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Traumata der Transition

Erfahrung und Reflexion des jugoslawischen Zerfalls

0128
2015
978-3-7720-5526-3
978-3-7720-8526-0
A. Francke Verlag 
Boris Previsic
Svjetlan Lacko Vidulic

Der Sammelband publiziert die Beiträge einer interdisziplinären Konferenz, die im April 2013 den Untergang Jugoslawiens zum Thema hatte. GeisteswissenschaftlerInnen, welche einerseits biographisch in die postjugoslawischen Kriege involviert sind, andererseits sich schon bald über zwei Jahrzehnte mit spezifischen theoretischen Modellen und wissenschaftlichem Anspruch mit der jugoslawischen Problematik auseinandergesetzt haben, fokussieren aus ihrer jeweils spezifischen theoretischen Warte die Ereignisse und deren problematische Diskursivierung. Dabei stehen diskurs-, feld und systemtheoretische, aber auch raumnarratologische, bildkritische und historiographische Ansätze im Vordergrund.

<?page no="0"?> K U L T U R - H E R R S C H A F T - D I F F E R E N Z 2 0 Boris Previšic ´ / Svjetlan Lacko Vidulic ´ (Hrsg.) Traumata der Transition Erfahrung und Reflexion des jugoslawischen Zerfalls <?page no="1"?> KULTUR - HERRSCHAFT - DIFFERENZ Herausgegeben von Moritz Csáky, Wolfgang Müller-Funk und Klaus R. Scherpe Band 20 · 2015 <?page no="3"?> Traumata der Transition Erfahrung und Reflexion des jugoslawischen Zerfalls Herausgegeben von Boris Previšic ´ und Svjetlan Lacko Vidulic ´ <?page no="4"?> Publiziert mit freundlicher Unterstützung der Alexander von Humboldt-Stiftung, Bonn. © 2015 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info @ francke.de Printed in Germany ISSN 1862-2518 ISBN 978-3-7720-8526-0 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Kosovo Refugees. Kosovar refugees fleeing their homeland. 1. März 1999, © UN Photo / UNHCR / R LeMoyne <?page no="5"?> Inhaltsverzeichnis Boris Previ š i ć und Svjetlan Lacko Viduli ć Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Ivan Bernik Der Zerfall Jugoslawiens: Legitimitätskrise und ihre Folgen . . . . . . 21 Mario Grizelj «Ego sum qui sum» - deconstructed oder Die Faszination des Bindestrichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Boris Previ š i ć Krieg. Interpunktion der Ereignisse, Narration der Paradoxe . . . . . 51 Milka Car Diskursanalyse und postjugoslawische Kriege: Diskurse der Ohnmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Tanja Zimmermann Semmeln in Ro ž na dolina. Eine Erinnerung aus Ljubljana und die Kriegsbilder aus Bosnien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Jeffrey Andrew Barash Virtuelle Erfahrung, kollektive Erinnerung und die Gestaltung der Öffentlichkeit im Aktualitätsfeld der Massenmedien. Das Beispiel des ehemaligen Jugoslawien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Sabine Rutar Versponnene Fäden. Kriegsnarrative im jugoslawischen Raum . . . 133 Svjetlan Lacko Viduli ć Jugoslawische Literatur. Kurzer Abriss zur langen Geschichte eines produktiven Phantoms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Armina Galija š Nationalisten und Jugonostalgiker: Zerstörung der Erinnerungen, Umformung der Identitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 <?page no="6"?> Davor Beganovi ć Zwischen Engeln und Dämonen. Das Museum der bedingungslosen Kapitulation, mit persönlicher Note versehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Irena Risti ć Die (Un)Vereinbarkeit von individueller und kollektiver Identität: Ist die Pflicht zum Erinnern eine Pflicht zum Vergessen? . . . . . . . . . 215 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 6 Inhaltsverzeichnis <?page no="7"?> Boris Previ š i ć und Svjetlan Lacko Viduli ć Einleitung Die Reaktionen auf unsere Einladung zur Konferenz - zu dem Humboldt- Kolleg Traumata der Transition im April 2013 in Dubrovnik - reichten von versteckter Scheu bis zu sanfter Empörung: Ich als Wissenschaftler, ich als Wissenschaftlerin soll nun meine persönliche Erfahrung und Sicht einbringen und reflektieren? Dabei handelte es sich bei den Geladenen fast durchwegs um eine jüngere, aufgeschlossene Generation von Kultur- und SozialwissenschaftlerInnen, von denen wir eine gewisse Offenheit und Flexibilität auch einfordern zu können erhofften. Unsere Vorgabe, die eigene Involviertheit in den Forschungsgegenstand offen zu legen, empfanden viele als Zumutung, als Provokation, auf die sie geschickt mit Ausweichmanövern, theoretischen Digressionen und systemischen Schematisierungen reagierten. Dabei konnten sie selbst aber ziemlich rasch feststellen, dass sie sich mit einem solchen Lavieren und Taktieren schon mitten in der Reflexion ihres eigenen Tuns und ihrer eigenen Position im wissenschaftlichen Setting befanden. Je bewusster sie sich nun auf die Selbstreflexion einließen, desto besser konnten sie das eigene Forschungsinteresse und die eigene Forschungsmethode justieren und kontextualisieren. Die Frucht dieser interdisziplinären Kooperation liegt nun in Form dieses Bandes vor. Und wir sind nicht nur stolz auf die einzelnen Beiträge, sondern auch darauf, dass unser impertinentes Insistieren, die persönliche Sichtweise einzubringen, offen zu legen und zu reflektieren, letztlich auf fruchtbaren Boden gefallen ist. Damit wurde möglich, was in der heutigen Zeit narzisstischer Einzelgänger für kaum mehr möglich gehalten wird: Wir begaben uns auf die Suche nach einem gemeinsamen Ziel. Wir kannten den Gegenstand ja zu Genüge, doch wir mussten uns aufeinander einlassen und konnten mit Genugtuung erfahren, dass selbst in disziplinärer Ferne oft Naheliegendes wieder anzutreffen ist. Wir sind zur Überzeugung gelangt, dass je nach biographischem Hintergrund und anderen Quellen persönlicher Involvierung das zweite Jugoslawien und sein sowohl allmählicher als auch plötzlicher Zerfall äußerst unterschiedlich und kontrovers bewertet und gewichtet werden. Die offizielle Aufarbeitung stößt noch immer auf großen Widerstand, da sich einerseits die classe politique in ihrer ethnisch definierten oder <?page no="8"?> zumindest unter dem Druck des ethnischen Prinzips stehenden Machtsicherung bedroht fühlt, andererseits die nationalistischen Denkmuster kaum einen kritischen, sondern lediglich einen nostalgischen Gegendiskurs provoziert haben. Der Widerstand gegen eine systematische Kontextualisierung und gegen eine verbindliche historische Aufarbeitung ist folglich doppelt induziert: Nicht nur versuchen die tonangebenden Eliten in jedem Nachfolgestaat (Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Kroatien, Makedonien, Montenegro, Serbien, Slowenien) oder verstärkt noch in jeder nationalen Entität (Serben im Kosovo und in Bosnien- Herzegowina, Kroaten in der Herzegowina etc.) den jeweiligen nationalen Mythos zu befestigen und fortzuschreiben, auch wenn die jeweilige politische Konjunktur zu einer gewissen Relativierung und Aufweichung des Mythos führen mag. Vielmehr verfängt sich auch die intellektuelle, kulturwissenschaftliche Reflexion sehr oft in allzu pauschalen Deutungsmustern. Nicht, dass eine gewisse nationale Selbstbehauptung oder aber das Insistieren auf überregionalen Gemeinsamkeiten keine Berechtigung hätten; doch ist dabei nicht selten eine Rückwendung zum scheinbar verlorenen Paradies im Spiel, die eine kritische Reflexion der Eigenposition und eine Konfrontation mit den kriegerischen Auseinandersetzungen zu ersetzen scheint - auch wenn der Jugonostalgie ein gewisses emanzipatorisches und kreatives Potential zukommt. 1 Im besten Fall bezieht sich die Nostalgie auf die Ausgestaltung einer alternativen Gegenwart und Zukunft oder auf einen anderen ideologischen Ort als das damalige Jugoslawien, z. B. auf den amerikanischen Alltag der 50er Jahre, wie das die Jugonostalgie-Spezialistin der ersten Stunde, Dubravka Ugre š i ć , luzide festhält. 2 1 Mitja Velikonja, The Past with a Future. The Emancipatory Potential of Yugonostalgia, in: Olga Manojlovi ć Pintar (Hg.), Tito - vi đ enja i tuma č enja, Beograd 2010, S. 562 - 581. Velikonja geht es vor allem um das kollektive Kapital für einen utopischen Gegenwarts- und Zukunftsentwurf und nicht um Vergangenheitsbewältigung: «The real subject of yugonostalgia is more utopia of an ideal better life than the rehabilitation of the past.» Ebd., S. 579. 2 Dubravka Ugre š i ć , Nostalgie, in: Wespennest 164 (Mai 2013), S. 84 - 90. Während Ugre š i ć noch Ende der 90er Jahre mit der Waffe der Erinnerung an das gemeinsame jugoslawische Erbe gegen die nationalistische Vereinnahmung des kollektiven Gedächtnisses ankämpfte, so distanziert sie sich inzwischen vom «Massengut» der Jugonostalgie: «Die Jugonostalgie hat indes ihre subversive Kraft verloren, sie ist keine persönliche Widerstandsbewegung mehr, sondern ein Produkt des Marktes.» Ebd., S. 87. Die Gefahr einer rein jugonostalgischen Haltung beschreibt insbesondere Armina Galija š in diesem Band. 8 Boris Previ š i ć und Svjetlan Lacko Viduli ć <?page no="9"?> Auf dieser Folie ist die ideologisch-mythologische Dimension sowohl der faktualen und fiktionalen Dokumente in Text und Bild, als auch ihrer Deutungen im Zuge der Diskursivierung und Institutionalisierung, zu historisieren und analysieren. Der Kampf um die historische Deutungshoheit bildet den Kern bei der Frage, was Jugoslawien eigentlich war und welche Faktoren zu seinem Zerfall beigetragen haben. Und die wissenschaftliche Reflexion müsste zur Entwicklung grundlegender Kriterien für die Deutung der kontrovers interpretierten Ereignisse beitragen und damit die Aufarbeitung der Vergangenheit fördern. Eine nationalistisch grundierte Forschung kann dies nicht leisten. Ebenso wenig kann dies von einer Forschung erwartet werden, die in der wehmütigen Besinnung auf den untergegangenen Staat, in der pauschalen Deutung des Jugoslawien-Zerfalls aus dem Geiste des ethnischen Nationalismus und in einer säuberlich symmetrischen Schuldverteilung einen Beitrag zur Vergangenheitsbewältigung sieht. 3 Wird die Komplexität der Zusammenhänge und Entwicklungen im (post)jugoslawischen Raum überblendet, können grundlegende Deutungskriterien nicht entwickelt, kann ein wissenschaftlich fundierter Konsens nicht erzielt, kann der Anschluss an die Lebenswelten der Betroffenen und an die öffentlichen Debatten in den regional divergenten Erinnerungskulturen nicht hergestellt werden. Erst auf einem solchen Hintergrund ist eine kritische Sichtung der historischen Faktizität Jugoslawiens und der Nachfolgekriege legitim; diese Herangehensweise repliziert nicht nur, sondern reflektiert auch die Ereignisse und deren Diskurse, die neue Mythologeme hervorgebracht haben. Im Wissen um die Unmöglichkeit einer ‹ objektiven Betrachtungsweise › ist zur Demythologisierung kollektiver wie persönlicher Erklärungsmuster die eigene Position offen zu legen und mit zu bedenken. Sie kann nur auf der Folie einer Bestandsaufnahme aller Faktoren erfolgen, welche die eigene Person zum Produkt des historischen Prozesses formen. So insistiert Antonio Gramsci darauf, dass man nicht nur die eigenen Lebensumstände kennen, sondern auch wissen müsse, wie man von ihnen Gebrauch machen kann. Erst daraus entwickelt sich für ihn die eigene Persönlichkeit, welche sich sowohl aus individuell subjektiven als auch aus allgemein objektiven Elementen zusammensetzt: «L ’ uomo è da concepire come un blocco storico di elementi puramente individuali e soggetivi e di elementi di massa e oggetivi o materiali coi quali l ’ individuo è in rapporto attivo.» Aus diesem Zusammenspiel historischer Faktoren zieht er zwei Folgerungen: Zum einen impliziere das Engagement, die 3 Vgl. dazu Todor Kulji ć , Umkämpfte Vergangenheiten. Die Kultur der Erinnerung im postjugoslawischen Raum, Berlin 2010. Einleitung 9 <?page no="10"?> ‹ Welt › zu verändern, eine eigene Entwicklung; zum anderen sei es ein Irrtum zu glauben, dass es eine ethische ‹ Verbesserung › auf rein individueller Ebene gebe. 4 Mit der Frage, was der Mensch eigentlich sei, hält Gramsci fest, dass es in der skizzierten Beziehung zwischen individueller und allgemeiner Ebene nicht allein auf den gegenwärtigen Zustand ankomme. Ganz im Sinne des ‹ blocco storico › appelliert er an ein historisches Bewusstsein: «[N]on basta conoscere l ’ insieme dei rapporti in quanto esistono in un momento dato come un dato sistema, ma importa conoscerli geneticamente, nel loro moto di formazione, poiché ogni individuo non solo è la sintesi dei rapporti esistenti ma anche della storia di questi rapporti, cioè è il riassunto di tutto il passato.» 5 Unsere Forderung nach dem Persönlichen ist demnach nicht losgelöst vom Allgemeinen zu erfüllen; erst in der Wechselwirkung zwischen vermeintlich subjektiven und vermeintlich objektiven Aspekten, erst in der Reflexion der historischen Entwicklung beider Aspekte ist diese Forderung auch einzulösen. Selbst Edward Said spricht im Abschluss der Einleitung zu seinem Standardwerk von der ‹ persönlichen Dimension › , welche die eigene Betroffenheit zu exponieren hat: «In many ways my study of Orientalism has been an attempt to inventory the traces upon me, the Oriental subject [. . .].» 6 Auch wenn sich der Gegenstand seiner Studie historisch und geographisch zu unspezifisch ausnimmt - was zur Genüge an Said auch kritisiert worden ist - , so präzis wird der Antrieb und das Ziel von ‹ Orientalism › durch die ‹ persönliche Dimension › sichtbar. Ihre Offenlegung gehört zur Glaubwürdigkeit, Nachhaltigkeit und Ehrlichkeit, kurz: zur Ethik des wissenschaftlichen Ansatzes. So haben wir ausgewiesene HistorikerInnen, Kultur- und SozialwissenschaftlerInnen angefragt, welche nicht nur biographisch betroffen sind, sondern sich auch schon seit zwei Jahrzehnten mit der Problematik von Jugoslawien und ‹ Postjugoslawien › auseinandergesetzt haben und aus ihrer jeweils spezifischen theoretischen Warte die historischen Ereignisse und deren Diskursivierung thematisieren. Dabei stehen diskurs-, medien- und systemtheoretische, aber auch bildkritische und historiographische Ansätze im Vordergrund. Dass die Beitragenden auf eine spezifische Weise biographisch in die Thematik involviert sind, hat ihr kritisches Bewusstsein geschärft. Obwohl sie fast sämtliche Nachfolge- 4 Antonio Gramsci, Quaderni del carcere, Hrsg. Valentino Gerratana, Torino 1975, II, S. 1338. 5 Ebd., S. 1345 f. 6 Edward W. Said, Orientalism, New York 1994 ( 1 1978), S. 25. 10 Boris Previ š i ć und Svjetlan Lacko Viduli ć <?page no="11"?> staaten abdecken, sind sie nicht gezwungen, sich als Vertreter und Vertreterinnen ihrer ‹ Herkunftsländer › zu artikulieren, sondern verschreiben sich der kritischen Sichtung, um eine gemeinsame Sicht zu entwickeln, die für eine systematische und verbindliche Aufarbeitung der Traumata der Transition grundlegend sein wird. Das Ziel unseres Bandes besteht in der Aufarbeitung der postjugoslawischen Kriege in einem kulturwissenschaftlich breiteren Kontext, 7 der den Zusammenhang von theoretischer Modellierung und persönlicher Erfahrung auf eine anschauliche Art und Weise reflektiert. Aus diesem Grund lässt sich das Projekt in mehrfacher Hinsicht nicht in das obligate Sammelbandszenario einbinden. Der wichtigste Punkt betrifft die im Hinblick auf eine gemeinsame Sicht erfolgte gegenseitige Konturierung der theoretisch-methodischen Position und der persönlichen Erfahrung, die nicht abgeglichen und harmonisiert werden, sondern sich auch voneinander abheben können. Dabei soll die persönliche Erfahrung theoretisch reflektiert und vor allem soll auch gefragt werden, inwiefern bestimmte Erfahrungen einen spezifischen wissenschaftstheoretischen und methodischen Horizont erfordern. Das Ziel ist eine Metareflexion beider Ebenen. Zu einer Positionierung des eigenen Ansatzes gehört auch eine kritische Hinterfragung der unter Intellektuellen gängigen Hybridisierungsposition des Sowohl-alsauch oder Weder-noch. Wir wollen uns nicht der Verantwortung entziehen. Im Gegenteil: Es sollen Positionen erörtert werden, die Verbindlichkeiten im Hinblick auf die Aufarbeitung einfordern dürfen. 8 Da eine solche weiter gehende Auseinandersetzung in der Konferenz zu mehr Diskussionen führte, wurden explizit nicht einfach abgerundete Beiträge vorgetragen, sondern diese wurden meist erst im Nachgang spezifiziert und aufeinander abgestimmt oder profiliert. Damit konnten zumindest ansatzweise Kohärenzen und Divergenzen für die hier vorliegende 7 Wenn Andreas Ernst von einem «Lernprozess» spricht, der auf eine «unparteiische, ideologieferne Geschichtswissenschaft» angewiesen ist, so schließt sich dieser Band diesem Desiderat an und stützt es aus einem erweiterten interdisziplinären Blickwinkel. Andreas Ernst, Tribunal und Geschichte. Warum Kriegsverbrecherprozesse schwerlich historische Gerechtigkeit herstellen können, in: NZZ vom 1. Juni 2013. 8 Als Anregung für die Form eines solchen Beitrags, im Sinne der Kombination von Perspektiven, diente uns der Essay von Svjetlan Lacko Viduli ć , Blech und Vergoldung. Die Gedächtnislandschaft SFRJ, in: Jugoslavija revisited. Wespennest 159 (November 2010). Auch in: Eurozine, ‹ http: / / www.eurozine.com/ articles/ 2011- 02-28-vidulic-de.html › . Gerade auch im Hinblick auf die Verantwortung vgl. den Beitrag von Irena Risti ć in diesem Band. Einleitung 11 <?page no="12"?> Publikation ausgehandelt werden, die nicht einheitliche, aber gemeinsame Diskurslinien zur Aufarbeitung der Traumata der Transition ausbildet. Doch was meint eigentlich das zugegebenermaßen relativ vage Titelsyntagma ‹ Traumata der Transition › ? Dass einem selbst der Untersuchungsgegenstand gleichsam unter dem Glas des methodischen Zugriffs entgleiten konnte, hat am meisten mit dem zu tun, was wir hier verhandeln wollen. Die punktuell erfahrbaren ‹ Traumata › stehen in latentem Widerspruch zur ‹ durativen › ‹ Transition › ; diesen Widerspruch fruchtbar zu machen, ergibt im Kontext der ‹ jugoslawischen Wende › mehrfach Sinn: So erfasst der Begriff der ‹ Transition › nicht nur den Transformationsbegriff, der im vorliegenden Epochenkontext üblicherweise den Umbau von einer kommunistisch-totalitären in eine kapitalistisch-demokratische Gesellschaftsform der Länder des Ostblocks bezeichnet. 9 Vielmehr sollen mit dem Transitionsbegriff weitere Pluralisierungs- und Popularisierungsprozesse, welche im zweiten Jugoslawien vergleichsweise früh einsetzen, erfasst werden. Je nach Sichtweise beginnt der jugoslawische ‹ Zerfall › bereits in den 70er Jahren - mit dem ‹ kroatischen Frühling › und der neuen Verfassung - , spätestens aber in den 80er Jahren. Dieser relativ langsame Prozess kontrastiert mit dem viel schnelleren, ja abrupten Übergang bei fast gleichzeitigem Systemwechsel, Staatszerfall und Kriegsausbruch 1990/ 1991. Wir haben es also mit einem Transitionsprozess verschiedener Geschwindigkeiten zu tun. Der Krieg verunmöglichte schließlich jeglichen Transformationsprozess in ‹ geordneten › Bahnen. So chaotisch gewisse Transformationsprozesse im ehemaligen Ostblock auch abgelaufen sein mögen (mit kapitalistischem Wildwuchs und kriegerischen Auseinandersetzungen in der sowjetischen Peripherie, namentlich in Transnistrien, Tschetschenien, Nagorni Karabach, Abchasien und in der Ost- und Südukraine), so unvergleichlich heftiger und unvorhersehbarer waren die Ereignisse in Jugoslawien. Die Wahrnehmung der Transformation wurde von der Wahrnehmung der kriegerischen Ereignisse völlig überlagert. Es ist nun eine Sache, die Transition vom Bruch her zu denken; die andere - jedoch um einiges schwieriger nachvollziehbar - bestünde darin, den Bruch von der Transition her in den Blick zu nehmen oder gar die Frage zu stellen: Was wäre Jugoslawien heute ohne Krieg? 10 Dies würde auch die 9 Vgl. dazu Benjamin Benz/ Jürgen Boeckh/ Ernst-Ulrich Huster, Sozialraum Europa. Ökonomische und politische Transformation in Ost und West, Opladen 2000. 10 Vgl. dazu den Artikel von Andreas Ernst, Jugoslawien ohne Krieg, in: NZZ vom 11. Januar 2012. 12 Boris Previ š i ć und Svjetlan Lacko Viduli ć <?page no="13"?> Frage implizieren, ob es denn überhaupt je so etwas wie einen gemeinsamen jugoslawischen Kulturraum oder gar eine jugoslawische Literatur gegeben hat, 11 wer sich als Hauptprotagonist in der Umbauphase verstanden hat und somit auch auf Maximalforderungen insistiert hat. 12 Dabei wird deutlich, dass sich Transitionsprozesse von unterschiedlicher Länge und Intensität überlagern und überblenden, sodass sich ihre Beurteilung noch schwieriger gestaltet. Die allmähliche Umcodierung der offiziellen Geschichtsschreibung, die demokratische Pluralisierung und die gleichzeitig erfolgte Nationalisierung von Politik, Wirtschaft und Kultur - und dann der plötzliche Umschlag eines diskursiven Phänomens in blanke Gewalt. An diesem Punkt setzen die ‹ Traumata › an. In der Form des genitivus obiectivus erklären sich die Traumata als Folge der Transition; als genitivus subiectivus treten die Traumata als Akteure auf und sind wesentlicher Bestandteil der Transition. Diese Unterscheidung impliziert auch die Vorstellung, dass die Traumata aktiv zur Erreichung von bestimmten Zielen eingesetzt wurden: so die diskursive Traumatisierung zur Machtsicherung vor den gewaltsamen Auseinandersetzungen oder die kriegerische Traumatisierung von Psyche und Körper zur Vertreibung spezifischer - meist ethnisch definierter - Bevölkerungsgruppen. Auch wenn einzelne Beiträge explizit auf die Traumaforschung der Individualpsychologie zurückgreifen, 13 so geht es in diesem Band allgemeiner um die Schnitte und Leerstellen in den unterschiedlich gelagerten Transitionen, um die - im eigentlichen Sinn des Wortes - Verletzungen und Versehrungen, die Ergebnis oder Ziel der Transition sind. Der Umschlag in Krieg, der sich gegen das Existenzrecht per se wendet und Individuen gezielt auslöscht, ist das Trauma par excellence. Es handelt sich dabei um eine alles erfassende Immersion des Subjekts - die sich jeglicher Reflexion entzieht und direkt auf die ‹ Leibhaftigkeit › der Existenz abzielt. 14 Die persönliche Transitionserfahrung oszilliert somit zwischen Kontinuität im Bruch und Bruch in der Kontinuität. Die wissenschaftliche Aufarbeitung der Traumata erfolgt immer schon an der Schnittstelle zwischen Individuum und Kollektiv, zwischen individueller und kollektiver Erfahrung, zwischen individueller und kollektiver Erinnerung. Dass selbst die Dichotomie privat vs. öffentlich bzw. individuell vs. kollektiv in diesem Kontext nicht mehr aufrecht 11 Vgl. dazu den Beitrag von Svjetlan Lacko Viduli ć in diesem Band. 12 Vgl. dazu den Beitrag von Ivan Bernik in diesem Band. 13 Vgl. dazu die Beiträge von Milka Car und Boris Previ š i ć in diesem Band. 14 Vgl. dazu den Beitrag von Jeffrey Andrew Barash in diesem Band. Einleitung 13 <?page no="14"?> erhalten werden kann, sondern eine kategoriale Umwertung erfährt, macht den Einbezug des ‹ Eigenen › , das sich wiederum als ‹ Fremdes › entpuppen kann und umgekehrt, umso dringender. 15 Die Verlagerung individueller Erinnerung beispielsweise an den Zweiten Weltkrieg in einen öffentlichen Diskurs in den 80er Jahren, nach der Karenzfrist von 40 Jahren, oder die unlängst erfolgte Umdeutung der jugonostalgischen Haltung, wie sie Ugre š i ć skizziert, verdeutlichen, wie sehr sich kollektive und individuelle Deutungsmuster ausschließen, wie sehr sie sich - in ‹ sicherer › historischer Äquidistanz - dennoch gegenseitig bedingen. Die Überlagerung individueller Erinnerung mit öffentlichen Diskursen ist in der offiziellen Denkmalpolitik nicht zu übersehen, in der sich die Kriege des 20. Jahrhunderts zu Palimpsesten verdichten. 16 Ein erstes Fazit lässt sich aus unserem interdisziplinären Austausch ziehen: Er hat nochmals deutlich gemacht, dass Jugoslawien und damit auch der Balkan - selbst im europäischen Vergleich - keine anthropologische Ausnahmestellung einnehmen. 17 Selbst die jüngsten Kriege lassen sich kaum auf der Folie verspäteter gewaltsamer Nationsbildung erklären. Vielmehr ist nach der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zu fragen. So zeichnet sich insbesondere der Titoismus als utopischer Raum aus, der sich auch explizit der Überwindung des Nationalen im Zeichen einer übergeordneten und internationalen Solidarität verschrieben hat. Die Parameter (wie Dritter Weg oder Selbstverwaltung), welche gerade auch von Intellektuellen im Westen bewundert wurden, müssen hier nicht nochmals ausgeführt werden. Diese Faktoren kontrastieren umso mehr mit den nationalistischen Diskursen, die in den 80er Jahren Schule machen, und mit den postjugoslawischen Kriegen. Die Transition ist somit nicht einfach eine Wegstrecke von A nach B, sondern umfasst Progressionswie Regressionsbewegungen. Während des jugoslawischen Modernisierungsprozesses der 50er und 60er Jahre wird die Bevölkerung in der Nationalitätenfrage mit der ‹ Bratstvo i jedinstvo › - Formel gleichsam infantilisiert. Umgekehrt bemächtigt sich der Nationalisierungsprozess im Zuge der gesellschaftlichen Liberalisierung seit 15 Vgl. dazu den Beitrag von Mario Grizelj in diesem Band. 16 Vgl. dazu den Beitrag von Sabine Rutar in diesem Band. 17 «Die viel zitierte Balkankultur spielte im Schlussakt des jugoslawischen Dramas [. . .] nur eine Nebenrolle. Gewaltverherrlichende Traditionen, blutrünstige Volksepen, Waffenkult und patriarchalische Gewohnheiten bildeten eine Projektionsfläche für Kommunikationsstrategien und Handlungsweisen im Krieg, erklären jedoch nicht seine tieferen Ursachen.» Marie-Janine Calic, Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 343 f. 14 Boris Previ š i ć und Svjetlan Lacko Viduli ć <?page no="15"?> Ende der 60er Jahre derselben infantilen Formel, welche spätestens in der Rede von Slobodan Milo š evi ć 1987 auf dem Amselfeld ihr wahres Gesicht zeigt. Oder sollten die Differenzen zwischen dem alten ‹ bürokratischen › und dem neuen ‹ ethnischen › sowie zwischen dem ‹ offensiven › und dem ‹ defensiven › Nationalismus doch höher veranschlagt werden? So sehr hinter den kriegerischen Auseinandersetzungen Personen stehen, die dafür verantwortlich gemacht werden können und müssen, 18 so sehr kann das Kippen der Transition in Gewalt auf eine einmalige historische Konstellation zurückgeführt werden, die von spezifischen Faktoren der jugoslawischen Innenpolitik in Kombination mit einer neuen Weltpolitik geprägt war. Die ständige Aushandlung der Beziehungen zwischen den jugoslawischen Republiken war de facto nicht geregelt und auf eine Führerfigur wie Tito angewiesen. Dafür, dass es sich dabei in einer autoritären Staatsform um keine Ausnahmeerscheinung handelt, legen nicht nur die Nachbarländer Rumänien und Bulgarien in derselben Zeitperiode, sondern auch die Sowjetunion beredtes Zeugnis ab. Das Ende Jugoslawiens war keine ausgemachte Sache; die Transition hätte auch ohne kriegerische Traumata des Zerfalls erfolgen können. Auch wenn die Staatsgründungen im Ersten und Zweiten Weltkrieg auf eine jeweils sehr prekäre Situation zurückzuführen sind, so handelte es sich um einen gemeinsamen staatlichen Rahmen, der immerhin 70 Jahre existierte. Das Ende Jugoslawiens erklärt sich vielmehr aus dem inneren Zerfall der Staatstrukturen wie aus der paradoxen Situation, dass der entscheidende zentrifugale Faktor nicht die fehlende Solidarität zwischen den einzelnen Republiken, sondern die Forcierung des Zusammenhalts im Interesse der serbischen Ethnie gewesen war. Die Zuspitzung der jugoslawischen Staatskrise wurde im Kontext der Reorientierung Amerikas, der Neudefinition Deutschlands nach der Wiedervereinigung und der Auflösung des Ostblocks innerhalb einer neuen Weltordnung nach der Wende kaum wahrgenommen und ermöglichte in Jugoslawien eine Radikalisierung, die unter ‹ normalen Bedingungen › kaum möglich gewesen wäre. Und schließlich erfolgte der Ausbruch des Kriegs 1991 in Slowenien und anschließend in Kroatien im Schatten des ersten Irakkriegs. 19 18 Vgl. dazu den Beitrag von Davor Beganovi ć in diesem Band. 19 Zu den innen- und außenpolitischen Zusammenhängen vgl. nochmals den Beitrag von Ivan Bernik in diesem Band. Einleitung 15 <?page no="16"?> Zu den Ursachen des jugoslawischen Zerfalls zählen die Konflikte zwischen den Führungseliten der jugoslawischen Teilrepubliken, die seit den 70er Jahren mit weitgehenden Selbstbestimmungsrechten ausgestattet waren. Die Ursachen sind jedoch nicht primär in ethnischen Spannungen zu suchen; vielmehr sind diese Spannungen eine Folge des Zerfalls. So seien just dort, wo die kriegerischen Auseinandersetzungen begannen, - beispielsweise in Slawonien, in der Krajina oder in Bosnien, und im Unterschied beispielsweise zu den USA, «die interethnischen Beziehungen noch bis Ende 1980 als gut oder zumindest befriedigend beurteilt» worden. 20 Eine solche Argumentation versteht sich nicht als Reanimationsversuch des untergegangenen Landes. Vielmehr insistiert sie auf einer Gesamtschau eines Raums, dessen Kontinuitäten in Form von Materialität und Erinnerung, von Mentalität und Sozietät nicht einfach so verschwunden sein können, dessen politische Bühne aber schon lange geräumt worden ist. Es handelt sich um einen phantomalen Raum, den man erst aus der Doppelperspektive von Transition und Traumata verstehen kann. Einen vollständigen Überblick über die Beiträge im Vorwort zu liefern, wäre nicht nur eine Anmaßung, sondern widerspräche auch der konzeptuellen Forderung der Verschränkung von eigener Erfahrung und wissenschaftlichem Anspruch. Im Sinne einer kurzen Vorschau können aber Aspekte unterstrichen werden, die sich dem bisher Ausgeführten anschließen lassen. So unterstreicht Ivan Bernik mit Bezugnahme auf Georg Simmel, dass Konflikte als Zeichen der Nähe zu begreifen sind; aus dieser Perspektive stellt Jugoslawien selbst in seinen Konfliktstrukturen keinen Sonderfall dar; das Land wird vergleichbar. Berniks Ansatz führt vor Augen, wie rational die beiden Kontrahenten Slowenien und Serbien aus politologisch-soziologischer Sicht gehandelt haben. So subjektiv geprägt diese Sichtweise auch sein mag, so genau erklärt sie die Dilemmata der anderen Republiken mit ihren ethnischen ‹ Minderheiten › . Dennoch geht Bernik einig mit dem Ansatz Sundhaussens, dass die Ethnisierung erst als jugoslawisches Zerfallsprodukt zu betrachten ist. 20 Holm Sundhaussen, Geschichte Serbiens. 19. - 21. Jahrhundert, Wien 2007, S. 342. Die Konflikte brachen nicht da aus, wo die Umfragewerte am schlechtesten waren, nämlich in Kosovo und Makedonien (zwischen serbischer und albanischer Bevölkerung bzw. slawischstämmigen und albanischstämmigen Makedoniern), sondern da, wo sie nahezu am besten waren, in Kroatien und vor allem in Bosnien- Herzegowina. 16 Boris Previ š i ć und Svjetlan Lacko Viduli ć <?page no="17"?> Der systemtheoretische Ansatz von Mario Grizelj zielt darauf ab, die von uns als Herausgeberteam eingeforderte Verknüpfung von persönlichem und wissenschaftlichem Ansatz direkt zu befragen. Dabei macht er deutlich, dass gerade die persönliche Erfahrung als kollektivgebunden innerhalb eines sozialen Systems entlarvt werden kann. Die ‹ hyphenated identity › springt von der ethnischen Hybridität über auf die Selbstdefinition zwischen Selbstsetzung (erster Ordnung) und Selbstreflexion (zweiter Ordnung). Die paradoxale Verschränkung von scheinbar Persönlichem auf der einen Seite und scheinbar Kollektivem auf der anderen ist auf die zeitliche Ereignis- und Erfahrungsstruktur des Kriegs übertragbar - wie Boris Previ š i ć in seinem Beitrag aufzeigt. Die traumatische ‹ Erfahrung › kann sich erst im Nachhinein als Ereignis statuieren, auf das reagiert werden kann. In der unentscheidbaren Oszillation zwischen Trauma und Ereignis, das die Erzählung zu verarbeiten versucht, wird deutlich, wie schwierig sich die Aufarbeitung der Traumata gestalten kann. Wie schwer die Dokumentation der kriegerischen Traumata sein kann, zeigt Milka Car anhand von literarischen Kriegsberichten. Gerade die Literatur zeigt eindrücklich die Unmöglichkeit auf, zwischen Außen und Innen zu unterscheiden, da die Traumata das Persönliche streichen. Das Dokumentationsinstrumentarium, der eigene Schreibtisch, bildet nicht mehr den Zufluchtsort von Selbstversicherung oder archimedischen Reflexionspunkt, sondern verkommt zur Wüste der persönlichen und kollektiven Ohnmacht. Damit verdeutlichen die literaturwissenschaftlichen Ansätze in besonderem Ausmaß die Schwierigkeit, die Traumata der Transition überhaupt in den Blick zu bekommen, geschweige denn eine Unterscheidung zwischen persönlicher und kollektiver Faktizität zu treffen. Im Medium der Photographie bildet das Framing den eigentlichen Angelpunkt der Erzählbarkeit des Kriegs. Dass gerade in den postjugoslawischen Kriegen die Photographie sowohl Mittel der Propaganda als auch der Aufarbeitung ist, zeigt Tanja Zimmermann nicht nur anhand der bekannten Bilder aus dem Bosnien-Krieg auf, sondern veranlasst sie zu einer persönlichen Recherche zu den Semmeln in Ro ž na dolina, welche die Propaganda der slowenischen Verteidigung durchkreuzen. Dass diese Beweisstücke im bewegten Bild der Fernsehdokumentation nicht endgültig getilgt worden sind, bringt uns auf die Spuren von Jeffrey Andrew Barash, der auf der Suche nach dem medialen Sinninhalt den Zeitfaktor nicht nur im Hinblick auf den Kontemporanitätshorizont, sondern auch auf die zeitliche Strukturierung der Bilderzusammensetzung in den Vordergrund rückt. Nicht ein Gegenstand, sondern ein potentielles Massenpublikum generiert den Inhalt des Massenmediums Einleitung 17 <?page no="18"?> Fernsehen. ‹ Realität › wird erst über die Symbolfunktion als Vermittlungsinstanz zwischen Verallgemeinerung und Spezifizierung generiert. Dass die postjugoslawischen Kriege nicht nur als Ergebnis unverarbeiteter früherer Kriege zu analysieren sind, sondern selber eine neue Gedenkkultur der Vergangenheit erzeugen, liegt auf der Hand. Wie weit zurück diese Überlagerungen von Kriegsnarrativen aber in der Verschränkung von persönlicher und offizieller Erinnerungskultur reichen, zeigt Sabine Rutar anhand eigener Fotografien zu verschiedenen Kriegen im jugoslawischen Raum, von Gedenkstätten der Isonzofront bis hin zu Mahnmalen zur Erinnerung an Verbrechen im Zweiten Weltkrieg. Svjetlan Lacko Viduli ć verschreibt sich explizit der Frage nach einer vergangenen jugoslawischen Kontinuität, von der sich die Traumata des Bruches umso mehr abheben müssten. Doch auf der Suche nach der gesamtjugoslawischen Literatur trifft er auf ein verschachteltes literarisches ‹ Pluri-Feld › und eine Sprachregelung der nationalen Pluralität innerhalb des Gesamtstaats. Die Linien der Kontinuität über den Bruch hinaus - die Trennungen auch vor der Wende, die Verbindungen auch nach der Wende - erweisen sich als stärker als gemeinhin wahrgenommen. Was feldtheoretisch allerdings nur schwer nachzuweisen ist, wird in der Flüchtigkeit des eigentümlichen Dufts jugoslawischer Bücher in der Bibliothek der Freien Universität zu Berlin persönlich erfahrbar. In einem Einblick in die gegenwärtige Popkultur, welche mit Zitaten aus jugoslawischen Zeiten arbeitet und diese in der heutigen Zeit aktualisiert, indem die Traumata benannt, aber nicht aufgearbeitet werden, macht Armina Galija š strukturelle Parallelen zwischen Jugonostalgie und Nationalismus fest. Dabei verschreibt sie sich - aus ihrer ganz persönlichen Sicht - nach Mitja Velikonja und Dubravka Ugre š i ć einem dritten Ansatz. Davor Beganovi ć hat seine früheren Recherchen zur Funktion der Engel in der postjugoslawischen Literatur weitergetrieben und im Modell von Giorgio Agamben einen interessanten Anhaltspunkt dafür gefunden, dass es sich dabei nicht nur um eine Botenfigur, sondern auch um einen Täter handeln kann. Damit wird nochmals unterstrichen, dass die Traumata der Transition nicht einfach wie Naturereignisse den postjugoslawischen Raum erfassten, sondern als Ergebnisse aktiver und bewusster Handlungen von konkreten Personen zu verstehen sind. Dass diese Handlungen unbedingt einer Bewertung und Gewichtung unterzogen werden müssen, versteht sich nicht von selbst. Angesichts der Inflation und der politischen Vereinnahmung von Erinnerungsorten im postjugoslawischen Raum muss - wie Irena Risti ć schlüssig darstellt - die Wissenschaft verstärkt die Verantwortung übernehmen, in der Aufarbeitung der Traumata die 18 Boris Previ š i ć und Svjetlan Lacko Viduli ć <?page no="19"?> Betroffenen nicht zu retraumatisieren, sondern die Traumata zu überwinden helfen und Orientierungshilfen in der immer noch anhaltenden Transition anzubieten. Dass mit diesem Band ein kleiner Beitrag dazu geleistet werden kann, ist unsere große Hoffnung. Für die Unterstützung des Vorhabens gilt unser Dank der Alexander von Humboldt-Stiftung für Bewilligung und Finanzierung des Humboldt-Kollegs sowie für die Unterstützung der Drucklegung, dem Inter-University Centre Dubrovnik für die Beherbergung und vor allem Mario Grizelj für die ortskundige Betreuung in Dubrovnik. Einleitung 19 <?page no="21"?> Ivan Bernik Der Zerfall Jugoslawiens: Legitimitätskrise und ihre Folgen 1. Der jugoslawische Zerfall - ein historischer Ausnahmefall? Am 31. August 1994 notierte Vesna Biga in ihrem Tagebuch, das unter dem Titel Reisebusmenschen (Autobusni ljudi) im Jahr 2000 in Buchform erschienen ist: «Ich habe Ljubljana angerufen, aber I. ist gerade erst nach Hause gekommen und weiß nicht, ob Mutter inzwischen angerufen hat. Die üblichen Tele-Missverständnisse, die bedeuten, dass ich noch einmal anrufen werde.» 1 Der Sinn dieser rätselhaften Sätze wird im Kontext des Buches verständlich. Die Autorin ist 1991 mit ihrem Mann von Zagreb nach Belgrad übergesiedelt und lebte in den Folgejahren zwischen dem neuen und dem alten Zuhause, wo ihre Eltern, Verwandte und Freunde geblieben waren. Wegen der Kriege in Ex-Jugoslawien, die einige vor dem Zerfall kaum bemerkbaren Grenzen unpassierbar gemacht hatten, war die verkehrsmäßige und symbolische Entfernung zwischen diesen zwei Städten plötzlich groß geworden. Das Tagebuch beschreibt ausführlich die Konsequenzen der verkehrsmäßigen Entfernung und reflektiert nuanciert die Dimensionen und Paradoxien der symbolischen Entfernung. Der zitierte Satz bezieht sich vor allem auf die erstgenannte Art von Entfernung, die u. a. durch die Unterbrechung der Telefonverbindungen zwischen Serbien und Kroatien dramatisch gewachsen war. Da kein direkter Kontakt möglich war, mussten Anrufer aus Belgrad oder Zagreb einem Vermittler ihre Nachricht hinterlassen, der sie an den Empfänger weiter leitete. An dem erwähnten Tag sollte ich der Vermittler zwischen Vesna Biga und ihrer Mutter sein, doch leider rief sie vergeblich an. Ein kleines Missverständnis mehr in der Zeit der großen Missverständnisse! Eine weitere Dimension der neuen Entfernung war die Reiseroute zwischen Zagreb und Belgrad, die jetzt über Ungarn und Slowenien führte, wobei statt einer drei Grenzen passiert werden mussten. Vesna Biga hat ihre mühsamen Busreisen auf dieser Stecke, die wiederum mit vielen Missverständnissen im Kriegsalltag verbunden waren, detailliert 1 Vesna Biga, Autobusni ljudi (Dnevnici 1991 - 1995), Beograd 2000, S. 237. - Mein Dank gilt Svjetlan Lacko Viduli ć für die sorgfältige sprachliche Überarbeitung und die Anregungen zu den inhaltlichen Veränderungen des Beitrages. <?page no="22"?> beschrieben. An manchen ihrer zahlreichen Busreisen habe auch ich ‹ teilgenommen › in dem Sinne, dass wir uns während ihrer kurzen Reisepause in Ljubljana trafen. Da ich sie und ihren Mann seit langem kannte, haben mir diese Gespräche, obwohl immer unter Zeitdruck verlaufend, gut getan. Gleichzeitig hatte ich oft das Gefühl, dass über unseren Gesprächen ein Missverständnis schwebt, kein persönliches, sondern verbunden mit den Umständen, in denen wir damals lebten. Vesnas Leben verlief zwischen zwei im Kriegszustand sich befindenden Staaten, während mein Land von den jugoslawischen Kriegen nicht unmittelbar betroffen war. Mit anderen Worten, Vesnas Alltag wurde durch den Krieg tiefgreifend verändert, während meine Alltagsroutine trotz aller Veränderungen in Slowenien fortbestand. 2 Es schien mir, als lebten wir plötzlich in verschiedenen Welten: in der einen musste man außergewöhnliche Probleme verkraften, in der anderen - «fern von jedem Krieg» - mit üblichen Alltagsproblemen umgehen. Daher hatte ich bei unseren Gesprächen oft das Gefühl, vieles von dem, was ich sage, müsse für Vesna belanglos oder unangenehm sein, während ich trotz aller Bemühungen nur wenig von dem, was sie erzählt, auch richtig verstehe. Eigentlich, so dachte ich damals, sollte ich bei unseren Treffen nur aufmerksam zuhören - und schweigen. Diese persönlichen Erfahrungen haben mich intensiv beschäftigt, weil sie eng mit meinen professionellen Dilemmata verbunden waren. Im Zusammenhang mit der Forschung zur post-sozialistischen Transition stieß auch ich auf die unausweichliche Frage, warum der Zusammenbruch des sozialistischen Regimes gerade in Ex-Jugoslawien zum Zerfall des Bundesstaates und zu kriegerischen Auseinandersetzungen geführt hat. Hinter dieser Frage birgt sich eine Ungewissheit, die sich nicht wesentlich von jener unterscheidet, die mich bei meinen kurzen Gesprächen mit Vesna beschäftigte: Kann man einen Krieg sozialwissenschaftlich zu erklären versuchen, ohne ihn selbst miterlebt zu haben oder ohne wenigstens von Auskünften jener ausgehen zu können, die ihn unmittelbar erlebt haben? Da es solche Versuche gibt - obwohl sie seltener sind, als man erwarten würde 3 - kann diese Ungewissheit überführt werden in die Frage nach der Möglichkeit der distanzierten und wertfreien sozialwis- 2 Die Menschen am Busbahnhof in Ljubljana beobachtend schreibt Vesna Biga: «Sie wirken ruhig, fern von jedem Krieg, treiben ihr Fahrrad voran, sauber, anständig gekleidet, mehr oder weniger in Eile. Ihrer Gangart nach zu urteilen scheinen sie alle zu wissen, wo sie hinwollen.» Biga, Autobusni ljudi (Anm. 1), S. 277. 3 Vgl. Tony Judt, Postwar. A history of Europe since 1945, New York 2006, S. 665 - 685; Michael Mann, The dark side of democracy. Explainig ethnic cleansing, Cambridge 2005, S. 353 - 427. 22 Ivan Bernik <?page no="23"?> senschaftlichen Kriegsforschung. Ist es darüber hinaus nicht geradezu unmoralisch, die Ereignisse, die mit Not und Leid verbunden sind, sine ira et studio zu erforschen? 4 Mit anderen Worten: Ist der Krieg mit seinen vielfältigen Folgen nicht ein Thema, von dem die zu Verallgemeinerungen tendierenden Sozialwissenschaften ‹ schweigen › sollten und damit ‹ das Reden › anderen Formen der Wahrnehmung gesellschaftlicher Prozesse - von der Belletristik bis zur Historiographie - überlassen sollten? Die Antwort ist zum Teil bereits in der letzteren Frage beinhaltet. Sozialwissenschaftliche Kriegsforschung ist zwar nur eine Art der Beobachtung dieses Phänomens, die die anderen Formen nicht ersetzen, sondern - im besten Fall - nur ergänzen kann. Diese Ergänzung jedoch - die distanzierte und wertfreie Analyse der Kriege - ist insofern wichtig, als sie auf die soziokulturellen Umstände und das damit verbundene menschliche Handeln fokussiert ist, das den Ausbruch eines Kriegs ermöglicht und seinen Verlauf bestimmt. Dadurch kann sie auch die sozialen und kulturellen Prozesse identifizieren, die zur Wiederherstellung und Stärkung des Friedens beitragen können. Die empirische Relevanz dieser These soll in dem vorliegenden Beitrag am Fallbeispiel des jugoslawischen Zerfalls ansatzweise nachgewiesen werden. Der Zerfall Jugoslawiens wird nicht nur in politischen und medialen, sondern z. T. auch in sozialwissenschaftlichen Darstellungen als ein Sonderfall behandelt, bei dem alle unerwünschten und inakzeptablen Erscheinungen, die mit dem Zerfall eines Nationalstaates verbunden sein können, zum Vorschein gekommen seien. Im Mittelpunkt standen dabei die ethnischen Säuberungen, in denen sich das ungeheure Ausmaß der Gewaltanwendung überdeutlich gezeigt haben soll. 5 Diesen Darstellungen zufolge waren die Ereignisse in Jugoslawien ein europäischer Ausnahmefall, da Konflikte in Europa in der Regel auf friedliche Weise gelöst 4 Vgl. Richard Pipes, Kratka zgodovina ruske revolucije, Ljubljana 2011, S. 469. 5 In der vierten Ausgabe ihres soziologisches Lehrbuchs (in den früheren Ausgaben wurden ethnische Konflikte als soziologisches Thema nicht ausführlich behandelt) haben Haralambos und Holborn die Relevanz des Themas am jugoslawischen Beispiel verdeutlich: «After the end of communist rule in Yugoslavia civil war broke out in the 1990 s between the Muslim, the Croatians and the Serbs. In parts of Bosnia whole ethnic groups were driven out of an area so that it might be claimed by another group. This process became known as ‹ ethnic cleansing › .» Michael Haralambos/ Martin Holborn, Sociology: Themes and perspectives, London 1995, S. 404. Obwohl das primäre Zielpublikum des Lehrbuchs britische Studenten sind, werden die ethnischen Konflikte in Nordirland nur flüchtig erwähnt. Auf ähnliche Weise wurde der Zerfall Jugoslawiens in einem amerikanischen soziologischen Lehrbuch behandelt (vgl. Kenneth C. W. Kammeyer, George Ritzer, Norman R. Yetman, Sociology: Experiencing changing societies, Boston 1994, S. 279). Der Zerfall Jugoslawiens: Legitimitätskrise und ihre Folgen 23 <?page no="24"?> werden. Diese Behauptung - offenbar von der zeitlichen Nähe zu den Ereignissen bestimmt - kann einer distanzierten Beobachtung kaum Stand halten. Einer solchen Beobachtung kann nicht entgehen, dass die jugoslawischen Ereignisse sich bruchlos in die Gegenwartsgeschichte Europas fügen. Abgesehen vom Zweiten Weltkrieg und seinen Folgen, 6 gab es im Nachkriegseuropa gewalttätige ethnische Konflikte (z. B. in Spanien und Nord-Irland), systematische ethnische Diskriminierung und den Versuch ‹ ethnischer Säuberung › (z. B. in Bulgarien in den 1980er Jahren), innerlich gespaltene Nationalstaaten (z. B. Belgien und Spanien) sowie den Zerfall von Bundesstaaten (die Tschechoslowakei und die Sowjetunion im Zuge der post-sozialistischen Transformation). So gesehen bietet der Zerfall Jugoslawiens nicht so viel ‹ Neues › , wie oft behauptet wird. Dennoch war der Zerfall Jugoslawiens in mehrfacher Hinsicht ‹ atypisch › und damit unerwartet. Besonders zwei Umstände scheinen zur Diagnose des Ausnahmefalls beigetragen zu haben. Der erste Umstand war die Tatsache, dass das sozialistische Jugoslawien trotz der internen - nicht nur ethnischen - Differenzen relativ lange stabil geblieben oder zumindest fähig war, die mit diesen Differenzen verbundenen Spannungen unter Kontrolle zu halten. Anfang der 1980er Jahre schien es, dass die Stabilität Jugoslawiens - ähnlich wie in anderen sozialistischen Staaten Europas - vor allem durch die Folgen des ineffizienten Wirtschaftssystems gefährdet war. Diese Probleme waren in Jugoslawien allerdings nicht größer als in vergleichbaren Staaten, und so schien es, dass das jugoslawische Regime dank seiner Anpassungsfähigkeit vergleichsweise bessere Chancen für den Umgang mit diesen Schwierigkeiten hatte. Daher kam es überraschend, dass gerade in Jugoslawien die post-sozialistische Transformation mit wachsenden Konflikten und schließlich mit kriegerischen Auseinandersetzungen verbunden war. Der zweite Umstand, der den gewaltsamen Zerfall Jugoslawiens als Überraschung erscheinen ließ, war die Tatsache, dass die Unfähigkeit der jugoslawischen politischen Eliten zur friedlichen Lösung der Konflikte in krassem Widerspruch zu der sich intensivierenden Vorstellung stand, in Europa sei keinerlei Krieg mehr möglich. Der friedliche Verlauf der postsozialistischen Umwälzungen in anderen Ländern mit kaum nennenswerten Ausnahmen, hat diese Vorstellung auf die bestmögliche 6 «The displaced persons and refugees of Europe had survived not just a general war but a whole series of local, civil wars. Indeed, from 1934 through 1949, Europe saw an unprecedented sequence of murderous civil conflicts within the boundaries of existing states.» Judt, Postwar (Anm. 3), S. 32. 24 Ivan Bernik <?page no="25"?> Weise bestätigt. In diesem Kontext war Jugoslawien ein schwer verständlicher Ausnahmefall. Dies schlägt sich in sozialwissenschaftlichen Analysen der postsozialistischen Transformationsprozesse in Mittel- und Südosteuropa insofern nieder, als die Transformation im jugoslawischen Raum in der Regel als nicht vergleichbar mit jener in anderen Staaten erachtet wird. 7 Dabei wird oft übersehen, dass der Zerfall Jugoslawiens eng mit dem Zerfall des sozialistischen Regimes und mit der postsozialistischen Demokratisierung verbunden war. Mit anderen Worten, es wurde nicht wahrgenommen, dass die Kriege in Jugoslawien «die Schattenseite der Demokratisierung» darstellten. 8 2. Die Wirtschaftskrise als Auslöser des Zerfalls? Die mit dem Zerfall Jugoslawiens verbundenen Ereignisse, oft als ‹ unzeitgemäß › wahrgenommen, werden im populären Diskurs als Wiederbelebung anthropologischer und historischer Atavismen zu erklären versucht. Zurückgeführt werden sie entweder auf die anthropologischen Eigenschaften der auf dem Balkan lebenden Völker, d. h. auf ihre quasi eingeborene Neigung zur gewalttätigen Lösung der Konflikte, oder auf die verzögerten Prozesse der Nations- und Nationalstaatsbildung in der Region. Damit wird nahegelegt, dass kriegerische Auseinandersetzungen in Europa nur in Gebieten zum Ausbruch kommen können, die nicht ganz ‹ europäisch › sind. Im Unterschied zu diesen Erklärungsversuchen, die ihre Popularität vor allem ihrer Simplizität zu verdanken haben, gehen die meisten sozialwissenschaftlichen Analysen davon aus, dass das gewaltgeprägte Ende Jugoslawiens auf die Kombination mehrerer Faktoren zurück zu führen ist. Diese Ansätze unterscheiden sich vor allem durch die unterschiedliche Gewichtung der einzelnen Faktoren. 9 In diesem analytischen Rahmen bewegt sich auch der vorliegende Beitrag, wobei nur einer Frage ansatzweise nachgegangen wird. Die Frage wird sich auf die oben angedeutete These stützen, dass die mit dem Zerfall Jugoslawiens verbundenen Konflikte einerseits im europäischen Vergleich prinzipiell nichts Neues darstellten, dass Jugoslawien aber andererseits - aufgrund der beim Zusammenbruch der anderen europäischen sozialistischen 7 Vgl. Judt, Postwar (Anm. 3); David S. Mason (1996): Revolution and transition in East-Central Europe, Boulder/ Colorado, Oxford 1996. 8 Vgl. Mann, The dark side of democracy (Anm. 3). 9 Vgl. Dean Jovi ć , Yugoslavia. A state that withered away, West Lafayette 2009, S. 13 - 33. Der Zerfall Jugoslawiens: Legitimitätskrise und ihre Folgen 25 <?page no="26"?> Regime ausgebliebenen Kriegshandlungen - dennoch ein Ausnahmefall war. In dieser Perspektive scheint besonders die Frage relevant, welche Umstände die Akteure der jugoslawischen Krise zu dem Versuch veranlasst haben, ihre gegensätzlichen Ziele nicht durch Kompromisse, sondern durch gewaltgeprägte Auseinandersetzungen zu erreichen. Von den inneren Umständen, die eine Zuspitzung der Konflikte gefördert haben, waren zwei besonders offensichtlich. Der erste war die Ineffizienz der jugoslawischen Wirtschaft, die Anfang der achtziger Jahre zu einer schweren Wirtschaftskrise führte. Dadurch wurde die Bevölkerung in allen Teilen Jugoslawiens mit stagnierendem oder gar sinkendem Wohlstand und wachsender sozialen Unsicherheit konfrontiert. Der zweite, weniger kontingente Umstand bestand in der Heterogenität und in den Ungleichheiten innerhalb der jugoslawischen Gesellschaft. Damit sind vor allem die notorische ethnische Heterogenität sowie die regionalen Differenzen im Bereich der wirtschaftlichen Entwicklung und der Lebensqualität gemeint. Diese Unterschiede bestanden nicht nur zwischen den Teilrepubliken, sondern auch innerhalb derselben, was vor allem im Bereich ethnischer Heterogenität als problematisch wahrgenommen wurde. Das Zusammenwirken dieser Unterschiede und Ungleichheiten mit den Folgen der Wirtschaftskrise war der Nährboden für Nullsummen-Konflikte im wirtschaftlichen und politischen Bereich, d. h. für Konflikte, die sich auf der Vorstellung gründen, dass eine Seite nur dann gewinnen kann, wenn die andere Seite verliert. 10 Der entscheidende äußere Faktor, der zur Radikalisierung der Auseinandersetzungen in Jugoslawien beigetragen hat, war der Zerfall der bipolaren politischen und militärischen Weltordnung, der mit dem Machtniedergang der Sowjetunion einsetzte, und die Anbahnung einer neuen Ordnung unter der Vormachtstellung der Vereinigten Staaten. Obwohl Jugoslawien bereits vorher eine gewisse Autonomie im internationalen System genoss, hat die Lockerung der äußeren Kontrolle den Akteuren der jugoslawischen Krise einen breiten Handlungsrahmen bei der Auswahl ihrer Ziele wie auch der Mittel zu ihrer Durchsetzung gegeben und ihre Verantwortung für die Folgen ihrer Entscheidungen reduziert. Bedenkt man die Wechselwirkung dieser drei Faktoren, so kann behauptet werden, dass die mit wirtschaftlicher Ungleichheit verbundenen ethnischen Differenzen in Jugoslawien unter den Umständen der sich zuspitzenden wirtschaftlichen Krise ein besonderes Konfliktpotential entfaltet haben. Der Nullsummen-Charakter der Konflikte zwischen 10 Vgl. Mann, The dark side of democracy (Anm. 3), S. 364. 26 Ivan Bernik <?page no="27"?> den Interessenvertretern der Teilrepubliken hat einerseits die Lösung der wirtschaftlichen Krise erschwert und andererseits die Forderungen der teilrepublikanischen Eliten und ihrer Anhänger gesteigert. Unter dem Ausbleiben einer effektiven internationalen Kontrolle gingen die Spannungen zwischen den Teilrepubliken in Auseinandersetzungen zwischen den Nationen über, die letztendlich im Bürgerkrieg eskalierten, der den Zerfall des Bundesstaates besiegelte. Diesem Erklärungsversuch können sicherlich einige Vereinfachungen vorgeworfen werden. Aber auch bei präziserer Ausarbeitung würde die Frage offen bleiben, warum der Zerfall Jugoslawiens anders verlaufen ist als in vergleichbaren (sozialistischen) Staaten. Dies sind vor allem die Tschechoslowakei und die Sowjetunion. Die Lage in allen sozialistischen Regimes, die Ende der 1980er Jahren ihr Ende erlebt haben, war einerseits durch die Wirtschaftskrise bestimmt, die zum Legitimitätsverfall dieser Regime beitrug, und andererseits durch die Veränderungen der internationalen Konstellation. Die erwähnten zwei Länder waren ebenfalls, in unterschiedlichem Maße, ethnisch heterogen und lösten sich im Zuge der post-sozialistischen Transformation zugunsten neuer Nationalstaaten auf. Allerdings war ihr Zerfall - abgesehen von einigen Konflikten in der (ehemaligen) Sowjetunion - im Vergleich mit Jugoslawien friedlich verlaufen. Aus diesem Vergleich lässt sich ableiten, dass die erwähnten Faktoren zwar zum Zerfall Jugoslawiens beigetragen, den Verlauf aber nicht entscheidend bestimmt haben. In diesem Zusammenhang ist die folgende Behauptung erhellend: «Although the change in the outside world and the reemergence of ethnic nationalism (including even its most extreme and violent forms) contributed to its collapse, these contributions emerged more as a consequence of the weakness of the socialist project and of the state than a cause of this weakness.» 11 Der Zerfall des jugoslawischen Bundesstaates wird hier also vor allem auf innenpolitische und ideologische Ursachen zurückgeführt. Der zitierte Autor konkretisiert die These, indem er behauptet, der wichtigste Grund für die jugoslawische Krise sei die bedingungslose Befolgung (commitment) der formalen Regelung der Beziehungen zwischen den Teilrepubliken durch die jugoslawische(n) politische(n) Elite(n) gewesen, «even when it became obvious that the results of its implementation were radically different from what had been intended and expected». 12 Dieser Ansicht nach war Jugoslawien fast zwanzig Jahren lang in einer latenten Krise, d. h. seit 11 Jovi ć , Yugoslavia (Anm. 9), S. 15. 12 Ebd., S. 214. Der Zerfall Jugoslawiens: Legitimitätskrise und ihre Folgen 27 <?page no="28"?> der in den 1970er Jahren in Kraft getretenen Regelung, die den Teilrepubliken breite politische, wirtschaftliche und kulturelle Autonomie gewährleistete. Der Zerfall des Bundesstaates sei ein Endergebnis der unerwünschten Folgen der formalen Machtverteilungsstruktur auf der Bundesebene gewesen. Dieser Deutung kann vorgehalten werden, dass sie die Veränderungen der jugoslawischen politischen Realität in den letzten zwei Jahrzehnten übersieht, die nach dem Tod von Staatschef Josip Broz Tito im Jahr 1980 besonders tiefgreifend waren. Tito war aufgrund seines politischen Charismas ein unbestrittener Vermittler in strategischen Fragen auf der Bundesebene. 13 Seine Rolle untermauerte die formal konföderale Ordnung und machte sie damit erst funktionsfähig. Daher war sein Tod viel mehr als ein Wechsel des Machthabers. Durch Titos Ableben sind nicht nur die formalen Regelungen der Beziehungen zwischen den Teilrepubliken dysfunktional geworden, sondern «did the power struggle over determining the rules fall into stalemate». 14 Diese Umstände haben eine politische Kettenreaktion ausgelöst, die letztendlich zum Zerfall des Bundesstaates geführt hat. 15 13 Vgl. Marko Vrhunec, Š est let s Titom: 1967 - 1973, Ljubljana 2001. («In ihrer genuinen Form ist die charismatische Herrschaft spezifisch außeralltäglichen Charakters und stellt eine streng persönlich, an die Charisma-Geltung persönlicher Qualitäten und deren Bewährung, geknüpfte soziale Beziehung dar.» Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie [1922], ‹ http: / / www.textlog.de/ 7364.html › , Zugriff: 10. 7. 2013, Hervorh. i. O.) 14 Du š ko Sekuli ć , Social rule system theory and disintegration of Yugoslavia, in: Helena Flam/ Marcus Carson, Rule systems theory: Applications and explorations, Frankfurt/ M. 2008, S. 285 - 298, hier S. 286. 15 Die Behauptung von D. Jovi ć (Yugoslavia, Anm. 9), dass die formal konföderale Konzeption des jugoslawischen Bundesstaates von Anfang an dysfunktional war, stimmt nur in dem Sinne, dass diese Regelung das unausweichliche Ableben Titos nicht einkalkuliert und damit die jugoslawische Krise ‹ vorprogrammiert › hat. Den Tod einkalkulieren hätte allerdings bedeutet, dass gerade der «außeralltägliche Charakter» der charismatischen Macht in Frage gestellt wird, weswegen dies im Voraus ausgeschlossen war. Die formale Regelung der Beziehungen zwischen den Teilrepubliken basierte auch nicht, wie Jovic behauptet, auf dem Bekenntnis der jugoslawischen politischen Eliten zur marxistischen Idee des Absterbens des Staates, sondern diente recht gut ihren Interessen. Sie ermöglichte hohe Selbstständigkeit der Bundesrepubliken, verhinderte aber gleichzeitig - durch das Bundeszentrum mit Tito an der Spitze - eine Eskalierung der Interessenkonflikte zwischen den Bundeseinheiten. 28 Ivan Bernik <?page no="29"?> 3. Politische Legitimitätskrise in Jugoslawien Nach Titos Tod waren die jugoslawischen politischen Eliten mit zwei großen Aufgaben konfrontiert: Sie mussten das politische Zentrum auf der Bundesebene neu konstituieren und damit den institutionellen Rahmen schaffen, in dem eine Neuregelung der Beziehungen zwischen den Teilrepubliken auszuhandeln war. Diese Aufgaben waren unter denkbar ungünstigen Umständen zu realisieren. Noch wichtiger als die bereits erwähnte Wirtschaftskrise war die sinkende Legitimität der politischen Eliten. Da das Vertrauen in das jugoslawische sozialistische Regime eng mit Titos Person verbunden war, war sein Ableben auch der Anfang einer tiefen Legitimitätskrise des Regimes. Somit hat mit Titos Tod - wie sich später herausstellen sollte - der Zerfall des sozialistischen Regimes in Jugoslawien seinen Anfang genommen. Die unmittelbare Reaktion der politischen Eliten auf die Anzeichen der Legitimitätskrise waren Versuche, Titos Charisma durch seine Institutionalisierung zu ‹ veralltäglichen › . Bald zeigte sich aber, dass diese Versuche nur ineffiziente politische Rituale und Parolen waren (bspw. «I bez Tita - Tito», im Sinne von: «Auch ohne Tito auf Titos politischem Kurs»), die ein operationsfähiges, d. h. von den Interessen der Teilrepubliken relativ unabhängiges Machtzentrum auf der Bundesebene nicht ersetzten konnten. Dies hat die politischen Eliten der einzelnen Republiken dazu veranlasst, noch intensiver nach neuen Quellen ihrer Legitimität zu suchen. In diesem Prozess haben sie sich zunehmend, allerdings in unterschiedlichem Tempo, als Gestalter und Anwälte der Interessen zuerst der einzelnen Teilrepubliken und später der Nationen profiliert. Damit dürfte klar geworden sein, dass die weitgehend nichtintendierten Veränderungen des jugoslawischen politischen Systems eine wesentliche Verstärkung der zentrifugalen politischen Tendenzen herbeigeführt haben. Anknüpfend an Hirschmans These, dass in einem sozialen Zusammenhang, in dem die Interessen und Erwartungen der Beteiligen frustriert sind, drei Handlungsrichtungen möglich sind - Ausstieg, Widerspruch und Loyalität (exit, voice, loyality), 16 kann behauptet werden, dass in der Situation ohne funktionsfähiges jugoslawisches Bundeszentrum zunächst die Strategien des Widerspruchs vorherrschten. Ein Ende der Pattsituation auf der Bundesebene war durchaus im Interesse der poli- 16 Albert O. Hirschman, Exit, voice, and loyality: Responses to decline in firms, organizations, and states, Cambridge/ Massachusetts 1970. Siehe auch Sekuli ć , Social rule (Anm. 14). Der Zerfall Jugoslawiens: Legitimitätskrise und ihre Folgen 29 <?page no="30"?> tischen Eliten der Teilrepubliken, aber die Vorstellungen über die Richtung der zu erreichenden Veränderungen waren sehr unterschiedlich. An einem Ende des Spektrums stand der Anspruch auf Beibehaltung der formalen Regeln, die zu Titos Zeit die Machtbeziehungen auf der Bundesebene regulierten. Diese Strategie, die keine wesentlichen Veränderungen der bestehenden Regelung verlangte, konnte sich als Loyalität gegenüber dem Erbe Titos legitimieren. Tatsächlich bedeutete das Beibehalten der konföderalen Regelungen ohne Titos integrierende Rolle allerdings eine Veränderung in Richtung eines schwachen Bundesstaates und starker Bundeseinheiten. Im Kern der konträren Widerspruchsstrategie war das Bestreben, die formalen Regelungen dahingehend zu verändern, dass die Machtkompetenzen des Bundeszentrums auf Kosten der Teilrepubliken erweitert würden. Paradoxerweise konnte sich auch diese Strategie auf das Erbe Titos berufen in dem Sinne, dass sie eine Formalisierung jenes Zustands anstrebte, der zur Zeit Titos informell bereits existierte. Die verlangte Veränderung bestand ‹ nur › darin, dass die ehemalige Rolle Titos und des von ihm ausgewählten Stabs jetzt von einer Koalition der Eliten aus jenen Teilrepubliken übernommen würde, die diese Strategie befürworten. Neu war an dieser Strategie nicht, dass sie eine Stärkung des Bundeszentrums verlangte (denn dieses war bereits unter Tito stark genug, wenn es nötig war), sondern dass sie eine asymmetrische Machtverteilung zwischen den Bundesrepubliken auf Bundesebene anstrebte. Die erstgenannte Strategie entsprach besonders den Interessen der slowenischen politischen Elite. Für eine der kleinsten und zugleich ethnisch homogenste Teilrepublik schien ein schwacher Bundesstat den Erhalt ihrer relativen Macht auf Bundesebene und eine optimale Nutzung der eigenen wirtschaftlichen und kulturellen Ressourcen zu garantieren. Umgekehrt hätte für Serbien, die größte Teilrepublik mit erheblicher ethnischer Heterogenität, 17 eine Stärkung des Bundeszentrums unter ihrer Kontrolle einen Einflusszuwachs auf Bundesebene und einen leichteren Umgang mit den Problemen der ethnischen Heterogenität garantiert. Die Strategien der anderen Teilrepubliken waren zwar weniger deutlich artikuliert und kohärent, bewegten sich aber zwischen den beiden extremen Positionen. 18 17 Bei der Volkszählung von 1991 haben sich 88 Prozent der Einwohner Sloweniens als ethnische Slowenen identifiziert, während der Anteil der ethnischen Serben in Serbien bei 66 Prozent lag. Ein Viertel aller Serben lebte außerhalb der Republik Serbien. Mann, The dark side of democracy (Anm. 3), S. 363. 18 «By 1984, the two political blocs had already been created and fairly consolidated. The one (led by Serbian leadership) insisted on reforms of constitution, and the other (most strongly represented by Slovenia, but also dominant in most other 30 Ivan Bernik <?page no="31"?> Auch wenn Serbien in der Lage gewesen wäre, eine breite Unterstützung für die eigene Strategie zu sichern, wäre eine Durchsetzung an dem Umstand gescheitert, dass sich die Befürworter der entgegengesetzten Strategie auf die formalen Regeln berufen konnten, die ihnen ein Vetorecht garantierten. Dieser Pattsituation wurde mit dem Machtaufstieg von Slobodan Milo š evi ć in Serbien ab 1987 ein Ende gesetzt. Dies war mehr als ein Personenwechsel, denn «with him came the idea that if the stalemate could not be broken by negotiation, than use of force would be acceptable if necessary». 19 4. Endphase des Zerfalls: Vom Widerspruch zum Exit Paradoxerweise war der Aufstieg von Milo š evi ć nicht nur eng mit der Beschleunigung des jugoslawischen Zerfalls verbunden, sondern auch mit dem Untergang des sozialistischen Regimes und der damit einhergehenden politischen Demokratisierung. Die Legitimationskrise des Regimes äußerte sich in allen Teilrepubliken - obwohl in unterschiedlichem Maße und in unterschiedlicher Form - zuerst in der wachsenden Kritik an den herrschenden Eliten und später in der Entstehung der mehr oder weniger organisierten Gegeneliten. Um an Massenunterstützung zu gewinnen und sich von den alten Eliten abzusetzen, stellten sich die neuen Eliten als die besseren oder gar einzigen Vertreter der nationalen Interessen dar. Die alten, noch immer herrschenden Eliten konnten auf die wachsende Systemkritik nicht mehr mit Unterdrückung reagieren, sondern mussten sich zunehmend als wettbewerbsfähig erweisen. Damit hat die Anpassungsfähigkeit der herrschenden Eliten den Verlauf der Demokratisierung in den Teilrepubliken stark bestimmt. Im Prozess der Anpassung an das entstehende kompetitive politische System haben die herrschenden politischen Eliten - zwar sehr unterschiedlich in verschiedenen Teilrepubliken, was die ersten freien Wahlen in den Republiken im Jahr 1990 klar gezeigt haben 20 - ihre Haltung als Verteidiger der Yugoslav republics, and in the army) firmly defended all provisions of the 1974 Constitutional arrangement [. . .].» Jovi ć , Yugoslavia (Anm. 9), S. 213. 19 Sekuli ć , Social rule (Anm. 14), S. 289. 20 Daher waren in Jugoslawien (und in den Nachfolgerstaaten) alle Typen der demokratischen Transition vertreten, die in anderen sozialistischen Staaten in Europa zu finden waren. So war die führende Kraft im Demokratisierungsprozess in Serbien die reformierte alte Elite, in Kroatien war es die neue politische Elite, während die Demokratisierung in Slowenien im Wesentlichen in Übereinstimmung zwischen der alten und der neuen Elite verlaufen ist. Vgl. Ivan Bernik, The role of intellectuals in the Slovenian ‹ velvet evolution › from authoritarianism to Der Zerfall Jugoslawiens: Legitimitätskrise und ihre Folgen 31 <?page no="32"?> nationalen Interessen zunehmend radikalisiert. Auf diese Weise haben die Demokratisierungsprozesse in den Teilrepubliken - abgesehen davon, wie widersprüchlich und mangelhaft sie waren - zur endgültigen konfrontativen Politisierung des Ethnischen beigetragen, d. h. dazu, dass die «politische[n] Loyalitätsverbände auf der Basis eines ethnischen Gemeinsamkeitsglaubens organisiert werden». 