Indirekte Übersetzungen
Frankreich als Vermittler deutscher Literatur in Italien
0715
2015
978-3-7720-5525-6
978-3-7720-8525-3
A. Francke Verlag
Iris Plack
Gegenstand dieses Buches ist die Übersetzung "aus zweiter Hand", also die Übersetzung eines Originals über die Vermittlung einer bereits vorliegenden Übersetzung in eine andere Zielsprache. Dabei gilt das Hauptinteresse der Vermittlerrolle Frankreichs bei der Übertragung bedeutender Werke der deutschsprachigen Geistesgeschichte ins Italienische. Die Autorin stellt zunächst die kulturellen und geistigen Rahmenbedingungen für das Phänomen vor und entwirft dann ein Panorama der Übersetzertätigkeit "aus zweiter Hand", das den Zeitraum vom 18. bis 20. Jahrhundert umfasst. Zugrunde gelegt werden dabei verschiedene Abstufungen des Phänomens, von der eingestandenen Reinform bis hin zu schwer nachweisbaren uneingestandenen Mischformen. Anschließend werden dem Leser mit ausgewählten Werken von Schiller, E.T.A. Hoffmann, Kant und Nietzsche vier besonders charakteristische Fälle vorgestellt. Die Autorin zeigt anhand der kontrastiven Analyse von Original und Übersetzungen, in welcher Form die Beschaffenheit der französischen "Mittlerfassung" einerseits und Art und Beweggründe ihrer Konsultation durch den Übersetzer andererseits den Charakter der italienischen Version beeinflussen und deren Rezeption im Zielland steuern.
<?page no="0"?> Indirekte Übersetzungen Frankreich als Vermittler deutscher Literatur in Italien Iris Plack <?page no="1"?> Indirekte Übersetzungen <?page no="3"?> Iris Plack Indirekte Übersetzungen Frankreich als Vermittler deutscher Literatur in Italien <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bi bliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Titelbild: M. Luther u. Melanchton / Rad. v. König Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. © 2015 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: Informationsdesign D. Fratzke, Kirchentellinsfurt ISBN 978-3-7720-8525-3 <?page no="5"?> Questi è Vincenzo Monti Cavaliero, Gran traduttor dei traduttor d’Omero. [Epigramm Ugo Foscolos auf Vincenzo Montis Ilias-Übersetzung 1810-1811] <?page no="7"?> Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 I Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 1 Theoretische Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1 1 Forschungsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1 .2 Sprachen und Kulturräume und Übersetzen: Das Deutsche und die romanischen Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 1 .2 1 Kontrastive und sprachtypologische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 1 .2 .2 Kulturelle Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 1 .2 .3 Die Zwischenstufe der Übersetzung als Halbfertigprodukt . . . . . . . . . . . . . . . . 43 1 .3 Ansätze der neueren Übersetzungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2 Konzeptionen von Kultur und Übersetzen im 18.-und 19. Jahrhundert: Deutschland-- Frankreich-- Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 2 1 Die Idee des Nationalcharakters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 2 .2 Länderspezifische Entwicklung der Konzeptionen vom Übersetzen . . . . . . . 67 2 .3 Die Vermittlerrolle Frankreichs im deutsch-italienischen Kulturaustausch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 2 .3 1 Das Französische als langue universelle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 2 .3 .2 Frankreich als „Maß aller Dinge“: Die belles infidèles und der französische Klassizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 2 .3 .3 Die Rezeption deutscher Impulse in Frankreich und ihre französischen Wegbereiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 2 .3 .4 Frankreich als „Folie“ deutsch-italienischer Rezeptions- und Übersetzertätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 II Typologie und Panorama der Übersetzertätigkeit „aus zweiter Hand“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 1 Die „Übersetzung aus zweiter Hand“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 1 1 Abstufungen der „Übersetzung aus zweiter Hand“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 1 .2 Einordnung und Bewertung des Phänomens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 <?page no="8"?> Inhalt 8 2 Zur Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 2 1 Verdachtsmomente und Strategien zur „Überführung“ möglicher Übersetzungen aus zweiter Hand: ein Ermittlungsbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 2 .2 Analysekategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 2 .2 1 Zur Situierung von Original und Übersetzungen innerhalb des Produktions- und Rezeptionszusammenhangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 2 .2 .2 Zur kontrastiven Textanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 3 „Ermittlungsergebnisse“: Überblicksdarstellung der Übersetzungen aus zweiter Hand . . . . . . . . . . 151 3 1 Die Aneignung als Reinform der Übersetzung aus zweiter Hand . . . . . . . . . . 157 3 1 1 Transparente Aneignung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 3 1 .2 Transparente und opake Bearbeitung aus zweiter Hand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 3 1 .3 Opake Aneignung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 3 .2 Die Kontamination als Mischform der Übersetzung aus zweiter Hand . . . . . 168 3 .2 1 Kritische transparente Kontamination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 3 .2 .2 Nicht-kritische transparente Kontamination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 3 .2 .3 Opake Kontamination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Exkurs: Italienisch als Mittlersprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 3 .3 Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 III Exemplarische Übersetzungsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 1 Zur Auswahl der analysierten Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 2 Friedrich Schiller: Die Räuber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 2 1 Zu Schiller und seinem Original . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 2 .2 Rezeptionskontext in Frankreich und Italien im 18 . und 19 -Jahrhundert . . . 198 2 .2 1 Die „Fortune“ der Räuber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 2 .2 .2 Bild Schillers und Rezeption seiner Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 2 .3 Die französische Übersetzung von Brugière de Barante (1821) . . . . . . . . . . . . 208 2 .3 1 Aspekte der „äußeren Übersetzungsgeschichte“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 2 .3 .2 Charakter, Rezeption und Wirkung der Übersetzung . . . . . . . 210 2 .4 Die italienischen Übersetzungen von Bianchi-Giovini (1832) und Maffei (1846) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 2 .4 1 Aspekte der „äußeren Übersetzungsgeschichte“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 2 .4 .2 Charakter der Übersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 2 .5 Kontrastive Textanalyse: Indizien für eine Übersetzung „aus zweiter Hand“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 2 .6 Rezeption und Wirkung der Übersetzungen aus zweiter Hand: zwischen Lesefassung und Opernbühne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 <?page no="9"?> Inhalt 9 3 E. T. A. Hoffmann: Der goldene Topf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 3 1 Zu Hoffmann und seinem Original . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 3 .2 Rezeptionskontext in Frankreich und Italien im frühen 19 -Jahrhundert . . . 243 3 .2 1 Die verlegerische Rezeption von Hoffmanns Werken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 3 .2 .2 Die Entwicklung des Hoffmann-Bildes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 3 .3 Die französische Übersetzung von Toussenel/ R A Richard (1830) . . . . . . . 262 3 .3 1 Aspekte der „äußeren Übersetzungsgeschichte“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 3 .3 .2 Charakter, Rezeption und Wirkung der Übersetzung . . . . . . . . . 265 3 .4 Die italienische Übersetzung von E B . (1835) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 3 .4 1 Aspekte der „äußeren Übersetzungsgeschichte“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 3 .4 .2 Charakter der Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 3 .5 Kontrastive Textanalyse: Problematik der Aneignung als Reinform der Übersetzung „aus zweiter Hand“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 3 .6 Randnotiz zu Rezeption und Wirkung der Übersetzung aus zweiter Hand . . 295 4 Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der-Sitten . . . . . . . . . . . . . . . 297 4 1 Zu Kants Original im Kontext seines Gesamtwerkes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 4 .2 Rezeptionskontext in Frankreich und Italien im 19 und frühen 20 -Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 4 .2 1 Bild Kants und Rezeption seiner Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 4 .2 .2 Terminologische Rezeptionsprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 4 .2 .3 Die „Fortune“ der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 Exkurs: Die italienische Übersetzung von Palanga (1910) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 4 .3 Die französische Übersetzung von Delbos (1907) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 4 .3 1 Aspekte der „äußeren Übersetzungsgeschichte“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 4 .3 .2 Charakter, Rezeption und Wirkung der Übersetzung . . . . . . . . . . 328 4 .4 Die italienische Übersetzung von Vidari (1910) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 4 .4 1 Aspekte der „äußeren Übersetzungsgeschichte“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 4 .4 .2 Charakter der Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 4 .5 Kontrastive Textanalyse: Die „Mittlerversion“ als Verständnishilfe . . . . . . . . 337 4 .6 Rezeption und Wirkung der Übersetzung aus zweiter Hand . . . . . . . . . . . . . . . 361 5 Friedrich Nietzsche: Morgenröthe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 5 1 Zu Nietzsche und seinem Original . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Exkurs: Zu Nietzsches Stil und Nietzsches Auffassung vom Stil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 5 .2 Rezeptionskontext in Frankreich und Italien im späten 19 und frühen 20 Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 5 .2 1 Bild Nietzsches und Rezeption seines Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 5 .2 .2 Die verlegerische Rezeption von Nietzsches Werken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 5 .3 Die französische Übersetzung von Albert (1901) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 5 .3 1 Aspekte der „äußeren Übersetzungsgeschichte“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 5 .3 .2 Charakter, Rezeption und Wirkung der Übersetzung . . . . . . . . . . 395 5 .4 Die italienischen Übersetzungen von Flores (1925) und Emma Sola (1926) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 <?page no="10"?> Inhalt 10 5 .4 1 Aspekte der „äußeren Übersetzungsgeschichte“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 5 .4 .2 Charakter der Übersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 5 .5 Kontrastive Textanalyse: Die „Mittlerversion“ als stilistische Orientierungshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 5 .6 Rezeption und Wirkung der Übersetzung aus zweiter Hand . . . . . . . . . . . . . . . 438 6 Fazit: Evaluation der vier Fallbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 Schlussbetrachtung: Die Übersetzung aus zweiter Hand im Einzelnen betrachtet und als kulturelles Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 Literatur- und Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 Quellenangaben der Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 486 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 <?page no="11"?> Vorwort Die vorliegende Habilitationsschrift enthält im Vergleich zur Urfassung einige Kürzungen sowie kleinere Modifikationen, die u a auf Änderungsvorschläge der Gutachter und der Kommission zurückgehen Insbesondere wurde die Typologie der Übersetzung aus zweiter Hand im zweiten Hauptteil leicht überarbeitet und es wurde ein Sachregister erstellt Mein besonderer Dank gilt meinem Mentor Prof Dr Jörn Albrecht (Heidelberg), der nicht nur die Anregung zum Thema gegeben, sondern mich auch stets in meiner Arbeit bestärkt und ihre Entstehung von Anfang bis Ende mit wohlwollendem Interesse und wertvollem fachlichen Rat begleitet hat Prof . Dr Vahram Atayan (Heidelberg) danke ich für sein Gutachten und für seine Anregung und Kritik, ebenso gilt mein Dank Prof Dr Alberto Gil (Saarbrücken) für sein Gutachten . Bei Prof Dr . Michael Schreiber (Mainz/ Germersheim) möchte ich mich für das kritische Gegenlesen weiter Teile der Arbeit bedanken Besonders zu Dank verpf lichtet bin ich auch Prof Dr Hans Friedrich Fulda (Heidelberg) für die freundliche Unterstützung und die wertvollen Hinweise und kritischen Anmerkungen zum Kant-Kapitel Prof Dr Giuseppe Bevilacqua (Florenz) sowie Dr Nino Briamonte (Venedig) gebührt mein Dank für ihre Aufgeschlossenheit und die hilfreichen Anregungen, die mir das Anfangsstadium meiner Recherchen erleichtert haben Ferner gilt mein Dank Dr Bruno Osimo (Mailand) für seine freundlichen Hinweise zur Literaturbeschaffung Nicht zuletzt bin ich auch meinen akademischen Lehrern Prof . Dr Wolfgang Pöckl (Innsbruck) und Prof Dr Giovanni Rovere (Heidelberg) zu Dank verpf lichtet Für die freundschaftliche Unterstützung danke ich Anna Körkel und Dr Stefan Schneider Der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften gebührt mein Dank für die großzügige Gewährung eines Druckkostenzuschusses Widmen möchte ich diese Arbeit meinen Eltern, die micht stets in meinem Vorhaben unterstützt und bestärkt haben <?page no="13"?> Einleitung Ugo Foscolos berühmtes Epigramm auf Vincenzo Montis in Italien stilbildende Ilias- Übersetzung 1 nach klassizistischem französischen Vorbild entstand zu einer Zeit, in der sich in Deutschland bereits eine Wende von der „freien“ zu einer eher „getreuen“ Konzeption der Übersetzung vollzogen hat . 2 Es ist Ausdruck persönlicher Animositäten der beiden Dichter, vor allem aber zeugt es von einer entschieden kritischen Haltung gegenüber einer seit dem Mittelalter verbreiteten Praxis, die bis in die Moderne fortwirkt Die Rede ist von einem Phänomen, das in der Tradition des Göttinger Sonderforschungsbereichs Die Literarische Übersetzung als „Übersetzung aus zweiter Hand“ bezeichnet wird und das Gegenstand der vorliegenden Arbeit sein soll . Die Bezeichnung „Übersetzung aus zweiter Hand“ beschreibt semantisch ein sehr weites Feld, das noch der Klärung bedarf und im zweiten Hauptteil dieser Arbeit genauer abgesteckt werden soll Vorläufig lässt sich Folgendes festhalten: Es handelt sich um die Übersetzung eines Originalwerkes über die Vermittlung einer oder mehrerer bereits vorliegender Fassung(en) in der Sprache, in die übersetzt wird, oder in einer dritten Sprache Das Beispiel Montis zeigt, dass in der Praxis beide Formen der Vermittlung auch kombiniert vorkommen können: Monti stützte sich sowohl auf zweisprachige griechisch-lateinische als auch auf italienische Ilias-Übersetzungen Das Phänomen bleibt aber nicht auf die sogenannte vertikale Übersetzung beschränkt, sondern erstreckt sich ebenso auf die horizontale Übersetzung zwischen „modernen“ Sprachen . Auch seine historische Verbreitung spricht dafür, dass wir es keinesfalls mit einer bloßen Randerscheinung zu tun haben, sondern vielmehr mit einem Phänomen, das die Aufmerksamkeit eines breiteren wissenschaftlichen Publikums verdient Schon im Mittelalter-- einer Epoche, die Michel Zink (2011, 9) als „vaste entreprise de traduction“ charakterisiert-- sind Übersetzungen aus zweiter Hand an der Tagesordnung, besonders auf dem Gebiet des „descensus“ aus den antiken Sprachen Man denke nur an die Übersetzerschule von Toledo, die u a im großen Stil Übersetzungen aus dem Griechischen über das Arabische anfertigte Sicherlich ist die damalige Auffassung vom Übersetzen eine völlig andere, und von „Original“ kann noch nicht die Rede sein Andererseits basieren die mittelalterlichen Übersetzungsströme auf der beständigen Wiederverwertung und Neubearbeitung vorhandener Quelltexte, wie Claudio Galderisi (2011, 30) in seiner umfassenden Studie zu den mittelalterlichen Übersetzungen ins Französische hervorhebt: 1 Die mehrfach neu aufgelegte Fassung im neoklassizistischen Stil wurde von der Kritik als einzige mit Homers Original vergleichbare italienische Übersetzung gefeiert Da seine Griechischkenntnisse nicht ausreichten, um das Original direkt einzusehen, stützte Monti sich auf zweisprachige Ausgaben auf Griechisch und Latein sowie auf einige bereits erschienene italienische Übersetzungen 2 Vgl hierzu Abschnitt 2 .2 des ersten Teils der vorliegenden Arbeit <?page no="14"?> Einleitung 14 Un grand nombre de traductions médiévales, mais aussi d’autres œuvres, sont composées non pas à partir de l’œuvre-source mais de versions de cette œuvre, qui peuvent être des remaniements, des adaptations, des épitomés, parfois composés plusieurs siècles après le livre dont ils tirent leur origine . Dans un certain nombre de cas, ces versions du livre-source sont rédigées dans la même langue de l’original, dans d’autres, elles sont de véritables traductions de l’œuvre-source, qui servent d’intermédiaire au traducteur français In späteren Epochen ist das Phänomen der Übersetzung aus zweiter Hand nach wie vor verbreitet, wie die einschlägigen Studien des Göttinger Sonderforschungsbereichs eindrucksvoll belegen Und dass selbst Übersetzer des 20 und 21 Jahrhunderts nicht ganz darauf verzichten können, soll im Folgenden noch gezeigt werden Die Vermittlerfunktion Frankreichs bei der Verbreitung literarischer und geistesgeschichtlicher Werke ist hinlänglich bekannt und wird auch von den Göttinger Forschern ausdrücklich betont Insbesondere seit dem 17 Jahrhundert übernimmt das Französische die Führungsrolle als kulturelle Mittlersprache und überf lügelt darin das Englische Bisher galt das Forschungsinteresse verstärkt der Vermittlung italienischer und spanischer Literatur über das Französische in den angelsächsischen und deutschen Sprachraum Die vorliegende Arbeit widmet sich speziell der vielversprechenden Übersetzungsrichtung Deutsch-- Italienisch und damit einem derzeit vergleichsweise wenig beackerten Forschungsfeld Im Blickpunkt sollen dabei Werke der deutschsprachigen Literatur stehen, vorwiegend aus der Feder bekannter Geistesgrößen, daneben aber auch Beispiele aus den „Niederungen“ der sogenannten Trivialliteratur, die unter Zuhilfenahme einer (oder mehrerer) französischer Mittlerversion(en) ins Italienische übertragen wurden Wenn hier übrigens von Literatur die Rede ist, so sei darunter der umfassende englische und romanische Literaturbegriff verstanden, der anders als der deutsche eher auf die allgemeine Geistesgeschichte abzielt und Werke philosophischer und psychologischer Natur einschließt Ferner ist vorauszuschicken, dass die „Reinform“ der Relaisübersetzung, bei der dem Übersetzer das Original nicht vorliegt, hier lediglich als „prototypischer“ Fall betrachtet wird Darüber hinaus gibt es zahllose Abstufungen der „mittelbaren“ Übersetzung, bei denen neben dem Original eine oder mehrere bereits vorliegende Übersetzung(en) in eine „dritte“ Sprache in jeweils unterschiedlicher Gewichtung parallel konsultiert wurden Solche weitaus schwerer nachweisbaren Spielarten machen das Gros der Übersetzung aus zweiter Hand aus . Die Verfasserin ist deshalb bestrebt, sowohl in der quantitativen Bestandsaufnahme als auch in der qualitativen Analyse dieser Arbeit einen Einblick in das gesamte Spektrum der verschiedenen Spielarten der mittelbaren Übersetzung zu geben Ausgangspunkt ist die oben angeführte Prämisse, dass das Französische bei der Übersetzung ins Italienische als wichtigste Mittlersprache fungiert, der auch in dieser Übersetzungsrichtung eine weitaus größere Bedeutung zukommt als dem Englischen Insbesondere gilt dies seit dem 17 Jahrhundert, der Hochzeit der belles infidèles . Es darf allerdings nicht unerwähnt bleiben, dass auch der umgekehrte Fall durchaus vorkommt, dass also das Italienische mitunter in eingestandener oder uneingestandener Form als Mittlersprache auftritt Dies ist vor allem im geistigen Klima der Renaissance und des Humanismus keine Seltenheit So erweist sich etwa Joachim Du Bellays 1549 erschienener Traktat Deffence et illustration de la langue françoise, der lange Zeit als Original <?page no="15"?> Einleitung 15 gehandelt wurde, bei näherer Betrachtung als ausgesprochen „treue“ Übersetzung von Sperone Speronis um 1530 verfasstem und 1542 publizierten Dialogo delle lingue. 3 Im Übrigen tritt das Italienische zu dieser Zeit auch als Mittlersprache für andere Übersetzungsrichtungen auf, wie das Beispiel der spätmittelalterlichen spanischen Tragicomedia La Celestina zeigt, die über eine italienische Fassung ins Französische, Englische und Deutsche übertragen wurde . 4 Die Sonderstellung, die das Französische auch und gerade hinsichtlich der Übersetzung deutscher Texte in andere romanische Sprachen einnimmt, illustriert vielleicht am besten ein Zitat von Karl Marx, auf das Nino Briamonte bereits 1984 in seinem Aufsatz „Autotraduzione“ verweist Darin geht es um die französische Übersetzung des ersten Bandes von Das Kapital, die Marx selbst überwacht und eigenhändig korrigiert hatte . 1869 war sie von Charles Keller begonnen und später von Joseph Roy vollendet und zwischen September 1872 und November 1875 veröffentlicht worden In seiner Einleitung zur französischen Übersetzung erläutert Marx seine revidierenden, integrierenden und verdeutlichenden Eingriffe Am 28 Mai 1872 schreibt er in einem Brief an Nikolai Franzewitsch Danielson, „già conscio delle conseguenze di questa sua ‚traduzione critica‘, che andava acquistando una sua autonomia rispetto all ’originale, la prima edizione tedesca“ (Briamonte 1984, 57): Es wird später um so leichter sein, die Sache aus dem Französischen ins Englische und die romanischen Sprachen zu übersetzen (Marx 1974) Tatsächlich sollte diese vom Autor selbst revidierte französische Version zur Vorlage und Richtschnur für die Verbreitung von Marx’ Hauptwerk in anderen Sprachen werden . Es wäre sicherlich eine lohnende Aufgabe, den Einf lüssen der französischen Vorlage auf die italienische Übersetzung nachzugehen Diese kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht geleistet werden, zumal wir es hier mit einem Sonderfall der Übersetzung aus zweiter Hand zu tun haben, bei dem die Mittlerfunktion der französischen Fassung vom Autor selbst angelegt und dokumentiert ist Das Marx-Zitat mag also vorerst als Richtung weisendes Signal verstanden werden, als Dokument für einen auch noch in der zweiten Hälfte des 19 Jahrhunderts zumindest punktuell vorhandenen Einf luss des Französischen Das vorrangige Interesse dieser Arbeit gilt solchen Fällen, in denen der italienische Übersetzer aus eigenem Antrieb eine französische Zwischenstufe zum Verfertigen seiner Fassung heranzieht-- gleichgültig, ob dies im Verborgenen geschieht oder ob er sich offen dazu bekennt Dabei soll der zeitliche Rahmen der Untersuchung nicht so eng gesteckt sein, wie es eine Konzentration auf die „reine“ Relaisübersetzung wahrscheinlich erfordern würde Die berücksichtigten italienischen Übersetzungen sind vorwiegend im Italien des 18 und frühen 19 Jahrhunderts entstanden, als die französischen belles infidèles noch ihre Nachwirkungen zeitigten und die Kenntnis des Deutschen offenbar noch 3 Die Bekanntschaft des italienischen Humanisten machte Du Bellay während seines Aufenthalts in Rom Vgl hierzu Albrecht 2007, 1093-1094 4 Vgl Gil/ Wurm 2009, 3391 . <?page no="16"?> Einleitung 16 kaum verbreitet war Da aber auch und vor allem weniger eindeutige Fälle der Übersetzung aus zweiter Hand einbezogen werden sollen, widmet sich diese Arbeit italienischen Übersetzungen, deren Entstehungszeitpunkt bis ins 20 Jahrhundert hineinreicht Schließlich ist davon auszugehen, dass auch noch die „modernen“ Übersetzer aus Zeitmangel und Bequemlichkeit zu einer bereits vorliegenden französischen Übersetzung gegriffen haben, konnten sie doch angesichts der Verwandtschaft der beiden romanischen Sprachen hoffen, dass diese ihnen viele Übersetzungsprobleme, die das Deutsche aufwirft, bereits abgenommen hat und vorgefertigte „Versatzstücke“ für die eigene Fassung liefert Man könnte diese Zwischenstufe also als eine Art „Halbfertigprodukt“ betrachten, aus dem sich ein schnelles und konkurrenzfähiges „Endprodukt“ herstellen lässt, das den Gesetzen des modernen (Übersetzer-)Marktes Rechnung trägt Der Untersuchungsansatz ist zweigeteilt: Einerseits soll ein Eindruck von der historischen Verbreitung des Phänomens „Übersetzung aus zweiter Hand“ gewonnen werden-- der aufgrund der hohen „Dunkelziffer“ uneingestandener Formen notgedrungen lückenhaft bleiben muss- -, andererseits soll das Phänomen exemplarisch anhand von vier Einzelanalysen auch in seiner Tiefe ausgelotet werden . In Verbindung mit der vorbereitenden Einordnung in den kulturellen und sprachtheoretischen Rahmen ergibt sich eine formale Gliederung in drei Hauptteile . Der erste, allgemeine Teil der Arbeit, der den Grundstein für die weitere Untersuchung legen soll, wird im ersten Kapitel mit einigen theoretischen Vorüberlegungen eröffnet: Neben einem kurzen Abriss der Forschungsgeschichte sowie der Vorstellung einiger neuerer übersetzungstheoretischer Ansätze soll die Frage diskutiert werden, wie sich die Nähe von Sprachen und Kulturräumen auf das Übersetzen auswirkt Kapitel 2 fragt nach den Ursachen, die zur Verbreitung der Übersetzungspraxis „aus zweiter Hand“ über das Französische geführt haben, sowie nach den Auswirkungen dieser Form der Vermittlung . Anhaltspunkte dafür liefern die Erörterung der historischen Entwicklung der Übersetzungskonzeptionen in den drei untersuchten Ländern einerseits und der Blick auf den historischen und literaturwissenschaftlichen Kontext der Übersetzungstätigkeit andererseits, der die Vermittlerrolle Frankreichs im deutsch-italienischen Kulturaustausch 5 erhellen soll Dazu gehört natürlich auch die Frage nach dem Stellenwert deutscher Literatur und der Übersetzungstätigkeit aus dem Deutschen im Italien des 18 und 19 Jahrhunderts-- ob nun in direkter Form oder über die französische Vermittlung Nach dieser ersten Sondierung des Terrains soll im zweiten Hauptteil der Arbeit ein Panorama der Übersetzungstätigkeit aus zweiter Hand entworfen werden . Dabei ist die Übersetzungsgeschichte deutschsprachiger Werke, die der Weltliteratur zuzurechnen sind, naturgemäß besonders gut belegt; aber auch Werke der Sach- und Gebrauchsliteratur sollen berücksichtigt werden Zunächst müssen dazu die theoretischen Rahmenbe- 5 In diesem Zusammenhang machen Frank-Rutger Hausmann und Volker Kapp (2004) in ihrer Bibliographie der Übersetzungen aus dem Italienischen des 18 bis 20 Jahrhunderts die interessante Beobachtung, dass auch in der umgekehrten Übersetzungsrichtung, aus dem Italienischen ins Deutsche, das Französische in vielen Fällen die Zwischenstufe war So finden sich dort zahlreiche Einträge zur Genese der deutschen Übersetzung, die explizit auf die Existenz einer solchen französischen Zwischenstufe verweisen . <?page no="17"?> Einleitung 17 dingungen abgesteckt und die Analyseinstrumente vorgestellt werden: Das erste Kapitel unternimmt eine Definition des Untersuchungsgegenstandes „Übersetzung aus zweiter Hand“ in seinen verschiedenen Abstufungen; das zweite Kapitel dient der Erläuterung der Methodik, auf der die Ermittlung der Fallbeispiele fußt Die eigentlichen Untersuchungsergebnisse werden in der Überblicksdarstellung des dritten Kapitels zusammengetragen . 6 Dabei orientiert sich die Gliederung des tabellarischen Überblicks an den zuvor definierten Kategorien, um die verschiedenen Formen der Übersetzung aus zweiter Hand systematisch zu erfassen Das Aufspüren von Werken, die zum Gegenstand einer „Übersetzung aus zweiter Hand“ geworden sind, erfordert einige Detektivarbeit, wobei sich ein erster Anhaltspunkt rein chronologischer Natur anbietet: Anhand von Übersetzungsbibliographien und Einträgen in elektronischen Bibliothekssystemen gilt es, das Erscheinungsjahr der jeweiligen Erstübersetzung in französischer und italienischer Sprache abzugleichen Ist die italienische Version in relativ kurzem zeitlichen Abstand nach der französischen erschienen, so liegt zumindest der Verdacht nahe, dass wir es hier mit einer „mittelbaren“ Übersetzung zu tun haben Auf der Grundlage dieser zeitlichen Indikatoren kann dann ein erstes Versuchskorpus zusammengestellt werden, dessen Plausibilität natürlich noch anhand weiterer Verdachtsmomente zu verifizieren ist . Naheliegend ist die grundlegende Unterteilung in eingestandene und uneingestandene Übersetzungen aus zweiter Hand Der zuletzt genannte ist sicherlich der interessantere Fall, zumal sich der französische Einf luss dort nur anhand der äußeren Übersetzungsgeschichte und der konkreten Textanalyse rekonstruieren lässt Was den ersten Fall angeht, so findet sich in italienischen Übersetzervorworten nicht selten ein ausdrücklicher Verweis auf die jeweils konsultierte französische Übersetzung Die gängige Praxis der Vorreden gestattet zudem besonders im 18 und 19 Jahrhundert aufschlussreiche Einblicke in Methoden und Vorgehensweisen der Übersetzer Oft will sich etwa der italienische Übersetzer ganz bewusst von seinem französischen Vorgänger abheben, oder er sieht sich im Gegenteil in dessen Nachfolge Sicherlich ist der Vorwurf einer allzu nüchternpositivistischen Herangehensweise bei der Bestandsaufnahme des zweiten Teils nicht von der Hand zu weisen, dies lässt sich aber schwerlich vermeiden, wenn die Zielsetzung, ein möglichst objektives und nicht ideologisch gefärbtes Bild von der Verbreitung des Phänomens Übersetzung aus zweiter Hand zu zeichnen, im Vordergrund steht Der dritte Hauptteil schließlich widmet sich der exemplarischen Analyse vierer besonders charakteristischer und ergiebiger Beispiele der mittelbaren Übersetzung über die französische Zwischenstufe Dazu werden aus den im zweiten Teil anhand chronologischer, kontextueller und rein textgebundener Aspekte ermittelten Verdachtsfällen exemplarisch eine Handvoll Werke herausgegriffen Ausschlaggebend ist dabei vor allem der literarische und wissenschaftliche Rang der zugrunde gelegten deutschsprachigen „Originale“ Die Wahl fiel auf zwei literarische und zwei philosophische Werke des 18 - und 19 Jahrhunderts: Friedrich Schillers Jugendwerk Die Räuber und E T A Hoffmanns Kunstmärchen Der goldene Topf einerseits sowie Immanuel Kants 6 Im Anhang ist der Arbeit zusätzlich eine Bibliographie des in der Tabelle aufgeführten Korpus der Übersetzungen aus zweiter Hand beigegeben, die Angaben zum jeweiligen Original, der französischen und der italienischen Übersetzung enthält . <?page no="18"?> Einleitung 18 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und Friedrich Nietzsches Morgenröthe andererseits Der Auf bau der vier Einzelanalysen folgt dabei einem weitgehend gleichbleibenden Schema, das der Beantwortung der jeweiligen Leitfragen dient: Neben der grundlegenden „positivistischen“ Beweisführung, dass wir es bei der untersuchten italienischen Version mit einer Form der mittelbaren Übersetzung zu tun haben, geht es zunächst darum, die jeweils vorliegende Form genauer einzugrenzen Darüber hinaus soll festgestellt werden, ob und inwiefern bei der analysierten italienischen Übersetzung der Einf luss des französischen Vorbilds spürbar ist Die spezifischeren Leitfragen ergeben sich aus dem besonderen Charakter der jeweils im Zentrum stehenden Übersetzung aus zweiter Hand Bei Schiller ist dies die Frage nach Indizien und Motiven für zwei unterschiedliche, im Abstand von anderthalb Jahrzehnten publizierte Übersetzungen aus zweiter Hand; E T A Hoffmanns Werk wirft die spezifische Problematik der Reinform des Phänomens auf; und bei Kant und Nietzsche stellt sich in erster Linie die Frage nach der Motivation des Übersetzers, gerade diese französische Mittlerversion für seine Fassung heranzuziehen Dazu muss im Vorfeld der eigentlichen Übersetzungsanalyse das deutsche Original in den Blick genommen werden: In welche geistesgeschichtliche Epoche ist es eingebunden, wie ist sein Stellenwert im Gesamtwerk des Autors und welche Bedeutung hat es für die Ausgangskultur? Es muss natürlich ebenso eruiert werden, auf welcher Fassung des Originals die jeweilige französische und italienische Übersetzung fußt (wobei es sich nicht zwangsläufig um dieselbe handeln muss) . Aufschlussreich für die Analyse ist zweitens der Rezeptionskontext des Werkes in Frankreich und Italien, der sich etwa anhand bereits publizierter Übersetzungen und Kritiken von Werken des deutschen Autors rekonstruieren lässt: In welchen geistesgeschichtlichen Kontext sind Autor und Werk dort eingebettet, und wirkt sich dieser möglicherweise modifizierend auf den Grundgedanken und die Form des jeweiligen Originals aus? Drittens schließt sich eine allgemeine „äußere“ und „innere“ Charakterisierung der als Zwischenstufe dienenden französischen sowie der italienischen Übersetzung an . Häufig lässt sich bereits in dieser Phase anhand der Übersetzervorrede feststellen, ob es sich um eine offene oder eine verdeckte Konsultation der französischen Mittlerfassung handelt Wichtigstes Instrument der Übersetzungsanalyse im engeren Sinne ist die qualitative Untersuchung der insgesamt fünf Übersetzungen aus zweiter Hand, denen das deutsche Original sowie die jeweilige französische Mittlerfassung kontrastiv gegenübergestellt werden Die Fassungen werden systematisch im Hinblick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den strukturellen, syntaktischen, lexikalischen und stilistischen Merkmalen analysiert, die als Indikatoren für den jeweiligen Grad der französischen Vermittlung dienen So gehören zu den formalen Aspekten bei epischen und dramatischen Werken z B gattungsspezifische Charakteristika wie Metrik und Reim, während unter die Stilistika etwa lexikalisierte Tropen fallen, deren Form im deutschen Sprachraum und innerhalb der Romania stark differieren kann Die Ergebnisse der Untersuchung, die die im Anhang beigegebenen tabellarischen Überblicksdarstellungen dokumentieren, gilt es im jeweiligen Abschnitt zur kontrastiven Textanalyse auszuwerten und anhand einiger besonders aussagekräftiger Textbelege zu illustrieren Die Analyse der vier Fallbeispiele schließt jeweils mit einem Abschnitt zu Rezeption und Wirkung der untersuchten Übersetzung aus zweiter Hand . Es wird danach gefragt, wie <?page no="19"?> Einleitung 19 diese in Italien aufgenommen wurde und, soweit dies überhaupt möglich ist, welchen Einf luss sie-- und damit auch die französische Mittlerfassung-- auf die dortige Rezeption des deutschen Werkes und dessen Autor ausgeübt hat . Berücksichtigt wird dabei ebenfalls, ob und inwiefern sich typische Charakteristika der französischen Rezeption auch in Italien wiederfinden <?page no="21"?> I Allgemeines <?page no="23"?> 1 Theoretische Vorüberlegungen 1.1 Forschungsüberblick Die Methode des Übersetzungsvergleichs und insbesondere des multilateralen Übersetzungsvergleichs ist bereits in den 1960er Jahren von Mario Wandruszka eingeführt worden, der dieses empirische Verfahren allerdings in erster Linie als Instrument der kontrastiven Sprachwissenschaft nutzt 1 In dieser Arbeit hingegen soll der multilaterale Übersetzungsvergleich als Hilfsmittel herangezogen werden, um den Prozess des Übersetzens selbst und seine Ergebnisse zu beleuchten; er dient damit als Instrument der historisch-deskriptiven Übersetzungswissenschaft Die „Übersetzung aus zweiter Hand“ ist seit den 1980er Jahren verstärkt ins Blickfeld gerückt, was vor allem dem Göttinger Sonderforschungsbereich Die Literarische Übersetzung zu verdanken ist Zu den Pionieren dieses Forschungsgebietes gehört Jürgen von Stackelberg, der auch den Begriff „Übersetzung aus zweiter Hand“ geprägt hat Er definiert diese Art von Übersetzungen in der Einführung zu seinem 1984 bei De Gruyter erschienenen Sammelband Übersetzungen aus zweiter Hand. Rezeptionsvorgänge in der europäischen Literatur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert in ihrer Reinform als „( . . ) Übersetzungen von Übersetzungen, also das, was man französisch ‚traductions indirectes‘ nennt So zum Beispiel in der kleinen Einführung in die Littérature comparée von C Pichois und A M Rousseau (…)“ (ebd VII) . 2 Der genannte Sammelband dient ebenso als Anstoß wie als zentrales Referenzwerk für diese Forschungsarbeit Stackelberg betrachtet insbesondere die literarische Vermittlerrolle Frankreichs, wobei hier neben Deutschland vor allem England und Spanien als Ausgangs- und Zielländer der Rezeption im Mittelpunkt stehen Italien wird lediglich in Verbindung mit England beleuchtet; der Autor weist aber auch bereits auf die Bedeutung Frankreichs im Kulturtransfer von Deutschland nach Italien hin: „Selbst als die Deutschen anfingen, literarische Exportware zu liefern, übernahm Frankreich noch einmal die Vermittlung (nach Spanien und Italien vor allem)“ (ebd VIII) Die in der vorliegenden Arbeit zentrale Übersetzungsrichtung Deutsch- - Italienisch behandelt Stackelberg ausführlich in seinem 1987 in Brigitte Schultzes Sammelband zur literarischen Übersetzung erschienenen Beitrag zum eklek- 1 Vgl Albrecht 2001, 4 In diesem Zusammenhang sind Mario Wandruszkas stark rezipierte Werke von 1969 (Sprachen-- vergleichbar und unvergleichlich) und 1971 (Interlinguistik) zu nennen 2 Im Anschluss erweitert Stackelberg (1984, VII) seine Definition, die sich wie gesagt auf die eher selten vorkommende „Reinform“ der Übersetzung aus zweiter Hand bezieht, um weniger eindeutige Formen: „Gelegentlich kommen auch Übersetzungen aus dritter Hand sowie Kontaminationen von Original und Übersetzung oder einer Übersetzung und der nächsten vor“ Solche „Kontaminationen“ sind es, die im Blickpunkt dieser Arbeit stehen sollen <?page no="24"?> I Allgemeines 24 tischen Übersetzen (I), der sich Aurelio de’ Giorgi Bertólas italienischer Übersetzung von Salomon Geßners Idyllen aus dem Jahr 1784 widmet Aufschlussreich ist hier die Definition des eklektischen Übersetzens als Orientierung des Übersetzers an mehreren Vorlagen, die Stackelberg von der kontaminierenden Übersetzung abgrenzt . Während beim eklektischen Übersetzen abwechselnd eine der Vorlagen für ganze Passagen zu Rate gezogen wird, werden bei der kontaminierenden Form die Übersetzungslösungen von Original und Vorgängerfassung im Übersetzungsprozess miteinander verschmolzen Der Stackelberg-Schüler Wilhelm Graeber führt diese Begriff lichkeit in seinem Aufsatz zum eklektischen Übersetzen (II) im selben Sammelband weiter aus, indem er euphemisierende, explikative und kommentierende Übersetzungsverfahren unterscheidet Sein Beitrag behandelt erneut die Vermittlerrolle Frankreichs in der Übersetzungsrichtung Englisch- - Deutsch, wobei sein besonderes Verdienst darin liegt, dass er die Bedeutung der konkreten Textanalyse betont und die Aussagekraft der Übersetzervorworte des 18 Jahrhunderts für das tatsächliche Übersetzerverhalten relativiert . Er weist mehrfach darauf hin, „welche Vorsicht es Übersetzervorreden im frühen 18 . Jahrhundert entgegenzubringen gilt“ (Graeber 1987, 79), gerade wenn es sich um einen deutschen Übersetzer handelt, der „sich in der Theorie weit mehr von seiner französischen Vermittlungsinstanz absetzt, als er es in praxi tut“ (ebd . 80) Die Übersetzungsrichtung Englisch-- Deutsch hat Graeber auch bei seiner in Zusammenarbeit mit Geneviève Roche 1988 bei Niemeyer veröffentlichten kommentierten Bibliographie Englische Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts in französischer Übersetzung und deutscher Weiterübersetzung im Blick 3 , die die französische Vermittlertätigkeit umfassend dokumentiert und ebenfalls wichtige methodische Hinweise für die vorliegende Untersuchung liefert Graeber/ Roche verweisen auf einen frühen Vorläufer auf diesem Forschungsfeld, der lange Zeit das einzige Referenzwerk vieler Arbeiten zur Übersetzung aus zweiter Hand war, nämlich die 1934 in Leipzig publizierte Dissertation von Marce Blassneck, Frankreich als Vermittler englisch-deutscher Einflüsse im 17. und 18. Jahrhundert- - auch hier wieder mit dem Fokus auf den englisch-deutschen Literaturbeziehungen Allerdings werden auch die Lücken dieser Studie aufgezeigt: Blassneck orientiere sich zu ausschließlich an den Übersetzervorworten, denen sie zwar im Ansatz misstraue, deren Irreführung sie aber letztlich doch erlegen sei . 4 Hinzu komme, dass der sehr eng gesteckte zeitliche Rahmen für die französische Vermittlerrolle, nämlich lediglich die drei Jahrzehnte zwischen 1710 und 1740, vielleicht noch bis 1750, inzwischen zum Teil als überholt gelten müsse (ebd 8)-- eine Feststellung, die sich im Laufe dieser Arbeit noch bestätigen wird In dem 2002 erschienenen französischsprachigen Aufsatz La traduction dans l’Europe française (1680-1760) 5 , der sich ebenfalls auf Frankreichs Vermittlerrolle konzentriert, 3 Ein weiterer Aufsatz Graebers zu dieser Thematik erscheint 1991 unter dem Titel „German Translators of English Fiction and Their French Mediators“ im Sammelband von H Kittel/ A P Frank, Interculturality and the Historical Study of Literary Translations Berlin: Erich Schmidt Verlag, 5-16 Geneviève Roche veröffentlicht 2001 in Paris beim CNRS ebenfalls zu dieser Übersetzungsrichtung ihre Monographie Les traductions-relais en Allemagne au XVIII e siècle: des lettres aux sciences 4 Vgl hierzu auch Graeber 1987, 80 5 Erschienen in dem Sammelband von Peter-Eckard Knabe/ Roland Mortier/ François Moureau, L’aube de la modernité 1680-1760, Amsterdam/ Philadelphia: John Benjamins, 47-62 <?page no="25"?> 1 Theoretische Vorüberlegungen 25 führt wiederum Stackelberg einige exemplarische Fälle der traduction indirecte aus dem Spanischen und Englischen ins Deutsche an So verweist er etwa auf die zentrale Rolle Frankreichs bei der deutschen Rezeption von Cervantes’ Don Quichotte. 6 Aufschlussreich für unsere Zwecke ist auch der Hinweis auf den Sonderstatus Italiens als kulturell hochentwickeltes Land, das im Gegensatz zu Deutschland, Russland und den Ländern Osteuropas nicht der „Entwicklungshilfe“ Frankreichs bedarf und sich dennoch im 18 - Jahrhundert auf einmal französischem Einf luss ausgesetzt sieht Über die Mittlerrolle Frankreichs für die Rezeption russischer Literatur in Italien Ende des 19 Jahrhunderts informiert Laurent Béghin (2007), der darauf aufmerksam, macht, dass die uneingestandene Form der Übersetzung aus zweiter Hand dort zu dieser Zeit sehr verbreitet und auch noch nach dem Ersten Weltkrieg durchaus anzutreffen ist . Wie weite Kreise die französische Vermittlungstätigkeit, die sich durchaus nicht nur auf den europäischen Sprachraum beschränkt, zieht, zeigt ein eher abseitiges Beispiel Frankreich hat sich nämlich auch im Bereich der „exotischen“ Literatur als wichtiger Kulturmittler erwiesen: So werden zahlreiche Werke der indischen Literatur im 19 Jahrhundert erstmals ins Französische übersetzt Einige davon erleben im Laufe jenes Jahrhunderts mehrere Neuübersetzungen, so einige der Vedischen Hymnen, Teile des Mahabharata sowie das Shakuntala, dessen französische Erstübersetzung 1830 erscheint und das danach mindestens einmal, im Jahr 1884, neu übersetzt wird Wie zu erwarten, nimmt die weitere Rezeption dann von diesen französischen Übersetzungen ihren Ausgang 7 Im italienischen Sprachraum ist die Übersetzung aus zweiter Hand in jüngster Zeit anlässlich des XXXVI Convegno sui problemi della traduzione in Padua am 8 Juni 2008-- mit anschließender Verleihung des 38 Premio Monselice per la Traduzione-- verstärkt ins Blickfeld gerückt . 8 Die Vorträge der sechs Referenten der Universität Padua zum Thema Traduzioni di traduzioni beleuchten einige interesssante Facetten des Phänomens, wie etwa die „mittelbare“ Übersetzung russischer Romane (Turgenjew) oder griechischer Lyrik (Konstantinos Kavafis) ins Italienische Im Rahmen dieser Arbeit besonders aufschlussreich ist der Beitrag von Pier Vincenzo Mengaldo zu Ippolito Nievo als Heine- Übersetzer, der aufzeigt, dass Nievo für seine Übersetzung die französische Fassung von Gérard de Nerval zu Rate gezogen hat Blickt man einmal über den „Tellerrand“ der literarischen Vermittlerrolle Frankreichs hinaus, so findet man eine ganze Reihe von Publikationen, die sich dem Phänomen von einem allgemeineren Standpunkt aus nähern . Mit der terminologischen Abgrenzung der Formen der mittelbaren Übersetzung beschäftigen sich einige neuere Beiträge, wie der Cay Dollerups In seinem 2000 erschienenen Aufsatz Relay and support 6 Die anonymen deutschen Übersetzungen von 1682 (Frankfurt) und 1734 (Leipzig) orientieren sich beide an der ausgesprochen erfolgreichen französischen Übersetzung von Filleau de Saint- Martin (Paris, 1677/ 78), die erste ausschließlich, die zweite unter Zuhilfenahme des Originals Vgl Stackelberg 2002, 50 7 Die Informationen zur Rezeption indischer Literatur verdankt die Verfasserin der französischen Forscherin Claudine Le Blanc 8 Vgl hierzu den Sammelband von Gianfelice Peron (Hrsg ), Premio ‚Città di Monselice‘ per la traduzione letteraria scientifica. Volume XXI. Edizioni del premio n. 38-39-40 Monselice: Il Poligrafo <?page no="26"?> I Allgemeines 26 translations 9 -unterscheidet er die relay translation, die sich ausschließlich an der Mittlerversion orientiert, von der support translation, die sowohl das Original als auch die Vorgängerübersetzung berücksichtigt Die Bezeichnung indirect translation oder traduction indirecte solle hingegen Übersetzungen von Mittlerversionen vorbehalten bleiben, die selbst keine direkte Leserschaft haben Dies zeigt bereits, dass Dollerups Ansatz vornehmlich auf die heutige Übersetzungspraxis abzielt und recht weit gefasst ist, zumal er auch Dolmetsch- und Untertitelungsprozesse einbezieht (so kommt die indirect translation, wie er selbst betont, wohl vor allem beim Gerichtsdolmetschen vor) Interessant für die historisch-deskriptive Übersetzungsforschung ist aber sein Hinweis auf die komplexe Entstehungsgeschichte der Bibel, bei der eine ganze Reihe von Mittlertexten in verschiedenen Sprachen eine Rolle gespielt haben In den großen Kontext der Rezeption und der Neuübersetzung bereits übersetzter Werke stellt Yves Gambier das Phänomen der Übersetzung aus zweiter Hand in seinem-- ebenfalls recht praxisorientierten-- Beitrag La Retraduction, retour et détour 10 , indem er es als eine der beiden Erscheinungsformen der retraduction definiert: Neben der eigentlichen Bedeutung, der Neuübersetzung eines bereits übersetzten Werkes, steht für ihn die retraduction als traduction de traduction, die er vor allem als Hilfsmittel zum Erschließen von Texten aus wenig verbreiteten Sprachen betrachtet Gambier greift diese Unterscheidung auch in seiner späteren Publikation Working with relay: An old story and a new challenge 11 wieder auf Darin beleuchtet er verschiedene Motive für die literarische traduction de traduction (S .- 57-59): Neben den bekannten Argumenten der Übersetzung aus im Zielland weniger verbreiteten Sprachen (z B aus dem Englischen über das Deutsche im Finnland des frühen 19 Jahrhunderts, aber auch aus den Sprachen des Alten Testaments bei der Bibelübersetzung) sowie der Modellhaftigkeit der Mittlersprache und -kultur (etwa auch der deutschen Sprache während der hebräischen Auf klärungsbewegung 1750-1850) sind hier besonders zwei bis dahin weniger beachtete Motive interessant . So wird die Mittlersprache aus Gründen der politischen und moralischen Kontrolle und Zensur eingeschaltet (beispielsweise das Russische bei Übersetzungen aus dem Englischen in Estland) und zur Wiedergabe mehrsprachiger Anspielungen in literarischen Werken verwendet, z B bei indischen, karibischen oder afrikanischen Autoren, aber auch bei Shakespeares Heinrich V oder Joyces Ulysses Ähnlich wie bei Dollerup ist auch bei Gambier der Blick in die Geschichte der traduction de traduction, deren Anfänge er im 12 Jahrhundert ausmacht, in erster Linie durch sein Interesse an der Verbesserung der aktuellen Übersetzungspraxis motiviert und erfolgt damit weniger aus der Warte des historisch-deskriptiven Übersetzungsforschers 12 Für Gambiers retraduction führt Xu Jianzhong in seinem Beitrag Retranslation: 9 Erschienen in A . Chesterman et al (Hrsg ., 2000), Translation in Context Amsterdam/ Philadelphia: John Benjamins, 17-26 10 Abgedruckt in: Meta 1994, 39: 3, 413-417 11 Erschienen 2003 in dem Sammelband von L P Gonzaléz, Speaking in Tongues. Language across Contexts and Users University of Valencia Press, 47-66 12 In diesem Zusammenhang mag ein Blick auf die von Gideon Toury vertretenen Descriptive Translation Studies aufschlussreich sein Tourys nicht präskriptiver, zieltextorientierter Ansatz, der als wertneutral bezeichnet werden könnte, bestimmt auch seine Haltung zur mittelbaren Übersetzung: Sein 1995 publiziertes Standardwerk Descriptive translation studies and beyond enthält ein „A lesson from indirect <?page no="27"?> 1 Theoretische Vorüberlegungen 27 Necessary or Unnecessary 13 die Unterscheidung zwischen direct retranslation und indirect re/ translation (Gambiers traduction de traduction) ein, wobei er der zuletzt genannten Form entgegen der allgemeinen Auffassung eher positiv gegenübersteht: In Zeiten der Globalisierung diene sie der Beförderung des kulturellen Austauschs und könne durchaus als Übergangslösung akzeptiert werden in Fällen, in denen die direkte Übersetzung noch nicht vorliegt (vgl ebd 199) Sein besonderes Augenmerk gilt dabei der indirect re/ translation in China, wo das Phänomen in beiden Übersetzungsrichtungen von jeher an der Tagesordnung war- - für die Übersetzung chinesischer Literatur betont Jianzhong (ebd 196) sogar, „that indirect translation in China dates from the very beginning of Chinese translation in world literature“ Mit der indirect translation als Phänomen des Austauschs zwischen weit entfernten Kulturen und als Ausdruck ungleicher Machtverhältnisse haben sich in jüngerer Zeit einige Publikationen befasst So beleuchtet etwa Bert Edström 1991 das Problem der Mittlersprache bei der Übersetzung vom Japanischen ins Schwedische 14 Dass dieser Brückenschlag zwischen Orient und Okzident häufig nur durch die Übersetzung aus zweiter Hand gelingt, belegen auch die Beiträge von Taïeb Baccouche (2000) 15 und Nobel Perdu Honeyman (2005) 16 zur Übersetzung ins und aus dem Arabischen . Bei Baccouche (ebd 396) findet sich eine kurze Notiz zur Übersetzung insbesondere mathematischer, astronomischer, medizinischer und philosophischer Texte aus dem Sanskrit und dem Griechischen ins Arabische, die über einen langen Zeitraum hinweg über das Persische und Syrische vermittelt war Und Honeyman widmet sich der aktuellen englischen Mittlerrolle bei der Übersetzung aus dem Arabischen ins Spanische und in andere Sprachen während des 20 Jahrhunderts 17 Aus seinen Untersuchungen leitet er das gewagte Postulat ab, „that a large number of literature translations in circulation nowadays are either partially or totally the result of indirect translation, [although] this is generally not admitted explicitly in the publication“ (ebd 67) . Er beurteilt die indirect translation unter bestimmten Bedingungen sogar als vorteilhaft und führt als Gründe u a die Kostenersparnis und die schnellere Verfügbarkeit der Übersetzung an Diese Haltung erklärt sich sicher auch aus dem speziellen Untersuchungsgegenstand, der engtranslation“-überschriebenes Kapitel Darin will er ein wiederkehrendes Auftreten des Phänomens als Beleg für die die betroffene Kultur formenden Kräfte verstanden wissen, ohne es jedoch wertend zu betrachten Dass die mittelbare Übersetzung gemeinhin als Makel angesehen wird, kritisiert Toury als Ausdruck einer überholten Sichtweise, die von einer Überbewertung des Originals zeugt (vgl ebd 129) 13 Babel 2003, 49: 3, 193-202 14 Edström, Bert (1991), „The transmitter language problem in translations from Japanese ino Swedish“ Babel 37: 1, 1-13 15 Baccouche, Taïeb (2000), „La traduction dans la tradition arabe“ Meta 45: 3, 395-399 16 Honeyman, Nobel Perdu (2005), „From Arabic to other languages through English“ . In: A Branchadell/ L M West (Hrsg ), Less Translated Languages, Amsterdam/ Philadelphia: John Benjamins Publishing Company, 67-74 17 Auf die Praxis der traduction indirecte im Spanien des 12 und 13 Jahrhunderts als Hilfsmittel zur Entdeckung des arabischen Kulturraums verweist Michel Ballard (1992, 81) in seiner Monographie De Cicéron à Benjamin. Traducteurs, traductions, réflexions (Lille), der diese allerdings aus historischer Perspektive als inconvénient, als unschöne Begleiterscheinung, bewertet <?page no="28"?> I Allgemeines 28 lischen Übersetzung des Kitáb-i-Aqdas, einer der heiligen Schriften der Bahai, durch die viele im Original nicht in dieser Form zugängliche Informationen erst „erschlossen“ wurden, und den auf ihr basierenden Weiterübersetzungen Eine bedenkenswerte These vertritt Martin Ringmar in seinem 2006 online publizierten Aufsatz „‚Roundabout Routes‘ Some remarks on indirect translations“ 18 , der einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Machtverhältnissen zwischen Sprachen und Kulturen und der Praxis der indirect translation etabliert So entstamme die Mittlersprache meist einer dominanten, die Zielsprache der Übersetzung hingegen einer „dominierten“ Kultur Dass in einer dominanten Kultur im Allgemeinen eher eine „einbürgernde“ Übersetzungshaltung vorherrsche, verstärke den Konf likt zwischen der zunehmenden „Zwischenschaltung“ einer Mittlerversion in der dominanten Sprache seitens der Verlage einerseits und der Forderung nach adequacy, nach adäquater Wiedergabe im Zielland andererseits . Die These der einbürgernden Tendenz bei der Übersetzung in dominante Sprachen, die für das heutige Englisch etwa von Lawrence Venuti (1995) untermauert wird, findet gerade in der für diese Arbeit zentralen Epoche der französischen belles infidèles ihre Bestätigung Dass im Übrigen auch Übersetzungen aus dritter Hand durchaus nicht selten vorkommen, bestätigt beispielsweise Vrinat-Nikolov (2006, 125) im Rahmen ihrer Studie zur Übersetzungsgeschichte in Bulgarien, die die traduction indirecte-- in der Hauptsache über das Griechische und das Serbische-- als gängige Praxis im frühen 19 . Jahrhundert beschreibt: C’est ainsi que, par exemple, Ivan Bogorov traduit en 1849 Robinson Crusoé à partir de la traduction en grec d’une version allemande de l’œuvre et que Khristaki Pavlowitch traduit en 1844 L’Enfant perdu de Christoph von Schmid à partir de la traduction en grec de la traduction en français de l’original allemand! Ce dernier exemple est d’ailleurs un cas rare où le traducteur indique les langues intermédiaries Im Rahmen der Übersetzungsforschung ist noch einer anderen Problematik Aufmerksamkeit geschenkt worden, die für den Ansatz dieser Arbeit von einigem Interesse ist: Mit Blick auf die historische Entwicklung der Übersetzungskonzeptionen wurden nämlich die Übersetzervorreden verschiedener übersetzter Werke näher betrachtet . So findet sich bei Graeber (Hrsg ., 1990) eine wertvolle Sammlung französischer Übersetzervorreden des 18 Jahrhunderts Die historische Epoche ist nicht zufällig gewählt, denn Graeber (ebd 15) unterstreicht, dass „im 18 Jahrhundert auch das Übersetzungswesen der Franzosen Vorbildcharakter für die Nachbarländer bekomm[t]“ . Einen ergiebigen Einblick in die Übersetzungskonzeptionen dieser Zeit liefert Iris Konopiks Freiburger Dissertationsschrift von 1997, Leserbilder in französischen und deutschen Übersetzungskonzeptionen des 18. Jahrhunderts, wobei hier natürlich vor allem der frankreichspezifische Teil der kontrastiven Analyse von Interesse ist Konopik stellt die rezeptionsorientierte Frage nach der- - anvisierten- - Leserschaft der Übersetzung, die als zentrales Steuerungselement des Übersetzungsstils betrachtet wird . Einen stärker romanischen Blickwinkel, der auch die historischen Entwicklungen der Übersetzungskonzeptionen 18 Elektronische Quelle: http: / / www .kuleuven .be/ cetra/ papers/ Papers2006/ RINGMAR .pdf <?page no="29"?> 1 Theoretische Vorüberlegungen 29 in Italien einbezieht, nimmt Hans-Wolfgang Schneiders Monographie von 1995 zur Übersetzungstheorie in Frankreich und Italien im Zeitalter der Auf klärung ein Schneiders leistet zunächst vor allem eine Begriffsbestimmung so allgemein geläufiger Termini wie ‚Übersetzung‘ oder ‚belles infidèles‘ und klärt einige Missverständnisse in ihrer Verwendung auf Das traditionelle, von der Antike beeinf lusste Übersetzungsverständnis wird ebenso abgehandelt wie zeitgenössische Sprach- und Übersetzungstheorien der Auf klärung und der Gattungsbegriff der Übersetzung . Aufschlussreich ist dabei insbesondere die nähere Beleuchtung der Fortune von Gemeinplätzen wie dem ordre naturel oder dem génie de la langue, die sich wie ein roter Faden durch die Übersetzungsliteratur damaliger Zeit ziehen Die Beantwortung der Frage, welche Bedeutung die Übersetzung als literarische Kunstform im 18 und 19 Jahrhundert hatte, lässt auch Rückschlüsse auf die Akzeptabilität von mehr oder weniger gravierenden Eingriffen in das Original zu-- ja die historische Entwicklung des Begriffes „Original“ selbst, die Schneiders (ebd 31) hier ebenso skizziert, sagt bereits viel über den Wandel in der Auffassung vom Übersetzen aus Zum speziellen Forschungsgebiet der Übersetzung aus zweiter Hand finden sich über diese Referenzwerke hinaus kaum explizit der Thematik gewidmete Publikationen Allerdings gibt es eine Reihe von Monographien und Aufsätzen zur Rezeptionsforschung, die sich speziell mit bestimmten Autoren oder lokal begrenzten Rezeptionskontexten beschäftigen und in dieser Hinsicht wertvolle Anhaltspunkte beitragen können . In den jeweiligen Einzelkapiteln der Übersetzungsanalyse im dritten Teil dieser Arbeit sollen diese noch ausführlicher behandelt werden Stellvertretend sei hier die informative Habilitationsschrift von Rita Unfer-Lukoschik aus dem Jahr 2004, Schiller in Italien. Eine quellengeschichtliche Studie genannt, die sich mit der italienischen Schiller-Rezeption beschäftigt und der die Erkenntnis zu danken ist, dass sich gerade die Werke Schillers als lohnende Studienobjekte für die Erforschung der „mittelbaren“ Übersetzung anbieten . So betont sie ausdrücklich, dass die Übertragung ins Französische „lange Zeit eine unabdingbare Voraussetzung für eine italienische Rezeption Schillers ist“ (ebd . 41-42) . Beinahe ein Jahrhundert zuvor, 1913, erschien Lavinia Mazzucchettis Monographie Schiller in Italien, die ebenfalls bereits auf die-- durch Kulturmittler wie Mme de Staël begünstigte-- französische Vermittlung aufmerksam macht, wenn auch eher mit Blick auf allgemeine kulturelle Aspekte . Die Schriften Mme de Staëls (De l’Allemagne, 1810; Sulla maniera e utilità delle traduzioni, 1816) dürfen denn auch für die Thematik der Übersetzung aus zweiter Hand nicht unberücksichtigt bleiben, da sie wichtige Anhaltspunkte zu den kulturellen Kontakten zwischen Deutschland, Frankreich und Italien und der gegenseitigen Wahrnehmung dieser Länder im frühen 19 Jahrhundert liefern Im Bereich der Philosophie lohnt die italienische Kant-Rezeption eine nähere Betrachtung . Unter den zahlreichen Beiträgen zu dieser Thematik sei insbesondere auf Gian Franco Frigos kurzen Aufsatz von 1994, „Vernunft und Sprache-- oder die Schwierigkeit, Kant auf Italienisch sprechen zu lassen“ verwiesen, der sich vor allem mit der italienischen Übersetzung der Kritik der reinen Vernunft auseinandersetzt und dabei immer wieder die Bedeutung des französischen Einf lusses für die Rezeption philosophischer Werke in Italien hervorhebt Die zentrale Rolle Frankreichs im literarischen Transfer in Europa und seine Bedeutung für den kulturellen Austausch beleuchtet die 2009 erschienene Monographie von Fritz <?page no="30"?> I Allgemeines 30 Nies, Schnittpunkt Frankreich, die sich schwerpunktmäßig mit der Übersetzertätigkeit in Frankreich in verschiedenen historischen Epochen befasst Darin verweist dieser auf die „bis ins Mittelalter zurückreichende Tradition, nicht aus der Originalsprache, sondern aus Zwischenfassungen in andere Sprachen zu übersetzen“ (ebd . 57) 19 Für unsere Zwecke sehr ergiebig ist auch der Beitrag von Roberta Battaglia Boniello, der 1990 in einem Sammelband der Mailänder Università Cattolica del Sacro Cuore erschienen ist Die regional und zeitlich eng eingegrenzte Studie konzentriert sich auf die Rezeption deutscher Schöner Literatur in der Lombardei während der Restauration (in den Jahren 1815 bis 1848), als zwischen beiden Kulturräumen ein reger kultureller Austausch herrschte Sie fördert einige interessante Hinweise auf italienische Übersetzungen deutscher klassischer und romantischer Autoren zutage, auf die zu gegebener Zeit noch näher eingegangen wird Speziell mit der Goethe-Rezeption in diesem historischen Zeitraum beschäftigt sich im selben Sammelband Franca Belski, die vor allem auf die Wegbereiter der Verbreitung von Goethes Werken in Italien eingeht Da bei der mittelbaren Übersetzung dem ersten Rezeptionsschritt die größte Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte, sind besonders auch Arbeiten zur Rezeption der in Frage kommenden deutschen Autoren in Frankreich von Interesse Einen umfassenden Überblick über den Einf luss deutscher Philosophie im Frankreich des 19 Jahrhunderts bietet die 2004 erschienene Monographie von Michel Espagne Seine zentrale These ist der stilbildende Einf luss Kants und hier vor allem seiner Kritik der reinen Vernunft auf die französische Geisteslandschaft, insbesondere durch den französischen Kulturmittler Victor Cousin Im weiteren Sinne betont Espagne die Bedeutung dieses Jahrhunderts als ‚Siècle allemand ‘, sowohl was die Schöne Literatur als auch was die Philosophie betrifft . Aus der Begegnung von französischer und deutscher Denkungsart habe sich etwas Neues entwickelt, das Züge beider Philosophien trage . Der Anhang enthält ein vollständiges Verzeichnis der in Frankreich erschienenen Übersetzungen von deutschsprachigen philosophischen Werken und hat sich als für unsere Forschungszwecke sehr nützlich erwiesen Daneben enthält die Monographie wertvolle Hinweise auf Werdegang und Bedeutung verschiedener französischer Übersetzer deutscher philosophischer Werke, und hier vor allem auf die Kant-Übersetzer . 20 19 Nies (2009, 57) führt eine kuriose Parodie dieser Übersetzungspraxis aus der Feder von Bellin de la Liborlière an, der seinen 1799 erschienenen Roman La Nuit Anglaise mit dem aberwitzigen Titelzusatz versah: „traduit de l ’arabe en iroquois, de l ’ iroquois en samoyède, du samoyède en hottentot, du hottentot en lapon et du lapon en français“ (Angelet/ Herman 1999/ 2003, 382, zit nach Nies) 20 Bereits 1985 analysierte Espagne in seinem Beitrag zum in Paris erschienenen Sammelband von Jean Moes und Jean-Marie Valentin die Rezeption der deutschen Philosophen in Frankreich im Zeitraum von 1815 bis 1830 . <?page no="31"?> 1 Theoretische Vorüberlegungen 31 1.2 Sprachen und Kulturräume und Übersetzen: Das Deutsche und die- romanischen Sprachen 1 .2 1 Kontrastive und sprachtypologische Aspekte Die Problematik der Übersetzung aus zweiter Hand darf natürlich nicht losgelöst von der Tatsache betrachtet werden, dass die Verwandtschaft bzw Nähe von Sprachen für den Arbeitsaufwand und die „Schwierigkeit“ der Übersetzung keine unerhebliche Rolle spielt Wenn man sich dem Phänomen von einer eher bodenständigen, praktischen Warte aus nähert und die konkreten Arbeitsbedingungen für die Übersetzer berücksichtigt, die wohl zu jeder Zeit unter einem gewissen Zeitdruck gestanden haben, so kann man sich der Erkenntnis nicht verschließen, dass bei der Übersetzung, sicherlich auch aus Gründen der Arbeitserleichterung, auf bereits vorhandene Übersetzungen aus der Zielsprache näher verwandten Sprachen zurückgegriffen wurde Sie bieten nicht selten probate Übersetzungslösungen, ja ganze Versatzstücke, die beinahe unverändert in die Sprache der eigenen Übersetzung übertragen werden können Für den konkreten Fall der hier untersuchten Sprachrichtung Deutsch- - Italienisch über die „Mittlersprache“ Französisch liegt es auf der Hand, dass das Französische, das als romanische Sprache dem Italienischen strukturell wesensverwandt ist, sich in ganz konkret sprachlicher Hinsicht und nicht nur aus kulturellen Erwägungen für den Übersetzer als Zwischenstufe anbietet Aus diachronischer Perspektive sei an den gemeinsamen Ursprung der romanischen Sprachen aus dem Lateinischen 21 und ihre enge Bindung an den griechisch-lateinischen Kulturraum erinnert, die sich natürlich in sprachtypologischer Hinsicht verbindend auswirkt und die in den tieferen Schichten der jeweiligen Sprache ihre Spuren hinterlassen hat Die gemeinsamen kulturellen Wurzeln zeigen sich im Laufe ihrer Geschichte und auch heute noch in der Orientierung an antiken Vorbildern, etwa dem Stilideal der antiken Rhetorik, oder an lateinischen oder griechischen Mustern auf dem Gebiet der idiomatischen Wendungen Im Fall des Italienischen kommt hinzu, dass gerade das Französische bei der Entstehung der Literatursprache eine prägende Rolle gespielt hat . So trug Alessandro Manzoni Anfang des 19 . Jahrhunderts entscheidend zur Entwicklung der italienischen Literatursprache bei, indem er zwar sprachlich eine Trennung vom Französischen als der dominierenden Sprache der Zeit vollzog, es sich aber zugleich in stilistischer Hinsicht zum Vorbild nahm: Während das Toskanische ihm die lexikalische Grundlage lieferte, war sein Stil stark am französischen Modell orientiert . 22 So findet sich bei De Mauro (1991, 282) die folgende sehr lebendige Beschreibung seiner stilistischen Frankophilie aus der Feder von D’Ovidio aus dem Jahr 1895: 21 Albrecht (1995, 293) unterscheidet hier zwischen „gemeinsame[n] ‚ererbte[n]‘ Eigenschaften, die auf das spontane Sprechlatein zurückgehen“ und „mehr oder weniger gemeinsame[n], erworbene[n]‘ Eigenschaften, die sich aus der ‚Relatinisierung‘ der romanischen Sprachen ergeben“ 22 Vgl hierzu De Mauro (1991, 282): „G Macchia (…) ha mostrato come sin dall’inizio delle sue rif lessioni il M . nutrisse l’aspirazione alla toscanità lessicale unita all’esigenza d’uno stile europeo“ <?page no="32"?> I Allgemeines 32 Vi fu chi accusò pietosamente il Manzoni di non esser riuscito per quanto vi adoperasse ogni mezzo a far divorzio dal francese; ma il vero è che nella lingua ei finì col riuscirvi poco meno che interamente, e nello stile, non che si proponesse quel divorzio, vagheggiò anzi con persuasione il più stretto connubio . A lui parve ridicolo che la nostra prosa avesse sola a restare sequestrata dal consorzio europeo, per ninnolarsi nella manifattura di periodi risonanti, quasi incipriata matrona che strascichi nelle vuote sale del suo palazzo una pomposa veste all’antica, né esca mai sulla strada dove sarebbe derisa e fastidita; e volle assolutamente piegarla alla foggia europea, specialmente francese Aus dem Blickwinkel der Synchronie sollen nun Syntax und Lexik der beiden romanischen Sprachen im Vergleich zum Deutschen näher beleuchtet werden . Die Literatur zur kontrastiven Sprachwissenschaft ist reich an Beispielen, die die Unterschiede in System und Norm dieser Sprachen illustrieren- - sowohl innerhalb der romanischen Sprachen als auch kontrastiv zum Deutschen Wichtige theoretische Überlegungen zum Sprach- und Übersetzungsvergleich finden sich etwa bei Jörn Albrecht/ Hans-Martin Gauger (2001): In diesen und anderen Publikationen weist Albrecht auf die Wichtigkeit gerade der Sprachwissenschaft für die Übersetzungsforschung hin, deren Bedeutung in neueren Ansätzen gern unterbewertet wird . 23 Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auch auf die beiden Kontrastive[n] Untersuchungen (II und III) von Albrecht (1998a) und Neumann-Holzschuh (1998) im Lexikon der Romanistischen Linguistik (Band VII), die jeweils wertvolle Überblicksdarstellungen zur Sprachvergleichsforschung mit den respektiven Schwerpunkten Italienisch (Albrecht) und Französisch (Neumann-Holzschuh) liefern Monika Doherty (1999) stellt im Vorwort zu ihrem Sammelband die These auf, dass sich Sprachen vor allem in der spezifischen Struktur ihrer Informationsverteilung unterscheiden, und liefert damit ein interessantes tertium comparationis für die kontrastive Sprachwissenschaft . 24 Für den für unsere Zwecke besonders interessanten romanisch-deutschen Sprachvergleich seien hier stellvertretend die Sammelbände von Giovanni Rovere und Gerd Wotjak (1993), Gerd Wotjak (1997) sowie Christian Schmitt und Barbara Wotjak (2005) genannt . Hinzu kommen eine Reihe von Studien zu den Sprachenpaaren Französisch-- Deutsch (z B der Sammelband von Reinart/ Schreiber 1999, Blumenthal 2 1997, Henschelmann 1999) und Italienisch- - Deutsch (Angelini/ Fontana 2002, Arend-Schwarz/ Lieber 1991, Bosco Coletsos 1997, Esposito-Ressler/ Furno-Weise 1999) Mit dem innerromanischen Sprachvergleich beschäftigen sich etwa der Sammelband von Christian Schmitt und Wolfgang Schweickard (1995) sowie stärker auf die Übersetzungspraxis bezogen Podeur (2002) . Besonders gute Dienste für den Vergleich der romanischen Sprachen und des Deutschen unter unterschiedlichen syntaktischen und lexikalischen Aspekten leistet das bekannte, bereits 1969 erschienene Standardwerk von Mario Wandruszka, Sprachen vergleichbar und unvergleichlich, das erstmals die Methode des multilateralen Übersetzungsvergleichs anwendet und sehr anschauliche Beispiele aus der Literatur mehrerer romanischer und germanischer Sprachen zur unterschiedlichen Distribution verschiedener syntaktischer und lexikalischer 23 Zur kontrastiven Linguistik und sprachenpaarbezogenen Translationswissenschaft vgl auch den Beitrag von Schreiber (2004) 24 Schreiber (2002) untersucht den Aspekt der Thema-Rhema-Gliederung am Beispiel des Sprachenpaares Italienisch-- Deutsch <?page no="33"?> 1 Theoretische Vorüberlegungen 33 Lösungen liefert 1991 findet es in der Monographie Wer fremde Sprachen nicht kennt… eine Fortsetzung Heute zeigt sich die strukturelle Ähnlichkeit der romanischen Sprachen 25 auf der Ebene des Systems etwa in der Syntax 26 : Grundsätzlich ist die Satzstellung im Deutschen bereits aufgrund der Kasuskennzeichnung durch Deklination relativ frei, so dass kaum zusätzliche Strukturen notwendig sind, um die „unmarkierte“ Wortfolge zu verändern Im Italienischen-- und stärker noch im Französischen-- ist sie oberf lächlich betrachtet durch das Fehlen der Kasusendungen auf das Subjekt-Prädikat-Objekt-Schema festgelegt Tatsächlich haben die romanischen Sprachen aber sehr wirksame Verfahren der Hervorhebung entwickelt, die auch hier zu einer relativ beweglichen Satzgestaltung führen . 27 Wandruszka (1969) liefert eine sehr überzeugende Illustration dieser syntaktischen Beweglichkeit der Romania . 28 So haben diese mit der Vorausnahme des Objekts-- im Italienischen auch als dislocazione a sinistra bezeichnet-- ein wichtiges Gestaltungsmittel zur Hervorhebung einzelner Satzteile Im Italienischen ist dieses Verfahren noch produktiver als im Französischen, da die italienische Umgangssprache häufig davon Gebrauch macht . 29 Stellvertretend sei das folgende Beispiel aus Wandruszka (1969, 505) angeführt, das zeigt, dass das Deutsche die italienische dislocazione im Gegensatz zum Französischen nicht nachbildet, da hier durchaus nicht die Notwendigkeit besteht: 30 • I disertori bisogna fucilarli./ Les déserteurs, faut les fusiller./ Die Deserteure müssen erschossen werden. Aber auch im Französischen ist dieses Verfahren produktiv, wie das folgende Beispiel zeigt: 31 • „Poupette, elle, on la mariera“, disaient mes parents avec confiance./ „Für Poupette wird sich ein Mann finden lassen“, äußerten meine Eltern vertrauensvoll./ Poupette, la sposeremo. 25 Sicherlich kann hier eingewendet werden, dass gerade zwischen dem Französische und den südromanischen Sprachen nicht unbeträchtliche typologische Unterschiede bestehen, die bereits von Coseriu aufgezeigt wurden und auf die auch Wandruszka hinweist In der einfachen Syntax machen sich diese Divergenzen besonders stark bemerkbar An dieser Stelle sollen aber die trotz allem unbestrittenen strukturellen Ähnlichkeiten im Mittelpunkt stehen, und die zeigen sich bereits wieder in der komplexen Syntax 26 Speziell mit den syntaktischen Problemen des Deutschen und der Romania beschäftigen sich etwa die kontrastiven Studien von Albrecht (1997), Must (1972), Ross (1997) und Schreiber (2002) 27 Albrecht (1995, 300) sieht in dem Fehlen solcher syntaktischer Hervorhebungsmuster gar eine „Unterlegenheit“ des Deutschen gegenüber den romanischen Sprachen 28 Wandruszka (1969, 507-508) wendet sich vor allem gegen den Gemeinplatz von der formalen Starrheit der französischen Sprache: Das Französische sei im Gegensatz zum Englischen nicht auf die Wortfolge S-V-O festgelegt und bediene sich häufig der Möglichkeit einer Vorausnahme des Objekts 29 Zur dislocazione a sinistra und zur Topikalisierung vgl den Beitrag von Benincà/ Salvi/ Frison (1988, 148-194), „L’ordine degli elementi nella frase e le costruzioni marcate“, die im Detail die Möglichkeiten einer dislocazione der verschiedenen Satzglieder behandeln, daneben auch Berruto 1986, 55-69. 30 Es handelt sich um ein Zitat aus Alberto Moravias Roman La Ciociara, Milano 1964, Übersetzungen: La Ciociara, Paris 1958, Ü Claude Poncet; Cesira, Hamburg 1964, Ü Percy Eckstein 31 Entnommen aus Wandruszka 1969, 508 Originalzitat aus Simone de Beauvoir, Mémoires d’une jeune fille rangée, Paris 1958 Übersetzungen: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause, Hamburg 1960, Ü Eva Rechel-Mertens; Memorie d ’una ragazza perbene, Torino 1960, Ü Bruno Fonzi <?page no="34"?> I Allgemeines 34 Das Französische verfügt zudem über die Hervorhebungsformel oder mise-en-relief, mit der die Wortfolge sehr beweglich gestaltet werden kann Im Italienischen ist dieses Verfahren ebenso möglich, kommt aber weniger häufig zum Einsatz Hier zwei weitere aus Wandruszka (ebd 511-512) entnommene Beispiele, bei denen erneut nur das Deutsche das französische Original nicht nachahmt: 32 • Si vous donnez les renseignements qu’on vous demande, vous avez la vie sauve… Vous refusez? … C’est la vie que je vous propose! La vie! La vie! Êtes-vous sourds? / … Das Leben biete ich euch an! Das Leben! Das Leben! / … È la vita che vi offro! • C’est toi que j’aime, Lucie TOI, heureuse ou malheureuse, vivante ou morte, c’est toi! / Dich liebe ich, dich, Lucie, …/ Sei tu quella che amo … In den genannten Beispielen ließen sich die italienische dislocazione und die französische mise-en-relief grammatisch ohne Weiteres auch im Deutschen nachbilden (Die Deserteure, die müssen erschossen werden./ Poupette, für die wird sich ein Mann finden lassen./ Es ist das Leben, was ich euch anbiete./ Du bist es, die ich liebe ) . Die Übersetzer entscheiden sich aber dennoch dagegen, da die entstandenen Sätze im Deutschen eher unidiomatisch klingen Wichtiger als die Frage, was die Sprache ausdrücken kann, ist also die Frage, wie sie sich tatsächlich üblicherweise ausdrückt, was also der Norm entspricht Wir bewegen uns damit hier auf der Ebene der Norm, auf der die Verwendung des Inventars an grammatikalischen Strukturen im Zentrum steht In den romanischen Sprachen schlägt sich die Ähnlichkeit auf dieser Ebene syntaktisch neben den Hervorhebungsstrukturen beispielsweise auch in der Beliebtheit von Gerundien und Partizipien nieder: Obgleich das Deutsche ebenfalls Partizipialkonstruktionen kennt, sind diese durchaus nicht im gleichen Maße gebräuchlich wie in den romanischen Sprachen Es muss also die implizit ausgedrückten Relationen der Romania explizieren und den argumentativen Bezug herausarbeiten Zur Illustration sei hier lediglich jeweils ein recht banales Beispiel aus Schulgrammatiken zum Gérondif und zum Gerundio angeführt: • En partant de bonne heure, nous avons la journée devant nous./ Wenn wir früh abfahren, haben wir den Tag noch vor uns. 33 • Nuotando si irrobustisce il corpo./ Durch Schwimmen kräftigt man den Körper. 34 Während die romanischen Sprachen untereinander die jeweils vorgegebene Konstruktion ohne Schwierigkeiten übernehmen könnten (Partendo presto…/ En nageant…), wäre dies im Deutschen zumindest problematisch (*Früh abfahrend…/ *Schwimmend) . 35 Das 32 Originalzitate aus: Jean-Paul Sartre, Morts sans sépulture, Théâtre, Paris 1947 Übersetzungen: Tote ohne Begräbnis, Dramen, Hamburg 1949, Ü Robert Blum; Morti senza tomba, Milano 1949, Ü Giorgio Monicelli 33 Entnommen aus Klein/ Kleineidam, Grammatik des heutigen Französisch Stuttgart: Ernst Klett Verlag 1983, S -249, deutsche Übersetzung vervollständigt 34 Entnommen aus Reumuth/ Winkelmann, Praktische Grammatik der italienischen Sprache Wilhelmsfeld: Gottfried Egert Verlag 1991, S -175 35 Dieser Problematik widmet sich z B die unveröffentlichte Diplomarbeit von Ludmila De Campos Fruchi, Zum Gebrauch des italienischen ‚gerundio‘ in Übersetzungen aus dem Italienischen, Germersheim 2007 . <?page no="35"?> 1 Theoretische Vorüberlegungen 35 Deutsche muss also auf andere syntaktische Muster ausweichen und expliziert den konditionalen Nebensinn des französischen Beispiels mit einem Konditionalsatz, während es die modale Bedeutung des italienischen Satzes substantivisch wiedergibt . Auf Beispiele zu den verschiedenen Partizipien, bei denen insbesondere die „absoluten“ Partizipialkonstruktionen Übersetzungsprobleme bereiten werden, soll an dieser Stelle verzichtet werden, da die Problematik hinlänglich bekannt sein dürfte Interessant für unsere Zwecke ist lediglich das grundsätzliche Phänomen des unterschiedlichen Gebrauchs syntaktischer Strukturen in den beiden romanischen Sprachen im Kontrast zum Deutschen Idiomatische Strukturen spielen im Bereich der Syntax auch bei der Tempusorganisation oder der Verwendung von passivischen Konstruktionen eine Rolle, worin wiederum die strukturelle Ähnlichkeit der Romania im Unterschied zum Deutschen deutlich wird Hierzu einige Beispiele aus Wandruszka, zunächst zum Gebrauch des Futurs (ebd . 378): • Ja, wenn ich tot bin, kann Erika meinetwegen auch davonziehen, aber ich halte es sonst nirgends aus, und solange ich am Leben bin, wollen wir hier zusammenhalten… Einmal in der Woche kommt ihr zu mir zum Essen… Und dann lesen wir in den Familienpapieren/ quand je serai morte… tant que je serai de ce monde… vous viendrez… nous relirons/ quando sarò morta… finché son viva… verrete… leggeremo. 36 • Tu me les rendras, sorcière! Tu vas me les rendre/ Hexe, du gibst mir die Bilder zurück. Sofort gibst du sie her/ Me le renderai, strega! Vedrai, se non me le rendi! 37 In beiden Zitaten zeigt sich die Neigung des Deutschen, den Aspekt des Zukünftigen mit dem Präsens wiederzugeben-- Wandruszka (ebd 378) spricht hier vom Praesens pro futuro, das vor allem eine stilistische Funktion hat . Das Französische und das Italienische verwenden automatisch das Futur, auch wenn wie im ersten Beispiel im deutschen Original das Präsens vorgegeben ist Dabei besitzt das Französische, wie das zweite Beispiel zeigt, zusätzlich zum einfachen noch die Stilvariante des zusammengesetzten Futurs, mit der ein ähnlicher Effekt erzielt wird Der unterschiedliche Gebrauch der Tempora kann besonders dann zu Übersetzungsproblemen führen, wenn er im Original für Sprachspiele eingesetzt wird Albrecht (2008, 56) führt hier ein sehr aussagekräftiges Beispiel zur Kontrastierung von historischem Perfekt und Imperfekt im Französischen an: 38 • Il me plut. Il plaisait./ Mi piacque. Piaceva./ Er gefiel mir. Er gefiel überhaupt. Die französische Opposition zwischen dem spezifischen Fall und der allgemeinen Feststellung kann im Italienischen-- wie auch in anderen romanischen Sprachen-- genauso mithilfe der Tempora ausgedrückt werden Das Deutsche hingegen hat nur das Präteri- 36 Original aus Thomas Mann, Buddenbrooks, S -Fischer Verlag 1960 Übersetzungen: Les Buddenbrook, Paris 1932, Ü . Geneviève Bianquis; I Buddenbrook, Milano 1952, Ü Ervino Pocar 37 Original aus Jean-Paul Sartre, Les mains sales, Paris 1948 Übersetzungen: Die schmutzigen Hände, Dramen, Hamburg 1949, Ü . Kitty Black; Le mani sporche, Milano 1949, Ü Giorgio Monicelli 38 Vgl hierzu auch Albrecht 2013, 103 Weitere kontrastive Beispiele zum Tempus- und Modusgebrauch in den Romania finden sich bei Albrecht 1995, 295-296 <?page no="36"?> I Allgemeines 36 tum zur Wiedergabe beider Aspekte zur Verfügung und muss auf Umschreibungen wie hier die adverbial gebrauchte Abtönungspartikel überhaupt ausweichen Die Verwandtschaft zwischen den beiden romanischen Sprachen auf dem Gebiet der passivischen Konstruktionen ist weniger stark ausgeprägt, da die drei stilistischen Möglichkeiten des Passivs, des unpersönlichen Aktivs und des Ref lexivs in allen drei kontrastierten Sprachen mit unterschiedlicher Häufigkeit genutzt werden-- Wandruszka (ebd 431) spricht hier von „grammatische[r] Polymorphie und stilistische[r] Disponibilität“ Im Deutschen zeigt sich aber eine Tendenz zum unpersönlichen Aktiv mit man, die in den romanischen Sprachen- - und besonders im Italienischen- - nicht in dem Maße zu beobachten ist: 39 • Nommé ministre de l’Éducation nationale, Abel Bonnard blâma la tiédeur de ses prédécesseurs, il réclama que l’Université ‚s’engageât ‘; il ne fut pas suivi/ Der neue Kultusminister, Abel Bonnard, tadelte die Lauheit seiner Vorgänger; er forderte die Universität auf, sich zu ‚engagieren‘. Man hörte nicht auf ihn/ … Non fu seguito Die Idiomatik ist aber nicht nur im Bereich der Syntax ein wichtiger Aspekt, sie schlägt sich auch in lexikalischen Gewohnheiten nieder, wenn man den großen Bereich der idiomatischen Redewendungen und der Phraseologie betrachtet . 40 Hier sei stellvertretend der interessante Aspekt der Modalverben herausgegriffen, der wiederum die Nähe der romanischen Sprachen zueinander illustriert Wandruszka (1991, 60) macht auf eine Besonderheit im Sprachsystem der romanischen Sprachen aufmerksam, die sich auf die Idiomatik auswirkt, nämlich die „Leerstelle“ bei den romanischen Modalverben: Während es im Deutschen neben „müssen“ auch die Modalverben „sollen“ und „dürfen“ gibt, haben die Romania für die beiden zuletzt genannten Formen keine Entsprechung; sie müssen etwa zur Wiedergabe von „sollen“ auf das aus dem lateinischen debere abgeleitete devoir bzw dovere zurückgreifen (Für „dürfen“ in verneinter Form kann in bestimmten Kontexten entsprechend ne pas devoir bzw non dovere verwendet werden . 41 ) Die romanischen Sprachen haben aber auch eine idiomatische Lösung für dieses Problem gefunden, indem sie häufig das deutsche „Soll ich…? “ durch „Willst du, dass ich…“ ersetzen: 42 • Soll ich Ihnen sagen warum? / Voulez-vous que je vous dise pourquoi? / Vuol che le dica perché? 39 Original: Simone de Beauvoir, La force de l’âge, Paris 1960 Übersetzungen: In den besten Jahren, Hamburg 1961- , Ü Rolf Soellner; L’età forte, Torino 1961, Ü Bruno Fonzi Einschränkend sei erwähnt, dass das Französische ebenfalls sehr gern die unpersönliche Konstruktion mit „on“ verwendet Bei dem zitierten Beispiel handelt es sich im Deutschen beinahe um eine feste Wendung oder „feste Gewohnheit“ nach Wandruszka, die dazu führt, dass eher die unpersönliche Form als das Passiv aktualisiert wird 40 Hierzu gehört auch die Metaphernübersetzung, die z B Pirazzini (1977) und Schreiber (2003) untersuchen, sowie die Stilistik, wie sie etwa Grünbeck in seinem zweibändigen Werk (1976 und 1983) kontrastiv für das Deutsche und Französische beleuchtet 41 Daneben sind aber auch die unpersönlichen Konstruktionen „il ne faut pas faire quelque chose“ für das Französische und „non bisogna fare qualcosa“ für das Italienische geläufig 42 Die beiden Beispiele zu den Modalverben sind Thomas Mann, Buddenbrooks, Frankfurt 1960 entnommen . <?page no="37"?> 1 Theoretische Vorüberlegungen 37 Die futurische Verwendung des Modalverbs „sollen“ wird im Übrigen in beiden romanischen Sprachen mangels entsprechenden Modalverbs als „echtes“ Futur wiedergegeben: • Du sollst sehen, alles wird wieder gut! / Tu verras/ Vedrai Albrecht (1999, 12-13) macht weiterhin auf das Phänomen aufmerksam, dass im Französischen häufig das syntaktische Subjekt nicht zugleich auch die semantische Rolle des Agens einnimmt, während man dies im Deutschen nicht ohne Weiteres nachmachen kann, ohne gegen die Idiomatik der Sprache zu verstoßen . Er bezieht sich auf das Sprachenpaar Französisch-Deutsch: • L’approche de l’ennemi fit fuir les habitants dans les forêts./ Vor dem nahenden Feind flohen die Einwohner in die Wälder. • Le dialogue Nord-Sud a déjà fait couler beaucoup d’encre./ Von einem Nord-Süd Dialog ist schon viel die Rede gewesen. Im Italienischen lässt sich die französische Satzkonstruktion problemlos nachbilden; es ließe sich etwa formulieren: • L’approccio del nemico fece fuggire gli abitanti nelle foreste. • Il dialogo Nord-Sud ha già fatto versare fiumi d’ inchiostro. Auf der Ebene des Wortschatzes finden sich ebenfalls spezifisch romanische Strukturen, die etwa in der geringen Determinierung bei Verben zum Ausdruck kommen Albrecht (1995, 301) verweist auf die Positionsverben stehen, sitzen, liegen, die das Französische viel generischer mit être wiedergibt, während die Handlungsverben stellen, setzen, legen dem französischen mettre subsumiert werden Offensichtlich ist die lexikalische Nähe im Bereich der den romanischen Sprachen gemeinsamen Latinismen Wie sehr sich auch auf der Ebene der Phonetik und Phonologie die strukturelle Ähnlichkeit der romanischen Sprachen bemerkbar macht, wird bei Albrecht (1995, 293-295) anhand einiger Beispiele aus poetischen Texten demonstriert Lautmalerei und Lautsymbolik, wie sie sich etwa in Alliterationen und Assonanzen, aber vor allem im Reim ausdrückt, lassen sich innerhalb der Romania wesentlich leichter nachbilden als zwischen weiter entfernten Sprachen . 43 Zur Illustration sei hier nur an die bekannte Tatsache erinnert, dass es in romanischen Sprachen wie dem Italienischen leichter ist, einen Reim zu finden, als ihn zu vermeiden Ein deutscher Autor hingegen muss erhebliche Anstrengungen unternehmen, um seinen poetischen Texten ein Reimschema zu unterlegen . 44 Bereits diese wenigen, mehr oder weniger willkürlich ausgewählten Beispiele dürften hinlänglich gezeigt haben, wie die strukturelle Ähnlichkeit der beiden romanischen Sprachen sich auf den „Schwierigkeitsgrad“ der Übersetzung auswirkt, so dass sich für 43 Für Beispiele zu diesem Bereich sei auf den oben zitierten Beitrag von Albrecht verwiesen 44 Levý (1969, 218) bemerkt Ähnliches für das Italienische im Kontrast zum Englischen: „Ein italienischer Dichter hat tausend Reime auf -are (amare) Der englische Dichter kann auf love nicht mehr als drei klanglich einwandfreie Reime ersinnen“ . <?page no="38"?> I Allgemeines 38 den italienischen Übersetzer die Übertragung eines Textes aus dem Deutschen durchaus schwieriger gestalten kann als die aus dem Französischen . Die Bedeutung der sprachenpaarbezogenen Übersetzungsforschung darf also bei aller Betonung sprachübergreifender und nichtlinguistischer Aspekte in der modernen Translationswissenschaft nicht aus dem Auge verloren werden 1 .2 .2 Kulturelle Aspekte Neben den rein linguistischen Aspekten spielt aber auch die kulturelle Komponente eine ausschlaggebende Rolle, denn die Nähe zwischen den Kulturräumen und deren wechselseitige Beziehungen entscheiden darüber, ob, in welchem Umfang und in welchem zeitlichen Rahmen Übersetzungen von der einen in die andere Sprache erscheinen . Die Vorbedingung dafür, dass die italienischen Übersetzer die französische Fassung bei ihren Übersetzungen aus dem Deutschen zu Rate ziehen können, ist natürlich, dass das deutsche Original bereits auf Französisch vorliegt Und dies setzt voraus, dass die kulturellen Kontakte zwischen dem deutschen und dem französischen Sprachraum stärker ausgeprägt sind als die zwischen Deutschland und Italien . Nachdem im vorangegangenen Kapitel gezeigt worden ist, dass die Verwandtschaft der beiden romanischen Sprachen für den Übersetzer generell eine nicht unerhebliche Arbeitserleichterung bedeutet, soll nun aus historischer Perspektive die „Verwandtschaft“ der beteiligten Kulturräume näher beleuchtet werden Wenn die italienischen Übersetzer der Vergangenheit oft und gern eine bereits existierende französische Fassung konsultierten, so liegt dies nicht zuletzt auch darin begründet, dass gerade im 18 . und 19 Jahrhundert die Kenntnisse des Deutschen in Italien nicht sehr verbreitet waren, zumal die beiden Kulturräume- - mit einer Ausnahme, die im Folgenden noch zur Sprache kommen soll-- kaum miteinander in Kontakt standen . 45 Die kulturelle Beziehung zu Frankreich hingegen hat in Italien eine lange Tradition Hinzu kommt die Tatsache, dass deutsche literarische oder philosophische Werke zur damaligen Zeit häufig schneller ins Französische übertragen wurden, da zwischen Frankreich und Deutschland von jeher ein reger kultureller Austausch bestand . 46 Politisch betrachtet ereicht die Vorherrschaft des Französischen bekanntlich ihren Höhepunkt in der napoleonischen Ära, deren Einf luss nicht nur die Geschichte Frankreichs prägt, sondern sich auch wie ein roter Faden durch die Entwicklung ganz Europas zieht Der zentralistische Staat Napoleon Bonapartes gründete sich auf der Rechtsordnung des 1804 in Kraft getretenen Code civil oder Code Napoléon, der vom Geist der Aufklärung getragen war und auch in den von Napoleon besetzten oder unter seinem Ein- 45 Für das Italien des ausgehenden 18 Jahrhunderts spricht Flaim (1995, 364) von einer einhelligen Ablehnung des „idioma alemanno“, das für italienische Ohren einen unangenehmen Klang habe, und betont: „(…) i modelli linguistici e culturali stranieri di successo nel Settecento non saranno mai tedeschi, bensì francesi e inglesi“ 46 Im Italien der Restauration schreibt Giuseppe Acerbi, Herausgeber der Biblioteca Italiana: „La lingua francese è così comune in Italia, che appena meritano di essere ricordate le traduzioni da questa lingua, le quali non soglionsi ordinare dai librai che per una vista economica, potendo qui essi vendere la traduzione a minor prezzo dell’originale medesimo“ (Biblioteca Italiana 1819, „Proemio“, p XIII, zit nach Allegri 1995, 382) . <?page no="39"?> 1 Theoretische Vorüberlegungen 39 f luss stehenden Gebieten eingeführt wurde Der in Frankreich heute noch gültige Code civil wurde zum Vorbild für das romanische Privatrecht und war auch in Deutschland, vor allem in Baden und im Rheinland, lange Zeit in Kraft; noch bei der Entwicklung des Bürgerlichen Gesetzbuchs von 1900 hat er eine bedeutende Rolle gespielt Mit dem französischen Recht hat auch die französische Sprache in Europa an Einf luss gewonnen und sich zu einer europäischen lingua franca entwickelt . 47 In Italien zeugen noch heute einige von französischen Einsprengseln geprägte Dialekte von diesem französischen Einf luss zu napoleonischer Zeit In kultureller Hinsicht hatte Frankreich bereits im 17 und 18 Jahrhundert eine vorherrschende Stellung in Kontinentaleuropa inne, die sich gleichermaßen in Politik, Wissenschaft und Kunst niederschlug . 48 In Deutschland wirkte sich dieser Vorbildcharakter Frankreichs auf dem Gebiet der Literatur in einer starken Anpassung an französische literarische Modelle aus, beispielsweise auch was den formalen Auf bau des Dramas betrifft Zudem gab es eine rege Übersetzungstätigkeit aus dem Französischen Wie später noch zu zeigen sein wird, wurden nicht nur französische Originale übersetzt, sondern auch französische Übersetzungen literarischer Werke aus anderen Sprachen als Vorlage für die Übertragung ins Deutsche verwendet-- und dies selbst dann, wenn eine Ausgabe in der Originalsprache problemlos zu beschaffen war (vgl Kittel/ Poltermann 1998, 422) Durch die Brille-- oder den Zerrspiegel-- der „Relaisübersetzung“ wurden zu dieser Zeit vor allem englische Autoren dem deutschsprachigen Leser nahe gebracht, insbesondere um das Jahr 1720 herum Auch in Italien machte sich der Einf luss der französischen Kultur in diesen Jahrhunderten mit Vehemenz bemerkbar, vor allem natürlich in den nord- und mittelitalienischen Regionen . 49 Dabei war die Ausgangslage in Italien eine grundlegend andere: Während Frankreich in Deutschland-- wie im Übrigen auch in Russland und den osteuropäischen Ländern-- eine Art kulturelle Entwicklungshilfe leistete, war Italien in der Epoche der Renaissance der kulturelle Motor in Europa gewesen, und im 18 Jahrhundert begannen sich nun die Machtverhältnisse umzukehren . 50 Mit Beginn des Jahrhunderts gab es in Italien einen regelrechten Boom von Übersetzungen aus dem Französischen Die kulturelle Bedeutung Frankreichs wirkte sich in allen Bereichen des kulturellen Lebens aus; auf dem Gebiet der Literatur feierten französische Dramatiker und vor allem die französische Komödie große Erfolge in Italien, Übersetzungen von Molière, Racine und Corneille erfreuten sich großer Beliebtheit Aber auch französische Romane fanden regen Anklang In der zweiten Hälfte des 18 . Jahrhunderts erwachte auch das Interesse für die französischen philosophes, mit Übersetzungen von Voltaire, Diderot oder d’Alembert Erst mit Beginn der romantischen Ära in Italien Anfang des 19 Jahrhunderts verlor die französische Geisteslandschaft etwas an Bedeutung, zumal das Interesse für andere moderne Sprachen wuchs und dadurch die Mittlerfunk- 47 Zur Bedeutung des Französischen als internationaler Sprache vgl Abschnitt 2 .3 1 im ersten Teil dieser Arbeit 48 Zum französischen Einf luss auf die deutsche Literaturlandschaft und Übersetzungspraxis im 18 Jahrhundert vgl Myriam Salama-Carr 1998, 409-417 („French tradition“) 49 Der kulturelle Einf luss Frankreichs auf das Italien des 17 und 18 Jahrhunderts wird bei Riccardo Duranti (1998, 474-484) konzis dargestellt („Italian tradition“) 50 Vgl hierzu Stackelberg 2002, 56 . <?page no="40"?> I Allgemeines 40 tion des Französischen deutlich in den Hintergrund rückte . 51 Allerdings richtete sich dieses Interesse vornehmlich auf den angelsächsischen Sprachraum und vereinzelt auch auf russische Werke Demgegenüber waren Übersetzungen französischer Originale nach wie vor gefragt, während deutsche Werke-- wie im Übrigen auch spanische-- eher unbeachtet blieben Nennenswerte Kontakte mit sprachwissenschaftlichen, philosophischen und politischen Arbeiten deutscher Wissenschaftler und deren Übersetzung ins Italienische sind erst gegen Ende des 19 Jahrhunderts zu verzeichnen und nehmen von da an stetig zu Sowohl in Deutschland als auch in Italien herrschte also ein reger politischer und kultureller Austausch mit Frankreich, wobei Frankreich in kultureller Hinsicht meist die beherrschende Rolle spielte Hingegen war Italien von der Französischen Revolution bis ins 19 Jahrhundert hinein vom übrigen Europa isoliert, so dass von einem Kulturaustausch mit anderen europäischen Ländern-- mit Ausnahme Frankreichs-- kaum die Rede sein kann . 52 So waren auch die Beziehungen zwischen Italien und Deutschland im 18 und 19 Jahrhundert wie schon erwähnt kaum existent, die beiden Kulturräume hatten außerhalb der französischen Vermittlung nur sehr wenige Berührungspunkte . 53 Besonders auf dem Gebiet der Philosophie nahm man einander kaum wahr . Ein willkürlich gewähltes Beispiel mag dies illustrieren: Der in Neapel lehrende Philosophieprofessor Pasquale Galuppi (1774-1846), der dazu beigetragen hatte, die deutsche Philosophie in Italien bekannt zu machen 54 , maß der deutschen Universitätslandschaft so wenig Bedeutung bei, dass er einen Ruf an die Tübinger Universität ablehnte Allerdings gab es gegen Ende des 18 Jahrhunderts bis etwa 1805 mit der Weimarer Klassik eine „Insel“ der direkten italienisch-deutschen Beziehungen, die sich auf einen kleinen Kreis deutscher Schriftsteller beschränkte, aber eine große geistesgeschichtliche Wirkung zeitigte . 55 Bezeichnenderweise wird der Beginn der Klassik i e S im Allgemeinen auf den Zeitpunkt von Goethes italienischer Reise (1786-1788) datiert, während der die neuen klassischen Ideale reiften . 56 Die Nachwirkungen dieser nur wenige Jahre währenden Dichtungsepoche, in der Wieland, Goethe, Herder und Schiller in Weimar wirkten, lassen sich noch bis in die 1830er Jahre verfolgen Vor dem politischen Hintergrund der Französischen Revolution blühten in Deutschland das Humanitätsideal 51 In diesem Zusammenhang sei auf die von Mme de Staël ausgelöste Debatte zur Übersetzung europäischer Literatur in Italien verwiesen, die in Abschnitt 2 .2 in diesem Teil der Arbeit noch ausführlicher behandelt werden soll 52 Zum Kulturaustausch zwischen Italien und Deutschland vgl Unfer Lukoschik 2004, 52 f 53 Hier soll es zunächst nur um die direkten Kontakte zwischen beiden Ländern gehen Auf die indirekten, also über Frankreich vermittelten Beziehungen zwischen Deutschland und Italien, für die etwa Mme de Staël eine entscheidende Rolle als Mittlerin zwischen den Kulturen spielte, sei in Abschnitt-2 .3 in diesem Teil der Arbeit noch näher eingegangen 54 Vgl Herders Conversations-Lexikon Freiburg im Breisgau 1855, Band 3, S -15, in dem es heißt: „Galuppi (…), führte den Italienern zuerst die deutsche Philosophie vor, an der sich dieselben aber bis jetzt noch nicht merkbar erbaut haben“ 55 Zur Bedeutung Weimars im Allgemeinen und der Weimarer Klassik im Besonderen für die deutsche Italien-Rezeption vgl . Harro Stammerjohanns Vorwort zu Hausmanns 1996 erschienenem Sammelband „Italien in Germanien“, S -IXf 56 Diese Datierung findet sich etwa bei Frenzel/ Frenzel ( 2 1985, 229) im Artikel über die Klassik <?page no="41"?> 1 Theoretische Vorüberlegungen 41 und ein sittlicher Idealismus, der sein philosophisches Fundament in den Schriften Immanuel Kants fand „Treibende Kraft“ der Weimarer Klassik war die Herzogin Anna Amalia, die 1772 Wieland als Prinzenerzieher und 1776 auf Anraten Goethes Herder als Generalsuperintendent an den Weimarer Hof zog, während ihr Sohn Karl August 1775 Goethe an den „Weimarischen Musenhof “ holte 1799 schließlich zog Schiller von Jena ebenfalls nach Weimar . 57 Hier herrschte eine Atmosphäre des regen kulturellen Austauschs zwischen Deutschland und Italien, was wohl vor allem auf die damals in bestimmten literarischen Kreisen verbreitete Italiensehnsucht zurückzuführen ist Anna Amalias künstlerisches Interesse führte sie 1788 bis 1790 nach Rom und Neapel, wo sie einen musikalischen Salon führte Von ihrem Hang zu den schönen Künsten Italiens zeugen die Bestände der Weimarer Anna Amalia-Bibliothek, unter denen sich aus dem Besitz der Mäzenin vorzugsweise italienische Opern, italienische Literatur und Kunst befinden Die von Wieland publizierte Literatur- und Kulturzeitschrift Teutscher Merkur, in der auch der Herausgeber selbst einige seiner Romane im Vorabdruck veröffentlichte, kreiste vornehmlich um Italien . 58 Goethes Affinität zu diesem Land ist hinlänglich bekannt, während Herder ein eher nüchternes bis kritisches Verhältnis zu Italien hatte, wie die Berichte über seine kurz nach Goethes Rückkehr angetretene Italienreise dokumentieren Einzig für Schiller spielte Italien kaum eine Rolle, weder in persönlicher noch in literarischer Hinsicht . 59 Zum Weimarer Zirkel der Herzogin gehörten auch zwei bedeutende Persönlichkeiten, die sich um die die Verbreitung der italienischen Kultur in Weimar- - und im ganzen deutschen Sprachraum- - verdient gemacht haben, nämlich Christian Joseph Jagemann und Carl Ludwig von Fernow Wichtige Hinweise zu diesen beiden Begründern der deutschen Italianistik finden sich in drei im Rahmen von Symposien zur Weimarer Klassik entstandenen Beiträgen von Jörn Albrecht (1996; 2000; 2004) So standen beide eine Zeitlang der Bibliothek der Herzogin-Mutter Anna Amalia vor, Jagemann von 1775 bis 1804, Fernow von 1804 bis 1808 Über ihren Beitrag zur Vermittlung italienischer Kultur in Deutschland schreibt Albrecht (1996, 132): Jagemann und Fernow haben längere Zeit in Italien gelebt, dort gründliche Sprach- und Literaturkenntnisse erworben und Wielands Teutschen Merkur f leißig mit Kulturnachrichten aus Italien beliefert Beide haben im Einklang mit ihrer obersten Dienstherrin [Anna Amalia] dazu beigetragen, Italien wenn nicht in ganz Germanien, so doch in Weimar zu schaffen, und gerade darin wird von italienischer Seite ihr besonderes Verdienst gesehen Der Wahlf lorentiner Jagemann, aus dessen Feder Biographien über Galileo Galilei und Machiavelli stammen, bemühte sich vor allem um das Ansehen von Dantes Divina Com- 57 Zur Weimarer Klassik vgl Frenzel/ Frenzel 2 1985, 236-237 Daneben gibt es auch eine enger gefasste Begriffsdefinition, die die Weimarer Klassik auf die circa elfjährige gemeinsame Schaffensperiode von Goethe und Schiller beschränkt 58 Vgl Albrecht 2000, 72 59 Auf die Beziehung Schillers zu Italien soll an anderer Stelle noch ausführlicher eingegangen werden Hier sei nur kurz auf die Monographie von Rita Unfer Lukoschik (2004) verwiesen, die sich eingehend mit der Schiller-Rezeption in Italien befasst, und hier insbesondere auf das Kapitel „Schiller und Italien“ (ebd 20-30) . <?page no="42"?> I Allgemeines 42 media in Deutschland und verfasste 1790 das Dizionario italiano-tedesco e tedesco-italiano, das zahlreiche Neuauf lagen erlebte Aber auch die Verbreitung deutscher Literatur in Italien war ihm ein Anliegen-- so legte er etwa 1804 eine italienische Übersetzung von Goethes Hermann und Dorothea in Versen vor . 60 Fernow hingegen, der lange in Rom lebte, war in erster Linie Kunsthistoriker Neben einer Anthologie italienischer Schriftsteller und Biographien berühmter Italiener verfasste er vor allem eine Italienische Sprachlehre für Deutsche, die zweimal neu aufgelegt wurde, und erforschte zudem die Mundarten des Italienischen Abgesehen von der für die deutsch-italienischen Beziehungen fruchtbaren Zeit der Weimarer Klassik gab es im 19 Jahrhundert nur noch wenige Berührungspunkte: Die Kontakte zwischen deutschem und italienischem Kulturraum waren im weiteren Verlauf des Jahrhunderts geographisch beschränkt auf die zur Habsburgermonarchie gehörigen Regionen Venetien und die Lombardei im heutigen Oberitalien und Österreich- Ungarn: Venetien war von 1815 bis 1866 habsburgisch, die Lombardei von 1815 bis 1859 Mit dem Auf kommen der Nationalstaatsidee und der Auf lösung des Vielvölkerstaates der Habsburger nach dem Ersten Weltkrieg kam dieser kulturelle Austausch wieder zum Erliegen Während der Restaurationsära war unter Metternich die Förderung der deutschen Literatur in den der österreichischen Regierung unterstellten Regionen kulturpolitisch erwünscht, was sich etwa in der Gründung von Zeitschriften und der Publikation von Übersetzungen niederschlug, die von dort aus auch in anderen Gebieten Italiens Verbreitung fanden Natürlich entstanden diese nicht wertfrei, sondern dienten häufig politischen und „erzieherischen“ Zwecken . 61 Einen Beitrag zu den „literarischen“ Beziehungen zwischen der Lombardei und Österreich-Ungarn während dieser Zeit der intensiveren Kontakte liefert Roberta Battaglia-Boniello (1990) in ihrem ausführlich dokumentierten Artikel über die Übersetzungen deutschsprachiger Schöner Literatur in der Lombardei Allerdings weist sie gleich zu Beginn darauf hin, dass die Kenntnisse der deutschen Sprache selbst in der Lombardei kaum verbreitet waren . 62 Die Publikation der Übersetzungen wurde von der österreichischen Zensurbehörde streng überwacht, um den Erfordernissen der Moral, der Religion und des Respekts gegenüber dem Kaiserreich Genüge zu tun Bereits zu Beginn der 1840er Jahre wurde das politische Klima angespannter, man misstraute sich gegenseitig, und binnen kurzer Zeit entfernen sich die beiden Kulturen wieder voneinander Erst in den sechziger bis achtziger Jahren des Jahrhunderts bekommt-die italienische Germanistik angesichts des veränderten geistigen Klimas wieder Auftrieb . 63 An dieser Stelle sei kurz auf die Bedeutung der Internationalen Arbeiterassoziation unter der geistigen Führung von Karl Marx hingewiesen, die im 19 . Jahrhundert auf einer anderen Ebene für eine Annäherung sorgte, indem sie die Arbeiterschaft der eu- 60 Ermanno E Dorotea Poema Tedesco del Sign di Goethe Tradotto in Versi Italiani Sciolti dal Sign Jagemann, Consigliere e Bibliotecario della Corte di Weimar, e Accademico Florentino Halle: Ruffa, 1804, VIII, pp -206 61 Zur Rezeption deutscher Literatur im Italien der Restaurationsära vgl Unfer Lukoschik 2004, 145 62 Vgl Battaglia-Boniello 1990, 58 63 Auf diesen Umstand weist etwa Mario Allegri (1995, 392-93) in seinem Aufsatz über die deutsche Literatur im Italien der Restauration hin <?page no="43"?> 1 Theoretische Vorüberlegungen 43 ropäischen Länder unter der von der Französischen Revolution inspirierten Idee der internationalen proletarischen Solidarität vereinte In Italien fand die Internationale Arbeiterassoziation einen wichtigen Exponenten in dem Anarchisten und Bakunin- Schüler Carlo Cafiero, der als Vertrauter von Engels in Neapel für die IA A wirkte und der 1879 als erster die Verbreitung von Marx’ Kapital in Italien betrieb 64 -- auf die zentrale Bedeutung dieses Werkes für die Problematik der mittelbaren Übersetzung aus dem Französischen ist eingangs bereits hingewiesen worden . Marx’ Schriften wurden u a ins Französische und Italienische übersetzt . Die italienische Ausgabe seines Kommunistischen Manifests von 1893 enthält ein Vorwort von Friedrich Engels, in dem dieser sich explizit an den italienischen Leser wendet und im Namen der gemeinsamen Einheits- und Unabhängigkeitsbestrebungen in Deutschland und Italien im März 1848 (die italienischen Revolutionäre hatten sich u a gegen die Herrschaft der österreichischen Habsburger im Norden des Landes erhoben) an die Solidarität beider Länder appelliert . 65 Politisch gesehen gab es erst wieder gegen Ende des 19 . Jahrhunderts eine engere Verbindung zwischen beiden Ländern, als 1882 Italien in das auf Betreiben Bismarcks gegründete Bündnis zwischen dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn aufgenommen wurde Dieser Dreibund, die triplice alleanza, hatte über drei Jahrzehnte Bestand und diente vor allem als Verteidigungsbastion gegen Frankreich, bis er 1914 ein abruptes Ende fand, als Rom zu Beginn des Krieges seine Neutralität verkündete Allerdings wirkte sich diese politische Allianz auf geistesgeschichtlicher Ebene kaum aus 1 .2 .3 Die Zwischenstufe der Übersetzung als Halbfertigprodukt In Abschnitt 1 .2 1 wurden anhand einiger Beispiele, u a . aus Wandruszka und Albrecht, die typologischen Parallelen des Französischen und Italienischen aufgezeigt, und zwar unter dem sehr theoretischen, sprachtypologischen Gesichtspunkt, inwieweit die beiden Sprachen im System und vor allem in der Norm vergleichbar sind und inwieweit sie sich vom Deutschen unterscheiden Hier soll es nun darum gehen, inwieweit diese konvergierenden Strukturen der beiden romanischen Sprachen bei der konkreten Übersetzungsarbeit tatsächlich genutzt wurden: Sind also in konkreten Texten parallele Strukturen erkennbar, wenn man Original und Übersetzung innerhalb der beiden romanischen Sprachen vergleicht? Lässt sich eine strukturelle Nähe zwischen italienischem Original und französischer Übersetzung oder umgekehrt, zwischen französischem Original und italienischer Übersetzung, feststellen oder zumindest anhand einiger Beispiele punktuell belegen, so liegt die Vermutung nahe, dass die romanische Zwischenstufe bei der Übersetzung aus weiter „entfernten“ Sprachen eine gewisse Arbeitserleichterung für den Übersetzer mit sich bringen wird Dazu sei an die Beobachtung von Jörn Albrecht (1995, 287-303) zur Typologischen Ähnlichkeit als ‚Übersetzungshilfe‘ angeknüpft, der für die zur Übersetzung herangezogene Zwischenstufe in einer der Zielsprache näher 64 Vgl Cafiero 2006, UR L: digilander .libero .it/ repubblicasovietica/ COMPENDIO .doc 65 Vgl Friedrich Engels’ Vorwort zu Karl Marx’ Manifest der kommunistischen Partei (Engels 1848/ 1963, 365-366) Für die italienische Fassung des Vorworts vgl Carlo Marx/ Federico Engels (1893), Il manifesto del Partito comunista . <?page no="44"?> I Allgemeines 44 verwandten Sprache den Begriff „Halbfertigprodukt“ geprägt hat: Dem italienischen Übersetzer werde nämlich durch die bereits vorliegende französische Fassung ein Teil der Arbeit abgenommen, da darin die Sprachstrukturen des Deutschen schon in typisch „romanische“ Strukturen übertragen vorliegen-- und dies auf den verschiedenen in 1 .2 1 beschriebenen Ebenen der Grammatik und des Lexikons . Er muss sich also, vereinfacht ausgedrückt, nur noch aus den vorhandenen „Versatzstücken“ bedienen Im Folgenden soll die strukturelle Ähnlichkeit tatsächlicher Texte in den beiden romanischen Sprachen anhand von willkürlich herausgegriffenen Textstellen aus italienischem bzw französischem Original und der Übersetzung in die jeweils andere Sprache illustriert werden Die ebenfalls angeführte deutsche Übersetzung der jeweiligen Textstelle mag den ungleich größeren Aufwand bei der Übertragung in eine nichtromanische Sprache deutlich machen Dabei soll es weniger um die systematische Darstellung bestimmter Übersetzungsschwierigkeiten bzw -erleichterungen gehen, sondern es soll lediglich ein Eindruck von der Größe des Übersetzungsaufwands vermittelt werden Zunächst zwei Textstellen aus einem populärwissenschaftlichen Werk zur Übersetzungswissenschaft in italienischem Original mit französischer Übersetzung und deutscher Fassung zum Vergleich, nämlich Umberto Ecos Dire quasi la stessa cosa. 66 Die Textstelle ist dem fünften Kapitel, Perdite e compensazioni, entnommen (5 .5 Migliorare il testo): (a) E’ a quel punto che mi sono detto che tutte le lungaggini che volevo evitare, e quelle trecentocinquanta pagine apparentemente inutili, avevano una funzione strategica fondamentale, creavano attesa, ritardando gli eventi risolutori, erano fondamentali per quel capolavoro della vendetta come piatto che si consuma freddo (S -124) Arrivé à ce stade, j’ai admis que les longueurs que je voulais éviter, ces trois cent trente pages [sic! ] apparemment inutiles, avaient une fonction stratégique fondamentale, elles créaient de l ’attente en retardant les événements résolutoires, elles étaient capitales pour ce chef-d’œuvre de la vengeance comme plat qui se mange froid (S -146) An diesem Punkt ging mir auf, daß alle Längen, die ich vermeiden wollte, daß jene scheinbar überf lüssigen 350 Seiten eine strategisch fundamentale Funktion hatten: Sie schufen eine Erwartung, sie zögerten die entscheidenden Ereignisse hinaus, sie waren von elementarer Bedeutung für dieses Meisterwerk der Rache, die man bekanntlich kalt genießt (S -147) (b) Non escludo che un giorno torni sulle mie idee e mi decida a fare questa pseudo-traduzione (S -124) Je n’exclus pas de revenir un jour sur mes idées et de me décider à faire cette pseudo-traduction (S .-147) Vielleicht überlege ich es mir eines Tages ja anders und beschließe, diese Pseudo-Übersetzung doch noch zu machen (S .-147-148) 66 Original: Eco, Umberto, Dire quasi la stessa cosa. Esperienze di traduzione. Milano: Bompiani 2003; französische Übersetzung: Eco, Umberto, Dire presque la même chose. Expériences de traduction. Trad de l ’ italien par Myriem Bouzaher Paris: Grasset 2007; deutsche Übersetzung: Eco, Umberto, Quasi dasselbe mit anderen Worten. Über das Übersetzen. (Übers von Burkhart Kröber) München/ Wien: Hanser 2006 . <?page no="45"?> 1 Theoretische Vorüberlegungen 45 Das erste Beispiel zeigt deutlich, dass der französische Übersetzer, mit Ausnahme der messa in rilievo am Satzanfang, die er mit einer Partizipialkonstruktion wiedergibt, die syntaktische Struktur des Italienischen beinahe ohne Modifikation im Französischen übernehmen konnte: So wird die Nominalgruppe mit Relations- und Qualifikationsadjektiv funzione strategica fondamentale unverändert ins Französische fonction stratégique fondamentale transponiert, und auch das Gerundium ritardando kann ohne Probleme beibehalten werden Den Wechsel vom Handlungsperfekt (mi sono detto) ins Präteritum der Hintergrundinformationen (volevo/ avevano etc ) kann er ohne Weiteres nachvollziehen (j’ai admis-- voulais/ avaient) Auf lexikalischer Ebene muss der französische Übersetzer ebenfalls wenig Phantasie entwickeln, er kann für Elemente des Lexikons und ganze Wortgruppen wie lungaggini, voler evitare, apparentemente inutili, funzione strategica fondamentale, creare attesa, eventi risolutori oder capolavoro della vendetta beinahe automatisch die französischen Entsprechungen einsetzen Die leicht abgewandelte idiomatische Wendung la vendetta come piatto che si consuma freddo (La vendetta è un piatto …) ist im Französischen ebenso geläufig und wird entsprechend übernommen: la vengeance comme plat qui se mange froid Der deutsche Übersetzer hat es da schon schwerer: Die Syntax des Deutschen verlangt eine Umstellung der Nominalgruppen mit attributiver Ergänzung (jene scheinbar überflüssigen 350 Seiten/ eine strategisch fundamentale Funktion) sowie die Auf lösung des romanischen Gerundiums, hier in zwei koordinierte Hauptsätze Zusätzlich wird der lange Satz des Originals durch einen Doppelpunkt segmentiert und gegliedert, während die Opposition zwischen Perfekt und Präteritum der deutschen Norm gemäß eingeebnet wird Lexikalisch sind ebenfalls größere Eingriffe notwendig, um dem deutschen Sprachduktus Genüge zu tun . Die Wendung Sie schufen eine Erwartung ist im Vergleich zu dem romanischen creare attesa/ créer de l’attente eher ungewöhnlich; die schlichte Verbindung Kopula plus Adjektiv (essere fondamentali/ être capital) wird durch die im Deutschen gebräuchlichere substantivische Wendung von elementarer Bedeutung sein ersetzt Das im romanischen Sprachraum bekannte Sprichwort La vendetta è un piatto che si consuma freddo ist im Deutschen unbekannt und muss so sinngemäß umschrieben werden Hier übernimmt das Satzadverb bekanntlich eine zusätzliche explikative Funktion Beispiel (b) stellt syntaktisch gesehen beide Übersetzer vor keine größeren Herausforderungen Die französische Fassung orientiert sich sehr eng am italienischen Original, während im Deutschen eine Konstruktion mit zwei gleichgeordneten Hauptsätzen verwendet wird Lexikalisch stellt die idiomatische Wendung tornare sulle proprie idee, die im Französischen mit revenir sur ses idées ähnlich nachgebildet werden kann, für den deutschen Übersetzer eine größere Hürde dar: Er entscheidet sich für die Wendung es sich anders überlegen, was eine größere syntaktische Modifikation mit sich bringt Aus der verneinten wird eine positive Aussage, bei der das Satzadverb vielleicht und die Abtönungspartikel ja die Funktion der romanischen Verbalperiphrase non escludo che/ je n’exclus pas que übernehmen Um auch die Arbeitserleichterung in der umgekehrten Übersetzungsrichtung an einem Beispiel zu illustrieren, ist der nächste Textauszug (Beispiel (d)) einem französischen Original entnommen, dem die italienische und die deutsche Fassung gegenübergestellt sind Er stammt diesmal aus einem literarischen Werk aus dem 19 Jahrhundert, <?page no="46"?> I Allgemeines 46 nämlich Victor Hugos berühmtem Gesellschaftsroman Les Misérables. 67 Zitiert wird der Anfang des vierten Kapitels aus dem ersten Buch, in dem der Bischof und gütige Seelsorger M Myriel beschrieben wird: (c) IV LES ŒUVR ES SEMBLABLES AUX PAROLES Sa conversation était affable et gaie . Il se mettait à la portée des deux vieilles femmes qui passaient leur vie près de lui; quand il riait, c’était le rire d’un écolier Madame Magloire l ’appelait volontiers Votre Grandeur. (S .-25) IV LE OPER E SIMILI ALLE PAROLE La sua conversazione era affabile ed allegra Egli si metteva alla portata delle due vecchiette che passavano la loro vita accanto a lui; quando rideva, la sua risata era quella d’uno scolaretto La signora Magloire lo chiamava volentieri Vostra Grandezza (S -8) IV WIE DIE WORTE, SO AUCH DIE WERKE Seine Unterhaltung war gemüthlich und frisch Er stellte sich innerhalb des Fassungskreises der beiden alten Frauen, welche ihr Leben in seiner Nähe verbrachten; wenn er lachte, so war es das herzliche Lachen eines Schülers . Madame Magloire pf legte ihn gerne „Eure Herrlichkeit! “ zu nennen . (S -12) Bereits anhand der Kapitelüberschrift wird deutlich, dass der italienische Übersetzer lediglich die französische Syntax und Lexik ohne Umformungen in die Zielsprache zu transponieren brauchte, um damit einen ähnlichen, an den biblischen Sprachduktus gemahnenden Effekt zu erzielen Der deutsche Übersetzer wandelt die Syntax in eine deutsche Vergleichsstruktur um, die ihn dazu zwingt, im Gegensatz zum romanischen Vorbild die Worte als erstes Vergleichsglied zu nennen und nicht die Werke . Durch die Wahl dieser syntaktischen und lexikalischen Struktur gelingt es dem Übersetzer, den biblischen Anklang noch zu verstärken, da beim Lesen unweigerlich die Vaterunser-Zeile „wie im Himmel, so auch auf Erden“ mitschwingt In syntaktischer Hinsicht bereiten die ersten Sätze des Kapitels dem italienischen Übersetzer keine größeren Probleme, denn die Syntax wird mehr oder weniger unverändert nachgebildet: Morphosyntaktische Strukturen wie Il se mettait à la portée de/ qui passaient leur vie près de lui/ l’appelait volontiers wiederholen sich auch im Italienischen: Egli si metteva alla portata di/ che passavano la loro vita accanto a lui/ lo chiamava volentieri Auch in der Wortwahl kann sich der romanische Übersetzer dank des ähnlichen lexikalischen Repertoires der Sprachen eng an das Original anlehnen (conversation-- conversazione/ affable-- affabile/ Votre Grandeur-- Vostra Grandezza) Die Anrede Madame Magloire kann im Italienischen ohne verfremdenden Effekt als La Signora Magloire übersetzt werden . Dass die Zeilen mit leichter Hand ins Italienische transponiert werden konnten, zeigt sich noch deutlicher, wenn man kontrastiv die deutsche Fassung der Textstelle betrachtet: Der erste Satz ließ sich noch syntaktisch einfach nachbilden, lexikalisch steckt lediglich in der Übersetzung von affable mit gemüthlich eine größere Übertragungsleistung . Doch bereits die idiomatische 67 Original: Hugo, Victor, Les Misérables Paris: Emile Testard et C ir Editeurs 1890 (http: / / gallica .bnf .fr); italienische Übersetzung: Hugo, Victor, I Miserabili Traduttore: Renato Colantuoni Milano: Garzanti 1981 (http: / / www .liberliber .it); deutsche Übersetzung: Hugo, Victor, Die Elenden Deutsch von Wilhelm Schroers Mülheim a d Ruhr: Verlag von Julius Bagel 1863 (http: / / books .google .de) <?page no="47"?> 1 Theoretische Vorüberlegungen 47 Wendung se mettre à la portée de dürfte dem deutschen Übersetzer größeres Kopfzerbrechen bereitet haben als seinem italienischen Kollegen: Da das Deutsche keine vergleichbare Wendung bereithält, muss er entweder eine syntaktische Umgestaltung vornehmen (etwa nach dem Muster: Er sorgte dafür, dass er für die beiden alten Frauen … immer erreichbar war), oder mit einer im Deutschen weniger gebräuchlichen Umschreibung Vorlieb nehmen Der Übersetzer Wilhelm Schroers entscheidet sich für die zweite Option, wenn er formuliert: Er stellte sich innerhalb des Fassungskreises der beiden alten Frauen . Die romanische Adverbialkonstruktion près de lui (accanto a lui) muss er der deutschen Idiomatik folgend substantivisch auf lösen: in seiner Nähe Der nächste Satz ist im Deutschen wieder parallel zum Französischen konstruiert (die italienische Fassung entfernt sich hier stärker vom Original, obwohl dies nicht zwingend notwendig gewesen wäre-- denkbar wäre etwa auch: era la risata d’uno scolaretto) Interessant ist die Anredeform Madame Magloire im letzten Satz, die oberf lächlich betrachtet keine Probleme aufwirft, da sie einfach aus dem Französischen „importiert“ wurde Auf den zweiten Blick zeigt sich aber, dass der deutsche Übersetzer eine größere Hürde überwinden musste, denn im Gegensatz zum Italienischen, das mit La Signora eine in etwa funktionsgleiche Anredeform besitzt, hat das deutsche Frau nicht denselben Stellenwert wie das französische Madame Mit der Entscheidung für die französische Form ist zugleich eine leichte Verfremdung verbunden Um den iterativen Aspekt des französischen Imparfait zu betonen, wurde das französische l’appelait volontiers zu pflegte ihn gerne … zu nennen ergänzt- - auch dies ein Problem, das sich für den italienischen Übersetzer so nicht stellte Die Problematik der Anredeformen bringt uns zu dem Aspekt der kulturellen Nähe der beiden romanischen Sprachen, auf den bereits in Abschnitt 1 .2 .2 eingegangen wurde Auch er findet sicherlich in der konkreten Übersetzungsarbeit seinen Niederschlag, was anhand des folgenden Textauszugs- - erneut aus Umberto Ecos Dire quasi la stessa cosa (diesmal aus der Introduzione) 68 -- belegt werden soll: (d) Ma se il romanzo fosse di fantascienza, scritto da un adepto di scienze dette ‚fortiane‘, e raccontasse che davvero piovono cani e gatti? Si tradurrebbe letteralmente, d’accordo Ma se il personaggio stesse andando dal dottor Freud per raccontargli che soffre di una curiosa ossessione verso cani e gatti, da cui si sente minacciato persino quando piove? Si tradurrebbe ancora letteralmente, ma si sarebbe perduta la sfumatura che quell ’Uomo dei Gatti è ossessionato anche dalle frasi idiomatiche . (S -9) Mais si c’était un roman de science-fiction, écrit par un adepte des sciences dites ‚fortéennes‘, racontant qu’il pleut vraiment des chats et des chiens? On traduirait littéralement, je vous l ’accorde Mais si le personnage allait chez Freud pour lui raconter qu’il souffre d’une curieuse obsession des chats et des chiens, par lesquels il se sent menacé quand il pleut? Là aussi, on traduirait littéralement, mais on perdrait une nuance: cet Homme des Chats est également obsédé par les phrases idiomatiques (S -7-8) Was aber, wenn es sich um einen Fantasy-Roman handelt, der in einer ganz anderen Welt spielt, und darin erzählt werden soll, daß wirklich Katzen und Hunde vom Himmel fallen? Man würde es wörtlich übersetzen, sicher . Was aber, wenn der so Redende zu Doktor Freud ginge, um ihm zu erzählen, daß er unter einer seltsamen Obsession leide, da er sich ständig 68 Quellenangaben siehe Fußnote 66 . <?page no="48"?> I Allgemeines 48 von Katzen und Hunden verfolgt fühle, selbst wenn es regnet? Man würde auch dann wörtlich übersetzen, aber es ginge die Nuance verloren, daß der Ärmste auch ein obsessives Verhältnis zu idiomatischen Redewendungen hat (S -9-10) Die beiden hervorgehobenen Textstellen sind insofern aufschlussreich, als sie sich auf Kulturspezifika beziehen, die in den drei beteiligten Sprach- und Kulturräumen unterschiedlich weit verbreitet sind . Dabei stellen die scienze dette ‚fortiane‘ einen Grenzfall dar, denn es handelt sich um einen kulturellen Verweis auf einen schon in der Ausgangssprache nur einigen Wenigen bekannten amerikanischen Autor und Forscher . 69 Bereits die Anführungsstriche deuten darauf hin, dass das Adjektiv ‚fortiane‘ im Italienischen eigentlich nicht gebräuchlich ist und hier von Eco in Anlehnung an das englische fortean gebildet wurde . Die Übersetzungsentscheidung gibt also vor allem darüber Auskunft, wie viel „Spezialwissen“ und wie viel Autonomie der jeweilige Übersetzer seinem Zielpublikum zutraut . Erst in zweiter Linie lässt sie Rückschlüsse über den Bekanntheitsgrad des Autors in den beteiligten Kulturen zu . Dennoch sei hier auf die unterschiedliche Handhabung dieser Textstelle in der französischen und in der deutschen Fassung verwiesen: Während der französische Übersetzer sich mit dem nachgebildeten des sciences dites ‚fortéennes‘ ebenfalls sprachschöpferisch betätigt, lässt der deutsche Übersetzer die Anspielung ganz weg, hier lautet der Passus: der in einer ganz anderen Welt spielt Es ist also zumindest zu vermuten, dass-- jedenfalls nach Ansicht der Übersetzer-- der Verweis auf Charles Hay Fort im romanischen Sprachraum eher verstanden wird als in Deutschland Eindeutiger in dieser Hinsicht ist der zweite intertextuelle Verweis, quell’Uomo dei Gatti Eco spinnt auch hier wieder das Sprachspiel mit dem englischen Sprichwort it ’s raining cats and dogs weiter, indem er auf den bekannten italienischen Abenteuercomic L’Uomo dei Gatti anspielt In Frankreich ist dieser Comic-- unter seinem französischen Namen-- ebenfalls bekannt, und die französische Übersetzung lautet entsprechend: cet Homme des Chats In der deutschen Fassung hingegen macht sich die größere kulturelle „Entfernung“ bemerkbar, denn der Übersetzer entscheidet sich angesichts des sehr geringen Bekanntheitsgrades des Comics in Deutschland dafür, das Wortspiel zu „opfern“ und lediglich durch die allgemein gehaltene Bezeichnung der Ärmste wiederzugeben Anhand der oben angeführten Beispiele ist deutlich geworden, dass bei der Übersetzung aus einer romanischen Sprache in die andere die typologische Verwandtschaft der Sprachen ebenso wie die Nähe der Kulturräume auch tatsächlichen praktischen Nutzen mit sich bringt: Die Übersetzer nutzen die Möglichkeit, ganze „Versatzstücke“ des Originaltextes in ihre Fassung aufzunehmen, und können Kulturspezifika häufig ohne weitere Erläuterung übernehmen Selbstverständlich darf nicht unerwähnt bleiben, dass hier nur für unsere Zwecke besonders typische Textstellen aus den herangezogenen Beispielwerken zitiert wurden Der sprachliche und künstlerische Spielraum des (literarischen) Übersetzers führt natürlich dazu, dass sich nicht durchgehend so eindeutige sprachliche Parallelen in Original und Übersetzung finden lassen Häufig formuliert der 69 Charles Hay Fort (1874-1932), amerikanischer Chronist des Paranormalen, sammelte u a Berichte von Fröschen, die vom Himmel regneten- - daher die Parallele zum englischen Sprichwort it ’s raining cats and dogs, die Eco hier zieht Im angelsächsischen Sprachraum wurde aus Forts Namen das Adjektiv fortean abgeleitet, das auf paranormale Ereignisse angewandt wird <?page no="49"?