beschaffen sind und ebenso, welche Merkmale in den Beschreibungen salient sind. Andererseits handelt es sich bei auditiv wahrnehmbarem Sprachmaterial um ein Epiphänomen, „ [. . .] so dass die [ihm] gegenüber geäusserte Einstellung die Einstellung gegenüber den Sprechern reflektiert [. . .] “ (Riehl, 2000 a: 141): Die Existenz einer Sprache als akustisches Zeichen setzt voraus, dass es Personen gibt, die dieses Zeichen produzieren. Hier kommt eine soziale Komponente 50 I. Theorie <?page no="67"?> ins Spiel - das Interesse gilt der Frage, wie eine bestimmte Gruppe spricht oder im Fall der vorliegenden Studie, was Laien über die Sprechweise einer bestimmten Gruppe zu wissen glauben oder meinen. Sobald es um Intergruppenbeziehungen geht und soziale Kategorisierungen vorgenommen werden, eignet sich die Stereotypentheorie besser als die Prototypentheorie. Die Prototypentheorie und die Stereotypentheorie erlauben also unterschiedliche Perspektiven und unterschiedliche Schwerpunkte bei der Betrachtung ähnlicher Vorgänge. Kristiansen (2003: 100) fasst die Differenzierung zwischen Stereotypen und Prototypen folgendermassen zusammen: „ Social stereotypes, however, have value-laden and emotional components that prototypes lack. “ Es sollte angefügt werden, dass Stereotype insbesondere eine soziale Komponente haben, die Prototypen nicht haben. Obwohl Stereotype genauso wie Prototypen kognitiv sind in ihrer Art (im Gegensatz zu Vorurteilen, die affektiv sind - daher müsste sich Kristiansens Anmerkung eigentlich eher auf Vorurteile beziehen), sagen sie etwas über die soziale Organisation von Gruppen aus und über das Klima, das zwischen sozialen Gruppen herrscht. Im Folgenden wird aufgezeigt, wie die Prototypentheorie in der Laienlinguistik zur Anwendung kommt. 3.2.2.6 Die Prototypentheorie in der Laienlinguistik Niedzielski/ Preston (2000: 310) stellen einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Laien und Experten fest in der Auffassung darüber, was Sprache ist - über Laien sagen sie: „ For the folk we have studied, language itself is the very real (although admittedly ideal) fact which dominates language use. “ Linguistinnen und Linguisten hingegen vestünden Sprache als äusserst abstrakten Begriff - ein Label wie Englisch etwa sei für diese nichts anderes als „ [. . .] a convenient fiction for the varieties which are its constitutive, not derivative, elements “ (ibid.). Kristiansen (2008: 55) teilt diese Auffassung: Whenever we speak a language, we inevitably speak a given variety of the language in question. English, like fruit or furniture can only be realized through a specific instantiation. Anhand der Beispiele Früchte und Möbel (zwei oft angeführte Beispiele für Begriffe der übergeordneten Ebene) wird klar, dass hier eine vertikale Kategorisierungsachse im Sinne der Prototypentheorie konstruiert wird: Labels wie Englisch oder Französisch werden der übergeordneten Kategorie zugeordnet. Diese kann gemäss Kristiansen (ibid. 58) nicht ausschliesslich mit linguistischen Kriterien definiert werden. Die Frage, ob eine bestimmte Varietät eher Sprache x oder Sprache y zugeordnet werden kann (Kategorisierung), ist letzten Endes politischer und sozialer Art: „ The basic criteria, as it often happens in superordinate categorization, seem to be basically functional rather than formal “ (ibid.). Die Idee der Anwendung der vertikalen Kategorisierungsachse auf linguistische Grössen findet sich auch im Schwei- 3. Theoretische Fundierung 51 <?page no="68"?> zer laienlinguistischen Forschungskontext und zwar bei Christen (1998) und später in Anlehnung an Christen bei Berthele (2006) (vgl. Kap. 8.2.1.1). In der vorliegenden Forschungsarbeit wird von der Prototypentheorie Gebrauch gemacht, wenn die Frage nach der Beschaffenheit des laienlinguistischen Spektrums gestellt wird (vgl. Kap. 8.2.1 sowie Kap. 11.1): Über welche Einheiten sprechen Laien, wenn sie über schöne und hässliche Sprachen sprechen, und welche Begriffe verwenden sie dabei? Dabei interessiert nicht nur die Situation in der Deutschschweiz in Anlehnung an Christen (1998), sondern auch die Situation bezüglich anderer Sprachen und ihrer Varietäten (Französisch, Englisch): Kann für diese im metalinguistischen Diskurs eine vertikale Kategorisierungsordnung festgestellt werden? Gibt es Sprachen, die lediglich auf der übergeordneten Ebene verhandelt werden, also auf der abstrakten Ebene, wo Labels wie eben Französisch und Englisch eingeführt werden? Wenn ja: Wie werden sprachliche Werturteile auf dieser Ebene begründet? Dafür müsste diese Ebene ja ein mentales Bild hervorrufen, was nicht vorgesehen ist in der Prototypentheorie. Ähnlich wie bei der Einstellungsforschung, gibt es auch bei der Prototypenforschung Tendenzen hin zu einem diskursiven Zugang (vgl. Edwards, 1991), der mit dem laienlinguistischen Ansatz kompatibel ist. Dieser Zugang unterscheidet sich von traditionelleren Ansätzen insbesondere darin, dass er Kategorien nicht als fixe soziale Entitäten betrachtet „ [. . .] which exist ‚ out there ‘ in the real world as discrete cognitive entities in people ’ s minds “ (Augoustinous/ Walker, 1995: 276). Kategorisierung wird als situative, kontextsensitive soziale Praxis verstanden und nicht als ein semantisches fait accompli (vgl. Edwards, 1991: 525). Kategorien sind also nicht nur flexibel in Bezug darauf, dass sie zentralere und weniger zentrale Elemente enthalten und verzerrte Ränder haben, sondern insbesondere in Bezug darauf, dass Bedeutung kontextabhängig und situativ bedingt ist (ibid. 517). Edwards räumt ein, dass Menschen natürlich nicht herumgehen und spontan Äusserungen wie „ Äpfel und Orangen sind typische Früchte “ von sich geben. Solche Äusserungen kommen dann in natürlichen Interaktionen vor, wenn konkurrierende Erklärungen, Kontroversen oder Meinungsverschiedeneheiten auftauchen (ibid. 524). Daher kann davon ausgegangen werden, dass Kategorisierungen auch im Kontext von Interviews durch sehr direkte Fragen elizitiert werden können (vgl. Interviewleitfaden Kap. 9.3.2). Der diskursive Ansatz der semantischen Kategorisierungsforschung ist, wie gesagt, im Einklang mit dem Grundpostulat der Laienlinguistik, nämlich, dass wir uns dafür interessieren sollen, was gesagt wird und wie dies geschieht, wie aus nachfolgendem Zitat deutlich hervorgeht (ibid. 538): [. . .] the study of categorization as situated discursive practice recognizes the perceptual referentiality of language while insisting on the primacy of communication. [. . .] We cannot, as psychologists and linguists, look at reality over the heads of participants and resolve it for them; we can only join in the debate. 52 I. Theorie <?page no="69"?> 3.2.2.7 Zusammenfassung und Fazit Stereotype und Vorurteile sind Konzepte, die zur Beschreibung von Intergruppenbeziehungen herangezogen werden: Es ist eine universelle menschliche Praxis, andere Menschen (sowie sich selbst) sozialen Gruppen zuzuordnen. Die Stichprobe umfasst zwei in der Schweiz saliente soziale Gruppen - deutschsprachige Schweizerinnen und Schweizer sowie französischsprachige Schweizerinnen und Schweizer. Natürlich ist die Beziehung zwischen diesen zwei sozialen Gruppen nicht frei von Stereotypen und Vorurteilen. Einige dieser Stereotype und Vorurteile werden im hier untersuchten metasprachlichen Diskurs greifbar. Da Sprache ein Epiphänomen ist und in ihrer akustischen Erscheinungsweise nur über ihre Sprecher existiert, sind Urteile über Sprachen nie ganz frei von Urteilen über die sozialen Gruppen, die die Sprachen sprechen. Die spezifische Sprechweise (oder die mentale Repräsentation derselben) kann Stereotype und Vorurteile bei den Rezipienten hervorrufen (das entspricht dem, was zuvor als linguistisches Stereotyp definiert wurde). Ebenfalls kann die Nennung eines Konzepts allein (z. B. Schweizerdeutsch, Französisch) Stereotype hervorrufen. Auf diese Weise sind im Kontext von Stereotypen und Vorurteilen nicht nur die Urteile der beiden befragten Gruppen (Deutschschweizer und Romands) über die eigene sowie die Sprache der anderen Gruppe von Interesse, sondern im Prinzip Urteile über alle eingebrachten Sprachen und Varietäten. Eine Frage, die beantwortet werden konnte, ist, inwiefern Stereotype und Vorurteile von Einstellungen abgegrenzt werden können respektive in welcher Beziehung die Konzepte zueinander stehen: Zu einer Überschneidung der Konzepte Stereotyp/ Vorurteil und Einstellung kommt es lediglich dann, wenn eine soziale Gruppe als Einstellungsobjekt fungiert. Ist die kognitive Dimension der Einstellung betroffen, kommt es zu einer Überschneidung mit dem Konzept Stereotyp - ist die affektive Dimension betroffen, mit dem Konzept Vorurteil. Einstellungen und Stereotype/ Vorurteile stehen in einer wechselseitigen Beziehung: Stereotype und Vorurteile können bei der Entstehung von Einstellungen beteiligt sein, diese wiederum können zu Stereotypen und Vorurteilen gerinnen. Stereotype mussten nicht nur von Einstellungen abgegrenzt werden, sondern auch von einem weiteren verwandten Konzept: dem der Prototypen. Mit der Prototypentheorie werden, wie mit der Stereotypentheorie, Kategorisierungsmechanismen untersucht und beschrieben. Allerdings fällt der soziale Aspekt, welcher der Stereotypentheorie eigen ist, bei der Prototypentheorie grösstenteils weg. Dafür gilt das Interesse der genauen Beschaffenheit und Organisation von natürlichen Kategorien (meist handelt es sich bei den Kategorisierungsobjekten um natürliche Objekte unserer physikalischen Umwelt) und der Frage danach, welche Elemente zentral sind und welche peripher (was mit Hilfe von Heckenausdrücken in der Sprache verhandelt werden kann) und wie die vertikale Kategorienachse organisiert ist (aus- 3. Theoretische Fundierung 53 <?page no="70"?> gehend von der Idee, dass ein Objekt immer mehreren Kategorien angehören kann: „ Ein Rotkehlchen ist ein Vogel und ist ein Tier “ ). Ob eine vertikale Kategorisierungsordnung festgestellt werden kann bei den von den Laien in den Interviews eingeführten Sprachlabels ( „ Englisch in London ist Britisches Englisch und ist Englisch “ ), ist eine Frage, die es zu beantworten gilt. 3.2.3 Beliefs 3.2.3.1 Definition Der äusserst spärlich und mangelhaft definierte Terminus belief wurde - zu Recht - auch schon als „ messy “ Konstrukt bezeichnet (Pajares, 1992: 307, zitiert nach Ferreira Barcelos, 2003: 7). Oftmals werden beliefs als die kognitive Komponente von Einstellungen definiert (Garrett, 2010: 31); dieser Definition kann ich mich nicht kritiklos anschliessen: Während Einstellungen positiv oder negativ einer Sache gegenüber sind - also wertend sind - , kann es sich bei beliefs im Sinne von Überzeugungen, Meinungen oder Glaubenssätzen um neutrale Einheiten handeln. Bei Erwin (2001: 134) werden beliefs ganz schnörkellos definiert als „ [t]he perception of a relationship between two aspects of an individual ’ s world. “ Grundsätzlich kann also festgehalten werden, dass beliefs das Wissen von Menschen bezeichnen, das sie über eine Sache haben oder zu haben glauben. Es handelt sich um nicht bestätigte, subjektive Wissensbestände (in dem Sinn, dass ihr Wahrheitsgehalt wissenschaftlich (noch) nicht nachgewiesen ist) oder von vornherein nicht mit wissenschaftlichen Erkenntnissen übereinstimmende Überzeugungen. Eine Person kann unendlich viele beliefs über eine Sache haben (ibid. 116), zum Beispiel können linguistische Laien eine Vielzahl unterschiedlicher Dinge über ihre L1 glauben (dass sie sie am besten können, dass sie die schönste Sprache ist, dass sie einfach oder schwer zu erwerben ist, wenn sie als L2 fungiert). Die Auffassung vieler Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer, dass Hochdeutsch eine Fremdsprache ist, ist ein typischer Fall eines Laienbeliefs, der auch von Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftlern kontrovers diskutiert wird (vgl. Kap. 7.1). Die Forschung ist gewöhnlich an denjenigen dieser unzähligen beliefs am meisten interessiert, die salient sind. In der methodologischen Praxis heisst das, an denjenigen, die in offenen Interviewfragen zuerst geäussert werden (ibid.). Ein verwandtes Konzept ist die Laien- oder Alltagstheorie (vgl. Werlen, 1998: 93). Im Gegensatz zu beliefs bestehen Laientheorien nicht nur aus der Wahrnehmung eines Zusammenhangs zwischen zwei Aspekten, sondern sind komplexe „ Beschreibungs- und Erklärungsmuster “ (ibid.) von Laien, die damit ihr alltägliches Handeln begründen. Sie sind in einigen Aspekten mit wissenschaftlichen Theorien vergleichbar und von diesen nicht immer klar zu trennen (es sei an die Diskussion rund um Laienwissen, das von Expertenwissen beeinflusst wird in Kap. 2.1.2 erinnert), sind aber im Gegensatz zu 54 I. Theorie <?page no="71"?> wissenschaftlichen Theorien eher implizit (Explizierbarkeit ist nicht ihr Ziel) sowie nicht ganz frei von Ideologien (ibid. 94). In Kapitel 3.2.4 wird auf Sprachideologien eingegangen, die als System von beliefs aufgefasst werden können oder eben als besonders ideologisch geprägte und von einer sozialen Gruppe geteilte Laientheorien. 3.2.3.2 Beispiel eines aktuellen Forschungsgebiets In der Laienlinguistik werden beliefs zwar thematisiert (vgl. Kap. 2.2.1 Abbildung 1, wo beliefs im gleichen Atemzug wie Einstellungen u. A. als treibende Kraft bei der Formierung des metalinguistischen Diskurs dargestellt werden), als eigentlichen Forschungsgegenstand kann man sie aber nicht bezeichnen. In der Tat definieren nur wenige linguistische Forschungsgebiete beliefs als eigenständigen Forschungsgegenstand. Ich möchte eines davon herausgreifen, welches das Konzept in den letzten Jahren für sich entdeckt und nutzbar gemacht hat: die Forschung zum Zweit- und Zusatzsprachenerwerb. Beliefs werden zu den so genannten ID-Faktoren gezählt, also zu den Individual Learner Differences, übersetzt etwa Unterschiede bei den individuellen (persönlichen) Merkmalen von Lernenden respektive Persönlichkeitsaspekten (vgl. Ellis, 2008: 698 ff.; Kalaja/ Barcelos, 2003: 1). Der ID-Faktor beliefs ist in der Forschung weniger traditionsreich als andere ID-Faktoren wie zum Beispiel Motivation. Ferreira Barcelos (2003: 10) verortet den Beginn des Interesses Mitte der 80er Jahre. Innerhalb dieses Forschungsstrangs lassen sich eine Vielzahl von Begriffen und Definitionen festmachen, die alle mehr oder minder das Konstrukt belief über Zweitrespektive Fremdsprachenerwerb umschreiben (für eine Übersicht vgl. Ferreira Barcelos, 2003: 9). Kalaja/ Barcelos (2003: 1) schlagen als basale Definition von belief Folgendes vor: „ [. . .] opinions and ideas that learners (and teachers) have about the task of learning a second/ foreign language. “ Betont wird, dass in der Vergangenheit der Fehler gemacht wurde, beliefs als stabile mentale Repräsentationen zu verstehen und diese losgelöst von ihrem Entstehungskontext zu untersuchen (ibid. 2). Wünschenswert wäre, beliefs nicht nur als kognitive Konzepte zu verstehen, sondern als soziale Konstrukte, die aus konkreten Erfahrungen und Problemen entstehen und deswegen variabel sind. Bis dato relativ unerforscht ist der Einfluss von beliefs auf das tatsächliche Handeln von Lernenden im Fremdsprachenunterricht oder auf die Kultur im Klassenzimmer (vgl. ibid. 27) respektive die umgekehrte Richtung, wo untersucht wird, wie beliefs geformt werden und welche Faktoren dabei relevant sind. Ferreira Barcelos (ibid. 29) fasst die Forschungsdesiderata wie folgt zusammen: Thus, an investigation of what students know (or believe) must involve (a) students ’ experiences and actions, (b) students ’ interpretations of their experiences, and (c) the social context and how it shapes students ’ experiences. In sum, it has to 3. Theoretische Fundierung 55 <?page no="72"?> recognize not only the cognitive and metacognitive side of beliefs, but also their social basis. Die Diversität dieser Desiderata hat zur Folge, dass in neueren Arbeiten zu beliefs auch methodologisch eine gewisse Bandbreite festzustellen ist: Zum Einsatz kommen sowohl die klassischen Erhebungsmethoden wie Fragebogen und Interviews, als auch die Kombination dieser mit weniger häufigen Datenerhebungsmethoden wie Beobachtungsprotokollen. Weiter werden Lerntagebucheinträge, biographische Erzählungen oder Diskussionen mit mehreren Teilnehmern auf beliefs hin analysiert (vgl. Ferreira Barcelos/ Kalaja, 2003: 235). 3.2.3.2 Zusammenfassung und Fazit Mangels vorhandener Forschungsergebnisse zum Thema belief kann dem Konzept im Forschungsüberblick und in der Hypothesenherleitung wenig Beachtung geschenkt werden. Das bedeutet aber nicht, dass das Konzept für die Erforschung linguistischer Werturteile irrelevant wäre. Während die Sprachurteile selbst eher als diskursive Sprachsteinstellungen, Stereotype oder Sprachideologien eingeordnet werden, kann das Konzept belief den Legitimationsbemühungen und Begründungen der Laien für die Wahl einer bestimmten Sprache als schön oder hässlich zugeführt werden: Denn hier kommt das Wissen, das Laien über Sprachen haben oder zu haben glauben - sei es über phonetische oder phonologische Eigenschaften, formale grammatische Aspekte oder den Erwerb derselben - zum Einsatz. In 3.2.2.3 wurde die Unterscheidung je nach Grad der Akkuratesse zwischen stereotypischer Wahrnehmung (wenig akkurat), Laienwahrnehmung (engere Beziehung zwischen nicht-professioneller Wahrnehmung und der Auffassung professioneller Sprachwissenschaftler) und realem Akzent (linguistische Beschreibung) eingeführt. Das Konzept belief würde sich m. E. in die Kategorie Laienwahrnehmung einordnen lassen - mit Tendenz zur Kategorie stereotypische Wahrnehmung mit abnehmendem wissenschaftlich erwiesenem Gehalt des beliefs. Von beliefs kann dann gesprochen werden, wenn es um die Wahrnehmung eines Zusammenhangs zwischen zwei Aspekten geht. Die Aussage, dass das Phonem/ x/ verantwortlich ist für die Wahrnehmung von Schweizerdeutsch als hässlich, verkörpert noch keinen belief, ihr zu Grunde liegt jedoch der belief, dass/ x/ im Schweizerdeutschen a) vorkommt und b) häufiger vorkommt als in denjenigen Sprachen, die als schön bewertet werden. Beliefs werden in den vorliegenden Interviews eher präsupponiert als direkt kommuniziert. Sie müssen aus dem Interviewmaterial heraus interpretiert und an die Oberfläche geholt werden. In Prestons Terminologie (vgl. Kap. 2.2.1) handelt es sich dabei um ein Phänomen des Metasprachentyps 3, der Erklärungsebene also, welcher die direkten Kommentare des Typs 1 unterliegen, er spricht von „ underlying folk beliefs “ (1998: 94). Wenn nicht nur binäre Beziehungen zwischen zwei Aspekten bestehen, sondern 56 I. Theorie <?page no="73"?> systemhafte Beziehungen zwischen mehreren Aspekten skizziert werden (oder aus den Interviewdaten heraus analysiert werden können), kann man von Laientheorien anstelle von Laienbeliefs sprechen und je nach Grad der Geteiltheit (sharedness) dieser Theorien innerhalb eines Kollektivs auch von Sprachideologien, die im nächsten Kapitel thematisiert werden. 3.2.4 Sprachideologien Mit dem Terminus Ideologie wird nicht immer operiert, wenn damit theoretisch operiert werden könnte. Viele Studien untersuchen kulturelle Konzepte von Sprache, deklarieren sich selbst aber nicht als Sprachideologiestudien, sondern fungieren, so Woolard (1998: 4), „ [. . .] in the guise of metalinguistics, attitudes, prestige, standards, aesthetics, and so on. “ Hier wird deutlich, wie eng das Netz der Sprachbetrachtungskonzepte aufgespannt ist. 3.2.4.1 Definition Die Beziehung zwischen Sprache und Ideologie kennt zwei Spielarten respektive es kann zwischen zwei Zugängen unterschieden werden, wie das Zusammenspiel von Sprache und Ideologie untersucht wird (vgl. Geeraerts, 2003: 28/ 29): Ersterer analysiert jegliche Form von Text bezüglich der Position im sozialen Gefüge und bezüglich der Art und Weise, wie soziale Beziehungen darin reproduziert werden und Machtverhältnisse geregelt werden. Dieser Zugang ist als Kritische Diskursanalyse bekannt (vgl. Fairclough, 1989, 1995; van Dijk, 1998; für methodologische Aspekte Wodak/ Meyer, 2009). Letzterer untersucht gemäss Geeraerts (2003: 28/ 29) das explizite und implizite In-Erscheinung-Treten von beliefs über Sprachvariation und spezifische linguistische Varietäten (explizit zum Beispiel in Dokumenten der Bildungspolitik, implizit etwa in der Alltagspraxis von Bildungsinstitutionen). Ferner gilt das Interesse der Frage, wie diese beliefs zusammenhängen mit der Identität der Gruppe, die sie kultiviert, der wirtschaftlichen Entwicklung, sozialen Mobilität sowie der politischen Organisation (ibid.). Geeraerts nennt als Literaturbeispiele für letzteren Zugang Joseph/ Taylor (1990), Schieffelin/ Woolard/ Kroskrity (1998) sowie Schiffman (1996). Natürlich weist letzterer Zugang immer Aspekte des ersteren auf. Im Folgenden wird für den zweiten der oben beschriebenen Zugänge der Terminus Sprachideologie verwendet, der jedoch nur einen aus einer Reihe von möglichen Begriffen darstellt. Auf Englisch stehen Begriffe wie language ideology, linguistic ideology, sowie ideologies of language zur Verfügung, die teilweise synonym verwendet werden, wenngleich sie auf unterschiedliche Forschungstraditionen oder Herangehensweisen verweisen können (vgl. Woolard, 1998: 4). Was versteht man unter Sprachideologien und weshalb sollen sie erforscht werden? Die Antwort auf die zweite Frage fällt leichter: 3. Theoretische Fundierung 57 <?page no="74"?> Sprachideologien sollen dann zum Gegenstand der Forschung werden, wenn das Interesse dem Verhältnis zwischen Sprache, Macht und sozialer Struktur gilt und generell eher politscher Natur ist. In vielen Ländern wird Sprache als „ crucial ingredient of national identity “ ideologisiert (Blommaert, 1999: 31) - Sprachideologien sind daher eine nicht zu unterschätzende Triebkraft bei der Aushandlung des nationalen Machtgefüges insbesondere in einem mehrsprachigen Land wie der Schweiz (ibid.). Ebenfalls kann die Erforschung von Sprachideologien dazu beitragen, bestimmte Typen des Sprachwandels zu ergründen und zu erklären (vgl. ibid. 1). In Kapitel 2.2.2 wurde darauf hingewiesen, dass die Kenntnis vorherrschender Sprachideologien erklärend wirken kann bei Phänomenen der Salienz (weshalb werden bestimmte sprachliche Einheiten/ Merkmale in der Laienmetasprache verhandelt - sind also salient - , während andere nicht in die Alltagssprache gelangen? ). Gal (1998: 329) sieht die Aufgabe der Sprachideologieforschung darin, komplexe Ikonisierungsprozesse (vgl. Kap. 3.2.4.4) aufzuzeigen, bei denen linguistische Formen Abbildcharakter ihrer Sprecher zu haben scheinen und stark ideologisiert verhandelt werden - gerade im Kontext ästhetischer und affektiver Sprachurteile ein Prozess von immenser Bedeutung. Gal geht davon aus, dass politische Entscheidungen oder Absprachen ihre Legitimation nicht selten über Sprachideologien oder im sprachideologischen Diskurs finden: The task is to explicate how linguistic forms, when interpreted through particular linguistic ideologies, come to be seen as evidence of the moral, intellectual, and aesthetic qualities of speakers and to demonstrate that, when linked to ideas about knowledge, identity, groupness, and beauty, linguistic ideologies provide the justification for widely varying political arrangements. (ibid.) Die Frage, weshalb Sprachideologien untersucht werden sollen, kann damit zufriedenstellend beantwortet werden. Wie verhält es sich mit der Frage danach, wie Sprachideologien definiert werden? Beim Rezipieren unterschiedlicher Definitionen irritiert die Verwendung des Begriffs belief als erklärendes Moment: Sprachideologien werden bei Coupland/ Jaworski (1998: 36) als „ ideological beliefs or discourses specifically about language or linguistic varieties “ beschrieben. Dirven/ Frank/ Pütz (2003: 1 f.) sprechen sogar von einem ganzen System aus beliefs, das wiederum auf einer Reihe kognitiver Modelle basiert: [. . .] ideology is a system of beliefs and values based on a set of cognitive models, i. e. mental representations - partly linguistic, partly non-linguistic - of recurrent phenomena and their interpretations in culture and society. Bei Seargeant (2009: 346) wird Sprachideologie definiert als „ entrenched beliefs about the nature, function, and symbolic value of language. “ Lediglich eine Definition, die im Rahmen einer konversationsanalytischen Studie (Laihonen, 2008: 669) erfolgt, spart den Terminus belief aus: Sprachideologie wird als interaktional konstruiert und diskursiv in ihrem Wesen beschrieben und definiert als „ explicit metalinguistic discourse or talk about language. “ 58 I. Theorie <?page no="75"?> 3.2.4.2 Konzeptuelle Abgrenzung: Sprachideologie vs. belief, Einstellung und Stereotyp Obschon das Konzept belief ein integraler Bestandteil der Definition von Sprachideologie ist, sind die Referenzbereiche der beiden Konzepte nicht deckungsgleich. Pomerantz (2002: 280) hält fest, dass der entscheidende Unterschied darin besteht, dass Ideologien im Gegensatz zu beliefs geteilt werden von einem Kollektiv und in Machtverhältnissen zum Tragen kommen. Während beliefs vorderhand im Geist einzelner Menschen zu lokalisieren sind - also individuell sind - , können Ideologien aufgefasst werden als „ [. . .] a social production, constructed within and through everyday linguistic practice. “ Sprachideologien entstehen also nicht aus dem Nichts oder von ungefähr, sondern werden in unterschiedlichen alltagssprachlichen Praktiken produziert, verhandelt und reproduziert - dadurch, was Menschen über Sprache sagen und (mit)teilen (Blommaert, 1999: 10). Sprachideologien sind demzufolge nicht nur als ein System von beliefs über Sprachen, Varietäten oder Dialekte aufzufassen, sondern als ein von einem Kollektiv ausgehandeltes und geteiltes System von beliefs. Dieses System entsteht nicht nur über die Sprache, es ist in der Regel selbst sprachlich in seiner Natur. Auch Stereotype sind in der Regel von einem Kollektiv geteilt oder werden von ihm zumindest erkannt. Während Stereotype sich per Definition auf soziale Gruppen beziehen und das Klima in Intergruppenprozessen prägen, können sich beliefs und somit auch Ideologien generell auch auf Grössen beziehen, die nicht direkt mit sozialen Gruppen zu tun haben. Von Einstellungen unterscheiden sich Ideologien ebenfalls zum einen in dem Aspekt, dass sie geteilt werden von einem Kollektiv - zum anderen aber insbesondere darin, dass sie (eher) explizit sind in ihrer Natur und in der Gesellschaft verhandelt werden. Von einer solchen Explizitheit gehen zumindest nicht alle Einstellungsauffassungen aus: Während die mentalistische Einstellungsforschung Einstellungen als latente und implizite Konstrukte betrachtet, die nur indirekt beobachtet werden können, bewegt sich die diskursive Einstellungsforschung näher am Ideologiekonzept, indem sie davon ausgeht, dass Einstellungen diskursiv konstruiert werden im Sinne von evaluativen Äusserungen. Was konstatiert werden kann, ist ein Austauschmechanismus, wie er bereits zwischen Stereotypen und Einstellungen festgestellt wurde: „ [. . .] language attitudes can be viewed as being influenced by powerful ideological positions “ (Garrett, 2010: 34). Wiederum sei die gegenteilige Richtung nicht ausgeschlossen: Nicht nur werden Einstellungen von Ideologien beeinflusst, sondern es können auch Ideologien aus Einstellungen entstehen. Es wurde bereits bemerkt, dass Ideologien eher explizit sind in ihrer Natur - in der Literatur wird in einigen Fällen ergänzend ihre implizite Seite erwähnt: Gal (1998: 319) etwa versteht Sprachideologien einerseits als verbalisierte Diskussion (explizit), andererseits als implizites Verständnis und unausgesprochene Annahmen über Sprache, die über Alltagspraktiken 3. Theoretische Fundierung 59 <?page no="76"?> reproduziert werden. Folgt man dieser Überlegung, müssten sich implizite Sprachideologien aus Alltagspraktiken ablesen lassen. Silverstein (1998: 125) ist der Auffassung, dass Ideologie als „ mental “ verstanden werden kann und dass daher die gleichen Probleme bei der Analyse auftreten wie bei anderen Phänomenen, die als „ mental “ charakterisiert werden und die daher nicht direkt beobachtbar sind (z. B. ein Konstrukt wie Kultur). An dieser Stelle steht man unweigerlich vor einem methodologischen Problem: Wie können Sprachideologien empirisch erfasst, analysiert und interpretiert werden? Selbst wenn die implizite Seite von Ideologien ausklammert wird und zunächst davon ausgegangen wird, dass Sprachideologien im sprachlichen Alltagsdiskurs explizit produziert und reproduziert werden, stellt sich noch immer die Frage: Wie werden Sprachideologien aus dem alltagssprachlichen Diskurs herausgelöst und der wissenschaftlichen Analyse zugänglich gemacht und wie kann man wissen, dass es sich dabei um Ideologien handelt (also einem System aus beliefs, das von einem Kollektiv geteilt wird) und nicht um eine Laientheorie, die singulären Charakter hat? Diese Fragen werden in Kapitel 3.2.4.3 zur Methodologie erörtert. 3.2.4.3 Empirische Zugänge zu Sprachideologien Im Gegensatz zur Einstellungsforschung, in der sich über lange Zeit die Matched-Guise-Technik als Standardmethode gehalten hat und erst in den letzten zwanzig Jahren neue Herangehensweisen erprobt worden sind, wird die Sprachideologieforschung keineswegs mit einer einzelnen traditionsreichen Methode assoziiert (Coupland/ Jaworski, 1998: 37). Bis vor kurzem waren am ehesten Tendenzen zur Kritischen Diskursanalyse festzustellen (Garrett: 2010: 35). Anleihen werden aber auch bei der Einstellungsforschung gemacht - respektive scheint es bei der Einstellungsforschung einen kritischen Punkt zu geben (mutmasslich dann, wenn die Einstellungen innerhalb einer sozialen Gruppe sehr homogen vorliegen), wo sie zur Sprachideologieforschung mutiert: „ Language attitudes research can arguably be seen, though, as one set of methodological options for studying language ideologies “ (Garrett, 2010: 35). Soweit ersichtlich wurde bislang nicht thematisiert, ab welchem statistischen Wert etwa eine Einstellung so homogen vorhanden ist, dass man von einer Ideologie sprechen kann. Das ist gewiss eines der Mankos und somit ein Klärungsdesiderat der Sprachideologieliteratur. Bei Dirven/ Polzenhagen/ Wolf (2007: 1223) findet sich im Rahmen einer Ideologiedefinition in der Tradition der Kritischen Diskursanalyse zumindest eine Angabe darüber, welcher Art Einstellungen zu sein haben, damit ein solcher Umkippprozess überhaupt denkbar ist: Es handelt sich um „ [. . .] attitudes with respect to social relations of dominance. “ Im Rahmen dieser Arbeit sind Methoden, die einen diskursiven Zugang zu Sprachideologie kultivieren oder diesen bei der Analyse berücksichtigen, von besonderem Interesse. Laihonen (2008) analysiert den metalinguistischen 60 I. Theorie <?page no="77"?> Diskurs in Interviews und macht sich die Konversationsanalyse zu Nutze. Das Interesse gilt der Frage, wie Metasprache in Interviews konstruiert wird und wie konkurrierende Sprachideologien sich in einem Interview herausbilden und offenbaren können (ibid. 668). Die Methode trägt der intersubjektiven und kollaborativen Natur von Sprachideologien Rechnung (ibid. 674) und spart auch die Rolle des Interviewenden in der Analyse nicht aus. Gal/ Irvine (1995: 993) betonen, dass die Linguistik respektive die Wissenschaft allgemein keineswegs ideologiefrei sind - im Lichte dieser Überlegung ist die Analyse der Rolle des Interviewenden (meist eine Person aus der Wissenschaft) natürlich sinnvoll. Ein empirisches Werkzeug der Ideologieforschung ist ferner die Metapheranalyse (vgl. Dirven/ Frank/ Pütz, 2003: 4): Über Metaphern gelangt die Struktur von Konzepten und Konzeptualisierungen an die Oberfläche. Ideologieträger ist aber meist keine singuläre Metapher, die in einem Korpus lokalisiert werden kann, sondern eher die Realisierung mehrerer metaphorischer Wendungen, die zusammen in einer übergeordnete Conceputal Metaphor begründet sind - diese zu bestimmen ist eines der Ziele der Sprachideologieforschung (ibid. 7; zur konzeptuellen Metapher vgl. Lakoff/ Johnson, 1980 sowie Kap. 3.2.5.2). Eine weitere Methode wird von Coupland/ Bishop (2007) eingeführt (vgl. zu dieser Studie Kap. 5.3.2): Als Stimuli werden Sprachlabels, die den Gewährspersonen in Listenform präsentiert werden, verwendet. Die Gewährspersonen geben Einschätzungen zu diesen Sprachlabels (es handelt sich um Britische Akzente) auf Skalen ab. Haben die Kategorisierungen der Labels musterhafte Züge, kann dies gemäss den Autoren darauf zurückgeführt werden, dass im Antwortverhalten der Gewährspersonen übergeordnete sprachideologische Strukturen reflektiert werden. Die Annahme, dass es sich hierbei tatsächlich um Sprachideologien handelt, wird damit begründet, dass die Antworten den vertrauten metalinguistischen (Laien-)Diskurs repräsentieren. M. E. darf dies nicht als gegeben angenommen werden, sondern muss als methodologische Hypothese erst noch geprüft werden. Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass die Methode nicht kontext-sensitiv operiert, was für Sprachideologiestudien eigentlich essentiell wäre; diesen Aspekt räumen die Autoren der Studie selbst teilweise ein (ibid. 85/ 86): To treat them as ideologies, as we think they should be treated, however, is to point to their status as familiar metalinguistic discourses of the culture. To appreciate how these discursive resources are put to work in particular contexts requires quite different methods and analytic sensitivities. Dass Minimalinputs wie die erwähnten Sprachlabels Ideologien auslösen können, also ideologische Konzepte aktivieren (genauso wie sie Stereotype auslösen können, vgl. Kap. 3.2.2.3), leuchtet ein. Allerdings ist die vorstrukturierte, quantitative Datenerhebung im Kontext von Sprachideologien problematisch, sofern sie die einzige Methode einer Studie bleibt. Ideologien manifestieren sich nicht (viel weniger noch als Einstellungen, vgl. die 3. Theoretische Fundierung 61 <?page no="78"?> Methodenkritik von Hyrkstedt/ Kalaja in Kap. 3.2.1.4) in Form von einzelnen Kreuzen auf Likert-Skalen oder semantischen Differenzialen; sie sind sprachlicher Natur und entstehen in der sprachlichen Praxis. Mit der beschriebenen quantitativen Methode lassen sich bestimmt musterhafte ideologische Tendenzen ableiten - allerdings wird es schwerfallen, mittels dieser Methode Ideologien inhaltlich präzise zu erfassen. In der vorliegenden Studie wird eine Methodenkombination vorgeschlagen, die einerseits ideologische Tendenzen oder Muster global aufzeigen kann (in der quantitativen Auswertung - jedoch erfolgt diese auf Grund von quantifiziertem Interviewmaterial, bei dem die Gewährspersonen in eigene Worte fassen, was sie über einzelne Sprachen denken), andererseits in einem weiteren Schritt die sprachliche Realisierung des ideologischen Diskurses zusätzlich qualitativ analysiert (zum Forschungsdesign vgl. Kap. 6). Dieser kurze Methodenüberblick, der keine Vollständigkeit beansprucht, vermag zu zeigen, dass sich Sprachideologieforschung nicht einer einzigen linguistischen Disziplin verschreibt: Sie ist soziolinguistisch in ihrer Ähnlichkeit zur Einstellungsforschung, diskursanalytisch in ihrer Tendenz zur Verwendung der Kritischen Diskursanalyse oder der Analyse von Interaktionen und sie operiert mit Analysewerkzeug, das in der kognitiven Linguistik verortet werden kann (z. B. Metaphernanalyse). Erst in jüngster Zeit wurde der kognitiv-soziolinguistische Zugang zu Sprachideologien explizit propagiert, der die Verschmelzung der Disziplinen Soziolinguistik sowie Kognitive Linguistik und ihren Methoden sowie Erkenntnisinteressen explizit fordert. Dirven/ Frank/ Pütz (2003: 4 f.) halten die Forschenden im Bereich Sprachideologie an, vermehrt Gebrauch zu machen vom Instrumentarium der Kognitiven Linguistik, zum Beispiel der Erforschung von offenen und verdeckten Konzeptualisierungen von belief- oder Wertesystemen und deren Versprachlichung. Sprachideologieforschung ist ein idealtypisches Forschungsgebiet, in dem Soziolinguistik und Kognitive Linguistik zusammentreffen und als Kognitive Soziolinguistik operieren können (vgl. Kristiansen/ Dirven, 2008; Geeraerts/ Kristiansen/ Peirsman, 2010): Die beiden Disziplinen profitieren voneinander, indem sie komplementär agieren. Dies wird in folgendem Zitat deutlich (Dirven/ Frank/ Pütz, 2003: 2): The ball is on both courts now [Kognitive Linguistik und Soziolinguistik, eigene Anmerkung, C. C.]. Scholars not yet familiar with the tenets and analytical tools of cognitive linguistics are invited to find out more about them. And cognitive linguistic scholars are invited to look beyond the familiar so-called languagestructure areas and to come to grips with the societal belief and value systems that these linguistic structures serve, maintain and perpetuate. This may be, in a nutshell, the essence of ideology research. [Eigene Hervorhebung, C. C.] Die Stärke der Kognitiven Linguistik ist, dass sie sich nicht nur für Bedeutung interessiert, sondern auch über ein Methodeninstrumentarium verfügt, um diese aus sprachlichen Strukturen zu lösen. Jetzt muss sie anfangen, sich für 62 I. Theorie <?page no="79"?> diese Bedeutung auch „ [. . .] in its deepest social reality [. . .] “ (ibid.) zu interessieren, dazu gehört die Aushandlung und Erzeugung von Bedeutung in der sozialen Interaktion sowie deren soziale Variation. 3.2.4.4 Semiotische Ideologieprozesse Der semiotische Prozess der Ikonisierung wurde in Kapitel 3.2.4.1 bereits kurz thematisiert. Er wird hier im Kontext der Sprachideologieforschung detailliert geschildert und es werden zwei weitere semiotische Ideologieprozesse eingeführt. Als Erklärungsgrundlage wird auf die Zeichentheorie des Semiotikers Charles Sanders Peirce (1974) zurückgegriffen (vgl. Woolard, 1998: 18). Gal/ Irvine (1995: 972) unterscheiden insgesamt drei semiotische Prozesse, die bei Sprachideologien aktiv sind: 1. Ikonisierung (Iconicity): Linguistische Praktiken oder Einheiten linguistischen Materials fungieren als Indices für soziale Gruppen und scheinen diese Gruppen sogar ikonisch zu repräsentieren. 2. Rekursivität (Recursiveness): Rekursivität umfasst die Projektion von bedeutungsvollen Gegensätzen auf einer Ebene (z. B. intragruppale Ebene) auf eine andere Ebene (z. B. intergruppale Ebene). 3. Löschung (Erasure): Die tatsächliche linguistische Praxis wird vereinfacht wahrgenommen. Was mit der vorliegenden Ideologie nicht kompatibel ist, wird ausgeblendet oder „ explained away “ (ibid.: 974), also wegdiskutiert. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn die intralinguistische Variation ausgeblendet wird. Die Autorinnen schreiben zu diesen drei semiotischen Ideologieprozessen (ibid.): [. . .] we find striking similarities in the ways ideologies ‚ recognize ‘ (or misrecognize [Bourdieu, 1977 a]) difference among linguistic practices - how they locate, interpret, and rationalize sociolinguistic complexity, identifying linguistic varieties with ‚ typical ‘ persons and activities and accounting for the differentiations among them. Es fällt auf, dass in der Intergruppenpsychologie ganz ähnliche Prozesse beschrieben werden, wenn es um die Wahrnehmung von Unterschiedlichkeit oder Ähnlichkeit von Gruppen geht. Die Ähnlichkeit rührt daher, dass sich soziale Gruppen und linguistische Phänomene bei Sprachideologien durch den Prozess der Ikonisierung vermischen. Sprachideologien betreffen nie nur linguistisches Material als solches, sondern bergen eine Vielzahl von Verbindungen, die Sprache mit sozialen Gruppen, Identität, Ästhetik, Ethik und Epistemologie eingehen kann (Woolard, 1998: 3). Die Aussage von Coupland/ Jaworski (1998: 37), dass das Konzept der Sprachideologie die „ [. . .] final rejection of an innocent, behavioural account of language [. . .] “ ist, trägt dieser Vielzahl von Verbindungen Rechnung. Die Aufforderung, dass die 3. Theoretische Fundierung 63 <?page no="80"?> Soziolinguistik sich daher metalinguistischen Prozessen annehmen muss, ist heute genauso aktuell wie vor zwölf Jahren, als sie getätigt wurde. 3.2.4.5 Zusammenfassung und Fazit Das Konzept der Sprachideologie ist in vielerlei Hinsicht ein Schmelztiegel der hier behandelten Sprachbetrachtungskonzepte. Bei der Definition etwa wird auf das Konzept belief zurückgegriffen. Sprachideologie kann verstanden werden als System aus beliefs über Sprachen, das von einem Kollektiv sprachlich ausgehandelt und geteilt wird und massgeblich an der Entstehung und Erhaltung von Machtstrukturen innerhalb einer Gesellschaft beteiligt ist. Sie ist verwandt mit der Einstellungsforschung in ihrer Methodologie, aber auch deshalb, weil Einstellungen, die sehr homogen in einem Kollektiv vorhanden sind und sich auf soziale (Macht)Verhältnisse beziehen, als Sprachideologien gelten können. Die Sprachideologieforschung beschreibt ähnliche Prozesse wie die Intergruppenpsychologie beim Thema Stereotypisierung: Durch den Prozess der Ikonisierung (linguistische Phänomene repräsentieren soziale Gruppen) gewinnen Sprachideologien an Brisanz im sozialen Gefüge. Weiter wird das Instrumentarium der Kognitiven Linguistik verwendet, um Ideologien aus einem Diskurs herauszulösen - meist handelt es sich dabei um die Metaphernanalyse. Sprachideologien gehören somit zum Kernbetätigungsfeld der Kognitiven Soziolinguistik, da einerseits das Erfassen von Bedeutungsstrukturen, Konzepten und Konzeptualisierungen im Mittelpunkt steht - andererseits diese Strukturen im sozialen Kontext ergründet werden. Es bietet sich an, die evaluative Laienmetasprache auf sprachideologische Tendenzen hin zu untersuchen: Einerseits erlaubt die Quantifizierung der Interviewdaten das Aufzeigen globaler ideologischer Tendenzen im linguistischen Alltagsdiskurs. Andererseits können die inhaltliche Seite dieser Tendenzen sowie allfällige darin enthaltene sprachideologische Prozesse (Ikonisierung, Löschung) in der darauffolgenden qualitativen Inhaltsanalyse ergründet werden. 3.2.5 Kognitive Strukturen: kulturelle, metaphorische und metonymische Modelle In Kapitel 3.1 wurde die Unterscheidung zwischen Perzepten und Konzeptualisierungen eingeführt und betont, dass die Methodologie der vorliegenden Arbeit insbesondere auf den Wissensbestand der Konzeptualisierung abzielt, also gemäss Berthele (2010 a: 245) auf „ metonymische, metaphorische und propositionale kognitive Strukturen “ . Im Zentrum dieses Kapitels steht die Frage nach der Beschaffenheit solcher konzeptueller Systeme von Laien. Im Folgenden werden kulturelle, metaphorische und metonymische Modelle eingeführt, mit Hilfe derer Laien Sprache (ästhetisch und affektiv) konzeptualisieren; denn es versteht sich, dass nicht nur soziale Strukturen als 64 I. Theorie <?page no="81"?> Gegenstandsbereich kognitiver Modelle fungieren können, sondern auch das Instrument, mit dem diese sozialen Strukturen verhandelt und entwickelt werden, also die Sprache selbst (vgl. Dirven/ Frank/ Pütz, 2003: 10). Lakoff/ Johnson (1980: 56) schreiben, es könne davon ausgegangen werden, dass der Grossteil unseres konzeptuellen Systems metaphorisch funktioniere und strukturiert sei: „ [. . .] most concepts are partially understood in terms of other concepts. “ Es stellt sich deshalb sowohl bei den kulturellen Modellen (Kap. 3.2.5.1) als auch bei den metonymischen Modellen (4.2.5.3) jeweils die Frage, inwiefern diese metaphorische Züge haben. 3.2.5.1 Kulturelle Modelle Dass die exakte Analyse von Metasprache-1-Instanzen (also evaluativer Sprache über Sprache) zu kognitiven Modellen von Laien führen kann, die zum Einsatz kommen, wenn diese über Sprache nachdenken, wurde in Kapitel 2 bereits thematisiert - man gelangt über eine gezielte Analyse also zum Metasprachentyp 3, den „ deeply-rooted folk beliefs about language “ (vgl. dazu Preston, 1998: 94 f.; Preston/ Niedzielski, 2000: 308). Aus diesen beliefs wiederum können kulturelle Modelle entstehen (ibid.). Daher wenden wir uns hier zunächst diesem Typ der kognitiven Struktur zu. Im Begriff kulturelles Modell, der in den 80er Jahren entwickelt wurde, treffen die Kognitive Linguistik und die Anthropologie aufeinander. So definiert Palmer (2007: 1048) kulturelle Modelle als kognitive Modelle, die kulturspezifisch sind. D ’ Andrade (1987: 112) erklärt das kulturelle Modell als „ [. . .] cognitive schema that is intersubjectively shared by a social group. “ Wie schon bei den Ideologien im vorhergehenden Kapitel muss auch hier wieder geklärt werden, was mit dieser intersubjektiven Geteiltheit (sharedness) gemeint ist. D ’ Andrade (ibid. 113) postuliert, dass diese immer dann gegeben ist, wenn alle Mitglieder einer Gruppe das Schema kennen und alle wissen, dass alle anderen es kennen, und alle wissen, dass alle wissen, dass alle anderen es kennen. Mit dieser - doch etwas schwerfälligen - Darlegung befindet man sich inmitten einer der zentralen Kontroversen der Forschung zu kulturellen Modellen; diese betrifft die Frage, wo denn eigentlich kulturelles Wissen lokalisiert werden kann: im kollektiven Geist der Gemeinschaft oder im Geist individueller Mitglieder der Gemeinschaft? (vgl. Polzenhagen, 2007: 100 f.). Im 1987 erschienen Band Cultural Models of Language and Thought von Dorothy Holland und Naomi Quinn, wo auch D ’ Andrades Definition zu finden ist, bezieht Keesing (1987: 377) dazu Stellung und differenziert zwei Sichtweisen - dabei ist seine Darlegung im Gegensatz zu jener anderer Autoren des Bandes stärker kognitivistisch geprägt, indem der Lokus von Kultur (auch) im Geiste von Individuen festgemacht wird und nicht von einer vollständigen Geteiltheit solcher Modelle ausgegangen wird 28 : 28 Holland/ Quinn (1987: ix) machen darauf aufmerksam, dass sich der Terminus cultural models aus einer Reihe verwandter Termini (cultural knowledge, folk theories, folk models) 3. Theoretische Fundierung 65 <?page no="82"?> What we want to study, I think, ultimately is how individuals cognize and use models they (partly) share with others, models that are common coin in the community. That will require that we see folk models both as collective and social and as „ mentally held principles and recipes. “ Nicht bei allen Merkmalen kultureller Modelle weichen die Meinungen so stark voneinander ab, wie bei der Frage nach deren Lokus und Geteiltheit. Konsens herrscht zum Beispiel bezüglich der Tatsache, dass kulturelle Modelle hierarchisch geordnet und gleichzeitig ineinander verschachtelt sind (vgl. Flick, 1995: 62). Die hierarchische Struktur ist sogar Bestandteil der Definition nach Holland/ Quinn (1987: vii): [. . .] cultural knowledge appears to be organized in sequences of prototypical events - schemas that we call cultural models and that are themselves hierarchically related to other cultural knowledge. Kulturelle Modelle sind, wie ihr Name schon sagt, modellhaft - das heisst, sie sind beschränkt bezüglich der Menge ihrer Bestandteile; es handelt sich um schematische Strukturen und nicht um eins-zu-eins Abbildungen tatsächlicher Gegebenheiten. Keesing (1987: 374) spricht davon, dass solche Modelle aus fünf bis neun Objekten bestehen, und begründet diese konkrete Angabe mit der beschränkten Verarbeitungskapazität unseres Kurzzeitgedächtnisses. Die konzeptuelle Nähe des Begriffs kulturelles Modell und des in Kapitel 3.2.4 verhandelten Begriffs Ideologie ist unbestritten und wird gerade in der Diskussion um die Lokalisierung des Konstrukts, wie oben gezeigt, deutlich. Daher ist es wenig überraschend, dass kulturelle Modelle unter bestimmten Voraussetzungen als Ideologien aufgefasst werden können respektive zu solchen transformiert werden. Geeraerts (2003: 27) nennt zwei Bedingungen, unter denen eine solche Transformation stattfindet: 1. Wenn vergessen wird, dass es sich um idealisierte Modelle handelt (wenn also nicht mehr unterschieden wird zwischen dem abstrakten Modell und den tatsächlichen Gegebenheiten). Meinem Verständnis nach beinhaltet dieser Aspekt auch die Tatsache, dass der stark reduzierte und schematische Charakter dieser Modelle nicht mehr präsent ist. 2. Wenn sie statt in deskriptiver in präskriptiv/ normativer Weise verwendet werden (wenn mit Hilfe der Modelle also eher veranschaulicht wird, wie etwas sein sollte, und nicht so sehr, wie etwas tatsächlich ist). In Kapitel 8.4.2.1 werden zwei kulturelle Modelle vorgestellt, die an der Formung unseres Konzepts von Sprache beteiligt sind: das rationalistische und das romantische Modell; Geeraerts (2003: 25) geht davon aus, dass es sich dabei um die beiden Basismodelle handelt in der Konzeptualisierung von herauskristallisiert hat. Die Kombinationen mit dem Wortteil folk implizieren die Verankerung des kulturellen Wissens im kollektiven Geist etwas stärker, während der Terminus cultural model auch die kognitivistische Position im Sinne von Keesing zulässt, dass also das kulturelle Wissen auch im Geist von Individuen zu lokalisieren ist (vgl. dazu die Diskussion in Dirven/ Wolf/ Polzenhagen, 2007: 1205). 66 I. Theorie <?page no="83"?> Sprache als kulturelle und soziale Realität. Daher werden diese beiden Modelle in der qualitativen Analyse des Interviewmaterials berücksichtigt. Es sei daran erinnert, was von Lakoff/ Johnson (1980) postuliert wird: Unser konzeptuelles Denken ist inhärent metaphorisch. Müssten kulturelle Modelle dann nicht ebenfalls durch Metaphern konstituiert sein? Kövecses (1999) hält in einer Auseinandersetzung mit dieser Frage fest, dass eine Vielzahl abstrakter Konzepte nur über Metaphern entstehen kann, dass also Metaphern in diesen Modellen nicht nur reflektiert werden, sondern an der Entstehung kultureller Modelle aktiv beteiligt sind (ibid. 187). Ich folge in diesem Punkt Kövecses und arbeite mit zwei konzeptuellen Metaphern, die das rationalistische und das romantische Modell konstituieren (vgl. Kap. 8.4.2.1). Es sei aber an dieser Stelle vermerkt, dass die Debatte um die Beziehung zwischen kulturellen Modellen und Metaphern kontrovers bleibt (vgl. Polzenhagen, 2007: 105). Einen zweckdienlichen Beitrag zu dieser Debatte leistet m. E. Polzenhagen selbst, indem er darlegt, dass kulturelle Modelle noch umfassender zu verstehen sind als metaphorische Netzwerke (ibid.): [. . .] they are complex conceptual patterns, including metaphoric, metonymic, as well as non-figurative conceptualisations among members of a socio-cultural groups. Wenden wir uns jenen kognitiven Strukturen zu, die in unserem konzeptuellen Denken so omnipräsent sind: den metaphorischen Modellen. 3.2.5.2 Metaphorische Modelle Generell gilt, dass bei metaphorischen Prozessen ein Übertragungsprozess stattfindet (auf Englisch mapping), bei dem Strukturen und Elemente eines bildspendenden Feldes (source domain) auf ein bildempfangendes Feld (target domain) übertragen werden - es geht also um das Zusammenspiel zweier Sinnbezirke (conceptual domains) (vgl. Lakoff 1987: 276; deutsche Terminologie in Anlehnung an Weinrich, 1976: 283 gemäss Polzenhagen, 2007: 61) 29 . Dabei 29 Das Zweidomänenmodell wird heute immer stärker durch eine Vierraumtheorie verdrängt, die unter dem Begriff conceptual blending bzw. conceptual integration bekannt ist (Fauconnier, 1997; Turner/ Fauconnier, 1995). Das Modell erklärt, wie Metaphern und Metonymien insbesondere im Diskurs funktionieren. Gemäss der blending theory werden sowohl die Quelldomäne als auch die Zieldomäne (die beiden zusammen werden input domains genannt) auf einen Mischraum übertragen (blended space oder blend). Die konzeptuelle Struktur dieses Mischraums ist weder mit der Struktur der Quelle noch der des Ziels vollkommen identisch - hier entsteht das Neue und manchmal auch Unerwartete. In einem vierten Raum, dem allgemeinen Raum (generic space) werden Strukturen gelagert, die tatsächlich beiden Domänen entsprechen (vgl. Barcelona, 2000 a: 7 - 8). Mentale Räume (spaces) sind normalerweise kleiner als konzeptuelle Domänen, sie werden ad hoc gebildet im Prozess des Verstehens und werden gewöhnlich von mehr als einer konzeptuellen Domäne modelliert (vgl. Kövecses, 2002: 227). 3. Theoretische Fundierung 67 <?page no="84"?> sollte die Struktur der Zieldomäne zumindest partiell isomorph zur Struktur der Quelldomäne sein, damit Übertragungen stattfinden können 30 . In der Kognitiven Linguistik steht im Fokus des Interesses meist nicht ein singulärer Übertragungsprozess, sondern es wird nach Mustern solcher konzeptueller Übertragungen gesucht (Grady, 2007: 188), was bei Lakoff/ Johnson (1980) den konzeptuellen Metaphern entspricht - diese spielen in der menschlichen Kognition eine prominente Rolle, indem sie das konzeptuelle Denken wesentlich modellieren 31 . Die Beziehung respektive das Ähnlichkeitsverhältnis zwischen dem Quell- und dem Zielbereich einer konzeptuellen Metapher ist nicht immer evident (vgl. Grady, 2007: 191). Beim Ähnlichkeitsverhältnis, das bei metaphorischen Übertragungen besteht, handelt es sich eben nicht immer um objektive Ähnlichkeit: Metaphorische Übertragungsprozesse können auch in Stereotypen oder allgemeiner in Kategorisierungen begründet sein (vgl. Polzenhagen, 2007: 66). Dies rückt die Metapherntheorie konzeptuell in die Nähe der bereits behandelten Kategorisierungstheorien (Stereotypentheorie sowie Prototypentheorie). Eine Eigenheit der Metaphernforschung ist ihre über Jahrzehnte anhaltende methodologische Trägheit. Die Introspektion war lange Zeit die einzige gewissermassen akkreditierte Methode der Metaphernforschung, das heisst, die Forschenden selbst generierten die Beispiele, mit denen sie arbeiteten (vgl. Grady, 2007: 205). Vorbehalte gegenüber dieser etablierten Methode werden allerdings bereits in den 90er Jahren zum Beispiel von Steen/ Gibbs (1999: 4) geäussert. Diese schreiben, dass die sprachwissenschaftliche Intuition von der Intuition von Laien (ordinary individuals) abweichen kann und dass die Kognitive Linguistik diesen Umstand berücksichtigen sollte (ibid.): Cognitive Linguists should be careful not to immediately assume that the results of their systematic examination of language necessarily implies that each individual person must have all the full-blown conceptual metaphors uncovered by linguistic analysis. Die Autoren halten fest, dass sich die Metaphernforschung letztlich mit der Frage auseinandersetzen muss, die zuvor bereits von Sandra/ Rice (1995) gestellt wurde: Wessen Denkweise will man eigentlich verstehen, diejenige 30 Das invariance principle besagt, dass nur diejenigen Teile der Quelldomäne in den Überlappungsprozess einfliessen können, welche nicht mit der schematischen Struktur der Zieldomäne in Konflikt geraten (vgl. z. B. Kövecses, 2002: 102 - 104). 31 Als Beispiele für konzeptuelle Metaphern werden von Lakoff/ Johnson (ibid. 46 ff.) etwa die Folgenden genannt: - Theories (and arguments) are buildings: Is that the foundation of your theory? The argument collapsed. We need to construct a strong argument for that. - Ideas are people: His ideas will live on forever. Cognitive psychology is still in its infancy. He breathed new life into that idea. - Life is a container: I ’ ve had a full life. His life contained a great deal of sorrow. There is not much left for him in life. 68 I. Theorie <?page no="85"?> von Linguistinnen und Linguisten oder diejenige von gewöhnlichen Sprachbenutzerinnen und -benutzern, die keine vorgeformten Vorstellungen vom Untersuchungsgegenstand haben? Neuere Ansätze respektieren zwar die Introspektion als Methode nach wie vor, schlagen aber die Analyse metaphorischer Sprache vor, wie sie von „ echten “ Sprecherinnen und Sprechern oder schreibenden Personen produziert wird (vgl. Grady, 2007: 205 f.). Dass metaphorische Modelle den laienlinguistischen Metadiskurs prägen, zeigen die beiden neueren Studien und Ansätze von Berthele (2002) und Geeraerts (2003) (vgl. Kap. 8.4.2.1 und 8.4.2.2). Grundsätzlich geht es um die Frage, wie Sprache als Zieldomäne konzeptualisiert wird und auf welche Quelldomänen dabei zurückgegriffen wird. Von der Erforschung des metaphorischen Laienmetadiskurses verspricht man sich letztlich Aufschluss darüber, wie Laien über Sprache (nach)denken und eventuell sogar darüber, wie Einstellungen gegenüber Sprachen entstehen und wie diese mit der sozialen Praxis von Laien zusammenhängen (Berthele, 2002: 29 f.). 3.2.5.3 Metonymische Modelle Bei der Metonymie handelt es sich um ein Phänomen, das mit der Metapher sehr nahe verwandt ist - oftmals sind die Grenzen zwischen den beiden Phänomenen sogar gänzlich verwischt, was im Terminus Metaphtonymy zum Ausdruck kommt (Goossens, 1995). Das Interesse im Rahmen dieses Kapitels gilt aber nicht dem Aufzeigen und Thematisieren von Überschneidungen oder unklaren Grenzen, sondern dem Arbeiten mit zumindest relativ eindeutigen Modellen, die sich auf die Laienmetasprache anwenden lassen. Bei der Metapher handelt es sich, wie oben erläutert, um einen ikonischen Abbildungsprozess, bei dem ein Analogieverhältnis zwischen zwei konzeptuellen Domänen besteht (vgl. Polzenhagen, 2007: 88). Die Metonymie hingegen unterliegt einem indexikalischen Prozess und wird innerhalb eines Sinnbezirks (cognitive domain) vollzogen; damit hat sie primär eine referenzielle Funktion: „ [. . .] it allows us to use one entity to stand for another “ (Lakoff/ Johnson, 1980: 36). Bei Metonymieprozessen gewährt ein Vehikel (vehicle), also eine konzeptuelle Einheit, mental Zugang zu einer anderen konzeptuellen Einheit oder einem Ziel (target) und zwar innerhalb eines einzigen idealisierten kognitiven Modells (idealized cognitive model oder ICM) (vgl. Radden/ Kövecses, 1999: 21). Ein ICM umfasst sowohl unser Wissen über ein bestimmtes Konzept (oder ein Bündel aus Konzepten) als auch die damit verbundenen kulturellen Modelle (vgl. Lakoff, 1987: 68 ff.). Somit sind Metonymien in allen Bereichen möglich, in denen ICMs vorkommen - die also durch konzeptuelles Denken geprägt sind. Aus diesem Grund sind Metonymien in der vorliegenden Studie von Interesse, denn es geht um den Wissensbestand Konzeptualisierung und damit um ICMs bezüglich Sprache. Wenn davon ausgegangen wird, dass Metaphern zwischen zwei Domänen agieren und Metonymien innerhalb von einer, gibt man vor, genau zu wissen, 3. Theoretische Fundierung 69 <?page no="86"?> wie Domänen voneinander abgegrenzt sind: Es wird eine Schärfe der Ränder von Domänen vorgegaukelt, die so vermutlich gar nicht existiert. Es besteht also Klärungsbedarf bezüglich unserer Auffassung des Konzepts Domäne (vgl. Polzenhagen, 2007: 91; Panther/ Thorburg, 2007: 240). Auch hier möchte ich diskurstheoretischen Ansätzen folgen und verstehe Domänen daher, genauso wie zuvor Kategorien im Rahmen der Prototypentheorie, als kontextbedingt und in der Interaktion ausgehandelt. Domänen sind also nicht statische mentale Gebilde, sondern dynamische Strukturen, die nicht auf Grund von logikosemantischen Überlegungen alleine erfasst werden können, sondern mittels empirischer Forschung erhoben werden müssen (vgl. ibid.). Metonymische Beziehungen können variabel ausgestaltet sein 32 . Während Metaphern unidirektional sind (der Übertragungsprozess findet ausschliesslich in eine Richtung statt), funktionieren die allermeisten metonymischen Prozesse in beide Richtungen (Radden/ Kövecses, 1999: 22). Im Rahmen dieser Arbeit werden zwei metonymische Modelle untersucht: 1. P RODUKT FÜR P RODUZENT und 2. I NSTRUMENT / O RGAN DER P ERZEPTION FÜR P ERZEPTION . 1. P RODUKT FÜR P RODUZENT : Wenn davon ausgegangen wird, dass linguistische Stereotype metonymisch soziale Stereotype der Sprechergruppe evozieren (vgl. Kristiansen, 2003), liegt eine metonymische Beziehung des Typs P RODUKT FÜR P RODUZENT vor. Die Sprache wirkt als Index für ihre Sprecher - sie ist damit sozial und regional diagnostisch und dient dazu, sprechende Personen schnell zu erfassen und zu kategorisieren (vgl. ibid.). Bei der Ikonisierung läuft der Prozess in die umgekehrte Richtung ab und wird, wie der Name schon sagt, eher als ikonisch in seiner Art beschrieben (vgl. Kap. 3.2.4.4): Die Sprache wird als Abbild ihrer Sprecher aufgefasst (wenn die Sprechenden als aggressiv empfunden werden, wird die Sprache als aggressiv beschrieben). Auch wenn in diesem letzteren Modell der Abbildcharakter hervorgehoben wird, sollten solche Übertragungen nicht unbedingt als metaphorisch begriffen werden (auch aus dem Grund, dass die Übertragung eben nicht unidirektional ist). Meiner Ansicht nach handelt es sich nicht um die von Lakoff/ Johnson (1980: 33) eingeführte Personifikation (personifizierende Metapher), bei der ein physikalisches Objekt als Person beschrieben wird: „ [. . .] we are seeing something nonhuman as human “ (ibid.). Man gelangt an diesem Punkt unweigerlich zurück zu jenen Überlegungen, die schon im Zusammenhang mit Stereotypen und Prototypen angestellt worden sind: Der Gegen- 32 Hier eine exemplarische Auswahl möglicher metonymischer Beziehungen (basierend auf Lakoff/ Johnson, 1980: 38 f.): - T HE PART FOR THE WHOLE (We don ’ t hire longhairs) - P RODUCER FOR PRODUCT (He ’ s got a Picasso in his den) - O BJECT USED FOR USER (The sax has the flu today) - C ONTROLLER FOR CONTROLLED (Nixon bombed Hanoi) - T HE PLACE FOR THE INSTITUTION (The White House isn ’ t saying anything) - T HE PLACE FOR THE EVENT (Let ’ s not Thailand become another Vietnam) 70 I. Theorie <?page no="87"?> stand dieser Untersuchung kann Sprache als physisches Objekt mit einer akustischen Gestalt sein (also idealisiert und relativ unabhängig von ihren Sprechern mental repräsentiert) - dann wäre eine Interpretation in Richtung personifizierender Metapher zumindest denkbar. Der konzeptualisierte Gegenstand kann aber auch Sprache als soziales Phänomen sein, das untrennbar verknüpft ist mit seinen Sprechern (Epiphänomen). 2. Das zweite Modell ist im ICM der Perzeption angesiedelt, das bei intentionaler Perzeption gewisse Überlappungen mit dem ICM der Aktion aufweist (vgl. Radden/ Kövecses, 1999: 38). In Kapitel 8.4.2.3 wird die metonymische Kette, die untersucht wird, detailliert vorgestellt - grundsätzlich geht es um eine metonymische Beziehung der Art I NSTRUMENT / O RGAN DER P ERZEPTION FÜR P ERZEPTION also in diesem Fall H ÖRORGAN FÜR H ÖREN . 3.2.5.4 Zusammenfassung und Fazit Im Rahmen dieser Arbeit stehen Konzeptualisierungen als Wissensbestand von Laien im Mittelpunkt, daher wurde in diesem Kapitel die Frage aufgeworfen, wie konzeptuelle Systeme beschaffen sind. Beschrieben wurden das kulturelle Modell, die Metapher und die Metonymie, wobei beachtet werden muss, dass sowohl das kulturelle Modell als auch die Metonymie metaphorische Aspekte aufweisen (das kulturelle Modell etwa wird durch Metaphern konstituiert). Kulturelle Modelle sind kognitive Schemata, die weitgehend von einer sozialen Gruppe geteilt werden - damit sind sie konzeptuell verwandt mit der Ideologie respektive haben das Potenzial zur Transformation, wenn ihr Modellcharakter missachtet wird oder wenn sie zu normativ ausgelegt werden. Zu den Metaphern und Metonymien wurde festgehalten, dass diese zwar nahe verwandt sind, grundsätzlich aber gilt, dass Metaphern eher ikonisch und Metonymien eher indexikalisch funktionieren. Während Metaphern einen Austauschmechanismus zwischen zwei Domänen beinhalten (bildspendendes und bildempfangendes Feld), bewegt sich die Metonymie innerhalb einer Domäne respektive findet sie gewöhnlich innerhalb eines ICMs (idealized cognitive model) statt. Die Konzeptualisierung von Sprache ist ein Beispiel für ein solches ICM. Hinsichtlich der gewählten Methodologie ist zu vermerken, dass die vorliegende Forschungsarbeit der gelegentlich geäusserten Aufforderung, man solle bei der Erforschung kognitiver Strukturen (insbesondere metaphorischer Modelle) die Laienperspektive beachten, Rechnung trägt. Es wird nicht introspektiv gearbeitet, sondern direkt am Interviewmaterial die diskursive Konstruktion von Domänen beobachtet. 3. Theoretische Fundierung 71 <?page no="88"?> 3.3 Zusammenfassung In Kapitel 3.2 wurden die Wissensbestände respektive die Datenproduktionsquellen thematisiert, die bei den Gewährspersonen aktiviert werden, wenn sie affektive und ästhetische Sprachurteile abgeben. Es handelt sich dabei eher um Konzeptualisierungen als um Perzepte, ebenfalls kann indirekt auf die Wissensbestände Ideologien und kulturelle Modelle geschlossen werden, wenn die nötigen Analysen an den metasprachlichen Äusserungen des Typs 1 (Sprachurteile sowie die angegebenen Begründungen) durchgeführt werden. In Kapitel 3.3 wurde eine Reihe von Konzepten genannt (die vom Oberbegriff Sprachbetrachtung zusammengehalten werden), die der Analyse von evaluativer Laienmetasprache zugeführt werden. Bei allen Konzepten gilt das Interesse unter anderem diskursiven Ansätzen, wie diese erforscht und erfasst werden können, sowie der emischen Perspektive, die der Herangehensweise an den Gegenstand der Laienlinguistik entspricht. Es handelt sich dabei in den meisten Fällen um neuere Ansätze, die empirisch noch wenig erprobt sind. Die folgende Darstellung bietet eine Übersicht über die eingeführten Konzepte, ihre Definition für unsere Zwecke sowie ihre epistemologische Verortung in der evaluativen Laienmetasprache. Tab. 4: Konzepte der (Laien)Sprachbetrachtung: Definition, epistemologische Verortung. Konzept Definition Epistemologische Verortung Diskursive Einstellung (= evaluative metasprachliche Äusserung oder Meinung) Verbalisierte evaluative Tendenzen oder Orientierungen gegenüber Objekten. In der Interaktion konstruiert und verhandelt. (Nicht gleichzusetzen mit Einstellung als psychologische Konstante = mentalistische Einstellungsforschung). Wenn das Einstellungsobjekt eine soziale Gruppe ist, kann von → Stereotypen (kognitiv) und → Vorurteilen (affektiv) gesprochen werden. Ästhetische und affektive Sprachurteile sind evaluative metasprachliche Äusserungen bezüglich des Objekts „ Sprache “ (Laien bezeichnen und konstruieren das Objekt) Kategorisierungstheorien Linguistisches Stereotyp Varietäten, Akzente, Dialekte oder Stile (sowie die entsprechenden von Laien im Interview eingeführten Bezeichnungen dafür) rufen Vorstellungen bezüglich der Gruppenzugehörigkeit der Sprechenden auf Sprachbezeichnungen, die von Gewährspersonen eingeführt werden, können linguistische Stereotype auslösen. Linguistische Werturteile können 72 I. Theorie <?page no="89"?> Konzept Definition Epistemologische Verortung (= Auslösen sozialer Kategorisierung). Linguistische Stereotype aktivieren metonymisch soziale Stereotype. Stereotype sind kognitive Repräsentationen. damit aufschlussreich sein bezüglich der Beziehung zwischen sozialen Gruppen. Vorurteil Vorurteile sind (negative) affektive Reaktionen, Evaluationen oder Einstellungen gegenüber einer Gruppe. Ähnlicher Prozess wie beim → linguistischen Stereotyp, insbesondere relevant im Zusammenhang mit affektiven Sprachurteilen. Prototypentheorie Kategorisierungstheorie, die beschreibt, wie natürliche Objekte der physikalischen Umwelt in Kategorien organisiert werden: Unterscheidung zwischen zentralen Elementen (bestes Beispiel = Prototyp) und graduell dazu angeordneten Elementen bis in die Peripherie. Zugehörigkeit eines Elements zu einer Kategorie wird mit Hilfe von Heckenausdrücken in der Sprache verhandelt. Vertikale Kategorisierungsachse besteht aus übergeordneter Ebene (Tier), Basisebene mit klar definierter Gestalt (Hund), untergeordneter Ebene (Boxer). Es wird geprüft, ob bei den eingeführten Sprachbezeichnungen eine Organisation auf der vertikalen Kategorisierungsachse festgestellt werden kann ( „ Englisch in London ist Britisches Englisch ist Englisch “ ). Belief Tatsächliches oder angenommenes Wissen von Menschen über eine Sache (das Feststellen einer Beziehung zwischen zwei Aspekten der Erfahrungswelt eines Individuums). Nicht bestätigte subjektive Wissensbestände (Wahrheitsgehalt entweder nicht wissenschaftlich nachgewiesen oder nicht mit wissenschaftlichen Erkenntnissen übereinstimmend) Aus Instanzen des Typs Metasprache 1 (linguistische Werturteile) kann auf Instanzen des Typs Metasprache 3 (beliefs) geschlossen werden. Beliefs werden eher präsupponiert als direkt kommuniziert - sie werden insbesondere in den Begründungssequenzen der Interviews erwartet. Sprachideologie Von einem Kollektiv sprachlich ausgehandeltes und geteiltes System aus → beliefs über Sprachen, Varietäten oder Dialekte. Massgeblich an Entstehung und Erhaltung von Laienmetasprache kann auf sprachideologische Tendenzen hin untersucht werden: globale Tendenzen über quantitative 3. Theoretische Fundierung 73 <?page no="90"?> Konzept Definition Epistemologische Verortung Machtstrukturen innerhalb einer Gesellschaft beteiligt. Analyse, inhaltliche Präzisierung über qualitative Analyse. Untersucht wird, ob sprachideologische Prozesse (Iconisation, Erasure) vorkommen. Kognitive Strukturen Kulturelle Modelle Kognitive Schemata (teilweise durch Metaphern konstituiert), die von einer sozialen Gruppe weitgehend geteilt werden. Konzeptuell verwandt mit → Ideologie respektive werden transformiert in Ideologien, wenn ihr Modellcharakter missachtet wird oder wenn sie zu normativ ausgelegt werden. Zwei kulturelle Basismodelle werden in der qualitativen Analyse des Interviewdatensatzes berücksichtigt, die an der Formung unseres Konzepts von Sprache beteiligt sind: das ra-tionalistische und das romantische Modell Metaphorische Modelle Übertragungsprozess bei dem Strukturen und Elemente eines bildspendenden Feldes (source domain) auf ein bildempfangendes Feld (target domain) übertragen werden (ikonischer Prozess). Struktur der Zieldomäne muss zumindest partiell isomorph zur Struktur der Quelldomäne sein. Erfolgen solche Übertragungen musterhaft, handelt es sich um konzeptuelle Metaphern. Sprache wird im evaluativen Laiendiskurs als Zieldomäne konzeptualisiert: Auf welche Quelldomänen wird dabei zurückgegriffen? Metonymische Modelle Übertragungsprozess innerhalb einer Domäne: Ein Vehikel (eine konzeptuelle Einheit) gewährt mental Zugang zu einer anderen konzeptuellen Einheit (indexikalischer Prozess) und zwar innerhalb eines einzigen idealisierten kognitiven Modells (ICM). Ein ICM umfasst sowohl Wissen über ein bestimmtes Konzept als auch damit verbundene kulturelle Modelle. Die Ikonisierung wird als Metonymie vom Typ Produzent für Produkt im Datensatz lokalisiert. Ferner wird die metonymische Kette, I NSTRUMENT / O RGAN DER P ERZEPTION FÜR P ERZEPTION untersucht. 74 I. Theorie <?page no="91"?> 4. Konstruktion von Identitäten und Alteritäten in evaluativen metasprachlichen Äusserungen Nach einer kurzen vortheoretischen Herleitung hinsichtlich der Frage, weshalb die beiden Konzepte Identität und Alterität als zentral erachtet werden für die Analyse sprachlicher Werturteile (vgl. Kap. 4.1) erfolgt eine fundierten Klärung der beiden Begriffe (vgl. Kap. 4.2). Anschliessend werden Identitätskonstruktionen hinsichtlich ihrer Verortung in topographischen Räumen thematisiert (vgl. Kap. 4.3) und spezifisch linguistische Identitäten eingeführt (vgl. Kap. 4.4). Empirische Aspekte der Identitätsforschung werden abschliessend kurz thematisiert (vgl. Kap. 4.5). 4.1 Präliminaria Ästhetische und affektive Sprachurteile in Form evaluativer Laienmetasprache geben nicht nur Auskunft über den beurteilten Gegenstand selbst (sowie die Konzepte, die bei Laien darüber bestehen), sondern auch über die Person, von der sie stammen sowie ihre angenommene Zugehörigkeit zu oder Abgrenzung von sozialen Gruppen (vgl. die Hypothese zur Identitäts- und Alteritätskonstruktion in Kap. 5.1). Diese Aussage ist in Einklang mit der Erkenntnis von Giles/ Niedzielski (1998: 85), die jedoch bei den Autoren nicht weiter vertieft wird: Judgements about a language variety ’ s beauty are dependent on the nature of the context in which the views are being expressed and tied to the fabric of our national and social identities [. . .]. [eigene Hervorhebung, C. C.] Im Folgenden werden Arbeitsdefinitionen für die Konzepte Identität und Alterität eingeführt und es wird geklärt, in welchem Zusammenhang die beiden Konzepte mit Sprache im Allgemeinen und der evaluativen Laienmetasprache im Speziellen stehen. Ferner werden diejenigen Identitäts- und Alteritätsaspekte thematisiert, die anschliessend im Fokus der Analyse des Interviewdatensatzes stehen. 4.2 Diskursive Identitäts- und Alteritätskonstruktionen: Begriffsbestimmung In Kapitel 4.2 erfolgt zunächst eine Definition des Konzepts Identität. Nachfolgend werden die unterschiedlichen Verbindungen, die zwischen den <?page no="92"?> Grössen Identität und Sprache bestehen, skizziert sowie das poststrukturalistische Identitätsverständnis, das in der Sprachwissenschaft verbreitet ist, erläutert. Identitäts- und Alteritätskonstruktionen werden in einem letzten Schritt auf ihre Funktion in evaluativen metasprachlichen Äusserungen hin beschrieben. 4.2.1 Identität: Begriffsbestimmung und allgemeine Vorüberlegungen Mit dem Konzept Identität operieren einige Wissenschaftszweige fast schon inflationär, obwohl es zahlreiche Definitionsoptionen und gleichzeitig -unschärfen aufweist. Allein ein historischer Abriss der im Laufe der Zeit angebotenen Definitionen und Ausdeutungen würde den Rahmen dieses Kapitels sprengen. In linguistischen Arbeiten wird vereinzelt gänzlich auf eine Definition verzichtet oder nur eine sehr rudimentäre Arbeitsdefinition angeboten, was wahrscheinlich auf diese Gründe zurückzuführen ist. Haslinger/ Holz (2000: 17) führen ein stichhaltiges Argument für den Verzicht auf eine detaillierte Begriffsbestimmung an. Sie machen deutlich, dass sie den Gegenstandsbereich ihrer Untersuchung (Identitäten und Alteritäten) absichtlich nur ungefähr beschreiben, weil sie ihn aus dem empirischen Material herausarbeiten wollen, „ [. . .] ganz gleich, wie diese [regionenbezogene und/ oder nationale Identitätskonstruktionen, eigene Anmerkung, C. C.] im Material selbst genannt werden. “ Ein Weg zu einem Verständnis darüber zu gelangen, was unter Identität verstanden werden kann, führt in der Tat über die Frage, in welchen Prozessen dieses Konstrukt faktisch entsteht - also über einen epistemologischen Zugang. Dieser wird auch im Rahmen der Analyse evaluativer Metasprache berücksichtigt, dennoch werden an dieser Stelle konkrete Arbeitsdefinitionen vorgeschlagen, die dem poststrukturalistischen Verständnis von Identität im Kontext der Forschung zu Multilingualismus entspringen und in Kapitel 4.2.3 noch weiter ausdifferenziert werden. Die erste Definition stammt von Pavlenko/ Blackledge (2004: 19): In sum, we view identities as social, discursive, and narrative options offered by a particular society in a specific time and place to which individuals and groups of individuals appeal in an attempt to self-name, to self-characterize and to claim social spaces and social prerogatives. Es wird folglich nicht von einer basalen Identität ausgegangen, die einer Person statisch inhärent ist, sondern von einer Identität, die sozial konstruiert ist - wobei Sprache das Vehikel ist, über das die Konstruktion via Narrationen stattfindet (vgl. Keupp et al. 2002: 7). Eine weitere Arbeitsdefinition, die eingebettet ist in eine Studie zu Sprachenlernen und Identität, stammt von Norton (2000: 5): 76 I. Theorie <?page no="93"?> I use the term identity to reference how a person understands his or her relationship to the world, how that relationship is constructed across time and space, and how the person understands possibilities for the future. Im Zusammenhang mit der hier verwendeten diskursiven Methode ist der postmoderne Ansatz von Giddens (1991: 5) zu erwähnen, der Identität definiert als „ [. . .] the reflexive project of the self, which consists in the sustaining of coherent, yet continuously revised, biographical narrarives. “ Die biographischen Interviewpassagen (vgl. Kap. 9.3.2, Interviewsequenzen 14 - 22) können im Kontext dieser selbstreflexiven Praxis verstanden werden. Aber auch die evaluative Laienmetasprache selbst kann durchaus als (selbst) reflexive sprachliche Praxis aufgefasst werden. 4.2.2 Sprachidentität - Identität durch Sprache Die Verknüpftheit von Sprache und Identität beschränkt sich nicht auf den Aspekt, dass Identität über Sprache konstruiert werden kann. Thim-Mabrey (2003: 1) zeigt insgesamt drei Ausdeutungsmöglichkeiten der Art, wie Sprache und Identität verwoben sein können: 1. Sprachidentität (Identität der Sprache) 33 : Hier wird die Frage gestellt, wie Sprachen voneinander abgrenzbar und unterscheidbar - also identifizierbar - sind. In Kapitel 3.2.2.6 wurde aufgezeigt, dass die Auffassung darüber, was eine Sprache ist oder als solche identifiziert werden kann, grundsätzlich unterschiedlich ist zwischen Laien und Experten. Während Laien davon ausgehen, dass ein Label wie Englisch eine Sprache bezeichnet und die unterschiedlichen englischen Varietäten als derivative Elemente davon auffassen, versteht man in der Sprachwissenschaft eine solche Bezeichnung eher als Fiktion, die in der Realität am ehesten als Bündel von Varietäten zu begreifen ist, die diese konstituieren. M. E. kann Thim-Mabreys Ansatz erweitert werden um das evaluative Profil, das eine Sprache aufzuweisen hat: Ob eine Sprache als ästhetisch reizvoll wahrgenommen wird oder nicht, ist Teil ihrer Identität. Auch Sprachideologien tragen zur Identität spezifischer Sprachen bei. 2. Sprachidentität: Während sich die erste Ausdeutungsmöglichkeit auf die Identität einer Sprache selbst bezieht, handelt es sich bei der zweiten um „ [. . .] die Identität einer Person in Bezug auf ihre - oder auf eine - Sprache [. . .] “ (ibid. 2). Diese Form der Sprachidentität wirkt einerseits nach aussen (indem ein Individuum über seine Sprechweise identifiziert und kategorisiert werden kann (vgl. Kap. 3.2.2.3 zu Stereotypisierungen aufgrund von Sprache) und andererseits nach innen, indem sie zu einem konstitutiven Teil der personalen Identität beiträgt, der zum Selbstverständnis 33 Dass für die ersten beiden Ausdeutungsmöglichkeiten derselbe Terminus verwendet wird, ist etwas unglücklich. Ich schlage daher vor, für Erstere die Wendung „ Identität der Sprache “ zu verwenden. 4. Konstruktion von Identitäten und Alteritäten 77 <?page no="94"?> einer Person gehört. Dieser Gedanke findet sich auch bei Norton (2000: 5) in Bezug auf die Identität von Sprachlernenden: „ [. . .] I foreground the role of language as constitutive of and constituted by a language learner ’ s identity. “ 3. Identität durch Sprache: Die dritte Ausdeutungsmöglichkeit bezieht sich auf die Identität einer Person, „ [. . .] soweit diese durch Sprache oder Sprachverwendung (mit)konstituiert wird “ (Thim-Mabrey, 2003: 2). Die dritte Ausdeutungsmöglichkeit kann dahingehend verstanden werden, dass Identität verhandelbar ist und diskursiv konstruiert wird. Linguistische Werturteile weisen alle drei Spielarten der Verbindung zwischen Sprache und Identität auf: 1. modellieren sie die Identität von Sprachen, 2. reflektieren sie die Sprachidentität von Individuen (vgl. Kap. 4.4), 3. erlaubt die Methodenwahl im Rahmen dieser Studie eine Analyse diskursiv konstruierter Identitäten. 4.2.3 Poststrukturalistisches Identitätsverständnis im sprachwissenschaftlichen Kontext Das Verständnis des Konzepts Identität ist im Rahmen dieser Studie geprägt von der poststrukturalistischen Perspektive, die heute von einer wachsenden Zahl Forschenden insbesondere im Bereich des Zweitsprachenerwerbs gepflegt wird (Block, 2007: 3). Im Gegensatz zu sozialpsychologischen Ansätzen fasst der poststrukturalistische Ansatz Identität nicht länger als stabiles Konstrukt auf, das unabhängig von Sprache entsteht und existiert (vgl. Pavlenko/ Blackledge, 2004: 13), sondern als Konstrukt, das als „ pluriell und in ständigem Wandel “ begriffen wird (De Florio-Hansen, 2007: viii). Ähnlichkeit weist die poststrukturalistische Identitätsauffassung mit dem soziolinguistisch-interaktionalen Ansatz auf, wo Identität als fluides und in der Interaktion entstehendes Konstrukt verstanden wird (vgl. zum Beispiel Gumperz, 1982; Le Page/ Tabouret-Keller, 1985). Diesem Ansatz wird allerdings vereinzelt vorgeworfen, die Beziehung zwischen konkreten Sprachereignissen und Identität zu einfach und direkt zu skizzieren. Der sozial konstruktivistische Ansatz, der Identität als interaktional konstruiert und im Diskurs produziert und verhandelt betrachtet, ist der poststrukturalistischen Forschung noch ähnlicher. Die poststrukturalistische Forschung betont jedoch den Aspekt der Aushandlung von Machtverhältnissen im Diskurs stärker, wozu auch gehört, dass bestimmte Identitätsoptionen begünstigt werden, während andere als minderwertig angesehen werden (vgl. Pavlenko/ Blackledge, 2004: 8 ff.). Dieser Aspekt wird bei Norton (2000: 5) besonders deutlich herausgearbeitet - sie verortet nicht nur das Aushandeln von Machtverhältnissen in der Sprache, sondern sieht Sprache darüber hinaus als Schlüsselelement, um überhaupt in einflussreiche Netzwerke zu gelangen: 78 I. Theorie <?page no="95"?> [. . .] it is through language that a person gains access to - or is denied access to - powerful social networks that give learners the opportunity to speak. Thus language is not conceived of as a neutral medium of communication, but is understood with reference to its social meaning. Identität wird im Rahmen dieser Arbeit als sozial verstanden (sie ist weder alleine im Individuum angelegt, noch wird sie alleine von externen Einflüssen bestimmt - es findet vielmehr ein Austausch zwischen den beiden statt); sie ist dynamisch und prozesshaft, verhandelbar, kontextsensitiv sowie multidimensional. Unter der Multidimensionalität von Identitäten wird die Tatsache verstanden, dass diese an Fugenstellen zwischen mehreren Achsen (Identitätsaspekten) konstruiert werden, wobei die unterschiedlichen Identitätsaspekte jeweils gegenseitig voneinander modelliert werden (Pavlenko/ Blackledge, 2004: 16). Lüdi (2007: 43) spricht in diesem Zusammenhang von Identitätskomponenten, Block (2007: 27) von Identitätsperspektiven, wobei er folgende sieben als die häufigsten aufzählt: Rasse, Ethnizität, nationale Identität, Migrationsidentität, Geschlechtsidentität, Klassenidentität sowie Sprachidentität. Die Sprachidentität (vgl. 2. Ausdeutungsmöglichkeit in Kap. 4.2.2) wird hier also lediglich als eine Komponente der individuellen Identität unter anderen angesehen. Ob die Sprachidentität innerhalb der unterschiedlichen Identitätskomponenten eine Kardinalfunktion einnimmt oder genauso wie andere Identitätskomponenten in bestimmten Kontexten salienter ist als in anderen, ist eine Frage, mit der sich die Sprachwissenschaft noch nicht erschöpfend auseinandergesetzt hat. Zumindest im poststrukturalistischen Verständnis von Identität spielt Sprache eine mehrfach dominante Rolle. Das Verhältnis zwischen Sprache und Identität wird als sich gegenseitig konstituierend aufgefasst, was den Ausdeutungsmöglichkeiten 2 und 3 aus Kapitel 4.2.2 entspricht. Pavlenko/ Blackledge (2004: 14) schreiben über dieses Verhältnis das Folgende: On the one hand, languages, or rather particular discourses within them, supply the terms and other linguistic means with which identities are constructed and negotiated. [Ausdeutungsmöglichkeit 3, eigene Anmerkung, C. C.] On the other, ideologies of language and identity guide ways in which individuals use linguistic resources to index their identities and to evaluate the use of linguistic resources by others. [Ausdeutungsmöglichkeit 2, eigene Anmerkung, C. C.] Zu den linguistischen Ressourcen, über die Identitäten indexiert werden, zählen etwa Code-Switching, Code-Alternierung oder Sprachwahl (vgl. z. B. Auer, 1998) aber auch das Lernen von Fremdrespektive Zweitsprachen (vgl. Pavlenko/ Blackledge, 2004: 22 f.). Evaluative metasprachliche Praktiken sollten dieser Liste unbedingt beigefügt werden. 4. Konstruktion von Identitäten und Alteritäten 79 <?page no="96"?> 4.2.4 Identitäts- und Alteritätskonstruktionen als Funktion evaluativer Äusserungen Die Identitätsfrage, die sich Individuen stellen, lautet gemäss Keupp (2002: 95) nicht ausschliesslich „ Wer bin ich? “ , sondern auch „ Wer bin ich im Verhältnis zu anderen? “ . In der Thematisierung von Identität ist die Thematisierung von Alterität stets mit angelegt. Für das dichotome Begriffspaar Identität und Alterität gilt das Folgende (Haslinger/ Holz, 2000: 17): Die Konstruktion von Alterität ist konstitutiv für die Konstruktion von Identität; Identität und Alterität sind zwei Seiten einer Medaille. [. . .]. Alterität bezeichnet das Andere, das Nicht-Ich und Nicht-Wir, wie es aus der Perspektive des Selbstbildes dargestellt wird. 34 Linguistische Stereotypisierungen und Sprachideologien bieten Raum respektive sind die prädestinierte Lokalität für Konstruktionen von Selbst- und Fremdbildern, also Gegenüberstellungen von einem „ Selbst “ und einem „ Anderen “ oder einem „ uns “ und einem „ diese “ . Das „ Selbst “ wird mithin in Abgrenzung zu einem „ Anderen “ definiert und verstanden (vgl. Gal/ Irvine, 1995; Schieffelin/ Doucet, 1998). Das „ Andere “ wird gerade im Kontext von Sprachideologien als homogenener wahrgenommen, als es de facto ist (vgl. Irivne/ Gal: 1995: 975 und Kap. 3.2.4.4 für erasure als einer der semiotischen Ideologieprozesse). Bei Stereotypisierungen wird das „ Andere “ ebenfalls vereinfacht wahrgenommen, um eine eindeutige Kategorisierung zu ermöglichen. Ziel solcher Vorgänge ist unter anderem die Stabilisierung der eigenen Gruppenidentität. Diese wird erreicht, indem die Grenze zwischen der eigenen Identität und der konstruierten Alterität sehr scharf gezogen wird (vgl. Tophinke, 2000: 350). Die diskursive Einstellungsforschung begreift die Konstruktion von Identitäten und Alteritäten als eine der zentralen Funktionen von evaluativen Äusserungen (Tophinke/ Ziegler, 2006: 206): [Spracheinstellungen] strukturieren die soziale Wirklichkeit, reduzieren deren Komplexität und machen diese für das Individuum erwartbar. In einer konkreten Kommunikationssituation, in der sie geäußert werden, dienen sie der sozialen Positionierung, tragen sie als sozial-erklärende oder sozial-differenzierende Sinnstrukturen zur Konstruktion von Identitäten und Alteritäten bei. 34 Bei De Florio-Hansen/ Hu (2007: ix) wird spekuliert, dass die Unterscheidung zwischen dem „ Selbst “ und dem „ Anderen “ in Zukunft an Gültigkeit verlieren könnte und zwar aus dem Grund, dass diese im Zuge der Globalisierung obsolet wird, da das „ Selbst “ immer mehr im „ Anderen “ und das „ Andere “ im „ Selbst “ enthalten ist: „ An die Stelle autonomer Individuen, die in stabile, homogene Nationalkulturen eingebettet sind, treten sich wandelnde Identitäten in kulturübergreifenden Netzwerken “ (ibid.). Die Resultate in Kapitel 13.1.1, wo Identitäts- und Alteritätskonstruktionen bezogen auf unterschiedliche topographische Identitätsräume untersucht werden (vgl. Kap. 4.3), zeigen allerdings, dass die Unterscheidung, zumindest was die Laienmetasprache betrifft, nach wie vor aktuell ist. 80 I. Theorie <?page no="97"?> Identitätsaspekte wurden bereits in sehr frühen Beschreibungen der Funktion von Einstellungen thematisiert. Katz (1960: 170 ff.) unterscheidet vier verschiedene Funktionen, die Einstellungen für ein Individuum haben können. Insbesondere Funktion 2 und Funktion 3 werden im Kontext der Konstruktion von Identität und Alterität als bedeutsam erachtet: ● Instrumentelle, adaptive oder utilitaristische Funktion (instrumental, adjustive, or utilitarian function): Diese behavioristisch geprägte Funktion geht von der Grundannahme aus, dass der Mensch bestrebt ist, ein Maximum an Vorteilen (Belohnungen) und ein Minimum an Nachteilen (Bestrafungen) aus seiner Umwelt zu erfahren. Positive Einstellungen werden demnach gegenüber Objekten entwickelt, die erfahrungsgemäss die Befriedigung dieser Bedürfnisse begünstigen und negative gegenüber solchen, die dies eher verhindern. Auch die Entwicklung affektiver Assoziationen zu Objekten, die erfahrungsgemäss unsere Bedürfnisse befriedigen, ist dieser Funktion zuzurechnen. ● Selbst-unterstützende (Selbst-bewahrende) Funktion (ego defensive function): Einstellungen nehmen hier die Funktion der Bewahrung des Selbst-Bildes ein. Bestimmte Einstellungen helfen dem Individuum, sich vor inneren oder äusseren Konflikten zu schützen. Als Beispiel nennt Katz (ibid. 172) die Projektion von Minderwertigkeitsgefühlen, die man selbst hat, auf eine Minderheitengruppe: Das Ego wird gestärkt durch Überlegenheitsgefühle gegenüber dieser Gruppe. Die Forschung zeigt, dass Vorurteile (vgl. Kap. 3.2.2.2) oftmals Hand in Hand gehen mit übertrieben positiven Einstellungen gegenüber sich selbst oder der Gruppe, der man angehört (Lasagabaster, 2008: 402). Typische Beispiele hierfür sind Homophobie oder Xenophobie (vgl. Deprez/ Persoons, 1984). Der entscheidende Unterschied zwischen der utilitaristischen Funktion von Einstellungen und der selbst-verteidigenden Funktion ist, dass Letztere weniger mit den Eigenschaften des Einstellungsobjekts selbst zu tun haben als mit inneren Eigenschaften und Konflikten der beurteilenden Person: „ [. . .] the attitude is not created by the target but by the individual ’ s emotional conflicts “ (Katz, 1960: 173). ● Werte vermittelnde Funktion (value expressive function): Während die unter Punkt 2 genannte Einstellungsfunktion eher dazu dient, dass eine Person ihr eigenes Wesen vor sich selbst oder anderen nicht offenbaren muss, geht es hier um die gegenteilige Funktion: Einstellungen können bei der Konstituierung und insbesondere bei der Darstellung des Selbst (der Identität einer Person) eine entscheidende Rolle spielen: „ [. . .] attitudes have the function of giving positive expression to his [sic! ] central values and to the type of person he conceives himself to be “ (ibid. 173). Der Zusammenhang zwischen evaluativen metasprachlichen Äusserungen und der Konstruktion von Identität wird hier sehr deutlich: Sprachliche Werturteile können als Selbstdarstellungen fungieren. 4. Konstruktion von Identitäten und Alteritäten 81 <?page no="98"?> ● Wissens-/ Verstehensfunktion (knowledge function): Einstellungen können Individuen helfen, die komplexe Welt, in der sie leben, zu verstehen und zu erfassen. Katz (ibid. 175) schreibt zu dieser Einstellungsfunktion: „ People need standards and frames of reference for understanding the world, and attitudes help to supply such standards. “ Diese Funktionsbeschreibung entspricht in groben Zügen der Auffassung der Funktion von Stereotypen als kognitive Orientierungspunkte aus der kognitiven Soziolinguistik (vgl. Kristiansen, 2003 und die Ausführungen in Kap. 3.2.2.3 bezüglich sprachlicher Stereotype). Katz selbst thematisiert ebenfalls Stereotype im Zusammenhang mit dieser Funktionsweise, die er aber nicht weiter von Einstellungen abgrenzt. Die vier hier aufgezeigten Funktionen von Einstellungen wurden in der Forschungsliteratur vielfach diskutiert und modifiziert (für einen Überblick vgl. Augoustinos/ Walker, 1995: 15 ff.). Besonders erwähnenswert scheint im Zusammenhang mit den im Rahmen dieser Studie untersuchten affektiven und ästhetischen Urteilen der daraus resultierende neofunktionale Ansatz Hereks (1986): Er folgt seinen Vorgängern, indem er die Auffassung teilt, dass Einstellungen den Personen, die sie haben, auf unterschiedliche Art und Weise zu gute kommen (also funktional sind für sie) (ibid. 104). In Hereks Ansatz werden jedoch lediglich zwei Kategorien von Einstellungsfunktionen unterschieden, die unterschiedliche Arten des Gewinns mit sich bringen: 1. die evaluative Kategorie (auch deskriptive oder bewertende Kategorie) und 2. die expressive oder symbolische Kategorie (ibid. 105). 1. Evaluative Kategorie: Das Einstellungsobjekt ist selbst Zweck der Einstellung. Die Einstellung ist positiv gegenüber Objekten, von denen man sich auf irgendeine Art und Weise Nutzen verspricht oder bereits davon profitiert (im Sinne von Belohnung) und negativ gegenüber Objekten, von denen man wenig Nutzen oder gar Bestrafung erwartet oder bereits erlebt. 2. Expressive Kategorie: Das Einstellungsobjekt ist Mittel zum Zweck: „ [. . .] it provides a vehicle for securing social support, for increasing self-esteem, or for reducing anxiety “ (ibid.). Es kann sich dabei um das Bedürfnis handeln, von seinem sozialen Umfeld akzeptiert zu werden, es kann aber auch darum gehen, sich selbst und seine Werte darzustellen (Katz ’ 3. Funktion) oder darum, Ängste und innere Konflikte zu vermindern (Katz ’ 2. Funktion). Am Beispiel linguistischer Werturteile liest sich Hereks Modell folgendermassen: Einerseits können affektive und ästhetische Sprachurteile eine evaluative Funktion innehaben - wenn jemand mit der Wahrnehmung einer Sprache positive Gefühle verbindet und Freude daran hat, sie akustisch wahrzunehmen oder selbst zu produzieren, wird direkter Nutzen aus dem Objekt selbst gezogen. Andererseits kann Sprache als Einstellungsobjekt beim 82 I. Theorie <?page no="99"?> ästhetischen Sprachurteil ebenso Mittel zum Zweck sein, was der expressiven Funktion entspricht: Personen positionieren sich mittels sprachlicher Werturteile nicht nur in ihrer linguistischen Umgebung, sondern auch in ihrem sozialen Umfeld und vermitteln sich selbst und ihrer Umwelt ein bestimmtes Bild von sich. Bezeichnet jemand im Interview Arabisch als schönste Sprache, muss dies nicht unbedingt aus dem Grund geschehen, dass die Person Arabisch so gerne hört. Die Person kann das ästhetische Sprachurteil im Interviewkontext instrumentalisieren und damit beispielsweise Offenheit gegenüber der arabischen Welt markieren und somit denjenigen Teil ihrer Identität offenbaren, den sie zu offenbaren wünscht. Augoustinos/ Walker (1995: 19) kritisieren an allen bisherigen Einstellungsfunktionstheorien, dass sie zu stark auf den Nutzen für die Einzelperson, die über die Einstellung verfügt, fokussieren und die soziale Funktion ausser Acht lassen. Denn der Ausdruck (oder das öffentliche Kundtun) von Einstellungen kann zur sozialen Kohäsion beitragen, indem ein Individuum seine Position relativ zu einer sozialen Gruppe definiert und sich damit in der sozialen Matrix verortet (ibid.). Einzelpersonen müssen entscheiden, wie stark sie sich im Sinne einer bestimmten Einstellung einsetzen und wie offen sie sich dazu bekennen wollen in der Öffentlichkeit oder eben wie in der vorliegenden Forschung, in einer face-to-face Interviewsituation. Als Mittel zum Zweck dient die Einstellung im Kontext linguistischer Werturteile ergo nicht nur auf der Ebene der individuellen Identität, sondern auch auf der Ebene sozialer Gruppen. Evaluative metasprachliche Äusserungen sind infolgedessen immer auch hinsichtlich ihrer Brisanz im sozialen Gefüge zu untersuchen. 4.3 Lokale, nationale und globale Identitäten und Alteritäten In Kapitel 4.3 geht es um die Frage, inwiefern Identitäten und Alteritäten hinsichtlich der Räume, in denen sie verortet werden, konstruiert werden. Wir gehen von der Idee aus, dass Räume (Nationen, Regionen, Länder, Städte oder Viertel) mit linguistischer Variation in der Regel signifikant korrelieren (Johnstone, 2004: 65). Raummetaphern kommt bei der Selbstwahrnehmung und Selbstpositionierung eine bedeutende Rolle zu, indem ein Individuum sich immer auch als „ Körper “ im Raum verortet: „ In positioning the self, one is imagining the self in a particular space “ (Giampapa, 2004: 193). Im Zusammenhang mit räumlichen ICMs (idealized cognitive models, vgl. Kap. 3.2.5.3) weisen Radden/ Kövecses (1999: 41 f.) darauf hin, dass Orte oft assoziiert werden mit den Menschen, die dort leben aber auch mit Ereignissen, die sich dort zugetragen haben oder mit spezifischen Produkten aus der Gegend. Dies sei Teil unseres kulturellen Wissens. Lokale linguistische Praktiken dürften Teil dieser Assoziationen ausmachen. Im Folgenden wird zwischen drei Raumtypen unterschieden und somit zwischen drei 4. Konstruktion von Identitäten und Alteritäten 83 <?page no="100"?> topographischen Identitäten beziehungsweise Alteritäten: 1. die regionale/ lokale Identität/ Alterität, 2. die nationale Identität/ Alterität, 3. die globale/ supranationale Identität/ Alterität. Es wäre falsch anzunehmen, dass die mittlere Ebene im Gegensatz zu den anderen beiden Ebenen klar definiert und statisch ist. Nationale Identitäten sind genauso diskursiv konstruiert und müssen verhandelt werden wie andere Identitäten auch (vgl. Wodak et al., 1999). Dass sich eine Person mit einem Schweizer Pass oder eine Person, die in der Schweiz wohnt, als Schweizerin fühlt, ist keineswegs naturgegeben. Die Frage, worin die nationale Identität letztlich besteht, ist Gegenstand diverser Diskussionen. Gemäss Block (2007: 43) kann sie in einer Kombination aus einer gemeinsamen Geschichte, einem geteilten System aus beliefs, Praktiken sowie Sprache und Religion, die mit einer Nation assoziiert werden, bestehen. Auch bei Oppenrieder/ Thurmair (2003: 42) wird auf die Sprache als verbindendes Element verwiesen: Insbesondere bei politisch-sozialen Großgruppen wie Nationen wird typischerweise offiziell eine einzige Sprache als identitätsstiftend angesehen [. . .]. Es versteht sich, dass diese Annahme in Anbetracht mehrsprachiger Länder problematisch ist. Gerade ein territorial mehrsprachiges Land wie die Schweiz (vgl. Kap. 7.1) verfügt über bedeutsame sprachliche Identitätsräume unterhalb der Organisationseinheit Nation, während auf der Ebene des nationalen Raums keine singuläre Sprache als identitätsstiftend ausgemacht werden kann. Da eine eindeutige gemeinsame kulturelle und sprachliche Überdachung fehlt, wird im Zusammenhang mit der Schweiz hin und wieder von einer „ Willensnation “ gesprochen. Die folgende Beschreibung Riehls (2000 b: 143), die auf einsprachige Länder gemünzt ist, trifft auf die Schweiz genauso wenig zu wie auf die von Riehl untersuchte deutschsprachige Minderheit in Südtirol - die Verschachtelung der Identitäten, wie im Zitat beschrieben, muss im Kontext von Sprachminderheiten und/ oder mehrsprachigen Ländern anders funktionieren als hier geschildert: In diesem Sinne verfügen Sprecher regionaler Varietäten (z. B. eines Dialekts) zum einen über eine Identität der Region (z. B. Bayern, Badener, Sachsen etc.), zum anderen über die Identität der Nation, der sie angehören und deren Nationalsprache sie neben ihrer regionalen Varietät ebenfalls sprechen (z. B. Deutsch) und darüber hinaus auch über eine übernationale Identität usw. 35 Es fragt sich für sprachliche Minderheiten wie die Deutschsprachigen in Südtirol aber auch für eine sprachliche Mehrheit wie die Deutschschweize- 35 Lüdi (2007: 44) macht ähnlich wie Riehl darauf aufmerksam, dass sowohl Mehrsprachige als auch Einsprachige (mit einem polylektalen Repertoire) in der Lage sind, verschiedene soziale oder sprachliche Identitäten einzunehmen „ [. . .] seien diese nun ‚ verschachtelt ‘ (Basler < Schweizer < Europäer) oder komplementär (Romand vs. Basler). “ 84 I. Theorie <?page no="101"?> rinnen und Deutschschweizer in einem territorial mehrsprachigen Land, wie ihre Identität auf Ebene der Nation organisiert ist. Sprache und Kultur der regionalen Identifikationsräume sind im Fall dieser Gruppen unterschiedlich von Sprache und Kultur des nationalen Identifikationsraumes - oder aber der nationale Identifikationsraum bietet tatsächlich keine singuläre überdachende Sprache. Die Annahme, dass in mehrsprachigen Ländern unter anderem Identitätskonstruktionen erfolgen, die supranational oder gar global funktionieren, liegt nahe. Dies gilt aber nicht nur für mehrsprachige Länder, wie De Florio-Hansen/ Hu (2004: ix) konstatieren: In Zeiten, in denen der Einfluss von Nation/ Staat geringer wird [. . .] stellt sich die Frage nach der Berechtigung von nationaler Identität in zugespitzter Form. Und sie ist für uns aufs Engste mit dem Problem der Europeanness verbunden. Es fragt sich allerdings, ob die europäische Identität, wie sie hier angedacht wird, nicht eine intellektuelles Wunschdenken bleibt, denn auch dieser Identitätsraum bietet zumindest sprachlich keine eindeutige Überdachung. Die Erosion nationaler Identitäten, die hier angedeutet wird, kann auf linguistischer Ebene auch eine verstärkte Identifikation mit Fremd- und Zusatzsprachen und deren räumlicher Verortung (was im Fall von Englisch eher mit einer globalen als mit einer spezifisch europäischen Identität verknüpft ist) zur Folge haben. Auf diese Möglichkeit weist zum Beispiel Joseph (2004: 20 f.) hin: But we all have many layers of linguistic identity - the national is not the only one and will not be the most important one in all circumstances. It is also the case that second languages can play a significant role in one ’ s linguistic identity. In diesem Sinne attestieren Oppenrieder/ Thurmair (2003: 53) einem Typen, den sie „ Weltbürger “ nennen, eine Identitätserweiterung durch Mehrsprachigkeit. Geprägt ist diese globale Identität von der Kompetenz in „ prestigeträchtigen Weltsprachen “ , wobei der Terminus Weltsprache im Kontext topographischer Identifikationsräume freilich bemerkenswert ist in seiner angenommenen geographischen Reichweite 36 . Gemäss Pavlenko/ Blackledge (2004: 3) kann es gerade in multilingualen Gesellschaften zu Situationen kommen, in denen bestimmte sprachliche Identitätsoptionen gegenüber anderen bevorzugt werden, wenn zum Beispiel Angehörige von Minderheitengruppen, aber auch Institutionen, bestimmte Sprachen, Varietäten oder linguistische Formen besonders begünstigen und 36 Löffler (1998: 23) schreibt, dass die Landessprachen bei der Formierung der nationalen Identität von Schweizerinnen und Schweizern insofern eine Rolle spielen, dass eine dreifache Abgrenzung gegenüber der jeweils grösseren Kultur stattfindet (gegenüber Deutschland, Frankreich und Italien): „ Die dominierende Verschiedenheit nach aussen verbindet also nach innen, insbesondere wenn man die Gemeinsamkeit nach aussen braucht oder demonstrieren will. [. . .] So gesehen ist es eben doch die Sprache, sind es ‚ die ‘ Sprachen, welche nationale Identität der Schweizer begründen. “ 4. Konstruktion von Identitäten und Alteritäten 85 <?page no="102"?> sich anderen explizit verweigern. Diese Begünstigung oder Verweigerung muss sich m. E. nicht gezwungenermassen in konkreter sprachlicher Praxis niederschlagen - sie kann sich genauso über evaluative Äusserungen manifestieren (gerade dann, wenn zum Beispiel die Bildungspolitik eines Landes eine Verweigerung gegenüber einer bestimmten linguistischen Form in praxi nicht zulässt - so führt etwa in der Romandie kein Weg am Deutschunterricht vorbei, da dieser obligatorisch ist). Ein konkretes Beispiel für eine Manifestation dieser Art nennen Tophinke/ Ziegler (2006: 210) für den Dialektkontext: Bewerten Dialektsprecherinnen und -sprecher in Deutschland die Standardsprache als kühl und distanziert (in einer dialektnahen Situation), kann dies gemäss den Autorinnen dazu dienen, die Identität der Dialektsprachigen als Gruppe zu stärken und bekräftigen. Ästhetische und affektive Sprachurteile müssen infolgedessen daraufhin untersucht werden, ob und auf welche Art regionale, nationale oder supranationale Identitäten und Alteritäten konstruiert werden. In einem territorial mehrsprachigen Land wie der Schweiz interessiert, welche topographischen Räume identitätsstiftend wirken und welche zur Konstruktion von Alteritäten dienen. 4.4 Linguistische Identität In Kapitel 4.4 gilt das Interesse der linguistischen Identität von Individuen. Einerseits erfolgt eine Konkretisierung des Konzepts Sprachidentität, das in Kapitel 4.1 eingeführt wurde, andererseits werden zwei Aspekte aufgegriffen, die eine krisenhafte Sprachidentität ausmachen, sowie die Unterscheidung zwischen aktiven und passiven linguistischen Identitäten eingeführt. 4.4.1 Beziehung zu Sprache: Expertise, Zugehörigkeitsgefühl und Vererbung Block (2007: 40) definiert Sprachidentität als „ [. . .] the assumed and/ or attributed relationship between one ’ s sense of self and a means of communication. “ Das Kommunikationsmittel kann dabei eine Sprache sein (zum Beispiel Französisch oder Englisch - mitunter als idealisierte Vorstellung von Laien davon, was eine Sprache ist), es kann sich dabei aber auch um einen Dialekt oder einen Soziolekt handeln. Die Beziehung zwischen dem „ Selbst “ und dem Kommunikationsmittel kann auf drei Arten ausdifferenziert sein, wie Block (ibid.) in Anlehnung an Rampton (1990) sowie Leung/ Harris/ Rampton (1997) spezifiziert: als Expertise (expertise), als Zugehörigkeitsgefühl (affiliation) und als Vererbung (inheritance). Die drei Beziehungstypen werden im Folgenden kurz konkretisiert: 1. Expertise: Dieser Beziehungstyp beschreibt, wie kompetent jemand in einer Sprache, einem Dialekt oder Soziolekt ist. Rampton (1990: 98 f.) hält 86 I. Theorie <?page no="103"?> fest, dass Expertise nicht gleichgesetzt werden darf mit Identifikation, und dass sie weder angeboren noch statisch ist. Zudem ist sie immer nur partiell vorhanden. Expertise ist das Resultat eines Lernprozesses. Was Expertise jedoch nicht beinhaltet, ist der symbolische Wert einer Sprache, also die Tatsache, dass Sprache als Symbol für Gruppenidentifikation dienen kann. Für diesen Aspekt wird ein weiteres Konzept benötigt, das Rampton (ibid.) als Sprachloyalität einführt. Die Beziehungstypen Zugehörigkeitsgefühl und Vererbung sind als zwei Spielarten dieses Konzepts zu verstehen (ibid.). 2. Zugehörigkeitsgefühl (affiliation): Das Zugehörigkeitsgefühl besteht gemäss Blocks Auslegung (2007: 40) in den Einstellungen eines Individuums und seiner affektiven Verbindung gegenüber bestimmten Sprachen, Dialekten oder Soziolekten: „ [. . .] it is the extent to which a person identifies with and feels attached to a particular form of communication. “ 3. Vererbung (inheritance): Von Block wird Vererbung interpretiert als „ [. . .] a matter of being born into a family or community setting that is associated with a particular language or dialect. “ Das Konzept Vererbung geht aber nicht automatisch einher mit dem Konzept Expertise. Es handelt sich sowohl beim Zugehörigkeitsgefühl als auch bei der Vererbung um verhandelbare Konzepte, die im Laufe der Zeit (und innerhalb individueller Sprachbiographien) grossen Wandelungsprozessen unterworfen sein können (Rampton, 1990: 99 f.): New but valued inheritances can emerge from powerful affiliations, while cherished inheritances can lose their value and be disowned. Wherever language inheritance is involved, there tends to be a sense of the permanent, ancient, or historic. It is important, however, to underline the fact that affiliation can involve a stronger sense of attachment, just as the bond between love partners may be more powerful than the link between parents and children. Rampton räumt ein (ibid.), dass das von ihm entworfene Dreiergespann Expertise, Zugehörigkeitsgefühl und Vererbung den Aspekt der language enmity (also feindseliger Gefühle gegenüber bestimmten Sprachen) nicht abdeckt. Negative Beziehungsarten, die zwischen einem Individuum und einem Kommunikationsmittel - in diesem Fall die L1 - bestehen können, werden in Kapitel 4.4.2 behandelt. 4.4.2 Linguistische Unsicherheit und linguistischer Selbsthass Sowohl der Terminus linguistic insecurity (linguistische Unsicherheit) als auch der Terminus linguistic self-hatred (linguistischer Selbsthass) stammen aus den soziolinguistischen Studien Labovs in New York (1966, 1972 a) und gehören somit zu den frühesten Konzepten der Soziolinguistik. Linguistische Unsicherheit bezeichnet den Umstand (in Labovs Studie auf den New Yorker Kontext bezogen), dass Sprecherinnen und Sprecher eines bestimmten eng- 4. Konstruktion von Identitäten und Alteritäten 87 <?page no="104"?