21 Mit dem Aufstieg von Milo š evi ć und den Anzeichen, dass seine radikalisierte Widerspruchstrategie eine breitere Unterstützung finden könnte (deutlich geworden auf dem letzten, unterbrochenen Kongress des Jugoslawischen Kommunistenbundes im Januar 1990), hat sich in Slowenien, wo die neue(n) politische(n) Elite(n) einen wachsenden Einfluss auf die politischen Entscheidungen hatte(n), die Strategie gegenüber dem Bundesstaat radikalisiert und damit vom Widerspruch zum Ausstieg gewendet. Mit der Erklärung der politischen Unabhängigkeit im Juni 1991 wurde die slowenische Strategie konsequent vollzogen. Da die serbische politische Elite sich zunehmend als Anwalt der serbischen Nation (und nicht nur der Interessen der eigenen Teilrepublik) profilierte und keine unmittelbaren politischen Anspruche gegenüber Slowenien hatte, war zu erwarten, dass die slowenische Entscheidung auf keinen großen Widerspruch in Serbien stoßen wird. Es war aber ungewiss, ob auch die jugoslawische Armee - die die Rolle des letzten effektiven Verteidigers des Bundesstaates übernehmen konnte - zurückhaltend reagieren wird. Doch die Arme konnte und wollte diese Rolle nicht übernehmen und hat sich nach der Unabhängigkeitserklärung in Slowenien nur symbolisch engagiert: «After Slovenian police forces showed that they would resist a token thrust from the JNA, the Serbian-led Yugoslav army, Milosevic let Slovenia go.» 22 Slowenien, das neben Serbien die wichtigste Rolle in den Auseinandersetzungen um die Umstrukturierung des Bundesstaates gespielt hatte, konnte den Bund fast konfliktlos verlassen (und war somit an der gewaltvollen Endphase des Staatszerfalls nicht beteiligt). Dies war ein deutliches Zeichen, dass sich auch die Strategie Serbiens tiefgreifend democracy, in: András Bozoki (Hrsg.), Democratic legitimacy in post-communist societies, Budapest 1994, S. 157 - 169. 21 Andreas Wimmer, Interethnische Konflikte. Ein Beitrag zur Integration aktueller Forschungsansätze. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 47 (3)/ 1995, S. 464 - 493, hier S. 487; «Democratization has brought Yugoslavia into the danger zone. For the election of nationalists to power in most republics strengthened their mutual fears, creating a security dilemma.» Mann, The dark side of democracy (Anm. 3), S. 376. 22 Mann, The dark side of democracy (Anm. 3), S. 376. 32 Ivan Bernik <?page no="33"?> verändert hatte. Obwohl die serbische Elite auch nach der Unabhängigkeitserklärung Sloweniens deklarativ an dem Erhalt von Rest-Jugoslawien (nach Regelungen, die sie selbst vorgeschlagen hatte) festhielt, hat sich ihre Strategie in der Tat schon vorher ebenfalls der Exitstrategie zugewandt. Das heißt, die serbische Elite selbst war bereit - wenn nötig, auch mit Gewalt - , die Kontrolle nur über jene Teile Jugoslawiens zu erlangen oder zu behalten, die sie nach ethnischen oder historischen Gesichtspunkten als serbisch erachtete. Die neue serbische Strategie beinhaltete die klare Absicht, die geopolitischen Grenzen im übriggebliebenen jugoslawischen Raum neu zu ziehen. Mit anderen Worten, mit der Exitstrategie haben sich die serbischen Ansprüche gegenüber den benachbarten Teilrepubliken nicht vermindert, sondern vergrößert. In der neuen Konstellation hatten die übrigen Eliten, die sich zunehmend ebenfalls als Vertreter der einzelnen Nationen und nicht mehr der Teilrepubliken profilierten, wenig Handlungsraum. Da es ungewiss war, wie weit die serbischen territorialen Ansprüche reichen würden, hatten sie im Prinzip nur zwei Möglichkeiten: Anpassung an die serbischen Interessen oder Widerspruch. Dieses Dilemma war besonders in Kroatien und in Bosnien und Herzegowina ausgeprägt. Wegen dem serbischen Bevölkerungsanteil innerhalb seiner Grenzen lag Kroatien in der serbischen Interessenzone und konnte die Konflikte mit Serbien nur durch weitgehende Anpassung an die serbischen Forderungen vermeiden. Als Slowenien seine politische Unabhängigkeit proklamierte, sah sich die kroatische Führung, die sich - ähnlich wie die slowenische - als Verteidiger der nationalen Interessen die Unterstützung durch die Masse gesichert hatte, beinahe gezwungen, das gleiche zu tun. Allerdings war nicht zu erwarten, dass die kroatische Entscheidung von serbischer Seite mit derselben Gleichgültigkeit behandelt würde wie die slowenische. Noch dramatischere Folgen zeitigte die serbische Strategie, die neuen geopolitischen Grenzen nach ethnischen Maßstäben zu ziehen, in Bosnien und Herzegowina. Mit dieser Strategie war die Teilung der Teilrepublik, in der drei Nationen zusammenlebten (Bosniaken, Serben und Kroaten), fast vorprogrammiert. Auch war zu erwarten, dass nicht nur Serbien, sondern auch Kroatien seinen Austritt aus dem Bund mit Teilen des bosnisch-herzegowinischen Staatsgebiets würde ‹ bereichern › wollen. Dass diese düsteren Aussichten in der grausamen Realität der ethnischen Kriege gemündet sind, kann auf struktureller Ebene vor allem auf den ungleichen Zugang der nationalen Eliten zu den Gewaltressourcen zurückgeführt werden. In dieser Hinsicht hatte die serbische Elite deutliche Vorteile. Die Tatsache, dass die serbische Führung unter Der Zerfall Jugoslawiens: Legitimitätskrise und ihre Folgen 33 <?page no="34"?> Milo š evi ć einerseits die ehemalige jugoslawische Armee unter die eigene Kontrolle bringen, andererseits durch erfolgreiche Massenmobilisierung eine breite Unterstützung der serbischen Bevölkerung (auch außerhalb Serbiens) sichern konnte, hat sowohl ihre Anspruche bei der Teilung des ehemaligen Bundesstaates als auch die Bereitschaft zu ihrer Realisierung entscheidend beeinflusst. Sie konnte damit rechnen, dass ihre Ziele schnell und mit relativ niedrigen menschlichen und materiellen Kosten zu erreichen waren. Daher war die serbische Entscheidung, die verfügbaren Gewaltressourcen zu nutzen, relativ einfach und kam nicht unerwartet. Diese relativ einfache Entscheidung hat zu den unerwartet langwierigen Kriegen geführt, in denen alle an Serbien grenzenden Teilrepubliken (mit Ausnahme von Makedonien) und die serbische Provinz Kosovo in die Spirale der interethnischen Gewalt verwickelt waren. 23 Die serbischen Vorteile im Bereich der Gewaltressourcen wurden zumindest teilweise neutralisiert durch die Entschlossenheit der kroatischen, bosniakischen und kosovarischen politischen Eliten, mit der mühsamen Organisation des Widerstands ihrer Rolle als nationaler Führung Glaubwürdigkeit zu verleihen. Entscheidend für die Beendigung der Kriege war es daher, dass den serbischen Ansprüchen von außen Schranken gesetzt und alle beteiligten Seiten zu Kompromissen gezwungen wurden. Wenn die Erosion der internationalen Ordnung des Kalten Krieges einer der Umstände war, die den Zerfall Jugoslawiens beschleunigt haben, dann hat die post-bipolare ‹ pax americana › einen wesentlichen Beitrag zur Einstellung der ethnischen Kriege im ehemaligen Jugoslawien geleistet. 24 5. Die Folgen der ethnischen Kriege verkraften Wenige Kriege haben wohl in den Massenmedien so viel Aufmerksamkeit gefunden wie diejenige, die mit dem Zerfall Jugoslawiens verbunden waren. Medienberichten ist zu verdanken, dass wir das Ausmaß des menschlichen Leidens nachvollziehen können, das in sozialwissenschaftlichen Analysen in der Regel nur mit großer zeitlicher Distanz zur Darstellung gelangt. Angemessen erscheint daher die Forderung, dass in wissenschaftlichen Analysen zumindest eine klare Unterscheidung zwischen Angriff und Verteidigung, Tätern und Opfern, Mächtigen und 23 Vgl. ebd., S. 382 - 427. 24 Vgl. Judt, Postwar (Anm. 3), S. 676 - 683. 34 Ivan Bernik <?page no="35"?> Schwachen unternommen wird. Es scheint, dass gerade im jugoslawischen Fall diese Unterscheidungen weitgehend offenkundig sind und keiner vertieften Analyse bedürfen. Doch dieser Eindruck kann irreführend sein. Auch in den jugoslawischen Kriegen haben nicht nur die Anführer zum Ausbruch der Kriege beigetragen. Sogar Slowenien, das an den eigentlichen Kriegen nicht beteiligt war, hat mit seinen Entscheidungen dennoch ‹ teilgenommen › . Und auch in diesen - wie in vielen vergangenen - Kriegen haben sich die Rollen der Beteiligten im Verlauf der Ereignisse tiefgreifend verschoben, sodass die Täter nicht nur zu Opfern der eigenen Entscheidungen geworden sind, sondern auch der Rache der Opfer ausgesetzt sein konnten. 25 Nicht alle Serben und nicht nur Serben waren die Täter in den jugoslawischen Kriegen, doch die Tatsache bleibt, dass seitens der serbischen Elite die erste Entscheidung kam, ihre Gewaltpotentiale für Kriegszwecke zu nutzen, und dass diese Entscheidung genügend Unterstützung in der serbischen Bevölkerung fand. Dies sind nur einige Paradoxa der Kriege im Allgemeinen und der ethnischen im Besonderen. Ein spezifisches Paradox der ethnischen Kriege scheint damit verbunden zu sein, dass die in den Krieg verwickelten Ethnien nach dem Krieg in der Regel weiter zusammen leben müssen. Diese Kriege können als Extremform des Versuches einer Umverteilung «staatlicher Güter entlang ethnischer Linien» betrachtet werden. 26 Im jugoslawischen Fall reichten die dazu eingesetzten Mittel von der unter Gewaltandrohung vollzogenen Rekonstruktion politischer Institutionen, die die Beziehungen der im Konflikt stehenden Nationen redefinierte, bis zur versuchten Rekonstruktion der ethnischen und staatlichen Grenzen, die sich auf ethnische Säuberungen stützte. Aber ganz gleich, wie sich die Beziehungen der betroffenen sozialen Gruppen im Zuge eines ethnischen Krieges verändern, bleiben diese Gruppen - abgesehen von den Fällen, wenn eine Ethnie von der anderen durch genozidales Vorgehen vertrieben oder sogar ausgelöscht wird - weiterhin miteinander verbunden. Die Folgen der gewaltsamen ethnischen Auseinandersetzungen müssen im Frieden verarbeitet werden. Aus dieser Perspektive können auch die aktuellen Beziehungen der ex-jugoslawi- 25 «Belgrade ’ s actions were a disaster for Serbs everywhere. They lost their land in the Krajina region in Croatia; they were forced to accept an independent Bosnia and abandon plans to carve from it a sovereign Serb state, they were defeated in Kosovo, from which most of the Serb population has since fled in justified fear of Albanian retribution and [. . .] their standard of living has fallen to historic lows.» Judt, Postwar (Anm. 3), S. 685. 26 Wimmer, Interethnische Konflikte (Anm. 21), S. 487. Der Zerfall Jugoslawiens: Legitimitätskrise und ihre Folgen 35 <?page no="36"?> schen Nationen gesehen werden, die sich vor weniger als zwei Jahrzehnten im Krieg gegenüber standen. Die Deutung der Folgen ethnischer Kriege kann sich produktiv auf Georg Simmels allgemeine These stützen, nach der soziale Konflikte nicht zur Unterbrechung sozialer Beziehungen führen, sondern zu deren Intensivierung. 27 Mehr noch: Gerade die heftigsten Konflikte finden oft zwischen solchen sozialen Einheiten (Personen, Gruppen usw.) statt, die bereits vor dem Konflikt in enger Beziehung zueinander gestanden haben. In Anlehnung an diese These lässt sich begreifen, warum in Jugoslawien die Kriege zwischen denjenigen Nationen ausgebrochen sind, die eng miteinander verbunden waren, und warum Slowenien und Makedonien kaum in diese Kriege verwickelt waren. Dies bedeutet keineswegs, dass das enge Beziehungsgeflecht der späteren Kriegsparteien die Ursache der gewaltsamen Konflikte darstellt. Die soziale Nähe zwischen den nationalen Gemeinschaften hat nur die Zuspitzung der Konflikte unter bestimmten Umständen wahrscheinlicher gemacht. Dadurch lässt sich auch die Tatsache erklären, dass die kriegerischen Auseinandersetzungen am heftigsten in Bosnien waren, wo nach Meinungsumfragen von 1989/ 90 die ethnische Toleranz - im Vergleich mit den anderen Teilrepubliken - am höchsten war. 28 Die ethnische Toleranz ist unter geänderten politischen Umständen überraschend schnell gesunken, aber die mit ihr verbundene soziale Nähe hat paradoxerweise die Intensität der Konflikte zwischen den in Bosnien lebenden nationalen Gemeinschaften gesteigert. In dieser Perspektive besteht ein wichtiges Mittel zur Überwindung der Folgen der ethnischen Kriege nicht in der Intensivierung der sozialen Beziehungen zwischen den unlängst im Krieg stehenden Ethnien, sondern in der Lockerung und Entlastung dieser Beziehungen durch Integration in übergeordnete soziale Zusammenhänge. Diese Maßnahme hat sich im jugoslawischen Fall bereits bei der Beendigungen der Kriege, die ohne die Einmischung externer Akteure kaum möglich gewesen wäre, als produktiv erwiesen. Im Friedensprozess hat sich die positive Rolle der internationalen Akteure und Institutionen zusätzlich bestätigt. In diesem Prozess scheint die Rolle der Europäischen Union, die im Verlauf der 27 «Wenn jede Wechselwirkung unter Menschen eine Vergesellschaftung ist, so muss der Kampf, der doch eine der lebhaftesten Wechselwirkungen ist, der in der Beschränkung auf ein einzelnes Element logisch unmöglich ist, durchaus als Vergesellschaftung gelten.» Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 1908, S. 186. 28 Randy Hodson/ Dusko Sekulic/ Garth Massey, National tolerance in the former Yugoslavia, in: American Journal of Sociology 99(6)/ 1994, S. 1534 - 1558. 36 Ivan Bernik <?page no="37"?> jugoslawischen Kriege als möglicher Friedensstifter viel versäumt hat, 29 besonders wichtig zu sein. Durch die stufenweise Einbeziehung aller im Raum des ehemaligen Jugoslawien entstandenen Nationalstaaten kann die Union nicht nur zur wesentlichen Erleichterung von Kommunikation und Zusammenarbeit beitragen. Darüber hinaus kann sie den Menschen in diesem Gebiet, besonders den jüngeren Generationen, freie Mobilität in einem breiten sozialen Raum ermöglichen und damit zur Wiederherstellung der Lebenschancen beitragen, die in den Jahren der Kriege verlorengegangen sind. 29 Vgl. Judt, Postwar (Anm. 3), S. 683 f. Der Zerfall Jugoslawiens: Legitimitätskrise und ihre Folgen 37 <?page no="39"?> Mario Grizelj «Ego sum qui sum» - deconstructed oder Die Faszination des Bindestrichs «In der Identitätsreflexion kann das Individuum sich letztlich nur noch als Differenz zu sich selbst fassen im Sinne einer Selbsterfahrung, die sich sagt: ich bin, der ich bin, oder ebenso gut: ich bin, der ich nicht bin.» Anleitung In E. T. A. Hoffmanns Roman Die Elixiere des Teufels (1815/ 16) dreht sich das Geschehen um die Sünden und Eskapaden des Kapuzinermönchs Medardus. Am Ende seines Lebens bekommt dieser vom Prior eine Aufgabe gestellt: Er soll als Bußübung seine Lebensgeschichte aufschreiben. Indes, das schreibende und erzählende Ich, das als reflektierendes Ich Distanz zu seinem erlebenden Selbst gewinnen müsste, verwandelt sich durchgehend in das sehende und erlebende Ich. Auch im Modus der Schrift ist Medardus weniger ein Lesender (Hermeneut, Exeget), als vielmehr ein bildlich Sehender und qua Bilder Erlebender und solchermaßen ein Vergegenwärtigender: «Die Fantasie wird dich wirklich in die Welt zurückführen, du wirst alles grauenvolle, possenhafte, schauerliche und lustige noch einmal fühlen [. . .]. Ach! - wohl geschah es so, wie er es ausgesprochen! - Schmerz und Wonne, Grauen und Lust - Entsetzen und Entzücken stürmten in meinem Innern, als ich mein Leben schrieb. [. . .] heiße Tränen [entstürzten] den Augen [. . .] und alle längst verharschte Wunden [bluteten] aufs neue.» Signifikant ist hier, dass Medardus, um eine fromme und spirituelle Bußübung durchzuführen, genau in den darstellungstechnischen Modus eintauchen soll, der ihm von geistlicher Seite als Sünde vorgeworfen wurde. Medardus soll hier die Liebe als «höchste Sonnenzeit», als sublimierte Größe im Sinne einer höheren Welt nacherleben, also in der Bußübung eine religiöse Erfahrung machen. Indes, der Prior verweist ihn auf die Fantasie und auf die Vergegenwärtigungsbewegung selbst und indiziert hier statt einer religiösen eine ästhetische Erfahrung, in der die Intensität des qua Schrift erinnerten Begehrens einen Erregungszustand erreicht, der sexuell konnotiert ist <?page no="40"?> und damit die Sublimierung der Sexualität in Form von Liebe verfehlt. Die schriftliche Bußübung erregt den erzählenden Medardus genauso wie die sexuelle Begierde den erlebenden Medardus erregt hat. Nicht zuletzt wird solchermaßen aus der spirituellen Bußübung ein künstlerisch-schriftstellerischer Akt und es kommt zur Ebenenüberlagerung: Medardus wird zum bußfertigen Autor eines nicht nur fantasiegeleitenden, sondern in einigen Hinsichten auch fantastischen Textes. Wichtig ist hier für unseren Zusammenhang, dass Medardus erst schreibt, erst über sein Leben reflektiert und erst sein Leben nacherlebt, als ihn der Prior dazu auffordert und ihn dazu anleitet. Die hl. Teresa von Ávila schrieb ihre ekstatischen Visionen und ihre Autobiographie (Vida = Libro de las misericordias del Señor; Buch von den Erbarmungen des Herrn, 1565) auch unter Obhut und unter Anleitung durch ihre Beichtväter, ja, ihr wurde, als sie zauderte, von den Beichtvätern die Niederschrift geradezu befohlen. Medardus und Teresa erleben ihr Leben und sie entwickeln dabei ein «fungierendes Ich», ein «Ich als einem Habitusensemble», also ein «implizites Ich, das sich durch sein Handeln zeigt, festigt und verwirklicht, das aber nicht deshalb schon im eigentlichen Sinne selbstreflexiv ist. Die Identität in diesem Sinne wäre lediglich das Selbst in der Form des An-Sich.» Um hingegen ein Selbst in der Form des «Für-Sich» zu werden, also für sich selbst und die anderen explizit zu werden, damit ein Ich zu werden, «das seine Selbstheit ausdrücklich macht, sie als solche zum Gegenstand von Darstellung und Kommunikation erhebt», bedarf es bestimmter sozial festgelegter und historisch variierender Formen, sogenannter «Biographiegeneratoren» (Beichte, Psychoanalyse, Tagebuch, Memoiren . . .). Zwei Dinge möchte ich hierbei herausheben: 1. Das Darstellen des impliziten und expliziten Ichs hängt von sozialen Formen ab; es gibt keine idiosynkratische, ‹ asoziale › Ichadäquatheit und 2. das explizite, reflexive Ich ergibt sich nicht einfach von selbst, drängt nicht einfach von selbst in eine Gestalt, sondern bedarf einer Anleitung: «Menschen neigen nicht von Natur aus dazu, sich über ihr Leben Rechenschaft abzulegen. Ob sie das tun und in welcher Form, hängt davon ab, ob es Institutionen gibt, die die Individuen zwingen oder es ihnen gestatten, ihre Vergangenheit zum Thema zu machen. Solch ein Rückblick auf die eigene Vita ist nie ohne Anleitung der Aufmerksamkeit möglich.» Nun haben uns die beiden Organisatoren dieser Tagung, Svjetlan Lacko Viduli ć und Boris Previ š i ć , ein, wie sie es nennen, «Internes Anleitungsblatt» zugesandt, um uns dazu zu bringen, dem «Zusammenhang von theoretischer Modellierung und persönlicher Erfahrung» nachzugehen. 40 Mario Grizelj <?page no="41"?> «Dabei soll die persönliche Erfahrung theoretisch reflektiert und vor allem gefragt werden, inwiefern bestimmte Erfahrungen einen spezifischen wissenschaftstheoretischen/ methodischen Horizont erfordern bzw. diesem auch widersprechen können.» Üblicherweise liest man in CFPs vorsichtig von ‹ Anregungen › , die einem im Hinsicht auf das Tagungsthema gegeben werden, hier steht explizit der starke Begriff der ‹ Anleitung › . Dass wir angeleitet werden, ist im freiheitsliebenden geisteswissenschaftlichen Diskurs ungewöhnlich und dass wir zur Korrelation von persönlicher Erfahrung und Theorie bzw. Methode angeleitet werden, ist noch ungewöhnlicher. Unabhängig von theoretischen Schulen haben wir doch alle (die Ethnologen mal ausgenommen) mehr oder weniger gelernt, unsere persönlichen Erfahrungen aus unseren wissenschaftlichen Texten gefälligst rauszuhalten. Wo dies doch auftritt, ich denke hier vor allem an die jüngeren Texte von Hans Ulrich Gumbrecht (so wissen wir alle, dass sein Sohn Bundeswehr-Luftwaffenpilot ist), wo dies also dann doch auftritt, funktioniert es nur, wird es nur gebilligt, weil es als Ausnahme wissenschaftlichen Informationswert besitzt. Nun denn, mit dem Begriff ‹ Anleitung › haben die beiden Organisatoren schon einen impliziten Beitrag genau zu der von ihnen geforderten Korrelation von persönlicher Erfahrung und Theorie geleistet, indem sie uns in Positionen bringen, die analog zu denen von Bruder Medardus und Teresa von Ávila sind. Wir dürfen ihre ‹ Anleitung › damit getrost als der Beichte oder dem psychoanalytischen Gespräch analoge ‹ Biographiegeneratoren › verstehen, die uns blutleere Wissenschaftler dazu anleiten, wissenschaftlich relevante explizite persönliche Ichs auszubilden. Dabei geht es nicht darum, das hat die Biographieforschung zeigen können, einfach ein vergangenes Geschehen aufzuzeichnen, ein vergangenes Leben schriftlich zu erfassen, sondern die Form der Anleitung, die Form des Biographiegenerators konditioniert zuallererst die Art und Weise, wie ich mein vergangenes Leben sehe und wie ich es damit konstruiere. Meine persönliche Korrelation von persönlicher Erfahrung und Theorie, der Anleitung entsprechend, ist damit Korrelat dieser bestimmten Anleitung. Es gab diese bestimmte persönliche Erfahrung des Mario Grizelj in dieser Form nicht vor der Anleitung. Ich habe nicht im Rahmen meines Lebenslaufstroms als heuristisch angenommener Totalität meines Lebens einen bestimmten Abschnitt herausgenommen, sondern ich habe retro-aktiv aufgrund der spezifischen Fragestellung der Anleitung bestimmte Momente hervorgehoben und dadurch überhaupt erst eine biographische Signatur erstellt. Das Jahr 1994, auf das ich später eingehen werde, bestand in dieser Form vor dieser Anleitung nicht. (Mit ‹ Lebenslauf › ist die heuristisch anzunehmende Totalität meines Lebens markiert, «Ego sum qui sum» - deconstructed oder Die Faszination des Bindestrichs 41 <?page no="42"?> schlicht alles, was zwischen Geburts- und Todestag abläuft, und mit ‹ Biographie › die Punktierungen dieses Ablaufens nach bestimmten Mustern − Ausbildung, Beruf, besondere Kenntnisse, Auslandsaufenthalte, Familienstand usw.) Freud geht im Zuge seiner Theorie der Umschrift davon aus, dass ein in der Vergangenheit stattgefundenes neutrales Ereignis im Zuge einer verspäteten Aktivierung in ein Trauma umgeschrieben wird. Das Trauma wird retro-aktiv nach-konstituiert, es wird im Zuge einer Änderung der symbolischen Ordnung nicht einfach verspätet beschrieben, sondern in seiner Präsenz, Operativität und Wirkung ‹ erst › im Nachhinein in Szene gesetzt und somit zuallererst im Nachhinein konstituiert. Nicht umsonst spricht Lacan von einem future antérieur und man kann diesbezüglich Folgendes lesen: «[T]he logic of Freud ’ s notion of the ‹ deferred action › does not consist in the subsequent ‹ gentrification › of a traumatic encounter by means of its transformation into a normal component of our symbolic universe, but in almost the exact opposite of it - something which was at first perceived as a meaningless, neutral event changes retroactively after the advent of a new symbolic network [. . .] into a trauma that cannot be integrated.» Sowohl die Neutralität des Ereignisses als auch seine eventuelle retro-aktive Umschrift in ein Trauma sind allerdings Momente von Selbst- und Fremdbildern, die an einer Biographie kondensieren und die von Abstraktionen und Selektionen abhängen. Aus meinem Lebenslauf selegiere ich im Rahmen meiner biographischen Überlegungen Aspekte heraus; die Selektion ist dabei jedoch nicht einfach Teil meines Identitätshaushaltes, sie ist vielmehr abhängig von textuellen Mustern und institutionellen und diskursiven Zusammenhängen. Dass wir hier im Rahmen der Geistes- und Sozialwissenschaft angeleitet werden zu einer, wie es heißt, «essayartige[n] und verständliche[n] Metareflexion» zum Verhältnis von persönlicher Erfahrung und Theorie, konditioniert unsere Selektionen im Hinblick auf unsere ‹ Selbstdarstellung › , ‹ Selbsterkenntnis › , ‹ Offenlegung unseres Inneren › . Meine persönliche Version der Korrelation von Persönlichem und Theorie ist sozusagen nicht persönlich. Ein sich solchermaßen ergebendes Bild meiner selbst entspringt «nie ausschließlich meiner eigenen Abstraktions[- und Selektions]leistung, selbst wenn seine Erzeugung über sozial geforderte Selbstdarstellungen gesteuert wird. Das Selbstbild als Resultat von zurechnungsfähigen Selbstäußerungen ist stets durch einen bestimmten Aufbau charakterisiert [Anleitung zur Tagung; MG], einen Zusammenhang, in den Wertvorstellungen, Wirklichkeitsauffassungen, Richtigkeits- und Wichtigkeitskriterien der umgebenden Gesellschaft eingehen. Der Sinn, den meine Identität darstellt, ist also von 42 Mario Grizelj <?page no="43"?> Anfang an verwoben mit einem Sinn, der nicht von mir stammt.» Solchermaßen bin ich als Selbst ‹ Für-Sich › ein soziales Konstrukt, Epiphänomen von Textformaten, Diskurs, System und Institution und damit Teil einer sozialen Struktur und eben nicht authentisches, selbstidentisches, idiosynkratisches Ich. Meine persönliche Erfahrung - und damit auch meine persönliche Erfahrung der Korrelation von Persönlichem und Theorie - ist damit weder eine vorsoziale Entität noch «Rückzugsort der Subjektivität in Abgrenzung zur Welt», sondern Produkt sozialer Formatierungsmuster, die wiederum abhängig sind von der jeweiligen Differenzierungsform der Gesellschaft: «Nicht die Individuen begründen die Gesellschaft, indem sie sich zum Zusammenleben entschließen und einen entsprechenden Vertrag schließen, sondern die Gesellschaft begründet die Individuen, indem sie es ihnen ermöglicht, sich als Individuen zu behandeln, Verträge zu schließen, sich wechselseitig zu binden, verantwortlich zu machen, zu sanktionieren.» Insgesamt impliziert diese Argumentation, dass grundsätzlich gelten muss: Nicht das Individuum hat seine Gesellschaft, sondern die Gesellschafts-Form hat «ihre jeweilige Form der Individualisierung», und ihre jeweilige «Form von Individualität» und dies bedeutet, dass die «Notwendigkeit der Selbstbestimmung [. . .] dem Einzelnen als Korrelat einer gesellschaftlichen Entwicklung zu[fällt].» Differenz/ Person Persönliche Erfahrung, Subjektivität, Individualität, das Selbst Für- Sich . . . sind in diesem Sinne konstitutiv Epiphänomene ihrer Differenz zum Sozialen als ihrem Anderen. Sie sind «Zwei-Seiten-Formen»: «Was Subjektivität sein kann, hängt dann immer von der anderen Seite ab, und insofern ist das Individuum in seiner Subjektivität stets das Andere seines Anderen, mithin also ein Produkt seines Gegenübers». Während Gott selbstidentisch und sich selbst tragend ausrufen kann: «Ego sum qui sum» und sich selbst aus sich selbst heraus differenzlos als Ich bestimmen kann, sind wir Menschen darauf angewiesen, uns über Differenzen Identität zu verschaffen. Während Gott das Ununterschiedene eine Identische ist, der immer ist, was er ist und immer, so in der Luther-Übersetzung, sein wird, der er sein wird, sind wir Menschen Ichs und Selbste als Unterschiedene. Während Gott substanziell und zeitlich der Ununterschiedene ist, sind wir substanziell und zeitlich immer von der Differenz zum anderen abhängig. Wir sind abhängig vom Gegenüber und wir sind nie gleichzeitig alles, was wir sind. «In der Identitäts- «Ego sum qui sum» - deconstructed oder Die Faszination des Bindestrichs 43 <?page no="44"?> reflexion kann das Individuum sich letztlich nur noch als Differenz zu sich selbst fassen im Sinne einer Selbsterfahrung, die sich sagt: ich bin, der ich bin, oder ebenso gut: ich bin, der ich nicht bin» oder: Ich bin nicht, der ich bin. Jedenfalls wird die «Differenz zu uns selbst [. . .] die Basis unserer Identität.» Man könnte nun diese differenzbasierte Konstellation nicht als zu lösendes Problem auffassen, sondern als Mittel, um im Kontext von sozialen Mustern, Schematisierungen und institutionellen Rahmungen Besonderheit und Idiosynkrasie zu kommunizieren. Man könnte versuchen, auf die Karte der Differenzialität zu setzen und die persönliche Erfahrung als Distinktionsmerkmal zu konzipieren. Man könnte die persönliche Erfahrung auf den Begriff der ‹ Person › bringen. Was unterscheidet Personen von Nationen, Staaten, Ideologien, Kollektiven, Gemeinschaften, Ethnien? Wenn man sich auf der Ebene von Nationen usw. bewegt, kann man in der Tat oppositionelle Denkschemata beobachten (Kommunismus/ Nationalismus, Jugonostalgie/ Nationalismus, wir/ die anderen, Christenheit/ Islam, Europa/ Balkan u. ä. m.) und wenn man auf die persönlich-(auto-)biographische Ebene geht, dann bringt man diese oppositionellen Denkschemata ins Wanken. Die persönlichen Erfahrungen, die konkreten Lebenswelten und Familienbiographien befinden sich auf einer Abstraktionsebene, die klare Schemata, Klassifizierungen und Taxonomien unterläuft und Identitäten so verkompliziert, dass Vielfalt, Überschneidung, Transgression und Komplexität beobachtet werden müssen. − Indes, und hier schließe ich wieder an meine oberen Ausführungen an, was passiert, wenn man das schemasprengende Konzept Person selbst als ein Schema betrachtet? Was ist, wenn die persönliche Erfahrung, wenn die konkrete Biographie, wie vorhin dargelegt, gar nicht so persönlich und gar nicht so konkret ist? Um der Gefahr zu widerstehen, die Oppositionen und Schemata dekonstruierende persönlich-biographische Erfahrung in ein oppositionelles Verhältnis zum Konzept Schema zu bringen, mag es angebracht sein, die persönlich-biographische Erfahrung selbst als Epiphänomen von Schemata zu fassen. Mein Beitrag möchte versuchen, in die vorteilhafte Position zu kommen, Versus-Positionen zweiter Ordnung auszuhebeln. Es ginge darum, den Binarismus von Person/ Schema und in einer weiteren Verkomplizierung den Binarismus von Binarismus/ Vielfalt zu dekonstruieren. Dazu mag es hilfreich sein, eine komplexe zweiwertige Theorie in Anschlag zu bringen: Luhmanns Systemtheorie. Die Identität einer Person ist eine strikt soziale Konstruktion, deren Form und Inhalte von den jeweiligen sozialen Systemen abhängen, unter denen sie sich ausbildet. Personen lassen sich als relativ stabile verdichtete «Erwar- 44 Mario Grizelj <?page no="45"?> tungscollagen» beobachten. Die Identitäten von Personen werden konstruiert, um «Verhaltenserwartungen ordnen zu können, die durch sie und nur durch sie eingelöst werden können», somit ist die Identität von Personen Ergebnis dieser emergenten sozialen Ordnungen. Solchermaßen betrachtet, sind Personen soziale Zurechnungsadressen und stimmen nicht mit dem Überein, was als Bewusstsein, Ich oder Individualität gemeint sein mag. Die ‹ Person › unterscheidet sich auf der einen Seite von dem Konzept der ‹ Rolle › , da hier sozial konditionierte Erwartungen individuell attribuiert werden. Die Person ist eine «individuell spezifizierende Sozialstruktur, sie schreibt nicht typische Rollenmerkmale vor, sondern attribuiert Individuen für sie typische Abweichungen von einer allgemeinen Typologie der Rollenskripte.» Eine konkrete Person wird im Hinblick auf eine Rolle, sagen wir mal Germanist, auf Erfüllung bzw. Abweichung vom Rollenskript abgetastet. Ich, Mario Grizelj, erfülle im Moment als Person die Rolle eines einen Aufsatz schreibenden Germanisten (Person ≠ Rolle). Auf der anderen Seite deckt sich ‹ Person › nicht mit dem, was ich denke oder fühle. Mein Bewusstsein bleibt operativ von dem getrennt, von dem, was Sie im Moment als Person hier im vorliegenden Text von mir lesen können (Person ≠ Bewusstsein). Dies hat weitreichende Konsequenzen. Persönliche konkrete Biographien in konkreten Lebenswelten sind damit also Effekte unpersönlicher sozialer Ordnungsmuster. Wenn ich nationalistische oder jugonostalgische Ideologeme und Schemata bzw. den Binarismus von Nationalismus/ Nostalgie im Namen (m)einer persönlichen Erfahrung unterminiere, dann nur deshalb, weil ich auf soziale Muster und Schemata zugreifen kann, die persönliche Erfahrung konditionieren und determinieren. Auch ich als diese bestimmte Person, die ich bin, bin eine systemisch formatierte soziale Adresse, egal wie tief ich mich in meine private und familiäre Idiosynkrasie zurückziehen möchte. Allerdings, gerade weil Bewusstsein und soziale Adresse, sprich Person, operativ getrennt sind, kann ‹ ich › mich von Rollenskripten, Schemata und sozialen Konditionierungen absetzen. Ich kann hier in diesem Text meine Rolle als Germanist erfüllen, an diesem wissenschaftlichen Sammelband teilnehmen und mich der Korrelation von persönlicher Erfahrung und Theorie hingeben, gleichzeitig aber denken, dass die Germanistik abzuschaffen ist, dass geistes- und sozialwissenschaftliche Tagungen eine schlimme Geldverschwendung sind usw. usf. . . . Ich kann also denken, was immer ich will, ohne dass sie etwas davon mitbekommen und ich könnte in einem nächsten Schritt diese ‹ interne Absetzbewegung › einsetzen, um soziale Schemata zu unterminieren. Ich könnte alles das, was in meinem Inneren vorgeht, als Medium einsetzen, um «Ego sum qui sum» - deconstructed oder Die Faszination des Bindestrichs 45 <?page no="46"?> mich gegenüber sozialen Vereinnahmungen jeglicher Art zur Wehr zu setzen, jedoch: Auch meine im Bewusstsein verschlossenen, nur mir zugehörigen Gedanken und Wahrnehmungen und Gefühle sind sozial affiziert und sozial konditioniert. Die Systemtheorie spricht hier von ‹ struktureller Kopplung › . Bewusstsein und Kommunikation sind strikt operativ getrennt, jedoch strukturell gekoppelt und wenn ich nun auf die Idiosynkrasie des Bewusstseins setze - Luhmann spricht vom Bewusstsein als einem ‹ Irrwisch › - und ich diesen Irrwisch einsetze, um Schemata zu dekonstruieren, so kann ich dies ja nur, indem ich Gedanken in Worte fasse und Zeichen verwende, also sozial angeliefertes Material gebrauche. Der Eigen-Sinn des Bewusstseins wird qua Zeichen sozial alteriert. Insgesamt geht es darum, dass das Bewusstsein seinen Eigen-Sinn nicht als Monade erhält, sondern dass das Bewusstsein seine Identität erhält und aufrechterhält, indem es in struktureller Kopplung (sozial) formatiert wird. Es gibt kein unformatiertes Bewusstsein. Auch dort, wo wir uns am meisten bei uns selbst denken und uns von der Rolle und der Person absetzen, sind wir auf Strukturen angewiesen, die eben nicht die unsrigen sind. Wir sind paradoxerweise auf Abweichungen von der Sozialstruktur angewiesen, um individuell zu sein und als Individuen erkennbar zu sein, müssen hierzu aber auf soziale Ressourcen zurückgreifen. Bindestriche Grundsätzlich soll es darum gehen, meine persönliche(n) Bindestrich- Identität(en) (Deutsch-Kroate, Bosnien-Herzegovina-Dubrovnikaner usw.) als eben einen Effekt sozialer Ordnungen zu beschreiben und dabei gleichzeitig die persönliche Besonderheit eben meiner Bindestriche herauszustellen. Meine Bindestriche sind dann zwar zum einen Mittel, um Binarismen und Oppositionen zu unterminieren und Schemata aufzudecken und zu dekonstruieren sowie meine Biographie mit Vielfalt und transgressiven Momenten aufzuladen, sie sind aber eben auch zum anderen die sozialen Bindemittel, die sozialen Schemata, die mir überhaupt die Möglichkeit geben, persönliche Erfahrungen und Denkschemata unterscheiden zu können. Es soll sichtbar werden, wie die Bindestriche mich sowohl multiplizieren als auch einengen, wie sie sowohl Schemata auflösen als auch Schemata konstruieren. Meine Bindestriche sollen als Schemata unterminierende Schemata in den Blick kommen. Wenn die beiden Herausgeber in ihrer Anleitung schreiben: «Zu einer Positionierung jenseits von Nationalismus und Jugonostalgie gehört auch eine kritische Hinterfragung der unter Intellektuellen gängigen Hybridisie- 46 Mario Grizelj <?page no="47"?> rungsposition des Sowohl-als-auch oder Weder-noch», so stimme ich ihnen vollkommen zu, möchte aber argumentieren, dass wir auf der nächsten Metaebene nicht umhin können, die Hybridisierungspositionen des Sowohl-als-auch oder Weder-noch sowohl zu unterminieren als auch zu bestätigen bzw. weder zu unterminieren noch zu bestätigen. Meine Argumentation läuft darauf hinaus, dass der ‹ Befehl › , persönliche Erfahrung mit Theorie zu korrelieren, eine unaufhaltbare ‹ Meta-isierung › der Reflexion in Gang bringt. Und ich muss zugeben, dass es mir im Modus der ‹ Meta-Meta-Meta-Reflexion › schwerfällt eine, wie es in der Anleitung heißt, verständliche Metareflexion der beiden Ebenen persönliche Erfahrung/ theoretische Position hinzubekommen. Kybernetik In dieser meta-meta-reflexiven Schleife ist es wichtig zu untersuchen, ob die Fassung der Relation von persönlicher Erfahrung und Theorie von der persönlichen Erfahrung oder von der Theorie konditioniert ist. Folgt die hier konzipierte Relation von Schema und persönlicher Schemadurchbrechung theoretischen Mustern oder persönlichen Erfahrungen? Wenn ich schreibe, dass ich mich (als Wissenschaftler, als ‹ Person ‹ als ‹ Mensch › , als hybrider bindestrich-identitärer Mario Grizelj) im Anbetracht der Abgründe von Krieg, Nationalismus und Dummheit in die Systemtheorie begeben habe, argumentiere ich dann als Mario Grizelj (persönliche Erfahrung) oder als ‹ Mario Grizelj › ( ‹ systemtheoretischer Wissenschaftler › )? Oder ist die Oder-Struktur der Fragen schon das Problem? Die wissenschaftliche These, dass soziale Muster und Schemata die persönliche Erfahrung bis hinein in das Bewusstsein konditionieren und determinieren, ist hier kurzgeschlossen mit der persönlichen Erfahrung, dass ich mich in die wissenschaftliche Theorie geflüchtet habe, die genau diese These aufstellen kann. Die Frage wird sein, ob und wie solche radikal kybernetisch-zirkulären Wechselseitigkeiten aufgelöst werden können/ müssen. Jedenfalls wird man (werde ich! ) nicht um ein autoreflexives Moment umhin kommen, da letztlich die «Beschreibung selbst [. . .] unter ihr Objekt [fällt], das als ein Objekt beschrieben werden muss, das sich selbst beschreibt.» In diesem Prozess der Autoreflexivierung werde ich als Beobachter von Biographiemustern zugleich zu meinem eigenen Beobachtungsgegenstand. Interessanterweise fällt auch zeitlich der ‹ Balkankrieg › mit meinem ersten Luhmann-Kontakt zusammen (Luhmann habe ich das erste Mal 1994 gelesen). In diesem Kontext möchte ich eine konkrete Begebenheit «Ego sum qui sum» - deconstructed oder Die Faszination des Bindestrichs 47 <?page no="48"?> als Aufhänger für meine Argumentation verwenden: Ich erinnere mich nämlich an eine hitzige Diskussion in einem Proseminar über Literaturtheorie an der FU Berlin, in dem in der Sitzung über ‹ Literatur, Gesellschaft und Systemtheorie › ein engagierter und aufbrausender deutscher Student den neuen kroatischen Staat als durchweg neofaschistisch und die Kroaten (also auch mich gebindestrichten ‹ Deutsch-Kroaten › ) rundweg als Usta š as bezeichnet hat . . . Ich glaube mich auch zu erinnern, dass ich im Anschluss an diese Seminarsitzung erstmals ernsthaft und systematisch über meine Identität als Diasporakroate nachgedacht habe und gebe dabei auch zu, dass ich damals mit den Anfeindungen des Nationalismus zu kämpfen hatte, jedoch sehr schnell eine Indifferenz gegenüber politischen und tagespolitischen Geschehnissen entwickeln konnte . . . Wie sich meine Überlegungen damals alle entwickelten, weiß ich heute nicht mehr, aber ich kann heute beobachten - quasi retro-aktiv konstruieren - , dass das entscheidende persönliche Ereignis damals die Luhmann-Lektüre war. Das heißt, aus heutiger Sicht argumentiere ich mithilfe der Systemtheorie, dass die Systemtheorie für die Korrelation von persönlicher Erfahrung und Theorie verantwortlich ist und das just in dem Moment, wo ich aufgrund der äußeren Umstände (Krieg, Nationalismus, neue Staatsangehörigkeit usw.) gezwungen wurde, über meine Identität nachzudenken. Intrikaterweise habe ich mit der Systemtheorie eine Theorie an die Hand bekommen, die aus der Anleitung zu dieser Tagung keinen Biographiegenerator macht, sondern mich davon abhält, etwas Konkretes über meine persönliche Erfahrung zu sagen. Die Systemtheorie hilft mir die Korrelation von persönlicher Erfahrung und Biographie einerseits und Theorie andererseits beobachten zu können und ist zugleich eine Biographievermeidungsstrategie. Ich bekomme mein persönliches Profil von einer Theorie verpasst, die gegenüber persönlichen Profilen (mehr oder weniger) blind ist. Zu meiner Biographie gehört die Systemtheorie, die sachlich eher an sozialen Adressen, an Systemen und weniger an den Persönlichkeiten von Individuen interessiert ist. Dass die biographienindifferente Systemtheorie so attraktiv für mich werden konnte, darf dann nun in einem weiteren Schritt als symptomatisch für meine persönliche Biographie gedeutet werden. Dass ich inmitten von Krieg und Tod, Nationalismus und neuen Staaten gerade das Lektüreerlebnis einer biographieresistenten, ‹ menschen › indifferenten Theorie zum zentralen Ereignis meiner Biographie mache, ist der blinde Fleck, den es zu beobachten gilt. 48 Mario Grizelj <?page no="49"?> Im vorliegenden Beitrag finden sich als Zitate ausgewiesene, aber nicht einzeln nachgewiesene Zitate aus folgenden Texten: Baraldi, Claudio/ Giancarlo Corsi/ Elena Esposito: GLU. Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Frankfurt/ M. 1997. Fuchs, Peter: Der Eigen-Sinn des Bewußtseins. Die Person, die Psyche, die Signatur. Bielefeld 2003. Fuchs, Peter: «Mensch/ Person». In: O. Jahraus, A. Nassehi (Hrsg.), Luhmann Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart u. Weimar 2012, S. 101 - 103. Hahn, Alois: Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte. Aufsätze zur Kultursoziologie. Frankfurt/ M. 2000. Hahn, Alois: «Identität und Selbstthematisierung». In: A. Hahn, V. Kapp (Hrsg.), Selbstthematisierung und Selbstzeugnis. Bekenntnis und Geständnis. Frankfurt/ M. 1987, S. 9 - 24. Hoffmann, E. T. A.: Die Elixiere des Teufels [1815/ 16]. In: Ders., Die Elixiere des Teufels. Werke 1814 - 1816. Hg. von Hartmut Steinecke. Frankfurt/ M. 2007, S. 9 - 352. Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/ M. 1984. Luhmann, Niklas: «Die Autopoiesis des Bewusstseins». In: Ders., Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch. Opladen 1995, S. 55 - 112. Luhmann, Niklas: «Die gesellschaftliche Differenzierung und das Individuum». In: Ders., Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch. Opladen 1995, S. 125 - 141. Nassehi, Armin: Offenheit und Geschlossenheit. Studien zur Theorie der modernen Gesellschaft. Frankfurt/ M. 2003. Schroer, Markus: Das Individuum der Gesellschaft. Synchrone und diachrone Theorieperspektiven. Frankfurt/ M. 2001. Ž i ž ek, Slavoj: For they know not what they do. Enjoyment as a political factor. London u. New York 1991. «Ego sum qui sum» - deconstructed oder Die Faszination des Bindestrichs 49 <?page no="51"?> Boris Previ š i ć Krieg. Interpunktion der Ereignisse, Narration der Paradoxe Ende April 1991: Ankunft in Zagreb, von Mailand über Triest her kommend, in dunkler Frühe. Weiterfahrt nach Split, so die Lautsprecherdurchsage, nicht mehr möglich, da die Schienen bei Knin vermint seien. Das gehört halt zum Transitionsprozess, denke ich mir. Nach einer körperlichen Stärkung mit dem obligaten Burek vom Kosovaren vor dem Bahnhof weiter, hinüber zur Bus-Zentralstation. Mit dem erstbesten Gefährt Richtung Meer. In Plitvice vorbei an zerschossenen Gebäuden der touristischen Attraktion, der Bus eskortiert von Panzern der Jugoslawischen Bundesarmee. Die Scharmützel der letzten Tage als Symptomatik des eingeleiteten politischen Prozesses der Demokratisierung, denkt es in mir. Zwei Wochen auf der Insel Hvar, eine Rede des jugoslawischen Ministerpräsidenten Ante Markovi ć . Immer noch Hoffnung auf eine gewaltfreie Lösung der jugoslawischen Krise. Rückfahrt zwei Wochen später über die kroatische Krajina nicht mehr möglich. Ausweichroute: eine nächtliche Fahrt über Mostar, Banja Luka - ein Jahr später bereits Kriegsgebiet. Aus dem Moment heraus bildet das Erzählte eine reine Abfolge von Erlebtem. Noch lässt sich das Erlebte nicht als Diskurs überformen. Zwar ist auf eine gewisse Art und Weise eine Diskursivierung der Gegenwart theoretisch möglich, aber immer in ihrer Offenheit in die Zukunft und nicht in der chronologischen Abgeschlossenheit, in der man im Nachtrag darüber berichten wird: Kriegsbeginn in Kroatien vor dem noch viel verlustreicheren Krieg, der ein Jahr später in Bosnien einsetzt. In welchem Verhältnis steht nun das - bis dahin noch nicht definierte - Erlebnis einerseits zur Propaganda und andererseits zur historischen Aufarbeitung? Auch wenn sich die bewusst kritische historische Aufarbeitung von der Propaganda expressis verbis distanziert, kommt sie nicht umhin, die propagandistischen Erklärungsmuster wenigstens zu erwähnen. Nur schon dadurch kommt es wiederum zumindest implizit zu einer scheinbaren Kausalkette zwischen einem ‹ Tatbestand › (z. B. ‹ kroatischer Nationalismus › im Vorfeld des Kriegs in Kroatien ab 1991 bzw. ‹ islamistische Gefahr › in Bosnien) und der ‹ Reaktion › darauf (z. B. Autonomieerklärungen der serbischen Gebiete und ‹ präventive Vertreibung › ). Die Absurdität dieses Zusammenhangs besteht darin, dass sich auf diese Weise <?page no="52"?> Propaganda über das kriegerische Ereignis als realitätskonstituierende Maßnahme ausweisen kann, welche wiederum in ein scheinbar objektives diskursives Erklärungsmuster eingebunden wird. So kann sich die nachträgliche Dokumentation nie gänzlich von der durch die Propaganda gewählten Diskursebene abheben, greift ja selbst die historische Aufarbeitung auf das propagandistische Material zurück - wenn auch in markierter Zitatform. Es handelt sich um Material, das in Zeiten der Krise die nationale Differenz als Bedrohung und die geschichtliche Kausalitätskette zum Faktum hochstilisiert. Das allgemeine Bedürfnis nach Zugehörigkeit gerade in Krisenzeiten vermag nicht zu erstaunen, seine Zuordnung zu den im Laufe des 19. Jahrhunderts konstruierten Kategorien wie Volk oder Nation hingegen schon. Die ethnische Identifikation dient dem von den «Individualisierungsschüben überforderten Individuum» als Entlastung; das ethnische Argument ist und bleibt aber - so viel sei vorläufig vorweggenommen - als soziologisches Erklärungsmodell völlig unbefriedigend, was einschlägige Beiträge dazu klar belegen konnten. 1 Februar 1992: In der Zürcher Altstadt unterwegs. Auf dem Limmatquai ein Demonstrationszug unter rot-blau-weißem Banner. Kyrillische Schrift. Russen? Doch ohne es mir genau klar zu machen, erkenne ich die Vatersprache. Ich frage in der falschen Sprache, die mich als Anderen oder Eigenen verrät, nach, wofür hier demonstriert werde. Umzingelt von drei jungen Männern. Ihre Frage nach meiner Identität. Die falsche Antwort meinerseits - eindeutig und provozierend im Reflex anstatt differenzierend und komplex aus der Reflexion. Knapp der Schlägerei entkommen, identifiziere ich von weitem das Rufen im Chor: «Slobo! Slobo! » März 2000: Ankunft in Mostar, von Sarajevo her kommend, in der wärmenden frühlingshaften Mittagssonne am Busbahnhof wartend. Abgeholt im schicken VW- Golf von der Flötistin, die ihr Diplom in der bosnischen Hauptstadt machen muss. Statt Meisterkurse zu geben - wie von ihr noch in Sarajevo versprochen - , werde ich von der einen zur nächsten Pizzeria oder Spelunke geschleppt, bis um Mitternacht zwei ehemalige Kämpfer der HVO (Hrvatsko vije ć e obrane = Kroatischer Verteidigungsrat) das Lokal betreten. Ja, meine Verwandtschaft großväterlicherseits sei aus Mostar, sei gut katholisch - wie es sein muss. Ob ich denn morgen ein Konzert für kroatische Kinder geben wolle. Zuerst wird der Preis ausgehandelt, wir werden schnell 1 Frank-Olaf Radtke: Demokratische Diskriminierung. Exklusion als Bedürfnis oder nach Bedarf. In: Mittelweg. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung (Februar/ März 1995), S. 32 - 48, S. 35 f. Historische Studien überbewerten «tendenziell die Rolle der Ethnizität», wobei «ihr konstruierter Charakter selten hinterfragt wird»: «Auch hier greift das Argument, dass der dynamische Bürgerkriegsverlauf oft Zugehörigkeiten produziert und die ethnischen Konflikte als Ergebnis und nicht als Konfliktursache zu interpretieren sind.» Sabina Ferhadbegovi ć und Brigitte Weiffen: Zum Phänomen der Bürgerkriege. In: Dies. (Hg.): Bürgerkriege erzählen. Zum Verlauf unziviler Konflikte. Konstanz: UP 2011, S. 9 - 34, S. 17. 52 Boris Previ š i ć <?page no="53"?> handelseinig. Dann stelle ich die Bedingung, nur im Pavarotti-Zentrum (Muzi č ki centar Pavarotti - PMC) drüben auf der bosniakischen Seite aufzutreten. Zuerst steinerne Mienen, darauf geschliffene, wohleingeübte Überredungsversuche mit der Erklärung versehen, warum die Brücke zerstört werden musste. Am nächsten Morgen fluchtartiges Verlassen der Stadt. An diesem Tag droht wieder einmal eine selbst erklärte Nationalversammlung im Westen Mostars der Weltgemeinschaft und vorab der Föderation Bosnien-Herzegowina mit einem unabhängigen Herceg-Bosna. Zwei Situationen, zwei Konfliktmuster. Im ersten Fall provoziert meine doppelt falsche Identität Gewalt. Meine Identität ist doppelt falsch, weil sie zum einen für das Gegenüber die Bedingung par excellence darstellt, zum anderen, weil ich mit dieser Identität bisher nicht gerade viel anfangen konnte. Sie wird mir im Akt ihres Erfragens gewissermaßen auf den Leib geschrieben. Es ist, als ob man sich mit der eigenen Aussage in ein bestimmtes Kraftfeld begibt, dem man sich nicht mehr entziehen kann. Die ganze Aufmerksamkeit richtet sich nur noch auf die falsche Binarität von Freund und Feind. Man sieht sich im Teufelskreis von Ursache und Wirkung gefangen: Habe ich mit meiner Frage oder erst mit meiner Antwort provoziert? Haben nicht die drei jungen Männer mit ihrer Gegenfrage eine Schlägerei lostreten wollen? Sie reagieren auf meine Antwort, ich reagiere auf ihr Verhalten. In der kommunikativen Reaktionskette haben beide Seiten immer nur das Gefühl, auf das Verhalten des jeweils anderen reagieren zu können. Jede Seite interpunktiert auf ihre Weise. Watzlawik: «Wir können nur vermuten, daß Interpunktionskonflikte mit der [. . .] Überzeugung zu tun haben, daß es nur eine Wirklichkeit gibt, nämlich die Welt, wie ich sie sehe [. . .].» 2 Während B die Ursache bei A sieht, verhält es sich bei A gerade umgekehrt. Die Perspektive von den Protagonisten auf den Konflikt ist immer diametral anders. A sieht sich als Opfer von B, B als Opfer von A. 3 Da die Interpunktion meist viel subtiler einsetzt - als hier von Watzlawick in den eindeutigen Zuweisungen «Ich bin A» und «Du bist B» beschrieben - , macht den kommunikativen Vorgang um einiges komplexer. Jeglicher Opferdiskurs folgt einer solchen Interpunktion, wenn er die eigene Abwehrhaltung mit einer entsprechenden Drohkulisse verbindet. Die oben genannten Erklärungsmuster (Nationalität bzw. Religiosität des Anderen als Gefahr) können beträchtlich verfeinert und auf andere, vor allem auch auf perfidere Weise ihre Wirkungsmacht entfalten; das können ganz einfache, scheinbar harmlose Argumente sein, die aber 2 Paul Watzlawik, Janet H. Beavin, Don D. Jackson: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. Huber: Bern 1969, S. 93. 3 Watzlawik, Menschliche Kommunikation, S. 95. Krieg. Interpunktion der Ereignisse, Narration der Paradoxe 53 <?page no="54"?> intrikat genug sind. Sie können lauten: «Die Kroaten besuchten zu Titos Zeiten auch die Kirche» oder: «Die Pflege des bosnischen Dialekts in den Siebziger Jahren ging einher mit einer Islamisierung der Gesellschaft». 4 Solche Aussagen implizieren eine Ursachenermittlung für die jüngsten Kriege. Und je weiter man dabei in die Vergangenheit zurückgreift, desto eher müsste eigentlich der Verdacht aufkommen, eine besonders subtile bzw. konstruierte Interpunktion sei nun am Werk. Besonders beliebt als quasi kausale Komplexe sind gesellschaftspolitische Umwälzungen in der jüngeren Geschichte des sozialistischen Jugoslawiens: ‹ Kroatischer Frühling › , ‹ Nationalistische Welle › oder ‹ Islamisierung › . Oftmals werden diese Begriffe gebraucht, um als pars pro toto eine vermeintliche ethnische Unifizierung und Gesamtcharakterisierung zu suggerieren und zu begründen. Greift man weiter zurück, spielen im Zweiten Weltkrieg die, Ustasche › , ‹ Handschar › , und ‹ Tschetniks › dieselbe Rolle. So entfaltet die ethnische Symbolik über den Ersten Weltkrieg, die Balkankriege, die österreichische Herrschaftspolitik und das ‹ Osmanische Joch › bis hin zu Skanderbeg oder Fürst Lazar ihre Wirkungskraft. Quasi aus jedem historischen Ereignis kann ein Opferdiskurs gewonnen werden, der jede noch so brutale kriegerische Handlung als Reaktion auf etwas bereits Vorliegendes, das bereinigt oder gerächt werden soll, legitimiert. Watzlawiks Unterscheidung zwischen digitaler und analoger Information ist für den Opferdiskurs entscheidend. Es geht nicht um das historische Faktum - wie immer dieses ausfallen mag, sondern um das metakommunikative Ereignis der Eigen- und Fremdmarkierung, welche auf einen spezifischen - d. h. interpunktionsbaren - Austausch angewiesen ist: auf die diskursive Überformung und somit auf die Analogisierung der digitalen Botschaft wie z. B. «Rim i mir/ ili/ ono». Dieses von Dubravka Ugre š i ć besprochene palindromatische Gedicht von Dubravka Orai ć mit dem vielsagenden Jahr im Untertitel, 1991, induziert die analoge Botschaft ‹ von links nach rechts gleich von rechts nach links › , oder: ‹ wie du mir, so ich dir › . 5 Als kommunikationstheoretisches Schlagwort könnte man für einen solchen Kommunikationsablauf, der sich durch die palindromatische Struktur einstellt, den pathologischen Befund einer «symmetrischen Schismogenese» in Anschlag bringen. 6 4 Präziser als in der Form, die mir im Gespräch mit einer Schweizerin serbischjugoslawischer Herkunft begegnet ist, beschränkt sich die Historikerin Janine Calic auf die religiöse Fanatisierung in den katholischen, muslimischen und orthodoxen Gebieten in den 80er Jahren. Marie-Janine Calic: Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert. München: Beck 2010, S. 280 - 285. 5 Dubravka Ugre š i ć : Die Kultur der Lüge. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1995, S. 42. 6 Watzlawik, Menschliche Kommunikation, S. 70. 54 Boris Previ š i ć <?page no="55"?> Der ‹ Interpunktor › , die eigene Festlegung des Konfliktursprungs, verweist immer auf den Anderen als Schuldigen und Verräter. In einer Reflexion zweiter Ordnung kommt es zu einer Ununterscheidbarkeit (zu einer ‹ Interdependenz › ) zwischen Wirkung und Ursache, zu einer Paradoxalisierung einer angeblichen Kausalitätskette. Zwar kann man so die Wechselwirkung zwischen den Kontrahenten erklären, aber nicht unterbrechen. Vielmehr entzieht sich die scheinbar parteilose Instanz in einer Metaposition der Verantwortung, in den Konflikt einzugreifen. Das ist das Problem des Pazifismus im Kriegszustand. Das ist das Problem einer Ehekrise, wenn man mitten drin steht, selbst die eigene Rolle glasklar vor sich sieht, aber in der Metadiagnose die Interpunktion als solche dennoch nicht aufzulösen vermag. Kommunikationstheoretisch ist man in einem Double-Bind-Paradox gefangen, wenn man nicht metareflexiv ausbrechen kann. Was hier vielleicht auf zwischenmenschliche Beziehung noch als Lösung anvisiert werden kann (auch wenn eigene Erfahrungen meist das Gegenteil beweisen), scheint in kollektiv verfassten Interpunktionen geradezu ein Ding der Unmöglichkeit zu sein: Diskursive Metakommunikation scheint zwar analytisch möglich, etabliert sich dann aber höchstens als Paradiskurs, als Alternative zu einem vorherrschenden Diskurs. Worin liegt nun das Problem des wissenschaftlichen Diskurses? Wie interpretiert dieser das kriegerische Ereignis, welches interpunktiert wird? Obwohl Kulturdifferenzen im Unterschied zu politischen und ökonomischen Verwerfungen in Jugoslawien kurz vor dem kriegerischen Zerfall - wie in der Einleitung zu diesem Band dargestellt - vor allem da, wo der Konflikt ausbricht, als Ursache des Zerfalls von nur marginaler Bedeutung sind, überführt der wissenschaftliche Objektivierungszwang das kriegerische Ereignis in ein kulturdifferenzierendes Forschungssetting. Nach dem fluchtartigen Verlassen Mostars im Bus Richtung Dalmatien. Ich frage mich, ob ich überhaupt noch jemandem im ‹ kroatischen Teil › Bosniens von meinem Musikprojekt in Sarajevo erzählen darf, von einem Projekt, das sich ja ganz der künstlerisch-professionellen Qualität verschreibt - bis ich ins Gespräch mit meiner Sitznachbarin komme. Ihre Verwandtschaft rekrutiert sich aus allen Volksgruppen Bosniens; auch nach dem Krieg kann sie sich keiner Ethnie zuordnen, ohne dabei ihre eigene Familie zu verleugnen. Weder einer massenmedialen Berichterstattung, noch einer historischen und kulturwissenschaftlichen Aufarbeitung kann allerdings der Vorwurf gemacht werden, die Diskurse entsprächen nicht der kriegerischen Realität. Objektivierende Erklärungsversuche greifen auch darum zu kurz, weil der Krieg als Ereignis in seiner Plötzlichkeit, Unwiederhol- Krieg. Interpunktion der Ereignisse, Narration der Paradoxe 55 <?page no="56"?> barkeit und Unwiederbringbarkeit des vorhergehenden Zustands eine Kontingenzerfahrung hinterlässt, die sich diskursiv letztlich nicht umschreiben lässt. Das Ereignis löst Bewegungen aus, die sich auf andere Ereignisketten des Individuums übertragen, welches wiederum den kriegerischen Kontrahenten als Gegner gleichzeitig objektiviert wie subjektiviert. Vielleicht kann eine analytische Atomisierung des Ereignisses selbst die scheinbar automatische Verknüpfung von Propaganda, Ereignis und Diskursivierung unterbrechen. Voraussetzung dafür ist, dass sich das Ereignis in der historischen Aufarbeitung nicht mehr kontextualisieren lässt, sondern als persönliche Erfahrung jeden einzelnen betrifft und in seiner Prekarität immer einmalig ist. Doch um welche Art von Analyse handelt es sich hier? Kann es sich überhaupt um eine Analyse im wissenschaftlichen Sinn handeln? Jedenfalls bedeutet eine solche Analyse nicht Reflexion der Ereignishaftigkeit, da eine solche wiederum zeitlich historisiert, kausalisiert oder finalisiert. Das Ereignis selbst ist - im Sinne des Vortheoretischen - immersiv, betrifft mich direkt. Das kommunikative Modell kann nur skizzieren, was es als Modell gerade nicht ausrichten kann. Im Rückgriff auf seine Lehrer Bateson und Jackson spricht Watzlawik in seiner behavioristischen Kommunikationstheorie von «Ereignis». 7 Es wird als Triade von Reiz, Reaktion und Verstärkung definiert. Erst die Wechselbeziehung zwischen A und B generiert ein Ereignis. Es muss als solches rezipiert werden. 8 Narratologisch gewendet, impliziert das Ereignis eine «Zustandsänderung, aber nicht jede Zustandsänderung bildet ein Ereignis». 9 Mit anderen Worten: Sowohl aus psychologisch-behavioristischer als auch narratologischer Sicht entsteht ein Ereignis erst durch Interpretation, durch eine Relationierung zwischen Geschehen und dem/ der Interpre- 7 Watzlawik verweist in diesem Kontext auf Gregory Bateson und Don D. Jackson: Some Varieties of Pathogenic Organization. In: David Mc K. Rioch (Hg.): Disorders of Communication. 42 (1964), S. 270 - 283, S. 273 f. 8 Hier ist zu präzisieren, dass es bei Bateson und Jackson zwei Arten von Ereignissen gibt. Eine erste Definition, die aus der Reiz-Reaktions-Psychologie stammt, entspricht dem landläufigen Begriff von punktuellem Ereignis: Hier wird der Reiz als ein Ereignis, die Verstärkung als ein anderes definiert, während die Reaktion des Versuchstiers einfach dazwischen liegt. Da die pragmatische Kommunikationspsychologie die Interaktion zwischen zwei Beteiligten in den Blick nimmt, spricht man hier von der Trias als Ereignis. So Bateson/ Jackson in Watzlawik, Menschliche Kommunikation, S. 57. Der definitorischen Einfachheit halber spreche ich beim ‹ punktuellen › Ereignis im Folgenden nur vom Geschehen. 9 Wolf Schmid: Elemente der Narratologie. de Gruyter: Berlin 2005, S. 20 f. 56 Boris Previ š i ć <?page no="57"?> tierenden. Das Ereignis ist somit nicht - wie man gemeinhin annehmen würde - als digitale, sondern als analoge, d. h. als bereits interpretierte Information zu bestimmen. Die Relation Geschehen-Erlebende(r) transformiert sich zur Relation Ereignis-Interpretierende(r) - und dies unabhängig davon, ob diese Relation diegetisch gerahmt bzw. fingiert ist und demnach auf eine(n) Interpretierende(n) oder eine(n) Beobachter (in) zweiter Ordnung zurückgreift oder nicht. Zentral für die Ereignishaftigkeit ist somit die Relevanz und die Imprädiktabilität 10 - aus ganz subjektiver Warte und daher auch aus psychologischer Innensicht. Das Ereignis ist somit immer schon eine Regelabweichung und hat daher exemplarischen Charakter im Sinne von Agambens Ausnahmezustand. Zudem sind dem Ereignis Konsekutivität und Irreversibilität eingeschrieben. 11 Kurz: Seine Folgen sind unumkehrbar. *** Was bedeuten nun diese Überlegungen zum Ereignis im Kontext von Krieg, Trauma und ihrer literarischen Bearbeitung? «Drei [der] Kriterien [. . .] werden in den meisten narrativen Konstruktionen von Krieg als Ereignis aktiviert: Relevanz der Veränderung, Folgenschwere und Irreversibilität liegen gewissermaßen der Definition von Krieg als Ereignis zugrunde.» 12 Ebenso wie die Interpunktion auf der strukturellen Paradoxalisierung zwischen digitaler und analoger Information beruht - das bekannte Beispiel lautet dazu: «Sei spontan! » - , so durchbricht die literarische Verarbeitung die Ereignishaftigkeit in einer paradoxalen Relationierung zwischen Krieg und Erzählung. Es geht mir hierbei weniger um das Einziehen einer zusätzlichen Reflexionsebene im Umgang mit der Narrativierung des kriegerischen Ereignisses im Sinne einer Metanarrativik 13 als vielmehr um das Ereignis selbst, um die Paradoxalisierung der Ereignishaftigkeit. Ich gehe davon aus, dass es eine strukturelle Entsprechung gibt zwischen kommunikativer Interpunktion einerseits und diskursiver Narration andererseits, genauer: zwischen dem behavioristischen Ereignisbegriff einerseits und dem Verhältnis von Ereignis zu seiner Erzählung andererseits. Daraus lassen sich vier Paradoxien ableiten, die miteinander verbunden sind und in der 10 Schmid, Elemente der Narratologie, S. 22 - 24. 11 Schmid, Elemente der Narratologie, S. 24 - 26. 12 Susi Frank: Einleitung: Kriegsnarrative. In: Natalia Borissova, Susi K. Frank und Andreas Kraft (Hg.): Zwischen Apokalypse und Alltag. Kriegsnarrative des 20. und 21. Jahrhunderts. Bielefeld: Transcript 2009, S. 7 - 37, S. 8 f. 13 Frank, Kriegsnarrative, S. 17 f. Krieg. Interpunktion der Ereignisse, Narration der Paradoxe 57 <?page no="58"?> literarischen Be- und Verarbeitung von Krieg nicht wegzudenken sind, da sie die Literatur nochmals potenziert: 1. Das Paradox zwischen Einmaligkeit des kriegerischen Ereignisses und seiner narrativen Iteration: Susi K. Frank zeigt anhand von Ha š eks Š vejk auf, dass darin weniger die negative Wertung des Kriegs im Genre des pikaresken Romans ausschlaggebend sei als vielmehr seine hypernarrative Struktur. Diese basiert nämlich auf der «Iterarisierung von Ereignissen» durch «permanente Enttäuschung von Ergebniserwartung», durch «jegliche Teleologie hintertreibende Zyklizität [. . .] des Chronotopos». 14 In der Konterkarikatur einer offiziellen Geschichtsschreibung wird die Ereignishaftigkeit in ihrer narratologischen Struktur auf allen Ebenen ausgehebelt: Die Wiederholungsstruktur der Erzählung macht das Ereignis in seiner Relevanz obsolet; es wird voraussehbar und reversibel. Eine erste Möglichkeitsform der literarischen Verarbeitung besteht - allgemeiner gesprochen - in der strukturellen Aufhebung der Paradigmen von Ereignishaftigkeit. Es kommt also zu einem Paradox zwischen kriegerischem Ereignis und seiner Narrativierung. Was aber hier auf der Ebene des Kriegsereignisses selbst noch nicht thematisiert wird, rückt im folgenden Paradox ins Zentrum. 2. Das Paradox zwischen kriegerischem Trauma und seiner Erlebbarkeit: Folgt man den Erkenntnissen der jüngeren Traumaforschung, so besteht das pathologische Kennzeichen nicht einfach in der traumatischen Erfahrung oder in ihrer Rezeption; vielmehr erfährt der behavioristische Ereignisbegriff eine substantielle Erweiterung. Der Automatismus Reiz-Reaktion- Verstärkung wird beim Trauma internalisiert und erst verzögert erlebt bzw. ausagiert: Das Ereignis kann nicht im Moment des Geschehens zur Gänze verarbeitet und erfahren werden, sondern erst verspätet, mit Verzögerung, in seiner wiederholten Erfassung des/ der Traumatisierten. 15 Gerade 14 Frank, Kriegsnarrative, S. 15. 15 «The pathology consists, rather, solely in the structure of its experience or reception: the event is not assimilated or experienced fully at the time, but only belatedly, in its repeated possession of the one who experiences it. To be traumatized is precisely to be possessed by an image or event.» Cathy Caruth: Trauma and Experience. Introduction. In: dies. (Hg.): Trauma. Explorations in memory. Baltimore: Johns Hopkins UP 1995, S. 3 - 12, S. 4 f. 58 Boris Previ š i ć <?page no="59"?> weil die traumatische Erfahrung das Aufnahme- und Verarbeitungsvermögen übersteigt, wird die Einmaligkeit in eine wiederholte Erfahrung ausgelagert. Die narrative ‹ Iterarisierung von Ereignissen › bei Š vejk als traumatische Symptomatik? Oder umgekehrt gefragt: die traumatische Wiederholungsstruktur als Resultat einer genuinen paradoxalen Narrativierungsstruktur des unbewältigbaren Ereignisses? Wahrscheinlich sind die beiden Fragen, ob die narrative Struktur Folge des Ereignisses ist oder umgekehrt, nicht zu entscheiden. Zu postulieren ist lediglich, dass der Traumaforscher beim Trauma, der Narratologe bei der narrativen Struktur das Ei des Kolumbus vermutet. Man kann aber die Frage nach der Ereignishaftigkeit selbst stellen und dafür den Ereignistheoretiker zu Rate ziehen. 3. Das Ereignis selbst als paradoxale Oszillation: Folgt man nämlich den Ausführungen von Gilles Deleuze in Bezug auf das «Ereignis» («évènement»), so geht es gerade nicht um die Festlegung auf bestimmte Merkmale - wie Relevanz, Imprädiktabilität, Konsekutivität und Irreversabilität - , zeigen doch schon die vom Narratologen angeführten literarischen Beispiele auf, wie diese Kategorien unterlaufen werden. 16 Vielmehr schiebt sich die Oszillation zwischen zwei Polen in den Vordergrund, wie wir es vom Lügenparadox her kennen. Ich kann nicht sagen: «Ich lüge.» Denn die ‹ metasprachliche Aussageebene › steht im Widerspruch zur gemachten Behauptung und umgekehrt. 17 Das Ereignis oszilliert in seiner paradoxalen Verfassung zwischen Objektivierung und Subjektivierung und ist somit (oder somit nicht) zugleich «öffentlich» («public») und «privat» («privé»), ‹ Möglichkeitsform › («potentiel») und ‹ Aktualisierung › («actuel»). 18 Dadurch erfährt das Ereignis selbst eine ‹ Erweiterung › («extension») und bringt sich in seiner Unabschließbarkeit der paradoxalen 16 Vgl. nochmals Wolf, Elemente der Narratologie, S. 22 - 26 - wo auf Beispiele, die allesamt von Tschechow stammen, verwiesen wird. 17 Das Lügner-Paradoxon figuriert auf der Ebene der logischen Paradoxien, bei denen der Aussagesatz in seiner Selbstreferenz nicht zutrifft. Das antike Beispiel wird Epimenides zugeschrieben und lautet: «Epimenides der Kreter sagte: Alle Kreter sind Lügner.». 18 «[L] ’ événement est inséparablement l ’ objectivation d ’ une préhension et la subjectivation d ’ une autre, il est à la fois public et privé, potentiel et actuel [. . .].» Gilles Deleuze: Le pli. Leibniz et le baroque. Minuit: Paris 1988, S. 106. Krieg. Interpunktion der Ereignisse, Narration der Paradoxe 59 <?page no="60"?> Hin- und Herbewegung in eine serielle Struktur. Das Ereignis produziert im Chaos «une sorte de crible», eine ‹ Art von Rätsel › , um das ‹ Mannigfaltige › , «un pur Many», auf das ‹ Eine › , «un One», zu reduzieren und gleichzeitig darin als Monade zu vervielfältigen und in Vibration zu bringen. 19 Das Ereignis setzt somit eine paradoxale Struktur voraus. Worin besteht nun aber die Rolle der Literatur im Umgang mit dem Krieg? 4. Literatur als Paradox zwischen Ereignis und Nicht-Ereignis: Die paradoxale Oszillation des Ereignisses selbst wird in seiner literarischen Verarbeitung übertragen auf die Interferenz zwischen Ereignis und Nicht-Ereignis. Autorinnen und Autoren, welche die jüngsten Kriege im postjugoslawischen Raum ins Zentrum rücken, insistieren auf diesem Paradox. Miljenko Jergovi ć s Erzählungen, die mitten im Krieg im besetzten Sarajevo handeln, machen beispielsweise in der Titelgeschichte von Sarajevski Marlboro (1994) 20 das Nicht-Ereignis zum Ereignis oder löschen die historische Ereignishaftigkeit angesichts der persönlichen Erfahrung von Absurdität aus. David Albahari geht es im Roman, der von den postjugoslawischen Kriegen, namentlich vom Bosnienkrieg, erzählt, um die Reflexion, den Köder - Mamac (1996) 21 - des eigenen Erzählens, eingebunden zwischen Medienreflexion des Erzählers einerseits, der die auf Band aufgenommene Geschichte seiner 19 Deleuze, Le pli, S. 105 bzw. S. 103. Deleuze beruft sich in seinem sechsten Kapitel von Le pli, «Qu ’ est-ce qu ’ un évènement», auf Whiteheads Concept of Nature, dem er auch den Begriff der Extension und Intensität entnimmt. Die vortheoretische Metaphorik induziert, dass Deleuze im zweiten Teil des Kapitels das ‹ Ereignis › mit dem Konzert engführt: «Il y a concert ce soir. C ’ est l ’ évènement. Des vibrations sonores s ’ étendent [. . .].» Deleuze, Le pli, S. 109. Die Ereignishaftigkeit wird dementsprechend in ihrer absoluten Oszillation der akustischen Schwingung aufgehoben in barocken Leitparadigmen von Harmonie und Melodie, Konsonanz und Dissonanz, aber auch in Boulez ’ ‹ neo-barockem › Konzept einer ‹ Polyphonie der Polyphonien › , «polyhonie de polyphonies». Deleuze, Le pli, S. 112. 