> 1 Theoretische Vorüberlegungen 49 Übersetzer auch ganz neu oder greift zu anderen syntaktischen Lösungen Entscheidend bleibt aber, dass er dennoch öfter als sein deutscher Kollege die Möglichkeit hat, syntaktische Strukturen oder lexikalische Aspekte des Originals nachzuahmen Abweichende Entscheidungen trifft er also weniger aus sprachlicher Notwendigkeit denn aus stilistischen Erwägungen heraus, während sich der deutsche Übersetzer bei seiner Arbeit oft schon durch den Charakter seiner Sprache genötigt sieht, größere sprachliche Eingriffe vorzunehmen Um den Bogen zur Übersetzung aus zweiter Hand zu schlagen, ist also die Wahrscheinlichkeit groß, dass ein romanischer Übersetzer eines, sagen wir, deutschen Originals bei einer bereits vorliegenden Übersetzung in einer anderen romanischen Sprache auf verwertbare Lösungen stößt 70 1.3 Ansätze der neueren Übersetzungstheorie In den vorangegangenen Abschnitten wurde der Versuch unternommen, dem in der Praxis allgemein anerkannten „Gemeinplatz“ vom Zusammenhang zwischen der Verwandtschaft von Sprachen und dem Übersetzen auch in der Übersetzungswissenschaft zu neuen Ehren zu verhelfen . Im Rahmen dieser theoretischen Vorüberlegungen ist auch ein Blick auf die allgemeine Entwicklung der Übersetzungstheorie in den letzten Jahrzehnten angebracht, zumal auch für die hier unternommene historisch-deskriptive Beschäftigung mit Übersetzungen die theoretische Herangehensweise an die Problematik des Übersetzens die Grundlage bildet . Um die Natur der Wechselbeziehungen zwischen „Original“ und „Übersetzung“-- oder gar „Übersetzung aus zweiter Hand“--, beurteilen zu können, muss natürlich zunächst gefragt werden, wie das historische Verständnis von Übersetzen zur jeweiligen Zeit ausgesehen hat . Den „Resonanzboden“ für eine solche Analyse bildet aber stets die zeitgenössische Auffassung von Übersetzen, wie sie der Forschende vertritt An dieser Stelle sei ein kleiner Vorgriff auf die sich anschließenden Kapitel zur geschichtlichen Entwicklung der Übersetzungskonzeptionen erlaubt, denn diese weist bei genauerer Betrachtung gewisse Parallelen zu Entwicklungen in der neueren Übersetzungstheorie auf Hier wie dort gilt: Je stärker zielkulturelle Aspekte ins Gewicht fallen und die Übersetzung von Leserschaft und Rezipienten abhängig ist, je bedeutsamer die Rolle des Übersetzers- - ob nun historisch als Schriftsteller oder heute als „Translator“ und Kulturmittler- -, je weniger der „Originaltext“ gilt- - sei es historisch aufgrund des geringen Prestiges der Ausgangskultur, sei es, dass der Text gegenüber funktionalen und pragmatischen Aspekten oder neuen Elementen wie Bild und Ton in der audiovisuellen Übersetzung in den Hintergrund tritt- -, desto „eigenständiger“ die Übersetzung, d h desto mehr darf sie von ihrer Vorlage abweichen, ohne dass dies als Makel empfunden wird Will man die Entwicklung der Übersetzungstheorie in den vergangenen Jahrzehnten in groben Zügen nachzeichnen, so sind zunächst zwei konkurrierende Strömungen 70 Die Verbreitung dieser Praxis auch in heutiger Zeit belegt etwa die Beobachtung, dass die Werke des zeitgenössischen albanischen Schriftstellers Ismail Kadaré beinahe durchgängig über das Französische ins Italienische übersetzt wurden . <?page no="50"?> I Allgemeines 50 zu erkennen, deren Wechselwirkungen den theoretischen Diskurs wie ein roter Faden durchziehen: die (system)linguistisch geprägten Theorien auf der einen und die funktionalistisch ausgerichteten Ansätze auf der anderen Seite . Als sich die Übersetzungswissenschaft in den späten 1960er bis frühen 1970er Jahren zu etablieren beginnt, ist sie zunächst der Angewandten Sprachwissenschaft unterstellt 71 Die Nähe zur Linguistik in diesem frühen Stadium der Übersetzungswissenschaft zeigt sich etwa in den Publikationen der Hauptvertreter der sogenannten Leipziger Schule, Otto Kade, Gert Jäger und Albrecht Neubert Vor allem der Russist Kade 72 baut seine Übersetzungstheorie auf rein linguistischen Grundprinzipien auf und erklärt die Originalbezogenheit zum richtungsweisenden Ziel der Translation 73 -- die Ausrichtung auf den Empfänger ist für ihn ausschließlich ein Merkmal der adaptiven Übertragung Ausgehend von einem linguistischen Modell der Transkodierung formuliert er als oberstes Ziel die Wahrung der Invarianz auf Inhaltsebene trotz eines Kodierungswechsels auf der Ausdrucksebene 74 Parallel zu den Forschungen der Leipziger Schule stellen in den 1960er Jahren die Sprachwissenschaftler Georges Mounin, John C . Catford und Eugene A Nida ihre Erkenntnisse in den Dienst der Übersetzung: Unabhängig voneinander entwickeln sie erste zusammenhängende Theorien zur Übersetzungswissenschaft Mounins 1963 erschienener, dem französischen Strukturalismus verhafteter Abhandlung Les problèmes théoriques de la traduction liegt die linguistische Überzeugung einer prinzipiellen Übersetzbarkeit zugrunde, die sich zumindest auf dem Gebiet der Universalien- - zu denen er auch die Wissenschaftssprache zählt-- manifestiert Catford veröffentlicht 1965 sein Werk A Linguistic Theory of Translation, das der Schule des britischen Kontextualismus verpf lichtet ist Albrecht (2013, 19) bezeichnet das Buch als „(…) vielleicht das ‚linguistischste‘, d h das am stärksten an rein linguistischen Kategorien orientierte Werk zu den Problemen der Übersetzung, das je geschrieben wurde“ Dies mag der folgende Auszug aus seiner Übersetzungstheorie illustrieren: Translation is an operation performed on languages: a process of substituting a text in one language for a text in another Clearly, then, any theory of translation must draw upon a theory of language-- a general linguistic theory (Catford 1965, 1) Nida schließlich geht in seiner Theoriebildung von der Bibelübersetzung aus; sein 1964 erschienenes, am nordamerikanischen Strukturalismus orientiertes Buch Toward a Science of Translating, 75 eine analytische Beschreibung des Übersetzungsprozesses, soll- 71 Zur Geschichte der Übersetzungswissenschaft vgl z B Albrecht 2013, 20 f 72 Als Russist berücksichtigt Kade bei seiner Theorieentwicklung u a auch die Erkenntnisse russischer Sprachwissenschaftler, insbesondere Fedorovs (1958) 73 Bereits Kade verwendete in seiner Dissertationsschrift von 1968 die Bezeichnung „Translation“ als Oberbegriff für Übersetzen und Dolmetschen, die später von der modernen, funktionalistisch geprägten Übersetzungswissenschaft wiederaufgegriffen werden sollte In seinen späteren Arbeiten gebrauchte Kade den Terminus allerdings mit leicht abgewandelter Bedeutung Vgl hierzu Fleischmann 2007, 98 74 Vgl Kades 1980 erschienene Habilitationsschrift 75 Albrecht (2013, 20) weist auf die ungewöhnliche Verwendung des Terminus science hin, der nach angelsächsischer Tradition den Naturwissenschaften vorbehalten ist <?page no="51"?> 1 Theoretische Vorüberlegungen 51 te eine wissenschaftliche Grundlage für die Bibelübersetzung schaffen Später führte die Beschäftigung mit den Thesen Noam Chomskys zu einer wissenschaftlichen Fundierung seiner Theorie 76 Sein Prinzip der „dynamischen Äquivalenz“ versteht sich in Abgrenzung zur bloßen „formalen Äquivalenz“; es ist eher zielsprachlich orientiert und stellt die Appellfunktion oder die Wirkung des Textes in den Mittelpunkt, was sicherlich auch auf den theologischen Untersuchungsgegenstand zurückzuführen ist: 77 A translation of dynamic equivalence aims at complete naturalness of expression and tries to relate the receptor to modes of behavior relevant within the context of his own culture; it does not insist that he understands the cultural patterns of the source language context in order to comprehend the message (Nida 1964, 159) In der Tradition der systemlinguistischen, „sprachnahen“ Theorien steht auch Albrechts übersetzungstheoretischer Ansatz, der sein Plädoyer für die Sprachwissenschaft als Grundlage der Übersetzungswissenschaft mit der Natur der historischen Einzelsprache als „Seismograph“ der Erfahrungen der jeweiligen Sprachgemeinschaft begründet So fordert er in dem Einführungswerk Übersetzung und Linguistik (2005, 17-18) seine Leser dazu auf, (…) die Hilfe nicht zu gering zu bewerten, die die Sprachwissenschaft beim Geschäft des Übersetzens leisten kann Sprache ist, in ihrer allgemeinen Form, Manifestation der wichtigsten kognitiven und emotiven Anlagen des Menschen; sie ist andererseits, in ihrer konkreten historischen Form, d h . als Einzelsprache, Kristallisation der Erfahrungen einer menschlichen Gemeinschaft Sie bietet daher einen schnellen und jederzeit überprüf baren Zugang zu all jenen Informationen, die heute-- unnötigerweise würde ich sagen-- außerhalb der Sprache gesucht werden Nach Albrecht sind also in der Sprache selbst bereits Anhaltspunkte über soziokulturelle, individuelle oder situative Aspekte der Textproduktion enthalten . Zudem lassen sich gerade in literarischen Texten einzelsprachliche Elemente bewusst zur stilistischen Textgestaltung einsetzen, so dass der Text schließlich auch „etwas über die Sprache aus[sagt], in der er geschrieben wurde“ (Albrecht 1995, 290) Die sprachlich niedergelegten Informationen sollten also ein hinreichendes Instrumentarium für den Übersetzer bilden Was die Sprachwissenschaft allein nicht leisten kann, ist vielleicht das Treffen von Aussagen über die individuelle Rezeption des Textes-- ein Hauptanliegen etwa der Hermeneutik Dem begegnet Albrecht (1995, 289) mit der Unterscheidung zwischen dem virtuellen Textsinn und dem „in einem konkreten Rezeptionsakt aktualisierte[n] Sinn“, wobei er ersterem als einzigem „objektiv gegebenen“ und damit intersubjektiv verbindlichen Glied zwischen Textproduktion und -rezeption den Vorrang einräumt Aus- 76 Vgl hierzu Greiner 2004, 87 77 Albrecht (2005, 3) führt als Beispiel für die dynamic equivalence die äquivalente Funktion von Brot in der Kultur Vorderasiens zu biblischer Zeit und Fisch in der Inuit-Kultur an: Im Zeichen der dynamic equivalence kann also das „panem nostrum quotidianum“ im Vaterunser durch „unseren täglichen Fisch“ übersetzt werden . <?page no="52"?> I Allgemeines 52 sagen über den aktuellen Textsinn könnten hingegen mangels belegbarer Erkenntnisse nur spekulativen Charakter haben Das Kernstück von Albrechts Übersetzungstheorie bildet der auf die klassische Logik zurückgehende Begriff der Äquivalenz: 78 „Die Relation ‚Äquivalenz‘ ist das definitorische Kriterium für das Phänomen ‚Übersetzung‘ Wo sie fehlt, liegt keine Übersetzung vor“ (Albrecht 2005, 1) In Albrechts Modell wird anhand des prozessorientierten Kriteriums der Adäquatheit 79 eine Hierarchie der Invarianzforderungen aufgestellt, anhand derer passende (aktuelle) Äquivalente für das Transferendum gesucht werden Ziel ist die (virtuelle) Äquivalenz des Translats mit dem Transferendum, wobei Äquivalenz ein relativer Begriff ist und sich nach den jeweils aufgestellten Invarianzforderungen und den beteiligten Sprachen richtet Es handelt sich stets um eine dreistellige Relation: a ist c äquivalent in Bezug auf x . 80 Die Adäquatheit hat dabei die Funktion der Steuerung und der Rückbindung an den Ausgangstext, der die wichtigste Bezugsgröße bildet . Die Parallele zur algebraischen Äquivalenz 81 , bei der die zwei Seiten einer Gleichung als gleichwertig und damit als äquivalent betrachtet werden können, macht deutlich, worauf es in diesem Modell ankommt: Als äquivalent können zwei Sachverhalte angesehen werden, wenn unter ganz bestimmten, genau anzugebenden Bedingungen der eine an die Stelle des anderen treten kann (ebd 2) Dies bedeutet aber nicht, dass es lediglich ein mögliches Übersetzungsäquivalent geben kann, sondern es sind im Gegenteil zahlreiche konkurrierende Übersetzungen für einen Ausgangstext denkbar Eine ähnliche Begriff lichkeit findet sich bei Koller ( 2 1983, 89), der als „Übersetzung im eigentlichen Sinne“ definiert, „was bestimmten Äquivalenzforderungen normativer Art genügt“ Allerdings ist hier der Terminus „Äquivalenzforderungen“ etwas irreführend, da zunächst nur die Invarianz bestimmter Merkmale gefordert werden kann, während die Äquivalenz nach Albrechts Terminologie das Ergebnis dieser Forderungen sein sollte Interessant im Rahmen der Thematik der Übersetzung aus zweiter Hand ist sicherlich auch die Abgrenzung der Übersetzung zur Bearbeitung, wie sie Schreiber in seiner 1993 erschienenen Dissertationsschrift Übersetzung und Bearbeitung, ebenfalls vom systemlinguistischen Ansatz ausgehend, vornimmt Er entwickelt analog zu Albrechts Invarianzforderungen bei der Übersetzung den Begriff der „Varianzforderungen“, die auf „den Veränderungswillen des Bearbeiters“ (ebd . 105) zurückzuführen, also intentional, sind . 82 Auf dieser Grundlage kommt er zu folgender Definition (ebd ): 78 Als Prototyp führt Albrecht (2005, 2) Nidas dynamic equivalence an 79 Albrecht (2005, 4) lehnt sich hier inhaltlich an den rhetorischen Terminus des aptum an, der ihm denn auch als Alternative zum Begriff der Adäquatheit vorschwebt 80 Hier bezieht sich Albrecht (ebd, 9) auf Catfords Begriff von der Übersetzungsäquivalenz als „rank bound-category“ 81 So können etwa die beiden Seiten folgender Gleichung mit zwei Unbekannten nur unter eng begrenzten Voraussetzungen äquivalent sein: a + b = 3a (Eine Lösungsmöglichkeit wäre: a = 2 und b-=-4 Dies heißt aber nicht, dass es nicht auch andere Lösungen geben kann) 82 Damit beruhen also unbeabsichtigte Übersetzungsfehler für Schreiber auf (unerfüllten) Invarianzforderungen und fallen in den Zuständigkeitsbereich der Übersetzung <?page no="53"?> 1 Theoretische Vorüberlegungen 53 Eine Bearbeitung ist eine medienunabhängige Texttransformation, bei der mindestens ein komplexes, individuelles Textmerkmal erhalten bleibt und die ansonsten auf Varianzforderungen beruht Unter Verwendung von Albrechts Terminologie ließe sich Schreibers Modell wie folgt weiter ausführen: Die Hierarchie der Varianzforderungen wird gesteuert durch die Adäquatheit dem Zieltext und der Zielkultur gegenüber, während die Rückbindung an den Ausgangstext lediglich im Hinblick auf die eine definitorisch notwendige Invarianzforderung besteht Als Mischformen führt Schreiber (ebd . 131) die bearbeitungsnahe Übersetzung und die übersetzungsnahe Bearbeitung ein Dadurch reduziert er die qualitative Unterscheidung zwischen Übersetzung und Bearbeitung für das komplexe Gebilde des Gesamttextes allerdings auf eine graduelle Abstufung, während der qualitative Unterschied nurmehr im Hinblick auf einzelne Textstellen zum Tragen kommt . In diesen Grenzbereich zwischen Übersetzung und Bearbeitung fallen sicherlich auch die klassizistischen belles infidèles französischer Prägung, bei denen im Einzelfall schwer zu entscheiden ist, ob Varianz- oder Invarianzforderungen die Richtung vorgeben . Denn ob ein Eingriff auf eine übergeordnete Invarianzforderung, wie der nach invarianter Wirkung in der Zielkultur, oder allein auf den Veränderungswillen des Bearbeiters zurückzuführen ist, ist, wie Schreiber (ebd 105) selbst einräumt, nicht immer klar erkennbar: Mögliche Varianzforderungen mit dem Ziel, „Schwächen“ des Originalautors, wie mangelnde clarté oder bienséance, auszugleichen, könnten, um mit Schreiber zu sprechen, lauten: „Mache aus diesem schwierigen Text einen einfachen (…), aus diesem schlechten Text einen guten (…), aus diesem unanständigen Text einen anständigen“ (ebd 105), oder auch „streiche alles Unwichtige“ (ebd 130) . Hier lässt sich nach Schreiber also erst anhand konkreter Textstellen entscheiden, ob diese Züge einer Übersetzung oder einer Bearbeitung tragen In einer späteren Überarbeitung seines Modells integriert Schreiber (2006) seine Definition von Übersetzung und Bearbeitung in ein Prototypenmodell der Translation, in dem er die Bearbeitung innerhalb eines konzentrischen 3-Zonen-Modells (C = centre; P = periphery; N = neighbourhood) zunächst in der äußersten Zone N ansiedelt (C: Textübersetzung; P: Umfeldübersetzung), später dann-- als Zugeständnis an funktionalistische Theoretiker wie z B Prunč (2001)-- im Zuge eines zone shifts in die Zone P vorrückt (Zone N ist nun Metatexten, d h Texten über den Ausgangstext, vorbehalten) Übrigens wird dieses aus der Psycholinguistik entlehnte 83 Prototypenmodell von Forschern wie Sandra Halverson (1999, 2000 und 2002) oder Erich Prunč (2001) als sehr erfolgversprechende „Metatheorie“ der Übersetzungswissenschaft eingesetzt, mit deren Hilfe Übersetzungstheorien verschiedener Ausrichtung und Epochen in das oben beschriebene 3-Zonen-Modell eingeordnet und so in ihrer typischen Ausformung und in ihren Randbereichen definiert werden können . 84 Nach diesem kleinen Exkurs in den Grenzbereich der Übersetzung soll der rote Faden der (system)linguistisch geprägten Theorien wieder aufgenommen werden . Als gemeinsame Charakteristika dieser Theorien lassen sich folgende Punkte festhalten: Das 83 Vgl die Prototypensemantik von Eleanor Rosch (1978) 84 Dieses Modell dürfte gerade auch für die historisch-deskriptive Übersetzungsforschung besonders ergiebig sein . <?page no="54"?> I Allgemeines 54 Original als einzige objektiv gegebene Größe ist die zentrale Referenz, der Fokus liegt auf textinternen Faktoren Entsprechend steht in der Hierarchie der Invarianzforderungen die Rückbindung an den Ausgangstext im Zentrum . 85 Insgesamt ist die Theoriebildung eher produktorientiert, konzentriert sich auf das Translat als Ergebnis des Übersetzungsprozesses Dabei bleibt die Analyse auf der Ebene der Einzelsprache und wird nicht ausgeweitet auf die Ebene des Sprechens im Allgemeinen-- denn schließlich lassen sich nur Texte übertragen, die in einer bestimmten Sprache verfasst sind, wie Albrecht (1995, 292) betont, der in diesem Zusammenhang auf Coserius Diktum von der Einzelsprache als „historisch überlieferter Technik des Sprechens“ verweist, die den Sprecher in seiner Ausdrucksabsicht lenkt und kanalisiert Neben diesen sogenannten systemlinguistischen haben sich seit Beginn der 1970er Jahre eher funktionalistisch orientierte Theorien durchzusetzen begonnen, die die Übersetzung als Transfer verstanden wissen wollen . Mit der zunehmenden Entfremdung der Übersetzungsforschung von der Sprachwissenschaft, deren Ursache sicherlich auch in einem Bedürfnis der jungen Disziplin nach Emanzipation zu suchen ist, beginnen eher „sprachferne“ Theorien an Boden zu gewinnen Gemeinsames Kennzeichen dieser Ansätze ist eine interdisziplinäre Ausrichtung, die etwa Fachrichtungen wie Psychologie, Gehirnforschung, Philosophie und Sozialwissenschaften einbezieht . 86 Der eher prozessorientierte Ansatz, der die Übersetzung als Transferprozess betrachtet, führt zu einer Abwendung vom Original, dessen objektive Gültigkeit in Frage gestellt wird 87 - - im Übrigen genau die gegenläufige Entwicklung zur „Entdeckung des Originals“, die die historisch-deskriptive Übersetzungsforschung in der Romantik verortet . Zugleich rückt die Funktion des Zieltextes innerhalb der Empfängerkultur ins Blickfeld In dem Maße, wie der Text als objektiver Bezugspunkt in den Hintergrund rückt, gewinnen textexterne Faktoren wie Individuum und Kultur an Gewicht: Bedeutsam wird die Tatsache, dass Übersetzen immer auch durch persönliche, soziokulturelle und situative Aspekte gesteuert wird Natürlich lassen sich diese Kriterien nicht auf alle funktionalistisch geprägten Theorien gleichermaßen anwenden, sondern es gibt hier ebenso wie bei den systemlinguistischen Ansätzen graduelle Abstufungen Das Terrain der mehr oder weniger stark funktionalistisch orientierten Theorien kann im Rahmen dieser Arbeit nicht erschöpfend sondiert werden, es soll daher nur auf einige ihrer wichtigsten Vertreter und Strömungen hingewiesen werden, um einen Eindruck vom Stand der modernen Übersetzungsforschung zu vermitteln Der wohl „radikalste“ Ansatz ist die soziokulturell orientierte Skopostheorie, die Katharina Reiß und Hans J Vermeer in ihrer Allgemeine[n] Translationstheorie von 1984 entwickeln . 88 Reiß/ Vermeer führen den in der modernen Übersetzungstheorie inzwi- 85 Schreiber (1993) hat für solche durch die Bedeutung textinterner Faktoren gekennzeichnete Übersetzungen den Begriff „Textübersetzung“ geprägt; entsprechend definiert er funktionalistisch ausgerichtete Übersetzungen, die textexterne Faktoren in den Mittelpunkt stellen, als „Umfeldübersetzungen“ 86 Vgl etwa Snell-Hornbys Konzept der Übersetzungswissenschaft als „Interdisziplin“ (ebd 1988 und 1994) 87 So sprechen Hönig/ Kußmaul (1982, 17) gar ironisch vom „heilige[n] Original“ 88 Vgl auch Vermeer, Hans J (1996), A skopos theory of translation (some arguments for and against) Heidelberg: Textcontext . <?page no="55"?> 1 Theoretische Vorüberlegungen 55 schen weit verbreiteten Begriff der Translationstheorie 89 ein, der sowohl die Übersetzungsals auch die Dolmetschwissenschaft einschließt Schon dies lässt erahnen, dass der schriftlich niedergelegte Text in dieser Theorie keine Hauptrolle spielt . Zudem können bedingt durch den globalen Ansatz auch nur recht allgemeine Aussagen getroffen werden, die für Übersetzen und Dolmetschen gleichermaßen gelten, und diese betreffen naturgemäß eher die äußeren Bedingungen des Vorganges, so dass die eigentliche Arbeit am Text zwangsläufig zu kurz kommt 90 Dies ist aber von den Autoren durchaus intendiert, wie folgende programmatische Aussage Vermeers an anderer Stelle (1992, 31) belegt: Wie ein spezifisches Translat im gegebenen Einzelfall zustande kommt, kann die Skopostheorie natürlich nicht angeben . Mikrofeststellungen hierzu gehören wohl in verschiedene Disziplinen, z B die Gehirnforschung und die Psychologie und in eine (psychologische) Handlungstheorie- - nach unserem Verständnis von Allgemeiner Translatologie aber nicht mehr in diese letztere Disziplin Die Eckpfeiler von Reiß/ Vermeers Theorie sind zum einen, wie bereits aus der Namensgebung hervorgeht, der Skopos, also der Übersetzungszweck, und zum anderen das Verständnis von Übersetzen als Handlung Dabei steht mit dem Primat des Skopos ein textexterner Faktor ganz oben in der Hierarchie der Invarianzforderungen . Aus systemlinguistischer Sicht verstößt dieser aus äußeren Bedingungen abgeleitete Skopos gegen die Forderung nach Rückbindung von Übersetzungszweck und -funktion an den Ausgangstext, denn „[n]ur wenn die Funktion des Translats aus gewissen Merkmalen des Originals unmittelbar abgeleitet wurde, nur dann liegt eine Übersetzung im engeren Sinne vor“ (Albrecht 1990, 79) Der Skopos-Begriff ist in der übersetzungstheoretischen Literatur neuerer Zeit sehr kontrovers diskutiert worden Verwiesen sei etwa auf Rudi Keller (1997), der einen inhärenten Widerspruch in der Skoposregel aufdeckt: Zweck kann einmal intern als Handlungszweck, also z B für das Übersetzen die Produktion eines akzeptablen Zieltextes, verstanden werden, dann aber auch extern als Zweck dieses Zieltextes, also etwa eine informativ-divulgative Ausrichtung auf eine breite Leserschaft Hier würden demnach mit der Rede vom Übersetzungszweck einerseits und vom Übersetzen als Handlung andererseits zwei Ebenen miteinander vermischt Und Zybatow (2004, 260) geht angesichts der mangelnden definitorischen Klarheit des Begriffs sogar so weit, zu postulieren, „(…) dass die Skopostheorie auch den Skopos nicht definiert, sondern lediglich für das deutsche Wort ‚Zweck ‘ das Wort ‚Skopos‘ einsetzt“ Hinzu kommt, dass die „Entthronung des Ausgangstextes“ in dieser Theorie gerade auch für das literarische Übersetzen zumindest als problematisch zu betrachten ist Einen gegenüber der Skopostheorie eher gemäßigten Ansatz vertritt Christiane Nord, deren „funktionales Übersetzen“ sich zwar nicht so stark vom Ausgangstext ab- 89 Exemplarisch sei hier das 1998 im Stauffenburg Verlag erschienene Nachschlagewerk für Übersetzer Handbuch Translation von Mary Snell-Hornby, Hans G Hönig, Paul Kußmaul und Peter A Schmitt angeführt 90 Zur wissenschaftstheoretischen Einordnung der Skopostheorie vgl Zybatow (2004), der zu Recht auf die Unmöglichkeit hinweist, alle Arten des Übersetzens und Dolmetschens vermittels nur einer Theorie zu erfassen . <?page no="56"?> I Allgemeines 56 wendet, die aber doch den traditionellen Begriff der „Treue“ in Frage stellt (vgl Nord 1989, 100-105) Sie schlägt stattdessen den Terminus „Loyalität“ vor, der sich auf die Erwartungen der beteiligten Akteure an den Übersetzer bezieht und damit den traditionellen Treuebegriff um die Perspektive des Empfängers erweitert (Nord 1988, 18): Die Verpf lichtung zur Loyalitat bedeutet, dass Übersetzer und Übersetzerinnen gegenüber ihren Handlungspartnern, also sowohl gegenüber den Auftraggebern und den Zieltextempfängern als auch gegenüber dem Autor/ der Autorin des Ausgangstextes, in der Verantwortung stehen Eine weitere Theorie, die hier im Rahmen der funktionalistischen Ansätze erwähnt werden soll, die aber verschiedene mehr oder weniger „sprachnahe“ Abstufungen kennt, ist die Textlinguistik 91 Von der modernen Übersetzungswissenschaft ist vor allem die um den Aspekt der Pragmatik erweiterte Form der Textlinguistik, die Schmidt (1973) als „Texttheorie“ bezeichnet, aufgegriffen worden Bereits Mitte der 1970er Jahre entwickelt Katharina Reiß eine Textlinguistik, die den Textsinn anhand situativer Faktoren seiner Produktion und Rezeption zu eruieren versucht 92 In ihrer „übersetzungsrelevanten Texttypologie“ leiten sich die textkonstituierenden Merkmale u a von der kommunikativen Funktion her, so dass die Wahl der jeweiligen Übersetzungsmethode durch funktionale Gesichtspunkte entscheidend mitbestimmt wird 93 Zu den operationsspezifisch und pragmatisch orientierten Theoretikern gehört auch Wolfram Wilss, der das Übersetzen als Transferprozess beleuchtet Beeinf lusst von der Forschung zur maschinellen Übersetzung versucht er die Faktoren des Übersetzungsprozesses zu isolieren, um so ein Erklärungsmodell zu gewinnen, das auch didaktischen Nutzen für die Übersetzerausbildung bringt 94 Ähnlich wie bei der Skopostheorie steht dabei der Entwurf eines theoretischen, prozessorientierten Modells im Vordergrund, worüber die konkrete Textarbeit vernachlässigt wird Wilss ist ein Vertreter der sprachwissenschaftlichen Semiotik, an die auch der Mailänder Übersetzungstheoretiker Bruno Osimo anknüpft Im Vorwort zu seinem erstmals 1995 publizierten Manuale del Traduttore ( 2 2004, XI), das in impressionistischer Manier verschiedene theoretische und praktische Aspekte der Übersetzung vorstellt, grenzt dieser sich ausdrücklich gegen die „rigida impostazione basata su concetti poco o nulla definibili e scarsamente produttivi come quello di ‚equivalen- 91 Im Hinblick auf diesen Forschungsbereich darf Eugenio Coserius ebenso origineller wie umfassender Ansatz nicht unerwähnt bleiben, den er in seiner-- etwas außerhalb des übersetzungswissenschaftlichen main streams angesiedelten-- Textlinguistik ( 4 2007) entwickelt 92 Vgl Reiß (1976), Texttyp und Übersetzungsmethode Der operative Text Heidelberg: Groos 93 Reiß’ Ansatz ist eher deskriptiver als präskriptiver Natur, da er ursprünglich im Rahmen einer Definition von „Möglichkeiten und Grenzen der Übersetzungskritik “ (Reiß 1971) entwickelt worden war Vgl Greiner 2004, 115 In ihren späteren Arbeiten nähert sich Reiß wieder stärker den linguistischen Theorien an, indem sie etwa in ihrem Aufsatz von 1990 den Ausgangstext als „das sine qua non der Übersetzung“ rehabilitiert Vgl Albrecht 1995, 302 94 Die Basis des Modells ist die semiotische Textanalyse, die die Erkenntnisse der sprachwissenschaftlichen Semiotik auf die Ebene des Textes überträgt, die aber für Wilss (1977, 183) lediglich dazu dient, „(…) die vorhandenen Transferblockierungen in ihrem jeweiligen sprachlichen und situativen Kontext zu isolieren“ . <?page no="57"?> 1 Theoretische Vorüberlegungen 57 te‘ linguistico“ ab 95 Der „approccio lessicalistico alla traduzione“ 96 (ebd ) verliere sich mit der Suche nach der angemessenen Übersetzungslösung in Details, anstatt sich mit der Übersetzbarkeit von Kultur (ein in der modernen Translationswissenschaft inzwischen inf lationär gebrauchter Begriff) zu beschäftigen Mit der pragmatisch orientierten Sprechakttheorie von Austin und Searle wendet sich die Translationsforschung der abstrakten Ebene des Sprechens im Allgemeinen zu: Sie streicht die performative Funktion sprachlicher Einheiten heraus, die auf die außersprachliche Wirklichkeit Bezug nehmen Einen Ansatz, der etwas außerhalb der Dichotomie linguistisch-funktionalistisch liegt, der aber durch die Betonung des kulturellen Aspekts gegenüber dem Text als solchem und durch die zentrale Bedeutung der Zielkultur eher in der Nähe funktionalistischer Ansätze anzusiedeln ist, vertritt der in Philadelphia lehrende Übersetzungswissenschaftler Lawrence Venuti In seinen Publikationen Rethinking Translation (1992) und The Translator’s Invisibility (1995) stellt er den Übersetzer und seine soziale und kulturelle Funktion in den Mittelpunkt Übersetzen betrachtet er als gesellschaftlichen Akt und zugleich als „the locus of difference“ (Venuti 1992, 13): Der Übersetzer sollte also nicht neutral sein, sondern einen Beitrag zur Veränderung der Zielkultur und zur Verbesserung der kulturellen Beziehungen leisten Entgegen dem angelsächsischen Konzept der „f luency“ propagiert Venuti eine verfremdende Art der Übersetzung, da er die einbürgernde Praxis als gewaltsamen Akt gegenüber der Ursprungskultur empfindet Hilfreich sei dabei eine gewisse geistige Nähe zwischen Autor und Übersetzer, die er als „simpatico“ bezeichnet In die Nähe der funktionalistischen Ansätze rückt diese Theorie auch Venutis Verständnis von Übersetzung als Prozess der Dekontextualisierung, bei dem in der Übersetzung als „text in its own right“ (Venuti 1992, 8) die im Original vorhandenen intertextuellen Bezüge durch neue, zielkulturell verankerte ersetzt werden können und müssen: Der Text solle als Übersetzung und nicht als Substitut des Originals gelesen werden Venutis weitgehend zielkulturell orientiertes Postulat einer relativen Autonomie der Übersetzung geht allerdings auch mit einer gewissen „Entwurzelung“ des Originaltextes einher und wirft die Frage auf, inwieweit die neu hergestellten intertextuellen Bezüge im Einzelfall der Intention des Autors gerecht werden und inwieweit sie vom Leser problemlos nachvollzogen werden können Aus literaturwissenschaftlichem Blickwinkel hat sich Peter Utz in seinem Werk Anders gesagt- - autrement dit- - in other words (2007) dem Übersetzen genähert Sein Erkenntnisinteresse ist eher deskriptiver Natur und gilt vornehmlich dem literarischen Original, das bei einer vergleichenden Übersetzungslektüre anhand der „Differenz“ verschiedener Übersetzungen (verstanden als dessen „Umschriften“ und „Fortschriften“) in seinen Bedeutungsmöglichkeiten erst fassbar wird Das Übersetzen wird hier als „fremder Zugang zum Eigenen“ (ebd 21), als „Fenster nach innen“ (ebd ) betrachtet . 95 Hier sei erneut auf die dreistellige Relation „Äquivalenz“ hingewiesen, die damit unterschiedlichste Ebenen, auch kultureller Natur, abdeckt Es ließe sich also von semantischer oder funktionaler Äquivalenz sprechen, während Osimos pauschale Formulierung „linguistische Äquivalenz“ keinerlei Aussage über die Art der Äquivalenz beinhaltet 96 Solche Formulierungen zeugen, ähnlich wie die Charakterisierung von Catfords linguistischem Ansatz als „preistoria“ (ebd ), von einer recht undifferenzierten, stereotypen Rezeption sprachbezogener Übersetzungstheorien . <?page no="58"?> I Allgemeines 58 Dennoch steht bei diesem Ansatz beim Übersetzen selbst nicht das Original im Mittelpunkt, sondern vielmehr der künstlerische Eigenwert der Übersetzung, der wie bei einem Porträt in der „Ähnlichkeit“ liege Anders als das Postulat der „Transparenz“ beinhalte diese die Wahrung nicht nur der formellen, sondern auch der materiellen Schönheit 97 Damit plädiert auch Utz ähnlich wie Venuti, wenn auch aus anderen Motiven, für die „Sichtbarkeit“ des Übersetzers Zugleich erhält das Übersetzen für ihn eine ästhetische Dimension, bei der auch der Standpunkt des Lesers als dritter Pol in die Dichotomie Original-- Übersetzung aufgenommen wird . Eben diesen ästhetischen Aspekt führt er gegen den traditionellen Äquivalenzbegriff ins Feld, der lediglich die Kategorien „richtig“ und „falsch“ kenne Das Kriterium Äquivalenz wird hier allerdings wieder einmal aus dem verbreiteten Irrtum heraus abgelehnt, Äquivalenz könne mit Identität gleichgesetzt werden und sei daher ein unerreichbares Ziel 98 Prozessual-kognitive Ansätze, die auf das Individuum fokussiert sind und psycholinguistische Erkenntnisse für das Übersetzen nutzbar machen, sind beispielsweise die Scenes-and-frames-Semantik, die situative Aspekte beim Übersetzungsprozess in den Mittelpunkt stellt 99 , oder die aus der Psychologie entlehnte Methode des Lauten Denkens 100 , die mentale Prozesse während des Übersetzungsvorgangs beleuchtet . Anhand von Protokollen des Lauten Denkens entwickelt Paul Kußmaul 101 den Begriff der Kreativität im Übersetzungsprozess, die er als Abweichung vom Ausgangstext definiert Hönig, der sich mit seinem didaktisch ausgerichteten Ansatz des Konstruktiven Übersetzens (1995) bewusst gegen Krings introspektives Modell abgrenzt, rückt ähnlich wie Reiß die „kommunikative Funktion“ des gesamten Textes ins Zentrum der Betrachtung 102 Ebenfalls den prozessual-kognitiven Theorien lässt sich die translationswissenschaftliche Hermeneutik nach Fritz Paepcke subsumieren, die in neuerer Zeit z B . von Radegundis Stolze fortgeführt wird Sie ist stark von der Sprachphilosophie und insbesondere von den Theorien Gadamers beeinf lusst und konzentriert sich ähnlich wie in der Literaturwissenschaft die Rezeptionsästhetik nach Hans Robert Jauß auf den Leser als Empfänger und Interpreten eines Textes Gemeint ist hier der Übersetzer in seiner Funktion als Leser des Ausgangstextes, und dabei ist nicht die Textvorlage, sondern das individuelle Verstehen entscheidend Solche relativistischen Theorien, die die Konstitution der Bedeutung von individuellen Faktoren abhängig machen, gipfeln in ihrer radikalsten 97 Utz greift hier auf eine Forderung Antoine Bermans zurück, der sich gegen die „Platonische“ Tradition des transparenten Übersetzens wendet: Diese vermöge lediglich den Sinngehalt und nicht die sprachliche Schönheit als den „Körper“ des Originals wiederzugeben Vgl Utz 2007, 27 f 98 Utz (2007, 19) führt seine missverstandene Deutung des Äquivalenzbegriffes sogar zu dem Schluss, das Kriterium der Äquivalenz sei „in sich paradox“, denn in ihm stecke „ein Konzept von Identität, mit dem sich die Übersetzung letzlich selbst auf heben müßte“ 99 Die prototypische Wortbedeutung wird beeinf lusst durch die jeweilige Kommunikationssituation, in der im Rahmen der vorgegebenen sprachlichen Formen ( frames) bestimmte Vorstellungen (scenes) aktualisiert werden Vgl Charles J Fillmore (1977) Da diese Vorstellungen immer auch kulturell bedingt sind, ließe sich dieser Ansatz auch den soziokulturellen Theorien subsumieren 100 Vgl Krings (1986) und Königs (1987) 101 Vgl Kußmaul (2000), Kreatives Übersetzen 102 Greiner (2004, 239) merkt an, dass sich Hönig dabei „dezidiert gegen die Übersetzungstechniken der sprachenpaarbezogenen Übersetzungswissenschaft“ wendet <?page no="59"?> 1 Theoretische Vorüberlegungen 59 Form im dekonstruktivistischen Ansatz eines Jacques Derrida, der auf die Zerschlagung aller Bedeutungen abzielt 103 In neuerer Zeit, etwa seit den 1990er Jahren, zeichnet sich allerdings eine Tendenz ab, die auf eine Wiederannäherung der Übersetzungswissenschaft an die Linguistik schließen lässt So verweist etwa Albrecht (2013, 21) auf die starke Resonanz des 1995 erschienenen übersetzungswissenschaftlichen Werkes Übersetzen. Ein Vademecum von Judith Macheiner, die entschieden für die Rückbindung aller übersetzerischen Entscheidungen an das Original eintritt: Ausschließlich sprachliche Gründe rechtfertigen in ihren Augen eine Abweichung der Übersetzung vom Original . Auch Mona Baker vertritt in ihrem Buch In other words: a coursebook on translation (1992) eine eher traditionelle, sprachnahe Theorie der Übersetzung 104 , die die verschiedenen Formen der Äquivalenz, ausgehend vom Text, als didaktische Grundlage für die Übersetzerausbildung heranzieht 105 Einige der eher funktionalistisch orientierten Forscher betrachten diese Trendwende erwartungsgemäß als „Rückschritt“ in der Übersetzungsforschung, wie etwa Snell-Hornby (2006, 151 f ), die den Status der gerade erst etablierten Disziplin der Translationsforschung durch diese Rückbesinnung auf die Linguistik gefährdet sieht: All in all, it seems that the (…) emancipation of Translation Studies from the discipline of linguistics is embarking on a phase of retrogression (…) What is most striking is that those advocating or implying a ‚return to linguistics‘ in the English speaking debate mostly ignore (or misunderstand) the functional models along with their potential for an independent discipline of Translation Studies Missverständnisse scheinen also auf beiden Seiten an der Tagesordnung zu sein . Es gibt aber auch versöhnlichere Stimmen unter den „Funktionalisten“, die eine Wiederannäherung der beiden „Schulen“ der Übersetzungsforschung grundsätzlich begrüßen, wie z B Kußmaul (2007, 237), dessen Verabsolutierung des Äquivalenzbegriffs hier allerdings problematisch ist: Bekanntlich kann Äquivalenz allein nicht der Zweck des Übersetzens sein, sondern allenfalls die Äquivalenz in Bezug auf die Invariante der Funktion: Es soll auch nicht unerwähnt bleiben, dass die sogenannten Funktionalisten und die Anhänger der Skopostheorie, zu denen ich mich auch zähle, gegen den Äquivalenzbegriff polemisierten Äquivalenzvertreter, so hieß es polarisierend, schauen nur auf den Ausgangstext, und 103 Als Sonderform seien hier noch die von Gideon Toury begründeten Descriptive Translation Studies der 1980er Jahre erwähnt, die die literarische Übersetzung zum Gegenstand haben Sie betrachten die Übersetzungsforschung als Feldtheorie und verstehen sich ausdrücklich als nicht präskriptiv, zieltextorientiert und wertneutral; gerade diese Ablehnung von Werturteilen hat in der Fachwelt zu kontroversen Diskussionen geführt 104 So betont sie (ebd 4) ausdrücklich die Bedeutung der Linguistik für die Übersetzungswissenschaft: „Linguistics is a discipline which studies language both in its own right and as a tool for generating meanings . It should therefore have a good deal to offer to the building discipline of translation studies; it can certainly offer translators valuable insights into the nature and function of language“ 105 Sie geht bottom-up vom Wort als kleinster Einheit für den Übersetzer aus (wobei man sich über den Sinn der Bezeichnung ‚Äquivalenz auf Wortebene‘ durchaus streiten kann) und weitet den Blick bis auf Textebene und Kommunikationssituation, wobei sie ausdrücklich auf die Relativität des Äquivalenzbegriffs hinweist . <?page no="60"?> I Allgemeines 60 Funktionalisten schauen in erster Linie auf den zielsprachlichen Empfänger, und bei einem entsprechenden Skopos (…) spielt dann Äquivalenz keine Rolle mehr (…) Inzwischen haben wir die Phase der Polemik hinter uns gelassen Man kann die Dinge wohl so sehen, dass gerade die Funktionskonstanz zwischen Ausgangs- und Zieltext ein Skopos sein kann Dann ist Äquivalenz der Zweck des Übersetzens Erstrebenswert scheint der Verfasserin alles in allem auch hier der viel zitierte goldene Mittelweg nach Aristoteles zu sein: Faktoren wie Kultur und Individuum spielen natürlich sowohl im Übersetzungsprozess als auch bei der Rezeption des Translats eine nicht zu vernachlässigende Rolle Es muss aber eingeräumt werden, dass diese bereits in der Sprache selbst gewissermaßen „kristallisiert“ sind: Sie lassen sich so direkt aus dem schriftlich fixierten Ausgangstext erschließen und f ließen bei der Produktion des Zieltextes erneut in ganz konkreter sprachlicher Form ein Ferner darf nicht vergessen werden, dass der Text auch unabhängig von äußeren Faktoren Bestand haben muss . Gerade literarische Texte entwickeln oft ein ausgeprägtes „Eigenleben“, so dass die Übersetzung, um dauerhaft Bestand zu haben, nicht zu stark von situativen oder kulturellen Erfordernissen wie den Wünschen des Auftraggebers oder den Lesegewohnheiten des Zielpublikums bestimmt sein sollte Als Schlusswort mag das versöhnliche Plädoyer Zybatows (2003, 354-355) für eine gegenseitige Befruchtung der beiden rivalisierenden Strömungen in der Übersetzungsforschung dienen: Das [ . . ] Schwarz-Weiß-Raster hier ‚moderne Translationstheorie‘ da ‚traditionelle Übersetzungswissenschaft‘ halte ich für kontraproduktiv für die künftige Entwicklung der Disziplin, und zwar nicht nur, weil es künstlich spaltet, sondern weil es in der Sache selbst konstruiert und falsch ist Denn die Frage, was zu welchem Zweck wie übersetzt werden soll (wofür sich die funktionale, kulturell orientierte Translationswissenschaft interessiert) und die Frage, wie das Übersetzen und Dolmetschen im Einzelnen vor sich geht (womit sich die linguistisch und kognitiv orientierte Translationswissenschaft befasst) sind zwar zwei unterschiedliche Fragestellungen, jedoch zwei Seiten einer Medaille, die beide von der Translationswissenschaft behandelt werden müssen Sie stehen keinesfalls in einem Verhältnis gegenseitiger Ausschließlichkeit <?page no="61"?> 2 Konzeptionen von Kultur und Übersetzen im 18. und 19. Jahrhundert: Deutschland - Frankreich - Italien Um Aussagen über Vorkommen und Beschaffenheit von Übersetzungen aus zweiter Hand-- als Sonderfall der Übersetzung, deren Formen und Merkmale im vorangegangenen Kapitel definiert werden sollten-- treffen zu können, ist zunächst ein kurzer Überblick über die Theorie und Praxis der Übersetzung des 18 . und 19 . Jahrhunderts in den beteiligten Ländern im Allgemeinen und der französischen kulturellen und übersetzerischen Konzeptionen im Besonderen sinnvoll Denn nur vor dem Hintergrund der historischen Auffassungen von Übersetzen und deren praktischer Umsetzung wird es möglich, Erkenntnisse über die jeweilige Motivation der Übersetzer „aus zweiter Hand“ und die unterschiedliche Akzeptanz ihres Vorgehens im Laufe der Geschichte zu gewinnen Denn, um mit Wuthenow (1969, 72) zu sprechen: „Nicht nur was man kann, auch was man will, wird von den historischen Umständen mitbestimmt Oft genug erklären diese die Widersprüche und Unterschiede in Theorie und Praxis des Übersetzens“ 2.1 Die Idee des Nationalcharakters Die oben dargestellten Erscheinungsformen der Übersetzung aus zweiter Hand sind immer auch ein Spiegel der übersetzungstheoretischen Debatte zur jeweiligen Zeit Eine historisch-deskriptive Zusammenschau der im untersuchten Zeitraum vorherrschenden Konzeptionen vom Übersetzen sowie des kulturellen Hintergrunds, in den diese eingebettet sind, erscheint also hier sinnvoll, um den theoretischen Rahmen der Untersuchung abzustecken Zu den kulturellen Prämissen für die herrschende Übersetzungsauffassung des 18 und zum Teil auch noch des 19 Jahrhunderts gehört die Ideengeschichte dieser Zeit, die eine nähere Betrachtung wert ist . Dabei ist vorauszuschicken, dass die zu erörternden literarischen und geistesgeschichtlichen Strömungen stets auch nebeneinander auftreten und daher chronologisch nicht klar voneinander abgegrenzt werden können So sind die literarischen Epochen der Klassik und der Romantik in Deutschland ungefähr in derselben Zeitspanne zu verorten, nämlich von Ende des 18 . Jahrhunderts bis in die dreißiger Jahre des 19 Jahrhunderts 106 106 Frenzel/ Frenzel ( 2 1985, 229 und 296) datieren die deutsche Klassik auf 1786 bis 1832, die deutsche Romantik auf 1798 bis 1835 . <?page no="62"?> I Allgemeines 62 Das europäische 18 Jahrhundert hängt noch in hohem Maße dem Mythos des „Nationalcharakters“ oder génie du peuple an Konsultiert man die Encyclopédie de Diderot et d’Alembert 107 , so findet man unter dem Eintrag françois den folgenden aufschlussreichen Hinweis auf den Nationalcharakter im Allgemeinen und das génie françois im Besonderen: En effet, chaque peuple a son caractere, comme chaque homme; & ce caractere général est formé de toutes les ressemblances que la nature & l’habitude ont mises entre les habitans d’un même pays, au milieu des variétés qui les distinguent Ainsi le caractere, le génie, l’esprit françois, résultent de tout ce que les différentes provinces de ce royaume ont entr’elles de semblable Les peuples de la Guienne & ceux de la Normandie different beaucoup: cependant on reconnoît en eux le génie françois, qui forme une nation de ces différentes provinces, & qui les distingue au premier coup-d’œil, des Italiens & des Allemands Le climat & le sol impriment évidemment aux hommes, comme aux animaux & aux plantes, des marques qui ne changent point (…); celles qui dépendent du gouvernement, de la religion, de l’éducation, s’alterent: c’est-là le nœud qui explique comment les peuples ont perdu une partie de leur ancien caractere, & ont conservé l’autre In der Lautstruktur, dem Klang einer Sprache, drückten sich also ähnlich wie in der umgebenden Natur die klimatischen und geographischen Bedingungen einerseits und die sozialen Gegebenheiten des jeweiligen Landes andererseits aus Der in Ostpreußen geborene Übersetzer Paul Jérémie Bitaubé schildert diesen Zusammenhang in seiner Abhandlung Du goût national considéré dans son influence sur la traduction (1777, 484) sehr anschaulich: Les langues du midi sont chantantes; elles sont remplies d’aspirations qui les rendent plus moëlleuses; leur cadence est mieux marquée, ainsi que les intervalles de leurs sons, d’où naît plus de variété . (…) Les langues du Nord, au contraire, étant en général, plus siff lantes et moins modulées, peignent un peuple plus occupé de ses travaux, craignant de ne pouvoir suffire à ses besoins, portant un ton plus brusque dans les entretiens, & retraçant dans ses paroles quelque légère image du siff lement des vents & de la tempête Aber nicht nur im charakteristischen Klang, sondern auch in den gedanklichen Konzepten, die in einer Sprache ausgedrückt werden können, spiegle sich der Nationalcharakter wider Exemplarisch sei hier eine Passage aus der Vorrede des französischen Übersetzers von Schillers Histoire de la guerre de Trente ans (M . Ch . 1803, v) zitiert: Quelqu’impartial que soit un Historien, la Patrie se fait toujours sentir dans ses Ouvrages; ( . . ) la différence de son éducation, celle des institutions religieuses, civiles ou politiques, dans lesquelles il auroit vécu, inf lueroient encore sur ses écrits, on y retrouveroit encore malgré lui du Gaulois ou du Germain 107 Elektronische Quelle: http: / / diderot .alembert .free .fr/ F .html Die ersten 35 Bände der Encyclopédie wurden von 1751 bis 1780 herausgegeben, gefolgt von einer erweiterten Neuausgabe in 166 Bänden, die 1782 bis 1832 erschien <?page no="63"?> 2 Konzeptionen von Kultur und Übersetzen im 18.-und 19. Jahrhundert 63 Der Grammatiker des 18 Jahrhunderts Nicolas Beauzée 108 ist denn auch der Auffassung, dass mit den Redefiguren oder Tropen der antiken Rhetorik-- den idiotismes irréguliers in seiner Terminologie, die sowohl Wortals auch Gedankenfiguren einschließen- - in jeder Sprache besondere Ansichten (vues particulières) verbunden seien, die auf das jeweilige génie de la langue schließen ließen 109 Dass dieser Gedanke im 18 . Jahrhundert weit verbreitet war, zeigt ein weiterer Blick in die Encyclopédie de Diderot et d’Alembert, wo unter dem Stichwort idiotisme folgender Eintrag zu finden ist: S’il est facile de ramener à un nombre fixe de chefs principaux les écarts qui déterminent les différens idiotismes, il n’en est pas de même des vues particulieres qui peuvent y inf luer: la variété de ces causes est trop grande, l’inf luence en est trop délicate, la complication en est quelquefois trop embarrassante pour pouvoir établir à ce sujet quelque chose de bien certain Mais il n’en est pas moins constant qu’elles tiennent toutes, plus ou moins, au génie des diverses langues, qu’elles en sont des émanations, & qu’elles peuvent en devenir des indices ‚Il en est des peuples entiers comme d’un homme particulier, dit du Tremblay, traité des langues, chap 22; leur langage est la vive expression de leurs mœurs, de leur génie & de leurs inclinations; & il ne faudroit que bien examiner ce langage pour pénétrer toutes les pensées de leur ame & tous les mouvemens de leur cœur Chaque langue doit donc nécessairement tenir des perfections & des défauts du peuple qui la parle Elles auront chacune en particulier, disoit-il un peu plus haut, quelque perfection qui ne se trouvera pas dans les autres, parce qu’elles tiennent toutes des mœurs & du génie des peuples qui les parlent: elles auront chacune des termes & des façons de parler qui leur seront propres, & qui seront comme le caractere de ce génie‘ Wie sich aus der spezifischen Vorstellungswelt einer Nation das génie de la langue 110 herausbildet, erläutert bereits Condillac (1746/ 1973, 267) in seinem 1746 erschienenen Essai sur l’origine des connaissances humaines: Les signes sont arbitraires la première fois qu’on les emploie: c’est peut-être ce qui a fait croire qu’ils ne sauroient avoir de caractère; mais je demande s’il n’est pas naturel à chaque nation de combiner ses idées selon le génie qui lui est propre, et de joindre ä un certain fond d’idées principales différentes idées accessoires, selon qu’elle est différemment affectée Or ces combinaisons, autorisées par un long usage, sont proprement ce qui constitue le génie d’une langue Es ist also mit Schneiders (1995, 118-119) die allgemeine Tendenz dieser Zeit hervorzuheben, „die Autoren und ihre Sprachen zu nationalen Typen zusammenzufassen, wobei das Bewußtsein dafür fehlte, daß die europäischen Nationen untereinander mehr Ge- 108 Vgl Beauzée, Nicolas (1974), Grammaire générale ou exposition raisonnée des éléments nécessaires du langage, pour servir de fondement à l’étude de toutes les langues; die Erstausgabe erschien 1767 in Paris 109 Auf diesen Zusammenhang weist Schneiders (1995, 92-93) hin 110 Die Bezeichnung génie de la langue geht auf das klassische rhetorische Kriterium der proprietas zurück, das laut Quintilian (Institutio oratoria 8 .2 1) die Eigenschaft meint, die ein Wort zu einem verbum proprium, einem „eigentlichen Ausdruck “ für eine bestimmte Sache (res) macht-- im Gegensatz zum uneigentlichen, figurativen Ausdruck, dem verbum translatum Vgl Quintilianus/ Rahn 2006 <?page no="64"?> I Allgemeines 64 meinsamkeiten als Unterschiede besitzen“ 111 Als Gegenpol zum génie de la langue (als Ausdruck des génie du peuple) entwickelt sich Mitte des 18 Jahrhunderts im Frankreich der Vorromantik das Konzept des génie de l’auteur, das die Einzigartigkeit der einzelnen Dichterpersönlichkeit in den Vordergrund stellt . Dieser Geniegedanke muss per definitionem von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation absehen, da der Dichter hier als Ausnahmeerscheinung betrachtet wird, die aus sich selbst schöpft und in kein vorgefertigtes Raster passt, wie es etwa die Idee des Nationalcharakters vorgibt Dennoch besteht diese Idee das ganze 18 Jahrhundert hindurch fort und bestimmt die Denkmuster von Literaten und Leserschaft gleichermaßen Die Übersetzungspraxis ist naturgemäß ein Spiegel solcher Denkmuster Ob überhaupt Übersetzungen aus einem bestimmten Sprach- und Kulturraum angefertigt wurden, hing nicht unerheblich davon ab, welche Urteile über den Charakter der jeweiligen Nation im Zielland der Übersetzungen vorherrschend waren Ein typisches Beispiel ist das Deutschlandbild in Italien So erinnert Rita Unfer Lukoschik (2004, 33) an ( . . ) das in der Antike schon formulierte, äußerst negative Bild der deutschen Sprache und des Deutschen überhaupt: jene Vorstellung des von blinder Zerstörungswut genährten barbarischen Norden, die weit über die lateinisch-christliche Welt des frühen und hohen Mittelalters hinaus die Beziehungen Italiens zu Deutschland belasteten Diese Vorstellung wird auch das Bild entscheidend prägen, das in Italien seine Gültigkeit jahrhundertelang, bis weit in das 19 Jahrhundert hinein, behalten wird Erst um 1800 entsteht in Italien ein neues, positiveres Bild von Deutschland als „Land der Natur, der Natürlichkeit und der Wahrheit, Heimat der echten, unverstellten Gefühle“ (ebd 37) 112 Als Gegenpol zur negativen Figur des Hunnenkönigs Attila gilt nun der Dichter Salomon Geßner, der all diese Tugenden in sich zu vereinen scheint, als Inbegriff des Deutschen Ab diesem Zeitpunkt setzt auch eine verstärkte Übersetzungstätigkeit aus dem Deutschen ein- - wobei erneut das unterstellte génie du peuple die Rezeption lenkt: Übersetzt werden nur solche Autoren, die dem Deutschlandbild der Italiener entsprechen, neben Geßner etwa Gellert, Klopstock, Wieland oder Lessing . Es werden also nur Werke einer gemäßigten Auf klärung rezipiert, während die Dramatik des Sturm und Drang ganz ausgeschlossen bleibt 113 -- eine Tatsache, die im Übrigen stark auf eine französische Lenkung der Rezeption hindeutet Werden dann doch Übersetzungen aus dem bisher „verschmähten“ Kulturraum angefertigt oder entsteht gar eine „Mode“ der Übertragung von Werken aus dieser Sprache, muss erneut der Nationalcharakter als Rechtfertigung dienen . So treten in italienischen Übersetzervorworten aus der zweiten Hälfte des 18 . Jahrhunderts- - wie zuvor bereits 111 Den Gedanken der Prägung literarischer Werke durch ihr jeweiliges nationales Umfeld greift auch Mme de Staël in ihrer berühmten Abhandlung von 1800, De la littérature considérée dans ses rapports avec les institutions sociales, auf . Vgl Abschnitt 2 .3 .3 1 im ersten Teil dieser Arbeit 112 Eigenschaften wie „Phantasie und Sinnlichkeit, ungekünsteltes Wesen und Herzensgüte, Großmut und natürliche Tugendhaftigkeit“ (Unfer Lukoschik 2004, 39) werden aber um 1800 ebenso von deutscher Seite in Italien gesucht, was wohl auf die relative Entfernung und die fehlenden Kontakte zwischen den Kulturräumen zurückzuführen ist 113 Vgl Unfer Lukoschik 2004, 39; 48 <?page no="65"?> 2 Konzeptionen von Kultur und Übersetzen im 18.-und 19. Jahrhundert 65 in französischen- - vermehrt Verteidigungsreden hinsichtlich des literarischen Ranges der deutschen Sprache auf Der französische Wieland-Übersetzer Joseph-Pierre Frénais bescheinigt 1768 der deutschen Sprache eine besondere Eignung für die Dichtkunst: 114 On n’auroit pas voulu croire il y a vingt ans, que cette langue étoit susceptible de tous les genres de littérature; on ne la croyoit propre qu’aux sciences abstraites ( . . ) Il faut avouer cependant que c’est la poësie qui a fait le plus de progrès ( . . ) Le génie des Poëtes Allemands se porte singulierement-à peindre la nature ( . . ) Den Topos vom Deutschen als Sprache der Dichter greift auch der französische Schiller- Übersetzers Lamartelière auf, der in der Vorrede zu seiner 1808 entstandenen Übertragung von Schillers Glocke (Lamartelière (1808/ 1888, IX-X) das Lob der deutschen Sprache anstimmt: 115 La langue françoise doit à ses avantages connus d’être depuis long-temps la langue presqu’universelle de l’Europe . La langue allemande a aussi les siens: rhythmique et fortement accentuée, elle possède, ainsi que les langues anciennes, une prosodie qui la qualifie principalement pour la haute poësie; comme langue mère, elle peut continuellement s’enrichir de son propre fonds; cultivée depuis cinquante ans par des écrivains célébres dans tous les genres, il ne lui manque que de l’être davantage dans la société en général Wie das Zitat zeigt, bleibt dieses Lob nicht ohne bitteren Beigeschmack, da es meist mit einem gewissen Überlegenheitsgefühl verbunden ist Auch der Comte de Sainte-Aulaire (18? ? , 27-28) betont in der Remarque du traducteur seiner französischen Faust-Übersetzung die Schönheiten der deutschen Sprache, um sie ihr im selben Atemzug als Schwächen auszulegen: ( . . ) le caractère de la langue allemande ajoute encore au vague pour lequel ces auteurs sont vantés ou critiqués . La richesse de la langue, la liberté des inversions, la liberté plus grande de composer des mots nouveaux, et dont le sens est conséquemment pas encore défini, toutes ces facilités, dont le génie sait tirer un si grand parti, sont quelquefois aussi pour lui-même une séduction dangereuse .- (…) La langue française repousse cette surabondance avec un modeste dédain Elle considère comme son premier devoir, ou plutôt comme son plus beau privilège, une précision parfaite Das Erfordernis der précision parfaite ist denn auch für den Comte de Sainte-Aulaire ein selbstverständliches Motiv für glättende Eingriffe in den Text Man sieht also, dass besonders in den französischen Übersetzervorreden des 18 Jahrhunderts Gemeinplätze über die angeblich charakteristischen Eigenschaften bestimmter Nationalitäten und Sprachen nicht nur die Rezeption als solche motivieren, sondern vor allem dazu benutzt werden, die sehr „freie“ Art der Übersetzung zu rechtfertigen, die gerade im Frankreich der belles infidèles an der Tagesordnung ist Insbesondere wird der deutschen Sprache die clarté abgesprochen, die den Franzosen dieser Zeit als einer der vornehmsten Wesens- 114 Zit nach Graeber 1990, 182 115 In Lamartelières Préface zum Théâtre de Schiller (Lamartelière 1799, iiif ) findet sich eine noch umfassendere Apologie der deutschen Sprache . <?page no="66"?> I Allgemeines 66 züge ihres Nationalcharakters und ihrer Sprache gilt . Eine weitere Passage aus der oben zitierten Vorrede des Comte de Sainte-Aulaire (18? ? , 29) vermittelt einen Eindruck von der damaligen Geisteshaltung: Ainsi l’obligation de penser clairement tient à la nature des choses; elle est également imposée aux poëtes de tous les temps, de tous les pays L’obligation de parler clairement est surtout imposée aux écrivains français: aucune excuse ne peut les en dispenser; aucune beauté ne rachèterait le reproche d’obscurité . ( . . ) Enfin, si ce qui ne présente aucun sens n’est pas du langage, ce qui présente plusieurs sens n’est pas du français . 116 Einen Freibrief für Eingriffe im Namen der „Reinheit“ des Französischen liefert das häufig angeführte Argument, dass der Originalschriftsteller durch die Eigenheiten seiner Sprache gebunden sei und sich in einer anderen Sprache womöglich ganz anders ausgedrückt hätte So spricht Bitaubé (1800, xiii-xvi), der sich ebenfalls als Goethe-Übersetzer hervorgetan hat, von der „extrême différence du génie des deux langues“, während er in seiner oben zitierten Abhandlung über den goût national (Bitaubé 1777, 481) mutmaßt: Il est donc probable que si un auteur eût écrit dans un autre idiôme que le sien, il n’eût pas toujours dit les mêmes choses, & que le génie de cet idiôme eût eu quelque inf luence sur le tour de ses pensées, eût donné naissance à des beautés d’un autre genre Die Apologie der „freien“ Wiedergabe erfreut sich auch bei anderen Übersetzern dieser Epoche großer Beliebtheit: Der französische Wieland-Übersetzer Pierre-François de Boaton etwa entschuldigt 1784 sein Wirken als „traducteur infidelle“ mit dem „esprit de la langue Allemande si différent de celui de la Françoise“ 117 Und 1770 sieht sich Madame d’Ussieux in der Vorrede zu ihrer Wieland-Übersetzung als Schöpferin eines genuinen französischen Werkes: Quand un Traducteur a saisi & rendu l’idée de son original, il a rempli sa tache: C’est tout ce qu’on peut exiger de lui . Une traduction bien littérale est souvent très infidèle -( . . ) En un mot, j’ai taché de faire un ouvrage François, d’une production Allemande . 118 Bleibt die Frage nach den Unterschieden zwischen den im Frankreich und im Italien des 18 und frühen 19 Jahrhunderts herrschenden Vorstellungen vom deutschen Nationalcharakter Wie die französischen Übersetzervorreden deutlich machen, ist das französische Deutschlandbild dieser Zeit stets durch ein gewisses kulturelles Überlegenheitsgefühl der Franzosen gekennzeichnet, das im 17 Jahrhundert, der Hochzeit der belles infidèles, ganz besonders ausgeprägt ist und überdies von der traditionellen Rivalität der beiden Nationen untereinander gespeist wird . Die italienische Vorstellung von Deutsch- 116 In der Formulierung des letzten Satzes klingt das berühmte Zitat aus Antoine Rivarols Discours sur l ’universalité de la langue française von 1784 an, das in der Folge beinahe zum gef lügelten Wort geworden ist: „Ce qui n’est pas clair, n’est pas français; ce qui n’est pas clair est encore anglais, italien, grec ou latin“ (Rivarol 3 1946, 49) 117 Zit nach Graeber 1990, 191 118 Zit nach Graeber 1990, 184-185 <?page no="67"?> 2 Konzeptionen von Kultur und Übersetzen im 18.-und 19. Jahrhundert 67 land ist schon durch die räumliche Entfernung der beiden Länder und ihre geringen kulturellen Kontakte zugleich weniger belastet und stärker idealisiert-- was übrigens auch in umgekehrter Richtung zutrifft Als um 1800 die Rezeption deutscher Literatur verstärkt einsetzt, verblasst das bis dahin herrschende Klischeebild vom barbarischen Norden, und Deutschland wird als Heimat der Natur und des Gefühls zur Projektionsf läche für romantische Konzeptionen Eine französische Vermittlung ist also überall dort zu erwarten, wo italienische Übersetzer deutscher Werke in ihren Vorreden und Kommentaren einen leicht moralisierenden, korrigierenden Ton anschlagen Zum Schluss sei auf die weitreichenden Nachwirkungen dieses Mythos des Nationalcharakters verwiesen, der sich auch noch gegen Ende des 19 Jahrhunderts in den Äußerungen einiger Literaten bemerkbar macht Bezeichnend sind die Ansichten des „guten Europäers“ Friedrich Nietzsche über die verschiedenen Völker Europas 119 , hier durch die Brille des Schweizer Schriftstellers und Biographen Guy de Pourtalès betrachtet, der sie in seiner Monographie Nietzsche en Italie (1929, 176) in der Begriff lichkeit des französischen 18 Jahrhunderts wiedergibt: Résumant en quelques mots ce qu’il pense, lui, le bon Européen, de toutes les cultures qu’il a sondées, labourées, pour essayer d’en tirer un plant unique capable de rajeunir et tonifier la vieille vigne humaine: ‚Le génie anglais, dit-il, rend tout ce qu’il reçoit plus grossier et plus naturel ‚Le génie français délaie, simplifie, logicise, apprête ‚Le génie allemand emmêle, transmet, embrouille, moralise ‚Le génie italien est de beaucoup celui qui a fait l’usage le plus libre et le plus subtil de ce qu’il a emprunté; il y a mis cent fois plus qu’il n’en avait tiré, étant le génie le plus riche, celui qui avait le plus à donner‘ 2.2 Länderspezifische Entwicklung der Konzeptionen vom Übersetzen Die wechselseitigen Vorstellungen vom génie du peuple und vom génie de la langue schlagen sich, wie wir gesehen haben, in der Einstellung der jeweiligen Nationen zur literarischen Produktion der anderen und damit auch in ihrer Übersetzungshaltung dieser Literatur gegenüber nieder, und dies sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht Die in Frankreich vorherrschende Übersetzungshaltung, die für die vorliegende Untersuchung von zentralem Interesse ist, soll in den folgenden Abschnitten noch in detaillierter Form abgehandelt werden Hier sei zunächst nur die historische Entwicklung der Übersetzungskonzeptionen in Frankreich in groben Zügen umrissen Das kulturelle Überlegenheitsgefühl und der damit einhergehende einbürgernde Übersetzungsstil sind in Frankreich während der Hochzeit der belles infidèles vom 17 . bis zu Beginn des 18 . Jahrhunderts besonders ausgeprägt, wobei es zunächst nur um die Behandlung der klassischen Literatur der Antike, dann aber auch um die der zeitgenössischen Literatur der Nachbarnationen geht Mitte des 18 Jahrhunderts, im Kontext des „Rousseauismus“, 119 Zu Nietzsches Europabild vgl Enno Rudolph (2007, 46), der Nietzsche als kritischen Phänomenologen der europäischen Kultur betrachtet, der Europa den Spiegel vorhält <?page no="68"?> I Allgemeines 68 beginnt die Epoche der Vorromantik, in der sich Frankreich verstärkt ausländischer Literatur zuwendet und sich nach und nach verfremdende Übersetzungskonzeptionen durchsetzen Gegen Ende des Jahrhunderts erleben die klassizistischen belles infidèles eine Renaissance, bevor sich schließlich Anfang des 19 . Jahrhunderts die romantische, auf das „Autorgenie“ ausgerichtete und damit eher „wörtliche“ und verfremdende Übersetzungshaltung in Frankreich verbreitet Natürlich dürfen diese Phasen nicht als streng gegeneinander abgegrenzte Epochen verstanden werden, sondern lediglich als mehr oder weniger ausgeprägte Tendenzen- - es existieren stets verschiedene Konzeptionen von Übersetzung nebeneinander Die Entwicklung der französischen Übersetzungskonzeptionen tritt besonders deutlich hervor, wenn man sie im Gegenlicht der zeitgenössischen deutschen Übersetzungstheorie und -praxis betrachtet, zumal sich solche Theorien nicht zuletzt auch in Abgrenzung zueinander herausgebildet haben Dies trifft besonders für Deutschland zu, denn, wie der französische Übersetzungstheoretiker Antoine Berman (1984, 62) zugespitzt formuliert, „[l]a théorie allemande de la traduction se construit consciemment contre les traductions ‚à la francaise‘“ Die deutsche Übersetzungstheorie und -praxis nehmen sich wiederum nicht selten Übersetzer anderer Nationen zum Vorbild . So lobt der italienische Literat Niccolò Tommaseo diese in den höchsten Tönen, indem er sie der französischen Praxis gegenüberstellt: 120 L’ingegno alemanno contempla il bello straniero, lo rispetta; e appunto perciò lo rende in traduzioni, a quel che dicono, felicissime L’ingegno francese non è, di natura sua, né contemplante, né riverente; e perché le altrui cose gli entrino, conviene ch’e’ le raffazzoni a suo modo Quindi le tante infedeli traduzioni che riempion la Francia Die eigene Nation hält Tommaseo für fähiger als die Franzosen, die „natura dei popoli“ zu erkennen und in ihren typischen Zügen wiederzugeben . Auch hierin sind für ihn die deutschen Literaten vorbildhaft, denn sie unterwürfen sich trotz ihrer „treuen“ Übersetzungskonzeption nicht sklavisch dem Literaturgeschmack der jeweiligen Ausgangskultur: „I Tedeschi in ciò sono a noi più nobile esempio: che tutte le letterature amano e prezzano (e la nostra taluni di loro conoscono meglio di noi): ma a nessuna servono colla mente prostrata“ 121 Aus solchen Erwägungen heraus erscheint es sinnvoll, die Geschichte der Übersetzungstheorie in Deutschland während des untersuchten Zeitraumes kurz darzustellen Zentralen Überlegungen sollen dabei sein, in welcher Form sich sprachphilosophische Fragen (wie die grundlegende Frage der Übersetzbarkeit) auf die deutsche Übersetzungspraxis ausgewirkt haben und wie sich die Haltung gegenüber der französischen Übersetzungspraxis in diesem Zeitraum entwickelt Die Anfänge der modernen Übersetzungstheorie sind in der Auf klärung zu verorten, in der ähnlich wie in Frankreich noch traditionelle Auffassungen vom Übersetzen vorherrschen: Die klassische Position in der Nachfolge von Christian Wolffs auf klärerischer Philosophie vertreten in den drei- 120 Niccolò Tommaseo, Dizionario estetico Venezia: Il Gondoliere, 1840, 303 . Zit nach Allegri (1995, 384) 121 Niccolò Tommaseo, Scintille Venezia: Tasso, 1841, 8 Zit nach Allegri (1995, 384) <?page no="69"?> 2 Konzeptionen von Kultur und Übersetzen im 18.-und 19. Jahrhundert 69 ßiger und beginnenden vierziger Jahren des 18 . Jahrhunderts der Leipziger Kreis um Johann Christoph Gottsched und den Übersetzungstheoretiker Georg Venzky sowie der Züricher Kreis um Johann Jakob Breitinger und Johann Jakob Bodmer 122 Sie gehen von der rationalistischen Prämisse einer Äquivalenz des Denkens in verschiedenen Nationen und damit von der Existenz absoluter Synonyme in verschiedenen Sprachen-- und nur dort- - aus: Sprachen sind also prinzipiell übersetzbar . Gibt es aber eine solche sprachübergreifende Vernunft, so kann und muss der Übersetzer in ihrem Namen „Fehler“ im Text korrigieren und „dunkle“ Stellen klären 123 Die Frage der „einbürgernden“ oder „verfremdenden“ Übersetzung stellt sich erst gar nicht, da der besprochene Gegenstand und der Gedanke universal sind 124 Frank (2007, 1576) findet dafür ein eingängiges Bild: And since, in a rationalist view, only the ‚thought content‘ of a word counts, translation is as difficult or as easy as changing Louisdors into Thaler or any other currency The particular clink and the particular face of the coin (…) are not involved in the transaction Venzky greift die traditionelle Metapher der Sprache als Kleid auf, nach der der stets unverändert bleibende Gedanke oder die Bedeutung in verschiedene Sprachen gekleidet werden kann Als Übersetzungszweck gilt ihm nicht mehr das Horazsche aut prodesse aut delectare, sondern die Renaissance-Maxime utile et dulce, also ein „sowohl als auch“ 125 Diese klassische Position geht einher mit einer starken Orientierung an Frankreich So setzt sich Gottsched für ein am französischen Vorbild orientiertes Theater ein und pf legt auch bei seinen Übersetzungen einen eher klassizistisch-rationalisierenden Stil, in der Überzeugung, that a good translation had to be in agreement with the principles of enlightened, normative poetics If the original or source text did not conform with these rules, the translator was duty-bound to improve, expand or abridge The translation had to be a German text, through and through (Kittel/ Poltermann 1998, 421-22) 122 Gottsched erweitert diese klassische Position um den Begriff des Schönen, während Breitinger den Begriff des Wunderbaren einführt Beide Gruppierungen entwickeln sich später in verschiedene Richtungen 123 Diese Position deckt sich mit der Haltung, die den französischen belles infidèles zugrunde liegt: Von dieser Warte aus betrachtet folgen die belles infidèles also keinem „einbürgerndem“ Konzept, sondern stehen im Dienste der universellen, sprachübergreifenden Vernunft Zugleich rechtfertig diese Denkweise die zu jener Zeit in Deutschland verbreitete Praxis der „Sekundärübersetzung“ nach französischer Vorlage, die auch dann angewandt wurde, wenn das Original verfügbar war (vgl Kittel/ Poltermann 1998, 422) 124 Frank (2007, 1576) erklärt das klassische Schema so: „In this scheme, there is, then, the matter behind the thought behind the text; and the least important element is the text“ 125 In ähnlicher Form sprechen die französischen Klassizisten von utilité und goût Nach Konopik (1997, 118) ist der „Nutzen“ an den verfremdenden, das „Vergnügen“ an den einbürgernden Übersetzungsstil geknüpft, wobei gegen diese ausschließliche Zuordnung einzuwenden wäre, dass sicherlich auch mit dem Erleben des „Fremden“ Vergnügen verbunden sein kann, während einbürgernde Eingriffe im Dienste der Moral, wie sie besonders in Frankreich üblich waren, zumindest einen moralischen Nutzen anstreben . <?page no="70"?> I Allgemeines 70 Was ihn und die klassische auf klärerische Position allgemein vielleicht von den französischen Klassizisten unterscheidet, wird besonders anhand der poetischen Übersetzung deutlich: Auch hier will Gottsched nämlich sein Ideal einer natürlichen, klaren und eindeutigen, beinahe nüchtern zu nennenden Sprache verwirklicht sehen . So äußert er sich über die französische Versübersetzung des 18 Jahrhunderts (Gottsched 1733, 153): Denn sie [die Franzosen] haben sich in diesen poetischen Ubersetzungen solcher Weitläufigkeiten und Umschweife bedienen müssen, daß sie mehr ihre eigene Gedanken, als ihren Grundtext darinn ausgedrücket, und also schlechte Ubersetzer geworden, indem sie gute Poeten haben werden wollen In der zweiten Hälfte des 18 Jahrhunderts zeichnet sich dann eine Wende in der Theorie der literarischen Übersetzung ab 126 , die mit einer allmählichen Abwendung von Frankreich und einer Hinwendung zu englischen Vorbildern einhergeht . Auch in der Ideengeschichte emanzipiert man sich im Zuge der Abkehr vom Rationalismus allmählich von der intellektuellen und kulturellen Hegemonie Frankreichs . Mit dem Anbruch der Geniezeit wird die Ästhetik durch das englische Konzept des „Originalgenies“ und damit der unbedingten Autorität des Originals revolutioniert 127 Bedeutendster Gestalter dieses Umbruchs ist Johann Gottfried Herder 128 , der das klassische Postulat der Universalität des Gedankens durch die Historisierung und Nationalisierung des Sprach- (und Übersetzungs-)begriffs in Frage stellt: Kultur und Sprache einer Nation sind abhängig von den jeweiligen örtlichen und zeitlichen Gegebenheiten sowie von den vorhandenen Fähigkeiten Folglich gibt es keinen universellen poetischen Maßstab, wie die Vernunft oder die griechisch-römische Antike 129 , sondern jede Nation muss an ihren eigenen Standards gemessen werden Für Herder ist das Denken also nicht mehr unabhängig von der Sprache: Er vertritt die innovative, später von Humboldt und Schleiermacher fortgeführten These, dass Sprache das Denken bestimmt . Damit wird auch das klassische Postulat der Existenz echter Synonyme zwischen den Sprachen verworfen . Übersetzen ist aber für ihn dennoch möglich, da die Kluft zwischen verschiedenen Sprachen durch die „Einfühlung“ überwunden werden könne Zugleich führt er das Konzept des „Tons“ ein: Eine Übersetzung ist in dem Maße gelungen, wie sie den Ton einer Passage oder den „Hauptton“ des gesamten Werkes trifft . Dabei ist Herders „Ton“ ein integrativer Begriff, der als einziger Aspekt das gesamte Kunstwerk in seinem Wesen beschreibt und Inhalt und Form gleichermaßen umfasst . Es lässt sich also von einer Herderschen Wende von der vernunftzentrierten Übersetzung der Auf klärung hin zur „tonzentrierten“ Übersetzung sprechen Herder richtet den Blick bewusst nicht nach Frankreich, wenn er empfiehlt, zur Bereicherung der eigenen Sprache „von den sinnlichen Sprachen durch Übersetzungen und Nachbilden [zu] borgen“ (Herder 1805, 193), sondern hat vielmehr die englische Dichtung im Sinn 126 Vgl hierzu auch Albrecht 1998, 84-88 127 Eine solche Aufwertung des Originals geht sicherlich auch mit dem sinkenden Ansehen von Übersetzungen einher 128 Zu Herder vgl Costazza 2007, 145-149 129 Diese Problematik erinnert an die französische Querelle des Anciens et des Modernes <?page no="71"?> 2 Konzeptionen von Kultur und Übersetzen im 18.-und 19. Jahrhundert 71 Mit August Wilhelm Schlegel und der von ihm zusammen mit seinem Bruder Friedrich herausgegebenen Zeitschrift Das Athenäum (1798-1800) beginnen sich frühromantische Ideen durchzusetzen Aus Schlegels romantischem Konzept von Dichtung und vom Übersetzen als „organischer Kunstform“ ergibt sich, dass auch „Fehler“ und Unstimmigkeiten des Originals- - das erst jetzt als solches gewürdigt wird- - bei der Übertragung beibehalten werden müssen, denn „[d]as Kunstwerk wollen wir gern vollkommen; den Menschen, wie er ist“ (Schlegel 1962, 86) 130 Darin wendet er sich bewusst gegen die elegante Übersetzung nach französischem Vorbild Mit der „Entdeckung des Originals“ 131 stellt sich erstmals auch die Frage nach einbürgerndem bzw verfremdendem Übersetzungsstil, die in Schleiermachers späterer Formulierung bekannt geworden ist Sein Hauptanliegen, das er am Beispiel der Shakespeare-Übersetzung entwickelt 132 , ist die Beibehaltung des Versmaßes in der poetischen Übersetzung 133 Denn für ihn ist das Metrum nicht bloße Form, sondern Teil der bedeutungstragenden Struktur der Dichtung: Abweichungen könnten sich erheblich auf den Inhalt des Gesagten auswirken Im „poetischen Nachbilden“ sieht er die neue Form der poetischen Übersetzung, allerdings unter der Prämisse, dass alle dichterischen Übersetzungen stets nur unvollkommene Annäherungen sein können 134 Zwischen Tradition und Geniegedanke ist Schlegels Haltung nur schwer einzuordnen, seine Übersetzungskonzeption ist „einbürgernd“ auf der Ebene der Sprache, dabei jedoch „verfremdend“ auf der Ebene der Dichtung Mit Friedrich Schleiermacher setzt sich die frühromantische Ausrichtung der deutschen Übersetzungstheorie fort Auch vor dem politischen Hintergrund der imperialen Machtausweitung Napoleons, der Schleiermacher in seinen Schriften indirekten Widerstand entgegensetzt, ist seine Ablehnung der französischen Übersetzungsmethode zu sehen Sie eigne sich nur für Übersetzungen, die „in zu engen Banden eines klassischen Ausdrukks [sic] gefangen (…), außerhalb dessen alles verwerf lich ist“ (Schleiermacher 1813/ 1963, 56) Auch seine Vision eines neuen Deutschlands als Europas Zentrum der Übersetzung lässt seine ablehnende Haltung Frankreich gegenüber erahnen Die Innovationskraft seiner Abhandlung „Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens“ von 1813 liegt in dem hermeneutischen Ansatz seiner Übersetzungstheorie . Er geht von einer grundlegenden „hermeneutischen Fremdheit“ eines Kunstwerkes aus, bedingt durch die „Zeitgebundenheit“ jeden Schreibens und die Irrationalität der Sprachen selbst, die nur durch das Verständnis des Originals überbrückt werden kann Schleier- 130 In romantischer Manier sieht Schlegel (ebd ) das Kunstwerk als „unwillkürliche[n] Abdruck seines [des Künstlers] inneren Selbst“ 131 Der Begriff ist Poltermann (1987, 14) entlehnt Herder fasst diese neue Instanz unter dem Begriff der ästhetischen Individualität, die sich auf drei Ebenen ausdrückt: a) im einzelnen Kunstwerk, b) in der Individualität des Autors und seines Œuvres, c) in der jeweiligen Nation und Kultur 132 Vgl seinen Essay von 1796, „Etwas über William Shakespeare bei Gelegenheit von Wilhelm Meister“ (Schlegel 1962, 88-122) 133 Die „poetische Übersetzung“ ist ein neues Konzept, das Schlegel in seinem Essay erstmals ausführlich darlegt Vgl Frank 2007, 1593 134 Hinter Schlegels Konzeption von Übersetzung als unendlicher Annäherung verbirgt sich nach Konopik (1997, 191) auch das Postulat der Historizität oder Zeitgebundenheit von Übersetzungen <?page no="72"?> I Allgemeines 72 machers Hermeneutik etabliert damit die Unvollkommenheit des Übersetzers als weitere Distanz schaffende Stufe zwischen „Original“ und Übersetzung, neben der bereits durch die Sprache der Übersetzung vorhandenen Fremdheit 135 Frank (2007, 1602) liefert eine prägnante Definition der Kernthese von Schleiermachers Hermeneutik: Translating is not a rewriting of the source text In terms of hermeneutics, the object-- not the objective-- of translation is the translator’s understanding of the source text Mit den Worten der modernen Übersetzungstheorie hieße dies: Eine Übersetzung ist immer auch eine Interpretation des Originals 136 Hinsichtlich der Übersetzungspraxis macht Schleiermacher (1813/ 1963, 47) in einer auch heute noch prägenden Passage aus seiner Abhandlung zwei streng voneinander zu trennende Haltungen oder Wege 137 aus, die weiter oben mit „verfremdend“ und „einbürgernd“ umschrieben wurden-- wobei er selbst, wie zu erwarten, die erste der beiden vorzieht: Entweder der Uebersetzer läßt den Schriftsteller möglichst in Ruhe, und bewegt den Leser ihm entgegen; oder er läßt den Leser möglichst in Ruhe und bewegt den Schriftsteller ihm entgegen Beide sind so gänzlich von einander verschieden, daß durchaus einer von beiden so streng als möglich muß verfolgt werden, aus jeder Vermischung aber ein höchst unzuverlässiges Resultat nothwendig hervorgeht, und zu besorgen ist daß Schriftsteller und Leser sich gänzlich verfehlen Mit der Herausbildung einer eigenständigen Übersetzungstheorie, die die „verfremdende“ Haltung privilegiert, kehrt sich währenddessen das anfängliche Kräfteverhältnis allmählich um: Die innovativen Impulse gehen nun verstärkt von Deutschland aus, und während der französischen Vorromantik beginnt sich ein Teil von Frankreichs Literaten am deutschen Vorbild zu orientieren 138 Vor dem Hintergrund unseres Untersuchungsgegenstandes, der italienischen Übersetzungspraxis „aus zweiter Hand“, verdient insbesondere die Geschichte der italienischen Übersetzungstheorie Beachtung . Dieses Forschungsfeld ist im Vergleich zur französischen und deutschen Übersetzungstheorie systematisch immer noch wenig erschlossen Pöckl/ Pögl (2003, 1373) begründen das geringe Interesse an italienischen Übersetzungen der Neuzeit, wenn man einmal die Frühzeit bis Boccaccio ausnimmt, mit der Tatsache, 135 Vgl auch Konopik 1997, 202 136 Diese moderne Paraphrase wirft allerdings das Problem der Wertung solcher Interpretationen auf: Während die neuere Übersetzungstheorie doch eher zu einer grundsätzlich neutralen Haltung jeder Interpretation gegenüber neigt, soll nach Schleiermacher ein Erreichen des Originals zumindest angestrebt, werden, d h es gibt ein objektives tertium comparationis, den Text selbst, an dem jede Interpretation zu messen ist 137 Frank (2007, 1600) bezeichnet diese im Englischen treffender als „translational movements“ 138 Dies lässt sich vor allem anhand der Werther-Rezeption in Frankreich belegen Vorbildcharakter sollten die deutschen verfremdenden Übersetzungsstrategien dann wieder im Frankreich des 19 Jahrhunderts bekommen, als dort verstärkt die Werke deutscher Philosophen übersetzt wurden Vgl hierzu Abschnitt 2 .3 .3 .2 dieser Arbeit <?page no="73"?> 2 Konzeptionen von Kultur und Übersetzen im 18.-und 19. Jahrhundert 73 (…) dass die italienische Literatur, nach kurzem Vorspiel im 13 Jh ., schon im Trecento mit der Klassik kulturelle und sprachliche Referenzmodelle zur Verfügung stellen kann und man Übersetzungen in nachklassischen Perioden gewöhnlich keine einschneidenden Innovationen mehr zutraut Einen anderen Grund sehen die Autoren in der questione della lingua, die von der Renaissance bis ins 20 Jahrhundert im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses steht, so dass im Hinblick auf Übersetzungen lediglich danach gefragt wird, welche Varietät des Italienischen verwendet wurde Ein ausführliches Kapitel zur italienischen Übersetzungskultur verspricht allerdings der noch ausstehende dritte Teilband von Harald Kittels Internationalem Handbuch zur Übersetzungsforschung In jedem Fall scheint sich die Forschung im Hinblick auf Italien stärker auf die Praxis als auf die Theorie der Übersetzung, stärker auf das Was als auf das Wie, zu konzentrieren In dieser Hinsicht liefern etwa Albrecht (1998, 295-303) sowie die Darstellung von Riccardo Duranti (1998, 474-484) in Bakers Encyclopedia of translation studies wertvolle Anhaltspunkte Aufgrund der gegenüber anderen europäischen Ländern besonders starken Stellung der Dialekte lässt sich in der italienischen Übersetzungsgeschichte Pöckl/ Pögl (2003, 1374) zufolge das Phänomen beobachten, dass „sich im Lauf der Zeit neben dem ‚hierarchiefreien‘ Übersetzen aus anderen Sprachen ein inneritalienisches Achsenkreuz vertikalen und horizontalen Übersetzens herausgebildet hat“-- also des Übersetzens von einem Dialekt in den anderen oder zwischen Dialekt und Hochsprache Dabei ist die Charakterisierung von Übersetzungen aus anderen Sprachen als „hierarchiefrei“ hier in Abgrenzung zur Übersetzung aus dem Griechischen und Lateinischen zu verstehen Die große Bedeutung der Dialekte in Italien zeugt von einer starken regionalen Untergliederung, die nach Schneiders (1995, 56), der die italienische Übersetzungshaltung mit Blick auf die Übersetzungspraxis der französischen Klassik beleuchtet, dafür sorgt, dass das kulturelle Überlegenheitsgefühl und damit die Praxis der einbürgernden Übersetzung dort weniger verbreitet ist: In Italien, wo es keinen politischen und kulturellen Zentralismus gab und wo man seit Jahrhunderten über klassische Autoren verfügte, war der Zwang zur belle infidèle entsprechend weniger ausgeprägt Allerdings begründet gerade dieses klassische Erbe in Italien ein starkes „literarisches“ Selbstbewusstsein, das sich mit der Herausbildung der am Toskanischen orientierten italienischen Nationalsprache im 16 Jahrhundert verfestigt Die Übersetzungstheorie entwickelt sich dort schon sehr früh am Gegenstand der Übersetzungen aus dem Griechischen und Lateinischen Bereits in den zwanziger Jahren des 15 . Jahrhunderts werden dort mit Leonardo Brunis Traktat De interpretatione recta theoretische Grundlagen etabliert, die Italiens Übersetzungstheorie und -praxis nachhaltig beeinf lussen . Brunis Regeln für die Übersetzung aus den klassischen Sprachen werden auch auf die Behandlung zeitgenössischer Texte aus den Nachbarländern übertragen . Das Augenmerk liegt dabei auf dem Verständnis des „Originals“ und auf der Reproduktion seiner stilistischen, rhythmischen und rhetorischen Charakteristika 139 Während der Renaissance stehen 139 Vgl Duranti 1998, 477 . <?page no="74"?> I Allgemeines 74 dann Übersetzung und Übersetzungstheorie immer stärker im Zentrum des Interesses Das erste bedeutende Übersetzungswerk ist Annibal Caros Fassung von Vergils Aeneis (1563-66), angefertigt nach den damals geltenden Maßstäben einer künstlerischen, sich weit vom Original entfernenden Übersetzung, bei der der „Dichter-Übersetzer“ in Konkurrenz zum Original tritt: Bis zum Romantizismus bleibt dies die Norm für die dichterische Übersetzung Im 18 Jahrhundert nimmt die Übersetzungstätigkeit stark zu, Italien öffnet sich gegenüber einer größeren Zahl an Ausgangssprachen, und die Übersetzer rekrutieren sich nun nicht mehr nur aus den Geistlichen und Gelehrten, sondern aus allen sozialen Schichten Hinsichtlich der Übersetzungshaltung sind zwei Tendenzen auszumachen: Die 1690 in Rom gegründete, einf lussreiche Akademie Arcadia propagiert bei antiken Autoren die unbedingte Autorität des „Originals“ 140 , während die nicht durch eine Akademie geschützte Literatur moderner Sprachen, und hier insbesondere das sehr stark rezipierte französische Theater, in äußerst freier und einbürgernder Manier übersetzt wird (Pöckl/ Pögl 2003, 1379) 141 Hier haben also durchaus die französischen belles infidèles Pate gestanden, und von dieser Haltung bleiben selbst die französischen Klassiker, die doch in Frankreich als Stilvorbild gelten, nicht verschont . So führen Pöckl/ Pögl (ebd ) das Beispiel Corneilles an: Bemerkenswert bei diesem Transfer ist der von qualifizierten Übersetzern wie Baretti oder Paradisi an den Tragödien Corneilles beanstandete Mangel an Erhabenheit, der von ihnen auch konsequent kompensiert wird Durch den Einf luss des Französischen gerät in der zweiten Hälfte des 18 . Jahrhunderts langsam die Vormachtstellung des Lateinischen ins Wanken Mit dem Boom von Übersetzungen aus dem Französischen geht auch eine Zunahme von Übersetzungen aus zweiter Hand über die französische Vermittlung einher 142 , denn „[b]ei der bekannten Reserve der Franzosen gegenüber ausländischen Hervorbringungen gilt eine Übersetzung ins Französische per se als Qualitätsnachweis“ (ebd) . Dies betrifft in erster Linie englische 143 , in geringerem Maße auch deutsche literarische Werke . Die Italiener betrachten ihre Sprache zu dieser Zeit vielfach als dem Französischen überlegenes Medium der Übersetzung, da es über eine freiere Wortstellung verfüge 144 , so dass in Italien das Ideal des ordre naturel nicht Fuß fassen kann Dieses Argument greift Schneiders (1995, 75) auf: 140 Dabei wird Versübersetzungen der Vorzug gegenüber Prosaübersetzungen gegeben Vgl Duranti 1998, 479 141 Stellvertretend für die „freie“ Übersetzung deutscher Literatur sei hier Bertòlas Geßner-Übertragung genannt (vgl Lukoschik 2004, 220) . 142 Zu den italienischen Übersetzungen aus zweiter Hand vgl Abschnitt 2 .3 .4 dieser Arbeit 143 Pöckl/ Pögl (ebd ) führen Fielding und Richardson sowie Thomas Youngs Night Thoughts an und weisen auf den „diskret antifranzösischen Unterton“ hin, den die Übersetzer englischer und deutscher Literatur bisweilen an den Tag legten und der sich gegen den herrschenden Voltaire-Kult richtete 144 Pöckl/ Pögl (2003, 1380) verweisen auf den Vergleich mit formbarem Wachs, der um 1740 noch positiv konnotiert sei, allerdings später von Leopardi auf das „charakterlose“ Deutsche angewandt werde <?page no="75"?> 2 Konzeptionen von Kultur und Übersetzen im 18.-und 19. Jahrhundert 75 Die Freiheit der Wortstellung galt im übrigen als ein Vorteil gegenüber dem Französischen, da sie mehr Möglichkeiten eröffnete, nicht zuletzt im Bereich der Übersetzung Sie [die Italiener] bestritten den Franzosen nicht ihre Behauptung, daß die französische Wortstellung ‚logisch‘ sei; sie sahen aber gerade darin einen Ausdruck von Sterilität und Langeweile ( . . ) Schwarze (2006) sieht in der Abwendung vom Ideal des ordre naturel, die mit einer Hinwendung zur Vielfalt der Sprachen einhergeht, einen Ausdruck des Bestrebens, sich von der kulturellen Hegemonie Frankreichs zu distanzieren Ein sehr moderner Zugang zur Übersetzungstheorie lässt sich bei Übersetzern wie Melchiorre Cesarotti ausmachen, der durch seine direkte, nicht durch das Französische vermittelte Übersetzung des Ossian bekannt geworden ist 1786 bis 1794 legt er zwei italienische Versionen von Homers Ilias vor, um den Erfordernissen des utile und dulce gleichermaßen Genüge zu tun: eine Versfassung („verso sciolto“), die das Lesevergnügen, und eine Prosafassung („volgarizzamento letterale“), die den Nutzen, sprich das vertiefende Studium Homers, in den Vordergrund stellt 145 Zu Beginn des 19 Jahrhunderts verbreitet sich die italienische Kultur geographisch und erreicht auch niedrige soziale Schichten, der Gebrauch des Lateinischen geht zurück, und neben der literarischen Übersetzung gewinnen fachsprachliche Übersetzungen aus den Natur- und Sozialwissenschaften zunehmend an Bedeutung Dabei behalten die französischen Übersetzer solcher Fachtexte meist die ihnen vertrauten rhetorischen Normen bei, wie Pöckl/ Pögl (2003, 1380) betonen: „lexikalische variatio statt eindeutiger Entsprechungen (…), starke Neigung zur ‚aulischen‘ Variante (…) und zu archaisierendem Einschlag (…)“ sind die Regel Zudem ist die Kluft zwischen der englischen und der vom Französischen geprägten italienischen Wissenschaftssprache recht groß, der sehr pragmatischen und schematischen englischen Fachsprache steht der literarische und aulische Stil Italiens gegenüber . Mme de Staël fordert die italienischen Übersetzer in ihrer Abhandlung von 1816 Sulla maniera e utilità delle traduzioni zu einer stärkeren Berücksichtigung zeitgenössischer europäischer Literatur auf, damit Italiens Literatursprache modernisiert werde Damit stößt sie erneut die alte Streitfrage zwischen Classici und Moderni über den Vorrang antiker oder moderner Literatur in Italien an Ein berühmter Gegner der Übersetzung moderner Literatur ist Giacomo Leopardi, der die Überlegenheit des Griechischen gegenüber den modernen Sprachen betont und davon überzeugt ist, nur Dichter könnten Dichter übersetzen Tatsächlich geht die Zahl der Übersetzungen moderner Literatur- - mit Ausnahme der französischen- - im 19 - Jahrhundert wieder eher zurück, während sich antike Texte in italienischer Übersetzung großer Beliebtheit erfreuen Allerdings steht die von Leopardi propagierte philologische Genauigkeit dabei nicht sehr hoch im Kurs . Seine Eneide (Milano 1817) findet bei seinen Landsleuten kaum Beachtung Dagegen legt Vincenzo Monti 1810 in Brescia eine Ilias-Übersetzung vor, der noch lange danach Vorbildcharakter zugeschrieben wird: Im Stil der französischen Klassik wird hier der urtümliche Charakter des 145 L’Iliade d ’Omero recata poeticamente in verso sciolto Italiano dall ’Ab. Melchior Cesarotti. Insieme col Volgarizzamento letterale del Testo in prosa ampiamente illustrato da una scelta delle Osservazioni originali de piu celebri Critici antichi e moderni, e da quelle dell Traduttore . 9 vol . In Padova: nella stamperia Penada, 1786-1794 . <?page no="76"?> I Allgemeines 76 Werkes mit viel deklamatorischem Pomp und geschliffener Sprache den herrschenden literarischen Konventionen geopfert Im patriotischen Klima des italienischen Risorgimento liegt einigen Intellektuellen-- Pöckl/ Pögl (ebd 1381) verweisen auf Carducci-- die klassizistische Literatur näher als ausländische Strömungen, wie die aus England und Deutschland herüberkommende Romantik Vor diesem Hintergrund greifen Schriftsteller wie Ugo Igino Tarchetti zur Methode der „uneingestandenen“ Übersetzung, um romantische Konzepte wie die englische Gattung der gothic novel in Italien einzuführen 146 Zur Übersetzungstätigkeit bleibt festzuhalten, dass in der zweiten Hälfte des 19 Jahrhunderts Übersetzungen aus dem Englischen und Deutschen immer wichtiger werden: Hinsichtlich der englischen Literatur sind dies vor allem die Dramen Shakespeares und die Dichtung Byrons, aus dem Deutschen werden vermehrt philologische und linguistische Texte wie die der Junggrammatiker übersetzt Hinzu kommen erste „Direktübersetzungen“ aus dem Russischen Erst im 20 Jahrhundert entsteht in Italien in Abgrenzung zum isoliert arbeitenden Intellektuellen die moderne Figur des professionellen Übersetzers, der von einem Verlag beauftragt unter ungünstigen Bedingungen Übersetzungen anfertigt Pessimistische Positionen italienischer Intellektueller wie Benedetto Croce und Giovanni Gentile, die die faktische Unmöglichkeit des Übersetzens postulieren, bestimmen in diesem Jahrhundert das herrschende Klima und sorgen wohl auch für die relativ späte Herausbildung der Übersetzungstheorie in Italien Zugleich wird in den dreißiger und vierziger Jahren des Jahrhunderts die Literatursprache revolutioniert: Die ästhetisierende weicht zunehmend einer am nordamerikanischen Vorbild orientierten, nüchternen Sprachhaltung 147 Bleibt zu klären, in welcher Form sich die Übersetzungskonzeptionen der untersuchten Nationen gegenseitig beeinf lusst haben Die französische Übersetzungshaltung der belles infidèles hat sowohl in Deutschland als auch in Italien ihre Spuren hinterlassen: In Deutschland hat sich-- nach anfänglicher Affinität zum französischen Klassizismus während der Auf klärung-- Mitte des 18 . bis zum Beginn des 19 Jahrhunderts mit Hegel, Schlegel und Schleiermacher nicht zuletzt in Konkurrenz zur französischen eine eigenständige, eher verfremdende Übersetzungshaltung herausgebildet, die die Autorität des Originals in den Vordergrund stellt . Dieser deutsche Zugang zur Übersetzung wiederum beginnt sich Anfang des 19 Jahrhunderts in Frankreich durchzusetzen, und einige italienische Literaten ziehen ihn dem französischen Modell vor . In Italien, wo das Augenmerk im 18 Jahrhundert noch stark auf der Übersetzung antiker Klassiker liegt, sorgt das klassische Erbe für ein gefestigtes literarisches Selbstbewusstsein . Was aber die moderne Literatur betrifft, ist Frankreich die wichtigste Quelle, zumal dort bereits während der klassischen Epoche viel aus den Sprachen benachbarter Nationen übersetzt wurde Der Boom von Übersetzungen aus dem Französischen bzw über die französi- 146 Bei Pöckl/ Pögl (2003, 1381) findet sich der Hinweis auf Tarchettis Übersetzung von Mary Shelleys The mortal immortal von 1865 147 Pöckl/ Pögl (2003, 1382) illustrieren diese neue Sprachhaltung mit der Behandlung der Werke Freuds in der Nachkriegszeit, die in Italien komplett und terminologisch genau übersetzt wurden, während dies im zeitgenössischen Frankreich durchaus nicht der Fall gewesen sei <?page no="77"?> 2 Konzeptionen von Kultur und Übersetzen im 18.-und 19. Jahrhundert 77 sche Vermittlung lenkt die Rezeption in zweierlei Hinsicht: Das französische Vorbild bestimmt, was gelesen wird und wie übersetzt wird . Der Erfolg der freien Übersetzung moderner Literatur im Stil der belles infidèles wird in Italien durch den Umstand begünstigt, dass dort bereits seit der Renaissance die weit vom Original entfernte, mit ihm in Konkurrenz tretende „Dichter-Übersetzung“ hoch im Kurs stand Aber auch abweichende Konzeptionen bilden sich in Italien in Abgrenzung zum französischen Vorbild, wie die Debatte um den ordre naturel zeigt 2.3 Die Vermittlerrolle Frankreichs im deutsch-italienischen Kulturaustausch Der besondere kulturelle Stellenwert Frankreichs im Europa des 18 und 19 Jahrhunderts ist bereits in Abschnitt 2 1 deutlich geworden, besonders wenn man das Selbstbild der Franzosen betrachtet, das sich aus einigen der zitierten Übersetzervorreden ableiten lässt Für die Thematik der Übersetzung aus zweiter Hand ist natürlich die kulturelle Vermittlerrolle Frankreichs der entscheidende Faktor . Sie muss im Folgenden zunächst in ihren zentralen Aspekten beleuchtet werden, bevor die länderspezifischen Konzeptionen vom Übersetzen einzeln vorgestellt werden können Die Bedeutung der französischen Sprache soll ebenso skizziert werden wie die zentrale Epoche des französischen Klassizismus, die Hochzeit der belles infidèles Ferner soll der Frage nachgegangen werden, welche Impulse Frankreich aus Deutschland empfangen und wie es diese rezipiert hat Da es oft einzelne Persönlichkeiten waren, die in Frankreich den Austausch mit anderen Kulturen vorangetrieben haben, soll das Augenmerk auch auf prominenten französischen Kulturmittlern wie Mme de Staël und Victor Cousin liegen Schließlich gilt es festzustellen, inwiefern die französische Übersetzungskonzeption als „Folie“ deutschitalienischer Übersetzertätigkeit betrachtet werden kann 2 .3 1 Das Französische als langue universelle Der Grundstein für das besondere Selbstverständnis der französischen Sprache wurde bereits im 17 Jahrhundert gelegt, als sich mit der Herausbildung des Neufranzösischen die Haltung der Franzosen gegenüber ihrer Sprache veränderte: Nicht mehr die humanistische Bereicherung der Sprache, sondern Eigenschaften wie clarté und pureté einerseits und Werte wie Geschmack, bienséance und Moral andererseits stehen von nun an im Mittelpunkt 148 Aus dieser Zeit stammt auch das Idealbild des honnête homme, der sich mit Anstand und Taktgefühl in den Salons und an den Höfen zu bewegen weiß . Mitte des 17 Jahrhunderts gewinnt mit der Verbreitung der cartesianischen Philosophie auch die Rationalität als besondere Tugend des französischen Sprachgebrauchs an Be- 148 Entscheidenden Einf luss auf die Entwicklung des Sprachgebrauchs im 17 Jahrhundert hatte François de Malherbe, dessen lenkende Eingriffe im Dienste der clarté und pureté des Französischen auf dem Gebiet der haute poésie weite Kreise zogen und sich auch auf die Prosaliteratur und die Konversation in den Salons auswirkten Als staatliches Instrument der Sprachlenkung wirkte die 1635 gegründete Académie française mit ihrem wichtigsten Exponenten Claude Favre de Vaugelas <?page no="78"?> I Allgemeines 78 deutung, die sich etwa in der Entwicklung einer Theorie der Universalgrammatik niederschlägt 149 Auch über die Grenzen Frankreichs hinaus ist das Französische die Sprache der Höfe und zugleich die Sprache der Auf klärung und der Vernunft So schreibt Samuel Chappuzeau im Jahre 1650 über den Hof des Landgrafen von Hessen-Kassel mit einiger Verwunderung: „J’ay de la peine a m’imaginer que je suis en Allemagne quand je n’entends parler icy que françois“ 150 Zu Beginn des 18 . Jahrhunderts genießt das Französische gerade in Deutschland großes Prestige, so dass man auch in der Wissenschaft der Frage nach der Verbreitung der französischen Sprache in Deutschland nachgeht Johann Friedrich von Westenholz führt in seiner 1713 erschienenen Jenenser Dissertation academique sur L’Usage de la Langue françoise en Allemagne den Erfolg des Französischen bei den Nachbarvölkern auf die Leistungen Frankreichs auf dem Gebiet der Wissenschaften und der schönen Künste zurück und betont: „nous ne voyons pas d’abord nôtre propre langue capable d’exprimer les choses dont ces Sciences traitent“ 151 Als Auslöser für die Verbreitung des Französischen betrachtet er Kriege und Handelstätigkeit sowie die führende Stellung der Sprache in der Wissenschaft, insbesondere in den Naturwissenschaften und der Medizin, in Literatur, Mathematik, Theologie und Jura . Er sieht das Französische bereits prophetisch als Nachfolger des Lateinischen und stellt fest: „la langue des François (…) s’est introduite & s’introduit encore par sa douceur, par sa beauté, par son utilité, & par sa necessité“ 152 . Für die weitere Festigung des französischen auf klärerischen Einf lusses sorgt im weiteren Verlauf des 18 . Jahrhunderts ein bahnbrechendes Werk, das als Ausdruck des Strebens der französischen Sprache nach Prestige und Universalität gilt und das zugleich für die allgemeine Verbreitung der philosophischen Themen seiner Zeit gesorgt hat, nämlich die umfassende Encyclopédie de Diderot et d’Alembert, aus der weiter oben bereits zitiert wurde Ihre Blütezeit erlebt die Frankophonie in Preußen im 18 . Jahrhundert unter Friedrich II Dies illustriert vielleicht am besten folgende Anekdote über Voltaire, der bei einem Besuch am preußischen Hof in Potsdam am 24 Oktober 1750 an den Marquis de Thibouville schreibt: „Je me trouve ici en France On ne parle que notre langue . L’allemand est pour les soldats et pour les chevaux: il n’est nécessaire que pour la route“ 153 Die französische Sprache ist zur damaligen Zeit der Code der Diplomatie und beginnt das Lateinische als Sprache der Wissenschaft abzulösen . Unter der Ägide Friedrichs II wird auch in der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin das Französische gepf legt, um die Wirksamkeit der Akademie auch über die Grenzen Preußens hinaus zu gewährleisten Diese grenzübergreifende Ausstrahlung der Akademie rechtfertigt eine nähere Betrachtung, zumal sie die allgemeinen geistigen und kulturellen Strömungen in Europa 149 Den Anstoß hierzu gab die Grammaire générale et raisonnée oder Grammaire de Port-Royal von 1660, die später durch Nicolas Beauzée und Etienne Bonnot de Condillac weiterentwickelt wurde Grundidee dieser Grammatik ist das Postulat, die Sprache spiegle in ihren grammatischen Kategorien die logische Abfolge der Gedanken wider und sei daher auf einen übereinzelsprachlichen, „universalen“ Ursprung zurückzuführen Vgl Geckeler/ Dietrich 3 2003, 219 ff 150 Zit nach Kratz 1968, 446 151 Zit nach Storost 1994, 5 152 Zit nach Storost 1994, 5 153 Zit nach Kratz 1968, 446 <?page no="79"?> 2 Konzeptionen von Kultur und Übersetzen im 18.-und 19. Jahrhundert 79 widerspiegelt Unter der Präsidentschaft des französischen Gelehrten Pierre Louis Moreau de Maupertuis richtet sich die Berliner Institution nach dem Vorbild der Pariser Akademie aus, und das Französische wird zur einzigen Verhandlungsspache . Dass die Akademie einer Weltsprache wie des Französischen bedarf, unterstreicht Maupertuis in seiner Rede Des devoirs de l’académicien von 1746: 154 Ce sont la perfection de la langue même, l’abondance que nos progrès dans tous les arts et dans toutes les sciences y ont introduite, la facilité avec laquelle on peut s’y exprimer avec justesse sur toutes sortes de sujets, le nombre innombrable d’excellents livres écrits dans cette langue 1784 stellt die Berliner Akademie die Preisfrage, welche Qualitäten das Französische zur führenden Sprache der internationalen Beziehungen in Europa mache 155 Antoine de Rivarol kann mit seinem Discours sur l’universalité de la langue française den Wettbewerb für sich entscheiden, indem er mit der Logik der Gedankenführung argumentiert, die vor allem an der weitgehend festen Satzstellung des Französischen zu erkennen sei . Die allgemeine Geisteshaltung Frankreichs in dieser Epoche spiegelt sich bereits in der Vorbemerkung zur Erstausgabe von Rivarols Werk (ebd ., unpagin ), die von kaum verhohlenem Nationalstolz zeugt: On sent combien il est heureux pour la France, que la Question sur l’Universalité de la Langue ait été faite par des Etrangers; elle n’auroit pû, sans quelque pudeur, se la proposer elle-même Storost (1994, 278) verweist auf das Kuriosum, dass der Preisträger seine Arbeit mit der Devise Tu regere eloquio populos, ô Galle, memento 156 , angeblich aus dem 5 . Buch der Aeneis, versehen habe Bei genauerer Betrachtung stelle sich aber heraus, dass das Originalzitat bei Vergil laute: Tu regere imperio populos, Romane, memento. 157 Rivarols zentrales Anliegen ist es also, den universalen Geltungsanspruch des Französischen als legitimer Nachfolger des Lateinischen zu betonen, was er gleich zu Beginn seiner Abhandlung (Rivarol 1946, 15) unmissverständlich deutlich macht: „Le temps semble être venu de dire le monde français, comme autrefois le monde romain (…)“ . Einige Zeit nach diesem Concours sieht sich die Berliner Akademie vor die Frage gestellt, in welcher Sprache ihre Mémoires publiziert werden sollen, zumal die Mehrheit der Mitglieder inzwischen Deutsche sind In der 1787 veröffentlichten Untersuchung des Direktors der Philologischen Klasse, Johann Bernhard Merian, in der die in Betracht kommenden Sprachen Lateinisch, Französisch und Deutsch einander gegenübergestellt werden, findet sich eine Apologie des Französischen, aus der hier einige Zeilen zitiert werden sollen, da 154 Abgedruckt 1753 in der Histoire de l’Académie Royale des Sciences et Belles Lettres, 511-521 Zit nach Storost 1994, 11 155 Eine Zusammenfassung der genauen Fragestellung lässt sich der ersten Seite von Rivarols Discours sur l’universalité de la langue française entnehmen, auf der das „Sujet“ vorgestellt wird: „Qu’est-ce qui a rendu la Langue Française universelle? Pourquoi mérite-t-elle cette prérogative? Est-il à présumer qu’elle la conserve? “ (Rivarol 3 1946, 15) 156 Bedenke, Gallier, die Völker mit deiner Beredtsamkeit zu führen (Übersetzung bei Storost 1994, 278) 157 Bedenke, Römer, die Völker unter deiner Herrschaft zu führen (Übersetzung ebd ) <?page no="80"?> I Allgemeines 80 sie die typischen Formeln für den Universalitätsanspruch des Französischen prägnant zusammenfassen: 158 Le François est la langue universelle de l’Europe autant qu’une langue peut l’être Que ce soit à tort ou non, c’est de quoi il ne vaut pas la peine de disputer Il suffit du fait, et de savoir que la place est prise Cette langue se parle, s’écrit, se comprend d’un bout de l’Europe à l’autre Elle est l’instrument de communication le plus général en matiere de commerce, de politique, et même en matiere de Science et de littérature; à quoi elle se prête d’autant mieux que tous les termes des Sciences et des arts y sont déjà naturalisés, et que ceux que la progression des lumieres amenera s’y naturaliseront avec la même facilité, infiniment mieux que dans le Latin et que dans l’Allemand . Aucun Savant ne sauroit plus se dispenser d’apprendre cette langue, s’il veut être au courant de ce qui se passe dans la sphère des connaissances humaines Elle est de plus la langue des Cours, du grand Monde, du beau Monde: un homme bien elevé n’oseroit plus l’ignorer Das Französische sei also in ganz Europa verbreitet als Sprache des Handels, der Politik, der Wissenschaft und Literatur Als Sprache der Auf klärung habe sie Vorrang vor dem Lateinischen und auch vor dem Deutschen Zudem sei sie die Sprache der Höfe und zeuge von Geschmack und guter Erziehung . Dass auch im Italien des 18 Jahrhunderts das Französische in ähnlicher Weise wie in Deutschland Verbreitung gefunden hat, zeigt sich etwa in der Verlagskultur: Gegenüber Ländern wie Deutschland, Russland und den osteuropäischen Staaten haben die meisten italienischen Regionen ein weitaus höheres kulturelles Niveau und ein dementsprechend großes Lesepublikum, so dass zahlreiche französischsprachige Bücher in Italien verkauft und sogar gedruckt werden So gibt es französische Buchhandlungen in Turin, Bologna, Rom, Parma und anderen Städten, und viele italienische Autoren verfassen ihre Werke direkt auf Französisch 159 Die weite Verbreitung des Französischen mag ein Auszug aus einer der Wettbewerbsarbeiten der Akademie von Mantua illustrieren, die in den Jahren 1781/ 83 die folgende Preisfrage stellte: „Qual sia presentemente il gusto delle Belle-Lettere in Italia, e come possa restituirsi se in parte depravato? “ 160 Der italienische Schriftsteller Marchese Ippolito Pindemonte stellt in seiner Abhandlung mit spürbarer Bitterkeit den beträchtlichen Einf luss des Französischen vor allem auf die Literatur seines Landes heraus: 161 La France, nation très puissante, où f leurissent tous les arts et toutes les sciences, donne des lois en matière de littérature et de civilité à presque toute l’Europe Or les Italiens s’habillent, mangent, boivent, j’allais dire dorment à la française Au théâtre, ils entendent des drames français; ils ont sans cesse entre les mains des livres français; enfin ils parlent le français ou une langue franco-italienne, surtout dans les cours, qui pourtant devraient être des écoles de 158 Zit nach Storost 1994, 391 f 159 Stackelberg (2002, 56) führt als Beispiele Galiani, Casanova, Barretti, Goldoni, Algarotti und Verri an 160 Zit nach Hazard 1910, XII ff 161 Französische Übersetzung zit nach Hazard 1910, XII ff Der Titel von Ippolito Pindemontes italienischer Fassung (Pindemonte 1783) lautet: Dissertazione del Sig. Marchese I. Pindemonte, cavaliere gerosolitamo, sul quesito: Qual sia presentemente il gusto delle Belle-Lettere in Italia, e come possa restituirsi se in parte depravato? <?page no="81"?> 2 Konzeptionen von Kultur und Übersetzen im 18.-und 19. Jahrhundert 81 bon langage . Donc, pourquoi tant d’amertume et tant de plaintes sur ce que le goût des lettres françaises inf lue tant sur les lettres italiennes? Ne fut-ce pas aussi notre sort, autrefois? N’estce pas ainsi que va le monde? Je ne dis pas qu’un bon Italien ne doive pas, autant qu’il le peut, endiguer le torrent étranger qui trouble nos f leuves en les grossissant; et sans doute c’est en bon italien que nous-même écrivons ces lignes; mais c’est chose déraisonnable et absurde que de nous reprocher sans cesse notre esclavage, quand nous sommes entraînés dans l’orbite des choses et frappés par l’injustice du sort In Pindemontes Zeilen schwingt die traditionelle Rivalität zwischen der französischen Kultur und der italienischen mit, zumal sich in Italien erst Anfang des 19 Jahrhunderts mit Manzoni eine eigenständige Literatursprache herausbilden sollte 162 Bis dahin ist das Französische auch in Italien prägend, gerade die französischen Dramatiker haben im 18 Jahrhundert stilbildenden Einf luss auf Italiens Bühnen . Auf politischer Ebene wird nicht nur in Italien durch die Machtpolitik Napoleons die Vormachtstellung der französischen Sprache ausgebaut Zugleich werden während der Französischen Revolution im Zuge der Aufwertung des Dritten Standes in Frankreich selbst die Ideale der Reinheit der Sprache vom Adelsstand auf alle französischen Bürger übertragen Mit der Einführung des Code Napoléon im Jahre 1804 entwickelt sich das Französische schließlich zur europäischen lingua franca Wenn auch der Einf luss des Französischen in Europa im Laufe des 19 Jahrhunderts insgesamt zurückgegangen ist und sich in Italien wie auch in Deutschland allmählich der Einf luss der Nationalsprache stärker bemerkbar macht, so hat doch die historische Phase der Vormachtstellung des Französischen die europäische Kultur nachhaltig geprägt und auch Spuren in der Übersetzungspraxis der hier untersuchten Nationen hinterlassen So waren angesichts der weiten Verbreitung des Französischen in zahlreichen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens Kenntnisse anderer Sprachen neben der Landessprache und dem Französischen kaum noch notwendig Entsprechend war in Deutschland und Italien die gegenseitige Kenntnis der Landessprache wenig verbreitet 2 .3 .2 Frankreich als „Maß aller Dinge“: Die belles infidèles und der französische Klassizismus Im Klassizismus gelten die literarischen Modelle Frankreichs in den europäischen Nachbarländern als beispielhaft, und so werden in Deutschland ebenso wie in Italien französische Vorbilder imitiert Vor allem die klassische Form des französischen Dramas, die haute tragédie des 17 Jahrhunderts nach dem Vorbild Molières, Racines oder Corneilles, liefert Stoffe und Modelle für das dramatische Schaffen In der zweiten Hälfte des 18 Jahrhunderts werden die französischen philosophes, wie Voltaire, Diderot oder d’Alembert, sowie wissenschaftliche, wirtschaftliche und politische Schriften französischer Autoren verstärkt rezipiert Während sich von 1650 bis 1800 die französische Kultur und Sprache in Europa verbreitet, wird in Frankreich selbst die Literatur der benachbarten Nationen nur durch den Filter der eigenen, sehr rigiden literarischen 162 Zum Einf luss Manzonis auf die italienische Literatursprache vgl Abschnitt 1 .2 1 dieser Arbeit <?page no="82"?> I Allgemeines 82 Konventionen wahrgenommen 163 Im Zeitalter der Auf klärung bzw . der französischen Klassik, das bis Anfang des 18 Jahrhunderts andauert, in Frankreich befördert von Voltaire und Montesquieu als Vermittler der englischen Auf klärung, werden die Klassiker der Antike 164 ebenso wie Werke zeitgenössischer Autoren durch den Zerrspiegel extrem einbürgernder und eleganter Übersetzungen betrachtet, die bereits im 17 . Jahrhundert mit dem Beinamen belles infidèles bedacht wurden Das Bonmot wurde von Gilles Ménage geprägt 165 und später von Voltaire in seinem Verzeichnis der französischen Autoren des 17 Jahrhunderts der Nachwelt überliefert Ehemals als Kompliment gemeint, wird es schon bald polemisch verwendet und ist seitdem ein gef lügeltes Wort Im Frankreich des ausgehenden 18 Jahrhunderts erleben die fast schon an freie Nachdichtungen grenzenden schönen Ungetreuen eine Renaissance, deren Nachwirkungen sich auch noch im 19 Jahrhundert zeigen Und auch im restlichen Europa wird die französische Praxis der belles infidèles zu jener Zeit mit Vorliebe übernommen oder imitiert 166 Nietzsche betont im Aphorismus „Übersetzungen“ seiner Fröhliche[n] Wissenschaft (1882, 83) 167 , man könne den Grad des „historischen Sinnes“ einer Epoche „daran abschätzen, wie diese Zeit Übersetzungen macht und vergangene Zeiten und Bücher sich einzuverleiben sucht“ Sein berühmter auf die römische Antike gemünzter Ausspruch: „In der Tat, man eroberte damals, wenn man übersetzte“ (ebd ), mit dem er dieser jeglichen Sinn für das Historische absprach, da ihr alles Vergangene und Fremde peinlich sei, ließe sich auf die Übersetzungspraxis der belles infidèles übertragen Ähnlich wie die Römer waren die Franzosen nämlich eine selbstbewusste Kulturnation, die mehr Wert darauf legte, die eigene literarische Kultur „rein“ zu erhalten, als die kulturellen Hervorbringungen anderer Epochen und Nationen zu würdigen . Die eigene kulturelle Überlegenheit gegenüber den Alten wie auch gegenüber den zeitgenössischen Nachbarn wurde stillschweigend vorausgesetzt So trifft auch diese Beobachtung Nietzsches den Nerv der Zeit: „(…) man strich vor Allem den Namen des Dichters hinweg und setzte den eigenen an seine Stelle- - nicht im Gefühl des Diebstahls, sondern mit dem allerbesten Gewissen des imperium Romanum“ (ebd ) Die Franzosen selbst sprechen statt von Eroberung lieber von „freier Übersetzung“: Im Klassizismus steht sie hoch im Kurs, da sie erstens im Dienste der Klarheit und Verständlichkeit steht und zweitens dem Lesevergnügen des Zielpublikums dient . Im Namen von clarté, vraisemblance und plaisir sind korrigierende Eingriffe in das Origi- 163 Das französische Überlegenheitsgefühl dieser Zeit beschreibt Graeber (1990, 172): „Während die Deutschen jede literarische Strömung ihrer Nachbarn als ein über jeden Zweifel erhabenes Gesetz betrachten, haben eben diese Nachbarn von einer deutschen Literatur kaum mehr als eine vage Vorstellung oder, schlimmer noch, sie empfinden Verachtung für sie“ 164 Der bedeutendste Exponent dieses Ansatzes ist Nicolas Perrot d ’Ablancourt (1606-64), der griechische und lateinische Autoren in sehr freier und einbürgernder Form ins Französische übersetzte Vgl Salama-Carr 1998, 411 165 Es bezog sich ursprünglich auf Nicolas Perrot d ’Ablancourts Lukian-Übersetzung von 1654 und war nicht als Kritik, sondern als Verteidigung gegen den Vorwurf der Untreue zu verstehen, der unmittelbar nach der Publikation der Übersetzung erhoben wurde (vgl Schneiders 1995, 10) 166 Vgl Stackelberg 2002, 50 Das Phänomen der belles infidèles ist zu dieser Zeit z B auch in England und Deutschland verbreitet (vgl Albrecht 1998, 80) 167 Elektronische Quelle: http: / / www .textlog .de/ 21254 .html <?page no="83"?> 2 Konzeptionen von Kultur und Übersetzen im 18.-und 19. Jahrhundert 83 nal nicht nur erlaubt, sondern sogar erwünscht, denn schließlich geht es nicht um ein connaître pour imiter, sondern vielmehr um das connaître pour connaître. 168 Gegenüber der Frühzeit der belles infidèles bringt die klassizistische Übersetzungspraxis des 18 Jahrhunderts keine wesentlich neuen Ansätze, sondern führt lediglich die klassische Tradition fort, wie Stackelberg (1992, 23) beobachtet: Abstrahierend, das heißt entkonkretisierend, stilhöhend, verstandesmäßig-klärend, daher explikativ und mehr oder minder elegant, so präsentieren sich die ‚Belles Infidèles‘ des achtzehnten Jahrhunderts äußerlich ähnlich wie diejenigen des siebzehnten-- aber ihre Funktion hat sich doch wieder etwas verändert . Sie ist nun wirklich nur noch stabilisierend, nicht mehr innovierend zu nennen Die Übersetzungspraxis des französischen Klassizismus muss sicherlich von zwei Seiten betrachtet werden Zunächst ist hervorzuheben, dass überhaupt übersetzt und damit die Literatur anderer Nationen rezipiert wird, die zum Teil über Frankreich in ganz Europa Verbreitung findet Besonders Übersetzungen aus dem Englischen sind während des 18 Jahrhunderts beliebt, aber auch einige deutsche und italienische Werke finden Beachtung 169 Auf der anderen Seite wird die Rezeption gelenkt und kanalisiert, und zwar zunächst durch Selektion dessen, was übersetzt wird und was etwa aus Gründen der clarté und bienséance 170 unberücksichtigt bleibt Werden dann literarische Erzeugnisse anderer Länder für wert befunden, sie dem französischen Lesepublikum vorzustellen, so passt man diese durch glättende und moralisierende Eingriffe dem Geschmacksempfinden des heimischen Publikums an Diese Praxis hat die grenzüberschreitende Bekanntheit vieler Werke erst ermöglicht, ihnen aber auch einen französischen Anstrich verliehen und damit ihren „Originalcharakter“ verschleiert . So bleibt mit Stackelberg (1984, 232) festzuhalten: Frankreichs Übersetzer haben zur Weltgeltung mancher Autoren beigetragen, sie haben diesen jedoch manches von ihrer Echtheit genommen, um sie mit mehr Glanz zu versehen Zwischen den beiden Polen der Treue zum Original und der Orientierung am Erwartungshorizont der Leser sind die belles infidèles also sehr nahe am Pol der Lesererwartung anzusiedeln 171 Sie sind stark rezeptionsorientiert und weisen einbürgernde und explikative Tendenzen auf Der Übersetzer greift bei der Zielkultur „fremden“ Elementen 168 Vgl Konopik 1997, 68 169 In diesem Zusammenhang sei an Antoine de Rivarols 1783 erschienene Übersetzung von Dantes Divina Commedia erinnert, ganz entgegen der herrschenden Auffassung in verfremdender Manier übertragen, mit der sich Rivarol auch um die Entwicklung der eigenen Sprache verdient gemacht hat Vgl dazu Wuthenow 1969, 152 170 Graeber (1990, 15) zählt zu den Topoi der klassizistischen Übersetzungshaltung bon goût, délicatesse, esprit exact, clarté und décence Décence und bon goût fasst Konopik (1997, 30-31) zum style noble zusammen 171 Allerdings ist hier auch Graebers Einwand (1990, 11) gerechtfertigt, der zu bedenken gibt, dass die belles infidèles zwar nicht gegenüber dem Original als solchem, aber sehr wohl seinem Kunstcharakter (in klassizistisch-normierendem Verständnis) gegenüber „treu“ sein wollten <?page no="84"?> I Allgemeines 84 des Textes glättend ein-- sei es, weil sie dem bon goût zuwiderlaufen oder sonst in irgendeiner Form das Verständnis oder den Lesef luss stören-- und erläutert Passagen, die dem Gebot der clarté nicht genügen Solch weitreichenden Eingriffe des Übersetzers erklären sich dadurch, dass der heute übliche Begriff des Originals sich erst mit Auf kommen der Vorromantik in Europa um die Mitte des 18 Jahrhunderts entwickelt hat 172 Hinzu kommt, dass der Übersetzer selbst häufig Schriftsteller ist und sich den herrschenden literarischen Normen seines Landes verpf lichtet sieht Der gelehrte Dichter des 17 . und frühen 18 Jahrhunderts wird von hauptberuf lich schreibenden Männern und Frauen abgelöst Im Hinblick auf den Erwartungshorizont der Leser ist natürlich auch die Frage nach der Beschaffenheit dieser Leserschaft zu klären . Während im 17 Jahrhundert das höfische und adlige Mäzenatentum weit verbreitet ist, der Übersetzer also seine Leser genau kennt, entsteht im 18 Jahrhundert mit dem Aufstieg des Bürgertums allmählich ein neues Publikum Der Übersetzer wird zum freien Schriftsteller, der im eigenen Namen schreibt und dabei kein eindeutig bestimmbares Publikum mehr vor Augen hat 173 Um der Lesererwartung entgegenzukommen, wird im französischen Klassizismus die Übersetzervorrede als wichtiges Instrument genutzt, das häufig auch die Funktion der Widmungsepistel aus der Zeit des Mäzenatentums übernimmt: Man will dem Leser schmeicheln und um seine Gunst werben Der geschickte Appell an den literarischen Sachverstand des bürgerlichen Lesers bewirkt Graeber (1990, 13) zufolge ein Gefühl der„kulturellen Nobilitierung“ Dabei soll weniger dem Autor und seinem Werk, sondern vielmehr der französischen Sprache und Kultur ein Dienst erwiesen werden 174 Das génie de la langue steht also im französischen Klassizismus klar über dem génie de l’auteur, das erst mit dem Auf kommen der Vorromantik an Bedeutung gewinnt Dennoch enthalten die klassizistischen Übersetzervorreden immer auch eine Apologie von Originalwerk und -autor, um deren Auswahl dem Publikum gegenüber zu rechtfertigen-- insbesondere, wenn der Autor einer Nation mit geringem literarischen Ansehen in Frankreich angehört Natürlich ist auch die Übersetzungskonzeption häufig Gegenstand der Vorrede, und dabei stehen die bekannten Kriterien clarté und bon goût im Vordergrund . Weiter oben wurden bereits einige Übersetzervorreden zitiert, deren Verfasser solche Kriterien zur Maxime ihrer Übertragung gemacht haben 175 Abschließend sei ein Auszug aus Perrot d’Ablancourts Vorrede zu seiner berühmten Lukian-Übersetzung aus dem Jahr 1654 176 angeführt, an der sich die Polemik um die belles infidèles ursprünglich entzündete und die wie andere Übersetzungen aus der Feder d’Ablancourts stilbildend war Die Vorlage für die einbürgernde, elegante Übersetzung d’Ablancourts bildet ein Klassiker der römischen Antike, es handelt sich also um eine „vertikale“ Übersetzung, und der Übersetzer bezieht in seiner Vorrede vor allem Stellung in der Querelle des Anciens et des Modernes Für freie Übersetzungen zeitgenössischer Autoren werden jedoch im 17 . und auch noch im 18 und frühen 19 Jahrhundert ganz ähnliche Argumente ins Feld geführt, 172 Vgl hierzu Schneiders (1995, 133) 173 Zur Konstitution der Leserschaft vgl Stackelberg 1972, VII 174 Vgl Graeber 1990, 16 175 Siehe hierzu die in Abschnitt 2 1 dieses Teils der Arbeit zitierten Passagen aus der Vorrede des Comte de Sainte-Aulaire zu seiner Faust-Übersetzung 176 Zit nach der Neuauf lage von 1664: Lucien 1664, 7; 16 <?page no="85"?> 2 Konzeptionen von Kultur und Übersetzen im 18.-und 19. Jahrhundert 85 so dass das Zitat sehr wohl stellvertretend für die grundlegende Übersetzungshaltung der belles infidèles stehen kann: Tout ce qu’on peut dire contre moy, se peut raporter à deux Chefs, au Dessein & à la Conduite Car les uns diront qu’il ne faloit pas traduire cet Auteur, les autres, qu’il le faloit traduire autrement Ie veux donc répondre à ces deux objections, après auoir dit quelque chose de Lvcien, qui seruira- à ma iustification, & qui fera mieux voir les raisons que i’ay euës de le traduire Il y a beaucoup d’endroits que i’ay traduits de mot-à mot, pour le moins autant qu’on le peut faire dans vne Traduction élegante; il y en a aussi où i’ay consideré plûtost ce qu’il faloit dire, ou ce que ie pouuois dire, que ce qu’il auoit dit, à l’exemple de Virgile dans ceux qu’il a pris d’Homère et de Théocrite . Mais ie me suis resserré presque par tout, sans descendre dans le particulier, qui n’est plus de ce temps cy D’Ablancourt führt also das Vorhaben und die Durchführung als zentrale Aspekte seiner Apologie an Er kündigt an, zunächst seine Entscheidung für den klassischen Autor Lukian und dann seine Übersetzungskonzeption begründen zu wollen . Was seine Übersetzungshaltung betrifft, lassen sich im Wesentlichen drei Beobachtungen machen: Auffällig ist zunächst die Betonung des „wörtlichen“ Übersetzungsstils, die aber sogleich durch den Hinweis auf die Erfordernisse der „eleganten“ Übersetzung relativiert wird . Es folgt ein Hinweis auf korrigierende Eingriffe im Dienste der bienséance, des „ce qu’il faloit dire“: Der Verweis auf Vergil zeigt, dass die Verfasser der belles infidèles selbst sich die römische Übersetzungspraxis zum Vorbild nahmen-- d’Ablancourt hätte also wohl Nietzsches karikierendem Bild von der Übersetzung als Eroberung zugestimmt Der dritte Aspekt betrifft die viel zitierte clarté, die bisweilen Kürzungen und Abstrahierungen, aber auch Eingriffe in die Makrostruktur des Textes notwendig macht: Mangelnde Klarheit wird nicht nur den antiken Autoren, sondern auch zeitgenössischen Schriftstellern anderer Nationen unterstellt Die Vorrede d’Ablancourts entspricht in ihren Grundzügen dem Auf bau vieler Übersetzervorreden des französischen Klassizismus Wie sich solche Absichtserklärungen allerdings tatsächlich im Text der Übersetzung niederschlagen, ist eine ganz andere Frage Gerade dem Postulat der „wörtlichen“ Übersetzung unterliegt ein recht dehnbarer Begriff, und seine Umsetzung wird in der konkreten Übersetzung schwer nachzuweisen sein Hier ist Graeber/ Roche (1988, 18) beizupf lichten, die die immer wieder beobachtete Diskrepanz zwischen den Angaben der Übersetzer und dem tatsächlichen Charaker der Übersetzungen betonen: Wie Frankreichs Übersetzer vom 16 . und 18 . Jahrhundert über ihr Handwerk gedacht haben, kann als hinreichend bekannt gelten-- aber was sie wirklich gemacht haben, ist damit noch lange nicht gesagt 2 .3 .3 Die Rezeption deutscher Impulse in Frankreich und ihre französischen Wegbereiter Die französische Kultur hat aber nicht nur die Literatur anderer Nationen geprägt und nach ihren Vorstellungen und Bedürfnissen geformt, sie wurde auch selbst durch die Rezeption fremder literarischer Erzeugnisse beeinf lusst . Nach der Hochzeit der Einf luss- <?page no="86"?