> lischen Akzents (zum Beispiel der Akzent der italienischen Arbeiterklasse) glauben, ihre Sprechweise sei inadäquat - insbesondere im Vergleich mit der Standardsprache. Eine Folge dieser Unsicherheit ist, dass die betroffenen Personen versuchen, sich gezielt Prestigeformen anzueignen, ihre Sprache dadurch verändern und negative Gefühle gegenüber ihrer L1 hegen. A great deal of evidence shows that lower-middle-class speakers have the greatest tendency towards linguistic insecurity, and therefore tend to adopt, even in middle age, the prestige forms used by the youngest members of the highest-ranking class. This linguistic insecurity is shown by the very wide range of stylistic variation used by lower-middle-class speakers; by their great fluctuation within a given stylistic context; by their conscious striving for correctness; and by their strongly negative attitudes towards their native speech pattern. (Labov, 1972 a: 117) Linguistischer Selbsthass ist eine extreme und destruktive Weiterentwicklung der linguistischen Unsicherheit. Beim linguistischen Selbsthass ist die Aversion gegenüber der eigenen Sprache sehr ausgeprägt und es ist anzunehmen, dass linguistischer Selbsthass identitätsbedrohend ist, wenn man davon ausgeht, dass die L1 identitätskonstituierend wirkt. Labov (1966) kommt in seiner Studie zum Resultat, dass linguistischer Selbsthass unter New Yorkern sehr verbreitet ist 37 . Bei Trudgill/ Giles (1976: 6) wird das Konzept direkt mit negativen ästhetischen Werturteilen in Verbindung gebracht. Insbesondere in der Schule kann das ästhetische Urteilen (durch Lehrer) über bestimmte Varietäten der Schülerinnen und Schüler schädliche Folgen haben (vgl. dazu die Ausführungen zur Defizit- und Differenztheorie in Kap. 5.1). 4.4.3 Passive und aktive linguistische Identität Im Falle linguistischer Werturteile und ihrer metasprachlichen Begründungen kann die Argumentation einerseits vom eigenen Gebrauch der Sprache her erfolgen, andererseits kann sie vom Gebrauch „ anderer “ her erfolgen (Mischformen sind natürlich ebenfalls möglich): Ersteres bezeichne ich als aktive linguistische Identität (die Gewährsperson nimmt am Sprachgebrauch teil, ist selbst Sprachbenutzerin oder Sprachbenutzer), letzteres als passive linguistische Identität (die interviewte Person nimmt die Sprache passiv wahr, es geht um die Sprachpraxis „ anderer “ ). Es ist unumstritten, dass sprachliche Aktionen und Interaktionen in der Zielsprache (im besten Fall mit Sprechenden der Zielsprache) im Zusammenhang mit dem Erwerb von Fremd- und Zusatzsprachen von zentraler Bedeutung für das erfolgreiche Lernen und Anwenden derselben sind. Norton Peirce (1995: 12) weist allerdings darauf hin, dass die Annahme, dass solche Interaktionen alleine von der Motivation der Lernenden abhängig sind und diese frei wählen können, wann und wie sie mit Sprechenden der 37 Zu ähnlichen Resultaten kommen Lambert (1967) für Montreal, Macaulay (1975) für Glasgow und Edwards (1979) für Dublin (vgl. Chambers, 2003: 229). 88 I. Theorie <?page no="105"?> Zielsprache kommunizieren wollen, nicht korrekt ist 38 . Die Autorin plädiert dafür, das Bewusstsein für das Recht zu sprechen ( „ an awareness of the right to speak “ (ibid. 18)) in L2-Kompetenzdefinitionen aufzunehmen. Sie stützt ihre Überlegungen auf Bourdieu (1991: 75), der dieses Recht zu sprechen als „ the power to impose reception “ formuliert hat: His [Bourdieus, eigene Anmerkung, C. C.] position is that the linguist takes for granted the conditions for the establishment of communication: that those who speak regard those who listen as worthy to listen and that those who listen regard those who speak as worthy to speak. However, as Bourdieu argues, it is precisely such assumption that must be called into question. (Norton Peirce, 1995: 18) Der von Miller (1999) eingeführte Terminus audibility zielt in eine ähnliche Richtung und kann ebenfalls im Kontext aktiver linguistischer Identitäten verstanden werden. Es geht um das Gehört-Werden von L2-Benutzern, was impliziert, dass sie eine L2 aktiv verwenden. Hinzuweisen ist auf neuere Entwicklungen, die diese Überlegungen weiterspinnen. Multimodale Ansätze der L2 Forschung gehen davon aus, dass L2 Kompetenz nicht nur linguistische Merkmale umfasst (also Hören, Reden, Gehört-Werden), sondern auch nicht-sprachliche, semiotische Ausdrucksmöglichkeiten (Kleidung, Ausdruck, Bewegung und andere Formen semiotischen Verhaltens) (vgl. Block, 2007: 42). Wenn Lernen in einem geeigneten Umfeld stattfindet und wenn die Lernenden motiviert genug sind, können sie immer mehr Kontrolle gewinnen über die „ semiotischen Wahlmöglichkeiten, die die fremde Sprache bereithält “ , letztlich sogar ihre Identität „ [. . .] umstrukturieren und reparieren “ (De Florio-Hansen/ Hu, 2007: xi). 4.5 Methodologie der Identitätsforschung Methodologisch zeichnet sich in der Forschung zum Themenkomplex Identität/ Alterität eindeutig eine Tendenz zur qualitativen Forschung ab. Als Grund nennen De Florio-Hansen/ Hu (2007: xii), dass im Mittelpunkt der Forschung „ [. . .] die höchst subjektiven Bedeutungen der im jeweiligen Feld Handelnden [. . .] “ stehen. Qualitative Methoden sind prädestiniert dafür, solche subjektiven Bedeutungen oder Sinnstrukturen herauszuarbeiten. Zum Einsatz kommen als Datenquellen etwa Tagebücher von Lernenden, Fokusgruppen und Interviews (z. B. bei Norton, 2000). Ferner wird ethnographisch 38 Norton (2000: 10) ersetzt das Konzept motivation (Motivation) durch das Konzept investment (Investition): Es wird davon ausgegangen, dass Lernende, wenn sie sprechen, nicht lediglich Informationen austauschen mit Sprechenden der Zielsprache: „ [. . .] they are constantly organizing and reorganizing a sense of who they are and how they relate to the social world. Thus an investment in the target language is also an investment in a learner ’ s own identity, an identity which is constantly changing across time and space. “ 4. Konstruktion von Identitäten und Alteritäten 89 <?page no="106"?> gearbeitet, wobei gemäss Pavlenko (2002: 297) gerade im poststrukturalistischen Ansatz Langzeitstudien bevorzugt werden, da angenommen wird, dass die Konstruktion von Identität ein dynamischer, andauernder Prozess ist. Im Sammelband von Pavlenko/ Blackledge (2004), in dem es um die Verhandlung und Konstruktion von Identitäten im multilingualen Kontext geht, zählt das semi-strukturierte Interview zu den am häufigsten gewählten Methoden. Betont wird, dass eine emische Perspektive eingenommen wird, bei der die Ansichten und Meinungen der Interviewten im Mittelpunkt stehen (ibid. 25). 4.6 Zusammenfassung Generell wird Identität im Rahmen dieser Arbeit in der Tradition der poststrukturalistischen Identitätsforschung verstanden. Identität ist sprachlich konstruiert (narrativ und diskursiv) also grundsätzlich verhandelbar. Sie ist in ihrer Art sozial (weder alleine im Individuum angelegt, noch alleine von externen Einflüssen bestimmt), dynamisch und prozesshaft sowie multidimensional. Alteritäten werden als konstitutiv für die Konstruktion von Identitäten erachtet. Identität kann auch als Konstrukt verstanden werden, das durch gezielte Analysen aus einem Datensatz (zum Beispiel Interviewdaten, wie sie hier vorliegen) emergiert. Sinnvoll ist m. E. eine Kombination aus der Festlegung einer Arbeitsdefinition und einer offenen Haltung beim Analysieren qualitativer Daten hinsichtlich Identitätskonstruktionen und -definitionen von Gewährspersonen (emische Perspektive). Die beiden Grössen Identität und Sprache sind eng ineinander verwoben - es wurden drei Ausdeutungsmöglichkeiten der Beziehung zwischen den beiden festgehalten: 1. Identität der Sprache: Hier wird die Frage gestellt, wann ein Bündel linguistischer Merkmale als Dialekt, Varietät oder Sprache identifiziert wird. Linguistische Werturteile und Sprachideologien konstituieren die Identität einer Sprache ebenfalls. 2. Sprachidentität: Hier gilt das Interesse der Beziehung zwischen einem Individuum und einem oder mehreren Kommunikationsmitteln. Es wurden drei Arten der Beziehung festgehalten: Expertise (oder Kompetenz), Vererbung (die Tatsache, dass jemand in eine Gemeinschaft hineingeboren wurde, die mit einer bestimmten Sprache assoziiert wird) sowie Zugehörigkeitsgefühl (Einstellungen und allgemeiner die affektive Verbindung zwischen einem Individuum und einem Kommunikationsmittel). Letztere zwei können unter dem Begriff Sprachloyalität zusammengefasst werden. Im Zusammenhang mit der Sprachidentität von Individuen wurden zwei krisenhafte Identitätsaspekte eingeführt: die so genannte linguistische Unsicherheit sowie der linguistische Selbsthass. Beide bezeichnen eine problematische Beziehung eines Individuums zu seiner 90 I. Theorie <?page no="107"?> L1, die es als minderwertig im Vergleich zur Standardsprache erachtet. Ferner wurde die Unterscheidung zwischen aktiven und passiven linguistischen Identitäten eingeführt, die bei der Analyse sprachlicher Werturteile zweckvoll ist: Die Gewährspersonen schildern, dass sie als Sprachbenutzerinnen und -benutzer am evaluierten Objekt aktiv teilnehmen, oder sie deklarieren, dass sie das evaluierte Objekt passiv „ konsumieren “ . 3. Identität durch Sprache: Identität wird sowohl diskursiv verhandelt und konstruiert, als auch über spezifische Sprachverwendungen ausgedrückt. Schon früh wurde in der Einstellungsforschung darauf hingewiesen, dass Einstellungen für die Personen, die sie äussern, unterschiedliche Funktionen haben können - dabei werden zwei Funktionen genannt, die im Kontext der Konstruktion von Identitäten und Alteritäten verortet werden können: die selbst-unterstützende Funktion (durch Einstellungen grenzt man sich von anderen Gruppen ab und/ oder stärkt das Bild der eigenen Gruppe) sowie die Werte vermittelnde Funktion (über Einstellungen positioniert man sich nicht nur in einer sozialen Matrix, man kann auch bewusst Aspekte seiner Persönlichkeit offenbaren). Grundsätzlich gilt, dass evaluative Äusserungen (oder Einstellungen) sich auf das evaluative Objekt selbst beziehen können (dann haben sie tatsächlich eine evaluative Funktion), oder aber dass das beurteilte Objekt Mittel zum Zweck ist: Die evaluative Äusserungen wird instrumentalisiert, damit das Individuum seine Identität ausdrücken kann (expressive Funktion). Ein weiterer Aspekt, der im Zusammenhang mit der Konstruktion von Identitäten und Alteritäten im vorliegenden Datensatz untersucht wird, ist ihre räumliche Verortung: Welche topographischen Räume sind identitätsstiftend und inwiefern sind sie gleichzeitig als linguistische Räume zu verstehen? Eingeführt wurden zu diesem Zweck die regionale, die nationale sowie die supranationale respektive globale Identität/ Alterität. Für mehrsprachige Länder wie die Schweiz stellt sich die Frage, wie nationale Identitäten ausgestaltet sind und welche Rolle die Sprache dabei spielt, da keine identitätsstiftende Überdachung durch eine singuläre Sprache vorhanden ist. Ins Auge gefasst wurde die Möglichkeit, dass in dieser Situation vermehrt auf den globalen Raum ausgewichen wird und Identitäten über Fremdsprachen, insbesondere Englisch, konstituiert werden. 4. Konstruktion von Identitäten und Alteritäten 91 <?page no="108"?> 5. Forschungsstand Die Anfänge einer konkreten und kohärenten soziolinguistischen Auseinandersetzung mit der Frage, ob es Sprachen respektive Varietäten oder Dialekte gibt, die schöner sind als andere, lassen sich in die 70er Jahre zurückdatieren 39 . Aus dieser Auseinandersetzung stammen die in Kapitel 5.1 thematisierten Hypothesen der Sprachästhetikforschung sowie deren Weiterentwicklung im Rahmen der Wahrnehmungsdialektologie. Eine ähnlich gut belegte Forschungsaktivität kann für das affektive Sprachurteil nicht festgestellt werden. Die Ausführungen beschränken sich daher auf einige wenige Studien, die sich mit affektiven Faktoren in der Sprachevaluation auseinandersetzen (vgl. Kap. 5.2). Spracheinstellungen werden innerhalb der Sprachbetrachtungskonzepte, welche im Rahmen von Kapitel 3.2 vorgestellt worden sind, als übergeordnetes Konzept aufgefasst: Ästhetische und affektive Sprachurteile sind evaluative Äusserungen (diskursive Einstellungen) bezüglich des Objekts Sprache. Einstellungsstudien, die den direkten Zugang wählen (vgl. Kap. 3.2.1.3), sind selten - und noch seltener wird dabei konkret auf ästhetische oder affektive Aspekte eingegangen. In Kapitel 5.3 werden daher nicht nur exemplarisch einige Studien dieses spezifischen Typs vorgestellt, sondern auch Einstellungsstudien des indirekten Typs berücksichtigt. Bei Letzteren gilt das Interesse insbesondere Spracheinstellungsstudien, die aus der Deutschschweiz oder der Romandie stammen, den beiden Schweizer Sprachregionen, die im Fokus der vorliegenden Forschungsarbeit stehen 40 . 39 Allgemeine sprachästhetische Überlegungen können schon früher konstatiert werden, z. B. bei Vossler (1925, vgl. Kap. 2.1.2) oder Elwert (1959). Bei Schlegel (1798) finden sich im Wettstreit der Sprachen aussagekräftige Passagen darüber, was eine schöne Sprache ausmacht. In ihrer Antrittsvorlesung kommt Meisenburg (2001) zum Schluss, dass die dort skizzierten Prinzipien des Wohlklangs dem entsprechen, was die Natürlichkeits- und Optimalitätstheorie als ideale Silbe beschreiben: die CV-Silbe mit einem konsonantischen Anfangsrand und einem vokalischen Kern. Allerdings wird bei Schlegel auch festgehalten, dass zu viel des Wohlklangs auch störend sein kann. Daher bedarf es der Abwechslung dieser schönen Formen mit weniger schönen Folgen und Anordnungen (ibid.). 40 Resultate zu Studien, die sich mit weiteren Sprachbetrachtungskonzepten aus Kapitel 3.2 befassen, sind in der theoretischen Herleitung der Hypothesen (vgl. Kap. 8.3) sowie der qualitativen ex-ante Forschungsfragen (vgl. Kap. 8.4) zu finden. Überdies wurden in Kapitel 3.1 mehrere Studien hinsichtlich der zur Anwendung kommenden wahrnehmungsdialektologischen Methode vorgestellt (vgl. Matrix aus Sprachbetrachtungstypen und Produktionsquellen). <?page no="109"?> 5.1 Das ästhetische Sprachurteil Eine fundierte Auseinandersetzung mit Fragen der Sprachästhetik findet in den 70er Jahren insbesondere im angelsächsischen soziolinguistischen Kontext statt (Giles et al., 1974 a/ b; Trudgill/ Giles, 1976). Das Interesse gilt in dieser Zeit hauptsächlich intralinguistischen Wertungen, da von diesen die grösste bildungssowie machtpolitische Brisanz ausgeht. Giles et al. (1974 a: 590) gehen von folgender Frage aus, von der sie später die ersten beiden Hypothesen der Sprachästhetikforschung ableiten: In most cultural contexts, the users of the prestigious code of a language are to a large extent the most powerful social group. The essence of our problem may be stated in terms of whether this powerful group adopted their particular speech patterns in a more or less arbitrary manner or whether they consciously (or unconsciously) selected the universally more esthetic code. Zwei grundsätzlich unterschiedliche Ansätze zur Beantwortung dieser Frage finden sich in der Defizittheorie und in der Differenztheorie (deficit and difference theory) (ibid.). Erstere besagt, dass Nicht-Standard-Varietäten gegenüber der Standardsprache bezüglich zahlreicher linguistischer Kriterien tatsächlich minderwertig sind. In diesem Fall würde zutreffen, dass die mächtigste soziale Gruppe die ästhetisch hochwertigste Sprachform gewählt hat. Letztere weigert sich, solche Werturteile abzugeben und hält Nicht- Standard-Varietäten für normale, gut entwickelte Sprachen mit ihren eigenen strukturellen Regeln (Williams, 1971, zitiert nach Giles et al., 1974 a). Trudgill/ Giles (1976: 6) machen darauf aufmerksam, dass Kinder, die in Grossbritannien nicht über einen standardsprachlichen Akzent verfügen, von ihren Lehrpersonen oftmals dazu angehalten werden, die Standardsprache zu übernehmen (dabei werden sowohl ästhetische Gründe als auch das Verständlichkeitsargument ins Feld geführt). Diese Praxis hat gemäss den Autoren oftmals zur Folge, dass die Kinder Unsicherheit gegenüber ihrer eigenen Sprache entwickeln und im schlimmsten Fall sogar linguistischen Selbsthass (vgl. Kap. 4.4.2). Aus dem Defizit- und dem Differenzansatz ergeben sich folgende zwei sprachästhetische Hypothesen (vgl. Giles et al., 1974 b: 405 - 406): 1. Inhärenzhypothese (inherent value hypothesis): Eine Varietät wird deswegen zum Standard (oder zur Prestigevarietät), weil sie die inhärent schönere oder schönste Form einer Sprache ist. 2. Hypothese zur auferlegten Norm (imposed norm hypothesis): Die Standardsprache erlangt ihr Prestige direkt vom Status der sozialen Gruppe, welche zufällig ausgerechnet auf diese Art und Weise spricht. Die Standardsprache hat ihren Prestigestatus durch einen „ cultural ’ accident ‘“ (ibid.) erlangt und ist keineswegs ästhetisch schöner oder linguistisch weiter entwickelt als Nicht-Standard-Varietäten der Sprache. 5. Forschungsstand 93 <?page no="110"?> Die Differenztheorie (welche der 2. Hypothese entspricht) findet sich im Übrigen auch in Bourdieus (1977 b, 1982 a, 1991) Überlegungen zum symbolischen Wert von Sprachen: Es wird betont, dass die dominante soziale Gruppe das Misskonzept (méconnaissance) über ihre Sprache gezielt unterstützt (es handelt sich dabei um das Konzept, dass diese Sprache inhärent besser oder schöner ist). Bei den beiden Theorien handelt es sich folglich um zwei divergierende Sprachideologien, welche in der Aushandlung von gesellschaftlichen Machtverhältnissen eine bedeutsame Rolle spielen (vgl. Kap. 3.2.4). In allen Arbeiten der 70er Jahre wird die Inhärenzhypothese kategorisch abgelehnt. Dass Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftler sehr bestrebt sind zu betonen, dass keine inhärent schöneren und weniger schönen Sprachen existieren, wird durch das ironische Bonmot Mackeys deutlich: „ A language is neutral only before God and the linguist. “ 41 Impliziert wird hier freilich, dass Laienmodelle diese Haltung nicht unbedingt übernehmen: Ob Laien die Inhärenzhypothese genauso konsequent ablehnen wie Linguistinnen und Linguisten, gilt es zu prüfen 42 . Den Forschenden der 70er Jahre gelingt es nicht abschliessend, die Inhärenzhypothese mit empirisch breit abgestützten Daten zu Fall zu bringen, so dass alle Zweifel ausgeräumt werden könnten. Giles et al. (1974 b) führen Matched-Guise Experimente mit Griechischen Stimuli (einmal ein prestigeträchtiger Dialekt der Oberschicht aus Athen und einmal ein Dialekt aus Kreta sowie Italienisch, Spanisch und Persisch) mit Gewährspersonen aus Grossbritannien durch, die mit der griechischen Sprache nicht vertraut sind. Die Gewährspersonen bevorzugen keinen der beiden Griechischen Dialekte, woraus die Autoren folgern, dass dies die Hypothese zur auferlegten Norm unterstützt. Eine Studie von Brown et al. (1975) hingegen scheint die Inhärenzhypothese zu bestätigen: Amerikanische Gewährspersonen, die nicht mit Französisch vertraut sind, ordnen französischsprachige Kanadier aufgrund von Audiodaten korrekt verschiedenen sozialen Klassen zu. Trudgill/ Giles (1976) vermuten jedoch, dass die Resultate nicht uneingeschränkt als Bestätigung der Inhärenzhypothese aufgefasst werden dürfen. Die Klassenzuordnungen könnten auch auf unterschiedlichen und klassenbedingten Lesekompetenzen der Sprechenden beruhen oder sogar auf paralinguistischen Merkmalen, die mit der sozialen Klasse der Sprechenden zusammenhängen. Giles et al. (1974 a: 594) äussern den Verdacht, dass es letztlich sprachabhängig sein könnte, ob eher die Hypothese der Inhärenz oder die Hypothese zur auferlegten Norm zutrifft. Eine Erweiterung der beiden Hypothesen wird kurze Zeit später von Trudgill/ Giles (1976) vorgeschlagen: Die Autoren lehnen die Inhärenzhypothese weiterhin ab und erklären die Hypothese zur auferlegten Norm für 41 Aus Edwards (2004), zitiert nach Polzenhagen/ Dirven (2008: 255). 42 Dass im Übrigen auch linguistische Arbeiten nicht frei von Werturteilen sind, wurde in Kapitel 2.1.2 bereits verhandelt 94 I. Theorie <?page no="111"?> korrekt; gleichzeitig betonen sie aber, dass diese erweitert werden muss. Sie schlagen daher eine dritte Hypothese vor: die Hypothese zu den sozialen Konnotationen (ibid. 12). Statt ästhetische Urteile über Sprachen ausschliesslich auf kulturelle und soziale Normen zurückzuführen, wird im Rahmen dieser Hypothese den sozialen Konnotationen, welche eine Sprache für Hörer hat, Rechnung getragen (ibid. 11). 3. Hypothese zu den sozialen Konnotationen (social connotations hypothesis): Sprachurteilen liegen komplexe soziale Konnotationen zu Grunde, welche individuell unterschiedlich sind. Mentale Landkarten (mental maps), die Personen von Regionen haben, werden als Beispiel für eine soziale Konnotation angeführt. So werden in Grossbritannien Dialekte urbaner und stark industrialisierter Regionen negativer bewertet als Dialekte ländlicher Gegenden (ibid. 12). Die Autoren kommen zum Schluss (ibid.): „ Aesthetic judgements about language [. . .] are just as much social judgements as those concerned with correctness. “ 43 Die Idee, dass ästhetische Sprachurteile bisweilen von aussersprachlichen Faktoren in ikonischen Prozessen modelliert werden, ist allerdings zu diesem Zeitpunkt keineswegs neu. Bereits bei Elwert (1959: 438) werden soziale und kulturelle Konnotationen als treibende Kraft bei der Formierung ästhetischer Sprachurteile beschrieben: Dans tous ces jugements, qu ’ ils proviennent des profanes ou des savants, il me semble qu ’ on pourrait relever deux faits: d ’ abord la subjectivité, ensuite le fait que le jugement sur l ’ impression acoustique est déterminé par des éléments accessoires, qui n ’ ont rien à faire avec l ’ impression auditive, et qui se rapportent soit à des associations extralinguistiques, soit à des associations culturelles qui se rattachent à la langue considérée non pas uniquement comme impression acoustique. Einige Jahre später stellt Martinet (1974: 49 [1965]) ebenfalls eine „ confusion entre la langue elle-même et les aspects du monde qu ’ elle révèle ou qu ’ elle symbolise “ fest und spricht von einem „ conditionnement externe des juge- 43 Edwards (1982: 21) stellt drei Thesen dazu auf, weshalb evaluative Tendenzen innerhalb von Sprachgemeinschaften meist dem gleichen Muster folgen (standardnahe Varietäten werden positiv bewertet hinsichtlich Korrektheit und Kompetenz der Sprecher, aber relativ negativ hinsichtlich ihrer sozialen Attraktivität und der persönlichen Integrität der Sprecher. Ländliche Varietäten zeigen das umgekehrte Muster. Städtische Varietäten, die mit industrialisierten Gebieten assoziiert werden, werden generell negativ beurteilt). Die drei Thesen sind den Hypothesen der Sprachästhetikforschung sehr ähnlich: a) Es handelt sich um intrinsische linguistische Überlegen- oder Unterlegenheit; b) es handelt sich um intrinsische ästhetische Werte; c) es handelt sich um soziale Konventionen und Präferenzen. Edwards lehnt - ganz in der soziolinguistischen Tradition - die ersten beiden Thesen ab, welche der Inhärenzhypothese entsprechen und spricht sich für die dritte aus, welche der Hypothese zu den sozialen Konnotationen entspricht. 5. Forschungsstand 95 <?page no="112"?> ments esthétiques relatifs aux langues. “ Das Inhärenzmoment bei ästhetischen Urteilen klammert Martinet indes nicht ganz aus und erklärt in einem Zirkelschluss, dass bestimmte linguistische Merkmale von Sprachen auch aus dem Grund als schön empfunden werden, weil sie eben just in den Sprachen vorkommen, die zuvor (aus extra-linguistischen Erwägungen) als schön klassifiziert worden sind. Mit dem Ziel, die drei Sprachästhetikhypothesen zu prüfen, ermittelt Ladegaard (1998) die Spracheinstellungen und Stereotype von dänischen Gewährspersonen gegenüber unterschiedlichen englischen Akzenten (RP, Cockney, schottisches Englisch) sowie australischem und amerikanischem Englisch. Zum Einsatz kommen ein Verbal-Guise-Test sowie ein offener Fragebogen und ein englischer Sprachtest. Ohne auf die Details der Studie ausführlich einzugehen, kann festgehalten werden, dass Ladegaards Resultate gegen die Hypothese zu den sozialen Konnotationen sprechen: Es sieht sogar ganz im Gegenteil auf den ersten Blick danach aus, als würde die Inhärenzhypothese bekräftigt (ibid. 268): Subjects who cannot place the speakers in a particular national or social context are still capable of allocating these voices national stereotypes that correspond with prevailing social patterns and cultural norms. Ladegaard vermutet jedoch, dass die Gewährspersonen über unbewusst gespeichertes Wissen über die unterschiedlichen Varietäten verfügen - es handele sich dabei um Stereotype, die über die Medien transportiert würden (als Beispiel wird das Crocodile-Dundee-Image, das mit der Australischen Varietät verbunden ist, genannt): We may therefore conclude that stereotypes can be latent in the individual, and that speech samples may evoke these latent, stereotyped reactions, whether or not the individual is capable of consciously assigning his or her stored information to a particular reference group. (ibid. 269 f.) Mit dieser Auslegung gelingt es Ladegaard gerade noch so, die Inhärenzhypothese nicht annehmen zu müssen. Berthele (2010 b) äussert um einiges konkreteren Zweifel daran, ob die Inhärenzhypothese tatsächlich kategorisch abzulehnen ist. Mit visuellen Stimuli (handgezeichnete Sprechblasen mit unterschiedlichen Mustern, daher auch Bubble Task genannt) elizitiert er bei Laien Gestalt-basierte mentale Modelle von Varietäten und Sprachen (vgl. auch Berthele, 2006 44 ). Die Gewährspersonen ordnen den visuellen Stimuli einerseits Varietäten und Sprachen zu (dies in durchaus musterhaften 44 Ein früher Versuch, mit visuellen Stimuli zu arbeiten, findet sich bei Kolde (1981: 369 ff.). Dieser konstatiert damals jedoch eine „ [. . .] Beliebigkeit der Zuordnung graphischer zu sprachlichen sowie sprachlicher zu ethnischen Merkmalen bzw. Stereotypen [. . .] “ (ibid. 372). 96 I. Theorie <?page no="113"?> Zügen), andererseits attribuieren sie Adjektive zu den genannten Sprachen und Varietäten 45 . Berthele verfolgt mit seinem Experiment folgendes Ziel (2010 b: 267): [. . .] to show how potentially universal mappings of sounds and forms interact with cultural and other mental models of social or ethnic groups, languages and varieties. The seemingly opposite positions of inherent value vs. cultural stereotypes regarding language attitudes in my view is a wrong opposition, since both domains contribute their share to attitudes and mental models of language in a conspirative manner [. . .]. Tatsächlich legen Bertheles Daten die Annahme nahe, dass linguistische Stereotype zwar nicht ausschliesslich über (akustische) Wahrnehmungen gesteuert werden, dass sie aber ästhetische und synästhetische Komponenten haben müssen - ob diese universalen Charakter haben, ist gemäss Berthele noch zu prüfen (ibid. 285). Die drei Hypothesen der Sprachästhetikforschung werden nach ihrer Einführung während mehr als 20 Jahren nicht weiterentwickelt. Erst mit dem Aufkommen der Wahrnehmungsdialektologie (vgl. Preston, 1999; Long/ Preston, 2002; zur Geschichte der Wahrnehmungsdialektologie und ihren Wurzeln in der traditionellen Dialektologie, vgl. Löffler, 2010) treten sie wieder in Erscheinung. Die Wahrnehmungsdialektologie widmet sich der Frage, wie sich Laien Dialekträume vorstellen, welche Dialektmerkmale bei der Perzeption salient sind (und zum Beispiel Einstellungen oder Vorurteile hervorrufen), welche linguistischen Merkmale mit bestimmten Dialekten assoziiert werden (die in den Dialekten manchmal tatsächlich gar nicht vorkommen) sowie welches assoziative Potenzial Dialekte haben (vergleichbar mit der Hypothese zu den sozialen Konnotationen, es geht um aussersprachliche Faktoren) (vgl. Hundt et al. 2010). Somit kann sie als Subdisziplin der Laienlinguistik verstanden werden (vgl. Kap. 2). In einem Artikel zur ästhetischen Evaluation des Niederländischen widmet sich van Bezooijen (2002) den Hypothesen der Sprachästhetikforschung: Sie nimmt leichte terminologische Veränderungen an den ersten drei Hypothesen vor und addiert drei weitere Hypothesen. Die sechs Hypothesen zum ästhetischen Sprachurteil, die daraus resultieren, sind bis dato meines Wissens nicht weiterentwickelt worden 46 . Bevor auf die drei neuen Hypothesen im Detail eingegangen wird, erfolgt ein Überblick über die Ursprungshypothesen und ihre Erweiterung aus dem Jahr 2002 (ibid. 14 - 15): 45 Dass letztere Aufgabe zirkulären Charakter haben kann, indem die Gewährspersonen die visuellen Stimuli beschreiben, räumt Berthele (2010 b: 286) selbst ein. 46 Davon geht auch van Bezooijen aus [persönliche Kommunikation, April 2009]. 5. Forschungsstand 97 <?page no="114"?> Tab. 5: Hypothesen der Sprachästhetikforschung: 70er Jahre vs. Erweiterung im Jahr 2002. Hypothesen der 70er Jahre (Giles et al., 1974 b; Trudgill/ Giles, 1976) Hypothesenerweiterung 2002 (van Bezooijen, 2002) 1. Inherent value hypothesis (Inhärenzhypothese) 1. Sound driven hypothesis (Klanghypothese) 2. Imposed norm hypothesis (Hypothese zur auferlegten Norm) 2. Norm driven hypothesis (Normhypothese) 3. Social connotations hypothesis (Hypothese zu den sozialen Konnotationen) 3. Context driven hypothesis (Kontexthypothese) 4. Intelligibility driven hypothesis (Verständlichkeitshypothese) 5. Familiarity driven hypothesis (Vertrautheitshypothese) 6. Similarity driven hypothesis (Ähnlichkeitshypothese) Während sich Hypothese 2 und 3 in der Version aus dem Jahr 2002 inhaltlich nicht wesentlich verändern, ist bei der Inhärenzhypothese eine Reduktion auf phonetisch-phonologische und prosodische Merkmale feststellbar, die im Begriff sound widerspiegelt wird. Dieser Reduktion folge ich nicht: Ich verstehe den inhärenten Wert einer Sprache einerseits bezüglich ihrer Klangqualität (Phoneminventar, Phonotaktik, Prosodie), jedoch ebenso bezüglich ihrer strukturellen Eigenschaften (Morphosyntaktik, Lexik etc.). Die drei neuen Hypothesen werden folgendermassen ausgelegt: 4. Verständlichkeitshypothese (intelligibility driven hypothesis): Varietäten, die von den Gewährspersonen gut verstanden werden (sei es die Standardsprache oder ihr eigener Dialekt), erzielen höhere Werte in Studien zur Sprachästhetik (Van Bezooijen, 2002: 15). Der Umkehrschluss wird von van Bezooijen nicht vollzogen, findet sich jedoch beispielsweise bei Elwert (1959: 439 - 440): Toute langue qu ’ on entend parler sans pouvoir la comprendre laisse indifférent celui qui l ’ entend; elle est pour lui sans « valeur », elle n ’ est pour lui ni belle ni laide, bien plus, elle peut même être perçue comme désagréable, comme quelque chose de fâcheux, comme un babillage vide de sens, et elle est désignée comme telle. 47 47 Gemäss Elwert (1995: 440) lässt sich diese Tendenz auch an den pejorativen Begriffen erkennen, die in unterschiedlichen Sprachen existieren für Sprachen, die unverständlich sind - er nennt unter anderem die Termini Kauderwelsch auf Deutsch oder gibberish und gabble auf Englisch. 98 I. Theorie <?page no="115"?> 5. Vertrautheitshypothese (familiarity driven hypothesis): Je vertrauter jemand mit einer Sprache ist, desto positivere ästhetische Urteile werden abgegeben (van Bezooijen, 2002: 15). Worin besteht der Unterschied zwischen der Verständlichkeitshypothese und der Vertrautheitshypothese? Auf den ersten Blick scheinen sie fast deckungsgleich. Vertrautheit setzt nicht unbedingt Verständnis voraus, während Verständnis aber meist mit Vertrautheit korreliert. Die Hypothese zur Vertrautheit erinnert an den mere exposure effect (vgl. Zajonc, 1968) aus der Psychologie: Je öfter Menschen einer Situation oder einem Gegenstand ausgesetzt sind, desto positiver wird diese/ dieser bewertet (vorausgesetzt, die erste Bewertung war nicht negativ). Bei Sprachen müsste also ein regelmässiger und positiver Kontakt bestehen, damit sie positiv beurteilt würden. Dabei muss die Sprache nicht unbedingt verstanden und auch nicht zwingend aktiv und sehr bewusst wahrgenommen werden. Der Umkehrschluss der Verständlichkeitshypothese (wenn eine Sprache nicht verstanden wird, kann sie nicht als schön empfunden werden) widerspricht folglich den Prinzipien der Vertrautheitshypothese. 6. Ähnlichkeitshypothese (similarity driven hypothesis): Diese Hypothese ist im Kontext intralinguistischer Vergleiche zu verstehen: Wenn Nicht-Standard-Varietäten der Standardvarietät sehr ähnlich sind, werden diese ästhetisch positiver beurteilt als solche, die ihr unähnlich sind. Van Bezooijen führt drei Studien durch, um die nunmehr sechs Hypothesen zu prüfen: 1. eine Studie im Matched-Guise Design, bei der evaluative Urteile zu Standardniederländisch und zu nichtstandardsprachlichen niederländischen Dialekten verglichen werden. 2. eine Studie (ebenfalls mit Audiostimuli), bei der ästhetische Sprachurteile zu aktuellem Standardniederländisch mit älteren Varianten des Standardniederländischen verglichen werden. 3. eine Studie, bei der als Stimuli keine Sprachdaten, sondern Sprachbezeichnungen fungieren, in welcher Niederländisch mit anderen europäischen Sprachen verglichen wird. Van Bezooijen kommt zu folgenden Erkenntnissen (ibid. 27 ff.): Standardniederländisch wird am positivsten bewertet. Die Kontexthypothese kann nicht bestätigt werden, da die urbanen Dialekte ästhetisch positiver bewertet werden als die regionalen Dialekte. Die Messungen zu den sozialen Konnotationen zu den Regionen ergeben, dass das Verhältnis umgekehrt sein müsste. Ob die Inhärenzhypothese oder die Hypothese zur auferlegten Norm für das Resultat verantwortlich ist, kann nicht abschliessend geklärt werden. Sowohl die Verständlichkeitsals auch die Ähnlichkeitshypothese werden im intralinguistischen Kontext angenommen: „ [. . .] as dialects are more intelligible and closer to the standard they receive more favorable aesthetic evaluations “ (ibid. 28). Im inter-linguisti- 5. Forschungsstand 99 <?page no="116"?> schen Vergleich wird die Verständlichkeitshypothese allerdings verworfen (genauso wie die Vertrautheitshypothese): Familiarity with the languages did not play a role, as the correlation with ugly - beautiful was found to be not significant. And it is very unlikely that the aesthetic judgements were determined by intelligibility, as the language with the lowest rating, i. e., American English, is probably the foreign language which the Dutch understand best, whereas the language with the highest rating, i. e., French, is generally not well understood. Neuere Resultate zur gegenseitigen Bedingtheit von Einstellungen und Verständlichkeit finden sich bei Gooskens (2007) bezüglich der drei skandinavischen Sprachen Dänisch, Norwegisch und Schwedisch. Gooskens (ibid. 8) kommt einerseits zum Schluss, dass die phonetische Distanz 48 zwischen den skandinavischen Sprachen ein guter Indikator für die gegenseitige Verständlichkeit ist. Ferner korrelieren Angaben auf einer Skala zwischen schön und hässlich signifikant mit der Skala zur gegenseitigen Verständlichkeit. Gooskens (ibid.) folgert daraus, dass wahrscheinlich eine signifikante Korrelation zwischen Einstellungen und phonetischer Distanz besteht. Wenn die Hypothesen zur Sprachästhetik hier thematisiert werden, geschieht dies immer im Wissen darum, dass die direkte Erhebungsmethode, die in dieser Forschungsarbeit zum Einsatz kommt, nicht vergleichbar ist mit indirekten Methoden, wie sie (bis auf die 3. Studie van Bezooijens) bisher angewendet worden sind (vgl. Kap. 3.2.1.3 zu indirekten vs. direkten Zugängen zu Spracheinstellungen und Kap. 8.1 zum empirischen Umgang mit den Hypothesen der Sprachästhetikforschung im Rahmen dieser Arbeit). Gestützt auf die Überlegungen zu Identitäten und Alteritäten in Kapitel 4 wird den sechs Hypothesen hier eine siebte Hypothese zur Seite gestellt, der Erklärungspotenzial im Zusammenhang mit explizit erfragten und geäusserten ästhetischen und affektiven Sprachurteilen beigemessen wird: 7. Hypothese zur Identitäts- und Alteritätskonstruktion (identity/ alterity construction hypothesis): Ästhetische und affektive Sprachurteile geben nicht nur Auskunft über das beurteilte Objekt selbst (sowie die Konzepte und Assoziationen, die bei Laien dazu bestehen), sondern auch über die Person, von der die Urteile stammen sowie ihre angenommene Zugehörigkeit zu oder Abgrenzung von sozialen Gruppen. Evaluative Äusserungen in der Laienmetasprache fungieren als Vehikel in der Konstruk- 48 Die Levenshtein Distanz ist ein Algorithmus, welcher die Distanz zwischen der Aussprache von korrespondierenden Wörtern in unterschiedlichen Dialekten oder nahe verwandten Varietäten misst und quantifiziert ausdrückt: Gemessen wird die Anzahl Symbole, die eingefügt, gelöscht oder ersetzt werden müssen, damit ein Wort der einen Sprache/ Varietät in das Wort der anderen Sprache/ Varietät transformiert werden kann (vgl. Gooskens, 2007: 5). 100 I. Theorie <?page no="117"?> tion linguistischer, regionaler, nationaler, supranationaler sowie sozialer Identitäten und Alteritäten. 5.2 Das affektive Sprachurteil und affektive Faktoren bei der Sprachevaluation Grundsätzlich gilt es zwischen dem affektiven Sprachurteil einerseits und affektiven Reaktionen bei der Sprachevaluation andererseits zu unterscheiden. Ersteres wird im Rahmen dieser Studie definiert als die Antwort von Laien auf die Frage, welches ihre Lieblingssprache ist und ihre Begründungen für die angegebene Wahl. Es handelt sich dabei, wie beim ästhetischen Sprachurteil auch, um Konzeptualisierungen, die in ihren Grundzügen eher kognitiver Natur sind. Die Gewährspersonen berichten über ihre affektive Beziehung zu Sprachen, was nicht unbedingt heisst, dass die rapportierten Gefühle im Moment des Interviews empfunden werden. Ich gehe allerdings nicht von einer strikten Trennung zwischen Kognition und Affekt aus: Konzeptualisierungen sind immer auch von Emotionen durchsetzt 49 . Unter affektiven Reaktionen auf Sprachen, Varietäten und Dialekte hingegen verstehen Cargile/ Giles (1997: 195) Gefühle, welche eine Gewährsperson gegenüber einem evaluierten Objekt im Moment der Evaluation hat (die Gewährsperson muss dazu mit Audiomaterial konfrontiert werden). Wenn diese Gefühle negativ sind, rührt das gemäss den Autoren (ibid. 196) von negativen Gefühlen gegenüber Sprechenden bestimmter sozialer Gruppen her: In the context of language attitudes study, it is believed that the unfavourable social meanings attached to certain socially disadvantaged and low prestige minority groups may be translated into negative moods among majority group members when representative voices of the former are encountered. Ob diese Annahme richtig ist, wird von Giles et al. (1995) sowie von Cargile/ Giles (1997) geprüft. Giles et al. (1995) ermitteln Reaktionen von angloamerikanischen Gewährspersonen einerseits auf Englisch mit spanischem Akzent und andererseits auf Englisch mit amerikanischem Akzent. Erwartet wird, dass das Hören des englischen Stimulus mit dem spanischen Akzent negative Gefühle bei den Gewährspersonen auslöst, da es sich um den Akzent einer Sprechergruppe mit wenig sozialem Prestige handelt. Diese Erwartung kann jedoch empirisch nicht bestätigt werden. In der Studie von Cargile/ Giles (1997: 213) hingegen können signifikante Unterschiede in der emo- 49 Für eine (sozial-)konstruktivistische Perspektive auf Emotionen vgl. z. B. Bamberg (1997) oder Pavlenko (2002 b): Pavlenko beispielsweise beschreibt Emotionen als diskursiv konstruiertes Phänomen und untersucht Emotionsdiskurse bilingualer Sprecher (ibid. 50). 5. Forschungsstand 101 <?page no="118"?> tionalen Reaktion von Gewährspersonen einerseits auf einen standardnahen amerikanischen Akzent und andererseits auf Englisch mit einem japanischen Akzent festgestellt werden. Dabei werden Stimuli mit neutralem Inhalt eingesetzt und Stimuli mit spezifisch aggressivem Inhalt. Die Hörer zeigen bei Englisch mit japanischem Akzent generell negativere emotionale Reaktionen; sogar wenn der amerikanische Standardakzent gezielt aggressiv gestaltet wird, zeigen die Hörer noch immer beim japanischen Akzent negativere Reaktionen (ibid.). Im Rahmen der vorliegenden Studie muss zunächst geklärt werden, ob die Frage nach der Lieblingssprache und die Frage nach der schönsten Sprache im Interviewleitfaden unterschiedliche Konzeptualisierungen hervorrufen: Einmal müssten sich diese stärker auf Emotionen beziehen und einmal stärker auf ästhetische Aspekte (vgl. Kap. 11.3 für Resultate diesbezüglich). Ferner interessiert, wie die Argumentation für die Wahl von hässlichen Sprachen ausgestaltet ist: Begründen Laien diese Wahl mit negativen Emotionen oder rechtfertigen sie ihre Wahl mit sprachinhärenten Merkmalen? 5.3 Spracheinstellungsforschung Bei ästhetischen und affektiven Sprachurteilen handelt es sich übergeordnet um evaluative Äusserungen, die in der diskursiven Einstellungsforschung verortet werden können (vgl. Kap. 3.3 Tabelle 4). In Kapitel 3.2.1.3 wurden drei unterschiedliche empirische Zugänge zu Spracheinstellungen geschildert: die Behandlung in der Gesellschaft, der direkte Zugang (bewusste Einstellungen) und der indirekte Zugang (unbewusste Einstellungen). Im Rahmen von Kapitel 5.3.1 werden die Implikationen der Methodenwahl (also der Art des Zugangs) thematisiert - insbesondere gilt das Interesse dem Unterschied zwischen dem direkten und dem indirekten Zugang. In Kapitel 5.3.2 werden daraufhin exemplarisch Studien vorgestellt, die - wie die Vorliegende - den direkten Zugang zu Spracheinstellungen praktizieren und in ihrer Methodologie Ähnlichkeiten mit dem hier gewählten Zugang aufweisen (also das semantische System und die pragmatische Vorgehensweise der Gewährspersonen erfassen). In den Kapiteln 6.2.3 und 6.2.4 wird auf Resultate der Einstellungsforschung aus der Deutschschweiz respektive der Romandie eingegangen. 5.3.1 Direkter vs. indirekter Zugang: Resultate zur Auswirkung der Methodenwahl Beim direkten Zugang zu Spracheinstellungen wissen die Gewährspersonen, dass sie Sprachen evaluieren und sie tun dies bewusst. Beim indirekten Zugang geschieht die Evaluation unbewusst. Dass zwischen diesen unter- 102 I. Theorie <?page no="119"?> schiedlichen Zugängen zu Spracheinstellungen nicht nur grundsätzliche methodologische Unterschiede bestehen, sondern dass sich die Art des Zugangs auch in der Art der erhaltenen Daten und Aussagekraft der Resultate niederschlägt, liegt nahe. Kristiansen (1997) untersucht, inwiefern Spracheinstellungstendenzen abhängig sind davon, ob die Gewährspersonen unbewusst oder bewusst agieren. Sein Ziel ist es, jene Einstellungen zu ermitteln, die als „ driving force “ (2005: 9) hinter Sprachwandel- und Variationsprozessen stehen. Er geht davon aus, dass die „ wahren “ Einstellungen diejenigen sind, welche Einfluss auf solche Prozesse haben. Mit dieser Auffassung muss man nicht einverstanden sein, trotzdem sind die Studien Kristiansens aussagekräftig bezüglich des Erkenntnisgewinns, den die unterschiedlichen Zugänge bringen. Um Spracheinstellungen in der Region Næstved (Dänemark) indirekt zu ermitteln, führt Kristiansen (1997) eine Verbal-Guise Studie in einem natürlichen Setting durch (er wählt dafür Ansagen in Kinos, welche die Kinobesucher zum Mitmachen bei einer Umfrage auffordern 50 ). Getestet werden die Varietäten Standarddänisch, Kopenhagener Dänisch sowie ein leichtes und ein starkes Seeländer Dänisch. In Dänemark verhält es sich zum Entstehungszeitpunkt der Studie so, dass traditionellere dialektale Varianten (wie das Seeländer Dänisch) immer stärker durch Standardformen und sogar noch häufiger durch die Kopenhagener Variante verdrängt werden - insbesondere im Sprachgebrauch jüngerer Personen (ibid. 303). In seiner indirekten Einstellungsstudie findet Kristiansen tatsächlich die grösste Kooperation zum Ausfüllen des Kinofragebogens, wenn die Ansage auf Standarddänisch abgespielt wird. Kopenhagener Dänisch sowie die beiden Seeländer Dialekte erzielen negative Resultate. Diese indirekt ermittelten evaluativen Tendenzen sind also im Einklang mit den tatsächlich ablaufenden Sprachwandelprozessen. Werden die Resultate aber verglichen mit solchen, die bei direkten Befragungen erzielt werden, ist das Ergebnis überraschend: Wenn insbesondere Jugendliche wissen, dass sie urteilen und dies bewusst tun (direkter Zugang), werden lokale Akzente positiv evaluiert - etwa gleich positiv wie die Standardsprache. Der Kopenhagener Akzent wird signifikant negativer beurteilt. Kristiansen kommt zum Schuss (1998: 189, verweisend auf 1997): In particular among adolescents, the conscious (overt) language attitudes are contradicted by the subconscious (covert) attitudes. So in the sense that they accord with the changes in language usage and, arguably, can be seen as governing these changes, I take the subconsciously displayed attitudes to be the more „ real “ ones (Kristiansen 1997). Kristiansen gelingt es zu zeigen, dass indirekte Zugänge zu Einstellungen zuverlässigere Resultate liefern in Bezug auf die Prognosefähigkeit, was 50 Auf die genaue Versuchsanleitung kann hier nicht im Detail eingegangen werden. Eine Zusammenfassung findet sich z. B. in Garrett, 2010: 79 ff.). 5. Forschungsstand 103 <?page no="120"?> Sprachwandelprozesse betrifft. Er spricht daher vom Primat der verdeckten Einstellung (primacy of covert attitudes), was die Sprachwandel- und Variationsforschung anbelangt (2005: 13). Nichtsdestoweniger anerkennt er, dass in offenen Einstellungen geteilte Werte an die Oberfläche gelangen, welche an der Entstehung des Einstellungsklimas (attitudinal climate) in der Gesellschaft beteiligt sind (ibid.): This climate does indeed seem very stable, and it most certainly has ideological functions and social consequences. Das Erkenntnisinteresse direkter Einstellungsforschungen sollte also im Bereich der Erhebung von Sprachideologien und (deren) sozialen Konsequenzen angesiedelt sein - zur Erklärung oder Vorhersage von Sprachwandelprozessen eignet sich die Methode, wie gezeigt wurde, weniger. Ihre Daseinsberechtigung hat sie in der Sprachwandel- und Variationsforschung aber trotzdem: Kristiansen räumt nämlich ein, dass gerade die Unstimmigkeiten, Spannungen und Kontraste zwischen den Resultaten der beiden Zugänge wichtige Erkenntnisse über den Ursprung von Variation und Wandel liefern (1998: 189). Preston (2010 b: 23) fragt überdies zu Recht, ob wirklich davon ausgegangen werden sollte, dass die in Dänemark vorgefundenen Resultate für alle Sprachwandeltypen in allen Kontexten gelten und skizziert somit ein weiteres Forschungsdesiderat der Spracheinstellungsforschung, das methodologischer Art ist. In der vorliegenden Studie werden ausschliesslich offene und bewusst geäusserte evaluative Äusserungen analysiert. Das Interesse gilt dem Einstellungsklima zwischen der Romandie und der Deutschschweiz. Allerdings können, wie in Kapitel 2.2.1 beschrieben wurde, über gezielte Analysen dieses Metasprachentyps ebenfalls nicht direkt kommunizierte, vielleicht unbewusste Inhalte extrahiert werden. 5.3.2 Direkter Zugang: Studien aus dem Ausland Im Folgenden werden exemplarisch Studien aus dem Ausland präsentiert, welche (zumindest partiell) den direkten Zugang zu Spracheinstellungen wählen. Riehl (2000 a) analysiert 50 strukturierte Interviews mit Gewährspersonen aus unterschiedlichen Regionen Deutschlands und macht in ihrer Studie darauf aufmerksam, dass Interviews einen „ reflektierten Umgang mit Attitüden “ darstellen, der nicht identisch mit unbewussten Einstellungen sei (ibid. 143, vgl. Kap. 3.2.1.4). Sie definiert ihr Forschungsinteresse daher nicht im Bereich der Einstellungserhebung, sondern im Bereich der Versprachlichungsstrategien der Gewährspersonen, wenn sie Einstellungen bewusst kommunizieren - damit lässt sich die Studie in der diskursiven Einstellungsforschung verorten. Riehl (ibid. 158 - 159) kommt zum Schluss, dass ihre Gewährspersonen generell Mühe bekunden, Einstellungen zu versprach- 104 I. Theorie <?page no="121"?> lichen und macht dies unter anderem an den vielen Satzabbrüchen fest. Den befragten Laien sei durchaus bewusst, dass ihre Äusserungen zu unterschiedlichen Dialekten von stereotypen Vorstellungen von ihren Sprechern herrühren, „ [. . .] und daher werden Äußerungen von stereotypen Vorstellungen durch bestimmte Strategien abgeschwächt oder legitimiert “ (ibid. 158). So werden zum Beispiel Pauschalisierungen vermieden oder negative Bewertungen gehen mit einer Entschuldigung einher. In der Regel ist die Gesichtswahrung das oberste Prinzip. Nicht mit Interviews, aber ebenfalls mit einer direkten Methode arbeiten Garrett/ Williams/ Evans (2005 a, 2005 b): Gewährspersonen in vier englischsprachigen Ländern (USA, Grossbritannien, Neuseeland und Australien) werden zuerst gebeten, einige Länder zu notieren, von denen sie wissen, dass dort Englisch als L1 gesprochen wird. Danach erfolgt nachstehende Aufforderung, die die Gewährspersonen in der Folge schriftlich bearbeiten: „ Tell us how the English spoken there strikes you when you hear it spoken “ (2005 a: 217). Diese so genannte Stichwort-Methode liefert Daten in Form von Wortlisten oder kürzeren Phrasen. Diese metasprachlichen Entitäten werden von den Forschenden in sechs Kategorien eingeteilt 51 : 1. Linguistische Merkmale (linguistic features): Für die Stichwörter in dieser Kategorie lässt sich eine Verteilung auf dem von Preston (1996, vgl. Kap. 2.2.2) eingeführten Kontinuum der Spezifität der Sprachbewusstheit (global bis spezifisch) feststellen. Einerseits erfolgen sehr detaillierte Kommentare wie „ r-less “ , andererseits unspezifische Aussagen wie „ more pronounced “ (vgl. Garrett/ Williams/ Evans, 2005 a: 218). 2. Affektiv (affective): Unterschieden wird für diese Kategorie zwischen der Beschreibung von positiven und der Beschreibung von negativen affektiven Konsequenzen für die Gewährsperson. M. E. zeigt sich hier die generelle Schwierigkeit, Laienmetasprache zu kategorisieren: Warum zum Beispiel eine Aussage wie „ softer sounds “ (ibid.) in diese Kategorie eingeteilt wird und nicht in die erste, ist nicht ganz nachvollziehbar. Labels wie „ friendly “ oder „ enthusiastic “ sind da schon eindeutiger 52 . Interessanterweise werden ästhetische Evaluationen ebenfalls in diese affektive Kategorie eingeteilt ( „ ugly “ zum Beispiel). 3. Status und soziale Normen (status and social norms): In diese Kategorie gelangen Bemerkungen zur Korrektheit, dem sozialen Status oder dem Bildungsgrad, welche mit der Varietät assoziiert werden - jeweils in ihrer positiven oder negativen Ausprägung ( „ intelligent “ , „ incorrect “ , „ perverted English “ etc.) (ibid. 219). 51 Ein ähnliches Vorgehen wird für die Begründungen der affektiven und ästhetischen Sprachurteile in der vorliegenden Forschung gewählt, die in insgesamt 10 Kategorien eingeteilt werden (vgl. Kap. 10.1.3). 52 In der vorliegenden Studie werden ähnliche Labels in die Kategorie Metaphern eingeteilt, die zweifellos auch nicht ganz unproblematisch ist (vgl. dazu Kap. 10.1.3). 5. Forschungsstand 105 <?page no="122"?> 4. Kulturelle Assoziationen (cultural associations): Ikonische Verbindungen mit der Kultur, welche mit einer Varietät assoziiert wird, werden in diese Kategorie eingeteilt - diese sind oft nicht evaluativer Natur, z. B. Begriffe wie „ McDonalds “ oder „ sit-coms “ (ibid.). 5. Diversität (diversity): Diese Kategorie enthält Kommentare bezüglich der Sprachvielfalt, z. B. „ many regional accents “ . 6. Vergleich (comparison): In diese letzte Kategorie werden Bemerkungen eingeteilt, welche auf Vergleichen zwischen zwei Varietäten beruhen (z. B. „ similar to New Zealand “ ). In der Studie wird sowohl eine ausführliche Analyse nach Kategorien als auch eine nach Sprachen vollzogen. Zu den übergeordneten Resultaten zählt, dass Amerikanisches Englisch mit Macht und Dominanz assoziiert und relativ negativ bewertet wird. Englisches Englisch weckt diverse kulturelle Assoziationen: „ There is a suggestion in our data, then, of a Standard English of heritage, tradition, history, and authenticity [. . .] “ (ibid. 232). Interessant ist auch das Ergebnis, dass Neuseeländisches Englisch nur wenige Stichwörter generiert, was darauf schliessen lässt, dass kein eindeutiges Stereotyp vorliegt (ibid.). In einem zweiten Artikel des Autorentrios (Garrett/ Williams/ Evans, 2005 b) wird die Stichwort-Methode kritisch eingeschätzt. Ähnlich wie bei Hyrkstedt/ Kalaja (1998, vgl. Kap. 3.2.1.4) wird geltend gemacht, dass Einstellungen nicht nur in Werten bestehen, die in abstrakten Dimensionen ausgedrückt werden (Garrett/ Williams/ Evans, 2005 b: 38 - 39). Die besondere Stärke der Stichwort-Methode liege darin, dass die Evaluationen im semantischen System der Gewährspersonen selbst stattfinden (ibid. 49 f.): We have shown how keywords allow additional richness in judgements, compared to semantic differential scales. We gain views into the multi-layered nature of attitudinal judgements. Die Stichwort-Methode kann auf diese Weise als Zulieferer für die Konstruktion von semantischen Differenzialen dienen, indem sie die Adjektivpaare generiert, mit denen operiert wird. Als problematisch wird die Kontextlosigkeit der evaluativen Äusserungen genannt, da dadurch die Klassifizierung und Interpretation schwerfällt (eindeutig ein Vorteil des teilstandardisierten Interviews, wie es hier zum Einsatz kommt, vgl. Kap. 9.1). Die Studie von Coupland/ Bishop (2007), welche im Rahmen von Kapitel 3.2.4.3 zu Sprachideologien geschildert wurde, kann als Verkürzung der Stichwort-Methode betrachtet werden. Den Gewährspersonen werden 34 unterschiedliche Sprachbezeichnungen (Englische Akzente) vorgelegt, die diese auf einfachen Skalen bewerten müssen (es handelt sich dabei um Fragen zum assoziierten Prestige und der assoziierten Attraktivität). Ob damit wirklich Sprachideologien erforscht werden können, wurde zuvor bereits 106 I. Theorie <?page no="123"?> in Frage gestellt - interessant sind jedoch die Resultate etwa bezüglich der Variablen Geschlecht und Alter: Die Evaluationen bezüglich des Prestiges der 34 Akzente beispielsweise korrelieren signifikant mit der Variablen Geschlecht (ibid. 80 f.). Männer assoziieren ihren eigenen Akzent tendenziell häufiger mit Prestige als Frauen. Frauen rechnen dafür den meisten regionalen Varietäten mehr Prestige zu als Männer. Die Autoren stellen eine klare Tendenz zu ingroup-Loyalität fest, was Prestigeeinschätzungen angeht (so sind Waliser Gewährspersonen besonders positiv, was das Prestige von Walisisch betrifft) (ibid. 81). Im Kontext der vorliegenden Studie interessieren aber mehr noch die Resultate zur Attraktivität, welche den Sprachbezeichnungen zugemessen wird, und hinsichtlich dieser erneut, ob signifikante Effekte bei sozialen Variablen festzustellen sind. In der Tat bewerten Frauen die Sprachlabels insgesamt positiver bezüglich der assoziierten Attraktivität (ibid. 82). Männer zeigen erneut eine Tendenz zur positiven Evaluierung ihrer eigenen Sprechweise (ibid.): „ [. . .] an accent identical to my own is, however, judged more attractive by men than by women. “ Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass Frauen insgesamt weniger negativ sind in ihren Evaluationen als Männer, sowohl was das Prestige als auch was die Attraktivität der Akzente betrifft (ibid. 85). Was Alterseffekte anbelangt, kann festgestellt werden, dass jüngere Gruppen weniger Wert als ältere Gruppen darauf legen, Standardakzente positiv zu evaluieren (ibid. 83), im Gegenteil, sie beurteilen tendenziell stigmatisierte Akzente (Belfast, Glasgow, Afro-Caribbean) als attraktiv. Auch diese Autoren erachten den Grad der Dekontextualisierung ihrer Daten als problematisch (ibid. 84). Hinsichtlich allgemeiner (quantitativer) evaluativer Tendenzen auf die sozialen Variablen Geschlecht und Alter ist die Studie aber dennoch aussagekräftig. 5.3.3 Deutschschweiz Einstellungen gegenüber Dialekten der Deutschschweiz wurden in der Vergangenheit wiederholt erhoben. Werlen (1985) führt eine Verbal-Guise Studie 53 an drei unterschiedlichen Orten in der Deutschschweiz mit insgesamt vierzehn Hörproben durch. Werlen vergleicht seine Resultate mit den Resultaten direkter Einstellungserhebungen, bei denen mit Kantonsnamen gearbeitet wurde, denen Adjektive zugeteilt werden mussten (vgl. z. B. 53 Bei der Untersuchung handelt es sich um eine Pilotstudie, daher sind die Hörproben nicht so homogen, wie es vielleicht wünschbar wäre: Sie unterscheiden sich inhaltlich und bezüglich ihrer Aktualität (Bern, Basel und Zürich sind mit „ etwas veralteten “ Dialekt-Hörproben vertreten (ibid. 207)), was zu Verzerrungen führen kann. Es erfolgt daher der Hinweis, die Gewährspersonen sollen „ [. . .] nach Möglichkeit vom Inhalt und der Ausdrucksform des Sprechers abstrahieren und nur den Dialekt als solchen beurteilen [. . .] “ (ibid.). Die Resultate sind im Lichte dieser methodologischen Ausgangslage zu betrachten. 5. Forschungsstand 107 <?page no="124"?> Schwarzenbach, 1969 sowie Ris, 1992 54 ). Interessanterweise weichen die Ergebnisse der direkten und der indirekten Studien voneinander ab: Der Walliser Dialekt wird in der direkten Bewertung positiv beurteilt, während er bei den Hörproben eher negativ beurteilt wird. Mit dem Zürcher Dialekt verhält es sich umgekehrt (Werlen, 1985: 251). Werlen macht darauf aufmerksam, dass der Walliser Dialekt tendenziell eher aufgegeben wird bei einem Wegzug aus dem Wallis als zum Beispiel der Zürcher Dialekt in einer vergleichbaren Situation: Daraus folgt, dass Einstellungen [indirekte Einstellungen, eigene Anmerkung, C. C.] gegenüber Dialekten nicht als einzige Faktoren zur Erklärung von Dialektwechseln beigezogen werden können. Weitere und wichtigere Faktoren scheinen mir zu sein: Verständlichkeit und politisch-soziales Gewicht und Prestige. (ibid.) Obwohl es sich hier eher um eine anekdotische Feststellung als um einen empirisch fundiert belegten Dialektwandelprozess handelt, ist diese Aussage bemerkenswert: Sie skizziert für Deutschschweizer Dialekte eine exakt umgekehrte Situation als sie von Kristiansen für dänische Varietäten festgestellt wurde. Hengartner (1995) führt einerseits eine Verbal-Guise Studie durch, bei der die Gewährspersonen mittels eines semantischen Differenzials Dialekthörproben unter anderem nach ästhetischen und funktionalen Aspekten beurteilen. Andererseits werden mit einem Fragebogen Kantonsstereotype erhoben. Zu den zentralen Ergebnissen gehört, dass der eigene Dialekt bei den Probandengruppen jeweils besonders positiv beurteilt wird (ibid. 86). Ferner sind typische „ Feriendialekte “ (Wallis, Graubünden) sowie Berndeutsch beliebt. Unbeliebt sind dagegen die Kantonsmundarten der Kantone Zürich, Basel und St. Gallen (ibid. 87). Interessant ist die Feststellung, dass die Unterschiede zwischen der stereotypischen Vorstellung über den Kanton und der Beurteilung der jeweiligen Kantonsmundart erheblich sind. Berthele (2006, 2010 b) befasst sich, wie bereits erläutert (vgl. Kap. 5.1), ebenfalls mit Dialekteinschätzungen in der Schweiz, arbeitet aber im Gegensatz zu Hengartner mit dem semantischen System der Gewährspersonen. Berthele ermittelt mit Hilfe von visuellen Stimuli Dialekt-Attribute wie „ kantig, hart, stachlig, stichelig, eckig, spitz, scharfe Ecken “ für St. Gallerdeutsch oder „ weich, rund, angenehm, schwabbelige Konturen, weiche Vokale “ für Bern- 54 Es handelt sich dabei um eine zum Zeitpunkt des Erscheinens von Werlens Artikel noch unpublizierte Studie, die Werlen vorliegt. Ris (1992: 756) stellt bei der Auswertung von 74 von Studierenden ausgefüllten Fragebogen besonders einheitliche Stereotypisierungen für folgende Kantonsmundarten fest: Bern: heimelig, gemütlich, bäurisch-ländlich, langsam, schwerfällig, grob. Zürich: anpassungsfähig, modern, rasch, neutral, grosssprecherisch, schnoddrig, breit, vulgär. Basel: elegant, rasch, städtisch, spitz, aggressiv. Ostschweiz: hell, unsympathisch, geschwätzig. St. Gallen: wie Ostschweiz, zusätzlich: intelligent, spitz, mit geschliffener Rhetorik. Appenzell: urchig, fröhlich, humorvoll, spitz, unruhig. Wallis: urchig, schön, unverständlich. Innerschweiz: urchig, bäurisch, schön. 108 I. Theorie <?page no="125"?> deutsch (2006: 171). Diese Resultate stehen generell nicht in Widerspruch mit den Resultaten Hengartners (und auch nicht mit denjenigen von Ris, vgl. Fussnote 52), obwohl grundlegend unterschiedliche Methoden zum Einsatz kommen. In der Deutschschweiz liegen zahlreiche Einstellungsstudien vor, die das Verhältnis von Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern zu Hochdeutsch ermitteln. Sieber/ Sitta (1986) untersuchen Hochdeutsch im schulischen Kontext. Häcki Buhofer/ Studer (1993) ermitteln den Entstehungszeitpunkt negativer Einstellungen gegenüber Hochdeutsch in der Primarschule unter Einsatz der Matched-Guise Methode. Schläpfer/ Gutzwiller/ Schmid (1991) führen eine umfassende Fragebogen-basierte Einstellungsstudie unter Rekruten durch, wobei Gutzwiller die Daten einer grossen Zahl Deutschschweizer Rekruten (n = 1982) auswertet. Koller (1992) ermittelt mit Interviews unter anderem die projektiven Heterostereotype Deutscher Einwanderer in der Deutschschweiz. Steinmann/ Draganits (1988) führen für den SRG Forschungsdienst eine grossangelegte Telefonumfrage zu „ allgemeinen Sprachproblemen in der Schweiz “ (ibid. 1) durch. Grundsätzlich kann für alle diese Studien - unabhängig davon, was ihre methodologischen Ansätze sind - festgehalten werden, dass die ermittelten Einstellungen gegenüber Hochdeutsch eher negativer Art sind und oftmals einhergehen mit negativen Einstellungen gegenüber Deutschen. Steinmann/ Draganits (1988: 8) finden zudem eine weit verbreitete Tendenz unter den Deutschschweizer Befragten, nicht gerne Hochdeutsch zu sprechen (ein Drittel ihrer Stichprobe (n = 694) gibt dies zu Protokoll). 75% der Befragten geben jedoch an, „ Schriftdeutsch “ sei für sie eine Art zweite Muttersprache und nur 20% empfinden Hochdeutsch als Fremdsprache, wobei diese Angabe mit zunehmendem Alter weniger häufig vorkommt (ibid. 9 f.). Auch die befragten Rekruten bei Gutzwiller (1991: 155 ff.) geben an, ungern Hochdeutsch zu sprechen. Die Auffassung, dass Hochdeutsch nützlich ist und auch gebraucht wird, findet sich mit zunehmendem Bildungsgrad der Rekruten jedoch häufiger (ibid. 122). Christen et al. (2004: 15) machen darauf aufmerksam, dass Einstellungsstudien in der Deutschschweiz sich wiederholt durch folgende Widersprüchlichkeit auszeichnen: Gewährspersonen geben an, „ Deutschschweizer “ würden nicht gerne oder nicht gut Hochdeutsch sprechen. Wird die Frage aber etwas persönlicher gestellt, machen sie geltend, dass sie selbst kein Problem damit haben. Erklärt wird diese Widersprüchlichkeit bei Christen et al. (ibid.) damit, dass „ [. . .] die erfragte Grösse ‚ Hochdeutsch ‘ kein einheitliches Konzept ist, sondern sich aus verschiedenen mentalen Modellen zusammensetzt. “ Bei den Gewährspersonen wird je nach Art der gestellten Frage eines der folgenden Modelle abgerufen (ibid.): Modell A: Plurizentrische Sprache mit österreichischer, deutschländischer und schweizerischer Ausprägung. Modell B: Sprachform, die in der Schule als normierte und kodifizierte Grösse gelernt wurde. 5. Forschungsstand 109 <?page no="126"?> Modell C: Sprachform, in der man seine Zeitung liest. Modell D: Sprachform, der man in den Medien Radio und Fernsehen begegnet. Auf einige der oben zitierten Studien zu Einstellungen von deutschsprachigen Schweizerinnen und Schweizern zu Hochdeutsch wird in Zusammenhang mit Hypothese 13 noch detailliert eingegangen (vgl. Kap. 8.3.6). Einstellungen gegenüber Varianten der deutschen Sprache sind in der Deutschschweiz, wie gezeigt wurde, recht gut belegt. Einstellungen gegenüber Französisch, der Sprache der zweitgrössten Sprachregion der Schweiz, werden in Kapitel 5.3.5 thematisiert. Uns interessieren natürlich darüber hinaus Resultate zu Einschätzungen von Nicht-Landessprachen durch Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer. Diese sind relativ spärlich belegt. Steinmann/ Draganits (1988: 10) erhalten auf die Frage, welche Sprachen die Gewährspersonen ausser Deutsch gerne beherrschen würden, am häufigsten die Antwort Englisch (47.9%), gefolgt von Französisch (22.7%). Gutzwiller (1991: 146) stellt Deutschschweizer Rekruten die Frage, welche Sprache ihnen am besten gefällt und stellt fünf Antwortoptionen zur Verfügung, welche in folgender Reihenfolge gewählt werden: Englisch, Französisch, Hochdeutsch, Italienisch, Rätoromanisch. Die Position von Hochdeutsch (vor Italienisch) erklärt Gutzwiller mit der Kompetenz, die in dieser Sprache mehrheitlich vorhanden ist (insbesondere Rekruten mit tieferem Bildungsniveau wählen bei dieser Frage Hochdeutsch). 5.3.4 Romandie Auf Studien zu Einstellungen französischsprachiger Gewährspersonen gegenüber französischen Dialekten (patois) wird hier nicht eingegangen, da die Dialekte heute praktisch ausgestorben sind (vgl. Kap. 7.3). Zusammenfassend sei mit Kolde (ibid. 76) gesagt, dass die Einstellung vieler Romands gegenüber den Dialekten nie besonders positiv war „ [. . .] bedingt durch eine ausgesprochen ‚ französische ‘ Spracherziehung in den Westschweizer Schulen. “ Wie sind französischsprachige Schweizerinnen und Schweizer eingestellt gegenüber dem Französischen Frankreichs (im Gegensatz zu ihrer regionalen Variante)? Singy (1995/ 1996) führt für die Westschweiz eine Fragebogenuntersuchung mit 606 Gewährspersonen durch. Einerseits lassen die Resultate dieser Untersuchung die Interpretation zu, dass französischsprachige Schweizerinnen und Schweizer linguistische Unsicherheit (insécurité linguistique, vgl. zu diesem Konzept Kap. 4.4.2) aufweisen aber gleichzeitig auch stolz sind auf ihre regionale Sprechweise (1996: 258): Il semble effectivement que nombre de vaudois inclinent à une dépréciation de la variété du français qu ’ ils pratiquent, tout en étant portés, dans le même temps, à la valoriser. 110 I. Theorie <?page no="127"?> Andererseits spricht Singy vom linguistischem Minderwertigkeitsgefühl (infériorité linguistique) der Welschen, welches über ein projektives Heterostereotyp ermittelt wird (ibid. 202): [. . .] on se rappellera que la grande majorité de nos enquêtés, en se déclarant d ’ avis que les Français portent en général un jugement sur les formes locales du français parlées en Suisse romande, témoignent d ’ une confiance en soi très relative et ce d ’ autant plus que ce jugement leur apparaît de nature plutôt défavorable. In einer wahrnehmungsdialektologischen Studie widmet sich L ’ Eplattenier- Saugy (2002) ebenfalls ausführlich den Wahrnehmungen und Einstellungen französischsprachiger Schweizerinnen und Schweizer. Ihr Ziel ist unter anderem zu prüfen, ob die französischsprachigen Schweizerinnen und Schweizer linguistische Unsicherheit zeigen, wie dies in der Studie von Singy der Fall ist. Mit insgesamt 90 Gewährspersonen führt sie einerseits Landkartenexperimente durch. Die Gewährspersonen müssen Gebiete einzeichnen, von denen sie denken, dass die Leute dort „ their own way of speaking French “ haben (ibid. 352). Ferner werden sieben Ortsbezeichnungen von Gebieten, wo Französisch gesprochen wird, von den Gewährspersonen bezüglich Korrektheit und Gefallen beurteilt: Waadt, Genf, Neuenburg, Freiburg, Jura, Bern, Paris und Frankreich. Weiter sollen die Befragten angeben, inwiefern sie glauben, dass sich diese französischen Varianten von ihrer eigenen Sprechweise unterscheiden. L ’ Eplattenier-Saugy (ibid. 364) kommt zu folgenden Ergebnissen: Romands und Romandes assozieren beim Landkartenexperiment in der Regel einen Kanton mit einer Varietät - wobei sie jedoch die Region, wo sie selbst wohnen, etwas stärker untergliedern. Das ästhetische Urteil fällt am positivsten aus für Frankreich gefolgt von Waadt, Neuenburg, Wallis und Paris. Korrektheit wird insbesondere den beiden französischen Varianten in Frankreich zugeschrieben, jedoch sind die Werte auch für die Schweizer Varianten nicht besonders negativ. Die Autorin folgert (ibid. 358): [. . .] the Romands believe that the varieties of French spoken in Switzerland are far from bad. I believe that these high scores display an increased awareness that all varieties should be considered equal. 20% der Gewährspersonen gehen davon aus, dass das Französische in Frankreich nicht sehr anders ist als das Französische der Schweiz. L ’ Eplattenier-Saugy (ibid. 364) kann zwar für bestimmte soziale Variablen geringfügig stärkere Tendenzen zu linguistischer Unsicherheit nachweisen im Vergleich mit anderen (Frauen etwas mehr als Männer, jüngere Personen mehr als Ältere, die Lausanner etwas mehr als die Genfer und Neuenburger), gravierend scheint die linguistische Unsicherheit aber im Grossen und Ganzen nicht zu sein. Die Einstellungen französischsprachiger Schweizerinnen und Schweizern gegenüber Schweizerdeutsch und Hochdeutsch werden in Kapitel 5.3.5 thematisiert. Wie sieht es mit Einstellungen von französischsprachigen Schweizerinnen und Schweizern gegenüber weiteren Sprachen aus? Genau 5. Forschungsstand 111 <?page no="128"?> wie in der Deutschschweiz liegen dazu nur wenige Resultate vor. Apothéloz/ Bysaeth (1981) führen eine Untersuchung zu Englisch, Französisch, Spanisch, Schweizerdeutsch, Italienisch sowie Deutsch in Neuenburg durch. Sie erheben Sprachurteile mittels einer direkten Befragung (ibid. 69): 82 Gewährspersonen (allesamt Schülerinnen und Schüler) bewerten die oben genannten Sprachbezeichnung mittels 13 vorgegebener Adjektive auf Skalen von eins bis sieben. Nicht nur ästhetische und affektive Urteile werden erhoben, sondern auch Urteile über die Nützlichkeit der Sprachen sowie ihre Erlernbarkeit und Verständlichkeit. Die Adjektive für die affektive und ästhetische Beurteilung sind die Folgenden: musical, doux, beau, chaud, chouette, und désagréable 55 . Das Interesse gilt hier vorderhand den Resultaten hinsichtlich der Sprachen Englisch, Italienisch und Spanisch, da Schweizerdeutsch und Hochdeutsch im folgenden Kapitel noch thematisiert werden: Englisch wird insbesondere hinsichtlich seiner Nützlichkeit positiv bewertet, direkt gefolgt von ästhetischen positiven Bewertungen. Es wird als nicht allzu schwer zum Erlernen und wenig kompliziert eingeschätzt. Spanisch und Italienisch werden insbesondere hinsichtlich ihrer ästhetischen Qualitäten positiv eingeschätzt und weniger wegen ihrer Nützlichkeit (ibid. 73 f.). Steinmann/ Draganits (1988: 10) stellen ebenfalls fest, dass Englisch in der Romandie weit vor Deutsch als Sprache genannt wird, die die Befragten gerne beherrschen würden (46.4% im Gegensatz zu 17.6%, n = 735). 5.3.5 Deutschschweiz vs. Romandie Die oben zitierte Studie von Apothéloz/ Bysaeth (1981) ergibt für Schweizerdeutsch aus der Perspektive von Welschen ein ernüchterndes Resultat: Sowohl was die Ästhetik betrifft, als auch was die Nützlichkeit und Erlernbarkeit betrifft, schneidet es im Vergleich mit allen anderen erhobenen Sprachen am schlechtesten ab. Hochdeutsch wird zwar nicht als schön empfunden, dafür aber als nützlich, wichtig und praktisch. Zu ähnlichen Resultaten kommt Cichon (1998) bei einer Interviewstudie mit 88 französischsprachigen Gewährspersonen, die teilweise in der Romandie, teilweise in der Deutschschweiz leben. Hochdeutsch wird ästhetisch sehr positiv beurteilt, gilt allerdings als schwer lernbar (ibid. 339). Die Urteile über Schweizerdeutsch fallen gemäss Cichon (ibid. 341) „ drastisch “ aus, insbesondere unter ästhetischen Gesichtspunkten. Eine umfassende Studie zu Einstellungen von Jugendlichen in den beiden zweisprachigen Städten Freiburg und Biel legt Kolde (1981) vor. Gearbeitet wird mit unterschiedlichen direkten und indirekten Erhebungsmethoden, um Einstellungen gegenüber Hochdeutsch, Schweizerdeutsch und Franzö- 55 Die Adjektive ergeben sich gemäss Apothéloz/ Bysaeth (1981: 72) aus einer Literaturanalyse - es handelt sich angeblich um die häufigsten evaluativen Adjektive für Sprachen. 112 I. Theorie <?page no="129"?> sisch zu ermitteln. Mittels eines Fragebogens (direkter Zugang) werden 256 deutschsprachige Jugendliche und 214 französischsprachige Jugendliche zur Nützlichkeit und Schönheit der jeweiligen lokalen Zweitsprache befragt (ibid. 365 ff.). Die Resultate sprechen für sich: Während deutschsprachige Jugendliche Französisch kaum je als hässlich bezeichnen (nur gerade 6 wählen diese Option im Fragebogen), beurteilen rund 40% der französischsprachigen Jugendlichen Schweizerdeutsch als hässlich (in Freiburg noch etwas deutlicher als in Biel). Gegenüber Hochdeutsch sind beide Gruppen etwa gleich (neutral) eingestellt (fast die Hälfte aller Befragten gibt an, zur Schönheit oder Hässlichkeit von Hochdeutsch keine Meinung zu haben). Kolde stellt ausserdem einen signifikanten Unterschied zwischen den Geschlechtern bei der Beurteilung fest. Deutschschweizer Frauen beurteilen Französisch öfter ästhetisch positiv als Deutschschweizer Männer - diese geben dafür öfter an, keine Meinung zu haben. Bei der Beurteilung von Schweizerdeutsch durch französischsprachige Jugendliche ist das Geschlecht nicht signifikant. Kolde führt ferner ein Matched-Guise-Experiment durch, ergänzt den direkten also mit einem indirekten Zugang (ibid. 386 ff.). Leider wird keine Hörprobe auf Mundart erstellt, sondern ausschliesslich eine auf Hochdeutsch und eine auf Französisch (für eine Begründung, vgl. ibid. 390 f.). Über folgende Merkmale müssen die Gewährspersonen während des Experiments auf Intensitätsskalen urteilen (ibid. 393): sympathisch, gesellig, verlässlich, lernt leicht fremde Sprachen, ehrgeizig. Darüber hinaus müssen den Sprechern jeweils Berufe aus einer Liste zugeordnet werden. Kolde stellt für beide Gruppen (französischsprachige und deutschsprachige Jugendliche) eine Tendenz zur negativen Eigenbewertung fest. Bei den Deutschschweizer Gewährspersonen handelt es sich dabei besonders um die Merkmale „ sympathisch “ und „ gesellig “ 56 und bei den Romands um „ ehrgeizig “ sowie um negative Berufszuordnungen (ibid. 400). Kolde führt zudem eine kleinere Untersuchung in den Städten Genf und Zürich durch, um zu untersuchen, wie das Einstellungsklima weiter weg von der Sprachgrenze und mit weniger intensivem Sprachkontakt ist (ibid. 414 ff.). Die Resultate sind vergleichbar mit jenen der gleichsprachigen Gruppen in Biel und Freiburg - die Nähe zur Sprachgrenze bewirkt also keine grundsätzlichen Einstellungsunterschiede. Negative Einstellungen gegenüber Schweizerdeutsch findet auch Schmid (1991) im Zuge der Befragung von französischsprachigen Rekruten. Er konstatiert eine „ Abwehrhaltung gegenüber der alemannischen Mehrheit im Land “ (ibid. 249). Unter anderem befürchtet rund die Hälfte der insgesamt 1173 befragten Rekruten, dass sich das Deutsche auf Kosten des Französischen in der Romandie ausbreitet (ibid. 232). Interessanterweise äussert sich aber fast 56 Da die Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer eine Hörprobe auf Hochdeutsch beurteilen, handelt es sich m. E. nicht um eine Eigengruppenbewertung im engeren Sinne (auch wenn die Hörprobe ein „ deutlich schweizerisch gefärbtes Hochdeutsch “ ist (ibid. 407). 5. Forschungsstand 113 <?page no="130"?> ein Drittel der Befragten positiv zur Frage, ob Schweizerdeutsch im Deutschunterricht in der Romandie stärker mit einbezogen werden sollte (ibid. 245), Schmid schreibt dazu jedoch recht abgeklärt (ibid. 249 f.): Deswegen von einer heimlichen Liebe der Romands für die alemannischen Mundarten zu sprechen, wäre allerdings genauso verfehlt wie der Versuch, dieses Resultat als Zeichen der fortschreitenden Kolonialisierung der französischen Schweiz durch die Deutschschweizer zu interpretieren. Verantwortlich für dieses Resultat sind gemäss Schmid instrumentelle, wirtschaftliche Überlegungen. In einer Studie mit deutsch- und französischsprachigen Gewährspersonen, die unterschiedlich nahe an der Sprachgrenze wohnen, testen Weil/ Schneider (1997) insgesamt fünf Spracheinstellungshypothesen mittels der Matched-Guise Methode, bei der den Hörproben Adjektive (aus einer Liste mit 16 Einträgen) zugeteilt werden müssen. Gegenstand der Untersuchung sind der Berner Dialekt, Französisch sowie Hochdeutsch. Im Folgenden werden die Hypothesen und die Resultate dazu skizziert (ibid. 294 ff.): 1. Hypothese: Die affektiven Bewertungen der jeweils anderen Landessprache unterscheiden sich je nach Nähe zur Sprachgrenze. Abgelehnt: Es kann eine Tendenz der positiveren Bewertung der jeweils anderen Landessprache mit zunehmender Nähe zur Sprachgrenze festgestellt werden, diese ist aber nicht statistisch signifikant. 2. Hypothese: Die Einstellungen der französischsprachigen Schweizerinnen und Schweizer gegenüber ihrer eigenen Sprache ist positiver als die Einstellungen der deutschsprachigen Schweizerinnen und Schweizer gegenüber ihrer eigenen Sprache respektive ihres eigenen Dialekts. Abgelehnt: Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer bewerten ihren eigenen Dialekt positiver als französischsprachige Schweizerinnen und Schweizer ihre Sprache (näher an der Sprachgrenze weist die französischsprachige Gruppe diese Tendenz sogar noch stärker auf). 3. Hypothese: Schweizerdeutsch wird von Romands und Romandes weniger positiv beurteilt als von Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern. Angenommen: Schweizerdeutsch wird in der Romandie signifikant negativer beurteilt als in der Deutschschweiz. 4. Hypothese: Hochdeutsch wird von Romands und Romandes positiver beurteilt als von Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern. Abgelehnt: Es kann sogar ein Trend in die umgekehrte Richtung als in der Hypothese postuliert festgestellt werden (Hochdeutsch wird in der Deutschschweiz positiver beurteilt als in der Romandie), dieser ist jedoch nicht signifikant. 5. Hypothese: Die Einstellungen gegenüber Französisch differieren nicht zwischen den beiden Sprachgruppen. 114 I. Theorie <?page no="131"?> Abgelehnt: Die Einstellungen gegenüber Französisch der französischsprachigen Gruppe sind sogar etwas weniger positiv als die der deutschsprachigen Gruppe. Zusammenfassend lässt sich für die Studie von Weil/ Schneider festhalten, dass die sprachliche Minderheit (die Französischsprachigen) allgemein negativere Einstellungen zeigt als die sprachliche Mehrheit - sei dies gegenüber der Sprache der Mehrheit (Schweizerdeutsch oder Hochdeutsch) oder gegenüber ihrer eigenen Sprache. Es ist wahrscheinlich, dass diese Tendenz in Zusammenhang steht mit Koldes (1981: 51) Beobachtung, dass Welsche sich durch ein „ hohes sprachlich-kulturelles Selbstbewußtsein “ auszeichnen. Französischsprachige Schweizerinnen und Schweizer seien insgesamt ihrer Sprache gegenüber sehr normativ eingestellt - normativer auf jeden Fall als Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer ihrer Sprache gegenüber. 5.4 Zusammenfassung Erste Reflexionen zum ästhetischen Wert von Sprachen resultieren in den 70er Jahren aus zwei grundsätzlich unterschiedlichen (sprach)ideologischen Positionen. Während Anhängerinnen und Anhänger der Differenztheorie davon ausgehen, dass alle Varietäten einer Sprache gleichwertig sind und die Standardsprache lediglich durch einen kulturellen Zufall ihren Prestigestatus erlangt hat, wird dies von der Defizittheorie nicht akzeptiert: Diese geht davon aus, dass die Standardsprache inhärent wertvoller ist (auch von einem ästhetischen Gesichtspunkt betrachtet) als andere Varietäten. Die beiden Positionen werden in der Inhärenzhypothese (Defizittheorie) und der Hypothese zur auferlegten Norm (Differenztheorie) der Sprachästhetik widerspiegelt. Später kommt die Hypothese zu den sozialen Konnotationen dazu, die davon ausgeht, dass ästhetische Sprachurteile durch die Assoziationen, die zu bestimmten Sprechweisen bestehen, modelliert werden. Fast dreissig Jahre später kommen Hypothesen dazu, welche ästhetische Sprachurteile mit Aspekten der Vertrautheit, Verständlichkeit und Ähnlichkeit (mit der Standardsprache) erklären. Während zum ästhetischen Sprachurteil eine umfassende Forschungstradition ausgemacht werden kann, ist das affektive Sprachurteil (als diskursive Konstruktion emotionaler Beziehungen zu Sprachen verstanden) wenig dokumentiert. Was in der Literatur belegt wird, sind affektive Reaktionen auf Hörproben, die aber nicht mit dem affektiven Sprachurteil kongruent sind. Affektive und ästhetische Sprachurteile werden in der vorliegenden Arbeit ausschliesslich mittels des direkten Zugangs erforscht. Studien belegen, dass die direkte Einstellungsforschung zwar wenig Prognosepotenzial hinsichtlich Sprachwandelprozessen hat (im Gegensatz zur indirekten Ein- 5. Forschungsstand 115 <?page no="132"?> stellungsforschung), dass sie aber zum Verständnis des Einstellungsklimas in einem Land oder zwischen Sprachgebieten wesentlich beitragen kann. In Studien des direkten Erhebungstyps konnte gezeigt werden, dass das Verbalisieren von Einstellungen keine selbstverständliche Laienpraxis ist: Die Sprechenden wissen, dass es sich bei den Beurteilungen teilweise um Stereotype handelt und zeigen deswegen gelegentlich eine gewisse Zurückhaltung in Interviews. Das Interview ist allerdings nicht die einzige direkte Methode, die praktiziert wird. Beispielsweise liefert die Stichwort-Methode interessante Resultate bezüglich des Einflusses sozialer Variablen auf direkte Einstellungen. Frauen urteilen insgesamt etwas positiver, während Männer insgesamt negativer urteilen - mit Ausnahme der Urteile gegenüber ihrem eigenen Akzent, den sie positiv einschätzen. In der Deutschschweiz finden sich zahlreiche Einstellungsstudien, die Dialekteinschätzungen sowie die Beurteilung von Hochdeutsch untersuchen. Insbesondere Letztere ist für die vorliegende Arbeit relevant. Hochdeutsch wird im Allgemeinen negativ beurteilt. Diese Beurteilung geht mitunter einher mit der Abneigung, selbst Hochdeutsch zu sprechen oder der Einschätzung, dass (andere) Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer schlecht Hochdeutsch sprechen. In der Romandie bestehen ebenfalls leichte Unsicherheitsgefühle bezüglich der eigenen Sprechweise, diese sind aber nicht so gravierend wie in der Deutschschweiz (da die Sprechweise der Romandes und Romands nach deren eigener Einschätzung nicht signifikant von derjenigen in Frankreich abweicht). In beiden Sprachgebieten wird Englisch mehrheitlich positiv beurteilt. Zum Verhältnis zwischen den beiden Sprachgebieten kristallisiert sich aus den konsultierten Studien das Folgende heraus: Schweizerdeutsch wird von französischsprachigen Personen generell sehr negativ beurteilt. Hochdeutsch wird zumindest als nützlich, wenn auch nicht als besonders schön eingeschätzt. Französisch wird von deutschsprachigen Personen in der Schweiz sehr positiv evaluiert - fast noch positiver als von den französischsprachigen Schweizerinnen und Schweizern selbst. Für diese gilt, dass sie insgesamt sehr kritisch sind, was die Beurteilung von Sprachen anbelangt. Verschiedene Studien haben zudem nachweisen können, dass die Nähe zur Sprachgrenze die geschilderten Einstellungen nicht wesentlich verändert. 116 I. Theorie <?page no="133"?> II. Fragestellung und Empirie <?page no="135"?> 6. Forschungsdesign Für die vorliegende Forschungsarbeit wird ein Design gewählt, das quantitative und qualitative Methoden vereint. Beginnend mit einer Ausführung über die Zielabsichten der Methodenkombination als Forschungsdesign (Kap. 6.1), wird anschliessend das hier angewandte Modell der Kombination quantitativer und qualitativer Methoden, das Conversion Mixed Design, im Detail behandelt (Kap. 6.2). 6.1 Methodenkombination: Zielabsichten Die Zeiten, in denen sich Anhänger und Anhängerinnen der quantitativen und qualitativen Forschungstradition erbitterte paradigm wars (Gage, 1989, zitiert nach Kelle, 2006: 294) lieferten, dürften vorbei sein: Die Stärken und Schwächen beider Forschungsparadigmen wurden ausführlich beschrieben, die Mängel soweit wie möglich ausgemerzt und es hat zweifellos eine Sensibilisierung für Vorteile und Nachteile, Risiken und Chancen beider Traditionen stattgefunden. Die Methodenkombination 57 kann in vielerlei Hinsicht als logische Folge dieser intensiven und kritischen Auseinandersetzung mit den beiden Forschungsparadigmen betrachtet werden, insbesondere da, wo die Kombination mit der Zielabsicht der Komplementarität der beiden Paradigmen durchgeführt wird. Greene (2007: 100 - 103) beschreibt insgesamt drei mögliche Zielabsichten (purposes), die mit der Methodenkombination verfolgt werden können: Triangulation, Komplementarität sowie Entwicklung. Während die Triangulation, wie sie von Greene verstanden wird, insbesondere die gegenseitige Validierung von Resultaten anstrebt 58 , 57 Über die exakte Terminologie bestand in der Forschung längere Zeit kein definitives Einvernehmen. In der englischsprachigen Forschung finden sich etwa die Begriffe multiple method, multi-method oder mutli-method designs (Tashakkori/ Teddlie, 2003 zitiert nach Kelle, 2006: 307). Neuere Vorschläge zur Typologie und Terminologie finden sich in Tashakkori/ Teddlie (2006). Für die vorliegende Arbeit wird der von Seipel/ Rieker (2003) vorgeschlagene Begriff Methodenkombination verwendet, wenn das zu Grunde liegende Forschungsdesign der Integration qualitativer und quantitativer Methoden gemeint ist. 58 Unter Triangulation wird in der empirischen Sozialforschung die Praxis verstanden, ein Phänomen (einen Forschungsgegenstand) von mindestens zwei Punkten aus zu betrachten (Flick, 2008: 309) beziehungsweise ihn mit Hilfe unterschiedlicher kombinierter Methoden zu untersuchen (Denzin 1978: 4). Der Begriff geht gemäss Tashakkori/ Teddlie (1998: 41) auf einen nautischen Prozess zurück, bei dem zwei Punkte benutzt werden, um die unbekannte Distanz zu einem dritten Punkt festzustellen. Denzin (ibid. 294 - 304) unterscheidet vier verschiedene Triangulationstypen: Die <?page no="136"?> steht beim Entwicklungsansatz die Verbesserung und Weiterentwicklung einer Methode (respektive derer Resultate) durch die Erkenntnisse aus der anderen Methode im Zentrum. Die für diese Studie zentrale Zielabsicht ist die Komplementarität, die von Greene (ibid. 101) folgendermassen beschrieben wird: With this purpose [Komplementarität, Anmerkung d. Verf.], a mixed methods study seeks broader, deeper, and more comprehensive social understandings by using methods that tap into different facets or dimensions of the same complex phenomenon. Ex negativo kann der Komplementaritätsansatz auch so verstanden werden, dass die Probleme und Grenzen der Monomethodenforschung durch die Methodenkombination entschärft werden (Kelle, 2006: 307) - oder wie Denzin (1978: 302) schon sehr früh im Zusammenhang mit der Methodentriangulation (vgl. Fussnote 56) etwas positiver formuliert hat: The rationale for this strategy is that the flaws of one method are often the strengths of another; and by combining methods, observers can achieve the best of each while overcoming their unique deficiencies. Die Vorteile der Methodenkombination (sei es die Validierung, Komplementierung oder Entwicklung der Resultate und Methoden) sprechen für ein Forschungsdesign dieser Art. Die tatsächliche Verwendung von Forschungsdesigns mit Methodenkombination ist aus diesem Grund zwar als Tendenz in der Sozialforschung festzustellen, es kann aber, zumindest im Fall der Datentriangulation (verschiedene Datenquellen werden in einer Studie analysiert), die Investigatortriangulation (die Daten werden von mehr als einer Person erhoben), die Theorientriangulation (die Daten werden unter Anwendung verschiedener Theorien und Hypothesen analysiert) und die Methodentriangulation (verschiedene Methoden kommen bei der Untersuchung zum Einsatz). Im Zusammenhang mit dem Ansatz der Methodenkombination ist vor allem letzterer von Interesse und hier der von Denzin definierte Subtyp der between-method-triangulation (ibid.) im Gegensatz zur withinmethod-triangulation (z. B. ein Fragebogen mit verschiedenen Subskalen (vgl. Flick, 2008: 310)). Triangulation wird heute oft im Kontext der between-method-triangulation verstanden. Die Literatur zur Methodenkombination benutzt den Begriff vor allem bei der Festlegung der Ziele der Methodenkombination und die Autorinnen und Autoren beziehen sich dabei meist auf Denzins ursprüngliches Triangulationskonzept, das als Strategie zur Validierung der Resultate verstanden werden kann (Flick, 2008: 310). Flick (ibid.) betont jedoch, dass Denzin in seinen neueren Werken Triangulation „ als Strategie auf dem Weg zu einem tieferen Verständnis des untersuchten Gegenstandes und damit als Schritt auf dem Weg zu mehr Erkenntnis und weniger zu Validität und Objektivität in der Interpretation “ versteht. Somit ist die Unterscheidung Greenes, die Triangulation und Komplementarität als Zielabsichten der Methodenkombination einander entgegensetzt, zumindest problematisch. Sie taucht jedoch auch bei Tashakkori/ Teddlie (2006: 14) nebst Komplementarität, Entwicklung, Initiation, Erweiterung und der Rubrik „ andere Funktionen “ auf und dürfte somit die aktuelle Diskussion der Methodenkombination prägen. 120 II. Fragestellung und Empirie <?page no="137"?> Soziolinguistik, nicht unbedingt von einem Modetrend gesprochen werden, wie das von Kelle (2006: 294) postuliert wird: „ [. . .] mixed methods become a kind of fashion [. . .] “ . Dafür dürfte die Methodenkombination zu zeit-, ressourcen- und kostenintensiv sein. 6.2 Conversion Mixed Design nach Tashakkori und Teddlie Die von Tashakkori/ Teddlie (2006) vorgeschlagene Typologie von Forschungsdesigns, in denen die Methodenkombination zur Anwendung kommt, dürfte in Zukunft eine breite Akzeptanz finden und es ist anzunehmen, dass sie sich schliesslich als Standardtypologie etabliert. Die Autoren haben diese Typologie über Jahre weiterentwickelt und sind insgesamt massgeblich an der (theoretischen) Etablierung der Methodenkombination beteiligt 59 . Während die Autoren zu Beginn (1998) noch unterscheiden zwischen mixed methods (Forschungsdesigns mit zwei Typen von Daten und ihrer Analyse) und mixed models studies (Studien, welche Methodenkombination über alle Phasen anwenden: zwei unterschiedliche Forschungsfragen, Datensätze und Interpretationen), entschliessen sie sich später zu einer Vereinfachung ihrer Konzepte (2006: 14): More recent definitions and conceptualizations in the field define mixed methods very similarly to our mixed models. We are assuming that all properly defined mixed methods studies these days are of this sort; therefore a distinction between mixed methods and mixed models studies is no longer necessary. 60 Dieser Entscheidung liegt auch die Definition von „ mixed methods “ im Call for Papers of the Journal of Mixed Methods Research 61 zu Grunde (ibid.): Mixed methods research is defined as research in which the investigator collects and analyzes data, integrates the findings, and draws inferences using both qualitative and quantitative approaches or methods in a single study or program of inquiry. Für ihre Typologie der Forschungsdesigns unter Anwendung der Methodenkombination entwerfen Tashakkori/ Teddlie (2006: 15) eine Matrix mit vier Zellen, die sich einerseits aus der Unterscheidung zwischen zwei Typen von 59 Unter anderem stammt das Handbook of Mixed Methods in Social and Behavioral Research (2003) von diesem Autorenduo. 60 In einer Notiz (ibid.) weisen die Autoren auf Folgendes hin: „ Therefore, we have dropped the term ‚ model ‘ to avoid confusion. Our previously defined (Tashakkori/ Teddlie, 2003) ‚ mixed model designs ‘ are now simply ‚ mixed designs ‘ . Our previously defined ‚ mixed designs ‘ are now ‚ quasi-mixed designs ‘ . “ 61 Das Journal of Mixed Methods Research erschien zum ersten Mal im Januar 2007 im SAGE Verlag. 6. Forschungsdesign 121 <?page no="138"?> Methoden bzw. Herangehensweisen an den Forschungsgegenstand ergeben (Monomethoden vs. Methodenkombination) und andererseits aus der Unterscheidung zwischen der Anzahl Phasen der Forschung (monophasig vs. multiphasig) 62 . Tab. 6: Die Methoden-Phasen Matrix: Typologie von Forschungsdesigns mit Methodenkombination nach Tashakkori/ Teddlie, 2006: 15. [Eigene Übersetzung, C. C.]. Forschungsdesigntyp Monophasendesign Multiphasendesign Monomethodendesigns 1. Zelle 2. Zelle Monomethoden- und Monophasendesigns: (1) Traditionelles QUAN Design (2) Traditionelles QUAL Design Monomethoden- und Multiphasendesigns: (1) Gleichzeitige Monomethoden: a. QUAN+QUAL b. QUAL+QUAN (2) Sequenzielle Monomethoden: a. QUAN → QUAL b. QUAL → QUAN Methodenkombinationsdesigns 3. Zelle 4. Zelle Quasi-kombinierte Monophasendesigns: Monophasen Konversionsdesign A) Kombinierte Methoden und Multiphasen Designs: (1) Gleichzeitige Kombinationsdesigns (2) Sequentielle Kombinationsdesigns (3) Konversion-Kombinationsdesigns (4) Vollintegrierte Designs B) Quasikombinierte Multiphasendesigns: Designs, die nur in der experimentellen Phase gemischt sind, einschliesslich des gleichzeitigen quasikombinierten Designs 62 Im Englischen Original (ibid.): 1. Type of apporach or methods employed in the study (Monomethod or Mixed Method). 2. Number of strands (or phases) of the study (Monostrand vs Multistrand). 122 II. Fragestellung und Empirie <?page no="139"?> Das vorliegende Forschungsunterfangen ist in der vierten Zelle einzuordnen und zwar als Design mit kombinierten Methoden und mehreren Phasen. Es handelt sich um das Konversion-Kombinationsdesign (Conversion Mixed Design). Bei diesem Forschungsdesign wird ein Typ Daten gesammelt (also entweder qualitative Daten oder quantitative Daten 63 ) und entsprechend analysiert (qualitative Daten werden qualitativ ausgewertet, quantitative Daten werden quantitativ ausgewertet). Das Spezielle dieses Designs ist, dass die Daten ausserdem transformiert werden in den anderen Datentyp: Qualitative Daten werden quantifiziert, quantitative Daten werden qualifiziert 64 (vgl. Tashakkori/ Teddlie, 2006: 23, sowie Kap. 10.1.1). Üblicherweise werden bei der Quantifizierung verbale Daten (z. B. Interviewtranskriptionen) mit numerischen Kodes versehen und dann statistisch ausgewertet (vgl. Greene, 2007: 146 sowie Caracelli/ Greene, 1993: 197). Mehrere Aspekte können sich bei der Datenkonversion als problematisch erweisen und müssen sorgfältig gehandhabt werden (vgl. Kuckartz, 1999: 234, zitiert nach Seipel/ Rieker, 2003: 249): ● Die geringen Populationsgrössen qualitativer Untersuchungen sind meist nicht geeignet für statistische Verfahren. ● Das Skalenniveau ist bei qualitativen Untersuchungen meist nicht metrischer Art, sondern nominaler Art. Mit nominal skalierten Daten sind weniger statistische Operationen möglich als mit ordinal- oder intervallskalierten Daten. Diese Probleme lassen sich durch eine zielgerichtete Forschungsplanung weitgehend beseitigen, wie die folgenden Ausführungen am Beispiel des vorliegenden Forschungsvorhabens belegen. Für die Erforschung ästhetischer und affektiver Sprachurteile von Laien werden zunächst teilstandardisierte, semi-narrative Interviews durchgeführt, die eine Quelle qualitativer Daten darstellen. Auf dem Kontinuum zwischen stark standardisierten und offenen Erhebungsinstrumenten liegt der verwendete Interviewleitfaden deutlich im standardisierten Bereich. Die 63 Unter qualitativen Daten werden in diesem Zusammenhang nicht-numerische Daten - meistens verbale Daten - verstanden, z. B. Transkriptionen von Interviews, Beobachtungsprotokolle oder Daten, die als Audiodateien vorliegen. Unter quantitativen Daten werden Daten verstanden, die numerisch vorliegen, etwa die Skalenwerte aus einer Fragebogenuntersuchung. 64 Die Qualifizierung quantitativer Daten ist eindeutig die weniger verbreitete Technik, da sie mit allzu grossen Problemen verbunden ist. Seipel und Rieker (2003: 251) weisen darauf hin, dass quantitative Daten meist so stark reduziert sind, „ dass ihre qualitativen Aspekte nicht mehr erkennbar sind. “ Auf die Qualifizierung quantitativer Daten wird im Rahmen dieser Arbeit nicht näher eingegangen, da die hier zur Anwendung kommende Art der Transformation die Quantifizierung qualitativer Daten ist. 6. Forschungsdesign 123 <?page no="140"?> Interviewfragen sind jedoch so gestaltet, dass sie von den Befragten sowohl kurz beantwortet werden oder aber als Narrationsaufforderungen verstanden werden können (vgl. Interviewleitfaden Kap. 9.3.2). Infolgedessen variieren die Interviewdauer und der Grad des Anteils von Narrationen stark innerhalb der Stichprobe. Das Problem der Populationsgrösse wird folgendermassen angegangen: Die Stichprobengrösse wird für die Anzahl durchgeführter Interviews so gewählt, dass statistische Analysen im Anschluss ohne Probleme durchgeführt werden können (n=280) 65 . Quantifiziert werden alle 280 durchgeführten Interviews 66 . Transkribiert und einer qualitativen Analyse unterzogen wird im Anschluss ein Subsample von 60 Interviews, die besonders narrativen Charakter aufweisen. Es werden nur solche Interviews qualitativ ausgewertet, die von der auswertenden Person persönlich durchgeführt wurden. Interviews, die durch andere Interviewpersonen durchgeführt wurden, werden a priori aus der Analyse ausgeschlossen. In die qualitative Analyse werden aus diesem Grund ausschliesslich Interviews mit Informantinnen und Informanten aus der Deutschschweiz aufgenommen. Dem zweiten Problem - der Art der Skalierung qualitativer Daten - wird begegnet, indem Fragen im Interviewleitfaden zur Anwendung kommen, die intervallskalierte Daten elizitieren bzw. aus deren Beantwortung intervallskalierte Daten abgeleitet werden können. Ein Beispiel dafür ist die Frage im Interview: „ Welche Sprachen können Sie? “ Die Informantinnen und Informanten zählen darauf die Sprachen auf, die sie gelernt haben (Liste der Sprachen = nominal skalierte Daten); davon lässt sich die Variable Selbstdeklarierte quantitative Sprachkompetenz (Anzahl gesprochener Sprachen) ableiten, die intervallskaliert ist. Ein wichtiges Feature des hier gewählten Forschungsdesigns ist die Durchführung zweier qualitativer Analysen in unterschiedlichen Phasen der Forschung: Forschungsfragen an das qualitative Datenmaterial werden einerseits ex ante formuliert (vgl. Kap. 8.4) und andererseits zu einem zweiten, späteren Zeitpunkt, nachdem das Datenmaterial quantifiziert und statistisch analysiert worden ist (vgl. Kap. 8.5). Es ergibt sich daraus folgendes Phasenschema für das hier gewählte Forschungsdesign: 65 Vgl. Kap. 9.2.2 zur Stichprobengrösse und -beschaffenheit. 66 Zur Quantifizierung der Interviewdaten vgl. Kap. 10.1.1. 124 II. Fragestellung und Empirie <?page no="141"?> QUANTITATIV: Deskriptive und hypothetodeduktive statistische Analyse QUALITATIV: Strukturierende Inhaltsanalyse (deduktive Kategorienbildung) 280 semi-narrative Interviews 280 quantifizierte Interviews 60 Interviews mit narrativem Charakter ERGEBNISSE ERGEBNISSE QUALITATIV: Illustration, Interpretation, Vertiefung 60 Interviews mit narrativem Charakter ERGEBNISSE = Vertiefungsmodell nach Mayring (2001: [21] Abb. 2: Forschungsdesign für die Erforschung ästhetischer und affektiver Sprachurteile nach Phasen. Typ „ Conversion Mixed Design “ nach Tashakkori und Teddlie (2006). Darstellung in Anlehnung an Mayring (2001). In der ersten Phase der Forschungsarbeit wird eine quantitative statistische Analyse, welche die gesamte Stichprobe der quantifizierten Interviews berücksichtigt (n=280), mit Hilfe der deskriptiven Statistik sowie der schliessenden Statistik hypothesengeleitet durchgeführt. Es werden insgesamt 20 Hypothesen getestet (vgl. Kap. 8.3). Ebenfalls werden mit Hilfe der deskriptiven und schliessenden Statistik Häufigkeitsberechnungen angestellt sowie Aussagen über die Produktivität beim Urteilen und Begründen gemacht. Parallel dazu wird eine strukturierende Inhaltsanalyse (vgl. Mayring 2008) an einer reduzierten Anzahl Interviews mit besonders narrativem Charakter durchgeführt (n=60). Bei den untersuchten Kategorien handelt es sich grösstenteils um theoriegeleitete deduktive Kategorien (zur induktiven vs. deduktiven Kategorienbildung vgl. ibid. 74 f.; für den Kodierleitfaden vgl. Kap. 10.2.4). Diese erste Analysephase mündet in zwei Ergebniskomplexen: erstens die Ergebnisse der deskriptiven sowie der hypotheto-deduktiven statistischen Analyse und zweitens die Ergebnisse der strukturierenden Inhaltsanalyse. In einer zweiten Phase wird der Ergebniskomplex, der sich aus der statistischen Analyse des Datenmaterials ergeben hat, untersucht und nach offenen Fragen durchforstet. Lässt die Statistik an bestimmten Stellen Fragen offen? Gibt es Ungereimtheiten? Bedarf es bei einer bestimmten Korrelation der weiteren Interpretation? An welchen Stellen wäre es wünschenswert, in die Rohdaten zurückzukehren? Ergeben sich neue Kategorien, anhand derer das qualitative Material erneut ausgewertet werden kann? Aus diesen Überlegungen resultieren die Forschungsfragen für die zweite qualitative Phase, die erneut an den 60 ausgewählten Interviews mit narrativem Charakter durchgeführt wird. Die Zweiphasigkeit, durch die sich dieser Teil des vorliegenden Forschungsdesigns auszeichnet (in der Figur durch einen 6. Forschungsdesign 125 <?page no="142"?> gestrichelten Kreis markiert), entspricht isoliert betrachtet dem Vertiefungsmodell von Mayring (2001: [24]), das vorsieht, eine zuvor ausgeführte quantitative Studie durch qualitative Analysen weiterzuführen mit dem Ziel der besseren Interpretierbarkeit der Ergebnisse. Das vorliegende komplexe Forschungsdesign wird zum einen in Anbetracht der Tatsache gewählt, dass der konkrete Forschungsgegenstand (sprachliche Werturteile) wenig untersucht ist (vgl. Kap. 5.1). Gleichzeitig liegen jedoch Forschungsresultate aus verwandten Gebieten vor, die bereits intensiv beforscht sind (z. B. Spracheinstellungen). In Anlehnung an diese Resultate und die soziolinguistische empirische Forschungstradition allgemein können ex ante Hypothesen formuliert werden. Gleichzeitig ist das erklärte Ziel von Beginn an aber auch, dass die in den Hypothesen nicht abgedeckten, teilweise komplexeren Fragen an den Forschungsgegenstand nicht einfach unter den Tisch fallen. Für besonders wichtig gehalten wird eine Analyse, die sich nahe an den Rohdaten bewegt, die also die Art und Weise, wie Menschen über Sprachen urteilen und sprechen, berücksichtigt. Dass zusätzlich ein zweiphasiges Design zum Einsatz kommt, wurde im Laufe der statistischen Analyse entschieden, aus dem einfachen Grund, dass sich aus ebendieser Analyse neue (qualitativ zu behandelnde) Fragen an das Interviewmaterial ergaben und der Schritt zurück in die Rohdaten als angemessen und erkenntnisbringend erachtet wurde. Ein Forschungsdesign dieser Art ist mit beachtlichem Zeit- und Ressourcenaufwand verbunden. Nicht nur muss zunächst eine grosse Anzahl Interviews durchgeführt werden, um eine zufriedenstellende Populationsgrösse für die quantitative Analyse zu erhalten, auch die anschliessende Quantifizierung der Interviews für die statistische Analyse sowie die Transkriptionsarbeit für die qualitative Analyse nehmen viel Zeit in Anspruch. Dazu kommt, dass eine zweiphasige Forschung per Definition über einen längeren Zeitraum entstehen muss, da die Ergebnisse aus der ersten Phase vorliegen müssen, bevor die zweite Phase in Angriff genommen werden kann. Dessen ungeachtet möchte ich an dieser Stelle für den vermehrten Einsatz komplexer, methodenkombinierender Forschungsdesigns in der Linguistik plädieren und dies anhand eines treffenden Zitats von Udo Kelle (2006: 309) abschliessend zum Ausdruck bringen: Using a metaphor from geography and geology, one could say that quantitative methods provide us with a general picture of the surface of the research field, while qualitative research can be used to drill deep holes into the field yielding the information necessary for in-depth explanations. Letztlich liegt die Motivation für die Anwendung eines komplexen und aufwändigen Forschungsdesigns in der sich zum Schluss einstellenden befriedigenden Erkenntnis, einen Forschungsgegenstand sowohl in seiner Oberflächenals auch seiner Tiefenstruktur möglichst weit erfasst und analysiert zu haben. 126 II. Fragestellung und Empirie <?page no="143"?> 6.3 Zusammenfassung Für die vorliegende Forschungsarbeit wird ein Design gewählt, das qualitative und quantitative Methoden vereint. Damit wird das Ziel verfolgt, den Forschungsgegenstand möglichst umfassend zu verstehen, indem sich die Ergebnisse der unterschiedlichen Methoden komplementieren. Konkret handelt es sich um das Conversion Mixed Design, bei dem zunächst Daten eines Typs (Interviewdaten = qualitativ) gesammelt werden und in einem weiteren Schritt umgewandelt werden in Daten des anderen Typs (Quantifizierung des Interviewmaterials = quantitativ). Die Analyse der Daten erfolgt in mehreren Phasen: Zuerst wird eine quantitative hypothetiko-deduktive Analyse des quantifizierten Datensatzes durchgeführt. Es folgt eine strukturierende qualitative Inhaltsanalyse. Zuletzt wird eine Vertiefungsanalyse, bei der Resultate aus der quantitativen Analyse genauer beleuchtet werden, am qualitativen Datensatz durchgeführt. 6. Forschungsdesign 127 <?page no="144"?> 7. Datenerhebungskontext: die soziolinguistische Landschaft der Schweiz Ziel dieses Kapitels ist, die soziolinguistische Landschaft der Schweiz konzise zu skizzieren, so dass die erhobenen Daten in ihrem linguistischen Entstehungskontext eingeordnet und verstanden werden können. In Kapitel 7.1 wird die Sprachsituation der Schweiz mit ihren vier Landessprachen und Sprachgebieten präsentiert. Da Laienmetasprache im Rahmen der vorliegenden Arbeit ausschliesslich in der Deutschschweiz und der französischsprachigen Schweiz 67 untersucht wird, wird diesen beiden Sprachgebieten je ein Kapitel gewidmet (vgl. Kap. 7.2 für die deutschsprachige Schweiz und Kap. 7.3 für die französischsprachige Schweiz). Konkrete Resultate der Schweizer Soziolinguistik, insbesondere der Einstellungsforschung, wurden in Kapitel 5.3.3 bis 5.3.5 präsentiert. Weitere Ausführungen zum Verhältnis zwischen der französischsprachigen und der deutschsprachigen Schweiz finden sich in Kapitel 8.3.6, in dem die Sprachgebiet-spezifischen Hypothesen theoretisch hergeleitet werden. 7.1 Die viersprachige Schweiz Die Schweiz ist ein institutionell viersprachiges Land, zumindest was die nationale Ebene (die Ebene des Bundes) anbelangt (vgl. Werlen, 2004: 1). In Artikel 4 der Bundesverfassung heisst es: „ Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. “ Schon auf der Ebene der Kantone kommt jedoch das so genannte Territorialitätsprinzip zum Tragen: Es wird nach dem ius soli verfahren, was bedeutet, dass zu Gunsten der lokalen Amtssprache die institutionell verankerte Gleichheit der eidgenössischen Amtssprachen aufgehoben wird (ibid.). Unter juristischen Gesichtspunkten kann die Schweiz als Mosaik aus monolingualen Regionen verstanden werden, in denen die anderen Landessprachen jeweils von ihrem Status her keine herausragende institutionelle Rolle spielen (vgl. Lüdi, 1992: 46). Löffler (1995: 53) spricht in diesem Kontext dagegen von territorialem Monolingualismus - dies ist primär die Perspektive lokaler Ver- 67 Im Folgenden werden die Begriffe französischsprachige Schweiz und Romandie als Synonyme verwendet. Die Bewohnerinnen und Bewohner der Romandie werden als französischsprachige Schweizerinnen und Schweizer, Romandes und Romands oder Welsche bezeichnet. <?page no="145"?> waltungseinheiten 68 . Aus der Perspektive des nationalen Raumes kann von territorialer Mehrsprachigkeit gesprochen werden (vgl. Lüdi/ Py, 1984: 4), also der „ Koexistenz von mehreren Sprachen auf ein- und demselben Territorium “ (Lüdi, 1996: 234). Die nachfolgende Tabelle stellt die prozentuale Verteilung der gesprochenen Hauptsprachen der Schweiz im Jahr 2000 dar (in die Berechnung werden nur Personen mit schweizerischer Nationalität aufgenommen) (vgl. Lüdi/ Werlen, 2005: 9): Tab. 7: Prozentuale Verteilung der gesprochenen Hauptsprachen in der Schweiz im Jahr 2000 (Personen mit schweizerischer Nationalität). Sprache Prozentualer Anteil Deutsch 72.5% Französisch 21% Italienisch 4.3% Rätoromanisch 0.6% Nichtlandessprachen 1.6% Die Migrationssprachen, welche in dieser Tabelle nicht erfasst sind, sollten im Gesamtbild der schweizerischen Sprachsituation nicht ausser Acht gelassen werden. Insgesamt werden diese von 9% der Wohnbevölkerung gesprochen. Türkischsprechende Personen gibt es beispielsweise mehr als Rätoromanischsprechende (vgl. Lüdi, 1992: 6), ganz zu schweigen von anderen, noch stärker vertretenen Migrationssprachen wie Portugiesisch, Albanisch oder Serbisch/ Kroatisch (für einen Überblick vgl. Lüdi/ Werlen, 2005: 11). In der Vergangenheit kam zudem wiederholt die Frage auf, welche Rolle Englisch (als potenzielle lingua franca zwischen den Sprachgebieten) im linguistischen Gefüge der Schweiz spielt. Die Frage ist nach wie vor viel diskutiert und in ihrer Auslegung umstritten (für eine Ausführung dazu vgl. Kap. 8.3.6, Hypothese 11). Weil die Schweiz als Land offiziell mehrsprachig ist, kursieren im Ausland teilweise Modelle über Schweizerinnen und Schweizer, die diese als mehrsprachige Individuen darstellen. Für die allermeisten Schweizerinnen und Schweizer gilt dies de facto jedoch nicht, auch wenn sie in der Schule natürlich Basiskenntnisse in einer oder mehreren Landessprachen erwerben. Gewiss kommt individuelle Mehrsprachigkeit in der Schweiz vor, sie ist jedoch nicht die Regel. 