20 Miljenko Jergovi ć : Sarajevski Marlboro. Zagreb: Durieux 1994/ Sarajevo Marlboro. Erzählungen. Mit einem Text von Claudio Magris. Aus dem Kroatischen von Klaus Detlef Olof. Wien, Bozen: Folio 1996. Neuübersetzung: Sarajevo Marlboro. Mit einem Nachwort von Daniela Strigl. Übersetzt von Brigitte Döbert. Frankfurt/ M.: Schöffling 2009. 21 David Albahari: Mamac [Der Köder]. Beograd: Stubovi kulture 1996. 60 Boris Previ š i ć <?page no="61"?> Mutter (darum: Mutterland in der deutschen Übersetzung) 22 in eine geeignete schriftliche Form bringen möchte, und nordamerikanischem Erzählideal von Emplotment andererseits, dem er als Osteuropäer nicht entsprechen kann. Oder Aleksander Hemon umkreist die dichte Ereignisstelle Sarajevo, indem sein Erzähler nur vom Romanprojekt erzählt, in dem er auf der Recherche nach seinem Protagonisten auf weiten Umwegen durch Galizien schliesslich im Epizentrum seines Fotographen Rora, in Sarajevo landet. 23 Exemplarisch für das vierte Paradox zwischen Ereignis und Nicht- Ereignis ist Ivana Sajkos Povijest moje obitelji. Erstens schreibt sie sich bewusst in das Genre des historischen Romans ein, indem sie sich gleichzeitig von ihm distanziert und Geschichte fiktionalisiert: «Ich wollte einen historischen Roman schreiben auf die einzige Weise, die ich für möglich halte, unter Vermeidung des Genres und der Ideologie, wie eine Erzählung, die sich vielleicht gar nicht ereignet hat und sich eigentlich gar nicht ereignen kann.» 24 Die literarische Lösung der Geschichtsaufarbeitung liegt in einer bewussten Loslösung von der Ereignishaftigkeit des Faktischen; das Ereignis wird dadurch nicht in einen Diskurs integriert, sondern in seiner Kontingenz belassen, so dass es gleichsam als Nicht- Ereignis die kollektive Traumatisierung unterläuft und damit die Interpunktion des Opferdiskurses aushebelt. Zweitens wird die Geschichte - anlehnend an den Historiker Michelet sowie an Literarisierungsverfahren à la Jean Paul und Peter Handke zugleich - selbst zur Person: 25 «Sie [d. h. die Geschichte] wandelt über den Wolken und denkt, dass alles möglich 22 David Albahari: Mutterland. Aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004. 23 Aleksandar Hemon: The Lazarus Project. New York: Picador 2008. 24 «Htjela sam napisati povijesni roman na jedini na č in na koji mislim da je to uop ć e mogu ć e, izbjegavanjem i ž anra i ideologije, kao pri č u koja se mo ž da uop ć e nije dogodila, koja se, zapravo, i ne mo ž e dogoditi.» Ivana Sajko: Povijest moje obitelji od 1941 do 1991, i nakon. Sa ž etak [Die Geschichte meiner Familie von 1941 bis 1991, und danach. Eine Zusammenfassung] (2009). 2. Ausgabe. Meandar: Zagreb 2010, S. 7. 25 Ich denke in diesem Kontext an die Figur der «Sorcière», die weibliche Gestalt par excellence beim Historiker Michelet, welche die Geschichte nicht nur als Allegorie, sondern als Lebensspenderin verkörpert. Vgl. dazu Roland Barthes: Michelet par lui-même. Éditions du Seuil: Paris 1954. Zudem ist es auffällig, wie sehr Peter Handke sich immer wieder um eine ‹ andere › Geschichtsschreibung, eine Historie, bemüht, wie sie beispielsweise in der Figur des Chronisten im Theaterstück Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg (1999) vorkommt. Krieg. Interpunktion der Ereignisse, Narration der Paradoxe 61 <?page no="62"?> ist. Sie denkt, dass sie denkt, und sie ist nicht dumm [. . .].» 26 Das literarische Verfahren der Personifikation lässt so den Gegenstand selbst zum Handlungs- und Reflexionsträger werden. Oder mit Deleuze gesprochen: Die «Geschichte» ist zugleich Objektivierung und Subjektivierung - aber nur in paradoxaler Oszillation, in der das Ereignis seine Ausweitung erfährt. Zudem eröffnet sie ganz im Sinne von Robert Musils ‹ Möglichkeitssinn › den Raum der Optionalität. Mit dem vierten Paradox und den genannten AutorInnen habe ich auch markiert, welche Kriterien meines Erachtens für Qualität bürgen. Doch wie steht es um schlechte Literatur? Gibt es einen Zusammenhang zwischen adäquatem, d. h. pazifistischem Umgang der Literatur mit dem Krieg und ihrer eigenen Güte? Das ist eine Frage, die ich im Laufe meiner Arbeit zur literarischen Rezeption der postjugoslawischen Kriege öfters stellte und auch implizit durch meine Auswahl bejahte. Meine wissenschaftliche Erfahrung wird aber durchkreuzt von einer Erfahrung, die ich während meiner Recherchearbeit zur Habilitation machte: Schauplatz: Zentralbibliothek der Stadt Zürich im November 2010. Ich hatte einen Roman vorbestellt, den ich als Beweisstück für die zentrale Rolle der Literatur bei der Renationalisierung Serbiens in den 80er Jahren, in der «populistischen Welle», anführen wollte; kurz: Das musste einfach schlechte Literatur sein. Es handelte sich um den Roman Knjiga o Milutinu von Danko Popovi ć . Dass ich in einer städtischen Schweizer Bibliothek ein serbischsprachiges Buch bestellen kann, ist dem Umstand zu verdanken, dass Ende 2007 die im Jahr 1952 gegründete und von der Serbisch-Orthodoxen Kirchgemeinde Zürich betreute Bibliothek «Katarina Jovanovi ć » mit mehr als 7000 Büchern vor allem literarischer Natur an die Zentralbibliothek Zürich übergeben worden war. Ein sichtlich erfreuter serbischstämmiger Bibliothekar händigt mir das Buch aus mit dem freundlichen Kommentar, dass es sich bei diesem Buch wirklich um «gute Literatur» handle. Ich verstecke mich hinter Ruinen vor auffahrenden Panzern, die ihre Rohre bedrohlich auf mich richten. Doch ich weiss: Solange sie nicht sehen, was auf meinem Rücken steht, werden sie nicht auf mich schießen. Aber meine Landsleute, denen ich mich noch 26 «Ona hoda po oblacima i misli da je sve mogu ć e. Misli da misli i nije glupa [. . .].» Sajko, Povijest moje obitelji, S. 9. Den Krieg im ‹ Unerklärbaren › zu belassen, impliziert noch lange nicht, sich damit nicht zu beschäftigen. Im Gegenteil: «Krieg behält bis zuletzt ein Moment des Unerklärbaren, auch wenn jeder nach Erklärungen sucht. Meines Erachtens kann man sich mit der Komplexität einer solchen Frage auseinandersetzen, jedoch nur, indem man die ohnehin schon komplizierte Sache dabei weiter verkompliziert, keinesfalls indem man sie vereinfacht.» Interview mit Ivana Sajko, Wut der Bombenfrau (29. Januar 2010), S. 3, unter ‹ http: / / www.novinki.de/ html/ zurueckgefragt/ Interview_Sajko.html › (Stand: April 2013). 62 Boris Previ š i ć <?page no="63"?> nie verbunden fühlte, verurteilen mich, ich sei ein Verräter, weil ich nicht gezeigt habe, dass auf meinem Rücken steht, dass ich zu ihnen gehöre. Damit kristallisiert sich meine eigene Erfahrung auch in paradoxaler Form. Oder handelt es sich um eine solche Form, weil ich meine Erfahrung hier in verschriftlichter Version auch schon narrativiert und kontextualisiert habe? Dennoch wäre es ein Fehlschluss zu meinen, dass die persönliche Perspektive bereits Literatur ausmache. Literatur - noch mehr als der reine Erfahrungsbericht - ist Kommunikation, ist auf ein Gegenüber, auf eine zumindest implizite Rezeptionsinstanz angewiesen, damit sie sich überhaupt in die Ereigniskette einschreibt. Selbst schlechte Literatur kann erst in ihrem Eingebunden-Sein in eine historisch bedingte Rezeptions- und somit Kommunikationsstruktur re-interpretiert werden. Damit wird - um ein letztes Paradox zu formulieren - der eigene Erfahrungswert als Oszillation zwischen Ereignis und Nicht-Ereignis interpretiert. Denn die persönliche Erfahrung verweist auf die Kontingenz historischer ‹ Abläufe › und ist ein Stachel im Fleisch klarer Zuordnungen. Sie situiert sich darum auch jenseits ideologischer Konstrukte wie Nationalismus und Jugonostalgie; sie verpflichtet uns aber, die kriegerischen Ereignisse in ihrer paradoxalen Struktur aufzuarbeiten. Dazu gehört auch, dass wir als Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in der Funktion der Reflexion der Paradoxe die Verantwortung übernehmen, einerseits das Bewusstsein für die immersive Gewalt der kriegerischen Ereignisse zu schärfen, andererseits aufzuzeigen, dass dahinter sowohl auf Täterals auch auf Opferseite auch immer persönliche Erfahrungen stehen, die sich in ein öffentliches Bewusstsein einschreiben, und woraus dieses besteht. Insbesondere in der Konvergenz zwischen kriegerischem Ereignis und Paradoxon-Erfahrung sind die Zeugnisse aus dem Krieg in ihrer Einzigartigkeit zu würdigen und nicht diskursiv (selbst nicht in Opfer- oder Kommunikationssymmetrie) zu überformen, wie ich das anfangs getan habe. Mir ist bewusst, dass sich damit meine Ausführungen selbst widersprechen können. Aber vielleicht ist dieser Widerspruch notwendig, um in die Lücken das einzulassen, wovon die Literatur schon immer handelt: von der Möglichkeit einer Wirklichkeit, von der Möglichkeit der Wirklichkeit eines Traums. So träumte mir, wie ich damals 1991 - mit dem Nachtzug von Mailand über Triest her kommend - in Zagreb ausstieg, beladen mit einem eisernen Unding, das bei niemandem Argwohn ausgelöst hätte, und mit dem entsprechenden Zubehör mindestens einen ganzen Sack voll, und weiterfuhr mit dem Fünf-Uhr-Zug über Knin nach Split - eine wunderschöne Strecke über den dinarischen Karst. So träumte mir, wie ich ankam auf der Insel Hvar beim Weinbauern mit meiner Flaschenzapfmaschine, wie wir uns auf dem Hauptplatz von Stari Grad von Ante Markovi ć das neue Modell Krieg. Interpunktion der Ereignisse, Narration der Paradoxe 63 <?page no="64"?> zur ökonomischen und sozialen Transition erklären ließen, nach dem nun die kleinen Länder im großen Land funktionierten. Und so träumte mir schließlich, wie wir die erste unserer verzapften Flaschen mit dem im Hvarer Fels gekelterten Wein zu Ehren des Ministerpräsidenten entkorkten. Und auf dem Zapfen in gut schweizerischer Manier eingeprägt: Kvalitetno vino C J (Confoederationis Jugoslavicae). 64 Boris Previ š i ć <?page no="65"?> Milka Car Diskursanalyse und postjugoslawische Kriege: Diskurse der Ohnmacht Seinen Erzählband Nahrani me (2012) beginnt Roman Simi ć Bodro ž i ć mit einer autobiographisch angelegten, schmerzhaft offenen Ich-Erzählung über den Besuch des Gedenkortes Ov č ara bei Vukovar. Fern vom offiziellen Gestus einer ins Mythische übertragenen und leicht instrumentalisierbaren Nationaltrauerarbeit beschreibt der seltsam gespaltene, emotional involvierte und doch um Distanzierung bemühte Ich-Erzähler im dritten Satz der Erzählung seine Position angesichts der Kriegserfahrung: «[. . .] weil ich nicht verstehe, was eigentlich passiert ist, und weil mir scheint, dass ich es niemals verstehen werde.» 1 Dieser Satz hat im Jahre 2013, also über zwanzig Jahre nach dem Kriegsausbruch in Kroatien, immer noch eine provokative Pointe und bringt dadurch wichtige Diskursstränge der Zeit 1991 - 2013 zusammen. Denn der Krieg in Kroatien mitsamt seinen Ursachen entzieht sich den Interpretationsversuchen, entlarvt notwendig die jeweilige Position bzw. das jeweilige eigene Engagement und bleibt im Diskursfeld des Unzumutbaren, Unerklärlichen und Unwägbaren gefangen. 2 Gerade aus dieser vom Ich-Erzähler demonstrativ vorgetragenen Position des Unerklärlichen versuche ich meine Argumentation anhand einer paradoxen Prämisse zu entwickeln. Meine Überlegungen über die 1 «[. . .] zbog toga š to ne razumijem š to se zapravo dogodilo, i jer mi se č ini da nikada ne ć u razumjeti.» Roman Simi ć Bodro ž i ć , Nahrani me, Zagreb 2012, S. 7. Wenn nicht anders vermerkt, stammen die Übersetzungen aus dem Kroatischen von M. C. 2 Die historiographischen Erkenntnisse über den Charakter des Krieges als Aggression des Regimes von Slobodan Milo š evi ć zuerst gegen Kroatien, dann gegen Bosnien und Herzegowina werden damit nicht in Frage gestellt. Doch stehen hier die Auswirkungen des Krieges auf die Diskurse und ihre literarischen Präsentationsformen im Mittelpunkt. Vgl. dazu: Tihomir Cipek, Kultura sje ć anja i rat. Predgovor, in: T. C. (Hrsg.), Kultura sje ć anja: 1991. Povijesni lomovi i svladavanje pro š losti, Zagreb 2011, S. 7 - 10. Aus serbischer Sicht: Miroslav Had ž i ć , Armijska upotreba trauma, in: Neboj š a Popov (Hrsg.), Srpska strana rata. Trauma i katarza u istorijskom pam ć enju 2, Beograd 2002, S. 125 - 146. <?page no="66"?> Möglichkeiten literarischer Repräsentationen 3 des Krieges entwickle ich auf der Folie der eigenen Unzulänglichkeit, ausgehend von der grundsätzlichen Unzumutbarkeit der durch die Spätadoleszentin M. C. - wenn auch indirekt - erlebten Kriegserfahrung. Diese Erfahrung der plötzlich auftretenden, konkret gewordenen und doch unvorstellbar bleibenden Kriegsgewalt konstituiert sich als ein radikaler Bruch nicht nur individuell, sondern lässt als eine kollektive «Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte» 4 sprengende Erfahrung eine gespenstisch fortdauernde Identität der abwesenden Anwesenheit entstehen. Die Ebenen der Gegenwart und der Vergangenheit sind so eng miteinander verflochten, dass auch nach Ende der Kriegshandlungen ihre Auswirkungen diskursbestimmende Kraft haben. Ausgehend von der prinzipiellen Unverständlichkeit des Kriegsphänomens ist ein Diskurs der Ohnmacht zu rekonstruieren, der als selbst erlebte Unmöglichkeit verstanden wird, eine Antwort auf das Unvorstellbare zu finden. Daraus ergibt sich die Frage nach Darstellungsmodi und Repräsentationsstrategien dieses Diskurses der Ohnmacht in der postjugoslawischen, hier spezifisch kroatischen Kriegsprosa. Da das Objekt dem Diskursfeld des Unzumutbaren verhaftet bleibt, zielt diese schon im Voraus zum Scheitern verurteilte Suche nach Repräsentationsstrategien und Interpretationsmustern somit nicht auf wissenschaftlich gebotene Objektivität, eine Diskursform, die Boris Buden 5 im Diskurs um den Jugoslawien-Zerfall ohnehin als obsolet markiert. Mein Beitrag geht vielmehr davon aus, dass die ersten literarischen Reaktionen auf den Krieg - von Kriegswirklichkeit gesättigte dokumentarische Tagebuchformen - als ein Modus der Ohnmacht zu bestimmen sind. Dabei ist der Diskurs der Ohnmacht zweifach zu verstehen: Einerseits soll er die Haltung der Betroffenheit und Ratlosigkeit als einer authentischen, kollektiv geteilten und vielfach wirkenden Erfahrung diskursanalytisch ausloten, andererseits kontaminiert er die analysierten Texte durch seine allgegenwärtige Dominanz, so dass er in seiner (unfreiwilligen) Dialektik mit verfolgt werden soll - als Suche nach einem Ausdruck für die Kriegserfahrung und gleichzeitige Unmöglichkeit, ihn zu finden. Dabei gehe ich von der Diskursanalyse als einer Methode aus, die sich 3 Vlg. Søren R. Fauth, Kasper G. Krejberg, Jan Süselbeck (Hrsg.), Repräsentationen des Krieges. Emotionalisierungsstrategien in der Literatur und in den audiovisuellen Medien vom 18. bis zum 21. Jahrhundert, Göttingen 2012. 4 Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1992, S. 264 ff. 5 Boris Buden, Barikade, Zagreb 1996, S. 9. 66 Milka Car <?page no="67"?> dem diskursiv produzierten Charakter des Realen widmet und untersucht, wie sich in den literarischen Texten der Bereich der erlebten und der mit Authentizitätsanspruch dargestellten Kriegsrealität in die textuelle Praxis der Sinnproduktion verlagert. Zwei Momente sind in dieser Dynamik als Ausgangspunkt zu markieren: Das eine ist der Titel einer im April des Jahres 1989 veröffentlichten Nummer der alternativen Rock-Band aus Rijeka Let 3 unter dem Titel Izgubljeni (Die Verlorenen), die mit ihren vier einfachen Versen «1, 2, 3, 4 / Die Verlorenen / seit Jahren wird behauptet / wir sind nur wenige / dabei wächst unsere Zahl / / Die Verlorenen / / wir sind noch da» 6 zu einer «Hymne» wurde, denn der stakkatoartig wiederholte Refrain vom Verloren-Sein beschreibt nicht nur das Gefühl einer ganzen Generation der «Verlorenen», sondern auch die Umbruchzeit bzw. Verunsicherung und Ohnmacht in der Zeit der frühen 90er Jahre. Dieser Ausdruck einer unverstandenen und verlorenen Generation ist in anderer Form in Irena Vrkljans Poetik zu finden. Ihr im Jahre 2002 veröffentlichter Roman stellt angesichts der plötzlich unverständlich gewordenen (Kriegs-)Realität die zentrale Frage: «Was ist das eigentlich, diese Realität? » 7 Die durch den Kriegsausbruch ausgelöste prägende Erfahrung der Fragilität der Wirklichkeit bildet den zweiten Ausgangspunkt für die Hinterfragung literarischer Auseinandersetzungen mit dem Krieg. Jene Verunsicherung der Wahrnehmung von Realität hat eine paralysierende Wirkung sowohl auf den Einzelnen als auch auf die Gesellschaft, denn die durch Krieg entrückte, fremd und schrecklich, nicht wiederkennbar gewordene Wirklichkeit korrespondiert mit der von Elaine Scarry analysierten Unmöglichkeit der «sprachlichen Objektivierung» von (Kriegs-) Gewalt. 8 Andererseits werden bei Judith Butler diskursive oder symbolische Ordnungen thematisiert, die sich dem Einzelnen entziehen und darauf hinweisen, dass die Konstruktion von Wirklichkeit in solchen Texten völlig eingebunden ist in den durch den Krieg vorgegebenen Rahmen. Ausgehend von Butlers These (in ihrem Buch Raster des Krieges) von der «massiven Faktizität des Krieges» 9 als «eine[r] gewaltigen Struktur zur 6 «1, 2, 3, 4 / Izgubljeni / godinama pri č aju nema nas puno/ a sve nas je vi š e / / Izgubljeni / / ima nas jo š » ‹ http: / / www.youtube.com/ watch? v=VRdmsi7oKUg › (Zugriff: 26. 12. 2013). 7 «I š to je to zapravo, ta stvarnost? » Irena Vrkljan, Smrt dolazi sa suncem, Zagreb 2002, S. 29. 8 Elaine Scarry, Der Körper im Schmerz. Die Chiffren der Verletzlichkeit und die Erfindung der Kultur, Frankfurt/ M. 1992, S. 12. 9 Judith Butler, Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen, Frankfurt am Main 2010, S. 10. Diskursanalyse und postjugoslawische Kriege: Diskurse der Ohnmacht 67 <?page no="68"?> ‹ Entwirklichung › kultureller Schöpfungen und zugleich zu deren Rekonstruktion», soll versucht werden, die stets präsente Gefahr vorgegebener Rekonstruktionsmöglichkeiten und auferlegter Deutungsgewalt zu vermeiden. Ich konzentriere mich vielmehr auf die literarischen Ausformungen der «Wahrnehmung des Gefährdetseins, der Schutzlosigkeit bestimmter Gruppen» 10 , um diesen Diskurs der Ohnmacht gegen die dominanten Diskurse als Muster des Verlustes oder der Selbstaufgabe durch das Kriegstrauma zu deuten. Die unvermeidliche Nähe zur Gewalt soll die Aufmerksamkeit für die Dynamik schärfen, in der «das Schreiben im Begehren nach Authentizität in die Logik der Gewalt und des Tötens selbst verwickelt wird». 11 Daran anschließend möchte ich meine Argumentation in zwei Richtungen entwickeln: Einerseits soll die Frage verfolgt werden, welche Figuren, Narrative und Erzählverfahren der Verlorenheit in dem fokussierten Korpus vorkommen, andererseits soll mein individuelles und lange verfolgtes Interesse an Ausprägungen des Dokumentarischen im Zusammenhang mit der skizzierten Erfahrung der durchbrochenen, fragwürdig gewordenen Wirklichkeit analysiert werden. Dabei interessiert weniger der schon früh festgestellte Gestus des Dokumentarischen in der kroatischen Kriegsprosa. Vielmehr stehen die Überschneidungen zwischen Kriegsfaktizität und Repräsentationsfiktionalität und damit der schließlich diskursiv produzierte Status des Realen im Zentrum des Interesses. Gattungstypologische Fragen über den Status des Dokumentarischen werden im Hinblick auf sein diskursives Potential hinterfragt. Dies umfasst die Frage nach der Position der Zeugenschaft (Alenka Mirkovi ć : 91,6 MHz. Glasom protiv topova), 12 nach dem Status der autobiographischen (Irena Vrkljan: Pred crvenim zidom. 1991 - 1992) 13 und der tagebuchartigen Formen (Branko Matan: Domovina je te š ko pitanje. Fragmenti dnevnika 1991 - 1993). 14 Es soll die Frage nach kollektiven ‹ Lügen › , Symbolisierungen und Schuldzuweisungen mitverfolgt werden, um die in literarischen Repräsentationen verborgenen mythopoetischen Struk- 10 Ebd. 11 Sigrid Weigel, Norbert Gstreins hohe Kunst der Perspektive. Fiktion auf dem Schauplatz von Recherchen, in: Manuskripte 43/ 2003, S. 107 - 110, hier S. 109. 12 Alenka Mirkovi ć , 91,6 MHz. Glasom protiv topova, Zagreb 1997 (91,6 MHz. Mit der Stimme gegen Kanonen). 13 Irena Vrkljan, Pred crvenim zidom, Zagreb 1993 (dt. Ausgabe: Vor roter Wand. 1991 - 1993, Graz 1994). 14 Branko Matan, Domovina je te š ko pitanje. Fragmenti dnevnika 1991 - 1993, Zagreb 1998 (Heimat ist eine heikle Frage. Tagebuchfragmente 1991 - 1993). 68 Milka Car <?page no="69"?> turen zu entdecken. Auch soll die Frage angesprochen werden, ob exemplarische Texte aus dem Korpus der kroatischen Kriegsprosa mit dem Begriff der Transgression beschrieben werden können, einem Begriff, der die Knotenpunkte von Fiktivem und Faktischem, Dokumentarischem und Literarischem, Wahrem und Fingiertem erkennen hilft, oder ob sie sich vielmehr den dominanten Diskursen, Konventionen und Repräsentationsmodi anpassen und somit an einem kollektiven Diskurs der Ohnmacht teilnehmen. I Der Diskurs der Ohnmacht als eine Darstellungsform von Unüberwindbarkeit der Kriegstraumata ist auch in dem auf Authentizität pochenden Diskurs der Prosa mit dokumentarischem Anspruch zu beobachten. Exemplarische Texte der Wirklichkeitsdarstellung sind dokumentarische Texte wie Kriegsmemoiren oder Tagebücher, die dem Bedürfnis entspringen, ein realitätsgetreues Zeugnis der plötzlich auftretenden Kriegsrealität zu liefern. Allerdings werden die existentiellen Kriegserlebnisse wie Gewalt und Lebensbedrohung zu dominanten Erfahrungen eines unwiederbringlichen Autonomieverlustes, was die angestrebte Authentizität problematisch erscheinen lässt. Die erfahrene und schwer beschreibbare Brüchigkeit der Lebenswelt ist der Ausgangspunkt des Textes von Alenka Mirkovi ć 91,6 MHz. Glasom protiv topova (91,6 MHz. Mit der Stimme gegen Kanonen). Der Text beschreibt die am eigenen Leib erfahrene Kriegswirklichkeit als eine Erkenntnisschwelle, die, genau gesehen, das Darstellbarkeitsproblem in nuce birgt. Ich thematisiere somit zwei wichtige Punkte: zum einen die Frage nach den Bedingungen des Schreibens im Krieg, v. a. nach dem darin erhobenen Authentizitätsanspruch, zum anderen die Frage nach erweiterten Bedingungen und Erscheinungsformen der Gattungen. Im erweiterten Gattungsmodell kann die Prosa von Mirkovi ć als ‹ Dokumentarliteratur › , ‹ Tagebuch › , ‹ Roman › , ‹ testimoniale Literatur › oder ‹ Chronik › gelesen werden. Der Krieg ist der entscheidende außerliterarische Faktor, der eine Öffnung der kroatischen Prosa für nichtliterarische Formen Anfang der 90er Jahre bewirkt, so dass man es in der ersten Phase der literarischen Auseinandersetzungen mit dem Krieg mit einer oktroyierenden Wirklichkeit zu tun hat, die einerseits zur Dominanz dokumentarischer Mischformen führt, andererseits nicht etwa die Reflexion des Dokumentarischen anregt, sondern eine Unterminierung des Authentizitätsanspruchs durch die unmittelbare Darstellungsweise begünstigt. Diskursanalyse und postjugoslawische Kriege: Diskurse der Ohnmacht 69 <?page no="70"?> Diese Konstellation wird in einer der ersten kroatischen kriegsethnologischen Abhandlung als eine von «Fear, Death and Resistance» geprägte Situation bezeichnet. 15 Dass die Möglichkeiten von Wirklichkeits(re) konstruktionen und Versprachlichungsstrategien für Unfassbares erst zu finden sind, ist den Ausführungen der kroatischen Literaturwissenschaftlerin Andrea Zlatar zu entnehmen, die den Text von Mirkovi ć der zweiten Phase der Kriegsprosa zurechnet, in der die «fiktionalen Erzählmodelle» noch zu entwickeln sind und die von einer starken Tendenz zu «autobiographischen Formen» und «Memoiren-Diskurs[en]» gekennzeichnet ist. 16 Goran Rem, Literaturwissenschaftler aus Osijek, bezeichnet in seiner Monographie Hrvatsko ratno pismo (Die kroatische Kriegsliteratur) den Zeitrahmen von 1991 bis 1994 als eine Zeit, in der die «Geste der Antwort» am intensivsten war, vor allem in den von Krieg erfassten slawonischen Gebieten. 17 Diese Geste beschreibt er als ein System der dokumentarischen Poetik, bzw. als unterschiedliche Formen des Kriegsdokumentarismus, in denen die Konzepte der modernen Literatur und ihrer Kunstautonomie zugunsten des offenen Engagements verlassen werden mussten, um eine neue «Identitätsgrammatik des Raums» 18 entstehen zu lassen. Diese sei dadurch charakterisiert, dass die neuen, die vom Krieg erschütterte Öffentlichkeit aktivierenden oder Authentizität signalisierenden Beschreibungsmodi erst zu finden sind. Die von Rem detektierten kriegsdokumentarischen Strategien sind als Formen des «selbstschützenden Dokumentarismus» 19 im zweifachen Sinne des Wortes zu verstehen - sie sollen die gefährdete kulturelle, aber auch individuelle Identität konservieren und zugleich ein Repertoire der kulturell überlegenen Antworten auf den Krieg entwickeln. Der Roman 91,6 MHz. Glasom protiv topova folgt der Poetik der «unerfundenen Wirklichkeit» und wird als «Roman der Wahrheit» 20 oder als Beispiel für «testimoniale Literatur» 21 angesehen. Mit der für die Gattung des Tagebuches charakteristischen Verknüpfung faktualer 15 Lada Č ale Feldman, Ines Prica, Reana Senjkovi ć (Hrsg.), Fear, Death and Resitance. An Etnography of War: Croatia 1991 - 1992, Zagreb 1993. 16 Andrea Zlatar, Knji ž evno vrijeme - sada š njost, in: Re č 61/ 7, März 2001, S. 169 - 173, hier S. 172. 17 Goran Rem, Slavonsko ratno pismo, Osijek, Slavonski Brod, Vinkovci 1997, S. 16. 18 Ebd. 19 Ebd., S. 29. 20 Kre š imir Nemec, Povijest hrvatskog romana od 1945. do 2000. godine, Zagreb 2003, S. 413. 21 Andrea Zlatar, Tekst, tijelo, trauma. Ogledi o suvremenoj ž enskoj knji ž evnosti, Zagreb 2004, S. 163 ff. 70 Milka Car <?page no="71"?> Elemente mit dem narrativen Moment der Rückerinnerung versucht auch Alenka Mirkovi ć der eigenen Authentizität einen kollektiv verbindlichen Wahrheitsgehalt zu attestieren, indem sie aus autodiegetischer Position ihre eigenen Erfahrungen beschreibt. So gestaltet sich die eigene Wahrheit über den Verlauf des Krieges in Vukovar als eine existentiell erlebte und erst dadurch nacherzählbare Erkundung der unsagbar gewordenen Wirklichkeit. Die beschriebenen Phänomene von Angst, Bedrohung, Abscheu und Betroffenheit in ihrem direkten emotionalen Beteiligt- Sein repräsentieren dabei nicht nur die erlebte Kriegsbedrohung, sondern erhalten auch eine therapeutische Funktion der Zeugenschaft. 22 Zugleich entspringt gerade dieser Dialektik von Realität und Fiktion, von Innen und Außen, von nachträglichem Wissen und einer fast voyeuristischen Teilnahme direkt am Schauplatz des Geschehens die typisch romaneske bzw. handlungszentrierte Spannung. Auch der Titel des Romans betont die referentielle Gebundenheit an die Wirklichkeit. Die Autorin selbst war nach der Einkesselung von Vukovar als Reporterin beim lokalen Sender Radio Vukovar tätig und kämpfte buchstäblich mit dem Einsatz ihrer eigenen Stimme und ihres eigenen Lebens gegen die feindlichen Kanonen. Deshalb kann die faktographisch präzis nachgezeichnete Kriegsrealität der belagerten Stadt Vukovar als dokumentarisch angesehen werden. Dies unterstreichen beispielsweise die genauen Toponyme und Datierungen sowie die authentischen Namen aller beteiligten Figuren, die allesamt von der Kriegsrealität zeugen. Fiktional ist in diesem Roman gewissermaßen nur das unvorstellbare Grauen, das die Ich- Erzählerin tatsächlich erlebt hat; dieses Grauen und das Leiden der Hinterbliebenen bleiben für «all jene, die nicht in dieser Zeit und in dieser Stadt waren, für immer fiction». 23 Somit entwickelt das Verhältnis von Realität und Fiktion im Fall von Vukovar eine besondere Dialektik. Das Wirkliche erweist sich in seiner unerwarteten Grausamkeit als unglaubwürdig und übersteigt damit jegliche Form von Erfindung, so dass die Erfahrung der Ohnmacht aller Beteiligten in der belagerten Stadt im späteren Akt der Lektüre auch auf den Leser übertragen wird. Mit diesem Effekt wird jene Phase des Bürgerkrieges, in der «Zivilisten [. . .] übergangslos zu Kombattanten» werden und «Wohnviertel und Schlacht- 22 Darüber autoreflexiv im Gespräch mit Grozdana Cvitan, vgl. Alenka Mirkovi ć Na đ , Nisam č lan - meni je Vukovar emocionalna kategorija, in: Grozdana Cvitan (Hrsg.), Rat uronjen u traumu. Razgovori, Zagreb 2012, S. 272 - 287. 23 Grozdana Cvitan, Glasom protiv topova - zapisom protiv zaborava, in: G. C., Od č izama do petka. (D)opisi rata, Zagreb 2002, S. 41 - 48, hier S. 46 f. Diskursanalyse und postjugoslawische Kriege: Diskurse der Ohnmacht 71 <?page no="72"?> feld» zusammenfallen, 24 in ihrer jede Phantasie übertreffenden Kriegsfaktizität zur Darstellung gebracht werden. Mittels konsequenter interner Fokalisierung wird die doppelt begrenzte Sicht einer Augenzeugin in der Situation fast vollständiger Isolation unterstrichen. Auf diese Weise kann sich der potentielle Leser direkt in die Kriegslage hineinversetzen, denn die existentielle Bedrohung aller Beteiligten lässt keinen Raum für literarische Inszenierungen, der Zeuge wird zum Mitfühlenden und zum (ohnmächtigen) Mitverantwortlichen. Dass diese Isolation selbst nach der Rettung der Journalistengruppe aus der Einkesselung und dem Fall Vukovars in einer anderen Form fortgesetzt wird, thematisiert die Autorin im Nachwort zur dritten Auflage. 25 So definiert Alenka Mirkovi ć Vukovar als eine rein emotionale Kategorie und will weder mit heroischen noch mit Opfernarrativen auftrumpfen und identifiziert werden. Aus der existentiellen Verankerung in der beschriebenen Situation geht die Authentizität des Erzählten hervor: «[. . .] uns allen war gemeinsam, dass der Tag unserer Feuertaufe jener Tag war, an dem wir aufgehört hatten, unsere Arbeit einfach auszuüben, und begonnen hatten, sie zu leben». 26 Dabei macht die autodiegetische Erzählerin mit dem bewussten Einsatz einfacher Stilmittel aus einer großen Geschichte eine kleine, fast ethnographische Geschichte; «aus der Sicht eines Mädchens aus der Nachbarschaft» beschreibt sie «naiv, ehrlich und unmittelbar» vor allem ihre eigene «Angst». 27 Von dieser dezidiert individuellen Sicht auf das Geschehen zeugen die letzten Sätze im Roman: «Es war vorbei. Für mich ist der Krieg zu Ende, und ich habe ihn verloren.» 28 Gerade die Bezeugung von Erfahrungshaftigkeit 29 im Text ist das primäre Anliegen der Autorin, die damit zwei Ziele verfolgt: zum einen die ‹ therapeutische › Wirkung der Reinigung nach einem traumatischen Erlebnis sowohl auf kollektiver als auch auf individueller Ebene, zum anderen die Betonung der appellativen Funktion ihres individuellen Berichts. 24 Herfried Münkler, Über den Krieg. Stationen der Kriegsgeschichte im Spiegel ihrer theoretischen Reflexion, Weilenzwist 2002, S. 242. 25 Alenka Mirkovi ć , Glasom protiv topova. Mala ratna kronika, Zagreb 2011. 26 Mirkovi ć , 91,6 MHz (Anm. 12), S. 131. 27 Gordana Crnkovi ć , Nered egzistencije, nered ž anrova, in: Kolo (Zagreb), 3/ 1998, S. 514 - 518, hier S. 517. 28 Mirkovi ć , 91,6 MHz (Anm. 12), S. 295 (hervorgeh. von M. C.). 29 Vgl. dazu: Monika Fludernik, Towards a ‹ Natural › Narratology, London, New York 1996. 72 Milka Car <?page no="73"?> Damit sind gerade der Krieg und die Belagerung Vukovars als «Anlass, [. . .] Bedingung und [. . .] Wirkung» 30 des Textes anzusehen, denn mit der referentiellen Anlehnung an die (Kriegs-)Realität verschränkt die Autorin den literarischen Kommunikationsprozess mit einer kollektiven Erschütterung der Wirklichkeit. So nimmt die autodiegetische Erzählerin mit ihrem subjektiven Bericht aus Vukovar doch teil am «symbolischen Prozess [. . .] durch den die soziale Fiktion - Nation, Kultur oder Gemeinschaft - zum Subjekt des Diskurses und zum Objekt psychischer Identifikation wird». 31 Wird in den ersten Kapiteln in einer längeren narrativen Analepse die frühere Ordnung ihres Lebens rekreiert, 32 indem eigene menschliche Verhältnisse, persönliche Ideale und Sorgen, aber auch das Klima in Vukovar unmittelbar vor Kriegsausbruch skizziert werden, folgt in den chronologisch gegliederten Kapiteln die Rekonstruktion des Kriegsalltags. Renata Jambre š i ć Kirin, die Zeugnisse von Heimatkrieg und Flüchtlingserfahrungen in ihrer Dissertation analysiert, bezeichnet solche Zeugnisse als Träger einer «privilegierten Repräsentanz», 33 da sie zu Marksteinen im kollektiven Bewusstsein der Nation werden. Indem die autodiegetische Erzählerin ihr persönliches Zeugnis von einem historisch markierten Geschehen in der neueren Geschichte ablegt, übernimmt sie zugleich die «gesellschaftlich und moralisch verpflichtende Rolle» 34 einer Zeugin, die sie jedoch durch die betonte Subjektivität der Darstellung relativiert, um sich erst auf diese Weise der Belagerungsgeschichte Vukovars zu bemächtigen. Ihr Zeugnis von der Kriegswirklichkeit in Vukovar ist in seiner dokumentarisch verbürgten Authentizität beides: emphatischer Protest zum einen und offener Dialog mit der eigenen und kollektiven Vergangenheit zum anderen. Insofern wird die Authentizität garantierende Aufrichtigkeitsbedingung im Text zu einer unmittelbar möglichen Position des Schreibens über den existentiell erfahrenen Krieg. Der Glaube an die Möglichkeit der Repräsentanz einer authentischen Wahrheit über den Krieg ist somit auch in Mirkovi ć s Roman sehr wohl vorhanden: als subjektiv gebrochene, existenziell bezeugte Stimme der Zeugenschaft. Jedoch hat dieser Text nicht eine fundierende Funktion im kollektiven Gedächtnis zugeteilt bekommen, sondern wird vor allem als 30 Dean Duda, O razmje š taju dokumentarnosti u pripovjednoj komunikaciji ( Č orak, Pavli č i ć ), in: Dubrovnik 5/ 1995, S. 3 - 42, hier S. 37. 31 Homi Bhabha, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000, S. 229. 32 Vgl. dazu: Judith Lewis Herman, Trauma i oporavak, Zagreb 1996. 33 Renata Jambre š i ć Kirin, Svjedo č enja o Domovinskom ratu i izbjegli š tvu. Knji ž evnoteorijski i kulturnoantropolo š ki aspekti, Diss., Zagreb 1999. 34 Ebd., S. 27. Diskursanalyse und postjugoslawische Kriege: Diskurse der Ohnmacht 73 <?page no="74"?> ein Zeugnis der unmittelbaren (Nach-)Kriegssituation rezipiert. Einen kanonischen Stellenwert hat ein anderer Text der Zeugenschaft bekommen: die kurzen Prosaskizzen, die Mirkovi ć s Kollege Sini š a Glava š evi ć unmittelbar vor der Eroberung der Stadt per Fax aus dem belagerten Vukovar gesendet hatte und die nach seinem tragischen Tod unter dem Titel Pri č e iz Vukovara 35 (Geschichten aus Vukovar) veröffentlicht wurden. Dieser Text ist ebenfalls im Modus einer testimonial-appellativen Literatur geschrieben, nur dass das existentielle Erzählverfahren des Autors durch seinen eigenen tragischen Tod beglaubigt wurde. In seinen verzweifelten und zensierten Appellen aus dem belagerten Vukovar war die Stimme der Ohnmacht 36 tatsächlich verkörpert. Sie wurden im Herbst 1991 in Nachrichten und anderen Sendungen des Kroatischen Rundfunks gesendet und bildeten mit ihrer eindringlichen Allgegenwärtigkeit Ende 1991 den ‹ Soundtrack › für die Generation der «Verlorenen» im überfüllten Schulbus, der die Spätadoleszentin M. C., Schulter an Schulter mit ihren gleichaltrigen, in Hotels des touristischen Ortes Crikvenica untergebrachten Flüchtlingen aus Vukovar, zum verkürzten Unterricht aufgrund der damals landesweiten Alarmgefahr, ins Gymnasium nach Rijeka brachte. II Eine andere Möglichkeit, die Kriegswirklichkeit zu beschreiben, um ihre Auswirkungen zu erfassen und insofern zu überleben, stellt die Prosa von Irena Vrkljan dar. Die gattungstypologisch elastische Essayform kann die Kriegswirklichkeit fragmentarisch abbilden, weist zugleich aber auf die Grenzen dieses Vorhabens hin, wie es Irena Vrkljan in ihrem kurzen Prosatext Vor roter Wand vorführt. Der Text mit dem lakonischen Untertitel 1991 - 1993 ist als diarisches Bewusstsein- und Ereignisprotokoll 35 Sini š a Glava š evi ć , Pri č e iz Vukovara, Zagreb 1992., dt. Geschichten aus Vukovar, Trier 1994. 36 Sini š a Glava š evi ć war Journalist des Kroatischen Radio Vukovars und ein Mitarbeiter von A. Mirkovi ć , der am 18. November 1991 seine letzte Radiosendung aus Vukovar sendete und nach dem Fall Vukovars verschwand und ermordet wurde. Sein Leichnam wurde bei der Exhumierung der Opfer im Massengrab Ov č ara entdeckt. Hier ist seine authentische Stimme in einer der letzten Meldungen aus Vukovar zu hören: ‹ http: / / www.index.hr/ vijesti/ clanak/ sinisa-glavasevic-1991-tko-ce-cuvati-moj-grad-moje-prijatelje-tko-ce-vukovar-iznijeti-iz-mraka/ 583572.aspx › (Zugriff: 27. 12. 2013). Literarische Erinnerungen aus der Feder von Ivana Simi ć Bodro ž i ć , Pri č a o Sini š i Glava š evi ć u: ‹ http: / / www.vecernji.hr/ prica-osinisi-glavasevicu-347963 › (Zugriff: 30. 12. 2013). 74 Milka Car <?page no="75"?> konzipiert, in dem die Mischform eines fragmentarisch angelegten Erzählberichts und einer Ich-Reportage fiktionaler Selbstgestaltung angesichts der Absurdität der Kriegshandlungen den thematisch zentralen Wirklichkeitsverlust darzustellen versucht. Die nachdrücklich vorgeschobenen Interdependenzen zwischen literarischem Text und diskursiver Sozialpraxis, die in den Formen des Berichts, des Erinnerns und der medialen Vermittlung variiert werden, sollen zur Darstellung der umfassenden Kriegsbedrohung beitragen. Dies erfolgt in einer Darstellung, die auch das eigene Schreiben anzugreifen scheint: Und der Schreibtisch ist eine Sandwüste der Verluste, der gelöschten Zeit. Er schwebt wie eine Kugel in der Welt, die untergeht, dort am Rande der ehemaligen Militärgrenze, dort, wo ein Krieg tötet und vertreibt. Er zerstört auch die ‹ lieblichen › Erinnerungen einer Biographie, zerstört das wie Blut geronnene Bild aus der Zeit, die war. 37 Die erinnerte Zeit verschmilzt in dieser Bewegung mit einer als traumatisch erlebten Gegenwart, um einen Protest gegen das «Skandalon des Krieges» 38 auszudrücken. Damit erscheint der Kriegszustand jedoch unfreiwillig als Kontinuität ohne Aussicht auf Unterbrechung. Schon damit umfasst er die persönlich erfahrene Zeit des Überdrusses, der Resignation und der Ohnmacht in der zweiten Kriegsphase nach dem Fall Vukovars. In Vrkljans wenig variierter Autorenpoetik des weiblichen Schreibens ist dieser Text der vierte Teil in einer Reihe von «Frauengeschichten» aus dem 20. Jahrhundert, in denen eine zerbrechliche, im Strom der Zeit konstruierte und sich konstruierende weibliche Identität entworfen wird. Bereits die Einteilung des Textes in vier Kapitel - «Blick zurück»; «Rote Bilder. Gelebtes Leben»; «Seide der Erinnerung, Schere des Krieges»; «Mitten im Wort» - weist autoreferentiell auf die eigene Poetik hin, die die Autorin in ihren früheren Romanen, vor allem in ihrem Erstlingswerk Seide, Schere, in dem zuerst auf Deutsch unter dem Titel Tochter zwischen Süd und West publizierten Roman, als eine Schreibstrategie zur Erkundung der weiblichen Biographie entwickelt. 39 Wird in früheren Texten die 37 Vrkljan, Vor roter Wand (Anm. 13), S. 12. 38 Ingrid Š afranek, Svila sje ć anja, š kare rata (ili Marina, Dora i Irena pred crvenim zidom), in: Republika 7 - 8/ 1995, S. 205 - 212, hier S. 205. 39 Zur Poetologie von Irena Vrkljan vgl. Ž iva Ben č i ć , Lica Mnemozine. Ogledi o pam ć enju, Zagreb 2006, S. 38 - 67; Lidija Duji ć , Ž enskom stranom hrvatske knji ž evnosti, Zagreb 2011, S. 103 - 146; Andrea Zlatar, Weibliches Schreiben in der kroatischen Literatur - Pionierinnen ohne Nachfolge, in: Dragana Toma š evi ć / Diskursanalyse und postjugoslawische Kriege: Diskurse der Ohnmacht 75 <?page no="76"?> Grenze zwischen Schreiben und Leben am Modell der Künstlerbiographie erprobt, so wird hier das Erzählsubjekt mit der Kriegserfahrung konfrontiert, der Text zu einem Ausruf der Entrüstung 40 gesteigert und das Schreiben sogar als Möglichkeit des Überlebens angesehen. Der unmittelbar vor der Drucklegung des Textes noch real stattfindende Krieg wird aus einer dezidiert subjektiven Perspektive als ein perpetuiertes «ergriffenes Staunen» 41 beschrieben. Dieses Staunen ist im Text doppelt semantisiert: einerseits als Ausdruck der kollektiv geteilten Unfassbarkeit dessen, was tatsächlich im Krieg passiert, andererseits auch subjektiv und persönlich, da die Erzählinstanz den Krieg als Auslöschung des Ureigensten beschreibt und als Angriff auf die persönliche Integrität versteht. Durch die doppelte Perspektive weist der bekenntnishaft angelegte Text zugleich auf die eigenen Grenzen hin: Es handelt sich um einen subjektiven Blick, der in dieser prekären geschichtlichen Lage auf die eigene Verzweiflung respektive auf die eigene unüberwindbare Ohnmacht fixiert ist. In fragmentarischen Textskizzen werden «Lebenszeit, Lebensfragmente» 42 konstruiert, angefangen mit den Erinnerungen eines bilingual aufgewachsenen Kindes, das «mit [. . .] den Eltern deutsch sprach» und nicht wusste, dass das «die Sprache der Eroberer und der Zagreber Oberschicht» 43 ist. Diese Erinnerungen werden in einer assoziativen Textreihung nahtlos mit der Gegenwartsebene verbunden. Dadurch wird die Identitätsspaltung zwischen zwei Kulturen - der jugoslawischen und der deutschen - thematisiert und als erste Phase des Übergangs ins «Niemandsland» 44 beschrieben. Als Motivation der assoziativen Anordnung montierter Textfragmente kristallisiert sich der Wunsch heraus, das Leben als «ein Scherbenhaufen aus Zeit, Erziehung, Unzulänglichkeit» 45 darzustellen, so dass die angestrebte Subjektfindung zugleich von einer umfassenden Dekonstruktionsgeste geprägt ist. Damit produziert das autobiographische Subjekt die eigene Identität performativ als eine fortwährende Verschiebung der Erinnerung und als unentwegte Suche nach dem Reflex (in) der anderen Kultur inmitten einer alles sprengenden Erfahrung der Kriegsbedrohung. Eine solche Textkonzeption lässt eine Birgit Pötzl/ Robert Reithofer (Hrsg.), Frauen schreiben. Positionen aus Südosteuropa, Graz 2006, S. 80 - 87. 40 Š afranek, Svila sje ć anja (Anm. 38). 41 Vrkljan, Vor roter Wand (Anm. 13), S. 78. 42 Ebd., S. 16. 43 Ebd., S. 14. 44 Ebd., S. 15. 45 Ebd., S. 14. 76 Milka Car <?page no="77"?> Spannung entstehen, die aus individuellen und kollektiven Bildvorräten schöpft und sie zusammenführt. Das bedeutet zugleich, dass die Offenheit und die fragmentarische Struktur des Textes diskursfunktional 46 verstanden werden kann: als individuelles Zeugnis wie als Ausprägung performativer und diskursiver Prozesse in einer bestimmten Kultur; denn eine Voraussetzung des Textes stellt gerade die Konstruktionsbedingtheit der Identität zwischen subjektiver Identitätsfindung und kulturellem Narrationsmuster dar. In einer diskurshistorischen Perspektive ist nicht nur die «sprachliche Verfasstheit von Subjektivität und Individualität» 47 für die Gattung der Autobiographie konstitutiv, sondern es soll auch die «historische Bedingtheit» 48 der jeweiligen gattungstypologischen Konzepte hinterfragt werden. So wird das autobiographische Subjekt im Text «höhnisch» von der «ermordete[n] Utopie» 49 erschlagen, was auf den jugoslawischen Slogan von «Brüderlichkeit und Einheit» im multinationalen Staat als auf eine fehlgeschlagene und in Gewalt umgeschlagene Utopie rekurriert. Die Leitfrage bleibt dabei ohne Antwort: «Wann fängt der Krieg an? » 50 Sie wird leitmotivisch wiederholt: «Wann beginnt der Krieg? » 51 Die autobiographische Erfahrung einer verunsichernden Grundstimmung zum Ausdruck zu bringen und sie damit zu überwinden, indem sie in die Schreibstrategie umgewandelt wird und als die «weiche Decke der Hoffnung» 52 angesprochen wird, dies wird von Irena Vrkljan als eine intertextuelle Praxis ausgetragen. Die Intention ist, die autobiographisch angelegte Selbstfindung in kollektive und kulturelle Prozesse einzubinden, ohne auf die - hier poetisch gefärbte - Autofiktion eines «dritten Ort[es] der Biographie» 53 zu verzichten, wozu Künstlerbiographien oder Biographien aus eigener Familie 54 herangezogen werden. Im vierten Abschnitt des zweiten Kapitels, betitelt mit «Gesammeltes Rot; Herz.» verschwindet das autobiographische Subjekt in einem intertextuellen Beziehungsgeflecht und wird vollständig von Stimmen der 46 Vgl. dazu: Martina Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, Stuttgart, Weimar 2005, S. 5 - 10. 47 Ebd., S. 11. 48 Ebd. 49 Vrkljan, Vor roter Wand (Anm. 13), S. 21. 50 Ebd., S. 26. 51 Ebd., S. 19. 52 Ebd., S. 19. 53 Ebd., S. 17. 54 «Frauen weinen laut um den Verlust der Biographie. [. . .] Vinkovci: ein Album der Familienzeit.» Ebd., S. 62. Diskursanalyse und postjugoslawische Kriege: Diskurse der Ohnmacht 77 <?page no="78"?> Anderen verdeckt. So beginnt der Text mit einem Zitat eines dreizehnjährigen autistischen Jungen über die Bedeutung der Farbe Rot, um mit Fragmenten aus Texten von Walter Benjamin, Rainer Maria Rilke, Vincent van Gogh, Heiner Müller, Marina Zwetajewa, Christoph Ransmayr, Roland Barthes, Ernst Jünger, Marcel Proust, Peter Sloterdijk, Johann Wolfgang von Goethe, Else Lasker-Schüler, Antonin Artaud und Osip Mandel ’š tam fortgesetzt zu werden. An diese als solche markierten intertextuellen Textfragmente knüpfen unmittelbar Textaussagen an, in denen die Farbe Rot mit der «Tiefe der Erinnerung» 55 verbunden wird. Im Schreiben fallen Erinnerung, Körper und Schrift zusammen, um eine Wand gegen die «Zerstörung» 56 des Krieges zu bilden. Damit wird auch das im Titel enthaltene Motiv vom Fall der Berliner Mauer polyvalent. Im poetischen Bild einer roten Wand wird die nicht mehr existente Mauer als eine imaginäre Grenze mit ihrem negativen, zerstörerischen Potential konstruiert, das für die Erzählinstanz in den jugoslawischen Folgekriegen all ihre negativen Konsequenzen entwickelt. Der Text von Irena Vrkljan ist als Kippfigur strukturiert, in der die textuelle Rekonstruktion und die mit ihr verbundene Darstellung von Lebensverläufen individuelle Erfahrung und gesellschaftliche Bedingtheit untrennbar miteinander verflechten. Diese Schreibpraxis zersetzt nicht nur die erinnernde Redesituation, sondern auch die Gattungsgrenzen und betont in einer radikalen Geste der Selbstaufhebung die These vom unerreichbaren Ich bzw. von der Unmöglichkeit der Subjektkonstitution. Die lähmende Ohnmacht des Subjektes angesichts der Kriegserfahrung wird als «Memorzid», als ein «Riß inmitten des Lebens» oder als «Untergang» beschrieben. 57 Die Erinnerungen sind damit von einer tiefen Melancholie angesichts des Untergangs der Wirklichkeit durchzogen, einer Form der Vergangenheitstrauer, die Adorno als Unmöglichkeit, «Gegenkräfte» zu etablieren, thematisiert. 58 Die Mehrfachcodierung von persönlicher und kollektiver Identität im Zusammenspiel mit den narrativen und biographischen Ebenen hat dabei die Aufgabe, das Unvorstellbare des Krieges als eine Erfahrung der Omnipräsenz, der alles auslöschenden Gewalt 59 darzustellen: «Wie schreibt man über den Verlust von Geschichte, über die Zerstörung der fest- 55 Ebd., S. 50. 56 Ebd., S. 59. 57 Ebd., 55. 58 Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt/ M. 1951, S. 23. 59 «Der Krieg zerstört im Rundumschlag eine ganze Welt.» Vrkljan, Vor roter Wand (Anm. 13), S. 59. 78 Milka Car <?page no="79"?> gehaltenen Zeit? Der Krieg nimmt alles, tötet alles.» 60 Somit wird die Frage der Identität im ‹ neuen › Zerfallskrieg als gebrochen und dispersiv thematisiert. 61 Die mannigfachen Vergangenheitsdiskurse fransen im assoziativen Textstrom aus und legen Zeugnis von einer alles verschlingenden und vernichtenden Wirkung des Krieges ab. Die Identität geht in Schrift über und ist nur bedingt und als Rekonstruktion in «pulsierenden Wände[n] der Zeit» 62 , als ein tastendes Hinterfragen der eigenen und kollektiven Vergangenheit möglich. Somit entsteht eine verzweifelte Geste des Textes, der sich selbst aufhebt und insbesondere am Ende elliptisch das Unsagbare auszusprechen versucht: «Buchstaben aus Granatsteinen. Splitter. Geschliffene Zeit. Und kein Himmel.» 63 Die postulierte Textkohärenz löst sich nunmehr in eine Folge von Textfragmenten auf, die in Erinnerungssequenzen, Briefen, Tagebuchaufzeichnungen, eingeschobenen Geschichten zugleich eine neue Form des Textes als «Herzschrift» 64 produzieren und um die Frage der Darstellbarkeit einer solcher Erfahrung kreisen. In der Weigerung, einen gattungstypologisch normierten Text zu schreiben, wird die Bemühung erkennbar, das Verschwinden (der Erinnerungen, der Überzeugungen, der gelebten Vergangenheit) zu beschreiben und dadurch gleichzeitig zu verhindern. Jedoch ist dieser Prozess der Anteilnahme nur in seinem «geschundene[n] Wesen» 65 zu fassen. In seiner repetitiven, die Themen und Motive ständig variierenden Struktur entsteht tatsächlich ein symbolisch vor der roten Wand aufgetürmtes Textfragment als eine Form, die Not und Ohnmacht signalisiert. So wird das Leben im Krieg als «eine kleine blutrote Lache auf weißer Leinwand» 66 festgehalten. Daraus geht hervor, dass die Spannung zwischen dem referenziellen Bereich und dem rekonstruierten Erinnerungstext in einer grundsätzlichen inneren diskursiven Destabilisierung ausgetragen wird. Die fragmentierte Schreibweise ist auch als eine andere Form der Suche nach Authentizität zu verstehen, in der gerade die verschwommene, intertextuell vermittelte Verbindung mit der Wirklichkeit als Versuch einer Annäherung an das Unmögliche in ihr zu deuten ist. Dies wird einerseits durch die Verquickung der an die Vergangenheit gebundenen Normalisierungstendenzen, andererseits durch die Thema- 60 Ebd., S. 65. 61 Herfried Münkler, Die neuen Kriege, in: Der Bürger im Staat 4/ 2004, S. 179 - 185. 62 Vrkljan, Vor roter Wand (Anm. 13), S. 36. 63 Ebd., S. 37. 64 Ebd., S. 41. 65 Ebd., S. 75. 66 Ebd., S. 74. Diskursanalyse und postjugoslawische Kriege: Diskurse der Ohnmacht 79 <?page no="80"?> tisierung von gegenwärtiger Störung, Verwirrung und Schockerfahrung verwirklicht. Der Fall Vukovars wird dabei als entscheidende Zäsur dokumentiert und schon damit in eine mythopoetische Dimension übertragen: «Hat man Vukovar gesehen, gibt es keine Beschreibung mehr vom Vorher. Das Unheil tilgt die Erinnerung, läßt sie nicht mehr zu. Totes beherrscht das Herz.» Die Erzählerstimme steht vor dem «Nichts», mit dem Imperativ konfrontiert, zu beschreiben, «was verschwindet. Beschreibe deinen Tod». 67 Diese Schreibstrategie verweist direkt auf das Thema der Unvorstellbarkeit des Krieges, indem die Kriegszerstörungen als Sterben der «Orte» in einem «vergessenen Land» im «Herbst 1992» 68 beschrieben werden. In diesen Sog der Zerstörung schreibt sich die Erzählinstanz mit dem Thema der verletzten Integrität des Einzelnen ein, da vor den eigenen Augen das Gesamtbild der Vergangenheit in einem Zug zerfällt und in einem Narrativ der wiederkommenden Gewalt gelöscht wird. 69 Der Krieg kommt im Text nicht wie in dem vorher besprochenen als direkte Bedrohung des eigenen Lebens vor, sondern als ein textuell filtrierter Reflex, da die Autorin seit dem Ende der 80er Jahre in Wien und Berlin lebt und nur aus Distanz die ihr zugänglichen Informationen vom Krieg und seinen Auswirkungen verwerten kann - sie ist nicht vor Ort präsent. So wird am Anfang eine Zeitungsnotiz aus der FAZ vom 4. 10. 1991 über die kroatischen Flüchtlinge in Pokupsko zitiert. Das diesen Artikel illustrierende Photo der vertriebenen älteren Frauen wird kommentarlos mit dem Thema der «Hilflosigkeit. Angst. [. . .] Grauen der Vertreibung» 70 verbunden. Dieses Verfahren der Vermischung des kollektiv und medial vermittelten Leidens mit einer subjektiven Sicht auf das Kriegsgeschehen ist nicht nur in der photographisch festgehaltenen Erfahrung der Frauen auf der Flucht angelegt, sondern vor allem in der biographischen Verunsicherung der Erzählerstimme. In Textfragmenten wird nach dem verlorenen Konnex gesucht, als ob die Gewaltstrukturen des Krieges in den eng miteinander verbundenen Ebenen der imaginären Vergangenheiten und der realen, aber unfassbaren Gegenwart angelegt wären. Der Krieg ist im Text die zentrale 67 Ebd., S. 59. 68 Ebd., S. 67. 69 Zu diesem Thema vgl. Susi K. Frank, Einleitung: Kriegsnarrative, in: Natalia Borissova, Susi K. Frank, Andreas Kraft (Hrsg.), Zwischen Apokalypse und Alltag. Kriegsnarrative des 20. und 21. Jahrhunderts, Bielefeld 2009, S. 7 - 41; Barbara Feichtinger, Helmut Seng (Hrsg.), Einleitung, in: Krieg und Kultur, Konstanz 2007, S. 9 - 21. 70 Vrkljan, Vor roter Wand (Anm. 13), S. 9. 80 Milka Car <?page no="81"?> (Leer-)Stelle: Der Krieg wird zu einem alles verschlingenden diskursiven Ereignis. Gerade sein Reflex zerstört den einheitlichen Text. Im letzten Kapitel unter dem Titel «Wie Vögel» wird eine Position der kollektiven Anklage eingenommen, indem die Erzählerstimme in den Plural übergeht: «Was haben wir alles verloren? » 71 Damit identifiziert sich das biographische Subjekt völlig mit dem Kriegsgeschehen und beklagt die Teilnahmslosigkeit der Außenstehenden: «Der Himmel ist fern und schaut nicht mehr auf uns. Auch Sarajevo stirbt. Die Welt ist fern und sieht weg.» 72 Damit erweist sich der Diskurs der Ohnmacht in seiner deklarativen Geste als ein pathetisch angehauchter Versuch, das eigene «ergriffene Staunen» 73 als einen aktivierenden Appell zum Ausdruck zu bringen. Allenfalls wird schnell klar, dass der Diskurs der Ohnmacht in diesem Text nur in der fiktionalen Sprache des dialogischen Appells eines haltlos gewordenen Subjekts zu finden ist. Ist er als eine Diskursfigur erkennbar geworden, bleibt ihm untilgbar die traumatische Produktion des Krieges eingeschrieben, so dass er die Erfahrung der Ohnmacht nur als Versuch ihrer Überwindung inszenieren kann. Es stellt sich damit die Frage, ob Authentizität in Form eines «Gegenbildes» 74 im Text erreicht werden kann oder ob dieser Text nur als ein Zeugnis der eigenen, biographischen Ergriffenheit zu lesen ist? Nachdem der Krieg das poetologische Programm der autobiographischen Suche Vrkljans als eine textbasierte Suche ohne «Heimstätte» und «Zuflucht» und damit als «täuschend» enthüllt, «vermummt sich die Schrift bis zur Unleserlichkeit», 75 der Text endet abrupt «Mitten im Wort» und die Schrift «stürzt ab» 76 bzw. wird von der eigenen Ohnmacht überlagert. Der als transgressive Neuverhandlung ästhetischer Codes angelegte Text, der direkt die Frage thematisiert, ob die Zonen des Übergangs, der Unschärfe, Überkreuzung in der Darstellung der Kriegserfahrung produziert werden können, bleibt allerdings in seiner Opferperspektive der unmittelbaren Ergriffenheit dem Diskursfeld des kollektiven Leidens verhaftet. Der Text will an den Leser aus einer Opferperspektive appellieren, was unfreiwillig in einen Diskurs der Selbstviktimisierung umschlägt und zwar nicht als Selbstzerstörung, sondern als Verharren in der Kontinuität der archaischen, kriegerischen Vergangenheit. So wird die assoziative 71 Ebd., S. 69. 72 Ebd., S. 69. 73 Ebd., S. 78. 74 Ebd., S. 36. 75 Ebd., S. 55. 76 Ebd., S. 78. Diskursanalyse und postjugoslawische Kriege: Diskurse der Ohnmacht 81 <?page no="82"?> und fragmentarische Textsorte der autobiographischen Suche zu einem Zeugenbericht der damaligen (notwendigen? ) Homogenisierungspolitik in Kroatien. Gerade diese von Irena Vrkljan eindringlich geschilderte Erfahrung, dass man sich dem Sog des Krieges nicht entziehen kann, sondern in einer paralysierenden Situation von Angst, Opferbewusstsein und Beklemmung gefangen bleibt, ist insbesondere auf die folgenden Kriegsjahre 1993 und 1994 zu beziehen. III Seine Tagebuchfragmente 1991 - 1993 publizierte der Essayist, Publizist und Redakteur Branko Matan unter dem Titel Domovina je te š ko pitanje (Heimat ist eine heikle Frage) erst Ende 1998 (obwohl im titelgebenden Zeitraum entstanden), da der Druck seines Tagebuches verboten wurde. Der Autor wollte auf die Cover-Photographie der ersten 600 aus dem kroatischen Lager Dretelj in Herceg-Bosna am 31. August 1993 entlassenen muslimischen Gefangenen nicht verzichten. Die Vorgeschichte und das erfolgte Verbot der Publikation ist in einem Nachtrag zum Tagebuch dokumentiert 77 und kann als zusammengefasste Ereignisgeschichte unmittelbar nach dem Ende der Kriegshandlungen in Kroatien gelesen werden. Mit den Begriffen des «Unbehagens» und der «Angst» 78 beschreibt der Autor die Publikationsgeschichte des Buches, da der Dachverband kroatischer Kultur und sein Verleger Matica hrvatska die Publikation unmittelbar vor dem Druck verhinderte und sie erst aus Mitteln unabhängiger Organisationen finanziert werden konnte. Dass dies eine Welle der Empörung und heftige öffentliche Debatten auslöste, ist als positives Echo zu deuten. Denn es verweist darauf, dass eine öffentliche Debatte trotz der Zensureingriffe und einer manipulierten Medienöffentlichkeit zustande kommen konnte. Zugleich spiegelt damit der Tagebuchtext in seiner damals für die kroatische Öffentlichkeit offenbar unzulässigen Form den normativen Rahmen wider, in dem er entstanden ist, so dass er im Endeffekt von dieser Rahmung fast verdeckt wird. Matan geht in seinem Tagebuch vom Versuch aus, die Ereignisse aus dem unmittelbar erlebten Moment heraus zu diskursivieren und appelliert in seinem «Vorwort» an die «Öffentlichkeit als Partner». 79 Der Text ist als sehr breite Momentaufnahme in der gattungstypischen Eigenschaft 77 «Naknadni prilog». Matan, Domovina (Anm. 14), S. 275 - 299. 78 «Danas se nelagoda prometnula u strepnju ” , ebd., S. 275. [Hervorg. von M. C.]. 79 Peter Boerner, Tagebuch, Stuttgart 1969. 82 Milka Car <?page no="83"?> des Tagebuches konzipiert, was hier - da der Krieg und seine Ausbreitung thematisch im Mittelpunkt stehen - keine Zukunftsperspektive eröffnen lässt. Vielmehr liegt es ihm daran, einerseits eine krisenhafte Bestimmung der Welt aus der Perspektive eines am Zeitgeschehen beteiligten Beobachters zu erörtern, andererseits auf die Unmöglichkeit des politischen Handelns der Intellektuellen hinzuweisen. Die Lähmung des Einzelnen angesichts der kollektiv erduldeten moralischen Niederlage kommt dadurch zum Ausdruck. Der Text ist somit als Bekenntnis der Ratlosigkeit und zugleich als ein «Buch der Einsamkeit, ein Buch der Strenge, [. . .] ein Buch der Qualen» 80 konzipiert. Das politische Tagesgeschehen, in den Jahren 1991 bis 1993 auf die Absurdität der Kriegshandlungen und auf die darauf folgenden Reaktionen komprimiert, ist bei Matan in Vordergrund, während es bei Vrkljan nur als Krisenreflex im Hintergrund figuriert. Da sein Tagebuch ein «Buch über den Krieg» 81 ist, werden Individualgeschichtliches und Kollektiv-Historisches untrennbar miteinander verbunden. 82 So werden u. a. Kriegsflüchtlinge im ehemaligen Touristenmekka Istrien beschrieben, die als «provisorische Kriegsgäste» 83 «reglos» in Hotels sitzen. Auch Vukovar ist zu einer medial vermittelten Katastrophe geworden, die in der kroatischen Öffentlichkeit als «Signal der Verbitterung, des Ärgers, der Ohnmacht, des Inartikulierten, des Schweigens und der Erniedrigung» 84 fungiert. In seinem Ereignisprotokoll befragt das Ich das eigene Erinnerungsvermögen sowie die gegenständliche Abhängigkeit der Erfahrung bzw. seine Verankerung in der alltäglichen Realität, da es das Tagebuch einschränkend als eine «Chronik der eigenen Erfahrung in Zeiten des Krieges» definiert - als «jenen Teil der eigenen Erfahrung, der aus Erfahrung des Krieges hervorgegangen» ist. 85 Diese Erfahrungen sind vom «Ungeheuer des Krieges» 86 dominiert. Akkurat werden die damaligen kollektiven 80 Matan, Domovina (Anm. 14), S. 278. 81 «Ovo je knjiga o ratu. [. . .] Ja bih ga odredio, barem danas, u trenutku dok ovo bilje ž im, kao kroniku osobnog iskustva u doba rata, onoga dijela osobnog iskustva koje proizlazi iz iskustva rata.» (Hervorh. i. O.) Ebd., S. 5. 82 Matan bezieht sich auch auf andere Kriegstagebücher, so z. B. auf das viel beachtete Tagebuch von Zlata Filipovi ć aus dem belagerten Sarajevo (ebd., S. 244). Vgl. Zlata Filipovi ć , Zlatin dnevnik, Zagreb 1994. Über die authentischen Kriegsberichte aus Bosnien vgl. Boris Previ š i ć , Literatur topographiert. Der Balkan und die postjugoslawischen Kriege im Fadenkreuz des Erzählens, Berlin 2014. 83 Matan, Domovina (Anm. 14), S. 58. 84 Ebd., S. 120. 85 Ebd., S. 5. 86 Ebd., S. 31. Diskursanalyse und postjugoslawische Kriege: Diskurse der Ohnmacht 83 <?page no="84"?> Gefühle als «eine Form der zerstörerischen, ungesunden, unterirdischen und stumpfen Angst» 87 beschrieben. So sind die Tagebuchaufzeichnungen als Diagnose formuliert, die eine durch den Schrecken paralysierte, von der «eigenen Angst hypnotisierte» Gesellschaft betrifft. Im Zusammenhang damit wird der vom 4. Juli 1991 bis zum 29. Dezember 1993 detailliert geschilderte Zeitraum mit dem Begriff des Unwirklichen, bzw. mit den Begriffen des «Unaushaltbaren, Irrealen, Unbeschreiblichen» umschrieben. 88 In diesem individuellen Text wird die Erfahrung der kollektiven Ohnmacht als eine paralysierte und paralysierende Zeit beschrieben, die jeglichen Handlungsspielraum aufhebt. Ist für die Gattung Tagebuch eine chronologische, einen Gegenstand oder ein Geschehen erfassende Sprachform typisch, wird in diesem Fall die Textsorte, wie auch das schreibende Subjekt, völlig von ihrem Gegenstand bzw. vom Krieg dominiert: «Und jetzt ist der Krieg hier, und er interessiert sich für mich.» 89 So liegt das Spannungszentrum des Tagebuches in den Aufzeichnungen der laufenden Kriegsgeschehnisse und einer Atmosphäre, die zwischen «Trotz, Abwehr, leidenschaftlichem Zeugnisablegen, [. . .] Verzweiflung, Empörung, Aufregung» im ersten Teil der Aufzeichnungen und «Erbitterung» 90 sowie dem «Gefühl der Agonie» und «Resignation» im zweiten Teil schwankt und zum «machtlosen, unproduktiven Vakuum» führt. 91 Dabei entspringt der Diskurs der Ohnmacht ausgerechnet dem Versuch, das Opfernarrativ nicht zu verinnerlichen und die eigene, zum konkreten Zeitgeschehen distanzierte Position zum Ausdruck zu bringen. Zugleich reflektiert er damit die kollektiv erlebte Unmöglichkeit, sich zu wehren oder eine als ungerecht oder unsinnig empfundene Kriegshandlung zu beeinflussen oder auch nur zur Sprache zu bringen. Matan bezeichnet die Tagebuchform superlativisch absolut als die «eigenste» 92 und versteht sie als eine Stufe in der Einschulung der Vorstellungskraft angesichts des Unvorstellbaren, da sich ihm die Kriegswirklichkeit entzieht und «unwirklich» 93 zu sein scheint. Die Ver- 87 «[. . .] neka razorna, nezdrava, podzemna i potmula tjeskoba», ebd., S. 53. 88 «Ne znam kako to opisati, osim rije č ju nestvarno. Ovaj ratni dnevnik trebao bi se sastojati iz samo nekoliko rije č i: neizdr ž ivo, nestvarno, neopisivo.» Ebd., S. 154. 89 «A sada je rat tu, i zanima se za mene.» Ebd., S. 16. 90 «Dave se u tom ogor č enju.» Ebd., S. 97. 91 «Nema vi š e niti prkosa, otpora, strasti za svjedo č enjem, nema o č aja, zgranutosti, uzbu đ enja. Osje ć aj agonije, rezignacije [. . .] Doplovio sam u mlitavi, neproduktivni vakuum.» Ebd., S. 150. 92 Ebd., S. 6. 93 Ebd., S. 7. 84 Milka Car <?page no="85"?> wischung der Grenzen zum Fiktionalen ist für Matan zweifach bedingt: Zum einen handelt es sich dabei um eine mediale Verschleierung der Verhältnisse und einen fortdauernden und von ihm bezeugten «Propagandakrieg», zum anderen gründet diese Irrealisierung auf einer konkreten, dem Tagebuchführenden jedoch unverständlich gewordenen Entwicklung des Krieges, die auch im öffentlichen Diskurs verdrängt geblieben ist. Es geht um die Rolle Kroatiens in Bosnien-Herzegowina bzw. den Militäreinsatz im «bosniakisch-kroatische[n] ‹ Krieg im Kriege › « 94 , um die herum er sein «Inventar der Fragen» 95 in diesem «verstörten, verzweifelten und verrückt gewordenen Land» 96 aufbaut. Er verfolgt dabei den Wandel im medialen und politischen Diskurs, der den Konflikt mit der muslimischen Bevölkerung zu rechtfertigen versucht und notiert die schizophrene Spaltung der Öffentlichkeit, so dass seine Chronik zu einem «Transkript» für die «Kriegspsychose» wird. 97 Diese Situation der «unsichtbar aber wirksam versprühten» Ohnmacht 98 ist dabei als eine implizite Rezeptionsvorgabe des Textes zu verstehen, denn die Passivität der Tagebuchstimme präsentiert sich als ein gebrochener und damit ‹ unmöglicher › Diskurs, der sich jedoch der dominanten Haltung des (Ver-)Schweigens zu entziehen versucht. Matans Tagebuch ist somit ein früher Versuch, die kollektive Schuld zur Sprache zu bringen, indem er aus seiner individuellen Position der Ohnmacht die Frage nach der Handlungs(un)fähigkeit der kroatischen Gesellschaft in der kriegerischen Transition stellt. Formuliert wird die Frage nach dem nicht erfolgten Widerstand, nach der ausgebliebenen Geste der Abwehr gegen die dominanten, jedoch irreführenden politischen Diskurse. Davon zeugen die Passagen, in denen Scham und Schuldgefühle direkt thematisiert werden. 99 In einem Interview beschreibt der Autor diese Scham als vielfältig: «menschlich, bürgerlich und national». 100 Dabei schwankt der Schreibende zwischen resignativer 94 Vgl. dazu Ž eljko Ivankovi ć , Dunja Mel č i ć , Der bosniakisch-kroatische «Krieg im Kriege», in: Dunja Mel č i ć (Hrsg.), Der Jugoslawien-Krieg. Handbuch zu Vorgeschichte, Verlauf und Konsequenzen, Wiesbaden 2007, S. 415 - 439. 95 Matan, Domovina (Anm. 14), S. 12. 96 «izbezumljenoj, o č ajnoj i izlu đ enoj zemlji», ebd., S. 150. 97 Ebd., S. 191. 98 «koja je rasplinuta nevidljivo i djelotvorno, poput otrova iz limenke sa sprayem», ebd., S. 150 f. 99 Ebd., S. 169. 100 So in dem im Anhang des Buches vollständig übernommenen Interview aus dem Wochenblatt «Nacional» vom 21. Oktober 1998. Ebd., S. 291 - 297. Diskursanalyse und postjugoslawische Kriege: Diskurse der Ohnmacht 85 <?page no="86"?> Ohnmacht und einer individuellen Abwehrgeste, indem er das Geschehen beschreibt und sich gleichzeitig davon distanziert. Nochmals erweist sich die Kriegswirklichkeit als diktatorisch und provoziert sogar die Frage nach dem Wirklichkeitsstatus des Erfahrenen. So wird die unfassbare Irrealisierung und Fiktionalisierung der Wirklichkeit für den Tagebuchschreibenden zur Herausforderung. Der Autor deutet sie als eine immer schon vorhandene «phantastische» Dimension der Wirklichkeit, 101 die er aus dem sicheren Schutz des Tagebuches heraus als eine verlogene und propagandistisch verbreitete Illusion dechiffriert. So erscheint die trügerische Sicherheit eines authentischen Dokuments als die einzige Möglichkeit, die ungewollte Ausweitung des Krieges auf Bosnien und Herzegowina zur Sprache zu bringen. Somit ist dieses Tagebuch als Versuch zu lesen, sich seiner referentiellen Wirklichkeit zu entziehen, da es als Produkt eines traumatischen geschichtlichen Moments entsteht. Gleichzeitig postuliert der Autor im Moment des Aufschreibens eine bekenntnishafte Wahrheitsdimension als Diskursivierung des Unfassbaren, indem die Derealisierungstendenzen in der Gesellschaft aufgedeckt werden. Vom Autor zusammengefasste Berichte über die nach Bosnien verlegten Kriegshandlungen handeln davon, wie der Diskurs der Ohnmacht übergangslos aus der Opferin die Täterphase gleitet. Diese Phase beschreibt die kroatische Ethnologin Dunja Rihtman Augu š tin in einem Interview als einen Übergang aus dem «positiven» in den «pathologischen Ethnozentrismus». 102 Insbesondere im Jahre 1992 beklagt der Autor seine Position eines Zeugen vom «Verbrechen, das ständig wächst, [. . .] immer größer, immer schrecklicher, immer unbegreiflicher». 103 Damit wird das Nicht- Ausgesprochene, das Unsägliche der kroatischen Verbrecherposition an den Fronten in Bosnien als Skandalon der neueren kroatischen Geschichte 104 im Tagebuch als «Ekel» und «wachsende Resignation» 105 fixiert. Der kroatische Literaturwissenschaft- 101 «Oduvijek smo to znali, ali tek sada to zaista znamo: nema ni š ta fantasti č nije od stvarnosti.» Ebd., S. 130. 102 Iva Ple š e, Ispod struktura mo ć i. Interview mit D. Rihtman-Augu š tin, in: Vijenac, 5. November 1998. 103 «zlo č ina koji neprestano raste, iz dana u dan. Postaje sve ve ć i, sve stra š niji, sve neshvatljiviji.» Matan, Domovina (Anm. 14), S. 97. 