> I Allgemeines 86 nahme Frankreichs in der französischen Klassik beginnen sich mit der europaweiten Entstehung der Vorromantik um die Mitte des 18 . Jahrhunderts Impulse aus anderen Ländern im französischen Kulturbetrieb bemerkbar zu machen . Erstmals sind es die Länder Nordeuropas, die literarische Neuerungen liefern und damit die traditionell anerkannte kulturelle Überlegenheit Frankreichs und anderer romanischer Länder, allen voran Italien, in Frage stellen Schneiders (1995, 5) schildert die Befindlichkeit der Mittelmeerländer zu dieser Zeit: Für die romanischen Länder ist der Umbruch im sprachlich-literarischen Bereich beunruhigend und schmerzlich Die fortschrittlichen Impulse kommen zum ersten Mal von Völkern außerhalb des Mittelmeerraumes, von den Engländern und den Deutschen, Völkern also, deren Kultur man bis dahin nicht für beachtenswert gehalten hatte Der Mittelmeerraum hört auf, die Wiege der Kultur schlechthin zu sein, und die Identifikation mit einer antiken und mediterranen Welt wird zunehmend problematisch In Frankreich erleidet das Nationalgefühl die zusätzliche Kränkung, dass sich in Europa allgemein die Auffassung verbreitet, „die französische Sprache sei nicht poetisch und folglich von Natur aus ungeeignet, den Reiz fremder Dichtung wiederzugeben“ (Graeber 1990, 173) Zunächst werden besonders englischsprachige Dichter und Romanschriftsteller rezipiert und übersetzt, wobei ein besonders reges Interesse den Werken Shakespeares gilt Ein Wegbereiter der englischen Literatur ist der Übersetzer Pierre-Félicien Letourneur, der neben Shakespeare auch Youngs Night Thoughts und die Ossian-Gesänge in Frankreich salonfähig macht 177 Weitere in dieser Hinsicht tonangebende Persönlichkeiten sind Diderot und Voltaire, wobei Voltaires Shakespeare-Bild immer noch eher der klassizistischen Geisteshaltung zuzurechnen ist 178 Ab etwa 1760 rücken auch deutsche Schriftsteller verstärkt in den Blickpunkt, die im Gegensatz zu englischen und anderen fremdsprachigen Autoren noch bis zur Jahrhundertwende eher in freier Manier übersetzt werden Angesichts der sich sehr schnell vollziehenden Entdeckung Deutschlands als Literaturland spricht Graeber (1990, 172) gar von einer regelrechten Deutschlandmode während des letzten Jahrhundertdrittels Als sich zu Beginn des 19 . Jahrhunderts die literarische Strömung der Romantik in Europa ausbreitet, macht sich vornehmlich der Einf luss der deutschen Philosophie auf das französische Geistesleben bemerkbar, was eine allmähliche Zunahme der „wörtlichen“ gegenüber der „freien“ Übersetzungshaltung zur Folge hat Die Entwicklungen im Bereich der Schönen Literatur und der Philosophie müssen zwar grundsätzlich im Rahmen des allgemeinen kulturellen Umbruchs im Zeichen der Romantik betrachtet werden, sie sollen im Folgenden aber der besseren Übersichtlichkeit halber getrennt behandelt werden 177 Vgl hierzu Albrecht 1998, 84 f 178 Während Voltaire Shakespeare zunächst noch in einbürgernder Manier übersetzt, sind seine späteren Versionen eher verfremdend, was besonders an seinen zwei Übersetzungen des Hamlet-Monologs zutage tritt Albrecht (1998, 84 f ) betont, dass beide Übersetzungen eher aus einer Haltung der kulturellen Überlegenheit heraus zu verstehen seien, zumal Voltaire mit seiner „ungeschönten“ Version beabsichtige, die inzwischen herrschende „Anglomanie“ in Frankreich zu dämpfen <?page no="87"?> 2 Konzeptionen von Kultur und Übersetzen im 18.-und 19. Jahrhundert 87 2.3.3.1 Die literarische Romantik (Mme de Staël) Mit Jean-Jaques Rousseaus 1761 erschienenem Briefroman La Nouvelle Héloïse bricht in Frankreich eine neue literarische Ära an: Ganz im Zeichen der Vorromantik stehend, ist der Roman eine Absage an den regel- und vernunftbetonten Klassizismus und macht den Weg frei für neue Konzeptionen von Literatur und Übersetzen, die Originalität und Innovationskraft den Vorrang vor klassischer Regeltreue einräumen . Auf dem Gebiet der Übersetzungskonzeptionen vollzieht sich in der Vorromantik langsam eine „Wende“, die bis in die Romantik hineinreicht und ihren Ursprung in Deutschland hat, wo eher originalgetreue Übersetzungen schon immer höher im Kurs standen 179 Dies äußert sich u a in einer Phase der Neuübersetzungen in Frankreich, wobei der neue Treuebegriff zu werbewirksamen Titelzusätzen wie „traduction“ oder „traduit de“ führt 180 Poetische Texte werden nun häufig parallel in Vers- und in Prosaform übersetzt, und die Prosaübersetzung entwickelt sich zu einer eigenen literarischen Gattung 181 In der Literatur verliert der strenge klassizistische Regelkanon an Bedeutung und das Interesse für fremde Autoren nimmt zu Es rücken vornehmlich „Importe“ aus dem angelsächsischen Sprachraum in den Blickpunkt 182 , aber auch deutsche Werke gewinnen in Frankreich ein breites Lesepublikum Ein Paradebeispiel ist der Erfolg von Goethes Werther, der 1776 in der französischen Übersetzung des Schweizers Georges Deyverdun erscheint . Im Kielwasser des Rousseaukults, der das französische Publikum für diese Art Literatur erst aufnahmebereit macht, löst dieser eine regelrechte „Werther-Schwärmerei“ aus 183 Die erste Fassung aus der Feder eines Franzosen, Aubrys Übersetzung von 1777, findet in Frankreich großen Anklang, obwohl-- oder vielleicht gerade weil-- sie noch der klassizistisch-moralisierenden Manier verhaftet ist In der vorangestellten Lettre de M. *** au traducteur findet sich die folgende Beurteilung von Goethes Roman: Le héros de ce roman, ou plutôt de cette histoire, est un fou bien à plaindre; & l’ivresse de sa passion le fait déraisonner d’une maniere étonnante ( . . ) et qui, par les excès où il la porte, est bien capable d’inspirer l’horreur de ces excès, & de mettre en garde contre les suites d’une passion si violente, quand on s’y livre tout entier, & qu’elle affecte une tête naturellement aussi vive que celle du jeune Werther (pp xxxvi-xxxvii) ( . . ) je pense qu’il sera très-agréable pour le style, très-touchant par les situations, & très-utile par l’horreur & la pitié qu’il inspire (pp xxxviii-xxxix) 179 Besonders Albrecht (1998, 85) verweist auf diesen Zusammenhang Von der Wende hin zum modernen Übersetzen sprechen etwa Georges Mounin (1967, 42 ff ), Kloepfer (1967, 45 f ) oder Krauss (1977, 12) . Vgl hierzu auch Abschnitt 2 .2 dieses Teils der Arbeit 180 Vgl Konopik 1997, 83 Es werden im Übrigen auch klassische Autoren wie Vergil, Homer oder Aristoteles im Geiste einer historisch-entfremdenden Übersetzungskonzeption neu übersetzt 181 Vgl Salama-Carr 1998, 413 182 Stackelberg (2002, 49) zufolge macht die „Welle“ der Übersetzungen aus dem Englischen während der Auf klärung in Frankreich den Löwenanteil der literarischen Übersetzungen im 18 Jahrhundert aus 183 Zur Werther-Rezeption vgl Konopik (1997, 76), die auf die konträren Reaktionen von Publikum und Kritik hinweist: Der ablehnenden Haltung der Kritiker, die ästhetische und moralische Vorbehalte haben, stehe ein begeistertes Lesepublikum gegenüber <?page no="88"?> I Allgemeines 88 Dies legt zumindest den Schluss nahe, dass Aubry den Werther so übersetzt hat, dass der Held als abschreckendes Beispiel gelten kann . Kritiker suchen in dem Briefroman des Sturm und Drang also nach wie vor die clarté und bienséance, die sie von klassizistischen Werken gewohnt sind Diese Beobachtung lässt sich auch auf die Rezeption anderer deutscher Autoren ausdehnen, die dem französischen Lesepublikum angesichts fehlender Übersetzungstradition aus dem Deutschen fremder erscheinen als die englischen und daher nach wie vor eher einbürgernd übersetzt werden . Besonders fremd muten die naive Gefühlsentfaltung, die Vorliebe für detaillierte Naturschilderungen und die fehlende Beschränkung auf das Wesentliche an 184 Der „Konf likt zwischen französischer Regeltreue und Sprachkultur einerseits und der Bewunderung für das freie, durch keine Regeln gehemmte Genie fremder Autoren andererseits“ (Graeber 1990, 19) bewirkt, dass in Frankreich noch mindestens bis zur Jahrhundertwende freie und treue Übersetzungen nebeneinander existieren und oft sogar ein und dasselbe Werk in freier und in treuer Übersetzung ein Publikum findet 185 Die auf kommende Romantik hat nämlich in Frankreich einen durchaus anderen Stellenwert als in Deutschland, da hier die Ausgangsbedingungen ganz andere sind: Im 18 Jahrhundert besitzt Frankreich bereits eine einheitliche Nationalsprache und eine homogene, prestigeträchtige Nationalliteratur, die in der Klassik ihren höchsten Ausdruck gefunden hat Das von England und Deutschland ausgehende neue Literaturideal und die Geniebewegung der Vorromantik bedrohen gewissermaßen seine kulturelle Vormachtstellung, zumal von Frankreich selbst-- wenn man einmal von Rousseau absieht-- kaum innovative Impulse ausgehen 186 In den gegensätzlichen literarischen Traditionen der beiden Länder liegt Wuthenow (1969, 154) zufolge auch ihr unterschiedlicher Umgang mit fremden Einf lüssen begründet: Dem Fertigen, Abgeschlossenen und Vollendeten der französischen Literatur, ihrer Kontinuität und ihrem Traditionszusammenhang steht das Unfertige, Widerspruchsvolle, kurzfristig-Wirkende, Ungesicherte, von keiner festen Traditionsfolge Geprägte der deutschen Literatur gegenüber, die als solche in ihrer tiefsten Tendenz geradezu antiklassisch heißen könnte . Die wiederholte Aufnahme vielfältig-fremder Elemente, dies noch unter Bewahrung ihres fremdartigen Charakters, ist für sie ein unverwechselbares Kennzeichen, wohingegen die französische Literatur auf der Basis ihrer lateinisch-humanistischen Tradition nicht etwa weniger rezipiert, sondern über Epochen hinweg das fremde Kunstwerk zu sich herüber gezogen und gleichsam erobernd eingebürgert hat Angesichts der vorherrschenden klassizistischen Tendenzen trägt die französische Romantik, die ihren Durchbruch im Jahr der Julirevolution 1830 feiert, geradezu revolutionäre Züge 187 Goethes Werther wird Anfang des 19 Jahrhunderts schließlich zum 184 Vgl Graeber 1990, 173 185 Vgl Konopik 1997, 84 186 Vgl Konopik 1997, 212-213 187 Zur Sonderstellung der französischen Romantik führt Wuthenow (1969, 158) eine Bemerkung von E R . Curtius an: „Die französische Romantik ist von allen anderen dadurch unterschieden, daß sie eine bewußte Antiklassik ist Romantik und Klassik stehen sich in Frankreich gegenüber wie Revolution und Ancien Régime“ <?page no="89"?> 2 Konzeptionen von Kultur und Übersetzen im 18.-und 19. Jahrhundert 89 zentralen Bezugspunkt der französischen Romantiker, die sich an der deutschen Geniebewegung orientieren und diese im Werther mehr noch als in den klassischen Vertretern Novalis, Tieck oder Wackenroder verkörpert sehen 188 Zu den Bewunderern des Werkes gehört auch Mme de Staël (1836, 18), die in ihrer viel zitierten Abhandlung De la littérature eine Eloge auf Goethes Briefroman hält: Le livre par excellence que possèdent les Allemands, et qu’ils peuvent opposer aux chefsd’œuvre des autres langues, c’est Werther Wie groß der Einf luss des Werther in Frankreich ist, lässt sich anhand der Übersetzungsgeschichte- ermessen: Nach insgesamt vier Übersetzungen im 18 Jahrhundert erscheinen Anfang des 19 Jahrhunderts weitere drei Fassungen . Aber auch der Faust findet in der 1828 in Paris erschienenen Übersetzung von Gérard de Nerval großen Anklang, und erneut wirkt Mme de Staël mit ihrem Traktat De l’Allemagne von 1814 189 als Wegbereiterin der romantischen Rezeption des Werkes Der kaum zwanzigjährige Nerval wird durch die Übersetzung über Nacht berühmt und bringt später weitere Fassungen des Faust I sowie eine Übersetzung des Faust II heraus Seine Faust-Übersetzung ist für die französische Romantik von weitreichender Bedeutung, zumal sie 1830 von Berlioz sehr erfolgreich vertont wird 190 Aber auch seine Übersetzungen von Werken Klopstocks, Schillers und Heines haben viel zur Verbreitung deutscher Literatur unter der französischen Leserschaft beigetragen 191 Neben Goethe ist vor allem E T A Hoffmann ein zentraler Impulsgeber der französischen Romantik, ja beide Schriftsteller können in Frankreich kaum losgelöst voneinander betrachtet werden, wie etwa Hübener (2004, 3-4) betont: Die zeitlich nahe beieinander liegenden Übersetzungen von Goethes Faust und Hoffmanns Werken in Frankreich führt offenbar zu einer Assoziierung beider Autoren, zu einer literarischen Chimäre, wenn man so will, die eine fruchtbare künstlerische Nachkommenschaft zeitigt So ist der Goethe-Übersetzer Nerval in seiner eigenen Dichtung stark von Hoffmann beeinf lusst und bringt auch eine seiner unveröffentlichten Erzählungen in französischer 188 Vgl hierzu Cheval 1948, 261 sowie Giersberg 2003, 23 189 Nachdem er unter Napoleon verboten war, erschien der Traktat erst 1813 in London und im Mai 1814 in Paris 190 Vgl Hübener 2004, 3 f Berlioz’ 1832 veröffentlichtes Opus I, die Huit scènes de Faust, gehen auf Nervals Übersetzung zurück Der fünfte Satz seiner 1830 aufgeführten Symphonie fantastique bezieht sich ebenfalls auf den Faust-- er war ursprünglich für eine Faust-Symphonie gedacht In seinen Mémoires schreibt Berlioz (1991, 148): „Je dois encore signaler comme un des incidents remarquables de ma vie, l’impression étrange et profonde que je reçus en lisant pour la première fois le Faust de Goethe, traduit en français par Gérard de Nerval Le merveilleux livre me fascina d ’abord; je ne le quittais plus; je le lisais sans cesse, à table, au theatre, dans les rues, partout“ 191 Zur Rezeption deutscher Literatur in Frankreich vgl Albrecht (2003, 1398), der den impulsgebenden Einf luss von Übersetzungen aus dem Deutschen auf das literarische Leben und die Entstehung neuer Diskurstraditionen unterstreicht <?page no="90"?> I Allgemeines 90 Übersetzung heraus 192 In seinem berühmten Ausspruch aus einem Brief an den Verleger des Messager von 1838 erscheint Deutschland als dichterisches Land der Romantik, in dem auch die französischen Romantiker ihre Heimat erkennen: „Il y a l’Allemagne! la terre de Goethe et de Schiller, le pays d’Hoffmann; la vieille Allemagne, notre mère à tous! “ 193 Auch hier wieder werden Goethe und Hoffmann in einem Atemzug genannt Eine weitere zentrale Figur der französischen Romantiker-Rezeption ist Schiller, dessen Dramen in Frankreich aufgrund ihres neuen Geistes, ihres idealistischen Strebens nach Toleranz und Menschlichkeit und nach Reformierung des politischen und sozialen Lebens der Völker mit Autoren wie Rousseau, Voltaire, Montesquieu und Diderot in Verbindung gebracht werden 194 Das Überschreiten künstlerischer Gattungsgrenzen-- ein Kennzeichen der Romantik, wie bereits anhand der Faust-Rezeption deutlich wurde-- sehen insbesondere französische Künstler in dem Dichter, Maler und Musiker E T A . Hoffmann beispielhaft verkörpert Auch in der französischen Hoffmann-Rezeption findet ein Verwischen der Gattungsgrenzen statt, indem sich Maler wie Eugène Delacroix 195 und Komponisten wie Hector Berlioz von seinen Werken inspirieren lassen Ein eingängiges Bild der Aufnahme Hoffmanns in Frankreich zeichnet Hübener (2004, 2): Hoffmann, der in Deutschland noch bis ins 20 Jahrhundert vor allem als ‚Gespenster-Hoffmann‘ einem größeren Publikum bekannt und als Almanachdichter womöglich unter Trivialitätsverdacht gestellt ist, eilt sein Ruf als Dichter des Phantastischen in Frankreich schon voraus, bevor er nach ersten Übersetzungen ab dem Jahre 1828 seinen vollen literarischen Triumph (…) feiert . Als Person wie als Schöpfer seiner Erzählungen zu Kunst und Künstlertum übt er auf die Generation der französischen Romantiker eine große Faszination aus, die noch bis zu Baudelaire reicht . Sein Werk, das unter dem Titel Contes fantastiques erscheint, stellt ein literarisches Pf lichtprogramm der dreißiger Jahre in Frankreich dar . 196 Mit den ersten Übersetzungen beginnt auch die dichterische Rezeption Hoffmanns in Frankreich Im Kreise des petit cénacle, der zweiten Generation junger romantischer 192 Vgl Nerval: „Les Aventures de la nuit de Saint-Sylvestre Conte inédit d’Hoffmann“ [Üb .-Fragment] Le Mercure de France au dix-neuvième siècle 1831, 34, 546-553 193 G D [Gérard de Nerval], „Variétés/ La ville de Strasbourg/ À M B******“. Le Messager, 02 10 1838 Zit nach Hübener 2004, 152 194 Vgl Genton 1985, 117 f . zur Rezeption der Sturm und Drang-Autoren in Frankreich Mit Schillers Wallenstein, der 1809 in der Übersetzung von Benjamin Constant erscheint, beginnt sich auch die französische Bühne dem deutschen Theater zu öffnen- - allerdings handelt es sich hier noch keineswegs um eine „verfremdende“ Übersetzung, sondern, wie Stackelberg (1972, 92) betont, um eine an den französischen Publikumsgeschmack angepasste belle infidèle. 195 Delacroix fertigte u a auch Illustrationen zu drei von Hoffmanns Erzählungen, nämlich Ritter Gluck, Don Juan und Die Jesuiterkirche in G ., die Teil eines ursprünglich geplanten größeren Projektes zur Illustration von Hoffmanns Werken waren Aber auch Lithographien zu Goethes Faust gehören zu seinem graphischen Werk, worin erneut die enge Assoziierung von Hoffmann und Goethe in der französischen Romantik zum Ausdruck kommt Vgl Hübener 2004, 195 f .; 243 f 196 Die Contes fantastiques, deren Titel auf Hoffmanns gesamte Werke und nicht etwa nur auf die Fantasiestücke in Callots Manier bezogen ist, erscheinen in Frankreich erstmals im November 1829 (vgl Hübener 2004, 74) Auf die französischen Übersetzungen der Werke Hoffmanns soll im dritten Teil dieser Arbeit noch näher eingegangen werden <?page no="91"?> 2 Konzeptionen von Kultur und Übersetzen im 18.-und 19. Jahrhundert 91 Dichter, zu dem u a Gérard de Nerval und Théophile Gautier gehören, gilt er als literarisches Vorbild, und auch das Werk Honoré de Balzacs ist von Motiven und Erzähltechnik Hoffmanns beeinf lusst Während der romantischen Ära tritt die Schriftstellerin, Kritikerin und Übersetzerin Mme de Staël als Mittlerin deutscher Literatur- und Übersetzungskonzeptionen in Europa und insbesondere in Frankreich auf Dabei sind es vor allem drei ihrer Publikationen, die in Frankreich und Italien für Aufsehen sorgen: Ihr 1821 in Frankreich erschienener Aufsatz De l’Esprit des traductions behandelt die deutsche Übersetzungspraxis, während die Traktate De la Littérature (1800) und De l’Allemagne (1814) die englische und deutsche Literatur als Bereicherung des sterilen französischen Literaturbetriebs empfehlen und damit die Romantik in Frankreich salonfähig machen Der schwerpunktmäßigen Erkundung englischen Literaturschaffens in De la Littérature folgt ein Jahrzehnt später die Beschäftigung mit Deutschland In De l’Allemagne stellt sie der herrschenden Auffassung gemäß Frankreich, Italien und Spanien als zur race latine gehörig Deutschland und England sowie die Schweiz, Schweden, Dänemark und die Niederlande als race germanique gegenüber 197 Die romanischen Völker zeichneten sich durch ihre alte Zivilisation heidnischen Ursprungs aus, seien aber in den Geisteswissenschaften den germanischen unterlegen: „On y trouve moins de penchant pour les idées abstraites que dans les nations germaniques“ (Staël 1844, 3) Dem entspricht ihre stereotype Einteilung in „nordische“ und südliche Literatur, wie sie aus folgendem Passus deutlich wird, der bereits im Kern Staëls Theorie der Romantik erkennen lässt (ebd ): Il n’y a donc dans l’Europe littéraire que deux grandes divisions très-marquées: la littérature imitée des anciens et celle qui doit sa naissance à l’esprit du moyen âge; la littérature qui, dans son origine, a reçu du paganisme sa couleur et son charme, et la littérature dont l’impulsion et le développement appartiennent à une religion essentiellement spiritualiste Im zweiten Teil des Werkes, De la littérature allemande, wendet sie sich gegen die vorwiegend in den südlichen Ländern verbreitete Praxis der sterilen Imitation klassischer Literatur und spricht sich für die spontane Inspiration durch die zeitgenössische romantische Literatur deutscher und englischer Prägung aus (Staël 1844, 62): (…) mais la question pour nous n’est pas entre la poésie classique et la poésie romantique, mais entre l’imitation de l’une et l’inspiration de l’autre La littérature des anciens est chez les modernes une littérature transplantée: la littérature romantique ou chevaleresque est chez nous indigène, et c’est notre religion et nos institutions qui l’ont fait éclore Aber nicht nur hinsichtlich der Literatur, sondern auch im Hinblick auf die Übersetzungspraxis betrachtet Mme de Staël Deutschland als mustergültig: Voss und Schlegel gelten ihr als Vorbilder in der Übersetzung antiker und zeitgenössischer Autoren (Staël 1844, 58): 197 Vgl Staël 1844, 3 ff . (Observations générales) Die dritte große Volksgruppe ist für sie die race esclavonne, zu der sie in erster Linie Polen und Russland zählt <?page no="92"?> I Allgemeines 92 L’art de traduire est poussé plus loin en allemand que dans aucun autre dialecte européen Voss a transporté dans sa langue les poëtes grecs et latins avec une étonnante exactitude, et W Schlegel, les poëtes anglais, italiens et espagnols, avec une vérité de coloris dont il n’y avait point d’exemple avant lui Mme de Staël selbst versucht sich ebenfalls in dieser Form der „treuen“ Übersetzung Ihr Werk enthält einige Passagen renommierter deutscher Autoren, die in Frankreich noch kaum bekannt waren und die sie durch ihre Übersetzung erstmals einem breiteren französischen Publikum zugänglich macht- - ein Verdienst, das die Comtesse Jean de Pange in ihrem Vorwort (Pange 1958, XI) ausdrücklich hervorhebt Über den Einf luss des Werkes auf die französische Leserschaft schreibt diese (ebd . XXXVI): Donc, publié trop tard, l’inf luence du livre De l’Allemagne sur les événements politiques fut à peu près nulle 198 , mais du point de vue littéraire ce fut une révélation Ce n’est pas trop de dire qu’il a été entre les mains de l’enthousiaste jeunesse libérale de la Restauration: la Bible des Romantiques . Le nom lui restera Tatsächlich werden die französischen Intellektuellen im Gefolge der Veröffentlichung in zwei Lager gespalten, die Classiques und die Romantiques, die sich in den darauffolgenden zwei Jahrzehnten unversöhnlich gegenüberstehen: die einen rückwärtsgewandt zu den Klassikern der Antike, die anderen mit Blick auf die zeitgenössische romantische Literatur der nördlichen Nachbarländer 199 Die Romantiques regt sie zur verfremdenden, eher „wörtlichen“ Übersetzung nach deutschem Muster an, während die Classiques, die ihre traditionelle kulturelle Führungsrolle bedroht sehen, an der klassizistischen Übersetzungskonzeption im Stil der belles infidèles festhalten In einem viel beachteten Aufsatz, der bereits im Januar 1816 unter dem Titel Sulla maniera e l’utilità delle traduzioni in Italien in der gerade neu gegründeten Biblioteca Italiana erscheint, bevor fünf Jahre später das Original (De l’Esprit des traductions) in Frankreich veröffentlicht wird, macht sie ihre italienische und später auch französische Leserschaft auf die deutsche Gegenbewegung zur damals gängigen Übersetzungspraxis aufmerksam 200 und wendet sich gegen die klassizistisch-einbürgernde Tradition ihres Heimatlandes (Staël 1816, 11): (…) guardiamoci dall’usanza francese di tramutar sì le cose altrui che della origine loro niente si ravvisi (…) Nè da quella perversa maniera di traduzioni caverebbe alimento il pensiero: nè apparirebbe novità nelle cose pur di lontano cercate; poiché si vedrebbe ognora la stessa faccia, con poca varietà di ornamenti 198 Die politische Intention des Werkes erläutert die Comtesse de Pange eine Seite zuvor (ebd X XV): „Ce livre était fait pour agir sur l’opinion publique en 1810 Il paraît au moment où ses avertissements sont inutiles, par suite de l ’effondrement du regime imperial [de Napoléon]“ 199 In De l’Allemagne (1844, 62) gibt Staël die folgende Definition von Klassik und Romantik: „On prend quelquefois le mot classique comme synonyme de perfection Je m’en sers ici dans une autre acception, en considérant la poésie classique comme celle des anciens et la poésie romantique comme celle qui tient de quelque manière aux traditions chevaleresques Cette division se rapporte également aux deux ères du monde; celle qui a précédé l ’établissement du christianisme, et celle qui l ’a suivi“ 200 Vgl Albrecht 1998, 85 In Italien markiert der Aufsatz den Beginn der literarischen Strömung der Romantik <?page no="93"?> 2 Konzeptionen von Kultur und Übersetzen im 18.-und 19. Jahrhundert 93 In Parenthese sei die Bemerkung erlaubt, dass auch bei Staël (ebd 15-16) zwischen den Zeilen noch der im Frankreich der belles infidèles verbreitete Gemeinplatz anklingt, der Autor hätte sich in einer anderen Sprache sicherlich ganz anders ausgedrückt Zumindest lässt sich eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem Bild der unterschiedlichen Instrumente und dem Argument der verschiedenen Sprachen nicht leugnen: Non si traduce un poeta come col compasso si misurano e si riportano le dimensioni d’un edificio; ma a quel modo che una bella musica si ripete sopra un diverso istrumento: nè importa che tu ci dia nel ritratto gli stessi lineamenti ad uno ad uno, purchè vi sia nel tutto una eguale bellezza Sie betont aber auch die zentrale Bedeutung der Übersetzung gerade von „germanischer Literatur“ für die Bereicherung und Erneuerung der eigenen Kultur und Literatur (ebd 16): Perciò gl’intelletti della bella Italia, se amano di non giacere oziosi, rivolgano spesso l’attenzione di là dall’Alpi, non dico per vestire le fogge straniere, ma per conoscerle; non per diventare imitatori, ma per uscire di quelle usanze viete, le quali durano nella letteratura come nelle compagnie i complimenti, a pregiudizio della naturale schiettezza In Italiens Intelligentsia stößt dieser offene Brief auf große Resonanz und löst eine Debatte über den Stellenwert von Übersetzungen 201 aus, in der sich ähnlich wie in Frankreich die Anhänger des Classicismo und des Romanticismo gegenüberstehen Die Polemik entzündet sich hier allerdings stärker am Charakter der Literatursprache: Die Classicisti wenden sich der antiken Literatur zu und verschreiben sich weiterhin der Imitation der antiken Meister; die Romantici, die deren Sprache als steril und künstlich empfinden, messen der spontanen künstlerischen Schöpfung der zeitgenössischen romantischen Literatur einen höheren Stellenwert bei . 202 Der Übersetzer und Mitherausgeber der Mailänder Zeitung Il Conciliatore (1818-1819) Giovanni Berchet unterschied zwischen der „poesia dei vivi“ als lebendigem Ausdruck der Gesellschaft und der „poesia dei morti“ als „letteratura che non ha idee proprie, ripetitrice d’idee, di sentimenti, di moduli espressivi che, vivi una volta, erano ormai morti“ (De Vendittis 1988, 1244) So seien auch Vergil und Homer zu ihrer Zeit Romantici gewesen, da sie über Dinge schrieben, die damals im Bewusstsein und im Geiste der Menschen lebendig waren Bei De Vendittis (ebd 1243) findet sich die folgende Beschreibung der romantischen Geisteshaltung: Nel ripudio netto- - sostenuto dai ‚romantici ‘- - non solo della greca ma di qualsiasi specie di mitologia, della imitazione servile dei classici antichi e delle regole drammatiche (le unità della tragedia) era già contenuto il principio fondamentale del Romanticismo europeo: il principio dell ’autonomia dell ’arte; (…) 201 Unfer Lukoschik (2004, 145) spricht angesichts dieses Jahrzehnte währenden literarischen Streits von der Romanticomachia 202 Auf der Seite der Classicisti stehen z B Pietro Giordani, Vincenzo Monti, Ugo Foscolo und Giacomo Leopardi, zu den Romantici zählen u a Giovanni Berchet, Pietro Borsieri, Ermes Visconti und Alessandro Manzoni . <?page no="94"?> I Allgemeines 94 Darin ist ein Nachhall der im Frankreich des 17 . Jahrhunderts entbrannten Querelle des Anciens et des Modernes spürbar Allerdings treten die Vertreter des Classicismo hier nur hinsichtlich ihres Umgangs mit der Literatursprache als Pendant der ehemaligen Anciens auf: Sie sind darauf bedacht, die Sprache der antiken Autoren nachzuahmen Die Romantici, deren Ideal eine von klassischen Vorbildern unabhängige, volksnahe Literatursprache ist, sind hingegen als Erneuerer der Sprache durch fremde Einf lüsse in der Nähe der Modernes anzusiedeln . 203 De Vendittis (1988, 1245) beschreibt die mitunter sehr heftigen Reaktionen der italienischen Intellektuellen auf den Brief der Staël: Während einige die prominente Stellung Italiens als Erbe der lateinisch-römischen Kultur bedroht sahen, stimmten ihr andere begeistert zu: (…) alcuni, per difendere la fedeltà alla tradizione, considerarono l’invito della scrittrice come un incitamento a tradire la patria; altri, invece, videro in quell’incitamento il mezzo di ampliare le proprie cognizioni, la possibilità di risollevare una cultura ormai esaurita e decaduta, nella conoscenza di espressioni di pensiero e d’arte d’altri popoli Der italienische Romanticismo-- die sogenannte ‚scuola romantica‘-- ist zunächst auf die Lombardei und Piemont beschränkt, wo die romantische Einstellung in der Epoche der Restauration mit politischer Liberalität einhergeht . 204 Konservative und Traditionalisten hingegen begegnen der romantischen Bewegung in Italien ebenso wie im Frankreich der Restauration meist mit Skepsis Entsprechend werden Mme de Staëls Thesen von dieser Seite häufig als unbequem empfunden Im Gegenlicht der Aufnahme von Mme de Staëls Ideen in Italien wird deutlich, dass die deutsche Romantik mit der durch sie beförderten Rezeption in Frankreich einen gewissen Wandel erlebt Bei aller romantischen Neigung strebt Staël als Französin mit auf klärerischer Prägung eine Fusion der Vernunft mit den neuen romantischen Idealen an Damit nimmt sie der deutschen Romantik jeglichen polemischen, gegen Aufklärung und Vernunft gerichteten Stachel, so dass lediglich eine vage Ausrichtung auf Geschichte und Tradition zurückbleibt . 205 Wie die Verbindung so gegensätzlicher Ideale sich konkret auswirkt, beschreibt Konopik (1997, 71) unter Verweis auf den Wandel des Geniegedankens in Frankreich Trotz aller Betonung des Gefühls komme dieser dem klassischen Bedürfnis nach Regeltreue in gewisser Hinsicht doch entgegen: In der französischen Genie-Auffassung steht das Genie einerseits unmittelbar zur Natur ( . . ) und erscheint demnach ‚sauvage‘, ‚irrégulier‘ und ‚négligé‘ in bezug auf künstlerische Konventionen und widerspricht damit der Regelschönheit des goût Gleichzeitig soll das Genie als ‚esprit observateur‘ Regelhaftigkeiten aufdecken, nämlich die Regeln der Natur ( . . ) 203 Hinsichtlich der Übersetzungskonzeption allerdings wären die Classicisti als Anhänger der freien Übersetzung eher den Modernes, die Romantici als Verfechter der wörtlichen Übersetzung den Anciens zuzurechnen 204 Auf die politische Dimension der Debatte weist De Vendittis (1988, 1242) hin: „(…) il dibattito fra ‚classicisti ‘ e ‚romantici ‘ divenne presto un fatto politico, tanto che Silvio Pellico, già nel ’19, poteva scrivere che, a Torino, per dire ‚liberale‘ si diceva ‚romantico‘“ 205 Vgl De Vendittis 1988, 1243 <?page no="95"?> 2 Konzeptionen von Kultur und Übersetzen im 18.-und 19. Jahrhundert 95 Die revolutionäre Kraft der Romantik als Gegenbewegung zum Klassizismus in Frankreich, von der weiter oben die Rede war, wird also abermals durch eine leicht „einbürgernde“ Tendenz bei der Rezeption aufgefangen In dieser abgemilderten Form wird die deutsche Romantik durch die Vermittlung der Staël dann auch in Italien rezipiert-- Frankreichs kulturelle Mittlerfunktion ist also im 19 . Jahrhundert weiterhin wirksam . Bezeichnend ist die Definition der romantischen Literatur bei De Vendittis (1988, 1243), die in ihrer Betonung einer moralischen Erziehung des Volkes eher an die französische Ausprägung der Romantik in der Nachfolge Rousseaus erinnert als an die deutsche, der solche moralischen Grundsätze fremd waren: „Una letteratura che abbia di mira non più il bello ideale degli scrittori greci e latini, avulso dal presente e totalmente estraneo al mondo moderno, bensì l ’educazione civile e il miglioramento sociale e morale del popolo“ Abschließend bleibt festzuhalten, dass die französische Aufnahme speziell der deutschen romantischen Impulse im Wesentlichen durch folgende Aspekte gekennzeichnet ist: (a) Die Romantik entfaltet in Frankreich vor dem Hintergrund des bis dahin vorherrschenden Klassizismus eine revolutionäre Wirkung sowohl hinsichtlich literarischer Tendenzen als auch hinsichtlich der Übersetzungskonzeptionen; (b) es kommt zur allmählichen Übernahme der neuen, am deutschen Vorbild orientierten, eher wörtlichen und verfremdenden Übersetzungshaltung; (c) Mme de Staël sorgt zugleich für eine abgemilderte Rezeption der literarischen Romantik in Frankreich; (d) Goethe und Hoffmann, aber auch Schiller werden als zentrale Exponenten der deutschen Romantik empfunden und in sehr enger Assoziation miteinander, und damit sicherlich auch unter Vernachlässigung einiger individueller Wesenszüge ihrer Werke, rezipiert 2.3.3.2 Die deutsche Philosophie (Victor Cousin) Aber nicht nur auf dem Gebiet der Schönen Literatur, sondern auch was die Philosophie betrifft, ist das 19 Jahrhundert in der französischen Geistesgeschichte in vielerlei Hinsicht ein „deutsches“ Jahrhundert 206 , ein ‚Siècle allemand ‘, wie Michel Espagne (2004, 12) es in seiner Abhandlung zur französischen Rezeption des deutschen philosophischen Diskurses fasst: Il l’est dans le domaine purement littéraire, avec la fortune prodigieuse de modèles comme le Werther ou le Faust, l’exégèse de L’Éducation du genre humain ou les pièces de Schiller -( . . ) la philosophie est un élément de cet effort de redéfinition intellectuelle de soi-même au prisme de l’Allemagne Le XIX e siècle est allemand avant 1870 et il l’est plus encore après 1870, quand la production intellectuelle des universités allemandes s’impose comme un modèle indépassable et se voit corrélée de façon tout à fait arbitraire à la victoire militaire In der Philosophie mache sich dieser deutsche Einf luss in besonderem Maße bemerkbar: „l ’impression que nous gardons du XIX e siècle est que la vie philosophique s’est déplacée 206 Albrecht (2003, 1398) verweist besonders auf Auguste Véras Hegel-Übersetzungen, Emile Littrés Fassung von David Friedrich Strauß’ Leben Jesu (Paris, 1839/ 40), J A Cantacuzène als Übersetzer Schopenhauers und Nietzsches in den 1880er Jahren sowie den Übersetzer Henri Albert um die Jahrhundertwende . <?page no="96"?> I Allgemeines 96 au point qu’elle se situe entièrement en Allemagne ( . . )“ (ebd 13) . Dabei habe sich aus der Begegnung von französischer und deutscher Denkungsart etwas Neues entwickelt, das Züge beider Philosophien trage (ebd 15-16): Au fond, c’est moins la philosophie allemande qui nous occupera qu’un objet mixte, caractérisé par un métissage involontaire et les usages qui en sont faits Et on ne saurait distinguer totalement la référence à la philosophie allemande d’une perception plus globale de l’Allemagne Die „perception plus globale de l ’Allemagne“ wird sicherlich auch entscheidend durch den Grad der Vertrautheit mit der deutschen Sprache und Kultur beeinf lusst, zumal diese eine unabdingbare Voraussetzung für fundierte Urteile über philosophische Denkgebäude ist Nun war aber die Kenntnis des Deutschen im damaligen Frankreich, in dem das Englische en vogue war, selbst unter Literaten und Intellektuellen noch kaum verbreitet So findet sich bei Lévy (1950, 274 f ) folgendes Zitat eines französischen Emigranten, das die typische Geisteshaltung der Franzosen noch zu Beginn des 19 . Jahrhunderts illustriert: „J’ai vécu pendant douze ans au milieu des stupides Allemands, et aucun d’eux ne me comprend encore“ . 207 Selbst unter den Übersetzern deutscher Literatur sieht die Situation noch bis zum Ende der Restaurationszeit kaum anders aus: „(…) bien peu prennent soin d’apprendre à fond la langue qu’ils ont la prétention de traduire“ (ebd 276) Die deutsche Sprache bereitet auch den Übersetzern deutscher Philosophie einige Schwierigkeiten, und hier macht selbst der große Deutschland-Kenner Victor Cousin 208 keine Ausnahme Dieser übersetzt Kants Werke unter Zuhilfenahme von Friedrich Gottlob Borns lateinischer Fassung, obgleich er auch nach seinen späteren drei Deutschlandreisen die deutsche Sprache nur oberf lächlich beherrscht . 209 Edgar Quinet, der 1827-1828 eine dreibändige französische Fassung von Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-1791) vorlegt 210 , greift gar zum Mittel der Übersetzung aus zweiter Hand, wobei ihm ausnahmsweise nicht das Französische, sondern das Englische als Mittlersprache dient: Da er erst später Deutsch lernt, liegt seinen Idées sur la philosophie de l’ histoire de l’ humanité die bereits erschienene englische Fassung zugrunde-- wir haben es hier also vermutlich mit einer Reinform der Übersetzung aus zweiter Hand zu tun . 211 Erst nach 1830 beginnen sich die französischen Intellektuellen allmählich mit der deutschen Sprache auseinanderzusetzen, um die neuen literarischen und philosophischen Tendenzen jenseits des Rheins besser verfolgen zu können So verweist Lévy 207 John Grand-Carteret, La France jugée par l’Allemagne, Paris 1886, 54, zit nach Lévy 1950, 275 208 In Frankreich macht sich Cousin zuerst als Platon-Übersetzer einen Namen: 1822 bis 1840 erscheinen Platons Werke in 13 Bänden in seiner Übersetzung Vgl Espagne 2004, 173 209 Lévy (1950, 277) erinnert an weitere Übersetzerpersönlichkeiten wie Sainte-Beuve, Musset, David d ’Angers, A de Vigny, Ch Nodier, Lamennais und zahlreiche andere, „[qui] étaient plongés dans la même ignorance“ 210 Herder, Johann Gottfried (1827-1828), Idees sur la philosophie de l’histoire de l’humanite, par Herder. Ouvrage traduit de l’allemand et precede d’une introduction par Edgar Quinet 3 vol Paris: chez F G Levrault rue de la Harpe, n 81, et rue des Juifs, n 33, a Strasbourg 211 Vgl Espagne 1985, 269 Lévy (1952, 119) ist zu entnehmen, dass Quinet erst auf seiner späteren England-Reise Deutsch zu lernen begann und darauf hin seine nach der englischen Vorlage angefertigte Übersetzung am deutschen Original überprüfte <?page no="97"?> 2 Konzeptionen von Kultur und Übersetzen im 18.-und 19. Jahrhundert 97 (1952, 37) stellvertretend auf Hippolyte Taine, Charles de Rémusat, Ernest Renan, Edgar Quinet und Jules Michelet, wobei Rémusat ausschließlich deshalb Deutsch lernt, um Kants Werke im Original lesen zu können Doch auch in dieser Epoche herrschen noch allenthalben Unwissen und lückenhafte Beherrschung des Deutschen vor . 212 Besonders augenfällig wird dies angesichts der regelrechten Verunstaltung der Namen deutscher Schriftsteller wie „M Göt“ (Goethe), le „célèbre Shiller“ oder gar „M Chelègue“ (Schlegel), die nicht gerade von großem Bemühen zeugt, sich mit der Sprache dieser berühmten Exponenten deutscher Kultur auseinanderzusetzen . 213 Ein Beispiel für das französische Deutschlandbild liefert erneut Mme de Staëls Werk De l’Allemagne, das sich in seinem dritten Teil, La philosophie et la morale, mit der deutschen Philosophie beschäftigt- - wenn auch weniger als ernstzunehmende wissenschaftliche Abhandlung als vielmehr als „témoignage de voyageur bien informé“, um mit Espagne (2004, 82) zu sprechen Bereits im Vorwort idealisiert Mme de Staël „la Prusse et les pays du nord qui l ’environnent“ als „la patrie de la pensée“ (Staël 1844, 3), deren intellektuelle Reichtümer auch auf politischer Ebene Früchte trügen: Il y a trois ans que je désignois la Prusse et les pays du nord qui l’environnent comme la patrie de la pensée; en combien d’actions généreuses cette pensée ne s’est-elle pas transformée! ce que les philosophes mettoient en système s’accomplit, et l’indépendance de l’âme fondera celle des États . 214 Sie unterstreicht die Bedeutung der Metaphysik für die deutsche Geisteslandschaft, die sie in die Nähe der antiken griechischen Philosophie rückt: Ähnlich wie bei Platon spiele in der deutschen Philosophie das Gefühl die zentrale Rolle . Indem sie Partei für den Tiefsinn, die Ernsthaftigkeit und Gefühlsbetonung der deutschen Metaphysik ergreift, richtet sie sich gegen den französischen Sensualismus und dessen überlegene Haltung allem gegenüber, was nicht die spielerische Leichtigkeit eines Voltaire besitzt . 215 In ihrer Wahrnehmung formt die Philosophie eines Landes auch die Geisteshaltung seiner Menschen, und entsprechend schreibt sie dem französischen Sensualismus einen negativen Einf luss auf Frankreichs génie du peuple zu (ebd . 177): Cette philosophie doit sans doute être considérée autant comme l’effet que comme la cause de la disposition actuelle des esprits; néanmoins il est un mal dont elle est le premier auteur, elle a donné à l’insouciance de la légèreté l’apparence d’un raisonnement réf léchi; elle fournit des arguments spécieux à l’égoïsme, et fait considérer les sentiments les plus nobles comme une maladie accidentelle dont les circonstances extérieures seules sont la cause 212 Lévy (1952, 93) illustriert diese mangelnde Sprachbeherrschung mit E Lerminiers 1835 in seinem Werk Au delà du Rhin erschienener Übersetzung zweier Strophen aus Goethes Faust II, die eklatante Übersetzungsfehler aufweist . Aber auch anderen Faust-Übersetzern, wie Nerval, Marmier oder Stapfer, weist er ähnliche Fauxpas nach 213 Vgl Lévy 1950, 277 f 214 De l’Allemagne, Préface, Londres, 1 er octobre 1813 215 Vgl Troisième partie, Chapitre IV von De l ’Allemagne: Du persiflage introduit par un certain genre de philosophie (Staël 1844, 176 ff ) . Espagne (2004, 113) macht bei Charles Villers, der Staëls Deutschlandbild maßgeblich beeinf lusst hat, eine ähnliche Haltung aus <?page no="98"?> I Allgemeines 98 Noble Gefühle und tiefsinnige Ref lexionen, verbunden mit einer gewissen, der französischen Geisteshaltung fremden Wirklichkeitsferne sind in Staëls mythologischem Deutschlandbild die Apanage der deutschen Philosophie, in deren Zentrum sie die Thesen Immanuel Kants ansiedelt Ihre Vorstellung vom weisen alten Mann, „[qui] au milieu des glaces du Nord, (…) a passé sa vie entière à méditer sur les lois de l ’intelligence humaine“ (ebd 181), trägt geradezu karikaturistische Züge . Staëls Deutschlandbild ist maßgeblich von Charles de Villers beeinf lusst 216 , der sich bereits in seinem 1801 in Metz erschienenen zweibändigen Werk Philosophie de Kant ou pricipes fondamentaux de la philosophie transcendentale gegen den im Frankreich seiner Zeit vorherrschenden Sensualismus gewandt und so die Grundlagen für eine spiritualistische Kant-Interpretation gelegt hat Dieser frühe Versuch, Kants Philosophie in Frankreich einzuführen, ist aber wohl gerade daran gescheitert, dass Villers sich nicht der üblichen „einbürgernden und vulgarisierenden Manier“ bedient hat Wie Mme de Staël betrachten viele im Frankreich der Restauration und der beginnenden Julimonarchie die deutsche Philosophie als esoterisch oder „spiritualiste“ Diese Interpretation, die seitdem vor allem der deutschen Metaphysik anhaftet, ist ganz im Sinne autoritärer Strömungen wie des französischen Neokatholizismus und Konservatismus 217 , während sie die deutsche Philosophie bei Frankreichs „aufgeklärten Geistern“ eher in Misskredit bringt Zur Entstehung des „objet mixte“ der in Frankreich rezipierten deutschen Philosophie, von dem Espagne spricht, hat jedoch nicht erst die Sichtweise Villers und Mme de Staëls geführt Entscheidend für die divergierende Rezeption sind die grundlegend verschiedenen politischen und geistesgeschichtlichen Verhältnisse, die im damaligen Preußen und im Frankreich der Julimonarchie herrschten . So wurde etwa Hegels Rechtsphilosophie in Deutschland ab 1830 als oppositionell, ja geradezu revolutionär empfunden . Als Deutschland mit der Julirevolution eine bedeutende Rolle in Frankreichs Geistesleben einnimmt, tritt Victor Cousin dort als Vermittler des Hegelianismus auf . In seiner Funktion als Bildungsminister in der konstitutionellen Monarchie 218 ist er eng mit den politischen und wissenschaftlichen Institutionen verbunden und erhebt den Hegelianismus zur offiziellen Philosophie der Julimonarchie . 219 Dies gelingt ihm allerdings nur um den Preis eines Eklektizismus, der mit einem Hang zur Vulgarisierung einhergeht und lediglich Tendenzen und Perspektiven der deutschen Philosophie aufgreift, ohne Systeme zu vermitteln, was ihm häufig als mangelnde Kohärenz ausgelegt wird . 220 In Frank- 216 Ihr Briefwechsel mit Charles de Villers wie auch mit Benjamin Constant de Rebecque ist 1993 von Kurt Kloocke im Lang Verlag herausgegeben worden 217 Vgl Espagne 1985, 272 218 Seit 1840 hat er diese Funktion im Ministerium Thiers inne, vgl Lévy 1952, 122 219 Zur Zeit der Restauration in Frankreich war der Hegelianismus noch eine oppositionelle Ideologie, so dass auch Cousin von der Restaurationsregierung als Bedrohung empfunden wurde In Deutschland hingegen herrschten die umgekehrten Verhältnisse: In den 1820er Jahren noch eine offizielle Philosophie, wurde dem Hegelianismus später ein oppositioneller Charakter zugeschrieben Vgl Werner 1985, 283 f 220 Der Cousin-Biograph Jules Simon zeichnet 1887 (ebd 68) mit spitzer Feder die Karikatur dieses Eklektizismus, räumt aber sogleich ein, diese treffe auf Cousin nur eingeschränkt zu: „Un éclectique n’est plus un philosophe; c’est une sorte d ’écho qui répète tous les sons Ce n’est plus un esprit, car il admet toutes les opinions; ni une volonté, puisqu’ il appartient à qui veut le prendre“ <?page no="99"?> 2 Konzeptionen von Kultur und Übersetzen im 18.-und 19. Jahrhundert 99 reich löst dies eine Kontroverse zwischen der Schule Cousins und den Traditionalisten aus Diese werfen Cousin vor, sein Eklektizismus reduziere die Religion auf eine leere Form: Sein von Spinoza entlehnter Terminus „Pantheismus“ wird für sie zum Synonym für Materialismus und Atheismus . 221 Auch diese Religionsdebatte in Frankreich steht gegenüber der Situation in Deutschland unter umgekehrten Vorzeichen . 222 In die Nähe des Pantheismus wird Hegels Philosophie in Frankreich auch durch die Denkschule der Saint-Simonisten gerückt, die dessen sehr theoretischen, philosophischen Stil in eine volksnahe Sprache übersetzt und die praktische Dimension seiner Philosophie betont . Damit bestimmt sie die Rezeption der deutschen Philosophie entscheidend mit, denn erst durch den Filter des Saint-Simonismus gewinnen Hegels, aber auch Schellings Thesen im Frankreich der 1830er Jahre an Bedeutung . Das Gewicht dieser Vermittlung illustriert der gescheiterte Versuch, in den 1840er Jahren die Thesen Feuerbachs oder der Junghegelianer in Frankreich einzuführen . 223 Für Espagne (1985, 273) liegt das Hauptverdienst des Saint-Simonismus darin, „(…) d’hégélianiser la pensée française en compensant son ‚unilateralité‘ (Einseitigkeit) et en réconciliant les opposés“ Hegels Gegenspieler Schelling, der in Deutschland als „großer Versöhner“ den Gegensatz zwischen Religion und Philosophie überwindet, wird im Frankreich der Restauration vor allem durch Pierre Leroux als „patriarche de la philosophie allemande“ rezipiert, in Abgrenzung zu Hegel in der eklektizistischen Rezeption Cousins und zur dogmatischen Hegel-Rezeption der Eglise Saint-simonienne. 224 Wie verfehlt auch diese französische Sichtweise eines deutschen Philosophen ist, lässt sich einem Zitat von Karl Marx entnehmen, der 1843 an Feuerbach schreibt: Wie geschickt hat Herr Schelling die Franzosen zu ködern gewußt, vorerst den schwachen, eklektischen Cousin, später sogar den genialen Leroux Leroux und seinesgleichen gilt Schelling immer noch als der Mann, der an die Stelle des transcendenten Idealismus den vernünftigen Realismus, der an die Stelle des abstracten Gedankens den Gedanken mit Fleisch und Blut, der an die Stelle der Fachphilosophie die Weltphilosophie gesetzt hat . 225 Werner (1985, 288) spricht gar von einer „réception fausée, complètement détachée de l ’objet qu’elle prétend véhiculer“ Eine besondere Rolle für die Vermittlung deutscher Philosophie im Frankreich der 1830er Jahre spielt Heinrich Heine, dessen divulgative Schriften Espagne (1985, 274- 275) zufolge durch die Rezeptionsphase im Restaurationszeitalter vorbereitet, ja erst ermöglicht wurden 1834 richtet dieser sich in einer Streitschrift gegen die Thesen Mme de Staëls und gegen Victor Cousin als offiziellen Exegeten der deutschen Philosophie in 221 Vgl Werner 1985, 284 222 In der gegenseitigen Verkennung der philosophischen und kulturellen Gegebenheiten sieht Werner (1985, 287) einen Hauptgrund für das Scheitern einer intellektuellen Allianz zwischen Frankreich und Deutschland 223 Vgl hierzu Espagne 1985, 265 224 Die saint-simonistische Rezeption der deutschen Philosophen bezeichnet Leroux recht abschätzig als „une faible aurore du soleil venu d ’Allemagne“ (zit nach Rihs 1978, 299) 225 Lettre du 23 octobre 1843, Marx Engels Werke, Berlin (Dietz) 1956 sq ., t X XVII, p 420 Zit . nach Werner 1985, 287 . <?page no="100"?> I Allgemeines 100 Frankreich Dabei vergisst er, dass Cousins eklektische Form der Vermittlung dessen Übersetzungen erst den Weg geebnet hat Heine ist der erste, der den deutschen Idealismus in Paris bekannt macht Er bedient sich einer durch den Saint-Simonismus geprägten Sprache, die ihm die Wiedergabe des theoretischen Stils der deutschen Philosophen erleichtert Als Heine die deutsche Philosophie in Frankreich bekannt machen will, haben ihm also Cousin und die Saint-Simonisten, denen er zeitweilig anhing, bereits den Boden bereitet-- oder, wie Espagne (1985, 268) es fasst: A travers des voies qui passent toutes par Victor Cousin le moule prétendument français dans lequel Heine veut couler la pensée allemande a déjà été marqué par cette même pensée Das wichtigste zeitgenössische Organ der Verbreitung deutscher Kultur in Frankreich ist die Zeitung Le Globe unter Chefredakteur Michel Chevalier Es ist das zentrale Medium der Saint-Simonisten, die also die französische Rezeption der deutschen Philosophie entscheidend mitbestimmen Dort erscheint denn auch Heines Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, eine Publikation, mit der die Zeitung ihn als bedeutendsten politischen Schriftsteller Europas feiert . Auch die französische Goethe-Begeisterung findet im Übrigen im Globe sehr früh ihren Niederschlag Unter den renommierten Kulturmittlern auf philosophischem Gebiet ist der Globe-Redakteur und Saint-Simonist Eugène Lerminier zu nennen Der Jurist und Lehrer am Collège de France macht seine französischen Leser mit dem 1835 erschienenen zweibändigen Werk Au-delà du Rhin: la politique; la science sowie den Lettres philosophiques adressées à un Berlinois (Paris 1832) mit den Gegebenheiten jenseits des Rheins vertraut . 226 Ferner sei der der spiritualistischen Schule Cousins nahestehende Globe-Mitarbeiter, Politiker und Philosoph Charles de Rémusat erwähnt, der sich durch seinen Beitrag zu dem von Cousin ausgeschriebenen Concours pour l’examen critique de la philosophie allemande und einige Essays, vor allem zu Kant, einen Namen macht . 227 Zu Victor Cousin seien noch einige Beobachtungen nachgetragen, die das Bild dieses ebenso bedeutenden wie umstrittenen Kulturmittlers seiner Zeit abrunden Seine zentrale Stellung als Vermittler der deutschen Philosophie in Frankreich verdankt er vornehmlich seiner Interpretation der Thesen Kants, des bedeutendsten zeitgenössischen Exponenten der deutschen Philosophie, der stilbildenden Einf luss auf die französische Geisteslandschaft haben sollte . 228 Erstmals kommt Cousin durch die lateinische Übersetzung Borns mit Kants Philosophie und der deutschen Geisteslandschaft überhaupt in Berührung Es folgen drei Reisen nach Deutschland, die erste 1817, auf der er mit Fichte, Schelling und Hegel in Kontakt tritt Seine freundschaftlichen Kontakte mit Hegel, damals noch Schüler Schellings, in dem er mit Bewunderung den homme de gé- 226 Vgl hierzu Espagne 1985, 270 Für weitere Hinweise zu französischen Kulturmittlern sei auf die Arbeit von Charles Rihs (1978) verwiesen 227 Veröffentlicht wurde der Beitrag in den Compte-rendus des séances et travaux de l’Académie des sciences morales et politiques, 1845, Band 8, S -209-241 (Rémusat 1845a) Der erste Teil des Beitrags findet sich in Band-7, 1845, S -291-344 (Rémusat 1845) 228 Espagne (2004, 19-44) betont in dieser Hinsicht die besondere Bedeutung der Kritik der reinen Vernunft . <?page no="101"?> 2 Konzeptionen von Kultur und Übersetzen im 18.-und 19. Jahrhundert 101 nie erkennt 229 , lassen ihn zu dessen Stimme in Frankreich werden Auf seinem zweiten Deutschlandbesuch wird er 1824 in Dresden festgenommen und auf Betreiben der französischen Polizei wegen möglicher Kontaktaufnahme mit deutschen Revolutionären in Berlin inhaftiert Erst die Intervention Hegels befreit ihn aus seiner misslichen Lage, was ihm umso mehr Anlass ist, sich näher mit Hegels Schriften zu befassen . 1831 schließlich unternimmt er eine dritte Reise, um das deutsche Unterrichtswesen zu studieren 230 , bevor er 1840 zum Bildungsminister ernannt wird . 231 Seine Kontakte mit dem deutschen Geistesleben umfassen inzwischen das gesamte Spektrum der philosophischen Ideen von 1810 bis 1850 . 232 In Frankreich steht er in enger Verbindung mit französischen und Schweizer Intellektuellen wie Benjamin Constant, Mme de Staël oder Albert Stapfer, die selbst als Mittler deutscher Kultur in Frankreich in Erscheinung treten Er ist der Überzeugung, dass die deutschen philosophischen Gedankengebäude einer Anpassung an die intellektuellen Gegebenheiten Frankreichs bedürfen, „(…) que la philosophie allemande ne doit pas être transportée comme un objet aux formes immuables mais actualisée, modifiée en fonction du contexte français“ (Espagne 2004, 44) . Er selbst sei natürlich prädestiniert, diese notwendige Anpassung vorzunehmen . Jules Simon merkt 1887 in seiner Cousin-Biographie (ebd 36) an, Cousin habe in seinen Vorlesungen die Ideen der deutschen Philosophen mit eigenen Entdeckungen verbunden, wie etwa der „(…) perception spontanée des vérités absolues, qui fonde la foi de l’humanité, [et qui] permet aux philosophes d’échapper aux étreintes du scepticisme de Kant“ Welche Auswirkungen Cousins eklektische Haltung, sein „parti pris de docilité et de conciliation qui fait qu’on accepte un peu de toutes mains, et qu’on réunit les contraires“ (ebd . 67), auf die Rezeption der deutschen Philosophie und insbesondere auf die Hegel-Rezeption in Frankreich gehabt hat, ist weiter oben bereits erläutert worden Cousin selbst, dessen Studium der deutschen Sprache auf seinen Reisen nur mäßige Fortschritte gemacht hat, wagt sich selbst nicht wieder an die Übersetzung deutscher Philosophen Dabei mag auch der von Espagne (2004, 42) erwähnte Umstand eine Rolle spielen, dass er seine gehobene Stellung als Kulturmittler nicht profanieren wollte, indem er der französischen Leserschaft persönlich Texte vorlegt Dennoch sorgt er dafür, dass seine Sichtweise der deutschen Philosophen in Frankreich Verbreitung findet, indem er sich selbst gewissermaßen Übersetzer „heranbildet“ (ebd ): (…) tous les traducteurs dont la carrière méritera d’être étudiée dans le détail, de Tissot à Augusto Vera en passant par Barni et Bénard ou même Grimblot, ont été des élèves ou des protégés de Victor Cousin à un certain moment de leur carrière Einem Protégé Cousins, dem Neapolitaner Augusto Vera, ist es denn auch zu verdanken, dass Hegels Schriften in den 1850er bis 1870er Jahren im Zusammenhang übersetzt 229 Vgl Simon 2 1887, 17 230 Frucht dieses Studiums ist seine zweibändige Veröffentlichung Sur l ’ instruction publique dans quelques pays de l ’Allemagne, et particulièrement en Prusse (1833), die zweimal neu aufgelegt wird, 1837 und 1840 231 Zum Werdegang Cousins vgl Lévy 1952, 122 f 232 Vgl Espagne 2004, 22 . <?page no="102"?> I Allgemeines 102 werden Denn trotz der relativen Verbreitung der Thesen Hegels während der Restaurationszeit, die vor allem auf Cousin zurückzuführen ist, liegen diese mit Ausnahme seiner leichter zugänglichen Ästhetik 233 noch nicht in französischer Übersetzung vor Jetzt erscheinen etwa Teile der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften sowie die Vorlesungen über die Philosophie der Religion in Frankreich erstmals in Veras Übersetzung . 234 Nach seiner Rückkehr nach Italien wird Vera Anfang der 1860er Jahre zum führenden Kopf der Schule der Hegelianer in Neapel 235 und steht dort in engem Kontakt mit Bertrando Spaventa und Francesco De Sanctis Während Frankreich also in der Rezeption Kants und anderer deutscher Philosophen Italien voraus ist, ist seine Hegel- Rezeption durch die Vermittlung Veras italienisch geprägt, zumal einige Werke Hegels zu dieser Zeit in Italien bereits übersetzt sind Italien hat einen direkteren Zugang zu dem deutschen Philosophen als Frankreich, in dessen Hegel-Bild sich immer noch die Nachwirkungen Cousins und der Saint-Simonisten bemerkbar machen Zugleich erhält aber Italiens Hegel-Rezeption durch die neapolitanische Schule Veras auch eine französische Färbung, wenn man bedenkt, dass Vera aus dem Dunstkreis Cousins stammt, von Frankreich geprägt ist und seine Übersetzungen in französischer Sprache anfertigt Neben dem Italiener Augusto Vera ist noch ein anderer Übersetzer deutscher Philosophie dem näheren Umfeld Cousins zuzurechnen, nämlich der Kant-Übersetzer Jules Barni, der nebenbei bemerkt ebenfalls italienische Wurzeln hat Cousin holt ihn in den 1840er Jahren als seinen persönlichen Sekretär zu sich, um sich bei seinen Studien der deutschen Philosophie beraten zu lassen, da seine Deutschkenntnisse zum Erfassen komplexer Zusammenhänge nicht ausreichen Als dieser sich 1847 mit seiner Übersetzung von Kants Kritik der Urteilskraft um den Preis der Académie des sciences morales et politiques bewirbt, ist es Cousin, an den er sich um Unterstützung wendet . 236 Um Kant im Original lesen zu können, hat Barni an der Ecole Normale Deutsch gelernt und gilt seither als ausgewiesener Experte für die spezielle Terminologie und die Theorien Kants Tatsächlich sind seine späteren Übersetzungen besonders für ihre terminologische und gedankliche Genauigkeit bekannt und beliebt . So schreibt Jules Simon in der Zeitschrift Siècle vom 20 März 1854: 237 „Le philosophe français éclaircit en traduisant, de sorte que, même pour un lecteur familier avec l ’allemand, il y a profit à lire les ouvrages de Kant dans la traduction“ Darin schwingt der allgemeine Anspruch französischer Intellektueller mit, keine dunklen Stellen in der Argumentation zuzulassen und auch „obskuren“ Philosophen in der Übersetzung die typisch französische clarté zu verleihen . Inwieweit Barnis Kant-Übersetzungen trotz seiner fundierten Deutschkenntnisse und seiner ge- 233 Hegels Ästhetik ist durch den französischen Philosophen und Kenner der deutschen Philosophie Charles Magloire Bénard in Frankreich bekannt gemacht worden Der Cousin-Schüler übersetzt sie auf Anraten seines Lehrers zwischen 1840 und 1852, und sie erscheint unter dem Titel L’Esthétique ou philosophie de l’art 234 La logique de Hegel/ trad par A . Véra 2 voll Paris: Ladrange 1859; Philosophie de la nature de Hegel 3- voll/ trad par A Véra . Paris: Ladrange 1863-66; Philosophie de l ’esprit de Hegel 2 voll / trad par A Véra Paris: Baillière 1867-69; Philosophie de la religion de Hegel/ trad par A Véra Paris: Baillière 1876-78 235 Vgl Espagne 2004, 273 f 236 Vgl Espagne 2004, 262 237 Dide 1891, 50 f Zit nach Lévy 1952, 136 <?page no="103"?> 2 Konzeptionen von Kultur und Übersetzen im 18.-und 19. Jahrhundert 103 wissenhaften Übersetzungshaltung durch diese französische Geisteshaltung und insbesondere durch das Vorbild Cousins beeinf lusst sind, ist eine der Fragestellungen, die in Teil III dieser Arbeit zu behandeln sind Übrigens ist auch Barnis Konkurrent, der Kant-Übersetzer Claude-Joseph Tissot, der seit 1828 Cousins Vorlesungen besucht, von dessen Sichtweise der deutschen Philosophie nicht ganz unbeeinf lusst Erschienen sind die Übersetzungen deutscher philosophischer Werke im Pariser Verlagshaus Ladrange, das von 1830 bis zu Beginn der 1870er Jahre auf philosophische Publikationen aus Deutschland spezialisiert ist Vor allem in den 1830er und 1840er Jahren ist die Verlagspolitik entscheidend von Victor Cousin geprägt . Die Kant-Übersetzungen von Tissot erscheinen hier ebenso wie die Konkurrenzversion von Barni, außerdem Veras Fassung von Hegels Logique von 1859 sowie der Philosophie de la nature von 1863 . 238 Espagne (2004, 298) betont das positive Signal, das mit einer solchen „zentralen“ Veröffentlichung deutscher philosophischer Ideen verbunden ist: „La concentration primitive en un même lieu des ouvrages touchant à la philosophie allemande n’a pu avoir qu’une incidence favorable sur la perception par le public français de ces philosophies“ Allerdings ist einzuwenden, dass dadurch die Rezeption möglicherweise einseitig in eine Richtung gelenkt wurde, zumal erneut Cousin die Auswahl trifft und den seiner Schule nahestehenden Übersetzern ein Forum bietet Aber nicht nur die philosophische Landschaft Frankreichs, sondern auch seine Übersetzungspraxis wurde im Laufe des 19 Jahrhunderts durch deutsche Einf lüsse geformt . 239 Werner (1985, 288) bewegt sich noch auf der Ebene der inhaltlichen Übertragung, wenn er mit Blick auf die Rezeption deutscher Philosophie während der Restaurationsepoche eine Parallele zwischen der klassizistischen Übersetzungspraxis der belles infidèles und der Weitergabe gedanklicher Konzepte von einer Nation zur anderen zieht: Plus encore que dans le domaine des traductions de texte, où on a coutume de parler des ‚belles infidèles‘, la transmission d’un pays à l’autre d’une pensée, ou d’une idéologie, se fait par une série de déviations qui peuvent aboutir, dans des cas extrêmes, à de véritables contresens Il est vrai qu’en général, ces contresens produisent à leur tour du sens nouveau, étant donné qu’ils s’insèrent dans la conjuncture spécifique du pays d’accueil et sont souvent déterminés par celle-ci Hier ist natürlich einzuwenden, dass die beiden Vorgänge unmittelbar miteinander zusammenhängen, zumal sich die Rezeption von Gedankengebäuden und Ideen stets auf der Grundlage von Übersetzungen vollzieht . Ferner ist anzumerken, dass sich die Entstehung von Neuem nicht nur auf der Ebene der gedanklichen Konzepte oder des Sinns vollzieht, sondern sich auch unmittelbar auf der Ebene der Textproduktion niederschlagen kann Die Übersetzung deutscher Philosophen hatte nämlich auch stilbildenden Einf luss auf die Übersetzungsstrategien in Frankreich: Die normierte Übersetzungskonzeption des Klassizismus, die bereits durch die Schöne Literatur der deutschen 238 Zum Verlagshaus Ladrange vgl Espagne 2004, 295 f 239 Die Bedeutung deutscher Philosophie für die französische Übersetzungshaltung unterstreicht Salama-Carr (1998, 413): „The [French] Romantics brought literalism back into fashion in the nineteenth century, under the inf luence of German philosophy“ Zu diesen romantischen Übersetzern zählt sie u a Alexandre Dumas . <?page no="104"?> I Allgemeines 104 Romantik aufgebrochen wurde, erhält erneut einen innovativen Impuls in Richtung äußerst verfremdender Strategien der Übersetzung Dies hat auch einen erneuernden Einf luss auf die immer noch in recht starren Regeln befangene französische Literatursprache . 240 Lévy (1950, 285) betont in diesem Kontext die innovative Kraft der literarischen Übersetzung: 241 (…) l’histoire des traductions poétiques au XIX e siècle est une longue suite de tentatives pour concilier les particularités du français avec celles de l’allemand, et par là, à l’occasion, d’emprunter au second ce qui manquait parfois au premier Le modèle allemand a ainsi incontestablement contribué à un assouplissement du langage poétique français Lévys Beobachtung lässt sich ohne Weiteres auf die Wiedergabe philosophischer Texte ausdehnen, zumal gerade solche Texte mit ihrer oft sehr innovativen Lexik und ihrer komplexen Syntax Anlass zu sprachlichen Neuschöpfungen geben Die philosophische Diskurstradition im Frankreich des 19 Jahrhunderts ist sicherlich maßgeblich durch Übersetzungen aus dem Deutschen beeinf lusst . 242 Es erheben sich aber auch kritische Stimmen gegen den Einf luss der deutschen philosophischen und literarischen Sprache auf die französische Prosa Georges Renard beklagt 1884 die negativen Auswirkungen der deutschen Sprache und Wissenschaft-- und hier ist wohl vor allem die Philosophie gemeint-- auf die dem Französischen eigene Klarheit und Leichtigkeit: 243 Quel changement durant ces dernières années! Il a été de mode, et presque de nécessité, pour être pris au sérieux, d’affecter en écrivant une physionomie rébarbative Lourdeur, obscurité, allure rogue et scolastique, ont paru l’assaisonnement naturel d’un ouvrage de valeur On a supporté, que dis-je, on a exalté le fatras des compilations les plus indigestes… La philosophie s’est enveloppée d’un jargon apocalyptique, qui s’accomode de toutes les equivoques ou meme de toutes les déloyautés du raisonnement Der Anteil der Übersetzungspraxis an dieser Erneuerung der literarischen und philosophischen Sprache lässt sich anhand der weiter oben dargestellten Rezeptions(um)wege ermessen, auf denen der für französische Ohren ungewöhnliche Sprachstil deutscher Philosophen wie Hegel, Schelling und Kant dem französischen Publikum nahegebracht wurde 240 Vgl Albrecht 2003, 1398 241 Hinsichtlich der literarischen Übersetzung hebt Lévy (1950, 285) besonders den Einf luss der Schillerschen Sprache auf das französische Drama hervor und stellt fest: „Il s’opère, de 1820 à 1830, un renouvellement complet des images poétiques“ Für den Zeitraum von 1830 bis 1870 bemerkt Lévy (1952, 140) ein Übergreifen dieser Einf lüsse auf den allgemeinen Sprachgebrauch, „(…) le style français dans son ensemble a pris des allures plus libres au contact et sous l ’ inf luence de l ’allemand“ 242 Dass dies im Übrigen auch noch für das 20 Jahrhundert gilt, belegt etwa der Einf luss der französischen Heidegger-Übersetzungen auf den philosophischen Diskurs in Frankreich Vgl . dazu z B Albrecht (2009, 17 ff ), der hervorhebt, „dass diese erstaunliche sprachliche Geschmeidigkeit der neueren französischen Diskursformen nicht zuletzt durch Übersetzungen aus dem Deutschen befördert wurde“ (ebd . 25) 243 Georges Renard, „L’inf luence de l’Allemagne sur la France depuis 1870“ La Nouvelle Revue 29, Juillet- Août 1884, 673-720 Zit nach Lévy 1952, 188-189 <?page no="105"?> 2 Konzeptionen von Kultur und Übersetzen im 18.-und 19. Jahrhundert 105 2 .3 .4 Frankreich als „Folie“ deutsch-italienischer Rezeptions- und Übersetzertätigkeit Die im vorausgehenden Abschnitt beschriebene Rezeption der deutschen Literatur und Philosophie im 18 und 19 Jahrhundert hat nicht nur eine Aneignung der gedanklichen Konzepte, sondern auch eine Erneuerung der Übersetzungspraxis in Richtung verfremdender Strategien einerseits und der literarischen und philosophischen Sprache hin zu einer größeren Flexibilität andererseits zur Folge gehabt . Dies legt die Vermutung nahe, dass die Rolle des Französischen als Vermittler deutscher Kultur in diesem Zeitraum eine Stärkung erfährt Zugleich ist aber zumindest für die literarischen Übersetzungen des 18 Jahrhunderts festzustellen, dass sich neben den romantischen auch noch klassizistische Übersetzungstraditionen halten Die Nachwirkungen der belles infidèles sind hier also immer noch spürbar Und auch die Aneignung der deutschen Philosophie während des 19 Jahrhunderts weist deutliche Spuren des französischen Einf lusses auf, wie die Rezeption Victor Cousins und der Saint-Simonisten gezeigt hat Die wechselseitige Durchdringung französischer und deutscher kultureller Impulse im Laufe des 18 und 19 Jahrhunderts-- mit dem Akzent nach wie vor auf dem französischen Einf luss-- schafft eine kulturelle Nähe zwischen beiden Ländern . Sie prädestiniert Frankreich für die Aufgabe, sowohl die Rezeption deutscher Literaten und Philosophen in anderen Ländern als auch die Aufnahme von Autoren aus einer der deutschen „fremderen“ Kultur in Deutschland zu erleichtern und zu steuern Eine Ahnung davon, wie diese Vermittlung die Qualität der einzelnen Werke und die Art ihrer Rezeption beeinf lusst, vermittelt die weiter oben dargestellte Übersetzungspraxis der belles infidèles und der deutschen Philosophie im 19 Jahrhundert . Dieser Aspekt soll in Teil III dieser Arbeit anhand der Analyse ausgewählter Übersetzungen vertieft werden Hier kann es zunächst nur darum gehen, anhand einiger Beispiele die weite Verbreitung des Phänomens gerade zwischen „germanischen“ und romanischen Kulturen aufzuzeigen 244 , wobei für unsere Zwecke vornehmlich der Kulturaustausch zwischen Deutschland und Italien von Interesse ist Die deutsch-italienischen Kulturbeziehungen lassen sich naturgemäß von zwei Seiten betrachten Zunächst ist festzuhalten, dass sich in beiden Ländern im 18 und 19 . Jahrhundert noch verbreitet Klischees über die jeweils andere Nation halten, die an den Mythos des génie de la langue und des génie du peuple anknüpfen . 245 Während das deutsche Italienbild von einem recht aufgeschlossenen Geist zeugt, aber auch stark von Wunschvorstellungen und Projektionen geprägt ist, die im Gefolge von Goethes Italienischer Reise Ende des 18 Jahrhunderts einen Höhepunkt erleben, ist „das Deutschlandbild der Italiener (…) die Kehrseite der gleichen Medaille“ (Hausmann 1996, 5) . 246 Von den zwischen Furcht und Geringschätzung schwankenden negativen Klischees der 244 Ein prominentes Beispiel für die französische Vermittlung romanischer Literatur ist etwa Cervantes’ Don Quijote, der über Frankreich in Deutschland rezipiert wurde Vgl hierzu besonders Stackelberg 1984, 65-90 245 Vgl hierzu Abschnitt 2 1 dieser Arbeit zur Idee des Nationalcharakters 246 Auf die „Inseln“ der direkten Kulturbeziehungen zwischen Italien und Deutschland, die Weimarer Klassik und die Kontakte zwischen der Lombardei und Österreich-Ungarn während der Restaurationsära, ist in Abschnitt 1 .2 .2 dieses Teils der Arbeit verwiesen worden <?page no="106"?> I Allgemeines 106 deutschen Sprache, Kultur und Literatur, die in Italien vorherrschen, war weiter oben bereits die Rede Noch bis ins letzte Drittel des 18 Jahrhunderts gilt Deutschland in Italien als Cimmerien, als Land des Nebels und der eisigen Kälte . 247 Später lässt sich zwar angesichts der zunehmenden Übersetzungstätigkeit aus dem Deutschen von einer gewissen „Deutschlandmode“ sprechen, die Kritik bleibt aber gegenüber deutscher Literatur weiterhin zurückhaltend Umgekehrt stellt Hausmann (ebd ) für den Zeitraum von Mitte des 18 bis Mitte des 19 Jahrhunderts fest, dass die italienische Kultur in Deutschland je nach den Vorlieben des Betrachters wahlweise als Ausdruck klassisch-antiker Ästhetik oder als Paradebeispiel progressiver romantischer Kunst gedeutet wird Arend (1996, 206) stellt dem mythischen, am klassischen Vorbild orientierten Italienbild die Vorstellung vom exotisch-fremden, durch regionale Besonderheiten bestimmten Raum gegenüber Betrachtet man nun die wechselseitige Rezeption des literarischen Schaffens, so wird der vermittelnde französische Einf luss in beiden Richtungen evident Wertvolle Hinweise zur französischen Vermittlerrolle in Deutschland finden sich bei Arend, die auf die eminente Stellung Frankreichs in der Hierarchie der kulturellen Produktion ab Mitte des 18 Jahrhunderts verweist: Französische Autoren bestächen durch ihren Esprit, deutsche durch Ernsthaftigkeit und Tiefsinn, italienische hingegen seien spielerisch und auf den schönen Schein bedacht . 248 Im deutschen Kulturraum verliert die italienische Literatur mit dem Aufstieg Frankreichs als Hegemonialmacht an Ansehen Das Land des Humanismus und der Renaissance muss sich nun den Vorbildern des französischen Kulturschaffens unterordnen, damit seine literarischen Erzeugnisse in Deutschland eine Leserschaft finden Arend (ebd ) illustriert die kulturelle Hegemonie Frankreichs am Beispiel der Dramatiker Alfieri und Goldoni, die neben Carlo Gozzi im Deutschland der Auf klärung rege rezipiert und meist in einbürgernder Manier übersetzt werden: 249 Wenn Alfieri dem deutschen Publikum als der ‚italienische Racine‘ und Goldoni als der ‚italienische Molière‘ vorgestellt und mit diesen Etikettierungen versehen ‚eingeführt‘ werden, so zeigt sich daran die Verschiebung kultureller Leitbilder Solche „Querverweise“ auf die französische Kultur erhöhen nicht nur das Prestige weniger bekannter italienischer Dichter in Deutschland, sie dienen auch der Überbrückung einer als größer empfundene Distanz zur italienischen Kultur Frankreich ist also auf literarischem Parkett das „Maß aller Dinge“-- was auch impliziert, dass den italienischen Schriftstellern ihre Eigenständigkeit und Originalität abgesprochen wird . 250 Besonders für den Roman ist- - neben dem englischen- - das französische Vorbild entscheidend Italienische Romane werden kaum rezipiert, und wo dies dennoch geschieht, ist erneut die französische Vermittlung im Spiel So führt Arend (1996, 207) exemplarisch die eher 247 Vgl Lukoschik 2004, 31 248 Vgl Arend 1996, 205 249 Besonders von dem Venezianer Goldoni werden im 18 Jahrhundert sehr viele deutsche Übersetzungen vorgelegt Vgl hierzu auch Lukoschik 2004, 27 250 In Italien ist in Bezug auf die deutsche Literatur ein ähnliches Phänomen zu beobachten, allerdings stehen hier nicht die französischen, sondern die griechischen und lateinischen Klassiker Pate Vgl Flaim 1995, 368 <?page no="107"?> 2 Konzeptionen von Kultur und Übersetzen im 18.-und 19. Jahrhundert 107 trivial zu nennenden Romane des venezianischen Literaten Pietro Chiari (1711-85) an: Der Titelzusatz „aus dem Französischen“ 251 auf den deutschen Ausgaben vieler seiner Romane lege die Vermutung nahe, dass er entweder selbst französische Vorlagen adaptiert oder Übersetzungen aus zweiter Hand vorgelegt habe . Angesichts der damals weit verbreiteten Praxis solcher Titelzusätze ist mit Arends (ebd ) hervorzuheben, „daß dem deutschen Publikum Frankreich die für den Roman ‚kompetente‘ Nation ist und entsprechende Hinweise offensichtliche Erfolgsgaranten sind“ . Aber nicht nur schöngeistige Literatur, auch wissenschaftliche Werke werden mit Vorliebe über das Französische rezipiert Dies gilt vor allem für historiographische Schriften der italienischen Auf klärung, die sich gegenüber der französischen Konkurrenz behaupten konnten . Arend (1996, 208) greift den viel beachteten Strafrechtstraktat Dei delitti e delle pene des berühmten italienischen Auf klärers Cesare Beccaria heraus, dessen deutsche Übersetzungen über vier Jahrzehnte von der französischen Rezeption beeinf lusst sind . 252 Die erste deutsche Fassung von 1766 orientiert sich ganz an der französischen Vorlage; 1767 übernimmt der zweite Übersetzer Jakob Schultes trotz einiger Kritik an den Abweichungen der französischen Version dennoch deren Zusätze; 1788 erscheint eine Neuausgabe der 1778 publizierten Übersetzung Philip Jakob Flades, die die Kommentare Voltaires aufnimmt; die Übersetzung von 1798 schließlich enthält Anmerkungen von Diderot . Ferner nennt Arend (ebd 209) die divulgative Schrift Francesco Algarottis, Newtonianismo per le dame, deren deutsche Fassung explizit als Übersetzung aus dem Französischen gekennzeichnet ist . 253 Die Reihe solcher mehr oder weniger eingestandener Übersetzungen aus zweiter Hand 254 nach französischer Vorlage lässt sich fortsetzen, wenn man die zweibändige Übersetzungsbibliographie von Hausmann und Kapp (Hrsg ., 1992 und 2004) zu Rate zieht, die die deutschen Übersetzungen aus dem Italienischen von den Anfängen bis 1730 sowie von 1730 bis 1990 detailliert dokumentiert . 255 Hier kann der Bogen etwas weiter gespannt werden, denn die Bibliographie enthält Hinweise auf die französische Vermittlung, die zeitlich vom 16 bis ins 19 Jahrhundert angesiedelt sind und sich auf die unterschiedlichsten literarischen Genres und Schriften historiographischen und divulgativen Charakters beziehen Hier seien in chronologischer Reihung einige interessante Belege aufgeführt Erstmals findet sich bereits 1530 eine offen deklarierte deutsche 251 Vgl etwa Die Comödiantinn von Stande, oder Geschichte der Marquisin von ** von ihr selbst verfasst. A. d. Franz. (ital .: La Commediante in fortuna) Leipzig: Dyck, 1756; Der glückliche gewordene Soldat, oder Begebenheiten des Herrn von Verval, Bellerose genannt. A. d. Franz. des Herrn von M** übersetzt Dresden: Walther, 1753 (ital .: Pietro Chiari: Il soldato ingentilito, ossia Avventure del sig. Verval . Napoli, 1783) Zit nach Arend 1996, 207 252 Schulz-Buschhaus (1980, 337) weist auf das außerordentliche Echo des Traktats unter den französischen Enzyklopädisten hin 253 Arend (1996, 209) gibt den deutschen Titel wie folgt an: „Jo. Newtons Weltwissenschaft für Frauenzimmer oder Unterredungen über das Licht…A. d. Italienischen des Herrn Algarotti, durch Herrn Du Perron de Castera ins Frz. und aus diesem ins teutsche übers. (Braunschweig: Schröder, 1745)“ Interessanterweise geht bereits das italienische Original Algarottis auf ein französisches Vorbild, zurück: Dieser gestaltete nämlich die Dialoge nach dem Modell von Fontenelles 1686 erschienenen Entretiens sur la pluralité des mondes Vgl Schulz-Buschhaus 1980, 331 254 Zur Begriffsbestimmung vgl Abschnitt 1 1 im zweiten Teil dieser Arbeit 255 Beide Bände der Bibliographie sind 2005 als CD-ROM-Version in Tübingen bei Niemeyer erschienen <?page no="108"?> I Allgemeines 108 Übersetzung aus zweiter Hand, nämlich die deutsche Fassung von Giovanni Boccaccios 1472 in Florenz erschienenem abenteuerlichen Liebesroman Il Filocolo nach dem in ganz Europa verbreiteten Stoff von „Floire et Blanchef lor“ . 256 Für das 16 Jahrhundert gibt es noch vier weitere Belege 257 , darunter die Übersetzung einer siebenbändigen militärtheoretischen Abhandlung Niccolò Machiavellis Der Übersetzer Ulrich Budrius bemerkt in seiner Vorrede von 1594, er habe das Werk „auß dem Frantzösischen in Teutsch vertolmatschet lassen“ Im 17 Jahrhundert werden die Belege dann zahlreicher; hier stellvertretend nur zwei Beispiele: 1611 erscheint, vermutlich in Leipzig, die durch Conrad von Einsiedell „verdeutschte“ Fechtlehre von Girolamo Cavalcabò, die laut Titelzusatz 258 nach Jacques de Villamonts französischer Fassung übertragen wurde . 1666 wird bei Peter Le Grand in Amsterdam eine deutsche Übersetzung von Luca Assarinos galantem Roman La Stratonica abgedruckt, die von Lorentz von Adlershelm und Johanna, verh Gräfin von Oppendorf nach dem 1640 in Paris publizierten französischen Vorbild aus der Feder von A[ugustin] Courbé verfasst wurde In der Vorrede der Übersetzerin heißt es unumwunden: „Es ist aber anfänglich von einem Jtaliäner, Luca Assarino, in seiner Sprache beschrieben, aus welcher es in Frantzösisch, aus beyden aber ins Hochteutsche ist gebracht worden“ (zit Ausg 1668) . 259 Sprachlich hat sich die Übersetzerin nach eigenem Bekunden einer eher einbürgernden Strategie verschrieben, wie folgendem Auszug aus der Vorrede zu entnehmen ist: 260 Ob nun wol diese Verteutschung/ die Warheit zu bekennen/ sehr einfältig/ und ohne alle Zierligkeit neu=erfundener Wörter ist; So habe ich mich doch/ so viel möglich/ der reinen und ungezwungenen Spraache bef lissen Jch bin von Leipzig/ und rede auff Meißnische Arth; weilen solches doch/ nach aller Meinung/ das beste Teutsch ist Vor allen unbekanten Arthen zu reden/ und die vor wenigen Zeiten (wiewohl mit schlechtem Fortgange) erst sind erdacht worden/ hüte ich mich; Denn es ist niemand so mächtig/ daß er ein Wort nach seinem Gefallen könne gangbar machen: und der Gebrauch bestehet bloß in ungefährer Zusammenstimmung eines Volcks/ also dass er durch kein kluges Nachsinnen eingeführet werden kann 256 Die deutsche Fassung von Amandus Farckal erscheint im Straßburger Johann Grüninger Verlag und enthält den Zusatz: „vß francösischer sprach in tütsch gebracht “ Die anonyme deutsche Erstübersetzung, ebenfalls unter dem Titel Il Filocolo, wurde bereits 1499 bei Kaspar Hochfeder in Metz verlegt 257 Die drei anderen Belege betreffen eine anonyme Übersetzung von Luigi Pulcis komischem Ritterepos Il Morgante (Morgant der Riese, 16 Jh ); eine zweisprachige Edition (lateinisch-deutsch) von Andrea Alciatis 1531 erschienenem „Emblembuch“ (von Wolfgang Hunger d Ä ., 1542), deren deutsche Übersetzung nach der französischen Übertragung von Jean Le Fèvre gestaltet ist; Daniel Federmanns 1574 publizierte Übersetzung von Lodovico Guicciardinis L’Hore di ricreatione… (Erquickstunden, 1565), die in der Widmung den Verweis auf Belforests französische Version enthält 258 Der Traktat mit dem deutschen Titel Neues Kunstliches Fechtbuch enthält den recht sperrigen Zusatz: „Des Weitberümbten und viel erfahrnen Italienischen Fechtmeisters Hieronymi Cavalcabo von Bononien. Hievorn aus dem geschrieben Welschen Exemplar durch Monsieur de Villamont Ritter des Ordens zu Jerusalem und König. Ms. In Frankreich Cammeriuncker in Französische Sprach transferiert. Dann aber allen löblichen Fechtkunst Liebhabern zu gefallen aus gemelter Frantzösischer Sprach verdeutscht Durch Conrad von Einsiedell“ Zit . nach Hausmann 1992, 272 259 Zit nach Hausmann 1992, 44 260 Ebd . <?page no="109"?> 2 Konzeptionen von Kultur und Übersetzen im 18.-und 19. Jahrhundert 109 Für das 18 Jahrhundert verzeichnet Hausmann zwei eingestandene Übersetzungen aus zweiter Hand, die eher einem weiteren Literaturverständnis zuzurechnen sind: Dem Oberbegriff Militaria lässt sich die 1794 beim Göttinger Verlag Vandenhöck & Ruprecht anonym erschienene Übersetzung mit dem Titel Geschichte der letztern Feldzüge und Staats-Unterhandlungen Gustav Adolphs in Deutschland subsumieren, der vermutlich ein Auszug aus einem 1640 bis 1651 bei Bertami in Venedig publizierten Text zugrunde gelegen hat . 261 Die französische Quelle ist in der Übersetzung explizit genannt: „a d Franz d Herrn Francheville“, und auch die zwanzig Seiten lange Vorrede des französischen Übersetzers wird zusätzlich zur deutschen Übersetzervorrede- - eher bescheidenen Umfangs- - in Gänze abgedruckt . 262 Nur vier Jahre später, 1798, überträgt ein unbekannter Übersetzer eine unterhaltsame Reisebeschreibung ins Deutsche, Des Fra Paolino da San Bartolomeo Reise nach Ostindien, die bei Voss in Berlin mit dem Zusatz „A -d Franz “ in der 15 Ausgabe des Magazin[s] von merkwuerdigen neuen Reisebeschreibungen erscheint . 263 Im darauffolgenden Jahrhundert finden sich vier Belege für ausgewiesene Übersetzungen aus zweiter Hand, denen überwiegend politische und religiöse Schriften zugrunde liegen Eine Ausnahme macht Antonio Pigafettas Viaggio attorno il mondo, die Beschreibung einer Entdeckungsreise, die 1801 von Christian F W . Jacobs und F C Kries unter dem Zusatz „A - d Franz “ ins Deutsche übertragen wird . 264 Die Originalsprache ist allerdings ungeklärt- - Hausmann (2004, 6543) weist darauf hin, dass von der verschollenen Urschrift vier Kopien bzw Übersetzungen, in italienischer, französischer und zweimal in englischer Sprache, angefertigt wurden . Zu den anderen drei Belegen zählt zunächst eine deutsche Fassung von Guglielmo Pepes 1822 in Paris verlegter Darstellung der politischen und militärischen Ereignisse in Neapel in den Jahren 1820 und 1821 von Friedrich Krug, im selben Jahr erschienen, die sich an der französischen Übersetzung des nämlichen Jahres orientiert Krug weist in seiner Vorrede auf den Grund für die Sekundärübersetzung hin: Er betont, dass die Schriften Pepes sehr bald ins Französische und ins Englische übertragen worden seien: „Nur was zu bedauern ist, dass wir bei unserer Bearbeitung dem italienischen Originale nicht folgen konnten, 261 Der italienische Titel lautet in epischer Breite: Historia delle guerre di Ferdinando II e Ferdinando III imperatiori e del re Filippo IV di Spagna. Contro Gostavo Adolfo ré di Svetia, e Luigi XIII ré di Francia. Successe dall ’anno 1630 sino all ’anno 1640. Vgl Hausmann 2004, 4732 262 Auch in seiner Vorrede beruft sich der deutsche Übersetzer auf seinen französischen Vorgänger, wenn er bemerkt: „Ich habe so viel, als möglich war, und es die Natur unserer Sprache zuließ, wörtlich zu übersetzen gesucht, weil dadurch der historische Styl eher gewinnt, als verliert, und weil die bestimmte und deutliche Schreibart des französischen Uebersetzers mir hierzu selbst den Weg bahnte; (…)“ Es folgen die üblichen Hinweise auf notwendige syntaktische Eingriffe, die auch hier auf eine eher einbürgernde Übersetzungshaltung schließen lassen Zit nach Hausmann 2004, 4732 263 Das 1746 in Rom erschienene italienische Original trägt den Titel „Viaggio alle Indie orientali, umiliato alla santità di n. s. papa Pio Sesto, pontefice massimo, da Fra Paolino da S.-Bartolomeo carmelitano scalzo“ Vgl Hausmann 2004, 1542 264 Anton Pigafetta’s Beschreibung der von Magellan unternommenen ersten Reise um die Welt. Aus e. Handschrift der ambrosianischen Bibliothek zu Mailand von Amoretti zum ersten Mal hrsg. A. d. Franz. Mit Karten. Gotha: Perthes, 1801. Die italienische Fassung erschien bereits 1550 in Venedig; die 1800 bei Jansen in Paris verlegte französische Ausgabe trägt den Titel: Premier voyage autour du monde, par le chevalier Pigafetta sur l ’escadre de Magellan, pendant les années 1519, 20, 21, et 22. Zit nach Hausmann 2004, 6543 . <?page no="110"?> I Allgemeines 110 indem dieses nicht sogleich zu erhalten war“ . 265 Ferner handelt es sich um eine Übersetzung von Vincenzo Giobertis Il Gesuita moderno (1846), die 1848 in Leipzig unter dem Titel Die geheimen Pläne der Jesuiten der Neuzeit verlegt wurde . Der Titel enthält den Vermerk: „Nach franz Bearbeitung übers v H . Bertholdi“; die Vorlage war nach Hausmann (ebd ) die französische Bearbeitung von L[ouis] Bourdin Schließlich ist die religiöse Biographie Scene morali esposte nella vita di Margherita Bosco (Torino 1886) von Giovanni B Lemoyne zu nennen, die circa 1890 von Leonard Habrich ins Deutsche übertragen wurde Aus der Bemerkung des Uebersetzers (S .-6) geht hervor, dass sich dieser der französischen Ausgabe anschließe und nur an einigen Stellen die genaueren Angaben der italienischen Fassung aufgenommen habe . 266 In jüngster Zeit steht mit der Saarbrücker Übersetzungsbibliographie eine elektronische Datenbank für nichtfiktionale historische Texte aus den Romania und ihre deutschen Übersetzungen zur Verfügung, in der sich auch gezielt Übersetzungen über die „Brückensprache“ Französisch recherchieren lassen . Eine entsprechende Suche ergab für die Übersetzungsrichtung Italienisch-Deutsch 42 Einträge im Zeitraum von 1575 bis 1862, wobei sich die Themenbereiche von juristischen, medizinischen und naturwissenschaftlichen Abhandlungen über historische Berichte und Reisebeschreibungen bis zu religiösen Traktaten erstrecken Erwähnenswert sind hier angesichts der Bekanntheit der „Originalautoren“ Niccolò Macchiavellis politischer Traktat Regentenkunst, oder Fürstenspiegel, 1580 von einem gewissen Georg Nigrinus nach der französischen Fassung Innocent Gentillets „verteutscht“, sowie Torquato Tassos ethische Abhandlung Der Adeliche Hausvatter, „/ Vor vielen Jahren/ von…Torquato Tasso in welscher Sprache beschrieben…durch J Baudoin in die Französische übergesetzet/ Nunmehr aber verteutschet/ …/ Durch Johan Rist [1650]“ Ein weiteres Beispiel ist wegen der autoritativen Form der französischen Vermittlung interessant, zumal es zeigt, dass eine berühmte Persönlichkeit als Übersetzer die Rezeption entscheidend zu beeinf lussen vermag: Die handschriftlichen Memoiren Giuseppe Garibaldis wurden zuerst von Alexandre Dumas dem Älteren auf Französisch herausgegeben, bevor sie auf der Grundlage dieser Ausgabe ins Italienische übersetzt wurden . 267 Im Deutschen existieren gleich zwei Fassungen, die ebenfalls beide nach der französischen Vorlage entstanden sind . 268 Die genannten Übersetzungsbibliographien können natürlich nur Beispiele für eingestandene „Sekundärübersetzungen“ liefern, und diese finden sich im 17 . und 18 und-- mit abnehmender Tendenz-- auch noch im 19 . Jahrhundert angesichts der verbreiteten einbürgernden Übersetzungshaltung und des Prestiges des Französischen recht häufig Über die uneingestandenen Übersetzungen aus zweiter Hand lässt sich an dieser Stelle 265 Zit nach Hausmann 2004, 6349 266 Der vollständige Titel der deutschen Übersetzung lautet: Margareta Bosco, die Mutter Don Boscos. Ein Lebensbild von J. B. Lemoyne, salesianischer Priester. Genehmigte Übers. Mit bischöflicher Gutheißung. Steyl: Verl. d. Missionsdruckerei [ca. 1890] Zit nach Hausmann 2004, 4880 267 Die 1860 erschienene italienische Übersetzung von Luigi Enrico Tettoni Memorie di Garibaldi, angelehnt an den französischen Titel Mémoires de Garibaldi, ist versehen mit dem Vermerk „pubblicate da Alessandro Dumas“ 268 Die eine stammt von Gottlob Fink (erschienen 1860-61 in drei Bänden) und erscheint unter dem Titel Memoiren des Generals Garibaldi in Stuttgart, die andere, Memoiren Joseph Garibaldi’s von Stanislaus Grabowski, ein Jahr darauf in Berlin <?page no="111"?> 2 Konzeptionen von Kultur und Übersetzen im 18.-und 19. Jahrhundert 111 nur spekulieren, es ist aber anzunehmen, dass sich die Lage hier ähnlich darstellt wie in der umgekehrten Übersetzungsrichtung, die uns im Folgenden noch beschäftigen soll: Da die Übersetzer im Zuge der Verbreitung eher „treuer“ Übersetzungskonzeptionen verstärkt dazu übergehen, die französische Zwischenstufe, wenn sie sie denn konsultieren, zu verschweigen, ist gerade in späteren Epochen von einer relativ hohen Zahl uneingestandener Übersetzungen auszugehen Für die vorliegende Untersuchung von besonderem Interesse ist die Vermittlerrolle Frankreichs in Italien Das im Italien des Ottocento herrschende Klima ist für die Rezeption deutscher Literatur nicht eben günstig: Es hält sich hartnäckig das gegen Ende des 18 Jahrhunderts aus Frankreich übernommene Vorurteil, das Deutsche sei als Sprache der Dichtung ungeeignet . 269 Erst in der zweiten Hälfte des 19 Jahrhunderts entspinnt sich unter italienischen Gelehrten eine vornehmlich in den Übersetzervorreden ausgetragene Debatte über die Literaturfähigkeit der deutschen Sprache, die im Übrigen einmal mehr durch Frankreich und die dort herrschende „Deutschlandmode“ ausgelöst wird . 270 Aber wie es auch um die „Konjunktur“ der deutschen Literatur in Italien bestellt sein mag, im 18 ebenso wie im 19 Jahrhundert gelangt diese zum großen Teil über die Vermittlung Frankreichs, d h durch französische Übersetzungen, nach Italien . 271 Wie mächtig gerade im 18 Jahrhundert der französische Einf luss auf den italienischen Literaturgeschmack ist, mag weiter oben bereits deutlich geworden sein Richtung und Auswirkung dieses französischen Einf lusses, wie sie von einem zeitgenössischen italienischen Schriftsteller empfunden wurden, illustriert vielleicht am besten ein Auszug aus Ippolito Pindemontes (1785, 68) Discorso sul gusto presente delle belle lettere in Italia: E così anche nella poesia possiam dire che il raffinamento, dalla negligenza prodotto della nostra lingua, venne dall’esempio degli scrittori Francesi confermato e per così dire canonizzato Né de’ Francesi solamente, ma d’altri stranieri eziandio, massime Settentrionali, che d’un certo sforzo, e d’uno stile sottile e lambiccato compiaccionsi grandemente, e forse a ragione, considerata la natura particolare ed ardita della lor lingua e poesia; ma la lingua e poesia nostra ama ella veramente di tanto sforzarsi, d’assottigliarsi tanto, e di passare per que’ lambicchi, se dir così posso? Ed osservisi che ciò non debilita punto i fondamenti del buon Gusto; perché ad un Inglese, per via d’esempio, capiterà naturalmente, in grazia dell’uso, quella stessa imagine della cosa transmessa, che non giugnerà a un Italiano senza qualche violenza, onde ciò che diventerebbe raffinato per quello, semplice si rimane per l’altro; la qual differenza non può trovarsi nella Pittura, nella Musica, e in tutte quelle arti che parlano in ogni nazione lo stesso linguaggio Als entschiedener Gegner der Orientierung am französischen Vorbild beklagt Pindemonte den manierierten Stil, der sich durch diese Unsitte in Italien verbreite und der dem Italienischen nicht angemessen sei Die Ursache liegt für ihn darin, dass sich die Sprache der Literatur im Gegensatz zu Malerei und Musik nicht ohne eine gewisse Künstlichkeit von einer Nation zur anderen übertragen lässt Diesen Gedanken unterstreicht er an anderer Stelle in poetischer Form, wenn er bezweifelt, „che le Grazie possano mutar lingua 269 Vgl Flaim 1995, 364; 366 270 Vgl hierzu Lukoschik 2004, 36 271 Auf diesen Umstand macht etwa Flaim (1995, 364) aufmerksam <?page no="112"?> I Allgemeines 112 senz’alterarsi, e passeggiare sulla Senna e lung’Arno d’una maniera“ (ebd 95) . „Gute“ Übersetzungen aus dem Französischen betrachtet Pindemonte gegenüber der direkten Rezeption französischer Literatur als das „kleinere Übel“ 272 -- eine Einstellung, die die Übersetzung französischer Texte, und sicherlich auch französischer übersetzter Texte, eher noch befördert Die Vorboten der in Frankreich herrschenden „Deutschlandmode“, die sich in Italien eher bescheiden ausnimmt, machen sich bereits Ende des 18 . Jahrhunderts bemerkbar Dies lässt sich einer beiläufigen Bemerkung Pindemontes (1785, 77) anlässlich seiner Kritik an der „affettazione scientifica“ und „filosofica ricercatezza“ der französischen Prosa und Poesie entnehmen: „(…) ciò che può dirsi ancora di molte poesie Tedesche, cioè d’una nazione, di cui si traduce ogni cosa, e che dicesi goder ora del suo secolo d’oro“ Im Übrigen wird die deutsche Literatur seinen Landsleuten häufig über die französische Vermittlung nahegebracht, wie er an anderer Stelle (ebd 69) betont: (…) maggior per altro è l’inf lusso de’ Francesi scrittori sulla nostra letteratura, perché maggiore e più universale in Italia è la lettura di questi e lo studio: ove notisi ancora, che i più leggono Inglesi e Tedeschi nelle traduzioni infedelissime de’ Francesi, tra le cui mani tutto perde ogni aria nativa, e diviene affatto nazionale Damit wirft er das zu seiner Zeit in Italien weit verbreitete Problem der Übersetzung aus zweiter Hand oder zumindest einer an Frankreich orientierten Übersetzungshaltung auf, die englischen oder deutschen Werken eine französische Färbung verleiht und deren Originalcharakter verschleiert Als Ende des 18 und verstärkt im 19 Jahrhundert auch deutsche Literatur rezipiert wird, geschieht dies in recht einseitiger Form: Es werden beinahe ausschließlich solche Schriftsteller akzeptiert, die dem herrschenden Bild eines phantasiebegabten und sinnlichen, ungekünstelten und tugendhaften Volkes entsprechen, wie Gellert, Klopstock, Wieland und Lessing Entsprechen Autoren diesem Bild nicht, scheuen die Übersetzer vor „korrigierenden“ Eingriffen nicht zurück . 273 Rezipiert wird vor allem die Literatur einer sehr gemäßigten Auf klärung, während Werke des Sturm und Drang so gut wie gar nicht zur Kenntnis genommen werden Die einzige Ausnahme ist Goethes Werther, der 1788 von Michelangelo Salomon in abgeschwächter Form übersetzt wird und den Antonio Simeone Sografi mit einem Happy End versehen (! ) für die Bühne bearbeitet und so den bürgerlichen dramatischen Konventionen angleicht (Uraufführung 1794) . 274 Diese mildernden Eingriffe ändern allerdings nichts daran, dass der Werther in Italien mit Unverständnis aufgenommen wird . 275 Übrigens stößt auch Goe- 272 Vgl Pindemonte 1785, 91 . 273 Zur italienischen Rezeptionshaltung vgl Unfer Lukoschik 2004, 39 274 Vgl Unfer Lukoschik 2004, 53 f Kunkel (1994, 116) sieht den Kern der italienischen Rezeption der „zum Familienidyll herabgedämpfte[n], um klassische Intrigantenfiguren ergänzte[n] und somit völlig umgebogene[n] Werther-Geschichte“ darin, „den Werther durch Heimholung in gesetzte bürgerliche Verhältnisse ‚unschädlich ‘ zu machen“ 275 Vgl Unfer Lukoschik 2004, 48 ff Auch später ändert sich daran wenig: In der Restaurationsära wird der Werther in Venetien in sehr geringer Auf lage vertrieben, und zwar nur an „persone di buona fama“, da er von Petrettini, dem Zensor der Provinz Venetien, als Roman „erga schedam“ klassifiziert wurde, der nur gegen Erlaubnisschein erhältlich ist Vgl hierzu Battaglia Boniello 1990, 68 <?page no="113"?> 2 Konzeptionen von Kultur und Übersetzen im 18.-und 19. Jahrhundert 113 thes-sonstiges-Werk-in-Italien,-dem Land der Sehnsucht des Dichters, auf wenig Gegenliebe . 276 Außerhalb dieses begrenzten Rezeptionsrahmens wird, besonders, wenn es um „mondäne“ Themen geht, französischen Autoren der Vorzug gegeben . So schreibt Giambattista Corniani 1774 in seinem Saggio sopra la poesia alemanna: 277 I Tedeschi sono maravigliosi nel dipingere gli oggetti sensibili della natura, ma per esprimere con verità e con delicatezza i tanti, e sì varj movimenti del cuore umano conviene che anch’essi a’ Francesi cedano la preeminenza . Ciò forse procede dal vario carattere nazionale I Tedeschi vivono amanti della solitudine e della contemplazione I Francesi per avventura amano sopra ogni altro popolo, e coltivano la Società Besonders die italienischen Classicisti, die im französischen Klassizismus das Erbe der griechischen und lateinischen Klassik fortgeführt sehen und deren Einf luss Anfang des 19 Jahrhunderts ungebrochen ist, stehen der deutschen Dichtung mit ihrem Hang zu Regellosigkeit und Überschwang mit Skepsis gegenüber Auch wenn die Rezeption deutscher Literatur Ende des 18 bis ins 19 Jahrhundert hinein quantitativ zunimmt, bleibt das Urteil für viele qualitativ immer noch dasselbe: Wiederkehrende Topoi sind die Rückständigkeit der deutschen gegenüber anderen europäischen Kulturen, insbesondere der französischen, englischen und italienischen, sowie der Vorrang Frankreichs hinsichtlich der „poesia drammatica“ und des „genere didascalico“ . 278 So nimmt es nicht wunder, wenn unter den zahlreicher werdenden Übersetzungen aus dem Deutschen viele Übersetzungen aus zweiter Hand zu verzeichnen sind, die überdies meist von wenig Sorgfalt zeugen Flaim (1995, 377) erklärt diesen „Übersetzungsboom“ so: Il fenomeno è da ricollegare più alla crescita tumultuosa dell’editoria soprattutto lombarda negli anni della Restaurazione ( . . ) che non ad un interesse critico ben definito: moltissime di queste traduzioni, infatti, si riverseranno senza altre pretese nel coacervo di antologie, strenne, almanacchi e f lorilegi con cui le tipografie spesso sistemano i conti e riutilizzano il magazzino Ma il prodotto è generalmente scadente Auf die einzelnen Fälle von Übersetzungen aus zweiter Hand, die angesichts der geradezu inf lationären Publikation von Übersetzungen in diesem Zeitraum durchaus häufig anzutreffen sind, soll im zweiten Teil dieser Arbeit noch ausführlicher eingegangen werden Generell ist in der Aufnahme der deutschen Romantiker in Italien nicht selten ein Nachhall der französischen Rezeption klassizistischer Prägung spürbar, der das naive Gefühl, die ausgedehnten Naturbeschreibungen und die ausufernde Phantasie fremd war Noch bis Ende des 18 bzw Anfang des 19 Jahrhunderts übersetzte man die deut- 276 Vgl Flaim 1995, 371 Zur Goethe-Rezeption im Italien des frühen 19 Jahrhunderts vgl Belski 1990, 3-55 277 Giambattista Corniani, Saggio sopra la poesia alemanna Venezia: Occhi (Nuova raccolta di opuscoli scientifici e filosofici 1774, X XVI, 30-31) Zit nach Flaim 1995, 368 278 In diese Richtung argumentiert zum Beispiel der Piemonteser Historiker Carlo Denina in seinen Vicende della letteratura (Erstausgabe 1760, vier erweiterte Ausgaben, zuletzt 1792) und vor ihm bereits Corniani, wenn auch mit unterschiedlichen Schlussfolgerungen . Vgl Flaim 1995, 375 f <?page no="114"?> I Allgemeines 114 schen romantischen Autoren in freier Manier . Im Indicatore (1837, 3, 152-153) tadelt der Rezensent (G R ) einiger postum erschienener Erzählungen Achim von Arnims im deutschen Original-- und bereits das komplette Fehlen italienischer Übersetzungen ist bezeichnend-- die überbordende, ins Unverständliche abgleitende Phantasie, die dieser mit den meisten deutschen Schriftstellern gemein habe In einer weiteren Rezension im Indicatore (ebd 156-157) betont derselbe Autor anlässlich eines Werkes von Joseph von Eichendorff, ausländische Autoren hätten den italienischen wenig voraus, denn „[essi] cercano tutto ciò che di più strano suggerisce una sbrigliata fantasia“ . 279 Im Gegensatz zur romantischen Literatur steht die moralisierende „Erbauungsliteratur“ 280 , die sich vor allem an ein weibliches bzw . jugendliches Lesepublikum richtet, hoch im Kurs und wird besonders eifrig übersetzt, was erneut einen französischen Einf luss vermuten lässt Eine Rezeption deutscher literaturgeschichtlicher und literaturwissenschaftlicher Werke „aus zweiter Hand“ ist für diesen Zeitraum ebenfalls belegt . 281 1829 überträgt Antonio Piazza eine deutsche Literaturgeschichte aus dem Französischen ins Italienische, nämlich François-Adolphe Loève-Veimars Résumé de l’ histoire de la littérature allemande (Storia della letteratura alemanna), das 1826 bei Janet in Paris verlegt wurde Auch das italienische Goethe-Bild hat sich hauptsächlich durch englische und insbesondere französische Vermittlung geformt, unter Rückgriff auf Texte wie Mme de Staëls De l’Allemagne oder gar auf Quellen unbekannter Herkunft . 282 Überhaupt lässt besonders in den 1820er und 1830er Jahren, als in der Lombardei und Venetien das Verlagswesen unkontrolliert wächst, die Qualität der wissenschaftlichen Beschäftigung mit deutscher Literatur sehr zu wünschen übrig Auch das Übersetzungswesen spiegelt diesen Mangel an Ernsthaftigkeit wider . 283 So beklagt Allegri (1995, 382) ( . . ) la qualità mediocre (ma, molto spesso, addirittura infima) dei traduttori, connessa alla modestia dei compensi e alla concorrenza dei troppi improvvisatori senza scrupoli, i quali maneggiano alla meno peggio una lingua soltanto: quel francese che, secondo il direttore della ‚Biblioteca Italiana‘ Giuseppe Acerbi, ‚è quasi volgare‘ in Lombardia Ende der 1830er Jahre entsteht daraus ein erbitterter Streit über den Wert solcher Übersetzungen und damit über die Verbreitung deutscher Literatur in Italien, wie Allegri (ebd 383) bemerkt, der zur Illustration einen längeren, sehr polemischen Passus aus der Rivista Viennese von 1840 zitiert, hier in gekürzter Form wiedergegeben: 284 279 Zu den Rezensionen vgl Battaglia Boniello 1990, 85 280 Dass solche Erbauungsliteratur ein hohes Ansehen genießt und zur Kategorie der literarischen Werke gerechnet wird, während bedeutendere Autoren nur wenig gelesen werden, ist ein Phänomen, das zu dieser Zeit nicht nur in Italien, sondern auch in Deutschland zu beobachten ist, wie Battaglia Boniello (1990, 104) betont 281 Vgl Allegri 1995 386 ff 282 Zum Beispiel diente der Brief eines nicht näher identifizierbaren „viaggiatore francese“ Allegri (1995, 381) zufolge als Quelle für die Schizzi biografici über Goethe, die in der Zeitschrift L’Eco von Francesco Lampato abgedruckt wurden (Ausgabe 92 von 1830, S -366-67) 283 Eine Ursache für die schlechte Qualität der Übersetzungen sieht Allegri (1995, 382) in der Problematik, dass die Autorenrechte nicht ausreichend geschützt waren 284 Rivista Viennese 1840, 8, S -185-85 Zit nach Allegri 1995, 383 <?page no="115"?> 2 Konzeptionen von Kultur und Übersetzen im 18.-und 19. Jahrhundert 115 Non esce in luce fanfaluca in Parigi ( . . ) che mille inesperti sacciutelli della facile lingua della Senna non ne inondino di un baleno l’Italia di traduzioni; mentre tante e tante opere sostanziose, tante poesie liriche e drammatiche della Germania ( . . ) giacciono, sto per dire, chiuse e suggellate eternamente agli occhi degl’italiani Sia pure, che la facilità del francese, e d’altro lato la difficoltà dell’alemanno idioma sia cagione di questa nostra vergogna: ogni scusa sarà però sempre riprovevole, sarà un rimprovero alla versatile prontezza degl’italiani ( . . ) È vero che qualunque italiano dovrà sudare a tradurre con proprietà dal tedesco opere letterarie e soprattutto poesie; potrà tuttavia riuscirvi, se ricorrerà alla fonte immediata, ma se a traduzioni francesi si volga, fallirà certo la meta . I francesi in generale sono pessimi traduttori, e più di opere tedesche Oltre essere la loro lingua men atta a ciò della nostra, essi giocano spesso a indovinare anzi che a penetrare nel senso dell’autore, e quindi i farfalloni sono innumerevoli e goffi Ein f lammendes Plädoyer für die deutsche Literatur also, und zugleich gegen Übersetzungen aus zweiter Hand im Allgemeinen und gegen die „freie“ französische Übersetzungshaltung im Besonderen Der Schriftsteller Niccolò Tommaseo 285 spricht abfällig von „traduzioni di traduzione ( . . ), echi d’eco“ und apostrophiert die sklavische Abhängigkeit der Italiener von Frankreich in Literaturfragen: „( . . ) e molti per credere che Inglesi e Tedeschi non erano barbari, aspettarono che lo dicesse la Francia“ Aber auch die Franzosen selbst wundern sich über die wahllose Imitation all dessen, was aus Frankreich kommt, in Italien, wie ein Auszug desselben Tenors aus einer 1843 erschienenen Rezension des italienischen Götz von Berlichingen aus der Feder von Cesare Cantù belegt . 286 Wie es um die übersetzerische Rezeption deutscher Literatur insgesamt bestellt ist, illustriert Ferdinando Meneghezzi in seiner Rezension von Silvestris Biblioteca scelta di opere tedesche volgarizzate: 287 È cosa bizzarra il considerare, come, sotto diverse circostanze, abbiano i francesi in questo rapporto fatto molto maggiori progressi di noi, perciocché essi contano tradotte nella lingua loro le migliori opere della letteratura alemanna, e se l’Italia le conosce, forse più particolarmente alla Francia lo debbe che non alla originale sorgente Abschließend bleibt festzuhalten, dass Frankreich im 18 . und beginnenden 19 Jahrhundert das beherrschende Vorbild für den Literaturgeschmack beider Länder ist Wo nicht überhaupt der französischen Literatur der Vorzug gegeben wird, ist der Verweis auf die französische Vermittlung hier wie dort häufig ein Erfolgsgarant Dabei greifen die Übersetzer nicht nur aus Gründen des Prestiges und der Distanzüberbrückung zu französischen Vorlagen: Besonders im Italien der Restaurationszeit ist unzureichende Sprachbeherrschung ein gewichtiges Motiv Dies hängt wohl auch damit zusammen, dass sich in 285 In: Scintille Venezia: Girolamo Tasso, 1841, 8 Zit nach Allegri 1995, 384 286 Dieser zitiert einen nicht näher benannten Franzosen mit folgenden Worten (Rivista Europea 1843, II, 316-17): „La Littérature italienne se traîne à la suite de la nôtre, et paraît en emprunter de préférence les pauvretés et les ridicules Deux grandes cités, Florence et Milan, tiennent des officines de traduction; et comme c’est principalement par les réclames effrontées du journalisme que nos livres y sont le plus vite connus, se [sic! ] sont aussi les vulgaires marchandises du jour qui fixent le plus l ’attention On traduit tant bien que mal, sans beaucoup de discernement, et vite…“ Zit nach Allegri 1995, 383 287 Rivista Europea 1842 IV, 110 Zit nach Allegri 1995, 385 <?page no="116"?> I Allgemeines 116 Italien hartnäckig Vorurteile gegenüber der deutschen Sprache halten-- während umgekehrt solche Vorbehalte kaum eine Rolle spielen Als gegen Ende des 18 Jahrhunderts in Italien gehäuft aus dem Deutschen übersetzt wird, geht dies nicht unbedingt mit einem höheren Prestige deutscher Literatur einher: Die französische „Deutschlandmode“ setzt sich hier nur bedingt durch In beiden Rezeptionsrichtungen werden bestimmte Autoren und Genres, die den gängigen Klischees entsprechen, mit Vorliebe rezipiert, während andere gar nicht zur Kenntnis genommen werden . So gehören im Deutschland des 18 Jahrhunderts die Dramen Goldonis und Gozzis zu den Erfolgsmodellen, während der italienische Roman sich erst dank der französischen Vermittlung durchsetzen kann In Italien finden besonders gemäßigt auf klärerische Autoren wie Klopstock, Wieland und Lessing Beachtung, daneben auch die häufig über das Französische rezipierte Erbauungsliteratur Nahezu unberücksichtigt bleibt hingegen der Sturm und Drang, und auch die deutsche Romantik ist nur mit wenigen Autoren vertreten Insgesamt bewirkt die französische „Zwischenstufe“ nicht nur eine gefilterte Wahrnehmung der jeweils anderen Kultur-- wo sie aus Gründen von Zeitersparnis und mangelnder Sprachbeherrschung herangezogen wird, führt sie auch zu Qualitätsminderung, was vor allem im Italien der Restauration zu beobachten ist Als Fazit der in den vorangegangenen Abschnitten gewonnenen Erkenntnisse über die Natur der französischen Vermittlerrolle lässt sich in sehr komprimierter Form das Folgende festhalten: Der französische Einf luss ist naturgemäß dort besonders offensichtlich, wo er in Form von glättenden Eingriffen klassizistischer Prägung zutage tritt Dies ist insbesondere im 18 ., aber auch noch während des 19 Jahrhunderts der Fall, als sich in Frankreich eine eher „wörtliche“ und verfremdende Übersetzungshaltung durchzusetzen beginnt, die am deutschen Vorbild orientiert ist . Darüber hinaus steuert der in Frankreich verbreitete Eklektizismus die Rezeption, der sich in der Aufnahme der deutschen Romantiker und der deutschen Philosophen gleichermaßen bemerkbar macht Zwei Beispiele führen dies besonders deutlich vor Augen: E T A . Hoffmann, der zentrale Impulsgeber der französischen Romantik, wird in Frankreich stets in Verbindung mit Goethe rezipiert Dies liegt zum einen an der zeitlich nahe beieinander liegenden Rezeption beider Autoren, zum anderen an der einf lussreichen Übersetzerpersönlichkeit Gérard de Nerval, der als Goethe-Übersetzer in seiner eigenen Dichtung stark von Hoffmann beeinf lusst ist Die französische Hegel-Rezeption wiederum ist entscheidend durch den Eklektizismus des Kulturmittlers Victor Cousin und die vulgarisierende Rezeption der Saint-Simonisten geprägt Auf literarischer ebenso wie auf philosophischer Ebene hat Mme de Staël mit ihrem mythologischen Deutschlandbild das Ihrige zu einer eklektizistischen Rezeption beigetragen . Das Ergebnis der französischen Vermittlung ist also häufig, um mit Espagne zu sprechen, ein „objet mixte“, in dem sich Charakteristika der fremden und der eigenen Kultur miteinander verbinden <?page no="117"?> II Typologie und Panorama der Übersetzertätigkeit „aus zweiter Hand” <?page no="119"?> 1 Die „Übersetzung aus zweiter Hand” 1.1 Abstufungen der „Übersetzung aus zweiter Hand” Bevor nun eine Bestandsaufnahme der konkreten Fälle von Übersetzungen aus zweiter Hand unternommen werden kann, ist zunächst eine Begriffsbestimmung der bisher recht undifferenziert verwandten Bezeichnung „Übersetzung aus zweiter Hand“ und ihrer verschiedenen Abstufungen notwendig, die anhand konkreter Beispiele schärfer voneinander abgegrenzt werden sollen Damit eng verbunden ist eine erste historische Einordnung des Phänomens und seiner verschiedenen Erscheinungsformen innerhalb des vorgegebenen Rahmens, der mittelbaren Übersetzung deutscher Literatur über das Französische ins Italienische im Zeitraum vom 18 . bis zum 20 . Jahrhundert Bekanntlich ist jede Art des Übersetzens eine Form der Rezeption, die mit einer Interpretation des Originals einhergeht und so dessen Wahrnehmung durch die zielsprachliche Leserschaft beeinf lusst Ob eine Übersetzung über den „Umweg“ einer dritten Sprache angefertigt wird, ob dies verdeckt oder offen geschieht, ob es sich um ein Einzelphänomen handelt oder um eine allgemein anerkannte Praxis: all diese Faktoren sagen einiges aus über die Rezeption von fremdsprachiger Literatur im Allgemeinen und von Werk und Autor im Besonderen im Zielland der Übersetzung . So belegt die Häufung von „Relaisübersetzungen“ 1 aus dem Französischen in der Epoche der belles infidèles das hohe Prestige des französischen Stilideals in europäischen Ländern wie Deutschland 2 , England oder Italien und das vergleichsweise geringe Ansehen der Literatur des jeweiligen „Geberlandes“ In dieser Arbeit soll es nicht vorangig darum gehen, die „Übersetzung aus zweiter Hand“ als allgemeine Erscheinung, quasi „aus der Vogelperspektive“, zu betrachten; vielmehr sollen ihre einzelnen Erscheinungsformen als jeweils eigenständige Beispiele einer „mittelbaren Rezeption“ untersucht werden Dabei sind zunächst die möglichen Abstufungen ihres Auftretens klarer zu konturieren, was im Folgenden geleistet werden soll Zur Entwicklung der Terminologie ist ein Seitenblick auf den Zweig der Rezeptionsforschung hilfreich, der das Verhältnis verschiedener Übersetzungen eines literarischen Werkes zueinander innerhalb desselben Sprach- und Kulturraumes untersucht Stackelberg (1972) und Graeber/ Roche 1 Der Begriff „Relaisübersetzung“ stammt eigentlich aus der Terminologie der Europäischen Union und meint die Übersetzung von Texten in eine gängige Sprache, die dann von dieser Zwischenstufe aus in weitere Sprachen übersetzt werden Auf die mittelbare Übersetzung in der Epoche der belles infidèles ist dieser Terminus gut übertragbar, zumal die Konsultation der französischen Vorlage meist offen deklariert wurde 2 In Deutschland wurden einzelne Fälle der Übersetzung aus zweiter Hand über das Französische bereits von Lessing entlarvt und kritisiert, wie Albrecht (1995, 292) notiert <?page no="120"?> II Typologie und Panorama der Übersetzertätigkeit „aus zweiter Hand” 120 (1988) liefern Definitionen solcher „intrakultureller“ Beziehungen zwischen Texten So kann die Übersetzung, wenn es sich nicht um die Erstübersetzung in die jeweilige Sprache handelt, auch die Rezeption bereits vorliegender Fassungen in dieser Sprache widerspiegeln Werden ganze Seiten einfach abgeschrieben und nicht als Bearbeitung deklariert, so handelt es sich in Stackelbergs Terminologie um Übersetzerplagiate . Der Übersetzer kann sich aber auch bewusst in seiner Übersetzungshaltung an der Konzeption der früheren Fassung ausrichten: In diesem Fall sprechen Graeber/ Roche (1988,10) von Konkurrenzunternehmen oder Repliken . Stackelberg (1972, XIII) definiert die Replik als „Rezeptionsform, die literarische Hervorbringungen wie eine Antwort im Sinne der Korrektur auf vorliegende Werke erscheinen lässt- - in der Absicht, es besser oder doch jedenfalls ‚ganz anders‘ zu machen, als frühere Autoren es gemacht haben“ . 3 Unter Berücksichtigung dieser Terminologie soll nun ein Instrumentarium zur Einordnung der verschiedenen Abstufungen der Übersetzung aus zweiter Hand entwickelt werden Die „Reinform“ der Übersetzung aus zweiter (oder sogar aus dritter) Hand, also ganz ohne Konsultation des Originals, tritt wie schon erwähnt nur sehr selten auf . Hingegen gibt es häufig Mischformen, bei denen neben der französischen Übersetzung auch das Original herangezogen wurde, mit verschiedenen Abstufungen der Anlehnung an das Original oder die Übersetzung Stackelberg (1984, VII) und Graeber/ Roche (1988, 9) verwenden für diese Mischformen in Anlehnung an die humanistische Vorgehensweise die Bezeichnung eklektisch und unterscheiden zwischen eklektischem Übersetzen und Kontaminationen von Original und Übersetzung: 4 Während sich der Übersetzer beim eklektischen Übersetzen abwechselnd an Original und Vorgängerübersetzung orientiert, werden bei der Kontamination Lösungsansätze mehrerer Vorlagen miteinander verschmolzen Da beim Übersetzen aber nicht aus verschiedenen Originalen entlehnt wird 5 und auch die Abgrenzung zwischen beiden Formen in der Praxis schwer vorzunehmen ist, soll hier lediglich der Terminus Kontamination als Oberbegriff für beide Phänomene für die verschiedenen Mischformen der Übersetzung aus zweiter Hand übernommen werden Neben dem Grad der Anlehnung an die französische Zwischenstufe soll die Unterscheidung zwischen eingestandener und uneingestandener Übersetzung aus zweiter Hand als Gliederungskriterium herangezogen werden, also die Frage, ob sich der Übersetzer offen dazu bekennt, dass er die französische Fassung konsultiert hat, oder seine Arbeit als direkte Übersetzung des Originals deklariert . 6 Mithilfe dieser beiden Gliederungsebenen lässt sich das folgende Schema entwickeln: 3 Von dieser „replizierenden Rezeption“ unterscheidet Stackelberg (1972, XIII) die Supplemente, also Repliken, die sich nach anfänglicher Anlehnung an die Vorlage von dieser entfernen und sie schließlich ins Gegenteil verkehren („Sie beginnen mit einem ‚Ja‘ und enden mit einem ‚Nein‘“), und die Parodien, bei denen sich der Akzent noch stärker verlagert, „vom anfänglichen ‚Ja‘ auf das darauffolgende ‚Nein‘, auf das schließlich alles ankommt“ 4 In Abschnitt 1 1 dieses Teils der Arbeit wurde auf diese Unterscheidung bereits hingewiesen 5 Dies räumt auch Stackelberg selbst (1987, 54) ein 6 Hier ergibt sich eine Analogie zu Juliane Houses (1997) Unterscheidung zwischen overt und covert translation (ebd 29), die von einem ähnlichen Kriterium ausgeht Die eingestandene Übersetzung ließe sich der overt translation, die uneingestandene der covert translation zurechnen Bezugsgröße ist dabei nicht das Original, sondern die „zwischengeschaltete“ Mittlerversion: Die overt translation gibt den Blick auf die gefilterte Übermittlung des Originals frei, die covert translation verschleiert die <?page no="121"?> 1 Die „Übersetzung aus zweiter Hand” 121 Das Phänomen der Übersetzung aus zweiter Hand gliedert sich zunächst in die Aneignung als Reinform, bei der das Original nicht vorliegt oder jedenfalls dessen Konsultation nicht erkennbar ist, und die Kontamination als Mischform, bei der das Original zumindest parallel ebenfalls berücksichtigt wurde Dem Terminus „Aneignung“ zur Bezeichnung der Reinform soll hier der begriff lichen Klarheit halber gegenüber dem bereits als Oberbegriff verwendeten „Passepartout“-Terminus „Übersetzung aus zweiter Hand“ der Vorzug gegeben werden . Die Bezeichnung „Kontamination“ verweist auf die Verwendung mehrerer Vorlagen (des Originals und einer oder mehrerer Mittlerfassung(en)), die gewissermaßen miteinander „kontaminiert“ werden Das Unterscheidungskriterium auf dieser ersten Ebene ist also die Konsultation des Originals Auf dieser Ebene ließe sich darüber hinaus hinsichtlich der Verwendung einer oder mehrerer Mittlerfassungen differenzieren Insbesondere für die Aneignung als „Reinform“ ist damit auch eine grundsätzliche qualitative Unterscheidung verbunden: Werden nämlich zwei oder mehrere Übersetzungen in einer dritten Sprache konsultiert, so handelt es sich nicht mehr um die undifferenzierte Wiedergabe eines „Prätextes“, sondern um ein bewusstes Zusammenstellen und Verbinden mehrerer Vorlagen-- wohlgemerkt ohne Konsultation des Originals Hier wäre eine entsprechende begriff liche Differenzierung zwischen „Aneignung im engeren Sinne“ und „Kompilation“ denkbar Bei der Kontamination ist diese Unterscheidung zwar ebenfalls möglich, angesichts des geringen qualitativen Unterschieds aber wenig sinnvoll-- ausschlaggebendes Kriterium ist Existenz einer Mittlerversion und gibt sich als direkte Übersetzung des Originals aus Genau genommen hinkt dieser Vergleich allerdings, da für die Zuordnung der Übersetzung aus zweiter Hand weniger die Offenlegung bzw . Verschleierung der Mittlerversion als vielmehr deren Charakter entscheidend ist: Ist diese Mittlerversion eine overt translation, die den Lesern Zugang zum Original verschaffen will (ein typisches Beispiel wäre die „romantische“ Übersetzung) oder im Gegenteil eine auf funktionale Äquivalenz bedachte covert translation, wie sie die belles infidèles exemplarisch repräsentieren? <?page no="122"?> II Typologie und Panorama der Übersetzertätigkeit „aus zweiter Hand” 122 schließlich nicht die Kombination verschiedener Mittlerfassungen, sondern die Verbindung von Mittlerfassung(en) und Original . Tatsächlich finden sich aber für die „Kompilation“ als Sonderform der Aneignung keine konkreten Belege, d h die Verwendung mehrerer Mittlerfassungen geht stets mit der Konsultation des Originals einher, so dass diese theoretisch mögliche Einteilung in obigem Schema unberücksichtigt bleiben soll Auf der zweiten Gliederungsebene wird nun danach gefragt, ob sich der Übersetzer zur Konsultation der Mittlerfassung bekennt: Aneignung und Kontamination können gleichermaßen in eingestandener und uneingestandener Form vorliegen Von einer transparenten Aneignung lässt sich dann sprechen, wenn es sich um eine eingestandene Form handelt, die etwa durch einen Verweis auf die Zwischenstufe im Titel der Übersetzung oder im Übersetzervorwort erkennbar wird . Dies ist wohl die am seltensten vorkommende Variante, mit der am ehesten noch in der Epoche der belles infidèles zu rechnen ist Im Gegensatz zur transparenten Aneignung gibt sich die opake Aneignung nicht als solche zu erkennen, es handelt sich also um eine uneingestandene Form der Übersetzung aus zweiter Hand Sie entspricht dem Stackelbergschen Terminus „Übersetzerplagiat“, der hier vermieden werden soll, da er ein Werturteil enthält Zudem handelt es sich bei der opaken Aneignung nicht wie beim Plagiat früherer Übersetzungen in dieselbe Sprache um einfaches „Abschreiben“, sondern etwas subtiler um eine vermittelte Form der „interlingualen“ Übertragung sprachlicher Strukturen Die eingestandene Form der Kontamination als Mischform der Übersetzung aus zweiter Hand soll als transparente Kontamination bezeichnet werden Sie kann in zwei eng miteinander verwandten Varianten auftreten: Wenn sich eine Übersetzung ausdrücklich als Antwort auf eine (oder gar mehrere) bereits vorliegende Übersetzungen in die „Relaissprache“ versteht, soll von einer kritischen transparenten Kontamination die Rede sein 7 Dieser Fall kann natürlich nur dann auftreten, wenn auch das Original konsultiert wurde, er ist folglich bei der Reinform der Übersetzung aus zweiter Hand nicht denkbar . Ein Paradebeispiel ist Alfredo Gargiulos 1907 erschienene Übersetzung von Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft, in deren Vorwort sich der Übersetzer ausdrücklich auf eine bereits erschienene französische Fassung (Jules Barni, 1846) bezieht, wenn er betont: „Ho confrontato la mia con la traduzione francese del Barni “ (Gargiulo 1907, IX) . Noch deutlicher wird die kritische Haltung des Übersetzers bei Nietzsches Die fröhliche Wissenschaft in der 1905 erschienenen italienischen Fassung von Antonio Cippico, der sich in seiner NOTA (Cippico 1905, XVII) explizit von Henri Alberts 1901 publizierter französischer Version distanziert: (…) la poesia stessa, la quale, a quanto sembra, è la meno (sinora) nota in Italia-- e forse anche in Francia, malgrado la versione compiutane dall’Albert, accurata, ma fredda e priva dell’affilato lirico, onde vanno adorne le rime del Nostro nell’idioma originale (…) Auch die anonyme italienische Fassung von Schillers Drama Die Räuber lässt sich zumindest als Grenzform der kritischen transparenten Kontamination bezeichnen, denn 7 Stackelberg (1972, XIII) spricht von einer replizierenden Rezeption und definiert sie als „Rezeptionsform, die literarische Hervorbringungen wie eine Antwort im Sinne der Korrektur auf vorliegende Werke erscheinen lässt- - in der Absicht, es besser oder doch jedenfalls ‚ganz anders‘ zu machen, als frühere Autoren es gemacht haben“ <?page no="123"?> 1 Die „Übersetzung aus zweiter Hand” 123 aus dem Vorwort des anonymen Übersetzers von 1832 geht hervor, dass dieser die französische Version (vermutlich die 1821 von Brugière de Barante veröffentlichte) zumindest vorliegen hatte, wenn er sich nicht gar von ihr distanziert (Anonymus 1832, 11): „(…) e fu più volte tradotto, imitato o guastato in francese ed in inglese“ . Wie sich diese Abgrenzung gegenüber dem Französischen dann tatsächlich im übersetzten Text niederschlägt, ist eine interessante Frage, der im dritten Teil dieser Arbeit nachzugehen sein wird Bezieht der Übersetzer hingegen nicht ausdrücklich Position hinsichtlich der bereits erschienenen Übersetzung in einer anderen Sprache, so soll von nicht-kritischer transparenter Kontamination gesprochen werden: Es wird zwar ein Bezug hergestellt, die Übersetzung versteht sich aber nicht als Antwort oder kritische Stellungnahme, wie im Fall der kritischen Kontamination Diesem Oberbegriff sollen auch solche Übersetzungen subsumiert werden, die sich in positiver Form auf die Vorgängerfassung beziehen, ohne sich ausdrücklich von ihr abgrenzen zu wollen . 8 Als Beispiel für die nicht-kritische transparente Kontamination sei erneut eine Kant-Übersetzung angeführt, nämlich Francesco Capras 1909 publizierte italienische Fassung von Kants Kritik der praktischen Vernunft In der vorangestellten Prefazione del traduttore (Capra 1909, VII) heißt es: „Una nuova eccellente traduzione francese fu fatta dal Picavet, edita dall ’Alcan nel 1888, e, per la seconda volta, nel 1902 (…) In italiano non era stata mai tradotta finora“ Der Übersetzer erwähnt ausdrücklich, dass er einige seiner Fußnoten der französischen Fassung Picavets entnommen hat: „(…) ho distinto con la sigla T le note mie e con la sigla P quelle che ho attinte al Picavet“ (ebd ) Bleibt noch die uneingestandene Variante der Mischform, die opake Kontamination, die wohl am häufigsten auftritt Sie ist auch am schwierigsten nachzuweisen, da nicht offen auf die Konsultation einer bereits vorliegenden Fassung in der „Mittlersprache“ hingewiesen wird: Diese muss meist in mühsamer Feinarbeit anhand sprachlicher Indizien belegt werden, die aus dem direkten Textvergleich der beteiligten Fassungen und des Originals gewonnen werden In Anlehnung an die literaturwissenschaftliche Verwendung des Begriffs sollen solche Indizien im Folgenden als „textimmanent“ bezeichnet werden . Zur Illustration dieser Variante lässt sich erneut die Übersetzung eines Dramas von Friedrich Schiller heranziehen Bei Pompeo Ferrarios 1819 erschienener italienischer Fassung des Wilhelm Tell legen textimmanente Indizien den Schluss nahe, dass Ferrario die französische Übersetzung von Henri Merle d’Aubigné (1818) konsultiert haben muss In einer Fußnote (Schiller 1819a, 5) erläutert er nämlich die Bezeichnung „le cantilene dei mandriani“, indem er auf den Eintrag „Ranz-des-Vaches“ in Rousseaus Dizionario di musica verweist Um unter diesem Stichwort nachzuschlagen, muss er zunächst Merle d’Aubignés französische Übersetzung von Kuhreihen mit „Air du ranz-des-vaches“ (Schiller 1818, 37) zu Rate gezogen haben An dieser Stelle darf auch eine nahe verwandte Form der Übersetzung aus zweiter Hand nicht unerwähnt bleiben, da sie ebenfalls eine mittelbare Form der Übertragung ist, die zudem in der Praxis gar nicht so selten anzutreffen ist: die Bearbeitung aus zweiter Hand Von unserem Schema wird sie nicht erfasst, da der Terminus „Bearbei- 8 Eine solche Erscheinung tritt im Übrigen wohl nur im Rahmen der Übersetzung aus zweiter Hand auf, während sie bei einer Replik auf frühere Übersetzungen in dieselbe Sprache eher selten vorkommen wird, da sich der Übersetzer damit selbst die Grundlage für eine Neuübersetzung entziehen würde <?page no="124"?> II Typologie und Panorama der Übersetzertätigkeit „aus zweiter Hand” 124 tung“, der umfassende Eingriffe in das Original beinhaltet, von dem der Übersetzung abgegrenzt werden muss 9 Als Bearbeitung aus zweiter Hand soll analog zum Begriff der Übersetzung aus zweiter Hand die Übersetzung einer bereits vorliegenden Bearbeitung in eine dritte Sprache bezeichnet werden, wobei es theoretisch auch hier eingestandene und uneingestandene Varianten geben kann Ein typisches Beispiel für eine offen deklarierte Form wäre etwa E T A Hoffmanns Nußknacker und Mausekönig aus seiner 1819 bis 1821 veröffentlichten Sammlung von Erzählungen Die Serapionsbrüder, die im Jahr 1845 in Frankreich in einer Bearbeitung von Alexandre Dumas Père erschien Die italienische Fassung enthält den ausdrücklichen Hinweis: „raccontata da Alessandro Dumas; tradotta da Maria Luisa Carosso“ und ist damit deutlich als Bearbeitung aus zweiter Hand erkennbar An diesem Beispiel wird aber auch deutlich, dass es der Übersetzerin genau genommen eben nicht um eine Bearbeitung von E T A Hoffmanns Original, sondern um eine Übersetzung von Dumas’ Bearbeitung geht Sie wird hier zu einem literarischen Werk aus eigenem Recht, wie auch Alexandre Dumas als eigenständiger Autor gesehen wird: Er wird sogar im Titel erwähnt, während der Hinweis auf Hoffmanns Original ganz fehlt Die eingestandene Form der Bearbeitung aus zweiter Hand, nach dem bisher angewandten Schema eigentlich eine transparente Bearbeitung, kann also aus dieser Perspektive als eine Sonderform der Übersetzung aus erster Hand verstanden werden Die uneingestandene Form hingegen, die sich als eigenständige Bearbeitung des Originals ausgibt und nur den Hinweis auf dieses, nicht aber auf die Zwischenstufe enthält, verdient mit vollem Recht die Bezeichnung (opake) Bearbeitung aus zweiter Hand Dieser Fall dürfte aber in der Praxis äußerst selten vorkommen, denn wer die Bearbeitung und nicht das Original seiner Übersetzung zugrunde legt, tut dies meist aus besonderem Interesse für gerade diesen Bearbeiter, der häufig einen großen Namen hat: 9 Zur kontrovers diskutierten Frage der Abgrenzung zwischen Übersetzung und Bearbeitung, die hier nicht weiter verfolgt werden kann, vgl Michael Schreiber (1993) Konstitutiv für die Bearbeitung sind für ihn nicht Invarianzforderungen, wie bei der Übersetzung, sondern Varianzforderungen Er definiert die Bearbeitung als „medienunabhängige Texttransformation, bei der mindestens ein komplexes, individuelles Textmerkmal erhalten bleibt und die ansonsten auf Varianzforderungen beruht“ (ebd 105) Zu Schreibers Modell und dessen späterer Überarbeitung (Schreiber 2006) vgl Abschnitt-1 .3 im ersten Teil dieser Arbeit <?page no="125"?