68 In der Schweiz gibt es nur sehr wenige Gebiete, wo tatsächlich mehrere Sprachen auf gleichem Raum gesprochen werden. Die prominentesten Beispiele sind die Städte Fribourg und Biel. Nur vier Kantone sind laut der Bundesverfassung mehrsprachig: Freiburg, Bern, Wallis sowie Graubünden (vgl. Lüdi/ Werlen, 2005: 13, Fussnote 3). 7. Datenerhebungskontext 129 <?page no="146"?> Alle vier Landesteile der Schweiz zeichnen sich durch „ das Nebeneinander von Standardsprache und Dialekten, aber in äußerst unterschiedlicher Realisierung “ aus (Haas, 2008: 1777). Auf das deutschsprachige und das französischsprachige Gebiet und insbesondere diesen Aspekt wird in den folgenden zwei Kapiteln eingegangen. 7.2 Deutschschweiz Bei der theoretischen Etablierung des soziolinguistischen Konzepts Diglossie führt Ferguson (1959) die Schweiz als eines der Beispiele auf (neben Haiti, Ländern der arabischen Welt und Griechenland). Heute wird, wahrscheinlich mehr denn je, hoch kontrovers diskutiert, inwiefern dieses Konzept für die Sprachsituation in der Deutschschweiz anwendbar ist (vgl. Christen et al., 2010: 11 ff.). Grundsätzlich zeichnen sich diglossische Sprachsituationen dadurch aus, dass zwei Varietäten, die sich strukturell sehr nahe sind (zum strukturellen Verhältnis zwischen Hochdeutsch und Schweizerdeutsch, vgl. Sieber/ Sitta, 1984) nebeneinander existieren. In der Deutschschweiz sind dies die alemannischen Dialekte (die in der Bezeichnung Schweizerdeutsch zusammengefasst werden) sowie Schweizerhochdeutsch. Kernstück von Fergusons Theorie ist die Annahme, dass eine dieser Varietäten mit mehr Prestige verbunden ist (die High Variety oder H) als die andere (die Low Variety oder L). Schon hier muss im Fall der Deutschschweiz allerdings eine Einschränkung vorgenommen werden, Ammon (1995: 286) schreibt: Der Prestigeunterschied zwischen H und L ist demnach in der Schweiz zumindest schwächer ausgeprägt als in anderen nationalen Zentren des Deutschen - falls nicht sogar umgekehrt und dann mit Fergusons Varietätenbenennung unvereinbar. In der Schweiz ist der Dialekt nicht sozial markiert und wird durch alle Bildungsschichten und unabhängig vom sozio-ökonomischen Status der Sprechenden verwendet (vgl. ibid. 291). Kolde (1981: 69, Fussnote 61) ist diesbezüglich anderer Auffassung und macht geltend, dass die sichere Beherrschung von Hochdeutsch ein Indikator für eine höhere Bildung sei. Hochbewertete Berufe würden die Beherrschung von Hochdeutsch erfordern und somit habe Hochdeutsch in der Schweiz eben doch einen sozialen Statuswert. Gemäss Ammon (1995: 292) liegen aber keine empirisch fundierten Studien zu einem Schichtenunterschied in der Hochdeutschkompetenz von Schweizerinnen und Schweizern vor. Diese Aussage hat meines Wissens nicht wesentlich an Gültigkeit verloren. Ferguson geht von einer komplementären funktionalen Aufteilung der beiden Varietäten aus. Der von Kolde (1981: 68) eingeführte Begriff mediale Diglossie darf als Versuch verstanden werden, die funktionale Aufteilung 130 II. Fragestellung und Empirie <?page no="147"?> zwischen Schweizerdeutsch und Schweizerhochdeutsch modellhaft darzustellen. [. . .] und zwar werden Mundart und Schriftdeutsch komplementär in Abhängigkeit vom Medium (gesprochen - geschrieben), Partner (Deutschschweizer - nicht Deutschschweizer), Formalitätsgrad der Situation (formell - informell) und einem Rollenverständnis und Rollenerwartungen gebraucht. Da das Medium am häufigsten den Ausschlag gibt, sprechen wir von medialer Diglossie. Die von Kolde beschriebene funktionale Aufteilung, die hauptsächlich medial begründet ist, hat in den vergangenen Jahren eine Phase der Erosion durchlaufen. Werlen (2004: 7) konstatiert einen verstärkten Dialektgebrauch in Domänen, die früher eindeutig dem Hochdeutschen vorbehalten waren. Als Beispiel ist etwa die SMS-Kommunikation von Jugendlichen in der Deutschschweiz zu nennen, die zu einem grossen Teil auf Schweizerdeutsch stattfindet. Haas (2004: 85) sieht die Wahl der Varietät in erster Linie in Nähe- Distanz-Faktoren begründet. Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer entscheiden sich beispielsweise auf Grund des Formalitätsgrads einer Situation, welche Varietät sie verwenden wollen. Werlen (2004: 24) fasst die Praxis der Varietätenwahl folgendermassen zusammen: Das Medium der Kommunikation ist ein wesentlicher Faktor bei der Wahl von Hochdeutsch und Schweizerdeutsch. Aber es ist nicht der einzige. Weitere Aspekte betreffen die Adressatenabhängigkeit, Oralität und Literalität des Stils, Funktionen der Nähe oder der Distanz und weitere Funktionen wie Selbstdarstellung, Autoritätsstil, Zitierung usw. Der Autor schlägt (bezugnehmend auf frühere Ausführungen, vgl. Werlen, 1998: 3) vor, von asymmetrischer Zweisprachigkeit zu sprechen, was beinhaltet, dass beide Varietäten als „ voll ausgebaute Varianten beansprucht werden. “ Der Terminus Ausbaudialekt (vgl. Kloss, 1976) verweist in eine ähnliche Richtung, nämlich dass die L-Varietät in der Deutschschweiz nicht nur bezüglich ihres Prestiges keine typische L-Varietät ist, sondern, dass sie auch hinsichtlich ihrer diversen Gebrauchskontexte eine aussergewöhnliche Rolle inne hat (vgl. Christen et al., 2010: 13). Eine Frage, die im Zusammenhang mit der Sprachsituation der Deutschschweiz für hitzige Debatten sorgt, ist, ob Hochdeutsch für Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer eine Fremdsprache ist. Werlen (2008) stellt im Zuge einer Studie zur Erhebung der Sprachkompetenz in der Schweiz fest, dass gut die Hälfte der Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer (mit Schweizerdeutsch als L1) Hochdeutsch als erste Fremdsprache nennen. Aus sprachstruktureller Perspektive kann Hochdeutsch für Personen, die Schweizerdeutsch als L1 haben, eigentlich kaum als Fremdsprache bezeichnet werden (vgl. Sieber/ Sitta, 1986). Auch Häcki Buhofer et al. (1994) schreiben, dass der Erwerb von Hochdeutsch durch Schweizer Kinder nicht mit dem Erwerb einer Zweitsprache gleichgesetzt werden kann, auch wenn Züge eines L2-Erwerbs festgestellt werden können, räumen aber gleichzeitig ein 7. Datenerhebungskontext 131 <?page no="148"?> (ibid: 150): „ Für die politische und pädagogische Diskussion der Sprachsituation in der deutschen Schweiz spielt die Auffassung von Hochdeutsch als Fremdsprache eine grosse Rolle. “ Berthele (2004: 112) postuliert, dass der Diglossiebegriff letztlich als ideologische Position zu verstehen ist und keine linguistische Grundlage im engeren Sinn hat. Er fragt in seinen Ausführungen provokativ, ob Hochdeutsch nicht doch als Fremdsprache aufgefasst werden dürfe oder sogar sollte. Dass viele Autorinnen und Autoren (z. B. Sieber/ Sitta, 1986: 43) in der Vergangenheit davor gewarnt haben, Hochdeutsch als Fremdsprache zu bezeichnen, entspringe der Befürchtung, dass diese Auffassung negative Einstellungen gegenüber Hochdeutsch schürt. Einen „ intrinsischen Zusammenhang “ zwischen diesen beiden Phänomenen will Berthele (2004: 112) aber nicht gelten lassen; so vertritt er die Position, dass die Auffassung von Laien bei der Bewertung von und im Umgang mit sprachlichen Phänomenen in Betracht gezogen werden muss (ibid. 131 f.): [. . .] die Sprachrealität [ist] für die grosse Mehrheit der Betroffenen aus Innenwie Aussensicht mit Zweispachigkeit besser charakterisiert. [. . .] Gerade wer sich für die Verbesserung des Status des Hochdeutschen einsetzen will, tut gut daran, die Augen vor dieser zweisprachigen ‚ Realität ‘ in den Deutschschweizer Köpfen nicht zu verschliessen. Die vorliegende Arbeit leistet unter anderem einen Beitrag zum besseren Verständnis der Auffassungen, Einschätzungen und Evaluationen von Nicht- Linguistinnen und Nicht-Linguisten in Bezug auf das Verhältnis zwischen Hochdeutsch und Schweizerdeutsch in der Deutschschweiz 69 . 7.3 Französischsprachige Schweiz Im Vergleich mit der Sprachsituation in der Deutschschweiz ist die Sprachsituation in der Romandie verhältnismässig einheitlich. Es wird eine regionale Form des Französischen gesprochen, die lediglich wenig lokale Variation hinsichtlich unterschiedlicher Akzente aufweist (vgl. Knecht, 2000: 151). Vom Französischen, das in Frankreich oder in Belgien gesprochen wird, unterscheidet sich das Schweizer Französisch nur geringfügig (Knecht/ Py, 1996: 1867). Dem Standardfranzösischen, wie es mit Paris assoziiert wird, entspricht es aber natürlich nicht. Der Frage, ob deswegen in der Romandie Minderwertigkeitsgefühle (infériorité linguistique) bestehen, geht Singy (1996) nach und kommt unter anderem zum Schluss, dass den Sprecherinnen und 69 Die Frage, ob Hochdeutsch eine Fremdsprache ist oder nicht, wird an dieser Stelle absichtlich nicht abschliessend beantwortet - respektive können wir es vorerst kompromisshalber mit Max Frisch halten, der Hochdeutsch einmal als „ Halbfremdsprache “ bezeichnet haben soll (vgl. Kolde, 1981: 74). Die Thematik wird in Kapitel 13.2.2 mit konkreten Resultaten wieder aufgenommen. 132 II. Fragestellung und Empirie <?page no="149"?> Sprechern in der Romandie durchaus bewusst ist, dass ihre regionale Sprechweise vom Standard beispielsweise bezüglich des Wortschatzes abweicht (vgl. ibid. sowie die Ausführungen in Kapitel 5.3.4). Vor dreissig Jahren konstatierte Kolde (1981: 65 f.), die franko-provenzalischen Dialektvarianten (patois) seien praktisch ausgestorben - zumindest was die grösseren Städte betreffe. Ganz vereinzelt kämen sie noch in ländlichen Gebieten vor. Bei der letzten Volkszählung im Jahr 2000 gaben lediglich 16 015 Personen an, patois (mit oder ohne Französisch) zu sprechen. Dies sind rund 27% weniger als bei der Volksbefragung im Jahr 1990 und man kann davon ausgehen, dass sich der Erosionsprozess seit der letzten Erhebung fortgesetzt hat (vgl. Lüdi/ Werlen, 2005: 39). Gemäss Haas (2008: 1779) steht die Schwäche der französischen Dialekte in unmittelbarem Zusammenhang mit der Tatsache, dass nie eine auf diesen Dialekten basierende Schreibsprache existiert hat - allerdings trifft dies auf die Deutschschweizer Dialekte in gleichem Masse zu, die alles andere als vom Aussterben bedroht sind. 7.4 Zusammenfassung Die soziolinguistische Landschaft der Schweiz und somit der Datenerhebungskontext präsentieren sich komplex. Das Land ist territorial mehrsprachig und definiert vier offizielle Landessprachen: Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. Daraus folgt aber nicht automatisch, dass Schweizerinnen und Schweizer ebenfalls individuell mehrsprachig sind. In der Deutschschweiz existieren die Varietäten Schweizerhochdeutsch und Schweizerdeutsch (als Oberbegriff für die dort gesprochenen alemannischen Dialekte) nebeneinander. Wie dieses Nebeneinander einzuschätzen ist, ist Gegenstand zahlreicher sprachwissenschaftlicher Diskussionen. Früher wurde die Sprachsituation in der Deutschschweiz als mediale Diglossie bezeichnet, wobei Hochdeutsch dem schriftlichen Bereich und Schweizerdeutsch dem mündlichen Bereich zugeordnet wurde. Heute geht man eher davon aus, dass Nähe-Distanz-Faktoren bei der Varietätenwahl den Ausschlag geben. Ob das Konzept Diglossie überhaupt (noch immer) adäquat ist, um die Sprachverhältnisse in der Deutschschweiz zu umschreiben, ist eine offene Frage. Es gibt beispielsweise den Vorschlag, von asymmetrischer Zweisprachigkeit zu sprechen. Letztlich ist die Einschätzung wohl treffend, dass es sich bei der Diglossiedebatte (auch) um eine ideologische Debatte handelt, bei der sowohl die Sicht der Sprachwissenschaft als auch die Sicht von Nicht-Linguistinnen und Nicht-Linguisten berücksichtigt werden muss. In der Romandie sind die Dialekte (patois) praktisch ausgestorben und es präsentiert sich eine einheitlichere linguistische Situation als in der Deutschschweiz. Wie Romands und Romandes ihre Schweizer Variante des Französischen im Vergleich mit Varianten aus Frankreich einschätzen, und ob sie 7. Datenerhebungskontext 133 <?page no="150"?> dabei linguistische Unsicherheit empfinden, ist eine Frage, die in der Soziolinguistik der Romandie diskutiert und erforscht wird. Für eine laienlinguistische Studie ist die soziolinguistische Landschaft der Schweiz ein idealer Nährboden: Es gibt zahlreiche sprachrelevante Fragen, die (öffentlich) debattiert werden und man kann davon ausgehen, dass die komplexe linguistische Situation auch eine Reihe schwelender Konflikte verursacht, die (noch) nicht in der Öffentlichkeit diskutiert werden, die aber in der hier untersuchten evaluativen Laienmetasprache an die Oberfläche gelangen. 134 II. Fragestellung und Empirie <?page no="151"?> 8. Theoriegeleitete, resultatebasierte Forschungsfragen und Hypothesen Die diskursive Spracheinstellungsforschung (zu der die Erforschung evaluativer Metasprache gehört, vgl. Kap. 3.2.1.4), befindet sich noch in den Anfängen. Ziegler/ Tophinke (2006: 221 f.) formulieren eine Liste mit Forschungsdesiderata, die in diesem Gebiet bestehen. Dazu gehört nicht nur die Frage nach alters-, geschlechts- und statusbedingten Effekten, sondern zum Beispiel auch die Frage nach der (Sozial-)Semantik der Spracheinstellungsäusserung: „ Mit welchen semantischen Kategorien arbeiten Spracheinstellungsäußerungen? Wie schematisch bzw. stereotyp sind Spracheinstellungsäußerungen? “ (ibid.). Die Autorinnen schreiben, dass geprüft werden müsse, auf welche Art und Weise Einstellungsäusserungen vorgebracht werden. Die vorliegende Arbeit hat zum Ziel, einige dieser offenen Fragen in Bezug auf die in Interviews vorgebrachten Spracheinstellungsäusserungen zu beantworten. Ziel ist es, Laienmetasprache sowohl quantitativ (auf spezifische Effekte sozialer Variablen hin) zu untersuchen, als auch in einer qualitativen Analyse die Konsistenz und Semantik evaluativer Metasprache zu ergründen. Im Folgenden werden zunächst die quantitativen Forschungsfragen und die Hypothesen für die quantitative Analyse des Datenmaterials eingeführt (vgl. Kap. 8.1, 8.2 und 8.3) und in einem weiteren Schritt die qualitativen Forschungsfragen (vgl. Kap. 8.4 und 8.5). Die Herleitung der Forschungsfragen und Hypothesen ist theoriegeleitet und resultatebasiert und daher als Ergänzung zu den Ausführungen zum Forschungsstand in Kapitel 5 zu verstehen. 8.1 Die Arbeitshypothesen der Sprachästhetikforschung und der Wahrnehmungsdialektologie In Kapitel 5.1.1 wurden die sechs Arbeitshypothesen der Sprachästhetikforschung vorgestellt. Im Rahmen der quantitativen und qualitativen Analyse des Interviewmaterials wird auf die genannten Hypothesen eingegangen, auch wenn diese nicht in erster Linie für die direkte Datenerhebung, wie sie hier zum Einsatz kommt, entwickelt worden sind. Einige methodenbedingte Aspekte müssen daher berücksichtigt werden: In der vorliegenden Untersuchung, bei der die Gewährspersonen frei über Sprachen und Varietäten sprechen, steht im Gegensatz zu den Ursprungsstudien, die mit Perzepten arbeiten, der Wissensbestand Konzeptualisierung im Zentrum des Interesses. Darüber hinaus beziehen sich die Ursprungshypothesen hauptsächlich auf den intra-linguistischen Vergleich und nicht auf den <?page no="152"?> inter-linguistischen Vergleich (vgl. z. B. Hypothese zur auferlegten Norm und zur Ähnlichkeit). In der vorliegenden Studie werden sowohl interals auch intra-linguistische Vergleiche zugelassen. Auf Grund dieser methodologischen Abweichungen können die Arbeitshypothesen der Sprachästhetikforschung und der Wahrnehmungsdialektologie nicht im engeren Sinne empirisch geprüft werden; sie werden in diesem Rahmen vielmehr zur Diskussion gestellt. Die Hypothesen werden jeweils punktuell dort thematisiert, wo sich dies in Anbetracht der Resultate anbietet (vgl. Kap. 11, 12, 13). 8.2 Genannte Sprachen und Begründungen: Häufigkeiten und Produktivität Ein grundlegendes Forschungsziel ist die quantitative Erfassung positiver ästhetischer, negativer ästhetischer sowie affektiver Sprachurteile, wie sie im Laienmetadiskurs auftreten (vgl. Kap. 8.2.1). Das Interesse gilt ferner der Produktivität der befragten Laien beim Beurteilen und Begründen linguistischer Werturteile in den genannten drei Urteilstypen. Die Forschungsfragen zu Häufigkeiten und Produktivität genannter Sprachen und Begründungen leiten sich von diesen Forschungszielen und -interessen ab (vgl. Kap. 8.2.2, 8.2.3 und 8.2.4). 8.2.1 Laienlinguistisches Spektrum - Prinzip der Granularität (Spezifität) Über welche Sprachen sprechen Menschen in der Deutschschweiz und in der französischen Schweiz, wenn sie nach ihrer Lieblingssprache, der für sie schönsten Sprache sowie hässlichen Sprachen gefragt werden, respektive welche Sprachbezeichnungen führen sie ein 70 ? In der Stereotypenforschung ist die Frage, welche Kategorien letztlich Stereotype besonders begünstigen, nicht abschliessend geklärt. Schneider (1996: 427) fordert, dass diese Frage auch empirisch stärker berücksichtigt wird. Daher interessiert hier nicht nur, wie viele Sprachlabels Laien im evaluativen metasprachlichen Diskurs einführen (Quantität respektive Produktivität), sondern auch, um welche es sich dabei handelt. Übergeordnet geht es um die Frage, wie Laien ihre innere linguistische Wahrnehmungswelt kategorisieren und konzeptualisieren. Geklärt wird inter alia, inwiefern die eingeführten Sprachbezeichnungen 70 In den Interviews wird mit dem Begriff Sprache operiert ( „ Welches ist Ihre Lieblingssprache? “ ). Wenn Gewährspersonen über spezifische Varietäten sprechen wollten, taten sie dies meist von sich aus - oder sie vergewisserten sich durch eine Rückfrage, dass diese Granularitätsebene ebenfalls zugelassen war (vgl. zur Rückfragepraxis Kap. 13.1.4). 136 II. Fragestellung und Empirie <?page no="153"?> auf der vertikalen Kategorisierungsachse organisiert sind (vgl. zur vertikalen Kategorisierungsachse Kap. 3.2.2.5 sowie Kap. 8.2.1.1). Zu erwarten ist, dass die L1 71 beider befragter Gruppen eine wesentliche Rolle bei den in den Interviews genannten Sprachen spielt (insbesondere in den beiden positiven Beurteilungstypen). Weiter wird davon ausgegangen, dass Sprachen, zu denen intensiver Kontakt besteht, häufiger thematisiert werden als solche, die den Informantinnen und Informanten weniger bekannt oder vertraut sind. Es dürfte zudem in der Benennung dieser Sprachen eine grössere Spezifität erreicht werden. Das heisst, es wird zu einer wiederholten Nennung von Englisch sowie von den Landessprachen der Schweiz kommen. In der Schweiz wird am häufigsten eine der Landessprachen als Fremdsprache in Kombination mit Englisch gelernt (vgl. Werlen, 2008). In der Schweiz häufig gesprochene Nicht-Landessprachen (Migrationssprachen) wie Serbisch/ Kroatisch, Albanisch, Portugiesisch und Spanisch werden in den Interviews ebenfalls in hoher Frequenz erwartet 72 . Prognosen zum Vorkommen einzelner Sprachen in spezifischen Urteilstypen (affektiv, positiv ästhetisch, negativ ästhetisch) werden an dieser Stelle keine angestellt - einige der Hypothesen in Kapitel 8.3 thematisieren diesen Aspekt nachfolgend. Neben den oben genannten häufig auftretenden Sprachen wird eine Reihe niedrigfrequent genannter Sprachen im laienlinguistischen Spektrum vorkommen, die in der Sprachbiographie einzelner Befragter zentral sind, für andere Personen aber keinerlei Bedeutung haben. Hier wird mit einer geringeren Spezifität gerechnet. In diesem Kontext werden Sprachbezeichnungen auf der übergeordneten, abstrakten Ebene eingeführt (zum Beispiel eher Arabisch als syrisches Arabisch) (vgl. zur übergeordneten Ebene in der Prototypentheorie Kap. 3.2.2.5). Resultierend aus den erfolgten Überlegungen wird erwartet, dass das laienlinguistische Spektrum global insgesamt um die 30 Einträge enthält. Sprachen, die in geringer Häufigkeit im laienlinguistischen Spektrum vorkommen, sind nicht Zentrum dieses Forschungsvorhabens. Das laienlinguistische Spektrum wird in seiner Gesamtheit lediglich an dieser Stelle aufgezeigt. Der Fokus liegt danach ausschliesslich auf jenen Sprachen, die in den Interviews in besonders hoher Frequenz vorkommen sowie auf quantitativen Aspekten des laienlinguistischen Spektrums, also der Frage, wie viele unterschiedliche Sprachen in jedem Urteilstyp genannt werden. 71 Die L1 oder Erstsprache wird definiert als „ die Sprache [. . .], die ein Mensch als erste gelernt hat. Der Erwerb der Erstsprache beginnt mit dem Beginn des Lebens. “ (Dietrich, 2008: 306). Im Rahmen dieser Studie wird die L1 durch die Frage „ Ihre Muttersprache ist in diesem Fall . . . “ eruiert (vgl. zum Interviewleitfaden Kap. 9.3.2). 72 Allesamt Sprachen mit einem Anteil von über 1% in der Wohnbevölkerung der Schweiz (Lüdi/ Werlen, 2005: 11, Quelle: Eidgenössische Volkszählung, BFS). 8. Theoriegeleitete, resultatebasierte Forschungsfragen und Hypothesen 137 <?page no="154"?> 8.2.1.1 Organisation des dialektalen Wissens auf der vertikalen Kategorisierungsachse in der Deutschschweiz Eines der Forschungsinteressen gilt der semantischen Organisation des laienlinguistischen Spektrums, insbesondere was die Varianten der deutschen Sprache betrifft. Folgt man Christen (1998), müsste das dialektale Wissen (wozu ästhetische Konzeptualisierungen gehören) auf der Ebene der Kantonsmundarten organisiert sein. Die Tatsache, dass die Kantonsmundarten und ihre Bezeichnungen (Luzerndeutsch, Berndeutsch etc.) eine „ herausragende, binnenschweizerische Bedeutung “ (ibid. 261) haben, veranlasst Christen dazu zu prüfen, ob ihnen die Eigenschaften von Elementen der Basisebene zukommen. Die vertikale Kategorisierungsachse bezogen auf die Dialektkategorien in der Deutschschweiz würde demnach folgendermassen aussehen 73 : Tab. 8: Vertikale Kategorisierungsachse für Dialektkategorien in der Deutschschweiz (Christen, 1998: 261). Ebene der Generalisierung Säugetier Schweizerdeutsch Ebene der Primärbegriffe Hund Luzerndeutsch Ebene der Spezifizierung Pudel Entlebucherdeutsch Gemäss Christen (ibid.) müssten sich die Kantonsmundarten auf der Basisebene folglich dadurch auszeichnen, dass sie eine Gestalt haben respektive, dass ein einheitliches mentales Bild existiert, das für die ganze Kategorie gilt. Für die übergeordnete Ebene (Ebene der Generalisierung) würde gemäss der Prototypentheorie kein mentales Bild existieren (ibid.), d. h., Schweizerdeutsch selbst würde nicht als Gestalt wahrgenommen. Im Gegensatz zu den Kantonsmundarten wäre Schweizerdeutsch konzeptuell vager und diffuser (vgl. dazu auch Christen, 2010: 281) 74 . Als zweites Merkmal der Basisebene, wo die Kantonsmundarten angesiedelt sind, wird die Nennung der Begriffe in Standardsituationen aufgeführt: Die Kantonsmundarten würden also in „ neutralen Kontexten “ (ibid.) verwendet und müssten daher auch in der Interviewsitua- 73 Die von Christen (ibid.) verwendeten Begriffe Ebene der Generalisierung, Ebene der Primärbegriffe sowie Ebene der Spezifizierung entsprechen den im Rahmen von Kapitel 3.2.2.4 verwendeten Begriffen Übergeordnete Ebene, Basisebene sowie Untergeordnete Ebene. 74 Die Darlegung von Kolde (1981: 72), auch wenn diese nicht in der Prototypentheorie verankert ist, kann den Überlegungen Christens hier zugeführt werden: Schweizerdeutsch sei nach aussen, insbesondere nach Norden (Deutschland), zwar eine sozialpsychologische Realität, indem es als ein „ sprachliches Nationalsymbol “ fungiere, nach innen jedoch sei es „ ein rein abstrakter Ordnungsbegriff “ . Der Begriff referiere „ [. . .] die Gesamtheit aller Merkmale, die allen auf Schweizer Territorium gesprochenen alemannischen Mundarten gemeinsam sind. “ 138 II. Fragestellung und Empirie <?page no="155"?> tion öfter fallen. Als dritten und letzten Punkt führt Christen (ibid.) an: „ Auf dem Niveau der Kantonsmundarten wird das dialektale Wissen organisiert. “ Nach einer empirischen Überprüfung dieser Annahmen (ibid. 261 - 267), die hier nicht im Detail wiedergegeben werden kann, kommt Christen zum Schluss, „ [. . .] dass den Kantonsmundarten in der Regel der Status von Primärbegriffen zukommt “ (ibid. 264). Sie fügt aber an, dass Abweichungen sowohl unterhalb (untergeordnete Ebene: regionale Dialekte, Ortsdialekte) als auch oberhalb (übergeordnete Ebene: Schweizerdeutsch) der Basisebene zu erwarten sind, „ [. . .] weil deren Kategorisierung nicht allein durch die Wahrnehmung, sondern auch durch kulturelle Wertsysteme bedingt ist “ (ibid.). Dieser Gedanke wurde schon bei Kristiansen (2008: 58, vgl. Kap. 3.2.2.6) ausgemacht, die postuliert, dass die Kategorisierung von Elementen in die übergeordnete Ebene letztlich weniger formal als funktional (politisch, sozial) ist. Hier soll ermittelt werden, mit welchen Sprachbezeichnungen die befragten Laien beim Urteilen operieren: Sprechen sie über Deutsch (sehr vage), Schweizerdeutsch (vage), Kantonsmundarten (gestalthaft und daher konkreter) oder sogar über regionale Dialekte und Ortsdialekte? Die Frage stellt sich freilich analog für andere thematisierte Sprachen und ihre allenfalls genannten Varietäten. In Kapitel 2.2.2 wurden die Arten von Sprachbewusstheit nach Preston (1996 a) eingeführt. Die Frage nach der Detailliertheit, in der Laien Auskunft geben, entspricht Prestons Sprachbewusstheitstyp Spezifität mit den Ausprägungen auf einem Kontinuum von global bis spezifisch (vgl. Kap. 2.2.2 Tabelle 2). Berthele (2002: 45) spricht in diesem Kontext vom Prinzip der Granularität, das er als „ degree of resolution which is applied to a particular area of perception or conception “ beschreibt. So spricht eine von Berthele befragte Person in einem Interview zuerst von Deutsch, dann von Schweizerdeutsch und später vom Freiburger Dialekt (ibid. 46) und bewegt sich damit auf unterschiedlichen Granularitätsstufen. 8.2.2 Urteilsbereitschaft und Urteilsproduktivität Geklärt wird zunächst, ob Laien generell Auskunft geben wollen oder können, wenn sie mittels direkter Datenerhebungsmethoden zum Abgeben affektiver und ästhetischer Sprachurteile aufgefordert werden. Untersucht wird, wie oft Nullantworten vorliegen (die Urteilsbereitschaft oder das Urteilsvermögen sind nicht vorhanden) und wie viele Sprachen aufgezählt werden von Personen, die grundsätzlich urteilsbereit sind (Urteilsproduktivität). Wenn Nullantworten vorliegen, kann jedoch nicht automatisch auf fehlende Urteilsbereitschaft im Sinne von fehlender Kooperation während des Interviews geschlossen werden. Wenn Interviewpartnerinnen und -partner in der Interviewsituation keine affektiven oder ästhetischen Urteile äussern, kann dies unterschiedliche Gründe haben: 1. In den inneren Ressourcen der Gewährspersonen ist tatsächlich keine Antwort auf diese Frage zu finden und daher keine Antwort abzurufen; für diese Menschen gibt es in 8. Theoriegeleitete, resultatebasierte Forschungsfragen und Hypothesen 139 <?page no="156"?> praxi keine hässlichen Sprachen oder sie haben sich noch nie Gedanken darüber gemacht (= mangelndes Urteilsvermögen respektive keine Verfügbarkeit, vgl. Kap. 2.2.2). 2. Die Information ist nicht so spontan abrufbar, wie es die Interviewsituation verlangt (= ebenfalls mangelndes Urteilsvermögen). 3. Eine Gewährsperson findet zwar eine Information in ihren inneren Ressourcen, möchte diese aber nicht mitteilen und hält sie willentlich zurück (= mangelnde Urteilsbereitschaft im Sinne von Kooperation). Die spontane Abgabe sprachlicher Werturteile in der Interviewsituation erfordert von den Befragten eine hohe Reaktionsgeschwindigkeit; es muss innerhalb kürzester Zeit entschieden werden, ob eine Antwort überhaupt sozial wünschbar ist, ob sie sogar Tabus bricht und mit Gesichtsverlust verbunden ist - ob also besser keine Antwort gegeben wird (wie im dritten Fall zutreffend) als eine risikobehaftete (vgl. Kap. 9.1.3). Erwartet wird, dass die Urteilsbereitschaft in den beiden positiven Urteilstypen gross ist. Gerade die Frage nach der Lieblingssprache ordnet sich in vertrautes Alltagsfrageschema ein: Welches ist Ihre Lieblingsspeise? Welches ist Ihr Lieblingsferienland? Welches ist Ihre Lieblingsmusik? Die Frage wird kognitiv leichter zu verarbeiten sein als die Frage nach hässlichen Sprachen. Hässlichkeit ist kein gesellschaftsfähiges Thema, zumindest nicht in öffentlichen und semi-öffentlichen Alltagsdiskursen und -situationen. Das Reden über hässliche Dinge ist eine weit weniger verbreitete Kulturpraxis als das Reden über schöne Dinge. Diese Tatsache wird in diversen Wissenschaftszweigen, die sich mit Ästhetik befassen (etwa der Philosophie oder der Kunstwissenschaft), reflektiert. Eco (2007, 8) hält in seiner Geschichte der Hässlichkeit fest: Meist ist das Hässliche als Gegensatz zum Schönen verstanden worden, aber fast nie wurden ihm ausführliche Behandlungen gewidmet, höchstens parenthetische oder marginale Anmerkungen. Für diesen Urteilstyp wird demnach eine geringere Urteilsbereitschaft erwartet. In der quantitativen Analyse werden Nullantworten keinem der oben erwähnten Typen zugeordnet und nicht weiter interpretiert. Eine qualitative Vertiefungsfrage widmet sich jedoch dem Antwortverhalten beim negativen ästhetischen Sprachurteil eingehend (Kap. 8.5.1). 8.2.3 Urteilsbegründungen Bei den Urteilsbegründungen legen die Informantinnen und Informanten dar, weshalb sie eine bestimmte Sprache in einem bestimmten Urteilstyp genannt haben. Hier erfolgen metasprachliche Konzeptualisierungen von Schönheit, Hässlichkeit und affektiven Beziehungen. Einerseits interessiert hier das Spektrum der genannten Begründungen und diesbezüglich vor allem, ob Unterschiede in der Begründungsdiversität und -qualität zwischen den drei Urteilstypen festzustellen sind. Es ist für die 140 II. Fragestellung und Empirie <?page no="157"?> vorliegende Studie methodologisch entscheidend, dass affektive und positive ästhetische Urteile unterschiedliche globale Begründungsmuster aufweisen. Damit könnte gezeigt werden, dass die gewählte Methode unterschiedliche mentale Konzepte abzurufen vermag. Andererseits interessiert auch bei den Urteilsbegründungen, wie zuvor bei den Urteilen selbst, der Grad der Granularität respektive Spezifität, der in den unterschiedlichen Urteilstypen erreicht wird und insgesamt, welche Merkmale so salient sind, dass sie metasprachlich verhandelt werden. Das folgende Beispiel dient als Illustration für Antworten mit zunehmender Spezifität im Bereich der Phonetik: suprasegmentale Ebene (Intonation, Lautstärke); Zwischenebene mit Lautgruppierungen (Konsonanten, Vokale); Ebene einzelner Laute (/ x/ ). Wie in Kapitel 2.1.2 geschildert, hält Labov die Laienmetasprache, gerade was phonetische Merkmale betrifft, für armselig. Ad extremum entspräche dies der nicht-Verfügbarkeit in Prestons Kategorisierung der Ausprägungen und Arten von Sprachbewusstheit: Laien sprechen über einige Themen unter keinen Umständen spontan (Preston nennt hier als Beispiel in der Tat phonologische Charakteristika von Akzenten). Es gilt zu prüfen, inwiefern diese Annahmen einer Prüfung in einem laienlinguistischen metasprachlichen Datensatz standhalten. Das Interesse bezüglich der Urteilsbegründungen gilt überdies der Frage, ob unterschiedliche Sprachen unterschiedliche Begründungen evozieren und worin diese Differenzen liegen. Wenn hier keine signifikanten Unterschiede gefunden werden, können allgemeine Regeln der Sprachästhetik aufgestellt werden, da das ästhetische Empfinden in diesem Fall als sprachunabhängig und damit universal gewertet werden könnte ( „ Eine Sprache wird grundsätzlich dann als schön empfunden, wenn . . . “ ). Wenn in der Laienargumentation jedoch tatsächlich für unterschiedliche Sprachen unterschiedliche Begründungen angeführt werden, können solche allgemeinen Regeln zur Alltagssprachästhetik nicht aufgestellt werden, da das ästhetische Empfinden abhängig von der jeweils beurteilten Sprache funktioniert und damit eher nicht universellen Charakter hat (vgl. zu diesem Thema Berthele, 2010: 285 sowie die Ausführungen in Kap. 5.1). Die Prüfung der Urteilsbegründungen wird überdies Aufschluss darüber geben, welche Hypothesen aus der Sprachästhetikforschung und der Wahrnehmungsdialektologie in der metasprachlichen Argumentation von Laien gestützt werden: Argumentieren Laien sprachinhärent? Kommen soziale Konnotationen in den Begründungen zum Tragen? Welche Rolle wird der Verständlichkeit der Sprache oder der Vertrautheit mit ihr beigemessen? 8.2.4 Begründungsbereitschaft/ Begründungsproduktivität Geprüft wird (ähnlich wie zuvor bei der Urteilsbereitschaft), ob einmal abgegebene linguistische Werturteile von den befragten Personen auch begründet werden (Begründungsbereitschaft) und in welchem Umfang 8. Theoriegeleitete, resultatebasierte Forschungsfragen und Hypothesen 141 <?page no="158"?> dies geschieht (Begründungsproduktivität). Während der Interviews steht es den Gewährspersonen jeweils offen, mehrere Begründungen für die Wahl einer Sprache abzugeben. Es wird davon ausgegangen, dass die Begründungsbereitschaft generell da ist, wenn eine Sprache in dem betreffenden Urteilstyp genannt wird (der neuralgische Punkt ist eher bei der Urteilsbereitschaft als bei der Begründungsbereitschaft zu verorten). Ob die Begründungsbereitschaft unterschiedlich ist, je nachdem um welchen Urteilstyp es sich handelt, wird ebenfalls geprüft. Eine weitere Forschungsfrage befasst sich damit, ob bei Mehrfachantworten die Begründungsproduktivität unter Umständen nachlässt (die erstgenannte Sprache in einem Urteilstyp wird noch sehr ausführlich begründet, während die folgenden immer weniger ausführlich begründet werden). 8.3 Hypothesen Nach einigen allgemeinen Überlegungen zum hypothetiko-deduktiven Arbeiten (vgl. Kap. 8.3.1 sowie 8.3.2) werden die 20 Hypothesen eingeführt, die getestet werden. Die Hypothesen werden in sechs Hypothesenkomplexen zusammengefasst, die zusammen jeweils eine Einflussgrösse darstellen: Alter (8.3.3), Geschlecht (8.3.4), Bildung (8.3.5), Sprachgebiet (8.3.6), Sprachbiographie/ Kontaktsituation (8.3.7). Alle Hypothesen werden theoretisch und gestützt auf vorliegende Resultate hergeleitet (vgl. Schwarz/ Shahidi/ Cuonz, 2006). 8.3.1 Vorbemerkung zur Hypothesenbildung und den untersuchten Variablen Bei der nachfolgenden Hypothesenbildung werden die Merkmale und/ oder Phänomene festgelegt, die untersucht werden sollen und die Beziehung zwischen ihnen wird beschrieben; zugleich wird mit der Aufstellung der Hypothesen die (quantitative) Forschungsagenda festgelegt (Raithel, 2008: 33). Hypothesen können als „ Erklärungsversuche von unerklärten bzw. ungeklärten Problemzusammenhängen “ verstanden werden (ibid.). Bei der hypothetiko-deduktiven Forschung wird untersucht, wie eine unabhängige Variable mit einer abhängigen Variablen zusammenhängt. Dabei fungiert die abhängige Variable (auch Zielvariable) als Explanandum, das erklärt werden soll und die unabhängige Variable (auch Einflussvariable) als Explanans, das Aufschluss darüber gibt, warum es zu einer bestimmten Tendenz bei der abhängigen Variablen kommt (Seipel/ Rieker, 2003: 90). Im Falle der ästhetischen und affektiven Sprachurteile stellen die Urteile selbst die Zielvariable dar. Wir wollen wissen, mit welchen Faktoren die Beschaffenheit, Ausprägung sowie die Begründungen linguistischer Werturteile 142 II. Fragestellung und Empirie <?page no="159"?> zusammenhängen, welche Faktoren in signifikantem Zusammenhang mit den Werturteilen stehen und wo die Korrelation weniger stark oder gar nicht festzustellen ist. Mit diesem variablensoziologischen Vorgehen ordnet sich die Studie in die Tradition der (quantitativen) variations- und soziolinguistischen Methodologie ein - Chambers (2003: 18) definiert dieses Vorgehen sogar als grundlegende empirische Aufgabe der Soziolinguistik: Correlating linguistic variation as the dependent variable with independent variables such as linguistic environment, style, or social categories is the primary empirical task of sociolinguistics. Linguistische Variation wurde zu Beginn empirischer soziolinguistischer Forschung hauptsächlich als Variation der Aussprache verstanden. Labov (1966) etwa verwendete das Phonem/ r/ als Zielvariable und es gelingt ihm nachzuweisen, dass die unterschiedliche Realisierung des Phonems signifikant korreliert mit situativen, sozialen und regionalen Einflussvariablen. Obschon sich die quantitative soziolinguistische Forschung lange Zeit auf solche phonologischen Variablen konzentriert hat und teilweise noch immer konzentriert, findet linguistische Variation auf allen linguistischen Ebenen statt und kann demzufolge auch auf allen Ebenen untersucht werden (vgl. Durrell, 2000: 195). Dass Spracheinstellungen (natürlich auch in Form linguistischer Werturteile) als Zielgrössen fungieren können, zeigt die linguistische Spracheinstellungsforschung: Coupland/ Bishop (2007: 76) postulieren, dass Diversität und Variation in der Attribuierung sozialer Bedeutung zu Varietäten soziolinguistisch genauso signifikant ist, wie Variation in der Sprache selbst. Baker (1992: 48) hält fest, dass die Spracheinstellungsforschung eine Tendenz zur bivariaten Vorgehensweise zeigt, indem sie jeweils eine Spracheinstellung mit einer weiteren Variable korreliert. Baker nennt folgende Beispiele (ibid.): language attitude and gender language attitude and age language attitdue and ability or achievement language attitude and language background language attitude and type of school attended language attitude and social class Für die vorliegende Untersuchung wurden die Variablen Geschlecht, Alter und Bildungsstufe (type of school attended) übernommen. Die von Baker als ability or achievement definierte Variable wurde integriert in die Subvariablen zur Sprachbiographie (entspricht Bakers language background). Dazu kommt für die vorliegende Forschungsarbeit die Variable Sprachgebiet (Deutschschweiz vs. französische Schweiz). Es ergibt sich daraus folgende Liste von Einflussvariablen für die Erforschung linguistischer Werturteile: ● linguistische Werturteile und Alter ● linguistische Werturteile und Geschlecht ● linguistische Werturteile und Bildung ● linguistische Werturteile und Sprachgebiet 8. Theoriegeleitete, resultatebasierte Forschungsfragen und Hypothesen 143 <?page no="160"?> ● linguistische Werturteile und Sprachbiographie/ Kontaktsituation (beinhaltet die Subvariablen L1/ Muttersprache, aktuell gelernte Schulsprachen, Art des Spracherwerbs, selbstdeklarierte quantitative Sprachkompetenz, Sprachaufenthalte) Nach einem kurzen kritischen Exkurs zum variablensoziologischen Forschen werden die Hypothesen, die diese Einflussvariablen betreffen, erläutert. 8.3.2 Exkurs: Kritik am strukturalistischen variablensoziologischen Forschen Das vorliegende Forschungsdesign vereint quantitative und qualitative Methoden (vgl. Kap. 6). Der hypothetiko-deduktive Ansatz macht folglich nur einen Teil des Forschungsvorhabens aus. Daher sei an dieser Stelle erwähnt, aus welchen Gründen die ausschliesslich hypothesengeleitete Forschung (in mancher Hinsicht berechtigterweise) in die Kritik geraten ist und wie eine Methodenkombination solche problematischen Aspekte entschärfen kann. Kluge (1999: 14) beschreibt das Problem des Arbeitens mit zu Beginn festgelegten Hypothesen folgendermassen: Wenn die Forschungstätigkeit damit beginnt, dass ForscherInnen formale Theorien operational herunterbuchstabieren, ist die Gefahr gross, dass Sinn- und Bedeutungsstrukturen, mit denen die Akteure ihre soziale Alltagswelt selber kognitiv strukturieren, durch die Relevanzsetzungen der ForscherInnen überblendet werden. Dieser Einwand ist berechtigt, kann im Rahmen dieser Untersuchung allerdings durch qualitative Analyseschritte entschärft werden. Bei der eingeplanten Inhaltsanalyse wird nach diesen Sinn- und Bedeutungsstrukturen, die für die Interviewpartner und Interviewpartnerinnen zentral sind, gesucht. Durch Verwendung qualitativer Analysestrategien gewinnt gemäss Mayring (2001: [30]) die Forschung „ an Offenheit für den Gegenstand und damit auch an Alltagsnähe. “ Einen weiteren Vorteil qualitativer Analysestrategien sieht Mayring darin, dass Hypothesen hinterfragt werden und dass die „ Verbindung mit dem Gegenstand der Untersuchung “ (ibid.) daher nicht nur zu Beginn des Forschungsprozesses gewährleistet ist, sondern in späteren Phasen ebenfalls. Kluge (1999: 14) schreibt weiter, dass selbst unter quantitativen Forscherinnen und Forschern der Umstand kritisiert wird, „ dass die klassische variablensoziologische Umfragemethodik auf Voraussetzungen beruht, die unter den Bedingungen der sich modernisierenden Gesellschaften zunehmend problematisch werden. “ 75 Diesem Umstand trägt die neuere poststruk- 75 Kluge bezieht sich hier vor allem auf sich rasch verändernde soziokulturelle Milieus. Den Forschenden fällt es zunehmend schwer, für diese ihnen nicht vertrauten Milieus 144 II. Fragestellung und Empirie <?page no="161"?> turalistische variations- und soziolinguistische Forschung mit ihrem komplexen Verständnis von Identität Rechnung (vgl. Kap. 4.2.3). Konkrete Beispiele für Forschungsarbeiten dieser Art zur Variablen Gender 76 finden sich beispielweise bei Eckert/ McConnell-Ginet (1992, 1998, 2003, 2007) oder Holmes/ Meyerhoff (1999). Im Bereich des Fremd- und Zweitsprachenlernens liegen poststrukturalistische qualitative Forschungsarbeiten beispielsweise von Norton Peirce (1995), Norton (2000), Pavlenko et al. (2001) oder Pavlenko/ Blackledge (2004) vor. In der vorliegenden Forschungsarbeit wird das variablensoziologische Vorgehen aus den geschilderten Überlegungen in den qualitativen Fragestellungen aufgelöst und durch einen inhaltsanalytischen Zugang zu den Daten ergänzt. Gerade die Fragestellung zur Konstruktion von Identitäten und Alteritäten im metasprachlichen Diskurs kann als Anerkennung der Komplexität (sozialer) Identitäten und Dimensionen gewertet werden (vgl. Kap. 8.4.1), während die streng nach Variablen aufgebaute hypothesenprüfende Analyse gleichzeitig als unverzichtbare Grundlagenarbeit für ein relativ unerforschtes Feld eingeschätzt und eingesetzt wird. Im Folgenden werden die 20 im Rahmen dieser Arbeit untersuchten Hypothesen theoretisch hergeleitet und dargelegt. Im Anschluss daran erfolgt die Fragestellung für die qualitative Inhaltsanalyse. 8.3.3 Alter Bei der Variable Alter müssen zwei mögliche Effekte berücksichtigt werden: Einerseits der Alterseffekt (in der englischen Literatur age grading genannt) (vgl. Cheshire 2008: 1553), bei dem eine altersbedingte Veränderung im Verhalten eintritt, die sich von Generation zu Generation wiederholt, oder wie Eckert (1997: 151) schreibt „ [a] change in the speech of an individual as he or she moves through life “ . Andererseits der Kohorteneffekt, bei dem eine bestimmte Generation ihr Verhalten ändert, da sie beispielsweise ein bestimmtes historisches Ereignis gemeinsam erlebt und davon geprägt wird, oder um es mit den Worten Eckerts auszudrücken (ibid.) „ [a] change in the speech of the community as it moves through time “ . Unten formulierte Hypothesen 1, 3, und 4 beziehen sich auf den age grading Effekt, während Hypothese 2 sich auf den Kohorteneffekt bezieht. sinnvolle Hypothesen zu formulieren: Sie können sich dabei nicht mehr auf ihr Alltagswissen (Gewohnheitsheuristik) verlassen, da sie zu wenig wissen über „ typische Deutungsmuster und Handlungsorientierungen der Akteure “ (ibid. 15). 76 Hier verstanden als soziales Geschlecht. 8. Theoriegeleitete, resultatebasierte Forschungsfragen und Hypothesen 145 <?page no="162"?> Hyp 1: Ältere Sprecherinnen und Sprecher beurteilen ihre Muttersprache häufiger positiv (affektiv und ästhetisch) als jüngere Sprecherinnern und Sprecher. Die älteste befragte Gruppe zeichnet sich dadurch aus, dass ihre Vertreterinnen und Vertreter sich nicht mehr im aktiven Erwerbsleben befinden. Der Druck, sich den Anforderungen des Arbeitslebens anzupassen, ist nicht mehr so gross. Ebenso wird der Druck, sich sozialen Normen anzupassen, mit steigendem Alter kleiner (Cheshire, 2008: 1556). Es wird daher erwartet, dass ältere Befragte nicht vorrangig Sprachen mit hohem instrumentellem Wert positiv beurteilen (vgl. Hypothese 2), sondern Sprachen, die in den von ihnen gepflegten sozialen Kontakten von Bedeutung sind (was in vielen Fällen die L1 der Befragten ist). Es findet eine Rückbesinnung auf die L1 statt, daher wird erwartet, dass dieser beim spontanen Antworten eine bedeutende Rolle zukommt. Clyne (1977, zitiert nach Coupland/ Coupland/ Giles, 1991: 6) hat die Tendenz von älteren bilingualen Personen zur L1 regression festgestellt: Ältere Menschen fallen in den Gebrauch ihrer Erstsprache zurück, sogar wenn sie in der Umgebung der Zweitsprache leben. Clynes Erklärung dafür sind unter anderem umweltbedingte Gründe, die Coupland folgendermassen zusammenfasst (ibid.): Elderly people, as in the case of Clyne ’ s data, may revert to their first languages because they participate in less extensive or less diffentiated [sic! ] sociolinguistic networks of the sort that would require multiple language use or code-switching. Diese Rückbesinnung auf die L1 muss nicht nur im bilingualen Kontext bei der effektiven Sprachwahl von Bedeutung sein, sie kann sich ebenso in diskursiven Spracheinstellungen im Sinne der Quantität (oder der Breite des laienlinguistischen Spektrums) niederschlagen: Wenige Sprachen sind im Alter so wichtig, als dass sie bei offenen Interviewfragen spontan abgerufen würden, am nächsten ist älteren Menschen die Muttersprache. Die Spracheinstellungsforschung hat in der Vergangenheit zudem gezeigt, dass ältere Sprecherinnen und Sprecher gegenüber regionalen Akzenten toleranter sind als jüngere Personen (Paltridge/ Giles, 1984: 79 zitiert nach Cheshire, 2008: 1557). Schweizerdeutsch geniesst in der Schweiz hohes Prestige, daher ist die Toleranz gegenüber regionalen Sprechweisen nicht nur ein Merkmal der ältesten Gruppe. Dennoch wird insbesondere von älteren Personen aus der Deutschschweiz die Nennung von Schweizerdeutsch (und unterschiedlicher Dialekte in der Deutschschweiz) erwartet, resultierend aus einem verstärkten Interesse für Regionales. 146 II. Fragestellung und Empirie <?page no="163"?> Hyp 2: Jüngere Sprecherinnen und Sprecher beurteilen globale Fremdsprachen mit bedeutendem instrumentellem Wert (Englisch) positiver als ältere Sprecherinnen und Sprecher. Englisch hat in den letzten Jahrzehnten stetig an Bedeutung gewonnen, dies insbesondere als lingua franca 77 einer zunehmend globalisierten Welt. Der Ökonom Richard G. Harris stellt 1998 fest (Harris, 1998 zitiert nach Joseph, 2004: 17): The general presumtion of many observers on international use of language is that English is the de facto lingua franca of the global economy. Dass der Vormarsch von Englisch als Sprache mit bedeutendem instrumentellem Wert auf Kosten anderer europäischer Sprachen (ehemals ebenfalls „ Weltsprachen “ ) wie Deutsch, Französisch oder Spanisch stattfindet, wird in zahlreichen Quellen als erwiesen erachtet (vgl. Jospeh, 2004 a) 78 . Während die älteste befragte Generation die Entwicklung der globalisierten Industrie hin zur Sprache Englisch im aktiven Berufsleben tendenziell noch nicht so stark gespürt hat, ist sie für die jüngeren Generationen essentiell und schlägt sich im Stellenwert dieser Sprache nieder. Flaitz (1988: 51) vergleicht mehrere Spracheinstellungsstudien zu Englisch und kommt zum Schluss, dass jüngere Gewährspersonen gegenüber Englisch generell positiver eingestellt sind als ältere Personen. Da zwischen den damaligen Studien und dieser mehr als 20 Jahre liegen, wird erwartet, dass die heute 40bis 50-Jährigen (die damals jüngere Generation) positiv eingestellt sind gegenüber Englisch. Da viele von ihnen Englisch bedingt durch die Ansprüche der Arbeitswelt (teilweise mühsam) nach der obligatorischen Schulzeit lernen mussten, fallen ihre Beurteilungen aber insgesamt weniger positiv aus als diejenigen der jüngeren Gruppen. Hyp 3: Jüngere Gewährspersonen sind urteils- und begründungsfreudiger als Gewährspersonen älterer Generationen. Baker (1992: 116) nennt es ein unerwartetes Resultat, dass Spracheinstellungen mit steigendem Alter nicht unbedingt komplexer und differenzierter werden, sondern im Gegenteil: „ [. . .] with increasing age, attitude to language becomes more unified and centred. “ Es wird, wie unter Hypothese 1 bereits vermerkt, erwartet, dass das linguistische Spektrum von älteren Personen kleiner ist als jenes jüngerer Personen. Bei der Frage nach hässlichen Sprachen 77 Bußmann (2002: 409) definiert lingua franca unter der Verwendung des Englischen als Beispiel als „ Generelle Bezeichnung für eine Vermittlungssprache in multilingualen Sprachgemeinschaften, z. B. Englisch als die global am weitesten verbreitete L. F. [. . .] “ 78 Dieser Aspekt wird in Hypothese 11 erneut aufgenommen. 8. Theoriegeleitete, resultatebasierte Forschungsfragen und Hypothesen 147 <?page no="164"?> ist speziell die jüngste Gruppe der Befragten, die sich in der mittleren Adoleszenz befindet, noch nicht im selben Masse wie die älteren Generationen besorgt über die soziale Wünschbarkeit einer Antwort. Diese Generation orientiert sich stärker an den Normen ihrer peers als an den Normen der Gesellschaft insgesamt (vgl. Oerter/ Dreher, 2008: 321 - 328). Wenn es also in den untersuchten Schulklassen zur Normalität gehört, etwa über Schulfremdsprachen zu lästern, dann widerspiegelt sich das auch in den Interviewantworten. Hyp 4: Unterschiedliche Altersgruppen begründen Urteile in den drei Urteilstypen unterschiedlich. Dieser explorierenden Hypothese liegt ebenfalls das oben umrissene unterschiedliche Normbewusstsein unterschiedlicher Generationen zu Grunde. Insbesondere da, wo (tabuisierte) soziale Konnotationen zum Tragen kommen (z. B. Mentalitätsaversionen), werden die jüngeren Informantinnen und Informanten weniger Scheu zeigen, darüber explizit Auskunft zu geben als ältere Befragte (vgl. Hypothese 9). Von älteren Interviewten ist eine eher sprachinhärente Argumentation zu erwarten, da diese weniger Gefahr läuft, als inkorrekt hinsichtlich der Beziehung zwischen sozialen Gruppen gewertet zu werden. 8.3.4 Geschlecht Seit den frühen 70er Jahren befassen sich soziolinguistische Studien intensiv mit der Variablen Geschlecht, anfangs insbesondere im Bereich der Phonologie, dann auch in den Bereichen Syntax, Semantik und aktuell vor allem in der Konversationsanalyse (vgl. Klann-Delius, 2008). Wodak/ Benke (1997: 127) stellen fest, dass diese Studien je nach Verständnis des Konstrukts Geschlecht und der angewendeten Methodologie oftmals zu widersprüchlichen Resultaten kommen. Kritisiert wurden in jüngster Zeit vor allem Studien, die sich ausschliesslich auf das biologische Geschlecht beziehen. Gefordert wird eine vermehrt kontextsensitive Herangehensweise, die Geschlecht als soziales Konstrukt begreift (ibid.). Während sex sich auf biologische bzw. anatomische Unterschiede zwischen Frauen und Männern bezieht, betrifft gender „ the psychological, social and cultural differences between males and females “ (ibid. 128) 79 . Piller/ Pavlenko (2001: 3) fordern die wissenschaftliche Behandlung von Geschlecht als „ [. . .] system of social relations and discursive practices whose meaning varies across speech communities “ (vgl. Kap. 4.2.3). 79 Auf Deutsch ist die Unterscheidung problematisch, da beide Begriffe mit dem Terminus Geschlecht referiert werden. Für Gender kann der Begriff soziales Geschlecht verwendet werden und für Sex der Begriff biologisches Geschlecht. 148 II. Fragestellung und Empirie <?page no="165"?> Die poststrukturalistische Forschung zu Multilingualismus und Gender geht davon aus, dass Geschlecht unter anderem durch Sprachwahl, Sprachpraktiken, Spracherhalt, Sprachwandel sowie Code-Switching indiziert und konstruiert wird (Pavlenko/ Piller, 2001: 34). Ob metasprachliche Praktiken in diese Liste aufgenommen werden können, wird im Rahmen des Hypothesenkomplexes zur Variablen Geschlecht geprüft. Hyp 5: Frauen sprechen häufiger positiv über die Standardsprache (Hochdeutsch, Französisch in Frankreich 80 ) als Männer. Trudgill (1972: 180) kommt im Artikel „ Sex, covert prestige and linguistic change in the urban British of Norwich “ nach einer Konsultation der damals existierenden Literatur zum Thema zum Schluss, dass Frauen in der Regel häufiger standardnahe oder prestigeträchtige linguistische Formen produzieren als Männer. Wodak/ Benke (1997: 127/ 128) nennen diese Erkenntnis zum Thema Geschlecht und Standardsprache als Beispiel für die oftmals widersprüchlichen Resultate, die die Forschung zur Variable Geschlecht hervorgebracht hat: Einerseits sollen es die Eliten (das heisst in vielen Kulturen immer noch die Männer des Mittelstands) sein, die die Standardsprache öfter benutzen und Prestigevarianten verwenden, und andererseits sollen es die Frauen sein (während Männern die Umgangssprache oder die dialektalen Varianten zugeschrieben wird). Die Frage nach der Stellung der Standardsprache in den Interviews zu ästhetischen und affektiven Sprachurteilen drängt sich hier gerade wegen dieser Widersprüchlichkeit auf. Es geht nicht um die (oftmals unbewusste) Verwendung von Standardvarianten in der gesprochenen Sprache, sondern um bewusste (und bewusst kommunizierte) Konzepte. Es geht also darum auszumachen, ob Frauen die Standardvarietäten ihrer Sprache auch ganz bewusst über die Dialektvarietäten stellen. Die Frage ist umso interessanter, als gerade in der Deutschschweiz der Dialekt eine sehr starke Position und hohes Prestige geniesst. In dieser Situation interessiert es natürlich, ob Frauen die Position der Standardsprache (teilweise bewusst) durch positive Einstellungen stärken, ob also Wolfram/ Fasold (1974: 93 zitiert nach Chambers, 2003: 116) für den Fall der Schweiz und in der heutigen Zeit mit ihrer Behauptung richtig liegen: „ Females show more awareness of prestige norms in both their actual speech and their attitudes toward speech. “ Freilich muss ins Feld geführt werden, dass Hochdeutsch (zumindest in der Deutschschweiz) keine Prestigevarietät ist 80 Diese Kategorie umfasst sowohl die Sprachbezeichnung Standardfranzösisch, die in Interviews selten vorkommt, als auch die Sprachbezeichnung Französisch in Frankreich (oder französisches Französisch). Folgt man der Studie von L ’ Eplattenier-Saugy (2002, vgl. Kap. 5.3.4), wird französisches Französisch von französischsprachigen Schweizerinnen und Schweizern als korrekter eingestuft als ihr eigenes Französisch, was partiell rechtfertigt, im Rahmen dieser Hypothese mit dieser Variablen zu arbeiten. 8. Theoriegeleitete, resultatebasierte Forschungsfragen und Hypothesen 149 <?page no="166"?> und dass diese Funktion unter Umständen sogar eher der Fremdsprache Englisch mit ihrem hohen instrumentellen Wert zukommt (siehe Hypothese 2 und Hypothese 6 im Anschluss). Für die Romandie werden bezüglich der Erwähnung von Französisch in Frankreich insgesamt weniger signifikante Resultate erwartet, da die eigene Sprechweise relativ positiv eingeschätzt wird (vgl. Kap. 5.3.4). Frauen werden Französisch in Frankreich jedoch häufiger positiv erwähnen als Männer. Hyp 6: Frauen haben eher affektive Beziehungen zu Fremdsprachen, während Männer eher eine affektive Beziehung zur Sprache des Sprachgebiets, in dem sie leben, haben. Die Motivation, eine Fremdsprache zu lernen, die Praxis des Sprachenlernens selbst (z. B. Lernstrategien) aber auch die Einstellungen zu verschiedenen Zielsprachen und Sprecherinnen und Sprechern verschiedener Zielsprachen haben sich in unterschiedlichen Studien als genderisiert (also von der Variable Geschlecht abhängig) erwiesen. Dörnyei et al. (2006: 55) behaupten sogar: [. . .] there are not many quantitative studies in the L2 literature that examined boys ’ and girls ’ attributes or achievements and did not find any salient differences. Der female superiority claim (die Behauptung, dass Frauen Männern überlegen sind, wenn es darum geht, sich eine Fremdsprache anzueignen und diese zu benutzen) wird gemäss Pavlenko/ Piller (2001: 20) unbestritten von diversen Studien gestützt, in denen Frauen in der Tat besser abschneiden als Männer (vgl. Ellis, 1994), und mit der Tatsache erklärt, dass Frauen über positivere Einstellungen und bessere Lernstrategien verfügen (vgl. Oxford, 1993, 1994). Heinzmann (2009) zeigt für die Schweiz, dass sich der stereotypische belief, dass Frauen Männern im Fremdsprachenlernen überlegen sind, schon früh einstellt. Bereits in der Primarschule glauben Mädchen, dass sie den Jungen in Sachen Englischlernen überlegen sind (während die Jungen diese Behauptung ablehnen). Auch wenn einige Studien den superiority claim stützen, hat dieser inhaltlich als Ganzes dennoch spekulativen Charakter, denn es liegen Studien vor, die das Gegenteil nachweisen können (zum Beispiel aus dem arabischen Raum, vgl. Pavlenko/ Piller, 2001: 20). Im Rahmen der vorliegenden Studie kann nicht geprüft werden, ob Frauen Männern beim Fremdsprachenlernen tatsächlich überlegen sind. Ermittelt werden kann, ob Frauen und Männer in ihrer affektiven Beurteilung von Fremdsprachen verglichen mit der Beurteilung lokaler Sprachen voneinander abweichen. Die Hypothese ist zugunsten des superiority claim formuliert: Fremdsprachen spielen im Leben und im metalinguistischen Bewusstsein von Frauen eine prominentere Rolle als im Leben von Männern. Frauen konstruieren also eher eine affektive Beziehung zu Fremdsprachen diskursiv (was damit zusammenhängen kann 150 II. Fragestellung und Empirie <?page no="167"?> - nicht zwingend muss - dass Frauen im Fremdsprachenunterricht positivere Erfahrungen gemacht haben und erfolgreicher waren respektive sind). Die Tendenz zur positiven Beurteilung der eigenen Sprechweise bei Männern haben Coupland/ Bishop (2007) empirisch nachgewiesen (vgl. Kap. 5.3.2). Aktuelle Forschungsarbeiten beschäftigen sich mit der Frage, ob Fremdsprachen in der Schule (da wo sie nicht obligatorisch im Curriculum verankert sind, sondern als Wahloptionen auftreten) eher von Frauen oder von Männern gewählt werden oder alternativ damit, ob Frauen oder Männer im obligatorischen Fremdsprachenunterricht mehr Motivation zeigen. In ihrem Buch mit dem provokanten Untertitel „ Real Boys Don ’ t Do Languages “ kommen Carr und Pauwels (2006) unter anderem zum Schluss, dass gendering schon bei der Wahl und Einschätzung von Schulfächern stattfindet: Jungen sehen sich selbst eher in „ hands-on options “ (ibid. 65) und von ihnen als akademisch anspruchsvoll eingestuften Fächern wie Physik, Mathematik etc., während sie Mädchen in den Sprachfächern verorten (ibid.). Carr und Pauwels (2006: 1) sehen darin ein wachsendes Problem für die heutigen Jungen, die sich in der Arbeitswelt von morgen als Männer behaupten müssen: The world outside school is recognised as requiring new kinds of competencies and skills, presenting new kinds of opportunities and challenges. Intercultural competence is identified as a core targeted outcome and young speakers of the global language are officially encouraged to join in the global project of increased intercultural communication. Proficiency in additional languages would seem to be an obvious component of this agenda, yet the majority of boys continue to refuse the language option. And the fact that players in the increasingly imagined global games will consist largely of all-girls teams seems to be of minimal concern to educators, parents or to the students themselves. Hier stellt sich die Frage, wie die Sprachwahl und Einschätzung von Fremdsprachen in Gesellschaften funktioniert, wo die L1 nicht die globale Sprache Englisch ist wie in der oben zitierten Studie. Für den ungarischen Kontext untersuchen Dörnyei et al. (2006: 144), ob geschlechterbasierte Unterschiede bei der Bewertung unterschiedlicher Fremdsprachen existieren, und interessiert sich dabei insbesondere für die Rolle von Englisch. In der Längsschnittstudie wird für die untersuchten unter 20-Jährigen festgestellt, dass Russisch, Englisch und Deutsch eher ‚ maskuline ‘ Sprachen sind, während Französisch und Italienisch eher ‚ feminine ‘ Sprachen sind. Dörnyei et al. betonen, dass das gender-gap bei Englisch zwischen 1999 und 2004 kleiner geworden ist und es wird die Vermutung geäussert, dass es gänzlich verschwinden wird, dass Englisch also von beiden Geschlechtern in Zukunft eher positiv bewertet wird. Im Gegensatz zur Studie von Dörnyei et al., untersucht die hier vorliegende Studie Männer und Frauen aus vier Generationen und nicht nur die junge Generation, die sich mit der globalen Sprache Englisch besonders intensiv auseinandersetzen muss. Daher gilt es die Frage zu beantworten, ob und in welche Richtung ein gender-gap bei der affektiven 8. Theoriegeleitete, resultatebasierte Forschungsfragen und Hypothesen 151 <?page no="168"?> Beurteilung von Englisch als Fremdsprache festzustellen ist, wenn Männer und Frauen aus vier Generationen zusammen untersucht werden. Hyp 7: Frauen sprechen in den Interviews rein quantitativ über mehr Sprachen als Männer. Dass Frauen mehr sprechen als Männer, ist eine weit verbreitete Annahme. Insbesondere da, wo es um Emotionen und die affektive Funktion in der Interaktion geht, wird Frauen eine höhere Sprachproduktion nachgesagt (vgl. Holmes, 1998: 461). Diese Annahme hält Forschungsresultaten so jedoch nicht stand, es muss differenziert werden: Verschiedentlich wurde gezeigt, dass Männer das Gespräch beispielsweise in Seminaren, Sitzungen und Fernsehdebatten dominieren (ibid. 470), Frauen hingegen beispielsweise in privaten, informellen Situationen (ibid.). Holmes fasst zusammen, dass der Anteil von Frauen und Männern am Gespräch kontextabhängig ist, da sie unterschiedliche übergeordnete Kommunikationsziele verfolgen (ibid. 472): Men appear to regard public formal contexts as opportunities for display, but they seem to be more reticent in private interactions with another individual. Women tend to regulate their talk according to their perceptions of the needs of others. In other words, women tend to put more weight on behaviour which will maintain and increase solidarity, while men tend to focus on action-oriented or statusoriented behaviour. Es wird daher erwartet, dass Frauen in der face-to-face Interviewsituation mehr reden als Männer. Diese Erwartung leitet sich auch aus den unter Hypothese 6 angeführten Erläuterungen ab (dass das Thema des Interviews Frauen stärker anspricht als Männer). Hyp 8: Frauen und Männer begründen linguistische Werturteile unterschiedlich. Diese explorative Hypothese hat zum Ziel, geschlechtsbasierte Unterschiede im Begründungsverhalten zu finden. Es wird keine bestimmte Richtung der Begründungsart für die beiden Geschlechter angenommen. 8.3.5 Bildung In der traditionellen Stratifikationssoziolinguistik, insbesondere im angelsächsischen Raum (vgl. Labov, 1966; Trudgill, 1974; Macaulay, 1977), wurde die Variable social class (Klasse/ Schicht) als zentral erachtet. Die Forschung geht von einer ungleichen Verteilung von Macht und Vorteilen und daher von einer klassenstratifizierten Gesellschaft aus (Milroy, 1987). Diese sozialen Ungleichheiten werden in der Auffassung der quantitativen Soziolinguistik in der linguistischen Praxis reflektiert. In der Forschungspraxis setzt sich die 152 II. Fragestellung und Empirie <?page no="169"?> Variable üblicherweise aus einer Kombination von Angaben zu Wohnsituation, Beruf, Einkommen und Bildung zusammen. Milroy (1987: 30) weist auf Forschungen hin, welche die Variable lediglich aus einer dieser Angaben herleiten: Macaulay (1977) verwendete in Glasgow ausschliesslich Angaben zum Beruf, Jahangiri/ Hudson (1982) in Teheran ausschliesslich Bildung. In der vorliegenden Studie wird nicht mit der Variable Klasse/ Schicht gearbeitet, sondern direkt mit der Variable Bildung. Diese soll nicht nur Informationen zum sozio-ökonomischen Status der befragten Personen liefern, sondern auch zu deren Kontakt mit institutionellem Fremdsprachenunterricht. Neuere Ansätze, die als Ergänzung zu den Schichtungs- und Klassenmodellen der Sozialstrukturanalyse in Erscheinung getreten sind, bieten weitere interessante Interpretationsansätze. Bei Georg (1998) findet sich eine konzise Übersicht zur Soziologie der Lebensstile. In Bourdieus (1982 b) 81 Ansatz beispielsweise werden Geschmacksurteile und -orientierungen als Mittel der sozialen Differenzierung beschrieben. Gemäss Georg (ibid. 79) kann Bourdieus Ansatz als einer der letzten Versuche aufgefasst werden, Lebensstile als analog zur beruflichen Position angeordnet zu verstehen. Der Lebensstil wird also der beruflichen Position kausal nachgeordnet. Gemäss Georg (1998: 91) ist die folgende Frage in der Lebensstilforschung heute von zentraler Bedeutung: [. . .] ob Lebensstile - theoretisch und empirisch - eher eine Folge und ein Ausdruck ungleich verteilter Handlungsressourcen (kausal diesen also nachgeordnet) zu interpretieren sind oder ob sie als eigenständiges Konstrukt Wirkung auf Prozesse sozialer Ungleichheit zeitigen und somit auch als eigenständiger Kausalfaktor zu fassen sind. Schulzes (1992) Modell der Erlebnisgesellschaft ist bezüglich dieser Frage als „ idealtypischer Gegenentwurf “ (Georg, 1998: 79) zu Bourdieus Modell zu begreifen. Hier werden soziale Milieus „ als gewählte Wissens- und Zeichengemeinschaften “ (ibid.) aufgefasst. Für die vorliegende Studie relevant sind die von Schulze beschriebenen alltagsästhetischen Schemata. Schulze hat zwar in seinen Untersuchungen zu Präferenzstrukturen nie ästhetische Sprachurteile untersucht oder direkt thematisiert, jedoch sind in seinen Itembatterien verwandte Themen zu finden, zum Beispiel Vorlieben im Bereich Musik, Literatur, Essen und Trinken oder Kleidungsstile (hier kommt die Sprache zumindest indirekt vor, als Vehikelmedium von Literatur und gesungener Musik). Wenn Sprachen als bewusst gewählte oder gemiedene 81 Es sei an dieser Stelle an den in Anlehnung an Kant formulierten Titel von Bourdieus Hauptwerk erinnert: Die feinen Unterschiede. Zur Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Kant: Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie (vgl. Weischedel, 1966 [1957]). 8. Theoriegeleitete, resultatebasierte Forschungsfragen und Hypothesen 153 <?page no="170"?> Objekte verstanden werden (was nur partiell funktioniert, etwa bei Fremdsprachen, die bewusst nach der obligatorischen Schulzeit erlernt werden oder zu denen bewusst der Kontakt gesucht wird), können sie im Sinne Schulzes (1992: 128) als ästhetische Zeichen gelten: „ [. . .] sinnlich erfahrbare Ereignisse, die im Kollektiv primär als Gegenstand des Erlebens definiert sind. “ Somit können ästhetische Sprachurteile auch die von Schulze beschriebenen Funktionen (bzw. Bedeutungskomplexe) einnehmen: Genuss, Distinktion und Lebensphilosophie. Bei Genuss wird das ästhetische Zeichen „ durch eine eingeschliffene psychophysische Reaktion dekodiert “ (ibid. 738) (z. B. Kontemplation oder Gemütlichkeit); bei Distinktion geht es darum, dass das ästhetische Zeichen als „ Ausdruck sozialer Unterscheidung interpretiert wird “ (ibid. 734) und bei der Lebensphilosophie darum, dass das ästhetische Zeichen „ als Ausdruck grundlegender Handlungsorientierungen (Wertvorstellungen, religiöse Überzeugungen, Weltbilder, Gesellschaftsmodelle, zentrale Problemdefinitionen u. a.) interpretiert wird. “ (ibid. 741) 82 . Für die folgenden Hypothesen ist wesentlich, dass Schulze Bildung als signifikant im Prozess der Konstituierung von Milieus betrachtet (ibid. 192). Hyp 9: Je höher die Bildung, desto zurückhaltender werden Menschen mit Urteilen über die Hässlichkeit und Schönheit von Sprachen, während affektive Urteile über alle Bildungsschichten verbreitet sind. Sprachen können metonymisch für eine ganze Gesellschaft stehen und als Epiphänomen aufgefasst werden, so dass die Urteile über eine spezifische Sprache als Urteile über die Sprechenden dieser Sprache fungieren (vgl. Garrett/ Coupland/ Williams, 2003: 12). Für Personen höherer Bildungsstufen wird eine grössere Sensibilisierung für diese metonymischen und indexikalischen Eigenschaften von Sprachen angenommen. Das Herausgreifen einzelner Sprachen als besonders schön oder besonders hässlich wird von diesen als nicht korrekt aufgefasst. Es wird erwartet, dass Personen höherer Bildungsstufen in den ästhetischen Urteilstypen eher ausweichende Antworten geben oder eine Antwort verweigern. Für die affektiven Urteile werden keine Unterschiede zwischen den verschiedenen Bildungsgruppen in ihrer Urteilsproduktivität angenommen. Eine positive Beziehung zu einer oder einigen wenigen Sprachen zu haben, ist sozial unproblematisch, bzw. sogar sozial wünschbar, gerade in Berufen und im Lebensstil der höheren Bildungsstufen. Sprachen als ästhetische Erfahrung wahrzunehmen und zu geniessen, gehört (in Anlehnung an Schulze) 82 Dieser Ansatz weist Parallelen mit dem neofunktionalen Ansatz von Herek (1986) auf, der in Kapitel 4.2.4 vorgestellt wurde (evaluative Funktion vs. expressive Funktion von Einstellungen). 154 II. Fragestellung und Empirie <?page no="171"?> zum alltagsästhetischen Hochkulturschema und wird damit von den gebildeteren Gruppen gepflegt (im Sinne der Distinktion) 83 . Hyp 10: Unterschiedliche Bildungsgruppen begründen linguistische Werturteile unterschiedlich. Diese explorativ formulierte Hypothese hat zum Ziel, bildungsspezifische Unterschiede im Begründungsverhalten zu finden. Es wird keine bestimmte Richtung der Begründungsart für die unterschiedlichen Bildungsgruppen angenommen. 8.3.6 Sprachgebiet Die Stichprobe umfasst je 140 in der französischsprachigen und 140 in der deutschsprachigen Schweiz beheimatete Gewährspersonen. Während Wardhaugh (1988: 211) akritisch über die „ linguistic harmony “ der Schweiz berichtet, umschreibt Büchi (2000: 13) die Beziehung zwischen der Romandie und der Deutschschweiz provokant mit dem Titel eines französischen Chansons: Je t ’ aime - moi non plus 84 und präzisiert (ibid.): In der Romandie herrschen Minderheitenängste, in der deutschen Schweiz eine - bisweilen mit unverbindlicher Pauschalsympathie gemischte - Gleichgültigkeit gegenüber der Sprachminderheit. Schiffmann (1996: 18 f.) konstatiert die Koexistenz einer offenen (overt) und einer verdeckten (covert) Sprachpolitik in der Schweiz. In der Verfassung steht zwar, dass Deutsch, Französisch, Italienisch und Romanisch gleichberechtigte Nationalsprachen sind, dies entspricht aber laut Schiffmann nicht unbedingt der tatsächlichen Sprachrealität oder zeichnet diese nur sehr unscharf nach (beispielsweise hinsichtlich der Verwendungs- und Einsatz- 83 Teilweise ist dies in Lehrplänen von Sprachfächern an Gymnasien in der Formulierung der Bildungszeile bereits so angelegt, z. B. die Bildungsziele des Französischunterrichts am Liceo Artistico in Zürich: „ Er [der Unterricht, eigene Anmerkung, C. C.] sensibilisiert sie [die Schülerinnen und Schüler, eigene Anmerkung, C. C.] auch dafür, die Sprache als ästhetisches Phänomen wahrzunehmen und künstlerisch mit ihr umzugehen. “ (Online unter: http: / / www.liceo.ch/ SWF-Dateien/ StartIntro.swf (konsultiert am 22. 1. 2010). Ein weiteres Beispiel findet sich im Dokument Gemeinsame Bildungsziele Fremdsprachen des Kurzzeitgymnasiums Musegg in Luzern: „ Nicht zuletzt fördert die Beschäftigung mit Fremdsprachen das logisch vernetzte Denken und weckt das Verständnis für die poetischen und ästhetischen Dimensionen der Sprache. “ (Online unter: http: / / www.ksmusegg.ch/ fileadmin/ files/ kzg/ ksm_lp_fr.pdf (konsultiert am 22. 1. 2010). 84 Serge Gainsbourg und Jane Birkin, 1969. 8. Theoriegeleitete, resultatebasierte Forschungsfragen und Hypothesen 155 <?page no="172"?> bereiche von Schweizerdeutsch und Hochdeutsch). Er fasst zusammen (ibid.): „ [. . .] language policy in Switzerland is totally dependent on educational policy, which is exclusively a cantonal responsibility. “ Sprachpolitische Fragen müssen in der Schweiz folglich fortwährend ausgehandelt werden, dabei spielt die Grösse der einzelnen Sprachregionen natürlich eine zentrale Rolle (vgl. Kap. 7.1). Ich gehe davon aus, dass sich die politische Dimension von Sprache in der Schweiz in linguistischen Werturteilen von Laien widerspiegelt. In den Hypothesen 11 bis 13 werden Mehrheiten- und Minderheitenphänomene und ihr Zusammenhang mit diskursiven Spracheinstellungen behandelt. Dabei wird davon ausgegangen, dass linguistische Werturteile in ihrer metasprachlichen Ausdrucksform gezielt zur Abgrenzung oder Annäherung eingesetzt werden. Hyp 11: Schweizerdeutsch wird in der Romandie ästhetisch und affektiv negativ beurteilt. 11 a: Die Begründungen für die negative ästhetische Beurteilung von Schweizerdeutsch sind einerseits ästhetischer Art, andererseits unterliegen sie negativen sozialen Konnotationen. Die Beziehung zwischen der Romandie und der Deutschschweiz ist sicherlich keine einfache - und war es auch historisch eigentlich nie uneingeschränkt 85 . Divergenzen in der Europapolitik und der Sozialpolitik zwischen den beiden Sprachgebieten haben sich in jüngster Zeit immer wieder in Resultaten von Volksabstimmungen bemerkbar gemacht. Ungeachtet dieser Tatsache gibt es und gab es wiederholt Auseinandersetzungen, bei denen linguistische Themen im Mittelpunkt standen: Die Mundartwelle in der Deutschschweiz in den 80er Jahren (vgl. Watts, 1988; Lüdi, 1992) führte zu einer Verunsicherung und Alarmierung der französischsprachigen Schweizerinnen und Schweizer. Die Tatsache, dass Schweizerdeutsch vermehrt in Fernsehsendungen, am Radio und in parlamentarischen Debatten gesprochen wurde, hatte zur Folge, dass nicht-deutschsprachige Schweizerinnen und Schweizer sich benachteiligt fühlten: „ [they] feel that they no longer have the same degree of access to public life in the German-speaking area “ (Watts, 1988: 317). Fast die Hälfte der 1173 befragten französischsprachigen Rekruten in der umfassenden Studie von Schmid (1991: 232) gibt an, dass sich das Deutsche in der Romandie auf Kosten des Französischen ausbreite. Die resultierende Verunsicherung kommt in den 80er Jahren in Presseartikeln in der Romandie oftmals in einer Polemik gegenüber dem Schweizerdeutschen zum Ausdruck. Lüdi (1992: 47) stellt fest, dass in diesem Prozess die Qualität der Deutschschweizer 85 Für einen historischen Überblick, vgl. Büchi (2000) sowie Kolde (1981); für eine Skizzierung des öffentlichen Diskurses insbesondere der 80er Jahre, vgl. Schmid (1991); eine umfassende Darstellung des öffentlichen Diskurses hinsichtlich der Sprachenvielfalt in der Schweiz findet sich in Widmer et al. (2004). 156 II. Fragestellung und Empirie <?page no="173"?> Dialekte von der französischsprachigen Presse in Frage gestellt wird und zitiert ein Beispiel aus Le Matin vom 19. 9. 1978 (ibid.): Nos compatriotes alémaniques s ’ entêtent joyeusement à écorcher nos latines oreilles de leur rocailleux dialecte. Die Auflehnung gegen das Schweizerdeutsche findet demgemäss inter alia auf einer ästhetischen Ebene statt, indem den Dialekten der Deutschschweiz nachgesagt wird, dass sie so rau sind, dass die Ohren der Romandes und Romands physischem Schmerz ausgesetzt sind. Auch Sieber/ Sitta (1984: 5) verweisen in ihrer Abhandlung über die Unterschiede in der Lautung zwischen Standarddeutsch und Schweizerdeutsch (diese sind gemäss den Autoren „ beträchtlich “ ) auf Laienurteile über die lautliche Qualität von Schweizerdeutsch und schreiben über diese: Dabei werden die Differenzen oft nicht isoliert oder detailliert wahrgenommen; es ergibt sich vielmehr ein Gesamteindruck, der sehr stark auch von suprasegmentalen, phonodischen Phänomenen bestimmt ist. In einer nachfolgenden Fussnote gehen die Autoren spezifisch auf die Wahrnehmung von Schweizerdeutsch durch französischsprachige Schweizerinnen und Schweizer ein (ibid.): Diese Wahrnehmung zeigt sich unter anderem auch in der Bildung von Stereotypen, so wenn der Welschschweizer das Schweizerdeutsche als rauh und grob charakterisiert, als geprägt durch unschöne Kehlkopflaute, die geradezu körperliches Unwohlsein hervorrufen können. Dass es sich bei diesen negativen Einschätzungen nicht um Einzelfälle handelt, weisen Weil/ Schneider (1997: 300) mittels einer Matched-Guise- Studie nach: Die Einstellungen von französischsprachigen Schweizerinnen und Schweizern gegenüber Schweizerdeutsch sind signifikant negativer als jene der Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer (vgl. Kap. 5.3.5). Im Jahr 2000, also kurze Zeit nach Erscheinen dieser Studie, sorgt die deutschschweizer Sprachen- und Bildungspolitik insbesondere des Kantons Zürich zusätzlich für Aufruhr, was sich indirekt wieder auf negative Gefühle gegenüber der Mehrheit im Land (und mutmasslich erneut ebenso deren Sprache) auswirkt. Unter Bildungsdirektor Ernst Buschor wird im Kanton Zürich ein Pilotprojekt zur Einführung von Englisch als erste Fremdsprache in der Primarschule (statt der Landessprache Französisch) lanciert. Coray (2004: 462) stellt hinsichtlich des resultierenden öffentlichen Diskurses fest: Parallel zur zunehmenden öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Englischen in der Schweiz, und v. a. in der Schule, finden wir auch eine zunehmende Polarisierung der Meinungen. Zwar bejahen alle die wichtige Rolle von Englisch als „ Weltsprache “ , niemand stellt die Notwendigkeit von Englischunterricht an Schweizer Schulen in Frage; aber bezüglich der Priorität von Englisch oder einer zweiten Landessprache gehen die Meinungen in den verschiedenen Sprachregionen stark auseinander. 8. Theoriegeleitete, resultatebasierte Forschungsfragen und Hypothesen 157 <?page no="174"?> Die französische Schweiz reagiert sodann auch konsterniert auf Buschors Vorstoss. Büchi (2000: 284) schildert die Situation und ihre Auswirkung folgendermassen: Wenn die Deutschschweizer immer mehr dem Englischen huldigen, so wird das in der Romandie oftmals als Liebesentzug gegenüber dem Französischen empfunden. [. . .] Dies führt dazu, dass man auf welscher Seite das Gefühl hat, vermehrt und aktiver für seine Interessen einstehen zu müssen - notfalls gegen die deutsche Schweiz. In der Romandie führen solche Entscheide zu einer doppelten Frustration: Einerseits fühlt sich die Minderheit nicht ernst genommen, wenn ihre Sprache nicht mehr prioritär an den Schulen der Deutschschweiz gelehrt wird. Andererseits lernen sie als erste Fremdsprache Deutsch (Hochdeutsch, versteht sich), von dem sich in der Anwendung herausstellt, dass es in der Deutschschweiz nur bedingt nützlich ist (insbesondere dann, wenn Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer tatsächlich nicht in die Standardsprache wechseln, selbst wenn frankophone Personen anwesend sind (vgl. Schmid, 1991: 236). Es ist zu prüfen, inwiefern sich eine Annäherung an Englisch (grössere Sympathie auch in Form affektiver Sprachurteile) auch in der Romandie als Folge davon ergibt und die Idee der Verständigung in einer lingua franca (Englisch) sich in der Kommunikation zwischen französischsprachigen und deutschsprachigen Schweizerinnen und Schweizern durchzusetzen vermag. Dieses Szenario nennen Andres/ Watts (1993) zwar einen Mythos, in den Arbeiten Dürmüllers (z. B. 1994; 2002) wird die Idee der „ neutralen Fremdsprache “ Englisch als Kommunikationsmittel zwischen den linguistischen Regionen der Schweiz jedoch durchaus als reale Option diskutiert. Dies wird von Coray (2004: 464) wiederum kritisch eingeschätzt, da die Idee der „ neutralen Fremdsprache “ gleichzeitig die Idee der „ parteiischen “ und im schlimmsten Fall „ feindlichen “ Landessprachen impliziere 86 . In Hypothese 11 wird davon ausgegangen, dass explizit negative Metasprache sowie das Ausbleiben positiver affektiver Metasprache gegenüber Schweizerdeutsch durch Gewährspersonen aus der Romandie eine Folge der oben geschilderten Prozesse ist. Über die metasprachliche Praxis findet eine Abgrenzung gegenüber der Mehrheit und ihrer Sprache statt. Gleichzeitig wird die eigene Minderheitenidentität gestärkt. Die Begründung für die Wahl von Schweizerdeutsch als hässlicher Sprache fällt einerseits ästhetisch aus (oben wurde gezeigt, dass das Absprechen ästhetischer Qualität bei der Bewertung von Schweizerdeutsch in der Romandie eine gewisse Tradition hat), andererseits kommen negative soziale Konnotationen zum Tragen bei der negativen Beurteilung von Schweizerdeutsch (insbesondere die gezeig- 86 Eine Analyse zur Beurteilung von Englisch (sowie weiteren Sprachen) nach Sprachgebieten findet sich in Kapitel 12.4.4 im Anschluss an die Resultate zu Hypothese 11. 158 II. Fragestellung und Empirie <?page no="175"?> ten spezifischen Minderheitenprobleme, was Bildungs- und Sprachpolitik betrifft). Hyp 12: Französisch wird in der Deutschschweiz ästhetisch und affektiv positiv beurteilt. In Hypothese 12 wird davon ausgegangen, dass Französisch in der Deutschschweiz nach wie vor hohes Prestige geniesst und positiv beurteilt wird, auch wenn sich in der Literatur gegenteilige Darlegungen finden (vgl. Hypothese 11: Liebesentzug der Deutschschweizer). Während Watts (1988: 333) noch von einem (durchaus negativ zu interpretierenden) „ patronizing desire “ deutschsprachiger Intellektueller, Französisch zu lernen, spricht, schreibt Büchi (2000: 274) zwölf Jahre später schon, die Deutschschweizer würden „ verdächtigt, ihr Interesse fürs Französische zu verlieren “ zugunsten der englischen Sprache und des englischen Lebensstils. Resultate von Weil/ Schneider (1997: 300) widerlegen dies jedoch, indem sie zeigen, dass Französisch in der Deutschschweiz sogar noch positiver beurteilt wird als in der Romandie selbst. Was bedeuten diese widersprüchlichen Angaben in Bezug auf ästhetische und affektive Sprachurteile? Natürlich stellt sich die Frage nach der Position von Englisch im Gefüge der sprachlichen Werturteile in der Deutschschweiz: Wird Französisch in der Deutschschweiz tatsächlich tendenziell und vor allem unter jüngeren Befragten von Englisch verdrängt, auch was die affektive und ästhetische Wahrnehmung angeht? Hyp 13: Hochdeutsch wird in der Deutschschweiz ästhetisch und affektiv negativ beurteilt. 13 a: Die Begründung für die negative ästhetische Beurteilung von Hochdeutsch sind nicht ästhetischer Art. Koller (1992: 150 ff.) stellt in seiner Studie fest, dass ein Drittel seiner Informanten und Informantinnen (Deutsche, die in der Deutschschweiz leben) annehmen, dass Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer mit vielen Vorurteilen gegenüber ihnen behaftet sind. Für Kollers Gewährspersonen steht fest, dass Deutschschweizer unter einem Minderwertigkeitskomplex leiden, der in der Sprachsituation begründet ist. Dieses Heterostereotyp wird durch mehrere Studien bestätigt, die die Einstellung von Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern gegenüber Hochdeutsch oder dem Sprechen von Hochdeutsch behandeln (z. B. Steinmann/ Draganits, 1988; Schläpfer/ Gutzwiller/ Schmid, 1991; Sieber, 1992) 87 . Dass tatsächlich ein linguistischer Minderwertigkeitskomplex für die Ausbildung dieser negati- 87 Dass die deutsche Sprache auch in Deutschland selbst nicht besonders beliebt ist (auch hinsichtlich ästhetischer Aspekte), heisst es bei Földes (2000; 2003: 8): „ Viele Deutsche betrachten ihre Muttersprache, als wäre sie eine ‚ Stiefmuttersprache ‘ . “ 8. Theoriegeleitete, resultatebasierte Forschungsfragen und Hypothesen 159 <?page no="176"?> ven Einstellungen verantwortlich ist, konnte empirisch bisher nicht nachgewiesen werden. Scharloth (2005: 249 ff.) gelingt es immerhin, einen statistischen Zusammenhang zwischen dem Defizienzempfinden 88 von Schweizerdeutschsprechenden und deren negativen Einstellungen gegenüber den Deutschen selbst nachzuweisen. Eine zentrale Frage im Zusammenhang mit der Problematik der negativen Einstellungen zu Hochdeutsch in der Deutschschweiz ist, wann diese Einstellungen entstehen. Diese Frage wird von Häcki Buhofer/ Studer (1993) beantwortet: In ihren Untersuchungen weisen sie nach, dass ein Sprachdifferenzbewusstsein für die Varianten der deutschen Sprache ab dem Kindergartenalter (ca. 6 Jahre) vorhanden ist (ibid. 196) - damit ist die kognitive Infrastruktur zur Entwicklung spezifischer Einstellungen gegenüber Varianten der deutschen Sprache vorhanden. Während die Einstellungen in der 1. Klasse gegenüber dem Hochdeutschen noch positiv sind, kippen sie schon in der 2. Klasse ins Negative (während die Mundart positiv beurteilt wird) (ibid. 197). Dass die Lehrkräfte bei der Einstellungsbildung und -übernahme eine wichtige Rolle spielen, liegt in Anbetracht dieser Resultate nahe (vgl. ibid. sowie Sieber/ Sitta, 1994). Von dieser Annahme geht auch Watts (1999) aus, wie im Folgenden dargelegt wird. Aus der Auseinandersetzung Watts (ibid.) mit einem Phänomen, das er „ ideology of dialect “ nennt, kristallisiert sich ein weiterer Grund für die Ablehnung von Hochdeutsch heraus (ibid. 69): The term „ ideology of dialect “ is used to refer to any set of beliefs about language in which, in a scenario in which a standardized written language coexists with a number of non-standard oral dialect varieties, the symbolic value of the dialects in the majority of linguistic marketplaces in which they are in competition with the standards is not only believed to be much higher than that of the standard but is also deliberately promoted as having a higher value. In the German-speaking part of Switzerland this is effectively the dominant scenario [. . .]. Watts verortet die Entstehung dieser Dialektideologie in der Deutschschweiz während des ersten und noch ausgeprägter während des 2. Weltkriegs (ibid.). Schweizerinnen und Schweizer grenzten sich unter anderem mittels ihrer Sprache von Deutschland ab. Die Ideologie besteht bis heute fort und wird gemäss Watts aktuell insbesondere von Primarschullehrkräften reproduziert; Schriftdeutsch werde konstruiert als fremd, anders, zum Schreiben und „ un- Swiss “ (ibid. 92). Schweizerdeutsch hingegen sei (ibid. 75): „ [. . .] more downto-earth, more honest, more communicative, more direct and, in general, more Swiss than standard German. “ Diese Beschreibung deutet darauf hin, dass im Fall der Deutschschweiz eine spezifische Variante der Hypothese zur 88 Scharloth (2005: 243) operiert mit einer Itembatterie, um den Defizienzindex zu messen (Hemmungen beim Hochdeutschsprechen, Wahrnehmung von Hochdeutsch als Fremdsprache, Sicherheit beim Sprechen von Hochdeutsch, Fehlerbewusstsein beim Sprechen von Hochdeutsch etc.). 160 II. Fragestellung und Empirie <?page no="177"?> auferlegten Norm vorliegt. Nicht der Standardsprache wird inhärenter Mehrwert zugesprochen, sondern der dialektalen Sprechweise. Hypothese 13 basiert grundsätzlich auf der Annahme, dass negative Einstellungen gegenüber Hochdeutsch vorhanden sind und dass sich diese in der Abwesenheit positiver affektiver Metasprache und in explizit negativer Metasprache bezüglich der Ästhetik der Sprache äussern. Für die Begründungen dieser negativen Urteile wird angenommen, dass sie nicht ästhetischer Art sind (im Sinne phonologischer oder prosodischer Aspekte), sondern eher von der Unsicherheit der Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer der Sprache gegenüber zeugen. Erwartet wird, dass zum Beispiel über formale Aspekte (Orthographie, Abweichungen in der Lexik zwischen Schweizerdeutsch und Hochdeutsch) oder das Sprechtempo gesprochen wird. In der quantitativen Analyse zu Hypothese 13 wird nicht unterschieden, ob Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer standarddeutsche Varianten näher spezifizieren, also ob sie beispielsweise von Schweizerhochdeutsch oder von Hochdeutsch in Deutschland sprechen. Der Frage, ob ein Plurizentrizitätsbewusstsein (vgl. Scharloth, 2005) metasprachlich zum Ausdruck kommt, widmet sich eine qualitative ex-ante Frage (vgl. Kap. 8.4.3). 8.3.7 Sprachbiographie/ Kontaktsituation Dieser Hypothesenkomplex widmet sich der linguistischen Biographie und unterschiedlichen Arten des Sprachkontakts und ergründet Zusammenhänge zwischen diesen und ästhetischen und affektiven Beurteilungstendenzen. Hyp 14: Die L1 wird häufiger als andere Sprachen als Lieblingssprache genannt. Die Tatsache, dass sich der Mensch emotional mit seiner L1 (oder Muttersprache, zur Terminologie siehe Ausführung im Folgenden) verbunden fühlt, ist bei Dietrich (2008: 308) integraler Bestandteil der Begriffsdefinition, wird also als gegeben angenommen: Als Muttersprache wird die Sprache eines Individuums bezeichnet, die es mit Mitgliedern einer kulturell homogenen Gemeinschaft als Erstsprache gemeinsam hat und zu der es auf dieser Grundlage eine spezifische, auch affektive Bindung empfindet. [Eigene Hervorhebung, C. C.] Joseph (2004: 21) thematisiert die Muttersprache auf ähnliche Weise und argumentiert ansatzweise whorfianisch 89 : „ [. . .] we have a particular attachment and allegiance to the languages in which we think, classify, interpret, imagine and dream. “ Woolard (1998: 18) macht deutlich, dass es sich bei 89 Joseph schreibt an dieser Stelle: „ This is not to assert a Whorfian view, at least not a strong one, but [. . .] “ und erstellt die Verbindung seiner Aussage zu Whorf so selbst. 8. Theoriegeleitete, resultatebasierte Forschungsfragen und Hypothesen 161 <?page no="178"?> Muttersprache um ein ideologisiertes Konzept handelt, indem suggeriert wird, dass diese nicht nur die erste Sprache eines Individuums ist, sondern gleichzeitig die wahre Sprache eines Sprechenden: „ [. . .] transparent to the true self “ (zur Verbindung zwischen Muttersprache und Identität, vgl. z. B. auch Tophinke, 2000: 349). Getestet wird im Rahmen von Hypothese 14, ob sich diese affektive Bindung in explizit positiven affektiven Urteilen äussert und ob weitere Sprachen existieren (erneut sei hier die Weltsprache Englisch genannt), zu denen eine ebenso positive affektive Bindung besteht. In der Hypothese wird bewusst der Begriff Muttersprache verwendet: Im Interview wird in Sequenz 18 explizit nach der Muttersprache gefragt, da dieser Begriff von Laien sowohl im Alltag verwendet als auch in der Interviewsituation am besten verstanden wird 90 . Gemäss Riehl (2004: 153) definieren Laien ihre sprachlich-ethische Identität über den Begriff der Muttersprache, selbst wenn sie mehrsprachig sind. Die Befragten Personen hatten prinzipiell die Möglichkeit, mehrere L1 zu nennen - in die Berechnungen zu Hypothese 14 wurden diese gleichwertig aufgenommen. Hyp 15: Unterschiedliche L1 gehen mit unterschiedlichen ästhetischen/ affektiven Präferenzen einher. Es wird angenommen, dass die L1 der Befragten bei der affektiven aber insbesondere auch der ästhetischen Beurteilung von Sprachen und Varietäten ein ausschlaggebender Faktor ist, konkret: Französischsprachige und deutschsprachige Schweizerinnen und Schweizer weichen in ihren Beurteilungstendenzen voneinander ab. Dass Menschen durch ihre L1 konditioniert sind, schreibt Yaguello (1988: 140 f.): Or, l ’ oreille de chacun est conditionnée par sa langue maternelle ou les langues qui lui sont les plus familières. Cela explique que certains sons utilisant des fréquences étrangères ne sont tout simplement pas perçus ou produisent une impression de brouillage, comme une radio mal réglée. Schweizerdeutsche Dialekte und Schweizerfranzösisch verfügen über unterschiedliche Phoneminventare sowie eine abweichende Phonotaktik. Die Annahme liegt nahe, dass diese unterschiedlichen phonetischen Erfahrungswerte und Vertrautheiten einen Einfluss haben auf die ästhetische Wahrnehmung anderer Sprachen als akustische Phänomene. Die Hypothese kann auch von einer sozialpsychologischen Warte aus verstanden werden: Werden ästhetische und affektive Sprachurteile im Kontext von Stereotypen gesehen, 90 Im Folgenden werden die Termini Muttersprache und Erstsprache respektive L1 synonym verwendet. 162 II. Fragestellung und Empirie <?page no="179"?> ist klar, dass unterschiedliche soziale Gruppen unterschiedliche Stereotype konstruieren oder wie Kristiansen (2001: 138) schreibt: „ [. . .] stereotypes are socially relative constructs, in the sense that different social groups are likely to create different stereotypical images of the same target. “ Hyp 16: Schülerinnen und Schüler neigen zu negativen ästhetischen und affektiven Urteilen gegenüber Sprachen, die sie aktuell lernen - dies gilt allerdings nicht für Englisch, sondern in der Deutschschweiz für Französisch und in der französischen Schweiz für Deutsch. Die befragten Schülergruppen lernen die betreffenden Fremdsprachen (Französisch in der Deutschschweiz respektive Hochdeutsch in der französischen Schweiz) in institutionellem Rahmen und weitgehend gesteuert. Es handelt sich bei den untersuchten Fremdsprachen nicht um Wahloptionen im Curriculum, sondern um Fächer, die belegt werden müssen. Die Leistungen in den betreffenden Sprachen werden benotet und bei Bewerbungsverfahren um Lehrstellen berücksichtigt, was für die Schülerinnen und Schüler zum Zeitpunkt der Befragung gerade sehr aktuell ist. Dass Sprachenlernen für die Schülergruppen mit Leistungsdruck verbunden ist, darf nicht ignoriert werden. Die Schülerinnen und Schüler haben meist wenig bis keinen natürlichen Kontakt mit den betreffenden Sprachen, sei es durch Aufenthalte oder Kontakte zu Sprecherinnen und Sprechern der Sprache (die Lehrpersonen natürlich ausgenommen). Es ist entsprechend der dargelegten Situation zu erwarten, dass der Schulfachcharakter der Sprachen bei der affektiven und ästhetischen Beurteilung ins Gewicht fällt. Hypothese 16 ist bildungspessimistisch formuliert, zumindest was die Beurteilung der jeweils anderen Landessprache betrifft. Es wird suggeriert, dass eine positive ästhetische und affektive Bindung zu den Landessprachen während der obligatorischen Schulzeit nicht oder nicht ausgeprägt entsteht. Darin enthalten ist aber nicht, dass eine negative affektive und ästhetische Verbindung entsteht; es wird angenommen, dass die Landessprachen im ästhetisch-affektiven Empfinden und Wahrnehmen der befragten Schülerinnen und Schüler keine herausragende Rolle spielen, da die Sprachen anders konnotiert werden (wie erwähnt eher als Schulfächer). Dieser pessimistische Teil der Hypothese rührt unter anderem von der Annahme, dass positive affektive und ästhetische Gefühle, wenn sie denn vorhanden sind, nicht gleichmässig auf die unterrichteten Sprachen verteilt sind, sondern sich bei Englisch ballen. Dies obwohl Englisch genauso ein Pflichtfach ist und die Leistungen benotet werden. Weshalb diese Annahme? Für Ungarn haben Dörnyei et al. (2006: 143) gezeigt, dass das Studium von Nicht-Weltsprachen im Vergleich zum Studium von Englisch als globaler Sprache zur marginalisierten Spezialisierung wird. Dabei stellen sie fest, dass selbst Sprachen, die in Ungarn vor kurzem noch lingua franca-Charakter hatten (Deutsch), als 8. Theoriegeleitete, resultatebasierte Forschungsfragen und Hypothesen 163 <?page no="180"?> nicht-Weltsprachen kategorisiert werden. Hypothese 16 setzt an diesem Punkt an: Während die Landessprachen für ältere Generationen nicht an Wert und Bedeutung eingebüsst haben, rückt die jüngste befragte Generation Englisch ins Zentrum ihrer Beurteilungen. Die Landessprachen rutschen somit stärker in die Peripherie des linguistischen Spektrums ab. Dörnyei et al. (ibid.) bringen die zunehmende ‚ Englishisation ‘ mit den von Arnett (2002) in seinem Artikel „ The Psychology of Globalisation “ definierten bikulturellen Identitäten in Verbindung. Gemäss Arnett (ibid. 777) besteht eine zunehmende Tendenz unter jungen Personen, zusätzlich zu ihrer lokalen Identität eine globale Identität zu entwickeln, die ihnen ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einer weltweiten Kultur vermittelt. Dörnyei et al. (2006: 145) postulieren, dass die Sprache, die zu dieser globalen Kultur gehört, Englisch ist (vgl. Kap. 4.3). Die Vermutung liegt nahe, dass in der Schweiz zwei Arten bikultureller Identitäten möglich sind: eine mit der lokalen Sprache plus einer Landessprache und eine mit der lokalen Sprache plus der Weltsprache Englisch. Mit Hypothese 16 wird die Behauptung aufgestellt, dass ästhetische und affektive Urteile jüngerer Schweizerinnen und Schweizer in Richtung der zweiten Option verweisen. Hyp 17: Sprachen, die in natürlichem Kontext erworben werden, werden eher positiv (affektiv) beurteilt als Sprachen, die in schulischem/ institutionellem Kontext erworben werden. Hypothese 17 folgt in ihrem theoretischen Unterbau nicht Krashens (1981) bekannter Unterscheidung zwischen formal learning und informal acquisition, sondern Ellis (2008: 288) neuerem Ansatz, und damit der Unterscheidung zwischen natural setting und educational setting, wo Sprachenlernen stattfindet 91 . Folgende Annahmen liegen den beiden Settings zu Grunde: Der 91 Die Acquisition-Learning Hypothesis ist eine von Krashens fünf Hypothesen, um welche seine Spracherwerbsrespektive Sprachlerntheorie aufgebaut ist. Sie besagt, dass das Erwerben und das Lernen von Sprachen zwei unterschiedliche Prozesse sind. Erwerb ist gemäss Krashen (1981: 1) „ [. . .] very similar to the process children use in acquiring first and second languages. It requires meaningful interaction in the target language - natural communication - in which speakers are concerend not with the form of their utterances but with the messages they are conveying and understanding. “ Lernen hingegen bezeichnet einen „ [. . .] conscious process that results in ‚ knowing about ‘ language “ (ibid.). Wichtig ist, dass gemäss Krashen Erwerb einem unterbewussten Prozess unterliegt, während Lernen einem bewussten Prozess unterliegt (Krashen, 1985: 1). Krashen wird verschiedentlich dafür kritisiert, dass die Unterscheidung zwischen bewussten und unbewussten Prozessen vage und gleichzeitig empirisch kaum nachweisbar ist, da sich von der Sprachproduktion kaum ableiten lässt, ob sie das Resultat bewusster oder unbewusster Prozesse der Lernenden ist (vgl. Mitchell/ Myles, 2004: 45); noch unmöglicher ist es natürlich, Laien zu bewussten und unbewussten Sprachlernprozessen zu befragen. 164 II. Fragestellung und Empirie <?page no="181"?> natürliche Kontext zeichnet sich dadurch aus, dass eher informelles Lernen stattfindet, wobei keine expliziten Regeln definiert werden. Direkte Partizipation und insbesondere die soziale Signifikanz des Gelernten sind zentrale Konzepte dieses Settings. Davon unterscheidet sich das institutionelle Setting bzw. das Lernen im Bildungskontext. Hier richtet sich die Aufmerksamkeit der Lernenden bewusst auf Regeln und Prinzipien. Die Beherrschung des Gegenstands (subject matter) (ibid.) ist Ziel der Bestrebungen. Ellis spricht von einem „ decontextualized body of knowledge “ (ibid.), betont aber gleichzeitig, dass der Lernkontext im Prinzip noch nicht zwingend etwas über die Art des Lernens aussagt, auch wenn dies in den Annahmen zu den beiden Kontexten impliziert wird (ibid.): [. . .] the correlation between informal learning and natural settings on the one hand, and formal learning and educational settings on the other, is at best only a crude one. In Hypothese 17 wird davon ausgegangen, dass der Schulfachcharakter nicht förderlich ist für die Entwicklung einer affektiven Bindung zum Gegenstand (der Sprache). Negativ ins Gewicht fallen dabei der Notendruck sowie die Tatsache, dass die Sprache beim institutionellen Lernen oftmals losgelöst vom sozialen Kontext verwendet wird. Der natürliche Kontext bietet dagegen mehr Anknüpfungspunkte, um eine affektive Bindung zu einer Sprache zu entwickeln, nicht zuletzt durch den direkten Umgang mit Personen, die die Sprache sprechen und die konkrete soziale Situierung der Sprachverwendung 92 . Hyp 18: Die Anzahl der Sprachen, die jemand spricht, hat Einfluss auf Sprachurteile. Sowohl die Anzahl genannter Sprachen (ästhetisch schön, affektiv aber NICHT ästhetisch hässlich) als auch die Begründungen werden umfangreicher, je mehr Sprachen jemand spricht. Im Interview wird danach gefragt, welche Sprachen die Befragten „ können “ . Die Frage ist elliptisch und offen formuliert (vgl. Kap. 9.3.3) und zielt nicht auf real vorliegende Sprachkompetenzen, sondern auf die von Laien selbst deklarierte quantitative Sprachkompetenz respektive die selbst deklarierte individuelle Mehrsprachigkeit. Diese kann darin bestehen, dass nebst der L1 eine bzw. mehrere Fremdsprachen beherrscht werden und sporadisch zum Einsatz kommen (vgl. Lüdi/ Py, 1984: 8). Die Anzahl der im Interview 92 Das Sprachenlernen im Gebiet der Zielsprache wird im Rahmen dieser Hypothese immer zum natürlichen Kontext gezählt, selbst wenn eine Sprachschule besucht wird. Diesem Verfahren liegt die Überlegung zu Grunde, dass im Gebiet der Zielsprache der soziale Kontext, die soziale Signifikanz und die direkte Partizipation immer wesentliche Aspekte des Lernens sind. 8. Theoriegeleitete, resultatebasierte Forschungsfragen und Hypothesen 165 <?page no="182"?> genannten Sprachen gibt nicht zuletzt Aufschluss darüber, wie sich die betreffende Person selbst wahrnimmt - als Person, die aktiv Sprachen verwendet und diese „ kann “ oder als Person, die Sprachen beispielsweise zwar gelernt hat, diese aber nicht nennt, wenn es um die Verwendungskompetenz im Sinne eines nicht weiter definierten „ Könnens “ geht. Menschen, die bei dieser Interviewfrage mehrere Sprachen nennen, können konkreter auf unterschiedliche Beurteilungsobjekte zugreifen. Jessner (2007: 30) hält fest, dass der Kontakt mit mehreren Sprachen die Entwicklung metalinguistischen Bewusstseins sowie allgemein metakognitiver Strategien begünstigt. Dass sich dies in der Laienmetasprache niederschlägt, ist anzunehmen, wenn wir uns an die enge Verknüpfung zwischen Metasprache und Sprachbewusstheit erinnern (vgl. Kap. 2.2). Von Menschen, die ausser ihrer L1 keine oder lediglich eine Sprache zu ihren Kompetenzen zählen, wird im Gegensatz dazu angenommen, dass sie weniger Beurteilungen abgeben. Sie haben weniger Gelegenheit, affektive oder ästhetische Beziehung zu Sprachen zu knüpfen, da ihnen der Zugang zu Sprachen nicht gleichermassen offen steht wie oben erwähnter Gruppe. Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, wie Menschen mit wenig ausgeprägten Sprachkenntnissen und -kompetenzen mit der Interviewsituation umgehen. Zweifeln sie ihre Urteilsfähigkeit explizit an? Fällt der metasprachliche Diskurs nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ anders aus? In Kapitel 8.4.4 wird eine qualitative exante Frage zu diesem Themenbereich formuliert. Hyp 19: Je mehr Sprachen jemand spricht, desto seltener werden Urteile über die Hässlichkeit von Sprachen. Hypothese 19 schliesst sich Hypothese 18 thematisch unmittelbar an und geht zusätzlich von einem positiven Effekt selbst deklarierter individueller Mehrsprachigkeit aus, indem angenommen wird, dass positive Urteile zwar zunehmen, nicht jedoch negative Urteile über Sprachen. Im Gegenteil: Negative ästhetische Sprachurteile werden seltener, je mehr Sprachen jemand „ kann “ . Die Offenheit vielleicht auch Neugierde gegenüber fremder Sprachen (selbst wenn diese nicht vollumfänglich beherrscht werden) wird grösser, je mehr Sprachen jemand spricht. Dass individuelle Mehrsprachigkeit gemeinhin mit Weltoffenheit und Toleranz in Verbindung gebracht wird, postulieren beispielsweise De Florio-Hansen/ Hu (2007: x). Fakt ist: Je mehr Sprachen jemand spricht, desto mehr Sprachen sind dieser Person vertraut. In Hypothese 20 wird erläutert, warum davon ausgegangen wird, dass grössere Vertrautheit mit positiveren Einstellungen und mehr Sympathien einhergeht. Hyp 20: Freiwillig gewählte geographische Nähe (Aufenthalt etc.) führt zu positiven ästhetischen und affektiven Urteilen. 166 II. Fragestellung und Empirie <?page no="183"?> Hypothese 20 leitet sich von Allports Contact Hypothesis (1954) 93 und deren Weiterentwicklung ab. Allports Behauptung, dass Kontakt zwischen Gruppen bei guten Bedingungen intergruppale Vorurteile reduzieren kann, wurde in zahlreichen Studien überprüft und weiterentwickelt. In einer detaillierten Meta-Analyse zur Intergruppen-Kontakttheorie bestätigen Pettigrew und Tropp (2006: 766) Allport und bieten gleichzeitig einen für diese Studie interessanten Entwicklungsrespektive Erklärungsansatz der Intergroup Contact Theory (ibid.) an: We posit that the process underlying contact ’ s ability to reduce prejudice involves the tendency for familiarity to breed liking. In Pettigrew/ Tropp (ibid.) werden eine Reihe von Studien und Metastudien zitiert, die übereinstimmend eine Beziehung zwischen exposure (Etwas-Ausgesetzt-Sein) und liking (Sympathie dafür haben) feststellen, und zwar „ with a wide range of targets “ (Bornstein, 1989; Harmon-Jones/ Allen, 2001; Lee, 2001) 94 . Während eines Aufenthalts (ob dies nun explizit ein Sprachaufenthalt ist oder die Sprache eine untergeordnete Rolle spielt) findet ein solches Ausgesetzt-Sein - und zwar einer Sprache ausgesetzt sein - statt. Es wird angenommen, dass die so entstehende Vertrautheit zu positiven Einstellungen sowie positiven ästhetischen und affektiven Empfindungen für den Gegenstand führt. Die Vertrautheitshypothese der Wahrnehmungsdialektologie (vgl. Kap. 5.1) funktioniert im Übrigen ähnlich, indem sie davon ausgeht, dass eine Sprache dann als schön empfunden wird, wenn jemand vertraut ist mit ihr, also ein gewisses Mass an Kontakt zu ihr pflegt. Im Bereich der Spracheinstellungsforschung konnten mehrere Studien ähnliche Effekte nachweisen: Der Französischaufenthalt beeinflusst Deutschschweizer Gymnasiastinnen und Gymnasiasten positiv in ihrer Sprach- und Kulturwahrnehmung, ebenso kann nach dem Aufenthalt eine verstärkte Motivation zum Weiterlernen des Französischen festgestellt werden (Hodel, 2006: 256). Selbst Sprachkontakt ohne Aufenthalt im Gebiet (also der Kontakt mit Touristen, die die Zielsprache sprechen) beeinflusst Spracheinstellungen positiv und motiviert zum Lernen (Dörnyei et al., 2006). Dörnyei et al. (2006: 128) beschreiben jedoch auch die Auswirkung eines sehr und offensichtlich allzu ausgeprägten Sprachkontakts: [. . .] if the contact exceeds a certain threshold level, it seems to ‚ backfire ‘ and work against positive intercultural relations. Die Funktion Sprachkontakt-Spracheinstellungen ist im Fall des „ unfreiwilligen “ Sprachkontakts also mit einer konkaven Parabel zu vergleichen: Ab einem gewissen Grad des nicht freiwillig gewählten Sprachkontakts findet 93 Vgl. zur Contact Hypothesis im Zusammenhang mit Sprachkontakt und Spracheinstellungen Dörnyei et al. (2006: 126 ff.). 94 Dieses unter dem Begriff Mere Exposure Effect bekannte Phänomen wurde von Zajonc (1968) erstmals beschrieben. 8. Theoriegeleitete, resultatebasierte Forschungsfragen und Hypothesen 167 <?page no="184"?> eine Übersättigung statt, und die positiven Effekte wandeln sich in negative um. Aus diesem Grund wurde Hypothese 20 beschränkt auf freiwillig gewählte geographische Nähe und schliesst somit den „ unfreiwilligen “ Sprachkontakt beispielsweise in Sprachgrenzregionen der Schweiz nicht mit ein. In die Analyse eingeschlossen werden ausschliesslich Angaben zu Aufenthalten, die von Laien in der Interviewsequenz 19 gemacht werden 95 , Aufenthalte also, denen von Befragten Bedeutung beigemessen wird 96 . Die Hypothese ist, was den freiwilligen Aufenthalt in Gebieten der Zielsprache betrifft, optimistisch formuliert. Das natürliche Setting darf aber beileibe nicht idealisiert werden. Norton (2000: 113) beispielsweise macht auf kritische Aspekte des natürlichen Umfelds, die vor allem in Machtbeziehungen zwischen den Sprechenden begründet sind, aufmerksam. Wichtig ist die Erkenntnis, dass kein Automatismus besteht zwischen der Tatsache, dass jemand von Sprechenden einer Zielsprache umgeben ist und der Tatsache, dass es auch wirklich zu Kommunikation in der Zielsprache kommt. [. . .] natural language learning does not necessarily offer language learners the opportunity to learn a second language in an open and stimulating environment, in which the learners are surrounded by fluent speakers of the target language, who generously ensure that the learner understands the communication directed at the learner, and who are prepared to negotiate meaning in an egalitarian and supportive atmosphere. Norton bezieht sich dabei auf den Migrationskontext und weniger auf temporäre Sprachaufenthalte im Gebiet der Zielsprache. Dennoch können die geschilderten Prozesse m. E. auch während Sprachaufenthalten auftreten. 8.4 Qualitative ex ante Forschungsfragen Im Folgenden werden gemäss dem in Kapitel 6.2 beschriebenen Forschungsdesign zunächst die qualitativen ex-ante Fragen und im Anschluss daran die qualitativen Vertiefungsfragen erörtert. Während erstere theoriegeleitet sind, ergeben sich letzere aus den quantitativen Resultaten (vgl. Kap. 11 und 12). Angaben zum verwendeten Kodierleitfaden finden sich in Kapitel 10.2.4 sowie in Appendix 5. Die Stichprobe umfasst 60 Interviews mit Deutschschweizer Gewährspersonen - die Fragen beziehen sich daher immer auf die Situation in der Deutschschweiz. 