104 Über den Verlauf der Kriegshandlungen vgl. Marie-Janine Calic, Krieg und Frieden in Bosnien und Herzegovina, Frankfurt/ M. 1996. 105 Matan, Domovina (Anm. 14), S. 202 u. 207. 86 Milka Car <?page no="87"?> ler Stanko Lasi ć beschreibt Matans Tagebuch als ein Buch, das das monologische Bewusstsein der kroatischen Öffentlichkeit kritisiert. 106 Indem ein «nervöses, verängstigtes und zwischen den Zeilen schlagendes Herz» 107 sich ausspricht, kann eine authentische Position der Zeugenschaft entstehen, denn gerade im Bewusstsein von Resignation und machtloser Selbstbespiegelung wird das medial vermittelte Bild von starren Feind/ Freund-Oppositionen dekonstruiert. Am 31. August 1993 schreibt Matan über die Gefangenen, die er als «sechs Hundert kroatischer Geister» in «kroatischen Lagern» 108 bezeichnet und die ihn, wenn auch nur als Zeugen, zum Verbrecher machen. Indem im Tagebuch die allgemeine Handlungsohnmacht im Jahre 1993 als Niederlage beschrieben wird, bestätigt Matan jedoch den Handlungsraum des Einzelnen. Seine ‹ heikle Frage › ist die Frage nach der nationalen «Erniedrigung», 109 da es damals in Kroatien unmöglich war, ‹ normal › zu leben 110 bzw. sich den Kriegsnarrativen und manipulativen Medienstrategien zu entziehen und die Schuld für die Verbrechen der eigenen Seite auf sich zu nehmen. IV Die Diskurse der Ohnmacht konstruieren in den hier analysierten Texten unterschiedliche Erfahrungshorizonte der nicht gewollten und doch notwendigen Anpassungen an den Krieg. Die Frage, ob es sich dabei um eine große kompensatorische Leistung handelt, die dem thematisierten Kriegsgrauen zum Trotz «ein unantastbares Leben» 111 behaupten kann, wird in der jeweiligen Autorenpoetik unterschiedlich behandelt. Diese poetologische Frage findet ihre Parallele in der biographisch verankerten Erfahrung der durch den Krieg ausgelösten tiefen Ohnmacht der Spätadoleszentin M. C. Die Absicht des vorliegenden Beitrags war es, die Diskurse der Ohnmacht in zeitgenössischen und tagebuchartigen Texten zu belegen, um das von M. C. erlebte paralysierende Gefühl der 106 Ines Sabali ć , Odjeci afere. Matica hrvatska protiv Branka Matana (interview sa S. Lasi ć em), in: Globus, 6. November 1998. 107 Matan, Domovina (Anm. 14), S. 252. 108 Ebd., S. 208. 109 «Biti Hrvat, biti gra đ anin Hrvatske, kada ć e to napokon jednom postati ne š to obi č no, normalno? Ho ć emo li ikada do č ekati dan kada pripadnost ovoj zemlji ne ć e biti najstra š nije poni ž enje? » Ebd., S. 89. 110 Ebd., S. 110. 111 Sigmund Freud, Warum Krieg? Zwei Schriften. Der Briefwechsel mit Albert Einstein, Stuttgart 2012, S. 30. Diskursanalyse und postjugoslawische Kriege: Diskurse der Ohnmacht 87 <?page no="88"?> Ausweglosigkeit und Handlungsunmöglichkeit in der textuellen Suche bestätigen. Alenka Mirkovi ć bleibt dem testimonialen Modell der Zeugenschaft verbunden und schreibt nach ihrem chronikartigen Bericht keine Prosa mehr. Sie bezeichnet sich als einen Teil der «verlorenen Kriegsgeneration», 112 die vom Kriegstrauma und von der Überlebensschuld geprägt ist. Bei Vrkljan wird der Krieg als eine intertextuell angelegte Spannung zwischen dem «Reich des Todes, der Unbeweglichkeit» und der «roten Blume der Schrift» vertextet. 113 Branko Matan thematisiert den Krieg als «Zertrümmerung sozialer Strukturen» - im klassischen kriegstheoretischen Sinne mit Carl Schmitt gesprochen, und zwar aus dem Blickwinkel der «Unentrinnbarkeit eines moralischen Zwanges» 114 , indem er die Kategorien des ‹ absoluten › und des ‹ wirklichen › Feindes impliziert, die sich als eine eigentlich willkürliche und im neuen Bürgerkrieg unmögliche Polarisierung erweisen. Eine solche Opposition zwischen dem ‹ absoluten › und dem ‹ wirklichen › Feind wird pragmatisiert und als modellierbar dargestellt, denn gerade diese starren Oppositionen machen die medialen Manipulationen und das kollektive Verschweigen möglich. Hat Mirkovi ć immerhin Anspruch auf eine Position des «defensivautochtonen Verteidigers der Heimat», 115 sieht Matan keine plausible Rechtfertigung für den Krieg, 116 außer der ihm immanenten Aufgabe, «Feindschaft» zu produzieren. 117 Der Diskurs der Ohnmacht erfasst die kollektiven Erfahrungen in tagebuchartigen Formen oder in einer fragmentierten Autobiographie und bleibt als Dokument der Resignation in seiner «Doppelheit» 118 lesbar, weil er in seiner individuell-kollektiv geteilten Erfahrung in einer monologischen Dimension der ‹ Selbstaussprechung › gefangen bleibt. Die Diskurse der Ohnmacht bleiben somit unterschwellig bestehen und können immer wieder in ihrem ambivalenten Potential entweder als Formen der 112 Cvitan (Hrsg.), Rat uronjen u traumu (Anm. 22), S. 272. 113 Vrkljan, Vor roter Wand (Anm. 13), S. 70. 114 Carl Schmitt, Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkungen zum Begriff des Politischen, Berlin 1963, S. 75 u. 95. 115 Ebd., S. 35. 116 Im Jahr 1992 spricht er noch vom «Guerilla-Krieg» der kroatischen Verteidiger, um im längsten Abschnitt des Jahres 1993 vom Krieg als dem «unbegreiflich Schlechtestem» («nepojmljivo najlo š ijem») zu reden. Matan, Domovina (Anm. 13), S. 159. 117 Schmitt, Theorie des Partisanen (Anm. 114), S. 63. 118 Gilles Deleuze, Logik des Sinns, Frankfurt/ M. 1993, S. 132. 88 Milka Car <?page no="89"?> Selbstviktimisierung oder als Konzeptualisierungen des Feindes aktiviert werden. Somit ist das transgressive Potenzial nicht so sehr den hier analysierten Texten immanent, sondern wirkt sich vielmehr auf die Rezeptionshaltung des Lesers aus, um im Moment des Übergangs einen nie endenden Dialog der Vergangenheit mit der Gegenwart als ein Spiel der konträren Positionen und der gegenseitig sich ergänzenden und nicht ausschließenden Erfahrungen zu ermöglichen. Dies ist auf einer kulturkritischen Ebene als «Reflexion aufs Ich als Befangenheit, als Innewerden der Ohnmacht» zu verstehen. Die individuelle Erfahrung der Ohnmacht - «wissen, daß man nichts ist» 119 - wird mit der Figur der Verlorenheit ausgedrückt. Auch zeugen die hier präsentierten Texte vom charakteristischen Sog der Gewalt als dem Sog «des Ausbeutens, Wegnehmens und Vernichtens», 120 der eine Gesellschaft im Kriegszustand in ihrem Bann hält und dem sich weder der Einzelne noch der Text entziehen können. 119 Adorno, Minima Moralia (Anm. 58), S. 23. 120 Münkler, Über den Krieg (Anm. 24), S. 243. Diskursanalyse und postjugoslawische Kriege: Diskurse der Ohnmacht 89 <?page no="91"?> Tanja Zimmermann Semmeln in Ro ž na dolina. Eine Erinnerung aus Ljubljana und die Kriegsbilder aus Bosnien Als der sogenannte Zehn-Tage-Krieg am 26. Juni 1991 in Slowenien ausbrach, stand ich kurz vor dem Abschluss meines Studiums der Kunstgeschichte und Germanistik an der Philosophischen Fakultät in Ljubljana. Trotz der angespannten Stimmung musste ich mich auf Prüfungen vorbereiten. Für eines dieser Examina setzte ich mich mit der ottonischen Kunst auseinander, die in der Miniaturmalerei zahlreiche Darstellungen der Apokalypse hervorbracht hat, angeregt durch die Erwartung des baldigen Weltendes an der Wende des Millenniums. Der Lehrstoff in den Büchern und die Stimmung am Himmel über Ljubljana, den die Flugzeuge der jugoslawischen Armee, die sowjetischen MIGs, mehrmals durchquerten, stimmten überein. Als bei einem dieser Überflüge die Schallmauer durchbrochen wurde, dachten wir, dass die Stadt schon beschossen wurde. Mein Vater, der als Jugendlicher den Zweiten Weltkrieg erlebt hatte, wusste sofort, was zu machen war. Wir füllten alle verfügbaren Gefäße im Keller mit Wasser und kauften im Supermarkt haltbare Nahrungsmittel wie Reis, Gemüse- und Fischkonserven. Über dem Stadtviertel Ro ž na dolina unweit von unserem Haus wurde ein jugoslawischer Hubschrauber abgeschossen, dessen Pilot trotz Warnung nicht hatte landen wollen. Wie sich erwies, war der Pilot ein Slowene 1 und transportierte nicht Spezialeinheiten, wie befürchtet, sondern Nahrungsmittel. Überall auf der Straße lagen frische weiße Semmeln und Brote (Abb. 1), 2 die auf den Fotos im Fernsehen und in der Presse 1 Der slowenische Pilot Anton Mrlak wurde erst im Jahre 2000 rehabilitiert und seiner Witwe die Rente ausbezahlt; in: ‹ http: / / www.gibanje-ops.com/ prispevkirazlicnih-avtorjev/ 41-prispevki-razlicnih-avtorjev/ 169-ali-so-osamosvojitelji-zapropagandne-namene-zoper-jla-rtvovali-svojega-loveka- › (Zugriff: 3. 1. 2013). 2 Das Video des abgeschossenen Hubschraubers kann zusammen mit einem kritischen Artikel, in dem die Notwendigkeit dieser Aktion bezweifelt wird, auf folgender slowenischer Internetseite abgerufen werden: Ekipa OPS (Osve šč eni prebivalci Slovenije), Zakaj je moral umreti Mrlak? , 21. September 2010, in: ‹ http: / / www.gibanje-ops.com/ prispevki-razlicnih-avtorjev/ 41-prispevki-razlicnih-avtor jev/ 169-ali-so-osamosvojitelji-za-propagandne-namene-zoper-jla-rtvovali-svojega -loveka- › (Zugriff: 3. 1. 2013); Zur jüngsten Kritik des Ereignisses und seiner <?page no="92"?> jedoch nicht zu sehen waren (Abb. 2) 3 . Ich habe mich gefragt, ob der Regen sie auflöste oder ob sie entfernt wurden. Für sie hatte der junge Soldat sterben müssen. Abb. 1: Nace Bizilj, Abgeschossener Hubschrauber im Stadtviertel Ro ž na dolina in Ljubljana, 1991, in: ‹ http: / / www.24ur.com/ novice/ samostojnih20let/ kako-so-varovali-objekte-posebnega-pomena_comment_p3_a24.html? &page=3&p_all_items=24 › (Zugriff: 3. 1. 2013) Interpretation: Bo ž o Repe, 20 let. Interpetacije zgodovine, in: Mladina 25, 23. 6. 2011, in: ‹ http: / / www.mladina.si/ 54 359/ 20-let/ › (Zugriff: 3. 1. 2013). 3 Das Foto, das der Fotograf Nace Bizilj aufgenommen hat, wird heute im Museum der neueren slowenischen Geschichte (Muzej novej š e zgodovine Slovenije) in Maribor aufbewahrt. Danijela Levpu š ek, Pripravljeni na spopad, 4. Juli 2011, in: ‹ http: / / www.24ur.com/ novice/ samostojnih20let/ kako-so-varovali-objekteposebnega-pomena_comment_p3_a24.html? &page=3&p_all_items=24 › (Zugriff: 3. 1. 2013). 92 Tanja Zimmermann <?page no="93"?> Abb. 2: Abgeschossener Hubschrauber mit herumliegenden Brotleiben im Stadtviertel Ro ž na dolina in Ljubljana, Foto aus dem Video, das im österreichischen Fernsehen gezeigt wurde, 1991, in: ‹ http: / / www.gibanje-ops. com/ prispevki-razlicnih-avtorjev/ 41-prispevki-razlicnih-avtorjev/ 169ali-so-osamosvojitelji-za-propagandne-namene-zoper-jla-rtvovali-svojega-loveka- › (Zugriff: 3. 1. 2013) Auf den Haupteinfallsstraßen von Kroatien nach Ljubljana wurden Barrikaden aus Bussen und Lastwägen zusammengestellt, um die Einfahrt der jugoslawischen Panzer in die Hauptstadt zu erschweren oder gar zu verhindern. Um das slowenische Parlamentsgebäude liefen in aufgeregter Stimmung bewaffnete Männer der slowenischen Milizen. Dieser ‹ sanfte › Krieg, der, wie man später rühmte, ‹ nur › achtzehn Menschenleben auf slowenischer Seite und 46 auf Seiten der jugoslawischen Armee forderte, 4 war das Vorspiel der kriegerischen Auseinandersetzungen in Jugoslawien. Die Republik Slowenien hatte ein 4 Zum 10-Tag-Krieg in Slowenien: ‹ http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ 10-Tage-Krieg › (Zugriff: 27. 12. 2012). Semmeln in Ro ž na dolina 93 <?page no="94"?> halbes Jahr zuvor, am 23. Dezember 1990, ein Referendum zur Frage der Eigenstaatlichkeit durchgeführt, für die sich 88 % der Bevölkerung ausgesprochen hatte. Am Tag nach dem Referendum bin ich zu einer Freundin nach Ägypten geflogen, die dort mit einem Stipendium ein halbes Jahr Arabisch studierte. Als ich Mitte Januar zurückkehren wollte, brach der Zweite Golfkrieg aus, und die meisten Flüge auf dem Flughafen von Kairo - darunter auch die der slowenischen Fluggesellschaft Adria Airways - wurden gestrichen. Als ich versucht habe, auf einen Flug nach Belgrad bei der jugoslawischen Fluggesellschaft JAT umzubuchen, gab es angeblich keinen Platz mehr für mich. Das unfreundliche Personal ließ mich darüber im Unklaren, ob ich damit rechnen könnte, in einem der nächsten Flüge mitgenommen zu werden. So musste ich nach drei Tagen mit Austrian Airways nach Wien fliegen, von wo mich slowenische Geschäftsleute, die ich auf der Irrfahrt aus Ägypten kennengelernt hatte, in einem Firmenwagen bis nach Maribor in Slowenien mitnahmen. Für mich war dies ein erster Vorgeschmack auf das Ende des Zusammenhalts der jugoslawischen Völker, deren in der Tito-Ära beschworene ‹ Brüderlichkeit und Einheit › im ‹ Bruderzwist › Anfang der 1990er Jahren in Hass umschlug. Ein halbes Jahr später, am 25. Juni 1991, erklärte die slowenische Regierung die Unabhängigkeit und wies die slowenischen Milizen an, die Kontrolle an den Grenzübergängen sowie auf den slowenischen Flughäfen zu übernehmen. Der damalige jugoslawische Ministerpräsident Ante Markovi ć , der kurz danach zurücktrat und seinen Platz Slobodan Milo š evi ć räumte, erteilte daraufhin der Jugoslawischen Armee den Befehl, die Staatsgrenzen Sloweniens zu besetzen, um die Einheit Jugoslawiens weiter zu gewährleisten. Zu Kämpfen kam es in den folgenden zehn Tagen vor allem an den Grenzübergängen. Da man in der Hauptstadt sonst nicht viel von den Kriegsaktionen mitbekam, die Stimmung jedoch sehr angespannt war, war es umso wichtiger, über das Radio und Fernsehen die neuesten Nachrichten zu verfolgen. Schließlich befürchteten wir, dass die jugoslawische Armee die Grenzen absperren und den gemäßigten slowenischen Kommunismus durch eine serbisch dominierte kommunistische Diktatur ablösen würde. Einen Vorgeschmack darauf hatte man in Ljubljana schon im Jahre 1988 bekommen, als die jugoslawische Armee ein Schauprozess gegen den slowenischen Offizier Ivan Bor š tner und drei Journalisten der oppositionellen Studentenzeitung Mladina inszeniert hatte. Die drei Reporter Janez Jan š a, Franci Zavrl und David Tasi ć hatten angeblich ein Geheimdokument der jugoslawischen Armee veröffentlichen wollen, das ihnen 94 Tanja Zimmermann <?page no="95"?> Bor š tner übergeben hatte. 5 Im slowenischen Fernsehen erschien damals plötzlich der jugoslawische Verteidigungsminister General Branko Mamula in Uniform - ein Bild, das ich früher nie erlebt hatte, da Jugoslawien trotz Kommunismus ein zivil geprägtes Land war. Doch 1991 wiederholten sich derartige Fernsehbilder von serbischen Generälen nicht. Obwohl die Sendeantennen auf den Bergen Nanos, Pohorje und Krim von jugoslawischen MIGs bombardiert wurden, gelang es dem slowenischen Informationsdienst, ein paar Stunden am Tag über die aktuelle Situation zu berichten und Filme von den Kriegsschauplätzen zu zeigen. 6 Wie man erfuhr, ist es dem slowenischen Verteidigungsministerium gelungen, nicht nur durch offene Kriegshandlungen, sondern auch durch andere geschickte Taktiken - wie das Abschalten des Wassers in den Kasernen der jugoslawischen Soldaten - am 7. Juli einen Waffenstilstand zu erzwingen. Die Soldaten, die sich bald ergaben, waren in der Mehrzahl junge, gänzlich unerfahrene Männer, die gerade ihren Militärdienst in Slowenien absolvierten. Einige von ihnen gehörten Republiken an, die ebenso die Abtrennung von Jugoslawien vorbereiteten. Sie weigerten sich, an den Kampfhandlungen teilzunehmen. Einen wesentlichen Beitrag zum Kriegsabbruch leistete der gewandte Umgang des slowenischen Informationsministers Jelko Kacin, dem es gelang, die slowenische Bevölkerung zu beruhigen und die Sympathie ausländischer Journalisten zu gewinnen. Die entscheidende Wende für Slowenien brachte schließlich die staatliche Anerkennung Sloweniens und Kroatiens durch Deutschland, die Außenminister Hans-Dietrich Genscher am 12. Dezember 1991 aussprach. Die Slowenen wussten schon damals, dass diese frühe Anerkennung als Alleingang des wiedervereinigten Deutschland umstritten war. 7 Das durch die kommunistische Propaganda geprägte Deutschlandbild hatte die slowenische Presse die Wiedervereinigung durchaus mit Sorge kommentieren lassen. Umso mehr wurde dieser Schritt mit Dankbarkeit aufgenommen. Unmittelbar nach dem Waffenstillstand mit Slowenien setzten 1991 Kriegshandlungen in Kroa- 5 Mehr zu den Hintergründen des Prozesses: Anonym, Jugoslawien. Im Abwind, in: Der Spiegel 26, 27. 6. 1988, 121, 122; in: ‹ http: / / www.spiegel.de/ spiegel/ print/ d- 13530046.html › (Zugriff: 28. 12. 2012). 6 Viele Videos der Kämpfen und der Berichterstattung kann man heute auf folgender Internetseite des Slowenischen Radios und Fernsehens (Archiv) abrufen: ‹ http: / / www.rtvslo.si/ odprtikop/ dnevnik/ › (Zugriff: 28. 12. 2012). 7 Vgl. den Zeitungsartikel in der FAZ: ‹ http: / / www.faz.net/ aktuell/ politik/ genscher-in-der-f-a-z-kein-alleingang-bei-der-anerkennung-sloweniens-und-kroatien s-11577124.html › (Zugriff: 27. 12. 2012). Semmeln in Ro ž na dolina 95 <?page no="96"?> tien ein und weiteten sich im Frühjahr 1992 nach Bosnien aus. Slowenien blieb verschont. Seit 1993 lebe ich in Deutschland, wohin ich zunächst gelangte, um ein Alpen-Adria-Stipendiums an der Universität Augsburg wahrzunehmen. Mein Thema war die Erforschung von Werkstattzusammenhängen zwischen der mittelalterlichen Wandmalerei in Schwaben und in Slowenien. Nun verfolgte ich die Jugoslawien-Nachfolgekriege nur noch aus der Ferne - über das Fernsehen und die Presse. Die schrecklichen Bilder der ethnischen Säuberung, der Belagerung von Sarajevo und schließlich des Massenmordes von Srebrenica erreichten mich durch die Medien. Ich hatte erlebt, wie der Nationalismus schon in den 1980er Jahren virulent wurde. Meine eigene Familie war multikulturell geprägt, mein Vater stammte aus einer russisch-kroatischen, meine Mutter aus einer slowenischen Familie mit österreichischen Vorfahren. Aus meinem persönlichen Erleben kannte ich keinen ethnischen Hass, der nun vorgab, tief in der Mentalität der Völker eingeschrieben zu sein. Insofern war ich bestürzt und verwundert, dass es in meiner Heimat zum Krieg kam. Mich beschäftigt seither die Frage, wie innerhalb kurzer Zeit der Hass mit derart desaströsen Konsequenzen geschürt werden konnte. Aus familiären Gründen beschloss ich, in München zu bleiben, obwohl meine Studienabschlüsse aus Slowenien (Mag. in Kunstgeschichte und Germanistik, Dr. phil. in Kunstgeschichte) in Bayern nicht anerkannt wurden. Ich nahm ein Zweitstudium in Slawistik und Osteuropäischer Geschichte auf. Nun erst begann ich, mich mit den Zerfallskriegen aus wissenschaftlicher Perspektive zu beschäftigen. Meine früher gelebte Gegenwart wurde nun zum Stoff der Erforschung der Bildpolitik vor und nach dem Zerfall Jugoslawiens, die 2011 zur Habilitationsschrift an der Universität Konstanz anwuchs und im Juni 2014 unter dem Titel Der Balkan zwischen Ost und West. Mediale Bilder und kulturpolitische Prägungen in der Serie Osteuropa medial bei Böhlau Verlag erscheint. Bei der Erforschung der Medienpolitik kam mir zuerst das Buch Masken für ein Massaker (1999) des triestinischen Journalisten Paolo Rumiz in die Hände, der den kurzen slowenischen Krieg als «ein Meisterwerk an strategischer Schläue und Inszenierung» bezeichnet. 8 Die Abspaltung, so Rumiz, sei in stillschweigender Übereinstimmung mit Slobodan Milo š evi ć erfolgt, der zu dieser Zeit bereits Pläne für Großserbien schmiedete. Der slowenische Separatismus sei ihm dabei nützlich gewe- 8 Paolo Rumiz, Masken für ein Massaker. Der manipulierte Krieg: Spurensuche auf dem Balkan. Mit einem Vorwort von Claudio Magris, München 2000 (it. Maschere per un massacro, Rom: Editori Ruiniti 1999), S. 66. 96 Tanja Zimmermann <?page no="97"?> sen, weil er sich als Verteidiger der jugoslawischen Einheit der Weltöffentlichkeit präsentieren konnte. Die slowenischen Politiker wiederum hätten Vorteile aus den Ersparnissen der Bürger anderer jugoslawischen Nationen gezogen, die ihr Erspartes bei der Bank von Ljubljana angelegt hatten und nach dem Zerfall Jugoslawiens beschlagnahmt werden konnten. Auch den ‹ heroischen Kampf › der Slowenen für ihre Unabhängigkeit betrachtet Rumiz als Inszenierung. Er versucht nachzuweisen, dass die Medien die erste, wahrhafte Front der Auseinandersetzung bildeten. Das Spielchen darf natürlich nicht ans Licht kommen, die Abspaltung muss der Welt als heroischer Akt des kleinen David gegen Goliath präsentiert werden. Ljubljana inszeniert daher für die Presse ein Ablenkungsmanöver nach allen Regeln der Kunst. Zur Unabhängigkeitserklärung am 26. Juni lässt man über tausend ausländische Journalisten anreisen. Das ist eine riesige Zahl für das kleine Land, der Bedeutung des Ereignisses aber angemessen, denn Slowenien ist schließlich der erste neue Staat, der nach dem Abkommen von Jalta in Europa entsteht. Es scheint eine große Taufe zu sein, ein großes Frühlingsfest der Völker, die die kommunistische Eiszeit hinter sich lassen. [. . .] Das Rudel der internationalen Journalisten füllt ein großes Souterrain mit Telefonen und Bildschirmen und findet dort eine perfekte Infrastruktur für Pressekonferenzen vor: Übersetzer, Live-Übertragungen, Führungen, Besichtigungen und Interviews. Alle denken: Welch eine Veränderung für ein Land, das noch gestern kommunistisch war. Doch hinter all dem stehen eben sie, die «Geheimdienste», die Erben des alten Systems. [. . .] Jeder Schlag des Bundesheers gegen die Slowenen wird durch die enorme Zahl der laufenden Filmkameras vervielfacht. Über Slowenien legt sich so der schützende Schirm der Presse und der internationalen Solidarität, und dies hindert wiederum das jugoslawische Heer daran, Panzer in die Ortschaften oder gar nach Ljubljana zu schicken. 9 Von demselben Hubschrauber, den ich zerstört inmitten von Semmeln gesehen hatte, lese ich bei Rumiz, das dies ein taktischer Zug war, der Weltöffentlichkeit Kriegsbilder präsentieren zu können. Doch die slowenischen Führer brauchen und suchen den Zusammenstoß, denn sie wissen, dass es ohne einen Anschein von Krieg schwierig sein wird, sich eine weiße Weste zu verschaffen. Und als ein nicht mit Waffen, sondern mit Brot für umliegende Kasernen beladener Armeehubschrauber nachts über die Hauptstadt fliegt, schießen sie ihn deshalb ohne große Umstände ab, wobei es zwei Tote gibt. 10 9 Ebd., S. 67, 68. 10 Ebd., S. 68. Semmeln in Ro ž na dolina 97 <?page no="98"?> Auch die Kampfhandlungen an den Grenzen Sloweniens bezeichnet Rumiz als «Feuerwerk für die Fernsehkameras», um «die Welt an eine Apokalypse glauben zu lassen». 11 Rumiz ’ Ideen hatten in einer Zeit, als der «imbedded journalism» erfunden wurde, durchwegs eine gewisse Plausibilität. Dennoch waren sie wohl auch von Verschwörungstheorien geprägt, die zum Erfahrungsschatz der italienischen Linken gehörten. War der Krieg in Slowenien ein ganz und gar inszeniertes oder doch wohl eher ein geschickt ins Bild gesetztes mediales Ereignis? Diese Frage legt sich über meine Erinnerungen an die Semmeln, die ich nachts auf den Straßen der Ro ž na dolina habe liegen gesehen. Auf der einen Seite der Heldenkrieg der slowenischen Befreiung - auf der anderen die etwas paranoid anmutende Verschwörungstheorie. Für mich steht dieses Bild vom «Semmelkrieg» noch heute für den absurden Anfang, für das Irreale eines absurden Krieges. In Kroatien, Bosnien und zuletzt im Kosovo ließen sich Strategien der Bildmanipulation genauer verfolgen. Schon mitten im Krieg verglich der proserbisch orientierte, österreichische Schriftsteller Peter Handke die deutsche Kriegsberichterstattung wegen ihrer parteiischen, anti-serbischen Einstellung mit verfälschenden Zerrbildern. Der Wochenzeitschrift Der Spiegel warf er undurchsichtige «Verspiegelungen» vor, 12 die Teilhabe Europas bezeichnete er als eine «(Fern-)Sehbeteiligung». 13 Aber auch die am Krieg beteiligten Länder waren laut Handke in einer «gegenseitigen Bildstarre» gefangen. 14 Tatsächlich wurden Kriegsbilder während der Zerfallskriege in Jugoslawien zu einer «zweiten Front», wenn man sich den Begriff des Reporters John R. MacArthur ausleiht, der in der Berichterstattung aus dem Golfkrieg 1992 zahlreiche Bildmanipulationen enthüllte. 15 Auch in Memoiren von Journalisten und Politikern, in medienwissenschaftlichen Studien und politikwissenschaftlichen Auswertungen der jugoslawischen Zerfallskriege liest man über mannigfaltige Arten der Manipulation von Informationen und der Suspendierung ihrer Aktualität auf unterschiedlichen Ebenen - von der ersten Aufzeichnung bis zu ihrer Verwendung durch politische Institutionen. Als Produkt der Bildmanipulation entstanden auch ein Video und mehrere Fotos der bis auf die Rippen abgemagerten bosnischen Flücht- 11 Ebd., S. 69. 12 Peter Handke, Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien, Frankfurt/ M. 1996, S. 13. 13 Ebd., S. 30. 14 Ebd., S. 50. 15 John R. MacArthur, Second Front. Censorship and Propaganda in the 1991 Gulf War, New York 1992. 98 Tanja Zimmermann <?page no="99"?> linge hinter dem Stacheldraht im Flüchtlings- und Sammellager Trnopolje - Schlüsselbilder des Bosnienkrieges (Abb. 3). Sie wurden vom Kameramann Jeremy Irvin, dem Begleiter der ITN-Reporterin (Independent Television News) Penny Marshall, sowie von den Fotoreportern Ian Williams (Chanel 4) und Ed Vulliamy (Guardian) aufgenommen. 16 Abb. 3: Ed Vuillamy, Flüchtlinge hinter dem Stacheldraht in Trnopolje, 1992, in: http: / / pacificaforum.org/ data/ karadzic-trial-Bosnian-pr-001.jpg (Zugriff: 3. 1. 2013) Die Fotografie erschien am 5. August 1992 auf der Umschlagseite der britischen Tageszeitung The Guardian, am 7. August unter dem Titel «Belsen 92. The Picture that shamed the world» in Daily Mirror. Zugleich wurde das Video von den Independent Television News (ITN) ausgestrahlt. Die Fotos und das Video, die durch den Stacheldraht und die Schlagzeile die Erinnerungen an die von den Nazis betriebenen Konzentrationslager wachriefen, diente im Herbst 1996 als Beweis für die Existenz der von Serben betriebenen Lagern im Kriegsverbrecherprozess in Den Haag. 17 Die Recherchen des deutschen Journalisten Thomas Deichmann, der als Experte des Kriegsgerichts hinzugezogen wurde, haben ergeben, dass die 16 Das Video kann auf YouTube abgerufen werden: ‹ http: / / www.youtube.com/ watch? v=p5V4VLBBSrA › (Zugriff: 30. 12. 2012). 17 ‹ http: / / www.icj-cij.org/ docket/ files/ 91/ 13685.pdf › (Zugriff: 30. 12. 2012). Semmeln in Ro ž na dolina 99 ‹ › <?page no="100"?> Bilder manipuliert worden waren. Seine Nachforschungen des unbearbeiteten Bildmaterials und am Tatort in Bosnien haben gezeigt, dass sich nicht die Bosnier, sondern die Fotoreporter hinter dem Stacheldraht befunden hatten. 18 Mit dem Stacheldraht schützte man Nahrungsmittel, die kontrolliert an Flüchtlinge verteilt werden sollten, die in einer langen Schlange vor dem Eingang warteten. Erst als sie befragt wurden, haben sich die Wartenden entlang des Stacheldrahtes verteilt. In dieser Aufstellung wurden sie von dem Kameramann und den Fotografen aufgenommen, um die Wirksamkeit der Bilder zu verstärken. Deichmann wiederum wollte mit seinen Enthüllungen nicht die Existenz der Konzentrationslager negieren, sondern lediglich auf die semantischen Verschiebungen hinweisen, die ein Bild zum «Schlüsselbild» 19 machen. Yet an important element of that ‹ key image › had been produced by camera angles and editing. The other pictures, which were not broadcast, show clearly that the large area on which the refugees were standing was not fenced-in with barbed wire. You can see that the people are free to move on the road and on the open area, and have already erected a few protective tents. Within the compound next door that is surrounded with barbed wire, you can see about 15 people, including women and children, sitting under the shade of a tree. Penny Marshall's team were able to walk in and out of this compound to get their film, and the refugees could do the same as they searched for some shelter from the August sun. 20 Als er Ergebnisse im Artikel «The Picture that Fooled the World» in der britischen Zeitschrift Living Marxism veröffentlichte, wurden der Jour- 18 Zu den Hintergründen des Fotos, der Recherche Thomas Deichmanns und des Prozesses: Christiane Horn, Bilder erzählen ihre eigene Geschichte. Eine Reportage mit Folgen, in: Novo 34/ Mai,Juni 1998, S. 30 - 33, in: ‹ http: / / www.novo-magazin. de/ itn-vs-lm/ novo34-2.htm › (Zugriff: 29. 10. 2007); Redaktion, Gericht verurteilt Zeitschrift wegen Entlarvung des Bosnienkrieges, 30. März 2000, in: Internationales Komitee der Vierten Internationale (Hrsg.), World Socialist Web Site, in: ‹ http: / / www.wsws.org/ de/ articles/ 2000/ mar2000/ lm-m30.shtml › (Zugriff: 28. 12. 2012). 19 Peter Ludes (Multimedia und Multi-Moderne: Schlüsselbilder. Fernsehnachrichten und World Wide Web - Medienzivilisierung in der Europäischen Währungsunion, Wiesbaden 2001) zählt zu «Schlüsselbildern» diejenigen Bilder, deren Muster wie Schlüsselwörter innerhalb von wenigen Sekunden in verschiedenen Kulturen eindeutig verstanden werden. 20 Der Artikel des Journalisten Deichmann kann heute nur noch auf einer serbischen Internetseite im Original abgerufen werden: ‹ http: / / www.srpska-mreza.com/ guest/ LM/ lm-f97/ LM97_Bosnia.html › (Zugriff: 30. 12. 2012). 100 Tanja Zimmermann <?page no="101"?> nalist sowie die Herausgeber, Michael Hume und Helene Guldberg, von dem Medienkonzern ITN verklagt und vom British High Court of Justice am 12. März 2000 wegen Verleumdung zum Schadensersatz im Umfang von 600 000 £ verurteilt. 21 Nach diesem Urteil war die Zeitschrift finanziell ruiniert und hörte auf, zu erscheinen. Die Verurteilung löste viele Pro- und Contra-Reaktionen aus, 22 wobei sich einige renommierte Journalisten schließlich auf die Seite des Medienkonzerns schlugen. So entschuldigte sich der BBC-Journalist John Simpson, der während des Prozesses für die angeklagten Kollegen ausgesagt hatte, am 22. April 2012 öffentlich für die Unterstützung, insbesondere für die Unterstellung, Deichmann habe die Existenz serbischer Lager in Bosnien geleugnet. 23 Der Reporter Ed Vulliamy ging in seinen Memoiren The War is Dead - Long live the War: Bosnia: The Reckoning von 2012 nicht noch mal auf die Umstände bei der Entstehung der Fotos ein. 24 Vielmehr wirft er darin dem Journalisten Deichmann Revisionismus und Parteilichkeit für die Serben vor. Deichmann ’ s contention was that the prisoners just arrived from Keraterm were outside an enclosure - free to come and go - and filmed from within it. They were not prisoners, he claimed, but refugees. The actual argument was calculatedly myopic, but that is how the canon of revisionism operates, methodologically. 25 Für Ed Vuillamy geben die Fotos nicht singuläre Ereignisse wieder, sondern wie ein Kompositporträt eine Summe von verschiedenen Erlebnissen - einschließlich der Besichtigung eines weiteren Flüchtlingslagers in Omarska, in dem sich die abgemagerten Flüchtlinge - oder besser Häftlinge - nicht getraut hätten, irgendeine Aussagen zu machen. In Trnopolje, wo die Flüchtlinge schon befreit gewesen seien, habe ihnen der große abgemagerte Mann am Stacheldraht, Fikret Ali ć , erzählt, dass es 21 ‹ http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Living_Marxism › (Zugriff: 28. 1. 2012). 22 David Peterson, The Picture That Continues to Fool the Worlds, in: ZNet. A community of people committed to social change, 27. 6. 2011, ‹ http: / / www.zcommunications.org/ the-picture-that-continues-to-fool-the-world-by-david-pet erson › (Zugriff: 18. 12. 2012). 23 John Simpson, I was wrong side in Bosnia death camps libel trial, in: The Guardian/ The Observer, 22. 4. 2012, ‹ http: / / www.guardian.co.uk/ world/ 2012/ apr/ 22/ john-simpson-wrong-side-bosnia-libel-trial › (Zugriff: 30. 12. 2012). 24 Ed Vulliamy, The War is Dead, long Live the war: Bosnia: The Reckoning, London 2012, xxi-xxiv. 25 Ebd., S. 81. Semmeln in Ro ž na dolina 101 <?page no="102"?> noch ein weiteres Lager gebe, Keraterm, in dem er zusammen mit anderen Gefangenen 130 massakrierte Häftlinge habe begraben müssen. Die Tatsache, dass die Flüchtlinge in Trnopolje zu dem Zeitpunkt bereits befreit waren und nie hinter diesem Stacheldraht standen, betrachtet er - wie der Richter - nicht als Fälschung des Bildmaterials, sondern vielmehr als eine Bildmetapher dafür, was dort tatsächlich vor sich ging. Die Analogiebildung zwischen Ungleichem, zwischen dem Holocaust und den Flüchtlingslagern in Bosnien, verstärkte die Wirkungskraft der Kriegsbilder, indem diese in «Pathosformeln» transformiert wurden. 26 Wie Mike Hume nachwies, waren die westlichen Medien nicht nur stets bemüht, Parallelen zwischen Juden und Bosniern zu ziehen, sondern auch darum, die Serben mit den Nazis zu vergleichen. 27 Diese Begebenheit zeigt: Über die Bilder wurde ebenso viel debattiert wie über die Ereignisse, die sich dahinter verbargen. Die öffentliche Debatte verlagerte sich vom Krieg auf die Kriegsbilder, vom Ereignis zu seiner medialen Aufnahme. Meine These ist, dass dies ein Grundzug postmoderner Bildberichterstattung ist, und dass derartige Verschiebungen die visuellen Vorstellungen prägen, die wir uns von den Kriegen nach dem Kalten Krieg machen. Wie die Grenze zwischen Historischem und Gegenwärtigem, zwischen Dokumentarischem und Fiktionalem verwischt wurde, so vermischten sich auch Kriegs- und Werbefotografie. Der italienische Fotograf Oliviero Toscani setzte das blutige T-Shirt eines gefallenen kroatischen Soldaten 1993 als Werbung für Benetton, pseudo-politisiert als «United Colors of Benetton», in Szene (Abb. 4). 28 26 Aby Warburg bezeichnet mit «Pathosformeln» energetische und zugleich zur Schablone erstarrte Bilder, die in immer neuen Kontexten animiert werden; Vgl. Philippe-Alain Michaud, Aby Warburg et l ’ image en movement. Paris 1998; Peter Kofler (Hrsg.), Ekstatische Kunst - Besonnenes Wort. Aby Warburg und die Denkräume der Ekphrasis, Bozen 2009. 27 Mick Hume, Nazifying the Serbs, from Bosnia to Kosovo, in: Philip Hammond/ Edward S. Herman, Degraded Capability. The Media and the Kosovo Crisis. Foreword by Harold Pinter, London 2000, S. 70 - 78; Vgl. auch Philip Hammond, Media, War and Postmodernity, London, New York 2007, S. 52. 28 Jörg Becker/ Mira Beham, Operation Balkan. Werbung für Krieg und Tod, Baden- Baden 2006, S. 53 - 57. 102 Tanja Zimmermann <?page no="103"?> Abb. 4: Oliviero Toscani, Das blutige T-Shirt eines gefallenen kroatischen Soldaten als Werbung für United Colors of Benetton, 1993, in: ‹ http: / / blog. b rando.ie/ wp-content/ uploads/ 2009/ 06/ 027_benetton.jpg › (Zugriff: 3. 1. 2013) Fernsehreportagen, wie Bernard-Henri Lévys Bosna! (1994) und Michael Winterbottoms Welcome to Sarajevo (1997), wurden gedreht, ohne dass die Autoren die politischen Hintergründe genauer gekannt hätten. 29 Die Quellen der Kriegsbilder wurden verfälscht oder verschwiegen, ihr dokumentarischer Charakter wurde jedoch bald durch die Veröffentlichung privater Aufnahmen im Internet in Frage gestellt. 30 Informationen wurden einseitig durch PR-Agenturen ausgewählt oder gar hergestellt, was erst spätere journalistische Nachforschung bewies. 31 Die politischen Entscheidungsinstanzen, die selbst zur Irreführung bei- 29 James Gow/ Richard Paterson/ Alison Preston (Hrsg.), Bosnia by television, London 1996; Nicole Wiedemann, Die Rückkehr der Kriegsfotografie, in: Davor Beganovi ć / Peter Braun (Hrsg.), Krieg sichten. Zur medialen Darstellung der Kriege in Jugoslawien, München 2007, S. 35 - 63; Michaela Schäuble, Spurensicherungen. (Auto-)biographische Erzählformen in Dokumentarfilmen über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien, in: Beganovi ć / Braun (Hrsg.), S. 171 - 202. 30 Gerhard Paul, Bilder des Krieges - Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges, Paderborn 2004, S. 407 - 431. 31 Rumiz, Masken für ein Massaker. Semmeln in Ro ž na dolina 103 <?page no="104"?> getragen hatten, beriefen sich dann regelmäßig auf die ‹ Aktualität › - welche sie ja selbst inszeniert hatten. 32 Auch das berühmte Motto Robert Capas - «If your pictures aren ’ t good enough you ’ re not close enough» - wurde in den jugoslawischen Zerfallskriegen pervertiert, manchmal brachte es auch rechtliche Probleme mit sich: Fotografen, die wie Luc Delahay, Ron Haviv oder James Nachtwey in Begleitung der Milizen deren Gräueltaten dokumentierten, machten sich durch ihre mindestens vorgetäuschte Komplizenschaft des Tatbestandes der unterlassenen Hilfeleistung verdächtig. Der amerikanische Fotograf James Nachtwey nahm Fotos aus dem Blickwinkel eines kroatischen Scharfschützen auf, der währenddessen auf muslimische Zivilisten in Mostar schoss. 33 Noch einen Schritt weiter ging der französische Fotoreporter Luc Delahay, der 1992 in Sarajevo erschütternde Aufnahmen einer von Granatsplittern verletzten, jungen Frau mit ihrem Hündchen machte und für sein Foto den World Press Photo Award in der Kategorie «Spot News Stories» gewann (Abb. 5). Wie die Produktionsbedingungen dieser Fotografie waren, erfährt man im dreißigminütigen Dokumentarfilm Slike sa ugla (Images From the Corner, 2003) der bosnischen Regisseurin Jasmila Ž bani ć , die dem Foto des französischen Fotografen auf den Grund ging. 34 Die zwanzigjährige Biljana Vrhovac, die vor ihrem Wohnhaus in Sarajevo lebensgefährlich verwundet wurde, hatte dabei nicht nur ihren Arm, sondern auch ihren 32 Wolfgang Schneider (Hrsg.), Bei Andruck Mord. Die deutsche Propaganda und der Balkankrieg, Hamburg 1997; Klaus Bittermann (Hrsg.), Meine Regierung. Vom Elend der Politik und der Politik des Elends. Rot-Grün zwischen Mittelmaß und Wahn, Berlin 2000; Heinz Locquai, Der Kosovo-Konflikt. Wege in einen vermeidbaren Krieg. Die Zeit von Ende November 1997 bis März 1999, Baden-Baden 2000 (= DSF 129, Hrsg. Dieter S. Lutz); Wolfgang Richter/ Elmar Schmähling/ Eckart Spoo, Die Wahrheit über den NATO-Krieg gegen Jugoslawien. Schriften des Internationalen Vorbereitungskomitees für ein Europäisches Tribunal über den NATO-Krieg gegen Jugoslawien, Schkeuditz 2000; Jürgen Elsässer, Kriegslügen. Vom Kosovokonflikt zum Milosevic-Prozess, Berlin 2004. 33 Tanja Zimmermann, Medien im Ausnahmezustand. Performanz und Simulakrum im Bild des Jugoslawienkrieges, in: Oliver Ruf (Hrsg.), Ästhetik der Ausschließung. Ausnahmezustände in Geschichte, Theorie und literarischer Fiktion, Würzburg 2009 (= Film - Medium - Diskurs, Hrsg. Oliver Jahraus/ Stefan Neuhaus), S. 137 - 158. 34 ‹ http: / / www.youtube.com/ watch? v=xq7WYtGYebc › ; ‹ http: / / www.youtube.com/ watch? v=tdWwhtaA4Ks › ; ‹ http: / / www.youtube.com/ watch? v=JXLiCLAUPSk › ; ‹ http: / / www.youtube.com/ watch? v=YLA0tXyWvvs › (Zugriff: 3. 1. 2013). 104 Tanja Zimmermann <?page no="105"?> Vater verloren. Während sie blutend um Hilfe bat, verschoss der Fotograf - statt ihr zu helfen - ganze drei Filmrollen. Als ihn die Verletzte später zur Rede stellte, antwortete er ihr: «I was only doing my job.» Auf der Homepage des World Press Photo Award konnte man jahrelang diesen zynischen Kommentar lesen: «A young woman and her dog, both hit by mortar fire, wait for help in a pool of blood.» 35 Als Ž bani ć s Dokumentarfilm bekannt wurde, verschwand das Foto aus der Internetseite des World Press Photo Award. Für Delahay war dies die einzige Konsequenz aus Ž bani ć s Enthüllungen. Abb. 5: Luc Delahay, Von Granatsplittern verletzte Biljana Vrhovac mit ihrem Hündchen, World Press Photo Award, 1992, in: ‹ http: / / perfectionofperplexion.files.wordpress.com/ 2011/ 10/ 88f586ef67fcafe16dea20b03f3e15 822a2af359.jpg%3Fw%3D720%26h%3D498 › (Zugriff: 4. 4. 2013) 35 ‹ http: / / www.archive.worldpressphoto.org/ search/ layout/ result/ indeling/ det ailwpp/ form/ wpp/ start/ 2/ q/ ishoofdafbeelding/ true/ trefwoord/ year/ 1992/ trefwoord/ nationality/ France? id=wpp%3Acol1%3Adat7915 › (Zugriff: 13. 11. 2009). Semmeln in Ro ž na dolina 105 <?page no="106"?> Wie fließend die Grenze zwischen Zeugenschaft und Voyeurismus war, zeigen die Aufnahmen des New Yorker Fotoreporters Ron Haviv in der Stadt Bijeljina im Nordosten Bosniens im April 1992. 36 Auf ihnen sind Hinrichtungen von Zivilisten durch eine serbische paramilitärischen Einheit - Arkans «Tiger» - zu sehen (Abb. 6). Abb. 6: Ron Haviv, Serbische Paramilitärs beim Aufspüren und Töten moslemischer Zivilisten in Bijeljina (Bosnien), 1992, in: ‹ http: / / bosnian-genocide-1992-1995.blogspot.de/ 2011/ 07/ witness-to-bosnian-genocide- 1992-95.html › (Zugriff: 3. 4. 2013) Die Fotos erschienen überall in der Presse und sind heute im Historischen Museum in Sarajevo als Teil einer Dauerausstellung zu sehen. Geheim entstanden, fixieren sie den Augenblick vor bzw. nach der Tat. Die Folterung und die Erschießung selbst konnte der Fotograf nicht unbemerkt fotografieren, ohne sich selbst in Lebensgefahr zu bringen. Über die Hintergründe der Entstehung der Fotografie erfährt man aus 36 Tanja Zimmermann, Ein Kriegsfoto aus Bosnien. Beglaubigungen und Verweigerungen durch Ron Haviv, Susan Sontag und Jean-Luc Godard, in: Natalia Borissova/ Susanne Frank/ Andreas Kraft (Hrsg.), Kriegsnarrative des 20. und 21. Jahrhunderts. Zwischen Apokalypse und Alltag, Bielefeld 2009, S. 237 - 261. 106 Tanja Zimmermann <?page no="107"?> Havivs Erinnerungen in der Monografie Blood and Honey. A Balkan War Journal aus dem Jahre 2000, die eine Ausstellung seiner Fotos in der New Yorker Saba Gallery begleitet hat. Wie sein Kollege James Nachtway im Fotoalbum Inferno (1999) hat auch Haviv seine Kriegsfotografien acht Jahre nach ihrer Entstehung, losgelöst von der Funktion der Kriegsberichterstattung, als Kunstfotografien erneut veröffentlicht. Beide Fotografen beriefen sich dabei auf das Zeugnis, das sie noch mal ablegen wollen. Havivs Beschreibung des Ereignisses ist in den «Notes» seines Bilderbandes, außerhalb des Haupttextes, versteckt unter dem Lemma «Arkan» über Ž eljko Ra ž natovi ć , Anführer der serbischen paramilitärischen Gruppe «Tiger» und Mediengestalt in Serbien, der 1995 die Turbo- Folk-Sängerin Ceca alias Svetlana Veli č kovi ć geheiratet hat 37 und im Jahre 2000 von Unbekannten im Hotel Intercontinental in Belgrad erschossen wurde. Schon Wochen vor der Ankunft der Arkan-»Tiger» in Bijeljina war Haviv Zeuge der Exekutionen in Vukovar, die er nicht fotografieren konnte. Seine Anwesenheit vor Ort war nur durch die Sondererlaubnis des Anführers Arkan möglich, den Haviv zuvor in Belgrad kennengelernt hatte, als er sich, mit seiner Truppe posierend, fotografieren lassen hatte (Abb. 7). Nach der Veröffentlichung der Fotos aus Bijeljina drohte Arkan dem Fotoreporter mit dem Tod. Noch im Jahre 2002 wurde eine Ausstellung von Havivs Fotos in Kragujevac in Serbien wegen Drohungen der serbischen Nationalisten nicht eröffnet, zwei weitere in den serbischen Städten U ž ice und Č a č ak mussten vorzeitig geschlossen werden. 38 Havivs Fotos wurden vor dem Haager Gerichtshof benutzt, und zwar in der öffentlichen Sitzung am 2. März 2006 im Palast des Friedens - «in the case concerning the Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide» in Bosnien. Die Fotos waren bei dieser Gelegenheit bereits eingebettet in ein Zweitmedium, in den BBC-Dokumentarfilm «The Death of Yugoslavia». Auch der Kommentar wechselt von der persönlichen Aktivin die unpersönliche Passivform, in der das Verhältnis zwischen Arkan und Haviv nicht präzisiert wird. 37 Dina Iordanova, Cinema of Flames. Balkan Film, Culture and the Media, London 2001, S. 175 - 196 (Kap. 9: Villains and Victims); Christopher Stewart, Hunting the tiger. The fast life and violent dead of the Balkans ’ most dangerous man, New York 2008. 38 ‹ http: / / www.bscdc.org/ aug2902serbia.html › (Zugriff: 13. 11. 2009). Semmeln in Ro ž na dolina 107 <?page no="108"?> Abb. 7: Ron Haviv, Ž eljko Ra ž natovi ć -Arkan mit seinen ‹ Tigern › , 1991, in: ‹ http: / / www.artnet.de/ artwork/ 424177753/ 726107/ serbian-tiger-leader.html › (Zugriff: 12. 12. 2009) 108 Tanja Zimmermann <?page no="109"?> One photo-journalist, Ron Haviv, was given permission to follow Arkan ’ s activities in the takeovers. He was present with Arkan and his men in Bijeljina, and I would like to show three of the horrifying events he captured on film. These images, Madam President, Members of the Court were shown to the world on the highly respected and infamous BBC documentary, «The Death of Yugoslavia ” . 39 Der Text klärt nicht, von wem Haviv die «given permission» erhalten hatte. Am 17. März 2006 wurde in einer weiteren öffentlichen Sitzung bezüglich des Antrags auf die Konvention zur Prävention und Bestrafung des Genozids in Bosnien ein Foto Havivs als Diapositiv gezeigt, auf dem einige der «Tiger» identifiziert werden können, wie etwa Milorad Lukovi ć «Legija», der sich 2004 den serbischen Behörden stellte und 2007 wegen des Attentats auf Zoran Djindji ć verurteilt wurde (Abb. 8). Attacks on cultural and religious landmarks in Bosnia-Herzegovina intensified in April 1992, as paramilitaries from Serbia and JNA troops crossed the Drina and took control of towns and villages in eastern Bosnia. Among examples are attacks such as the sacking of a mosque in Bijeljina, in eastern Bosnia, by a group of Arkan ’ s paramilitaries, who are seen in this photo posing with a trophy inside the mosque in early April 1992. 40 In den Prozessakten, die im Internet zugänglich sind, finden sich keine Angaben darüber, dass die Fotos Havivs zur Verfolgung einzelner Straftaten, zur Verhaftung und Verurteilung einzelner gut sichtbarer und identifizierbarer Tätern geführt haben. Sie wurden vielmehr als Exemplum präsentiert - und dabei zum Emblem des Genozids stilisiert, der von Arkans «Tigern» und von anderen paramilitärischen Organisationen ausgeführt wurde. 39 ICTY, The Hague, Year 2006, Public sitting held on Friday 17 March 2006, at 10 a. m., at the Peace Palest, president Higgins presiding, in the case concerning the Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Bosnia and Herzegovina v. Serbia and Montenegro), Verbatim record, 14. ( ‹ http: / / www.icj-cij.org/ docket/ files/ 91/ 10 495.pdf#view=FitH&pagemode= none&search=%22ron%20haviv%22 › ; Zugriff: 13. 11. 2009). 40 ICTY, The Hague, Year 2006, Public sitting held on Thursday 2 March 2006, at 10 a. m., at the Peace Palace, president Higgins presiding, in the case concerning the Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Bosnia and Herzegovina v. Serbia and Montenegro), Verbatim record, 20. ( ‹ http: / / www.icj-cij.org/ docket/ files/ 91/ 10628.pdf#view=FitH&pagemode= none&search=%22ron%20 haviv%22 › ; Zugriff: 13. 11. 2009). Semmeln in Ro ž na dolina 109 <?page no="110"?> Abb. 8: Ron Haviv, Arkans ‹ Tiger › in der Moschee von Bijeljina, 1992, in: ‹ http: / / 2. bp.blogspot.com/ -uwHvgDoUv8o/ ThfBshm4NHI/ AAAAAAAAABg/ g7SpgsKFbaA/ s640/ Genocid%2Bu%2BBosni%2B%252528Masakr%2Bu %2BBijeljini%252529%2B7.jpg › (Zugriff: 3. 4. 2013) Erst zehn Jahre, nachdem Haviv diese Gräuel festgehalten hatte, traten die Fotos wie Untote wieder in Erscheinung, die «Banalität des Bösen» in ihrer Neuedition: Im Jahre 2012 wurde bekannt, dass ein als «Max» bekannter DJ in Belgrad, Sr đ an Golubovi ć , verhaftet worden sei. 41 «Max» ist jener Paramilizionär, der auf dem Foto im tänzelnden Schritt die auf dem Boden liegende Tifa Š abanovi ć mit dem Stiefel an den Kopf tritt. Am 2. April 2013 berichtete die New York Times in ihrer Online-Global Edition, dass Havivs Fotos nun auch im Prozess gegen Radovan Karad ž i ć als Beweismaterial eingesetzt werden. 42 Wie der Journalist James Estrin berichtet, äußere der Fotograf sein Bedauern, dass seine Fotos so lange 41 Boris De ž ulovi ć , U ritmu cokule: Skrivena kamera u Bijeljini 1992, in: Elektronske novine, ‹ http: / / www.e-novine.com/ stav/ 71290-Skrivena-kamera-Bijeljini-1992. html › , 13. 9. 2012 (Zugriff: 1. 5. 2013). 42 James Estrin, Photography in the Docket, as Evidence, New York Times. Global Edition, in: http: / / lens.blogs.nytimes.com/ 2013/ 04/ 02/ photography-in-thedocket-as-evidence/ ? ref=global-home (Zugriff: 2. 4. 2013). 110 Tanja Zimmermann ‹ › <?page no="111"?> nicht zur Verhaftung geführt hatten. Überhaupt war er schockiert, dass seine Arbeit schon Anfang der 1990er Jahre so wenig bewirkt hatte. «The photographs really didn ’ t have any of the effect that I had hoped they would , » said Mr. Haviv, who was put on a death list by Arkan. «I was hoping to prevent the war. And of course, there was no reaction. The war started, 100,000 to 200,000 people were killed on all sides and several million more became refugees - which led to the war in Kosovo.» 43 Der Journalist berichtet auch, dass Haviv nicht bereit war, als Augenzeuge auszusagen - möglicherweise, wie man versteht, aus Angst, selbst ins Visier von Arkans Hintermännern zu geraten. There is a certain satisfaction for Mr. Haviv. He allowed the International Criminal Tribunal to use any of his published photos as evidence and offered to verify that the captions were truthful and accurate. But, expecting to be asked to testify in the Arkan trial before his assassination, Mr. Haviv decided that he shouldn ’ t. He had no doubt that he had witnessed genocide, and he wanted to see justice served. But he didn ’ t think it was his place to testify. «It was my job as a journalist and a photographer to document what I saw , » Mr. Haviv, 47, said. «I had those photographs published and the world saw what I had done. The work was enough to show the world what this ethnic cleansing actually looked like.» 44 Die journalistische Berichterstattung lässt offen, wie man im Karad ž i ć - Prozess dazu kam, Havivs Fotos heranzuziehen. Unklar bleibt auch, wie es zu «Max ’ » Verhaftung und zu seiner Identifikation aufgrund des Fotos kam. Auch literarische Werke über die Zerfallskriege greifen das Medium der Fotografie auf, indem sie das Dokumentarische mit dem Fiktionalen aufmischen. 45 Havivs Foto mit dem Paramilizionär wählte die kroatische Schriftstellerin Slavenka Drakuli ć für die Umschlagseite ihres 2003 auf Kroatisch erschienenen Buches mit dem Titel Oni ne bi ni mrava zgazili. Ratni zlo č ini na sudu u Hagu (Sie könnten keiner Fliege etwas zuleide tun. Kriegsverbrecher vor Gericht in dem Haag). Darin beschreibt die Autorin die Anhörung während einiger Prozesse gegen die Kriegsverbrecher aus 43 Ebd. 44 Ebd. 45 Zur Kritik diese Verfahrens vgl. Dunja Mel č i ć , Die unappetitliche Mischung aus Fiction und Non-Fiction. Über ein merkwürdiges literarisch-politisches Porträt des berüchtigten Kriegsverbrechers Mladi ć , in: Heinz Fassmann/ Wolfgang Müller- Funk/ Heidemarie Uhl (Hrsg.), Kulturen der Differenz - Transformationsprozess in Zentraleuropa nach 1989. Transdisziplinäre Perspektiven, Göttingen, Wien 2009, S. 363 - 372. Semmeln in Ro ž na dolina 111 <?page no="112"?> allen drei beteiligten jugoslawischen Nationen vor dem Haager Kriegstribunal. Auf der Umschlagseite der kroatischen - nicht der deutschen - Ausgabe erscheint Havivs Foto. Es steht stellvertretend für ein anderes Verbrechen in Bijeljina, das den Titel des Buches auf eine Person fokussiert: «Er könnte keiner Fliege etwas zuleide tun.» Darin berichtet Drakuli ć über den Prozess gegen einen bosnischen Serben, Goran Jelisi ć aus Bijeljina (geb. 1968), der eigenhändig mehr als hundert Gefangene, meist Muslime, systematisch getötet hatte. Goran Jelisi ć sieht vertrauenserweckend aus. Neben diesem Dreißigjährigen mit dem klaren, ruhigen Gesicht, den lebhaften Augen und dem breiten, ermutigenden Lächeln würden Sie sich in einem Nachtzug sicher fühlen. Ein Mensch mit so einem Gesicht hilft älteren Frauen über die Straße, macht in der Straßenbahn seinen Platz für einen Behinderten frei oder lässt Sie in einer Kassenschlange vorgehen. Ein Mensch mit so einem Gesicht würde eine auf der Straße gefundene Geldbörse ihrem Besitzer zurückgeben. Jelisi ć sieht aus wie ein guter Nachbar, ein idealer Schwiegersohn. Als Handelsreisender würde er mit diesem unschuldigen Gesicht viel Erfolg haben. Aber Jelisi ć ist nicht unschuldig. 46 Gerade die Unlesbarkeit eines mit positiven Klischees eingeführten Porträts ist der Ort, an dem sich das Entsetzen einnistet. Die physiognomische Lehre, anhand der man vom 18. bis ins 20. Jahrhundert glaubte, kriminelle Neigungen und Charaktere aus dem Gesicht ablesen zu können, nutzt Drakuli ć nicht, um das Geheimnis des Verbrechens zu lüften, sondern um es als unbegreiflich zu inszenieren. Der vertrauenswürdig aussehende Angeklagte ist, physiognomisch gesehen, gerade das Gegenteil eines Verbrechers. Auch der Versuch, eine belastende familiäre Psychogenese zu enthüllen, scheitert. Nichts an dem Kriegsverbrecher verrät, warum er mit Vergnügen gemordet hatte. Wie das abgewandte Gesicht des Paramilizionärs auf Havivs Foto unsichtbar bleibt, so gibt es auch keine sichtbaren Indices auf Jelisi ć s ‹ offenem › Gesicht, die als Anzeichen des Verbrechens lesbar wären. Das Verbrechen erfolgte in einem ungreifbaren und unbegreiflichen Leerraum. Auch der österreichische Schriftsteller Norbert Gstrein bezieht sich in seinem preisgekrönten, aber zugleich äußerst umstrittenen Buch Das Handwerk des Tötens (2003) auf Havivs Foto aus Bijeljina. Der Roman überschreitet ständig die Grenze zwischen dem Fiktiven und Faktischen und vermischt biografische Fragmente des im Kosovo ermordeten österreichischen Journalisten und Stern-Reporters Gabriel Grüner 46 Slavenka Drakuli ć , Keiner war dabei, Wien 2004, S. 64. 112 Tanja Zimmermann <?page no="113"?> (1963 - 1999) 47 mit der fiktionalen Geschichte einer Reporterfigur Christian Allmayer. Der Handlungsort ist zwar nicht der Haager Gerichtshof, aber was das Narrativ im Roman mit seinem Helden betreibt, kann nicht anders als Tribunal bezeichnet werden. Am Ende wird die nicht ganz saubere Spur des Reporters aufgedeckt - eine belastende Tonbandaufnahme, aus der hervorgeht, dass der Reporter selbst sich dazu hatte bewegen lassen, einen Gefangenen zu erschießen. Der Autor vermischt die biografischen Daten des realen Journalisten mit der fiktiven Figur in einer Weise, dass die Witwe Grüners, Beatrix Gerstberger, sowie viele Kritiker die Beschmutzung der Erinnerung an den befreundeten Journalisten beklagten. 48 In seiner Nachschrift Wem gehört eine Geschichte? Fakten, Fiktionen und ein Beweismittel gegen alle Wahrscheinlichkeit des wirklichen Lebens (2004) wehrt sich Gstrein gegen die «Entschlüsselungsversuche» und kündigt eine «Offenlegung» an, wie es in seinem Roman um das Verhältnis zwischen Fakten und Fiktionen bestellt sei. 49 Er habe niemandem seine Geschichte gestohlen, sondern durch sein Schreibverfahren, das die Konstruiertheit aller Realität betone, eine neue Art von Realität konstruiert. 50 Der Roman sei von einem unerträglichen Foto des Ermordeten in der Presse angeregt worden, das die Ermittlungen über die Hintergründe des Mordes illustrierte. Die Pressefotos, darunter Havivs Foto, dienten Gstrein für die Entfaltung seiner Geschichte, in der der Exzess der visuellen Bilder durch den Exzess der beschreibenden Bilder bekämpft wird - in einem nie zu Ende geführten Wettstreit, ja Kampf 47 Der Reporter Gabriel Grüner wurde am 13. Juni 1999, ca. 40 km von Pri š tina entfernt, in der Nähe des Dorfes Dulje aus dem Hinterhalt erschossen, ebenso wie sein Fotograf Völker Krämer und sein albanischer Dolmetscher aus Mazedonien, Senol Alit; in: ‹ http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Gabriel_Gr%C3%BCner › (Zugriff: 3. 1. 2013). 48 Eine Zusammenfassung der Rezensionen sind auf der Internetseite ‹ http: / / www. perlentaucher.de/ buch/ 14702.html › (Zugriff: 19. 1. 2009) auffindbar. Zum Umgang der Kritik mit Gstreins Roman und zur Reaktion der Lebensgefährtin vgl. Anna Valerius, Zwischen Fakten und Fiktionen. Norbert Gstrein auf der Suche nach der Wahrscheinlichkeit des Lebens, in: Kritische Ausgabe 1/ 2005, S. 58 - 60; Peter Braun, Im Trümmerfeld des Faktischen. Norbert Gstreins Meditationen über die Darstellbarkeit des Krieges, in: Beganovi ć / Braun (Hrsg.), S. 247 - 279; Waltraud «Wara» Wende, Als erstes stirbt immer die Wahrheit. Fakten und Fiktionen im intermedialen Diskurs. Norbert Gstreins Roman Das Handwerk des Tötens, in: Lars Koch/ Marianne Vogel (Hrsg.), Imaginäre Welten im Widerstreit. Krieg und Geschichte in der deutschen Literatur seit 1900, Würzburg 2007, S. 169 - 183. 49 Norbert Gstrein, Wem gehört die Geschichte? Fakten, Fiktionen und ein Beweismittel gegen alle Wahrscheinlichkeit des wirklichen Lebens, Frankfurt/ M. 2004, S. 9. 50 Ebd., 10. Semmeln in Ro ž na dolina 113 <?page no="114"?> zwischen Bild und Text. Seine halb-fiktive Gestalt Allmeyer enthält nicht nur die Züge Gabriel Grüners, sondern implizit auch Ron Havivs. In der Ekphrasis der Fotos bleibt er nicht an der Grenze des Faktischen stehen, sondern fügt zusätzliche Details hinzu oder entfernt sie. Dem Paramilizionär setzte er eine Schirmmütze auf den Kopf, um die ins Haar geschobene Sonnenbrille zu entfernen. Es zeigte einen breitbeinig dastehenden Mann vor einer mit Granatspuren übersäten Hauswand, der nachlässig ein Gewehr unter die Achsel klemmte. Das Perfide daran war, dass man sein Gesicht nicht sah, den Ausdruck gerade noch zu ahnen vermochte, weil es sich hinter dem aufsteigenden Rauch einer Zigarette verbarg. Seine Körperhaltung war entspannt, der Kopf mit der aufgerollten Schirmmütze leicht zur Seite geneigt, dass man gar nicht anders konnte, als sich den Blick dazu spöttisch vorzustellen. Außer seiner Halbfingerhandschuhen trug er keines von den Accessoires, die dieser Krieg bei Seinesgleichen fast obligatorisch gemacht hatte, weder Turnschuhe noch einen Trainingsanzug oder gar die ins Haar geschobene Sonnenbrille oder sonst etwas Extravagantes, im Gegenteil, er wirkte mit der unförmigen Lederjacke und den ausgebeulten Hosen, die in seinen Stiefeln steckten, eher wie eine Erinnerung daran, dass das Handwerk des Tötens ein Jahrtausende altes Geschäft war. 51 Doch gerade durch die Auslassung herausstechender Details wird Havivs Foto noch lebendiger. Die Sprache hinterlässt in der Ekphrasis die Spur eines zweiten Bilds. Darüber hinaus bezieht sich Gstrein noch auf das Foto Havivs, das dieser von Arkan - im Buch als kroatischer Kriegsverbrecher Slavko maskiert - und seinen «Tigern» einige Wochen vor dem Einsatz in Bijeljina aufgenommen hat. Offensichtlich hatte er seinen Spaß mit uns, aber mir war nicht nach Lachen, und als er dann auch noch ein Photo von sich und seinem damaligen Trupp präsentierte und zuerst so tat, als wäre es ein bloßer Faschingsscherz, wie sie dastanden, um einen Panzer gruppiert, dessen Rohr aus dem Bild herauszuragen schien, direkt auf den Betrachter zu, blieb mir die Luft weg vor seiner Unverschämtheit. Darauf war er, im Vordergrund, mit einer Baskenmütze der einzige Unmaskierte, seinen Blick sichtlich stolz geradeaus gerichtet, ohne dieses Flattern, das ich gerade noch wahrgenommen hatte, während die Uniformierten hinter ihm alle Strümpfe über ihre Gesichter gezogen hatten [. . .] 52 Auch in diesem Fall wird ein Detail ausgelassen - ein kleiner aus dem Zoo entführter Tiger, den Arkan als Maskottchen mit ausgestreckten Arm 51 Norbert Gstrein, Das Handwerk des Tötens. Roman, Frankfurt/ M. 2005, S. 69 f. 52 Gstrein, Das Handwerk des Tötens, S. 309 f. 114 Tanja Zimmermann <?page no="115"?> präsentiert. Arkan hat ein Gesicht, weil er dem Morden eines gibt, schon bevor es stattfindet - ein Gesicht, hinter dem sich die namenlosen und maskierten Mittäter verstecken können. In vielen Sprachen bedeutet unverschämt zugleich gesichtslos, auf Kroatisch «bezobrazan», auf Russisch «bezobraznyj», auf Italienisch «sfacciato», auf Englisch «barefaced». Insofern ist auch Arkans Gesicht nicht mehr charakterologisch lesbar. Die Differenz von Text und Foto dient auch hier paradoxerweise der Verstärkung der Ähnlichkeit. Denn Gstrein zwingt den Leser, das Foto noch einmal aufzusuchen, um den Betrachtungsakt selbst zu überprüfen. Er stellt die Kompetenz der Betrachtenden in Frage, die in der Flut der Bilder nicht mehr vermögen, sich an die Details zu erinnern. In beiden literarischen Werken wird die Vorstellung, man könne in den Kriegsfotos Wirklichkeit begegnen, attackiert. Sowohl Drakuli ć als auch Gstrein betreiben radikale Bildkritik - die Zerstörung ihrer Interpretierbarkeit und ihre Transformation in gesichtslose Masken oder maskenhafte Gesichter. Somit wird auch der Produktionsprozess der Kriegsfotos selbst zu einem traumatischen Erlebnis, das Sigmund Freud in seiner Schrift «Jenseits des Lustprinzips» (1920) gerade als ständiges Kreisen in Form von Wiederholungen um den unerreichbaren Kern diagnostiziert. Die wissenschaftliche Rekonstruktion der Strategien in der Präsentation von schrecklichen Ereignissen hat mich verstehen lassen, wie in den postmodernen Kriegen die scheinbare Evidenz der Bilder die Wirklichkeit verstellt oder entstellt. Fotos, die auf verschiedene Arten ihrer Indexikalität beraubt werden, werden in Exempla transformiert, mit fiktionalen Details vermischt, vom Ereignis und vom leidenden Körper entkoppelt, bis sie in einen unendlichen Reigen der Bilder geraten. Noch immer bewegen mich folgende Fragen: Was verbirgt sich hinter den Semmeln in der Ro ž na dolina? Das Foto ohne die Semmeln wurde ja im Sinne des «framing» 53 ganz anders wirksam: Steckt dahinter Manipulation? Warum wurden Havivs Fotos aus Bijeljina erst zehn Jahre nach dem schrecklichen Ereignis als Dokumentation des Verbrechens herangezogen? Hier bleiben viele Fragen offen. Wenn so etwas im Dunkeln bleibt, dann bleibt nur - wie so oft - die eigenmächtige Selektion des Vergessens. Eine Geschichte aus der Sowjetzeit kommentiert am besten die offenen Fragen: In der Erzählung Valentin 53 Judith Butler, Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leis beklagen. Aus dem englischen von Reiner Ansén, Frankfurt, New York 2010 (am. Frames of War. When is Life Grievable? , London, New York 2009). Semmeln in Ro ž na dolina 115 <?page no="116"?> Kataevs «Das Exemplar» aus dem Jahre 1924 wird darüber berichtet, was einem angesehenen russischen Beamten der 12. Rangstufe wiederfuhr, der 1905 versehentlich als Revolutionär festgenommen wurde und dann, beschämt durch die unmögliche Schuldzuweisung, für zwei Jahrzehnte in einen lethargischen Schlaf verfiel. Nach der Oktoberrevolution wird er als antiquiertes Exemplar einer überwundenen Zeit im Schrank eines Museums aufbewahrt, bis er plötzlich aufwacht. Wie schon im Jahre 1905 versucht er, seine Umgebung davon zu überzeugen, dass er ein zarentreuer Bürger ist. Doch der bedauernswerte Mann wird diesmal sogar für einen Betrunkenen oder gar Geisteskranken gehalten. Nach einer vierwöchigen ideologischen Umerziehung beginnt er, an eine andere Identität zu glauben - die eines Revolutionärs von 1905 und eines Vorläufers der großen Oktoberrevolutionäre. Seine wahre Vergangenheit schreibt er um. Doch so wird er wieder akzeptiert. 116 Tanja Zimmermann <?page no="117"?> Jeffrey Andrew Barash Virtuelle Erfahrung, kollektive Erinnerung und die Gestaltung der Öffentlichkeit im Aktualitätsfeld der Massenmedien. Das Beispiel des ehemaligen Jugoslawien Der Bereich der Öffentlichkeit entspricht einem Organisationssystem kollektiver Erfahrung und kollektiver Erinnerung, in Erwartung auf die Ereignisse einer gemeinsamen Zukunft. Hinsichtlich seiner Organisationsformen vollzog der Bereich der Öffentlichkeit während des letzten Jahrhunderts eine Reihe von Veränderungen. Ein Vergleich der heutigen Formen der Öffentlichkeit in Europa mit Formen, die früher, besonders vor dem Zweiten Weltkrieg dominierten, zeigt, dass diese Veränderungen im Wesentlichen dem Wandel der Massenmedien entsprechen: Fernsehbild, Internet, World Wide Web und die entsprechenden Entwicklungsstufen digitaler Technik prägen in ihrer allgegenwärtigen Vertrautheit immer wesentlicher den Bereich, den wir in unseren heutigen Massengesellschaften als Öffentlichkeit bezeichnen. In meinem Beitrag möchte ich diesen Wandel der Organisationsweisen öffentlicher Erfahrung und öffentlicher Erinnerung - nämlich die Art und Weise, wie die Massenmedien Information auswählen, gliedern und mitteilen - näher betrachten. Im Verlauf der Analyse sollen die theoretischen Überlegungen an dem Beispiel erläutert werden, das uns im Zusammenhang mit dem jugoslawischen Zusammenbruch der 1990er Jahre geboten wird. Dieses Beispiel habe ich gewählt, obwohl ich während der Kriegsereignisse in Frankreich wohnte und sie hauptsächlich durch die Massenmedien vermittelt bekam; auch habe ich - als einziger Autor in diesem Band - keinen lebensgeschichtlichen Bezug zu Jugoslawien. Mein Interesse wurde in den Jahren des Krieges jedoch durch den Vortrag eines persönlich Betroffenen angeregt. Bei einer Tagung auf dem Triennale in Mailand 1993, wo ich selbst einen Vortrag über Kunst und Erinnerung hielt, sprach Predrag Matvejevi ć ausführlich über die zeitgenössische Belagerung von Sarajevo. Seine Schilderung der Lage in dieser Stadt, wo so viele Menschen der Zivilbevölkerung ums Leben kamen, und seine Beschreibung der Zerstörung der berühmten Bibliothek von Sarajevo, haben mich tief berührt. Er erzählte die Geschichte der alten und einmalig schönen, in der Bibliothek enthaltenen Haggadah von Sarajevo, die als ein besonders wichtiger Schatz der <?page no="118"?> jüdischen Religion und Kultur gilt. Da sie durch die Jahrhunderte hindurch mehrmals von Muslimen und Christen gerettet wurde, zuletzt dank eines muslimischen Verwalters bei der Zerstörung der Bibliothek im Jahre 1992, stellte die Haggadah, seinem Vortrag zufolge, ein Zeichen der Hoffnung dar. 1 Während der folgenden Jahre habe ich in Frankreich die Reaktionen auf den Krieg verfolgen können. Ich hatte stets den Eindruck, dass die Medien bei der Auslegung der verwickelten und im Ausland oft undurchsichtigen Ereignisse auf dem Balkan eine Perspektive einnahmen, deren Voraussetzungen in der neueren französischen Geschichte angelegt sind. In politischen Kreisen - so das medial vermittelte Bild - wurden die Ereignisse ständig mit der Vergangenheit verglichen, besonders mit den Verhältnissen zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen auf dem Balkan während des Zweiten Weltkriegs. Außerdem ist bekannt, dass der damalige französische Präsident, François Mitterand, im Bezug auf Ex-Jugoslawien eine Erweiterung der Einflusszone des unlängst wiedervereinigen Deutschland besonders befürchtete, das sich, mit seinen Worten, als «legitimer Erbe des austro-ungarischen Reiches» hätte betrachten können. 2 Hier möchte ich der Frage nach den damaligen Absichten der Deutschen nicht nachgehen. Aber schon damals fragte ich mich, ob nicht die Parallele zu einer so bestimmten, in breiten Kreisen in Frankreich (wie auch, in anderer Perspektive, in Deutschland) vorausgesetzten Vergangenheit zu einer Vereinfachung der komplizierten Lage im Ex-Jugoslawien führte? Könnte es sein, dass die Medien die sozialen, wirtschaftlichen, wie auch religiösen und politischen Zusammenhänge in eine zu enge Perspektive rückten und sogar zu übersehen tendierten, indem die regionalen Entwicklungen während der vier Jahrzehnte vor 1989 zumeist nur flüchtig beachtet wurden? Solche Fragen haben mein Interesse für die mediale Gestaltung des öffentlichen Bereichs angeregt. Im Kontext solcher Erfahrungen mit den Massenmedien erscheint es nun umso wichtiger, die Art und Weise zu beobachten, wie wir zunächst mittels der Massenmedien auf die nahen und fernen Ereignissen, die unsere gegenwärtige Welt prägen, aufmerksam gemacht werden und sie in den Horizont der aktuellen Erfahrung einfügen. 1 Predrag Matvejevi ć , Evento e avvenimento. Guerra e pace, in: Identità e differenze. I racconti dell'abitare, Milano 1993, S. 109 - 115. 2 Gespräch zwischen Mitterrand und Papandreou vom 23. 2. 1993, zitiert nach Hubert Védrine, Les mondes de François Mitterrand. A l'Élysée 1981 - 1995, Paris 1996, S. 625. 118 Jeffrey Andrew Barash <?page no="119"?