> 1 Die „Übersetzung aus zweiter Hand” 125 Um auch diese nicht erfasste Form der Übersetzung theoretisch einzubinden, sei es erlaubt, das hier entworfene Schema kurz zu verlassen und einen Exkurs in die Metatheorie der Übersetzung zu unternehmen Das in Abschnitt 1 .3 des ersten Teils im Rahmen der Übersetzungstheorien kurz vorgestellte Prototypenmodell eignet sich besonders zur f lexiblen Beschreibung in der historisch-deskriptiven Forschung und bietet sich auch für die Thematik der Übersetzung aus zweiter Hand an . Überträgt man das von Schreiber (2006a, 384) vorgestellte konzentrische 3-Zonen-Modell (eine vereinfachte Form der prototypischen Klassifizierung) auf das oben entwickelte Schema, so ergibt sich folgendes Bild für die prototypische Kategorie „Übersetzung aus zweiter Hand“: • Zone C (centre): Aneignung • Zone P (periphery): Kontamination • Zone N (neighbourhood): Bearbeitung aus zweiter Hand Wie aus dieser Standortbestimmung hervorgeht, ist die prototypische Form der Übersetzung aus zweiter Hand die Aneignung als Reinform, bei der dem Übersetzer ausschließlich die Mittlerversion vorliegt In der Peripherie ist die Kontamination als weniger typische Mischform angesiedelt, bei der Original und Mittlerversion konsultiert werden Die Bearbeitung aus zweiter Hand gehört in diesem Modell zur benachbarten Zone, d h sie weist nicht alle, sondern lediglich ein oder mehrere typische Merkmale der Kategorie auf Das typische Merkmal, das die Bearbeitung aus zweiter Hand als der Kategorie „Übersetzung aus zweiter Hand“ zugehörig ausweist, ist die Vermittlung durch eine intermediäre Version-- in diesem Fall eine Bearbeitung des Originaltextes Zum Abschluss seien die verschiedenen möglichen Abstufungen der Übersetzung aus zweiter Hand, wie sie sich nach Verfahren und Haltung des Übersetzers hinsichtlich der Zwischenstufe in einer dritten Sprache einteilen lassen, noch einmal in tabellarischer Form zusammengefasst: Übersetzung aus zweiter Hand Aneignung Kontamination eingestanden transparente Aneignung transparente Kontamination kritische transparente Kontamination nicht-kritische transparente Kontamination uneingestanden opake Aneignung opake Kontamination Diese möglichen Formen der Übersetzung aus zweiter Hand schlagen sich textimmanent in mehr oder minder ausgeprägten Anlehnungen an die Textfassung der konsultierten Mittlerversion nieder Um die Frage nach der Natur dieser Anlehnungen beantworten zu können, müssen die beiden übersetzten Fassungen auf verschiedenen Textebenen analysiert und einander gegenübergestellt werden Auf diese Weise kann unter den einzelnen Fällen der Übersetzung aus zweiter Hand mithilfe der Übereinstimmungen eine Hierarchie der Plausibilität aufgestellt werden . Offensichtliche „Übersetzungsfehler“, <?page no="126"?> II Typologie und Panorama der Übersetzertätigkeit „aus zweiter Hand” 126 die in beiden Versionen auftreten, können als klare Indizien für eine Konsultation der Mittlerversion gewertet werden; das Vorkommen ähnlicher syntaktischer Strukturen allein liefert hingegen nur einen schwachen Anhaltspunkt, da hier auch das romanische Sprachsystem die Übersetzerentscheidung in ähnlicher Richtung beeinf lusst haben kann Um den Charakter der einzelnen Übersetzungen und den Grad der Anlehnung an die Mittlerversion zu eruieren, soll in Kapitel 2 zur Methodik das erforderliche Instrumentarium entwickelt werden Nachdem nun das begriff liche Handwerkszeug bereitgestellt wurde, soll das bisher eher abstrakt behandelte Phänomen auf das konkrete Sprachenpaar bezogen historisch eingebunden werden Bereits in der Frühromantik hat Schlegel in seiner Konzeption der poetischen Übersetzung die Beziehung von Original und Übersetzung als Prozess einer unendlichen Annäherung definiert, so dass Übersetzung stets unabgeschlossen bleiben muss: Sie ist dem Wandel der Zeiten unterworfen, und ihre Definition ändert sich mit dem historisch bedingten Wandel des Textverständnisses (vgl Konopik 1997, 191) Ebenso ändert sich auch die Akzeptanz von Übersetzungen aus zweiter Hand im Laufe der Geschichte, wie die Episode der belles infidèles illustriert Hinsichtlich der Natur italienischer Übersetzungen aus zweiter Hand aus dem Deutschen lassen sich für die untersuchte Zeitspanne vom 18 bis zum 20 .-Jahrhundert bereits vorab erste vorsichtige Hypothesen formulieren Zu erwarten ist, dass sich bei Übersetzungen älterer deutschsprachiger Werke, die etwa im 18 und frühen 19 - Jahrhundert angesiedelt sind, noch die Nachwirkungen der Epoche der französischen belles infidèles bemerkbar machen, die den Charakter der französischen „Zwischenstufe“ beeinf lussen Im Frankreich dieser Epoche wird den Lesegewohnheiten und -vorlieben der zielsprachlichen Leserschaft in der Regel der Vorrang vor der „Treue“ zum Original eingeräumt . Und dies gilt umso mehr, wenn der französische Übersetzer in seiner Heimat eine anerkannte Autorität ist, während der Autor des deutschen Originals zum Zeitpunkt der Übersetzung in Frankreich noch wenig bekannt ist Erhebliche Abweichungen der französischen Fassung vom deutschen Original sind hier an der Tagesordnung und auch durchaus nicht ungern gesehen Sie werden glättender oder moralisierender Natur sein, zumal im Frankreich dieser Zeit ein klassisches Formideal angestrebt wurde . Methodisch möchte die Verfasserin mit Stackelberg (1984, 230) betonen, dass dieser erste Rezeptionsschritt, die Übersetzung ins Französische, die größte Aufmerksamkeit verlangt, da nur so die Frage nach der Abhängigkeit der nachfolgenden Übersetzung von der jeweiligen Vorlage überhaupt geklärt werden kann: „Der erste erwies sich meist auch schon als der entscheidende Schritt, zumal die französische Übersetzertradition da entsprechend zu Buche zu schlagen pf legte “ Angesichts der Nähe der beiden romanischen Kulturräume ist zu erwarten, dass sich der französische Zeitgeschmack auch in der italienischen Fassung entsprechend widerspiegelt Zudem ist in dieser Epoche eine offene Deklarierung der französischen Zwischenstufe wahrscheinlich Voraussichtlich überwiegt dabei die nicht-kritische transparente Kontamination gegenüber der mittelbaren Replik, d h . der Übersetzer wird sich der französischen Fassung gegenüber eher unkritisch verhalten . Aufschlussreich für diese frühen Übersetzungen aus zweiter Hand sind zweifelsohne die Übersetzervorreden, sowohl was die französische als auch was die italienische Fassung betrifft Besonders bei einem vom Zeitgeschmack abweichenden Übersetzungsstil ent- <?page no="127"?> 1 Die „Übersetzung aus zweiter Hand” 127 halten sie nicht selten eine Apologie der Übersetzungsentscheidungen und des Sprachstils, zumal die Autoren auf diesem Wege um die Gunst der Leserschaft ihrer Zeit werben In einigen italienischen Vorreden eingestandener Übersetzungen aus zweiter Hand lassen sich sogar direkte Hinweise auf die jeweilige französische Version finden, die bei der Übersetzung Pate gestanden hat Es sei aber mit Schultze (1987, 16) an die Tatsache erinnert, „daß man auch dort, wo der Übersetzer getreulich aus dem Original zu übersetzen vorgibt, mit einer Übersetzung aus zweiter Hand rechnen kann“ Über die italienischen Übersetzungen neuerer Werke (d h . aus dem späten 19 bis frühen 20 Jahrhundert) lassen sich hingegen noch kaum konkrete Voraussagen treffen Gegen Ende des 19 Jahrhunderts mögen immer noch mangelnde Sprachkenntnisse eine Rolle spielen, wenn der Übersetzer seinen französischen Vorgänger konsultiert, es wird aber sicherlich verstärkt der Faktor Zeitersparnis in den Vordergrund rücken: Wie bereits erwähnt bietet ein Vergleich mit der französischen Fassung nicht selten probate Lösungen, die dann nur noch übernommen werden müssen . Auf diese Form der Verwendung der Mittlerfassung als „Halbfertigprodukt“ ist weiter oben schon hingewiesen worden 10 Die französische Zwischenstufe wird dabei in den meisten Fällen opak bleiben, so dass wir es in der Regel mit opaken Kontaminationen zu tun haben werden Eines kann aber bereits vorab festgehalten werden: Das Vorliegen einer Form der Übersetzung aus zweiter Hand im weiteren Sinne wird naturgemäß umso schwieriger zu belegen sein, je „jünger“ Original und Übersetzung sind . So werden auch die Verdachtsmomente immer dünner gesät sein: Als Indizien für ein „Durchschimmern“ des französischen Sprachduktus durch den italienischen Text mögen dabei die oben aufgeführten strukturellen, syntaktischen und lexikalischen Merkmale der italienischen Fassung dienen 1.2 Einordnung und Bewertung des Phänomens Um die kulturelle Bedeutung der Übersetzung aus zweiter Hand als historisches Phänomen richtig einordnen zu können, muss man sie als eine Sonderform der übergeordneten Praxis des Übersetzens begreifen, deren Schlüsselfunktion nicht zu unterschätzen ist: Erst mit dem Einsetzen der Übersetzungstätigkeit 11 findet auch ein Austausch zwischen den Kulturen statt- - wobei es sich genau genommen erst dann um einen echten Austausch handelt, wenn fremde Völker als gleichberechtigte Partner wahrgenommen werden 12 Bekanntlich verfügt bereits die klassische Antike mit Cicero und Horaz über berühmte Denker, die sich mit dem Übersetzen beschäftigt haben Ihnen ging es aber primär um Dichtkunst und Rhetorik und nicht um das Handwerk des Übersetzens, das 10 Vgl Abschnitt 1 .2 .3 des ersten Teils der Arbeit 11 Als älteste erhaltene Zeugnisse der Übersetzungstätigkeit führt Stolze ( 5 2008, 15) altbabylonische Inschriftentafeln in sumerischer und akkadischer Sprache aus dem 3 Jahrtausend v Chr an 12 Davon konnte etwa in der griechischen Antike und im alten Ägypten, wo fremde Völker als Barbaren empfunden wurden, keine Rede sein So ist auf dem „Dolmetscherrelief “ aus dem Grab des Statthalters Haremhab in Memphis der Statthalter doppelt so groß dargestellt wie der Dolmetscher und die knienden Fremden, denen dieser die Botschaft des Statthalters übermittelt (vgl Stolze 5 2008, 15 f ) <?page no="128"?> II Typologie und Panorama der Übersetzertätigkeit „aus zweiter Hand” 128 in ihren Texten eher am Rande abgehandelt wird Die Horaz-Stelle „nec verbum verbo curabis reddere fidus interpres“ 13 zeugt sogar von einer leicht herablassenden Haltung gegenüber dem „fidus interpres“, dessen wörtlicher Methode der Übertragung (verbum verbo)- - zu Horazens Zeiten v a der Übertragung griechischer Literatur ins Lateinische- - ein begabter Dichter sich nicht verpf lichtet fühlen sollte Er sollte nicht in erster Linie auf eine getreue Wiedergabe bedacht sein, sondern dem „sinngemäßen Übersetzen“ den Vorzug geben 14 Damit bestand das Ziel des Dichters primär darin, den griechischen Text der eigenen, römischen Kultur, „einzuverleiben“, um die lateinische Sprache zu bereichern und literaturfähig zu machen . Die griechisch-römische Übersetzungstradition vorchristlicher Zeit steht also noch ganz im Zeichen der „Eroberung“- - historisches Denken und der Sinn für die kulturelle Eigenständigkeit anderer Völker sind kaum ausgeprägt und werden dem Machtstreben des antiken Weltreiches untergeordnet 15 Das Übersetzen als Form des kulturellen Austauschs hingegen beginnt genau genommen erst mit der Bibelübersetzung in der christlichen Ära der Spätantike Bedeutsam ist dabei die „sprachuniversalistische“ Ausrichtung des Christentums: Im Gegensatz zu den beiden anderen Offenbarungsreligionen, dem Judentum und dem Islam, ist der heilige Text hier auch losgelöst von seiner einzelsprachlichen Form denkbar Der Übersetzung kommt also eine zentrale Funktion zu 16 Einen Meilenstein bilden die theoretischen Anschauungen des prominenten Bibelübersetzers Hieronymus, die erstmals aus der Perspektive eines Übersetzers Auskunft über die Methode des Übersetzens geben Hieronymus beruft sich zwar generell auf das vermeintlich „sinngemäße“ Verfahren des Horaz, das er- - wie viele Übersetzungsforscher nach ihm- - als Vorgabe für den Übersetzer missversteht, er nimmt aber von dieser Regel die heiligen Schriften aus, in denen bereits die Wortstellung ein Mysterium sei 17 Für ihn wie auch für andere Bibelübersetzer nach ihm liegt das Ziel in dem Bemühen, „die göttlich inspirierten Schriften, wenn sie denn überhaupt übersetzt werden können, möglichst in jeder Einzelheit ihrer Struktur zu übertragen, um ihre heilige Kraft nicht zu verletzen“ (Feder 2002, 81) Wenn auch hier die „göttliche Inspiration“ und nicht kulturelle und historische Aspekte den Ausschlag geben, so bewirkt die übersetzerische „Treue“ zum einzigartigen Original doch eine bisher nicht da gewesene Auseinandersetzung mit der historischen Kultur, in die der Text eingebettet ist Diese „getreue“ Form der Übertragung strahlt auch auf 13 Horaz, De arte poetica, 133 f ., zit nach Albrecht 1998, 56 14 Albrecht (1998, 56 f ) merkt an, dass diese Textstelle von zahlreichen Übersetzungswissenschaftlern-- in der Tradition des Kirchenvaters Hieronymus- - als Aufforderung an den Übersetzer zum freien Übersetzen missverstanden wurde, obgleich Horaz hier doch unmissverständlich die jungen Dichter als Adressaten im Auge hatte Andere, z B Pierre Daniel Huet, leiten aus diesem Passus ganz im Gegenteil eine Verpf lichtung des Übersetzers zur Treue ab Beides lässt sich nach Albrecht nicht rechtfertigen, da es sich lediglich um eine ebenso beiläufige wie wertfreie Bemerkung über den Übersetzer in Abgrenzung zum Dichter handle . Vgl zum Folgenden Albrecht 1998, 56 ff ., ferner auch Albrecht 2010 15 Erinnert sei an das Nietzsche-Zitat in Abschnitt 2 .3 .2 des ersten Teils dieser Arbeit 16 Vgl hierzu Albrecht 1998, 118 17 „Ego enim non solum fateor, sed libera voce profiteor me in interpretatione Graecorum absque scripturis sanctis, ubi et verborum ordo mysterium est, non verbum e verbo, sed sensum exprimere de sensu“ (zit nach Marti 1974, 74) <?page no="129"?> 1 Die „Übersetzung aus zweiter Hand” 129 die Übersetzung weltlicher Literatur aus, hier beginnen sich die Übersetzer ebenfalls gewissenhafter mit dem „Original“ und dessen kultureller Einbettung zu beschäftigen . Ein jüngeres Beispiel für die Schlüsselfunktion der Übersetzung als Vehikel des-- erneut vornehmlich vertikalen-- kulturellen Austauschs ist der Renaissancehumanismus, dessen berühmte Vertreter, wie Leonardo Bruni, ein Bewusstsein für die Historizität und die kulturelle Individualität von Sprachen entwickeln . Nach dem Mittelalter mit seinem adaptierenden Übersetzungsbegriff, das den Terminus „Übersetzung“ bezeichnenderweise gar nicht verwandte 18 , markiert die Renaissance ein Neuerwachen des Interesses an fremden Kulturen und besonders an der griechischen und römischen Antike . Auch zu dieser Zeit gibt es allerdings Übersetzer, die auf Mittlerversionen zurückgreifen und sich etwa griechische Werke anhand vorhandener lateinischer Texte erschließen 19 Vor diesem Hintergrund betrachtet, sagen Verbreitung und zeitgenössische Wertung des Phänomens Übersetzung aus zweiter Hand nicht zuletzt etwas darüber aus, wie es in der jeweiligen Epoche um den Austausch zwischen den beteiligten Kulturräumen bestellt ist Eine allgemeine Häufung von Übersetzungen aus zweiter Hand ist stets ein Indiz für fehlende oder kaum ausgeprägte kulturelle Beziehungen von „Geberland“ und „Empfängerland“ Überdies verstellen gehäuft auftretende Übersetzungen aus zweiter Hand den Blick auf das „Geberland“ zusätzlich, da die vermittelnde Kultur als Filter wirkt- - man denke nur an die Weiterübersetzungen der belles infidèles, die nicht selten das Entstehungsland des Originals in falschem Licht erscheinen lassen Doch diese (doppelt) verzerrte Rezeption findet nicht nur auf der kulturellen „Makroebene, sondern auch auf der „Mikroebene“ des literarischen Textes und des Autors statt: Übersetzungen aus zweiter Hand zeugen nämlich i d R wenn nicht von Unkenntnis, so doch von mangelndem Respekt gegenüber dem Original und dessen Autor Dies gilt besonders dann, wenn sie zusätzlich mit Vermerken wie „aus dem Französischen“ als solche kenntlich gemacht werden Andererseits markieren Übersetzungen aus zweiter Hand häufig überhaupt erst den Beginn von Rezeptionsvorgängen, nämlich dann, wenn es sich um bis dahin im Zielland völlig unbekannte Autoren handelt So bemerkt Lavinia Mazzucchetti (1913, 49) im Hinblick auf die Rezeption deutschsprachiger Literatur in Italien scharfzüngig: (…) sarà chiaro che assenza di traduzioni significa anche ignoranza assoluta di un autore Infatti, appena un nuovo letterato è in qualche modo ‚scoperto‘, non manca la persona zelante, abile o sfacciata che ne fornisce una traduzione coscienziosa, una versione improvvisata di seconda mano… dal francese, od una qualunque sconciatura, la persona insomma che in qualche modo rende noto ‚il nuovo astro del Parnaso oltramontano agli altri membri della gloriosa repubblica letteraria‘ 18 Zum Übersetzungsbegriff im Mittelalter vgl vor allem Claude Buridant 2011, 325-381 (Der von Claudio Galderisi edierte Sammelband Translations médiévales liefert im Übrigen ein umfassendes Verzeichnis der mittelalterlichen Übersetzungen ins Französische) 19 Ballard (1992, 99) berichtet beispielsweise von dem französischen Übersetzer am Hofe Ludwigs XII Claude de Seyssel, der 1504-1505 Xenophons Anabasis aufgrund mangelnder Griechischkenntnisse über eine von Jehan Lascary eigens zu diesem Zweck angefertigte lateinische Zwischenversion ins Französische übertrug Auch im England der Renaissance waren Ballard (ebd ) zufolge ähnliche Übersetzer aus zweiter Hand anzutreffen <?page no="130"?> II Typologie und Panorama der Übersetzertätigkeit „aus zweiter Hand” 130 Aus Sicht eines modernen Übersetzungswissenschaftlers muss das Urteil über die Übersetzung aus zweiter Hand sicherlich ähnlich negativ ausfallen, wie es hier zwischen den Zeilen herauszulesen ist- - wenn man einmal von der sich in jüngster Zeit abzeichnenden Tendenz absieht, der indirect translation mit Blick auf die Gegenwart einen legitimen Platz einzuräumen und sie als Übergangslösung zur Beförderung des Austauschs zwischen den Kulturen teilweise zu „rehabilitieren“ . 20 Angesichts des historisch-deskriptiven Ansatzes dieser Arbeit sollen aber Pauschalurteile aus heutiger Perspektive weitgehend vermieden werden Stattdessen erscheint es sinnvoll, das Phänomen historisch und kulturell einzubetten und von dieser Warte aus zu bewerten Historisch gesehen gibt es ebenso viele Gründe für eine Übersetzung aus zweiter Hand, wie es Erscheinungsformen gibt, wobei im konkreten Einzelfall sicherlich mehrere Aspekte zusammenwirken Bekennt sich der Übersetzer selbst zu dieser Praxis, wie es in der Epoche der schönen Ungetreuen häufig der Fall war, so ist dies in den meisten Fällen dem hohen Prestige der „Mittlerkultur“ geschuldet . Der Zusatz „aus dem Französischen“ verleiht der Übersetzung dann besondere Autorität und dient als Garant für „Qualität“ im Sinne des herrschenden Stilideals Aber auch die Person des „vermittelnden“ Übersetzers kann der Mittlerversion Gewicht verleihen, etwa wenn es sich um einen anerkannten Schriftsteller handelt . 21 Diese Form der Übersetzung aus zweiter Hand wird gemeinhin als positiv empfunden oder zumindest unref lektiert als gegeben hingenommen Dass die Autorität der Dichterpersönlichkeit für das Prestige einer Übersetzung mitunter so bedeutsam sein kann, dass sogar der Aspekt der Sprachbeherrschung in den Hintergrund tritt, mag folgender Fall illustrieren, der hier cum grano salis als Reinform der Übersetzung aus zweiter Hand „verkauft“ werden soll: Als der italienische Dichter des ausgehenden Sette- und beginnenden Ottocento Vincenzo Monti 1810-11 seine berühmte Ilias- Übersetzung im neoklassizistischen Stil vorlegt 22 , wird sie von der Kritik als einzige mit Homers Original vergleichbare italienische Version gefeiert Die Tatsache, dass seine Griechischkenntnisse für eine Konsultation des Originals nicht ausreichen und er sich deshalb neben der lateinischen auf bereits erschienene italienische Versionen stützt, 23 20 Einer solchen „Rehabilitierung“ redet Xu Jianzhong (2003) das Wort, der das Phänomen vor dem Hintergrund der Situation in China betrachtet, wo die indirect translation gängige Praxis war Nobel Perdu Honeyman (2005) verweist für das Arabische auf die Kostenersparnis und die schnellere Verfügbarkeit von Übersetzungen Vgl hierzu den Forschungsüberblick in Abschnitt 1 1 des ersten Teils dieser Arbeit 21 Ein Beispiel für einen Bearbeiter als Qualitätsgaranten wurde weiter oben bereits angeführt, nämlich Maria Luisa Carossos Übersetzung einer Hoffmann-Erzählung nach der Bearbeitung von Alexandre Dumas . Neben der Bekanntheit des französischen Schriftstellers spielt hier natürlich auch die Mittlerkultur eine entscheidende Rolle für die Wahl der Vorlage 22 Weitere Auf lagen folgten in den Jahren 1812, 1820 und 1825, was bereits den großen Erfolg der Übersetzung illustriert 23 Neben zweisprachigen Ausgaben auf Griechisch und Latein bediente er sich der reich mit Anmerkungen versehenen Prosaversion von Melchiorre Cesarotti (1786-1794) sowie anderer gelehrter Fassungen Cesarottis zehnbändiges Werk umfasst übrigens auch eine Versübersetzung, deren Titel La morte di Ettore bereits auf den Charakter einer „korrigierenden“ Bearbeitung im Stil der französischen belles infidèles schließen lässt und die Monti als zu gekünstelt und dem schlichten Sprachduktus des Griechischen nicht angemessen empfand <?page no="131"?> 1 Die „Übersetzung aus zweiter Hand” 131 tut seinem Ruhm dabei keinen Abbruch Ugo Foscolos auf Monti gemünzte bissige Bemerkung vom „traduttor dei traduttori“ bleibt eine Einzelstimme, die vor dem Hintergrund der neoklassizistischen Betonung der Form gegenüber der getreuen Wiedergabe des Originals kaum ins Gewicht fällt In der Regel haben wir es aber mit „einfachen“ Übersetzern ohne schriftstellerische Autorität zu tun, und hier fällt die profane Tatsache, dass die Kenntnis der Originalsprache für die Übersetzung nicht ausreicht, bei der Beurteilung wesentlich stärker ins Gewicht Dies gilt auch zur Zeit der schönen Ungetreuen, als die Vermittlung durch das Französische die gesellschaftliche Anerkennung einer Version aus zweiter Hand garantiert Doch auch zu dieser Zeit gilt das Vorgehen bereits als unseriös, wie die folgende Anekdote zur deutschen Übersetzungspraxis Mitte des 18 Jahrhunderts 24 zeigt (vgl Knufmann 1969, 497-498): Die Gottschedin, die für ihre Übersetzung eines englischen Werkes zunächst auf die französische Fassung zurückgegriffen habe, habe sich später damit entschuldigt, das Original sei für sie nicht einsehbar gewesen Nach einem Blick in das schließlich doch erreichbare Original habe sie ihre voreilige Entscheidung allerdings bereut und sei nun überzeugt, dass „nichts ungetreueres und abweichenderes zu finden sey, als die Uebersetzungen der Franzosen“ (ebd ) Als Verständnishilfe bei der Übersetzung eines nichtromanischen Originals in eine romanische Sprache bietet sich die französische Zwischenstufe natürlich ebenso an, und da dieses Vorgehen beim zeitgenössischen Lesepublikum der Übersetzung nicht auf ungeteilte Zustimmung stieß, wurde die Übersetzung verständlicherweise gern als direkte Übertragung des Originals deklariert Problematisch wird es dann, wenn die Übersetzung aus zweiter Hand aus Gründen der Zeitersparnis und der mangelnden Sprachbeherrschung zu qualitativ minderwertigen Ergebnissen führt- - es sei denn, der Zeitgeschmack billigt diese als gewollte französisierende „Anpassungen“ des Originals Wie bereits gezeigt werden konnte, ist dies besonders im boomenden Übersetzungswesen der Restaurationsära in der Lombardei und Venetien der Fall Konsultiert der Übersetzer die „Mittlerversion“ aber lediglich am Rande, um Klippen im Original zu umschiffen oder Anregungen und Ideen für eigene Übersetzungslösungen zu erhalten, so ist dies auch aus heutiger Sicht nicht negativ zu beurteilen . 25 Schließlich ist es auch heute noch verbreitete Praxis unter Literaturübersetzern, sich von bereits erschienenen Fassungen in anderen Sprachen inspirieren zu lassen Der bekannte Übersetzer Umberto Ecos Burkhart Kroeber (2001, 416), um nur ein Beispiel zu nennen, bekennt sich anlässlich seiner Neuübersetzung von Manzonis Promessi sposi ganz selbstverständlich zu diesem Vorgehen: „Bei einem solchen Projekt kann es niemals schaden, sich auch Übersetzungen in andere Sprachen 24 Das deutsche Übersetzungswesen, in dem sich schon gegen Ende des 18 Jahrhunderts frühromantische Ideen durchzusetzen beginnen, ist natürlich nicht mit dem italienischen der damaligen Zeit vergleichbar Vgl . hierzu Abschnitt 2 .2 im ersten Teil dieser Arbeit 25 Dies gilt zum Beispiel für Giovita Scalvini, der sich für seine Faust-Übersetzung von 1835 bei gleich zwei französischen Vorgängerversionen Anregungen holt (vgl Kapitel 3 des zweiten Teils dieser Arbeit) . <?page no="132"?> II Typologie und Panorama der Übersetzertätigkeit „aus zweiter Hand” 132 anzusehen“ . 26 Wenn dies ref lektiert geschieht, ist die Gefahr von Interferenzen aus der Mittlersprache oder Verlusten und Verzerrungen gegenüber dem Original entsprechend gering 26 Und auch der große italienische Dichter und Übersetzer Franco Fortini betont 1971 anlässlich der Verleihung des Preises für Literaturübersetzer „Città di Monselice“ für seine Übersetzung von Goethes Faust: „Quella prima fase della traduzione „( . . ) [e]ra anche la fase del confronto con le altre traduzioni, italiane o straniere“ (Fortini 1971, 24) Den Hinweis verdankt die Verfasserin Herrn Dr Nino Briamonte <?page no="133"?> 2 Zur Methodik 2.1 Verdachtsmomente und Strategien zur „Überführung” möglicher Übersetzungen aus zweiter Hand: ein Ermittlungsbericht Im Anschluss an die oben unternommene allgemeine Definition und Einordnung des Phänomens sollen jetzt einige methodische Überlegungen zu der Frage angestellt werden, wie sich das doch sehr weite und unübersichtliche Forschungsfeld der Übersetzung aus zweiter Hand nun konkret bestellen lässt In Anbetracht des zugrunde gelegten zweigeteilten Ansatzes kommt es in diesem zweiten Teil vor allem darauf an, möglichst viele unterschiedliche Belege für das Phänomen der Übersetzung aus zweiter Hand zusammenzutragen, um einen ersten Eindruck von Ausmaß und Umständen seiner Verbreitung zu gewinnen Qualitative Aspekte wie die literarische Qualität der Primärtexte oder die konkrete Vorgehensweise der Übersetzer treten dabei hinter rein quantitativen Gesichtspunkten zurück- - sie haben ihren Platz in der exemplarischen Übersetzungsanalyse in Teil drei dieser Arbeit Als Erstes soll es darum gehen, das zu sondierende Forschungsfeld abzustecken, sowohl hinsichtlich des zu untersuchenden Zeitraumes als auch hinsichtlich der Autoren und Werke, die für eine nähere Betrachtung in Frage kommen . Was die zeitliche Eingrenzung betrifft, ist vorauszuschicken, dass der Einf luss Frankreichs als dominante Mittlerkultur innerhalb Europas in der Epoche der schönen Ungetreuen besonders groß ist, dass Frankreich aber auch noch im 18 und 19 . Jahrhundert eine nicht zu unterschätzende kulturelle Vorbildfunktion zukommt Umgekehrt stellt sich die Frage, zu welchem Zeitpunkt die deutsche literarische Produktion in Frankreich besonders stark rezipiert wird, die Bedingungen für ein gehäuftes Auftreten französischer Übersetzungen deutscher Werke also besonders günstig sind Mit der Beantwortung dieser Frage hat sich der erste Teil der vorliegenden Arbeit befasst . 27 Hier lässt sich also bereits eine erste Eingrenzung auf die Mitte des 18 Jahrhunderts einsetzende Epoche der literarischen Romantik einerseits und auf die Phase der französischen Rezeption deutscher Philosophen während des 19 Jahrhunderts andererseits vornehmen . Hinsichtlich der in Frage kommenden Autoren und Werke sind nun die Schriftsteller des deutschen Sprachraums in den Blick zu nehmen, die in Frankreich im genannten Zeitraum (a) besonders intensiv und (b) besonders „eigenwillig“ rezipiert werden Dazu gehören wohl in erster Linie solche Autoren, deren französische Rezeption sich aufgrund sprachlicher und inhaltlicher Aspekte ihres Schaffens besonders schwierig gestaltet Auch zu dieser Problematik haben sich im ersten Teil dieser Arbeit bereits erste Anhaltspunkte ergeben 27 Vgl Abschnitt 2 .3 .3 in Teil I dieser Arbeit <?page no="134"?> II Typologie und Panorama der Übersetzertätigkeit „aus zweiter Hand” 134 Entscheidende Hinweise zur Klärung solcher wichtiger Präliminarien verdankt die Verfasserin Herrn Prof Giuseppe Bevilacqua, Emeritus an der Fakultät für deutsche Sprache und Literatur der Universität Florenz, der ihre Aufmerksamkeit hinsichtlich des 19 Jahrhunderts auf Übersetzungen von Werken E T A . Hoffmanns und Schillers, für das ausgehende 19 und beginnende 20 Jahrhundert auf Nietzsche-Übersetzungen gelenkt hat Andere Denker, wie z B Hegel, hält Bevilacqua für weniger relevant, da sie in Italien durch die neapolitanische Schule Verbreitung fanden, deren Exponenten-- von Bertrando Spaventa bis zum jungen Benedetto Croce- - über gute Deutschkenntnisse verfügten Ferner weist Jörn Albrecht auf die Werke Immanuel Kants, die sich tatsächlich als sehr lohnende Forschungsobjekte erwiesen haben, sowie für den Bereich der Literatur des 20 Jahrhunderts auf Thomas Mann hin Was die italienischen Erstübersetzungen Thomas Manns betrifft, so sollte sich der Verdacht zunächst nicht erhärten; ein genauerer Blick auf spätere Übersetzungen förderte aber auch hier einen Fall der mittelbaren Übertragung zutage Auf die Bedeutung von Karl Marx’ Schriften und insbesondere von dessen Hauptwerk Das Kapital für das hier untersuchte Phänomen, die Nino Briamonte in seinem Aufsatz Autotraduzione herausstreicht, ist bereits in der Einleitung verwiesen worden Die politische Internationalität des Marxismus sowie die Tatsache, dass Marx selbst die französische Fassung als Referenzwerk für die Weiterübersetzung in andere romanische Sprachen empfiehlt, machen Das Kapital zu einem Sonderfall der Übersetzung aus zweiter Hand Eine weitere Fährte führt zu Freud, dessen frühe italienische Übersetzungen nach dem Bekunden einiger Forscher stark vom Original abweichen So charakterisiert Wolfgang Pöckl (1983, 20) Marco Levi-Bianchinis Freud- Übersetzungen der 1910er und 1920er Jahre als „von eklatanter Verständnislosigkeit gekennzeichnet und daher ‚ziemlich wertlos‘“ Und Bruno Osimo betont die große Diskrepanz der italienischen Fassung gegenüber der englischen, die er auf Verständnisprobleme kultureller Natur zurückführt Bei näherer Betrachtung erweist sich diese Fährte allerdings als Irrweg . 28 Levi-Bianchinis Übersetzungen sind nämlich oft noch vor der französischen Fassung erschienen, und die beiden anderen bedeutenden Freud-Übersetzer der 1920er bis 1940er Jahre, die Triestiner Roberto Bazlen und Edoardo Weiss, verfügten aufgrund ihrer Abstammung aus jüdischen Familien deutschen bzw böhmischen Ursprungs über gute Deutschkenntnisse Ein Vergleich von Edoardo Weiss’ Übersetzung von Totem und Tabu mit der französischen Fassung von Samuel Jankélévitch liefert denn auch keinerlei Anhaltspunkte für eine Übersetzung aus zweiter Hand Nach dieser ersten Eingrenzung der in Frage kommenden Autoren sollen nun nach chronologischen Gesichtspunkten potentielle Kandidaten für eine Übersetzung aus 28 Auch die weitere Rezeption Freuds in Italien und Frankreich verläuft Pöckl (1983, 21 f ) zufolge geradezu spiegelverkehrt: In Italien stößt die Psychoanalyse noch bis Ende des Zweiten Weltkriegs auf heftigen Widerstand insbesondere seitens der Kirche und des faschistischen Regimes, so dass das Bedürfnis nach einer verlässlichen, einheitlichen Übersetzung hier besonders groß ist-- heute liegt das 13-bändige, bei Boringhieri erschienene Corpus freudiano minore als Referenzwerk vor In Frankreich hingegen wird bereits 1926 die Société Psychanalytique de Paris gegründet; die in der Folgezeit stark von Splittergruppen geprägte französische Landschaft der Psychoanalyse zeichnet sich durch eine entsprechend heterogene Terminologie aus <?page no="135"?> 2 Zur Methodik 135 zweiter Hand dingfest gemacht werden Dazu ist ein systematischer Abgleich der Erscheinungsjahre der französischen und italienischen Erstübersetzung aller in Betracht gezogenen Werke erforderlich: Ist die italienische kurz nach der französischen Fassung erschienen, so besteht zumindest eine reelle Chance, dass der italienische Übersetzer Letztere für seine Version berücksichtigt hat- - wenn er sich nicht gar, was vergleichsweise selten der Fall sein wird, ausschließlich auf sie gestützt hat . Verschiedene traditionelle und elektronische Übersetzungsbibliographien bieten sich für diesen Abgleich an . Für das Französische leistet die 1987 von Liselotte Bihl und Karl Epting edierte zweibändige Bibliographie französischer Übersetzungen aus dem Deutschen gute Dienste, die umfassend und detailliert alle von 1487 bis 1944 erschienenen Übersetzungen französischer Sprache verzeichnet . 29 Für das Italienische ist leider nur die umgekehrte Übersetzungsrichtung (Italienisch- - Deutsch) bereits seit dem 18 . Jahrhundert umfassend dokumentiert-- auf die verdienstvolle Übersetzungsbibliographie von Hausmann/ Kapp ist weiter oben bereits verwiesen worden . 30 Für die Übersetzungsrichtung Deutsch-- Italienisch finden sich lediglich Bibliographien, die das 20 Jahrhundert berücksichtigen, wie beispielsweise das in den 1960er Jahren in Rom edierte, zweibändige Repertorio bibliografico della letteratura tedesca in Italia des Istituto Italiano di Studi Germanici, das den Berichtszeitraum von 1900 bis 1965 abdeckt, ferner die Bibliographie von Pia Candinas zur Deutschsprachige[n] Literatur in italienischer Übersetzung, deren zwei Bände den Zeitraum von 1945 bis 1990 dokumentieren . 31 Darüber hinaus lassen sich internationale Übersetzungsbibliographien konsultieren, insbesondere der Index translationum der UNESCO, der in der Printversion 32 die Jahrgänge 1932 bis 1992 umfasst und ab Jahrgang 1979 auch als CD-Rom erhältlich ist Auf dem Internetportal des Index translationum 33 können ebenfalls übersetzte Werke ab 1979 recherchiert werden . Den Berichtszeitraum von 1954 bis 1990 dokumentiert das zwölf bändige Gesamtverzeichnis der Übersetzungen deutschsprachiger Werke. (GVÜ). 34 Zum Auffinden italienischer Erstübersetzungen des 29 Bihl, Liselotte/ Karl Epting (Hrsg ) (1987), Bibliographie französischer Übersetzungen aus dem Deutschen. 1487-1944. Bibliographie de traductions françaises d’auteurs de langue allemande/ 2 Bde Tübingen: Niemeyer 30 Im Hinblick auf die Übersetzungsrichtung Romanisch- - Deutsch verdient ferner das aktuelle DFG-Projekt „Saarbrücker Übersetzungsbibliographie“ am Lehrstuhl für Romanische Übersetzungswissenschaft der Universität des Saarlandes Erwähnung, das eine elektronische Recherchemöglichkeit für Übersetzungen von Sachtexten aus dem Französischen, Italienischen, Spanischen und Portugiesischen im Zeitraum von 1450 bis 1912 bereitstellt (http: / / fr46 .uni-saarland .de/ sueb/ new/ ) Auch die Saarbrücker Forscher weisen auf die dominante Position des Französischen unter den Übersetzungen aus der Romania vor allem seit Beginn des 17 Jahrhunderts hin 31 Daneben können autorspezifische Beiträge wie die 1961 in der Rivista storica del socialismo von Gian Maria Bravo verfasste Bibliografia delle traduzioni italiane degli scritti di Karl Marx e di Friedrich Engels zu Rate gezogen werden (4 1961, n 13-14, p 281-440) 32 Bände der Printversion des Index translationum. Répertoire international des traductions, Hrsg UNESCO, Paris: Nr 1 1932-- 31 1940; N S -1 1948(1949)-- 39 1986(1992) 33 Der Index Translationum ist unter der UR L http: / / portal .unesco .org/ culture/ xtrans aufzurufen 34 Gorzny, Willi (Hrsg ), Gesamtverzeichnis der Übersetzungen deutschsprachiger Werke. (GVÜ). Bibliography of translations of German language publications. Bd.- 1-12. Berichtszeitraum 1954-1990 München u a .: Saur . <?page no="136"?> II Typologie und Panorama der Übersetzertätigkeit „aus zweiter Hand” 136 18 und 19 Jahrhunderts muss auf Online-Bibliothekskataloge zurückgegriffen werden; hier leistet z B das italienische Internetportal Internet Culturale gute Dienste . 35 Über die auf äußere Umstände der Publikation bezogenen Verdachtsmomente hinaus sind qualitative Aspekte zu berücksichtigen, die bei den in Frage kommenden Werken den Anfangsverdacht erhärten oder entkräften können Es kann dabei zunächst nur nach dem trial and error-Verfahren vorgegangen werden . Unverzichtbar ist dazu ein Blick in die jeweiligen französischen und italienischen Ausgaben, die inzwischen häufig auch in elektronischer Form zugänglich sind So ist für das Französische das Internetportal der französischen Nationalbibliothek „gallica“ 36 eine wahre Fundgrube für Erstübersetzungen von Klassikern deutscher Literatur, zumal die Texte mit zuverlässigen Angaben über Erscheinungsjahr, Verlag und Übersetzer versehen sind Philosophische, psychologische und sozialwissenschaftliche Werke in französischer Übersetzung lassen sich in der elektronischen Bibliothek der Universität Québec 37 recherchieren, die beispielsweise Texte von Freud oder Marx enthält Leider sind italienische Übersetzungen deutscher Werke bisher immer noch kaum elektronisch zugänglich Hier kann man lediglich auf Portale wie „logoslibrary .eu“ 38 , eine nicht offizielle Quelle mit digitalisierter Literatur in allen Sprachen, zurückgreifen, die auch übersetzte Literatur enthält, allerdings unpaginiert und bisweilen mit lückenhaften Quellenangaben Wo keine elektronischen Ausgaben verfügbar sind, werden die Originale in Papierform konsultiert, die in französischen und italienischen National- und Regionalbibliotheken einzusehen sind Am einfachsten identifizierbar sind natürlich eingestandene Übersetzungen aus zweiter Hand, insbesondere wenn sie explizit durch den Titelzusatz „aus dem Französischen“ als solche gekennzeichnet sind Ist dies nicht der Fall, so kann häufig der Übersetzervorrede ein Verweis auf die französische Übersetzung entnommen werden Schwieriger gestaltet sich die Recherche bei uneingestandenen mittelbaren Übersetzungen, denn hier muss auf Anhaltspunkte der „äußeren Übersetzungsgeschichte“ sowie auf den direkten Textvergleich zurückgegriffen werden . Als Erstes stellt sich dabei die Frage nach der Plausibilität: Verfügt der italienische Übersetzer über deutsche Sprachkenntnisse, stammt er möglicherweise aus einer Grenzregion Italiens oder ist er bereits an anderer Stelle als Übersetzer aus zweiter Hand in Erscheinung getreten? Weitere „externe“ Hinweise lassen sich z B Aufsätzen und Monographien zur Rezeption deutscher Literatur in Italien während des untersuchten Zeitraumes bzw . zur Rezeption des übersetzten Autors entnehmen Zusätzlich ist in vielen Fällen die direkte Beweisführung anhand des Vergleichs von Original, französischer und italienischer Fassung notwendig Im Rahmen dieses zweiten Teils, in dem der große, quantitative Überblick über die einzelnen Erscheinungsformen des Phänomens im Vordergrund stehen soll, kann der Vergleich anhand von Stichproben erfolgen Detailanalysen einzelner Werke sollen erst im dritten Teil dieser Arbeit vorgenommen werden . Das notwendige methodische Rüstzeug für die 35 Der Bibliothekskatalog findet sich unter der Adresse http: / / www .internetculturale .it/ moduli/ opac/ opac .jsp 36 Gallica, Bibliothèque numérique de la Bibliothèque nationale de France: http: / / gallica .bnf .fr 37 Die Internetadresse lautet: Les classiques des sciences sociales: http: / / classiques .uqac .ca/ classiques/ 38 Den Hinweis auf die Internetadresse des Portals (http: / / www .logoslibrary .eu/ pls/ wordtc/ new_wordtheque main? lang=en&source=search) verdankt die Verfasserin Bruno Osimo <?page no="137"?> 2 Zur Methodik 137 kontrastive Übersetzungsanalyse liefert Abschnitt 2 .2 dieses Teils der Arbeit . Zunächst gilt es aber, die gefundenen Einzelbelege den in Abschnitt 1 1 entwickelten Kategorien der Übersetzung aus zweiter Hand zu subsumieren . Gliederungsaspekte sind der Grad der Orientierung an der französischen Zwischenstufe sowie das Vorliegen einer offenen oder verdeckten Form der mittelbaren Übersetzung . Insbesondere bei der uneingestandenen Form der Kontamination ergibt sich daraus je nach Stichhaltigkeit der Indizien der inneren und äußeren Übersetzungsgeschichte eine Hierarchie der Plausibilität, angefangen bei eindeutig nachweisbaren bis hin zu lediglich vermuteten Fällen der Zuhilfenahme der französischen Mittlerfassung In Kapitel 3 werden die Einzelbelege dann nach dem genannten Raster zu einer systematischen Überblicksdarstellung der Übersetzertätigkeit aus zweiter Hand zusammengefügt 2.2 Analysekategorien Nachdem das Phänomen in diesem Teil der Arbeit quantitativ erfasst worden ist, soll im dritten Teil die qualitative Analyse von vier ausgewählten Übersetzungen aus zweiter Hand im Mittelpunkt stehen Das hierzu notwendige Instrumentarium soll im Folgenden bereitgestellt werden Der erste Schritt besteht in der Bestimmung derjenigen Aspekte des Originals, der französischen „Zwischenstufe“ und der italienischen Übersetzung, die für die Einordnung und Charakterisierung der jeweiligen Erscheinungsform der Übersetzung aus zweiter Hand relevant sind Es wird danach gefragt, um welche Form der mittelbaren Übersetzung es sich jeweils handelt, ob und inwiefern das Werk a) durch die französische und b) durch die italienische Fassung in Charakter und Wirkung verändert wird und mit welchen Mitteln dies geschieht . Dabei muss das besondere Augenmerk der französischen Mittlerversion gelten, denn sie gibt die Richtung für die weitere Recherche vor Anhand der Übersetzervorreden muss gegebenenfalls geklärt werden, inwieweit sich die Übersetzungskonzeptionen der jeweiligen Versionen unterscheiden . 39 Bei philosophischen Schriften wird voraussichtlich vor allem zu untersuchen sein, ob das philosophische Gedankengebäude durch die linguistischen oder kulturellen Unwägbarkeiten der Übersetzung möglicherweise Schaden genommen hat; bei literarischen Texten im engeren Sinne wird hingegen eher nach der künstlerischen Qualität und dem Stil der Übertragung gefragt werden müssen Das Postulat des deskriptiven Ansatzes, auf dem die kontrastive Analyse fußt, ist also insofern zu präzisieren, als es lediglich auf übersetzerische Entscheidungen sprachlicher und stilistischer Natur anwendbar ist, die Ausdruck einer bestimmten Übersetzungskonzeption sind Insbesondere bei philosophischen Schriften, deren Verständnis ja stets im historischen Rezeptionskontext steht, treten aber auch häufig sachbezogene Fehler auf, die dann als solche deklariert werden müssen Sie fallen damit nicht unter den deskriptiven Ansatz, da sich hier mit einigem Recht von besserem bzw schlechterem Verständnis des Originals sprechen lässt . Darüber hinaus wird immer dann von „Übersetzungsfehlern“ die Rede sein, wenn 39 Zu solchen methodischen Fragestellungen vgl auch Stackelberg 1984, 230 f <?page no="138"?> II Typologie und Panorama der Übersetzertätigkeit „aus zweiter Hand” 138 die festgestellten Abweichungen nachweisbar auf Lesefehlern beruhen und folglich nicht der jeweiligen Übersetzungshaltung zuzuschreiben sind 2 .2 1 Zur Situierung von Original und Übersetzungen innerhalb des-Produktions- und Rezeptionszusammenhangs Vor dem eigentlichen Textvergleich sollen einige Überlegungen zu den erforderlichen Koordinaten des Originals und der zugehörigen Übersetzungen vorausgeschickt werden, die eine Situierung der Texte innerhalb des Zusammenhangs ihrer Produktion und Rezeption erlauben Dabei sollen das Original, die französische sowie die italienische Fassung jeweils gesondert als eigenständige Texte betrachtet werden Im Einzelnen lassen sich die folgenden Analysekriterien unterscheiden: (a) Historische und kulturelle Situierung, Autor und literarische Qualität des Originals (b) Aspekte der „äußeren Übersetzungsgeschichte“ (c) Charakter der Übersetzungen (d) Rezeption und Wirkung der Übersetzung aus zweiter Hand Bevor Aussagen über die Übersetzungen als solche getroffen werden können, muss in einem ersten Schritt eine Standortbestimmung des Originals innerhalb der Entstehungsepoche und -kultur vorgenommen werden (Unterpunkt a) . Bereits die Frage, ob im zeitgenössischen Übersetzungsdiskurs überhaupt von „Original“ die Rede sein kann, sagt viel über das jeweils vorherrschende Übersetzungsverständnis aus, zumal erst mit dem romantischen Konzept des Originals die Vorstellung von übersetzerischer Treue allgemeine Verbreitung fand . 40 Dabei sind der Respekt vor dem Original und der Respekt vor dem Originalautor nicht immer deckungsgleich, wie die Erfahrung der schönen Ungetreuen in Frankreich gezeigt hat Zur Einordnung des Ausgangstextes ist zunächst eine allgemeine Beschreibung des herrschenden kulturellen Klimas der jeweiligen Entstehungsepoche sowie der literarischen Tradition des Entstehungslandes notwendig Letztere besteht aus einem dichten Gef lecht intertextueller Bezüge, durch die ein Text zu anderen, eigen- oder fremdkulturellen Texten in Relation gesetzt wird Im Text manifestiert sich die literarische Tradition etwa in Zitaten oder Anspielungen Sie bildet den Rezeptionszusammenhang des „Originals“, indem sie die kulturellen und sozialen Rezeptionsbedingungen für Literatur vorgibt . Konkret muss also gefragt werden, welcher Stellenwert dem analysierten Werk und seinem Autor innerhalb der deutschen Literatur zukommt, welche Rezeptionsschwierigkeiten im deutschen Sprachraum gegebenenfalls aufgetreten sind und, wenn es sich um ein philosophisches Werk handelt, wie die darin vertretenen Thesen im dortigen philosophischen Diskurs zu verorten sind In diesem Zusammenhang stellt sich natürlich auch die Frage nach der Persönlichkeit des Autors So könnte ein bestehender Bezug zu Italien möglicherweise Eingang in seine Werke finden und sich auf deren spätere italienische Rezeption auswirken Im Rahmen einer allgemeinen Standortbestimmung des Originals muss auch nach dessen literarischer 40 Schneiders (1995, 133) gibt etwa zu bedenken, dass der Respekt vor der originalen Schöpfung des Künstlers vor Mitte des 18 Jahrhunderts nicht vorausgesetzt werden könne, da schließlich der Begriff der „schönen Künste“ in der heutigen Form noch nicht existiert habe <?page no="139"?> 2 Zur Methodik 139 Qualität gefragt werden, was z B stilistische und strukturelle Aspekte einschließt In dieser Hinsicht leistet die Übersetzungsanalyse einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zu einer vertieften Kenntnis des Originals, wie Stackelberg (1984, 232) beobachtet: „Vergleichende Übersetzungsanalysen sind nicht das schlechteste Mittel, den Wert der Originale besser zu erkennen“ Lenken wir nun den Blick vom Original auf die romanischen Übersetzungen, so muss das Augenmerk als Erstes den äußeren Entstehungsumständen der Übersetzung gelten, also den Aspekten der „äußeren Übersetzungsgeschichte“ (obiger Unterpunkt-b) Dabei müssen die Fragen an die französische und die italienische Übersetzung leicht unterschiedlich ausfallen Bei der französischen Fassung geht es vor allem um die Frage nach der Person des Verfassers und nach den Motiven für seine Übersetzung; bei der italienischen rückt-- gerade, wenn es sich um Werke früherer Epochen handelt-- die Frage nach den Deutschkenntnissen des Übersetzers und nach der Verbreitung der deutschen Sprache im Italien seiner Zeit in den Mittelpunkt: Verfügte er überhaupt über deutsche Sprachkenntnisse, wo hat er diese gegebenenfalls erworben, welche Hilfsmittel benutzte er für seine Übersetzung und welche Wörterbücher waren zu seiner Zeit verfügbar? Bei den frühen italienischen Übersetzern wird es sich erwartungsgemäß in den seltensten Fällen um zweisprachig aufgewachsene Grenzbewohner handeln . In der Regel waren es vielmehr Literaten oder Berufsübersetzer, für die es nahe lag, sich angesichts mangelnder Sprachkenntnisse und der abnehmenden Bedeutung des Lateinischen bei der französischen Fassung zu „bedienen“ Über die Person des Übersetzers informieren verschiedene biographische Quellen Eine hilfreiche, länder- und epochenübergreifende Sammlung von biographischen Angaben zu bekannten und weniger bekannten Übersetzern stellt das 1993 erschienene Dictionnaire universel des traducteurs zur Verfügung . 41 Was die italienischen Übersetzer betrifft, liefert das monumentale Dizionario biografico degli Italiani wertvolle Hinweise Das Nachschlagewerk verzeichnet in bisher 71 Bänden Italiens berühmte Persönlichkeiten-- weniger bekannte Übersetzer sucht man darin allerdings vergebens . 42 Daneben sei auf eine wichtige elektronische Quelle verwiesen: Das World Biographical Information System 43 enthält biographische Angaben über berühmte Persönlichkeiten weltweit, darunter auch einige bekannte Übersetzer . Ob solche allgemeinen, nicht übersetzerspezifischen Datenbanken und Nachschlagewerke einen Eintrag zu dem gesuchten Übersetzer enthalten, sagt bereits einiges über dessen Bekanntheitsgrad und beruf liches Renommee aus Insbesondere für Übersetzungen des 18 . und frühen 19 Jahrhunderts stellt sich ferner die Frage, welche Hilfsmittel zur Anfertigung der Übersetzung verwandt wurden Erste Hinweise lassen sich häufig der Sekundärliteratur entnehmen; darüber hinaus ist in Erfahrung zu bringen, welche deutsch-italie- 41 Der Herausgeber Henri Van Hoof hat das in Genf verlegte Dictionnaire-- ebenso wie die 1973 erschienene Bibliographie internationale de la traduction-- als Beitrag zu dem von der Fédération internationale des traducteurs (FIT) initiierten Projekt einer „Histoire générale de la traduction“ konzipiert 42 Caravale, Mario (Hrsg ) (1960-), Dizionario biografico degli Italiani Roma: Istituto della Enciclopedia Italiana Der erste Band ist 1960, der bisher letzte 2008 erschienen; damit sind bis jetzt lediglich die Buchstaben A bis M abgedeckt 43 World Biographical Information System: http: / / db .saur .de .ubproxy .ub .uni-heidelberg .de/ WBIS/ basicSearch .jsf <?page no="140"?> II Typologie und Panorama der Übersetzertätigkeit „aus zweiter Hand” 140 nischen Wörterbücher zum damaligen Zeitpunkt bereits auf dem Markt waren und als Referenzwerke gedient haben könnten Schließlich gehören zur Beschreibung der Entstehungsumstände natürlich auch Angaben darüber, wann und wo und in welchem spezifischen Kontext die Übersetzung erschienen ist Als dritter Aspekt (Unterpunkt c) muss nun der Charakter der Übersetzungen, soweit er sich aus deren äußeren Entstehungsumständen erschließen lässt, in den Blick genommen werden Da die eigentliche Textanalyse erst später erfolgt, kann es hier zunächst nur um eine erste, annähernde Beschreibung der Übersetzungskonzeption sowie die Zuordnung der italienischen Fassung zu einer der weiter oben entwickelten Kategorien der Übersetzung aus zweiter Hand gehen . 44 Allgemeine Charakterisierungen wie klärend, erläuternd, verdeutlichend oder redundant, wie sie Graeber/ Roche (1988,-9) vorschlagen, können dabei zur Beschreibung der Übersetzungshaltung herangezogen werden Gerade bei älteren Texten ist ein Blick in die Übersetzervorrede ratsam, denn so können auch der Bezug der Übersetzung zum Original geklärt sowie eventuelle Abhängigkeiten von anderen Übersetzungen desselben Werkes aufgedeckt werden Die Vorrede ist natürlich cum grano salis zu genießen, da das tatsächliche Vorgehen des Übersetzers durchaus nicht immer mit den dortigen Absichtsbekundungen übereinstimmen muss Daher dürfte sich auch ein Vergleich der in der Vorrede postulierten Konzeptionen mit den Ergebnissen der späteren Übersetzungsanalyse als interessant erweisen In dieser Phase ist es hilfreich, die Übersetzung zunächst unabhängig von der Vorlage als selbständigen Text zu lesen und sich so deren stilistische und strukturelle Eigenarten bewusst zu machen Somit ist das tertium comparationis hier nicht das Original oder eine Vorgängerübersetzung, sondern vielmehr der Stil der zeitgenössischen Literatursprache im Zielland der Übersetzung . 45 Bei einem poetischen Werk lässt etwa die Wahl des Versmaßes, vor dem Hintergrund der zeitgenössischen poetischen Konventionen des Ziellandes betrachtet, Rückschlüsse auf die dortige Wirkung des Werkes zu . 46 Häufig kann erst durch die Verortung der Übersetzung im Kontext der zielkulturellen Literatur die Entscheidung des Übersetzers für bestimmte Stilmittel angemessen bewertet werden 44 Die Vorgehensweise entspricht etwa der von Graeber/ Roche (1988, 9) angewandten Methode der qualitativen Beschreibung, bei der die jeweilige Übersetzung kurz charakterisiert wird und anschließend untersucht wird, „(…) ob es sich lediglich um eine Übersetzung aus zweiter Hand, also nur aus dem Französischen, handelt, oder ob der Übersetzer (aus welchen Gründen auch immer) dazu auch das Original herangezogen hat, ob etwa eine zu gleichen Teilen aus beiden Sprachen übertragene Fassung vorliegt oder eine überwiegend aus der einen oder der anderen hergestellte…“ 45 Auch hinsichtlich der Übersetzung kann übrigens ebenso wie in der Literatursprache von nationalen und epochalen, aber auch von personalen Stilen die Rede sein (vgl z B Wuthenow 1969, 25) Wie bereits in Abschnitt 2 .2 des ersten Teils gezeigt werden konnte, lassen sich zumindest gewisse nationale Unterschiede in der allgemeinen „Übersetzungshaltung“ ausmachen Stackelbergs (1984, 231) Einwand, es gebe „( . . ) nichts Unsinnigeres, als zeitunabhängig von nationalen Übersetzerstilen zu reden“, ist allerdings berechtigt 46 Die Geschichte poetischer Übersetzungen ist Nebrig (2007, 341) zufolge immer auch eine Geschichte des poetischen Stils einer Literatursprache- - eine Beobachtung, die sich auch auf literarische Übersetzungen im Allgemeinen ausdehnen ließe Liest man die Übersetzung allerdings als „text in its own right“ (Venuti 1992, 8), so ergibt sich ihr Stil bereits im Vergleich mit anderen zielsprachlichen Texten derselben Epoche und nicht erst, wie Nebrig (ebd ) für die Lesart als Übersetzung postuliert, im Vergleich mit einer zweiten Übersetzung desselben Originals <?page no="141"?> 2 Zur Methodik 141 So gibt Wuthenow (1969, 26) zu bedenken, „(…) daß gleiche Stilmittel in verschiedenen Sprachen durchaus etwas anderes bedeuten können“ Die Übersetzung löst das Original aus der Gebundenheit an Zeit und Ort seiner Entstehung 47 und ermöglicht ihm ein Fortwirken in einer späteren Epoche und zugleich in einem fremden geographischen Raum Für unsere Zwecke spielt der Zeitaspekt nur eine untergeordnete Rolle, da die untersuchten Übersetzungen in beiden betrachteten Zielländern meist in geringem zeitlichen Abstand erstmals übersetzt wurden . Den zweiten Aspekt, die Überführung des Werkes in einen anderen Kulturraum, sieht Konopik (1997, 209) vor allem als „Chance [für dieses Werk], sich in der Rezeption dort zu erneuern und umfassend zu entfalten“ Natürlich besteht aber auch immer die Gefahr, dass die Übersetzung zu einer verzerrten Wahrnehmung in der Zielkultur führt . Hier stellt sich nun die interessante Frage, wie die Rezeption von Werk und Autor im Zielland durch die Übersetzung-- und insbesondere durch die Übersetzung aus zweiter Hand-- gesteuert wird und welche Wirkung die übersetzte Fassung dort entfaltet (Unterpunkt-d) . Dazu gilt es zunächst die literarischen und kulturellen Rezeptionsbedingungen im Zielland zum Erscheinungszeitpunkt der Übersetzung zu beleuchten Sie werden in erster Linie durch den Erwartungshorizont der dortigen Leser bestimmt . 48 Es muss also danach gefragt werden, wie aufgeschlossen die Zielkultur Werk und Autor gegenüber ist bzw inwieweit das Werk mit den literarischen Traditionen des Ziellandes „kompatibel“ ist So stand etwa im klassizistischen Frankreich und im von klassischen Vorbildern geprägten Italien die deutsche literarische Produktion des Sturm und Drang und der Romantik nicht sehr hoch im Kurs Welche Rolle nationale Stereotypen bei der Rezeption spielen, ist bereits im ersten Teil der Arbeit erläutert worden . 49 Die Übersetzung kann als Korrektiv solcher kultureller Vorbehalte wirken, indem sie durch „einbürgernde“ Texteingriffe das Ansehen von Werk und Autor im Zielland hebt, wie das Beispiel der belles infidèles zeigt Auf der anderen Seite kann durch eine bewusst „verfremdende“ Übersetzungshaltung das Interesse für das kulturell Fremde geweckt oder genährt werden: Nicht umsonst geht die einsetzende „Germanophilie“ im Frankreich der Vorromantik mit einer Wende auf dem Gebiet der Übersetzungskonzeptionen einher . Beide Strategien- - die natürlich in unterschiedlichen Abstufungen auftreten-- haben Auswirkungen auf die Rezeption des Werkes sowie auf das „Image“ des Schriftstellers im Zielland Aber auch die gleichzeitige Rezeption mehrerer Autoren des „Geberlandes“, die in der Zielkultur miteinander assoziiert werden, kann die Rezeption von Werk und Autor steuern Zu nennen ist hier beispielsweise die enge Verbindung von Goethe und E T A Hoffmann im „imaginaire collectif “ der französischen Romantik Ferner können literarische oder philosophische Strömungen des Ziellandes den Übersetzungsstil beeinf lussen und damit die Rezeption 47 Gleichzeitig ist aber die Übersetzung selbst stärker an ihre Entstehungszeit gebunden als das Original, das zu allen Zeiten Bestand hat- - oder, um mit Albrecht (1998, 101) zu sprechen: Den alternden Übersetzungen stehen ewig junge Originale gegenüber Vgl . auch Wuthenow 1969, 28 48 Die Abhängigkeit der Rezeption vom Erwartungshorizont der jeweiligen Rezipienten postuliert insbesondere die Rezeptionsforschung nach Hans Robert Jauß (1970, 173) Exemplarisch kann die französische „Deutschlandmode“ im letzten Drittel des 18 Jahrhunderts angeführt werden, für die das Erscheinen von Rousseaus Nouvelle Héloïse den Boden bereitete 49 Vgl Abschnitt 2 1 zur Idee des Nationalcharakters <?page no="142"?> II Typologie und Panorama der Übersetzertätigkeit „aus zweiter Hand” 142 lenken- - man denke nur an den „métissage involontaire“ (Espagne 2004, 15-16) 50 der Gedankengebäude deutscher Philosophen mit Einf lüssen des französischen Geisteslebens im Frankreich des 19 Jahrhunderts . 51 Solche zielkulturellen Assoziationen sind im Gegensatz zur Frage der Einbürgerung oder Verfremdung kaum bewusst steuerbar, sie konditionieren den Übersetzer bei der Produktion seines Textes und werden durch die Übersetzung selbst wiederum befördert . Die Wirkung der einzelnen Übersetzung auf die Rezeption des Werkes im Zielland hängt nicht zuletzt davon ab, inwieweit sie dem Erwartungshorizont der dortigen Leser entspricht und wie stark sie bewusst oder unbewusst vom literarischen und philosophischen Diskurs der Zielkultur beeinf lusst ist . Aus Bezügen zu Werk und Autor in literarischen Werken und Sekundärtexten des Ziellandes lässt sich wiederum die dortige Rezeption der Übersetzung erschließen, die nicht zuletzt auch vom Renommee des Übersetzers im eigenen Land abhängig ist . 52 Eng verbunden mit der Rezeption ist die Frage nach der zielkulturellen Wirkung der Übersetzung aus zweiter Hand, also danach, wie die einzelne Übersetzung und die Praxis der Übersetzung aus zweiter Hand als kulturelles Phänomen den literarischen und philosophischen Diskurs des Empfängerlandes beeinf lussen Erfolgreiche Übersetzungen wirken sich als integrativer Bestandteil der Empfängerliteratur schließlich auch auf die selbständige literarische Kreation des Landes aus und können den Charakter der bestehenden Nationalliteratur damit tiefgreifend verändern Schematisch ließe sich das Wechselspiel zwischen Rezeption und Wirkung von Original, Übersetzung aus „erster“ und Übersetzung aus zweiter Hand in sehr vereinfachter Form wie folgt darstellen: 50 Vgl hierzu Abschnitt 2 .3 .3 .2 in Teil I dieser Arbeit 51 Zu den Wechselwirkungen französischer und deutscher Impulse in Frankreich vgl Abschnitt 2 .3 .3 in Teil I dieser Arbeit, ferner Albrecht (2009), der den „verschränkten“ Kulturtransfer am Beispiel der französischen Heidegger-Rezeption und der „indirekten“ Rückkehr Heideggers nach Deutschland durch die dortige Rezeption der französischen Poststrukturalisten untersucht 52 So wird die Übersetzung aus der Feder eines renommierten Schriftstellers in dessen Heimatland manchmal sogar als ein zweites Original gehandelt (vgl Schneiders 1995, 32) Man denke etwa an Vincenzo Montis italienische Ilias-Übersetzung (vgl Abschnitt 1 .2 des zweiten Teils dieser Arbeit) <?page no="143"?> 2 Zur Methodik 143 Wie sich Übersetzungen auf die Rezeption des Originalautors im Zielland auswirken können, zeigt das Beispiel der Freud-Rezeption in Italien: Die kulturellen Vorbehalte gegen die Psychoanalyse führen in Italien vor Ende des Zweiten Weltkriegs nicht nur zu einem verspäteten Einsetzen der übersetzerischen Rezeption, sondern auch zu einer verzerrten und vorurteilsbehafteten Wiedergabe in den Übersetzungen, so dass die Ideen Freuds dort wenn überhaupt nur „gefiltert“ rezipiert werden . Diese unzureichenden Übersetzungen haben wiederum einen nicht unerheblichen Anteil an der Rückständigkeit der italienischen Psychoanalyse in der unmittelbaren Nachkriegszeit . 53 Abschließend bleibt also festzuhalten, dass sich die Rezeptionsbedingungen in der Zielkultur auf Zeitpunkt und Charakter der Übersetzung ebenso auswirken, wie die durch bewusste und unbewusste Einf lüsse gesteuerte Übersetzungshaltung auf die dortige Rezeption von Werk und Autor zurückwirkt . Solche Rückwirkungen auf die zielsprachliche Rezeption sollen unter anderem Gegenstand der Übersetzungsanalysen in Teil III der vorliegenden Arbeit sein 2 .2 .2 Zur kontrastiven Textanalyse Die oben vorgestellte erste Standortbestimmung von Original und Übersetzungen dient dazu, den Boden für die weitere Analyse zu bereiten In einem zweiten Schritt müssen nun die Beziehungen zwischen dem deutschen Originaltext und den beiden romanischen Übersetzungen beleuchtet werden, damit die italienische Fassung einer der in Abschnitt 1 1 dieses Teils herausgearbeiteten Formen der Übersetzung aus zweiter Hand möglichst zuverlässig zugeordnet und der spezifische Charakter der jeweils vorliegenden Form bestimmt werden kann Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, ob und in welcher Gewichtung der Übersetzer jeweils die französische(n) Vorlage(n) und das deutsche Original konsultiert hat Überdies sollen anhand einer detaillierten Analyse der beiden romanischen Übersetzungen Unterschiede in der Übersetzungshaltung ihrer Verfasser eruiert werden Die augenfälligsten Merkmale der Übersetzung eines literarischen Werkes, Titel und Makrostruktur, können bereits wertvolle Hinweise darauf geben, welche Vorgängerfassung bei der Übersetzung möglicherweise Pate gestanden hat Unter Makrostruktur seien hier die Kapitelgliederung und-- bei metrisch gebundener Literatur-- die Entscheidung für Vers- oder Prosaübersetzung, für ein bestimmtes Versmaß und Reimschema verstanden So deutet bei der weiter oben bereits zitierten Schiller-Übersetzung von Pompeo Ferrario schon der italienische Titel La pulcella di Orleans auf eine Orientierung an Carl Friedrich Cramers französischer Fassung Jeanne d’Arc ou La pucelle d’Orléans hin Umgekehrt spricht die abweichende Kapitelaufteilung in Vidaris 1910 erschienener italienischer Version von Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten eher gegen eine Konsultation der drei Jahre zuvor publizierten französischen Fassung von Delbos . Die italienische Übersetzung weist nämlich eine feinere Untergliederung auf, deren Motive Vidari in seiner Introduzione darlegt Daneben lassen sich auch Streichungen oder Hinzufügungen den Strukturmerkmalen subsumieren, wie beispielsweise die Anmerkungen, mit denen der französische Kant-Übersetzer Picavet (1888) und sein italienischer 53 Zur Freud-Rezeption in Italien vgl Gaddini 1977, 73-90 sowie Pöckl 1983, 20 f <?page no="144"?> II Typologie und Panorama der Übersetzertätigkeit „aus zweiter Hand” 144 Kollege Francesco Capra (1909) ihre Übersetzungen der Kritik der praktischen Vernunft versehen haben . 54 Ein klassisches Beispiel für ein metrisch gebundenes Werk, das sowohl in Versals auch in Prosaform ins Französische übersetzt wurde, ist Goethes Faust (erster Teil) Aus der Beobachtung, dass sich der italienische Übersetzer Giovita Scalvini (1835) für die Prosaform entschieden hat, mag sich ein erster Hinweis auf die französische Vorgängerfassung ableiten lassen, denn sowohl Sainte-Aulaire (18? ? ) als auch Stapfer (1828) hatten bereits eine Prosaübersetzung vorgelegt . Ähnliches gilt für Gaetano Barbieris 1824 abgedruckte Prosafassung von Goethes Hermann und Dorothea, für die Paul Jérémie Bitaubés Prosaübersetzung von 1800 Pate gestanden haben könnte . Letztlich geht es allerdings bei der Entscheidung für Vers- oder Prosaform in erster Linie darum, welche Aspekte des Originals bei der Übersetzung invariant gehalten werden sollen . Ist der Inhalt die ranghöhere Invariante, so ist häufig die Prosaübersetzung das Mittel der Wahl, während mit der Versübersetzung in der Regel Form und Stil des Originals adäquater wiedergeben werden können Hier sei deshalb mit Fahrenbach-Wachendorff (2001, 396-397) postuliert: Die unterschiedlichen Auffassungen über die wesentlichen Merkmale der Textstruktur entscheiden über die Wahl eines bestimmten oder auch gegen jedes Metrum und prägen die Möglichkeiten einer Übersetzung Trifft der italienische Übersetzer eine andere Formentscheidung als sein französischer Vorgänger, so zeugt dies zunächst nur von einer anderen Gewichtung der wesentlichen Textmerkmale, es muss aber nicht zwangsläufig bedeuten, dass er die französische Fassung völlig außer Acht gelassen hat Bei der Versübersetzung stellt sich das Problem des Metrums und des Reimschemas So kann ein und dasselbe Versmaß je nach Land eine völlig unterschiedliche Wirkung entfalten, so dass sich etwa der deutsche Blankvers, der französische Alexandriner oder der italienische Endecasillabo in der Übersetzung nicht ohne Wirkungsdifferenz beibehalten lassen . 55 Im Deutschen wird der französische Alexandriner daher häufig durch den Blankvers ersetzt Hinsichtlich des Reimschemas- - und in eingeschränkter Form auch im Hinblick auf das Metrum-- soll noch einmal an Albrechts weiter oben erwähntes 56 Postulat erinnert werden, nach dem „nicht der geringste Zweifel daran bestehen [kann], daß die Verwandtschaft von Ausgangs- und Zielsprache bei metrisch gebundenen Texten eine große Übersetzungshilfe darstellt“ (Albrecht 1995, 295) Über solche makrostrukturellen Merkmale hinaus steht natürlich noch ein feineres Analyseinstrumentarium zur Verfügung, das bereits bei der Erläuterung der typologischen Verwandtschaft von Sprachen zum Einsatz kam . 57 Unterschieden werden soll zwischen der syntaktischen und der lexikalischen Ebene, wobei Aspekte der Stilistik auf bei- 54 Vgl Abschnitt 3 .2 .2 in diesem Teil der Arbeit 55 Die Relevanz des Metrums für die Übersetzung unterstreicht Fahrenbach-Wachendorff (2001, 377) in ihrer Untersuchung zu den formalen Aspekten der Molière-Übersetzung; und Wuthenow (1969, 26) gibt grundsätzlich zu bedenken, „daß gleiche Stilmittel in verschiedenen Sprachen durchaus etwas anderes bedeuten können“ 56 Vgl Abschnitt 1 .2 1 des ersten Teils zur Sprachtypologie 57 Vgl ebd . <?page no="145"?> 2 Zur Methodik 145 den Ebenen anzutreffen sind: Zu den Stilistika der Syntax zählen etwa die rhetorischen Figuren und die Genera verbi, während der große Bereich der Tropen den lexikalischen Stilelementen zuzurechnen ist Wie sich anhand dieser beiden Ebenen Erkenntnisse über Form und Charakter der Übersetzung aus zweiter Hand gewinnen lassen, kann am besten anhand einiger konkreter Beispiele illustriert werden Auf der Ebene der Lexik sind vor allem die Kapitelüberschriften aufschlussreich, die- - ähnlich wie der Werktitel- - Einblick in Anlage und Interpretation des gesamten Werkes geben So deuten die einleitenden Kapitelstichworte in Agnes’ 1893 publizierter italienischer Übersetzung von E T A Hoffmanns Erzählung Klein Zaches genannt Zinnober trotz leicht abweichender Kapitelstruktur darauf hin, dass die französische Fassung von La Bédollière (1863) Pate gestanden hat: Der kleine Wechselbalg wird im Französischen zu Le petit enfant enchanté (La Bédollière, S -65) und im Italienischen zu Il bambino stregato (Agnes, S -5); aus der Fee Rosabelverde wird die verkürzte französische Form la fée Rosabelle (La Bédollière, ebd ) und analog das italienische la fata Rosabella (Agnes, ebd ) Bei Goethes Kurzepos Hermann und Dorothea legen einige Kapitelüberschriften von Barbieris italienischer Version (1824) trotz dessen insgesamt stärker „erklärenden“ Übersetzungsstils ebenfalls nahe, dass Barbieri zumindest einen Seitenblick auf Bitaubés französische Fassung von 1800 gewagt haben könnte . 58 Es ergeben sich die folgenden augenfälligen Analogien zum Französischen: Schicksal und Anteil- - Le malheur partagé (Bitaubé, S -3)-- La sventura divisa (Barbieri, S -9); Aussicht-- La perspective heureuse (Bitaubé, S -195)-- La felice prospettiva (Barbieri, S .-175) . 59 Natürlich lassen sich auch im Text selbst lexikalische Übereinstimmungen ausmachen So kann man bei der italienischen Übersetzung von E T A Hoffmans Erzählung Ignaz Denner (F C Ageno, 1911) lexikalische Parallelen zur französischen Fassung von La Bédollière (1855) entdecken Wo Hoffmann formuliert: Kein menschliches tröstendes Wesen war weit und breit zu finden, sind sich die Übersetzungen von La Bédollière (Il n’y avait point de secours humains, S -26) und Ageno (Nessun soccorso umano si sarebbe potuto trovare, S - 7) in lexikalischer Hinsicht auffällig ähnlich . Ebenso greift der italienische Übersetzer zur Wiedergabe des deutschen Dem Andres war es zumute, als… offensichtlich den Einfall seines französischen Vorgängers auf: Aus Aux yeux d’Andrès (S .-26) wird Agli occhi di Andres (S -9) Und selbst angesichts des aus dem Italienischen stammenden Lehnworts ein paar Terzerole orientiert sich der italienische Übersetzer noch am französischen Vorbild: In Anlehnung an La Bédollières une paire de pistolets (S .-26) formuliert er: un paio di pistole (S -8) Zwei Beispiele für die Übernahme syntaktischer Strukturen finden sich bei Paolo Flores’ an Henri Alberts 1901 erschienene französische Version angelehnter italienischer Fassung der Morgenröthe von Friedrich Nietzsche, die 1925 publiziert wurde: 58 Laut Battaglia Boniello (1990, 65) enthält die italienische Ausgabe Barbieris den Zusatz: „romanzo tedesco tradotto dal francese“ und wäre demnach als transparente Aneignung einzustufen 59 Auffällig ist übrigens, dass der italienische Übersetzer Barbieri die Verweise auf eine der neun griechischen Musen, die Goethe im Original jedem der neun Kapitel seines Werkes vorangestellt hat, ganz weglässt Bitaubé hingegen behält diese Gliederungselemente bei <?page no="146"?> II Typologie und Panorama der Übersetzertätigkeit „aus zweiter Hand” 146 man sieht ihn, wie er langsam, besonnen… (Nietzsche, S -3) → on verra comme il s’avance lentement, avec circonspection… (Albert, S -5) → si vedrà come avanza lentamente, con circospezione… (Flores, S -9) man könnte ihn zufrieden nennen (Nietzsche, S -3) → on pourrait presque le croire heureux (Albert, S .-5) → si potrebbe crederlo quasi felice (Flores, S -9) Im ersten Beispiel entscheidet sich Albert für eine syntaktische Modifikation (denkbar wäre schließlich auch: on le verra s’avancer), und Flores übernimmt diese Konstruktion . Im zweiten Fall fügt Albert ein presque ein, konstruiert aber ansonsten parallel; hier lehnt sich Flores nicht nur syntaktisch an diese Vorgabe an, sondern entlehnt auch das Adverb (quasi), das er allerdings nicht auf das Auxiliarverb, sondern auf das Adjektiv felice bezieht Wie sich die in Abschnitt 1 1 entwickelten Formen der Übersetzung aus zweiter Hand im konkreten Einzelfall im Übersetzungstext niederschlagen, lässt sich also zusammenfassend anhand folgender Kriterien bestimmen: Strukturmerkmale: Syntaktische Merkmale: Lexikalische Merkmale: • Titel • Kapitelstruktur Prosa • Anmerkungen • Metrum Lyrik/ • Reimschema Drama • Syntax • Stilistika der Syntax (Rhetorische Figuren, Genera verbi etc ) • Wortschatz • Stilistische Aspekte der Lexik (Tropen etc ) Damit liegen nun eine Reihe von Indizien zur Einordnung und Beschreibung der untersuchten Übersetzungen vor, die im nächsten Schritt in ein systematisches Analyseschema überführt werden sollen Als Erstes sind dazu die Kriterien zu bestimmen, die sich zur Beschreibung und Klassifikation der konkreten Übersetzungsentscheidungen am besten eignen Da es sich bei dem hier untersuchten Korpus um literarische Texte im weiteren Sinne handelt, bieten sich die Klassifikationskriterien der antiken Grammatik und Rhetorik 60 als Bewertungsmaßstab an . Die Rhetorik war noch bis in die Neuzeit verbreitet und hat sich auch auf die Kunst des Übersetzens ausgewirkt . 61 Zwar trat sie in der romantischen Epoche als Schuldisziplin und Wissenschaft überall zurück, aber gerade in der Literatur- und Übersetzungsauffassung des klassizistischen Frankreich 62 wirkte sie noch lange fort Sprachliche Korrektheit (ars recte loquendi) und stilistische Gewandtheit (ars bene dicendi) können schließlich auch heute noch- - wenn auch mit gewissen Einschränkungen- - als zentraler Maßstab für die Produktion und Rezeption literarischer Werke betrachtet werden Überdies ist in jüngerer Zeit eine Art „Renaissance“ der Rhetorik gerade auf dem Gebiet der Übersetzungswissenschaft zu beobachten Knape (2000) beispielsweise sieht Parallelen zwischen Orator und Übersetzer und 60 Zu den rhetorischen Änderungskategorien vgl Lausberg 1960, ferner Mayer 2007, 201 ff 61 Vgl Albrecht 1998, 89 62 Es sei an die Epoche der belles infidèles erinnert, die den vier rhetorischen Tugenden des aptum, der latinitas, der perspicuitas und des ornatus verpf lichtet war Insbesondere das äußere aptum, die Anpassung an das Lesepublikum, galt ihr als wichtiger Orientierungsmaßstab ⎫⎬⎭ ⎫⎬⎭ <?page no="147"?> 2 Zur Methodik 147 stellt die-- im Übrigen diskussionswürdige-- These auf, dass Persuasivität und gewollte Adressatenorientierung beim Übersetzer ebenso Handlungsmaxime seien wie beim Orator Und Rainer Kohlmayer 63 zeigt einen gangbaren Weg auf, die fünf rhetorischen Textproduktionsstufen zur Unterscheidung von Übersetzung und Bearbeitung zu nutzen Zum hier angestrebten Zweck der Übersetzungsanalyse, deren Hauptanliegen die Isolierung von Faktoren der Abweichung von bzw . der Übereinstimmung mit der Vorlage ist, sollen die vier rhetorischen Änderungsoperationen 64 aus der dritten Textproduktionsphase, der elocutio, leicht abgewandelt auf das Verfahren der Übersetzung transponiert werden Dieses Vorgehen mag angesichts des historisch-deskriptiven Ansatzes der Analyse zunächst widersprüchlich erscheinen, da die Operationen einer per definitionem präskriptiv orientierten Lehre entlehnt sind Es ist aber insofern zu rechtfertigen, als sie per se keinerlei Bewertung beinhalten, sondern lediglich als Beschreibungsinstrumente dienen sollen Zu den rhetorischen Änderungskategorien zählen die adiectio (Hinzufügung/ Zusatz), die detractio (Auslassung/ Wegfall), die transmutatio (Umstellung) und die immutatio (Austausch/ Substitution) Unmittelbar auf die Übersetzungsoperationen übertragen lassen sich adiectio, detractio und immutatio, die auf verschiedene Ebenen des Ausgangstextes Anwendung finden können Das Verfahren der transmutatio erweist sich hingegen als für diesen Zweck weniger geeignet und soll daher durch die conservatio, die Übernahme von Elementen des Ausgangstextes, ersetzt werden Im nächsten Schritt müssen nun die Textebenen näher bestimmt werden, auf die die genannten Änderungsoperationen angewandt werden sollen Weiter oben wurde schon zwischen Merkmalen der Struktur, der Syntax und der Lexik differenziert Für den Zweck unserer Analyse muss hinsichtlich der Kapitelüberschriften streng zwischen ihrer Funktion als Gliederungselemente und als Träger semantischer Informationen unterschieden werden: Lexikalische Parallelen in den Überschriften, wie sie in den oben zitierten Beispielen vorkommen, müssen also auf der Ebene der Lexik abgehandelt werden, während die Gliederungsfunktion in die Kategorie der Strukturmerkmale gehört Neben Aspekten der Makrostruktur des Textes, wie der Kapitelaufteilung, gehören zu den Strukturmerkmalen auch kleinere Text- und Sinneinheiten, die vom Übersetzer möglicherweise ausgelassen oder hinzugefügt wurden, sowie Ergänzungen durch Anmerkungen Da solche Texteingriffe stets mehrere sprachliche Ebenen betreffen, erscheint es sinnvoll, sie dieser Kategorie zu subsumieren Die im engeren Sinne „sprachlichen“ Übersetzungsentscheidungen finden im Wesentlichen in zwei relevanten Bereichen statt: der Syntax 65 und der Lexik . Auslassungen 63 Nach Kohlmayer (Vortrag vom 23 .06 .2009 zum Thema Rhetorik und Literaturübersetzung. Überlappungen und Differenzen anlässlich der Germersheimer Ringvorlesung Gegenwart Antike) beginnt die Tätigkeit des Übersetzers erst bei der elocutio, während der Bearbeiter bereits bei inventio und dispositio eingreift, d h . konzeptionelle Änderungen der Figurenkonstitution, der Handlung etc vornimmt 64 Ursprünglich gehen aus diesen Änderungsoperationen die rhetorischen Figuren und Tropen hervor, die den ornatus, eine der vier Tugenden der elocutio nach Quintilian, ausmachen 65 Auf die entscheidende Bedeutung der Syntax für den Ton und damit den spezifischen Charakter einer Übersetzung weist der zeitgenössische deutsche Eco-Übersetzer Burkhart Kroeber (2001, 417), der auch Manzonis Promessi sposi ins Deutsche übertragen hat, hin <?page no="148"?> II Typologie und Panorama der Übersetzertätigkeit „aus zweiter Hand” 148 oder Hinzufügungen lexikalischer oder syntaktischer Elemente, die sich meist auf beide Ebenen auswirken, werden in der Regel den Strukturmerkmalen zugerechnet . Auf der Ebene der Syntax sind zunächst die Systemeigenschaften der beteiligten Sprachen in Rechnung zu stellen So verlangt beispielsweise das Sprachsystem des Deutschen in den meisten Fällen eine Auf lösung des romanischen Gerundiums oder Partizips und macht analytischere Lösungen wie Relativkonstruktionen oder koordinierte Hauptsätze notwendig . 66 In umgekehrter Richtung hat der romanische Übersetzer die Wahl, ob er sich für eine analytische Konstruktion oder das zumeist elegantere Partizip oder Gerundium entscheidet Übereinstimmungen zwischen zwei romanischen Übersetzern auf dieser Ebene sind denn auch oft wenig aussagekräftig, da sie durch das jeweilige romanische Sprachsystem wenn nicht vorgegeben, so doch zumindest gelenkt werden Solche durch die Systemeigenschaften der beteiligten Sprachen begründeten Modifikationen sollen deshalb in der Analyse nur in solchen Fällen berücksichtigt werden, in denen der Übersetzer einen Entscheidungsspielraum hat und seiner Wahl ein entsprechender stilistischer Wert zukommt Diese Fälle werden den weiter unten vorgestellten „Stilistika der Syntax“ zugerechnet Auf der Ebene des Wortschatzes ist die Unterscheidung zwischen Denotation und Konnotation hilfreich Semantische Modifikationen, wie sie weiter oben bereits anhand einiger Beispiele illustriert wurden, sollen unter den „denotativen Aspekten der Lexik“ abgehandelt werden Verschiebungen, die eher die konnotativen Merkmale des Wortschatzes betreffen, werden hingegen den „konnotativen Aspekten der Lexik“ zugeordnet Zur Illustration dieser Kategorie eignet sich eine Textstelle aus Goethes Werther in den Übersetzungen von Georges Deyverdun (1776), Michel Aubry (1777) und Gaetano Grassi (1782) In seiner einleitenden Widmung auf der ersten Seite des Werkes wendet sich Goethe mit folgenden Worten an den Leser: „Und du gute Seele, die du eben den Drang fühlst wie er [Werther]“ . Während Deyverdun mit seiner Übersetzung „qui souffre les mêmes peines“ (S -vii-viii) einen mitleidvollen Ton anschlägt, stellt Aubry mit „que la même pente entraîne“ (S - 4) den Romanhelden geradezu als abschreckendes Beispiel dar Grassi wiederum vermeidet jegliche positive oder negative Konnotation und übersetzt schlicht: „che ti trovi in un’egual situazione“ (S .-10) Das für den Übersetzungsvergleich wohl interessanteste und ergiebigste Feld ist die Stilistik, die den großen Bereich der Figuren und Tropen in der rhetorischen Textanalyse abdeckt In Anlehnung an die Rhetorik soll hier zwischen „Stilistika der Syntax“ und „stilistischen Aspekten der Lexik“ unterschieden werden Zu den syntaktischen Stilelementen sind dabei neben den bereits weiter oben angeführten Fällen auch die Genera verbi sowie Wort-, Klang- und Gedankenfiguren, zu den lexikalischen Stilelementen die Tropen als Formen des „uneigentlichen Sprechens“ zu rechnen . 67 Solche stilistischen Elemente können hinzugefügt, weggelassen, ausgetauscht oder übernommen werden Anhand der hier verwandten Klassifikation lassen sich auch Aussagen darüber treffen, 66 Vgl Abschnitt 1 .2 1 in Teil I dieser Arbeit zur Problematik der Sprachtypologie, ferner Abschnitt 1 .2 .3 zum praktischen Umgang der Übersetzer mit diesem Problem 67 Dass gerade Stilistika der Lexik, insbesondere Metaphern und Metonymien, für die Übersetzungsanalyse von literarischen Texten im Allgemeinen und von Versdichtung im Besonderen wertvolle Anhaltspunkte liefern, bemerkt bereits Paolini (1972, 35) anlässlich seiner Untersuchung der Faust- Übersetzung von Giovita Scalvini <?page no="149"?> 2 Zur Methodik 149 ob der Übersetzer die Stilmittel des Originals stets durch analoge Stilistika der Zielsprache wiedergibt (Substitutionsprinzip) oder ob er nach dem Kompensationsprinzip-- in bewährter Manier der belles infidèles-- „Verluste“ an einer Stelle durch „Vorzüge“ an einer anderen auszugleichen sucht . 68 Insgesamt ergeben sich also fünf Ebenen, auf denen der Text anhand der vier Übersetzungsoperationen immutatio, conservatio, detractio und adiectio analysiert werden kann Stellt man nun Original, französische und italienische Übersetzung(en) einander gegenüber, so ergibt sich etwa für das oben angeführte Beispiel aus Goethes Werther folgendes Bild: Original (Goethe 1774) Französische Übersetzung A (Georges Deyverdun 1776) Französische Übersetzung B (Michel Aubry 1777) Italienische Übersetzung (Gaetano Grassi 1782) Strukturmerkmale Stilistika der Syntax Stilistische Aspekte der Lexik Denotative Aspekte der Lexik Konnotative Aspekte der Lexik Widmung: Und du gute Seele, die du eben den Drang fühlst wie er (…) immutatio a: (…) qui souffre les mêmes peines (…) (vii-viii) immutatio b: (…) que la même pente entraîne (…) (4) conservatio: (…) che ti trovi in un’egual situazione (…) (10) Über die adäquate Zuordnung der jeweiligen Änderungsoperationen zu den einzelnen Textbelegen muss natürlich im Einzelfall anhand des Kontextes entschieden werden Sicherlich können auf diese Weise neben Aspekten der Makrostruktur stets nur einige charakteristische Textstellen in den Blick genommen werden, so dass sich zwar kein lückenloses Gesamtbild, aber doch zumindest eine Ahnung von der jeweils zugrunde liegenden Übersetzungshaltung ergeben kann . Im Idealfall lässt sich aus der Zusammenschau der analysierten Fassungen der Grad der Übereinstimmung hinsichtlich der Übersetzungstechnik ablesen, was wiederum Rückschlüsse auf die zugrunde liegenden Übersetzungshaltungen erlaubt . 69 Die so gewonnenen Einblicke versprechen ferner Auf- 68 Vgl dazu auch Schneiders 1995, 118 69 Es liegt auf der Hand, dass sich einige charakteristische Auffälligkeiten einzelner Übersetzungen erst aus der kontrastiven Gegenüberstellung zweier in derselben oder in verschiedenen Sprachen angefertigter Fassungen ergeben So postuliert Nebrig (2007, 150) in seiner Untersuchung zu den deutschen Racine-Übersetzungen: „Die Eigenart des Verfahrens einer Übersetzung erklärt sich eben keineswegs aus der Beziehung von Original und Übersetzung, sondern erst aus dem Bezug zu einer <?page no="150"?> II Typologie und Panorama der Übersetzertätigkeit „aus zweiter Hand” 150 schluss darüber, an welcher Stelle auf der Skala der Plausibilität sich der jeweilige Fall der Übersetzung aus zweiter Hand verorten lässt . Dass die Gewichtung solcher Übereinstimmungen im Einzelfall durchaus unterschiedlich ausfallen muss, versteht sich von selbst Besonders eindeutige Indizien für eine Übersetzung aus zweiter Hand sind sicherlich evidente Übersetzungsfehler, wie das folgende Beispiel aus Thomas Manns Tod in Venedig zeigt Die italienischen Übersetzer Emilio Castellani und Lavinia Mazzucchetti geben in ihrer Fassung von 1957 die im Original verwandte Zeitangabe die Vormittagsstunden abweichend mit le ore pomeridiane (ebd . S .-60) wieder Derselbe lexikalische Lapsus findet sich auch in der ein Jahrzehnt zuvor erschienenen französischen Fassung von Philippe Jaccottet (1947, S -115: l’après-midi) Die Gegenprobe anhand der französischen Vorgängerübersetzung von Félix Bertaux und Ch Sigwalt (1925, S .-115: les heures de la matinée) zeigt, das dem italienischen Übersetzer die Fassung von Jaccottet vorgelegen haben muss Dagegen wird z B . bei syntaktischen Ähnlichkeiten im Einzelfall schwer zu entscheiden sein, ob diese tatsächlich dem französischen Vorbild geschuldet sind oder ob sie schlicht auf strukturellen Ähnlichkeiten der beiden romanischen Sprachen beruhen Das gehäufte Auftreten solcher Parallelen kann aber zumindest den bestehenden Verdacht einer Konsultation der französischen Vorlage erhärten Aussagekräftiger als die Übernahme typisch romanischer Strukturen der Syntax oder auch konnotativer Verschiebungen im Wortschatz sind zum einen Übereinstimmungen im Hinblick auf strukturelle Aspekte und zum anderen stilistische Auffälligkeiten, die in beiden romanischen Fassungen gleichermaßen anzutreffen sind Über die reine Feststellung parallel auftretender „Auffälligkeiten“ hinaus ist auch deren Charakter aufschlussreich, insbesondere, wenn sich daraus eine allgemeine Übersetzungshaltung ablesen lässt Gerade für die frühen französischen Übersetzungen ist beispielsweise die Frage interessant, ob sich der Übersetzer bei der Wahl seiner Stilmittel an den vier Tugenden, den Quintilianschen virtutes, orientiert hat-- was eine gewisse Nachwirkung der belles infidèles vermuten ließe 70 -- und inwieweit sich dies auch in den entsprechenden italienischen Versionen „aus zweiter Hand“ niederschlägt . Abschließend sei betont, dass die schematische Erfassung solcher Textelemente natürlich lediglich einen Orientierungsrahmen vorgeben kann und nicht den Blick auf individuelle Besonderheiten der einzelnen Übersetzung verstellen soll . Es sollte stets genügend Raum bleiben, um die Ergebnisse nach Bedarf durch weitere Beobachtungen zu ergänzen und zu modifizieren 71 weiteren Übersetzung desselben Originals“ Den Einwand, dass auch der Vergleich von Original und Übersetzung allein bereits Aussagen über die Übersetzungskonzeption zulässt, entkräftet Nebrig durch die Theorie, dass die Übersetzung streng genommen in jedem Übersetzungsvergleich mit einer zweiten, ‚impliziten Übersetzung‘ verglichen werde, die vom Kritiker selbst, mehr oder weniger ref lektiert, angefertigt worden sei 70 Da sich der klassizistische Übersetzer gern auch als Apologet des Originalautors versteht, dienen ihm diese Tugenden nicht selten als Richtschnur, um „im Sinne des Autors“ dessen „Fehler“ zu korrigieren und dessen Vorzüge glänzen zu lassen Vgl dazu etwa Schneiders 1995, 11 71 Hierunter fallen beispielsweise Veränderungen in der Erzählstruktur bei i e S literarischen Texten Schließlich verändert auch eine „treue“ Übersetzung zwangsläufig die Erzählstrukturen des Originals Vgl hierzu Albrecht (2002, 16), ferner die Dissertationsschrift von Katrin Zuschlag (2002) <?page no="151"?> 3 „Ermittlungsergebnisse”: Überblicksdarstellung der Übersetzungen aus zweiter Hand Nach den bisher angestellten definitorischen und methodischen Vorüberlegungen ist nun das notwendige Rüstzeug bereitgestellt, um das Phänomen der Übersetzung aus zweiter Hand wenn nicht in seiner Tiefe auszuloten, so doch zumindest in seiner Breite abzustecken und in einigen seiner Ausformungen zu beschreiben . An dieser Stelle ist vorauszuschicken, dass die aufgeführten Beispiele lediglich die „Spitze des Eisbergs“ bilden- - die vermutete Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen, so dass sich hier ein fruchtbares Feld für weiterführende Forschungen zur Problematik der Übersetzung aus zweiter Hand eröffnet Einstweilen mag der nachstehende tabellarische Überblick einen ersten Vorgeschmack von der Verbreitung dieser Praxis bei der Übertragung deutscher literarischer Werke ins Italienische geben Der Literaturbegriff ist hier bewusst etwas großzügiger gefasst als im dritten Teil dieser Arbeit, da mit Rücksicht auf Aspekte der Verbreitung und der Ausgewogenheit u a auch eher der Trivialliteratur zuzurechnende Werke der sogenannten „Erbauungsliteratur“ aufgenommen wurden Ein vollständiges Bild ergibt sich schließlich erst dann, wenn nicht nur die „Gipfel“ der Weltliteratur, sondern auch die relativen „Niederungen“ der Sach- und Gebrauchsliteratur in der Darstellung Berücksichtigung finden Die nachstehende Tabelle orientiert sich wie bereits erwähnt an den weiter oben entwickelten Kategorien der Übersetzung aus zweiter Hand Bei den gefundenen Einzelbelegen wird zunächst zwischen der Aneignung als Reinform und der Kontamination als Mischform der Übersetzung aus zweiter Hand unterschieden Bei Aneignung und Kontamination kann es sich jeweils um eine transparente oder opake Form handeln, wobei die transparente Kontamination zusätzlich in eine kritische und eine nicht-kritische Form untergliedert wird 72 Die transparente und die opake Bearbeitung gehören streng genommen nicht zum Phänomen der Übersetzung aus zweiter Hand, sie sollen aber ebenfalls berücksichtigt werden, da es sich bei ihnen im weitesten Sinne ebenso um eine Erscheinung der mittelbaren Rezeption handelt, die vom dominierenden französischen Einf luss in Italiens Wahrnehmung der deutschen literarischen Produktion zeugt Einige der aufgeführten Beispiele sind in den vorangegangenen Kapiteln bereits in anderem Zusammenhang näher erläutert worden . Dennoch werden sie im Rahmen dieser Darstellung, in der es ausschließlich darum geht, die nüchternen Fakten zusammenzu- 72 Innerhalb der einzelnen Kategorien sind die Einträge der Einfachheit halber alphabetisch nach Originalautor geordnet; bei mehreren Werken eines Autors werden diese nach Erscheinungsdatum des Originals sortiert aufgeführt <?page no="152"?> II Typologie und Panorama der Übersetzertätigkeit „aus zweiter Hand” 152 tragen, als reine Belege für das Vorkommen der Übersetzung aus zweiter Hand erneut aufgenommen Nicht unerwähnt bleiben darf auch die sprichwörtliche Ausnahme von der allgemeinen Regel, bei der nicht das Französische, sondern das Italienische als Mittlersprache fungiert Die vollständigen bibliographischen Angaben sind dem im Anhang beigegebenen Korpus der Übersetzungen aus zweiter Hand zu entnehmen und werden deshalb hier nicht nochmals eigens aufgeführt Original Franz. Übersetzung Ital. Übersetzung Autor Titel Jahr Jahr Übersetzer Jahr Übersetzer A N E I G N U N G Transparente Aneignung Gebrüder Grimm Schneewittchen o J . 1950 Anonymus 1954 Maria Luisa Carosso H. Heine Lyrisches Intermezzo 1823 1855 Gérard de Nerval 1857 Francesco Scremin I. Kant Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen 1764 1823 [Auguste Hilarion de] Kératry 1826 N M C August H. J. Lafontaine Der Sonderling 1799 1801 J B J [ Jean- Baptiste-Joseph] Breton/ J D Frieswinkel 1823 Antonio Piazza Eduard oder der Maskenball 1810 1817 J .-J .-M Duperche 1830 F M G. E. Lessing Die Juden 1749 1781 Johann Arnold Ebert 1786 Luigi Migliaresi K. Marx Manifest der Kommunistischen Partei 1848 1886 Laura Lafargue 1891 Pietro Gori Das Kapital. Kritik der politischen Oekonomie, --- Bd.-1 1867 1872- 1875 Joseph Roy 1879 Carlo Cafiero 1886 Gerolamo Boccardo (zugleich Herausgeber) August Wilhelm Schlegel Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur 1809- 1811 1814 Albertine Necker de Saussure 1817 Giovanni Gherardini Christoph von Schmid Erzählungen für Kinder und Kinderfreunde, --- Bd.-2: Das verlorne Kind 1821- 1825 1828 Anonymus 1838 Angelo Cagnola Johann Rudolf Wyss Der Schweizerische Robinson 1812 1816 Mme [Isabelle] de Montolieu 1832- 1833 Anonymus <?page no="153"?> 3 „Ermittlungsergebnisse” 153 [Transparente Bearbeitung] E. T. A. Hoffmann Nussknacker und Mausekönig (in: Die Serapionsbrüder) 1819- 1821 1845 Alexandre Dumas (BEAR B ) 1954 Maria Luisa Carosso (nach Dumas) F. Schiller Maria Stuart 1800 1820 Pierre Lebrun (BEAR B ) 1821 Gaetano Barbieri (nach Lebrun) Wilhelm Tell 1804 1829 Victor-Joseph Etienne de Jouy/ Hippolyte Louis Florent Bis (LI- BR ETTO) 1833 Calisto Bassi (nach franz Libretto) [Opake Bearbeitung aus zweiter Hand] F. Schiller Don Carlos 1787 1846 Eugène Cormon [alias Pierre- Etienne Piestre] (BÜHNEN- BEAR B ) 1846/ 1848 Anonymus [Aufführung] Opake Aneignung J. W. Goethe Wilhelm Meisters Lehrjahre 1795 1802 Charles-Louis de Sévelinges 1809/ 1835 Anonymus [Giovanni Berchet? ] Hermann und Dorothea 1797 1800 [Paul Jérémie] Bitaubé 1824 Gaetano Barbieri H. Heine Gedichte aus: Buch der Lieder/ Neue Gedichte 1823/ 1844 1855 Gérard de Nerval 1857 Teobaldo Ciconi Lyrisches Intermezzo 1823 1855 Gérard de Nerval 1859 Ippolito Nievo Die romantische Schule (Drei Volkslieder aus dem ‚Wunderhorn‘) 1836 1855 Anonymus 1859 Ippolito Nievo E. T. A. Hoffmann Der goldne Topf (in: Fantasiestücke in Callot ’s Manier, Bd.-3) 1814- 1815 1830 Théodore Toussenel et le trad des romans de Veit-Weber [R A Richard] 1835 E B [Giuseppe Elia Benza? ] Ritter Gluck (in: Fantasiestücke in Callot ’s Manier, Bd.-1) 1809/ 1814- 1815 1830 [François-Adolphe] Loève- Veimars 1835 Anonymus [Gaetano Barbieri? ] Don Juan (in: Fantasiestücke in Callot ’s Manier, Bd.-1) 1814- 1815 1830 [François-Adolphe] Loève- Veimars 1835 Anonymus [Gaetano Barbieri? ] Ignaz Denner (in: Nachtstücke) 1817 1830 [François-Adolphe] Loève- Veimars 1835 G B [Gaetano Barbieri] Das öde Haus (in: Nachtstücke) 1817 1830 [François-Adolphe] Loève- Veimars 1835 G B [Gaetano Barbieri] <?page no="154"?> II Typologie und Panorama der Übersetzertätigkeit „aus zweiter Hand” 154 Signor Formica (in: Serapionsbrüder) 1819- 1821 1829 [François-Adolphe] Loève- Veimars 1835 G B [Gaetano Barbieri] Nachricht aus dem Leben eines bekannten Mannes (in: Serapionsbrüder) 1819- 1821 1830 [François-Adolphe] Loève- Veimars 1835 G B [Gaetano Barbieri] Rat Krespel (in: Serapionsbrüder) 1819- 1821 1829 [François-Adolphe] Loève- Veimars 1835 Anonymus [Gaetano Barbieri? ] Doge und Dogaresse (in: Serapionsbrüder) 1819- 1821 1829 [François-Adolphe] Loève- Veimars 1835 G B [Gaetano Barbieri] Caroline Pichler Agathokles 1808 1812 Mme Isabelle de Montolieu 1813/ 2 1831 Anonymus F. Schiller Die Räuber 1781 1793 [ Jean-Henri- Ferdinand] La Martelière 1798 Anonymus [Francesco Antonio Avelloni] [Aufführung] 1842 Giovanni Carlo Cosenza [als Original] Die Verschwörung des Fiesko zu Genua 1783 1799 [ Jean-Henri- Ferdinand] Lamartelière 1806 Anonymus [Aufführung] Christoph von Schmid Lehrreiche kleine Erzählungen für Kinder 1833 1838 Estelle Raybois 1839 Anonymus Kleine Schauspiele für Familienkreise 1833 1839 Anonymus 1839 Carlo Grolli K O N T A M I N A T I O N Kritische transparente Kontamination Salomon Geßner Idyllen 1756 1762 Michel Huber 1777/ 1784 Aurelio de’ Giorgi Bertóla J. W. Goethe Die Leiden des jungen Werthers 1774 1776 Anonymus [Georges Deyverdun] 1788 D M S -[Michel Salom] I. Kant Kritik der Urteilskraft 1790 1846 Jules Barni 1907 Alfredo Gargiulo F. Nietzsche Die fröhliche Wissenschaft 1882 1901 Henri Albert 1905 Antonio Cippico F. Schiller (Grenzform) Die Räuber 1781 1821 Prosper Brugière de Barante 1832 Anonymus [Aurelio Bianchi- Giovini] <?page no="155"?> 3 „Ermittlungsergebnisse” 155 Nicht-kritische transparente Kontamination H. Heine Lyrisches Intermezzo 1823 1855 Gérard de Nerval 1857 Giuseppe Del Re I. Kant Kritik der praktischen Vernunft 1788 1888 François-Joseph Picavet 1909 Francesco Capra Über Pädagogik 1803 1855 Jules Barni 1883 Angelo Valdarnini G. E. Lessing Emilia Galotti 1772 1829 [MM de Barante, Merville et] le comte de Sainte-Aulaire 1842 Anonymus Opake Kontamination J. W. Goethe Die Leiden des jungen Werthers 1774 1776 Anonymus [Georges Deyverdun] 1782 Gaetano Grassi Faust I 1808 1823 Comte de Sainte- Aulaire 1835 Giovita Scalvini 1823 Albert Stapfer E. T. A. Hoffmann Ignaz Denner (in: Nachtstücke) 1817 1855 [Emile Gigault de] La Bédollière 1911 F[ederico] C Ageno Klein Zaches genannt Zinnober 1819 1863 [1855] [Emile Gigault de] La Bédollière 1893 Luigi Agnes I. Kant Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 1785 1848 Jules Barni 1910 Nicola Palanga 3 1854 [Claude] Joseph Tissot 1907 Victor Delbos 1910 Giovanni Vidari (zugleich Herausgeber) G. E. Lessing Miss Sara Sampson 1755 1784 Adrien-Chrétien Friedel 1806 M A [Michelangelo Arcontini, alias Michel Salom] Laokoon 1766 1802 Charles Vanderbourg 1833/ 1841 Carlo Giuseppe Londonio 1879 Tommaso M Persico Emilia Galotti 1772 1782 Adrien-Chrétien Friedel 1806 M A [Michelangelo Arcontini, alias Michel Salom] Th. Mann Der Tod in Venedig 1912 1947 Philippe Jaccottet 1957 Emilio Castellani/ Lavinia Mazzucchetti <?page no="156"?> II Typologie und Panorama der Übersetzertätigkeit „aus zweiter Hand” 156 K. Marx Misère de la philosophie: réponse à la Philosophie de la misère de M. Proudhon 1847 [frz.] 1885 [dt.] Eduard Bernstein/ Karl Kautsky [dt. Übersetzung] 1901 Anonymus [Ettore Ciccotti] Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, --- Bd.-2 1885- 1894 1900 Julian Borchardt/ Hippolyte Vanderrydt 1946 Antonio Minelli Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, --- Bd.-3 1885- 1894 1901- 1902 Julian Borchardt/ Hippolyte Vanderrydt 1954- 1955 M[aria] L[uisa] Boggeri [Ambrosini] F. Nietzsche Morgenröte: Gedanken über die moralischen Vorurteile 1881 1901 Henri Albert 1925 Paolo Flores F. Schiller Die Räuber 1781 1821 Prosper Brugière de Barante 1846 Andrea Maffei Don Carlos 1787 1799 Adrien Lezay 1819 Pompeo Ferrario Wilhelm Tell 1804 1818 Henri Merled ’Aubigné 1819 Pompeo Ferrario Exkurs: Italienisch als Mittlersprache Original Ital. Übersetzung Franz. Übersetzung Autor Titel Jahr Jahr Übersetzer Jahr Übersetzer K O N T A M I N A T I O N Opake Kontamination I. Kant Kritik der reinen Vernunft 2 1787 1820- 1822 Vincenzo Mantovani 1829 Jules Barni 1835- 1836 C[laude] J[oseph] Tissot Die Einträge decken im Wesentlichen den Zeitraum von Ende des 18 . Jahrhunderts bis zum frühen 20 Jahrhundert ab, wobei auch noch Mitte des 20 . Jahrhunderts vereinzelt Übersetzungen aus zweiter Hand zu verzeichnen sind Obgleich hier kein repräsentativer Überblick gegeben werden kann, wird doch deutlich, dass die opake Kontamination insgesamt am häufigsten vertreten ist und auch bei der Reinform die opake gegenüber der transparenten Aneignung überwiegt . Die einzelnen Vorkommen sollen im Folgenden geordnet nach Kategorien kurz vorgestellt werden <?page no="157"?> 3 „Ermittlungsergebnisse” 157 3.1 Die Aneignung als Reinform der Übersetzung aus zweiter Hand 3 1 1 Transparente Aneignung Die eingestandene Reinform der Übersetzung aus zweiter Hand wird in vielen Fällen bereits im Titel als solche deklariert, oder aber der Übersetzer gibt in der Vorrede die Konsultation einer französischen Vorlage zu erkennen Bei den gefundenen Belegen handelt es sich häufig um Fassungen, die sich auf anerkannte französische Vorgängerversionen aus der Feder von bekannten Literaten oder Übersetzern beziehen Hinzu kommt die oft geringe Autorität des deutschen Originals, die etwa darauf zurückzuführen ist, dass der Autor in Italien noch kaum bekannt ist oder zu den Verfassern der besonders im frühen 19 Jahrhundert beliebten moralisierenden „Erbauungsliteratur“ zählt Bei dem ersten Eintrag in dieser Kategorie, dem Grimmschen Märchen Schneewittchen, spielt wohl der Umstand eine Rolle, dass die Gebrüder Grimm hier lediglich als Herausgeber einer Anthologie und nicht als Originalautoren auftreten So erklärt sich auch der späte Erscheinungszeitpunkt der italienischen Fassung (1954), der für eine Übersetzung aus zweiter Hand doch recht ungewöhnlich ist Als französische Vorlage diente die bei Flammarion erschienene französische Version von 1950 Die relativ unbekannte Übersetzerin Maria Luisa Carosso tritt im selben Jahr auch noch mit einer transparenten Bearbeitung einer Hoffmannschen Erzählung in Erscheinung 73 Ein Beispiel für die Übernahme einer autoritativen französischen Fassung liefert der zweite Beleg: Heinrich Heines Lyrisches Intermezzo wird 1857 von Francesco Scremin in Venedig anlässlich einer Hochzeit unter dem Titel L’ intermezzo: leggenda ins Italienische gebracht, versehen mit dem ausdrücklichen Zusatz: „versione dal francese“ Die französische Übersetzung, die 1855 im Heine- Sammelband Poëmes et légendes bei Lévy in Paris verlegt wird, ist gewissermaßen vom Autor selbst autorisiert Sie ist Teil des Projekts einer französischen Gesamtausgabe, die Heine nicht nur betreut und teilweise überarbeitet, sondern auch mit einem auf Französisch abgefassten Vorwort versieht Darin finden sich auch einige Zeilen zu Gérard de Nerval, dem kurz zuvor verstorbenen Übersetzer des Intermezzo 74 , dessen Texte von Heine persönlich durchgesehen und mit dem deutschen Original verglichen wurden 75 Die Prosafassung Nervals dient Francesco Scremin, der über keinerlei Deutschkenntnisse verfügt, als Vorlage für seine ebenfalls in Prosa verfasste Version des Intermezzo, die im Übrigen eine ganze Reihe von Fehlern und Abweichungen aufweist . Bei Di Benedetto (2002, 7) findet sich ein Verweis auf Scremins Urteil über Heine, „il più compianto ed alto ingegno della Germania contemporanea“, und dessen Lyrisches Intermezzo, „corona di vaghissime perle“ 76 Das nächste Beispiel ist ebenfalls über die anerkannte Fassung 73 Vgl den sich anschließenden Abschnitt 3 1 .2 zur transparenten Bearbeitung 74 Eine Vorstellung dieses Gedichts, die auch in den Band von 1855 aufgenommen wurde, erscheint bereits 1848 in der Revue des Deux Mondes Sie hat nicht unwesentlich dazu beigetragen, Heine auch in Italien bekannt zu machen: Gérard de Nerval, „Les Poësies de Henri Heine“ Revue des Deux Mondes, Bd - 23, 15 Juli und 15 September 1848, 224-243; 914-930, wieder abgedruckt in Hörling, Hans (Hrsg 2002), Die französische Heine-Kritik, Bd -3, 367, 115-126 Vgl Di Benedetto 2002, 13 75 Noch heute enthalten die kritischen Heine-Editionen ungekürzte Fassungen dieser Texte Vgl hierzu Reitani 2006, 18, ferner Benedetto 2002, 12-13 76 Zu den frühen Heine-Übersetzern vgl auch Carlo Bonardi 1907 <?page no="158"?> II Typologie und Panorama der Übersetzertätigkeit „aus zweiter Hand” 158 eines französischen Schriftstellers ins Italienische übertragen worden, auch wenn dies nicht sogleich aus dem Titelblatt hervorgeht 1826 übersetzt ein anonymer Neapolitaner, der unter dem Kürzel N M C firmiert, Kants von der Forschung recht unbemerkt gebliebene Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen nach der Edition von Auguste Hilarion de Kératry 77 Vorangestellt ist seinen Considerazioni sul sentimento del sublime e del bello neben einer kurzen Übersetzervorrede (A chi legge) auch ein Avviso sommario aus der Feder des Herausgebers der französischen Fassung-- der seine Schrift im Übrigen vornehmlich dem schönen Geschlecht widmet Zu den von Kératry übernommenen Anmerkungen fügt der Übersetzer eigene Erläuterungen hinzu, darunter einige Kommentare zu religiösen Aspekten des Textes Insgesamt liegt dieser italienischen Übersetzung ein dezidiert moralischer Ansatz zugrunde, den bereits die Verkehrung der beiden Begriffe des „Schönen“ und des „Erhabenen“ im italienischen Titel erahnen lässt Die ästhetische Seite tritt darüber deutlich in den Hintergrund Befördert wurde diese moralische Lesart wohl auch durch die Tatsache, dass die Schrift der Prüfung durch die Zensurkommission unter dem Vorsitz des Kultusministers Monsignor Colangelo unterlag Als Paradebeispiele für die autorisierte, vom Autor selbst revidierte französische Übersetzung können aber Karl Marx’ Schriften Das Kapital und Manifest der Kommunistischen Partei gelten Die zentrale Bedeutung von Marx’ Hauptwerk, dessen französische Übersetzung 1872-75 von Joseph Roy publiziert wurde, für die Thematik der Übersetzung aus zweiter Hand ist schon in der Einleitung zur vorliegenden Arbeit thematisiert worden Marx überwacht und korrigiert die französische Fassung seines Kapital[s] nicht nur, sondern versieht sie auch mit einer Einleitung aus eigener Feder, und zwar in der ausdrücklichen Absicht, ihr den Status einer relativ autonomen Fassung zu verleihen, die als Vorlage für die Verbreitung des Werkes in anderen Sprachen dienen kann . Tatsächlich haben gleich zwei italienische Übersetzer diese Version für ihre Übertragung herangezogen: zunächst der Anarchist Carlo Cafiero, der am 20 . Juni 1879 in Mailand eine gekürzte Fassung unter dem Titel Il capitale di Carlo Marx brevemente compendiato da Carlo Cafiero vorlegt; 78 später auch der Genueser Politiker und Nationalökonom Gerolamo Boccardo, der Herausgeber und Übersetzer der vollständigen Fassung, die von 1882 bis 1884 in 43 Einzelpublikationen erscheint und 1886 schließlich in einem Band beim Turiner U T E T -Verlag veröffentlicht wird Sie sollte noch bis nach dem Zweiten Weltkrieg auch die einzige italienische Version bleiben 79 Auch beim Manifest der Kommunistischen Partei ist es gewissermaßen eine autorisierte Fassung, auf die sich der Rechtsanwalt und Anarchist Pietro Gori für seine 1891 bei Fantuzzi in Mailand vorgelegte italienische Übersetzung stützt, nämlich die 1886 bei Mermeix im Anhang zu 77 Zu dieser Übersetzung vgl Landolfi Petrone 2004, 493 f Der Titel ist offenbar der vermutlich aus dem 1 Jahrhundert n Chr stammenden anonymen Abhandlung „Peri Hypsos“ („Über das Erhabene“) entlehnt, einer der wirkungsmächtigsten dichtungstheoretischen Schriften der Antike 78 Zu dieser Fassung vgl Damiani 1974, insbesondere Kapitel 4: „La rif lessione di Cafiero e il ‚Compendio del Capitale‘“, 151 ff Dieser betont, Cafieros Fassung sei im Militärgefängnis S -Maria Capua Vetere bei Neapel entstanden und von Marx persönlich lobend erwähnt worden 79 Neuauf lagen dieser Fassung erscheinen 1916 und 1924, gefolgt von sieben weiteren Auf lagen bis 1960 Zur Übersetzung Gerolamo Boccardos vgl Favilli 1996, 249 ff <?page no="159"?> 3 „Ermittlungsergebnisse” 159 seiner Schrift La France socialiste abgedruckte Übersetzung von Laura Lafargue . 80 Die Version der Marx-Tochter Lafargue war bereits von Friedrich Engels revidiert worden, dennoch erscheint 1894 in der sozialistischen Monatsschrift L’Ere nouvelle eine neue, korrigierte Fassung aus ihrer Feder, die über 570 Texteingriffe von Engels enthält . 81 Aber auch ein noch relativ unbekannter Autor erregt häufig erst durch die französische Übersetzung die Aufmerksamkeit des italienischen Publikums, wie der nächste Beleg zeigt: Luigi Migliaresi legt 1786 in Livorno eine Übersetzung von Lessings Jugendwerk Die Juden vor, die schon im Titel mit der Übertragung aus dem Französischen wirbt: Gli Ebrei, commedia in un atto del sig. Lessing , tradotta dal tedesco in francese, e dal francese in italiano . 82 Vorbild ist die 1781 unter dem Titel Les juifs, comédie en un acte, par Lessing abgedruckte Fassung des Schriftstellers Johann Arnold Ebert Einen weiteren Beleg für die Bedeutung einer autorisierten französischen Vorgängerfassung liefern August Wilhelm Schlegels Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur- - einer der Schlüsseltexte für die Herausbildung der italienischen Romantik . 83 1808 in Wien gehalten, werden sie 1809 bis 1811 in Heidelberg verlegt Schlegels Plädoyer für ein modernes, an Shakespeare und Schiller orientiertes Theater, das vor allem in Italien dringend notwendig sei 84 , schlägt hohe Wellen unter den italienischen Gelehrten, noch bevor seine „Mitstreiterin“ Mme de Staël mit ihrer Abhandlung Sulla maniera e utilità delle traduzioni (1816) dort die Gemüter erhitzt 1814 fertigt Mme de Staëls Kusine Albertine-Adrienne Necker de Saussure unter Aufsicht des Autors 85 eine französische Übersetzung an, die unter dem Titel Cours de Littérature dramatique in Paris und Genf bei Paschoud in drei Bänden abgedruckt wird und schnell auch in Italien großen Anklang findet . 86 Die italienische Übertragung von 1817 trägt das Ihrige zur Verbreitung der Schrift bei und regt etwa auch in den 1840er Jahren Giuseppe Verdi zu seinen Schiller-Vertonungen an Der Corso di letteratura drammatica des klassizistischen Dichters und Gelehrten Giovanni Gherardini wird bei der Mailänder tipografia Giusti verlegt und ist mit umfangreichen Fußnoten und einer Übersetzervorrede versehen Tatsächlich habe Gherardini, wie er selbst im Vorwort betont, die Übersetzung der 80 Mermeix [Gabriel Terrail], La France socialiste, notes d ’ histoire contemporaine [supplément: Le Manifeste du Parti communiste traduit en français par Laura Lafargue] Paris: F Fetscherin et Chuit, 1886 Zur Übersetzungsgeschichte des „Kommunistischen Manifests“ vgl Merkel-Melis 2007, 214-236 81 Diese Fassung wird 1897 bei Giart et Brière in Paris neu aufgelegt, eine weitere Ausgabe erscheint dort 1901 82 Inwieweit die 1806 unter dem Kürzel M A (Michelangelo Arcontini) bei Antonio Rosa erschienenen Übersetzungen von Miss Sara Sampson und Emilia Galotti ebenfalls als Übersetzungen aus zweiter Hand betrachtet werden können, ließ sich hier leider nicht nachprüfen 83 Vgl Janowski 1996, 178, ferner zur italienischen Schlegel-Übersetzung Unfer Lukoschik 2004, 157- 160 84 Alfieri ist ihm zu spröde und unharmonisch, Goldonis Stücke besäßen zu holzschnittartig gezeichnete Charaktere Vgl Unfer Lukoschik 2004, 158 85 Im Avertissement der französischen Fassung (Anonymus 1814, unpagin ) heißt es: „M A W Schlegel, ne sachant pas s’il existe déjà une traduction françoise de son Cours de Littérature dramatique, se croit obligé de déclarer que celle-ci a été entreprise d’après son désir, revue en partie par lui-même, et qu’elle est la seule qu’il regarde comme authentique, et sur laquelle il consente à être jugé“ 86 Dies versichert etwa Vincenzo Monti in einem Brief an Mme de Staël vom 9 August 1815 Vgl Unfer Lukoschik 2004, 158 <?page no="160"?> II Typologie und Panorama der Übersetzertätigkeit „aus zweiter Hand” 160 Schrift vor allem deshalb unternommen, um die modernen, „romantischen“ Positionen Schlegels im Hinblick auf die italienische Dramatik anzufechten . 87 Und dies tut er denn auch ausgiebig in seinen Fußnoten Dass er sich bei seiner Übertragung an der französischen Version von Necker de Saussure orientiert, rechtfertigt er dabei unter Verweis auf die französische Übersetzervorrede (Gherardini 5 1859, 5-6): 88 Ma il Traduttore francese aggiugne inoltre, nella sua Prefazione, che il sig Schlegel, allorchè si risolvette di far traslatare quest’opera, ‚la sottopose ad un nuovo esame generale, ne rifece il principio, ne ritoccò egli stesso parecchi tratti, ed accennò al Traduttore altri cambiamenti da lui giudicati necessarj‘ Laonde la traduzione francese del 1814, anzichè per tale, si dee tenere per una edizione novella, in molte parti migliorata dall’Autore, e quindi preferibile senza dubbio al primo testo . Ora, sopra questa traduzione è sembrato a noi di dover eseguire la nostra; ed osiamo confidare che tra per la grande corrispondenza delle due lingue, e per la diligenza che abbiamo posto in cosiffatto lavoro, la traduzione italiana si riscontri talmente, in quanto alla fedeltà, colla francese, che se quella è dichiarata autentica dall’Autore, potrà questa almeno non essere confusa fra certe traduzioni di traduzioni in cui più non si trova favilla dello spirito dell’originale Bezeichnend ist hier vor allem die ausdrückliche Abgrenzung von der damals sehr verbreiteten Praxis der Übersetzung aus zweiter Hand, den „certe traduzioni di traduzioni in cui più non si trova favilla dello spirito dell ’originale“ Offenbar gingen die damaligen Übersetzer davon aus, dass eine vom Autor autorisierte Mittlerfassung ihrem Text den Status einer „vollwertigen“ Übersetzung aus erster Hand verleiht In diesem Fall gilt dies natürlich in besonderem Maße, zumal Schlegel selbst in der französischen Fassung noch Änderungen am eigenen Text vornimmt Die Notwendigkeit einer solchen Apologie zeigt aber auch, dass diese Praxis von den zeitgenössischen Übersetzern nicht als sehr professionell betrachtet wurde Am Rande sei erwähnt, dass der Verweis auf die „grande corrispondenza delle due lingue“ offenbar zu dieser Zeit durchaus nichts Ehrenrühriges an sich hatte Was die sogenannte Erbauungsliteratur betrifft, so finden sich mit August Lafontaine, Christoph von Schmid und Johann Rudolf Wyss gleich drei Autoren, die in Italien insbesondere über transparente Aneignungen aus dem Französischen Aufnahme finden . 89 Im Italien der Restaurationszeit gehört der heute weitgehend in Vergessenheit geratene August Heinrich Julius Lafontaine zu den bekanntesten Autoren dieser Kategorie Sein Roman Der Sonderling wird 1823 bei Valotti in Brescia in der italienischen Übersetzung des Schriftstellers und Theaterautors Antonio Piazza publiziert, unter dem Titel L’Uomo singolare Im Übersetzervorwort verweist dieser auf die französische Fassung von Breton und Frieswinkel, L’ homme singulier, ou Émile dans le monde (1801), die ihrerseits als „imi- 87 Vor diesem Hintergrund betrachtet ist es also durchaus nicht verwunderlich, dass sich ausgerechnet ein „Klassizist“ wie Gherardini mit Schlegels Schlüsseltext für die Entwicklung der Romantik in Italien auseinandersetzt Es zeugt nicht etwa von f ließenden Grenzen zwischen beiden Positionen, wie es z B . Costazza (2000, 123) darstellt, sondern vielmehr von einer sehr kontroversen Debatte 88 Zit nach der bei Francesco Rossi-Romano in Neapel erschienenen „seconda edizione napoletana“ von 1859 89 Zu den im Folgenden genannten Exponenten der „Erbauungsliteratur“ vgl . Battaglia Boniellos (1990, 57-105) Aufsatz zur Übersetzungstätigkeit in der Lombardei während der Restaurationszeit <?page no="161"?> 3 „Ermittlungsergebnisse” 161 té de l ’allemand“ deklariert ist 90 Die dreizehn Jahre später erschienene Übersetzung von Lafontaines Eduard, oder der Maskenball wirbt sogar im Titel mit der französischen Vorlage, auch wenn der Zusatz „confrontata coll ’originale tedesco“ die nötige Seriosität gewährleisten soll Pate gestanden hat hier wohl die 1817 bei Lerouge abgedruckte Übersetzung Le Bal masqué ou Edouard von J -J -M Duperche . Die italienische Fassung erscheint 1830 bei Gaspare Truffi in Mailand in vier Bänden in der Raccolta di novelle, der Übersetzer firmiert mit den Initialen F M Am häufigsten wird in Italien zwischen 1828 und 1847 aber Christoph von Schmid übersetzt 91 Der Mailänder Verleger Pirotta publiziert 1839 eine Reihe von Bändchen pädagogisch-religiösen Charakters, deren Titelblatt den Vermerk „dall ’Università di Parigi ad uso della gioventù“ enthält . Hier sei eine der darin enthaltenen Erzählungen für Kinder und Kinderfreunde herausgegriffen: Das verlorne Kind erscheint in Italien unter dem Titel Il fanciullo smarrito: racconto morale/ del canonico Schmid in einer Auf lage von 1000 Exemplaren, erneut mit dem werbewirksamen Zusatz „traduzione fatta sul testo francese dal canonico Angelo Cagnola“ (Lodi: Orcesi 1838) 92 Bei der französischen Referenzübersetzung dürfte es sich um die 1828 bei Levrault in Paris herausgegebene anonyme Fassung L’Enfant perdu, conte pour les enfans, par l’auteur des ‚Œufs de Pâques‘ handeln 93 Bleibt noch der Schweizer Dichter Johann Rudolf Wyss, dessen Schweizerische[n] Robinson Isabelle de Montolieu 1816 in vier Bänden ins Französische überträgt Ihre bei Bertrand in Paris publizierte Fassung Le Robinson suisse, ou Journal d’un père de famille naufragé avec ses enfans enthält den Zusatz „comédie“ Auf der Grundlage dieser Version-- wie dem Vorwort zu entnehmen ist-- fertigt ein anonymer italienischer Übersetzer seine fünf bändige, 1818 bis 1825 bei Pirotta erschienene Fassung an, deren Titel Robinson Svizzero ovvero Giornale di un padre di famiglia naufragato co’ suoi figli offensichtlich dem Französischen nachgebildet ist 94 3 1 .2 Transparente und opake Bearbeitung aus zweiter Hand Auch wenn die transparente Bearbeitung handwerklich betrachtet nicht zum Phänomen der Übersetzung aus zweiter Hand zu rechnen ist- - zumal sie eigentlich als Sonderform der Übersetzung „aus erster Hand“ gelten kann 95 -- soll sie in diesem Rahmen dennoch als Erscheinung der mittelbaren Rezeption eines literarischen Werkes Aufnah- 90 Vgl Battaglia Boniello 1990, 93 91 Es erscheinen dort sogar Erzählungen „ad imitazione di quelli del canonico Schmid“, die wohl stark abgewandelt und noch freier aus dem Französischen übertragen wurden Vgl Battaglia Boniello 1990, 96 ff 92 Battaglia Boniello (1990, 99) führt als weitere, im selben Jahr erschienene Sekundärübersetzungen aus dem Französischen die Erzählungen Fernando ossia Storia d ’un giovane spagnuolo und La Pietà filiale o Rosa di Tannenburg auf, die hier nicht überprüft werden konnten Sie wurden 1840 bei Pirotta neu aufgelegt 93 Über die französische Fassung wird übrigens auch eine- - eingestandene- - Übersetzung „aus dritter Hand“ ins Bulgarische angefertigt: Laut Vrinat-Nikolov (2006, 125) dient die griechische Übersetzung dieser französischen Fassung wiederum Christaki Pavlovič als Vorlage für seine bulgarische Version Vgl den Forschungsüberblick in Abschnitt 1 1 des ersten Teils der vorliegenden Arbeit 94 Vgl Battaglia Boniello 1990, 87 95 Vgl hierzu Abschnitt 1 1 dieses Teils der Arbeit zu den Abstufungen der Übersetzung aus zweiter Hand . <?page no="162"?> II Typologie und Panorama der Übersetzertätigkeit „aus zweiter Hand” 162 me finden Dabei ist der erste Eintrag in dieser Kategorie bereits weiter oben behandelt worden: 96 1845 wird bei J Hetzel in Paris Alexandre Dumas’ Bearbeitung einer Erzählung aus E T A Hoffmanns Serapionsbrüdern abgedruckt . Sie erscheint in zwei Bänden unter dem Titel Histoire d’un casse-noisette, par Alexandre Dumas-- aus dem Titel ist also keineswegs ersichtlich, wer der ursprüngliche Autor der Erzählung ist . Lediglich in seiner Préface, die bereits Teil der fiktiven Rahmenhandlung ist, verweist Dumas (1845, 12) auf Hoffmann als Urheber der Geschichte, die dann im Anschluss erzählt wird Kümmerling-Meibauer (2008, 195) weist darauf hin, dass Dumas’ Bearbeitung, die lange Zeit als einfache Übersetzung betrachtet worden sei, tatsächlich viele Elemente einer Bearbeitung in Richtung einer traditionellen französischen Kindergeschichte mit pädagogischem Anspruch enthalte: However, because of its adaptation to the upper middle class milieu in France, the shift from a realistic to a magical frame narrative, the reduction of the grotesque, the integrated moral comments, the adjustment to the tradition of the French fairy tale and the revised ending, L’ histoire d’un casse-noisette goes far beyond a mere translation In comparison to Hoffmann’s original, Dumas’s adaptation turns out to be a step backward, as Dumas adapted his image of childhood to contemporary pedagogical demands The fallacy that both fairy tales are identical is one reason why the modernity of Hoffmann’s work is underestimated Angesichts des späten Erscheinungszeitpunktes (im Jahr 1954) ist es doch recht verwunderlich, dass sich Maria Luisa Carosso als Vorlage für ihre italienische Fassung der Erzählung Dumas’ französische Bearbeitung und nicht das „modernere“ deutsche Original aussucht Offenbar erscheint ihr die Bearbeitung immer noch „leichter verdaulich“ für italienische Leser Entsprechend lautet der Titel ihrer bei G Principato in Mailand abgedruckten Übersetzung (bzw transparenten Bearbeitung): La storia di Schiaccianoci; raccontata da Alessandro Dumas; tradotta da Maria Luisa Carosso Auch das zweite Beispiel, Gaetano Barbieris für die Compagnia Reale Sarda angefertigte und 1821 bei Pirotta in Mailand verlegte Fassung des Schillerschen Dramas, wird an anderer Stelle noch einmal aufgegriffen 97 Die französische Vorlage ist bereits aus dem Titel ersichtlich, der wie folgt lautet: Maria Stuarda, tragedia in cinque atti/ del Sig. Pietro Le Brun trasportata dal francese in versi sciolti italiani da Gaetano Barbieri Bei Pierre Antoine Lebruns Version handelt es sich um eine durch den Zusatz „d’après Schiller“ gekennzeichnete Bearbeitung der Tragödie, die ein Jahr zuvor bei Barba in Paris erschienen ist Unfer Lukoschik (2004, 269) führt Barbieris Beweggründe für die Wahl gerade dieser französischen Bearbeitung an, die dieser im Anhang zu seiner Übersetzung darlegt: Lebrun habe die erhabenen Szenen ungekürzt beibehalten, während er-- in bekannter Manier der belles infidèles-- unpassende, dem klassischen Ideal widersprechende Textstellen des Originals weggelassen habe, „etwa die zu schwärmerische Liebeserklärung Mortimers, ‚indecentissima scena‘, im ersten sowie die Kommunionsszene der Königin im letzten Aufzug“ (ebd ) Barbieri mag für seine Zeit die richtige Wahl getroffen 96 Vgl ebd 97 Vgl Abschnitt 3 .4 1 im dritten Teil der vorliegenden Arbeit zu E T A Hoffmann <?page no="163"?> 3 „Ermittlungsergebnisse” 163 haben, denn das Stück wird in Italien lange Zeit erfolgreich aufgeführt, obgleich 1825 eine weitere Bühnenübersetzung des Dramas erscheint 98 Der dritte Beleg betrifft erneut die Übertragung eines Schillerschen Dramas, nämlich Calisto Bassis Fassung des Wilhelm Tell Dessen italienisches Opernlibretto für die Aufführung im Real Teatro di S.-Carlo im Frühjahr 1833 99 , das im selben Jahr bei Flautina in Neapel als Melodramma tragico in quattro atti verlegt wird, ist ausdrücklich als „tradotto dal francese“ deklariert Obgleich der ursprüngliche Titel des Stücks über den Schweizer Freiheitskämpfer häufig der italienischen Zensur zum Opfer fiel, tragen Aufführung und Libretto in diesem Fall den Namen Il Governatore Gessner e Guglielmo Tell 100 Als Vorlage diente Bassi die französische Bearbeitung des Stückes für das Musiktheater von Victor Joseph Etienne de Jouy und Hippolyte Louis Florent Bis . Diese genießt auch in Italien besondere Autorität, denn auf der Grundlage dieser Fassung lässt Rossini die Oper am 3 August 1829 an der Pariser Grand Opéra uraufführen 101 Das französische Libretto wiederum ist angelehnt an Henri Merle d’Aubignés Tell-Übersetzung 102 von 1818 sowie an das Prosagedicht von Jean-Pierre Claris de Florian aus dem Jahr 1801, Guillaume Tell ou la Suisse libre 103 , das im Vorwort explizit erwähnt wird Zum Schluss noch ein Beispiel für den relativ selten vorkommenden Fall der opaken Bearbeitung aus zweiter Hand Das während der Restaurationszeit in Italien häufig mit Aufführungsverboten belegte Schillersche Stück Don Carlos wird dort wenn überhaupt in dieser Zeit nur in abgeleiteter Form aufgeführt So nimmt es nicht wunder, dass 1846 in Mailand und erneut 1848 in Turin ein Theaterstück des Titels Filippo II aufgeführt wird, das auf eine französische Bearbeitung des Don Carlos zurückgeht Für die italienische Bühne wurde das Stück von der Compagnia Drammatica Lombarda unter Leitung des Schauspielers Alamanno Morelli adaptiert . Die französische Zwischenfassung, die ebenso wenig erwähnt wird wie Schillers Original, stammt von Eugène Cormon alias Pierre-Etienne Piestre Sie wird 1846 unter dem Titel Philippe II, roi d’Espagne, drame en cinq actes, imité de Schiller (…) bei Lévy in Paris verlegt und dort am 14 -Mai desselben Jahres auch uraufgeführt 104 3 1 .3 Opake Aneignung Ein Großteil der gefundenen Belege für die Reinform der Übersetzung aus zweiter Hand werden allerdings nicht vom Übersetzer ausdrücklich als solche ausgewiesen, sondern als direkte Übertragungen des deutschen Originals ausgegeben . Zwei bekannte Beispiele sind die beiden folgenden Goethe-Übersetzungen von Giovanni Berchet und Gaetano 98 Vgl Unfer Lukoschik 2004, 269 99 Eine weitere Aufführung findet dort 1840 statt 100 Vgl Unfer Lukoschik (2004, 249), die als weitere Titel der italienischen Rossini-Oper Rodolfo di Sterlinga, Vallace bzw . Guglielmo Wallace, Andrea Hofer, Carlo il temerario und Carlo il Calvo aufführt 101 Zur Bühnengeschichte dieser Oper in Italien vgl Unfer Lukoschik 2004, 249 f .; zur Genese des französischen Librettos ferner Weisstein 1986, 160 102 Schiller, Guillaume Tell: poème dramatique/ traduit par Henri Merle d ’Aubigné Paris: Paschoud, 1818 103 Guillaume Tell, ou la Suisse libre, par M de Florian; ouvrage posthume, précédé de la vie de l’auteur, par Jauffret; de plusieurs fables, poésies fugitives Paris: impr de Guilleminet, an X 104 Zu dieser mittelbaren Bühnenbearbeitung des Don Carlos vgl Unfer Lukoschik 2004, 258 <?page no="164"?