95 Die Interviewfrage danach, ob und wie lange jemand ausserhalb der Deutschschweiz respektive der französischen Schweiz gelebt hat. 96 Ein Faktor (bzw. Mediator), der in neueren Ansätzen der Kontakttheorie als „ perceived importance of the contact “ (Van Dick et al., 2004, zitiert nach Pettigrew/ Tropp, 2006: 767) an Bedeutung gewinnt und von Dörnyei et al. (2006) auch für Spracheinstellungen diskutiert wird. 168 II. Fragestellung und Empirie <?page no="185"?> 8.4.1 Konstruktion von Identität und Alterität via Sprachurteile Dass ästhetische und affektive Sprachurteile nicht nur Auskunft über den beurteilten Gegenstand selbst geben, sondern auch über die Person, von der die Urteile stammen, ist die Kernaussage der Hypothese zur Identitäts- und Alteritätskonstruktion (vgl. Kap. 5.1). Die in Kapitel 4 theoretisch eingeführten Identitätskonstruktionsarten werden qualitativ untersucht. Geprüft wird zunächst die Konstruktion lokaler, nationaler sowie globaler Identitäten. Riehl (2000 b) ermittelt auf ähnliche Weise topographische Identitätskonstruktionen der deutschsprachigen Minderheit in Südtirol, wo das öffentliche Leben sich zweisprachig - Deutsch und Italienisch - abspielt. Die Situation in Südtirol ist nicht direkt vergleichbar mit der Situation in der Schweiz, wo die Mehrsprachigkeit mehrheitlich territorial geregelt ist. Nichtsdestoweniger sind die Resultate Riehls für unsere Zwecke aussagekräftig, da es sich um Identitätskonstruktionen innerhalb einer komplexen linguistischen Situation handelt, und um solche handelt es sich in der Schweiz ebenso. Riehl (ibid. 147) konstatiert, dass sich die Identitätskonstruktion der deutschsprachigen Gruppe schwierig gestaltet, da sie sich einerseits vom sprachlichen „ Mutterland “ abgrenzen will (Österreich) und andererseits von der anderssprachigen Gruppe (Italienischsprachige), „ an die sie assoziiert ist und deren Sprache sie ebenfalls spricht “ (ibid. 152). Gelöst wird das Dilemma über eine stärkere regionale Identifikation: Da die nationale Identität Probleme bereitet, wird die regionale Identität so aufgewertet, daß sie die nationale ersetzen kann, nämlich die Identität als Südtiroler [. . .]. Es präsentiert sich hier eine Lösung, die für die Deutschschweizer Gewährspersonen untersucht werden muss, denen genauso eine überdachende Sprache auf nationaler Ebene fehlt. Gemäss Riehl (ibid.) wird der Dialekt bei dieser Lösung „ als Identitätsmerkmal operationalisiert “ , während sowohl das Standarddeutsche als auch das Italienische emotional wenig besetzt sind: „ Die Sprecher distanzieren sich damit auch von einer nationalen Kultur und Sprache als Identitätssymbol. “ Watts (1999: 69) konstatiert für Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer einen ähnlichen Mechanismus, den er Dialektideologie nennt (vgl. Kap. 8.3.6, Hypothese 13) und schreibt: The local dialect thus serves as one of the most powerful markers, if not the most powerful marker, of local, rather than national identity. Dass Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer bedingt durch die diglossische Situation, in der sie leben, allenfalls über zwei sprachbedingte Identitäten verfügen (mit Schweizerdeutsch und Hochdeutsch), darf nicht kategorisch ausgeschlossen werden. Löffler erwähnt diese Option während eines Podiumsgesprächs und spricht sogar davon, dass die Identifikation mit beiden Versionen des Deutschen gleichermassen stattfindet (vgl. Näßl, 2003: 24): 8. Theoriegeleitete, resultatebasierte Forschungsfragen und Hypothesen 169 <?page no="186"?> Das Hochdeutsche wird aus Sicht der Schweizer in Deutschland hergestellt, sie partizipieren daran und bereichern es mit ihren Ausdrücken, um es für sich verwendbar zu machen. [. . .] Beides sind Muttersprachen. Man möchte auch korrekten Anteil an der deutschen Hochsprache aus Deutschland nehmen. (. . .). Man importiert die fehlerfreie korrekte Form und reichert sie mit schweizerischen Details an. [Kursiv im Original] Im Rahmen dieser Analyse werden zudem Identitätskonstruktionen untersucht, die supranational funktionieren, also etwa über die globale Sprache Englisch hergestellt werden (vgl. Kap. 4.3). In der Analyse zum Themenkomplex Identität/ Alterität wird ferner die Rolle der beiden von Block (2007, vgl. Kap. 4.4.1) definierten Beziehungstypen Expertise und Vererbung ermittelt, indem untersucht wird, in welchen Urteilstypen (und bei welchen Sprachen) diese Beziehungstypen festgestellt werden können. Die beiden krisenhaften Identitätskonstruktionen linguistische Unsicherheit sowie linguistischer Selbsthass (vgl. Kap. 4.4.2) werden im Datenmaterial ebenfalls kodiert. Hier interessiert, ob diese beiden problematischen Aspekte eher im Zusammenhang mit Hochdeutsch oder im Zusammenhang mit Schweizerdeutsch auftreten. Ferner erfolgt eine Analyse dazu, wann aktive und wann passive linguistische Identitäten konstruiert werden (also in welchem Urteilstyp dies vollzogen wird) (vgl. Kap. 4.4.3). 8.4.2 Kognitive Strukturen: kulturelle, metaphorische und metonymische Modelle In Kapitel 3.2.5 wurde eingeführt, was unter kulturellen, kognitiven, metaphorischen und metonymischen Modellen mit dem Gegenstandsbereich Sprache zu verstehen ist. In den folgenden qualitativen ex-ante Fragen werden verschiedene Modelle aus der Forschungsliteratur ausgewählt und vorgestellt, um anschliessend am vorliegenden Datensatz geprüft zu werden. 8.4.2.1 Kulturelle Modelle Geeraerts (2003) beschreibt zwei kulturelle Modelle, die die Wahrnehmung von Sprache und Standardisierung formen und prägen und in dialektischer Beziehung zueinander stehen: das rationalistische Modell und das romantische Modell. Die romantische Perspektive versteht Sprache in erster Linie als expressiv. Durch Sprache wird Identität ausgedrückt (ibid. 37): They [languages, eigene Anmerkung, C. C.] express an identity, and they do so because they embody a particular conception of the world, a world view or ‚ Weltanschauung ‘ in the sense of Herder. Im Gegensatz dazu versteht die rationalistische Perspektive Sprache vor allem als Kommunikationsmedium. Während im rationalistischen Modell 170 II. Fragestellung und Empirie <?page no="187"?> Standardisierung als demokratisches Ideal betrachtet wird (die Standardsprache ermöglicht als neu-trales Kommunikationsmedium die soziale Partizipation), wird im romantischen Modell kritisiert, dass die Standardsprache als Medium sozialer Ausgrenzung fungiert (ibid. 40) 97 . Geeraerts zeigt in seinem Artikel auf, wie sich die beiden Modelle im Laufe der Zeit gewandelt haben und welche linguistischen Bezugsgrössen in verschiedenen Jahrhunderten im Mittelpunkt standen und heute stehen (ibid. 51): The initial models of standardization are essentially models of standard languages in comparison with dialects or other varieties of the same language. In the nationalist era, the debate sometimes involves national languages as opposed to minority languages, but it is only in our days that the debate concentrates on the international relationship between different languages, viz. the relationship between English as a world language in comparison with local, possibly endangered languages. Im Kontext der qualitativen Analyse evaluativer Laienmetasprache wird auf die postmoderne Transformation der Modelle fokussiert, wo es um die Rolle der Weltsprache Englisch geht 98 sowie um das Verständnis von Multilingualismus und Multikulturalismus. Tabelle 9 skizziert die rationalistische und die romantische Position hinsichtlich ihrer postmodernen Transformation. Tab. 9: Postmoderne Transformation des rationalistischen und romantischen kulturellen Modells (nach Geeraerts, 2003: 55 sowie Polzenhagen/ Dirven, 2008: 247). [Eigene Übersetzung, C. C.]. Spätes 20. Jahrhundert: die postmoderne Transformation der Modelle Rationalistische Position Kulturelles Modell: Die Weltsprache Englisch als Chance. Multilingualismus als funktionale Spezialisierung. Konstituierende Metapher: L ANGUAGE AS A TOOL Romantische Position Kulturelles Modell: Die Weltsprache Englisch als Bedrohung. Multilingualismus als Ausdruck bruchstückhafter, post-moderner Identitäten. Konstituierende Metapher: L ANGUAGE AS IDENTITY MARKER 97 Vgl. Berthele (2010 b) für eine Anwendung der beiden Modelle hinsichtlich der Situation in der Deutschschweiz. 98 Die Analyse der Position von Englisch in der Laienmetasprache mit Geeraerts Modell führt der Fragestellung in Kapitel 8.5.4, die sich mit der Position der Landessprache Französisch im Vergleich mit der Weltsprache Englisch befasst, weitere Interpretationsansätze zu. 8. Theoriegeleitete, resultatebasierte Forschungsfragen und Hypothesen 171 <?page no="188"?> Polzenhagen/ Dirven (2008: 247) definieren zwei Metaphern, die die beiden kulturellen Modelle konstituieren: L ANGUAGE AS A TOOL (rationalistisches Modell) sowie L ANGUAGE AS IDENTITY MARKER (romantisches Modell). Problematisch ist, dass die Werkzeugmetaphorik partiell auch beim romantischen Modell greift, dann nämlich, wenn gilt: L ANGUAGE AS A TOOL FOR EXPRESSING IDENTITY (ibid.). Im Rahmen dieser Arbeit werden die konzeptuellen Metaphern folgendermassen ausgelegt: L ANGUAGE AS A TOOL FOR COMMUNICA- TION (rationalistisches Modell) vs. L ANGUAGE AS A TOOL FOR EXPRESSING IDENTITY (romantisches Modell). Die beiden kulturellen Modelle dürfen als überaus produktiv verstanden werden. Sie finden sich nicht nur in öffentlichen Debatten, sondern entwickeln ihre Dialektik auch in linguistischen Abhandlungen. Zum Beispiel finden sie sich bei Duszak/ Okulska (2004: 9) in einem Beitrag zum Verhältnis von Linguistik und Globalisierung: On the one hand, language is a tool of communication that is indispensable for people in order to be able to exchange information, to function socially, to create and negotiate meanings. On the other hand, language performs a representative function in that it identifies its users. It is an exponent of social (cultural) identities, a sign of in-group solidarity, of affiliation or else of rejection. In communication the two functions are working in tandem. Englisch wird in diesem Beitrag (ibid. 7) als „ powerful transmitter into the cultural and the communicative spaces of other languages (and cultures) “ beschrieben - es wird also eine rationalistische Lesart angeboten. Mit Hilfe der beiden genannten konzeptuellen Metaphern erfolgt die Kodierung der beiden kulturellen Modelle im Interviewdatensatz. Ziel ist es, Aussagen darüber machen zu können, welches das dominierende Modell in der evaluativen Laienmetasprache von Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern ist. 8.4.2.2 Metaphorische Modelle Berthele (2002) beschreibt insgesamt drei metaphorische Modelle, die er als „ conscious language related representations “ (ibid. 29) definiert. Es handelt sich dabei um metaphorische mappings (Zuordnungen), die allesamt den Zielbereich Sprache haben. In seinen Ausführungen bezieht sich Berthele (ibid. 30) auf die Theorie zur Konzeptuellen Metapher (Lakoff/ Johnson, 1980; vgl. Kap. 3.2.5.2) und geht daher grundsätzlich davon aus, dass die Art, wie Menschen über Sprachen sprechen, Einsicht gewährt in die Art, wie Menschen über Sprachen (nach)denken (indem ein komplexer und abstrakte Zielbereich konzeptualisiert wird respektive konzeptuell erfasst wird) 99 . 99 Nicht nur im Laiendiskurs wird Sprache über Metaphern konzeptualisiert. Auch in der linguistischen Literatur finden sich zahlreiche einschlägige Metaphernmodelle: Bekannt ist etwa das Modell SPRACHE IST EIN ORGANISMUS, das der Disziplin Ökolinguistik 172 II. Fragestellung und Empirie <?page no="189"?> I) S PRACHE ALS EINE PHYSIKALISCHE S TRUKTUR ( EIN G EBÄUDE , EIN S YSTEM ) Insbesondere im Vergleich zwischen Standardsprache und Dialekt kommt diese Metapher zum Tragen. Während die normierte Standardsprache ein solides und planvoll strukturiertes Gebäude ist, erscheint die nicht-Standardsprache als chaotisch und instabil (Berthele, 2002: 36). Berthele weist auf die „ anti-dialect “ Ideologie dieser Metapher hin und führt eine zweite Metapher ein, die in dialektfreundlicheren Gesellschaften verwendet wird (ibid. 38). II) S PRACHE ALS R OHMATERIAL , ALS NATÜRLICHE R ESSOURCE Dieser Metapher liegen Formen linguistischen Purismus zu Grunde (ibid.): Der ursprüngliche Zustand jeder Sprache ist rein, erst durch den nachlässigen Gebrauch und insbesondere durch Prozesse des Mischens wird sie unrein. Sprachzerfallsdebatten (der Glaube, dass sich der Sprachgebrauch konstant verschlechtert, die Sprache dabei schliesslich zu Grunde geht), beruht auf diesem Modell (ibid. 40). Je nach Granularitätsebene (vgl. Kap. 8.2.1), die in einem bestimmten Kontext aktiviert ist sowie in dialektfreundlichen Räumen, kann auch der Dialekt als pure Form wahrgenommen werden (ibid.): The epistemic entailments of this mapping are that language used to be „ pure “ and „ good “ in earlier times and maybe still is pure (in the case of dialects) in remote, isolated communities. Während in einigen Ländern und Regionen Dialekte per se als unrein gelten, werden sie im im Schweizer Kontext verbreitet als die reine Form betrachtet (ibid.). Haas (1992: 578) zum Beispiel spricht bezüglich der in der Schweiz oftmals geforderten strikten Trennung von Dialekt und Standardsprache von einer „ Grundmaxime der Sprachkultur der deutschen Schweiz “ und betont, dass sich die Klagen über die Mischung der beiden Varietäten durch alle Schichten hinweg vernehmen lassen (vgl. zum Dialekt-Purismus z.B: Kolde, 1981: 71 f.; Ammon, 1995: 289 f.). Christen (2010: 287) stellt für alltagssprachliche Dialektattribuierungen fest, dass diese mit positiven Metaphern arbeiten, die dem Ausgangsbereich „ Stoff “ entstammen, etwa „ rein “ , „ sauber “ , „ unverfälscht “ . Dies zeugt gemäss Christen von einer Ideologie bezüglich des Dialekts in der Schweiz, wie sie inhaltlich sonst eher für die Standardsprache vorkommt. Oftmals ist das Verlangen nach Reinhaltung der „ Muttersprache “ oder der L1 einer Sprechergruppe im Zusammenhang mit dem Bedürfnis nach Abgrenzung gegenüber eines fremden „ Anderen “ oder „ Aussens “ zu verstehen und somit in der identitätsstiftenden Funktion von Sprachen zu verorten (vgl. Oppenrieder/ Thurmair, 2003: 43 sowie Kap. 4). Der von Misstrauen geprägte Umgang mit transkodischen Markierungen (ein protozugrunde liegt (vgl. Haugen, 1972). Für einen Überblick über Metaphern für Sprache und Kommunikation (sowohl in der Wissenschaft als auch im Alltagsdiskurs), vgl. z. B. Brünner (1987). 8. Theoriegeleitete, resultatebasierte Forschungsfragen und Hypothesen 173 <?page no="190"?> typisches Beispiel dafür ist das Code-Switching) ist als Teil einer Einsprachigkeitsideologie (vgl. Lüdi, 1996: 243) zu verstehen, die von der Linguistik zwar weitgehend überwunden ist, für Laien aber nach wie vor ihre Existenzberechtigung hat (vgl. Oppenrieder/ Thurmair, 2003: 50, Fussnote 10). Natürlich funktioniert die Metapher nicht nur auf der intra-linguistischen Ebene, sondern auch auf der inter-linguistischen Ebene: Duszak/ Okulska (2004: 9) beispielsweise werfen die Frage auf, ob der (oftmals lexikalische) Einfluss von Englisch auf andere europäische Sprachen eher als Bereicherung oder eher als korrumpierend empfunden wird. Pejorative Termini wie Swenglish oder Poglish sprechen eher für Letzteres (ibid.). In der qualitativen Analyse des Interviewmaterials dieses metaphorischen Modells interessiert einerseits, welche Entitäten als verunreinigt dargestellt werden und welche die verunreinigende Kraft darstellen. Eine weitere Frage ist, worin die Verunreinigung eigentlich besteht (also ob spezifische transkodische Merkmale genannt werden). III) S PRACHE ALS T ERRITORIUM Dieser Zuordnungsvorgang wird als metonymischer und weniger als metaphorischer Prozess verstanden (ibid.). Sprachen werden üblicherweise mit Sprechergruppen assoziiert, die in spezifischen geographischen Gebieten leben. Der Zwischenschritt (Sprache als Epiphänomen für die Sprechenden) wird im Rahmen dieser Studie separat analysiert (vgl. Kap. 8.4.2.3), hier wird vorerst auf Modelle fokussiert, die Sprache als Territorium beschreiben, auch in dem Sinne, dass topographische oder klimatische Begebenheiten des Gebiets, wo eine Sprache gesprochen wird, auf die Sprache selbst zurückgeführt werden. Trudgill/ Giles (1976: 13) thematisieren dieses Prinzip in ihrer social connotations hypothesis und sprechen dabei von mental maps: Einstellungen gegenüber extra-linguistischen Grössen (wie zum Beispiel Landschaften) werden auf linguistische Varietäten transferiert. Als Beispiel nennen die Autoren (ibid.) die „ romanticised nostalgic view of the countryside “ in Grossbritannien, die zu einer Präferenz der Dialekte führt, die mit diesen Regionen assoziiert werden. Die unbeliebteste Wohnregion Grossbritanniens sind die Midlands und West Midlands (urbanisierte, industrialisierte Regionen), und genau da kommen diejenigen Akzente vor, die unter britischen Gewährspersonen als unattraktiv gelten. Mentale Bilder von Landschaften und Regionen, wo gemäss der Vorstellungswelt der Gewährspersonen bestimmte Sprachen, Varietäten oder Dialekte gesprochen werden, können die Einschätzung dieser also stark beeinflussen. In der qualitativen Analyse wird nach metasprachlichen Sequenzen gesucht, welche die beurteilten Objekte nicht nur geographisch lokalisieren, sondern auch Auskunft geben über die Beschaffenheit mentaler Landkarten sowie die Bilder, die damit verknüpft sind. 174 II. Fragestellung und Empirie <?page no="191"?> In der qualitativen Analyse werden alle drei von Berthele eingeführten metaphorischen Modelle untersucht. Grundsätzlich geht es darum zu verstehen, wie die target domain Sprache von Laien mittels konzeptueller Metaphern konstruiert wird und herauszufinden, wie diese über die Urteilstypen hinweg vorkommen, ob etwa eines der drei von Berthele vorgeschlagenen Modelle in einem bestimmten Urteilstyp dominiert. 8.4.2.3 Metonymische Modelle Prestons (z. B. 2010 b) Beobachtung, dass sich Laien, wenn sie Dialekte auf Landkarten einzeichnen und sie dann charakterisieren (zur Technik der handdrawn maps vgl. Kap. 3.1, Fussnote 11), oftmals auf demographische statt linguistische Begebenheiten beziehen, weist auf einen für diese Untersuchung zentralen Prozess hin, der im Rahmen der Behandlung semiotischer Ideologieprozesse in Kapitel 3.2.4.4 behandelt worden ist. Es handelt sich dabei um die von Irvine/ Gal (2000, 2001: 33) beschriebene Ikonisierung (iconization), bei der linguistische Formen Abbildcharakter ihrer Sprecher zukommt. Riehls (2000 a: 141) Ausführung zu Sprache als Epiphänomen beschreibt den umgekehrten Prozess (in Kapitel 3.2.5.3 wurde festgehalten, dass metonymische Modelle meist bidirektional funktionieren): Gesprochene Sprache existiert nur über die Sprechenden (wie der Dampf einer Dampflok nur über die Lok existiert). Somit können Urteile über Sprachen eng mit Urteilen über die Sprechenden verknüpft sein oder sind sogar deckungsgleich mit diesen. In diesem Kontext halten Garrett/ Coupland/ Williams (2003: 12) fest, dass es bei Spracheinstellungsforschungen generell schwierig ist, Einstellungen gegenüber den Sprachen selbst von den Einstellungen gegenüber Gruppen und community-members, die die Sprache brauchen, zu unterscheiden: Language varieties and forms have indexical properties which allow them to ‚ stand for ‘ communities, metonymically. Language is often, threrefore, more than just ‚ a characteristic of ‘ or a ‚ quality of ‘ a community. [Eigene Hervorhebung, C. C.] Insbesondere die Urteilsbegründungen der interviewten Laien werden qualitativ auf Instanzen hin untersucht, wo Ikonisierungen vorliegen oder wo Sprache als Epiphänomen fungiert. Tophinke/ Ziegler (2006: 218) können im Rahmen einer diskursiven Spracheinstellungsstudie solche Prozesse in ihren Interviewdaten nachweisen. Sie schildern einen Fall, bei dem sich eine Einstellungsäusserung zuerst auf eine bestimmte Varietät bezieht. Im Laufe der Passage geht es aber dann vermehrt um die Sprecherinnen und Sprecher dieser Varietät: „ Es wird sogar explizit ein Zusammenhang von Dialekt und Lebensweise konstatiert. “ Ein weiteres metonymisches Modell, das in einer leicht abgewandelten Form untersucht wird, ist Raddens (2001) Kette der Sprachproduktion. Diese beschreibt, wie artikulatorische Vorgänge in verschiedenen Sprachen metonymisch für den Akt des Sprechens und für Sprache selbst verwendet werden. 8. Theoriegeleitete, resultatebasierte Forschungsfragen und Hypothesen 175 <?page no="192"?> In der vorliegenden Arbeit wird analog zu Raddens Modell eine metonymische Kette der Sprachrezeption entworfen. Es wird analysiert, ob es im Interviewkorpus Anzeichen dafür gibt, dass für Perzeptionen (gehörte Sprache respektive Sprache als akustisches Zeichen) eine ähnliche metonymische Kette existiert, die in der Laienmetasprache Verwendung findet: Tab. 10: Metonymische Kette von Hörorgan zu Sprache (in Anlehnung an Radden, 2001: 3). Allgemeine Metonymien (i) I NSTRUMENT FÜR A KTION (ii) A KTION FÜR R ESULTAT (iii) S PEZIFISCHES FÜR A LLGEMEINES Spezifische Metonymien H ÖRORGAN FÜR H ÖREN H ÖREN FÜR P ERZEPTION (= S PRACHE ALS AKUSTISCHES Z EICHEN ) P ERZEPTION (S PRACHE ALS AKUSTISCHES Z EICHEN ) FÜR S PRACHE Hörorgan > Hören > Perzeptionen (Sprache als akustisches Zeichen) > Sprache Natürlich verhält es sich beim Hören grundsätzlich etwas anders als beim Sprechen, da der Mensch nur über ein einziges Hörorgan (das Ohr) verfügt. Es wird im Rahmen dieser Studie daher insbesondere das erste Element der metonymischen Kette untersucht, also wie das Hörorgan Ohr in die Versprachlichung von Perzeptionserlebnissen eingebunden wird - das Interesse gilt der Metonymie I NSTRUMENT FÜR A KTION (= H ÖRORGAN FÜR H ÖREN ) 100 . 8.4.3 Plurizentrizitätsbewusstsein und Laientaxonomie in der Deutschschweiz Bei der Quantifizierung des Interviewmaterials wurde bei der Nennung von Standarddeutsch nicht weiter unterschieden, ob Informantinnen und Informanten spezifizierten, ob sie sich damit auf Schweizerhochdeutsch oder Hochdeutsch, wie es in Deutschland gesprochen wird, beziehen. In Hypothese 13 wurde die Frage aufgeworfen, ob ein Bewusstsein für die Plurizen- 100 Das Modell ist im sprachwissenschaftlichen Kontext produktiv und kann zum Beispiel in einem Aufsatz von Löffler (1995: 158) lokalisiert werden. Er schreibt: „ Es gibt für ein gebildetes Deutschschweizer Ohr nichts Schlimmeres als das Vermischen von Dialekt und Standard. [. . .] Auch die binnendeutsche Umgangssprache als eine mehr oder weniger beim Dialekt oder bei der Hochsprache angesiedelte Mischform ist dem Schweizer Ohr zuwider. “ Hier wird nicht nur mit dem metonymischen Modell HÖR- ORGAN FÜR HÖREN, sondern auch mit dem metaphorischen Modell SPRACHE ALS ROHMATERIAL gearbeitet. Dies ist ein weiterer Beleg dafür, dass die Metasprache von Expertinnen und Experten erstens nicht frei von ästhetischen Sprachurteilen ist und zweitens in ihrem semantischen System der Metasprache von Laien recht ähnlich sein kann. 176 II. Fragestellung und Empirie <?page no="193"?> trizität der deutschen Sprache (vgl. Scharloth, 2005) auch in der wertenden Metasprache von Laien zum Ausdruck kommt. In der qualitativen Analyse wird nicht nur ergründet, ob und in welchem Ausmass ein Plurizentrizitätsbewusstsein vorhanden ist, sondern auch, wie dieses terminologisch in der Laienmetasprache auftritt. Von Interesse ist also die konzeptuelle onomasiologische Variation in der Laientaxonomie standarddeutscher Varietäten 101 . Dass das von Scharloth mit negativen Einstellungen korrelierende Defizienzempfinden (ibid. 243) von den Gewährspersonen explizit thematisiert wird, ist eher unwahrscheinlich, wird aber im Rahmen der qualitativen Analyse ebenfalls geprüft. 8.4.4 Metakommentare zu Urteilsfähigkeit und Urteilspraxis Hier interessiert, wie das affektive und ästhetische Urteilen und Bewerten von Sprachen insgesamt in der Laienmetasprache einzuordnen ist. Werden die Fragen selbstverständlich beantwortet ohne metakommunikativ eingeordnet, hinterfragt oder ihrerseits bewertet zu werden, spräche das dafür, dass linguistische Werturteile für die Gewährspersonen eine natürliche Alltagspraxis darstellen. Werden die direkten Interviewfragen explizit hinterfragt und metakommunikativ kommentiert, spricht dies dafür, dass das Verbalisieren ästhetischer und affektiver Sprachurteile in der Interviewsituation den Gewährspersonen nicht so leicht fällt. Die Analyse von Verzögerungsstrategien beim Antworten (etwa durch die Wiederholung der Interviewfrage) lässt darüber hinaus Rückschlüsse auf so genannte nonattitudes zu, welche von Ostrom et al. (1994: 28) folgendermassen definiert werden: [. . .] opinions that people express that really do not reflect a pre-existing view they had on the issue. Rather, they concocted a response on the spot, based on little or no information about the issue. Some people who have no opinion on an issue tell interviewers that explicitly, but other people pretend to have an opinion instead. Bei der Analyse von Metakommentaren geht es auch darum, Hypothese 18 inhaltlich weiter zu entwickeln bezüglich der Frage, wie Menschen mit nicht so umfassenden Sprachkenntnissen mit der Interviewsituation umgehen: Zweifeln sie ihre Urteilsfähigkeit explizit und offen an? Relativieren sie ihre Urteile stärker? Im Rahmen dieser qualitativen Frage wird ferner die Interviewsequenz 13 (Geschmackssequenz) behandelt, die vorgehend nicht quantifiziert werden konnte, da sie als einzige Frage im Interviewleitfaden nicht systematisch jeder 101 Geeraerts definiert Lectal Variation of Meaning and Categorization als eines der vier zentralen Forschungsgebiete der Kognitiven Soziolinguistik und konzeptuelle onomasiologische Variation als Unterthema in diesem Gebiet (aus dem Plenarvortrag: „ Cognitive Sociolinguistics: Domains and Directions “ , 34th International LAUD Symposium, Cognitive Sociolinguistics, Landau 15.-18. März 2010). 8. Theoriegeleitete, resultatebasierte Forschungsfragen und Hypothesen 177 <?page no="194"?> Gewährsperson gestellt wurde (für eine Ausführung dazu vgl. Kap. 9.3.2, Fussnote 109). Nachdem die Gewährspersonen ihre Lieblingssprachen, die für sie schönsten und hässlichsten Sprachen genannt haben und die Urteile begründet haben, werden sie gefragt, ob es sich dabei nicht einfach um eine Frage des persönlichen Geschmacks handelt (einige Interviewpartnerinnen und -partner beziehen diese Frage auf die unmittelbar vorangegangene Auskunft über hässliche Sprachen, andere auf ihre Urteile insgesamt). Eine induktive Kodierung dieser Passagen gibt Auskunft darüber, wie Laien linguistische Werturteile einstufen: Als individuelle, subjektive Beurteilungen oder als Beurteilungen, die mit anderen geteilt werden und damit objektiveren Charakter haben. Falls es sich um geteilte Urteile handelt, wird in Erfahrung gebracht, auf welche Gruppen als Bezugsgrössen referiert wird (also mit wem die Gewährspersonen ihre Beurteilungen zu teilen glauben), falls Informationen dazu vorliegen. 8.4.5 Laienwahrnehmung von Urteilsentstehung, -wandel und -stabilität Wann Einstellungen entstehen, wie stabil sie sind und welchen Prozessen ihr Wandel unterworfen ist, ist ein immer wiederkehrendes Thema in der Einstellungsforschung (vgl. Wegener/ Carlston: 2005). Die diskursive Einstellungsforschung interessiert sich fernerhin spezifisch für die Variabilität in evaluativen Äusserungen (vgl. Potter/ Wetherell, 1987 sowie Kap. 3.2.1.4). Auch im Zusammenhang mit affektiven und ästhetischen Sprachurteilen interessiert natürlich, wann und unter welchen Umständen diese entstehen, wie stabil sie sind und unter welchen Umständen sie sich ändern und überdies, inwiefern Einstellungsäusserungen innerhalb eines Interviews konsistent und kohärent sind. Die hier gewählte Methode lässt Rückschlüsse auf die Selbstwahrnehmung von Laien bezüglich Spracheinstellungsentstehung, -wandel und -stabilität zu. In der qualitativen Analyse werden alle Instanzen gesucht, wo Laien ihre Urteile temporal in ihrer Biographie verorten (Entstehungs- und Änderungszeitpunkt) oder Aussagen über die Stabilität oder Instabilität ihrer Urteile treffen. Ziel hierbei ist die Erfassung bewusster Prozesse in der Bildung, Beibehaltung und Veränderung von affektiven und ästhetischen Sprachurteilen sowie Beobachtungen zu Kohärenz und Konsistenz evaluativer metasprachlicher Äusserungen anzustellen. 8.5 Qualitative Vertiefungsfragen Die qualitativen Vertiefungsfragen leiten sich aus den Resultaten aus Kapitel 11 und 12 ab. Die Platzierung der Fragen in diesem Kapitel entspricht also nicht der Logik der Forschungschronologie (vgl. zum Forschungsdesign, 178 II. Fragestellung und Empirie <?page no="195"?> Kap. 6.2), sondern der inhaltlichen Logik dieses Kapitels, in dem alle Forschungsfragen zusammengeführt werden. 8.5.1 Antwortverhalten beim negativen ästhetischen Urteil In Kapitel 11.2 zur Urteilsbereitschaft und Urteilsproduktivität kann aufgezeigt werden, dass die Interviewpartnerinnen und -partner am häufigsten bei der Frage nach hässlichen Sprachen eine Antwort schuldig bleiben. Die Gewährspersonen schweigen aber nicht einfach, wenn sie diese Frage nicht beantworten wollen oder können, sie verwenden unterschiedliche Strategien der Antwortvermeidung. Manchmal erklären sie, weshalb sie keine konkrete Antwort geben können oder sie denken laut darüber nach, warum ihnen das Antworten schwerfällt. Das Antwortverhalten beim negativen ästhetischen Urteil wird einer qualitativen Analyse unterzogen, um zu verbindlicheren Interpretationen zu den Gründen für das Ausbleiben von Antworten zu gelangen. Es werden alle Antwortsequenzen untersucht, wo keine hässliche Sprache oder Varietät genannt wird, die Gewährspersonen sich aber auf irgendeine Art und Weise äussern. 8.5.2 Hochdeutsch in der Deutschschweiz Hochdeutsch kommt in der Laienmetasprache von Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern insgesamt selten vor. Weder wird es metasprachlich durch positive Urteile in seiner Position in der diglossischen Situation gestärkt, noch wird explizit negativ über die Ästhetik der Standardsprache geurteilt. Hochdeutsch glänzt durch Abwesenheit in der Laienmetasprache, wobei allerdings gilt: Je älter die Gewährspersonen, desto eher mögen sie Hochdeutsch. In der qualitativen Analyse wird eine Annäherung an die Frage versucht, ob es sich dabei um einen Alterseffekt (der sich in den kommenden Generationen wiederholen wird) oder einen Kohorteneffekt (der nur diese Generation betrifft) handelt. Dafür werden die Ausführungen hinsichtlich affektiver Beziehung zu Hochdeutsch einer detaillierten Analyse unterzogen. Geprüft wird, ob die ältere Generation etwa Erlebnisse schildert (zum Beispiel die Sozialisation mit Hochdeutsch betreffend), welche die jüngeren Generationen nicht mehr so erleben oder ob die Affinität zu Hochdeutsch allgemeineren Reifeprozessen zugeschrieben werden kann, die die jüngeren Generationen wahrscheinlich ebenso durchlaufen werden. Im Zentrum steht die Kategorie Vererbung (vgl. Kap. 4.4.1), wo es um die Frage geht, inwiefern Schweizerinnen und Schweizer das Gefühl haben, Hochdeutsch vererbt bekommen zu haben (als L1) oder aber inwiefern sie eher denken, dass sie Hochdeutsch (institutionell) gelernt haben. Letztlich geht es darum zu prüfen, ob Löffler (vgl. Näßl, 2003: 24) recht hat, wenn er behauptet, dass Hochdeutsch aus der Sicht von Schweizerinnen und Schweizern in Deutsch- 8. Theoriegeleitete, resultatebasierte Forschungsfragen und Hypothesen 179 <?page no="196"?> land hergestellt wird und die Hochdeutschverwendung in der Deutschschweiz eher als Partizipation an einer importierten Form verstanden wird. 8.5.3 Englisch in der Generation der 40bis 50-Jährigen Bezüglich Hypothese 2 (Alter und die Beurteilung von Englisch) kann festgestellt werden, dass Englisch am seltensten von Personen im Alter zwischen 40 und 50 Jahren als Lieblingssprache genannt wird. Die betreffende Generation gibt sowohl an, über Englischkenntnisse zu verfügen, als auch Aufenthalte in englischsprachigen Gebieten absolviert zu haben. Diesbezüglich ist sie also durchaus vergleichbar mit der jüngeren Generation der 20bis 30-Jährigen, die eine grössere Affinität zu Englisch aufweist. Im Rahmen der Behandlung von Hypothese 2 sind Erklärungsansätze für dieses Phänomen angeführt worden, zum Beispiel dass Vertreterinnen und Vertreter dieser Generation Englisch teilweise erst zu einem biographisch späteren Zeitpunkt gelernt haben als die 20bis 30-Jährigen und zwar als Reaktion auf die Anforderungen eines sich verändernden, globalisierten Arbeitsmarktes. Spekuliert wurde auch darüber, ob die anglophile jüngere Generation eine verunsichernde Wirkung auf die 40bis 50-Jährigen hat. Diese Erklärungsansätze werden anhand von Fallstudien in der betreffenden Generation überprüft und wenn nötig ergänzt und erweitert. 8.5.4 Französisch vs. Englisch in der Deutschschweiz In der theoretischen Herleitung der Hypothesen 11 und 12 (vgl. Kap. 8.3.6) wurde die Problematik rund um die gestärkte Position von Englisch in der Deutschschweiz (u. a. als Fremdsprache in der Schule) und die in gleichem Zuge immer schwächer werdende Position der Landessprache Französisch kurz umrissen. Die Resultate zeigen jedoch, dass Englisch zwar in der Deutschschweiz hohes Ansehen geniesst, dies für Französisch aber nicht minder der Fall ist. Es erfolgt hier eine Analyse aller Fälle, die eine der Sprachen als schöne Sprache oder als Lieblingssprache angeben und die jeweils andere als hässliche Sprache. Es wird erwartet, dass diese Fälle aufschlussreich sind, um die Spannung zwischen der Landessprache und der Weltsprache in der multilingualen Schweiz zu verstehen, da wo sie denn von einzelnen als solche empfunden wird. Eine weitere Analyse erfolgt für all jene Fälle, bei denen beide Sprachen als Lieblingssprachen fungieren. Hier stellt sich die Frage, ob den beiden Sprachen unterschiedliche Funktionen innerhalb der affektiven Beziehung zugesprochen werden. 180 II. Fragestellung und Empirie <?page no="197"?> 8.5.5 Bezugnahme auf den aktuellen Unterricht (Schülerinnen und Schüler) Die Urteile von Schülerinnen und Schülern über aktuell in der Schule gelernte Sprachen sind nicht einheitlich, sondern divergieren zwischen unterschiedlichen Sprachen. Im Falle der Deutschschweiz beispielsweise besteht praktisch keine affektive Beziehung zu Französisch, während immerhin die Hälfte der Schülerinnen und Schüler eine affektive Beziehung zu Englisch hat. Die qualitative Vertiefungsfrage befasst sich mit der Rolle der Schule und des aktuellen Unterrichts bei den Beurteilungen der Schülerinnen und Schülern und zwar dann, wenn sie von diesen explizit erwähnt wird. 8.6 Induktive Kategorien und Fragestellungen Beim Kodieren des Interviewmaterials traten Kategorien in Erscheinung, die zuvor weder in den qualitativen ex-ante Fragen noch in den qualitativen Vertiefungsfragen Eingang gefunden hatten. Folgende drei Fragen haben sich aus den so auftretenden Kategorien ergeben und werden in der Analyse berücksichtigt. 8.6.1 Vermutete (projektive) Heterostereotype Die Gewährspersonen thematisieren in den Interviews hin und wieder, wie ihr eigener Dialekt oder ihre eigene Sprache (je nach Granularitätsstufe, auf der sie sich mit ihrer Argumentation befinden) mutmasslich von anderen Hörerinnen und Hörern (nicht von ihnen selbst) wahrgenommen wird. Bei diesen metakommunikativen Äusserungen handelt es sich um vermutete oder projektive Heterostereotype (vgl. Ammon: 1995 sowie Kap. 3.2.2.2). Diese vermuteten Fremdbilder zur eigenen Sprache werden im Datensatz gesammelt und miteinander verglichen. 8.6.2 Interlinguistische Vergleiche Bei der Quantifizierung des Interviewmaterials wurden interlinguistische Vergleiche ausschliesslich in den Begründungssequenzen berücksichtigt. Interlinguistische Vergleiche werden aber nicht nur in den Begründungssequenzen angestellt, sondern können im gesamten Interviewmaterial lokalisiert werden. Deswegen werden alle sprachvergleichenden metakommunikativen Äusserungen kodiert und verglichen. Diese Analyse prüft Potters (1998: 246) Aussage, dass die Produktion von Evaluationen im Diskurs nach den Regeln der Rhetorik funktioniert: „ [. . .] an evaluation for something is often simultaneously the expression of an evaluation against something else. “ Interlinguistische Vergleiche fallen m. E. nicht zwingend deutlich zu Gunsten 8. Theoriegeleitete, resultatebasierte Forschungsfragen und Hypothesen 181 <?page no="198"?> der einen und zu Ungunsten der anderen Sprache aus. Die Vergleiche können auch in Form von Komparativen vollzogen werden: „ Die eine Sprache ist schön, die andere ist aber noch schöner. “ 8.6.3 Intralinguistische Vergleiche und Urteile über lektale Varietäten Ähnlich wie die interlinguistischen Vergleiche werden auch die intralinguistischen Vergleiche im Rahmen dieser Fragestellung im gesamten Datenmaterial lokalisiert und kodiert (und nicht nur in den Begründungssequenzen). Bei den intralinguistischen Vergleichen handelt es sich für gewöhnlich um zwei Varietäten einer Sprache, die einander gegenübergestellt werden (im Sinne von: „ Amerikanisches Englisch ist schöner als Britisches Englisch “ ). Die Ähnlichkeitshypothese der Sprachästhetikforschung (vgl. Kap. 5.1) thematisiert solche intralinguistischen Vergleiche und geht davon aus, dass diejenigen Varietäten positiver beurteilt werden, die der Standardsprache ähnlicher sind. Die Analyse widmet sich insbesondere der Frage, ob die Standardnähe tatsächlich eine Rolle spielt bei der positiveren Beurteilung bestimmter Varietäten. Weiter werden Sequenzen kodiert, wo lektale Varietäten unterhalb der Granularitätsebene Varietät thematisiert werden. Kristiansen (2008: 47) definiert den Begriff lectal variety als „ [. . .] any given speech style, including those categories traditionally labelled as standard varieties, regional dialects, sociolects, basilects, acrolects, registers and styles. “ Bei dieser Frage interessieren also Urteile und Aussagen über die Sprechstile einzelner Personen oder Gruppen, über das Sprechen mit Akzent oder über Ethnolekte. Diese Granularitätsebene wurde bei der Quantifizierung nicht berücksichtigt und wird qualitativ im gesamten Interviewmaterial analysiert. 8.7 Zusammenfassung Die Forschungsfragen und Hypothesen werden im Folgenden in Form eines Fragekatalogs aufgelistet: Hypothesen der Sprachästhetikforschung ● Wann immer die Resultate Rückschlüsse auf die sechs Hypothesen der Sprachästhetikforschung zulassen, werden diese in die Überlegungen einbezogen (vgl. Kap. 5.1 für eine Übersicht). Genannte Sprachen und Begründungen: Häufigkeiten und Produktivität ● Wie ist das laienlinguistische Spektrum beschaffen (global sowie nach Urteilstypen)? Welche Sprachbezeichnungen kommen hoch frequent vor? 182 II. Fragestellung und Empirie <?page no="199"?> ● Wie spezifisch sind die Sprachbezeichnungen, mit denen die Gewährspersonen operieren (vgl. Sprachbewusstseinstyp Spezifität in Kap. 2.2.2). ● Findet eine Organisation auf der vertikalen Kategorisierungsachse statt (vgl. zur Prototypentheorie Kap. 3.2.2.5)? Wird das dialektale Wissen auf der Ebene der Kantonsmundarten organisiert (Basisebene) oder wird die Bezeichnung Schweizerdeutsch ebenso verwendet (übergeordnete Ebene)? ● Wie gross ist die Urteilsbereitschaft und Urteilsproduktivität in den unterschiedlichen Urteilstypen? ● Welche globalen Begründungsmuster finden sich in den drei Urteilstypen? Unterscheiden sich diese signifikant nach Urteilstyp? ● Welche Merkmale sind bei der ästhetischen und affektiven Wahrnehmung und Konzeptualisierung salient? Wie spezifisch sind Begründungen für linguistische Werturteile? ● Gibt es sprachspezifische Unterschiede bei den Begründungsmustern oder funktioniert ästhetische und affektive Sprachwahrnehmung nach universellen Prinzipien? ● Wie gross ist die Begründungsbereitschaft und die Begründungsproduktivität in den unterschiedlichen Urteilstypen? Hypothesen Alter: 1. Ältere Sprecherinnen und Sprecher beurteilen ihre Muttersprache häufiger positiv (affektiv und ästhetisch) als jüngere Sprecherinnern und Sprecher. 2. Jüngere Sprecherinnen und Sprecher beurteilen globale Fremdsprachen mit bedeutendem instrumentellem Wert (Englisch) positiver als ältere Sprecherinnen und Sprecher. 3. Jüngere Gewährspersonen sind urteils- und begründungsfreudiger als Gewährspersonen älterer Generationen. 4. Unterschiedliche Altersgruppen begründen Urteile in den drei Urteilstypen unterschiedlich. Geschlecht: 5. Frauen sprechen häufiger positiv über die Standardsprache (Hochdeutsch, Französisch in Frankreich) als Männer. 6. Frauen haben eher affektive Beziehungen zu Fremdsprachen, während Männer eher eine affektive Beziehung zur Sprache der Sprachgemeinschaft, in der sie leben, haben. 7. Frauen sprechen in den Interviews rein quantitativ über mehr Sprachen als Männer. 8. Frauen und Männer begründen linguistische Werturteile unterschiedlich. 8. Theoriegeleitete, resultatebasierte Forschungsfragen und Hypothesen 183 <?page no="200"?> Bildung: 9. Je höher die Bildung, desto zurückhaltender werden Menschen mit Urteilen über die Hässlichkeit und Schönheit von Sprachen, während affektive Urteile über alle Bildungsschichten verbreitet sind. 10. Unterschiedliche Bildungsgruppen begründen linguistische Werturteile unterschiedlich. Sprachgebiet: 11. Schweizerdeutsch wird in der Romandie ästhetisch und affektiv negativ beurteilt. 11 a: Die Begründungen für die negative ästhetische Beurteilung von Schweizerdeutsch sind einerseits ästhetischer Art, andererseits unterliegen sie negativen sozialen Konnotationen. 12. Französisch wird in der Deutschschweiz ästhetisch und affektiv positiv beurteilt. 13. Hochdeutsch wird in der Deutschschweiz ästhetisch und affektiv negativ beurteilt. 13 a: Die Begründung für die negative ästhetische Beurteilung von Hochdeutsch sind nicht ästhetischer Art. Sprachbiographie/ Kontaktsituation: 14. Die L1 wird häufiger als andere Sprachen als Lieblingssprache genannt. 15. Unterschiedliche L1 gehen einher mit unterschiedlichen ästhetischen/ affektiven Präferenzen. 16. Schülerinnen und Schüler neigen zu negativen ästhetischen und affektiven Urteilen gegenüber Sprachen, die sie aktuell lernen - dies gilt allerdings nicht für Englisch, sondern in der Deutschschweiz für Französisch und in der französischen Schweiz für Deutsch. 17. Sprachen, die in natürlichem Kontext erworben werden, werden eher positiv (affektiv) beurteilt als Sprachen, die in schulischem/ institutionellem Kontext erworben werden. 18. Die Anzahl der Sprachen, die jemand spricht, hat Einfluss auf Sprachurteile. Sowohl die Anzahl genannter Sprachen (ästhetisch schön, affektiv aber NICHT ästhetisch hässlich) als auch die Begründungen werden umfangreicher, je mehr Sprachen jemand spricht. 19. Je mehr Sprachen jemand spricht, desto seltener werden Urteile über die Hässlichkeit von Sprachen. 20. Freiwillig gewählte geographische Nähe (Aufenthalt etc.) führt zu positiven ästhetischen und affektiven Urteilen. 184 II. Fragestellung und Empirie <?page no="201"?> Qualitative ex ante Forschungsfragen Identität: ● Inwiefern werden in der evaluativen Laienmetasprache lokale, nationale sowie globale Identitäten und Alteritäten konstruiert? ● In welchen Urteilstypen und inwiefern kommen die Beziehungsarten Expertise und Vererbung vor, die Sprachidentität modellieren? ● Finden sich die beiden krisenhaften Identitätskonstruktionen linguistische Unsicherheit sowie linguistischer Selbsthass im Interviewmaterial? ● In welchen Urteilstypen und inwiefern werden aktive und passive linguistische Identitäten konstruiert? Kognitive Strukturen: kulturelle, metaphorische und metonymische Modelle: ● Inwiefern können das rationalistische und das romantische kulturelle Modell (bezüglich Englisch und Multilingualismus) im Datensatz lokalisiert werden? ● Inwiefern kommen folgende drei metaphorischen Modelle in der Laienmetasprache vor? I) S PRACHE ALS EINE PHYSIKALISCHE S TRUKTUR ( EIN G EBÄUDE , EIN S YSTEM ) II) S PRACHE ALS R OHMATERIAL , ALS NATÜRLICHE R ESSOURCE III) S PRACHE ALS T ERRITORIUM ● Inwiefern operieren die Gewährspersonen mit den beiden metonymischen Prozessen Ikonisierung und Sprache als Epiphänomen? ● Kann die metonymische Kette von Hörorgan zu Sprache, insbesondere die Metonymie H ÖRORGAN FÜR H ÖREN (I NSTRUMENT FÜR A KTION ) in der Laienmetasprache lokalisiert werden? Plurizentrizitätsbewusstsein und Laientaxonomie: ● Kommt das Bewusstsein für die Plurizentrizität der deutschen Sprache in der Laienmetasprache zum Ausdruck? Metakommentare zu Urteilsfähigkeit und Urteilspraxis: ● Inwiefern werden affektive und ästhetische Urteile von den Gewährspersonen metakommunikativ behandelt? ● Wie gehen Menschen mit weniger ausgeprägten Sprachkenntnissen mit der Interviewsituation um? ● Handelt es sich beim linguistischen Werturteil gemäss den Gewährspersonen um eine Geschmacksache? Laienwahrnehmung von Urteilsentstehung, -wandel und -stabilität: ● Wann und unter welchen Umständen entstehen gemäss den Gewährspersonen ästhetische und affektive Sprachurteile und wie verändern sie sich? 8. Theoriegeleitete, resultatebasierte Forschungsfragen und Hypothesen 185 <?page no="202"?> ● Wie kohärent und konsistent sind diskursive Einstellungen innerhalb eines Interviews? Qualitative Vertiefungsfragen Antwortverhalten beim negativen ästhetischen Urteil: ● Wie kommentieren Gewährspersonen die Tatsache, dass sie keine hässliche Sprache nennen wollen? Hochdeutsch in der Deutschschweiz: ● Je älter die Gewährspersonen, desto eher mögen sie Hochdeutsch: Handelt es sich bei diesem Resultat um einen Alterseffekt oder um einen Kohorteneffekt? Englisch in der Generation der 40bis 50-Jährigen: ● Gibt es Erklärungen dafür, dass Englisch in der Generation der 40bis 50- Jährigen am seltensten als Lieblingssprache genannt wird, obwohl sich diese Generation weder in Kompetenz noch absolvierten Sprachaufenthalten wesentlich von den anderen Generationen unterscheidet? Französisch vs. Englisch in der Deutschschweiz: ● Wie wird argumentiert, wenn Englisch und Französisch bei der gleichen Gewährsperson jeweils in einem positiven und einem negativen Urteilstyp vorkommen? Kann anhand solcher Fälle etwas über die Spannung zwischen der Landessprache und der Weltsprache in Erfahrung gebracht werden? ● Wie wird argumentiert, wenn sowohl Englisch als auch Französisch von der gleichen Gewährsperson als Lieblingssprachen genannt werden? Übernehmen die beiden Sprachen innerhalb der affektiven Beziehung unterschiedliche Funktionen? Bezugnahme auf den aktuellen Unterricht: ● Inwiefern wird die Rolle der Schule und des erlebten Fremdsprachenunterrichts von Schülerinnen und Schülern explizit erwähnt? Induktive Kategorien und Fragestellungen Vermutete (projektive) Heterostereotype: ● Was denken Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer, wie ihre Sprache von anderen Personen wahrgenommen wird? Interlinguistische Vergleiche: ● Wird in der evaluativen Metasprache mit Sprachvergleichen operiert? Wie sind diese ausgestaltet? 186 II. Fragestellung und Empirie <?page no="203"?> Intralinguistische Vergleiche und Urteile über lektale Varietäten: ● Wird in der evaluativen Metasprache mit intralinguistischen Vergleichen operiert (Vergleiche zwischen den Varietäten einer Sprache)? Wie sind diese ausgestaltet? Führt Standardnähe zu positiveren Urteilen? ● Inwiefern werden lektale Varietäten unterhalb der Granularitätsebene Varietät in den Interviews thematisiert (Sprechen mit Akzent, Ethnolekte etc.)? 8. Theoriegeleitete, resultatebasierte Forschungsfragen und Hypothesen 187 <?page no="204"?> 9. Datenerhebungsmethode, Stichprobe und untersuchte Variablen Kapitel 9 widmet sich einerseits der Datenerhebungsmethode, die zur Erforschung evaluativer Laienmetasprache zum Einsatz kommt (vgl. Kap. 9.1), andererseits wird die Stichprobenziehung und -beschaffenheit erläutert (vgl. Kap. 9.2). Die untersuchten Variablen werden anschliessend eingeführt und im Interview lokalisiert (vgl. Kap. 9.3). 9.1 Teilstandardisiertes, semi-narratives Interview In Kapitel 9.1 wird das Interview zunächst allgemein als Datenerhebungs- und Elizitierungsinstrument eingeführt (vgl. Kap. 9.1.1). Anschliessend werden der Grad der Standardisierung, den Interviews aufweisen können (vgl. Kap. 9.1.2), sowie spezifische Problemfelder dieser Datenerhebungsmethode (vgl. Kap. 9.1.3) gezeigt. Bei der Datenerhebung kam ein teilstandardisiertes semi-narratives Interview zum Einsatz (die beiden Begriffe werden im Folgenden noch detailliert erläutert). Alle Interviews wurden im Rahmen des Nationalfondsprojekts La belle et la bête: Jugements esthétiques sur les langues en Suisse alémanique et romande der Universität Lausanne durchgeführt (vgl. Schwarz/ Shahidi/ Cuonz, 2006) 102 . Die Daten aus der Romandie wurden von Frau Dr. Minoo Shahidi erhoben und quantifiziert, die Daten aus der Deutschschweiz von der Verfasserin, C. C. Es handelt sich dabei um 140 Interviews mit Personen aus der französischen Schweiz und 140 Interviews mit Personen aus der Deutschschweiz. Der Erhebungszeitraum erstreckte sich über 14 Monate (von Januar 2005 bis März 2006), die Pilotphase wurde im November 2004 durchgeführt. 9.1.1 Interview als Erhebungs- und Elizitierungsinstrument Interviews kommen seit Beginn der soziolinguistischen Forschung als Datenerhebungsinstrument zum Einsatz. Dabei können unterschiedliche sich teilweise komplementierende aber auch sich gegenseitig ausschliessende Ziele verfolgt werden. Labov (1981: 8) nennt auf einer Übersichtsliste der Ziele des soziolinguistischen Interviews unter anderem das Aufzeichnen offener (overt) Einstellungen gegenüber Sprachen, linguistischen Features und lin- 102 Unter der Leitung von Prof. Alexander Schwarz, unter Mitarbeit von Frau Dr. Minoo Shahidi und Christina Cuonz, Universität Lausanne, Oktober 2004 bis Oktober 2007 (SNF Projekt 100 012 - 10 576/ 1). <?page no="205"?> guistischen Stereotypen. Die vorliegende Studie ist in diesem Zielbereich anzusiedeln. Auch in der soziolinguistischen Identitätsforschung sowie in der Identitätsforschung im Bereich des Zweit- und Zusatzsprachenlernens kommen Interviews häufig zum Einsatz (vgl. z. B. Riehl, 2000 b; Treichel, 2004). Die Wahl des Messinstruments erfolgt immer unter Berücksichtigung der exakten Forschungsfragen und -ziele sowie nach Überlegungen zu den Implikationen für Datenanalyse und -interpretation sowie der angestrebten Reichweite der Resultate. Aus folgenden Gründen wurde für die vorliegende Untersuchung das teilstandardisierte, semi-narrative Interview als Erhebungs- und Elizitierungsinstrument gewählt: ● Ästhetische und affektive Sprachurteile als Phänomen der Laienmetasprache werden einerseits quantitativ (auf spezifische Effekte sozialer Variablen hin) als auch qualitativ (z. B. auf semantische und pragmatische Aspekte hin) analysiert. Gemäss Preston (1998) müssen Metasprache-1- Instanzen vorliegen, damit Metasprache 3 (Ideologien, beliefs) überhaupt untersucht werden kann (vgl. dazu Kap. 2.2.1). Im Interview werden Daten des Typs Metasprache 1 elizitiert. ● Das Interesse gilt dem Wissensbestand Konzeptualisierung (vgl. Kap. 3.1): die Gewährspersonen greifen auf ihre inneren Ressourcen und mentalen Konzepte zurück und explizieren diese bewusst. ● Dass linguistische, nationale und soziale Identitäten nicht nur in linguistischen Werturteilen reflektiert werden, sondern dass sie in der metalinguistischen Sprachpraxis von Laien auch aktiv konstruiert werden, ist eine übergeordnete Hypothese dieser Arbeit (vgl. Kap. 5.1.1). Daher muss eine Methode gewählt werden, die diese Sprachpraxis zu erfassen und fixieren vermag. 9.1.2 Standardisierungskontinuum Während standardisierte Methoden eher dem quantitativen Paradigma zugeordnet werden, werden nichtstandardisierte Methoden mit dem qualitativen Paradigma assoziiert. Interviews, die ausschliesslich der Erhebung quantitativ analysierbarer Daten dienen, operieren meist mit einem Fragebogen, der von den Interviewenden während des Interviews ausgefüllt wird. Die Fragen werden in einer bestimmten Reihenfolge gestellt und die interviewende Person ist dazu angehalten, sie inhaltlich immer identisch zu formulieren. Nicht nur die Abfolge und der Inhalt der Fragen sind standardisiert, die Interviewsituation als ganze sollte einen hohen Grad an Standardisierung aufweisen. Oftmals liegt dem standardisierten Interview ein Katalog geschlossener Fragen zu Grunde: Die Interviewpartnerinnen und -partner werden mit Antwortoptionen konfrontiert, aus denen sie wählen können (Seipel/ Rieker, 2003: 140). Aus den Antwortoptionen ergeben sich später die Analysekategorien für die Datenauswertung (die Kategorien 9. Datenerhebungsmethode, Stichprobe und untersuchte Variablen 189 <?page no="206"?> werden in Zahlen ausgedrückt, also quantifiziert). Bei der nichtstandardisierten Befragung ist das Ziel im Gegensatz dazu nicht primär die quantitative Analyse der Interviewantworten, vielmehr gilt das Forschungsinteresse der Frage, wie die Befragten mit einem Thema im Gespräch umgehen und es strukturieren, kurz: Wie sie über ein Thema sprechen. Das narrative Interview (Schütze, 1983) dürfte der typischste Vertreter nichtstandardisierter mündlicher Befragungsmethoden sein; es wurde in der Vergangenheit insbesondere in der biographischen Forschung eingesetzt. Zu Beginn erfolgt in der Regel eine offene Erzählaufforderung. Das erklärte Ziel ist, dass die Gewährspersonen ausführlich von sich selbst und von selbst Erlebtem berichten. In einer Nachfragesequenz im Anschluss werden offene Fragen und Unklarheiten seitens der Forschenden geklärt (vgl. Seipel/ Rieker, 2003: 153 ff.). Die so erhobenen Daten werden transkribiert und im Anschluss mittels unterschiedlicher qualitativer Methoden analysiert, beispielsweise können sie einer strukturierenden Inhaltsanalyse zugeführt werden (vgl. Mayring, 2008) oder gemäss der Grounded Theory offen kodiert werden (Strauss, 1987). Es bei der Unterscheidung zwischen standardisiertem und nichtstandardisiertem Interview zu belassen, vereinfacht die Forschungsrealität zu stark. Briggs (2008: 1052) greift m. E. zu kurz, wenn er für das soziolinguistische Interview lediglich zwei Typen unterscheidet: erstens das formelle oder strukturierte Interview und zweitens das informelle oder unstrukturierte Interview. Die Unterscheidung zwischen standardisierten und nichtstandardisierten Methoden der Datenerhebung ist nur so lange sinnvoll, wie die Konzepte nicht als sich diametral entgegengesetzt und einander gegenseitig ausschliessend verstanden werden, wie bei Briggs vermutet werden könnte. Die Aussparung bei Briggs ist erstaunlich, da in der integrativen Sozialforschung, die die Kombination aus quantitativen und qualitativen Methoden propagiert, gerade dieser Aspekt zentral ist (Seipel/ Rieker: 168): Bei genauer Betrachtung bezeichnen diese Dimensionen [Offenheit und Standardisierung, eigene Anmerkung, C. C.] allerdings eher ein Kontinuum als sich wechselseitig ausschliessende, klar voneinander abgrenzbare Alternativen. Die einzelnen Methoden sind daher nicht entweder offen oder standardisiert, sondern sie sind in unterschiedlicher Ausprägung offen und standardisiert. Offenheit benötigen diese Verfahren, um überhaupt innovative Aspekte zutage fördern zu können, der Standardisierung bedürfen sie, um auf diesem Wege des Vergleichs einzelfallübergreifende Relevanz entwickeln zu können; beides ist für die Datenerhebung der empirischen Sozialforschung notwendig. Die vorliegende Arbeit verwendet, wie in Kapitel 6 dargelegt wurde, ein Forschungsdesign, das qualitative und quantitative Methoden verbindet. Die gewählte Interviewform muss also sowohl quantifizierbare Daten für die statistische Analyse generieren als auch Daten, die einer qualitativen Analyse unterzogen werden können (narrative Sequenzen). Das gewählte Inter- 190 II. Fragestellung und Empirie <?page no="207"?> viewformat ist deswegen teilstandardisiert und semi-narrativ; die beiden Begriffe werden im Folgenden operationalisiert: 1. Teilstandardisiert: Standardisiert ist das verwendete Interview bezüglich der Einhaltung der Reihenfolge der Fragen bei allen durchgeführten Interviews sowie der im Allgemeinen gleich bleibenden Formulierung der Fragen. Es entspricht jedoch gleichzeitig nicht dem typischen standardisierten Interview, da offene Fragen gestellt werden. Die Gewährspersonen wählen nicht aus einer Palette von Antwortmöglichkeiten aus, sondern generieren die Antworten alleine aus ihren inneren Ressourcen. Ebenso weist die Interviewsituation selbst keinen standardisierten Charakter auf. Die Interviews wurden teilweise face-to-face und teilweise am Telefon geführt 103 . Die Entscheidung, die Interviewsituation nicht zu standardisieren, ist auf praktische Überlegungen zur Durchführbarkeit des Forschungsprojekts zurückzuführen. Das Interview weist also Charakteristika standardisierter und nicht-standardisierter Erhebungsmethoden auf und ist demgemäss teilstandardisiert. 2. Semi-narrativ: Die Fragen wurden so konzipiert, dass sich bei den Gewährspersonen eine Erzählhaltung konstituieren konnte (vgl. Werlen, 1992: 18 ff.), jedoch nicht zwingend musste. Die Interviews haben somit semi-narrativen Charakter, dies bedeutet, dass innerhalb eines Interviews bestimmte Fragen narrative Passagen generieren während andere Kurzantworten evozieren (dies kann bei unterschiedlichen Gewährspersonen unterschiedliche Fragen betreffen. Nicht alle Befragten fühlen sich von allen Fragen in gleichem Masse angesprochen). Semi-narrativ bedeutet aber auch, dass ganze Interviews eher narrativen Charakter haben können, während andere mehrheitlich aus Kurzantworten bestehen (somit ist der erhobene Datensatz in seiner Gesamtheit als semi-narrativ einzustufen). Die 60 Interviews mit Deutschschweizer Gewährspersonen, die in die qualitative Analyse einfliessen, weisen einen höheren Anteil narrativer Sequenzen auf (vgl. Kap. 9.2.4 zur Auswahl der Substichprobe für die qualitative Analyse). 103 Zur Methode der Stichprobenziehung vgl. Kap. 9.2.1, zur genauen Beschaffenheit der Stichprobe vgl. Kap. 9.2.2. Shuy (2002) nennt als Vorteile des Telefoninterviews die erhöhte Wirtschaftlichkeit (kostengünstige Erreichbarkeit der Interviewpartner und -partnerinnen) und die Reduktion von Interviewer-Effekten. Als Nachteile werden ein begrenztes Spektrum kommunikativer Möglichkeiten genannt (beispielsweise nonverbale Ermutigungen zum Weitersprechen) und die limitierte Einsetzbarkeit der Interviewform mit hörbeeinträchtigten Personen (z. B. ältere Personen). Es mangelt jedoch bisher an Studien, welche den Einfluss der gewählten Interviewform auf die Datenlage gezielt untersuchen. 9. Datenerhebungsmethode, Stichprobe und untersuchte Variablen 191 <?page no="208"?> 9.1.3 Problemfelder und Implikationen für die Dateninterpretation Die Thematisierung der Problemfelder hat zum Ziel, dass Interpretationen, die auf falschen Annahmen bezüglich der durch Interviews erhobenen Daten beruhen, von vornherein vermieden werden. Durch die konsequente und transparente Erläuterung der gewählten Datenerhebungsmethode wird eine realistische und zielgerichtete Einschätzung des Datensatzes ermöglicht. Hiermit wird der von Mayring (2008: 42) aufgestellten Forderung der „ Einbettung des Materials in den Kommunikationszusammenhang “ (vgl. Kap. 10.2.2 zur qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring) Rechnung getragen. Die im Folgenden genannten Probleme können grösstenteils als solche nicht behoben werden, da sie der Interviewsituation inhärent sind. Sie müssen daher bei der Datenanalyse und -interpretation zwingend berücksichtigt werden. Die Interviewsituation ist meist formal und arrangiert und damit nicht direkt vergleichbar mit der Situation, in der die befragten Personen normalerweise kommunizieren und interagieren. Es ist also nicht dasselbe, ob ein Gespräch über die Schönheit und Hässlichkeit von Sprachen, das zwischen Bekannten in einem Zugabteil geführt wird, (verdeckt) aufgezeichnet wird, oder ob eine der anwesenden Personen in ein Interview zum gleichen Thema für Forschungszwecke einwilligt, das aufgezeichnet wird. Die Interviewsituation ist asymmetrisch in dem Sinn, dass die turn-taking Rechte nicht gleichmässig unter den beiden Teilnehmenden verteilt sind (Milroy, 1987: 41): [. . .] one participant (the interviewer) controls the discourse in the sense of both selecting topics and choosing the form of questions. The interviewee on the other hand, by agreeing to be interviewed, has contracted to answer these questions cooperatively. Gemäss Milroy (ibid.) führt das Kooperationsprinzip auf der Seite der interviewten Personen oft zu Kurzantworten, da diese ihnen faktisch als am kooperativsten erscheinen (kurz, relevant, kompakte Vermittlung der verlangten Information). Wenn das Ziel des Interviews aber nicht ein möglichst kooperatives Interviewverhalten im oben genannten Sinn ist, sondern die Konstituierung einer Erzählhaltung, muss dies durch geschicktes Auswählen der Interviewsituation gewährleistet werden. Die Situation muss so ausgewählt werden, dass die Interviewpartner mit Kooperation nicht in erster Linie Kürze und Prägnanz assoziieren - es sollte ihnen im Gegenteil das Gefühl vermittelt werden, dass lange Antworten und Erzählpassagen willkommen sind und dass genügend Zeit eingeräumt wird, damit sie ihre Ansichten in der gewünschten Ausführlichkeit darlegen können. Die Interviews für das Deutschschweizer Korpus wurden daher in Zügen auf Intercity Strecken von mindestens einer Stunde Dauer durchgeführt 104 . Willigte eine 104 Dies betrifft die Interviews, welche mit der Interviewerin unbekannten Gewährspersonen durchgeführt wurden. 192 II. Fragestellung und Empirie <?page no="209"?> Person in ein Gespräch auf einer Strecke dieser Länge ein, wusste sie, dass ihr theoretisch die ganze Zugfahrt zur Verfügung steht, um ihre Ideen und Konzepte zu äussern. Neben der Kürze der Antworten kann eine weitere Auswirkung des Kooperationsprinzips sein, dass die Interviewten sich bemühen, der Interviewerin interessante Antworten zu geben, um damit ihrer Rolle als kooperative Partner gerecht zu werden (vgl. Tophinke/ Ziegler, 2006: 217). Mit anderen Datenerhebungsmethoden teilt das Interview die Problematik, dass die Gewährspersonen sich selbst darstellen müssen. Das Interview ist diesbezüglich noch direkter als schriftliche Datenerhebungsmethoden, wo das Medium (der Fragebogen) zwischen den Forschenden und den Gewährspersonen lokalisiert ist. Beim Interview findet der Kontakt unmittelbarer mündlich (wenn das Interview nicht am Telefon stattfindet, sogar face-to-face) statt. Das Interview fordert die Gewährspersonen also geradezu zur Selbstdarstellung heraus. Werlen (1992: 65) hält fest, dass Menschen in der Interviewsituation in unterschiedlich ausgeprägtem Mass bemüht sind, „ [. . .] den Eindruck, den sie auf sich selbst und andere machen, zu kontrollieren und steuern. “ Die Interaktion im Interview unterliegt folglich Kontroll- und Steuermechanismen der Selbstdarstellung respektive -inszenierung sowie der Positionierung des Selbst in der Kommunikation (vgl. Goffman, 1959 zur Selbstinszenierung; Davies/ Harré, 1990 sowie Harré/ van Langenhove, 1999 zur Positionierung). Man kann sich Interviewantworten also als Entitäten vorstellen, die zuvor durch verschiedene und verschieden ausgeprägte interne Filter geleitet worden sind - natürlich bleiben bestimmte Informationen bei diesem Prozess hängen und gelangen nicht (oder nur indirekt) in die Interviewinteraktion. Garret/ Coupland/ Williams (2003: 28) nennen den social-desirabilty bias (die Tendenz von Gewährspersonen, sich positiv darzustellen) dann auch als eines der Probleme, wenn Spracheinstellungsstudien mit direkten Methoden arbeiten: Respondents harbouring negative views towards a particular group may not wish to admit to the researcher, or even to themselves, that they hold such feelings. [Eigene Hervorhebung, C. C.] Das Problem liegt also nicht nur darin, dass Interviewpartnerinnen und -partner kontrollieren, was von ihren inneren Ideen und Konzepten in die Aussenwelt gelangt, sie haben manchmal selbst gar keinen Zugriff auf diese, da sie ihrem Selbstbild nicht entsprechen. Die Daten, die in Interviews erhoben werden, müssen also als Produkte dieser primären, bewussten und sekundären, unbewussten Zensierungsprozesse der Informantinnen und Informanten betrachtet werden. Gemäss Coupland/ Garrett/ Williams (ibid. 29) tritt ein ähnliches Phänomen wie das von Labov (1970, 1972 a) für die Erhebung natürlicher Sprachdaten definierte Observer ’ s Paradox auch im Interview bei der Erhebung von Spracheinstellungen in Form des Interviewer ’ s Paradox auf. Labovs Konzept 9. Datenerhebungsmethode, Stichprobe und untersuchte Variablen 193 <?page no="210"?> beschreibt das methodologische Dilemma, dass das Interesse linguistischer Forschung der natürlichen Sprache gilt, die Menschen sprechen, wenn sie unbeobachtet sind. Diese Sprachdaten können aber nur durch systematische Beobachtung erhoben werden (1970: 32; 1972 a: 209; 1972 b: 113 ff.). Das Interviewer ’ s Paradox besteht in der Tatsache, dass Eigenschaften der Interviewenden die Validität von Spracheinstellungsdaten beeinflussen können; genannt werden insbesondere die Ethnizität, das Geschlecht sowie die Sprache der Person, die die Interviews durchführt. Die Interviews für die vorliegende Forschungsarbeit wurden sowohl in der Romandie als auch in der Deutschschweiz jeweils von einer Frau durchgeführt. Beide Interviewerinnen führten jeweils nur Interviews in der Sprachregion durch, in der sie auch beheimatet sind und redeten während der Interviews die Sprache der untersuchten Region (Schweizerdeutsch respektive Französisch). 9.2 Stichprobe In Kapitel 9.2.1 wird zunächst die Methode der Stichprobenziehung thematisiert. Es folgt eine Erläuterung der genauen Beschaffenheit der Stichprobe und der sozialen Dimensionen, nach denen sie aufgebaut ist (9.2.2). Im Anschluss werden sowohl die Stichprobe für die quantitative Analyse (n=280) als auch die Stichprobe für die qualitative Analyse (n=60) thematisiert (9.2.4 sowie 9.2.4). (Vgl. Schwarz/ Cuonz/ Shahidi, 2006). 9.2.1 Stichprobenziehung Das hier angewandte Auswahlverfahren zur Zusammenstellung der Stichprobe ist in der qualitativen und der methodenkombinierenden Forschungspraxis als Vorab-Strukturierung oder selektives Sample bekannt (Seipel/ Rieker, 2003; Kelle/ Kluge, 1999). Insbesondere bei hypothesenprüfendem Arbeiten ist es sinnvoll, die Stichprobe nach den zu prüfenden Merkmalen (Einflussvariablen) aufzubauen - also bei der Stichprobenziehung schon auf eine ausgeglichene Fallzahl für die unterschiedlichen Untersuchungsdimensionen (für die vorliegende Studie Alter, Geschlecht, Bildung, Sprachgebiet) zu achten. Dieses Auswahlverfahren hat eine gleichmässig stratifizierte Stichprobe zum Ziel mit einer etwa gleich bleibenden Fallzahl pro Zelle (eine Zelle umfasst alle Individuen der Stichprobe, bei denen sämtliche beobachteten sozialen Dimensionen identisch sind). 105 105 Im englischsprachigen Raum ist diese Samplingmethode als judgement sample bekannt. Modellhaft beschrieben wird der Stichprobenaufbau mit dieser Methode in einer Studie zur Variation von Australischem Englisch bei Horvath (1985). Horvath problematisiert in ihrer Arbeit die Klassifizierung von Gewährspersonen insbesondere was die Dimensionen sozioökonomischer Status (Australien ist, wie die Schweiz, ein Land 194 II. Fragestellung und Empirie <?page no="211"?> In der Deutschschweiz kam ein zweistufiges Verfahren zum Einsatz, um die 126 benötigten erwachsenen Personen für die Interviews zu finden (auf die Schülerinnen und Schüler, die später in die Stichprobe integriert wurden, wird im Folgenden noch eingegangen). Die ersten 64 befragten Personen wurden in Zügen in der Deutschschweiz angesprochen und interviewt. Der Vorteil dieser Auswahlmethode ist, dass diese 64 Personen aus sehr unterschiedlichen Dialektgebieten der Schweiz stammen, dass sie nicht zum Netzwerk der Interviewerin gehören und dass der Zugang zu ansonsten schwer erreichbaren Gruppen gewährleistet ist (z. B. Personen mit Migrationshintergrund). Der Nachteil dieser Methode ist, dass nicht gezielt nach Personen mit ganz spezifischen Merkmalen gesucht werden kann, die für die Vervollständigung der Stichprobe benötigt werden. So konnte zum Beispiel nur eine von sieben über 65-jährigen Akademikerinnen im Zug befragt werden, während in der Gruppe der 65-jährigen Frauen mit primärer Bildung ein Interviewüberschuss generiert wurde. Deswegen wurden die Gewährspersonen für die zweite Hälfte der Interviews aus dem Netzwerk der Interviewerin und anschliessend mit dem Schneeballprinzip rekrutiert. Bei den über 65-jährigen Akademikerinnen etwa wurde die erste der sechs fehlenden Frauen aus dem persönlichen Netzwerk angefragt. Diese vermittelte dann weitere Personen, die ihrerseits wieder nach möglichen Kontaktpersonen gefragt wurden. So wurde verhindert, dass zu viele der Interviewerin bekannte Personen befragt wurden. Für die Gruppe männlich, 40bis 50-jährig, sekundäre Ausbildung wurden gezielt Lehrer an Primarschulen per E-Mail kontaktiert, da über das persönliche Netzwerk nicht genügend Interviewpartner und -partnerinnen (Primarlehrpersonen) generiert werden konnten. Die 14 Oberstufenschülerinnen und -schüler aus der Deutschschweiz wurden an der Integrierten Oberstufe in Lungern (Obwalden) rekrutiert. Die Interviewpartnerinnen und -partner in der französischsprachigen Schweiz wurden ebenfalls in einem zweistufigen Verfahren rekrutiert. In einem Verhältnis von ca. ein Drittel zu zwei Drittel wurden die Personen einerseits auf den Wochenmärkten von Lausanne und Morges jeweils am Samstag angesprochen und interviewt (sowohl die Geschäftsleute als auch die Marktkundinnen und -kunden) und andererseits im Netzwerk der Interviewerin rekrutiert. Der Kontakt zur Gruppe der über 65-Jährigen wurde in der französischsprachigen Schweiz jeweils über die Heimleitung von Alterswohnheimen und -residenzen hergestellt. Die 14 Oberstufenschülerinnen und -schüler aus der französischsprachigen Schweiz wurden am Collège de l ’ Elysée (Sekundarschulniveau) in Lausanne rekrutiert. Aus Zeit- und Kostengründen wurde in beiden Sprachgebieten jeweils ein Teil der Interviews der zweiten Hälfte (Netzwerk, Schneeballprinzip) am mit hoher sozialer Mobilität) und Ethnizität (Australien ist ein typisches Einwanderungsland) betrifft. 9. Datenerhebungsmethode, Stichprobe und untersuchte Variablen 195 <?page no="212"?> Telefon durchgeführt und über die Lautsprecherfunktion des Telefons aufgezeichnet; dies betrifft jedoch insgesamt weniger als ein Viertel der Interviews. Telefoninterviews wurden insbesondere dann durchgeführt, wenn die betreffenden Personen an abgelegenen Orten wohnten oder ein Termin schwer zu vereinbaren war. 9.2.2 Stichprobengrösse und -beschaffenheit Im Rahmen dieses Kapitels wird die 280 Personen umfassende Stichprobe für den quantitativen hypothesenprüfenden Teil der Analyse behandelt. Die daraus abgeleitete Teilstichprobe von 60 Personen für die qualitative Analyse wird in Kapitel 9.2.4 thematisiert. In der soziolinguistischen Forschung herrschte in der Vergangenheit nicht immer Einigkeit über die theoretisch wünschbare Grösse von Stichproben in quantitativen Studien. Romaine (1980: 169 ff.) kritisiert Labovs (1966) Aussage, dass kleine Stichproben (25 - 30 Gewährspersonen) für Studien zur sozialen und stilistischen Sprachvariation genügten, da linguistisches Verhalten relativ homogen sei. Sie geht so weit zu behaupten, Labovs Feststellung bzw. Annahme sei eine „ post hoc justification for the limitations of time, money and manpower which affect most sociolinguistic research “ (Romaine, 1980: 172). Die Brisanz des Themas Stichprobengrösse wird durch die hier zum Ausdruck gebrachte Polemik deutlich. Romaine geht es aber nicht darum, für Studien mit grösseren Stichproben zu plädieren, denn sie ist sich bewusst, dass soziolinguistische Daten in ihrer Aufbereitung oft so aufwändig sind, dass sehr grosse Stichproben in der Forschungspraxis unrealistisch sind. Das tatsächliche Anliegen Romaines ist die vorsichtigere und weniger inflationäre Verwendung der Begriffe random (zufällig - bezogen auf die Stichprobenauswahl) und representative (repräsentativ - bezogen auf die Reichweite der Stichprobe, zum Beispiel repräsentativ für eine Stadt oder ein Land) (ibid. 169). Milroy (1987: 20) stimmt später versöhnlichere Töne an und differenziert, dass es bei der Diskussion der Stichprobengrösse in erster Linie um die Unterscheidung zwischen statistischer Repräsentativität im engeren Sinn und „ a weaker kind of representativeness obtained in most urban surveys “ gehen muss und fügt an (ibid.): Certainly, it is by no means clear that strict representativeness would necessarily give greater insight into sociolinguistic structure. Es gilt freilich im Allgemeinen der Grundsatz, dass die statistisch erhobenen p-Werte (also Werte, welche die Stärke des festgestellten Zusammenhangs zwischen zwei Variablen wiedergeben) immer eine Funktion der zugrunde liegenden Stichprobengrösse sind. Je kleiner die Stichprobe, desto kleiner ist die Wahrscheinlichkeit, ein statistisch signifikantes Resultat zu erhalten (Onwuegbuzie/ Leech, 2004: 775). Die hier gewählte Stichprobe von 280 Gewährspersonen ist für den Bereich der Spracheinstellungsforschung ver- 196 II. Fragestellung und Empirie <?page no="213"?> gleichsweise gross, trotzdem kann nicht von technischer Repräsentativität gesprochen werden. Die unter 9.2.1 beschriebene Samplingmethode führt nicht zu einer Zufallsstichprobe. Insofern kann die Studie zwar Tendenzen aufzeigen, die unter den befragten Personen in der deutschsprachigen und der französischsprachigen Schweiz bestehen, sie ist jedoch nicht uneingeschränkt repräsentativ für die beiden Sprachgebiete. Unter Berücksichtigung aller untersuchten sozialen Dimensionen (Alter, Geschlecht, Bildung, Sprachgebiet) ergibt sich eine Anzahl von 7 Gewährspersonen pro Zelle (vgl. Kap. 9.2.3 Tabelle 11). Die Zahl mag klein scheinen, liegt aber wiederum innerhalb der soziolinguistischen Forschung über dem Durchschnitt; gerade die oft zitierten frühen soziolinguistischen Studien von Labov in New York City (1966) und Trudgill in Norwich (1974) operieren mit weniger als vier Gewährspersonen pro Zelle (vgl. Romaine, 1980: 171). Im Folgenden wird auf die Stichprobenbeschaffenheit der vorliegenden Studie eingegangen, das heisst, auf die vier sozialen Dimensionen, anhand derer die Stichprobe zusammengestellt worden ist. 1. Alter: Die Stichprobe wird so konzipiert, dass insgesamt drei Generationen untersucht werden können. Die Generation der 20bis 30-Jährigen, die Generation der 40bis 50-Jährigen und die Generation 65+ (Personen, die 65 Jahre und älter sind). Durch die Aufnahme der Schülergruppe (siehe unter Dimension Bildung) bildet sich die Gruppe der 13bis 17- Jährigen, die in einzelnen Analysen berücksichtigt wird, jedoch kleiner ist als die anderen Altersgruppen (n=28 bei den 13bis 17-Jährigen und jeweils n=84 bei den drei anderen Generationen). Zwischen den Generationen wird absichtlich jeweils eine Zeitspanne von 10 Jahren ausgespart, damit Kohorteneffekte deutlicher festgestellt werden können (vgl. zur Variable Alter Kap. 8.3.3) 2. Geschlecht: Es werden jeweils 140 Frauen und 140 Männer befragt. 3. Bildung: Ursprünglich war die Stichprobe auf drei unterschiedliche Bildungsgruppen angelegt. Primäre Bildungsstufe: Personen, die ausschliesslich die obligatorische Schulzeit von acht bis neun Jahren absolviert haben und dann direkt einen Beruf ergriffen haben oder Personen, die nach der obligatorischen Schulzeit eine Berufslehre ohne Berufsmaturität absolviert haben); sekundäre Bildungsstufe: Personen, die einen Maturitätsabschluss (oder eine gleichwertige Ausbildung wie das Primarlehrerpatent) erworben haben und danach keine tertiäre Ausbildung absolviert haben, beziehungsweise Personen mit einer Berufsausbildung, die eine Berufsmaturität absolviert haben; tertiäre Bildungsstufe: Personen, die eine Ausbildung auf tertiärem Bildungsniveau absolviert haben oder aktuell absolvieren (Universitäts- oder Fachhochschulstudium jedoch nicht Höhere Fachschulen, die der sekundären Bildungsstufe zugerechnet werden). Die Gruppe der Schülerinnen und Schüler wurde zu einem späteren Zeitpunkt in die Stichprobe aufgenommen. Der Unterschied zwischen dieser Bildungsgruppe und allen anderen Bil- 9. Datenerhebungsmethode, Stichprobe und untersuchte Variablen 197 <?page no="214"?> dungsgruppen besteht darin, dass die Schülerinnen und Schüler sich in der obligatorischen Schulzeit befinden und demgemäss der Sprachunterricht für sie verpflichtend ist (die Fremdsprache Englisch, sowie in der Deutschschweiz Französisch als Fremdsprache und in der französischsprachigen Schweiz Deutsch als Fremdsprache). Die Frage, die sich für diese spezifische Gruppe stellt, ist, wie die Sprachen, die die Schülerinnen und Schüler aktuell lernen, beurteilt werden (vgl. Hypothese 16). Die hier gewählte Variable Bildung ersetzt die im angelsächsischen Raum verwendete Variable social class (Klasse oder Schicht). Die Variable class wird heute in den meisten Forschungsarbeiten als multidimensionale Variable behandelt. Chambers (2003: 47) definiert die Bildungsstufe als eine der socioeconomic indices. Für die vorliegende Studie ist die Bildungsstufe erstens die am einfachsten erfragbare Grösse, die sich auf den sozioökonomischen Status bezieht (es wäre weitaus schwieriger, in Interviews nach dem Einkommen zu fragen) sowie eine Grösse, die Auskunft gibt über den schulischen Kontakt zu Fremdsprachen (z. B. Anzahl Jahre Fremdsprachenunterricht). Natürlich muss die in der Schweiz relativ ausgeprägte soziale Mobilität berücksichtigt werden - so enthält die Stichprobe etwa Gewährspersonen in der mittleren und ältesten Altersklasse mit einer primären Ausbildung, die klein- und mittelständische Unternehmen leiten und deren sozioökonomischer Status sich praktisch nicht von dem tertiär ausgebildeter Personen unterscheidet (vgl. zur Variable Bildung Kap. 8.3.5). 4. Sprachgebiet: Die Stichprobe umfasst je 140 Gewährspersonen aus der Deutschschweiz und aus der französischen Schweiz. Ausschlaggebend ist bei der Auswahl der Stichprobe nicht so sehr, dass die befragten Personen ursprünglich aus dem jeweiligen Sprachgebiet kommen, sondern dass sie zum Zeitpunkt des Interviews seit mindestens zwei Jahren dort wohnhaft sind. Die Informantinnen und Informanten wurden nach ihrer Muttersprache gefragt und lediglich 21 Gewährspersonen nannten nicht die Sprache ihres Wohnorts als Muttersprache. Überall, wo die Fragestellung es erfordert, werden diese Informantinnen und Informanten aus der Stichprobe ausgefiltert. 9.2.3 Stichprobe für die quantitative Analyse In Tabelle 11 folgt eine Darstellung der für die quantitative Analyse verwendeten Stichprobe, aufgebaut nach den Parametern Alter, Geschlecht, Bildung und Sprachgebiet. 198 II. Fragestellung und Empirie <?page no="215"?> Tab. 11: Stratifizierte Stichprobe für die quantitative Datenanalyse nach Sprachgebiet, Alter, Geschlecht und Bildung (n=280, 7 Fälle pro Zelle). Französische Schweiz Deutschschweiz Frauen Männer Frauen Männer 13 - 17 20 - 30 40 - 50 65+ 13 - 17 20 - 30 40 - 50 65+ 13 - 17 20 - 30 40 - 50 65+ 13 - 17 20 - 30 40 - 50 65+ Schül. 7 7 7 7 Primär 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 Sekun. 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 Tertiär 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 TOTAL n=280 9.2.4 Stichprobe für die qualitative Analyse Für die qualitative Analyse wurden 60 der 140 Interviews aus der Deutschschweiz ausgewählt. Für die Auswahl wurden zwei Kriterien aufgestellt: 1. aus jeder Zelle à 7 Fälle der quantitativen Stichprobe müssen drei Fälle in die qualitative Stichprobe aufgenommen werden 106 ; 2. die Interviews für die qualitative Analyse sollten narrativen Charakter haben (bzw. es sollten die ausführlichsten Interviews ausgewählt werden). Eine Darstellung der gesamten qualitativen Stichprobe mit Angaben zum Interviewdatum, der Interviewart, der Beziehungsart zwischen der Interviewerin und der Gewährsperon sowie Bildung und Wohnort der Gewährsperson findet sich in Appendix 1. 9.3 Pretest, Interviewleitfaden und Interviewvorgehen In diesem Kapitel werden die Pilotphase, die vor der Festlegung des endgültigen Interviewleitfadens erfolgte (9.3.1), sowie der endgültige Interviewleitfaden (9.3.2) und das Interviewvorgehen beschrieben (9.3.3). 9.3.1 Pretest Sowohl in der Deutschschweiz als auch in der französischen Schweiz wurden im Vorfeld der oben beschriebenen Interviewphasen jeweils zehn Pilotinterviews durchgeführt, die später nicht in die Stichprobe aufgenommen 106 Einzige Ausnahme bildet die Gruppe Frauen, 65+, primäre Ausbildung: Hier wurden für die qualitative Analyse Interviews herbeigezogen, welche nicht in der quantitativen Stichprobe vorkommen. Die Interviews der quantitativen Stichprobe waren bis auf eines wenig narrativ und da in dieser Gruppe während der Interviewphase in Zügen ein Überschuss an Interviews produziert wurde, konnte auf diese Alternative zurückgegriffen werden. 9. Datenerhebungsmethode, Stichprobe und untersuchte Variablen 199 <?page no="216"?> wurden. Ziel der Pilotphase war der Test der Praxistauglichkeit des Interviewleitfadens. Die Pilotinterviews wurden mit Personen unterschiedlichen Geschlechts, Alters und unterschiedlicher Bildungsniveaus durchgeführt. Nach der Pilotphase wurden kleinere Änderungen am Interviewleitfaden (Reihenfolge der Fragen, Formulierung einzelner Fragen, Aufnahme von Ergänzungsfragen 107 ) vorgenommen sowie Abmachungen getroffen darüber, wie auf typische Rückfragen von Informantinnen und Informanten zu reagieren ist (siehe Kap. 9.3.3). 9.3.2 Interviewleitfaden Die endgültige Interviewform beinhaltet eine Eröffnungs- und eine Abschlusssequenz sowie 24 Frage-Antwort Sequenzen mit einigen Filterfragen, die nicht allen Gewährspersonen gestellt werden. Jede Frage-Antwort Sequenz beinhaltet theoretisch zwei Turns, wenn keine Nachfragen seitens der Interviewerin oder der Gewährsperson bestehen. Im Folgenden wird der Interviewleitfaden wiedergegeben, wobei I jeweils für Interviewerin und G jeweils für Gewährsperson steht. Der Leitfaden wird hier in seiner Schweizerdeutschen Fassung wiedergegeben 108 , wie er für die Interviews der ersten Phase mit unbekannten Personen in Zügen konzipiert wurde 109 (vgl. Schwarz/ Shahidi/ Cuonz, 2006): Eröffnungssequenz: I: Grüezi, ich mache e Forschig a de Universität Lausanne über Sprache. Hättet si Ziit für-n-es Interview, wo-n-i würd ufnäh? Es duuret öppe füf Minute. G: Ja > Sequenz 1 G: Nein > Abbruch Sequenz 1: I: Läbed si i de dütsche Schwiiz? 110 G: Ja > Sequenz 2 G: Nein > Abbruch Sequenz 2: I: Wo denn? D Region odr de Ort? G: Antwort > Sequenz 3 107 Z. B. Sequenz 20: bei Auslandaufenthalten wird nach der Dauer des Aufenthalts gefragt. 108 Eine hochdeutsche Fassung findet sich in Appendix 2. 109 Der Interviewleitfaden wurde bei Interviews mit Personen aus dem direkten oder indirekten Netzwerk der Interviewerin entsprechend angepasst. 110 Diese und ähnlich geartete Sequenzen (e. g. 14, 19) wurden in der französischen Schweiz sinngemäss angepasst. 200 II. Fragestellung und Empirie <?page no="217"?> Sequenz 3: I: Was/ weles isch ihri Lieblingssprach? G: Dütsch 111 > Sequenz 4 G: Andere Sprache > Sequenz 5 Sequenz 4: I: Weles Dütsch? G: Nennt entweder eine Varietät oder sagt sinngemäss „ eifach Dütsch “ > Sequenz 5 Sequenz 5: I: Warum (x, y, z)? (x, y, z = genannte Lieblingssrpachen - auf Mehrfachantworten wird im Folgenden immer eingegangen, der Interviewleitfaden wurde dann jeweils angepasst) G: Nennt eine eher ästhetische Begründung > Sequenz 6 G: Nennt eine nicht-ästhetische Begründung > Sequenz 7 Sequenz 6: I: Gits no anderi Gründ? G: Antwort > Sequenz 7 Sequenz 7: I: Isches au di schönschti Sprach? G: Ja > Sequenz 9 G: Nein > Sequenz 8 Sequenz 8: I: Weles isch de di schönschti Sprach? G: Antwort > Sequenz 9 Sequenz 9: I: Warum isches di schönscht? G: Antwort > Sequenz 10 Sequenz 10: I: Gits für sii no anderi schöni Sprache? G: Antwort > Sequenz 11 Sequenz 11: I: Was für Sprache sind de wüescht? G: Antwort > Sequenz 12 Sequenz 12: I: Warum isch x e wüeschti Sprach? G: Antwort > Sequenz 13: Sequenz 13: I: Isches nid eifach e Frag vom persönliche Gschmack? 112 G: Antwort > Sequenz 14 111 In der Französischen Schweiz wird bei der Nennung von Französisch zu Sequenz 4 gewechselt und gefragt „ Quel Français? “ . 112 Diese Sequenz wurde in der Deutschschweiz in vielen Interviews weggelassen und konnte deswegen nicht statistisch ausgewertet werden. Die Frage erwies sich als schwierig in der Interviewpraxis, obwohl sie in der Pilotphase nicht als problematisch eingestuft worden war: Die interviewten Personen zeigten sich zum Teil irritiert über die 9. Datenerhebungsmethode, Stichprobe und untersuchte Variablen 201 <?page no="218"?> Sequenz 14: I: Sind si au i de Dütschschwiiz ufgwachse? G: Ja > Sequenz 15 G: Nein > Sequenz 17 Sequenz 15: I: Ihri Eltere au? G: Ja > Sequenz 18 I: Nein > Sequenz 16 Sequenz 16: I: Wo sind ihri Eltere de ufgwachse? A: Antwort > Sequenz 18 Sequenz 17: I: Wo sind si de ufgwachse und wenn sind si i d Schwiiz cho? G: Antwort > Sequenz 18 Sequenz 18: I: Ihri Muettersprach isch dem Fall . . . G: Antwort > Sequenz 19 Sequenz 19: I: Hend si irgendeinisch mal no amene andere Ort gläbt usser i de dütsche Schwiiz? G: Ja > Sequenz 20 G: Nein > Sequenz 21 Sequenz 20: I: Wo hend si denn gläbt und für wie lang? G: Antwort > Sequenz 21 Sequenz 21: I: Was für Sprache chönd si? G: Antwort > Sequenz 22 Sequenz 22: I: Wie hend si die so glehrt? A: Antwort > Sequenz 23 Sequenz 23: I: Was hend si für Schuele bsuecht nachenand? G: Antwort > Sequenz 24 Frage und verunsichert in ihrer Kooperationsbereitschaft. Eine typische Antwort war etwa: „ Aber sie haben ja MICH gefragt. “ Dies entspricht nicht dem gewünschten Effekt der Frage (Verunsicherung und sinkendes Vertrauen seitens der Gewährspersonen anstatt Reflexion über die vermutete Objektivität und Allgemeingültigkeit ästhetischer und affektiver Sprachurteile). Insbesondere bei Interviews mit zurückhaltenden Gewährspersonen, zu denen der Kontakt nicht so leicht etabliert werden konnte, wurde die Frage jeweils weggelassen. 202 II. Fragestellung und Empirie <?page no="219"?> Sequenz 24: I: Jetz sötti nume no wüsse, wie alt si sind. G: Antwort > Abschlusssequenz Abschlusssequenz: I: Danke vil Mal fürs Interview. 9.3.3 Interviewvorgehen Alle Gewährspersonen wurden vor dem Interview darüber informiert, dass das Interview aufgezeichnet wird und für Forschungszwecke analysiert wird. Anonymität wurde allen befragten Personen zugesichert. Es wurden keine Interviews mit Personen geführt, die gegen eine Aufzeichnung des Interviews waren. Interviewpartnerinnen und -partner hatten weder die Gelegenheit, bei vorhergehenden Interviews anwesend zu sein noch wurden sie über das genaue Thema des Interviews im Vorfeld in Kenntnis gesetzt. Sie wussten lediglich, dass es sich um ein Interview im Rahmen eines sprachwissenschaftlichen Forschungsprojekts zum Thema Sprachen handelt. Damit sollte verhindert werden, dass die Gewährspersonen von den Antworten anderer Gewährspersonen beeinflusst werden und dass sie sich im Vorfeld Gedanken zum Thema machen können - gerade bei der Frage nach hässlichen Sprachen ist die Spontaneität beim Antwortverhalten ein wichtiger Faktor. Die Gewährspersonen müssen sehr schnell entscheiden, ob sie diese Frage überhaupt beantworten wollen oder nicht. Sie müssen die Frage also in kürzester Zeit bewerten und in ihren inneren Ressourcen Antworten abrufen. Während des Interviews wurden keine Antwortkategorien vorgegeben, die Gewährspersonen konnten also auf jede beliebige Sprache verweisen. Mehrfachantworten (bis zu 5 Nennungen flossen in die Auswertung ein) waren grundsätzlich für jeden Urteilstyp zugelassen, selbst wenn die Frage auf einen Superlativ abzielte, der eigentlich per Definition alleine auftreten sollte (z. B. die Lieblingssprache, die schönste Sprache). Auch in den Interviewsequenzen, wo nach Sprachen, die die Gewährspersonen „ können “ gefragt wird oder nach der Art, wie diese Sprachen erlernt worden sind, waren grundsätzlich Mehrfachantworten möglich. Die Interviewerinnen liessen strikt alle Antworten gelten, selbst wenn die von den Laien verwendeten Sprachbezeichnungen nach linguistischen Kriterien nicht auf eine existierende Sprache verweisen und der Laienterminologie entspringen (z. B. Jugoslawisch). Nachgefragt wurde nur in zwei Fällen und zwar, wenn die Antworten in Sequenz 3, 8 oder 11 Deutsch oder Französisch waren, da es sich um die beiden Landessprachen handelt, welche die L1 der Gewährspersonen sind. Die Informantinnen und Informanten spezifizierten ihre Aussagen in den meisten Fällen, so dass zwischen Standardfranzösisch respektive Franzö- 9. Datenerhebungsmethode, Stichprobe und untersuchte Variablen 203 <?page no="220"?> sisch in Frankreich und Schweizerfranzösisch sowie Hochdeutsch und Schweizerdeutsch unterschieden werden konnte. Trotz des Nachfragens waren einige Gewährspersonen nicht bereit, ihre Antwort weiter zu spezifizieren. In diesen Fällen wurde nicht insistiert, da die Befragten sich dadurch einerseits verunsichert und irritiert und andererseits teilweise verärgert zeigten. Die häufig auftretenden Rückfragen konnten, wie bereits erwähnt, während der Pilotphase eruiert werden. Es handelt sich dabei um die Frage, ob auch Dialekte genannt werden dürfen (es wird in allen Urteilstypen nach Sprachen gefragt), die jeweils bejaht wurde. Sequenz 19 „ Hend si irgendeinisch mal no amene andere Ort gläbt usser i de dütsche Schwiiz? “ provozierte in vielen Fällen die Rückfrage, was es denn für die Interviewerin heisse, irgendwo gelebt zu haben, ob Ferien auch zählen. Hier erfolgte die Aufforderung, Aufenthalte von mehr als drei Wochen zu nennen oder Orte, wo Ferien regelmässig (über die Jahre hinweg) verbracht wurden. Auf die absichtlich elliptisch formulierte Frage 113 nach der selbstdeklarierten individuellen Mehrsprachigkeit (bzw. selbstdeklarierten quantitativen Sprachkompetenz) „ Weli Sprache chönd si? “ reagierten einige Personen mit der Gegenfrage, was denn unter können verstanden wird. Hier war die Standardantwort, dass die Gewährsperson dies selbst definieren darf. 9.4 Lokalisierung der Variablen im Interview Im Folgenden werden die Zielvariablen und die Einflussvariablen, die in der statistischen Analyse ausgewertet werden, im Interviewleitfaden lokalisiert. 9.4.1 Zielvariablen Zu den Zielvariablen gehören in der vorliegenden Studie drei Sprachurteilstypen (unten jeweils mit der entsprechenden Interviewsequenz, in der sie abgefragt werden): ● affektives Sprachurteil = Sequenz 3 ● positives ästhetisches Sprachurteil = Sequenz 7, 8 114 ● negatives ästhetisches Sprachurteil = Sequenz 11 Die Fragen, die ästhetische Sprachurteile elizitieren, operieren ganz gezielt mit den beiden diametral entgegengesetzten Adjektiven für ästhetische 113 Die Gewährspersonen sollten selbst entscheiden, ob sie Sprachen aufzählen wollen, in denen sie lediglich eine Teilkompetenz aufweisen (z. B. sie können die Sprache zwar sprechen, aber nicht schreiben). 114 Sequenz 10 (die Frage nach weiteren schönen Sprachen) wurde statistisch nicht ausgewertet. 204 II. Fragestellung und Empirie <?page no="221"?> Empfindungen „ schön “ und „ wüescht “ 115 . Das affektive Urteil wurde durch die Frage nach den Lieblingssprachen elizitiert. Die affektive Beziehung zu einem Gegenstand muss nicht nur aus positiven Emotionen bestehen, sondern sie kann einhergehen mit der Empfindung des Gegenstands als schön oder angenehm. Die Frage wurde so allgemein formuliert, um der anschliessenden Begründungssequenz nichts vorwegzunehmen. Dass die Fragen zum ästhetischen Urteilstyp in der Tat grundsätzlich andere mentale Konzepte abrufen konnten als die Frage zum affektiven Urteilstyp wird in Kapitel 11.3 gezeigt. Die Fragestellung betrifft nicht nur die inhaltliche Seite der drei Urteilstypen, sondern auch die Urteilsbereitschaft und Urteilsproduktivität der Informantinnen und Informanten (Anteil der Nullantworten, Auswertung des Verhaltens bezüglich Mehrfachantworten). Die von den Laien angeführten Urteilsbegründungen für die drei Urteilstypen werden ebenfalls zu den Zielvariablen gerechnet (unten jeweils mit der entsprechenden Sequenz, in der sie abgefragt werden): ● Begründung für das affektive Sprachurteil = Sequenz 5, 6 ● Begründung für das positive ästhetische Sprachurteil = Sequenz 9 ● Begründung für das negative ästhetische Sprachurteil = Sequenz 12 Die Fragestellung betrifft erneut nicht nur die inhaltliche Seite der Antworten, sondern es werden auch Analysen zum Begründungsverhalten (Produktivität) durchgeführt. 9.4.2 Einflussvariablen Im Folgenden werden die untersuchten Einflussvariablen, die in Kapitel 8.3.1 eingeführt wurden, jeweils mit der Interviewsequenz, in der sie abgefragt werden, dargestellt 116 : ● Alter = Sequenz 24 ● Bildung = Sequenz 23 ● Sprachgebiet = Sequenz 1, 2 ● Sprachbiographie/ Kontaktsituation - L1/ Muttersprache = Sequenz 14 - 18 - Art des Spracherwerbs = Sequenz 22 - Selbstdeklarierte quantitative Sprachkompetenz (Anzahl gesprochener Sprachen) = Sequenz 21 - Sprachaufenthalte = Sequenz 19, 20 115 Schweizerdeutsch für „ hässlich “ . 116 Die Einflussvariable Geschlecht fehlt in der Liste, da sie im Interview nicht erhoben werden musste. Die unabhängige Variable aktuell gelernte Schulsprachen betrifft ausschliesslich die Gruppe der Schüler und es handelt sich dabei um die Sprachen Englisch für beide Sprachgemeinschaften, sowie Französisch in der Deutschschweiz und Deutsch in der französischen Schweiz. 9. Datenerhebungsmethode, Stichprobe und untersuchte Variablen 205 <?page no="222"?> 9.5 Zusammenfassung Als Datenerhebungsinstrument kommt ein teilstandardisiertes, semi-narratives Interview mit 24 Frage-Antwort-Sequenzen zum Einsatz: Während der Interviewleitfaden standardisiert ist, zeichnet sich die Interviewsituation durch eine gewisse Variabilität aus (= teilstandardisiert). Die Interviewfragen können eine Erzählhaltung bei den Gewährspersonen konstituieren, diese erfolgt aber nicht zwingend (= semi-narrativ). Das Interview wird als geeignetes Datenerhebungsinstrument eingeschätzt, da es einen metasprachlichen Datensatz generiert, der das semantische System der Gewährspersonen widerspiegelt, was insbesondere der qualitativen Analyse zu Gute kommt. Allerdings müssen einige spezifische Problemfelder dieser Datenerhebungsmethode berücksichtigt werden: Die Daten müssen stets im Wissen um den Einfluss des Kooperationsprinzips als auch der Tendenz der Gewährspersonen, sich in einem möglichst positiven Licht darzustellen (social-desirability bias) eingeschätzt und interpretiert werden. Die Stichprobe umfasst insgesamt 280 Gewährspersonen. Rund zwei Drittel der Befragten entstammt dem direkten oder indirekten Netzwerk der Interviewerinnen (Schneeballprinzip). Die restlichen Gewährspersonen wurden in Zügen oder auf Wochenmärkten angesprochen. Die Stichprobe für die quantitative Analyse ist nach folgenden vier sozialen Dimensionen aufgebaut: Sprachregion, Geschlecht, Alter, Bildung. Für die qualitative Analyse wurde eine Teilstichprobe gezogen (n=60), die Interviews mit Deutschschweizer Befragten mit besonders narrativem Charakter umfasst. 206 II. Fragestellung und Empirie <?page no="223"?> 10. Datenanalysemethoden Kapitel 10 widmet sich den Datenanalysemethoden, die im Zuge des gewählten Conversion Mixed Designs (vgl. Kap. 6.2) der vorliegenden Studie zum Einsatz kommen. Einerseits werden die Interviewdaten in quantifizierter Form einer statistischen Analyse unterzogen (vgl. Kap. 10.1), andererseits werden sie schriftlich fixiert und in dieser Form einer qualitativen Inhaltsanalyse zugeführt (vgl. Kap. 10.2). 10.1 Quantitative Analyse des teilstandardisierten, semi-narrativen Interviews Die quantitative Analyse des Interviewmaterials setzt voraus, dass dieses zunächst quantifiziert, also in numerische Daten umgewandelt wird. Die folgenden Kapitel beziehen sich auf den Prozess der Quantifizierung und die dabei notwendige Datenreduktion mittels Kategorisierungen. Ferner werden die statistischen Auswertungsmethoden und die durchgeführten statistischen Tests beschrieben. 10.1.1 Quantifizierung des Interviewmaterials Bei der Quantifizierung geht es grundsätzlich darum, die verbalen Daten aus den Interviews mit numerischen Kodes zu versehen, damit sie einer statistischen Analyse zugeführt werden können (vgl. Tashakkori/ Teddlie, 1998: 126 f.; Greene, 2007: 146 f.). Dafür muss zuerst festgelegt werden, in welche Analyseeinheiten das Interview zergliedert wird und wie viele Antworten bei Mehrfachantwortoptionen in die Analyse einfliessen. Im Fall der vorliegenden Untersuchung handelt es sich um folgende Analyseeinheiten 117 : ● Lieblingssprache (5) Dazu jeweils Begründung (4) ● Schönste Sprache (5) Dazu jeweils Begründung (4) 117 In Klammer steht jeweils die maximale Anzahl der in die Analyse aufgenommenen Mehrfachantworten: Zum Beispiel wurden jeweils bis zu fünf Sprachen als Lieblingssprache aufgenommen und zu jeder dieser Sprachen bis zu vier genannte Begründungen. Die sozialen Dimensionen (Geschlecht, Alter, Bildung, Sprachgebiet) werden hier nicht aufgelistet. Sie wurden gemäss den Ausführungen in Kap. 9.2.2 quantifiziert (z. B. Geschlecht: Mann = 1; Frau = 2). <?page no="224"?> ● Hässlichste Sprache (5) Dazu jeweils Begründung (4) ● Ort, wo die Gewährsperson aufgewachsen ist (3) ● L1 der Gewährsperson (2) ● Ort des Auslandaufenthalts (4) Dazu jeweils Länge des Auslandaufenthalts Dazu jeweils Art des Auslandaufenthalts ● Selbstdeklarierte Quantitative Sprachkompetenz (6) Dazu jeweils Art des Erwerbs der Sprachkompetenz (3) Bei der Quantifizierung wurde beim Abhören der Interviews ein Analyseraster mit allen oben genannten Analyseeinheiten ausgefüllt. Unterschiedliche Antworten wurden mit unterschiedlichen Ziffern (Wertelabels) versehen. Für jede Analyseeinheit entstand so eine Art Wörterbuch, das die in den Interviews vorgefundenen Antworten sowie die dazugehörigen Ziffern abbildete. Zur Illustration wird hier der „ Wörterbucheintrag “ zur Analyseeinheit Art des Auslandaufenthalts wiedergegeben: 1 = Studium an der Universität/ Ausbildung 2 = Sprachaufenthalt/ Sprachschule 3 = Reise/ Urlaub 4 = Job 5 = Au Pair 6 = Praktikum 7 = Landdienst 8 = Lebte dort als Kind mit Eltern 9 = Militär 10 = Frage nicht gestellt 11 = Nicht mit Frage einverstanden/ Antwort explizit verweigert 12 = Antwort nicht möglich An diesem Beispiel wird ersichtlich, dass die Quantifizierung der Interviewdaten unvermeidlich eine erste Interpretation und Reduktion der Daten beinhaltet, da die Antworten der Gewährspersonen sinngemäss in Kategorien eingeteilt werden müssen, die meist nicht dem exakten Wortlaut einer Antwort entsprechen. Ob eine bestimmte Antwort einer bereits definierten Kategorie zugeteilt werden kann oder die Etablierung einer neuen Kategorie erfordert, ist eine der sich stetig stellenden Fragen bei der Quantifizierung des Interviewmaterials. Wenn mehrere Personen am Prozess der Quantifizierung beteiligt sind, muss dies in enger Absprache geschehen - Quantifizierkonferenzen (vgl. auch Kodierkonferenzen in Kap. 10.2.2) sind dazu erforderlich. Diese gewährleisten nicht nur ein einheitliches System, sondern sorgen auch 208 II. Fragestellung und Empirie <?page no="225"?> für die Qualität des gesamten Prozesses, indem alle Entscheidungen ausgehandelt werden und intersubjektiv nachvollziehbar sind 118 . Für einige der statistischen Berechnungen mussten die Wertelabels, welche für eine bestimmte Analyseeinheit vorlagen, weiter reduziert respektive kategorisiert werden. Für die beiden Kardinalanalyseeinheiten der vorliegenden Forschungsarbeit (genannte Sprachen in den drei Urteilstypen sowie die genannten Begründungen) wird der Prozess dieser Reduktion und Kategorisierung in den folgenden zwei Kapiteln kurz geschildert. 10.1.2 Reduktion der analyiserten Sprachen In Kapitel 11.1 wird das gesamte laienlinguistische Spektrum dargestellt - also alle in den Interviews eingeführten Alltagssprachbezeichnungen. Lediglich bei Dialektnennungen wird jeweils bereits zu diesem Zeitpunkt reduziert (so werden beispielsweise keine Deutschschweizer Einzeldialekte aufgeführt, sondern alle Dialektnennungen in der Kategorie Dialekte in der Schweiz zusammengeführt). Nach dieser umfassenden Darstellung erfolgen die bivariaten statistischen Analysen ausschliesslich zu jenen Sprachen und Varietäten, welche im genannten Spektrum hochfrequent vorkommen - bei ästhetischen und affektiven Sprachurteilen also eine zentrale Rolle spielen. In Tabelle 12 wird das verwendete Reduktionssystem für Sprachbezeichnungen dargestellt: Tab. 12: Reduktion und Kategorisierung der Sprachbezeichnungen. Sprachbezeichnungen Reduktionskategorie Französisch ohne Spezifikation Schweizerfranzösisch Französisch in Frankreich Südfranzösisch → Französisch Dialekt in der Deutschschweiz Schweizerdeutsch ohne Spezifikation → Schweizerdeutsch Deutsch ohne Spezifikation Dialekte in der Schweiz Schweizerdeutsch ohne Spezifikation Hochdeutsch Österreichisches Deutsch Dialekte in Deutschland → Deutsch 118 Beim vorliegenden Projekt wurden die Daten aus der Romandie von Frau Dr. Minoo Shahidi quantifiziert und die Daten aus der Deutschschweiz von der Verfasserin, C. C. Dass die Interviewdaten auf Französisch und Schweizerdeutsch vorlagen, erschwerte die Quantifizierung (es wurde mit englischen Wertelabels gearbeitet). Quantifizierkonferenzen wurden in regelmässigen Intervallen zwischen März 2006 und September 2006 abgehalten. 10. Datenanalysemethoden 209 <?page no="226"?> Sprachbezeichnungen Reduktionskategorie Englisch ohne Spezifikation Amerikanisches Englisch Britisches Englisch Indisches Englisch Kanadisches Englisch → Englisch Italienisch ohne Spezifikation Italienisch in Italien Dialekte in Italien → Italienisch Spanisch ohne Spezifikation Südamerikanisches Spanisch Europäisches Spanisch → Spanisch 10.1.3 Reduktion der Begründungen Eine weitere Reduktion und Kategorisierung erfolgte für die in den Interviews eingeführten Begründungen für die Wahl von Sprachen in den drei Urteilstypen. Die quantifizierten Begründungen wurden zu diesem Zweck in zehn Kategorien eingeteilt, welche sowohl datenals auch theoriegeleitet gebildet wurden: Es handelt sich dabei um eine pragmatische Alltagsklassifikation, die keine vollständige Diskretheit der Kategorien gewährleisten kann. Bei der Kategorisierung wurden die Hypothesen der Sprachästhetikforschung soweit möglich berücksichtigt; sie mussten dazu freilich in der Laienargumentation überhaupt eine Rolle spielen (vgl. zu den Hypothesen Kap. 5.1). Folgende Kategorien wurden basierend auf den Begründungen, die von Laien während der Interviews für ihre Urteile ins Feld geführt wurden, gebildet. Eine vollständige Übersicht über die Zuordnung genannter Begründungen zu den zehn Kategorien findet sich in Appendix 3. 1. Klang: Diese Kategorie umfasst Begründungen phonetischer Art. Dabei kann es sich um Begründungen auf der suprasegmentalen Ebenen (Intonation, Rhythmus, Sprechtempo) oder auf der Ebene einzelner Laute oder Lautgruppen (z. B. der Laut/ x/ , Vokalreichtum) handeln. Diese Kategorie entspricht Van Bezoojiens (2002) klangbasierter Auslegung der Inhärenzhypothese (vgl. Kap. 5.1). 2. Formale Aspekte: Hier finden sich sprachinhärente Begründungen, die nicht klanglicher Art sind wie zum Beispiel Anmerkungen zu Grammatik, Orthographie oder Wortschatz. Kategorie 1 und 2 entsprechen zusammen der Inhärenzauffassung der Sprachästhetikforschung der 70er Jahre (vgl. Kap. 5.1). 3. Soziale Konnotation: Begründungen in diese Kategorie sind nicht sprachinhärent. Es handelt sich um Konnotationen, die Gewährspersonen mit einer Sprache haben. Beispiele dafür sind das Klima im Land, wo eine 210 II. Fragestellung und Empirie <?page no="227"?> bestimmte Sprache gesprochen wird oder die Mentalität der Menschen, die die Sprache sprechen sowie die Literatur oder kulinarische Aspekte, die mit einer Sprache assoziiert werden. Diese dritte Kategorie entspricht der Hypothese zu den sozialen Konnotationen der Sprachästhetikforschung (vgl. Kap. 5.1). 4. Metaphern: Hier handelt es sich um eine Antwortkategorie, bei der nicht klar unterschieden werden kann, ob die Argumentation sprachinhärent oder sozial konnotiert motiviert ist. Metaphorische Argumentationsweisen für die Wahl einer Sprache als schön sind etwa weich, nobel, elegant, sexy, warm oder farbig. Metaphorische Beschreibungen von hässlichen Sprachen sind beispielsweise aggressiv, grob, rau oder kalt. Metaphern zeugen von kognitiven Konzepten, die bei der Sprachbetrachtung aktiviert werden und können zum Beispiel der Analyse von Sprachideologien zugeführt werden (vgl. Kap. 3.2.4.3). 5. Schwierigkeit: Informanten empfinden das Erlernen einer Sprache als mehr oder weniger schwierig respektive einfach. Interviewpartner berichten etwa von Lieblingssprachen, die sie besonders schnell und ohne Aufwand gelernt haben. Im Gegenzug dazu wird bei der Beurteilung einer Sprache als hässlich hin und wieder angeführt, dass die Sprache zu kompliziert sei oder dass sie fast nicht lernbar sei. 6. Nützlichkeit/ direkter Gebrauch: In diese Kategorie fallen Begründungen dieser Art: Die Sprache wird auf der ganzen Welt verstanden (z. B. Englisch) oder im Gegenteil, die Sprache fungiert als Geheimsprache, weil niemand sie versteht (z. B. Rätoromanisch). Nützlich ist eine Sprache auch dann, wenn sie zu einem bestimmten Zweck oder in bestimmten Gebrauchskontexten sinnvoll eingesetzt werden kann, dies betrifft etwa die Sprachverwendung im Beruf oder bei der Hausaufgabenhilfe, wenn die eigenen Kinder eine Fremdsprache lernen. Die Begründungen, die dieser Kategorie zugeteilt werden, können mit dem rationalistischen kulturellen Modell in Verbindung gebracht werden, das Sprache primär als Kommunikationsmittel auffasst (vgl. Kap. 8.4.2.1). 7. Kompetenz/ Verständlichkeit: Die Kategorien 7 und 8 beziehen sich inhaltlich auf die Verständlichkeits- und Vertrautheitshypothese van Bezoojiens (2002, vgl. Kap. 5.1). Bei Kompetenz und Verständlichkeit geht es um die aktive Sprachkompetenz, von der die Gewährspersonen berichten: Sie sprechen beispielsweise darüber, dass sie eine Sprache in der Schule gelernt haben, in dieser Sprache lesen oder sich ohne Mühe ausdrücken können. 8. Vertrautheit/ Kontakt: Im Unterschied zu Kategorie 7 setzt Kategorie 8 keine aktive Sprachkompetenz voraus. Die Gewährspersonen berichten davon, dass sie in einer bestimmten Sprache denken oder eine emotionale Beziehung zu der Sprache haben. Sie berichten von Ferien oder Aufenthalten in Ländern, wo eine bestimmte Sprache gesprochen wird oder leben mit Personen zusammen, die eine bestimmte Sprache sprechen. 10. Datenanalysemethoden 211 <?page no="228"?> 9. Interlinguistische Vergleiche: Ein interlinguistischer Vergleich 119 besteht dann, wenn das Werturteil durch den Vergleich der beurteilten Sprache mit anderen Sprachen begründet wird. Auf die Frage, warum Französisch schön sei, wird etwa geantwortet: „ Es gefällt mir besser als Englisch. “ Interlinguistische Vergleiche werden sowohl quantitativ (wie oft kommen Vergleiche vor? ) als auch qualitativ (welche Sprachen werden verglichen? ) erfasst (zu der qualitativen Fragestellung, vgl. Kap. 8.6.2 und 8.6.3). 