> Auf der theoretischen Ebene ist zu beobachten, dass im Rahmen mediatisierter Ereignisse, die man üblicherweise als ‹ Eilmeldung › oder ‹ Breaking news › bezeichnet, die Rolle der Medien nicht nur auf Auswahl, Anordnung und Mitteilung von Information beschränkt ist; die Medien machen Ereignisse damit öffentlich sichtbar und verleihen ihnen eine öffentliche Bedeutung, die in das breite Netzwerk der kollektiven Erinnerung, als mögliche Gedächtnisinhalte, eingespeist wird. Indem die Medien den Ereignissen eine öffentliche Bedeutsamkeit verleihen, gliedern sie die Art und Weise, wie sie kollektiv erfahren und erinnert werden. Als öffentliche Kommunikationsmittel, die kollektive Erinnerung prägen, üben die Massenmedien damit eine reflexive Funktion aus. 3 Wandlungen in den Formen der Massenmedien und in den ihnen entsprechenden Gliederungsweisen der kollektiven Erfahrung und Erinnerung, führen auch zu Wandlungen dieser Funktion, durch die der öffentliche Bereich gestaltet wird. Um diese von den Massenmedien eingeführten Veränderungen in den Gliederungsweisen der kollektiven Erfahrung und Erinnerung näher zu bestimmen, müssen wir den Kern ihrer inneren Dynamik im Rahmen der Massengesellschaft näher betrachten. In dieser Hinsicht spielt gerade das Sichtbarmachen im öffentlichen Bereich eine besonders wichtige Rolle. Wenn die Gestaltung der öffentlichen Sichtbarkeit durch Wort und Bild geleistet wird, nehmen in den heutigen Massenmedien Bildwahrnehmung und Bilderinnerung einen immer zentraleren Platz ein. Im Rahmen dieses kurzen Beitrags werde ich daher den Schwerpunkt meiner Analyse darauf legen, der wesentlichen Veränderung genauer nachzugehen, die Bilder und die neue Bilderkultur als Gliederungsmuster der öffentlichen Erfahrung und Erinnerung eingeführt haben. 1 Bilder sind freilich weder neue Erscheinungen, noch ist ihre Rolle auf die massenmediale Verbreitung von Information zu beschränken. Früher, wie wir wissen, haben Kunst und Zeichnung ästhetische, politische, theologische und andere Botschaften öffentlich dargestellt. Die Massen- 3 Hier berufe ich mich auf die aufschlussreiche Bemerkung von Niklas Luhmann: «Die Funktion der Massenmedien liegt nach all dem im Dirigieren der Selbstbeobachtung des Gesellschaftssystems [. . .]. [. . .] Und es geht um eine Beobachtung, die die Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit selbst erzeugt und in diesem Sinne autopoietisch abläuft.» Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, Opladen 1996, S. 173. Virtuelle Erfahrung, kollektive Erinnerung, Gestaltung der Öffentlichkeit 119 <?page no="120"?> medien aber, und ihre Reproduktionstechnik, haben Bildern eine immer wesentlichere Rolle in der Kommunikation verliehen: erst seit dem Krimkrieg von 1854, dem amerikanischen Bürgerkrieg der 1860er Jahre und dem Preußisch-Französischen Krieg von 1870/ 71 gibt es Kriegskorrespondenten, die als Augenzeugen die Kriegsereignisse für die Massenauflagen von Zeitungen und illustrierten Zeitschriften zeichneten. 4 Die Rolle des Bildes wird zur gleichen Zeit in den Modezeitschriften und anderen illustrierten Zeitungen immer wesentlicher. Die Einführung der Photographie, später der bewegten Bilder in Film und Wochenschau, in die Nachrichtensendungen und Unterhaltungsprogramme des Fernsehens, anschließend ihre Integration in die verschiedenartigen Formen der digitalen Medien und ins Internet, verleiht dem Bild eine immer zentralere Rolle in den Massenmedien. In allen seinen Formen, auch in den neuesten, liegt die Macht des Bildes in seiner Fähigkeit, die Einmaligkeit unmittelbarer sinnlicher Erfahrung, die die sprachliche Kommunikation nur mittelbar mitteilt, wiederzugeben. Ohne Übersetzung bleiben Sprache und andere Zeichensysteme all denen, die mit ihnen nicht vertraut sind, unbegreiflich. Während die Sprache und andere Zeichen dergestalt von einem bestimmten kulturellen Kontext abhängig sind, können Bilder als öffentlich auslegbare und sichtbare Phänomene die Grenzen des Entstehungskontextes überschreiten. Die anschauliche Fülle der Bilder hat daher die Fähigkeit, über diese Grenzen hinaus einen Sinn zu vermitteln. Mehr als jede sprachliche Beschreibung hat das Bild in seiner schlichten Anschaulichkeit die Fähigkeit, die unmittelbare Gegenwart der leiblichen Erfahrung zur Darstellung zu bringen. 5 Die Öffentlichkeit heutiger Massengesellschaften, die durch massenmedial kommunizierte Worte und Bilder geprägt wird, ist freilich nicht 4 Mason Jackson, The Illustrated Press. Its Origin and Progress, London 1885. - Martina Baleva, Bulgarien im Bild. Die Erfindung von Nationen auf dem Balkan in der Kunst des 19. Jahrhunderts, Köln/ Weimar/ Wien 2012. 5 Als Bezeichnung für den Sachverhalt der ‹ direkten Erfahrung › verwende ich den prägnanten Terminus von Edmund Husserl, der von ‹ leibhafter › Erfahrung in einer jeweiligen ‹ lebendigen Gegenwart › spricht; vgl. Edmund Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Zweiter Teil: 1921 - 1928. Hg. von Iso Kern, Den Haag 1973, S. 278 f. - Klaus Held, Lebendige Gegenwart. Die Frage nach der Seinsweise des Transzendentalen Ich bei Edmund Husserl, entwickelt am Leitfaden der Zeitproblematik, Den Haag 1966. - Vgl. dazu auch: Jeffrey Andrew Barash, Was ist kollektive Erinnerung? , in: Irmela von der Lühe/ Gail K. Hart (Hg.): Wer zeugt für den Zeugen? Positionen jüdischen Erinnerns im 20. Jahrhundert, Frankfurt/ M. 2012, S. 25 - 36. 120 Jeffrey Andrew Barash <?page no="121"?> auf homogenen Erfahrungskontexten aufgebaut, wie dies in kleineren Gemeinschaften der Fall ist. Während kleinere Gruppen, Familien und eng zusammengewachsene Gemeinschaften ähnliche Typen von Erfahrung teilen, die auf einen Vorrat persönlicher Erinnerungen der noch lebenden, in räumlicher Nähe verbundenen Generationen bezogen sind, berufen sich Gruppen in einer Massengesellschaft auf Erfahrungs- und die ihnen entsprechenden Erinnerungsmodi, die einander oft fremd und daher durch eine Anonymität gekennzeichnet sind, die in traditionellen Kontexten unbekannt war. Diese bruchstückhaften Kontexte der heutigen Massengesellschaften, die sich miteinander in einer jeweiligen gemeinsamen Gegenwart finden, kennzeichne ich mit dem Terminus ‹ Kontemporanitätshorizont › . Hier sind die Perspektiven verschiedener Gruppen in Symbolsystemen verwurzelt, die sich überlagern, indem sie z. B. eine gemeinsame Sprache teilen, die aber auch verschiedenen symbolischen Netzwerken entspringen, die ihrerseits unterschiedlichen religiösen Traditionen, sozialen Kontexten usw. entsprechen, an denen die Erfahrung in Bezug auf bestimmte Gruppenperspektiven und Erwartungen sich orientiert. Freilich gehören die Bilder ursprünglich bestimmten symbolischen Netzwerken an; sie können aber den spezifischen Kontext, in den sie eingebettet sind, verlassen, um einen anschaulichen Sinn spontan zu vermitteln. 6 Nehmen wir zur Verdeutlichung dieser Eigenschaft des Bildes ein auf Ex-Jugoslawien bezogenes Beispiel. Das bekannte Bild «Kosovka devojka» von Uro š Predi ć aus dem Jahr 1919 gehört zur realistischen Malerei der Epoche. Das Bild, wie in Ex-Jugoslawien allgemein bekannt sein dürfte, veranschaulicht eine berühmte Legende, der die Niederlage in der Kosovo-Schlacht gegen die Türken im Jahr 1389 zugrunde liegt. Die Legende hat eine lange Tradition in der serbischen epischen Dichtung und ist seit dem Mittelalter von tieferen Schichten darin sedimentierter symbolischer Sinnzusammenhänge geprägt. Es liegt auf der Hand, dass das Bild selber eine gewisse Autonomie in Bezug auf seinen ursprünglichen Kontext zeigt, denn das Bild der «Kosovka devojka» übermittelt den verschiedenen Völkern des Balkangebiets, mit ihren verschiedenen Geschichten und religiösen Traditionen, jeweils eine andere Botschaft. In 6 Nach der Einführung und Verbreitung der Drucktechnik im 15. und 16. Jahrhundert, als Bilder zum ersten Mal in größeren Mengen verbreitet wurden, haben sie einen denkwürdigen Einfluss geübt, da die anschauliche «Sprache», die diese «Schlagbilder» sprachen, «international verständlich war», so Aby Warburg, Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten [1920], in: Aby Warburg, Werke, Frankfurt/ M. 2010, S. 456. Virtuelle Erfahrung, kollektive Erinnerung, Gestaltung der Öffentlichkeit 121 <?page no="122"?> dem gleichen Kontemporanitätshorizont, in dem sie nebeneinander existieren, variieren die Bilddeutungen im Zusammenhang mit den mannigfaltigen fragmentarischen Perspektiven, die den unterschiedlichen Kontexten entsprechen. Wenn wir dieses Überschusspotential der Bilder näher betrachten, merken wir nicht nur, dass die Bilder eine gewisse Unabhängigkeit in Bezug auf die mögliche Verschiedenheit der Perspektiven in einem jeweiligen Kontemporanitätshorizont erweisen, sondern zugleich, dass sie auch fähig sind, eine frei schwebende anschauliche Symbolik zu übermitteln, die von ihrem ursprünglichen Kontemporanitätshorizont befreit. Bezogen auf das Gemälde «Kosovka devojka» kann dies bedeuten, dass dieses Bild mir ohne jede nähere Kenntnisnahme des Entstehungs- und Referenzkontextes bloß wegen seiner ästhetischen Eigenschaften gefällt. Sofern ich kein Verständnis des Kontextes habe, dem das Bildthema entspringt, bleibt sein ikonographischer Sinn mir allerdings genau so unverständlich wie die verschiedenen Sprachen in der Region. Mit seinem frei schwebenden Überschusspotenzial im Bezug auf jeden einzelnen und festen Standpunkt, nimmt das Bild die Rolle eines ‹ Schlüsselbildes › oder eines Ikons an. 7 Auf einer globalen Ebene kann der frei schwebende symbolische Sinn solcher Schlüsselbilder, wie es bspw. die omnipräsenten Darstellungen von Che Guevara oder Marilyn Monroe sind, eine Abstraktheit erreichen, die sie als global reproduzierte Bilder erkennbar macht und zugleich ihrem Sinngehalt nach unbestimmt bleiben lässt. Das ursprünglich im Jahre 1960 von dem Photographen Alberto ‹ Korda › Diaz aufgenommene Bild von Che Guevara ist in seinem anfangs vorwiegend politischen Sinn in der Folgezeit erheblich erweitert und verwässert worden. Als Schlüsselbild ist es auch als allgemein bekanntes Werbemittel eingesetzt und zum Kennzeichen des modischen Chic geworden. Der Sinngehalt des Schlüsselbildes ändert sich also je nach Kontext der Rezeption. Die Ikonen oder Schlüsselbilder offenbaren auf diese Weise eine prinzipielle Eigenschaft der Raum/ Zeit-Gestalt und der visuellen Logik der für den öffentlichen Massenkonsum hergestellten Bilder: in ihrer entwurzelten Form und frei schwebenden Autonomie sind sie spontan erkennbar, ohne explizit durch ihren näheren, kontextgebundenen Sinn verstanden werden zu müssen. 7 Vgl. dazu den Beitrag von Tanja Zimmermann in diesem Band sowie das von ihr zitierte Buch von Peter Ludes, Multimedia und Multi-Moderne: Schlüsselbilder. Fernsehnachrichten und World Wide Web - Medienzivilisierung in der Europäischen Währungsunion, Wiesbaden 2001. 122 Jeffrey Andrew Barash <?page no="123"?> Seit dem Erscheinen bahnbrechender Werke von Autoren wie Georg Simmel und Walter Benjamin richtet sich unsere Reflexion über das Phänomen der Massengesellschaft zunehmend auf die Art und Weise, wie die Massenproduktion unsere Wahrnehmung verändert hat. Diese Veränderung geht mit der immer intensiveren Verwendung von Bildern in diversen Bereichen des öffentlichen wie des privaten Lebens einher. Zum einen werden die Bilder von ständig weiter entwickelten, neuen Medientypen reproduziert, zum anderen bringen diese Medientypen disparate Arten von Botschaft allgegenwärtig zur öffentlichen Sichtbarkeit. Werbung, Unterhaltung und Sport, Nachrichten und politische Bekanntmachungen, wie auch Bilder mit sexueller Anziehungskraft sind heterogene Bildtypen, die in einem homogenen Format für den Massenkonsum gestaltet werden. Im Laufe des 20. Jahrhunderts sind es die Künstler selber, die oft und sehr energisch Bilder für den Massenkonsum hervorgebracht haben, da sie sehr früh die präzedenzlose Kraft der Massenmedien, sichtbare Ikone herzustellen und sie ins öffentliche Licht zu stellen, erkannt haben. Hauptströmungen der Kunst des 20. Jahrhunderts wie DADA oder Surrealismus haben diese massenmediale Kraft genutzt, und es waren vor allem die Künstler der Pop-Art-Bewegung, die sich auf die Hervorbringung von Ikonen spezialisierten. Sie haben Bilder ihrem ursprünglichen Kontext entnommen und sie an der Schnittstelle verschiedener Bereiche des öffentlichen Lebens positioniert, womit sie exemplarische Gegenstände dem Format des Massenkonsums angepasst haben. Andy Warhol stellt ein besonders gutes Beispiel dar, da er seine Karriere in der kommerziellen graphischen Kunst begann und seine Bilder in paradigmatischer Weise unterschiedliche, sich überschneidende Themen kombinieren, wie auch Motive aus Kunst, Berichterstattung, Werbung oder Mode in Ikonen für den Massenkonsum zusammenfügen. Suppedosen, Berichte von tödlichen Flugzeug- oder Autounfällen, die bunten Bilder-Serien von Marilyn Monroe und Che Guevara haben Ikonen erzeugt, die über ihren ursprünglichen kulturellen Kontext unmittelbar und weit hinausreichen und damit für den Massenkonsum geeignet sind. 8 8 Andy Warhol hat das «Guerillero Heroico» Bild von Che Guevara, das ihm zugesprochen wird, nicht gemacht. Es war ursprünglich eine Fälschung, die er, auf die Bitte ihres Erzeugers, ‹ authentifiziert › hat; vgl. David Bourdon, Warhol, New York 1995 sowie Trisha Ziff, Che Guevara. Revolutionary and Icon, New York 2006. Virtuelle Erfahrung, kollektive Erinnerung, Gestaltung der Öffentlichkeit 123 <?page no="124"?> Ikonen können auch in einem beschränkten, regionalen Raum funktionieren. Im Jahre 1984, im ehemaligen Jugoslawien, hat die Rockgruppe «Bijelo Dugme» aus Sarajevo eine sehr erfolgreiche Platte hervorgebracht, die den Namen der Gruppe als Titel trug. Auf der Plattenhülle war eine Darstellung des Gemäldes von Uro š Predi ć , «Kosovka devojka». Die Aufmachung stand somit in assoziativer Verbindung mit der vorangehenden Platte der Band («Uspavanka za Radmilu M.», 1983), auf der ein Lied («Kosovska», in der Bedeutung von «Kosovo-Lied», aber auch mit der Konnotation «Kosovo-Mädchen») auf Albanisch gesungen wird, während die restlichen, wie üblich, auf Serbokroatisch sind. Ohne nationalistisch zu sein, zeugten die Platten von einem erneuerten Interesse für nationale Identitäten wie auch für traditionelle Folklore. Der große Erfolg der Platten ist u. a. damit zu erklären, dass ethnische Themen einbezogen werden und somit ein Erzeugnis angeboten wird, mit dem ein ethnisch diverses Publikum sich identifizieren konnte. Jenseits des ursprünglichen Bildthemas, das Uro š Predi ć 1919 dargestellt hat, und jenseits des bestimmten Bildkontextes den er veranschaulichte, konnte das Kosovomädchen als Schlüsselbild funktionieren. In seinem Format als Massenprodukt, konnte das Bild auf globaler - oder mindestens auf multiethnischer, regionaler - Ebene eine mit anderen kommerziellen und künstlerischen Erzeugnissen vergleichbare Rolle annehmen. Solche Erzeugnisse sind umso erfolgreicher, je fähiger sie sind, ihren ursprünglichen Kontext nur indirekt widerzuspiegeln. Hier entziehen sie sich jeder Verwurzelung in einem konkreten Kontemporanitätshorizont, der, was auch immer daraus werden wird, aus den tieferen symbolischen Quellen der kollektiven Erinnerung genährt wird, die der Erfahrung im Rahmen eines bestimmten Gemeinschaftskontextes eine öffentliche Bedeutung verleiht. Als Massenerzeugnis konnte die «Kosovka devojka» eine flippige Anmut ausstrahlen, deren kontextuelle Unbestimmtheit ihrer Marktfähigkeit für den Massenkonsum entspricht. Fünf Jahre nach Erscheinung der Platte warf die von Slobodan Milo š evi ć am angeblichen Ort der Kosovo-Schlacht gehaltene Gazimestan-Rede, in der diese Schlacht in einen nationalistischen Diskurs eingebunden wird, einen bedrohlichen Schatten auf diese Art flippiger Folklore. Eine Untersuchung der Art und Weise, wie sich Milo š evi ć in seinem Versuch der Wiederbelebung eines angeblichen mittelalterlichen Erbes auf einen Topos der kollektiven Erinnerung bezieht, würde die Themenstellung dieser Arbeit überschreiten. Ich wende mich vielmehr einem weiteren Beispiel zu, das eine weltweit bekannte Reaktion auf die Jugoslawien-Kriege darstellt. In besonders radikaler Form zeigt die Benetton- Werbung von Oliviero Toscani die innere Dynamik des Vorgangs, durch 124 Jeffrey Andrew Barash <?page no="125"?> den Bilder als Massenerzeugnisse öffentlich sichtbar und weltweit verbreitet werden. Während eines Werbefeldzugs hat der Fotograph und Grafik-Designer Oliviero Toscani bei der Gestaltung der Benetton-Werbung inzwischen allgemein bekannte Schockbilder eingesetzt, und zwar mit der erklärten Absicht, dringende Gesellschaftsfragen an die weltweite Öffentlichkeit zu tragen, bzw. eine Reihe verdrängter sozialer Sachverhalte öffentlich bloßstellen. In einer der bekanntesten Werbeaktionen, während des Bosnien-Krieges im Jahre 1994, will Toscani die Sinnlosigkeit und Grausamkeit des Krieges durch das, was er ein «Denkmal für einen bekannten Soldaten» nannte, veranschaulicht haben. Im Bild sehen wir nur die blutbefleckten Kleider des jungen, im Krieg gefallenen Soldaten Marinko Gagro, über die eine getypte Botschaft seines Vaters steht. Weder seine Uniform noch der Inhalt der angeblich von seinem Vater verfassten Botschaft weisen auf das Land oder das Ziel hin, für die er kämpfte. Das Bild wurde von seinem Kontext gelöst, und die Art und Weise, wie Toscani den Tod des Soldaten offenbarte, war vieldeutig: eine Schreckensszene, öffentlich und weltweit in Form einer Werbeaktion für Kleider verbreitet. Wie Toscani selber schreibt, wurde auf diesen uneindeutigen Charakter seines Plakats in einem aufschlussreichen Brief aus Sarajevo hingewiesen, den er zu jener Zeit von einer Gruppe junger Grafiker aus Sarajevo erhielt. Sie schrieben: «Wir werden nie wissen, ob dieses dem Kampf in unserer Region gewidmete Plakat eine der unverschämtesten und zynischsten Reaktionen auf den Krieg darstellt, oder ob es im Gegenteil eine geschickte Bezugnahme auf die tiefe und grauenhafte Wunde darstellt, zugefügt von der modernen Zivilisation in ihrer Tendenz, dem Marketing und der Kommunikation eine immer größere Rolle einzuräumen.» 9 2 Anders als Gemälde, Festbilder oder Photoaufnahmen, laufen bewegte Bilder, zuerst im Kinofilm-, später im Video- und Digitalmedium, in der Zeit ab und ähneln daher belebten Wesen. Der Bewegungsvorgang verleiht ihnen, im Unterschied zu Festbilddarstellungen, die Fähigkeit zur Simulation unmittelbarer, leibhafter Erfahrung. Selbstverständlich bleibt es bei der Simulation: auch die unmittelbarste Darstellung durch 9 Oliviero Toscani, La Pub est une charogne qui nous sourit, Paris 1995, S. 92 f. Virtuelle Erfahrung, kollektive Erinnerung, Gestaltung der Öffentlichkeit 125 <?page no="126"?> Video oder Digitalbilder hängt von einem Zwischenstück ab, das die Übermittlung ermöglicht. Indem sie von einem Interface abhängt, bleibt auch die technisch fortschrittlichste Video- oder Digitalrepräsentation - bspw. die eigene Körpergestalt, die man auf einem Videobildschirm im Schaufenster erblickt - eine virtuelle Umgestaltung. Aufgrund der Gleichzeitigkeit verweisen sie auf ihre raum-zeitliche Stellung in der jeweiligen Lebenswelt; doch als virtuelle Bilder sind sie aus der komplexen Fülle ihres Erfahrungskontextes ausgeschnitten und von ihr gelöst. Sie stellen somit eine vermittelte Unmittelbarkeit dar. Die Möglichkeit, diese bewegten Bilder aufzunehmen, zu verdichten und umzustellen, einem kontextenthobenen und freischwebenden Format entsprechend, rüstet sie für den Massenbedarf auf einer regionalen oder globalen Ebene. Solche virtuelle Darstellung durch bewegte Bilder ist doch nie Erfahrung im strengen Sinne des Wortes, so nah die Simulation auch an die leibhafte Erfahrung heranrücken und uns in der Erinnerung als tatsächlich Erlebtes vorkommen mag. Virtuelle Darstellung richtet sich in der Tat nach einer räumlich-zeitlichen Gestalt und einer Logik, die mit der Gestalt und Logik der Erfahrung nicht gleichzusetzen ist. Hier erkennen wir der spezifische Charakter von bewegten Bildern als Massenkommunikationsformen: einerseits, durch ihre Fähigkeit zur Simulation leiblicher Erfahrung, treten sie weit näher an diese heran, als jede feste Bildform der Massenkommunikation; andererseits sind sie aufgrund ihrer Begrenztheit als virtuelle Darstellung niemals in der Lage, den Spalt, der sie von der Fülle der Lebenswelt trennt, zu schließen. Durch ihre erstaunliche Kapazität zur Simulation leibhafter Erfahrung sind sie umso wirksamer, je besser sie imstande sind, den Abstand zwischen ihrem Massenkommunikationsformat und der Fülle der Lebenswelt zu verbergen. Hierin liegt die starke Anziehungskraft der Massenmedien und zugleich die potentielle Gefahr, die die reflexive Funktion der Massenmedien als Organ des öffentlichen Sichtbarmachens und Erinnerns für die politische Einrichtung der öffentlichen Sphäre darstellt. Aktuelle Fortschritte im Bereich der digitalen Technik und des Sattelitenverkehrs haben verwirklicht, was bereits in den frühsten Formen der Massenkommunikation als Entwicklungstendenz angelegt war: die Verbindung der entferntesten Teile der Welt und die möglichst rasche Übermittlung von Informationen. Im Rahmen der reflexiven Funktion der Massenmedien als Organ des öffentlichen Bewusstseins fördert diese weltweite Reichweite und allgegenwärtige Aufrüstung eine Übermittlung von «Neuigkeiten», «News» aus unterschiedlichsten Bereichen, die simultan gesetzt und öffentlich sichtbar gemacht werden. Einem Prinzip folgend, das in der Gliederung von Zeitungsspalten schon vorhanden 126 Jeffrey Andrew Barash <?page no="127"?> war, 10 erscheinen in dem willkürlichen Arrangement und dem verdichteten Format der Videosendung neben- oder hintereinander so heterogene Elemente wie Werbung und Eilmeldungen («breaking news»), Sportneuigkeiten oder Börsenberichte. Bewegte Bilder im Zentrum des Bildschirms sind begleitet von bewegten schriftlichen Meldungen am unteren Bildrand unserer heutigen Fernsehnachrichten im CNN-Stil, und solche mosaikartige Arrangements haben zu immer ausgeklügelteren Gestaltungsformen der heutigen Webseiten geführt. Diese massenmedialen Sichtformen sind nach einem bestimmten Muster geprägt und in den Schichten der öffentlichen Erinnerung sedimentiert. Es geht hier um ein symbolisch gestaltetes Muster, nicht weil es durch ein Zeichen oder Logo vertreten wäre, sondern indem es durch verschiedene Operationen wie Verschiebung, Verdichtung, Umsetzung eine bestimmte Raum/ Zeit-Gestalt und -Logik unmittelbar einsetzt, um die Anpassung an die Massenkommunikationsformen zu gewährleisten. Hier vertreten bewegte Bilder die neueste Aktualität. Das verdichtete Format und die gesteigerte Unmittelbarkeit der medialen Nachrichtenwesen übertragen Bilder aus dem Kontemporanitätshorizont bestimmter Gruppen, in dem ursprüngliche Erfahrung sich ereignet, kommuniziert und erinnert wird, auf eine verkürzte, laufend aufgerüstete Raum/ Zeit-Dimension, im Einklang mit der ihr entsprechenden Logik. Den massenmedialen Rahmen dieser Übertragung bezeichne ich mit dem Terminus «Aktualitätsfeld». 11 Das «Aktualitätsfeld» virtueller Geschehnisse in seinem verkürz- 10 Die Grundsätze journalistischer Information, wie Walter Benjamin sie kurz zusammenfasst, sind «Neuigkeit, Kürze, Verständlichkeit und vor allem Zusammenhanglosigkeit der einzelnen Nachrichten untereinander». Walter Benjamin, Über einige Motive bei Baudelaire, Gesammelte Schriften, Band I/ 2, Abhandlungen, Frankfurt/ M. 1991, S. 610. - Zum journalistischen Fernsehformat vgl. Eran Guter, Anti-Mimesis Live, in: Ruth Lorand (Hg.): Television: Aesthetic Reflections, New York 2002, S. 139 - 160. 11 Der Begriff «Aktualitätsfeld», in dem das zeitlich-räumliche Format der Massenkommunikation geprägt wird, wie der des es übergreifenden «Kontemporanitätshorizonts» auf den es einwirkt, beziehen sich ausschließlich auf den öffentlichen Bereich von Gruppenerfahrung und kollektiver Erinnerung. Diese Begriffe unterscheiden sich von den spezifisch historischen Kategorien, die wesentlich andersartigen Modi der zeitlichen Erfahrung entsprechen. Wie ich sie deute, begrenzen sich der Kontemporanitätshorizont und das Aktualitätsfeld jeweils auf die Dauer lebender, sich überschneidender Generationen und auf die ephemere Zeit, während der die Nachrichten und Neuigkeiten ihre Aktualität behalten. In diesem Sinn könnten offensichtlich beide Sphären in dem, was Reinhart Koselleck «Erfahrungsraum» nennt, enthalten sein, doch entsprechen sie ganz anderen Arten der Gruppenerfahrung als Kosellecks historische Kategorien. Nach Koselleck entsteht die moderne Erfahrung der historischen Zeit im 18. und 19. Jahrhundert, als man Virtuelle Erfahrung, kollektive Erinnerung, Gestaltung der Öffentlichkeit 127 <?page no="128"?> ten, verdichteten und umgesetzten Format weist auf die Kluft zwischen dem Übermittlungsbereich der Massenmedien und dem Kontemporanitätshorizont hin, in dem sich alltägliche Erfahrung und Erinnerung ereignen. Das soll natürlich nicht heißen, dass bewegte Bilder und Information, die durch die Massenmedien virtuell kommuniziert werden, von der alltäglichen Erfahrung irgendwie getrennt bleiben; es liegt im Gegenteil auf der Hand, dass virtuell übermittelte Bilder und Information stark auf die alltägliche Erfahrung zurückwirken und dass sie damit in das Netzwerk der verkörperten Symbole, die dem Kontemporanitätshorizont einer jeweiligen Gruppe unterliegen, einwirken. Aufgrund dieser Wirkung kann die massenmediale Schilderung virtueller Ereignisse, wie wir wohl wissen, von größerem Belang sein als alles, was in der alltäglichen Lebenswelt unmittelbar stattfindet. Es gibt sogar Beispiele - und die Jugoslawien-Kriege der 90er Jahre stellen diesbezüglich einen einschlägigen Fall dar - , dass Opfer eines Angriffs Geschehnisse bezeugen, die zugleich unmittelbar auf dem Fernsehbildschirm stattfinden. 12 Die Fähigkeit der Massenmedien, leibhafte Erfahrung immer intensiver zu simulieren, sowie der damit verbundene starke Einfluss der virtuellen Darstellungen auf das Alltagsleben in der jeweiligen Lebenswelt, führen dazu, dass wir die Spaltung zwischen virtueller Darstellung und Erfahrung im Kontext der Lebenswelt zumeist außer Acht lassen. Diese Spaltung zeigt sich zunächst darin, dass die normale Nachprüfungslogik, die wir in der alltäglichen Erfahrung anwenden, aufgrund der Darstellungsweise von Eilmeldungen im Aktualitätsfeld problematisch wird. In der alltäglichen Erfahrung im jeweiligen Kontemporanitätshorizont haben wir die Möglichkeit, die Authentizität angeblicher Tatdie Geschichte zum ersten Mal als autonomen, selbsterhaltenden Prozess verstand. Indem die Geschichte im Erfahrungsraum als einheitlicher Prozess gedeutet wird, kann eine durch die Geschichte noch zu verwirklichende Zukunft im Rahmen eines bestimmten Erwartungshorizonts entworfen werden. Vgl. Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft, Frankfurt/ M. 1979, S. 350 - 353. Da ich mich primär auf öffentliche Erfahrung und kollektive Erinnerung beziehe, sind statt solcher allgemeiner Kategorien der historischen Zeit vielfältige Zeitperspektiven zu berücksichtigen, die im Rahmen der Massengesellschaft sich überschneiden und aufeinander beziehen. 12 Von solchen Szenarien berichtete unlängst die FAZ: «Die Kriege in Jugoslawien demonstrierten neben vielen anderen Gräueln auch das Perfide der neuen Medienwelt: Die Opfer der Gewalt konnten sich medial als Opfer auf dem Bildschirm sehen, nahezu gleichzeitig». Sabine Berking, Imperium zerstörter Seelen. Der Zerfall Jugoslawiens hat eine neue Generation von Autoren hervorgebracht. Wie einige von ihnen schreibt auch Ismet Prcic über Kindheit und Jugend im Krieg, FAZ, 3. April 2013, S. 26. 128 Jeffrey Andrew Barash <?page no="129"?> sachen zu testen, indem wir verschiedene Quellen und ihren logischen Zusammenhang miteinander vergleichen. Die bruchstückhaften und flüchtigen Inhalte der Massenmedienreportagen in dem jeweiligen Aktualitätsfeld bieten dem normalen Zuschauer diese Möglichkeit nicht an. Hier sind die Außenfaktoren schwer zu bestimmen, die Wahl und Gliederung der berichteten Geschehnisse beeinflussen können. Zum einen, im politischen Bereich, erleichtert das verkürzte und verdichtete Darstellungsformat eine Vereinfachung der wirklichen Vielfalt der öffentlichen Welt, da wo die Perspektive einer vorherrschenden Gruppe und ihrer Elite den Raum der öffentlichen Sichtbarkeit monopolisieren; der Bosnien- und der Kosovo-Krieg haben zur Genüge vor Augen geführt, wie problematisch solche Tendenzen sein können. Zum anderen kommen kommerzielle Faktoren hinzu, die den laufenden Kampf um größtmögliche Zuschauerzahlen, um Einschaltquoten und «Ratings» bedingen, mit denen der Erfolg nicht nur von Unterhaltungsprogrammen, sondern auch von Nachrichtensendungen bemessen wird. 13 Und die Bedeutung kommerzieller Faktoren nimmt zu, auch in der Darstellungsweise und im Inhalt des Internetsystems. Hier begünstigt das Format der Massenkommunikation die Tendenz, dass Auswahl und Gliederung von berichteten Geschehnissen durch politische und kommerzielle Faktoren gelenkt werden. Und genau hier laufen wir Gefahr, nicht nur einer Begrenzung, sondern auch einer Verzerrung der reflexiven Funktion zu unterliegen, durch die Massenmedien Ereignisse zur öffentlichen Sichtbarkeit bringen und im öffentlichen Gedächtnis behalten. Die Konvergenz politischer, kommerzieller und anderer Faktoren in den Darstellungen der Massenmedien, sei es durch bewegte Bilder oder Festbilder, trägt zur Steigerung ihrer Vieldeutigkeit bei. Bewegte Bilder, durch ihre Fähigkeit, leibhafte Erfahrung zu simulieren, können mit großer Wirksamkeit unterschiedliche Arten von Botschaften darstellen; einmal von ihrem ursprünglichen Kontext gelöst, können diese Botschaften mit einem meist impliziten ikonischen Sinn aufgeladen werden. Dieser speist sich aus dem symbolischen Vorrat kollektiver Erinnerung der jeweiligen Gruppe, die die sichtbare Botschaft empfängt. Betrachten wir ein weiteres Beispiel, das für die Analyse der massenmedialen Gestaltung des öffentlichen Bereichs, wie auch für die Anwendung dieser Analyse in Bezug auf die Traumata in Ex-Jugoslawien, relevant ist: die mediale Darstellung von Sport. Helmuth Plessner hat sehr treffend die unterschiedlichen Funktionen des sportlichen 13 Neil Postman/ Steve Powers, How to Watch TV News, London 2008, S. 75 - 89. - Pierre Bourdieu, Sur la télévision, Paris 2008. Virtuelle Erfahrung, kollektive Erinnerung, Gestaltung der Öffentlichkeit 129 <?page no="130"?> Wettbewerbs ausgemacht, die im Zusammenhang mit Bedürfnissen stehen, die das Leben in der modernen Gesellschaft hervorbringt, aber nicht befriedigt: «Darum tendieren die Bedürfnisse nach Erholung und sozialem Kontakt, nach Aggression und Spiel, nach Wettstreit und Selbstbetätigung, nach Heldenverehrung zur Öffentlichkeit und finden ihre Erfüllung im Sport.» 14 In paradigmatischer Weise fügt sich diese Funktionsvielfalt des Sports in der heutigen Massengesellschaft besonders gut in den Rahmen der vieldeutigen Medienphänomene, die politische, kommerzielle, entspannungs- und andere Botschaften zusammenstellen und durch gegenseitige, zum Teil versteckte, aus verschiedenen Bereichen des ‹ wirklichen › Lebens stammende Faktoren beeinflusst werden. Die Vielfalt von Bedürfnissen, die der Zuschauersport befriedigt, verleiht ihm seine enorme Kraft, die in den Dienst diverser Interessen gerät: der Clubinhaber, der Finanzwirtschaft, der Vertreter der Massenmedien und sehr oft auch, wie neuere Erfahrungen besonders deutlich zeigen, mächtiger Politiker. Der Fall Bernard Tapie 15 etwa macht deutlich, inwiefern das Ansehen, die Sichtbarkeit des Zuschauersports - von den Spielern bis zu den Vereinsinhabern - in der medialen Öffentlichkeit eine Quelle öffentlicher Allbekanntheit ist, die in den politischen Machtbereich übertragen werden kann. Arnold Schwarzenegger als Meister im Gewichtheben und späterer Kinoschauspieler und Landeshauptmann von Kalifornien oder der Box- Weltmeister Vitali Klitschko als heutiger Führer der politischen Opposition in der Ukraine sind weitere frappierende Belege für die Entwicklung dieser Tendenz zu einem globalen Phänomen. Im ehemaligen Jugoslawien spielten die massenmedial übertragenen Sportkämpfe eine zusätzliche Rolle, indem sie den erstarkten ethnischen Nationalismus zum Ausdruck brachten oder auch förderten. Insbesondere die Spiele des Fußballvereins «Dinamo» aus Zagreb und des Fußballvereins «Crvena Zvezda» aus Belgrad waren in der Destabilisierungsphase der 1980er Jahre zunehmend von Gewalt bestimmt. Wie der Ethnologe Ivan Č olovi ć berichtet, gaben die Fußballspiele den militanten «Dinamo»-Fans die Gelegenheit zur Wiederaufbereitung der Ustascha- Symbole der 1930er und 1940er Jahre, und den militanten «Zvezda»-Fans 14 Helmuth Plessner, Die Funktion des Sports in der industriellen Gesellschaft, Gesammelte Schriften, Band X, Schriften zur Soziologie und Sozialphilosophie, Frankfurt/ M. 1985, S. 154. 15 Der Aktionär und Präsident des Fußballvereins «Olympique de Marseille» wurde Minister für städtische Angelegenheiten in der zweiten Mitterand-Regierung der 1990er Jahre. Nach seinem Rücktritt wegen Korruptions-Verdacht blieb er öffentlich präsent als Entertainer, u. a. als Kinoschauspieler. 130 Jeffrey Andrew Barash <?page no="131"?> die Gelegenheit zur Neuauflage von Liedern, Schlagworten und Fahnen aus der Tschetnik-Folklore des Zweiten Weltkriegs. 16 In ihrer Vieldeutigkeit konnten die Fußballspiele wichtige Medienereignisse mit großer kommerzieller Wirkung und zugleich einer immer deutlicheren politischen Rolle darstellen. Auch in Zeiten des jugoslawischen Kommunismus, wie Č olovi ć zeigt, haben politische Führer die «Crvena Zvezda»- Mannschaft dirigiert, doch die politische Lenkung hatte einen völligen anderen Charakter als in Zeiten der wachsenden ethnischen Gegensätze Ende der 80er Jahre. 17 Im serbischen Fall bildeten die Fußballclub-Hooligans den Kern jener paramilitärischen Streitkraft («Tiger»), die der berüchtigte Fußballclub-Inhaber Ž eljko Ra ž natovi ć «Arkan» führte, und dessen ultranationalistische Mitglieder später für Massenmorde im Krieg verantwortlich gemacht worden sind. Ra ž natovi ć war Inhaber des nach dem Held der mittelalterlichen Kosovo-Schlacht benannten serbischen Fußballvereins Obili ć und war Gründer wie Vorsitzender einer rechtsradikalen Partei (der Serbischen Einheitspartei). Nachdem die Milo š evi ć -Regierung den Großteil der Medienlandschaft unter ihre Kontrolle gebracht und instrumentalisiert hatte, dienten die Medien im Krieg hauptsächlich als Organ der offiziellen Ideologie. Gleichzeitig übte die Tu đ man-Regierung in Kroatien eine strenge Kontrolle über die Medien aus, und ähnliches galt für den gesamten postjugoslawischen Raum. Die Dominanz der nationalen und ethnischen Ideologien, in deren Schatten die Anziehungskraft multiethnischer Symbole des ehemaligen Jugoslawien längst verblasst war, bedeutet jedoch nicht, dass der frei schwebende symbolische Sinn der massenmedialen Ikonen endgültig verschwunden war. Dies belegt auch der Fall des Vereinsinhabers, Politikers und paramilitärischen Führers Ž eljko Ra ž natovi ć «Arkan» und seiner Gattin, der international bekannten Turbo-Folk Sängerin Svetlana Ra ž natovi ć «Ceca». Dieser Fall zeigt in besonders frappierender Weise, nicht nur wie öffentliche Ikonen für den Massenkonsum hergestellt werden, sondern auch wie biegsam in ihrer Vieldeutigkeit die mit den Ikonen verbundenen Sinnzusammenhänge in gewissen Fällen sein können. 16 Ivan Č olovi ć , Football, Hooligans and War. The Politics of the Symbol in Serbia, London 2002, S. 259 - 286. Einen andersartigen Zusammenhang zwischen Sport und Krieg stellt Sa š a Stani š i ć in seinem Roman «Wie der Soldat das Grammofon repariert» (München 2006) her: Verfeindete Soldaten im Jugoslawien-Krieg spielen in einer Feuerpause Fußball, um sich nach Ende des Spiels wieder gegenseitig nach dem Leben zu trachten. 17 Č olovi ć , Football (Anm. 14), S. 259 - 286. Virtuelle Erfahrung, kollektive Erinnerung, Gestaltung der Öffentlichkeit 131 <?page no="132"?> Im Jahre 1995, nicht lange nach der Zeit jener Mordtaten, für die Ra ž natovi ć «Arkan» später angeklagt werden sollte, konnte die Heirat von Arkan und Ceca in der Direktübertragung eines serbischen TV- Senders verfolgt werden. Unter anderem in der Uniform eines serbischen Offiziers aus dem Ersten Weltkriegs erscheinend, erinnerte Arkan an patriotische Taten einer früheren und ehrenhafteren Zeit, während Cecas weiß wallendes Brautkleid, das dem Outfit von Scarlett O ’ Hara in dem Film Vom Winde verweht nachempfunden war, dem Wunsch nach einer Märchenheirat entsprach. Die Direktübertragung der religiösen Trauzeremonie und der Hochzeitsfeier, in deren Rahmen Ceca ein kleines Konzert gab, dauerte viele Stunden. Der multifunktionale Charakter des Ereignisses, das militärische, kommerzielle, politische, religiöse Riten und Symbole miteinander vermischte, ergab eine mehrdeutige Botschaft, die den Zuschauern im Format eines Unterhaltungsprogrammes vermittelt wurde. Am Tag danach widmeten die nationalen Zeitungen dem Ereignis mehrere illustrierte Seiten; die Autorin eines Leitartikels in der Illustrierten «Duga» hob die politisch-mythologische Dimension des Ereignisses hervor, indem sie Ceca mit der «Kosovka devojka» verglich. 18 In solchen Fällen neigen die öffentlichen Darstellungen der streng kontrollierten Massenmedien dazu, die Bildsymbole deutlich auf ihren jeweiligen Ursprungskontext zu lenken. Aber hier bemerken wir etwas Eigenartiges, was ich als abschließende Bemerkung hinzufüge. Die starke mythologische Anziehungskraft der Bilder speist sich nicht nur aus ihrer unmittelbaren kontextuellen Bedeutung, sondern aus der besonderen Fähigkeit des Bildes, eine massenmedial vermittelte symbolische Mehrdeutigkeit zu veranschaulichen. Diese symbolische Mehrdeutigkeit befördert eine spezifische massenmediale Form der Mythologie, die der öffentlichen Allbekanntheit im jeweiligen Aktualitätsfeld entspricht. Die Ausstrahlungskraft dieser Mythologie entwickelt sich im Licht der durch die Massenmedien geprägten Öffentlichkeit; in diesem Licht wird sie in der kollektiven Erinnerung behalten. Und gerade in dieser Funktion spielt die freischwebende Symbolik der Bilder eine zentrale Rolle. 18 Robert Thomas, Serbia under Milosevic. Politics in the 1990 s, London 1999, S. 219. 132 Jeffrey Andrew Barash <?page no="133"?> Sabine Rutar Versponnene Fäden. Kriegsnarrative im jugoslawischen Raum Nur wenige Bücher teilen das Schicksal von Katherine Verderys «National Ideology Under Socialism: Identity and Cultural Politics in Ceau ş escu ’ s Romania». Es ging am 8. November 1989 in Druck und geriet buchstäblich über Nacht zu einem kontingenten Narrativ: «From being an analysis of how cultural production and national ideology are intertwined in a socialist society, it became a recent history of a now-verydifferent future cultural and national politics, in the transition from socialism to whatever will come after it.» 1 Dieses «whatever will come after it» beeinflusste in der Folge, nicht von ungefähr, die Interpretationen der sozialistischen Zeit, und für Jugoslawien gilt dies in besonderer Weise. In den letzten zwanzig Jahren tendierten Historiker und Historikerinnen dazu, Fragestellungen ex post facto zu formulieren. Sozialwissenschaftler entwarfen Erklärungsraster, die von der Erwartung konditioniert waren, dass in den postsozialistischen Gesellschaften rasch Demokratien und Marktwirtschaften westlichen Typs entstehen würden. Diese Erwartungen des «Westens» machten zwar durchaus einen substantiellen Teil der Transition aus, vergessen wurde nur allzu leicht, was eigentlich, also welche Gesellschaft in Transition begriffen war. Maßgenommen und interpretiert wurde anhand letztendlich nebulöser «westlicher Standards». Hinsichtlich Jugoslawiens trieb zuvörderst die Frage um, warum das Ende des Staatssozialismus Staatszerfall und Krieg generierte. Allzuoft verleitete sie zu Erklärungsansätzen, die lediglich unterstrichen, dass dieser multinationale Staat von Beginn an (1918! ) zum Scheitern verurteilt gewesen sei. Nur langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass so die Geschichte Jugoslawiens, nachdem das sozialistische Meisternarrativ ad acta gelegt worden war, wiederum aus einer deterministischen Perspektive heraus geschrieben wurde. 1 Katherine Verdery, National Ideology under Socialism: Identity and Cultural Politics in Ceau ş escu ’ s Romania, Berkeley 1991, xi. <?page no="134"?> Eine von Historikern und Historikerinnen aus allen post-jugoslawischen Ländern außer Kosovo konzipierte Ausstellung im Belgrader Muzej istorije Jugoslavije bezeichnete Jugoslawien jüngst als «eines der spannendsten und kontroversesten Staatsbildungsexperimente des 20. Jahrhunderts» («jednog od najzanimljivijih i najkontroverznijih dr ž avotvornih eksperimenata u XX. veku ” ). 2 Tatsächlich war es ein Charakteristikum jugoslawischer Staatlichkeit, dass ihre Baumeister es seit 1918 nie schafften, ihr nachhaltig Legitimation zu verschaffen. Daraus zu schließen, das Experiment Jugoslawien sei von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen, zäumt das Pferd aber von hinten auf und missachtet die konstruktiven Absichten von Generationen von Staatsmännern. Sahen die letzten zwei Jahrzehnte eine Art traumatisierte Geschichtsschreibung? Wer schreibt die ‹ wahre › Geschichte? Die Nationalisten in den sieben Nachfolgestaaten? Die dekonstruktivistische internationale Historikerzunft? Die Kolleginnen und Kollegen vor Ort, die gegen den Nationalismus anschreiben? Kann/ Soll man die seit zwanzig Jahren getrennt nationalisierten Narrative bündeln? Transnationalisieren? Ist die massiv verengte Blickführung gar ein Indiz dafür, dass die Kriege nicht eigentlich zu Ende sind? 3 Kriegserfahrungen und Kriegserinnerungen In den 1990er Jahren habe ich keine unmittelbare Erfahrung mit den Kriegen gemacht, wenn ich davon absehe, dass die Verwandten in der Untersteiermark im Juni 1991 angesichts überfliegender Flugzeuge der Jugoslawischen Volksarmee ihre Panik per Telefon bis ins Ruhrgebiet trugen. Die im Folgenden eklektisch notierten Erlebnisse sind symptomatische Beobachtungen der Zerstörung, des Todes, nationalistischer 2 Jugoslavija: od po č etka do kraja, Muzej istorije Jugoslavije, Belgrad, 1. 12. 2012 - 3. 3. 2013, ‹ http: / / www.mij.rs/ izlozbe/ 66/ jugoslavija-od-pocetka-do-kraja. html › . Auf alle Internetseiten wurde am 17. 9. 2013 zugegriffen. 3 Vgl. die Belgrader Historikerin Dubravka Stojanovi ć in einem Radio-Feature über «diese Atmosphäre eines unbeendeten Krieges» («taj ukus nezavr š enog rata»), die den postjugoslawischen Gesellschaften innewohne, Sidro. Emisija, in: Pe šč anik, 8. 5. 2009, ‹ http: / / pescanik.net/ 2009/ 05/ sidro/ › . Jüngst zitierte die Zagreber Zeitung Jutarnji list den Vorsitzenden des «Stabs zur Verteidigung des kroatischen Vukovars» mit eben solchen Worten. Es ging um Reaktionen auf die Einführung kyrillischer Tafeln in der Stadt Vukovar, vgl. Prosvjedi u Vukovaru. Š ef Sto ž era: 'Mo ž da je za Milanovi ć a rat zavr š en, ali za nas jo š nije', in: Jutarnji list, 4. 9. 2013, ‹ http: / / www.jutarnji.hr/ treci-dan-prosvjeda-protiv-cirilice-okupljanje-pocinje-u- 10-sati-u-vukovaru/ 1124060/ › . 134 Sabine Rutar <?page no="135"?> Spaltung, konkurrierender und sich wandelnder Erinnerungen, europäischer Verwobenheiten. Salzgitter, September 2001. Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung, Braunschweig, Sommerschule «Der Balkan in Europa». 4 Es nehmen südosteuropäische Schulbuchautoren, Lehrerinnen und Wissenschaftlerinnen teil. Exkursion nach Goslar («das schöne Deutschland») und nach Salzgitter («das hässliche Deutschland»). 5 Die bosnischen Teilnehmer kommentieren die Fotos deutscher Konzentrationslager: «Wir kennen solche Bilder, nur neuere, und in Farbe.» Es ist erschütternd, Menschen meines Alters zu treffen, für die Krieg eine Lebenserfahrung ist. Sarajevo, Dezember 2001. Eine Tagung des europäischen Geschichtslehrerverbandes Euroclio. 6 Nun sehe ich mit eigenen Augen Dinge, die ich bislang mit dem Zweiten Weltkrieg assoziiert hatte: die zerstörte Nationalbibliothek, das zerbombte Oslobo đ enje-Hochhaus, vermauerte Fenster, zerschossene Fassaden, Bombenlöcher. Ich wünschte, ich hätte das Sarajevo der 1970er Jahre gekannt. Belgrad, 2002/ 2003/ 2006/ 2012. Die Perpetuierung des Zerstörten. Das von der NATO 1999 zerbombte Verteidigungsministerium mitten in der Stadt rührt niemand an. Es sieht im Juni 2012 genauso aus wie im September 2002. Ist das als Anklage gemeint? Als Mahnmal serbischer Gefühle des Opferseins? Ist das Gebäude zu jugoslawisch, um wieder hergerichtet oder auch nur abgetragen zu werden? Oder ist das ‹ Kaputt- Lassen › schlicht dem Mangel an Mitteln geschuldet? Serbische Kolleginnen und Kollegen haben auf die Frage nur ein resigniertes, manchmal angewidertes Schulterzucken. 7 Koper, Oktober 2004. Internationale Tagung zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegsjahre im jugoslawisch-italie- 4 International Summer School: The Balkans in Europe, Georg Eckert Institute, Braunschweig, 24. - 30. 9. 2001, in: South-East Europe Textbook Network, ‹ http: / / www.ffzg.unizg.hr/ seetn/ states/ transreg/ international%20summer%20school% 20at%20the%20georg%20eckert%20institute.htm › . 5 Goslar - Kaiserstadt und Weltkulturerbe, ‹ http: / / www.goslar.de › ; Gedenk- und Dokumentationsstätte KZ Drütte, ‹ http: / / www.gedenkstaette-salzgitter.de/ › . 6 Vgl. Robert Stradling, Meeting of the Working Group on History and History Teaching in South East Europe, Sarajevo, Bosnia and Herzegovina, 16 - 17 December 2001, ‹ http: / / eric.ed.gov/ ? id=ED471105 › . 7 Vgl. NATO Target: The Federal Ministry of Defense in Belgrade, in: Francesca Mitrovic, «Nothing Against Serbia». A Virtual Sketchbook, 29. 3. 2008, ‹ http: / / www.sajkaca.blogspot.ch/ 2008/ 03/ nato-target-federal-ministry-of-defense_29. html › . Versponnene Fäden. Kriegsnarrative im jugoslawischen Raum 135 <?page no="136"?> nischen Grenzraum (1943 - 1954). 8 Einige alte Partisanen sind zugegen. Einer brüllt in die Diskussion: «Diese Küste war schon immer slowenisch! » Slowenien ist gerade der EU beigetreten - der Balkan wird diskursiv für möglichst weit weg erklärt. Doch auch hier «oben» sind die Wunden des Weltkrieges nicht verheilt, und die Kriegserinnerungskultur tut sich schwer mit der Versachlichung. München, Oktober 2008. Ich lade Bora Ć osi ć zu einer Lesung ein. 9 Seine Frau ist dabei. Lidija Klasi ć erklärt mir, er schreibe hartnäckig auf serbokroatisch, und nennt mir auch einige Worte, die heute anders seien, als er sie benutze. Beim Abendessen höre ich, wie er genau eines dieser Worte anwendet - und wie ihn die junge kroatischstämmige Münchner Kollegin, mit der er spricht, nicht versteht. Spricht da ein Jugoslawe mit einer Kroatin? Ein Serbe mit einer Kroatin? Mit einer kroatischstämmigen Deutschen? Oder einfach zwei Generationen miteinander? Regensburg, November 2011. Ich lade die Kärntner Autorin Maja Haderlap zu einer Lesung in den Slowenischen Lesesaal ein. 10 Sie gibt durch ihre Familiengeschichte («Engel des Vergessens») ein Beispiel für die slowenisch-kärntnerische Geschichte, wie es eindrücklicher nicht sein könnte. Krieg und Nachkrieg, Kampf der Nationalitäten, Traumata, gewollte Amnesien. Mir scheint, kaum jemand hat mehr für die Kenntnis der Kärntner slowenischen Geschichte getan als sie mit ihrem preisgekrönten Buch. 11 Der slowenische Generalkonsul aus München ist zugegen. Er rügt mich: Ich solle doch Slowenen in den Slowenischen Lesesaal einladen - Haderlap schreibe schließlich auf deutsch, sei «keine von uns». 12 8 Borut Klabjan, Mednarodni znanstveni sestanek »Primorska od kapitulacije Italije 1943 do Londonskega memoranduma leta 1954« Koper, 4. - 5. oktober 2004, in: Zgodovinski Č asopis 59/ 2005, Nr. 1 - 2, S. 213 - 215. 9 Im Rahmen der 2. Münchner Balkantage, ‹ http: / / www.balkantage.org/ bt-2007- 2010/ 810-balkantage-2008 › . 10 Siehe die Internetpräsenz des Slowenischen Lesesaals in Regensburg, ‹ http: / / www.slowenischer-lesesaal.de/ archiv.html › . Vgl. Die Frau, die slowenischen Partisanen eine Stimme gab, in: Mittelbayerische Zeitung, 17. 11. 2011, ‹ http: / / www. mittelbayerische.de/ nachrichten/ kultur-ressort/ artikel/ die_frau_die_slowenischen_part/ 727748/ die_frau_die_slowenischen_part.html › . 11 Christoph Schröder, Bachmann-Preis für M. Haderlap: Die deutsche Sprache ist ihr Schutzschild, in: Die Zeit, 10. 7. 2011, ‹ http: / / www.zeit.de/ kultur/ literatur/ 2011- 07/ literatur-preis-bachmann › . 12 Zu Erinnerungsorten des Zweiten Weltkriegs im österreichisch-slowenisch-italienisch-kroatischen Grenzraum vgl. den gut recherchierten Band mit Qualitäten eines politischen Reiseführers Tanja von Fransecky u. a. (Hrsg.), Kärnten, Slowenien, Triest: umkämpfte Erinnerungen, Berlin, Hamburg 2010. 136 Sabine Rutar <?page no="137"?> Log pod Mangartom, 2007/ 2012. Ein Dörfchen im slowenisch-italienisch-österreichischen Dreiländereck, ein Soldatenfriedhof aus dem Ersten Weltkrieg. Abb. 1: Denkmal in Log pod Mangartom, Slowenien. Das Denkmal, ein Werk des tschechischen Bildhauers Ladislav Kofránek, stellt zwei Soldaten dar, die in Richtung des Gipfels des nahen Rombon blicken, wo ein Großteil der hier bestatteten Soldaten gefallen ist. Einer der beiden Soldaten trägt einen Fez. - Alle Abbildungen: Sabine Rutar (Privatbesitz). Versponnene Fäden. Kriegsnarrative im jugoslawischen Raum 137 <?page no="138"?> Abb. 2: Soldatenfriedhof in Log pod Mangartom Die Gräber kennzeichnete man 1917/ 18 mit christlichen und muslimischen Grabmalen: Hier kämpften unter anderem die Soldaten des 4. Infanterieregiments aus Bosnien-Herzegowina. 13 Die bosnischen Soldaten errichteten in diesem Winkel der Alpen eine kleine Moschee, welche nach dem Krieg verfiel und in den 1920er Jahren abgetragen wurde. 14 1933 entfernten italienische Faschisten die muslimischen Grabzeichen und errichteten stattdessen christliche Kreuze. 13 Christoph Neumayer (Hrsg.), Des Kaisers Bosniaken. Die bosnisch-herzegowinischen Truppen der k. u. k. Armee, Geschichte und Uniformierung von 1878 - 1918, Wien 2008. 14 Log pod Mangartom Mosque, in: Wikipedia, ‹ http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Log_pod_Mangartom_Mosque › . Vgl. President Pahor will lay foundation stone for Mosque, in: Slovenia Times, 22. 5. 2013, ‹ http: / / www.sloveniatimes.com/ president-pahor-will-lay-foundation-stone-for-mosque › , zur symbolischen Bedeutung dieser ersten und bislang einzigen Moschee in slowenisch bewohnten Regionen. Die nach jahrzehntelangem Ringen nun zu erbauende Moschee in Ljubljana soll eine Replik ihrer kriegsbedingt entstandenen kleinen Vorgängerin in Log werden. Am 14. September 2013 wurde der Grundstein gelegt, im Früherbst 138 Sabine Rutar <?page no="139"?> Im August 2007 besuchte ich den Friedhof erstmals, nicht ahnend, dass er sich im selben Monat noch verändern würde: Auf eine Initiative der Muslimischen Gemeinschaft Sloweniens hin wurden die muslimischen Grabstelen wieder errichtet, und zwar größere als die ursprünglichen. 15 Drei Monate später wurden sie mit serbischen nationalistischen Symbolen beschmiert. 16 Abb. 3: Der Soldatenfriedhof in Log pod Mangartom im Sommer 2007: Hasan Djuki ć 2014 mit dem Bau tatsächlich begonnen, vgl. Slovenia's PM lays stone on country's first mosque, in: The Sun Daily, 15. 9. 2013, ‹ http: / / www.thesundaily.my/ news/ 829777 › ; Ljubljana mosque construction enters next stage, in: The Slovenia Times, 5. 6. 2014, ‹ http: / / www.sloveniatimes.com/ ljubljana-mosque-construction-entersnext-stage › . 15 Vgl. die Internetpräsenz der Slovenska Muslimanska Skupnost, ‹ http: / / www. smskupnost.si › ; Esad Krci ć , M.Sc. Nedzad Grabus, Mufti of Ljubljana and President of Meshihat of the Islamic Community in Slovenia: «It will be realistic to speak about an Islamic cultural centre in Ljubljana once we own the land», in: Bosnjaci.Net, 18. 9. 2008, ‹ http: / / www.bosnjaci.net/ print.php? pid=27254 › . 16 Vandals Spray Nationalist Symbols on Graves of Muslim Soldiers, in: Slovenska Tiskovna Agencija, 11. 11. 2008, ‹ http: / / www.sta.si/ en/ vest.php? s=a&id=1 336 773 › . Versponnene Fäden. Kriegsnarrative im jugoslawischen Raum 139 <?page no="140"?> Abb. 4: Der Soldatenfriedhof in Log pod Mangartom im Frühling 2012 140 Sabine Rutar <?page no="141"?> Als ich im Mai 2012 erneut den Friedhof besuche, überrascht von dessen Wandlung, stand indes schon die nächste bevor: Einige Tage später enthüllten der damalige slowenische Präsident Danilo Türk und sein bosniakischer Kollege Bakir Izetbegovi ć ein von zwei slowenischen Künstlern bosnischer Herkunft, Mirsad Begi ć und Josip Osti, geschaffenes Denkmal für die bosnischen Soldaten, die im Ersten Weltkrieg an der Isonzo-Front auf österreichischer Seite kämpften: «Both him [Türk] and Izetbegovi ć called for ‹ a century of peace › after ‹ a century of wars › which according to them was strongly marked by WWII and WWI and also the recent war in Bosnia and Abb. 5: Lipa, Istrien (Kroatien). «Njema č ki i talijanski okupatori su 30. IV. 1944. god. do temelja spalili ovo selo - 87 stambenih ku ć a i 85 gospodarskih zgrada. 1974 god. - mje š tani sela Lipa» («Die deutschen und italienischen Okkupanten brannten am 30. April 1944 dieses Dorf bis auf die Grundmauern nieder - 87 Wohnhäuser und 85 Wirtschaftsgebäude. 1974 - die Einwohner von Lipa») Versponnene Fäden. Kriegsnarrative im jugoslawischen Raum 141 <?page no="142"?> Herzegovina.» 17 Jugoslawische (Kriegs - )Narrative des 20. Jahrhunderts verspinnen sich hier umfassend, auch wenn von Jugoslawien keine Rede ist. Lipa, Mai 2012. Ein Dorf im Hinterland der kroatischen Kvarner- Bucht, nördlich von Rijeka. Wieder: Schichten der Kriegserinnerung, und hier ist von Jugoslawien durchaus die Rede. Deutsche Besatzer und ihre italienischen Helfer ermordeten am 30. April 1944 nahezu die gesamte Dorfbevölkerung. Abb. 6 Lipa, Istrien (Kroatien). Zentren des Widerstands in Istrien - eine Schautafel aus titoistischen Zeiten im Spomen Muzej Lipa (Geschichtsmuseum Lipa), 2012 17 Slovenian, Bosnian Presidents Unveil WWI Memorial, in: Slovenska Tiskovna Agencija, 7. 6. 2012, ‹ http: / / www.sta.si/ en/ vest.php? id=1766481 › ; Predsjedavaju ć i Predsjedni š tva Bosne i Hercegovine Bakir Izetbegovi ć prisustvovao je danas u Logu pod Mangartom, u Sloveniji, ceremoniji otkrivanja spomenika ljudima iz Bosne i Hercegovine koji su u Prvom svjetskom ratu ratovali i umirali na So š kom frontu, Webseite des bosnisch-herzegowinischen Präsidiums, ‹ http: / / www.predsjednistvobih.ba/ saop/ 1/ ? cid=19914,2,1 › . Meinen herzlichen Dank an Marta Verginella, Zdravko Likar, Marko Klavora und Tadej Koren für ihre wertvollen Hinweise, vgl. auch Fundacija poti miru v Poso č ju, ‹ http: / / www.potmiru.si › . 142 Sabine Rutar <?page no="143"?> Das kleine Museum hat sich seit den 1970er Jahren nicht verändert - bis heute hat es keine eigene Webseite. Dieser Erinnerungsort kommunizierte noch jüngst - in komplett gewandelter geschichtspolitischer Umgebung - weiterhin die titoistische Meistererzählung. Abb. 7: Namen der Opfer des Massakers von Lipa (im Spomen muzej Lipa) Die im Mai 2013 begonnene Renovierung des Museums und des Gedenkortes Lipa insgesamt ist zum 70. Jahrestag der Ereignisse nicht wie geplant fertiggestellt. Die am 30. April 2014 abgehaltene Gedenkfeier - den im Internet zu findenden Fotos nach zu urteilen eine dezidiert kroatische Veranstaltung - fand in vergleichsweise kleinem Rahmen statt, obwohl mehrere kroatische Staatsrepräsentanten anwesend waren. Die Wiedereröffnung des Museums war für September 2014 vorgesehen. 18 Es mag noch eine Weile dauern, bis Lipa in der europäischen Erinne- 18 Memorijalni centar č eka obnovu, in: Liburnija.net, 17. 4. 2012, ‹ http: / / www.liburnija.net/ memorijalni-centar-ceka-obnovu-lipa/ › ; Zapo č ela obnova Spomenmuzeja u Lipi, in: ebd., 22. 5. 2013, ‹ http: / / www.liburnija.net/ zapocela-obnovaspomen-muzeja-u-lipi-matulji/ › ; Lea Domijan Fi š ter, «Lipa pamti»: 70 godina od nacisti č kog zlo č ina, HRT - Radio Rijeka, 30. 4. 2014, ‹ http: / / radio.hrt.hr/ radiorijeka/ clanak/ lipa-pamti-70-godina-od-nacistickog-zlocina/ 53 040/ › . Versponnene Fäden. Kriegsnarrative im jugoslawischen Raum 143 <?page no="144"?> rungslandschaft - wie Oradour-sur-Glane, das im 40. Jahr des deutschfranzösischen Freundschaftsvertrags erstmals von einem politischen Repräsentanten Deutschlands besucht wurde, und wie das tschechische Lidice - 19 gleichwertig verzeichnet sein wird. 20 Gonars, Mai 2012. Eine Kleinstadt in der Nähe von Udine in Nordostitalien, Ort eines Lagers der italienischen Faschisten, in welchem von Februar 1942 bis September 1943 überwiegend Slowenen und Kroaten interniert waren. 21 Hier ist die Nationalisierung der jugoslawischen Geschichte greifbar: Rechts die sozialistische Erinnerung aus der Zeit der Errichtungs des Denkmals 1973 an die «Jugoslawen, die fern der Heimat» zu Tode gekommen sind. Links die Inschrift von 1993, die an «die slowenischen Internierten und die anderen Opfer des Faschismus anlässlich des 50. Jahrestages der Befreiung des Lagers» erinnert, daneben eine analoge kroatische Inschrift von 1995, «anlässlich des 50. Jahrestages des Sieges über den Faschismus». Dieser Erinnerungsort ist eine ähnlich kuriose Herausforderung wie Lipa: ein titoistisches Denkmal in Italien, mitten im Kalten Krieg. Die Symbolik des Architekten Miodrag Ž ivkovi ć erinnert an jene Bogdan Bogdanovi ć s in Jasenovac. Die sozialistischen Symbole sind noch da, die roten Sterne auf den Urnen, die Namen der Opfer. Die nun getrennt verhandelte kroatische und slowenische Erinnerung wurde danebengesetzt. 22 19 Michaela Wiegel, Staatsbesuch in Frankreich. «Eine Geste der Versöhnung», in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. 9. 2013, ‹ http: / / www.faz.net/ aktuell/ politik/ ausland/ europa/ staatsbesuch-in-frankreich-eine-geste-der-versoehnung-125593 55.html › ; Kilian Kirchgeßner, Die Geschichte eines Ortes. Das dritte Lidice, in: ebd., 27. 5. 2012, ‹ http: / / www.faz.net/ aktuell/ politik/ portraets-personalien/ die-gesch ichte-eines-ortes-das-dritte-lidice-11765144.html › . 20 Vgl. Martina Dra šč i ć , Lipa - a Small Place with a Powerful Story, in: Borderlands of Memory. Croatia (Istria-Kvarner) - Slovenia (Primorska) - Italy (Friuli-Venezia Giulia). The Memory of War and Violence in the 20th-Century Northeastern Adriatic, ‹ http: / / www.uni-regensburg.de/ Fakultaeten/ phil_Fak_III/ Geschichte/ istrien/ ro ute-lipa.html › , insbesondere das eindrucksvolle Interview mit der langjährigen Kuratorin des Museums, Danica Maljavac. Sie erwähnt unter anderem das anrührende Denkmal für die 88 getöteten Kinder in Lidice. In Lipa wurden 121 Kinder ermordet. Vgl. auch Tea Perin č i ć , Lipa pamti ili o kolektivnoj memoriji jednog ratnog zlo č ina iz II. svjetskog rata, und Martina Dra šč i ć , Lipa malo mjesto s velikom pri č om. Intervju s Danicom Maljavac, beide in: Č asopis za povijest Zapadne Hrvatske/ West Croatian History Journal 8/ 2013, Heft 8, S. 153 - 165 und S. 167 - 177. 21 Alessandra Kersevan, Un campo di concentramento fascista: Gonars 1942 - 1943, Gonars, Udine 2003. 22 Magomed Anasov, Gonars: The Forgotten Italian Concentration Camp of WW II, in: Borderlands of Memory (Anm. 20), ‹ http: / / www.uni-regensburg.de/ Fakultaeten/ phil_Fak_III/ Geschichte/ istrien/ route-gonars.html › . 144 Sabine Rutar <?page no="145"?> Abb. 8: Lipa. Ein Kreuz über dem nicht mehr roten Stern («Ehre den durch faschistischen Terror gefallenen Familien, 30. April 1944») Versponnene Fäden. Kriegsnarrative im jugoslawischen Raum 145 <?page no="146"?> Abb. 9: Gonars, Italien (Provinz Udine). «Den fern der Heimat gefallenen, verstorbenen und vermissten Jugoslawen, 1941 - 1945, im Zeichen großer Dankbarkeit, die sozialistische föderative Republik Jugoslawien, 1973» 146 Sabine Rutar <?page no="147"?> Abb. 10: Gonars, Italien. «Den kroatischen und anderen Internierten, Opfer des Faschismus, anlässlich des 50. Jahrestages des Sieges über den Faschismus. Gonars 1995» Versponnene Fäden. Kriegsnarrative im jugoslawischen Raum 147 <?page no="148"?> Abb. 11: Gonars, Italien. Im Inneren des von Miodrag Ž ivkovi ć gestalteten Denkmals Pula, Juni 2012. Der k. u. k. Marinefriedhof, einer der größten seiner Art in Europa, von den Österreichern mit dem Entstehen des neuen Zentralmarinehafens der Monarchie 1862 angelegt und bis 1960 in Gebrauch. 23 In den 1990er Jahren finanzierten das Österreichische Schwarze Kreuz und der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge die Restaurierung - im Zweiten Weltkrieg waren italienische und deutsche Soldaten und Zivilisten hier bestattet worden. 2005 genehmigte die Stadt die Errichtung eines neuen, mannshohen Monuments direkt am Eingang des Friedhofs, mit der eingemeißelten Aufschrift: «Hrvatski domobran - za Hrvatsku uvijek» (Der Kroatische Domobran - stets für Kroatien). Die Jahreszahlen 1868 - 1941 - 1991 konstruieren eine historische Kontinuität kroatischer «Heimwehr» (domobranstvo), die es so nie gegeben hat. 1868 ist das 23 Borderlands of Memory (Anm. 20). 30 May 2012: Pula, ‹ http: / / www.uni-regensburg.de/ Fakultaeten/ phil_Fak_III/ Geschichte/ istrien/ route-pula.html › . 148 Sabine Rutar <?page no="149"?> Abb. 12: Pula (it. Pola), Istrien, k.u.k. Marinefriedhof. Auf Initiative der Vereinigung kroatischer Kriegsveteranen des Zweiten Weltkriegs «Kroatischer Domobran» errichtetes Denkmal für kroatische «Heim(at)verteidiger» Versponnene Fäden. Kriegsnarrative im jugoslawischen Raum 149 <?page no="150"?> Abb. 13: Pula, Istrien. Grabmal auf dem k. u. k. Marinefriedhof 150 Sabine Rutar <?page no="151"?> Gründungsjahr einer kroatischsprachigen Landwehr nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich. Diese Landwehr war eine von drei autonomen Landwehren in der österreichisch-ungarischen Armee und unter anderem an der österreichischen Besetzung Bosnien-Herzegowinas 1878 beteiligt - sie gilt als die erste bewaffnete kroatische Einheit der neueren Geschichte. Die zweite «Kroatische Heimwehr» entstand 1941 mit der Ausrufung des faschistischen so genannten «Unabhängigen Staates Kroatien» (Nezavisna Dr ž ava Hrvatska, NDH) und blieb bis 1944 dessen reguläre Streitmacht. Istrien war indes nie ein Teil dieses «unabhängigen» Kroatiens; es gehörte erst seit 1947 zu Jugoslawien. Die dritte kroatische «Heimwehr» entstand 1991 als Teil der sich neu konstituierenden kroatischen Armee. Die Initiatoren des Denkmals auf dem Marinefriedhof in Pula, die Vereinigung kroatischer Kriegsveteranen des Zweiten Weltkriegs «Kroatischer Domobran» (Udruga ratnih veterana Hrvatske «Hrvatski domobran»), begründen die postulierte historische Kontinuität so: «Das Jahr 1868, Gründungsjahr der Kroatischen Heimwehr, findet sich im Wappen unserer Vereinigung ‹ Hrvatski domobran › , wie auch die Jahre Abb. 14: Pula, Istrien. Grabmal auf dem k. u. k. Marinefriedhof Versponnene Fäden. Kriegsnarrative im jugoslawischen Raum 151 <?page no="152"?> 1941 und 1991, als die kroatische Staatlichkeit erneuert wurde und die Kroatische Heimwehr zur regulären Armee des Unabhängigen Kroatischen Staates beziehungsweise der Republik Kroatiens wurde.» 24 Eine direktere (und historisch ungenauere) Kontinuitätslinie zwischen dem faschistischen Usta š a-Kroatien und der heutigen Republik Kroatien lässt sich kaum konstruieren. Am 10. April, Jahrestag der Ausrufung des NDH-Staates, findet seit der Errichtung des Denkmals eine Gedenkzeremonie statt, welche nicht nur die lokalen Repräsentanten des antifaschistischen Erbes Istriens provoziert. 25 Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts, Zeitgeschichtliches Kolloquium, Januar 2013. Ich höre einen Vortrag von Svenja Goltermann über «Kriegsopfer. Eine Wissensgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts». 26 Ich merke, sie möchte diese Geschichte transnational und vergleichend erzählen, aber ohne die Jugoslawienkriege («Ich kann ja nicht jeden Krieg einbeziehen.»). Ohne die Kriege also, die Ende des 20. Jahrhunderts die längste aller Belagerungen dieses Jahrhunderts (Sarajevo), erneuten Völkermord in Europa sowie erstmals die Gründung eines Strafgerichtshofes durch die Vereinten Nationen zeitigten, das erste internationale Kriegsverbrechertribunal seit Nürnberg und Tokio. 27 Die gängige Aus- 24 Povijest domobranstva, Webseite der Udruga ratnih veterana Hrvatske «Hrvatski domobran», ‹ http: / / www.hrvatskidomobran.hr/ index_files/ DOMOBRANST- VO.htm › . Vgl. ebd. die Eigendefinition als «freiwilliger überparteilicher Verein von Angehörigen der Kroatischen Armee 1941. - 1945., ihren Familienmitgliedern, Rechtspersonen und anderen Bürgern, Freunden der kroatischen Heimwehr [domobranstvo]». 25 U Puli obilje ž en 10. travanj, Webseite der Hrvatska č ista stranka prava, ‹ http: / / hcsp. hr/ u-puli-obiljezen-10-travanj › ; Na dan NDH usred Pule vijenac za domobrane, in: Glas Istre, 10. 4. 2012, ‹ http: / / www.glasistre.hr/ vijesti/ arhiva/ 351339 › . Wie virulent das Thema «Veteranen» allgemein in Kroatien ist, zeigt die Debatte um «echte» und «unechte» Veteranen, vgl. Die «Lügen-Kämpfer» Kroatiens. Jeder will Kriegsveteran sein - Privilegien verleiten zu Mogeleien, Neue Zürcher Zeitung, 13. 10. 2010, ‹ http: / / www.nzz.ch/ aktuell/ startseite/ die-luegen-kaempfer-kroatiens-15436660 › . 26 Universität Jena, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, Kolloquium: Rückblick, ‹ http: / / www.nng.uni-jena.de/ Kolloquium/ R%C3%BCckblick-p-27. html › . 27 Vgl. u. a. Róisín Mulgrew, Towards the Development of the International Penal System, Cambridge 2013; Isabelle Delpla, Xavier Bougarel, Jean-Louis Fournel (Hrsg.), Investigating Srebrenica. Institutions, Facts, Responsibilities, New York, Oxford 2012; Rachel Kerr, Eirin Mobekk, Peace and Justice. Seeking Accountability after War, Cambridge u. a. 2007; Rachel Kerr, The International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia. An Exercise in Law, Politics and Diplomacy, Oxford 2004. 152 Sabine Rutar <?page no="153"?> blendung dieser europäischen Region durch die so genannte Allgemeinhistorikerin, will mir scheinen. Goltermann fokussiert auf den Vietnam- Krieg und die «Erfindung» der Post-Traumatic-Stress-Disorder (PTSD). Auf die Pathologisierung der Opfer also: Seit Vietnam könne jede und jeder Opfer sein und vor allem werden, noch Jahre nach den Ereignissen, durch die Diagnose PTSD. Eine Inflation der Traumatisierungen also? Mir fällt die Tagung ein, zu der mich Boris Previ š i ć und Svjetlan Lacko Viduli ć nach Dubrovnik eingeladen haben. Die jugoslawischen Kriege des 20. Jahrhunderts Die Kriege des 20. Jahrhunderts - nicht nur die jugoslawischen - sind tief miteinander verwoben. In Jugoslawien entzündeten kriegstreibende Politiker Anfang der 1990er Jahre nationalistische Konflikte. Nicht zuletzt Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg - bzw. die Erinnerung daran - prägten die Instrumentalisierung und Mobilisierung der Bevölkerung. Das titoistische Jugoslawien hatte legitimatorisch auf einem gemeinsamen Volksbefreiungskampf aller Völker des Landes gefußt und ‹ vergessen › , dass der Zweite Weltkrieg auch innerjugoslawisch massive Gewalt generiert hatte. 28 Diese bewusst gepflegte Amnesie schien sich nun zu rächen. Der instrumentalisierte Nationalismus verengte alle Blickwinkel und konditioniert bis heute in Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Montenegro, Makedonien und Kosovo nicht zuletzt die Forschungsagenden. Auch die Beschäftigung mit dem Sozialismus, die seit kurzem einen beachtlichen Aufschwung erlebt, erfolgt überwiegend im nationalen Rahmen. Die gemeinsame Staatlichkeit wird (beinahe) vergessen. Besser gesagt: Wer Karriere machen möchte, vergesse sie tunlichst. Die Skandale und die Emotionalität bis hin zu Morddrohungen, welche Historiker aus dem deutschsprachigen Raum in Serbien, aber auch in anderen Ländern des südöstlichen Europas, in Bulgarien und Albanien etwa, auszulösen vermögen, sind Indiz dafür, wie sehr der Niedergang der staatssozialistischen Systeme, vor allem aber Krieg und Zerstörung, im Fluss befindliche, unsichere, verletzliche - traumatisierte? - Identitäten zur Folge hatten, die nicht zuletzt ein übergroßes Bedürfnis nach 28 Genau genommen bestand die Amnesie nicht in der Verdrängung der innerjugoslawischen Gewalt, als vielmehr in der Verdrängung ihrer komplexen Ursachen und in der symbolischen Auslagerung ihrer Träger - der gleichsam unter dem antifaschistischen Credo «entsorgten» Kollaborateure (die «Verräter in den eigenen Reihen», «doma ć i izdajnici») aus der jugoslawischen Bevölkerung. Versponnene Fäden. Kriegsnarrative im jugoslawischen Raum 153 <?page no="154"?