> II Typologie und Panorama der Übersetzertätigkeit „aus zweiter Hand” 164 Barbieri In der Reihe Biblioteca scelta di opere tedesche tradotte in lingua italiana, die der Mailänder Buchhändler und Schriftsetzer Giovanni Silvestri 1832 ins Leben ruft und die eine recht merkwürdige Mischung an Gebrauchstexten und literarischen Texten minderer Qualität versammelt, findet sich in der 10 Ausgabe von 1835 eine Übersetzung von Goethes Wilhelm Meister Es handelt sich dabei um einen Nachdruck der Fassung, die bereits 1809 bei Destefanis in Mailand verlegt wurde und die unter dem kuriosen Titel Gli anni del noviziato di Alfredo Meister; del Sig. Goethe, autore del Werther erscheint, ausdrücklich mit dem Hinweis „Traduzione dal tedesco“ 105 Der anonyme Übersetzer, möglicherweise der italienische Dichter französischer Abstammung Giovanni Berchet, 106 hat das deutsche Original aber augenscheinlich nicht konsultiert Zu seinem neuen Vornamen kommt Wilhelm Meister über den Umweg des Französischen, nämlich über die 1802 bei François Louis in Paris verlegte französische Bearbeitung von Charles-Louis de Sévelinges, Alfred, Ou les années d’apprentissage de Wilhelm Meister 107 Die abweichende Namensgebung ist im Übrigen einfach der Willkür des französischen Übersetzers geschuldet, wie dessen Avant-propos zu entnehmen ist (Goethe 1802, xi-xii): Le traducteur ne doit pas omettre d’avertir que ce roman est intitulé, en allemand, Wilhelm Meisters Lehrjahre, littéralement: Années d’apprentissage de Guillaume Meister Il a nommé l’ouvrage français, Alfred, et l’on voit que c’est le moindre des changemens qu’il s’est cru autorisé à faire Goethes Versepos Hermann und Dorothea wiederum erscheint 1824 in Italien beim Mailänder Verleger Ranieri e Fanfani in einer Prosafassung aus der Feder von Gaetano Barbieri Titel und Vorrede 108 der hier konsultierten Fassung der Dorotea del sig. Goët weisen-- entgegen der Angabe von Battaglia Boniello (1990, 65)-- keinerlei Hinweis auf die verwendete französische Ausgabe auf . Dennoch spricht einiges dafür, dass Barbieri sich bei seiner italienischen Übersetzung auf die 1800 bei Treuttel et Wurtz in Paris und Straßburg publizierte französische Fassung von Paul Jérémie Bitaubé, Herman et Dorothée, en IX chants, poème allemand de Goethe gestützt hat, die ebenfalls in Prosa abgefasst ist 109 Die Übersetzung soll hier deshalb unter der Kategorie der opaken Aneignung geführt werden Heinrich Heine ist weiter oben schon als Dichter in Erscheinung getreten, dessen französische Übersetzungen aus der Feder von Gérard de Nerval als von ihm selbst 105 Auch die Vorrede enthält keinerlei Verweis auf die Konsultation der französischen Zwischenstufe 106 Die Zuschreibung geht auf die Neuauf lage dieser italienischen Fassung von 1912 zurück, die der Herausgeber Domenico Ciampoli als „Traduzione di Giovanni Berchet“ deklariert: Gli anni di noviziato di Guglielmo Meister/ di G. Volfango Goethe. Trad di Giov Berchet; pref di Dom Ciampoli Lanciano: Carabba, 1912 (Scrittori italiani e stranieri) Über den tatsächlichen Urheber der Übersetzung herrscht allerdings noch Unklarheit, zumal der Name zwar auf dem Einband, nicht aber auf der Titelseite abgedruckt ist Vgl hierzu Battaglia Boniello 1990, 66 f 107 Vgl Allegri 1995, 379 f sowie Battaglia Boniello 1990, 66 108 In der Vorrede an den „Amico lettore“ (1824, unpagin ) verteidigt Barbieri lediglich seine Entscheidung, die deutschen Hexameter in Prosaform wiederzugeben, „per far cosa gradita a coloro che, ansiosi di trovare nei romanzi la storia degli uomini e dei tempi, ritengono estranei ad essi il metro e la rima“ 109 Dies konnte bereits in Abschnitt 2 .2 .2 dieses Teils anhand einiger Kapitelüberschriften belegt werden <?page no="165"?> 3 „Ermittlungsergebnisse” 165 autorisiert gelten können Dies ist nicht verwunderlich angesichts der Tatsache, dass Frankreich das erste Land ist, das Heines dichterische Qualitäten anerkennt und für die Verbreitung seines Ruhmes sorgt 110 Dadurch sehen sich aber auch einige italienische Übersetzer dazu veranlasst, Heines Werke aus dem Französischen zu übertragen . So legt 1857 der Komödiendichter und Freund von Ippolito Nievo, der aus Friuli stammende Teobaldo Ciconi, bei Minelli in Rovigo eine Versübersetzung von fünf Gedichten aus dem Buch der Lieder und den Neue[n] Gedichte[n] vor Die von Francesco Verzegnassi herausgegebene Fassung erscheint anlässlich der Hochzeit von Gregorio Braida und Elisa Platis 111 Es ist anzunehmen, dass es sich dabei um eine uneingestandene Form der mittelbaren Übersetzung aus dem Französischen handelt, für die Ciconi Gérard de Nervals 1855 bei Lévy abgedruckte Poëmes et légendes herangezogen hat 112 Diese französische Fassung inspiriert in Italien auch andere Übersetzer zu eigenen Übertragungen, so neben Francesco Scremin, von dem oben schon die Rede war, auch den bekannten Dichter Ippolito Nievo 113 Das Besondere an Nievos Übersetzung ist, dass es sich um eine Versfassung handelt, die bemüht ist, die genaue Versanzahl des Originals beizubehalten, obgleich die französische Vorlage, Gérard de Nervals Übertragung, in Prosaform abgefasst ist 114 De Luca (1964, 10) beleuchtet die Entstehungshintergründe dieser Übersetzung: Als garibaldinischer Freiheitskämpfer ist Nievo enttäuscht von der politischen Situation in Italien nach dem Waffenstillstand von Villafranca und zugleich melancholisch gestimmt durch die unglückliche Beziehung zu seiner Kusine Bice Melzi d’Eril In dieser Verfassung beginnt er die Übersetzung des Lyrische[n] Intermezzo[s], in dem Heine die unglückliche Liebe zu seiner Kusine Amalia verarbeitet 115 De Luca (1964, 13-14) hält Nievos Übersetzung für besonders gelungen, was er nur zum Teil auf Nervals Übertragung, vor allem aber auf die Kunst des italienischen Dichters zurückführt Die französische Fassung degradiert er mehr oder weniger zum probaten Hilfsmittel: 110 Vgl z B Fiedler-Nossing 1948, 3 Hoffmeister (2002, 78) merkt an, dass der 1856 einsetzende italienische „Heinismo“ der französischen Vermittlung, v a über die Revue des Deux mondes und die Revue de Paris, zu verdanken sei So wird etwa Carducci durch Nervals Übersetzungen auf Heine aufmerksam Allerdings erscheint das erste Heine-Gedicht, „Liebesgram“, in Italien bereits 1839 in der Rivista Viennese, in der Fassung von Tommaso Gar 111 Vgl Di Benedetto (2002, 7), dessen schonungsloses Urteil über Ciconis Fassungen lautet: „Versioni dal francese e, che più conta, infelici e prolisse“ 112 Genau genommen stammen nur die Übersetzungen der Gedichte Lyrisches Intermezzo und Die Nordsee (La mer du Nord) von Nerval, während die restlichen Texte von Heine selbst oder von ihm in Zusammenarbeit mit befreundeten Literaten übersetzt wurden 113 Dass Nievo sich auf die französische Fassung von Gérard de Nerval stützt, berichtet Mengaldo (2009) Zu Nievo als Heine-Übersetzer vgl . ferner Reitani (2006, 15-26) sowie insbesondere Iginio de Luca (1964, 10-16), der im Vorwort zu seiner Sammlung von Nievos Heine-Gedichten auf die französische Zwischenstufe hinweist 114 Vgl Reitani (2006, 18) sowie de Luca (1964, 12), der ausdrücklich betont: „ci sono prove evidenti che il Nievo traduce sul testo francese“ 115 Auf diesen Umstand weist Nerval in der kurzen Notiz zu seiner Fassung des Intermezzo hin . Sie erscheint bereits am 15 . September 1848 in der Revue des Deux Mondes und wird von Heine selbst in den Band Poëmes et légendes von 1855 aufgenommen <?page no="166"?> II Typologie und Panorama der Übersetzertätigkeit „aus zweiter Hand” 166 (…) attraverso la prosa di Nerval il Nievo arriva a cogliere il respiro della poesia di Heine Anche se naturalmente il suo Heine è altra cosa dall’originale tedesco, ha una misura diversa, un tono più caldo e popolare E’ un Heine filtrato attraverso l’esperienza d’arte e di vita del traduttore e, proprio per questo, più vicino all’originale tedesco che non la traduzione francese Più vicino, s’intende, nella resa della poesia La prosa di Nerval è l’ideale per il Nievo traduttore, meno sicuro generalmente dinanzi a un originale in versi (…) Il testo di Nerval è per lui come un palinsesto che gli permette di leggere o di indovinare sotto le parole il vero Heine, e di renderlo con quel gioco sottile di allusioni che fa buona la sua traduzione Nievo konsultiert also das Original überhaupt nicht, sondern bemüht sich, „di (…) indovinare sotto le parole il vero Heine“ Dennoch betont De Luca (ebd . 14): „il Nievo ha la virtù di rendere il nucleo vivo dei testi, nonostante il filtro delle versioni francesi“-- und setzt bezeichnenderweise in Klammern hinzu: „ma noi ricordiamo la miracolosa Iliade del Monti“ Dies stützt die These, dass Dichtern die Übersetzung aus zweiter Hand am ehesten verziehen wird, da sie immer auch als schöpferische Autoren aus eigenem Recht betrachtet werden Im selben Jahr, 1859, übersetzt Ippolito Nievo auch drei Volkslieder aus dem „Wunderhorn“, die im dritten Buch des Heine-Bandes Die romantische Schule veröffentlicht wurden Nievo überträgt sie als L’avventura di Schwartenhals, L’abito di Ghita und La canzone delle oche Auch hier ist das Vorbild eine französische Übersetzung, die im fünften Teil der französischen Fassung von Heines Deutschland-Schrift De l’Allemagne (Poëtes romantiques) abgedruckt ist Die erste Auf lage der von Nievo zugrunde gelegten vollständig überarbeiteten und erweiterten Fassung von 1855 erscheint bereits 1835 in Paris 116 Die neun im Folgenden aufgeführten Übersetzungen von E T A Hoffmann aus der Feder von Gaetano Barbieri entstammen alle einem Erzählband, der in Teil III dieser Arbeit (Kapitel 3) noch Gegenstand der Untersuchung sein soll Einstweilen werden die in Italien in einem Sammelband unter dem Titel Racconti verlegten Erzählungen nur als Belege für die opake Aneignung in den Überblick aufgenommen . Die Identität des Übersetzers ist bei vier der Erzählungen nicht eindeutig belegt, es ist aber anzunehmen, dass Ritter Gluck, Don Juan und Rat Krespel ebenfalls Gaetano Barbieri zuzurechnen sind, während die Zuschreibung des Märchens Der goldne Topf im Folgenden noch diskutiert werden muss Jedenfalls ist davon auszugehen, dass die Erzählungen alle-- mit Ausnahme der zuletzt genannten- - über die französischen Fassungen von François-Adolphe Loève-Veimars übersetzt worden sind, die 1829-1830 beim Pariser Verlag Renduel bzw . in Brüssel bei Hauman erschienen sind Die französische Übersetzung von Der goldne Topf aus der Feder von R A Richard und Théodore Toussenel wird 1830 bei Lefebvre abgedruckt Einen besonderen Fall stellen die beiden Dramen Schillers Die Räuber und Die Verschwörung des Fiesko zu Genua dar, denn hier schlägt sich die mittelbare Rezeption in verschiedenen Aufführungen nieder Hinzu kommt bei Schillers Räubern, dass es nicht die französische Lesefassung, sondern die französische Bühnenbearbeitung ist, die für die Verbreitung des Werkes in Italien sorgt Dennoch soll auch dieses Stück hier unter der Kategorie der opaken Aneignung und nicht etwa der opaken Bearbeitung aus zweiter 116 Vgl de Luca 1964, 12 f . <?page no="167"?> 3 „Ermittlungsergebnisse” 167 Hand geführt werden Die Aufführung des französischen Stückes ist zwar als solche eine Form der Bearbeitung; der Regisseur der italienischen Bühnenadaption wird sich aber für seinen Bühnentext an die in Italien verfügbare französische Lesefassung gehalten haben, auch wenn er sich von der Aufführung hat inspirieren lassen Die frühe italienische Rezeption der Räuber 117 wird durch das Vorrücken der französischen Truppen in Italien befördert So führt man 1798 im von Frankreich besetzten Mailand ein Stück in französischer Sprache mit dem Titel Robert ou le républicain vertueux auf 118 Kurz darauf, im Oktober desselben Jahres, steht auf dem Spielplan des Teatro di Sant’Angelo in Venedig das italienische Stück Robert Moldar capo d’assassini in Franconia, angeblich das Werk eines anonymen Dichters Später wird es dem venezianischen Komödiendichter Francesco Antonio Avelloni zugeschrieben Tatsächlich dürfte hier aber die französische Fassung der Räuber Pate gestanden haben, wobei der italienische Bearbeiter einige zusätzliche Kürzungen vorgenommen hat Schon der italienische Bühnentitel verrät, dass nicht etwa die französische Aufführung der direkte Inspirationsquell war, sondern Lamartelières französische Lesefassung eingesehen wurde Sie erschien 1793 bei Maradan und Barba unter dem Titel Robert, chef des brigands: drame en 5 actes, en prose, der so gar nicht an das der französischen Propaganda verpf lichtete Robert ou le républicain vertueux erinnert Die italienische Druckversion dieses Stückes, Roberto di Moldar, capo di briganti: commedia in cinque atti, wird erst 1842 publiziert 119 Auch hier handelt es sich um eine opake Aneignung über Lamartelières Übersetzung, die nicht nur weitere Kürzungen enthält, sondern kurzerhand als Original deklariert wird Schiller wird mit keinem Wort erwähnt, stattdessen zeichnet der barone Giovanni Carlo Cosenza verantwortlich Ein ähnliches Schicksal ereilt Schillers Drama Die Verschwörung des Fiesko zu Genua 120 Am 27 Mai 1806, lange vor Erscheinen von Pompeo Ferrarios italienischer Übersetzung des Werkes 1819, wird am venezianischen Theater San Benedetto-- trotz des herrschenden Aufführungsverbotes für Schillers Fiesko-- das Stück Fiesco, e Cattaneo gegeben Mit einiger Wahrscheinlichkeit handelt es sich bei dieser anonymen, stark abgewandelten Bearbeitung von Schillers Drama um eine mittelbare Fassung, für die einmal mehr die damals in Italien weit verbreitete französische Übersetzung Lamartelières Pate gestanden hat 121 Diese ist unter dem Titel La conjuration de Fiesque bereits 1799 im ersten Band des Théâtre de Schiller bei Renouard in Paris abgedruckt worden und erlebt eben 1806 eine Neuauf lage Zum Schluss noch drei Beispiele für die Übersetzung der deutschen „Erbauungsliteratur“ 1813 erscheint in Italien eine anonyme Übersetzung des historischen Briefromans romantischer Prägung Agathokles von Caroline Pichler 122 Sie ist mit dem aus- 117 Die erste italienische Übersetzung wird erst 1832 publiziert Zur Rezeption der Räuber vgl Abschnitt 2 .2 1 im dritten Teil der vorliegenden Arbeit 118 Mazzucchetti (1913, 43) entnimmt diese Information dem Courrier de l’armée d’Italie ou le Patriote français à Milan des Jahres 1798 119 Der Band enthält außerdem die ebenfalls Cosenza zugeschriebene „farsa in un atto“ Astrologia e paura 120 Vgl auch hier Abschnitt 2 .2 1 des dritten Teils dieser Arbeit 121 Vgl Unfer Lukoschik 2004, 116-117 122 Erstmals wird eine Auswahl von Briefen des Romans in der 1810-13 erscheinenden Mailänder Zeitschrift Annali di scienze e lettere veröffentlicht (1812, 10, 285-307) Vgl Battaglia Boniello 1990, 72 . <?page no="168"?> II Typologie und Panorama der Übersetzertätigkeit „aus zweiter Hand” 168 drücklichen Zusatz „trasportat[o] dalla lingua tedesca nell ’italiana“ versehen- - hier ist es also nicht das Prestige der französischen Fassung, das die mittelbare Übersetzung motiviert Dass es sich aber um eine solche handelt, verrät bereits die Wahl des italienischen Titels, Agatocle ossia Lettere scritte di Roma e di Grecia al principio del secolo 4: Er ist offensichtlich an die französische Version von Mme de Montolieu angelehnt, die ein Jahr zuvor bei der Pariser Imprimerie d’Imbert unter dem Titel Agathoclès ou lettres écrites de Rome et de Grèce au commencement du 4 e siècle abgedruckt wurde 1831 wird die italienische Übersetzung in korrigierter Fassung neu aufgelegt 123 Auch von Christoph von Schmid finden sich zwei Belege für die uneingestandene Aneignung Sie gehören zu der bereits erwähnten Reihe erbaulicher Erzählungen, die 1839 bei Pirotta in Mailand erschienen sind 124 Die Cento piccoli racconti pei fanciulli, versehen mit dem Titelzusatz „operetta adottata dall ’Universita di Parigi ad uso della gioventù“, fußen wohl auf der französischen Übersetzung von Estelle Raybois, Cent nouveaux petits contes pour les enfants, die 1838 bei Grimblot, Thomas et Raybois in Nancy verlegt wurde Schließlich legt Carlo Grolli-- gemeinsam mit Achille Mauri 1835-36 Herausgeber der Zeitschrift Il Giovedì. Lettura per i giovinetti-- im Jahr 1839 eine Übersetzung der Kleine[n] Schauspiele für Familienkreise vor Deren Titel, Il piccolo teatro dell’ infanzia/ del Canonico Cristoforo Schmid, deutet auf die Konsultation der anonymen französischen Fassung Chanoine Schmid. Théâtre de la jeunesse hin, die im selben Jahr bei Pitois-Levrault in Paris publiziert wurde Grollis Version, die dieser ohne nähere Angabe der Quelle als „liberamente tradotta“ ausweist, erscheint ohne Übersetzervorwort in einer Auf lage von 1500 Exemplaren und wird 1845 neu aufgelegt Sie enthält die Einakter Die Erdbeeren (Le Fragole) und Der kleine Kaminfeger (Il Piccolo Spazzacamino) sowie das dreiaktige Stück Emma, oder Die kindliche Liebe (Emma o l’Amor filiale) 125 3.2 Die Kontamination als Mischform der Übersetzung aus zweiter Hand 3 .2 1 Kritische transparente Kontamination Die Mischform der Übersetzung aus zweiter Hand, also die gleichzeitige Hinzuziehung des Originals und einer oder mehrerer französischer Übersetzungen, wird in ihrer eingestandenen Form natürlich nicht direkt im Titel als solche ausgewiesen sein Meist finden sich in der Übersetzervorrede aber Hinweise darauf, dass die französische Fassung zumindest „zur Kenntnis genommen“ wurde Der Übergang zwischen kritischer und 123 Gian Battista Bolza moniert in seiner Rezension von 1838, die allerdings lediglich die Erstausgabe berücksichtigt, der Anonymus habe seiner Übersetzung die französische Version von Mme de Montolieu zugrunde gelegt, dabei aber dreist die eigene als Übersetzung aus erster Hand ausgegeben Er begründet dies u a mit einem fehlerhaft aus dem Französischen rückübersetzten, Schillers Braut von Messina entnommenen Epigraph (Das Leben ist der Güter Hoechstes Nicht) Vgl Battaglia Boniello 1990, 72 124 Von 1840 bis 1848 werden bei Pirotta etwa 25 Bände mit Werken von Christoph von Schmid aufgelegt Daneben publiziert der Verlag sogar Erzählungen „ad imitazione di quelli del canonico“, die von der außerordentlichen Beliebtheit dieses Autors in Italien zeugen Vgl Battaglia Boniello (1990, 100), die auch diese Erzählungen für freie Bearbeitungen französischer Zwischenstufen hält 125 Vgl Battaglia Boniello 1990, 99-100 <?page no="169"?> 3 „Ermittlungsergebnisse” 169 nicht-kritischer transparenter Kontamination ist dabei f ließend und kann meist nur anhand bestimmter Formulierungen im Vorwort erschlossen werden . In die Kategorie der kritischen transparenten Kontamination fallen solche Belege, bei denen sich der Übersetzer explizit von der Fassung seines französischen Vorgängers abgrenzt . Auffällig ist dabei, dass es sich bei den gefundenen Belegen ausnahmslos um Versionen handelt, die auf anerkannte französische Übersetzungen aus der Feder von Literaten und Philosophen Bezug nehmen Das am weitesten zurückliegende Beispiel betrifft eine italienische Fassung der Idyllen, einem Werk in klassischer Tradition aus der Feder des am häufigsten übersetzten Autors des 18 Jahrhunderts, Salomon Geßner (vgl . Stackelberg 1987, 53-62) Die von Aurelio de’ Giorgi Bertóla 126 verfasste Übersetzung erscheint zunächst 1777 anonym beim neapolitanischen Verlagshaus Fratelli Raimondi (übrigens mit dem Zusatz „tradotti dal tedesco“) und wird dann 1784 im zweiten Band seiner Schrift Idea della bella letteratura alemanna bei Francesco Bonsignori in Lucca erneut abgedruckt . Im Discorso preliminare zu seiner Version der Idyllen grenzt Bertóla (ebd 1784a) sich ausdrücklich vom Übersetzer der französischen Fassung, dem bekannten Literaten Michel Huber 127 , ab-- nicht ohne diesem als „abbastanza conosciuto per le sue eleganti versioni in francese di molte poesie de’ suoi compatrioti“ den ihm gebührenden Tribut zu zollen (Bertóla de’ Giorgi 1784, 18): Ho consultato Huber: mi sono più volte allontanato da lui, non perchè sia in me la folle presunzione di vincerlo nella cognizione dell’idioma tedesco; ma perchè ho avuto ragion di credere che l’indole della lingua francese lo abbia costretto a qualche inesattezza Tatsächlich kann Stackelberg (ebd ) aber belegen, dass sich Bertóla entgegen seiner Behauptung kaum von seiner französischen Vorlage entfernt, so dass die Texte in seiner Fassung „einen unverkennbar französischen Bei- oder Nachgeschmack“ (ebd . 57) ganz in der Tradition der belles infidèles erhalten 128 Die Konsultation des deutschen Originals ist meist lediglich den beigefügten Anmerkungen zu entnehmen Auch beim zweiten Beleg erscheint eine Einordnung in der Kategorie der kritischen transparenten Kontamination sinnvoll Seiner unter den Initialen D M S erschienenen italienischen Fassung von Goethes Werther stellt der Übersetzer nämlich einen an Goethe adressierten Brief voran, die Lettera del traduttore all’autore (Anonymus 1788a, 20) Darin distanziert er sich deutlich von der französischen Vorgängerfassung des Schweizers Georges Deyverdun, die 1776 ohne Angabe des Übersetzers 129 bei Jean- 126 Der aus Rimini stammende olivetanische Mönch und Priester Bertóla (1753-1798) hat bereits Youngs Night Thoughts ins Italienische gebracht, ist aber vor allem mit seiner Schrift Idea della bella letteratura alemanna und seinen Übersetzungen aus dem Deutschen als „der erste bedeutende Importeur deutscher Literatur“ (Stackelberg 1987, 55) bekannt geworden 127 Huberts Übersetzung wird 1762 unter dem Titel Idylles et poëmes champêtres de M. Gessner, traduits de l’allemand par M. Huber, traducteur de la Mort d’Abel bei Jean-Marie Bruyset in Lyon verlegt Cantarutti (2010, 124) hebt Hubers Gessner-Übersetzungen (von 1760, 1762, 1768 und 1772) als zentral für die Verbreitung des Gessnerschen Werkes im nicht deutschsprachigen Europa heraus 128 Dabei schreibt Stackelberg (1987, 58) allerdings der in Versform gehaltenen Übersetzung Bertólas stärkere poetische Kraft zu als Hubers „prosaischer“ Fassung 129 Auch die nachgestellten Observations du traducteur sur Werther & sur les écrits publiés à l ’occasion de cet ouvrage geben keinen Aufschluss über die Identität des Übersetzers <?page no="170"?> II Typologie und Panorama der Übersetzertätigkeit „aus zweiter Hand” 170 Edme Dufour und Philippe Roux in Maastricht verlegt wurde und beim französischen Lesepublikum auf große Resonanz stieß: (…) sembrandomi anche che una tal Opera potrebbe aver forse più incontro nella nostra adusta Italia di quello che nella fredda Lamagna, se per avventura l’avessi trascritta nel modo desiderato Potrei però ingannarmi: e giacché bramo se devo pubblicarla, di rendere quest’Opera più compiuta di quello che abbia fatto non so quale Svizzero in una sua traduzione Francese (…) Und ein paar Zeilen weiter (ebd 20-21) kritisiert er Goethe gegenüber gerade Deyverduns stark einbürgernde Übersetzungshaltung: Il translatore Francese disse nella sua Prefazione, che il Traduttore di Verter dev’essere dotato d’un’anima sensibile, ma non so poi s’egli stesso ne fosse troppo provvisto, rendendo quà e là varj de’ più bei pezzi contraffatti ommettendone alcuni del tutto, e fra gli altri tutto il lagrimevole camo del sublime Ossian Die italienische Version, die dem jüdischen Arzt Michel Salom (oder italienisch Michelangelo Salomon) zugeschrieben wird, 130 erscheint 1788 bei Giuseppe Rosa in Venedig (mit einer Neuauf lage 1796) und ist mit einer ausführlichen Widmung „A Sua Eccellenza, La Nobil Donna Augusta Wynne Corraro“ versehen (Anonymus 1788, 1-4) . Auch hier ist die Anlehnung an die französische Fassung trotz gegenteiligen Bekundens offensichtlich, was sich etwa in stark mildernden Texteingriffen bemerkbar macht . Wie bereits weiter oben ausgeführt, bleibt das italienische Lesepublikum diesem zentralen Werk des Sturm und Drang gegenüber dennoch skeptisch 131 Ein gutes Jahrhundert später angesiedelt sind zwei Belege für die kritische transparente Kontamination bei philosophischen Texten, Gargiulos erste italienische Übersetzung von Kants Kritik der Urteilskraft und Cippicos Fassung von Nietzsches Die fröhliche Wissenschaft Als dritter Band der Reihe Classici della filosofia moderna wird 1907 bei Laterza in Bari Alfredo Gargiulos 132 Critica del Giudizio verlegt Der Übersetzer gibt in seiner Vorrede (Gargiulo 1907, IX-X) umfassend Auskunft über seine Übersetzungskonzeption Er verweist auf gleich zwei deutsche Referenzfassungen 133 und betont zudem ausdrücklich: „Ho confrontata la mia con la traduzione francese del Barni“ (ebd . X) 134 Barnis Übersetzung ist bereits gut sechzig Jahre zuvor, im Jahr 1846, unter dem Titel 130 Vgl die biographischen Angaben zu Michel Salom bei Salah (2007, 579), der referiert, dass dieser mit Goethe in Brief kontakt stand und Beziehungen zur Berliner Freimaurerbewegung unterhielt 1801 konvertiert Salom zum Katholizismus und nimmt den Namen [Michelangelo] Arcontini an, unter dem spätere Übersetzungen aus seiner Feder erscheinen 131 Vgl hierzu Unfer Lukoschik 2004, 48 ff sowie Abschnitt 2 .3 .4 im ersten Teil der vorliegenden Arbeit 132 Der aus Neapel stammende Übersetzer arbeitet u a . für Benedetto Croces Zeitschrift La Critica und wird sich später mit einer D’Annunzio-Monographie (1912-41) und einem Buch zur Letteratura italiana del Novecento (1940) einen Namen machen 133 „La presente traduzione è stata fatta sull’edizione accuratissima dell’Erdmann, col confronto dell’ultima, quella del Vorländer“ (Gargiulo 1907, VIII) 134 Er versäumt auch nicht, diese Version gebührend zu loben (ebd): „La traduzione del Barni, che è rimasta unica in Francia, ed è servita molto anche in Italia, non è priva di pregi, specialmente se si pensi che è, in quella lingua, la prima ed unica“ <?page no="171"?> 3 „Ermittlungsergebnisse” 171 Critique du jugement in zwei Bänden bei Ladrange in Paris verlegt worden Als Kritikpunkte an der französischen Fassung führt Gargiulo an, sie sei zwar sprachlich durchaus angemessen, weise aber einige echte Fehler in der Interpretation und häufige, bisweilen zu freie Varianten auf Insbesondere empfinde er die Segmentierung der langen Satzperioden Kants oft als völlig unangemessen (vgl ebd ) In seiner Übersetzung distanziert er sich denn auch explizit von Barnis Fassung (ebd XIII-XIV): S’intenderà però da questi accenni, tenendo conto anche delle spezzature dei periodi, la specie di alterazione che ha subito il testo nella traduzione francese (…) È da sperare perciò che la presente traduzione, anche non per merito esclusivo di chi l’ha fatta, e che ha avuto di mira la massima fedeltà, riesca un’immagine più fedele dell’originale, e quindi più utile agli studiosi d’Italia Und dennoch finden sich auch hier erkennbare Anlehnungen an die Übersetzung Jules Barnis, die zeigen, dass Gargiulo durchaus Übersetzungslösungen seines französischen Vorgängers aufgreift, wenn sie ihm gelungen erscheinen So wird aus Kants Nominalsyntagma im ersten Teil der Einleitung „der zu den verschiedenen Teilen einer Wissenschaft gehörigen Vernunfterkenntnis“ bei Barni: „des principes de la connaissance rationnelle propre aux diverses parties d’une science“, und Gargiulo formuliert analog: „dei principii della conoscenza razionale propria delle diversi parti di una scienza“ (Kant 1838, 8/ 1846, 11/ 1907, 7) Auch Kants eigenwillige Komposita klingen in beiden Übersetzungen ähnlich: „Der Wille, als Begehrungsvermögen, ist nämlich eine von den mancherlei Naturursachen in der Welt “ (Kant 1838, 9)/ „La volonté, en tant que faculté de désirer, est une des diverses causes naturelles qui sont dans le monde“ (Kant 1846, 12-13)/ „La volontà, in quanto facoltà di desiderare, è una delle varie cause naturali che sono nel mondo“ (Kant 1907, 8) Antonio Cippicos La Gaia scienza erscheint 1905 im Turiner Verlag Bocca, als 22 Band der Reihe Biblioteca di scienze moderne Cippico nimmt sich offensichtlich Henri Alberts französische Fassung zum Vorbild, die 1901 im Rahmen der Nietzsche- Gesamtausgabe beim Pariser Mercure de France unter dem Titel Le gai savoir verlegt wurde 135 Seine italienische Version versieht der Übersetzer (Cippico 1905, VII-XIII) mit ausführlichen Prolegomeni zu Nietzsches Werk nebst einer Nota (ebd XV-XVIII), und auch hier findet sich der genaue Verweis auf die verwendete deutsche Ausgabe . Zugleich moniert Cippico in der Nota (ebd XVII) aber Henri Alberts fehlende poetische Ader, die seine Übersetzung trotz aller sprachlichen Präzision kühl und prosaisch erscheinen lasse: Questa traduzione italiana è stata fornita sull ’ultima edizione di Lipsia (C Q Naumann) del 1899: letteralmente il più che ne sia stato possibile, come accennammo in principio; chè non solo per la prosa nietzscheiana, sì anche per la poesia stessa, la quale, a quanto sembra, è la meno (sinora) nota in Italia- - e forse anche in Francia, malgrado la versione compiutane dall ’Albert, accurata, ma fredda e priva dell ’affilato lirico, onde vanno adorne le rime del Nostro nell ’idioma originale,-- abbiamo tentato di fare opera di trasmigrazione, riconducen- 135 Bereits 1904 erscheint die Übersetzung eines kurzen Nietzsche-Textes aus seiner Feder, die dann als Anhang zu La Gaia scienza abgedruckt wird: Al vento maestrale: canzone a ballo/ Federico Nietzsche; traduzione di Antonio Cippico. Roma: Tip Ripamonti e Colombo, 1904; 4 p (Nuova antologia 792/ 1904) . Auch sie ist an Alberts Fassung von 1901 angelehnt <?page no="172"?> II Typologie und Panorama der Übersetzertätigkeit „aus zweiter Hand” 172 do fra noi Italiani il volo ampio e possente di questo gagliardo manipolo d’Idee giovinette e di stridule strofe, balzate, nella loro maggiore e miglior parte, dalle rupi ferrigne, contro le quali s’infrange, lungo i nostri lidi, il Tirreno dalle bianche e vaste criniere Aus diesen Zeilen mag Cippicos eigene Vorstellung von poetischen Texten hinreichend deutlich werden Was aber seine Haltung zu Alberts französischer Version betrifft, so sind auf den ersten Blick sowohl Abweichungen als auch Anlehnungen zu erkennen Da Cippico mehr Wert auf den Reim legt 136 , der von Albert nur sporadisch nachgebildet wird, betreffen Abweichungen eher die Versdichtung 137 Anleihen beim französischen Text sind aber nicht zu übersehen, wie die Wiedergabe des Nominalsyntagmas „Spruch des Gewaltmenschen“ mit „sentence de l’ homme fort “ bei Albert und mit „aforisma dell’uomo forte“ (Nietzsche 1887, 8/ 1901, 22/ 1905, 12) bei Cippico zeigt Nietzsches „Probleme (…), die ein stachlichtes Fell haben“ übersetzt Albert mit „des problèmes hérissés d’aiguillons“ und Cippico seinerseits, offensichtlich daran angelehnt, als „problemi irti di punte“ (Nietzsche 1887, iv/ 1901, 7/ 1905, 1) Zum letzten Beleg dieser Kategorie, Friedrich Schillers Stück Die Räuber, muss auf Kapitel 2 im dritten Teil dieser Arbeit verwiesen werden . An dieser Stelle sei lediglich vorausgeschickt, dass die 1832 im Schweizer Capolago verlegte anonyme italienische Fassung, wahrscheinlich von Aurelio Bianchi-Giovini, sich die 1821 bei Ladvocat in Paris erschienene Version von Prosper Brugière de Barante zum Vorbild nimmt . Es handelt sich um eine Grenzform, die zwischen kritischer und nicht-kritischer transparenter Kontamination angesiedelt ist 3 .2 .2 Nicht-kritische transparente Kontamination Wird die französische Zwischenstufe in der italienischen Fassung nur erwähnt, ohne dass sich der Übersetzer ausdrücklich von ihr distanziert, so soll hier die Rede von einer nicht-kritischen transparenten Kontamination sein Für diese Kategorie ließen sich lediglich vier Belege finden, die sich jeweils auf eine autoritative französische Vorgängerversion stützen Zunächst eine weitere italienische Fassung von Heines Versdichtung Lyrisches Intermezzo, diesmal in der zwei Jahre vor Nievos Übersetzung erschienenen „versione“ von Giuseppe Del Re 138 Der Umstand, dass Gérard de Nervals französische Übersetzung von 1855 quasi vom Autor selbst „abgesegnet“ ist, trägt in diesem Fall dazu bei, dass sich der Übersetzer offen zu den Anleihen aus dieser Fassung bekennt 139 Den Bezug zu Frankreich stellen außerdem einige Gedichte Victor Hugos in Del Res 136 In seiner Nota erklärt Cippico (1905, XVIII) nicht ohne Stolz: „Per le liriche, abbiamo seguito lo stesso metodo rigoroso (…); ond’è che quasi sempre, la versione italiana non supera d’un solo verso il numero dei versi dell’originale“ 137 Vgl das Vorspiel in deutschen Reimen sowie die Lieder des Prinzen Vogelfrei 138 Sie wird im selben Jahr wie schon Francesco Scremins und Teobaldo Ciconis Fassung verlegt Der in Neapel ansässige Literat und Historiker Giuseppe Del Re übersetzt bereits 1807 das fünf bändige historische Werk Campagna delle armate francesi in Prussia, in Sassonia e in Polonia aus dem Französischen, ferner 1808 die Opere Legali Traduzione dal francese in 28 Bänden 139 In seiner Vorrede Ai lettori weist Del Re (1857) ausdrücklich darauf hin, dass die französische Übersetzung „sotto gli occhi stessi dell ’autore“ angefertigt worden sei Vgl zum Folgenden Di Benedetto 2002, 12 f . <?page no="173"?> 3 „Ermittlungsergebnisse” 173 Übertragung her, die der 1857 bei G Biancardi in Turin publizierten Ausgabe beigefügt sind 140 Di Benedettos (2002, 12-13) Beschreibung zufolge handelt es sich bei Del Res Fassung offensichtlich um eine nicht-kritische transparente Kontamination: Del Re tradusse l ’Intermezzo dall ’originale, ma con l ’occhio anche alla versione in prosa francese uscita nel 1855; ricalcò anzi l ’ordine e il numero delle liriche presenti in essa: ‚due di esse soltanto‘, precisava inoltre nella presentazione Ai lettori, ‚non si riscontrano nell ’originale tedesco (…) Mi fu impossibile ricercarle in altre opere dell ’Heine, e però mi limitai a tradurle dal francese‘ Die Übersetzung wird sehr positiv aufgenommen, wie das Echo in Zeitschriften wie Crepuscolo, Rivista di Firenze oder Rivista Contemporanea im selben Jahr zeigt Besonders Carducci ist von ihr angetan 141 und gibt ihr den Vorzug gegenüber der späteren Version Bernardino Zendrinis 1884 erscheint sie in einer Neuauf lage ohne die Hugo-Gedichte De Luca (1964, 13) schreibt dieser Übersetzung einen gewissen Einf luss auf Ippolito Nievos Fassung des Lyrischen Intermezzo[s] zu, wenn auch eher in literarisch-kultureller als in poetischer Hinsicht: Sie sei recht schwerfällig und stark auf die metrische Form bedacht, wohingegen die poetisch-künstlerische Gestaltung zu kurz komme 142 Von Kant liegen gleich zwei Belege für die nicht-kritische transparente Kontamination vor: Die Kritik der praktischen Vernunft in der italienischen Version von Francesco Capra und die Schrift Über Pädagogik in Angelo Valdarninis Fassung 1909 wird bei Laterza in Bari Francesco Capras erste italienische Übersetzung des Werkes, Critica della ragion pratica, verlegt Der Übersetzer, zugleich Herausgeber dieser Fassung, hatte nach eigenem Bekunden die zwei Jahrzehnte zuvor bei Alcan erschienene Critique de la raison pratique von François Picavet vorliegen, die er in der Prefazione del traduttore (Capra 1909, VII) ausdrücklich lobt Darin führt er zunächst die bisher erschienenen „fremdsprachigen“ Versionen auf, um anschließend das eigene Vorgehen zu erläutern (ebd ., Hervorhebungen I P): La prima traduzione della Critica della ragion pratica fu fatta in latino dal Born e pubblicata fra il 1796 e il 1798, insieme con altre opere kantiane da lui voltate nella stessa lingua Nel 1848 ne uscì (Parigi, Ladrange) la traduzione francese del Barni, e nel 1889 quella inglese dell’Abbot Una nuova eccellente traduzione francese fu fatta dal Picavet, edita dall’Alcan nel 1888 e, per la seconda volta, nel 1902, con note e con un saggio sulla fortuna della filosofia kantiana in Francia dal 1773 al 1814 . In italiano non era stata mai tradotta finora (…) La mia traduzione è letterale, per quanto è possibile, e serba quasi sempre il periodo kantiano Nelle note, ho chiarito i termini strettamente filosofici e quelli che non potevano essere adeguatamente resi in italiano; e ho distinto con la sigla T le note mie e con la sigla P quelle che ho attinte al Picavet 140 Sie erscheint unter dem Titel L’intermezzo di Enrico Heine/ versione di Giuseppe Del Re; con la giunta di alcune poesie di Vittor Hugo tradotte dallo stesso 141 Zu Carduccis Heine-Rezeption vgl Hoffmeister 2002, 82 142 De Luca (1964, 13) benutzt Del Res Übersetzung als Folie, um die Qualität von Nievos Fassung hervorzuheben: „La traduzione di Del Re lascia scoperto quasi sempre il meccanismo delle parole, lo scheletro metrico; tra testo originale e traduzione rimane come un opaco diaframma Il Nievo raggiunge altri risultati Egli rivela subito la qualità di cui il Del Re è molto povero, cioè l’interpretazione della poesia, il dono dell’arte“ <?page no="174"?> II Typologie und Panorama der Übersetzertätigkeit „aus zweiter Hand” 174 Tatsächlich dürfte Capra bei seiner Übersetzung aber nicht nur die Fußnoten von Picavet übernommen haben, wie folgende Textstellen nahelegen: Kants (1788, 4) Formulierung „Schlussstein von dem ganzen Gebäude“ wird bei Picavet- - was sicherlich naheliegend ist-- zum „clef de voûte de tout l’ édifice“ (Kant 1888, 2); und auch Capra greift zu demselben Bild: „la chiave di volta dell’ intero edificio“ (Kant 1909, 2) Wahrscheinlich ist auch die folgende Übereinstimmung nicht zufällig: Das Verbalsyntagma „sich das Unbedingte denken“ (ebd ) gibt Picavet unter Angabe des deutschen Terminus mit „concevoir l’ inconditionné (Unbedingte)“ (ebd ) und Capra-- unter Verzicht auf den explikativen Zusatz-- analog mit „concepire l’ incondizionato“ (ebd ) wieder . Der toskanische Philosoph und Pädagoge Angelo Valdarnini übersetzt 1883 erstmals Kants Schrift Über Pädagogik . Seine Fassung erscheint bei der Tipografia Bodoniana in Rom unter dem Titel La pedagogia, versehen mit einem Vorwort des Übersetzers, aus dem hervorgeht, dass Valdarnini neben der deutschen Referenzfassung von Theodor Rink (1803) auch die französische Version des Philosophen und Kant-Übersetzers Jules Barni zu Rate gezogen hat 143 Diese ist bereits 1855 zusammen mit dem zweiten Teil der Metaphysik der Sitten beim Pariser Verlag Durand unter dem Titel Éléments métaphysiques de la doctrine de la vertu (seconde partie de la Métaphysique des mœurs); suivis d’un traité de pédagogie et de divers opuscules relatifs a la morale erschienen Landolfi Petrone (2004, 483) zufolge erklärt sich der „größere Abstand vom Original“ dieser italienischen Übersetzung nicht zuletzt durch die französische Vermittlung Das letzte Beispiel ist weniger gut belegt, es ist aber zumindest wahrscheinlich, dass es sich ebenfalls um eine nicht-kritische transparente Kontamination handelt . Die italienische Übersetzung von Lessings Emilia Galotti, die 1842 bei P M . Visaj in Mailand in der Reihe Biblioteca ebdomadaria teatrale verlegt wird, erscheint anonym und mit dem Zusatz „prima versione dal tedesco“ Sie enthält zwar keine Übersetzervorrede, es ist ihr aber ein Vorwort Ai lettori aus der Feder von Giovanni Vico beigegeben Darin verweist dieser mit dem gebührenden Respekt auf die französische Version des Comte de Sainte- Aulaire, bescheinigt aber doch der vorliegenden anonymen Fassung im Zweifel eine engere Orientierung am Original (Vico 1842, VIII): Quanto alle difficoltà che lo stile del Lessing presenta, a chi s’accinge a voltarlo nel nostro idioma con fermo proposito di nulla perdere del primitivo concetto, è a credere che il novello traduttore, di cui ci duole non poter pubblicare il nome, abbiale superate; quanto poi alla differenza che taluno (facendo il confronto coll’originale) potrebbe scorgere in questa nuova versione, da quella che tanto maestrevolmente fu fatta dal St-Aulaire, speriamo che, meglio che a libero arbitrio, abbiale ad ascrivere ad una quasi scrupolosa fedeltà In der Notice zu besagter französischer Fassung, die 1829 als fünfter Band der Chefsd’œuvre des théâtres étrangers bei Dufey in Paris erschienen ist (neben Sainte-Aulaire 143 Im Proemio del traduttore (Valdarnini 1883, Kap V) gibt dieser die Konsultation von Barnis Fassung unumwunden zu: „(…) mi è parso utile ed opportuno di recar nuovamente in italiano (giovandomi assai della versione francese del Barni) le dottrine liberali, austere, elevate del Kant sull’educazione umana (…)“ . <?page no="175"?> 3 „Ermittlungsergebnisse” 175 zeichnen auch Barante und Merville als Übersetzer dieses Bandes), bemerkt Charles de Rémusat (1829, 219) über Lessings Emilia Galotti: Emilie Galotti ( . . ) fut pour le théâtre allemand, selon quelques critiques, ce que le Cid fut pour le nôtre Lessing le premier entreprit de donner- à son pays la véritable tragédie, et il lui donna le drame . ( . . ) mais la composition et la conduite de la pièce annoncent dans l’auteur plus d’esprit que d’invention, plus d’énergie que de grandeur, plus d’observation que de poésie Et sans l’invention, la grandeur et la poésie, la tragédie n’est pas, ou du moins elle est incomplète Zwischen den Zeilen klingt hier an, dass der Comte de Sainte-Aulaire seiner Übersetzung die nötige „invention, grandeur et poésie“ verliehen hat, die dem Original angeblich abgeht Demgegenüber bescheinigt Vico dem italienischen Anonymus in seinem Vorwort zu dessen Emilia Galotti das Bemühen, einige poetische Lizenzen des Comte de Sainte-Aulaire zugunsten einer „quasi scrupolosa fedeltà“ auszugleichen Es ist aber davon auszugehen, dass der Anonymus die französische Fassung bei seiner Übersetzung zumindest vorliegen hatte 3 .2 .3 Opake Kontamination Am schwierigsten nachzuweisen ist sicherlich die opake Kontamination, die durch keinerlei Hinweise im Titel oder in der Übersetzervorrede als solche ausgewiesen ist und auch im Text weniger leicht erkennbar ist als etwa die opake Aneignung Zugleich ist sie auch die am häufigsten vorkommende Kategorie der Übersetzung aus zweiter Hand, insbesondere bei Belegen jüngeren Datums Von Goethes Werken finden sich gleich zwei italienische Übersetzungen, die mit einiger Wahrscheinlichkeit als opake Kontamination klassifiziert werden können: Werther von Gaetano Grassi und Fausto von Giovita Scalvini Was den ersten Beleg betrifft, so dürfte hier- - wie schon bei Michel Salom-- Georges Deyverduns in Maastricht publizierte französische Fassung von 1776 Pate gestanden haben 144 Zumindest enthält die Saloms Version von 1788 vorangestellte Risposta dell’autore al traduttore ein Nota bene Goethes (1788, 24), das auf eine zu diesem Zeitpunkt bereits erschienene italienische Übersetzung „aus zweiter Hand“ nach französischem Vorbild verweist: N B Intorno a quest’epoca, essendo comparso alla luce da’torchj di Poschiavo una infelice versione di Verter, lavorata sulla traduzione Francese, e piena delle scorrezioni di quella, oltre le proprie, il presente Traduttore ha abbandonato il pensiero di pubblicare la sua, poiché, trattandosi d’un Romanzo, non ha creduto di dover moltiplicar enti senza necessità 144 Obgleich sich die beiden italienischen Werther-Übersetzungen von Gaetano Grassi (1782) und Michel Salom (1788) auf ein und dieselbe französische Mittlerfassung beziehen, werden sie in der Tabelle jeweils verschiedenen Kategorien zugeordnet: Bei Saloms Übersetzung deutet die Abgrenzung von der Vorgängerfassung auf eine kritische transparente Kontamination hin, während bei Grassis Version der fehlende Verweis auf die französische Zwischenstufe eine opake Kontamination nahelegt <?page no="176"?> II Typologie und Panorama der Übersetzertätigkeit „aus zweiter Hand” 176 Aus der Beschreibung- - in der Goethe übrigens einen scholastischen Leitspruch aufgreift 145 -- lässt sich mit einiger Sicherheit ableiten, dass es sich um Gaetano Grassis 1782 bei G Ambrosioni in Poschiavo verlegte Übersetzung handelt . Deren ausführlicher Titel Werther. Opera di sentimento del dottor Goethe, celebre scrittor tedesco, tradotta da Gaetano Grassi. Coll’aggiunta di un’Apologia in favore dell’opera medesima vermittelt bereits einen ersten Eindruck von der Geisteshaltung des Übersetzers Dass Grassi eine Apologie des Werther für nötig hält, spiegelt die allgemeine kritische Rezeptionshaltung seiner Landsleute und Zeitgenossen gegenüber Goethes Sturm und Drang-Werk wider; zugleich lassen sich daraus aber auch Rückschlüsse auf die verwendete französische Zwischenstufe ziehen, zumal neben Deyverduns Übersetzung auch Aubrys 1777 erschienene Fassung in Frage käme 146 Während Aubry (1777, xxxvi) aber Goethes Helden als eine Art abschreckendes Beispiel darstellt, wenn er konstatiert: „Le héros de ce roman, ou plutôt de cette histoire, est un fou bien à plaindre“, ist Deyverdun (1776, ii-iv) in der Préface du traducteur 147 ganz im Gegenteil bemüht, „ungeeignete“ Leser abzuschrecken: „Pour vous, hommes froidement sensés! (…) ne lisez point cet Ouvrage, & sur-tout gardezvous bien de le juger. Ce n’est pas pour vous qu’ il est écrit “ Nun verrät der Titelzusatz zu Gaetano Grassis Übersetzung, „Coll’aggiunta di un’Apologia in favore dell’opera medesima“, eine positive Haltung gegenüber dem Werk als Ganzem und damit wohl auch gegenüber dessen Protagonisten, so dass Aubrys Version, obgleich in Frankreich weit verbreitet, als Referenzfassung eher unwahrscheinlich ist Auch die Wahl des italienischen Titels, Werther, scheint an Deyverduns knappe Übersetzung angelehnt (bei Aubry lautet er: Les Passions du jeune Werther) Bei der zweiten italienischen Goethe-Übersetzung handelt es sich um Giovita Scalvinis hoch gelobte Prosaversion des Faust I, von dem zum Zeitpunkt des Erscheinens der Übersetzung 1835 bereits zwei Fassungen in französischer Sprache aus dem Jahr 1823 vorlagen, die des Comte de Sainte-Aulaire und die Albert Stapfers . Verlegt wird sie unter dem Titel Fausto: tragedia/ di Volfango [sic! ] Goethe als elfter Band (und einzige qualitativ hochwertige Publikation) 148 der Reihe Biblioteca scelta di opere tedesche tradotte in lingua italiana beim Mailänder Verlagshaus Giovanni Silvestri, nebst vorangestellten Cenni su la vita e le opere di Volfango Goethe (Anonymus 1835a, V) 149 Bei dem Übersetzer handelt es sich um einen aus Brescia stammenden Schriftsteller und Journalisten, der aufgrund seiner liberalen politischen Einstellung in die Schweiz, nach London und Frankreich exilieren musste 150 Wertvolle Hinweise auf die Entstehungsgeschichte dieser Überset- 145 „Non si hanno da moltiplicare enti senza necessità“, lautete das Hauptargument der Nominalisten gegen die Existenz der Universalien, wie sie von den Idealisten postuliert wurde Vgl hierzu z B Pomponazzi 1868, 142 f 146 Les Passions du jeune Werther, ouvrage traduit de l’allemand de M. Goethe par M. Aubry [comte de Schmettau] Mannheim et Paris: Pissot, 1777 Zu dieser Fassung vgl Baldensperger 1920, 9 ff 147 Zugleich betont Deyverdun (ebd ), er habe den emotionalen Stil des Originals beibehalten und nicht verf lacht 148 Vgl Allegri 1995, 380 149 Sie sind laut Titelzusatz der Foreign Review entnommen und wurden im Dezember 1830 in Heft 15 des Mailänder Indicatore Lombardo abgedruckt, unter dem Herausgeber Giacinto Battaglia 150 Vgl Francesco Ercole, „Gli uomini politici“ In: Enciclopedia bio-bibliografica italiana Bd -3 1942, 355 Elektronische Quelle: Online-Datenbank World Biographical Information System <?page no="177"?> 3 „Ermittlungsergebnisse” 177 zung sind Paolo Paolinis (1972, 27-41) Beitrag über den Faust-Übersetzer Scalvini zu entnehmen So habe Scalvini den Faust erstmals in seinem Exil in Frankreich in französischer Übersetzung gelesen, zumal er zuvor noch nicht über ausreichende Kenntnisse für die Lektüre im Original verfügt habe 151 Für seine Übersetzung habe er zwei französische und zwei englische Fassungen konsultiert, darunter die französische Übersetzung des Comte de Sainte-Aulaire, erschienen als erster Band der Chefs-d’œuvre du théâtre allemand bei Ladvocat in Paris, sowie die bei Bobée und Sautelet edierte Fassung von Albert Stapfer 152 Es handelt sich also keineswegs um eine Reinform der Übersetzung aus zweiter Hand, sondern um die durchdachte Konsultation mehrerer Quellen mit dem Ziel, die Schwierigkeiten des Textes zu bewältigen Über Scalvinis Vorgehensweise berichtet Paolini (1972, 32): ( . . ) egli si serviva dunque di una traduzione a lui accessibile per avere un’idea generale dell’opera; dopo questo primo accostamento sommario cominciava la vera e propria opera di traduzione dall’originale tedesco, non senza tener presenti ( . . ) altre traduzioni per i punti particolarmente difficili Trotz der französischen (und englischen) Quellen, deren sich der Übersetzer bedient hat, beeilt sich Paolini (ebd 33) zu betonen, „che la traduzione dello Scalvini deve nulla o pochissimo alle traduzioni precedenti e che suo merito assoluto e indubitabile è l ’originalità e la genialità delle soluzioni poetiche e prosastiche proposte“ Diese Originalität wird einmal mehr darauf zurückgeführt, dass Scalvini selbst Schriftsteller und damit mehr „Nachdichter“ (wie es im Original auf Deutsch heißt) als Übersetzer war (ebd 35): „(…) il nostro Scalvini, poeta egli stesso: e originale proprio perché poeta“ E T A Hoffmann ist mit zwei relativ spät erschienenen italienischen Fassungen aus zweiter Hand vertreten, einer Übersetzung des Ignaz Denner von 1911 und einer 1893 publizierten Version der Erzählung Klein Zaches genannt Zinnober . Beide lassen sich lediglich anhand eines Textvergleichs mit einiger Wahrscheinlichkeit als Belege für die opake Kontamination identifizieren Die Erzählung aus Hoffmanns Nachtstücke[n] Ignaz Denner trägt in der Übersetzung des Bibliothekars und Literaturwissenschaftlers Federico C Ageno den Titel Il figlioccio del diavolo Sie wird 1911 zusammen mit Le mine di Falun (Die Bergwerke zu Falun) bei Bemporad in Florenz als „prima traduzione italiana“ publiziert, und zwar in der Nuova collezione economica Bemporad di racconti, romanzi e avventure per la gioventù Auf Französisch liegen zu diesem Zeitpunkt zwei Fassungen vor, deren Titel zunächst keine Gemeinsamkeit mit dem Italienischen aufweisen: Ignace Denner in der Übersetzung von La Bédollière (Contes nocturnes d’Hoffmann, Paris: Barba 1855) und die anonyme Fassung Le roi Trabacchio, zusammen mit „romantischen“ Erzählungen verschiedener Autoren in einem Sammelband von 1861 bei Chaillot in Avig- 151 In der Notiz zu Giovita Scalvini in der 1882 publizierten Ausgabe seiner Faust-Übersetzung (Goethe 1882, 8) heißt es denn auch explizit: „[Giovita Scalvini] passò a Parigi, dove tradusse il Goethe (…)“ 152 Stapfers Übersetzung erscheint im vierten Band der Œuvres dramatiques de J. W. Goethe, die 1821 bis 1825 in vier Bänden verlegt werden Diese werden nicht in chronologischer Reihenfolge publiziert, 1823 erscheint zunächst der dritte Band <?page no="178"?> II Typologie und Panorama der Übersetzertätigkeit „aus zweiter Hand” 178 non abgedruckt 153 Die zuletzt genannte Übersetzung ist stark abgewandelt und scheint nicht als Vorlage für Agenos italienische Fassung in Frage zu kommen . Dagegen ist eine Anlehnung an La Bédollière wahrscheinlich, obgleich der italienische Übersetzer nicht nur den Titel ändert, sondern auch eigenständig Kapitelüberschriften hinzufügt und in seinen Formulierungen häufig vom Französischen abweicht Verräterisch sind vor allem Übereinstimmungen in einigen Bezeichnungen und lexikalischen Wendungen So wird aus Hoffmanns „Kein menschliches tröstendes Wesen war weit und breit zu finden“ bei La Bédollière „Il n’y avait point de secours humains“ und bei Ageno, augenscheinlich daran angelehnt, „Nessun soccorso umano si sarebbe potuto trovare“ (Hoffmann 1817/ 1855, 26/ 1911, 7) Interessant ist auch die Übernahme der französischen Interpretation des Terminus „Felleisen“, der eigentlich einen ledernen Rucksack bezeichnet: „ein Felleisen und ein Kistchen“/ „une valise et une cassette“ (26)/ „una piccola cassetta e una valigia“ (Hoffmann 1817/ 1855, 26/ 1911, 8) . Den ursprünglich aus dem Italienischen entlehnten Ausdruck „Terzerole“ behält Ageno kurioserweise nicht bei, sondern übernimmt das generische französische „pistolets“: „ein paar Terzerole“/ „une paire de pistolets“/ „un paio di pistole“ (Hoffmann 1817/ 1855, 26/ 1911, 8) Und schließlich behilft sich Ageno bei der Wiedergabe der deutschen Wendung „Dem Andres war es zumute, als...“ mit einer ähnlichen Umschreibung wie schon sein französischer Vorgänger: „Aux yeux d’Andrès“/ „Agli occhi di Andres“ (Hoffmann 1817/ 1855, 26/ 1911, 9) Dass es sich hier um zufällige Übereinstimmungen handelt, dürfte zumindest recht unwahrscheinlich seinDas zweite Beispiel ist schon an anderer Stelle kurz dargestellt worden 154 Der italienische Übersetzer Luigi Agnes lehnt sich, was den Titel der Erzählung betrifft, an das Original an: Seine „versione italiana“ erscheint 1893 beim Mailänder Verlag Sonzogno in der Reihe Biblioteca universale als Il nano Zaccaria soprannominato Cinabro Der Textvergleich legt die Vermutung nahe, dass er sich bei der bei Barba verlegten französischen Übersetzung von 1863, ebenfalls aus der Feder von La Bédollière, bedient hat 155 Auf die Übereinstimmungen in den einleitenden Stichworten zu den Kapiteln (trotz anderer Kapitelaufteilung im Italienischen) wurde weiter oben schon verwiesen, hier nur kurz zwei aussagekräftige Analogien im Text: Der Zwischentitel zu Kapitel IX, „Wie Fürst Barsanuph sich betrübte, Zwiebeln aß, und wie Zinnobers Verlust unersetzlich blieb“, liest sich bei La Bédollière: „Comment le prince Barsanuph se chagrina, et comment la perte de Cinabre resta irréparable“ Just dieser Verweis auf die profanen Zwiebeln fehlt auch bei Agnes: „Quanto se ne afflisse il principe Barsanuf e come quella perdita fu irreparabile“ (Hoffmann 1819/ 1863, 65/ 1893, 95) Die Ortsangabe in Kapitel I, „im Walde unter den Bäumen und Sträuchern“, spezifiziert La Bédollière als „sous les arbres et les broussailles de la forêt voisine“, und Agnes tut es ihm nach: „sotto gli alberi e tra i cespugli della vicina fores- 153 E T A Hoffmann, „Le roi Trabacchio“ In: Contes fantastiques/ par Apulée; Hoffmann; Scott; Byron; Uhland; Aikén; Nodier; Jean Paul Avignon: Chaillot, 1861, 53-95 154 Vgl Abschnitt 2 .2 .2 dieses Teils der Arbeit zur kontrastiven Textanalyse 155 Die Erstausgabe dieser Fassung ist auf circa 1855 datiert Bereits 1832 erscheint das Werk in dem Erzählband Le Salmigondis: contes de toutes les couleurs, T 3 Paris: Fournier, 1832; dieser Abdruck kommt aber nicht als Vorlage in Frage <?page no="179"?> 3 „Ermittlungsergebnisse” 179 ta“ (Hoffmann 1819/ 1863, 65/ 1893, 5) Erwähnenswert ist eine kuriose Fußnote des italienischen Übersetzers, die einiges über die zeitgenössischen Stereotype in Deutschland und Italien aussagt: Im vierten Kapitel legt Hoffmann seiner Figur Sbiocca, deren kolorierte Rede mit Italianismen durchsetzt ist, in den Mund: „Aber nun packen sie mich fest, sprechen von italienischer Tollheit- - rabbia mein’ ich, von seltsamen Zufällen (…)“ (Hoffmann 1819) Während La Bédollière diese Bezeichnung unbesehen übernimmt („rage italienne, rabbia, veux-je dire“, Hoffmann 1863, 78), kann sich Agnes eine kleine Spitze nicht verkneifen, die er in der Fußnote unterbringt: Er übersetzt zwar getreu mit „rabbia italiana“, kommentiert aber: „Dopo la rabbia canina, gli stranieri hanno scoperto pure la rabbia italiana? Ma fra tutte le rabbie l’ italiana non è la peggiore, specialmente in confronto a quella tedesca! (N. del T.)“ (Hoffmann 1893, 42) Einen zusätzlichen ironischen Unterton erhält die Bemerkung durch die Anspielung auf Petrarca, der in seiner Canzone Italia mia die Alpen zum natürlichen Schutzschild gegen die „tedesca rabbia“ stilisiert 156 Für den nächsten Beleg müssen erneut die nüchternen Eckdaten genügen, da er im Folgenden noch ausführlich behandelt werden soll 157 Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten erscheint gleich zweimal innerhalb des Jahres 1910 auf Italienisch: einmal unter dem Titel Il fondamento della metafisica dei costumi bei der Libreria editrice romana aus der Feder von Nicola Palanga, ein weiteres Mal in Giovanni Vidaris Fassung Fondazione della metafisica dei costumi bei Mattei Speroni in Pavia Es wird noch zu zeigen sein, dass sich beide an französischen Vorgängerfassungen orientieren-- die zuerst genannte an den beim Pariser Verlag Ladrange publizierten Übersetzungen von Jules Barni und Claude-Joseph Tissot, die zuletzt genannte an Victor Delbos’ Version von 1907, die bei Delagrave in Paris verlegt wurde Von Lessing finden sich Beispiele der opaken Kontamination für zwei seiner drei in Italien erfolgreichsten Werke, sein im 19 Jahrhundert am häufigsten übersetztes Werk Emilia Galotti und den Laokoon 158 , der an dritter Stelle rangiert, daneben auch für das weniger bekannte Miss Sara Sampson Der Laokoon erscheint im Jahr 1802 in der französischen Übersetzung des Literaten Charles Vanderbourg, dem diese schwierige Arbeit den Ruf eines Gelehrten einträgt 159 Die Übersetzung, die den Titel Du Laocoon: ou des limites respectives de la poésie et de la peinture trägt, wird bei Antoine-Augustin Renouard in Paris abgedruckt und erschließt den italienischen Lesern des frühen Ottocento den Zugang zu Lessings Werk Auf Italienisch erscheinen im Abstand von 46 Jahren zwei Fassungen, die beide nachweislich an Vanderbourgs Version angelehnt sind Erstere, 1833 beim Mailänder Verleger Antonio Fontana publiziert, ist genau genommen bereits die zweite italienische Übersetzung des Laokoon, denn ein Jahr zuvor wird in Voghera 156 In der Canzone CX XVIII des Canzoniere, Italia mia (Z 33-35), heißt es-- im Übrigen auf die Völker nördlich der Alpen im Allgemeinen und nicht etwa speziell auf die Deutschen gemünzt, wie Albrecht (2007a, unpagin ) etymologisch nachweist: „Ben provide Natura al nostro stato,/ quando de l ’alpi schermo/ pose fra noi et la tedesca rabbia“ 157 Vgl Kapitel 4 in Teil III der vorliegenden Arbeit zu Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 158 Zur Rezeption des Laokoon im 19 Jahrhundert vgl Costazza 2000, 117-140, der an zweiter Stelle der häufigsten Lessing-Übersetzungen die Fabeln anführt Für das Folgende vgl ebd 159 Zudem hat er sich als Übersetzer der Oden von Horaz einen Namen gemacht Vgl Rainguet, P D ., Biographie saintongeaise etc ., 1851 Online-Datenbank World Biographic Information System. <?page no="180"?> II Typologie und Panorama der Übersetzertätigkeit „aus zweiter Hand” 180 eine anonyme Fassung verlegt-- auch wenn diese eher einer beträchtlich gekürzten Adaption gleicht 160 Bei dem Übersetzer der Mailänder Version mit dem vollständigen Titel Del Laocoonte o sia dei limiti della pittura e della poesia. Discorso di G. E. Lessing recato dal tedesco in italiano dal Cavaliere C. G. Londonio handelt es sich um den Mailänder Literaten Carlo Giuseppe Londonio (1780-1845), der in der italienischen Polemik zwischen Classicisti und Romantici moderat klassizistische Positionen vertritt 161 Dennoch fällt seine Übersetzung Costazza (2000, 119) zufolge eher romantisch-verfremdend aus- - was u a zeigt, dass die Grenzen zwischen beiden Positionen damals noch recht f ließend waren 162 Sie halte sich recht genau an den Wortlaut des Textes, auch wenn dies sich bisweilen zu Lasten der sprachlichen Gewandtheit im Italienischen auswirke 163 Trotz des expliziten Hinweises „recato dal tedesco in italiano“ ist diese Fassung aber nicht direkt aus dem Deutschen übertragen Costazza (ebd . 133, Anm . 16) identifiziert Charles Vanderbourgs französische Fassung eindeutig als Vorlage für Londonios Version und führt etwa die Behandlung von Lessings Anmerkungen als Beleg an: Längere Anmerkungen, die sich nicht direkt auf den Text beziehen, würden in beiden Übersetzungen als Endnoten aufgeführt Er betont aber auch (ebd ), dass wir es keineswegs mit einer Reinform, sondern vielmehr mit einer Mischform der Übersetzung aus zweiter Hand zu tun haben (die für ihn gar nicht mehr in diese Kategorie fällt): Nichtsdestoweniger zeigt ein Vergleich der beiden Werke eindeutig, daß die Übersetzung Londonios eigenständig und nicht „zweiter Hand“ ist, wie es damals ziemlich üblich war Auch die Wahl der Anmerkungen, die ans Ende verschoben werden, ist nicht immer identisch und der französische Übersetzer begnügt sich manchmal damit, eine lange Anmerkung bloß zusammenzufassen, die Londonio dagegen vollständig wiedergibt 1841 übersetzt Londonio dann auch die dazugehörigen Fragmente, versehen mit Erläuterungen und einem Aufsatz zur Berechtigung historischer Gemälde Vanderbourg führt diese als Supplément au Laocoon im Anhang zu seiner Übersetzung auf, es ist also naheliegend, dass sich Londonio auch hier an Vanderbourgs Fassung orientiert hat Bei den Frammenti bleibt allerdings der zuvor mit dem Laocoonte erzielte Erfolg aus 164 1879 legt Tommaso Persico eine Neuübersetzung des Laokoon vor, die mit einer Vorrede versehen als „versione completa“ bei der Tipografia dell ’accademia reale delle scienze in Neapel 160 Laocoonte di Lessing Prima versione italiana Voghera: dalla stamperia di Angelo Maria Sormani, 1832 Vgl Costazza 2000, 118, der konstatiert, dass der Anonymus die Nummerierung der Kapitel ändert und dabei einige streicht, andere in wenigen Zeilen zusammenfasst; Vorrede und Anmerkungen fehlten ganz, und auch sonst weise die Übersetzung einige sprachliche Ungenauigkeiten auf 161 Vgl Enciclopedia dei Personaggi 1999, 780 Online-Datenbank World Biographic Information System. Zu Londonios Positionen und insbesondere zu seinem Begriff der „Romantik “ vgl Costazza 2000, 122 f 162 Lessings Laokoon ist in Italien eine Art „Vermittlungsinstanz“ zwischen Classicisti und Romantici, zumal dessen ästhetische Prinzipien auf beiden Seiten Anklang fanden Vgl Costazza 2000, 124 163 Die Übersetzung findet sehr positive Resonanz Costazza (2000, 119) verweist auf eine im Dezember 1833 in der Mailänder Biblioteca Italiana erschienene ausführliche Rezension dieser Übersetzung: Biblioteca Italiana LX XI, 18, Oktober-Dezember 1833, 156-175 164 Zwei Neuauf lagen des Laocoonte und der Frammenti aus der Feder Londonios erscheinen 1887 und 1897 . <?page no="181"?> 3 „Ermittlungsergebnisse” 181 verlegt wird 165 Tatsächlich enthält sie neben dem Text und sämtlichen Anmerkungen auch die Fragmente, die Costazza (2000, 120) zufolge mit denen der französischen Übersetzung übereinstimmen Es ist also auch in diesem Fall davon auszugehen, dass Vanderbourgs Version für die Übertragung-- zumindest teilweise-- Pate gestanden hat Bei den italienischen Übertragungen von Lessings in Italien bekanntestem Werk Emilia Galotti sowie seiner Miss Sara Sampson lässt sich eine opake Kontamination hingegen nur vermuten Die Hypothese erscheint aber recht plausibel, wenn man die Identität des italienischen Übersetzers dieser beiden Fassungen in Betracht zieht, der mit den Initialen M A firmiert: Die jeweils 1806 bei Antonio Rosa in Venedig als „versione inedita“ mit dem Zusatz „dramma tragico del signor Gotthold Efraim Lessing“ verlegten Übersetzungen werden beide ausdrücklich als „dall’alemanno recata in italiano da M. A.“ ausgewiesen 166 Hinter den Initialen verbirgt sich der in Padua geborene jüdische Arzt Michel Salom (1751-1837), der 1801 zum Katholizismus konvertiert ist und seitdem den Namen Michelangelo Arcontini führt 167 Als Michel Salom hat er sich schon 1788 mit einer Übersetzung von Goethes Werther hervorgetan, die weiter oben bereits als kritische transparente Kontamination mit recht einbürgernder Übersetzungshaltung identifiziert wurde Der kulturelle Einf luss Frankreichs, dem er als einziges Mitglied der Stadtverwaltung von Padua nach der Okkupation der Stadt durch die Franzosen ausgesetzt ist, mag die Plausibilität der Hypothese noch erhöhen, dass Arcontini achtzehn Jahre nach seiner Werther-Übersetzung erneut die französischen Vorgängerfassungen eingesehen hat Dabei dürfte es sich um die damals einzig verfügbaren Versionen von Adrien-Chrétien Friedel handeln, die respektive 1782 in Band I (Emilia Galotti) und 1784 in Band-X (Miss Sara Sampson) der im Pariser Verlag Duchesne erschienenen Sammlung von Friedel und Bonneville, Nouveau théâtre allemand ou Recueil des pièces qui ont paru avec succès sur les théâtres des capitales de l’Allemagne, abgedruckt worden sind Inwieweit hier tatsächlich die französische Fassung zugrunde gelegt wurde, wäre anhand eines Textvergleichs zu eruieren Ein Fallbeispiel aus der Schönen Literatur des frühen 20 Jahrhunderts mag belegen, dass auch die Übersetzer von Werken der literarischen Moderne durchaus nicht gegen die Versuchung gefeit sind, Anleihen bei der französischen Fassung zu machen . Dies muss mit besonderem Nachdruck betont werden, denn gemeinhin wird die Übersetzung aus zweiter Hand als literarisches Phänomen des 17 . und 18 ., vielleicht noch des 19 - Jahrhunderts betrachtet Der Schweizer Lyriker Philippe Jaccottet legt 1947 bei H L Mermod in Lausanne seine Übersetzung von Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig vor 168 Ein Jahrzehnt später wird das Werk zusammen mit der Novelle Herr und Hund 165 Eine Neuauf lage wird 1887 publiziert . Costazza (2000, 120) beschreibt Persicos Übersetzung als sehr genau und sprachlich gewandter und f lüssiger als die Londonios Zum Übersetzer und zur „äußeren Übersetzungsgeschichte“ vgl ebd 126 166 Miss Sara Sampson ist schon 1774 als eines der ersten Werke Lessings in Italien erstmals übersetzt worden Vgl Costazza 2000, 117 167 Zu Michel Salom vgl den Eintrag bei Salah 2007, 579, ferner Abschnitt 3 .2 1 dieses Teils zur kritischen transparenten Kontamination 168 Dies ist schon die zweite französische Fassung Die Erstübersetzung von Félix Bertaux und Ch Sigwalt erscheint bereits 1925 bei Kra in Paris unter dem Titel La mort à Venise <?page no="182"?> II Typologie und Panorama der Übersetzertätigkeit „aus zweiter Hand” 182 in Mondadoris Biblioteca moderna in Mailand in der italienischen Version von Emilio Castellani und Lavinia Mazzucchetti publiziert Es handelt sich keineswegs um die Erstübersetzung, denn die Novelle wurde schon 1930 in anonymer Fassung bei Bietti und ein weiteres Mal 1947 aus der Feder von Emma Vigili bei Garzanti in Mailand abgedruckt; diese Fassung ist aber explizit als „Unica traduzione autorizzata dal tedesco“ ausgewiesen Albrechts (1995, 292) Hypothese, dass es sich bei dieser italienischen Version um eine verdeckte Form der Übersetzung aus zweiter Hand handeln könnte, erscheint durchaus plausibel, denn bei näherem Hinsehen fallen darin Parallelen zu Jaccottets Version auf Besonders aufschlussreich ist ein regelrechter Übersetzungsfehler, der sich in Jaccottets französischer Fassung wiederfindet: Manns Zeitangabe in Kapitel- IV, „die Vormittagsstunden“, wird bei Castellani/ Mazzucchetti-- offenbar versehentlich-- mit „le ore pomeridiane“ wiedergegeben, und auch Jaccottet übersetzt: „l’après-midi“ (Mann 1912, 21/ 1947, 115/ 1957, 60) Die frühere französische Übersetzung von Félix Bertaux und Ch Sigwalt ist als Referenzwerk hingegen eher unwahrscheinlich, da dieser Lapsus dort nicht auftritt; hier heißt es korrekt „les heures de la matinée“ (Mann 1925, 115) . Zudem sei auf eine gewisse Tendenz zu parallelen Formulierungen hingewiesen, die aber durchaus auf zufällige Ähnlichkeiten der beiden romanischen Sprachen zurückzuführen sein könnte Das folgende Beispiel mag zur Illustration genügen: Mann formuliert, ebenfalls im vierten Kapitel: „Der wohlige Gleichtakt dieses Daseins hatte ihn schon in seinen Bann gezogen“, und Jaccottet und Castellani/ Mazzucchetti übersetzen parallel: „(…) l’avait déjà pris à ses charmes“/ „(…) lo aveva ormai preso nel suo incanto“ (Mann 1912, 21/ 1947, 117/ 1957, 61) Die folgenden drei Belege zu Karl Marx runden das Bild der über das Französische gelenkten Marx-Rezeption in Italien ab, die der vorliegenden Studie als Ausgangspunkt diente Die Wahrscheinlichkeit, dass das Französische bei der Entstehung der italienischen Fassung eine Rolle gespielt hat, ist auch hier recht hoch, wenn man Marx’ eigene Haltung zur Übersetzung seiner Schriften und den internationalen Charakter des Marxismus berücksichtigt Ob es sich tatsächlich um opake Kontaminationen handelt, ließ sich allerdings nicht eindeutig prüfen . Das erste Beispiel hat eigentlich in dieser Aufstellung der Übersetzung aus zweiter Hand nichts zu suchen, denn es betrifft eine im Original auf Französisch abgefasste Schrift Es ist aber hier von besonderem Interesse, denn es zeigt, dass Marx seiner eigenen Maxime treu bleibt: Wenn sich seine Werke aus dem Französischen besser in die romanischen Sprachen weiterverbreiten lassen, ist es nur folgerichtig, noch einen Schritt weiter zu gehen und seine Schrift gleich auf Französisch zu veröffentlichen Das zwischen Ende Dezember 1846 und Anfang April 1847 entstandene französische Original wird noch im selben Jahr bei Franck in Paris unter dem Titel Misère de la philosophie: réponse à la Philosophie de la misère de M. Proudhon verlegt Die 1885 von Karl Kautsky und Eduard Bernstein besorgte deutsche Ausgabe 169 darf aber ebenso als autorisierte Fassung betrachtet werden, denn sie ist von Friedrich Engels durchgesehen und um ein Vorwort und Noten ergänzt worden Die bei Dietz in Stuttgart erschienene Fassung Das Elend der Philosophie. Antwort auf Proudhons ‚Philosophie des Elends‘ ist mit einer Reihe von Änderungen versehen, die Engels mit Blick 169 Vgl für das Folgende die Erläuterungen zur Online-Ausgabe von Karl Marx, Das Elend der Philosophie: http: / / www .mlwerke .de Zugriff 09 .08 .2011 <?page no="183"?> 3 „Ermittlungsergebnisse” 183 auf eine schon für 1884 geplante neue Ausgabe auf Französisch vorgenommen hatte 170 1901, gut ein halbes Jahrhundert nach Erscheinen des französischen Originals, veröffentlicht der aus Potenza stammende marxistische Historiker und Altphilologe Ettore Ciccotti 171 bei L Mongini in Rom die erste italienische Übersetzung, Miseria della filosofia: risposta alla Filosofia della miseria del sig. Proudhon Der Titelzusatz „con una prefazione di Federico Engels“ legt nahe, dass die Übersetzung auf der Grundlage der deutschen Fassung angefertigt wurde-- also genau genommen ein Fall der Übersetzung aus zweiter Hand über die deutsche Zwischenstufe ist Ciccottis biographischer Hintergrund weist aber kaum Berührungspunkte mit Deutschland auf, und er veröffentlicht auch sonst keinerlei Schriften auf Deutsch 172 Es ist also zumindest wahrscheinlich, dass er für seine Übersetzung auch die französische Fassung herangezogen hat, die ja als das eigentliche Original betrachtet werden kann Was die beiden letzten Bände von Marx’ Hauptschrift Das Kapital angeht, so lassen auch hier die ersten italienischen Übersetzungen gut fünfzig bzw sogar sechzig Jahre auf sich warten, obgleich die französischen Versionen jeweils nur wenige Jahre nach Drucklegung des Originals veröffentlicht werden . Band 2 und 3 werden von 1885 bis 1894 von Friedrich Engels bei Meissner in Hamburg herausgegeben Kurz nacheinander erscheinen dann bei Giard und Brière in Paris Livre II (1900) und Livre III (1901-02) der französischen Übersetzung von Julian Borchardt und Hippolyte Vanderrydt, Le capital, critique de l’ économie politique . Dank dieser Fassung finden Karl Marx’ Thesen auch in Italien Verbreitung, wo sie auch später noch lange Zeit auf der Grundlage dieser französischen Übersetzung rezipiert werden sollten 173 So erklärt es sich wohl auch, dass die erste italienische Übersetzung des zweiten Bandes erst 1946 und die des dritten Bandes 1954-55 publiziert wird: Antonio Minelli legt 1946 beim Mailänder Verlagshaus A Corticelli seine Fassung des zweiten Bandes von Il capitale vor, die mit einem Vorwort von Friedrich Engels versehen ist; und bei Rinascita in Rom wird 1954-55 in der Reihe I classici del marxismo der dritte Band in der Übersetzung von Maria Luisa Boggeri Ambrosini verlegt Die Übersetzungen selbst lagen der Verfasserin leider nicht vor Doch angesichts einer Rezeptionssituation, die mehr als ein halbes Jahrhundert lang durch die Konsultation der französischen Fassungen geprägt war, wäre es doch sehr verwunderlich, wenn wir es ausgerechnet hier mit Ausnahmen zu tun hätten Im Fall von Friedrich Nietzsches Morgenröthe muss erneut auf das ausführliche Kapitel in Teil III dieser Arbeit verwiesen werden . An dieser Stelle seien nur die wichtigsten Eckdaten angegeben: Das 1881 erstmals im Original publizierte Werk erscheint 1925 bei der Mailänder Casa Editrice Sociale in der italienischen Übersetzung von Paolo Flores 170 Engels legt dafür ein 1876 erschienenes, Natalja Utina gewidmetes Exemplar des französischen Originals zugrunde, in dem Marx selbst einige Ergänzungen und Änderungen angebracht hat Vgl http: / / www .mlwerke .de Zugriff 09 .08 .2011 171 Ciccotti (1863-1939) besorgt für den Partito socialista italiano (PSI), bei dem er 1892-1905 Mitglied ist, die Herausgabe der Werke von Marx, Engels und Lassalle (Società Editrice Avanti! ) Wegen seiner Studien zur Geschichte des antiken Rom wird er von Karl Kautsky besonders geschätzt Vgl EUI working paper 316, 18 European University Institute, 1987 172 Zu Ciccotti vgl z B Abba Luzzato, F ., Dizionario generale degli autori italiani contemporanei Vol 1 1974, 400 . Online-Datenbank World Biographic Information System. 173 Zur italienischen Marx-Rezeption vgl auch Becchio/ Marchionatti 2002, insbesondere S - 1 f zum zweiten und dritten Band von Das Kapital <?page no="184"?> II Typologie und Panorama der Übersetzertätigkeit „aus zweiter Hand” 184 Der italienische Titel Aurora: riflessioni su i pregiudizi morali mag bereits einen ersten Hinweis darauf geben, dass dem Übersetzer auch die französische Version vorgelegen haben muss, die bereits 1901 bei der Société du Mercure de France in Paris auf Französisch erschienen ist Die von Henri Albert besorgte Fassung trägt den Titel: Aurore: réflexions sur les préjugés moraux Der Frage, inwieweit Flores tatsächlich Alberts Vorgängerfassung bei seiner Übersetzung berücksichtigt, soll im dritten Teil dieser Arbeit nachgegangen werden Auch Schillers Jugendwerk Die Räuber in der Neuübersetzung des italienischen Dichters Andrea Maffei soll im dritten Teil der Arbeit noch vertiefend behandelt werden Maffei lag für seine 1846 bei G Pirola in Mailand publizierte Fassung I masnadieri- - übrigens die erste von der dortigen Zensur autorisierte- - nachweislich nicht nur das Original, sondern auch Prosper Brugière de Barantes 1821 bei Ladvocat erschienene französische Übersetzung Les brigands vor Schiller ist noch mit zwei weiteren Belegen für die opake Kontamination vertreten, die hier allerdings nur als Verdachtsfälle mit relativ großem Unsicherheitsgrad aufgeführt werden können Sie betreffen den Don Carlos und den Wilhelm Tell, beide aus der Feder von Pompeo Ferrario, der 1819 bei Pirotta in Mailand die sechsbändige Gesamtausgabe von Schillers Dramen besorgt Auffällig ist, dass seine recht treue Übersetzung Don Carlo infante di Spagna nicht etwa-- was zu erwarten wäre-- Ähnlichkeiten mit der damals verbreiteten französischen Version von Lamartelière aufweist 174 , sondern vielmehr mit der unbekannteren Fassung des Grafen Adrien de Lezay-Marnésia Möglicherweise entscheidet Ferrario sich absichtlich gegen die stark glättende, der klassizistischen clarté und bienséance verpf lichtete Version Lamartelières von 1799 175 und zieht ihr die „treuere“ Übertragung Lezays vor, die im selben Jahr bei Maradan in Paris publiziert wurde . Zu Lezays Don Carlos findet sich in Naumanns (1841, 69) Verzeichnis von Uebersetzungen Schiller’scher Werke der Hinweis, dass die Biographie universelle diese Übersetzung für die beste erkläre: Der Uebersetzer hat kritische Noten und anziehende Bemerkungen über französische Sprache und Theater beigefügt, zeigt aber, nach dem Urtheil der Biogr univ ., allzuviel Vorliebe für die romantische Gattung Es ist also nicht verwunderlich, wenn die Wahl des italienischen Übersetzers gerade auf diese eher romantisch-verfremdende und zudem kritisch annotierte Vorgängerfassung fällt, der eine Analyse des Don Carlos aus der Feder Lezays vorangestellt ist 176 Schließ- 174 Der Don Carlos erscheint 1799 in der Fassung von Lamartelière, in Band 2 seines bei Renouard in Paris publizierten Théâtre de Schiller 175 Unfer Lukoschik (2004, 84) bedauert besonders den „empfindlichen Verlust an Bilderkraft und Originalität“ des Don Carlos in Lamartelières „konventioneller“ Übertragung Im Übrigen ist auch Ferrarios in der Gesamtausgabe veröffentlichte Übersetzung der Verschwörung des Fiesko zu Genua offensichtlich nicht an Lamartelières französische Fassung von 1799 angelehnt 176 „Note du Traducteur“, Lezay 1799, v-x xiii Unfer Lukoschik (2004, 85) weist auf die politischen Hintergründe dieser heute recht anerkannten Fassung hin, die als Versuch zu werten sei, „den republikanischen Idealen in einer sehr kritischen Phase der Revolution erneut Gehör zu verschaffen“ Der Erfolg sei aber ausgeblieben, da das Publikum seinem „Héros-penseur“ gegenüber sehr kritisch eingestellt war . Auch Napoleon, dem sie gewidmet werden sollte, habe diese Fassung nicht goutiert <?page no="185"?> 3 „Ermittlungsergebnisse” 185 lich dürfte sie seiner eher treuen Übersetzungskonzeption durchaus entgegenkommen . Ein oberf lächlicher Textvergleich der beiden Übersetzungen lässt nicht mehr als die vorsichtige Vermutung zu, dass Ferrarios bisweilen recht ähnliche syntaktische und lexikalische Entscheidungen auf eine Konsultation von Lezays Fassung hindeuten . Dort, wo Ferrarios Übersetzung hingegen vom Französischen abweicht, geschieht dies meist zugunsten einer engeren Anlehnung an das Original Ferrarios Guglielmo Tell: azione drammatica wiederum, mit dem Zusatz „recata per la prima volta dal tedesco in italiano da Pompeo Ferrario“ versehen, dürfte mit einem Seitenblick auf die ein Jahr zuvor, 1818, bei Paschoud in Paris erschienene Fassung Guillaume Tell: poème dramatique entstanden sein Es handelt sich dabei um die erste Prosaübertragung des Dramas durch den aus Genf stammenden protestantischen Theologen Henri Merle d’Aubigné, der ein patriotischer Appell des Übersetzers „A mes Compatriotes“ (Merle d’Aubigné 1818, 1-32) vorangestellt ist Weiter oben ist bereits auf das prägnanteste Indiz für diese Hypothese verwiesen worden 177 Ferrario zieht nämlich gleich in den Regieanweisungen zur ersten Szene des ersten Akts einen Lexikonartikel heran, mit dessen Hilfe er in einer Fußnote seine Übersetzung des Schweizer Alpengesangs „Kuhreihen“ erläutert (Schiller 1819a, 5-6): Prima che si alzi il sipario si odono le cantilene dei mandriani* e il suono accordato delle campane degli armenti, che seguita un pezzo anche dopo aperta la scena * In tedesco Kuhreihen, o aria delle vacche . Nota canzone degli alpigiani svizzeri Vedi Rousseau Dizionario di musica, all’articolo Ranz-des-Vaches Das französische Stichwort „Ranz-des-Vaches“ legt die Vermutung nahe, dass Ferrario folgenden Passus aus Merle d’Aubignés französischer Übersetzung (Schiller 1818, 37) vor Augen gehabt haben dürfte, in dem es heißt: „Avant le lever du rideau, l’on entend le ranz-des-vaches, auquel se mêle le son des cloches des troupeaux (…)“ 178 Doch schon die Gesangsverse des „Kuhreihens“ zu Beginn der ersten Szene gleichen sich kaum, so dass allenfalls gelegentliche Anleihen bei der französischen Fassung unterstellt werden können Exkurs: Italienisch als Mittlersprache Die vorangegangenen Fallbeispiele illustrieren die herausragende Bedeutung des Französischen für die Vermittlung deutscher Literatur und Philosophie in den italienischen Sprachraum Diese Richtung des sprachlichen und kulturellen Transfers kann sicherlich als der Regelfall betrachtet werden Doch gibt es auch hier die berühmte Ausnahme von der Regel, nämlich den Fall, bei dem das Italienische die Vermittlerrolle übernimmt 177 Vgl Abschnitt 1 1 dieses Teils zu den Abstufungen der Übersetzung aus zweiter Hand, in dem Ferrarios Übersetzung des Wilhelm Tell als Beispiel für die opake Kontamination herangezogen wurde 178 Auf Deutsch lautet der vollständige Passus: „Noch ehe der Vorhang aufgeht, hört man den Kuhreihen und das harmonische Geläut der Heerdenglocken, welches sich auch bei eröfneter Scene noch eine Zeitlang fortsetzt“ (Schiller 1804a, 1) <?page no="186"?> II Typologie und Panorama der Übersetzertätigkeit „aus zweiter Hand” 186 Hier lässt sich zumindest ein Paradebeispiel anführen, die italienische Übersetzung von Kants Kritik der reinen Vernunft Sie wird im dritten Teil dieser Arbeit noch Erwähnung finden 179 , soll aber hier schon vorab als Beleg für die opake Kontamination herangezogen werden Der Umstand, dass es sich um eine uneingestandene Form der mittelbaren Übersetzung handelt, mag dem Zufall geschuldet sein, er ist aber auch bezeichnend angesichts des geringen Prestiges des Italienischen als Mittlersprache Die Critica della ragione pura di Manuele Kant stammt aus der Feder des Cavaliere Vincenzo Mantovani und wird 1820 bis 1822 in acht Bänden in der Collezione dei Classici Metafisici des Verlagshauses Pietro Bizzoni in Pavia abgedruckt 180 Die Bände I bis III erscheinen im Jahr 1820, zwei Jahre später gefolgt von den Bänden IV bis VIII Die Übersetzung fällt also in eine sehr frühe Phase der italienischen Kant-Rezeption, als in Italien weder in theoretischer noch in politischer und religiöser Hinsicht der Boden für Kants Thesen bereitet ist 181 So wird sie am 11 Juni 1827 sogar von der Congregazione generale dell’Indice auf den Index gesetzt 182 Der Übersetzer Vincenzo Mantovani (1773-1832), ein Militärarzt aus Pavia, dessen Name im Übrigen erst ab dem vierten Band genannt wird, legt für seine Fassung neben der lateinischen Übersetzung von Friedrich Gottlob Born 183 vor allem französische Quellen zugrunde Er konsultiert Charles de Villers für die Kant-Biographie 184 sowie Joseph-Marie Degérandos [de Gérandos] 185 und Johann Gottlieb Buhles 186 Werke zur Geschichte der Philosophie- - das zuletzt genannte in französischer Übersetzung Mantovanis mit zahlreichen Fußnoten versehener Version ist ein Proemio alla traduzione (Mantovani 1820, 5-14) vorangestellt, in dem dieser ausführlich auf seine Übersetzungskonzeption eingeht Man sieht also, dass Mantovanis Übersetzung sehr viel dem Einf luss der französischen Kant-Rezeption verdankt . Diese war zwar damals schon weiter fortgeschritten als die italienische, ihr Fortgang wurde aber durch kontroverse Interpretationen behindert In Frankreich legen nun im Abstand von sechs Jahren Jules Barni und Claude-Joseph Tissot ihre Übersetzung der Kritik der reinen Vernunft vor . Barnis Fassung erscheint 1829 bei Flammarion, Tissots 1835-36 bei Ladrange in Paris Espagne (2004, 263) zufolge dürfte beiden französischen Übersetzern nicht nur die- - übrigens sehr unzureichende- - lateinische Fassung von Born, sondern auch Vincenzo 179 Vgl insbesondere Abschnitt 4 .2 .2 im dritten Teil der Arbeit, in dem u a Mantovanis Umgang mit Kants Terminologie beleuchtet wird 180 Die Herausgeber der Reihe sind die Idéologues Defendente Sacchi, Giuseppe Germani und Luigi Rolla 181 Vgl zu Mantovanis Übersetzung insbesondere Frigo 1994, 173-177, ferner zu den im Folgenden dargelegten Entstehungshintergründen die Internetseite der italienischen Kantiana: http: / / www .kantiana .it/ wiki/ index .php? title=Schedario: Critica_della_ragione_ pura 182 Zur Begründung werden neben Kants „filosofia tenebrosa“ seine Ungläubigkeit, sein Skeptizismus und „Spinozismus“ angeführt 183 Friedrich Gottlob Born, Critica rationis purae. Lipasiae: Impensis Engelhard Beniamin Schwickerti, 1796 (Opera ad philosophiam criticam; 1) 184 Dem Übersetzervorwort im ersten Band folgt eine anonyme, Mantovani zuzuschreibende Abhandlung Della vita e delle opere di Kant (Kant 1820, 15-88) 185 Gérando, Joseph-Marie de, Histoire comparée des systèmes de philosophie relativement aux principes des connaissances humaines. 3 Vol Paris: Heinrichs, 1804 186 Buhle, Johann Gottlieb, Histoire de la Philosophie Moderne, depuis la Renaissance des Lettres jusqu’à Kant, traduit de l’allemand 6 Vol Paris, 1816 <?page no="187"?> 3 „Ermittlungsergebnisse” 187 Mantovanis italienische Vorgängerübersetzung vorgelegen haben . Dies erscheint auch aufgrund der explikativen Gesamtkonzeption von Mantovanis Fassung plausibel, zumal die zahlreichen Fußnoten und die gelegentliche Hinzufügung der deutschen Termini im Text auch den französischen Übersetzern das Verständnis erleichtert haben dürften Hinzu kommt der Umstand, dass der aus Lille gebürtige Jules Barni italienischer Abstammung ist und Claude-Joseph Tissot Mantovanis Fassung in seinem Vorwort erwähnt Insgesamt betrachtet handelt es sich bei diesem Fallbeispiel aber genau genommen nicht-- wie im Fall des Französischen als Mittlersprache üblich-- um einen kulturellen Transfer, bei dem die Erkenntnisse und Interpretationen des anderen Landes mit transportiert werden, sondern eher um ein rein sprachlich bedingtes Phänomen . Der kulturelle Austausch findet dagegen wie gehabt in umgekehrter Richtung statt, denn schließlich verwertet Mantovani für seine Version hauptsächlich französische Quellen Am Rande verdient noch eine weitere Erscheinungsform der italienischen Vermittlung Erwähnung, die sich nicht in der Überblicksdarstellung niederschlägt, da sie nicht als Fall der Übersetzung aus zweiter Hand im eigentlichen Sinne eingeordnet werden kann Die Rede ist von der Mittlerfunktion des bekannten Hegel-Übersetzers Augusto Vera Der aus Umbrien stammende Vera ist einer der ersten, der Hegel in Frankreich und Italien bekannt macht Hier ist eher der kulturelle Transfer der zentrale Aspekt, denn obwohl Vera Hegels Schriften während seiner Zeit in Paris in französischer Übersetzung veröffentlicht, 187 rezipiert er sie doch gewissermaßen aus dem Blickwinkel der italienischen Philosophie Als er 1859 nach Italien zurückkehrt, begründet er dort zunächst in Mailand, dann in Neapel die italienische Schule des Hegelianismus 188 Er sorgt damit sicherlich auch dafür, dass seine Interpretation von Hegels Philosophie in der Folgezeit von Italien aus wiederum in Frankreich Verbreitung findet 3.3 Auswertung Aus dieser Überblicksdarstellung können noch keine allgemeingültigen Aussagen abgeleitet werden, denn schließlich handelt es sich, wie bereits erwähnt, nur um „die Spitze des Eisbergs“ Das Phänomen der Übersetzung aus zweiter Hand hat sich zudem als viel zu komplex und facettenreich erwiesen, als dass es sich in einem einfachen Schema fassen ließe Dennoch sollen am Schluss dieser Darstellung ein paar allgemeine Beobachtungen stehen, die allerdings mehr beschreibenden als normierenden Charakter haben Zunächst ist festzuhalten, dass sich das Phänomen selbst durchaus nicht, wie häufig angenommen, auf das 18 Jahrhundert beschränkt, sondern im Gegenteil bis weit ins 20 Jahrhundert hinein nachweisbar ist, und dies betrifft selbst die Aneignung als Reinform der Übersetzung aus zweiter Hand Erinnert sei etwa an die italienische Fassung von Thomas Manns Tod in Venedig oder auch an Schneewittchen in der Version 187 Er legt erstmals die drei Teile der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften-- die Logik (1859), die Naturphilosophie (1863-66) und die Philosophie des Geistes (1867-69)-- sowie die Vorlesungen über die Philosophie der Religion (1876-78) in französischer Sprache vor 188 Eine zeitgenössische Darstellung des Hegelianismo in Italien findet sich bei Franchi 1863, 107 <?page no="188"?> II Typologie und Panorama der Übersetzertätigkeit „aus zweiter Hand” 188 von Maria Luisa Carosso, die noch Mitte der 1950er Jahre publiziert werden Die Erscheinungsformen sind vielfältig: Es kommt vor, dass-- in quasi wissenschaftlicher Manier- - mehrere französische Fassungen für die italienische Übersetzung herangezogen werden (siehe Giovita Scalvinis Faust-Übersetzung oder auch Nicola Palangas Version von Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten), und ebenso kommt es vor, dass ein und dieselbe französische Fassung mehreren italienischen Übersetzern als Vorbild dient (etwa Joseph Roys Le capital, Lamartelières Räuber-Version Robert, chef des brigands oder Nervals Übersetzung von Heine-Gedichten) Auch die Zeitspanne zwischen dem Erscheinen der französischen und der italienischen Fassung kann recht unterschiedlich sein, sie reicht von ein bis zwei Jahren bis zu einem halben Jahrhundert (Ignaz Denner, La Bédollière, 1855/ F C Ageno, 1911) Bei Maria Luisa Carossos Fassung der Erzählung Nussknacker und Mausekönig nach Dumas’ Bearbeitung ist es sogar mehr als ein Jahrhundert Dabei muss es sich weder bei der französischen Zwischenstufe noch bei der italienischen Fassung zwangsläufig um eine Erstübersetzung handeln; auch Zweit- oder Drittübersetzungen können aus zweiter Hand sein, wie das Beispiel Thomas Mann zeigt: Jaccottets La mort à Venise ist die zweite französische, die Fassung von Castellani und Mazzucchetti sogar die dritte italienische Übersetzung der Novelle Zu den ausschlaggebenden Faktoren für die Entstehung und für die Bewertung einer Übersetzung aus zweiter Hand gehören neben der Bekanntheit des Originalautors die Autorität der französischen Zwischenstufe und die Persönlichkeit des italienischen Übersetzers DabeiistzwischendenKlassikernunddersogenannten„Erbauungsliteratur“ kein wesentlicher Unterschied hinsichtlich des Bekanntheitsgrades festzustellen, zumal Autoren wie Christoph von Schmid damals zu den „Bestsellern“ gehörten, während heutige Klassiker wie Kant anfangs kaum Verbreitung fanden . Die Autorität der französischen Übersetzung hängt sicherlich in erster Linie von der Bekanntheit des Übersetzers ab und ist bei Persönlichkeiten wie Gérard de Nerval oder Loève-Veimars naturgemäß recht hoch Bei Bearbeitungen fällt dieser Aspekt noch ungleich stärker ins Gewicht Dies gilt im Übrigen auch für philosophische Texte, die in der Übersetzung eines Fachkollegen größeres Ansehen genießen (siehe Jules Barni oder François-Joseph Picavet) Ein besonderer Fall ist die „autorisierte Fassung“, die vom Autor überwacht und korrigiert und häufig auch mit einem Vorwort versehen wurde . Wie der Überblick zeigt, kommt sie gar nicht einmal so selten vor: Beispiele sind etwa Nervals Heine- Übersetzungen, die Texte von Karl Marx in den Fassungen von Joseph Roy oder Laura Lafargue oder auch Albertine Necker de Saussures Version von Schlegels Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur Der besondere Status dieser Fassungen ermuntert denn auch die italienischen „Weiterübersetzer“, ausdrücklich auf die französische Vorlage hinzuweisen, so dass wir es hier meist mit eingestandenen Formen der Übersetzung aus zweiter Hand zu tun haben Mitunter könnte man allerdings den Eindruck gewinnen, dass sich der Übersetzer auch dann auf die Autorität einer solchen Fassung beruft, wenn ihn eigentlich mangelnde Sprachkenntnisse zu deren Konsultation nötigen Karl Marx treibt das Modell der „autorisierten Fassung“ bis zur letzten Konsequenz, wenn er seine Schrift Misère de la philosophie 1847 gleich auf Französisch veröffentlicht, möglicherweise in dem Kalkül, den romanischen Übersetzern so die Arbeit zu erleichtern Aber auch der dritte Aspekt, die Persönlichkeit des italienischen Übersetzers, darf nicht außer Acht <?page no="189"?> 3 „Ermittlungsergebnisse” 189 gelassen werden In der Regel wird Dichtern der Rückgriff auf das Französische eher verziehen als „einfachen“ Berufsübersetzern- - besonders, wenn es sich um poetische Texte handelt, die der lyrischen Ader des italienischen „Nachdichters“ ihre charakteristische Form verdanken Man denke nur an Ippolito Nievos Heine-Fassungen, aber auch an Andrea Maffeis Übersetzungen von Schillers Dramen, die trotz ihrer Schwächen als elegante literarische Werke geschätzt wurden Dass die Angaben, mit denen in Titel und Übersetzervorrede geworben wird, üblicherweise nicht wörtlich genommen werden dürfen, versteht sich von selbst So ist auf ein „tradotto dal tedesco“ meist ebenso wenig Verlass wie auf die im Vorwort kundgetane Abgrenzung von der Vorgängerfassung im Fall der kritischen transparenten Kontamination Dies bringt uns zu den Beweggründen für die Übersetzung aus zweiter Hand . Sie können sowohl kultureller als auch „materieller“ Natur sein . Zu den „kulturellen“ Aspekten sei der Versuch der kulturellen „Einbürgerung“ eines Autors gezählt, bei der die französische Fassung dem italienischen Übersetzer gute Dienste leistet, ferner die Werbewirksamkeit eines bekannten französischen Namens oder auch das Umgehen der Zensur, die eine Übersetzung „auf direktem Wege“ unmöglich macht . Ein Fall der Zensur liegt etwa bei den italienischen Bühnenbearbeitungen von Schiller-Stücken während der Restaurationszeit vor, die deshalb häufig ohne Erwähnung des Originalautors aufgeführt werden Unter die „materiellen“ Aspekte fällt die Überwindung rein sprachlicher Hürden sowie bei philosophischen Texten das bessere Verständnis der Sachzusammenhänge und die wissenschaftliche Dokumentation . Rein sprachlich begründet ist Gaetano Barbieris opake Aneignung der Erzählungen E T A Hoffmanns; die dokumentierende Funktion der französischen Mittlerfassung illustriert Victor Delbos’ historisch-kritische Fassung von Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, aber auch Picavets annotierte Übersetzung der Kritik der praktischen Vernunft Abschließend sei nochmals betont, dass dieser Überblick nur als eine erste Sondierung des Terrains verstanden werden darf Inwieweit die daraus gewonnenen Erkenntnisse allgemeine Gültigkeit beanspruchen dürfen, wird sich erst anhand von weiterführenden Studien allgemeiner und spezifischer Natur zeigen, die das hier nur in groben Zügen skizzierte Bild vervollständigen und präzisieren <?page no="191"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse <?page no="193"?> 1 Zur Auswahl der analysierten Werke Die Überblicksdarstellung des zweiten Teils hat gezeigt, dass es sich bei der Übersetzung aus zweiter Hand ganz und gar nicht nur um ein Randphänomen handelt, das lediglich für einige Spezialisten von Interesse ist Gerade für den untersuchten Zeitraum lassen sich auf breiter Basis Belege dafür finden, dass diese Praxis im Gegenteil durchaus gängig war und aus unterschiedlichen Gründen favorisiert wurde Nachdem nun also ein Eindruck von ihrer historischen Verbreitung vermittelt wurde, geht es im vorliegenden dritten Teil der Arbeit um die exemplarische „Tiefenauslotung“ des Phänomens Dabei ist bei der Einzelanalyse-- anders als beim Gesamtüberblick in Teil II-- die literarische Qualität ein wichtiges Auswahlkriterium für die zugrunde gelegten deutschsprachigen „Originale“ 1 Es geht schließlich auch darum, den Einf luss des Phänomens der Übersetzung aus zweiter Hand auf die Rezeption von Werken weltliterarischen Ranges im Zielland der Übersetzung deutlich zu machen und so dessen nicht zu unterschätzende Bedeutung für die „literarische Handelsbilanz“ zwischen Deutschland und Italien aufzuzeigen Überdies hat die italienische Übersetzung eines bedeutenden Originals eine größere Chance, in Italiens literarischen Kanon aufgenommen zu werden, so dass die französische Zwischenstufe indirekt ihre Spuren in der dortigen Literatur hinterlassen kann Der zeitliche Rahmen der Entstehungszeit der Originale spannt sich vom späten 18 bis ins frühe 20 Jahrhundert Als für unsere Zwecke besonders „ergiebige“ Literaturepoche hat sich die Romantik herausgestellt: Einer ihrer bedeutendsten Exponenten, E T A Hoffmann, ist zugleich eine zentrale Figur für die Herausbildung der französischen Romantik und soll daher auch in der folgenden Übersetzungsanalyse eine Schlüsselrolle spielen Ebenfalls in diesem Zusammenhang zu nennen ist Friedrich Schiller, ein Dichter der Klassik, dessen Frühwerk noch der Epoche des Sturm und Drang zuzurechnen ist, der aber in Frankreich und Italien vorwiegend vor dem Hintergrund romantischer Strömungen rezipiert wurde Außerdem tritt Schiller besonders in Frankreich als Bindeglied zur deutschen idealistischen Philosophie in Erscheinung, zumal sein literarisches und theoretisches Werk durch die Rezeption und Weiterentwicklung der Theorien Kants beeinf lusst ist Neben der Schönen Literatur soll denn auch die Philosophie Gegenstand der Untersuchung sein, deren deutsche Vertreter im französischen 19 . Jahrhundert-- dem ‚Siècle allemand ‘ nach Espagne-- ausgesprochen großes Ansehen genie- 1 Darin stimmt die Verfasserin mit Stackelberg (1984, VIII) überein, für den die in Frage kommenden Primärtexte idealerweise von weltliterarischem Rang sein sollten Auch auf ein weiteres für Stackelberg wichtiges Kriterium, den ausgeprägten persönlichen Stil des Übersetzers, wurde bei der Auswahl der Fallbeispiele Wert gelegt <?page no="194"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 194 ßen Unter den Denkern des 18 Jahrhunderts fiel die Wahl naturgemäß auf Immanuel Kant, den „weisen alten Mann“, wie Mme de Staël ihn sieht, der als bedeutendster Exponent der deutschen Philosophie den philosophischen Diskurs in Frankreich nachhaltig geprägt hat Dass sich auch noch bei den Philosophen des späten 19 Jahrhunderts die Praxis der Übersetzung aus zweiter Hand bemerkbar macht, zeigt das Beispiel Friedrich Nietzsches, der sich in Frankreich vornehmlich über den Umweg der Literatur einen Namen macht Bei den genannten Autoren fiel die Wahl im Zweifelsfall auf solche Werke, deren italienische Fassung eine uneingestandene Form der Übersetzung aus zweiter Hand vermuten lässt; da wir es hier überwiegend mit Mischformen der Übersetzung aus zweiter Hand zu tun haben, geht es also im Wesentlichen um opake Kontaminationen Bei einigen Autoren hätte auch eine eingestandene Form zur Wahl gestanden, so etwa Kants Kritik der Urteilskraft in Alfredo Gargiulos Fassung von 1907, seine Kritik der praktischen Vernunft in der Übersetzung von Francesco Capra aus dem Jahr 1909 oder auch Antonio Cippicos Übersetzung von Nietzsches Die fröhliche Wissenschaft von 1905 . Bei genauerer Betrachtung scheint es allerdings die weitaus interessantere Variante zu sein, den italienischen Übersetzern eine Orientierung an der französischen Mittlerversion erst nachzuweisen Eine bereits in der Vorrede deklarierte Anlehnung an diese-- oder auch eine Abgrenzung von ihr- - am konkreten Übersetzungstext nachzuvollziehen und zu überprüfen, ist demgegenüber weniger reizvoll Auf diese Weise wird eindrucksvoll deutlich, dass die Übersetzung aus zweiter Hand gerade im untersuchten Zeitraum ein sehr gängiges Phänomen ist, das vornehmlich „im Verborgenen blüht“ und nicht etwa nur dort anzutreffen ist, wo die Übersetzer ihre Vorgehensweise offen eingestehen . Nach einer sorgfältigen Vorauswahl erscheinen folgende vier Werke besonders vielversprechend für die exemplarische Übersetzungsanalyse: Friedrich Schillers Räuber in der italienischen Fassung eines Anonymus (1832) sowie in der Übersetzung von Maffei (1846), E T A Hoffmanns Kunstmärchen Der goldne Topf in der Übersetzung von E B (1835), Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten von Palanga (1910) sowie in der im selben Jahr von Vidari herausgegebenen Fassung und schließlich Nietzsches Morgenröthe in der Version von Flores (1925) Besondere Erwähnung verdient die Beobachtung, dass die französische Mittlerversion in zwei Fällen offenbar sogar zwei italienischen Übersetzern als Orientierungshilfe gedient hat Inwieweit dies tatsächlich der Fall ist, mag aus der sich anschließenden Analyse hervorgehen <?page no="195"?> 2 Friedrich Schiller: Die Räuber Aus dem umfangreichen dramatischen, philosophischen und poetischen Œuvre Friedrich Schillers bietet sich das Drama Die Räuber für eine nähere Analyse an. Für das Werk sprechen nicht nur einige Indizien, die auf eine bestehende Übersetzung aus zweiter Hand hindeuten, sondern auch seine Sonderstellung als kraftvolles Jugendwerk des ausklingenden Sturm und Drang sowie seine bewegte und kontroverse Rezeptionsgeschichte in Frankreich und Italien, die zugleich den ersten Impuls für die dortige Schiller-Rezeption gegeben hat. Besondere Aktualität erhält das Stück in Frankreich zudem durch die politische Situation sowie durch den Ruf nach einer Erneuerung der in klassischen Regeln erstarrten französischen Dramatik. Anhand dieses Werkes lassen sich eindrucksvoll die Irrungen und Wirrungen der mittelbaren Rezeptionsvorgänge aufzeigen, die Schiller und sein Werk zunächst in Frankreich und im Anschluss über die französische Vermittlung auch in Italien bekannt gemacht haben. Dazu soll zu- <?page no="196"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 196 nächst Schillers Original in den Blick genommen werden, bevor dann der weitere und engere Rezeptionskontext in beiden romanischen Ländern in groben Zügen skizziert wird 2.1 Zu Schiller und seinem Original In seinem Jugendwerk Die Räuber entwickelt Schiller typische Motive der Sturm und Drang-Dramatik, wie den Freiheitskampf gegen die Gesellschaft, der auch in Goethes Götz von Berlichingen thematisiert wird, und das Auf begehren gegen die Gängelungen der christlichen Kirche, dem man in Goethes Faust wiederbegegnet . Sie sind Ausdruck eines grundlegenden Konf liktes zwischen dem Naturmenschen und der bestehenden Kultur Vorbild des Sturm und Drang-Dramas ist dabei endgültig nicht mehr die klassische französische Tragödie, sondern das Theater Shakespeares, dessen Bruch mit den dramatischen Einheiten und dessen ungezähmte Leidenschaft als exemplarisch empfunden werden Auf Shakespeare geht auch die Vorliebe für Volksszenen und Milieuschilderungen zurück, die Mischung von Komischem und Tragischem, die die Räuber kennzeichnet Typisch ist ferner die Prosaform des Dramas, dessen Sprache sich bewusst vom Schriftdeutschen entfernt und übernaturalistische Züge trägt So herrscht ein forcierter, exaltierter Kraftstil vor, der sich in einer Häufung von Ellipsen und Ausrufen manifestiert 1777, im Alter von 18 Jahren, beginnt Schiller mit der Abfassung seines Schauspiels Die Räuber, das er 1780 fertigstellt Die Erstausgabe veröffentlicht Schiller zunächst 1781 auf eigene Kosten, bevor sie 1782 bei Tobias Löff ler in neuer, veränderter und mit neuer Vorrede versehener Auf lage erscheint; erst diese enthält auch das berühmte Motto „In tirannos“ . 2 Schiller selbst bezeichnet sein Schauspiel in der Vorrede als „dramatische Geschichte“ und rät aus moralischen Erwägungen davon ab, es auf die Bühne zu bringen Die Uraufführung am 13 Januar 1782 in Mannheim, die einige Kürzungen und Milderungen aufweist und die Handlung auf Anraten des Intendanten Wolfgang Heribert von Dalberg von der Gegenwart ins 16 . Jahrhundert verlegt, wird allerdings zu einem beispiellosen Erfolg Darauf hin wird noch im selben Jahr die Bühnenfassung von Christian Friedrich Schwan in Mannheim verlegt, wobei die wesentlichen Änderungen der Aufführung beibehalten werden (Schiller 1782a) . 3 Die Handlung kreist um die beiden feindlichen Brüder Karl und Franz Moor, wobei Karl den Sturm und Drang-Typus des „edlen Verbrechers“ verkörpert, der aus „sittlicher Verzweif lung“ zum Anführer einer Räuberbande wird, nachdem ihn sein Vater auf eine Intrige seines 2 Dieser vom Verlag angebrachte Zusatz war offenbar nicht nach Schillers Geschmack, da die Aktualität und politische Brisanz des Stückes, auf die Schiller ohnehin mit der Zeitangabe „die Zeit der Geschichte um Mitte des achtzehnten Jahrhunderts“ hinweist, so unnötig verstärkt wurde (vgl Hofmann 2003, 39) Zu Schillers Räubern vgl Frenzel/ Frenzel 2 1985, 224 3 Bewahrt werden etwa die Verlegung der Handlung in die Renaissance, die Streichung der Figur des Pastors Moser, die Auslassung der eingeschobenen Lieder und die Hinrichtung Franz Moors am Ende der Räuber Diese Bühnenfassung sollte nahezu ein Jahrhundert lang Grundlage aller Inszenierungen des Stückes sein . <?page no="197"?> 2 Friedrich Schiller: Die Räuber 197 missgünstigen Bruders Franz hin verstoßen hat Frenzel/ Frenzel ( 2 1985, 224) sprechen treffend von „Karl, dem Verbrecher aus Empfindung, (…) [dem] in Franz der zynische Verbrecher aus Verstand gegenüber[steht]“ und geben im Telegrammstil eine prägnante Analyse der Motive des Schauspiels: Revolutionärer Angriff auf die Zustände am Hofe und die Gesellschaftsordnung, Gegensatz von Ich und Gesellschaft, Genie und Kastraten-J[ahr]h[undert], von Natur und Kultur, Gefühl und Konvention . Nur ‚die Freiheit brütet Kolosse und Extremitäten aus‘ Am Schluss äußeres Einlenken des Verbrechers aus verirrtem Idealismus, da der Aufstand des Sozialrebellen ‚den ganzen Bau der sittlichen Welt zu Grund‘ hätte gehen lassen können Auslieferung an die Gerichte einer im Grunde schlechteren Ordnung Schillers weitere literarische Entwicklung und die deutsche Rezeption seiner Werke ist für den Zweck dieser Untersuchung weniger relevant, so dass hier für ein vertiefendes Studium auf die einschlägige Schiller-Literatur verwiesen werden muss . Es seien aber dennoch einige Bemerkungen zur Person Schillers gestattet, die seine Beziehung zu Frankreich und Italien erhellen Aufschlussreich für die Untersuchung der italienischen Schiller- Rezeption ist sicherlich die Tatsache, dass dieser selbst die zu seiner Zeit herrschende Italiensehnsucht nicht teilt, dass er das Land nie bereist hat, dessen Sprache nicht kennt und sich kaum mit dessen Literatur auseinandergesetzt hat . 4 Und dies ist umso erstaunlicher, als auch der eifrige Italienreisende Goethe, zu dem er in späteren Jahren in engem Kontakt steht, ihn nicht für das Land einnehmen kann . 5 Für seine Werke wählt er zwar der damaligen Mode entsprechend mitunter einen italienischen Schauplatz- - so in Der Geisterseher, Die Verschwörung des Fiesko oder Die Braut von Messina--, dieser bleibt aber meist nur Kulisse und ist von untergeordneter Bedeutung für das Geschehen . Schillers Bearbeitung des märchenhaften Dramas Turandot von Carlo Gozzi ist die einzige Episode, die von einer produktiven Rezeption der zeitgenössischen italienischen Literatur zeugt, und sie liegt ganz auf der Linie der deutschen Romantiker, die die Buffo-Manier als zentrales Merkmal des italienischen Schauspiels betrachten Ein gewisses Interesse bekundet Schiller allenfalls an der Geschichte Italiens Eine Art misstrauische Distanz diesem ihm so fremden Land gegenüber wird in seinen Räubern erkennbar, wenn er die Protagonisten Razmann und Spiegelberg über das nötige „National-Genie“ für eine erfolgreiche Räuberkarriere diskutieren lässt und Italien dabei-- neben Graubünden, dem „Athen der heutigen Gauner“-- als Paradebeispiel für das notwendige „Spitzbubenklima“ gerühmt wird . 6 Eine solche Ablehnung der südländischen Zügellosigkeit und verderbten Sitten ist übrigens trotz der vorherrschenden „Italophilie“ eine durchaus verbreite- 4 Darauf weist etwa Mazzucchetti (1913, 20) hin, die aber zugleich einräumt, dass Schiller ein großer Bewunderer von Klassikern wie Ariost war . Zu Schillers Verhältnis zu Italien vgl Unfer Lukoschik 2004, 20-30 5 Beeinf lusst hat ihn vielmehr die Haltung des befreundeten Wilhelm von Humboldt, der einen Italienaufenthalt für einen nicht an der bildenden Kunst interessierten Reisenden für sinnlos hält 6 Vgl Schillers Schauspiel Die Räuber (Schiller 1781, 81): „Razmann Bruder! man hat mir überhaupt das ganze Italien gerühmt . Spiegelberg . Ja ja! man muß niemand sein Recht vorenthalten, Italien weist auch seine Männer auf (…)“ . <?page no="198"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 198 te Haltung und ein typischer negativer Aspekt des zeitgenössischen Italienbildes- - die Vorstellung vom gefürchteten Briganten und Betrüger begegnet in der zeitgenössischen Reiseliteratur und in den Schauerromanen der Romantik immer wieder Im Rahmen der Übersetzung aus zweiter Hand ist Schiller im Übrigen nicht nur als Gegenstand der Vermittlung, sondern auch als Vermittler von Interesse . Hier findet sich das Kuriosum einer deutschen Mittlerversion, die den italienischen Romantici ein Werk des französischen Klassizismus näherbringt . Sie dient also nicht, wie für das Französische üblich, der Überwindung einer Sprachbarriere, sondern rein literarischen Motiven Die Rede ist von Schillers 1805 erschienener Blankvers-Übersetzung von Racines Phèdre 7 , die als Vorlage für die 1857 in Mantova publizierte italienische Übersetzung von L Guastalla 8 herangezogen wurde Obgleich Schillers Fassung für den Geschmack seiner deutschen Zeitgenossen vergleichsweise klassisch zu nennen ist, kommt sie den italienischen Romantici eher entgegen als das klassische französische Original 9 Überhaupt ist Schillers Verhältnis zur französischen tragédie classique nicht leicht zu fassen Obgleich er gerade in seiner frühen Dramenproduktion ähnlich wie Lessing Kritik an der Geziertheit und dem falschen Pathos der französischen Tragödie übt 10 , erhofft er sich doch von der Lektüre französischer Dramen, „zwischen zwei Extremen, Englischem und Französischem Geschmak [sic] in ein heilsames Gleichgewicht zu kommen“ (Schiller 1784/ 1956, 155) 11 Trotz aller Vorbehalte hegt er eine gewisse Bewunderung für Racine, dessen Lektüre denn auch Spuren in seiner eigenen dramatischen Produktion hinterlässt 12 Gegen Ende seines Schaffens wird er in Deutschland von der Kritik als der deutsche Originaldramatiker verehrt, der die Franzosen überwunden hat 13 2.2 Rezeptionskontext in Frankreich und Italien im 18. und 19.-Jahrhundert 2 .2 1 Die „Fortune“ der Räuber Sein dramatisches Frühwerk Die Räuber macht Schiller in Frankreich bekannt 14 Wie seine frühen Dramen überhaupt, ist es noch stark von der egalitären Doktrin Rousseaus beeinf lusst und wird in Frankreich im Geiste der Revolution rezipiert Eggli (1927, 61) 7 Phädra Trauerspiel von Racine Uebers von Schiller Tübingen: Cotta 1805 Der Blankvers ist übrigens einmal mehr eine Anleihe bei Shakespeare, der dieses Versmaß auf deutschen Bühnen heimisch machte 8 Racine, Jean, Fedra: tragedia di Racine dalla traduzione tedesca di Schiller/ trasportata verso per verso in italiano da L Guastalla Mantova: Negretti, 1857 9 Zur mangelnden Resonanz der klassischen französischen Tragödie im Ausland vgl Albrecht (2002, 18) 10 Vgl Schillers Abhandlung Über das Pathetische (Schiller 1793/ 1959, 513) 11 Aus einem Brief von Friedrich Schiller an Heribert von Dalberg vom 24 August 1784 aus Mannheim Dalberg ist übrigens der Intendant der Mannheimer Uraufführung der Räuber von 1782 12 Zu Schillers Rezeption der französischen Tragödie vgl Geisenhanslüke 2003, 9-32 13 Vgl Nebrig 2007, 301 14 Zur französischen Schiller-Rezeption vgl insbesondere Roger Bauer (1973) sowie die umfassende zweibändige Monographie von Eggli (1927), die der folgenden Darstellung zugrunde liegt Eine ausführliche Behandlung der Räuber-Rezeption in Frankreich findet sich bei Eggli (1927, 65 ff ) sowie bei Unfer Lukoschik (2004, 41 ff ) <?page no="199"?> 2 Friedrich Schiller: Die Räuber 199 sieht darin das „œuvre la plus révolutionnaire qu’il doive publier jamais“ . Bereits 1785, drei Jahre nach der deutschen Uraufführung, liegen Die Räuber in französischer Übersetzung vor 15 Im zwölften und letzten Band ihres Nouveau théâtre allemand veröffentlichen Friedel und Bonneville 16 1785 das nach der 1782 in Mannheim erschienenen Bühnenversion übertragene Stück unter dem Titel Les voleurs: tragédie en 5 actes et en prose… Der sehr negativ konnotierte Titel 17 lässt eine bürgerlich-klassizistische Interpretation vermuten, und dieser Eindruck bestätigt sich durch einen Blick in die dem Stück vorangestellte Notice des Editeurs Die Herausgeber bekunden darin ihr Erstaunen über die ungewöhnliche Mischung von „mauvais goût“ und „traits sublimes“ Dennoch handelt es sich um eine getreue und gewissenhafte Übersetzung, die kaum Texteingriffe vornimmt und sich von der zeitgenössischen französischen Praxis der belles infidèles auffällig abhebt 18 Angesichts der zahlreichen Anmerkungen und Verweise auf Wendungen im Original lobt Unfer Lukoschik (2004, 43) die „Gestalt (…), welche die Waage zwischen kritischer Ausgabe und Übertragung hält und eine optimale Grundlage zur weiteren Rezeption dieses Stückes liefert“ Und tatsächlich diente diese Fassung auch als Mittlerversion für eine Übersetzung aus zweiter Hand, wie Douglas Milburn Jr (1967, 41) herausfand: Der berühmte Übersetzungstheoretiker Alexander Fraser Tytler fertigte nämlich 1792 die erste englische Übersetzung der Räuber an, die anonym unter dem Titel The Robbers, a Tragedy, translated from the German of Frederick Schiller in London veröffentlicht wurde Dabei habe er laut Milburn Friedels und Bonnevilles französische Übertragung von 1785 ausgiebig konsultiert-- und diese interessanterweise zugleich in seinem Vorwort als wertlos abgetan Eggli (1927, 73 f ) betont die Überlegenheit dieser ersten französischen Übersetzung gegenüber der vier Jahrzehnte später erschienenen Fassung von Barante, die uns im Folgenden noch beschäftigen soll . Er bescheinigt ihr (ebd 76) einen dauerhaften Einf luss in Frankreich, zumal sie von der Kritik gern als Vergleichsversion zu der späteren Räuber-Fassung Lamartelières herangezogen wurde . Die Notice sur M. Schiller, die die Herausgeber dem Band beigefügt haben, macht die romanischen Leser wohl erstmals mit Schillers Leben und Werk bekannt 19 In der französischen Presse löst das Nouveau théâtre allemand ein lebhaftes Echo aus: Genialität und Mangel an goût sind die Attribute, die Schiller hier erstmals zugesprochen und im 15 Im gleichen Jahr wird das Stück auf Deutsch in Straßburg aufgeführt, mit vier Wiederaufnahmen in den Jahren 1785-86 16 Der gebürtige Preuße Friedel und der kosmopolitische Nicolas de Bonneville, der sich auch um die literarischen Beziehungen zwischen Frankreich und England verdient gemacht hat, gehören zum germanophilen Milieu des Versailler Hofes Vgl Eggli 1927, 67 f 17 Vgl auch Eggli (ebd 70), dem zufolge dieser Titel 1795 von Creuzé de Lesser ebenfalls verwendet wurde Im Vorwort zu seinem Théâtre de Schiller von 1799 (i-xii) moniert Lamartelière den wegen seines unangebracht abwertenden Klangs „nom si impropre des Voleurs“ (ebd vi-vii) Mazzucchetti (1913, 39 f ) schließt aus selbigem Titel, „così goffamente deturpato“ (ebd 39-40), vielleicht in Anlehnung an Lamartelière, auf den geringen Wert der gesamten Übersetzung, in der sie den „primo atto“ der verzerrten französischen Rezeption der Räuber durch das jakobinische Theater zu erkennen meint 18 Eggli (1927, 71) attestiert Bonneville „un sens très vif de la saveur originale du texte: elle est animée, nerveuse, volontairement brutale, audacieuse parfois jusqu’à l’incorrection“ 19 Zum Vorwort der Herausgeber vgl Unfer Lukoschik 2004, 44 f <?page no="200"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 200 Laufe der französischen-- und italienischen-- Rezeptionsgeschichte immer wieder gern bemüht werden . 20 Dennoch vermittelt die Übertragung einigen frühromantischen Geistern in Frankreich Schillers Stücke bereits in all ihrer Fremdheit und ihrem Charme In Italien findet der Sammelband hingegen kaum Beachtung, insbesondere Die Räuber stoßen in der italienischen Presse auf keinerlei Resonanz . Ein weiteres Projekt der Übertragung von Schillers gesamtem dramatischen Werk wird hingegen nie in die Tat umgesetzt, das des französischen Autors Louis-Sébastien Mercier, der als einer der ersten Verfechter von Schillers Ideen und Werken in Frankreich betrachtet werden kann Der von der Mannheimer Aufführung der Räuber beeindruckte Mercier sieht Schiller als kühnen Erneuerer des Theaters in der Nachfolge Shakespeares und erhofft sich von Schillers Beispiel eine Revolution der dramatischen Literatur Frankreichs . Nach der Übersetzung von Friedel und Bonneville lässt die erste Bühnenaufführung der Räuber nun allerdings weitere sieben Jahre auf sich warten: Am 10 März 1792, inmitten der Wirren der Französischen Revolution 21 , wird im Pariser Théâtre du Marais Jean-Henri- Ferdinand Lamartelières Robert, chef des Brigands uraufgeführt . 22 Die Bühnenfassung fußt nicht auf der relativ getreuen Übertragung von Friedel und Bonneville, sondern beruht auf direkter Kenntnis des deutschen Stückes . 23 Allerdings werden darin Charakter und Handlung des Stückes so einschneidend verändert, dass Schillers von gemäßigtem humanitären Idealismus geprägtes Original zu einem in jakobinischem Geist verfassten, triumphierenden Stück mit idealisierten Charakteren und glücklichem Ende wird . Stilistisch werden die kraftvollen Züge des Originals verf lacht und brutale Szenen abgemildert bzw vermieden Insgesamt wird ein sentimentaler Ton angeschlagen, was das Stück fast völlig seines Elans und seiner herben Kraft beraubt . 24 Dennoch ist es wegen seiner 20 Unfer Lukoschik (ebd 45) verweist in diesem Zusammenhang auf Barthélémy Imberts Rezension von Friedel/ Bonnevilles Räuber-Übertragung im Mercure de France von Oktober 1787 21 Schiller hat während der Französischen Revolution viele Bekannte und Freunde in Frankreich (vgl Eggli 1927, 83) Im August desselben Jahres wird ihm- - im Übrigen als ein gewisser M Gilles- - der Titel eines „Citoyen français“ verliehen Ein direkter Zusammenhang zum Erfolg von Lamartelières Stück ist eher unwahrscheinlich, wird aber immer wieder unterstellt So bemerkt etwa Barante in der Notice zu seiner Übersetzung der Räuber (Brugière de Barante 1821, I-CLII, insbes . XIII), Schiller habe diesen Titel vor allem dem Erfolg der Räuber, aber auch seinem Fiesko zu verdanken 22 Bearbeitungen deutscher Sujets haben zur Zeit der Terreur Hochkonjunktur So ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass Lamartelière 1793 der erfolgreichen Aufführung eine Fortsetzung aus eigener Feder mit dem Titel Le Tribunal redoutable ou la suite de Robert folgen ließ (vgl Mazzucchetti 1913, 41, die als Quelle G G Goedeke, Grundriss der Geschichte der deutschen Dichtung Bd -V, S -165 anführt) Eggli (1927, 86) spricht lediglich von einer entfernten Abstammung des Stückes von den Brigands, allerdings mit reaktionärer Tendenz 23 In seine später veröffentlichte französische Übersetzung des Théâtre de Schiller von 1799 (mit einer Neuauf lage 1806), in der er dessen Dramen in bürgerlich-empfindsamer Manier übersetzt, nimmt Lamartelière Schillers Räuber allerdings nicht auf Zur Erklärung verweist er darauf, dass das Stück bereits durch seine frühere Fassung von 1793 und durch die Version von Friedel und Bonneville (dessen unpassenden Titel er allerdings moniert) hinreichend bekannt sei (vgl Eggli 1927, 226) 24 An der Bearbeitung des Stückes war auch der Schriftsteller Beaumarchais nicht unerheblich beteiligt (vgl Eggli 1927, 93 ff ) . <?page no="201"?> 2 Friedrich Schiller: Die Räuber 201 Aktualität 25 ein enormer Publikumserfolg und gehört zu den populärsten Theaterstücken der Französischen Revolution Das zeitgenössische französische Publikum empfindet das Stück in der melodramatischen Übertragung des Elsässers Lamartelière nicht als fiktionales Werk, sondern interpretiert es vor dem aktuellen politischen Hintergrund der Revolution Konservative sehen in ihm ein gefährliches, doktrinäres Machwerk, und dies geht sogar so weit, dass es als Auslöser der Terreur betrachtet wird . 26 Die literarische Wirkung von Lamartelières Drama kommt in Frankreich durch die Popularität des durch Robert verkörperten Heldentypus zum Ausdruck, dem man in zahlreichen Theaterstücken und Romanen wiederbegegnet . 27 Zugleich erfreut sich die neue Gattung des Melodrams dort wachsender Beliebtheit beim breiten Publikum Dies bleibt nicht ohne Konsequenzen für die allgemeine Rezeption deutscher Theaterstücke, denn viele Franzosen qualifizieren das deutsche Theater nun pauschal als melodramatisch ab . 28 In Italien verbreitet sich das Stück im Gefolge der französischen Truppen 29 und wird- - vermutlich zu Propagandazwecken- - 1798 in Mailand auf Französisch (unter dem vielsagenden Titel Robert ou le républicain vertueux) und im Oktober desselben Jahres in Venedig als Werk eines anonymen Dichters auf Italienisch (Robert Moldar capo d’assassini in Franconia) aufgeführt . 30 Der Kommentator der Theatersammlung L’Anno Teatrale (Venedig 1804, Bd -VI) vermutet, dass die italienische Fassung, deren Aufführung später verboten wurde, gegenüber der französischen zusätzliche Kürzungen aufweist Überhaupt bleibt der Name Schillers in Italien in Verbindung mit diesem Stück stets unerwähnt, wie Mazzucchetti (1913, 45) betont . Auch die erst 1842 bei Visaj in Mailand erschienene, eng an Lamartelières Fassung angelehnte Druckversion wurde gekürzt und als Original ausgegeben; das Titelblatt enthält folgende Angaben: Roberto di Moldar, capo di briganti: commedia in cinque atti…del barone Gio[vanni] Carlo Cosenza . Die Tatsache, dass Schiller in Italien nicht mit diesem Bühnenwerk in Verbindung gebracht wird 31 , führt dazu, dass die dortige Schiller-Rezeption anders verläuft als die fran- 25 Vorsichtshalber siedelt Lamartelière das Stück im 15 Jahrhundert an, der aktuelle Bezug ist aber dennoch offensichtlich Diese Vorsichtsmaßnahme traf im Übrigen bereits der Intendant der Mannheimer Uraufführung von 1782 Wolfgang Heribert von Dalberg, der die Handlung ins 16 Jahrhundert verlegte Vgl . Frenzel/ Frenzel 2 1985, 224 26 Vgl Eggli (ebd 100) 1794 wird das Stück gar verboten und zwei Jahre lang nicht mehr aufgeführt, diesmal allerdings wegen Verdachts auf Moderantismus 27 1830 greift Victor Hugo in dem Protagonisten seines Dramas Hernani den Typus des Räubers wieder auf; hier hat allerdings eher Schillers Original Pate gestanden In der Romantik finden sich literarische Anleihen bei den Räubern auch bei Alexandre Dumas Père sowie in den Opern von Berlioz 28 Vgl Eggli (ebd 155) 29 Dass das Stück in diesem jakobinischen Gewand weite Kreise zieht, beweist eine Aufführung in Rio de Janeiro mit dem Titel Roberto Chefe de Ladroes (vgl Mazzucchetti 1913, 44) Eggli (ebd ) verzeichnet außerdem auch eine griechische Fassung des Stückes 30 Das anonym erschienene Stück, das später verboten wurde, stammt von dem Venezianer Francesco Antonio Avelloni, der es nach den Brigands adaptierte, sich aber später damit rühmte, es innerhalb von 24 Stunden geschrieben zu haben (vgl Unfer Lukoschik 2004, 68) 31 Erst 1857 führt die Theatergesellschaft Goldoni in Turin Schillers Schauspiel unter dem Titel I Masnadieri auf Laut Unfer Lukoschik (2004, 241) ist allerdings die Spielvorlage nicht überliefert, so dass ein Vergleich mit dem Original nicht möglich ist <?page no="202"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 202 zösische: Als in Frankreich im Laufe des 19 -Jahrhunderts der Revolutionsenthusiasmus abf laut, erlischt dort auch das Interesse an dem Stück . 32 Erst 1821 legt Barante im Rahmen seiner Übersetzung von Schillers dramatischem Gesamtwerk eine Neuübersetzung vor Da Schiller bis dahin hauptsächlich über die Räuber- - bzw deren Bearbeitung im jakobinisch-melodramatischen Gewand des Robert-- rezipiert wurde (Friedels und Bonnevilles frühere Fassung war darüber mehr oder weniger in Vergessenheit geraten), muss der Dichter dort in einer zweiten Phase ganz neu entdeckt werden In Italien hingegen ist dies nicht der Fall, dort war der „jakobinische Schiller“ stets unbekannt geblieben . 33 Bekannt werden Schillers Räuber dort erst nach der Romantik 34 , in Andrea Maffeis Fassung von 1846, der ersten von der italienischen Zensur zugelassenen Übertragung 35 , und deren Vertonung durch Verdi Nicht unerwähnt bleiben soll eine weitere Episode der musikalischen Bearbeitung, bei der erneut Frankreich die Vermittlerrolle spielt: 1837 erscheint bei Pirola in Mailand ein Libretto von Jacopo Crescini mit dem Titel I Briganti Melodramma [serio] in tre parti da rappresentarsi nell’ I. R. Teatro Scala l’autunno 1837. Die erste Fassung des Melodrams nach der Musik von Saverio Mercadante wurde bereits am 22 . März 1836 im Pariser Théâtre-Italien, die zweite am 6 November 1837 an der Mailänder Scala aufgeführt Das Werk greift nicht den üblichen italienischen Titel I Masnadieri auf, sein Name erinnert vielmehr an die französische Übersetzung von Barante oder-- was angesichts des melodramatischen Charakters wohl naheliegender ist-- an den Robert, chef des brigands . Zudem gestaltet Crescini das Libretto aus Rücksicht auf die Moralvorstellungen des aristokratischen Pariser Theaterpublikums in altbewährt klassizistischer Manier, mit tugendhaften Protagonisten und hehren Idealen . 36 Auch hier bleibt man also sehr weit von Schillers Original entfernt, so dass die Schiller-Rezeption von dieser musikalischen Episode kaum berührt wird 2 .2 .2 Bild Schillers und Rezeption seiner Werke Nach der jakobinischen Räuber-Episode verschwinden Schillers Stücke während des Kaiserreiches unter dem Einf luss verengt klassizistischer und nationalistischer Strömungen von der Bühne Noch während der napoleonischen Republik erscheint 1799 Lamartelières zweibändige, bürgerlich-empfindsame Druckfassung des Théâtre de Schiller, die 32 Eggli (ebd 125) datiert die letzten Aufführungen des Stückes auf großen Bühnen auf Oktober- November 1830, weist aber zugleich auf weitere „Nachwirkungen“ des Robert hin, die bis in die 60er Jahre des 19 Jahrhunderts zu verzeichnen sind 33 Vgl Baldensperger 1905, 681 Mazzucchetti (1913, 46 f ) weist ebenfalls auf diesen Sachverhalt hin 34 Mme de Staëls recht negative Kritik der Räuber in De l ’Allemagne (Tome deuxième, Chapitre XVII: „Les Brigands, et Don Carlos, de Schiller“, Staël 1836, 85-86) sei hier einmal ausgenommen, zumal sie wohl eher nicht zur Verbreitung dieses Jugendwerkes beigetragen hat 35 …sieht man einmal von Carlo Rusconis Fassung von 1844 ab 36 J J J Diaz (1836, 99) drückt es in seinem Artikel „I briganti“ in der Gazette musicale de Paris so aus: „M Crescini nous a fait des brigands qui sont les plus honnêtes gens du monde, des brigands à l’eau rose, quoiqu’ils aient des barbes noires et qu’ils n’aient pas de rouge; des brigands vertueux enfin, qui brandissent bien quelque peu leurs poignards, mais seulement pour la forme, et dont tous les excès vont seulement à tenter une restauration en faveur du père de leur chef “ <?page no="203"?> 2 Friedrich Schiller: Die Räuber 203 die gerade erschienenen Stücke La Conjuration de Fiesque, La Cabale et l’Amour und Don Carlos enthält und die trotz ihrer Mittelmäßigkeit von Kritik und Publikum günstig aufgenommen wird Vor allem das Vorwort ist für die „romanische“ Rezeption Schillers von besonderer Bedeutung An ihm orientieren sich bis weit ins 19 . Jahrhundert hinein alle folgenden französischen und italienischen Übersetzervorworte zu Ausgaben von Werken Schillers und anderer deutscher Autoren . 37 Die französische Zurückhaltung Schiller gegenüber bis 1800 (wenn man einmal Lamartelières Fassung ausnimmt) endet erst während der Romantik, als der Dichter in Frankreich neu entdeckt wird, und dabei sind Benjamin Constant und Mme de Staël die beiden wichtigsten Mittlerfiguren Constants Wallstein 38 , den dieser auf Betreiben Mme de Staëls 39 1809 veröffentlicht, wird von Eggli (1927, 359 f ) als mittelmäßige Bearbeitung von Schillers Drama im pseudo-klassischen Stil beschrieben In Frankreich stößt er aber auf große Resonanz, insbesondere wegen der dem Werk vorangestellten richtungsweisenden Réflexions zu Schiller . Obgleich der Übersetzungsstil noch dem klassizistischen Vorbild verhaftet ist, hat diese Publikation das Verdienst, die französische Bühne für Einf lüsse des deutschen Theaters geöffnet zu haben Die bedeutendste Förderin von Schillers Ruhm in Frankreich ist aber Mme de Staël, die dem Dichter tief beeindruckt von einem Zusammentreffen 1803 in Weimar einige Seiten im zweiten Teil ihres berühmten Werkes De l’Allemagne widmet . Ihre Schillerverehrung ist vor dem Hintergrund ihres idealistischen Deutschlandbildes und ihrer Prägung durch Rousseau zu sehen Sie ist entscheidend an der französischen Konzeption eines „idealistischen“ Schiller beteiligt, dessen Werke durch ihre innere Wahrheit den Weg aus der unseligen Welt weisen Dieses Bild formt auch die romantische Vorstellung des Dichters als eines einsamen, an seiner Zeit leidenden Propheten Mme de Staël und die liberalen Schriftsteller in ihrem Dunstkreis bewundern allerdings hauptsächlich die historischen Dramen aus Schillers Reifezeit, während sie seine Jugendwerke als zu anarchisch empfinden und in ihnen das dem Dichter zugeschriebene „génie historique“ vermissen . 