10. Tautologie: Eine Tautologie liegt dann vor, wenn eine befragte Person ihr negatives ästhetisches Urteil beispielsweise folgendermassen begründet: „ Russisch ist hässlich, weil es so hässlich ist. “ Als Tautologien werden aber auch ausweichende Antworten wie „ Viele Leute sagen, dass das eine hässliche Sprache ist “ oder „ Ich bin im Allgemeinen nicht so an Sprachen interessiert “ gewertet, da sie nicht die Wahl der Sprache begründen, sondern eher die Abgabe des Urteils rechtfertigen. Als problematisch muss insbesondere die Kategorie Metaphern eingestuft werden. Es fragt sich jeweils, ob die Bildspender der Metapher selbst unter Umständen in einer der anderen Kategorien zu verorten sind, ob also zum Beispiel „ weich “ aus dem Bereich des Klangs kommt und auf synästhetische Prozesse zurückzuführen ist (vgl. zum Thema Synästhesie und Metapher z. B. Taylor, 1995: 140 ff.; Barcelona, 2000 b: 35 ff.). Christen (2010: 286 f.) nimmt eine Klassifikation von alltagssprachlichen Dialektattribuierungen vor und konstantiert, dass bei den vorgenommenen Attribuierungen oftmals Konzepte aus anderen Erfahrungsbereichen auf den Bereich des Dialekts übertragen werden. Dies geschieht in metaphorischen oder metonymischen Prozessen. Der Zielbereich (target domain) ist in Christens Untersuchung immer der Dialekt. Als source domain (Ausgangsbereich) fungieren einerseits unbelebte Objekte (geometrische Körper = spitz, breit, rund; Artefakte = geschliffen, gemütlich, urchig? 120 ; Stoff = waschecht, rein, farbig) und andererseits belebte Objekte (Organismus = alt, lebendig, flink; Mensch = sympathisch, witzig, derb, vornehm). Die Autorin macht jedoch auf eine Problematik aufmerksam, die auch für die vorliegende Forschungsarbeit gilt (ibid. 287): Die Zuweisungen, die hier gemacht werden, sind alles andere als unproblematisch. Einerseits lässt sich bei einigen Adjektiven wie etwa urchig oder gemütlich nicht unmittelbar entscheiden, zu welchem Ausgangsbereich sie gehören. Das ist dem Umstand geschuldet, dass zwischen diesen Ausgangsbereichen mit semantischen Übertragungen gerechnet werden muss, deren Ausgangs- und Zielbereich synchron nicht mehr ersichtlich ist. Außerdem ist immer zu fragen, welches Stadium in einer mehrstufigen semantischen Übertragungskette überhaupt als Bildspender anzusetzen ist. 119 Der intralinguistische Vergleich (zwischen verschiedenen Varietäten einer Sprache) ist hier eingeschlossen. 120 Christen versieht diese Attribuierung selbst mit einem Fragezeichen. 212 II. Fragestellung und Empirie <?page no="229"?> Christen schliesst nicht aus, dass es sich bei einigen der metaphorischen Zuschreibungen um tote Metaphern handeln könnte. 10.1.4 Statistische Auswertungsmethoden 121 Die quantifizierten Daten wurden mit Hilfe der Statistiksoftware SPSS analysiert. Die statistische Analyse wurde so weit wie möglich mit nonparametrischen Verfahren durchgeführt. Die nonparametrischen Verfahren setzen keine Normalverteilung der Daten voraus; falls eine Normalverteilung vorliegt, sind sie den parametrischen Verfahren geringfügig unterlegen, das heisst, dass sie etwas weniger schnell eine Signifikanz anzeigen. Bereits bei einer geringen Verletzung der Normalverteilungsvoraussetzung sind die nonparametrischen Tests jedoch oft überlegen. Parametrische Verfahren wurden verwendet, wo aufgrund der Komplexität der Hypothese keine nonparametrischen Verfahren zur Verfügung standen. Zur Hypothesenprüfung kamen unterschiedliche statistische Tests zum Einsatz. Für Gruppenvergleiche wurden der Kruskal-Wallis und der Mann- Whitney-U-Test verwendet. Wo zwei Einflussvariablen untersucht wurden, wurde eine ANOVA gerechnet. Für Häufigkeiten wurden der Chi-Quadrat- Test und der Exakte Test nach Fisher verwendet. Der Exakte Test nach Fisher kann nur verwendet werden, wenn beide untersuchten Variablen je zwei Stufen haben. In einigen Analysen wurde zusätzlich zum Chi-Quadrat-Test als Zusammenhangsmass das Tau-C berechnet. Hier lagen jeweils mehr als zwei Stufen vor, und die Aussage der beiden Masse unterscheidet sich. Tau-C prüft, ob ein Anstieg vorhanden ist, also ob die Verhältnisse sich gleichmässig in der untersuchten Tabelle verändern. Ein Beispiel wäre, dass mit zunehmendem Alter immer seltener Englisch als Lieblingssprache genannt wird (vgl. Kap. 12.1.3, Hypothese 3). Der Chi-Quadrat-Test prüft nur, ob Unterschiede vorliegen, welcher Art auch immer diese sind. In diesem Beispiel würde das bedeuten, dass Englisch in verschiedenen Altersgruppen unterschiedlich oft genannt wird. Für die Variable Alter gilt überdies Folgendes: Wo Tau-C für Altersgruppen berechnet wurde, wurde alternativ die jüngste Gruppe (13bis 17-Jährige) ausgeschlossen, da sich diese noch in der Ausbildung befindet (mit obligatorischem, institutionellem Fremdsprachenunterricht) und ihre sprachliche Situation sich somit stark von derjenigen der anderen Gewährspersonen unterscheidet. Die Tabellen zu den Berechnungen mit Chi-Quadrat und Tau-C enthalten je eine Auswertung pro Zeile. Zuerst werden die prozentualen Häufigkeiten genannt, dann die statistische Auswertung. Aus den prozentualen Häufigkeiten können die absoluten Häufigkeiten rekonstruiert werden, welche üblicherweise als Basis für einen Chi-Quadrat-Test angegeben werden. 121 Die statistische Analyse (vgl. Kap. 11 und 12) sowie die Erstellung dieses Kapitels erfolgten in Zusammenarbeit mit Michael Mittag, Basel. 10. Datenanalysemethoden 213 <?page no="230"?> Für Zusammenhänge wurde einerseits das oben erwähnte Tau-C gerechnet, andererseits wurden Korrelationen mit Spearman ’ s Rho berechnet. Für Analysen bezüglich der Hypothesen zur Begründungsproduktivität wurde jeweils nur die erstgenannte Sprache ausgewertet (vgl. Kap. 11.6). Dadurch entfallen Störvariablen, wie dass die Begründungsmuster für zweit- und drittgenannte Sprachen ändern, oder dass wahrscheinlich nur bestimmte (nämlich tendenziell eher sprachgewandte) Gewährspersonen überhaupt mehrere Sprachen nennen. Für einige Betrachtungen wurde auf eine statistische Analyse gänzlich verzichtet, da die Daten sich zu weit auf einzelne Untergruppen verteilten, und somit die Häufigkeiten pro Untergruppe sehr gering ausfielen (vgl. die Analysen in Kapitel 12 zu den Begründungsmustern nach sozialen Variablen). 10.2 Qualitative Analyse des teilstandardisierten Interviews In die qualitative Analyse flossen insgesamt 60 Interviews mit besonders narrativem Charakter ein, die zuvor in der Deutschschweiz durchgeführt worden waren. Zu diesem Zweck wurde das gesprochene Interviewmaterial schriftlich fixiert, also transkribiert (vgl. Kap. 10.2.1). Die Analyse folgte Mayrings Modell der qualitativen Inhaltsanalyse (vgl. Kap. 10.2.2) und wurde Computer-unterstützt mit der Software ATLAS.ti analysiert (vgl. Kap. 10.2.3). 10.2.1 Transkription des Interviewmaterials Für die Interviewtranskription wurde ein Regelkatalog erstellt, um einerseits Konsistenz im Vorgehen und andererseits die Lesbarkeit der Transkriptionen zu gewährleisten. Der Level der Exaktheit von Transkriptionen variiert zwischen unterschiedlichen Studien beachtlich und zwar in Abhängigkeit davon, welche Analysen daran durchgeführt werden sollen. Die vorliegende Forschungsarbeit konzentriert sich primär auf die inhaltlichen Aspekte der Interviews. Deswegen werden zum Beispiel phonetische Merkmale weitgehend unberücksichtigt gelassen (z. B. die Intonation). Eine Ausnahme bilden die Passagen, in denen Informanten die Sprache oder den Dialekt, welche/ n sie gerade beschreiben, zu imitieren versuchen. Die Rolle der Interviewerin wird in der Analyse nicht berücksichtigt, deswegen werden Hörermerkmale seitens der Interviewerin (im Turn der Gewährsperson) lediglich durch ein Symbol gekennzeichnet. In Appendix 4 findet sich eine Tabelle, die einen Überblick gibt über die verwendeten Transkirptionsregeln und Spezialsymbole. Inspirationen und konkrete Ideen für die Transkriptionsregeln stammen sowohl aus Schwitalla (2003) als auch (insbesondere für die speziellen Regelungen bezüglich des 214 II. Fragestellung und Empirie <?page no="231"?> Schweizerdeutschen) aus Dieth (1986) sowie aus den Unterlagen eines an der Universität Basel durchgeführten Forschungsprojekts mit schweizerdeutschen Interviewdaten 122 . Einige Besonderheiten der vorliegenden Transkriptionen (z. B. die Tatsache, dass Zeilen nicht nummeriert werden) sind auf die Verwendung der Software ATLAS.ti und ihre spezifischen Anforderungen zurückzuführen. 10.2.2 Qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring 123 Bei der qualitativen Analyse des schriftlich fixierten Interviewmaterials folge ich den Prinzipien der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (z. B. 2008). Im Zentrum dieses Ansatzes steht das kategoriengeleitete Arbeiten, das heisst die interpretative Zuordnung von Materialstellen zu Kategorien. Das Kategoriensystem ist also „ das zentrale Instrument der Analyse “ (ibid. 43). Aber wie kommt man zu diesen Analysekategorien? Im Fall der vorliegenden Untersuchung handelt es sich mehrheitlich um deduktive Kategorien, die folgendermassen ausgestaltet sind (ibid. 74 f.): Eine deduktive Kategoriendefinition bestimmt das Auswertungsinstrument durch theoretische Überlegungen. Aus Voruntersuchungen, aus dem bisherigen Forschungsstand, aus neu entwickelten Theorien oder Theoriekonzepten werden die Kategorien in einem Operationalisierungsprozeß auf das Material hin entwickelt. Die ausführliche Darstellung der qualitativen Forschungsfragen in Kapitel 8.4 ist im Lichte dieses Operationalisierungsprozesses zu verstehen. Wann immer es das Interviewmaterial erfordert, werden auch induktive Kategorien gebildet, welche die deduktiven ergänzen (ibid. 75): Eine induktive Kategoriendefinition hingegen leitet die Kategorien direkt aus dem Material in einem Verallgemeinerungsprozeß ab, ohne sich auf vorab formulierte Theorienkonzepte zu beziehen. Einer der Fragekomplexe der qualitativen Analyse ist auf Grund solcher aus dem Material emergierenden induktiven Kategorien entstanden (vgl. Kap. 8.6). In der Regel wird das „ klassische “ qualitative Arbeiten eher mit induktiven als mit deduktiven Kategorien assoziiert (vgl. z. B. die Grounded Theory nach Glaser/ Strauss, 1967). Das Entwerfen eines Kodierleitfadens gehört zu den zentralen Aufgaben der qualitativen Inhaltsanalyse (vgl. Mayring, 2008: 82 ff.). Dieser besteht aus 122 Projekt „ Literale Kompetenzen und literale Sozialisation von Jugendlichen aus schriftfernen Lebenswelten - Faktoren der Resilienz oder: Wenn Schriftaneignung trotzdem gelingt “ unter der Leitung von Prof. Annelies Häcki Buhofer, Deutsches Seminar, Universität Basel. 123 Zahlreiche Anregungen für dieses Kapitel habe ich im Rahmen eines von Philipp Mayring geleiteten Workshops zum Thema „ Qualitative Inhaltsanalyse “ an der Fachhochschule Nordwestschweiz am 19. Januar 2010 erhalten. 10. Datenanalysemethoden 215 <?page no="232"?> einer Liste mit den definierten Kategorien und Subkategorien. Für jede Kategorie erfolgt eine Definition und es wird zusätzlich festgelegt, in welcher Kontexteinheit des Materials die Kategorie kodiert werden soll 124 . Ferner werden für jede Kategorie konkrete Textstellen angeführt, so genannte Ankerbeispiele, an denen man sich beim weiteren interpretativen Zuordnen von Textmaterial zu Kategorien orientieren kann. Wenn Abgrenzungsprobleme zwischen Kategorien bestehen, werden Kodierregeln notiert, um eindeutige Zuordnungen zu gewährleisten. Der vollständige Kodierleitfaden für die Erforschung affektiver und ästhetischer Sprachurteile findet sich in Appendix 5. In Tabelle 13 wird ein Ausschnitt zur Illustration des oben geschilderten Vorgehens dargestellt: Tab. 13: Ausschnitt aus dem Kodierleitfaden am Beispiel der Kategorie „ nationale Identität “ . Kategorie Kontexteinheit Subkategorien (Name und ATLAS.ti- Kürzel) Definition Ankerbeispiel Kodierregeln Identität/ Alterität Deduktiv Urteils- und Begründungssequenzen (Sequenz 3 - 13) Nationale Identität (IDnat) Wirbild/ Selbstbild europäisch und global orientiert (Nachbarländer, Europa, Welt) 5.4. Ja Rätoromanisch findi au ganz schön. [HS]. Das isch eifach a so öppis wo wo mich a fasziniert am Rätoromanische dass es eh so einzigartig isch. [HS]. Ehm ich dänke a so chli stolz druf si, dass mr das i de Schwiiz hend. Keine Zu den besonders nennenswerten Eigenschaften des Ansatzes nach Mayring gehört, dass quantitative Schritte nicht aus der Analyse ausgeschlossen werden, im Gegenteil: Das Auszählen von Fundstellen zu einer bestimmten Kategorie gehört zu den erwünschten Analyseschritten. Je nach Erkenntnisinteresse wird nach dem gemeinsamen Auftreten (oder dem Auftreten in Folge) bestimmter Kodierungen (Zuweisungsstellen im Text) gesucht oder geprüft, welche Kategorien in welchen Kontexteinheiten frequent sind (in der vorliegenden Arbeit etwa Kategorien nach Urteilstyp). Positiv hervorzuheben ist ferner die ausgeprägte Systematik des Ansatzes von Mayring: Die Kategorien werden in einem zirkulären Prozess so lange angepasst und modifiziert, bis sich ein stabiles System herauskristallisiert, das auf das gesamte Material sinnvoll angewendet werden kann. Die Logik des Kategoriensystems wird also kontinuierlich überarbeitet. Im Fall der vorliegenden Arbeit wurde folgendermassen vorgegangen: Zunächst wurde ein Kategoriensystem gemäss den Anforderungen, wie sie oben beschrieben wurden, erstellt. Dieses wurde an zehn Interviews getestet und verfeinert. Das verfeinerte System wurde in einer Kodierkonferenz besprochen und gemäss den 124 Unter Kodieren wird das Zuweisen von Textstellen zu Kategorien verstanden. 216 II. Fragestellung und Empirie <?page no="233"?> Anregungen der Testkodierer und Testkodiererinnen weiter transformiert 125 . Anschliessend wurde das stabile Kategoriensystem auf die gesamte Stichprobe angewendet. 10.2.3 Computer-unterstützte qualitative Datenanalyse (CAQDA) Für die vorliegende Forschungsarbeit wurde der qualitative Datensatz mit Hilfe der Software ATLAS.ti analysiert 126 . Ganz unabhängig davon, mit welcher Software eine qualitative Analyse durchgeführt wird, gilt stets derselbe Grundsatz: Neue Theorien werden nicht von einer Software entwickelt und zu neuen Erkenntnissen gelangt nicht die Software, sondern diese Prozesse finden immer nur mit Hilfe einer Software statt. Barry (1998: 2.6.) postuliert, dass insbesondere Nachwuchsforschende vom Misskonzept ausgehen, die Software selbst sei ein epistemologischer Standpunkt in der qualitativen Forschung, was sie selbstverständlich niemals ist. Fielding/ Lee (1998: 10) bringen den Nutzen der Computer-unterstützten qualitativen Forschung (CAQDA = computer assisted qualitative data analysis) folgendermassen auf den Punkt: Of course, one can build theory with paper and pencil, or while in the bath or walking down the street. What the software does is to facilitate and enhance theoretical development [. . .]. CAQDA sollte niemals den Typ der Analyse, welche ausgeführt wird, diktieren, sondern sie sollte gemäss dem Analysetyp, der für die betreffende Forschungsarbeit ins Auge gefasst wird, angewendet werden. Bei der vorliegenden Forschungsarbeit handelt es sich also nur untergeordnet um eine Analyse mit ATALS.ti, übergeordnet handelt es sich um eine qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring. Die Befürchtungen, die Barry (1998: 2.9 gestützt auf Buston, 1997) zitiert, sind bei korrektem Vorgehen also unbegründet: There are fears among non-users that CAQDA might be a monster and hi-jack the analysis. However, the consensus is that such packages are not monstrous but only exert some moderate degree of influence on the process of analysis. Bei Weizman/ Miles (1995: 16 ff.) findet sich eine hilfreiche Übersicht über unterschiedliche Softwareoptionen für die Computer-unterstützte qualitative Datenanalyse. Die Software ATLAS.ti kann den so genannten code-based theory 125 Die Kodierkonferenz fand im Mai 2010 im Rahmen des Forschungskolloquiums Linguistik an der Universität Basel statt. Die Kodierkonferenz hat ergeben, dass die Nachvollziehbarkeit der Kategorien insgesamt gut ist. Für die Analyse der Intralinguistischen Vergleiche (vgl. Kap. 8.6.3) wurde ein Kategoriensystem mit höherer Granularität vorgeschlagen, was so übernommen wurde. 126 Diese Software wurde von einer interdisziplinären Arbeitsgruppe (Psychologie, Informatik, Linguistik) an der TU Berlin entwickelt. Mayring (2008: 102 f.) schreibt, dass ATLAS.ti aktuell die umfassendsten Möglichkeiten bietet für die Computer-unterstützte qualitative Inhaltsanalyse. 10. Datenanalysemethoden 217 <?page no="234"?> builders zugeordnet werden. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie sowohl zum Kodieren des Materials verwendet werden können, als auch Abruf- und Suchfunktionen haben. Zusätzlich beinhalten sie spezielle Funktionen, die der Theoriebildung zu Gute kommen, z. B. können Kodes in Superkodes zusammengeführt werden oder das gemeinsame respektive aufeinanderfolgende Auftreten von Fundstellen zu bestimmten Kategorien kann exploriert werden (vgl. Kap. 13.1.1). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass CAQDA ein überaus nützliches Werkzeug ist, um grosse Datenmengen zu verwalten und zu organisieren. CAQDA wirkt ferner unterstützend bei der systematischen Strukturierung und der Reduktion der Datenmenge. In der vorliegenden Untersuchung werden keine komplexen Analysen zur Theoriebildung mit ATLAS.ti durchgeführt (etwa eine typisierende Strukturierung oder die Vernetzung von Kodes, vgl. Mayring, 2008: 101 ff.), so dass das Potenzial von CAQDA bei weitem nicht ausgeschöpft wird. Der Einsatz der Computerunterstützten qualitativen Datenanalyse muss in der vorliegenden Arbeit im Kontext des spezifischen Forschungsdesigns verstanden werden, wo die Resultate der qualitativen Analyse die Resultate der quantitativen Analyse ergänzen und daher kein abgeschlossenes System zu bilden brauchen. 10.3 Zusammenfassung Im Zuge des Conversion Mixed Designs erfolgt sowohl eine quantitative als auch eine qualitative Analyse des Interviewmaterials. Für die quantitative, statistische Analyse müssen die verbalen Daten quantifiziert werden, also in eine numerische Form gebracht werden. Dazu werden zunächst Analyseeinheiten im Interviewleitfaden definiert, die quantifiziert werden sollen. Beim Abhören der Interviews werden unterschiedlichen Antworten der Gewährspersonen unterschiedliche Werte zugeordnet. Daraus ergibt sich eine Liste mit Wertelabels für jede Analyseeinheit. Mit Hilfe von Quantifizierungskonferenzen konnte sichergestellt werden, dass für die Interviews der Deutschschweiz und der Romandie ein einheitliches System verwendet wird, das intersubjektiv nachvollziehbar ist. Im Hinblick auf die statistische Analyse wurden einige Wertelabel-Listen weiter kategorisiert und damit reduziert. Dies betrifft zum Beispiel die Analyseeinheiten der drei Urteilstypen, also die genannten und quantifizierten Sprachbezeichnungen. Zum anderen werden die zahlreichen unterschiedlichen Begründungen für die affektiven und ästhetischen Urteile folgenden zehn Kategorien zugeordnet: Klang, formale Aspekte, soziale Konnotationen, Metaphern, Schwierigkeit, Nützlichkeit/ direkter Gebrauch, Kompetenz/ Verständlichkeit, Vertrautheit/ Kontakt, interlinguistische Vergleiche sowie Tautologien. Die Praxis der Reduktion mittels Kategorisierung ist nicht ganz unproblematisch, da die Kategorienzugehörigkeit nicht immer eindeutig bestimmbar ist, und die 218 II. Fragestellung und Empirie <?page no="235"?> Kategorien daher nicht gänzlich distinktiv sind (z. B. die Kategorie Metaphern). Nach der Quantifizierung kommen insbesondere nonparametrische statistische Verfahren zur Prüfung der Forschungsfragen und aufgestellten Hypothesen zum Einsatz. Um das Interviewmaterial einer qualitativen Inhaltsanalyse unterziehen zu können, musste dieses zuvor gemäss klar festgelegten Transkriptionsregeln schriftlich fixiert werden. Danach wurde ein Kategoriensystem entwickelt, das mehrheitlich aus deduktiven (theoriegeleiteten), vereinzelt aber auch aus induktiven Kategorien besteht. Dieses wurde so lange an einer kleinen Stichprobe überarbeitet und angepasst, bis es (nachdem es zusätzlich bei einer Kodierkonferenz besprochen werden konnte) als stabil betrachtet wurde und auf die gesamte Stichprobe angewendet werden konnte. Mit Hilfe der Computer-unterstützten qualitativen Datenanalyse wurden alsdann unter anderem Frequenzanalysen für einzelne Kategorien oder Analysen des Auftretens bestimmter Kategorien nach Urteilstypen durchgeführt. Die CAQDA-Software ATLAS.ti wirkte dabei als nützliches Analysewerkzeug - als epistemologischer Standpunkt darf sie aber nicht begriffen werden. 10. Datenanalysemethoden 219 <?page no="237"?> III. Resultate und Diskussion <?page no="239"?> 11. Das laienlinguistische Argumentationsspektrum Kapitel 11 bietet einerseits einen Überblick über die von den Informantinnen und Informanten während der Interviews thematisierten Sprachen. Andererseits wird die Produktivität der befragten Personen bei der Beurteilung in den drei untersuchten Urteilstypen dargestellt (affektives Urteil, positives ästhetisches Urteil sowie negatives ästhetisches Urteil). Weiter werden die genannten Begründungen für die Wahl einer Sprache in den unterschiedlichen Urteilstypen untersucht. 11.1 Genannte Sprachen Über welche Sprachen sprechen Laien, wenn sie in Interviews dazu aufgefordert werden, sprachliche Werturteile abzugeben? Kapitel 11.1 erfasst und beschreibt das gesamte laienlinguistische Spektrum: Alle Sprachen, Varietäten und Sprachbezeichnungen, die von den Interviewpartnerinnen und -partnern in den drei Urteilstypen erwähnt werden, finden Eingang in diese Darstellung. 11.1.1 Globale Übersicht In der globalen Übersicht wird die Summe aller genannten Sprachen aus den drei Urteilstypen dargestellt. Die Zahl der unterschiedlichen Antworten ist höher als im Vorfeld der Studie angenommen: Insgesamt konnten 60 verschiedene Sprachbezeichnungen kategorisiert werden 127 . 127 Bei folgenden Sprachbezeichnungen erfolgte eine Kategorisierung bereits auf dieser Analyseebene: Dialekte in der Schweiz ist eine Antwortkategorie, die auf dieser Stufe schon zusammenfassend dargestellt wird: Die Informantinnen und Informanten sprechen über unterschiedliche Dialekte der Schweiz; bei der Bezeichnung Dialekte in Deutschland liegt die gleiche Situation vor. Die Bezeichnung Schweizerdeutsch ist ein Begriff, der verschiedene Bezeichnungen, die von den Befragten dafür verwendet werden, wie etwa „ Mundart “ oder „ Buuredütsch “ , zusammenfassend wiedergibt. Für die deutsche Standardsprache (hier als Hochdeutsch wiedergegeben) werden ebenfalls verschiedene Bezeichnungen verwendet, wie etwa „ Schriftsprache “ , „ Schriftdeutsch “ oder in der Romandie „ le bon Allemand “ . Französisch in Frankreich umfasst auch die selten vorkommende Bezeichnung Standardfranzösisch. Kein Unterschied wird für die statistische Analyse gemacht, wenn Interviewpartnerinnen und -partner auf nationale Varianten Bezug nehmen (also eine Unterscheidung zwischen Schweizerhochdeutsch und Hochdeutsch gesprochen von Personen aus Deutschland vorneh- <?page no="240"?> Im Folgenden werden die 60 verwendeten Antwortkategorien global aufgezeigt 128 . Tab. 14: Genannte Sprachen global (in allen drei Urteilstypen) und Anzahl Nennungen pro Sprache. Französisch ohne Spez. 196 Türkisch 5 Schweizerdeutsch ohne Spez. 150 Europäisches Spanisch 4 Italienisch ohne Spez. 148 Polnisch 4 Englisch ohne Spez. 91 Skandinavische Sprachen 4 Hochdeutsch 69 Afrikanische Sprachen 3 Spanisch ohne Spez. 66 Albanisch 3 Dialekte in der Schweiz 36 Neugriechisch 3 Arabisch 26 Ostblocksprachen 3 Holländisch 23 Slawische Sprachen 3 Russisch 23 Thailändisch 3 Französisch in Frankreich 23 Tschechisch 3 Chinesisch 16 Dialekte in Deutschland 2 Amerikanisches Englisch 11 Katalanisch 2 Deutsch ohne Spez. 11 Norwegisch 2 Romanische Sprachen 10 Serbokroatisch 2 Schweizerfranzösisch 10 Altgriechisch 1 Germanische Sprachen 8 Baltische Sprachen 1 Persisch 8 Brasilianisches Portugiesisch 1 Rätoromanisch 8 Computersprache 1 Britisches Englisch 7 Dialekte in Italien 1 Dänisch 7 Finnisch 1 Ostsprachen 7 Indisch 1 Schwedisch 7 Indisches Englisch 1 Balkansprachen 6 Italienisch in Italien 1 Japanisch 6 Kanadisches Englisch 1 Österreichisches Deutsch 6 Koreanisch 1 Asiatische Sprachen 5 Samisch 1 men). Holländisch wird von einigen Informantinnen und Informanten als „ Niederländisch “ im Interview eingebracht. Wenn Informantinnen und Informanten auf einzelne Personen und deren Sprechstile verweisen, werden diese Angaben für die statistische Auswertung nicht verwertet. 128 Eine alphabetische Übersicht über alle genannten Sprachbezeichnungen findet sich in Appendix 6. 224 III. Resultate und Diskussion <?page no="241"?> Jugoslawisch 5 Südfranzösisch 1 Portugiesisch 5 Tamilisch 1 Südamerikanisches Spanisch 5 Ukrainisch 1 Anmerkung. ohne Spez. = ohne Spezifikation. Sprachen mit ≥ 10 Nennungen werden fett wiedergegeben. Es kristallisiert sich heraus, dass Französisch, Schweizerdeutsch, Italienisch, Englisch, Hochdeutsch und Spanisch die Sprachen sind, die mit Abstand am häufigsten beurteilt werden; sie erreichen allesamt mehr als 60 Nennungen. Bei den Bezeichnungen handelt es sich um Begriffe der übergeordneten Ebene (vgl. Kap. 3.2.2.6 zur Prototypentheorie). Die Rangfolge kann dahingehend interpretiert werden, dass nebst der jeweiligen L1 der Interviewpartnerinnen und -partner diejenigen Sprachen hochfrequent vorkommen, die an Schweizer Schulen gelernt und gelehrt werden (Italienisch, Englisch, Spanisch 129 ). Hochdeutsch wird erstaunlich selten genannt in Anbetracht der Tatsache, dass es in der Romandie verpflichtendes Schulfach und in der Deutschschweiz Teil der diglossischen Sprachsituation ist. Die vierte Landessprache, Rätoromanisch, hat mit lediglich acht Nennungen ebenfalls eine marginale Position inne. Wider Erwarten spielen die typischen Migrationssprachen Albanisch und Serbisch/ Kroatisch keine herausragende Rolle in der metalinguistischen Praxis von Laien in der Schweiz, ganz im Gegensatz zu Arabisch, das mit 26 Nennungen relativ häufig genannt wird, jedoch weniger in der Schweiz wohnhafte Sprechende aufweist als die oben genannten Sprachen. Aus der Tabelle geht deutlich hervor, dass es Sprachen gibt, bei denen in der evaluativen Laienmetasprache eine höhere Granularitätsebene erreicht wird als bei anderen (wobei die Begriffe der übergeordneten Ebene in der Regel bei allen Sprachen die meistgenannten sind). Dies betrifft sowohl die Landessprachen (es wird zwischen Deutsch, Hochdeutsch, Schweizerdeutsch und unterschiedlichen Dialekten in der Schweiz unterschieden ebenso zwischen Französisch, Französisch in Frankreich und Schweizerfranzösisch) als auch Englisch und Spanisch. Bei Englisch wird nach dem Terminus der übergeordneten Ebene (Englisch ohne Spezifikation) Amerikanisches Englisch häufiger genannt als Britisches Englisch (jeweils mit einer Nennung vertreten sind auch das Indische Englisch und das Kanadische Englisch). Beim Spanischen rangiert wiederum der Begriff der übergeordneten Ebene Spanisch zuoberst, gefolgt vom Südamerikanischen Spanisch und dem Europäischen Spanisch. Die Gewährspersonen referieren ausserdem wiederholt auf Sprachgruppen, die bezüglich ihrer implizierten Mitglieder wenig klar definiert sind. Hier ist der Grad der Granularität sehr niedrig: Die Wahrnehmung ist nicht 129 Im Falle von Spanisch jedoch nur vereinzelt und insbesondere an Gymnasien. 11. Das laienlinguistische Argumentationsspektrum 225 <?page no="242"?> hochaufgelöst und die Ränder der Kategorien sind, im Gegensatz zu den oben genannten Beispielen mit hoher Granularität, verschwommen. Zu nennen ist beispielsweise der Begriff Romanische Sprachen, der mit zehn Nennungen vertreten ist. Es dürfte sich dabei um einen Sammelbegriff für die Sprachen Französisch, Italienisch und Spanisch handeln, die auch sonst relativ häufig genannt werden. Ob etwa Latein oder Portugiesisch aus der Perspektive der Laien, die diesen Begriff verwenden, Teil der Kategorie sind, bleibt unklar. Weitere solche Sammelbegriffe sind teils geographischer (Toponyme) teils geopolitischer Art, z. B. Asiatische Sprachen, Baltische Sprachen, Balkansprachen oder Ostblocksprachen. Wie in Kapitel 2.2.2 gezeigt wurde, kann Sprachbewusstheit und die daraus resultierende metasprachliche Praxis in ihrer Art nicht nur unterschiedlich spezifisch sein, sie kann auch unterschiedlich korrekt sein. Die Bezeichnungen Jugoslawisch beispielsweise, die fünf Mal gefallen ist, lässt sich aus sprachwissenschaftlicher Sicht semantisch nicht sinnvoll füllen. Die im laienlinguistischen Spektrum eingeführten metasprachlichen Kategorien zeigen, dass die innere linguistische Wahrnehmungswelt von Laien unterschiedlich spezifisch organisiert ist: Es kommen sowohl sehr spezifische Bezeichnungen vor, als auch globale Benennungen, deren Reichweite oftmals im Dunkeln bleibt. Die Sprachbewusstseinsart Spezifität wird im Fall des laienlinguistischen Spektrums wesentlich von Nähe-Distanz- Faktoren gesteuert. 11.1.1.1 Organisation des dialektalen Wissens auf der vertikalen Kategorisierungsachse in der Deutschschweiz Gestützt auf die Ausführungen in Kapitel 8.2.1.1 wird davon ausgegangen, dass das dialektale Wissen auf der Ebene der Kantonsmundarten organisiert ist, da dies die Ebene der Primärbegriffe (Basisebene) ist. Die Elemente dieser Ebene haben eine Gestalt und sollten sich daher leichter konzeptualisieren lassen als die Elemente der übergeordneten Ebene (Schweizerdeutsch, Deutsch ohne Spezifikation). Tatsächlich verhält es sich im Fall der Deutschschweizer Gewährspersonen aber so, dass sie viel öfter die Bezeichnung Schweizerdeutsch verwenden, als dass sie von spezifischen Kantonsmundarten sprechen (69 Mal wird Schweizerdeutsch genannt, lediglich 29 Mal Kantonsmundarten und sieben Mal ein Orts- oder Regionaldialekt. Von der sehr vagen Bezeichnung Deutsch wird nur elf Mal auch auf Nachfrage nicht abgerückt). Bei den Orts- und Regionaldialekten handelt es sich immer um den Dialekt der Gewährsperson selbst, was die hohe Spezifität erklärt. Es gibt zwei Möglichkeiten, dieses Resultat zu interpretieren: Es kann einerseits als Konsequenz einer methodologischen Entscheidung gedeutet werden, da in den Interviews jeweils nach „ Sprachen “ gefragt wurde (vgl. Kap. 9.3.2). Dies mag der Grund sein, weshalb sich einige Gewährspersonen nicht über Dialekte äussern. Die Resultate zur Rückfragetätigkeit (vgl. 226 III. Resultate und Diskussion <?page no="243"?> Kap. 13.1.4) zeigen jedoch, dass im ersten abgefragten Urteilstyp am häufigsten eine Rückfrage nach der Granulartiätsebene, auf der die Antwort erfolgen soll, stattfindet (9 der 60 Gewährspersonen aus der qualitativen Stichprobe erkundigen sich, ob sie auch Dialekte nennen dürfen). Das Resultat alleine auf methodologische Ursachen zurückzuführen wäre also etwas voreilig. Eine andere Auslegungsart ist, das Resultat auf den semiotischen Ideologieprozess der Erasure zurückzuführen, bei dem eine linguistische Praxis vereinfacht wahrgenommen wird, damit sie mit einer bestimmten Ideologie kompatibel wird. Für die Funktionalität der Dialektideologie in der Deutschschweiz (vgl. Kap. 8.3.6, Hypothese 13) ist das Zusammenfassen der alemannischen Dialekte zu einem Schweizerdeutsch essentiell: Schweizerdeutsch kann als bedeutungsvolle Antipode zu Hochdeutsch fungieren (was für einzelne Kantonsmundarten schwieriger wäre). Die Begründungen, die für die Wahl von Schweizerdeutsch ins Feld geführt werden, zeugen partiell davon, dass Schweizerdeutsch für Laien Gestalt-Charakter hat, obwohl es der übergeordneten Ebene angehört: Bei der Wahl von Schweizerdeutsch im negativen ästhetischen Urteilstyp beispielsweise wird über einzelne Laute argumentiert (vgl. Appendix 9). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Kategorisierungen der Art Schweizerdeutsch/ Kantonsmundart in der evaluativen Laienmetasprache wahrscheinlich nicht alleine über Wahrnehmungen gesteuert werden, sondern ebenso über kulturelle Werte und Ideologien (vgl. Christen, 1998: 264 sowie Kap. 8.2.1.1). 11.1.2 Lieblingssprachen In Tabelle 15 werden alle genannten Lieblingssprachen aufgezeigt. Das Spektrum der Lieblingssprachen umfasst insgesamt 30 Sprachbezeichnungen. Tab. 15: Genannte Lieblingssprachen und Anzahl Nennungen pro Sprache. Französisch ohne Spez. 104 Österreichisches Deutsch 2 Englisch ohne Spez. 52 Persisch 2 Schweizerdeutsch ohne Spez. 52 Rätoromanisch 2 Italienisch ohne Spez. 41 Afrikanische Sprachen 1 Spanisch ohne Spez. 18 Chinesisch 1 Hochdeutsch 16 Dialekt in Deutschland 1 Dialekte in der Schweiz 15 Europäisches Spanisch 1 Französisch in Frankreich 14 Italienisches Italienisch 1 Deutsch ohne Spez. 9 Kanadisches Englisch 1 Schweizer Französisch 7 Katalanisch 1 Russisch 4 Neugriechisch 1 Amerikanisches Englisch 3 Norwegisch 1 Britisches Englisch 3 Polnisch 1 11. Das laienlinguistische Argumentationsspektrum 227 <?page no="244"?> Holländisch 3 Schwedisch 1 Arabisch 2 Südamerikanisches Spanisch 1 Anmerkung. ohne Spez. = ohne Spezifikation. Sprachen mit ≥ 10 Nennungen werden fett wiedergegeben. Französisch und Schweizerdeutsch dominieren im affektiven Urteilstyp. Es handelt sich dabei um die beiden häufigsten L1 der Befragten. Französisch ist mit Abstand die beliebteste Sprache und wird über 100 Mal als Lieblingssprache genannt - ob diese Nennungen ausschliesslich aus der Romandie stammen, oder ob Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer Französisch auch als Lieblingssprache bezeichnen, wird in Kapitel 12.4.3 (Hypothese 12) beantwortet. Schweizerdeutsch wird immerhin 52 Mal als Lieblingssprache genannt und damit gleich oft wie Englisch. Dies kann einerseits von der grossen Popularität von Englisch zeugen, das affektiv gleich positiv bewertet wird wie eine der L1 der Informantinnen und Informanten, es kann aber auch davon zeugen, dass Schweizerdeutsch sich nicht allgemeiner Beliebtheit erfreut (also nicht von französischen Schweizerinnen und Schweizern und Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern in gleichem Masse als Lieblingssprache gewählt wird, wie dies für Englisch erwartet wird) (vgl. Kap. 8.3.6, Hypothese 11). 11.1.3 Schöne Sprachen Tabelle 16 gibt Aufschluss darüber, was die Gewährspersonen auf die Frage „ Welches ist die schönste Sprache? “ antworten. Insgesamt werden 36 verschiedene Sprachbezeichnungen ins Feld geführt. Den befragten Personen fallen also etwas mehr schöne Sprachen als Lieblingssprachen (30) ein. Tab. 16: Genannte schöne Sprachen und Anzahl Nennungen pro Sprache. Italienisch ohne Spez. 102 Schweizer Französisch 3 Französisch ohne Spez. 86 Amerikanisches Englisch 2 Spanisch ohne Spez. 43 Neugriechisch 2 Englisch ohne Spez. 29 Portugiesisch 2 Hochdeutsch 18 Schwedisch 2 Schweizerdeutsch ohne Spez. 14 Altgriechisch 1 Dialekte in der Schweiz 11 Asiatische Sprachen 1 Romanische Sprachen 10 Dänisch 1 Französisch in Frankreich 9 Deutsch ohne Spez. 1 Russisch 8 Dialekt in Italien 1 Persisch 6 Europäisches Spanisch 1 Arabisch 5 Finnisch 1 228 III. Resultate und Diskussion <?page no="245"?> Britisches Englisch 4 Katalanisch 1 Rätoromanisch 4 Serbokroatisch 1 Südamerikanisches Spanisch 4 Südfranzösisch 1 Chinesisch 3 Thailändisch 1 Österreichisches Deutsch 3 Tschechisch 1 Polnisch 3 Türkisch 1 Anmerkung. ohne Spez. = ohne Spezifikation. Sprachen mit ≥ 10 Nennungen werden fett wiedergegeben. Bei der positiven ästhetischen Beurteilung von Sprachen sticht sofort ins Auge, dass die Varietäten des Deutschen einige Ränge einbüssen im Vergleich zum affektiven Urteilstyp und dann in der Reihenfolge Hochdeutsch, Schweizerdeutsch und Dialekte in der Schweiz erscheinen. Die gemäss den 280 Informantinnen und Informanten schönsten Sprachen sind Italienisch und Französisch. Mit einigem Abstand folgen danach Spanisch und Englisch. Damit treten beim positiven ästhetischen Urteil dieselben Sprachen häufig auf wie beim affektiven Urteil, allerdings ist die Reihenfolge eine ganz andere und wird nicht so sehr von den beiden L1 der befragten Personen dominiert. Die Vertrautheitshypothese der Sprachästhetikforschung trifft also eher auf das affektive Urteil zu als auf das positive ästhetische Urteil. 11.1.4 Hässliche Sprachen Tabelle 17 illustriert, welche Sprachen von den Gewährspersonen als hässlich bezeichnet werden. Die Diversität der Sprachbezeichnungen ist bei den hässlichen Sprachen am grössten: Es werden insgesamt 44 verschiedene Sprachbezeichnungen verwendet. Tab. 17: Genannte hässliche Sprachen und Anzahl Nennungen pro Sprache. Schweizerdeutsch ohne Spez. 84 Albanisch 3 Hochdeutsch 35 Ostblocksprachen 3 Holländisch 20 Portugiesisch 3 Arabisch 19 Slawische Sprachen 3 Chinesisch 12 Afrikanische Sprachen 2 Russisch 11 Europäisches Spanisch 2 Dialekte in der Schweiz 10 Rätoromanisch 2 Englisch ohne Spez. 10 Thailändisch 2 Germanische Sprachen 8 Tschechisch 2 Ostsprachen 7 Baltische Sprachen 1 Amerikanisches Englisch 6 Brasilianisches Portugiesisch 1 11. Das laienlinguistische Argumentationsspektrum 229 <?page no="246"?> Balkansprachen 6 Computersprachen 1 Dänisch 6 Deutsch ohne Spez. 1 Französisch ohne Spez. 6 Dialekt in Deutschland 1 Japanisch 6 Indisches Englisch 1 Italienisch 5 Koreanisch 1 Jugoslawisch 5 Norwegisch 1 Spanisch ohne Spez. 5 Österreichisches Deutsch 1 Asiatische Sprachen 4 Samisch 1 Schwedisch 4 Serbokroatisch 1 Skandinavische Sprachen 4 Tamilisch 1 Türkisch 4 Ukrainisch 1 Anmerkung. ohne Spez. = ohne Spezifikation. Sprachen mit ≥ 10 Nennungen werden fett wiedergegeben. Schweizerdeutsch wird mit Abstand am häufigsten als hässliche Sprache bezeichnet. Insgesamt 84 Personen beurteilen es ästhetisch negativ, das entspricht rund einem Drittel der Stichprobe (n=280). Die beiden Sprachen, die auf Schweizerdeutsch folgen, gehören ebenfalls zur germanischen Sprachfamilie: Hochdeutsch (mit 35 Nennungen) und Holländisch (mit 20 Nennungen). Holländisch spielt bei den anderen beiden Urteilstypen keine tragende Rolle (es wurde als Lieblingssprache lediglich drei Mal genannt und kein einziges Mal als schöne Sprache). Holländisch ist damit zwar im Bewusstsein einiger Gewährspersonen, dort jedoch eindeutig negativ markiert. In der Liste der hässlichen Sprachen kommen ausser den deutschen Varietäten keine anderen Landessprachen mit mehr als zehn Nennungen vor. Dies ist für die mehrsprachige Schweiz ein problematisches Resultat: Hier gelangen offensichtlich Konflikte zwischen den Sprachregionen (insbesondere Aversionen gegenüber der Deutschschweiz und ihrer Sprache) an die Oberfläche (diese werden in den Hypothesen 11, 12 und 13 (vgl. Kap. 12.4.3) noch eingehend thematisiert). Dass ein veritables (ästhetisches) Problem mit germanischen Sprachen besteht, wird jedoch auch deutlich durch die achtfache Verwendung des generischen Terms Germanische Sprachen. Beim negativen ästhetischen Urteil werden zudem eher Sprachen angeführt, die entweder in Gebieten gesprochen werden, die geographisch weiter weg sind (etwa Afrikanische Sprachen oder Thailändisch) oder die nicht zu den üblicherweise an Schulen unterrichteten Sprachen gehören (zumindest nicht in Bildungseinrichtungen der Primär- und Sekundärstufe). Besonders viele Nennungen erzielen hier Arabisch, Chinesisch und Russisch. Dieses Teilresultat bestätigt die Vertrautheitshypothese in ihrer negativen Auslegungsweise. Da die Gewährspersonen jedoch mit Schweizerdeutsch vertraut sein dürften, kann die Vertrautheitshypothese bezüglich des negativen ästhetischen Urteils trotzdem nicht angenommen werden. 230 III. Resultate und Diskussion <?page no="247"?> 11.2 Urteilsbereitschaft und Urteilsproduktivität Die Urteilsbereitschaft wird von den Nullantworten in den jeweiligen Urteilstypen abgeleitet. Als grundsätzlich urteilsbereit werden Personen erachtet, die auf jede Frage mindestens eine Antwort geben. Unter der Eigenschaft urteilsbereit wird, wie in Kap. 8.2.2 ausgeführt wurde, nicht nur die Bereitschaft zu urteilen verstanden (also eine kooperative Haltung im Interview), sondern auch die Möglichkeit der betreffenden Person, in ihren inneren Ressourcen überhaupt Informationen spontan abzurufen (= Urteilsvermögen). Die Urteilsproduktivität erschliesst sich aus der Summe der Anzahl erhaltener Antworten auf die Interviewfragen zu den drei Urteilstypen. Bei der Urteilsproduktivität wird untersucht, ob die Befragten eine einzige oder gleich mehrere Sprachen nennen. Je mehr Sprachen genannt werden, desto höher ist die Urteilsproduktivität. 0 50 100 150 200 250 0 1 2 3 4 5 Anzahl Nennungen Anzahl genannter Sprachen Lieblingssprachen Schöne Sprachen Hässliche Sprachen Abb. 3: Urteilsbereitschaft/ Urteilsproduktivität für drei Urteilstypen: affektives Urteil (Lieblingssprache, Anzahl Nennungen n=361), positives ästhetisches Urteil (schöne Sprache, Anzahl Nennungen n=386), negatives ästhetisches Urteil (hässliche Sprache, Anzahl Nennungen n=314). Die Urteilsbereitschaft ist, wie im Vorfeld angenommen, in den beiden positiven Urteilstypen grundsätzlich vorhanden. In Abbildung 3 ist zu erkennen, dass die meisten befragten Personen jeweils eine Lieblingssprache und eine schöne Sprache nennen. Insgesamt sind die Gewährspersonen etwas produktiver bei der Beurteilung von schönen Sprachen als bei der Beurteilung von Lieblingssprachen (es werden insgesamt 386 Urteile über schöne Sprachen abgegeben und 361 Urteile über Lieblingssprachen). 99 Personen 11. Das laienlinguistische Argumentationsspektrum 231 <?page no="248"?> aus der Stichprobe (das entspricht mehr als einem Drittel) können oder wollen keine einzige hässliche Sprache nennen. Nach diesem Punkt null fällt die Kurve jedoch weniger steil ab als diejenige für die schönen Sprachen und die Lieblingssprachen. Die Abbildung zeigt, dass die Produktivität bei Personen, die über hässliche Sprachen grundsätzlich zu reden bereit sind, relativ hoch ist. In einer qualitativen Vertiefungsanalyse (vgl. Kap. 13.2.1) wird das Antwortverhalten im negativen ästhetischen Urteilstyp bei Nullantworten detailliert untersucht. Es ist nämlich nicht so, dass die Befragten bei Nullantworten komplett verstummen, in vielen Fällen erläutern sie, weshalb sie die Frage schwierig finden oder weshalb sie sie nicht beantworten möchten. 11.3 Kategorisierte Urteilsbegründungen nach Urteilstypen Die Gewährspersonen wurden bei jeder genannten Sprache in den drei Urteilstypen nach den Gründen für ihre Wahl gefragt. Erneut waren Mehrfachantworten zugelassen und es wurden bis zu vier verschiedene Begründungen in die Daten integriert (in Kapitel 11.6 wird detailliert auf den Aspekt eingegangen, dass Mehrfachantworten mit über drei Begründungen höchst selten sind; in allen drei Urteilstypen werden durchschnittlich etwa 1.5 Begründungen pro genannte Sprache angeführt). Die von den Laien genannten Begründungen wurden für die Analyse in zehn Kategorien eingeteilt 130 . Abbildung 4 stellt die Begründungskategorien nach Urteilstypen dar. Da die grundsätzliche Unterschiedlichkeit der drei Urteilstypen (die Tatsache, dass unterschiedliche mentale Konzepte abgerufen werden) zentral ist für diese Arbeit, wurde für die Begründungsarten nach Urteilstypen eine Varianzanalyse durchgeführt 131 . Die beiden ästhetischen Urteilstypen sind vom affektiven Urteilstyp grundsätzlich verschieden: Die Interviewfragen provozieren also die gewünschte Differenz zwischen affektiven und ästhetischen Reflexionen und Konzeptualisierungen. Auch die Varianzanalyse bestätigt dies: Die Wahl der genannten Sprachen in den unterschiedlichen Urteilstypen wird grundsätzlich unterschiedlich begründet (p ≤ .001). Während beide ästhetischen Urteilstypen hohe Werte in der Kategorie Klang erreichen, ist diese Kategorie beim affektiven Urteil zwar durchaus vorhanden, jedoch weit weniger ausgeprägt. Die Varianzanalyse ergibt darüber hinaus, dass auch das positive ästhetische und das negative ästhetische Urteil 130 Die sowohl theorieals auch datengeleitete Kategorienbildung wird in Kapitel 10.2.2 beschrieben. Eine Übersicht über alle genannten Begründungen und ihre Zuteilung zu einer der zehn Kategorien findet sich in Appendix 3. 131 Währen die Figur sich auf alle abgegebenen Urteile (erstbis fünftgenannte Sprache) bezieht, erfolgen die statistischen Berechnungen jeweils für die Begründung der jeweils erstgenannten Sprache (vgl. Kap. 10.1.4). 232 III. Resultate und Diskussion <?page no="249"?> grundsätzlich unterschiedlich begründet werden (p ≤ .001), auch wenn die beiden Kurven für einige Kategorien parallel verlaufen. Grund für dieses signifikante Resultat dürfte vor allem die deutliche Tendenz zur Argumentation in Metaphern beim negativen ästhetischen Urteil sein. Nicht nur das negative ästhetische und das positive ästhetische Urteil werden grundsätzlich unterschiedlich begründet, die hohe Signifikanz (p ≤ .001) gilt auch für die Unterschiedlichkeit der Begründungen für das affektive Urteil verglichen mit dem positiven ästhetischen Urteil und für das affektive Urteil verglichen mit dem negativen ästhetischen Urteil. Vor allem erstere ist für diese Studie zentral, da sie die methodischen Vorentscheidungen (Formulierung der Interviewfragen) validiert. 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Klang Formale Aspekte Soziale Konnotation Metaphern Schwierigkeit Nützlichkeit/ direkter Gebrauch Kompetenz/ Verständlichkeit Vertrautheit/ Kontakt Interlinguistische Vergleiche Tautologie Anteil Nennungen Begründungskategorien Begründung Lieblingssprache Begründung schöne Sprache Begründung hässliche Sprache Abb. 4: Anteil der zehn Begründungskategorien in den drei Urteilstypen (Lieblingssprache, schöne Sprache, hässliche Sprache) und Anteil Nennungen pro Begründungskategorie. Wenn Laien Sprachen als schön oder hässlich empfinden (ästhetische Urteile), hat dies in erster Linie mit dem Klang der Sprache zu tun. Es handelt sich bei diesen beiden ästhetischen Urteilstypen also um Werturteile, die von Laien spontan mit inhärenten Charakteristika der Sprache begründet werden. Formale Aspekte (ebenfalls der Sprache inhärente Merkmale) werden aber deutlich seltener zur Begründung herbeigezogen. Dieses Resultat spricht für 11. Das laienlinguistische Argumentationsspektrum 233 <?page no="250"?> die Inhärenzhypothese der Wahrnehmungsdialektologie in ihrer klangbasierten Auslegung aus dem Jahr 2002 (vgl. Kap. 5.1); das Resultat ist jedoch mit Vorsicht zu geniessen: Die sprachinhärente Argumentation ist in der Interviewsituation die unverfänglichste Art der Legitimation der Wahl. Soziale Konnotationen beispielsweise sind insbesondere im negativen ästhetischen Urteilstyp heikel - explizit geäussert brechen sie gelegentlich soziale Tabus. Soziale Konnotationen spielen in der Tat vor allem bei positiven ästhetischen Beurteilungen eine Rolle und sind bei negativen Urteilen selten. Das Resultat betreffend metaphorischer Begründungen verdient besondere Beachtung: Diese kommen deutlich häufiger beim negativen ästhetischen Urteil vor als beim positiven ästhetischen Urteil (auf die Rolle der metaphorischen Begründung wird in Kapitel 13.1.2.2 noch detailliert eingegangen). Die von den Befragten empfundene Schwierigkeit oder Leichtigkeit einer Sprache kommt in keinem der drei Urteilstypen erwähnenswert häufig als Begründung vor. Sehr deutlich zu erkennen ist, welche Kriterien eine Lieblingssprache (affektives Urteil) erfüllen muss: Wenn möglich ist sie nützlich und man kann sie beispielsweise im Beruf oder auf Reisen einsetzen. Wichtiger noch ist den Befragten, dass sie in ihrer Lieblingssprache eine gewisse Kompetenz aufweisen, dass sie die Sprache beherrschen und verstehen. Während bei schönen Sprachen das Klangbild für eine positive Bewertung reicht und die Inhalte des Gesagten offensichtlich sekundär sind, ist es für eine affektive Beziehung relevanter, dass die Inhalte nicht auf der Strecke bleiben (20% der Begründungen für Lieblingssprachen thematisieren diesen Aspekt). Noch wichtiger für eine affektive Beziehung sind nur noch die Vertrautheit und der Kontakt mit der Sprache. Etwa ein Drittel der Begründungen für die Wahl der Lieblingssprache ist dieser Kategorie zuzuordnen. Damit greift die Vertrautheitshypothese der Wahrnehmungsdialektologie erneut eher für den affektiven Urteilstyp als für den ästhetischen. Tautologische Begründungen sind insgesamt selten, wenn sie abgegeben werden, dann am ehesten für hässliche gefolgt von schönen Sprachen. Das Urteil ist entweder nicht reflektiert, kann nicht so spontan reflektiert werden oder der wahre Grund für die Wahl einer Sprache wird gezielt nicht kommuniziert, ohne das Kooperationsprinzip allzu offensichtlich zu verletzen. 234 III. Resultate und Diskussion <?page no="251"?> 11.3.1 Begründungen im affektiven Urteilstyp Insgesamt werden 82 verschiedene Begründungen für die Wahl von verschiedenen Lieblingssprachen genannt. Tab. 18: Begründungen für das affektive Urteil (Lieblingssprachen). S der Kindheit/ damit aufgewachsen/ Muttersprache, meine S 113 Speziell 3 Kompetenz 69 Studier(t)e S 3 Klang (S klingt schön) 62 Weich/ sanft 3 Ausdrucksfähigkeit/ Leichtigkeit, sich auszudrücken 21 Eigene Kinder lernen S in der Schule (Hilfe bei Hausaufgaben) 2 Einfach (zu lernen) 20 Emotionale Verbindung zu S 2 Mag S/ sympathisch 19 Erinnerungen, Erlebnisse 2 Schön 16 Exotisch 2 Kenne keine andere S gut genug 14 Intonation 2 Musikalität 13 Lebensart von Leuten, die S sprechen 2 Mag es, wenn Leute S sprechen 12 Mag Leute (unpersönlich), die S sprechen 2 Weltsprache 12 Rhythmus, rhythmisch 2 Freunde sprechen S/ leben in Land, wo S gesprochen wird 11 Romantisch 2 Wortschatz 11 Teil meiner Identität 2 Literatur/ Autoren 10 Vokale 2 Ferien/ Kurzaufenthalt 10 Abstraktes Denken 1 Längerer Aufenthalt 10 Akzent/ Tonfall 1 Lern(t)e S in der Schule 9 Andere Leute beurteilen S positiv 1 Mag Land, wo S gesprochen wird 9 Singsang/ klingt wie Gesang 9 Ausdrucksweise 1 Mentalität von Leuten, die S sprechen 8 Aussprache 1 Brauche S für/ im Beruf 7 Computersprache 1 Fühle mich in/ mit S wohl 7 Emotional 1 Beziehung/ Verbindung mit anderen S 6 Erotisch/ sexy 1 Nützlich, alle verstehen S 6 Faszinierend 1 11. Das laienlinguistische Argumentationsspektrum 235 <?page no="252"?> Präzise/ klar 6 Filme in dieser S 1 S der Eltern/ Grosseltern 6 Flexibel 1 S des Partners 6 Geographische Nähe 1 Brauche S sehr oft 5 Gibt mir ein Heimatgefühl 1 Kenne nicht genug andere S 5 Grammatik 1 Kultur, die mit S verbunden ist 5 Historische Aspekte 1 Musik in dieser S 5 Kode (niemand versteht S) 1 Nicht an anderen S/ S i.Allg. interessiert 5 Lustig 1 S der Region 5 Mache gerne Musik in dieser S 1 Dialekte dieser S (Vielfalt) 4 Nobel 1 Lese in dieser S 4 S ist keine Sprache 1 Melodiös 4 S klingt rund 1 Spreche S gerne 4 Schön verglichen mit der anderen Varietät der S 1 An S gewohnt, normale S 3 Sehnsucht/ Fernweh 1 Denke in dieser S 3 Tradition(en) 1 Direkt 3 Unterrichte(te) S 1 Elegant 3 Zweite Muttersprache 1 Lebhaft 3 Anmerkung. Begründungen mit ≥ 10 Nennungen werden fett wiedergegeben. Das Kürzel „ S “ steht jeweils für „ Sprache “ - bei der vorliegenden Datenauswertung kann sich dies jeweils auf alle die unter Lieblingssprachen, schöne Sprachen oder hässlichen Sprachen genannten Sprachen beziehen, da hier nicht sprachspezifisch ausgewertet wird, sondern basierend auf dem Urteilstyp. Tabelle 18 ist zu entnehmen, dass drei verschiedene Begründungstypen für die positive affektive Beziehung zu einer Sprache wiederholt genannt werden: 1. Die Vertrautheit mit der Sprache (die Informantinnen und Informanten sagen, dass sie eine Sprache mögen, weil sie damit aufgewachsen sind, sie brauchen den Begriff „ Muttersprache “ oder sagen „ Es ist meine Sprache “ ). 2. Die Kompetenz (die Gewährspersonen entwickeln eine affektive Beziehung zu einer Sprache, weil sie sie beherrschen und sich gut darin ausdrücken können). 3. Der Klang der Sprache. Die ästhetische Argumentation im affektiven Urteilstyp erstaunt wenig, denn dass eine affektive Beziehung zu einem Objekt besteht, das als schön empfunden wird, ist nachvollziehbar. 236 III. Resultate und Diskussion <?page no="253"?> 11.3.2 Begründungen im positiven ästhetischen Urteilstyp Für schöne Sprachen werden fast gleich viele verschiedene Begründungen (81) genannt wie vorher für die Lieblingssprachen (82). Tabelle 19 gibt die genannten Begründungen wieder. Tab. 19: Begründungen für das positive ästhetische Urteil (schöne Sprachen). Klang/ S zu hören ist schön 207 Wärme 3 Singsang/ klingt wie Gesang 48 Gestik beim Sprechen 2 Musikalität 39 Grammatik 2 Melodiös 25 Kode (niemand versteht S) 2 S der Kindheit/ damit aufgewachsen/ Muttersprache/ meine S 22 Lern(t)e S in der Schule 2 Intonation 19 Lustig 2 Schön 16 Nobel 2 Literatur/ Autoren 15 Präzise/ klar 2 Weich/ sanft 15 Ruhig 2 Kompetenz 13 Schnell 2 Wortschatz 13 Spreche S gerne 2 Rhythmus/ rhythmisch 12 Urig 2 Kultur, die mit S verbunden ist 11 [æ] Laut 1 Mag es, wenn Leute S sprechen 10 Abstraktes Denken 1 Mag Leute (unpersönlich), die S sprechen 8 Andere Leute beurteilen S positiv 1 Aussprache 7 Anregend 1 Mag S/ sympathisch 7 Brauche S sehr oft 1 Emotionale Verbindung zu S 6 Schriftbild 1 Erinnerungen/ Erlebnisse 6 Emotional 1 Musik in dieser S 6 Farbe 1 Vokale 6 Filme in dieser S 1 Weltsprache 6 Flexibel 1 Akzent/ Tonfall 5 Fröhlich 1 Elegant 5 Geheimnisvoll 1 Freunde sprechen S/ leben in Land, wo S gesprochen wird 5 An S gewohnt/ normale S 1 Längerer Aufenthalt 5 Gibt mir ein Heimatgefühl 1 Lebhaft 5 Ausdrucksfähigkeit/ Leichtigkeit, sich auszudrücken 1 11. Das laienlinguistische Argumentationsspektrum 237 <?page no="254"?> Mentalität von Leuten, die S sprechen 5 Mag es nicht, wenn Leute S sprechen 1 Beziehung, Verbindung mit anderen S 4 Nationalität (ich bin . . .) 1 Einfach (zu lernen) 4 Lautmalerisch 1 Ferien/ Kurzaufenthalt 4 S der Eltern/ Grosseltern 1 Romantisch 4 S des Partners 1 Ausdrucksweise 3 S klingt rund 1 Dialekte in dieser S (Vielfalt) 3 Schwer (zu lernen) 1 Fühle mich in/ mit S wohl 3 Sehnsucht/ Fernweh 1 Historische Aspekte 3 Sprache der Region 1 Interessant 3 Stolz (S selbst) 1 Mag Land, wo S gesprochen wird 3 Studier(t)e S 1 Nützlich/ alle verstehen S 3 Tradition(en) 1 Speziell 3 Unterrichte(te) S 1 Sprechtempo 3 Anmerkung. Begründungen mit ≥ 10 Nennungen werden fett wiedergegeben. Das Kürzel „ S “ steht jeweils für „ Sprache “ - bei der vorliegenden Datenauswertung kann sich dies jeweils auf alle die unter Lieblingssprachen, schöne Sprachen oder hässlichen Sprachen genannten Sprachen beziehen, da hier nicht sprachspezifisch ausgewertet wird, sondern basierend auf dem Urteilstyp. Bei den Begründungen für die positive ästhetische Evaluation einer Sprache spielt eindeutig der Klang die prominenteste Rolle. Die am zweit- und dritthäufigsten genannten Gründe geben Aufschluss über die Art des Klangs, die eine Sprache haben muss, damit sie als schön empfunden wird: Die Sprache sollte demnach eine singende Intonation aufweisen. Musikalität und Melodiösität werden ferner genannt. Die Vertrautheit mit einer Sprache, die bei den Begründungen für die Lieblingssprache eine wichtige Rolle gespielt hat, fehlt auch bei den Begründungen für die Schönheit von Sprachen nicht. So wird die L1 (Sprache der Kindheit, Muttersprache) oft als schönste Sprache genannt. An einzelnen Lauten wird die Schönheit von Sprachen im Allgemeinen nicht festgemacht und die Argumentation bleibt phonetisch vage. Nur eine Person spricht über den Laut/ æ/ der ihr gefällt (im Lungerer Dialekt). Es sind primär suprasegmentale Elemente (z. B. der Tonfall oder die Intonation) oder Elemente der Zwischenebene (z. B. Lautgruppen wie die Vokale), die bei der positiven ästhetischen Beurteilung salient sind. Somit ist Labovs Behauptung, das Laienvokabular sei phonetisch arm, für das positive ästhetische Urteil nicht ganz falsch. Phonetische Merkmale sind zwar verfügbar, zeichnen sich jedoch nicht durch ausgeprägte Spezifität aus (vgl. zu den Sprachbewusstseinsarten Kap. 2.2.2). 238 III. Resultate und Diskussion <?page no="255"?> 11.3.3 Begründungen im negativen ästhetischen Urteilstyp Insgesamt 64 verschiedene Begründungen werden für die Beurteilung einer Sprache als hässlich angegeben. Die Diversität der Begründungen ist somit für hässliche Sprache eindeutig am geringsten. Was zu diesem Resultat natürlich beiträgt, ist die Tatsache, dass in diesem Urteilstyp insgesamt die wenigsten Urteile abgegeben werden. Tab. 20: Begründungen für das negative ästhetische Urteil (hässliche Sprachen). Klang/ S zu hören ist hässlich 139 Chaotisch 2 Hart/ herb 51 Geographische Distanz 2 Grob/ rau 36 Hässlich verglichen mit der anderen Varietät der S 2 Abgehackt 29 Langweilig 2 Aggressiv 21 Lispeln/ Lispellaute 2 Kehlig 20 Persönlicher Geschmack/ Vorurteil 2 Verstehe S nicht 17 / a/ Laut 1 Mag S nicht/ unsympathisch 16 / ʃ/ Laut 1 Mag es nicht, wenn Leute S sprechen 13 / r/ Laut 1 Nicht melodiös 13 Alt 1 / x/ Laut 12 Anglizismen 1 Nicht schön/ hässlich 12 Antipathie 1 Aussprache 11 Frech/ schnodderig 1 Eindruck, die Sprecher streiten/ unfreundlich 10 Freunde sprechen S/ leben in Land, wo S gesprochen wird 1 Kompliziert 10 Fröhlich 1 Seltsam/ komisch 10 Fühle mich zu Hause in S 1 Konsonanten 9 Klima/ Wetter im Land, wo S gesprochen wird 1 Fremd 8 Kultur, die mit S verbunden ist 1 Intonation 8 Lern(t)e S in der Schule 1 Unpräzise/ verschluckt zu viel 5 Mag Leute (unpersönlich) nicht, die S sprechen 1 Laut 4 Mentalität von Leuten, die S sprechen 1 S ist keine Sprache 4 Monoton 1 Schwer (zu lernen) 4 Nasale 1 Sprechtempo 4 Nicht nützlich/ nicht von vielen gesprochen 1 11. Das laienlinguistische Argumentationsspektrum 239 <?page no="256"?> Wörter nicht gleiche Bedeutung wie auf Hochdeutsch 4 Orthographie 1 (Wurde) gezwungen, S zu lernen 3 Politische Situation im Land, wo S gesprochen wird 1 Akzent/ Tonfall 3 Präzise/ klar 1 Beziehung/ Verbindung mit anderen S 3 Schriftbild 1 Kalt 3 Singsang/ klingt wie Gesang 1 Primitiv/ vulgär 3 Tonlage 1 Versnobt/ arrogant/ hochnäsig 3 Unlogisch 1 Breit 2 Unterrichte(te) S 1 Anmerkung. Begründungen mit ≥ 10 Nennungen werden fett wiedergegeben. Das Kürzel „ S “ steht jeweils für „ Sprache “ - bei der vorliegenden Datenauswertung kann sich dies jeweils auf alle die unter Lieblingssprachen, schöne Sprachen oder hässlichen Sprachen genannten Sprachen beziehen, da hier nicht sprachspezifisch ausgewertet wird, sondern basierend auf dem Urteilstyp. Wie zuvor bei den positiven ästhetischen Urteilen spielt auch bei den negativen ästhetischen Urteilen der Klang der Sprache in der Argumentation von Laien die bedeutendste Rolle. Aufschluss über phonetische Merkmale einer Sprache, die als unschön empfunden werden, gibt beispielsweise das 20 Mal genannte „ kehlig “ . Hier könnte es sich um velar und uvular produzierte Laute handeln. Alleine 12 Mal wird der für das Schweizerdeutsche typische Laut/ x/ genannt. Bei den Begründungen für die Hässlichkeit einer Sprache werden Einzellaute öfter genannt als bei den Begründungen für die Schönheit von Sprachen; die Wahrnehmung ist also spezifischer als im positiven ästhetischen Urteilstyp. Dass spezifische (phonetische) Merkmale dann eher bewusst wahrgenommen werden und in die Laienmetasprache gelangen, wenn sie störend sind, sollte daraus aber nicht ohne weiteres gefolgert werden. Die Gewährspersonen sind sich der Brisanz dieses Urteilstyps bewusst und begründen negative ästhetische Urteile vielleicht aus einer Rechtfertigungshaltung heraus detaillierter als positive ästhetische Urteile. In Kapitel 5.3.2 wurde eine Studie zitiert, die zeigt, dass negative diskursive Einstellungen oftmals mit einer Entschuldigung einhergehen. In diesen Kontext ist m. E. die höhere Spezifität bei der Begründung negativer ästhetischer Urteile einzuordnen. Festzuhalten ist ferner, dass nebst vermenschlichenden Metaphern (aggressiv, frech) auch Metaphern genannt werden, deren Ursprungsdomänen weniger leicht zu bestimmen sind (z. B. bei chaotisch). Erstere können von Sprachideologien in Intergruppenbeziehungen zeugen, da es sich dabei wahrscheinlich um Ikonisierungen handelt (ein linguistisches Merkmal fungiert als Abbild seiner Sprecher). 240 III. Resultate und Diskussion <?page no="257"?> 11.4 Sprachspezifische Urteilsbegründungen: deskriptive Analyse Im Folgenden wird geprüft, ob die Begründungsmuster sprachspezifisch sind. Zu diesem Zweck werden die Urteilsbegründungen sprachspezifisch in den zehn Kategorien dargestellt 132 . Es werden für jeden Urteilstyp die Begründungen für die Wahl von Deutsch, Französisch, Italienisch, Englisch und Spanisch nach Kategorien aufgezeigt 133 . Zur besseren Lesbarkeit werden jeweils die L1 der befragten Personen (dazu werden die beiden Varietäten des Deutschen sowie Französisch gezählt) getrennt von den weiteren häufig genannten Sprachen dargestellt. 11.4.1 Sprachspezifische Urteilsbegründungen: deskriptive Analyse für das affektive Urteil Abbildung 5 illustriert die kategorisierten Urteilsbegründungen für die Wahl von Schweizerdeutsch, Hochdeutsch und Französisch im affektiven Urteilstyp. Die Kurven von Schweizerdeutsch und Französisch verlaufen weitgehend parallel. Die Wahl von Französisch und Schweizerdeutsch als Lieblingssprache wird also ähnlich begründet, wobei anzumerken ist, dass der Klang bei Schweizerdeutsch noch etwas seltener als Grund für die affektive Beziehung genannt wird als bei Französisch. Wichtig ist sowohl bei Schweizerdeutsch als auch bei Französisch, dass es verstanden wird, dass sich die Informantinnen und Informanten kompetent fühlen in der Sprache und dass die Sprache ihnen vertraut ist. Die Kurve für Hochdeutsch verläuft an einigen Stellen nicht ganz parallel zu den beiden anderen Kurven. Die Rolle der sozialen Konnotationen ist bei Hochdeutsch ausgeprägter als bei den anderen beiden Sprachen. Die beiden prominentesten Begründungskategorien für Schweizerdeutsch und Französisch (Kompetenz/ Verständlichkeit und Vertrautheit/ Kontakt) kommen bei Hochdeutsch etwas weniger frequent vor. Für Informantinnen und Informanten aus der Romandie ist dieses Resultat nicht weiter erstaunlich, da Hochdeutsch in der Westschweiz den Status einer Schulfremdsprache hat. Die Werte könnten aber insgesamt etwas höher sein, da der Kontakt mit Hochdeutsch zumindest in der Deutschschweiz durchaus zum Alltag gehört. 132 In Appendix 7 - 9 finden sich Übersichten über sprachspezifische Begründungen für die am häufigsten genannten Sprachen und Varietäten in allen Urteilstypen, bei denen die Begründungen nicht kategorisiert sind (ausführliche Version). 133 In die Analyse wurden diejenigen Sprachen und Varietäten eingeschlossen, die zuvor die meisten Nennungen erzielt haben. 11. Das laienlinguistische Argumentationsspektrum 241 <?page no="258"?> 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Klang Formale Aspekte Soziale Konnotation Metaphern Schwierigkeit Nützlichkeit/ direkter Gebrauch Kompetenz/ Verständlichkeit Vertrautheit/ Kontakt Interlinguistische Vergleiche Tautologie Anteil Nennungen Begründungskategorien Schweizerdeutsch Hochdeutsch Französisch Lieblingssprache Abb. 5: Anteil der zehn Begründungskategorien an den Begründungen für Schweizerdeutsch, Hochdeutsch und Französisch als Lieblingssprachen. Schweizerdeutsch = Schweizerdeutsch, Dialekte in der Schweiz (Anzahl Nennungen n=67; Anzahl Begründungen n=121); Hochdeutsch = Hochdeutsch (Anzahl Nennungen n=16; Anzahl Begründungen n=26); Französisch = Französisch ohne Spezifikation, Schweizerfranzösisch, Französisch in Frankreich (Anzahl Nennungen n=125; Anzahl Begründungen n=178). Die Kurven der Begründungsmuster für die häufig genannten Sprachen Englisch, Italienisch und Spanisch (und ihrer Varietäten) verlaufen, wie Abbildung 6 zeigt, weit weniger parallel als die Kurven von Schweizerdeutsch und Französisch. Während der Klang bei Italienisch und Spanisch eindeutig als wichtigstes Argument für die affektive Beziehung dient, spielt er bei der Wahl von Englisch eine zu vernachlässigende Rolle. Dass bei den beiden romanischen Sprachen vor allem ästhetisch argumentiert wird, wenn es um die affektive Beziehung geht, ist ein bezeichnendes Resultat, das die Inhärenzhypothese unterstützt, und zwar sogar da, wo es nicht konkret um Ästhetik, sondern allgemein um positive Gefühle gegenüber einer Sprache geht. Dennoch wäre es verkürzt zu sagen, dass eine positive affektive Beziehung nur zu Sprachen möglich ist, die ästhetische Ansprüche erfüllen. Englisch kommt häufiger als Lieblingssprache vor als die beiden anderen hier untersuchten Sprachen - die Begründungen sind aber nur in 10% aller Fälle klangbasiert. Bei Englisch ist der ausschlaggebende Faktor, dass es als 242 III. Resultate und Diskussion <?page no="259"?> nützlich eingeschätzt wird, dass sein Gebrauchswert hoch ist. Gewährspersonen, die Englisch als Lieblingssprache wählen, schätzen die Tatsache, dass sie die Sprache verstehen und dass sie sich kompetent fühlen. Interessanterweise heisst dies aber nicht, dass auch die Vertrautheit mit der Sprache eine wichtige Rolle spielt; diese wird wiederum bei den beiden romanischen Sprachen häufiger als Grund für die affektive Beziehung genannt. 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Klang Formale Aspekte Soziale Konnotation Metaphern Schwierigkeit Nützlichkeit/ direkter Gebrauch Kompetenz/ Verständlichkeit Vertrautheit/ Kontakt Interlinguistische Vergleiche Tautologie Anteil Nennungen Begründungskategorien Englisch Italienisch Spanisch Lieblingssprache Abb. 6: Anteil der zehn Begründungskategorien an den Begründungen für Englisch, Italienisch und Spanisch als Lieblingssprachen. Englisch = Englisch ohne Spezifikation, Britisches Englisch, Amerikanisches Englisch, Kanadisches Englisch (Anzahl Nennungen n=59; Anzahl Begründungen n=45); Italienisch = Italienisch ohne Spezifikation, Italienisches Italienisch (Anzahl Nennungen n=42; Anzahl Begründungen n=85); Spanisch = Spanisch ohne Spezifikation, Europäisches Spanisch, Südamerikanisches Spanisch (Anzahl Nennungen n=20; Anzahl Begründungen n=33). 11. Das laienlinguistische Argumentationsspektrum 243 <?page no="260"?> 11.4.2 Sprachspezifische Urteilsbegründungen: deskriptive Analyse für das positive ästhetische Urteil Abbildung 7 illustriert die kategorisierten Urteilsbegründungen für die Wahl von Schweizerdeutsch, Hochdeutsch und Französisch im positiven ästhetischen Urteilstyp. 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Klang Formale Aspekte Soziale Konnotation Metaphern Schwierigkeit Nützlichkeit/ direkter Gebrauch Kompetenz/ Verständlichkeit Vertrautheit/ Kontakt Interlinguistische Vergleiche Tautologie Anteil Nennungen Begründungskategorien Schweizerdeutsch Hochdeutsch Französisch Schöne Sprache Abb. 7: Anteil der zehn Begründungskategorien an den Begründungen für Schweizerdeutsch, Hochdeutsch und Französisch als schöne Sprachen. Schweizerdeutsch = Schweizerdeutsch, Dialekte in der Schweiz (Anzahl Nennungen n=25; Anzahl Begründungen n=40); Hochdeutsch = Hochdeutsch (Anzahl Nennungen n=18; Anzahl Begründungen n=33); Französisch = Französisch ohne Spezifikation, Schweizerfranzösisch, Französisch in Frankreich, Südfranzösisch (Anzahl Nennungen n=99; Anzahl Begründungen n=151). Klang ist die Begründungskategorie, die für Französisch und Hochdeutsch am häufigsten vorkommt (54.7% für Französisch und 45.5% für Hochdeutsch). Die Wahl von Schweizerdeutsch wird dagegen deutlich seltener auf phonetische Eigenschaften der Sprache zurückgeführt (27.5%). Warum also wird Schweizerdeutsch als schön bezeichnet, wenn es eigentlich gar nicht so schön klingt? Die Antwort auf diese Frage liegt in der Kategorie Vertrautheit/ Kompetenz. Fast ein Drittel der Personen, die Schweizerdeutsch ästhetisch positiv beurteilen, geben als Begründung dafür an, dass die Sprache ihnen vertraut ist, dass es die Sprache ist, mit der sie am häufigsten zu tun haben. Für die inhärente Schönheit von Schweizerdeutsch sprechen diese Daten natürlich nicht. Wie zuvor beim affektiven Urteil, spielt bei 244 III. Resultate und Diskussion <?page no="261"?> Hochdeutsch erneut die Kategorie Soziale Konnotationen eine prominente Rolle. Abbildung 8 illustriert die kategorisierten Urteilsbegründungen für die Wahl von Englisch, Italienisch und Spanisch im positiven ästhetischen Urteilstyp. 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Klang Formale Aspekte Soziale Konnotation Metaphern Schwierigkeit Nützlichkeit/ direkter Gebrauch Kompetenz/ Verständlichkeit Vertrautheit/ Kontakt Interlinguistische Vergleiche Tautologie Anteil Nennungen Begründungskategorien Englisch Italienisch Spanisch Schöne Sprache Abb. 8: Anteil der zehn Begründungskategorien an den Begründungen für Englisch, Italienisch und Spanisch als schöne Sprachen. Englisch = Englisch ohne Spezifikation, Britisches Englisch, Amerikanisches Englisch (Anzahl Nennungen n=35; Anzahl Begründungen n=45); Italienisch = Italienisch ohne Spezifikation, Dialekte in Italien (Anzahl Nennungen n=103; Anzahl Begründungen n=192); Spanisch = Spanisch ohne Spezifikation, Europäisches Spanisch, Südamerikanisches Spanisch (Anzahl Nennungen n=48; Anzahl Begründungen n=77). Während die beiden romanischen Sprachen Italienisch und Spanisch eindeutig wegen ihres Klangs als schöne Sprachen genannt werden, ist dies bei Englisch weniger ausgeprägt (wenn auch immer noch klar der Hauptbegründungstyp mit einem Anteil von 40%). Schön ist, was nützlich ist, dürfte für die Wahl von Englisch als schöne Sprache gelten: 17.8% der Begründungen für die Wahl von Englisch als schöne Sprache betreffen die Nützlichkeit der Sprache, also dass es sich dabei um eine Weltsprache handelt und dass sie einen hohen Gebrauchswert hat. Die ästhetische Evaluation von 11. Das laienlinguistische Argumentationsspektrum 245 <?page no="262"?> Englisch ist damit im rationalistischen kulturellen Modell zu verorten, in dem Sprache primär als Kommunikationsmittel aufgefasst wird. Während Englisch keine metaphorischen Begründungen hervorruft, wird sowohl für Italienisch als auch noch ausgeprägter für Spanisch mit Hilfe von Metaphern argumentiert. 11.4.3 Sprachspezifische Urteilsbegründungen: deskriptive Analyse für das negative ästhetische Urteil Die folgenden drei Abbildungen stellen die verwendeten Begründungskategorien für negative ästhetische Urteile nach Sprachen dar. In diesem Urteilstyp werden zusätzlich Arabisch, Chinesisch, Holländisch und Russisch analysiert, da sie auffallend häufig als hässliche Sprachen genannt wurden. Abbildung 9 illustriert die kategorisierten Urteilsbegründungen für die Wahl von Schweizerdeutsch, Hochdeutsch und Französisch im negativen ästhetischen Urteilstyp. 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Klang Formale Aspekte Soziale Konnotation Metaphern Schwierigkeit Nützlichkeit/ direkter Gebrauch Kompetenz/ Verständlichkeit Vertrautheit/ Kontakt Interlinguistische Vergleiche Tautologie Anteil Nennungen Begründungskategorien Schweizerdeutsch Hochdeutsch Französisch Hässliche Sprache Abb. 9: Anteil der zehn Begründungskategorien an den Begründungen für Schweizerdeutsch, Hochdeutsch und Französisch als hässliche Sprachen. Schweizerdeutsch = Schweizerdeutsch, Dialekte in der Schweiz (Anzahl Nennungen n=94; Anzahl Begründungen n=182); Hochdeutsch = Hochdeutsch (Anzahl Nennungen n=35; Anzahl Begründungen n=54); Französisch = Französisch ohne Spezifikation (Anzahl Nennungen n=6; Anzahl Begründungen n=8). 246 III. Resultate und Diskussion <?page no="263"?> 46.3% respektive 54.9% der Begründungen für die Wahl von Hochdeutsch respektive Schweizerdeutsch sind der Kategorie Klang zuzuordnen. Interessanterweise spielt lediglich eine weitere Kategorie eine nennenswerte Rolle in der Argumentation für die Wahl von Schweizerbeziehungsweise Hochdeutsch als hässliche Sprache: Metaphern. Während das Begründungsmuster für die beiden germanischen Sprachen weitgehend identisch ist, fällt sofort auf, dass die Kurve für Französisch komplett anders verläuft: Der Klang spielt bei der Wahl von Französisch als hässliche Sprache keine wesentliche Rolle. Viel bedeutsamer ist, dass die Sprache als schwierig eingeschätzt wird. Dies dürfte ein Begründungstyp sein, der vor allem von den Deutschschweizer Informantinnen und Informanten ins Feld geführt wird. Während weder Sprachkompetenz noch die Verständlichkeit der Sprache oder die Vertrautheit mit ihr für die Wahl von Schweizerdeutsch und Hochdeutsch als hässliche Sprachen zentral ist, fallen diese Faktoren bei der Begründung der Wahl von Französisch eher ins Gewicht. Die Abbildung kann dahingehend interpretiert werden, dass die Inhärenzhypothese im Fall negativer ästhetischer Urteile über deutsche Varietäten gestützt wird, während sie für Französisch abgelehnt werden muss: Bei der Wahl von Französisch als hässliche Sprache fallen Erlernbarkeit, Vertrautheit und Kompetenz stärker ins Gewicht als klangbasierte Faktoren. Abbildung 10 illustriert die kategorisierten Urteilsbegründungen für die Wahl von Englisch, Italienisch und Spanisch im negativen ästhetischen Urteilstyp. Der Verlauf der Kurven für Englisch, Italienisch und Spanisch ergibt kein eindeutiges Bild: Die Argumentation für die Wahl dieser Sprachen als hässlich ist sprachspezifisch sehr unterschiedlich. Ins Auge sticht sofort, dass sowohl Englisch als auch Spanisch viele Begründungen in der Kategorie Klang evozieren. Geht es also um das Empfinden von Spanisch und Englisch als unattraktiv, wird von den Befragten zugunsten der Inhärenzhypothese argumentiert. Italienisch hingegen wird nicht in erster Linie wegen seines Klangs als hässliche Sprache genannt, sondern es wird eher metaphorisch argumentiert. Die Gewährspersonen sagen dann etwa, dass Italienisch primitiv oder vulgär ist. Einige der Befragten stört es, dass sie Italienisch nicht verstehen und es nie gelernt haben (vgl. Kategorie Kompetenz/ Verständlichkeit). Interessant ist, dass es vielen Interviewpartnerinnen und -partnern schwer fällt, die Wahl von Italienisch als hässliche Sprache mit Argumenten zu rechtfertigen: 28.6% der Begründungen sind tautologischer Art: Italienisch ist hässlich, weil es einfach hässlich ist. Dies spricht (zusammen mit den Resultaten aus dem Urteilstyp schöne Sprache) dafür, dass Italienisch tatsächlich eine Sprache ist, die inhärent schöner ist als andere Sprachen - zumindest lässt sich offensichtlich viel leichter sprachinhärent argumentieren, wenn es um positive ästhetische Einstellungen zu Italienisch geht als um negative ästhetische Einstellungen. 11. Das laienlinguistische Argumentationsspektrum 247 <?page no="264"?> 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Klang Formale Aspekte Soziale Konnotation Metaphern Schwierigkeit Nützlichkeit/ direkter Gebrauch Kompetenz/ Verständlichkeit Vertrautheit/ Kontakt Interlinguistische Vergleiche Tautologie Anteil Nennungen Begründungskategorien Englisch Italienisch Spanisch Hässliche Sprache Abb. 10: Anteil der zehn Begründungskategorien an den Begründungen für Englisch, Italienisch und Spanisch als hässliche Sprachen. Englisch = Englisch ohne Spezifikation, Amerikanisches Englisch, Indisches Englisch (Anzahl Nennungen n=17; Anzahl Begründungen n=27); Italienisch = Italienisch ohne Spezifikation (Anzahl Nennungen n=5; Anzahl Begründungen n=7); Spanisch = Spanisch ohne Spezifikation, Europäisches Spanisch (Anzahl Nennungen n=7; Anzahl Begründungen n=12). Abbildung 11 illustriert die kategorisierten Urteilsbegründungen für die Wahl von Arabisch, Chinesisch, Holländisch und Russisch im negativen ästhetischen Urteilstyp. Arabisch, Chinesisch, Holländisch und Russisch zeigen über weite Strecken ein einheitliches Begründungsmuster: Die Kategorien Klang und Metaphern sind bei allen vier Sprachen ausgeprägt. Dabei lässt sich beobachten, dass phonetische Eigenschaften vor allem bei Holländisch und Arabisch den Ausschlag geben, dass sie als hässlich empfunden werden. Im Zusammenhang mit der Inhärenzhypothese ist interessant, dass diese beiden Sprachen in ihrem phonetischen Inventar, wie auch das zuvor klanglich negativ beurteilte Schweizerdeutsch, uvulare Laute aufweisen. Handelt es sich dabei vielleicht um universell unästhetische Laute? Bei Chinesisch dürfte das Problem anderer Art sein (wenn auch der Klang ebenfalls missfällt): 15.8% der Begründungen sind der Kategorie Kompetenz/ Verständlichkeit zuzuordnen. Warum diese Kategorie bei Arabisch oder Russisch, die den Befragten genauso fremd sein dürften, nicht ebenso prominent ist, kann hier nicht abschliessend geklärt werden. Chinesisch fungiert als prototypisch unverständliche Sprache. 248 III. Resultate und Diskussion <?page no="265"?> 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Klang Formale Aspekte Soziale Konnotation Metaphern Schwierigkeit Nützlichkeit/ direkter Gebrauch Kompetenz/ Verständlichkeit Vertrautheit/ Kontakt Interlinguistische Vergleiche Tautologie Anteil Nennungen Begründungskategorien Arabisch Chinesisch Holländisch Russisch Hässliche Sprache Abb. 11: Anteil der zehn Begründungskategorien an den Begründungen für Arabisch, Chinesisch, Holländisch und Russisch als hässliche Sprachen. Arabisch = Arabisch (Anzahl Nennungen n=19; Anzahl Begründungen n=29); Chinesisch = Chinesisch (Anzahl Nennungen n=12; Anzahl Begründungen n=19); Holländisch = Holländisch (Anzahl Nennungen n=20; Anzahl Begründungen n=32); Russisch = Russisch (Anzahl Nennungen n=11; Anzahl Begründungen n=24). 11.5 Sprachspezifische Urteilsbegründungen: statistische Analyse In der statistischen Auswertung der sprachspezifischen Urteilsbegründungen wird geprüft, ob die Urteilsbegründungen zwischen den Sprachen signifikant unterschiedlich sind. Für diese Berechnungen musste mehrfach pragmatisch entschieden und vorgegangen werden, um aussagekräftige Resultate zu erhalten: Einerseits konnten nur jene Sprachen in die Berechnungen aufgenommen werden, die genügend Nennungen erzielten im jeweils untersuchten Urteilstyp. Dies sind für die beiden positiven Urteilstypen Schweizerdeutsch (unter Einschluss der Dialektnennungen), Französisch, Italienisch und Englisch (jeweils unter Einschluss aller genannten Varietäten). Für das negative ästhetische Urteil hat sich eine Gegenüberstellung von Schweizerdeutsch und allen anderen genannten Sprachen als sinnvoll erwiesen (da keine andere Sprache genügend Nennungen erzielt hat, 11. Das laienlinguistische Argumentationsspektrum 249 <?page no="266"?> um einzeln untersucht und Schweizerdeutsch gegenübergestellt zu werden). Die Varianzanalyse gibt Aufschluss über drei Faktoren: 1. Faktor Begründungskategorien (hier wird untersucht, ob unterschiedliche Kategorien prinzipiell unterschiedlich oft vorkommen oder ob alle Kategorien etwa gleich gewichtet sind in der Laienargumentation); 2. Faktor Sprachkategorien (hier wird gemessen, ob für bestimmte Sprachen grundsätzlich mehr oder weniger Begründungen angegeben werden als für andere); 3. Interaktion (es wird berechnet, ob unterschiedliche Sprachen unterschiedlich beurteilt werden, ob also ein konstantes Argumentationsmuster zwischen den Sprachen besteht oder ob die Argumentation sprachspezifisch ist). 11.5.1 Sprachspezifische Urteilsbegründungen: statistische Analyse für das affektive Urteil In Abbildung 12 werden die in der Varianzanalyse untersuchten Sprachen zusammen mit den für sie genannten Begründungskategorien beim affektiven Urteil dargestellt. 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Klang Formale Aspekte Soziale Konnotation Metaphern Schwierigkeit Nützlichkeit/ direkter Gebrauch Kompetenz/ Verständlichkeit Vertrautheit/ Kontakt Interlinguistische Vergleiche Tautologie Anteil Nennungen Begründungskategorien Schweizerdeutsch Französisch Englisch Italienisch Lieblingssprache Abb. 12: Zusammenhang zwischen Sprache und Anteil der zehn Begründungskategorien an den Begründungen der Wahl dieser Sprache als Lieblingssprache. Begründungskategorien: Klang, Formale Aspekte, Soziale Konnotationen, Metaphern, Schwierigkeit, Nützlichkeit/ direkter Gebrauch, Kompetenz/ Verständlichkeit, Vertrautheit/ Kontakt, Interlinguistische Vergleiche, Tautologie; entspricht Faktor 1: Begründungskategorie. Untersuchte Sprachen: Schweizerdeutsch = Schweizerdeutsch, Dialekte in der Schweiz (Anzahl 250 III. Resultate und Diskussion <?page no="267"?> Nennungen n=67; Anzahl Begründungen n=121); Hochdeutsch = Hochdeutsch (Anzahl Nennungen n=16; Anzahl Begründungen n=26); Französisch = Französisch ohne Spezifikation, Schweizerfranzösisch, Französisch in Frankreich (Anzahl Nennungen n=125; Anzahl Begründungen n=178); Englisch = Englisch ohne Spezifikation, Britisches Englisch, Amerikanisches Englisch, Kanadisches Englisch (Anzahl Nennungen n=59, Anzahl Begründungen n=45); Italienisch = Italienisch ohne Spezifikation, Italienisches Italienisch (Anzahl Nennungen n=42; Anzahl Begründungen n=85); entspricht Faktor 2: Sprache. Signifikant für Begründungskategorie (p ≤ .001), Sprache (p ≤ .001) und für Interaktion (p ≤ .001). Grundsätzlich werden für die Begründung des sprachspezifischen affektiven Urteils unterschiedliche Begründungskategorien signifikant unterschiedlich oft genannt (p ≤ .001). Es konnte bereits in Kapitel 11.3.1 festgestellt werden, dass beim Begründen der Wahl einer Lieblingssprache die Begründungskategorie Vertrautheit/ Kontakt ausgeprägter ist als andere Kategorien. Für die verschiedenen Sprachen werden unterschiedlich viele Begründungen angegeben, das heisst, nicht alle hier untersuchten Sprachen werden gleich ausführlich begründet (p ≤ .001). Am ausführlichsten wird bei Italienisch argumentiert (mit 0.235 Einzelbegründungen im Mittelwert), gefolgt von Schweizerdeutsch (0.187), Englisch (0.185) und Französisch (0.145). Die Wahl der hier untersuchten Sprachen wird sprachspezifisch begründet, das heisst, die Wahl der unterschiedlichen Sprachen wird signifikant unterschiedlich begründet (p ≤ .001). 11.5.2 Sprachspezifische Urteilsbegründungen: statistische Analyse für das positive ästhetische Urteil In Abbildung 13 werden die in der Varianzanalyse untersuchten Sprachen zusammen mit den für sie genannten Begründungskategorien beim positiven ästhetischen Urteil dargestellt. Beim positiven ästhetischen Urteil ergeben sich die gleichen Signifikanzen wie beim affektiven Urteil: Grundsätzlich kommen unterschiedliche Begründungskategorien signifikant unterschiedlich oft vor (p ≤ .001). Am deutlichsten wird dies bei der Kategorie Klang, die bei allen Sprachen ausser Schweizerdeutsch die meistgenannte Kategorie ist. Weiter werden unterschiedliche Sprachen unterschiedlich ausführlich begründet. Hier ergibt sich aber kein so klares Bild wie bei den affektiven Urteilen: Die Mittelwerte liegen dichter beisammen (p=.046). Erneut wird die Wahl von Italienisch am ausführlichsten begründet (0.197 Begründungen im Mittelwert pro Nennung von Italienisch als schöne Sprache). Es folgen Schweizerdeutsch (0.172), Französisch (1.161) und Englisch (1.153). Hoch signifikant ist erneut die Interaktion (p ≤ .001): Für die Wahl von unterschiedlichen Sprachen als schöne Sprachen wird grundsätzlich unterschiedlich argumentiert. Hier tanzt vor allem Schweizerdeutsch aus der Reihe: Nicht 11. Das laienlinguistische Argumentationsspektrum 251 <?page no="268"?> wie alle anderen wird es vorwiegend wegen seines Klangs als schöne Sprache gewählt, sondern vor allem die Vertrautheit und der direkte Kontakt mit der Sprache machen sie für die Laien zu einer schönen Sprache. 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Klang Formale Aspekte Soziale Konnotation Metaphern Schwierigkeit Nützlichkeit/ direkter Gebrauch Kompetenz/ Verständlichkeit Vertrautheit/ Kontakt Interlinguistische Vergleiche Tautologie Anteil Nennungen Begründungskategorien Schweizerdeutsch Französisch Englisch Italienisch Schöne Sprache Abb. 13: Zusammenhang zwischen Sprache und Anteil der zehn Begründungskategorien an den Begründungen der Wahl dieser Sprache als schöne Sprache. Begründungskategorien: Klang, Formale Aspekte, Soziale Konnotationen, Metaphern, Schwierigkeit, Nützlichkeit/ direkter Gebrauch, Kompetenz/ Verständlichkeit, Vertrautheit/ Kontakt, Interlinguistische Vergleiche, Tautologie; entspricht Faktor 1: Begründungskategorie. Untersuchte Sprachen: Schweizerdeutsch = Schweizerdeutsch, Dialekte in der Schweiz (Anzahl Nennungen n=25; Anzahl Begründungen n=40); Hochdeutsch = Hochdeutsch (Anzahl Nennungen n=18; Anzahl Begründungen n=33); Französisch = Französisch ohne Spezifikation, Schweizerfranzösisch, Französisch in Frankreich, Südfranzösisch (Anzahl Nennungen n=99; Anzahl Begründungen n=151); Englisch = Englisch ohne Spezifikation, Britisches Englisch, Amerikanisches Englisch (Anzahl Nennungen n=35; Anzahl Begründungen n=45); Italienisch = Italienisch ohne Spezifikation, Dialekte in Italien (Anzahl Nennungen n=103; Anzahl Begründungen n=192); entspricht Faktor 2: Sprache. Signifikant für Begründungskategorie (p ≤ .001), Sprache (p=.046) und für Interaktion (p ≤ .001). 11.5.3 Sprachspezifische Urteilsbegründungen: statistische Analyse für das negative ästhetische Urteil In Abbildung 14 werden die Begründungskategorien für Schweizerdeutsch den Begründungskategorien für alle anderen Sprachen gegenübergestellt. 252 III. Resultate und Diskussion <?page no="269"?> Wie oben erwähnt, erzielt keine andere Sprache so viele Nennungen als hässliche Sprache wie Schweizerdeutsch (84 Nennungen). Folgende Fragen drängen sich angesichts der Werte von Schweizerdeutsch in diesem Urteilstyp auf: Handelt es sich bei Schweizerdeutsch einfach um eine besonders hässliche Sprache unter den hässlichen Sprachen (die Begründungen für Schweizerdeutsch müssten gleich sein wie für andere hässliche Sprachen)? Oder: Handelt es sich bei Schweizerdeutsch um eine Sprache, mit der die Laien (vor allem aus der Romandie) ein ganz spezifisches Problem haben (die Begründungen für Schweizerdeutsch müssten sich von den Begründungen für die restlichen als hässlich klassifizierten Sprachen unterscheiden)? 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Klang Formale Aspekte Soziale Konnotation Metaphern Schwierigkeit Nützlichkeit/ direkter Gebrauch Kompetenz/ Verständlichkeit Vertrautheit/ Kontakt Interlinguistische Vergleiche Tautologie Anteil Nennungen Begründungskategorien Andere Sprachen Schweizerdeutsch Hässliche Sprache Abb. 14: Zusammenhang zwischen Sprache und Anteil der zehn Begründungskategorien an den Begründungen der Wahl dieser Sprache als hässliche Sprache. Begründungskategorien: Klang, Formale Aspekte, Soziale Konnotationen, Metaphern, Schwierigkeit, Nützlichkeit/ direkter Gebrauch, Kompetenz/ Verständlichkeit, Vertrautheit/ Kontakt, Interlinguistische Vergleiche, Tautologie; entspricht Faktor 1: Begründungskategorie. Untersuchte Sprachen: Schweizerdeutsch = Schweizerdeutsch, Dialekte in der Schweiz (Anzahl Nennungen n=94; Anzahl Begründungen n=182); Hochdeutsch = Hochdeutsch (Anzahl Nennungen n=35; Anzahl Begründungen n=54); Französisch = Französisch ohne Spezifikation (Anzahl Nennungen n=6; Anzahl Begründungen n=8); Englisch = Englisch ohne Spezifikation, Amerikanisches Englisch, Indisches Englisch (Anzahl Nennungen n=17; Anzahl Begründungen n=27); Italienisch = Italienisch ohne Spezifikation (Anzahl Nennungen n=5; Anzahl Begründungen n=7); entspricht Faktor 2: Sprache. Signifikant für Begründungskategorie (p ≤ .001), Sprache (p ≤ .019) und für Interaktion (p ≤ .001). 11. Das laienlinguistische Argumentationsspektrum 253 <?page no="270"?> Unterschiedliche Begründungskategorien werden auch beim negativen ästhetischen Urteil signifikant unterschiedlich oft genannt (p ≤ .001). Vor allem der Klang ist ausschlaggebend für die Wahl einer Sprache als hässlich. Verglichen mit der Wahl anderer Sprachen als hässlich, wird die Wahl von Schweizerdeutsch im Durchschnitt mit mehr Begründungen belegt (p ≤ .019). Schweizerdeutsch erzielt einen Mittelwert von 0.201 Begründungen während andere Sprachen im Durchschnitt 0.166 Begründungen erhalten. Schweizerdeutsch wird also nicht nur aussergewöhnlich oft als hässliche Sprache genannt, die Beurteilenden können ihre Wahl auch ausführlich belegen. Ob dies wiederum mit einer rechtfertigenden oder entschuldigenden Haltung zu erklären ist (vgl. Kap. 11.3.3), oder ob über Schweizerdeutsch tatsächlich einfach mehr negative Konzeptualisierungen spontan abrufbar sind, kann hier nicht abschliessend geklärt werden. Festgehalten werden kann, dass für die Wahl von Schweizerdeutsch im Vergleich mit der Wahl aller anderen Sprachen grundsätzlich unterschiedlich argumentiert wird (p ≤ .001). Der Unterschied ergibt sich vor allem durch die bei Schweizerdeutsch ausgeprägter vorhandene Kategorie Klang (Schweizerdeutsch 55%, andere Sprachen 44.8%). Dafür spielen sowohl formale Aspekte als auch soziale Konnotationen im Vergleich mit den anderen Sprachen eine zu vernachlässigende Rolle bei Schweizerdeutsch. Im Prinzip können beide oben gestellten Fragen mit ja beantwortet werden: Ja, es handelt sich bei Schweizerdeutsch um eine Sprache, bei der ein besonderes Problem besteht, denn das Begründungsmuster für Schweizerdeutsch weicht vom Begründungsmuster für andere Sprachen etwas ab. Da dieses „ besondere Problem “ in der sprachinhärenten Kategorie Klang liegt, die bei Schweizerdeutsch ausgeprägter ist als bei den anderen Sprachen, gilt innerhalb der Laienargumentation tatsächlich, dass Schweizerdeutsch als eine besonders hässliche Sprache unter hässlichen Sprachen konstruiert wird. In Kapitel 12.4.3 werden die Begründungen für die Wahl von Schweizerdeutsch als hässlich genauer untersucht und die Stellung von Schweizerdeutsch in den beiden untersuchten Sprachgebieten (Deutschschweiz und französische Schweiz) noch ausführlicher analysiert. 11.6 Begründungsbereitschaft/ Begründungsproduktivität Hier wird die Frage beantwortet, ob die verschiedenen Urteilstypen unterschiedlich viele Begründungen provozieren, ob also beispielsweise das Urteil über hässliche Sprachen ausführlicher (oder weniger ausführlich) begründet wird als das Urteil über schöne Sprachen. Weiter wird geprüft, ob die Begründungsproduktivität bei Mehrfachnennungen (wenn eine Person also zum Beispiel vier schönste Sprachen nennt) für jede der nacheinander genannten Sprache etwa konstant bleibt, oder ob sie sich verändert. 254 III. Resultate und Diskussion <?page no="271"?> 0 0.5 1 1.5 2 2.5 3 3.5 4 1. Sprache 2. Sprache 3. Sprache 4. Sprache 5. Sprache Anzahl genannte Begründungen Sprachnennungen (Mehrfachantworten) Lieblingssprache Schöne Sprache Hässliche Sprache Abb. 15: Mittelwerte Anzahl Begründungen für die erstbis fünftgenannte Sprache in den drei Urteilstypen (Lieblingssprache, schöne Sprache und hässliche Sprache). Mittelwerte Anzahl genannte Begründungen in den drei Urteilstypen global: Lieblingssprache = 1.665; schöne Sprache = 1.619; hässliche Sprache = 1.662. Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass einmal abgegebene Urteile auch begründet werden, dass also prinzipiell Begründungsbereitschaft besteht. Es kommt zwar vor, dass Personen Sprachen nennen und, nach der Begründung für die Wahl gefragt, keinen Grund für die Nennung der Sprache in einem der Urteilstypen angeben, der Anteil dieser Nullantworten ist jedoch gering. Deutlich zu erkennen ist, dass die Begründungsproduktivität, falls die Wahl mehrerer Sprachen begründet werden muss, nachlässt und zwar schon ab der zweitgenannten Sprache. Während die Wahl der erstgenannten Sprache durchschnittlich meist noch mit zwischen zwei und über dreieinhalb Begründungen gerechtfertigt wird, sinkt die Zahl der genannten Begründungen schon ab der zweitgenannten Sprache auf unter 1.5. Der hohe Wert bei der 5. Lieblingssprache ist damit zu erklären, dass lediglich zwei Gewährspersonen überhaupt fünf Sprachen genannt haben und dass diese zwei ihre Wahl dann überdurchschnittlich umfassend begründet haben. Wie in Kapitel 11.2 zur Urteilsproduktivität gezeigt werden konnte, geben die meisten Informantinnen und Informanten am häufigsten eine Sprache pro Urteilstyp an, diese wird dann gemäss Abbildung 15 auch ausführlich begründet. Dabei gilt es zu betonen, dass die verschiedenen 11. Das laienlinguistische Argumentationsspektrum 255 <?page no="272"?> Urteilstypen (affektives Urteil, positives ästhetisches Urteil, negatives ästhetisches Urteil) jeweils etwa gleich ausführlich begründet werden. Die Mittelwerte bewegen sich um 1.6 Begründungen pro abgegebenes Urteil 134 . Dieses Resultat spricht gegen die Annahme, dass beim negativen ästhetischen Urteil eine ausgeprägte Rechtfertigungshaltung eingenommen wird, zumindest nicht, was den Umfang der Antworten betrifft (vgl. hinsichtlich der Rechtfertigungshaltung Kap. 11.3.3 und 11.4.3.) 11.7 Zusammenfassung Im laienlinguistischen Spektrum kommen insbesondere Begriffe der übergeordneten Ebene zahlreich vor (Englisch ohne Spezifikation, Französisch ohne Spezifikation etc.). Bei einigen dieser Sprachen wird zusätzlich eine höhere Spezifikationsstufe erreicht, wobei hier Nähe-Distanz-Faktoren den Ausschlag zu geben scheinen (Sprachbezeichnungen mit höherer Spezifität erfolgen beispielsweise für die Landessprachen, für Englisch oder für Spanisch). Das laienlinguistische Spektrum weist eine Reihe diffuser Bezeichnungen auf, die auf Kategorien mit verzerrten Rändern verweisen (z. B. Ostblocksprachen, Balkansprachen): Hier dürften Stereotypisierungsprozesse am Werk sein, genauso wie bei einer aus linguistischer Sicht nicht korrekten Kategorie wie Jugoslawisch. Hier geht es wahrscheinlich weniger um spezifische linguistische Merkmale oder mentale Repräsentationen von Perzepten, sondern um die Konstruktion von outgroups mit bestimmten Eigenschaften, die sich auf die Einschätzung linguistischer Praktiken übertragen lassen (vgl. zur Ikonisierung Kap. 3.2.4.4). Überraschend ist, dass sowohl Hochdeutsch als auch typische Migrationssprachen der Schweiz insgesamt selten thematisiert werden, weder positiv noch negativ. Die deutschen Sprachbezeichnungen werden auf der vertikalen Kategorisierungsachse organisiert (Orts- und Regionaldialekte - Kantonsmundarten - Schweizerdeutsch - Deutsch). Es ist jedoch nicht die Ebene der Primärbegriffe (Kantonsmundarten), die am produktivsten ist in der Laienmetasprache, sondern die übergeordnete Ebene Schweizerdeutsch. Es gibt Anzeichen dafür, dass Schweizerdeutsch für einige Gewährspersonen Gestalt- Charakter hat (mit dem salienten Merkmal/ x/ ), wahrscheinlicher ist aber, dass die Bezeichnung Schweizerdeutsch aus kulturellen und ideologischen Gründen so frequent vorkommt: Für die Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer ist die vereinfachte Wahrnehmung der eigenen linguistischen Praxis bei der Konstruktion von Sprachideologien nützlich, wenn 134 Eine methodologische Konsequenz für Kapitel 12 aus den hier beschriebenen Feststellungen ist, dass in die Berechnungen der Begründungsproduktivität bei den einzelnen Variablen jeweils nur die Resultate der erstgenannten Sprachen einfliessen werden. 256 III. Resultate und Diskussion <?page no="273"?> Schweizerdeutsch beispielsweise als Antipode zu Hochdeutsch funktioniert (vgl. Kap. 3.2.4.4 für den semiotischen Ideologieprozess erasure) 135 . Die Urteilsbereitschaft ist in den beiden positiven Urteilstypen, wie angenommen, grundsätzlich da. Im negativen ästhetischen Urteilstyp kommt es vermehrt zu Nullantworten: 99 von 280 Gewährspersonen möchten oder können nicht über hässliche Sprachen sprechen. Positive diskursive Einstellungen gehören demnach zu einer selbstverständlicheren und unproblematischeren Laiensprachpraxis als negative diskursive Einstellungen. Affektive und ästhetische Sprachurteile werden grundsätzlich unterschiedlich konzeptualisiert (es werden also unterschiedliche Begründungen in den unterschiedlichen Urteilstypen genannt). Während ästhetische Sprachurteile hauptsächlich klangbasiert begründet werden, spielen Vertrautheit und Kompetenz beim affektiven Urteil eine wesentliche Rolle. Auffallend ist, dass es bei Begründungen für negative Urteile zu spezifischeren Aussagen kommt als bei Begründungen für positive Urteile. Wir können spekulieren, dass eine Rechtfertigungshaltung zu dieser grösseren Spezifität führt. Dass die Wahrnehmung feinkörniger ist, wenn sie mit negativen Gefühlen verbunden ist, wäre eine zweite, m. E. eher unwahrscheinlichere, Erklärung. Die Begründungsmuster variieren signifikant zwischen unterschiedlichen Sprachen. Als Folge davon bleibt es uns verwehrt, allgemeine Grundsätze der Laiensprachästhetik zu formulieren. Keine der Hypothesen der Sprachästhetikforschung kann grundsätzlich verworfen oder grundsätzlich angenommen werden: Je nach Sprache und Urteilstyp treffen sie mehr oder weniger zu. Für die romanischen Sprachen (Italienisch, Spanisch sowie Französisch) findet sowohl die Argumentation im affektiven, als auch die im positiven ästhetischen Urteilstyp klangbasiert statt. Diese Sprachen sind für Laien inhärent schön. Dass im negativen ästhetischen Urteilstyp genau für diese Sprachen selten sprachinhärent argumentiert wird, unterstützt diese These. Französisch wird eher deswegen nicht als schön empfunden, weil es als schwierig eingestuft wird. Dass bei Italienisch im negativen ästhetischen Urteilstyp oft tautologisch begründet wird, unterstützt die Annahme, dass es sich bei dieser Sprache in der Laienkonzeptualisierung um die inhärent schönste handelt. Während die Inhärenzhypothese im Fall der romanischen Sprachgruppe angenommen werden kann, muss sie im Fall von Englisch verworfen werden: Englisch wird wegen seiner Nützlichkeit sowohl als Lieblingssprache als auch als schöne Sprache gewählt. Das rationalistische kulturelle Modell, das durch die Metapher S PRACHE ALS M ITTEL , UM ZU KOMMUNIZIEREN konstituiert wird, liegt dieser Argumentation zu Grunde. Das Modell ist im Laiendiskurs so prominent, dass es sogar für die Begründung ästhetischer Urteile herangezogen wird, wo es eigentlich gar nicht 135 In der Romandie wird nie konkret auf Deutschschweizer Dialekte eingegangen und ausschliesslich mit dem Begriff Schweizerdeutsch operiert: Dies kann ebenfalls als erasure interpretiert werden. 11. Das laienlinguistische Argumentationsspektrum 257 <?page no="274"?> wirklich passt. Eine weitere Varietät, die im Laienmetadiskurs eine herausragende Rolle spielt, ist Schweizerdeutsch: Obwohl die Hälfte aller Gewährspersonen aus der Deutschschweiz stammt, schneidet Schweizerdeutsch, was die ästhetische Einschätzung betrifft, geradezu phänomenal schlecht ab. Die Argumentation erfolgt teilweise über den Klang, teilweise über Metaphern. Insbesondere letztere können auf ideologische Tendenzen verweisen und stereotypische Zuschreibungen transportieren (z. B. aggressiv, fremd, unfreundlich). Die Tatsache, dass Schweizerdeutsch im positiven ästhetischen Urteilstyp weniger aus phonetischen Gründen gewählt wird als vielmehr aus Gründen der Vertrautheit mit der Sprache, zeigt eine ähnliche Situation, wie sie für das Italienische konstatiert worden ist - allerdings unter anderen Vorzeichen: Schweizerdeutsch ist aus der Perspektive von Laien die inhärent hässlichste Sprache. Die Begründungsbereitschaft ist grundsätzlich in allen Urteilstypen vorhanden. Es erfolgen also für die allermeisten Urteile Konzeptualisierungen. Bei Mehrfachantworten nimmt die Begründungsproduktivität jedoch mit jeder genannten Sprache ab. Keiner der Urteilstypen evoziert signifikant mehr Begründungen als ein anderer. In Kapitel 11 zeigt sich eine generelle Problematik evaluativer Laienmetasprache: Alle Gewährspersonen sprechen zwar über Sprachen, Varietäten und Dialekte - und trotzdem stellt sich die Frage: Was ist der Gegenstand metasprachlicher Diskurse? Sind es linguistische Merkmale von Sprachen als Objekte der Wahrnehmungswelt (verbalisierte mentale Repräsentationen von Perzepten)? Sind es Eigenschaften von Gruppen, die auf linguistisches Material projiziert werden (Ikonisierungen und Stereotypisierungen)? Oder ist es Sprache in ihrer Funktion als Ideologieträgerin (z. B. in einem semiotischen Ideologieporzess der erasure)? Die qualitative Analyse in Kapitel 13 wird sich dieser Fragen vertiefend annehmen. An dieser Stelle kann festgehalten werden: Ungeachtet der Mehrschichtigkeit evaluativer Laienmetasprache, die sich hier abzeichnet, lassen sich signifikante quantitative Tendenzen aus dem Laienmetadiskurs herausschälen. Evaluative Laienmetasprache weist musterhafte Züge auf; es handelt sich also keineswegs um eine arbiträre Sprachpraxis. 258 III. Resultate und Diskussion <?page no="275"?> 12. Sprachurteile und ihre Einflussgrössen: Auswertung der 20 Hypothesen Der statistischen Datenanalyse liegen 20 Hypothesen in fünf Hypothesenkomplexen zu Grunde. Die fünf Hypothesenkomplexe entsprechen den untersuchten Einflussvariablen Alter, Geschlecht, Bildung, Sprachgebiet sowie Sprachbiographie/ Kontaktsituation (vgl. Kap. 9.3.2). Im Folgenden werden Analysen und Resultate für die 20 Hypothesen präsentiert 136 . Für die Variablen Alter, Geschlecht, Bildung sowie Sprachgebiet erfolgt am Anfang der entsprechenden Kapitel jeweils eine Übersicht, in der die Sprachkompetenz, Sprachaufenthalte sowie die Anzahl gesprochener Sprache hinsichtlich der untersuchten Variable dargestellt werden. Für diese Übersichten werden keine Signifikanztests durchgeführt. Eingangs jeder Hypothese werden die signifikantesten Resultate und die durchgeführten Tests kurz geschildert. 12.1 Alter In der Stichprobe finden sich vier verschiedene Altersgruppen: Schülerinnen und Schüler im Alter zwischen 13 und 17 Jahren, junge Erwachsene zwischen 20 und 30 Jahren, Erwachsene zwischen 40 und 50 Jahren und Erwachsene, die sich (mehrheitlich) nicht mehr im Erwerbsleben befinden ab 65 Jahren. Dabei sind alle Altersgruppen bis auf die Schülerinnen und Schüler mit jeweils 84 Personen vertreten; die Schülerinnen und Schüler sind mit 28 Personen vertreten. Im Folgenden sind Angaben zu Sprachkompetenz, Sprachaufenthalten sowie der Anzahl gesprochener Sprachen nach Alter dargestellt. Danach werden die Resultate zu den vier Hypothesen, die sich auf die Variable Alter beziehen, erläutert. 136 In Appendix 10 werden die Resultate der 20 Hypothesen zusammenfassend dargestellt. <?page no="276"?> 12.1.1 Alter und Sprachkompetenz/ Aufenthalte 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Anteil Nennungen Sprachkompetenz 13-17 20-30 40-50 65+ Abb. 16: Alter und Sprachkompetenz. Angaben verschiedener Altersgruppen zu den Sprachen, die sie sprechen (unter Ausschluss der jeweiligen L1). n=280 für Englisch, Italienisch, Spanisch, Arabisch, Chinesisch, Holländisch und Russisch; n=140 (nur Deutschschweiz) für Französisch; n=140 (nur französische Schweiz) für Schweizerdeutsch und Hochdeutsch. Bei Englisch ist eine absteigende Tendenz nach Altersgruppen festzustellen: Je älter die Sprecherinnen und Sprecher, desto seltener zählen sie Englisch zu ihren Sprachkompetenzen. Bei Italienisch verhält es sich im Prinzip umgekehrt - allerdings spricht die Altersgruppe zwischen 40 und 50 sogar noch häufiger Italienisch als die über 65-Jährigen. Auffallend ist auch die oft angegebene Kompetenz der ältesten Gruppe bei den typischen Schulsprachen der Schweiz, also Französisch in der Deutschschweiz und Hochdeutsch in der französischsprachigen Schweiz. Abbildung 17 stellt die absolvierten Aufenthalte nach Sprachen dar, die im Gebiet des Aufenthalts gesprochen werden, und gibt Aufschluss über die unterschiedliche Mobilität der verschiedenen Generationen. Die Sprachaufenthalte der Generation 65+ finden oftmals in Gebieten, wo eine der Landessprachen gesprochen wird, statt. Das so genannte „ Welschlandjahr “ , das unter Deutschschweizerinnen (und teilweise auch Deutschschweizern) vor allem bei der Generation 65+ sehr beliebt war, sticht sofort ins Auge; diese Generation verzeichnet ebenfalls die meisten Aufenthalte im italienischsprachigen Gebiet. Bei Schweizerdeutsch verhält es sich ähnlich: Es ist eher die ältere Generation der Romandes und Romands, die Erfahrungen in der Deutschschweiz gesammelt hat. Die jüngeren Generationen verbringen vor allem Aufenthalte in Ländern und Regionen, wo entweder Französisch 260 III. Resultate und Diskussion <?page no="277"?> oder Englisch gesprochen wird. Im Kontext dieser Analyse ist natürlich anzumerken, dass die älteste Generation insgesamt mehr Lebenszeit zur Verfügung hatte für Aufenthalte, und dass einige der Resultate diesen Umstand widerspiegeln (so wird sich die jüngste Generation der Schülerinnen und Schüler nach der obligatorischen Schulzeit mit Sicherheit den Zahlen nähern, welche die Generation 20 - 30 heute schon erreicht). 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Anteil Nennungen Sprache in Gebiet von Aufenthalt 13-17 20-30 40-50 65+ Abb. 17: Alter und Aufenthalt in Gebieten, wo eine Sprache gesprochen wird, die nicht der L1 entspricht. n=280 für Englisch, Italienisch, Spanisch; n=140 (nur Deutschschweiz) für Französisch; n=140 (nur französische Schweiz) für Schweizerdeutsch und Hochdeutsch. Bei der Variablen Anzahl gesprochener Sprachen werden Angaben zu verschiedenen Varietäten einer Sprache jeweils als eine Sprachkompetenz gezählt. Die Unterschiede in den Mittelwerten der Anzahl gesprochener Sprachen sind gering. Dass die jüngste Altersgruppe noch keine Gelegenheit hatte, mehr als ihre L1 und zwei bis drei an der Schule unterrichtete Sprachen zu lernen, ist evident. Die Altersgruppe zwischen 20 und 30 nennt die meisten Sprachen, wenn sie nach ihren Sprachkompetenzen gefragt wird. Der Anstieg bei den Vertreterinnen und Vertretern der Generation 65+ ist eventuell damit zu erklären, dass viele Menschen nach der Pensionierung eine weitere Sprache lernen und dass diese Gruppe natürlich vergleichsweise die meiste Lebenszeit zur Verfügung hatte, um Sprachen zu lernen. 12. Sprachurteile und ihre Einflusgrössen 261 <?page no="278"?> 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% 1 2 3 4 5 6+ Anteil Nennungen Anzahl gesprochener Sprachen 13-17 20-30 40-50 65+ Abb. 18: Alter und Anzahl gesprochener Sprachen (inklusive Muttersprache). Mittelwerte: 13 - 17=3.57; 20 - 30=3.71; 40 - 50=3.63; 65+=3.67. 12.1.2 Alter und L1 (Hypothese 1) Hyp 1: Ältere Sprecher beurteilen ihre L1 häufiger positiv (affektiv und ästhetisch) als jüngere Sprecher. Angenommen: Gewährspersonen der ältesten Generation (65+) beurteilen ihre L1 affektiv positiver als Gewährspersonen jüngerer Generationen. Bei der ältesten Generation mit der L1 Französisch kommt dazu, dass sie Französisch auch ästhetisch positiver beurteilt als jüngere Generationen. Dies trifft auf Personen mit der L1 Deutsch nicht zu. Inf: Muttersprache Französisch in FS n=110, Muttersprache Deutsch in DS n=121. Berechnungen jeweils einmal mit und einmal ohne jüngste Altersgruppe (17 - 20). Test: Kendall-Tau-c Mv: Alter * Deutsch als LS, SS; Französisch als LS, SS Res: Alter * Deutsch als LS +, Alter * Deutsch als SS n. s., Alter * Französisch als LS +, Alter * Französisch als SS +. 262 III. Resultate und Diskussion <?page no="279"?> Tab. 21: Zusammenhang zwischen Alter und Wahl der Muttersprache als Lieblingssprache und schöne Sprache. Altersgruppen: 13 - 17, 20 - 30, 40 - 50, 65+. n=135 mit Muttersprache Deutsch in der Deutschschweiz; n=124 mit Muttersprache Französisch in der französischsprachigen Schweiz. Für die Muttersprache Deutsch untersuchte Varietäten: Schweizerdeutsch (inklusive Dialektnennungen), Hochdeutsch und Deutsch (inklusive aller Varietäten des Deutschen). Für die Muttersprache Französisch untersuchte Varietäten: Schweizer Französisch, Französisch in Frankreich und Französisch (inklusive aller Varietäten des Französischen). Berechnungen jeweils mit und ohne der jüngsten Altersgruppe (13 - 17). Chi-Quadrat und Kendall- Tau-c: Signifikanzen in Tabelle fett wiedergegeben. 137 Muttersprache Deutsch 13 - 17 n=14 20 - 30 n=39 40 - 50 n=41 65+ n=41 Chi 2 mit 13 - 17 Chi 2 ohne 13 - 17 Tau -c (2)mit 13 - 17 Tau-c ohne 13 - 17 Lieblingssprache Schweizerdeutsch 50% 33.3% 41.5% 46.3% n. s. n. s. n. s. n. s. Hochdeutsch 0.0% 5.1% 4.9% 17.1% p=.0415 p=.046 p=.014 p=.0405 Deutsch 50% 41% 51.2% 63.4% n. s. n. s. p=.0375 p=.02 Schöne Sprache Schweizerdeutsch 28.6% 15.4% 9.8% 22% n. s. n. s. n. s. n. s. Hochdeutsch 0% 5.1% 4.9% 12.2% n. s. n. s. n. s. n. s. Deutsch 28.6% 20.5% 19.5% 29.3% n. s. n. s. n. s. n. s. Muttersprache Französisch 13 - 17 n=14 20 - 30 n=40 40 - 50 n=36 65+ n=34 Chi 2 mit 13 - 17 Chi 2 ohne 13 - 17 Tau -c (2)mit 13 - 17 Tau-c ohne 13 - 17 Lieblingssprache Schweizer Französisch 0% 10% 5.6% 2.9% n. s. n. s. n. s. n. s. Französisch in Frankreich 0% 7.5% 8.3% 23.5% p=.0255 p=.0375 p=.0065 p=.0315 Französisch 42.9% 67.5% 77.8% 91.2% p=.002 p=.0245 p ≤ .001 p=.0045 Schöne Sprache Schweizer Französisch 0% 5% 0% 2.9% n. s. n. s. n. s. n. s. Französisch in Frankreich 0% 5% 2.8% 17.6% p=.024 p=.025 p=.0205 p=.0151 Französisch 57.1% 32.5% 30.6% 58.8% p=.017 p=.013 n. s. p=.014 137 Zu der Abbildungsweise in den Tabellen vgl. Kap. 10.1.4. 12. Sprachurteile und ihre Einflusgrössen 263 <?page no="280"?