> einfachen historischen «Wahrheiten» kennzeichnen. 29 Die Bemühungen um eine Installierung institutionalisierter Erinnerung an die Kriege der 1990er Jahre, zum Beispiel an den Völkermord in Srebrenica oder das Lager Omarska, erzählen eine ernüchternde Geschichte. Vielleicht ist es zu früh, 20 Jahre danach? 30 Die Jugoslawienkriege, der Zweite Weltkrieg und manchmal auch der Erste Weltkrieg verweben sich - Jasenovac und Srebrenica/ Poto č ari, Bleiburg und Huda Jama, Donja Gradina und Prijedor, Sutjeska und Vukovar, Kozara und Sarajevo, Lipa und Omarska, Dubrovnik und Kragujevac, Raska und Kraljevo, bosnische Kämpfer 1915 - 1917 und 1992 - 1995, kroatische «Heimatverteidiger» 1941 und 1991. Opfer und Täter - Heldengeschichten, Opferkonkurrenzen, Familiengeschichten. Amnesien, Mythopoetik, Aufrechnungen, Erinnerungsorte, Generationswandel. Ein Ineinander von Besatzung, Belagerung, Bürgerkrieg, Gewalterfahrungen. Ein Minenfeld für erinnerungstheoretische Zugänge. Auf das Partisanenepos des Zweiten Weltkriegs folgte das Nationalepos, der Kommunismus wurde zum «Unfall» und «Irrweg» erklärt. Die - historiographisch relevante - Frage bleibt: Warum lässt sich das Nationale immer wieder und nach wie vor so effektvoll einsetzen, wenn es um die Mobilisierung von Menschen geht? Wo sind die Kontinuitätslinien in den Instrumentalisierungen des Nationalen vom Kommunismus zum Post-Kommunismus? Waren die Staatsdesigner Tito-Jugoslawiens ihrer - immerhin streng nationalstaatlich definierten - Zeit voraus? Versuchten Sie ein multinationales Staatsmodell in einer Zeit, in der ein solches nicht vorgesehen war? 29 Nenad Stefanov, Jargon der eigentlichen Geschichte: Vom Nichtverstehen und dem Fremden. Zur Diskussion um Holm Sundhaussens Geschichte Serbiens in der serbischen Öffentlichkeit, S. 220 - 249; Alexander Vezenkov, Das Projekt und der Skandal «Batak», S. 250 - 272; Michael Schmidt-Neke, Skanderbegs Gefangene: Zur Debatte um den albanischen Nationalhelden, S. 273 - 302, alle in: Südosteuropa 58/ 2010. Einen Überblick gibt Ulf Brunnbauer, Historical Writing in the Balkans, in: Axel Schneider, Daniel Woolf (Hrsg.), Historical Writing since 1945, Oxford 2011, S. 353 - 375. Vgl. Maria Todorova (Hrsg.), Balkan Identities: Nation and Memory, London 2004. 30 Hariz Halilovich, Places of Pain. Forced Displacement, Popular Memory and Trans-local Identities in Bosnian War-torn Communities, New York, Oxford 2013; Manuela Brenner, The Struggle of Memory. Practices of the (Non-)Construction of a Memorial at Omarska, in: Südosteuropa 59/ 2011, S. 349 - 372. 154 Sabine Rutar <?page no="155"?> Jugoslawische Geschichte schreiben Eine durch die Jugoslawienkriege maßgeblich konditionierte Debatte fand in der Zeitschrift Geschichte und Gesellschaft zwischen der bulgarischstämmigen, in den USA lehrenden Historikerin Maria Todorova und dem Berliner Historiker Holm Sundhaussen statt. Todorova entlarvte die moralische Entrüstung des «Westens» als scheinheilig, der angesichts der Jugoslawienkriege das notorische «Pulverfass Balkan» beschworen und darüber zwei Weltkriege, die Shoah, den Vietnamkrieg, den Golfkrieg einfach «vergessen» habe. Die Jugoslawienkriege wurden und werden landläufig als «Balkankriege» etikettiert, und schon dadurch werde eine «alte» Kontinuität der Gewalt suggeriert - der «Balkan» als imaginierter Hort von Barbarei, Krieg und Rückständigkeit, angesichts dessen man sich im «Westen» der eigenen Zivilisiertheit (und Überlegenheit) sicher glaube. 31 Sundhaussen warf Todorova vor, sie wolle die Spezifitäten des Balkans nivellieren und plädierte für das Recht auf Differenz: für den Balkan als Region sui generis, die er anhand des Zusammenspiels von acht Merkmalen definierte, welche über einen längeren Zeitraum zusammen gewirkt und so den Balkan zu einer historisch spezifischen Entität gemacht hätten. 32 Es ging indes beiden um unterschiedliche, sich im besten Fall ergänzende Dinge. 33 Todorova trieben die «Bilder im Kopf» um, für die Begriffe wie «Pulverfass» oder «Balkanisierung» symptomatisch sind, sowie die zweierlei Maße, die regelmäßig in der Beurteilung dieser Weltgegend im Vergleich zu anderen angewendet wurden und werden. Sundhaussen verteidigte ein historisch zu begründendes Raumkonstrukt. Seinen strukturellen Überlegungen ist allerdings die Problematik einer Kategorie «Südosteuropa» gegenüberzustellen, die von Beginn an geopolitischer Instrumentalisierung ausgesetzt war, welche nicht zuletzt die Schaffung wissenschaftlicher Institutionen begünstigte, 31 Maria Todorova, Imagining the Balkans, New York u. a. 1997, S. 3 - 7. 32 Sundhaussen reagierte auf die - unzulängliche - deutsche Übersetzung des Buches, vgl. Die Erfindung des Balkans: Europas bequemes Vorurteil, Darmstadt 1999. Holm Sundhaussen, Europa balcanica. Der Balkan als historischer Raum Europas, in: Geschichte und Gesellschaft 25/ 1999, S. 626 - 653. Vgl. die nachfolgende Debatte, Maria Todorova, Der Balkan als Analysekategorie: Grenzen, Raum, Zeit, in: ebd. 28/ 2002, S. 470 - 492; Holm Sundhaussen, Der Balkan: Ein Plädoyer für Differenz, in: ebd. 29/ 2003, S. 608 - 624. 33 Vgl. Sabine Rutar, Introduction: Beyond the Balkans, in: Dies. (Hrsg.), Beyond the Balkans. Towards an Inclusive History of Southeastern Europe, Wien u. a. 2014, S. 7 - 25. Versponnene Fäden. Kriegsnarrative im jugoslawischen Raum 155 <?page no="156"?> die sich mit diesem Raum beschäftigten. Und der letzte Boom für diese Institutionen kam im Zuge der jugoslawischen Zerfallskriege in den 1990er Jahren. 34 Eines der historischen Merkmale des Balkans sei, so Sundhaussen, die Neigung zu historischer Mythenbildung, also etwas, gegen das sich Todorova vehement zur Wehr setzt und das sie nicht zuletzt dem «Westen» vorwirft. Seiner 2007 erschienenen «Geschichte Serbiens» stellt Sundhaussen einen Prolog voran, in dem er sich mit der Frage beschäftigt, wie man eigentlich eine Geschichte Serbiens im 20. Jahrhundert schreibe, angesichts der Tatsache, dass Serbien über weite Teile dieses Jahrhunderts Teil eines übergeordneten Staatswesens - Jugoslawiens - gewesen sei. Teil dieser Überlegungen ist auch die Feststellung, dass es in Serbien einen großen Unterschied gebe zwischen dem, was kollektiv erinnert werde, und dem, was historisch als Tatsache postuliert worden sei. Es bestehe wenig Interesse daran, die Erinnerung, das (nationale) Meisternarrativ, mit der Historizität der Ereignisse in Einklang zu bringen. Und das sei spezifisch serbisch bzw. balkanisch. 35 Vielleicht ist dies ein Ausdruck von Traumatisierung? Das Bedürfnis nach einfachen historischen «Wahrheiten» kommt nicht von ungefähr. Der Psychiater Stevan M. Weine, der mit bosnischen Kriegsflüchtlingen gearbeitet hat, zeichnete in seinem 1999 erschienenen Buch «When History Is a Nightmare» die Paradoxien auf, die die Erfahrungen bosnischer Kriegsflüchtlinge markieren. 36 Opfertraumatisierungen und Tätertraumatisierungen sind allzuoft, schon durch die unterschiedlichen diachronen und synchronen Kriegserfahrungen und -erinnerungen, miteinander verwoben, verhinden aber jedenfalls in allen an den Kriegen beteiligten Ländern eine weiter führende gesellschaftliche Auseinandersetzung und auch die Übernahme von Verantwortung. 37 34 Vgl. Mathias Beer (Hg.), Südostforschung im Schatten des Dritten Reiches: Institutionen - Inhalte - Personen, München 2004; auch Carl Freytag, Deutschlands «Drang nach Südosten». Der Mitteleuropäische Wirtschaftstag und der «Ergänzungsraum Südosteuropa» 1931 - 1945, Göttingen 2012. 35 Holm Sundhaussen, Geschichte Serbiens, 19. - 21. Jahrhundert, Wien u. a. 2007, S. 9 - 25. 36 Stevan M. Weine, When History Is a Nightmare. Lives and Memories of Ethnic Cleansing in Bosnia-Herzegovina, New Brunswick 1999. 37 Natalija Ba š i ć , Völkermord vor Gericht. Kriegsverbrecherprozesse, Emotionen und der Umgang damit in Serbien, in: Südosteuropa 59/ 2011, S. 396 - 411; Ljiljana Radoni ć , Krieg um die Erinnerung. Kroatische Vergangenheitspolitik zwischen Revisionismus und europäischen Standards, Frankfurt/ M. 2010. Vgl. Bernhard Giesen, Triumph and Trauma, Boulder 2004; ders., Christoph Schneider (Hrsg.), Tätertrauma. Nationale Erinnerungen im öffentlichen Diskurs, Konstanz 2004. 156 Sabine Rutar <?page no="157"?> Der Zweite Weltkrieg ist in vielen europäischen Ländern nach wie vor Dreh- und Angelpunkt des kollektiven Gedächtnisses. Mit dem nahenden Verschwinden der letzten Zeitzeugengeneration entstand ein nie dagewesener Memory Boom, eine Angst, zu verlieren, was an Erfahrung und Erinnerung bewahrbar gewesen wäre. Das jugoslawische «Trauma der Transition» findet nicht zuletzt in diesem europäischen, wenn nicht globalen Kontext statt, in einem Kontext des Kampfes um die Deutungshoheiten über die anderen Gewaltverbrechen und Kriege des 20. Jahrhunderts. Begriffe und Konzepte der Gedächtnisforschung, Aspekte justizieller Aufarbeitung - letztere maßgeblich als Folge der Jugoslawienkriege - , politische Machtkämpfe, soziokulturelle Erinnerungskonflikte (etwa in der Frage von Entschädigungen) und nicht zuletzt Partikularinteressen sind nur einige der Themen, die die Prozesshaftigkeit der Aushandlung von Erinnerung konditionieren. Das 2012 erschienene Buch Das umstrittene Gedächtnis von Arnd Bauerkämper könnte helfen, die Jugoslawienkriege und den gesellschaftlichen Umgang bzw. Nicht- Umgang mit ihnen in einen größeren Kontext zu stellen. Zwar konzentriert Bauerkämper sich auf die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, er erweitert den analytischen Rahmen aber bis zur Zwischenkriegszeit, vielfach sogar bis zum Ersten Weltkrieg - und er hätte die Balkankriege 1912/ 13 einschließen können - , um aufzuzeigen, dass sich zahlreiche Aushandlungsprozesse europäischer Nachkriegserinnerungsarbeit der 1950er und 1960er Jahre schlüssiger erklären lassen, wenn man sie in einer Perspektive längerer Dauer betrachtet. 38 Die Auseinandersetzung mit der Erinnerung an den Stalinismus lässt Bauerkämper allerdings beiseite. Spätestens seit Timothy Snyders 2010 erschienenem Buch Bloodlands drängt sich die Notwendigkeit auf, analytisch einzubeziehen, dass es gerade auch die Überlagerungen nationalsozialistischer und stalinistischer Gewaltkontexte sind, die die europäischen Erinnerungen konfliktträchtig machen. 39 Für die Jugoslawienkriege ist herausgearbeitet worden, wie wirkmächtig die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg war. Zuerst hat dies die im März 2013 viel zu früh verstorbene Natalija Ba š i ć getan; ihr 2004 erschienenes Buch Krieg als Abenteuer verweist unter anderem auf zwei wichtige Aspekte: zum einen auf die Art und Weise, wie Erinnerung an 38 Arnd Bauerkämper, Das umstrittene Gedächtnis. Die Erinnerung an Nationalsozialismus, Faschismus und Krieg in Europa seit 1945, Paderborn 2012, S. 22. 39 Timothy Snyder, Bloodlands. Europe between Hitler and Stalin, London, 2010. Vgl. die treffend kritischen konzeptuellen Anmerkungen von Michael Wildt, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 14/ 2013, S. 197 - 206. Versponnene Fäden. Kriegsnarrative im jugoslawischen Raum 157 <?page no="158"?> Feindschaften und Greuel aus dem Zweiten Weltkrieg gezielt zum Einsatz gebracht werden konnten, um Hass zu schüren; zum anderen darauf, wie die Dynamiken aus titoistischer Zeit den Kriegstreibern in fataler Weise in die Hände spielten. Die militaristisch durchtränkte Sozialisation, von der «Allgemeinen Volksverteidigung», die schon Teil des schulischen Lehrplans war, über die Errichtung von Territorialmilizen auf Republiksebene bis hin zur Überdosis an immer blutrünstigeren (und schließlich in Farbe produzierten) Partisanenkriegsfilmen, so die These, trug dazu bei, die Gewaltbarriere zu senken. Die Militarisierung der Gesellschaft richtete sich schließlich, anstatt gegen den imaginierten äußeren Feind, nach innen und hatte Anteil an der Implosion Jugoslawiens. 40 Stevan M. Weine zeigt Ähnliches auf: Wie Bosnier das multikulturelle Sarajevo erinnern. Wie sie das Miteinander erinnern. Wie der Großvater, der im Weltkrieg von Serben getötet wurde, mit dem ausbrechenden neuen Krieg anders erinnert wird: «Wir wussten immer, dass sie Mörder sind.» 41 Die zentralen Figuren der Erinnerung an die Kriege des 20. Jahrhunderts sind ineinander verwoben und Teil nicht zuletzt auch jedes nationalistisch gefärbten Diskurses: Sieger und Verlierer, Täter und Opfer sowie, nicht zuletzt, Märtyrer und Helden. 42 Um diese Verwobenheit analytisch zu fassen, sind die Kategorien Reinhart Kosellecks nützlich: die Erfahrungsräume, die die jeweiligen Erwartungshorizonte konditionieren, 43 sowie die «Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen». 44 Mit Blick auf die Kriege heißt dies: «Zahlreiche Primärerfahrungen des Zweiten Weltkrieges sind [. . .] in den verschiedenen Bewußtseinsräumen verdrängt oder stabilisiert worden oder in neue Sinnzusammenhänge eingerückt, 40 Natalija Ba š i ć , Krieg als Abenteuer. Feindbilder und Gewalt aus der Perspektive exjugoslawischer Soldaten, 1991 - 1995, Gießen 2004; dies., Jeder Tag war «Allgemeine Volksverteidigung» (ONO). Zur militaristischen Kultur und Gewalterziehung im sozialistischen Jugoslawien (SFRJ) 1945 - 1990, in: Jahrbücher für Geschichte und Kultur Südosteuropas 4/ 2002, S. 69 - 90. 41 Weine, When History Is a Nightmare (Anm. 33), S. 8 - 10 (Zitat S. 10, Hervorhebung im Original). 42 Bauerkämper, Das umstrittene Gedächtnis (Anm. 35), S. 370, beschränkt sich auf die etwas asymmetrische Trias Sieger, Opfer und Märtyrer. 43 Reinhart Koselleck, «Erfahrungsraum» und «Erwartungshorizont» - zwei historische Kategorien, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1989, S. 349 - 375. Für eine Kritik vgl. Peter Osborne, Expecting the Unexpected: Beyond the 'Horizon of Expectation', in: Maria Hlavajova, Simon Sheikh, Jill Winder (Hg.), On Horizons: a Critical Reader in Contemporary Art, Utrecht 2011, S. 112 - 128. 44 Reinhart Koselleck, Einleitung, in: Ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt am Main 2003, S. 9 - 18, hier S. 9. 158 Sabine Rutar <?page no="159"?> die mit der Primärerfahrung nicht mehr ohne weiteres vermittelt werden konnten.» 45 Wenn man die Strukturen und das soziale Bewusstsein im Krieg untersuche, so Koselleck, müsse man unterscheiden zwischen den allgemeinen menschlichen Aktivitäten - also jenen, die auch in Friedenszeiten verrichtet werden - und jenen Aktivitäten, die «nur kriegsbedingten Funktionen» geschuldet seien, und er nennt das Partisanentum als eine derart spezifische Form der Loyalität. 46 Degenerierte etwa die im Staatssozialismus erinnerungspolitisch so überbetonte, aber eben rein kriegsbedingte «Partisanenloyalität» zur innerjugoslawischen nationalistischen Kriegstreiberei, und schuf sie eine spezifische Form des Kombattanten? Mein kleines Archiv an Beobachtungen konditioniert mein Plädoyer für die Stärkung einer empirisch fundierten Sozial- und Kulturgeschichte. Vor allem: Die Geschichte Jugoslawiens möge wieder von ihrem Anfang her erzählt werden, anstatt immer und immer wieder von ihrem Ende. 47 Insbesondere das Nationale bedarf mit Blick auf den Balkan einer rigorosen Dekonstruktion, für die die theoretischen Mittel längst vorhanden sind. Rogers Brubakers Begriff des Nationalen beispielsweise, verstanden als prozesshaft, als Institution und praktische Kategorie und vor allem als kontingent, pfadabhängig und kontextgebunden, tritt insbesondere denjenigen entschieden entgegen, die zwischen einer konstruierten Nation und einer gegebenen Ethnizität unterscheiden und so durch die Hintertür dem primordialen Essentialismus weiter das Wort reden. 48 Nicht zuletzt waren auch die Staatssozialismen nicht loszulösen 45 Reinhart Koselleck, Erinnerungsschleusen und Erfahrungsschichten. Der Einfluß der beiden Weltkriege auf das soziale Bewußtsein, in: Ders, Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt/ M. 2000, S. 265 - 286, hier S. 275. 46 Ibid., S. 270 f. (Hervorhebungen im Original). 47 Sabine Rutar, Towards a Southeast European History of Labour. Examples from Yugoslavia, in: Dies. (Hg.), Beyond the Balkans (Anm. 30), S. 325 - 356. Vgl. die gelungene Zusammenstellung offener Forschungsfragen in Holm Sundhaussen, Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943 - 2011. Eine ungewöhnliche Geschichte des Gewöhnlichen, Wien u. a. 2012, S. 24 - 27. Viele der noch nicht zufriedenstellend bearbeiteten Themen berühren Debatten allgemeiner Natur wie jene um (fragile) Staatlichkeit und um Mechanismen von Gewalt. 48 Rogers Brubaker, Nationalism Reframed: Nationhood and the National Question in the New Europe, Cambridge 1999, S. 13 - 22. Charles King, Extreme Politics. Nationalism, Violence, and the End of Europe, Oxford 2010, S. 22 - 36, bietet einen guten Überblick über die Schwierigkeiten, mit der Nation verknüpfte Konzepte universell anzuwenden. Vgl. auch Sabine Rutar, Nationalism in Southeast Europe since 1970, in: John Breuilly (Hg.), Oxford Handbook of the History of Nationalism, Oxford 2013, S. 515 - 534; Ulf Brunnbauer/ Hannes Grandits (Hg.), The Ambiguous Nation. Case Studies from Southeastern Europe in the 20 th Century, München 2013; Xavier Bougarel, Elissa Helms, Ger von Duijzings (Hg.), The New Bosnian Mosaic. Versponnene Fäden. Kriegsnarrative im jugoslawischen Raum 159 <?page no="160"?> von der Nation. Es gab verschiedene, vom Nationalismus maßgeblich gefärbte Varianten des Kommunismus und folglich unterschiedliche Transitionen im «historical hiatus between the Cold War and the war on terror», dieser «dreamlike era from 11/ 9 to 9/ 11». 49 Das Jahrzehnt der Jugoslawienkriege als ein historischer Hiatus, eine historische Lücke? Oder doch eher ein Zuviel an Geschichte, zuviel Memory Boom, zuviel history as a nightmare? Identities, Memories and Moral Claims in a Post-War Society, Farnham 2007; Joel M. Halpern/ David A. Kideckel (eds.), Neighbors at War. Anthropological Perspectives on Yugoslav ethnicity, culture and history, Pennsylvania 2000. 49 King, Extreme Politics (Anm. 47), S. 5 und 4. Gemeint ist die Zeit zwischen dem Fall der Berliner Mauer (9. 11. 1989) und dem Anschlag auf das World Trade Center in New York City (11. 9. 2001). 160 Sabine Rutar <?page no="161"?> Svjetlan Lacko Viduli ć Jugoslawische Literatur. Kurzer Abriss zur langen Geschichte eines produktiven Phantoms «Von einer jugoslawischen Literatur kann man nicht sprechen [. . .].» (Berlin: Reise- und Verkehrsverlag 1991) «[J]ugoslawische Literatur, allgemein Bez. für [. . .].» (Mannheim: Bibliographisches Institut - Taschenbuchverlag 1987) «Eine ‹ jugoslawische Literatur › indes gibt es nicht. [. . .] Andererseits [. . .].» (Wiesbaden: Harrassowitz 1977) 1. Spurensuche Gibt es eine jugoslawische Literatur, hat es sie jemals gegeben? Wenn ja, wieso hatten wir damals nicht davon gehört? Wurde sie vor 1990 anders bezeichnet? Wird sie nach 1990 geleugnet und verschwiegen? Ist sie untergegangen zusammen mit Jugoslawien? Geht es um eines jener real existierenden Phantome wie die weiland serbokroatische Sprache? Als diese Fragen sich mir am Rande einer Untersuchung zur jugoslawischen Rezeptionsgeschichte eines deutschsprachigen Autors aufdrängten, gedachte ich sie zügig und nebenher zu klären. Das durfte nicht schwer sein - schließlich ging es um die jüngste Vergangenheit meines eigenen Landes. Wenn keine jugoslawische Literatur, so hat es doch sicherlich eine jugoslawische Literaturlandschaft gegeben? Wie funktionierte eigentlich der multikulturelle Literaturbetrieb? Was für eine Landschaft ist da nach 1990 zerbröselt? Die eigenen Erinnerungen liefern erschreckend wenig. Erinnerungen aus den Kindheits-, Schul- und ersten Uni-Jahren, die im Nachhinein als ‹ dekadente Phase › des jugoslawischen Sozialismus gelten. Ja, der Literaturunterricht mit kanonischen Autoren aus unterschiedlichen jugoslawischen Landesteilen, in beiden Schriftsystemen (die kyrillische Schrift als Verzögerungsfaktor, als Buhmann für die Lesefaulen). <?page no="162"?> Und ja, dieser und jener frühe Theaterbesuch, der ein Gastspiel aus Belgrad oder Sarajevo gewesen sein könnte. Und ja, in Belgrad oder Sarajevo verlegte, zu Hause in Zagreb gekaufte Bücher, darunter Prachtexemplare mit Vermerken zum profitablen Kauf in Inflationszeiten: «1. 9. 1989 - 80 000 din = 5,5 DM». Und ja, der eine oder andere Literaturabend, bei dem es zwischen den Zeilen irgendwie politisch knistert, bis nach einer verworren-provokativen Tirade aus dem Publikum der Abend abrupt für beendet erklärt wird. Erinnerungen, blass und fragmentarisch, ohne Einblick in das damals Selbstverständliche, in Kontexte und Zusammenhänge, an denen der Schüler und Student offenbar interessenlos vorbei lebte. Nur für Momente, bei intensiver Versenkung, scheint eine Ahnung vom Ganzen auf, scheint plötzlich alles bis zum Überdruss bekannt zu sein: die Stimmung, das Zeitgefühl, die Lebenswelt; um sofort wieder in unverständliche Ferne zurück zu fallen. Ignoranz von damals? Oder Gedächtnisschwäche von heute? Vielleicht ein Effekt jener ‹ Erinnerungsschleusen › (R. Koselleck), die den Rückblick nur als Gedankenreise in die Vorkriegszeit, in die vorkapitalistischen Zustände, in den ehemaligen Staat zulassen? Die Welt von Gestern in prähistorischem Zwielicht, Fossilien hinter Museumsglas, anfällig für optische Täuschungen, idiosynkratisch verzerrt? Die Binsenwahrheit von gestern, verdrängt durch die Binsenwahrheit von heute. Allerdings erscheint das Selbstverständliche von heute freiheitlich-demokratisch, also im Plural. Im ‹ jugo-nostalgischen › Lager weiß man: Die jugoslawische Literatur gehört selbstverständlich zu den Opfern der Zerfallsprozesse. Im ‹ jugo-allergischen › Lager steht hingegen fest: Die sogenannte jugoslawische Literatur gehört zum Arsenal der kommunistischen Propaganda-Lügen. Glücklicherweise gibt es zuverlässige Quellen. Im Speichergedächtnis der Bibliotheken lagert das Konsenswissen von damals - auch in Berlin, wo die Frage nach dem jugoslawischen Literaturbetrieb aufgetaucht war und mit einem Griff in die Regale und ins Netz zügig gelöst werden sollte. Schließlich ging es um Basiswissen, nicht exzeptioneller als das per Mausklick zugängliche Orientierungswissen über die mosambikanische Literatur oder das Theater in Japan. 1 Die Zuverlässigkeit des World Wide Web ist freilich schwankend, die Systematik notorisch lückenhaft; aber auch die internationalen Nachschlagewerke und Überblicksdarstellungen bieten keine zuverlässige Orientierung: man begegnet einer ‹ Yugoslav Literature › als Sammelbezeichnung für die Literatur der jugoslawischen 1 Mosambikanische Literatur, in: Wikipedia. Die freie Enzyklopädie, ‹ http: / / de. wikipedia.org/ wiki/ Mosambikanische_Literatur › ; N ō , ebd., ‹ http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ N%C5 %8D › (Zugriff: 1. 8. 2013). 162 Svjetlan Lacko Viduli ć <?page no="163"?> politischen Teileinheiten nach 1945; 2 einer ‹ jugoslawischen Literatur › als Sammelbezeichnung «für die Literatur der slaw. Völker Jugoslawiens», u. a. für eine «die montenegr. und bosn.-herzegow. Traditionen miteinschließende serb. Literatur in serbokroat. Sprache»; 3 und auch einer «serbokroatische[n] Literatur» als Dachbezeichnung für «die Literatur der Serben und Kroaten» 4 . Die Systematik der internationalen Slawistik ging offenbar eigene Wege bzw. hinkte der innerjugoslawischen Entwicklung nach, geriet in Widerspruch zum heimischen Kodex. Also griff ich zu den monumentalen Nachschlagewerken der jugoslawischen Enzyklopädistik in den Berliner Bibliotheksbeständen. Wenn irgendwo, dann müsste sich hier ein jugoslawisches Konsens-Narrativ niedergeschlagen haben, zumal in der Einleitung zur ersten Ausgabe der Enciklopedija Jugoslavije (1955) die Rede vom aktuellen Triumpf jahrhundertealter südslawischer Integrationsbemühungen ist, vom Zusammenschluss «auf den ersten Blick chaotischer Partikel» zu einem «einheitlichen historischen Ereignisstrom», von einer enzyklopädischen Darstellung, die zwar nicht «rhetorisch integral», aber auch nicht «konservativ partikularistisch» sein will. 5 In den ersten zwei Ausgaben der lexikographischen Großprojekte (1955 - 1971 und 1966 - 1969) 6 wird die Entwicklung südslawischer Literatur vom 9. Jh. bis zur Gegenwart allerdings nur in den Stichworten zu einzelnen Völkern («Kroaten», «Slowenen», «Serben», «Makedonier») und zwei Regionen («Montenegro» und «Bosnien und Herzegowina») dargestellt; auf Verbindungslinien wird nicht eingegangen, ein gemeinsamer Literaturbetrieb findet, wenn überhaupt, nur beiläufig Erwähnung in einem Nebensatz. In einer dritten enzyklopädischen Ausgabe (1977 - 1982) 7 tauchen zwei neue Völker und ihre nun ebenfalls bis ins Mittelalter zurück reichenden literarischen Traditionen auf: die Montenegriner («Crnogorci») und die Moslems als Ethnikum («Muslimani»). In 2 Thomas Eekmann, Thirty Years of Yugoslav Literature (1945 - 1975), Ann Arbor 1978. 3 Meyers Großes Taschenlexikon, 2., neu bearb. Aufl., Mannheim [u. a.] 1987, Bd. 11., S. 114. 4 Brockhaus Enzyklopädie, 17., völlig neu bearb. Aufl. des Großen Brockhaus, Wiesbaden 1973, Bd. 17, S. 324. 5 Enciklopedija Jugoslavije, Bd. 1, Zagreb 1955, Einleitung, unpaginiert. - Alle Übersetzungen aus dem Kroatischen und Serbischen in dieser Arbeit stammen vom Verf. 6 Enciklopedija Jugoslavije, Bd. 1 - 8, Zagreb 1955 - 1971; Enciklopedija leksikografskog zavoda, Bd. 1 - 6, Zagreb 1966 - 1969. 7 Op ć a enciklopedija Jugoslavenskog leksikografskog zavoda, Bd. 1 - 8, Zagreb 1977 - 1982 (Ergänzungsband 1988). Jugoslawische Literatur 163 <?page no="164"?> dieser Ausgabe taucht im Artikel «Jugoslawien» erstmals ein Abschnitt über «Literatur und literarische Tätigkeiten in Jugoslawien» auf. Hier werden immerhin Bemühungen um eine «enge literarische Zusammenarbeit der Völker und Volksgemeinschaften» erwähnt; der Abschnitt besteht allerdings zu vier Fünfteln aus einer getrennten Aufzählung literarischer Zeitschriften, Veranstaltungen und Preise in den einzelnen föderalen Einheiten. 8 Erst im letzten, unvollendet gebliebenen enzyklopädischen Projekt 9 wird im Artikel «Jugoslawien» ausführlich auf die Entwicklung der Künste im Kontext eines gesamtjugoslawischen Kulturbetriebs eingegangen, und zwar über die Epochenscheide von 1945 hinweg - unter Einbeziehung der Geschichte «unseres Landes» seit 1918. 10 Somit ist erst im Vorjahr des endgültigen Zusammenbruchs, im Rahmen einer den Höhepunkt nationaler Verkomplizierung widerspiegelnden enzyklopädischen Anlage, 11 im zuletzt erschienenen Band (Jap- Kat), erstmals eine abgerundete enzyklopädische Darstellung des gesamtjugoslawischen Kulturbetriebs zu finden. Soweit das lexikographische Konsenswissen. Warum so spät und so lückenhaft geformt, oder so lange zurück gehalten? Warum wurden die Nationalliteraturen so kontextarm überbelichtet, warum das Verbindende so auffällig unterbelichtet? Zum Glück lagern im Speichergedächtnis der Bibliotheken auch unmittelbare Zeugnisse des literarischen Lebens vergangener Jahrzehnte. - - - Und hier, im Untergeschoss einer philo- 8 Ebd., Bd. 4 (1978), S. 178 f. 9 Enciklopedija Jugoslavije, 2. Ausg., Bd. 1 - 6 [angelegt auf elf Bände], Zagreb 1980 - 1990. 10 Enciklopedija Jugoslavije, 2. Ausg., Bd. 6 (1990), Stichwort: Jugoslavija, Abschnitt IX: Kultura, S. 517 - 570, Zitat S. 534. 11 Enciklopedija Jugoslavije, 2. Ausg., Bd. 1 (1980), Einleitung, S. VIIf.: «Die zweite Ausgabe erscheint in sechs inhaltlich identischen und gleichberechtigten Ausgaben: einer in lateinischer und einer in kyrillischer Schrift auf Kroatisch oder Serbisch bzw. in kroatischer Literatursprache (für Beiträge aus SR Kroatien), auf Serbokroatisch (für Beiträge aus SR Serbien), auf Serbokroatisch bzw. Kroatoserbisch ijekavischer Aussprache (für Beiträge aus SR Bosnien und Herzegowina) und auf Serbokroatisch ijekavischer Aussprache (für Beiträge aus Montenegro); sowie auf Mazedonisch, Slowenisch, Albanisch und Ungarisch, in jeweils zehn Bänden [. . .]. [. . .] Eine solche Enzyklopädie Jugoslawiens wird einem noch vielseitigeren Kennenlernen und Näherkommen aller unserer Völker und Volksgemeinschaften dienen.» - Zur gleichen Zeit war in Ljubljana längst eine slowenische Enzyklopädie in Arbeit: «Eine nationale Enzyklopädie muss einerseits alle Themen wie eine allgemeine Enzyklopädie umfassen, andererseits alles bei Seite lassen, was nicht mit den Slowenen zu tun hat.» («Enciklopedija Slovenije - Projekt», April 1975, realisiert 1987 - 2002, zit. nach Nives Toma š evi ć , Miha Kova č , Knjiga, tranzicija, iluzija, Zagreb 2009, S. 95 f. 164 Svjetlan Lacko Viduli ć <?page no="165"?> logischen Bibliothek zu Berlin, trat mir die jugoslawische Literatur mit der Kraft olfaktorischer Evidenz entgegen. Bevor das Auge die slawistischen Regale überhaupt identifizieren konnte - in denen die jugoslawischen Bestände, anders als in vielen ex-jugoslawischen Bibliotheken, physisch vereint sind - erkannte ich sie am Geruch. War dies etwa der materiellen Verwandtschaft der in Jugoslawien verlegten Bücher zu verdanken, so wie man Bücher aus der UdSSR angeblich am charakteristischen Leimgeruch erkennen konnte? Das olfaktorische Erlebnis machte mir schlagartig bewusst, dass der Nachweis einer jugoslawischen Literatur weniger im Bereich der konjunkturabhängigen Einheitsrhetorik, sondern vor allem aufgrund empirisch nachweisbarer Bindemittel, also im Bereich literatursoziologischer Fakten und Zusammenhänge zu erbringen ist. Dabei dürfte das Auftreiben einschlägiger wissenschaftlicher Studien zum Literaturbetrieb nicht schwer sein - schließlich war die Forschung in Jugoslawien keineswegs unterentwickelt und vergleichsweise undogmatisch. Der Gang durch die Regale spielte mir allerdings eine einzige entsprechende Studie in die Hände. Unter dem Titel Zeitgenössische jugoslawische Literatur (1945 - 1965). Abhandlung über das literarische Leben und die literarischen Maßstäbe bei uns 12 behauptet der Belgrader Literaturkritiker Sveta Luki ć im Jahr 1968 die Existenz eines gesamtjugoslawischen Literaturbetriebs und untersucht seine Elemente - literarische Zentren, Zirkel, Generationen, Trends, Institutionen - in strikt literatursoziologischer Perspektive. Und ausgerechnet diese Monographie soll das «kontroverseste Buch des Jahrzehnts» geworden sein? Besprochen in mehr als 50 Rezensionen im Inland und mehr als zehn im Ausland, unter Titeln wie: «Literarischer und historischer Daltonismus», oder: «Was will eigentlich Sveta Luki ć ? » 13 Diese Abhandlung war die erste systematische Darstellung des jugoslawischen Literaturbetriebs - und ist m. W. die einzige geblieben. 12 Sveta Luki ć , Savremena jugoslovenska literatura (1945 - 1965). Rasprava o knji ž evnom ž ivotu i knji ž evnim merilima kod nas, Beograd 1968. 13 Angaben des Autors im Rückblick von 1972, zit. nach Sveta Luki ć , U matici knji ž evnog ž ivota 1953 - 1983. Tekstovi o anga ž ovanju, Ni š 1983, S. 138. Besonders kontrovers (neben der integralistischen Perspektive als solcher) war die Darstellung der Belgrader Literaturszene als jugoslawischer Dominante und die Unterbelichtung der anderen Hauptstadt-Szenen, die somit als Peripherie erschienen: Eine sachliche Schwäche der Monographie, die als zentralistisch-unitaristische Entgleisung aufgenommen wurde. Siehe auch Milivoje Markovi ć , Poziv na dijalog, in: M. M., Mitologija i stvarnost. Jugoslovenstvo, knji ž evnost, kritika, Nik š i ć 1986, S. 213 - 216. Jugoslawische Literatur 165 <?page no="166"?> Gibt es eine jugoslawische Literatur? Die zügige Klärung einer scheinbar einfachen ‹ Ex › -Frage scheiterte einmal mehr an den komplizierten Verhältnissen und den nachträglichen Effekten der ‹ Erinnerungsschleusen › . Es musste ein Schritt weiter hinein in die unbekannte Welt von Gestern unternommen werden. Am aufschlussreichsten waren Gespräche mit erfahreneren Zeitgenossen und kursorische Einblicke in die kulturpolitischen Debatten der Zeit. 14 Dabei stellte sich, beständiger nun, die Ahnung vom Ganzen ein: die Stimmung, das Zeitgefühl, die Lebenswelt von Gestern, bis zum Überdruss bekannt. In dem idiosynkratischen Komplex, aus dem sich mein Interesse an der ‹ Ex › -Frage und mein Wille zur Bildung eines kohärenten Narrativs zunächst speiste, erkannte ich eine prinzipielle, familiär tradierte jugoskeptische Haltung. 15 Die Verachtung für ein System, in dem omnipotente Partei-Bonzen unter dem Banner einer leergedroschennen antifaschistischen Befreiungsideologie und im Rahmen absurdester Reform-Experimente die Grenzen unserer Freiheit willkürlich setzten: dies ist eine subjektive Haltung, die zwar ein objektives Korrelat in der fehlenden politischen Legitimität des jugoslawischen Systems hat, 16 die aber nicht unbedingt der Objektivität eines analytischen Rückblicks zugute kommt. Den Einfluss dieser Haltung galt es bei der Betrachtung vergangener Verhältnisse bewusst abzuwehren. Zugleich galt es, sich in einem kontroversen Forschungsfeld zu orientieren, in dem divergente Grundeinstellungen zu divergenten historiographischen Narrativen führen, deren Validität nicht nach dem Prinzip des ‹ äquidistanten Mittelwegs › , sondern nach wissenschaftsimmanenten Kriterien zu bestimmten ist. 17 14 Für Gespräche danke ich, neben den TeilnehmerInnen der äußerst produktiven Konferenz in Dubrovnik, meinen Kollegen von der Universität Zagreb: dem Südslawisten Zvonko Kova č , dem Kroatisten Kre š imir Nemec und dem Komparatisten Pavao Pavli č i ć . 15 Erlebnismäßig verdichtet erscheint diese Haltung - die in Anwesenheit von uns Kindern aus ‹ Sicherheitsgründen › explizit kaum zur Sprache gelangte - in der notorischen Reaktion meines Vaters auf Blüten des dogmatischen Jargons in den Medien, von Parteitag-Reden bis zu sozialistischen Alltagsphrasen. Aus dem Nebenzimmer drang dann nur das monologisch-lakonische: «Red keinen Scheiß.». 16 Eine Darstellung der gesamten jugoslawischen Geschichte seit 1918 aus der Perspektive der politologischen Legitimitätstheorie liefert Ramet: Die drei Jugoslawien. Eine Geschichte der Staatsbildungen und ihrer Probleme, München 2011. 17 Der folgende Überblick mag den kroatischen Forschungskontext verraten; zum serbischen vgl. etwa Stani š a Tutnjevi ć , Koncept narodnog i knji ž evnog jedinstva u ju ž noslovenskim knji ž evnostima - ideologija knji ž evnog jugoslovenstva, in: S. T., Razme đ a knji ž evnih tokova na Slovenskom Jugu, Beograd 2011, S. 120 - 169. 166 Svjetlan Lacko Viduli ć <?page no="167"?> 2. Literaturgeschichtsschreibung: nationale und supranationale Phantome Bei der (Re)Konstruktion der literarischen Entwicklung in dem Raum, der aufgrund der Siedlungsverhältnisse seit dem 7. Jh. als ‹ südslawisch › bezeichnet wird, scheint es gute Gründe für übergreifende, darunter auch südslawische Perspektiven, ebenso wie gute Gründe für getrennte, darunter auch nationalliterarische Perspektiven zu geben. Aus dem Zusammenspiel übergreifender und partieller Aspekte «ergibt sich im Bereich der Literaturgeschichtsschreibung eine Dynamik aus Abgrenzungen und Grenzüberschreitungen, eine Geschichte der Differenzen und Interferenzen», 18 wobei die vorausgesetzten literarischen Komplexe - eben die ‹ differierenden › und ‹ interferierenden › Regional- und Nationalliteraturen - im Rückblick als quasi schon immer dagewesen impliziert werden, obwohl sie ‹ nicht mehr › als ein Effekt der - immer auch anders denkbaren - literaturgeschichtlichen (Re)Konstruktionen seit der wissenschaftlichen Begründung der Disziplin um die Mitte des 19. Jahrhunderts sind. Dass die Existenzbehauptung oder Infragestellung der Nationalliteraturen somit keine Frage der literaturgeschichtlichen ‹ Wahrheit › , sondern eine Frage der Plausibilität, Transparenz und Durchsetzungskraft historiographischer (Re)Konstruktion ist, gehört wohl zu den Grundannahmen ‹ postmoderner › Literaturgeschichtsschreibung. 19 Der Mainstream des Faches im postjugoslawischen Raum steht postmodernen, konstruktivistischen Perspektiven allerdings denkbar fern: Im regionalen Kontext weckt die theoretische Relativierung nationaler Grenzen alte identitätspolitische Ängste und Gelüste, Abwehr- und Übergriffsaffekte, dessen wissenschaftsgeschichtliche Quellen weiter unten verständlich werden sollten. Die Geschichte einer ‹ jugoslawischen Literatur › reicht ideengeschichtlich wohl bis ins frühe 19. Jahrhundert zurück und scheint eng mit der Entwicklung südslawischer Integrationsbewegungen verbunden gewesen zu sein. Ein maßgeblicher Schub in dieser Entwicklung waren die nationalromantischen Bewegungen, als «die panslawische Idee erstmals programmatisch auf den südslawischen Raum übertragen wurde». 20 Das frühe ‹ nation building › galt der Emanzipation von den Hegemonial- 18 Alida Bremer, Literaturen und nationale Ideologien, in: Dunja Mel č i ć (Hrsg.): Der Jugoslawien-Krieg. Handbuch zu Vorgeschichte, Verlauf und Konsequenzen, 2., aktualis. u. erw. Aufl., Wiesbaden 2007, S. 268 - 285, hier S. 269. 19 Vgl. Brian McHale, Constructing Postmodernism, London, New York 1992, bes. S. 2 und 7. 20 Bremer, Literaturen und nationale Ideologien (Anm. 19), S. 273. Jugoslawische Literatur 167 <?page no="168"?> mächten mit den Mitteln volkssprachlicher ‹ Wi(e)dergeburt › , wobei die geopolitische Reichweite vor allem der ‹ illyrischen › Identitätsbildung in Kroatien, wie auch der Einigungsrahmen für die dialektal und regional zersplitterten Volkssprache und Literatur zunächst offenbar schwankend waren. Nachdem sich die Einbindung der Slowenen in die sprachlichkulturellen Einigungsprojekte als unrealistisch erwies (und das makedonische, montenegrinische und bosnisch-muslimische ‹ nation building › noch ausstand), bildete die Verbindung der Serben und Kroaten den Kern integralistischer Konzepte bis ins 20. Jh. Mit der Sprachintegration (bes. ab den 1830er Jahren) des seitdem u. a. als ‹ serbokroatisch › bezeichneten Raumes und der Konkretisierung politischer Vereinigungsprogramme (bes. seit der vollen Unabhängigkeit Serbiens 1878) scheint das Konzept einer gemeinsamen serbisch-kroatischen Literatur zunehmend an philologischer Plausibilität (im Sinne der sprachzentrierten Vorstellungen von Nationalliteratur) und (identitäts)politischer Pragmatik gewonnen zu haben, obwohl sprach- und kulturpolitische Aspekte der serbischen Suprematie offenbar schon früh für Irritationen sorgten. 21 Im Kontext der Emanzipationsideologie scheint der Jugoslawismus nicht (nur) als Antipode des monoethnischen Nationalismus gegolten zu haben, sonders (auch) als seine komplementäre, zukunftsträchtige Form im realpolitisch immer aussichtsreicheren südslawischen Verbund. In diesem integralistischen Kontext wird auch das scheinbare Paradox ‹ serbokroatischer › Perspektiven in der Literaturgeschichtsschreibung verständlich: Die selbstbewusste Einheitsrhetorik war das Programm; die weitgehend getrennte Darstellung der regionalen, zumeist serbisch bzw. kroatisch identifizierten Korpora mit ihren je eigenen, tatsächlich kaum integrierbaren Traditionen war die literarhistorische und wissenschaftsgeschichtliche Realität. So betont etwa Jovan Skerli ć , der als Begründer der modernen serbischen Literaturgeschichtsschreibung gilt, dass die kroatische und die serbische Literatur «zwei Literaturen» «eines Volkes und einer Sprache» darstellen - «ein Paradox, ein Anachronis- 21 Die Vereinigungsperspektive stand im Zusammenhang mit diversen Spielarten der nationalen Ideologie und breit gefächerten parteipolitischen Programmen im südslawischen Raum (ausführlich: Ivo Banac, Nacionalno pitanje u Jugoslaviji. Porijeklo, povijest, politika, Zagreb 1995, S. 54 ff.; engl. Originaltitel: The National Question in Yugoslavia. Origins, History, Politics, Ithaca/ N. Y. 1984). Entsprechend entscheidungsoffen war die Literaturgeschichtsschreibung, besonders in Kroatien: Die zwischen 1840 und 1898 veröffentlichten einschlägigen Werke nahmen mal eine engere regionale bzw. nationale, mal eine weitere südslawische Perspektive ein. Vgl. Hrvatska knji ž evna enciklopedija, Bd. 3, Stichwort: Povijest knji ž evnosti, Zagreb 2011, S. 431. 168 Svjetlan Lacko Viduli ć <?page no="169"?> mus», den es mit der noch ausstehenden Literaturgeschichtsschreibung einer «serbokroatischen Literatur» wohl zu überwinden gelte. 22 Daran knüpft im gleichen Jahr (1914) der Zagreber Literaturkritiker Dragutin Prohaska an: «Jovan Skerli ć folgend habe ich die serbische Literatur in ideeller Einheit mit der kroatischen darzustellen versucht.» 23 Nach der Gründung des ‹ ersten Jugoslawien › (Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen ab 1918, Königreich Jugoslawien ab 1929) scheint eine notorisch unitaristische und hegemoniale Politik einen neuen Kontext für Theorie und Praxis einer ‹ jugoslawischen Literatur › gebildet zu haben. 24 Im literarischen Leben wurden die Möglichkeiten literarischer Zusammenarbeit bereits im Vorfeld und während des Krieges, und unter neuen staatspolitischen Umständen besonders in den 1920er Jahren intensiv genutzt, 25 doch der Integrationselan wich bald einer Ernüchterung. Aus dem utopisch angehauchten Projekt einer literarischen und literaturgeschichtlichen Integration wurde, besonders während der Königsdiktatur nach 1929, ein politisch aufgezwungenes nationalliterarisches Einheitsnarrativ, das folglich nicht nur den Literaturbetrieb des neuen Staates meinte, sondern die gesamte literarische Tradition des ‹ dreinamigen und dreistämmigen jugoslawischen Volkes › vom Mittelalter bis zur Gegenwart in teleologischer Ausrichtung auf den gemeinsamen Staat zusammen schweißen sollte. In einem einschlägigen Beispiel für dieses Narrativ 26 erscheinen als entscheidende historische Zäsuren der 22 Jovan Skerli ć , Istorija nove srpske knji ž evnosti [Geschichte der neueren serbischen Literatur], Beograd 2006 [1912 1 ], Vorwort [1914], S. 15. Ähnlich auch sein kroatischer Kollege Đ uro Š urmin, Povjest [sic] knji ž evnosti hrvatske i srpske, Zagreb 1898, unpag. Vorwort. 23 Dragutin Prohaska, Pregled hrvatske i srpske knji ž evnosti I. (do realizma 1880.) [Abriss der kroatischen und serbischen Literatur], Zagreb 1919, Vorwort. Eine wirkliche Zusammenführung unternimmt Prohaska allerdings erst am chronologischen Ende seines Werks: Pregled savremene hrvatsko-srpske knji ž evnosti [Abriss der kroato-serbischen Gegenwartsliteratur], Zagreb 1921, im Kapitel «Verjüngte/ erneuerte [pomla đ ena] jugoslawische Literatur» (1905 - 1918): «Es beginnt eine Epoche, in der eine besondere kroatische und serbische Literatur abstirbt und einer Synthese der beiden den Platz räumt.» (S. 340). 24 Zu diesem Kontext ausführlich in Banac, Nacionalno pitanje (Anm. 22), S. 113 ff.; konzis in dem Abschnitt «Unitarismus und Zentralismus» in Marie-Janine Calic, Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 85 - 90. 25 Zu den Höhepunkten der Integrationsbemühungen ‹ von unten › zählt der demonstrative kroatisch-serbische Sprachangleich bei fortschrittlich geltenden Schriftstellern in den 1920er Jahren (bis 1928/ 29). 26 Đ or đ e An đ eli ć , Istorija jugoslavenske knji ž evnosti, 3. Aufl., Beograd o. J. [zugelassen für den Schulgebrauch 1933]. Jugoslawische Literatur 169 <?page no="170"?> serbische Aufstand von 1804 («Auftakt der Befreiung des gesamten jugoslawischen Volkes»), die Bewegung der nationalen Wiedergeburt und die Sprachreform von Vuk Karad ž i ć , denn im Nachfeld entstehen «[s]tatt der früheren schwach verbundenen Literatur der Provinzen [. . .] nur zwei Literaturen: die serbokroatische und die slowenische, - und zwei einheitliche Literatursprachen [jedinstvena knji ž evna nare č ja]: die serbokroatische und die slowenische.» 27 Unter den Umständen hegemonistischer Kulturpolitik distanzierten sich die kulturellen Eliten in Slowenien geschlossen von der Idee jugoslawischer Kulturintegration. Zugleich wurde in den serbisch-kroatischen Beziehungen aus dem tendenziell komplementären Verhältnis integralistischer und exklusiver Spielarten südslawischer Emanzipation das antagonistische Verhältnis zweier Positionen, die «für die literaturhistorische Polemikkultur bis heute dominant» geblieben sind: die Tendenz zum «Integrationismus der serbischen Sprach- und Literaturwissenschaftler» auf der einen, die Tendenz zum « ‹ Separatismus › der kroatischen» auf der anderen Seite. 28 Im Einklang mit der marxistischen Doktrin und in radikaler Abkehr von der Nationalitätenpolitik der Monarchie setzte sich die Kommunistische Partei Jugoslawiens bereits ab 1924 programmatisch für das Selbstbestimmungsrecht aller jugoslawischer Völker ein, einschließlich der bosnischen Muslime, Montenegriner und Makedonier. 29 Auf diesem Kurs beharrte die Partei auch während des Zweiten Weltkriegs und nach der Gründung der jugoslawischen Volksrepublik unter ihrer Führung. «Die kommunistische Ideologie im sozialistischen Jugoslawien war um eine genaue Abgrenzung der politisch definierten ‹ Völker › und ‹ Völkerschaften › bemüht und übertrug diese Prinzipien auf die nationale Zugehörigkeit der Literaturen. Insofern hat die marxistische Literaturwissenschaft stark zu nationalliterarischen Abgrenzungen beigetragen.» 30 Diese Abgrenzungen, wie auch der Umgang mit nationalen Differenzen insgesamt, entsprachen allerdings der Strategie einer politisch kontrollierten Affirmation: Die dosierte Hegung nationaler Eigenständigkeit im Rahmen des sozialistisch und internationalistisch ausgerichteten jugoslawischen Wertesystems sollte die Gefahr des Nationalismus kanalisie- 27 Alle Zitate ebd., S. 160; hervorgehoben i. O. 28 Bremer, Literaturen und nationale Ideologien (Anm. 19), S. 273. Zum Wandel kulturpolitischer Positionen in den einzelnen Teilen des Ersten Jugoslawien im Hinblick auf die jugoslawische Integration vgl. die kompakte Darstellung in Enciklopedija Jugoslavije, Bd. 6 (Anm. 11), S. 519 - 524. 29 Vgl. Calic, Geschichte Jugoslawiens (Anm. 25), S. 95. 30 Bremer, Literaturen und nationale Ideologien (Anm. 19), S. 271. 170 Svjetlan Lacko Viduli ć <?page no="171"?> ren. 31 In dem politisch empfindlichen und zunehmend umkämpften Verhältnis von nationaler Affirmation und jugoslawischer Einheit, von ‹ nationaler Frage › und ‹ unitaristischer Drohung › , spielte gerade die Literatur eine besondere Rolle. Die starke Verankerung in vorjugoslawischen Traditionen, die Literatursprachen als traditionelles Medium nationaler Identitätspolitik, die Spielarten der Subversion durch nationale Themen und Engagements - all dies versah die Literatur mit einer «Aura des Dissidententums» 32 und ließ gerade die Literatur, in systemkonformer Perspektive, als größtes Hindernis für die jugoslawische kulturelle Integration erscheinen. 33 Im Bereich der nationalliterarischen Systematik wich das unitarische Schema der Vorkriegszeit dem föderalistischen Prinzip: Die Rede ist nun zunehmend von den ‹ jugoslawischen Literaturen › oder den ‹ Literaturen der Völker und Volksgemeinschaften Jugoslawiens › (bei regionalen Unterschieden im Hinblick auf die Penetranz des föderalen bzw. Resistenz des integralistischen Jargons, woraus sich Differenzen beim Rückblick auf jugoslawische Verhältnisse ergeben, etwa aus ‹ serbischem › vs. ‹ kroatischem › Erinnerungskontext). 34 Der Paradigmenwechsel und seine stufenweise Ausdehnung auch auf die älteren (vornationalen) Epochen der Literaturgeschichte und auf die ‹ jüngeren › jugoslawischen Nationen (Makedonier, Montenegriner, Moslems) ist an den oben erwähnten enzyklopädischen Großprojekten abzulesen. Das Singular-Syntagma kursierte allerdings auch weiterhin im Sinne einer pragmatischen Sammel- 31 Beim Rückblick auf ‹ den Nationalismus › in Jugoslawien sind nicht nur regionale Besonderheiten, sondern vor allem auch die zeitgenössischen Diskurse zu berücksichtigen. Zur Unterscheidung zwischen dem ‹ alten › , ‹ bürgerlichen › (ethnischen, revisionistischen) Nationalismus auf der einen Seite und den Deviationen der föderalistischen Doktrin ( ‹ bürokratischer Nationalismus ’ , ‹ Partikularismus › , ‹ Egoismus › der Bundesglieder bzw. deren Eliten) auf der anderen Seite s. Stipe Š uvar, Nacionalno i nacionalisti č ko (eseji i polemi č ki prilozi), Split 1974 (bes. S. 154, 197, 232). 32 Bremer, Literaturen und nationale Ideologien (Anm. 19), S. 282. 33 Zu dieser Kritik vgl. exemplarisch: Dragomir Gajevi ć , Jugoslovenstvo izme đ u stvarnosti i iluzija. Ideja jugoslovenstva u knji ž evnosti po č etkom XX vijeka, Beograd 1985, S. 33. 34 Zu der unterschiedlichen Realisierungsdynamik der mononationalliterarischen Projekte vgl. Jovan Dereti ć , Istorija srpske knji ž evnosti, Beograd 1983, Vorwort, S. 11 f.; Zvonko Kova č , Kritika kritikoslovlja i druge kritike, Zagreb 1987, bes. S. 30 - 34, 43 - 50. Zum auslandsslawistischen Rückblick auf die Entwicklung: Reinhard Lauer, Zur Übersetzungsrezeption serbischer, kroatischer und bosnischer Autoren im deutschen Sprachraum, in: R. L.: Serbokroatische Autoren in deutscher Übersetzung. Bibliographische Materialien (1776 - 1993). Teil 1: Chronologischer Katalog, Wiesbaden 1995, S. IX-LXVIII, bes. IX-XVI. Jugoslawische Literatur 171 <?page no="172"?> bezeichnung, vor allem jedoch als ‹ Exportformel › in der auswärtigen Kulturpolitik und der internationalen Rezeption. Aufschlussreich ist die Publikationsgeschichte des ursprünglich gezielt fürs Ausland verfassten Kompendiums Jugoslavenska knji ž evnost (Jugoslawische Literatur) des angesehenen Literaturhistorikers Antun Barac von 1954. War der Titel der USamerikanischen Ausgabe von 1973 noch originaltreu im Singular, 35 so trug die deutsche Ausgabe von 1977 im Titel und im Vorwort dem aktuellen innerjugoslawischen Diskurs von «selbständigen Nationalliteraturen» und der «Zusammengehörigkeit in sich selbständiger Einheiten» Rechnung, dem auch Antun Barac selbst, allerdings noch unter dem Singular- Titel und ohne den Begriff der Nationalliteraturen, weitgehend folgte. 36 Beim Rückblick auf die kontroverse Entwicklung der nationalliterarischen Frage ergaben sich in den 1980er Jahren drei Positionen und entsprechende Forschungsrichtungen, die nur im historischen Kontext und in polemischer Interferenz angemessen zu beurteilen sind. 37 (1) Die Vorstellung von unabhängigen literarischen Traditionen profitierte von dem Ausbau des Föderalismus und führte zur programmatischen und praktischen Ausdifferenzierung der mononationalen Literaturgeschichtsschreibung und der Abschließung entsprechender Projekte. Diese Forschungstendenz musste sich allerdings gegen die antinationalistische Agenda der Machthaber und gegen das gefühlte kulturhistorische Banausentum des Unitarismus behaupten. 38 (2) Die Vorstellung von einer einheitlichen jugoslawischen Literatur richtete sich gegen die zentrifugalen Tendenzen der mononationalen Sichtweise. Der integralis- 35 Antun Barac, A History of Yugoslav Literature, Ann Arbor 1973. 36 Antun Barac, Geschichte der jugoslavischen Literaturen von den Anfängen bis zur Gegenwart. Aus dem Serbokroat. übertr., bearb. u. hrsg. von Rolf-Dieter Kluge, Wiesbaden 1977. Zitate: S. 1 und XIII. Im Vorwort der deutschsprachigen Ausgabe (S. XIIf.) wird betont, dass «[d]er serbokroatische Titel ‹ Jugoslavenska knji ž evnost › [. . .] eigentlich irreführend [ist] [. . .], weil er die falsche Vorstellung von einer einheitlichen ‹ jugoslawischen Literatur › hervorrufen könnte. Eine ‹ jugoslawische Literatur › indes gibt es nicht.» Andererseits wird auf die enge Verwandtschaft der Völker und die engen Wechselbeziehungen der Nationalliteraturen hingewiesen. 37 Siehe die aufschlussreiche Darstellung von Jo ž e Poga č nik, Mogu ć nosti i granice komparativne jugoslavistike, in: J. P., Knji ž evni susreti s drugima. Jugoslavisti č ke teme, Rijeka 1986, S. 9 - 23, hier bes. S. 15 f. 38 Vgl. den emphatischen Rücklick auf die Diskontinuitäten und Behinderungen dieser Entwicklung, besonders charakteristisch für die empfindlichen Verhältnisse in Kroatien: Slobodan P. Novak, Slavko Je ž i ć ili povijest jedne odsutnosti, in: Slavko Je ž i ć , Hrvatska knji ž evnost. Od po č etaka do danas. 1100 - 1941, Zagreb 1993 [ 1 1944], S. 413 - 419. 172 Svjetlan Lacko Viduli ć <?page no="173"?> tische Ansatz und der ‹ jugoslawische Maßstab › galten als Sprungbrett für internationale Perspektiven sowie als Bollwerk gegen den ‹ Provinzialismus › und das Konfliktpotenzial der ‹ nationalen Egoismen › . Manche Verfechter des «literarischen Jugoslawentums» sahen in diesem gar - aufgrund der besonderen Rolle der Literatur in der Aushandlung der ‹ nationalen Frage › - den zentralen Prüfstein der jugoslawischen Idee, dieser «vitalste[n] Idee der Revolution». 39 (3) Die Vorstellung von einer ‹ differenzierten Einheit › der jugoslawischen Literaturen, fachwissenschaftlich profiliert als ‹ komparative Jugoslawistik › , konnte als Vermittlung zwischen ‹ Nationalismus › und ‹ Integralismus › gelten: «Mit der Annahme des komparatistischen Konzepts als Forschungsmodells für die jugoslawischen Literaturen wird mit Entschiedenheit, auf unbestimmte Zeit, der nationale Charakter der jugoslawischen Literaturen angenommen; und wird, auf unbestimmte Zeit, die Möglichkeit zur Entstehung einer einheitlichen jugoslawischen Literatur als Ausdruck einer übergeordneten oder neuen nationalen Einheit entschieden zurückgewiesen. Zugleich wird jedoch auf der sprachlichen und schicksalsmäßigen Verwandtschaft und Nähe der jugoslawischen Literaturen insistiert.» 40 Der komparatistische Zugang ging von nationalliterarischen Traditionen aus, erhob jedoch den Anspruch, die theoretischen und praktischen Aporien der mononationalen Zugänge (die Kontroversen um die Aufteilung der Korpora u. a.) zu überwinden, dank einer ‹ vorurteilslosen › und methodisch profilierten Erforschung von Einheit und Differenz. Allerdings konnte auch dieser Ansatz nicht das Minenfeld der jugoslawischen Kulturpolitik transzendieren. Eine Geschichte der jugoslawischen Literaturen, die das nationalliterarische Paradigma in additiver oder komparatistischer Spielart in die Praxis der Literaturgeschichts- 39 Zitat aus einer engagiert integralistischen Abhandlung über den literarischen Jugoslawismus und seine Feinde, nebst einem Abris der Entwicklung nach 1945: Milivoje Markovi ć , Ideje jugoslovenstva i knji ž evnost, in: M. M., Mitologija i stvarnost. Jugoslovenstvo, knji ž evnost, kritika, Nik š i ć 1986, S. 7 - 64, S. 7. 40 Franjo Gr č evi ć , Projektträger und Eröffnungsredner des ersten komparatistischen Symposions, abgedruckt in Bd. 1, S. 10 (Hervorh. i. O.) der folgenden Serie von Konferenzergebnissen (im Rahmen eines gleichnamigen Projekts): Komparativno prou č avanje jugoslavenskih knji ž evnosti. Bd. 1 (1983), Bd. 2 (1987), Bd. 3 (1988), Bd. 4 (1991), Hrsg. F. Gr č evi ć (1 - 4) u. E. Fi š er (1 - 3), Zagreb (Bd. 1 - 4) und Vara ž din (Bd. 1). Siehe auch: Zvonko Kova č , Zur komparativen Erforschung jugoslawischer Literaturen, in: Reinhard Lauer (Hrsg.): Sprachen und Literaturen Jugoslaviens. Beiträge vom ersten Deutsch-jugoslavischen Seminar in Göttingen, 9. - 14. November 1981, Wiesbaden 1985, S. 85 - 92. Jugoslawische Literatur 173 <?page no="174"?> schreibung überführt hätte, ist trotz mehrmaliger Anläufe niemals verfasst worden. 41 3. Das literarische Feld: verschachtelte Strukturen Die Literaturgeschichtsschreibung der jugoslawischen Zeit - zunehmend nationalliterarisch ausgerichtet und methodologisch konservativ - bietet keinerlei explizite Einblicke in den jugoslawischen Literaturbetrieb. 42 Erwähnung finden allenfalls einige wenige herausragende Daten der gesamtjugoslawischen kulturpolitischen Ereignisgeschichte oder vereinzelte Bezüge über die Grenzen der jeweiligen Republik hinweg. 43 Im Dunklen bleiben indes die Koordinaten des überregionalen wie auch des regionalen Literaturbetriebs. Dabei dürften mehrere Berührungsängste im Spiel gewesen sein. Zum einen jene gegenüber literatursoziologischen Fragestellungen, die in den politisch heiklen Kompetenzbereich der Kulturpolitik, methodologisch wohl auch in die Nähe der marxistischen Literaturwissenschaft führen mussten. 44 Zum anderen das Unbehagen gegenüber gesamtjugoslawischen Perspektiven, die dem herrschenden Konsens der ‹ Nichteinmischung › in die Belange ‹ der Anderen › , zugleich 41 Zu den wichtigsten Anläufen zählt eine Konferenz in Sarajevo 1964, die eine gesamtjugoslawische Literaturgeschichte vorbereiten sollte, jedoch an dem Differenzdiskurs «scheiterte» (so aus integralistischer Perspektive Markovi ć , Ideje jugoslovenstva i knji ž evnosti (Anm. 40), S. 23 - 25). Vgl. auch: Povijest svjetske knji ž evnosti, Hrsg. F. Č ale, A. Flaker, I. Frange š , S. Goldstein u. a., Bd. 1 - 7, Zagreb 1974 - 1982. Der geplante Bd. 8 (Literaturen der Völker Jugoslawiens) ist niemals erschienen. Die Literaturgeschichten von M. Rizvi ć und I. Frange š (s. Anm. 43) sind aus Vorarbeiten für dieses Projekt entstanden. 42 Die jeweils ersten diachronisch kompletten nationalliterarischen Kompendien im sozialistischen Jugoslawien waren: Stanko Jane ž , Pregled zgodovine jugoslovanskih knji ž evnosti. Prva knjiga. Slovenska knji ž evnost, Maribor 1953; Bla ž e Koneski (Hrsg.), Makedonska knji ž evnost, Beograd 1968; Jovan Dereti ć , Istorija srpske knji ž evnosti, Beograd 1983; Ivo Frange š , Povijest hrvatske knji ž evnosti, Zagreb, Ljubljana 1987. 43 Eine Ausnahme aus dem multikulturellen Bosnien-Herzegowina: Muhsin Rizvi ć , Pregled knji ž evnosti naroda Bosne i Hercegovine, Sarajevo 1985; hier werden die Bezüge des serbischen und des kroatischen ‹ Korpus › zum jeweiligen ‹ Kernland › berücksichtigt. 44 Zu den Gründen dafür, dass das «Soziale [. . .] lange Zeit ein verpönter Bereich der Literaturwissenschaft» war, siehe Dean Duda, Transition und Methode. Überlegungen zum lokalen Zustand des literarischen Feldes, in: Christine Magerski, Svjetlan Lacko Viduli ć (Hrsg.): Literaturwissenschaft im Wandel. Aspekte theoretischer und fachlicher Neuorganisation, Wiesbaden 2009, S. 65 - 80, bes. S. 74 f. 174 Svjetlan Lacko Viduli ć <?page no="175"?> aber auch dem Anliegen der per se exklusiven nationalliterarischen Meisternarrative zuwider gelaufen wären. Aus diesen Gründen, die sicherlich nicht die einzigen sind, scheint der literarische Alltag überraschend wenig Spuren systematischer Reflexion hinterlassen zu haben, etwa in Form von einschlägiger Literatur zum Thema. Der literarische Alltag der SFRJ, das vormals Selbstverständliche, fand in einem asymmetrisch verschachtelten Literaturbetrieb statt, der folgendermaßen gegliedert war: (1) die ‹ sprachseparaten › Literaturräume der slowenischen, makedonischen und kosovo-albanischen Literatur; (2) der geographisch und kulturpolitisch zentrale ‹ serbokroatische › Literaturraum; (3) der überregionale, gesamtjugoslawische Literaturraum, dominiert von dem ‹ serbokroatischen › Raum (aufgrund der allgemeinen Geläufigkeit der Sprachvarietäten) mit diesem jedoch nicht identisch. Der Literaturbetrieb - auch innerhalb des ‹ serbokroatischen › Raums - war dezentral gegliedert; in den einzelnen Republiken aber vor allem auf die Hauptstädte konzentriert. Somit ging es um einen plurizentrischen Betrieb mit den dominanten Zentren Belgrad, Zagreb, Ljubljana, Sarajevo, Novi Sad, Skopje, Prishtina, Titograd. Eine umfassende Darstellung dieses plurizentrischen und multikulturellen Betriebs müsste die Entwicklung zwischen 1945 und 1990 berücksichtigen und die Verhältnisse in und zwischen den literarischen Teilräumen rekonstruieren, was in diesem Abriss selbstverständlich nicht geleistet werden kann. 45 Fragen wir mit Bourdieu nach der Struktur und den Grenzen des jugoslawischen literarischen Feldes - dem «Netz objektiver Beziehungen [. . .] zwischen Positionen», zu deren ‹ Inhabern › soziale Akteure wie literarische Zirkel, Zeitschriften, Verlage usw. zählen 46 - stoßen wir auf ein System konzentrischer Kreise mit unterschiedlich offenen Grenzen. Sowohl in den ‹ sprachseparaten › Räumen als auch in dem zentralen ‹ serbokroatischen › Raum stellte die literarische Szene der föderalen Einheiten bzw. Nationen ( ‹ nacionalno-republi č ki okvir › ), konzentriert in den Hauptstädten ( ‹ republi č ki centri › ), den primären Bezugsraum der meisten literarischen Akteure dar. Teile dieser semi-autonomen literarischen Felder spielten in das gesamtjugoslawische literarische 45 Einen Abriss zur Entwicklung des Kulturbetriebs 1918 - 1990 (allerdings ohne auf das kulturpolitische System einzugehen) bietet Enciklopedija Jugoslavije, Bd. 6 (Anm. 11). Ein Abriss zur Entwicklung des kulturpolitischen Systems 1945 - 1990: Kulturna politika Republike Hrvatske. Nacionalni izvje š taj, Zagreb 1998, S. 21 - 23. 46 Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt/ Main 1999, S. 365. Jugoslawische Literatur 175 <?page no="176"?> Suprafeld hinein, wobei der Vorstoß einzelner Akteure auf der Bundesebene i. d. R. einen Erfolgsmaßstab darstellte ( ‹ jugoslavenski kriterij › ). Zu den ‹ Inhabern › von ‹ Positionen › im Suprafeld gehörten - neben den überregional aktiven Akteuren aus den Subfeldern, einschließlich Teilen der Literaturkritik - auch eine Reihe bundesstaatlicher Akteure eines genuin gesamtjugoslawischen Literaturbetriebs: Gruppenbildungen, gemeinsame Zeitschriftenredaktionen, gemeinsame Verlagsprojekte, Elemente eines landesweiten Vertriebsnetzes, überregionale Theaterprojekte, überregionale Medienformate, Theaterfestivals, gesamtjugoslawische Literaturpreise u. a. Die ‹ differenzierte Einheit › eines jugoslawischen literarischen Feldes beruhte nicht zuletzt auf wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen im sozialen Raum und im Feld der Macht: auf gesamtjugoslawischen Kontexten in landesspezifischen Konstellationen. Zur Illustration der schwer fassbaren Dynamik im literarischen Pluri-Feld SFRJ, in dem das Gemeinsame trennen, das Differente verbinden konnte, sei auf das Phänomen des ‹ dezentralisierten Stalinismus › 47 hingewiesen. Nachdem seit Anfang der 1970er Jahre auch die Instrumente der politischen Repression im Namen des föderalistischen Prinzips dezentralisiert wurden, ging die (im osteuropäischen Vergleich ‹ weiche › ) politische Kontrolle der kulturellen Produktion auf die autonomen Parteiorgane der Landes- und Ortsebene über. Dies hatte zur Folge, dass an unterschiedlichen Standorten das Maß politischer Repression bzw. Toleranz stark variieren konnte, ein Anathema in Belgrad oder Sarajevo keinerlei Folgen für die Aufnahme in Zagreb oder Ljubljana haben musste und vice versa. Diese Verhältnisse waren ein augenfälliges Symptom des Partikularismus in dem bis in den repressiven Apparat hinein dezentralisierten sozialen Raum. Die gleiche Konstellation regte jedoch eine (mediale oder auch leibliche) innerjugoslawische Mobilität proskribierter Autoren an und wurde somit zum Faktor des kulturellen Austauschs. 48 Das Spannungsverhältnis von Landes- und Bundesebene, von integralistischen und zentrifugalen Tendenzen spielte in vielen sozialen Bereichen, so auch im Kulturbetrieb eine bedeutende Rolle; in der Musik- 47 Ausdruck im Jargon der Zeitgenossen. Gespräch mit Pavao Pavli č i ć am 5. 4. 2013. 48 Vgl. Enciklopedija Jugoslavije, Bd. 6 (Anm. 11), S. 548: «[. . .] was zu Umsiedlungen von Intellektuellen aus einem Landes-Zentrum ins andere führt». Einige Bespiele für politisch bedingen (temporären) Verlags- oder Ortswechsel: Antun Š oljan und Igor Mandi ć von Zagreb nach Belgrad; Danilo Ki š und Momo Kapor von Belgrad nach Zagreb; Lujo Bauer von Zagreb nach Sarajevo. 176 Svjetlan Lacko Viduli ć <?page no="177"?> und Kunstszene allerdings weit weniger als in der Literaturszene, die auf den Umgang mit sprachlich-kulturellen Differenz(konstrukt)en unmittelbar angewiesen war. 49 Die Klagen über den unzureichenden und administrativ verfilzten kulturellen Austausch ( ‹ me đ urepubli č ka kulturna suradnja › ) über die innerjugoslawischen Grenzen und andere «künstliche Barrieren» 50 hinweg mündeten in der Diagnose einer «zunehmende[n] Parzellierung des jugoslawischen Kulturraums» 51 . Freilich muss der Kontext kulturpolitischer Polemik, verfehlter Zielvorgaben und enttäuschter Erwartungen bedacht werden, der eine Zuspitzung der Diagnosen bedingt haben mag. Dennoch lässt dieser Diskurs erkennen, dass die kulturelle Integration nicht per se existierte und als solche der Zerschlagung durch die Nationalisten harrte, sondern besonderer Leistungen zu ihrem Aufbau und ihrer Aufrechterhaltung bedurfte, und zwar nicht erst in der ‹ dekadenten Phase › der 80er Jahre. Bereits ein Rückblick im Dezember 1976 ergab eine nüchterne Bilanz: Die Selbstverwaltung hat der Individualisierung der einzelnen Nationalkulturen positive Impulse gegeben. In der zweiten Hälfte der 60er und zu Anfang der 70er Jahre waren wir Zeugen diverser Krisen sowohl auf der Ebene der wirtschaftlich-politischen, als auch der kulturellen Verhältnisse. Es ging einerseits um Schwierigkeiten bei der Affirmation der Teile im Rahmen der Gemeinschaft als Ganzem, andererseits um Rezidive des alten Bewusstseins und des Partikularismus (separatistischen und hegemonistischen Typs). Der Begriff jugoslawische Kultur wurde für viele gleichbedeutend mit kultureller Unitarisierung. Eine große Zahl der Verbindungen zwischen den Nationalkulturen lockerte sich plötzlich oder wurde auf formale und offizielle Veranstaltungen reduziert. 52 4. Eine Wende, die keine ist? Die Rede vom historischen Bruch und Zerfall riskiert bekanntlich den Effekt einer Rückprojektion im Sinne eines quasi ‹ vorprogrammierten › , 49 «Von dieser Vorstellung einer homogenen jugoslawischen Kultur weicht wohl am meisten die zeitgenössische Literaturproduktion ab, die ihre nationalen Merkmale hervorhebt, ihre jugoslawischen Merkmale hingegen verdrängt.» Gajevi ć , Jugoslovenstvo (Anm. 34), S. 33. 50 Ebd. Siehe auch Poga č nik, Mogu ć nosti i granice (Anm. 38), S. 21 f.; Markovi ć , Ideje jugoslovenstva i knji ž evnost (Anm. 40), S. 25 f. und 40 ff. 51 Enciklopedija Jugoslavije, Bd. 6 (Anm. 11), S. 550. 52 Eröffnungsrede von Predrag Matvejevi ć beim Symposion des Verbandes der Schriftsteller Jugoslawiens (Zagreb, Dezember 1976). Predrag Matvejevi ć , Te vjetrenja č e, 2., erw. Aufl., Zagreb 1978, S. 71, Hevorh. dort. Jugoslawische Literatur 177 <?page no="178"?> ‹ schon immer › diagnostizierbaren Niedergangs. Hier soll die Aufmerksamkeit indes auf einen anderen Effekt des historischen Rückblicks gelenkt werden: die Fokussierung einer Wende unter Ausblendung langfristiger Zustände und Wandlungsprozesse, wodurch die Wende an Sprengkraft und der vorherige Zustand im Rückblick an Stabilität und Homogenität gewinnt. Durch die unterschiedlichsten Narrative zur postjugoslawischen Transformation geistert die Vorstellung von einer Explosion des Nationalismus um 1990, die über die rapide Rekonstruktion der Identitäten, eine aufgezwungene Revision der Erinnerungskultur und die gewaltvolle Etablierung von Nationalstaaten das Ende eines vergleichsweise stabilen multikulturellen Staates herbeigeführt hat. Zu den Aspekten des so gesehenen Umbruchs gehört dann auch die abrupte Aufspaltung eines gemeinsamen Kulturraums in nationalkulturelle Teilräume, die gewaltsame Aufteilung eines gemeinsamen Kulturerbes und seine radikale Umdeutung in ethnonationaler Perspektive, nicht zuletzt auch die Erfindung neuer Sprachen und Literaturen. Die Belege für diese Ansicht sind Legion - es reicht ein Blättern in diesem Sammelband. Den Diskurs einer ‹ Stunde Null › bedienen unterschiedliche in- und ausländische Milieus freilich aus unterschiedlichen Gründen. Beim Blick aus dem Ausland ergab sich das Bild eines Kahlschlags aufgrund der späten, von den Zerfallserscheinungen selbst erst angeregten Beachtung der innerjugoslawischen Verhältnisse, die folgerichtig als radikal gewandelt erschienen. Die heimischen Diskurse pflegten den Mythos vom restlosen Bruch hingegen im Zusammenhang mit erinnerungspolitischen Interna, die am augenfälligsten im Umfeld des ‹ jugonostalgischen › (katastrophisch-zerfallskritischen) und des ‹ nationalistischen › (triumphalistisch-gründungsmythischen) Diskurstypus sind. Geht es beim ersten Typus darum, die gewaltsame Auflösung eines ‹ natürlich gewachsenen › jugoslawischen Kulturraums zugunsten einer ‹ unnatürlichen › Spaltung in ‹ erfundene › Nationalkulturen zu beklagen, so geht es beim zweiten darum, den restlosen Zusammenbruch eines ‹ künstlich forcierten › jugoslawischen Kulturraums zugunsten der endlich befreiten und damit ‹ neugeborenen › Nationalkulturen im Rahmen einer ‹ natürlichen › nationalstaatlichen Ordnung zu feiern. Das Phantasma einer postjugoslawischen ‹ Stunde Null › stellt aus denkökonomischer Kommodität oder aus handfesten erinnerungspolitischen Gründen die Aspekte eines gedehnten Umbruchs und Aspekte der Kontinuität in den Schatten, während die Aspekte der Wende tendenziell zum Bild eines Neuanfangs ex nihilo bzw. der unmittelbaren Anknüpfung an vorjugoslawische Traditionslinien gefügt werden. Die Wende 178 Svjetlan Lacko Viduli ć <?page no="179"?