40 So heißt es in Kapitel XVII des zweiten Teils von L’Allemagne (Staël 1836, 85): Schiller, dans sa première jeunesse, avait une verve de talent, une sorte d’ivresse de pensée qui le dirigeait mal . La Conjuration de Fiesque, l’Intrigue et l’Amour, enfin, les Brigands, qu’on a joués sur le théâtre français, sont des ouvrages que les principes de l’art, comme ceux de la morale, peuvent réprouver; mais, depuis l’âge de vingt-cinq ans, les écrits de Schiller furent tous purs et sévères . L’éducation de la vie déprave les hommes légers, et perfectionne ceux qui réf léchissent 37 Vgl Unfer Lukoschik 2004, 81 38 Der vollständige Titel lautet: Wallstein: tragédie en 5 actes et en vers/ précédée de quelques réf lexions sur le théâtre allemand . . par Benjamin Constant de Rebecque Paris: Paschoud, 1809 (imité de l ’allem . de Schiller) Zu Constants Bearbeitung vgl Eggli (1927, 359-415) Constants klassizistische Bühnenfassung ist exemplarisch für zahlreiche andere, die insbesondere nach der Veröffentlichung von Barantes Übersetzung entstanden, die den Bühnenpraktikern eine französische Vorlage an die Hand gab (vgl Bauer 1973, 162) 39 Diese erwähnt Constants Werk mehrfach lobend in ihrem fünf Jahre später erschienenen Buch De l ’Allemagne, was von ihrer Nähe zur übersetzerischen und dramatischen Konzeption Constants zeugt 40 Zu Mme de Staëls Schiller-Rezeption vgl auch Unfer Lukoschik 2004, 146 ff sowie Bauer 1973, 158 <?page no="204"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 204 Für sie ist Schiller der Begründer einer neuen Gattung, des romantischen historischen Dramas Die Räuber werden also in dieser zweiten Rezeptionsphase, auch aufgrund Mme de Staëls Urteil, zunächst nicht neu rezipiert, so dass der „jakobinische“ Schiller weiterhin im Gedächtnis bleibt Dies dürfte den Eindruck einer beträchtlichen Diskrepanz zwischen Jugendwerk und Reifezeit Schillers in Frankreich noch verstärkt haben Zudem bleiben immer noch gewisse klassizistische Vorbehalte spürbar, die in Constants Wallstein ebenso präsent sind wie in einigen Äußerungen Mme de Staëls, die in Schillers Werken die Eleganz eines Voltaire vermisst . 41 Das idealistische Schillerbild, das über Mme de Staël und Benjamin Constant Verbreitung findet, lässt den Dichter in Frankreich vor allem als Autor von historisch treuen Geschichtsdramen bekannt werden Diese Interpretation verkennt die eigentliche Bedeutung seiner Werke, deren Kern sicherlich nicht in der getreuen Wiedergabe geschichtlicher Ereignisse zu suchen ist . Ein weiterer Topos von Mme de Staëls und Constants Sichtweise Schillers ist die breite Schilderung der Charaktere, die im Kontrast zur im französischen Drama üblichen Praxis steht Diese verzerrte Wahrnehmung Schillers übt einen nicht unerheblichen Einf luss auf die französische Theaterreform im Zeichen der Romantik aus . 42 Und dies umso mehr, als Schiller noch vor Shakespeare als Vorbild für das historische Drama betrachtet wird: Er wird oft mit Shakespeare in einem Atemzug genannt, erscheint aber weniger fremd und zugleich weniger ungewohnt in der Komposition seiner Dramen So wird Schillers Werk in Frankreich zum „Vorbild eines gemäßigten, gangbaren Modernismus“ (Bauer 1973, 159) und trägt zur Herausbildung des französischen „drame romantique“ bei Einf lüsse Schillers finden sich etwa bei Victor Hugo (Hernani) und Alexandre Dumas dem Älteren (Henri III et sa cour) Im Frankreich des 19 Jahrhunderts wird er vor allem wegen seiner historischen Dramen, die der französischen Vorliebe für das Heldendrama entgegenkamen, sowie wegen seiner Gedichte verehrt . Seine philosophisch-ästhetischen Schriften sind hingegen nur in ihren Grundzügen bekannt Ihre Rezeption wurde möglicherweise durch Parallelen zu Rousseau und dem Neoplatonismus des 18 . Jahrhunderts erleichtert Insgesamt ist mit Bauer (ebd 156) zu postulieren, dass Schiller in Frankreich vor allen anderen deutschen Dichtern, und das heißt auch vor Goethe, exemplarisch geworden ist und Frankreichs Definition von Dichtung maßgeblich mitbestimmt hat: „Er ist der Dichter und Deuter der unerbittlichen Konsequenz des historischen Schicksals, aber er besiegt diese Fatalität dank der rettenden Kraft seines Dichterworts“ Zugleich ist er einer der bedeutendsten Exponenten der deutschen idealistischen Philosophie in Frankreich und wird vor allem mit Kant in Verbindung gebracht . 43 Einmal mehr legt man also 41 Der Verweis findet sich in Mme de Staëls De l’Allemagne, Teil II, Kapitel XIII: „De la poésie allemande“ (Staël 1844, 70) Für Mazzucchetti (1913, 70) drückt sich in der Zurückhaltung gegenüber Schiller das französische Überlegenheitsgefühl aus, das ein gewisses Misstrauen gegenüber Werken begründe, die sich nicht vollständig auf Rousseau oder Voltaire zurückführen lassen 42 Dazu beigetragen hat auch die außerordentlich erfolgreiche Bearbeitung der Maria Stuart durch Pierre Lebrun, die trotz aller Vorsicht des Bearbeiters von den Zeitgenossen als revolutionär empfunden wurde Sie zog andere Schiller-Bearbeitungen nach sich und beförderte so die romantische Theaterreform in Frankreich Bauer (1973, 163) spricht von einer „wahren Schillerinvasion“ im Gefolge Lebruns 43 Charles de Villers bezeichnet Schiller in seinem Essai sur la réformation als „le plus remarquable des disciples de Kant“ (vgl Bauer 1973, 169) <?page no="205"?> 2 Friedrich Schiller: Die Räuber 205 dort den Akzent auf Schillers Reifezeit Mit der Deutschlandmode verebbt Mitte des 19 -Jahrhunderts auch die Verehrung für Schiller, vor allem infolge der politischen Spannungen zwischen beiden Ländern In Italien, wo, wie bereits erwähnt, die jakobinische Schiller-Adaption Roberto di Moldar nicht mit Schillers Namen in Verbindung gebracht wurde, wird man erst 1805 durch Mme de Staëls und August Wilhelm Schlegels Italienreise auf ihn aufmerksam, die mit dem Tod des Dichters zusammenfällt . 44 Sein Œuvre ist dort zunächst immer noch weithin unbekannt, was am Rande bemerkt zu dem Kuriosum führt, dass 1804 ein kleiner Einakter im Stil der deutschen bürgerlichen Dramatik unter Schillers Namen Verbreitung findet: Il Mendico d’Erbestein. Farsa del signor Federico Schiller. Die Traduzione libera inedita del signor Antonio Martin Cuccetti erscheint im Juni 1804 in Venedig im VI Band des Anno Teatrale. 45 Diese Unkenntnis ist nicht zuletzt auf die Zurückhaltung Frankreichs Schiller gegenüber zurückzuführen, zumal man in Italien aufgrund der geringen Verbreitung des Deutschen auf die französische Vermittlung angewiesen ist Die Bedeutung dieses Umstandes und die Rolle, die der Übersetzung aus zweiter Hand in diesem Zusammenhang zukommt, betont die italienische Germanistin und Schiller- Forscherin Lavinia Mazzucchetti bereits 1913 Hier sei es daher gestattet, einen längeren Passus zu zitieren (ebd 69-70): Immaginare che da parte nostra venisse l’iniziativa a tradurre e a divulgare un autore germanico, sarebbe ancor più singolare Intanto la lingua tedesca era allora pochissimo diffusa; mancavano persino i mezzi per studiarla: è un sintomo caratteristico (…) il moltiplicarsi delle grammatiche e dei vocabolari dal 1815 in poi, quando cioè i rivolgimenti letterari ne fanno sentire il bisogno Le versioni di seconda mano erano allora consuetudine assoluta; il passaporto francese era una necessità; gli scrittori trascurati in Francia erano ignorati da noi I nostri primi traduttori da Goethe, da Wieland, da Kant, da Klopstock, confessano con ingenuo candore di non conoscere la lingua originale di quegli scrittori che presentano in veste italiana, onde subiscono tranquillamente senza verifica le deformazioni imposte dai primi riduttori di Francia So sind italienische Intellektuelle, die sich für Schillers Werke interessieren, noch bis zum Erscheinen von Pompeo Ferrarios Gesamtausgabe von Schillers Dramen 1819 auf die französische Übertragung Lamartelières angewiesen . Ein wichtiger Meilenstein in der italienischen Schiller-Rezeption ist auch hier Mme de Staëls 1814 in Paris erschienene Abhandlung De l’Allemagne, die in der italienischen Presse ein weitreichendes Echo auslöst und den Boden für die spätere Romanticomachia in Italien bereitet . 46 Noch im 44 In den divulgativen Werken älteren Datums zur Verbreitung der deutschen Literatur, wie der Idea della bella letteratura alemanna des Abate Giorgi de’ Bertóla (1784), dem Discorso sopra le vicende della letteratura des Abate Carlo Denina (1760) und den Schriften des Abate Andres, findet Schiller keinerlei Erwähnung 45 Das Stück wird noch 1832 in der Biblioteca Ebdomadaria Teatrale neu aufgelegt Zum Mendico d ’Erbestein vgl Unfer Lukoschik 2004, 100 f 46 Befördert wird diese Romanticomachia durch die literarische Kontroverse um Staëls spätere Veröffentlichung Sulla maniera e utilità delle traduzioni (1816), die in einem Teil der italienischen Öffentlichkeit polemische Reaktionen auslöst . <?page no="206"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 206 selben Jahr kommt bei Silvestri in Mailand eine anonyme italienische Übertragung heraus . 47 Jahrzehntelang wird sie in Italien- - neben Lamartelières Théâtre de Schiller- - die wichtigste Quelle der Schiller-Rezeption bleiben, zumal die direkte Kenntnis von dessen Werken noch kaum verbreitet ist . So findet man denn auch unter italienischen Kritikern immer wieder das von Mme de Staël propagierte negative Urteil über Schillers Jugendwerke Zugleich wird der Dichter auch hier während des gesamten Ottocento vor allem wegen der von Mme de Staël und Constant so gerühmten „verità della storia“, der Wahrheit der historischen Darstellung, bewundert Staëls idealistisches Schillerbild findet vornehmlich durch die Mailänder Zeitschrift Lo Spettatore Verbreitung, in der 1816 die erste italienische Biographie Schillers abgedruckt wird . 48 Von ähnlicher Bedeutung für die italienische Schiller-Rezeption sind August Wilhelm Schlegels 49 Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, die der Dichter Giovanni Gherardini 1817 über die französische Fassung ins Italienische überträgt In seinem Corso di letteratura drammatica kommentiert Gherardini die in Italien äußerst umstrittenen Positionen Schlegels, der sich wie Mme de Staël für eine Erneuerung des klassizistischen Theaters durch „nordische“ Einf lüsse ausspricht, allerdings aus gemäßigt klassizistischer Warte, und grenzt sich so gegen die moderne romantische Dichtung ab Damit bildet seine Übertragung von Schlegels Werk in Italien ein gewisses Gegengewicht zu Staëls Position . Mazzucchetti (1913, 93) sieht in Gherardini eher einen Vermittler, ein „quid medium tra la rigidità dei classicisti e la licenza dei romantici“, dessen moderates Urteil bei Classicisti und Romantici gleichermaßen Gehör findet Das zeitgenössische italienische Theater, das in der Tradition Vittorio Alfieris steht, tut sich schwer mit Schillers Bruch der klassischen Theaternormen So betont nicht nur Gherardini, dass sich dessen Stücke zwar als Lesedramen eigneten, aber durch ihre übertriebene Länge nicht für die italienische Bühne geschaffen seien Diesen Topos bemühen die Gegner von Schillers Dramatik immer wieder, und auch darin ist der Einf luss der französischen Geisteshaltung unverkennbar Das durch die französische Vermittlung geprägte Bild Schillers ist in Italien umso langlebiger, als es in den ersten beiden Jahrzehnten des 19 Jahrhunderts noch nicht durch die direkte Kenntnis seiner Werke relativiert wird Eine besondere Rolle für die Verbreitung von Schillers Ruhm in Italien kommt in dieser Zeit erwartungsgemäß der Lombardei und Venetien während der Restaurationsära zu, die sich seit 1815 als Lombardisch-Venezianisches Königreich unter österreichischer Herrschaft befinden Die Bestrebungen der österreichischen Regierung, das Land zu unterdrücken, schlagen sich auf dem Gebiet der schönen Künste in einer allgemeinen Ablehnung neuer Tendenzen nieder In dieser politischen Situation entsteht erneut ein idealisiertes Schillerbild Dabei wird allerdings gerade der jugendlich-kraftvolle Schiller-- von Mme de Staël als zu „ungebändigt“ abge- 47 L’Alemagna. Opera della signora baronessa di Staël Holstein Traduzione italiana fatta sulla seconda edizione francese 2 Bde Milano: Silvestri 1814 Der Urheber der Übersetzung ist Unfer Lukoschik (2004, 146) zufolge der Piemonteser David Bertolotti, nach Mazzucchetti (1913, 89) hingegen Bartolomeo Benincasa; beide Übersetzer sind Mitarbeiter der Mailänder Zeitschrift Lo Spettatore 48 Eine Neuauf lage erlebt dieses Porträt Schillers 1820 in der renommierten Theatersammlung Scelto teatro inedito italiano, tedesco e francese (vgl Unfer Lukoschik 2004, 148) 49 Dieser war im Übrigen auch maßgeblich an der Entstehung von Mme de Staëls De l ’Allemagne beteiligt . <?page no="207"?> 2 Friedrich Schiller: Die Räuber 207 lehnt-- zur Symbolfigur erhoben: Schillers Jugendwerk wird für patriotisch gesinnte Literaten zum Banner der Freiheit Insbesondere der libertär-patriotische Kreis um den Staël- Anhänger Ludovico di Brême, zu dem unter anderem der Theoretiker Ermes Visconti, der Dramatiker und Publizist Silvio Pellico und der Übersetzer Giovanni Berchet zählen, rezipiert mit Begeisterung die frühen Dramen Schillers . 50 Und dabei werden nicht nur dessen dichterische Qualitäten bewundert: Vor allem wird Schiller als politischer Gesinnungsgenosse betrachtet, als der er sich in seinem revolutionären Jugendwerk offenbart Man bedauert seinen frühen Tod, vor allem da man sich weitere Werke revolutionären Anstrichs erhofft Das Ziel dieses Kreises ist eine romantische Erneuerung der italienischen Literatur, und einmal mehr ist es Mme de Staëls Abhandlung De l’Allemagne, die Literaten wie Pietro Borsieri, Giovanni Berchet und Ludovico di Brême zu ihren theoretischen Schriften inspiriert Allerdings hat der Romantik-Begriff des Mailänder Kreises wenig mit der authentischen deutschen Romantik gemein, er entspringt vielmehr einer populistisch-libertär gefärbten Lesart englischer und deutscher „romantischer“ Literatur Dabei wird Schiller- - im Kielwasser der französischen Rezeption- - meist in einem Atemzug mit Shakespeare und Goethe genannt, und zwar unter deutlicher Bevorzugung Schillers gegenüber Goethe . 51 Eine besonders wichtige Rolle bei der Schiller-Rezeption dieser Zeit spielt die Presse, und hier insbesondere die 1818 in Mailand gegründete Wochenzeitung Il Conciliatore, das erste literarisch-politische Organ des Risorgimento und Gegenspieler der regierungstreuen Biblioteca Italiana Diesen und anderen Blättern des Lombardisch- Venezianischen Königreichs kommt eine wichtige Vermittlerfunktion zu, denn durch sie finden Schiller und seine Werke später auch Verbreitung in anderen Regionen Italiens . 52 Programmatisch für die romantische Rezeption Schillers als patriotischer Dichter ist etwa Silvio Pellicos 1819 im Conciliatore abgedruckter Beitrag über den Don Karlos, aus dem Bevilacqua (2007, 49) wie folgt zitiert: 53 Das Trauerspiel neigt in dieser Zeit allerorten dazu, den Titel eines vorwiegend nationalen Poems zu verdienen: Alfieri in Italien, Schiller in Deutschland, Chénier in Frankreich, drei hervorragende Dichter, die ihre Begeisterung aus der Liebe zum Wahren und Gerechten, also der Liebe zum Vaterland schöpften Daneben veröffentlicht Ermes Visconti im Conciliatore eine Kurzbiographie Schillers und eine kommentierte Zusammenfassung der soeben in italienischer Übersetzung erschienenen Jung frau von Orleans Der Übersetzer, Pompeo Ferrario, entstammt 50 Zur Schiller-Rezeption während des italienischen Risorgimento vgl Bevilacqua 2007, 42-56 51 Bevilacqua (2007, 48) spricht hier bildhaft von einer „Trinität, auf die sie [die romantici] sich immer wieder beriefen: Guglielmo Shakespeare, Federico Schiller und, erst an dritter Stelle, Volfango Goethe“ Mazzucchetti (1913, 90) verweist neben der Shakespeare-Verehrung auf eine „rein deutsche“ Trinität als Vorbild der italienischen romantici, nämlich Goethe, Schiller und den Sturm und Drang- Autor Bürger, „le parti indissolubili di una trinità ideale“ 52 In den südlichen Provinzen Italiens bleibt Schiller allerdings noch bis circa 1830 so gut wie unbekannt; so betonte Mazzucchetti (1913, 180), dass der lombardische Romanticismo und mit ihm die literarischen Importe aus Deutschland erst nach 1830 ein wirkliches Echo in der Provinz Neapel und in Kalabrien finden 53 Im Original erschienen in Il Conciliatore Foglio Scientifico-Letterario, hrsg von Vittore Branca, Bd -2, Florenz 1953, S .-167 . <?page no="208"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 208 ebenfalls den Kreisen des Conciliatore und legt 1819 bei Giovanni Pirotta in Mailand erstmals eine italienische Fassung von sieben Schiller-Stücken (einschließlich der Semele-Dichtung) vor . 54 Erst mit dieser nüchternen und relativ treuen Prosaübertragung wird in Italien erstmals einer breiten Öffentlichkeit der direkte Zugang zu Schillers Dramen ermöglicht, ohne die bis dahin übliche Vermittlung durch die französischen Fassungen von Friedel und Bonneville oder Lamartelière . 55 Mazzucchetti (1913, 125) gibt allerdings zu bedenken, dass Ferrarios Fassung lediglich von einem begrenzten Leserkreis rezipiert wird und keine weiteren Auf lagen erlebt . Eine italienische Lesefassung der Räuber lässt hingegen, wie bereits erwähnt, noch länger auf sich warten: Erst 1832 erscheint im Schweizer Städtchen Capolago eine anonyme Übersetzung, mehr als ein Jahrzehnt später gefolgt von Andrea Maffeis Version von 1846 56 -- beide Übersetzungen sollen Gegenstand der sich anschließenden Untersuchung sein Zwei Vorreiter der italienischen Schiller-Rezeption dürfen an dieser Stelle ebenfalls nicht unerwähnt bleiben, zumal sie beispielhaft für die oft nicht auf literarischem, sondern auf indirektem Wege erfolgte Rezeption sind: der berühmte politische Denker und Freiheitskämpfer des Risorgimento Giuseppe Mazzini sowie der Komponist und Mazzini-Anhänger Giuseppe Verdi Für Mazzini ist Schiller eine Galionsfigur des idealistischen, patriotischen Freiheitsgedankens In seinen Abhandlungen beruft er sich immer wieder auf Schiller und dessen Werke, insbesondere auf das von ihm bevorzugte Stück Don Karlos Verdi vertont 1845 Schillers Jung frau von Orleans; am 22 . Juli 1847, am Vorabend der Revolution von 1848, wird seine Oper I Masnadieri uraufgeführt, die auf Andrea Maffeis Libretto fußt . 57 2.3 Die französische Übersetzung von Brugière de Barante (1821) 2 .3 1 Aspekte der „äußeren Übersetzungsgeschichte“ Nach der frühen französischen Übertragung von Friedel und Bonneville legt bekanntlich erst 1821 Prosper Brugière de Barante eine neue Lesefassung von Schillers Drama unter dem Titel Les brigands vor Barantes sechsbändiges Werk, die erste vollständige französische Gesamtausgabe von Schillers Dramen, erscheint bei dem Romantiker-Verlag Ladvocat in Paris, bezeichnenderweise in einer Reihe, die außerdem Übersetzungen 54 Teatro di Schiller recato per la prima volta in tedesco da Pompeo Ferrario . Das sechsbändige Werk versammelt die Dramen La congiura di Fiesco a Genova, Don Carlo infante di Spagna, Maria Stuarda, La pulcella di Orleans, La sposa di Messina, Guglielmo Tell und Semele Einen ersten Übersetzungsversuch hatte bereits 1817 in Florenz der Shakespeare-Übersetzer Michele Leoni unternommen, der eine italienische Fassung von Kabale und Liebe publizierte 55 Vgl Unfer Lukoschik 2004, 170 56 Bereits Ende der 1820er Jahre beginnt Maffei mit der italienischen Übersetzung von Schillers gesamtem dramatischen Werk 57 Noch vor Verdi haben auch andere Opernkomponisten Schillers Dramen vertont, so etwa Gaetano Donizetti (Maria Stuarda, 1834) und Gioacchino Rossini (Guglielmo Tell, Ende der 1820er Jahre) Zu Verdi und Mazzini als Wegbereiter der italienischen Schiller-Rezeption vgl . Bevilacqua 2007, 50 ff <?page no="209"?> 2 Friedrich Schiller: Die Räuber 209 von Stücken Shakespeares und Goethes versammelt . 58 Es erlebt mehrere Neuauf lagen in den Jahren 1834, 1836, 1842, 1844 und 1861 und stößt auch in Italien auf große Resonanz So datiert Mazzucchetti (1913, 125) das Ende der diffusen, oberf lächlichen Schiller-Rezeption auf das Erscheinungsjahr dieser Fassung, da erst sie-- und nicht etwa Ferrarios italienische Übersetzung zwei Jahre zuvor- - für die allgemeine Verbreitung von Schillers theatralischem Werk gesorgt habe Besonders der umfangreichen Notice sur Frédéric Schiller 59 (Brugière de Barante 1821, I-CLII), die Barante dem ersten Band seiner Übersetzung voranstellt 60 , sei dessen Bekanntheit zu verdanken Tatsächlich haben sich seit Ende der 1830er Jahre italienische Literaten immer wieder auf diese berufen, darunter etwa Paolo Bozzelli, Stanislao Gatti oder Francesco De Sanctis . 61 Erst mit der Popularität von Andrea Maffeis Schiller-Übersetzungen sollte sie langsam an Bedeutung verlieren Fatale Auswirkungen auf die italienische Rezeption hat allerdings folgendes Schiller-Zitat, das Barante in seiner Notice (ebd LXXVIII) anführt: „Tous les jours je me persuade davantage que je ne suis pas né poëte“ . Der Classicista Paolo Bozzelli ist es, der diesen Satz in seiner Abhandlung Della imitazione tragica 62 als Erstes aufnimmt, um mit der darin enthaltenen Selbstabwertung Schillers gegen das moderne romantische Theater zu argumentieren Von italienischen Intellektuellen wird dieses Zitat immer wieder gegen Schiller gewendet, und noch Benedetto Croce sorgt in seiner 1946 publizierten theoretischen Schrift Poesia e non poesia, in der er Schiller jegliche dichterische Qualität abspricht, dafür, dass dieser negative Topos auch noch in der italienischen Intelligenzija des 20 Jahrhunderts Verbreitung findet . 63 Barantes Notice sur Frédéric Schiller, der ausführlichsten bisher in Frankreich veröffentlichten Studie über Schillers Leben und Werk, liegt eine für seine Zeit sehr moderne, psychologische Form der Literaturkritik zugrunde . In historischer Manier versucht er ausgehend von Schillers Leben dessen intellektuelle und moralische Entwicklung nachzuzeichnen und die Entstehung seiner Werke zu motivieren Sein Ziel ist also ausdrücklich nicht die dogmatische, wertende Form der Kritik anhand ästhetischer Vorgaben . 64 In der Praxis gelingt es ihm allerdings nicht immer, diesem Vorsatz treu zu bleiben: Eggli (1927, 546) zufolge zeugen nicht wenige Stellen seiner Notice davon, dass er sein klassizistisch gefärbtes Urteil über Schillers Œuvre nicht immer zurückhalten kann In Barantes Einschätzung spiegelt sich einmal mehr das idealistische Schillerbild Mme de Staëls und ihrer Anhänger, die dessen Jugendwerk als zu ungestüm empfinden und erst 58 Im Avis des éditeurs in einer späteren Ausgabe (Anonymus 1863, II) nennen die Herausgeber dieser Reihe die beiden Dichter denn auch in einem Atemzug: „Il faut rendre- à M de Barante cette justice que, dans son enthousiasme, il a fait pour Schiller ce que M Guizot a fait avec tant de succès pour Shakspeare [sic! ] L’un et l’autre ont contribué puissamment à populariser en France les noms de ces deux immortels génies! “ 59 In späteren Ausgaben auch Étude sur la vie de Schiller überschrieben 60 Dieser Band enthält auch Barantes Übersetzung der Räuber 61 Vgl Unfer Lukoschik 2004, 291 62 Bozzelli, Della imitazione tragica, Bd -III, Kap XIV, S -369 Zit nach Unfer Lukoschik 2004, 291 63 Vgl Unfer Lukoschik 2004, 292 sowie Bevilacqua 2007, 44 f 64 Zu Barantes Notice sur Frédéric Schiller vgl insbesondere die detaillierte Analyse von Eggli (1927, 545 ff ) . <?page no="210"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 210 in seinen späteren, „historisch getreuen“ Dramen den moralisch und literarisch hochstehenden Dichter bewundern Entsprechend fällt sein Urteil über Schillers revolutionäre Jugendjahre sehr streng aus, während er wohlwollend seine spätere Entwicklung betrachtet, durch die „cette âme noble et poétique qui s’était trompée de route en entrant dans la carrière“ (Barante 1821, XCIII) in ruhigere Bahnen gelenkt wird und auf den Pfad der Tugend zurückkehrt So bevorzugt Barante denn auch Schillers späte Stücke, allen voran sein „historisches Drama“ Wallenstein, und sieht in der historischen Treue den eigentlichen Kern der „technique romantique“ . Insgesamt nimmt Barante eine-- typisch französische- - Standortbestimmung von Schillers Theater gegenüber der klassischen tragédie française und dem Theater Shakespeares vor . Das Verdienst seiner Notice liegt aber vor allem in der besonnenen Haltung, mit der er Schillers Werke seiner Leserschaft präsentiert, in der relativ ausgewogenen Verteilung von Kritik und Lob, „[qui] donne une impression d’impartialité plutôt disposée à la sévérité“ (Eggli 1927, 548) und von der sich Klassiker und Romantiker gleichermaßen angesprochen fühlen So hat die Abhandlung dem französischen Publikum, das noch mit Vorbehalten gegenüber den deutschen „Romantikern“ behaftet ist, Schiller vorsichtig näher gebracht und damit Eggli (ebd 554) zufolge wahrscheinlich mehr bewirkt als die enthusiastischen Elogen einer Mme de Staël Über die Person des Übersetzers erfährt man bei Eggli (ebd . 544), dass der spätere Geschichtsschreiber und Staatsmann Amable Guillaume Prosper Brugière Baron de Barante (1782-1866) schon in jungen Jahren die Bekanntschaft Mme de Staëls macht In diesen Kreis eingeführt wird er durch seinen Vater, den Genfer Präfekten Claude de Barante, der im napoleonischen Kaiserreich mit der Überwachung Mme de Staëls betraut ist, zugleich aber mit den Mitgliedern der sogenannten Coppet-Gruppe befreundet ist Wahrscheinlich noch vor seiner Bekanntschaft mit Mme de Staël, mit der er vorübergehend auch eine private Beziehung unterhält, lernt er Schiller kennen . Die deutsche Sprache eignet er sich seinen Biographen zufolge bei einem längeren Aufenthalt in Breslau während der französischen Besatzungszeit an, wo er im Kaiserreich als Auditor beim Staatsrat für die Verwaltung der besetzten Gebiete zuständig ist 1808 beginnt er als Unterpräfekt von Bressuire mit der Übersetzung von Schillers Theater Sein Projekt ruft nicht nur bei Mme de Staël reges Interesse hervor, sondern auch bei Charles de Rémusat, der mit Auguste de Staël seine Entwürfe Korrektur liest Als die Übersetzung 1821 erscheint, ist Barante im Zuge der Maßnahmen gegen die Doktrinäre nach der Ermordung des Herzogs von Berry seines Amtes enthoben und bekleidet vorübergehend keine öffentliche Funktion mehr Seine Übersetzung wird insgesamt in Frankreich als literarisches Ereignis gefeiert, wobei die klassische Kritik deren Schwächen nicht dem Übersetzer, sondern dem Dichter selbst anlastet . Von 1824 an löst die Publikation eine regelrechte Welle von Inszenierungen aus, die die Verbreitung der Romantik in Frankreich befördern und als eine Art Katalysator der Shakespeare-Rezeption wirken 2 .3 .2 Charakter, Rezeption und Wirkung der Übersetzung Der Passus zu Schillers Schauspiel Die Räuber in Barantes Notice sur Frédéric Schiller (Brugière de Barante 1821, XX-XXX) lässt sich bereits als Vorrede des Übersetzers <?page no="211"?> 2 Friedrich Schiller: Die Räuber 211 werten, zumal er auch einige Anmerkungen zur Übersetzung enthält, und soll daher an dieser Stelle abgehandelt werden Barantes Präsentation der Räuber gerät trotz harscher Kritik an der Maßlosigkeit der Dialoge, die die Regeln des klassischen Dramas missachteten, stellenweise zu einer Apologie von Schillers Stück, wenn sie auch von klassizistischen Vorbehalten gespeist wird So gesteht er Schiller wohlwollend zu, dass dieser selbst sein Stück gar nicht als Drama konzipiert habe, und lobt das überragende Talent, von dem das Werk zeuge Den rebellischen Charakter des Stückes führt er teils auf Schillers Gemütszustand, „une douloureuse disposition de doute“, (ebd XXV), teils auf die gesellschaftliche Lage zurück, die er als eine Art periodisch wiederkehrende „Krankheit der Gesellschaft“ wertet Neben der dramatischen Form kritisiert Barante seiner Zeit gemäß den Ausdruck von Hass und Verachtung gegen alles dem Menschen Heilige-- ein Makel, der durch den Zeitbezug des Stücks kaum mehr zu entschuldigen sei Seine moralischen Bedenken beziehen sich auf die Gesamtkonzeption des Stückes: „L’idée première est elle-même un outrage contre la civilisation; (…) elle consiste à mettre la société en regard d’une caverne de voleurs, et à donner tout l ’avantage à celle-ci“ (ebd . XXI) . Unvermeidlich auch hier wieder der Verweis auf Shakespeare: „Sans cesse il le copie, et même le traduit“ (ebd XXV) Was die französische Übersetzung betrifft, so betont er, dass das Werk bisher in Frankreich nur unvollständig und verzerrt rezipiert wurde: „Elle [la production] a été traduite, elle a éte´imitée; mais ni les traducteurs ni les imitateurs n’ont voulu entrer dans le sens de l ’auteur“ (ebd . XX) Die Notwendigkeit einer Neuübersetzung motiviert er vor allem mit einem Verweis auf Friedels und Bonnevilles 1785 erschienene Fassung (ebd XXVI), die stark gekürzt und nach einer Bühnenfassung übersetzt sei Er selbst habe seine Übersetzung anhand der letzten Ausgabe Schillers angefertigt . 65 Zu den Schwierigkeiten der Übertragung erfährt der Leser nur, dass sich die biblische Sprache, mit der Schillers Stück durchtränkt sei, „malgré les efforts du traducteur“ (ebd XXVI) nur sehr schwer ins Französische bringen ließ Überhaupt kritisiert der Übersetzer den uneinheitlichen, überbordenden Stil des Werkes, wie er in seiner später hinzugefügten Notice sur les Brigands (Barante 1863, 8) unmissverständlich zum Ausdruck bringt: (…) l’auteur imite plusieurs modèles, et il imite plutôt les défauts Son ardeur l’entraîne, et, comme un torrent, elle emporte pêle-mêle toutes les idées et toutes les images avec une furie et un désordre qui conviennent plutôt à l’ode qu’au drame Solche stilistischen „Mängel“ entschuldigt er aber sogleich mit der jugendlichen Unerfahrenheit des Dichters und betont, „qu’il était loin, dans cette première pièce, d’avoir donné entièrement sa mesure“ (ebd ) Der spezifische Charakter von Barantes Übersetzung lässt sich vielleicht am besten im Vergleich zu früheren französischen Fassungen der Räuber beschreiben . Zieht man 65 In Brugière de Barantes Notice sur les Brigands, die der Ausgabe von 1863 vorangestellt wurde, heißt es (ebd 4): „Notre traduction reproduit l’œuvre première et originale telle qu’elle est insérée dans les œuvres complètes“ Bei besagter Referenzfassung muss es sich um die im Selbstverlag erschienene Frankfurter/ Leipziger Ausgabe von 1781 handeln, zumal die „Löwenausgabe“ von 1782 einige Streichungen aufweist, die sich in Barantes Übersetzung nicht wiederfinden <?page no="212"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 212 dazu Bonnevilles Version heran, wie es Eggli (1927, 554) getan hat, so wird auf den ersten Blick erkennbar, dass Barante sich stärker am Original anlehnt als Bonneville, dessen Version er offensichtlich bei seiner Übersetzung vorliegen hatte, dies aber mit Einbußen an Eleganz und Lebendigkeit bezahlt Im Vergleich zu Bonnevilles eher klassisch geprägtem Übersetzungsstil macht Barante hier also einen Schritt hin zu einer stärker romantischen Übersetzungshaltung, die das Original als solches respektiert Zudem ist sein Stil weniger explikativ, er verzichtet ganz auf Anmerkungen, während Bonneville bemüht war, dichterische Freiheiten in seiner Übersetzung durch Fußnoten mit Hinweisen auf den Wortlaut im Original auszugleichen Die Unzulänglichkeiten von Barantes Fassung illustriert Eggli (1927, 554) anhand der mittelmäßigen Übersetzung des Räuberliedes (4 Akt, 6 Szene in Barantes Fassung) . Er betont aber zugleich, dass sie im Vergleich mit ihren Vorgängern einen Fortschritt erkennen lasse . Insbesondere attestiert er ihr gegenüber Bonnevilles Fassung eine getreuere Wiedergabe der gewagten Bildhaftigkeit des Originals . 66 Beim damaligen Publikum kommt Barantes Gesamtausgabe trotz ihrer Mängel gut an, und der Übersetzer wird nicht selten von der Kritik für seine treue, kraftvolle und elegante Wiedergabe gelobt . Insgesamt lässt sich also gut nachvollziehen, warum Barantes Übersetzung der Räuber das Potenzial hat, die „feindlichen Lager“ der französischen Classiques und Romantiques im Hinblick auf seine Übertragung zu einen: In seinen beiden Notices zu Autor und Werk äußert Barante zwar moralische und literarische Bedenken gegen Schillers Frühwerk; zugleich bemüht er sich aber bei der konkreten Übersetzung, es „ungeschönt“- - oder „unverschleiert“ aus romantischer Sicht- - einem breiteren französischen Publikum zugänglich zu machen Er orientiert sich eng am Original und mutet seinen Lesern auch solche Stellen zu, die in seinen Augen stilistisch oder moralisch unbotmäßig sind Auf Frankreichs zeitgenössische dramatische Literatur dürften seine Brigands also durch die Gewagtheit ihres Stils und ihrer dramatischen Form eine erneuernde Wirkung gehabt haben 2.4 Die italienischen Übersetzungen von Bianchi-Giovini (1832) und Maffei (1846) Die Rezeption der Räuber setzt in Italien- - mit Ausnahme der libertär-patriotischen Kreise des Lombardo-Veneto- - erst relativ spät ein . Nachdem Pompeo Ferrario 1819 eine Auswahl von Schillers Dramen vorgelegt hat, die dieses Jugendwerk ausspart, dauert es bekanntlich noch über ein Jahrzehnt, bis in Italien mit der Version des Anonymus von 1832 die erste Übersetzung der Räuber vorgelegt wird, weitere vierzehn Jahre später gefolgt von Andrea Maffeis erster in Italien zugelassener Version . Die Räuber werden also in dieser Phase ganz neu entdeckt, da die Vorgeschichte der jakobinischen Rezeption hier wie schon erwähnt kaum präsent ist . Bis dahin war man auf französische Versio- 66 Eggli selbst (ebd 555) schränkt allerdings dieses Zugeständnis sogleich mit der Bemerkung ein: „de Barante, en général, s’écarte moins du texte allemand; on a cependant l’impression, par moments, qu’il en saisit moins directement les valeurs“ Überhaupt ist seine Vorliebe für Bonnevilles Version unverkennbar (vgl ebd 73) . <?page no="213"?> 2 Friedrich Schiller: Die Räuber 213 nen oder auf Besprechungen in der Presse angewiesen, wenn man sich über dieses Stück informieren wollte . 67 Nicht unerwähnt bleiben soll hier die 1844 in Padua erschienene Gesamtausgabe von Schillers Dramen, die von dem Shakespeare-Übersetzer Carlo Rusconi besorgt wurde und auch eine Übersetzung der Räuber enthält . 68 Die Resonanz auf diese Fassung bleibt allerdings eher verhalten; zudem tritt Carlo Rusconi später auch als Co-Übersetzer von Andrea Maffei auf 69 , so dass die Übersetzung im Rahmen dieser Analyse keine neuen Erkenntnisse verspricht Als mögliche französische Vorlage für die italienischen Übersetzer kommt aufgrund des Erscheinungszeitpunktes neben Barantes auch Friedels und Bonnevilles Fassung von 1785 in Frage Bei näherer Betrachtung weist die zuletzt genannte aber an einigen Stellen recht auffällige strukturelle Texteingriffe auf, die sich bei den italienischen Versionen so nicht wiederfinden, so dass eine Orientierung an Barante wahrscheinlich ist Für diese Variante spricht auch die Tatsache, dass sich die beiden italienischen Übersetzer ebenso wie der französische an der 1781 erschienenen ersten Fassung von Schillers Räubern orientieren 70 Im Hinblick auf die Analyse ist ferner zu beachten, dass wir es mit zwei aufeinander folgenden italienischen Fassungen zu tun haben Es müssen also auch Einf lüsse der früheren auf die spätere Übersetzung in Betracht gezogen werden, also die Möglichkeit, dass Maffei neben Barantes Übersetzung auch die Fassung des Anonymus vorlag Im Folgenden sollen zunächst beide italienische Übertragungen vorgestellt werden 2 .4 1 Aspekte der „äußeren Übersetzungsgeschichte“ 1832 erscheint im schweizerischen Capolago eine anonyme Übertragung der Räuber 71 , die von der Zensur in den italienischen Territorien mit Einfuhr- und Druckverbot belegt und als „non admittur“ auf den Index gesetzt wird 72 Die nahezu fehlende Vorgeschichte, was die italienische Rezeption der Räuber anbelangt, erlaubt es dem Übersetzer, seine Fassung als „prima versione italiana“ zu präsentieren 73 - - zumal er sich nicht, wie Ba- 67 Eine besonders erwähnenswerte Besprechung der Räuber erscheint 1831 im Mailänder Indicatore Lombardo ( Jg 3, T 9, 202-232 und 320-343) unter dem Titel I Masnadieri di Schiller. Analisi critica di G. Battaglia . Der Autor Giacinto Battaglia begegnet dem Stück nicht mit den sonst in Italien üblichen Vorbehalten, sondern lobt Schillers Jugendwerk in den höchsten Tönen . Vgl dazu Unfer Lukoschik 2004, 186 68 Schiller, „I Masnadieri“ In: Teatro di Federico Schiller/ tradotto in prosa italiana da Carlo Rusconi Padova: Tipografia della Minerva, 1844 69 Teatro di Federico Schiller Interamente tradotto in italiano da A Maffei e Carlo Rusconi; prima edizione napolitana con annotazioni e commenti di Gabriele De Stefano Napoli: F . Rossi-Romano, 1856 70 Dies wird besonders daran deutlich, dass die Streichungen der Folgefassung von 1782 sich weder bei dem Anonymus noch bei Maffei wiederfinden 71 I Masnadieri: dramma/ di Federico Schiller . Prima versione italiana Anonimo. Capolago: Tipografia elvetica, 1832 72 Auch italienische Aufführungen dieses Stückes unterliegen zu dieser Zeit den Verboten der Zensurbehörde (vgl Unfer Lukoschik 2004, 57) 73 Dieses Argument findet sich auch bei Mazzucchetti (1913, 46) In der Prefazione del Traduttore (Anonymus 1832, 11) erläutert der Übersetzer: „In Italia ne hanno parlato più giornali col farne l’analisi o col riportarne degli estratti; ma per quanto io mi sappia nessuno finora lo ha trasmutato nella nostra lingua“ . <?page no="214"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 214 rante, von einer früheren, verzerrten Rezeption der Räuber absetzen muss 74 So betont er denn auch in seiner Prefazione (Anonymus 1832, 11): „(…) spero che la mia versione sia intanto per essere favorevolmente accolta dal pubblico, se non altro per la novità“ Bei dem anonymen Übersetzer handelt es sich einigen Quellen zufolge 75 um den prominenten italienischen Publizisten Aurelio Bianchi-Giovini, der sich vor allem durch seine liberal-patriotische Gesinnung und seinen dezidierten Antiklerikalismus einen Namen gemacht hat Der aus Como stammende Bianchi-Giovini (1799-1862) wird 1830 als Korrektor der Druckseiten und literarischer Leiter bei der Tipografia Elvetica im Tessiner Ort Capolago angestellt-- derselben Druckerei, die auch für die Publikation der Räuber-Übersetzung verantwortlich zeichnet Von 1831 bis 1832 ist er Redakteur der von der Tipografia Elvetica herausgegebenen gemäßigten Wochenzeitung L’Ancora . Während dieser Zeit lebt der mit falschen Papieren aus Mailand ins Tessin Eingereiste im österreichischen Campione, da ihm ständig die Gefahr droht, wieder aus dem Kanton ausgewiesen zu werden Er konspiriert gegen die österreichische Regierung und beteiligt sich von der Schweiz aus an der italienischen Befreiungsbewegung-- darin liegt wohl auch der Grund dafür, dass seine Übersetzung nur anonym publiziert werden kann . In den Jahren 1836 und 1837 arbeitet er in Lugano als Redakteur des Repubblicano della Svizzera italiana, des Zeitungsorgans der Liberalen Seine heftige antiklerikale Polemik in diesem Blatt trägt ihm zahlreiche Strafprozesse ein 76 , bis er schließlich 1839 aus Lugano ausgewiesen wird Mit Ausbruch der reaktionären Bewegung im Kanton Tessin am 30 - Juni 1841 verlässt er die Schweiz und zieht nach Mailand, wo er die nächsten sechs Jahre verbringt Es folgen Stationen in Turin als Chefredakteur des regierungsunabhängigen Blattes L’Opinione, dem Organ einer Gruppe Liberaler aus der Lombardei und Piemont (seit 1847), und der Zeitschrift Unione (seit 1852) sowie in Neapel, wo er 1861, kurz vor seinem Tod, die Zeitung La Patria gründet . Seine Deutschkenntnisse erwirbt er während eines kurzen Aufenthalts in Wien in jungen Jahren . Was hingegen seine Französischkenntnisse betrifft, so macht er sich gerade zu der Zeit, als seine Übertragung der Räuber erscheint, auch als versierter Übersetzer aus dem Französischen einen Namen: 1832-34 kommt bei der Tipologia Elvetica in Capolago seine elf bändige Übersetzung der Histoire de la république de Venise von Pierre Antoine Daru heraus 77 Nach der anonymen Übertragung von Capolago wird 1846 die erste von der Zensur zugelassene Version des Stückes publiziert 78 Sie stammt von Andrea Maffei, der bereits 74 Vgl den oben zitierten Passus aus Barantes Vorrede (Brugière de Barante 1821, X X) 75 Auf die Autorschaft Bianchi-Giovinis verweisen etwa Mena (2003, 340) in seiner Monographie zur Verlagslandschaft in der italienischen Schweiz sowie Unfer Lukoschik (2004, 412) in ihrer Bibliographie der Schiller-Übersetzungen 76 Vor dem politischen Hintergrund der Auseinandersetzungen zwischen Konservativen und Liberalen in den Schweizer Kantonen der 1830er Jahre im Gefolge der französischen Julirevolution, die immer stärker auch eine kirchenpolitische Färbung annahmen, konnte eine solche antiklerikale Haltung gefährlich werden Viele seiner religiösen Schriften werden von der Zensur auf den Index gesetzt 77 Pierre Antoine Daru, Storia della Repubblica di Venezia, trad Bianchi-Giovini, 11 vol ., Capolago: Presso Mendrisio Tipologia elvetica, 1832-34 Das französische Original erscheint 1819 bei Didot in Paris, mit Neuauf lagen 1821 und 1826 78 I masnadieri: dramma in prosa/ di Federico Schiller; traduzione del cavaliere Andrea Maffei Milano: Luigi di G Pirola, 1846 (Opere edite ed inedite; 6) <?page no="215"?> 2 Friedrich Schiller: Die Räuber 215 1827 eine Übersetzung der Braut von Messina 79 und 1829 eine Übersetzung der Maria Stuart 80 vorgelegt hat 1842-52 erscheint aus seiner Feder bei Pirola in Mailand eine in der Folgezeit mehrfach neu aufgelegte Ausgabe von Schillers Dramen unter dem angesichts der Bekanntheit des Übersetzers recht werbewirksamen Titel Tragedie tradotte da Andrea Maffei Der Trentiner Dichter, ein „Klassizist“ in der Nachfolge Vincenzo Montis, hat sich u a mit Übersetzungen von Goethe, Shakespeare, Milton und Byron einen Namen gemacht . 81 Vor allem aber ist er der erfolgreichste Vermittler Schillers im italienischen 19 Jahrhundert, seine Übertragungen bilden die Basis für die Rezeption von Schillers Theater auf den Sprech- und Opernbühnen Italiens . 82 Seine Deutschkenntnisse erwirbt er sich bei einem Aufenthalt in München, wo er im Jahr 1817, im Alter von 15- Jahren, erstmals in Berührung mit der deutschen Romantik kommt 1818 erscheint in Mailand seine erste Übersetzung aus dem Deutschen, eine elegante italienische Fassung von Salomon Geßners Idyllen in Endecasillabi . 83 Maffeis weitreichende Kontakte zu einf lussreichen Intellektuellen werden auch durch den Mailänder Salon seiner Ehefrau Clarina gefördert, der von international bekannten Literaten, Musikern und Künstlern frequentiert wird Aber Maffeis Übertragung der Räuber zieht nicht nur weite Kreise in Italiens literarischer Gesellschaft, sie bildet auch die Grundlage für die Rezeption des Stückes auf den italienischen Opernbühnen . 84 Brugière de Barantes französische Fassung der Räuber dürfte den beiden Übersetzerpersönlichkeiten, dem eher liberalen, dezidiert antiklerikalen Bianchi-Giovini und dem klassizistischen Dichter Maffei, trotz ihrer Unterschiedlichkeit gleichermaßen entgegenkommen Bianchi-Giovini erschließt sich durch die relativ transparente, eng am Original orientierte Übersetzung Barantes Schiller auch im Französischen mit ungebrochener Kraft und all seinem libertären Konf liktpotenzial; Maffei, den seine klassizistisch geprägte Grundhaltung mit Barante verbindet, lässt die Übersetzung noch genügend Spielraum für eigene dichterische Kreativität . Auch im Hinblick auf ihre Mittlerfunktion im Rahmen der Übersetzung aus zweiter Hand hat Barantes Fassung das Potenzial, die zwei Pole der romantisch-liberalen und der klassizistischen Anschauung zu vereinen 2 .4 .2 Charakter der Übersetzungen Rein äußerlich ist zunächst festzuhalten, dass wir es bei Maffeis Fassung nicht mit einer offen deklarierten Form der Übersetzung aus zweiter Hand zu tun haben Dies wäre 79 La sposa di Messina/ Federico Schiller; traduzione del cavaliere Andrea Maffei; con un discorso di Francesco Ambrosoli Milano: per A Fontana, 1827, LX, pp 148 80 Maria Stuarda/ tragedia di F Schiller; traduzione del cav A Maffei Milano: per gli editori degli Annali universali, 1829, X XV, pp 275 81 Bekannt sind auch seine Übersetzungen der Oden Pindars aus dem Griechischen Daneben betätigte er sich als Übersetzer aus dem Lateinischen und Französischen 82 Erinnert sei an den Erfolg von Maffeis Maria Stuarda als Spielvorlage auf italienischen Bühnen oder an Verdis durch Maffeis Übertragungen inspirierte Bearbeitungen von Schiller-Stücken für die Opernbühne . Zu Maffeis Beitrag zur italienischen Schiller-Rezeption vgl Unfer Lukoschik 2004, 232 ff 83 Die Übersetzung stößt sowohl bei der konservativen Biblioteca Italiana, die sie als „una bella infedele“ bezeichnet, als auch beim fortschrittlichen Conciliatore auf positive Resonanz 84 Dazu Näheres in Abschnitt 2 .6 dieses Teils zur Rezeption und Wirkung der italienischen Übertragungen . <?page no="216"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 216 auch eher verwunderlich angesichts der Tatsache, dass Maffei bei seinen Zeitgenossen im Ruf eines Originaldichters und „schöpferischen“ Übersetzers steht In dieser Eigenschaft wird er Anleihen an eine Mittlerfassung durch eigene schöpferische Eingriffe zu verschleiern wissen, so dass hier voraussichtlich nur schwer Indizien für eine mittelbare Übersetzung auszumachen sein werden Der durch seine Anonymität geschützte Übersetzer Bianchi-Giovini hingegen muss nicht um seinen Ruf fürchten . So weist er in seinem Vorwort (Anonymus 1832, 11) offen darauf hin, dass ihm die französische Fassung vorlag Seine Wortwahl legt nahe, dass er sich sogar bewusst von ihr abgrenzen möchte: „Il dramma dei Masnadieri è asceso ad una celebrità europea per la somma sua originalità, per le sue bellezze e persino pei singolari suoi difetti, e fu più volte tradotto, imitato o guastato in francese ed in inglese“ Die Übersetzung lässt sich also nicht so eindeutig einer Kategorie zuordnen und soll hier als Grenzform zwischen opaker und kritischer transparenter Kontamination eingestuft werden Die Recherche zu Andrea Maffei fördert eine Fülle von Informationen zum Charakter seiner Übertragungen und zu deren Echo bei der zeitgenössischen Kritik zutage, was natürlich damit zu tun hat, dass es sich um eine bekannte Übersetzerpersönlichkeit handelt Im Dizionario biografico dei più celebri poeti ed artisti melodrammatici (1860, 237) beschreibt Francesco Regli unter dem Eintrag ‚Maffei Cav . Andrea‘ in blumigen Worten die Mittlertätigkeit des Dichters: „(…) il Maffei trapiantò nei nostri giardini i fiori stranieri, e li rese più olezzanti e più vaghi“ . 85 Dies lässt das Erfolgsgeheimnis von Maffeis Übertragungen erahnen: Sie sind klassizistischer Prägung, d h sie mildern moralisch und stilistisch allzu gewagte und ungewohnte Passagen, und bleiben dabei politisch harmlos und unbedenklich, so dass sie bei der literarischen Gesellschaft und den politischen Machthabern gleichermaßen wohlgelitten sind . 86 Zugleich gesteht man Maffei als Dichter zu, dass er sich nicht sklavisch an das „Original“ hält, sondern selbst ein solches schafft Zeitgenössische Kritiker siedeln sein Werk häufig sogar über dem des Autors an-- nicht umsonst wird wiederholt der Vergleich mit der Ilias-Übersetzung des Dichters Vincenzo Monti bemüht . 87 Der heute sehr manieriert und gestelzt anmutende Stil seiner Übersetzungen kommt den italienischen Classicisti, für die die Bestätigung der eigenen kulturellen Überlegenheit an erster Stelle steht, entgegen und trägt ihm höchstes Lob seitens der Kritik ein Vor allem die klassizistisch ausgerichtete Biblioteca Italiana lobt Maffeis Übertragungen in den höchsten Tönen, insbesondere seine Version der Maria Stuart von 1829 Dies ist nicht verwunderlich, da sich darin Schillers „klassisches“ historisches Drama und Maffeis klassizistischer Übersetzungsstil vereinen Auch sonst unterstützt die zeitgenössische Presse ihn uneingeschränkt und stellt sich sogar auf seine 85 Regli (ebd ) mag darin eine Affinität zum französischen Übersetzungs- und Literaturstil entdecken, denn er führt weiter aus: „(…) i Francesi lo chiamerebbero il poeta à la langue de miel“ (Vgl die Online- Datenbank World Biographical Information System) 86 Dies führt dazu, dass ihm von vielen Kritikern eine Nähe zur österreichischen Regierung vorgehalten wird So sieht er sich gar genötigt, im Vorwort seines Librettos zu Verdis Oper I Masnadieri jeglichen Bezug der Oper zur aktuellen politischen Lage auszuschließen 87 Mazzucchetti (1913, 161) hält diesen Vergleich allerdings für allzu schmeichelhaft und betont: „oggi i due nomi uniti ci fanno sorridere: non occorre neppure rammentare la finezza di gusto estetico dell’uno in paragone alla verbosità dell’altro“ <?page no="217"?> 2 Friedrich Schiller: Die Räuber 217 Seite, wenn andere Übersetzer es wagen, ihm Konkurrenz zu machen und seine Übersetzungen zu kritisieren . 88 Trotz dieser einhelligen Zustimmung macht die Kritik aber immer wieder auf die mangelnde Genauigkeit seiner Übertragungen aufmerksam Erst später werden zunehmend Stimmen laut, die Maffeis Übersetzungen offen kritisieren, allen voran der Dichter Vittorio Imbriani, der in seiner polemischen Abrechnung Fame usurpate (1877) 89 dem Cavaliere Maffei anlässlich seiner Faust-Übersetzung (II .- Teil) unterstellt, „[di] aver tanto egli [der Faust-Übersetzer Giuseppe Gazzino] quanto il Maffei tradotto non dall’originale anzi da una cattiva traduzion francese“ . Was seine Kritiker ihm aber vor allem vorwerfen ist, dass er den Wesenskern des Kunstwerkes verändert, wie Mazzucchetti (1913, 166) beobachtet: Ora non è già il grado di libertà nella versione o il numero degli strafalcioni che abbia una grande importanza Non è importante sapere se avesse ragione il feroce Imbriani nel supporre che il Maffei, mal conoscendo il tedesco, traducesse dal francese! Qualora, malgrado la sua facilmente riconoscibile incertezza nelle declinazioni o nelle locuzioni tedesche, il Maffei ci avesse saputo ridare esatto lo spirito dei singoli poeti, nessuno, tranne i pedanti, si permetterebbe di muovergli appunto . Ma il Maffei, anche quando traduce con apparente fedeltà, muta l’indole della poesia a forza di mutamenti stilistici-(…) Nebenbei bemerkt sind für den Zweck dieser Untersuchung solche „pedantischen“ Feststellungen natürlich unumgänglich, insbesondere dann, wenn sich daraus Hinweise auf eine Konsultation der französischen Version ergeben Es ist aber auch die Frage interessant, inwieweit sich die beanstandeten „mutamenti stilistici“ auf einen solchen „Seitenblick“ zurückführen lassen Was nun den eigenwilligen Übersetzungsstil Maffeis ausmacht, an dem sich die Geister scheiden, bringt Carducci auf eine ebenso drastische wie eingängige Formel, die Unfer Lukoschik (2004, 234) referiert: Sprach Carducci in späteren Jahren von Maffei als ‚castrato‘, so waren es eben die glatte Form, die der Übersetzer den bisweilen einem klassizistischen Ohr zu spröden Versen des Originals gegeben, und die umsichtige Modifizierung, der er die brisantesten Stellen unterzogen hatte, die von seinen Zeitgenossen überaus geschätzt wurden und die den Schlüssel zum Erfolg von Schillers Theater bildeten Diese allgemeinen Charakteristika von Maffeis Übersetzungskonzeption finden sich auch in seiner Übertragung der Räuber wieder . Seine typisch klassizistische Einstellung zu Schillers Frühwerk bringt er bereits im Vorwort zu seiner Übersetzung der Maria Stuart von 1829 (Ai lettori) zum Ausdruck Ähnlich wie Barante in seiner Notice zur französischen Version schreibt er darin den ungestümen Charakter des Stückes einerseits 88 Mazzucchetti (1913, 167) referiert die Episode des Mailänder Rechtsanwalts Antonio Caimi, der eine mittelmäßige Versübersetzung der Braut von Messina vorlegt und darauf hin von der Biblioteca Italiana und anderen Blättern aufs Heftigste kritisiert wird, da er es gewagt hatte, mit dem Cavaliere in Konkurrenz zu treten 89 Darin übt Imbriani heftige Kritik an den italienischen Dichtern Aleardo Aleardi und Giacomo Zanella, an Goethes Faust und dessen Übersetzer Maffei Das Zitat ist der IV . Studie: „Traduttore, Traditore (Andrea Maffei)“ entnommen, zit . nach der 2 Auf lage (Imbriani 1877/ 2 1888, 272) <?page no="218"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 218 dem nachhaltigen Eindruck von Schillers Shakespeare-Lektüre zu, andererseits aber auch seiner schwierigen Lebenssituation, „l ’esperienza de’ propri travagli nella migliore età della vita“ (Maffei 1829, VIII): „Da alcuni fatti speciali s’abbandonò con giovanile impazienza a conclusioni generali e funeste, condannando la sua specie quando non la conosceva abbastanza“ (ebd VIII-IX) Die moralische Verurteilung der „esagerata pittura dell ’umana ingiustizia ch’egli ci ha data nel dramma i Masnadieri; il quale prova in oltre assai chiaro ch’il volersi cacciare al di là dei confini del vero non conduce a buon frutto“ (ebd IX), erinnert ebenfalls an Barante, entspricht aber auch der allgemein verbreiteten Einstellung seiner Zeit Insgesamt ist der Ton doch etwas weniger scharf als bei dem Franzosen Aus seinen abschließenden Worten zu Schillers Jugendwerk spricht der Klassizist, der darin die edlen Charaktere bewundert, aber zugleich das Maßvolle und Wohltemperierte eines klassischen Schauspiels vermisst (ebd IX-X): E nondimeno quel dramma ha molte e grandi e singolari bellezze, e merita che ogni lingua il traduca, non fosse che per giovarsene la storia del nostro cuore Ma non potrà negare ch’il legga essere più tosto l’opera d’una mente addolorata che superando ogni limite comunica ad ogni oggetto la propria disperazione, che la fedele, sapiente ed animata pittura dei vizi, delle virtù e delle passioni degli uomini Anstelle eines Vorwortes enthält Maffeis Übersetzung der Räuber lediglich eine kleine Nota am Ende des Personenverzeichnisses 90 Diese zeigt aber, dass der Übersetzer eine Apologie von Schillers Stück für notwendig hält, um seine klassizistisch geprägten Leser nicht zu brüskieren Zu diesem Zweck lässt er Schiller selbst-- mit einem Zitat aus seiner Vorrede in eigener Übersetzung-- zu Wort kommen: Gl’iniqui propositi usciti da bocche iniquissime non possono certamente lasciar traccia maligna nell’animo de’ sensati lettori Tuttavia, per giustificar l’autore di questo dramma, riporterò la chiusa del suo discorso premesso alla prima edizione „Mi confido che questo mio scritto, quando si guardi al notabile suo svolgimento, possa a ragione annoverarsi fra i libri morali Il vizio v’ottiene il castigo che merita; il traviato si ravvia nel cammino della legge, e la virtù ne riesce trionfante . Chi vuol meco esser giusto leggami da capo a fondo, e cerchi comprendermi; e se non loda lo scritto, apprezzerà, non v’ho dubbio, l’onesto scrittore Damit zeigt sich Maffei Schiller gegenüber nachsichtiger als Barante, der in seiner Notice recht herablassend über Schillers Vorrede urteilt und sie als billige Entschuldigung für die eigene Unmoral abtut 91 Im Gegensatz zu Maffei nimmt Bianchi-Giovini Schillers Vorrede vollständig in seine Übersetzung auf Die unvermeidliche Rechtfertigung Schillers fällt dabei in seiner 90 Maffei 1846, zu Beginn des 6 Bandes der Opere edite ed inedite, nach einer vorangestellten Widmung aus seiner Feder an Francesco Venturi 91 In Brugière de Barantes (1821, X XIV) Notice sur Frédéric Schiller heißt es: „La préface dont Schiller accompagna la publication des Brigands mérite d’être remarquée, non qu’elle renferme des excuses suffisantes, mais du moins il a senti la nécessité des excuses On ne peut guère se payer des bonnes intentions qu’il se suppose La justification banale de tous les écrits immoraux, c’est d’avoir voulu présenter le vice dans toute sa laideur, et d’avoir cherché à prémunir contre ses ruses“ <?page no="219"?> 2 Friedrich Schiller: Die Räuber 219 Prefazione del Traduttore (Anonymus 1832, 5-12) weniger klassizistisch aus, sondern hat erwartungsgemäß einen eher romantisch-liberalen Anstrich . So führt er romantische Helden wie Robin Hood für seine These ins Feld, nach der (…) un uomo che in una certa condizione di cose fu un conquistatore, un eroe, in un’altra condizione diversa non sarebbe stato che un assassino; e per converso un masnadiero, un corsaro sarebbe stato un gran monarca se la fortuna l’avesse meglio favoreggiato Vi sono certi uomini di un così caldo temperamento e di un’immaginazione così attiva, che è loro impossibile di potersi costringere nell’oscurità della vita civile, ed è un fatale bisogno della loro esistenza di doversi slanciare fra tumultuose vicende e casi di combattuta fortuna (ebd 6) Diese allgemein menschliche Feststellung wendet er in libertär-patriotischer Manier auf die politischen Zustände insbesondere in Italien an, „[dove] più che altrove abbino figurato questi facinorosi“ (ebd ): „Costoro, che in una repubblica e alla testa di eserciti avrebbono emulato Cesare e Scipione, in luoghi e tempi e circostanze affatto opposte diventano insigni scellerati“ (ebd 7) Trotz aller liberalen Anschauung ist aber auch bei Bianchi-Giovini das (französische) klassizistische Modell präsent, wenn er Schillers mangelnde Beachtung der dramatischen Regeln beklagt und mit dessen jugendlichem Ungestüm zu entschuldigen sucht (ebd 9): Il dramma dei Masnadieri abbonda di moltissime bellezze poetiche e di fortissimi slanci di una fantasia originale e sublime Ma è altresì pieno di difetti sì nella condotta che nella distribuzione delle parti; pare anzi che lo Schiller siasi prescritta nessuna regola, nessun ordine, nessuna convenienza drammatica, e che abbia voluto gettare sulla carta le violenti espansioni che scaturivano dalla sua immaginativa infiammata dalla foga di un’imperiosa e bollente gioventù Was Bianchi-Giovinis Übersetzung angeht, so enthält sein Vorwort neben dem besagten Verweis auf die französischen und englischen Fassungen der Räuber auch eine pf lichtschuldige Verbeugung vor der Übersetzungsleistung Maffeis, dessen Sposa di Messina und Maria Stuarda ja bereits erschienen waren und dem er auch bei der Übersetzung der Räuber höf lich den künstlerischen Vorrang einräumt (vgl ebd . 11) . Zugleich grenzt er sich aber indirekt gegen Maffeis Stil ab, indem er die eigene Vorliebe für Wendungen aus der Gaunersprache gegen die bekannten klassizistischen Vorbehalte eines Monti verteidigt Dabei bedient er sich des altbekannten Gemeinplatzes, er habe versucht die Sprache so zu verwenden, „quale Schiller adoperato avrebbe se in italiano avesse dovuto scrivere“ (ebd 11-12): ( . . ) quindi è che facendo parlare i masnadieri ho loro posto in bocca parole e frasi del gergo janadattico ossia furbesco, malgrado le scomuniche del Baretti e del Monti; perchè se tai vocaboli sono altrove impropri, in questa circostanza a me parvero acconcissimi ( . . ) Wie diese Absichtsbekundungen der beiden italienischen Übersetzer Bianchi-Giovini und Maffei in den jeweiligen Versionen nun tatsächlich umgesetzt werden und vor allem, inwieweit dabei Barantes französische Fassung Pate gestanden hat, soll die nachfolgende Analyse erhellen . <?page no="220"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 220 2.5 Kontrastive Textanalyse: Indizien für eine Übersetzung „aus zweiter Hand“ Als Grundlage der französischen ebenso wie der beiden italienischen Fassungen ist, wie oben bereits festgestellt, mit einiger Sicherheit die in Frankfurt und Leipzig erschienene Ausgabe der Räuber von 1781 92 herangezogen worden: Alle drei Übersetzungen enthalten Textteile, die in der „Löwenausgabe“ von 1782 93 gestrichen wurden Dabei weisen weder die französische noch die beiden italienischen Übersetzungen größere strukturelle Eingriffe auf, sie folgen im Großen und Ganzen relativ getreu den Vorgaben des Originaltextes Einen ersten Anhaltspunkt für den Charakter der Übersetzung liefert sicherlich der Titel des Werkes, zumal dieser entscheidenden Einf luss auf die Werkrezeption hat Im Fall der Räuber lässt sich an der Titelwahl der frühen französischen und italienischen Übersetzungen ablesen, dass die bisherige Rezeption von bürgerlich-klassizistischen Vorbehalten geprägt war- - man denke nur an Friedels und Bonnevilles französische Fassung mit dem plakativen Titel Les voleurs (1782) Aber auch Barantes Bezeichung Les brigands ist immer noch recht pejorativ konnotiert und legt die Vermutung nahe, dass es sich dabei um einen Nachhall von Lamartelières jakobinischem Robert chef des brigands handeln könnte Der anonyme italienische „Plagiator“ Lamartelières hatte gar zu dem reißerischen assassini gegriffen, als er seinen Robert Moldar capo d’assassini in Franconia für die venezianische Bühne konzipierte Dagegen zeugt Maffeis Entscheidung für das relativ neutrale I masnadieri von einer eher gemäßigten, gewissermaßen „klassizistisch-wohltemperierten“ Konzeption, die einen ebensolchen Charakter der Übersetzung vermuten lässt 94 Allerdings entscheidet sich auch der nicht eben für seine gemäßigte politische Gesinnung bekannte Bianchi-Giovini für diese Lösung, und es ist zumindest in Betracht zu ziehen, dass dessen masnadieri auch bei Maffeis späterer Fassung Pate gestanden haben könnten . Beide italienische Übersetzer entscheiden sich damit für einen eigenständigen, nicht am französischen Vorbild orientierten Titel- - es müssen also subtilere Methoden herangezogen werden, um eine potentielle Übersetzung aus zweiter Hand dingfest zu machen Zieht man nun das weiter oben 95 vorgestellte Instrumentarium zur Analyse heran, so ergeben sich aufschlussreiche Hinweise auf die Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen dem deutschen „Original“, der französischen und den beiden italienischen Fassungen Sie lassen Rückschlüsse auf die tatsächliche Übersetzungspraxis der beiden Italiener zu und liefern stichhaltige Belege dafür, dass wir es in beiden Fällen mit einer Form der Übersetzung aus zweiter Hand zu tun haben Die Analyseergebnisse, die der direkte Textvergleich der drei übersetzten Fassungen mit Schillers Original zutage för- 92 Schiller, Friedrich, Die Räuber Ein Schauspiel. Frankfurt und Leipzig, 1781 93 Schiller, Friderich, Die Räuber. Ein Schauspiel von fünf Akten Frankfurt und Leipzig: bei Tobias Löff ler, 1782 94 Auf die relative Neutralität dieses Titels macht auch Bevilacqua (2007, 53) aufmerksam, der die Semantik des italienischen ‚masnada‘ etwa mit Rotte oder Schar wiedergibt 95 Vgl Abschnitt 2 .2 des zweiten Teils dieser Arbeit <?page no="221"?> 2 Friedrich Schiller: Die Räuber 221 dert, werden im Anhang in tabellarischer Form wiedergegeben, wobei ähnliche Übersetzungsentscheidungen durch Unterlegen der jeweils zugrunde liegenden „rhetorischen“ Operation (adiectio; detractio; immutatio; conservatio) kenntlich gemacht werden Im Folgenden sollen zunächst die gefundenen Einzelbelege ausgewertet werden, um den bestehenden Verdacht zu erhärten und Aussagen darüber treffen zu können, in welchem Umfang und in welcher Form die beiden italienischen Übersetzer die französische Vorgängerfassung bzw das Original konsultiert haben und inwieweit vielleicht auch Maffei bei seiner Arbeit die italienische Übersetzung seines Vorgängers zu Rate gezogen hat . Dazu als Erstes ein Blick auf die französische Fassung Bei Barantes Übersetzung bestätigt sich die ihm attestierte enge Anlehnung an Schillers Original, die sich in der Wortwahl ebenso zeigt wie in der recht getreuen Wiedergabe der Bildhaftigkeit Dies führt aber andererseits auch dazu, dass die Bilder und Phraseologismen bisweilen recht unidiomatisch anmuten, was auf Kosten der Lebendigkeit der Darstellung geht Zudem werden trotz aller romantisch geprägten Achtung vor dem Original, die im Vergleich mit der französischen Vorgängerfassung von Friedel und Bonneville spürbar ist, nicht alle als „moralisch verwerf lich“ empfundenen Textstellen auch übernommen Die Analyse der Strukturmerkmale zeigt, dass insbesondere sexuelle Anspielungen und sprachliche Grobheiten bei Barante verhältnismäßig häufig ausgeklammert bleiben 96 Auffällig ist darüber hinaus, dass Barante nicht selten regelrechte Übersetzungsfehler unterlaufen, die sich in der Tabelle unter den denotativen Aspekten der Lexik niederschlagen Sie bilden natürlich einen willkommenen Prüfstein dafür, ob die italienischen Übersetzer einen Seitenblick auf das Französische riskiert und sich womöglich dadurch haben in die Irre führen lassen 97 Konfrontiert man damit nun die Übersetzungshaltungen der beiden Italiener, so fällt auf den ersten Blick auf, dass beide recht eigenständig formulieren, so dass der französische Sprachduktus insgesamt aus den Übersetzungen kaum hervorscheint . In beiden Fällen kann also von einer eindeutigen Übersetzung aus zweiter Hand nicht die Rede sein Beide Autoren zeichnen sich durch einen persönlichen Stil aus, der bei dem bekannten Dichter Maffei auf den eigenen schriftstellerischen Anspruch zurückzuführen ist, bei Bianchi-Giovini hingegen auf die liberale, patriotische Prägung als Publizist . Untersucht man allerdings die beiden italienischen Fassungen im Detail, so ergibt sich ein etwas anderes Bild Der als Anonymus firmierende Bianchi-Giovini ist in der Wahl seiner Figuren und Tropen sicherlich sehr unabhängig und lässt sich darin kaum vom Französischen beeinf lussen So lässt er etwa das kulturell fremde Bild des Nürnberger Krämers und seiner Lebkuchen (S - 18), das sowohl Barante (S - 30) als auch Maffei (S - 15) kommentarlos übernehmen, ganz weg, um es gegen das seinen Landsleuten geläufigere 96 Vgl z B Barante 1821, S -29; 31; 32; 44; 45; 56; 66; 89; 158; 159; 168 Bezeichnend ist übrigens, dass Barante Schillers Anspielung auf das Graubündner Land als „das Athen der heutigen Gauner“ (S -81, vgl . auch Abschnitt 2 1 des dritten Teils dieser Arbeit)-- im Gegensatz zu seinen italienischen Kollegen-- wohlweislich unterschlägt (S -91), während er das Lob auf die Italiener hinsichtlich dieses Aspekts des génie national beibehält: „R azmann Frère, on m’a beaucoup vanté les Italiens Spiegelberg Oui, oui! il faut rendre justice à chacun“ (ebd ) 97 Vgl Barante 1821, Pers verz .; S -26; 31 (2 x); 37; 47; 58; 91 (2 x); 147; 166-67; 175; 184; 200; 208; 219 <?page no="222"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 222 Bild der Sardinen (sardelle) auszutauschen (S .- 34) 98 Dennoch ließen sich zumindest zwei Fälle ausmachen, bei denen Bianchi-Giovini einen manifesten Übersetzungsfehler Barantes übernommen hat: Bei Karls Monolog in der ersten Szene des vierten Akts beziehen Barante und Bianchi-Giovini dessen sehnsuchtsvollen Ausruf „Nein! sehen muß ich sie-- muß ich ihn (…)“ (S -135) nicht wie im Original zunächst auf Amalia, dann auf Karls Vater, sondern-- wohl aufgrund der ungewöhnlichen syntaktischen Struktur-- lediglich auf Erstere: „Non, il faut que je la voie,-- que je la voie…“ (Barante, S -146) bzw „No, voglio vederla… voglio vederla (…)“ (Anonymus, S - 118) Diesmal ist es Maffei, der sich nicht in die Irre führen lässt: „No! io debbo vederla… io debbo vederlo…“ (Maffei, S - 120) Das zweite Beispiel betrifft die Schilderung eines Traumes, in dem Franz Moor im Jenseits ein alter, vom Hunger entstellter Mann erscheint: „aller Augen wanden sich scheu vor dem Mann“ (S -189), heißt es bei Schiller Alle drei Übersetzer hingegen beschreiben ein neugieriges Anstarren, das zu dem scheuen Abwenden des Blickes im Widerspruch steht: „Tous les yeux se tournèrent sur cet homme“ (Barante, S -200); „Ogni sguardo si affissava inorridito in lui“ (Anonymus, S -158); „gli occhi di tutti si ficcarono inorriditi su quel vegliardo“ (Maffei, S -171) Zudem finden sich einige diskussionswürdige Interpretationen, deren französisches Vorbild offensichtlich ist Hier nur zwei Beispiele zur Illustration Zunächst Karls Stoßseufzer, als er unter einer anderen Identität in das Haus seines Vaters zurückkehrt und Amalia dort in tiefer Trauer vorfindet: „Elender, das verdientest du um sie! “ (4 Akt, 3 Szene (1) , S - 138) Bianchi-Giovini verkehrt dessen Bedeutung ebenso in ihr Gegenteil wie Barante, so dass Karl nunmehr sich selbst und nicht mehr Amalia als Opfer sieht: „Sciagurato! tu meriti questo da lei? “ (S -120) (vgl . Barante, S -149: „Misérable! l’as-tu mérité? “) . Auf eine leicht verschobene Interpretation deutet auch die Übersetzung von Amalias Ausruf hin, mit dem sie die Bemerkung ihres verkleideten Geliebten Karl kommentiert, seine Amalia sei ein unglückliches Mädchen . Bei Schiller erwidert Amalia: „Unglücklich, und Sie lieben? “, und Karl gibt zurück: „Unglücklich, weil sie mich liebt! “ (4 Akt, 4 Szene, S -159) Die französische Übersetzung macht Amalia vom fühlenden Subjekt zum Objekt der Liebe: „Malheureuse! et vous l’aimez? “ (S -171), so dass Karls Antwort „Malheureuse, parce qu’elle m’aime“ hier kaum noch einen Effekt hat . Diese Interpretation übernimmt der Anonymus: „Infelice, e voi l’amate? “ (S .- 136)- - wie im Übrigen auch Maffei („Infelice se voi l’amate? “, S.-132) Was die bewussten Streichungen verfänglicher Textstellen in der französischen Übersetzung betrifft, so gibt es eine Reihe von Beispielen, bei denen Bianchi-Giovini dem Vorbild Barantes folgt und die entsprechenden Passagen auslässt 99 Darin ist er oft konsequenter als sein „Nachfolger“ Maffei, wenn es etwa um einige recht derbe und handfeste Schilderungen des Originals geht Zwei typische Belege liefert der zweite Akt, in dessen erster Szene Franz Moor den „Bastard“ Hermann mit folgenden Worten gegen 98 Ähnlich verfährt Bianchi-Giovini mit dem- - zugegeben etwas ungewöhnlichen- - Sprichwort „oder es hat ein blindes Schwein eine Eichel gefunden“ (S -34), das er im Gegensatz zu Barante („ou plutôt c’est un porc aveugle qui a trouvé du gland“, S -44) gegen eine im Italienischen idiomatischere Wendung austauscht: „o la gallina cieca ha trovato una perla“, S -45) Andrea Maffei weicht hier im Übrigen ebenfalls auf ein anderes Bild aus: „l ’orbo ha trovato un ferro da cavallo“ (S -27) 99 Vgl z B . Anonymus, S -34; 36; 45; 53; 60; 77; 127 <?page no="223"?> 2 Friedrich Schiller: Die Räuber 223 seinen Bruder Karl auf hetzt: „Er [Karl] sagte: man raune sich einander in’s Ohr, du seyst zwischen dem Rindf leisch und Meerrettig gemacht worden, und dein Vater habe dich nie ansehen können (…)“ (S -57) Erwartungsgemäß reduziert Barante diese Textstelle zu einem dezenten: „Il disait que, d’après le bruit commun, ton père ne pouvait jamais te regarder (…)“ (S - 66-67), und der Anonymus folgt seinem Beispiel: „Ei diceva, correr voce che tuo padre non potea mai vederti (…)“ (S .-60) . Maffei seinerseits kann sich eine zweideutige Anspielung nicht verkneifen, denn er übersetzt: „Soleva egli dire che tu, per voce pubblica, eri un composto di pesce(? ) e di carne(? ), e che tuo padre non poteva volgerti un occhio (…)“ (S -48-49) Eine ähnlich dezente Haltung legt Bianchi- Giovini in der dritten Szene des zweiten Akts an den Tag, in der Spiegelberg bei Schiller seinem Kameraden Razmann von einem seiner Räuberstreiche berichtet: „(…) und wie (…) andere [die Rede ist von Klosterschwestern] in der Angst ihres Herzens die Stube so besprengten, daß du hättest das Schwimmen drin lernen können“ (S -79) Ebenso wie Barante (S -89) schweigt er über dieses Detail (S -77), während Maffei sich hier mit einer etwas merkwürdigen „Umdichtung“ aus der Affäre zieht: „(…) altre, rovesciandosi dalle scale, pareva che insegnassero a nuotare“ (S -69) 100 Dort, wo Barante moralisch zweifelhafte Passagen nicht streicht, sondern durch Abwandlung „entschärft“, orientiert sich Bianchi-Giovini ebenfalls in einigen Fällen am Französischen, und dies im Gegensatz zu Maffei, der näher am Original bleibt Schillers „Hört ihr den Pulverthurm knallen über den kreisenden Stülen? “ (S -211, gemeint sind die Lager der Gebärenden) wird so in der französischen Version zu „Entendez-vous cette tour des poudres écraser les malades dans leur lit? “ (S .-221), und entsprechend unverfänglich formuliert auch der Anonymus: „Udite voi strepitare la polveriera sin’oltre la luna? “ (S .-173) Der einzige, der deutlich ausspricht, was Schiller meinte, ist Maffei: „non udite voi scoppiare la polveriera sui letti delle povere partorienti? “ (S -189) Weniger häufig anzutreffen ist demgegenüber der Fall, dass der Anonymus ebenso wie Maffei Textstellen übernimmt, die in der französischen Fassung- - meist aus moralischen Erwägungen- - weggelassen wurden 101 Dies gilt etwa für einen ganzen zweideutigen Wortwechsel zwischen Karl Moor und Spiegelberg in der zweiten Szene des ersten Akts, den Barante eliminiert, indem er Moors Einwurf, der Spiegelbergs Part unterbricht, kurzerhand streicht: Beide italienische Übersetzer übernehmen diesen Dialog 102 Anhand der bisher angeführten Belege dürfte deutlich geworden sein, dass Bianchi-Giovinis Fassung, was verfängliche Textstellen betrifft, häufig Parallelen zur französischen Übersetzung aufweist . Natür- 100 Auch hinsichtlich einer Textstelle aus Franz’ Monolog in der dritten Szene des vierten Akts, in dem dieser über das Menschsein philosophiert, zeigt sich Bianchi-Giovini ähnlich moralisch zurückhaltend: Schillers Formulierung „(…) der Vater hat in der Hochzeit Nacht glatten Leib bekommen“ (S -147) findet sich weder in der französischen (S - 159) noch in seiner italienischen Fassung (S - 127) Maffei belässt es hier wiederum bei einer Andeutung: „(…) che lo sposo, nel giorno delle sue nozze…“ (131) 101 Vgl Anonymus, S -36 f .; 45; 78; 127; 133 102 Vgl Schiller, S -21/ Barante, S -32/ Anonymus, S -36/ Maffei, S -16-17 Dabei fällt auf, dass sich Maffei hier stark an seinem Vorgänger Bianchi-Giovini orientiert, was vor allem an der Erwiderung Spiegelbergs deutlich zutage tritt Beide Übersetzer ergänzen Schillers elliptisches „Daß dich, Bärenhäuter! “ (S -21) in ähnlicher Form zu „Possa accaderti altrettanto, cane arrabbiato che sei! “ (Anonymus, S -36) bzw . „A te avvenga pari, o cane“ (Maffei, S .-17); und beide fügen zur Klärung der argumentativen Struktur hinzu: „Ma da parte le beffe: (…)“ (Anonymus, S -36) bzw „Ma lasciamo le baje! “ (Maffei, S -17) <?page no="224"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 224 lich können solche Parallelen auch einfach einer ähnlichen Übersetzungshaltung geschuldet sein, doch es bleibt auffällig, dass Bianchi-Giovini mit wenigen Ausnahmen Barantes Strategie übernimmt und auf Streichungen seinerseits mit Streichungen, auf Abwandlungen mit Abwandlungen reagiert Über solche Strukturmerkmale hinaus gibt es auch auf anderen Ebenen des Textes Belege, die zumindest nahelegen, dass der Anonymus sich immer wieder von der französischen Fassung hat inspirieren lassen Eine syntaktische Abweichung im Französischen 103 , die Bianchi-Giovini übernimmt, findet sich beispielsweise in der zweiten Szene des dritten Akts, wenn Barante zur Wiedergabe von Schillers syntaktischem Parallelismus „sie weint, sie vertrauert ihr Leben“ (S - 133) eine syntaktische Wiederholungsfigur verwendet: „Elle pleure, elle pleure. Sa vie s’ écoule dans le deuil“ (S -143) . Bianchi-Giovini greift diesen Einfall ebenso auf wie später Maffei: „Ella piange, ella piange (…)“ (Anonymus und Maffei, jeweils S - 116) 104 Die französische Vorlage wird auf morphosyntaktischer Ebene auch in der Behandlung ungewöhnlicher Komposita des Schillerschen Originals spürbar Dabei ist natürlich schwer zu entscheiden, inwieweit hier auch das romanische Sprachsystem die übersetzerischen Entscheidungen lenkt, zumal diese bei allen drei Übersetzern ähnlich ausfallen Auf die strukturelle Ähnlichkeit der romanischen Sprachen gerade in den Bereichen der Syntax und Morphologie wurde bereits im ersten Teil dieser Arbeit hingewiesen 105 Gerade die Kompositabildung als äußerst produktives Wortbildungsverfahren des Deutschen lässt sich in den romanischen Sprachen bekanntlich nicht ohne Weiteres nachahmen, so dass der romanische Übersetzer bereits durch das System seiner Sprache genötigt ist, auf alternative syntaktische Strukturen zurückzugreifen Andererseits bleibt ihm, was die konkrete sprachliche Ausgestaltung betrifft, immer noch genügend Spielraum, und gerade in dieser Situation mag der Blick auf eine romanische Vorgängerübersetzung sich als hilfreich erweisen . Zwei Beispiele sollen dies illustrieren So dankt der alte Moor in der fünften Szene des vierten Akts seinem Diener für die Speisen, die dieser ihm regelmäßig in sein Turmverlies im Wald bringt, mit den Worten: „Habe Dank, Rabensender fürs Brod in der Wüste! “ (S .-173) Aus dem einfachen Kompositum „Rabensender“ wird bei Barante eine komplexe Struktur aus Possessivpronomen und Relativsatz: „grâces te soient rendues; toi qui envoies les courbeaux m’apporter du pain dans mon désert “ (S -183) . Eine ganz ähnliche Struktur findet sich bei Bianchi-Giovini 106 („Ti ringrazio, o Tu, che mandi il corvo a recarmi il pane nella 103 In die Kategorie der syntaktischen Abweichungen fällt auch folgendes „étoffement“ durch einen Relativsatz im Französischen, das Bianchi-Giovini übernimmt und das hier ohne den Kontext zitiert werden kann: Aus Schillers „es wird ein Blick seyn“ (5 Akt, 1 Szene, S -194) wird bei Barante „Ce sera un regard jeté sur elle [votre vie]“ (S -206) und entsprechend bei dem Anonymus „ci sarà un terribile sguardo su di lei [la vostra vita]“ (S -162) 104 Ein anderes Beispiel, das eher die stilistische Ebene der Syntax betrifft, aber auch auf den Systemeigenschaften der romanischen Syntax beruhen mag, ist der im Original weit hinten im Satz eingeschobene temporale Nebensatz „nachdem er zuvor die Tochter (…) entehrt “ (S -4), den der französische ebenso wie beide italienische Übersetzer weiter vorn im Satz platzieren (vgl Barante, S -16/ Anonymus, S -4/ Maffei, S -25) 105 Vgl Abschnitt 1 .2 1 des ersten Teils zu den kontrastiven und sprachtypologischen Aspekten 106 Dieser liefert in einer Fußnote auch gleich den biblischen Hintergrund des Tropus: „Allusione al corvo che portava il pane ad Elia nel deserto. III Reg. XVII 6“ (S - 145) Im Übrigen folgt dieser Zusatz <?page no="225"?> 2 Friedrich Schiller: Die Räuber 225 solitudine“, S -145), wie im Übrigen auch bei Maffei („Grazie a te, o Signore, che mandi il tuo corvo a portarmi un pane nel deserto“, S -153) . Als zweites Beispiel sei das Kompositum „die Lebenssatten“ (S -216) in der zweiten Szene des fünften Akts herangezogen, das ganz ähnliche Übersetzungsprobleme aufwirft Erneut greifen alle drei romanischen Übersetzer auf eine vergleichbare syntaktische Struktur zurück, die das Französische vorgibt: Aus Barantes „ceux qui sont rassasiés de la vie“ (S .-225) wird bei Bianchi-Giovini „chi è già stanco della vita“ (S - 175), und auch Maffei folgt mit „coloro che sono stanchi della vita“ (S -192) diesem Beispiel Ähnliche Parallelen zum Französischen lassen sich auf der Ebene der stilistischen Aspekte der Lexik ausmachen, und dies bezeichnenderweise mit Vorliebe an solchen Stellen, an denen auch Barantes Übersetzung ausnahmsweise eine kühne Abweichung vom Deutschen aufweist Wenn etwa Barante im zweiten Akt Schillers Gedankenfigur „gleich dem unterirdischen Zauberhund in den Geistermärchen“ (S -52)-- eine Gestalt, die in nordischen Gegenden aus Volksmärchen 107 allgemein bekannt gewesen sein dürfte-- durch in romanischen Ländern geläufigere Märchengestalten, die „dragons enchantés des contes des fées“ (S - 62), ersetzt, greift Bianchi-Giovini dessen Vorgabe in seiner Übersetzung auf; er schöpft aus der im romanischen Sprachraum allgemein bekannten griechischen Mythologie, wenn er vom „drago delle Esperidi“ (S - 57) spricht Im Vergleich dazu bleibt Maffeis Übersetzung („cane incantato della favola“, S -45) stark ans Deutsche angelehnt, was von einer verfremdenden Übersetzungshaltung, aber auch ganz einfach von mangelnder übersetzerischer Phantasie zeugen könnte 108 Auch in Bianchi-Giovinis Übersetzung von Franz’ metaphorischer Bemerkung „Dieser Kummer wird euer Leben untergraben“ (S -9), mit der dieser den alten Moor seinem Bruder Karl entfremden will, scheint das französische Vorbild durch In beiden Fällen ersetzt die Metapher des Grabes („cotali affanni (…) vi condurranno alla tomba“, S -28/ „ce chagrin creusera votre tombeau“, S -20) die Vorstellung vom langsamen Aufzehren des Lebens, die bei Maffei noch erhalten ist: „queste amarezze (…) consumeranno la vostra vita“ (S .- 7) Besonders interessant ist aber eine idiomatische Wendung, die beide italienische Übersetzer ähnlich missverstehen wie Barante Sie entstammt einer Bemerkung des späteren Räubers Schwarz, der über das Räuberleben sinniert (1 Akt, 2 Szene, S .-37): Barantes explikativer Übersetzung der Textstelle, die die biblische Anspielung in Schillers schlichtem „Herrmann mein Rabe“ (S -172) transparent macht: „Herrmann, mon pourvoyeur, courbeau du vieux prophète“ (S -183) 107 Das Motiv des Hundes, der einen unterirdischen Schatz bewacht, findet sich etwa in Hans-Christian Andersens Märchen Das Feuerzeug. 108 Im dritten Akt wird das Motiv des Hundes als Bewacher eines unterirdischen Schatzes erneut aufgegriffen: „gleich dem verzauberten Hund, der auf unterirdischen Goldkästen liegt “ (S - 115), und diesmal übernehmen beide italienische Übersetzer Barantes abgewandeltes Bild vom Drachen („de même qu’un dragon enchanté se place sur le trésor souterrain…“, S -124) Wieder ist der Anonymus dabei aber konsequenter in der Einbürgerung des Bildes als Barante und Maffei, indem er auch den unterirdischen Schatz durch den mythologischen Baum mit goldenen Äpfeln ersetzt, der vom hundertköpfigen Drachen Ladon, dem „drago delle Esperidi“ (vgl S -57), bewacht wird: „non altrimenti del fulmineo drago, che custodisce i pomi d ’oro“. Zum Vergleich heißt es bei Maffei, näher am Französischen: „come un drago fatato che custodisce tesori sepolti“ (S -100) <?page no="226"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 226 Und laß es auch Prostitution heißen-- Was folgt weiter? Kann man nicht auf den Fall immer ein Pülvergen mit sich führen, das einen so im stillen übern Acheron fördert, wo kein Hahn darnach kräht! Die Redewendung „wo kein Hahn darnach kräht“ verwendet Schiller hier in der übertragenen Bedeutung, sinngemäß etwa: „wo die zu Lebzeiten begangenen Schandtaten niemanden mehr interessieren“ In der französischen Fassung ersetzt Barante diese durch eine ähnliche, auch im deutschen Sprachgebrauch jener Zeit geläufige 109 Wendung: „où l’on n’entend plus chanter aucun coq“ (S -46) Mit dieser leichten semantischen Verschiebung tilgt er den moralisch herausfordernden Unterton des Originals und verf lacht die Redewendung zu einer bloßen Illustration des Gestorbenseins Sowohl Bianchi-Giovini als auch Maffei tun es ihm gleich: „dove più non canta alcun gallo“ (Anonymus, S - 46)/ „dove non canta alcun gallo“ (Maffei, S -29) Dem großen Bereich der Tropen entstammt ein weiterer typischer Beleg, der erneut zeigt, dass sich die beiden italienischen Übersetzer bisweilen an der Metaphorik Barantes orientiert haben . In seinem langen Monolog in der ersten Szene des ersten Akts ref lektiert Franz Moor über die Blutsbande: „Das ist dein Bruder! -- das ist verdollmetscht; Er ist aus eben dem Ofen geschossen worden, aus dem du geschossen bist.“ (15-16) Barante ersetzt die etwas derbe Ofen-Metapher durch die abstraktere der Eierschale: „Il est sorti de la même coquille dont tu es sorti aussi.“ (S .-27), und dasselbe tun sowohl Bianchi-Giovini („è dello stesso guscio donde tu fosti tratto“, S - 33) als auch Maffei („è sbucato d’un guscio con te“, S .- 13) . Ebenso gibt es stilistische Aspekte der Lexik, die nur Bianchi-Giovini aus dem Französischen übernimmt, wie zum Beispiel Franz’ auf Herrmann gemünzte Bemerkung „Was kann so eine Kaze gegen einen Löwen? “ (2 Akt, 1 Szene, S -57), mit der er diesen gegen seinen Bruder Karl aufwiegeln will Bianchi-Giovini versucht wie Barante den Effekt zu verstärken, indem er die Katze gegen ein kleineres Tier austauscht: „Che può fare un sorcio contro un leone? “ (S -60; vgl Barante, S - 67: „Que peut le rat contre le lion? “) Interessant ist auch die Abwandlung in Franz Moors spöttischer Bemerkung angesichts der Gottesfürchtigkeit seines Dieners Daniel: „Ein alter Mann, und an das Weynacht-Märgen zu glauben! “ (4 . Akt, 3 . Szene (1) , S - 143) Barante mildert den antireligiösen Unterton, indem er das christliche Weihnachtsmärchen gegen die volkstümlichen „contes de bonne femme“ (S .-154) ersetzt, und ebenso hält es der Anonymus („favole della balìa“, S .-124) . Maffei wählt ein anderes Bild, das aber einen ähnlichen Effekt hat: „credere a’ folletti, vecchio come tu sei? “ (S -128) Zu den konnotativen Aspekten der Lexik schließlich gehört etwa die Wiedergabe der Gestik: Wenn zum Beispiel der alte Moor in der zweiten Szene des fünften Akts aus Verzweif lung um seinen Sohn die Hände ringt („(heftig die Hände ringend)“, S -203), so wird diese Gebärde im Französischen abgewandelt zu einer Geste der Rührung: „(Joignant les mains)“ (S - 214), die sich auch bei Bianchi-Giovini wiederfindet: „(con giunte mani)“ (S - 168) Dessen „Nachfolger“ Maffei übernimmt ebenfalls die abweichende Gestik „(giunge le mani con veemente commozione)“ (S .- 182)-- wobei auch hier nicht 109 In Karl Friedrich Wilhelm Wander, Deutsches Sprichwörter-Lexikon, 5 Bde (1867-1880) findet sich unter dem Lemma „Empfehlen“ der (mit der Ortsangabe Troppau versehene) Eintrag: „Der hört keinen Hahn mehr krähen“ in der Bedeutung: „er hat sich empfohlen“/ „er ist gestorben“ (Bd -1, Spalte 813, zit nach dem unveränderten Nachdruck von 1977) <?page no="227"?> 2 Friedrich Schiller: Die Räuber 227 klar erkennbar ist, welche Fassung ihm dabei als Vorbild gedient hat . Eine konnotative Verschiebung erfährt in derselben Szene auch die Geste des sterbenden Vaters, dem Amalia in einer düsteren Zukunftsvision prophezeit, er werde vergebens nach der Hand seines Sohnes greifen: „(…) vergebens wähnen zu umfassen die warme Hand deines Karls“ (S -205) Bei Barante wird daraus: „en vain tu croira sentir la main brûlante de ton Charles“ (S -216) Durch die Wahl des Adjektivs „brûlant “ steht nun nicht mehr der schlichte Aspekt im Vordergrund, dass der Sohn am Leben ist („die warme Hand“), sondern vielmehr dessen leidenschaftlicher Charakter Entsprechend entscheidet sich Bianchi-Giovini für „la fervida mano“ (S -169), und Maffei wählt das Adjektiv „ardente“ (S -164) Zwar wäre es nicht ganz zutreffend, Bianchi-Giovinis Übersetzungsstil als explikativ zu bezeichnen, da im Text selbst erläuternde Zusätze eher vermieden werden, doch greift er mit Vorliebe zu erklärenden Fußnoten, wenn etwa eine zweideutige Anspielung Schillers im Italienischen sonst nicht verständlich wäre Deutlich erkennbar ist dies beispielsweise bei der Wiedergabe von Razmanns Bemerkung „Oder zögen wir wieder die Franzosen zu Felde“ (S - 34), die auf die Bekämpfung der als „morbus gallicus“ bekannten Syphilis anspielt Hier mag auch Barantes erläuternde und zugleich euphemistische Übersetzung „Et si nous entrions en campagne contre quelque maladie un peu répandue? “ (S -44) Bianchi-Giovini eine Interpretationshilfe gewesen sein, was erneut für einen Seitenblick auf die französische Fassung spräche Im Gegensatz zu Maffei, der mit seiner Übersetzung „O faremo argine all’ irruzione francese“ (S -27) lediglich die oberf lächliche Bedeutungsebene wahrt, versucht er mithilfe einer Fußnote beide semantischen Ebenen erkennbar werden zu lassen und dabei doch die Zweideutigkeit der Äußerung zu wahren: „O entriamo in campo contro a’ francesi“ (Fußnote: „Espressione equivoca e allude al morbo gallico“) (S -45) Ähnlich verfährt Bianchi-Giovini mit historischen und literarischen Anspielungen im Original, die er dem in dieser Hinsicht weniger bewanderten Leser im Namen der Verständlichkeit meint erläutern zu müssen 110 Und selbst der Versuchung, Schillers Werk auch außerhalb seiner Vorrede in den Fußnoten zu kritisieren, kann er nicht widerstehen Bezeichnend ist sein Kommentar zu Schillers Szenenabfolge, in dem er einen gedanklichen Sprung zwischen der ersten und der dritten Szene des vierten Akts moniert 111 (S -133-136 im Original) Den Beginn seiner scena seconda (S -119, 110 Exemplarisch sei hier Pastor Mosers Vergleich mit Richard III und Nero genannt („o hütet euch ja, daß ihr da nicht ausseht wie Richard und Nero“ (S -194), den Bianchi-Giovini in seiner Fassung mit einer ausführlichen Fußnote versieht: „Riccardo III re d ’Inghilterra che usurpò il trono facendo assassinare Odoardo V e il duca di Yorck suoi nipoti Lo Schiller allude alla tragedia di Shakespeare che ne porta il nome dove a questo tiranno, la vigilia della battaglia di Bosworth in cui fu ucciso, appariscono in sogno i nipoti, il duca di Buckingham e le altre persone fatte perire da lui, che pronunziano la fatale sua sentenza ond’egli si sveglia preda de’ rimorsi e della disperazione, forieri del suo fine“ (S -161-162) Für weitere Beispiele solcher erläuternder Zusätze vgl Anonymus, S -106; 145 111 Tatsächlich besteht zwischen der ersten und der dritten Szene des vierten Akts in Schillers Original nicht nur ein gedanklicher, sondern auch ein formaler Sprung, denn die dritte folgt unmittelbar auf die erste Szene (S -133-136) und ist zudem doppelt vorhanden (vgl S -148) Hier behilft sich Barante, indem er einen Szenenwechsel vor Moors Monolog einfügt (S -144), so dass dieser eine eigene Szene (Scène II) ausfüllt Die beiden italienischen Übersetzer stellen hingegen dadurch die fortlaufende Szenennummerierung wieder her, dass sie die im Original als dritte deklarierte kurzerhand wieder zur zweiten Szene machen (vgl Anonymus, S .-119/ Maffei, S -121) <?page no="228"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 228 entspricht Schillers 3 Szene) versieht er mit folgender klassizistisch, fast schulmeisterlich zu nennender Fußnote: *Questo rapido passaggio dalla prima alla seconda scena è difettosissimo non solo nella rappresentazione, ma ben anche nella lettura; conciosiachè distrugge l ’illusione, sospende la mente del lettore che intanto si raffredda in cercando un nodo che unisca sì disgiunte parti, e lascia un’ampia lacuna nella successione dei casi del dramma, per cui quel primo e sì tenero monologo sta lì lì isolato e come in aria Am Rande sei hier auf das Kuriosum verwiesen, dass Bianchi-Giovini die Fußnoten, die er seiner Übersetzung hinzufügt, bisweilen auch als willkommene Gelegenheit nutzt, seine radikalen politischen Ansichten und insbesondere seinen gegen die katholische Kirche gerichteten Antiklerikalismus zum Ausdruck zu bringen Bezeichnend ist etwa seine Ergänzung zu dem Bibelzitat des alten Dieners Daniel „Leer kam ich hieher- - leer zieh ich wieder hin-- aber meine Seele ist gerettet “ (S -183)-- bei Bianchi-Giovini „Nudo qui venni, nudo di qui parto, ma è salva l’anima mia“ (S -153)--, die eine unverhohlene Spitze gegen die italienischen Priester enthält (S -153): *Giobbe cap . 1,21 Simili applicazioni di frase bibliche agli eventi della vita domestica sono assai famigliari ai protestanti anche del basso volgo, i quali hanno tutto dì la Bibbia tra le mani Ben altrimenti che non faranno alcuni dei nostri preti, che della Bibbia altro non sanno fuorchè Pietro si chiamava Simone Ja sogar im Text selbst kann er sich einer bissigen Bemerkung gegen die katholische Kirche nicht enthalten, die er ebenso geschickt wie eigenmächtig in die dritte Szene des vierten Akts einf licht Wo bei Schiller Franz auf die Bemerkung seines Dieners Daniel „Aber ich hoffte ein Christe bleiben zu dürfen, da ich euch huldigte“ lediglich zurückgibt: „Keine Wiederrede! “ (S -146), ist dieser bei Bianchi-Giovini weniger einsilbig (S .-126): Dan Ma io speravami che favorendo voi, restassi pur tuttavia un buon cristiano. Franc . Sialo pure. Con meno assai di quanto io ti darò, potrai tu ottenere un indulgenza dal papa che varratti per ben mille anni. Ma non più repliche. Diese Spitze gegen den Ablasshandel der katholischen Kirche, die durchaus dem Charakter Franz Moors entsprechen würde, zeigt einmal mehr, dass Bianchi-Giovini auch als Übersetzer unter dem Deckmantel der Anonymität gern jede sich bietende Gelegenheit zur Verbreitung seiner antiklerikalen Anschauungen nutzt Abgesehen von solchen politisch motivierten Einschüben ließen sich im Übrigen drei weitere Belege 112 ausmachen, in denen der Anonymus-- so gar nicht im Sinne des modernen Übersetzerethos-- 112 Der Vollständigkeit halber hier zunächst die dritte gefundene adiectio, bei der Bianchi-Giovini Karls Antwort auf die Aufforderung seines Kameraden Grimm (bei Schiller: „Grimm. Gib uns Ordre, Hauptmann- - was sollen wir weiter thun? Moor. Bald- - bald ist alles erfüllet- -“, S - 167) mit einer Anspielung aus der griechischen Mythologie verbrämt: „Grimm. Dacci il santo, o capitano. Che dobbiamo poi fare domani? Car. Questa volta sia il santo Ercole moribondo -- Presto presto tutto è compito.--“ (Anonymus, S -141) . <?page no="229"?> 2 Friedrich Schiller: Die Räuber 229 offenbar seinen eigenen Beitrag zur poetischen Bereicherung des „Originals“ leisten möchte: so in der zweiten Szene des zweiten Akts, als Amalia den alten Moor schlafend vorfindet Während Amalia im Original lediglich f lüstert: „Horch, horch! sein Sohn ist in seinen Träumen! “ (S -61), schmückt Bianchi-Giovini die Szene in recht pathetischem Ton weiter aus: „Odi, odi, ei sogna di suo figlio. Il mio angelo accoglie la mia preghiera (avvicinandosi). È soave respirarsi quell’aura in cui è sparso il nome di Carlo: vuo’ restar qui“ (S .-63) Und damit nicht genug, erhält auch das Gespräch zwischen den beiden, nachdem der alte Moor aufgewacht ist, ein „galantes“ Ornament Der folgende Dialog entstammt (bis auf die erste Regieanweisung) ganz und gar der Phantasie des Anonymus (S -64), so dass es sich lohnt, ihn hier vollständig wiederzugeben: Ama (gli bacia la mano con tenerezza) Ecco la maladizione di amore Mass (dopo essersi alzato) . Che veggo io qui? Delle rose? Tu spargi, o cara, di rose l’assassino del tuo Carlo? Ama Spargo di rose il padre dell’amor mio (gli getta le braccia al collo) A lui non m’ è più dato di offrirne. Mass A lui presentate le avresti con più viva gioia. Pure non facesti indarno. (tira una cortina pendente alla parete vicina al letto) Derlei „blumige“ Ergänzungen hätte man wohl eher in der Fassung des manierierten Poeten Andrea Maffei vermutet Bei diesem ist eine Anlehnung an das französische Vorbild insgesamt deutlicher erkennbar als bei seinem Vorgänger, zumal seine Übersetzung trotz ihres persönlichen Stils immer wieder auch sprachliche Unsicherheiten aufweist, was die Wiedergabe des Deutschen betrifft Besonders deutlich wird dies daran, dass er offensichtliche Fehlleistungen Barantes häufig übernimmt, und dies auch dort, wo Bianchi-Giovinis Fassung nicht vom Französischen beeinf lusst ist . Zur Illustration seien hier einige Beispiele angeführt 113 So spricht Franz in seinem Monolog der ersten Szene des ersten Aktes abfällig von den Tugenden der bürgerlichen Gesellschaft, und aus seinem verächtlichen Ausruf „Ehrlicher Name! “ (S - 14), vom Anonymus treffend wiedergegeben als „Nome onorato“ 113 Von einer zumindest abweichenden Interpretation zeugt darüber hinaus Maffeis Übersetzung von Kollers spöttischem Kommentar zu Spiegelbergs Versuch, ihm das Räuberleben schmackhaft zu machen („Und oben an in der Liste der ehrlichen Leute! “, S -35): „E vederci lassù registrati nel libro de’ galantuomini! “ (S -27) Das Lokaladverb „oben an“, das bei Schiller ganz einfach den Platz auf der fiktiven Liste bezeichnet, bezieht er damit auf den Himmel oder das Jenseits Das französische Vorbild ist hier unverkennbar, denn bei Barante heißt es: „Et, là haut, se trouver sur la liste des honnêtes gens! “ (S -45) Die Tatsache, dass Bianchi-Giovini diese Stelle richtig interpretiert hat („E stare a tutti innanzi nel ruolo de’ galantuomini“, S - 45), zeigt, dass Maffei das Französische als das autoritativere Vorbild gilt Ähnlich aussagekräftig ist die Passage, in der der alte Moor die biblische Geschichte von Jakob und Joseph zitiert und an Jakobs Leid erinnert, „(…) als er ihn nimmer unter seinen Kindern fand-- und vergebens sein harrte im Kreis seiner eilfe“ (S -74) Maffei übersetzt: „(…) allorchè più no’ l vide fra suoi figliuoli, e in mezzo a quegli undici lo andava inutilmente cercando“ (S -65), bei ihm wartet Jakob also nicht mehr zusammen mit seinen anderen Kindern, sondern er sucht Joseph unter ihnen Eben diese Interpretation weist auch das Französische auf: „(…) quand il ne le retrouve plus parmi ses enfans, quand ses yeux le cherchent vainement entre eux“ (S -84), während Bianchi-Giovini wieder einmal näher am Original bleibt: „(…) quando più nol vide tra’ suoi figli e lo attendeva invano alla fraterna schiera“ (S -72) <?page no="230"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 230 (S -32), wird bei Barante fälschlicherweise „Belles paroles! “ (S -26) . Aus Maffeis Übersetzung „Parole bellissime! “ (S -12) geht somit ganz deutlich hervor, dass dieser sich durch das Französische hat in die Irre leiten lassen . Ähnliche Belege finden sich in der zweiten Szene des ersten Aktes, wenn etwa Barante Spiegelbergs Bemerkung zu Karl Moors ungerechtem Schicksal als Schuldner „Und um so ein paar tausend lausige Dukaten“ (S -20) zu der unpassend präzisen Angabe „Et pour deux mille misérables ducats…“ (S .- 31) abwandelt Bei Maffei heißt es entsprechend: „E tutto questo per la miseria di due mila zecchini…“ (S - 16)-- und dies, obgleich der Anonymus besagte Angabe mit „E per un paio di mille zecchini“ (S - 34) im Vagen belässt . Etwas subtiler ist die Abwandlung bei Karl Moors zerstreutem Einwurf „Wie? Du hast es wohl gar noch weiter gebracht? “ (S -26), der in der französischen Fassung inhaltlich etwas zurückgenommen wirkt: „Comment, tu as déjà poussé cela si loin? “ (S -37) Maffei übernimmt auch diese semantische Verschiebung, wenn er übersetzt: „Come? Sei tant ’oltre arrivato? “ (S - 20) Im Vergleich dazu heißt es beim Anonymus im Sinne des Originals: „Come? Sei tu andato ancora più oltre? “ (S .-40) . Das letzte Beispiel enthält gar eine völlige Bedeutungsverkehrung Sie ist wohl dadurch entstanden, dass Karl in dem Stück tatsächlich als der äußerlich Attraktivere der beiden Brüder geschildert wird, Franz hier aber Amalia gegenüber eine List anwendet und seinen Bruder Karl als krank und körperlich verfallen darstellt Bei Schiller argumentiert Franz: „(…) und wär der leidige Unterschied von aussen nicht, wobey leider freylich Karl verlieren muß, (…)“ (S -49) Barante kehrt diese Verhältnis um, um die vermeintliche Ordnung wiederherzustellen: „Et n’ était cette malheureuse différence extérieure, où Charles sans doute avait tout l’avantage, (…)“ (S -58), und Maffei tut es ihm gleich: „(…) et se non era l’ ingrata dissimiglianza della persona, favorevole a Carlo, (…)“ (S -39) Erneut erkennt nur der Anonymus die eigentliche Argumentation des Originals, die er durch das eingeschobene Zeitadverb „ora“ verdeutlicht: „E se non era la funesta differenza del nostro esteriore, in cui ora Carlo sta più peggio di me, (…)“ (S .-54) Allerdings unterlaufen Maffei auch dort, wo weder Barante noch der Anonymus Pate gestanden haben, handfeste Übersetzungsfehler, die von mangelnder Vertrautheit mit dem Deutschen zeugen könnten So verkehrt er Spiegelbergs abfällige Bemerkung an die Adresse Kollers, „dein Fingerhut voll Gehirn“ (1 Akt, 2 Szene, S .- 31), in seiner Übersetzung „Quella tua zucca piena di cervello“ (S -24) durch den Austausch des Bildes kurzerhand ins Gegenteil 114 Und in Karl Moors bitterer Anklage gegen seinen Vater, „Reue, und keine Gnade“ (1 Akt, 2 Szene, S -39), münzt Maffei Karls Gefühl der Reue zu Rachegelüsten seines Vaters um: „Vendetta, e non perdóno? “ (S .-31) 115 Im Gegensatz zu Bianchi-Giovini greift Maffei nicht zu erläuternden Fußnoten, übernimmt aber mitunter durchaus die erklärenden Übersetzungen des Französischen Trotz bereits vorliegender italienischer Fassung scheint Maffeis erster Bezugspunkt ne- 114 Vgl dagegen Barante, S -41: „ta petite cervelle“ und Anonymus, S -43: „la tua mezz’oncia di cervello“ 115 Vgl Barante, S -49: Le repentir, et point le pardon! “ sowie Anonymus, S -48: „Pentimento e non perdono“. Manchmal beruhen die abweichenden Übersetzungen auch auf banalen Lesefehlern, und so werden dann aus „unsere[n] besten Freuden“ im Original (S .-137) bei Maffei „i nostri migliori amici“ (S -122), und aus einer „fürchterliche[n] Zerstreuung“ (S -42) wird eine „terribile distruzione“ [Zerstörung] (S -33) Bei letztgenanntem Beispiel könnten allerdings auch das Französische „distraction“ [distruction] (S - 52) oder das italienische „distrazione“ [distruzione] (S -50) Pate gestanden haben <?page no="231"?> 2 Friedrich Schiller: Die Räuber 231 ben dem Original also Barantes Übersetzung gewesen zu sein . Dies bedeutet aber nicht, dass er Bianchi-Giovinis Fassung ganz außer Acht gelassen hätte Es gibt einige Belege dafür, dass er gelungene Formulierungen seines Vorgängers gern auch übernommen hat (vgl Anhang) Hier sei stellvertretend eine Strophe aus dem Räuberlied in der fünften Szene des vierten Akts zitiert, bei der sich Maffei offensichtlich von Bianchi-Giovinis Versen hat inspirieren lassen Während es bei Schiller heißt: Das Wehgeheul geschlagner Väter/ Der bangen Müter Klaggezetter/ Das Winseln der verlaßnen Braut/ Ist Schmaus für unsre Trommelhaut! (S - 162), ähneln sich die Strophen der beiden italienischen Übersetzer in Versmaß, Reimschema und Wortwahl ebenso wie in der Anzahl der Zeilen: 116 I cupi gemiti Di spenti padri, I lai miserrimi Di oppresse madri, E le angosciose Strida di spose, Sono festa, sono spasso Per i nostri cuor di sasso. (Bianchi-Giovini, S .-138) Gli estremi aneliti D’uccisi padri, Le grida, gli ululi Di spose e madri, Sono una musica, Sono uno spasso Pel nostro ruvido Cuojo di sasso. (Maffei, S -144) Aus Schillers Vierzeiler mit vierhebigem Jambus und Paarreim wird ein Achtzeiler, der bei dem Anonymus ein recht ungleichmäßiges, wechselndes Versmaß aufweist und von Paarreim zu Kreuzreim übergeht Bei Maffei fällt auf, dass er das zweihebige Versmaß und den Kreuzreim der ersten vier Zeilen des Anonymus übernimmt und auch auf die folgenden vier Zeilen anwendet, so dass ein einheitlicher Gesamteindruck entsteht Offensichtlich ist auch die stark an seinen Vorgänger angelehnte Wortwahl, die insbesondere bei den Endreimen augenfällig wird Aber auch Unsicherheiten in Bianchi-Giovinis Fassung finden sich bisweilen bei Maffei wieder, wie folgender Beleg zeigt: Der „eisgraue[n] Mörder“ (2 Akt, 2 Szene, S - 71), wie sich der alte Moor bei Schiller selbst bezeichnet, wird beim Anonymus zum „insensibile assassino“ (S .- 71) und bei Maffei entsprechend zum „parricida inumano“ (S - 63)- - und dies, obgleich der semantische Gehalt des Adjektivs (das sich auf das Äußere und nicht auf den Charakter der Figur bezieht) in der französischen Fassung richtig erkannt wurde: „le meurtrier à cheveux blancs“ (S -82) 117 Das vorherrschende französische Muster kommt im Bereich der Syntax besonders in der Übernahme der französischen étoffements in Form relativischer Zusätze zum Tragen, die der Anonymus nicht übernimmt Hier nur zwei Beispiele: 116 Man vergleiche die ganz anders gestalteten französischen Verse: „Des mères les gémissemens,/ Et les cris des petits enfans; / Les sanglots des jeunes fillettes! / Hé bien! voilà tout justement/ La musique du régiment; / C’est notre fifre et nos trompettes“ (S -173) 117 Ähnlich gelagert ist ein Textbeispiel aus der zweiten Szene des fünften Akts, in der Karl Moor das Leben Amalias der Treue zu seiner Räuberbande opfert Karls Ausruf „das Leben einer Heiligen um das Leben der Schelmen“ (S -218) wirkt in beiden italienischen Fassungen durch die Wahl der maskulinen Form zumindest etwas befremdlich: „Ma la vita di un santo per quella di un ribaldo“ (Anonymus, S -176)/ „dar la vita d ’un santo per quella d ’abietti scellerati“ (Maffei, S -193) <?page no="232"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 232 Bey deinem Gehorsam! (Schiller, 4 Akt, 3 Szene (1) , S -144) Par l’obéissance que tu me dois! (Barante, S -155) per l’obbedienza che tu mi devi… (Maffei, S -128) (…) und dann wäre mir auch das einige Verdienst entwischt (Schiller, 5 Akt, 2 Szene, S -221) (…) et ainsi je serais dépouillé du seul mérite que je puisse avoir (Barante, S -229) (…) ed io perderei in tal modo il solo merito, al quale possa aspirare (Maffei, S -195) Deutlich am französischen Vorbild orientiert sich auch der Wechsel des Genus verbi in Maffeis Übersetzung einer Passage aus Franz’ Monolog in der ersten Szene des ersten Akts: Die chiastische Subjekt-Objekt/ Objekt-Subjekt-Struktur bei Schiller: „Wer nichts fürchtet ist nicht weniger mächtig als der, den alles fürchtet “ (S -15) wird bei Maffei durch eine passivische Wendung in der zweiten Phrase aufgelöst: „Colui che non teme di nulla non è meno potente di colui che da tutti è temuto“ (S .- 12)- - man vergleiche das Französische: „Celui qui ne craint rien n’est pas moins puissant que celui qui est craint de tous“ (S -27) . Dass es im romanischen Sprachsystem sehr wohl möglich gewesen wäre, die aktivische Formulierung und damit auch den Chiasmus beizubehalten, beweist Bianchi-Giovinis Lösung dieser Textstelle: „Chi di nessuno teme, è non meno potente di quello cui teme ognuno“ (S - 32) Schließlich sei noch ein weiteres Stilistikum der Syntax erwähnt, das sicherlich auch mit der herrschenden Norm in den romanischen Sprachen zu tun hat So legt Schiller Franz Moor, der seinen Diener Daniel umschmeichelt, ein recht kühnes Kompositum in den Mund: „Verzeih lieber, goldner Perlendaniel verzeih“ (5 . Akt, 1 Szene, S -199), das Barante in klassizistischer Manier in eine triadische Kette immer ausdruckstärker werdender Adjektive umwandelt: „Pardonne-moi, mon cher, mon bon, mon excellent Daniel, perdonne-moi…“ (S - 211), und erwartungsgemäß folgt ihm Maffei in dieser Taktik: „Perdona, caro, pregiato, soavissimo Daniele, perdona“ (S -165) . Bleibt zu ergänzen, dass Bianchi-Giovini sich erneut nicht vom Französischen inspirieren lässt: „Perdonami, caro Daniele! mio tesoro! mia perla! perdonami! “ (S -179) Die stilistischen Aspekte der Lexik sind besonders dort interessant, wo sie ein deutsches Kulturspezifikum zum Gegenstand haben, für das die beiden romanischen Sprachen keine direkte Entsprechung kennen So verlangen die folgenden Schillerschen Vergleiche den romanischen Übersetzern einige Kreativität ab: In der zweiten Szene des ersten Akts bemerkt Grimm mit Blick auf den wild gestikulierenden Spiegelberg, der gerade die Eingebung hat, eine Räuberbande zu gründen: „Er macht Gestus wie beim Sankt Veits Tanz“ (S -29) Barante greift für die Übersetzung auf ein Phänomen zurück, das eher in südlichen Ländern beheimatet ist und das das Brockhaus Conversations- Lexikon von 1809 118 mit dem Veitstanz in Verbindung bringt: „Il fait des gestes comme s’ il était piqué de la tarentule“ (S -39) Dieselbe Eingebung hat-- wohl nicht ganz zufällig-- 118 Vgl Brockhaus Conversations-Lexikon, 1 Auf l 1809-1811, Bd -8 ., Leipzig 1811, S -449-450: „Vielleicht hat es mit dieser Krankheit dieselbe Bewandniß, wie mit dem sogenannten Tarantelstich“ <?page no="233"?> 2 Friedrich Schiller: Die Räuber 233 auch Maffei: „Fa lazzi, e balla come fosse morso dalla tarantola“ (S .-23) 119 Noch stärker in der Ausgangskultur verhaftet ist der zweite Vergleich in derselben Szene, Spiegelbergs Schilderung eines Jugenderlebnisses: „Da giengs aus, wie’s Schießen zu Hornberg , und mußten abziehen mit langer Nase“ (S 22) . Bei Barante heißt es nur ebenso ironisch wie lakonisch: „Cela réussit parfaitement (…)“ (S -33), und einmal mehr schließt sich Maffei seinem Vorgänger an: „L’effetto fu meraviglioso! (…)“ (S -18) Bianchi-Giovini kapituliert an dieser Stelle und lässt die Bemerkung ganz weg 120 Auf dem Gebiet der Metaphorik gibt es einige Belege, die Maffeis Anlehnung an das Französische ähnlich deutlich dokumentieren So verwendet Franz Moor in dem Bemühen, seinen Vater gegen seinen Bruder Karl aufzubringen, die biblische Wendung „O daß ihrs begreiffen lerntet! daß euch die Schuppen fielen vom Auge! “ (1 Akt, 1 Szene, S .-10) 121 Da das Bibelzitat im romanischen Sprachraum nicht, wie dies in Deutschland durch die sprachschöpferische Kraft der Lutherbibel der Fall war, zum gef lügelten Wort geworden ist, weichen alle drei Übersetzer auf eine andere Metapher aus Bezeichnenderweise treffen Barante und Maffei auch hier wieder eine ähnliche Wahl: „Ah! apprenez donc à le connaître! que le bandeau tombe de vos yeux! “ (Barante, S - 22) bzw „Oh potessi finalmente chiarirvi! togliervi la benda degli occhi“ (Maffei, S - 9) Der Anonymus wählt dagegen eine eigenständige Formulierung: „Se questo intendeste, vi cadrebbe la caligine dagli occhi“ (S -29) Ähnlich gelagert ist auch die folgende Textstelle, an der der alte Moor das recht konkrete Bild der „Väterliche[n] Brust “ (1 Akt, 1 Szene, S -12) verwendet, das Franz etwas später wieder aufnimmt: „du wirst ihn nimmer an diese Brust drücken“ (S -13) . Maffeis poetische Ader drückt sich in der metaphorischen Übersetzung „il mio cuore“ bzw „no ’ l premerai più sul tuo cuore“ (S -11) aus, und auch hier muss man das Vorbild nicht lange suchen: „le cœur d’un père“/ „tu ne le presseras jamais sur ton cœur“ (Barante, S - 25) . Bleibt nachzutragen, dass der Anonymus mit „il paterno seno“/ „tu non lo stringerai mai più al tuo seno“ (S .- 31) erneut näher am Schillerschen Original bleibt Dem klassizistischen Literaturverständnis Maffeis ist die euphemistische Übersetzung einer Textstelle geschuldet, an der der Diener Daniel sich dagegen verwahrt, zum Erfüllungsgehilfen Franz Moors zu werden Wenn dieser bei Schiller beteuert: „(…) aber ich will (…) lieber vor Durst mein eigenes Wasser saufen, als Wohlleben die Fülle verdienen mit einem Todschlag“ (4 Akt, 3 . Szene (2) , S .-153-154), so drückt er sich bei Maffei vornehmer aus: „Voglio piuttosto (…) suggere il sangue mio (…)“ (S - 137) 122 Auch hier zum Vergleich dieselbe Textstelle bei Barante: „(…) j’aime mieux que la soif me force à boire mon sang (…)“ (S -165); dagegen sehr explizit bei Bianchi-Gio- 119 Bianchi-Giovini folgt hier nicht dem Französischen, sondern übersetzt erklärend: „fa gesti quanto un energumeno“ (S -41) 120 Dieser übersetzt nur den Schluss der Bemerkung: „(…) e però dovettero ritirarsi con tanto di naso“ (Anonymus, S -37) 121 Vgl die Bekehrung des Saulus in der Lutherbibel: „Und alsobald fiel es von seinen Augen wie Schuppen, und er ward wieder sehend“ (Apostelgeschichte 9,18) In der bis zum 20 Jahrhundert am weitesten verbreiteten italienischen Bibelübersetzung von Antonio Martini (1778/ 1780) lautet die Textstelle: „E subito caddero dagli occhi di lui certe come scaglie, o ricuperò la vista“ (atti degli apostoli 9,18) 122 Maffei ist aber im Gegensatz zu Barante nicht konsequent in seiner Wahl, wie eine andere Textstelle belegt . Als Franz eine Szene zuvor eben diese Drohung ausspricht, übersetzt Maffei: „(…) e ingollar per la sete ardentissima gli umori del corpo tuo? “ (S -128) Barante bleibt hier bei seiner Übersetzung „boire ton sang“ (S -155) . <?page no="234"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 234 vini: „Ma io vo’ più presto (…) bermi la mia propria orina (…)“ (S .-131) . Aber nicht nur Euphemisierungen, sondern auch erläuternde Zusätze im Französischen finden bei Maffei ihr Echo Dazu zwei Beispiele, die den denotativen Aspekten der Lexik subsumiert werden können Franz Moors Anklage gegen die Natur, „Warum mußte sie mir diese Bürde von Häßlichkeit aufladen? gerade mir? “ (1 . Akt, 1 . Szene, S .-13), erhält bei Barante durch eine kleine Ergänzung zusätzliche Emphase: „pourquoi précisément moi; moi, et pas un autre? “ (S -25) Man vergleiche die Textstelle bei Maffei: „e me, giusto me piuttosto che un altro“ (S -11) Sein Vorgänger Bianchi-Giovini hält diesen Zusatz nicht für nötig und formuliert knapp: „Appunto me! “ (S -31) Das zweite Beispiel belegt, dass Maffei sich auch dort die französische Fassung zum Vorbild nimmt, wo die explikative Übersetzungslösung Barantes eher fragwürdig ist So spottet Karl Moor in seiner Schmährede auf das „tintenkleksende Sekulum“ (S - 17): „Schöner Preiß für euren Schweiß in der Feldschlacht, daß ihr jetzt in Gymnasien lebet, und eure Unsterblichkeit in einem Bücherriemen mühsam fortgeschleppt wird“ (1 Akt, 2 Szene, S -18) Im Französischen wird-- wohl mangels einer direkten Entsprechung- - das Kompositum „Bücherriemen“ erklärend übersetzt: „(…) d’avoir votre gloire enfermée sous la courroie qui attache les livres d’un écolier“ (S .-30) Da es sich aber um eine bildhafte Wendung handelt, ist diese auf der konkreten Ebene angesiedelte Erklärung eher störend Dennoch folgt Maffei in seiner Übersetzung der französischen Lösung: „(…) e sentirvi accalappiata l’ immortalità fra le coreggie che legano i libri scolastici“ (S -15) Dass es auch anders geht, zeigt Bianchi-Giovini, der sich auf die knappe Nominalphrase „nelle cinghie scolaresche“ (S -34) beschränkt Zum Schluss sei noch auf einen konnotativen Aspekt der Lexik verwiesen: Karl Moors scharfzüngige Kritik an der Bigotterie der christlichen Kleriker in der zweiten Szene des ersten Akts, „Verdammen den Sadduzäer, der nicht fleißig genug in die Kirche kommt, und berechnen ihren Judenzins am Altare--“ (S -19), wird von Maffei ebenso wie von Barante etwas gemildert Beide ersetzen die antisemitisch konnotierte Bezeichnung „Judenzins“ durch einen neutraleren Begriff: Maffei spricht von „i guadagni delle loro usure“ (S -16), offensichtlich angelehnt an Barantes „l’ intérêt de leur argent “ (S -31) Wie zu erwarten ist Bianchi-Giovini weniger zurückhaltend: „(…) e conteggiano da spilorcio le loro decime di ebreo all’altare“ (S -35) Als Quintessenz der Analyse bleiben die folgenden Punkte festzuhalten: 1) Bei beiden italienischen Übersetzern lässt sich anhand der aus dem Französischen übernommenen sprachlichen Fehlleistungen von einer Form der Übersetzung aus zweiter Hand sprechen 2) Dabei übernimmt Maffei weitaus häufiger fragwürdige Übersetzungen aus dem Französischen, und dies auch dort, wo der Anonymus passende Lösungen vorgibt Zum einen zeigt dies, dass für Maffei die französische Vorlage größere Autorität besitzt, da sie trotz aller „romantischen“ Orientierung am Original durchaus klassizistisch geprägt ist Zum anderen spricht daraus ein gewisses Misstrauen gegenüber dem Anonymus: Selbst wenn ihm der Urheber dieser anonymen Übersetzung nicht bekannt gewesen sein sollte, dürfte ihm der aus der Vorrede aufscheinende politisch libertäre Anstrich dieser Fassung wohl eher suspekt gewesen sein 3) Maffei unterlaufen außerdem eigene Übersetzungsfehler, die bei seinen Vorgängern nicht auftreten Er dürfte also in diesen Fällen nur das Original konsultiert haben, zumal es unwahrscheinlich ist, dass er Anregungen seiner Vorgänger unberücksichtigt lässt 4) Insgesamt bleibt Maffei näher als der Anonymus an der französischen Mittlerversion und übernimmt insbesondere er- <?page no="235"?> 2 Friedrich Schiller: Die Räuber 235 klärende Übersetzungen und auch sprachliche Unsicherheiten Barantes 5) Was heikle Textstellen betrifft, ist er trotz aller klassizistischen Prägung weniger dezent als der Anonymus Anders als dieser schließt er sich einigen Streichungen in der französischen Fassung nicht an 6) Der Anonymus formuliert insgesamt freier und eigenständiger, was vor allem in der Wahl seiner Figuren und Tropen zum Ausdruck kommt, und übernimmt aus dem Französischen mit Vorliebe kreative lexikalische und stilistische Lösungen 7) Insbesondere erlaubt sich der anonyme Übersetzer eigenständige Eingriffe in Schillers Original: erstens in Form von ergänzenden Fußnoten, die erläuternde Bibelstellen und polemische Kommentare zur katholischen Kirche und sogar zu Schillers Stückauf bau enthalten; zweitens in Form von eigenmächtigen Zusätzen ästhetischer und polemischer Natur im Text selbst Diese Beobachtung darf im Übrigen nicht als Einzelfall abgetan werden Es zeigt sich darin vielmehr exemplarisch die Eigenart der Übersetzer, durch eigenmächtige Ergänzungen und Modifikationen im Text ihre Meinung über Autor und Werk und über die politischen und religiösen Verhältnisse ihrer Zeit kundzutun: Eine Praxis, die nicht nur zur Zeit der schönen Ungetreuen, sondern auch im hier gewählten Untersuchungszeitraum und vielleicht noch darüber hinaus verbreitet war Die Übersetzer beschränken sich also durchaus nicht immer auf die eigens diesem Zweck dienenden Vorreden, sondern nutzen auch den Übersetzungstext selbst bewusst als „Forum“ . So ist stets Vorsicht geboten, wenn man eine Übersetzung als „Stellvertreterin des Originals“ lesen will 2.6 Rezeption und Wirkung der Übersetzungen aus zweiter Hand: zwischen Lesefassung und Opernbühne Es bleibt also festzuhalten, dass beide italienische Übersetzungen von einem eher klassizistisch geprägten Umgang mit dem Original zeugen, der bei Maffei erwartbar war, bei Bianchi-Giovini ein wenig im Widerspruch zu dessen im Vorwort aufscheinenden liberalen Anschauungen steht Dabei hat Barantes französische Fassung diese Tendenz wenn nicht vorgezeichnet, so doch zumindest verstärkt . Bemerkenswert ist, dass Maffei trotz vorhandener italienischer Übersetzung die französische Vorlage konsultiert, und dies sogar weitaus häufiger als sein Vorgänger . Da ihm die der Zensur unterliegende italienische Fassung aber nachweislich vorlag, muss diese Präferenz der Autorität des französischen Textes geschuldet sein Maffeis Übersetzung wirkt durch die französische Folie „dunkler“ und weniger klar, denn dieser übernimmt Ungereimtheiten des französischen Textes ebenso wie eng am deutschen Muster gebildete Tropen Imbrianis (1877/ 2 1888, 272) weiter oben zitierte Polemik gegen Maffei als Übersetzer „da una cattiva traduzion francese“ ist also nicht ganz unbegründet, wenn auch in dieser kategorischen Form nicht haltbar Aber auch bei Bianchi-Giovini ist die im Vorwort angelegte Abgrenzung von der französischen Übersetzung im Text selbst kaum spürbar Man könnte dies als weiteren Beleg dafür werten, dass die Stärke von Barantes Fassung eben darin liegt, klassizistische und romantisch-liberale Geister gleichermaßen anzusprechen Hinsichtlich der Rezeption der italienischen Übersetzungen sollte man sich zunächst in Erinnerung rufen, dass Schillers Räuber in Italien überhaupt erst ein halbes Jahrhun- <?page no="236"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 236 dert nach ihrem Erscheinen erstmals auf Italienisch rezipiert werden Zuvor wurde bekanntlich die französische Fassung Barantes direkt konsultiert, so dass viele italienische Leser bereits durch dessen Sicht Schillers beeinf lusst waren . Während sich aber Barantes Version in Frankreich erst gegen die vorausgegangene „revolutionäre“ Rezeption des Stückes im Stil des Robert, chef des brigands behaupten musste, lässt die relativ späte Rezeption in Italien im Zuge der klassizistischen Rezeptionswelle, die durch Mme de Staël ausgelöst wurde, ein homogenes, kaum ambivalentes Bild des Werkes entstehen, das die revolutionäre Interpretation weitgehend ausblendet . Da die Fassung des Anonymus aufgrund des Druckverbotes für die italienische Leserschaft nur schwer zugänglich ist, findet das Stück erst weitere vierzehn Jahre später durch den Cavaliere Maffei Verbreitung, der schon damals als einer der bedeutendsten Literaten und Übersetzer Italiens gilt 123 Zur Popularität von Maffeis Übersetzung hat aber noch ein weiterer Faktor beigetragen: Obgleich auch hier eine Revolution den historischen Hintergrund bildet 124 , wird das Werk einem breiteren italienischen Publikum nicht durch revolutionäre Bühnenfassungen bekannt 125 , sondern erneut durch ein „klassizistisches“ Medium-- die Oper . Und einmal mehr ist es Andrea Maffei, der mit seinem 1847 entstandenen Libretto zu I Masnadieri 126 , Giuseppe Verdis musikalischer Bearbeitung des Stoffes, den Räuber[n] eine Stimme verleiht Indem er durch seine-- bekanntlich vom Französischen beeinf lusste-- Übertragung die revolutionäre Kraft Verdis bremst, übt er entscheidenden Einf luss auf die italienische Räuber-Rezeption aus 127 Die Oper wird am 22 Juli 1847, am Vorabend der Revolution von 1848, in London uraufgeführt und noch im selben Jahr, kurz vor dem Volksaufstand der Cinque giornate di Milano, auch in Mailand auf die Bühne gebracht Zwar verbindet Maffei mit dem Maestro eine persönliche Freundschaft, aber dessen politisch motivierte Wahl des Stückes als Chiffre des revolutionären Auf begehrens spiegelt sich in seinem Libretto nicht wider Verdis liberale Gesinnung sucht man darin vergeblich, es ist ebenso politisch harmlos und unbedenklich wie schon seine Lesefassung In seinem Vorwort spricht Maffei den Masnadieri gar jeglichen Bezug zur aktuellen politi- 123 Cusatelli (2005, 24) spricht sogar vom gesamten 19 Jahrhundert (bis in die 1890er Jahre hinein) als einer Art „Maffei-Zeitalter“ Noch bis 1882 erscheinen Neuauf lagen seiner Übersetzungen 124 Dass Schillers Stücke auch in Italien in revolutionären Epochen an Aktualität gewinnen, zeigt ein Seitenblick auf Rossinis Oper Guillaume Tell, die 1829, am Vorabend der Juli-Revolution, uraufgeführt wird und sich in Italien großer Popularität erfreute (vgl auch Bevilacqua 2007, 53) 125 Eine Episode der an Lamartelières Robert angelehnten Räuber-Rezeption über das Medium der Oper ist allerdings erwähnenswert: Saverio Mercandantes Oper I Briganti, die im März 1836 in Paris und ein Jahr später auch in Italien gespielt wurde Vgl Unfer-Lukoschik 2004, 245 126 I Masnadieri. Melodramma in quattro parti Poesia del Cav A Maffei- - Musica di G Verdi- - Da rappresentarsi nel teatro Berico di Vicenza in occasione della Fiera del 1851 Milano, coi tipi di Francesco Lucca, 1847 127 Maffeis Einf luss reicht nebenbei bemerkt noch weiter: Auch zwei andere Sturm und Drang-Dramen Schillers, Kabale und Liebe (1849 vertont als Luisa Miller) und Don Karlos (Don Carlo, 1867) erschließen sich Verdi durch Maffeis Übertragungen; daneben auch die klassischen Stücke Die Jung frau von Orleans (1845 als Giovanna d ’Arco in Mailand uraufgeführt) oder Wallensteins Lager (La forza del destino, Uraufführung 1862 in Sankt Petersburg Pate gestanden hat hier neben dem ersten Teil des dramatischen Gedichts Wallenstein das spanische Schauspiel Don Álvaro, ó La fuerza del destino von Angelo Perez de Saavedra de Rivas) Vgl dazu auch Unfer-Lukoschik 2004, 235 <?page no="237"?> 2 Friedrich Schiller: Die Räuber 237 schen Lage ab 128 Einen Eindruck vom allgemeinen Charakter des Librettos vermittelt der erste Absatz des Vorwortes: 129 Questo melodramma è tratto dalla celebre tragedia di Federico Schiller: I Masnadieri; il primo drammatico lavoro uscito da quel divino intelletto avanti che l’età matura e lo studio dell’uomo ne temperassero la troppo ardente immaginazione I duri contrasti di cui fu travagliata la prima gioventù del poeta ed un’anima naturalmente inclinata al dolore gli ispirarono questo dramma terribile, il quale, com’è noto, sedusse le calde fantasie di molti giovani a cacciarsi per le foreste nell’intento sognato di migliorare i costumi coi misfatti e col sangue Ma se questa spaventosa pittura della società manca in parte di vero e di quella sapiente cognizione del cuore che ammiriamo nella Stuarda, nel Tell e nel Wallenstein, presenta a riscontro un interesse cosí vivo e crescente ed uno svolgersi di affetti e di avvenimenti cosí vario ed efficace, che non saprei qual altro lavoro di penna potesse offrire situazioni più accomodate alla musica Indem sich Maffei von jeglichen revolutionären Umtrieben distanziert, die das Stück etwa auslösen könnte („le calde fantasie di molti giovani“), betont er andererseits dessen pittoreske Seite („uno svolgersi di affetti e di avvenimenti cosí vario ed efficace“) und damit den reinen Unterhaltungswert des Werkes Der Charakter seines Librettos, das sich auf die Liebesgeschichte konzentriert und die tragische Spannung von Schillers Original ziemlich verwässert, ist sicherlich zum Teil auf die herrschenden Gattungskonventionen zurückzuführen 130 Er zeugt aber vor allem von Maffeis bewusst klassizistischer Übersetzungshaltung, die Verdis revolutionären Ansatz nicht mitträgt 131 Zur Illustration mag Maffeis Übertragung von Karls libertär-patriotischem Ausruf in der zweiten Szene des ersten Akts genügen Wenn es bei Schiller (1781, 20) heißt: „Stelle mich vor ein Heer Kerls wie ich, und aus Deutschland soll eine Republik werden, gegen die Rom und Sparta Nonnenklöster seyn sollen“, so liest sich das bei Maffei (1847, 1 . Akt, 1 Szene) harmlos und politisch unbedenklich: „Vorrei Lamagna tutta/ Far libera così, che Sparta e Atene/ Sarieno al paragon serve in catene“ 132 Die These, dass Maffeis Libretto an die Lesefassung angelehnt ist, liegt auf der Hand, lässt sich aber auch dadurch belegen, dass die Übersetzungen der Lieder und Versdichtungen unverändert übernommen wurden Die starke Präsenz der Verdi-Oper in der italienischen Kultur des Ottocento könnte die Interpretation nahelegen, dass Maffeis klassizistisch-konventionelles Libretto-- ähn- 128 Vgl Bevilacqua 2007 53 Dies bewahrt die Oper allerdings nicht vor Beanstandungen durch die Zensur, wie Unfer-Lukoschik (2004, 246) betont, so etwa im Lombardo-Veneto und vor allem im Vatikanstaat 129 Zit nach Budden 1985, 344 130 So werden die fünf Akte des Schauspiels für die Opernfassung auf vier gekürzt, und die Oper beginnt nicht mit der berühmten Briefszene, die zu wortlastig ist, sondern mit der affektbetonten zweiten Szene des ersten Akts, dem Dialog zwischen Karl Moor und Spiegelberg, der auf „Szene und Arie“ des Carlo reduziert wird Vgl Schnitzler 2005, 47 131 Hier ist Schnitzlers (2003, 75) Einschätzung zu relativieren, der es dem „Ethos“ des Übersetzers Maffei zuschreibt, wenn Verdi an dem Drama erstaunlich wenig geändert habe (Maffei habe ihn „auf wesentliche dramaturgische, ästhetische und ideelle Intentionen Schillers“ (ebd 74) aufmerksam gemacht ) Denn schließlich hat sein Übersetzerethos Maffei nicht daran gehindert, Schillers Drama politisch zu entschärfen und quasi zu „ästhetisieren“ 132 Dieses Beispiel zitiert auch Osthoff 2003, 41 <?page no="238"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 238 lich wie zuvor Barantes Version in Frankreich- - in Verbindung mit Verdis „revolutionärer“ Vertonung italienische Classicisti und Romantici gleichermaßen anspricht und so das revolutionäre und das „gemäßigte“ Lager versöhnt Die populäre Vertonung sorgt ihrerseits dafür, dass Schillers Räuber in Italien mit Vorliebe in Maffeis Übertragung gelesen werden, zumal diese durch ihren melodramatischen, gut singbaren Stil am stärksten an die Oper erinnert 1850 erscheint eine fünf bändige Gesamtausgabe von Schillers Dramen in Maffeis Übersetzung mit einem Vorwort von Francesco De Sanctis, deren zweiter Band auch die Übersetzung der Räuber enthält 133 Fast ein ganzes Jahrhundert lang bleibt diese-- ebenso wie die anderen Übersetzungen Maffeis, die dort als Klassiker gelten-- in Italien so gut wie ohne Konkurrenz Die Wirkung der Räuber muss vor dem Hintergrund der unmittelbaren Wirkungsgeschichte Schillers in Italien gesehen werden, deren wichtigstes Moment Alessandro Manzonis Schiller-Rezeption bildet 134 Zumindest bis 1820 hatte Manzoni die Werke des deutschen Dichters aufmerksam studiert; Spuren seiner Rezeption finden sich etwa in der historischen Tragödie Il Conte di Carmagnola Allerdings dienen ihm nicht die italienischen Übersetzungen als Vorbild, sondern vielmehr die französischen Fassungen sowie Schillers Werke im Original Über Frankreich vermittelt ist auch der Einf luss, den Schillers Jugendwerke, darunter seine Räuber, auf Silvio Pellico ausübten; dessen frühe Tragödien enthalten einige Anklänge an Schiller 135 Wenn sich also Italiens Literaten von Schiller inspirieren lassen, so geschieht dies in aller Regel nicht über die-- mittelbare- - italienische Übersetzung, sondern auf direktem Wege über das Französische oder gleich anhand des Originals 136 Bemerkenswert bleibt aber gerade die Tatsache, dass neben der Maria Stuart vor allem Schillers Jugendwerke in der italienischen Literatur dieser Zeit Spuren hinterlassen haben Diese sind es schließlich auch, die mit Vorliebe von berühmten italienischen Komponisten vertont wurden und so zu allgemeiner Popularität gelangten 133 Opere drammatiche di F. Schiller/ recate in italiano dal Cav Andrea Maffei Firenze: Le Monnier, 1850 Vgl dazu auch Bevilacqua 2007, 55-56, der ganz allgemein die Popularität von Verdis und Rossinis Schiller-Opern dafür verantwortlich macht, dass Schiller in Italien mehr als andere „nordische Dichter“ gelesen wurde 134 Zu Manzonis Schiller-Rezeption vgl das Kapitel „Federico Schiller e Alessandro Manzoni“ in Mazzucchetti 1913, 191-298 135 Mazzucchetti (1913, 305-306) verweist auf Pellicos Tragödie Turno, deren Heldin Lavinia- - wenn auch eher unbeabsichtigt-- Ähnlichkeiten mit der Amalia aus den Räuber[n] aufweist 136 Mazzucchetti (1913, 356 f ) sieht das rege Interesse für Schiller bei italienischen Literaten in der „Vermittlerfunktion“ Schillers begründet: Er sei für sie einfacher zugänglich als Shakespeare, dessen Vorbild man nacheifere und dem man mit Schillers Hilfe näherzukommen glaube <?page no="239"?