> Personen mit Deutsch als Muttersprache Schweizerdeutsch wird von allen Altersgruppen häufig als Lieblingssprache genannt, daher gibt es keinen signifikanten Zusammenhang zwischen dem Alter und der Wahl von Schweizerdeutsch als Lieblingssprache. Ersichtlich wird jedoch, dass die älteste und die jüngste Generation eine deutlichere Präferenz für ihre Muttersprache aufweisen als die anderen Altersgruppen. Am seltensten wird Schweizerdeutsch von Personen zwischen 20 und 30 Jahren als Lieblingssprache genannt. Diese Altersgruppe nennt, wie gezeigt, die meisten Sprachen, wenn sie nach ihren Sprachkompetenzen gefragt wird. Es mag daher sein, dass diese Gruppe zu Fremdsprachen ein affektives Verhältnis entwickelt, was die Rolle der L1 leicht marginalisiert. Bei Hochdeutsch ist der Fall sehr klar: Je älter die Informantinnen und Informanten, desto lieber mögen sie Hochdeutsch, wobei anzumerken ist, dass sich diese Tendenz insgesamt auf einem relativ niedrigen Niveau abspielt: 17.1% der über 65-Jährigen nennen Hochdeutsch als Lieblingssprache. Werden alle Varietäten des Deutschen zusammengerechnet, ergibt sich eine ansteigende Präferenz mit ansteigendem Alter. Die jüngste Altersgruppe allerdings verhält sich ähnlich wie die Älteste: Sie hat ein ausgeprägtes affektives Verhältnis zur eigenen Sprache. In der theoretischen Herleitung der Hypothese 1 wurde die in anderen Ländern feststellbare zunehmende Toleranz älterer Personen gegenüber regionalen Akzenten thematisiert. Es wurde die Vermutung geäussert, dass die Toleranz gegenüber lokalen Sprechweisen in den vorliegenden Daten nicht nur ein Phänomen älterer Gruppen ist, da die lokalen Dialekte in der Deutschschweiz im Allgemeinen hohes Prestige geniessen. Tatsächlich zeichnet sich in der vorliegenden Stichprobe gerade auch die jüngste Gruppe durch sehr positive Bewertungen des Schweizerdeutschen aus. Eine zunehmende Toleranz mit steigendem Alter ist im Fall der Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer jedoch gegenüber Hochdeutsch feststellbar. In der Deutschschweiz scheint im Vergleich zu anderen untersuchten Gebieten ein Rollentausch zwischen der Standardsprache und den Dialekten stattzufinden, was deren Bewertung angeht: Beobachtungen, die sonst die lokalen Akzente betreffen, betreffen im Falle der Deutschschweiz die Standardsprache: Je älter die Informantinnen und Informanten, desto toleranter werden sie gegenüber Hochdeutsch. Diese Beobachtung ist in Einklang mit dem Konzept der Dialektideologie, das Watts (1999) für die Situation in der Deutschschweiz formuliert hat (vgl. Kap. 8.3.1, Hypothese 13). Positive ästhetische Urteile über die eigene Sprache stehen dagegen in keinem Zusammenhang mit dem Alter der befragten Personen. Für keine der Varietäten des Deutschen ergeben sich signifikante Resultate. Auf sehr niedrigem und nicht signifikantem Niveau lässt sich eine Tendenz zur positiveren Beurteilung von Hochdeutsch mit steigendem Alter beobachten. 264 III. Resultate und Diskussion <?page no="281"?> Personen mit Französisch als Muttersprache Die Wahl von Schweizerfranzösisch als Lieblingssprache durch Personen mit französischer Muttersprache steht in keinem Zusammenhang mit deren Alter. Die Wahl von Französisch in Frankreich jedoch schon: Je älter die Informantinnen, desto eher geben sie Französisch in Frankreich als Lieblingssprache an. Diese Beobachtung entspricht der Beobachtung fürs Hochdeutsche. Werden alle Varietäten des Französischen zusammengerechnet, ergibt sich eine eindeutige Tendenz: Je älter die Befragten sind, desto eher geben sie Französisch als Lieblingssprache an. Auch diese Beobachtung konnte vorher schon bei den deutschen Gewährspersonen angestellt werden, allerdings bewegt sich Französisch auf einem insgesamt höheren Niveau (91.2% der über 65-Jährigen mit Muttersprache Französisch haben eine affektive Beziehung zu ihrer eigenen Sprache, während lediglich 63.4% der über 65-Jährigen mit Muttersprache Deutsch eine affektive Beziehung zur eigenen Sprache haben). Positive ästhetische Urteile über die eigene Sprache stehen bei Personen mit französischer Muttersprache in einem eindeutigen Zusammenhang mit dem Alter und zwar dann, wenn alle Varietäten des Französischen zusammen berechnet werden und wenn der jüngsten Altersgruppe (13bis 17-Jährige) keine Beachtung geschenkt wird. Hier ist die Tendenz ebenfalls eine eher positive Beurteilung mit zunehmendem Alter. Die Signifikanz für den Kendall-Tau-c Test verschwindet, wird die jüngste Gruppe mit eingerechnet, da die jüngste Gruppe eine ähnlich positive ästhetische Bewertung der eigenen Sprache vornimmt wie die älteste Gruppe. Der Chi-Quadrat Test bleibt signifikant, da sich jeweils die jüngste und die älteste Gruppe sehr ähnlich verhalten und die beiden mittleren Gruppen jeweils ein ähnliches Verhalten aufweisen. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass in den vorliegenden Daten nicht nur eine Rückbesinnung auf die L1 (insbesondere was die affektive Beziehung zur Sprache betrifft) bei älteren Personen festgestellt werden kann - die Daten erlauben im gleichen Zuge die Aussage, dass im Falle der Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer ebenfalls eine Abkehr von der L1 bei der Gruppe der 20bis 30-Jährigen stattfindet: Während die jüngste befragte Gruppe noch sehr oft affektiv positiv über Schweizerdeutsch urteilt, erwähnt die Gruppe der 20bis 30-Jährigen Schweizerdeutsch am seltensten. Zwischen diesen Generationen scheint ein L1- Einbruch stattzufinden - oder, anders interpretiert, eine Fremdsprachenorientierung, welche die Rolle der L1 im metalinguistischen Diskurs mittelfristig etwas schwächt. Bei den französischen Schweizerinnen und Schweizern ist zwar auch festzustellen, dass die jüngste Gruppe ein ausgeprägt affektives Verhältnis zu ihrer L1 deklariert - der Einbruch in der nächsten Generation ist aber (im Vergleich mit anderen Altersgruppen) nicht so ausgeprägt wie in der Deutschschweiz. 12. Sprachurteile und ihre Einflusgrössen 265 <?page no="282"?> 12.1.3 Alter und die Beurteilung von Englisch (Hypothese 2) Hyp 2: Jüngere Sprecherinnen und Sprecher beurteilen globale Fremdsprachen mit bedeutendem instrumentellem Wert (Englisch) positiver (affektiv und ästhetisch). Angenommen für affektive Urteile, abgelehnt für ästhetische Urteile: Jüngere Personen beurteilen Englisch affektiv positiver als Personen der älteren Generationen, nicht jedoch ästhetisch positiver. Inf: n=280 Test: Kendall-Tau-c Mv: Alter * Englisch als LS, SS Res: Alter * Englisch als LS ++, Alter * Englisch als SS n. s. Tab. 22: Zusammenhang zwischen Alter und Wahl von Englisch als Lieblingssprache und schöne Sprache. Altersgruppen: 13 - 17, 20 - 30, 40 - 50, 65+. n=280. Chi-Quadrat und Kendall-Tau-c signifikant für Lieblingssprache, n. s. für schöne Sprache. 13 - 17 n=28 20 - 30 n=84 40 - 50 n=84 65+ + n=84 Chi 2 Tau -c Lieblingssprache Englisch 53.6% 25% 11.9% 15.5% p <.001 p =.0005 Schöne Sprache Englisch 21.4% 23.8% 16.7% 17.9% n. s. n. s. Die affektive Beurteilung von Englisch wird mit sinkendem Alter positiver. Je jünger die befragten Personen, desto eher geben sie Englisch als Lieblingssprache an. Die Gruppe der Schülerinnen und Schüler beurteilt Englisch sogar eher als Lieblingssprache als ihre L1. Dass die Gruppe, die Englisch am positivsten beurteilt, sich noch in der obligatorischen Schulzeit (und dementsprechend in der obligatorischen Englischausbildung) befindet, darf als positives Resultat bewertet werden: Der Englischunterricht scheint eine affektive Verbindung zur Unterrichtssprache zu begünstigen oder zumindest nicht zu behindern. Schon bei der Altersgruppe zwischen 20 und 30 Jahren wird Englisch aber nicht mehr positiver beurteilt als die L1 (immerhin ein Viertel der Informantinnen und Informanten zählt Englisch zu ihren Lieblingssprachen). Am seltensten wird Englisch von Personen im Alter zwischen 40 und 50 Jahren als Lieblingssprache gewählt (11.9%). Warum die Altersgruppe zwischen 40 und 50 Englisch eher nicht zu ihren Lieblingssprachen zählt, wird nicht aus den Kompetenz- und Aufenthaltsresultaten ersichtlich: Diese Generation zählt Englisch zwar etwas seltener zu ihren Kompetenzen als die jüngeren beiden Gruppen, hat aber beispielsweise auch Zeit im englischsprachigen Ausland verbracht. Eine mögliche Erklärung könnte der allgemeine Einbruch bei der Aufzählung von Lieblingssprachen sein, den diese Generation zu verzeichnen hat. 266 III. Resultate und Diskussion <?page no="283"?> Ein weiterer Erklärungsansatz ist, dass diese Gruppe Englisch im Zusammenhang mit Anforderungen der Arbeitswelt erst im Erwachsenenalter gelernt hat. Nicht alle Vertreterinnen und Vertreter dieser Generation wurden während ihrer obligatorischen Schulzeit in Englisch unterrichtet. Die anglophilen jüngeren Generationen, die eine sehr affektive Beziehung zu Englisch pflegen, können auf die Gruppe der 40bis 50-Jährigen verunsichernd wirken. Interessanterweise wählen Personen über 65 Englisch nämlich wiederum etwas häufiger als Lieblingssprache (15.5%) - diese Gruppe assoziiert Englisch sicher weniger mit Berufsanforderungen und kann ein entspanntes Verhältnis zu der Sprache pflegen. Die Ergebnisse dieser Hypothese werden in einer qualitativen Vertiefungsfrage aufgenommen (vgl. Kap. 8.5.3 sowie Kap. 13.2.3). 12.1.4 Alter und Urteilsproduktivität (Hypothese 3) Hyp 3: Jüngere Personen sind urteilsfreudiger als Personen älterer Generationen. Angenommen: Je jünger die Befragten, desto urteilsfreudiger sind sie insgesamt (Summe aus affektiven, positiven ästhetischen und negativen ästhetischen Urteilen). Signifikant produktiver sind jüngere Gewährspersonen bei der Abgabe negativer ästhetischer Urteile. Inf: n=280 Test: ANOVA Mv: Alter * Anzahl genannte Sprachen global (LS, SS, HS) Res: Mittelwert genannte Sprachen global +: 13 - 17=4.429; 20 - 30=3.964; 40 - 50=3.595; 65+=3.595; Gesamt=3.789. Wird die Urteilsproduktivität nach Altersgruppen in den drei verschiedenen Urteilstypen verglichen, lässt sich ein statistisch signifikanter Zusammenhang ausschliesslich für die Anzahl genannter hässlicher Sprachen feststellen; hier sind sowohl der ANOVA als auch der Kruskal-Wallis Test signifikant (p=.028 respektive p=.003). Die Anzahl genannter hässlicher Sprachen nimmt mit zunehmendem Alter ab. Ältere Personen geben also entweder aus Prinzip weniger Urteile über die Hässlichkeit von Sprachen ab oder finden tatsächlich weniger Sprachen hässlich - es mag auch sein, dass die ältere Generation auf diese Frage nicht so spontan und schnell antworten kann, wie es die Interviewsituation erfordert. Insgesamt erstaunt aber wenig, dass gerade dieser Urteilstyp (negatives ästhetisches Urteil) den grössten Alterseffekt zu verzeichnen hat: dieser Urteilstyp ist mit Sicherheit am stärksten betroffen von Überlegungen zu sozialer Wünschbarkeit und Korrektheit der Antworten. Die Resultate deuten darauf hin, dass in Hypothese 3 richtig angenommen wurde, dass jüngere Gewährspersonen solche Überlegungen seltener anstellen als ältere und unbeschwerter antworten in diesem Urteilstyp. 12. Sprachurteile und ihre Einflusgrössen 267 <?page no="284"?> 0 0.2 0.4 0.6 0.8 1 1.2 1.4 1.6 1.8 2 13-17 20-30 40-50 65+ Azahl genannter Sprachen Altersgruppen Lieblingssprachen Schöne Sprachen Hässliche Sprachen Abb. 19: Mittelwerte Anzahl genannter Lieblingssprachen, schöner Sprachen und hässlicher Sprachen nach Altersgruppen. Altersgruppen: 13 - 17 (n=28), 20- 30 (n=84), 40 - 50 (n=84), 65+ (n=84). Mittelwerte Lieblingssprachen: 13 - 17=1.5; 20 - 30=1.286; 40 - 50=1.167; 65+=1.345; Gesamt=1.289. Mittelwerte schöne Sprachen: 13 - 17=1.393; 20 - 30=1.417, 40 - 50=1.369; 65+=1.345; Gesamt=1.379. Mittelwerte hässliche Sprachen: 13 - 17=1.536; 20 - 30=3.964; 40 - 50=3.595; 65+=3.595; Gesamt=3.789. ANOVA signifikant für hässliche Sprachen (p=.028), Kruskal-Wallis signifikant für hässliche Sprachen (p=.003). Die jüngste Gruppe ist nicht nur beim negativen ästhetischen Urteil am urteilsfreudigsten (mit 1.536 Nennungen hässlicher Sprachen im Mittelwert), auch bei der Nennung von Lieblingssprachen ist die jüngste Altersgruppe am produktivsten. Betreffs Lieblingssprachen ist ein Einbruch in der Urteilsproduktivität für die Gruppe der 40bis 50-Jährigen zu beobachten. Diese Generation ist mit 1.167 Nennungen von Lieblingssprachen im Mittelwert am unproduktivsten. Bei der Nennung von schönen Sprachen sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Generationen wieder geringer und das Produktivitätsniveau ist hoch. Werden alle Nennungen in den drei Urteilstypen in die Berechnung eingeschlossen (es wird die Summe aller abgegebenen Urteile untersucht), wird der Kruskal-Wallis Test signifikant (p=.015), der ANOVA Test jedoch nicht. Dies bedeutet, dass eine nicht durch Zufall bestimmte Rangfolge der Altersgruppen in der globalen Urteilsproduktivität festgestellt werden kann. Jüngere Personen sind im Vergleich der Mittelwerte aller genannten Sprachen über die drei verschiedenen Urteilstypen hinweg urteilsfreudiger als ältere. Vor allem die jüngste Gruppe ist, wie angenommen, äusserst urteilsfreudig. Während die Kurve zwischen den ersten drei Altersstufen stetig abfällt, 268 III. Resultate und Diskussion <?page no="285"?> verläuft sie zwischen den beiden letzten (40bis 50-Jährige sowie die Generation 65+) waagrecht. Diese beiden Gruppen sind in ihrer Urteilsproduktivität ausgeglichen, was die Summe aller Urteile betrifft. 0 0.5 1 1.5 2 2.5 3 3.5 4 4.5 5 13-17 20-30 40-50 65+ Anzahl genannter Sprachen Altersgruppen Sprachen global (Lieblingssprachen, schöne Sprachen, hässliche Sprachen) Abb. 20: Mittelwerte Anzahl genannter Sprachen global nach Altersgruppen. Altersgruppen: 13 - 17 (n=28), 20 - 30 (n=84), 40 - 50 (n=84), 65+ (n=84). Mittelwerte: 13 - 17=4.429; 20 - 30=3.964; 40 - 50=3.595; 65+=3.595; Gesamt=3.789. ANOVA n.s., Kruskal-Wallis signifikant (p=.015). Im Folgenden wird geprüft, ob sich die grosse Produktivität der jüngeren Generation bei der Nennung von Sprachen in den drei Urteilstypen auch in der Begründungsproduktivität wiederfindet. Wie in allen nachfolgenden Berechnungen zur Begründungsproduktivität fliessen ausschliesslich die Begründung der jeweils erstgenannten Sprachen eines Urteilstyps in die Berechnungen ein (vgl. Kap. 11.6 Abbildung 15 und Fussnote 131 für eine Erklärung). Der Zusammenhang zwischen Alter und Begründungsproduktivität ist nur in einem Fall statistisch signifikant, und zwar für die Begründung der erstgenannten hässlichen Sprache. Der Kruskal-Wallis Test ist signifikant (p=.020); es wird also eine nicht durch Zufall bedingte Altersrangfolge festgestellt. Die Beurteilung einer Sprache als hässlich wird von älteren Personen ausführlicher begründet als von jüngeren Personen. Dieses Resultat kombiniert mit dem Resultat der Urteilsproduktivität (je älter die Informantinnen und Informanten, desto seltener geben sie Urteile zur Hässlichkeit von Sprachen ab) zeugt von einer wachsenden Zurückhaltung älterer Menschen im negativen Urteilen über Sprachen: Wenn sie negativ urteilen, dann begründen sie dies gut. Jüngere Personen dagegen beurteilen mehrere Sprachen als hässlich und geben durchschnittlich für die erstgenannte 12. Sprachurteile und ihre Einflusgrössen 269 <?page no="286"?> Sprache weniger Gründe an als alle anderen Altersgruppen. Jüngere Personen scheinen in ihrer metasprachlichen Praxis noch unbekümmerter zu sein ältere, sie sind offensichtlich über die Brisanz einer negativen Beurteilung von Sprachen weniger besorgt. Hingegen ist auch festzustellen, dass die Begründungsproduktivität der 13 - 17-Jähirgen für die Lieblingssprache erstaunlich hoch ist - keine andere Altersgruppe begründet die Wahl der ersten Lieblingssprache so ausführlich wie die jüngste Altersgruppe. Der affektive Bereich ist für die Jugendlichen zentral und darüber geben sie gerne Auskunft. 0 0.2 0.4 0.6 0.8 1 1.2 1.4 1.6 1.8 2 2.2 13-17 20-30 40-50 65+ Anzahl genannter Begründungen Altersgruppen Begründungen erstgenannte Lieblingssprache Begründungen erstgenannte schöne Sprache Begründungen erstgenannte hässliche Sprache Abb. 21: Mittelwerte Anzahl Begründungen für die jeweils erstgenannte Lieblingssprache, schöne Sprache und hässliche Sprache nach Altersgruppen. Altersgruppen: 13 - 17 (n=24), 20 - 30 (n=84), 40 - 50 (n=84), 65+ (n=84). Mittelwerte Begründungen erstgenannte Lieblingssprache: 13 - 17=1.929, 20-30=1.759, 40 - 50=1.720, 65+=1.728, Gesamt=1.756. Mittelwerte Begründungen erstgenannte schöne Sprache: 13 - 17=1.714, 20 - 30=1.676, 40 - 50=1.763, 65 +=1.700, Gesamt=1.714. Mittelwerte Begründungen erstgenannte hässliche Sprache: 13 - 17=1.667, 20 - 30=1.723, 40 - 50=1.833, 65+=1.841, Gesamt=1.774. ANOVA n.s., Kruskal-Wallis signifikant (p=.020). 12.1.5 Alter und Begründungsmuster (Hypothese 4) Was die Begründungsmuster betrifft, werden für alle untersuchten Variablen (Alter, Geschlecht, Bildung) jeweils keine statistischen Tests durchgeführt, sondern die Resultate werden deskriptiv dargestellt und behandelt, indem auf auffällige Resultate hingewiesen wird (vgl. Kap. 10.1.4). 270 III. Resultate und Diskussion <?page no="287"?> Hyp 4: Unterschiedliche Altersgruppen begründen Urteile in den drei Urteilstypen unterschiedlich. Unterschiedliche Altersgruppen begründen ästhetische Urteile (sowohl positive wie auch negative) relativ homogen. Bei den affektiven Urteilen unterscheiden sich die Altersgruppen stärker, wobei eine Tendenz der 13bis 17-Jährigen zu Tautologien auffällt. Vertrautheit mit der Sprache wird mit zunehmendem Alter häufiger als Grund für die Wahl der Lieblingssprache genannt. Inf: n=280 Test: Für diese Hypothese wurden keine statistischen Tests gerechnet (vgl. Kap. 10.1.4). Res: Siehe Abbildung. Abbildung 22 stellt die genannten Begründungskategorien für affektive Urteile nach Altersgruppen dar. 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Klang Formale Aspekte Soziale Konnotation Metaphern Schwierigkeit Nützlichkeit/ direkter Gebrauch Kompetenz/ Verständlichkeit Vertrautheit/ Kontakt Interlinguistische Vergleiche Tautologie Anteil Nennungen Begründungskategorien 13-17 20-30 40-50 65+ Lieblingsprache Abb. 22: Anteil der zehn Begründungskategorien an den Begründungen für affektive Urteile nach Altersgruppen. Altersgruppen: 13 - 17 (n=24), 20 - 30 (n=84), 40 - 50 (n=84), 65+ (n=84). Alle Altersgruppen argumentieren über die ersten vier Kategorien hinweg relativ homogen. Auffallend ist, dass Kompetenz und Verständlichkeit für die 13 - 17-Jährigen im Vergleich mit anderen Altersgruppen bei der Wahl einer Sprache als Lieblingssprache nicht entscheidend ist. Auch die Vertrautheit mit der Sprache ist für jüngere Personen nicht so wichtig wie für ältere: Je älter die befragten Personen sind, desto häufiger begründen sie die Wahl der Lieblingssprache damit, dass sie mit der Sprache vertraut sind. Ruft man sich die Resultate von Hypothese 1 in Erinnerung, erstaunt dies nicht. Ältere 12. Sprachurteile und ihre Einflusgrössen 271 <?page no="288"?> Gewährspersonen neigen dazu, ihre Muttersprache als Lieblingssprache zu nennen, mit der sie natürlich vertraut sind. Insgesamt ist bei der ältesten Gruppe im affektiven Bereich das Prinzip der Nähe und Vertrautheit zentraler als bei den jüngeren Altersgruppen. Interessant ist die Tendenz der jüngsten Gruppe, tautologisch zu argumentieren. Dies relativiert oben getätigte Aussage, dass die jüngste Gruppe gerne und ausführlich emotional über Sprachen diskutiert. Die Begründungsproduktivität ist nämlich auch deswegen so hoch, weil die jüngste Gruppe im Gegensatz zu den anderen Altersgruppen oftmals tautologisch argumentiert, ihre positiven Gefühle also nicht anders konzeptualisieren kann, als dass diese einfach da sind. Es muss bei den beiden anderen Urteilstypen geprüft werden, ob dieses Resultat auf ein allgemeines Unvermögen dieser Altersgruppe, Werturteile zu begründen, zurückzuführen ist oder ob die jüngste Gruppe lediglich beim Argumentieren im affektiven Bereich Mühe bekundet. Die nachfolgende Abbildung stellt die genannten Begründungskategorien für positive ästhetische Urteile nach Altersgruppen dar. 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Klang Formale Aspekte Soziale Konnotation Metaphern Schwierigkeit Nützlichkeit/ direkter Gebrauch Kompetenz/ Verständlichkeit Vertrautheit/ Kontakt Interlinguistische Vergleiche Tautologie Anteil Nennungen Begründungskategorien 13-17 20-30 40-50 65+ Schöne Sprache Abb. 23: Anteil der zehn Begründungskategorien an den Begründungen für positive ästhetische Urteile nach Altersgruppen. Altersgruppen: 13 - 17 (n=24), 20 - 30 (n=84), 40 - 50 (n=84), 65+ (n=84). Die jüngste Gruppe hat, wie gezeigt wurde, bei den Begründungen für ihre affektiven Urteile oftmals tautologisch geantwortet. Eine solche Tendenz ist für positive ästhetische Urteile jedoch nicht feststellbar. Die Argumentation ist für die meisten Kategorien nicht Altersgruppen spezifisch. Alle Gruppen 272 III. Resultate und Diskussion <?page no="289"?> argumentieren am häufigsten klangbasiert. Für die älteste Gruppe (65+) ist erneut die Vertrautheit mit der Sprache zentraler als für die anderen Gruppen, was wieder vom Prinzip der Nähe zeugt, das mit steigendem Alter wichtiger wird. Abbildung 24 stellt die genannten Begründungskategorien für negative ästhetische Urteile nach Altersgruppen dar. 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Klang Formale Aspekte Soziale Konnotation Metaphern Schwierigkeit Nützlichkeit/ direkter Gebrauch Kompetenz/ Verständlichkeit Vertrautheit/ Kontakt Interlinguistische Vergleiche Tautologie Anteil Nennungen Begründungskategorien 13-17 20-30 40-50 65+ Hässliche Sprache Abb. 24: Anteil der zehn Begründungskategorien an den Begründungen für negative ästhetische Urteile nach Altersgruppen. Altersgruppen: 13 - 17 (n=24), 20 - 30 (n=84), 40 - 50 (n=84), 65+ (n=84). Ein relativ homogenes Bild zeigt sich auch bei der Argumentation bezüglich des negativen ästhetischen Urteils. Wiederum ist der Klang für alle Altersgruppen die am häufigsten vorkommende Antwortkategorie. Während die jüngste Gruppe bei der Argumentation zu den affektiven Urteilen aufgefallen ist, weil sie Kompetenz und Verständlichkeit weniger oft erwähnte als alle anderen Gruppen, ist hier das Gegenteil festzustellen: Die jüngste Gruppe findet Sprachen öfter als andere Gruppen hässlich, weil sie sie nicht versteht, die Kompetenz in der Sprache also fehlt. 12. Sprachurteile und ihre Einflusgrössen 273 <?page no="290"?> 12.2 Geschlecht 12.2.1 Geschlecht und Sprachkompetenz/ Aufenthalte Beide Geschlechter sind mit jeweils 140 Interviewpartnerinnen und -partnern in der Stichprobe vertreten. Im Folgenden sind Angaben zu Sprachkompetenz, Sprachaufenthalten sowie die Anzahl gesprochener Sprachen nach Geschlecht dargestellt. Danach werden die Resultate zu den drei Hypothesen, die sich auf die Variable Geschlecht beziehen, erläutert. 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Anteil Nennungen Sprachkompetenz Männer Frauen Abb. 25: Geschlecht und Sprachkompetenz. Angaben beider Geschlechter zu den Sprachen, die sie sprechen (unter Ausschluss der jeweiligen L1). n=280 für Englisch, Italienisch, Spanisch, Arabisch, Chinesisch, Holländisch und Russisch; n=140 (nur Deutschschweiz) für Französisch; n=140 (nur französische Schweiz) für Schweizerdeutsch und Hochdeutsch. Die Sprachkompetenzen beider Geschlechter sind relativ ähnlich. Frauen geben jeweils etwas öfter an, dass sie über eine bestimmte Sprachkompetenz verfügen als Männer. Dies trifft vor allem auf Italienisch zu und in geringerem Masse auf Französisch und Englisch. Bei Hochdeutsch und Spanisch ist das Verhältnis ausgewogen. Die französischsprachigen Frauen zählen Schweizerdeutsch öfter zu ihren Kompetenzen als die französischsprachigen Männer. 274 III. Resultate und Diskussion <?page no="291"?> 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Anteil Nennungen Sprache in Gebiet von Aufenthalt Männer Frauen Abb. 26: Geschlecht und Aufenthalt in Gebieten, wo eine Sprache gesprochen wird, die nicht der L1 entspricht. n=280 für Englisch, Italienisch, Spanisch; n=140 (nur Deutschschweiz) für Französisch; n=140 (nur französische Schweiz) für Schweizerdeutsch und Hochdeutsch. Frauen absolvieren tendenziell öfter Aufenthalte in Ländern und Gebieten, wo nicht ihre L1 gesprochen wird. Insbesondere verbringen französischsprachige Frauen eher einen Aufenthalt in der Deutschschweiz als französischsprachige Männer. Bei Italienisch und Spanisch verbringen jedoch mehr Männer als Frauen einen Aufenthalt im Sprachgebiet. 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% 1 2 3 4 5 6 Anteil Nennungen Anzahl gesprochener Sprachen Männer Frauen Abb. 27: Geschlecht und Anzahl gesprochener Sprachen (inklusive Muttersprache). Mittelwerte: Männer=3.55; Frauen=3.77. 12. Sprachurteile und ihre Einflusgrössen 275 <?page no="292"?> Frauen geben etwas mehr Sprachen an, die sie können (inklusive ihrer L1). Der Mittelwert für die Anzahl gesprochener Sprachen beträgt für die Männer 3.55 und für die Frauen 3.77. Die meisten Männer sprechen drei Sprachen; dies dürfte in vielen Fällen die jeweilige L1 sowie zusätzlich zwei obligatorische Schulsprachen (meist Englisch und Französisch bzw. Englisch und Hochdeutsch) beinhalten. Etwa ein Drittel der Frauen spricht vier Sprachen, das heisst, sie lernen ausser den obligatorischen Sprachen an der Schule noch eine zusätzliche Sprache. 12.2.2 Geschlecht und Standardsprache (Hypothese 5) Hyp 5: Frauen sprechen häufiger positiv über die Standardsprache (Hochdeutsch, Französisch in Frankreich) als Männer. Abgelehnt: Frauen sprechen nicht häufiger positiv über die Standardsprache als Männer. Inf: DS n=140, FS n=140 Test: Exakter Test nach Fisher Mv: DS: Geschlecht * Hochdeutsch als LS, SS, HS; FS: Französisch in Frankreich als LS, SS, HS Res: DS: Geschlecht * Hochdeutsch als LS n. s., Geschlecht * Hochdeutsch als SS n. s., Geschlecht * Hochdeutsch als HS n. s.; FS: Geschlecht * Französisch in Frankreich als LS n. s., Geschlecht * Französisch in Frankreich als SS n. s., Geschlecht * Französisch in Frankreich als HS n. s. Tab. 23: Zusammenhang zwischen Geschlecht und der Wahl der Standardsprache als Lieblingssprache, schöne Sprache, hässliche Sprache. n=140 in der französischen Schweiz für Französisch in Frankreich, n=140 in der Deutschschweiz für Hochdeutsch. Exakter Test nach Fisher n. s. Deutschschweiz Männer (n=70) Frauen (n=70) Exakter Test nach Fisher Lieblingssprache Hochdeutsch 8.6% 7.1% n. s. Schöne Sprache Hochdeutsch 8.6% 4.3% n. s. Französische Schweiz Männer (n=70) Frauen (n=70) Exakter Test nach Fisher Lieblingssprache Französisch in Frankreich 138 11.4% 8.6% n. s. Schöne Sprache Französisch in Frankreich 5.7% 7.1% n. s. 138 Zur Wahl dieser Sprachbezeichnung für diese Berechnung vgl. Kapitel 8.3.4, Fussnote 12. 276 III. Resultate und Diskussion <?page no="293"?> Es gibt keinen signifikanten Zusammenhang zwischen dem Geschlecht und der Erwähnung der Standardsprache als Lieblingssprache, schöne Sprache oder hässliche Sprache. Dies trifft auf beide Sprachregionen zu. Beide Geschlechter sprechen jeweils relativ selten sowohl positiv als auch negativ spezifisch über die Standardsprache. Am häufigsten noch zählen Männer aus der französischsprachigen Schweiz Französisch in Frankreich zu ihren Lieblingssprachen (jedoch auch hier nur ein Anteil von 11.43% der französischsprachigen Männer insgesamt). Männer erwähnen die Standardsprache Hochdeutsch sogar minim häufiger als Lieblingssprache und als schöne Sprache als Frauen. Hochdeutsch wird aber insgesamt selten erwähnt. Die Abwesenheit von Hochdeutsch in den Interviews darf als Resultat für sich gewertet werden. Die Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer haben offensichtlich nicht das Bedürfnis, über die Standardsprache zu sprechen. Von einer bewussten metalinguistischen Stärkung der Hochsprache kann also keine Rede sein - eher von einem gewissen Desinteresse, das sich durch die Abwesenheit der Standardsprache in der Laienmetasprache bemerkbar macht. 12.2.3 Geschlecht und die affektive Beziehung zu Fremdsprachen (Hypothese 6) Hyp 6: Frauen haben eher affektive Beziehungen zu Fremdsprachen, während Männer eher eine affektive Beziehung zur Sprache des Sprachgebiets, in dem sie leben, haben. Partiell Angenommen (ausgenommen Französisch und Deutsch als Fremdsprache): Frauen haben eher eine affektive Beziehung zu Fremdsprachen, während Männer eher eine affektive Beziehung zur Sprache ihres Sprachgebiets haben. Die beiden Landessprachen Französisch und Deutsch werden als Fremdsprachen von den Frauen jedoch nicht positiver affektiv beurteilt als von den Männern. Inf: n=280 für Tests mit Englisch, Italienisch, Spanisch; DS n=140 für Tests mit Französisch, FS n=140 für Tests mit Deutsch Test: Exakter Test nach Fisher Mv: DS und FS: Geschlecht * Englisch als LS; Italienisch als LS, Spanisch als LS; DS: Geschlecht * Französisch als LS; FS: Geschlecht * Deutsch als LS Res: DS und FS: Geschlecht * Englisch als LS ++; Geschlecht * Italienisch als LS ++; Geschlecht * Spanisch als LS ++; DS: Geschlecht * Französisch als LS n. s.; Geschlecht * Deutsch als LS ++; FS: Geschlecht * Deutsch als LS n. s.; Geschlecht Französisch als LS ++. Tabelle 24 stellt die Situation in der Deutschschweiz dar. 12. Sprachurteile und ihre Einflusgrössen 277 <?page no="294"?> Tab. 24: Zusammenhang zwischen Geschlecht und Fremdsprachen als Lieblingssprachen. n=140 in der Deutschschweiz für die Sprachen Französisch, Englisch, Italienisch, Spanisch (als Fremdsprachen). Exakter Test nach Fisher signifikant für Englisch (p=.035). Männer (n=70) Frauen (n=70) Exakter Test nach Fisher Lieblingssprache Französisch 15.7% 18.6% n. s. Englisch 15.7% 30% p=.035 Italienisch 12.9% 22.9% n. s. Spanisch 2.9% 10% n. s. In der Deutschschweiz neigen Frauen zwar zahlenmässig bei allen untersuchten Fremdsprachen zu mehr Nennungen im affektiven Urteilstyp, statistisch signifikant ist jedoch ausschliesslich Englisch (p=.035). Werden also Frauen und Männer vierer Generationen zusammen betrachtet, kann ein gender-gap bezüglich Englisch eindeutig festgestellt werden: Englisch ist in dieser Stichprobe eindeutig Frauensache (und nicht so wie bei Dörnyeis (2006) erster Erhebung eine „ maskuline “ Sprache). Bei der Landessprache Französisch ist der Unterschied in der Beurteilung durch Frauen und Männer am geringsten. Tabelle 25 stellt die Situation in der Romandie dar. Tab. 25: Zusammenhang zwischen Geschlecht und Fremdsprachen als Lieblingssprachen. n=140 in der französischen Schweiz für die Sprachen Deutsch (alle Varietäten), Hochdeutsch, Schweizerdeutsch, Englisch, Italienisch, Spanisch (als Fremdsprachen). Exakter Test nach Fisher signifikant für Spanisch (p=.028). Männer (n=70) Frauen (n=70) Exakter Test nach Fisher Lieblingssprache Deutsch 4.3% 4.3% n. s. Hochdeutsch 2.9% 2.9% n. s. Schweizerdeutsch 0.0% 1.4% n. s. Englisch 14.3% 24.3% n. s. Italienisch 7.1% 17.1% n. s. Spanisch 2.9% 12.9% p=.028 In der französischsprachigen Schweiz verhält es sich nicht ganz so eindeutig wie in der Deutschschweiz. Auch hier beurteilen Frauen zwar sowohl Schweizerdeutsch als auch Italienisch und Spanisch eher affektiv positiv als Männer, bei den Sprachen Deutsch (alle Varietäten eingeschlossen) und Hochdeutsch liegen sie aber exakt gleich auf. Signifikant ist der Unterschied 278 III. Resultate und Diskussion <?page no="295"?> zwischen den beiden Geschlechtern lediglich bei Spanisch (p=.028) (und nicht etwa bei Englisch wie in der Deutschschweiz). Französischsprachige Männer haben insgesamt das weniger ausgeprägte affektive Verhältnis zu den Varietäten des Deutschen als die Deutschschweizer Männer es zu Französisch haben (französische Schweiz: 4.3% der Männer nennen Deutsch als Lieblingssprache; Deutschschweiz: 15.7% der Männer nennen Französisch als Lieblingssprache). Während Deutschschweizer Männer sowohl Französisch als auch Englisch und Italienisch mit einem Anteil von über 10% als Lieblingssprache nennen, ist dies bei Männern aus der Romandie lediglich für die Sprache Englisch der Fall (14.3%). Werden die beiden Sprachregionen zusammen betrachtet (n=280) und nur jene Sprachen in die Berechnungen einbezogen, die für alle Beteiligten Fremdsprachen sind, ergibt sich folgendes eindeutige Bild: Tab. 26: Zusammenhang zwischen Geschlecht und Fremdsprachen als Lieblingssprachen. n=280 Deutschschweiz und französische Schweiz für die Sprachen Englisch, Italienisch, Spanisch (als Fremdsprachen). Exakter Test nach Fisher signifikant für Englisch (p=.009), Italienisch (p=.014), Spanisch (p=.005). Männer (n=140) Frauen (n=140) Exakter Test nach Fisher Lieblingssprache Englisch 15% 27.1% p=.009 Italienisch 10% 20% p=.014 Spanisch 2.9% 11.4% p=.005 Alle beobachteten Sprachen erreichen eine hohe Signifikanz. Sowohl Englisch als auch Italienisch und Spanisch werden signifikant öfter von Frauen als Lieblingssprache genannt als von Männern. Die Signifikanz ist für Spanisch am höchsten (p=.005) gefolgt von Englisch (p=.009) und Italienisch (p=.014). Dies obwohl Männer Spanisch exakt gleich oft als Sprachkompetenz angeben wie Frauen und sogar noch etwas häufiger Aufenthalte in spanischsprachigen Ländern erwähnen. Im Folgenden wird untersucht, wie das affektive Verhältnis der beiden Geschlechter zur Sprache ihres Sprachgebiets ist. 12. Sprachurteile und ihre Einflusgrössen 279 <?page no="296"?> Tab. 27: Zusammenhang zwischen Geschlecht und Sprache des eigenen Sprachgebiets als Lieblingssprache. n=140 (nur Deutschschweiz) für die Sprache Schweizerdeutsch; n=140 (nur französische Schweiz) für die Sprache Französisch. Exakter Test nach Fisher signifikant für Schweizerdeutsch (p=.013) und für Französisch (p=.011). Deutschschweiz Männer (n=70) Frauen (n=70) Exakter Test nach Fisher Lieblingssprache Schweizerdeutsch 51.4% 31.4% p=.013 Französische Schweiz Männer (n=70) Frauen (n=70) Exakter Test nach Fisher Lieblingssprache Französisch 81.4% 62.9% p=.011 In beiden Sprachgebieten besteht eine signifikante Tendenz bei den Männern, die Sprache ihres Sprachgebiets als Lieblingssprache zu wählen, während Frauen diese Sprache zwar auch relativ häufig wählen, jedoch signifikant seltener als Männer. In der Romandie spielt sich diese Tendenz auf einem höheren Niveau ab als in der Deutschschweiz (81.4% der Männer und 62.9% der Frauen nennen Französisch als Lieblingssprache während 51.4% der Männer und 31.4% der Frauen in der Deutschschweiz Schweizerdeutsch als Lieblingssprache nennen). So kann bereits hier festgestellt werden, dass die französischen Schweizer ein affektiveres Verhältnis zur Sprache ihres Sprachgebiets (Französisch) haben als Deutschschweizer zu Schweizerdeutsch. Der laienmetasprachliche Diskurs ist folglich, was das affektive Sprachurteil betrifft, hoch genderisiert. Dabei verhält es sich nicht etwa so, dass Männer keine affektiven Urteile abgeben würden, während Frauen dies tun, nein, die beurteilten Objekte sind genderisiert: Frauen bevorzugen Fremdsprachen und Männer die Sprache, die ihnen geographisch am nächsten ist. 12.2.4 Geschlecht und Urteilsproduktivität (Hypothese 7) Hyp 7: Frauen sprechen in den Interviews rein quantitativ über mehr Sprachen als Männer (sowohl im affektiven, als auch im positiv und negativ ästhetischen Sinn). Angenommen für lieblingssprachen und schöne Sprachen, abgelehnt für hässliche Sprachen: Frauen sind urteilsfreudiger als Männer (nennen mehr Sprachen) bei Lieblingssprachen und bei schönen Sprachen. Männer sind urteilsfreudiger (nennen mehr Sprachen) bei hässlichen Sprachen. Inf: n=280 Test: Mann-Whitney-Test Mv: Geschlecht * Anzahl genannte LS, SS, HS Res: Mittelwerte: LS n. s.: Männer=1.193, Frauen=1.386, Gesamt=1.289; SS +: Männer=1.257, Frauen=1.5, Gesamt=1.379; HS n. s.: Männer=1.186, Frauen=1.057, Gesamt=1.121. 280 III. Resultate und Diskussion <?page no="297"?> 0 0.2 0.4 0.6 0.8 1 1.2 1.4 1.6 1.8 2 Männer Frauen Anzahl genannter Sprachen Geschlecht Lieblingssprachen Schöne Sprachen Hässliche Sprachen Abb. 28: Mittelwerte Anzahl genannter Lieblingssprachen, schöner Sprachen und hässlicher Sprachen nach Geschlecht. Geschlecht: Männer (n=140, Frauen (n=140). Mittelwerte Lieblingssprachen: Männer=1.193, Frauen=1.386, Gesamt=1.289. Mittelwerte schöne Sprachen: Männer=1.257, Frauen=1.5, Gesamt=1.379. Mittelwerte hässliche Sprachen: Männer=1.186, Frauen=1.057, Gesamt=1.121. Mann-Whitney signifikant für schöne Sprachen (p=.024). Einen signifikanten Zusammenhang zwischen dem Geschlecht und der Urteilsproduktivität gibt es ausschliesslich für die Beurteilung von schönen Sprachen: Frauen zählen mehr schöne Sprachen auf als Männer (Mittelwert von 1.5 bei den Frauen im Vergleich zu 1.257 bei den Männern). Frauen sind auch bei den Lieblingssprachen produktiver. Einzig beim Aufzählen von hässlichen Sprachen sind Männer produktiver als Frauen (Mittelwert von 1.186 bei den Männern, 1.057 bei den Frauen). Im Folgenden wird die Urteilsproduktivität über alle drei Urteilstypen hinweg nach Geschlecht dargestellt. 12. Sprachurteile und ihre Einflusgrössen 281 <?page no="298"?> 0 0.5 1 1.5 2 2.5 3 3.5 4 4.5 5 Männer Frauen Anzahl genannter Sprachen Geschlecht Sprachen global (Lieblingssprachen, schöne Sprachen, hässliche Sprachen) Abb. 29: Mittelwerte Anzahl genannter Sprachen global nach Geschlecht. Geschlecht: Männer (n=140), Frauen (n=140). Mittelwerte: Männer=3.636, Frauen=3.943 Gesamt=3.789. Mann-Whitney n. s. Frauen und Männer sind nicht signifikant unterschiedlich produktiv bei der Abgabe von linguistischen Werturteilen. Es lässt sich trotzdem feststellen, dass Frauen minim mehr Sprachen nennen als Männer (mit einem Mittelwert von 3.943 im Vergleich zu den Männern mit einem Mittelwert von 3.789). 282 III. Resultate und Diskussion <?page no="299"?> 0 0.2 0.4 0.6 0.8 1 1.2 1.4 1.6 1.8 2 2.2 Männer Frauen Anzahl genannter Begründungen Geschlecht Begründungen erstgenannte Lieblingssprache Begründungen erstgenannte schöne Sprache Begründungen erstgenannte hässliche Sprache Abb. 30: Mittelwerte Anzahl Begründungen für die jeweils erstgenannte Lieblingssprache, schöne Sprache und hässliche Sprache nach Geschlecht. Geschlecht: Männer (n=140), Frauen (n=140). Mittelwerte Begründungen erstgenannte Lieblingssprache: Männer=1.703, Frauen=1.809, Gesamt=1.755. Mittelwerte Begründungen erstgenannte schöne Sprache: Männer=1.704, Frauen=1.724, Gesamt=1.714. Mittelwerte Begründungen erstgenannte hässliche Sprache: Männer=1.833, Frauen=1.706 Gesamt=1.7735 Mann-Whitney n. s. In Abbildung 30 wird die Begründungsproduktivität nach Geschlecht geprüft. Ein Zusammenhang zwischen Geschlecht und Begründungsproduktivität besteht statistisch nicht. Trotzdem lassen sich Tendenzen erkennen, vergleicht man die Mittelwerte der Anzahl genannter Begründungen nach Geschlecht. Männer begründen die Wahl einer Sprache als hässlich etwas ausführlicher, während Frauen die Wahl einer Lieblingssprache etwas ausführlicher begründen. Die Resultate zur Urteils- und Begründungsproduktivität lassen den Schluss zu, dass Männer über hässliche Sprachen vergleichsweise gerne Auskunft geben. Dass die metalinguistische Reflexion und Aushandlung eine den Frauen vorbehaltene Praxis wäre, konnte hier keineswegs bestätigt werden. 12. Sprachurteile und ihre Einflusgrössen 283 <?page no="300"?> 12.2.5 Geschlecht und Begründungsmuster (Hypothese 8) Hyp 8: Frauen und Männer begründen linguistische Werturteile unterschiedlich. Männer und Frauen begründen linguistische Werturteile relativ unterschiedlich. Auffallend ist, dass der Klang in der Argumentation von Frauen bei den beiden positiven Urteilstypen zentraler ist als bei den Männern. Dafür ist den Männern die Vertrautheit mit der Sprache wichtig. Im Allgemeinen wird zwischen den Geschlechtern für ästhetische Urteile homogener argumentiert als für affektive Urteile. Inf: n=280 Test: Für diese Hypothese wurden keine statistischen Tests gerechnet (vgl. Kap. 10.1.4). Res: Siehe Abbildung. Abbildung 31 stellt die genannten Begründungskategorien für affektive Urteile nach Geschlecht dar. 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Klang Formale Aspekte Soziale Konnotation Metaphern Schwierigkeit Nützlichkeit/ direkter Gebrauch Kompetenz/ Verständlichkeit Vertrautheit/ Kontakt Interlinguistische Vergleiche Tautologie Anteil Nennungen Begründungskategorien Männer Frauen Lieblingssprache Abb. 31: Anteil der zehn Begründungskategorien an den Begründungen für affektive Urteile nach Geschlecht. Geschlecht: Männer (n=140), Frauen (n=140). In Kapitel 11.3.1 konnte festgestellt werden, dass der Klang einer Sprache für Laien bei der affektiven Beurteilung eine Rolle spielt. Hier zeigt sich, dass dies vor allem für die weiblichen Gewährspersonen gilt. Diese argumentieren auffallend oft in der Kategorie Klang: In 24.9% aller Begründungen von Frauen für affektive Urteile wird klangbasiert argumentiert. Im Vergleich dazu argumentieren Männer lediglich in 10.2% der Begründungen über den Klang der Sprache. Eine weitere Kategorie, in der sich die beiden Geschlechter 284 III. Resultate und Diskussion <?page no="301"?> unterscheiden, ist Vertrautheit/ Kontakt. Männern ist es wichtig, dass ihnen eine Sprache vertraut ist und dass sie Kontakt zu ihr haben. Für Frauen ist dies etwas weniger zentral. Dieses Resultat geht einher mit den Erkenntnissen, die in Hypothese 6 gewonnen werden konnten: Frauen haben eher eine affektive Beziehung zu Fremdsprachen, während Männer eher dazu neigen, die Sprache ihres eigenen Sprachgebiets als Lieblingssprache zu nennen. Abbildung 32 stellt die genannten Begründungskategorien für positive ästhetische Urteile nach Geschlecht dar. 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Klang Formale Aspekte Soziale Konnotation Metaphern Schwierigkeit Nützlichkeit/ direkter Gebrauch Kompetenz/ Verständlichkeit Vertrautheit/ Kontakt Interlinguistische Vergleiche Tautologie Anteil Nennungen Begründungskategorien Männer Frauen Schöne Sprache Abb. 32: Anteil der zehn Begründungskategorien an den Begründungen für positive ästhetische Urteile nach Geschlecht. Geschlecht: Männer (n=140), Frauen (n=140). Männer und Frauen argumentieren auffallend homogen, wenn es um die Begründung der Wahl von schönen Sprachen geht. Frauen begründen ihre Wahl erneut etwas häufiger mit phonologischen Eigenschaften von Sprachen, während Männer erneut in der Kategorie Vertrautheit/ Kontakt etwas aktiver sind. In den beiden positiven Urteilstypen neigen Frauen also insgesamt etwas stärker zur sprachinhärenten Argumentation, während für Männer persönliche Aspekte von Bedeutung sind. Abbildung 33 stellt die genannten Begründungskategorien für negative ästhetische Urteile nach Geschlecht dar. 12. Sprachurteile und ihre Einflusgrössen 285 <?page no="302"?> 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Klang Formale Aspekte Soziale Konnotation Metaphern Schwierigkeit Nützlichkeit/ direkter Gebrauch Kompetenz/ Verständlichkeit Vertrautheit/ Kontakt Interlinguistische Vergleiche Tautologie Anteil Nennungen Begründungskategorien Männer Frauen Hässliche Sprache Abb. 33: Anteil der zehn Begründungskategorien an den Begründungen für negative ästhetische Urteile nach Geschlecht. Geschlecht: Männer (n=140), Frauen (n=140). Gilt es die Wahl einer Sprache als hässlich zu begründen, wählen die beiden Geschlechter eine nahezu identische Argumentationsweise. Einzig Metaphern werden von Frauen etwas häufiger verwendet als von Männern. Männer benutzen dafür etwas häufiger Tautologien. 12.3 Bildung 12.3.1 Bildung und Sprachkompetenz/ Aufenthalte Die Stichprobe beinhaltet vier unterschiedliche Bildungsstufen, wobei die niedrigste Bildungsstufe (Schülerinnen und Schüler) identisch ist mit der jüngsten Altersgruppe (13bis 17-Jährige) und 28 Gewährspersonen umfasst. Die primäre, sekundäre und tertiäre Bildungsstufe umfasst jeweils 84 Vertreterinnen und Vertreter. Dabei ist noch einmal anzumerken, dass die meisten Interviewpartnerinnen und -partner der primären Bildungsstufe die obligatorische Schulzeit absolviert haben (einige jedoch geben an, schon früher aus der Schule ausgeschieden zu sein) und grösstenteils danach eine Berufslehre absolviert haben; vereinzelte Vertreterinnen und Vertreter der primären Bildungsstufe üben ungelernte Tätigkeiten aus. In der sekundären Bildungsstufe befinden sich zahlreiche Personen, die ein Lehrerseminar 286 III. Resultate und Diskussion <?page no="303"?> besucht haben. Einige haben eine Maturitätsschule besucht ohne danach zu studieren. In der tertiären Bildungsstufe befinden sich Personen, die ein Hoch- oder Fachhochschulstudium absolviert haben oder aktuell absolvieren. Es erfolgen zunächst erneut Angaben zu Sprachkompetenz, Sprachaufenthalten sowie der Anzahl gesprochener Sprachen auf die untersuchte Variable bezogen. Danach werden die Resultate zu den zwei Hypothesen, die sich auf die Variable Bildung beziehen, erläutert. 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Anteil Nennungen Sprachkompetenz Schüler Primär Sekundär Tertiär Abb. 34: Bildung und Sprachkompetenz. Angaben von Gewährspersonen verschiedener Bildungsstufen zu den Sprachen, die sie sprechen (unter Ausschluss der jeweiligen L1). n=280 für Englisch, Italienisch, Spanisch, Arabisch, Chinesisch, Holländisch und Russisch; n=140 (nur Deutschschweiz) für Französisch; n=140 (nur französische Schweiz) für Schweizerdeutsch und Hochdeutsch. Bei den meisten Sprachen, die unter den Sprachkompetenzen genannt werden, verhält es sich so, dass ein Anstieg von der primären zur tertiären Bildungsstufe zu verzeichnen ist. Die Schülerinnen und Schüler fallen allerdings aus diesem Muster heraus. Sie zählen die aktuell an der Schule im Fremdsprachenunterricht gelernten Sprachen praktisch immer zu ihren Sprachkompetenzen. Eine Ausnahme bilden einige der Schülerinnen und Schüler in der Deutschschweiz, die die aktuell gelernte Sprache Französisch manchmal nicht zu ihren Sprachkompetenzen zählen. Bei den Aufenthalten in Ländern und Regionen, wo nicht ihre L1 gesprochen wird, weisen die Informantinnen und Informanten unterschiedlicher Bildungsstufen kein einheitliches Muster auf. Aufenthalte sind vor allem bei Vertretern der tertiären Bildungsstufe recht verbreitet; dies betrifft vorwiegend die Sprachen Englisch, Hochdeutsch und Französisch. Allerdings gilt für Aufenthalte im französischsprachigen Raum, dass sie von mehr Vertretern aus der sekundären Bildungsstufe als aus der tertiären Bildungsstufe aufgezählt werden. Dies mag damit zusammenhängen, dass ein solcher Aufenthalt bei Ausbildungen an Lehrerseminaren oftmals obligatorisch war. 12. Sprachurteile und ihre Einflusgrössen 287 <?page no="304"?> 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Anteil Nennungen Sprache in Gebiet von Aufenthalt Schüler Primär Sekundär Tertiär Abb. 35: Bildungsstufen und Aufenthalt in Gebieten, wo eine Sprache gesprochen wird, die nicht der L1 entspricht. n=280 für Englisch, Italienisch, Spanisch; n=140 (nur Deutschschweiz) für Französisch; n=140 (nur französische Schweiz) für Schweizerdeutsch und Hochdeutsch. 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% 1 2 3 4 5 6 AAnteil Nennungen Anzahl gesprochener Sprachen Schüler Primär Sekundär Tertiär Abb. 36: Bildungsstufen und Anzahl gesprochener Sprachen (inklusive Muttersprache). Mittelwerte: 13 - 17=3.57; 20 - 30=3.71; 40 - 50=3.63; 65+=3.67. Der Mittelwert der Anzahl gesprochener Sprachen wächst mit steigendem Bildungsgrad. Allerdings weisen die Schülergruppen mehr Sprachen auf als Vertreter der sekundären und primären Bildungsschicht. Dies mag daran liegen, dass alleine acht Schülerinnen und Schüler aus der Romandie bilingual sind, was die Werte der Schülergruppe natürlich nach oben ver- 288 III. Resultate und Diskussion <?page no="305"?> lagert (da sie nur mit 28 Vertretern in der Stichprobe vorkommen und acht Personen daher ins Gewicht fallen). Vertreter aus der Sekundären Bildungsschicht sprechen zwar häufig bis zu vier Sprachen; fünf, sechs und mehr Sprachen werden aber am ehesten von Personen mit einer Hoch- oder Fachhochschulausbildung genannt. 12.3.2 Bildung und Urteilsproduktivität (Hypothese 9) Hyp 9: Je höher die Bildung, desto zurückhaltender werden Menschen mit Urteilen über die Hässlichkeit und Schönheit von Sprachen, während affektive Urteile über alle Bildungsschichten verbreitet sind. Angenommen für hässliche sprachen, abgelehnt für schöne Sprachen: Je höher die Bildung, desto zurückhaltender werden Menschen im Urteilen über die Hässlichkeit von Sprachen. Dies gilt nicht für das Urteilen über die Schönheit von Sprachen. Inf: n=280 Test: ANOVA und Kruskal-Wallis Test Mv: Bildung * Anzahl genannte LS, SS, HS Res: Mittelwerte: LS +: Schüler=1.5, Primär=1.162, Sekundär=1.214, Tertiär=1.417, Gesamt=1.289; SS n.s.: Schüler=1.393, Primär=1.238, Sekundär=1.429, Tertiär=1.464, Gesamt=1.379; HS +: Schüler=1.536, Primär=1.012, Sekundär=1.298, Tertiär=0.917, Gesamt=1.121. 0 0.2 0.4 0.6 0.8 1 1.2 1.4 1.6 1.8 2 Schüler Primär Sekundär Tertiär Anzahl genannter Sprachen Bildungsstufen Lieblingssprachen Schöne Sprachen Hässliche Sprachen Abb. 37: Mittelwerte Anzahl genannter Lieblingssprachen, schöner Sprachen und hässlicher Sprachen nach Bildung. Bildungsstufen: Schüler (n=28), Primär (n=84), Sekundär (n=84), Tertiär (n=84). Mittelwerte Lieblingssprachen: Schüler=1.5, Primär=1.162, Sekundär=1.214, Tertiär=1.417, Gesamt=1.289. Mittelwerte schöne Sprachen: Schüler=1.393, Primär=1.238, Sekundär=1.429, Tertiär=1.464, Gesamt=1.379. Mittelwerte hässliche Sprachen: Schüler=1.536, 12. Sprachurteile und ihre Einflusgrössen 289 <?page no="306"?> Primär=1.012, Sekundär=1.298, Tertiär=0.917, Gesamt=1.121. ANOVA signifikant für Lieblingssprachen (p =.039) und hässliche Sprachen (p=.01); Kruskal-Wallis signifikant für Lieblingssprachen (p=.050) und hässliche Sprachen (p=.022). Ein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen Bildungsstufe und Urteilsproduktivität lässt sich sowohl für Lieblingssprachen als auch für hässliche Sprachen nachweisen (ANOVA und Kruskal-Wallis sind hier signifikant). Geht es um Lieblingssprachen, sind Schülerinnen und Schüler sowie Akademikerinnen und Akademiker am urteilsfreudigsten. Personen mit primärer und sekundärer Ausbildung geben durchschnittlich etwas weniger Lieblingssprachen an. Bei schönen Sprachen sind die Schülerinnen und Schüler für einmal weniger urteilsfreudig als andere Gruppen - noch weniger urteilsfreudig sind nur noch primär ausgebildete Interviewpartnerinnen und -partner. Haben die Befragten eine sekundäre oder tertiäre Ausbildung, zählen sie am ehesten schöne Sprachen auf - sie erreichen hier die höchsten Mittelwerte der Anzahl Nennungen. Bei den beiden anderen Urteilstypen (Lieblingssprache und hässliche Sprache) sind sie weniger produktiv. Die graue Kurve für Urteile zur Hässlichkeit von Sprachen weist die grösste Amplitude zwischen den verschiedenen Bildungsstufen auf. Während Schülerinnen und Schüler Urteile über die Hässlichkeit von Sprachen deutlich öfter abgeben als Urteile über die Schönheit von Sprachen, fällt die Kurve bei den Gruppen mit primärer und tertiärer Ausbildung steil ab und liegt unter dem Niveau der schwarz gestrichelten Kurve (schöne Sprachen) und der schwarzen Kurve (Lieblingssprache), das heisst, diese Bildungsgruppen nennen eher schöne Sprachen als hässliche Sprachen. Diese beiden Gruppen geben durchschnittlich 1.012 (primäre Ausbildung) respektive 0.917 (tertiäre Ausbildung) hässliche Sprachen an, während Schülerinnen und Schüler 1.536 und sekundär ausgebildete Personen 1.298 Sprachen angeben. Die Gruppe sekundär Ausgebildeter gibt erstaunlicherweise mehr Urteile für hässliche Sprachen ab als für Lieblingssprachen (dieses Antwortverhalten zeigt sonst nur die Schülergruppe). Im Folgenden wird geprüft, ob ein Zusammenhang zwischen der Urteilsproduktivität insgesamt (in allen drei Urteilstypen) und der Bildungsstufe der Befragten besteht. 290 III. Resultate und Diskussion <?page no="307"?> 0 0.5 1 1.5 2 2.5 3 3.5 4 4.5 5 Schüler Primär Sekundär Tertiär Anzahl genannter Sprachen Bildungsstufen Sprachen global (Lieblingssprachen, schöne Sprachen, hässliche Sprachen) Abb. 38: Mittelwerte Anzahl genannter Sprachen global nach Bildungsstufen. Bildungsstufen: Schüler (n=28), Primär (n=84), Sekundär (n=84), Tertiär (n=84). Mittelwerte: Schüler=4.429, Primär=3.417, Sekundär=3.94, Tertiär=3.798, Gesamt=3.789. ANOVA n. s., Kruskal-Wallis signifikant (p=.019). Für die Anzahl genannter Sprachen insgesamt ist ausschliesslich der Kruskal- Wallis Test signifikant (p=.019), da bei diesem die Mittelwerte eine geringere Rolle spielen und vor allem die Rangfolge gemessen wird. Schülerinnen und Schülerinnen und Schüler sind mit Abstand die urteilsfreudigste Bildungsgruppe (sie erreichen einen Mittelwert von 4.429 aufgezählten Sprachen insgesamt) als die Informantinnen und Informanten mit sekundärer Bildung, die auf die Schülergruppe folgen (mit einem Mittelwert von 3.940 aufgezählten Sprachen insgesamt). Die wenigsten Urteile werden von Personen mit primärer Ausbildung abgegeben (im Durchschnitt 3.417), diese Gruppe weist auch die wenigsten Antworten auf, wenn es um ihre Sprachkompetenz geht, daher erstaunt das Resultat für die Urteilsproduktivität nicht: Wer weniger Sprachen kennt, urteilt wohl auch über weniger Sprachen, bzw. könnte angesichts der Resultate angenommen werden, dass die meisten Interviewten nur Sprachen beurteilen, die sie kennen und können 139 . Die tertiäre Bildungsgruppe liegt mit einem Mittelwert von 3.798 bewerteten Sprachen in Anbetracht ihrer Sprachkompetenz relativ tief. Die sekundär Ausgebildeten erreichen mit einem Mittelwert von 3.941 Sprachen insgesamt einen etwas höheren Wert. Im Folgenden wird die Begründungsproduktivität nach Bildungsstufen geprüft. 139 Dieser Aspekt wird in Kapitel 12.5.7 untersucht. 12. Sprachurteile und ihre Einflusgrössen 291 <?page no="308"?> 0 0.2 0.4 0.6 0.8 1 1.2 1.4 1.6 1.8 2 2.2 Schüler Primär Sekundär Tertiär Anzahl genannter Begründungen Bildungsstufen Begründungen erstgenannte Lieblingsssprache Begründungen erstgenannte schöne Sprache Begründungen erstgenannte hässliche Sprache Abb. 39: Mittelwerte Anzahl Begründungen für die jeweils erstgenannte Lieblingssprache, schöne Sprache und hässliche Sprache nach Bildungsstufen. Bildungsstufen: Schüler (n=28), primäre Bildung (n=84), sekundäre Bildung (n=84), tertiäre Bildung (n=84). Mittelwerte Begründungen erstgenannte Lieblingssprache: Schüler=1.929, Primär=1.692, Sekundär=1.773, Tertiär=1.672, Gesamt=1.714. Mittelwerte Begründungen erstgenannte schöne Sprache: Schüler=1.714, Primär=1.692, Sekundär=1.773, Tertiär=1.672, Gesamt=1.714. Mittelwerte Begründungen erstgenannte hässliche Sprache: Schüler=1.667, Primär=1.660, Sekundär=1.764, Tertiär=1.959, Gesamt=1.773. ANOVA n.s., Kruskal-Wallis n. s. Einen statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen dem Bildungsgrad und der Begründungsproduktivität gibt es nicht. Der Verlauf der Mittelwertkurven zeigt aber dennoch bildungsspezifische Tendenzen: Der Verlauf der gestrichelten schwarzen Kurve (Begründungen schöne Sprache) zeigt am wenigsten bildungsspezifische Abweichungen. Alle Bildungsgruppen geben etwa gleich viele Begründungen für ihre erstgenannte schöne Sprache an. Schülerinnen und Schüler sowie sekundär ausgebildete Personen sind minim begründungsproduktiver als solche mit primärer und tertiärer Ausbildung. Zu erstaunen vermag das Resultat für die tertiär ausgebildeten Personen, von denen mehr Begründungsproduktivität erwartet würde für ein positives ästhetisches Werturteil. Der Verlauf der schwarzen Kurve (Begründung Lieblingssprache) ist unregelmässiger: Während die Schülergruppen sowie sekundär und tertiär ausgebildete Personen ihre erstgenannte Lieblingssprache ausführlich begründen, fällt die Kurve bei den Vertretern der primären Bildungsstufe ab. Diese Gruppe gibt am wenigsten affektive Urteile ab und begründet diese dann auch am wenigsten ausführlich. Für die negativen ästhetischen Urteile lässt sich ein Ansteigen der Begründungsproduktivität nach Bildungsgruppen feststellen: Je höher die Bildung, desto ausführlicher werden Urteile zur Hässlichkeit von Sprachen begründet. Vor 292 III. Resultate und Diskussion <?page no="309"?> allem Personen mit einer Hochschulbildung begründen sehr ausführlich, wenn sie eine Sprache als hässlich bezeichnen (dies ist jedoch keine statistisch signifikante Tendenz, deutet aber erneut in Richtung eines stärker ausgeprägten Bewusstseins für die Brisanz dieses Urteilstyps). 12.3.3 Bildung und Begründungsmuster (Hypothese 10) Hyp 10: Unterschiedliche Bildungsgruppen begründen linguistische Werturteile unterschiedlich. Während das Argumentationsmuster der verschiedenen Bildungsgruppen für ästhetische Urteile (positive wie negative) homogen ist, zeigen sich beim affektiven Urteil Unterschiede zwischen den Gruppen. So argumentieren Personen mit einer Hochschulausbildung öfter in Bezug auf den Klang für ihre affektiven Urteile als die drei anderen Bildungsgruppen. Schülerinnen und Schüler verwenden die meisten Tautologien. Inf: n=280 Test: Für diese Hypothese wurden keine statistischen Tests gerechnet (vgl. Kap. 10.1.4). Res: Siehe Abbildung. Abbildung 40 stellt die genannten Begründungskategorien für affektive Urteile nach Bildungsstufen dar. 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Klang Formale Aspekte Soziale Konnotation Metaphern Schwierigkeit Nützlichkeit/ direkter Gebrauch Kompetenz/ Verständlichkeit Vertrautheit/ Kontakt Interlinguistische Vergleiche Tautologie Anteil Nennungen Begründungskategorien Schüler Primär Sekundär Tertiär Abb. 40: Anteil der zehn Begründungskategorien an den Begründungen für affektive Urteile nach Bildungsstufen. Bildungsstufen: Schüler (n=28), primäre Bildung (n=84), sekundäre Bildung (n=84), tertiäre Bildung (n=84). 12. Sprachurteile und ihre Einflusgrössen 293 <?page no="310"?> Personen mit einer tertiären Ausbildung machen ihre affektiven Urteile am deutlichsten am Klang der beurteilten Sprache fest. Dies wird von den anderen Bildungsgruppen in geringerem Ausmass getan. Auch die sozialen Konnotationen sind vor allem bei dieser Gruppe ausgeprägt. In der Kategorie Vertrautheit/ Kontakt liegen die verschiedenen Bildungsstufen am weitesten auseinander. Während den Schülerinnen und Schülern und bis zu einem gewissen Grad auch den Akademikerinnen und Akademikern die Vertrautheit mit einer Sprache nicht so wichtig ist, gewinnt dieser Aspekt bei der primären und der sekundären Bildungsgruppe an Bedeutung. Die Tatsache, dass die Schülergruppe (respektive die jüngste Altersgruppe) auffällig häufig mit Tautologien argumentiert, wurde zuvor bereits in den Ausführungen zur Variablen Alter behandelt. Abbildung 41 stellt die genannten Begründungskategorien für positive ästhetische Urteile nach Bildungsstufen dar. 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Klang Formale Aspekte Soziale Konnotation Metaphern Schwierigkeit Nützlichkeit/ direkter Gebrauch Kompetenz/ Verständlichkeit Vertrautheit/ Kontakt Interlinguistische Vergleiche Tautologie Anteil Nennungen Begründungskategorien Schüler Primär Sekundär Tertiär Schöne Sprache Abb. 41: Anteil der zehn Begründungskategorien an den Begründungen für positive ästhetische Urteile nach Bildungsstufen. Bildungsstufen: Schüler (n=28), primäre Bildung (n=84), sekundäre Bildung (n=84), tertiäre Bildung (n=84). Bei der Argumentation zur Wahl einer Sprache im positiven ästhetischen Urteilstyp verhalten sich die unterschiedlichen Bildungsstufen ähnlich. Erneut ist die Kategorie Klang minim ausgeprägter bei Akademikerinnen und Akademikern. Abbildung 42 stellt die genannten Begründungskategorien für negative ästhetische Urteile nach Bildungsstufen dar. 294 III. Resultate und Diskussion <?page no="311"?> 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Klang Formale Aspekte Soziale Konnotation Metaphern Schwierigkeit Nützlichkeit/ direkter Gebrauch Kompetenz/ Verständlichkeit Vertrautheit/ Kontakt Interlinguistische Vergleiche Tautologie Anteil Nennungen Begründungskategorien Schüler Primär Sekundär Tertiär Hässliche Sprache Abb. 42: Anteil der zehn Begründungskategorien an den Begründungen für negative ästhetische Urteile nach Bildungsstufen. Bildungsstufen: Schüler (n=28), primäre Bildung (n=84), sekundäre Bildung (n=84), tertiäre Bildung (n=84). Auch beim negativen ästhetischen Urteilstyp lassen sich keine grossen Unterschiede in der Argumentation verschiedener Bildungsgruppen feststellen. Für einmal argumentieren nicht die Personen mit Hochschulabschluss am häufigsten in der Kategorie Klang, sondern Personen mit sekundärer Ausbildung. Schülerinnen und Schüler mögen Sprachen nicht, die sie nicht verstehen, während dieser Aspekt für die anderen Bildungsgruppen nicht ins Gewicht fällt. 12.4 Sprachgebiet Untersucht wurden je 140 Gewährspersonen aus der französischsprachigen und der deutschsprachigen Schweiz. Dabei war bei der Auswahl der Interviewpartnerinnen und -partner nicht zwingend erforderlich, dass sie als L1 die Sprache des Sprachgebiets sprechen. Entscheidend war die Tatsache, dass sie zur Zeit des Interviews seit mehreren Jahren im jeweiligen Sprachgebiet wohnten. Die Mehrzahl der Gewährspersonen aus der Deutschschweiz ist natürlich deutschsprachig und die Mehrheit der Gewährspersonen aus der französischsprachigen Schweiz französischsprachig. Die Fragestellung in Kapitel 12.4 fokussiert trotzdem bewusst ausschliesslich auf das Sprachgebiet und nicht auf die Sprachbiographie (z. B. die L1). Die Sprachbiographie wird 12. Sprachurteile und ihre Einflusgrössen 295 <?page no="312"?> in Kapitel 12.5 thematisiert; die befragten Personen werden da nach ihrer L1 gefiltert untersucht. Im Folgenden sind Angaben zu Sprachkompetenz, Sprachaufenthalten sowie die Anzahl gesprochener Sprachen nach Sprachgebiet dargestellt. Danach werden die Resultate zu den drei Hypothesen, die sich auf die Variable Sprachgebiet beziehen, erläutert. 12.4.1 Sprachgebiet und Sprachkompetenz/ Aufenthalte 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Anteil Nennungen Sprachkompetenz Deutschschweiz Französische Schweiz Abb. 43: Sprachgebiet und Sprachkompetenz. Angaben von Gewährspersonen der beiden Sprachgebiete zu den Sprachen, die sie sprechen (inklusive der jeweiligen L1). n=280. Die Verteilung der Sprachkompetenzen in den beiden Sprachgebieten ist ähnlich. Die Sprache des jeweils anderen Sprachgebiets (in der französischsprachigen Schweiz Hochdeutsch als Schulsprache) wird sehr häufig als Sprachkompetenz angegeben. Englisch und Italienisch folgen mit etwas mehr Nennungen in der Deutschschweiz als in der französischsprachigen Schweiz. Dafür sprechen mehr Befragte aus der Romandie Spanisch. In der Romandie geben 99% der Befragten Französisch als Sprachkompetenz an. Werden alle angegebenen Varietäten des Deutschen eingerechnet, sind Deutschschweizer Informantinnen und Informanten ausnahmslos deutschsprachig. Werden alle 296 III. Resultate und Diskussion <?page no="313"?> angegebenen Varietäten des Deutschen eingerechnet, verfügen 87.5% der Romandes und Romands über Deutschkenntnisse. 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Anteil Nennungen Sprache in Gebiet von Aufenthalt Deutschschweiz Französische Schweiz Abb. 44: Sprachgebiet und Aufenthalt in Gebieten, wo eine Sprache gesprochen wird, die nicht der L1 entspricht. n=280 für Englisch, Italienisch, Spanisch; n=140 (nur Deutschschweiz) für Französisch; n=140 (nur französische Schweiz) für Schweizerdeutsch und Hochdeutsch. Auffallend bezüglich der Aufenthalte ist, dass Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer etwas öfter in Gebieten, wo Französisch gesprochen wird, waren (42.9%) als Romandes und Romands in Gebieten, wo eine Varietät des Deutschen gesprochen wird (31.4%). Personen aus der Deutschschweiz verbringen etwas häufiger einen Aufenthalt in englischsprachigen und italienischsprachigen Gebieten, während Personen aus der Romandie häufiger einen Aufenthalt in einem spanischsprachigen Gebiet machen. Dieses Resultat ergänzt die oben dargestellten Angaben zur Sprachkompetenz stringent. Gewährspersonen aus der Deutschschweiz sprechen minim mehr Sprachen als Gewährspersonen aus der französischsprachigen Schweiz (ein Mittelwert von 3.757 für die Deutschschweizer im Vergleich zu einem Mittelwert von 3.564 für die Romands). Gleich bleibt sich, dass etwa ein Drittel der Vertreter aus beiden Sprachgebieten drei Sprachen und etwa ein weiteres Drittel vier Sprachen spricht. Würde man Schweizerdeutsch und Hochdeutsch als zwei separate Sprachkompetenzen zählen und sie jeweils als eine Sprache in die Berechnung aufnehmen, würden die Personen aus der Romandie natürlich einen höheren Mittelwert erreichen, da einige von ihnen sowohl Schweizerdeutsch als auch Hochdeutsch als Sprachkompetenz nen- 12. Sprachurteile und ihre Einflusgrössen 297 <?page no="314"?> nen. Bei der Berechnung der Anzahl gesprochener Sprachen werden verschiedene Varietäten einer Sprache, wie bereits erwähnt, jedoch immer als eine Sprache gezählt. 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% 1 2 3 4 5 6+ Anteil Nennungen Anzahl gesprochener Sprachen Deutschschweiz Französische Schweiz Abb. 45: Sprachgebiet und Anzahl gesprochener Sprachen (inklusive Muttersprache). Mittelwerte: Deutschschweiz=3.757; Französische Schweiz=3.564. In den Forschungsfragen und Hypothesen wurde die Urteilsproduktivität und Begründungsproduktivität zwischen den beiden Sprachgebieten nicht thematisiert - es wird nicht angenommen, dass solche Unterschiede vorliegen. Dessen ungeachtet gibt Kapitel 12.4.2 Aufschluss darüber, ob es Unterschiede bezüglich der Produktivität zwischen den beiden Sprachgebieten gibt. 12.4.2 Sprachgebiet und Urteilsproduktivität Die Folgende Abbildung ist eine Darstellung der Urteilsproduktivität in den drei Urteilstypen nach Sprachgebieten: 298 III. Resultate und Diskussion <?page no="315"?> 0 0.2 0.4 0.6 0.8 1 1.2 1.4 1.6 1.8 2 Deutschschweiz Französische Schweiz Anzahl genannter Sprachen Sprachgemeinschaften Lieblingssprachen Schöne Sprachen Hässliche Sprachen Abb. 46: Mittelwerte Anzahl genannter Lieblingssprachen, schöner Sprachen und hässlicher Sprachen nach Sprachgebiet. Sprachgebiete: Deutschschweiz (n=140), Französische Schweiz (n=140). Mittelwerte Lieblingssprachen: Deutschschweiz=1.314, Französische Schweiz=1.264, Gesamt=1.289. Mittelwerte schöne Sprachen: Deutschschweiz=1.271, Französische Schweiz=1.486, Gesamt=1.379. Mittelwerte hässliche Sprachen: Deutschschweiz=0.929, Französische Schweiz=1.314, Gesamt=1.212. Mann-Whitney signifikant für hässliche Sprachen (p=.016). Es besteht ein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Sprachgebiet und der Produktivität beim Abgeben von negativen ästhetischen Urteilen (p=.016): Romandes und Romands geben deutlich mehr Urteile zur Hässlichkeit von Sprachen ab. Möglicherweise macht sich hier das erhöhte Normbewusstsein, das französischsprachigen Schweizerinnen und Schweizern attestiert wird (vgl. Kap. 5.3.5), bemerkbar. Für die anderen beiden Urteilstypen ergeben sich keine signifikanten Zusammenhänge. Deutschschweizer zählen etwas mehr Lieblingssprachen auf, während Personen aus der Romandie etwas mehr schöne Sprachen nennen. Im Folgenden wird geprüft, ob die Urteilsproduktivität insgesamt (wenn alle drei Urteilstypen zusammengerechnet werden) mit dem Sprachgebiet der Befragten zusammenhängt. 12. Sprachurteile und ihre Einflusgrössen 299 <?page no="316"?> 0 0.5 1 1.5 2 2.5 3 3.5 4 4.5 5 Deutschschweiz Französische Schweiz Anzahl genannter Sprachen Sprachgemeinschaften Sprachen global (Lieblingssprachen, schöne Sprachen, hässliche Sprachen) Abb. 47: Mittelwerte Anzahl genannter Sprachen global nach Sprachgebieten. Sprachgebiete: Deutschschweiz (n=140), Französische Schweiz (n=140) Mittelwerte: Deutschschweiz=3.514, Französische Schweiz=4.064, Gesamt=3.789. Mann- Whitney signifikant (p=.025). Personen aus der Romandie waren in den Interviews insgesamt etwas produktiver als Personen aus der Deutschschweiz (p=.025). Im Folgenden wird die Begründungsproduktivität nach Sprachgebiet geprüft. Wie bei allen anderen Variablen werden auch für die beiden Sprachgebiete ausschliesslich die Begründungen für die jeweils erstgenannte Lieblingssprache, schöne Sprache und hässliche Sprache analysiert. 300 III. Resultate und Diskussion <?page no="317"?> 0 0.2 0.4 0.6 0.8 1 1.2 1.4 1.6 1.8 2 2.2 Deutschschweiz Französische Schweiz Anzahl genannter Begründungen Sprachgemeinschaften Begründungen erstgenannte Lieblingssprache Begründungen erstgenannte schöne Sprache Begründungen erstgenannte hässliche Sprache Abb. 48: Mittelwerte Anzahl Begründungen für die jeweils erstgenannte Lieblingssprache, schöne Sprache und hässliche Sprache nach Sprachgebiet. Sprachgebiete: Deutschschweiz (n=140), Französische Schweiz (n=140). Mittelwerte Begründungen erstgenannte Lieblingssprache: Deutschschweiz=2.095, Französische Schweiz=1.416, Gesamt=1.755. Mittelwerte Begründungen erstgenannte schöne Sprache: Deutschschweiz=1.752, Französische Schweiz=1.672, Gesamt=1.714. Mittelwerte Begründungen erstgenannte hässliche Sprache: Deutschschweiz=1.659, Französische Schweiz=1.882, Gesamt=1.773. Mann-Whitney signifikant fü Lieblingssprachen (p ≤ .001). Es gibt einen sehr signifikanten Zusammenhang zwischen Begründungsproduktivität und Sprachgebiet: Informantinnen und Informanten aus der Deutschschweiz begründen ausführlicher, warum sie eine Sprache als Lieblingssprache nennen (p ≤ .001). Nicht nur haben Deutschschweizer also durchschnittlich minim mehr Lieblingssprachen, sie reden auch ausführlicher über ihre Wahl. Die beiden anderen Kurven (Begründungen für schöne und für hässliche Sprachen) zeigen kein vergleichbares Gefälle, wenn auch angemerkt werden kann, dass Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer positive und Personen aus der Romandie negative ästhetische Urteile etwas ausführlicher begründen. 12. Sprachurteile und ihre Einflusgrössen 301 <?page no="318"?> 12.4.3 Sprachgebiet und die Beurteilung von Schweizerdeutsch, Hochdeutsch und Französisch (Hypothesen 11, 11 a, 12, 13, 13 a) Hyp 11: Schweizerdeutsch wird in der Romandie ästhetisch und affektiv negativ beurteilt. 11 a: Die Begründungen für die negative ästhetische Beurteilung von Schweizerdeutsch sind einerseits ästhetischer Art, andererseits unterliegen sie negativen sozialen Konnotationen. Angenommen: Schweizerdeutsch wird in der französischsprachigen Schweiz ästhetisch und affektiv negativ beurteilt. Die Begründungen für die Wahl von Schweizerdeutsch als hässliche Sprache sind mehrheitlich ästhetischer Art (Kategorie Klang). Hyp 12: Französisch wird in der Deutschschweiz ästhetisch und affektiv positiv beurteilt. Angenommen: Französisch wird in der Deutschschweiz ästhetisch und affektiv positiv beurteilt. Gewährspersonen aus der Deutschschweiz finden Französisch sogar häufiger schön als Gewährspersonen aus der französischsprachigen Schweiz. Hyp 13: Hochdeutsch wird in der Deutschschweiz ästhetisch und affektiv negativ beurteilt. 13 a: Die Begründung für die negative ästhetische Beurteilung von Hochdeutsch sind nicht ästhetischer Art. Abgelehnt: Hochdeutsch wird in der Deutschschweiz nicht auffallend negativ beurteilt. In der französischsprachigen Schweiz wird Hochdeutsch negativer beurteilt als in der Deutschschweiz. Insgesamt erhält Hochdeutsch aber relativ wenige Beurteilungen (sei es negativ oder positiv). Die Begründungen für die Wahl von Hochdeutsch als hässliche Sprache sind mehrheitlich ästhetischer Art. Schweizerdeutsch Inf: FS n=140, DS n=140 Test: Exakter Test nach Fisher Mv: Sprachgebiet * Schweizerdeutsch als LS, SS, HS Res: Sprachgebiet * Sprachgebiet * Schweizerdeutsch als LS ++ (FS: 0.7%, DS: 41.4%); Sprachgebiet * Sprachgebiet * Schweizerdeutsch als SS ++ (FS: 0%, DS: 17.1%); Sprachgebiet * Sprachgebiet * Schweizerdeutsch als HS ++ (FS: 57.1%, DS: 7.9%). Französisch Inf: DS n=140, FS n=140 Test: Exakter Test nach Fisher Mv: Sprachgebiet * Französisch als LS, SS, HS Res: Sprachgebiet * Französisch als LS ++ (DS: 17.1%, FS: 72.1%), Sprachgebiet * Französisch als SS n. s. (DS: 48.6%, FS: 39.3%); Sprachgebiet * Französisch als HS + (DS: 4.3% FS: 0%). Hochdeutsch Inf: DS n=140, FS n=140 Test: Exakter Test nach Fisher Mv: Sprachgebiet * Hochdeutsch als LS, SS, HS Res: Sprachgebiet * Hochdeutsch als LS n. s. (DS: 7.9%, FS: 2.9%); Hochdeutsch als SS n. s. (DS: 6.4%, FS: 6.4%); Hochdeutsch als HS + + (DS: 5.7%, FS: 19.3%). 302 III. Resultate und Diskussion <?page no="319"?> Tab. 28: Zusammenhang zwischen Sprachgebiet und Schweizerdeutsch, Französisch und Hochdeutsch jeweils als Lieblingssprache, schöne Sprache und hässliche Sprache. Sprachgebiete: Deutschschweiz (n=140), französische Schweiz (n=140). Exakter Test nach Fisher: Signifikanzen in Tabelle fett wiedergegeben. Deutschschweiz (n=140) Französische Schweiz (n=140) Exakter Test nach Fisher Lieblingssprache Schweizerdeutsch 41.4% 0.7% p<.001 Französisch 17.1% 72.1% p<.001 Hochdeutsch 7.9% 2.9% n. s. Schöne Sprache Schweizerdeutsch 17.1% 0.0% p<.001 Französisch 48.6% 39.3% n. s. Hochdeutsch 6.4% 6.4% n. s. Hässliche Sprache Schweizerdeutsch 7.9% 57.1% p<.001 Französisch 4.3% 0.0% p=.015 Hochdeutsch 5.7% 19.3% p<.001 Die Beurteilung von Schweizerdeutsch Schweizerdeutsch wird von Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern vor allem affektiv positiv beurteilt: 41.4% nennen es als eine ihrer Lieblingssprachen. Die Befragten aus der französischsprachigen Schweiz haben kein positives affektives Verhältnis zu Schweizerdeutsch; eine zu vernachlässigende Anzahl Personen (0.7%) nennt es als Lieblingssprache. Der Zusammenhang zwischen Sprachgebiet und Schweizerdeutsch als Lieblingssprache ist daher hoch signifikant (p<.001) - wer in der Romandie wohnt, entwickelt kaum positive Gefühle gegenüber Schweizerdeutsch, wer in der Deutschschweiz wohnt, entwickelt diese schon eher. Als schöne Sprache wird Schweizerdeutsch dann noch nicht einmal mehr von Personen aus dem Sprachgebiet selbst bewertet: Lediglich 17.1% der Deutschschweizer nennen es als schöne Sprache (während 39.3% der Befragten aus der französischsprachigen Schweiz Französisch als schön empfinden). Da keine einzige Person aus der Romandie dem Schweizerdeutschen einen ästhetischen Wert abgewinnen kann, ist das Resultat für den Zusammenhang zwischen Sprachgebiet und der Einschätzung von Schweizerdeutsch als schön hoch signifikant (p<.001), auch wenn in der Deutschschweiz ebenfalls kein Enthusiasmus gegenüber Schweizerdeutsch festzustellen ist. Es ist aber nicht so, dass Schweizerdeutsch für die Informantinnen und Informanten aus der Romandie überhaupt kein Thema wäre: 57.1%, und damit deutlich mehr als die Hälfte der befragten Romandes und Romands, findet Schweizerdeutsch hässlich. Damit ist der Zusammenhang zwischen der Sprachgebiet und 12. Sprachurteile und ihre Einflusgrössen 303 <?page no="320"?> der negativen ästhetischen Beurteilung von Schweizerdeutsch, wie angenommen, hoch signifikant (p<.001). Wer in der Romandie wohnt, findet Schweizerdeutsch viel wahrscheinlicher hässlich als wer in der Deutschschweiz wohnt - hier bleibt aber anzumerken, dass 7.9% der Interviewpartnerinnen und -partner aus der Deutschschweiz die Sprache des eigenen Sprachgebiets ebenfalls als hässlich beurteilen. Dieser Wert ist erstaunlich hoch, er liegt über den Werten von Deutschschweizern für Französisch und Hochdeutsch als hässliche Sprachen und vor allem weit über dem Wert der französischen Schweizer für die Sprache ihres Sprachgebiets: Niemand in der Romandie sagt, dass Französisch eine hässliche Sprache ist. Der Wert rührt jedoch daher, dass den Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern das pejorative Sprechen über andere Dialekte nicht gänzlich fremd ist (solche Dialektbeurteilungen fliessen hier mit ein). In der folgenden Abbildung wird das Begründungsmuster für die Wahl von Schweizerdeutsch als hässliche Sprache nach den beiden Sprachgebieten aufgeschlüsselt dargestellt. 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Klang Formale Aspekte Soziale Konnotation Metaphern Nützlichkeit/ direkter Gebrauch Schwierigkeit Kompetenz/ Verständlichke it Vertrautheit/ Kontakt Interlinguistische Vergleiche Tautologie Anteil Nennungen Begründungskategorien Französische Schweiz Deutschschweiz Schweizerdeutsch als hässliche Sprache Abb. 49: Anteil der zehn Begründungskategorien an den Begründungen für negative ästhetische Urteile zu Schweizerdeutsch durch Gewährspersonen aus den beiden Sprachgebieten. Gewährspersonen aus der französischen Schweiz mit Nennung von Schweizerdeutsch als hässlicher Sprache n=80. Gewährspersonen aus der Deutschschweiz mit Nennung von Schweizerdeutsch als hässlicher Sprache n=11. Anzahl Begründungen französische Schweiz n=158, Deutschschweiz n=24. Personen aus der Romandie begründen die Wahl von Schweizerdeutsch als hässliche Sprache eindeutig mehrheitlich inhärent-ästhetisch: 56.3% der 304 III. Resultate und Diskussion <?page no="321"?> Begründungen sind klangbasiert. Nur eine Kategorie kommt deutlich öfter vor als die anderen Kategorien: Metaphern. Da diese Kategorie sehr unterschiedliche Inhalte vereint, werden alle von Personen aus der Romandie genannten Begründungen für die Wahl von Schweizerdeutsch als hässlicher Sprache unten tabellarisch dargestellt mit besonderem Fokus auf die Kategorie Metaphern (in der Tabelle fett wiedergegeben) 140 . Tab. 29: Begründungen für die Wahl von Schweizerdeutsch als hässlicher Sprache durch Gewährspersonen aus der französischen Schweiz. Metaphorische Begründungen in Tabelle fett wiedergegeben. Klang (S klingt schön/ S klingt hässlich) 46 S ist keine Sprache 3 Hart/ herb 19 Aussprache 2 Grob/ rau 15 Intonation 2 Abgehackt 12 Mag S nicht/ unsympathisch 2 Kehlig 12 Eindruck, die Sprecher streiten/ unfreundlich 1 Aggressiv 11 Fremd 1 / x/ Laut 6 Gibt mir ein Heimatgefühl 1 Nicht schön/ hässlich 6 Hässlich verglichen mit der anderen Varietät der S 1 Kompliziert 4 Laut 1 Wörter nicht gleiche Bedeutung wie auf Hochdeutsch 4 Mag es nicht, wenn Leute S sprechen 1 Konsonanten 3 Schwer (zu lernen) 1 Nicht melodiös 3 Singsang/ klingt wie Gesang 1 Die metaphorischen Begründungen hart/ herb, grob/ rau sowie aggressiv sind aufschlussreich: Während die Kategorie soziale Konnotationen praktisch leer bleibt, die Personen aus der Romandie ihre negativen ästhetischen Urteile also nicht mit sozialen Konnotationen zu Schweizerdeutsch begründen, weist die Kategorie Metaphern einige Vertreter auf, die bezüglich sozialer Konnotationen eine deutliche Sprache sprechen: Insbesondere die vermenschlichende Metapher aggressiv kann als Zeichen dafür gedeutet werden, dass negative soziale Konnotationen (zu den Sprecherinnen und Sprechern der Sprache) bestehen. Es handelt sich hier also nicht um offene und offen kommunizierte soziale Konnotationen und Stereotypisierungen, sondern um verdeckte. Das sprachinhärente Argumentieren muss daher nicht grundsätzlich als Bestätigung der Inhärenzhypothese gedeutet werden. Es kann auch so ausgelegt werden, dass die sprachinhärente Argumentationsweise 140 Zur Kategorisierung der Begründungen vgl. Kap. 10.1.3 sowie Appendix 3. 12. Sprachurteile und ihre Einflusgrössen 305 <?page no="322"?> für die Gewährspersonen in der Interviewsituation die sozial am einfachsten zu bewerkstelligende und am wenigsten risikobehaftete ist. Das Problem mit Schweizerdeutsch dürfte trotzdem gemischter Art sein: partiell ästhetischsprachinhärent (dafür spricht die Granularitätsebene der Argumentation mit der Hervorhebung des Phonems/ x/ ) und partiell sozio-politisch (Minderheitenängste und Aversionen gegenüber der Mehrheit kommen in Metaphern zum Ausdruck). Die Beurteilung von Französisch Französisch wird sowohl in der französischsprachigen als auch in der deutschsprachigen Schweiz positiv beurteilt. 17.14% der Deutschschweizer und 72.14% der Romands nennen es als Lieblingssprache. Damit ist der Zusammenhang zwischen Französisch als Lieblingssprache und dem Sprachgebiet signifikant und zwar dahingehend, dass Personen aus der Romandie Französisch eher als Lieblingssprache nennen als Personen aus der Deutschschweiz (p<.001). Die Resultate zur positiven ästhetischen Beurteilung von Französisch überraschen: Deutschschweizer beurteilen Französisch sogar noch positiver (48.6%) als französische Schweizer (39.29%); statistisch ist dieser Zusammenhang jedoch nicht signifikant. Mit diesem Resultat tut sich aber eine besonders grosse Kluft auf, was das Verhältnis der beiden Sprachgebiete zu der Sprache des jeweils anderen Sprachgebietes betrifft: Während Deutschschweizer und Deutschschweizerinnen Französisch schön finden und gerne mögen, finden Romandes und Romands Schweizerdeutsch ausnehmend hässlich und haben auch selten bis nie eine affektive Beziehung zu dieser Varietät des Deutschen. Es ist daher von Bedeutung, herauszufinden, wie das Verhältnis der französischsprachigen Gewährspersonen zu anderen Varietäten des Deutschen ist (siehe unten für die Beurteilung von Hochdeutsch), ob sie deutsche Varietäten grundsätzlich ablehnen oder ob es sich insbesondere um die Varietät handelt, die von den Menschen im eigenen Land gesprochen wird. Französisch wird selten als hässlich beurteilt und wenn, dann immer von Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern (4.3%). Damit ist der Zusammenhang zwischen der Beurteilung von Französisch als hässlicher Sprache und dem Sprachgebiet signifikant (p=.015), denn man muss offensichtlich aus der Deutschschweiz stammen, um Französisch überhaupt hässlich finden zu können. Im Allgemeinen jedoch kann festgehalten werden, dass Französisch in der Deutschschweiz nach wie vor hohes Prestige geniesst und eine zentrale Rolle im metasprachlichen Ausdruck von Laien spielt. Der Verdacht, dass Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer das Interesse an Französisch verlieren oder schon verloren haben, wird in diesen Resultaten nicht bestätigt. Dass sie Französisch deswegen auch motiviert lernen und anwenden, kann jedoch dadurch nicht automatisch induziert werden (vgl. dazu Kap. 13.2.4). Die Tendenz der Romandes und Romands, Französisch überwiegend positiv und in keinem 306 III. Resultate und Diskussion <?page no="323"?> einzigen Fall negativ zu beurteilen und die gleichzeitig massiv negative Beurteilung von Schweizerdeutsch kann als ingroup-Loyalität oder sogar als ingroup favoritism gedeutet werden (vgl. Kap. 3.2.2.2), die in der Deutschschweiz in diesem Masse nicht nachzuweisen ist. Die Beurteilung von Hochdeutsch Die Nennung von Hochdeutsch als Lieblingssprache kommt in der Deutschschweiz etwas häufiger vor als in der Romandie (7.9% im Vergleich zu 2.9%). Einen signifikanten Zusammenhang zwischen der affektiven Beurteilung von Hochdeutsch und dem Sprachgebiet gibt es allerdings nicht. Recht wenig Befragte finden Hochdeutsch insgesamt schön: In beiden Sprachgebieten sind es jeweils 6.4% der Informantinnen und Informanten, die Hochdeutsch einen ästhetischen Wert zusprechen. Hässlich finden Hochdeutsch signifikant mehr Personen in der französischen Schweiz als in der Deutschschweiz (p<.001). Dieses Resultat mag Deutschschweizer etwas versöhnen, da man in der Romandie offensichtlich ganz allgemein ein ästhetisches Problem mit der deutschen Sprache hat. 9.3% der französischsprachigen Gewährspersonen beurteilen Hochdeutsch ästhetisch negativ während lediglich 5.7% der Deutschschweizer Hochdeutsch hässlich finden. Insgesamt ist festzuhalten, dass Hochdeutsch weniger oft thematisiert wird als die anderen beiden hier untersuchten Sprachen. Die Abwesenheit von Hochdeutsch in der Laienmetasprache ist bedenklich: Es findet weder eine explizite Abgrenzung noch eine positive metasprachliche Stärkung statt. Es stellt sich die Frage, ob diese Varietät des Deutschen weniger stark im Bewusstsein von Schweizerinnen und Schweizern verankert ist, oder ob einfach eine gewisse Unlust besteht, sich darüber zu äussern. Abbildung 50 gibt Aufschluss über die Argumentationsweise von Personen der beiden Sprachgebiete bei der Wahl von Hochdeutsch als hässlicher Sprache. Die Argumentation ist bei Hochdeutsch etwas weniger eindeutig ästhetischer Art als bei Schweizerdeutsch. Französische Schweizerinnen und Schweizer argumentieren noch häufiger als Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer basierend auf dem Klang der Sprache (48.8% vs. 36.4%). Wie erwartet ist die Kategorie formale Aspekte bei den Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern ausgeprägter als bei den französischen Schweizerinnen und Schweizern. 12. Sprachurteile und ihre Einflusgrössen 307 <?page no="324"?> 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Klang Formale Aspekte Soziale Konnotation Metaphern Nützlichkeit/ direkter Gebrauch Schwierigkeit Kompetenz/ Verständlichkeit Vertrautheit/ Kontakt Interlinguistische Vergleiche Tautologie Anteil Nennungen Begründungskategorien Französische Schweiz Deutschschweiz Hochdeutsch als hässliche Sprache Abb. 50: Anteil der zehn Begründungskategorien an den Begründungen für negative ästhetische Urteile zu Hochdeutsch durch Gewährspersonen aus den beiden Sprachgebieten. Gewährspersonen aus der französischen Schweiz mit Nennung von Hochdeutsch als hässlicher Sprache n=27. Gewährspersonen aus der Deutschschweiz mit Nennung von Hochdeutsch als hässlicher Sprache n=8. Anzahl Begründungen französische Schweiz n=43, Deutschschweiz n=11. In Tabelle 30 werden alle von Personen aus der Deutschschweiz genannten Begründungen für die Wahl von Hochdeutsch als hässlicher Sprache aufgelistet; Begründungen, die der Kategorie Metaphern zugeordnet wurden, werden in der Tabelle fett wiedergegeben. Tab. 30: Begründungen für die Wahl von Hochdeutsch als hässlicher Sprache durch Gewährspersonen aus der Deutschschweiz. Metaphorische Begründungen in Tabelle fett wiedergegeben. Klang (S klingt hässlich) 3 Nicht schön/ hässlich 1 Hart/ herb 2 Orthographie 1 Langweilig 1 Unterrichte(te) S 1 Mag es nicht, wenn Leute S sprechen 1 Versnobt/ arrogant/ hochnäsig 1 Die Begründungen für die Wahl von Hochdeutsch als hässlicher Sprache sind, entgegen der Annahme der Hypothese, mehrheitlich ästhetischer Art. Auch hier spielen Metaphern eine wesentliche Rolle in der Argumentation, ihre Qualität ist aber anders als vorher in der Argumentation der französischsprachigen Gewährspersonen bezüglich der Hässlichkeit von Schweizer- 308 III. Resultate und Diskussion <?page no="325"?> deutsch. Hochdeutsch wird zwar auch als hart und herb beschrieben, es kommen aber noch eine Nennung von langweilig und eine von versnobt respektive arrogant und hochnäsig dazu. 12.4.4 Sprachgebiet und die Beurteilung weiterer Sprachen in den drei Urteilstypen Im Folgenden gilt das Interesse der Frage, ob die Gewährspersonen aus den beiden untersuchten Sprachgebieten auch bei anderen beurteilten Sprachen ein unterschiedliches Urteilsverhalten zeigen oder ob die oben gezeigten Signifikanzen (für Schweizerdeutsch, Französisch und Hochdeutsch) eine Ausnahme bilden. In die Berechnungen werden Englisch, Italienisch, und Spanisch eingeschlossen; bei den hässlichen Sprachen kommen zusätzlich Arabisch, Chinesisch und Holländisch dazu, da sie in diesem Urteilstyp hohe Werte erreichen. Tab. 31: Zusammenhang zwischen Sprachgebiet und Englisch, Italienisch und Spanisch jeweils als Lieblingssprache, schöne Sprache und hässliche Sprache, zusätzlich Arabisch, Chinesisch, Holländisch als hässliche Sprachen. Sprachgebiete: Deutschschweiz (n=140), französische Schweiz (n=140). Exakter Test nach Fisher: signifikante Resultate in Tabelle fett wiedergegeben. Deutschschweiz (n=140) Französische Schweiz (n=140) Exakter Test nach Fisher Lieblingssprache Englisch 22.9% 15.7% n. s. Italienisch 17.9% 12.1% n. s. Spanisch 6.4% 7.9% n. s. Schöne Sprache Englisch 23.6% 15.7% n. s. Italienisch 50.7% 40.7% n.s Spanisch 28.6% 24.3% n. s. Hässliche Sprache Englisch 9.3% 2.1% p=.009 Italienisch 2.9% 0.7% n. s. Spanisch 2.9% 2.1% n. s. Arabisch 5.7% 7.9% n. s. Chinesisch 6.4% 2.1% n. s. Holländisch 2.9% 11.4% p=.005 Ein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen der Art der Beurteilung einer Sprache und dem Sprachgebiet besteht lediglich im Urteilstyp hässliche Sprachen. Englisch wird tendenziell eher von Gewährspersonen 12. Sprachurteile und ihre Einflusgrössen 309 <?page no="326"?> aus der Deutschschweiz (9.3%) als hässliche Sprache genannt als von Gewährspersonen aus der französischen Schweiz (2.1%) (p=.009). Eine interessante und relativ deutliche Signifikanz (p=.005) ist für den Zusammenhang zwischen dem Sprachgebiet und der Beurteilung von Holländisch als hässlicher Sprache festzustellen: Interviewpartnerinnen und -partner aus der Romandie neigen eher dazu, Holländisch hässlich zu finden als solche aus der Deutschschweiz. Dass es für Menschen aus einem französischsprachigen Gebiet schwer zu sein scheint, germanischen Sprachen einen ästhetischen Wert abzugewinnen, zeigt sich in diesem Resultat erneut. Mit Englisch haben die Gewährspersonen dagegen weniger Probleme (hier zeigt sich sogar die umgekehrte Tendenz, dass Romandes und Romands Englisch seltener als hässliche Sprache nennen als Deutschschweizer.) Das Sprachgebiet spielt bei linguistischen Werturteilen also lediglich im Zusammenhang mit vereinzelten Sprachen eine signifikante Rolle. 12.4.5 Sprachgebiet und Begründungsmuster Es besteht keine Hypothese zum Zusammenhang zwischen Sprachgebiet und Begründungsmuster. Im Folgenden wird dennoch geprüft, ob Unregelmässigkeiten in der Argumentationsweise von Personen aus der Deutschschweiz und Personen aus der Romandie bestehen. Abbildung 51 stellt die genannten Begründungskategorien für affektive Urteile nach Sprachgebieten dar. 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Klang Formale Aspekte Soziale Konnotation Metaphern Schwierigkeit Nützlichkeit/ direkter Gebrauch Kompetenz/ Verständlichkeit Vertrautheit/ Kontakt Interlinguistische Vergleiche Tautologie Anteil Nennungen Begründungskategorien Französische Schweiz Deutschschweiz Lieblingssprache Abb. 51: Anteil der zehn Begründungskategorien an den Begründungen für affektive Urteile nach Sprachgebiet. Sprachgebiete: Deutschschweiz (n=140), französische Schweiz (n=140). 310 III. Resultate und Diskussion <?page no="327"?> Beim affektiven Urteil wird in den beiden Sprachgebieten sehr homogen argumentiert. Einzig die Kategorien Vertrautheit/ Kontakt und Soziale Konnotationen weisen Unterschiede auf: Personen aus der Romandie argumentieren häufiger in ersterer und Personen aus der Deutschschweiz häufiger in letzterer. 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Klang Formale Aspekte Soziale Konnotation Metaphern Schwierigkeit Nützlichkeit/ direkter Gebrauch Kompetenz/ Verständlichkeit Vertrautheit/ Kontakt Interlinguistische Vergleiche Tautologie Anteil Nennungen Begründungskategorien Französische Schweiz Deutschschweiz Schöne Sprache Abb. 52: Anteil der zehn Begründungskategorien an den Begründungen für positive ästhetische Urteile nach Sprachgebiet. Sprachgebiete: Deutschschweiz (n=140), französische Schweiz (n=140). Die Wahl von schönen Sprachen wird von Gewährspersonen aus den beiden unterschiedlichen Sprachgebieten unterschiedlich begründet. Während in der Romandie die auf Inhärenz beruhende Kategorie Klang 71.3% aller Begründungen stellt, sind es in der Deutschschweiz lediglich 48.7%. In der Deutschschweiz spielt dafür das Argumentieren über soziale Konnotationen und Metaphern eine bedeutendere Rolle als in der Romandie. Auffallend ist auch, dass Personen in der Deutschschweiz bei der ästhetischen Einschätzung einer Sprache die Rolle der Vertrautheit und des Kontakts zu dieser Sprache stärker betonen. 12. Sprachurteile und ihre Einflusgrössen 311 <?page no="328"?> 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Klang Formale Aspekte Soziale Konnotation Metaphern Schwierigkeit Nützlichkeit/ direkter Gebrauch Kompetenz/ Verständlichkeit Vertrautheit/ Kontakt Interlinguistische Vergleiche Tautologie Anteil Nennungen Begründungskategorien Französische Schweiz Deutschschweiz Hässliche Sprache Abb. 53: Anteil der zehn Begründungskategorien an den Begründungen für negative ästhetische Urteile nach Sprachgebiet. Sprachgebiete: Deutschschweiz (n=140), französische Schweiz (n=140). Auch bei der Begründung für die Wahl einer Sprache als hässliche greifen Personen aus der Romandie häufiger auf die Kategorie Klang zurück als Personen aus der Deutschschweiz (62.1% vs. 39.3%). Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer liegen in den Kategorien Kompetenz/ Verständlichkeit und Tautologie vor den Romandes und Romands. 12.5 Sprachbiographie/ Kontaktsituation Mehrere Variablen sind für das Kapitel Sprachbiographie/ Kontaktsituation und die sechs in diesem Zusammenhang formulierten Hypothesen relevant: ● Die Muttersprache der Befragten: Wie schon erwähnt, sind nicht alle Gewährspersonen aus der französischsprachigen Schweiz auch französischsprachig aufgewachsen, ebenso verhält es sich in der Deutschschweiz. Wenn auch die Zahl der Personen, die als eine ihrer Muttersprachen nicht die Sprache ihres Sprachgebiets angeben, klein ist (fünf in der Deutschschweiz und 16 in der französischen Schweiz), so werden diese Gewährspersonen für die Berechnungen von Hypothese 14 und 15 trotzdem ausgefiltert, um ein exaktes Bild der Rolle der Muttersprache für das linguistische Werturteil zu erhalten. 312 III. Resultate und Diskussion <?page no="329"?> ● Der schulische Fremdsprachenerwerb: In Hypothese 16 wird das Verhältnis der jüngsten Gruppe (Schülerinnen und Schüler) zu den aktuell in der Schule gelernten Sprachen untersucht. ● Die Art des Spracherwerbs: Untersucht wird, ob ein Zusammenhang zwischen der Art des Spracherwerbs (unterschieden werden institutioneller und natürlicher Spracherwerb) und der Beurteilungstendenz bei den betreffenden Sprachen besteht. ● Die selbstdeklarierte quantitative Sprachkompetenz: Gefragt wird, ob die Anzahl der Sprachen, die eine Person in ihrem Leben gelernt hat (unabhängig davon, wie gut diese Sprachen zum betreffenden Zeitpunkt beherrscht werden) bei der Abgabe ästhetischer und affektiver Urteile eine Rolle spielt. ● Aufenthalte in Gebieten, wo eine Zielsprache gesprochen wird: Ob der Kontakt zu einer Sprache durch Aufenthalte in Gebieten, wo diese gesprochen wird, in Zusammenhang steht mit der positiven Beurteilung dieser Sprache, wird hier untersucht. Es geht primär darum herauszufinden, ob ein intensiver Kontakt zu positiveren Urteilen führen kann. Daten zu allen genannten Aspekten zum Thema Sprachbiographie und Kontaktsituation wurden durch gezielte Fragen in den Interviews erhoben (vgl. Kap. 9.3.2 sowie 9.4.2). Die Interviewpartnerinnen und -partner wurden im Vorfeld nicht hinsichtlich dieser speziellen Variablen ausgewählt, sondern nach Alter, Geschlecht, Bildung und Sprachgebiet. Daher rühren Ungleichgewichte in der Verteilung der Gewährspersonen bei den in diesem Kapitel behandelten Variablen. In Kapitel 12.5.1 folgt ein Überblick über alle von den Befragten genannten Sprachkompetenzen. 12.5.1 Globale Sprachkompetenz In der folgenden Tabelle werden alle von den Gewährspersonen auf die Frage, welche Sprachen sie können 141 , aufgezählten Sprachen und Varietäten aufgeführt. Dazu kommen die Angaben, die zur Muttersprache gemacht werden. Tab. 32: Sprachkompetenz: Globale Übersicht. DS = Deutsche Schweiz (n=140); FS = Französische Schweiz (n=140). Sprachkompetenz global DS (n=140) FS (n=140) TOTAL Französisch ohne Spezifikation 127 122 249 Englisch ohne Spezifikation 119 104 223 Hochdeutsch 20 121 141 141 Die Frage ist absichtlich elliptisch gestaltet und nicht auf eine der üblichen Subkompetenzen Sprechen, Hören, Lesen oder Schreiben ausgerichtet. 12. Sprachurteile und ihre Einflusgrössen 313 <?page no="330"?> Sprachkompetenz global DS (n=140) FS (n=140) TOTAL Schweizerdeutsch 115 22 137 Italienisch ohne Spezifikation 68 57 125 Spanisch ohne Spezifikation 18 16 34 Latein 20 4 24 Deutsch ohne Spezifikation 15 0 15 Schweizer Französisch 0 13 13 Altgriechisch 6 1 7 Arabisch 2 5 7 Britisches Englisch 1 5 6 Holländisch 4 2 6 Russisch 2 4 6 Persisch 1 4 5 Rätoromanisch 4 1 5 Ungarisch 5 0 5 Chinesisch 0 4 4 Europäisches Portugiesisch 0 4 4 Neugriechisch 1 3 4 Französisch in Frankreich 0 4 4 Amerikanisches Englisch 0 3 3 Dialekt in der Schweiz 3 0 3 Europäisches Spanisch 0 3 3 Norwegisch 0 3 3 Südamerikanisches Spanisch 0 3 3 Finnisch 2 0 2 Hebräisch 1 1 2 Hindi 2 0 2 Japanisch 0 2 2 Katalanisch 0 2 2 Polnisch 2 0 2 Portugiesisch ohne Spezifikation 1 1 2 Rumänisch 0 2 2 Schwedisch 1 1 2 Serbokroatisch 1 1 2 Slowenisch 1 1 2 Tamilisch 2 0 2 Albanisch 1 0 1 Bengali 1 0 1 Bosnisch 1 0 1 Brasilianisches Portugiesisch 1 0 1 Dänisch 1 0 1 Dialekt in Deutschland 1 0 1 314 III. Resultate und Diskussion <?page no="331"?> Sprachkompetenz global DS (n=140) FS (n=140) TOTAL Dialekt in Italien 0 1 1 Italienisches Italienisch 0 1 1 Mazedonisch 0 1 1 Österreichisches Deutsch 1 0 1 Tschechisch 1 0 1 Türkisch 1 0 1 Gesamt 553 522 1075 Die am weitesten verbreiteten Sprachen sind, wie anzunehmen war, Varietäten des Französischen und des Deutschen. Die Sprachen, die von den befragten Personen in der Deutschschweiz und der französischen Schweiz ausser ihrer eigenen Sprachen am häufigsten als Kompetenzen genannt wurden, sind Englisch und Italienisch (mit jeweils 223 und 125 Nennungen ohne die Einrechnung der spezifischen Varietäten wie Amerikanisches Englisch oder Dialekte in Italien). Es verwundert nicht, dass die Sprachen, die am häufigsten als Kompetenzen genannt werden auch die sind, die in der Beurteilung prominent vorkommen. Eine Ausnahme hierbei bildet Latein. Die „ tote Sprache “ kommt an siebter Stelle der genannten Sprachkompetenzen (24 Personen zählen Latein zu den Sprachen, die sie können), findet aber keinerlei Eingang in die Beurteilung durch die Laien. Über die Gründe für dieses Fehlen kann nur spekuliert werden: Werden Sprachen mit natürlichen Sprechern eher beurteilt? Muss eine Sprache geographisch lokalisierbar sein, um beurteilt zu werden (mit beiden Aspekten ist die Möglichkeit verbunden, mit der Sprache in natürlichen Kontakt zu treten, einen Aufenthalt im Sprachgebiet zu absolvieren und insbesondere Menschen kennen zu lernen, die mit der Sprache aufgewachsen sind oder leben). 12.5.2 L1 als Lieblingssprache (Hypothese 14) Hyp 14: Die L1 wird häufiger als andere Sprachen als Lieblingssprache genannt. Angenommen: Die L1 wird in beiden Sprachgebieten jeweils als Lieblingssprache vor anderen Sprachen bevorzugt (siehe auch Hypothese 15), dies noch deutlicher von französischsprachigen Schweizerinnen und Schweizern als von deutschsprachigen Schweizerinnen und Schweizern. Inf: Muttersprache Französisch in FS n=124, Muttersprache Deutsch in DS n=135. Test: Exakter Test nach Fisher Mv: Sprachgebiet * Deutsch als LS, Sprachgebiet * Französisch als LS Res: Sprachgebiet * Deutsch als LS ++ (DS: 51.85%, FS: 4.03%) Sprachgebiet Französisch als LS ++ (FS: 74.19%, DS: 17.78%). 12. Sprachurteile und ihre Einflusgrössen 315 <?page no="332"?> Tab. 33: Zusammenhang zwischen Muttersprache und Deutsch und Französisch als Lieblingssprache (unter Einrechnung aller Varietäten). n=135 für Gewährspersonen mit Muttersprache Deutsch in der Deutschschweiz; n=124 für Gewährspersonen mit der Muttersprache Französisch in der französischen Schweiz. Exakter Test nach Fisher signifikant für Deutsch (p<.001) und Französisch (p<.001). Lieblingssprache Deutsch als Muttersprache (n=135) Französisch als Muttersprache (n=124) Exakter Test nach Fisher Deutsch 51.9% 4.0% p<.001 Französisch 17.8% 74.2% p<.001 Der Zusammenhang zwischen der Muttersprache und der Tendenz, diese als Lieblingssprache anzugeben, ist sowohl für französischsprachige als auch für deutschsprachige Personen für die entsprechende Muttersprache jeweils hoch signifikant (p ≤ .001). Die Deutlichkeit, in der die eigene Sprache als Lieblingssprache gewählt wird, ist für Französisch und Deutsch unterschiedlich: Personen mit französischer Muttersprache neigen noch häufiger dazu, diese als Lieblingssprache zu nennen (74.2%) als solche mit deutscher Muttersprache (51.85%). 12.5.3 Muttersprache und die Beurteilung ausgewählter Sprachen in den drei Urteilstypen: Exakter Test nach Fisher Im Folgenden wird geprüft, ob ein Zusammenhang besteht zwischen der Muttersprache der beurteilenden Person und der Beurteilung von ausgewählten Sprachen in den drei Urteilstypen. Untersucht werden für diesen Zweck die Sprachen Deutsch, Französisch, Englisch, Italienisch und Spanisch unter Einschluss jeweils aller genannten Varietäten. In einem ersten Schritt erfolgt eine Zusammenhangsberechnung mit dem exakten Test nach Fisher (ausschliesslich für die Sprachen Englisch, Italienisch und Spanisch, da die Sprachen der Sprachgebiete bereits in Hypothese 14 untersucht worden sind). In einem weiteren Schritt wird in Kapitel 12.5.4 der Zusammenhang zwischen Muttersprache und Urteilstendenz für alle ausgewählten Sprachen durch eine Varianzanalyse geprüft. 316 III. Resultate und Diskussion <?page no="333"?> Tab. 34: Zusammenhang zwischen Muttersprache und NICHT-Muttersprachen als Lieblingssprachen, schöne Sprachen, hässliche Sprachen. Untersuchte Sprachen: Englisch, Italienisch und Spanisch. Gewährspersonen mit Muttersprache Deutsch in der Deutschschweiz n=135; Gewährspersonen mit der Muttersprache Französisch in der französischen Schweiz n=124. Exakter Test nach Fisher signifikant für Italienisch als Lieblingssprache (p=.031) und Englisch als hässlicher Sprache (p=.014). Deutsch als Muttersprache (n=135) Französisch als Muttersprache (n=124) Exakter Test nach Fisher Lieblingssprache Englisch 21.5% 19.4% n. s. Italienisch 18.5% 9.7% p=.031 Spanisch 5.9% 8.9% n. s. Schöne Sprache Englisch 23% 16.9% n. s. Italienisch 51.1% 41.9% n. s. Spanisch 28.9% 24.2% n. s. Hässliche Sprache Englisch 9.6% 2.4% p=.014 Italienisch 2.2% 0.8% n. s. Spanisch 3.0% 2.4% n. s. Die Verhältnisse der Urteile in Tabelle 34 sind ähnlich wie die in Tabelle 31 (vgl. Kap. 12.4.4), wo es um den Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit zu einem Sprachgebiet und Beurteilungstendenzen ging 142 . Die Signifikanz bei Englisch als hässlicher Sprache ist bei der oben durchgeführten Berechnungsart etwas weniger ausgeprägt, in ihrer Aussage bleibt sie aber gleich: Personen mit deutscher Muttersprache tendieren eher dazu, Englisch als hässlich zu beurteilen als Personen mit französischer Muttersprache. Eine zweite Signifikanz, die bei der ersten Berechnungsart nicht zu beobachten war, tritt bei Italienisch auf: Es besteht ein Zusammenhang zwischen der Muttersprache der Befragten und der Wahl von Italienisch als Lieblingssprache. Personen mit deutscher Muttersprache haben tendenziell das affektivere Verhältnis zu Italienisch als Personen mit französischer Muttersprache. Bei allen anderen bewerteten Sprachen besteht kein signifikanter Zusammenhang zwischen Muttersprache und der Art der Bewertung. Im Folgenden werden die Resultate der Varianzanalyse dargestellt. Getestet wird, ob ein Gruppeneffekt festzustellen ist, ob also Informantinnen 142 Für die beiden Sprachgebiete bestand ein Verhältnis von n=140 in der Deutschschweiz zu n=140 in der französischen Schweiz. Werden Gewährspersonen, die nicht die Sprache des Sprachgebiets als eine ihrer Muttersprachen nennen, ausgefiltert, besteht ein Verhältnis von n=135 in der Deutschschweiz zu n=124 in der französischen Schweiz. Der Unterschied ist so klein, dass die Resultate natürlich ähnlich ausfallen. 12. Sprachurteile und ihre Einflusgrössen 317 <?page no="334"?> und Informanten mit französischer Muttersprache prinzipiell anders urteilen als Informantinnen und Informanten mit deutscher Muttersprache. Weiter wird getestet, ob ein Spracheffekt vorhanden ist, ob also bestimmte Sprachen prinzipiell positiver oder negativer beurteilt werden. Als letzter Aspekt wird die Interaktion zwischen der Muttersprache und der Beurteilung getestet. 12.5.4 Muttersprache und die Beurteilung ausgewählter Sprachen in den drei Urteilstypen: Varianzanalyse (Hypothese 15) Hyp 15: Unterschiedliche L1 gehen mit unterschiedlichen ästhetischen/ affektiven Präferenzen einher. Angenommen für das affektive und das negative ästhetische Urteil, abgelehnt für das positive ästhetische Urteil: Das affektive Urteil: Das Antwortverhalten von Personen mit der Muttersprache Deutsch und Personen mit der Muttersprache Französisch ist für affektive Urteile unterschiedlich. Auch werden unterschiedliche Sprachen unterschiedlich beurteilt. Die eigene Muttersprache wird prinzipiell eher als Lieblingssprache gewählt als die anderen untersuchten Sprachen. Das positive ästhetische Urteil: Das Antwortverhalten von Gewährspersonen mit deutscher Muttersprache und Gewährspersonen mit französischer Muttersprache ist grundsätzlich ähnlich, wobei Personen mit deutscher Muttersprache öfter ästhetisch positiv über die hier untersuchten Sprachen urteilen. Unterschiedliche Sprachen werden ästhetisch unterschiedlich positiv beurteilt. Das negative ästhetische Urteil: Das Antwortverhalten von Personen mit der L1 Deutsch und Personen mit der L1 Französisch ist für negative ästhetische Urteile unterschiedlich für die Sprachen Deutsch und Französisch. Unterschiedliche Sprachen werden unterschiedlich negativ beurteilt. Inf: Muttersprache Französisch in FS n=124, Muttersprache Deutsch in DS n=135 Test: ANOVA (zweifaktoriell, Varianzanalyse) Mv: Muttersprache * Sprachen als LS (Englisch, Italienisch, Spanisch, Französisch, Deutsch); Muttersprache * Sprachen als SS (Englisch, Italienisch, Spanisch, Französisch, Deutsch H); Muttersprache * Sprachen als HS (Englisch, Italienisch, Spanisch, F Französisch, Deutsch) Res: LS: Interaktion (Muttersprache * Sprache) +, Sprachen +, Gruppen n. s.; SS: Interaktion (Muttersprache * Sprachen) n. s., Sprachen +, Gruppen +; HS: Interaktion (Muttersprache * Sprachen) n. s., Sprachen +, Gruppen +. Im Folgenden wird untersucht, ob unterschiedliche Muttersprachen mit unterschiedlichen affektiven Urteilen einhergehen. 318 III. Resultate und Diskussion <?page no="335"?> 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Anteil Nennungen Lieblingssprache Deutsch als Muttersprache Französisch als Muttersprache Abb. 54: Zusammenhang zwischen Muttersprache und affektivem Urteil. Gewährspersonen mit Muttersprache Deutsch (alle Varietäten) in der Deutschschweiz n=135; Gewährspersonen mit der Muttersprache Französisch (alle Varietäten) in der französischen Schweiz n=124; entspricht „ Gruppen “ . Untersuchte Sprachen: Deutsch, Französisch, Englisch, Italienisch, Spanisch (jeweils alle Varietäten). Signifikant für Interaktion (Muttersprache * Sprache) (p ≤ .001), Sprachen (p ≤ .001), nicht signifikant für Gruppen. Der Verlauf der beiden Kurven in Abbildung 54 ist unterschiedlich, was heisst, dass das Antwortverhalten für das affektive Urteil von Personen mit der Muttersprache Deutsch grundsätzlich anders ist für die untersuchten Sprachen als das Antwortverhalten von Personen mit der Muttersprache Französisch (p ≤ .001). Am unterschiedlichsten werden die Sprachen der betroffenen Sprachgebiete selbst beurteilt: Personen mit französischer Muttersprache beurteilen Französisch affektiv positiver als alle anderen Sprachen. Dasselbe gilt für deutschsprachige Interviewpartnerinnen und -partner und die affektive Beurteilung ihrer Muttersprache, allerdings etwas weniger ausgeprägt. Dazu gilt, dass unterschiedliche Sprachen unterschiedlich beurteilt werden (p ≤ .001): Nicht zu allen Sprachen entwickeln die Gewährspersonen ein in gleichem Masse affektives Verhältnis. So liegt beispielsweise das Niveau der Bewertung von Englisch im Durchschnitt höher als das Niveau der Bewertung von Spanisch - Englisch wird also grundsätzlich eher als Lieblingssprache gewählt als Spanisch. Hinzuweisen ist auf die Tatsache, dass Deutsch zwar im Vergleich zu den anderen Sprachen von den deutschsprachigen Befragten am positivsten beurteilt wird, von den französischsprachigen Befragten wird es aber weniger positiv beurteilt als alle anderen Sprachen. Dies gilt nicht in gleichem Masse für die Beurteilung von Fran- 12. Sprachurteile und ihre Einflusgrössen 319 <?page no="336"?> zösisch durch deutschsprachige Personen, diese haben eher ein affektives Verhältnis zu Französisch als französischsprachige Informantinnen und Informanten zu Deutsch. Abbildung 55 zeigt den Zusammenhang zwischen der Muttersprache und dem positiven ästhetischen Urteil. 