> selbst ist freilich nicht zu leugnen: 53 Mit dem Ende des Bundesstaats und den anschließenden Kriegen der 1990er Jahre fand auch der gemeinsame jugoslawische Kulturbetrieb und damit das gemeinsame literarische Suprafeld ein Ende. Im Rahmen der nationalstaatlichen Neuorientierung wurde das Paradigma der Nationalkultur - im multinationalen Staat ein diskret zu behandelnder Aufhänger teil-kollektiver Identität - Stütze und Banner der Nationalstaatlichkeit. Dabei brauchte es weniger der Konstruktion und Erfindung, als vielmehr der Aktualisierung und Rekontextualisierung nationaler Narrative, deren letzte Prägung nicht vor 1918, sondern nach 1960, im jugoslawischen «Ethnosozialismus» 54 statt gefunden hatte. Die «Aura des Dissidententums» 55 , die der Literatur u. a. aufgrund ihrer nationalen Verortung vor dem Hintergrund ‹ unitaristischzentralistischer › Drohung anhaftete, wich nun dem Odium der mononationalen Offizialkultur: nur ein Aspekt unter vielen, der im Zuge der Rekontextualisierung des nationalen Paradigmas eine Verschleierung der Kontinuität gefördert hat. Eine genauere Gewichtung von Wandel und Kontinuität müsste allerdings auf die regionalen Differenzen zwischen den einzelnen Nachfolgestaaten eingehen, vor allem zwischen den ‹ älteren › und den ‹ jüngeren › Nation(sbildungsprozess)en und Nationalliteratur(geschichtsschreibung)en. Die meisten Aspekte des Wandels erweisen sich beim näheren Hinsehen jedoch als Neuauflage jugoslawischer Konstellationen, in Kroatien bspw. die konsequente Ausklammerung aller jugoslawischen Bezüge im Hauptstrom der Literaturgeschichtsschreibung nach 1990 - die weitgehend auch für die Zeit vor 1990 charakteristisch ist. 56 Auch der literarische ‹ Erbfolgekrieg › ist nicht als genereller Aufteilungskampf entlang neu etablierter Fronten zu sehen: in der Regel ging es um die Überführung hergebrachter Aufteilungskontroversen ( ‹ pripadnost › / ‹ vi š epripadnost › ) aus dem Bereich einer diskret-latenten in den Bereich der offiziös-manifesten Identitätspolitik. 57 Vom Erbfolge- 53 Eine Zwischenbilanz nach dem ersten Jahrzehnt bietet Angela Richter, Literaturen im ehemaligen Jugoslawien, in: Reinhard Lauer (Hrsg.): Die slavischen Literaturen heute, Wiesbaden 2000, S. 13 - 25. 54 «Etnosocijalizam». Enver Kazaz, Tranzicijska etnokulturna pustinja, in: Sarajevske sveske 27 - 28/ 2010, S. 83 - 102, hier S. 83; e-Zugang: ‹ http: / / www.sveske.ba/ bs/ broj/ 2728 › (Zugriff: 10. 1. 2014). 55 Bremer, Literaturen und nationale Ideologien (Anm. 19), S. 282. 56 Siehe etwa Frange š , Povijest hrvatske knji ž evnosti (Anm. 43). 57 Aufschlussreich ist etwa die Entwicklung regionaler ‹ Zuordnungsdiskurse › rund um die š tokavische Volksballade Hasanaginica. Standen die mononationalen Vereinnahmungen - neben national indifferenten Perspektiven - bis in die 1980er Jugoslawische Literatur 179 <?page no="180"?> krieg kann allenfalls bezüglich der überschaubaren Anzahl von Fällen die Rede sein, in denen der verschärfte Imperativ restloser Zuordnung im eklatanten Widerspruch zum pluri- oder transkulturellen Charakter des jeweiligen Zuordnungsobjektes steht und zu entsprechend unproduktiven Kontroversen führte (so im Fall von Autoren wie Ivo Andri ć , Me š a Selimovi ć , Danilo Ki š , Mirko Kova č u. a.), oder aber auf die überschaubare Anzahl neuer Aufteilungskonflikte (so im Fall der Ragusaner Literatur der Renaissance und des Barock, die neuerdings wieder, wie bereits Anfang des 20. Jahrhunderts, im Sinne der inklusivistischen Tradition der serbischen Literaturgeschichtsschreibung, als auch serbische Tradition aufgefasst wird). 58 Wer sich von den spektakulären Erscheinungen der historischen Wende um 1990 nicht blenden lässt, erkennt unschwer, dass von den national kodierten Differenz- und Trennungslinien zwischen den Literaturen im ex-jugoslawischen Raum die wenigsten den Explosionen der Wendezeit entsprungen sind; aber ebenso, dass die Verbindungslinien nicht per Dekret gekappt werden konnten. Die Differenzlinien sind keine exklusive Agenda der neuen Ethnonationalisten, die Verbindungslinien keine der jugoslawischen Integralisten; beide sind in wechselnden historischen Konstellationen und bei entsprechender Interessenlage des Beobachters bis in die Gegenwart nachzuweisen. Dabei sind sowohl die nationalliterarischen als auch die integrativen Konzepte, mit ihren jeweils unterschiedlichen Identifikationen und Grenzziehungen im südost- und mitteleuropäischen Umfeld, als real existierende Phantome zu betrachten: Konstrukte mit handfesten Folgen im Bereich der kulturpolitischen Realität, der literaturgeschichtlichen Narrative und der entsprechenden Kohärenz- und Kontinuitätsentwürfe. 59 Jahre scheinbar konfliktlos nebeneinander (vgl. etwa Z. Konstantinovi ć in Alija Isakovi ć (Hg.), Hasanaginica 1774 - 1994, Sarajevo 1975, S. 115 f.), wurden sie nach dem Staatszerfall zum offiziösen (Identitäts)Politikum und offenbarten nun die Absurdität von mentalen Mustern, die freilich auch in der Epoche der Latenz am Werk gewesen waren. Zur kulturellen ‹ Zuordnung › der Ballade in der Perspektive kulturwissenschaftlicher Transferforschung: Miranda Jaki š a, Christoph Deupmann, Die stolze Scham der Hasanaginica. Goethes Klaggesang von der edlen Frauen des Asan Aga und die südslavische Vorlage als Archiv kultursynkretistischer Prozesse, in: Poetica 36/ 2004, S. 379 - 402. 58 Vgl. Jovan Dereti ć , Istorija srpske knji ž evnosti, Beograd 1983, Vorwort, S. 10; vs. J. D., Istorija srpske knji ž evnosti, 4. Aufl., Beograd 2001. 59 Zum Begriffs des Phantoms im Zusammenhang mit südslavischen Kontroversen s. Reinhard Lauer, Das Phantom der Jugoslavistik, in: U. Hinrichs, H. Jachnow, R. Lauer u. a. (Hgg.), Sprache in der Slavia und auf dem Balkan. Slavistische und balkanologische Aufsätze, Wiesbaden 1993, S. 143 - 150. Zum Begriff des 180 Svjetlan Lacko Viduli ć <?page no="181"?> Wie steht es um die Verbindungen zwischen den Literaturen des ehemaligen literarischen Suprafeldes, nachdem das Phantom der Nationalliteraturen sich behauptet und das integrative Phantom - als real existierendes im genannten Sinne - ausgedient hat? Nach dem Jahr 2000 mehren sich Anzeichen einer bescheidenen Neuvernetzung im ‹ postjugoslawischen › Maßstab, also über das übliche Maß ‹ fremdkultureller › Literaturbeziehungen hinaus; freilich gilt dies vor allem für den dobardanischen 60 Raum. Dazu zählt, im Bereich der Verlags- und Theaterlandschaft, eine zögerlich eingesetzte Zirkulation von Autoren, Texten und Gemeinschaftsprojekten, deren Antrieb im Spannungsfeld von marktökonomischen Kräften und nischenkulturellen Energien zu sehen ist; dazu zählt im Bereich der Literaturkritik - großteils abgewandert ins mediale Abseits oder ins Online-Neuland - das Interesse an geteilten Erfahrungen und Entwicklungen, wie etwa dem Komplex der Wende- und Kriegserfahrung oder der postjugoslawischen Nomaden- und Exilanten-Literatur; dazu zählen im Bereich des Wissenschaftsbetriebs neuere Forschungsansätze der komparativen Slawistik. 61 Zunehmender Popularität im Medienraum erfreut sich dabei der Begriff einer ‹ postjugoslawischen Literatur › , gewissermaßen im terminologischen Schlepptau der weniger national kodierten und gleichzeitig profitträchtigeren, daher auch normalisierungsfreudigeren Kultur- und Medienbereiche, vor allem der Popmusik und des Films. 62 Phantoms im Zusammenhang mit dem Konzept der Nationalliteratur vgl. die Einführung und einschlägige Beiträge in Corina Caduff, Reto Sorg (Hg.), Nationale Literaturen heute - ein Fantom? Die Imagination und Tradition des Schweizerischen als Problem, München 2004. 60 Die Bezeichnung dobardanski (von › dobar dan › = guten Tag) kursiert sporadisch in der On-line-Community als Dachbezeichnung für die mittelsüdslawischen Sprachen/ Sprachvarietäten, unter Vermeidung der alten ( › serbokratisch › ) und neuen ( › BKSM › ) Aporien. Aufgrund der Beschränkung auf den pragmatischen Aspekt (Grußformel/ Alltagskommunikation/ Idiome ohne Übersetzungsbedarf) ist die Bezeichnung auch als Absage an das regionale und globale sprachtaxonomische Diktat des Entweder-eine-oder-mehrere-Sprachen zu verstehen. 61 Vgl. das Konzept einer interkulturellen Geschichte der südslawischen Literaturen von Zvonko Kova č , Poredbena i/ ili interkulturna povijest knji ž evnosti, Zagreb 2001; erw. Neuauflage: Me đ uknji ž evne rasprave. Poredbena i/ ili interkulturna povijest knji ž evnosti, Beograd 2011. 62 Zur postjugoslawischen Literatur siehe Boris Postnikov, Postjugoslavenska knji ž evnost? , Zagreb 2012 sowie Robert Rako č evi ć , «Postjugoslavenska knji ž evnost»? Ogledala i fantomi, in: Sarajevske sveske 35 - 36 (27. 12. 2011), ‹ http: / / www.sveske.ba/ bs/ content/ post-jugoslovenska-knjizevnost-ogledala-ifantomi › (Zugriff: 10. 1. 2014). Zum postjugoslawischen Film siehe Jurica Pavi č i ć , Postjugoslavenski film - Stil i ideologija, Zagreb 2011. Jugoslawische Literatur 181 <?page no="182"?> Die Rede von einer postjugoslawischen Literatur nach dem Ende des Jugoslawismus und seiner Kontexte ist mehr einer gegenwartskritischen als einer nostalgischen Perspektive, und eher dem reflexiven als dem restaurativen Modus der Nostalgie verpflichtet. 63 Die Provokation der postjugoslawischen Perspektive besteht in der Anknüpfung an eine gemeinhin als abgeschlossen geltende Vergangenheit und in der kritischen Antwort auf die Traumata einer doppelten Transition: der prekären Fügung von Staatszerfall und Systemwechsel, von entfesselter Nation und entfesseltem Markt, von kulturpolitischer Trivialisierung der Literatur in der ‹ ethnokulturellen Wüste › (Enver Kazaz) und ihrer medialen Trivialisierung im sog. neoliberalen Kapitalismus. Zu den Erträgen dieser systemkritischen Perspektive gehört die nüchterne Beobachtung, dass die Anzeichen einer Normalisierung im Bereich der Kultur- und Literaturbeziehungen nach dem Ende des ‹ nationalistischen Jahrzehnts › nur vordergründig dem Puls der politischen Liberalisierungs- und Versöhnungsprozesse folgen. Wirkungsmächtiger sei das Durchgreifen der Marktgesetzte und die entsprechende Schwerpunktverschiebung von nationalistischen zu konsumistischen Identifikationen - in den divergenten Kontexten des postjugoslawischen Raums zwischen dem EU- Gebiet in Nordwesten und der UNO-Verwaltungshoheit im Südosten. Kein Zweifel, dass der Systemwechsel vom «Ethnosozialismus» zum «Ethnokapitalismus» 64 mindestens so folgenreich war wie die nationalstaatliche Rekontextualisierung des Ethnischen selbst. Auch in diesem Zusammenhang erweist sich die Fixierung einer angeblich stattgefundenen postjugoslawischen ‹ Erfindung der Nationalliteratur › als kommode Beschränkung des Blickfelds bei der Beobachtung regionaler Transformationen des literarischen Feldes. 63 Modi der Nostalgie nach Svetlana Bojm, Budu ć nost nostalgije, Beograd 2005, S. 99 (Svetlana Boym, The Future of Nostalgia, New York 2001). 64 Enver Kazaz, Tranzicijska etnokulturna pustinja (Anm. 54), S. 83. Zur Transformation des literarischen Feldes siehe: Sarajevske sveske 27 - 28/ 2010 [Schwerpunkt: Transition und Kultur] (Anm. 55); Dean Duda, Transition und Methode (Anm. 45); Dean Duda, Hrvatski knji ž evni bajkomat, Zagreb 2010; Ma š a Kolanovi ć : Udarnik! Buntovnik? Potro š a č . . . Popularna kultura i hrvatski roman od socijalizma do tranzicije, Zagreb 2011. 182 Svjetlan Lacko Viduli ć <?page no="183"?> Armina Galija š Nationalisten und Jugonostalgiker: Zerstörung der Erinnerungen, Umformung der Identitäten 1. ‹ Rettung der Erinnerungen › vs. ‹ Konfiszierung der Vergangenheit › Neulich wurde ich in einer bunten Gruppe von Antinationalisten aus dem ehemaligen Jugoslawien (überwiegend aus Bosnien-Herzegowina), die sich als solche seit Jahren öffentlich präsentiert, antinationalistisch agiert und die Erinnerung an das frühere, angeblich harmonische und schöne (Zusammen-)Leben in Jugoslawien (vor allem in Bosnien-Herzegowina) pflegt, als eine Jugonostalgikerin vorgestellt. Die Vorstellung verlief sehr freundlich, es war nett gemeint und ich sollte die Bezeichnung eigentlich als Kompliment verstehen. Warum tat ich es dann nicht? Ich fühlte mich beengt, bedrängt und erwiderte ebenfalls freundlich, dass ich keine Jugonostalgikerin sei. Die Anwesenden waren überrascht und kommentierten: ‹ Wir dachten, dass du eine von uns bist › . Sie waren sich ihrer jugoslawischen Herkunft bewusst und sehr stolz in diesem ‹ multiethnischen, sozial gerechten und wunderschönen › Land gelebt zu haben. Ihre Erinnerungen stimmen weitgehend überein und basieren oft auf sehr ähnlichen Geschichten. Sie sind und wirken von der harmonischen jugoslawischen Vergangenheit fest überzeugt und finden in diesen Erinnerungen ein Model für ein schönes Leben auf dem Gebiet des ehemaligen Staates, vor allem für Bosnien-Herzegowina. Dieses Ereignis führte mich zu der Frage, wo oder was meine Heimat ist und inwieweit meine Erinnerungen mit den Erinnerungen anderer Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien diesbezüglich korrespondieren. Wo bin ich eigentlich zu Hause? Ich konnte die meisten jugonostalgischen Geschichten nicht mit meinem Leben in Verbindung bringen. Kann es sein, dass wir über die gleichen Quellen, Objekte, Daten verfügen, dass aber unser aktives Gedächtnis anders als das sog. Speichergedächtnis funktioniert und nur eine kleine Auswahl dessen enthält, was eine Gesellschaft von der Vergangenheit speichert? 1 Wenn die 1 Mehr hierzu und zu den folgenden Bemerkungen zum kollektiven Gedächtnis: Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit: Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, Bonn 2006; Aleida Assmann, Erinnerungsräume: Formen und <?page no="184"?> Erinnerungen den kommunikativen und emotionalen Kitt einer Gruppe bilden, wie Maurice Halbwachs festgestellt hat, heißt das dann, dass die Mitglieder einer Gruppe tatsächlich die gleichen Erinnerungen haben? Das kollektive kann nicht wie das individuelle Gedächtnis biologische Grundlagen haben, aber man kann es auch nicht leugnen, denn es betrifft Phänomene, die durchaus empirisch fassbar sind. Soziale Gruppen, wie in diesem Fall die Jugonostalgiker, können also im wörtlichen Sinne kein Gedächtnis haben, aber sie können sich eins machen und mit diesem Gedächtnis zugleich auch eine Identität. Dieses Gedächtnis ist konstruiert, es ist ein Gedächtnis des Willens und der kalkulierten Auswahl und tendiert dazu, sich von anderen Gedächtniskonstruktionen abzuschotten. Es stützt sich auf Erzählungen, die eine narrative Struktur und eine klare Aussage haben. Wie entstand nun - den gängigen Interpretationen zufolge - das kollektive Gedächtnis in jenem Erinnerungsmilieu, das hier bedingt als Jugonostalgiker bezeichnet werden soll: einem Milieu, in dem gleichen oder ähnliche, tendenziell unkritisch-positive Vorstellungen von und Erinnerungen an das Leben im sozialistischen Jugoslawien geteilt werden? Nach Dubravka Ugre š i ć geriet der Bürger des ehemaligen Jugoslawien in den 1990er Jahren in den Krieg, erlebte den Zusammenbruch eines Staates und die Gründung eines neuen, die Destruktion der Identität und die Konstruktion einer neuen, die Veränderung der Sprache, die Zerstörung eines ideologischen und allgemeinen Wertesystems und die Errichtung eines neuen. 2 Mit dem Zerfall des multiethnischen Jugoslawien und dem Prozess der neuen Staatsbildung begann ein politischer Kampf um die kollektive Erinnerung, eine Konfiszierung der alten supranationalen Erinnerungsbestände und ihr Ersetzen durch ‹ nationale Erinnerungen › . Auch hier geht es weniger um die Ereignisse selbst, vielmehr um die Vorstellungen, die man sich von diesen Ereignissen machte. 3 «Vergangenheit wurde revidiert, Flaggen neu entworfen, Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 2006; Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1997. 2 Dubravka Ugre š i ć , Konfiskacija pam ć enja, in: Dubravka Ugre š i ć , Kultura la ž i, Beograd 2002, S. 285 f. (dt. Ausgabe: Die Kultur der Lüge, Frankfurt/ M. 1995). 3 Zur Erinnerungskultur in Post-Jugoslawien siehe: Todor Kulji ć , Umkämpfte Vergangenheit. Die Kultur der Erinnerung im postjugoslawischen Raum, Berlin 2010; Wolfgang Höpken, Post-sozialistische Erinnerungskulturen im ehemaligen Jugoslawien, in: Emil Brix/ Arnold Suppan/ Elisabeth Vyslonzil (Hrsg.): Südosteuropa. Traditionen als Macht, Wien, München 2007, S. 13 - 50; Sundhaussen, Holm, Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten: Konstruktion, Dekonstruktion und 184 Armina Galija š <?page no="185"?> Traditionen ausgegraben [. . .].» 4 So wie sich die politische Legitimation in Richtung nationaler bzw. ethnischer Kriterien verlagerte, so verlagerten sich auch Motive und Ziele der sozialen Gruppenbildung von der jugoslawisch-sozialistischen auf die nationale Ebene. 5 Die neue Wertegemeinschaft und das entsprechende Erinnerungsmilieu werden hier bedingt Nationalisten genannt. 6 Menschen, die sich der nationalistischen ‹ Konfiszierung der Vergangenheit › widersetzten, 7 starteten als Antwort einen Prozess zur ‹ Rettung der Erinnerungen › , der mit der Zeit allerdings gewisse Züge mit dem ersten Prozess teilte: Die individuellen Erfahrungen verschmolzen mit stilisierten kollektiven Erinnerungen. Dieses reaktive Erinnerungsmilieu wurde mit der Zeit als ‹ jugonostalgisch › bezeichnet. Rekonstruktion von «Erinnerungen» und Mythen, in: Monika Flacke (Hrsg.), Mythen der Nationen: 1945 - Arena der Erinnerungen, Begleitbände zur Ausstellung des Deutschen Historischen Museums, Mainz 2004, Bd. 1, S. 373 - 426. 4 Liljana Smajlovi ć , Ex-jugoslawische Kaiser, post-jugoslawische Kleider. Von der Selbstverwaltung zum Nationalismus? , in: Magarditsch Hatschikjan/ Franz-Lother Altmann (Hrsg.): Eliten im Wandel. Politische Führung, wirtschaftliche Macht und Meinungsbildung im neuen Osteuropa, Paderborn 1988, S. 173 - 195, hier S. 173. 5 Vgl. Ivan Č olovi ć , Bordell der Krieger, Folklore, Politik und Krieg, Osnabrück 1994, S. 140. - Dejan Jovi ć , (Jugoslavija, Dr ž ava koja je odumrla: uspon i pad Kardeljeve Jugoslavije (1974 - 1990), Zagreb 2003, S. 489; amerikan. Ausgabe: Yugoslavia: A State That Withered Away. West Lafayette, Indiana 2008) meint wohl zu Recht, dass der jugoslawische Staat in der letzten Phase seines Bestehens, d. h. seit der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, nicht mehr auf einem südslawischen, sondern auf einem gemeinsamen Konzept des Sozialismus gründete: Die Idee der ethnischen ‹ Verwandtschaft ’ der südslawischen Völker wurde durch die Idee des jugoslawischen ‹ Sonderwegs ’ in der sozialistischen Marktwirtschaft und Selbstverwaltung ersetzt. - Mehr über den jugoslawischen Sonderweg bei Holm Sundhaussen, Geschichte Jugoslawiens 1918 - 1980, Stuttgart u. a. 1982. Holm Sundhaussen definiert diesen Sonderweg als Identitätspfeiler, auf dem die Solidargemeinschaft basierte. Holm Sundhaussen, Staatsbildung und ethnisch-nationale Gegensätze in Südosteuropa, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 10 - 11/ 2003, S. 3 - 9, hier S. 8. Siehe auch Sundhaussen, Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten (Anm. 3), S. 374 f. 6 Unter Nationalisten wird hier ein Werte- und Erinnerungsmilieu verstanden, das sich erst im Zuge des jugoslawischen Zusammenbruchs nach ethno-politischen Kriterien bildet; Kontinuitäten im Hinblick auf nationalistische Tendenzen in Jugoslawien gehören hier nicht zur Sache. Wie die Jugonostalgiker teilt auch dieses Milieu gleiche oder ähnliche, tendenziell unkritisch-positive Erinnerungen, die sich von den jugonostalgischen allerdings inhaltlich unterscheiden. 7 Vgl. exemplarisch Ugre š i ć , Konfiskacija pam ć enja (Anm. 2). Nationalisten und Jugonostalgiker 185 <?page no="186"?> 2. Die postjugoslawischen Erinnerungsmilieus Man geht davon aus, dass die Mitglieder der postjugoslawischen Erinnerungsmilieus diametral entgegengesetzte Erinnerungen pflegen. 8 Tatsächlich wird in dem einen Milieu ausschließlich die nationale Vergangenheit glorifizieren und die multiethnische jugoslawische Geschichte als ungerecht bezeichnen, weil die eigene Nation damals angeblich ‹ versklavt › , die kulturellen Errungenschaften ‹ vernichtet › , die Religion ‹ unterdrückt › worden sei usw.; und tatsächlich ist in dem anderen Milieu die Rede von einem ‹ guten Leben › nur im sozialistisch-jugoslawischen Rahmen, von der ‹ Freiheit und Wohlfahrt › dieser Zeit, von der ‹ goldenen Zeit der Pop-Kultur › usw. 9 Und doch sind diese Milieus nicht so unterschiedlich, wie es scheinen mag. Nicht nur sind die Erinnerungsnarrative ähnlich aufgebaut, sie sind auch inhaltlich oft verwoben und bedienen sich gleicher Motive. Ein zentraler Wende- und Orientierungspunkt in beiden Narrativen ist der Zerfall des jugoslawischen Staates bzw. der Krieg der 1990er Jahre. Ein Imperativ der neu entstandenen Staaten und ihrer politischen Eliten war eine neue Vision der Zukunft, die nach einer neuen Vorstellung von der Vergangenheit verlangte. 10 Die Vergangenheit wurde aktueller als die Gegenwart und ungewisser als die Zukunft; die Vergangenheit war mehr als eine Zeitdimension. 11 Da gemeinsames Erinnern und Vergessen für Nationen konstitutiv ist, 12 wurde eine aktive Geschichtspolitik betrieben. Die Vergangenheit wurde tatsächlich zum omnipräsenten öffentlichen Thema, wobei ein breiter Spielraum für Falsifikation und Manipulation zur Verfügung stand. Exponiert wurden Bezugspunkte aus der Geschichte, die das positive Selbstbild des nationalen Kollektivs stärken und im Einklang mit bestimmten Handlungszielen stehen. Auch die tragischen Niederlagen wurden kommemoriert, die der Pflege des jeweiligen Opfermythos und der Dämonisierung der jeweils anderen ethnischen 8 Siehe Sundhaussen, Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten (Anm. 3). 9 Zu den Argumenten der Antinationalisten: Stef Jansen, Antinaconalizam. Etnografija otpora u Beogradu i Zagrebu, Beograd 2005. 10 Theodore Zeldin, An Intimate History of Humanity, London 1995, S. 9. 11 Vgl. Boris Buden, Ž elimir Ž ilnik, Uvod u pro š lost, Novi Sad 2013, S. 7, 20. 12 Hierzu Ernest Renan, Was ist eine Nation? Vortrag in der Sorbonne am 11. März 1882, in: Michael Jeismann und Henning Ritter (Hrsg.): Grenzfälle, Über neuen und alten Nationalismus, Leipzig 1993, S. 290 - 311. Vgl. auch Benedict Anderson, Imagined Communities, Reflections of the Origin and Spread of Nationalism, London 1991 und Rogers Brubaker, Nationalism Reframed: Nationhood and the National Question in the New Europe, Budapest 1995. 186 Armina Galija š <?page no="187"?> Gruppen dienten und weiterhin dienen. 13 Alte historische Bestände wurden ausgegraben, mit einer populären Mythologie aufgemischt und als neues Bild der Vergangenheit präsentiert. Die aktuellen ethnischen Auseinandersetzungen wurden mit jenen der nationalen Vergangenheit in Verbindung gesetzt, wodurch eine breite Schicht der Bevölkerung angesprochen wurde. Die von den Kommunisten propagierte gemeinsame Vergangenheit der jugoslawischen Völker verschwand weitgehend aus dem neuen dominanten politischen Diskurs (bzw. seinen jeweiligen nationalen Varianten), der nun eine radikale Wende vollzog. 14 Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs hatte für den sozialistischen jugoslawischen Staat eine wichtige Rolle in der politischen Legitimation und im Identitätsmanagement gespielt und bildete ein zentrales Feld der staatlich geförderten Erinnerungskultur. 15 Da sowohl der alte Staat als auch seine Vertreter und seine Geschichtsbilder politisch eliminiert werden sollten, setzte die neue politische Elite den Schwerpunkt ihrer Erinnerungskultur auf eine Umkodierung des Zweiten Weltkriegs. War die Geschichtsschreibung bis dahin auf dem linken Auge blind gewesen, so wurde sie nun auf dem rechten Auge blind. 16 Die Erinnerungen wurden auf selektive und manipulative Art und Weise in einen zeitgenössischen Kontext eingebunden. Die Tabuthemen der kommunistischen Herrschaft konnten zwar artikuliert werden; dies führte aber noch nicht zu einem kritischen Umgang mit der Vergangenheit. Vielmehr standen die Geschichtsversionen in der breiten Öffentlichkeit in einem Konkurrenzverhältnis, bei dem es nicht um differenzierte Aufarbeitung, sondern vor allem um die Vergehen der jeweils anderen nationalen Seite ging. Hinzu kam, dass der Zweite Weltkrieg ein Thema war, das bei älteren Zeitgenossen noch zur persönlichen Erinnerung gehörte. Viele interethnische Auseinandersetzungen von damals waren in Jugoslawien aus dem öffentlichen Gedächtnis getilgt worden, nicht aber aus den individuellen 13 Siehe hierzu das Vorwort von Ulf Brunnbauer in Kulji ć , Umkämpfte Vergangenheit (Anm. 3), S. 11. 14 Vgl. Slavenka Drakuli ć , Oni ne bi ni mrava zgazili, Beograd 2004, S. 11 (dt. Ausgabe: Keiner war dabei. Kriegsverbrechen auf dem Balkan vor Gericht, Wien 2004). 15 Vgl. Tanja Popovi ć , Die Mythologisierung des Alltags. Kollektive Erinnerung, Geschichtsbilder und Vergangenheitskultur in Serbien und Montenegro seit Mitte der 1980er Jahre, Zürich 2003, S. 63. 16 Holm Sundhaussen, Geschichte Serbiens. 19. - 21. Jahrhundert, Wien u. a. 2007, S. 383. Nationalisten und Jugonostalgiker 187 <?page no="188"?> Erinnerungen. 17 Eine Vergangenheitsbewältigung hatte in der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien nicht stattgefunden. 18 Die Kommunisten versuchten, mit den nationalistischen Exzessen des Zweiten Weltkriegs im Sinne einer antifaschistischen Doktrin pauschal abzurechnen und damit alle Konflikte und Kontroversen aus dem kollektiven Gedächtnis zu tilgen. 19 Die postjugoslawische Mobilisierungsmaschinerie hob dagegen gezielt die traumatische Vergangenheit hervor, die traumatischen Erlebnisse sollten nun wieder in das öffentliche Gedächtnis gehoben werden. Traumatische Spuren wurden von Zeitzeugen weitergegeben, das Verdrängte kam zum Vorschein - und damit eine weitgehend unbewältigte Vergangenheit. Diese unverarbeitete Geschichte bot Spielraum für die Formierung neuer Geschichtsnarrative und einen fruchtbaren Nährboden für nationalistische Parolen, die verdrängte Gefühle reaktivierten. 20 Die umcodierte Vergangenheit und die Erfahrungen der Gegenwart gingen ineinander über und schürten die Angst vor einer grausamen Wiederholung der Geschichte. Die Deutung der gesamten Nachkriegszeit wurde in Frage gestellt, was sich nicht nur auf die Lebenswelt der Menschen, sondern auch auf ihre Identitätskonstruktionen auswirkte. 21 Wie zuvor die Kommunisten, arbeiteten auch die neuen Nationalisten zielstrebig an der Herausbildung eines kollektiven Gedächtnisses und der damit verbundenen kollektiven Identitätsentwürfe. Die jüngste Vergangenheit zeugt von einem ‹ erfolgreichen › Verlauf der nationalen Homogenisierung, begleitet von einer Umformung der Identitäten, die «auf der Bindung an gemeinsame Wertüberzeugung, der Erinnerung an eine gemeinsame Geschichte und der Orientierung auf gemeinsame Ziele [beruht].» 22 Hat sich dieser Entwicklung jemand widersetzt, und wenn ja, auf welche Weise? Stef Jansen beschreibt die Menschen, die versucht haben, eine ‹ normale › Kontinuität des eigenen Lebens bei- 17 Wolfgang Höpken, Krieg und historische Erinnerung auf dem Balkan, in: Eva Behring/ Ludwig Richter/ Wolfgang Schwarz (Hrsg.): Geschichtliche Mythen in den Literaturen und Kulturen Ostmittel- und Südosteuropas, Stuttgart 1999, S. 371 - 378, hier 375. 18 Wolfgang Höpken, «Vergangenheitsbewältigung» in Südosteuropa: Chance oder Last? , in: Südosteuropa 48/ 1999, S. 613 - 628. 19 Marie-Janine Calic, Der Krieg in Bosnien-Herzegowina. Ursachen - Konfliktstrukturen - Internationale Losungsversuche. Frankfurt/ M. 1995, S. 52. Während des Zweiten Weltkrieges verlor Bosnien-Herzegowina über 10 % seiner Bevölkerung, d. h. dass kaum irgendeine Familie verschont blieb. Kroatien verlor mehr als 7 %, Serbien weniger als 5 % der Gesamtbevölkerung. 20 Ebd., S. 54. 21 Vgl. Popovi ć , Die Mythologisierung des Alltags (Anm. 15), S. 58. 22 Ebd., S. 22 f. 188 Armina Galija š <?page no="189"?> zubehalten bzw. herzustellen. In diesem Erinnerungsmilieu wurde versucht, die nationale Zugehörigkeit zu de-problematisieren und sie auf ein Element des Alltags herunter zu brechen. Sie hielten an ihren Erinnerungen aus jugoslawischer Zeit fest. Ihre Jugonostalgie wurde nach Jansen nicht nur Teil des persönlichen, sondern auch des politischen Kampfes. 23 Sie sollen dadurch ethisch und im Sinne der Rettung einer persönlichen und intersubjektiven Kontinuität agiert haben und stellen eine antinationalistische, gegen den verheerenden dominanten Diskurs gerichtete, trotz ihrer marginalen Position wichtige Diskursströmung dar. 24 Es stellt sich jedoch die Frage, inwiefern die Vertreter der erinnerungspolitischen Opposition tatsächlich anti-kollektivistisch und subversiv gewesen sind. Sie bildeten eine heterogene Gruppe, die einen Gegenpol brauchte, um sich zu behaupten. Es entstand wiederum ein Andersdenkenden gegenüber verschlossenes Erinnerungsmilieu, dessen Mitglieder sich selbst als urbane, frei denkende Individualisten im Gegensatz zu den ungebildeten Nationalisten definierten und wahrnahmen. Die Nationalisten vermittelten den Menschen ein Zugehörigkeitsgefühl, und Ähnliches gilt für die Antinationalisten bzw. Jugonostalgiker. 25 Die Letzteren hatten nicht die Mittel bzw. die Infrastruktur wie die Ersteren, um sich als Einheit zu konsolidieren und Geschichtspolitik zu betreiben, und so die Massen für die eigenen Ideen zu gewinnen, aber sie profitierten von anderen Kapitalien und Kontexten, die ihnen doch eine beträchtliche Anzahl von Menschen zugetrieben haben. Dazu zählt neben der Nostalgie auch die wirtschaftliche und politische Misere, die heute in mancherlei Hinsicht schlimmer ist als in den Neunzigerjahren. 26 Dies 23 Jansen, Antinacionalizam (Anm. 9), S. 219 - 244. 24 Vgl. dazu auch: Leksikon YU mitologije, hrsg. von Iris Andri ć u. a., Beograd 2004. S. 4 f. 25 Jansen, Antinacionalizam (Anm. 9), S. 267. 26 Nostalgie ist besonders dann ausgeprägt, wenn die Gegenwart problematisch erscheint. Stef Jansen beschreibt die ‹ Jugonostalgie › als eskapistische Strategie, die den Menschen ermöglicht hat, die Wirklichkeit zu vergessen und eine idyllische Vergangenheit zu konstruieren. Siehe Jansen, Antinacionalizam (Anm. 9), S. 221. Eine gute Darstellung der ‹ Titostalgie › in Slowenien bietet Mitja Velikonja, Titostalgia. A Study of Nostalgie for Josip Broz. Ljubljana 2009. Mehr zu Jugonostalgie: Emilija Miji ć , Yustalgija: se ć anje i materijalna kultura socijalizma kao okvir za konzumiranje sada š njosti, in: Etnoantropolo š ki problemi, 3/ 2011, S. 763 - 778; P. Markovi ć , Emocionalna topografija se ć anja jugonostalgije: Primer Leksikona YU mitologije, in: Gordana Đ eri ć (Hrsg.): Pam ć enje i nostalgija, Beograd 2009, S. 201 - 221; Leksikon YU mitologije, hrsg. von Iris Andri ć u. a., Beograd 2004; Ivica Bakovi ć , (Jugo)nostalgija kroz nao č ale popularne kulture, ‹ http: / / philologicalstudies.org/ dokumenti/ 2008/ vol2/ 2/ 1.pdf › (Zugriff: 18. 5. 2013). Nationalisten und Jugonostalgiker 189 <?page no="190"?> bezieht sich vor allem auf Bosnien-Herzegowina, wo die langfristigen Auswirkungen des Krieges besonders gravierend sind. Im nationalistischen wie im nostalgischen Lager herrschen schwarzweiße Schemata, Sympathie für Gleichgesinnte und Abneigung gegenüber Andersdenkenden sowie die Tendenz zur homogenisierend-selektiven Wahrnehmung von Gemeinsamkeiten innerhalt des eigenen Lagers. In beiden Fällen ist eine starke Emotionalisierung der Erinnerungen zu beobachten, die Begrenzung auf ein narratives Schema und die Wiederkehr gleicher Motive und Symbole. Die narrativen Plots, die im jugonostalgischen Diskurs der Illustration von Freiheit, Einheit und wirtschaftlichem Wohlstand dienen, zeugen allerdings eher vom Gegenteil dieser Idealvorstellungen. So ist beispielsweise immer wieder die Rede von der Freiheit und dem roten Pass, mit dem man überall reisen konnte, oder von den sprichwörtlichen Blue Jeans aus Triest. Die jungen Jugoslawen fuhren über Nacht nach Italien, nicht weiter als bis nach Triest, kauften dort tagsüber billige Klamotten, um abends wieder nach Hause zu fahren. Sie hatten kein Geld, um dort länger zu bleiben, sie mussten bis Triest fahren, um einfache Blue Jeans zu kaufen und mussten sich an der Grenze angstvoll überlegen, wie sie noch 2 kg Kaffee für die Mutter heimschmuggeln können. Die meisten haben es nur bis nach Triest geschafft, obwohl sie diesen Reisepass hatten, mit dem man überall hinfahren konnte. Diese Geschichte ruft nicht nur wehmutige Erinnerung an die vergangenen Zeiten hervor, sondern gilt in diesem Diskurs immer noch als erstrebenswerter Maßstab. Die Mitglieder des nostalgischen Erinnerungsmilieus sind in der Regel von ihrer Urbanität und ihrer Weltoffenheit überzeugt, bleiben aber dennoch in ihrer eigenen ‹ Welt › eingeschlossen. 27 Sie sind generell von der eigenen Denkschärfe, Wahrheitstreue und Gerechtigkeit überzeugt und lassen nicht viel Raum für Kompromisse und Austausch mit Andersdenkenden. Nicht die jugoslawische Vergangenheit möchte ich in Frage stellen, sondern die begrenzten Diskurse, die sich vergleichbarer Narrative bedienen, reduzierte Sichtweisen präsentieren und Stereotype perpetuieren, die den Blick in die Vergangenheit verstellen. In beiden Diskursen verläuft die Erinnerung zunehmend nach vorgegebenen Mustern, wird auf wenige, mythologisierte und kaum hinterfragte Elemente reduziert. Beide Diskurse beruhen auf einer polaren Vorstellung von Gut und Böse, beide sind oft realitätsfern. Persönliche Erfahrungen bleiben in beiden Fällen weitgehend auf der Strecke. 27 Mehr über den Gegensatz von Stadt und Land als Kulturphänomen: Boris Buden, Kaptolski kolodvor: politi č ki eseji, Beograd 2002, S. 122. 190 Armina Galija š <?page no="191"?> Auch die eingangs erwähnte Gruppe von Antinationalisten schwelgte in solchen Erinnerungen, fand auch das Album der bosnischen Pop-Rock Band Zabranjeno pu š enje mit dem Titel Agent tajne sile (Agent einer geheimen Macht) von 1999 bemerkenswert. Auf diesem Album ist das Lied Yugo 45 zu hören, mit folgendem Text: Das waren gute Zeiten Alles auf Kredit, alles für die Kumpels, mein Freund Ein bisschen Sprit ins Auto und dann nach Triest für Jeans Das waren gute Zeiten Ein bisschen Ausflüge, ein bisschen Meer Im Haus viel Lachen, im Hof der Yugo 45 Bilo je to dobro vrijeme Sve na kredit, sve za raju, jarane U auto naspi č orbe, pa u Trst po farmerke Bilo je to dobro vrijeme Te na izlet, te malo na more U ku ć i puno smijeha, u ba šć i Yugo 45 Es fuhr ihn Nachbar Franjo, um Äpfeln zu verkaufen Es fuhr ihn Nachbarn Momo in die Geburtsklinik Es fuhr in Onkel Mirso, wenn er ausging Ich fuhr ihn auch, wenn ich Schlüssel klaute Vozio kom š ija Franjo, da proda jabuke Vozio kom š ija Momo, da mu ž enu porode Vozio ga daid ž a Mirso, kad je i š 'o u kurvaluke Vozio ga malo i ja kad bi' mazn'o klju č eve Ich spähte eines Abends, hörte Stimmen aus dem Hof, Momo, Franjo, Onkel Mirso etwas Stilles bereden sie gaben sich dann die Hände, auf Nachbarn geht man nicht los tranken noch einen und gingen weg an dem Abend sah unser Yugo sehr klein aus Virio sam jedno ve č e, iz ba šč e č uo glasove Momo, Franjo, dajd ž a Mirso ne š to tiho govore, onda pru ž i š e si ruke, na kom š iju se ne mo ž e onda popi š e po jednu i razguli š e izgledao je ba š mali to ve č e na š Yugo 45 Wir flohen eines Morgens mit zwei Plastiktüten Zuerst über die Leninstraße, dann über die Laibacherstraße Heute geht es uns besser, neue Stadt, neue Wohnung Vater wurde wichtig, er ist Kantonalminister Aber bei mir im Kopf ist das gleiche Bild, der gleiche Flash Das alte Haus, der kleine Hof und dort der Yugo 45 Pobjegli smo jednog jutra s dvije kese najlonske Prvo malo Lenjinovom pa preko Ljubljanske Danas nam je mnogo bolje, novi grad i novi stan Stari nam je post'o fora, kantonalni ministar Ali meni je u glavi uvijek ista slika, isti fle š Stara ku ć a, mala ba šć a i u njoj Yugo 45 Nationalisten und Jugonostalgiker 191 <?page no="192"?> Obwohl der in Kragujevac hergestellte Pkw Yugo 45 nicht nur als nostalgisches, sondern auch als spöttisch-ironisches Wahrzeichen Jugoslawiens fungierte, und obwohl der Videoclip zu dem Song den Stoff parodistisch verzerrt, 28 ist das Lied selbst einer Idealisierung der Vergangenheit verpflichtet. Nicht zufällig fallen Namen aus allen drei ethnischen Gruppen, die vor dem Krieg harmonisch zusammen leben und sich am Anfang des Krieges friedlich trennen, denn «auf Nachbarn geht man nicht los». Allerdings bleibt die Frage offen, warum es trotz friedlicher Trennung zu dem abendlichen Gespräch kommen muss, und wer hier auf wen geschossen hat. Der Krieg und seine Ursachen, wie aus dem Nichts gekommen, bleiben eine Leerstelle, die durch die idealisierte Vorgeschichte des Krieges verdeckt wird. 3. Die ‹ Subversivität › der Jugonostalgiker Das Selbstbild des jugonostalgischen Milieus, vor allem die Vorstellung von seinem subversiven und alternativen Charakter, ist kritisch zu überprüfen. Nehmen wir als Fallbeispiel die zu Kriegsbeginn in Sarajevo abgehaltenen Antikriegsdemonstrationen, die im nostalgischen Milieu irrtümlich als eine gewisse realpolitische Alternative wahrgenommen werden. Am 4. April 1992 versammelten sich die Menschen vor dem bosnisch-herzegowinischen Parlament, um den Sturz in den Abgrund der Gewalt zu verhindern. Betrachtet man heute die Bilder der Demonstration, stellt man fest, dass es sich vor allem um einen Verzweiflungsakt gehandelt hat, um eine Manifestation von Unzufriedenheit und Ohnmacht. Bilder von Tito und rote Fahnen signalisierten einen realitätsfernen Weg in die Vergangenheit. Die antinationalistische Einstellung der Demonstranten, die sich später partiell zu einer jugonostalgischen entwickelte, ist kaum als subversiv zu bezeichnen: Die Protesthaltung bot den Antinationalisten einen mentalen Zufluchtsort, ging aber mit keiner Vision und keinen Lösungsvorschlägen einher. Die Nationalisten waren diejenigen, die den Rhythmus angaben. Die Bemühungen um eine alternative Haltung, die von einer Verklärung der Vergangenheit ausgeht, lassen bis heute nicht nach. Am 1. Mai 2013 entrollten Fe đ a Š tukan und Emir Hod ž i ć eine überdimensionierte Fahne der Sozialistischen Republik Bosnien-Herzegowina von einer Dachterrasse im Stadtzentrum von Sarajevo. In ihrer Stellungnahme 28 Vgl. ‹ http: / / www.youtube.com/ watch? v=0IofpvkGJPM › (Zugriff: 18. 2. 2014). Eine Analyse des Liedes auch bei Bakovi ć , (Jugo)nostalgija (Anm. 26). 192 Armina Galija š <?page no="193"?> für die Medien heißt es, sie hätten «die Bürgerinnen und Bürger daran erinnern [wollen], dass es eine Zeit gab, als wir alle gleich waren - unter einer Fahne.» 29 In der Stellungnahme idealisieren sie die alte Gesellschaftsordnung und sprechen von einer vorbildlich säkularisierten Gesellschaft. Ihr ‹ komparatives › Argument besteht darin, dass die neuen Fahnen mit Blut getränkt seien und die alte nicht. Dabei ist allgemein bekannt, dass die rote Fahne das Blut der Arbeiter symbolisiert; die entsprechende Floskel von der ‹ blutgetränkten sozialistischen Fahne › war auch in Jugoslawien ein Topos des revolutionären Diskurses. 30 Außerdem sind in der Nachkriegszeit auch unter dieser Fahne Verbrechen verübt worden - Exekutionen des Feindes und Abstrafungen politisch Andersdenker. Eine Alternative zu den neuen Konflikten kann und soll daher nicht im alten Mainstream-Diskurs und in einer Geschichtsdarstellung gesucht werden, die eine ausgewogene Diskussion über Vergangenheit und Gegenwart erschweren. Hinzu kommt der Sachverhalt, dass sich das Narrativ vom harmonischen Zusammenleben im sozialistischen Bosnien-Herzegowina nicht selten mit dem aktuellen bosniakischen nationalistisch-unitaristischen Diskurs deckt und in diesem Kontext funktionalisiert wird. Ähnliches ist im serbischen Fall mit Bezug auf Jugoslawien als Ganzes zu beobachten: Der Kampf für Jugoslawien war oft mit serbischen Aspirationen und Wünschen nach einem großen Staat verbunden, in dem alle Serben zusammenleben würden; also mit einem großserbischen Nationalismus jugoslawischer Provenienz. 31 Die unterschiedlichen Formen der Funktionalisierung der Vergangenheit machen sich in den aktuellen Diskursen und Praktiken der Jugonostalgie in Bosnien-Herzegowina bemerkbar. So fallen etwa Unterschiede zwischen der serbisch dominierten Stadt Banja Luka und der bosniakisch dominierten Stadt Sarajevo auf. Bei der letzten ‹ Feier › anlässlich des ehemaligen jugoslawischen Tages der Jugend, der am 25. Mai 2013 angedacht wurde, war in Banja Luka nur die ex-jugo- 29 Za jednakost, bez izvinjenja, in: Seecult. Portal za kulturu jugoisto č ne Evrope, 5. 1. 2013, ‹ http: / / www.seecult.org/ vest/ za-jednakost-bez-izvinjenja › (Zugriff: 13. 5. 2013). Siehe hierzu: Alan Pejkovi ć , Pod zastavom populizma, in: Pe šč anik. net, 23. 5. 2013, ‹ http: / / pescanik.net/ 2013/ 05/ pod-zastavom-populizma › (Zugriff: 24. 5. 2013). 30 In dem damals allgemein bekannten Partisanen-Lied Konjuh planinom lauten die Schlusszeilen: «Am Bergesgipfel eine Fahne weht, vom Blut der Proletarier rot.» («A na vrh planine zastava se vije,/ crvena od krvi proletera.»). 31 Mehr hierzu bei Jansen, Antinacionalizam (Anm. 9), S. 219 - 233. Siehe auch Armina Galija š , Eine bosnische Stadt im Zeichen des Krieges. Ethnopolitik und Alltag in Banja Luka (1990 - 1995), München 2011, S. 92 - 94. Nationalisten und Jugonostalgiker 193 <?page no="194"?> slawische Fahne (SFRJ), aber keine ex-bosnisch-herzegowinische Fahne (SR BiH) zu sehen, während in Sarajevo auch Letztere zu sehen war, was mit dem bosniakisch-unitaristischen Diskurs korrespondiert. In Banja Luka wurde der schönen Vergangenheit im sozialistischen Jugoslawien gedacht, während in Sarajevo auch von dem schönen Leben in der Sozialistischen Republik Bosnien-Herzegowina die Rede war. 32 4. Komplementarität von Nationalismus und Jugonostalgie Wagt man sich noch einen Schritt weiter, so kann behauptet werden, dass die jugoslawischen Nationalismen und die Jugonostalgie keine Gegenpole darstellen, sondern komplementäre Aspekte einer postjugoslawischen Identität. In der Sicht der Jugonostalgiker wurde die - generell positiv bewertete - jugoslawisch-sozialistische Lebenswelt mutwillig zerstört, wobei sowohl die Akteure der Zerstörung als auch die eigene Bezugsgruppe oft national definiert werden: «Ach, diese Serben, ich verstehe nicht, warum sie ein so schönes Land zerstört haben.» Solche Aussagen - oft von Bosniaken zu hören - lassen Zweifel an der ‹ Liebe › gegenüber dem multiethnischen Staaten aufkommen. Wenn man nachfragt, was von den alten Zeiten vermisst wird, bekommt man Aussagen folgender Art zu hören: «Jugoslawien war ein großes Land. Im Sport waren wir die besten. Man wusste, wo Jugoslawien liegt und wer Tito ist. Wir wurden in der Welt respektiert.» Inwieweit unterscheidet sich diese Ansicht von einer nationalistischen, abgesehen davon, dass hier ein multiethnischer Staat den Ausgangspunkt bildet 33 und dass die erklärten Jugonostalgiker offenbar die Loser der jugoslawischen Zerfallsprozesse sind? Was ist für einen Nationalisten wichtig, wenn nicht Größe, Stärke und Bedeutung der Nation? Es ist unbestritten, dass es einen großen Unterschied macht, ob man eine multiethnische oder eine exklusiv nationale Gesellschaft befürwortet und idealisiert. Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte hat allerdings gezeigt, dass der Übergang von der einen zur anderen Haltung sowohl in systematischer, als auch in diachroner Sicht fließend ist. Zum 32 Vgl. zu Banja Luka: ‹ http: / / www.atvbl.com/ titova-stafeta-banjaluci › ; zu Sarajevo: ‹ http: / / www.radiosarajevo.ba/ novost/ 113616/ sarajevo-obiljezen-dan-mladosti › (Zugriff: 2. 5. 2013). 33 Eine multikulturelle Gesellschaft muss nach Bhikhu Parekh in noch größerem Ausmaß als ein homogener Staat die Gefühle der Einheit und der gemeinsamen Zugehörigkeit bei den Bürgern fördern. Vgl. Bhikhu Parekh, Rethinking multiculturalism: cultural diversity and political theory, Basingstoke 2006. 194 Armina Galija š <?page no="195"?> einen pflegen viele Menschen im postjugoslawischen Raum, ob sie nun eher jugonostalgisch oder nationalistisch ausgerichtet sind, vergleichbare Denkmuster zu bedienen; zum anderen verlief auch die ideologische Transition Ende der 1980er und Anfang der 1990er gerade deswegen so schnell und reibungslos, weil sich die Denkmuster selbst nicht gravierend verändert haben. Wo genau verläuft die Grenze zwischen den Diskursen? Sollte man sich nicht beiden entziehen? Was haben diese Diskurse mir persönlich zu bieten? Dem nationalistischen Diskurs zufolge ist meine Heimatstadt Banja Luka eine exklusiv serbische Stadt, ist es immer gewesen und wird es für immer bleiben. Das wäre der Ansicht der Nationalisten nach nur gerecht, da die Serben dort autochthon sind und die Stadtgeschichte geprägt haben, da die Stadt das administrative Zentrum der Republika Srpska ist, usw. Alle anderen, die keine Serben sind, sind aus diesem Diskurs ausgeschlossen. Die Jugonostalgiker hingegen beschreiben diese Stadt vor dem letzten Krieg als eine wahre Oase des Friedens, der Sorglosigkeit und der blühenden Kultur. Die Stadt sei sauber gewesen, die Menschen hätten sich gegenseitig unterstützt, Mischehen wären gang und gäbe gewesen, man habe nicht gewusst, wer welcher Nationalität war, man sei zum Ramadanfest, zu Ostern oder zu Weihnachten zu Freunden gegangen und gemeinsam gefeiert. Nach Ausbruch des Krieges soll davon nichts übrig geblieben sein, alles sei nun rückständig, die Menschen hätten sich geändert, aus einer schönen Stadt sei ein großes Dorf geworden, usw. Keine dieser polaren Vorstellungen entspricht der Realität. Banja Luka war weder eine serbische Stadt, noch eine friedliche Oase, in der man nicht wusste, wer wohin gehört. Man musste die ethnische Zugehörigkeit bei der Besetzung von wichtigen Posten in der Politik und Wirtschaft wissen und auch, um mit ihnen das Ramadanfest, Ostern oder Weihnachten feiern zu können. Man wusste, wer wo begraben wird und welche Namen man den Kindern gibt. Selbstverständlich gab es Ausnahmen, auch einen sogenannten atheistischen Teil des Friedhofs, oder Namen, die nicht direkt auf eine ethnische Zugehörigkeit hindeuten; aber beides gibt es heute noch. Man könnte sagen, dass die Zugehörigkeit nicht so wichtig, nicht so plakativ und bestimmend war, aber man wusste es sehr wohl, vor allem, weil man die Zugehörigkeit nicht nur anhand eines einzigen Elements feststellen konnte - dafür gab es und gibt es eine Palette von Merkmalen. Tatsache ist, dass die nationalistischen Politiker mit ihren Taten und Entscheidungen seit Anfang der 1990er eine gewaltige demographische Veränderung bewirkt haben. In diesem Zusammenhang wurden die sogenannten Mischehen im nationalistischen Diskurs Nationalisten und Jugonostalgiker 195 <?page no="196"?> angeprangert und als unerwünscht erklärt. 34 Heute gibt es rassistische Aussagen über Mischehen, wie wir sie aus den 1990er Jahren kennen, im öffentlichen Diskurs in Bosnien-Herzegowina kaum noch, und die Ausnahmen rufen heftige Reaktionen hervor. 35 Im jugonostalgischen Diskurs wird das Lied Bo š ko und Admira (2013) der bereits erwähnten Pop-Rock-Band Zabranjeno pu š enje als Ode an die Mischehen und die ‹ guten alten Zeiten › verstanden. Aber auch in diesem Lied überlagern sich die Diskurse. Dass dies unbewusst und ungewollt geschieht, dessen bin ich mir ziemlich sicher, da sich der Autor Davor Su č i ć Sula als einer der prominentesten Vertreter des antinationalistischen Diskurses profiliert hat. Aber was steht im Text? Das Lied Bo š ko und Admira 36 greift die wahre Geschichte eines Serben und einer Bosniakin im belagerten Sarajevo auf, die im Mai 1993 beim Fluchtversuch aus der Stadt, zwischen den Frontlinien in der Nähe von Vrbanja most (Vrbanja Brücke), erschossen wurden. Bis heute ist nicht geklärt worden, von 34 Zu den sog. Mischehen in Bosnien-Herzegowina siehe Nada Peri š i ć , Mje š oviti brakovi u Bosni i Hercegovini, Sarajevo 2012. Zur Diffamierung mehr bei Davor Beganovi ć , Postapokalypse im Land der «guten Bosnier». Kulturkritik als Quelle des kulturellen Rassismus, in: Sabina Ferhadbegovi ć , Brigitte Weiffen (Hrsg.), Bürgerkriege erzählen. Zum Verlauf unziviler Konflikte, Konstanz 2011, S. 201 − 224; Galija š , Eine bosnische Stadt (Anm. 31), S. 173 − 174 und 210 − 211. 35 Für Furore sorgte ein Text von Nikola Pejakovi ć unter dem Titel «Mije š ano meso» (Gemischtes Fleisch) in seiner Kolumne in Glas Srpske (18. 11. 2012). Die Originalfassung: ‹ http: / / www.etrebinje.com/ magazin-sve/ kategorije-arhiva-tekstova-po -kategorijama/ umjetnost-i-kultura/ 2206-nikola-pejakovic-mijesano-meso › . Diese Fassung ist nicht mehr auf der Website von Glas Srpske zu finden. Reaktionen auf diese Kolumne: Dragan Bursa ć , Mije š ani brakovi - fa š irano meso koje misli, Buka, 19. 11. 2012, ‹ http: / / www.6yka.com/ novost/ 30965/ dragan-bursac-mijesani-brakovi-fasirano-meso-koje-misli › (Zugriff: 28. 4. g2013); Marija Arnautovi ć , Izme đ u slobode govora i vrije đ anja u BiH: Na tapeti mije š ani brakovi, Radio Free Europe, 22. 11. 2012, ‹ http: / / www.slobodnaevropa.org/ content/ izmedju-slobode-govorai-vrijedjanja-u-bih-na-tapeti-mijesani-brakovi/ 24778688.html › (Zugriff: 28. 4. 2013); Florian Bieber, «Mixed Meat ” or a lesson in national purity in Republika Srpska, ‹ http: / / fbieber.wordpress.com/ 2012/ 11/ 19/ lesson-in-national-purity-in-republika-srpska/ › (Zugriff: 28. 4. 2013). Die Entschuldigung von Nikola Pejakovi ć : Ž ao mi je š to sam uvrijedio ljude, Radio Sarajevo (20. 11. 2012), ‹ http: / / www.radiosarajevo. ba/ novost/ 95107/ nikola-pejakovic-zao-mi-je-sto-sam-uvrijedio-ljude › (Zugriff: 28. 4. 2013). 36 Videoclip: ‹ http: / / www.youtube.com/ watch? v=OMMfW3IqiFE › (Zugriff: 2. 5. 2013); Text: ‹ http: / / tekstovi.net/ 2,550,38 751.html › (Zugriff: 2. 5. 2013); Dokumentarfilm über Admira Ismi ć und Bo š ko Brki ć Romeo and Juliet in Sarajevo, Frontline, 10. Mai 1994, ‹ http: / / www.youtube.com/ watch? v=gl5uww_qDAs › und in Kvadratura kruga von RTS (Serbischer Rundfunk), November 2012, ‹ http: / / www. youtube.com/ watch? v=ZWzrrWnlS2E › (Zugriff: 28. 4. 2013). 196 Armina Galija š <?page no="197"?> welcher Seite die Schüsse kamen: «Es ist lange her, in einem Land, das es nicht mehr gibt [. . .] Bo š ko und Admira, das war eine Filmstory [. . .] Sie hatten keine Chance [. . .] Sie waren nicht vom gleichen Stamm und hatten nicht den gleichen Gott, aber sie hatten einander und einen Traum von Flucht [. . .] Ist der Himmel der einzige Ort, wo wir zusammen sein können? » Der Text evoziert eine ideale Zeit und ein ideales Land, wo eine zwischen-ethnische Liebe möglich war, und impliziert, dass so etwas heute nicht mehr möglich ist. Der Text gibt einer solchen Liebe keine Chance. Perpetuiert nicht auch dieser ‹ antinationalistische › Text die herrschenden Stereotype vom Krieg, von Stämmen, Göttern und unüberbrückbaren ethnischen Divergenzen, indem er diese Begriffe zwar als Topoi des nationalistischen Diskurses zitiert, jedoch keinen alternativen Raum öffnet? Wird damit nicht die Wirkungsmacht dieser Topoi bestätigt und der nationalistische Diskurs indirekt bekräftigt? Dem antinationalistischen Diskurs, der in der Jugonostalgie stecken bleibt, fehlt die alternative Perspektive. 5. «Blenden wir den Krieg einfach einmal aus» Ich frage mich, wo im Alltag eine Positionierung der Post-Jugoslawen jenseits von Nationalismus und Jugonostalgie oder deren Kombination überhaupt zu finden ist. Wie ändert man die Perspektive? Wie entzieht man sich den herrschenden Denkmustern? Wenn das Erinnerte eine Interpretation des Gegenwärtigen ist und die Vergangenheit in der Gegenwart konstruiert wird, 37 kann man sich dann überhaupt ‹ wahrheitsgemäß › erinnern? Die Gegenwartsbilder prägen ebenso das Bild der Geschichte wie die Zukunftsvorstellungen durch eine Verflechtung von Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektive. Da der letzte Krieg eine tiefe Zäsur im Leben vieler Jugoslawen darstellt und einen zentralen Orientierungspunkt in deren Erinnerungen bildet, stellt sich die Frage nach der anhaltenden Gegenwart dieses Krieges. Wie setzt man sich damit auseinander? Florian Bieber schlägt bei der Erforschung Jugoslawiens einen heuristischen Trick vor: «Blenden wir den Krieg einfach einmal aus und versuchen, Jugoslawien ‹ für sich › zu verstehen.» 38 Ich würde sagen, 37 Kulji ć , Umkämpfte Vergangenheit (Anm. 3), S. 72. Vgl. auch Hayden White, Das Problem der Erzählung in der modernen Geschichtstheorie, in: Pietro Rossi (Hrsg.), Theorie der modernen Geschichtsschreibung, Frankfurt/ M. 1987. 38 Andreas Ernst, Jugoslawien ohne Krieg. Unter den Nachfolgestaaten beginnt sich die Perspektive auf die Geschichte des zweiten Jugoslawien zu lockern, NZZ, Nationalisten und Jugonostalgiker 197 <?page no="198"?> blenden wir den Krieg einfach aus und versuchen auf diese Weise auch den postjugoslawischen Raum zu verstehen. Bietet der Krieg nicht manchmal ein Alibi für alles gegenwärtig Schlechte, was eventuell auch ohne den vergangenen Krieg heute schlecht wäre? Wird nicht alles Vergangene idealisiert, weil es mit Gewalt zerstört wurde? Lehnen manche Menschen nicht von vornherein alles gegenwärtig Positive ab, um nicht zugeben zu müssen, dass etwas besser ist als vor dem Krieg? Lehnen andere Menschen nicht alles ab, was mit der sozialistischen Ära zu tun hat, weil scheinbar alles in Krieg und Zerstörung mündete? Vielleicht kann man aus dem Teufelskreis der Erinnerungen ausbrechen, indem man versucht, nur sich selbst im historischen Kontext zu verstehen, ohne gleichzeitig alle anderen Lebenserfahrungen und Positionen, ohne die ganze Gesellschaft verstehen und deuten zu wollen? Ich versuchte mich selbst im historischen Kontext zu verstehen und Antworten auf die am Anfang des Textes gestellten Fragen zu finden. Wo und was ist meine Heimat und inwieweit korrespondieren meine diesbezüglichen Erinnerungen mit jenen anderer Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien? Wo bin ich eigentlich zu Hause? Anfang des Krieges 1992 verließ ich meine Heimat und eine Lebenswelt, die sich in Auflösung befand, und setzte mein Leben in einem anderen Land fort. Neue Bekanntschaften und Freundschaften, ein neues Lebensumfeld und eine neue Kultur führten mich zu der Erkenntnis, dass die Heimat eine Lebensmöglichkeit und kein Herkunftsnachweis ist. Sie ist nicht nur Ort der Geburt und der frühesten Sozialisation, sondern auch ein Ort, den man ‹ verlieren › , ‹ wieder gewinnen › oder ‹ neu finden › kann, ein Ort, an dem man sich zu Hause fühlt. Nachdem ich das Zugehörigkeitsgefühl zu einem neuen Staat und einer neuen Stadt entwickelt hatte, erkannte ich auch, nach welchem ‹ Rezept › ich mir meine alte Heimat nach einem Jahrzehnt der Heimatlosigkeit wieder ‹ aneignen › konnte. Es war ein Puzzlestein meiner Identität, der mir fehlte. Meine Erinnerung an die Stadt und an meinem Leben dort war verschwommen. Nach Jahren erzwungener Abwesenheit begann ich mich für die politische Situation und die Kulturszene zu interessieren, Literatur aus meiner und über meine Geburtsstadt sowie zur gesamten südosteuropäischen Region zu lesen - nicht nur berufsbedingt. Dass ich mich vor Ort keiner sozialen Gruppe zugehörig fühlte und mir keine Gruppensolidarität sichern musste, gab mir ein zusätzliches Freiheitsgefühl. Mit der Zeit konnte ich dort wieder meine eigene, mit der Stadt 11. Januar 2012. Online unter: ‹ http: / / www.nzz.ch/ aktuell/ feuilleton/ uebersicht/ jugoslawien-ohne-krieg-1.14266269 › (Zugriff: 17. 5. 2013). 198 Armina Galija š <?page no="199"?> verbundene Identität behaupten. Wenn ich jetzt in meine Heimatstadt fahre, knüpfe ich nicht nur an die Vorkriegszeit an, sondern tauche immer wieder in eine aktuelle Lebenswelt hinein, die ich Heimat nenne. Ich verlasse Banja Luka jedes Mal mit neuen Erinnerungen, die nicht in Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegserinnerungen unterteilt sind. Sie gehen ineinander über, verbinden sich und geben meinem Leben eine Kontinuität. Dabei dehnt sich die Palette meiner Entscheidungsmöglichkeiten und ein Perspektivenwechsel wird möglich. Ich habe das Gefühl, das eigene Gedächtnis ‹ im Griff › zu haben, habe das Gefühl, dass die eigene Identität deutlichere Umrisse bekommen hat, jenseits kollektiver Zugehörigkeit. Diese ist immer präsent und wichtig, aber immer nur partiell, keine feste und unveränderbare, sondern eine formbare und poröse Kategorie. 6. Fazit Die Ausrichtung an prägenden Ereignissen der ‹ großen Geschichte › , in diesem Fall an den Jugoslawien-Kriegen, tendiert in vielen Bereichen dazu, die Perspektive zu verengen. Die Erinnerungen erscheinen dann vor allem als Teil des einen oder anderen kollektiven Gedächtnisses; die Gegenwartswahrnehmung wird geprägt von der jeweiligen Wahrnehmung der Vergangenheit; und die wissenschaftliche Arbeit leidet womöglich an den methodologischen Schwächen einer Übergewichtung der Ereignisgeschichte. In meinem Fall wäre mir außerdem meine Heimatstadt Banja Luka ‹ genommen › worden, meine Kindheit und Jugend könnten schematische Konturen erhalten, und auch meine aktuelle Lebensführung wäre womöglich um einiges ärmer geraten. Hätte ich mich an den zwei dominanten Diskursen ausgerichtet, dem sogenannten nationalistischen und dem sogenannten jugonostalgischen, dann hätte ich vermutlich keine neue Beziehung zu meiner Heimatstadt aufbauen können. Wenn wir uns tatsächlich nicht an das ‹ eigentlich › Gewesene erinnern, sondern an das, wovon wir später eine Geschichte erzählen können, 39 dann empfiehlt es sich, Selektion und Modulation der Erinnerungen bewusster vorzunehmen. Heute fühle ich mich in Banja Luka wieder zu Hause - aber nicht nur dort. 39 Siehe Aleida Assmann, Gedächtnis-Formen, in: Bundeszentrale für politische Bildung, 26. 8. 2008, ‹ http: / / www.bpb.de/ geschichte/ zeitgeschichte/ geschichteund-erinnerung/ 39786/ gedaechtnisformen › (zuletzt eingesehen am 18. 5. 2013). Nationalisten und Jugonostalgiker 199 <?page no="201"?> Davor Beganovi ć Zwischen Engeln und Dämonen. Das Museum der bedingungslosen Kapitulation, mit persönlicher Note versehen Als ich 2007 eine Arbeit über die Figur des Engels in den postjugoslawischen Literaturen verfasste, 1 wusste ich etliche Dinge über Engel. Manche sind mir verborgen geblieben, manche habe ich, wahrscheinlich weil gerade ihre Offensichtlichkeit aufdringlich war, übersehen. Was ich nicht kannte, war die Studie Herrschaft und Herrlichkeit von Giorgio Agamben. 2 Ein Kapitel aus dieser Studie, ergänzt durch ein eigens für diesen Zweck geschriebenes Vorwort und die sog. Angelologie Thomas von Aquins, wurden in der deutschen Übersetzung vorab als separates Buch unter dem Titel Die Beamten des Himmels herausgegeben. 3 Agambens Überlegungen haben mich dazu geführt, meinen Aufsatz über die Engel noch einmal zu lesen und eine neue, ergänzende Lektüre von Dubravka Ugre š i ć s Roman Das Museum der bedingungslosen Kapitulation anzubieten. Die wertneutrale Funktion des Engels «nur» als Bote (und dementsprechend als jemand, der keinen Eigenwillen besitzt, der sich nur um den reibungslosen Ablauf der Kommunikation zwischen zwei Instanzen kümmert), 4 die ich damals als einzige erörtert habe, wird hier durch 1 Davor Beganovi ć , Allegorie der Rettung. Figur des Engels bei Dubravka Ugre š i ć , D ž evad Karahasan und Vladimir Arsenijevi ć , in: Davor Beganovi ć / Peter Braun (Hg.), Krieg sichten. Zur medialen Darstellung der Kriege in Jugoslawien, München, 2007, S. 151 - 170. 2 Giorgio Agamben, Herrschaft und Herrlichkeit. Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierung (Homo Sacer II.2), Frankfurt am Main 2010. 3 Giorgio Agamben, Die Beamten des Himmels. Über Engel, Frankfurt am Main 2007. Im weiteren Text werde ich dieses Buch benutzen: Erstens das Vorwort, das sich ausschließlich mit der Angelologie beschäftigt und die Problematik des Haupttextes zusätzlich erhellt und erklärt. Ich werde mich öfters dieses Supplements bedienen. Zweitens wurde das Buch durch die Hinzufügung der Angelologie Thomas von Aquins aus dem breiteren Kontext von Herrschaft und Herrlichkeit extrahiert und als eigenständiger Text etabliert. Als solcher lässt er sich nahtlos in meine Argumentation integrieren. 4 Wobei man nicht vergessen darf, dass diese Kommunikation immer schon als einseitig konstituiert wird. Gott richtet seine Botschaft an die Menschen und nur sie <?page no="202"?> eine Position der Macht, die die Engel annehmen und vertreten können, ergänzt. Herrschaft und Herrlichkeit, mit dem Untertitel «Homo sacer II.2» versehen, ermittelt die Beziehungen zwischen zwei Typen der Machtausübung. Einer ist sozusagen mit Befugnissen ausgestattet, die fast nur zeremoniell sind. Ihn nennt Agamben Herrschaft. Der andere - prosaischer, banaler, alltäglicher - bezieht sich auf das Administrative und wird folglich als Regierung bezeichnet. Genau dort ist die erste und wichtigste Funktion der Engel angesiedelt: Hier hat die Angelologie ihren Ort in der Ökonomie der göttlichen Weltregierung, deren Minister die Engel sind [. . .] die Namen der Hierarchie der Engel fallen seit jeher in weiten Teilen mit der Terminologie der Macht zusammen: Herrschaften, Obrigkeiten, Mächte, Throne [. . .] auch die Hierarchien der irdischen, sowohl kirchlichen wie weltlichen Herrschaft erweisen sich mit ihren Ämtern, Ministerien und Missionen durchgehend als eine Imitation der Ämter und Ränge der Engel. 5 Diese Funktion nennt Agamben in Anlehnung an Foucault «gouvernementale» 6 oder administrative und unterscheidet sie von anderen, die er als «assistierende» bezeichnet. In ihr beobachten und verherrlichen die Engel Gott: Insofern ist jeder Engel doppelt: Die verzückten Chöre, die im Himmel die ewige Herrlichkeit Gottes besingen, sind nichts anderes als der zeremonielle und liturgische Widerpart der fleißigen geflügelten Beamten, die auf der Erde die ‹ historischen › Verfügungen der Vorsehung vollstrecken. 7 Wie kann ich in dieser von Agamben gezeichneten Perspektive Alfred (und sein portugiesisches Alter Ego António), den verkörperten und äußerst präsenten Engel aus Ugre š i ć s Roman, neu positionieren? Wie unterscheidet er sich jetzt, nachdem ich neue Erkenntnisse über die Natur der Engel gewonnen habe, von jenem Bild, das ich vor ein paar Jahren entworfen habe? Kann der Engel unter diesen neuen Umständen auch sollen sie empfangen. Der Kommunikationsfluss in die umgekehrte Richtung, vom Menschen zu Gott, bleibt gesperrt. 5 Agamben, Die Beamten des Himmels (Anm. 3), S. 12. 6 Foucaults Ausarbeitung der Theorie der Gouvernementalität ist so ausufernd, dass ich sie hier nicht einmal im Ansatz zusammenfassen kann. Sie wurde dargestellt in zwei Vorlesungsreihen am Collège de France (1977/ 1978 und 1978/ 1979) und später in zwei Bänden zeitgleich mit dem französischen Original veröffentlicht: Michel Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung und ders., Die Geburt der Biopolitik, Frankfurt am Main 2004. Agambens Herrschaft und Herrlichkeit kann man zumindest teilweise als polemische Ergänzung von Foucaults Lehre verstehen. 7 Agamben, Die Beamten des Himmels (Anm. 3), S. 13. 202 Davor Beganovi ć <?page no="203"?> etwas über die politische Komponente seines Daseins sagen, die ich zu Gunsten der Elemente der Liebe vernachlässigt habe? Über den Engel habe ich damals das Folgende berichtet: «In entscheidenden Momenten setzt er seine Körperlichkeit ein und die dadurch entstandenen Synergien bezeugen die Kraft, die er besitzt und auszuüben willig ist. Diese Kraft stammt aus Alfreds Sexualität, aber gleichzeitig aus seiner Unwissenheit über sie.» 8 Das hat mich dazu geführt, den Engel als Botschafter Gottes zu konstruieren, der nur eine Rolle hat: das Vergessen mit sich zu bringen und den acht Frauen, den Teilnehmerinnen der Episode mit Alfred, die Erinnerungen an ihre Freundschaft zu bewahren und ihnen das Hässliche, was nach Alfreds Besuch passiert, zu ersparen, es aus der Welt zu tilgen. Ich weiß jetzt, dass es sich dabei nur um eine Teilwahrheit handelt. Alfred, so nett er sein mag, hat auch eine andere Seite, nicht unbedingt eine dunkle, aber doch eine andere, sowie eine (nicht unbedingt mit der anderen verbundene) durch den schwarzen Engel António geprägte, gefährliche Sexualität. Ich möchte jetzt, um diese neue interpretatorische Sichtweise zu erhärten, noch einmal die Geschichte von Alfred zusammenfassen und sie dann in Verbindung mit der Geschichte von António bringen. Damit hoffe ich Klarheit in die politische Seite des Geschehens zu bringen und die beiden Engel von ihrer auf den ersten Blick überbetonten Sexualität zu befreien. Alfred erscheint im sechsten Teil des Buches, der den Titel «Gruppenfoto» trägt. Dem Teil ist das folgende Motto vorangestellt: «Alfred ward herbeigeholt. Ein zartes, schmächtiges Bürschlein mit schmalen Schultern, dahinter zwei Flügel wallten, von rosa Lichtern übersprenkelt wie der Himmel von Tauben.» Auf die Bedeutsamkeit dieser Stelle komme ich noch zurück, zunächst soll es um den Inhalt des Kapitels gehen. Eine Gruppe von Frauen, alle Literaturwissenschaftlerinnen, dazu noch Slavistinnen, trifft sich, um ihre regelmäßige, von Ritualen bestimmte Versammlung abzuhalten. Es ist eine Zusammenkunft, bei der sie bravourös kochen, sich über die Schädlichkeit eines ebensolchen guten Essens unterhalten und dabei Karten legen. Letzteres beinhaltet so etwas wie eine Verbindung mit dem Jenseits. Alle kennen sich ausgesprochen gut, alle sind seit langem miteinander befreundet und, so könnte man klischeehaft sagen, haben keine Geheimnisse voreinander. In die gesellige Runde platzt eine Figur, die seltsam wirkt, die sich nicht richtig artikulieren kann, die den Anschein erweckt, sie sei aus einer anderen Welt gekommen: 8 Beganovi ć , Allegorie als Rettung (Anm. 1), S. 158. Zwischen Engeln und Dämonen 203 <?page no="204"?> Wir erfuhren, dass unser Besucher Alfred hieß und ein Engel war, dass er an der Aufgabe gescheitert war, eine gewisse Bo ž ica Ž nidar š i ć vor dem Zusammenstoß ihres Autos mit einem Lkw in der Maksimir-Straße zu behüten, was gleich um die Ecke war. Wir erfuhren, dass ihn der Unfall in Verzweiflung gestürzt hatte, dass er beim Anblick des beleuchteten Fensters, des einzigen in der Straße, plötzlich den Wunsch empfunden hatte, hereinzukommen, und so war er eben gekommen. 9 Alfred ist ein Engel, der bei der Erfüllung seiner Aufgabe gescheitert ist. Er sollte retten, aber er hat nicht gerettet. Seine Funktion, welche sich aus dieser fehlgeschlagenen Leistung entwickelt, erschöpft sich letztendlich im Kartenlegen. Spezifisch daran ist, dass er die Karten in die Luft wirft. Sie bleiben dort stehen, und er beginnt, seine Prophezeiung auszusprechen. Es war ein hypnotischer akustischer Mischmasch. Wir glaubten eine Tonaufnahme der ganzen Erde zu hören, die Sprachen der Menschen, Wüsten, Meere und Sterne. Alles vermengte sich miteinander, und nur weniges war zu verstehen. Was wir erfassen konnten, waren Zitate aus klassischen Werken der Weltliteratur [. . .], Zitate aus der Bibel, aus der Offenbarung Johannis [. . .], Botschaften aus Schatzkästchen bekannter Prophetien, buddhistischer Weisheiten und taoistischer Gemeinplätze. Alfred mischte Talmud-Zitate mit solchen aus dem Koran und diese wieder mit grundlegenden Lebensweisheiten des new age. Zitate aus sozialistischen Lesebüchern [. . .] fanden sich neben den Lehren tibetanischer Priester. Und als wir in dieser verwirrenden Aufführung ohne Anfang und Ende den Vers Im Tunnel mitten im Dunkeln sehn wir den roten Stern funkeln erkannten, wurde uns klar, was Alfred gemeint hatte, als er sagte, er habe sich vorbereitet. . . 