> 3 E. T. A. Hoffmann: Der goldene Topf Der romantische Autor E T A Hoffmann ist in Frankreich ähnlich wie Schillers Räuber erst auf Umwegen bekannt geworden Die erste in Frankreich publizierte Erzählung wurde 1823 unter dem Titel Olivier Brusson als historischer Roman ohne Hinweis auf den Autor von dem französischen Schriftsteller Henri de Latouche als Übersetzung herausgegeben Im Jahr darauf wurde sie unter dem Titel Cardillac im Pariser Théâtre de l’Ambigu- Comique mit großem Erfolg als Melodram uraufgeführt Mit Schillers Jugendwerk-- wie im Übrigen auch mit Goethes Faust- - verbindet Hoffmanns Werke auch die Tatsache, dass sie in Frankreich gern zu populären, volksnahen Fassungen adaptiert wurden . Dabei ist E T A . Hoffmann das Paradebeispiel eines deutschen romantischen Schriftstellers, <?page no="240"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 240 der besonders in Frankreich rezipiert wurde und der dortigen Literatur entscheidende neue Impulse gegeben hat . In der Geschichte der deutsch-französischen Literaturbeziehungen ist die französische Hoffmann-Rezeption ein einzigartiges Phänomen 137 Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass die italienische Rezeption des Dichters der französischen Vermittlung sehr viel zu verdanken hat . Und dies, obwohl gerade E T A . Hoffmann die noch stark vom Klassizismus beeinf lussten französischen Übersetzer vor eine besondere Herausforderung stellt: Für ihn ist bereits der literarische Text selbst nur „eines matt geschliffnen Spiegels dunkle[r] Widerschein“ 138 Diese dunkle, dem glasklaren Stilideal der Auf klärung zuwiderlaufende Erzählweise gilt es französischen Ohren gerecht zu übertragen . Für eine nähere Analyse eignet sich besonders Hoffmanns vielschichtiges Kunstmärchen Der goldene Topf, eines seiner Meisterwerke und zugleich eines der zentralen Werke der deutschen Romantik, das auf exemplarische Weise magische und märchenhafte Motive mit der scharfsinnigen Zeichnung der Realität seiner Zeit verknüpft Das romantische Ideal der Verbindung der verschiedensten Künste erfährt darin seine Apotheose Darüber hinaus gehört es zu den wenigen Werken Hoffmanns, die in Frankreich und Italien ungekürzt und nicht nur fragmentarisch rezipiert und übersetzt wurden 139 In Frankreich 140 gelangte es sogar zu größerer Berühmtheit als in der deutschen Öffentlichkeit seiner Zeit, wo es schnell wieder in Vergessenheit geriet 3.1 Zu Hoffmann und seinem Original Hoffmanns „Märchen aus der neuen Zeit“ erscheint erstmals 1814 bis 1815 im dritten Band der vierbändigen Sammlung der Fantasiestücke in Callot ’s Manier bei Carl Friedrich Kunz in Bamberg Sie enthält eine heterogene Zusammenstellung von mehr als zwanzig Einzeltexten, zu denen neben fantastischen Erzählungen auch kunst- und musiktheoretische Werke und Rezensionen zählen Die Erzählung wurde längere Zeit unter dem Titel Der goldne Topf zitiert, wie Kremer (1999, 16) referiert, da sie in der zweiten, von Hoffmann überarbeiteten Auf lage der Fantasiestücke von 1819 unter diesem Titel abgedruckt wurde 141 In der neueren Forschung kehrt man aber wieder zur ursprünglichen Schreibung des Titels zurück, zumal umstritten ist, ob die neuere Version auf den Autor 137 Vgl Utz (2007, 43), der sich mit den französischen Übersetzungen von Hoffmanns Sandmann beschäftigt hat . 138 Aus Hoffmanns Erzählung Der Sandmann (Hoffmann 1817/ 1993, 19) 139 Noch vor der französischen erschien übrigens die englische Übersetzung des Hoffmannschen Kunstmärchens aus der Feder von Thomas Carlyle, die 1826 im zweiten Band der Reihe German Romance abgedruckt wurde Vgl Kremer 1999, 24 140 Teichmann (1961, 228) hebt hervor, dass es nicht umsonst als erstes Werk Hoffmanns in Frankreich rezipiert wurde, denn „[c]’est là qu’Hoffmann révèle magistralement sa conception du fantastique“ 141 Mit Ausnahme einiger weniger orthographischer Anpassungen enthält das Märchen in der zweiten Auf lage keine signifikanten Änderungen Demgegenüber hat Hoffmann etwa die Erzählungen Der Magnetiseur und Abenteuer der Silvesternacht in der zweiten Auf lage grundlegend überarbeitet und gekürzt Insgesamt gilt sein Augenmerk bei der Durchsicht vor allem stilistischen Aspekten wie Eindeutschen von Fremdwörtern, Vereinfachung der Syntax und Verbesserung von Rhythmus und Sprachmelodie Vgl . dazu Kremer 2009, 108 f <?page no="241"?> 3 E. T. A. Hoffmann: Der goldene Topf 241 selbst oder auf seinen Verleger Kunz zurückgeht 142 Mit der Bezeichnung Fantasiestücke im Titel des Sammelbandes lehnt sich Hoffmann an ein malerisches Genre an 143 und begründet damit zugleich eine literarische Gattung . Er verweist auf das romantische Ideal der synästhetischen Verknüpfung verschiedener Künste, denn der Schaffensprozess des Dichters ähnelt nach romantischer Vorstellung den schöpferischen Kompositionen eines Malers oder Musikers So lässt sich Frenzel/ Frenzels ( 2 1985, 302) Definition der Fantasiestücke als „frei mit den Gegebenheiten des Lebens schaltende Erzz . [Erzählungen] (…), die ganz aus der Einbildungskraft leben und in denen der kausale Zusammenhang des Weltgefüges aufgehoben ist“ auch auf die grotesken Kupferstiche Callots übertragen . Die phantastischen Erzählungen nähern sich dem Märchen, der bevorzugten literarischen Form der frühen Romantik In seinem Fantasiestück Der goldene Topf perfektioniert Hoffmann die ihm eigene Ausprägung, das „Wirklichkeitsmärchen“ 144 , das das Phantastische mit der alltäglich umgebenden Realität verbindet- - nicht umsonst versieht er sein Werk mit dem sprechenden Untertitel „Ein Mährchen aus der neuen Zeit “ 145 Das zentrale Prinzip ist ein scheinbar unauf löslicher Dualismus zwischen innerer und äußerer Welt, den der Protagonist der Erzählung, der linkische Student Anselmus, als quälenden, verwirrenden Konf likt zwischen realistischer Wahrnehmung und phantastischer Welt erlebt 146 Damit inszeniert Hoffmann seinen Helden als den wahren Dichter, der die Gestalten seiner Phantasie im alltäglichen Leben lebendig werden lässt Die Figuren der biedermeierlichen „äußeren Welt“ zeichnet er dabei mit der ironischen Schärfe des Karikaturisten, während seine phantastischen Gestalten, in denen sich Elemente der romantischen Naturphilosophie widerspiegeln, stets der Hauch des Geheimnisvollen umweht Die Handlung des Kunstmärchens fasst Kremer (1999, 29) anschaulich als „erotische Dreiecksgeschichte“ zusammen: 142 Kremer (1999, 16) verweist auf die kritische Ausgabe von Hartmut Steinecke in Band II/ 1 der gesammelten Werke Hoffmanns im Klassiker Verlag 1993, die erstmals wieder auf die ursprüngliche Orthographie zurückgreift und so die neue Praxis begründet Zur Titelfrage vgl auch Deterding 2007, 60-66 143 Genauer gesagt bezieht Hoffmann sich auf die groteske Darstellungsweise des lothringischen Malers und Kupferstechers Jacques Callot In den skurrilen Gestalten Callots, Verkörperungen der romantischen Ironie, scheint für Hoffmann die in seinen Erzählungen stets präsente „zweite Wirklichkeit“ hinter der alltäglichen Realität auf Vgl Hübener 2004, 56 144 Frenzel/ Frenzel (ebd 303) unterscheiden zwischen dem „Volksmärchen“ mit geschlossener Form, der offen angelegten „Märchen-Arabeske“, wie man sie bei Brentano findet, und besagtem „Wirklichkeitsmärchen“ bei Hoffmann 145 Mit diesem Titelzusatz betont Hoffmann den Unterschied zu den Hausmärchen Ph O Runges und der Gebrüder Grimm, deren Handlung durch die Einleitungsf loskel „Es war einmal“ in längst vergangene Zeiten oder in eine mythische Zeitlosigkeit entrückt ist: „Feenhaft und wunderbar, aber keck ins gewöhnliche alltägliche Leben tretend und sei[ne] Gestalten ergreifend soll das Ganze werden“ (Brief Hoffmanns vom 19 .08 1813, zit nach Schnapp 1967, 408) 146 So besitzt denn auch jede der Hauptfiguren bei Hoffmann eine Art doppelte Identität, eine phantastische und eine alltäglich-biedermeierliche: Das Pendant des Poeten Anselmus ist in der Philisterwelt Registrator Heerbrand; der Magier Lindhorst, alchemistischer Magier und esoterischer- Feuersalamander, ist im bürgerlichen Leben verbeamteter Archivarius; und die phantastische Schlange Serpentina, die älteste seiner drei „Töchter“, findet ihr Alter Ego in der bürgerlichen Veronika Paulmann Vgl hierzu Schmidt 1981 sowie Kremer 1999, 28 <?page no="242"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 242 [D]er junge Student und Schönschreiber mit poetischen Ambitionen [steht] zwischen zwei entgegengesetzten Erscheinungen des Weiblichen: die körperliche Veronika Paulmann mit dem handfesten Interesse, zu heiraten und Frau Rätin zu werden, und die ätherische Schöne namens Serpentina, die körperlos ist und dem romantischen Jüngling die Freuden einer rein poetischen Existenz verspricht . Da Lindhorst seine Töchter unter die Haube bringen möchte, ätherische Töchter es aber schwer haben, stiftet er den goldenen Topf als Mitgift für einen zukünftigen Ehegatten Er fällt aber nur dem zu, der sich für die Seite der poetischen Imagination entscheidet . In zwölf Kapiteln, die als Vigilien, Nachtwachen, bezeichnet werden, berichtet der Erzähler von den körperlichen Anfechtungen des Studenten, seinen Mißgeschicken, seiner schließlichen Verpf lichtung auf die platonische Seite des Erotischen und seiner Vermählung mit der ätherischen Dame, die zu einem Rittergut in Atlantis führt Für ein vertiefendes Studium des Werkes sowie seiner deutschsprachigen Rezeption soll an dieser Stelle auf die einschlägige Literatur verwiesen werden 147 Mit Blick auf seine italienische Rezeption, die einen Schwerpunkt der sich anschließenden Untersuchung bilden wird, ist aber Hoffmanns besonderer Bezug zu Italien von Interesse, der sich vor allem in literarischen Anleihen bei dem damals unter deutschen Literaten ausgesprochen beliebten Autor Carlo Gozzi bemerkbar macht 148 Die 1772 erschienenen Fiabe des venezianischen Grafen geben Anlass zu zahlreichen Neubearbeitungen, und hier ist es einmal mehr Schiller, der mit seinem 1801 verlegten „tragikomische[n] Märchen nach Gozzi“ Turandot eine Welle von Bearbeitungen auslöst Hoffmann ist ebenfalls stark von diesem szenischen Märchen beeinf lusst, allerdings in Gozzis Original und nicht etwa in Schillers Fassung Noch stärker beeindruckt hat ihn aber Gozzis Stück L’amore delle tre melarance (1761), auf das er in den Fantasiestücken immer wieder Bezug nimmt . Namentlich die Handlung seines Märchens Der goldene Topf erinnert mit den drei goldgrünen Schlangen stark an die Geschichte der Tre melarance Über solche literarischen Bezüge hinaus ist Italien aber auch in anderer Hinsicht in Hoffmanns Werk präsent . Die Schauplätze, Milieus und Motive vieler seiner Erzählungen und Romane evozieren die künstlerische Welt Italiens-- man denke nur an die in den Fantasiestücken enthaltenen Kreisleriana Aber insbesondere seine leichtfüßige Erzählung Prinzessin Brambilla, die vor der farbenfrohen Kulisse des römischen Karnevals spielt, zeugt von seiner ausgeprägten Sympathie für dieses Land Welcher Natur sind nun die Italien-Bezüge in Hoffmanns Werk? Die Klärung dieser Frage verspricht Aufschluss darüber zu geben, wie sein Œuvre aus italienischer Perspektive aufgenommen wurde und inwieweit dessen dortige Rezeption durch die italienisch beeinf lusste Motivik erleichtert wurde . Zunächst ist festzuhalten, dass Hoffmann sich zwar die Sprache des Landes, das seiner Neigung zu Musik und Malerei entgegenkam, eifrig aneignete, es selbst aber nie bereiste, obgleich er, wie sich bei Gugenheim (1925, 15) nachlesen lässt, zeitlebens diesen Wunsch hegte: 147 Zu Hoffmanns Erzählungen und Romanen vgl die bereits zitierte Monographie von Kremer (1999), dort besonders das Kapitel II zu Der goldene Topf, ebd 15-39; ferner Kremer (2009) . Interpretationen seiner Werke finden sich zudem etwa bei Feldges/ Stadler (1986) oder Deterding (2007) 148 Hoffmanns Verhältnis zu Italien beleuchten beispielsweise Göttings einschlägige Monographie (1992) sowie der Sammelband von Moraldo (2002), darin namentlich Giacobazzi (2002, 25-34); vgl ferner den sehr hilfreichen Aufsatz von Werner (1993, 133-142) sowie das Kapitel „Hoffmann e Gozzi“ bei Gugenheim (1925, 27-35) <?page no="243"?> 3 E. T. A. Hoffmann: Der goldene Topf 243 (…) il nostro scrittore desiderò fin dalla giovinezza, ardentemente, di visitare il nostro bel paese, pose questo viaggio come meta per il suo trentesimo anno d’età e mai, mai varcò, se non con la sua fantasia fervida, le Alpi nostre Oberf lächlich betrachtet entspricht seine Neigung ganz der herrschenden Italien-Sehnsucht seiner Zeit, die das Land als „terra dell’amore“ und „terra dell ’arte“ (Gugenheim 1925, 18) idealisiert Gegenstand seiner Bewunderung ist besonders der italienische Gesang, verkörpert in den Arien italienischer Operndiven . Doch bereits hier wird die Ambivalenz seines Italienbildes deutlich, da für ihn die „sinnliche Gewalt“ dieses Gesanges immer auch etwas Bedrohliches hat Negative literarische Klischees, wie das in Schillers Räubern entworfene Bild Italiens als Eldorado der Verbrecher und briganti, prägen ihn ebenso wie die gängigen Idealvorstellungen Für Werner (1993, 140) kristallisiert sich Hoffmanns ambivalente Haltung in zwei gegensätzlichen Polen: einem Idealbild von Sinnlichkeit, Schönheit, Musikalität und Genuss einerseits und einem realitätsbezogenen Kontrastbild andererseits, bei dem sich die „typisch deutsche“ Ordnung, Biederkeit, Bürokratie und Langeweile vor der Negativfolie von Willkür, Verbrechen, Anarchie und Lust abhebt Er führt dies darauf zurück, dass sich der Dichter durch seine Lebensumstände 149 an deutsche Verhältnisse gefesselt fühlt, denen er vergeblich zu entrinnen versucht- - was nicht zuletzt darin begründet liege, dass er sie selbst längst verinnerlicht habe Damit bleibt Hoffmann trotz oder vielmehr gerade wegen seiner Neigung zu Italien, die sich bei ihm als eine Art innere Zerrissenheit manifestiert, ein zutiefst deutscher Dichter 150 Die Vermutung liegt also nahe, dass die beschriebene Ambivalenz seines Zugangs, bei dem das Italienische immer auch als eine Art Exzess wahrgenommen wird, die im ersten Moment durch die italienische Motivik seiner Werke vereinfachte italienische Rezeption letztlich doch eher erschwert hat Positiv zu Buche schlagen mag dabei die „Amalgamierung“ Hoffmanns mit Goethe in der französischen Rezeption, von der im Folgenden noch die Rede sein wird Schließlich ist es durchaus denkbar, dass die französische Sichtweise auch in Italien Verbreitung gefunden und so den Zugang der Italiener zu Hoffmann über das unproblematischere Italienbild des Weimarers erleichtert hat 3.2 Rezeptionskontext in Frankreich und Italien im frühen 19. Jahrhundert 3 .2 1 Die verlegerische Rezeption von Hoffmanns Werken Die Fortune von Hoffmanns Der goldene Topf in Frankreich und Italien kann nicht losgelöst von der Rezeption seines gesamten Erzählwerkes betrachtet werden Denn zum ei- 149 Zeitlebens führt Hoffmann eine Doppelexistenz zwischen künstlerischer Berufung und „Brotberuf “ als Beamter: Der gelernte Jurist ist von 1800 bis 1806 als Assessor und Regierungsrat in Posen, Plock und Warschau beschäftigt, dann seit 1808 in Bamberg als Musikdirektor, Komponist, Regisseur und Bühnenmaler Nach Anstellungen als Kapellmeister in Leipzig und Dresden wird er 1816 Kammergerichtsrat im preußischen Staatsdienst in Berlin (vgl etwa Frenzel/ Frenzel 2 1985, 305) 150 Eine Gegenposition vertritt der Schriftsteller und Journalist Nino Erné (1971, 79), der in Hoffmanns Prinzessin Brambilla die genuin „italienische“ Seite des Dichters entdeckt: In keinem seiner Werke sei er so sehr „von Natur aus“ Italiener wie gerade in diesem Ja, er stellt sich gar die Frage: „Wie konnte er das italienische Volk so schildern, als kenne er es seit Jahren-- und ist doch nie über die Alpen gelangt? “ (ebd ) <?page no="244"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 244 nen hat der Dichter selbst seine Werke häufig zu Sammlungen wie den Fantasiestücke[n], den Nachtstücke[n] oder den Serapionsbrüder[n] zusammengefasst; und zum anderen erscheinen auch die in Buchform herausgegebenen Übersetzungen in solchen Erzählbänden, die meist nicht Hoffmanns ursprüngliche Zuordnung respektieren Gerade in Frankreich findet die frühe Rezeption des deutschen Romantikers innerhalb weniger Jahre sehr intensiv und auf zwei Verlagshäuser konzentriert statt, so dass das dortige „Gesamtbild“ seiner Werke die Aufnahme seiner einzelnen Erzählungen entscheidend beeinf lusst Aus diesem Grund erscheint es sinnvoll, die frühe Verlagsgeschichte hier im Zusammenhang darzustellen Die eigentliche verlegerische Rezeption von E T A Hoffmanns Romanen und Erzählungen setzt in Frankreich erst in den Jahren 1828 und 1829 ein, aber bereits im Frühjahr 1823 fand der deutsche Dichter in dem Schriftsteller Henri Latouche einen- - wenn auch eher unfreiwilligen- - Wegbereiter . Wie Köhler (1982, 45) referiert, geht dessen „Roman“ Olivier Brusson, der ohne Nennung des Autors veröffentlicht, jedoch als Übersetzung deklariert wurde, auf Hoffmanns im Paris des 17 Jahrhunderts angesiedelte Erzählung Das Fräulein von Scuderi zurück . Latouche verstärkt das Pariser Lokalkolorit und ändert u a . auch den Schluss des Werkes, dennoch bleibt die Vorlage deutlich erkennbar Die für die damalige Zeit durchaus nicht ungewöhnliche Episode spielt eine tragende Rolle in dem Verlegerstreit, der sich einige Jahre später zwischen Renduel und Lefèbvre entspinnen sollte Doch dazu später mehr Im Jahr 1828, zu einer Zeit, da der von seinen Landsleuten nicht selten als „Gespensterhoffmann“ belächelte Dichter nurmehr Unterhaltungsliteratur für ein vornehmlich weibliches Publikum liefert und in Deutschland langsam in Vergessenheit gerät, erscheinen im französischsprachigen Raum verstreut erste Übersetzungen 151 Zu nennen sind die stark gekürzten Fassungen von „Mademoiselle de Scudéry“ (Januar/ Februar) und „Les Ecarts d’un homme à imagination“ (März/ April) in der Bibliothèque universelle de Genève oder die Erzählung „L’Archet du baron de B.“ in der relativ unbekannten, in Balzacs Druckerei verlegten Zeitschrift Le Gymnase Im Februar des darauffolgenden Jahres geben Mame und Delaunay-Vallée die Erzählung „L’Elixir du diable“ heraus, die sie allerdings dem Schriftsteller Carl Spindler zuschreiben Im April 1829 schließlich wird die Revue de Paris gegründet, die von Mai bis Dezember desselben Jahres eine Reihe von Übersetzungen Hoffmannscher Erzählungen abdruckt Zu den Redakteuren der von Louis-Désiré Véron gegründeten Literaturzeitschrift gehören neben Honoré de Balzac, einem glühenden Bewunderer des Dichters, auch die beiden Hoffmann-Übersetzer François-Adolphe Loève-Veimars 152 und Saint-Marc Girardin . Zur Einstimmung auf den deutschen Romantiker greift das Blatt in seiner ersten Ausgabe vom 12 .-April 1829 ausgerechnet zu einem Artikel des berühmten schottischen Schriftstellers Sir Walter 151 Eine ausführliche chronologische Zusammenstellung der ersten Übersetzungen von Hoffmanns Werken zwischen 1828 und 1840 findet sich bei Teichmann (1961, 237-243) Vgl auch die Kapitel zu den „Premières traductions“ und zur „Vogue d ’Hoffmann“ (ebd 22-132 sowie passim), ferner die Ausführungen zu den „Erste[n] Übersetzungen zu Hoffmann“ bei Hübener (2004, 72-76) 152 Der 1801 in Paris als Sohn deutscher Eltern geborene Loève-Veimars hatte sich zuvor bereits als Übersetzer von Autoren wie Wieland, Van der Velde und Zschokke sowie durch diverse Berichte über Deutschland einen Namen gemacht Auch an der Übersetzung der Poésies von Goethe soll er beteiligt gewesen sein Vgl Teichmann 1961, 192 <?page no="245"?> 3 E. T. A. Hoffmann: Der goldene Topf 245 Scott 153 , der in gekürzter französischer Fassung 154 unter dem Titel „Du Merveilleux dans le roman“ erscheint Dies ist eine zweifelhafte Wahl, wenn man bedenkt, dass Scott im englischen Original „the Fantastic mode of writing“ als typisch deutsche Spielart des „Übernatürlichen“ in der Prosaliteratur pauschal als Genre abqualifiziert „in which the most wild and unbounded licence is given to an irregular fancy, and all species of combination, however ludicrous, or however shocking, are attempted and executed without scruple“ (Scott 1827, 72) Im letzten, hier nicht abgedruckten Teil des Artikels tritt dessen kritischer Tenor noch deutlicher zutage: Hoffmann sei mit seiner „overheated imagination“ (ebd 82) der Vorreiter oder wichtigste Exponent dieses Genres, bei der die Fantasie die Oberhand über die Vernunft gewinne 155 So spricht aus einigen Passagen nicht nur eine gewisse Herablassung, sondern ganz unverhohlener Spott: It is impossible to subject tales of this nature to criticism They are not the visions of a poetical mind, they have scarcely even the seeming authenticity which the hallucinations of lunacy convey to the patient; they are the feverish dreams of a light-headed patient, to which, though they may sometimes excite by their peculiarity, or surprise by their oddity, we never feel disposed to yield more than momentary attention In fact, the inspirations of Hoffmann so often resemble the ideas produced by the immoderate use of opium, that we cannot help considering his case as one requiring the assistance of medicine rather than of criticism (…) (ebd 87) Auf das französische Lesepublikum, dem im Gegensatz zur ursprünglich anvisierten englischen Leserschaft Hoffmann noch nahezu unbekannt war, dürfte ein solcher Artikel, selbst ohne die obigen Passagen, eher abschreckend gewirkt haben Es könnte sich natürlich auch um eine besonders geschickte Werbestrategie handeln, die darin bestand, durch einen solchen „Verriss“ die Neugier der französischen Leser zu wecken 156 Fest steht jedenfalls, dass sich Walter Scotts literarischer Angriff in Frankreich bald als Eigentor herausstellen sollte Nachdem auf diese Weise der Boden bereitet worden ist, wird am 17 Mai 1829 in der Revue de Paris ein erster Auszug aus Hoffmanns Werken abgedruckt Die Wahl fällt auf das Kunstmärchen Der goldene Topf Unter dem Titel Le Pot d’or erscheint lediglich eine Übersetzung der ersten Vigilie, allerdings nicht in der Fassung von Loève-Veimars, dem späteren Übersetzer der Hoffmann-Gesamtausgabe, sondern in der seines Redaktionskollegen Saint-Marc Girardin 157 Das Fragment ist mit einer kur- 153 Das Original wurde 1827 unter dem Titel „On the Supernatural in Fictitious Composition; and particulary on the Works of Ernest Theodore William Hoffmann“ in der Foreign Quarterly Review (Nr 1, Juli 1827, 60-98) abgedruckt 154 Tatsächlich umfasst der französische Artikel lediglich das erste Drittel von Scotts Original, in dem allgemein über das Genre des Fantastischen gehandelt wird und Hoffmann am Schluss als Paradebeispiel dieser deutschen Gattung angeführt wird 155 Als Negativbeispiel zur Illustration dieses „krankhaften“ Fabulierens führt Scott umfangreiche Textbeispiele aus Hoffmanns unheimlicher Erzählung Der Sandmann an, während er durchaus Bewunderung für die Charakterzeichnung und die moralische Stärke der Figuren auf bringt, die aus dessen Erzählung Das Majorat spreche-- zumal diese seinem realitäts- und vernunftbezogenen Literaturverständnis eher entgegenkommt 156 Diese Vermutung äußert Teichmann (1961, 23) 157 In seiner Einleitung rückt Girardin (1829, 68) die Erzählung Der goldene Topf in die Nähe der contes des fées und der Märchen aus Tausendundeiner Nacht und betont, dass sie nicht dem Schrecklichen und Entsetzlichen, sondern dem Genre des Fantastischen zuzuordnen sei Damit verteidigt er das Werk <?page no="246"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 246 zen Einleitung versehen und endet mit einem knappen Ausblick, der den Schluss des Märchens vorwegnimmt und den Leser so nicht gerade zum Kennenlernen des gesamten Werkes animiert In den folgenden Ausgaben von 1829 erscheinen nun nacheinander von Juni bis Oktober weitere Übersetzungen von Hoffmanns Erzählungen aus der Feder von Loève-Veimars, namentlich Gluck (14 Juni), Souvenir du siège de Dresden (12 . Juli), La Cour d’Artus (17 August), Don Juan (13 . September) und ein Fragment aus Les Aventures de la nuit de la Saint-Sylvestre Im Mercure de France veröffentlicht Loève-Veimars zudem am 7 und 14 November Auszüge aus Salvator Rosa (Signor Formica im Original) Nach dieser geschickten Vorbereitung des Terrains lanciert Renduel Ende November 1829 die ersten vier Bände von Hoffmanns Werken unter dem Titel Contes fantastiques 158 in Loève-Veimars’ Übersetzung, die denn auch begeistert aufgenommen werden Prosper Duvergier de Hauranne macht durch seinen am 26 Dezember 1829 in der Zeitschrift Le Globe publizierten Artikel zusätzlich auf die kürzlich erfolgte Veröffentlichung aufmerksam 159 Sie umfasst die Erzählungen I : Le Majorat (Das Majorat), Le Sanctus (Das Sanctus); II : Salvator Rosa (Signor Formica), La Vie d’artiste (Die Fermate); III : -Le Violon de Crémone (Rat Krespel), Marino Falieri (Doge und Dogaresse) 160 , Le Bonheur au jeu (Spielerglück); IV : Le choix d’une fiancée (Die Brautwahl) sowie Le Spectre fiancé (Der unheimliche Gast) Aufschlussreich ist das knappe Vorwort von Loève-Veimars 161 , das dem ersten Band vorangestellt wurde In Verbindung mit der ebenfalls darin enthaltenen Übersetzung des verbleibenden Teils von Scotts Artikel On the Supernatural in Fictitious Composition 162 , hier unter der Überschrift Sur Hoffmann et les compositions fantastiques, lässt sich das als provokante Werbestrategie deuten 163 Dies gilt umso mehr, als erst dieser Teil des Artikels- - von dem weiter oben bereits eine Kostprobe gegeben wurde- - die eigentliche Demontage Hoffmanns als ernstzunehmendem Schriftsteller enthält In seinem Vorwort verteidigt Loève-Veimars den Dichter geschickt gegen die Angriffe Scotts und weiß den Leser so auf seine Seite zu ziehen, wie folgender Auszug (Loève-Veimars 1830, i-ii) illustriert: gegenüber Kritikern wie Walter Scott, der in seinem Artikel, dessen Schluss zu diesem Zeitpunkt noch nicht übersetzt vorliegt, gerade in den unheimlichen, schrecklichen Zügen von Hoffmanns Erzählstil, wie er sie anhand des Sandmann[s] exemplarisch vorführt, das Krankhafte und Kritikwürdige seiner Kunst verkörpert sieht 158 Dieser französische Titel ist zwar angelehnt an Hoffmanns Fantasiestücke in Callot ’s Manier, die Sammlung selbst enthält aber disparate Erzählungen aus diversen Hoffmannschen Werken Die Bezeichnung contes fantastiques sollte in der Folgezeit in Frankreich zum Synonym für die gesamte Dichtung des deutschen Romantikers werden Auch die spätere Übersetzung Henry Egmonts erscheint von 1836 an unter diesem Titel 159 Ferner wird die Publikation in der Bibliographie de la France vom 5 Dezember desselben Jahres angekündigt Nur einige Tage vor der Veröffentlichung, am 15 November 1829, erscheint in der Zeitschrift Voleur Loève-Veimars’ Artikel „Les Dernières Années et la mort d ’Hoffmann“ 160 Schon im Dezember desselben Jahres erscheint in der Zeitschrift Mode eine „treuere“ und gelungenere Version dieser Erzählung unter dem Titel Le Doge et la dogaresse, die Loève-Veimars’ Fassung Konkurrenz macht: E C [sic! ] A Hoffmann, „Le Doge et la dogaresse“ Mode I (5 Dezember 1829), 227-271 Zit nach Teichmann 1961, 31 161 Bei dem Vorwort handelt es sich um einen Auszug aus seinem bereits im Oktober 1829 in der Revue de Paris veröffentlichten Artikel Vgl Teichmann 1961, 26 162 Das erste Drittel war wie erwähnt bereits im April 1829 in der Revue de Paris abgedruckt worden 163 Vgl hierzu Hübener 2004, 77 <?page no="247"?> 3 E. T. A. Hoffmann: Der goldene Topf 247 Il nous a semblé d’ailleurs que sa place [celle de l’article de Scott] était marquée à la tête de ce livre: Hoffmann pourra ainsi répondre par lui-même à son rigoureux critique -Ce n’était peut-être pas avec les principes de la raison la plus élevée, du goût le plus pur, qu’il fallait juger un Hoffmann (…) Hoffmann a vécu dans une fièvre continuelle; il est mort presque en démence: un tel homme était plus fait pour être un sujet d’études que de critiques, et on devait plutôt compatir à cette originalité qui lui a coûté tant de douleurs, qu’en discuter froidement les principes Der Erfolg dieser Strategie lässt denn auch nicht lange auf sich warten, denn die Publikation führt in Frankreich zu heftigen Kontroversen Der überwiegende Teil der Kritik zeigt sich erwartungsgemäß von Hoffmanns Werken begeistert und ist befremdet von den kritischen Thesen Walter Scotts Andere, die dem vermuteten konservativen Publikumsgeschmack entgegenkommen wollen, schenken dem Element des Fantastischen möglichst wenig Beachtung, da es den herrschenden literarischen Konventionen zuwiderläuft Entsprechend legen sie den Schwerpunkt auf Hoffmanns realistische Züge und folgen damit-- bewusst oder unbewusst-- dem Beispiel Scotts Trotz seiner prinzipiell ablehnenden Haltung findet dieser in seinem bei Renduel übersetzt abgedruckten Artikel lobende Worte für Hoffmann als scharfsinnigen Beobachter der menschlichen Natur So heißt es in Scotts Original (ebd 82): (…) Hoffmann seems to have been a man of excellent disposition, a close observer of nature, and one who, if this sickly and disturbed train of thought had not led him to confound the supernatural with the absurd, would have distinguished himself as a painter of human nature, of which in its realities he was an observer and admirer Scott sieht die positiven Eigenschaften des Erzählers Hoffmann vor allem in dessen Nachtstück Das Majorat verkörpert 164 Ein Vorzug von Hoffmanns realistischer Seite liegt aus seiner Sicht in dessen Talent, ein getreues Abbild einiger „typisch deutscher Charaktere“ zu zeichnen (ebd ): Hoffmann was particularly skilful in depicting characters arising in his own country of Germany Nor is there any of her numerous authors who have better and more faithfully designed the upright honesty and firm integrity which is to be met with in all classes which come from the ancient Teutonic stock Insgesamt sind die Besprechungen der Neuerscheinung zum größten Teil voll des Lobes für Hoffmann und Loève-Veimars Es gibt allerdings auch kritische Stimmen . So bringt ein anonymer Verfasser in der Revue encyclopédique 165 seine Zweifel an den übersetzerischen Fähigkeiten Loève-Veimars’ zum Ausdruck, dem es nicht gelungen sei, den farbenfrohen Stil von Hoffmanns humoristischen Erzählungen wiederzugeben Er habe einige Kürzungen vorgenommen und namentlich einige Stücke aus den Serapionsbrüder[n] aus 164 Insofern ist es nicht verwunderlich, dass das „Album“ der Revue de Paris am 22 November 1829 die Neuerscheinung unter Verweis auf die darin enthaltene Erzählung Das Majorat, „tant admiré par le romancier écossais“, bewirbt Die Verwunderung Teichmanns (1961, 29) über diesen Schachzug ist an dieser Stelle also nicht nachzuvollziehen 165 H C ., „Contes fantastiques de E T A Hoffmann“ Revue encyclopédique XLIV (Dezember 1829), 761- 763 Zit nach Teichmann 1961, 30 <?page no="248"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 248 ihrem Zusammenhang gerissen und isoliert übersetzt . Ein solches Fragment aus den Serapionsbrüder[n] veröffentlicht Loève-Veimars am 6 . Dezember des Jahres in der Revue de Paris erneut, unter dem Titel „Du Théâtre et de Zacharias Werner“ 166 Im Januar 1830 beginnt sich ein erbitterter Streit zwischen zwei Übersetzern Hoffmanns und ihren Verlegern zu entspinnen, an dem die Kritik sich lebhaft beteiligt . Angeregt durch den Erfolg der Renduelschen Hoffmann-Ausgabe platziert nämlich der Verlag Lefebvre am 16 Januar 1830 eine Anzeige im Constitutionnel, in der er das Erscheinen der „première livraison“ der Œuvres complètes de E. T. A. Hoffmann in der Übersetzung von Théodore Toussenel und R A Richard bekanntgibt und bereits die zweite für den 15 Februar in Aussicht stellt Lefebvre wird nun vorgeworfen mit unlauteren Mitteln zu kämpfen, zumal der Verlag es versteht, die Werbestrategie Renduels für seine Zwecke zu nutzen Denn kurz nachdem Loève-Veimars in einem Artikel im Figaro vom 30 Januar 167 seinen Lesern die bevorstehende Veröffentlichung der Œuvres complètes von Hoffmann unter detaillierter Auf listung der geplanten Werke angekündigt hat, gibt Lefebvre unter eben diesem Namen die beiden ersten Bände seiner Hoffmann-Übersetzungen heraus Sie werden als Tome V und Tome VI deklariert 168 , ganz offensichtlich in der Absicht, den Anschein einer Kontinuität mit Renduels bereits veröffentlichten Bänden zu erwecken und so von deren Popularität zu profitieren Hoffmanns Kunstmärchen Le Pot d’or (Der goldene Topf), das bereits für die Renduel-Ausgabe angekündigt worden war, erscheint nun in diesen beiden ersten Bänden Lefebvres, zusammen mit Les Aventures de la nuit de Saint-Sylvestre (Die Abenteuer der Silvesternacht) 169 Der Fortgang des Verlegerstreits, der bei Teichmann (1961, 37 ff ) ausführlich geschildert wird, sei an dieser Stelle lediglich anhand der wichtigsten Etappen dokumentiert Von Ende Februar an entwickelt sich ein regelrechtes Wettrennen zwischen den beiden Verlagshäusern: Am 28 Februar avisiert Lefebvre in dem „Modejournal“ Follet ohne Nennung von Übersetzer und Verlag das Erscheinen der Bände V bis VIII seiner Hoffmann-Ausgabe, und noch am gleichen Tag reagiert Loève-Veimars mit der Ankündigung der „seconde livraison“ der Renduelschen Ausgabe im Corsaire Den ganzen März hindurch wird die Konkurrenz der beiden Verleger mittels diverser Anzeigen in Literaturzeitschriften ausgetragen Die Bibliographie de la France kündigt am 6 März die Publikation der Bände VII und VIII 166 E T A Hoffmann (1829b), „Du Théâtre et de Zacharias Werner“ Revue de Paris IX (6 Dezember 1829), 5-22 Zit nach Teichmann 1961, 32 167 Der Artikel erscheint zwar anonym, unter dem Titel „E T A Hoffmann, Œuvres complètes“, doch der Abdruck in der Revue de Paris am Tag darauf lässt kaum Zweifel an der Autorschaft von Loève-Veimars oder einem seiner Vertrauten 168 Am 27 . Februar des Jahres avisiert die Bibliographie de la France-- ohne Nennung von Verlag und Übersetzer- - das Erscheinen der ersten beiden Bände (von zwölf) der Œuvres complètes Tatsächlich folgen weitere Bände, allerdings wird kurzerhand die begonnene Zählung von Band fünf an bis Band zwölf fortgesetzt In der Vorankündigung Lefebvres im „feuilleton“ der Bibliographie de la France vom 13 -März des Jahres rechtfertigt der Verlag sein außergewöhnliches Vorgehen mit angeblich noch ausstehenden biographischen Informationen über den Autor, die allerdings nie veröffentlicht werden sollten: „Quant à la tomaison, il est indiqué par le bon sens que la vie et la correspondance de l ’auteur doivent former les premiers volumes“ Vgl Teichmann 1961, 41 169 Angekündigt hatte Lefebvre ebenfalls am 27 Februar im Journal des Débats auch La Princesse Brambilla (Die Prinzessin Brambilla)-- ein Werk, das Loève-Veimars ebenfalls schon in seinem Figaro-Artikel für sich „reserviert“ hatte--, dieses ist aber schließlich in Lefebvres première livraison nicht enthalten <?page no="249"?> 3 E. T. A. Hoffmann: Der goldene Topf 249 der Edition Lefebvre an, die Théodore Toussenels Übersetzung der Prinzessin Brambilla (La Princesse Brambilla) enthalten Das Erscheinen der „seconde livraison“ in der Übersetzung von Loève-Veimars (18 März) wiederum wird am 20 März in der Bibliographie und auch im Corsaire avisiert Die Bände V bis VIII versammeln die Werke: V . Mademoiselle de Scudéry (Das Fräulein von Scuderi), Zacharias Werner; VI Maître Martin le tonnelier, et ses apprentis (Meister Martin der Küfner und seine Gesellen), L’Eglise des Jésuites (Die Jesuiterkirche in G.); VII Maître Floh (Meister Floh); VIIII L’Homme au Sable (Der Sandmann), La Cour d’Artus (Der Artushof), Don Juan, Gluck (Ritter Gluck) und Agafia (Erscheinungen) Circa am 15 Mai, als sich schon die bevorstehende Julirevolution ankündigt, erscheinen auch die Bände IX bis XII der Ausgabe Renduel, die Hoffmanns unvollendetem Roman Lebensansichten des Katers Murr gewidmet sind 170 Lefebvre seinerseits zeigt am 29 -des Monats in der Bibliographie de la France die Publikation der Bände IX und X seiner Œuvres complètes 171 an, indem er für seine fragwürdige Bandzählung die fadenscheinige Begründung anführt, die ausstehenden vier ersten Bände seien noch in Arbeit und enthielten Hoffmanns Leben und Briefwechsel Die Bände XI und XII von Lefebvres Hoffmann-Ausgabe, mit Toussenels Übersetzung der Seltsame[n] Leiden eines Theater-Direktors (Les singulières Tribulations d’un Directeur de Théâtre) 172 , folgen am 26 Juni, wie die Anzeige in der Bibliographie de la France dokumentiert. Noch bis in den Juli 1830 hinein setzt sich der Verlegerstreit zwischen Renduel und Lefebvre fort, bis schließlich die Julirevolution die Debatte um Hoffmann und das Vorrecht der Publikation seiner Werke zum Erliegen bringt Vor dem Hintergrund dieser Kontroverse findet nun auch der oben geschilderte „Fall Latouche“ 173 seine Fortsetzung, der hier gesonderte Erwähnung verdient Loève- Veimars war bei der Arbeit an seiner Übersetzung von Hoffmanns Fräulein von Scuderi auf Latouches „Etikettenschwindel“ gestoßen . Bei dessen Roman Olivier Brusson handelt es sich wie bereits erwähnt um eine nicht deklarierte Übersetzung dieser Erzählung . In seiner Vorrede zu Renduels „seconde livraison“ (Loève-Veimars 1830a, 5) deckt er das Plagiat auf, wobei er Latouche mit lobenden Worten die Möglichkeit gibt, sein Gesicht zu wahren: Le roman français, petit chef-d’œuvre de goût et de grâce, fut beaucoup loué et beaucoup lu L’arrangeur anonyme, écrivain brillant, riche d’esprit et de talent, doté de tant d’autres succès, se réjouira de voir restituer au pauvre auteur allemand le fonds qui lui appartient, et qui avait tant gagné en passant dans des mains étrangères Kurz darauf macht auch der Mercure de France du XIX e siècle Andeutungen zur Entstehung von Latouches Roman Der anonyme Redakteur der Zeitschrift Le Globe hin- 170 Le Chat Murr wird darin verknüpft mit Passagen aus den Kreisleriana Der vollständige Titel der Übersetzung lautet: Les contemplations du chat Murr entremêlées accidentellement de la biographie du maître de chapelle, Jean Kreisler 171 Darin enthalten: IX L’Enchaînement des Choses (Der Zusammenhang der Dinge), La Convalescence (Die Genesung), Les Visions (Erscheinungen); II Le Comte Hippolyte (Vampirismus/ Die Hyäne) und La Fiancée du Roi (Die Königsbraut) 172 Daneben enthält Band XII das nicht von Hoffmann stammende Werk Le joueur d ’ échecs sowie Hoffmanns Souvenirs de Dresde 173 Vgl hierzu insbesondere Köhler 1982, 45-49 <?page no="250"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 250 gegen springt in seiner Rezension vom 18 Mai 1830 Latouche zur Seite und versucht zu vermitteln Ende Mai entfacht Lefebvre dann den eigentlichen Skandal, als er den soeben erschienenen Bänden IX und X seiner Hoffmann-Ausgabe eine mit „Les Editeurs“ unterzeichnete Vorrede voranstellt Darin weist er Renduels Beschuldigungen wegen unlauteren Wettbewerbs zurück und verteidigt zugleich Latouche gegen Loève- Veimars’ und Renduels Plagiatvorwürfe, wobei er zur Bekräftigung den ungekürzten Verteidigungsbrief Latouches abdruckt 174 Der Verleger versteht es geschickt, seinen Vorteil aus der Kontroverse zu ziehen und zum Gegenangriff überzugehen: Renduel sei jedes Mittel recht, um seine Auf lage zu erhöhen, und so habe er den kleinen Skandal für sich zu nutzen verstanden, während er selbst, Lefebvre, den direkten Weg vorziehe Latouche zeigt sich in besagtem Schreiben 175 einigermaßen indigniert von Loève-Veimars’ mit maliziösem Wohlwollen vorgebrachter Unterstellung Zu seiner Verteidigung führt er an, er sei damals von einem Verlagshaus dazu auserkoren worden, die erste, „wenig französische“ Version dieser Erzählung eines zu dieser Zeit in Frankreich noch völlig unbekannten deutschen Autors zu überarbeiten . Zudem habe er den Roman in seiner Vorrede ausdrücklich als „espèce de traduction“ deklariert und im Übrigen Handlung, Situationen und Charaktere um wesentliche Elemente bereichert Nach diesem Schachzug Lefebvres verhärten sich die Fronten: Am 17 Juni 1830 ergreift die Zeitschrift Le Figaro- - eigentlich das „Stammblatt“ Latouches- - Partei für Loève-Veimars und weist die an dessen Adresse gerichteten Vorwürfe Lefebvres als ungerechtfertigt zurück: Latouches Roman sei eine wörtliche Kopie von Hoffmanns Werk 176 Bleibt noch nachzutragen, dass Renduel nach dem Ende der Julirevolution, am 30 - Oktober 1830, die vierte „livraison“ seiner Hoffmann-Ausgabe in der Übersetzung Loève-Veimars’ auf den Markt bringt Die vier Bände der Contes nocturnes sind mit dem Schmutztitel Œuvres complètes versehen-- ein Seitenhieb auf den Rivalen Lefebvre Sie enthalten ausschließlich bisher unveröffentlichte Werke Hoffmanns 177 , die allerdings nicht alle Hoffmanns Nachtstücken entnommen sind: Einige von ihnen stammen aus den Serapionsbrüdern sowie aus den Letzte[n] Erzählungen Hoffmanns Wie schon bei den Contes fantastiques nimmt es Renduel also mit der Werkzuordnung nicht so genau, zudem ist der Großteil der ausgewählten Werke von minderer Qualität Dies führt dazu, dass die Publikation zwar bei Kritikern und Literaturkennern wenig Anklang findet, dafür aber das breite Publikum, an das Loève-Veimars sich vor allem wendet, umso mehr begeistert Besondere Erwähnung verdient in diesem Rahmen die den Letzte[n] 174 Aus der Vorrede der Verleger geht hervor, dass Lefebvre die entsprechenden Bemerkungen aus Loève- Veimars’ Vorrede an Latouche weitergeleitet und darauf hin das abgedruckte Antwortschreiben erhalten hat 175 Bei Teichmann (1961, 50-51) ist das Verteidigungsschreiben von H . de Latouche vollständig abgedruckt 176 Aus heutiger Sicht ist diese Behauptung nicht haltbar und man neigt zu einer moderateren Beurteilung von Latouches Vorgehen 177 Folgende Werke werden darin zusammengefasst: XIII . Les Maîtres-chanteurs (Der Kampf der Sänger), La maison déserte (Das öde Haus), Le diable (Nachricht aus dem Leben eines bekannten Mannes); XIV .- Ignace Denner (Ignaz Denner), Le Vœu (Das Gelübde); XV Maître Jean Wacht, le charpentier (Meister Johannes Wacht), Le Cœur de pierre (Das steinerne Herz); XVI Le botaniste (Datura fastuosa), Les brigands (Die Räuber) <?page no="251"?> 3 E. T. A. Hoffmann: Der goldene Topf 251 Erzählungen zuzurechnende Novelle Les brigands (Die Räuber), eine ironische Persif lage auf Schillers Räuber, in der Karl zum Bösewicht und Franz zum edlen Charakter umgedeutet wird 178 Eine der weniger bedeutenden Erzählungen, Le botaniste, sollte übrigens Jahre später Richard Wagner zu seinem Tannhäuser inspirieren Das Unternehmen Renduel findet seine Fortsetzung erst mit großem zeitlichem Abstand: Die fünfte und letzte „livraison“ erscheint am 26 Oktober 1833, was die Vermutung nahelegt, dass die vorangegangene Auf lage nicht den erhofften Absatz gefunden hat Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung ist das literarische Klima eher ungünstig, denn ähnlich wie schon zu Beginn der französischen Hoffmann-Rezeption sorgt ein Artikel in einer schottischen Zeitschrift, der Edinburgh Review, mit scharfen Attacken gegen die romantische Literatur nachhaltig für Aufsehen 179 Hinzu kommen die Bestrebungen der französischen Regierung, republikanische Strömungen im Lande einzudämmen, die damals mit der romantischen Geisteshaltung nahezu gleichgesetzt wurden In dieser feindlichen Atmosphäre erscheinen die vier letzten Bände der Contes et fantaisies de E. T. A. Hoffmann, erneut unter dem Schmutztitel Œuvres complètes, die kaum beworben werden und lediglich am 15 und 16 -April im Figaro ohne Nennung der einzelnen Titel angekündigt werden Die in Band-XX abgedruckten Ausführungen Loève-Veimars’ zum Leben Hoffmanns resümieren lediglich J E Hitzigs bekannte Biographie von 1823 und bieten wenig Neues 180 Obgleich die Bände einige wertvolle Werke enthalten 181 , werden sie von der Presse kaum wahrgenommen Nachdem die „Vogue d’Hoffmann“ 182 auf diese Weise ihr vorläufiges Ende gefunden hat, wird der Dichter erst wieder mit Henry Egmonts getreuen und eleganten Übersetzungen von 1836 rehabilitiert Im Vergleich zu Frankreich verläuft die verlegerische Rezeption Hoffmanns in Italien weit weniger spektakulär Dort ist es vor allem der Zeitraum zwischen 1832 und 1839, also unmittelbar im Anschluss an die Hochzeit der französischen „Hoffmann-Mode“, in dem der deutsche Romantiker intensiv rezipiert wird Im Vordergrund stehen dabei, im Kielwasser der französischen Rezeption, Hoffmanns Fantasie- und Nachtstücke. Übrigens ist Hoffmann einer der wenigen romantischen Autoren, die überhaupt in Italien rezipiert werden, zumal aus deutscher Produktion-- im Gegensatz zur französischen oder englischen-- lyrische und dramatische Werke bevorzugt werden Dennoch ist sein dortiger Bekanntheitsgrad nicht eben hoch, wie etwa Gugenheim (1925, 49) unter Verweis auf renommierte Werke der italienischen Literaturwissenschaft betont 183 Fest steht aber für Gugenheim (ebd )-- und dies wird sich auch im Rahmen dieser Untersuchung 178 Vgl die Inhaltsangabe dieser Erzählung bei Teichmann (1961, 59) 179 Anonymus, „French Literature-- Recent Novelists“ . Edinburgh Review LVII ( Juli 1833), 330-357 180 Vgl Teichmann 1961, 123 181 Sie versammeln die folgenden Titel: XVII Les Mines de Falun (Die Bergwerke zu Falun), Les Ménechmes (Der Magnetiseur); XVIII L’Enfant étranger (Das fremde Kind), Le Casse-Noisette (Nußknacker und Mausekönig); XIX Kreisleriana (Kreisleriana); X X La Vie de E. T. A. Hoffmann, d’après les documents originaux. Par le traducteur de ses œuvres. 182 Der Begriff ist Teichmann (1961, 287) entliehen, die so das dritte Kapitel des ersten Teils ihrer Monographie überschreibt 183 Gugenheim (1925, 49) nennt als Referenzwerke Defendente Sacchi (1830), Intorno all’indole della letteratura italiana nel secolo XIX Pavia: Luigi Landoni, sowie Ambrogio Levati (1831), Saggio sulla Storia della letteratura italiana nei primi 25 anni del secolo XIX Milano: Ant . Fort Stella e Figli <?page no="252"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 252 noch erweisen: „Il nostro autore attraversa (…) le Alpi venendo di Francia, come tanti altri poeti e scrittori tedeschi“ Eine Vorreiterrolle bei der italienischen Rezeption spielen auch hier wieder die Presseorgane der Lombardei und Julisch Venetiens 184 So kommt beispielsweise der Rivista Viennese, die auch Wieland, Tieck und Chamisso in Italien bekannt macht, eine zentrale Rolle bei der Verbreitung von Hoffmanns Werken zu 185 Erste Anzeichen für eine beginnende Hoffmann-Rezeption finden sich bereits 1828 im Eco di Milano (Ausgaben 17 und 18), und dies erneut im Gefolge einer französischen Veröffentlichung: Ein Jahr zuvor war in der Zeitschrift Le Globe (1827 VI, n o 81, S -588) eine Rezension von Hitzigs 1821 in Berlin erschienenem Standardwerk Aus Hoffmanns Leben und Nachlass publiziert worden Als dort 1829 Loève-Veimars’ Übersetzung der Contes fantastiques beworben wird, erscheint kurz darauf im Indicatore Lombardo (1829 I, S -179-190) eine anonyme Übersetzung einer Erzählung Hoffmanns unter dem Titel Rimembranze dell’assedio di Dresda, gefolgt von einer knappen Nota del Traduttore zu Hoffmanns Leben und Werk Der Schluss dieser Notiz (Anonymus 1829, 190) soll hier in extenso wiedergegeben werden, da sie einen Eindruck von der zeitgenössischen Geisteshaltung im literarischen Italien vermittelt: Lo strano racconto, se pur racconto si può dire, da noi tradotto è dei meno bizzarri, che s’incontrano fra i tanti di Hoffmann Noi l’offriamo ai nostri lettori nell’intento di far loro conoscere di qualche modo l’indole di questo singolare scrittore, riserbandoci a parlarne più distesamente, ove ne accadesse di tradurre qualche altra di lui composizione Frattanto troviamo opportuno notare, che dando un saggio della maniera di questo Hoffmann, noi non intendiamo già lodarla e molto meno poi consiglarne l’imitazione in Italia Questo sia detto per tranquillare quei gravi maestri, che temono tanto di tutto che viene dal Settentrione, e son usi a predire guai e sventure alla letteratura italiana ogni volta che qualche galantuomo s’avvisa di parlare con espressioni di lode di alcuna produzione della letteratura straniera Dass die Entscheidung des italienischen Übersetzers ausgerechnet auf dieses recht „realistische“ Werk gefallen ist, zeigt bereits die grundlegende Skepsis gegenüber dem neuartigen Genre des Fantastischen, das in Italien keine Tradition hat . Zudem spricht aus der Notiz eine große Vorsicht angesichts der immer noch sehr klassizistisch geprägten literarischen Geisteshaltung in einem Land, in dem die „gravi maestri“ jeglichen neuen Tendenzen aus dem Ausland und speziell aus dem „Norden“ mit großen Vorbehalten begegnen Eine Analyse der französischen Übersetzung Loève-Veimars’ aus der Feder von Francesco Regli wird 1831 in der Minerva Ticinese (X) abgedruckt Der Tenor des Artikels ist Hoffmanns Werken gegenüber allerdings ebenfalls eher skeptisch Im Jahr 1832 erscheint in Francesco Reglis bei der tipografia Nervetti in Mailand verlegtem Werk Scritti editi ed inediti ein Beitrag zu Hoffmann mit dem Titel „G T A Hoffmann e quattro articoli inseriti in diversi giornali“ 186 Es handelt sich um die italienische Fassung einer bereits in der XIII Ausgabe der Revue française von 1830 (300-304) auf Französisch veröffentlichten Rezension der soeben erschienenen ersten „livraison“ der 184 Dort ist hingegen Goethe, der ebenfalls eine wichtige Mittlerfunktion bei der Herausbildung der italienischen Romantik innehatte, von eher untergeordneter Bedeutung Vgl Battaglia Boniello 1990, 65 185 Einige Texte Hoffmanns wurden dort exklusiv abgedruckt Vgl Battaglia Boniello 1990, 60 186 Zur italienischen Hoffmann-Rezeption vgl Battaglia Boniello (1990, 80 f ) <?page no="253"?> 3 E. T. A. Hoffmann: Der goldene Topf 253 Contes fantastiques von Loève-Veimars 187 Durch die Reproduktion der in Frankreich vorherrschende Meinung über den deutschen Autor in italienischen Literaturorganen wie diesem gelangt Hoffmann quasi „gefiltert“ durch die französische Rezeption nach Italien 188 So wird in besagtem Artikel das alte Klischee des génie du peuple bemüht, das den nordischen Völkern aufgrund ihrer träumerischen Veranlagung eine Neigung zum Genre des Fantastischen (il fantastico) zuschreibt Die lebhafte Fantasie der südländischen Völker sei hingegen ein Zeichen dafür, dass diese für das Genre des Wunderbaren (il meraviglioso) prädestiniert seien Dabei ist das Wunderbare stets das Optimistisch-Positive, während dem Fantastischen immer etwas Sinistres und Schaurig-Unheilvolles anhaftet 189 Hinzu kommen die unvermeidlichen moralischen Vorbehalte der Franzosen, die bei Regli reproduziert werden, wenn es im Original etwa heißt (Anonymus [Rez ] 1830a, 304): „(…) que ce n’est point pour avoir introduit du surnaturel dans ses écrits, mais pour avoir trop souvent dédaigné les lois morales de la nature qu’Hoffmann nous révolte quelquefois“ Andererseits suchen die Franzosen in Hoffmann das Vertraute, und so loben sie vor allem den geistreichen Charakter seiner Werke, „réunissant souvent l ’esprit français à l’émotion allemande“ (ebd ) Bei den italienischen Lesern bewirkt diese Form der Aneignung durch die Franzosen sicherlich eine in gewisser Weise „französierte“ Wahrnehmung Hoffmanns Hinzu kommen die mit der indirekten Rezeption verbundenen Fehler und Missverständnisse, auf die etwa Gugenheim (1925, 50) hinweist 190 Die erste in Buchform herausgegebene italienische Übersetzung eines Hoffmannschen- Werkes wird im Ausland verlegt: In Brüssel erscheint 1833 unter dem Titel „Il voto: racconto di Hoffmann“ die Erzählung Das Gelübde aus Hoffmanns Nachtstücke[n] 191 Sicherlich ist es kein Zufall, dass die Wahl erneut auf eine seiner weniger „fantastischen“ Erzählungen fällt 1835 liegt schließlich die erste zusammenhängende Publikation von Hoffmanns Erzählungen in italienischer Übersetzung vor 192 Sie soll im Folgenden noch 187 Die bibliographische Angabe lautet: X XI Contes fantastiques de E. T. A. Hoffmann, traduits de l’allemand, par Loëve Vémars [sic! ], et précédés d’une notice historique sur Hoffmann, par Walter Scott 4-v in-12 Prix: 10 f Paris, Eugène Renduel, éditeur-libraire, rue des Grands-Augustins, n o 22 188 Gugenheim (1925, 50) führt für diese Praxis ein kurioses Beispiel an: 1834 erscheint im Mailänder „Giornale critico-letterario, d ’arti, teatri e varietà“ Glissons n’appuyons pas (I, 43, 8 Okt 1834) ein Beitrag mit dem Titel „Dell ’ inf luenza dei gatti sulla letteratura“, der auf Hoffmanns Kater Murr Bezug nimmt Später sollte sich herausstellen, dass dieser vollständig aus dem Französischen übernommen wurde 189 Im französischen Original in der Revue de Paris (Anonymus [Rez ] 1830a, 302) heißt es: „Le merveilleux, ce sont les Mille et une Nuits, Roland, Armide; le fantastique, ce sont les sorcières de Macbeth, Caliban, Méphistophélès; la brillante imagination des peuples du Midi s’élance vers le merveilleux; l’esprit rêveur des nations du Nord a enfanté le fantastique“ 190 Eines dieser Missverständnisse zeige sich in dem Hoffmann vom Indicatore Lombardo (I 1829, S .-179) verliehenen Attribut grave magistrato di Varsavia- - der Stadt, in der der Dichter doch die schönsten Jahre seines Lebens verbracht habe -, ferner in dem Verweis auf seinen Übersetzer „Loëve Vémais“ Vgl Hoffmann 1829a, 179-190 191 Il voto: racconto di Hoffmann Versione dal tedesco Brusselles: P Meline e Comp 1833 (88-p ) Gugenheim (1925, 50) informiert, dass das Werk im selben Jahr in der Biblioteca Nazionale di Firenze erschienen ist 192 Hier muss allerdings eine Einschränkung gemacht werden: Bereits 1833-34 wird nämlich in Neapel ein zweibändiges Werk publiziert, das einige Erzählungen Hoffmanns in der Übersetzung von N M Corcia enthält: Racconti fantastici/ di E T A Hoffmann; volgarizzati da N M Corcia e preceduti da una <?page no="254"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 254 Gegenstand der Untersuchung sein Es handelt sich um den vierbändigen Sammelband „Racconti/ di Ernesto Teodoro Hoffmann Premesso un discorso di Gualtiero Scott“, der bei Gaspare Truffi in Mailand in einer Auf lage von 2000 Exemplaren erschienen und ausdrücklich als „Prima versione italiana“ deklariert ist Die vier Bände gehören zur dritten Serie der bei Truffi verlegten Reihe Romanzi e curiosità storiche di tutte le nazioni (Nr - 21-25) 193 , die in der Lombardei für vier österreichische Lire erhältlich ist Der erste Band der Neuerscheinung versammelt neben einer Übersetzung des bekannten Artikels von Walter Scott die Erzählungen Il Violino di Cremona (Rat Krespel), Don Giovanni (Don Juan) und Gluck (Ritter Gluck); der zweite Band ist ausschließlich dem Kunstmärchen Il Vaso d’Oro (Der goldene Topf) gewidmet; der dritte beinhaltet La Casa Deserta (Das öde Haus), Ignazio Denner (Ignaz Denner) und Il Diavolo (Nachricht aus dem Leben eines bekannten Mannes); zum vierten Band schließlich gehören Salvatore Rosa (Signor Formica) und Marino Falieri (Doge und Dogaresse) . Einige Unklarheiten werfen allerdings die Übersetzerangaben der einzelnen Bände auf, zumal der Übersetzer auf den jeweiligen Titelblättern nicht eigens genannt wird Hinweise auf dessen Identität finden sich erst zu Beginn der einzelnen Erzählungen, wo allerdings lediglich die Initialen angegeben werden Die Erzählungen des ersten Bandes enthalten keinerlei Angabe 194 , das Märchen Il Vaso d’Oro im zweiten Band ist mit dem Vermerk „traduzione di E B “ versehen Den Erzählungen des dritten und vierten Bandes ist jeweils der Vermerk „traduzione di G B “ vorangestellt, wobei die Initialen mit einiger Sicherheit als die von Gaetano Barbieri identifiziert werden können . Betrachtet man den Sammelband näher, so fällt der vorangestellte, als „discorso“ deklarierte Beitrag von Walter Scott auf 195 : Schon die Entscheidung für gerade diese Abhandlung spricht dafür, dass hier Loève- Veimars’ französische Fassung Pate gestanden hat Liest man aber den Titel, „Del meraviglioso nel romanzo“, so ist die Parallele zu Loève-Veimars’ Übersetzung des ersten Teils von Scotts Artikel, „Du Merveilleux dans le roman“, die im April 1829 in der Revue de Paris abgedruckt wurde, nicht mehr zu übersehen . Die italienische Übersetzung umfasst Scotts gesamten Artikel, der Verfasser wird also auch Loève-Veimars’ Version, die dieser seinen Hoffmann-Übersetzungen vorangestellt hatte, konsultiert haben Kurios ist allerdings, dass die Abhandlung in diesem Fall nicht als werbewirksame Provokation eingesetzt wird- - diese Strategie des Franzosen scheint der italienische Verleger nicht durchschaut zu haben- -, sondern dass im Gegenteil Scotts Demontage des deutschen notizia storica sull ’autore di Walter Scott Napoli: Tip della Sibilla, 1833-1834 2 vol Die Publikation wird aber in der Literatur so gut wie nie erwähnt, was darauf schließen lässt, dass die Übersetzung im Süden Italiens, wo Hoffmann zu dieser Zeit noch nahezu unbekannt ist, kaum Resonanz gefunden hat In jedem Fall dürfte es sich auch hier um eine ans Französische angelehnte Version handelt, zumal die vorangestellte notizia storica von Walter Scott vermutlich auf Loève-Veimars’ bei Renduel veröffentlichte Ausgabe zurückgeht 193 In dieser Reihe wurden u a Werke von James Fenimore Cooper, Honoré de Balzac und Victor Hugo veröffentlicht, oft in italienischer Erstübersetzung 194 Abweichend davon weist Battaglia Boniello (1990, 81) die Werke des ersten Bandes als „traduzione di E B “ aus Gugenheim (1925, 50) wiederum schreibt die vier Bände pauschal G B (Gaetano Barbieri) zu 195 Vgl dazu auch Battaglia Boniello 1990, 81 <?page no="255"?> 3 E. T. A. Hoffmann: Der goldene Topf 255 Romantikers als Eloge auf Hoffmann verkauft wird 196 So heißt es in dem anonymen Vorwort Ai Leggitori (Anonymus 1835, unpagin ): (…) e [Hoffmann] portò questa sua maniera a un tal grado di perfezione che il sommo Gualtiero Scott avendo a parlare del maraviglioso nel romanzo non volle eleggersi altro tipo che lui, e ne svolse in un bel discorso la vita avventurosa, e il carattere letterario (…) Tanta è però la sua singolarità, ch’era molto a temersi, che se i leggitori italiani lo avessero accostato troppo nuovi della sua indole, essi non ne rimanessero, per dir così, sconcertati, ed è perciò, che ne parve doversi loro premettere, con questo cenno, il succitato discorso di Gualtiero Scott, che ne disponga gli animi ad apprezzare le mirabili bellezze, che sorgono da questo caos d’amore e d’ironia, in una continua vicenda d’immagini grottesche, e di sublimi apparizioni poetiche Nach der bei Truffi erschienenen „Gesamtausgabe“ setzt sich die frühe Hoffmann-Rezeption bis zu den revolutionären Ereignissen von 1848 wieder in Zeitschriftenpublikationen fort So wird im Juli 1838 in der Rivista Viennese unter dem Titel Don Giovanni. Avventura favolosa accaduta ad un viaggiatore entusiasta 197 eine Übersetzung des Don Juan aus der Feder von G [iovanni] B [attista] Bolza abgedruckt Im Dezember 1839 folgen bisher unübersetzte Fragmente aus den Kreisleriana, die mit Maestro Giovanni Kreisler 198 überschrieben sind Bereits im Oktober desselben Jahres findet man in der von Bolza herausgegebenen Zeitschrift unter der Rubrik Cenni sulla storia della lingua e letteratura tedesca eine kurze, aber kenntnisreiche biographische Notiz des Herausgebers zu „E T Amadeo Hofmann [sic! ]“: 199 I Racconti di questo celebre scrittore, talvolta puerili come le fole delle balie, più spesso terribili come i sogni d’un condannato a morte, ma sempre fantastici oltremodo e bizzarri, pajono essere più l’effetto d’una demonica intuizione, d’una specie di sonno magnetico, che d’una vivace fantasia Gli Schizzi alla maniera di Callot sono tra le sue opere quella ch’egli stesso dichiara la migliore Nach dieser relativ umfangreichen Publikation von 1835 macht Hoffmann in Italien zunächst kaum mehr von sich reden Erst seit Beginn der 1880er Jahre finden sich hier und da Veröffentlichungen einiger seiner Erzählungen, die aber bei Publikum und Kritik kaum auf Resonanz stoßen . 200 Insgesamt ist die frühe italienische Hoffmann-Rezeption, 196 Carlo Bordonis (2004, 45-46) Interpretation, Scotts kritischer Essay diene dem Verleger dazu, sich vom Autor dieser fantastischen Erzählungen zu distanzieren, „a mettere le mani avanti, nel dubbio che i ‚leggitori ‘ protestino vivamente per una scelta editoriale tanto avventata“ (ebd 46), erscheint also eher unwahrscheinlich, besonders wenn man bedenkt, dass sich der Verleger bei der Auswahl des Essays einfach unref lektiert am französischen Vorbild orientiert hat 197 Rivista Viennese 1838 III, Heft VII ( Juli 1838), 25-37 198 Rivista Viennese 1839 IV, Heft XII (Dezember 1839), 317-333 . Vgl auch die Angaben bei Battaglia Boniello (1990, 81) und Gugenheim (1825, 51) 199 Rivista Viennese 1839 IV, Heft X (Oktober 1839), 48-49 200 So erscheint 1882 bei Sonzogno in Mailand ein Band mit drei Erzählungen Hoffmanns: Racconti/ di E. T. Hoffmann. (Il violino di Cremona- - Salvator Rosa- - Marin Faliero) Milano: Sonzogno, 1882 (Biblioteca universale; 10) Ferner finden sich Übersetzungen einzelner Werke, wie etwa: Picciol Coso detto Cinabro: fiaba. Trad. … per cura di Carlotta C . . .-Milano: Perseveranza, 1881; Il maggiorasco/ prima versione italiana di Augusto Vital Reggio Emilia: Stab tip lit degli Artigianelli, 1888; L’elisir del diavolo/ Hoffmann Napoli: Luigi Pierro edit ., 1892 (Stab tip A Tocco) (Collezioncina Pierro; 20) <?page no="256"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 256 wie sie am Verlagsgeschehen abzulesen ist, also nicht mit der regelrechten Hoffmann- Mode zu vergleichen, die in den späten 1820er und frühen 1830er Jahren in Frankreich geherrscht hat So ist man geneigt, Gugenheim (1925, 52) zuzustimmen, die ihr Kapitel zu den italienischen Übersetzungen Hoffmanns mit den Worten beschließt: (…) il paese che Hoffmann amò, pur non avendolo mai visto, come una principessa lontana, non lo amò dello stesso amore, o, per meglio dire, non udì distintamente la sua voce 3 .2 .2 Die Entwicklung des Hoffmann-Bildes In Frankreich fallen die Werke des Romantikers E T A . Hoffmann nicht zuletzt deshalb auf fruchtbaren Boden, da sich dort dank positiver Voraussetzungen ein kosmopolitisches künstlerisches Klima entwickeln konnte, das einer Lockerung der vorherrschenden starren literarischen Vorgaben Vorschub leistete . 201 So erkor sich der romantische Dichterkreis des petit cénacle um Théophile Gautier (circa 1829-1833), der sich in Frankreich im Gefolge des berühmten Cénacle um Victor Hugo gebildet hatte, Hoffmann zum literarischen Vorbild Das Interesse an dem romantischen Dichter, das schließlich zu dem umfassenden Projekt der Übersetzung und Edition seiner Werke führte, wurde allerdings schon einige Jahre zuvor geweckt Eine Schlüsselrolle spielt dabei die Vermittlung des Arztes Johann Ferdinand Koreff, einer zentralen Figur der französischen Hoffmann-Rezeption . 202 Der Sohn eines Breslauer Arztes jüdischer Abstammung feiert zwischen 1805 und 1811 Erfolge als Magnetiseur in Paris . 203 Seit 1814 nimmt er an den berühmten „Serapionsabenden“ teil, den Treffen eines Schriftstellerzirkels, die sein Freund E T A Hoffmann in den Weinstuben von Lutter und Wegener in Berlin organisiert . 204 Er ist es auch, der Hoffmann zu seinem Geburtstag im Januar 1820 die Callotschen Stiche zum Geschenk macht, die bereits für seine Fantasiestücke in Callot ’s Manier Pate gestanden hatten und die ihn zu seinem Capriccio Prinzessin Brambilla inspirieren In den 1820er Jahren kehrt Koreff nach mehreren Zwischenstationen wieder nach Paris zurück Als häufiger Gast in den dortigen Salons tritt er gern als „Botschafter“ von Hoffmann und dessen neuartigem Genre des Fantastischen auf und verkehrt mit bedeutenden französischen Künstlern, Literaten und Intellektuellen . 205 Dem Journalisten und Übersetzer Loève-Veimars, der 1829 im Salon des Barons Gérard seine Bekanntschaft macht, gibt er den Anstoß zu dessen ehrgeizigem Projekt einer Hoffmann-Edition-- und diesem Übersetzungsprojekt ist es bekanntlich zu verdanken, dass Hoffmann bei den zeitgenössischen französischen Romantikern als eine Art Offenbarung gehandelt wird Aber damit nicht genug, Loève-Veimars hat mit der Wahl des Titels seiner Übersetzung auch dafür gesorgt, dass in Frankreich eine neue Form der literarischen Gattung 201 Vgl etwa Teichmann 1961, 21 202 Zur Person Koreffs vgl Hübener 2004, 75 sowie Köhler 1980, 69-72 203 Der Magnetismus wird in der Folge zum verbindenden Element zwischen E T A Hoffmann und Koreff, was sich auch in den späteren Werken des Dichters niederschlägt 204 Zur Runde der Serapionsabende gehören z B die Schriftsteller J E Hitzig, K W Contessa, Fouqué sowie Clemens Brentano, Chamisso und der Schauspieler Devrient 205 Zu seinem Pariser Freundeskreis zählen so klingende Namen wie Eugène Delacroix, Ingres, Giacomo Meyerbeer, Balzac, Prosper Mérimée, Alfred de Musset, Victor Hugo, Alexandre Dumas, Stendhal und auch Heinrich Heine oder Victor Cousin <?page no="257"?> 3 E. T. A. Hoffmann: Der goldene Topf 257 entstanden ist: le conte fantastique Von da an werden in Frankreich nicht nur Hoffmanns Fantasiestücke, sondern sein gesamtes Erzählwerk und in Analogie dazu auch in diesem Stil gehaltene Erzählungen anderer Autoren als contes fantastiques bezeichnet Dabei beruht dieser Gattungsname genau genommen auf einer nicht ganz passenden Übersetzung von Hoffmanns nach dem Vorbild der Malerei und Musik geformtem Begriff „Fantasiestück“: Saint-Marc Girardin wählt dafür 1829 die glücklichere Entsprechung fantaisie 206 , die sich aber offensichtlich nicht durchsetzen konnte Die Frage nach dem Fantastischen rückt damit wieder verstärkt in den Blickpunkt des literarischen Diskurses und verbindet sich unauf löslich mit dem Namen des deutschen Romantikers . 207 Mit dieser Kategorisierung und „Einverleibung“ Hoffmanns in die literarische Tradition Frankreichs ist natürlich auch eine gewisse Deformation des Hoffmann-Bildes verbunden Der Dichter wird gewissermaßen französiert, um ihn dem französischen Lesepublikum schmackhaft zu machen, und auch an diesem Prozess ist Loève-Veimars nicht unerheblichen beteiligt . 208 Im Allgemeinen mildert er die Schockwirkung von Hoffmanns Dichtung, streicht dunkle oder ambivalente Textstellen, segmentiert wenn nötig den Erzählf luss und prägt mit Gruseleffekten das Klischee vom „Gespenster-Hoffmann“ . 209 Nicht von ungefähr spricht Heinrich Heine, ein großer Bewunderer Hoffmanns, in seinem Artikel in der Europe littéraire 210 vom 10 Mai 1833 von einem Hoffmann, „(…) que Loève-Veimars a mené par la main devant le public français, et qu’il a fait parvenir en France à une immense réputation“ Dabei weiß der Übersetzer nicht zuletzt aus kommerziellen Erwägungen dem Publikumsgeschmack entgegenzukommen, indem er etwa bevorzugt weniger „anspruchsvolle“ Werke für seine Editionen auswählt . 211 Die Vermittlerfunktion Loève-Veimars’ wird von Théophile Gautier in seiner Rezension der vergleichsweise treuen und wenig einbürgernden Nachfolgeübersetzung von Egmont 212 sehr lebendig beschrieben: Hoffmann ne s’est pas, il faut le dire, présenté en France avec sa redingote allemande toute chamarrée de brandebourgs et galonnée sur toutes les coutures comme un sauvage d’outre- Rhin; avant de mettre le pied dans un salon, il s’est adressé à un tailleur plein de goût, à M Loève-Weimar [sic! ], qui lui a confectionné un frac à la dernière mode avec lequel il s’est présenté dans le monde et s’est fait bien venir des belles dames Peut-être qu’avec ses habits allemands il eût été consigné à la porte, mais maintenant, que la connaissance est faite et que 206 Vgl Girardin 1829, 67 207 Natürlich gab es auch schon vor Hoffmann in Frankreich wie in anderen europäischen Ländern eine literarische Tradition des Fantastischen, die durch Hoffmann aber eine neue Wendung erhält . Vgl Hübener 2004, 77 208 Teichmann (1961, 224) zufolge gilt sogar: „pendant la période romantique, qui disait Hoffmann disait surtout Loève-Veimars“ Und Philarète Chasles stilisiert Loève-Veimars einige Jahrzehnte später kurzerhand zum „Erfinder Hoffmanns“ (vgl das Journal des Débats vom 15 Juli 1860) Vgl auch Chasles 1861 209 Diese Übersetzungskonzeption Loève-Veimars’ arbeitet Utz (2007, 38-97) in seiner Analyse der Übersetzungen von Hoffmanns Sandmann heraus Zu Loève-Veimars’ Fassungen vgl auch die detaillierte Analyse bei Holtus 1981, 28-54 210 Henri Heine, „Etat actuel de la littérature en Allemagne“ Europe littéraire I (10 Mai 1833), 125-126 211 In seinen Übersetzungen folgt Loève-Veimars laut Teichmann (1961, 215) der doppelten Maxime: „ne pas fatiguer son cerveau à lui (lorsque le texte présentait des difficultés) et ne pas fatiguer le lecteur“ Vor allem habe dieser aber die musikalische Seite von Hoffmanns Werk unzureichend wiedergegeben 212 Théophile Gaultier, „Contes d’Hoffmann“ Chronique de Paris, 14 August 1836 <?page no="258"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 258 tout le monde sait que c’est un homme aimable et seulement un peu original, il peut reprendre sans danger son costume national Angetan mit diesem „frac à la dernière mode“-- mode française, versteht sich-- wird Hoffmann bis zur Neuübersetzung seiner Werke durch Henry Egmont vom französischen Publikum wahrgenommen: als Dichter, Maler und Musiker, der sich auf die Kunst versteht, die reale und die fantastische Welt miteinander zu verknüpfen . Allerdings darf bei diesem Hoffmann-Klischee das Fantastische nie die Oberhand über das Reale gewinnen-- ein Tribut an die klassizistische Regeltreue, die bekanntlich in der französischen Auffassung der Romantik nie ganz überwunden wurde . Überdies ist das sogenannte Fantastische kein fest umrissener Begriff, sondern weckt allerlei unterschiedliche Assoziationen, vom Märchenhaften und Wunderbaren bis hin zum Unheimlichen und Schrecklichen Verlockt durch dies vermeintlich einfache Rezept tun nun eine Reihe von mittelmäßigen französischen Autoren ein Übriges, um das Klischee des deutschen Dichters zu verbreiten: Mit trivialen Erzählungen, bestehend aus einer schlicht gestrickten fantastischen Handlung und einer beliebigen Verankerung im realen Alltag, werben sie um die Gunst der französischen Leser . 213 Insgesamt kommt E T A Hoffmann also dem französischen Bedürfnis entgegen, das Fantastische stets mit dem Realen zu verbinden, denn, wie Théophile Gautier in der oben bereits zitierten Rezension der Contes d’Hoffmann (ebd 1836) beobachtet: (…) le Français n’est pas naturellement fantastique (…) Du reste, le merveilleux d’Hoffmann n’est pas le merveilleux des contes de fées; il a toujours un pied dans le monde réel (…) Ce sentiment profond de la vie, quoique souvent bizarre et dépravé, est un des grands mérites d’Hoffmann et le place bien au-dessus des nouvellistes ordinaires, et, sous ce rapport, ses contes sont plus réels et plus vraisemblables que beaucoup de romans conçus et exécutés avec la plus froide sagesse Gautier zeichnet hier- - wohl auch als Antwort auf Scotts berühmten Artikel- - das Bild eines Hoffmann, der als Vertreter des réalisme fantastique eine Balance zwischen Geheimnisvollem und realer Welt anstrebt Dies ist wohl auch ein Grund dafür, dass Hoffmann in Frankreich stärker als andere deutsche Romantiker, wie z B Novalis, rezipiert wurde Ein weiterer Faktor, der zur verzerrten oder doch zumindest undifferenzierten Wahrnehmung Hoffmanns in Frankreich beiträgt, ist die Tatsache, dass gleichzeitig auch andere Persönlichkeiten und Ideen aus Deutschland in Frankreich Verbreitung finden So deuten einige Kritiker die fantastische Seite seiner Erzählungen als Ausdruck einer ebenso „typisch deutschen“ Philosophie . Diese genießt im Frankreich dieses Jahrhunderts bekanntlich einen besonderen Status und wird vor allem im Gefolge Mme de Staëls als „metaphysische“, gefühlsbetonte Philosophie wahrgenommen . 214 In einer Besprechung des Figaro vom 3 Dezember 1829 215 lobt ein Kritiker etwa enthusiastisch 213 Vgl z B Teichmann 1961, 129 Sie spricht gar von der „légende qui s’est substituée au personnage réel“ (ebd 12) 214 Vgl Abschnitt 2 .3 .3 .2 im ersten Teil dieser Arbeit zur französischen Rezeption der deutschen Philosophie 215 Anonymus [Rez ] 1829a, „Contes fantastiques d’Hoffmann“ Figaro, 3 Dezember 1829 Zit nach Teichmann 1961, 30 . <?page no="259"?> 3 E. T. A. Hoffmann: Der goldene Topf 259 Hoffmanns Werke, „cette expression dramatisée de la philosophie allemande“ . Im ersten Teil dieser Arbeit 216 wurde außerdem bereits auf die enge Verknüpfung von E T A Hoffmann und Goethe in der französischen Rezeption hingewiesen, zu der ein Mitglied des petit cénacle, Gérard de Nerval, bekanntermaßen durch seine Goethe-Übersetzungen und seine eigene, von Hoffmann beeinf lusste Dichtung 217 nicht unerheblich beigetragen hat Beide Dichter wurden als wichtigste Inspirationsquellen der romantischen Bewegung in Frankreich immer wieder in einem Atemzug genannt . 218 Zur Illustration mag die bei Hübener (2004, 84) zitierte Anekdote über Théophile Gautier dienen . Gautier greift zur Charakterisierung von Hoffmanns Werk auf einen von Voltaire ironisch abgewandelten Titel von Pico della Mirandola zurück- - denselben, den bereits Mme de Staël zur Beschreibung von Goethes Faust in De l’Allemagne verwendet hatte: de omni re scibili et quibusdam aliis. 219 Gerade Der goldene Topf ist übrigens ein Paradebeispiel dafür, dass tatsächlich eine gewisse literarische Affinität zwischen Goethe und Hoffmann bestanden hat: Goethes 1795 erschienenes Märchen von der grünen Schlange und der weißen Lilie weist etwa in dem zentralen Motiv der grünen Schlange auffällige Parallelen zu Hoffmanns Werk auf (vgl z B Kremer 2009, 115) . Dennoch kann die Assoziierung der beiden Dichter als rein französisches Konstrukt betrachtet werden, das durch die etwa gleichzeitig erfolgte Übersetzung und Rezeption ihrer Werke erst entstehen konnte In der deutschen Literaturszene entbehrt es jeglicher Grundlage, zumal Hoffmann eine gewisse misstrauische Abneigung gegen den Weimarer Kreis hegte 220 und auch Goethe seinerseits keinen Zugang zu den Werken des Romantikers fand Dieser sprach abschätzig von Hoffmanns „krankhafter“ Einbildungskraft, die so gar nicht zu Goethes Idealen des auf klärerischen Verstandes und des Wahren und Schönen als Grundlage jeder Kunst passen wollte . 221 Die Verbindung des durch Loève-Veimars „eingebürgerten“ Hoffmann mit der „mystischen“ deutschen Philosophie und mit dem klassischen Goethe-Bild lässt 216 Vgl Abschnitt 2 .3 .3 1 zur literarischen Romantik 217 Zu Nervals Übersetzungsfragment „Les Aventures de la nuit de Saint-Sylvestre Conte inédit d ’Hoffmann“ (Nerval 1831, 546-553) vgl . Abschnitt 2 .3 .3 1 des ersten Teils der vorliegenden Arbeit 218 In der Zeitschrift Le Globe führt Jean-Jacques Ampère am 02 August 1828 drei Werke Goethes als Beispiele für das „Wunderbare“ in der deutschen Literatur an: den Erlkönig, die Ballade Der Fischer und den Faust; und in der Ausgabe vom 26 Dezember 1829 erklärt Prosper Duvergier de Hauranne Goethe gar (neben Jean Paul) zum Wegbereiter Hoffmanns Vgl Hübener 2004, 78 und 81 Als Dritter im Bunde wird zuweilen auch Schiller angeführt Ein Redakteur des Globe etwa zitiert Schiller, Goethe und Hoffmann als wichtige Impulsgeber des französischen Geisteslebens („Beaux-Arts“, „Théâtre allemand“, Globe, 16 Juni 1831, S -676) 219 Bei Pico della Mirandola (1486), der in seinen Thesen alles „Wissbare“ zu erklären versuchte, eigentlich: De omnibus Re scibili bzw . De omnibus rebus Voltaire setzte hinzu: et quibusdam aliis und trieb damit seinen Spott mit den pedantischen Gelehrten seiner Zeit Vgl . die Fußnote in Mme de Staëls Kapitel X XIII zu Goethes Faust in De l ’Allemagne, (Staël 1844, 127): De omnibus rebus et quibusdam aliis, in ihrer Übersetzung (ebd ): „sur quelque chose de plus que tout“ 220 Vgl hierzu z B Eilert 1977, 175 ff 221 Vgl Apel 1993, 146 In einem Tagebucheintrag von Mai 1827 bekundet Goethe seine Abneigung gegen Hoffmanns Werk Der goldene Topf, das er wahrscheinlich in Carlyles englischer Übersetzung gelesen hat Bezeichnend ist auch, dass Goethe ausgerechnet Walter Scotts Essay über Hoffmann rezensiert und in Auszügen übersetzt und dabei dem Verfasser in vielen Punkten beipf lichtet Vgl Utz 2007, 40 f . <?page no="260"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 260 offensichtlich wenig Platz für die Komponente des Humors und der romantischen Ironie in der französischen Hoffmann-Rezeption Befördert wird diese Lesart sicherlich auch durch die Verbreitung von Walter Scotts Essay . Dieser baut eine Polarität zwischen der „moralischen Stärke“ einiger Figuren und dem „krankhaften“ Element des Fantastischen auf, die keinen Platz für die ironische Brechung lässt: Selbst die Kritiker Scotts verteidigen den fantastischen, nicht aber den ironischen Aspekt von Hoffmanns Werk Dass Hoffmann in Frankreich vornehmlich als „universaler Künstler“ im Sinne der romantischen Vorstellung rezipiert wird und in der Dichtung 222 ebenso wie in der Malerei (Eugène Delacroix) und Musik (Hector Berlioz) ein Echo findet, wurde weiter oben bereits angedeutet . 223 Das populäre Hoffmann-Bild ist dort also stärker als in Deutschland ein musikalisch und künstlerisch beeinf lusstes . Delacroix als Illustrator von Hoffmann und Goethe sowie Berlioz als Komponist der von Delacroix inspirierten „dramatischen Legende“ La damnation de Faust-- die übrigens an Gérard de Nervals Übersetzung angelehnt ist- - sind zwei weitere Bindeglieder zwischen Hoffmann und Goethe Zur Legendenbildung beigetragen hat aber insbesondere Offenbachs Operette Hoffmanns Erzählungen Sie basiert auf dem 1851 entstandenen Drama Les contes d’Hoffmann von Jules Barbier und Michel Carré und geht auf drei Erzählungen Hoffmanns zurück 1881 wird sie in französischer Sprache uraufgeführt und noch im selben Jahr in deutscher Rückübersetzung inszeniert Das Erfolgsrezept, die Mischung von Hoffmann-Biographie und Elementen seines Werkes, wurde auch von anderen französischen Literaten bevorzugt angewandt, darunter Léon de Wailly (1831, fantastische Novelle in der Revue des Deux Mondes), Jules Janin (z B 1832, Contes fantastiques) oder Alexandre Dumas (1849, La femme au collier de velours) So konnte ein französisch gefärbter Hoffmann-Mythos entstehen, der auf der Amalgamierung von biographischen und literarischen Aspekten beruht 224 und schließlich auch auf Deutschland zurückwirkt Bezeichnend für die Wirkungsgeschichte ist das französische Adjektiv „hoffmannesque“, das fest im Inventar der französischen Sprache etabliert ist . 225 In Italien ist die Fortune Hoffmanns bekanntlich ganz entscheidend durch die französische Vermittlung befördert worden . Dabei kann dort von einer Hoffmann-Mode durchaus nicht die Rede sein, wie Gugenheim (1925, 51) feststellt: (…) nel periodo di tempo che precede lo scoppio della guerra liberatrice, prima che tutti gli spiriti fossero assorti in quell’unico pensiero della patria, Hoffmann non era completamente sconosciuto fra noi, ma era ben lungi dall’aver acquistato vera fama come in Francia 222 Im 19 . Jahrhundert ließen sich etwa Honoré de Balzac, Gérard de Nerval, Théophile Gautier, Alexandre Dumas, George Sand und Charles Baudelaire von Hoffmanns Dichtung inspirieren Vgl dazu Hübener 2004, 83 ff sowie Utz 2007, 43 223 Vgl Abschnitt 2 .3 .3 1 des ersten Teils zur literarischen Romantik Zur Hoffmann-Rezeption in Malerei und Musik vgl insbesondere Hübener 2004, 193-379 224 Zu den Urhebern dieser Verquickung der Person Hoffmanns mit den Gestalten seiner Erzählungen kann Jean-Jacques Ampère gerechnet werden, der in einem am 2 August 1828 im Le Globe publizierten Hoffmann-Artikel bezugnehmend auf Eduard Hitzigs Biographie ein Bild Hoffmanns entwirft, das ihn mit seinen fiktiven Figuren auf eine Stufe stellt Vgl dazu Huebener 2004, 76 ff 225 Zur Wirkungsgeschichte Hoffmanns in Frankreich vgl Utz 2007, 47 f <?page no="261"?> 3 E. T. A. Hoffmann: Der goldene Topf 261 Anhand der oben referierten italienischen Zeitschriftenbeiträge und Rezensionen lässt sich bereits ein ungefähres Bild von dem „italienischen Hoffmann“ zeichnen . Zunächst ist festzuhalten, dass viele dieser Beiträge-- wie der oben zitierte Essay Francesco Reglis (1832) 226 -- lediglich ein Widerschein der französischen Kritikerrezeption sind Und so lässt sich denn auch die Verwandtschaft des italienischen mit dem französischen Hoffmann nicht leugnen: Er zeichnet sich durch eine „typisch nordische“ Neigung zum Fantastischen aus, d h zur dunklen, schaurig-unheilvollen Variante des „meraviglioso“ 227 , verbunden mit einem gelegentlichen Hang zum Unmoralischen Eine ordentliche Prise französischer Esprit macht seine von der typisch nordischen Fähigkeit zum „tiefen Gefühl“ geprägten Werke für den südländischen Leser leichter verdaulich Diesem Esprit, mögliche Ursache, aber vor allem Abglanz der französischen Vogue d’Hoffmann, ist es wohl auch zu verdanken, dass der Dichter als einer der wenigen deutschen Romantiker in Italien eine Leserschaft gefunden hat Betrachtet man nun den Rezeptionskontext der Übersetzungen, so fällt auch hier die zeitliche Nähe zur italienischen Goethe-Rezeption auf 1835, im Erscheinungsjahr von Hoffmanns Racconti, wird in Giovanni Silvestris Reihe Biblioteca scelta di opere tedesche tradotte in lingua italiana Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre publiziert- - offensichtlich eine Übersetzung aus zweiter Hand nach französischem Vorbild . 228 Und auch Gaetano Barbieri, einer der Übersetzer der Racconti, hat sich bereits als Goethe-Übersetzer hervorgetan: 1824 erscheint bei Ranieri und Fanfani in Mailand seine Prosaübersetzung von Goethes Hermann und Dorothea, laut Battaglia Boniello (1990, 65) mit dem Zusatz „romanzo tedesco tradotto dal francese“ versehen . 229 Wenn man bedenkt, dass in Frankreich die Rezeption Goethes und Hoffmanns eng miteinander verknüpft war, ist es nicht verwunderlich, dass die Orientierung am französischen Vorbild auch in Italien zu gewissen „Interferenzen“ zwischen den beiden deutschen Dichtern führt So findet sich bei Gugenheim (1925, 50) ein Hinweis auf das Kuriosum, dass Hoffmann in der Monatsschrift Ricoglitore italiano e straniero von 1835 die Autorschaft eines Dramas über Tasso zugeschrieben wird . 230 Die Vermutung liegt nahe, dass die durch Goethe-Übertragungen geschulten italienischen Übersetzer ähnlich wie in Frankreich die für Hoffmann charakteristische romantische Ironie vernachlässigen Hoffmanns Umgang mit dem Scherz, der mit dieser Form der Ironie 226 Vgl weiter oben, Abschnitt 3 .2 1 dieses Teils 227 Der Aspekt des meraviglioso wird in Italien wenig geschätzt und oft pauschal als Charakteristikum der gesamten deutschen Romantik betrachtet, etwa von dem italienischen Publizisten und Literaten G B Bolza . Vgl Battaglia Boniello 1990, 104 228 Zur Entstehungsgeschichte des italienischen Titels vgl Abschnitt 3 1 .3 im zweiten Teil dieser Arbeit 229 Der der Verfasserin vorliegende Band mit dem Titel Dorotea del sig. Goët [sic! ]; traduzione del sig. professore Gaetano Barbieri (Goethe 1824) weist allerdings keinen solchen Zusatz auf An dieser Stelle sei auch auf die bereits zwei Jahrzehnte zuvor erschienene Übersetzung des bekannten deutschen Italianisten Christian Joseph Jagemann hingewiesen: Ermanno E Dorotea. Poema Tedesco del Sign. di Goethe. Tradotto in Versi Italiani Sciolti dal Sign. Jagemann, Consigliere e Bibliotecario della Corte di Weimar, e Accademico Florentino Halle: - Ruffa,- 1804, VIII, pp 206 Zu Jagemanns Übersetzung vgl auch Kof ler 2004, 205-226 230 Dort heißt es: „Già cinque scrittori tedeschi, per quanto sappiamo, formarono delle sventure del Tasso argomento d’un dramma: Göthe [sic! ], Zedlitz, Raupach, Brummer, Hoffmann“ (Anonymus 1835b, 934) . <?page no="262"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 262 eng verwandt ist, sorgt übrigens noch unter italienischen Literaturwissenschaftlern des 20 Jahrhunderts für Kontroversen, die darin-- so oder so-- den Ausdruck eines typisch deutschen Charakterzuges sehen wollen . 231 Die frühe Rezeption Hoffmanns in Italien bleibt also eher an der Oberf läche und liefert nur ein ungefähres, durch die allgemeinen philosophischen und literarischen Strömungen der deutschen Romantik geprägtes Bild Den eigentlichen „Durchbruch“ erlebt Hoffmann dort erst etwa vier Jahrzehnte später, als die lombardische Künstlergruppe der Scapigliatura den deutschen Dichter für sich entdeckt . 232 Insbesondere Igino Ugo Tarchetti lässt sich in seinen Racconti fantastici (1869) von Hoffmann inspirieren Er macht mit seinen Übersetzungen Shelleys die englischen Gothic tales in Italien salonfähig und sorgt für einen tiefgreifenden Wandel im literarischen Kanon, der den Boden bereitet für einen regelrechten Boom der Übersetzungen von Hoffmanns Werken: Zwischen 1877 und 1898 erscheinen dessen Erzählungen in acht verschiedenen italienischen Ausgaben . 233 Die Verspätung, mit der Hoffmann in Italien rezipiert wird, untermauert die These einer mittelbaren Rezeption über Frankreich Sie erscheint umso plausibler, als die Literaten der Scapigliatura sich an der französischen Bohème orientierten und Dichter wie Baudelaire, der bekanntlich stark von Hoffmanns Werken beeinf lusst war, zu ihren Vorbildern zählten In Tarchettis Racconti fantastici setzt sich zudem die französische Tradition der Hoffmannschen Contes fantastiques fort, was wiederum zeigt, dass die neue literarische Gattung ihren Weg über Frankreich nach Italien gefunden hat 3.3 Die französische Übersetzung von Toussenel/ R. A. Richard (1830) 3 .3 1 Aspekte der „äußeren Übersetzungsgeschichte“ Nach diesem allgemeinen Panorama der Rezeption Hoffmanns und seiner Werke ist es nun an der Zeit, wieder den eigentlichen Untersuchungsgegenstand in den Blick zu nehmen: Hoffmanns Kunstmärchen Der goldene Topf . Es bietet sich nicht zuletzt deshalb für die Analyse an, da es als erstes von Hoffmanns Werken eben nicht in der Übersetzung Loève-Veimars’ erschienen ist, dessen einbürgernder und in vielerlei Hinsicht unzulänglicher Übersetzungsstil in der Forschung bereits hinlänglich untersucht worden ist Demgegenüber scheint es eine vielversprechendere Herausforderung zu sein, eine Übersetzung aus der Feder zweier seiner weniger bekannten Konkurrenten, die außerdem als näher am Original angesiedelt gilt, als Mittlerfassung einer Übersetzung aus zweiter 231 Cesare Giacobazzi (2002, 25-34) arbeitet zwei Positionen heraus: Die einen suchten in Hoffmanns Scherzen „die vermeintliche deutsche Eigenschaft, ‚noch etwas anderes zu bedeuten als eben den Scherz selbst‘“ (ebd 26), die anderen meinten darin etwas vom ebenso typisch deutschen Gemüt zu entdecken Giacobazzi bezieht sich dabei auf die Diskussion zwischen Ciarlatano Celionati und ein paar deutschen Künstlern im Caffè Greco über den Unterschied zwischen dem italienischen und dem deutschen Scherz, die sich im dritten Kapitel von Hoffmanns Prinzessin Brambilla vor dem Hintergrund des römischen Karnevals entspinnt 232 Vgl Battaglia Boniello 1990, 105 233 Vgl Venuti (1995, 185 f ), der nicht zuletzt diese Hoffmann-Begeisterung dafür verantwortlich macht, dass sich das Genre des Fantastischen im italienischen Novecento schließlich etablieren konnte <?page no="263"?> 3 E. T. A. Hoffmann: Der goldene Topf 263 Hand zu „entlarven“ Dazu sollen zunächst die Entstehungsumstände dieser Übersetzung noch einmal rekapituliert werden Mit der „Fantaisie à la manière de Callot “ Le Pot d’or startet Lefebvre 1830 sein Fragment gebliebenes Konkurrenzunternehmen zu Renduels Hoffmann-Ausgabe Die 12- Vigilien des Kunstmärchens erscheinen verteilt auf die beiden ersten Bände seiner Œuvres complètes de E. T. A. Hoffmann 234 , die im Anschluss an Renduels erste livraison werbewirksam als Tomes V und VI deklariert werden . Lefebvre sichert sich damit den Erstdruck der Übersetzung eines der zentralen Werke des Dichters, das von Loève-Veimars auch in der Folge nicht mehr neu übersetzt wird Das Titelblatt der Übersetzung enthält den ebenso publikumswirksamen wie indirekten Hinweis „traduit par le Traducteur des Romans de Veit-Weber“, während im Gesamttitel dieser Ausgabe auch der zweite Urheber der Übersetzungen genannt wird: „trad par M Théodore Toussenel et par le traducteur des romans de Veit-Wéber“ Teichmann (1961, 39) identifiziert besagten Übersetzer der Romane Veit-Webers unter Hinweis auf den catalogue der Bibliothèque Nationale als den Arzt Dr R A Richard, der in Straßburg und Colmar verlegerisch tätig war: „nous en déduisons qu’il fut un Alsacien bilingue et que traduire des romans était un gagne-pain tout trouvé pour lui“ Bezeichnend ist dessen Freundschaft mit dem Komponisten Hector Berlioz, die einen weiteren Mosaikstein zu dem musikalisch geprägten Bild Hoffmanns in Frankreich liefert . 235 Der Name des Übersetzers wird lediglich einmal explizit genannt, und in Pougins Neuauf lage der Übersetzung 236 erscheint nicht einmal mehr das genannte Pseudonym (vgl ebd 184) . Über seinen Koübersetzer Théodore Toussenel finden sich in den Archives Biographiques Françaises-(ABF 1996, 438-440) 237 folgende biographische Angaben: Er wird am 28 Juli 1805 in Montreuil-Bellay im Departement Maine-et-Loire geboren 238 , sein Bruder ist der Publizist Alfonse Toussenel Nach über 25-jähriger Tätigkeit als Lehrer für Geschichte am Collège Charlemagne und als Zensor am Lycée Bonaparte wird er Inspektor der Pariser Akademie, außerdem ist er Mitglied des Generalrats des Departements Seine und des Akademischen Rats Erwähnenswert ist der Umstand, dass er 1830, also just im Erscheinungsjahr der Hoffmann-Ausgabe Lefebvres, wegen seiner Deutschkenntnisse als Sekretär des Historikers Jules Michelet angestellt wird, um diesen bei seiner Forschungsarbeit zu unterstützen Als Journalist schreibt er vor allem von 1830 bis 1842 für die Zeitschriften Le Temps und Revue de Paris und veröffentlicht darüber hinaus einige geschichtliche Lehrwerke . Sein Beitrag zur Histoire de l’Allemagne wird 1838 in der von J Savoye herausgegebenen Zeitschrift Panorama de l’Allemagne abgedruckt 1845 erhält er den Ritter- und 1870 den 234 Band V versammelt die erste bis achte, Band VI die neunte bis zwölfte Vigilie 235 In seinem Essay „Tribulations d’un critique musical“ in- der Revue et Gazette musicale vom 7 Januar 1838 spricht Berlioz-- wie auch in verschiedenen veröffentlichten Briefen-- von seinem Freund Richard als Übersetzer von Hoffmanns Contes fantastiques und erwähnt, dass dieser als Arzt in Colmar tätig ist 236 E T A . Hoffmann, Contes/ traduction nouvelle de M Théodore Toussenel, professeur d’histoire . Avec une préface par M l ’H Paris: Pougin, 1838 Vol 1 .2 Entgegen der Ankündigung im Titel handelt es sich lediglich um eine gekürzte Fassung der Ausgabe von 1830 Vgl Teichmann 1961, 173 237 Quelle: Lamathière, Théophile: Panthéon de la Légion d’honneur: dictionnaire biographique des hommes du XIX e siècle/ par T Lamathière Paris, 1875-1911 238 Bei Teichmann (1961, 198) findet man die abweichende Jahresangabe 1806 <?page no="264"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 264 Offiziersorden der Ehrenlegion, die ranghöchste Auszeichnung Frankreichs Symptomatisch ist die Archivnotiz über seine Übersetzertätigkeit: „M . Toussenel a traduit le Wilhem-Meister [sic! ] de Gœthe (1829) 239 , les Contes de Hoffmann (1830, 2 vol ) . Dans cette transcription du célèbre roman de Gœthe, on retrouve tout le charme poétique de l ’original“ . 240 Einmal mehr wird hier die Verknüpfung der beiden deutschen Dichter vollzogen, und zwar anhand eines Goetheschen Werkes, das auch 1835, im Jahr der Veröffentlichung der italienischen Hoffmann-Ausgabe, erneut den Rezeptionskontext bestimmen wird . 241 Auf die Hoffmann-Übersetzung geht der Verfasser der Notiz dabei nicht näher ein, während, was Goethe angeht, allein die Schreibung von einer doch sehr ungefähren Kenntnis von Künstler und Werk zeugt . Vieles spricht dafür, dass der an Goethes Wilhelm Meister geschulte Übersetzer Toussenel 242 ähnlich wie Nerval zu einer „Kontamination“ des französischen Hoffmann-Bildes durch Goethe beigetragen hat Schließlich verkehrt Toussenel auch mit dem in Frankreich lebenden Kulturmittler Heinrich Heine, der sich von ihm ein Exemplar seiner Übertragung des Wilhelm Meister auslieh . 243 Auch mit anderen literarischen Größen ist Toussenel befreundet, so mit Baudelaire und Victor Hugo, dessen Kinder er in Geschichte unterrichtet . 244 Ebenso wie Loève-Veimars betreibt Toussenel das Übersetzen in erster Linie als Broterwerb Die Übersetzung des Fantasiestücks Der goldene Topf, die hier erstmals vollständig vorliegt, wird im Titel zwar allein R A Richard zugeschrieben, es ist aber anzunehmen, dass Toussenel die Übersetzung durchgesehen und korrigiert hat, zumal die spätere Neuauf lage von 1838 ausschließlich unter dessen Namen veröffentlicht wird . 245 Teichmann (1961, 218 f ) äußert angesichts einiger Germanismen in den unter Toussenels Namen erschienenen Übersetzungen (Band VII bis XII) die Vermutung, dass die bei Lefebvre erschienenen Hoffmannschen Werke generell von dem Elsässer Richard übersetzt und von Toussenel durchgesehen wurden . 246 Zugleich beobachtet sie aber, dass die beiden ersten Bände, denen hier das Augenmerk gilt, etwas weniger Übertragungsfehler enthalten Der Anteil Richards an der Übersetzung könnte hier also tatsächlich höher gewesen sein als in den folgenden Bänden Dennoch wird gerade der Pot d’Or, wohl wegen der erwähnten Neuauf lage von 1838, in der Literatur häufig pauschal als „traduction Toussenel“ deklariert 239 Wilhelm Meister de Johann Wolfgang von Goethe Paris: J Lefèbvre, 1829, 2 vol 240 Lamathière, T de, Panthéon de la Légion d’honneur 22 tom 1875-1911, 438 (Vgl die Online- Datenbank World Biographical Information System) 241 Zur italienischen Übersetzung, Gli anni del Noviziato di Alfredo Meister, vgl . Abschnitt 3 .2 .2 dieses Teils 242 Neben seinen Übertragungen von Goethe und Hoffmann hat Toussenel auch an der Übersetzung einer Ausgabe von Lessings Fabeln mitgewirkt: Fables de Lessing Traduction nouvelle, avec le texte en regard, par H T [Traduction: Topin, Hippolyte/ Toussenel, Théodore] Paris: Hingray; Barrois; Baudry, 1837 243 Heine erwähnt dies in einem Brief, den er Théodore Toussenel am 15 Juli 1834 aus Boulogne-sur-Mer schreibt Vgl Heine/ Daffis (Hrsg ) 1907, 40-41 244 Vgl die Notiz zu Théodore Toussenel bei Teichmann (1961, 198) 245 Vgl den entsprechenden Vermerk bei Teichmann (1961, 218) 246 Loève-Veimars ist zwar Sohn deutscher Eltern, jedoch in Frankreich aufgewachsen, so dass es eher unwahrscheinlich ist, dass ihm Interferenzen mit dem Deutschen unterlaufen <?page no="265"?> 3 E. T. A. Hoffmann: Der goldene Topf 265 3 .3 .2 Charakter, Rezeption und Wirkung der Übersetzung Anders als Loève-Veimars versehen Toussenel und Richard ihre Fassung nicht mit einem Vorwort oder einer einführenden Abhandlung zu Autor und Werk, was wohl auch dem ungewöhnlichen Umstand geschuldet ist, dass die Publikation mit Band V beginnt . Eine Vorbemerkung der Übersetzer wäre vielleicht in den vom Verlag angekündigten ersten vier biographischen Bänden am Platz gewesen, die aber bekanntlich nie erschienen sind . 247 Der Verlag selbst betont natürlich unter Verweis auf einige Kritikerstimmen, „(…) que la traduction de M Théodore Toussenel et de son collaborateur est meilleure que celle de M Loève-Veimars“ 248 , was aber kaum als objektive Aussage über die Qualität der Übersetzung gelten kann Für einen ersten Eindruck von deren Charakter muss also auf Urteile zurückgegriffen werden, wie sie etwa bei Teichmann (1961, 218-221) nachzulesen sind Sie beschreibt die Übersetzung als gewissenhafter im Vergleich zu Loève-Veimars’ Fassung und betont, sie enthalte im Gegensatz zu dieser kaum Kürzungen; das gelte insbesondere für die beiden Hauptwerke Le Pot d’or und La Princesse Brambilla Dies führt sie auf die Verlagsstrategie zurück, zumal Lefebvre sich mit einer ungekürzten Übersetzung, die für die damalige Zeit sehr innovativ war, von seinem Konkurrenten Renduel absetzen wollte Dennoch enthalte die Fassung kleinere Mängel und Ungenauigkeiten, die sich verfälschend auf die Bedeutung des Textes auswirkten So zitiert Teichmann (ebd ) exemplarisch einige Textstellen aus Le Pot d’or und La Princesse Brambilla, die i d R denotative Aspekte der Lexik betreffen . 249 In stilistischer Hinsicht moniert sie-- darin ganz der französischen Tradition verhaftet-- die mangelnde variatio, die sich in monotonen Wiederholungen niederschlage . Dies wird natürlich dort zum Problem, wo es sich um ohnehin unpassende Äquivalente handelt . Darüber hinaus attestiert sie den Übersetzern eine gewisse Unsicherheit bei idiomatischen Wendungen, die nicht selten durch Germanismen wiedergegeben würden . Sie greift u a folgende Beispiele heraus: Für das deutsche „Straßenjungen“ zu Beginn der ersten Vigilie wird anstelle der naheliegenden Entsprechung „gamins“ die etwas umständliche Umschreibung „les petits garçons des rues“ gewählt; und der joviale Ratschlag eines braven Familienvaters an Anselmus in der zweiten Vigilie, „leg’ Er sich aufs Ohr“, wird in der Übersetzung zu dem etwas seltsam anmutenden: „couchez-vous sur une oreille“ . Allerdings bleibt zu ersterem Beispiel anzumerken, dass auch Toussenels Vorgänger Girardin (1829, 69) sich für die Lehnübersetzung „les petits garçons des rues“ entschieden hat Ein besonderes Verdienst der Übersetzer liege in der recht gelungenen Nachbildung der Klangmalerei Hoffmanns im Französischen, die für die Zeit durchaus nicht selbstverständlich war Teichmann macht dies anhand eines Auszugs deutlich, dem sie die entsprechende Passage in zwei Übersetzungen aus dem 20 Jahrhundert gegenüberstellt, und kommt zu 247 Vgl Abschnitt 3 .2 1 dieses Teils der vorliegenden Arbeit zur verlegerischen Rezeption 248 Aus der Ankündigung der Hoffmann-Ausgabe Lefebvres im „feuilleton“ der Bibliographie de la France vom 13 März 1830 Lefebvre verweist auf Kritiken des Journal de Paris vom 3 März sowie des Album des salons vom 11 März desselben Jahres Vgl Teichmann 1961, 41 249 Hier nur zwei Beispiele aus dem Pot d ’or: „Anselme (…) regrette d ’être privé des ‚regards‘ [Anblick] des jeunes filles quoiqu’ il s’agisse de la ‚vue‘ (…) La faute est plus grave si l’on met (…) ‚portière‘ au lieu de ‚porte‘ d’un poêle ou fourneau (…)“ (Teichmann 1961, 219) <?page no="266"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 266 dem Schluss (ebd 221): „La difficulté était énorme et, vu que le traducteur n’était pas poète, il s’en est tiré honorablement“ Während dem weltläufigen Journalisten Loève- Veimars eine gewisse künstlerische Freiheit zugebilligt wird und seine Übersetzungen auch aufgrund seiner poetischen Ader geschätzt werden, gilt die Fassung von Toussenel und Richard als weniger gefällig und f lüssig, dafür aber als gewissenhafter und genauer, was zu dieser Zeit nicht unbedingt ein Vorteil sein muss Überprüfen lässt sich Teichmanns Urteil anhand des erwähnten Übersetzungsfragments von Saint-Marc-Girardin 250 , dem Redaktionskollegen Loève-Veimars’ bei der Revue de Paris Vergleicht man die beiden Fassungen der ersten Vigilie, so erscheint Toussenels und Richards Übersetzung in einem ganz ähnlichen Licht . Die beiden Übersetzer sind weniger der klassizistischen Tradition verhaftet als noch Saint-Marc-Girardin, der häufiger einbürgernd übersetzt, gliedernd in den Text eingreift und tendenziell von „niederen“ Details abstrahiert So muten sie ihren Lesern mit den „trois à quatre groschen“ (Hoffmann 1830, 11-12), versehen mit einer erläuternden Fußnote, eine fremde Währung zu, die Saint-Marc-Girardin (1829, 71) noch einbürgernd als „dix à douze sous“ wiedergibt . 251 Das Rascheln der wunderbaren Schlänglein, das den Studenten Anselmus aus seinem Selbstgespräch aufschreckt und den Übergang von der realen in die fantastische Welt ankündigt, wird im Original mit Vorbedacht lediglich durch einen Gedankenstrich markiert (S -15), und Toussenel und Richard übernehmen diese Markierung (S -17) Bei Saint-Marc-Girardin beginnt an dieser Stelle ein neuer Absatz (S .-72), so dass der Übergang nicht mehr f ließend und unmerklich, sondern abrupt stattfindet und so allzu deutlich betont wird, dass jetzt die reale Welt verlassen wird Das eher nebensächliche Detail einer Hunderasse („ein muntrer Mops“, S .-12), dem für Saint-Marc-Girardin mit der Angabe „petit chien“ (S -72) Genüge getan ist, behalten Toussenel und Richard gewissenhaft bei („un mopse frétillant“, S .-13) . Andererseits ist der noch dem klassizistischen Ethos verhaftete Saint-Marc-Girardin bestrebt, „dunkle“ Stellen zu klären, und so präzisiert er, wo Toussenel und Richard im Ungefähren bleiben: Anselmus’ Gang „ins Kollegium oder wo man mich sonst hin beschieden“ (S -11), bei Toussenel und Richard ebenso vage mit „aux cours ou quelque part que l ’on m’eût envoyé“ (S - 12) wiedergegeben, führt bei Saint-Marc-Girardin „aux cours ou dans les maisons où j’étais invité“ (S - 71) Während Anselmus bei Hoffmann beklagt, dass er über seine Missgeschicke „alles versäumte“ (S - 11), bedauert er bei Saint-Marc-Girardin, „que je manquais le repas“ (S -71)-- bei Toussenel und Richard heißt es wieder nur unbestimmt „que j’arrivais toujours trop tard“ (S -12) Die zuletzt Genannten sind aber nicht nur durchgehend genauer in der Wiedergabe inhaltlicher und sprachlicher Elemente, auch die Nachahmung des onomatopoetischen Stils und damit der besonderen poetischen Stimmung des Originals gelingt ihnen insgesamt weitaus besser als Saint-Marc-Girardin . Zur Illustration eignet sich ein Ausschnitt aus der bereits von Teichmann gewählten Passage, in der die drei goldgrünen Schlänglein erstmals auftreten: 250 Saint-Marc-Girardin (1829), „Contes fantastiques d’Hofmann [sic! ] Traduction d’un extrait du Pot d’or“ Revue de Paris II (17 Mai 1829), 65-73 251 Vgl Hoffmann 1814, 11: „drei bis vier Groschen“ <?page no="267"?> 3 E. T. A. Hoffmann: Der goldene Topf 267 Zwischen durch- - zwischen ein- - zwischen Zweigen, zwischen schwellenden Blüthen, schwingen, schlängeln, schlingen wir uns- - Schwesterlein- - Schwesterlein, schwinge dich im Schimmer-- schnell, schnell herauf-- herab-- Abendsonne schießt Strahlen, zischelt der Abendwind- - raschelt der Thau- - Blüthen singen- - rühren wir Zünglein, singen wir mit Blüthen und Zweigen-- Sterne bald glänzen-- müssen herab-- zwischen durch, zwischen ein schlängeln, schlingen, schwingen wir uns Schwesterlein - - (Hoffmann 1819, 88-89/ Hoffmann 1814, 16-17) Saint-Marc-Girardin: Glissons, passons, glissons, mes sœurs, glissons de f leurs en f leurs, élançons-nous, élançons-nous; vite, vite, mes sœurs, glissons sous les rayons du soleil, sous les lueurs du couchant . Entends-tu frémir la brise, murmurer la rosée, chanter les f leurs: chantons aussi, chantons avec les f leurs et les rameaux Bientôt brilleront les étoiles, et il faudra descendre Glissons, glissons, mes sœurs, élançons-nous, élançons-nous! (Saint-Marc- Girardin 1829, 73) Toussenel/ Richard: Passons,-- glissons,-- passons sur les rameaux, glissons sur les f leurs, élancées, balancées, enlacées .-- Ma sœur,-- ma sœur, baigne-toi dans la lumière,-- vite, vite, plus haut,- - plus bas - - Le soleil du soir darde ses rayons,- - la brise du soir murmure avec volupté,-- la rosée pétille,-- les f leurs chantent-- Chantons, mes sœurs, chantons comme les f leurs, comme les rameaux -- Les étoiles vont luire,-- il faut descendre -- Passons,-- glissons, ma sœur,-- élancées, balancées, enlacées (Hoffmann 1830, 18-19) Es ist unschwer erkennbar, wie sich Toussenel und Richard mit der Häufung der Zischlaute und Alliterationen und der Wahl ähnlicher Vokalqualitäten um die Wiedergabe der Lautmalerei bemühen und so die klangliche Qualität des Originals weitgehend nachbilden Bei Saint-Marc-Girardin hingegen verliert die Passage durch die Vernachlässigung dieses Aspekts an poetischer Kraft . 252 Zwischen 1830 und 1840 nimmt man bei Lefebvres Fassung bezeichnenderweise nur Notiz von den zwei ersten Bänden, die die beiden nach allgemeiner Auffassung am besten gelungenen Übersetzungen Le Pot d’or und Les Aventures de la nuit de Saint-Sylvestre enthalten In der Kritik dieser Zeit finden sich eine ganze Reihe von Anspielungen auf Hoffmanns Leben und vermuteten Parallelen zu dessen Werk . Dies gilt insbesondere für das Jahr 1832, in dem u a ein kurzer anonymer Essay im Artiste 253 erscheint, der Hoffmanns „universelle poésie“ (ebd 121) in gewohnter Manier mit dem Leben des Künstlers in Verbindung bringt und dessen phantastisches Erzählen gar zu einer Art Glauben hochstilisiert: „Hoffman [sic! ] est trop vaste pour qu’il puisse se réduire à l ’examen! C’est une foi qu’il nous apporte; la foi ne se discute pas; on y croit ou l ’on n’y croit pas! “ (ebd 122) Der Verfasser, bei dem es sich Teichmann (1961, 98) zufolge um den Redakteur L Himly handeln könnte, schreibt am 11 November desselben Jahres ei- 252 Ähnlich symptomatisch ist die aus weiter Ferne herauf klingende tiefe Stimme, die den Zauber der goldgrünen Schlänglein beendet Während man bei Toussenel und Richard wie im Original das sonore Rufen durch die langgezogenen Vokale, die wiederkehrenden Interjektionen und die graphische Absetzung durch Gedankenstriche zu vernehmen glaubt, bleibt es bei Saint-Marc-Girardin bei einer rein inhaltlichen Wiedergabe-- die Interjektionen werden teilweise gestrichen, und graphisch zeugen lediglich einige Ausrufezeichen von der Intensität des Rufens (vgl Hoffmann 1814, 21; Saint-Marc- Girardin 1829, 74; Hoffmann 1830, 23) 253 Anonymus 1832a, „Hoffman [sic! ]“ Artiste IV (14 . Oktober 1832), 121-122 <?page no="268"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 268 nen weiteren Beitrag im Artiste 254 , der sich in ähnlichem Stil speziell mit dem Goldene[n] Topf in der Übersetzung von Toussenel und Richard beschäftigt Er setzt das Werk in Beziehung zu Hoffmanns Nachtstück Der Sandmann (L’Homme au sable in der Fassung von Loève-Veimars) und sieht darin zwei Lebensphasen, die das Leben des Dichters ebenso wie das jedes Menschen prägen: Gemeinsam seien sie Ausdruck des Gedankens, das ideale Leben („la vie idéale“) werde von der äußeren Realität („la vie réelle“) eingeschränkt und letztlich zerstört Das Märchen Le Pot d’or verkörpere dabei die erste, glückselige Phase, in der noch das ideale Leben über die äußere Realität triumphiert, während das Nachtstück L’Homme au sable den letztlich unvermeidlichen Sieg des realen Lebens über die ideale Welt illustriere . Der goldene Topf wird hier also gewissermaßen als „lichte Seite“ des Dichters Hoffmann betrachtet, dessen „Schattenseite“ von Werken wie Der Sandmann oder auch dem von Walter Scott als exemplarisch zitierten Nachtstück Das Majorat repräsentiert wird . Die einzige Zeitschrift, die sich ganz dem Lob der Übersetzungen Toussenels und Richards verschrieben hat und die Fassungen Loève-Veimars’ gar nicht erwähnt, ist die Gazette littéraire, die 1832 von dem Blatt Le Voleur übernommen wird Bereits am 4 März 1830 widmet ein anonymer Verfasser den beiden ersten Bänden Lefebvres einen umfangreichen Beitrag, in dem er lobende Worte für den Übersetzer findet: Er unterstreicht den „style élégant et facile du traducteur des romans de Veit-Weber, que la modestie seule peut engager à cacher son nom“ . 255 Dass Hoffmann auch auf dem Gebiet der französischen Literatur, Malerei und Musik seine Wirkung entfaltet hat, braucht hier nicht wiederholt zu werden . Erinnert sei lediglich an Hector Berlioz, der nicht nur in seiner 1830 uraufgeführten „symphonie phantastique“ Episode de la vie d’un artiste das Motiv der Verquickung von Künstler und Werk aufgreift, sondern mit dem Titel seiner Veröffentlichung von 1852, Les Soirées de l’orchestre, unverkennbar auf die zwölf Vigilien (veillées) von Hoffmanns Der goldene Topf anspielt Der ursprünglich vorgesehene Titel der Sammlung, Contes de l’orchestre, legt die Vermutung nahe, dass hier der von Hoffmann inspirierte französische Gattungsbegriff contes fantastiques Pate gestanden hat . 256 3.4 Die italienische Übersetzung von E. B. (1835) 3 .4 1 Aspekte der „äußeren Übersetzungsgeschichte“ Die italienische Rezeption von Hoffmanns Erzählungen setzt bekanntlich unmittelbar nach der verlegerischen Hochkonjunktur des Dichters in Frankreich im Jahr 1830 ein Und so erscheint auch der vierbändige Sammelband Racconti beim Mailänder Verleger 254 L H [Himly? ], „Le Pot d ’or“ . Artiste IV (11 . November 1832), 168-169 255 Anonymus, „Revue des livres nouveaux Le Pot d’or, fantaisie à la manière de Callot, par E T A Hoffmann, traduit de l’allemand par le traducteur des romans de Veit-Weber Tomes V et VI Paris, Chez Lefebvre“ Gazette littéraire I (4 März 1830), 211-212 Zit nach Teichmann 1961, 39 Teichmann (ebd ) stellt allerdings fest, dass die Gazette littéraire sich mit mehr Begeisterung als echter Kenntnis für die deutsche Literatur interessierte, so dass sie gar August Klingemanns 1816 entstandene Theaterfassung von Goethes Faust dem Original vorzog 256 Zur Hoffmann-Rezeption bei Hector Berlioz vgl Hübener 2004, 280 ff und 342 ff <?page no="269"?> 3 E. T. A. Hoffmann: Der goldene Topf 269 Gaspare Truffi bereits 1835, nur wenige Jahre nach den „Gesamtausgaben“ Renduels und Lefebvres Die näheren Umstände und die in der Sammlung enthaltenen Werke sind im Abschnitt zur verlegerischen Rezeption Hoffmanns bereits dargelegt worden, so dass an dieser Stelle der Hinweis genügt, dass dem Fantasiestück Il Vaso d’oro der gesamte zweite Band gewidmet ist Auf die unklaren Übersetzerangaben ist ebenfalls weiter oben schon hingewiesen worden Die den Erzählungen des dritten und vierten Bandes vorangestellten Initialen G B wurden recht verlässlich als die von Gaetano Barbieri identifiziert, der in der Sekundärliteratur bisweilen als alleiniger Übersetzer genannt wird . 257 Tatsächlich enthält aber der erste Band, wie bereits erwähnt, keinerlei Übersetzerangabe, während das hier zu untersuchende Werk Il Vaso d’oro als einzige Erzählung des Sammelbandes die Initialen „E B “ aufweist Zunächst einige Worte zu dem Übersetzer Gaetano Barbieri, der wohl als die sicherste Referenz gelten darf . 258 Der Sohn einer Aristokratenfamilie aus Modena, um 1775 geboren (das genaue Datum ist nicht bekannt), beteiligt sich an den revolutionären Umtrieben Ende des Jahrhunderts, studiert Mathematik und bekleidet von 1808 bis 1815 einen Lehrstuhl in Mantua . 1818 zieht er nach Mailand, wo er sich mit mäßigem Erfolg als Autor von Komödien versucht . 259 Er gibt zwei Reihen mit Theaterstücken heraus und übersetzt daneben zahlreiche Dramen und Romane aus dem Französischen 260 sowie eine ganze Reihe von Werken aus dem Englischen, darunter auch Stücke Shakespeares Ihm wird das Verdienst zugeschrieben, als einer der ersten in der Literatur die gesprochene Sprache eingeführt zu haben-- wobei einige seiner Zeitgenossen dadurch die Reinheit der italienischen Sprache gefährdet sehen . 261 1825 gründet er zusammen mit Giulio Ferrario und Giacinto Battaglia die Theaterzeitschrift I Teatri, ein sich selbst als „drammatico, musicale e coreografico“ beschreibendes Blatt, das später den Namen Raccolta di Panegirici tragen sollte Seine Tätigkeit als Übersetzer beschränkt sich im Übrigen nicht, wie Regli (1860, 27) suggeriert, auf französische und englische Literatur: Neben seiner oben erwähnten Prosaübersetzung von Goethes Hermann und Dorothea von 1824, einer mittelbaren Übertragung aus dem Französischen, hat er drei Jahre zuvor auch Schillers Maria Stuart ins Italienische gebracht, und zwar bezeichnenderweise ebenfalls nicht aus dem deutschen Original, sondern nach Pierre Lebruns französischer Bearbeitung . 262 Bereits diese beiden Übersetzungen aus zweiter Hand lassen den Verdacht auf kommen, dass Barbieri nicht über ausreichende Deutschkenntnisse verfügte, um deutsche Literatur direkt aus dem Original ins Italienische zu übertragen Auch in seiner Biographie finden sich keine Anhaltspunkte dafür, 257 Vgl etwa Gugenheim 1925, 50 258 Die biographischen Angaben sind Regli (1860, 26-28) entnommen Vgl hierzu auch Santangelo/ Vinti 1981, 365-366 259 Seine melodramatischen Libretti Il Talismano und Giovanna d ’Arco finden beim Publikum wenig Anklang 260 1837 erscheint in Mailand sein ambitioniertes Teatro completo di Victor Hugo, und noch kurz vor seinem Tode im Jahr 1853 arbeitet er an seiner Übersetzung von Alexandre Dumas’ Les Médicis 261 Dieser Ansicht scheint auch Francesco Regli (1860, 27) zuzustimmen 262 Maria Stuarda, tragedia in cinque atti/ del Sig. Pietro Le Brun trasportata dal francese in versi sciolti italiani da Gaetano Barbieri. In: Nuova raccolta teatrale o sia Repertorio scelto ad uso de’ teatri italiani compilato dal professore Gaetano Barbieri Tomo III Milano: co’ tipi di Giovanni Pirotta, 1821 . Vgl . die französische Bearbeitung: Marie Stuart/ (d ’après Schiller) par Pierre Lebrun 2 e éd . Paris: Barba, 1820 VII, 102-p <?page no="270"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 270 dass er sich längere Zeit in Deutschland aufgehalten oder sich näher mit der deutschen Sprache beschäftigt hätte So liegt die Vermutung nahe, dass wir es auch bei der vorliegenden Publikation- - oder zumindest bei den unter dem Kürzel G B abgedruckten Erzählungen-- mit Übersetzungen aus zweiter Hand zu tun haben Was die Übersetzung des Fantasiestücks Der goldene Topf betrifft, so kann über die Identität des Übersetzers nur spekuliert werden, zumal sich auch in der Sekundärliteratur keine weiterführenden Hinweise finden ließen Konsultiert man Giovanni Battista Passanos 1887 erschienenes Dizionario di opere anonime e pseudonime , so stößt man unter den Initialen E B auf einen Verweis auf Elia Bensa mit dem Zusatz: „Così segnò i suoi articoli pubblicati nel giornale: L’Indicatore genovese ecc “ (ebd 110) Allerdings bleibt zumindest fraglich, ob der auch als Giuseppe Elia Benza bekannte Genueser Journalist und Freund Giuseppe Mazzinis (geboren 1803 in Porto Maurizio, gestorben ebenda 1890) sich zu besagter Zeit auch als Übersetzer betätigte und Kontakte zum Mailänder Verleger Truffi unterhielt Dass er sich mit romantischer Literatur im Stil E T A . Hoffmanns auseinandersetzte, belegt seine redaktionelle Mitarbeit am Indicatore genovese und, nach Einstellung der Zeitschrift, am Indicatore livornese Beide Blätter entwickelten sich unter Mazzinis patriotischer Federführung zu literarischen Zeitschriften der romantischen Bewegung . 263 3 .4 .2 Charakter der Übersetzung Aufschlussreich ist an dieser Stelle vor allem der Titel dieser „Prima versione italiana“, Racconti: Er erinnert an den in Frankreich geprägten Gattungsbegriff contes fantastiques und lässt damit bereits den „Umweg“ über die französische Rezeption erahnen Der italienische Verleger entscheidet sich aber wohl bewusst gegen den direkt an Loève-Veimars’ französischer Fassung orientierten Titel Racconti fantastici, der schließlich ebenso denkbar gewesen wäre Bei der Auswahl der in seiner Sammlung enthaltenen Erzählungen hat er sich nämlich augenscheinlich nicht nur von dessen (und analog dazu von Toussenels und Richards) als Contes fantastiques publizierten Werken, sondern auch von den später bei Renduel erschienenen Contes nocturnes inspirieren lassen Es handelt sich also um eine sehr disparate Zusammenstellung von Erzählungen, die nicht nur Hoffmanns eigene Werkzuordnung, sondern auch die grobe französische Einteilung in Contes fantastiques und Contes nocturnes ignoriert und so das eklektische Vorgehen der französischen Verleger auf die Spitze treibt Im anonymen Vorwort Ai Leggitori im ersten Band der Racconti wird diese Auswahl mit dem wenig aussagekräftigen Vorsatz begründet, einen möglichst umfassenden Überblick über die verschiedenen Facetten des Autors zu geben und das Terrain für eine mögliche Publikation weiterer Werke zu sondieren (Anonymus 1835, unpagin ): I racconti che qui furono scelti, oltre ad essere fra i più lodati del nostro autore, possono anche servire a dare una compiuta idea della sua maniera: gli uni nel genere maraviglioso, gli altri nell ’umoristico . E per ora bastino questi Sarà l ’accoglienza, che ad essi vorranno fare i nostri benevoli leggitori, che c’insegnerà, se altri ancora dobbiamo aggiungerne d’una tempra medesima, e d’un merito uguale 263 Zur Rolle des Indicatore genovese vgl . Gernert 1990, 48 f <?page no="271"?> 3 E. T. A. Hoffmann: Der goldene Topf 271 Ein Aspekt, der schon im Rahmen der verlegerischen Rezeption dargelegt wurde, soll hier noch einmal aufgegriffen werden, da er auf den Charakter der zu untersuchenden Übersetzung vorausweist Regli (1860, 27) referiert eine im Rahmen dieser Hoffmann- Übersetzung sehr bedeutsame Episode: Eine englische Zeitschrift habe Gaetano Barbieri vorgeworfen, die Meisterwerke Walter Scotts nicht aus dem englischen Original, sondern aus dem Französischen übersetzt zu haben . Darauf hin habe er seinen ganzen Ehrgeiz dareingesetzt, die verbleibenden Werke direkt aus dem Englischen zu übersetzen, und schließlich seine Version von Scotts The Fair Maid of Perth (La bella fanciulla di Perth) veröffentlicht Tatsächlich konnte weiter oben bereits gezeigt werden, dass der dem ersten Band vorangestellte Discorso di Gualtiero Scott nichts anderes ist als die Übersetzung von Loève-Veimars’ französischer Fassung des Essays, die zum größeren Teil dessen erstem Band der Contes fantastiques und zum kleineren dessen in der Revue de Paris von April 1829 abgedruckter Übersetzung des Anfangs entnommen ist Ein Textbeispiel mag den Charakter dieser Reinform der Übersetzung aus zweiter Hand illustrieren Es ließe sich wahllos eine Passage herausgreifen, besonders gut eignet sich aber der Passus, mit dem Walter Scott seine Notiz „Sur Hoffmann et les compositions fantastiques“ beginnt, nicht zuletzt aufgrund der augenfälligen Kürzungen des englischen Originals Im Folgenden zunächst das Französische und dann die italienische Fassung Barbieris: Le goût des Allemands pour le mystérieux leur a fait inventer un genre de composition, qui peut-être ne pouvait exister que dans leur pays et leur langue C’est celui qu’on pourrait appeler le genre fantastique, où l’imagination s’abandonne à toute l’irrégularité de ses caprices et à toutes les combinaisons de scènes les plus bizarres et les plus burlesques Dans les autres fictions où le merveilleux est admis, on suit une règle quelconque: ici l’imagination ne s’arrête que lorsqu’elle est épuisée Ce genre est au roman plus régulier, sérieux ou comique, ce que la farce, ou plutôt les parades et la pantomime sont à la tragédie et-à la comédie Les transformations les plus imprévues et les plus extravagantes ont lieu par les moyens les plus improbables Rien ne tend à en modifier l’absurdité Il faut que le lecteur se contente de regarder les tours d’escamotage de l’auteur, comme il regarderait les sauts périlleux et les métamorphoses d’Arlequin, sans y chercher aucun sens, ni d’autre but que la surprise du moment L’auteur qui est à la tête de cette branche de la littérature romantique, est Ernest-Théodore-Guillaume Hoffmann (Scott 1829, iii-iv) Il gusto dei Tedeschi pel misterioso ha fatto loro inventare un altro genere di composizione, che forse non poteva esistere che nel loro paese e nella loro lingua È il genere che si potrebbe chiamare fantastico, dove l’immaginazione si abbandona a tutta l’irregolarità dei suoi capricci e a tutte le combinazioni delle scene più bizzarre e più burlesche Nelle altre finzioni in cui è ammesso il meraviglioso, si segue una regola qualunque; qui l’immaginazione non si arresta chè quando è esaurita Questo genere è al romanzo più regolare, serio e comico, quello che la farsa, o piuttosto le parodie o la pantomima sono alla tragedia e alla commedia Le trasformazioni più imprevedute e più stravaganti hanno luogo coi mezzi più improbabili Non v’ha niente che tenda a modificarne l’assurdità Bisogna che il lettore si contenti di guardare i giochi di mano dell’autore come guarderebbe i salti perigliosi e le metaformosi di Arlecchino, senza cercarvi altro senso nè altro scopo che la sorpresa del momento L’autore che è alla testa di letteratura romantica questo ramo [sic! ] è Ernesto Teodoro Guglielmo Hoffmann (Scott 1835, XVII-XVIII) . <?page no="272"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 272 Bereits beim direkten Vergleich der beiden Versionen wird augenfällig, wie Barbieri sich in der Wahl seiner lexikalischen und syntaktischen Strukturen durchgängig am französischen Vorbild orientiert und sich allenfalls durch einige graphische Hervorhebungen von ihm absetzt Es lassen sich lediglich drei unwesentlich abweichende Textstellen ausmachen: Loève-Veimars’ „un genre de composition“ im ersten Satz expliziert Barbieri zu „un altro genere di composizione“; im zweiten Satz verändert er die Informationsstruktur, indem er das bedeutungstragende Substantiv „genre“ vorzieht („C’est celui qu’on pourrait appeler le genre fantastique“/ „È il genere che si potrebbe chiamare fantastico“); und schließlich relativiert er gegen Ende das französische „sans y chercher aucun sens“ zu „senza cercarvi altro senso…che…“ . Die Anlehnung an das französische Vorbild tritt aber erst vor der Kontrastfolie von Walter Scotts englischem Originaltext in aller Deutlichkeit zutage: We have thus slightly traced the various modes in which the wonderful and supernatural may be introduced into fictitious narrative; yet the attachment of the Germans to the mysterious has invented another species of composition, which, perhaps, could hardly have made its way in any other country or language This may be called the Fantastic mode of writing,- - in which the most wild and unbounded license is given to an irregular fancy, and all species of combination, however ludicrous, or however shocking, are attempted and executed without scruple . In the other modes of treating the supernatural, even that mystic region is subjected to some laws, however slight; and fancy, in wandering through it, is regulated by some probabilities in the wildest f light Not so in the fantastic style of composition, which has no restraint save that which it may ultimately find in the exhausted imagination of the author . This style bears the same proportion to the more regular romance, whether ludicrous or serious, which Farce, or rather Pantomime, maintains to Tragedy and Comedy Sudden transformations are introduced of the most extraordinary kind, and wrought by the most inadequate means; no attempt is made to soften their absurdity, or to reconcile their inconsistencies; the reader must be contented to look upon the gambols of the author as he would behold the f lying leaps and incongruous transmutations of Harlequin, without seeking to discover either meaning or end further than the surprize of the moment (…) The author who led the way in this department of literature was Ernest Theodore William Hoffmann; (…) (Scott 1827, 72; 74) Auf den ersten Blick fällt auf, dass der doch um einiges längere englische Passus von beiden Übersetzern auf ganz ähnliche Art gekürzt wurde Beide streichen den Beginn von Scotts Argumentation im ersten Satz, in der dieser das zuvor Gesagte noch einmal zusammenfasst, um dann den „fantastic mode of writing“ als eine neue, bisher unbekannte „species of composition“ einzuführen . 264 Und beide nehmen gegen Ende eine auffällige Kürzung vor: Der letzte Satz, der im Original erst zwei Seiten später folgt, schließt sich bei beiden Übersetzungen nahtlos an Die Übersetzer kürzen und straffen aber nicht nur durchgängig das englische Original, sondern wandeln es auch stilistisch ab, und auch hier folgt der Italiener getreu dem französischen Vorbild So wird die Formulierung ex 264 Auf diese ursprünglich zugrunde liegende Argumentationsstruktur mag übrigens auch Barbieris Zusatz „un altro genere di composizione“ in seiner italienischen Übersetzung zurückzuführen sein Natürlich setzt dies voraus, dass Barbieri zumindest einen Blick in das englische Original geworfen hat . <?page no="273"?