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Anteil Nennungen Schöne Sprache Deutsch als Muttersprache Französisch als Muttersprache Abb. 55: Zusammenhang zwischen Muttersprache und positivem ästhetischem Urteil. Gewährspersonen mit Muttersprache Deutsch (alle Varietäten) in der Deutschschweiz n=135; Gewährspersonen mit der Muttersprache Französisch (alle Varietäten) in der französischen Schweiz n=124; entspricht „ Gruppen “ . Untersuchte Sprachen: Deutsch, Französisch, Englisch, Italienisch, Spanisch (jeweils alle Varietäten). Nicht signifikant für Interaktion (Muttersprache * Sprache), signifikant für Sprachen (p ≤ .001) und für Gruppen (p ≤ .001). Die positive ästhetische Beurteilung der untersuchten Sprachen hängt nicht mit der Muttersprache der Gewährspersonen zusammen. Das Empfinden der untersuchten Sprachen als schön passiert also unabhängig davon, welche Sprache jemandem die Vertrauteste ist. Dass Menschen durch ihre L1 grundsätzlich konditioniert sind, was das positive ästhetische Urteilen betrifft, lässt sich aus den vorliegenden Resultaten zu den hier untersuchten Sprachen also nicht ableiten. Deutschsprachige Personen urteilen grundsätzlich öfter ästhetisch positiv, sind also enthusiastischer gegenüber den hier untersuchten Sprachen als französischsprachige Personen (p ≤ .001). Dies mag erstaunen, da die Interviewpartnerinnen und -partner aus der Romandie global (also unter Berücksichtigung aller genannten Sprachen und Varietäten) durchschnittlich mehr schöne Sprachen nennen als Deutschschweizerinnen und Deutsch- 320 III. Resultate und Diskussion <?page no="337"?> schweizer (vgl. Kap. 12.4.2 Abbildung 47). Die 16 ausgefilterten Gewährspersonen, die nicht französischer Muttersprache sind, geben kaum den Ausschlag für die niedrigere Produktion bei den hier untersuchten Sprachen. Es ist offenbar so, dass französischsprachige Informantinnen und Informanten ihre positiven ästhetischen Urteile nicht so stark auf die Sprachen, die hier untersucht werden, konzentrieren, sondern ein breiteres Spektrum an Sprachen in Betracht ziehen, wenn sie über schöne Sprachen sprechen. Eine Einschränkung ist an dieser Stelle noch anzubringen: Das Antwortverhalten ist zwar im Allgemeinen homogen zwischen den beiden Gruppen, der Abstand der Kurven am Punkt Deutsch ist aber grösser als bei allen anderen Sprachen: Wiederum neigen französischsprachige Befragte dazu, Deutsch nicht als schön zu beurteilen, während die Sprache bei den Muttersprachlern positiver abschneidet. Ersichtlich wird in Abbildung 55 weiter, dass die Beurteilung unterschiedlicher Sprachen unterschiedlich positiv ausfällt (p ≤ .001). Dass es keine Sprache gibt, die ästhetisch mehr Wert hat als eine andere, mag zwar ein Axiom der Linguistik sein, für die Laienlinguistik gilt dies deswegen aber nicht automatisch auch (vgl. Kap. 5.1). Es gibt Sprachen, die grundsätzlich positiver ästhetisch beurteilt werden (wie Französisch und Italienisch) und solche, die grundsätzlich weniger positiv beurteilt werden (wie Deutsch, Englisch und Spanisch). 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Anteil Nennungen Hässliche Sprache Deutsch als Muttersprache Französisch als Muttersprache Abb. 56: Zusammenhang zwischen Muttersprache und negativem ästhetischem Urteil. Gewährspersonen mit Muttersprache Deutsch (alle Varietäten) in der Deutschschweiz n=135; Gewährspersonen mit der Muttersprache Französisch (alle Varietäten) in der französischen Schweiz n=124; entspricht „ Gruppen “ . Untersuchte Sprachen: Deutsch, Französisch, Englisch, Italienisch, Spanisch (jeweils alle Varietäten). Signifikant für Interaktion (Muttersprache * Sprache) (p ≤ .001), für Sprachen (p ≤ .001) und für Gruppen (p ≤ .001). 12. Sprachurteile und ihre Einflusgrössen 321 <?page no="338"?> Für den letzten Urteilstyp, das negative ästhetische Urteil, wird ebenfalls untersucht, ob ein Zusammenhang zwischen der Muttersprache der interviewten Personen und der Urteilstendenz für Deutsch, Französisch, Englisch, Italienisch und Spanisch besteht. Das negative ästhetische Urteil für die hier untersuchten Sprachen weist einen signifikanten Zusammenhang mit der Muttersprache der Gewährspersonen auf (p ≤ .001). Deutsch wird von französischsprachigen Schweizern auffällig negativ beurteilt, während Französisch nie negativ beurteilt wird. Von deutschsprachigen Personen wird Deutsch relativ negativ beurteilt, Französisch hingegen nicht auffällig negativ. Würden die beiden Sprachen der Sprachgebiete (Deutsch und Französisch) aus den Berechnungen ausgeschlossen, würde sich ein homogeneres Bild (im Stil der Kurve in Abbildung 55) ergeben: Englisch, Italienisch und Spanisch werden ähnlich beurteilt von deutschsprachigen und französischsprachigen Befragten. Dabei fallen erneut die Urteile von Befragten mit deutscher Muttersprache etwas deutlicher aus als die von Informantinnen und Informanten mit französischer Muttersprache (p ≤ .001). Erneut zeigt die Position der Laien, dass es Sprachen gibt, die als ästhetisch minderwertiger eingeschätzt werden als andere (p ≤ .001). Die Urteile fallen für unterschiedliche Sprachen unterschiedlich negativ aus. Während den beiden germanischen Sprachen Englisch und vor allem Deutsch ein sehr geringer ästhetischer Wert zugesprochen wird, ist das Problem bei den drei romanischen Sprachen Französisch, Italienisch und Spanisch praktisch nicht vorhanden (noch am ehesten bei Französisch, das von deutschsprachigen Personen hin und wieder als hässliche Sprache bezeichnet wird). In Abbildung 57 werden die ebenfalls häufig als hässlich beurteilten Sprachen Arabisch, Chinesisch, Holländisch und Russisch in die Darstellung integriert. Dafür werden die beiden beim negativen ästhetischen Urteil problematischsten Sprachen Deutsch und Französisch (die Sprachen der beiden untersuchten Sprachgebiete) weggelassen. Ziel ist es zu überprüfen, ob sich unter diesen Bedingungen ein Sprachbzw. Gruppeneffekt ergibt. Das Antwortverhalten der beiden Gruppen bleibt auch hier unterschiedlich. Während die Kurven bei Englisch, Italienisch, Spanisch und Arabisch noch einigermassen parallel verlaufen, gibt es bei Chinesisch, Holländisch und Russisch Unterschiede zwischen den beiden Gruppen: Vor allem Holländisch sticht mit der massiv negativeren Beurteilung durch die französischsprachigen Schweizerinnen und Schweizer ins Auge. Unterschiedliche Sprachen werden unterschiedlich negativ beurteilt (p ≤ .001). Das Niveau ist bei Arabisch zum Beispiel durchschnittlich höher (es wird also negativer beurteilt) als etwa Spanisch. 322 III. Resultate und Diskussion <?page no="339"?> 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Anteil Nennungen Hässliche Sprache Deutsch als Muttersprache Französisch als Muttersprache Abb. 57: Zusammenhang zwischen Muttersprache und negativem ästhetischem Urteil unter Berücksichtigung von Arabisch, Chinesisch, Holländisch, Russisch und unter Ausschluss von Deutsch (alle Varietäten) und Französisch (alle Varietäten) Gewährspersonen mit Muttersprache Deutsch (alle Varietäten) in der Deutschschweiz n=135; Gewährspersonen mit der Muttersprache Französisch (alle Varietäten) in der französischen Schweiz n=124; entspricht „ Gruppen “ . Signifikant für Interaktion (Muttersprache * Sprache) (p ≤ .001) und für Sprachen (p=.010), nicht signifikant für Gruppen. In Anbetracht dieser Resultate muss der Einfluss der L1 auf sprachliche Werturteile also differenziert gesehen werden: Beim Beurteilen einer Sprache als schön spielt die L1 der Informantinnen und Informanten offensichtlich keine Rolle. Hier fallen die Urteile homogen aus. Beim affektiven und negativen ästhetischen Urteil zeigen die beiden Gruppen dann ein unterschiedliches Urteilsverhalten. Da das Urteilsverhalten und die L1 nur in einem Urteilstyp signifikant zusammenhängen, ist nicht davon auszugehen, dass allgemein eine konditionierende Wirkung der L1 für linguistische Werturteile anzunehmen ist. Viel näher liegt die Annahme, dass Unterschiede auf Faktoren zurückzuführen sind, die eng mit der L1 verbunden sind (beispielsweise die Identität einer Gruppe mit derselben Muttersprache, die auch eine regionale, geo-politische Ausprägung hat). 12. Sprachurteile und ihre Einflusgrössen 323 <?page no="340"?> 12.5.5 Die Beurteilung von aktuell gelernten Schulsprachen (Hypothese 16) Hyp 16: Schülerinnen und Schüler neigen zu negativen ästhetischen und affektiven Urteilen gegenüber Sprachen, die sie aktuell lernen - dies gilt allerdings nicht für Englisch, sondern in der Deutschschweiz für Französisch und in der französischsprachigen Schweiz für Deutsch. Angenommen: Schülerinnen und Schüler in der französischen Schweiz urteilen über die Fremdsprache Hochdeutsch ästhetisch negativ und haben keine affektive Beziehung zu der Sprache. Schülerinnen und Schüler in der Deutschschweiz urteilen über die Fremdsprache Französisch weniger negativ, haben jedoch auch keine affektive Beziehung zu der Sprache (jedoch auch nicht zu Hochdeutsch). Englisch wird von beiden Gruppen affektiv und ästhetisch positiv beurteilt. Inf: Alter: Gruppe 13bis 17-Jährige; DS n=14; FS n=14 Test: Deskriptiv, absolute Zahlen Mv: Englisch als LS, SS, HS; Deutsch als LS, SS, HS; Französisch als LS, SS, HS; Hochdeutsch als LS, SS, HS Res: Deutsch als LS: 7 DS, 0 FS; Deutsch als SS: 4 DS, 0 FS; Deutsch als HS: 4 DS, 10 FS; Hochdeutsch als LS: 0 DS, 0 FS; Hochdeutsch als SS: 0 DS, 0 FS; Hochdeutsch als HS: 2 DS, 6 FS; Schweizerdeutsch LS: 7 DS, 0 FS; Schweizerdeutsch SS: 4 DS, 0 FS; Schweizerdeutsch HS: 2 DS, 9 FS; Französisch als LS: 1 DS, 6 FS; Französisch als SS: 5 DS, 8 FS; Französisch als HS: 3 DS, 0 FS; Englisch als LS: 7 DS, 8 FS; Englisch als SS: 3 DS, 3 FS; Englisch als HS: 2 DS, 0 FS. Da die Gruppe der sich aktuell in der obligatorischen Schulzeit befindenden Gewährspersonen sehr klein ist (je 14 pro Sprachgebiet), werden die Resultate in absoluten Zahlen und nicht als Prozentwerte wiedergegeben. Untersucht wurde, wie das Verhältnis von Schülerinnen und Schülern zu den jeweiligen Schulsprachen Englisch (in beiden Sprachgebieten), Französisch (in der Deutschschweiz) und Deutsch (in der französischen Schweiz) ist. Berechnet wurde, ob ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit zu einem der Sprachgebiete und der Beurteilung von Englisch, Französisch und Deutsch durch Schülerinnen und Schüler festzustellen ist (wobei Deutsch und Französisch natürlich jeweils die L1 einer Gruppe sind, während Englisch für alle eine Fremdsprache ist). Die Resultate sind in Relation mit der kleinen Stichprobe zu interpretieren. Eine Analyse, die auf einem grösseren Sample basiert, wäre hier wünschenswert. 324 III. Resultate und Diskussion <?page no="341"?> Tab. 35: Zusammenhang zwischen Sprachgebiet Englisch, Deutsch, Französisch (jeweils alle Varietäten) als Lieblingssprache, schöne Sprache und hässliche Sprache bei Schülern. Schüler Deutschschweiz n=14, Schüler französische Schweiz n=14. Exakter Test nach Fisher signifikant für Deutsch als Lieblingssprache (p=.003), Französisch als Lieblingssprache (p=.038), Deutsch als schöne Sprache (p=.049), Deutsch als hässliche Sprache (p=.028). SchülerInnen Deutschschweiz (n=14) SchülerInnen französische Schweiz (n=14) Exakter Test nach Fisher Lieblingssprache Deutsch 7 0 p =.003 Französisch 1 6 p =.038 Englisch 7 8 n. s. Schöne Sprache Deutsch 4 0 p =.049 Französisch 5 8 n. s. Englisch 3 3 n. s. Hässliche Sprache Deutsch 4 10 p =.028 Französisch 3 0 n. s. Englisch 2 0 n. s. Während bei Englisch kein Zusammenhang zwischen der Beliebtheit der Sprache und dem Sprachgebiet, wo die beurteilenden Schülergruppen beheimatet sind, festzustellen ist, ist dies für Französisch als Lieblingssprache sowie Deutsch in allen Urteilstypen der Fall. Dass die Schülerinnen und Schüler die Sprache des eigenen Sprachgebiets signifikant öfter als Lieblingssprache wählen, ist nicht überraschend. Sie verhalten sich beim affektiven Urteil wie andere bisher analysierte Gruppen auch. Deutsch ist unter französischsprachigen Schülerinnen und Schülern fast schon besorgniserregend unbeliebt: Zehn von 14 Schülerinnen und Schülern nennen es als hässliche Sprache, keine einzige befragte Person mag Deutsch gerne oder findet es schön. Diese Situation kann angesichts der Tatsache, dass diese Schülerinnen und Schüler mehrmals wöchentlich den obligatorischen Deutschunterricht besuchen, nicht zufrieden stellen. In der Deutschschweiz ist die Position der Schulsprache Französisch etwas besser; zwar haben auch hier die Schülergruppen kein affektives Verhältnis zu der Sprache, immerhin finden aber fünf Schüler Französisch schön. Nur drei finden Französisch hässlich. Dass Schüler ein affektives Verhältnis zu einer Schulsprache, in der sie auch benotet werden, entwickeln können, zeigt das Beispiel von Englisch. Sieben Schüler in der Deutschschweiz und acht Schüler in der Romandie nennen es als Lieblingssprache. Dafür wird Englisch nicht so oft als schön 12. Sprachurteile und ihre Einflusgrössen 325 <?page no="342"?> empfunden wie Französisch. Hässlich finden Englisch nur zwei Schüler in der Deutschschweiz. 12.5.6 Art des Spracherwerbs und Beurteilung der betreffenden Sprache (Hypothese 17) Hyp 17: Sprachen, die natürlich erworben werden, werden eher positiv (affektiv) beurteilt als Sprachen, die in schulischem/ institutionellem Kontext erworben werden. Abgelehnt (mit Ausnahme von Italienisch): Im Allgemeinen führt der Erwerb einer Sprache in natürlichem Kontext nicht zu positiveren affektiven und ästhetischen Urteilen über die Sprache als der institutionelle Erwerb. Eine Ausnahme bildet der natürliche Erwerb von Englisch, der gekoppelt ist mit positiven ästhetischen Urteilen über die Sprache. Weiter treten affektive Urteile über Italienisch öfter bei Gewährspersonen auf, die die Sprache natürlich erworben haben. Inf: n=280 für Tests mit Englisch, Italienisch, Spanisch; DS n=140 für Tests mit Französisch, FS n=140 für Tests mit Hochdeutsch und Schweizerdeutsch Test: Exakter Test nach Fisher Mv: Art des Erwerbs (von Englisch, Italienisch, Spanisch, Französisch, Hochdeutsch, Schweizerdeutsch) * (Englisch, Italienisch, Spanisch, Französisch, Hochdeutsch, Schweizerdeutsch) als LS Res: Alle n. s. bis auf zwei Ausnahmen: Art des Erwerbs von Englisch * Englisch als SS +; Art des Erwerbs von Italienisch * Italienisch als LS ++. Abbildung 58 stellt den Anteil der drei untersuchten Spracherwerbstypen für die Sprachen Schweizerdeutsch, Hochdeutsch, Französisch, Italienisch, Englisch und Spanisch dar. Für die deutschen Varietäten werden nur die Gewährspersonen aus der Romandie berücksichtigt und für Französisch parallel dazu nur die Gewährspersonen aus der Deutschschweiz. Als Erwerbstypen wurden der institutionelle Erwerb, der natürliche Erwerb und eine Mischform zwischen institutionellem und natürlichem Erwerb definiert. Die Daten zur Art des Spracherwerbs wurden im Interview durch eine Anschlussfrage an die Frage nach den Sprachkompetenzen erhoben. Die Interviewpartnerinnen und -partner wurden gefragt, wie sie die Sprachen, die sie soeben aufgezählt haben, gelernt haben. Mehrfachantworten waren erneut erlaubt. Insgesamt konnten 23 verschiedene Erwerbsarten erfasst werden. Beispiele für die als natürlicher Erwerb kategorisierten Arten sind: ● Es ist meine Muttersprache. ● Es ist die Sprache meines Partners, die wir in der gemeinsamen Kommunikation verwenden. ● Mein Kindermädchen hat die Sprache gesprochen. ● Ich höre oft Musik in dieser Sprache. 326 III. Resultate und Diskussion <?page no="343"?> Erwerbsbeschreibungen, die als institutioneller Erwerb kategorisiert wurden, sind beispielsweise: ● Ich habe die Sprache in der Schule gelernt. ● Ich habe die Sprache in Abendkursen gelernt. Die Mischform ergibt sich immer dann, wenn die Mehrfachantworten sowohl Erwerbsarten des institutionellen Typs als auch des natürlichen Typs enthalten. 92.3% 2.6% 6.5% 6.3% 31.3% 51.5% 7.7% 9.7% 29.8% 28.2% 11.3% 12.1% 87.7% 63.7% 65.5% 57.4% 36.4% 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Anteil Nennungen Sprachkompetenz Institutioneller Erwerb Mischung natürlich/ institutionell Natürlicher Erwerb Abb. 58: Art des Erwerbs von Schweizerdeutsch, Hochdeutsch, Französisch (alle Varietäten), Englisch, Italienisch und Spanisch als Fremdsprachen. Erwerbsarten: Institutioneller Erwerb, natürlicher Erwerb, Mischung aus natürlichem und institutionellem Erwerb. Personen mit Schweizerdeutschkompetenz (n=13) und Hochdeutschkompetenz (n=114) nur französische Schweiz; Personen mit Französischkompetenz (n=124) nur deutschsprachige Schweiz; Personen mit Englischkompetenz (n=223), Italienischkompetenz (n=115), Spanischkompetenz (n=33) beide Sprachgebiete. In Abbildung 58 ist deutlich zu erkennen, dass der institutionelle Erwerb bei den Sprachen Hochdeutsch, Französisch, Englisch und Italienisch überwiegt, gefolgt jeweils von der Mischform. Über die Hälfte der Befragten, die Spanisch können, geben an, die Sprache natürlich erworben zu haben. Spanisch hat sich als Schulsprache noch nicht in gleichem Masse etabliert wie Italienisch. Dass Schweizerdeutsch von 92.3% der Befragten, die über Kenntnisse dieser Varietät verfügen, natürlich erworben worden ist, liegt in der Natur der Sache: Die Sprache wird selten institutionell vermittelt, was 12. Sprachurteile und ihre Einflusgrössen 327 <?page no="344"?> damit zu tun hat, dass es keine verbindliche Schreibweise für Schweizerdeutsch gibt und für den Schriftverkehr meist die Standardsprache eingesetzt wird. Strukturierte Schweizerdeutschkurse sind ein Phänomen jüngerer Zeit. Es folgt die Berechnung des Zusammenhangs zwischen der Art des Erwerbskontexts einer Fremdsprache und der Urteilstendenz für diese Sprache. In diese Berechnung wird die Mischform (institutioneller und natürlicher Erwerbskontext) nicht eingeschlossen, um eindeutige Resultate zu erhalten. Deswegen kann Schweizerdeutsch nicht in die Analyse aufgenommen werden (es wird nie ausschliesslich institutionell erworben). Tab. 36: Zusammenhang zwischen Art des Spracherwerbskontexts und Beurteilung der auf diese Weise gelernten Sprache als Lieblingssprache, schöne Sprache und hässliche Sprache. Spracherwerb: natürlich und institutionell. Untersuchte Sprachen: Schweizerdeutsch (n=13), Hochdeutsch (n=114) nur französische Schweiz; Französisch (n=124) nur deutschsprachige Schweiz; Englisch (n=223), Italienisch (n=115), Spanisch (n=33) beide Sprachgebiete. Exakter Test nach Fisher signifikant für Italienisch als Lieblingssprache (p=.006) und Englisch als schöne Sprache (p=.026). Institutioneller Erwerbskontext Natürlicher Erwerbskontext Exakter Test nach Fisher Lieblingssprache Hochdeutsch 1% 0% n. s. Französisch 16.5% 0% n. s. Englisch 18.5% 21.4% n. s. Italienisch 16.7% 41.7% p =.006 Spanisch 8.3% 41.2% n. s. Schöne Sprache Hochdeutsch 5% 0% n. s. Französisch 41.8% 62.2% n. s. Englisch 16.4% 42.9% p =.026 Italienisch 62.1% 69.4% n. s. Spanisch 50% 52.9% n. s. Hässliche Sprache Hochdeutsch 20% 0% n. s. Französisch 5.7% 0% n. s. Englisch 4.1% 7.1% n. s. Italienisch 1.5% 0% n. s. Spanisch 0% 5.9% n. s. Einen signifikanten Zusammenhang zwischen der Art des Erwerbskontexts und der Urteilstendenz ergibt sich nur in zwei Fällen: Italienisch wird bei Erwerb in natürlichen Settings eher als Lieblingssprache gewählt als in institutionellen Settings (p=.006). Englisch wird eher von Personen, die die Sprache natürlich erworben haben, als schön bezeichnet als von solchen, 328 III. Resultate und Diskussion <?page no="345"?> die sie in der Schule gelernt haben (p=.026). Auch wenn sich gemäss exaktem Test nach Fisher keine weiteren signifikanten Zusammenhänge ergeben, lässt sich der Tabelle entnehmen, dass positive Urteile tendenziell etwas häufiger sind bei Spracherwerb im natürlichen Kontext. Dies gilt allerdings nicht für affektive Urteile über Französisch, denn hier ist der natürliche Erwerbskontext offenbar nicht hilfreich für die Entwicklung einer affektiven Beziehung zur Sprache. Die Tabelle macht deutlich, dass es dem institutionellen Sprachunterricht gelingt, das ästhetische Empfinden für Sprachen auszubilden oder es zumindest nicht zu hindern - es gelingt jedoch nicht in gleichem Masse, eine affektive Beziehung zu der Sprache zu fördern beziehungsweise sie zu erhalten. Die einzige Fremdsprache, die eher als Lieblingssprache denn als schöne Sprache genannt wird, ist Englisch. Schon in Kapitel 12.5.5 wo es um die Schülergruppen und ihre Beziehung zu Englisch ging, konnte für Englisch als einzige Schulfremdsprache eine deutliche affektive Beziehung festgestellt werden. Bei der Beurteilung von Sprachen als hässlich lässt sich kein eindeutiges Muster erkennen. Keiner der beiden Erwerbstypen ist ein Garant dafür, dass eine Sprache nicht als hässlich empfunden wird. Hochdeutsch, Französisch und Italienisch werden zwar nie von Informantinnen und Informanten, die die Sprache natürlich erworben haben, als hässlich empfunden, bei Englisch und Spanisch sind es aber eher die Personen, die die Sprachen natürlich erworben haben, die sie hässlich finden. Insbesondere sei auf die sehr negative Bewertung von Hochdeutsch durch Personen, die die Sprache institutionell erworben haben, hingewiesen. Wie schon bei den Schülerinnen und Schülern in Kapitel 12.5.5 festgestellt werden konnte, hat der Deutschunterricht in der Romandie offenkundig keinen leichten Stand: Entweder sind die Urteile über die Sprache von vornherein so schlecht, dass in der Schule nicht mehr viel auszurichten ist, oder die Schule bewirkt noch zusätzlich, dass die Beziehung zu der Sprache so negativ wird. Bei der Betrachtung der Resultate zum Zusammenhang zwischen Erwerbstypen und Urteilstendenzen stellt sich die Folgefrage, ob Laien mehrheitlich Sprachen beurteilen, die sie kennen und können, oder ob sie auch Urteile über Sprachen abgeben, die sie nicht zu ihren aktiven Sprachkompetenzen zählen. Kapitel 12.5.7. widmet sich dieser Frage. 12.5.7 Kenntnis der Sprache und Beurteilungstendenz Im Folgenden wird untersucht, ob die Wahrscheinlichkeit, dass eine Beurteilung zu einer bestimmten Sprache stattfindet, grösser ist, wenn die befragte Person die Sprache zu ihren Kompetenzen zählt, oder ob auch Sprachen beurteilt werden, die nicht zu den Sprachkompetenzen der beurteilenden Person gehören. Die Berechnungen werden jeweils für alle drei Urteilstypen durchgeführt. Zielsprachen sind erneut die Sprachen Schweizerdeutsch, Hochdeutsch, Französisch, Englisch, Italienisch und Spanisch. 12. Sprachurteile und ihre Einflusgrössen 329 <?page no="346"?> Tab. 37: Zusammenhang zwischen Kenntnis der Sprache und Beurteilung der betreffenden Sprache als Lieblingssprache, schöne Sprache, hässliche Sprache. Sprachen 143 : Schweizerdeutsch (n=22 mit Kompetenz, n=118 ohne Kompetenz), Hochdeutsch (n=120 mit Kompetenz, n=20 ohne Kompetenz) für die französische Schweiz; Französisch (n=125 mit Kompetenz, n=15 ohne Kompetenz) für die Deutschschweiz; Englisch (n=231 mit Kompetenz, n=49 ohne Kompetenz), Italienisch (n=122 mit Kompetenz, 158 ohne Kompetenz), Spanisch (n=42 mit Kompetenz, n=238 ohne Kompetenz) beide Sprachgebiete. Exakter Test nach Fisher: Signifikanzen in Tabelle fett wiedergegeben. Mit Sprachkompetenz Ohne Sprachkompetenz Exakter Test nach Fisher Lieblingssprache Schweizerdeutsch 4.5% 0% n. s. Hochdeutsch 3.3% 0% n. s. Französisch 19.2% 0% p=.050 Englisch 24.2% 6.1% p=.002 Italienisch 29.5% 3.8% p ≤ .001 Spanisch 26.2% 3.8% p ≤ .001 Schöne Sprache Schweizerdeutsch 0% 0% n. s. Hochdeutsch 7.5% 0% n. s. Französisch 51.2% 26.7% n. s. Englisch 20.3% 16.3% n. s. Italienisch 62.3% 32.9% p ≤ .001 Spanisch 54.4% 21.8% p ≤ .001 Hässliche Sprache Schweizerdeutsch 31.8% 61.9% p=.009 Hochdeutsch 18.3% 19.3% n. s. Französisch 4.8% 0% n. s. Englisch 6.1% 4.1% n. s. Italienisch 0.8% 1.8% n. s. Spanisch 4.8% 2.1% n. s. Um eine Sprache als Lieblingssprache wählen zu können, bedarf es offensichtlich einer gewissen Kompetenz in beziehungsweise Vertrautheit mit dieser Sprache (Französisch, Englisch und Spanisch zeigen signifikante Resultate). Dass Schweizerdeutsch und Hochdeutsch keine signifikanten Ergebnisse aufzuweisen haben, liegt an der insgesamt sehr geringen Zahl 143 Hier können mehr Personen in die Berechnungen eingeschlossen werden als in Tabelle 36, in der es ebenfalls um Sprachkompetenz geht. Personen, die zwar eine Sprachkompetenz angegeben haben, jedoch nicht, wie sie die Sprache erworben haben, konnten oben nicht in die Berechnung eingeschlossen werden. Hier werden alle Interviewpartnerinnen und -partner berücksichtigt, die angegeben haben, eine bestimmte Sprache zu können. 330 III. Resultate und Diskussion <?page no="347"?> Gewährspersonen, die diese Sprachen überhaupt als Lieblingssprachen wählen. Um eine Sprache schön finden zu können, ist die Kompetenz weniger wichtig. Bei Französisch und Englisch ist kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem positiven ästhetischen Urteil über die Sprachen und der Kompetenz der beurteilenden Personen in diesen Sprachen festzustellen. Diese Sprachen können also auch als schön empfunden werden, wenn sie nicht oder wenig verstanden werden. Bei Italienisch und Spanisch sind es wieder eher die Personen mit Kenntnissen der Sprache, die sie schön finden (p ≤ .001). Aber auch hier beurteilen anteilsmässig relativ viele Personen ohne Kenntnisse der Sprachen diese als schön. Für die Varietäten des Deutschen gilt das Prinzip: Ganz egal, ob jemand die Sprachen gelernt hat und vertraut ist damit oder nicht, als schön werden sie praktisch nie empfunden. Lediglich einige wenige Interviewpartnerinnen und -partner, die angeben, Hochdeutsch zu können, beurteilen diese Sprache dann auch als schön. Bei der Beurteilung einer Sprache als hässlich spielt es für die in diesem Rahmen untersuchten Sprachen keine Rolle, ob Kenntnisse bei den Gewährspersonen vorhanden sind oder nicht. Lediglich bei Schweizerdeutsch beurteilen Personen, die die Sprache nicht können, sie signifikant negativer als solche, die vertrauter mit ihr sind (p=.009). Dass mit Schweizerdeutsch aber trotzdem eindeutig ein Problem besteht, zeigt der vergleichsweise grosse Anteil Personen mit Sprachkenntnissen, der die Sprache trotz dieser Kenntnisse hässlich findet (31.8%) - ein so grosser Anteil ist für keine der anderen untersuchten Sprachen festzustellen. 12.5.8 Selbstdeklarierte quantitative Sprachkompetenz und Urteilssowie Begründungsproduktivität (Hypothesen 18, 19) Hyp 18: Die Anzahl der Sprachen, die jemand spricht, hat Einfluss auf Sprachurteile. Sowohl die Anzahl genannter Sprachen (ästhetisch schön, affektiv aber NICHT ästhetisch hässlich) als auch die Begründungen werden umfangreicher, je mehr Sprachen jemand spricht. Hyp 19: Je mehr Sprachen jemand spricht, desto seltener werden Urteile über die Hässlichkeit von Sprachen. Angenommen für das affektive und das positive ästhetische Urteil, abgelehnt für das negative ästhetische Urteil: Affektives Urteil und positives ästhetisches Urteil: Je mehr Sprachen jemand spricht, desto mehr Lieblingssprachen und schöne Sprachen werden aufgezählt. Die Begründungen für die erstgenannte Lieblingssprache (nicht jedoch für die erstgenannte schöne Sprache) werden umfangreicher, je mehr Sprachen jemand spricht. Negatives ästhetisches Urteil: Die Anzahl der gefällten Urteile über die Hässlichkeit von Sprachen steht nicht in Zusammenhang mit der Anzahl Sprachen, die jemand spricht. Ebenso wenig steht 12. Sprachurteile und ihre Einflusgrössen 331 <?page no="348"?> die Anzahl der Begründungen für die erstgenannte hässliche Sprache in Zusammenhang mit der Anzahl Sprachen, die jemand spricht. Inf: n=280 Test: Spearman-Rho Mv: Anzahl gesprochene Sprachen * Anzahl LS; Anzahl gesprochene Sprachen * Anzahl SS; Anzahl gesprochene Sprachen * Anzahl HS; Anzahl gesprochene Sprachen * Anzahl Begründungen LS1; Anzahl gesprochene Sprachen * Anzahl Begründungen SS1; Anzahl gesprochene Sprachen * Anzahl Begründungen HS1 Res: Anzahl LS nach Anzahl gesprochene Sprachen ++. 1=1, 2=1.065, 3=1.198, 4=1.374, 5=1.222, 6+=1.857, Gesamt=1.289; Anzahl SS nach Anzahl gesprochene Sprachen +. 1=1, 2=1.258, 3=1.292, 4=1.418, 5=1.583, 6+=1.524, Gesamt=1.37; Anzahl HS nach Anzahl gesprochene Sprachen n.s. 1=0.4, 2=0.742, 3=1.073, 4=1.462, 5=1.111, 6+=0.619, Gesamt=1.121. Anzahl Begründungen LS1 nach Anzahl gesprochene Sprachen n.s. 1=1.4, 2=1.581, 3=1.674, 4=1.758, 5=2, 6 +=2.05, Gesamt=1.755; Anzahl Begründungen SS1 nach Anzahl gesprochene Sprachen n.s. 1=1.5, 2=1.483, 3=1.75, 4=1.788, 5=1.571, 6+=1.938, Gesamt=1.714. Anzahl Begründungen HS1 nach Anzahl gesprochene Sprachen n.s. 1=2, 2=1.75, 3=1.787, 4=1.75, 5=1.846, 6+=1.625, Gesamt=1.773. Inf: n=280 Test: Spearman-Rho. Mv: Anzahl gesprochene Sprachen * Anzahl HS Res: Anzahl HS nach Anzahl gesprochene Sprachen n.s. 1=0.4, 2=0.742, 3=1.073, 4=1.462, 5=1.111, 6+=0.619, Gesamt=1.121. In Abbildung 59 wird der Zusammenhang zwischen der selbstdeklarierten quantitativen Sprachkompetenz 144 und der Anzahl genannter Sprachen in den drei Urteilstypen aufgezeigt. Der Spearman-Rho Test vergleicht nicht nur die Mittelwerte in den betreffenden Antwortkategorien (Mittelwert Anzahl genannter Lieblingssprachen, schöner Sprachen, hässlicher Sprachen), er testet auch, ob es Signifikanzen in der Reihenfolge der Mittelwerte gibt, ob also eine kontinuierliche Zu- oder Abnahme festzustellen ist. Signifikant ist diese Reihenfolge tatsächlich für beide positiven Urteilstypen, nicht jedoch für das negative ästhetische Urteil: Sowohl bei den Lieblingssprachen (p=.002) als auch bei den schönen Sprachen (p=.033) können jene Informantinnen und Informanten mehr Auskunft geben, die nach eigenen Angaben selbst mehr Sprachen „ können “ . Für die Nennung von hässlichen Sprachen konnte keine signifikante Tendenz festgestellt werden. 144 Die Anzahl gesprochener Sprachen (selbstdeklarierte quantitative Sprachkompetenz) ergibt sich aus der Summe der Sprachen, die eine Person auf die Frage, welche Sprachen sie „ kann “ , nennt und der Anzahl genannter Muttersprachen (auf die Frage: „ Welches ist ihre Muttersprache “ ). 332 III. Resultate und Diskussion <?page no="349"?> 0 0.2 0.4 0.6 0.8 1 1.2 1.4 1.6 1.8 2 1 2 3 4 5 6+ Anzahl genannter Sprachen Anzahl gesprochener Sprachen Lieblingssprachen Schöne Sprachen Hässliche Sprachen Abb. 59: Mittelwerte Anzahl genannter Lieblingssprachen, schöner Sprachen und hässlicher Sprachen nach Anzahl gesprochener Sprachen der Gewährspersonen. Anzahl gesprochener Sprachen: 1 (n=5), 2 (n=31), 3 (n=96), 4 (n=91), 5 (n=36), 6+ (n=21). Mittelwerte Lieblingssprachen: 1=1, 2=1.065, 3=1.198, 4=1.374, 5=1.222, 6+=1.857, Gesamt=1.289. Mittelwerte schöne Sprachen: 1=1, 2=1.258, 3=1.292, 4=1.418, 5=1.583, 6+=1.524, Gesamt=1.379. Mittelwerte hässliche Sprachen: 1=0.4, 2=0.742, 3=1.073, 4=1.462, 5=1.111, 6+=0.619, Gesamt=1.121. Spearman-Rho signifikant für Lieblingssprachen (p=.002), schöne Sprachen (p=.033). Je mehr Sprachen die Interviewten angeben bei der Frage, welche Sprachen sie „ können “ , desto mehr Sprachen zählen sie also in den beiden positiven Urteilstypen auf. Dabei liegt das Niveau bei den schönen Sprachen durchschnittlich höher als bei den Lieblingssprachen. Bei den hässlichen Sprachen (graue Kurve) ist der Knick der Kurve bei vier genannten Sprachkompetenzen nicht so leicht zu erklären: Warum ausgerechnet ab fünf gelernten Sprachen weniger Urteile über die Hässlichkeit von Sprachen abgegeben werden, ist nicht klar. Wenn jemand vier Sprachen beherrscht, sind das oftmals die Muttersprache, zwei Schulsprachen und eine Sprache, die auf freiwilliger Basis nach der obligatorischen Schulzeit gelernt worden ist. Es besteht also grundsätzlich ein Interesse an Sprachen. Ab fünf Sprachen wird der Aufwand in der Freizeit vermutlich beachtlich und die Personen haben ein ausgeprägtes Interesse an Sprachen. Es mag sein, dass dieses Interesse nicht zu vereinbaren ist mit der Beurteilung von Sprachen als hässlich (der steile Anstieg der schwarzen Kurve ganz rechts zeugt davon, dass Personen, die über ein breiteres Spektrum an gelernten Sprachen verfügen, auch ein breiteres Spektrum an Sprachen positiv beurteilen). 12. Sprachurteile und ihre Einflusgrössen 333 <?page no="350"?> Im Folgenden wird geprüft, ob die Urteilsproduktivität insgesamt (wenn alle drei Urteilstypen zusammengerechnet werden) mit der Anzahl der von den befragten Personen gesprochenen Sprachen zusammenhängt. 0 0.5 1 1.5 2 2.5 3 3.5 4 4.5 5 1 2 3 4 5 6+ Anzahl genannter Sprachen Anzahl gesprochener Sprachen Sprachen global (Lieblingssprachen, schöne Sprachen, hässliche Sprachen) Abb. 60: Mittelwerte Anzahl genannter Sprachen global nach Anzahl gesprochener Sprachen der Gewährspersonen. Anzahl gesprochener Sprachen: 1 (n=5), 2 (n=31), 3 (n=96), 4 (n=91), 5 (n=36), 6+ (n=21). Mittelwerte: 1=2.4, 2=3.065, 3=3.563, 4=4.253, 5=3.917, 6+4=, Gesamt=3.789. Spearman-Rho signifikant (p=.001). Die Berechnung des Zusammenhangs zwischen der quantitativen Sprachkompetenz und der globalen Urteilsproduktivität ergibt ein hoch signifikantes Resultat (p=.001): Je mehr Sprachen die beurteilenden Personen selbst sprechen, desto mehr Sprachen kommen in den betreffenden Interviews vor. Untersucht wird im Folgenden, ob die Begründungen für die genannten Urteile bei jenen Befragten, die mehr Sprachen können, ebenfalls ausführlicher ausfallen, als bei solchen, die weniger Sprachen gelernt haben. Erwartet wird, dass erneut Menschen mit einer grösseren quantitativen Sprachkompetenz produktiver antworten. 334 III. Resultate und Diskussion <?page no="351"?> 0 0.2 0.4 0.6 0.8 1 1.2 1.4 1.6 1.8 2 2.2 1 2 3 4 5 6+ Anzahl genannter Begründungen Anzahl gesprochener Sprachen Begründungen erstgenannte Lieblingssprache Begründungen erstgenannte schöne Sprache Begründungen erstgenannte hässliche Sprache Abb. 61: Mittelwerte Anzahl Begründungen für die jeweils erstgenannte Lieblingssprache, schöne Sprache und hässliche Sprache nach Anzahl gesprochener Sprachen der Gewährspersonen. Anzahl gesprochener Sprachen: Anzahl gesprochener Sprachen: 1 (n=5), 2 (n=31), 3 (n=96), 4 (n=91), 5 (n=36), 6+ (n=21). Mittelwerte: Mittelwerte Begründungen erstgenannte Lieblingssprache: 1=1.4, 2=1.581, 3=1.674, 4=1.758, 5=2, 6+=2.05, Gesamt=1.755. Mittelwerte Begründungen erstgenannte schöne Sprache: 1=1.5, 2=1.483, 3=1.75, 4=1.788, 5=1.571, 6+=1.938, Gesamt=1.714. Mittelwerte Begründungen erstgenannte hässliche Sprache: 1=2, 2=1.75, 3=1.787, 4=1.75, 5=1.846, 6+=1.625, Gesamt=1.773. Spearman-Rho signifikant für Lieblingssprache (p=.004). Ein signifikanter Zusammenhang zwischen der selbstdeklarierten quantitativen Sprachkompetenz und der Begründungsproduktivität lässt sich lediglich für das affektive Urteil feststellen (p=.004): Je mehr Sprachen die Gewährspersonen selbst sprechen, desto ausführlicher begründen sie die Wahl ihrer erstgenannten Lieblingssprache. Für keinen anderen Urteilstyp lässt sich ein ähnlicher Zusammenhang feststellen. Die Erwartung, dass Menschen, die über eine grössere selbstdeklarierte quantitative Sprachkompetenz verfügen, ihre Urteile ausführlicher begründen, wurde nicht erfüllt. Am ausführlichsten begründet werden Urteile über die Hässlichkeit von Sprachen von Personen, die selbst lediglich eine Sprache sprechen. Wer eine Sprache im Grunde nicht kann oder versteht, sie dann aber als hässlich bewertet, hat offenbar das Bedürfnis, dieses Urteil umfassend zu rechtfertigen. 12. Sprachurteile und ihre Einflusgrössen 335 <?page no="352"?> 12.5.9 Zusammenhang zwischen freiwillig gewählter Nähe (Kontakt) zu einer Sprache und der positiven Beurteilungen dieser Sprache (Hypothese 20) Hyp 20: Freiwillig gewählte geographische Nähe (Aufenthalt etc.) führt zu positiven ästhetischen und affektiven Urteilen. Angenommen für Italienisch, Spanisch und Französisch: Gewährspersonen mit Aufenthalten in Ländern, wo Englisch, Italienisch, Spanisch und Französisch gesprochen wird, haben eher eine positive affektive Beziehung zu diesen Sprachen als Gewährspersonen, die keinen Aufenthalt gemacht haben. Ebenfalls urteilen sie eher ästhetisch positiv über diese Sprachen (mit Ausnahme von Englisch, wo ein Aufenthalt nicht mit positiven ästhetischen Urteilen zusammenhängt). Beides trifft nicht auf Gewährspersonen zu mit Aufenthalten in Ländern und Regionen, wo Hochdeutsch und Schweizerdeutsch gesprochen wird. Inf: n=280 für Tests mit Englisch, Italienisch, Spanisch; DS n=140 für Tests mit Französisch, FS n=140 für Tests mit Hochdeutsch und Schweizerdeutsch Test: Exakter Test nach Fisher Mv: Aufenthalt in Land, wo (Englisch, Italienisch, Spanisch, Französisch, Hochdeutsch oder Schweizerdeutsch) gesprochen wird * (Englisch, Italienisch, Spanisch, Französisch, Hochdeutsch, Schweizerdeutsch) als LS, SS, HS Res: Aufenthalt Englisch * Englisch als LS ++; SS n. s.; HS n. s. Aufenthalt Italienisch * Italienisch als LS ++; SS ++; HS n. s. Aufenthalt Spanisch * Spanisch als LS ++; SS +; HS n. s. Aufenthalt Französisch * Französisch als LS ++; SS ++; HS n. s. Aufenthalt Hochdeutsch * Hochdeutsch als LS n. s.; SS n. s.; HS n. s. Aufenthalt Schweizerdeutsch * Schweizerdeutsch als LS (n. s.); SS (keine Werte); HS n. s. Ob intensiver und natürlicher Kontakt mit einer Sprache einhergeht mit positiveren ästhetischen und affektiven Urteilen, wird im Folgenden geprüft. Es werden jeweils Personen, die einen Aufenthalt in einem bestimmten Sprachgebiet absolviert haben, und Personen, die nicht im Sprachgebiet waren, in ihren Beurteilungen der entsprechenden Sprachen verglichen. 336 III. Resultate und Diskussion <?page no="353"?> Tab. 38: Zusammenhang zwischen Aufenthalt im Sprachgebiet und Beurteilung der betreffenden Sprache als Lieblingssprache, schöne Sprache und hässliche Sprache. Untersuchte Sprachen: Schweizerdeutsch (mit Aufenthalt n=23, ohne Aufenthalt n=117), Hochdeutsch (mit Aufenthalt n=21, ohne Aufenthalt n=119) nur französische Schweiz; Französisch (mit Aufenthalt n=60, ohne Aufenthalt n=80) nur Deutschschweiz; Englisch (mit Aufenthalt n=95, ohne Aufenthalt n=185), Italienisch (mit Aufenthalt n=45, ohne Aufenthalt n=235), Spanisch (mit Aufenthalt n=28, ohne Aufenthalt n=252) beide Sprachgebiete. Exakter Test nach Fisher: signifikante Resultate in Tabelle fett wiedergegeben. Mit Aufenthalt Ohne Aufenthalt Exakter Test nach Fisher Lieblingssprache Schweizerdeutsch 4.3% 0% n. s. Hochdeutsch 4.8% 2.5% n. s. Französisch 26.7% 10% p =.009 Englisch 34.7% 14.1% p ≤ .001 Italienisch 35.6% 11.1% p ≤ .001 Spanisch 28.6% 4.8% p ≤ .001 Schöne Sprache Schweizerdeutsch 0% 0% n. s. Hochdeutsch 9.5% 5.9% n. s. Französisch 63.3% 37.5% p =.002 Englisch 25.3% 16.8% n. s. Italienisch 64.4% 42.1% p =.005 Spanisch 42.9% 24.6% p =.036 Hässliche Sprache Schweizerdeutsch 47.8% 59% n. s. Hochdeutsch 14.3% 20.2% n. s. Französisch 1.7% 6.3% n. s. Englisch 7.4% 4.9% n. s. Italienisch 0% 2.1% n. s. Spanisch 7.1% 2% n. s. Es besteht ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Tatsache, dass jemand einen Aufenthalt in einem Land, wo eine bestimmte Sprache gesprochen wird, absolviert hat und der positiven affektiven Beurteilung dieser Sprache. Dieses Prinzip gilt allerdings nicht für die Varietäten des Deutschen, die zwar von den Befragten, die im Sprachgebiet waren, auch etwas positiver beurteilt werden, insgesamt aber sehr wenig positive Beurteilungen aufzuweisen haben. Schweizerdeutsch hat nur dann eine Chance, überhaupt als Lieblingssprache angegeben zu werden, wenn die Person direkten Kontakt dazu in der Deutschschweiz hatte. Zu allen anderen Sprachen kann eine 12. Sprachurteile und ihre Einflusgrössen 337 <?page no="354"?> affektive Beziehung aufgebaut werden, auch wenn kein Aufenthalt stattgefunden hat. Der Zusammenhang zwischen einem Aufenthalt im Sprachgebiet und dem Empfinden der entsprechenden Sprache als schön ist für etwas weniger Sprachen signifikant. Im Vergleich mit den affektiven Urteilen wird bei den positiven ästhetischen Urteilen sofort ersichtlich, dass der Anteil der Urteile von Personen, die keine Aufenthalte in den Sprachgebieten absolviert haben, bei den positiven Beurteilungen relativ hoch ist. Deutlich schöner werden Französisch (p=.002), Italienisch (p=.005) und Spanisch (p=.036) nach einem Aufenthalt gefunden. Für Englisch und die beiden deutschen Varietäten liegen diesbezüglich keine signifikanten Resultate vor. In Bezug auf die Vertrautheitshypothese der Wahrnehmungsdialektologie kann Folgendes festgehalten werden: Vertrautheit mit einer Sprache, die durch den Aufenthalt in einem Sprachgebiet entstanden ist, steht insbesondere mit der affektiven Beziehung zu dieser Sprache in signifikantem Zusammenhang (ausser für die Varietäten des Deutschen). Beim ästhetischen Urteilen über Sprachen spielt Vertrautheit eine weniger zentrale Rolle als beim affektiven Urteilen. Das Empfinden der untersuchten Sprachen als hässlich ist in keinem Fall an den Aufenthalt im Sprachgebiet gekoppelt. Schweizerdeutsch wird sowohl von Personen mit als auch Personen ohne Aufenthalt in der Deutschschweiz als hässlich empfunden. Für Hochdeutsch gilt dasselbe, allerdings etwas weniger ausgeprägt. Mehr als 45% der französischsprachigen Interviewpartnerinnen und -partner, die einen Aufenthalt in der Deutschschweiz hinter sich haben, finden Schweizerdeutsch (trotzdem noch immer) hässlich. Bei Hochdeutsch sind es rund 20%. Vorurteile und negative Einstellungen gegenüber diesen Sprachen werden also entweder nicht abgebaut während des Kontakts oder sogar intensiviert. Die anderen untersuchten Sprachen werden prinzipiell selten als hässlich empfunden, sei es von Personen, die im Sprachgebiet waren oder Personen, die nie für längere Zeit in französisch-, englisch-, italienisch-, oder spanischsprachigen Gebieten unterwegs waren. 12.6 Zusammenfassung Evaluative Laienmetasprache ist eine Sprachpraxis, die nicht vom Zufall regiert wird: Es können diverse signifikante Zusammenhänge zwischen dem metasprachlichen Diskurs und sozialen Dimensionen und Faktoren festgestellt werden. Für alle untersuchten Einflussvariablen (Alter, Geschlecht, Bildung, Sprachgebiet sowie Aspekte der linguistischen Biographie) konnten signifikante Resultate ermittelt werden. Trotzdem mussten einige Hypothesen partiell oder umfassend verworfen werden. 338 III. Resultate und Diskussion <?page no="355"?> Zur sozialen Dimension Alter Jüngere Personen zeigen einen unbeschwerteren und produktiveren Umgang mit affektiven und ästhetischen Sprachurteilen als ältere Personen: Sie urteilen insgesamt über mehr Sprachen und halten sich auch mit negativen Urteilen signifikant seltener zurück. Das Alter der Gewährspersonen steht ferner in signifikantem Zusammenhang mit ihrer Urteilstendenz, wenn das Objekt der Beurteilung die L1 ist: Je älter die Gewährspersonen, desto eher berichten sie von einer affektiven Beziehung zu ihrer L1. Die Vertrautheitshypothese der Sprachästhetikforschung kann also mit der Variable Alter in Zusammenhang gebracht werden. Jüngere Personen sind positiver eingestellt gegenüber der Weltsprache Englisch. Während es sich bei ersterem Resultat um einen Alterseffekt handeln dürfte (im Alter erfolgt „ in der Regel “ eine Rückbesinnung auf die L1), unterliegt letzteres tendenziell eher einem Kohorteneffekt: Englisch ist gerade für die jüngeren Generationen beim Berufseinstieg von instrumentellem wirtschaftlichem Wert, da es heute die Sprache der globalen Ökonomie ist. Zur sozialen Dimension Geschlecht Frauen sind urteilsfreudiger, was die beiden positiven Urteilstypen anbelangt, während Männer urteilsfreudiger sind, was den negativen Urteilstypen anbelangt. Evaluative Laienmetasprache ist also genderisiert, indem Männer quantitativ betrachtet kritischer und Frauen enthusiastischer sind gegenüber Sprachen. Die Vertrautheitshypothese der Sprachästhetikforschung funktioniert nicht nur altersbedingt, sondern ist auch im Zusammenhang mit der Variablen Geschlecht relevant. Vertrautheit mit Sprachen ist ein Prinzip, das für Männer beim Beurteilen von Sprachen zentral ist (sie Begründen ihre Urteile öfter mit Vertrautheit, während Frauen ihre Urteile öfter klangbasiert begründen). Männer haben eindeutig eher eine affektive Verbindung zur Sprache ihrer Heimatregion, während Frauen eher eine affektive Beziehung zu den Fremdsprachen Englisch, Italienisch und Spanisch haben. Die Variable Geschlecht ist aber nicht signifikant, was das Verhältnis zu Französisch in der Deutschschweiz und zu Deutsch in der Romandie anbelangt. Ebenfalls sind keine signifikanten Unterschiede in der Thematisierung standardsprachlicher Varianten festzustellen. Die Ähnlichkeitshypothese der Spracheinstellungsforschung weist in der Laienmetasprache also keine genderisierte Funktionsweise auf. Zur sozialen Dimension Bildung Personen der höheren Bildungsstufen haben prinzipiell mehr Mühe mit dem Konzept „ hässliche Sprache “ : Akademikerinnen und Akademiker geben weniger negative Sprachurteile ab als Nicht-Akademikerinnen und Nicht- 12. Sprachurteile und ihre Einflusgrössen 339 <?page no="356"?> Akademiker. Positive diskursive Einstellungen hingegen äussern sie genauso produktiv wie andere Bildungsgruppen. Zur sozialen Dimension Sprachgebiet Beim Sprachgebiet handelt es sich um eine hoch signifikante Einflussvariable: Konflikte zwischen der Romandie und der Deutschschweiz gelangen in der metasprachlichen Praxis eindeutig an die Oberfläche. Schweizerdeutsch wird in der Romandie drastisch schlecht bewertet. Die Argumentation ist sprachinhärent/ metaphorisch und zeugt von Stereotypisierungsprozessen: Die Sprache der Mehrheit wird von der Minderheit als aggressiv wahrgenommen. Die Minderheit rückt (metasprachlich) näher zusammen und manifestiert ihre Identität über einheitliche negative Evaluationen. Fast schon gönnerhaft mutet die Bewertung der Französischen Sprache durch Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer an: Ihre diskursiven Einstellungen gegenüber der Sprache der Minderheit sind sogar noch positiver als diejenigen dieser Minderheit selbst. Diese hat generell einen normativeren Zugang zu Sprachen und ist beim negativen ästhetischen Urteil insgesamt produktiver. Die Rolle von Hochdeutsch ist in Anbetracht der diglossischen Situation in der Deutschschweiz als marginal zu bezeichnen: In der Laienmetasprache verhält es sich auffällig unauffällig, indem es nämlich äusserst selten überhaupt thematisiert wird. Es besteht ganz offensichtlich eine grosse Unlust, sich positiv oder negativ über Hochdeutsch zu äussern. Zu Faktoren der Sprachbiographie In den Interviews werden häufig Sprachen thematisiert, die in der Sprachbiographie der Gewährspersonen auf die eine oder andere Art vorkommen. Deutlich ist, dass die Muttersprache eine herausragende Rolle in der evaluativen Laienmetasprache spielt: Sie ist die prototypische Lieblingssprache, zu der eine affektive Verbindung und grosse Vertrautheit besteht. Dass sie Menschen aber auch in der ästhetischen Wahrnehmung konditioniert, gilt nicht uneingeschränkt. So verhalten sich französischsprachige und deutschsprachige Gewährspersonen in ihren ästhetischen Urteilen, wenn nicht gerade die jeweilige L1 betroffen ist, relativ homogen. In ihren negativen Urteilen wiederum differieren sie stark: Vielleicht konditioniert Französisch als L1 das Ohr dahingehend, dass ihm uvulare Laute widerstreben? Nicht nur Schweizerdeutsch wird von Personen mit der L1 Französisch signifikant negativer bewertet als von Personen mit der L1 Deutsch, sondern auch Holländisch. Evaluative Bewertungen von Sprachen können nur bedingt mit unterschiedlichen Arten und Situationen des Spracherwerbs in Zusammenhang gebracht werden. So ist der natürliche Erwerbskontext (im Vergleich zum institutionellen Erwerbskontext) beispielsweise kein Garant für positivere Sprachbeurteilungen (ausser bei Englisch, das dann nicht mehr nur affektiv 340 III. Resultate und Diskussion <?page no="357"?> positiv, sondern auch ästhetisch positiv eingeschätzt wird). Aufenthalte im Sprachgebiet stehen zwar in signifikantem Zusammenhang mit positiven Beurteilungen von Englisch, Italienisch, Französisch und Spanisch, nicht aber mit der Beurteilung von Hochdeutsch und Schweizerdeutsch. Diese sind und bleiben für Romandes und Romands hässlich. Menschen mit ausgeprägten (selbstdeklarierten) Sprachkompetenzen sprechen gerne positiv über Sprachen: Sie sind in ihren affektiven und ästhetischen Urteilen produktiver als Menschen mit weniger Sprachkenntnissen. Dass sie deswegen aber seltener über die Hässlichkeit von Sprachen urteilen würden, kann man nicht sagen. Mehrsprachigkeit vermag negative diskursive Spracheinstellungen quantitativ nicht signifikant zu verringern (während eine höhere Bildung, wie oben angemerkt, dies schon eher kann). Schülerinnen und Schüler, die im institutionellen Fremdsprachenunterricht eingebunden sind, zeigen positive Einstellungen gegenüber Englisch trotz seines Schulfachcharakters. Weniger positive - und im Fall der Romandes und Romands geradezu besorgniserregende - Resultate erzielen die beiden Landessprachen: Schülerinnen und Schüler haben praktisch keinerlei affektive Beziehung dazu. 12. Sprachurteile und ihre Einflusgrössen 341 <?page no="358"?> 13. Die Versprachlichung von Sprachevaluationen: Qualitative Analysen In Kapitel 13 werden die Resultate der qualitativen Analysen präsentiert. Es handelt sich erstens um die Resultate zu den qualitativen ex ante Forschungsfragen (vgl. Kap. 13.1), zweitens um die Resultate zu den qualitativen Vertiefungsfragen (vgl. Kap. 13.2) und drittens um Ergebnisse der induktiven Kategorienbildung und dazugehörigen Fragestellungen (vgl. Kap. 13.3). Ein Überblick über alle qualitativen Forschungsfragen findet sich in den Kapiteln 8.4 bis 8.6; der verwendete Kodierleitfaden ist in Appendix 5 dargestellt. Die qualitative Analysetechnik wird in Kapitel 10.2 erläutert. Ziel dieses Kapitels ist die Durchführung einer strukturierenden Inhaltsanalyse zu ausgewählten theoretischen Fragestellungen mit grösstenteils deduktiven Kategorien sowie eine punktuelle Illustration, Interpretation und Vertiefung bereits vorliegender Resultate. Gearbeitet wird insbesondere mit Frequenz- und Kookkurrenzanalysen einzelner Kategorien. Im Zentrum steht die Rückkehr in die Rohdaten und das Arbeiten mit Beispielen aus dem Interviewkorpus: Laienmetasprache wird in ihrer tatsächlichen Erscheinungsform analysiert und präsentiert - das semantische System und die pragmatische Vorgehensweise der Gewährspersonen werden ergründet. Wie an anderer Stelle bereits erwähnt (vgl. Kap. 9.2.4), bezieht sich die hier vorliegende qualitative Analyse ausschliesslich auf 60 Interviews mit Gewährspersonen aus der Deutschschweiz. Wie in Kapitel 12 zu den Hypothesen, werden auch hier jeweils zu Beginn einer qualitativen Analyse die wesentlichen Resultate zusammengefasst. 13.1 Qualitative ex ante Fragen Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf theoriebasierte qualitative Fragestellungen, die mehrheitlich mit deduktiven Kategorien operieren. 13.1.1 Konstruktion von Identität und Alterität via Sprachurteile In Kapitel 5.1 wurden die Hypothesen der Sprachästhetikforschung ergänzt durch die Hypothese zur Konstruktion von Alteritäten und Identitäten via Sprachurteile. Diese besagt, dass Alteritäten und Identitäten in ästhetischen und affektiven Sprachurteilen nicht nur reflektiert werden, sondern auch aktiv konstruiert. Im Folgenden wird diese Hypothese zuerst für topographische <?page no="359"?> Identitäten und Alteritäten und danach für linguistische Identitäten geprüft. 13.1.1.1 Lokale, nationale und globale Identitäts- und Alteritätskonstruktionen Inwiefern werden in der evaluativen Laienmetasprache lokale, nationale sowie globale Identitäten und Alteritäten konstruiert? In allen untersuchten Urteilstypen werden sowohl Identitäten als auch Alteritäten konstruiert. Insgesamt wird öfter mit Fremdbildern operiert als mit Selbstbildern und dies am häufigsten im negativen ästhetischen Urteilstyp. Dieses Ergebnis überrascht, da erwartet wurde, dass die Gewährspersonen solche personifizierenden Beschreibungen aus Gründen der sozialen Wünschbarkeit eher vermeiden. Fremdbilder treten mit zunehmender geographischer Distanz häufiger auf (lokal, national, global). Selbstbilder treten insbesondere auf der lokalen Ebene auf: Sie zeugen von der identitätsstiftenden Funktion regionaler Sprechweisen (d. h. des Dialekts in der Deutschschweiz). Tabelle 39 gibt Auskunft über die Anzahl gefundener Identitäts- und Alteritätskonstruktionen in den Urteilssowie Begründungssequenzen für das affektive Urteil, das positive ästhetische Urteil sowie das negative ästhetische Urteil. Kodiert wurden jeweils Alteritäten und Identitäten mit lokalen, nationalen sowie globalen Bezugsgrössen (dazu zählen auch europäische Bezugsgrössen). Tab. 39: Alteritäts- und Identitätskonstruktionen (undefiniert, lokal, national, global) in den drei Urteilstypen (Urteils- und Begründungssequenzen). Affektives Urteil Positives ästhetisches Urteil Negatives ästhetisches Urteil Alteritätskonstruktionen Alterität undefiniert 2 9 8 Lokale Alterität 4 3 3 Nationale Alterität 0 0 2 Globale Alterität 4 14 18 Alteritäten total 10 26 31 Identitätskonstruktionen Identität undefiniert 2 4 2 Lokale Identität 5 3 0 Nationale Identität 1 2 0 Globale Identität 0 0 1 Identitäten total 8 9 3 13. Die Versprachlichung von Sprachevaluationen 343 <?page no="360"?> Grundsätzlich können mehr Alteritätskonstruktionen festgestellt werden (67) als Identitätskonstruktionen (20). Insbesondere beim ästhetischen Urteilen werden Alteritäten konstruiert. Alteritätskonstruktionen Widmen wir uns zuerst den Alteritätskonstruktionen und bewegen uns von den lokalen, über die nationalen zu den globalen Bezugsgrössen. Lokale Alteritätskonstruktionen Lokale Alteritäten zeugen von einer Nicht-Identifikation mit einer lokalen Sprechweise. Ein interessantes Beispiel liefert eine ältere Gewährsperson, die sich daran stört, dass in der Deutschschweiz, wo sie selbst wohnhaft ist, immer mehr Anglizismen verwendet werden: (1) Frau, sekundäre Bildung, 65+, negatives ästhetisches Urteil zu Englisch Ich ha jetz es bitzeli e degout übercho, wil miär afönd alli eh / / si bruichid jetz Wörter gäll und miär wä / / läbid ja i de dütsche Schwiiz g / / seit me ja nimme Chind [HS] überall wird gschribe Kids gäll [HS] und so und das tuet mich bitz störe. Ich habe jetzt ein bisschen eine Abneigung entwickelt, weil wir anfangen alle eh / / sie brauchen jetzt Wörter gell und wir, wä / / leben ja in der deutschen Schweiz g / / sagt man ja nicht mehr Kind [HS] überall wird geschrieben Kids gell [HS] und so und das stört mich ein bisschen. Das von der Gewährsperson verwendete Personalpronomen sie (die Verwender der Anglizismen) bleibt weitgehend undefiniert, schliesst jedoch die Gewährsperson selbst nicht ein. Im darauffolgenden inklusiven wir (im Zusammenhang mit der Aussage, dass das konstruierte Kollektiv in der Deutschschweiz lebt) ist die Gewährsperson hingegen wieder eingeschlossen. Die Gewährsperson fühlt sich also von einer Sprachpraxis ausgeschlossen, die von einem Kollektiv gepflegt wird, dem sie im Prinzip selbst angehört. Die Vermutung liegt nahe, dass die konstruierte Alterität sich auf eine andere, jüngere Generation bezieht oder aber auch die Medien als Alterität konstruiert werden (die Gewährsperson sagt, dass überall Kids geschrieben wird). Lokale Alteritäten werden auch da konstruiert, wo aus der Perspektive der Gewährsperson dialektale Unterschiede auf kleinstem geographischem Raum vorkommen. Interessant sind in diesen Beispielen insbesondere die Ortspräpositionen, welche die empfundene Nähe widerspiegeln: Die Wendung scho z Bärn äne (schon in Bern drüben) wird von einer Gewährsperson aus Lungern - einem Ort am Brünigpass - verwendet, die fasziniert ist von der Unterschiedlichkeit der Dialekte auf den beiden Seiten des Passes (auf der einen Seite der Kanton Obwalden, wo die Gewährsperson herstammt, auf der anderen Seite der Kanton Bern). Sie konstruiert mit dem Ausdruck diä Liit (die 344 III. Resultate und Diskussion <?page no="361"?> Leute) eine lokale Alterität, die sich auf die Personen auf der anderen Passseite bezieht: (2) Schülerin, positives ästhetisches Urteil zu Schweizerdeutschen Dialekten Aso zum Bischpiil jetz scho z Bärn äne, isch ja das nur es paar Kilometer entfärnt, ghert me scho wiider ganz anders diä Liit rede und hiä ja. Also zum Beispiel jetzt schon in Bern drüben, ist ja das nur ein paar Kilometer entfernt, hört man schon wieder ganz anders die Leute reden und hier ja. Lokale Alteritäten in den positiven Urteilstypen zeugen andererseits von der Faszination vieler Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer ob der Dialektvielfalt der Deutschschweiz (dieses Mal überregional verstanden); sie betreffen den Walliser Dialekt aus der Sicht einer Obwaldnerin sowie den Zürcher Dialekt aus der Sicht einer in Luzern wohnhaften Zürcherin. Eine weitere regionale Alterität bezieht sich auf die im Kanton Tessin wohnhaften Schweizerinnen und Schweizer und ihre spezifische Variante des Italienischen. Die im Folgenden dargestellte Interviewpassage fungiert nicht nur als Beispiel für eine lokale Alteritätskonstruktion, sondern auch als Beispiel für den Prozess der Ikonisierung, der oftmals im Zusammenhang mit dem Argumentieren mit Hilfe von Fremdbildern auftritt (vgl. Kap. 8.4.2 sowie 13.1.2): Linguistische Merkmale werden auf die Sprechenden projiziert. Der Zürcher Dialekt wird nicht nur als sexy beschrieben, die Sprecherinnen und Sprecher reagieren gemäss der Gewährsperson ganz dieser Beschreibung entsprechend witziger und direkter als Luzernerinnen und Luzerner, die als verschlossen beschrieben werden. (3) Frau, tertiäre Bildung, 65+, affektives Urteil zum Zürcher Dialekt Wänn ich e so-n-en richtige Zürcher ghöre rede, de dänk ich eifach, die Sprach isch richtig sexy [. . .] wän i uf Züri gane, hani s Gfühl, d Lüt reagiered anderscht e chli witziger, e chli diräkter [HS]. Und weniger verschlosse als da z Luzern. Wenn ich so einen richtigen Zürcher reden höre, dann denke ich einfach, diese Sprache ist richtig sexy [. . .] wenn ich nach Zürich gehe, habe ich das Gefühl, die Leute reagieren anders ein bisschen witziger, ein bisschen direkter [HS] und weniger verschlossen als hier in Luzern. Nationale Alteritätskonstruktionen Bei den Bezugsgrössen der zwei konstruierten nationalen Alteritäten im negativen ästhetischen Urteilstyp handelt es sich um Schweizerinnen und Schweizer, die Hochdeutsch sprechen (dabei handelt es sich einmal um ein positives Urteil innerhalb des negativen Urteils: In einem intralinguistischen Vergleich wird Schweizerhochdeutsch dem Hochdeutsch der Deutschen vorgezogen). Folgendem Beispiel geht eine Passage voraus, in der der Mann angibt, selbst nicht gerne Hochdeutsch zu sprechen, daher erstaunt, dass er hier eine Alterität konstruiert, die ihn selbst nicht einschliesst. 13. Die Versprachlichung von Sprachevaluationen 345 <?page no="362"?> (4) Mann, tertiäre Bildung, 20 - 30, negatives ästhetisches Urteil zur nationalen Variante von Hochdeutsch in der Schweiz (Begründungssequenz): Und das isch eigentlich chli kontrovers aber ich / / es isch so gschtelzt, wenn d Schwiizer Hochdütsch reded, und und es tönt so scheisse, wenn d Schwiizer Hochdütsch redid. Und (UNV. 1 s) han ich e chli / / chliini Abneigig gege da. Und das ist eigentlich ein bisschen kontrovers aber ich / / es ist so gestelzt, wenn die Schweizer Hochdeutsch reden, und und es klingt so scheisse, wenn die Schweizer Hochdeutsch reden. Und (UNV. 1 s) habe ich eine klei / / kleine Abneigung gegen das. Weshalb wird hier eine Alterität und keine Identität konstruiert? Der Mann zählt sich selbst vielleicht zu denjenigen Deutschschweizern, die gezwungenermassen Hochdeutsch sprechen (er ist Primarlehrer und betont, dass man in diesem Beruf Hochdeutsch sprechen muss - daher die Einleitung, in der die Situation oder die Aussage selbst als kontrovers geschildert wird). Durch die nationale Alteritätskonstruktion erhält sein Urteil etwas Allgemeingültiges, das über seine individuelle Abneigung hinausgeht - der Fokus rückt von ihm als Person weg zu einem nationalen Kollektiv. Erinnert sei hier an die Feststellung Christens (vgl. 2004: 14 sowie Kap. 5.3.3), dass es in Einstellungsstudien der Deutschschweiz nicht unüblich ist, dass Informanten angeben, „ Deutschschweizer “ würden nicht gut oder nicht gerne Hochdeutsch sprechen. Globale Alteritätskonstruktionen Die häufigsten Alteritätskonstruktionen haben globale Bezugsgrössen: Das Fremdbild bezieht sich auf inner- und aussereuropäische Kollektive. Diese Kollektive können sehr spezifisch und klar definiert sein; die Granularität ist in diesen Fällen hoch (5). Sie können aber auch unspezifischer Natur sein, wenn die genaue Bezugsgrösse im Dunkeln bleibt (6). (5) Mann, sekundäre Bildung, 40 - 50, negatives ästhetisches Urteil zur amerikanischen Varietät des Englischen in Abgrenzung zur englischen Varietät, die als schön empfunden wird: [. . .] eh au eh so würklech so wie s z London reded. [. . .] eh auch eh so wirklich so wie sie in London reden. (6) Mann, primäre Bildung, 20 - 30, positives ästhetisches Urteil zu Sprachen im Balkan [. . .] oder so das, wos z Kroatie Serbie so reded so so das (UNV. 1 s) ich weiss nöd, wie die Sprach heisst (UNV. 1 s) [HS] wos da immer die Länder wächslet und so [HS] (UNV. 1 s). [. . .] oder so das, was sie in Kroatien Serbien so reden so so das (UNV. 1 s) ich weiss nicht, wie die Sprache heisst (UNV. 1 s) [HS] wo sie da immer die Länder wechseln und so [HS] (UNV. 1 s). 346 III. Resultate und Diskussion <?page no="363"?> Tabelle 40 illustriert die 36 in den Interviews gefundenen Bezugsgrössen globaler Alteritätskonstruktionen: Tab. 40: Bezugsgrössen globaler Alteritäten (inner- und aussereuropäisch) in den drei Urteilstypen (Urteils- und Begründungssequenzen). Affektives Urteil Positives ästhetisches Urteil Negatives ästhetisches Urteil Europäische Alt. Engländer Engländer Engländer (3) Italiener Italiener (3) Londoner Franzosen Franzosen Engländer/ Amerikaner Dänen Deutsche Deutsche Ostdeutsche Spanier Dänen Holländer/ Nordeuropäer Englischsprachige Osteuropäer Aussereuropäische Alt. Amerikaner Brasilianer Chinesen (2) Thailänder Türken Chinesen/ Japaner Japaner (2) Russen Tamilen Kroaten/ Serben Amerikaner Amerikaner Englischsprachige Inder Negatives Urteilen über Sprachen in Verbindung mit der engen Verknüpfung einer Sprache mit ihren Sprechenden (wie es bei Alteritätskonstruktionen im negativen ästhetischen Urteilstyp üblich ist) wurde in Kapitel 8.2.2 als problematische Praxis eingestuft, von der vermutet wurde, dass sie von Laien in den Interviews eher gemieden wird. Die zahlreichen globalen Fremdbilder, die im negativen ästhetischen Urteilstyp lokalisiert werden konnten, vermögen deswegen zu erstaunen und es lohnt sich daher zu prüfen, von welchen Interviewpartnerinnen und -partnern (bezogen auf die sozialen Dimensionen Alter, Geschlecht und Bildung) diese stammen. 13. Die Versprachlichung von Sprachevaluationen 347 <?page no="364"?> Tab. 41: Globale Alteritäten im negativen ästhetischen Urteilstyp nach Geschlecht, Alter und Bildung. Frauen (n=7) Männer (n=11) 13 - 17 20 - 30 40 - 50 65+ 13 - 17 20 - 30 40 - 50 65+ Total SchülerInnen 2 - - - 3 - - - 5 Primär - 0 1 1 - 0 0 1 3 Sekundär - 1 1 1 - 1 3 1 8 Tertiär - 0 0 0 - 1 0 1 2 Total 2 1 2 2 3 2 3 3 Prinzipiell wird über alle sozialen Dimensionen hinweg mit Fremdbildern im negativen ästhetischen Urteilstyp operiert; einige Auffälligkeiten zeichnen sich dennoch ab: Etwas weniger Frauen (7) als Männer (11) konstruieren globale Fremdbilder. Schülerinnen und Schüler neigen nebst den sekundär ausgebildeten Personen eher zu globalen Alteritätskonstruktionen beim negativen Urteilen über Sprachen. Während das Resultat bei Schülerinnen und Schülern nicht weiter erstaunt (es wurde in Kap. 8.3.3, Hypothese 3 bereits erwähnt, dass Jugendliche, die sich in der mittleren Adoleszenz befinden, noch weniger besorgt sind über die soziale Wünschbarkeit ihrer Antworten als andere Bildungs- und Altersgruppen), ist die Zahl konstruierter Fremdbilder unter sekundär ausgebildeten Personen (in der Stichprobe meist durch Primarlehrpersonen vertreten) überraschend hoch. Warum gerade diese Bildungsgruppe auffallend oft mit Fremdbildern argumentiert, kann nicht abschliessend geklärt werden. Es folgt ein Beispiel einer global konstruierten Alterität, in dem ersichtlich wird, weshalb solche Konstruktionen als sozial eher heikel eingestuft werden: Es findet eine Pauschalisierung statt - die Gewährsperson kann nach eigenen Angaben fast nicht zuhören, wenn Amerikaner reden. Bei der Begründung dafür zeigt sie dann aber Schwierigkeiten: Die Begründungssequenz ist durchzogen von Anakoluthen. Während am Anfang noch die Wendung die haben (die = die Amerikaner) verwendet wird, wählt die Gewährsperson nach mehreren Anläufen Konstruktionen, in denen die Sprache zum Agens wird (es klingt für mich lieblos) und nicht mehr die Sprechenden. (7) Mann, 40 - 50, sekundäre Bildung, negatives ästhetisches Urteil zu amerikanischem Englisch A: Ebe i chas nöd guet aber es khört (UNV. 1 s) ja aber s Amerikanisch i cha dene fasch nid zuelose. I: Aha warum de aso wieso isch das wüescht? A: Die hend so e / / ehm * e / / es isch irgend / / i weiss es nöd es es / / es isch nöd dütlich, es isch eh und s isch jo so wie s / / mi düechts lieblos, wie mit de Sproch (UNV. 1 s) [HS]. S tönt für mi lieblos oder [HS] eh de Klang vom vom Amerikanische. 348 III. Resultate und Diskussion <?page no="365"?> A: Eben ich kann es nicht gut aber es (ge)hört (UNV. 1 s) ja aber das Amerikanische ich kann denen fast nicht zuhören. I: Aha warum denn also wieso ist das hässlich? A: Die haben so e / / ehm * e / / es ist irgend / / ich weiss es nicht es es / / es ist nicht deutlich, es ist eh und es ist ja so wie es / / mich dünkt es lieblos, wie mit der Sprache (UNV. 1 s) [HS]. Es klingt für mich lieblos oder [HS] eh der Klang vom vom Amerikanischen. Identitätskonstruktionen Wenden wir uns der Konstruktion von Identitäten in den drei Urteilstypen zu. Am häufigsten beziehen sich Selbstbilder auf die lokale Ebene, gefolgt von der nationalen und zum Schluss der globalen Ebene. Lokale Identitätskonstruktionen Bei lokalen Identitätskonstruktionen findet eine Identifizierung mit der Sprache (d. h. in den meisten Fällen dem Dialekt des Wohnortes) statt, wie in Beispiel 8 illustriert wird: (8) Schüler, positives ästhetisches Urteil zum Lungerer Dialekt (Begründungssequenz) A: [. . .] Ja wäg dem scheenä [ae], wo miär hei. I: [ae] oder? A: Ja miär Lungerer. I: Dä Luut [ae]? A: Ja [HS] aso dä gfalld mr. A: [. . .] Ja wegen diesem schönen [ae], das wir haben. I: [ae]oder? A: Ja wir Lungerer. I: Der Laut [ae]? A: Ja [HS] also der gefällt mir. Dass Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer sich mit der Dialektvielfalt der Deutschschweiz auseinandersetzen, kommt, wie bereits vermerkt, sowohl in positiven wie auch in negativen lokalen Alteritäts- und Identitätskonstruktionen zum Ausdruck. Dialekte sind signifikante Identitätsmerkmale, die sowohl zur Abgrenzung als auch zur Identifikation dienen. Sie sind emotional besetzt und werden in der Laienmetasprache gerne verhandelt. Die herausragende Rolle der lokalen Sprechweisen kann damit erklärt werden, dass eine sprachliche Überdachung auf nationaler Ebene fehlt, da die vier Landessprachen territorial organisiert nebeneinander existieren. Ob es trotzdem zu nationalen Identitätskonstruktionen kommt, wird im Folgenden geprüft. 13. Die Versprachlichung von Sprachevaluationen 349 <?page no="366"?> Nationale Identitätskonstruktionen Die Mehrsprachigkeit der Schweiz wird in der metasprachlichen nationalen Identitätskonstruktion aufgenommen: Bei diesen Identitätskonstruktionen ist teilweise alleine die Existenz der verschiedenen Landessprachen ausschlaggebend und nicht so sehr, dass diese Sprachen von den Gewährspersonen tatsächlich verwendet werden oder gelernt wurden. Faszinierender als die Sprachen selbst scheint für die Gewährspersonen die komplexe linguistische Situation der Schweiz zu sein. In zwei der drei nationalen Identitätskonstruktionen wird Rätoromanisch thematisiert, die mit den geringsten Sprecherzahlen vertretene Landessprache. (9) Frau, 20 - 30, primäre Bildung, positives ästhetisches Urteil zu Rätoromanisch. A: Ja Rätoromanisch findi au ganz schön. [HS]. Das isch eifach a so öppis, wo wo mich a fasziniert am Rätoromanische dass es eh so einzigartig isch. [HS]. Ehm ich dänke a so chli stolz druf si, dass mr das i de Schwiiz hend. [HS]. Sone Sprach wie Rätoromanisch wo würklich sehr speziell isch. I: Meinsch mit einzigartig au sälte, oder? A: Mhm, sälte und ich dänke me cha au d Lüt allig ehm erschtuune dass me i sonere chliine Schwiiz eso vil Sprache het. [HS]. Ja und eifach au äbe ich ich verschtahs nid aber ich finds schön zum zuelose. A: Ja Rätoromanisch finde ich auch ganz schön. [HS]. Das ist einfach so etwas, das das mich fasziniert am Rätoromanischen, dass es eh so einzigartig ist. [HS]. Ehm ich denke auch so ein bisschen stolz darauf sein, dass wir das in der Schweiz haben. [HS]. So eine Sprache wie Rätoromanisch, die wirklich sehr speziell ist. I: Meinst du mit einzigartig auch selten, oder? A: Mhm, selten und ich denke, man kann auch die Leute jeweils ehm erstaunen, dass man in einer so kleinen Schweiz so viele Sprachen hat. [HS]. Ja und einfach auch eben ich ich verstehe es nicht aber ich finde es schön zum Zuhören. (10) Mann, 65+, sekundäre Bildung, positives ästhetisches Urteil zu den Landessprachen Das sind iisi andere Landessprache, die sind ja alli ai guäd Italiänisch und Französisch sogar Romuntsch (sic! ) [HS] ha e Ziit lang han ich da e chl / / so chli eh Zungeüebige gmacht im Romuntsch aber wirklich nur eso fragmentarisch [HS]. Das sind unsere anderen Landessprachen, die sind ja alle auch gut Italienisch und Französisch sogar Romuntsch (sic! ) [HS] habe eine Zeit lang habe ich da ein bi / / ein bisschen eh Zungenübungen gemacht im Romuntsch aber wirklich nur so fragmentarisch [HS]. Globale Identitätskonstruktionen Globale Selbstbilder werden im Interviewkorpus am seltensten konstruiert. Die einzige gefundene Instanz bezieht sich auf eine europäische Identität, mit der ein negatives ästhetisches Urteil zu Arabisch und afrikanischen Sprachen begründet wird: 350 III. Resultate und Diskussion <?page no="367"?> (11) Frau, 20 - 30, sekundäre Bildung, negatives ästhetisches Urteil zu Arabisch und afrikanischen Sprachen (Begründungssequenz) Ja di sind halt für Europäer nid eso alltäglich, und es tönt (nun mal) für üs (anders). Ja die sind halt für Europäer nicht so alltäglich, und es klingt (nun mal) für uns (anders). Identität durch Alterität In Kapitel 4.2.4 wurde erläutert, dass Identität und Alterität dichotome Begriffe sind: Fremdbilder sind essentiell für die Konstruktion von Selbstbildern und umgekehrt. Menschen brauchen Alteritäten, um sich ihrer eigenen Identität bewusst zu werden. Im Interviewkorpus wird geprüft, wo der Superkode Alterität (unbestimmt, lokal, national, global) dem Superkode Identität (unbestimmt, lokal, national, global) in einem Abstand von höchstens 8 Zeilen entweder folgt oder vorausgeht. Insgesamt konnten fünf solche Instanzen lokalisiert werden. Eine davon funktioniert über ein projektives Heterostereotyp: Die Person schildert ein Hörerlebnis aus dem Urlaub und konstruiert eine relativ unspezifische nordeuropäische Alterität. Sie identifiziert die Sprechenden als Holländer oder Nordeuropäer, deren Sprache sie als ästhetisch nicht angenehm beschreibt. Sie fügt aber an, dass diese Personen ihre Sprache (die Sprache der Gewährsperson selbst) womöglich nicht schön finden könnten. Das empathische Reflektieren über eine Alterität schärft in diesem Fall das Bewusstsein für die eigene linguistische Identität. (12) Frau, 40 - 50, sekundäre Bildung, negatives ästhetisches Urteil zu Holländisch/ nordeuropäische Sprachen Wüescht? Aso wüescht das isch (UNV. 1 s) jetz grad e so chli [HS]. Ja wenn ich mängisch eso i de Ferie bi und so e / / näbezueche Holländer sind oder oder oder eifachd ehm Nordeuropäer, de hesch würklich mängisch z Gfühl, wenn die so redid, das tönt abghackt so [HS] aber ich dänke umgekehrt, so dänkid die vo üs aso wenn die üsi Sprach gherid. Hässlich? Also hässlich das ist (UNV. 1 s) jetzt grad so ein bisschen [HS]. Ja wenn ich manchmal so im Urlaub bin und so e / / nebenan Holländer sind oder oder oder einfach Nordeuropäer, da hast du wirklich manchmal das Gefühl, wenn die so reden, das klingt abgehackt so [HS] aber ich denke umgekehrt, so denken die von uns also wenn die unsere Sprache hören. Das Muster Alterität vor Identität findet sich bei der gleichen Gewährsperson auch im positiven ästhetischen Urteilstyp. Hier jedoch zählt sie sich selbst zu einem europäischen Kollektiv, das sie von einem thailändischen Kollektiv abgrenzt: (13) Frau, 40 - 50, sekundäre Bildung, positives ästhetisches Urteil zu Thailändisch * Die schönschti? * ((I lacht)). Ja da chumi jetz ganz uf ne anderi. Das isch eigentlech wi / / eh isch Thailändisch. Eifach [HS] eifach das das das wenn wenn ich die 13. Die Versprachlichung von Sprachevaluationen 351 <?page no="368"?> Mänsche so gseh die fiine Mänsche aso miär, wo ja die Europäer, wo so chli die robuschte sind und so die Thailänder aso die Fraue und die Manne aso eigentlich die Graziile und de no die melodiösi Spra / / aso Sprach aso wirklich ja de hesch kei Ahnig, was die eigentlich sägid und und eifach au je nach Betonig heisst eifach es Wort irgendöppis anders [HS] ja. * Die schönste? * ((I lacht)). Ja da komme ich jetzt ganz auf eine andere. Das ist eigentlich wi / / eh ist Thailändisch. Einfach [HS] einfach das das das wenn wenn ich diese Menschen so sehe, diese zarten Menschen also wir, die ja die Europäer, die so ein bisschen die robusten sind und so die Thailänder also die Frauen und die Männer also eigentlich die Grazilen und dann noch diese melodiöse Spra / / also Sprache also wirklich ja da hast du keine Ahnung, was die eigentlich sagen und und einfach auch je nach Betonung heisst einfach ein Wort irgendetwas anderes [HS] ja. In der nächsten Interviewpassage wird mit der Polarität zwischen der konstruierten Alterität und der im gleichen Zuge konstruierten Identität gespielt. Die Informantin begründet ihr positives ästhetisches Urteil zu Italienisch unter anderem mit mehreren Ikonisierungen, die nicht nur die Sprechenden des Italienischen betreffen, sondern in Abgrenzung davon auch Schweizerdeutsch Sprechende (zu denen die Informantin selbst zählt). Die Ikonisierung geht so weit, dass die Informantin vermutet, dass italienischsprachige Menschen seltener Magengeschwüre haben, weil sie immer alles gleich rausgeben - gemeint ist hier wahrscheinlich die empfundene direktere Kommunikationsweise der Italiener. (14) Frau, 65+, tertiäre Bildung, positives ästhetisches Urteil zu Italienisch (Begründungssequenz) Ehm ja ich glaube, das verbinded sich mit de Fellinifilm [HS] ((lacht)). Eso voll so Läbesluscht und Läbesfröid und und eh au charakterlich eso, weiss nöd ob das es Vorurteil isch vo mi / / wi vo mir aber mir Dütschschwiizer sind ja so Perfektionischte, und bi de Italiener hätmr s Gfühl, ja me cha au mal Föifi la graad sii [HS] und ich glaube au, si händ weniger Magegschwüür als mir wils immer alles grad usegänd [HS]. Es isch ja au. Ich bi mal / / aso es isch scho lang sither in (UNV. 1 s) gsi, das isch ebe so en Tourischteort [HS] eh agränzend as Tessin jää das isch läbig und luschtig zuegange [HS] bi öis ufere Alp sii, da isch mr vo Andacht erfüllt [HS] ja. Ehm ja ich glaube, das verbindet sich mit den Fellinifilmen [HS] ((lacht)). So voller so Lebenslust und Lebensfreude und und eh auch charakterlich so, weiss nicht ob das ein Vorurteil ist von mir / / wie von mir aber wir Deutschschweizer sind ja so Perfektionisten, und bei den Italienern hat man das Gefühl, ja man kann auch mal eine Fünf gerade sein lassen [HS] und ich glaube auch, sie haben weniger Magengeschwüre als wir, weil sie immer alles gleich rausgeben [HS]. Es ist ja auch. Ich bin mal / / also es ist schon lange her in (UNV. 1 s) gewesen, das ist eben so ein Touristenort [HS] eh angrenzend ans Tessin jaa das ist lebendig und lustig zugegangen [HS] bei uns auf einer Alp sie, da ist man von Andacht erfüllt [HS] ja. 352 III. Resultate und Diskussion <?page no="369"?> 13.1.1.2 Linguistische Identität In welchen Urteilstypen und inwiefern kommen die Beziehungsarten Expertise und Vererbung vor, die Sprachidentität modellieren? Laien begründen am ehesten die Wahl ihrer Lieblingssprache damit, dass sie diese ererbt haben; sie verwenden den Begriff Muttersprache und sagen, dass sie mit dieser Sprache aufgewachsen sind. Bei Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern beziehen sich diese Aussagen auf Schweizerdeutsch und Dialekte der deutschen Schweiz und selten auf die Standardsprache. Vorhandene sowie fehlende Sprachkompetenz wird von den Gewährspersonen häufig thematisiert - fehlende Sprachkompetenz überraschenderweise insbesondere in den beiden positiven Urteilstypen, wo explizit gesagt wird, dass die Beziehung zu einer Sprache positiv ist, obwohl die Expertise fehlt. Finden sich die beiden krisenhaften Identitätskonstruktionen linguistische Unsicherheit sowie linguistischer Selbsthass im Interviewmaterial? Die beiden krisenhaften Identitätskonstruktionen kommen in den Interviews sehr selten vor. Linguistische Unsicherheit ist kein Phänomen, das in diskursiven Einstellungen thematisiert wird (sie wurde ausschliesslich in Biographiesequenzen kodiert). Linguistischer Selbsthass wird innerhalb der Werturteilspassagen thematisiert (einerseits bezogen auf Schweizerhochdeutsch und andererseits auf den St. Galler Dialekt). In welchen Urteilstypen und inwiefern werden aktive und passive linguistische Identitäten konstruiert? Im metasprachlichen Diskurs werden sowohl aktive als auch passive linguistische Identitäten konstruiert. Während im positiven ästhetischen Urteilstyp eine passive Herangehensweise häufig ist, ist eine aktive typischer für den affektiven Urteilstyp, wo die Gewährspersonen an der Sprachpraxis, die sie beurteilen, selbst teilnehmen. Die Kategorien zur Analyse linguistischer Identitäten im Interviewkorpus werden aus den theoretischen Positionen gespeist, die in Kapitel 4.4 vorgestellt worden sind. Es handelt sich dabei einerseits um die Beziehungstypen inheritance (Vererbung: Die Auffassung eines Individuums, in eine Familie oder eine Gesellschaft hineingeboren worden zu sein, die mit einer bestimmten Sprache, einem Dialekt oder Soziolekt assoziiert wird) und expertise (Expertise: Wie kompetent sich eine Person in einer Sprache, einem Dialekt oder Soziolekt einschätzt). Andererseits handelt es sich um die beiden negativen Identitätsaspekte linguistic insecurity (linguistische Unsicherheit) sowie linguistic self-hatred (linguistischer Selbsthass, hier abgeschwächt kodiert als linguistische Selbstkritik). Zusätzlich wird eine Analyse zu aktiven vs. passiven linguistischen Identitäten durchgeführt: Bei der aktiven linguistischen Identität findet die Argumentation vom eigenen Gebrauch der Sprache her statt (die Gewährsperson redet die Sprache gerne, nimmt am Sprachgebrauch teil), bei der passiven linguistischen Identität findet die Argumentation vom Gebrauch anderer her statt (die interviewte Person gibt 13. Die Versprachlichung von Sprachevaluationen 353 <?page no="370"?> an, eine Sprache gerne zu hören - die Sprache „ gehört “ jedoch anderen, nicht der beurteilenden Person, die die Sprachpraxis als Aussenstehende verfolgt). Vererbung und Expertise Die Analyse der Kategorie Vererbung zeigt, dass dieser Beziehungstyp fast ausschliesslich im affektiven Urteilstyp thematisiert wird (19 Mal), während er nur drei Mal im positiven ästhetischen und gar nie im negativen ästhetischen vorkommt. Die Wahl der Lieblingssprache wird also verhältnismässig häufig damit begründet, dass die Gewährsperson mit einer bestimmten Sprache aufgewachsen ist und in eine Gesellschaft hineingeboren wurde, in der diese bestimmte Sprache gesprochen wird. Betreffende Interviewsequenzen beziehen sich am häufigsten auf den Oberbegriff Schweizerdeutsch sowie auf einzelne Dialekte. Die meisten Gewährspersonen versprachlichen das Konzept der Vererbung ähnlich: Sie sagen, dass es sich bei der genannten Sprache um ihre Muttersprache handelt und dass sie damit aufgewachsen sind. Die folgende Interviewpassage greift das Konzept in einer metaphorischen Formulierung auf: (15) Frau, 40 - 50, primäre Bildung, ästhetisches Urteil zu Schweizerdeutsch (Begründungssequenz) Ja eifach wil i so ufgwachse bi, wil mr so de Schnabel gwachse isch ((lacht)). Ja einfach weil ich so aufgewachsen bin, weil mir so der Schnabel gewachsen ist ((lacht)). Die Kombination von Schweizerdeutsch und Hochdeutsch als vererbt kommt nur gerade in drei Interviews vor (was davon zeugt, dass die diglossische Identität offenbar nicht genug ausgeprägt ist, um in die affektive Metasprache Eingang zu finden). Englisch, Französisch und Italienisch werden in seltenen Fällen ebenfalls als vererbt betrachtet, wenn zum Beispiel Hausangestellte in der Kindheit diese Sprachen gesprochen haben oder wenn in der Kindheit und im Jugendalter viel englische Musik konsumiert worden ist. Während in der quantitativen Analyse die Verbindung zwischen der Beantwortung der Frage „ Welche Sprachen können Sie? “ und den unterschiedlichen Sprachurteilen untersucht wurde (vgl. Kap. 12.5.8), wird hier zum Thema Expertise untersucht, wie Informantinnen und Informanten ihre Sprachurteile explizit mit vorhandener respektive fehlender Sprachkompetenz in Verbindung bringen oder sogar begründen. Zwei der in Kapitel 5.1 angeführten Hypothesen der Sprachästhetikforschung (Verständlichkeitshypothese, Vertrautheitshypothese) gehen davon aus, dass positive (also vorhandene) Kompetenz einhergeht mit positiven ästhetischen Urteilen. Tabelle 42 stellt positive und negative Kompetenzerwähnungen nach Urteilstypen dar. 354 III. Resultate und Diskussion <?page no="371"?> Tab. 42: Positive und negative Kompetenzerwähnungen (Urteils- und Begründungssequenzen). Affektives Urteil Positives ästhetisches Urteil Negatives ästhetisches Urteil Positive Kompetenz 17 9 0 Negative Kompetenz 13 14 13 Eine explizit negative Einschätzung der eigenen Expertise kommt überraschenderweise nicht nur im negativen ästhetischen Urteilstyp vor, sondern auch im affektiven und positiven ästhetischen. In den positiven Urteilstypen werden solche Sequenzen als Konzessivkonstruktionen (vgl. Beispiel 16) oder als Konstruktionen mit dem Adverb leider (vgl. Beispiel 17) oder der disjunktiven Konjunktion aber realisiert. (16) Frau, 40 - 50, primäre Bildung, positives ästhetisches Urteil zu Spanisch Spanisch findi schön, obwohl is nöd cha ((lacht)). Spanisch finde ich schön, obwohl ich ’ s nicht kann ((lacht)). (17) Frau, 40 - 50, tertiäre Bildung, positives ästhetisches Urteil zu Arabisch A: Aha Lieblingssproch hend si vorher gseit [HS] (UNV. 2 s) [HS] schönschti Sproche. Jo aso ehm Rätoromanisch denki scho aber au Hochdütsch und Französisch und Arabisch. I: Arabisch? A: Chas eifach leider nid so guet aber ((lacht)). A: Aha Lieblingssprache haben sie vorher gesagt [HS] (UNV. 2 s) [HS] schönste Sprache. Ja also ehm Rätoromanisch denke ich schon aber auch Hochdeutsch und Französisch und Arabisch. I: Arabisch? A: Kann es einfach leider nicht so gut aber ((lacht)). Die explizite Thematisierung fehlender Kompetenz bei positiven Urteilen lässt auf ein mentales Modell von Laien schliessen, in dem die Vertrautheits- und Verständlichkeitshypothese angenommen werden. Wenn eine Sprache als angenehm empfunden wird, obwohl keine Expertise vorhanden ist, besteht aus der Perspektive der Befragten Erklärungsbedarf. Diese Praxis zeigt aber gleichzeitig, dass die beiden Hypothesen von einem theoretischen Standpunkt her nicht ohne Weiteres angenommen werden können: Sprachen werden de facto sehr oft als schön empfunden, auch wenn keine Expertise vorhanden ist. Umgekehrt fungiert die fehlende Expertise natürlich in vielen Fällen (insgesamt 13) als Begründung für negative ästhetische Urteile - hier wiederum greift insbesondere die Verständlichkeitshypothese ex negativo: (18) Mann, 65+, primäre Bildung, negatives ästhetisches Urteil zu Indisch und Ostsprachen 13. Die Versprachlichung von Sprachevaluationen 355 <?page no="372"?> Ja wemme eppe hienta villeicht ehhh irgendwie Fätze uiffasse tuet ah wäge mine vo vo Indisch oder eh oder irgend äh Oschtsprache hä, und dernacher de find me das denacher nid als als guet hä [HS]. Wil das / / wil das eifach ehh me verstahts nid hä [HS]. Mä gh / / me het / / me het eh z Ohr nid derfiir nid und und (UNV. 1 s). Ja wenn man etwa hin und wieder vielleicht ehhh irgendwie Fetzen auffasst ah von mir aus von von Indisch oder eh oder irgend äh Ostsprachen hä, und danach dann findet man das danach nicht als als gut hä [HS]. Weil das / / weil das einfach ehh man versteht ’ s nicht hä [HS]. Man gh / / man hat / / man hat eh das Ohr nicht dafür nicht und und (UNV. 1 s). Nicht nur bei Fremdsprachen wird auf diese Weise argumentiert - in einem Fall funktioniert sogar die Argumentation zum Walliser Dialekt über die fehlende Expertise: (19) Mann, 40 - 50, sekundäre Bildung, negatives ästhetisches Urteil zum Walliser Dialekt (Begründungssequenz) [. . .] und de hem / / hani e Kollegin, wo de redt, und dasch wie e Fremdsprooch [HS] (mue) immer nachefrage [HS]. Nei ganz en hessliche. [. . .] und dann haben / / habe ich eine Kollegin, die den redet und das ist wie eine Fremdsprache [HS] (muss) immer nachfragen [HS]. Nein ganz ein hässlicher. Linguistische Unsicherheit und linguistischer Selbsthass Untersucht wird im Rahmen dieser Analyse, inwiefern negative Identitätsaspekte metasprachlich thematisiert werden. Da es den Informantinnen und Informanten im Interviewverlauf völlig freisteht, solche Aspekte auszusparen, werden nicht viele solche negativen Instanzen erwartet. Linguistische Unsicherheit wurde lediglich in zwei Interviews kodiert - beide Male in biographischen Interviewsequenzen und nicht in Urteils- oder Begründungssequenzen. Linguistische Unsicherheit ist also kein Phänomen, das in diskursiven Einstellungen thematisiert wird. Beide Instanzen können im Kontext der small stories (vgl. u. a. Bamberg, 2004, 2006; Spreckels, 2008) gesehen werden. Solche kurzen narrativen Sequenzen werden in der aktuellen Identitätsforschung als wertvolle Analyseinstanzen zur Ermittlung des sense of self (Selbstbild) der erzählenden Person gesehen (vgl. Spreckels, 2008: 394). In einer der betreffenden Passagen wird von einer vergangenen linguistischen Identität berichtet: Die Person ist bilingual aufgewachsen und kann sich erinnern, dass ihre Klassenkameraden früher ihre mangelnden Deutschkenntnisse kommentiert haben. Bei einer Klassenzusammenkunft geht sie der Frage nach, wie sie als Kind Deutsch gesprochen hat - sie erforscht also eine vergangene linguistische Identität, zu der sie nur über die Auskunft Dritter Zugang hat. (20) Frau, 40 - 50, primäre Bildung, Biographiesequenz I: Mhm het d Muetter denn ame mit Chind Dänisch gredt dem Fall. A: Mo / / i denke scho aso mr hend jetz grad Klassezemekunft gha und da han / / bin ich anere alte Frog nogange ((lacht)) [HS] de hends / / wil es isch mr immer so 356 III. Resultate und Diskussion <?page no="373"?> im Chopf umegeischteret, dass ganz am Afang i de erschte Klass ame zu mir gseit hend du chasch ja nöd emol recht Dütsch [HS] und denn bin ich nie recht drus cho, meined jetz die Schriftdütsch oder Schwiizerdütsch. Und denn han ich jetz ebe nach drissg Johr / / hemmer jetz die erscht Klassezemekunft gha. I: Und hend sich die no chöne erinnere? A: Jo ein / / vereinzelt. Aso eini het chöne sege jo ich hegi eh einzelni Wörter nöd verstande [HS] oder einzelni Wörter Dänisch gredt, ja jetz weissi warum ((lacht)). I: Mhm hat die Mutter dann jeweils mit Kindern Dänisch geredet in dem Fall? A: Do / / ich denke schon also wir hatten jetzt gerade eine Klassenzusammenkunft und da ha / / bin ich einer alten Frage nachgegangen ((lacht)) [HS] da haben sie / / weil es ist mir immer so im Kopf rumgegeistert ist, dass sie ganz am Anfang in der ersten Klasse jeweils zu mir gesagt haben du kannst ja nicht einmal richtig Deutsch [HS] und dann habe ich nie recht verstanden, meinen die jetzt Schriftdeutsch oder Schweizerdeutsch. Und dann habe ich eben nach dreissig Jahren / / hatten wir jetzt die erste Klassenzusammenkunft. I: Und konnten die sich noch erinnern? A: Ja ein / / vereinzelt. Also eine konnte sagen ja ich hätte eh einzelne Wörter nicht verstanden [HS] oder einzelne Wörter Dänisch geredet, ja jetzt weiss ich warum ((lacht)). In der zweiten gefundenen Passage wird von der linguistischen Unsicherheit der eigenen Mutter erzählt, die als italienische Migrantin in die Schweiz gekommen ist und sich für ihre Herkunft geschämt hat - dies hat die Informantin als Kind erlebt. Die Informantin begründet in der im Folgenden zitierten Passage, warum sie selbst Italienisch nicht als L2 hat. Zuvor hat sie Italienisch als Lieblingssprache genannt: (21) Frau, 40 - 50, tertiäre Bildung, Biographiesequenz I: Aha aber dini Muettersprach isch denn das Schwiizerdütsch und Italiänisch oder? A: Ja ja isch rein Dütsch gsi nei [HS] si het nie mit öis Italienisch gredt [HS]. Es isch halt ebe i dere Ziit gsi, wo wo d Italiener eso immer abegmacht worde sind oder und denn händ / / aso mini Gschwüschter hend immer so ((hält sich die Ohren zu)) gmacht, wänn si Italienisch gredt het. I: D Ohre zueghebt ja. A: Mit de Händ d Ohre zueghebt ja [HS]. Und eh ((räuspert sich)) ja und de het mr das eifach nid das sind d (UNV. 1 s) gsi und so. Mini Muetter het sich eigen'lich gschämt, dass si Italieneri isch und au ihri Gschwüschterti, die hend sich gschämt [HS] eigetlich. Und denn isch das irgendwie so fasch wie undergange [HS] meh. I: Aha aber deine Muttersprache ist denn das Schweizerdeutsch und Italienisch oder? A: Ja ja ist rein Deutsch gewesen nein [HS] sie hat nie mit uns Italienisch geredet [HS]. Es ist war halt eben in der Zeit, als als die Italiener so immer runtergemacht worden sind oder und dann haben / / also meine Geschwister haben immer so ((hält sich die Ohren zu)) gemacht, wenn sie Italienisch geredet hat. I: Die Ohren zugehalten ja. A: Mit den Händen die Ohren zugehalten ja [HS]. Und eh ((räuspert sich)) ja und dann hat man das einfach nicht das sind die (UNV. 1 s) gewesen und so. Meine Mutter hat sich eigentlich geschämt, dass sie Italienerin ist und auch ihre Geschwister, die haben sich geschämt [HS] eigentlich. Und dann ist das irgendwie fast wie untergegangen [HS] mehr. 13. Die Versprachlichung von Sprachevaluationen 357 <?page no="374"?> Linguistische Selbstkritik (oder linguistischer Selbsthass) konnte lediglich zwei Mal im Interviewkorpus ausgemacht werden und zwar innerhalb von Werturteilspassagen. Die erste Instanz wurde in Beispiel 4 schon zitiert: Ein Primarlehrer gibt an, dass er Hochdeutsch nicht schön findet, weil es nicht gut klingt, wenn Schweizer Hochdeutsch sprechen. Er muss in seinem Berufsalltag selbst ständig Hochdeutsch sprechen. Wenn er findet, dass es bei allen Deutschschweizern gestelzt klingt, wenn sie Hochdeutsch sprechen, ist seine Berufsidentität davon natürlich ebenfalls betroffen (er spricht selbst von einer kontroversen Situation). Die zweite Instanz stammt von einem Ostschweizer, der seinen eigenen Dialekt richtiggehend hasst, der sogar so weit geht zu sagen, dass der Dialekt bei ihm Übelkeit verursacht: (22) Mann, 40 - 50, sekundäre Bildung, negatives ästhetisches Urteil zum St. Galler Dialekt A: Aso i find miin au hesslich so de klassisch St. Galler Dialekt. I: Ihre eigeti ((lacht))? A: Jo (UNV. 1 s) so-n-e klassische St. Galler Dialekt [HS]. Aber so wenn me en St. Galler am Radio ghört, da wirds mir au fascht übel. A: Also ich finde meinen auch hässlich so den klassischen St. Galler Dialekt. I: Ihren eigenen ((lacht))? A: Ja (UNV. 1 s) so einen klassischen St. Galler Dialekt [HS]. Aber so wenn man einen St. Galler am Radio hört, da wird ’ s mir auch fast übel. Eine so massive Form des linguistischen Selbsthasses ist jedoch, wie gesagt, äusserst selten 145 . Aktive vs. passive linguistische Identitäten In Tabelle 43 wird die Konstruktion aktiver und passiver linguistischer Identitäten nach Urteilstyp dargestellt. Tab. 43: Konstruktion aktiver und passiver linguistischer Identität in den drei Urteilstypen (Urteils- und Begründungssequenzen). Affektives Urteil Positives ästhetisches Urteil Negatives ästhetisches Urteil Aktive ling. Identität 24 11 1 Passive ling. Identität 16 31 11 145 In Kapitel 5.3.3 wurden Studien präsentiert, die sich mit Dialekteinschätzungen in der Schweiz befassen. Der St. Galler Dialekt fungiert dabei nicht unter den beliebteren Dialekten, was das konstruierte Autostereotyp eventuell in seinem Ursprung erklärt. 358 III. Resultate und Diskussion <?page no="375"?> Während eine schöne Sprache vielfach ausschliesslich passiv wahrgenommen wird - fast schon könnte man sagen, konsumiert wird (vgl. Beispiel 23) - , spielt die aktive Beteiligung an der Sprachpraxis bei der Lieblingssprache eine prominentere Rolle (vgl. Beispiel 24). (23) Frau, 65+, tertiäre Bildung, positives ästhetisches Urteil zu Italienisch und Französisch Ebe es KLINGT, es isch e Melodii, es klingt, ich muess es a nöd chöne verstah. Ich finde grad s Französisch e unghür ehm elegant. Wänn ich Lüt ghöre Französisch rede, redids immer so mitere gwüsse Sanftheit ehm ja. Eben es KLINGT, es ist eine Melodie, es klingt, ich muss es auch nicht verstehen können. Ich finde gerade das Französische eine ungeheuer ehm elegant. Wenn ich Leute Französisch reden höre, reden sie immer so mit einer gewissen Sanftheit ehm ja. (24) Frau, 20 - 30, sekundäre Bildung, affektives Urteil zu Walliser Dialekt (Begründungssequenz) Me hend jetz öpper bi üs gha, de het es Praktikum gmacht und das isch e Walliser gsi und sit dä bi üs gsi isch, s ganze Huus duet wallischere (A imitiert den Walliser Dialekt im Wort „ wallischere “ ). Und die singid so bim Rede [HS] und das isch no / / isch no härzig. Wir hatten jetzt jemanden bei uns, der hat ein Praktikum gemacht und das war ein Walliser und seit der bei uns war, das ganze Haus wallischeret (=das ganze Haus spricht den Walliser Dialekt) (A imitiert den Walliser Dialekt im Wort „ wallischere “ ). Und die singen so beim Reden [HS] und das ist noch / / ist noch süss. Geprüft wurde weiter, ob es im Interviewkorpus vorkommt, dass sowohl eine aktive als auch eine passive Identität in einem Urteil zu ein und derselben Sprache konstruiert werden (es wurden aktive und passive Identitätskodierungen im Abstand von zwei Zeilen gesucht). Dies kommt im affektiven Urteilstyp lediglich einmal vor (vgl. Beispiel 25), im positiven ästhetischen drei Mal und im negativen ästhetischen gar nie. Die Informantin im folgenden Beispiel argumentiert für Hochdeutsch als Lieblingssprache einerseits vom eigenen Gebrauch her und andererseits aus der Perspektive der Zuhörerin 146 . (25) Frau, 65+, sekundäre Bildung, affektives Urteil zu Hochdeutsch Ja mini Lieblingssprach. Schriftdiitsch [HS]. Ja weisch aso 'ch meine jetzä scho z Dialäkt [HS] aber Schriftdiitsch zum Bischpiil wemmer ä Vortrag oder i de Chile / / ich bi e Ziit lang Lektorin gsi, de han ich gärn Schriftdiitsch gredt. Weisch oder ai wemmer eppis eh (UNV. 1 s) hätt ich lieber Schriftdiitsch [HS] ich verstahs ai besser d Predige und so Schriftdiitsch [HS]. 146 Gemäss Kolde (1981: 71) ist die Kirche (neben dem Schulunterricht und einigen sehr wenigen anderen Kontexten, z. B. dem Gerichtsplädoyer oder der politischen Rede) einer der wenigen Gebrauchskontexte, in denen der mündliche, produktive Gebrauch des Hochdeutschen unter Deutschschweizer Partnern vorkommt (vgl. zur mündlichen Verwendung des Schweizerhochdeutschen auch Ammon, 1995: 293 sowie für neuere Entwicklungen Christen et al. 2010). 13. Die Versprachlichung von Sprachevaluationen 359 <?page no="376"?> Ja meine Lieblingssprache. Schriftdeutsch [HS]. Ja weisst du, also ich meine jetzt schon den Dialekt [HS] aber Schriftdeutsch zum Beispiel wenn man einen Vortrag oder in der Kirche / / ich war eine Zeit lang Lektorin, da habe ich gerne Schriftdeutsch geredet. Weisst du oder auch wenn man etwas eh (UNV. 1 s) hätte ich lieber Schriftdeutsch [HS] ich verstehe es auch besser die Predigten und so Schriftdeutsch [HS]. Wiederholt kann die Konstruktion einer aktiven respektive passiven Identität für eine Sprache in einem Urteilstyp und die entgegengesetzte Konstruktion für eine andere genannte Sprache im gleichen Urteilstyp lokalisiert werden. Solche Konstruktionskombinationen finden sich im affektiven Urteilstyp drei Mal (vgl. Beispiel 26), im positiven ästhetischen vier Mal jedoch erneut nie im negativen ästhetischen Urteilstyp. (26) Mann, 20 - 30, tertiäre Bildung, affektives Urteil zu Schweizerdeutsch, Englisch und Spanisch Jaa vom Rede här natürli das, wo mr cha. Und vom Ghöre här chund e chli druf a. Aso ((atmet hörbar aus)) zum Bischpiil so Gschichte und Määrli findi eigen'lich uf Änglisch sehr schön [HS] und so rein vo de / / v vo de / / vom Klang här vo de Sprach findi au Spanisch rächt schön. Ja vom Reden her natürlich das, was man kann. Und vom Zuhören her kommt es ein bisschen drauf an. Also ((atmet hörbar aus)) zum Beispiel so Geschichten und Märchen finde ich eigentlich auf Englisch sehr schön [HS] und so rein von der / / v von der / / vom Klang her von der Sprache finde ich auch Spanisch recht schön. 13.1.2 Kognitive Strukturen: kulturelle, metaphorische und metonymische Modelle Im Folgenden werden die Resultate hinsichtlich der untersuchten kulturellen, metaphorischen und metonymischen Modelle präsentiert. Eine theoretische Herleitung aller Modelle findet sich in Kapitel 8.4.2. 13.1.2.1 Rationalistisches vs. romantisches kulturelles Modell Inwiefern können das rationalistische und das romantische kulturelle Modell (bezüglich Englisch und Multilingualismus) im Datensatz lokalisiert werden? Die kulturellen Modelle, die in den Interviews lokalisiert werden können, sind insgesamt eher rationalistisch geprägt. So wird Englisch eher als Chance und weniger als Bedrohung empfunden: Die Weltsprache wird als Vehikel beschrieben, mit der man sich durch die Welt bewegen kann. Multilingualismus wird eindeutig als funktionale Spezialisierung verstanden. In der evaluativen Metasprache der Laien konnte die romantische Sichtweise, die besagt, dass Multilingualismus zu bruchstückhaften Identitäten führt, nicht nachgewiesen werden. Einerseits werden durch multilinguale Praktiken weitere Kommunikationskontexte erschlossen, andererseits erlaubt der Rückgriff auf vorhandene Fremdsprachenkenntnisse die bessere Orientierung in, oder sogar den erleichterten Erwerb von, zusätzlichen Fremdsprachen. Allerdings wird im Inneren dieses rationalistischen Modells 360 III. Resultate und Diskussion <?page no="377"?> oftmals romantisierend argumentiert (Vorstellungen von Entlehnungsmechanismen sowie Beschreibungen typologischer Verwandtschaften zwischen Sprachen, die sprachwissenschaftlich nicht korrekt sind). In einem ersten Schritt werden die beiden Metaphern, die dem rationalistischen respektive dem romantischen Modell zu Grunde liegen, als Kategorien kodiert: einmal L ANGUAGE AS A TOOL TO EXPRESS IDENTITY (S PRACHE ALS M ITTEL , UM SEINE I DENTITÄT AUSZUDRÜCKEN ) (romantisches Modell) und einmal L ANGUAGE AS A TOOL FOR COMMUNICATION (S PRACHE ALS M ITTEL ZUM K OMMUNIZIEREN ) (rationalistisches Modell). In einem zweiten Schritt wird untersucht, inwiefern Englisch als Chance respektive als Bedrohung wahrgenommen wird. Zuletzt wird geprüft, ob Multilingualismus eher als funktionale Spezialisierung oder als Ausdruck bruchstückhafter Identität aufgefasst wird (vgl. Kap. 8.4.2.1). Konstituierende Metaphern In den Urteils- und Begründungssequenzen der Interviews konnten auf der Ebene der beiden konstituierenden Metaphern für das romantische Modell lediglich vier Kodierungen vorgenommen werden und für das rationalistische Modell 15. Am aussagekräftigsten ist hier die Kontrastierung zweier Fälle: Der erste Informant argumentiert im romantischen Modell. Er spricht selbst mehr als sechs Sprachen, erzählt aber von einem Reiseerlebnis in einem Land, dessen Umgangssprache er nicht beherrschte. Er beschreibt daraufhin eine eigenartige Sprachpraxis, die eindeutig dem romantischen Modell zugeordnet werden kann: Er redet einfach seinen eigenen Schweizerdeutschen Dialekt und macht sich so nach eigener Angabe verständlich. Der L1 wird hier eine expressive Kraft zugesprochen, die nicht an den tatsächlichen semantischen Gehalt geknüpft ist, der dem Zeichenempfänger in diesem Beispiel verschlossen bleibt, sondern an den Ausdruck von Emotionen und der Persönlichkeit über bestimmte Sprechweisen. (27) Mann, 65+, tertiäre Bildung, positives ästhetisches Urteil zum Solothurner Dialekt (Begründungssequenz) I has ou wenn i uf Reise gsi bi zum Bischpiu in Indie und si hei mi ned wöue verstoh, de hani eifach Solothurnerdütsch gredt (wenn is) bös ha gredt (hei si gmerkt) was gschlage het ((A und I lachen)) und wenn is lieb gredt ha, hei si gmerkt, as is guet meine mitne [HS] und si heis verstange. Ich habe es auch wenn ich auf Reisen war zum Beispiel in Indien und sie mich nicht verstehen wollten, dann habe ich einfach Solothurner Deutsch geredet (wenn ich es) böse geredet habe (haben sie gemerkt), was es geschlagen hat ((A und I lachen)) und wenn ich es lieb geredet habe, haben sie gemerkt, dass ich es gut meine mit ihnen [HS] und sie haben es verstanden. Der zweite Informant ist so stark im rationalistischen Modell verankert, dass er mit der gesamten Interviewsituation nicht zurechtkommt. Tatsächlich 13. Die Versprachlichung von Sprachevaluationen 361 <?page no="378"?> handelt es sich bei diesem Gesprächspartner um den einzigen Informanten, der den Interviewleitfaden grundsätzlich inhaltlich in Frage stellt. Die radikale Einordnung im rationalistischen Modell verunmöglicht es ihm, Sprachen überhaupt affektiv oder ästhetisch zu beurteilen. Eine Sprache kann in der Auffassungswelt dieses Mannes nicht schön oder hässlich sein - sie kann ausschliesslich nützlich sein. (28) Mann, 40 - 50, tertiäre Bildung, positives ästhetisches Urteil, negatives ästhetisches Urteil Schöni schöni * schöni Sprache * was händ si für Frage? ((I lacht)). Wa händ si Frage? [. . .] Es isch für mich nöd e / / dasch nöd en Aschpekt wo-n-i / / wo wo wo-nich eh / / wo mich speziell beschäftigt [HS] ob jetz e Sprach schön isches isch e Zwäck oder, wil s isch zum sich verständige nöd nöd obs ob schön isch [HS]. No nie Gedanke gmacht ob e Sprach schön isch. [. . .] Uf so ne Idee mueme zerscht Mal cho, ob me e Sprach schön, wüescht ((I lacht)). Schöne schöne * schöne Sprachen * was haben sie für Fragen? ((I lacht)). Was haben sie Fragen? ][. . .] Es ist für mich nicht e / / das ist nicht ein Aspekt, den ich / / den den den ich eh / / der mich speziell beschäftigt [HS] ob jetzt eine Sprache schön ist es ist ein Zweck oder, weil es ist zum sich verständigen nicht nicht ob schön ist [HS]. Noch nie Gedanken gemacht, ob eine Sprache schön ist. [. . .] Auf so eine Idee muss man erst einmal kommen ob man eine Sprache schön, hässlich ((I lacht)). Englisch als Weltsprache: Chance oder Bedrohung? Insgesamt konnten 15 Stellen gefunden werden, in denen Englisch als Chance begriffen wird und lediglich zwei, die Englisch als Bedrohung umschreiben. Welcher Art ist diese Chance? Einerseits werden Englischkenntnisse als wichtige Qualifikation im Berufsleben geschildert (sowohl von einer Politikerin, als auch von einer Lehrerin, einer Büroangestellten und einem Chemielaboranten). Weitaus häufiger jedoch wird Englisch als Vehikel - fast schon im Sinne eines Gefährts - beschrieben, mit dem man sich überall auf der Welt (durch)bewegen kann: (29) Mann, 20 - 30, sekundäre Bildung, affektives Urteil zu Englisch (Begründungssequenz) Und eh bim Englische isches eigen'lich ähnlich, die isch no relativ eifach zum lehre und vor allem chunsch überall dure dermit. Und eh beim Englischen ist es eigentlich ähnlich, die ist noch relativ einfach zum lernen und vor allem kommst du überall durch damit. (30) Mann, 65+, primäre Bildung, affektives Urteil zu Englisch, Begründungssequenz Da isch e Weltsproch, si isch sehr einfach uund ebe me chunt überall dure. Das ist eine Weltsprache, sie ist einfach uund eben man kommt überall durch. 362 III. Resultate und Diskussion <?page no="379"?> Geographisch spezifischer wird diese Vehikelfunktion von einem Informanten geschildert, der merkt, dass er sich ohne Englischkenntnisse in seiner Mobilität eingeschränkt fühlt. (31) Mann, 65+, tertiäre Bildung, Biographiesequenz Ebe i ha de nächer, wo-n-i über füfzgi bi gsi, gmerkt, Änglisch fäut mr für uf Reise [HS]. Mit Französisch chumi dür haub Afrika düre aber ohni Änglisch go-n-i dür di angeri heufti ned düre. Eben ich habe dann nachher, als ich über fünfzig war, gemerkt, Englisch fehlt mir für auf Reisen [HS]. Mit Französisch komme ich durch halb Afrika durch aber ohne Englisch gehe ich durch die andere Hälfte nicht durch. In beiden Interviews, in denen Englisch als Bedrohung wahrgenommen wird, ist das bedrohte Objekt die lokale Sprache, die sich mit der englischen Sprache zu vermischen beginnt (dieser Aspekt wird in Kapitel 13.1.2.2, in dem das Modell S PRACHE ALS R OHMATERIAL behandelt wird, noch vertieft). Ein Beleg ist Beispiel 1, in welchem sich eine ältere Informantin am Gebrauch englischer Lexeme im Schweizerdeutschen (sie nennt das Beispiel Kids) stört. In der zweiten Fundstelle kritisiert ein älterer, primär ausgebildeter Informant, dass in der Deutschschweiz alles veramerikanisiert wird. Diese Kritik wird jedoch im affektiven Urteilstypen angebracht, wo sich der Informant eigentlich positiv zu Englisch äussert - offensichtlich gilt dies jedoch nicht, wenn durch Englisch die lokale Sprache verändert wird (die betreffende Passage wird in Beispiel 41 zitiert). Multilingualismus: Funktionale Spezialisierung oder Ausdruck bruchstückhafter Identitäten? Im romantischen Modell wird Multilingualismus als Ausdruck bruchstückhafter Identitäten aufgefasst. Im rationalistischen Modell dagegen wird er als funktionale Spezialisierung verstanden. Erstere Kategorie ist die einzige nicht funktionierende deduktive Kategorie der qualitativen Analyse: Es konnte keine Interviewstelle gefunden werden, in der diese Sichtweise eindeutig zum Ausdruck gebracht wird. Daraus zu schliessen, dass dieses kulturelle Modell unter Laien in der Deutschschweiz nicht existiert, wäre kurzsichtig. Es muss daraus eher geschlossen werden, dass dieses Modell im affektiven und ästhetischen metalinguistischen Diskurs nicht an die Oberfläche gelangt. Ganz anders verhält es sich mit dem rationalistischen Gegenstück: 20 Mal konnte die Kategorie Multilingualismus als funktionale Spezialisierung kodiert werden. Es sind zwei Ausdifferenzierungen des Modells zu beobachten: a. Durch zusätzliche Sprachkompetenzen im Sinne einer zusätzlich beherrschten Sprache werden weitere Kommunikationssituationen und -kontexte erschlossen. In Beispiel 32 beschreibt ein Unternehmer die Vorteile multilingualer Sprachkompetenz unter anderem bei Handelskontakten. 13. Die Versprachlichung von Sprachevaluationen 363 <?page no="380"?> (32) Mann, 65+, primäre Bildung, Biographiesequenz Jo eh Französisch. Do hemmer jo au en Hof füfzeh Johr gha, dasch jo in Frankriich [HS]. Bi öppe dötte gsi und ha eh au dötte mit de Franzose guete eh Kontakt, wil i ha chöne Fr e / / Französisch mitene rede [HS]. Italienisch [HS] da isch mir scho mengmol z guet cho wenn mier a Messe gange sind uf Reggio Emilia [HS] ha scho Eber chönne verchaufe döt abe, wo-n-i wohrschindlich nöd sicher hetti chöne verchaufe, wenn i nöd e mich mit dene het chöne underhalte in Reggio Emilia. Ja eh Französisch. Da hatten wir ja einen Hof fünfzehn Jahre lang, das ist ja in Frankreich [HS]. War hin und wieder dort und habe eh auch dort mit den Franzosen gute eh Kontakte, weil ich konnte Fr e / / Französisch mit ihnen reden [HS]. Italienisch [HS] das ist mir schon oft zu Gute gekommen, wenn wir zu Messen gegangen sind nach Reggio Emilia [HS] habe schon Eber verkaufen können dort runter, die ich wahrscheinlich nicht sicher hätte verkaufen können, wenn ich nicht e mich mit denen hätte unterhalten können in Reggio Emilia. b. Vorhandene Sprachkompetenz erleichtert und unterstützt das Erlernen oder Sprechen weiterer Sprachen. Die genetische Verwandtschaft zwischen Sprachen wird hier thematisiert und ein Multilingualismus-freundliches Modell des Fremdsprachenerwerbs wird skizziert. Die thematisierten Verwandtschaftsbeziehungen sind vom Gesichtspunkt der Typologie her betrachtet nicht immer korrekt (vgl. Beispiel 33) - die Schilderungen der multilingualen Praxis des Entlehnens dürfen ferner als stark romantisiert bezeichnet werden (vgl. Beispiel 34) (vgl. Kap. 2.2.2 zur Sprachbewusstseinsart der Korrektheit). Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass multilinguale Praktiken hier positiv und als funktionale Spezialisierungen im metalinguistischen Diskurs dargestellt werden. (33) Mann, 40 - 50, primäre Bildung, Biographiesequenz Jo Dänisch also i ha zerscht zuegloset, und denn isch sehr viel ähn / / ähnlech wie Englisch und Französisch hets dinne und teil e bitzli no würi sege fascht e bitzli Italienisch und und Dütsch hets ebe au no chli dinne [HS]. Und zeme verstoht mr de gwüssi Sache. Es het scho no anderi Luut dinne [HS] oder gwüssi Wörter, wo ganz anderscht sind, hets au, aber denn chamr fröge. Ja Dänisch also ich habe zuerst zugehört, und dann ist sehr viel ähn / / ähnlich wie Englisch und Französisch hat ’ s drin und teilweise ein bisschen noch würde ich sagen fast ein bisschen Italienisch und und Deutsch hat ’ s eben auch noch ein bisschen drin [HS]. Und zusammen versteht man gewisse Sachen. Es hat schon noch andere Laute drin [HS] oder gewisse Wörter, die ganz anders sind, hat ’ s auch, aber dann kann man fragen. (34) Mann, 40 - 50, sekundäre Bildung, Biographiesequenz Glernt hanis de, wo-n-i im Land gsi bi au uf de Reis [HS] da hemmer (chli) Lüüt kenne glernt jungi und mit dene Italienisch gredet und i ha de alles usem Französische entlehnt und eifach Italienisch usgsproche und [HS] eh so hani denn eh glernt Italienisch rede. 364 III. Resultate und Diskussion <?page no="381"?> Gelernt habe ich ’ s dann, als ich im Land war auch auf der Reise [HS] da haben wir (ein bisschen) Leute kennen gelernt junge und mit denen Italienisch geredet und ich habe dann alles aus dem Französischen entlehnt und einfach Italienisch ausgesprochen und [HS] eh so habe ich dann eh Italienisch reden gelernt. 13.1.2.2. Kognitive, metaphorische Modelle Inwiefern kommen folgende drei metaphorischen Modelle in der Laienmetasprache vor? I) S PRACHE ALS EINE PHYSIKALISCHE S TRUKTUR ( EIN GEBÄUDE , EIN SYSTEM ) II) S PRACHE ALS R OHMATERIAL , ALS NATÜRLICHE RESSOURCE III) S PRACHE ALS T ERRITORIUM Beim Modell S PRACHE ALS R OHMATERIAL , ALS NATÜRLICHE RESSOURCE fällt ins Auge, dass lediglich zwei Sprachen thematisiert werden: Deutsch (Dialekte sowie Varietäten) und Englisch. Englisch fungiert sowohl als verunreinigender Eindringling im Deutschen als auch als Sprache, die selbst von Verunreinigungen betroffen ist. Beim Modell S PRACHE ALS T ERRITORIUM handelt es sich eindeutig um das dominanteste der drei Modelle. Es kommt in vier verschiedenen Funktionsweisen vor (Spezifizierung des beurteilten Objekts durch genaue geographische Lokalisierung und das durch ein Kontinuum damit verbundene Gegenstück dazu, nämlich die Verschleierung der Bezugsgrösse des Urteils durch unspezifische geographische Lokalisierung; mental maps, also der Transfer von Landschaftseigenschaften auf Eigenschaften der Sprache; Thematisierung von Auslandaufenthalten in Gebieten, wo das Beurteilungsobjekt gesprochen wird). Das Modell S PRACHE ALS P HYSIKALISCHE S TRUKTUR ist in der Laienmetasprache wenig produktiv - am ehesten wird es im Zusammenhang mit der Muttersprache, in der man zu Hause ist, verwendet. Es folgt die Analyse dreier kognitiver, metaphorischer Modelle: ● I) S PRACHE ALS EINE PHYSIKALISCHE S TRUKTUR ( EIN G EBÄUDE , EIN S YSTEM ) ● II) S PRACHE ALS R OHMATERIAL , ALS NATÜRLICHE R ESSOURCE ● III) S PRACHE ALS T ERRITORIUM Die Modelle wurden jeweils im ganzen Interview kodiert. Tabelle 44 zeigt das Vorkommen der drei Modelle in den unterschiedlichen Interviewsequenzen: 13. Die Versprachlichung von Sprachevaluationen 365 <?page no="382"?> Tab. 44: Kodierung der drei kognitiven, metaphorischen Modelle im ganzen Interview. Affektives Urteil Positives ästhetisches Urteil Negatives ästhetisches Urteil Geschmacksequenz Biographie Total Phyikalische Struktur (Gebäude, System) 1 2 1 0 0 4 Rohmaterial, natürliche Ressource 3 2 5 0 1 11 Territorium 14 14 15 6 1 50 Total 18 18 21 6 2 65 Während die ersten beiden Modelle nicht sehr produktiv sind, ist das kognitive, metaphorische Modell S PRACHE ALS T ERRITORIUM mit 50 Kodierungen im Interviewkorpus prominent vertreten. In den folgenden Unterkapiteln wird auf jedes der drei Modelle kurz eingegangen - besonders ausführlich werden die Ausdifferenzierungen des dritten Modells mit den meisten Kodierungen betrachtet. I) S PRACHE ALS EINE PHYSIKALISCHE S TRUKTUR ( EIN G EBÄUDE , EIN S YSTEM ) Die vier Kodierungen, die für dieses Modell vorgenommen werden konnten, sind zwei Typen zuzuordnen: a. Im ersten Typ wird Sprache als zu Hause verstanden oder das Wohnen in einer Sprache wird thematisiert (diese Stellen wurden im Bewusstsein dafür kodiert, dass fragwürdig ist, inwiefern das Konzept Gebäude im Konzept zu Hause tatsächlich enthalten ist 147 ). Das Modell kommt ausschliesslich in den positiven Urteilstypen vor: (35) Frau, 20 - 30, tertiäre Bildung, affektives Urteil zu Schweizerdeutsch (Begründungssequenz) Es isch eifach d Sproch, wo mr dihei isch. Es ist einfach die Sprache, in der man zu Hause ist. (36) Mann, 65+, sekundäre Bildung, positives ästhetisches Urteil zum Walliser, Berner und Obwaldner Dialekt Die sind di heimeligschte e Sprache. Das sind die heimeligsten Sprachen. Das Schweizerische Idiotikon (2, 1285) definiert heimelig folgendermassen: „ Heimatlich, bekannt anmutend, traut, heimisch, angenehm, gemütlich, von 147 Berthele (2002) rechnet die Variante L ANGUAGE IS HOME (S PRACHE ALS Z UHAUSE ) nicht dem ersten Modell zu (S PRACHE ALS PHYSIKALISCHE S TRUKTUR (G EBÄUDE / S YSTEM )), sondern dem dritten: S PRACHE ALS T ERRITORIUM . 366 III. Resultate und Diskussion <?page no="383"?> Personen und Sachen “ . Typische Kollokationen (und gleichzeitig der Grund für die Kodierung in diesem Modell) sind (ibid.) „ E h-s Hus, E h-i Stube “ . Das Wort wird also unter anderem im Wohnkontext verwendet: Wo es heimelig ist, da wohnt man gerne. Daher kann die Aussage in Beispiel 36 so gedeutet werden, dass die Konzepte in einer Sprache zu Hause sein oder in einer Sprache wohnen darin enthalten sind. b. Im zweiten Typ wird Sprache als System verstanden. An einer Stelle wird eher die vom Informanten empfundene fehlende Systemhaftigkeit der deutschen Orthographie nach der Rechtschreibereform kritisiert. Wie in Kapitel 8.4.2 erklärt, funktioniert die Metapher für gewöhnlich so, dass die Standardsprache als solides und planvoll strukturiertes Gebäude wahrgenommen wird, während die nicht-Standardsprache als chaotisch und instabil empfunden wird. Dieser Deutschschweizer Informant ist jedoch verunsichert ob der für ihn nicht mehr nachvollziehbaren orthographischen Regeln der geschriebenen Standardsprache nach der Rechtschreibreform. Er konstruiert eine unbestimmte Alterität, die Schuld an der von ihm als Katastrophe umschriebenen Situation ist. Der Informant arbeitet als Sekundarlehrer und muss sich daher von Berufs wegen mit der neuen Rechtschreibung und deren Vermittlung auseinandersetzen. (37) Mann, 40 - 50, tertiäre Bildung, negatives ästhetisches Urteil zu Hochdeutsch (Begründungssequenz) A: Und Dütsch findi eifach eh vom Dings här vo de Grammatik und Rächtschriibig (e) Kataschtrophe. I: Aso jetz Hochdütsch oder? A: Ja. I: Ja aso wie meinsch Kataschtrophe ((lacht))? A: Ja ich find eifach eh d Regle stimmed ja nid oder. Das hesch ja gseh bi de Rächtschriibreform oder [HS]. Da hets / / gits ja eifach aues, die hend ja das nid im Griff. A: Und Deutsch finde ich einfach eh vom Dings her von der Grammatik und Rechtschreibung (eine) Katastrophe. I: Also jetzt Hochdeutsch oder? A: Ja. I: Ja also wie meinst du Katastrophe ((lacht))? A: Ja ich finde einfach eh die Regeln stimmen ja nicht oder. Das hast du ja gesehen bei der Rechtschreibereform oder [HS]. Da hats / / gibt ’ s ja einfach alles, die haben ja das nicht im Griff. Ein weiterer Informant kreiert eine Analogie zum Legospiel - nicht ganz klar wird dabei, welcher Sprachebene seine Aussagen zuzuordnen sind. Der Vergleich mit dem Legosystem deutet am ehesten auf die morphosemantische Ebene hin. 13. Die Versprachlichung von Sprachevaluationen 367 <?page no="384"?> (38) Mann, 20 - 30, tertiäre Bildung, positives ästhetisches Urteil zu Hochdeutsch (Begründungssequenz) A: Wil si flexibel isch. I: Aso wie chumi ((lacht)) nid druus flexi / / aso . . . A: S Legosyschtem. Cha / / chasch alles [HS] mache demit [HS] chasch mit andere Sproche nöd. A: Weil sie flexibel ist. I: Also wie ich verstehe ((lacht)) nicht flexi / / also . . . A: Das Legosystem. Ka / / kannst alles [HS] machen damit [HS] kannst mit anderen Sprachen nicht. Die Systemhaftigkeit von Sprachen spielt im metasprachlichen Diskurs keine tragende Rolle. Die innere Struktur von Sprachen, ihre Grammatik oder Orthographie, wird per se praktisch nie in die Begründung sprachlicher Werturteile eingeschlossen 148 . Bei der Analyse des nächsten Modells (S PRACHE ALS R OHMATERIAL ) wird jedoch deutlich, dass die Idee von Sprache als einer geschlossenen Entität (nicht zwingend eines geschlossenen Systems) durchaus besteht; das Eindringen (system)fremder Elemente wird als negativ empfunden. II) S PRACHE ALS R OHMATERIAL , ALS NATÜRLICHE R ESSOURCE Für dieses Modell wurden elf Instanzen kodiert. Das Interesse gilt den Bezugsobjekten - den verunreinigenden oder verunreinigten Sprachen, Varietäten und Dialekten also - , die in den betreffenden Instanzen thematisiert werden sowie der Funktionsweise des Modells. Es sind dies mit je zwei Kodierungen die Folgenden: a. Deutschschweizer Dialekte (Obwaldner Dialekt, Solothurner Dialekt) als ursprüngliche, reine Formen im affektiven Urteilstyp: (39) Mann, 65+, tertiäre Bildung, positives ästhetisches Urteil zu Solothurner Dialekt (Begründungssequenz) 149 ((Lacht)) s dunkt mi das isch di normaali Sproch. Alli angere Sproche si nume Ableitige vo de / / ja. Solothurnerdütsch dunkt mi di schönschti und beschti Sproch. ((Lacht)) es dünkt mich, das ist die normale Sprache. Alle anderen Sprachen sind nur Ableitungen von de / / ja. Solothurnerdeutsch dünkt mich die schönste und beste Sprache. 148 Vgl. Kap. 11.3 zu den Urteilsbegründungen: Die Kategorie formale Aspekte hat sehr wenige Einträge. 149 Es handelt sich hierbei um denselben Informanten wie in Beispiel 27 (eine Passage, in der er Solothurner Dialekt besonders expressive Kraft zugesprochen hat wurde im Modell Sprache als Mittel, um seine Identität auszudrücken kodiert). 368 III. Resultate und Diskussion <?page no="385"?> b. Schweizerdeutsch mit ethnolektaler Färbung im negativen ästhetischen Urteilstyp: (40) Frau, 20 - 30, tertiäre Bildung, negatives ästhetisches Urteil zu Ethnolekt A: Wüescht? * Wüeschti Sproche hmm ((lacht)) ehm * aso Sproch an und für sich chunt mr jetz keini i Sinn. Wa-n-i u schlimm finde isch denn so das das verslangte so chli da wo (UNV. 1 s) under Jugosproch gaht so chli. I: Aha aso jetz im Schwiizerdütsch inne? A: Im Schwiizerdütsche eenne aber sus jetz würklech Sproch. Me chas ned emal recht unterscheide s het / / nei i chas / / i chas ned sege. A: Hässlich? * Hässliche Sprache hmm ((lacht)) ehm * also Sprache an und für sich kommt mir jetzt keine in den Sinn. Was ich sehr schlimm finde ist dann so das das verslangte so ein bisschen das was (UNV. 1 s) unter Jugosprache geht so ein bisschen. I: Aha also jetzt im Schweizerdeutschen drin? A: Im Schweizerdeutschen drin aber sonst jetzt wirklich Sprache. Man kann es nicht einmal recht unterscheiden es hat / / nein ich kann / / ich kann ’ s nicht sagen. c. Schweizerdeutsch mit angelsächsischer Färbung (vgl. dazu auch Beispiel 1): (41) Mann, 65+, primäre Bildung, affektives Urteil zu Englisch Englisch find ich au guet aber eh dötte wird ich sofort wieder e chli / / eh ha-n-i öppis degege dass (UNV. 1 s) döt i de dütsche Schwiiz immer alles meh veramerikanisiert wird oder dur da. Englisch finde ich auch gut aber eh dort werde ich sofort wieder ein bisschen / / eh habe ich etwas dagegen, dass (UNV. 1 s) dort in der deutschen Schweiz immer alles mehr veramerikanisiert wird oder dadurch. d. Normative Vorstellung von schönem respektive korrektem Hochdeutsch im positiven ästhetischen Urteilstyp und in einer Biographiesequenz: (42) Mann, 20 - 30, sekundäre Bildung, positives ästhetisches Urteil zu Hochdeutsch Ich find Dütsch, wenn mr e dütschi Sprach cha / / wenn mr di Dütsch beherrscht, ich red jetz nid vom / / vo dem rudimentäre Dütsch und so. [. . .] Hochdütsch (no) aso im Sinn au / / momol Hochdütsch, wenn mr si richtig verwändet, find ich die schön. Ich finde Deutsch, wenn man eine Deutsche Sprache kann / / wenn man die Deutsche beherrscht, ich rede jetzt nicht vom / / von diesem rudimentären Deutsch und so. [. . .] Hochdeutsch (noch) also im Sinne au / / doch doch Hochdeutsch, wenn man sie richtig verwendet, finde ich die schön. e. Britisches Englisch konzeptualisiert als das schöne Englisch im positiven ästhetischen Urteilstyp sowie Englisch mit Akzent gesprochen im negativen ästhetischen Urteilstyp: (43) Mann, 40 - 50, primäre Bildung, positives ästhetisches Urteil zu Englisch 13. Die Versprachlichung von Sprachevaluationen 369 <?page no="386"?> I find Englisch, aber richtig schö Englisch, e schöni Sproch. Nöd Amerikanisch, Englisch. [. . .] Jo da [HS] findi e schöni Sproch [HS]. Nöd eh kan Slang, sondern [HS] di richtig schöni Sproch [HS]. E gepflegts Englisch findi öppis schöös (doch). Ich finde Englisch, aber richtig schön Englisch, eine schöne Sprache. Nicht Amerikanisch, Englisch. [. . .] Ja das [HS] finde ich eine schöne Sprache [HS]. Nicht eh kein Slang, sondern [HS] die richtige schöne Sprache [HS]. Ein gepflegtes Englisch finde ich etwas Schönes (doch). Weiter wurde eine Passage kodiert, die sich nicht auf eine spezifische Sprache bezieht, sondern allgemein auf eine nachlässige, grobe oder schludrige Sprachpraxis (die betreffende Gewährsperson distanziert sich von der Auffassung, dass es hässliche Sprachen als solche gibt und betont, dass lediglich bestimmte Sprechweisen hässlich sind). Nebst den Varietäten des Deutschen wird lediglich eine weitere Sprache - Englisch - im Kontext dieses Modells thematisiert. In Kapitel 11.1.1 wurde bereits vermerkt, dass Englisch zu jenen Sprachen gehört, die auf einer höheren Granularitätsebene behandelt werden als andere Sprachen. Dieser Aspekt wird hier einmal mehr deutlich: Englisch wird nicht nur als Eindringling wahrgenommen (Schweizerdeutsch mit angelsächsischer Färbung), sondern selbst auch als verunreinigte Sprache beschrieben. Welches letztlich die transkodischen Elemente sind, die als störend empfunden werden, wird in den untersuchten Interviewpassagen nur ansatzweise klar: Die Gewährspersonen sprechen von „ verslangter “ Sprache. Dies kann sich auf die Ebene der Phonetik, aber auch auf die lexikalische Ebene beziehen. Etwas klarer wird, dass Anglizismen als verunreinigende Elemente im Deutschen empfunden werden. III) S PRACHE ALS T ERRITORIUM Bei den insgesamt 50 Kodierungen, die das Modell Spache als Territorium beinhaltet, konnten vier unterschiedliche Funktionsweisen des Modells festgestellt werden (zusätzlich wurde eine Restklasse für nicht zuordenbare Instanzen gebildet). a. Es findet eine geographische Lokalisierung auf hoher Granularitätsebene statt, die der Präzisierung der Angabe dient (statt der Benennung einer spezifischen Varietät oder eines spezifischen Dialekts wird eine spezifische Region oder ein spezifischer Ort genannt, wo die umschriebene Sprachpraxis lokalisiert wird). In diese Kodierung fallen auch Interviewpassagen, in denen Gewährspersonen fasziniert von klar geographisch definierbaren Dialektunterschieden innerhalb der Schweiz berichten (vgl. Beispiel 2). Diese Funktionsweise kommt vier Mal im affektiven, fünf Mal im positiven ästhetischen und zwei Mal im negativen ästhetischen Urteilstyp vor. (44) Mann, 40 - 50, sekundäre Bildung, negatives ästhetisches Urteil zu Dialekten in Deutschland 370 III. Resultate und Diskussion <?page no="387"?> Mol [HS] eh eh aso Hochdütsch so daa wos nu z Gebiet Sachse eh Anhalt so di nöie Oschtdütsche Lender döt hinde, da findi au öppis grauehafts. Doch [HS] eh eh also Hochdeutsch so das was sie nur im Gebiet Sachsen eh Anhalt so die neuen Ostdeutschen Länder dort hinten, das finde ich auch etwas Grauenhaftes. b. Die Funktionsweisen a. und b. sind als Kontinuum zu verstehen, wobei b. eine geographische Lokalisierung auf niedriger Granularitätsebene ist, die nur eine grobe Einordnung des Beurteilungsobjekts erlaubt. Diese Strategie ermöglicht es den Gewährspersonen, Urteile abzugeben, ohne das beurteilte Objekt genau zu benennen. Solche Angaben umfassen meist mehrere potenzielle Bezugsobjekte (Sprachen, Varietäten). Diese Funktionsweise tritt gehäuft im negativen ästhetischen Urteilstyp auf (mit zehn Kodierungen): Entweder haben die Informanten und Informantinnen tatsächlich keine ausdifferenzierte Vorstellung des Bezugsobjekts (wie etwa in Beispiel 6) oder sie lassen es absichtlich im Dunkeln, da sie keine einzelnen Sprachen als hässlich herausgreifen möchten. Im affektiven Urteilstyp wurde diese Funktionsweise gar nie kodiert und im positiven ästhetischen lediglich zwei Mal. In den Geschmackssequenzen wurde sie drei Mal kodiert. c. Diese Funktionsweise entspricht Trudgill/ Giles (1976) Konzept der mental maps: Einstellungen gegenüber und Bilder von Landschaften, wo das bewertete Objekt geographisch lokalisiert wird, werden auf das Objekt selbst transferiert. Diese können klimatischer, sozialer oder politischer Art sein. Ein sehr klarer Transfer findet sich in Beispiel 45, in dem die beurteilende Person sogar angibt, dass sie sich lediglich vorstellen kann (Konzeptualisierung ohne Perzept), dass Russisch nicht so schön klingt und zwar, weil es da so kalt ist 150 . (45) Frau, 20 - 30, primäre Bildung, negatives ästhetisches Urteil zu Russisch A: Hou, wüescht? * Das isch jetz no schwirig z säge. Ja. Was isch wüescht? * Ich villicht Russisch ((lacht)) ich weiss es nid. Ich ghörs nid so vil aber. I: Russisch? A: Ja ich weiss nid genau. [HS]. Es tönt villeicht / / chänt mir jetz eifach vorstelle, dass das nid eso schön tönt ((lacht)). I: Aber du chasch di jetz nid erinnnere, dass es ghört hesch oder so? A: Nid gross nei. [HS]. Das isch schwirig ja. E wüeschti Sprach? I: Wiso dänksch jetz so s Russisch? A: Wills det so chalt isch ((lacht)). A: Hou, hässlich? * Das ist jetzt noch schwierig zu sagen. Ja. Was ist hässlich? * Ich vielleicht Russisch ((lacht)) ich weiss es nicht. Ich höre es nicht oft aber. I: Russisch? A: Ja ich weiss nicht genau. [HS]. Es klingt vielleicht / / ich könnte mir jetzt einfach vorstellen, dass das nicht so schön klingt ((lacht)). 150 Bei dieser Einstellungsäusserung handelt es sich im Übrigen aller Wahrscheinlichkeit nach um eine nonattitude: Eine Einstellung also, die spontan erfunden wird, um im Interview kooperativ zu erscheinen (vgl. Kap. 8.4.4). 13. Die Versprachlichung von Sprachevaluationen 371 <?page no="388"?> I: Aber du kannst dich jetzt nicht daran erinnern, dass du es gehört hast oder so? A: Nein nicht gross nein. [HS]. Das ist schwierig ja. Eine hässliche Sprache? I: Wieso denkst du jetzt so das Russische? A: Weil ’ s dort so kalt ist ((lacht)). d. Die Gewährsperson berichtet von einem Aufenthalt in einer bestimmten Region oder einem Land, wo das Beurteilungsobjekt gesprochen wird. Diese Funktionsweise findet sich ausschliesslich in den positiven Urteilstypen (vier Mal im affektiven Urteilstyp und zwei Mal im positiven ästhetischen Urteilstyp sowie einmal in einer Geschmackssequenz). In Schilderungen des Typs d. mischen sich häufig Elemente des Typs c. (mental maps), wie Beispiel 46 zeigt. (46) Mann, 40 - 50, sekundäre Bildung, affektives Urteil zu Französisch (Begründungssequenz) I: Jo i bin selber viel z Frankriich i de Feri gsi, ha gueti Bekannti in Frankriich a verschidene Orte und gang immer wieder uf Frankriich [HS] wegem Esse, weg de Landschaft und weg de Lüüt [HS] und weg de Sproch ebe-n-au. I: Ja gits no anderi Gründ, warum das jetz ihne g ’ ad i Sinn cho isch als Lieblingssprach oder? A: Ehm pregend isch eh gsi e Jugenderlebnis wo-n-i kha ha wo-n-i mit wenig Französischkenntnis eh mitem Velo quer dur Frankriich bin [HS]. A: Ja ich war selbst viel in Frankreich im Urlaub, habe gute Bekannte in Frankreich in Frankreich an verschiedenen Orten und gehe immer wieder nach Frankreich [HS] wegen dem Essen, wegen der Landschaft, wegen der Leute [HS] und wegen der Sprache eben auch. I: Ja gibt ’ s noch andere Gründe, warum das jetzt ihnen gerade in den Sinn gekommen ist als Lieblingssprache oder? A: Ehm prägend war eh ein Jugenderlebnis, das ich hatte, als ich mit wenig Französischkenntnis eh mit dem Fahrrad quer durch Frankreich bin [HS]. e. Im letzten Typus der Funktionsweisen des Modells S PRACHE ALS T ERRITORIUM finden sich Interviewpassagen, die den oben genannten Typen nicht klar zugeordnet werden konnten, dennoch geographische oder räumliche Referenzen beinhalten. Der Aussage in Beispiel 9 etwa liegt ein linguistisches Raumkonzept zu Grunde, das von einer bestimmten geographischen Ausbreitung einer Sprache ausgeht, die in der Schweiz nicht eingehalten wird. Die Informantin berichtet davon, wie erstaunt Leute reagieren, wenn sie hören, dass in einer so kleinen Schweiz so verschiedene Sprachen existieren. 13.1.2.3 Ikonisierung und S PRACHE ALS E PIPHÄNOMEN Inwiefern operieren die Gewährspersonen mit den beiden metonymischen Prozessen Ikonisierung und S PRACHE ALS E PIPHÄNOMEN ? Es finden sich im Interviewkorpus zahlreiche Passagen, die nach dem Modell S PRACHE ALS E PIPHÄNOMEN funktionieren. Diese sind oftmals kongruent mit Passagen, die als Alteritätskonstruktionen kodiert worden sind. Die Gewährspersonen empfinden den Prozess, der diesem Modell zu Grunde liegt, als natürlich (Sprachen 372 III. Resultate und Diskussion <?page no="389"?> werden als Epiphänomen verstanden und auch beurteilt). Es finden sich lediglich fünf Stellen, in denen potenziell eine Ikonisierung nachgewiesen werden kann. Diese liegen teilweise in Form von vermenschlichenden Metaphern (aggressiv etc.) vor. Die Kodierung der Ikonisierung ist komplexer als die von Sprache als Epiphänomen: Bei der Ikonisierung wird nach Instanzen gesucht, wo potenziell eine direkte Übertragung von Eigenschaften einer Gruppe auf die Beschreibung linguistischer Eigenschaften stattfindet. Potenziell deswegen, weil die so kodierten Interviewpassagen lediglich mutmasslich das Resultat eines Ikonisierungsprozesses sind, jedoch auch anderen Ursprung haben könnten - der Prozess selbst lässt sich in den Daten nicht nachvollziehen; er wird so direkt nicht thematisiert von den Gewährspersonen, da er ihnen kaum bewusst ist. Die als Ikonisierungen kodierten Instanzen können beispielsweise vermenschlichende Metaphern in der Metasprache der Interviewten sein (eine Sprache wird beispielsweise als aggressiv, lustig oder fremd beschrieben). Allerdings spielt sich dies im vorliegenden Interviewkorpus auf einem sehr allgemeinen Level ab, der keine Rückschlüsse auf konkrete linguistische Phänomene erlaubt, wie in Beispiel 47 gezeigt wird. Die Informantin benutzt den Phraseologismus mit Ecken und Kanten sowie weitere typische Lexeme der Personenbeschreibung (Ausstrahlung, Charakter) in ihrer Beschreibung des Italienischen. (47) Frau, sekundäre Bildung, positives ästhetisches Urteil zu Italienisch A: Doch zum fürs reine Lose phonetisch würd ich säge Italienisch gfallt mier persönlich am beschte. I: Mhm und warum? A: S isch d Melodie, es isch de Charakter wo die Sprach het, d Usstrahlig. I: Aso Usstrahlig jetz i welem Sinn jetz? A: Es isch nid ehm Französisch tönt weicher als Italienisch aber ich has gärn mit Egge und Kante. Und so tönt Italienisch au. A: Doch fürs reine Hören phonetisch würde ich sagen, Italienisch gefällt mir persönlich am besten. I: Mhm und warum? A: Es ist die Melodie, es ist der Charakter, den diese Sprache hat, die Ausstrahlung. I: Also Ausstrahlung jetzt in welchem Sinn jetzt? A: Es ist nicht ehm Französisch klingt weicher als Italienisch, aber ich habe es gerne mit Ecken und Kanten. Und so klingt Italienisch auch. In einer vorhergehenden Interviewpassage mit derselben Informantin (sie nennt Italienisch auch im affektiven Urteilstyp), wird die Verbindung zwischen der Sprache und den Sprechenden etabliert (vgl. Beispiel 48). Das spricht dafür, die oben zitierte Passage als Ikonisierung zu deuten, auch wenn der Rückbezug auf die Sprechenden nicht in der Interviewpassage direkt stattfindet: 13. Die Versprachlichung von Sprachevaluationen 373 <?page no="390"?> (48) Gleiche Informantin wie (47), affektives Urteil zu Italienisch (Begründungssequenz) Das het mit em ganzä italienische Läbesgfühl au no z tue. Das isch eh di die schöni Atmosphäri, s Ässe, die nätte Lüüt ehm die Fründlichkeit, das alles beinhaltet für mich Italienisch. Das hat mit dem ganzen italienischen Lebensgefühl auch noch zu tun. Das ist eh die die schöne Atmosphäre, das Essen, die netten Leute ehm die Freundlichkeit, das alles beinhaltet für mich Italienisch. Die Kodierung Sprache als Epiphänomen lässt sich dagegen leichter lokalisieren. Bei diesen Urteilen ist das Beurteilungsobjekt eine personalisierte Sprechweise. Daher treten die Kodierung Sprache als Epiphänomen und der Supercode Alterität sehr häufig zusammen auf (53 Fälle von vollständiger Überlappung der Kodierungen). Insgesamt wurden 68 Stellen mit dem Kode Sprache als Epiphänomen versehen: zehn im affektiven Urteilstyp, 24 im positiven ästhetischen Urteilstyp, 23 im negativen ästhetischen Urteilstyp und acht in den Geschmackssequenzen. Einige Gewährspersonen thematisieren die Funktionsweise des Modells S PRACHE ALS E PIPHÄNOMEN sogar explizit in ihren Ausführungen, wie die folgenden zwei Beispiele zeigen. In Beispiel 49 wird der Vorgang beschrieben unter Verwendung des Adverbs natürlich während in Beispiel 50 diese Selbstverständlichkeit des epiphänomenologischen Prozesses in der Modalpartikel dänk sowie in der letzten Phrase zum Ausdruck gebracht wird. Dänk wird im Idiotikon (13, 648) umschrieben mit „ vermutlich, dem Anschein nach, wohl “ . (49) Frau, 65+, tertiäre Bildung, affektives Urteil zu Deutsch und Englisch (Begründungssequenz) Auso Dütsch aus Muettersprooch und Änglisch hani vili Johr unterrichtet [HS] und ha / / hami natürlich iigläbt und ou Bekannti gha [HS] und di ganzi Läbesart vo dä Ängländer het mir immer scho gfaue [HS] das bringt me mit de Sproch in Zämehang natürlich. Also Deutsch als Muttersprache und Englisch habe ich viele Jahre unterrichtet [HS] und ha / / habe mich natürlich eingelebt und auch Bekannte gehabt [HS] und die ganze Lebensart von den Engländern hat mir immer schon gefallen [HS] das bringt man mit der Sprache in Zusammenhang natürlich. (50) Schüler, Geschmackssequenz [. . .] wenn me dänk über d L / / über d Liit sälber redt, de gmer / / de gmerkt mes nacher de grad, dass (UNV. 1 s) d Sprach a nid gfallt ja [HS] meischtens isch de grad eso irgendwie [HS] klar. [. . .] wenn man [dänk] über die L / / über die Leute selbst spricht, dann mer / / dann merkt man ’ s nachher dann gerade, dass (UNV. 1 s) die Sprache auch nicht gefällt ja [HS] meistens ist dann grad so irgendwie [HS] klar. 374 III. Resultate und Diskussion <?page no="391"?> 13.1.2.4 Metonymisches Modell: H ÖRORGAN FÜR H ÖREN Kann die metonymische Kette von Hörorgan zu Sprache, insbesondere die Metonymie H ÖRORGAN FÜR H ÖREN (Instrument für Aktion) in der Laienmetasprache lokalisiert werden? Mit Hilfe des metonymischen Modells H ÖRORGAN FÜR H ÖREN wird in den Interviews die Subjektivität des eigenen Urteils ausgedrückt. Das Modell H ÖRORGAN FÜR H ÖREN findet insbesondere im negativen ästhetischen Urteilstyp Verwendung. Welche Rolle spielt das Hörorgan Ohr in der Versprachlichung von Perzeptionserlebnissen? Im Zusammenhang mit der Konstruktion von aktiver versus passiver linguistischer Identität konnte bereits festgestellt werden, dass die passive, zuhörende linguistische Identität am häufigsten im positiven ästhetischen Urteilstyp konstruiert wird. Die Referenz auf das Hörorgan Ohr wird jedoch nicht in diesem Urteilstyp am häufigsten vollzogen, sondern beim negativen ästhetischen Urteil. Insgesamt wurden 10 Interviewpassagen kodiert, in denen das Modell H ÖRORGAN FÜR H ÖREN gefunden wurde: eine im affektiven Urteilstyp, eine im positiven ästhetischen, vier im negativen ästhetischen (wobei eine sich auf ein positives Urteil im Innern des negativen Urteils bezieht), zwei in der Geschmackssequenz sowie zwei in der Biographiesequenz. Insgesamt wird das Modell aber lediglich von fünf verschiedenen Gewährspersonen verwendet, das heisst, wenn jemand mit diesem Modell operiert, dann tut er/ sie dies tendenziell gleich an mehreren Stellen des Interviews. Mit dem Modell H ÖRORGAN FÜR H ÖREN wird der Aspekt der Subjektivität des Urteils hervorgehoben (unter der Verwendung eines Possessivpronomens vor Ohr), wie die folgenden beiden Beispiele zeigen: (51) Frau, 65+, tertiäre Bildung, affektives Urteil zu Englisch Für mini Ohre klingt im Gägesatz zu viune Lüüt Änglisch sehr schön. Für meine Ohren klingt im Gegensatz zu vielen Leuten Englisch sehr schön. (52) Frau, 40 - 50, sekundäre Bildung, Geschmackssequenz (zurückverweisend auf negatives ästhetisches Urteil) Das isch eifach jetz wil das nid nid i mis Ohr passet [HS] irgendwie. Das ist einfach jetzt weil das nicht nicht in mein Ohr passt [HS] irgendwie. Ferner wird die Wendung das Ohr nicht haben für eine Sprache von zwei Gewährspersonen benutzt. In Beispiel 53 wird ausser dem Ohr als Hörorgan auch das Gehör als Ganzes erwähnt - erneut wird mit Hilfe des metonymischen Modells der Subjektivität des Urteils Ausdruck verliehen. (53) Mann, 20 - 30, sekundäre Ausbildung, Geschmackssequenz Sicher. Me hed ja für öppis es Ohr wi wenn d für Musigstiil es Ohr het het mrs vermuetlich für Fra / / e für Sprache au es Ghör [HS]. Und eifach so ds Flämische find ich eso jaa [HS] (s) gfallt mr nid eso. 13. Die Versprachlichung von Sprachevaluationen 375 <?page no="392"?> Man hat ja für etwas ein Ohr wie wenn du für Musikstile ein Ohr hat hat man ’ s vermutlich für Fra / / e für Sprachen auch ein Gehör [HS]. Und einfach so das Flämische finde ich so jaa [HS] (es) gefällt mir nicht so. 13.1.3 Plurizentrizitätsbewusstsein und Laientaxonomie in der Deutschschweiz Kommt das Bewusstsein für die Plurizentrizität der deutschen Sprache in der Laienmetasprache zum Ausdruck? Es konnten im Interviewmaterial lediglich acht Instanzen kodiert werden, in denen das Bewusstsein für die Plurizentrizität der deutschen Sprache zum Ausdruck kommt. Auf die unterschiedlichen Varianten der deutschen Hochsprache wird immer mittels Paraphrasierungen referiert, die teilweise selbst evaluativen Charakter haben (z. B. wird von einem korrekten oder schönen Hochdeutsch gesprochen). Defizienzempfinden kann praktisch nicht nachgewiesen werden - im Gegenteil: Die älteste Generation zeichnet sich zum Teil durch ein ausgeprägtes Selbstbewusstein aus, was das Sprechen der Standardsprache anbelangt. In diesem Kapitel wird geprüft, ob und wie ein Plurizentriziätsbewusstsein in der evaluativen Metasprache von Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern zum Ausdruck kommt. Von Interesse ist dabei die konzeptuelle onomasiologische Variation in der Laientaxonomie für standarddeutsche Varietäten sowie Interviewstellen, in denen das von Scharloth (2005) definierte Defizienzempfinden nachgewiesen werden kann. Ganz allgemein muss die Beobachtung vorausgeschickt werden, dass Laien nur schon sehr unspezifisch sind, was die Varietäten der deutschen Sprache betrifft: Trotz der unter 9.3.3 beschriebenen Interviewstrategie des Nachhakens bei der Nennung von Deutsch, wird in elf Fällen eine Spezifizierung verweigert 151 . Ansonsten wird auf Nachfrage gewöhnlich unterschieden zwischen Schweizerdeutsch und Hochdeutsch. Die nächste Granularitätsebene, also die Unterscheidung unterschiedlicher nationaler hochdeutscher Varianten, wird nur noch sehr selten erreicht. Insgesamt konnten acht Instanzen gefunden werden, in denen ein Bewusstsein für die Plurizentrizität des Hochdeutschen nachgewiesen werden kann. Die onomasiologische Variation ist beachtlich. Die vorgefundenen Paraphrasierungen sind nicht immer neutral, sondern haben selbst teilweise evaluativen Charakter. Vier Typen von Paraphrasierungen konnten definiert werden: 151 Hier ist anzumerken, dass die Praxis, die Varietäten des Deutschen in der Schweiz einfach als Deutsch zu bezeichnen, weit verbreitet ist. Sogar die Schweizer Verfassung wird nicht spezifischer beim Definieren der Landessprachen: „ Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. “ (Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Art. 4). 376 III. Resultate und Diskussion <?page no="393"?> a. Normative Vorstellung von korrektem/ schönem Hochdeutsch (zwei Kodierungen): Präsupponiert wird in diesen Paraphrasierungen, dass Hochdeutsch auch in fehlerhafter/ weniger schöner Form (ein Informant benutzt den Terminus rudimentär, vgl. Beispiel 42) vorkommt. Unklar ist, wem die korrekte und schöne standarddeutsche Sprechweise zugesprochen wird oder wo diese lokalisiert wird. Interessant in Beispiel 54 ist die zunehmende Spezifität der Antwort auf Nachfrage der Interviewerin hin (von global zu spezifisch, vgl. Prestons Kontinuum in Kap. 2.2.2). Die Informantin gibt an, innerhalb der Varietäten Hochdeutsch und Schweizerdeutsch differenzieren zu können, worauf eine normativ geprägte Passage zu Hochdeutsch mit einer nicht spezifizierten Alterität jemand folgt: (54) Frau, 20 - 30, sekundäre Bildung, negatives ästhetisches Urteil innerhalb des positiven ästhetischen Urteils A: Ja Dütsch weniger zum Bischpiil. I: Schwiizerdütsch oder Hochdütsch oder beidi oder? A: Ehm ja genere / / aso ich (ghör/ wür) eigentli beidi nid schön vom Töne. [HS]. Ich find, i cha zwar ebe natürlich denn differenziere denn wider innerhalb vo dene. E schöns Hochdütsch find ich scho au tönt tönt schön, los ich gern zue [HS] wenn öpper würklich schön chan Hochdütsch rede. A: Ja Deutsch weniger zum Beispiel. I: Schweizerdeutsch oder Hochdeutsch oder beide oder? A: Ehm ja genere / / also ich (höre/ würde) eigentlich beide nicht schön vom Klingen. [HS]. Ich finde, ich kann zwar eben natürlich dann differenzieren dann wieder innerhalb von denen. Ein schönes Hochdeutsch finde ich schon auch klingt klingt schön, höre ich gern zu [HS] wenn jemand wirklich schön Hochdeutsch sprechen kann. b. Erwähnung unterschiedlicher Varianten in Abgrenzung zueinander (drei Kodierungen). Die Taxonomie des Schülers (55) ist weitaus unspezifischer als die Taxonomie des pensionierten Lehrers (56). Der Schüler möchte zum Ausdruck bringen, dass ihn weniger die schweizerische nationale Variante stört als die bundesdeutsche nationale Variante: Über die Angabe der Sprechenden grenzt er die beiden Varianten voneinander ab, spricht aber nicht von Anfang an von Deutschen, die Hochdeutsch sprechen, sondern von diä Gherigä, also von den Richtigen oder Echten. Dieser Dialektausdruck ist im Zusammenhang mit nationalen Varianten hochbedeutsam. Der Schüler impliziert damit, dass Hochdeutsch (zu) den Deutschen aus Deutschland mehr gehört als (zu) den Schweizerinnen und Schweizern. (55) Schüler, negatives ästhetisches Urteil zu Hochdeutsch A: Wiäscht? [HS]. Jaa wettigi us Ex Lu / / Jugsolawie oder ehm ja, was gfallt miär oi nid? * Hochdiitsch ((lacht)). I: Isch au ned schön ja. Jetze warum . . . A: Aso diä Gherigä wo di aso nid d Schwi / / so wiä d Schwiizer tiänd wiä diä Diitschä tiänd oder äso. 13. Die Versprachlichung von Sprachevaluationen 377 <?page no="394"?> A: Hässlich? [HS]. Jaa solche aus Ex Lu / / Jugoslawien oder ehm ja, was gefällt mir auch nicht? * Hochdeutsch ((lacht)). I: Ist auch nicht schön ja. Jetzt warum . . . A: Also die Richtigen die die also nicht die Schwei / / so wie die Schweizer (es) tun, wie die Deutschen (es) tun oder also. Der pensionierte Lehrer unterscheidet zwischen einer Variante des Hochdeutschen, die er in seinem Berufsalltag als Lehrer verwendet hat und als Schriftsprache bezeichnet und einer Variante, die er als Hochdeutsch respektive die Bühnensprache bezeichnet. Ins Auge sticht besonders das Code-Switching (oder im Sinne Auers (1999: 85) eher der Varietätenwechsel als Transfer 152 ) in dieser Passage: (56) Mann, 65+, sekundäre Bildung, affektives Urteil zu Schweizerdeutsch (mit Passage zu Hochdeutsch) Aso Schwiizerdütsch jo [HS] jo vor allem jojo [HS] wie mir redid ü / / üse Dialekt [HS] und i de Schuel hani selbverstendlich eh Schriftsprach gredt. Nüd wie hüt immer gseit wird Hochdütsch, dasch nemlich vollstendig faltsch. Da stimmt gar nöd. Mier eh reded e Schriftsproch i de Schuel und nüd eine hochdeutsche Sprache [HS]. Dasch dii Bühnensprache an und für sich und da stimmt nöd he. Also Schweizerdeutsch ja [HS ja vor allem jaja [HS] wie wir reden u / / unseren Dialekt [HS] und in der Schule habe ich selbstverständlich eh Schriftsprache geredet. Nicht wie heute immer gesagt wird Hochdeutsch, das ist nämlich vollständig falsch. Das stimmt gar nicht. Wir eh reden eine Schriftsprache in der Schule und nicht [*Transfer*] *eine hochdeutsche Sprache* [HS]. Das ist *die Bühnensprache* an und für sich und das stimmt nicht he. c. Thematisierung der nationalen Variante der Schweiz (eine Kodierung). In Beispiel 4 wurde eine solche Passage gezeigt, die gleichzeitig die einzige Fundstelle zur Kategorie Defizienzempfinden darstellt (der Primarlehrer mag es nicht, wenn Schweizer Hochdeutsch sprechen und findet seine eigene Ansicht oder die Situation, in der er sich damit befindet, kontrovers, da er in seinem Berufsalltag dazu verpflichtet ist, diese Variante zu verwenden). d. Thematisierung der nationalen Variante Deutschlands (zwei Kodierungen). Bei beiden Kodierungen findet zwar eine Differenzierung innerhalb der Varietät Hochdeutsch statt, allerdings handelt es sich bei den genannten Bezugsgrössen aller Wahrscheinlichkeit nach gar nicht um die bundesdeutsche Variante von Hochdeutsch, sondern um Dialekte, die in Deutschland gesprochen werden. Eine dieser Interviewpassagen wurde in Beispiel 44 152 Auer (1990: 85, zitiert nach Christen, 1998: 204 f.) definiert Varietätenwechsel einmal als Transfer (Sprecheinheiten mit festgelegten Grenzen wie einzelne Wörter, Redensarten oder Idiome) und einmal als Code-Switching (der Wechsel ist nicht vorhersagbar). Der Informant in Beispiel 56 vollzieht den Varietätenwechsel von Schweizerdeutsch zu Hochdeutsch nur für die Länge der Taxonomieeinheit mit dazugehörigem Artikel (eine hochdeutsche Sprache sowie die Bühnensprache). 378 III. Resultate und Diskussion <?page no="395"?> bereits zitiert: Die Gewährsperson urteilt negativ über Hochdeutsch und nimmt eine geographische Spezifizierung vor, indem sie das Bundesland Sachsen-Anhalt und allgemeiner die neuen ostdeutschen Bundesländer nennt. In einer anderen Passage schildert ein älterer Informant einen Ausbildungsaufenthalt in München, bei dem er Personen aus ganz unterschiedlichen Orten, Gebieten und Bundesländern Deutschlands kennen gelernt hat (er nennt Bayern, Hannover, Hamburg, Lübeck, Bremen, Frankfurt und Kaiserslautern). Der Informant spricht von Nuancen in deren Schriftdeutsch. Unter der Berücksichtigung der Tatsache, dass die Differenzierung innerhalb des Hochdeutschen sich in diesen beiden Fällen nicht (oder nicht ausschliesslich) auf die bundesdeutsche nationale Variante von Hochdeutsch bezieht, sondern eher auf verschiedene Dialekte Deutschlands (Sächsisch, Bayerisch, Hessisch etc.), kann hier nicht von Plurizentrizitätsbewusstsein im eigentlichen Sinne gesprochen werden. ● Die Kategorie Defizienzempfinden konnte lediglich ein Mal kodiert werden. Nur die Aussagen des bereits mehrfach erwähnten Deutschschweizer Primarlehrers, der findet, es klinge gestelzt, wenn Schweizer Hochdeutsch sprechen, kann im Kontext von Defizienzempfinden gesehen werden (vgl. Beispiel 4). Hervorzuheben ist aber unbedingt, dass sich im Interviewkorpus insbesondere in der Generation der über 65-Jährigen Stellen finden, die von einem ausgeprägten Selbstbewusstsein im Umgang mit Standarddeutsch zeugen (vgl. dazu auch Kapitel 13.2.2 folgend). In einem Fall wird sogar explizit gesagt, dass langsameres Schweizerhochdeutsch in Osteuropa bevorzugt wird, da es für Nicht- Deutschsprachige verständlicher ist als die bundesdeutsche Variante. Zu beachten ist das von diesem Mann verwendete Verb, das er bei der Konstruktion der Alterität (Deutsche, die Hochdeutsch reden) verwendet: schnörre. Das schweizerische Idiotikon (9, 1279) defniert schnorre respektive schnörre folgendermassen: „ derb, meist verächtlich für (viel, eilfertig, laut, grob, aufdringlich, unnütz, bösartig) reden, schwatzen [. . .] “ . (57) Mann, 65+, tertiäre Bildung, Biographiesequenz (Antwort auf die Frage, welche Sprachen er kann) A: Ja auso *. ((Lacht)) usser Dütsch * und do isch mängisch zum Bischpiu in Prag mis Dütsch globt worde, me verstöng mi. Wiu i langsam(er) rede, hei si mi verstange. Besser aus di Dütsche hei si mi verstange. I: Aha wil diä z schnäll . . . A: (UNV. 1 s) [HS] ä Schwiizer ghört wo Dütsch redt lieber aus eine, wo [HS] so perfekt schnörred. Dütsch chani auso. A: Ja also *. ((Lacht)) ausser Deutsch * und da ist manchmal zum Beispiel in Prag mein Deutsch gelobt worden, man verstehe mich. Weil ich langsam(er) rede, haben sie mich verstanden. Besser als die Deutschen haben sie mich verstanden. I: Aha weil die zu schnell . . . A: (UNV. 1 s) [HS] ein Schweizer gehört, der Deutsch redet lieber als einen, der [HS] so perfekt [schnörred]. Deutsch kann ich also. 13. Die Versprachlichung von Sprachevaluationen 379 <?page no="396"?> 13.1.4 Metakommentare zu Urteilsfähigkeit und Urteilspraxis Inwiefern werden affektive und ästhetische Urteile von den Gewährspersonen metakommunikativ behandelt? Während das affektive Urteilen über Sprachen eine recht selbstverständliche Praxis darstellt, sind beide ästhetischen Urteilstypen für die Informantinnen und Informanten augenscheinlich schwieriger oder ungewohnter. Insbesondere bei Aussagen über die Hässlichkeit von Sprachen werden Gesprächstechniken eingesetzt, die eine längere Reflexion erlauben (Fragewiederholung) und es wird explizit artikuliert, dass die Frage als schwierig oder gefährlich empfunden wird. Wie gehen Menschen mit weniger ausgeprägten Sprachkenntnissen mit der Interviewsituation um? Die Praxis des affektiven und ästhetischen Urteilens ist für einen Menschen ohne ausgeprägte Sprachkenntnisse keine Selbstverständlichkeit: Die Urteile werden relativiert und in distanzierter Form vorgebracht. Es entsteht sogar der Eindruck, dass die Person sich nicht befugt fühlt, überhaupt über Sprachen zu urteilen. Die Person mit ausgeprägten Fremdsprachenkenntnissen wirkt in den untersuchten Interviewpassagen sicherer in ihren Urteilen. Handelt es sich beim linguistischen Werturteil gemäss den Gewährspersonen um eine Geschmacksache? Dass ästhetische und affektive Urteile subjektiv sind (also eine Geschmacksache), wird von der Mehrheit der Befragten bestätigt. Lediglich einige wenige finden, dass (meist sehr unspezifische) „ Andere “ ähnlich urteilen würden wie sie. Zu beachten sind auch die acht ambivalenten Antworten, in denen deutlich wird, dass einige Informantinnen und Informanten über den Grad der Subjektivität ihrer Urteile erst nachdenken müssen und demnach ihre Einstellung zur eigenen Urteilspraxis noch finden müssen. In diesem Kapitel werden drei Fragekomplexe behandelt: 1. Wie ist das affektive und ästhetische Urteilen über Sprachen in der Sprachpraxis von Laien einzuordnen? Fällt das Urteilen schwer? Wird es kommentiert und hinterfragt oder handelt es sich um eine selbstverständliche Praxis? Um diesen Aspekt zu erforschen, werden die Kodierungen studiert, die Rückfragekategorien betreffen (folgend noch ausführlicher erklärt) sowie solche, die metasprachliche Sequenzen zur Urteilspraxis betreffen. Die Analyse erfolgt nach Urteilstypen, damit allfällige Unterschiede zwischen diesen aufgezeigt werden können. 2. Wie gehen Menschen mit weniger ausgeprägten Fremdsprachenkenntnissen mit der Interviewsituation um? Hinterfragen sie ihre Urteile stärker als Menschen, die angeben, mehrere Sprachen zu sprechen? Wird die Urteilsfähigkeit explizit angezweifelt oder werden die Urteile relativiert? Zur Analyse dieser Fragestellung wird die Kategorie Urteilsqualifizierung in einer Fallkontrastierung studiert. 380 III. Resultate und Diskussion <?page no="397"?> 3. Was antworten die Interviewpartnerinnen und -partner auf die Frage, ob es sich bei ihren Urteilen um eine Geschmackssache handelt? Wird das Urteilen über Sprachen eher als individuelle und subjektive Praxis beschrieben oder geben die Gewährspersonen eher an, dass die Beurteilungen geteilt werden und damit objektiveren Charakter haben - und wenn ja: Mit wem glauben sie, ihre Urteile zu teilen? Affektives und ästhetisches Urteilen als alltägliche und natürliche Praxis? Folgende drei Rückfragetypen wurden definiert und kodiert: a. Kompetenz: Die Gewährsperson erkundigt sich danach, ob sie die Sprache sprechen können muss, um sie beurteilen zu dürfen, oder ob sie auch einfach einen passiven Zugang dazu haben darf. Viele Gewährspersonen differenzieren zwischen dem aktiven und passiven Zugang von sich aus in ihren Antworten ohne eine solche Rückfrage vorauszuschicken (vgl. Kap. 13.1.1 zur Konstruktion aktiver vs. passiver linguistischer Identitäten). b. Granularität: Die Gewährsperson erkundigt sich danach, ob sie auch Dialekte oder Varietäten nennen darf. Manchmal wird auch danach gefragt, ob Fremdsprachen genannt werden müssen oder ob die eigene Sprache auch als Antwort zählt. c. Wiederholung: Als Wiederholung wurde kodiert, wenn die Gewährsperson entweder die ganze Interviewfrage wiederholt oder wenn sie Teile der Frage mit steigender Intonation fragend wiederholt (Schön? Hässliche Sprachen? ). Es wird angenommen, dass das Wiederholen der Frage einerseits eine Strategie der Zeitgewinnung ist, mit der eine Antwort hinausgezögert werden kann und Zeit zum Reflektieren gewonnen wird. Andererseits kann eine Wiederholung der Frage auch dann auftreten, wenn die Gewährsperson über die Frage ehrlich überrascht ist und sich vergewissern will, ob sie sie richtig verstanden hat. In jedem Fall zeugt eine Wiederholung der Frage davon, dass entweder die Frage nicht einem vertrauten Frageschema entspricht oder dass das Antworten darauf keine selbstverständliche Praxis ist. Tabelle 45 zeigt die Werte für die verschiedenen Rückfragetypen nach Urteilstypen. 13. Die Versprachlichung von Sprachevaluationen 381 <?page no="398"?> Tab. 45: Rückfragetypen (Kompetenz, Granularität, Fragewiederholung) in den drei Urteilstypen (Urteilssequenzen). Affektives Urteil Positives ästhetisches Urteil Negatives ästhetisches Urteil Kompetenz 3 0 0 Granularität 9 2 1 Wiederholung 6 6 23 Während Rückfragen zur Kompetenz und zur Granularität im ersten Urteilstyp, der im Interview abgefragt wird, am häufigsten gestellt werden und wenn sie einmal geklärt sind, nicht mehr so häufig auftreten, ist die Wiederholung als Rückfragetypus am häufigsten im negativen ästhetischen Urteilstyp, welcher der letzte im Interviewleitfaden abgefragte Urteilstyp ist. An anderen Stellen wurde bereits darauf hingewiesen, dass das Antwortverhalten in diesem Urteilstyp vom Antwortverhalten in den beiden anderen Typen abweicht. Die Befragten bleiben hier am häufigsten eine Antwort schuldig (vgl. Kap. 11.2 sowie eine qualitative Vertiefung des Aspekts in Kap. 13.2.1). Die vielen Rückfragen ausgerechnet in diesem Urteilstyp zeugen einerseits vom Überraschungswert der Frage als solcher, andererseits von der längeren Reflexionszeit, die zur Beantwortung der Frage anscheinend benötigt wird. Wenn die Fragewiederholung als Verzögerungstaktik ausgelegt wird, kann das gehäufte Auftreten dieses Rückfragetyps beim negativen ästhetischen Urteil auf das Vorliegen von nonattitudes hindeuten: Es handelt sich bei den Antworten nicht um bereits existierende Meinungen, die nur noch abgerufen werden müssen, sondern die Gewährspersonen versuchen, spontan eine Antwort zu erfinden, um kooperativ zu sein (vgl. Beispiel 45). Bei der induktiven Kodierung der Metasprache zur Urteilspraxis konnten folgende Kategorien definiert werden: a. Die Informanten drücken zu Beginn der Antwortsequenz aus, dass sie die Frage respektive deren Beantwortung als schwierig empfinden (neun Kodierungen beim affektiven Urteil, acht beim positiven und zehn beim negativen ästhetischen Urteil). b. Die Gewährspersonen sagen, dass sie Zeit zum Überlegen benötigen oder dass sie kurz überlegen möchten (in allen Urteilstypen je eine Kodierung). c. Drei Gewährspersonen sagen im positiven ästhetischen Urteilstyp ferner, dass sie sich über diesen Gesichtspunkt (die Schönheit von Sprachen) noch nie Gedanken gemacht haben. Die grösste und spontanste Akzeptanz findet also die Frage nach Lieblingssprachen. Nur eine Informantin äussert schon hier Skepsis gegenüber der Frage als solcher und nennt affektives Urteilen über Sprachen eine sentimentale Sache: 382 III. Resultate und Diskussion <?page no="399"?> (58) Frau, 65+, tertiäre Bildung, affektives Urteil zu Dialekt in der Schweiz, Hochdeutsch und Englisch Aso ich ha Sprache no nie nach Lieblings oder nöd Lieblings ussortiert. Mini Muettersprach isch A de Dialäkt zwei / / zweitens di dütschi Hochsprach und drittens Änglisch. [. . .] Ich dänke mir das e / / en isch en zimlich sentimentali Art (UNV. 1 s) die Sach mit de Lieblingssprach, me diskutiert mitem italienische Jüngling, und dänn isch halt Italienisch eim sini Lieblingssprach oder Spanisch oder wie auch immer. Also ich habe Sprachen noch nie nach Lieblings oder nicht Lieblings aussortiert. Meine Muttersprache ist A der Dialekt zwei / / zweitens die deutsche Hochsprache und drittens Englisch. [. . .] Ich denke mir das e / / en ist eine ziemlich sentimentale Art (UNV. 1 s) die Sache mit der Lieblingssprache, man diskutiert mit einem italienischen Jüngling, und dann ist halt Italienisch die Lieblingssprache oder Spanisch oder wie auch immer. d. In beiden ästhetischen Urteilstypen wird in je einer Kodierung klar, dass die Fragen als nicht ganz harmlos eingeschätzt werden, dass also Unsicherheit über die soziale Wünschbarkeit einer Antwort besteht. Worin das Risiko einer Antwort aber genau besteht, wird nicht artikuliert - in beiden Fällen erfolgt nach einem kurzen Statement der Verunsicherung dennoch ein ästhetisches Urteil. Im positiven ästhetischen Urteilstyp sagt ein Informant auf die Frage, was denn die schönste Sprache sei, das Folgende: (59) Mann, 65+, sekundäre Bildung, positives ästhetisches Urteil Ja da / / das isch jetz no e ganz e heisses Iise. Ja da / / das ist jetzt noch ein ganz ein heisses Eisen. Der Informant bringt mit seiner Aussage zum Ausdruck, dass man sich an dieser Frage die Finger verbrennen kann, dass ihm also die Brisanz des ästhetischen Urteilens über Sprachen bewusst ist. Er zieht es anschliessend beim negativen ästhetischen Urteil vor, seine Frau zu zitieren, die bestimmte Sprachen nicht schön findet. Beim negativen ästhetischen Urteil wird einmal gesagt, dass die Frage gefährlich sei, beantwortet wird die Frage dann aber dessen ungeachtet recht ausführlich. Wie gehen Menschen mit weniger ausgeprägten Sprachkenntnissen mit der Interviewsituation um? Um diese Frage zu beantworten, wird die Analysetechnik der Fallkontrastierung gewählt. Insgesamt sind im Interviewkorpus nur sehr wenige Informantinnen und Informanten vertreten, die von sich selbst sagen, dass sie über geringe oder gar keine Fremdsprachenkenntnisse verfügen. Für die Fallkontrastierung wurde zum einen ein Interview mit einer Frau der primären Bildungsstufe aus der Generation der 40bis 50-Jährigen ausgewählt, die von sich selbst sagt, dass sie lediglich Hochdeutsch und Schweizerdeutsch kann und für ein Jahr in der Schule Französisch gelernt 13. Die Versprachlichung von Sprachevaluationen 383 <?page no="400"?> hat. Die Informantin weist eine ausgeprägte linguistische Unsicherheit auf, wenn es um Fremdsprachen geht, wie folgende Interviewpassage zeigt: (60) Frau, 40 - 50, primäre Ausbildung, Biographiesequenz Und eifach das letzschte Schueljahr hämiär no ganz wenig Französisch gha. Da isch de das cho as miär Französisch hend [HS]. Aso sehr wenig [HS]. Aber ich ha au Hemmige Fremdsprach rede, ich weiss nid wiso, ich find si sehr schön aber ich ha Hemmige [HS] en anderi Sprach rede. Und einfach das letzte Schuljahr hatten wir noch ganz wenig Französisch. Da ist dann das gekommen dass wir Französisch hatten [HS]. Also sehr wenig [HS]. Aber ich habe auch Hemmungen, Fremdsprachen zu sprechen, ich weiss nicht wieso, ich finde sie sehr schön aber ich habe Hemmungen [HS] eine andere Sprache zu sprechen. Kontrastiert wurde dieser Fall mit dem einer Frau in der gleichen Alters- und Bildungsgruppe, die bilingual aufgewachsen ist (Dänisch/ Deutsch) und später in der Sekundarschule und während einer kaufmännischen Ausbildung Französisch und Englisch gelernt hat. In Tabelle 46 erfolgt die Fallkontrastierung mit Fokus auf Interviewpassagen, in denen in mindestens einem der Interviews eine metasprachliche Urteilsqualifizierung festgestellt werden konnte. Tab. 46: Fallkontrastierung bezüglich Urteilsqualifizierungen (beide Informantinnen weiblich, 40 - 50, primäre Bildung): geringe vs. ausgeprägte selbstdeklarierte individuelle Mehrsprachigkeit. Die als Urteilsqualifizierungen kodierten Stellen sind unterstrichen. A. Selbstdeklarierte individuelle Mehrsprachigkeit gering B. Selbstdeklarierte individuelle Mehrsprachigkeit ausgeprägt Affektives Urteil Muttersprache Dänk Diitsch. Wohl Deutsch Ja seg jetz emol Schwiizerdütsch ((lacht)). Ja ich sage jetzt einmal Schweizerdeutsch ((lacht)) Affektives Urteil Französisch Ich ich würd säge, s Französisch würd mr au sehr guet gfalle, ich has nie rächt glehrt. Ich ich würde sagen, das Französische würde mir auch sehr gut gefallen, ich habe es nie recht gelernt. Wenn i jetz d Fremdsproche alueg hani am liebschte Französisch [HS] ja. Wenn ich jetzt die Fremdsprachen anschaue, habe ich am liebsten Französisch [HS] ja. Positives ästhetisches Urteil Au Änglisch findi au sehr schön [HS] das isch eifach vom Klang här und ich beniid die Lüüt, wo eifach e Fremdsprach chönd ((lacht verlegen)). Aso Englisch natürli jo isch au guet [HS] scho klar. 384 III. Resultate und Diskussion <?page no="401"?> A. Selbstdeklarierte individuelle Mehrsprachigkeit gering B. Selbstdeklarierte individuelle Mehrsprachigkeit ausgeprägt Auch Englisch finde ich auch sehr schön [HS] das ist einfach vom Klang her und ich beneide die Leute, die einfach eine Fremdsprache können ((lacht verlegen)). Also Englisch natürlich ja ist auch gut [HS] schon klar. In der ersten Urteilsqualifizierung von Informantin A. wird deutlich, dass sie in ihrer Urteilspraxis nicht auf einen Fundus an Sprachen zurückgreifen kann. Nach der Lieblingssprache gefragt, ist für sie klar, dass nur ihre L1 in Frage kommt. Bei Informantin B. im Gegensatz dazu kann die erste Antwort so verstanden werden, dass Schweizerdeutsch als L1 lediglich eine Antwortoption unter mehreren darstellt für sie. Auch beim affektiven Urteil zu Französisch scheint Informantin B. aus einer Reihe von Fremdsprachen, die sie mental abruft, auszuwählen. Sie sagt, dass sie am liebsten Französisch mag, was präsupponiert, dass sie auch andere Fremdsprachen gerne mag. Informantin A. dagegen wirkt in ihrem affektiven Urteil zu Französisch vom Gegenstand und der Urteilspraxis distanziert (sie benutzt eine Konjunktivkonstruktion und sagt, sie würde Französisch sagen, denn Französisch würde ihr gefallen) und es entsteht der Eindruck, als fühle sie sich wegen ihrer mangelnden Französischkenntnisse nicht wirklich befugt, Französisch zu mögen. Die Frau räumt direkt anschliessend an ihr Urteil ein, dass sie Französisch nie recht gelernt hat. Etwas direkter fällt ihr Urteil dann aber im positiven ästhetischen Urteil zu Englisch aus. Die Informantin betont, dass dieses Urteil in einem passiven Zugang zur Sprache begründet ist; sie äussert sich offen dazu, dass sie Leute beneidet, die Fremdsprachen einfach so können. Informantin B. hingegen hat auch zum positiven ästhetischen Urteil einen viel selbstverständlicheren Zugang: die Urteilsqualifizierungen natürlich und schon klar im Zusammenhang mit Englisch zeigen dies deutlich. Linguistisches Werturteil: eine Geschmacksache? Insgesamt wurde die Frage, ob es sich bei den abgegebenen Urteilen um eine Geschmacksache handelt, in 38 der 60 transkribierten Interviews gestellt (vgl. zur Problematik der Weglassung der Frage Kap. 9.3.2, Fussnote 114). Fünf Mal argumentieren Gewährspersonen, dass ihre Urteile keine Geschmackssache sind, also objektiven Wert haben; 25 Mal sprechen sie sich dafür aus, dass ihre Urteile subjektiven Charakter haben, also eine Geschmacksache sind und in acht Fällen wird ambivalent argumentiert. Wenn die Gewährspersonen davon ausgehen, dass ihre Urteile keine reine Geschmacksache sind, geben sie gewöhnlich jedoch nicht an, mit wem sie diese Urteile zu teilen 13. Die Versprachlichung von Sprachevaluationen 385 <?page no="402"?> glauben. Eine Gewährsperson sagt, dass es anderen wohl ähnlich ergehe und ein jüngerer Mann erklärt, dass man oft höre, dass Französisch unbeliebt sei und dass er selbst glaube, dass die jüngere Generation eher Englisch bevorzuge. Eine Informantin, die ebenfalls nicht findet, dass ihre Urteile ausschliesslich subjektiven Charakter haben, argumentiert im Sinne von Hypothese 15 (vgl. Kap. 8.3.7), wo die Behauptung aufgestellt wurde, dass unterschiedliche Muttersprachen zu unterschiedlichen Sprachurteilen führen (die im Übrigen in Kap. 12.5.4 partiell angenommen werden konnte): (61) Frau, 20 - 30, sekundäre Bildung, Geschmackssequenz * Ich glaub au eher, es chunt druf a, was was diini Muettersprach isch, was du dich gwöhnt bisch und denne-n-eifach, was du demit verbindisch au. Aso will eh südländischi Sprache isch au e chli meh eher Ferie oder eifach so agnähmi Gfühl au. Die nordische Sprach / / aso jetze vor allem jetz halt das Russisch verbindt me eher mit chalt und hert [HS]. Aso ich glaube / / kei Ahnig wenn ich das jetz eso spontan muess säge. * Ich glaube auch eher, es kommt darauf an, was was deine Muttersprache ist, woran du dich gewöhnt bist und dann einfach, was du damit verbindest auch. Also weil eh südländische Sprachen ist auch e ein bisschen mehr eher mit Ferien oder einfach so angenehmen Gefühlen auch. Die nordischen Sprach / / also jetzt vor allem jetzt halt das Russisch verbindet man eher mit kalt und hart [HS]. Also ich glaube / / keine Ahnung wenn ich das jetzt so spontan sagen muss. Dass immerhin acht der 38 Interviewten ambivalent antworten, zeigt, dass nicht grundsätzlich eine verfestigte Meinung über diesen Aspekt existiert und dass die Praxis des Urteilens für die Gewährspersonen gelegentlich Fragen aufwirft. In Beispiel 62 wird eine solche ambivalente Antwort gezeigt: (62) Frau, 20 - 30, primäre Bildung, Geschmackssequenz Ich chamer vorstelle, dass es ehm e Gschmacksach isch aber au chänt si, dass es eifach ehm e nid melodiös tönt [HS] abghackt. Villicht gits würklich settig Sprache. Irgendwie Samisch chänt glaub no so irgendwie no so si? [HS]. Hani au scho mal ghört, dass das so komisch / / eifach so Silbe wos hend. [HS]. Ich kann mir vorstellen, dass es ehm eine Geschmackssache ist aber auch sein könnte, dass es einfach ehm eh nicht melodiös klingt [HS] abgehackt. Vielleicht gibt ’ s wirklich solche Sprachen. Irgendwie Samisch könnte glaub noch so irgendwie noch so sein? [HS]. Habe ich auch schon mal gehört, dass das so komisch / / einfach so Silben, welche sie haben. 13.1.5 Laienwahrnehmung von Urteilsentstehung, -wandel und -stabilität Wann und unter welchen Umständen entstehen gemäss den Gewährspersonen ästhetische und affektive Sprachurteile und wie verändern sie sich? Als sensitive Momente im Urteilsentstehungsprozess werden der institutionelle Fremdsprachenunterricht sowie Auslandaufenthalte wahrgenommen. Urteile, die 386 III. Resultate und Diskussion <?page no="403"?> in der nahen Vergangenheit entstanden sind, werden in den Interviews insgesamt häufiger thematisiert. Dies geschieht insbesondere bei jüngeren Informantinnen und Informanten. Explizit wird Urteilsstabilität in den älteren beiden befragten Generationen erwähnt und hier insbesondere von den 40bis 50-Jährigen. Wird von einem sequentiellen Urteilswandel berichtet, so löst jeweils Englisch Französisch als Favorit ab. Wie kohärent und konsistent sind diskursive Einstellungen innerhalb eines Interviews? Die Gewährspersonen sind in ihren Urteilen in der Regel konsistent. Eine ad hoc Urteilsenstehung respektive -veränderung lässt sich konkret lediglich in der jüngsten Generation verorten. 38 Stellen konnten im Interviewkorpus kodiert werden, die auf Entstehungs- oder Wandlungsprozesse im Urteilsverhalten schliessen lassen, beziehungsweise wo explizit auf solche verwiesen wird. Diese wurden in neun Subkategorien eingeteilt. a. Urteilsentstehung in jüngster Zeit oder ad hoc: Die Entstehung des Urteils erfolgte in der nahen Vergangenheit oder passiert sogar ad hoc während des Interviews (sieben Kodierungen). b. Urteilsentstehung in der Kindheit: Die Entstehung des Urteils wird biographisch in der Kindheit verortet (drei Kodierungen). c. Urteilsentstehung in der Schule/ im Studium: Die Entstehung des Urteils wird biographisch in der Schul- oder Studienzeit verortet. Während in Kategorie b. ausschliesslich auf positive Urteilsbildungen referiert wird, umfasst Kategorie c. auch Fälle früher Entwicklung von Antipathien gegen Sprachen (acht Kodierungen). d. Urteilsentstehung während eines Auslandaufenthalts: Die in allen Fällen positiven Urteile entstehen während eines Aufenthalts im Gebiet des Beurteilungsobjekts (sieben Kodierungen). e. Fehlende Urteilsentstehung: Gewährspersonen berichten darüber, dass sie zu einer Sprache keinen Zugang finden und auch in der Vergangenheit nie gefunden haben - dies geschieht nicht im negativen ästhetischen Urteilstyp, sondern in den beiden positiven Urteilstypen. Die markierte nicht-Entstehung eines (eventuell grundsätzlich erwünschten oder erwarteten) positiven Urteils wurde zwei Mal kodiert. f. Sequenzieller Wandel: Eine Sprache löst die andere ab, beispielsweise als Lieblingssprache (zwei Kodierungen). 13. Die Versprachlichung von Sprachevaluationen 387 <?page no="404"?> g. Vorhandene Stabilität: Das Urteil wird als über die Zeit hinweg konstant beschrieben (vier Kodierungen). h. Nicht vorhandene Stabilität: Das Urteil wird als über die Zeit hinweg nicht konstant beschrieben (zwei Kodierungen ausschliesslich der beiden Kodierungen in Kategorie f.: Sequenzieller Wandel lässt auf Instabilität des chronologisch früheren, jetzt obsoleten Urteils schliessen). i. Varia: nicht in die oben genannten acht Kategorien zuordenbare Passagen (drei Kodierungen). Urteilsentstehung, -wandel und -stabilität sind Prozesse, die von den Gewährspersonen, wenn sie denn an die Oberfläche des metalinguistischen Diskurses gelangen, biographisch verortet werden. Daher bietet sich an, die oben beschriebenen sieben Kategorien nach der Variablen Alter zu untersuchen. Tab. 47: Urteilsentstehung, -wandel und -stabilität nach Altersgruppen. 13 - 17 20 - 30 40 - 50 65+ TOTAL Urteilsentstehung in jüngster Zeit/ ad hoc 1 4 1 1 7 Urteilsentstehung in Kindheit 0 0 1 2 3 Urteilsentstehung in Schule/ Studium 0 3 1 4 8 Urteilsentstehung während Auslandaufenthalt 1 1 3 2 7 Fehlende Urteilsentstehung 0 1 1 0 2 Sequenzieller Wandel 0 2 0 0 2 Vorhandene Stabilität 0 0 3 1 4 Nicht vorhandene Stabilität 0 0 1 1 2 Varia 1 1 1 0 3 TOTAL 3 12 12 11 38 Während Berichte über die Urteilsentstehung in der Kindheit (b.) eher selten vorkommen, und wenn, dann ausschliesslich in den älteren beiden Generationen, sind ad hoc Urteilsentstehungen sowie Berichte über jüngst definierte Lieblingssprachen oder schöne Sprachen insbesondere bei den jüngeren Gewährspersonen verbreitet (a). Eine ad hoc Urteilsentstehung wurde bei einem Schüler festgestellt, der überhaupt erst während des Interviews festlegt, dass er Russisch nicht - wie zuerst angegeben - hässlich findet, sondern eigentlich doch ganz gut. Der Schüler beantwortet in dieser Sequenz die Frage, ob ihm noch weitere hässliche Sprachen einfallen: (63) Schüler, negatives ästhetisches Urteil zu Chinesisch A: &Jä momol [HS] da chämi miär no ganz ä huifä. I: Ja verzell mal ((lacht)). 388 III. Resultate und Diskussion <?page no="405"?> A: Dr Rescht vo därä Wäld ((lacht verhalten)). Diä redid oi chli all e chli komisch. Nei d Chinese. I: D Chinese. A: Oder d Russe. Nei Russe tent oi no giot. A: &Ja doch doch [HS] da würden mir noch ganz viele kommen. I: Ja erzähl mal ((lacht)). A: Der Rest von dieser Welt ((lacht verhalten)). Die reden auch ein bisschen alle ein bisschen komisch. Nein die Chinesen. I: Die Chinesen. A: Oder die Russen. Nein Russen klingt auch noch gut. Hier wird bestätigt, was Potter/ Wetherell (1987) in ihrer diskursorientierten Einstellungsforschung aufgedeckt haben, dass nämlich evaluative Äusserungen im Gespräch nicht unbedingt konsistent oder kohärent sein müssen, sondern von Variabilität gekennzeichnet sein können. Ad hoc Einstellungskonstruktionen, die dann ebenso ad hoc wieder verworfen werden, zeugen davon, dass es sich nicht bei allen Einstellungen um stabile psychologische Konstanten handelt, sondern, dass sie im Gespräch nach Bedarf konstruiert werden können. Dass auch während des institutionellen Erwerbs von Fremdsprachen Sprachurteile entstehen, ist nicht überraschend (c). Die gefundenen Instanzen sind vorwiegend positiver Art und die Rolle des Lehrers (und dessen eigenem Zugang zur unterrichteten Sprache) werden mehrfach als bedeutsam beschrieben: (64) Frau, 40 - 50, primäre Bildung, positives ästhetisches Urteil zu Französisch (Begründungssequenz) Ich weiss nöd ich ha das i de Schuel scho gliebt [HS] irgendwie Französisch rede und mr hend au en guete Lehrer gha [HS] wo mr viel hend chöne schwetze [HS]. Irgendwie au für d Ussproch und s Flair wo dran / / drumume isch jo. Ich weiss nicht ich habe das in der Schule schon geliebt [HS] irgendwie Französisch reden und wir hatten auch einen guten Lehrer [HS] bei dem wir viel reden konnten [HS]. Irgendwie auch für die Aussprache und das Flair das dran / / drumrum ist ja. (65) Mann, 65+, sekundäre Bildung, positives ästhetisches Urteil zu Italienisch Was ich gärä gha ha, was was mr immer / / mir hend im Kollegi ä Pater gha und dä het / / dä het gseit, Italiänisch sig di Sprache der Engel [HS]. Und es het scho eppis [HS]. S isch eso Melodii drinne und und nur sit em Kollegi has ich praktisch fascht niime bruicht. Was ich gerne hatte, was was mir immer / / wir hatten im Kollegium einen Pater und der hat / / der hat gesagt, Italienisch sei die Sprache der Engel [HS]. Und es hat schon was [HS]. Es ist so Melodie drin und und nur seit dem Kollegium hab ich ’ s praktisch fast nicht mehr gebraucht. Die Entstehung einer affektiven oder ästhetischen Beziehung zu einer Sprache wird weiter explizit mit einem Aufenthalt in einer Region, wo diese 13. Die Versprachlichung von Sprachevaluationen 389 <?page no="406"?> Sprache gesprochen wird, in Zusammenhang gebracht, und zwar über alle Altersgruppen hinweg (d). Diese Angaben unterstützen Allports (1954) Contact Hypothesis sowie die in dieser Studie dazu gefundenen Resultate zum Zusammenhang zwischen Auslandaufenthalten und der Tendenz, die betreffenden Sprachen affektiv und ästhetisch positiv zu bewerten (vgl. Kap. 8.3.7, Hypothese 20 sowie 12.5.9). Neu hinzu kommt durch die vorliegende qualitative Analyse der Aspekt, dass es sich hierbei offensichtlich um einen bewussten Prozess handelt, der in sprachbiographischen Erzählungen eingeflochten wird. Auslandaufenthalte werden von Laien häufig als sensitive Phasen im Zusammenhang mit der Entstehung von Spracheinstellungen wahrgenommen und beschrieben. Die fehlende Urteilsentstehung (e) wird immer im Zusammenhang mit den Sprachen Englisch und Französisch thematisiert. Diese Passagen zeugen vom Laienbelief, dass Englisch und Französisch eigentlich zu den Lieblingssprachen gehören müssten (neben der L1 als prototypische Vertreter der Kategorie Lieblingssprache). Die Abwesenheit der affektiven Beziehung zu diesen Sprachen wird durch ihre Thematisierung markiert. Die Stabilitätskodierungen (g, h) treten ausschliesslich in den beiden älteren Altersgruppen auf: Insbesondere in der Generation der 40bis 50-Jährigen wird der Faktor der Stabilität eines Urteils hervorgehoben. Ein Informant dieser Generation sagt beispielsweise, dass ihm Spanisch gefällt und fügt an, dass dies auch so bleiben wird (während er bei Indonesisch vorher angegeben hat, dass sein positives ästhetisches Urteil eigentlich der Vergangenheit angehört und nicht mehr aktuell ist). Eine Frau derselben Generation macht deutlich, dass ihre Antipathie gegenüber Englisch nicht im Zuge der aktuellen politischen Verhältnisse in den USA entstanden ist, sondern dass es sich dabei um ein stabiles Urteil handelt, das schon früher bestand: (66) Frau, 40 - 50, sekundäre Bildung, Geschmackssequenz (vorangehendes negatives ästhetisches Urteil zu Englisch) [. . .] das isch nid ersch, sit de Bush a dr Regierig isch ((I lacht)) das isch scho vorher gsi. [. . .] das ist nicht erst, seit Bush an der Regierung ist ((I lacht)) das war schon vorher. Bei den beiden Personen, die von einem sequentiellen Wandel (f) berichten, findet jeweils der gleiche Ablösungsprozess statt: Beide Gewährspersonen fühlen sich zuerst Französisch näher. Später wird Französisch jedoch in beiden Fällen von Englisch abgelöst. Davon wird jeweils in der Biographiesequenz des Interviews berichtet. Es findet also eine Wegbewegung von der Landessprache hin zur Weltsprache Englisch statt. Dass der Prozess ausgerechnet dann metasprachlich aufgenommen wird, wenn diese beiden Sprachen betroffen sind, könnte darin begründet sein, dass es sich dabei um die beiden Sprachen handelt, die die meisten Gewährspersonen während 390 III. Resultate und Diskussion <?page no="407"?> der obligatorischen Schulzeit lernen. Sie stehen also früh in einer Art Konkurrenzverhältnis zueinander. In der letzten hier gezeigten Passage (i) wird deutlich, dass Personen selbst ganz überrascht sein können über das Entstehen einer affektiven oder positiven ästhetischen Beziehung zu einer Sprache. (67) Frau, 20 - 30, sekundäre Bildung, positives ästhetisches Urteil zu Englisch Sit nüschtem Änglisch ((I Lacht)). Ich ha mich lang gsträubt richtig Änglisch z lehre. Und doch bini jetz im ne Sprachufenthalt gsi drü Mönet und ha Gfalle a dere Sprach gfunde wider Erwarte. Seit neuestem Englisch ((I lacht)). Ich habe mich lange gesträubt, richtig Englisch zu lernen. Und doch war ich jetzt in einem Sprachaufenthalt drei Monate und habe Gefallen an der Sprache gefunden wider Erwarten. 13.2 Qualitative Vertiefungsfragen Im Folgenden werden die qualitativen Fragen behandelt, die sich aus den Resultaten der quantitativen Analyse (vgl. Kap. 11 und 12) ergeben haben. Es handelt sich hierbei hauptsächlich um Analysen mit induktiven Kategorien, die in der Auseinandersetzung mit dem Interviewmaterial entstehen. 13.2.1 Antwortverhalten beim negativen ästhetischen Urteil Wie kommentieren Gewährspersonen die Tatsache, dass sie keine hässliche Sprache nennen wollen? Die Personen, die im negativen ästhetischen Urteilstyp keine Sprache nennen, geben oftmals an, dass hässliche Sprachen für sie überhaupt nicht existieren. Es gibt jedoch Grund zur Annahme, dass dies zumindest in einigen Fällen nicht wie angegeben auf Leerstellen in den kognitiven Ressourcen zurückzuführen ist, sondern dass das Konzept hässliche Sprache zwar besetzt ist, jedoch nicht abgerufen und mitgeteilt wird: Das Konzept kann sehr diffus vorhanden sein und sich nicht auf konkrete Sprachen beziehen, so dass eine Antwort ausbleiben muss. Eine weitere Möglichkeit ist, dass die konkret vorhandene Information willentlich zurückgehalten wird. Was führt zu dieser Zurückhaltung? Eine Antwort findet sich am ehesten da, wo Sprachurteile zwar abgegeben werden, die Fragestellung aber zuerst inhaltlich umdefiniert wird. Das Konzept hässlich wird von vielen Laien abgelehnt und sie ersetzen es durch andere Konzepte (unsympathisch, anders etc.) oder aber sie ersetzen das Konzept Sprache durch Konzepte in der Art Sprechweise (unterschiedliche Stile, Register, Ethnolekte etc.). In 44 der 60 transkribierten Interviews wird auf die Frage, welche Sprache hässlich ist, tatsächlich mindestens eine Sprache genannt - eine Nullantwort liegt lediglich in 26.6% der Fälle vor. Dies entspricht nicht dem Anteil, der für 13. Die Versprachlichung von Sprachevaluationen 391 <?page no="408"?> die gesamte Interviewstichprobe gefunden wurde (hier beträgt dieser über ein Drittel). Grund für diese Verschiebung ist, dass für die qualitative Analyse diejenigen Interviews ausgewählt worden sind, die besonders narrativen Charakter haben. Nichtsdestoweniger kann eine qualitative Analyse des Antwortverhaltens im negativen ästhetischen Urteilstyp erfolgen, da nicht nur Antwortvermeidungsstrategien relevant sind, sondern auch Umdefinierungsstrategien, wenn die Frage nicht in der gestellten Form angenommen wird, bevor eine Antwort gegeben wird. Festzuhalten ist generell, dass die Frage nicht allen Gewährspersonen gleich viel Mühe bereitet. Einige geben sogar sehr bereitwillig Auskunft über ihre Antipathien, selbst unter ganz offener Verwendung des Modells S PRACHE ALS E PIPHÄNOMEN , wie im folgenden Beispiel, das in seiner Radikalität aber eine Ausnahme darstellt. Bereits bei der Frage nach schönen Sprachen bringt die Informantin ihre Abneigung gegen das Englische und das Amerikanische zum Ausdruck: (68) Frau, 65+, sekundäre Bildung, ästhetisch negatives Urteil zu Englisch und Amerikanischem Englisch A: [. . .] und s Änglische ischmer verhasst. Vor auem s Amerikanische ischmer verhasst [HS]. S ekelt mi a. I: Ehrlich, jetz hätti nämlich grad gfragt als nöchschti Frag, was für Sprache sind wüescht de würsch säge . . . A: & Amerikanisch. I: Ja warum de? A: Warum? Wiu es isch e so es unpräzises en unpräzisi Sprooch [HS]. Und es tönt ou wüescht [HS]. Und i wett nie Amerikanisch chönne [HS]. Änglisch no ender aber au ned [HS]. Und dr Ängländer und dr Amerikaner si mr ned sympathisch [HS] aus Mönsche. A: [. . .] und das Englische ist mir verhasst. Vor allem das Amerikanische ist mir verhasst [HS]. Es ekelt mich an. I: Ehrlich, jetzt hätte ich nämlich gerade gefragt als nächste Frage, welche Sprachen hässlich sind, dann würdest du sagen . . . A: & Amerikanisch. I: Ja warum denn? A: Warum? Weil es eine so ein unpräzises eine unpräzise Sprache [HS]. Und es klingt auch hässlich [HS]. Und ich möchte nie Amerikanisch können [. . .]. Englisch noch eher aber auch nicht [HS]. Und der Engländer und der Amerikaner sind mir nicht sympathisch [HS] als Menschen. Antwortverhalten, wenn keine hässliche Sprache genannt wird Bezüglich der 16 Interviews, in denen keine hässlichen Sprachen genannt werden, stellen sich folgende Fragen: Wie wird auf die Frage nach hässlichen Sprachen in diesen Interviews reagiert? Gibt es unterschiedliche Strategien bei der Antwortvermeidung oder -verweigerung? Gibt es für diese Menschen 392 III. Resultate und Diskussion <?page no="409"?> tatsächlich keine hässlichen Sprachen oder halten sie im Prinzip abrufbare Information willentlich zurück? a. 12 Gewährspersonen sagen, dass hässliche Sprachen für sie nicht existieren. Im unten dargestellten Beispiel wird der Konzeptcharakter der im Interview getätigten Urteile sehr deutlich. Die Informantin kann in ihrer Vorstellungswelt keine Information abrufen - es handelt sich um einen jener Fälle, wo tatsächlich eine Leerstelle in den kognitiven Ressourcen zu bestehen scheint. Die Information, dass keine solchen Sprachen existieren, ist in diesem Fall wahrscheinlich aufrichtig: (69) Frau, 40 - 50, tertiäre Bildung, negatives ästhetisches Urteil Mmh ((lacht)) gar keini. Ich chamr das nöd vorstelle ((lacht)). Mhm ((lacht)) gar keine. Ich kann mir das nicht vorstellen ((lacht)). Nicht immer kann jedoch davon ausgegangen werden, dass tatsächlich keine Information abgerufen werden kann. Im folgend zitierten Beispiel findet eine längere Reflexion darüber statt, was potenziell als nicht schön empfunden werden könnte - während der Reflexion kommt die Informantin darauf zu sprechen, dass sie sich auch eigentlich gar nicht getrauen würde, eine hässliche Sprache zu nennen. Dies kann implizieren, dass das Konzept zwar inhaltlich gefüllt ist und abgerufen werden kann, die Information jedoch willentlich zurückgehalten wird, oder aber dass das Konzept nur potenziell inhaltlich gefüllt ist und die Person diese Information gar nicht abrufen will. Zumindest ist das Konzept soweit definiert, dass es sich dabei für die Informantin um Sprachen handeln muss, die Belllaute enthalten. Solche Reflexionen wurden insgesamt zwei Mal kodiert: (70) Frau, 40 - 50, tertiäre Bildung, negatives ästhetisches Urteil 153 Ehm * wüescht. Oh ** ich glaube das gibts gar nicht wüeschte Sprachen gibts gar nicht [HS]. (UNV. 2 s) von den paar die ich kenne ne (UNV. 2 s) sind Italienisch und Französisch jetzt schöner klingt schöner als die anderen, aber ne wüste Sprache würd ich mich jetzt auch nicht getrauen zu sagen, ne weil ich denk, es hat auch viel damit zu tun, wenn man sie nicht versteht ja, es gibt schon Sprachen, die ich mal so gehört hab wo ich fand ööh ((abschätzig)) aber das hatte auch damit zu tun, dass ich nich / / ehm dass ich gar nicht weiss, was das bedeutet so viel (UNV. 1 s) haben die Laute dann irgendwie die Bedeutung . . . ((Unterbrechung durch Schaffner)). Ja. Ich glaub da muss man / / man muss ne Sprache eh genauso gut verstehen wie ne andere Sprache, um sagen zu können, ob man sie jetzt schön oder hässlich findet [HS]. Ich meine, manche Sprachen da kommt man so a / / so Bellen oder sowas vor, aber wenn das jetzt was Bestimmtes heisst, dann [HS] ist das wieder anders. b. In zwei weiteren Fällen, bei denen keine Sprache genannt wird, konnte die Antwort als Umdefinierung kodiert werden: Die Personen sagen, dass keine 153 Die L1 der Informantin ist Hochdeutsch. 13. Die Versprachlichung von Sprachevaluationen 393 <?page no="410"?> Sprachen an und für sich als hässlich bezeichnet werden können, sondern in einem Fall Versionen von Sprachen und im anderen die Art, wie sie gesprochen werden. Operationalisiert werden diese beiden Aussagen jedoch nicht weiter. In den im Folgenden geschilderten Fällen erfolgen Sprachnennungen nach ebensolchen Umdefinierungen. Beantwortung der Frage nach Umdefinierung Von den 44 Befragten, die die Frage nach hässlichen Sprachen beantworten, nehmen zehn die Frage nicht direkt an, sondern definieren sie um oder äussern Vorbehalte, bevor sie sie beantworten. Dieser Umstand zeugt erneut von der Schwierigkeit im Umgang mit dem negativen ästhetischen Urteilstyp. In drei Fällen wird gesagt, dass die genannten Sprachen nicht hässlich sind, sondern unverständlich oder einfach anders. In einem Fall wird hässlich durch nicht sympathisch ersetzt, in einem weiteren Fall wird kein eigenes Urteil abgegeben, sondern ausdrücklich das Urteil einer anderen Person zitiert. Ein jüngerer Informant sagt, dass hässlich ein harter Ausdruck sei und benutzt das Modell H ÖRORGAN FÜR H ÖREN , um seine Vorstellung zu artikulieren: (71) Mann, 20 - 30, sekundäre Bildung, negatives ästhetisches Urteil zu Flämisch (Begründungssequenz) Äh es tönt so komisch. Efa / / es / / für mich / / für mis Ohr tönts eifach komisch. [. . .] E ’ fach ich cha nüt mit (UNV. 1 s) ((imitiert 2 s)) e so das tönt für mich eso [HS]. Aso wi / / wi / / aso wüescht isch e herte Usdruck aber e ’ fach für das han ich s Ohr nid für die Sprach [HS] vielleicht. Äh es klingt so komisch. Einfa / / es / / für mich / / für mein Ohr klingt ’ s einfach komisch. [. . .] Einfach ich kann nichts mit (UNV. 1 s) ((imitiert 2 s)) so das klingt für mich so [HS]. Also wi / / wi / / also hässlich ist ein harter Ausdruck aber einfach für das habe ich das Ohr nicht für diese Sprache [HS] vielleicht. Zwei Personen nehmen eine Umdefinierung vor, die in der Kategorie Stil kodiert wurde. Es handelt sich dabei um Aussagen, dass nicht Sprachen als solche hässlich sind, sondern eher lektale Varietäten. Eine dieser Passagen findet sich in Beispiel 40, in dem eine Informantin über ethnolektale Färbungen des Deutschen spricht. Zwei Personen sagen, dass hässliche Sprachen nicht existieren, nennen auf Nachfrage dann aber doch einige. Die ältere Informantin aus Beispiel 1 ist ein interessanter Fall diesbezüglich: Bereits in den beiden positiven Urteilssequenzen fügt sie spontan mehrmals an, dass sie Englisch, im Gegensatz zu Französisch, nicht mag. Gefragt nach hässlichen Sprachen, sagt sie dann aber, dass hässliche Sprachen nicht existieren. Tatsächlich meint sie auch nicht Englisch als Sprache, sondern ein mit Anglizismen durchzogenes Deutsch, das sie stört, wie sie später auf Nachfrage ausführt. 394 III. Resultate und Diskussion <?page no="411"?> 13.2.2 Hochdeutsch in der Deutschschweiz Je älter die Gewährspersonen, desto eher mögen sie Hochdeutsch: Handelt es sich bei diesem Resultat um einen Alterseffekt oder um einen Kohorteneffekt? Die Ergebnisse der qualitativen Analyse zur Rolle von Hochdeutsch insbesondere in Interviews mit Gewährspersonen der Generation 65+ sprechen dafür, dass die affektive Einstellung zu Hochdeutsch einem Kohorteneffekt unterliegt, indem nämlich die älteste Generation tatsächlich anders mit Hochdeutsch sozialisiert worden ist und insgesamt eine andere Sprachendidaktik erlebt hat, bei der die deutsche Standardsprache eine prominente Rolle inne hatte. Der Zugang der ältesten Gruppe zu Hochdeutsch ist allerdings nicht nur positiver, sondern auch normativer. Die quantitative Analyse hat gezeigt, dass Hochdeutsch in der Laienmetasprache erstens eine marginale Rolle spielt und zweitens, dass positive Urteile, wenn sie denn geäussert werden, signifikant häufiger von älteren Gewährspersonen abgegeben werden als von jüngeren. Im Rahmen dieser qualitativen Vertiefungsanalyse wird untersucht, ob es sich hierbei eher um einen Alterseffekt oder einen Kohorteneffekt handelt. Dafür werden alle Interviewsequenzen, bei denen Hochdeutsch thematisiert wird, einer qualitativen Analyse unterzogen. Dabei kommt die für die Analyse der linguistischen Identität verwendete Kategorie Vererbung erneut zum Einsatz: Inwiefern haben die Informantinnen und Informanten das Gefühl, Hochdeutsch vererbt bekommen und somit natürlich erworben zu haben in ihrem sozialen Umfeld? Wie wird dies ausgedrückt? Untersucht wird auch das Pendant dazu, nämlich das Gefühl, Hochdeutsch erlernt zu haben, ähnlich wie Fremdsprachen erlernt werden. Alle drei Kodierungen, die für die Kategorie Vererbung mit der Bezugsgrösse Hochdeutsch vorgenommen werden konnten, stammen aus Interviews mit der ältesten Generation - das ist natürlich schon ein erstes bezeichnendes Resultat. Ein Informant der primären Bildungsstufe sagt im positiven ästhetischen Urteilstyp, dass Hochdeutsch im Prinzip seine Muttersprache sei. Er erzählt von einem Aufenthalt in München, wo er sich gerne mit Deutschen unterhalten hat und dabei die Nuancen in deren Schriftdeutsch feststellen konnte (vgl. Kapitel 13.1.3 zu diesem Fall). In der Vorstellungswelt dieses Informanten kann Hochdeutsch die L1 oder, wie er sagt, die Muttersprache von Deutschen und Schweizern gleichzeitig sein - sie „ gehört “ beiden Gruppen gleichermassen. Hochdeutsch wird, zumindest aus der Perspektive dieses Informanten, nicht als Importprodukt aus Deutschland verstanden, an dem er lediglich teilnimmt. Eine Informantin der sekundären Bildungsstufe gibt erst Deutsch ohne Spezifizierung als Lieblingssprache an und führt auf Nachfrage aus, dass damit sowohl Hochdeutsch als auch Schweizerdeutsch gemeint sind. Ihre Begründung findet sich im folgend zitierten Beispiel (zu 13. Die Versprachlichung von Sprachevaluationen 395 <?page no="412"?> beachten ist die später erneut auftretende Reduktion der beiden Varietäten auf eine Sprache - sie spricht am Ende der Passage wieder von dieser Sprache): (72) Frau, 65+, sekundäre Bildung, affektives Urteil zu Hochdeutsch und Schweizerdeutsch A: Dütsch. I: Mh also Schwiizerdütsch oder? A: I ha aso beidi Sprache gärn Hochdütsch und s Schwiizerdütsch. I: Aha und warum würsch jetz säge, dass das dini Lieblingssprache sind? A: Wiu i i dere Sprach läbe und dänke und handle. A: Deutsch. I: Mh also Schweizerdeutsch oder? A: Ich habe also beide Sprachen gern Hochdeutsch und das Schweizerdeutsche. I: Aha und warum würdest du jetzt sagen, dass das deine Lieblingssprachen sind? A: Weil ich in dieser Sprache lebe und denke und handle. Bezeichnend ist, dass sich die Kodierung vererbt und erlernt bei den Gewährspersonen dieser Generation keineswegs ausschliessen. Am deutlichsten wird dies in der folgenden Interviewpassage, in der ein positives ästhetisches Urteil zu Hochdeutsch begründet wird: (73) Mann, 65+, sekundäre Bildung, positives ästhetisches Urteil zu Hochdeutsch (Begründungssequenz) Guet und ich / / s isch / / es hanget halt immer nu a de Tatsach, dass das mi Muettersprach isch, und diä ha-n-ich intensiiv glehrt [HS] ai wenn ich läse tue und de gsehn ich immer sofort, u das isch schön uisdrückt oder das isch weniger guet, dä het das nid eso im Griff [HS] aso di Schönheiten der deutschen Sprache das isch ä Grund, dass ich diä gärä ha. Gut und ich / / es ist / / es hängt halt immer noch an der Tatsache, dass das meine Muttersprache ist, und die habe ich intensiv gelernt [HS] auch wenn ich lese und da sehe ich immer sofort, u das ist schön ausgedrückt oder das ist weniger gut, der hat das nicht so im Griff [HS] also die Schönheiten der deutschen Sprache das ist ein Grund, dass ich die gerne habe. Das Konzept L1 und das Konzept des intensiven und oftmals institutionellen Erlernens einer Sprache schliessen sich im Grunde gegenseitig aus und das gemeinsame Auftreten der beiden Konzepte scheint paradox. Gerade das Aushalten und Akzeptieren dieses Paradoxons zeichnet aber die älteste Generation, die die positivsten Einstellungen gegenüber Hochdeutsch aufweist, aus. In dieser Generation wird die Hochdeutschkompetenz bei der Frage nach den Sprachen, welche die Gewährspersonen können, häufig explizit hervorgehoben. Auch die oben zitierte Person, die sagt, dass sie in beiden Sprachen lebt, denkt und handelt, geht in der Biographiesequenz des Interviews explizit auf ihre Hochdeutschkenntnisse ein. Das Beispiel 396 III. Resultate und Diskussion <?page no="413"?> zeigt ferner, dass der Zugang zu Hochdeutsch der ältesten Generation sehr normativen Charakter haben kann 154 . Im Zusammenhang mit Vererbung ist auch die von der Informantin verwendete und im folgenden Beispiel im Kontext gezeigte Metapher die Grammatik ist uns in Fleisch und Blut übergegangen bemerkenswert: Die Sprache wird durch das intensive institutionelle Lernen verinnerlicht, Teil des Menschen. Das Resultat ist ähnlich wie bei der Vererbung: Die Sprache gehört dem Menschen als integraler Teil. Auch hier findet sich im Übrigen wieder ein sehr normativer Zugang zu Hochdeutsch. (74) Frau, 65+, sekundäre Bildung, Biographiesequenz Auso Dütsch chani zimli guet wiu, das tuet mr immer weh i de Ohre, wenn i ghöre, aus säubscht im Färnseh säubscht DÜTSCHI Mönsche Fähler mache im im in / / i de dütschi Sproch [HS] das tuet mir richtig weh, und i chas ned verstoh [HS]. Mir hei auso die dütschi Sproch vo Grund uf guet glehrt und und die Grammatik, die isch üs in Fleisch und Bluet übergange, und das ärgeret eim, wenns je länger je meh Dütschfähler git überau au i dr Schwiiz [HS] au i de Medie. Also Deutsch kann ich ziemlich gut weil, das tut mir immer weh in den Ohren, wenn ich höre, dass selbst im Fernsehen selbst DEUTSCHE Menschen Fehler machen im im in / / in der deutschen Sprache [HS] das tut mir richtig weh, und ich kanns nicht verstehen [HS]. Wir haben also die deutsche Sprache von Grund auf gelernt und und die Grammatik, die ist uns in Fleisch und Blut übergegangen, und das ärgert einen, wenns je länger je mehr Deutschfehler gibt überall auch in der Schweiz [HS] auch in den Medien. Im Endeffekt ermöglicht gerade das explizite Lernen von Hochdeutsch - die Anerkennung von Hochdeutsch als Fertigkeit und Fähigkeit - diesen Deutschschweizer Gewährspersonen, die Sprache als Muttersprache wahrzunehmen und ein positives linguistisches Selbstbewusstsein in dieser Sprache zu entwickeln. Es deutet alles darauf hin, dass es sich bei den positiven Einstellungen zu Hochdeutsch der ältesten befragten Generation um einen Kohorteneffekt handelt: Bei der Generation der über 65-Jährigen wurde Hochdeutsch anders im Unterricht integriert beziehungsweise anders unterrichtet, als es dies in späteren Generationen wurde (mit einem klaren Fokus auf Grammatik und Schriftlichkeit). Andererseits ist auch die Didaktik des Fremdsprachenunterrichts von damals nicht mit der heutigen zu vergleichen. Lange Zeit wurden mündliche Kompetenzen in der Fremdsprachendidaktik geradezu stiefmütterlich behandelt. Als wichtiger wurden Grammatikkenntnisse und insbesondere Übersetzungsgeschick erachtet. Letzeres führte auch dazu, dass Hochdeutsch im Fremdsprachenunterricht der ältesten Generation eine 154 Es verwundert daher nicht, dass das Modell S PRACHE ALS R OHMATERIAL , NATÜRLICHE R ESSOURCE besonders häufig bei der ältesten Generation auftritt, die im Allgemeinen einen sehr normativen Zugang zu Sprachen hat: Das Modell wurde sieben Mal bei Vertretern dieser Generation kodiert, vier Mal in der Generation der 20 - 30-Jährigen, lediglich einmal bei den 40 - 50-Jährigen und einmal bei einem Schüler. 13. Die Versprachlichung von Sprachevaluationen 397 <?page no="414"?> signifikante Rolle spielte (die Beherrschung der deutschen Standardsprache ist freilich die Grundvoraussetzung für kompetentes Übersetzen). Eine Informantin schildert ihre Erlebnisse im Fremdsprachenunterricht der 30er und 40er Jahre folgendermassen: (75) Frau, 65+, tertiäre Bildung, Biographiesequenz Eh me het die Sproche net praktisch glehrt überhoupt ned. Me het se rein theoretisch [HS] glehrt und mit dr Lektüre, me het weiss nid was für höchi Wärk glääse und übersetzt, übersetzt, übsersetzt [HS]. Das isch de z Sproche lehre gsi. Eh man hat die Sprachen nicht praktisch gelernt überhaupt nicht. Man hat sie rein theoretisch [HS] gelernt und mit der Lektüre, man hat weiss ich nicht was für hohe Werke gelesen und übersetzt, übersetzt, übersetzt [HS]. Das war das Sprachenlernen. Des Weiteren deutet in den Schilderungen der jüngeren Generation zu ihren Hochdeutschkenntnissen nichts darauf hin, dass es als explizit institutionell vermittelt wahrgenommen wird, wie dies bei den über 65-Jährigen der Fall ist. Die sechs Passagen, in denen jüngere Informantinnen und Informanten vom Hochdeutschlernen berichten, setzen sich folgendermassen zusammen: Ein Schüler sagt, er habe Hochdeutsch gelernt durch einen Onkel, der in Deutschland lebt. Eine Informantin der Generation der 20bis 30-Jährigen hat Hochdeutsch über das Lesen von Büchern und Fernsehen gelernt. Ein weiterer Informant dieser Generation berichtet von einer Niederlassung seines Arbeitgebers in Deutschland, wo er regelmässig geschäftlich zu tun hatte und dadurch seine Hochdeutschkompetenz ausbauen konnte. Erst in der Generation der 40bis 50-Jährigen wird die Schule als Faktor explizit erwähnt: Zwei Informanten sprechen ausschliesslich vom institutionellen Hochdeutscherwerb, ein weiterer gibt an, dass er Hochdeutsch durch sein Umfeld (das er nicht näher spezifiziert) und in der Schule gelernt hat. 13.2.3 Englisch in der Generation der 40bis 50-Jährigen Gibt es Erklärungen dafür, dass Englisch in der Generation der 40bis 50-Jährigen am seltensten als Lieblingssprache genannt wird, obwohl sich diese Generation weder in Kompetenz noch absolvierten Sprachaufenthalten wesentlich von den anderen Generationen unterscheidet? Wenn Englisch im affektiven Urteilstyp erwähnt wird, dann dem Anschein nach oft der Vollständigkeit halber, da die 40bis 50-Jährigen Englisch als thematisierungswürdige Sprache auffassen. Für die fehlende affektive Verbindung dieser Generation kann eine tendenziell bruchhafte Erwerbsbiographie verantwortlich gemacht werden. Diese führt dazu, dass die Informantinnen und Informanten ein eher distanziertes Verhältnis zu der Sprache und auch kein ausgeprägtes Selbstbewusstsein bezüglich ihrer Englischkenntnisse haben. Während der Schulzeit haben sie den Englischunterricht meist nur über wenige Jahre (manchmal auch 398 III. Resultate und Diskussion <?page no="415"?> lediglich als Freifach) besucht. Viele setzen den Englischerwerb erst im Alter zwischen 40 und 50 Jahren fort. Von allen untersuchten Generationen nennen die 40bis 50-Jährigen am seltensten Englisch als Lieblingssprache, obwohl sie sowohl angeben, über Englischkenntnisse zu verfügen, als auch Aufenthalte im englischsprachigen Ausland absolviert zu haben. Was spielt sich hier ab? Grundsätzlich wird Englisch in allen Interviews mit Vertreterinnen und Vertretern dieser Generation thematisiert. Die Sprache wird also entweder in einem der Urteilstypen oder in biographischen Sequenzen erwähnt. Alle Interviewpassagen, in denen Englisch thematisiert wird, wurden induktiv kodiert um der Frage nachzugehen, was die Ursachen für das weitgehende Fehlen der affektiven Verbindung zu der Sprache in dieser Generation sind. Zwei Aspekte verdienen gemäss dieser Analyse besondere Aufmerksamkeit: Einmal die Art und Weise, wie Englisch in den Urteilstypen erwähnt wird und einmal Lern- und Kompetenzbeschreibungen zu Englisch. Thematisierung von Englisch im affektiven Urteilstyp Die Antwort auf die Frage, warum Englisch im affektiven Urteilstyp bei der Generation der 40bis 50-Jährigen so oft fehlt, findet sich am ehesten in Interviewpassagen, in denen Englisch in den beiden positiven Urteilstypen tatsächlich erwähnt wird (insgesamt sechs Mal in den 18 kodierten Interviews dieser Generation). Ein Informant sagt etwa auf die Frage, ob es ausser die von ihm genannten noch weitere schöne Sprachen gibt, dass er Englisch als nützliche Sprache empfindet. Nicht nur dieser Informant erweckt den Eindruck, dass Englisch eher der Vollständigkeit halber erwähnt wird. Auch die Informantin, die in der Fallkontrastierung zitiert wurde (vgl. Kap. 13.1.4 Tabelle 46), schiebt am Ende ihrer Ausführung im positiven ästhetischen Urteil die Bemerkung nach, dass Englisch natürlich schon auch gut sei, schon klar. Englisch wird der Vollständigkeit halber nicht nur relativ neutral erwähnt in den positiven Urteilstypen, es wird in diesen Urteilstypen manchmal auch unaufgefordert und spontan erwähnt als Sprache, die eben nicht schön oder keine Lieblingssprache ist, wie im folgenden Beispiel gezeigt wird: (76) Frau, 40 - 50, primäre Bildung, positives ästhetisches Urteil zu Italienisch Aso Italiänisch gfautmr au sehr guet [HS]. Ich cha si leider nid so guet ((lacht)) ich verstah guet aber ich cha nid so rede [HS] und Änglisch s gaaht isch nie so mini Sprach gsi obwohl als ich eh letschter Ziit e Kurs gmacht ha im Änglisch [HS] eh aber es cha mich immerno / / ich cha mich nonii so afründe mit dere Sprach, ich weiss ai nid genau wieso. Also Italienisch gefällt mir auch sehr gut [HS]. Ich kann sie leider nicht so gut ((lacht)) ich verstehe gut aber ich kann nicht so sprechen [HS] und Englisch es geht war nie so meine Sprache obwohl ich eh letzter Zeit einen Kurs gemacht habe im Englisch [HS] eh aber es 13. Die Versprachlichung von Sprachevaluationen 399 <?page no="416"?> kann mich immer noch / / ich kann mich noch nicht so anfreunden mit dieser Sprache, ich weiss auch nicht genau wieso. Diese Generation nimmt Englisch als thematisierungswürdige Sprache wahr, fühlt sich augenscheinlich sogar verpflichtet, Englisch zu erwähnen. Die Resultate können vorsichtig im Kontext der Hypothese zur auferlegten Norm interpretiert werden: Englisch ist zwar nicht inhärent schöner als andere Sprachen, aber es wird trotzdem erwähnt, da es von einflussreichen Gruppen beherrscht und gesprochen wird. In der linguistischen Biographie gab es aber für viele Vertreterinnen und Vertreter dieser Generation keinen Moment, in dem sie eine affektive Bindung zu der Sprache hätten entwickeln können. Dies führt uns zum zweiten hier behandelten Aspekt: Wie wird Englisch in Passagen der Lern- und Kompetenzbeschreibung in den Interviews behandelt? Englisch in Lern- und Kompetenzbeschreibungen Auffallend ist die achtfache Kodierung der Kategorie Englisch spät gelernt: Personen, in deren Interviews diese Kodierung vorgenommen wurde, erzählen entweder von einem unterbrochenen Englischerwerb (sie haben Englisch für kurze Zeit in der Schule gelernt und später - meist tatsächlich ungefähr zum Zeitpunkt des Interviews - das Bedürfnis, ihre Sprachkenntnisse weiterzuentwickeln) oder sie fangen in der Tat überhaupt erst in diesem Alter mit dem Englischlernen an: (77) Frau, 40 - 50, primäre Bildung, Biographiesequenz I: Ja und mi / / Englisch hesch du au dört i de Schuel glehrt oder? A: Nei da hani eig ’ ch mit * mit nünedrissgi zerscht Mol / / ((lacht)) zerscht Mol e Wort Englisch ghört aso ghört, i has scho vor ’ er ghört aber eifach agfange lerne. I: Ja und mi / / Englisch hast du auch dort in der Schule gelernt oder? A: Nein das habe ich eigentlich * mit neunundreissig zum ersten Mal / / ((lacht)) zum ersten Mal ein Wort Englisch gehört also gehört, ich habe es schon vorher gehört aber einfach angefangen zu lernen. Die Sprachbiographien der Informantinnen und Informanten der Generation 40 - 50 weisen oftmals keine Kontinuität auf, was Englisch betrifft. Nicht nur die Erwähnung von Englisch der Vollständigkeit halber (wie oben aufgezeigt) zeugt davon, dass in dieser Generation das Bewusstsein über die Wichtigkeit der Weltsprache Englisch vorhanden ist, sondern auch Passagen, in denen explizit erwähnt wird, dass Englisch als Sprachfertigkeit fehlt. Die Informantin mit wenig selbstdeklarierter Sprachkompetenz aus der Fallkontrastierung in Kapitel 13.1.4 sagt im Zusammenhang mit den ihr fehlenden Englischkenntnissen: 400 III. Resultate und Diskussion <?page no="417"?> (78) Frau, 40 - 50, primäre Bildung, Biographiesequenz Nei aber i / / drum sägi mine Meitli immer, lehred Fremdsprache. Meh seht au, wenn me is Usland gaht und me cha kei Fremdsprach, me isch uifgschmisse [HS]. Ich beniid die Lüüt wo chönet. Nein aber i / / deswegen sage ich meinen Mädchen immer, lernt Fremdsprachen. Man sieht auch, wenn man ins Ausland geht und man keine Fremdsprachen kann, man ist aufgeschmissen [HS]. Ich beneide die Leute, die können. 13.2.4 Französisch vs. Englisch in der Deutschschweiz Wie wird argumentiert, wenn Englisch und Französisch bei der gleichen Gewährsperson jeweils in einem positiven und einem negativen Urteilstyp vorkommen? Kann anhand solcher Fälle etwas über die Spannung zwischen der Landessprache und der Weltsprache in Erfahrung gebracht werden? Englisch und Französisch sind im mentalen Modell von Laien in der Deutschschweiz eng verknüpft: Die Erwähnung der einen Sprache löst die Erwähnung der anderen scheinbar fast automatisch aus, auch wenn diese im vorliegenden Urteilstyp eigentlich keine Rolle spielt (ihre Abwesenheit wird thematisiert). Die Spannung zwischen den beiden Sprachen besteht nicht nur auf der Makroebene als Spannung zwischen einer Landessprache und einer Weltsprache, sondern auch auf der Mikroebene, auf der Ebene der persönlichen Sprachbiographie, wo die beiden Sprachen konkurrieren. Wie wird argumentiert, wenn sowohl Englisch als auch Französisch von der gleichen Gewährsperson als Lieblingssprachen genannt werden? Übernehmen die beiden Sprachen innerhalb der affektiven Beziehung unterschiedliche Funktionen? Werden beide Sprachen positiv erwähnt, so besteht die Tendenz, dass im Fall von Englisch eher eine aktive linguistische Identität konstruiert wird und im Fall von Französisch eher eine passive linguistische Identität. Während Englisch im rationalistischen Modell zu verorten ist (nützlich, Weltsprache, nicht unbedingt schön), wird Französisch als ästhetisches Objekt, das konsumiert wird, stilisiert. In der Literatur finden sich zahlreiche Hinweise darauf, dass die Position der Fremd- und gleichzeitig Landessprache Französisch in der Deutschschweiz zugunsten der Weltsprache Englisch geschwächt wird (vgl. Kap. 8.3.6). Diese Tendenz konnte, zumindest in der quantitativen Auswertung der affektiven und ästhetischen Laienmetasprache, nicht nachgewiesen werden. In einer Analyse all jener Fälle, in denen die beiden Sprachen in je einem positiven und einem negativen Urteilstyp diametral entgegengesetzt werden, wird die Spannung zwischen der Landessprache und der Weltsprache in der multilingualen Schweiz ergründet. In einem weiteren Schritt wird untersucht, wie argumentiert wird, wenn beide Sprachen zusammen in einem positiven Urteilstyp genannt werden. 13. Die Versprachlichung von Sprachevaluationen 401 <?page no="418"?> Diametrale Entgegensetzung von Englisch und Französisch In zwei Fällen wird Französisch im negativen ästhetischen Urteilstyp genannt, während Englisch entweder im affektiven oder im positiven ästhetischen Urteilstyp genannt wird. Die Kombination findet sich zum einen bei einer Schülerin, die die Wahl von Englisch im affektiven Urteilstyp rationalistisch begründet. Bezeichnend ist die direkte Gegenüberstellung von Englisch und Französisch in der Begründungssequenz für Englisch als Lieblingssprache: (79) Schülerin, affektives Urteil zu Englisch (Begründungssequenz) Ja aso es isch eigen ’ ch uf de ganze Wält verbreitet und oi allgemein mä / / es git oi vil englischi Sender und so Züüg und ja d Liäder wärdid meischtens uf Englisch gsunge und eifach allgemein, Englisch isch eifach e scheeneri Sprach als Französisch. Ja also es ist eigentlich auf der ganzen Welt verbreitet und auch allgemein man / / es gibt auch viele englische Sender uns solches Zeug und ja die Lieder werden meistens auf Englisch gesungen und einfach allgemein, Englisch ist einfach eine schönere Sprache als Französisch. Beim zweiten Fall, in dem diese Konstellation auftritt, findet sich dasselbe Muster: Englisch wird hier im positiven ästhetischen Urteilstyp genannt und eine Bemerkung zu Französisch direkt nachgeschoben: (80) Mann, 20 - 30, primäre Bildung, positives ästhetisches Urteil zu Englisch Jaa Englisch gfaut mr sicher ai güet [HS]. Und eh süscht Franzesisch hami immer e bitz gwehrt, das gfaut mr nid eso und anders chani (no/ na) nid eso. Jaa Englisch gefällt mir sicher auch gut [HS]. Und e sonst Französisch habe ich mich immer ein bisschen gewehrt, das gefällt mir nicht so gut und anderes kann ich (noch/ danach) nicht so. Das Muster existiert im Übrigen auch in der umgekehrten Logik: Französisch wird als Lieblingssprache oder schöne Sprache genannt und es wird unaufgefordert eine Bemerkung zu Englisch nachgeschoben, das weniger schön oder der Person weniger lieb ist. Eine ältere Informantin sagt beispielsweise in der Begründungssequenz zu ihrem positiven ästhetischen Urteil zu Französisch, dass sie als junges Mädchen nicht nach England gegangen sei, sondern nach Paris. Ein Informant der Generation 40 - 50 nennt Französisch als Lieblingssprache und fügt zum Schluss der Begründungssequenz an, dass er Englisch, im Gegensatz zu Französisch, gar nicht mehr gut versteht. Diese Passagen erwecken den Eindruck, dass Englisch und Französisch im mentalen Modell von Laien in der Deutschschweiz eng verknüpft sind. Fast wirkt es so, als löse die Erwähnung der einen Sprache die Erwähnung der anderen aus, auch wenn diese im vorliegenden Urteilstyp keine Rolle spielt. Dies mag damit zusammenhängen, dass Französisch und Englisch diejenigen Sprachen sind, die mit Abstand am häufigsten bei der selbstdeklarierten individuellen 402 III. Resultate und Diskussion <?page no="419"?> Mehrsprachigkeit genannt werden (vgl. Kap. 12.4.1 Tabelle 32). Die Spannung zwischen den beiden Sprachen besteht also nicht nur auf der Makroebene als Spannung zwischen einer Landessprache und einer Weltsprache, sondern auch auf der Mikroebene oder der individuellen Ebene, wo es sich um die beiden am häufigsten erlernten Fremdsprachen handelt. Es muss aber nicht immer so sein, dass ein Individuum zwischen diesen beiden dominanten Sprachen entscheidet und eine klare Bevorzugung einer der beiden aufweist, wie folgende Ausführungen zeigen. Positive Bewertung von Englisch und Französisch Folgende Kombinationen wurden gefunden, bei denen beide Sprachen positiv besetzt sind: a. Affektives Urteil zu Englisch, positives ästhetisches Urteil zu Französisch (drei Fälle - wobei in einem der Fälle Amerikanisches Englisch zusätzlich als hässliche Sprache bezeichnet wird) b. Affektives Urteil zu Englisch und Französisch, positives ästhetisches Urteil zu Französisch (ein Fall) c. Affektives Urteil zu Französisch, positives ästhetisches Urteil zu Französisch und Englisch (ein Fall) Es lohnt sich, Fall (a.) genauer zu betrachten. Die Begründungen für die Wahl von Englisch als Lieblingssprache drehen sich um den hohen Gebrauchswert der Sprache und um die als gut eingeschätzte Kompetenz. Es werden also aktive linguistische Identitäten konstruiert. Bei Französisch als schönster Sprache wird argumentiert, dass diese klangvoll sei oder blumig. Sie ist insbesondere schön anzuhören - es handelt sich hier um die Konstruktion passiver linguistischer Identitäten. Dieser Befund wird weiter geprüft, indem das Auftreten der Kategorien aktive linguistische Identität sowie passive linguistische Identität innerhalb der Kodierungen für Englisch und Französisch in den beiden positiven Urteilstypen untersucht wird. Falls sich daraus ergibt, dass bei Französisch öfter passive linguistische Identitäten konstruiert werden als bei Englisch, ist die Befürchtung der Romandes und Romands, dass die Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer die Landessprache Französisch (verdeckt) marginalisieren, doch nicht ganz unberechtigt. 13. Die Versprachlichung von Sprachevaluationen 403 <?page no="420"?> Tab. 48: Konstruktion aktiver und passiver linguistischer Identität in den positiven Urteilstypen zu den Sprachen Englisch und Französisch. Affektives Urteil zu Englisch Affektives Urteil zu Französisch Positives ästhetisches Urteil zu Englisch Positives ästhetisches Urteil zu Französisch Aktive ling. Identität 8 4 5 5 Passive ling. Identität 5 5 4 12 Identität neutral 0 2 1 1 TOTAL 13 11 10 18 Tatsächlich werden geringfügig mehr passive Identitäten zu Französisch konstruiert als zu Englisch. Im ästhetischen Urteilstyp, wo Französisch in den untersuchten Interviews öfter als Englisch genannt wird, ist die Konstruktion von passiven linguistischen Identitäten insgesamt verbreiteter als im affektiven Urteilstyp (vgl. Kap. 13.1.1). Die Daten sprechen tendenziell für eine schwächere Position von Französisch im Vergleich zu Englisch. Noch sind die beiden Sprachen so ausgeglichen im Bewusstsein der Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer vorhanden, dass die Abwesenheit der einen oftmals thematisiert wird, wenn die andere in einem Urteilstyp genannt wird. Es kann sich hierbei allerdings um eine Phase in einem Prozess handeln, dessen Resultat noch nicht absehbar ist. Französisch ist in der Laienmetasprache insgesamt eher im ästhetischen als im affektiven Urteilstyp zu lokalisieren (17.1% der Gewährspersonen nennen es als Lieblingssprache und 48.6% als schöne Sprache) während Englisch etwa gleichmässig in beiden Urteilstypen genannt wird (vgl. Kap. 12.4.3 und 12.4.4). Der positive ästhetische Urteilstyp ist wie gesagt insgesamt etwas stärker mit passiven linguistischen Identitäten konnotiert als der affektive Urteilstyp. Französisch ist folglich positiv im Bewusstsein von Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern verankert. Dies bedeutet aber nicht, dass sie es gut sprechen können oder gerne sprechen - sie empfinden es als ästhetisch angenehm oder sie haben zumindest ni