10 Die Vorbereitung ist eine wissenschaftlich-historische. Alfred weiß, wohin er kommt, und lernt die Gemeinplätze des sozialistischen Jugoslawiens, um sie breiter zu kontextualisieren, aber dann wieder engzuführen, um sie fälschlicherweise, wie sich zeigen wird - in einen Zusammenhang mit den Stereotypen des sozialistischen Alltags zu bringen. Das Bild der Einheit bricht in dem Moment zusammen, in dem sich eine der Teilnehmerinnen der Seance (die kroatische Nationalistin, wie wir später erfahren) wehrt, die Verse des serbischen Dichters Jovan Jovanovi ć Zmaj zu hören. Alfred bringt unwillentlich Zwist in eine harmonisch wirkende Gesellschaft und zeigt sich dabei als jemand, der seine (vorgesehene) Funktion wieder nicht erfüllen kann. Um das end- 9 Dubravka Ugre š i ć , Das Museum der bedingungslosen Kapitulation, Frankfurt am Main 2000, S. 230. 10 Ugre š i ć , Das Museum (Anm. 9), S. 234. 204 Davor Beganovi ć <?page no="205"?> gültige Scheitern zumindest teilweise zu mildern, beschließt er, die Gnade seiner ätherischen Sexualität Ivana (einer Serbin) zu schenken. Sowohl sie als auch alle anderen Frauen werden aber ihre Erinnerungen an den Abend verlieren. Die Erzählerin hat als einzige das zweifelhafte Privileg des Gedächtnisses, das in einem Gruppenfoto manifest wird, das allerdings einen Mangel aufweist: Es ist nur für die Erzählerin sichtbar; alle anderen können es nicht sehen. Daraus leitet sich eine berechtigte Frage ab: Da gab es nichts, die Mädchen hatten alles vergessen, der Engel hatte mit seinem Verschwinden jede Spur seiner Anwesenheit getilgt. Aber ich war dort gewesen und habe Wein getrunken! Es blieb also unklar, warum der Engel mit seiner Feder des Vergessens nicht auch mich berührt hatte! » 11 Alfred ist nicht nur ein Bote, er verwaltet selber, ohne dass er dabei von Gott geleitet würde. Seine Verwaltung besteht in der Möglichkeit des Wählens. Er wählt, welche der sechs Frauen seine Liebhaberin sein wird und welche vom Prozess des Vergessens ausgeschlossen wird. Auf diese Art und Weise erhebt er sich über die rein dekorative Rolle, übernimmt Verantwortung und die damit verbundenen Funktionen der Machtausübung und der Gewalt. Beide bleiben weitgehend unrealisiert, sie sind aber eine Potentialität, die immer auch zur Verwirklichung führen kann. Alfred bleibt diffus - irgendwo zwischen Himmel und Erde; er wird nicht gewalttätig, aber auch nicht versöhnlich; er bleibt unberührbar in seiner ätherischen Abgeschiedenheit. Ihm ist klar, dass er eine Mission zu erfüllen hat. Diese soll nur auf den ersten Blick ausschließlich sexuell sein. Vielmehr ist er dazu verpflichtet, die sechs unterschiedlichen Frauen dazu zu bewegen, ihre Unterschiede endlich wahrzunehmen. In diesem Sinne ist er auch ein Messias, ein Träger der Offenbarung, das Wesen, dessen Botschaft perzipiert, interpretiert, letztendlich auch akzeptiert werden kann, aber nicht muss. Die Erzählerin ist sich darüber im Klaren: «Wie auch immer, für unsere Geschichte ist es wichtig, dass der Abend, an dem unser später Besucher erschien, unsere letzte gemeinsame Begegnung war, was wir damals noch nicht wussten. Danach begann die geträumte Wirklichkeit vor unseren Augen abzulaufen.» 12 Folgerichtig kann Alfreds Rolle innerhalb der Welt des Erzähltextes zu einer mehrfachen werden: Neben dem Botschafter, als Überbringer froher Nachrichten, kann er auch als Wahrsager figurieren. Er ist auch ein hoher Beamter, ein Regierender des Himmels. Wie gesagt entzieht er sich bei Ugre š i ć dieser 11 Ugre š i ć , Das Museum (Anm. 9), S. 242. 12 Ugre š i ć , Das Museum (Anm. 9), S. 244 f. Hervorhebung D. U. Zwischen Engeln und Dämonen 205 <?page no="206"?> Rolle. Anderswo - mit anderen Alfreds - ist diese Rolle wohl denk- und realisierbar. Wie steht es aber mit der Intertextualität? Die Geschichte vom Engel als eine Parabel über den Zerfall Jugoslawiens und die Trennung von Kroaten und Serben zu interpretieren, wäre eine offensichtliche Vereinfachung. Man muss auch die literaturwissenschaftliche, russistische Ausbildung von Dubravka Ugre š i ć berücksichtigen, um sich mit der Komplexität des Textes angemessen auseinandersetzen zu können. Isaak Babels Geschichte Die Sünde Jesu bildet einen wichtigen Bezugspunkt, welcher dem Roman Das Museum der bedingungslosen Kapitulation zusätzliche semantische Nuancen verleiht. Ich erlaube mir eine kurze Paraphrase. Arina ist Zimmermädchen, ihr Liebhaber Serjoga Hausknecht. Sie bekommen Zwillinge, aber Serjoga muss in die Armee, wo er vier Jahre lang bleiben soll. Arina, im sechsten Monat schwanger, will nicht eine so lange Zeit ohne Liebe sein und bittet Jesus um Hilfe. Er schlägt ihr Enthaltsamkeit vor, was sie vehement ablehnt. Jesus beschließt, ihr seinen Engel Alfred zu schicken. Er soll ihre Wünsche vier Jahre lang erfüllen: «Den gebe ich dir, du gefällige Magd, auf vier Jahre zum Manne, den Engel Alfred. Mag er dein Gebet sein und dein Schirm und dein Liebhaber. Zeugen wird er dir kein Entlein, geschweige ein Kind, denn Wonnigkeit ist viel in ihm, doch keine Ernstlichkeit.» 13 So kommt Alfred zu Arina (das Motto vor dem Kapitel Gruppenfoto beschreibt sein Erscheinen), aber Gott warnt Arina, dass sie vor dem Zubettgehen seine Flügel lösen solle. Das tut sie auch. Doch Gott unterschätzt ihre Begierde: «Und da drückt sie den Gottesengel, drückt ihn in trunkenem Taumel, außer sich vor Freude, erdrückt ihn wie ein Neugeborenes, zerquetscht ihn unter sich, bereitet ihm die Todesstunde. Und von den Flügeln, den ins Laken eingeschlagenen, tropfen bleiche Tränen.» 14 Man kann sich die Wut Jesu vorstellen, als er von dem Vorfall erfährt. Er schickt Arina auf die Erde zurück, wo sie wieder ihre üblichen Geschäfte erledigen muss. Inwiefern hat Jesus gesündigt? Er berücksichtigt nicht ihre Beteuerungen, dass sie den Engel nicht vorsätzlich erdrückt hat und liefert sie der erbarmungslosen Umwelt schutzlos aus. Bei der Geburt ihres Kindes verflucht Arina Gott, der um Vergebung bittet, die ihm jedoch nicht gewährt wird: «,Ich kann dir nicht verzeihen, Jesus Christ › , antwortete Arina, ‹ ich kann es nicht. › « 15 13 Isaak Babel, Erste Hilfe. Sämtliche Erzählungen, Nördlingen 1987, S. 125 f. 14 Babel, Sämtliche Erzählungen (Anm. 13), S. 127. 15 Babel, Sämtliche Erzählungen (Anm. 13), S. 129. 206 Davor Beganovi ć <?page no="207"?> Auf den ersten Blick ist erkennbar, dass Ugre š i ć das von Babel gesetzte Erzählmuster modifiziert: Gott spielt bei ihr keine Rolle, er erscheint nicht einmal im Hintergrund. Die Passivität des einen Alfreds wird durch die Aktivität des anderen ersetzt. Beide scheinen unbeholfen zu sein, aber während dies beim einen auch stimmt, ist der andere nur durch seine scheinbare sprachliche Inkompetenz begrenzt. In jedem anderen Sinne beherrscht er die Situation vollkommen. Um diese Vollkommenheit in ihrer Ganzheit zu analysieren bedarf es der zweiten Geschichte vom Engel aus dem Museum der bedingungslosen Kapitulation. Sie befindet sich im vierten Teil des Buches, das den Titel «Archiv: Sechs Geschichten mit dem diskreten Motiv eines Engels, der den Raum verlässt» trägt. Das Kapitel von größtem Interesse ist «Die Nacht von Lissabon». Die Geschichte ist für die spezifische Angelologie von Ugre š i ć wichtig, weil sie eine doppelte Auslegungsmöglichkeit aufweist: Erstens ist der portugiesische Engel derjenige, der die Initiative ergreift; zweitens kommt hier die Ökonomie ins Spiel, was mich wieder zu Agamben führt. Ich fasse erneut zusammen: Die namenlose Ich-Erzählerin, eine Schriftstellerin, kommt nach Lissabon, um dort zwei Tage als Gast der portugiesischen Schriftstellerorganisation zu verbringen. Sie entscheidet sich zu flanieren. 16 Auf dem Weg zurück ins Hotel schlendert sie durch die Kneipenviertel und sieht dort einen jungen Mann im Fenster sitzen: «Er lächelte, rief etwas, und obwohl ich ganz nahe war, schien er mir fern wie eine Gestalt auf einem unscharfen Gruppenbild.» 17 Er macht sie an, verführt sie (deshalb rede ich von Initiative), wobei ihr bewusst ist, dass er eine typische, bekannte Rolle übernimmt, diejenige nämlich der Papagalli, «die mit einem Repertoire von fünfzig Wörtern in zehn Fremdsprachen die ersten ausländischen Touristinnen an der Adriaküste unterhielten.» 18 Nach der Liebesnacht verlässt er die Erzählerin mit dem Versprechen, dass er am Abend zurückkommt. Das tut er, der Logik der 16 Hier ist wieder unschwer ein Moment der Benjaminschen Inspiration zu erkennen. Das ganze Buch ist stark von Walter Benjamin geprägt. Dazu ausführlicher Vladimir Biti, Rasuta ba šć ina. Muzej bezuvjetne predaje Dubravke Ugre š i ć [Zerstreutes Erbe. Das Museum der bedingungslosen Kapitulation von Dubravka Ugre š i ć ], in: ders., Doba svjedo č enja. Tvorba identiteta u suvremenoj hrvatskoj prozi, Zagreb 2005, S. 225 - 241. 17 Ugre š i ć , Das Museum (Anm. 9), S. 184 f. Im Original steht «grupnoj fotografiji». Es ist mir unklar, warum die Übersetzer sich für die Variante «Gruppenbild» entschieden haben, wobei sie eben diese Form für den Titel jenes Buchteils genommen haben, den ich gerade diskutiert habe. Dadurch geht die Verbindung zwischen den beiden Engeln fast verloren. 18 Ugre š i ć , Das Museum (Anm. 9), S. 185. Zwischen Engeln und Dämonen 207 <?page no="208"?> Papagalli folgend, aber nicht. Er lässt sie allein durch die Straßen des nächtlichen Lissabon streunen. Im Zentrum dieser Erzählkonstellation sind die Erinnerungen an seine körperliche Verfasstheit, wobei insbesondere sein Rücken zur Geltung kommt. Diese Körperlichkeit vermengt sich, in der Autoreflexion der Erzählerin, mit abstrakten Begriffen, die auf ihre Innerlichkeit abzielen. Gleichzeitig soll diese Innerlichkeit mit dem Kollektiven verbunden werden, welches sie als Exilantin geradezu verfolgt: «Da wusste ich noch nicht, dass ich auf der Suche nach António eigentlich das richtige Ende der Geschichte suche.» 19 Gerade in dem Moment, in dem sich das Scheitern der Beziehung andeutet und António droht, endgültig aus der Geschichte zu verschwinden, erscheint er wieder. Dieses Erscheinen wird von der Sexualität bestimmt (die Erzählerin leidet buchstäblich an seiner Abwesenheit), die Sexualität wird allerdings um die ökonomische Komponente erweitert: Er will etwas für seine Dienste, und dieses Etwas ist Geld. Er verlangt es, weil er (und seine Lüge wird von der Erzählerin sofort durchschaut) mit seiner Miete im Rückstand sei. Sie gibt nach, lässt sich auch in dieser Hinsicht verführen und schließt die Liebesnacht ab: «Ich wusste, dass er nicht kommen würde und dass dies das wahre Ende der Geschichte war. Und als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, fiel mir ein, dass António der erste Liebhaber in meinem Leben war, den ich bezahlt hatte.» 20 Als Gegengewicht zu dieser Liebesgeschichte konstruiert die Erzählerin eine zweite, ein Wiederbegegnen mit einem ehemaligen Liebhaber, einem Schriftsteller, den sie bei der gleichen Tagung trifft. Der Vergleich der beiden Liebesgeschichten geht eindeutig zu Gunsten Antónios. Er gewinnt, weil er der «bessere Schriftsteller» 21 ist. Und jetzt kommt wieder die Ökonomie ins Spiel: Dabei wurde auch etwas verdient. Wobei ich, obwohl schlechter, mehr verdienen werde. So ist leider die Ordnung der Dinge, ihm habe ich mein Honorar gegeben, weil es ihm gebührt, weil es ihn verdient hat. Für seine Kunst des Erzählens, der Überredung. Ja, António ist meine Schwester, wir stecken unter einer Haut, zwei arme Verwandte auf dieser Welt . . . 22 19 Ugre š i ć , Das Museum (Anm. 9), S. 189. 20 Ugre š i ć , Das Museum (Anm. 9), S. 193. 21 Ugre š i ć , Das Museum (Anm. 9), S. 199. 22 Ugre š i ć , Das Museum (Anm. 9), Ebd. Hier ist wieder einmal alles nicht so einfach. Wieder kommt eine Geschichte von Isaak Babel ins Spiel, diesmal Mein erstes Honorar. Dort wird beschrieben, wie ein junger Schriftsteller sein erstes Honorar für die Dienste einer Prostituierten ausgibt. Ich danke Dubravka Ugre š i ć für diesen Hinweis. 208 Davor Beganovi ć <?page no="209"?> Die ökonomische Komponente bringt mich wieder in die Nähe von Agamben und seiner Konzeption in Herrschaft und Herrlichkeit. Die Beziehung zwischen der Erzählerin und António entwickelt sich auf der Basis des ökonomischen Tauschs. «Die Ökonomie ist anarchisch und ist als solche nicht im Wesen Gottes begründet; und dennoch hat der Vater den Sohn vor den ewigen Zeiten gezeugt. Dies ist das ‹ Geheimnis der Ökonomie › , dessen Dunkelheit selbst das blendende Licht der Herrlichkeit nicht gänzlich aufzulösen vermag.» 23 Die Erzählerin benutzt zwar (und dazu noch genderfremd) die Bezeichnung «Schwester», aber es ist unschwer zu erkennen, dass auch eine Vater-Sohn-Konstellation nicht fern ist. Das «Geheimnis der Ökonomie» spiegelt sich in der Dunkelheit von Antónios Psyche wider, welche von seinen Lügen geprägt ist. Genau an diesem Ort vermengt sich unausweichlich die Ökonomie der Angelologie mit der Politik der Weltherrschaft. Die Erzählerin sieht das eindeutig und lässt unseren Blick über den Körper Antónios gleiten: «In meinem Kopf kreisten Bilder, auch das von Antónios Rücken in Erwartungshaltung, ich sah, wie ich mich ihm näherte, mit der Zunge über die kleinen perlmuttfarbenen Narben an den Schulterblättern fuhr. Ich sah, wie ich mit gnädigem Speichel die Stellen befeuchtete, wo noch bis vor kurzem Flügel gewesen waren. . .» 24 In der Erinnerungen wird ein Bild des Engels konstruiert, das dem veränderten emotionalen und intimen Haushalt der Erzählerin entspricht. Gleichzeitig transzendiert Ugre š i ć die Dimension des Individuellen und erschließt, zumindest allegorisch, eine neue Welt, welche ein neues Kollektiv produziert, das sich mit Nomaden und Exilanten füllt - mit Menschen, die die neu entstandene Wirklichkeit nicht akzeptieren können, aber trotzdem müssen. Die neue Realität wird von Agamben wie folgt geschildert: Unsere Untersuchung hat nämlich gezeigt, dass das wahre Problem, das zentrale Arkanum der Politik nicht die Souveränität, sondern die Regierung, nicht Gott, sondern die Engel, nicht der König, sondern die Minister, nicht das Gesetz, sondern die Polizei ist - kurz, die Regierungsmaschine, die letztere bilden und in Bewegung halten. 25 Jetzt bin ich an dem Punkt angekommen, an dem ich meine eigene Geschichte einfügen kann, die eminent politisch ist, aber Elemente des Ökonomischen aufweist. Wenn ich mich nämlich von der (auto-)fiktionalen Welt der Prosa von Dubravka Ugre š i ć in die ‹ reale › (die selbst- 23 Agamben, Herrschaft und Herrlichkeit (Anm. 2), S. 252. 24 Ugre š i ć , Das Museum (Anm. 9), S. 200. 25 Agamben, Herrschaft und Herrlichkeit (Anm. 2), S. 330 (Hervorhebung: G. A.). Zwischen Engeln und Dämonen 209 <?page no="210"?> verständlich auch eine ‹ surreale › , ‹ irreale › etc. war) Jugoslawiens der neunziger Jahre bewege, stoße ich sofort auf eine Kategorie, durch die Gott in seinem «Herrschen ohne Regieren» ersetzt worden ist. Das ist eindeutig die Nation. Daraus leitet sich für mich jetzt, mehr als zwanzig Jahre danach, eine Schlüsselfrage ab: Wer waren die regierenden Engel, die Beamten der Nation, die uns Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger mit ihren Verführungen, Drohungen, Befehlen, Bitten - anders gesagt: mit allen vorhandenen Methoden und Mitteln der Machtausübung - zu Gehorsam oder zu Widerstand herausgefordert haben? Natürlich kommen an erster Stelle die ganz großen Führer, die Väter der Nation, Milo š evi ć , Izetbegovi ć , Tu đ man, dann ihre Adlaten, in Bosnien und Herzegowina meine ich Karad ž i ć und Boban, aber mich interessiert hier eher die zweite Riege, die ich als niedere Engel bezeichne. Oder, wenn ich noch persönlicher sein soll: Wie hat man im Jahre 1991, diesem Annus horribilis der jugoslawischen Geschichte, versucht, mich zu verführen, mich in falsche Bahnen zu lenken, mich von all meinen bisherigen Prinzipien abzubringen? Es ist das Jahr, in dem alles aus den Fugen gerät. 26 1991 ist das Jahr der Apokalypse, des Weltuntergangs, der Zeit, in der sich die Engel selbstbewusst auf die Erde trauen, um dort die Herrschaft Gottes wiederherzustellen. Die beiden Geschichte gehen ungefähr so; ich versuche hier meine Erinnerungen wiederzubeleben: Es ist das Frühjahr 1991, die Apokalypse bahnt sich an, die Aufstände in der Krajina haben schon ihren Anlauf genommen und in Banja Luka wimmelt es von Leuten, die gegen Kroaten (offen) und Muslime (noch verborgen) hetzen. In einer typisch rassistischen Geste, welche das städtische Leben seit ewigen Zeiten prägte, stilisierte sich die Auseinandersetzung als ein uriger Widerstreit zwischen «Bauern» («seljaci» nannte man immer die vom Land in die Stadt kommenden Menschen, die ihre Suche nach Brot dort beendeten) und «Bürgern» («gra đ ani» waren diejenigen, die ihre kargen Privilegien vehement verteidigten und gegen Neuankömmlinge wetterten). Man wollte nicht sehen, dass dieses Rol- 26 «The time is out of joints», wird man versucht sein, mit Hamlet zu postulieren - aber in der ketzerischen Interpretation von Jacques Derrida. «Wenn aber die Zusammenfügung im allgemeinen, wenn die Fügung der Fuge, des ‹ joint › zuerst die Zusammenfügung, die Richtigkeit oder die Gerechtigkeit der Zeit voraussetzt, das Beisichsein oder die Eintracht der Zeit, was geschieht dann, wenn die Zeit selbst out of joint ist, wenn sie aus den Fugen gerät oder aus dem Takt, wenn sie disharmonisch wird, misstönend, gestört oder ungerecht? Wenn sie anachronisch wird? » Jacques Derrida, Marx ’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale. Aus dem Französischen übersetzt von Susanne Lüdemann, Frankfurt am Main 2004, S. 40 (Hervorhebung original). 210 Davor Beganovi ć <?page no="211"?> lenspiel schon längst ausgedient hatte, dass Gott zur Nation mutiert war und dass sich seine Boten (aber auch Beamten) transformiert hatten. Genau in dieser Situation versuchte man verzweifelt, katastrophal falsch interpretierend, so etwas wie ein Gegengewicht zur angeblich vordringenden Ruralisierung aufzubauen. Diese Missgeburt trug den Namen «Gra đ anski forum» (Bürgerforum). Vor allem Muslime haben sich auf die Umsetzung dieser Idee eingelassen. Als Zugpferd und Zeichen der Multikulturalität und Multinationalität des Forums sollte Predrag Lazarevi ć dienen. Der Sohn des Zwischenkriegsbanus der «Vrbaska banovina» (Banschaft Vrbas, 1929 − 1941) war eine leuchtende Figur des bürgerlichen Lebens in Banja Luka. Man hat dabei seine schon vor Kriegsausbruch im Jahre 1992 hervorstechenden serbisch-nationalistischen Tiraden glatt übersehen. Als mein Vorgesetzter und Direktor der Nationalbibliothek kam er eines Frühlingstages zu mir und fragte, ob ich bereit wäre, dem Bürgerforum beizutreten. Meine Antwort war ein schelmisches Nein, das ich zynisch formulierte: «Genosse Direktor, 27 das kann ich nicht. Ich bin ein Bauer! » Meine Ablehnung, an diesem Projekt teilzunehmen, war verbunden mit der Erkenntnis, dass Lazarevi ć nie ehrlich war im Hinblick auf seine Zustimmung, das Forum zu leiten. Andererseits wurde mir klar, dass die Emigration für mich den einzigen Ausweg darstellte und dass ich innerlich bereits begonnen hatte, mich auf diesen Schritt vorzubereiten. Für mich persönlich kulminierten die Ereignisse im Frühsommer 1991: Die Einberufungen waren schon in vollem Gange und ich traf die Entscheidung, ihnen fernzubleiben und ihnen zu entgehen. Ein erster Schritt: die Flucht in die innere Emigration, in ein Dorf am Rande Banja Lukas, katholisch geprägt, immer noch nicht im Visier der Soldateska. Wie sich dies in nur wenigen Monaten ändern sollte! Auf jeden Fall blieb ich dort bis Anfang August, die Lage schien sich zu entspannen, und ich beschloss, in die Stadt zurückzukehren. Wie durch einen Wunder traf ich dort schon am ersten Tag meinen besten Freund Mladen Š ukalo, einen Reservehauptmann der jugoslawischen Volksarmee, im privaten Leben Komparatist, genauso wie ich, der vom ersten Tag an «dabei war». Seine Worte, die mich wortlos ließen, lauteten: «Kume, 28 ich würde dich und 27 Natürlich war dieses «dru ž e direktore» in der Zeit des Zerfalls von sozialistischen Verhaltensnormen anachronistisch. Lazarevi ć wurde offiziell von allen hochachtungsvoll als «Professor» bezeichnet. 28 «Kume» hat im Serbokroatischen eine viel weitere Bedeutung als der deutsche Begriff «Trauzeuge». Mit ihm wird auch eine tiefe Verbundenheit ausgedrückt, welche diejenige von Blutsverwandtschaft übersteigen kann. Deshalb lasse ich ihn hier lieber unübersetzt. Zwischen Engeln und Dämonen 211 <?page no="212"?> solche wie dich vor ein Militärgericht stellen! Aber solch ein Gericht, wo Soldaten über euch richten werden. Weil ich der einfachen Soldatenlogik folge: Während ich im Schützengraben verrotte, genießt du dein Leben und trinkst Kaffee in der Sonne.» Das sind unvergessliche Worte, die mir auch heute noch zu schaffen machen. Sie waren übrigens, ein Zeichen, dass es an der Zeit sei, Jugoslawien zu verlassen. Man konnte sagen: Die Kultur des Dialogs, in dem erörtert wird, was zu tun ist, und es möglich ist, eine ethische Entscheidung unabhängig vom Druck der Nation zu treffen, sich einem sinnlosen Krieg durch Verweigerung zu entziehen, diese Kultur des Dialogs war spurlos verschwunden, war dem Druck der Gewalt gewichen. War meine Entscheidung richtig? Eindeutig ja. Ich habe mich nicht dem Druck gebeugt, ich habe die Unmöglichkeit meiner Position erkannt und mich entschieden, sie auch weiterhin zu vertreten, inzwischen nicht mehr «vor Ort», sondern mit einem zeitlichen Abstand von 22 Jahren. Trotzdem verfolgen mich meine beiden paradigmatischen Geschichte noch immer. Ich versuche immer noch, Antworten zu finden auf Fragen, die sich in der vergangenen Zeit kaum geändert haben. Erst jetzt, mit den Engeln, mit Dubravka Ugre š i ć und Giorgio Agamben werden sie ein bisschen verständlicher, übersichtlicher. Woraus bestand im Grunde das Doppelspiel (good cop, bad cop - die Engel sind auch die himmlische Polizei, nicht wahr? ) meines Vorgesetzten Predrag Lazarevi ć («Davore, priklju č ite nam se u formiranju Gra đ anskog foruma! ») und meines damaligen besten Freundes Mladen Š ukalo («Kume, ja bih tebe i sve tebi sli č ne stavio pred vojni sud, ali takav da vam sude obi č ni vojnici. Jer ja slijedim prostu vojni č ku logiku.»)? Zumal ich die beiden ungefähr fünf Jahre danach in einem der abscheulichsten Bücher, die nach dem Krieg erschienen sind, vereint sah - Jagnje Bo ž ije (sic! ) i zvijer iz bezdana (1996, herausgegeben von Rado š M. Mladenovi ć und Jovan Jero đ akon Ć ulibrk). 29 Ist es nicht so, dass Gesandte des falschen Himmels eigentlich die Leute waren, mit denen wir im Alltag zu tun hatten? Wenn Ugre š i ć Alfred aus dem Jenseits kommen lässt, schließt sie dadurch seine mögliche Präsenz im Diesseits nicht aus. Deshalb ist António auch so 29 Rado š M. Mladenovi ć und Jovan Jero đ akon Ć ulibrk (Hg.), Jagnje Bo ž ije i zvijer iz bezdana [Lamm Gottes und das Biest aus dem Abgrund], Cetinje 1996. Über die Texte von Lazarevi ć und Š ukalo habe ich in einem anderen Kontext geschrieben, s. D. Beganovi ć , «Postapokalypse im Land der ‹ guten Bosnier › . Kulturkritik als Quelle des kulturellen Rassismus», in: Ferhadbegovi ć , Sabina und Brigitte Weffen (Hg.), Bürgerkriege erzählen. Zum Verlauf unziviler Konflikte. Konstanz 2011, S. 201 - 224, besonders S. 215 - 218. 212 Davor Beganovi ć <?page no="213"?> entscheidend - als Negativfolie seines Doppelgängers. 30 Offen bleibt die Frage der Maske und der Verkleidung. Was, wenn er sich in einem irdischen Dasein versteckt aufhielte? Was, wenn er eine Doppelexistenz führte - sowohl hier als auch dort - , immer bereit mitzumischen? Š ukalo und Lazarevi ć sind António und Alfredo, die Beamten des Himmels. Der eine lockt, der andere droht, beide verfolgen die gleiche Ökonomie des Politischen. «Als Chiffre der göttlichen Macht der Weltregierung repräsentieren die Engel auch den dunklen und dämonischen Aspekt Gottes, der als solcher schlechterdings nicht aufgehoben werden kann.» 31 Gott hat sie sich unterworfen, um die Welt beherrschen und das heißt: regieren zu können. Durch diese unverwüstliche Lust am Regieren haben mich zwei Engel aus den Bahnen geworfen. Sie haben meine zukünftige wissenschaftliche Karriere ex negativo geprägt. Durch eine biografische Wende wurde mein Interesse in die Richtung des Exils, der Emigration, des Nomadismus, der Mehrsprachigkeit und der Ablehnung des nationalorientierten Mainstreams gelenkt. Es ist gleichzeitig notorisch, und für diesen Hinweis bin ich Svjetlan Lacko Viduli ć dankbar, dass solch eine Perspektive auch die Gefahr des Monolithischen in sich trägt. Gerade deshalb finde ich die Entdeckung solcher Kippfiguren wie Engel äußerst hilfreich in der Bändigung von Affekten und für die Übernahme einer Position - wie illusorisch auch immer in strengem Sinne das klingen mag - der wissenschaftlichen Neutralität. In diesem konkreten Fall der Untersuchung von Engeln, den man sowohl metaphorisch als auch wortwörtlich verstehen kann, eröffnen sich für mich neue Forschungsperspektiven im Bezug auf das ehemalige Jugoslawien, die alle von einer Teilung der Macht ausgehen und in dem von Carl Schmitt so oft und einprägsam benutzten Motto über den König, der «herrscht, jedoch nicht regiert» 32 , zusammengefasst wurden. Oder wie es Agamben formuliert: Der verborgene und unaussprechliche Gott, den die Engel zu offenbaren haben, ohne ihm anderes Fleisch darzubieten als das der Bilder, ist lediglich der mystische Grund der Regierungsmacht, ein König, der laut einem von Carl Schmitt gerne zitierten Motto ‹ herrscht jedoch nicht regiert › . 33 30 Auslassen musste ich die restlichen Engelfiguren aus dem Roman Museum der bedingungslosen Kapitulation: die Inderin Uma, die Großmutter der Erzählerin, Lucy Skrzidelko, Vida und Jannet. . . Es ist ein von Engeln bevölkerter Roman. 31 Agamben, Die Beamten des Himmels (Anm. 3), S. 71. 32 Das Motto wurde ursprünglich im Jahr 1830 von dem französischen Politiker Adolphe Thiers geprägt: «Le roi règne mais ne gouverne pas.». 33 Agamben, Die Beamten des Himmels (Anm. 3), S. 27. Zwischen Engeln und Dämonen 213 <?page no="214"?> In diesem Sinne ist Alfred einer, der teilt und António einer, der nimmt oder der das zurücknimmt, was Alfred geteilt hat. Die Beamten der Nation 34 reizen diese engelhafte Fähigkeit bis zum Äußersten aus. Sie machen sich selbstständig und setzen sich selbst die Grenzen der Kontrolle. Je höher aber die Macht, die «herrscht ohne zu regieren», desto höher auch die Befugnisse ihrer Beamten. Die Federn, die die Beamten der Nation verteilt oder vorenthalten haben, gleichen denjenigen, die der Engel Alfred seinen entzückten Zuhörerinnen gegeben hat. Manche haben sie in Erinnerung behalten, manche haben sie der Vergessenheit überlassen. Vielleicht sollen wir sie von dort zurückholen. 34 Eine Affiliation der postapokalyptischen Literaturen mit der Figur des Engels ist kaum zu übersehen. In der deutschsprachigen Literatur, die zunehmend eine Annäherung an den Balkan-Raum aufweist, ist sie besonders bemerkbar. Drei so unterschiedliche österreichische AutorInnen wie Peter Handke, Maja Haderlap und Norbert Gstrein mischen in ihren zutiefst jugoslawisch geprägten Büchern (die vielleicht auch deshalb vom Trauma gekennzeichnet sind) Elemente der Angelologie. Bildverlust, Engel des Vergessens und Die Winter im Süden sprechen jeweils auf eigene Art und Weise die Sprache des Engels. Diesen Hinweis habe ich dem regen mündlichen und schriftlichen Austausch mit Boris Previ š i ć zu verdanken. 214 Davor Beganovi ć <?page no="215"?> Irena Risti ć Die (Un)Vereinbarkeit von individueller und kollektiver Identität: Ist die Pflicht zum Erinnern eine Pflicht zum Vergessen? Erfahrene Realität Als 1991 der Krieg in Slowenien und Kroatien ausbrach, war ich 15 Jahre alt und lebte mit meiner Familie in Belgrad. Die Sommer haben wir bis zu diesem Jahr immer in Kroatien verbracht; zum ersten Mal änderten sich unsere Pläne. Laut meinem Vater verschoben wir die Abfahrt aber nur auf den August. Dann würden sich die Dinge wieder beruhigt haben, sagte er. Die Dinge aber beruhigten sich nicht. Im Gegenteil. Sehr bald konnten wir nicht einmal mehr nach Prijedor in Bosnien und Herzegowina zu meinen Großeltern und den Onkeln und Tanten mütterlicherseits fahren, denn auch dort brach der Krieg aus. In diesem Zeitraum, als die Dinge ihren Lauf nahmen, zirkulierte an meinem Gymnasium in Belgrad eine nach dem Mauerfall ins Leben gerufene, dreisprachige Studentenzeitschrift aus Deutschland, mit Redaktionen an Universitäten in West- und Osteuropa. Einer meiner Mitschüler hatte einige Ausgaben erhalten und an Interessierte für damals sehr wertvolle 2 DM pro Stück verkauft. Ich opferte diese Summe und las drei Ausgaben von vorne bis hinten mit großer Neugierde. So auch das Kleingedruckte auf Seite zwei, demnach die Zeitschrift subventioniert und in Osteuropa umsonst verteilt wird. Doch mehr als vom Umstand, dass ich auf den ersten Krisenprofiteur bereits reingefallen war, war ich gefesselt von den Themen und Artikeln der Studenten in dieser Zeitung. Vom Aufschwung nach dem Fall der Berliner Mauer war die Rede, von der wiederlangten Freiheit und zurückgewonnenen nationalen Identität, von der Freude über die neuentstandenen Staaten und die Vereinigung Europas. Nur die, wenn auch nur wenigen, Beiträge aus dem ehemaligen Jugoslawien trübten dieses Bild. In ihnen ging es um Krieg, Vertreibungen, Flüchtlinge und einen erst beginnenden Kampf um eine neue Freiheit. Ich wollte an der Diskussion mitwirken, schrieb einen Beitrag für die Zeitung und schickte ihn ein. Er begann mit der pathetischen, ja nahezu lächerlichen Frage: «Mein Vater ein Serbe, meine Mutter eine Kroatin − was bin ich? », welche bis zum Ende des Artikels selbstredend ohne Antwort blieb. <?page no="216"?> Im engeren Sinne ist diese Frage bis heute unbeantwortet geblieben. Vor allem, weil ich sie mir nicht mehr stelle. Was nicht heißt, dass mir andere diese Frage nicht stellen und dabei eine Antwort erwarten. Die Antwort, die ich dann gebe, hängt von dem Fragesteller selbst ab. Ist dieser dem primordialen, essentialistischen Erklärungsansatz verpflichtet, wonach die nationale Identität eine unveränderbare, sogar die wichtigste menschliche Eigenschaft darstellt, so ist die Antwort kurz, wenn auch für einen Essentialisten unbefriedigend: die Eltern und Vorfahren meiner Mutter sind Kroaten, jene meines Vaters Serben. Folglich bleibt mir als ihrem Kind keine Wahl: ich bin halb Kroatin und halb Serbin. Werde ich hingegen von einem konstruktivistisch Eingestellten mit der Frage konfrontiert, welcher konstruierten oder imaginären (nationalen) Gemeinschaft ich mich zugehörig fühle, so ist meine Antwort noch ambivalenter. Da ich etwa ein Drittel meines Lebens in Jugoslawien, ein Drittel in Deutschland und ein Drittel in Serbien verbracht habe, haben mich die Gesellschaften dieser drei Staaten wohl am ehesten in meinem Handeln und Denken geprägt. Ein reales, persönliches Zugehörigkeitsgefühl zu diesen Gesellschaften empfinde ich dabei ausschließlich in einer umgekehrten Proportionalität: in Deutschland fühle ich mich als imaginäre Serbo-Kroatin, in Serbien als imaginäre Deutsche. Juristisch gesehen besitze ich jedoch nur die Staatsangehörigkeit Serbiens. Nicht, dass ich jene von Deutschland und Kroatien nicht gewollt hätte, aber meine Anträge liefen ins Leere. In Deutschland weil ich zum Zeitpunkt der Beantragung (obgleich alle anderen Bedingungen erfüllt waren und ich kumulativ 15 Jahre in Deutschland verbracht hatte), Studentin war und keine feste Arbeit hatte. Die kroatischen Behörden hingegen lehnten meinen Antrag nicht etwa deswegen ab, weil sie wie die deutschen befürchteten, einen neuen Sozialfall zu importieren. Vielmehr schickten sie mir nach mehreren Jahren des Wartens und der Beschwerde, in höchster Gerichtsinstanz, schwarz auf weiß eine primordiale Entscheidung, die nicht widersprüchlicher sein könnte. Demnach wurde nach der Prüfung des Stammbaumes und Taufurkunde meiner Mutter attestiert, dass sie zwar Kroatin sei und die kroatische Staatsbürgerschaft habe. Doch reiche dies nicht aus, dass auch ich mich als Kroatin bezeichnen und die kroatische Staatsbürgerschaft haben könnte. Anders wäre es, so der Wortlaut, wenn statt meiner Mutter mein Vater Kroate wäre. Doch unabhängig davon, dass ich mir selbst die Frage nach meiner Identität nicht mehr stellte und anderen Fragestellern ambivalente Antworten geben musste, wurde ich auf einer anderen Ebene damit konfrontiert, dass ich für Andere etwas Eindeutiges war und entsprechend auch zu handeln hatte. Aus Belgrad kommend, galt ich im Ausland stets 216 Irena Risti ć <?page no="217"?> als die Serbin, wenn auch oft als untypische Serbin. (Das hatte ich wohl stets als Kompliment aufzufassen.) Der Wohnort Belgrad, ohne dass ich weitere Angaben machte, brachte mich somit oftmals in die Situation, für ein imaginäres Kollektiv Stellung zu beziehen. So forderte mich ohne weiteren Anlass, bei einer wissenschaftlichen Tagung in Wien, ein in Deutschland aufgewachsener kroatischer Wirtschaftswissenschaftler auf, mich für die serbische Aggression gegen Kroatien zu entschuldigen und Reue zu zeigen. Da ich in Belgrad lebte und arbeitete, stand für ihn wohl außer Zweifel, nicht nur dass ich Serbin sei, sondern auch, dass ich als Teil dieses Kollektivs zumindest eine abstrakte Verantwortung zu tragen habe. Und während ich diese Auffassung teile, dass man als Mitglied einer Gesellschaft − ganz gleich, ob man die Mitgliedschaft in ihr wählen konnte oder nicht, und ganz gleich ob man der herrschenden Mehrheitsmeinung gefolgt ist oder gegen sie war − Verantwortung übernehmen sollte und zumindest alle im Namen dieses Kollektivs begangene Verbrechen klar verurteilen müsste, befand ich mich in einer Zwickmühle. Denn nicht nur, dass ich mütterlicherseits auch Mitglied eines anderen Kollektivs war, sondern meine Familie mütterlicherseits war während des Krieges Opfer serbischer Vertreibung. So blieb offen, ob ich dieser Logik zufolge sowohl zum Täter-, als auch zum Opfer-Kollektiv gehörte und folglich sowohl Reue im Namen meines Kollektivs väterlicherseits zeigen, als auch Reue meinem Kollektiv mütterlicherseits gegenüber verlangen sollte. Ähnliches stieß mir im Sommer 2006 auf der Insel Š ipan nahe Dubrovnik zu. Während eines Urlaubes mit Freunden aus Deutschland sprachen mich aufgrund meines Nachnamens und meiner serbischen Aussprache der Leiter und einige Angestellten des Hotels an. Aus dem entspannten Gespräch, in welchem sie mir ihre Wehrdiensterlebnisse und erste Liebschaften aus den Achtziger Jahren in Belgrad beschrieben, wurde jedoch sehr schnell eine ernsthafte politische Diskussion, in welcher nur noch herabfallend von ‹ euch › und ‹ ihr › (gemeint waren die Serben und ich als Teil von ihnen) die Rede war. Um die Luft herauszunehmen, aber auch um die Diskussion abzubrechen, sagte ich, dass ich Kroatin sei. Und wurde Zeugin davon, wie brüchig diese essentialistische ‹ Wir-Ihr › -Theorie wurde, denn vor diesem Bekenntnis erschien ich als ideale Angriffsfläche und Personifizierung des Täterkollektivs, während man mir danach plötzlich, und ohne dass ich dazu etwas zusätzlich beitrug, mit einem ganz anderen Ton entgegenkam, wenn auch weiterhin mit etwas Skepsis. Denn, so schien mir, auch meine Gesprächspartner wussten plötzlich nicht, wo und wie sie jemanden einordnen sollen, der im Land der Täter lebt, deren Aus- Die (Un)Vereinbarkeit von individueller und kollektiver Identität 217 <?page no="218"?> sprache hat, aber ethnisch - und das ist eigentlich das einzig wichtige für sie - ‹ eine von uns › ist. Doch soll es in diesem Text nicht um die (nationale) Identitätsfrage im engeren Sinne gehen, wie ich sie mir in meiner Pubertät (falsch) gestellt habe, bzw. wie sie mir von anderen zugeschrieben wurde. Vielmehr soll im Mittelpunkt das Verhältnis von, und die Dynamik zwischen individueller und kollektiver Identität im postjugoslawischen Raum stehen. Lassen sich, und wenn ja wie, in diesem Post-Konfliktraum die Komponenten persönlicher multiethnischer Identitäten in sich vereinen? Wie geht man mit den jeweiligen Erinnerungen um? Sind die Angehörigen zweier Nationen doppelte Täter oder aber doppelte Opfer? Und gilt für sie folglich eine doppelte Schuld und Verantwortung? Oder aber eine doppelte Amnestie? Neue Realität schaffen Der Zerfall Jugoslawiens führte zu einer langsamen Zersetzung einer bis dahin existenten, wenn auch fragilen kollektiven Identität. Was manchen Bürgern bis zu diesen Zeitpunkt als eine kohärente Vorstellung ihrer eigenen persönlichen (nationalen) Identität erschien, begann von da an untauglich zu sein. Nicht, dass diese Identität über Nacht plötzlich in sich zusammenbrach, aber jeder, der daran vehement festhalten wollte, sah sich in seiner jeweiligen Umgebung bald ausgegrenzt. Oder zumindest als Ewiggestriger gezeichnet. Also galt es eine Alternative zu finden. Auch ich fand mich im Angebot neuer Identitäten wieder. Diese griffen in der Regel auf traditionelle Erinnerungsorte 1 zurück, meistens verdrängte oder vergessene. So wurden wir alle Zeugen neuer Geschichtsinterpretationen und waren aufgefordert, die bis dahin gelernten ernsthaft zu hinterfragen, wenn nicht ganz zu vergessen. Pierre Nora spricht in diesem Zusammenhang von einer Gedächtniskonjunktur. Die Gedächtniskonjunktur führt Nora auf zwei Ursachen zurück. Einerseits auf eine allgemeine Beschleunigung der Geschichte, die er als ein globales Phänomen betrachtet: Geschichte bzw. die Vergangenheit entrückt immer mehr dem Fassungsvermögen des Individuums und des Kollektivs, weshalb diese immer mehr darauf angewiesen, vielmehr dazu 1 Erinnerungsort hier in der Bedeutung von Pierre Nora. Erklärung siehe weiter im Text. 218 Irena Risti ć <?page no="219"?> aufgefordert sind, die Vergangenheit ausufernder zu (re)konstruieren. 2 Dabei bedienen sie sich diverser Erinnerungsorte, welche in der Bedeutung von Nora keinesfalls auf geographische Orte beschränkt sind. Vielmehr stellt der Erinnerungsort einen identitätsstiftenden Bezugspunkt für ein Kollektiv (etwa eine Nation) dar. Er umfasst somit sowohl geographische Orte, als auch historische (reale und mythische) Ereignisse und Gestalten, sowie Kunstwerke und Produkte. Vergangenheit und die Erinnerungsorte, anhand welcher diese Vergangenheit gedeutet und rekonstruiert wird, kommen europaweit nicht nur zum inflationären Einsatz, sondern sie verselbständigen sich auch, da es Kollektiven und Individuen frei überlassen ist, diese nach Belieben zu bestimmen. Eine zweite Ursache der Gedächtniskonjunktur ortet Nora in der Beschleunigung der Demokratisierung, welche zwar weniger global stattfindet, aber für Europa, vor allem Ost- und Südosteuropa nach 1989 zweifellos Geltung hat. Demnach neigen ethnische Gruppen, Völker oder Nationen in einem Prozess ihrer Neubestimmung und demokratischen Konsolidierung dazu, auf traditionelle Erinnerungsorte zurückzugreifen, die, wie oben bereits erwähnt, in der Regel meistens verdrängt oder vergessen waren, um mit diesen die neue kollektive Identität zu stützen. Dieser Prozess der Gedächtniskonjunktur, wie in Nora definiert, der nach 1989 teilweise in Westeuropa, aber zweifelsohne in allen osteuropäischen Staaten zu beobachten ist, erfuhr im postjugoslawischen Raum durch die zwischen 1990 und 1999 stattgefundenen Kriege und den damit verbundenen Erinnerungen eine zusätzliche Beschleunigung. Obwohl auch in allen anderen ehemaligen kommunistischen Staaten eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit begann und die jeweilige Gedächtniskonjunktur ankurbelte, war dieser Prozess im jugoslawischen Raum aufgrund der spezifischen Krise seit den achtziger Jahren, und vor allem im Zusammenhang mit dem Ausbruch der Konflikte 1991, von besonderer Radikalität. Während in den Ostblockstaaten die Gründe für den Zerfall des kommunistischen Systems eindeutig schienen und folglich das (Feind)Bild des Anderen (welches als Abgrenzung für die Bildung einer neuen bzw. Rekonstruktion einer ehemals vorhandenen Identität notwendig war) von den jeweiligen Gesellschaften mehrheitlich klar identifiziert wurde (die Besetzung durch die Sowjetunion und das totalitäre kommunistische System), wurden im jugoslawischen Raum, 2 Pierre Nora, Gedächtniskonjunktur, in: Transit - Europäische Revue 22/ 2002 (on-line Zugang: Tr@nsit online 22/ 2002, ‹ http: / / archiv.iwm.at/ index.php? option=com_content&task=view&id=155&Itemid=284 › ; Eurozin, 19. 4. 2002, ‹ http: / / www.eurozine.com/ articles/ 2002-04-19-nora-de.html › ). Die (Un)Vereinbarkeit von individueller und kollektiver Identität 219 <?page no="220"?> auch weil es keine Übermacht dieser Art seitens eines anderen Staates gegeben hatte, diese Gründe und dieser Andere bereits vor 1989 im Inneren gesucht. Da darüber aber keine Übereinstimmung herrschte und letztendlich die nationalen und kulturellen Unterschiede als Erklärungsmuster Oberhand gewannen, kam es in den jugoslawischen Teilrepubliken noch vor dem Fall der Berliner Mauer zur ersten Phase der Gedächtniskonjunktur. Dabei begannen die gesellschaftlichen Eliten der einzelnen jugoslawischen Nationen ihre eigene Geschichte neu zu interpretieren und sich i. d. R. als Opfer des gemeinsamen Staates wahrzunehmen. In Serbien etwa überwog der Diskurs, welchem zufolge Serbien und die Serben ihre nationalen Interessen für Jugoslawien geopfert hätten und es an der Zeit sei, dass Serbien seine (Territorial) Interessen wieder verfolge. Zu diesem Zweck wurden die Anfänge der serbischen ‹ nationalen › Geschichte, nicht nur der politischen, immer früher gesetzt, aber auch der Kosovomythos, die Erinnerungen an die rassistische Verfolgung der Serben durch die kroatischen Usta š a im Zweiten Weltkrieg sowie die angebliche existentielle Bedrohung der Serben in Kosovo neu entfacht. Doch gewannen ähnliche Tendenzen und Viktimisierungsdiskurse auch in den anderen Teilrepubliken zunehmend an Bedeutung. So dominierte in Slowenien und Kroatien die Meinung, dass der Wohlstand des Gesamtstaates auf ihre Kosten ginge und die eigene wirtschaftliche und somit nationale Entwicklung in dieser Konstellation leide. Aufgrund dieser Entwicklungen in den achtziger Jahren war bereits die erste Phase der Gedächtniskonjunktur im jugoslawischen Raum, im Vergleich mit den meisten Ostblockstaaten, radikaler und polarisierender, da die jeweiligen neu definierten Erinnerungsorte auch den Zweck erfüllen mussten, exklusiv nur für jeweils einen (ethnischen) Teil, und nicht für die ganze jugoslawische Gemeinschaft, identitätsstiftend zu wirken. Realität neu erinnern Die darauf − nicht zuletzt als Folge dieser enormen, explodierenden nationalistischen Gedächtniskonjunktur − ausbrechenden Kriege und die damit verbundenen traumatischen Erfahrungen leiteten eine zweite Phase der (post)jugoslawischen Gedächtniskonjunktur ein. Noch während des Konfliktes, aber vor allem nach seinem Ende begann für die postjugoslawischen Gesellschaften ein Prozess, in welchem sie sich mit der jeweils eigenen kollektiven Rolle und Verantwortung im Konflikt 220 Irena Risti ć <?page no="221"?> auseinander setzen mussten. Dabei tendierten alle Seiten dazu, ihre eigene Verantwortung zu minimieren, die des anderen aber zu überdimensionieren. 3 Als Folge dieser Auseinandersetzung mit der unmittelbaren Vergangenheit wurde nicht nur die Gedächtniskonjunktur nochmals beschleunigt, sondern es entstand in den meisten postjugoslawischen Gesellschaften etwas, was man als Pflicht zum Erinnern bezeichnen könnte. Damit ist gemeint, dass die staatlich gesteuerte Gedächtniskonjunktur einher ging mit einer ebenfalls vom Staat aufgedrängten Vorgabe, woran man sich zu erinnern habe. Dabei sind diese Erinnerungen, wohl auch zum Zweck der Festigung der neuen Identität, überwiegend den eigenen Opfern gewidmet, während die Opfer der Anderen übersehen, schlimmstenfalls sogar bestritten werden. Folglich sind die gewählten Erinnerungsorte alles andere als versöhnend, sondern vielmehr polarisierend und abgrenzend. So begann man etwa in Serbien, für den Zeitraum des kommunistischen Jugoslawiens, die Č etnik-Bewegung als Opfer der angeblich antiserbischen kommunistischen Führung juristisch zu rehabilitieren, während für den Zeitraum nach 1990 die Vertreibung der Serben aus Kroatien im August 1995 zu dem mitunter wichtigsten Erinnerungsort aufstieg. In Kroatien hingegen begann der Staat die jährliche Kommemoration von Bleiburg (1945) zu unterstützen, während der Beginn der Militäraktion «Oluja» (5. August 1995) zu einem der bedeutendsten Staatsfeiertage wurde. Als Angehörige beider Nationen, sei es im essentialistischen oder konstruktivistischen Sinne, könnte man sich jedoch, selbst wenn man es wollen würde, schwerlich mit all diesen kollektiven Erinnerungsvorgaben identifizieren, ohne in kompletter individueller Konfusion zu enden. Realität vergessen Parallel zu dieser Pflicht zum Erinnern lässt sich in den neu gegründeten Staaten und den dort sich formenden Erinnerungskulturen jedoch auch ein Trend beobachten, den man als Pflicht zum Vergessen beschreiben könnte. Denn das geteilte historische Erbe der Epoche 1918 − 1990, dessen man sich nicht zuletzt deshalb erinnern könnte, um das Heute verstehen zu können, soll zum Teil vergessen werden, da es Gefahren für die Verbreitung und Verinnerlichung der neuen Identitäten in sich birgt. 4 3 Vgl. Predrag Matvejevi ć , Jugoslavenstvo prije i poslije Jugoslavije, in: Danas, Vikend dodatak, 23./ 24. 3. 2013, S. VI. 4 Sicherlich wäre ein Teil der Erinnerungen aus der Zeitperiode zwischen 1918 und 1990 auch ohne den Zerfall des gemeinsamen Staates und der Kriege am Ende des Die (Un)Vereinbarkeit von individueller und kollektiver Identität 221 <?page no="222"?> Gemeint sind damit vor allem jene Erinnerungen, die im öffentlichen Diskurs und in den Medien bewusst gemieden werden, da sie potenziell positiv konnotiert werden und somit das neu entstehende kollektive Gedächtnis in Frage stellen könnten. Dies kann man auch als Entschleunigung der Gedächtniskonjunktur bezeichnen, da bestimmte Erinnerungen ausgeblendet werden und im kollektiven Gedächtnis keinen Platz finden sollten. So wurden zwar, wie oben an den Beispielen der Č etnik-Bewegung oder von Bleiburg gezeigt, vergessene und in der Regel polarisierende Erinnerungsorte und Opfermythen wieder hervorgeholt und zusammen mit daran anknüpfenden Ereignissen aus den jüngsten Kriegen sakralisiert. Andere, mit dem Zeitraum 1918 − 1990 verbundene Erinnerungsorte, dessen positive Auswirkungen weiterhin präsent sind und potentiell integrativ wirken können, wurden hingegen ausgeblendet oder marginalisiert. In Anlehnung an Krzysztof Wojciechowski und Karl Mannheim bezeichnet der Soziologe Todor Kulji ć diesen Vorgang als das Hinterlassen von ‹ gelben Flecken › und meint damit eine Blindheit gegenüber Tatsachen trotz genauer Beobachtung. Im Gegensatz zu der sozialistischen Geschichtswissenschaft in Jugoslawien, deren ‹ weiße Flecken › das Verschweigen bestimmter negativer Ereignisse bezeichnen, die dem Image des Regimes hätten schaden können (wie etwa die Tatsache, dass nach dem Zweiten Weltkrieg Verbrechen von Seiten der Kommunistischen Partei begangen wurden, dass es politische Verfolgungen gab, dass es keine Meinungs- und Pressefreiheit gab usw.), verschweigt die Historiographie der heutigen Staaten Ereignisse und Errungenschaften des sozialistischen Jugoslawiens, welche diesen Staat zumindest in einigen Aspekten in ein positives Licht rücken würden. 5 Dazu gehört etwa die wirtschaftliche Modernisierung, welche die neuen Staaten im Vergleich zum gemeinsamen Staat Jugoslawien eher schlecht aussehen lässt. Ein charakteristisches Beispiel, stellvertretend für viele ähnliche Fälle, ist die historische Darstellung der Stadt Jagodina. Auf der offiziellen 20. Jahrhunderts in Vergessenheit geraten, nicht zuletzt weil man bestimmte Entwicklungen weniger verklärt und somit als überholt wahrgenommen hätte. So geschehen in anderen Transformationsländen, in welchen nach 1989 nicht die Bildung einer nationalen Identität, sondern die wirtschaftliche Transformation im Vordergrund stand, und somit der Zeitraum des Kommunismus überwiegend nicht im Lichte der Schaffung einer neuen nationalen Identität (in Abgrenzung zur alten) interpretiert und instrumentalisiert wurde. 5 Todor Kulji ć , Zum Stand der historischen Aufarbeitung des jugoslawischen Sozialismus, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2002, S. 299 − 318, insb. S. 317 f. 222 Irena Risti ć <?page no="223"?> Webseite der Stadt wird die 600-jährige Geschichte der Stadt zusammengefasst, wobei das Zeitalter zwischen 1945 und 1990, in welchem die Stadt die bedeutendste wirtschaftliche Entwicklungen und Modernisierung erfuhr, in gerade mal einem Satz erwähnt wird - in dem wir lediglich erfahren, dass die Stadt 1946 in Svetozarevo umbenannt wurde. (Was aufgrund eines Volksentscheids von 1992, wie im Folgesatz beteuert wird, wieder rückgängig gemacht wurde.) Ein anderes Beispiel der gelben Flecken stellt eine Karte Kroatiens dar, welche von der Kroatischen Zentrale für Tourismus herausgegeben und verteilt wurde und bis mindestens 2006 noch im Umlauf war. Auf ihr werden neben den Sehenswürdigkeiten Kroatiens auch die Namen und Kurzbiographien der berühmtesten Kroaten angeführt, darunter auch von Josip Broz Tito: «Politiker und Staatsmann, Anführer der antifaschistischen Bewegung in Jugoslawien während des Zweiten Weltkrieges.» Dies wäre vergleichbar mit einer Frankreichkarte für touristische Zwecke, auf welcher Charles de Gaulle als Politiker und Staatsmann angeführt wäre, der den Widerstand in Frankreich während des Zweiten Weltkrieges anführte, ohne dass dabei genannt wäre, dass de Gaulle nach Kriegsende Premierminister und für zehn Jahre Präsident und somit eine der bedeutendsten Figuren für die Gründung der Fünften Republik darstellte. Und dass er letztendlich den letzteren Umständen, und nicht seiner Rolle im Zweiten Weltkrieg, seine Position in der Geschichte verdanke. Schließlich kommt es auch vor, dass Akteure der Geschichte, aus eigenem Antrieb heraus oder durch Druck von außen, ihr eigenes Handeln, ihre Rolle in der unmittelbaren Vergangenheit und somit auch die damit verbundenen Erinnerungsorte vergessen, verneinen oder uminterpretieren. So wurde beispielsweise das Verbrechen in Srebrenica von der politischen Elite Serbiens und im öffentlichen Diskurs bis zum Jahr 2005 negiert - dort haben lediglich Kampfhandlungen stattgefunden und in solchen gäbe es nun einmal Opfer, lautete lapidar die gängige öffentliche Meinung. Nicht ohne den Zusatz, dass schließlich auch Serben Opfer zu beklagen hätten. Folglich habe sich die Regierung oder der Staatspräsident im Namen Serbiens dafür nicht verantwortlich zu fühlen. In einer zweiten Phase begannen die Medien das Vorgehen Serbiens bzw. der Serben in Srebrenica als Verbrechen zu bezeichnen, wobei stets hinzugefügt wurde, dass im naheliegenden Bratunac Verbrechen gleichen Ausmaßes an Serben begangen wurden. Demnach war die serbische Regierung zwar bereit Reue zu zeigen, verlangte aber im gleichen Atemzug das gleiche auch für die Opfer auf serbischer Seite. In einer dritten Phase wurde im März 2010 in einer Deklaration des Parlaments Serbiens «das Verbrechen gegen Bosniaken in Srebrenica Die (Un)Vereinbarkeit von individueller und kollektiver Identität 223 <?page no="224"?> auf das schärfste verurteilt». Doch auch in dieser Deklaration wird die Verwendung des Begriffs Genozid umgangen. Stattdessen ist ausweichend vom Verbrechen die Rede, «wie es im Urteil des Internationalen Strafgerichtshofs definiert wurde ” . 6 Eine eher kuriose Illustration für die Umdeutung der unmittelbaren Vergangenheit ist hingegen ein Buchtitel des letzten Vorsitzenden des Staatspräsidiums Jugoslawiens, Stipe Mesi ć . Der Arbeitstitel der erstmals im Jahr 1992 erschienenen politischen Memoiren lautete: «Wie ich Jugoslawien zum Einsturz brachte». Angeblich hat dieser Titel jedoch nicht dem damaligen kroatischen Präsidenten Franjo Tu đ man gefallen, da dieser nicht bereit war, den Ruhm für den Einsturz Jugoslawiens Mesi ć allein zu überlassen. Sie erzielten einen Kompromiss, so dass das Buch unter dem Titel «Wie wir Jugoslawien zum Einsturz brachten» erschien. 7 Doch zwei Jahre später kam die zweite, nahezu unveränderte Auflage des Buches heraus, diesmal unter dem Titel: «Wie Jugoslawien zum Einsturz gebracht wurde.» 8 Was ist Realität? Die potentielle individuelle Konfusion eines Bürgers/ einer Bürgerin des postjugoslawischen Raumes angesichts der skizzierten Prozesse des kollektiven Erinnerns und Vergessens liegt auf der Hand. Wenn er/ sie dabei binational ist, dann kann sich die Bewältigung oder Aufarbeitung dieser Ereignisse und eine Neupositionierung im Hinblick auf die eigene Identität zu einer Lebensaufgabe entwickeln. Demnach gilt es auf einer ersten Ebene sein ganz persönliches Gedächtnis und seine eigenen Erinnerungsorte (im Sinne Noras) − die objektiv mit den Erinnerungsorten des Kollektivs korrelieren können aber nicht müssen, subjektiv aber fraglos existent sind − für sich selbst und die Außenwelt zu legitimieren. Hat man dies getan, wird man auf einer zweiten Ebene mit dem herrschenden, oftmals von oben vorgegebenen, kollektiven Gedächtnis der jeweiligen zwei nationalen Gruppen konfrontiert, denen man sich, sei es im essentialistischen oder im konstruktivistischen Modus, zugehörig fühlt. Da die diversen Erinnerungsorte dieser kollektiven Gedächtnisse ebenso einer Selektion entspringen, schließen sie bestenfalls alle sub- 6 Diesem Urteil zufolge hat in Srebrenica ein Genozid der dort lebenden bosniakischen Bevölkerung stattgefunden. 7 Stipe Mesi ć , Kako smo sru š ili Jugoslaviju. Politi č ki memoari posljednjeg predsjednika Predsjedni š tva SFRJ, Globus International, Zagreb 1992. 8 Stipe Mesi ć , Kako je sru š ena Jugoslavija, Mislavpress, Zagreb 1994. 224 Irena Risti ć <?page no="225"?> jektiven Erinnerungsorte des binationalen Individuums ein, und schlimmstenfalls alle aus. Sehr wahrscheinlich kommt es dabei aber auch dazu, dass ein und dasselbe Ereignis in unterschiedlichen Kollektiven diametral entgegengesetzte Interpretationen erfahren. Ein Beispiel dafür sind etwa die oben bereits erwähnten Geschehnisse in Kroatien im August 1995, als Kroatien Teile seines Territoriums wieder unter die eigene Kontrolle brachte, wobei ein Großteil der serbischen Bevölkerung fliehen musste. 9 In der Konsequenz können zwei kollektive Gedächtnisse jeweils verschieden vorgeben was als Schuld, was als Verlust, was als Sieg und was als Verbrechen zu betrachten ist, und folglich was zu erinnern und was zu vergessen ist. Darauf aufbauend stellt sich auf einer dritten, der womöglich komplexesten Ebene, gerade im Hinblick auf die Kriege im jugoslawischen Raum, für das binationale Individuum die Frage, woran es sich erinnern soll, woran es sich erinnern muss und schließlich wofür es sich als Teil eines Kollektivs verantwortlich zu halten habe − und dies alles, ohne in die Falle der Relativierung zu tappen. Ob das binationale Individuum in seiner Verantwortung gegenüber dem kollektiv Verursachten ein doppelter Täter oder aber ein doppeltes Opfer ist, bleibt fraglich. Sicher ist, dass im Gegensatz zu einem mononationalen Individuum, die subjektive Sammlung von Erinnerungsorten eines binationalen Individuums tendenziell weniger linear ist und eine gewisse Inkohärenz aufweist. Dies ist jedoch nicht zu vermeiden − weder durch einen transnationalen Zugang, der das Individuum über die kollektive (binationale) Zugehörigkeit erheben würde, noch durch die Auseinandersetzung mit den Erinnerungsorten beider Nationen. Vielmehr bedarf es, zumindest im Fall einer serbisch-kroatischen Identität zu Beginn des 21. Jahrhunderts, des Widerstands gegen die herrschenden kollektiven Vorstellungen beider Nationen, bei gleichzeitiger Verinnerlichung einer subjektiven, notfalls auch inkohärenten Selektion von Erinnerungsorten beider Kollektive. Das Kriterium dieser Selektion ist dabei, dass es sich um Erinnerungsorte handelt, die weder polarisieren noch die jeweils andere Nation ausgrenzen. Dass man dabei im Jahr 2014 nicht viel Auswahl hat, und somit Gefahr läuft, am nationalen Rand beider Gesellschaften zu bleiben, ist wohl 9 Allein mit der Wortwahl zur Beschreibung dieser Geschehnisse können verschiedene Auffassungen zum Ausdruck gebracht werden. So hat Kroatien aus der Sicht der einen dieses Territorium ‹ befreit › , während es aus der Sicht von anderen ‹ erobert › oder ‹ besetzt › wurde. Entsprechend ist die serbische Bevölkerung ‹ freiwillig gegangen › oder aber sie wurde ‹ gewaltsam vertrieben › . Die (Un)Vereinbarkeit von individueller und kollektiver Identität 225 <?page no="226"?> unumgänglich. Aber es bestätigt einmal mehr, dass man sich die anfangs erwähnte Frage nach der eigenen nationalen Identität in der Tat einfach nicht mehr stellen sollte. 226 Irena Risti ć <?page no="227"?> Autorinnen und Autoren Jeffrey Andrew Barash hat als einziger Beiträger in diesem Sammelband keine biographische Beziehung zum ehemaligen Jugoslawien. Geboren in Chicago, USA, wo er an der University of Chicago seine Doktorarbeit abschloss. Seit mehreren Jahren lehrt er als Univ.-Prof. Philosophie an der Université d'Amiens in Frankreich. Schwerpunkte seiner Forschung sind politische Philosophie, Historizismus und deutsche Philosophie der Neuzeit. Wichtigste Publikationen: Heidegger et son siècle. Temps de l'Être, temps de l'histoire (1995), Martin Heidegger and the Problem of Historical Meaning (2. Aufl. 2003), Politiques de l'histoire. L'historicisme comme promesse et comme mythe (2004). J. A. Barash lehrte als Ernst- Cassirer-Gastprofessor an der Universität Hamburg und als Hans-Georg- Gadamer-Professor am Boston College. Davor Beganovi ć wurde als typischer Bosnier in einer so genannten Mischehe geboren, was ihm heute (zumindest angesichts der rezenten Diskussionen in seiner ehemaligen Heimat) kaum von Vorteil ist. Mit siebzehn entschloss er sich (unter dem Einfluss von Daisetz Teitaro Suzuki), Zen Buddhist zu werden. Kurz darauf hat er diesen Entschluss aufgegeben. Mit zwanzig wollte er sich als Yijing-Kenner profilieren. Auch das verlief erfolglos. Seit dann ist er das, was er auch immer, durch die Familien- und Umgebungsprägung, war - ein agnostischer Atheist. In der frühen 90ern war diese Position in Jugoslawien nicht besonders begehrt. Damals war es ihm nicht egal. Heute ist sie es genauso wenig. Jetzt ist es ihm aber egal. Er arbeitet an den Universitäten Tübingen und Konstanz zu den Forschungsschwerpunkten: Südslavistik mit komparatistischen Aspekten, Kultur- und Medienwissenschaft. Ivan Bernik wurde in einer kleinbäuerlichen Familie im Nordwesten Sloweniens geboren. Der sozialistische Staat hat ihm ermöglicht zu studieren. Seine akademische Laufbahn ist gleichzeitig von Stabilität (seit 1977 Anstellung an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Universität Ljubljana, wo er auch studiert hat) und Instabilität (Forschungs- und Lehraufenthalte in Deutschland und Großbritannien, schneller Wechsel der Forschungsinteressen und damit verbundene Probleme mit der akademischen Identität) gekennzeichnet. Zu seinen neueren Forschungsschwerpunkten gehören soziale Wandlungsprozesse (besonders <?page no="228"?> die postsozialistischen Transformationen) und die soziale Organisation der Sexualität. Er ist Mitverfasser der ersten empirisch fundierten Monographie über das Sexualverhalten in Slowenien (2011). Milka Car ist in Sisak geboren, in der damaligen Sozialistischen Republik Kroatien, und ist an der Adria-Küste aufgewachsen, wo sie den postjugoslawischen Krieg v. a. als Flüchtlingsstrom erlebte. Atheistisch mit katholischen Schuldgefühlen erzogen. Literaturwissenschaftlerin an der Universität Zagreb, Publikationen zur zeitgenössischen Literatur, Dokumentarliteratur und komparatistischen Aspekten. Armina Galija š wurde 1974 in Banja Luka, Bosnien und Herzegowina geboren, wo sie ihre früheste Jugend unter dem Einfluss der jugoslawischen Neuen Welle, New Primitives und Neue Slowenische Kunst verbrachte. Sie wurde als gute ‹ Pionirka › jugoslawisch-patriotisch und atheistisch erzogen. Bis heute blieb sie nur atheistisch. In München verbrachte Jahre (1992 − 2005) hinterließen tiefe Spuren in ihrer Sozialisation, so dass sie noch heute in Österreich oft als ‹ typisch deutsch › charakterisiert wird. Nach sechs Jahren in Wien lebt sie heute in Graz, wo sie dem Balkan wieder näher gekommen ist, und arbeitet als Historikerin am interdisziplinären Zentrum für Südosteuropastudien. Forschungsschwerpunkte: moderne südosteuropäische Geschichte, ethnische Konflikte im ehemaligen Jugoslawien sowie Alltags-, Kultur- und Sozialgeschichte. Mario Grizelj ist das ‹ Prachtexemplar › einer hyphenated identity: Dubrovnikaner mit bosnisch-herzegowinischen Wurzeln und einer Geburtsstadt in der nördlichen Vojvodina; zudem ein Deutsch-Kroate, der seit seinem vierten Lebensjahr in Berlin und München wohnt. - Literaturwissenschaftler an der Ludwig-Maximilians-Universität München (Schwerpunkte: Differenztheorien, Romantik, Religion/ Literatur, Schauerliteratur) und zugleich feuriger sowie melancholischer Anhänger des Fußballvereins Hajduk Split, der seine große Zeit in den 1980er Jahren hatte. - Die Abgründe von Krieg, Nationalismus und Dummheit verhalfen ihm dazu, Systemtheoretiker zu werden und statt (bösen) Menschen doch lieber (einfach) Systeme zu beobachten. Lebensphilosophie: Certum est quia impossibile est (Tertullian). Boris Previ š i ć ist mütterlicherseits Schweizer und zwinglianisch-calvinistisch erzogen worden; daneben hält er sich als Jugendlicher immer wieder auf der Suche nach der ungelernten Vatersprache in den jugo- 228 Autorinnen und Autoren <?page no="229"?> slawischen Akazienwäldern auf. Sein Vater ist in Slawonien und Zagreb aufgewachsen, die Vorfahren stammen aus Dalmatien und Montenegro. Anno 1988, noch als Gymnasiast, appelliert Previ š i ć in einem Brief an den Schweizer Bundesrat, eine internationale Konferenz zur Schlichtung nationalistischer Divergenzen und zur Gründung der Confoederatio Jugoslavica einzuberufen. Sein Vorschlag wird von den reformorientierten kommunistischen Führungseliten in Kroatien und Slowenien 1990 ohne Hinweis auf die Urheberrechte aufgegriffen, doch leider von den nationalistischen Rädelsführern nicht ernstlich in Erwägung gezogen. Zehn Jahre später setzt Previ š i ć als inzwischen ausgebildeter Konzertflötist sein idealistisches Projekt fort, gründet ein Ensemble für zeitgenössische Musik in Sarajevo und organisiert eine Tournee mit Strawinskys «Geschichte vom Soldaten» durch ganz Ex-Jugoslawien. Inzwischen hat er seine Habilitationsarbeit zur literarischen Rezeption der postjugoslawischen Kriege verfasst und widmet sich im Rahmen seiner SNF- Förderprofessur für Kultur- und Literaturwissenschaften an der Universität Luzern allgemeineren interkulturellen und intermedialen Fragestellungen. Irena Risti ć definiert ihre ethnische Zugehörigkeit als schizophren in fortgeschrittenem Stadium. Geboren in eine kroatisch-serbische Familie, verbrachte sie die Sommer ihrer Kindheit in Istrien und die restlichen Jahreszeiten in Belgrad, mit zwischenzeitlichem vierjährigem Grundschulbesuch in Frankfurt am Main. Nach dem Abitur in Belgrad studierte sie Politologie und Geschichte in Passau und Alaska, wo sie - der Bemerkung überdrüssig, sie sei doch eine sehr untypische Serbin - anfing, sich mit Nationalismus und ‹ nationaler › Identität auseinander zu setzen. Sie arbeitet am Institut für Sozialwissenschaften in Belgrad und erforscht die Ideologie der politischen Eliten in Serbien im 19. und am Ende des 20. Jahrhunderts sowie den postjugoslawischen Transformationsprozess. Sabine Rutar ist im Ruhrgebiet als Tochter einer Steirer Slowenin aus Sv. Jurij ob Šč avnici und eines Küstenland-Slowenen aus der Nähe von Tolmin aufgewachsen. Als Kind den südsteirischen slowenischen Dialekt für den Hausgebrauch gelernt (prle š ko). Im Zuge der Arbeit an der Magisterarbeit und der Dissertation (zur Triester Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg) weitere Aneignung des Slowenischen; für die Habilitation Aneignung des Serbokroatischen. Seit 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg. Aktuelle Forschungsprojekte zu slowenischen und serbi- Autorinnen und Autoren 229 <?page no="230"?> schen Bergbaugesellschaften unter deutscher Besatzung im Zweiten Weltkrieg sowie zu Arbeitsbeziehungen in Werft- und Hafenarbeitermilieus diesseits und jenseits der italienisch-jugoslawischen Grenze im Kalten Krieg. Svjetlan Lacko Viduli ć , geb. Viduli ć , aufgewachsen in einer Zagreber Neubau-Siedlung als Sohn einer ‹ Ausländerin › aus Düsseldorf und eines ‹ Kriegsinvaliden › von einer Adria-Insel. Katholisch getauft, evangelisch konfirmiert, traditionskritisch geheiratet (daher die Namenserweiterung). Trotz der Zensureingriffe in seinen zum Frauentag 1986 öffentlich verlesenen systemkritischen Gymnasialaufsatz über die Stellung der Frau im Sozialismus blieb er im Land, studierte in Zagreb Germanistik und Komparatistik und versucht seitdem ebenda im Bereich kulturwissenschaftlicher Germanistik die Wandlungen seiner Umwelt zu begreifen. Forschungsschwerpunkte: Kulturgeschichte der Liebe und kultureller Transfer rund um Südosteuropa. Tanja Zimmermann, geboren in Slowenien in einer multi-kulti Familie mit russischen und k. u. k.-Wurzeln. Literaturwissenschaftlerin und Kunsthistorikerin, arbeitet zur Zeit als Juniorprofessorin für Slavische Literaturen und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Jüngste Publikationen: Der Balkan zwischen Ost und West. Mediale Bilder und kulturpolitische Prägungen (2014), Brüderlichkeit und Bruderzwist. Mediale Inszenierungen des Aufbaus und des Niedergangs politischer Gemeinschaften in Ost- und Südosteuropa (Hg., 2014) sowie Balkan Memories. Media Constructions of National and Transnational History (Hg., 2012). Forschungsschwerpunkte: Kultureller Ost-West- Transfer, Medienpolitik und Erinnerungskulturen in Ost- und Südosteuropa. 230 Autorinnen und Autoren <?page no="232"?> Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de JETZT BES TELLEN! Thomas Grob / Boris Previšic / Andrea Zink (Hrsg.) Erzählte Mobilität im östlichen Europa (Post-)Imperiale Räume zwischen Erfahrung und Imagination Kultur - Herrschaft - Differenz, Vol. 18 2014, 308 Seiten, €[D] 54,00 / SFr 69,50 ISBN 978-3-7720-8484-3 Der Band befasst sich mit Narrativierungen von Mobilität in übernationalen Raumparadigmen, wie sie für das verschüttete imperiale Erbe des östlichen Europas charakteristisch sind. Wie spiegelt sich diese Mobilität in Erzählungen? Wie konstituieren sich Begegnungen, Austausch, Grenzen, aber auch Biographien und Reiseerfahrungen? Welche Erkenntnisse bieten sich für das Erzählen, welche für einen Begriff des ‚Imperialen‘, verstanden als kulturelle und kommunikative Struktur? Die Fallbeispiele betreffen die Habsburger Monarchie und den jugoslawischen Raum ebenso wie Russland und die Sowjetunion. <?page no="233"?> Der Zerfall Jugoslawiens, seit 25 Jahren kontrovers diskutiert, wird hier einer kritischen Bilanz unterzogen jenseits von Nationalismus und Jugonostalgie. Ausgewiesene Kultur- und SozialwissenschaftlerInnen reflektieren von ihrer jeweils besonderen theoretischen Warte aus die historischen Ereignisse und ihre Diskursivierung. Der theoretisch-methodischen Vielfalt der Perspektiven von der Historiographie bis zur Systemtheorie steht ein Kohärenzmerkmal gegenüber, das eine Besonderheit dieses Bandes ausmacht. Die AutorInnen, biographisch eng mit dem Forschungsgegenstand Jugoslawien verbunden, legen ihre persönliche Verstrickung und die Implikationen für ihr wissenschaftliches Setting offen. Mit Beiträgen von Ivan Bernik, Jeffrey A. Barash, Armina Galijaš, Mario Grizelj, Svjetlan Lacko Vidulic ´, Milka Car, Davor Beganovic ´, Boris Previšic ´, Tanja Zimmermann, Sabine Rutar, Irena Ristic ´