> 3 E. T. A. Hoffmann: Der goldene Topf 273 negativo „could hardly have made its way in any other country or language“ von beiden romanischen Übersetzern ins Positive gewendet: „ne pouvait exister que dans leur pays et leur langue“ und analog dazu „non poteva esistere che nel loro paese e nella loro lingua“ Barbieri ahmt hier sogar die zweigliedrige französische Verneinung nach, obgleich doch ein einfaches soltanto völlig genügt hätte . Diese wenigen Beispiele müssen hier genügen, um Barbieri als Übersetzer aus zweiter Hand zu „entlarven“ . Ganz offensichtlich hatte er Loève-Veimars’ Contes fantastiques bei seiner Übersetzung vorliegen und diese-- wohl nicht nur hinsichtlich Walter Scotts Essay-- ausgiebig konsultiert . Dass er dabei die polemische Funktion des Essays bei Loève-Veimars nicht durchschaut, sondern im Gegenteil in seinem Vorwort treuherzig von Scotts „bel discorso“ spricht, „che ne disponga gli animi [dei leggitori] ad apprezzare le mirabili bellezze“, ist weiter oben 265 bereits angedeutet worden Die insgesamt neun Erzählungen, die die vier Bände versammeln, sind offenbar sämtlich an Loève-Veimars’ Contes fantastiques von 1829-30 sowie die bei Renduel erschienene Fortsetzung Contes nocturnes von 1830 angelehnt; einzig bei Il Vaso d’oro muss die französische Ausgabe von Lefebvre Pate gestanden haben . Auffällig ist, dass es sich wie im Französischen häufig um Ausschnitte handelt, die aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gerissen wurden und deren Orientierung am französischen Vorbild sich bereits an der Wahl ähnlicher Titel zeigt Bei den Erzählungen Salvatore Rosa, Don Giovanni, Gluck und Ignazio Denner genügt bereits ein f lüchtiger Blick auf die französischen Fassungen Renduels (respektive Band II und VIII der Contes fantastiques sowie Band II der Contes nocturnes), um sie als Übersetzungen aus zweiter Hand zu identifizieren La Casa Deserta und Il Diavolo aus dem dritten Band der Truffi-Ausgabe sind weniger eindeutige Fälle; allerdings lassen beide schon aufgrund ihres Titels eine Anlehnung an den ersten Band der Renduelschen Contes nocturnes erkennen, in dem die Erzählungen als La maison déserte und Le diable erschienen sind Insbesondere fällt auf, dass der italienische ebenso wie der französische Übersetzer unter dem eigenwillig verkürzten Titel Il Diavolo bzw Le diable denselben Ausschnitt aus Hoffmanns Serapionsbrüder[n] (Nachricht aus dem Leben eines bekannten Mannes, Band 3, Abschnitt 5) isoliert übertragen Für die Erzählungen Il Violino di Cremona und Marino Falieri hat höchstwahrscheinlich der dritte, der Verfasserin nicht vorliegende Band der Renduel-Ausgabe Pate gestanden; verräterisch sind aber auch hier die stark dem Französischen ähnelnden Titel, die wenig mit dem Originaltitel gemein haben: Renduels Le Violon de Crémone lautet in Hoffmanns Original Rat Krespel, und bei Renduels Marino Falieri handelt es sich einmal mehr um einen isolierten Ausschnitt aus Hoffmanns Serapionsbrüder[n], der im Original unter dem Titel Doge und Dogaresse bekannt ist (Band, Abschnitt 3) . Vor diesem verlegerischen Hintergrund betrachtet kann mit einiger Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass wir es bei der vorliegenden italienischen Fassung von Hoffmanns Der goldene Topf mit einer Übersetzung aus zweiter Hand, vermutlich sogar einer Aneignung, zu tun haben 265 Vgl Abschnitt 3 .2 1 dieses Teils zur verlegerischen Rezeption <?page no="274"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 274 3.5 Kontrastive Textanalyse: Problematik der Aneignung als Reinform der Übersetzung „aus zweiter Hand“ Als Referenzwerk für die französische und die italienische Übersetzung von Hoffmanns Kunstmärchen dürfte die bei E F . Kunz in Bamberg erschienene zweite, durchgesehene Auf lage der Fantasiestücke in Callot ’s Manier von 1819 gedient haben . Das in Teil II dieser Sammlung erschienene Fantasiestück Der goldne Topf enthält zwar wie schon erwähnt über den leicht abgewandelten Titel hinaus keine nennenswerten Änderungen gegenüber der Auf lage von 1814; die wenigen nachweisbaren Modifikationen, die über rein orthographische Korrekturen hinausgehen 266 , werden aber von den romanischen Übersetzern meist übernommen, so dass davon auszugehen ist, dass diesen die neuere Fassung vorlag Was die italienische Übersetzung betrifft, so lassen sich weder dem Titel des Sammelbandes noch dem anonymen Übersetzervorwort ausdrückliche Hinweise auf die französischen Mittlerversionen entnehmen . 1836, kurz nach der Veröffentlichung der vier Bände, findet sich allerdings ein einzelner Verweis auf die Quelle dieser italienischen Fassung, die „gründlichen Arbeiten des Herrn Loewe-Weimars [sic! ]“-- bezeichnenderweise nicht auf Italienisch, sondern auf Deutsch, in der in Mailand erscheinenden deutschsprachigen Zeitschrift Echo. 267 Und tatsächlich zeigt schon der erste oberf lächliche Vergleich der beiden romanischen Fassungen, dass es sich bei den hier versammelten Erzählungen sämtlich um Aneignungen handelt . Dafür spricht auch, dass einer der Übersetzer, Gaetano Barbieri, dem bisweilen die Übertragung des gesamten Bandes zugeschrieben wird, sich bereits an anderer Stelle als Übersetzer aus zweiter Hand über das Französische zu erkennen gegeben hat . Da davon auszugehen ist, dass auch der Übersetzer E B das deutsche Original nicht konsultiert hat, erscheint es sinnvoll, bei der sich anschließenden Analyse eine etwas andere Strategie zugrunde zu legen, als dies bei Schillers Räuber[n] der Fall war Im Anhang sollen also in diesem Fall nicht alle gefundenen Belege tabellarisch festgehalten, sondern nur stellvertretend einige besonders typische Beispiele herausgegriffen werden, die die Konzeption der beiden romanischen 266 Exemplarisch seien hier zwei Fälle angeführt: Die ursprüngliche Formulierung „Sein hechtgrauer Frack war nehmlich so zugeschnitten, als habe der Schneider (…) die moderne Form von Hörensagen gekannt“ (Hoffmann 1814, 6) wird in der überarbeiteten Fassung leicht expliziert: „als habe der Schneider (…) die moderne Form nur von Hörensagen gekannt“ (Hoffmann 1819, 83, Hervorhebung I P ) Entsprechend formulieren Toussenel und Richard: „comme si le tailleur n’avait connu la forme nouvelle que par ouï-dire“ (Hoffmann 1830, 6), und auch E B folgt diesem Beispiel, bis hin zur ans Französische angelehnten Negation: „tagliata come se il sarto non avesse conosciuto la forma nuova che da lontano“ (Hoffmann 1835, 5) Deutlicher noch ist die folgende explizierende Abwandlung des Passus, in dem auf Anselmus’ Begegnung mit der goldrünen Schlange angespielt wird: „(…) ohne daß ihm jedoch jenes wunderbare Augenpaar einfiel“ (Hoffmann 1814, 35-36) In der Fassung von 1819 heißt es: „(…) ohne daß ihm jedoch jenes wunderbare Augenpaar, das er in dem Hollunderbaum geschaut, in Gedanken kam“ (Hoffmann 1819, 98) Man vergleiche das Französische „(…) certaine paire d ’yeux merveilleuse qu’ il avait aperçue entre les branches du sureau“ (Hoffmann 1830, 40) und analog das Italienische „(…) il pajo d ’occhi maravigliosi ch ’egli avea veduti sotto il sambuco“ (Hoffmann 1835, 26) 267 Unter der Rubrik „Italienische Übersetzungen aus dem Deutschen“ (Echo: Zeitschrift für Literatur, Kunst und Leben in Italien Milano 1836, Nr 131) ist dort u a aufgeführt: „Hoffmann: einige Erzählungen“ Zit nach Gugenheim 1925, 50 <?page no="275"?> 3 E. T. A. Hoffmann: Der goldene Topf 275 Übersetzer illustrieren Dabei soll das Augenmerk besonders darauf gerichtet sein, inwieweit sich die Übersetzungshaltung des Franzosen quasi „ungefiltert“ durch das Deutsche in der italienischen Übersetzung niederschlägt Geht man noch einen Schritt weiter, so lässt sich die folgende These aufstellen: Der hohe Abstraktionsgrad und die semantische Vagheit 268 der französischen Diskurstradition 269 kann im Italienischen ohne das Korrektiv des deutschen Originals durch Spezifizierung in die „falsche“ Richtung in einigen Fällen zu abweichenden Übersetzungslösungen führen Dies ist speziell bei E T A Hoffmann zu erwarten, zumal die zeitgenössische italienische Rezeption Hoffmanns und der deutschen Romantik im Allgemeinen noch recht oberf lächlich ist und man kaum zwischen Exponenten wie Goethe und Hoffmann differenziert Durch die mangelnde Kenntnis der literarischen Einbettung des Originals fehlt dem italienischen Übersetzer aber auch der Maßstab, an dem sich die französische Vorlage messen ließe, so dass ihm der Bezugsrahmen für die Einordnung der eigenen Übersetzungsentscheidungen fehlt Die größten Hürden bilden dabei gerade solche Charakteristika, die den Goldene[n] Topf als zentrales Werk der deutschen Romantik ausweisen: Die romantische Ironie 270 und das Verschmelzen von realer und poetischer Welt . Diese schlagen sich ebenso in der Sprache nieder wie synästhetische und lautmalerische Aspekte, die die sprachliche Poesie und klangliche Qualität des Originals ausmachen . Voraussichtlich werden dabei gerade Übersetzer wie Gaetano Barbieri, aus dessen Feder die meisten der hier versammelten Erzählungen stammen, mit dieser Form der Poesie ihre Schwierigkeiten haben, zumal Barbieri durch Übertragungen eher klassizistischer Werke Goethes geprägt ist Betrachtet man die grobe Struktur der beiden Übersetzungen, so fällt auf, dass Kapitelaufteilung und einleitende Kapitelstichworte erhalten bleiben und weder umfangreiche Streichungen noch Hinzufügungen erkennbar sind Dies ist natürlich in erster Linie der französischen Fassung Toussenels und Richards zuzuschreiben, zumal deren Übersetzungen bekanntlich insgesamt weniger einbürgernd und gefällig, dafür aber genauer und gewissenhafter ausfallen als die ihres Konkurrenten Loève-Veimars In einem Punkt aber weicht die französische Übersetzung doch entscheidend von Hoffmanns Original ab Hoffmanns eigentümliche Gattungsbezeichnung „Ein Mährchen aus der neuen Zeit “ (Hoffmann 1819, 79), die er seinem Werk im Untertitel voranstellt und mit der er es auch 268 Der Begriff der Vagheit lässt sich nur schwer von verwandten Begriffen wie Mehrdeutigkeit, Ambiguität oder Generizität abgrenzen Die Verfasserin verwendet den Terminus hier im Sinne des polysemen Charakters eines Wortes, in Abgrenzung zur Ambiguität oder Mehrdeutigkeit, die eher im Bereich der Homonymie angesiedelt ist Vgl Pinkal (1985, 52), der lediglich von einer graduellen Abstufung ausgeht: „Vage Ausdrücke und Fälle von harmloser Mehrdeutigkeit besitzen einen prototypischen Kern, extreme Fälle von Ambiguität nicht Deren Lesarten sind [mental] als unterschiedliche Einheiten gespeichert: bei mehrdeutigen Ausdrücken (…) ist die Einheit des Wortes aufgehoben“ Zur Generizität vgl Albrecht (1970, 211), der nur dann von einem „allgemeinen“ Wort spricht, „wenn sich alle ‚Textbedeutungen‘ tatsächlich auf eine lexikalische Bedeutung reduzieren lassen“ 269 Hier geht es also nicht um das Französische selbst, sondern um die bevorzugten Diskurstraditionen der geistigen Elite Frankreichs, die sich durch einen höheren Abstraktionsgrad auszeichnet, als dies für andere romanische Länder der Fall ist Zur Typologie des Französischen vgl auch Albrecht 1970 270 Besonders die Einleitung der vierten Vigilie gibt einen Einblick in die romantische Ironie, bei der das Reale und das Irreale so verkehrt und miteinander verschmolzen werden, dass das Irreale schließlich glaubhafter wirkt als das Reale (vgl Hoffmann 1819, 117-118) <?page no="276"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 276 beschließt („Ende des Mährchens“, ebd 228), findet sich dort nicht mehr: Der Untertitel wird ersatzlos gestrichen, der Schluss zu einem lakonischen „Fin du Pot d’or“ (Hoffmann 1830, 96) abgewandelt Entsprechend verfährt denn auch der italienische Übersetzer E B („Fine del Vaso d’oro“, Hoffmann 1835, 189) Dabei ist in diesem unscheinbaren Zusatz bereits der Kern von Hoffmanns innovativer Poetik enthalten: die Poetik eines Märchens, das nicht wie die zeitgenössischen romantischen Volksmärchen in längst vergangenen Zeiten spielt, sondern „ins gewöhnliche Leben tritt“ . 271 Ein Weglassen des Zusatzes erschwert die literarische Einordnung, was sicherlich nicht ohne Konsequenzen für die Rezeption des Werkes bleibt . Denkbar ist, dass Toussenel und Richard den romantischen Kern des Untertitels verkennen und den darin enthaltenen Widerspruch vor dem Hintergrund der rationalen französischen Geisteshaltung als unpassend empfinden Dass hier schlicht Unachtsamkeit im Spiel war, scheint an so prominenter Stelle im Text eher unwahrscheinlich zu sein, zumal der Schluss aktiv abgewandelt wurde und die Übersetzer auch sonst eher gewissenhaft zu Werke gehen Ausgehend von der Hypothese, dass wir es hier mit einer Reinform der Übersetzung aus zweiter Hand zu tun haben, ist es unumgänglich, zunächst die Übersetzungskonzeption der beiden Franzosen herauszuarbeiten, damit im Anschluss deren Auswirkung auf die italienische Fassung eruiert werden kann Für die Ausgangshypothese versammelt der erste Teil der im Anhang abgedruckten Analysetabelle zu E T A Hoffmanns Der goldene Topf eine Vielzahl exemplarischer Belege, die an dieser Stelle nicht im Detail aufgeführt werden können . Sie illustrieren, dass sich der italienische Übersetzer hinsichtlich struktureller und lexikalischer Merkmale ebenso wie hinsichtlich unterschiedlicher Aspekte der Lexik durchgehend auffällig am französischen Vorbild orientiert Selbst dort, wo sich im Französischen Verschiebungen denotativer, konnotativer oder stilistischer Natur ergeben, greift er nicht auf das Original zurück, sondern übernimmt unkritisch die Übersetzungslösungen seiner französischen Vorgänger . 272 Diese bemühen sich insgesamt darum, den Geist des Hoffmannschen Textes zu wahren, formulieren dabei aber durchaus eigenständig, was sich in ihrer Wahl syntaktischer und lexikalischer Äquivalente niederschlägt So wird im Vergleich zum Original eine durchgehend stärkere Gliede- 271 Vgl dazu Nussbächer 1986, 133 sowie Fußnote 145 zu Abschnitt 3 1 dieses Teils der Arbeit 272 An dieser Stelle seien lediglich drei besonders aussagekräftige Beispiele herausgegriffen: Zum einen eines der Kapitelstichworte zur fünften Vigilie, „Das Aequinoctium“ (Hoffmann, S -128), das die französische Fassung seltsamerweise mit „L’ équipage“ (Toussenel/ Richard, Bd - V, S .- 101) und die italienische entsprechend mit „L’equipaggio“ (E B ., S - 62) wiedergibt; zum anderen eine mythische Passage aus der achten Vigilie, in der es heißt: „Denn der Salamander hatte sie [die grüne Schlange] in das Schloß des Phosphorus getragen“ (Hoffmann, S -176, Hervorhebung I P ) Im Französischen lautet diese Textstelle, wohl aufgrund eines Lesefehlers: „Car le salamandre l ’avait portée dans le sein de Phosphorus“ (Toussenel/ Richard, Bd .-V, S -201) . Und wie nicht anders zu erwarten formuliert auch E B .: „(…) giacchè il salamandro l ’avea portata in seno a Fosforo“ (S - 123) Ein ähnlicher Lesefehler schließlich lässt aus einem „unwillig“ im deutschen Original („da rief der Archivarius Lindhorst ganz unwillig: (…)“, Hoffmann, 8 Vigilie, S - 183) ein „unfreiwillig“ werden: „lorsque l ’archiviste Lindhorst s’ écria involontairement (…)“ (Toussenel/ Richard, Bd -V, S -215)-- „ma l ’archivista Lindhorst gridò involontariamente: (…)“ (E B ., S -131) Weitere Belege für Übernahmen, die in der Analysetabelle nachzulesen sind, liefern die folgenden französischen Textstellen: Bd -V, S -3; 55-56; 56; 57; 61; 79; 121; 138; Bd -VI, S -38; 42 (stilistische Aspekte); Bd -V, S .-8; 21; 62; 66; 69; 97-98; 111; 112; 152-153; 155-156; 156; 157; 162; 200-201 (denotative Aspekte); Bd -V, S -130; 194; Bd -VI, S -88 (konnotative Aspekte) <?page no="277"?> 3 E. T. A. Hoffmann: Der goldene Topf 277 rung auf Text- und auf Satzebene erkennbar: Kürzere Absätze und stärker segmentierte, knappere Satzstrukturen zeichnen die Übersetzung aus Aber nicht nur in der übersichtlicheren Syntax, sondern auch in der deutlich erkennbaren explikativen Tendenz sind die Übersetzer der französischen clarté verpf lichtet . Strukturell wirkt sich dies in erläuternden Fußnoten aus, die recht sparsam eingesetzt werden und überwiegend dazu dienen, dem französischen Leser deutsche Kulturspezifika zugänglich zu machen . Von insgesamt zwölf Fußnoten 273 übernimmt der italienische Übersetzer nur zwei nicht-- wohl da ihm die betreffenden Stellen als zu „spitzfindig“ erscheinen Im ersten Fall handelt es sich um eine zoologische Gattungsbezeichnung, die Hoffmann gewissermaßen als exotischen Farbtupfer der Einleitung zu seinem fünften Kapitel beifügt: „Meerkazen und anderes Gesindel“ (S .- 128) . Während Toussenel und Richard Wert auf die Wahrung dieses zoologischen Details legen und ihrer Übersetzung „Marmots et autre racaille“ die note „(1) Marmots ou cercopithèques, singes à longue queue“ (Bd -V, S .-101) beifügen, übersetzt E B ., wohl unter Rückgriff auf die französische Fußnote, kurzerhand generalisierend: „Scimmie ed altra canaglia“ (S -62) . Der zweite Fall betrifft den stilistischen Gebrauch von bürokratischen Fachausdrücken, die Hoffmann zur Charakterisierung seines philisterhaften Registrators Heerbrand einsetzt Dieser teilt der im Hause des Conrektors Paulmann versammelten Freundesgesellschaft in der neunten Vigilie triumphierend mit, „er trage etwas mit sich, was durch Veronika’s schöne Hände gemischt und in gehörige Form gebracht, gleichsam foliirt und rubrizirt ihnen Allen (…) erfreulich sein werde“ (S .- 189), nämlich die Zutaten für einen Punsch, den er anlässlich seiner Beförderung zum Hofrat zusammen mit den Anwesenden zu genießen gedenkt Die französische Fassung behält diese Anleihe beim Beamtenjargon nicht nur bei („(…) et de plus, bien dûment coté et paginé “, Bd -VI, S -13), sondern erläutert auch ausführlich deren Herkunft und Bedeutung: „(1) Le régistrateur (dénomination qui revient chez nous à celle de greffier) se sert ici d’une locution tirée du vocabulaire des bureaux, pour dire que la chose en question doit être parfaite, qu’ il n’y doit rien manquer“ .- Der italienische Übersetzer erkennt offenbar in dem philisterhaften Redestil des Registrators keinen Mehrwert, der eine umfangreiche Fußnote rechtfertigen würde, und so tilgt er die gesamte Präpositionalphrase Bei ihm äußert Heerbrand lediglich: „(…) che portava con sè qualche cosa che misto dalla bella mano di Veronica, e preparato sotto la forma convenevole, diventerebbe un fonte d’allegria per loro“ (S .-139) . Ein Beleg für eine französische Fußnote, die im Italienischen gekürzt übernommen wird, findet sich gleich in der ersten Vigilie Darin machen die Übersetzer das französische Publikum mit einer in Frankreich nahezu unbekannten deutschen Operette namens Das Donauweibchen bekannt, indem sie gleich auch deren künstlerischen Wert kommentieren (Bd - V, S - 15-16): „(1) Ancien opéra fort ridicule, du maître de chapelle Kauer. C’est comme si l’on disait: l’ouverture de la fée Urgèle, de M. Duni, ou celle de Blaise et Babet, du sieur Dezède. (Le Traducteur )“ . Der italienische Übersetzer streicht erwartungsgemäß die Verweise auf die französischen Werke, die dem deutschen Leser wohl ebenso wenig bekannt sein dürften, und erläutert lediglich: „(1) Antica Opera ridicola del maestro di cappella Rauer“ 273 Vgl Toussenel/ Richard, Bd -V, S -9; 11; 11-12; 15-16; 28-29; 43; 57; 101; 126; 161; Bd -VI, S -13; 62 Die-- manchmal leicht abgewandelt-- übernommenen Fußnoten finden sich bei E B ., S -7; 8 (2 X); 11; 19; 28; 36-37; 77; 98; 169 <?page no="278"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 278 (S .-11)-- wobei ihm ein Fehler beim Namen des Komponisten unterläuft . Die restlichen Fußnoten werden ungekürzt übernommen, und dies auch dort, wo die in ihnen enthaltene Information auch im Text selbst Platz gefunden hätte . 274 Die stärker segmentierte Struktur im Französischen wird in aller Regel in der italienischen Fassung übernommen, zum Teil sogar noch verstärkt Dabei wirken sich die zahlreichen Absätze insgesamt kaum auf den Lesef luss aus Problematisch werden sie aber an solchen Stellen, an denen Hoffmann die Übergänge zwischen realer und irrealer Welt beschreibt Dieser gestaltet solche Übergänge bewusst sehr f ließend, denn gerade das Spiel mit dem unmerklichen Wechsel zwischen beiden Ebenen bildet den Kern seiner romantischen Ironie Mit der stärkeren Segmentierung im Französischen geht dieser subtile Übergang verloren, und dies verändert auch die Deutung des Textes . 275 Im Italienischen wird diese Tendenz mitunter sogar noch verstärkt 276 , wie der folgende Beleg zeigt Es handelt sich um eine der Schlüsselszenen der ersten Vigilie, in der Anselmus’ erste Begegnung mit der goldgrünen Schlange auf eindringliche Weise geschildert wird: Durch alle Glieder fuhr es ihm wie ein elektrischer Schlag , er erbebte im Innersten-- er starrte hinauf, und ein Paar herrliche dunkelblaue Augen blickten ihn an mit unaussprechlicher Sehnsucht (…) (Hoffmann, 1 Vigilie, S -89) Il se sentit frappé comme d’une commotion électrique, il fut ébranlé jusqu’au fond de l’âme.- - Il regarda fixement dans l’arbre, et une paire d’yeux célestes, d’un beau bleu-foncé, le contemplaient avec une expression ineffable de désir (Toussenel/ Richard, Bd -V, S -20) Egli si sentì tocco come da un colpo elettrico, e fu scosso sino in fondo dell’anima. Egli guardò fissamente l’albero, e un pajo d’occhi azzurri, d’un bel turchino carico, lo contemplavano con una ineffabile espressione di desiderio (E B ., S -13) Während bei Hoffmann der Spannungsbogen aufrechterhalten bleibt und durch den Gedankenstrich innerhalb des Satzes lediglich verstärkt wird, ist schon bei Toussenel und Richard eine stärkere Segmentierung durch die beiden Hauptsätze erkennbar, 274 Ein Beispiel ist der erläuternde Zusatz zur Berufsbezeichnung „Kandidat“: Die von einem Passanten geäußerte, auf Anselmus gemünzte Bemerkung: „- der Herr ist ja doch wol ein Kandidat “ (S - 93) versehen Toussenel und Richard mit der Erklärung: „(1) En théologie.“ (Bd -V, S -28-29), und E B tut es ihnen gleich: „(1) in teologia.“ 275 In diese Richtung weist übrigens auch eine denotative Abweichung in den beiden romanischen Übersetzungen, die die fantastische Welt in den Bereich der Fiktion verbannt: Wenn der Registrator Heerbrand den Archivarius bei Hoffmann nach seiner mythischen Schilderung in der dritten Vigilie bittet, „(…) von Ihren Reise-Abentheuern, und zwar etwas Wahrhaftiges, [zu] erzählen“, und dieser erwidert, „das, was ich so eben erzählt, ist das Wahrhaftigste was ich Euch auftischen kann“ (S - 109), so erscheint hier die poetische Welt als ganz real Toussenel und Richard allerdings-- und ebenso E B -- rücken diese Welt mit „nous vous demandions du vraisemblable“ (Bd -V, S .-62)-- „qualche cosa di verisimile“, S -40) ins Fiktive Dabei kann natürlich nicht ganz ausgeschlossen werden, dass es sich einfach um einen durch die deutsche Wortbildung hervorgerufenen Übersetzungsfehler handelt 276 Die verstärkende Tendenz des Italienischen ist an vielen Textstellen zu beobachten, die hier nicht alle aufgezählt werden können Im Französischen ist die stärkere Strukturierung wie erwähnt ein durchgängiges Merkmal, das Toussenels und Richards Übersetzungshaltung charakterisiert Die Analysetabelle enthält hier nur einige besonders typische Belege, zumal eine vollständige Dokumentation der Analyse nichts Wesentliches hinzufügt <?page no="279"?> 3 E. T. A. Hoffmann: Der goldene Topf 279 durch die das Geschehen unterbrochen wird . In der italienischen Fassung ist die Zäsur dann endgültig vollzogen: Offenbar inspiriert durch das Französische, ersetzt E B den Gedankenstrich durch einen Absatz, so dass fantastisches und reales Erleben nun klar unterschieden werden Satzstrukturen und Wortschatz der italienischen Fassung zeugen insgesamt davon, dass sich der Übersetzer E B ausschließlich an der französischen „Zwischenstufe“ orientiert hat und ihm das Original-- wohl aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse-- nicht als Korrektiv zur Verfügung stand Bei seinen Übersetzungsentscheidungen lässt er sich gar so stark vom französischen Vorbild leiten, dass er bisweilen die Norm der eigenen Sprache außer Acht lässt Im Folgenden soll diese These anhand einiger besonders aussagekräftiger Belege untermauert werden, die aufzeigen, dass der italienische Übersetzer sich syntaktisch nicht selten am Rande des innerhalb der Norm seiner Sprache Zulässigen bewegt Manchmal überschreitet er sogar nahezu die Grenze zur Agrammatikalität, wie folgendes Beispiel illustriert: (…) und wenn der Schiffer nur so mit dem Ruder ins Wasser hineinschlug , daß es wie im Zorn sich emporkräuselnd plätscherte und rauschte, da vernahm er in dem Getöse ein heimliches Lispeln und Flüstern (Hoffmann, 2. Vigilie, S.-96, Hervorhebung I. P.). (…) et quand le batelier frappait l’eau de sa rame, et que celle-ci, comme en fureur, claquait, rugissait et tourbillonnait, il entendait, lui, sous la grosse voix du fleuve un murmure, un bruissement mystérieux (Toussenel/ Richard, Bd .-V, S -35, Hervorhebung I P ) (…) e quando il battelliere sbatteva l’acqua col suo remo e questa quasi furente scoppiava, ruggiva e aggiravasi in vortici, egli udiva, egli, sotto la grossa voce del fiume un mormorio, un ronzio misterioso (E B ., S .-23, Hervorhebung I P ) In der französischen Fassung wird der größeren Klarheit halber eine betonte Form des Personalpronomens verwendet, um den Bezug auf das Subjekt des Hauptsatzes- - und nicht etwa auf das des Nebensatzes „le batelier“-- unmissverständlich zu verdeutlichen Es ist aber damit keinerlei besondere Betonung des Subjekts verbunden . Die Syntax des Italienischen verlangt hingegen kein solches Vorgehen: Das italienische Pronomen „egli“ kann sich nur auf Personen, nicht aber auf Sachen beziehen, so dass die Wiederholung des Pronomens nicht nur eine unnötige Betonung mit sich bringt, sondern einen regelrechten Normverstoß darstellt Insgesamt wird in der italienischen Übersetzung sehr häufig das Subjekt des Satzes durch ein Personalpronomen expliziert, und dies auch dort, wo dieses nicht eigens betont werden soll . 277 Das italienische Sprachsystem verlangt aber in der unmarkierten Form kein Pronomen . Einen ähnlichen Normverstoß beinhaltet die folgende Textstelle, in der eine lexikalisierte syntaktische Einheit, die der französische Übersetzer dem Original hinzufügt, im Italienischen unkritisch übernommen wird: 277 Hier lassen sich wahllos Beispiele zur Illustration herausgreifen Gleich zu Beginn der ersten Vigilie heißt es etwa: „Mentre egli attraversava con gran pena la folla vestita a festa, ei sentiva mormorare da tutte le parti (Hoffmann, 1 . Vigilie, S - 4) Zumindest die Wiederholung des Pronomens im Hauptsatz erscheint hier redundant, zumal sich aus dem Zusammenhang erschließen lässt, um wen es sich handelt, und keine besondere Betonung intendiert ist . Vgl die ähnliche französische Formulierung: „Tandis qu’il traversait à grand’peine la foule endimanchée, il entendait murmurer de toutes parts (Toussenel/ Richard, Bd -V, S -5) . <?page no="280"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 280 (…) und da verfällt man leicht in das Fantastische und Romanhafte (Hoffmann, 2 Vigilie, S -98) (…) et pour peu que l’on ne réprime cette disposition, on tombe aussitôt dans le fantastique et dans le romanesque (Toussenel/ Richard, Bd -V, S -29, Hervorhebung I P ) (…) e per poco che non si reprima, questa passione ricade subito nel fantastico e nel romanzesco (E B ., S .-26, Hervorhebung I P ) Im Italienischen hätte es etwa genügt zu formulieren: „se non la si reprime, …“, um die kaum noch verständliche Wendung „pour peu que l’on ne réprime…“ zu umgehen . Noch eindrucksvoller lässt sich die Orientierung am französischen Vorbild anhand der Negationsform „ne…que“ nachweisen, die in der italienischen Übersetzung beinahe ausnahmslos analog zum Französischen mit „non…che“ wiedergegeben wird . 278 Dabei bietet das italienische Sprachsystem mit „solo“ und „soltanto“ gleich zwei weniger komplexe Alternativen, die bei E B nahezu völlig ungenutzt bleiben Hier stellvertretend nur zwei Beispiele, deren erstes die Übernahme der einfachen französischen Verneinung „ne… que“ illustriert: Wer mag das dem Armen verargen, der (…) jeden Heller zu Rathe halten und manchem Beschluß, den jugendliche Lebenslust forderte, entsagen mußte (Hoffmann, 2 Vigilie, S -103) Qui voudrait en faire un crime au pauvre diable? (…) il ne pouvait subsister qu’avec la plus grande économie, et il était forcé de s’interdire plus d’une jouissance qui semblait autoriser sa jeunesse (Toussenel/ Richard, Bd -V, S .-49, Hervorhebung I P ) Chi vorebbe farne un delitto al povero diavolo? (…) egli non poteva sussistere che colla più stretta economia, ed era forzato d’interdirsi più d’un piacere che gli sarebbe stato consigliato dalla sua gioventù (E B ., S -31-32, Hervorhebung I P ) Neben der Negationsform ist hier natürlich auch die Wahl der lexikalischen Mittel auffällig, besonders hinsichtlich der im Französischen sehr eigenständig übersetzten deutschen Wendung „jeden Heller zu Rathe halten“, die im Italienischen beinahe „Wort für Wort“ übernommen wird- - einschließlich des redundanten Personalpronomens „egli“ . Das zweite Beispiel belegt, dass der italienische Übersetzer darüber hinaus auch die erweiterte Form „ne plus…que“ beibehält: (…) statt dessen stand ein mit violettem Sammt behangener Tisch, auf dem die dem Anselmus bekannten Schreibmaterialien befindlich, in der Mitte des Zimmers, und ein ebenso beschlagener Lehnstuhl stand vor demselben (Hoffmann, 8 Vigilie, S -171) A la même place était une table couverte d’un tapis de velours violet. Anselme y trouva tout ce qui lui était nécessaire pour écrire; une chaise à dossier, recouverte de même que la table, semblait ne plus attendre que lui (Toussenel/ Richard Bd -V, S -190, Hervorhebungen I P ) Nello stesso posto eravi una tavola coperta d’un tappeto di velluto violetto; Anselmo vi trovò tutto il necessario per iscrivere; una sedia d’appoggio ricoperta come la tavola sembrava non aspettar più che lui (E B ., S .-116, Hervorhebungen I P ) 278 Aufgrund der Häufigkeit des Auftretens soll hier auf den Nachweis der einzelnen Textstellen verzichtet werden . <?page no="281"?> 3 E. T. A. Hoffmann: Der goldene Topf 281 Dass sich der Übersetzer E B auch hinsichtlich des Wortschatzes sehr stark am Französischen orientiert, dürfte bereits anhand der wenigen bisher angeführten Beispiele deutlich geworden sein Besonders augenfällig wird dies aber dort, wo der französische Einf luss zu Gallizismen führt oder ein französisches Lokalkolorit mit sich bringt, das im italienischen Text fehl am Platze ist, da es sich ja um ein deutsches Original handelt . Idiomatische Wortverbindungen des Französischen werden mitunter so wörtlich ins Italienische übertragen, dass dadurch die italienische Norm verletzt wird So geben Toussenel und Richard das deutsche Adverb „obendrein“ mit der im Französischen geläufigen Wendung „par-dessus le marché “ wieder Demgegenüber ist die italienische Übersetzung „sopra il mercato“ zumindest als ungewöhnlich, wenn nicht gar als Normverstoß zu werten . 279 Ähnliches gilt für die idiomatische Wortverbindung des Französischen „faire un effort sur soi-même“, die der Übersetzer E B ., offensichtlich durch die französische Vorlage beeinf lusst, auf Italienisch normwidrig nachbildet Hoffmann beschreibt etwa Veronikas Seelenzustand bei ihrem unheimlichen nächtlichen Abenteuer mit dem Äpfelweib während des Äquinoktiums: „Ihr wollte der Athem vergehen, es war als griffen eiskalte Krallen in ihr Inneres, aber gewaltsam raffte sie sich zusammen“ (Hoffmann, 7 Vigilie, S .-159) Die französische Version „(…) mais elle fit un violent effort sur elle-même“ (Toussenel/ Richard, Bd - V, S - 166) spiegelt sich dann auch prompt in der doch recht ungewöhnlichen italienischen Wortverbindung „(…) ma fece uno sforzo sopra sè medesima“ (S -101) . Unangebrachtes französisches Lokalkolorit erhält die italienische Fassung beispielsweise durch die Übernahme des französischen Eigennamens „Fanny“ für die zwölfjährige Schwester Veronikas, die im Original schlicht „Fränzchen“ genannt wird . 280 Eine „italianisierende“ Übersetzung wie „Francesca“- - oder „Franceschina“, unter Wahrung der affektiven Konnotation des Diminutivums- - wäre hier angesichts der auch sonst eher einbürgernden Tendenz E B .s bei Eigennamen vielleicht eher erwartbar gewesen . Einen ähnlichen Einf luss auf den Gesamteindruck der italienischen Übersetzung hat möglicherweise die Behandlung des wiederholt vorkommenden „Speziesthaler“, der Bezeichnung für eine deutsche Silbermünze, die dem französischen „écu de six francs“ entspricht E B wählt dafür das italienische Äquivalent „scudo da sei franchi“, das vermutlich erneut die französische Realität zum Referenzpunkt macht und so dem Text statt des deutschen französisches Lokalkolorit verleiht 281 - - denkbar wäre schließlich auch das italienische „talleri d’argento“ gewesen Allerdings muss hier die Einschränkung gemacht werden, dass die umgangssprachliche Bezeichnung „franchi“ für die italienischen Lire in Nord- 279 Im Original gibt das Äpfelweib Veronika das verheißungsvolle Versprechen: „bleibe fein standhaft, und ich schenke Dir was Schönes und den Anselmus obendrein! “ (Hoffmann, 7 Vigilie, S - 159) Vgl die Übersetzungslösungen Toussenels und Richards: „reste toujours aussi brave que te voilà, et je te donnerai quelque chose de beau, et Anselme par-dessus le marché! “ (Bd -V, S - 167) sowie E B .s: „resta sempre così coraggiosa come sei, ed io ti darò qualche cosa di bello ed Anselmo sopra il mercato! “ (S -102) 280 Vgl Hoffmann, 5 Vigilie, S .-133; Toussenel/ Richard, Bd -V, S -112; E B ., S -69 sowie passim 281 Exemplarisch sei hier das Angebot des Archivarius Lindhorst an Anselmus angeführt: „Wollen Sie daher in dieser schlechten Zeit (…) den Speziesthaler täglich verdienen und das Geschenk obendrein (…)“ (Hoffmann, 2 Vigilie, S -102); vgl Toussenel/ Richard: „Si vous voulez donc, par le temps malheureux qui court (…), gagner l’ écu de six francs par jour, et le présent en sus, (…)“ (Bd -V, S -47) sowie E B .: „Se voi volete dunque, nei tempi disgraziati che corrono (…), guadagnare lo scudo da sei franchi al giorno ed il regalo in fine, (…)“ (S -30-31) . <?page no="282"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 282 italien, wo die Übersetzung erschienen ist, noch bis in jüngere Zeit durchaus verbreitet war Solche Anklänge an die französische Kultur finden sich in E B .s Fassung immer wieder „[D]er neue türkische Shawl (Hoffmann, 5 Vigilie, S -130), im Französischen mit „le véritable cachemire“ (Toussenel/ Richard Bd -V, S - 105) und analog dazu im Italienischen mit „il vero cachemire“ (E B ., S -64) wiedergegeben, ist nur ein Beispiel dafür . Hier hält sich E B notgedrungen eng an die französische Vorlage, da ihm offenbar die konkreteren Angaben des deutschen Originals nicht zugänglich sind Das fehlende Korrektiv des Originals wird natürlich besonders dort offenkundig, wo dem italienischen Übersetzer regelrechte Fehler unterlaufen, wie dies in den folgenden Beispielen der Fall ist In der ersten Vigilie heißt es, Anselmus setzte sich unter den Holunderbaum „(…) und stopfte eine Pfeife von dem Sanität-Knaster, den ihm sein Freund, der Conrektor Paulmann, geschenkt “ (Hoffmann, 1 Vigilie, S - 84) . Toussenel und Richard versehen ihre Übersetzung „(…) et il chargea sa pipe de knaster (1) de santé que lui avait donné son ami le co-recteur Paulmann“ (Bd - V, S - 9) mit der erläuternden Fußnote: „(1) Knaster, kanaster, sorte de tabac fabriqué en Allemagne“. In der italienischen Fassung wird aus dieser Fußnote: „(1) Knaster, Kanaster, sorta di tabacco fabbricato in America“ (E B ., S -7): Dieser Lapsus konnte dem Übersetzer natürlich nur durch die Übernahme der französischen Fußnote unterlaufen Im Text selbst kommen solche auf die französische Vorlage zurückgehenden Übersetzungsfehler ebenfalls vor . So werden dann schon einmal aus „Bürgermädchen“ (Hoffmann, 2 Vigilie, S - 93)- - im Französischen „jeunes filles de la bourgeoisie“ (Toussenel/ Richard, Bd -V, S .-29)-- bei E B . unter Vernachlässigung des sozialen Aspekts schlicht „fanciulle del borgo“ (S -20); und den „Puder“ (Hoffmann, 9 Vigilie, S - 192), der aus der Perücke des Konrektors Paulmann hervorstäubt und der auch im Französischen als „nuage de poudre“ (Toussenel/ Richard, Bd .-VI, S .-20) erkennbar bleibt, verwandelt der italienische Übersetzer kurzerhand in „una nuvola di polvere“ (E B ., S - 143)- - was mit dem philisterhaften Ordnungssinn des Konrektors nicht mehr unbedingt zu vereinbaren ist Wenn schließlich der Papagei des Archivarius Lindhorst seinem Herrn im Schnabel eine „pelle nera“ (E B ., S .- 162) darreicht statt das vom Original vorgesehene „schwarze[s] Haar“ (Hoffmann, 10 . Vigilie, S .- 207), so wird dies erst durch einen Blick in die französische Vorlage verständlich: Offensichtlich hat Toussenels und Richards Übersetzung „un poil noir“ (Bd .-VI, S -51) hier zu der klanglichen Interferenz geführt Eine ähnliche irreführende Anlehnung an den Klang des Französischen liegt der Wiederaufnahme des französischen „parens“ (Toussenel/ Richard, Bd -VI, S -74) durch das italienische „parenti“ (E B ., S -177) zugrunde: ein klassischer faux ami, da der italienische Begriff nicht die im Original gemeinten „Eltern“ (Hoffmann, 11 Vigilie, S -218), sondern die Verwandten im weiteren Sinne bezeichnet Eine denotative Verschiebung aufgrund einer klanglichen Ähnlichkeit ergibt sich auch im letzten Beispiel, in dem Hoffmann seinen Leser direkt in das Geschehen hineinzieht und ihn auffordert, sich vorzustellen, er selbst sei während der Äquinoktialnacht unterwegs gewesen: „der freundliche Wirth stellte Dir vor, es stürme und regne doch gar zu sehr, und überhaupt sey es auch nicht geheuer in der Aequinoktialnacht so ins Dunkle hineinzufahren (…)“ (Hoffmann, 7 Vigilie, S - 161, Hervorhebung I P) . Im Französischen wird die Beschreibung des freundlichen Wirts in klassizistischer Manier zu „l’ hôte, prévenant et poli“ ausgeschmückt (Toussenel/ Richard, Bd -V, S .-169), was dem Original lediglich <?page no="283"?> 3 E. T. A. Hoffmann: Der goldene Topf 283 eine gewisse stilistisch begründete Redundanz verleiht . Diese französische Fassung veranlasst aber nun den Italiener E B zu der Übersetzung „l’oste, civile e pulito“ (S -103), die den Wirt nicht nur als freundlich, sondern überdies auch als sauber charakterisiert-- ein Lapsus, der schlicht auf dem ähnlichen Klang der Adjektive „poli“ und „pulito“ beruht In den bisher angeführten Belegen fußen die Abweichungen zwar auf dem Französischen, sind aber allein dem italienischen Übersetzer zuzuschreiben Darüber hinaus gibt es noch eine zweite Kategorie von Modifikationen, die in diesem Rahmen besondere Beachtung verdient, da sie allgemeine Aussagen über die Auswirkungen der mittelbaren Übersetzung in ihrer „Reinform“ zulässt Es handelt sich um die weiter oben angedeutete denotative und konnotative Verschiebung Diese ist durch die semantische Vagheit und Abstraktheit der französischen Diskurstraditionen bedingt, die die französische „Zwischenstufe“ kennzeichnen . 282 Bereits dort findet häufig eine-- meist erweiternde-- Modifikation statt, die im zweiten Schritt, bei der Übersetzung ins Italienische, durch eine semantische Verengung gewissermaßen wieder „in die falsche Richtung“ aufgelöst wird, zumal das Original bei der Reinform der Übersetzung aus zweiter Hand nicht als Korrektiv wirken kann So schildert Hoffmann in der zweiten Vigilie Anselmus’ alptraumhaftes Abenteuer bei seinem ersten Besuch des Archivarius Lindhorst, als ihm das boshafte Äpfelweib in Gestalt einer Schlange aus dem Türknauf entgegenzüngelt: „Die Schlange erhob ihr Haupt und legte die lange spitzige Zunge von glühendem Erz auf die Brust des Anselmus“ (S .- 105) . Toussenel und Richard greifen hier zu der naheliegenden französischen Übersetzung „dard“ für die Zunge der Schlange: „Le serpent dressa la tête, et appuya son dard aigu d’airan brûlant sur la poitrine d’Anselme“ (Bd .-V, S .-53) . Für den italienischen Übersetzer E B . liegt es natürlich nahe, dies durch die entsprechende Bezeichnung in seiner Sprache wiederzugeben: „Il serpente drizzò la testa e appoggiò il suo dardo acuto di rame ardente sul petto d’Anselmo“ (S .-34) . Trotz der vermeintlichen Nähe der beiden Bezeichnungen führt dieses Vorgehen im Italienischen zu einer Bedeutungsverschiebung, die durch den unterschiedlichen semantischen Gehalt des französischen „dard“ und des italienischen „dardo“ ausgelöst wird: Während Toussenel und Richard mit „dard“ eine glückliche Wahl treffen, da sie damit sowohl die mit intendierte metaphorische Bedeutung „Wurfspieß“ als auch die ganz konkrete der spitzen Schlangenzunge wahren, lässt sich dies für den Italiener E B nicht ohne Weiteres behaupten Mit „dardo“ wird nämlich lediglich die im Original durch die metaphorische Ergänzung „von glühendem Erz“ aktualisierte und im Französischen explizierte Bedeutung „Wurfspieß“, nicht aber die konkrete Bedeutung der Schlangenzunge wiedergegeben . Die semantische Erweiterung in der französischen Fassung hat also zur Folge, dass im Italienischen die Semantik auf die im deutschen Original nicht explizit verbalisierte Bedeutung verengt wird: Aus dem ambivalenten „[Schlangen]Zunge von glühendem Erz“ im Original wird also in der italienischen Version der metaphorische Wurfspieß, die konkrete Ebene geht verloren . Eine ähnliche denotative Abweichung findet sich in der fünften Vigilie, in der beschrieben wird, wie das alte Äpfelweib, um sich 282 Der zweiten im Anhang abgedruckten Tabelle zur Übersetzungsanalyse von Hoffmanns Der goldene Topf sind eine ganze Reihe von Belegen für denotative Verschiebungen zu entnehmen, so etwa S -83; 89-90; 94; 105; 108; 122; 130; 136; 140; 141; 141-142; 145; 146; 174; 186; 187-188; 199; 203; 212- 213; 213; 214; 218 (2 X); 219-220; 224 in Hoffmanns Original <?page no="284"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 284 Veronikas Vertrauen zu erschleichen, die Gestalt von deren ehemaliger Kinderfrau annimmt: „(…) sie hatte statt des häßlichen buntgefleckten Tuchs eine ehrbare Haube und statt der schwarzen Lumpen eine großblumige Jacke an“ (Hoffmann, S .-141, Hervorhebung I P) . Toussenel und Richard (Bd .-V, S .-128-129) schildern diese Szene in ihrer französischen Fassung leicht explizierend: „Au lieu du chiffon dégoûtant qui couvrait tout-à-l’ heure sa tête, elle portait une coiffe assez présentable, et une jupe à grandes fleurs avait remplacé les haillons noirs“ . Aus der „ehrbare[n] Haube“ wird hier also das vagere „une coiffe assez présentable“, das zwei unterschiedliche Auslegungen erlaubt: Einerseits kann die Haube als „präsentables“ Kleidungsstück an sich gemeint sein, andererseits aber auch nur dieses spezielle Exemplar, das als einigermaßen vorzeigbar beschrieben wird Im Deutschen ist sicherlich die erste Interpretation vorzuziehen; der italienische Übersetzer entscheidet sich aber offensichtlich für die zweite Alternative, denn er formuliert: „Invece del cencio schifoso che copriva un momento prima la sua testa, essa portava una cuffia abbastanza pulita, ed una veste 283 a grandi fiorami era subentrata ai cenci neri“ (E B ., S .-78) Ausgehend von der vagen französischen Vorlage schildert er also dieses spezielle Modell als recht präsentabel, und das heißt für ihn, als einigermaßen sauber Damit verengt er den Bedeutungsgehalt von „présentable“, der durchaus noch das deutsche „ehrbar“ impliziert, auf das im Original sicherlich nicht gemeinte „sauber“ . 284 Auch das folgende Beispiel aus der 10 Vigilie lässt für den italienischen Leser ein etwas anderes Bild entstehen als von Hoffmann wohl ursprünglich beabsichtigt . Das alte Äpfelweib versucht den in der Flasche gefangenen An- 283 Hier mag die Frage berechtigt sein, ob E B . an dieser Stelle nicht doch das deutsche Original konsultiert haben könnte, da das italienische „veste“ auf den ersten Blick eher an das deutsche Original („Jacke“) als an die-- abweichende-- französische Übersetzung „jupe“ erinnert Bei genauerem Hinsehen erweist sich aber die Verwendung der generischen italienischen Bezeichnung für ein Kleid oder Gewand als bewusste Strategie des italienischen Übersetzers, um das eher unfeine „gonna“, das damals durchaus auch eine abwertende, sexuelle Konnotation besaß, zu vermeiden Ein prominentes Beispiel für diese Bedeutung liefert etwa Lorenzo da Pontes Libretto zu Mozarts Don Giovanni (Madamina, il catalogo è questo): „Non si picca- - se sia ricca,/ Se sia brutta, se sia bella; / Purché porti la gonnella,/ voi sapete quel che fa“ Einen Beleg für die Verwendung des Terminus „veste“ als Bezeichnung für ein weibliches Gewand zu Beginn des 20 . Jahrhunderts findet man in Leoncavallos La Mattinata: „Metti anche tu la veste bianca/ E schiudi l’uscio al tuo cantor! “ 284 Denotative Veränderungen dieser Art weisen auch die beiden folgenden Textstellen auf: Anselmus lässt sich bei Veronikas Anblick in der 9 Vigilie zu dem Ausruf hinreißen: „O ich Glücklicher, (…), was ich gestern nur träumte, wird mir heute wirklich und in der That zu Theil“. (Hoffmann, S -187-188, Hervorhebung I P ). Toussenel und Richard übersetzen: „ce qui n’ était hier qu’un songe, devient aujourd’hui pour moi la plus touchante réalité! “ (Bd -VI, S -10); „touchante“ ist hier sicherlich im Sinne von „greif bar“ zu interpretieren, kann aber auch einfach als „berührend“ oder „bewegend“ verstanden werden Diese semantische Verschiebung wird dann von E B aufgenommen, seine Übersetzung „la più commovente realtà“ (S -138) lässt sich nunmehr ausschließlich als „emotional bewegend“ auffassen, der Aspekt des real Greif baren geht ganz verloren Der zweite Passus beschreibt die Leiden des Anselmus in der gläsernen Flasche: „(…) und er vernahm statt der Worte, die der Geist sonst aus dem Innern gesprochen, nur das dumpfe Brausen des Wahnsinns“ (Hoffmann, 10 Vigilie, S -199, Hervorhebung I P ) Das Adverb „sonst “ bezeichnet hier den bisherigen, stetig andauernden Zustand Im Französischen ist die Übersetzungslösung erneut leicht ambivalent, bezeichnet aber ebenfalls einen längeren Zeitraum in der Vergangenheit (ähnlich dem Deutschen „einst“): „(…) et au lieu des paroles pleines de raison que lui dictait naguère son esprit (…)“ (Toussenel/ Richard, Bd -VI, S -34) Das Italienische hingegen verkürzt diesen andauernden Zustand auf ein punktuelles Ereignis, das kurz zuvor stattgefunden hat: „(…) ed invece delle parole piene di ragione che il suo spirito poco prima gli dettava (…)“ (E B ., S -152) <?page no="285"?> 3 E. T. A. Hoffmann: Der goldene Topf 285 selmus mit List auf ihre Seite zu ziehen: „Du hast mir die Nase verbrannt, aber doch bin ich Dir gut, Du Schelm, weil Du sonst ein artiger Mensch warst (…)“ (Hoffmann, S - 203, Hervorhebung I P) . In der französischen Fassung wird das Bedeutungsspektrum des Adjektivs, das im Deutschen lediglich das gebührliche Verhalten bezeichnet, leicht ausgeweitet: „(…) car tu étais toujours un charmant jeune homme“ (Toussenel/ Richard, Bd .-VI, S .-42) . Prompt entscheidet sich darauf hin E B . für die zweite, das Äußere charakterisierende Lesart des französischen „charmant “, indem er übersetzt: „(…) poichè tu eri sempre un bel giovane“ (S .-157) Dabei erscheint es hier recht unwahrscheinlich, dass das Äpfelweib auf Anselmus’ ansprechendes Äußeres anspielt, da sie doch zuvor seine „Missetaten“ ihr gegenüber aufzählt- - zumal auch das deutsche „artig“ diese Deutung nicht zulässt Schließlich beruht auch die Abweichung in der nächsten Textstelle auf der semantischen Vagheit der französischen Diskurstradition . Genau genommen handelt es sich hier um einen Grenzfall, in dem man bereits fast von Ambiguität sprechen kann, da zwei distinkte Bedeutungen im Spiel sind . 285 In der fünften Vigilie warnt das Äpfelweib Veronika, die sich an sie um Hilfe gewandt hat, vor dem von ihr verehrten Anselmus: „Er liebt Dich nicht, denn er liebt die goldgrüne Schlange; er wird niemals Hofrath werden; weil er sich bei den Salamandern anstellen lassen (…)“ (Hoffmann, S .- 140, Hervorhebung I P) . Toussenel und Richard wechseln die Perspektive und betonen, dass sich Anselmus von den Salamandern hat „abwerben lassen“: „(…) car il s’est laissé débaucher par les salamandres“ (Bd .-V, S -126) . Im Französischen hat aber „débaucher“ noch eine zweite, weniger neutrale Bedeutung, nämlich jemanden zu Ausschweifungen verführen Konsultiert man nun die italienische Übersetzung, so wird die Semantik des französischen Verbs hier auf die zuletzt genannte Bedeutung verengt und damit der Aussage eine stärker negative Konnotation hinzugefügt: „(…) egli si è lasciato sedurre dalle salamandre“ (E B ., S -77) . Wie sich die zwei Interpretationsschritte der Reinform der Übersetzung aus zweiter Hand auf die dargestellten Sinnzusammenhänge auswirken können, zeigt das nächste Beispiel Darin läuft der Student Anselmus, bestürzt über sein eigenes wunderliches Verhalten, kopf los durch Dresdens Straßen: „Schon wollte er in die Pappelallee bei dem Koselschen Garten einbiegen, als eine Stimme hinter ihm herrief: Hr. Anselmus! Hr. Anselmus! wo rennen Sie denn um tausend Himmelswillen hin in solcher Hast! “ (Hoffmann, 2 . Vigilie, S -94) Interessant ist vor allem die einleitende Wegbeschreibung, die sich in der französischen Übersetzung wie folgt liest: „Déjà il se détournait pour prendre l’allée de peupliers qui passe devant le jardin de Kosel, (…)“ (Toussenel/ Richard, Bd .-V, S .-30-31) Die Übersetzer vermitteln dem Leser hier trotz unterschiedlicher lexikalischer und syntaktischer Mittel dieselbe räumliche Vorstellung des Abbiegens in eine andere Straße Der italienische Übersetzer allerdings orientiert sich in der Syntax am Französischen, vermittelt aber durch seine Wortwahl eine andere Vorstellung von Anselmus’ Wegstrecke . Er formuliert: „Già egli cambiava strada per arrivare al viale di pioppi che passa davanti il giardino di Kosel, (…)“ (E B ., S .-21) . Hier biegt Anselmus nicht mehr wie im Original direkt in die Pappelallee ein, sondern in eine andere Straße, die ihn erst zu besagter Pappelallee führen soll . Begünstigt wird diese 285 Vgl Heringer (1981, 95), der dann von Ambiguität (und nicht mehr von Vagheit) spricht, wenn „es keine f ließenden Übergänge zwischen den Bedeutungen [gibt], sondern einen Aspektwechsel, der sich plötzlich und oft überraschend einstellt“ <?page no="286"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 286 Abweichung durch den französischen „Zwischenschritt“, denn die dortige Formulierung „se détournait pour prendre“ weist eine gewisse Ambiguität auf, die das eindeutige deutsche Verb „einbiegen“ nicht hat Bei dem folgenden Beleg ist die Abweichung etwas subtiler, da sie sich auf einer bildlich-poetischen Ebene bewegt Der Archivarius Lindhorst erzählt die mythische Liebesgeschichte zwischen Phosphorus und der Lilie, eine Art „Schöpfungsmythos“, dem auch er letztlich seine Entstehung verdankt Bei Hoffmann heißt es, nachdem die Lilie diesem leidenschaftlich ihre Liebe erklärt: „Da küßte sie der Jüngling Phosphorus, und wie vom Lichte durchstrahlt loderte sie auf in Flammen, aus denen ein fremdes Wesen hervorbrach, das schnell dem Thale entfliehend im unendlichen Raum herumschwärmte“ (3 Vigilie, S -108, Hervorhebung I P) Mit der Partizipialkonstruktion „schnell dem Thale entfliehend“ bleibt Hoffmann ganz im mythisch-ätherischen Stil der gesamten Erzählung und legt sich nicht auf eine bestimmte Gestalt des neu entstandenen Wesens fest . Toussenel und Richard tun es ihm gleich, wenn sie formulieren: „(…) dont sortit un être inconnu, qui, fuyant à tire-d’ailes la vallée, plana dans l’espace infini“ (Bd .- V, S .- 59) Die Wendung „à tire-d’ailes“ wird im Französischen ausschließlich übertragen verwendet und transportiert den semantischen Gehalt des deutschen Adverbs „schnell“; die bildliche Vorstellung eines Flügelpaares ist aber sicherlich latent noch vorhanden Im Italienischen wird nun diese übertragene Bedeutung auf die konkrete Ebene gehoben: „(…) dalle quali uscì un essere sconosciuto che fuggendo sull’ali da quella valle si librò nello spazio infinito“ (E . . B ., S -38) Die modale Ergänzung „sull’ali“ kann hier nur ganz konkret als Flügelbewegung verstanden werden In der italienischen Fassung wird also letztlich über die Vermittlung eines französischen Idioms ein im Original im Vagen belassener Aspekt konkretisiert, indem das undefinierbare dem Tal entf liehende Wesen durch ein Flügelpaar greif bar geschildert wird Ebenfalls nur um eine Nuance verschiebt sich die Bedeutung in folgendem Passus aus der elften Vigilie Der frisch gebackene Hofrat Heerbrand wirbt beim Konrektor Paulmann um die Hand seiner Tochter, in den mit Bedacht gewählten Worten: „(…) und kann mich manches freundlichen Blickes rühmen, den sie mir zugeworfen und der mir deutlich gezeigt, daß sie mir wol nicht abhold seyn dürfte“ (Hoffmann, S -213, Hervorhebung I P) Toussenel und Richard treffen recht gut den Ton seiner Werbung: „(…) qui m’ont prouvé clairement qu’elle ne m’est pas tout à fait défavorable“ (Bd .-VI, S -64-65) Diese verneinte Wendung übernimmt E B beinahe wörtlich und vergisst dabei, dass die Bedeutung des italienischen „non…affatto“ sich nicht mit dem französischen „pas tout à fait “ deckt: „(…) che mi hanno provato chiaramente che ella non mi è affatto sfavorevole“ (S -171) Der Hofrat äußert nun nicht mehr vorsichtig, Veronika dürfe ihm wohl nicht abhold sein, sondern viel entschiedener: sie sei ihm ganz und gar nicht abhold . Mit dem Ton der Äußerung ändert sich auch der Charakter des Hofrats, der ein ganzes Stück selbstbewusster erscheint: Bei Hoffmann noch eher zurückhaltend, ist er sich hier seiner Sache doch recht sicher Ähnlich subtile Modifikationen beinhalten die beiden folgenden Textstellen, in denen wiederum eine leichte Abweichung des Französischen den italienischen Übersetzer zu einer denotativen Verschiebung veranlasst In der neunten Vigilie wird der Einf luss von Veronikas heiterem Wesen auf Anselmus geschildert, die „durch allerhand Neckerei und Schalkheit den Anselmus so hinauf zu schrauben [wußte], daß er alle Blödigkeit vergaß und sich zuletzt mit dem ausgelassenen Mädchen im Zimmer her- <?page no="287"?> 3 E. T. A. Hoffmann: Der goldene Topf 287 umjagte“ (Hoffmann, S -186) Toussenel und Richard (Bd -VI, S -7, Hervorhebung I P) fügen mit „(…) qu’ il oublia toute sa timidité, et se mit enfin à courir et à sauter de bon cœur par toute la chambre“ eine kleine modale Ergänzung ein, die E B aufgreift: „(…) ch’egli dimenticò tutta la sua timidità, e si mise infine a correre ed a saltare di propria volontà per tutta la camera“ (S -136) Nur verschiebt sich dabei die Bedeutung um eine beinahe unmerkliche Nuance, wenn hier nicht mehr von einer freudigen, sondern von einer freiwilligen Beteiligung an Veronikas ausgelassenem Spiel die Rede ist . Und als der Conrektor Paulmann in der elften Vigilie seine Tochter Veronika glücklich dem frisch gebackenen Hofrat Heerbrand versprochen hat, bemerkt er in Anspielung auf Veronikas Gemütszustand: „vielleicht ist auch ihre jetzige Schwermuth nur eine versteckte Verliebtheit in Sie, verehrter Hofrath! man kennt ja die Possen“ (Hoffmann, S -214) Während die französische Fassung recht treffend lautet: „on connaît, Dieu merci, toutes ces mascarades“ (Toussenel/ Richard, Bd -VI, S -65-66), nimmt E B erneut eine kleine Änderung vor, die den Sinn der Äußerung leicht verschiebt: „ora si conoscono, grazie a Dio, tutte le sue mascherate“ (S -171) Mit dem Austausch des Demonstrativpronomens durch ein Personalpronomen gibt der Konrektor Paulmann nun nicht mehr nur einen Gemeinplatz über die Launenhaftigkeit der Frauen im Allgemeinen von sich, sondern er glaubt, nun endlich das kapriziöse Wesen seiner Tochter durchschaut zu haben-- was auch die Hinzufügung des Temporaladverbs „ora“ erklärt Schließlich sei noch ein letztes Beispiel erlaubt, das besonders eindrucksvoll den Einf luss der semantischen Vagheit der französischen Norm auf die italienische Übersetzung illustriert Die oben geschilderte Szene endet nämlich damit, dass der Konrektor Paulmann feierlich verkündet: „Nun, ich gebe meinen väterlichen Segen zu der fröhlichen Verbindung und erlaube, daß Ihr Euch als Braut und Bräutigam küsset “ (Hoffmann, 11 Vigilie, S -218) Hier müssen sich Toussenel und Richard nicht die Frage stellen, ob sie eine direkte Wiedergabe dieser Aufforderung zum Kuss für „moralisch vertretbar“ halten, sie können auf das semantisch ambivalente „embrasser“ ausweichen: „(…) et vous permets de vous embrasser en qualité de futurs conjoints“ (Bd .-VI, S .-74) Vor die Wahl zwischen den beiden Bedeutungen „küssen“ und „umarmen“ gestellt, wählt der italienische Übersetzer E B die zweite Alternative- - und dies nicht von ungefähr, wie noch zu zeigen sein wird: „(…) e vi permetto di abbracciarvi come futuri coniugi“ (S -177) Der besondere Charakter des Hoffmannschen Werkes kommt auch in den ausgedehnten „mythischen“ Passagen 286 zum Ausdruck, die die Übersetzer durch ihre Natursymbolik nicht selten vor schwer lösbare Probleme stellen . Toussenel und Richard begegnen der Problematik der kulturspezifischen Metaphorik durch explikative Fußnoten oder lexikalische Umschreibungen . So lebt die mythische Erzählung in der dritten Vigilie von der Liebessymbolik, die sich hier in Gestalt der mütterlichen Liebe der „Urmutter“ Sonne zu der Feuerlilie manifestiert: „(…) da brach im Übermaß des Entzückens eine herrliche Feuerlilie hervor, die schönen Blätter wie holdselige Lippen öffnend, der Mutter süße Küsse zu empfangen“ (Hoffmann, S -107) Toussenel und Richard (Bd .-V, S .-57) wissen sich hier nicht 286 Hier sind vor allem drei längere Passus zu nennen: der „Schöpfungsmythos“ zu Beginn der dritten Vigilie (Hoffmann, S -106-109), Serpentinas Erzählung in der achten Vigilie (ebd S -175-180) sowie die Vision des Rittergutes in Atlantis in der zwölften Vigilie (ebd S - 224-227), die dem Leser eine Ahnung von Anselmus’ glücklichem Leben mit Serpentina im Reich der Poesie vermitteln soll <?page no="288"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 288 anders zu helfen, als durch eine Fußnote auf den Wechsel der Genera im Französischen, wo die Lilie ebenso wie die Sonne männlichen Geschlechts ist, hinzuweisen: (…) dans ce moment d’extase de toute la nature, naquit un beau lis de feu (1), dont les pétales s’ouvraient comme des lèvres ravissantes, pour recevoir les doux baisers de son père. (1) Le lis qui joue dans cette histoire un rôle tout féminin, est de ce genre en allemand.-- De peur d’obscurité, nous avons crû devoir cet éclaircissement aux lecteurs scrupuleux. (Le Traducteur ) Bezeichnend ist, dass sie nur das Geschlecht der Lilie für erklärenswert erachten, während die Sonne in der romanischen Symbolik so selbstverständlich als männlich verankert ist, dass hier gar nicht erst der Versuch einer Erläuterung unternommen wird . 287 Auch die Tatsache, dass ein Kuss zwischen Vater und Sohn gesellschaftlich weniger akzeptabel gewesen sein dürfte, mag bei dieser Entscheidung eine Rolle gespielt haben Im Italienischen wird erwartungsgemäß die Strategie der französischen Fassung übernommen (E B ., S -36-37): (…) in quel momento d’estasi di tutta la natura, nacque un bel giglio color di fuoco (1), i cui petali si aprivano come labbra incantevoli per ricevere i soavi baci del padre suo. (1) Il giglio che ha in quest’istoria una parte femminile, è di questo genere in tedesco.-- Temendo l’oscurità noi abbiamo creduto dovere questo schiarimento ai lettori scrupolosi. In den beiden folgenden mythischen Passagen der achten und zwölften Vigilie lässt sich beobachten, wie Toussenel und Richard das Genus der Lilie mithilfe der naheliegenden Umschreibung „une fleur de lys“ 288 anzupassen versuchen . Dem italienischen Übersetzer allerdings steht auch dieser Ausweg nicht offen; davon, dass er die Problematik erkennt, ist angesichts der oben dargelegten Übernahme der erläuternden Fußnote aber auszugehen Die ans Französische angelehnte Übersetzung „un fior di giglio“ löst das Problem nicht . 289 Besonders heikel ist der Genuswechsel in folgender Textstelle, in der die Lilie als „Geliebte“ bezeichnet und damit explizit als weiblich charakterisisert wird: „wisse, daß einst die Lilie meine Geliebte war und mit mir herrschte“ (Hoffmann, 8 Vigilie, S -176) . Für die französischen Übersetzer ist dies mithilfe der Umschreibung leicht zu lösen: „apprends que la fleur de lys fut autrefois ma bien-aimée, et qu’elle régna avec moi“ (Toussenel/ Richard, Bd - V, S - 202); im Italienischen tritt hingegen der Kontrast zwischen natürli- 287 Auch im weiteren Verlauf der mythischen Erzählung in der dritten Vigilie wird die Sonne in den Übersetzungen unkommentiert als väterliche Kraft dargestellt: Der „mütterliche Schoß“ der Sonne, die das Tal „mit ihren Strahlen wie mit glühenden Armen es umfassend pflegte und wärmte“ (Hoffmann, S - 106), wird so zu dem etwas befremdlich anmutenden „sein paternel“ (Toussenel/ Richard, Bd - V, S - 55-56) bzw .„seno paterno“ (E B S - 35) abgewandelt, und die keimenden Pf lanzen strecken ihre Blätter und Halme anstatt „zum Angesicht der Mutter“ (Hoffmann, S - 106) „au devant de leur père“ (Toussenel/ Richard, Bd .-V, S -56) bzw „davanti al loro padre“ (E B ., S -36) 288 Die Schreibweise variiert in der französischen Fassung, man findet sowohl „lis“ als auch „lys“ 289 Vgl z B Hoffmann, 8 Vigilie, S -176: „(…) und hörte, wie eine hohe Lilie in leisen Tönen sang“-- „(…) et il entendit comment une fleur de lys disait tout bas“ (Toussenel/ Richard, Bd -V, S -200-201)-- „(…) ed egli intese dire un fior di giglio dir sotto voce“ (E B ., S -122), sowie 12 Vigilie, S -228: „(…) daß ich wol niemals die Lilie schauen werde“-- „(…) et je ne pourrais certainement plus jamais voir la fleur de lis“ (Toussenel/ Richard, Bd -VI, S -95)-- „(…) e non potrò certamente vedere mai più il fiore di giglio“ (E B ., S -189) <?page no="289"?> 3 E. T. A. Hoffmann: Der goldene Topf 289 chem und metaphorischem Geschlecht offen zutage: „sappi che il giglio fu altre volte la mia amata, e ch’essa regnò con me“ (E B ., S -123, Hervorhebung I P) Ein Genusproblem wirft übrigens auch Anselmus’ Geliebte aus dem Reich der Poesie, die goldgrüne Schlange, auf, da die Schlange in beiden romanischen Sprachen ebenfalls männlichen Geschlechts ist Toussenel und Richard verwenden deshalb gern die Entsprechung „la couleuvre“, und E B greift dieses Muster mit „la colubra“ auf . 290 Während allerdings die französische Bezeichnung recht gängig ist, muss die italienische Entsprechung zumindest als ungewöhnlich eingestuft werden Die Beibehaltung des Genus wird hier also mit der Wahl eines wenig geläufigen Wortes erkauft . Natürlich muss dabei bedacht werden, dass dem italienischen Übersetzer wohl nur die französche Fassung vorlag und dieser womöglich einfach unkritisch die dortige Vorgabe übernommen hat Typisch für Hoffmanns romantisches Kunstmärchen ist aber noch ein anderer Aspekt, nämlich der Einsatz lautmalerischer und synästhetischer Mittel in der Sprache . Die Übersetzer stehen also vor der bekannten Herausforderung, die poetische Form und den Inhalt des Originals gleichermaßen zu wahren Da in der Regel nur eine der beiden Textebenen invariant gehalten werden kann, ist dies oft ein unauf lösbares Dilemma . Passagen, in denen der synästhetische Aspekt der Darstellung im Mittelpunkt steht, werden von den französischen Übersetzern in einigen Fällen nicht erkannt und folglich an die erwartbare „Norm“ angepasst Dergestalt „eingeebnete“ Textstellen finden sich dann auch in der italienischen Fassung wieder Wenn etwa der Salamander bei Hoffmann hörte, „wie eine hohe Lilie in leisen Tönen sang: (…)“ (8 Vigilie, S -176), so vernahm er bei Toussenel und Richard nurmehr „comment une fleur de lys disait tout bas: (…)“ (Bd .- V, S -200-201) . 291 Und die Sonnenstrahlen tönen nicht mehr wie im Original („Die goldnen Strahlen brennen in glühenden Tönen: (...)“, 12 . Vigilie, S -225), sondern sie verhalten sich weitaus irdischer: „Les rayons dorés gravent ces mots en lettres de feu: (…)“ (Toussenel/ Richard, Bd -VI, S -88) . 292 Umgekehrt verschwindet auch der visuelle Aspekt der Töne in der Übersetzung So heißt es bei Hoffmann: „Zuweilen war es auch, (…) als strahlten dann die holden Kristallklänge“ (8 Vigilie, S -173) Bei Toussenel und Richard wird das visuelle „Strahlen“ in rational-klassizistischer Manier durch das in der realen Welt erwartbare akustische „Klingen“ ersetzt: „On croyait ouïr (…) tantôt retentir dans l’appartement les cloches harmonieuses de cristal“ (Bd -V, S -194) . 293 Natürlich wird Hoffmanns ätherische Welt der Poesie durch solche Verschiebungen in den romanischen Übersetzungen ein entscheidendes Stück weiter auf den Boden der Realität geholt Eine noch größere Herausforderung für den Übersetzer stellt der onomatopoetische Charakter einiger Textstellen dar Dadurch lässt Hoffmann die poetische Welt für den Leser erfahrbar, gewissermaßen „hörbar“ werden Die französischen Übersetzer versuchen in der Regel, die lautmalerische Qualität, die den poetischen Gehalt des Originals ausmacht, möglichst 290 So wird z B Anselmus’ Anrede „Du herrliches goldenes Schlänglein“ (Hoffmann, 4 Vigilie, S -120) bei Toussenel und Richard zu „charmante petite couleuvre dorée“ (Bd -V, S -83) und bei E B entsprechend zu „o amabile colubra dorata“ (S .-52) 291 Vgl das Italienische: „(…) ed egli intese un fior di giglio dir sotto voce: (…)“ (E B ., S -122) 292 Vgl E B .: „I raggi dorati scolpiscono queste parole in lettere di fuoco: (…)“ (S -185) 293 Man vergleiche auch hier das Italienische: „ Si credeva udire (…) qualche volta risonare nell’appartamento le armoniose campane di cristallo“ (E B ., S -119) <?page no="290"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 290 invariant zu halten und nehmen dafür auch leichte inhaltliche Abweichungen in Kauf Hier tritt erneut die Problematik der Reinform der Übersetzung aus zweiter Hand zutage: Der italienische Übersetzer, der sich seinerseits am leicht abgewandelten „Wortlaut“ der französischen Fassung orientiert, vernachlässigt dabei oftmals die klangliche Qualität, die den französischen Kollegen zu seinen inhaltlichen Eingriffen veranlasst hat So weist die italienische Fassung schließlich leichte inhaltliche Modifikationen gegenüber dem Original auf, die nicht mehr- - wie in der französischen- - durch die Erfordernisse der Klangqualität gerechtfertigt sind Zur Illustration liegt es nahe, als Erstes auf den bereits weiter oben besprochenen Passus 294 der drei goldgrünen Schlänglein aus der ersten Vigilie zurückzugreifen, diesmal in beiden romanischen Fassungen im Kontrast zum Original: Zwischen durch-- zwischen ein-- zwischen Zweigen, zwischen schwellenden Blüthen, schwingen, schlängeln, schlingen wir uns- - Schwesterlein- - Schwesterlein, schwinge dich im Schimmer- - schnell, schnell herauf-- herab-- Abendsonne schießt Strahlen, zischelt der Abendwind-- raschelt der Thau-- Blüthen singen-- rühren wir Zünglein, singen wir mit Blüthen und Zweigen-- Sterne bald glänzen-- müssen herab-- zwischen durch, zwischen ein schlängeln, schlingen, schwingen wir uns Schwesterlein.-- (Hoffmann, S .-88-89) Passons,- - glissons,- - passons sur les rameaux, glissons sur les fleurs, élancées, balancées, enlacées.- - Ma sœur,- - ma sœur, baigne-toi dans la lumière,- - vite, vite, plus haut,- - plus bas.- - Le soleil du soir darde ses rayons,-- la brise du soir murmure avec volupté,-- la rosée pétille,-- les fleurs chantent-- Chantons, mes sœurs, chantons comme les fleurs, comme les rameaux.-- Les étoiles vont luire,-- il faut descendre.-- Passons,-- glissons, ma sœur,-- élancées, balancées, enlacées (Toussenel/ Richard, Bd -V, S .-18-19) Passiamo,-- sdruccioliamo, passiamo sui rami, sdruccioliamo sui fiori; slanciati, cullati, allacciati.- - Mia sorella,- - mia sorella, bagnati nella luce, presto, presto, più in su, più in giù.- - Il sole dardeggia i suoi raggi,-- il venticello della sera mormora con voluttà,-- la rugiada brilla,-- i fiori cantano…- Cantiamo, mie sorelle, cantiamo come i fiori, come i rami.- - Le stelle stanno per risplendere,- - bisogna discendere.- - Passiamo,- - sdruccioliamo, mia sorella,- - slanciati, cullati, allacciati (E B ., S .-12) Mit hellen Vokalen, Zischlauten und Alliterationen ahmt Hoffmann den quirligen, f lüchtigen und ätherischen Charakter der goldgrünen Schlänglein nach, und Toussenel und Richard gelingt es weitgehend, im Französischen ein ähnliches „Klangbild“ entstehen zu lassen Die durchgehend verwendeten Sibilanten, wie in „passons“, „glissons“, „élancées, balancées, enlacées“, „sœur“ „soleil du soir“, „brise du soir“ „chantons“ und „descendre“, tragen ebenso dazu bei wie die hellen Vokale „a“, „e“ „i“ und der Nasalvokal „œ“ sowie gleiche Auslaute, die die Alliterationen ersetzen („passons, glissons, passons“; „élancées, balancées, enlacées“) Auf die italienische Version trifft dies nicht mehr ohne Einschränkung zu: Die Vokalqualitäten sind recht disparat, gleiche Auslaute entstehen wohl eher zufällig durch die Übernahme des französischen Wortlauts („passiamo, sdruccioliamo, passiamo“, „slanciati, cullati, allacciati“), und Zischlaute sind zwar noch auszumachen 294 Vgl Abschnitt 3 .3 .2 dieses Teils, in dem die beiden französischen Fassungen von Toussenel/ Richard und Saint-Marc-Girardin gegenübergestellt wurden <?page no="291"?> 3 E. T. A. Hoffmann: Der goldene Topf 291 („passiamo“, „sdruccioliamo“, „slanciati“, „sorella“, „sole“, „venticello“, „le stelle stanno per risplendere“), ergeben aber kein so einheitliches Bild wie im Französischen Gerade die zuletzt genannte Wendung zeigt, dass auch sie meist eher Zufallsprodukte sind, denn das italienische „Le stelle stanno per risplendere“ ist hier lediglich die „wörtliche“ Übersetzung des französischen „Les étoiles vont luire“ (vgl das Deutsche: „Sterne bald glänzen“) . 295 Der italienische Übersetzer lehnt sich insgesamt auffällig an das französische Vorbild an, „vergisst“ aber über die inhaltliche Wiedergabe die klangliche Qualität Eine weitere aussagekräftige Textstelle findet sich gleich im Anschluss, als die tiefe Stimme des Salamanders das Treiben der goldgrünen Schlangen im Holunderbusch unterbricht und sie nach Hause ruft: (…) genug gesonnt, genug gesungen-- Hei, hei, durch Busch und Gras-- durch Gras und Strom! -- Hei,-- hei-- Her u-- u-- u nter-- Her u-- u-- u nter! -- (Hoffmann, 1 Vigilie, S -90) (…) Assez chauffé, assez chanté! -- Hé! hé! passez sous les branches, sous la verdure-- par le gazon, par le fleuve! -- Ha! -- Ha! -- Allon-on-on-ons! Allon-on-on-ons! -- (Toussenel/ Richard, Bd -V, S -23) (…) Abbastanza vi scaldaste, abbastanza avete cantato.-- Eh! Eh! Passate sotto i rami, sotto la verdura, per l’erba, pel fiume! -- Ah! Ah! -- Andiamo, amo, amo, amo! Andiamo, amo, amo, amo! (E B ., S -15) In dem langgezogenen „Her u- - u- - u nter- - Her u- - u- - u nter! “ des Originals mit seiner dunklen Vokalqualität meint man die aus weiter Ferne über die Berge erklingende sonore Stimme des Salamanders zu vernehmen . Ähnlich dürfte es dem Leser bei Toussenels und Richards Version ergehen, deren „Allon-on-on-ons! Allon-on-on-ons! “ den dunklen, langgezogenen Vokal treffend nachahmt E B allerdings vermittelt mit seiner Übersetzung „Andiamo, amo, amo, amo! Andiamo, amo, amo, amo! “ einen ganz anderen Klangeindruck Hier wird die Vorstellung eines Echos hervorgerufen, das von den Bergen zurückgeworfen wird, wobei zusätzlich der helle Vokal die Stimmqualität verändert . Auch hier liegt die Abweichung in einer Anlehnung an die französische Zwischenstufe begründet Der Übersetzer missversteht die Funktion der französischen Übersetzungslösung: Während dort der Konsonant in der wiederholten Silbe „on“ lediglich dazu dient, das nasale „o“ als langgezogenen Vokal lesbar zu machen, wird im Italienischen die gesamte Wortendung wiederholt und so ein im Original nicht angelegter Echoeffekt erzielt Überdies fällt auf, dass die explizierende Tendenz von einer Übersetzung zur anderen zunimmt, so dass der Stakkatostil des Originals mehr und mehr verloren geht So 295 Die Beobachtung, dass E B die in der französischen Fassung gewahrte Klangqualität in seiner Übersetzung außer Acht lässt, stützen etwa die beiden folgenden Textstellen: Während die Zischlaute und die Alliteration in „durch ein sonderbares Rieseln und Rascheln“ (Hoffmann, 1 Vigilie, S - 87) bei Toussenel und Richard erhalten bleiben: „par un grésillement et un gazouillement singulier“ (Bd -V, S -17), sind bei E B nur noch leichte Anklänge spürbar, auf die Alliteration verzichtet er ganz: „da un cicalio e ronzio singolare“ (S .-11) Und auch das zischende Triumphgeheul des alten Äpfelweibs in der zehnten Vigilie „‚frisch-- frisch ’raus-- zisch aus, zisch aus‘“ (Hoffmann, S -205) erklingt im Französischen dank beibehaltener Vokalqualitäten und Sibilanten bzw Frikative-- in ungebrochener Kraft: „‚Leste-- preste, joue de la griffe, de la griffe! ‘“ (Toussenel/ Richard, Bd -VI, S -46) Im Italienischen verliert es dagegen durch die Beliebigkeit der Vokale und Konsonanten an Ausdruck: „‚Presto-- presto, adopera le unghie, le unghie! ‘“ (E B ., S -160) . <?page no="292"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 292 werden etwa die Partizipien „genug gesonnt, genug gesungen“, die im Französischen noch erhalten bleiben („Assez chauffé, assez chanté! “), in der italienischen Fassung aufgelöst: „Abbastanza vi scaldaste, abbastanza avete cantato“ . Die folgende Textstelle mag einen weiteren Beleg für die These liefern, dass es durch die französische Vermittlung zu inhaltlichen und klanglichen „Verlusten“ in der italienischen Übersetzung kommen kann, wenn der Übersetzer die den Abweichungen in der französischen Fassung zugrunde liegende Motivation nicht erkennt . In der zweiten Vigilie schnarrt Anselmus aus dem Türklopfer vor dem Hause des Archivarius Lindhorst die verzerrte Fratze des Äpfelweibs entgegen: „Du Narre-- Narre-- Narre-- warte, warte! warum warst hinausgerannt! Narre! --“ (Hoffmann, S -104) Die schnarrende Stimme ist auch bei Toussenel und Richard deutlich hörbar: „Te voilà? fou! Tu croyais entrer, mais, tarare! -- tarare! -- tarare! Pourquoi courais-tu si fort? cerveau timbré! “ (Bd -V, S .-52) Hier wird besonders deutlich, dass die Wahrung der Klangqualität durch inhaltliche Abweichungen erkauft wurde Die dreifache Wiederholung des „Narre“ wird wegen des fehlenden Vibranten im Französischen auf ein einzelnes „fou“ reduziert Aus dem gleichen Grund wird das „warte, warte! “ durch ein lautmalerisches, wenn auch inhaltsleeres „tarare! -- tarare! -- tarare! “ ersetzt; der Zusatz „Tu croyais entrer, mais“ unterstreicht darüber hinaus die Häufung der Vibranten Auch bei der Frage „Pourquoi courais-tu si fort? “ ist die Wiedergabe des Lautbildes gelungen, während sich gegenüber „warum warst hinausgerannt “ eine geringfügige inhaltliche Verschiebung ergibt; das abschließende „Narre“ wird diesmal durch ein effektvolles „cerveau timbré “ wiedergegeben Im Italienischen klingt diese Passage nun wie folgt: „Eccoti, pazzo! Tu credevi di entrare, ma tarara! -- tarara! -- tarara! -- Perché correvi tu tanto? cervello guasto! “ (E B ., S .-33) Es ist deutlich erkennbar, dass E B . versucht, den Inhalt der französischen Vorlage getreu wiederzugeben, während er den klanglichen Aspekt völlig ausblendet Bezeichnend ist die Übernahme des „tarara! -- tarara! -- tarara! “, das doch im Französischen lediglich aus klanglichen Gründen eingefügt, hier aber unkritisch in „italianisierter“ Form übernommen wird Die noch erhaltenen Vibranten sind erneut der Nähe der beiden romanischen Sprachen zuzuschreiben, sie ergeben sich eher zufällig durch die enge Anlehnung an das Französische Abschließend sei zur „Ehrenrettung“ des italienischen Übersetzers noch ein gelungenes Beispiel der Übertragung onomatopoetischer Effekte angeführt Als nämlich Anselmus zum zweiten Mal vor der Tür des Archivarius steht, gelingt es ihm diesmal mühelos, die Tür zu öffnen, dank dem goldgelben Liquor, mit dem er die aus dem Türknauf hervorgrinsende Fratze des Äpfelweibs besprengt: „Die Thür ging auf, die Glocken läuteten gar lieblich durch das ganze Haus: klingkling-- Jüngling-- flink-- flink-- spring-- spring-- klingkling.--“ (Hoffmann, 6 Vigilie, S - 145) Das helle Glockengeläut erklingt auch aus der französischen Übersetzung: „(…) drelin, drelin: -- mon cousin Chérubin; -- c’est divin,-- divin: -- mon cousin,-- drelin, drelin.--“ (Toussenel/ Richard, Bd -V, S .-136) . Die inhaltlichen Verluste sind hier sicherlich zu vernachlässigen, da es ausschließlich auf den Klang der Worte ankommt Und auch E B erkennt die Bedeutung des klanglichen Aspekts, wenn er übersetzt: „(…) drelin, drelin: -- il mio cugin Cherubin,-- è divin,-- divin; il mio cugin-- drelin, drelin.--“ (S -83) Zwar orientiert er sich wie üblich stark an der französischen Vorlage, aber die Wortkürzungen bei „cugin“, „Cherubin“ und „divin“ zeugen davon, dass er bestrebt ist, die stilistischen Mittel beizubehalten, die in der französischen Version <?page no="293"?> 3 E. T. A. Hoffmann: Der goldene Topf 293 ebenso wie im Original den Glockenklang nachahmen Dazu gehören die Klangqualität und der Akzent auf der letzten Silbe Der italienische Übersetzer folgt aber trotz seiner durchweg eng am französischen Vorbild orientierten Übersetzungsentscheidungen nicht überall den Vorgaben Toussenels und Richards Solche Textstellen, in denen er sich für abweichende Übersetzungslösungen entscheidet, sind natürlich besonders aussagekräftig, da sie Rückschlüsse auf seine eigene Übersetzungshaltung zulassen Wenn diese nicht auf schlichten Übersetzungsfehlern beruhen, betreffen sie meist als „unschicklich“ oder vulgär empfundene Passagen, die modifiziert oder ganz gestrichen werden Einen Vorgeschmack konnte das weiter oben angeführte Beispiel, geben, bei dem E B die semantische Vagheit des französischen „embrasser“ in die für ihn unverfänglichere Richtung auf löst . Die zarte Annäherung zwischen Anselmus und Veronika verkörpert bei Hoffmann Anselmus’ Entfremdung von der poetischen und Wiederannäherung an die reale, handfeste und greif bare Welt Wie das Beispiel zeigt, geben vor allem solche Passagen dem italienischen Übersetzer immer wieder Anlass, mäßigend in den Text einzugreifen . Im ersten, der neunten Vigilie entnommenen Passus, in dem sich Anselmus von dem in Aussicht gestellten Abendessen beim Konrektor Paulmann ein Zeichen der Zuneigung von Veronika erhofft, geschieht dies einfach durch Streichung der beanstandeten Stelle . Bei Hoffmann nimmt Anselmus die Einladung gern an „(…) und fügte sich den Wünschen des Conrektors um so lieber, als er nun die Veronika den ganzen Tag über schauen und wol manchen verstohlnen Blick, manchen zärtlichen Händedruck zu erhalten, ja wol gar einen Kuß zu erobern hoffte“ (S -188, Hervorhebung I P) . Und auch bei Toussenel und Richard verleiht er seinen Hoffnungen ganz offen Ausdruck: „(…) et il accepta l’ invitation du co-recteur, d’autant plus volontiers qu’ il espérait, en passant la journée avec Véronique, lui dérober quelque coup d’œil, quelque serrement de main, peut-être même un baiser“ (Bd -VI, S -12) Der „italienische“ Anselmus hingegen ist etwas zurückhaltender: „(…) ed accettò l’ invito del vicerettore, tanto più volentieri ch’egli sperava passando la giornata con Veronica di rapirle qualche occhiata e forse anche qualche stringimento di mano“ (E B ., S .-138)-- von einem Kuss ist hier nicht mehr die Rede Dabei erscheint ein einfacher Übertragungsfehler angesichts der mit Bedacht angepassten Formulierung wenig wahrscheinlich Bei der kurz zuvor tatsächlich stattfindenden Kussszene greift E B durch eine lyrische Umschreibung in das Geschehen ein, die erneut den Stein des Anstoßes eliminiert . Dabei nimmt er der Szene ein wichtiges Element, das Anselmus die vermeintlichen Vorzüge des Realen vor der poetischen „Traumwelt“ vor Augen führen soll . 296 Bei Hoffmann heißt es: „Ein dumpfes Ach! entfloh ihren Lippen, die in dem Augenblick auf den seinigen brannten“ (9 Vigilie, S -186), und entsprechend liest sich die französische Übersetzung: „Un soupir étouffé s’ échappa de ses lèvres qui, l’ instant d’après, se pressèrent brûlantes sur la bouche du jeune homme“ (Toussenel/ Richard, Bd -VI, S .-10) Nur E B formuliert erwartungsgemäß mit vornehmer Zurückhaltung: „Un sospiro soffocato sfuggì dalle labbra di lei, ardente come una fiamma“ (S -137) Schließlich ist noch Anselmus’ Traumgestalt nach 296 Bezeichnend ist in dieser Hinsicht sein Seufzer: „O ich Glücklicher, (…), was ich gestern nur träumte, wird mir heute wirklich und in der That zu Theil“ (Hoffmann, S -187-188), in dem sich seine vorübergehende Abkehr von der poetischen Welt ausdrückt <?page no="294"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 294 der ausschweifenden Punschnacht beim Konrektor Paulmann zu nennen, mit der E B . auf ganz ähnliche Weise verfährt Im Original erscheint Veronika Anselmus im Traum: „‚Gute Nacht, gute Nacht, mein lieber Freund,‘ lispelte leise Veronika und hauchte einen Kuß auf seine Lippen“ (Hoffmann, 9 Vigilie, S - 194) Ebenso liest sich die französische Version: „‚Bonne nuit, mon ami, bonne nuit,‘ murmura Véronique, et elle déposa un baiser sur ses lèvres“ (Toussenel/ Richard, Bd - VI, S - 24), während die italienische Veronika sich selbst als Traumgestalt in keuscher Zurückhaltung übt: „‚Buona notte, amico mio, buona notte‘, mormorò Veroncia mandandogli colla mano un saluto“ (E B ., S -145) . 297 Aber nicht nur solche amourösen Abenteuer, sondern auch derbe Ausdrücke widersprechen dem moralischen Empfinden des offensichtlich klassizistisch beeinf lussten Italieners Dies lässt zumindest die folgende Textstelle vermuten, in der der Konrektor Paulmann Anselmus ein probates Mittel gegen „gewisse Fantasmata“ empfiehlt, da er dessen Verbindung zur poetischen Welt als Anfälle von Geisteskrankheit missdeutet . Hoffmanns Formulierung „(…) das ist aber körperliche Krankheit, und es helfen Blutegel, die man, salva venia, dem Hintern applizirt “ (Hoffmann, 2 Vigilie, S -99) wird von Toussenel und Richard in ähnlicher Form übernommen: „(…) que l’on guérit en appliquant, salvâ veniâ, des sangsues au derrière“ (Bd -V, S -41); von E B wird sie vornehm verklausuliert: „(…) che si guarisce applicando, salva venia 298 , delle sanguisughe dove sapete“ (S -27) . Die klassizistische Übersetzungshaltung des Italieners, der einerseits so gut wie gar nicht eigenständig formuliert, andererseits aber doch Passagen, die er als unschicklich empfindet, abwandelt, mag darauf zurückzuführen sein, dass die meisten in dem Mailänder Band versammelten Erzählungen nach dem Vorbild von Loève-Veimars’ französischen Übersetzungen entstanden sind Die an dessen einbürgernd-klassizistischem Übersetzungsstil geschulten Übersetzer des Sammelbandes haben möglicherweise ein feineres Gespür für „moralisch zweifelhafte“ Textstellen entwickelt Hinzu kommt, dass auch E B .s Übersetzerkollege Gaetano Barbieri sich bereits mit Übertragungen von Goethes Hermann und Dorothea oder Pierre Lebruns Maria Stuart-Bearbeitung als stark von Frankreich geprägter Übersetzer hervorgetan hat Die Textanalyse fördert also die folgenden Ergebnisse zutage: 1) Die durchgehend sehr enge Anlehnung der italienischen Fassung an die syntaktischen und lexikalischen Strukturen des Französischen belegt, dass wir es hier mit einer Aneignung, also einer Reinform der Übersetzung aus zweiter Hand zu tun haben Belegt werden kann diese These insbesondere durch stark ans Französische angelehnte italienische Formulierungen, die die Norm verletzen, Gallizismen oder unangebrachtes französisches Lokalkolorit, ferner durch Übersetzungsfehler, die auf f lüchtigem Lesen der französischen Vorlage 297 Eine ähnlich zurückhaltende Formulierung findet sich in Bezug auf das böse Äpfelweib, das sich Veronika in Gestalt ihrer alten Kinderfrau zeigt, um sich ihr Vertrauen zu erschleichen Wenn es im Original heißt „Veronika in die Arme nehmend “ (Hoffmann, 5 Vigilie, S - 141), so übernehmen Toussenel und Richard diese Geste („pressant Véronique dans ses bras“, Bd -V, S - 129); E B hingegen verwandelt die Umarmung in ein eher gewaltsames Festhalten, da er die herzliche Geste des boshaften Weibes wohl als zu abstoßend empfindet und seinen Lesern nicht zumuten will Er formuliert: „stringendo Veronica pel braccio“ (S -78) 298 Die Höf lichkeitsf loskel salva venia ist hier eigentlich völlig unangebracht, da sich der Konrektor Paulmann in der italienischen Fassung dank der euphemistischen Umschreibung, die ihm der Übersetzer in den Mund gelegt hat, nicht für seine derbe Wortwahl zu entschuldigen hat <?page no="295"?> 3 E. T. A. Hoffmann: Der goldene Topf 295 beruhen 2) Die französische „Zwischenstufe“ weicht strukturell kaum vom Original ab und wahrt insgesamt dessen Geist Sie zeichnet sich aber durch recht eigenständige Formulierungen, eine tendenziell stärkere Segmentierung und eine leicht explikative Tendenz aus, die sich etwa in erläuternden Fußnoten ausdrückt . Das Risiko einer durch die mittelbare Übersetzung bedingte verzerrte Wiedergabe ist also in diesem Fall überschaubar 3) Dennoch konnte die These verifiziert werden, dass die Aneignung, die ohne das Korrektiv des Originals auskommen muss, formale und inhaltliche Verschiebungen gegenüber dem Original begünstigt Dies gilt insbesondere für das Französische als Mittlersprache, da dessen durch starke Abstraktion und Vagheit 299 gekennzeichnete Diskurstradition Übersetzungslösungen nahelegt, die dem italienischen Übersetzer viel Spielraum für eine „verzerrende“ Form der Konkretisierung bieten . 4) Der spezifische Charakter des Hoffmannschen Textes wirft besondere Probleme auf, da er a) einen hohen Grad an sprachlicher Poesie aufweist und b) eine gewisse Kenntnis von Hoffmanns Poetik und deren Einbettung in den Kontext der deutschen Romantik voraussetzt . Bereits die Titel der beiden romanischen Sammelbände sowie der Werktitel selbst zeigen, dass es an Letzterem beiden Übersetzungsunternehmen mangelt 5) Hoffmanns poetische Sprache sorgt besonders in „mythischen“ Passagen für Übersetzungsprobleme, die zu denotativen und konnotativen Verschiebungen führen können So begegnet der französische Übersetzer kulturspezifischen Metaphern mit erläuternden Fußnoten oder lexikalischen Umschreibungen Eine Übernahme solcher Paraphrasen im Italienischen hat nicht immer denselben Effekt (vgl „eine Lilie“ → „une fleur de lys“ → „un fior di giglio“) -6) Lautmalerei und Synästhesie bieten ebenso Anlass für formale und inhaltliche Modifikationen Auch hier hat die französische Zwischenstufe einen verstärkenden Effekt In der Regel nimmt der französische Übersetzer zugunsten der Form leichte inhaltliche Abweichungen in Kauf Die italienische Fassung weist demgegenüber oftmals inhaltliche und formale Verluste auf, da sie sich am französischen Wortlaut orientiert, ohne den zentralen Aspekt der Form zu berücksichtigen 7) Trotz durchweg starker Anlehnung an das Französische weicht der italienische Übersetzer in einem Punkt eigenständig von seiner Vorlage ab: Offenbar aus moralischen Bedenken streicht er solche Textstellen, die er als unschicklich oder derb empfindet 3.6 Randnotiz zu Rezeption und Wirkung der Übersetzung aus zweiter Hand Mit der Neuerscheinung beschäftigen sich Beiträge in diversen italienischen Zeitschriften, darunter der Indicatore Lombardo 300 sowie die oben bereits erwähnte deutschsprachige Zeitschrift Echo. 301 Speziell das Kunstmärchen Der goldene Topf wird allerdings kaum gesondert erwähnt; wenn überhaupt, finden sich lediglich kurze Verweise in literarischen 299 Im Falle der-- ebenso vorkommenden-- Ambiguität, die näher an der Homonymie angesiedelt ist, sieht sich der Übersetzer noch stärker vor ein ‚entweder-- oder‘ gestellt (vgl Heringer 1981, 95) In diesem Fall sollte weniger von „Konkretisierung“ als vielmehr von einer verfehlten Übersetzungsentscheidung die Rede sein 300 Cantù, Ignazio, „Stato della letteratura tedesca nei paesi stranieri“ Indicatore Lombardo I, 1836, 47 f 301 Vgl weiter oben Abschnitt 3 .5, Fußnote 267 <?page no="296"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 296 Zeitschriften, so etwa in einer Rezension der postum veröffentlichten Erzählungen von Achim von Arnim, die 1837 im Indicatore Lombardo 302 erscheint . Die Rezeption der Übersetzung kann also nur im Kontext des gesamten Sammelbandes betrachtet werden, zumal es sich bekanntlich um eine recht disparate Zusammenstellung unterschiedlicher Hoffmannscher Werke handelt Im Rahmen der verlegerischen Rezeption Hoffmanns ist bereits dargelegt worden, dass der Dichter im damaligen Italien noch kaum bekannt ist, zumal dort ohnehin kaum romantische und weniger noch deutsche Autoren rezipiert werden Es fehlt also an der nötigen Kenntnis des literarischen Rahmens, um die Neuerscheinung entsprechend würdigen zu können . Die vorhandenen Ansätze einer italienischen Hoffmann-Rezeption sind überdies im Wesentlichen in direkterer Form über Frankreich vermittelt . So ist das Interesse an Loève-Veimars’ französischen Übersetzungen in der italienischen Presse denn auch vergleichsweise größer als an deren italienischen Folgeübersetzungen . 303 Auch die musikalische Hoffmann-Rezeption nimmt nicht- - wie bei Schillers Räuber[n]- - von Italien, sondern von Frankreich ihren Ausgang: Erinnert sei an die Musikstücke von Hector Berlioz . Die direkte italienische Rezeption setzt wie erwähnt erst rund vierzig Jahre später mit der Künstlergruppe der Scapigliatura ein Zum Abschluss sei mit Nino Erné (1971, 72) auf den Dichter Eugenio Montale verwiesen Dieser schreibe in seiner Besprechung der Neuerscheinung der ersten nahezu vollständigen italienischen Hoffmann-Ausgabe 304 , abgedruckt im Corriere della Sera vom 18 Dezember 1969, „er wisse nicht, ob Hoffmann ‚uno stilista‘ sei, also ein Wortkünstler, ein Meister der Sprache, ein Dichter“ Dieser Satz erhelle „blitzartig, wie groß die Problematik einer wirksamen Übertragung Hoffmanns von Deutschland nach Italien war und offenbar noch immer ist“ (ebd ) 302 Darin schreibt der Rezensent G R . (1837, 153): „Nel quarto [racconto] si crederebbe di trovare a prima giunta l’Anselmo studente, di Hoffmann; ma leggendo oltre non iscorgesi che una mera allegoria: (…)“ 303 So werden sogar französische Rezensionen von Loève-Veimars’ Contes fantastiques übersetzt in italienischen Literaturorganen abgedruckt, wie etwa der weiter oben angeführte Beitrag in Francesco Reglis Werk Scritti editi ed inediti zeigt Vgl hierzu Abschnitt 3 .2 1 dieses Teils der Arbeit 304 E T A Hoffmann, Romanzi e Racconti, a cura di Carlo Pinelli 3 Bde Torino: Giulio Einaudi Editore 1969 <?page no="297"?> 4 Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der-Sitten Die Vermittlerrolle Frankreichs ist nicht nur für die Schöne Literatur der deutschen Romantik, sondern auch für die deutsche Philosophie dieser Epoche von zentraler Bedeutung Immanuel Kant als deren unbestritten einf lussreichster Vertreter bietet sich auch deshalb für die Analyse an, da seine Thesen in der französischen Rezeption eine gewisse Wandlung oder Umdeutung erfahren haben, die auch das italienische Bild des Denkers nachhaltig beeinf lussen sollten . 305 Die Theorien Kants haben sich im Übrigen auch in Schillers Werken niedergeschlagen Schiller rezipierte dessen Theorien eingehend und entwickelte sie weiter, so dass auch die Schöne Literatur von Kants Thesen nicht unbeein- 305 Vgl hierzu Abschnitt 2 .3 .3 .2 im ersten Teil dieser Arbeit <?page no="298"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 298 f lusst bleibt . 306 Besonders den in Kants Moralphilosophie entwickelten Begriff der Pf licht teilt auch Schiller, wie in dessen Abhandlung Über Anmut und Würde von 1793 nachzulesen ist . 307 Unter den Werken des Denkers wären sicherlich auch die Kritik der Urteilskraft aus dem Jahr 1790 und die 1788 erschienene Kritik der praktischen Vernunft lohnende Untersuchungsgegenstände gewesen, die respektive 1846 von Jules Barni sowie 1888 von François Picavet ins Französische übertragen wurden Bei den italienischen Übersetzungen dieser Werke 308 handelt es sich allerdings um eingestandene Formen der Übersetzung aus zweiter Hand, die wenig Anreiz zur Analyse bieten Ergiebiger erscheint es der Verfasserin, bei einer uneingestandenen Form den Nachweis zu führen, und diese Gelegenheit bietet sich bei Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten In der ethischen Schrift, die nach der Erstauf lage von 1785 drei weitere von Kant autorisierte Editionen erlebt 309 , bereitet dieser den Boden für sein zentrales Werk zur Ethik, die Kritik der praktischen Vernunft Bei dieser Form der Literatur muss natürlich der philosophischen Begriffsbildung besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden Nicht umsonst wies bereits Schleiermacher auf die spezifischen Schwierigkeiten der Übersetzung philosophischer Texte hin: Für ihn bilden philosophische Termini ein in sich geschlossenes Begriffssystem, das in einer anderen Sprache so nicht nachgebildet werden kann . 310 Auf Kant trifft diese Beobachtung in besonderem Maße zu: Er hat für sein philosophisches System eine ganz eigene Terminologie entwickelt, die seine romanischen Übersetzer vor eine spezielle Herausforderung stellt Aus linguistischer Perspektive tragen wiederum eben solche Herausforderungen zur Bereicherung der Sprache bei, in die übersetzt wird-- ganz im Sinne der dezidierten Position des Philosophen und Schülers Jules Lacheliers, Émile Boutroux: 311 L’effort de traducteurs intelligents pour faire passer dans leur idiome les nuances de pensée nouvelles pour eux, qu’ils rencontrent dans un autre idiome est l ’un des plus puissants instruments du progrès des langues 306 Mazzucchetti (1913, 175) spricht vom „risoluto kantismo di Schiller nell’età matura“ Solche Bezüge zwischen Kant und Schiller erhalten in der romanischen Rezeption eine ganz eigene Färbung, wenn etwa Mme de Staël in ihrer Abhandlung De l ’Allemagne beide Denker zu einsamen, an ihrer Zeit leidenden Propheten stilisiert . 307 Vgl Schönecker/ Wood 2007, 73 Schiller und Kant haben sogar wechselseitig ihre Werke kommentiert So weist Kant in der zweiten Auf lage seiner Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft von 1794 auf Schillers Abhandlung Über Anmut und Würde hin und äußert sich zu Schillers Einwänden in Bezug auf seine Moralphilosophie Vgl Kant 1794/ 1979, 1127 (Anm 490) 308 Die italienischen Fassungen wurden 1907 von Alfredo Gargiulo (Critica del Giudizio) und 1909 von Francesco Capra (Critica della ragion pratica) angefertigt Vgl Abschnitt 3 .2 1 und 3 .2 .2 der Überblicksdarstellung der Übersetzungen aus zweiter Hand im zweiten Teil dieser Arbeit 309 1786, 1792 und 1797 erscheint jeweils eine Neuauf lage der Grundlegung, gefolgt von vier Nachdrucken, 1791 und 1794 in Frankfurt und Leipzig, 1796 in Grätz sowie 1801 in Frankfurt und Leipzig Vgl Paul Menzers „Einleitung“ zum IV . Band der Berliner Akademie-Ausgabe (Menzer 2 1911, 630) 310 In seiner Abhandlung „Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens“, die er am 24 Juni 1813 in der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin vorlas, schreibt Schleiermacher (1813/ 1963, 65) über die Sprache der Philosophie: „Hier mehr als irgendwo enthält jede Sprache ( . . ) doch Ein System von Begriffen in sich, die eben dadurch daß sie sich in derselben Sprache berühren, verbinden, ergänzen, Ein Ganzes sind, dessen einzelnen Theilen aber keine aus dem System anderer Sprachen entsprechen, kaum Gott und Sein, das Urhauptwort und das Urzeitwort abgerechnet“ 311 Émile Boutroux, Études d’histoire de la philosophie allemande, S -193 Zit nach Espagne 2004, 166 <?page no="299"?> 4 Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 299 4.1 Zu Kants Original im Kontext seines Gesamtwerkes Der Lebensstil Kants hat wenig gemein mit Mme de Staëls Klischeebild des einsamen, an seiner Zeit leidenden Propheten . 312 Tatsächlich lebte Kant keineswegs zurückgezogen, sondern nahm am gesellschaftlichen Leben teil und galt als geistreicher Unterhalter Erst im Alter wandelte sich sein Lebensstil (vgl Höffe 2007, 29; 42) Vor allem aber beteiligte er sich maßgeblich an politischen Reformbewegungen in seinem Land So berichtet Langer (1986, 12 f ), dass er zusammen mit Christian Jacob Kraus in Königsberg einen regelmäßigen Mittagstisch mit Reformern aus der Verwaltung abhielt, um auf dem Wege einer Reform von oben in Preußen die Prinzipien einer republikanischen Verfassung durchzusetzen Insofern ist Otfried Höffe (2007, 19) nur mit Vorbehalt zuzustimmen, wenn er postuliert: „Kant ist nur durch sein Werk zu verstehen, in dem er mit unbeirrbarer Strenge und einer fast unheimlichen Ausschließlichkeit aufgeht Dieses Werk heißt Wissenschaft, vor allem Vernunftwissenschaft: die Erkenntnis der Natur und Moral, des Rechts, der Religion, Geschichte und Kunst aus Prinzipien a priori“ . Hier soll aber von Kants politischer Aktivität abgesehen und in erster Linie versucht werden, die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten in sein Gesamtwerk einzubetten Vorauszuschicken ist zunächst, dass Kant als Vertreter der deutschen Auf klärung- - im Gefolge Leibniz’, Christian Thomasius’ und Christian Wolffs-- kaum noch das gelehrte Latein verwendet, sondern seine Werke überwiegend auf Deutsch verfasst . 313 Dabei hebt sich die Fachterminologie seiner kritischen Philosophie von der bisher gebräuchlichen philosophischen Fachsprache ab, da er zum einen neue Termini schafft und zum anderen die vorhandenen Termini mit einem neuen Bedeutungsgehalt füllt . 314 Der wiederkehrende Verweis auf die „dunkle Sprache“ Kants ist allerdings ein Relikt des im 19 . Jahrhunderts vorherrschenden Neukantianismus und muss zumindest relativiert werden . Schließlich basieren Kants Schriften auf lateinischen Vorlagen, es gibt also eine Parallelität zwischen dem lateinischen und dem deutschen Ausdruck . Zentrale Begriffe Kants gehen auf ältere Aristotelische oder Platonische Termini zurück, andere entstammen der ebenfalls auf lateinischer Begriff lichkeit fußenden Wolffschen Schulmetaphysik, die er mit neuem Inhalt besetzte Anstatt neue Termini zu prägen, zog er es nach eigenem Bekunden vor, sich in einer alten, gelehrten Sprache umzusehen und das ganze Bedeutungsspektrum von Ausdrücken zu erfassen (vgl Irrlitz 2 2010, 146) . 315 312 Zu Mme de Staëls Vorstellung von Kant vgl Abschnitt 2 .3 .3 .2 im ersten Teil dieser Arbeit 313 Vgl etwa Höffe 2007, 24 314 Zu Kants philosophischer Sprache vgl Frigo 1994, 171 f In seiner „Vorbemerkung des Herausgebers“ zu Kants für die Terminologiebildung entscheidender Kritik der reinen Vernunft betont Timmermann (1998, XIX), Kants Sprache sei schon für seine deutschsprachigen Zeitgenossen befremdlich gewesen und gebe heutigen Lesern nicht selten Rätsel auf 315 Als Beispiel lässt sich der Terminus Wille anführen, der bei Kant drei unterschiedliche Bedeutungen hat (und den er von der freien Willkür als Erscheinung der Natur und nicht des Willens abgrenzt): Der deutschen Bezeichnung stehen verschiedene lateinische Bedeutungen („voluntas“, „arbitrium“, „iudicium“ etc ) gegenüber Kants einheitlicher Gebrauch des Terminus bewegt sich innerhalb des lateinischen Bedeutungsspektrums, ist also jeweils unterschiedlich zu interpretieren, aber keineswegs „dunkel“ . <?page no="300"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 300 Gerade in der 1785 erschienene Schrift Grundlegung zur Metaphysik der Sitten geht es Kant um „Klärung der umlaufenden Begriffe und Abwehr der Anmaßungen unpassender Begriffe“ (Irrlitz 2 2010, 278) Diese ist übrigens nicht zu verwechseln mit der erst zwölf Jahre später veröffentlichten Metaphysik der Sitten (1797), seinem dritten ethischen Hauptwerk nach der Kritik der praktischen Vernunft, in der er seine Rechts- und Tugendlehre entwickelt . 316 Innerhalb der vier Kantischen Fragen 317 , die die Philosophie in ihrer praktischen Auffassung als „Weltbegriff “ 318 in vier Teildisziplinen gliedern, ist die Grundlegung der zweiten Frage, „Was soll ich tun? “, zugeordnet, die ihre Antwort in Kants Ethik oder Moraltheorie findet . Nachdem Kant sich bis zum Erscheinen seiner Kritik der reinen Vernunft im Jahr 1781 schwerpunktmäßig der theoretischen Philosophie gewidmet hat, ist diese Schrift die erste, die moralphilosophische Fragen ins Zentrum stellt . 319 Für eine vergleichende Übersetzungsanalyse ist sie auch deshalb von besonderem Interesse, da Kant bei der darin unternommenen Grundlegung seines moralphilosophischen Systems auf größere Schwierigkeiten als angenommen stößt und diese Schwierigkeiten zum Teil im Text noch erkennbar sind Im Gegensatz zur drei Jahre später errschienenen Kritik der praktischen Vernunft, die auf dieser Grundlegung fußt, ist das Werk nicht durchgehend homogen, sondern gibt durch seine Begriff lichkeit und Argumentation Anlass zu zahlreichen neuen Fragen und Einwänden . Höffe ( 3 2000,- 9) formuliert zugespitzt: Im Laufe ihrer Wirkungsgeschichte hat die Grundlegung sogar derart viele Einwände auf sich gezogen, daß ein Außenstehender fast glauben könnte, die Bedeutung der Schrift liege nicht in der Klarheit ihrer Begriffe und der Stärke ihrer Argumente, sondern in der Stärke ihres philosophischen Anspruches- - und der Schwäche, den Anspruch begriff lich-argumentativ einzulösen Ein Ausgangstext, der bereits dem Verständnis der deutschsprachigen Leser so viele Schwierigkeiten entgegensetzt, stellt umso höhere Anforderungen an die logischen und sprachlichen Fähigkeiten der Übersetzer, die durch die Gestaltung der philosophischen Termini in ihrer Sprache die Rezeption im Zielland der Übersetzung entscheidend mit- 316 Der Wortlaut des Titels kann durchaus Verwirrung stiften, denn, wie Schönecker und Wood (2007, 13) erläutern: „Der Begriff der ‚Metaphysik der Sitten‘ hat (…) eine dreifache Bedeutung: Erstens ist es ein Oberbegriff, der das ganze Unternehmen von Kants Ethik a priori bezeichnet und zu der auch die GMS [Grundlegung zur Metaphysik der Sitten] gehört (…); zweitens heißt auch die ‚künftige‘ Rechts- und Tugendlehre Metaphysik der Sitten ( . . ); und drittens nennt Kant einen speziellen Teil der GMS selbst wieder ‚Metaphysik der Sitten‘“ 317 Bekanntlich sind dies die erkenntnistheoretische Frage Was kann ich wissen? , die ethische Frage Was soll ich tun? , die religionsphilosophische Frage Was darf ich hoffen? und die anthropologische Frage Was ist der Mensch? Vgl z B Wenzel 1801, 81 f 318 Von diesem „Weltbegriff “, in dem die Philosophie als eine durch Nützlichkeit gekennzeichnete „Lehre der Weisheit“ aufgefasst wird, unterscheidet Kant den „Schulbegriff “ der Philosophie, den er selbst in seiner Logik als ein System von „Vernunfterkenntnissen aus Begriffen“ fasst 319 Genau genommen hat sich Kant bereits 1764 in seiner Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral erstmals mit moralphilosophischen Problemen befasst, wenn auch nur kurz im letzten Abschnitt Zu Inhalt und Entstehungsgeschichte der Kantischen Schrift vgl Vorländer 1965, V-X XVII <?page no="301"?> 4 Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 301 bestimmen Die Bedeutung solcher philosophischer Termini zeigt sich schon anhand des Schlüsselbegriffs „Metaphysik“, zumal dieser in der französischen Kant-Rezeption zu einigen Missverständnissen Anlass gegeben hat . Im Gefolge Mme de Staëls wird die deutsche Metaphysik mit der griechischen, vor allem Platonischen Philosophie in Verbindung gebracht und als esoterisch, gefühlsbetont und „spiritualiste“ dem französischen Sensualismus entgegengesetzt Von Spiritualismus 320 kann bei Kant allerdings keine Rede sein, denn für ihn gehört das Übersinnliche und Jenseitige zum Bereich des Glaubens, der Betrachtung der praktischen Vernunft Er grenzt sich ausdrücklich von der dogmatischen, weil transzendierenden Metaphysik ab, die er als „Scheinwissenschaft“ betrachtet, und postuliert dagegen als einzig mögliche Form die kritisch-immanente Metaphysik, die „Wissenschaft von den allgemeinsten, apriorischen, der Erfahrung zugrunde liegenden, transzendentalen Begriffen“ (Eisler 1904/ 3 1910) Die Metaphysik als reine, apriorische Philosophie hat in ihrer „materialen“ Ausprägung zwei klar abgegrenzte Gegenstandsbereiche: einen theoretischen Teil, die Metaphysik der Natur, und einen praktischen Teil, die Metaphysik der Sitten (vgl . Ritter 2010, 19716) . Kant bezieht den Begriff also erstmals auch auf den praktischen Erkenntnisbereich . 321 Die Metaphysik der Sitten darf, wie Vorländer (1924, XVIII) eine Überlegung aus Kants Vorrede 322 zusammenfasst, nicht in die Nähe der Moralpsychologie gerückt werden, denn [w]ie die theoretische Transzendentalphilosophie das reine Denken, so will die Metaphysik der Sitten vielmehr ‚die Idee und die Prinzipien eines möglichen reinen Willens’ untersuchen (…), nicht dagegen die psychologischen Bedingungen des menschlichen Wollens und Handelns überhaupt, etwa nach Art der ‚allgemeinen praktischen Weltweisheit‘ der Wolffianer Kommen wir nun zu Auf bau und Kernaussagen des Werkes Innerhalb von Kants übergeordnetem Unternehmen einer Metaphysik der Sitten bildet die Grundlegung den ersten Teil, der bereits deren Hauptfrage beantwortet Den zweiten Teil stellt sein späteres Werk Metaphysik der Sitten dar, das seine Rechts- und Tugendlehre enthält und damit das in der Grundlegung entwickelte Prinzip auf das ganze System anwendet . 323 Aufgabe der Grundlegung ist die Entwicklung des kategorischen Imperativs als Prinzip der Ethik Der Werktitel „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ ist dabei durchaus wörtlich zu nehmen: Es handelt sich nämlich noch nicht um eine abgeschlossene Grundlegung dieses Prinzips, sondern nur um die Aufsuchung oder Freilegung dieser Grundlegung, und 320 Eisler (1904/ 3 1910) definiert Spiritualismus als „die metaphysische Ansicht, daß die absolute Wirklichkeit Geist, geistig, seelisch sei, aus einer Summe von geistigen Wesen [den berühmten ‚Monaden‘ nach Leibniz] bestehe, so daß das Körperliche nur eine Erscheinung des Geistigen, eine Objektivation oder ein Produkt der Seele sei“ (http: / / www .textlog .de/ 4434 .html) 321 Der Gebrauch der Bezeichnung „Metaphysik “ ist bereits vor Kant belegt und lässt sich bis in die Aristotelische Zeit zurückverfolgen Vgl den Eintrag „Metaphysik “ in Ritters Historische[m] Wörterbuch der Philosophie (2010, 19524-19797; Buchausgabe Band 5, 1187-1279) 322 Darin heißt es wörtlich: „Denn die Metaphysik der Sitten soll die Idee und die Principien eines möglichen reinen Willens untersuchen, und nicht die Handlungen und Bedingungen des menschlichen Wollens überhaupt, welche größtentheils aus der Psychologie geschöpft werden“ (Kant 2 1786, Vorrede, unpagin ) 323 Zu den folgenden Ausführungen vgl Schönecker/ Wood 2007, 13 ff Zum kategorischen Imperativ vgl ferner Paton 1971 . <?page no="302"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 302 dazu legt Kant in den drei Abschnitten seines Werkes drei Zugänge dar . Die Abschnitte sind in der Vorrede der Ausgabe von 1786 324 (ebd ., unpagin ) wie folgt überschrieben: Erster Abschnitt: Uebergang von der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntniß zur philosophischen Zweyter Abschnitt: Uebergang von der populären Moralphilosophie zur Metaphysik der Sitten Dritter Abschnitt: Letzter Schritt von der Metaphysik der Sitten zur Critik der reinen practischen Vernunft In den ersten beiden Abschnitten- - der „Aufsuchung“ des kategorischen Imperativs- - geht es darum, die Bedeutung zentraler ethischer Grundbegriffe zu bestimmen Die Leitfrage lautet hier, was sinnvollerweise als Inhalt von Moral und Ethik zu verstehen ist, und sie findet ihre Antwort in den kategorischen Imperativen Dabei gründet sich der im ersten Abschnitt beschriebene Zugang auf das Alltagsdenken, den common sense 325 als Leitfigur des auf klärerischen Denkens, während der im zweiten Abschnitt dargelegte von der populären sittlichen Weltweisheit ausgeht, wie sie die Schulphilosophie mit ihrem rationalen Zugang zur Welt und zur Begriffsbildung vertritt Deren wichtigste Vertreter Leibniz und Wolff übertrugen die philosophischen Termini aus dem Lateinischen ins Deutsche Der dritte Abschnitt-- die „Festsetzung“ des kategorischen Imperativs-- beschäftigt sich mit der Frage, ob es tatsächlich moralische Begriffe gibt, also der Frage nach der Wahrheit und Realität der zuvor untersuchten Begriffe . Es handelt sich um den wissenschaftlichen Zugang zum Programm der praktischen Vernunft In den ersten beiden Abschnitten kommt Kant zu dem Ergebnis, dass moralisches Handeln ein Handeln um der Moralität selbst willen ist, d h unabhängig von unserem jeweiligen persönlichen Interesse sein soll Die Fähigkeit, auch losgelöst von diesem handeln zu können, nennt er die reine praktische Vernunft Mit dieser rationalistischen Haltung wendet Kant sich gegen die empiristische Tradition David Humes, für die vernünftiges Handeln immer interessegeleitet sein muss Voraussetzung für das Vermögen der reinen praktischen Vernunft ist die Idee der Freiheit, d h der Mensch ist frei, moralisch zu handeln Im dritten Abschnitt zeigt Kant aber nicht nur, dass der Mensch moralisch handeln kann, sondern er begründet auch, warum er moralisch handeln soll-- eine Hauptaufgabe der sogenannten „Deduktion“ Der Freiheitsbegriff, den Kant im dritten Teil entwickelt, die Idee des freien Willens, setzt im Übrigen eine besondere Perspektive voraus, aus deren Missachtung auch die Verständnisschwierigkeiten hinsichtlich der Kantischen Terminologie erwachsen, die uns im Folgenden noch beschäftigen sollen . Vorländer (1924, XXIII) grenzt die verschiedenen Ebenen von Kants Begriff lichkeit, gewissermaßen die „sinnliche“ und die „metaphysische“ Ebene, klar gegeneinander ab: 324 Diese Auf lage liegt der renommierten Berliner Akademie-Ausgabe zugrunde und soll deshalb hier herangezogen werden 325 Vgl hierzu etwa Irrlitz 2 2010, 29 f <?page no="303"?> 4 Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 303 Es ist eben ein anderer Standpunkt (…), den wir damit einnehmen: der des Dinges an sich (der Intelligenz, unseres eigentlichen Selbst) gegenüber der Erscheinung (dem sinnlichen Ich), der Vernunft und der Idee gegenüber Sinnlichkeit und Verstand, der intellektuellen (intelligibelen, Verstandes-) gegenüber der Sinnenwelt Ja, in gewissem Sinne ist (…) die Verstandeswelt der ‚Grund‘ der Sinnenwelt und der reine Wille die ‚oberste Bedingung‘ des durch sinnliche Begierden affizierten Willens (…) Mit Blick auf das folgende Kapitel sei abschließend darauf verwiesen, dass die Aufnahme von Kants Werk nicht losgelöst vom neukantianischen Rezeptionskontext betrachtet werden darf, der das Kant-Verständnis und damit auch die übersetzerische Rezeption steuert Seit den sechziger Jahren des 19 Jahrhunderts ist der Neukantianismus nicht nur in Deutschland vorherrschend, sondern findet auch in Frankreich und Italien- - wenn auch nicht im gleichen Umfang wie in Deutschland- - Verbreitung . 326 Im Zuge dieser programmatischen Rückbesinnung auf Kant wird dieser vor allem von der Kritik der reinen Vernunft her verstanden, während die kritische Begründung einer neuen Metaphysik auf der Grundlage der praktischen Vernunft in den Hintergrund tritt (vgl . Höffe 2007, 302) So geraten Unterscheidungen wie die zwischen spekulativer, theoretischer und praktischer Metaphysik zunehmend in Vergessenheit . 327 4.2 Rezeptionskontext in Frankreich und Italien im 19. und frühen 20.-Jahrhundert 4 .2 1 Bild Kants und Rezeption seiner Schriften In Frankreich bildet Kant den wichtigsten Bezugspunkt zur deutschen Philosophie, andere dort bekannt gewordene deutschsprachige Philosophen werden meist in Beziehung und in Abgrenzung zu ihm rezipiert . 328 Die einzelnen Aspekte der französischen Kant- Rezeption, von denen einige bereits im Rahmen des Abschnitts zur Rezeption deutscher Philosophie in Frankreich behandelt worden sind 329 , sollen an dieser Stelle zu einem organischen Gesamtbild zusammengefügt werden Espagne und Werner (1985, 505) führen Kant als Paradebeispiel dafür an, wie „[d]ie Konjunktur des Rezeptionslands (…) zuweilen im Laufe weniger Jahre eine fremde Überlieferung völlig umdeuten [kann]“: Nachdem der Königsberger Denker zunächst durch Charles de Villers zum Exponenten eines restaurativen, auf klärungsfeindlichen Idealismus stilisiert worden sei, werde 326 Zum Neukantianismus vgl den Eintrag in Joachim Ritters Historische[m] Wörterbuch der Philosophie (2010, 22623-22643; Buchausgabe Band 6, 748-754) In Deutschland seien stellvertretend Hermann Cohen und Paul Natorp als Exponenten der Marburger Schule sowie Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert als Vertreter der badischen oder südwestdeutschen Schule genannt Der französische Neukantianismus ist weitgehend gleichzusetzen mit der von Charles Renouvier, Octave Hamelin und Léon Brunschwicg getragenen Bewegung des néo-criticisme Für Italien ist auf die Neukantianer Carlo Cantoni, Filippo Masci und Felice Tocco zu verweisen 327 Diesen und zahlreiche andere wertvolle Hinweise zu Kant und seiner Grundlegung verdankt die Verfasserin Herrn Prof Dr Hans Friedrich Fulda, Heidelberg 328 Vgl Espagne 2004, 231 329 Vgl Abschnitt 2 .3 .3 .2 im ersten Teil der vorliegenden Arbeit <?page no="304"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 304 er kurz darauf von den Idéologues als strenger Rationalist und Wegbereiter ihrer Denkrichtung vereinnahmt . 330 Dass Mme de Staël im Kielwasser Villers’ Kants Metaphysik als idealistische, tiefsinnige und gefühlsbetonte Philosophie auffasst, die einen willkommenen Gegenpol zum vorherrschenden Sensualismus in Frankreich bildet, ist weiter oben bereits deutlich geworden . 331 Den Vorwurf des Atheismus, der im katholischen Frankreich gegenüber der deutschen Philosophie gern erhoben wurde, versucht sie mit dem Argument zu entkräften, Kant postuliere die Unanwendbarkeit der Metaphysik „[à] toutes les questions qui tiennent à l ’existence de Dieu, au libre arbitre, à l ’origine du bien et du mal“ (Staël 1844, 184) Durch vereinfachende Aussagen wie die folgende verleiht sie Kants Thesen so einen spiritualistischen Anstrich (ebd ): N’est-ce donc pas une belle idée à un philosophe, que d’interdire à la science même qu’il professe l ’entrée du sanctuaire, et d’employer toute la force de l ’abstraction à prouver qu’il y a des régions dont elle doit être bannie? Mme de Staëls besonderes Augenmerk gilt entsprechend Kants Moralphilosophie, und hier vor allem der Critique du jugement, die sie in De l’Allemagne (1810) ausführlich bespricht Doch trotz ihrer Bemühungen stehen die Franzosen der deutschen Identitätsphilosophie und damit auch Kant skeptisch gegenüber, da sie darin eine Art Nihilismus zu entdecken glauben, der ihrer positivistischen Denkungsart widerspricht . 332 Und so ruft auch die zweibändige Abhandlung des Lothringers Charles de Villers in Frankreich wenig positive Resonanz hervor . 333 Angesichts des Kulturzentrismus der französischen Philosophen, den u a auch Villers anprangert 334 , kann die Kenntnis des philosophischen Hintergrunds von Kants Schriften dort nicht vorausgesetzt werden Eine zusätzliche Hürde bildet Kants oft als dunkel und unverständlich empfundene Sprache, die zu Diskussionen über die Übersetzbarkeit seiner Schriften Anlass gibt und ihn bei den französischen Idéologues in den Geruch einer zumindest sprachlichen Nähe zur Scholastik bringt Als Wissenschaftler, die der auf klärerischen französischen Tradition verpf lichtet sind, begegnen diese Kants Sprachduktus ebenso wie seiner Metaphysik naturgemäß mit 330 Espagne und Werner (ebd ) verweisen auf Villers’ Abhandlung Philosophie de Kant ou Principes fondamentaux de la Philosophie transcendentale, Metz, 1801 sowie auf die Procès-verbaux de l ’Institut de France der Jahre 1801 und 1802 331 Vgl die Ausführungen in Abschnitt 2 .3 .3 .2 im ersten Teil dieser Arbeit zu Staëls Manifest De l ’Allemagne, dessen dritter Teil („La philosophie et la morale“) sich u a mit der Philosophie Kants befasst 332 Vgl Espagne 2004, 388 333 Eine Randnotiz wert ist die Tatsache, dass Villers während eines Paris-Aufenthalts im Jahr 1801 sogar Napoleon Bonaparte für Kants Philosophie interessieren konnte Auf dessen Aufforderung hin liefert er Napoleon einen äußerst knappen, auf zwölf Kleinoktavseiten beschränkten Abriss der „Grundlagen und der Richtung“ von Kants Thesen Dennoch gelingt es Villers nicht, Napoleon von seiner geringschätzigen Haltung der deutschen Philosophie gegenüber abzubringen Vgl Vorländer 1924, Kapitel „Ausbreitung der Kantischen Philosophie in Italien und Frankreich“ 334 Villers (1801, LX) beklagt in seiner Préface die Geisteshaltung der französischen Denker, „une ignorante partialité qui repousse toute lumière venant du dehors“, die auch im Hinblick auf Kant seltsame Blüten treibt: „Ainsi plusieurs se sont déjà révoltés en France contre la philosophie critique, sans la connaître, s’imaginant y voir le retour de la scholastique, qu’ils ne connaissent pas davantage“ (ebd LIX) . <?page no="305"?> 4 Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 305 einigem Misstrauen . 335 Die Komplexität von Kants Sprache und Terminologie schlägt umso stärker zu Buche, als die zeitgenössischen französischen Intellektuellen noch über wenig Deutschkenntnisse verfügen So muss selbst der große Kant-Botschafter Victor Cousin bei seinen Übersetzungen auf Borns lateinische Fassung 336 zurückgreifen . Und die Kant-Übersetzer der ersten Stunde Claude-Joseph Tissot und Jules Barni 337 eignen sich die deutsche Sprache eigens für ihre Übersetzungen an, quasi direkt anhand der Texte Kants Barni erwirbt sich so den Ruf eines Experten der Kantischen Terminologie . Da die französischen Kant-Übersetzer größtenteils Philosophen und Wissenschaftler sind, ist es naheliegend, dass sie seine Texte aus ihrer eigenen Weltsicht heraus interpretieren und vor einem bestimmten kulturellen Erwartungshorizont übersetzen . Bedingt durch ihren auf klärerischen Hintergrund sind sie meist bestrebt, „dunklen“ Textstellen die nötige clarté zu verleihen Es ist also zu erwarten, dass sie-- stärker noch als die Übersetzer Schöner Literatur-- die Form den herrschenden Vorstellungen gemäß dem französischen Erwartungshorizont anpassen, um so den Inhalt klarer hervortreten zu lassen Die Französische Revolution bildet den Hintergrund für die deutsche Rezeption Kants als Begründer einer humanistischen und moralisch idealistischen Weltsicht . Zu dieser Zeit ist Kant in Frankreich vor allem als politischer Denker gefragt, der für die neue republikanische Ordnung eintritt und in der grundlegenden Forderung nach einer Herrschaft des Rechts die moralische Natur der Menschheit verwirklicht sieht . So erscheinen um die Wende zum 19 Jahrhundert Übersetzungen einiger seiner Essays und Exzerpte seiner Schriften Als Erstes kommt Kants Abhandlung Zum ewigen Frieden in französischer Übersetzung heraus . 338 Sie wird 1798 in Auszügen im offiziellen Blatt Le Moniteur abgedruckt und weckt so bei einer Reihe von französischen Gelehrten das Interesse für Kants Schriften Noch im selben Jahr wird vom Pariser Institut National ein Kant-Kolloquium initiiert, bei dem Wilhelm von Humboldt eine Vorlesung über Kants Philosophie hält Übrigens ist es kein Geringerer als Schiller 339 , der Humboldt für die Thesen des deutschen Denkers gewonnen hat Im Zentrum der Kant-Rezeption stehen um 1800 bereits dessen beide ersten „Kritiken“, die erst in den 1830er Jahren in französischer Übersetzung vorgelegt werden: Die Kritik der reinen Vernunft erscheint in der Übersetzung von Jules Barni (1829) 340 und in der späteren Version von C J . Tissot 335 Vgl dazu auch Frigo 1994, 170 336 Friedrich Gottlob Born, Immanuelis Kantii Opera ad philosophiam criticam, 4 Bde Leipzig: Schwieckert, 1796-1798 337 Zu den beiden französischen Übersetzern vgl das Kapitel „De Tissot à Barni“ bei Espagne (2004, 256-263) 338 Genau genommen wird Kants Friedensschrift sogar dreimal ins Französische übersetzt: Nachdem die erste, im selben Jahr in Bern erschienene Fassung das Original nur sehr schlecht und verzerrt wiedergab und auch die 1796 in Paris publizierte Übersetzung nicht ganz vollständig war, wird ebenfalls 1796 eine von Kant selbst und seinem Verleger Nicolovius betreute Ausgabe herausgegeben, die bereits die zweite Originalauf lage berücksichtigt Vgl Vorländer 1924 (UR L: http: / / www .textlog .de/ 36570 html) sowie Klemme 1992, LVII und Höffe 2007, 298 339 Schon am 19 Februar 1795 schreibt Schiller an den Kant-Übersetzer Louis-Ferdinand Huber: „Je crois avec toi que la philosophie kantienne devrait aujourd’hui rencontrer en France un bon accueil et je ne m’étonnerais point même qu’elle y fut accueillie avec entousiasme“ Zit nach Bourel 1994, 20 340 Critique de la Raison pure/ Immanuel Kant; Traduction J Barni; revue et corrigée par P Archambault 2-vol . Paris: Flammarion 1829 . <?page no="306"?> III Exemplarische Übersetzungsanalyse 306 (1835-36) 341 , die Kritik der praktischen Vernunft in Jules Barnis Fassung von 1848 . 342 Ein Kuriosum darf dabei im Rahmen der Thematik Übersetzung aus zweiter Hand nicht unerwähnt bleiben Bei ihren Fassungen der Kritik der reinen Vernunft dürften nämlich sowohl Tissot als auch Barni neben der schon erwähnten lateinischen Fassung Borns auch die 1820-22 erschienene italienische Übersetzung des Cavaliere Vincenzo Mantovani 343 zu Rate gezogen haben . 344 Bei Barni geschieht dies aus naheliegenden Gründen, da seine Familie italienischer Herkunft ist; aber auch bei Tissot liegt die Vermutung nahe, zumal dieser in seinem Vorwort auf diese italienische Fassung verweist Hier wird deutlich, dass das Französische trotz allem nicht das Monopol als „Relaissprache“ besitzt, sondern auch das Italienische mitunter als Vermittlerin des Deutschen in die romanischen Sprachen auftritt 1842 werden Victor Cousins berühmte Vorlesungen von 1820 verlegt Der Einf luss von Kants kritischer Philosophie zeigt sich dann zehn Jahre später mit Charles Renouvier und Jules Lachelier, die anhand seiner Thesen eine Gegenbewegung gegen den in Frankreich vorherrschenden Positivismus propagieren . Ganz im Gegensatz zu Mme de Staël, für die Kant der Inbegriff eines deutschen Denkers ist, hält Renouvier Kant für einen untypischen deutschen Philosophen, der in seiner Heimat wegen seiner spekulativen Thesen nicht geschätzt werde und dessen Philosophie daher in Frankreich Zuf lucht gesucht habe, wo sie nun in Opposition sowohl zum Positivismus als auch zu mystischen Lehren stehe . 345 Festzuhalten bleibt also, dass Kants Thesen in Frankreich den Bedürfnissen unterschiedlicher Denkrichtungen angepasst werden und so verschiedene Umdeutungen erfahren Dabei sind seine französischen Interpreten in altbekannter klassizistischer Manier darauf bedacht, seine Thesen im Namen größtmöglicher clarté zu „perfektionieren“ Espagne (2004, 171) bringt diese Haltung auf den Punkt: „Les philosophes français de la seconde moitié du XIX e siècle pensent certes à partir de Kant, mais avec le souci obsessionnel de le compléter ou de combler ses prétendues lacunes“ In Italien macht sich der französische Einf luss in der frühen Phase der Kant-Rezeption, wohl auch im Gefolge der Französischen Revolution, deutlich bemerkbar Ohnehin gibt dort Frankreich auf philosophischer Ebene noch weitaus stärker den Ton an als auf literarischer, wo bekanntlich die Traditionen des eigenen Landes stärker ins Gewicht fallen So findet hier eine erste Annäherung an Kants Thesen, wenn man einmal von Borns lateinischer Übersetzung absieht, vornehmlich durch Villers’ oben erwähnte Abhandlung statt Sowohl dem umfassenden Werk selbst als auch der Reaktion, die es bei den französischen Idéologues auslöst, wird in Italien große Beachtung ge- 341 Critique de la raison pure/ Immanuel Kant; trad sur la 7 e éd par C J Tissot 2 Vol Paris: Ladrange, 1835-36 342 Critique de la raison pratique: précédé des Fondements de la métaphysique des mœurs/ Immanuel Kant; trad par J Barni Paris: Ladrange, 1848 . 400 p 343 Critica della ragione pura di Manuele Kant, tradotta dal tedesco dal Cav V [incenzo] Mantovani Pavia: Pietro Bizzoni Tom . I-III: 1820, pp 275; 279; 258 Tom IV-VIII: 1822, pp 291; 240; 266; 239; 277 (Collezione dei Classici Metafisici) 344 Diese Vermutung äußert etwa Espagne (2004, 263) Mantovani selbst hat aber bei der Abfassung seiner Übersetzung seinerseits auch Interpretationen und Anregungen aus den damals verfügbaren autoritativen französischen Quellen aufgenommen, so etwa aus den Arbeiten von Charles de Villers und Marie-Joseph Dégerando 345 Vgl Espagne 2004, 301 <?page no="307"?> 4 Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 307 schenkt Als 1803 der einf lussreiche Philosoph Francesco Soave das erste Kant-Buch veröffentlicht 346 , in dem er vor dessen zersetzendem Einf luss warnt, stützt er sich auf Villers’ Essay, aus dem er oft wörtlich zitiert Trotz vorhandener Deutschkenntnisse und verfügbarer französischer Übersetzungen von Kants Schriften beurteilt Soave dessen Werk ausschließlich auf der Grundlage dieser französischen Quelle Seine ablehnende Haltung gegenüber Kants Kritizismus als „Filosofia (…) tendente a distruggere tutte le idee e le massime più fermamente stabilite così nelle pratiche Scienze, come nelle specolative“ (Soave 1803, 3) 347 ist symptomatisch für das vorherrschende gesellschaftliche und kulturelle Klima im Italien der Napoleonischen Zeit, in dem man den scholastischmetaphysischen Tendenzen der deutschen Philosophie mit einer grundsätzlichen Skepsis begegnet . 348 So fällt schließlich 1817 auch Villers’ Philosophie de Kant der allgemeinen Angst vor einer Gefährdung von Politik, Moral und Religion zum Opfer und wird von der Inquisition verboten . 349 In den ersten Jahrzehnten des 19 Jahrhunderts, also in der napoleonischen Ära und zu Beginn der Restauration, herrschen in Italien unter dem Einf luss der französischen Idéologues Empirie und Sensualismus vor, die von den Ideen John Lockes und Condillacs 350 getragen werden Die italienischen Ideologen lehnen Kant in scharfer Form ab, wie das Beispiel Melchiorre Gioias zeigt: In seiner Ideologia esposta 351 zeichnet dieser das Bild eines düsteren, undurchsichtigen Gelehrten, der zwar die Deutschen begeistern kann, dem die Italiener aber erst huldigen werden, wenn sie ihm offen ins Gesicht sehen können: Kant si presentò alla Germania involto in una nube di parole scientifiche, e dapprima eccitò la sorpresa, poscia l ’adorazione In Italia prima di piegare il ginocchio si vuol vedere l ’idolo in faccia: io ricuso dunque di fare in questo scritto ulteriori parole di Kant, e ripeto Fiat lux Ihm verdanken die Italiener denn auch das gef lügelte Wort: „l ’Italia non s’inkanta! “ . Es ist der Philosoph Pasquale Galluppi (1770-1846), der wenig später seine Landsleute auf Kant aufmerksam macht; er geht zwar über Condillacs Sensualismus hinaus, nimmt Kants Denken trotz seiner Aufgeschlossenheit aber nur zurückhaltend auf . 352 Als weitere Kantianer dieser Periode sind Alfonso Testa (1784-1860) 353 und Ottavio Colecchi 346 Francesco Soave, La Filosofia di Kant esposta ed esaminata da Francesco Soave C. R. S. Modena: Sogliani, 1803 347 Das Zitat entstammt Soaves Widmung an den Vizepräsidenten der Cisalpinen Republik, Melzi d’Eril („Al Cittadino Francesco Melzi d’Eril, vice-presidente della Repubblica Italiana“) 348 Vgl etwa Frigo 1994, 170 sowie Landolfi Petrone 2001, 471 349 Vgl hierzu Balbiani 2007, 206, die anmerkt, dass kurze Zeit später auch die erste italienische Übersetzung der Kritik der reinen Vernunft von der Zensur geprüft und 1827 auf den Index gesetzt wird 350 Condillacs Ideen finden durch Gian Domenico Romagnosi im Norden und durch Antonio Genovesi im Süden Italiens Verbreitung 351 Gioia 1822, 4 (Tomo I, cap I, art I) 352 Dass auch